Birgit Schmalmack
Türkischer Honig auf Schwarzbrot Bikulturelle Liebesgeschichten
Brandes & Apsel
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Birgit Schmalmack
Türkischer Honig auf Schwarzbrot Bikulturelle Liebesgeschichten
Brandes & Apsel
1. Auflage 2007 © Brandes & Apsel Verlag GmbH, Frankfurt a. M. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, Mikroverfilmung, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen oder optischen Systemen, der öffentlichen Wiedergabe durch Hörfunk-, Fernsehsendungen und Multimedia sowie der Bereithaltung in einer Online-Datenbank oder im Internet zur Nutzung durch Dritte.
Lektorat: Josefine Schubert, Brandes & Apsel Verlag GmbH, Frankfurt a. M. DTP und Umschlagsidee und -gestaltung: Antje Tauchmann, Frankfurt a. M. Druck: Impress, d.d. Ljubljana, Printed in Slovenia Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-86099-725-3
Können Ehen zwischen Türken und Deutschen gut gehen? Was machen diese Paare anders? Wie gestalten sie ihren Beziehungsalltag? Welche Rolle spielt »die« andere Kultur des Partners? Wie wachsen Kinder in deutsch-türkischen Familien auf? Diese und noch viele andere Fragen stellte die Autorin deutsch-türkischen Paaren. Ihre Liebesgeschichten sind etwas Besonderes. Sie erzählen vom Alltag, aber auch den Besonderheiten bikultureller Beziehungen und davon, wie die Partner aus verschiedenen Kulturen ihre Konflikte meistern. Es sind persönliche Lebensgeschichten, die den Blick für den einzelnen Menschen in der multikulturellen Gesellschaft schärfen. Die Autorin: Birgit Schmalmack, geboren 1963, Ausbildung zur Verlagskauffrau, Studium der Fächer Deutsch, Mathematik und Pädagogik. Sie arbeitet als Lehrerin und freie Journalistin und wohnt in Hamburg. Sie lebt selbst seit zwölf Jahren in einer Partnerschaft mit einem türkischstämmigen Deutschen.
Vorwort
Der Situation des Verliebens wohnt ein besonderer Zauber inne: Die plötzlichen Gefühls- und Hormonüberschüsse sorgen dafür, dass das Gegenüber als eine ganz einzigartige, unvergleichliche Persönlichkeit wahrgenommen wird. In diesem Moment spielen Schubladen keine Rolle mehr. Klischeevorstellungen werden unwichtig. Nur das Einzelwesen zählt. Diese Phase des Verliebens weitet den Blick, macht unempfänglich für normative, gesellschaftliche Grenzziehungen und ist damit der Anfang eines wahren Verstehens des anderen. Vielleicht könnte sich die Gesellschaft bei ihrer Diskussion um die Integrationsfähigkeit bestimmter Migrantengruppen von dieser Haltung ein wenig bedienen. Erst wenn der Mensch nicht mehr nur als Vertreter einer nationalen Gruppe sondern auch als Einzelperson gesehen werden kann, können vorschnelle Pauschalierungen vermieden werden. Ich durfte zu Gast sein in den Küchen und Wohnzimmern von 42 deutschtürkischen Paaren. Sie haben mir freimütig von den schwierigen und schönen Seiten ihrer Beziehung erzählt. Vertreten sind alle Altersstufen und Bildungsgrade. Unter ihnen befinden sich sowohl der Hafenarbeiter, der Psychiater, die Künstlerin als auch die Fließbandarbeiterin. Ihre ganz persönlichen Lebensgeschichten sollen dazu anregen, wieder den Blick für den einzelnen Menschen zu entwickeln und somit auch gesamtgesellschaftliche Probleme sensibler betrachten und besser verstehen zu können. Ich selbst lebe seit elf Jahren in einer Partnerschaft mit einem in Deutschland geborenen Türken, der mittlerweile rein
statistisch gesehen nicht mehr zu ihnen zählt: Seit 2001 ist er deutscher Staatsbürger. Vielleicht steuerte mich also auch die persönliche Neugier, als ich immer größere Lust bekam, Geschichten von deutsch-türkischen Paaren in Deutschland zu erzählen. Doch eventuell war es auch einfach der zunehmende Unmut darüber, dass im Moment nur von solchen zu lesen ist, die im Drama enden. Doch wenn von Fehlentwicklungen zu berichten ist, dann gehören zu einer ausgewogenen Berichterstattung auch Geschichten von Paaren, die ihre eventuellen Schwierigkeiten überwunden haben. Wo abschreckende Beispiele zur Geltung kommen, sollten die Vorbilder auch Gelegenheit dazu haben.
Zahlenmaterial zu binationalen Ehen Laut Statistischem Bundesamt hatte bei 16,5 Prozent der 396.000 Paare, die sich 2004 das Jawort gaben, einer der Ehepartner nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. Das war jede sechste Ehe. Jedes vierte Kind hatte mindestens einen ausländischen Elternteil. Diese Zahlen werden in Zukunft sicher noch steigen. In Großstädten liegen sie schon jetzt wesentlich höher. So war in Berlin laut Pressemitteilung des Berliner Senats vom 13.4.2005 jede vierte Ehe interethnisch und hatten 40 Prozent aller Kinder einen Migrationshintergrund. Die Art der Beziehungen, die Menschen in Deutschland eingehen, wird sich also in Zukunft immer weiter ausdifferenzieren. Dieser Trend war in den vergangenen Jahrzehnten auch bei der Bandbreite der Lebensformen zu beobachten. Immer mehr Paare verzichten auf den Trauschein und leben in nichtehelicher Lebensgemeinschaft zusammen. Auch die Frage, ob sie zusammen Kinder bekommen wollen, stellen sie
zur Diskussion. Und die Geburt eines Kindes hat nicht zwingend eine Heirat zur Folge. Eine Ehe oder Partnerschaft dauert nur noch solange, wie die Partner es wünschen. Eine lebenslange Lebensgemeinschaft ist zu einer bewussten Entscheidung füreinander geworden. Die Scheidungszahlen in Deutschland sprechen eine deutliche Sprache: Fast jede zweite Ehe wird geschieden (2003: 43 Prozent). In diesen Trend zur größeren Variationsbreite fügt sich die Wahl eines Partners aus einem anderen Kulturkreis ein. Die Lieblingspartner der Frauen sind dabei Männer aus der Türkei. Das Statistische Bundesamt teilte 2005 mit, dass 4.900 von ihnen einen Türken als Ehepartner wählten. Die Männer bevorzugten eher eine Partnerin aus Osteuropa. Eine Türkin nahmen nur knapp 1 800 der Männer zur Ehefrau. Das Statistische Bundesamt geht in seinem Mikrozensus von 2006 für das Jahr 2005 von circa 146.830 deutsch-türkischen Ehepaaren aus. Im Vorjahr gab es deren Zahl noch mit 129.000 Paaren an. Bei diesen Statistiken ist zu berücksichtigen, dass die Zahlen nur diejenigen erfassen, die noch über ihren ausländischen Pass verfügen. Eingebürgerte Ausländer fallen hier nicht mehr ins Gewicht. Da es aber alleine im Jahre 2005 140.731 Einbürgerungen gegeben hat, sagen die Zahlen alleine wenig aus. Denn die größte Gruppe unter den Eingebürgerten waren mit 39 Prozent Personen türkischer Herkunft. Mittlerweile besitzt jeder dritte Türkischstämmige einen deutschen Pass und ihre Zahl hat sich bis Ende 2004 auf 840.000 erhöht. So fallen Staatsangehörigkeit und Herkunft zunehmend auseinander. Die Zahl der Ehen, in denen die Partner dieselbe Herkunft aber unterschiedliche Pässe haben, steigt stetig an. Genauso wie die Zahl der Paare, bei denen beide Partner dieselbe Staatsangehörigkeit besitzen, aber unterschiedlicher Herkunft sind.
Bei den Scheidungen entfielen im Jahr 2005 12,4 Prozent aller Trennungen in Deutschland auf solche, bei denen mindestens einer der Ehepartner eine ausländische Staatsbürgerschaft hatte. Dagegen lag der Prozentsatz aller Eheschließungen mit Auslandsberührung im Jahr 2004 bei 16,5 Prozent. Unter ihnen ist die Zahl der Scheidungen bei deutschtürkischen Ehepaaren laut Statistischen Bundesamtes am bedeutsamsten: Die Anzahl der Scheidungen lag 2003 in dieser Gruppe bei etwa 3.390. Demgegenüber gaben sich im Jahr 2000 5.784 deutsch-türkische Ehepartner das Jawort. In einer Stadtbeobachtung aktuell wurde exemplarisch für die Stadt Wiesbaden im Zeitraum 2002-2004 die so genannte Einheiratsquote untersucht. Es wurde herausgefunden, dass nur 16 Prozent der türkischen Migranten in Deutschland eine Ehe mit einem Deutschen eingehen. Damit lagen sie unter dem durchschnittlichen Wert aller in die deutsche Gesellschaft einheiratenden Migranten von 28 Prozent. Meist wird das als Abschottung interpretiert. Doch die Gründe können vielfältiger sein. Bei 1,8 Millionen Türken in Deutschland ist die Wahrscheinlichkeit, einen geeigneten Ehepartner der eigenen Herkunft zu finden, viel größer als bei anderen Nationalitäten. Die Konzentration auf bestimmte Wohngebiete erhöht die Wahrscheinlichkeit der Kontaktaufnahme um ein weiteres. Ein weiterer Gesichtspunkt ist der rechtliche Status der türkischen Bevölkerung: Anders als Italiener, Griechen oder Spanier sind sie keine EU-Bürger. Ihre Freizügigkeit und rechtliche Absicherung ist stark eingeschränkt. So stellt für ihre Familien die Heirat eines noch in der Türkei Lebenden auch eine Möglichkeit zur Einreise nach Deutschland dar. Es ist zu vermuten, dass mit der Schaffung anderer Einwanderungswege für die Türken eine Vielzahl der viel geschmähten arrangierten Ehen zu verhindern wäre.
Die tatsächliche Zahl der türkisch-türkischen Ehen kann nur geschätzt werden. Sie ergibt sich einerseits aus den Eheschließungen in deutschen Standesämtern (1996: 917, 2003: 1.534), in türkischen Konsulaten in Deutschland (1996: 4.920) und den Eheschließungen in der Türkei. Über die ungefähre Anzahl letzterer kann die Zahl der Ehegattennachzüge zu den in Deutschland lebenden Ehepartnern eine Vorstellung geben. Laut Auswärtigem Amt gab es 1996 17.662 Nachzüge. Somit käme man für das Jahr 1996 auf 2.3499 türkisch-türkische Eheschließungen. Im selben Jahr wurden in Deutschland 4.657 deutsch-türkische Ehen geschlossen. Das wäre ein Anteil von 16,5 Prozent aller Ehen mit Beteiligung von türkischen Staatsangehörigen (vgl. Straßburger, in: Migration und Bevölkerung, 1999). Die Anzahl der Anträge auf Ehegattennachzüge nimmt stetig ab: Sie sanken bis 2003 auf 10.614 und 2004 nochmals auf 8.360. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich auch auf diesen Bereich die Zahl der Einbürgerungen ausgewirkt haben könnte. 2003 gab es daneben 7.158 und 2004 6.443 Ehegattennachzüge zu deutschen Ehegatten. Je nach Perspektive mögen sie nun die Zahl der deutsch-türkischen oder der türkisch-türkischen Ehen vergrößern. Die Scheidungsquote der türkisch-türkischen Ehepaare bleibt gänzlich spekulativ. In Deutschland werden nur die Ehescheidungen erfasst, die vor deutschen Gerichten beschlossen werden. Das waren im Jahre 2003 2.657 Fälle. Dass aber 1996 nur 917 und auch 2002 nur 1.482 türkischtürkische Ehen vor deutschen Ämtern geschlossen wurden, macht wieder einmal die Schwierigkeiten der statistischen Erhebungen bezüglich transnationaler Heiratsdaten deutlich. Türkisch-türkische Ehepaare hatten 1997 44.197 Kinder, während im selben Jahr aus deutsch-türkischen Ehen 6.880 Kinder hervorgingen. Laut Mikrozensus im März 2004 hatten
also 91.000 der damals 129.000 Paare Kinder. Daraus folgt, dass auch deutsch-türkische Paare sich nicht immer für Kinder entscheiden. 20 Prozent der Ehen zwischen einem deutschen Mann und einer türkischen Frau blieben kinderlos. Bei den Ehen zwischen einer deutschen Frau und einem türkischen Mann waren es sogar 35 Prozent.
Situation der türkischen Migranten 1961 wurde der Gastarbeiteranwerbevertrag mit der Türkei geschlossen. Ab diesem Zeitpunkt kamen auch Türken als so genannte »Gastarbeiter« nach Deutschland, um den Arbeitskräftemangel der deutschen Industrie zu stillen. Was zunächst als kurzfristige Aktion geplant war, weitete sich im Laufe der nächsten Jahre aus. War zuerst noch daran gedacht worden, die Arbeiter rotieren zu lassen und alle ein bis zwei Jahre neue Kräfte aus der Türkei zu holen, so erwies sich dieses Vorhaben für die Unternehmen bald als ineffektiv. Die gerade gut eingearbeiteten Arbeitskräfte sollte man wieder gehen lassen? Sie blieben also. Damit waren ihnen auf längere Sicht die provisorischen Wohn- und Lebensverhältnisse in den Sammelunterkünften nicht mehr zu zumuten. Also gestattete man ihnen, nach und nach ihre Familienangehörigen nachzuholen, Wohnungen anzumieten, eigene Geschäfte zu eröffnen und ihren Aufenthaltstatus allmählich zu verfestigen. 1971 zeigte das deutsche Wirtschaftwachstum mit der Erdölkrise eine Abschwächung. Die Bundesregierung erließ 1973 den Anwerbestopp für neue Gastarbeiter. Doch statt einer Reduzierung hatte das zunächst einen Anstieg der ausländischen Wohnbevölkerung zur Folge. Während 1965 132.800 und 1970 469.200 Türken in Deutschland wohnten, waren es 1975 bereits 1.077.100 und 1980 1.462.000. Denn
nach dem Anwerbestopp mussten sich die Familien für einen Wohnort entscheiden. Ein Pendeln zwischen ihrem ehemaligen Heimatland und Deutschland war nun nicht mehr möglich. Demgegenüber wirkte sich das Angebot der Bundesregierung auf Zahlungen für rückkehrwillige Türken aus: Bis Mitte 1984 verließen rund 250.000 Ausländer – hauptsächlich Türken – die Bundesrepublik. Das Gesetz gewährte ihnen Rückkehrhilfen von bis zu 10.500 D-Mark pro Erwachsenem und 1.500 D-Mark pro Kind. In der Türkei hatten sich in dieser Zeit die Lebensbedingungen eher verschlechtert. Die Folgen der Ölund der Zypernkrise schwächten den Anfang der siebziger Jahre einsetzenden Aufschwung stark ab. Die politische Lage wurde immer instabiler. Ende der siebziger Jahre kam es in der Türkei zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen der linken und rechten Kräfte. Sie führten schließlich 1980 zum Putsch des Militärs. In dieser unsicheren Situation erschien den türkischen Familien eine Rückkehr in die Türkei verständlicherweise als wenig ratsam. Unter diesen Verhältnissen war an eine wirtschaftliche Verbesserung in ihrem Heimatland kaum zu denken. Also machten sie von ihrem Recht auf Familienzusammenführung ab 1974 verstärkt Gebrauch. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit in den achtziger Jahren verschlechterte die Stimmung der deutschen Bevölkerung gegenüber den Einwanderern. Die Vermutung, dass sie ihnen die rareren Arbeitsplätze wegnehmen würden, malte Sprüche wie »Türken raus« an die Wände der Großstädte. Der Bedarf der Arbeitsmigranten, die sich für einen Verbleib in Deutschland entschieden hatten, nach größerem und bezahlbarem Wohnraum stieg mit dem verstärkten Familiennachzug ständig. Sie zogen meist in wenig attraktive Gegenden, die bald als Stadtteile angesehen wurden, in denen
sich die Probleme ballten und aus denen die, die es sich leisten konnten, schnell wieder auszogen. Die Separierung, die sich hier faktisch vollzog, lässt das heutige Beklagen der Entstehung von »Parallelgesellschaften« als durchaus vorhersehbar erscheinen. Den Migranten blieben wenig Alternativen. Als Mieter waren sie in den besseren Gegenden häufig unerwünscht. So versuchten sie, die Vorteile der türkisch geprägten Infrastruktur ihres Stadtteils zu sehen, die ihnen die Organisation ihres Alltags in der ungewohnten Umgebung erleichterte. Das hatte aber auch zur Folge, dass man in BerlinKreuzberg, in Hamburg-Wilhelmsburg oder Köln-Mülheim weitgehend ohne deutsche Sprachkenntnisse zurechtkommen konnte. Sprachkurse für Neuankömmlinge anzubieten oder sogar zur Pflicht zu erklären, ist erst 2004 verschärft in die gesellschaftliche Diskussion eingebracht worden. Durch etwas unterschieden sich die türkischen Familien von denen ihrer Arbeitskollegen aus den anderen Anwerbeländer wie Italien, Griechenland und Spanien: durch die Religion. Letztere waren in der Mehrzahl Katholiken und fanden sich somit in deutscher Gesellschaft mit ihren christlichen religiösen Wurzeln wieder. Doch den Türken fehlten religiöse Rückzugsmöglichkeiten. Als Muslime mussten sie in Deutschland auf Versammlungsmöglichkeiten in Moscheen verzichten. Da der Islam in Deutschland nicht als Kirche anerkannt wird, weil eine für alle Muslime sprechende Vertretungsorganisation fehlt, mussten sie sich als Kulturvereine eintragen lassen, um eigene Räume anmieten zu können. Die Türkisch islamische Union der Anstalt für Religion e. V. (DITIB) ist seit ihrer Gründung 1984 der Dachverband für 870 der Moscheevereine in Deutschland. DITIB untersteht wiederum dem Amt für Religionsfragen in Ankara.
Auch heute sind die Moscheen häufig in schlichten Gewerbegebieten untergebracht. Projekte zum Bau von sichtbaren Moscheen führten in der Vergangenheit oft zu starken Protesten der deutschen Anwohner. In den achtziger Jahren erkannte die deutsche Gesellschaft allmählich, dass die Einwanderung von mittlerweile 1,5 Millionen Türken Konsequenzen nach sich ziehen musste, an die sie bisher kaum gedacht hatte. Statt Arbeitskräfte waren nicht nur Menschen gekommen, wie Max Frisch ganz richtig bemerkte, sondern ganze Familien. Diese »Gastarbeiterfamilien« waren zu Einwandererfamilien geworden – auch wenn Helmut Kohl 1991 in seiner Regierungserklärung immer noch behaupten sollte, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Die Kinder dieser Migranten verlangten nach angemessenen Bildungsmöglichkeiten. Lange Zeit blieben die Versuche dazu aber Stückwerk, abzulesen an der hohen Anzahl der ausländischen Kinder, die auf eine Sonderschule gingen oder die Schule ohne Abschluss verließen. Man hoffte auf die nächste Generation. Sie würde in Deutschland die Schule durchlaufen haben und sich einfacher integrieren lassen. Doch gerade das dreigliedrige Schulsystem mit der frühen Einsortierung in die drei weiterführenden Schularten und die Betreuung in einer Halbtagsschule war hierfür nur sehr bedingt geeignet. Die PISA-Studie hat dem deutschen Schulsystem bescheinigt, dass der Schulerfolg der Kinder immer noch zu einem ungewöhnlich hohen Prozentsatz von der Herkunft ihrer Eltern abhängt. In der PISA-E-Studie von 2005 wurden folgende Ergebnisse ermittelt: Kinder deutscher Eltern landen zu 23,6 Prozent, Kinder türkischer Eltern zu 56,6 Prozent auf der Hauptschule. Dagegen gehen nur 10,2 Prozent von ihnen auf ein Gymnasium, während dorthin 32,5 Prozent aller Kinder aus deutschen Familien
kommen. Außerdem erreichen Kinder aus bildungsfernen Schichten mit höherer Wahrscheinlichkeit einen minder qualifizierenden Bildungsabschluss. Demnach haben es Kinder aus ehemaligen »Gastarbeiterfamilien« besonders schwer. Viele ihrer Elternteile haben in ihrem Heimatland kaum Schulbildung genossen und sollten nun in einem fremden Land ohne Sprachkenntnisse ihren Kindern den Weg weisen. Auch wenn die Schulabbrecherquote der ausländischen Kinder seit dem ersten Jahr der Erfassung 1992 von damals 26 Prozent zurückgegangen ist, stagniert sie in den letzten Jahren auf hohem Niveau: Sie betrug im Schuljahr 1996 wie auch 2003/2004 laut Statischem Bundesamt immer noch 17 Prozent. Bei deutschen Schülern lag sie dagegen bei 8,3 Prozent. Im selben Zeitraum erreichten die türkischen Schüler zu 40 Prozent den Hauptschulabschluss, zu 30 Prozent die mittlere Reife. Die Anzahl derjenigen, die die Berechtigung zu einem Hochschulstudium erwarben, stieg auf 11 Prozent. Im Wintersemester 2004/2005 studierten 22.500 türkische Staatsangehörige in Deutschland, davon 16.000 so genannte Bildungsinländer. In diesem Zusammenhang sind die neuesten Zahlen des Bundesinstitutes für Berufsbildung vom 23.11.2005 ebenfalls interessant: Nur 29 Prozent aller Ausbildungssuchenden mit Migrationshintergrund fanden eine Lehrstelle. Bei den deutschen Bewerbern waren es 40 Prozent. Die Ausbildungsquote der Jugendlichen mit einem ausländischen Pass fiel demnach seit Mitte der neunziger Jahre von 34 Prozent auf 25 Prozent im Jahre 2004. Unter den verschiedenen Einwanderergruppen in Deutschland haben Türken die längste Aufenthaltsdauer vorzuweisen. Ende 2003 lebten etwa drei Viertel (73,6 Prozent) der türkischen Bevölkerung länger als zehn Jahre in Deutschland, 20,6 Prozent sogar länger als 30 Jahre.
Von den 1,8 Millionen in Deutschland lebenden Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit waren bis Ende 2003 fast 40 Prozent in Deutschland geboren. Sie gehören damit der zweiten oder sogar der dritten Generation an. Seit der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechtes am 1.1.2000 hat sich die rechtliche Situation der in Deutschland geborenen Kinder verbessert: So erhalten die Kinder ausländischer Eltern, von denen wenigstens ein Elternteil mindestens acht Jahre rechtmäßig seinen Aufenthalt in Deutschland und eine Aufenthaltsberechtigung hat oder seit drei Jahren eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzt, die deutsche Staatsangehörigkeit. Somit ist auch in Deutschland das »ius soli« eingeführt worden. In den Jahren 2002 und 2003 erhielten dadurch jeweils ungefähr 37.000 Kinder ausländischer Eltern die deutsche Staatsangehörigkeit mit der Geburt.
Fragen an deutsch-türkische Paare Umfeld In einer Umfrage von 2002 lehnten 39 Prozent der Ostdeutschen und 28 Prozent der Westdeutschen Türken als Nachbarn ab. Von dieser Einstellung bleiben deutsch-türkische Paare sicher nicht unberührt. Fast jedes Paar sieht sich mit einigen Fragen konfrontiert, die von außen an es herangetragen werden. Denn die Umgebung spielt bei einer bikulturellen Beziehung eine fast ebenso große Rolle wie die Partner selbst. Sie fallen auf, sie sind anders als die vermeintliche Norm und stehen deshalb unter besonderer Beobachtung. »Ich als Schwarzkopf unterscheide mich schon rein äußerlich von den Deutschen. Meine Partnerin und ich ergeben ein schwarz-blondes Kontrastprogramm, das im Straßenbild
auffällt«, berichtet ein türkischer Ehemann. »Wir müssen uns sowohl im türkischen Umfeld wie im deutschen immer erklären.« Man sollte annehmen, dass bei der hohen Prozentzahl binationaler Partnerschaften diese mittlerweile als Selbstverständlichkeit gesehen werden, doch die meisten Paare können immer noch von gegenteiligen Erfahrungen berichten. Bezogen auf die Mehrzahl der Paare sind sie schließlich nach wie vor eine Minderheit. So müssen sie im Gegensatz zu ihnen ihre Wahl begründen. Im Erklären und Rechtfertigen haben die türkischstämmigen Partner meist schon viel Erfahrung. Für die deutschen ist das eher ungewohnt. Plötzlich werden auch sie gerne für Auskünfte über islamische und türkische Traditionen herangezogen. Denn in den Köpfen ihrer Zeitgenossen schwirren viele Fragen, Klischees und Vorurteile, für die sie jetzt als Adressat geeignet scheinen. Die an sie herangetragenen Fragen berühren viele verschiedene Themengebiete. Familie Die Wünsche der beiden Familien an ihre Sprösslinge sind meist schnell ein Thema. Die Partner müssen sich mit ihnen auseinander setzen. Die meisten Eltern, ob deutsch oder türkisch, haben gewisse Vorstellungen über die zukünftigen Schwiegersöhne oder -töchter, die ihren Familienkreis erweitern sollen. Sie kommen häufig erst explizit zur Sprache, wenn der Wunschpartner des Kindes nicht ganz ihren Erwartungen entspricht. Bei einem Partner aus einem anderen Kulturkreis ist dies meist der Fall. Kann eine Ehe zwischen Türken und Deutschen überhaupt gut gehen? Wird sie nicht zwangsläufig zur Scheidung führen, da die Vorstellungen und Prägungen der Partner zu
unterschiedlich sind? Wird sich der deutsche Partner in die türkische Familienkultur eingliedern wollen, oder wird er nicht ein Fremdkörper bleiben? Ist der türkische Partner nicht allzu geprägt vom Aufwachsen in einer patriarchalen Gesellschaft, als dass er die gleichberechtigte Rollenaufteilung zwischen den Geschlechtern akzeptieren kann? Unkenntnis und Vorurteile bestimmen oft die Bedenken der jeweils anderen Familie. Laut einer Untersuchung von Mehrländer, Ascheberg und Uelzhöffer (1996) erklärten sich 1995 über die Hälfte aller türkischen Eltern mit der Heirat ihrer Kinder mit einem deutschen Ehepartner einverstanden. 1985 lag die Zustimmungsquote noch bei etwas über 30 Prozent. Auffällig ist in ihren Ergebnissen, dass die Wahrscheinlichkeit, einen deutschen Ehepartner zu heiraten, zwischen den Generationen sehr unterschiedlich hoch eingeschätzt wird. Gerade bei türkischen Familien ist der Unterschied zwischen Kindern und Eltern bei der Zustimmung zum Statement »auf jeden Fall ist der Ehepartner ein/e Deutsche/r« sehr hoch und liegt bei über 30 Prozent: Nur 4 Prozent der Eltern, aber 35 Prozent der Kinder gingen von dieser Partnerwahl aus. So kann die Überraschung groß sein, wenn der neue Partner präsentiert wird. Für die türkischen Eltern genauso wie für die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Mit dieser eventuellen Skepsis und Ablehnung müssen sich die meisten Paare auseinander setzen – und das häufig zu einem frühen Zeitpunkt ihrer Beziehung, in der sie noch kaum gefestigt ist. Religion Nicht erst seit dem 11. September 2001 hat der Islam im Westen einen schlechten Ruf. Die Stichworte, die in Deutschland oft noch im selben Atemzug fallen, sind negativ geprägt. Frauenunterdrückung, Scharia, Rückständigkeit,
islamischer Terrorismus, Parallelgesellschaft, Ehrenmorde sind nur einige von ihnen. Großen Raum bei den Sorgen, die sich die Umwelt um deutsch-türkische Paare macht, nimmt also das Thema Religion ein. Bei ihnen geht man von christlich-islamischen Paaren aus und vermutet Konflikte. Wird der andersgläubige Partner nicht die Religionsausübung seines Partners behindern, beeinflussen oder sogar unterdrücken? Ist es nicht moslemischen Frauen sogar verboten, einen christlichen Ehemann zu nehmen, da man davon ausgeht, dass er über ihre Religion und die der Kinder bestimmen wird? Werden die Partner sich auf gemeinsame Werte einigen können? Nach welchen Traditionen und Einstellungen werden sie bei der Erziehung ihrer Kinder verfahren? Können Familienfeste, die ja in der Regel auf religiösen Wurzeln fußen, noch gemeinsam begangen werden? Werden die unterschiedlichen religiösen Vorstellungen nicht zu unüberwindbaren Problemen führen, die vielleicht über die Kinder ausgetragen werden? Eine Vielzahl von möglichen Komplikationen wird dem Paar meist in Aussicht gestellt. Kultur »Die deutsche und die türkische Kultur passen einfach nicht zusammen!« Mit diesem Statement sehen sich viele Paare konfrontiert. Auf der einen Seite stehe eine Gesellschaft von egoistischen Individualisten, die ihre Eltern bei Bedarf einfach ins Heim abschieben würden, und auf der anderen Seite eine Gesellschaft aus sich gegenseitig kontrollierenden Familienclans, lauten die gängigen, gegenseitigen Vorurteile. Können Partnerschaften zwischen Personen aus diesen beiden Kreisen überhaupt Bestand haben? Sind ihre Prägungen und Erwartungen nicht viel zu unterschiedlich?
Doch ist die Wirklichkeit nicht differenzierter? Ist Kultur nicht eher ein fließender Entwicklungsprozess statt eine statische Festlegung? Ist sie nicht als Sammelbad für die Regeln, Strukturen, Traditionen und Weltsichten einer Ethnie einer ständigen Entwicklung unterworfen? Gilt das nicht für jede Volksgruppe, speziell in einer globalisierten Welt und im besonderen Maß für ein Leben in der Migration? Somit ist der Abstimmungsbedarf zwischen Partnern in einer Beziehung wahrscheinlich selten nur durch kulturelle Unterschiede geprägt; eine ebenso große Rolle spielen vielleicht die Generationsunterschiede und der Bildungsgrad. Ist es eventuell einfach oft bequemer, die Differenzen deutschtürkischer Paare an Kultur und Religion fest zu machen? Sprache Wenn die Paare in Deutschland leben, ist ihre Familiensprache fast immer Deutsch. Der türkischstämmige Partner muss also auf seine Muttersprache verzichten. Zieht das nicht eine Einschränkung auf der Verständigungsebene nach sich? Ist eine gemeinsame Sprache, in der sich beide Partner gleich wohl fühlen, für eine gelungene Kommunikation nicht unerlässlich? Das gilt natürlich in besonderem Maß für Partner aus der ersten Generation. Am Anfang ist das Wörterbuch wohl das ständige Accessoire vieler Paare. Die Hochphasen der Verliebtheit mögen solche kleinen Widrigkeiten noch unwichtig erscheinen lassen. Doch sieht das später im Alltag nicht ganz anders aus? Bei Partnern aus der zweiten Generation, die ihre Kindheit und Schulausbildung in Deutschland verbracht haben, sind kaum praktische Schwierigkeiten in der Verständigung zu erwarten. Doch mit der Sprache ist auch eine emotionale Ebene verbunden. Transportiert sie nicht außerdem in besonderer Weise Kultur? Werden die türkischstämmigen
Partner nicht eine Ebene in ihrer Beziehung mit einem deutschen Partner vermissen? »Auf Türkisch lässt sich manches viel besser ausdrücken. Mit anderen Türken wechsele ich gerne in meine Muttersprache, wenn ich etwas Emotionales besprechen möchte. Da passt das Deutsche nicht so gut«, berichtet eine türkischstämmige Frau. Wird sie also diese Emotionalität mit ihrem deutschen Partner in der Form, die ihr am liebsten ist, nicht austauschen können? Kinder Und was wird mit den Kindern werden? Werden sie zweisprachig erzogen werden? Droht so nicht die Gefahr, dass sie beide Sprachen nur halb beherrschen? Wird sich der deutsche Partner nicht aus dem Gespräch ausgeschlossen fühlen, das der türkischsprachige Elternteil mit den Kindern führt? Wie wird die Kommunikation mit den türkischen Schwieger- und Großeltern stattfinden? Wird dieser Austausch auf Oberflächlichkeiten beschränkt bleiben müssen, weil die gemeinsame Sprache fehlt? Diesen Kindern wird durch ihre Eltern und deren Familien eine große Variationsbreite an Lebensmöglichkeiten gezeigt. Werden diese Kinder sich nicht letztendlich hin und her gerissen und heimatlos fühlen? Werden sie überhaupt eine gesunde Identität entwickeln können? Interviewte Paare Ich habe mit insgesamt 42 Paaren Gespräche geführt. Die meisten von ihnen verfügen über eine langjährige Erfahrung in Bezug auf deutsch-türkische Partnerschaften: Immerhin sind 15 von ihnen länger als 20 Jahre zusammen, 13 länger als zehn Jahre und nur zwei der Paare blicken auf weniger als vier Jahre Beziehungserfahrung zurück.
Unter den Paaren entsprach die Geschlechterverteilung der der bundesdeutschen Zahlen: Die Männer türkischer Herkunft, die mit deutschen Frauen in einer Partnerschaft lebten, waren in der Mehrzahl – 26 Männer gegenüber 16 Frauen. Allerdings war das Verhältnis unter den jüngeren Paaren umgedreht: Unter ihnen gab es nur noch drei türkischstämmige Männer gegenüber 16 türkischstämmigen Frauen. Immer wenn zwei Menschen sich wirklich intensiv begegnen wollen, müssen sie kommunizieren, sich aufeinander einlassen, den anderen in seinen Besonderheiten kennen und verstehen lernen. Letztendlich gilt das natürlich auch für jedes monokulturelle Paar. Doch während deutsch-deutsche oder türkischtürkische Paare meistens davon ausgehen mögen, dass sie gewisse Grundüberstimmungen voraussetzen können, sind sich bikulturelle Paare von vornherein dessen bewusst, dass sie viel reden und erklären müssen. Doch wie diese Paare beweisen, muss sich das Wissen um die Notwendigkeit von wahrhaftiger Kommunikation nicht als Nachteil herausstellen. Alle Paare in einem Porträt vorzustellen, hätte den Rahmen dieses Buches gesprengt. Um sie trotzdem alle zu Wort kommen zu lassen, habe ich ihre Erfahrungen im Schlussteil versucht zusammen zu stellen. Die persönlichen Daten der Paare wurden bis auf zwei (Aydan Özoguz und Michael Neumann, Stella und Ömer Özdil, die auf dem Titelbild zu sehen sind) anonymisiert: Ihre Namen wurden geändert und ihre Altersangaben zum Teil verschleiert. Mancher wird vielleicht die Berichte über gescheiterte Beziehungen vermissen. Doch dieses Buch soll gerade von den Paaren berichten, die ihr Beziehungsprojekt erfolgreich gestalten konnten. Es will sich den Fragen und Antworten widmen, die sie in ihrem privaten kulturellen Dialog gefunden haben. Vielleicht können sie Anregungen für den gesamtgesellschaftlichen Dialog geben, der in Deutschland
noch intensiviert werden muss. Dieses Buch ist somit eher als Ergänzung zu den Berichten von gescheiterten Beziehungen zu verstehen, die naturgemäß schnellere Verbreitung finden als die, die von gelungenen Verbindungen erzählen.
I Interviewpartner der ersten Generation
Die erste Einwanderergeneration hat sich häufig im Zuge der Gastarbeiteranwerbung ab 1961 nach Deutschland aufgemacht. Zu über 80 Prozent handelte es sich dabei um junge Männer, da sie für die Wirtschaft am interessantesten erschienen. Weniger bekannt ist, dass auch zu circa 19 Prozent Frauen nach Deutschland gekommen sind, um hier hauptsächlich in den Fabriken, die auf kleinteilige Handarbeit angewiesen waren, Geld zu verdienen. Wie die Männer, haben sie sich meist eigenständig aufgemacht, um hier für sich und ihre Familie Geld zu verdienen und gleichzeitig ihre eigenen Zukunftschancen zu erhöhen. Für viele von ihnen war es ein bewusster Aufbruch in eine andere, unbekannte Welt. Viele sind nicht nur zum Arbeiten gekommen. Nicht wenige verbanden mit ihrem Zuzug nach Deutschland die Hoffnung auf mehr Bildung. Sie kamen vorrangig um zu studieren und arbeiteten nur nebenher, um ihre Lebenshaltungskosten zu decken. Gerade diese spezielle Gruppe der ersten Einwanderergeneration wollte Neues in Deutschland für sich entdecken und war somit besonders aufgeschlossen für Kontakte zu »Einheimischen«. Die interviewten Partner der ersten Generation spiegeln die verschiedenen Gruppen wieder: Eine der Frauen hat in einer Fabrik gearbeitet, eine zweite in einem Krankenhaus. Ein türkischer Ehepartner war als Erntehelfer tätig. Bei den übrigen, die in die Altersgruppe der 60- bis 70-Jährigen fallen, handelt es um eine Frau und zwei Männer, die als Unternehmer, für ein Auslandsjahr und als Medizinstudent
nach Deutschland gekommen sind. Sie stammen aus eher privilegierten Schichten der Türkei. Eins der Paare lebt heute in der Türkei.
Aus ihrer langjährigen Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen. Sie freuen sich schon auf ihr Rentenalter, das sie in ihrem Ferienhaus in der Türkei verbringen wollen. Er: Wir streiten uns nie. Und wenn es mal etwas lauter wird, sage ich einfach: So, gut ist jetzt! Dann gibt es ein Küsschen und alles ist wieder in Ordnung.
Für mich hat diese Ehe nur Gutes gebracht DEUTSCHER SCHNAPSBRENNER, 57 & TÜRKISCHE FLIESSBANDARBEITERIN, 56
»Ich war in einer Destillation für Alkohol im Labor beschäftigt. In den Siebzigern wurden in der Firma viele Gastarbeiterinnen für die Arbeiten am Band angeheuert. 1971 kam dann auch meine jetzige Frau. Die Arbeiterinnen gingen zur Mittagspause immer an unserem Fenster vorbei. Wir Männer riskierten natürlich gerne mal den einen oder anderen Blick. Meine Frau fiel mir gleich auf. Sie war sehr hübsch. Ich versuchte Blickkontakt zu bekommen, doch das gelang mir immer nur für winzige Momente.« Karl erinnert sich noch ganz genau an den Anfang seiner Beziehung zu Meliha. Sie kann erklären, warum ihm die Kontaktaufnahme so schwer fiel: »Die anderen Türkinnen, mit denen ich zusammenarbeitete, passten sehr gut auf. Wir Jungen sollten uns auf keinen Fall mit den Deutschen einlassen.« Für soziale Kontrolle war also auch im fernen Deutschland gesorgt. Wohl zu Recht, wer konnte damals schon richtig einschätzen, was die deutschen Männer von den türkischen Frauen wollten. Da die Frauen alle zusammen im Wohnheim gegenüber der Firma
untergebracht waren, war diese Gemeinschaft rund um die Uhr gegeben. Es wurde zusammen eingekauft, gekocht, gegessen und geschlafen. Fernseher und Radio gab es nicht. »Ich habe mich gefühlt wie im Gefängnis, ich wollte sofort wieder nach Hause. Ich habe nur geweint«, erinnert sich Meliha. Der Rat ihrer Tante hatte sie nach Deutschland gebracht. In der Türkei hatte Meliha in der Nähe von Izmir das Gymnasium besucht und das Abitur gemacht. Doch die Möglichkeit eines Studiums war aufgrund der finanziellen Beschränktheit der Familie nicht gegeben. So schlug ihre Tante, die als Zahnärztin in Hannover arbeitet, vor, sich für ein Arbeitsjahr in einer deutschen Fabrik zu verpflichten, Deutsch zu lernen und danach ein Studium in Hannover zu beginnen. Doch soweit kam es nicht. Die Liebe kam Meliha dazwischen. »Du hast meine Karriere verhindert«, meint sie halb scherzhaft, halb ernst zu ihrem Mann. Der entgegnet mit dem ihm eigenen, trockenen Humor: »Aber du bist eine tolle Hausfrau und Mutter geworden.« Die Einsamkeit, die Meliha seit ihrer Ankunft in Deutschland empfand, mag ein Katalysator für ihre Beziehung gewesen sein. Sie fühlte sich so allein in der Fabrik und dem Wohnheim, dass das Interesse dieses Mannes, der ihr so offen und hilfsbereit entgegentrat, einfach gut tat. Doch zunächst wurde Karl einer sorgsamen Prüfung unterzogen. Und zwar durch die Wohnheimbewohnerinnen. Nachdem er zahlreiche Versuche unternommen hatte, sich mit Meliha zu verabreden, wurde er endlich zu einem Kaffeetrinken ins Wohnheim eingeladen. »Das war eine Überraschung«, erzählt Karl. »So etwas kannte ich ja gar nicht. Alle Frauen bedienten mich. Sie reichten mir Kaffee oder Tee, ganz wie ich wollte. Sie hatten extra Teigrollen für mich zubereitet. Es war herrlich, so fürstlich bedient zu werden. War ich vorher schon von meiner hübschen Frau begeistert, so überzeugte mich diese
Gastfreundlichkeit noch zusätzlich.« So positiv wie Karls Urteil fiel auch das der Frauen für ihn aus: »Sie fanden mich wohl auch sympathisch«, vermutet er. Da Karl schon damals ein Auto hatte, durfte er als nächstes Meliha für eine Urlaubsreise in die Türkei zum Flughafen bringen. »Ich erinnere mich noch: Sie saß hinter mir im Auto und zupfte mir ganz leicht in meinem Nacken am Haar. Da schöpfte ich Hoffnung: Vielleicht hatte sie also auch an mir Interesse.« Denn das zeigte sie ansonsten kaum. Sehr zurückhaltend sei sie damals gewesen. Verständlich nach den Warnungen der Frauen. Erschwerend kam sicherlich hinzu, dass die Orientierung in einem neuen Land mit seinen Regeln und Gepflogenheiten sehr schwer fällt, wenn man die Sprache nicht beherrscht. »Doch unsere Verständigung hat immer gut geklappt«, findet Karl. Zuerst half das Wörterbuch, dann lernte seine Frau einzelne Wörter und bald bildete sie schon Sätze. Er fand, sie lernte sehr schnell. Meliha fasste allmählich Vertrauen zu Karl. Seine Hartnäckigkeit hatte sich doch ausgezahlt: Endlich wagte sie, ihr Interesse zu zeigen. Doch was würden ihre Eltern dazu sagen? Der Zeitpunkt war gekommen, dass die beiden ihre Familien einweihen mussten. Bei seiner eigenen sah Karl keine Probleme. »Sie waren ganz offen. Sie hatten keinerlei Bedenken, dass eine Türkin nicht zu mir passen würde«, meint er. »Bei ihnen galt immer: Hauptsache du bist glücklich.« Bei Meliha hatten sie wohl keine Zweifel, dass Karl es werden würde. »Sie waren von Meliha gleich begeistert«, erinnert er sich noch. Doch bei ihrer Familie waren mehr Bedenken zu erwarten. Ganz geschickt holten sie zunächst die Zustimmung der Tante in Hannover ein. War diese erlangt, hofften sie, dass die Tante Melihas Vater positiv beeinflussen würde. So kam es auch. Die Telefondrähte glühten, denn der Vater war zunächst
gar nicht begeistert. »Doch er hat ein weiches Herz«, weiß Meliha. So stimmte er zum Schluss doch zu. Einer Reise in die Türkei stand also nichts mehr im Weg. Zur Verstärkung nahm Karl seinen Bruder mit. »Und der hat sich doch tatsächlich gleich in Melihas Freundin verliebt, sie später geheiratet und mit nach Deutschland gebracht.« Ein gemeinsamer Lebensabend der Vier in der Türkei war schon geplant und vorbereitet. Doch es kam anders: Karl Bruder ist letztes Jahr überraschend an Krebs gestorben und seine Frau zu ihren Verwandten in die Türkei zurückgegangen. Die Aufnahme in Melihas Familie empfand Karl nach den geleisteten Vorarbeiten als sehr herzlich. Er fühlte sich sehr wohl und zeigte es auch. Die Eltern bekamen den Eindruck: Dieser Schwiegersohn wird unsere Tochter gut behandeln und gaben ihre endgültige Zustimmung. Ein halbes Jahr später war dann die Hochzeitsfeier in der Türkei. Drei Zeitungen waren vor Ort erschienen, um über dieses ungewöhnliche Ereignis zu berichten. Das Ehepaar zeigt eine gut bestückte Mappe mit vergilbten Zeitungsausschnitten. Immer noch ist sehr gut zu erkennen, was für ein schickes, flottes Paar die beiden damals abgegeben haben. Er selbst stand seiner Frau in Punkto Aussehen in nichts nach: Der stattliche Mann mit seinem gepflegten Riesenschnauzbart und den langen Koteletten machte eine gute Figur. Er fügte sich somit schon allein vom Äußeren wunderbar in die türkische Hochzeitsgesellschaft ein, deren männliche Vertreter ebenfalls alle schnauzbärtig waren. Zurück in Deutschland gestaltete sich das Eheleben der beiden unproblematisch. Sie arbeiteten zunächst gemeinsam im Labor. Aufgrund ihrer guten Vorbildung war Meliha befördert worden. Sie sprach Englisch und so klappte auch die fachliche Verständigung mit dem Chef. Am Wochenende besuchte man sich mit den türkischen Familien im nachbarschaftlichen Umfeld. Karl erinnert sich gerne an die
geselligen Tage in großer Runde. »Wir haben immer wunderbares Essen auf dem Tisch gehabt.« An schwerwiegende Diskrepanzen können sich beide nicht erinnern. »Gestritten haben wir uns nie.« Seine Frau nickt: »Nie ernsthaften Streit.« Karl ergänzt: »Das war bei uns so: Nach einer Auseinandersetzung ist man kurz beleidigt, dann geht man wieder hin, spricht darüber und verträgt sich wieder.« Karl verrät sein Zauberwort: »Wenn es doch mal zu einem Streit gekommen ist, dann sag’ ich einfach: Jetzt ist aber gut!« Seine Frau beugt sich vor. In einem Punkt muss sie ihren Mann doch korrigieren: »Meist bin ich es, die den ersten Schritt macht. Uns Frauen fällt das einfach leichter. Ich nehme ihn in den Arm, küsse ihn und es ist wieder in Ordnung.« Dann kündigte sich das erste Kind an, und Meliha unterbrach ihre Arbeit. Sobald der zeitliche Freiraum mit dem Kleinen wieder etwas größer war, kam sie in Teilzeit zurück. Nach dem zweiten Kind gelang das allerdings nicht mehr. Die Getränkefirma war inzwischen Pleite gegangen. Ihr Mann hatte Arbeit in der Postdienststelle eines Krankenhauses gefunden, und Meliha ging zur Post. Als Briefesortiererin konnte sie ihre Schicht so legen, dass stets eine Betreuung der beiden Kinder gegeben war. Kam ihr Mann nach Hause, ging sie zur Arbeit und er kümmerte sich um die Kleinen. »Mein Mann hat immer viel mit ihnen gespielt, Hausaufgaben gemacht und gelernt. So haben sie auch so gut Deutsch gelernt.« Sie selbst hätte ihnen dabei weniger gut zur Seite stehen können, denn sie benutzt das Deutsche bis heute nur als Mittel der mündlichen Verständigung. Die Notwendigkeit, sich mit Grammatik und Schriftdeutsch zu beschäftigen, hat sich in ihrem Leben nicht ergeben. »Ich habe mit meinen Kindern Türkisch geredet. Meine Tochter kann es heute neben Deutsch perfekt. Mein Sohn hat leider vieles vergessen.« Wie auf ein Stichwort hört man einen
Schlüssel in der Tür. Karl guckt verschmitzt auf: »Ich habe meinen Sohn gebeten heute kurz vorbeizukommen. Und er hat es gemacht«, freut er sich. Ein smarter Mann Anfang zwanzig kommt zur Tür herein. Er nimmt Platz und bestätigt den letzten Teil der Erzählung seiner Eltern. Als Kleinkind habe er mit seiner Mutter Türkisch gesprochen, aber es im Laufe seiner Jugend wieder verlernt. Heute bedauert er ein wenig, auf seine zweite Sprache verzichtet zu haben. »Aber Türkisch ist ja keine Weltsprache«, tröstet er sich. »Lange Zeit wusste ich nicht, wohin ich mich gezogen fühlte. Ich habe ja einen Doppelnamen. Da haben die Leute schon gefragt: ›Wo kommst du denn her?‹ Bin ich nun Deutscher, bin ich nun Türke? Letztendlich habe ich wohl beide Kulturen in mir.« Seine Mutter merkt scherzhaft an: »Du müsstest dich Hälfte, Hälfte durchschneiden!« Doch ihr Sohn hat für sich andere Prioritäten gesetzt: »Ich hatte eigentlich nur deutsche Freunde und ging auf eine deutsche Schule. Das Deutsche war mir einfach wichtiger. Ein paar Mal habe ich auf den jährlichen Türkeiurlaub mit der Familie verzichtet, und so verlor das Türkische für mich immer mehr an Bedeutung.« Er findet, dass sich seine Strategie ausgezahlt hat: Er arbeitet erfolgreich als Versicherungskaufmann und freut sich, in der deutschen Gesellschaft einen guten Platz gefunden zu haben. Die um ein paar Jahre ältere Tochter hat da eine andere Richtung eingeschlagen. »Sie ist mehr wie türkische Mädchen«, meint die Mutter. »Jungen gegenüber ist sie sehr zurückhaltend. Sie achtet immer auf ihre Kleider. Sie will, dass ihr Körper bedeckt bleibt, auch in der Türkei, wenn alle anderen im Bikini herumlaufen. Da sage ich schon mal zu ihr: Nun zieh dir mal was Schönes an, aber das will sie nicht.« In Deutschland ist die Tochter gerne zu Hause. Sie hilft ihrer Mutter freiwillig im Haushalt und häkelt und strickt mit ihr. »Das sage ich ihr nicht, das kommt von innen heraus«,
versichert die Mutter. Abends gucken die beiden gerne zusammen türkisches Fernsehen. Ihr Bruder sagt über sie: »Im Gegensatz zu mir hat sie das Türkische weiter gepflegt. Sie liebt die Türkei mehr als ich. Für mich ist es nur ein Urlaubsland.« Auch der Vater bestätigt: »Sie hat viel von uns mitbekommen: Sie liebt das Türkische und die Türkei so wie meine Frau und ich.« So ist es wahrscheinlich kein Zufall, dass der Sohn eine deutsche Freundin und seine Schwester einen Verlobten in der Türkei hat. In Religionsfragen kamen die Ehepartner schnell auf einen gemeinsamen Nenner. »Religion, damit hatten wir gar kein Problem, und das, obwohl ich sogar katholisch bin. Für mich gibt es nur einen Gott«, meint Karl. »Genau«, bestätigt seine Frau. »Die Menschen teilen Gott, es gibt aber nur eine Kraft. Mitleid haben und Gefühle zeigen ist der richtige Glaube«, ist sie überzeugt. In diesem Geiste sei sie schon von ihren Eltern erzogen worden. Der Sohn bestätigt diese Haltung: »So haben das meine Eltern auch in meiner Erziehung gemacht. Sie haben mich gelassen, deswegen bin ich bis heute auch noch religionslos. Ich kenne mich mit den verschiedenen Religionen zu wenig aus, deswegen will ich mich da nicht festlegen. Ein Glaube ist dennoch wichtig, damit man etwas hat, wenn es einem schlecht geht. Ich glaube an mich und meine Leistung«, überlegt er. Mit einem Blick auf seinen Vater fügt er schnell hinzu: »Und an meine Familie.« Der letzte Satz verfehlt seine Wirkung nicht: »Ja, wir fühlen uns sehr verbunden«, bestätigt der Vater und lächelt zufrieden. Die Familie fährt jedes Jahr in die Türkei. Sie genießt den unbeschwerten Urlaub in dem noblen Ferienhaus der Tante aus Hannover. Bodrum ist für Karl der ideale Ferienort. Er liebt die Aussicht von der Terrasse auf das blaue Meer bei strahlendem Sonnenschein. Viele Videos und Fotos lassen immer wieder die schönen Urlaubserinnerungen aufleben, wenn man im
weniger sonnigen Norddeutschland ist. Schnell sind zwei Fotosammlungen aus dem letzten Jahr zur Hand und belegen die Erzählungen. Doch neben den landschaftlichen Vorzügen freut sich der Ehemann auch an weiteren Annehmlichkeiten. Er liebt es, zum Friseur oder ins Hamam, ins türkische Bad, zu gehen. Stets ist er begeistert vom äußerst zuvorkommenden Service und dem herzlichen Umgang. Gerne geht er mit seiner Frau in einheimische, einfache Lokale und freut sich, wenn er dort als Türke angesehen wird. »Ich überlasse meiner Frau das Reden und nicke nur oder murmele eine Antwort. So werden wir beide wie Einheimische behandelt.« Wenn seine Schauspielerei dann doch durchschaut wird, wird die Reaktion noch freundlicher. »Wenn sie herausbekommen, dass ich Deutscher bin, dann sind sie noch netter und bedienen mich noch eifriger.« Dann geht es ihm genauso wie einem Urlaubsgast, den sie dort einmal kennen lernten. »Dieser sagte mir, er würde sich schämen, wenn er daran denkt, wie die Türken bei uns in Deutschland behandelt werden.« Karl freut sich schon auf die Zeit nach seiner Rente, wenn sie ihre Aufenthalte in der Türkei nach Lust und Laune ausdehnen können. Einiges hat sich für Meliha in Deutschland erfüllt: Sie hat einen Ehepartner gefunden, mit dem sie eine harmonische Ehe führt, und sie hat zwei Kinder zu »ordentlichen« Menschen erzogen. Eines konnte sie jedoch nicht erreichen: Ihre Wünsche nach mehr Bildung und beruflichem Erfolg blieben ein Traum. Doch sie tröstet sich damit, dass dieser Verlauf ihr Schicksal war. »Wir Türken glauben an die Vorsehung. Schon als meine Mutter schwanger war, ist mein Lebensweg vorgezeichnet worden.« Ihr Mann lässt seiner Fantasie unbeschwert freien Lauf: »Also hätten wir uns wahrscheinlich auch kennen gelernt, wenn du Zahnärztin geworden wärest. Ich
wäre also z. B. zur Messe gefahren, hätte Zahnschmerzen bekommen und wäre zu dir gekommen«, malt er sich aus. Karl kann sich dagegen ganz uneingeschränkt über seine Ehe freuen: »Ohne Meliha hätte ich nie die Möglichkeit gehabt, die Türkei kennen zu lernen und dort wie ein Einheimischer im Ferienhaus leben und die kulinarischen Köstlichkeiten genießen zu dürfen. Das habe ich meiner Frau zu verdanken. Durch sie habe ich viel gelernt. Diese Herzlichkeit, diese Gastfreundschaft, diesen liebevollen Umgang habe ich durch sie kennen gelernt. Darüber freue ich mich und versuche dann auch, es in meinen Alltag einzubauen. So bekommt man doch immer wieder Anregungen, sich zu verändern.« Er nickt noch einmal bestätigend: »Ich habe durch meine Frau wirklich nur Gutes bekommen.«
Sie trat mit 16 zum Islam über. Ihren türkischen Mann traf sie in Österreich. Ihre klaren Vorstellungen von der Aufgabenteilung in einer Ehe passten hervorragend zu seinen. Der erfolgreiche Selfmade-Mann: Die Türken haben ihre Chance in Deutschland verpasst. Jetzt kommen die Russlanddeutschen.
Die Türken haben ihre Chance verpasst DEUTSCHE TURKOLOGIN, 63 & TÜRKISCHER GESCHÄFTSMANN, 67
Annemarie hatte schon früh eine klare Zielvorstellung für ihr Leben. Sie wurde in einer wohlhabenden Akademikerfamilie als Nesthäkchen und einzige Tochter geboren. Wohlbehütet wuchs sie auf, erzogen von ihrem dominanten Vater und umsorgt von ihrer Mutter. »Ich genoss die klaren Strukturen in ihrer Aufgabenteilung«, sagt die 63-Jährige heute. »Die wünschte ich mir auch für mein eigenes späteres Leben.« Die Regeln der christlichen Lehre, die ihr von ihren Eltern vermittelt wurden, waren ihr dagegen zu locker. »Ich suchte auch in diesem Bereich nach eindeutigeren Orientierungsmarken«, sagt sie. Im Islam fand das Mädchen die gesuchten Strukturen, die ihr hervorragend zu ihrem sonstigen Lebenskonzept zu passen schienen. Die ostpreußische Tochter trat mit 16 zum Islam über. »Die Geschichten aus tausendundeiner Nacht mögen meinen Hang zum Orientalischen noch unterstützt haben«, scherzt die gepflegte Frau mit den locker hochgesteckten, schwarzen Haaren. Folgerichtig begann sie nach dem Abitur, Turkologie
zu studieren. »Damals ein Studiengang, der nie endete und keinen Abschluss anbot«, berichtet sie. »Für mich damit genau das Richtige: Ich wollte mich schließlich geisteswissenschaftlich bilden und keinen Beruf erlernen.« Darin stimmte sie völlig mit ihren Eltern überein. »Ich sollte genau wie meine Mutter eine gebildete Ehefrau und Mutter werden.« Das war der Wunsch ihrer Eltern und ihr eigener. Während ihres Studiums verbrachte Annemarie ein halbes Jahr in der Türkei. »Meine ganze Familie erwartete, dass ich mit einem türkischen Ehemann zurückkehren würde. Schließlich hatte ich oft genug erklärt, dass für mich kein Deutscher sondern nur ein Türke in Frage käme.« Doch wider Erwarten kam sie ohne diesbezügliche Neuigkeiten zurück. »Meine Eltern waren erleichtert. Die Gefahr, dass sie mich an die Türkei verlieren würden, schien gebannt.« Unerwartet bot sich die Gelegenheit dazu auf einem ganz anderen Terrain. »Mein Vater war ein kluger Mann. Als ich 27 war, erkannte er, dass die Zeiten sich geändert hatten. Mittlerweile sollte auch die Frau einen Berufsabschluss haben, denn nicht mehr alle Ehen hielten ein Leben lang.« Was kam für sie in Frage? »Eine Ausbildung zur Übersetzerin bot sich an. Ich konnte schließlich schon perfekt Türkisch sprechen.« Doch die wurde zu der Zeit nur in Österreich angeboten. Also machte sich Annemarie auf den Weg nach Graz. Am zweiten Tag nach ihrer Ankunft ging sie in die katholische Mensa zum Mittagessen. »In der Schlange hörte ich jemanden Türkisch reden. Da ich mir nicht ganz sicher war, in welchen Gerichten Schweinefleisch war, sprach ich den jungen Mann an.« Dem war dieser Gesichtspunkt beim Essen zwar völlig egal, aber er half der aparten, perfekt Türkisch sprechenden Frau gerne. So lernte Annemarie in Österreich ihren türkischen Ehemann kennen: Sayhan, den Doktorand im Fach Rechts- und Staatswissenschaften.
Schnell stellte sich heraus, dass sie gut zusammenpassten. Auch Sayhan kam aus einem gutbürgerlichen Elternhaus, das sich zu den besseren Kreisen Ankaras zählen durfte. Auch er strebte eine klassische Aufgabenverteilung in der Familie an. Auch ihm war der Bildungsgrad seiner zukünftigen Frau sehr wichtig. »Trotz unseres unterschiedlichen Herkunftslandes gab es in unseren Familienstrukturen sehr viele Gemeinsamkeiten«, meint Annemarie. Sie wurden sich schnell einig. Nach dem Erlangen seiner Doktorwürde sollte geheiratet werden. Doch ein Punkt blieb vorläufig noch strittig. »Ich wollte unbedingt in der Türkei leben«, berichtet Annemarie mit einem Augenzwinkern. »Ich stellte es mir wunderbar vor, in einem großen Akademikerhaus in Ankara zu wohnen und mit der Großfamilie zusammen am gesellschaftlichen Leben dort teilzunehmen«, erklärt sie. Doch für Sayhan kam das nicht in Frage: »Ich wollte etwas erreichen, und zwar ohne meinen Vater. Ich wollte nicht auf dem aufbauen, was er schon geschaffen hatte, sondern ganz alleine meine Ziele verwirklichen«, erläutert der gewichtige Mann. Das hat er heute erreicht: Er ist ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann geworden, der es in Deutschland weit gebracht hat. »Mein Name steht in goldenen Lettern an einem historischen Kontorhaus direkt unter dem einer sehr berühmten deutschen Firma«, stellt er mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme fest. Seinen Erfolg genießt er heute in ihrer gemeinsamen, sehr luxuriös ausgestatteten Villa. Alle Wände im Herrenzimmer, in dem das Gespräch stattfindet, sind mit dunklem Holz verkleidet, das mit Intarsien verziert ist. Die Decke besteht ganz aus Glas. Neben der komfortablen Sitzgruppe aus braunem Leder nimmt der riesige Schreibtisch mit dem PC den größten Raum ein. Wenn Sayhan wegen seiner Rückenschmerzen nicht mehr sitzen kann, steht er immer mal wieder auf, geht zu seinem bequemeren Designer-
Schreibtischsessel und zaubert mit ein paar routinierten Klicks aus dem PC die passenden Fotos zu seiner Erzählung hervor. Auch mit Mitte 60 findet dieser Mann den Ruhestand wenig erstrebenswert. Er will ständig auf dem Laufenden bleiben und so lange im Geschäftsleben mitmischen, wie er kann. Für seine Frau kein Problem. »Wir waren uns stets einig: Jeder von uns hat in seinem Aufgabenbereich seinen Freiraum.« Annemarie nutzt ihren mittlerweile, um wieder an die Uni zu gehen. Ihr Mann lächelt zufrieden: »Ich war sehr glücklich über unser Arrangement. Ich konnte so abgearbeitet sein, wie ich wollte; wenn ich zu dir nach Hause kam, konnte ich mich erholen. Unser gemeinsames Heim hast du für mich zu einem Hort der Geborgenheit gemacht«, findet er lobende Worte für seine Frau. Annemarie bestätigt: »Für mich war es ebenfalls perfekt: Ich konnte in Ruhe meinen sozialen Aufgaben in unserer Familie nachgehen, während du den äußeren Rahmen gesichert hast.« Die Rechnung scheint für beide Seiten aufgegangen zu sein. Doch zunächst waren ein paar Hindernisse zu überwinden. Annemarie lacht: »Da meine Eltern nach meiner Türkeireise so erleichtert waren, dass ich keinen Türken gefunden hatte, mochte ich ihnen nicht gleich mitteilen, dass ich ihn nun in Graz entdeckt hatte.« Sie grinst: »Es gab ein Bild mit Sayhan in einem österreichischen Trachtenanzug. Da er blond ist, nahm ich das und schrieb darunter: ›Das ist mein Verlobter Franz Haselhuber‹ und schickte es an meine Eltern. Die meinten, dass er sympathisch aussehe und dass ich ihn bald einmal vorstellen müsste.« Als dieser Besuch immer näher rückte, suchte Annemarie nach einem geeigneten Zeitpunkt, Sayhan zu beichten, als wen sie ihn angekündigt hatte. Erst auf dem Flughafen fand sie endlich den Mut: »Mein stolzer Mann war gekränkt, drehte auf dem Absatz um und ließ mich alleine zu meinen Eltern fliegen. ›Klär das erst mal ohne mich!‹«
Das tat Annemarie. »Mit klopfendem Herzen wurde ich von meiner Mutter in das Herrenzimmer meines Vaters geführt. Er liebte mich zwar, aber was würde er zu meiner Schwindelei sagen? Stotternd erklärte ich ihm, warum ich alleine gekommen war.« Doch alle Bedenken waren umsonst gewesen. Ihr Vater meinte nur: »Ja, Mädchen, wenn du ihn liebst und mit ihm glücklich wirst, ist das doch kein Problem!« Annemarie polterte ein Stein vom Herzen. Sie neckt ihren Mann: »Aber du hast dich dann noch etwas bitten lassen.« Er lacht zurück. »Ja, einen halben Monat habe ich dich schmoren lassen, bis ich zu deinen Eltern nachgekommen bin.« Wenn die Aufnahme von der deutschen Seite dann auch eher preußisch herb als orientalisch herzlich ausfiel, so war der gestrenge Vater doch der Ansicht: Mit diesem Mann, der wusste, was er wollte, hatte die Tochter wohl einen guten Fang gemacht. Ganz anders verhielt es sich auf der türkischen Seite. »Doch ich wusste im Unterschied zu meinem Mann vorher nichts davon«, meint Annemarie. Ganz unvorbereitet kam sie bei der feinen Familie in Ankara zu ihrem Antrittsbesuch an. »Der Vater guckte mich nicht an und die Mutter auch nicht, denn sie folgte in allem ihrem Mann. So stand ich ganz alleine da. Eine furchtbare Situation. Einzig die Großmutter war lieb zu mir. Am liebsten wäre ich zu ihr unter ihren Rock gekrochen und nicht mehr hervorgekommen.« Da war diese perfekt Türkisch sprechende, zum Islam übergetretene Frau nun in das Land ihrer Träume gekommen und musste feststellen, dass sie als unpassend angesehen wurde. »Doch ich war niemandem böse«, erklärt Annemarie. »Während mein Verlobter mit seinem Vater schimpfte und ihm Vorwürfe machte, empfand ich ihre Reaktion nur als gerechtfertigt. Schließlich war ich diejenige, die ihr System störte. Ich hatte einen Fehler, ich war deutsch. Das verstand ich nur zu gut und akzeptierte ihre Ablehnung als gerechte Strafe für mein Anderssein.«
Annemarie kann sich heute über ihre früheren Ansichten amüsieren: »So war ich damals eingestellt: mit einem riesigen Schuldkomplex behaftet!« Sie erzählt weiter: »Die Wendung in der Reaktion der Familie brachte schließlich die Großmutter. Sie sprach mit ihrem Sohn ein Machtwort. Da in der Türkei die Söhne glücklicherweise auf ihre Mütter hören, wurde ich aufgrund ihrer Einwirkung endlich akzeptiert.« Zunächst bekam Annemarie von ihrem Schwiegervater einen neuen türkischen Namen. »Ich konnte das damals als Zeichen der Akzeptanz werten«, meint sie ganz ohne Ironie. Die Vorbereitungen zu den Hochzeitsfeierlichkeiten begannen. »Zuerst gab es eine Versprechensfeier mit vierhundert Gästen, danach eine Hochzeitsfeier mit siebenhundert Gästen, zu der auch meine Eltern angereist waren.« Da prallten noch einmal Welten aufeinander. »Obwohl die beiden Väter sich in ihren patriarchalischen Strukturen sehr ähnlich waren, waren sie doch sehr unterschiedlich in der Art der Kommunikation. Während mein Vater in seiner ostpreußischen, klaren Art gerne kurz und knapp seine Standpunkte zum Besten gab, näherte sich Sayhans Vater erst in langsamen, orientalischen Kreisbewegungen der eigentlichen Kernaussage.« Annemarie lacht. »Aber da wir übersetzen mussten, konnten wir diese Diskrepanzen diskret ausbalancieren. Sie merkten nicht viel davon.« Nach diesen zwei großen pompösen Feiern fuhr das Ehepaar nach Deutschland. Denn nun sollte hier gefeiert werden. Schließlich musste auch die deutsche Familienseite Gelegenheit haben, die Heirat der Tochter in gebührendem Rahmen der Gesellschaft zu präsentieren. »Also kam nun eine Verlobungsfeier mit fünfhundert Gästen und eine Hochzeit mit achthundert Gästen.« Alles im ersten Haus am Platze, einem
luxuriösen Fünfsternehotel. »Mein Vater kannte den Probst höchstpersönlich, so konnten wir als Muslime sogar in der Kirche heiraten«, erzählt Annemarie. »Vielleicht hat unsere Ehe deswegen so lange gehalten, weil wir gleich viermal geheiratet haben«, vermutet ihr Mann und lacht. Annemarie weiß einen weiteren Grund: »Wir streiten uns nie.« Sie erklärt: »Wir werden nie laut miteinander. Wenn wir unterschiedlicher Meinung sind, tauschen wir unsere Standpunkte immer sachlich und in Ruhe aus.« Denn sie ist überzeugt: »Ein böses Wort, das einmal aus dem Mund heraus ist, kann man nicht wieder zurückholen. Also muss man sich vorher genau überlegen, was man sagt.« Disziplin und Respekt stellen für beide Ehepartner unumstößliche Werte dar. Nach ihren unerfreulichen Erfahrungen in der Ankaraer Gesellschaft fiel es Annemarie leichter, dem Wunsch ihres Mannes zuzustimmen, sich in Deutschland eine Existenz aufzubauen. »Mein türkischer Mann hat mich wieder für Deutschland geöffnet«, flachst sie. Schon ein Jahr vor ihrer Heirat hatte sich Sayhan selbstständig gemacht. »Meine Eltern hatten sich eine Mandarinenplantage als Alterssicherung zugelegt. So fing ich erst einmal mit dem Import von Mandarinen an«, berichtet er. Annemarie hatte ein Haus in ihrer Vaterstadt geerbt. So bot es sich an, dass das junge Ehepaar dort hinzog. »Doch in dem Haus wohnten Mieter. Die Klage auf Eigenbedarf zog sich hin. So zogen wir erst mal zu meinen Eltern. Gerade einen Tag bevor wir die Klage gewannen und ausziehen konnten, ist meine Mutter gestorben. Bei ihr war kurz vorher eine Krebserkrankung entdeckt worden.« Annemarie stockt. »Das war eine so schreckliche Zeit, dass ich keine Worte für meine Gefühle finde.« Sie schluckt und erzählt erst nach einer kurzen Pause weiter. »Ich bot meinem Vater an, mit uns in unser neues Haus zu ziehen. Doch mein Vater meinte nur: ›Eine alte
Eiche verpflanzt man nicht mehr.‹ Also sind wir stattdessen bei meinem Vater geblieben.« Zehn Jahre haben sie noch mit ihm zusammengelebt. Er hat miterlebt, wie seine drei Enkelsöhne geboren wurden und langsam größer wurden. »Das war die ganze Bandbreite des Lebens. Auf der einen Seite das vergehende Leben und auf der anderen Seite das neue, werdende Leben.« Annemarie sucht den Blick ihres Mannes. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin, dass du dem zugestimmt hast. Das ist eine Schuld, die ich dir nie zurückzahlen kann«, sagt sie mit Rührung in der belegten Stimme. Ihr Mann schüttelt den Kopf und wehrt ab: »Aber das war doch selbstverständlich. Außerdem hattest du damit eher eine zusätzliche Verpflichtung übernommen, nicht ich. Bei meinem Arbeitspensum habe ich ohnehin nicht viel davon mitbekommen.« Er macht eine kleine Pause: »Ich denke nicht etwa so, weil ich Türke bin, sondern weil ich es als Person richtig finde, wenn man Verantwortung für die Familie übernimmt.« Sayhan legt Wert darauf, dass er nicht über seine Nationalität definiert wird. Seine Überzeugungen speisen sich aus vielen Einflüssen. »Ich bin liberal. Ich verstehe mich als weltoffen. Wenn ich eine bestimmte Meinung habe, dann ist das meine persönliche«, stellt er klar. Annemarie interpretiert diese Haltung auf ihre Weise: »Wir tragen alle in uns unterschiedliche Anteile, die uns erst zu einem vollständigen geistigen Wesen machen. Ich habe zum Beispiel verschiedene Namen, einen türkischen und einen deutschen. Alle symbolisieren sie einen Teil von mir. Sie bilden keine Gegensätze sondern zusammen erst mein ganzes Ich.« Ihre drei Söhne sollten auf jeden Fall türkische Namen bekommen. »Mir war das völlig egal«, betont ihr Mann, »aber meiner Frau war das sehr wichtig.« Alle drei wurden zunächst nach islamischen Regeln erzogen, denn Annemarie war es
damals sehr wichtig, als gute türkische Ehefrau und Mutter anerkannt zu werden. »Schweinefleisch gab es bei uns im Hause nicht, deshalb bestellte sich mein Mann auch immer gerne im Restaurant ein Schnitzel«, meint Annemarie. Ihre Schwiegermutter hatte sie in der Türkei beiseite genommen und ihr einen guten Tipp gegeben: »Sei wie ein Propeller, dann bist du eine gute Frau. Drehe dich ständig um deinen Mann, dann ist er zufrieden mit dir!« Annemarie erklärt ganz sachlich: »Das habe ich streng befolgt. Schließlich fand ich, dass dies meine Aufgabe war, die wir in unserem Ehevertrag vereinbart hatten. Mein Mann arbeitet außerhalb des Hauses, und ich sorge für alle Bewohner innerhalb des Hauses. Ich war froh, dass er mir alles Äußere vom Halse hielt, also musste ich es ihm im Inneren so angenehm wie möglich machen.« Sayhan hebt sein leeres Teeglas und stichelt breit grinsend: »Karim, wo bleibt mein Tee?« Annemarie lacht laut auf. »Das ist für uns immer ein großer Spaß, wenn er mich ›Weib‹ nennt. Damit kann man die weiblichen Gäste wunderbar provozieren und die männlichen Gäste zum Lachen bringen.« Annemarie nimmt solche Scherze mittlerweile mit Humor und schenkt ihrem Mann nach. Sie greift nach einer Weintraube von dem riesigen Obstteller und lehnt sich in die Lederpolster zurück. »Denn ich hatte das Glück, krank zu werden. Ich bekam die Chance, mein Leben zu überdenken.« Sie erkannte, dass in dem Wunsch nach eigenem Freiraum und eigenem Wohlbefinden nichts Sündhaftes sondern gerade die Voraussetzung für das Weitergeben von Zufriedenheit liege. Auch ihre Haltung zum Islam definierte sie neu. Sie nahm Abstand von einengenden Reglementierungen und erweiterte die religiösen Aspekte um Erkenntnisse aus Psychologie und Philosophie. »Erst damals fand ich richtig zu meinem eigenen, ganzen Ich und lernte auch Ansprüche für mich persönlich zu stellen.« Sie strahlt und
meint dann amüsiert zu ihrem Mann: »Das musstest du erst akzeptieren lernen.« »Das stimmt«, gibt er zu. Ihr fällt ein Beispiel ein: »Du kanntest es nicht, dass die Frau, wenn ihr Mann abends nach Hause kommt, nicht nur zu seiner Unterhaltung zur Verfügung steht, sondern auch mal Zeit zum Lesen braucht, wenn die Kinder im Bett sind.« Annemarie reckt ihren Kopf selbstbewusst in die Höhe. »Da habe ich zu dir gesagt: ›Entweder lese ich oder ich sterbe!‹ Dann musstest du das akzeptieren.« »Das war ein Umgewöhnungsprozess«, muss Sayhan zugeben. Doch seine Frau ließ ihm keine andere Wahl. Annemarie änderte auch im Hinblick auf ihre gesellschaftlichen Aktivitäten einiges. »Ich wählte meine Besucher nun sorgsamer aus. Ich lud nur noch die ein, mit denen ich mich mit Gewinn unterhalten und zu denen ich eine gemeinsame Wellenlänge aufbauen konnte.« Zum Beispiel unterband sie die unverbindlichen Frauenklönrunden, die sich unter türkischen Frauen großer Beliebtheit erfreuen. »Dann komme ich zu keinerlei geistigen Aktivitäten mehr, die mich weiterbringen. Ich bin nur damit beschäftigt Tee zu kochen und kleine Leckereien zuzubereiten. Kaum ist der eine Besuch zur Tür heraus, kommt schon der nächste. Das wollte ich nicht mehr!« Nun erkannte sie immer mehr den Vorteil, in Deutschland zu leben. »In der Türkei wäre diese Umorientierung wohl nicht so leicht toleriert worden. Hier können wir unser Leben genau so gestalten, wie es unseren Wünschen entspricht«, ist sie überzeugt. Das bedeutet keineswegs, dass sie die türkische Kultur aus ihrem Leben verbannt haben. »Eher im Gegenteil: Wir können sie in Deutschland genau in der Art genießen, wie wir sie lieben. Wir veranstalten gerne türkische Abende in unserem
Haus. Dann laden wir türkische Musiker oder Dichter ein und schwelgen in den orientalischen Klängen und freuen uns an der türkischen Sprache«, berichtet Annemarie zufrieden. »Und ganz ohne die gesellschaftlichen Zwänge, die wir in der Türkei hätten erfüllen müssen.« Annemarie wird etwas nachdenklich: »Unsere Söhne verorten sich aber hundertprozentig in Deutschland.« Sie ist mit diesem Ergebnis nicht ganz einverstanden, das merkt man ihr an. Die Söhne sind heute 27, 32 und 34 Jahre alt und leben alle in ihrer Geburtsstadt. »Der mittlere Sohn ist letztes Jahr in die Türkei gefahren um zu sehen, ob irgendetwas in dem Land sein Herz zum Klingen bringt. Er hat nichts gefunden. Nicht einmal die Landschaft oder die Sonne hat ihn angesprochen. Nein, sein Traum ist es, an der nebelverhangenen, mecklenburgischen Ostseeküste zu wohnen«, merkt sie halb belustigt, halb verwundert an. Annemarie blickt ihrem Mann gerade ins Gesicht. Ihr Ton wird eine Spur schärfer. »Aber wie sollte er auch positive Gefühle der Türkei gegenüber hegen, wenn sein Vater nie Zeit für ihn hatte, als wir da waren?«, fragt sie ihren Mann mit einem nicht zu überhörenden Vorwurf in der Stimme. »Wir waren nicht sehr oft da«, versucht er sich zu verteidigen. »Und wenn, war ich ständig in Geschäften unterwegs.« »Ja, genau«, nickt Annemarie, »und wir saßen bei deinen Eltern im Haus und durften nicht raus. Immer hieß es, wenn der Vater kommt, fahren wir noch mal ans Wasser. Doch der Vater kam nicht, und ich als Frau durfte nichts alleine mit den Kindern unternehmen. Wenn der Vater dann kam, ging es höchstens zu einem Geschäftsessen. Da saßen die Kinder dann brav auf ihren Stühlen und konnten, wenn wir Glück hatten, durch die Panoramafensterscheiben das Meer und die Sonne sehen, aber am Strand mit dem Vater spielen konnten sie nicht.«
»Ich habe eben nie Urlaub gemacht, sondern sehr viel gearbeitet«, erklärt Sayhan entschuldigend. »Deswegen war es auch besser, dass wir in Deutschland wohnten«, meint Annemarie abschließend, »hier konnte ich als Frau mit meinen Kindern alles machen, was uns in den Sinn kam. Hier waren wir nicht an die Begleitung eines Mannes gebunden.« Sayhan hat seine Entscheidung für Deutschland ebenfalls nie bedauert: »Hier konnte ich alles erreichen, was ich mir gewünscht hatte. Mit meiner Frau an meiner Seite«, er wirft einen anerkennenden Blick auf die schlanke, dezent geschminkte Annemarie in ihrer burgunderfarbenen Seidenjacke, »führte ich genau das Leben, was ich mir gewünscht habe.« Er beeilt sich hinzuzufügen: »Nie hatte ich Probleme damit, dass ich Türke bin.« Nie hatte er einen Hehl daraus gemacht, welcher Herkunft er ist. »Meine Firma führte sowohl das Attribut ›türkisch‹ als auch meinen Doktortitel im Namen«, ist ihm wichtig. Aus dem Leben in Deutschland hat er allerdings Schlüsse gezogen, die seinem früheren Denken fremd gewesen sind. »In meiner Firma gibt es keinen einzigen Türken. Die können alle nicht richtig arbeiten. In Deutschland sind sie so verwöhnt worden von den vielen Sozialleistungen, dass sie sich für dieses Land zur Belastung entwickelt haben. Ich als braver deutscher Steuerzahler muss sie mit durchfüttern. Wenn ich schon höre: ›Die Integration ist gescheitert!‹« Sayhan redet nun mit Nachdruck. Mit diesen Landsleuten hat er nichts gemeinsam: »Viele Türken haben ihre Chance in Deutschland verpasst. Nicht das Land muss die Integration leisten sondern der Einwanderer. Jetzt kommen die Russlanddeutschen und werden die Plätze der Einwanderer in Deutschland besetzen. Die Türken, die hier immer noch nicht Fuß gefasst haben, sollten wieder in die Türkei zurückgehen. Wer die Sprache nicht gelernt und sich nicht integriert hat, ist hier fehl am
Platze«, ist der erfolgreiche Selfmade-Mann, der eine deutliche Sprache bevorzugt, mittlerweile überzeugt.
Im letzten Jahr lebte und arbeitete der Sohn von Annemarie und Sayhan für einige Zeit in der Türkei. Er: Nun sind meine Vorurteile über die Türken zu Urteilen geworden.
Am liebsten hätte ich einen deutschen Namen DER SOHN VON ANNEMARIE UND SAYHAN, JURIST, 32
In der Altbauwohnung mit den hohen Decken herrscht die Farbe weiß vor. Die Polstersessel, die Sofaecke, die Wände, alles ist strahlend hell gehalten. Nur die frischen Blumen und das an eine Wand projizierte Lichtspiel setzen farbliche Akzente. Emre ist der mittlere Sohn von Annemarie und Sayhan. Der sehr schlanke, drahtige Mann, der als passionierter Langstreckenläufer schon an vielen internationalen Marathonläufen teilgenommen hat, wohnt in dieser Wohnung mit seiner Freundin Stephanie. Mit gut ein Dutzend Kerzen und Teelichtern hat er für Atmosphäre gesorgt. Die wachen Augen des Juristen hinter den randlosen Brillengläsern halten stetigen Blickkontakt mit dem Gegenüber und signalisieren so Aufmerksamkeit, der kaum etwas entgeht. »Nach Beendigung meiner Doktorarbeit«, erzählt Emre, »bin ich für vier Monate in die Türkei gegangen. Ich wollte sehen, ob ich dort etwas finde, was mich anspricht. Ich wollte überprüfen, ob ich mir vorstellen könnte dort zu leben und zu arbeiten.« Er wohnte während dieser Zeit bei seiner Tante, der Schwester seines Vaters, und ihrem Mann. Das Arbeiten in der Türkei erprobte er in einer Istanbuler Kanzlei. »Doch ich fand
wenig, was mir gefiel. Wesentlich größer war der Anteil der Punkte, die mich zunehmend störten«, resümiert er. Das Verhältnis von Mann und Frau ist für ihn zu einem Markstein der Beurteilung der türkischen Gesellschaftsstrukturen geworden. »Frauen und Männer gehen nicht natürlich miteinander um. Ihr Verhalten ist von so viel Reglementierung geprägt, dass sie zu ganz unnatürlichen Verhaltensweisen kommen.« Er kann aus dem Stand als Beleg für seine Erfahrungen viele Beispiele aufzählen. »Ich ging zum Beispiel zu einem Kurs einer Sprachenschule. Dort traf ich auf eine syrische Frau, mit der ich mich in den Pausen sehr interessant unterhalten habe. Als ich ihr vorschlug, sich auch einmal außerhalb der Schule zu treffen, wehrte sie entsetzt ab. Das sei zu gefährlich. Wieso gefährlich? Ich bin in Deutschland in festen Händen, sie ist verheiratet, das sind doch ausgesprochen geklärte Verhältnisse«, fand Emre. Doch ein Treffen fand nie statt, ganz im Gegenteil, wenig später verbot ihr Ehemann den weiteren Besuch der Schule. »Wahrscheinlich hat sie zu Hause neuerdings zu häufig gelächelt und das kam ihm verdächtig vor«, grinst Emre süffisant. »Der Ehemann müsste doch ein Interesse daran haben, dass es seiner Frau gut geht und dass sie glücklich ist. Also müsste er ihr Freiräume geben. Aber nein, die ständige Kontrolle scheint ihm die einzige Möglichkeit, ihr Eheleben zu gestalten.« Emre hat beobachtet, dass die Meinung der anderen oft zum Maßstab der eigenen Handlungen gemacht wird. »›Was könnten die anderen über mich denken?‹ fragen sie sich ständig«, moniert er. »Häufig liegt es an ihrer mangelnden Bildung. Sie haben keine Kapazitäten um sich und ihr Verhalten zu reflektieren«, denkt er sich. »Doch selbst bei meiner Tante und meinem Onkel, die sehr gebildet sind, habe ich ein Drama miterlebt, das sich meiner Meinung so in
Deutschland kaum abgespielt hätte. Meine Cousine hatte sich mit 15 Jahren in ihren Pferdepfleger verliebt. Die Eltern untersagten ihr jeden Kontakt, weil dieser Mann ihnen als nicht standesgemäß erschien. Sie traf sich zunächst heimlich mit ihm, bis sie ihn mit 17 aus den Augen verlor. Mit 19 begegnete sie ihm zufällig wieder und heiratete ihn. Doch sie verstanden sich nicht so gut, wie sie sich es erträumt hatte. Er schlug sie. Nach einigen Jahren ging sie zu ihren Eltern zurück, die sie mit heftigsten Vorwürfen empfingen. Sie kehrte daraufhin zu ihrem Mann zurück. Doch auch der zweite Anlauf scheiterte. Schließlich wusste sie keinen anderen Ausweg mehr, als sich umzubringen.« Emre hat beobachtet: »In der Türkei werden die Familienstrukturen gerne über Schuldzuweisungen geregelt. Du bist Schuld, wenn es mir schlecht geht. Du darfst dieses Verhalten nicht an den Tag legen, weil du meinem Ansehen damit schadest. Solche Aussagen habe ich von vielen gehört. Nicht das Individuum ist verantwortlich für die Gestaltung seines eigenen Lebens sondern der andere bestimmt mit seinem Handeln, wie ich im Leben voran komme.« Emre kann für sich dieses starre Korsett der Erfüllung von Erwartungen nicht akzeptieren. »Ich habe mich in der Türkei mit sehr vielen türkischen Männern unterhalten. Alle waren sehr gefangen in ihren Denkmustern. Immer wieder habe ich zu hören bekommen, dass ich doch eine türkische Frau heiraten sollte. Die türkischen Frauen seien einfach besser. Wenn ich wissen wollte warum, bekam ich nur zu hören, dass eine Türkin doch noch wüsste, was ein Mann bräuchte. Abends wenn er nach Hause käme, sei das Essen gekocht, die Wäsche gewaschen, die Wohnung sauber und die Kinder gut versorgt im Bett.« Emre schüttelt seinen Kopf. »Dass ich von einer Frau ganz andere Qualitäten erwarte, war für sie völlig unverständlich.«
Dass Emre sogar seine Wäsche selber macht und das Essen selbst zubereitet, obwohl er mit seiner Freundin zusammen in einer Wohnung wohnt, machte den türkischen Männern nur klar, dass Emre kein richtiger Mann sein konnte. Meist vergeblich versuchte er dann, seine Sichtweise zu erklären: »Ein richtiger Mann ist für mich jemand, der souverän mit allen seinen menschlichen Anteilen umgehen kann. Seine Stärke zeigt sich doch gerade darin, dass er auch Schwächen zugeben mag und im täglichen Leben nicht auf die Handreichungen einer Frau angewiesen ist.« Für Emre ist es ebenfalls nur ein Zeichen von Unmännlichkeit, wenn ein Mann seiner Frau keinen Freiraum zugestehen mag. »Vertraut er seinen Qualitäten etwa so wenig, dass er glauben muss: Sie wird nur bei mir bleiben, wenn ich sie einsperre? Und gleichzeitig hält er sich dann auch noch für einen tollen Hecht – was für ein Widerspruch!« Auch die Haltung der türkischen Männer zur Unberührtheit ihrer künftigen Ehefrau findet er wenig überzeugend. »Meine Qualitäten als Mann werden doch umso glaubhafter offenbar, wenn eine Frau, die schon Vergleichsmöglichkeiten hatte, mich auswählt und bei mir bleibt«, ist er überzeugt. Als seine Freundin Stephanie ihn während seiner Zeit in Istanbul besuchte, bekam er ungefragt viele Kommentare zu hören. »Auch während sie daneben saß, empfahlen sie mir, lieber eine türkische Frau zu heiraten. Selbst die Hausangestellte im Haus meiner Tante teilte mir ihre Meinung zu Stephanie mit: Sie hätte ihre Sachen direkt aus dem Koffer einfach ungeordnet in den Schrank geworfen, daher könnte sie keine gute Ehefrau für mich sein.« Emre kann sich über solche Beurteilungskriterien nur empören. Die Haustür wird geöffnet. Stephanie ist inzwischen nach Hause gekommen und setzt sich mit an den Esstisch. Sie erinnert sich: »Ich fühlte mich sehr wohl, während ich bei
Emre in Istanbul war. Alle waren sehr nett und freundlich zu mir. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich mögen. Doch als ich hinterher von Emre hörte, wie einzelne über mich urteilten, wurde mein Gefühl im Nachhinein etwas schal. Nun empfand ich ihr Verhalten eher als unehrlich und doppelzüngig«, meint sie. »Auch dein Vater hatte schon gewisse Erwartungen an mich, glaube ich«, sagt sie. »Am liebsten hätte er für seinen Sohn eine Frau gehabt, die sehr gut aussieht, aus sehr guten Verhältnissen kommt, studiert hat und sich sexy anzieht, damit ihr Aussehen auch gut zur Geltung kommt. Nach ihrem Studium sollte sie aber zugunsten ihrer Aufgaben als Ehefrau und Mutter mit Freuden auf eine eigenständige Berufstätigkeit verzichten, um ganz für ihren Mann da sein zu können«, stellt die junge Frau mit langen, braunen Haaren und großen, strahlenden Augen, die alle äußeren Kriterien sicher locker erfüllen kann, scheinbar sachlich und mit einem kaum hörbaren ironischen Unterton fest. Sie blickt ihren Freund fragend an. »Oder meinst du, da liege ich falsch?« Emre kann nur lachend den Kopf schütteln. »Mein Vater wünscht jedem seiner Söhne das große Glück, genau so eine Frau zu finden, wie er sie mit meiner Mutter bekommen hat«, schmunzelt er. Emre hat die liebevolle Fürsorge seiner Mutter genossen, aber möchte in seiner eigenen Partnerschaft nicht die Rolle seines Vaters übernehmen. Dessen Lebenskonzept wird nicht das seine werden, da ist er sich sicher. »Wenn wir einmal Kinder haben sollten, würde ich mir schon wünschen, dass meine Frau zumindest die ersten Jahre ganz für die Kinder da ist«, gesteht er aber ein. »Doch nach der Kleinkindphase können wir die Betreuung auch anders organisieren, wenn sie gerne wieder in ihren Beruf zurückkehren möchte. Die Zufriedenheit meiner Frau ist für mich entscheidend.«
Emre ermuntert seine Freundin immer wieder, sich auch mit Männern allein zu treffen. Er findet: »Ein Gespräch mit jemandem vom anderen Geschlecht bringt mich viel weiter. Es eröffnet mir Horizonte, die mir sonst verschlossen bleiben. Das kommt dann auch meinem Partner zugute. Ich lerne durch das Gespräch mit anderen Frauen auch sie viel besser kennen und schätzen«, glaubt er. Doch bisher hat er noch keinen türkischen Mann gefunden, der das genauso gesehen hätte. Auch in Deutschland nicht. Er erinnert sich: »Ich bin mit einem Türken zur Schule gegangen. Er war damals einer, der auf jeder Party mit dabei war und sehr aufgeschlossen an die Mädels heranging. Gerade neulich habe ich ihn zufällig in der Bahn wieder getroffen. Er sei inzwischen verheiratet, erzählte er mir. Er habe sich von seinen Eltern eine Frau aus der Türkei vermitteln lassen und sie mit nach Deutschland gebracht. Er versuchte mich von den Vorteilen dieses Arrangements zu überzeugen. Sie bleibe brav zu Hause und würde den Haushalt erledigen, während er unterwegs sei. Ich habe meinen Schulfreund nicht wieder erkannt.« Für so eine Veränderung fehlt Emre jedes Verständnis. »Wie kann ein Mann sich freiwillig so beschränken und auf eine gleichberechtigte Partnerschaft mit einer Frau verzichten? Erst im wahrhaftigen Austausch mit meiner Partnerin kann ich mich doch weiterentwickeln!« Emre versteht dieses Denken der Männer nicht. Genauso wenig versteht er aber auch die türkischen Frauen, die er in der Türkei kennen gelernt hat. »Die sind so auf die Darstellung ihrer Weiblichkeit reduziert, dass ich sie völlig unnatürlich finde.« Auf Emre wirken diese »aufgebrezelten« Frauen alles andere als attraktiv. »Ich hätte mir gewünscht, dass sich meine Eltern etwas mehr Gedanken über meine Namenswahl gemacht hätten. Leider habe ich auch als zweiten Vornamen einen türkischen bekommen. So bin ich alleine durch meinen Namen für alle
erst mal der Türke. Darunter habe ich zum Teil sehr gelitten.« Als er an der Uni als Assistent Seminare anbot, waren in seinen Kursen stets die Schwarzhaarigen versammelt. »Alle Türken dachten anscheinend: ›Ach, gehen wir mal zu unserem Landsmann.‹« Doch Emre fühlt sich unwohl in dieser vorausgesetzten Kumpanei. »Ich fühle mich eindeutig als Deutscher. Mich mit meinem Namen zu identifizieren fällt mir sehr schwer. Ich habe sogar schon darüber nachgedacht, ihn ändern zu lassen«, überlegt er. »Wenn wir mal Kinder haben, bekommen sie auf jeden Fall einen deutschen Namen«, ist er sich sicher. »Wenn ein Kind in Deutschland aufwächst, sollte es einen deutschen Namen haben«, findet er. Seine Freundin schlägt ihm vor: »Wenn wir heiraten, könntest du ja meinen Nachnamen annehmen.« Das geht Emre dann doch zu weit. Schnell schränkt er ein: »Mein Nachname stört mich eigentlich gar nicht so stark. Er ist einfach nur ungewöhnlich, aber eigentlich nicht typisch türkisch, oder?« Er grinst: »Zum Glück sehe ich wenigstens nicht wie ein Türke aus.« Emre ist es sehr wichtig, in keine Schublade gesteckt zu werden, die mit negativen Vorurteilen behaftet ist. Er möchte einfach als Deutscher in Deutschland seinen Weg gehen. Die Energie, die er immer wieder braucht, um die Irritationen, die sein Name hervorruft aus dem Weg zu räumen, würde er lieber für den zielstrebigen Aufbau seiner beruflichen Karriere nutzen. »Meinen Kindern werde ich wohl kaum mehr etwas Türkisches mitgeben«, überlegt er. Emre spricht selbst sehr gut Türkisch, möchte seinen Kindern aber diese zweite Sprache nicht beibringen. »Außer ein paar Urlauben in der Türkei, die durch den dort geerbten Grundbesitz zustande kommen, werden sie von mir wohl nichts mehr in der Richtung geboten bekommen.«
Religion spielte in Emres Leben keine Rolle, weder in seiner Kindheit noch heute als Erwachsener. »Meine Eltern haben mir keine Religion als Richtschnur für das Leben beigebracht. Meine Mutter hatte ja mal ihre radikal islamische Phase, aber mein Vater hat stets eine große Distanz zum Islam gehalten. Auch seine Eltern waren nicht religiös. Wir haben in der Familie die christlichen Feste Weihnachten und Ostern als traditionelle Familienzusammenkünfte gefeiert, aber ohne religiöse Inhalte.« Emre meint: »Wir sind so erzogen worden, dass wir uns lieber unsere eigenen Standpunkte zu den jeweiligen Fragen des Lebens und des Sterbens durch intellektuelle Auseinandersetzung bilden sollten als sie von einer bestimmten Religion zu übernehmen.« Emre blickt seine Freundin an und fordert sie mit leicht spöttischem Unterton auf: »Nun sag doch mal, wie ist es denn nun, einen Türken zum Partner zu haben?« Stephanie fällt die gewünschte Antwort nicht schwer: »Du bist nun wirklich nicht der typische Türke. Außer deinem Namen ist kaum etwas Türkisches an dir auszumachen. Nur durch die Reaktionen der Umgebung wurde ich mit der Nase darauf gestoßen, dass du wohl anders sein müsstest. Als ich meinen Freunden erzählte, dass ich einen neuen Freund habe und dann deinen Namen nannte, sah ich schon erstaunte Mienen: ›Du mit einem Türken? Ist das nicht schwierig?‹ Dann habe ich immer schnell hinzufügt, dass du überhaupt kein typischer Türke bist und nicht einmal türkisch aussiehst.« In diesem Punkt sind sich die Partner völlig einig: In die Schublade mit dem Label »türkisch« sollte man unter keinen Umständen gesteckt werden. Sie hat gerade in Deutschland ein äußerst negatives Image. Emre verspürt keinerlei Ansporn diesen Ruf zu verändern, ganz im Gegenteil: »Nach meinem Aufenthalt in der Türkei sind meine Vorurteile, die ich schon in Deutschland gewonnen hatte, nun zu Urteilen geworden«, bestätigt er.
Stephanie schmunzelt: »Nun fällt mir doch noch etwas ein, was bei dir schon türkisch geprägt sein könnte.« Emre blickt sie erstaunt an. »Den Zusammenhalt unter euch drei Brüdern könnte man für deutsche Verhältnisse schon als ungewöhnlich eng bezeichnen«, erklärt sie. Einer der Brüder wohnt sogar im selben Mietshaus wie Emre und seine Freundin. »Wenn wir abends nach Hause kommen, und es kann noch so spät sein, klingelst du immer noch einmal bei deinem Bruder und fragst nach, wie es ihm so geht. Und wenn einer von ihnen ein Problem hat und dich um Hilfe bittet, lässt du alles stehen und liegen und bemühst dich, ihm zu helfen.« Emre fand seine Identität eher in der klaren Entscheidung für eine Kultur als in der Kombination von beiden. Er definiert sich und seine Standpunkte häufig in der Abgrenzung zum Türkischen. Darin sieht er auch den Vorteil, Kind einer bikulturellen Beziehung zu sein: »Ich fand es sehr bereichernd, mit deutsch-türkischen Eltern aufzuwachsen. Ich musste mich schon früh vieles fragen, weil ich verschiedene Richtungen präsentiert bekam. Dadurch war ich gezwungen, schon in jungen Jahren Standpunkte und Meinungen zu entwickeln und auch zu begründen. Das schult«, findet er. Gerade als Jurist kann er diese schon früh eingeübten Fähigkeiten heute gut nutzen.
Seit ihrem 20. Lebensjahr lebt das Ehepaar in Ankara. Ihre Kinder hat die Mutter mit deutschen Geschichten und Kinderliedern erzogen. Dabei spricht sie perfekt Türkisch. Sie: Zu Hause fühle ich mich nur in Deutschland. Meinem Mann erzähle ich von diesen Gefühlen selbstverständlich nichts; es würde ihn nur kränken.
Deutsche Parallelwelt in Ankara DEUTSCHE KRANKENSCHWESTER, 65 & TÜRKISCHER ARZT, 68
Elisabeth hatte wieder einmal Sehnsucht nach Deutschland. Wie so oft, wenn sie in Ankara ist, wo sie seit 38 Jahren mit ihrem türkischen Mann lebt. Dann fährt sie zu ihrer Tochter, die als Professorin an der Universität einer niedersächsischen Großstadt lehrt. Dieses Gefühl der Sehnsucht kennt sie gut, seit sie in der Türkei lebt. »Das ist schade. Wenn ich hier bin, sehne ich mich nach meinen Enkelkindern in Ankara, und wenn ich dort bin, sehne ich mich nach meinen Enkeln in Deutschland«, erklärt sie ihr hin und her Gerissensein. Denn ihr Sohn ist in Ankara verheiratet und der sechsjährige Enkel geht dort zur Schule. Elisabeth spricht mit leiser Stimme. In großer Ruhe und Gelassenheit erzählt sie über ihr Leben in der Türkei. Man merkt, dass sie gewohnt ist, überlegt zu reden. Höflich und doch bestimmt lenkt sie die Themen im Gespräch. Ihr Selbstbewusstsein kommt mit großer Zurückhaltung daher.
Ihrem Ehemann ist sie in jungen Jahren in die Türkei gefolgt. Er war zu seiner Facharztausbildung zum Gynäkologen nach Deutschland gekommen. Im Krankenhaus traf er auf eine deutsche Schwesternschülerin, die sein Herz höher schlagen ließ. Auch die junge Frau war beeindruckt von dem offen, zuverlässig und liebevoll wirkenden Mann und so kam man sich näher. »Am Anfang hätten sich meine Schwiegereltern wohl eher jemand anderes für ihren Sohn erhofft.« Das lag weniger an ihrer Nationalität als eher daran, dass sie weder aus besseren Kreisen kam noch einen prestigeträchtigen Beruf vorweisen konnte. Auch bei ihrer eigenen Familie war die Reaktion ähnlich verhalten. Die Geschwister rieten ihr ab und die Eltern, besonders die Mutter, waren traurig, weil dieser Schwiegersohn bedeutete, dass ihre Tochter in ein fremdes Land zog. »Doch wir waren verliebt und sahen keine Probleme. Mein Mann schilderte unsere Zukunft in der Türkei in den rosigsten Farben.« Ihr gemeinsamer Weg war klar vorgezeichnet. Ihr Verlobter war nur zur Ausbildung nach Deutschland gekommen, danach sollte er in die Türkei zurückgehen, um die Praxis seines Vaters in Ankara zu übernehmen. »Das hat mein Mann von Anfang an klargestellt. Wir lebten auf diesen Termin zu.« Elisabeth wusste, worauf sie sich mit ihrem Mann einließ. Im Gegensatz zu ihrer gewohnten Umgebung erschien es ihr als ein Ausflug in eine neue Welt, die sie reizte. »Ich malte mir alles wunderschön aus.« Doch es kam nicht alles so, wie sie es sich erhofft hatte. Bevor die kleine Familie mit der zwei Jahre alten Tochter nach Ankara ziehen konnte, musste ihr Mann seinen Militärdienst ableisten. An eine ihrer ersten Erfahrungen in der Türkei denkt sie mit unangenehmen Gefühlen zurück. Sie war mit einem Schockerlebnis verbunden: »Wir waren kaum angekommen in dem Land, da mussten wir uns scheiden lassen, weil ein
Reserveoffizier damals nicht mit einer Ausländerin verheiratet sein durfte. Ich wusste ja, dass es nur pro forma war, aber es war ein schreckliches Erlebnis für mich«, berichtet Elisabeth in sachlichem Tonfall. »Die Gerichtsverhandlung war öffentlich. Es waren viele Leute da, die sich das anschauen wollten. Als wir den Gerichtssaal verließen, wollten die Zuschauer meinen Mann verhauen, weil sie ja den wahren Grund für die Scheidung nicht kannten. Sie dachten, er lässt eine schwangere Frau mit einem kleinen Kind im Stich.« Sie schluckt kurz. »Das ist eine meiner ersten Erinnerungen an die Türkei«, entsinnt sie sich traurig. In Izmir wurde ihr Sohn geboren, rein rechtlich gesehen als uneheliches Kind. Nach der Militärzeit zogen sie nach Ankara. Der Schwiegervater war inzwischen gestorben, und sein Sohn übernahm erwartungsgemäß die Praxis. Ein ganz normales Familienleben konnte sich allmählich entfalten. Elisabeth vermisste jedoch noch manches an Komfort: »Da war nicht alles so, wie ich es mir gedacht hatte. Wir hatten extra eine vollautomatische Waschmaschine mit in die Türkei gebracht. Dann habe ich mir dort das Waschpulver dazu gekauft. Doch es war nicht das richtige: Der Schaum kam wie in einem Zeichentrickfilm aus allen Ritzen und wurde immer mehr. Diese Maschine konnte ich nie wieder benutzen. Erst nach einigen Jahren gab es diese Maschinen und das dazugehörige Pulver auch in der Türkei. Doch auch andere Dinge vermisste ich: Kein Schaumbad, keine Gummibärchen, kein Ketchup war zu bekommen. Wenn wir aus Deutschland mit dem Auto zurückfuhren, war es bis in alle Ritzen voll gepackt: Kofferraum, Dachgepäckträger, unter unseren Füßen. Das war nicht immer erfolgreich: Die zahlreichen Tüten Gummibärchen auf der Hutablage waren bei unserer Ankunft zu einem Block zusammengeschmolzen.« Die Frau mit den schlicht zurückgenommenen blonden Haaren deutet ein Lächeln an.
Sorgsam formuliert sie ihre Sätze. Man merkt, dass sie viel über diese Fragen nachgedacht hat. »Mein Leben hatte nicht nur rosige Seiten«, bilanziert sie. »Ich habe oft gedacht, ich hätte in Deutschland bleiben sollen. Wenn ich so über die Türkei erzähle, denken manche Leute, dass ich dort nur Gutes erlebt habe, aber es gab auch weniger schöne Dinge.« Sie macht eine kleine Pause: »Sehr schwere Zeiten.« Doch Elisabeth ist kein Mensch, der das Für und Wider nicht genau abzuwägen versteht. Schnell fügt sie hinzu: »Aber das würde ich nicht am Land festmachen. Das gehört einfach zum Leben eines Menschen dazu, dass er auch sehr schwierige Zeiten erlebt. Das trifft sicher auch für eine Frau zu, die in Deutschland verheiratet ist.« Elisabeth hat es jedoch geschafft, ihre Möglichkeiten so geschickt auszuschöpfen, dass sie als Deutsche in der türkischen Gesellschaft leben konnte. Sie hat acht Jahre lang das deutsche katholische Gemeindezentrum in Ankara geleitet. Als sie mitbekam, dass händeringend nach einer geeigneten Leiterin gesucht wurde, hatte sie sich initiativ bei der Bischofskonferenz in Köln um den Posten beworben. Und das obwohl sie der evangelischen Kirche angehört. »Und ich wurde angenommen«, freut sie sich noch heute. »Ich habe gleich klargestellt, dass ich die Arbeit als überkonfessionell und vornehmlich als eine soziale Aufgabe betrachtete.« Bis zu ihrer Herzoperation vor ein paar Jahren führte sie die Einrichtung mit großem Erfolg. Danach wurde das Gemeindezentrum leider geschlossen, bedauert sie. Die deutschen Frauen in Ankara haben aber zur Selbsthilfe gegriffen und einen Verein gegründet, der die Aufgaben übernommen hat. So können die Alten weiterhin betreut und den sozial Schwachen weiter unter die Arme gegriffen werden. »Wir haben in Ankara ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl«, betont Elisabeth und meint
damit die Deutschen. Dieser Zusammenhalt gibt ihr in der Türkei ein Stück Heimat. »In Deutschland wird den Türken ja häufig vorgeworfen, dass sie zusammenhocken. Das ist bei uns nicht anders. Ich habe keine einzige türkische Freundin, ich habe nur deutsche. Wir treffen uns sehr häufig. Wir helfen uns sehr viel. Wir halten sehr stark zusammen. Wir haben natürlich unsere türkischen Familien, das ist der Unterschied zu den Türken in Deutschland. Aber wir sind nicht aufgegangen in der türkischen Gesellschaft«, betont Elisabeth. Doch im Gegensatz zu den türkischen Einwandererfamilien in Deutschland hat Elisabeth damit in der Türkei keine Probleme. »Die deutsche Kultur ist in der Türkei sehr hoch angesehen. Man wird auf keinen Fall diskriminiert. Als Deutsche hat man keine Probleme.« Elisabeth weiß zu schätzen, dass sie zusätzlich Glück mit der Familie ihres Mannes hatte. »Meine Schwiegereltern waren sehr offene, gebildete, weitgereiste Menschen. Meine Schwiegermutter ist eine sehr moderne Türkin.« Viele ihrer deutschen Freundinnen hätten es nicht so gut getroffen; ihre Familien zeigten sich nicht so offen. Diese Frauen mussten ihren Namen ablegen und zum Islam übertreten. »Das bedeutet nicht, dass sie ein sehr religiöses Leben führen müssen. Unter 500 Frauen gibt es höchstens zwei oder drei, die das Kopftuch tragen«, erläutert sie. Elisabeth weiß aber aus vielen Gesprächen, dass diese Frauen nicht nur unter dem Verlust ihrer Heimat und ihrer Religion, sondern besonders unter dem ihres Namens leiden. Sie hätten ein großes Stück ihrer Identität für die Schwiegerfamilien aufgeben müssen. »Wenn sie zusätzlich noch mit den Schwiegereltern in einem Haushalt leben müssen, haben sie es besonders schwer. Dann müssen sie sich Regeln unterwerfen, die ihnen meistens nicht so gut gefallen. Die Schwiegertochter soll sich so verhalten, wie eine türkische Frau sich verhalten
hätte. Dann müssen sie schon oft zurückstecken«, hat sie beobachtet. Ihr Mann hat zum Glück großes Verständnis für ihre Liebe zu Deutschland. »Er ist eben ein großer Deutschlandfan. Er liebt mein Heimatland«, betont Elisabeth. »Er ist es, der häufig zu mir sagt, dass es wieder mal Zeit würde für ein Treffen mit meinen deutschen Freundinnen. Er begleitet mich auch gerne zu Festen in der deutschen Botschaft.« Leider kann er sie heute aus gesundheitlichen Problemen nicht mehr so oft bei ihren Reisen begleiten, wie er es sich wünschen würde. »Ich habe das Glück, dass ich sehr oft in Deutschland sein kann. Ich habe den Kontakt zu Deutschland und meiner deutschen Familie nie verloren. Das hat mein Mann sehr unterstützt. Das ist mir ganz, ganz wichtig«, sagt Elisabeth mit Nachdruck. Ihre Staatsangehörigkeit aufzugeben kam für Elisabeth nie in Frage: »Ich bin ich, und ich bin und bleibe Deutsche.« Auch ihre beiden Kinder und sogar ihr kleiner Enkelsohn in Ankara haben die deutsche Staatsangehörigkeit. Ihre Sprache blieb immer das Deutsche. »Ich spreche Deutsch und mein Mann Türkisch. Mit den Kindern habe ich immer nur Deutsch gesprochen. Die Aufteilung ist spontan so entstanden. So sind die Kinder zweisprachig aufgewachsen.« Das liegt keinesfalls daran, dass es ihr an türkischen Sprachkenntnissen mangeln würde. Ganz bescheiden gibt sie zu: »Es fällt mir schwer, das über mich zu sagen, aber ich glaube, ich spreche sehr gut Türkisch.« Elisabeth beobachtet, dass bei der jungen Generation das Deutsche sogar noch mehr gepflegt wird als zu ihrer Zeit. »Und jetzt haben wir einen Enkel in Ankara, und der wächst auch zweisprachig auf. Ich und mein Sohn, wir sprechen mit ihm Deutsch. Und seltsamerweise auch der türkische Großvater«, sagt sie mit einem kaum wahrnehmbaren Schmunzeln. »Nur die Mutter spricht mit ihm Türkisch. Er ist
jetzt sechseinhalb und spricht besser Deutsch als Türkisch. Er geht aber auch in die deutsche Schule. Er hat sogar auf Deutsch angefangen zu sprechen.« Sie hat bemerkt: »Die Enkelkinder meiner deutschen Freundinnen sprechen jetzt alle Deutsch. Ihre Eltern und auch ihre Großeltern sind alle dahinter, dass sie die Sprache lernen. Das war bei den eigenen Kindern nicht immer so. Da gab es viele Bedenken und Überlegungen, ob sich die Kinder dann gut in die türkische Gesellschaft eingliedern könnten. Einige können gar kein Deutsch. Jetzt erst schätzen sie die Möglichkeit, dass die Kinder das Geschenk von zwei Sprachen bekommen. Sie haben bereut, diese Chance verpasst zu haben, und wollen den Fehler in der nächsten Generation nun auf keinen Fall wiederholen.« Ein Punkt ist Elisabeth noch wichtig: »Die Religion hat bei uns überhaupt keine Rolle gespielt«, stellt sie fest. Sowohl in ihrem Elternhaus als auch in dem ihres Mannes, bestimmte sie nicht das Leben. So halten sie es auch in ihrer eigenen Ehe. »Wir feiern immer alle Feste. Nur dass mein Mann die christlichen mehr feiert als seine eigenen. Zu Weihnachten geht er schon mal in die Kirche, aber er besucht nie eine Moschee. Und das erste, was mein Mann macht, wenn er nach Deutschland kommt: Er isst Bratwürstchen – mit Schweinefleisch! In unserer Familie leben wir so, wie wir auch hier leben würden«, ist sie überzeugt. Denn ihr Mann hat eine weltoffene Erziehung in einer modernen Familie genossen und wünschte sich dies auch für seine Kinder. So freut er sich über eine Mutter, die ein Stück außertürkische Welt nach Ankara gebracht hat. Für Elisabeth ist es ganz klar: »Ich habe die Kinder deutsch erzogen, mit deutschen Märchen, mit deutschen Liedern, mit deutscher Kultur.« Schließlich könne sie nur das den Kindern vermitteln, was sie selber kennen würde. Dass ihr Mann etwas
dagegen gehabt haben könnte, erscheint ihr völlig unlogisch. Das sei doch nur die Konsequenz daraus, dass er eine deutsche Frau mit in die Türkei gebracht habe. Ebenso klar war die Aufgabenteilung für das Ehepaar: Die Frau ist für die Erziehung zuständig, der Mann für die finanzielle Versorgung. Für beide ist diese Rechnung aufgegangen: Die Kinder sind zu erfolgreichen Menschen geworden, die ihr Leben meistern, und ihre Zukunft in der Türkei ist in Wohlstand abgesichert. Doch wo ihr Herz zu Hause ist, ist für Elisabeth ebenfalls eindeutig: »Obwohl es mir in der Türkei an gar nichts mangelt, bin ich dort nicht ganz zu Hause. Vom Gefühl her bin ich in Ankara nicht wirklich dazugehörig. Ich werde nicht als Türkin angesehen, ich will auch keine Türkin sein. Ich fühle mich dort, als wenn ich noch immer zu Besuch wäre. In Deutschland dagegen, egal ob in Norddeutschland oder in Süddeutschland, fühle ich mich ganz zu Hause. Wenn ich dann in die Türkei zurückfliege, gehe ich wieder weg von zu Hause. Wenn ich in einer Gesellschaft bin, wo nur Türken sind, fühle ich mich allein. Ich rede und lache und man merkt es mir nicht an, aber ich fühle mich da nicht zu Hause.« Mit ihrem Mann spricht sie über diese Gefühle nicht. »Ich bin sicher, dass er sie ahnt. Wir sprechen aber nicht offen darüber. Meinen Mann würde es kränken, wenn ich es aussprechen würde. Aber ich bin sicher, er weiß es und deswegen hat er auch gar nichts dagegen, wenn ich so häufig mit Deutschen zusammen bin«, erklärt Elisabeth. Sie hat ihre Gründe: »Wenn in der Türkei über Gefühle gesprochen wird und es kommt dabei etwas Negatives über die Türkei zum Ausdruck, fühlen sich die Türken sehr stark angegriffen.« Das respektiert Elisabeth und lässt diesen Punkt unangesprochen. Ihre Tochter wollte nach ihrem Studium in Ankara gerne in Deutschland weiter studieren. Sie hatte in den Ferien nur gute Erfahrungen in Deutschland gemacht. Diese Entscheidung hat
ihre Mutter sehr gefreut. Jetzt hat sie auch ein Zuhause in Deutschland, zu dem sie immer kommen kann, wenn die Sehnsucht zu groß wird. Die Standorte ihrer beiden Kinder markieren nun ihr Leben zwischen den beiden Ländern: Eines lebt in der Türkei und eines in Deutschland. Elisabeth beobachtet die gesellschaftlichen, politischen Entwicklungen in beiden Ländern aufmerksam. »Es gibt eine sichtbare Veränderung in der Türkei: Im Laufe der 38 Jahre, die ich jetzt dort bin, wird das Kopftuch viel mehr getragen. Als ich in die Türkei kam, trugen höchstens ein paar alte Frauen das Tuch, aber heute sind es sehr viele junge Mädchen.« Sie hat eine Erklärung: »Die Reformen von Atatürk waren zwar gut, aber sehr plötzlich. Vielleicht wurde ihre Sehnsucht nach der Religion nur unterdrückt. Jetzt ist die jüngere Generation mutiger als ihre Eltern geworden und will sie auch ausleben. So ähnlich verhält es sich auch mit den Rechten der Frau. Die Emanzipation hat keine Wurzeln in der Bevölkerung gehabt. So gibt es ein starkes Stadt/Landgefälle. Auf dem Land herrschen noch viele Traditionen von früher: Da werden Frauen zwangsverheiratet und Töchter nicht zur Schule geschickt. In der Stadt dagegen gibt es viele erfolgreiche Frauen.« Sie selbst hat eine moderne, aufgeschlossene Türkei kennen gelernt, die es ihr erlaubt, als westliche Europäerin, als Deutsche und als Nicht-Muslimin in der Türkei zu leben. Sie brauchte ihre Identität nicht zu verleugnen. Ihre Integration wurde nie in Frage gestellt, obwohl sie ihren eigenen kulturellen Weg geht. In der Türkei scheint niemand eine Parallelgesellschaft der Deutschen zu fürchten. Elisabeth hat einiges für dieses gelungene Arrangement getan: Sie beherrscht die Landessprache perfekt. Sie hat nie offen die türkische Kultur in Frage gestellt, sondern zog nur stillschweigend ihre Konsequenzen. Nicht einmal mit ihrem
Ehemann besprach sie ihre Kritikpunkte. Die disziplinierte Frau schaffte es, sich ihren persönlichen Gestaltungsfreiraum zu erschließen, weil sie stets sorgsam darauf achtete, den Rahmen der Regeln nicht zu verletzen. Diese Balance zwischen innerem deutschem und äußerem türkischem Leben immer gehalten zu haben, lässt sie zufrieden auf ihre bisherige Lebensleistung zurückblicken. Sie hat sich selbst nicht verleugnet und trotzdem die Erwartungen ihrer Mitmenschen erfüllt.
Sie stammt aus einer einflussreichen Istanbuler Familie. Nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters fand sie Trost bei einem deutschen Juristen in Berlin. Sie: Eine Ehe zwischen den Kulturen ist eigentlich falsch. Spätestens wenn Kinder kommen, werden die Partner egoistisch.
Ehen zwischen den Kulturen sind eigentlich falsch TÜRKISCHE GERMANISTIKSTUDENTIN, 63 & DEUTSCHER ANWALT, 64
Auf einem Schiff zu den Prinzeninseln vor Istanbul sprach uns eine braungebrannte Dame mit langen, rotbraunen Locken und einem kurzen, türkisfarbenen Rock an: »Sind Sie aus Deutschland?« In sehr gutem Deutsch erzählte sie uns, dass sie mit einem Berliner verheiratet sei. Nachdem wir uns während der Überfahrt angeregt unterhalten hatten, lud sie uns für den folgenden Samstag zum Kaffeetrinken in ihre Wohnung nach Besiktas ein. Sie holte uns am Anleger ab und führte uns durch ihr Stadtviertel, hoch zu ihrem traumhaft gelegenen Apartment über dem Bosporus. Ein überwältigender Blick über die Stadt bis hin zum Marmarameer bot sich uns, als wir uns bei Kaffee und Kuchen auf die Terrasse setzten. In dieser stilvoll eingerichteten Altbauwohnung war sie aufgewachsen. In diesem Ambiente hat sie eine weltoffene, bildungsorientierte, hochkultivierte Erziehung genossen. Ein internationales Publikum verkehrte im Haus ihres Vaters. Viele deutsche »Onkel und Tanten« waren darunter. So kam es, dass sie nach dem plötzlichen Unfalltod ihres Vaters und ihrer Schwester von »Onkel Berger« zur
Ablenkung nach Deutschland eingeladen wurde. Sie war Anfang 20, als sie nach Lüneburg zu einem Deutschkurs des Goethe-Instituts kam. Hier lernte sie ihren späteren Ehemann kennen. Ein deutscher freundlicher junger Mann, der ihr in ihrer psychischen Angegriffenheit Halt gab. Man traf sich kurz darauf in Berlin wieder und nach sechs Monaten war die Hochzeit. »Ich wollte nie heiraten, meine Freiheit war mir stets wichtiger«, erinnert sie sich. »Ich hatte mir eher vorgestellt ganz viele Liebhaber zu haben als nur einen Ehemann, doch das geht ja leider nicht«, gibt Yildiz zu. Ihre Jugend hatte sie sehr verwöhnt, erzählt sie. Nie brauchte sie Anstrengungen zu unternehmen. Sie und ihre Schwester wurden von männlichen Verehrern mit Aufmerksamkeiten überhäuft. »Immer klingelte das Telefon, und ein Junge wollte uns ausführen. Wir brauchten keinen Finger zu rühren.« Angesichts der immer noch sehr attraktiven, ausdrucksstarken Frau zweifelt man nicht am Wahrheitsgehalt dieser Erinnerungen. »Doch dieser Deutsche ließ mir meine Freiheit. Mit einem türkischen Mann wäre das wohl kaum möglich gewesen.« Jetzt könne sie sich kein Leben mehr ohne ihren Mann vorstellen. Sie seien schon so lange zusammen. »Er ist ein guter, wertvoller Mensch mit viel Tiefgang, vor dem ich große Achtung habe. Ich kann ihm rundum vertrauen. Er war mir zeitweise wohl auch eine Art Vaterersatz.« Doch ein großer Nachteil war mit dieser Ehe verbunden: Yildiz, die im warmen und warmherzigen Istanbul der sechziger Jahre in Akademiker- und Künstlerkreisen ihre Jugend genossen hatte, sollte nun in Deutschland leben. »Nicht mein Mann hat mich unterdrückt, sondern Deutschland«, meint sie rückblickend. Viel Anpassungsbereitschaft war von ihr gefordert. In Berlin, das damals noch von einer Mauer umschlossen war, musste sie viel vermissen. »Das war eine schwere Zeit. Ich war oft depressiv.«
Wer sie bei einem Spaziergang durch ihr Istanbul begleitet, merkt wovon sie spricht. Hier guckt sie schnell auf ein kurzes Hallo beim Frisör vorbei, dort kauft sie ein besonders gutes, günstiges Gewürz, hier weiß sie den besten, frischesten Fisch zu organisieren, dort drückt und herzt sie die Kinder des Nachbarn im Vorbeigehen, hier ruft sie Freunden durchs offene Fenster einen Gruß herein. Yildiz kennt in ihrem Viertel jede Ecke und genießt das Aufspüren der kleinen Geheimnisse von Istanbul, die dem Uneingeweihten verborgen bleiben. Mit ihrem Esprit verkörpert sie die selbstbewusste, gebildete Istanbulerin, die sich in jeder Lage durchzusetzen weiß. Mit ihrem Charme, ihrer Intelligenz und ihrem Temperament hat sie es sogar geschafft sich in die Deutschen einzufühlen. »Ich verstehe die Deutschen und ich liebe sie«, betont sie immer wieder. Doch sie lässt keinen Moment einen Zweifel daran aufkommen, dass sie eine Türkin ist. »Niemand kann mir meine Heimat und meine Nationalität nehmen.« Ihr Mann habe dies nie versucht, es wäre auch zum Scheitern verurteilt gewesen. Doch er liebe die Türken. Er sei anders als die Deutschen, er habe eine türkische Seele. »Aber oft sage ich auch zu ihm: Du bist mir zu langweilig. Türkische Männer sind anders. Wenn ein deutscher Mann fernsieht, konzentriert er sich ganz auf das Programm. Ein türkischer Mann streichelt nebenbei seine Frau auf dem Sofa und schon ist die Atmosphäre eine andere«, lacht sie. Yildiz sprüht vor Energie, Lebenskraft und Neugier. Kein Wunder, wenn ihr deutscher Mann bei diesem Tempo manchmal überfordert ist. In Deutschland besucht sie Ausstellungen, Konzerte und Diskussionen auch gerne allein. »Entweder er begleitet mich oder ich gehe eben ohne ihn. Einsperren lasse ich mich nicht.«
Yildiz hat sich durch ihre vielfältigen Erfahrungen in der Türkei und Deutschland viele Gedanken über das unterschiedliche Wesen der beiden Nationalitäten gemacht. »Die Deutschen sind anders als die Türken. Die Türken haben eine stärkere Seele. Die Türken haben keine Angst vor dem Feuer. Sie gehen mitten hinein. Sie können Leid besser ertragen, indem sie sich ihm stellen, es ausleben und verarbeiten. Die Deutschen meiden die Konfrontation mit dem Schmerz und leiden dadurch noch mehr.« Die türkische Frau ist dem Verlust ihrer Lebensqualität in Istanbul nicht aus dem Weg gegangen. Sie hat sich dieser Herausforderung gestellt. Die Ehe mit ihrem deutschen Mann lebte gleichzeitig von den Kontrasten in ihren Persönlichkeiten und von ihrem seelischen Einverständnis. Viele harte Diskussionen hätten sie ausgetragen. Wer Yildiz erlebt, wie sie im Istanbuler Stadtverkehr für ihre Rechte als Fußgängerin kämpft und selbst die Taxifahrer zu erziehen versucht, kann sich vorstellen, dass ihr Ehemann auch als redegeübter Anwalt stets mit vielen Gegenargumenten zu rechnen hatte. Doch sie ist sich auch ihrer besonderen Qualitäten als Frau bewusst. »Wir können auch spielen, um unsere Ziele zu erreichen.« In der Türkei sei es für sie beide leichter zu leben. In Deutschland hätten die Türken immer noch mit dem Gastarbeiterimage zu kämpfen. Wenn dagegen ein Ausländer in der Türkei die Türken verstehen und lieben könne, käme er dort leichter zurecht. Außerdem hätte der Aufenthalt in der Türkei für ihren Mann einen entscheidenden Vorteil: »Ich bin hier viel fröhlicher und ausgeglichener und kann ihn viel mehr verwöhnen und erfreuen als in Deutschland. So geht es auch ihm besser.« Yildiz hat großes Verständnis dafür, dass ihre Mutter zunächst gar nicht mit der Wahl ihres Ehemannes einverstanden war. Schließlich bedeutete dies, dass ihre
Tochter im Ausland und von ihr getrennt leben musste. »Das wünscht sich keine Mutter«, bekräftigt sie. Vor kurzem ist ihre Mutter 94-jährig gestorben. Nun weilt Yildiz in der Istanbuler Wohnung allein. Ihre tiefe gefühlsmäßige Bindung wird deutlich, wenn sie mit Trauer in der Stimme zugibt: »Ohne meine Mama ist Istanbul nicht mehr dasselbe. Ohne sie kann ich selbst die Landschaft nicht mehr so genießen.« Ihre Ehe war gekennzeichnet durch viele Zeiten der Trennung und des Wiedersehens. Immer wieder fuhr Yildiz zu ihrer Mutter, um im geliebten Istanbul zu sein, um ihre Seele in der Türkei aufzutanken und um ihrer Mutter bei geschäftlichen Angelegenheiten zur Seite zu stehen. Ihr Mann begleitete sie gerne, wenn sein Beruf als Jurist es zuließ. Manchmal packte ihn sogar vor ihr die Sehnsucht nach der Türkei, und er verbrachte einige Wochen in Antalya, während sie in Berlin bei ihrem gemeinsamen Sohn blieb. Dieser steht mittlerweile kurz vor dem Jura-Examen. »Ich wollte eigentlich nie Kinder«, gibt sie zu. Durch ihren Sohn ist ihr Band nach Deutschland noch fester geknüpft. »Mein Sohn wird mich für immer in Deutschland festhalten«, stellt sie fast ein wenig bedauernd fest. Yildiz ist eine Frau, für die der Begriff »Heimat« eine große emotionale Bedeutung hat. Sie verortete sie immer in Istanbul, doch nach der Gründung einer eigenen Familie in Deutschland schlug sie auch, fast ungewollt, hier tiefere Wurzeln. »Eine Ehe zwischen zwei Kulturen ist eigentlich falsch«, behauptet diese Frau, die eine solche Verbindung seit über 30 Jahren erfolgreich aufrechterhält. »Spätestens nach der Geburt eines Kindes wird jeder der Partner egoistisch.« Mit einem Kind verschärfen sich die Diskussionen. Jeder Partner möchte seinen Anteil angemessen vertreten wissen. So ist es Yildiz sehr wichtig, dass ihr Sohn perfekt Türkisch spricht. Nur so kann sie mit ihm in ihrer Herzenssprache reden. Mit ihrem
Mann spricht sie dagegen Deutsch. »Das ist für mich sehr anstrengend.« Mit Stolz in der Stimme betont sie: »Mein Sohn sieht ganz wie ein Türke aus.« Doch ihr Sohn studiert deutsches Recht – ein Studiengebiet, das eher Berufe in Deutschland eröffnen wird. Und er hat sich für die deutsche Staatsangehörigkeit entschieden. Man merkt Yildiz an, dass sie mit dieser Entscheidung nicht einverstanden ist. Yildiz träumt in Deutschland häufig von einem anderen Istanbul, als es sich ihr heute bietet. Statt einer Million Menschen damals leben heute 15 Millionen in der ausufernden Stadt, und täglich strömen weitere Neuankömmlinge hinzu. Sie bedauert, dass nicht alle von ihnen gewillt sind, eine städtische Kultur zu leben. An einem Beispiel macht sie diese Veränderungen fest: »Früher haben die Taxifahrer auch schon gehupt, aber eher spielerisch, mit einem französischen Esprit. Heute tröten sie nur noch nervtötend ohne geistigen Hintergrund.« Rechts neben dem Haus steht eine Moschee, links unter ihm liegt versteckt in einem Innenhof eine griechisch-orthodoxe Kirche. »Ich bin morgens vom Gebetsruf geweckt worden und gleich danach bimmelte die Glocke der griechischen Kirche«, beschreibt Yildiz ihr unkompliziertes Verhältnis zur Religion. Sie hat versucht, das Beste aus dem Verlust ihrer geliebten Heimat zu machen. Sie bewegt sich zwischen den Kulturen, ohne ihre Unterschiede zu vertuschen. »Unser Sohn hat zwei Kulturen, er hat es eigentlich besser. Er kann sich von allem das Beste aussuchen. Er hatte einen wertvollen Vater und die Mutter ist auch nicht so schlecht«, lacht sie. Er wird seinen eigenen Weg finden müssen. »Er kann eine Deutsche oder eine Türkin heiraten. Mir ist beides recht.« Die Hauptsache für Yildiz wird sein, dass diese ganz besondere Liebesbeziehung zu ihrem Sohn Bestand haben wird. »Liebespartner kann man
mehrere haben, aber eine Mutter und einen Vater hat man nur einmal«, ist sie überzeugt.
II Einwanderungsgrund Studium
Im Wintersemester 2004/2005 studierten 6.587 türkische Bildungsausländer an deutschen Hochschulen. Auch schon in den siebziger Jahren kamen viele Türken zu Studienzwecken nach Deutschland. Unter den Interviewpartnern in der Altersgruppe der 40- bis 50-Jährigen gab es zehn Männer, die ihr Einreisevisum in diesem Zeitraum für die Aufnahme eines Studiums erhielten. Sie haben in Deutschland Wurzeln geschlagen, nicht zuletzt durch ihre deutsche Partnerin. Ihre damalige Entscheidung für einen Aufenthalt im Ausland war häufig von dem Wunsch mitbestimmt, ihrem Leben eine neue Wendung zu geben. Sie trafen ihre Entscheidung nicht aus einer wirtschaftlichen Not heraus, sondern aus dem Wunsch nach Weiterbildung und Horizonterweiterung. In Deutschland stießen sie auf ein Bündel von Problemen: Erstens wurden ihre in der Türkei erworbenen Abschlüsse in Deutschland nicht anerkannt. Zweitens verfügten sie über wenig oder keine Kenntnisse der deutschen Sprache und drittens mussten sie ihre Lebenshaltungskosten in Deutschland meist eigenständig finanzieren. Ein Netzwerk aus Freunden oder Verwandten, die sich schon ihren Weg in Deutschland erarbeitet hatten, half ihnen dabei. Die Motivation, ihre Probleme zu bewältigen, schien aber bei den meisten eher mit den Schwierigkeiten zu wachsen. »Daran war mein Vater nicht ganz unschuldig: Er hatte mir ein Studium in Deutschland nicht zugetraut. Ihm wollte ich unbedingt beweisen, dass ich es schaffen konnte«, erinnert sich ein türkischstämmiger Mann.
Ihr hoher Bildungsgrad und ihre kulturelle Aufgeschlossenheit erleichterte die Verständigung mit ihrer deutschen Partnerin – und stellte gleichzeitig auch an sie entsprechende Erwartungen. Die deutschen Partnerinnen haben in den meisten Fällen ebenfalls studiert und arbeiten wie ihre Männer Vollzeit. Diese Paare schätzen meist gerade die Horizont erweiternden Momente ihrer Beziehung und scheuen dafür auch die Anstrengungen eines intellektuellen Diskurses nicht.
Sie streiten und versöhnen sich seit 25 Jahren Ehe immer noch leidenschaftlich. Sie: Ich habe eine ganze Kultur dazu gewonnen, und einen sicheren Arbeitsplatz. Er: Ich habe ihr Zeit gegeben, mich kennen zu lernen. Wir waren ein Paar, aber das bedeutete nicht, dass wir abhängig voneinander waren.
Qualifizierung durch Gegensätze TÜRKISCHER SOZIALPÄDAGOGE, 53 & ERSTE DEUTSCHE TÜRKISCHSPRACHIGE PSYCHOTHERAPEUTIN DER STADT, 52
Doris war ein Kind ihrer Zeit: eine freiheitsliebende, emanzipierte Frau, die sich in keine Abhängigkeit zu einem Mann begab. Oft überschnitten sich ihre Beziehungen, selten gab es eine Zeit, in der sie nur mit einem Mann zusammen war. Dann traf sie Emre, den Bruder einer Arbeitskollegin und Freundin. »Einen Türken!«, meint sie. »Da hatte ich schon meine Bedenken. Der hätte doch sicherlich Schwierigkeiten, meine Einstellungen zu Männern zu akzeptieren, dachte ich damals. Ich war, wie man sieht, nicht ganz frei von Vorurteilen über türkische Männer. Mit der Einstellung, das kann nichts werden, bin ich an unsere Begegnung herangegangen.« Durch ihre sozialpädagogische Arbeit mit türkischen Migrantenkindern und deren Eltern hatte sich diese Meinung schließlich im Laufe der letzten Jahre eher noch verfestigt. »Ich gab ihr in Ruhe Gelegenheit, mich kennen zu lernen«, bemerkt Emre trocken. Über mehrere Monate beschnupperten sich die beiden. Emres Schwester warnte Doris: »Lass bloß die
Finger von meinem Bruder! Der ist selten lange treu.« Die Warnung verfehlte ihre Wirkung nicht; Doris war interessiert. Sie lernte diesen türkischen Mann kennen und konnte feststellen, dass Emres Unabhängigkeitsstreben dem von Doris in nichts nachstand und dass er sogar bereit war, ihres zu tolerieren. Emre war übrigens einer deutschen Frau gegenüber weniger skeptisch. »Schon in meiner Heimatstadt hatte ich den Entschluss gefasst, keine türkische Frau zu heiraten. Ich hatte gesehen, dass es unheimlich schwierig mit den türkischen Frauen, mit ihren strengen Normen und Sitten ist.« Das passte nicht zu Emre, dafür schätze er die Freiheit zu sehr. Sie wurden ein Paar, was für sie aber nicht bedeutete, dass sie sich ausschließlich aufeinander konzentrierten. »Wir waren nie abhängig voneinander«, betont Emre. Das änderte sich auch nicht, als sie beschlossen zu heiraten. Emres Studium näherte sich dem Ende und die Ausländerbehörde machte Schwierigkeiten. Er war in der Türkei politisch aktiv gewesen und war es auch in Deutschland. »Ich hatte ständig Angst, dass die Ausländerbehörde uns trennt«, erinnert sich Doris. Emre sieht das gelassener: »Das wäre kein Grund für eine Heirat gewesen. Ich wollte mit dir zusammen sein und zusammenleben.« Emre war 1978 »ganz legal«, wie er sagt, zum Studium nach Deutschland gekommen, wo sein Vater seit fast 20 Jahren und seine Mutter seit 1973 lebte. »Erst mit 25 konnte ich eine Beziehung zu meinem Vater knüpfen, den ich vorher nur als ›Weihnachtsmann‹ kannte, der einmal im Jahr kam und seinen Kindern Geschenke mitbrachte«, meint Emre nachdenklich. Als er sich in den letzten Jahren des Gymnasiums befand, war seine Mutter endlich zu ihrem Mann gezogen. Seitdem hatten die acht Geschwister das Leben in der Stadt nahe der syrischen Grenze alleine gemeistert. Die älteren Kinder übernahmen
dabei die Verantwortung für die jüngeren. Heute leben sie alle bis auf eine Schwester in Deutschland. »Dann gab es einen Wendepunkt in unserer Beziehung«, erzählt Doris. Sie verbrachte drei Monate in der Türkei. »Meine ABM-Stelle endete, ich hatte plötzlich Zeit und wollte mein Türkisch verbessern.« Schon während ihrer Arbeit mit den Migrantenkindern hatte sie angefangen, die Sprache zu lernen. In Emres Heimatstadt Antalya wollte sie sie nun in ihrer natürlichen Umgebung vervollkommnen. Sie lebte bei den dort verbliebenen Familienmitgliedern. »Ich wurde sehr herzlich aufgenommen.« Was wohl auch daran lag, dass sie lange Zeit mit einer Schwester von Emre, die Lehrerin ist, in Deutschland zusammengearbeitet hatte. »Nach den drei Monaten in der Türkei wusste ich, dass ich mit Emre zusammen Kinder haben möchte.« Doris war auch klar geworden, dass sie nur noch die eine Beziehung zu ihrem Mann wollte. Alle weiteren waren ihr unwichtig geworden. »In der Türkei hatte ich bei Emres Familie soviel Unterstützung, Wärme und Geborgenheit bekommen, dass ich nichts anderes mehr wichtig fand.« Doris wollte ihre eigene kleine Familie gründen. Emre war über ihren plötzlichen Sinneswandel etwas überrascht. »Da gab es gewisse Übergangsprobleme, meine Nebenbeziehung angemessen auslaufen zu lassen«, gibt er zu. »Es war nie so, dass ich nicht wusste, wo ich hingehöre. Mir war immer klar, dass ich mit Doris zusammen sein wollte. Doch um etwas Neues zu bekommen, musste ich etwas Altes aufgeben.« Das sei nun mal selten einfach. »Es gab diesen Wendepunkt: Der Vertrag unserer Ehe musste nachverhandelt werden und dann wurde der Abschluss mit der Schwangerschaft besiegelt«, bringt Doris es kurz und bündig auf den Punkt.
»Da war es für uns auch nicht wichtig, ob wir uns in einer gesicherten Position befinden und ob wir uns jetzt Kinder leisten können oder nicht«, sagt Emre. »Wir schaffen das irgendwie zusammen.« Das war beiden klar. Ebenso klar war, dass sie beide nur halbtags arbeiten würden, um zu gleichen Anteilen die Kinder zu betreuen und den Haushalt versorgen zu können. »Das haben wir dann auch solange gemacht, bis die Kinder uns rausgeworfen haben«, berichtet Emre selbstironisch. »Irgendwann sagten sie zu uns, ihr braucht uns nicht mehr zu bekochen, das können wir jetzt alleine.« Zwei Mädchen haben sie bekommen, im Abstand von drei Jahren. »Mit der älteren habe ich es noch bis zum Alter von zwei Jahren konsequent durchgehalten, Türkisch zu sprechen.« Dann kam sie zu einer deutschen Tagesmutter und danach in einen deutschen Kindergarten. Im Alter von vier Jahren weigerte sie sich, mit ihrem Vater Türkisch zu sprechen. »Ich fühlte mich zurückgewiesen«, gibt Emre zu. »Bei der jüngeren hatte ich dann weniger Ehrgeiz.« Dass der Grundstock trotzdem gelegt worden war, konnte in den jährlichen Türkeiurlauben immer wieder registriert werden. Was dem Vater verwehrt wurde, gelang den türkischen Jugendlichen in den Ferien spielend. »Was laue romantische Sommernächte in der Türkei so ausmachen können«, meint die Mutter. Heute können sich beide Mädchen perfekt auf Türkisch unterhalten. Doris kann die Bereicherung durch ihre Ehe mit Emre auch durchaus aus ihrer beruflichen Perspektive sehen: Doris ist eine der wenigen türkischsprachigen Psychotherapeutinnen, die ihre Klienten in ihrer Muttersprache betreuen können. »Nur durch die Einblicke, die mir Emre, seine Familie in Deutschland und in der Türkei gegeben haben, habe ich genügend Hintergrundwissen für meinen Beruf bekommen. Die Sprache ist das eine, aber die Kompetenz, den Hintergrund
zu verstehen ist genauso wichtig. So habe ich eine sichere Marktposition, die heutzutage sehr selten ist.« Der Erfolg gibt ihr Recht. Ihre Sprechzeiten sind stets ausgebucht. »Was ich von Doris unheimlich gut fand war: Sie war offen. Offen für unsere Kultur und für unsere Sprache«, sagt Emre anerkennend. »Sie hat meine Eltern so akzeptiert, wie sie sind, und meine Eltern sie genauso. Sie haben sie sehr geliebt.« Die Aufnahme von Doris’ Familienseite brauchte etwas mehr Zeit. Ihr Vater erschien nicht zur Hochzeit seiner Tochter. Emre erklärt: »Er traute sich wohl nicht, vor seinen Arbeitskollegen zuzugeben, dass er einen freien Tag braucht, weil seine Tochter einen Türken heiratet.« Er hat Verständnis für den deutschen Mann: »Für ihn war es gut, mal einen Türken kennen zu lernen, den er anfassen, den er ›beißen‹, mit dem er Skat spielen und die Sportschau gucken kann«, erläutert Emre auf seine Art den Angewöhnungsprozess. Das soziale Engagement ist ein wichtiger Teil ihrer gemeinsamen Basis. Beide wollen gesellschaftliche Situationen verändern. Doris in ihrer Praxis und Emre als Sozialpädagoge in einer Beratungsstelle in ihrem Stadtteil. Für viele Menschen in der Stadt sind sie mittlerweile zu wichtigen Ansprechpartnern und Koordinatoren eines engagierten Netzwerkes geworden. Zu einem Punkt nehmen sie allerdings eine ganz unterschiedliche Haltung ein: zur Religion. »Für mich ist die Religion mit ganz vielen positiven Emotionen verknüpft. Ich habe eine starke, emotionale Bindung zur Religion«, erläutert Doris. Sie erlebte eine Jugendzeit, die von aufgeschlossenen Modernisierungsbemühungen der evangelischen Kirche geprägt war. Ihre ersten Beziehungen und Erfahrungen knüpfte sie in christlichen Jugendgruppen. Auch heute noch ist sie in ihrer Gemeinde aktiv. Sie singt im Kirchenchor und beteiligt sich an der Fastenaktion »Sieben Wochen ohne«. »Gerne hätte
ich meinen Kindern diese emotionale Bindungsqualität vermittelt. Doch ich empfinde es so, dass die Kinder sich quasi in einem luftleeren Raum befinden. Ich würde mir manchmal wünschen, dass sie einen ebensolchen Halt hätten, wie ich ihn habe.« Emre hat ganz andere Erfahrungen gesammelt. »Ich bin in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass Religion Opium fürs Volk ist. Ich wollte nicht, dass meine Töchter im Kindesalter durch die Religion beeinflusst werden. Ich wollte, dass sie sich später bewusst damit auseinandersetzen können.« Für Emre bedeutete Religion Gefahr, für Doris Geborgenheit. »Das ist einer der wenigen Punkte, wo wir nicht auf einen Nenner kommen«, gibt Doris zu. »Ich denke, ich rede mit einem Blinden«, witzelt sie. »Ich auch«, entgegnet Emre. Sie tauschen einen tiefen Blick; sie kennen sich. »Und doch entdecken wir immer noch Unbekanntes am anderen«, freut sich Emre. Eine Ehe zwischen so unterschiedlich sozialisierten Partnern steckt voller Diskussionsansätze, aber kann schwerlich langweilig werden. Doris schätzt an Emre seine größere Kontaktfreude. »Wir sind nicht untypisch: Emre als Orientale entspannt sich, indem er mit anderen zusammen ist, und ich entspanne mich, indem ich mich in die Ecke setze und mir ein Buch nehme.« Emre grinst: »Da können wir uns gut ergänzen: Ich lese ein Buch an, das mich interessiert, gebe es Doris und sie erzählt mir dann hinterher, was darin steht. Das spart mir Zeit.« Am Anfang war Doris jedoch mit Emres Kontaktfreudigkeit etwas überfordert: »Anfangs habe ich immer auf die Uhr geguckt: Wie halte ich bloß die vielen Stunden ohne Rückzugsmöglichkeit durch«, fragte sie sich. »Da gab es auch Situationen, in denen ich beleidigt abgedüst bin«, erinnert sie sich. Emre sah das viel gelassener: »Ich war immer der Meinung: Wenn du keine Lust mehr hast, dann gehst du eben, da braucht hier keiner beleidigt sein.« Er kann darin kein Problem entdecken: »Irgendwann
war es dann nicht mehr schwierig. Ich brauchte mich nicht unter Druck zu setzen«, erkannte auch Doris. Sie konnte sie selbst bleiben und entspannt den eigenen Spielraum ausloten. »Emre hat die Fähigkeit mich so zu lassen, wie ich bin, aber hat trotzdem nicht darauf verzichtet eigene Erwartungen und eigene Wünsche zu stellen. Das ist eine der entscheidenden Grundlagen unserer Beziehung«, analysiert Doris fachlich versiert. »Wir legen Wert darauf, dass niemand auf etwas verzichten muss. So was geht nicht«, bestätigt Emre. Er blickt in die Zukunft: »Unser Traum ist, einige Zeit lang in der Türkei zu arbeiten. Wir hatten es schon eingeplant, doch wir hatten leider die Kinder vergessen«, gibt Emre zu. Beiden Töchtern ein Studium zu finanzieren, schiebt ihre Türkeipläne zeitlich noch ein paar Jahre hinaus. »Ein bisschen konfliktfähig sollte man für eine solche Beziehung schon sein«, überlegt Doris. Sie beide hätten Spaß an der Auseinandersetzung und scheuten dabei keinen lustvollen Streit. »Diese emotionale Intensität muss man aber auch aushalten können.« Gewisse Rituale helfen ihnen dabei. »Wir gehen gerne zusammen spazieren. In schöner Natur, am liebsten am Wasser, können wir gemeinsam in Bewegung bleiben«, meint Doris bewusst doppeldeutig. Hier wird manches Problem an der frischen Luft und mit Zeit füreinander geklärt. Emre meint zufrieden: »Unsere Kinder bekommen unsere Unterschiedlichkeiten und Konflikte mit, aber auch, dass wir nicht aufgeben. Obwohl wir unterschiedliche Meinungen haben, reden wir immer weiter darüber.« Doris bilanziert für sich: »Ich habe durch diese Beziehung ein ganzes Land und eine große, wunderbare Familie geschenkt bekommen.« Ihr fällt ein: »Das ist eigentlich etwas, was auch unsere Kinder geschenkt bekommen haben: die Familie. Wenn die Religion für mich ein Stück angstreduzierend war, ist es für
die Kinder vielleicht die Familie. Eventuell haben sie ja in ihr ihren persönlichen Raum des Aufgehobenseins gefunden.«
Die jüngere Tochter von Doris und Emre hat einen Freund in Deutschland und einen in der Türkei. Hin und her gerissen zwischen den beiden Männern und den beiden Ländern sucht sie ihren Platz. Sie: Keiner von beiden versteht mich ganz.
Wo gehöre ich hin? DIE JÜNGERE TOCHTER VON EMRE UND DORIS, ABITURIENTIN, 18
»Seit anderthalb Jahren habe ich mich einfach geweigert, Türkisch zu reden und mit zwei Jahren habe ich mich abgewendet, wenn mein Vater mich auf Türkisch angesprochen hat. Ich weiß auch nicht, warum das so war«, überlegt die 18-jährige Frau mit den braunen Locken. Sie kuschelt sich in die Decke auf dem Sofa und spielt ein wenig mit ihren langen Ohrringen. »Vielleicht hatte es schon etwas damit zu tun, dass meine drei Jahre ältere Schwester genau zu diesem Zeitpunkt mit meinem Vater auch lieber Deutsch als Türkisch sprechen wollte.« Bis zum Alter von zehn Jahren blieb es bei dieser Abneigung der türkischen Sprache gegenüber. Allgemein wurde dies von der zahlreichen, auch in Deutschland lebenden, türkischen Verwandtschaft bedauert. Obwohl Ayla alles verstand, weigerte sie sich, auch nur ein Wort Türkisch zu sprechen. Erst mit beginnender Pubertät änderte sich ihre Interessenslage allmählich. Sie wollte mit den Jugendlichen in ihrem Feriendorf, in das sie jedes Jahr fuhren, besser kommunizieren können. »Zunächst war die Musik ausschlaggebend; ich wollte die türkischen Songs mitsingen und verstehen können«, erinnert sie sich. »Auch beim Kennen
lernen der türkischen Jungs und Mädchen konnte ich die Sprache gut gebrauchen«, schmunzelt sie. Doch erst mit 12 oder 13 hatte Ayla die innere Blockade, die sich inzwischen aufgebaut hatte, überwunden. Sie traute sich endlich zu sprechen und sie merkte, dass sie bald locker mit den anderen mithalten konnte. »Die sechs Wochen Sommerferien in unserem Ferienhaus waren ein Traum. Wir vergossen stets viele Tränen, wenn es wieder nach Hause ging.« Dabei spielte sicher auch der Umstand eine nicht geringe Rolle, dass sie sich mit einem Jungen aus dem Dorf angefreundet hatte. Damit begannen aber auch die Probleme. Wunderten sich in Deutschland alle Schulfreunde auf dem Gymnasium, welch große Freiheiten sie als Tochter eines »türkischen Vaters« genoss, so warnte sie dieser Vater in der Türkei davor, die Grenzen dort nicht zu überschreiten. »Doch mir waren die Regeln dort nicht klar. Ich wusste nicht, wie ich die Äußerungen meines freiheitsliebenden Vaters interpretieren sollte, wenn er mir sagte, dass wir nicht öffentlich in Erscheinung treten sollten.« Um den Dorffrieden nicht zu stören, trafen sie sich nur im Schutz der Dunkelheit. Doch die Skepsis ihres Vaters blieb; er schätzte es nicht, dass sich seine Tochter mit einem Dorfjungen einließ. Er, der seinen Weg nach Deutschland angetreten hatte, um größere Freiräume zu genießen, wollte nicht, dass seine Tochter in Zwänge geriet, aus denen er sich befreit hatte. Doch die Zuneigung der beiden jungen Leuten war stärker und überdauerte die Jahre bis heute. Auch Aylas Freund blieb nicht ohne gut gemeinte Ratschläge: Dieses deutsche Mädchen werde ihn bald sitzen lassen. Ayla weiß, dass auch viele ihrer Freunde in Deutschland ihre Entscheidung für ihn nicht nachvollziehen können. »Manche seiner Verhaltensweisen muss man sich aus
seinem Umfeld erklären. Er ist eifersüchtig, weil er meine Umgebung in Deutschland nicht kennt und nicht verstehen kann.« Da schürten die Vorurteile über leichtlebige, deutsche Mädchen bei ihm halt Ängste, versteht sie. Ayla verbrachte ihr Auslandsschuljahr in der Türkei. »Mein Vater war gar nicht begeistert. Seiner Meinung nach sollte ich die Gelegenheit nutzen, noch ein anderes Land zu erkunden.« Doch Ayla musste für sich ergründen, ob sie sich eine Zukunft in der Türkei, mit ihrem Freund, vorstellen konnte. Da dieser jedoch genau zu dieser Zeit seinen Militärdienst absolvieren musste, blieb der Kontakt auf lange, teure Telefonate beschränkt. Ayla fällt dazu eine Begebenheit ein: »Im Laufe der Zeit hatte sich eine große Telefonrechnung aufgetürmt. Meine Eltern konnte ich nicht um Unterstützung bitten, da sie den Kontakt zu ihm nicht wollten. Als dann auch noch meine ECKarte eingezogen wurde, stand ich völlig auf dem Trockenen.« Sie erzählte einer Freundin in der Schule davon. Das Mitleid mit der armen, heimwehkranken Austauschschülerin griff um sich. Kurzerhand wurde in der Schule ein Sammeltopf für Ayla aufgestellt, und Lehrer und Schüler spendeten für sie. »Diese große Hilfsbereitschaft hat mich sehr berührt, denn ich hielt meinen Kontakt mit den anderen Schülern bis dahin für eher oberflächlich«, meint sie im Nachhinein. Jetzt überlegt sie, nach dem Abitur für ein Soziales Jahr in die Türkei zu gehen, um ihren persönlichen Entscheidungsprozess voranzutreiben. »Ein Teil von mir ist in der Türkei und einer in Deutschland«, erklärt sie. Dass sie so hin und her gerissen ist, liegt auch daran, dass sie inzwischen einen deutschen Mann kennen gelernt hat. »Vielleicht sind beide für mich der falsche Partner; beide verstehen mich nur bis zu einem gewissen Punkt.« Beim türkischen Freund fehlt ihr das Verständnis für ihre westlich geprägten Anteile und bei
dem deutschen Mann das für ihre türkischen Wurzeln. Für welche Richtung ihr Vater dabei plädiert, da hegt Ayla keinerlei Zweifel. Er missbilligt ihre Fernbeziehung. Dass ihre Mutter für ihre Liebe zur Türkei und zu dem türkischen Mann mehr Verständnis hat, dürfte wohl mit ihren eigenen Erfahrungen zu erklären sein. Ayla weiß, dass ihre Mutter Bedenken hat, ob sie ihren Kindern zu viel abgefordert hat. »Ganz unbegründet«, findet Ayla. »Vielfalt kann doch sehr harmonisch sein«, ist ihre Erfahrung. Sie schätzt, dass sie von ihrer Mutter viel von ihrer positiven Bindung an die Religion mitbekommen hat. Sie findet es allerdings schade, dass ihr Vater in islamischer Richtung für keinen Ausgleich gesorgt hat. »Er sah in der Religion nur eine Verführung.« Von ihm hätte sie sich ein Mehr an Informationen gewünscht. Das musste sie von ihrem Gastvater im Auslandsjahr in Istanbul aufbessern lassen. »Erst mein Ersatzvater, der sich intellektuell in späteren Lebensjahren dem Islam genähert hat, konnte mir seine Religion sehr logisch erläutern.« Ein Interesse ist geweckt, dem sie vielleicht einmal nachgehen möchte. »Die totale Ablehnung meines Vaters kann ich gar nicht mehr nachvollziehen. Wieder ein Punkt, wo ich vielleicht wieder zurückgehe«, überlegt sie laut. Sie kennt Zeiten, in denen sie sich nirgendwo richtig zu Hause fühlt. Aber es gibt auch Phasen, in denen sie findet, dass sie zwei Zuhause hat. »Ich gehöre schon nach Deutschland«, denkt sie nach, »aber ich bin trotzdem froh, dass ich auch noch eine andere Kultur habe, die ich kenne und die ich liebe.« Von ihrem Partner wünscht sie sich vor allen Dingen Offenheit und Verständnis. »Dass ich mit ihm so sein kann, wie ich will, und dass er mich so akzeptiert, wie ich bin, das ist für mich das Wichtigste.« Bei wem sie dieses Verständnis allerdings finden wird, weiß sie noch nicht.
Der türkische Freund der älteren Tochter von Doris und Emre ist Student und Musiker. Sie haben noch nicht geklärt, ob und wo sie zusammenleben könnten. Sie: Wir diskutieren sehr viel. Ob es mit uns gut gehen wird, weiß ich noch nicht.
Mein Freund ist Türke und ganz anders DIE ÄLTERE TOCHTER VON EMRE UND DORIS, STUDENTIN DER KULTURWISSENSCHAFT, 21
»Ich habe mein Leben zwischen den Kulturen früher immer nur als Bereicherung empfunden«, sagt die 21-jährige Beate, »erst seit letztem Sommer überwiegt das Gefühl der Belastung.« Mit ihrer deutschen Mutter, ihrem türkischen Vater und ihrer Schwester hieß es jeden Sommer: Ab in die Türkei, in ihr kleines türkisches Dorf! »Schon ab Weihnachten zählten wir die Tage bis zur Abfahrt. Die Zeit dort war unser Highlight des Jahres. Die übrigen Monate schwelgten wir in Erinnerungen.« Doch im letzten Sommer kulminierten die Ereignisse, die ihr Gefühl jetzt eintrüben. Die Beziehung ihrer jüngeren Schwester zu einem Jungen aus dem Dorf sorgte für Aufruhr. Die Eltern fürchteten einen Eklat im Dorf und verboten ihr den Umgang. Als Beate sich dann auch noch für die Beziehung zu einem türkischen Studenten entschied, der ebenfalls aus diesem Dorf stammt, verschärfte sich die Stimmung zusätzlich. »Doch meinen Freund können sie mittlerweile akzeptieren. Er hat es geschafft sich von dem Dorf und seinen Strukturen zu emanzipieren. Er ist aus eigener Kraft nach Istanbul gegangen, hat an der Musikakademie sein Studium abgeschlossen und
leistet gerade seinen Militärdienst ab«, erklärt Beate. »Die Stimmung im Dorf hat sich jedoch verändert. Während wir uns früher dort immer rundum wohl fühlen konnten, habe ich jetzt ein ungutes Gefühl, wenn ich da bin.« Die Studentin der Kulturwissenschaften überlegt: »Mein Gefühl zwischen den Stühlen zu sitzen, zwischen den Kulturen hin und her gerissen zu sein, belastet mich jetzt. Ich merke zunehmend, dass meine Verbundenheit mit beiden Ländern eben sehr tief sitzt und sich aber nur schwer miteinander vereinbaren lässt.« »Vorher war ich jahrelang mit einem deutschen Mann zusammen«, berichtet die junge Frau. »Doch immer wieder ertappte ich mich dabei, dass ich dachte: Er kann meine türkische Seite nicht verstehen.« Er konnte nicht voll und ganz nachvollziehen, weshalb es sie immer in die Türkei zog. Dass sie die Wärme und Herzlichkeit der Menschen dort, die Sonne, die Geborgenheit und die Gastfreundschaft vermisste, wenn sie durch die Straßen der deutschen Großstadt ging, blieb ihm trotz aller Erklärungsversuche letztlich fremd. »Ich war sehr glücklich mit ihm, doch etwas fehlte mir immer in unserer Beziehung.« Jetzt wagt sie eine Partnerschaft mit einem türkischen Mann. »Unser Anfang war wenig romantisch. Er hat sich fast über ein halbes Jahr hingezogen und war mit vielen Verletzungen und Enttäuschungen verbunden.« Nun pendelt sie zwischen der Türkei und Deutschland, um so oft es geht mit ihrem Freund zusammen zu sein. »Keine Begegnung geht ohne intensives Streiten ab«, berichtet sie. »Es gibt so vieles, was wir aus unterschiedlichen Blickwinkeln begucken.« Ihr Freund betrachtet die Türkei gerne mit einem kritischen Auge. Doch wenn seine deutsche Freundin zustimmt, bekommt sie schnell zu hören, dass sie nur eine eindimensionale, westliche Perspektive einnehmen würde. »Wir rutschen immer wieder in unsere angestammten Rollen: Er verteidigt die Türkei und ich Europa.« Beate, die schon
glaubte, viel über die Türkei zu wissen, bekommt durch ihren Freund erst den direkten Zugang. »Ich lerne durch diese Auseinandersetzungen mit ihm sehr viel.« Ihr Freund beschert ihr somit ein reiches, praktisches Übungsfeld für die Theorie, die ihr in ihrem Studium eine vorurteilsfreie Sicht auf anderen Kulturen vermitteln soll. »Wir müssen immer wieder erkennen, wie geprägt wir doch durch unser Aufwachsen in einer Kultur sind. So unbefangen, wie ich dachte, gehe auch ich nicht an die unterschiedlichen Lebensweisen heran.« Sie gibt ein Beispiel: »Wenn ein türkischer Mann mich beim Sprechen nicht anguckt, sondern immer nur meinem Freund in die Augen blickt, dann fühle ich mich unhöflich behandelt. Mein Freund erklärt mir dann, dass es gerade aus Respekt den Frauen gegenüber passiere. Wenn ich dann entgegne, dass wir diese Nichtbeachtung in Deutschland nicht nötig haben um Konflikte zu vermeiden, dann sind wir schon wieder mittendrin im schönsten Streit.« Beate überlegt, wie ein Zusammenleben zwischen ihnen beiden aussehen könnte. »Mir fiele es, glaube ich, leichter, zu ihm in die Türkei zu kommen. Ich spreche die Sprache und mit meinen Qualifikationen würde es mir wohl leichter fallen dort eine Arbeit zu finden.« Er als türkischer Musiker ohne Deutschkenntnisse hätte wohl mehr Schwierigkeiten zu erwarten, vermutet sie. »Nicht einmal ein Besucher-Visum bekommt er für Deutschland. Da ist es doch klar, dass sich bei ihm eine Haltung entwickelt: Was, ihr wollt mich nicht, dann will ich euch schon lange nicht!« Beate bekommt durch ihren Freund, der die Interna im Dorf und in der türkischen Mentalität aus eigener Erfahrung genau kennt, die Erläuterungen, die ihr der liberal und kritisch denkende Vater in Deutschland nicht vermitteln konnte. »Plötzlich erzählt er mir über die heimlichen Streitigkeiten im Dorf, die unter der netten, liebevollen Oberfläche
schlummerten. Plötzlich kann ich auch die Kontrolle erkennen, die mit so einer Nähe und Anteilnahme einhergeht.« Beate blickt nachdenklich auf ihre Tasse Tee. »Ein sehr anstrengender Prozess, der mich oft an den Rand meiner Belastungsgrenze führt«, meint sie. »Aber ich merke auch, dass er mich weiter bringt, und deswegen finde ich die Beziehung mit meinem türkischen Freund gut.« Dass diese Entwicklungen auch ihre Eltern stark in Mitleidenschaft ziehen, gefällt ihr dabei weniger: »Schade ist nur, dass meine Eltern jetzt überlegen unser Haus in dem Dorf zu verkaufen, weil auch ihre Unbeschwertheit dort verloren gegangen ist.« Sie denkt an ihre Cousine, mit der sie immer ein sehr herzliches Verhältnis hatte. »Leider hat es sich etwas abgekühlt. Wir haben einfach zu unterschiedliche Ansichten. Sie glaubt an die große, einzig wahre Liebe, für die man sich aufsparen muss. Doch ich wusste schnell, dass für mich die Jungfräulichkeit kein Wert an sich ist.« Als sie mit ihrem deutschen Freund zusammenkam, distanzierten sich alle Cousinen von ihr. »Da war ich wieder einmal ›die Deutsche‹.« Schon früher hatte sie ab und zu das Gefühl von Ausgeschlossensein in der Familie des Vaters beschlichen. »Eigentlich habe ich das Zusammensein immer sehr genossen. Doch unter den Gleichaltrigen hieß es manchmal: ›Davon verstehst du nichts. Wir reden gerade über das, was du schon, aber wir türkischen Mädchen nicht dürfen.‹« Von deren Müttern, den nach Deutschland ausgewanderten Schwestern ihres Vaters, fühlte sie sich stattdessen aber stets verstanden und liebevoll unterstützt. »Die Gemeinschaft mit der Familie ist mir sehr wichtig.« Seit ihrer neuerlichen Annäherung an die Türkei durch ihren neuen Freund meint sie eine Veränderung auch bei den Cousinen zu verspüren. »Ich glaube, ich bin wieder etwas interessanter für sie geworden. Auch sie träumen schließlich alle von einem türkischen Mann
und der Möglichkeit, in die Türkei zu gehen.« Eine Verwunderung darüber schwingt in Beates Stimme mit. Sie ist sich überhaupt nicht sicher, wo sie leben möchte. »Ich bin durch meine Sozialisation in Deutschland stark geprägt, aber meine türkischen Wurzeln gehören genauso zu mir«, hat sie festgestellt. Ob sie in der Türkei leben und arbeiten kann, muss sie noch herausfinden. »Mein nächstes Praktikum mache ich in der Türkei. Ich plane die Tournee eines kleinen Stadttheaters mit. Vielleicht bin ich danach schlauer und weiß, was ich will?« Beate blickt in die Ferne: »Wo werde ich wohl in zehn Jahren sein? Keine Ahnung, es ist alles offen. Eine große Herausforderung, die sehr aufregend und spannend ist und mir dennoch auch etwas Angst macht…«
Der rebellische, unruhige Nomadensohn heiratet die angepasste, strenge Jurastudentin. Seit über 25 Jahren reiben sie sich an ihren Gegensätzen. Er: Wir praktizieren nicht die Kellerkultur der Deutschen. Wenn wir uns streiten, verziehe ich mich nicht mit einer Bierflasche in meinen Hobbykeller.
Der Einsatz ist groß, das Ergebnis doppelt so groß TÜRKISCHER SOZIALPÄDAGOGE, 48 & DEUTSCHE SOZIALPÄDAGOGIN, 47
Kenan stammt aus einer turkmenischen Nomadenfamilie, die in der Türkei sesshaft geworden ist. Noch nie hatte ein Familienmitglied jemanden außerhalb des Familienclans geheiratet. Kenan war der Erste. Und er wählte nicht nur eine Frau aus einem anderen türkischen Umfeld, sondern aus Deutschland, wohin er zur Weiterführung seines in der Türkei begonnenen Studiums gekommen war. Seine Cousine lebte dort bereits mit ihrem türkischen Mann. So zog er zunächst zu ihr. Erste Hindernisse stellten sich ihm in den Weg: In Deutschland wurde sein Abitur nicht anerkannt. Also holte er es durch den Besuch des Studienkollegs nach. Endlich waren alle Aufnahmeprüfungen erledigt, und das Studium der Elektrotechnik konnte beginnen. Dann passierte etwas, was alle seine Pläne auf den Kopf stellte. »Ich wollte eigentlich nicht in Deutschland bleiben. Nach einem naturwissenschaftlichen Studium wollte ich als Entwicklungshelfer nach Südamerika oder Indien, das war schon immer ein Jugendtraum von mir.« Doch eines Abends
auf dem Nachhauseweg stieg er aus der U-Bahn und eine junge Frau fiel ihm auf. Franziska erinnert sich: »Der Anfang war ganz putzig. Ein junger Mann sprach mich an. Er hüpfte neben mir auf und ab, während wir den Bahnsteig entlang zum Ausgang gingen. Das amüsierte mich. Wir gingen zusammen die Straße entlang und unterhielten uns. Als wir an einer Kneipe vorbeikamen, fragte er mich, ob wir etwas trinken wollten. Das taten wir dann. Wir verabredeten uns für die nächste Woche. Ich sagte ihm meine Adresse. In dem Haus, in dem ich damals wohnte, gab es auf jeder Etage vier Wohnungen. Bei meiner Beschreibung vertauschte ich leider rechts und links. So kam es, dass er bei meinen Nachbarn, einem älteren Ehepaar klingelte und zu ihnen meinte: ›Ich bin mit ihrer Tochter verabredet.‹ Die erwiderten verdutzt, dass sie gar keine Tochter hätten. Kenan meinte zu ihnen ganz überzeugt: ›Doch, Sie haben eine Tochter!‹ Da drehte sich der Mann zu seiner Frau um: ›Haben wir etwa eine Tochter?‹« Als sie auch den Kopf schüttelte, versuchte Kenan es im ganzen Haus. Als er endlich auch an Franziskas Tür klingelte, war es schon eine Stunde nach der verabredeten Zeit, doch sie hatte geduldig ausgeharrt. »Ich war derjenige, der die Geschichte ins Rollen gebracht hat. Dass ich nicht so schnell aufgebe, ist typisch für mich.« »Das stimmt«, bestätigt Franziska, wissend um die Zielstrebigkeit ihres Mannes. »Das ist das, was mir meine Eltern beigebracht haben. Bei uns sagt man ja, das Glück kommt nur einmal vor deine Tür. In diesem Moment muss man handeln«, erklärt Kenan. Kenan illustriert den unterschiedlichen Stil der Familie mit folgendem Vergleich: »Franziska hatte einmal als Kind ein neues Kleid bekommen. Sie wurde vor den Spiegel gestellt und bekam gesagt, dass sie genauso wieder nach Haus kommen sollte. Also saß sie die ganze Zeit, während die anderen
spielten, brav auf der Bank. Als ich dagegen mit sechs Jahren eine neue Hose geschneidert bekommen hatte, gab mir mein Vater keine Maßregel mit auf den Weg. Ich rannte voll Übermut und Freude auf die Straße und knallte auf den Boden. Die neue Hose hatte einen großen Riss. Doch mein Vater hat keinen Ton dazu gesagt. Ich sollte selber meine Erfahrungen machen und eigene Schlüsse ziehen.« Dieses Erziehungskonzept trug Früchte: »So haben wir gelernt, mutig zu sein. Uns wurde immer gesagt, versuche es, wenn es nicht klappt, probiere es noch mal, du wirst es lernen«, fährt er fort. »Bei meiner Frau wurde stattdessen zur Vorsicht gemahnt. So habe ich eher nach Gefühl und sie nach Wissen gehandelt. Für sie war es schwieriger, für mich dagegen waren alle Wege offen. Schon als kleines Kind war ich auf mich gestellt, ich habe immer gearbeitet und Geld verdient.« Das führte er auch in Deutschland neben seinem Studium fort. Sein reicher Energievorrat gab sich selten mit einer Sache zufrieden. »Arbeit fand sich für mich immer«, berichtet er stolz. Denn Kenan war vielseitig einsetzbar, ob in der Gastronomie als Kellner, Koch oder als Fenstermonteur. »So hatte ich, als ich Franziska traf, auf dem Sparbuch schon etwas Geld.« »Eine gute Partie war er also«, wirft Franziska ein. Eine anstrengende und zugleich anregende Phase folgte, denn ihre bisherigen Erfahrungen waren sehr unterschiedlich. »Ich habe am Anfang weniger gesagt«, meint die Frau mit dem schmalen Gesicht, das von einem lässigen Fransenhaarschnitt umrahmt wird. Dafür war Kenan umso lauter und impulsiver. »Meine Frau ist überlegter, ich bin emotionaler«, fasst Kenan die verschiedenen Stile zusammen. Er sieht genau in diesen Unterschiedlichkeiten den großen Vorteil ihrer Begegnung; so könne man sich gegenseitig in der jeweils anderen Richtung beeinflussen. »Meine Frau ist ein sehr ruhiger Mensch. Ich bin
dagegen ein schnell denkender, schnell handelnder und auch schnell aufgebrachter Mensch. Ich habe mich nie gescheut, meine Meinung zu sagen. Doch ich war zu geradeheraus und zu direkt, um erfolgreich im Leben zu sein.« In den Punkten Benehmen, Ordnung, Diplomatie habe er von seiner Frau viel profitiert: Er könne jetzt diplomatischer mit den Menschen in Deutschland umgehen. Er selber legte auf diese Feinfühligkeit keinen Wert: »Mit mir konnte man auch grob umgehen. Das war bei ihr anders. Sie kannte Grobheit nicht. Ich war nie gewalttätig, nur mundwerklich ein starker Mensch. Sie allerdings hat öfter nach mir geschlagen«, neckt er seine Frau. Kenans Diskussionsfreudigkeit kannte kaum Grenzen. Er wollte Neues erfahren und provozierte dafür auch mal gerne. »Ich bin für jedes Problem offen gewesen, es zu diskutieren. Franziska dachte am Anfang immer, ich wollte einfach Recht behalten. Doch ich wollte nur nach dem besten Weg suchen.« Verschmitzt fügt Kenan an: »Wir praktizieren nicht die Kellerkultur der Deutschen. Wenn wir Streit haben, verziehe ich mich nicht in den Keller, schnappe mir eine Flasche Bier und verschwinde im Hobbyraum für den Rest des Tages. Wir kehren nichts unter den Teppich.« Kenan ist in der Rückschau erstaunt: »Mein Gott, welche Geduld du mit mir hattest!« Seine Frau entgegnet nüchtern: »Es kommt darauf an, was man für wichtig hält. Bei mir gab es von Anfang an das Gefühl grenzenlosen Vertrauens. Das war das, was mir wichtig war und mich bei dir gehalten hat. Und mit dem anderen, na gut, damit arrangiert man sich dann.« »Die Ohren zuhalten…«, schlägt Kenan ihr amüsiert vor. Erst als Franziska bei einem Türkeiaufenthalt in seiner Familie erleben konnte, wie sich das Miteinander dort abspielte, konnte sie sich einige von Kenans Angewohnheiten erklären. So vieles war anders, als sie es aus ihrer deutschen, wohlgeordneten, aber spröden Familie kannte. Dort wurde sehr
leise gesprochen. Stets wurde man ermahnt, nur keinen anderen zu stören oder Familiengeheimnisse zu verraten. Bei ihnen meldete man sich an, wenn man zu Besuch kam. Hier war alles blank geputzt und lange vorbereitet, wenn der Besucher eintraf. Ganz anders in Kenans Elternhaus. Hier ging alles sehr laut, spontan und turbulent zu. Man erzählte sich gesten- und wortreich in großen Familienrunden die Neuigkeiten. Man diskutierte lebhaft miteinander. Jeder konnte jederzeit hereinschneien und wurde in die sowieso schon große Runde aufgenommen. Noch heute liebt Kenan das Zusammensein in seiner Großfamilie mit seiner ganz besonderen Atmosphäre. Die Erinnerung an die herrlichen Geschichten, die bei solchen geselligen Anlässen zum Besten gegeben wurden, lässt ein Strahlen über sein Gesicht ziehen. »Ich konnte die Geschichten nicht oft genug hören. Jedes Mal geriet unser Bauch vor Freude ins Hüpfen und alles tat uns vor Lachen weh.« Seine Frau verzieht dazu allerdings leicht das Gesicht. »Ja, ich weiß, du fandest das nur langweilig: Immer dieselben Geschichten!« »Für diese besonderen Familienrituale fehlte mir wohl der rechte Sinn«, meint sie versöhnlich. In den ersten Jahren ihrer Beziehung sind sie immer für die gesamte Zeit ihres Jahresurlaubs in die Türkei gefahren. Sechs Wochen verbrachten sie dann bei der Familie, denn Kenans Sehnsucht nach dem, was ihm in Deutschland fehlte, war einfach zu groß. Mittlerweile ist die Aufenthaltsdauer auf ein bis zwei Wochen geschrumpft und andere Urlaubsziele erweitern das Spektrum. Inzwischen kann Franziska aber diese Zeiten auch mehr genießen, denn sie kann die Gepflogenheiten besser einschätzen. »Du hast ja nie übersetzt«, erklärt sie ihre Unlust. »Dafür warst du selbst viel zu sehr mit Erzählen beschäftigt.«
»Dazu war ich damals auch noch gar nicht in der Lage. Diesen Sprachwitz hätte ich damals nicht ins Deutsche übertragen können. Jetzt gelingt mir das viel besser, da ich mich mit beiden Kulturen auskenne.« Kenan kann diese Fähigkeit heute hervorragend ausnutzen: Er bietet einen deutsch-türkischen Gesprächskreis für ältere Menschen an. »Ich bin in einer großen Familie aufgewachsen, mit vielen Verwandten und Freunden. Hier mit meiner Frau in Deutschland war das ganz anders. Die Familienangehörigen sind hier eher wie ferne Bekannte, nicht einmal wie nahe Bekannte. Ich habe allmählich gelernt, was das Leben für die Menschen hier bedeutet, dass sie Verantwortung übernehmen und zuverlässig arbeiten müssen. Bis ich das alles hier durchschauen konnte, habe ich Zeit gebraucht. Damals war ich emotional geladen, da ich Sehnsucht nach zu Hause gehabt habe. Das hat mich am Anfang sehr destabilisiert.« Franziska erklärt die Konsequenzen für ihr Zusammensein: »Das sah dann am Wochenende so aus: Zum Frühstück gehen wir da hin, zum Mittag da und zum Abendessen da. Wir haben wenig Zeit zu zweit verbracht. Es gab eine ganze Reihe von Verwandten und Bekannten in der Stadt, die wurden dann abgeklappert. Das hatte einerseits natürlich den Vorteil, dass wir uns nie ums Essen kümmern mussten«, bemerkt sie mit leicht ironischen Unterton. »Aber irgendwann hatte ich das Gefühl, dass ich mal ein wenig zu Hause oder zu zweit sein wollte. Das entwickelte sich in dieser Zeit für mich schon zu einem Problem.« Dann kündigte sich Nachwuchs an. Die erste Tochter wurde geboren. Trotz anderer Pläne freuten sich beide über ihr erstes Kind, das positive Auswirkungen auf Kenans Zufriedenheit hatte: »Was mich beruhigt und gezügelt hat, war unsere Tochter. Da habe ich das Gefühl eines Geschenkes gehabt, für das ich Verantwortung übernommen habe. Sie war ein sehr
süßes Mädel. Es war ein unbeschreibliches Glück, wenn sie auf meinem Bauch lag und ich mit ihr schmusen konnte.« Kenan kümmerte sich viel um seine Tochter und entwickelte eine innige Beziehung zu ihr. Er gibt zu, dass er, als sie später eigene Wege gehen wollte, große Schwierigkeiten hatte, sie loszulassen. »Das war ein wichtiger Lernprozess für mich. Jetzt bei meiner zweiten Tochter bin ich schlauer geworden und werde keinen Aufstand mehr machen, wenn sie ihren ersten Freund mit nach Hause bringt«, merkt er selbstkritisch an. Franziskas Familie war nicht begeistert von dem türkischen Schwiegersohn. Besonders die Mutter reagierte mit Abschottung: Sie schloss sich bei der Nachricht erst mal auf dem Klo ein. Auf ihre Meinung schien ihre Tochter eh’ keinen Wert zu legen, denn sie war in die Entscheidung nicht mit einbezogen worden. Die Tochter ahnte ihre Einstellung und stellte sie deshalb vor vollendete Tatsachen. Das war auf türkischer Familienseite anders. »Meine Familie hatte gar keine Erfahrungen, was die Deutschen eigentlich für Menschen sind und ob man mit denen klar kommen kann. Als sie Franziska dann kennen gelernt haben, verteidigten sie bei Streitigkeiten eher meine Frau als mich, ihren Sohn«, erzählt Kenan. »Das ist bei uns so: Der Fremde wird beschützt und umsorgt.« In Deutschland machte Kenan andere Erfahrungen: Auf dem Standesamt wurde er von dem Beamten ignoriert und seine Frau immer wieder darauf hingewiesen, welche Risiken sie mit einem türkischen Mann eingehen würde. Ob sie sich es nicht lieber noch einmal überlegen wollte, fragte der Standesbeamte sie immer wieder. Bei der Wohnungssuche wurden sie wiederholt abgewimmelt. Sie würden die Miete doch sicher nie aufbringen können, hieß es, wenn der türkische Name fiel. Kenan erinnert sich an die Reaktionen auf der Straße: »Als wir
damals während Franziskas Schwangerschaft spazieren gegangen sind, haben mich die Leute sogar getreten.« Doch diese Ablehnung bewirkte eher das Gegenteil; sie hat das Paar noch stärker zusammengeschweißt. »Da ist meine Franziska stur. Sie hat nicht emotional auf die Hindernisse reagiert.« Franziska ergänzt: »Eher nach dem Motto: Jetzt erst recht.« Und Kenan fährt fort: »Ganz im Gegenteil, diese Leute haben uns bestätigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wenn sie uns zugestimmt hätten, hätten wir uns doch ernsthaft fragen müssen: Wieso können diese Leute uns unterstützen?« »Typisch Kenan!«, kommentiert seine Frau. Eine amüsante Geschichte fällt dem leidenschaftlichen Erzähler Kenan noch zu ihrer Ankunft in der Türkei ein: »Meine Eltern waren kurz vorher bei dem Heiligen Grab gewesen, wo Gläubige um Nachwuchs bitten können. Mein Vater scherzte dort: ›Bitte, lieber Heiliger, wenn du mir doch noch ein Kind in meinem Alter schenken würdest.‹ Meine Mutter ermahnte ihn: ›Lästere nicht.‹ Am gleichen Tag sind wir mit dem Auto angekommen. Ich habe das Kind in einem Korb vor ihre Tür gestellt und gekniffen. Daraufhin hat es angefangen zu weinen. Mein Vater kam zur Tür heraus und blickte erstaunt auf das Baby. ›Shirin, Shirin, ich glaube der Heilige hat das ernst genommen. Da steht ein Kind vor der Tür.‹ Meine Mutter aber hat das Spiel sofort durchschaut: ›Kenan ist gekommen!‹« Der zehnjährige Sohn, der gerade ins Gymnasium gekommen ist, setzt sich mit an den Tisch. Die Hausaufgaben sind gemacht, nun möchte er etwas essen. Der Vater erklärt, wo er das vorbereitete Pide (Fladenbrot) findet. »Die Aufgabenverteilung ist bei uns etwas anders geregelt als bei anderen Paaren. Wir teilen uns die häuslichen Pflichten und sind gemeinsam für die Kinder zuständig. So habe ich zum Beispiel das Kochen übernommen«, erklärt Kenan. Beide
Elternteile sind berufstätig und erledigen die familiären Arbeiten gemeinsam. Wann immer einer der beiden Zeit hat, übernimmt er seinen Anteil daran. Franziska wundert sich, wenn heute andere Menschen auf ihren Mann so reagieren wie sie früher. Dann merkt sie noch deutlicher: »Man selbst verändert sich im Laufe der Zeit. Und man versteht den anderen immer besser. Ich habe durch meinen Mann gelernt, flexibler zu sein und viel lockerer mit Dingen umzugehen.« Ihr Sohn, der beim Essen dem Gespräch seiner Eltern aufmerksam zugehört hat, hat die Botschaft verstanden: »Einfach mehr Spaß am Leben haben«, wirft er ein. »Erst zehn Jahre alt und er versteht schon, worauf es hinausläuft«, meint der Vater stolz. Es ist für Kenan das Allerwichtigste, die Kinder zur Selbstständigkeit zu erziehen und mit einem gesunden Selbstbewusstsein auszustatten. »Mein Traum für meine Tochter war zum Beispiel, dass sie später einen LKW fahren kann. Meine Zielvorstellung war immer, und zwar für jedes Kind, egal ob Junge oder Mädchen: Nicht einschränken, sondern rangehen lassen.« Für den Sohn wird es Zeit, ins Bett zu gehen. »Gute Nacht«, wünscht er und verschwindet in sein Zimmer. Kenan kann trotz der wenig herzlichen Aufnahme durch die Schwiegereltern honorieren, was sie Franziska beigebracht haben: Leistungs- und Verantwortungsbewusstsein. Davon profitiere ihr gemeinsames Eheleben. Sie seien sich stets über die Prioritäten einig. »Wir haben beide ein Familiengefühl. Wir wollten von Anfang an beide eine große Familie mit mehreren Kindern. Wir verzichten gerne auf ein großes Auto um zum Beispiel jedem der Kinder ein Jahr im Ausland zu finanzieren.«
Kenan hatte spezielle Erwartungen an seine Lebensbegleiterin: »Ich wollte nie jemanden von meiner Sippe heiraten. Die Frauen dort waren sehr laut, sehr dominant. Die Beispiele meiner Mutter und Tanten haben mich eher abgeschreckt. Die kommen aus einer Gesellschaft mit matriarchalischen Zügen. Ganz anders, als man es hier über die Türken denkt. Meine Vorstellungen, was ich von einer Frau erwarte, waren vielmehr: Sie soll Sport machen, Fahrrad fahren, schwimmen können. Wenn ich also irgendetwas mache, soll sie es mitmachen können.« Als seine Frau, die sich im Jurastudium befand, durch das erste Examen fiel und nun überlegte, wie es weitergehen sollte, machte er ihr seinen Standpunkt klar: »Hör mal, ich will keine Hausfrau. Ich bin kein Mann, der sagt: Setz dich hin, ich ernähre dich.« Sie kamen überein, dass das Jurastudium zu lange dauern würde und Franziska zur Sozialpädagogik umschwenken sollte. Doch auch in Kenans Laufbahn kam es zu einer Veränderung. Für ihn kein Problem; er fahre im Kopf stets mehrgleisig, wie er sagt. Neben seinem Studium hatte er in der Zwischenzeit angefangen, als Sozialberater bei der AWO zu arbeiten. In den Achtzigern wurden dringend gut vorgebildete, deutsch- und türkischsprachige Leute gesucht, die bei Problemen der Migranten helfen konnten. Nachdem sein Elektrotechnikstudium sich zeitlich nicht mehr mit seinem Job, den sie aber dringend zur Sicherung des Familieneinkommens benötigten, vereinbaren ließ, riet ihm seine Frau ebenfalls, die Spur zu wechseln. Warum sollte er nicht seine Beratertätigkeit ausbauen und professionalisieren? So wechselte er ebenfalls zur Sozialpädagogik. Noch heute ist er in einer Integrationsstelle der AWO tätig. Die mittlere Tochter, 16 Jahre alt, nimmt den Platz ihres Bruders ein. Kenan blickt voll Stolz und Freude auf seine
hübsche Tochter, die Souveränität und Selbstbewusstsein ausstrahlt. Das Ehepaar blickt zufrieden auf sein bisheriges Lebenswerk zurück: »Alles, was wir heute haben, haben wir gemeinsam geschafft. Da wir beide nicht aus reichen Familien kommen, haben wir uns alles allein aufbauen müssen.« Genau das hat sie zu einem erfolgreichen Zweiergespann zusammenwachsen lassen. »Unsere Kinder haben bessere Möglichkeiten als wir. Darüber bin ich sehr glücklich und zufrieden. Ich genieße mein Leben, weil es angefüllt ist mit Erfahrungen, mit Kreativität und mit Bewusstsein«, erläutert Kenan. Schon am Anfang hatten sie besprochen, dass jeder der Partner den Kindern aus seiner Kultur und seiner Religion das anbieten dürfe, was ihm wichtig sei. Das müsste der andere in jedem Fall tolerieren und respektieren. Da für sie beide die Religion kein wichtiges Thema sei, hätte es dahingehend nie Probleme gegeben. »Wir richten in unserer Beziehung gewissermaßen ein Buffet für die Kinder an. Jeder darf sich das nehmen, was er möchte«, erklären die beiden ihre Philosophie. »Das hat auch ganz praktische Konsequenzen«, berichtet Franziska. »Unser Frühstückstisch sieht morgens ganz anders aus als in einer deutschen Ehe. Alles steht nebeneinander auf dem Tisch: ein großes Buffet aus Wurst, Schafskäse, Müsli, Obst, Gemüse, Oliven, Fladenbrot. Jeder kann nehmen, was er möchte.« Doch die Anregungen verlaufen nicht nur in eine Richtung. »Die Auseinandersetzung mit unseren Kindern verhilft mir immer wieder zu neuen Erkenntnissen«, erinnert sich Kenan an einen Anlass: »Unsere Tochter hatte das Abitur geschafft und ihr Studium angefangen. Dann kam sie an und meinte, sie wolle jetzt Hebamme werden. Ich war entsetzt und meinte dann, auch um mich selber zu beruhigen: ›Na, du kannst ja später noch weiter studieren.‹ Sie fühlte sich unverstanden und
war tief gekränkt. Ich verstand dieses Gefühl erst, nachdem sie mir einen Brief geschrieben hatte: Ich hatte ihren Wunschberuf herabgesetzt. Das tat mir dann sehr leid.« So lerne er Schritt für Schritt, die Entscheidungen seiner Kinder zu respektieren. »Wir haben sie zur Selbstständigkeit erzogen, also ist es logisch, dass wir sie auch unterstützen müssen, wenn sie selbstständig Entscheidungen treffen.« Eine Entscheidung bewegt ihn allerdings heute noch: Die Beschneidung seines Sohnes. »Lange Zeit haben wir über diese Frage, ob ja oder nein, gegrübelt. Viele Türken redeten auf mich ein, meinen Sohn endlich beschneiden zu lassen und für ihn eine Beschneidungsfeier auszurichten. Doch da wir nicht religiös sind – wäre das nicht ein Vorgaukeln? Warum sollte ich, der sonst so unabhängig denkt, anderen zuliebe etwas machen? Dann bekam der Junge Probleme beim Wasserlassen. Es gab also einen medizinischen Grund. Meine Frau war der Auffassung, dass wenn er schon die Tortur über sich ergehen lassen müsste, dann besser mit einer schönen Feier, an die er nette Erinnerungen haben kann. So ließen wir es machen. Doch immer, wenn er hinterher Schmerzen beim Fußballspielen hatte oder sich unsicher und verletzlich fühlte, tat es mir Leid, dass ich mich hatte überreden lassen. War der Schritt richtig oder nicht? Das beschäftigt mich noch heute.« Kenan ist der Überzeugung, dass er 123 Jahre alt werden wird. Viel Zeit also, um immer neue Ziele anzupacken. Er überlegt: »Und falls es anders kommen sollte: Selbst wenn wir morgen sterben würden, könnte meine erwachsene Tochter die beiden jüngeren Kinder übernehmen. Ist das nicht ein tolles, beruhigendes Gefühl? Nach uns geht es weiter. Wir lassen Kinder zurück, die mit Tatkraft und Intelligenz ihr Leben meistern werden und eine Bereicherung für die Gesellschaft sein können.«
Neugierde ist ein zentrales Thema in Kenans und Franziskas Leben. Auch für eine bikulturelle Beziehung sei sie eine zwingende Voraussetzung. »Man muss neugierig sein auf Neues, Anderes, Fremdes«, meint Kenan. Seine Frau ergänzt: »Man muss es aushalten können, sich in Frage stellen zu lassen. Man muss offen sein für neue Sichtweisen.« Nächtelang haben sie diskutiert. »Da muss man wirklich zuhören können. Nur so kann man den anderen verstehen lernen.« Oberflächliches Hinhören führte häufig zu Missverständnissen, denn die unterschiedlichen Prägungen hatten Filter erschaffen, durch die das Gehörte interpretiert wurde. Schon der Beginn ihrer Beziehung hatte diese Suche nach dem Anderem angekündigt: Der südländisch aussehende, dunkelhaarige Kenan hatte eine hellhäutige, blonde, zarte Frau angesprochen, die nach dem genauen Gegenteil zu den Frauen aus seiner Familie aussah. Und sie, die disziplinierte Jurastudentin, ließ sich auf die Alternative zu ihrem bisherigen wohlgeordneten Weg ein. »Unser Leben ist nie langweilig, so wie ich es mir in einer monokulturellen Beziehung vorstelle«, fasst Kenan seine Erfahrungen zusammen. »Nie wollte ich so ein Paar sein, bei dem alles in vorgezeichneten Bahnen verläuft und keine Entwicklungen mehr möglich sind. Mit einer Frau aus unserer Familie wären meine Lernprozesse nie möglich gewesen. Alles wäre schon vorgegeben gewesen und durch die Familie kontrolliert worden. Wir finden die Vielfalt viel schöner und interessanter als eine eventuell ziemlich eintönige Harmonie«, zieht er die Bilanz gleich für seine Frau mit. »Der Einsatz ist zwar groß, aber das Ergebnis doppelt so groß.«
Die älteste Tochter von Franziska und Kenan träumt von einer eigenen türkischsprachigen Hebammenpraxis und erhofft sich dadurch auch die Anerkennung ihres Vaters. Sie: Doch ich kann eigentlich nur verkehrt liegen. Erfülle ich seine Wünsche, bin ich nicht eigenständig genug. Verfolge ich nur meine eigenen Ziele, so habe ich das Leben nicht richtig verstanden.
Ich springe zwischen den Kulturen hin und her DIE ÄLTESTE TOCHTER VON FRANZISKA UND KENAN, HEBAMME, 24
»Meine Eltern sind sehr unterschiedlich. Und das nicht nur durch ihre unterschiedliche Herkunft sondern auch durch ihre grundverschiedenen Persönlichkeiten. Meine Mutter ist eher die Ordentliche, Ruhige, die auf Sicherheit bedacht ist. Mein Vater ist der Rebell, der sich nur selbst in seinem Chaos wunderbar zurechtfindet«, beschreibt die 24-jährige Selda die Charaktere ihrer Eltern. »Da prallten Welten aufeinander«, analysiert sie. »Mein Vater stammt aus einer Nomadenfamilie und meine Mutter hatte Eltern aus der Kriegsgeneration, die ihren Keller bis zur Decke immer noch mit Lebensmitteln bevorrateten.« Selda illustriert dies an einem Beispiel: »Meine Oma in der Türkei hat nicht viel, aber wenn sie etwas gespart hat und wir kommen zu Besuch, dann drückt sie dir das Geld in die Hand und sagt: ›Kauf dir was Schönes und zeig es mir dann.‹ So haben wir beide etwas davon. Meine Großeltern in Deutschland dagegen sparen nur für das Erbe. Warum kommt meine deutsche Großmutter nicht auf die Idee, mich ins
Ohnsorgtheater einzuladen? Liebend gerne würde ich mit ihr dort hingehen, und wir hätten später eine Erinnerung an einen schönen gemeinsamen Abend. Erst wenn sie tot sind, werden ihre Kinder und Enkel etwas von ihrem Geld bekommen. Aber was haben sie dann noch davon?« fragt sich Selda. Sie freut sich, dass sie die andere Lebensweise in der Türkei noch hautnah miterleben konnte. »Schade, dass meine Geschwister das nicht mehr so kennen lernen konnten.« Sie war die Tochter, die noch in der Zeit geboren wurde, in der ihre Eltern immer die ganzen Ferien bei der Familie in der Türkei verbrachten. Sie erlebte herrlich unbeschwerte, freie Urlaube. »Ich habe meine Kindheit in der Türkei genossen. Das war eine sehr intensive, herrliche Zeit. Im Sommer herrschte dort reges Nachtleben. Jeder saß in unserem Stadtviertel auf der Straße. Man tanzte und machte Musik. Man kannte jeden und konnte bei jedem eingucken. Wir Kinder hatten einen riesigen Freiraum, da jeder auf uns aufpasste. Mein Vater sagte nur einem Jungen: ›Bring mir Selda bis um drei Uhr heute Nacht nach Hause‹, und ich durfte raus.« Hier hat sie einen Familienzusammenhalt erfahren, der sie heute noch prägt. Bei ihren Großeltern konnte jeder kommen, wann er wollte. Immer war er willkommen. Man nahm sich einfach etwas zu essen, wenn man Hunger hatte. Man legte sich einfach aufs Sofa, wenn man müde war. Man stellte einfach den Fernseher an, wenn man Lust darauf hatte. Jeder durfte sich bei ihnen zu Hause fühlen. Das genoss Selda in vollen Zügen. »Das löst sich jetzt langsam auf. Die jüngeren Leute kaufen sich woanders Häuser. Ihre Arbeit und die Ausbildung ihrer Kinder zieht sie an andere Orte«, erklärt sie. Selda hat dafür Verständnis, findet es aber schade, wenn das Wissen um ihre Kultur aussterben würde. »Ich würde mir wünschen, dass sie weiter gepflegt wird.«
In ihrer Kindheit hieß es jedes Jahr: Nächstes Jahr gehen wir zurück in die Türkei. Selda nennt dies das »Nomadenblut«, das ihr Vater in sich habe. Auch sie ist nicht frei davon. Wenn sie länger an einem Ort ist, wächst ihre Neugier auf etwas Neues und sie will weiterziehen. Erst seitdem sie einen beruflichen Weg für sich in Deutschland sehen kann, träumt sie nicht mehr von einem Einsatz in der Entwicklungshilfe in Südamerika. Auch hier merkt man, wessen Tochter Selda ist. Sie bestätigt damit die Erzählungen ihres Vaters: Sie war sein erklärter Liebling. Überall nahm er sie von klein auf mit hin. »Zu sämtlichen Demonstrationen in Deutschland mussten wir gemeinsam hin. Bei allen politischen Diskussionen, an denen er teilnahm, war ich schon als Kleinkind mit dabei. Für mich gab es keine extra Kleinkindbehandlung, sondern ich nahm an seinem Leben teil. So erlebte ich damals schon in Deutschland türkisches Leben. Ständig war Besuch bei uns in der Wohnung. Es war eine Atmosphäre wie in einer WG. Wir waren ein unzertrennliches Gespann.« Die Beziehung zu ihrer Mutter litt unter dieser engen Vater-Tochter-Beziehung. Für die Ehefrau, die seine politischen Interessen nicht so teilen konnte, blieb weniger Aufmerksamkeit übrig. Kein Wunder, dass Selda sehr von ihrem Vater geprägt ist. Wie er will sie ihre eigenen Ideen verwirklichen. Sie ist auf der Suche nach einer Aufgabe, mit der sie die Welt verändern und gestalten kann. Wie er geht sie dabei keiner Diskussion aus dem Weg. Heftige Auseinandersetzungen zwischen den beiden waren so vorprogrammiert. Engagiert wurde miteinander um den besseren Weg gestritten. Heute ist die 24-jährige Selda im letzten Ausbildungsjahr zur Hebamme. Diese Station war jedoch nach dem Abitur nicht ihre erste. Sie hatte schon ein Studium zur Ingenieurin der Bekleidungstechnik angefangen und abgebrochen. Danach hatte sie sich in einer Werbeagentur umgeschaut; das Ergebnis
fiel auch hier negativ aus. Ein psychologischer Eignungstest brachte dann das Stichwort »Hebamme« auf. Plötzlich spürte sie, dass dies ihr Weg sein könnte. Heute erst hat sich diese Intuition bestätigt: Selda sieht hier eine Aufgabe für sich, die sie mit ihren Kenntnissen und Fähigkeiten besonders gut ausfüllen könnte. An ihrem jetzigen Arbeitsort hat sie erlebt, wo ihre interkulturellen Vorkenntnisse besonders nötig gebraucht werden: Zu 50 Prozent gebären hier Frauen, die kaum Deutsch sprechen. Diese müssen sich unwissend und ohne Kommunikationsmöglichkeiten in die Hände der Schwestern und Ärzte begeben. Sie ist zurzeit die einzige Person in diesem Krankenhaus, die sie versteht. »Das ist kein Einzelfall, in anderen Städten sieht die Zahlenverteilung ganz ähnlich aus«, hat Selda recherchiert. »Hier machen meine Sprachkenntnisse endlich Sinn«, freut sie sich. »Früher hielt ich sie immer für ein Privatvergnügen.« Doch nicht nur die Sprache nützt ihr hier. Sie versteht diese Frauen auch in anderer Hinsicht. »Da fragen mich die deutschen Ärzte immer wieder, warum eine türkische Frau ihnen zum Beispiel nicht die Hand geben mag. Dabei zeugt ihre Verneigung doch von noch größerer Ehrerbietung«, schüttelt Selda verwundert den Kopf. »Gleichzeitig habe ich aber auch den Vorteil, dass ich mir immer das Positive von beiden Seiten heraussuchen kann. Wenn irgendetwas Negatives bei den Türken moniert wird, springe ich auf die andere Seite und bin eben deutsch. Wird über die Deutschen gemeckert, dann betone ich meine türkische Seite«, freut sie sich. Doch sie muss zugeben, dass auch das Gegenteil wahr ist: »Ich muss für alle Fragen zum Islam, zu den Türken und zur Türkei herhalten. Immer soll ich die Fragen der Deutschen beantworten. Bei mir trauen sie sich, ihre Fragen zu stellen, denn ich bin ja auch eine von ihnen«, relativiert sie.
Die Hebammenausbildung fand nicht die Zustimmung ihres Vaters. Ein Studium sollte es sein. Zu wichtig ist dem Mann, der sich den Zugang zum Wissen so hart erkämpfte, eine Bildungskarriere. »Vielleicht kann er aber jetzt allmählich erkennen, wozu diese Ausbildung mich befähigen könnte«, hofft Selda. Für sie als Tochter eines selbstbewussten Rebellen, der sich so weit in die Welt hinaus gewagt hat und dabei erfolgreich war, ist es schwer, seinen Ansprüchen zu genügen. Dabei wünscht sie sich Anerkennung gerade von ihm, mit dem sie so ein intensives Zweiergespann bildete. »Doch ich kann eigentlich nur verkehrt liegen: Erfülle ich brav seine Wünsche, so bin ich zu wenig revolutionär. Verfolge ich allerdings nur meine eigenen Ziele, die seinen zuwiderlaufen, so habe ich nach seiner Meinung das Leben noch nicht richtig verstanden.« Doch Selda bastelt eifrig an einer Möglichkeit, beides miteinander zu verbinden. Mit ihrer Ausbildung zur Hebamme, die ausdrücklich den Bildungszielen von Kenan zuwiderläuft, will sie den Startschuss zu einer erfolgreichen Karriere als selbstständige Unternehmerin geben. Sie will eine eigene Praxis als Hebamme mit Geburtsvorbereitungskursen, Betreuung und Nachsorge auf Türkisch aufbauen und träumt von einem Geburtshaus, das sie zusammen mit anderen Hebammen aus anderen Kulturen leiten möchte. Dort will sie die Frauen stärken. »Und das von mir, die nie in die soziale Ecke wollte, da die schon von meinen Eltern besetzt war!«, merkt sie ironisch an. Rücksichten auf ihr Privatleben stellt sie dabei erst einmal in den Hintergrund. Ihr Gestaltungsfreiraum ist ihr wichtiger als eine Beziehung zu einem Mann, für die sie sich einschränken müsste. »Eigentlich sollen sich Mädchen ja heimlich stets einen Mann nach dem Vorbild ihres Vaters aussuchen. Ich glaube, das wäre mir zu anstrengend, weil ich selbst schon zu viele Ähnlichkeiten mit meinem Vater aufweise. Ich wünsche
mir aber trotzdem jemanden, der keck ist. Er sollte weder Türke noch reiner Deutscher sein. Ich stelle mir jemanden vor, der mir ebenfalls eine neue Kultur eröffnen kann, eine Kultur, die ich noch nicht kenne, zum Beispiel ein Franzose oder ein Spanier«, wünscht sich Selda.
Sie kümmert sich zurzeit hauptsächlich um die beiden kleinen Kinder. Er verschwindet gerne ins türkische Kaffeehaus. Er: Bei uns zu Hause ist alles deutsch geprägt. Sie: Er lebt schon so lange in Deutschland, dass er sich ruhig etwas weiter vom Vorbild seines Vaters hätte entfernen können.
Wir kommen beide aus dem Osten DEUTSCHE MODEDESIGNERIN, 37 & TÜRKISCHER FERNSEHREDAKTEUR, 45
Stadtteilinitiativen, Programmkinos, Kneipen, Restaurants und kleine Geschäfte bestimmen das gewachsene Straßenbild. In diesem Viertel wohnen auch Aziz und Nicole. Die Frau mit den blonden Haaren und den klaren, blauen Augen wischt in der Küche die letzten Krümel vom Abendbrotstisch. Ihr Partner Aziz kommt herein. Er bildet schon optisch einen Kontrast: ein südländischer Typ, dessen lockiger, schwarzer Haarschopf ihn ein wenig verwegen aussehen lässt. Die Falten um die Augen sprechen von ein paar Jahren mehr Lebenserfahrung, als sie seine 37-jährige Frau hat. Ihre beiden kleinen Kinder sind schon im Bett. Bei Wasser, Wein und Weintrauben nehmen wir in der Küche Platz. Anlässlich der Berlinale war Aziz 1992 nach Berlin gekommen, wo Nicole Modedesign studierte. Er hatte sich auf der Suche nach ein wenig Erholung und etwas Essbarem nach mehreren Filmen in ein Lokal begeben. Dort saß auch Nicole, die am Nebentisch auf ihre Verabredung wartete. Plötzlich war Unruhe im Lokal zu verspüren. Ein Rosenverkäufer wurde von einem Betrunkenen angepöbelt. Die deutsche Bedienung
reagierte sofort: Falls er das nicht einstellen würde, würde sie ihn hinauswerfen. Dass sie diese Drohung ernst meinte, unterstrich sie mit einem Gummiknüppel, den sie hinter der Theke hervorholte. Anlässlich dieses auch für eine Großstadt wie Berlin ungewöhnlich beherzten Vorgehens sahen sich Aziz und Nicole verwundert an. »Das war unser erster Blickkontakt.« Man tauschte einige Bemerkungen aus und kam ins Gespräch. Kurzerhand änderte Nicole ihre abendlichen Pläne: Sie lud Aziz ein, den Abend gemeinsam zu verbringen. »Danach gingen wir tanzen, bis morgens um acht«, erzählt sie. Die gemeinsame Zeit musste ausgenutzt werden, schließlich sollte Aziz am Morgen wieder in seine Heimatstadt zurückfahren. »Für mich war das nur eine Nachtgeschichte«, stellt er unmissverständlich klar. »Ich war verheiratet und hatte einen kleinen Sohn.« Nicole sah das ebenso unverbindlich. »Ich war an diesem Abend auf etwas Abwechselung aus. Ich hatte gerade eine alte Beziehung beendet und war für etwas Festes noch nicht bereit.« Doch es blieb nicht bei der einen Nacht; nach sechs Wochen flatterte eine Karte ins Haus. Aziz wollte sie Wiedersehen. So entwickelte sich eine unverbindliche Beziehung, in der sie im monatlichen Abstand Kontakt aufnahmen. Beiden kam das zunächst entgegen. Aziz, der sich klar werden musste, was aus seiner Ehe werden sollte, und Nicole, die aus sicherer Distanz entscheiden konnte, was sie mit Aziz verband. Nach anderthalb Jahren war aber beiden deutlich, dass sie mehr wollten. Aziz trennte sich von seiner Frau. Weil er den Kontakt zu seinem Sohn behalten wollte, blieb er jedoch in seiner Heimatstadt. Und Nicole wollte ihr Studium in Berlin beenden. So pendelten sie insgesamt fünfeinhalb Jahre zwischen beiden Städten hin und her. Die Wochenenden verbrachten sie
zusammen und in der Woche ging jeder seinen Beschäftigungen nach. Aziz war zu dieser Zeit beruflich auf mehreren Feldern aktiv. Hauptsächlich arbeitete er fürs Radio und konzipierte Features zu aktuellen gesellschaftlichen Themen. Parallel dazu drehte er mehrere Dokumentarfilme. Heute ist er als freier Redakteur bei einem Fernsehsender beschäftigt; er gestaltet Beiträge für eine Magazinsendung im frühen Abendprogramm. Dabei kommen ihm seine Einblicke in die türkische Gesellschaft zugute, die den deutschen Kollegen fehlen. Seine besonderen Erfahrungen haben seinen Blick auf die Geschehnisse in Deutschland und der Türkei geprägt. »Ich fühle mich wohl in Deutschland«, meint er. »Hier habe ich alle Freiheiten, die ich mir wünsche.« In der Türkei hatte er andere Erfahrungen gemacht. Er stammt aus einem kurdischen Dorf und hatte sich in jungen Jahren einer politischen Bewegung angeschlossen. Als Jugendlicher kam er ins Gefängnis. »Hier hatte ich Zeit zum Nachdenken. Alle Kontakte zu meinen Genossen waren auf einmal unterbunden. Ich entschied für mich, dass Gewalt kein Lösungsweg ist.« Die Folge dieser Umorientierung war, dass er alle bisherigen Beziehungen und Freundschaften aufkündigte. Da er zuvor nur Kontakte zu seinen politischen Freunden hatte, bedeutete dies, dass er plötzlich allein dastand. »Ich fühlte mich sehr einsam«, erinnert er sich an diese Zeit. Er entschied sich, nach Deutschland zu gehen. Da sein Bruder dort bereits ein Studium absolviert hatte, konnte er ihm das nötige Visum besorgen. Weil aber das Studienkolleg zur Anerkennung seines türkischen Abiturs gerade in diesem Jahr abgeschafft worden war, mussten die Sprachkurse selbst finanziert werden. Für einen reichte das gemeinsam verdiente Geld gerade noch. Danach begann Aziz sein Studium an der Hochschule für Wirtschaft und Politik. »Auch mit meiner politischen Vorbildung war das ohne fundierte
Sprachkenntnisse ein hartes Brot«, erinnert er sich. Er schloss ein zweites Studium an: Das Studienfach Film entsprach mehr seinen jetzigen Lebensvorstellungen. »In Deutschland konnte ich mir nun die Kreise aussuchen, in denen ich verkehren und arbeiten wollte«, erklärt er den Vorteil seines neuen Arbeitsfeldes Kunst und Medien. Zur Türkei hat er ein kritisches Verhältnis und kann darum die Freiheiten in Deutschland für sich auch besonders schätzen. »Hier darf jeder seine Meinung äußern. Hier kann ich mich streiten.« »Was er auch ausgiebig tut«, merkt Nicole an. »Er ist ein leidenschaftlicher Kritiker. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb er eher ein sozialer Einzelgänger geblieben ist.« Früher hatte sie sich seine politischen Diskussionen noch sehr zu Eigen gemacht, doch heute wahrt sie eher Abstand. »Wenn er sich mit kurdischen Leuten trifft, befinden sie sich innerhalb kurzer Zeit in einer heftigen Debatte. Sie beißen sich in ihren jeweiligen Standpunkten fest und stehen unversöhnlich nebeneinander.« Am Anfang ihrer Beziehung war die in der DDR aufgewachsene Nicole neugierig und interessiert an der Problematik der Kurden in der Türkei. »Ich hatte von dem Thema keine Ahnung. Wenn man verliebt ist, identifiziert man sich natürlich sehr mit dem Partner. Das hat etwas nachgelassen. Mittlerweile sehe ich klar, dass das seine Geschichte ist und nicht meine. Für seine politischen Diskussionen kann er sich andere Leute suchen, dafür braucht er mich nicht unbedingt«, hat sie ganz pragmatisch für sich festgestellt. Aziz findet im Gespräch mit anderen Türken selten eine gemeinsame Basis; zu unterschiedlich ist ihre Sicht auf die Türkei. »Kritisiere ich die türkische Politik, bin ich für sie gleich ein Türkeifeind.« So bleibt er lieber ohne verpflichtende
Freundschaften. »Ich kenne viele Leute, aber einen Freund habe ich nicht. Dazu erwarte ich von einer Freundschaft zu viel. Sie ist für mich bindend. Doch ich bin schon öfter enttäuscht worden und mittlerweile sehr skeptisch.« Aziz hat für sich einen passenden Ersatz gefunden: Während er früher häufig in deutsche Kneipen ging, geht er heute gerne ins türkische Cafe. Er erläutert die Vorteile: »In deutsche Kneipen geht man entweder mit jemandem zusammen oder man bleibt alleine sitzen. Türkische Cafes sind dagegen ein unverbindlicher Treffpunkt, in denen man immer jemanden zum Unterhalten und zum Kartenspielen treffen kann.« Das erinnert ihn an seine Jugend im Dorf. »Ich kann mich an keinen Abend erinnern, wo wir keine Gäste hatten. Immer kam jemand vorbei und dann haben wir zusammen Karten gespielt.« In den türkischen Cafes kann er diese Treffen auf ganz unverbindliche Art und Weise fortsetzen. Das kommt seiner Freiheitsliebe nahe. »Immer wenn ich Zeit habe, gucke ich im türkischen Cafe vorbei. Danach kann ich zu meiner Frau nach Hause gehen.« Er wirft einen kurzen Blick zu Nicole, bevor er fortfährt. »Und wenn ich wieder mal zu spät komme, dann streiten wir uns.« Dazu kommt es nicht erst, seitdem die beiden zwei Kinder haben, die jetzt vier und ein Jahr alt sind. »Als wir in der Distanzbeziehung wohnten, habe ich davon nichts mitbekommen«, erklärt Nicole. »Danach hatte ich eine Phase, in der ich das ganz schön fand, wenn er abends verschwand. Dann hatte ich Zeit für mich und meine Interessen. Jetzt mit den Kindern hat sich mein Blick wieder verändert.« Nicole hatte sich eigentlich gewünscht, dass die Kinder zweisprachig aufwachsen. Sie fände es sehr gut, wenn die Mädchen einen Ausblick auf eine weitere Kultur, die Sprache und das Land mitbekämen. Dazu müsste ihr Vater aber seinen Töchtern etwas mehr Zeit widmen, findet sie. »Vielleicht liegt es auch
daran, dass das Türkische nicht seine Muttersprache ist. Ich hoffe darauf, dass sich sein Interesse mit dem Schuleintritt der Kinder verstärkt. Das Türkische ist für ihn ja auch seine Schulund Bildungssprache«, versucht sie Aziz zu verstehen. Doch sie weiß auch um die unterschiedlichen Erziehungserfahrungen, die ihre jeweilige Kindheit geprägt haben. »Aziz’ Vater hat sich sehr wenig mit seinen Kindern beschäftigt. Aziz interpretiert das so, dass er ihnen ihre Freiheit und Selbstständigkeit gelassen hat. Doch man könnte auch sagen, dass er sie einfach hat nebenher mitlaufen lassen. Bei meinen Eltern sah das völlig anders aus. Wir Kinder waren für unsere Eltern das Wichtigste.« Sie wird deutlich: »Ich würde es gerne auch meinen Kindern gönnen, dass der Vater aktiver und präsenter ist.« Aziz ist sich sicher, worauf das hinauslaufen würde: »Sie würde mich gerne wie ihren Vater haben, nur immer zu Hause, nie Kontakt zu anderen. Ich bin aber nicht jemand, der ständig zu Hause hockt.« Nicole bleibt ganz sachlich: »Zwischen euch bestehen extreme Unterschiede. Meine Eltern sind sehr häuslich und du bist sehr freiheitsbewusst. Ich habe immer an meinen Eltern kritisiert, dass sie sich so ausschließlich auf die Kinder konzentriert haben. Du könntest ein wenig mehr machen und dann wärst du noch lange nicht so wie meine Eltern«, macht sie ihren Standpunkt klar. »Das ist einfach unsere Zeit, das erwartet man heutzutage von seinen Partnern. Und Aziz ist auch schon seit 20 Jahren in Deutschland und hätte diese Entwicklung ebenfalls mitmachen können.« Aziz hört sich alles gelassen an und nippt an seinem Wein. Für Nicole haben sich ihre Prioritäten zugunsten der Kinder verschoben. »Ich habe gerne in meinem Beruf als Modedesignerin in einer Textilfirma gearbeitet. Zwischen den Kindern bin ich halbtags an meine Arbeitstelle zurückgekehrt. Auch jetzt bin ich dort immer noch angestellt, aber befinde
mich in der Elternzeit. Doch ich merke, dass ich immer mehr Mutter geworden bin. Meine Kinder werden meine Zukunft bestimmen, nicht mein Beruf. Das ist sicher«, ist ihr mittlerweile deutlich geworden. Sie weiß sehr wohl zu schätzen, dass Aziz ihr zuliebe das Thema Kinder überhaupt noch einmal anging. »Er wollte eigentlich keine weiteren Kinder. Er verhielt sich dieser Fragestellung gegenüber indifferent. Er hatte ja schon einen Sohn. Ich war hier die treibende Kraft.« Also erklärte er sich einverstanden und bereut es nicht: »Kinder sind ein großes Glück. Wenn sie auf dich zukommen und Papa rufen, fühlst du dich wunderbar. So eine Liebe wie von meinen Kindern bekomme ich von niemandem. Auch nicht von meiner Frau«, ergänzt er mit ironischem Unterton und einem Blick aus den Augenwinkeln auf Nicole. Solche kleinen Spitzen stören sie mittlerweile nicht mehr. Denn Nicole ist überzeugt: »Ich bin die Kühlere, Vernünftigere, Überlegtere von uns beiden. Aziz ist einfach emotionaler und weicher als ich.« Eine mögliche Erklärung hat sie gefunden: »Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass er seine Mutter sehr früh verloren hat. Sie ist bei der Geburt des jüngsten Bruders gestorben.« Ihr Partner lässt ihre Vermutung unkommentiert stehen, spricht aber einen Punkt an, der ihm wichtig ist: »Hier bei uns zu Hause ist einfach alles deutsch geprägt. Wir sprechen Deutsch, wir haben deutsches Fernsehen, wir trinken deutschen Kaffee, wir leben deutsch. Daher gehe ich auch so gerne ins türkische Cafe. Dort gibt es nur türkisches Fernsehen und türkische Zeitungen.« Und was ihm außerdem sehr wichtig ist: türkischen Tee. Er ist schließlich ein leidenschaftlicher Teetrinker. Aziz ist nicht der Typ, der den diplomatischen Ausgleich sucht. Der passionierte Querkopf findet Gegensätze viel interessanter. Als Journalist und
Filmemacher kann er die Spannungen, die sich aus den Kontroversen ergeben, gut nutzen. Nicole weiß, dass es zwecklos wäre, ihrem Partner Fesseln anlegen zu wollen. So lässt sie ihm seine Freiräume und sorgt derweil für den Erhalt ihrer eigenen.
III Erste oder zweite Generation?
Fünf der türkischstämmigen Interviewpartner der zweiten Generation sind nicht in Deutschland geboren, sondern erst am Ende ihrer Jugendzeit im Zuge der Familienzusammenführung, also nach dem Absolvieren ihrer kompletten Schulbildung in der Türkei, hierher gekommen. Somit gehören sie aus der Sicht ihrer Familienbiografie zwar zur zweiten Generation, haben aber wie die erste Generation ihre Sozialisation komplett in der Türkei durchlaufen. Einige von ihnen kannten ihre Eltern lange Jahre nur aus den Ferienzeiten, wenn diese während des Jahresurlaubes die reich bepackte Heimfahrt in die Türkei antraten. »Ich erlebte meinen Vater nur als Weihnachtsmann«, erzählt einer der türkischstämmigen Partner. Die Großeltern oder andere Verwandte waren zu den tatsächlichen Eltern für sie geworden. Alle kamen Ende der siebziger oder Anfang der achtziger Jahre nach Deutschland, als die politischen Unruhen und die wirtschaftliche Situation in der Türkei die Aussichten auf ein chancenreiches Leben einschränkten. Nicht für alle erfüllte sich der Wunsch auf mehr Bildung. Denn sie landeten in einem Land, dessen Sprache und Bildungssystem sie sich erst erschließen mussten, und sie kamen zu Familienangehörigen, die sie kaum kannten. Der Weg der Töchter wurde stärker von den Familienangehörigen begleitet und gelenkt. Die Söhne dagegen machten sich in der Regel schneller von ihren Familien unabhängig und verfolgten eher eigene Ziele. Das mag auch daran gelegen haben, dass ihre Entscheidung nach
Deutschland zu kommen, häufig selbst bestimmt und von konkreten Erwartungen auf Weiterentwicklung geprägt war.
Nach der Scheidung von ihrem früheren, türkischen Ehemann weiß sie die Freiräume in ihrer jetzigen Partnerschaft zu schätzen. Beide verzichten gerne auf den äußeren Schein, um ihre eigenen Ziele verfolgen zu können. Sie: Du musst dich entscheiden: Entweder bist du liebes Töchterchen und liebes Schwesterchen oder du lebst dein eigenes Leben.
Das eigene Leben leben TÜRKISCHE FRÜHERE PUTZFRAU, HEUTIGE DIPLOMÖKONOMIN, 47 & DEUTSCHER WISSENSCHAFTLER, 49
»Manches an der türkischen Kultur finde ich durchaus übernehmenswert. Doch anderes ist für mich in keiner Weise akzeptabel«, stellt der 49-jährige Klaus gleich zu Beginn klar. Der Mann mit den kurzen, blonden und leicht verstrubbelten Haaren überlegt einen Augenblick: »Aber so richtig deutsch möchte ich mittlerweile auch nicht mehr sein«, muss er zögernd zugeben. »Für die Deutschen habe ich ihn verdorben«, lacht die um ein paar Jahre jüngere Aylin. Doch Klaus bleibt ernst. Als Wissenschaftler will er zunächst die Grundlagen geklärt wissen: Er sei eben kein Freund einer Multi-KultiSoße, die einfach über alle Unterschiede gekippt werde. Seine Partnerin findet das völlig in Ordnung: »Er hat einfach Recht.« Die Frau mit dem braunen Pagenkopf ist mit ihrem Mann in vielen Punkten einer Meinung, kann aber oft eine vermittelnde Rolle einnehmen. Sie ist schließlich diejenige, die in beiden Kulturen bewandert ist; hat sie doch in ihnen jeweils fast die Hälfte ihres bisherigen Lebens verbracht.
Bis zu ihrem Abitur lebte sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in der Türkei, während der Vater schon seit ihrem achten Lebensjahr in Deutschland Geld verdiente. Erst im Alter von 20 Jahren zog Aylin mit der restlichen Familie zum Familienoberhaupt ins Ruhrgebiet. Doch Aylins Abschlüsse wurden in Deutschland nicht anerkannt und der Vater beschloss, dass nur der Sohn die Voraussetzungen für ein Studium erwerben durfte. »Ich als Frau würde später eh heiraten, das lohne die Investition nicht, meinte er«, erzählt Aylin. So geschah es: Aylin musste statt zur Schule Putzen gehen. Ganz wie von ihrem Vater prognostiziert lernte sie bei einer ihrer Putzstellen ihren späteren Ehemann kennen. Vier Wochen darauf war die Hochzeit. Aylin war nun Ehefrau. »Das war die Hölle. Ich dachte mir, jede Alternative konnte nur besser sein. Nach anderthalb Jahren reichte ich die Scheidung ein.« Eine schwere Zeit begann. Von ihren Eltern durfte und wollte sie keine Unterstützung erwarten. »Zum Glück hatte ich gute Freunde gefunden, die mir immer halfen«, erzählt sie. Eine Arbeitserlaubnis für die Gastronomie verschaffte ihr die Grundlage zum Lebensunterhalt und später den Anspruch auf eine eigenständige Aufenthaltsberechtigung. Acht Jahre vergingen, in denen sie arbeitete und allein lebte. Wenn sie frei hatte, besuchte sie gerne Freunde und Verwandte. So fuhr sie an einem Wochenende auch zu einer Verwandten in den Norden der Bundesrepublik. Am Sonntag kam ein Nachbar spontan auf einen kurzen Besuch bei der türkischen Familie vorbei. »Da spazierte dieser junge Mann herein, und ich konnte seinem Charme einfach nicht widerstehen«, erzählt Aylin mit leicht ironischem Unterton über den Mann, der jetzt stirnrunzelnd neben ihr auf dem Sofa sitzt. Über eine Distanz von mehreren 100 Kilometern entwickelte sich eine Wochenendbeziehung. Nach einem Jahr
verlor Aylin jedoch die Geduld: So konnte es nicht weitergehen. Sie wollte endlich klare Verhältnisse. »Ich habe Klaus einen Heiratsantrag gemacht. Er hatte eine Frist von einer Woche, innerhalb der er eine Entscheidung treffen sollte«, ergriff die resolute Aylin kurzerhand die Initiative. Klaus fiel die Entscheidung nicht schwer. Da er gerade erfolgreich die Filiale eines Versicherungsunternehmens aufgebaut hatte und jetzt betreute, war die Wahl des gemeinsamen Wohnortes schnell geklärt. Sie heirateten und Aylin zog zu Klaus. Als Aylin ihm anvertraute, dass sie gerne studiert hätte, meinte er nur lakonisch: »Dann mach das doch!« »Mit dreißig Jahren?« »Besser jetzt als nie!« Das ließ sich die energiegeladene Frau nicht zweimal sagen. »Für ein Studium waren meine Deutschkenntnisse damals aber noch nicht ausreichend«, gibt Aylin zu. So machte sie sich zunächst fit in der deutschen Sprache, um sich dann um einen Studienplatz an der Hochschule für Wirtschaft und Politik zu bewerben. Hier konnte man auch ohne anerkanntes Abitur studieren. In Klaus hatte sie einen kompetenten Berater an ihrer Seite; hatte er doch vor nicht allzu langer Zeit sein Studium dort abgeschlossen. Gerne stand er seiner Frau zur Verfügung, um fachliche Fragen zu besprechen. »Er hat mich immer unterstützt und mir Mut gemacht«, sagt sie und strahlt: »Ich habe es so genossen zu studieren.« »Jeder hat das Recht, seinen Wünschen nachzugehen, das ist doch klar.« Klaus kann sich gar nicht vorstellen, dass es anders sein sollte. »Wir leben die Gleichberechtigung wirklich«, nickt Aylin. Doch sie weiß, dass dies nicht selbstverständlich ist. Sie ist sensibel geworden für verdeckte Machtstrukturen. »Wie kannst du deine Kultur vernachlässigen, fragen mich viele. Das ist doch keine Frage der Kultur sondern der Machtverhältnisse!«,
hat sie für sich erkannt. »Ich habe diese Frauen nie verstanden, die ihre eigenen Unterdrücker unterstützen!« Sie unterstreicht ihr Unverständnis durch heftiges Kopfschütteln, während sie von einer Situation erzählt, die sie im Gespräch mit türkischen Frauen immer wieder erlebt hat: »Da klagt eine Mutter von drei Söhnen einer anderen ihr Leid: ›Alles muss ich im Haushalt allein machen, es ist kaum zu schaffen. Wie viel besser hast du es da; du hast schließlich zwei Töchter!‹« Aylin schüttelt wieder ungläubig den Kopf: »Wie können diese Mütter ihre eigenen Kinder immer noch nach den alten Regeln erziehen, obwohl sie selbst unter ihnen leiden?« Aylin hält dann mit ihrer Kritik nicht hinterm Berg. Deutlich sagte sie dieser Mutter ihre Meinung: »Du schadest dir nicht nur selbst, sondern auch deiner künftigen Schwiegertochter. Diese bekommt wieder einen Mann, der sich wie ein Pascha verhält und sie in die passive Hausfrauenrolle drängt!«, versucht sie ihr die Konsequenzen deutlich zu machen. Aylin kann sich diese deutliche Sprache erlauben: Sie hat ihr eigenes Leben nach anderen Maßstäben ausgerichtet. »Ja, sage ich dann, man kann entweder ein liebes Töchterchen und liebes Schwesterchen sein oder man kann sein eigenes Leben leben.« Sie hat sich eindeutig für Letzteres entschieden. Die Vorteile haben auch schon einige ihrer Landsleute erkannt: »Meine Geschwister sagen schon zu mir, dass ich von ihnen die glücklichste bin«, meint sie zufrieden. »Ich habe von der deutschen Kultur gelernt, dass man sich seine Freiheit nehmen muss und nicht warten darf, bis sie einem jemand schenkt.« Nachdem sie ihr Studium erfolgreich abgeschlossen hatte, arbeitete sie ein paar Jahren in der freien Wirtschaft. Heute ist sie hauptsächlich in sozialpädagogischen Projekten beschäftigt. In Kürze wird sie bei einer katholischen Organisation, der Caritas, junge Menschen auf ihrem Weg in den Beruf betreuen
und beraten. Gerade Mädchen und jungen Frauen aus Migrantenfamilien kann sie sicher mit ihrer gelebten Erfahrung glaubwürdige Unterstützung bieten. Klaus ist jemand, dem die finanzielle Absicherung nie den beruflichen Weg gewiesen hat. Wenn ihn eine Arbeit nicht mehr interessierte, nahm er sich stets die Freiheit, neue Ziele zu suchen. »Bis ich sie fand, brach mir auch kein Zacken aus der Krone, wenn ich mal im Callcenter oder als Putzmann jobbte.« So kündigte er auch seine gut dotierte Stelle als Filialleiter, als sie ihn nicht mehr reizte. Denn Klaus hat eine Aufgabe, die er stets über die Erwerbsarbeit stellte: Er schreibt an seiner Doktorarbeit, die sich mit der Erstellung von mathematischen Modellen für wirtschaftliche Prozesse befasst. Als er fast beiläufig von seiner Arbeit erzählt, schmiegt er sich immer tiefer in die Rückenlehne des beigen Sofas, so dass er fast versinkt. Klaus verfolgt seine Ziele, ohne viel Aufhebens davon zu machen. Sich selbst groß zu machen, ist seine Sache nicht. »Aylin schränkt mich nie ein«, ist Klaus wichtig. »Nie hat sie auf ein durchgehendes Gehalt gedrängt.« Aylin guckt erstaunt: »Das würde mir nie einfallen. Ich habe meine Freiheiten, Klaus hat seine. Das ist doch selbstverständlich. Warum sollte er eine Arbeit machen, die ihm nicht mehr gefällt?« Jeder hat bei ihnen den Freiraum, seinen Vorhaben nachzugehen: »Ich bin zu Forschungsarbeiten mehrmals längere Zeit ohne ihn im Ausland gewesen«, ist Aylin stolz. In Tansania, England und Irland verbrachte sie zu Studienzwecken jeweils mehrere Monate. »Da blieb uns nur der Briefkontakt«, bekennt Aylin. »Doch meine Briefe sind sehr kurz«, gibt Klaus freimütig zu. »Ja, mein Bote in Tansania, der mir das Fax von Klaus überbringen sollte, hat sich oft geweigert, für so einen Brief den weiten Weg zu machen. Er meinte stets, für drei Zeilen lohne sich der Aufwand einfach nicht«, lacht Aylin. »Ich
kenne meinen Mann; Romantik passt eben nicht zu Klaus«, hat sie akzeptiert. »Aylin nimmt mich, wie ich bin«, schätzt ihr Mann. »Wir wollten uns nie gegenseitig verändern, vielleicht hält unsere Beziehung deswegen auch schon 18 Jahre«, nennt er ihr Erfolgsrezept. Die beiden legen wenig Wert auf Äußerlichkeiten. Ihre Wohnung liegt in einem zweckdienlichen Mehrfamilienhaus aus den sechziger Jahren. Mit vielen Pflanzen, die sich dekorativ um die Regale ranken, haben sie ihre schlichte Einrichtung geschickt verschönert. Hier leben Menschen, denen Vordergründigkeiten unwichtig sind. Die Funktion ihrer Möbelstücke ist da schon interessanter. Klaus meint: »Unsere Sofas müssen sich unbedingt zu Betten ausklappen lassen. Wo sollen sonst unsere Gäste schlafen können?« Wenn die Gästerunde doch größer wird als erwartet, dann nehmen sie eben die Stühle vom Balkon hinzu. »Kein Problem!« Dass Klaus heute so gelassen mit überraschenden Situationen umgehen kann, hat er in seiner Ehe mit Aylin gelernt. Er erinnert sich noch an den ersten Besuch von Aylins Familie. »Um fünf waren sie angemeldet. Und wann standen sie vor der Tür? Um halb drei!« Das sind so die kleinen Erlebnisse, mit denen er am Anfang zu kämpfen hatte. Oder der Familienbesuch mit sechs Verwandten, der sieben Stunden dauerte. »Da sank ich anschließend ermattet aufs Sofa.« Doch inzwischen haut ihn so etwas nicht mehr um. Ganz im Gegenteil, die gewonnene Flexibilität lässt ihn die deutsche Pünktlichkeit und Genauigkeit als Spießigkeit und Engstirnigkeit sehen. »Wir sind viel auf türkischen Feiern gewesen. Doch wenn wir uns mal wieder richtig langweilen wollten, dann sind wir auf eine deutsche Party gegangen«, flachst er. Auch Familienzusammenkünfte mit den türkischen Verwandten laufen meist wesentlich lockerer ab als die Treffen in deutscher Runde. »Viel zu verkrampft und berechenbar sind
die Deutschen«, da sind sich beide einig. In der türkischen Kultur hat Klaus eine Lebendigkeit erlebt, die ihn den deutschen Wunsch nach Ruhe als eine Art Vorstadium des Todes sehen lässt. »Vielleicht sind sie eigentlich schon gestorben, haben es aber auf ihrem Sofa vor dem Fernseher noch gar nicht gemerkt«, fragt er sich mit unverhohlener Ironie. Ein 14-tägiger Aufenthalt bei Aylins Schwester in Ankara hat sein Urteil gefestigt: »Wunderbar, wie menschlich locker und flexibel sie sich den Gegebenheiten anpassen konnten. Kam nachts noch Besuch vorbei, wurde er selbstverständlich herzlich willkommen geheißen. Als eine Braut um ein Uhr nachts hupend mit dem Auto vorgefahren kam, wurde sie von den umliegenden Baikonen winkend begrüßt. In Deutschland hätte man wohl die Polizei gerufen«, überlegt Klaus. Doch es gab auch andere Erlebnisse, die ihn skeptisch werden ließen: »Meine Frau hat sich in Ankara mit einem Verflossenen getroffen. Die Familie hat mir laute Vorwürfe gemacht, dass ich so etwas nicht zulassen dürfte.« Für solch eine Haltung fehlt Klaus jedes Verständnis. »Ich soll den autoritären Ehemann spielen, lächerlich rückständig!« Aylin kann über solche Probleme nur lachen: »Das ist mir völlig egal, wie die anderen ihn sehen. Hauptsache war immer, wie ich ihn sehe.« Für den sorgfältig nachdenkenden Klaus ist das nur ein Beispiel, dass das turbulente gesellschaftliche Leben eventuell die Zeit zum Überdenken überkommener Vorstellungen etwas einschränken könnte. Genauso ärgert ihn, wenn ein Ehepaar wie programmiert gleich ein Jahr nach seiner Hochzeit Nachwuchs bekommt. »Dieser Terminablauf sieht bei allen Paaren gleich aus. Sollte das ein Zufall sein?«, fragt er sich. Ein weiteres Ärgernis sind türkische Bekannte, die ihm bekennen, dass ein deutscher Schwiegersohn für sie nicht in Frage käme. Das ist für Klaus
eine Intoleranz, die den deutschen Schnellschussurteilen in nichts nachstehen würde. »Beides ist inakzeptabel.« Dann streitet er mit den türkischen Besuchern leidenschaftlich. Von seiner Frau bekommt er dabei stets Rückendeckung. Sie schüttelt den Kopf und meint mit Nachdruck: »Seine Kritik ist doch nur berechtigt!« Hier mag auch Klaus’ eigene Erfahrung mit Aylins Vater nachwirken. Während er von der Schwiegermutter von Anfang an akzeptiert wurde, lehnte ihn der Schwiegervater ab. Aylin hatte ihren Eltern daraufhin mitgeteilt, dass sie sie erst wieder besuchen wollte, wenn der Vater auch ihren Mann einladen würde. Drei Monate herrschte Funkstille. Dann kam der ersehnte Anruf, für den die Mutter ihren Mann immer wieder bearbeitet hatte. Aylin liebt Kinder, doch der Wunsch nach eigenen stand bei ihr nie im Vordergrund. Nachdem sie so lange auf ihr Studium und ihre eigenständige Berufstätigkeit gewartet hatte, sind ihr ihre beruflichen Ziele und Projekte wichtiger geworden. Immer wieder hat sie sich in neue Berufsfelder einarbeiten müssen. »Ich möchte jedem Einzelfall individuell helfen können, dafür brauche ich viel Kraft.« Doch ihre beiden Patenkinder sind ihr sehr wichtig: »Sie sind wie meine eigenen. Da gibt es keinen Unterschied.« Klaus ist in dieser Frage ganz gelassen. »Wenn das Leben Kinder gebracht hätte, hätte ich mich auf sie eingelassen. Jetzt wo sie nicht gekommen sind, wird das schon einen höheren Sinn gehabt haben«, ist er überzeugt. So wie die beiden sich aus ihren jeweiligen Kulturen das für sie Beste herauspicken, so mischen sie auch die religiösen Feste. »Ich freue mich immer auf Weihnachten«, meint Aylin. »Das ist für mich die schönste Jahreszeit. Wenn ich Türken empfehlen soll, wann sie Deutschland besuchen sollen, dann sage ich immer: zur Weihnachtszeit. Dann sind die Menschen menschlicher, herzlicher und offener«, findet sie. Genauso
wird das Opferfest und Bayram bei diesem deutsch-türkischen Paar im Kreise der jeweiligen Verwandten gefeiert. Sie brauchen sich ihre Offenheit, die Aylin in ihrer Partnerschaft besonders schätzt, nicht dadurch zu beweisen, dass sie kritiklos alles gutheißen. Ihre gegenseitige Wertschätzung benötigt diese Weichzeichner nicht. »Wir können uns wahrhaftig auseinander setzen. Jeder darf ungeschminkt seine Meinung sagen. Wir können streiten und uns hinterher wieder vertragen. Keiner muss aus geheucheltem Respekt stillschweigen.« Diese Ehrlichkeit schätzt sie sehr – gerade weil sie ihr früher verwehrt war. »Vielleicht läuft es mit uns deswegen so gut, weil wir nicht alles zu einem Riesenproblem gemacht haben«, erklärt Aylin. Klaus nickt: »Wir haben eventuelle Schwierigkeiten nie zu einer kulturellen Differenz hochstilisiert.« Aylin bringt es auf den Punkt: »Wir als deutsch-türkisches Paar hatten eben die einmalige Chance einer ganz selbstbestimmten Auswahl«, freut sie sich. Sorgsam haben sie die ihnen genehmen Attribute ausgewählt und zu ihrer eigenen Lebenskultur neu arrangiert. »Wir sind eh anders und so dürfen wir manches auch anders machen. Wir genießen ein Stück Narrenfreiheit«, stellt Klaus fest. Dass ihm diese Rolle hervorragend gefällt, bestätigt ein Blick in sein Gesicht: Dieser Mann, der so vorsichtig mit Gefühlsäußerungen umgeht, wagt ein zufriedenes Lächeln. Seine Frau strahlt dagegen über ihr ganzes freundliches Gesicht. An diesem Abend der gemeinsamen Rückschau fiel die Bilanz ihres Mannes so unumwunden positiv aus, wie sie es bei ihm, dem stets differenziert argumentierenden Wissenschaftler, selten erlebt hatte. Sie kann ihm in seinem Resümee nur zustimmen: »Keine Frage, durch meine Ehe mit Klaus habe ich in jeder Hinsicht gewonnen.«
Seit 13 Jahren leben sie ohne Trauschein zusammen und haben mittlerweile einen neunjährigen Sohn. Sie: Es beruhigt mich sehr, dass unsere Beziehung voller Gegensätze doch nicht so schlecht sein kann, wenn ihr Resultat, unser Kind, so gut geraten ist.
Sind Unterschiede etwa ein Problem? DEUTSCHE KOMMUNIKATIONSTRAINERIN, 40 & TÜRKISCHER THEATERREGISSEUR, 45
Die 40-jährige Ulrike ist als Lehrerin in der Erwachsenenbildung mit einer Zusatzqualifikation zur Kommunikationstrainerin ein Profi in Sachen zwischenmenschlicher Verständigung. Als gutes Übungsfeld darf man ihre Beziehung zu dem Künstler und Regisseur Bahadir bezeichnen: Aktives Zuhören ist auch hier gefragt. »Wir sind schon sehr unterschiedlich«, gibt die blonde Frau zu. Ihr Partner, der sich gerade in der offenen hellen Küche, die an den großen Wohnraum mit dem dunklen Parkettfußboden grenzt, sein Essen warm macht, spitzt die Ohren. Er guckt um die Ecke: »Na und? Siehst du darin etwa ein Problem?« »Nein, nein, kein Problem, nur einen Fakt«, stellt Ulrike sofort klar und zieht die Beine auf einen der grauen Polsterwürfel, die in der gegenüberliegenden Ecke großzügigen Platz zum Sitzen und Reden bieten. Sie kennt die Sichtweise ihres Partners. »Wir müssen nur um unsere Unterschiede wissen, sie erklären und versuchen zu verstehen«, glaubt sie aber. Bahadir sieht das ein wenig anders: »Wir brauchen nicht alles zu verstehen, wir müssen es nur
akzeptieren können.« Ulrike lacht laut: »Das sind so unsere kleinen Differenzen!« Ihr beruflicher Werdegang hatte sie auch auf Fragen der interkulturellen Kommunikation vorbereitet: Sie studierte Deutsch als Fremdsprache. »Als zweites Fach habe ich mir allerdings die verkehrte Sprache ausgesucht«, sie lacht, »beziehungsweise den verkehrten Mann.« Sie wählte Russisch. Dass sie bei Bahadir das Türkische hätte brauchen können, konnte sie zu Beginn ihres Studiums schließlich nicht ahnen. Die beiden nehmen oft eine gegensätzliche Perspektive auf ihr Leben ein; was wohl bei den völlig unterschiedlichen Welten, in die sie hineingeboren wurden, kaum anders zu erwarten ist. Ulrike stammt aus einer Kleinstadt in Dithmarschen. »Alles sehr eng und wohlbehütet.« Bahadir ergänzt: »Man könnte fast sagen: verwöhnt!« Ulrike meint belustigt: »Ja, im Gegensatz zu deiner Kindheit bestimmt.« Sie wird ernster: »Neulich habe ich mal wieder Bilder von dir als Kind gesehen. Unglaublich dass du das bist. Ein Junge mit zerrissenen Kleidern, der die Schafe den Berg herauf treibt. Keine Straßen, ein paar einfache Häuser, nur Natur.« Bahadir erzählt: »Ich stamme aus einem Bergdorf in der Nähe der georgischen Grenze.« Er reibt sich nachdenklich das Kinn: »Ich erinnere mich noch ganz genau an den Moment, als ich das erste Auto meines Lebens gesehen habe. Alle Kinder des Dorfes liefen zusammen und bestaunten dieses Vehikel, das langsam schnaufend über die Geröllpiste den Berg herauf gefahren kam. Ich sehe es noch heute vor mir: ein gelber Lastwagen.« Der schlanke Mann streicht seine schwarzen lockigen Haare hinter die Ohren zurück. »Aus so einer Welt bin ich hergekommen.« Seine Eltern waren schon Anfang der sechziger Jahre zum Geldverdienen nach Deutschland gegangen. Die Kinder blieben bei den Verwandten. »Mein Vater brachte mir einmal
in seinem Urlaub einen VW-Bus in Kleinformat als Geschenk aus Deutschland mit. Ich weiß noch, dass ich mich gar nicht darüber freuen konnte, weil ich schlicht nicht wusste, was ich mit diesem kleinen Metallteil anfangen sollte.« Bahadir hatte nie Spielzeuge besessen. Nach der Grundschulzeit ging er mit seinem Onkel nach Ankara. Dort bekam er die Möglichkeit, weiter zur Schule zu gehen und schließlich das Abitur zu machen. »Als ich fertig war, war die politische Situation in der Türkei so unruhig, dass meine Eltern mich nach Deutschland geholt haben.« Da traf er nun auf zwei ihm ziemlich fremde Menschen, mit denen er bisher nie länger zusammengelebt hatte. »Ich war 19 und musste um sechs Uhr abends zu Hause sein«, berichtet Bahadir, »das war ich nicht gewohnt.« Hinzu kamen die fremde Umgebung, die fremde Sprache, die fehlenden Freunde. »Nach einem halben Jahr bin ich bei meinen Eltern ausgezogen.« In einem türkischen Kulturverein fand er einen Schlafplatz. »Da habe ich den ganzen Tag Tee gekocht, sauber gemacht und abends durfte ich mir dafür ein paar Stühle zusammenstellen und dort schlafen«, erzählt er. »Eines Tages hat mir mein Vater eine Arbeitsstelle in einem Imbiss besorgt. Dort spülte ich dann zehn bis 14 Stunden am Tag die Teller. Doch von meinem Verdienst habe ich nichts gesehen, den hat mein Vater gleich abgezweigt.« Trotzdem kann sich Bahadir an finanzielle Probleme nicht erinnern. »Mein Trinkgeld hat wohl immer gereicht«, vermutet er. Der Verein entwickelte sich für ihn zu einem Treffpunkt vieler interessanter Menschen. »Ich traf dort ungewöhnliche, merkwürdige Menschen«, grinst Bahadir. »Wir kamen zusammen auf die komischsten Ideen.« Sie bekamen Lust, den Deutschen und den anderen Türken zu erzählen, wie die türkischen Migranten lebten, was sie dachten und fühlten. Mit einer gehörigen Portion Ironie und viel Spaß an der
Provokation entstand die Idee zu einem Theaterstück mit dem Titel Die Kanaken spielen sich selbst. Bahadir gibt zu: »Wir wollten uns einfach mal selbst auf der Bühne sehen.« Er ist heute noch erstaunt: »Unsere verrückte Idee stieß auf Interesse. Wir hatten alle nie etwas mit Theater zu tun gehabt, aber wir fanden tatsächlich Gehör in der Kulturszene.« So kam es, dass Bahadir und seine Freunde in einer Kulturfabrik Probenräume, fachliche Beratung und technisches Equipment zur Verfügung gestellt bekamen. »Da haben wir gegessen, geschlafen und wahnsinnig viel gelernt.« Er strahlt. »Eine herrliche Zeit! Wir waren eine tolle Truppe. Wir haben getrunken, geredet und geträumt. Aus manchen Träumen sind sogar reale Projekte geworden. Doch irgendwann war die Zeit vorbei. Wahrscheinlich wäre ich sonst noch zum Alkoholiker geworden«, lacht er. Das Stück der »Kanaken« lief sechs Jahre lang erfolgreich. Sie machten Gastspiele in vielen Städten, schrieben zwischendurch neue Szenen dazu und wurden immer professioneller. »Dann musste etwas Neues kommen«, erzählt Bahadir. Da sie sich schon einen Namen gemacht hatten, konnte er die Unterstützung der Kulturbehörde gewinnen und wurde zum Geschäftsführer des »Türkischen Theaters« in der Stadt. Sie begaben sich auf die Suche nach orientalischen Stoffen und brachten sie in neuer sinnlicher Form für Kinder und Erwachsene auf die Bühne. Ulrike holt einen großen schwarzen Ordner, in dem ein paar der Theaterplakate und Berichte über die Inszenierungen gesammelt wurden. »Wir bekamen sehr gute Kritiken.« Bahadir ist selbst fast ein wenig verwundert. Aus dem türkischen Teekocher war ein erfolgreicher Theaterleiter, Regisseur und Schauspieler geworden. »Toll, dass ich diese Erfahrungen machen durfte.« Ein wenig Wehmut klingt mit. Denn diese Zeit ist vorbei. Ende der neunziger Jahre wurden
die Gelder für die Kulturarbeit so drastisch gekürzt, dass Bahadir seine Arbeit nicht mehr fortsetzen konnte. »Viele meiner damaligen Freunde sind heute berühmte Leute. Wenn ich sie im Fernsehen oder im Theater sehe, denke ich, guck mal, die haben alle bei mir gelernt.« Mehmet Kurtulus und Fatih Akin sind nur zwei von ihnen. Heute arbeitet Bahadir hauptsächlich mit seinem zweiten Standbein: der Musik. Er spielt das Instrument Saz, eine türkische Laute, und hat sich in der Jazzszene einen Namen gemacht. In diesem Zusammenhang ist er auch auf Ulrike gestoßen, beziehungsweise sie auf ihn. Sie erzählt: »Ich hatte mir neben dem Studium einen Job gesucht. Ich arbeitete in einer Ausländerinitiative mit, die kulturelle Projekte von Migranten unterstützte. Ich sollte ein interkulturelles Musikfestival organisieren. Jemand empfahl mir Bahadir anzurufen. Zuerst haben wir nur gut miteinander gearbeitet, doch dann entwickelte sich langsam mehr daraus.« Als sie ihren Eltern ihren neuen Freund, der damals in Trennung von seiner ersten Frau lebte, vorstellte, meinte ihr Vater scherzhaft: »Oh, nein, schlimmer hätte es ja gar nicht kommen können: ein Schauspieler, ein Türke und auch noch verheiratet!« Ein idealer Schwiegersohn, der die Tochter sicher versorgen würde, war Bahadir wohl nicht. »Brotloser Künstler!«, lacht Ulrike. Doch ihr Vater hatte in seinem eigenen Leben so viele Erfahrungen im Umgang mit Vorurteilen gesammelt, dass er diesen Querdenker sehr schnell schätzen lernte. Ulrikes Vater hatte sich als Sohn eines Malers geweigert, den elterlichen Betrieb in der Kleinstadt zu übernehmen und sich lieber der Ornithologie gewidmet. Für die Kleinstädter eine unmögliche Vorstellung, die auf wenig Verständnis stieß. In Bahadir erkannte er einen Verwandten im Geiste, der ebenfalls seinen eigenen Weg geht, ohne Rücksicht auf die finanziellen Sicherheiten zu nehmen.
Der neunjährige Sohn kommt aus seinem Zimmer, um sich kurz zu seiner Mutter auf das Sofa zu setzen. Der Junge mit dem feingeschnittenen Gesicht kuschelt sich an seine Mutter. Die Ähnlichkeiten mit dem Vater sind unverkennbar. »Machst du mir noch einen Apfel, bevor ich schlafen gehe?«, fragt er seine Mutter. »Na gut, aber dann schnell ins Bett!«, verabredet Ulrike mit ihrem Sohn. Der versucht einen weiteren Vorstoß: »Und auch noch ein paar Chips?« »Auf keinen Fall!«, lacht Ulrike über ihren pfiffigen Sohn und geht mit ihm in Richtung Küche. Bahadir nimmt einen Brief vom Tisch: »Ich habe noch Post für dich mitgebracht!«, meint er zu seinem Sohn auf Türkisch, der zweisprachig aufwächst. »Allerdings nicht ganz mit dem gewünschten Ergebnis«, bemerkt Ulrike, als sie aus der Küchenecke zurückkommt. »Bahadir spricht mit ihm zwar Türkisch und unser Sohn versteht es, antwortet aber ausschließlich auf Deutsch.« Das Kind hat für sich damit eine logische Lösung gefunden, denn sein Vater beherrscht schließlich beide Sprachen. Der Sohn hat eine Einladung zu einem Geburtstag bekommen und freut sich. Mit seinem Apfel verschwindet er in sein Zimmer. »Unser Sohn war zwar nicht geplant aber trotzdem gewollt«, stellt Ulrike klar. Vier Jahre nach dem Beginn ihrer Beziehung kündigte er sich an. »Da kamen wir in unsere erste ernsthafte Diskussionsphase. Konnten wir uns gemeinsam ein Kind vorstellen?« Bahadir war zwar mittlerweile von seiner Frau geschieden, aber zwischen ihm und seiner neuen Partnerin gab es noch so viele strittige Punkte. »Würde ein Kind mit diesen beiden Elternteilen entspannt aufwachsen können?«, fragte sich Ulrike damals. Heute hat sie ihre früheren Zweifel abgelegt: »Wenn ich ihn mir so angucke, bin ich eigentlich ganz zufrieden mit dem Resultat unserer Beziehung. Die Zusammensetzung seiner
äußerst unterschiedlichen Eltern kann also nicht so schlecht gewesen sein, wenn das Ergebnis doch ganz passabel geworden ist«, freut sie sich. »Kinder sind anscheinend konfliktfähiger, als ich gedacht habe.« Für Bahadir ist das weniger erstaunlich: »Wir gehen schließlich offen mit unseren Konflikten um. Wir kehren nichts unter den Teppich.« Ulrike nickt: »Ja, das stimmt. Er sieht uns zwar streiten, aber er sieht auch, dass wir uns danach wieder vertragen können.« In der Erziehung war Ulrike eher diejenige, die die Einhaltung von gewissen Regeln schätzte. »Bahadir sah auch hier alles wesentlich gelassener. So nach dem Motto: Wenn das Kind müde ist, wird es schon ins Bett gehen.« Ihr Partner bestätigt: »Das regelt sich meist ganz ohne Stress.« Er überlegt: »Aber wir kriegen uns noch regelmäßig in die Wolle, wenn es um Geschenke geht. Ulrike kauft immer viel zu viel. Ein Geschenk muss doch reichen!« Bahadir schüttelt den Kopf: »Wenn ich das Zimmer unseres Jungen betrachte, sehe ich zu 80 Prozent Sachen, die sicherlich die letzten drei Monate nicht mehr ihren Platz gewechselt haben. Alles völlig überflüssiges Zeug!« Bahadir ist materialistisches Denken ganz fremd. »Ich laufe gerne in alten Klamotten herum. Mir ist nichts peinlich. Ich bleibe schließlich immer ich selber! Alles nur Verpackung«, ist er überzeugt. »Da ist Ulrike ganz anders! Sie kauft gerne ein«, meint er mit einem Blick auf seine Partnerin. Statt eines direkten Kommentars fällt Ulrike ein: »Zum Thema Beschneidung könnte man vielleicht auch noch was sagen!« Bahadir hört das Stichwort und grummelt: »Unwichtiges Thema!« Um gleich darauf anzuschließen: »Doch nicht ganz unproblematisch. Ich sehe das nämlich völlig anders als Ulrike.« Seine Frau nickt: »Bahadir wollte, dass unser Sohn unbedingt beschnitten wird. Dann wird er auch getauft, habe ich nur gesagt. Dabei ist es geblieben«,
erklärt sie kurz die Fakten. Bahadir erläutert: »Ich wollte, dass er eine jahrhundertealte Tradition fortführt.« Er blickt auf: »Das hatte keinerlei religiöse Gründe. Das ist mir ganz unwichtig. Mir geht es um die Zugehörigkeit zu einer langen Kette eines Volkes. Er ist schließlich mein Sohn und ich wollte nicht, dass sie mit ihm abbricht.« Für ihn ist es eine Frage der Identität. Ulrike verzieht das Gesicht: »Die hygienischen Gründe hätten mir noch eingeleuchtet, aber ich als Mutter kann meinem Sohn nicht absichtlich die damit verbundenen Schmerzen zufügen. Das kann ich ihm gegenüber nicht vertreten.« »Schmerzen gehören zum Leben dazu«, ist Bahadir überzeugt. »Wenn er sich selbst dazu entscheidet, dann kann ich das sehr gut akzeptieren«, meint Ulrike. Ihr Mann hält dagegen: »Kinder können in diesem Alter solche Entscheidungen noch nicht treffen. Das müssen ihre Eltern für sie tun.« »Sie können sich doch durch ihre Freunde anregen lassen«, überlegt Ulrike. Bahadir ist entsetzt: »Er soll sich doch nicht beschneiden lassen, weil andere es auch getan haben. Weil es ihm nach dem Fußballspielen mit seinen türkischen Kumpels in der Umkleidekabine peinlich ist als einziger nicht beschnitten zu sein?« Für ihn ist das kein Grund. Bahadir blickt nachdenklich in die Ferne: »Ich habe immer noch ganz besondere Erinnerungen an meine eigene Beschneidung. Das ist ein einzigartiger Tag im Leben eines Jungen. Diese Erfahrung würde ich meinem Sohn auch gönnen.« »Zu Bahadirs Familie musste ich erst den Kontakt herstellen«, berichtet Ulrike. Ihr war es wichtig, dass ihr Sohn seine Großeltern kennt. »Bahadir aber nicht.« Die selbstbewusste Frau meint: »Da bin ich eben alleine mit dem Jungen in die Wohnung der Eltern gefahren.« Bahadirs Eltern leben zwar mittlerweile wieder die meiste Zeit des Jahres in
der Türkei, sind aber auch häufig in Deutschland. »Der alte Mann hat mich ziemlich reserviert behandelt, aber zu seinem Enkel war er freundlich.« Ulrike kann diese Reaktion verstehen: »Er hat gedacht, dass sein Sohn mich vorgeschickt hat, um den Kontakt wieder aufleben zu lassen. Dass dies ganz allein mein Entschluss war, konnte er sich wohl nicht vorstellen.« »Mir bedeutet meine Familie nicht viel.« Bahadir schüttelt den Kopf. Ulrike nickt: »Eigentlich ist die Familie uns beiden nicht so wichtig«, meint sie. »Unsere wirkliche Familie sind unsere Freunde.« Bahadir greift seinen Gedanken wieder auf: »Was habe ich denn mit meinen Eltern noch gemeinsam?« Er hat sich weit von seinen strenggläubigen Eltern entfernt. »Die halten sich strikt an einmal aufgestellte Regeln, ich dagegen stelle alle in Frage.« Das passt nicht zusammen, ist seine Erfahrung. »Ich habe mich in Deutschland in ganz anderen Kreisen bewegt als sie und denke ganz anders. Für mich zählt nicht, was andere sagen. Ich richte mich nur nach den Dingen, die ich selber verstanden habe.« Statt mit faulen Kompromissen zu leben, lässt er die Gegensätze bei Bedarf auch mal unvereinbar nebeneinander stehen. Ulrike lacht: »Nein, konfliktscheu ist er nicht, das kann ich bestätigen!« Sie hat gelernt damit umzugehen. »Ich hoffe zwar stets auf gemeinsame Lösungen, aber ich reibe mich auch gerne an Unterschiedlichkeiten. Meistens kann ich sie als Bereicherung empfinden.« Schubladen interessieren Bahadir nicht. »Die Frage, was typisch deutsch, was typisch türkisch ist, finde ich völlig überflüssig.« Ulrike nickt: »Das kommt bei dir selten vor. Ich dagegen denke häufig über unsere Prägungen nach. Wir kommen doch alle aus bestimmten Zusammenhängen, die ihre Spuren hinterlassen haben«, überlegt sie laut. »Ich habe mich so weit von meinen Wurzeln entfernt«, hält Bahadir dagegen.
»Jeder Mensch kann sich verändern, wenn er will.« Wenn er etwas nicht verändert, dann weil er es nicht will. Davon ist der Lebensphilosoph überzeugt. Auf keinen Fall will er aber von anderen in eine Schublade gesteckt werden. »Ich bin wohl kaum der typische Türke. Mit denen, die nur von ihrer Wohnung bis zur Moschee denken, habe ich nichts gemeinsam.« Auf Vereinnahmungen reagiert er mit Abwehr. »Wie habe ich das gehasst!«, erinnert er sich. »Wenn ich wieder einmal gefragt wurde, warum unser Theater denn eigentlich noch ›Türkisches Theater‹ heißen würde.« Auf seiner Stirn bilden sich Zornesfalten. »Wir würden schließlich unsere Stücke auf deutsch spielen und auch keineswegs nur türkische Stoffe benutzen.« So ein Schubladendenken ist ihm unverständlich. Er erinnert sich belustigt: »Einmal hatten wir sogar ein japanisches Stück im Programm. Da waren die Leute doch sehr verwundert«, kann er sich noch heute über die gelungene Provokation freuen. »Es war eben ein sehr interessantes Stück, deshalb haben wir es ausgesucht.« Um Inhalte ging es ihm. »Und um Träume«, ergänzt er. »Das wichtige ist doch, dass man noch träumen kann.« Mit diesem Künstler, Kritiker, Denker und Träumer zusammen einen Alltag zu organisieren, dürfte nicht immer ganz einfach gewesen sein. »Ich kann mich zwar voll auf Bahadir verlassen, allerdings mehr in grundsätzlichen als in den organisatorischen Fragen«, gibt Ulrike grinsend zu. »Er gibt mir völlige Freiheit und ist sehr treu. Ich weiß, dass er immer zu mir halten wird, aber ich weiß nie, ob er das Auto auch wirklich zur verabredeten Zeit zurückbringt«, lacht Ulrike. »Du machst dir oft viel zu viel Hektik«, erklärt Bahadir gelassen seine Haltung. »Stimmt, deine Ruhe bringt mich zwar in diesen Momenten zur Weißglut, aber grundsätzlich täte mir ein wenig mehr Gelassenheit manchmal sicher gut«, gibt sie zu. »Guck dir meine Haare an!«, fordert der 45-Jährige seine
Frau auf. »Siehst du ein graues Haar? Ich mache mir eben keinen Stress. Ich hasse Stress«, ruft er mit Inbrunst aus. Seine Frau lacht laut auf. So kennt sie ihren Partner. »Wir leben nur einmal auf dieser Welt. Gestern war ich noch ein Kind in meinem Dorf und kannte keine Autos. Heute sitzen wir hier zusammen, ich bin in Deutschland, habe eine Frau und ein Kind und morgen werden wir siebzig sein. Dann stehen wir kurz davor, den Löffel abzugeben. Wozu war dann der ganze Stress gut?« Bahadir nimmt noch ein paar Pistazien und lehnt sich in seinen Schwingsessel zurück. Ulrike schaut ihren Partner liebevoll an und meint entwaffnet: »So ist er!«
Sie haben drei Töchter. Die älteste ist 19. Alle sollen erst ausziehen, wenn sie heiraten, ist die Vorstellung des Vaters. Sie: Ich habe immer für meine Töchter gekämpft. Mal sehen, wie er reagieren wird, wenn die erste in eine eigene Wohnung will. Das wird ein Highlight meines Lebens werden.
Der Elbe-Türke TÜRKISCHER HAFENARBEITER, 45 & DEUTSCHE ZAHNARZTHELFERIN, 47
»Ich hatte große Bedenken, mich auf einen Türken einzulassen«, erinnert sich die 47-jährige Barbara mit dem blonden, flotten Kurzhaarschnitt. Von einer Freundin hatte sie sich an einem Sonntagabend in eine Diskothek mitziehen lassen. »Als wir hereinkamen, sah ich nur schwarze Köpfe und wollte gleich wieder umdrehen.« Ihre Eltern hatten der 23jährigen Zahnarzthelferin immer geraten, sich erstens nicht in den Amüsiervierteln herumzutreiben und sich zweitens nicht mit Ausländern abzugeben. Bisher hatte sie sich stets an die Regeln gehalten, nun verstieß sie gleich gegen beide. »Nur den Getränkegutschein einlösen, dann gehen wir wieder«, hatte die Freundin versprochen. »Doch dann spielten sie auf einmal Bob Marley und wir mussten einfach auf die Tanzfläche. Da tippte mir ein junger Mann mit Lederfransenjacke und offenem Hemd auf die Schulter. Ich kriegte einen Schrecken und dachte: Der sieht ganz so aus, als wenn der hier auf der Vergnügungsmeile sein Geld verdient!« Barbara grinst ihren Mann, der ihr gegenüber in seinem Sessel sitzt, verschmitzt an. »Mir war ziemlich mulmig zumute.«
Mit der Freundin an ihrer Seite wagte sie es dennoch, sich mit dem jungen Mann zu unterhalten. Als er hörte, dass sie am nächsten Wochenende Geburtstag hätte, wollte er sie unbedingt zum Essen in ein türkisches Lokal einladen. »Ich war sehr skeptisch und ließ mir nur seine Telefonnummer geben. Meine rückte ich nicht heraus. Ich tischte ihm sogar die Lüge auf, dass ich noch bei meinen Eltern wohnte und wir kein Telefon hätten.« Sollte sie sich wirklich mit ihm treffen? Sie beratschlagte anschließend die Situation mit ihrer Freundin. »Neugierig war ich schon, aber ich hatte Bedenken.« Man hörte doch soviel von diesen türkischen Männern… Am Tag vor ihrem Geburtstag hielt sie es nicht mehr aus. Zusammen mit ihrer Freundin ging sie noch einmal in die Diskothek. »Er war wieder da. Doch zum Herausrücken meiner Telfonnummer konnte ich mich immer noch nicht durchringen. Aber ich ließ zu, dass er uns beide am nächsten Abend in ein türkisches Restaurant ausführte.« Er wartete schon vor der Tür, als sie ankamen. Er hatte einen Tisch reserviert und überreichte dem Geburtstagskind einen großen Blumenstrauß. Auf dem Tisch stand eine Geburtstagstorte mit brennenden Kerzen. Barbara war beeindruckt. Sie wagte die erste Verabredung ohne ihre Freundin. »Ich fragte mich die ganze Zeit, was will er bloß von mir?« So entschied sie sich, ihn geradeheraus danach zu fragen. »Seine Antwort war genau die richtige: Er würde sich gerne ab und zu mit mir treffen um etwas zusammen zu unternehmen. Wenn wir beide daran Spaß hätten, könnten wir auch mehr Zeit zusammen verbringen.« Sie trafen sich, und sie hatten Spaß miteinander. Und so verabredeten sie sich in der nächsten Zeit tatsächlich immer öfter. »Meinem Vater habe ich von dieser Entwicklung erstmal nichts erzählt. Nur meine Mutter wurde meine Verbündete.«
Auch ihrem Freundeskreis gegenüber sprach sie immer nur von einem »Bekannten«, mit dem sie sich ab und zu treffen würde. »Als ich ihn dann endlich vorstellte, merkte ich, dass alle Vorsicht völlig unnötig gewesen war. Meine Freunde fanden ihn alle super sympathisch, und er wurde ab da zum erklärten Mittelpunkt unserer Runden.« Nach einem Jahr wollte Barbara mit ihrem Freund in einen Türkeiurlaub aufbrechen. »Für meinen Vater war ich, glaube ich, mit einer Freundin nach Griechenland verreist«, grinst sie. In Wirklichkeit sollte es zu seiner Familie nach Istanbul gehen. »Erst dort habe ich erfahren, dass seine Mutter gegen eine deutsche Frau ebenso große Vorbehalte hatte wie mein Vater gegen einen türkischen Mann.« Ganz unvorbereitet auf diese möglichen Schwierigkeiten kam sie nach einer dreitägigen Autofahrt verschwitzt und übermüdet in Istanbul an. »Wir kamen in die Wohnung. Seine Mutter gab mir zwar die Hand, doch sie guckte dabei auf den Fußboden. Dann nahm sie ihren Sohn beiseite, und ich hörte nur noch einen lautstarken Wortwechsel, der für mich nach einer großen Schimpferei klang.« Damals konnte Barbara noch kein Türkisch. »Ich hielt das, was ich sah und hörte, für einen großen Streit. Sie knufften und boxten sich und schrieen miteinander.« Die ersten Tage waren sehr schwierig für die junge Frau. »Zumal ich Schafskäse und Oliven nicht besonders liebe«, meint sie. »Es gab aber kaum etwas anderes, schon zum Frühstück musste ich damit vorlieb nehmen.« Doch eines Morgens stand plötzlich ein Teller Rührei auf dem Tisch. »Ich freute mich riesig über den Anblick.« Barbara lief schon das Wasser im Mund zusammen, da wollte ihr Freund einen Scherz machen: »Rühreier dürfen in der Türkei nur die Männer essen«, sagte er bestimmt und zog den Teller zu sich heran. Barbara war so angespannt, dass sie vor lauter Enttäuschung
nur hinausrennen und den Tränen freien Lauf lassen konnte. »Ab diesem Moment änderte sich die Stimmung. Die Mutter kam zu mir gelaufen, nahm mich in den Arm und zog mich wieder an den Tisch.« Nun wurde der Sohn ausgeschimpft, der seine Freundin zum Weinen gebracht hatte. Barbara durfte den ganzen Teller Rührei allein essen. Heute wird sie von der Schwiegermutter bei der Begrüßung genauso herzlich geknuddelt wie die anderen Familienmitglieder. Der schwarzhaarige Mann in der modischen, bordeauxfarbigen Strickjacke hat sich die Erinnerungen seiner Frau in seinem Sessel in großer Gelassenheit angehört. Mit 17 Jahren war er zu seinem Vater, der in den sechziger Jahren ohne seine Familie nach Deutschland zum Arbeiten gegangen war, in die Großstadt an der Elbe gezogen. Aufgrund der politischen Unruhen sah er in der Türkei keine Möglichkeit mehr, seine Schullaufbahn in Ruhe zu Ende zu bringen. Er hatte sich aber vorgenommen, nach dem Realschulabschluss noch das Abitur zu machen. Das hielt er in Deutschland eher für möglich. »Mit meinem Vater hielt ich es jedoch nur gut ein Jahr aus. Wir stritten uns immer öfter, weil er mich gerne in seine religiöse, fundamentalistische Ecke drängen wollte.« Das passte aber zu Adnans Überzeugungen gar nicht. Er zog aus. Bei einer Sozialarbeiterin fand der 18-Jährige Unterstützung. Sie besorgte ihm ein Zimmer und eine Ausbildungsstelle. »Die Ausbildung zum Dreher musste ich allerdings abbrechen, denn damals waren meine Deutsch- und Mathekenntnisse noch zu gering dafür.« Doch die Frau half ihm wieder, diesmal mit einer Arbeitsstelle im Hafen. Bei diesem Arbeitgeber, der an den modernen Terminals die schnelle Schiffsentladung garantiert, arbeitet Adnan heute noch. »Doch mittlerweile bin ich der Chef von fast 50 Mitarbeitern«, sagt er nicht ohne Stolz.
Sich diese Position zu erarbeiten, war nicht immer einfach. »Den deutschen Kollegen fiel es nicht ganz leicht, einen Türken als Chef zu akzeptieren.« Da kam ihm seine Erfahrung in der Gewerkschaft und im Betriebsrat entgegen. »Ich kann meine Standpunkte immer mit Argumenten belegen. Dann können sie nichts mehr gegen mich vorbringen.« Adnan ist eines klar: »Ich wusste immer, dass ich hier Gast bin und als solcher besser zu sein habe als die Einheimischen. Das habe ich immer akzeptiert.« Mit dieser Strategie ist der kräftige Mann gut gefahren. »Jetzt bin ich für sie der Elbe-Türke«, sagt er stolz. Er freut sich über diesen Spitznamen. Er sagt ihm, dass er als mittlerweile heimisch gewordener Türke respektiert und anerkannt wird. Adnan kann auch beweisen, wie »deutsch« er inzwischen geworden ist: »Morgens trinke ich Kaffee, abends um acht wird Tagesschau geguckt und am Sonntagabend ist TatortZeit.« Barbara berichtigt seine Aufzählung: »Aber du guckst auch türkisches Fernsehen, oder?« »Nur bis viertel vor acht, dann wird auf ARD umgeschaltet!« Adnan ist sich sicher: »Tagesschau gehört in Deutschland einfach dazu.« Wie soll er sonst auch mit seinen Kollegen über die neuesten Meldungen diskutieren können? »Wenn über türkische Themen berichtet wird, zeigen sie immer die gleichen Bilder: Frau mit Kopftuch, Mann geht voran, Frau schleppt Tüten.« Doch er kann ein anderes Türkeibild zeichnen: »Kommt mit, ich zeige euch das moderne Istanbul. Danach würdet ihr euch die zehn Finger lecken!«, ist er überzeugt. Seine Frau, die gelernte Zahnarzthelferin, legte eine Pause in ihrem Beruf ein, als das erste Kind unterwegs war. »Ich wollte immer sechs Jungen haben, zur Strafe habe ich jetzt drei Mädchen bekommen«, grinst sie. »Für meine Töchter habe ich viel gekämpft«, erklärt sie, »ich wollte ihnen unbedingt ihren
Freiraum zukommen lassen.« Manchmal, muss sie allerdings eingestehen, waren diese Kämpfe auch völlig überflüssig: »Da kam es dann zu folgenden Situationen: Meine Töchter fragten mich wieder einmal, ob sie zu einer Party gehen dürften. Ich war die Auseinandersetzungen mit meinem Mann darüber leid und meinte zu ihnen: ›Ruft euren Vater selbst an!‹ Sie guckten mich zuerst mit großen Augen an, griffen dann aber zum Telefonhörer. Als sie aufgelegt hatten, grinsten sie mich nur verschmitzt an. Und was hat er gesagt? ›Klar dürfen wir, bis 24 Uhr!‹, lachten sie dann, weil sie wussten, dass ich es höchstens bis 22 Uhr erlaubt hätte.« Adnan macht es sich bei der Erzählung seiner Frau lächelnd in seinem Sessel gemütlich. »Das war mir ein Vergnügen«, meint er breit grinsend. »Ich bin sehr gespannt, wie es mit unseren Töchtern weitergeht«, überlegt die sympathische Frau mit der zartgerandeten Brille. Die älteste Tochter ist jetzt 19. Sie hat ihr Abitur geschafft und will ein Studium beginnen. »Mein Mann ist der Überzeugung, dass alle drei erst ausziehen werden, wenn sie heiraten. Da sehe ich noch viele Diskussionen auf uns zukommen«, ist die blonde Frau sich sicher. Dass sie dabei nicht klein beigeben wird, ist ebenso sicher. Adnan lehnt sich wieder zurück. Er wird die Entwicklung in Ruhe abwarten und dann reagieren. Durch die Schichtarbeit ihres Mannes musste Barbara die Erziehung der Kinder hauptsächlich allein bewältigen. »Du warst häufig nicht da, das war schon sehr schwierig«, stellt sie sachlich fest. Adnan zieht die Augenbrauen hoch. »Ich war immer für euch da«, macht er mit fester Stimme deutlich. Nur durch seine harte Arbeit und die vielen Überstunden kann sich das Ehepaar seinen jetzigen Lebensstandard erlauben. Die drei Töchter haben alle ein eigenes Zimmer in der großen Etagenwohnung, das ganz nach ihren Wünschen ausgestattet und mit allem gefüllt ist, was junge Mädchen so
benötigen. Der Vater zählt auf, was er seinen Töchtern geben konnte: »Sie haben alles, jede einen eigenen PC, Internetanschluss, Fernseher, Handy, Telefon, Festnetzanschluss. Das hat nicht jedes Kind«, sagt er zufrieden. Barbara schmunzelt: »Dafür schlafen wir im Wohnzimmer«, und zeigt mit einem Kopfnicken auf den Schrank, der sich zu einem Bett ausklappen lässt. »Bei der Religion haben wir es nicht so gut hinbekommen«, glaubt die Mutter. Sie hatte sich mehr vorgenommen, als sie meint erreicht zu haben. »Zu Beginn unserer Beziehung dachte ich mir: Mein Mann musste schon so viele Dinge aufgeben: seine Sprache, seine Umgebung, seine Familie, seine Kultur. Da kann ich ihm in einem Punkt entgegen kommen: in der Religion.« Barbara glaubte fest an einen Gott, aber fühlte sich keiner bestimmten Religion zugehörig. »Ich wurde von meinen Eltern nicht besonders christlich erzogen.« Barbara besorgte sich den Koran und fand viele Übereinstimmungen mit der Bibel. »Ist es nicht egal, wie ich meinen Gott nenne«, dachte sie sich. Als einen Schritt auf ihren Mann zu entschloss sie sich zum Islam überzutreten. Die kleine Zeremonie beim Hodscha war schnell erledigt. »Doch mir fehlte die Wissensgrundlage, um meinen Kindern den Islam näher zu bringen.« Mit einem Seitenblick auf ihren Mann fügt sie hinzu: »Und meinem Mann leider auch.« »Ich faste eben und gehe auch mal in die Moschee, aber ansonsten bin ich nicht sehr religiös«, skizziert Adnan in knappen Sätzen seinen Glauben. »So wissen unsere Töchter heute weder viel vom Christentum noch vom Islam«, bedauert Barbara. »Ich wollte ihnen eigentlich ihr Leben mit deutsch-türkischen Eltern erleichtern«, überlegt die Mutter. Doch als die Älteste in die Schule kam und aus dem Religionsunterricht herausgenommen wurde, habe sie sehr unter ihrer Sonderrolle
gelitten. »Sie empfand es als Bestrafung, als einzige aus der Klasse genommen zu werden. Bei meiner nächsten Tochter habe ich dafür gesorgt, dass sie während der Religionsstunden in der Klasse bleiben durfte«, sagt Barbara mit einem Blick auf ihren Mann. »Und bei unserer Jüngsten gab es gar keine Diskussionen mehr.« Barbara fällt eine Begebenheit ein, die die familiäre Position zwischen den Religionen gut beschreibt: »Unsere Große hatte als Jugendliche in einer Stadtteilzeitung mal einen Artikel geschrieben, in dem sie sich darüber beschwerte, dass es hier für die Jugendlichen keinen Treffpunkt geben würde«, berichtet sie. Daraufhin meldete sich der Pastor der kleinen Kirche, die um die Ecke liegt, und stellte einen Raum in seinem Gemeindehaus für die Jugendlichen zur Verfügung. Ein Jahr lang trafen sie sich dort. Nebenbei nutzte die begabte Tochter den Raum auch zum Singen. Als die Weihnachtszeit kam, wollte sie gerne mit ihren Freunden an der Messe am Heiligabend teilnehmen. »Da gab es von meinem Mann nur ein striktes Nein. Eine Diskussion war nicht möglich«, erinnert sich Barbara. Ein Jahr später versuchte es die Tochter auf andere Art: »Dieses Mal werden wir Jugendlichen die Messe selbst gestalten. Ich werde singen. Es würde mich sehr freuen, wenn ihr auch kommen würdet«, lud sie ihre Eltern einfach ein. Sie gingen hin, auch ihr Vater saß mit in der Kirche. »Ich glaube, es fiel ihm sehr schwer«, meint Barbara. Adnan zuckt mit den Schultern. Nach der Messe lud der Vater seine Töchter noch zum Essen ein. Später erfuhr Barbara, dass er seinen Töchtern dort die Frage gestellt hätte, an was sie denn eigentlich glauben würden. »Seid ihr nun Christen oder Muslime?«, wollte er von ihnen wissen. Dass in ihren Geburtsurkunden »islamisch« steht, wusste er ganz genau, doch was dachten sie wirklich? »Da haben sie ihm geantwortet: ›Wir wissen es nicht. Wir
glauben an einen Gott, aber zu welcher Religion wir gehören, wissen wir nicht.‹« »Das ist für unsere Kinder nicht ganz einfach«, denkt Barbara. Sie weiß, dass sie die Frage der Identität oft beschäftigt. »Unsere Jüngste ist im Moment sehr an allem Türkischen interessiert«, hat Barbara beobachtet. »Neulich meinte sie zu mir: ›Ich bin eine Türkin.‹ ›Nein, das kannst du nicht sein, du hast nämlich eine deutsche Mutter‹«, hatte Barbara da die Fakten geklärt. »Du bist auch eine Türkin«, wünschte sich daraufhin ihre Tochter. »Nein, das bin ich nicht«, musste Barbara sie enttäuschen. »Sie möchte ihren Standpunkt klar definieren können«, versteht Barbara nur zu gut. »Damit kommen wir zum nächsten Punkt«, fährt die Frau in dem bunten Ringelpullover fort, die sich gut auf unser Gespräch vorbereitet hat. »Zum Essen!« Adnan nickt beifällig. »Ich bin leider keine gute türkische Köchin, bei uns gibt es eher die bekannten deutschen Gerichte.« Zu deren Zubereitung auch häufig das Schweinefleisch gehört. »So gut ich konnte, habe ich es schon vermieden, aber manchmal wurde es als Zutat mit auf den Tisch gestellt. Da gab es immer Ärger«, berichtet Barbara. »Wir haben doch das Geld. Gib doch ruhig ein paar Euro mehr aus und kauf Rindfleisch!«, sagte ihr Mann dann immer. »Wenn wir in unserer Anfangszeit ganz streng ohne Schweinefleisch gelebt hätten, wäre das wohl auch einfacher gewesen. Aber mein Mann aß auch damals schon mal gerne zwischendurch eine Currywurst, wenn ihm danach war«, merkt Barbara mit einem Hauch von Ironie an. »Auch in der Weihnachtsfrage gab es viele Diskussionen.« Barbara spricht den nächsten Punkt an. »Ich wollte, dass meine Kinder keine Außenseiterrolle haben und benachteiligt werden. Sie sollten ihre Geschenke unter dem Weihnachtsbaum bekommen, wie alle anderen auch«, erklärt sie ihren
Standpunkt. Adnan dagegen wollte auf keinen Fall einen Weihnachtsbaum in der Wohnung haben. »Für so ein christliches Symbol soll ich auch noch Geld ausgeben? Unter gar keinen Umständen!«, hielt er dagegen. Nach einigen Jahren gab er endlich nach. Sie lacht: »Zumal er feststellen musste, dass in der Türkei mittlerweile Tannenbäume groß in Mode gekommen sind.« Adnan ist immer noch verwundert: »Und sie kosten dort noch mehr Geld als in Deutschland!« Vor 13 Jahren haben sie sich eine Wohnung in Antalya kaufen können. »Damals war die Umgebung paradiesisch schön. Mittlerweile habe ich weniger Lust, dort unseren Urlaub zu verbringen«, meint Barbara. »Das Meer ist verschmutzt, die Küste verbaut und der Ort von Touristen überlaufen.« Die Vergleiche mit früher verleiden ihr zunehmend die Urlaubsfreude. Sie ist auf Deutschsprachigkeit nicht mehr angewiesen, denn inzwischen kann sie sich sehr gut auf Türkisch verständigen. Wieder lacht sie: »Während unserer Urlaube habe ich in der Familie viele Vokabeln aufgeschnappt. Ich hänge sie einfach ohne Rücksicht auf grammatikalische Regeln aneinander und ich werde verstanden«, ist sie selbst überrascht. »Meine Töchter haben sich zwar immer darüber amüsiert, wie ich mich mit Händen und Füßen verständige, aber wenn sie etwas wollten, wurde ich von ihnen vorgeschickt«, berichtet sie. Vor drei Jahren wollten ihre beiden ältesten Töchter für zwei Wochen allein zu den Verwandten nach Istanbul. »Sie hatten plötzlich Lust, in die Türkei zu fahren«, erzählt die Mutter. Als sie wiederkamen, kannten sie Anekdoten aus der Kindheit ihres Vaters, die selbst seiner Ehefrau noch unbekannt waren. »Wie habt ihr denn die verstanden?«, wunderten sich ihre Eltern. »Ihr könnt doch gar kein Türkisch!« Da haben die beiden Mädchen nur geantwortet: »Wir haben es einfach gemacht wie Mama!«
Für Barbara steht fest: »Ich fühle mich sehr verbunden mit ihnen. Wann immer sie mich brauchen werden, werde ich für sie da sein.« So macht sie auch ihre Planung für spätere Jahre, wenn ihr Mann nicht mehr zur Arbeit in den Hafen muss, von den Wünschen ihrer Mädchen abhängig. Er hätte Lust, dann mehr Zeit in der sonnigeren Türkei zu verbringen. »Pendeln wäre nicht schlecht, vielleicht Hälfte, Hälfte«, ist seine Vorstellung. »Nur wenn meine Töchter mich hier entbehren können«, stellt Barbara klar. »Wenn sie mich aber als Oma brauchen, um ihnen ihre Kinder von Zeit zu Zeit abzunehmen, bleibe ich hier.« Sie möchte ihren Töchtern das ersparen, was sie selbst erlebt hat. »Ich musste mit meinen drei Kindern ganz allein klarkommen. Das war eine harte Zeit. Da hätte ich mir oft die Unterstützung der Familie gewünscht.« Barbara freut sich, dass die Warnungen ihrer Eltern nicht eingetroffen sind. »So wie mein Mann mit seinen Fußballkumpels, so konnte auch ich mit meinen Freundinnen allein in den Urlaub fahren. Jeder hat dem anderen seinen Freiraum gelassen«, meint sie. »Das ist wichtig«, ist ihr Mann überzeugt, »sonst kann eine Beziehung kaum harmonisch verlaufen.« »Und um all die kleinen Fragen, die sich uns im Alltag stellen, kann ich mich mit meinem Mann gleichberechtigt streiten.« Sie lächelt: »Schließlich habe ich ausreichend Verstärkung. Zusammen sind wir vier Frauen gegen einen Mann!« Er dagegen empfiehlt ihr, öfter mal eine andere, diplomatischere Strategie einzuschlagen: »Warum versuchst du nur die direkte Konfrontation, über Umwege kommt man oft besser zum Ziel.« Barbara schaut ihren Mann nachdenklich an und meint: »Vielleicht bin ich tatsächlich manchmal in der Verteidigung meiner Töchter übers Ziel hinaus geschossen. So mussten unsere Überzeugungen ja gegeneinander knallen und sich verhärten.« Adnan nickt zustimmend: »Jeder einen Schritt
auf den anderen zu; das wäre besser. Wir haben doch beide dasselbe Ziel!« Barbara überlegt zweifelnd: »Vielleicht, aber die Wege dahin, die sind doch sehr unterschiedlich, oder?« Sie denkt an die Entscheidungen, die ihnen noch bevorstehen, wenn die Kinder ihre eigenen Wege gehen wollen. »Ich weiß, dass zumindest unsere Älteste in ihrer Auffassung vom Leben ganz anders liegt als ihr Vater. Da wird es zu einer Auseinandersetzung kommen«, ist sie überzeugt und fragt sich: »Wie wird mein Mann dann reagieren? Obwohl ich ihn nun 24 Jahre kenne, kann ich das nicht vorhersagen. Wird er ganz hart bleiben oder so tolerant sein, wie er es eigentlich die ganze Zeit in unserem gemeinsamen Leben doch war? Ich weiß es nicht.« Die Frau grinst: »Das wird noch ein Highlight in meinem Leben!« Der pragmatische Adnan rückt nach den vielen, für ihn im Augenblick wenig konkreten Überlegungen die wesentlicheren Fakten wieder in den Blickpunkt. Er blickt sich in seinem großen Wohnzimmer mit der Ledergarnitur und den sorgsam zusammengestellten Holzmöbeln um und stellt zufrieden fest: »Wir haben einen guten Lebensstandard erreicht, um den mich viele beneiden.« Er weiß, dass er es weit gebracht hat in Deutschland. Adnan sucht den Blick seiner Frau. Auch Barbara weiß ihr komfortables Leben wohl zu schätzen. Offen schaut sie ihren Mann an und sagt versöhnlich: »Eigentlich hast du Recht. Uns geht es gut.« Sie lächelt, als ihr einfällt: »Als wir neulich zum ersten Mal Urlaub ohne die Kinder gemacht haben, haben wir uns kein einziges Mal gestritten. Da haben wir gemerkt, wie gut wir uns doch eigentlich verstehen, wenn uns keine Alltagsprobleme drücken.« Barbara lehnt sich in die Kissen zurück und nimmt noch einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. »So, das war unsere Geschichte«, beschließt sie ihren Rückblick. »Mal sehen, wie sie jetzt noch weitergeht.«
IV Zweite Generation
Die größte Gruppe unter meinen türkischstämmigen Gesprächspartnern waren 19 Vertreter der zweiten Generation. Bei 17 von ihnen waren die Eltern im Zuge der Gastarbeiteranwerbung nach Deutschland gekommen. Acht meiner Interviewpartner sind in Deutschland geboren. Elf von ihnen kamen erst im Laufe der Grundschulzeit nach Deutschland, als sich für ihre Eltern abzeichnete, dass ihr Aufenthalt in Deutschland doch länger dauern würde als erwartet. Ihre Biografien sind im Gegensatz zu denen, die erst im Erwachsenenalter kamen, durch andere Faktoren gekennzeichnet: Ihr Umzug nach Deutschland war von ihren Eltern bestimmt worden; ihre Sozialisation war von vielfältigen Einflüssen geprägt. Die deutsche Umgebung vermittelte ihnen oft andere Eindrücke als die türkische. Ihre eigene Familie stellte an sie Erwartungen, die sie mit denen der deutschen Gesellschaft abstimmen mussten. Häufig lernten diese Kinder früh Verantwortung für sich selbst und ihre Familie zu übernehmen. Viele erzählen, dass sie schon mit zehn, zwölf Jahren Behördengänge, Arztbesuche und bürokratischen Schriftverkehr für ihre Eltern übernehmen oder sie begleiten mussten, da sie über mehr Sprachkenntnisse verfügten. Viele können ihre verantwortungsvolle Rolle in der Familie heute positiv bewerten. »Ich fühlte mich wichtig und lernte früh Verantwortung zu tragen«, meint eine türkischstämmige Studentin dazu.
Fünf von ihnen mussten zunächst im Kleinkindalter den Weggang mindestens eines ihrer Elternteile verkraften. Verlassenheitsgefühle prägen oft ihren Blick in die Vergangenheit. Sie lebten einige Jahre bei Verwandten und wurden manchmal noch in der Türkei eingeschult, um eine spätere Rückkehr zu erleichtern. Das schnelle, unkomplizierte Erlernen der Sprache erscheint für viele in der Rückschau als Gradmesser ihres problemlosen Einstiegs in die deutsche Gesellschaft. Fast alle meiner türkischstämmigen Interviewpartner hatten Eltern, denen die Bildung ihrer Kinder sehr wichtig war. Die Eltern, die selbst über höhere Bildungsabschlüsse aus der Türkei verfügten, fiel es dabei leichter, ihre Kinder bei diesem Ziel zu unterstützen, auch wenn sie in Deutschland zum Teil eher klassischen Gastarbeitertätigkeiten nachgingen. Das Thema der Rückkehr bestimmte für viele ihre Kindheit und Jugend. Doch während sie nun ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, sind die Eltern bei elf von ihnen in die Türkei zurückgezogen. Fast alle von ihnen sehen ihr Aufwachsen mit verschiedenen Kulturen heute eher als zusätzliche Ressource an. Bei erfolgreicher Bewältigung der Herausforderungen fühlen sie sich bestens auf die Anforderungen einer globalisierten Welt vorbereitet. Wenn sie sich von der deutschen Umgebung gut aufgenommen fühlten, fiel es ihnen leichter, eine positive emotionale Bindung zum neuen Land zu entwickeln. Wenn sie allerdings mit Zurücksetzungen aufgrund ihrer Herkunft zu tun hatten, wurde dies erschwert. Diese Partner haben ihren deutschen Partnern viel voraus: Sie verfügen über einen großen Wissensvorrat in beiden Kulturen. Sie sind sowohl in der deutschen wie in der türkischen zu Hause, da sie in beiden aufgewachsen sind. Insofern ist vielleicht auch nicht verwunderlich, dass sie sich am stärksten
mit ihrer Identität beschäftigen. Ihre Selbstfindung musste sorgsam mit den Erwartungen der Eltern abgestimmt werden. Während die erste Generation ihren eigenen Weg schon bei ihrem Wegzug aus der Türkei eingeschlagen hatte, musste die zweite Generation ihren mit den Eltern gemeinsam in Deutschland finden.
Der katholische Hardliner Michael Neumann verliebt sich in die muslimische Migrantentochter Aydan Özoguz. Er: Als guter Berufssoldat trat ich stets für die klaren Lösungen ein. Durch meine Frau kann ich die Welt mittlerweile differenzierter betrachten. Sie: Ich hätte kein Problem damit, wenn meine Tochter Nonne wird, wohl aber wenn sie politisch rechts wählen würde.
Verheiratet mit dem früheren Gegner DEUTSCHER POLITIKER, 35 & TÜRKISCHSTÄMMIGE POLITIKERIN, 38
Michael Neumann, der Fraktionsvorsitzende der SPD, sah das Gesicht von Aydan Özoguz zum ersten Mal als Foto in einer Tageszeitung. Der Artikel berichtete von einer »klugen, schönen« Frau, die demnächst die SPD-Fraktion um ein weiteres, externes Mitglied bereichern würde. Neumann erinnert sich noch, dass er sich ärgerte: »Ich hatte fünf Jahre lang im Ortsverein Horn Plakate kleben dürfen und so eine Quotentürkin darf ohne jede Vorarbeit auf einen sicheren Listenplatz an mir vorbeirauschen.« Der blonde Mann in seinem legeren, braunen Wollpullover reibt sich nachdenklich sein Kinn. Seine Frau Aydan Özoguz, die neben ihm am großen Konferenztisch in seinem Arbeitszimmer im Hamburger Rathaus sitzt, weiß genau, wovon er redet: »Ich kam damals gleich auf Listenplatz 5, während du, glaube ich, auf Platz 49 warst, oder?« Wenig später hatte Neumann Gelegenheit, die neue Konkurrentin selbst in Augenschein zu nehmen. Bei einem
Treffen wollten sie Ideen sammeln, wie man jüngere Leute für die Partei gewinnen könnte. Vielleicht hatten die externen Mitglieder zu diesem Thema neue Anregungen zu bieten? Özoguz erinnert sich: »Stattdessen erzählte er mir doch lang und breit, dass er in Schulen gehen und vor Klassen über seine Arbeit sprechen würde. Ich fragte mich die ganze Zeit, was will er mir damit eigentlich sagen?« Sie berichtet weiter: »Nach der Wahl im Oktober 2001 fanden wir uns dann gemeinsam im Arbeitskreis für Inneres wieder.« Neumann war zu seinem Vorsitzenden bestimmt worden. Er erzählt: »Die erste Sitzung kam. Ich hatte die Themen zusammengestellt, über die wir meiner Meinung nach in der nächsten Zeit diskutieren sollten. Eine inhaltliche Auseinandersetzung wollte ich in der ersten Sitzung bewusst vermeiden. Doch was passierte? Ich nannte ein Thema und schon begannen die verschiedenen Gruppierungen ihre Meinung dazu zu äußern.« Neumann muss schmunzeln: »Das mag natürlich auch an meiner Rolle in der Partei gelegen haben. Ich war als ein scharfer Hund bekannt, der für die SPD ungewohnt konservativ auftrat. Wenn ich nun das Thema Migration, Brechmittel u. s. w. nur kurz anriss, erregte dies sofort die Gemüter.« Er nimmt einen Stift, der auf dem großen Konferenztisch liegt. »Dann passierte folgendes. Ich regte mich so über das meiner Meinung nach unprofessionelle Verhalten meiner Fraktionskollegen auf, dass ich einen Bleistift wie diesen in die Hand nahm und ihn vor Ärger zerbrach.« Seine Frau lacht: »Ich dachte, der bestätigt ja sämtliche Vorurteile, die über ihn kursieren.« Themen, die ihr besonders am Herzen lagen, streifte er nur kurz. »Das Thema Migration und Zuwanderung erwähnte er nur beiläufig. Doch beim letzten Thema auf seiner Vorschlagsliste nahm er sich dann ungewöhnlich viel Zeit«, berichtet sie. Sollte es in Hamburg ein öffentliches Gelöbnis
geben? Da war der Berufssoldat natürlich in seinem Element und hielt sich nicht so ganz konsequent an die eigene ausgegebene Linie. »Da hatte er plötzlich alle Zeit der Welt, um seine Meinung zum Besten zu geben«, lacht Özoguz. Zusammen mit den anderen Kollegen äußerte sie ihren Unmut. »Ich hatte bisher in einer Stiftung gearbeitet. Dort herrschte ein ganz anderes Arbeitsklima. Bei uns konnten alle Positionen angemessenes Gehör finden.« Özoguz beschreibt ihre damalige Stimmung: »Ich war ziemlich enttäuscht über die anscheinend ganz andere Arbeitsweise in der SPD. Ich war neu in der Politik und mein erster Eindruck war: Das habe ich mir aber ganz anders vorgestellt!« Beim Hinausgehen traf sie in der Tür auf Neumann. »Da knallte es dann richtig!« Schon vor dieser Sitzung hatte Neumann die neue Kollegin als eine Art Willkommensgruß zum Ball der Hamburger Polizeigewerkschaft eingeladen. »Nach dieser Sitzung verspürte ich aber keinerlei Lust mehr, mit diesem Mann auf einen Ball zu gehen. Ich habe ihm die Karten mit einer kleinen Notiz auf seinen Bürotisch legen lassen«, erzählt Özoguz. Es gab dann zwei Mails, die Neumann zwar schrieb, die sie aber nicht erreichten. In einem Telefongespräch versuchte man die Lage zu klären. »Ich erkannte seinen guten Willen. So haben wir die Karten dann doch nicht verfallen lassen!«, meint Özoguz. Damals wusste sie noch nicht, dass Bälle nicht zu Neumanns liebstem Zeitvertreib gehören. Doch der Charme seiner tanzfreudigen Begleiterin muss den Tanzmuffel mitgerissen haben: »Das war der erste und einzige Ball, auf dem wir bis vier Uhr morgens geblieben sind und getanzt haben«, berichtet sie. So begann die ungewöhnliche Liebesgeschichte zwischen dem deutschen Hardliner und der türkischstämmigen Linken. »Durch meine Frau musste ich viele meiner Sichtweisen überdenken. Sie hat meinen Horizont so erweitert, dass ich
heute viele Sachverhalte differenzierter betrachten kann.« Neumann meint mit unverhohlener Selbstironie: »Ich als Soldat neigte stets zu den klaren Lösungen. So und so ist das, und so machen wir das. Meine Frau hat mir gezeigt, dass diese Herangehensweise den Problemen nicht immer gerecht werden kann. Unsere Welt ist eben nicht einfach. Sie ist weder schwarz noch weiß, sondern grau.« Er nimmt kurz ihre Hand. »Für mich ist meine Frau eine absolute Bereicherung.« Eine Zeit lang versuchten die beiden, ihr Verhältnis in der Fraktion geheim zu halten. »Einmal trafen wir, als wir zusammen im Auto fuhren, einen Kollegen. Der hatte einen großen Van und konnte bestens in meinen kleinen Renault Clio hineinschauen. Doch er hielt tatsächlich dicht«, wundert sich Neumann. »Dann gab es eine SPD-Fahrt zu einer Tagung in Brüssel. Auf der Hinfahrt saßen wir noch getrennt, doch auf der Rückfahrt war es dann raus: Die linke Migrantin und der rechte Soldat sind ein Paar!«, erzählt Özoguz. Sie muss zugeben: »Doch unser Versteckspiel hat mir auch viel Spaß gemacht.« Özoguz wurde 1967 in Hamburg geboren. Neumann, der aus Dortmund in die Hansestadt kam, findet: »Eigentlich ist sie die Einheimische und ich der Zuwanderer.« Özoguz’ Vater war lange Jahre als selbstständiger Unternehmer in Deutschland erfolgreich tätig, bis die Eltern nach dem Ende des Erwerbslebens wieder nach Istanbul zurückgingen. 1989 entschied sich Özoguz für die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie studierte Anglistik, Spanisch und Personalwirtschaft. Ab 1994 arbeitete sie bei der Körber-Stiftung in der interkulturellen Projektarbeit. Mit der Wahl 2001 wurde sie Mitglied der Hamburger Bürgerschaft. Özoguz erzählt: »Mir war es sehr wichtig, dass Michael meine Brüder kennen lernt. Ich wollte sehen, wie er sich dort schlägt.« Eine nicht ganz einfache Bewährungsprobe, die sie
ihrem Freund da zumutete. Ihre Brüder, die in Delmenhorst leben, haben eine ganz andere Richtung eingeschlagen als der Rest von Özoguz’ eher liberal eingestellter Familie. Sie sind streng gläubig. Sie meint: »Vor unserem Besuch habe ich ihm eingeschärft, die Frauen nicht anzustarren und ihnen nicht die Hand zu geben.« Neumann meisterte die Situation mit gewohnter Professionalität. »Als ihre Brüder mich dann fragten, ob ich vorhätte zum Islam zu konvertieren, wenn ich Aydan heirate, sagte ich sofort, dass das für mich nicht in Frage käme. Ich sei Katholik«, erinnert sich Neumann. »Ich denke, damit war ihnen mehr gedient, als wenn ich ihnen etwas vorgemacht hätte. So war auch diese Frage geklärt.« Dann wurde Özoguz von der amerikanischen Botschaft zu einer Bildungsreise über Strategien der Migrationspolitik in die USA eingeladen. »In die drei Wochen fiel auch ihr Geburtstag«, erinnert sich Neumann. »Sie sollte ihn ganz alleine in Amerika verbringen. Weil der Tag auf einen Samstag fiel, hatte ich sofort die Idee sie dort zu besuchen. Ich besorgte mir Flugtickets für das Wochenende. Bei der amerikanischen Botschaft holte ich Erkundigungen ein, wo ich sie am besten treffen konnte. Dann kamen mir allerdings Zweifel: Würde es ihr überhaupt recht sein, wenn ich sie überraschte? So rief ich sie einen Tag vorher an. Zum Glück freute sie sich, und wir verabredeten uns zu einer bestimmten Uhrzeit auf dem Flughafen in San Francisco. Doch als ich ankam, war sie nicht da. Da hatte ich mich als bekennender Reisemuffel nun einmal in die weite Welt hinausgewagt und stand jetzt verlassen am anderen Ende der Erdkugel.« Neumann setzte sich erschöpft auf eine der Bänke in der Wartehalle und überlegte, was zu tun sei. »Dann war es wie in einem schlechten Film: Ich war gerade aufgestanden und drehte mich um, da stand sie vor mir.« Der Abend verlief dann aber nicht ganz so stilgemäß, wie
Neumann sich das erträumt hatte. Er berichtet: »Wir verbrachten den Abend in einem typischen amerikanischen Pub. Vorne wurde Billard gespielt, in der Mitte TV geguckt und hinten in der Ecke saßen wir bei einem ThunfischBurger!« Für Özoguz zählte anscheinend anderes: »Es war ein wunderschöner Abend.« Mit noch mehr Aufwand hatte Neumann ein Wochenende im Sommer geplant. »Wir sollten am Freitag kurz nach Mittag aus Hamburg losfahren. Auf Rügen hatte ich eine Suite mit Meerblick im Schlosshotel gemietet. Karten für die Störtebeker-Festspiele waren ebenfalls reserviert.« Denn Neumann hatte etwas Besonderes vor: Er wollte um Aydan Özoguz’ Hand anhalten. Doch es klappte nicht alles wie geplant. Özoguz hatte am Freitag Nachmittag noch einen Termin, und sie gerieten auf der Hinfahrt in einen Stau. So kamen sie erst am Abend auf Rügen an. In der Dunkelheit fanden sie das Hotel nur nach mühseligem Suchen. Der erste Programmpunkt, ein romantischer Strandspaziergang zum Sonnenuntergang, fiel somit flach. Neumann erzählt: »Auch am nächsten Morgen ging es nicht besser weiter: Alle Tische zum Frühstücken waren besetzt. Ich wurde immer mürrischer und kehrte den typischen Wessi heraus: Was ist denn das für eine DDR-Wirtschaft hier? Habt ihr noch nicht kapiert, dass man für Geld auch was tun muss? Da bezahle ich so viel Geld pro Nacht und wir bekommen nicht einmal ein Frühstück!« Özoguz schüttelt den Kopf: »Mir machte das alles gar nichts aus. Wir waren zusammen, wir verstanden uns gut. Warum sollten wir uns nicht erst mal kurz auf die schöne Terrasse setzen?« Sie bezog stattdessen Neumanns gereizte Stimmung auf sich. »Ich hatte plötzlich das komische Gefühl, dass er nur auf den geeigneten Zeitpunkt wartete, um mir mitzuteilen, dass er Schluss machen wollte.« Als Neumann dann endlich mit seinem eigentlichen Anliegen herausrückte, war ihre
Erleichterung groß. »Habe ich gleich ›ja‹ gesagt, oder habe ich mir noch Bedenkzeit ausgebeten?«, neckt sie ihren Mann. »Auf so eine Frage Bedenkzeit zu fordern, dass käme doch einer Absage gleich«, entrüstet er sich halb zum Spaß. »Nein, du hast zum Glück sofort ›ja‹ gesagt.« Dann sollte ein Besuch in Istanbul bei Özoguz’ Eltern folgen. Neumann meint dazu: »Ich war noch nie in der Türkei. Da ich in Dortmund aufgewachsen war, hatte ich immer die Meinung vertreten, dass ich dort schon genügend Türken gesehen hätte.« Der Schalk blitzt aus seinen blauen Augen. »Außerdem bin ich nicht so der Reise- und Sonnefan. Wenn ich Urlaub mache, geht es eher zum Skifahren in die Berge oder im Sommer nach Fehmarn.« Özoguz erklärt: »Eigentlich sind wir beide ja schon in einem Alter, in dem man die Eltern nicht mehr um Erlaubnis fragen muss. Doch ich hatte ihnen schon einmal sehr wehgetan. Deshalb wollte ich sie dieses Mal an meiner Entscheidung beteiligen.« Özoguz hatte in erster Ehe in der Karibik und einen um einiges älteren Fotografen geheiratet. »Im Vergleich zu diesem Typ, der ständig mit einem Kopftuch herumlief, schnitt ich als Versorger ihrer Tochter wohl ganz gut ab«, vermutet Neumann. »Sie fanden diesen katholischen Deutschen, der ihnen recht zuverlässig und ordentlich vorkam, wohl ganz akzeptabel«, glaubt auch Özoguz. »Auch wenn meine Eltern sich sicherlich noch lieber einen Türken für mich gewünscht hätten. Doch im Grunde ihres Herzens wussten sie wohl, dass es schwer werden würde, einen passenden türkischen Ehemann für mich zu finden.« Neumann erinnert sich noch sehr genau an den Aufenthalt in Istanbul: »Ich esse eigentlich gerne und auch gerne viel. Doch bei dem Essen mit deinen Eltern ging es mir gar nicht gut: Ich war total durchgeschwitzt und musste ständig auf Toilette.« Die Erklärung lag auf der Hand: »Ich war so aufgeregt.« Erst
als der offizielle Teil erledigt war, konnte er sich entspannen. »Durch deine Familie habe ich ganz andere Türken kennen gelernt als in meinem Hamburger Stadtteil Horn.« Sofort zieht er politische Schlussfolgerungen: »Die Möglichkeit zur Integration wird also nicht durch die Kultur, sondern vor allem durch die Bildung und die soziale Situation bestimmt.« Spöttisch merkt er an: »Das ist dann auch der einzige Satz, beim dem ich Marx zustimmen würde: Das Sein bestimmt das Bewusstsein.« Neumanns Mutter erfuhr von der neuen Frau im Leben ihres Sohnes in einer Mittagspause. Er erzählt: »Sie arbeitet als Verkäuferin in einem Stoffgeschäft. Ich habe sie einfach in ihrem Pausenraum beiseite genommen und es ihr erzählt.« Neumann wusste, dass seine Eltern seine Freundin offen aufnehmen würden. »Sie sind ganz normale Menschen, haben das Herz auf dem rechten Fleck.« Ihm fällt dazu eine Geschichte aus seiner Kindheit ein: »Ich war mit meinem Opa zum Schwimmen gefahren. Als wir zurückkamen, waren bei unseren Fahrrädern die Schrauben an den Naben gelockert. Offenbar hatte jemand versucht, einen Diebstahl vorzubereiten und war dabei gestört worden. Mein Opa fing sofort an zu schimpfen: ›Diese dreckigen Türken, die klauen wie die Raben!‹ Zu Hause erzählte ich den Vorfall meinen Eltern. Da sagte mein Vater ganz ernst zu mir: ›Mein Junge, glaube mir, Türken, das sind genauso Menschen wie wir.‹« Die Hochzeit haben sie am einem Freitag, den 13. gefeiert. »Da wollte kein anderer und somit war der Termin noch frei.« Obwohl es Dezember war, wollten sie nach der Zeremonie im Literaturhaus auf einem Alsterdampfer feiern. Doch das Datum hätte sie vorwarnen sollen. »Am Tag vorher bekamen wir einen Anruf: Gerade ist das letzte Schiff gefahren. Die Alster ist zugefroren.« Sie sollte es nur diesen einen Tag bleiben. Am Samstag konnten die Schiffe schon wieder verkehren. »Wir
disponierten schnell um. Das Schiff blieb am Jungfernstieg liegen und eine Busrundfahrt ersetzte die Schiffstour.« Doch es gab auch nette Überraschungen: Auf dem Jungfernstieg hatte die Schornsteinfeger-Innung der Hansestadt eine kleine Aktion vorbereitet. Sie verteilten Glückspfennige. »Da ein Verwandter von Michael auch Schornsteinfeger ist, hat er kurzerhand seine Kollegen angesprochen und sie haben für uns als frisch gebackenes Brautpaar ein kurzes Ständchen gegeben.« Außerdem waren alle SPD-Kollegen mit einer Rose vom Rathaus herübergekommen und hatten für die beiden ein Spalier gebildet. »So wurde es eine wirklich schöne Feier«, findet Özoguz. »Nur am Abend, als wir in unser Haus fuhren, war mein Ehemann plötzlich sehr abgelenkt.« Auf der Fahrt hatte Neumann auf sein Handy geblickt. 75 Nachrichten waren angekommen. »Ich dachte: Oh, wie nett, die wollen dir alle zur Hochzeit gratulieren.« Doch das war nicht der Grund. »Unser Fraktionsvorsitzende war genau an diesem Tag zurückgetreten, und ich wurde um meine Stellungnahme gebeten.« »Statt mich über die Schwelle zu tragen, hatte er nur noch Aufmerksamkeit für sein Handy«, meint Özoguz mit leichtem Vorwurf zu ihrem Mann. Neumann guckt zerknirscht. »Das tut mir heute noch Leid.« Er meint es ernst: Eine Hochzeitsnacht lässt sich nicht wiederholen, politische Umwälzungen wird der Politiker aber wohl noch öfter erleben. Vor drei Jahren wurde die Tochter geboren. »Ich wollte schon immer gerne ein Kind. Es hat sich erst relativ spät ergeben. So bin ich mittlerweile gelassen genug, um mit den Herausforderungen einer Tochter in der Trotzphase umzugehen«, meint Özoguz. Auch den Herausforderungen, die die Erziehung eines Kindes in einer interreligiösen Partnerschaft mit sich bringt, stellt sie sich mit großer
Gelassenheit. Özoguz ist gläubige Muslimin. »Ich bete regelmäßig. Aber das braucht meinen Mann nicht zu stören.« Er ist katholisch erzogen worden. »Ich sehe eigentlich in allen Religionen die gleichen grundlegenden Regeln der Menschlichkeit. Da unterscheidet sich das Christentum nicht viel vom Islam.« Breit grinsend ergänzt er: »Ich glaube allerdings, dass es deinen Eltern gefallen hat, dass ich Katholik und kein Protestant bin. So vertrete ich für sie wenigstens die etwas ernstzunehmendere Version des Christentums.« Um kurz darauf einzuräumen: »Aber mit der Ironie ist das ja in der Religion wie in der Politik so eine Sache…!« Beide sind gespannt auf die Zeit, wenn die kleine Tochter Fragen stellen wird. »Ich hätte schon ein Problem damit, wenn sie sich ein Kopftuch umbinden würde«, überlegt Neumann, »aber auch wenn sie Nonne werden möchte!« »Ich weniger, wenn sie es aus freien Stücken tut«, entgegnet Özoguz. »Womit ich aber kaum umgehen könnte ist, wenn sie sich später politisch rechts einordnen würde«, gibt die Bürgerschaftsabgeordnete zu. »Dann würde ich schon denken: Was haben wir verkehrt gemacht?« Über den Namen der Tochter haben sie sich viele Gedanken gemacht. »Ich bin mir bewusst, dass sie als ein deutsches Kind in Deutschland aufwachsen wird. Sie hat zwar auch türkische Wurzeln, aber sie werden einen geringen Teil ihres Lebens ausmachen«, erklärt Özoguz. So fiel die Wahl auf den Namen Hanna Neumann. Als zweiter Name ist Selin in ihrer Geburtsurkunde vermerkt. Neumann flachst: »Natürlich gab es die Vermutungen, dass ich einfach ein Machtwort gesprochen und festgelegt habe: Sie bekommt einen deutschen Vornamen und meinen deutschen Nachnamen. Doch diese Entscheidung konnte nur Aydan treffen.« Die Mutter wollte ihrem Kind die Schwierigkeiten ersparen, die sie selbst als Trägerin eines relativ komplizierten, türkischen Namens hatte. »Wenn wir in
der Türkei leben würden, hätten wir uns eventuell für einen türkischen Namen entschieden. Doch ihr in Deutschland einen türkischen Namen zu geben, hätte ich als künstlich empfunden«, meint sie und fügt an: »Namen sind ja schon etwas Identitätsstiftendes.« Neumann bemerkt mit unverhohlener Selbstironie: »Wie wollte das ein Mensch mit dem Namen Michael Neumann bestreiten, der so geworden ist wie ich!« Er wird schnell wieder ernst: »Ich habe nie die Erfahrung machen müssen, dass ich aufgrund meines Namens eine Zurückweisung erfahren hätte. Ganz im Gegenteil: Als Deutscher hatte ich keine Nachteile«, ist er überzeugt. »Wenn mein Mann gerne Schweinefleisch essen möchte, habe ich damit kein Problem«, meint Özoguz. Unterschiede dieser Art stören sie überhaupt nicht. An andere musste sie sich erst gewöhnen. »In unserer Familie waren wir uns immer recht einig, wie wir die Welt in Deutschland beurteilen sollten. Man konnte untereinander in der ruhigen Gewissheit Dampf ablassen, dass wir in den wichtigen Punkten übereinstimmten. Erst galten wir als Ausländer und dann als Muslime in einem christlichen Land.« Während ihrer Studentenzeit fand sie ihre Rückzugsmöglichkeit in der Türkischen Studentengemeinde. »Wenn wir auch dort sehr häufig in vielen Punkten ganz unterschiedlicher Meinung waren, so sahen wir uns doch alle als Menschen, die nicht als selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft betrachtet wurden. Wir dachten: Selbst wenn die Deutschen mal austicken, wir werden zusammenhalten.« Das sieht ihr Mann natürlich etwas anders: »Ich habe ein ziemlich entspanntes Verhältnis zu unserer Republik. Als Soldat bin ich schließlich sogar bereit, mein Leben für dieses Land einzusetzen«, stellt Neumann klar. Özoguz macht es an einem Beispiel deutlich: »Wenn ich Polizisten sehe, bekomme ich spontan ein mulmiges Gefühl. Michael dagegen meint sofort: ›Nun können wir uns noch
sicherer fühlen.‹« Sie überlegt einen kurzen Augenblick. »Durch unsere gemeinsame politische Arbeit haben wir inzwischen mit vielen Polizisten gesprochen. Doch immer ertappe ich mich dabei, dass ich denke: Würden sie auch mit mir reden, wenn ich nicht deine Frau wäre?« Ein anderes Beispiel fällt ihr ein: »Mir waren die Besuche in der Ausländerbehörde verhasst. Für Michael repräsentierte diese Behörde dagegen den Teil des Staates, der Deutschland vor einer Schwemme von Asylanten bewahrte.« Sie hebt ihre Augenbrauen. Für genügend Zündstoff in ihrer Beziehung war also stets gesorgt. »Das finde ich gerade das Spannende. Schade ist nur, dass Aydan immer mitten in unseren Diskussionen einfach aufhört zu streiten. Und zwar gerade dann, wenn ich so richtig in Form und von meinen eigenen Argumenten ganz begeistert bin.« Özoguz meint: »Dann wird mir unser Streiten zuviel, und ich wünsche mir etwas mehr Harmonie. Manchmal erwische ich mich dann dabei, dass ich denke, dass wir uns wohl in manchen Punkten nie verstehen werden. Das ist für mich dann eine Herausforderung, meinen inneren Frieden nicht zu verlieren.« Sie überlegt: »Während unserer Anfangsphase habe ich viel mit einer Freundin darüber gesprochen, ob es nicht zu kulturellen Problemen führen würde, wenn ich einen Deutschen heirate. Da sagte sie nur zu mir: ›Aydan, sieh mich doch an, ich habe einen Türken aus meinem Dorf geheiratet, und wir haben ziemlich viele Konflikte!‹« Özoguz gibt zu: »Früher habe ich schon in meinem eigenen Kulturkreis nach einem Partner Ausschau gehalten. Doch es passte halt nicht.« Das hält sie für symptomatisch: »Ich beobachte, dass türkischstämmige Frauen die Chancen in Deutschland für sich häufig besser nutzen können als die türkischstämmigen
Männer. So finden viele gut ausgebildete Frauen keine adäquaten Männer, und die Mischehen nehmen zu.« Neumann kann sich dagegen uneingeschränkt über die Auseinandersetzung mit seiner intelligenten Frau freuen. Sie schenkt ihm Einblicke, die ihn auch politisch reifen lassen. »Das mag jetzt egoistisch klingen, aber die Beziehung zu Aydan hat mir die Chance gegeben, mich in eine Richtung weiter zu entwickeln, die bei mir nicht zu erwarten gewesen wäre.« Um gleich darauf anzumerken: »Das heißt nun aber nicht, dass ich noch zum Hausbesetzer werden werde!« Andererseits sieht er aber auch Gemeinsamkeiten in ihrer Entwicklungsgeschichte: »Auch ich komme aus einem Kreis, der ideologisch sehr abgeschlossen war. Die Armee war schließlich eine reine Männerdomäne. Schwierigkeiten, eine geeignete Partnerin zu finden, kamen häufig vor. Dann galt bei uns: Wenn ich keine Frau finde, dann sind die Frauen verkehrt, aber nicht mein Beruf.« Dachte Özoguz früher, dass sie die feste Basis ihres Lebens in Deutschland eher in dem kulturellen und religiösen Einverständnis mit einem türkischen Mann finden könnte, meint sie heute: »Gerade bei Michael habe ich die Sicherheit gefunden, die ich für mein Leben brauche. Er gibt mir das Gefühl, dass wir immer zusammenhalten werden. Wenn es hart auf hart kommt, werden wir es gemeinsam durchstehen.« Neumann frotzelt mit dem ihm eigenen Sinn für provozierende Selbstironie: »Heute hast du den Feind direkt in deinem Bett!« Özoguz kann nur amüsiert über ihren Mann den Kopf schütteln und laut lachen. Aydan Özoguz hat ihren türkischen Namen auch nach der Hochzeit nicht abgelegt. »Ich wollte das Gefühl dafür nicht verlieren, wie es ist, in Deutschland einen türkischen Namen zu tragen.« Neumann erinnert sie grinsend: »Aber du hast mir doch etwas versprochen, nicht wahr?« Özoguz hebt fragend
ihre Augenbrauen. »Dass du zu unserer Silberhochzeit einem gemeinsamen Namen zustimmen wirst!« Er ergreift noch einmal ihre Hand. Özoguz lächelt und meint: »Ja, vielleicht.«
Sie heirateten trotz des Verbotes ihrer türkischen Familie. Heute wohnt das Ehepaar mit der türkischen Mutter und dem türkischen Bruder zusammen in einem Haus. Er: Es war sehr schwer, sich immer wieder anhören zu müssen, wie schlecht man ist. Sie: Ich hatte nie einen Zweifel, dass er der Richtige für mich ist.
Hilfe von unerwarteter Seite TÜRKISCHE KRANKENSCHWESTER, 25 & DEUTSCHER BAUARBEITER, 26
»Zuerst dachte ich, was ist das denn für ein komischer Kerl, der stellt sich nicht einmal vor«, erinnert sich Dilan. Stefan dachte dasselbe von ihr, schließlich war sie für ihn die Neue, denn er kam nur aus dem Urlaub in seine Abteilung zurück. Damals absolvierte Stefan seinen Zivildienst in dem Krankenhaus, in dem Dilan ihre Ausbildung zur Krankenschwester machte. So war der erste Eindruck nicht der beste, doch beim gemeinsamen Arbeiten merkte Dilan dann, dass dieser komische Typ ihr von Tag zu Tag besser gefiel. »Uns lief jedoch die Zeit davon«, erzählt sie weiter. »Schließlich sollte er nur noch wenige Wochen Dienst bei uns tun. Also übernahm ich die Initiative. Ich lud ihn zum Steakessen ein.« Der kräftige, sportlich wirkende Mann hatte der netten Kollegin aus gutem Grund keine Avancen gemacht. Seine Kontakte zu türkischen Mitschülern auf der Berufsschule hatten ihn eines gelehrt: Lasse dich nie mit einem türkischen Mädchen ein, das bringt nur Ärger! Daran hielt er sich. Als
dieses Mädchen aber nun auf ihn zukam, dachte er, dass ihre Familie wohl liberaler eingestellt wäre. Für Dilan war dagegen klar: Diesen Mann wollte sie näher kennen lernen, bevor er ihr entschwand, obwohl sie damals schon ahnen musste, welche Probleme damit auf sie zukommen würden. Entschlossen wagte sie den Schritt, der alles ins Rollen brachte. Heute wohnen sie zusammen in einer beschaulichen Kleinstadt, in der niedrige Einfamilienhäuser die Straßenränder säumen. Nur wenige mehrgeschossige Wohnblocks sind in die vielen Grünflächen eingestreut. In einem von ihnen liegt ihre großzügige Eigentumswohnung, die sie im Landhausstil eingerichtet haben. Kiefernholzmöbel, helle Fliesen, Parkettfußboden und lachsfarben gewischte Wänden bestimmen das Bild. Neun Jahre ist ihre erste Begegnung nun her. Neun Jahre, in denen viel geschehen ist. Ihre Familie war damals mit großen Problemen konfrontiert. Dilans Vater war plötzlich gestorben. Ihre Mutter verfiel immer wieder in depressive Stimmungen; ihr Bruder sollte mit Anfang 20 die männliche Rolle in der Familie übernehmen. Dass er damit überfordert war, merkte die Familie zunächst nicht, da er nach außen hin den perfekten Sohn spielte. Er schaffte es, sich mit zwei Geschäften selbstständig zu machen und arbeitete ohne Unterlass. Gleichzeitig versuchte er, sich um seine Schwester zu kümmern. Dilan charakterisiert sein Verhalten so: »Es war ihm nicht egal, was seine Schwester macht.« Er war dann auch der erste, der ihrem Geheimnis auf die Spur kam. Schon bald entdeckte er das frisch verliebte Paar. Dilan blieb keine andere Wahl: Sie sprach mit ihm offen über ihr Verhältnis zu Stefan. Ihr Bruder verriet sie nicht bei der Mutter, aber versuchte, selbst Einfluss auf seine Schwester zu nehmen. »Immer wenn ich zu Stefan losfuhr, gab er mir noch ein paar Gedanken mit auf den Weg. Er schärfte mir ein, dass es verkehrt sei, was ich tue. Dass es besser für die Familie
wäre, wenn ich Stefan aufgeben und einen Türken heiraten würde.« Das schlechte Gewissen wurde zu Dilans ständigem Begleiter. So sehr sie sich auf die Treffen mit Stefan freute, so sehr schmälerten ihre Gewissensbisse ihr Vergnügen. »Unsere Treffen waren von Lügen begleitet.« Ganz besonders schlimm war das Zurückkommen in die Wohnung. »Ich fürchtete schon die Begegnung mit meiner Mutter. Welches Gesicht macht sie? Hat sie vielleicht etwas mitbekommen?«, grübelte Dilan stets auf dem Rückweg. Doch sie konnte ihrer Mutter keinen reinen Wein einschenken. In ihrer instabilen psychischen Lage wollte sie ihr keine zusätzlichen Belastungen zumuten. »Bei uns muss eine Beziehung immer gleich offiziell werden. Ich kann nicht einfach mit einem Mann befreundet sein, ich muss ihn eigentlich gleich heiraten«, wurde ihr beigebracht. Doch wie sollte sie dann erklären, wie sie ihren Freund kennen gelernt hatte? In dem Augenblick würde auch die Zeit des Schwindeins offenbar werden. Stefan erinnert sich mit Schrecken an diese Zeit: »Das war bis zum Zerreißen. Wenn man immer wieder zu hören bekommt, dass man der Schlechteste ist, zehrt das schon. Da wird man schon aggressiv. Man muss immer stillhalten, nur um sie nicht zu gefährden.« Doch Stefan hielt sich zurück. Er rief nicht beim Bruder an, um ihm gehörig die Meinung zu sagen. Er wusste, dass es Dilan gewesen wäre, die hauptsächlich darunter zu leiden hätte. Sie war es schließlich, die immer wieder zur Familie zurückkehren musste. Dilan litt unter den Belastungen, die Stefan ihretwegen ertragen musste. Sie rechnete immer wieder damit, dass auch seine Geduld einmal erschöpft sein könnte. »Manchmal habe ich gedacht, wie viel problemloser könnte das sein, wenn du ihn einfach loslässt, aber das konnte ich nicht. Trotzdem gab es irgendwann einen Punkt, an dem ich Stefan gesagt habe: ›Ich
glaube, es geht nicht mehr, wir müssen Schluss machen.‹ Da hat mir Stefan seinen Standpunkt klargemacht. Er steht zu mir, egal was kommt. Das war der Wendepunkt.« Dilan verstand ihre Mutter: Sie hatte Angst. Sie fürchtete um den Zusammenhalt der Familie. Durch den Tod des Vaters war das Bild einer perfekten türkischen Familie ins Wanken geraten. Sie fühlte sich von der türkischen Außenwelt beobachtet und fürchtete ihr Urteil. Ihr Ansehen, das sie lange Jahre aufgebaut hatten, war gefährdet. Waren sie vorher eine Vorzeigefamilie gewesen, mit einem fleißigen Sohn und einer braven Tochter, so gerieten sie jetzt ins Gerede. »Solange man in diesen Schienen bleibt, ist man toll. Doch wehe, man schert aus«, überlegt Dilan. »Eigentlich war nämlich geplant, dass sie ihren Cousin heiraten sollte«, bemerkt Stefan betont beiläufig. Doch sein Gesicht verrät, dass er diesen Konkurrenten früher nicht so gelassen hinnehmen konnte. Dieser Cousin, der in Holland wohnt, hatte sich in Dilan verliebt. Als Jugendliche konnte sie sich noch mit dem Gedanken anfreunden, später einmal seine Frau zu werden. Doch das war, bevor sie ihre Ausbildung anfing. »Plötzlich veränderte ich mich. Ich lernte neue Menschen kennen und sah, wie frei andere Frauen ihr Leben gestalteten. Ich entwickelte eigene Meinungen und eigene Wünsche. Ich wollte mehr als nur Schule, Ausbildung und Heirat erleben.« Zu diesem Zeitpunkt lernte sie Stefan kennen und begann, sich ein Leben mit ihm statt mit ihrem Cousin vorzustellen. Ihrem Bruder wuchsen die neuen Herausforderungen über den Kopf; er fing an, Drogen zu nehmen. Doch während er seine Probleme noch geheim halten konnte, waren Dilans Ausscherversuche offensichtlich. Stefan ärgert sich in der Rückschau: »Ich führte ein ganz solides Leben. Und er, der in Drogenprobleme abgerutscht war, wollte mir Vorwürfe
machen, dass ich seine Schwester verderbe.« Stefan schüttelt den Kopf. Seine Kraft schöpfte er aus seiner Familie: »Zum Glück hat sie mir immer ganz viel Rückhalt gegeben. Mein Vater hat immer gesagt, dass Dilan jederzeit zu uns kommen kann. Wenn einem aus ihrer Familie es einfallen sollte hier bei uns auf dem Hof anzutanzen, käme der nicht ohne Schaden wieder herunter, hatte mein Vater versprochen.« So war der Rückzugsort des Paares immer wieder das Haus von Stefans Familie, das auf dem Lande liegt. Hier konnten sie sich ungestört treffen, hier bekamen sie Rückendeckung. Sein Vater war es auch, der ihm, als er von den Problemen von Dilans Bruder hörte, sagte: »Hier musst du helfen. Egal was vorher war, jetzt ist jetzt.« So kam es, dass es ausgerechnet Stefan und Dilan waren, die ihrem Bruder Hilfe anboten. »Als alle seine Freunde sich schon lange verabschiedet hatten, versuchten wir, immer für ihn da zu sein«, berichten sie. Sie suchten mit ihm die besten Therapieangebote heraus, sie sprachen ihm Mut zu, sie fuhren ihn ins Krankenhaus, sie boten ihm einen Platz zum Reden an. »Er hat keine Schwester verloren sondern einen Bruder dazu gewonnen. Das wollte ich ihm zeigen«, sagt Stefan ganz ernst. »Ich hatte stets im Hinterkopf, wie ich mich wohl verhalten hätte, wenn ich meinen Vater früh verloren hätte und so eine große Verantwortung hätte tragen müssen. Da hätte ich mich auch über eine helfende Hand gefreut.« Sein Tonfall macht klar: Er meint seine Worte genau so, wie er sie sagt. In dieser Zeit hatte Dilan ihre Mutter endlich in ihr Geheimnis eingeweiht, nach zweieinhalb Jahren verschwiegener Beziehung zu Stefan. Sie teilte ihr mit, dass sie ihn heiraten werde. Die Mutter drohte daraufhin, nicht zur Hochzeit zu kommen. »Ich war zwar todtraurig, ließ mich aber dadurch nicht abbringen. Stefan und ich waren uns sicher, dass
wir zusammengehören. Meine Mutter musste sich entscheiden, ob sie einlenkt oder mich verliert.« Dilan ahnt einen zusätzlichen Grund für ihre strikte Ablehnung: »Sie hatte Angst davor, dass Stefan mir nach der Hochzeit als mein Ehemann verbieten würde, den Kontakt zu meiner Mutter zu pflegen. Im Grunde genommen hätte er das nach türkischen Vorstellungen auch machen können, aber er wusste, dass es nicht ging. Ich hätte gesagt, ich kann nicht, ich muss meine Mutter sehen.« Stefan erinnert sich: »Der Durchbruch kam, als deine Mutter in der Türkei angerufen hat und die Oma sagte: ›Dilan heiratet einen Deutschen, das ist ja wunderbar. Ihr lebt und arbeitet in Deutschland und es ist gut, wenn ihr in Kontakt mit den Deutschen kommt.‹ Danach war der Wall gebrochen.« Ihre Ehe gestalten sie heute anders, als Dilan es bisher aus ihrem türkischen Umfeld kannte. »Jeder hat seinen eigenen Freiraum, keiner schränkt den anderen ein. Stefan würde nie auf die Idee kommen zu sagen, wo willst du jetzt wieder hin, warum willst du alleine weggehen? Ich brauche mich nie zu rechtfertigen, es ist ganz ungezwungen und frei.« Dilan ist die Freude darüber unschwer anzumerken. Der Bruder hat sein Leben mit Hilfe der beiden wieder in den Griff bekommen. Er hat eine Frau aus der Türkei geheiratet und wohnt mittlerweile mit ihr, seinem kleinen Kind und Dilans Mutter in einer Wohnung im selben Mietshaus. »Als die Wohnung unter uns frei wurde, haben wir ihnen vorgeschlagen, hier einzuziehen«, erzählt Dilan, als ob dies ganz selbstverständlich wäre. »Nun ist unsere Familie wieder vereint«, freut sie sich. »Wir verstehen uns gut«, bestätigt Stefan schlicht. Die Fünf verbringen viel Zeit miteinander. Oft wird abends zusammen gegessen und geredet. Die Befürchtungen der Mutter sind nicht eingetroffen. Der Deutsche hat die Familie nicht auseinander getrieben sondern zusammengehalten. »Das reibe ich meiner Mutter auch immer
wieder unter die Nase«, meint Dilan. »Dann sage ich zu ihr: Zum Glück habe ich diesen Jungen gefunden und ihn mir auch genommen. Das kann sie gar nicht oft genug hören«, findet sie. »Was ich für ein großes Glück habe mit Stefan und seiner Familie«, überlegt sie. »Sie sind für mich wie meine Eltern.« Ihr Mann ergänzt sofort: »Und ich habe eine neue Familie dazu gewonnen.« Er meint es aufrichtig: Diesem Deutschen ist der familiäre Zusammenhalt tatsächlich genau so wichtig wie seiner türkischen Partnerin. Doch das erste Jahr nach ihrer Heirat war noch nicht ganz so unbeschwert. Dilan hatte sich so auf diesen Zeitpunkt gefreut. Endlich hatte sie ihre ersehnte Freiheit und konnte mit ihrem Traummann zusammen sein. Sie, die vorher stets dazu angehalten wurde, an andere zu denken, durfte sich jetzt ihre eigenen Wünsche erfüllen. Doch dieser wahr gewordene Traum sah unter den Alltagsbedingungen zunächst nicht ganz so rosig aus. »Im ersten Jahr habe ich sehr geklammert. Ich wollte Stefan ganz für mich haben und endlich die ganze Zeit mit ihm genießen.« Doch Stefan muss viel arbeiten. Als Polier auf einer Großbaustelle ist er der Ansprechpartner für alle Probleme und der letzte, der nach Hause gehen darf. So hieß es für ihn immer wieder, einen Kompromiss zwischen seinen beruflichen Anforderungen und den Wünschen seiner Frau zu finden. Mittlerweile kann Dilan lockerer damit umgehen. »Mir wurde klar, dass ich ja gar nicht zu Hause sitzen und auf die Uhr starren muss, bis Stefan kommt. Ich kann selbst etwas unternehmen und ihn dann viel entspannter begrüßen, wenn er da ist.« »Wenn man wie wir so große Probleme hatte zusammenzukommen, gibt man nicht so schnell bei Unstimmigkeiten auf. Solche kleinen Abstimmungsfragen konnten uns nicht schrecken. Schließlich mussten wir den
anderen ja beweisen, dass wir Recht gehabt hatten: Wir werden glücklich miteinander, wir passen zusammen«, findet Stefan. »Im Moment ist der richtige Zeitpunkt für Nachwuchs noch nicht gekommen, aber er ist fest eingeplant«, blicken die beiden in die Zukunft. Dass ihre Kinder zweisprachig aufwachsen werden, ist auch klar. »Welch ein Geschenk ist es doch, als kleines Kind nebenbei gleich zwei Sprachen lernen zu können«, begründet Dilan. Dass sie die türkischen und die deutschen Feste mit ihm feiern werden, ist ebenso selbstverständlich. Das ergibt sich ganz einfach aus den beiden Familien, mit denen sie begangen werden. »Bei meinen Eltern feiern wir Weihnachten und mit Dilans Familie das Zuckerfest«, bestätigt Stefan. Einen Punkt haben sie noch nicht ganz zufriedenstellend lösen können. Wenn sich die beiden Wohnparteien treffen, wird zunächst noch Deutsch gesprochen. Doch bald verfällt einer von ihnen ins Türkische und die anderen stimmen ein. »Dann fühle ich mich ausgegrenzt. Mittlerweile schnappe ich mir dann manchmal meinen Teller und verziehe mich in unsere Wohnung«, gibt Stefan seinen Unmut zu. »Dadurch fehlt mir etwas, was mir früher immer sehr gut gefallen hat. Ich kann mich noch erinnern, dass ich früher immer gerne einfach zugehört habe. Da habe ich immer viel gelernt. Ich finde es sehr schade, dass mir das im Moment fehlt. Ich kann nur dasitzen und mir meine eigenen Gedanken machen, weil ich die Sprache nicht verstehe.« In den Türkeiurlauben stört es ihn dagegen überhaupt nicht, wenn er die Unterhaltung nicht versteht. »Die können ja kein Deutsch und bemühen sich wirklich mit allen Mitteln, sich mit mir zu verständigen.« Mittlerweile besucht er die einzelnen Verwandten im Dorf auch ohne die Unterstützung seiner Frau.
»Die kennen mich da alle und zeigen mir einfach, was sie wollen.« Genau dieses Bemühen um Kommunikation vermisst er bei den Zusammenkünften in Deutschland. »Wenigstens ich könnte wirklich konsequent bleiben und nur Deutsch reden«, überlegt Dilan selbstkritisch. »Aber manches kann man auf Türkisch einfach viel witziger erzählen«, findet sie. Doch Stefan kann leider kein Türkisch. Bei seiner zeitaufwendigen, anstrengenden Arbeit hatte er es gerade einmal geschafft, an zwei Unterrichtsstunden eines Volkshochschulkurses »Türkisch für Anfänger« teilzunehmen, den Rest musste er verfallen lassen. »Aber das ist unser einziges Problem, das wir noch nicht gelöst haben«, meint Stefan schnell. Dass sie gut zusammenpassen, merkte Dilan bald. »Wenn wir über etwas reden, haben wir meist die gleichen Gedanken und einer spricht es dann aus. Wir sind ganz selten unterschiedlicher Meinung«, bestätigt sie inzwischen aus langjähriger Erfahrung. Für ihre deutschen Freundinnen war allerdings der Gedanke befremdlich, dass sie einen Mann heiraten wollte, den sie nur stundenweise kannte. Dilan erinnert sich: »Eine Freundin meinte zu mir: ›Woher weißt du, ob ihr zusammenpasst? Ihr habt noch nie zusammengelebt.‹ Da habe ich nur gesagt: ›Ich weiß, dass es gut geht; ich habe keine Zweifel.‹ Ich hatte auch nicht eine Sekunde den Gedanken, dass es zwischen uns nicht klappen wird.« Stefan wird der Unterschied zu seinen Bauarbeiterkollegen immer wieder bewusst. »Vielleicht würde ich auch in ihrem engen Horizont denken, wenn ich durch Dilan nicht gelernt hätte, darüber hinaus zu gucken. Dort kann ich nicht jedem erzählen, dass ich eine türkische Frau habe. Das kriegen nur die zu hören, die weiter als von zwölf bis Mittag denken können. Ohne Dilan hätte ich vielleicht wie diese deutschen Bauarbeiter gedacht«, überlegt er. Das Hintergrundwissen, das
er durch seine Frau bekam, hat manchmal auch ganz praktische Vorteile. Mit ihm überrascht er gerne seine türkischen Mitarbeiter. »Da sagte einmal ein türkischer Arbeiter zu mir: ›Am Freitag brauche ich frei, da ist Zuckerfest.‹ ›Nein‹, antwortete ich ihm, ›Zuckerfest ist erst am Samstag, Freitag kannst du also wunderbar arbeiten.‹ Da guckte der aber sehr erstaunt, dass ein Deutscher das wusste.« »Eigentlich habe ich mit Stefan nichts anderes gemacht, als meine Mutter wollte«, wundert sich Dilan. »Ich habe meine Ausbildung beendet und habe geheiratet. Aber da ich mir Stefan dafür ausgesucht habe, ist alles viel besser, viel freier und einfach viel glücklicher geworden.«
Das Paar auf dem Titelbild liebt sich seit 15 Jahren und hat zusammen zwei kleine Kinder. Die blonde Friesin trat zum Islam über. Sie: In meinem türkischen Mann fand ich die Orientierung, die ich in unserer Kultur vermisst habe. Er: Ich habe ihr stets die Wahl gelassen. Sie: Er war einfach überzeugend.
Wie ein Fels in der Brandung DEUTSCHE SCHIFFFAHRTSKAUFFRAU, 35 & TÜRKISCHSTÄMMIGER INGENIEUR, 36
Eine zartgliedrige Frau mit blonden Locken und strahlend blauen Augen öffnet die Tür. »Ömer bringt noch die Kinder ins Bett, wir gehen schon mal in die Küche«, begrüßt sie mich. Durch den langen Flur, dessen Wände raumhohe Bücherregale füllen, bringt sie mich in ihre offene Wohnküche. Neben der großzügigen Einbauküche steht der große Esstisch mit zahlreichen Stühlen. Tee und Gebäck stehen bereit. Ein Wanddurchbruch führt ohne Türen direkt ins nächste Zimmer. Im Gegensatz zur voll möblierten Wohnküche ist es fast leer. Nur eine Wand ist bereits in einem satten Weinrot gestrichen und der Kronleuchter hängt schon an der Decke. »Ja, unsere Wohnzimmereinrichtung fehlt noch«, Stella hat meinen Blick bemerkt. »Wir können uns halt noch nicht einigen«, lacht Ömer, der zur Tür hereingekommen ist. »Und das seit fast zwei Jahren…«, ergänzt Stella. Über solche Nebensächlichkeiten können sich die beiden nur amüsieren – nach fast 15 Jahren gemeinsamen Lebens. Denn in den
wichtigen Fragen stimmen sie schließlich hundertprozentig überein. 20 Jahre war die heute 35-jährige Stella alt, als sie den ein Jahr älteren Ömer auf dem Wirtschaftsgymnasium traf, wo sie beide das Abitur nachholen wollten. »Er fiel mir gleich auf, weil er bei Diskussionen die Sachen immer aus einer anderen Perspektive betrachtete. Das interessierte mich.« Doch Ömer wechselte schon nach wenigen Tagen die Klasse. »Ich wollte nicht der einzige Ausländer in der Klasse sein, damit hatte ich früher schon schlechte Erfahrungen gesammelt.« So musste Stella fortan die Pausen nutzen, um mit Ömer in Kontakt zu treten. »Sie war diejenige, die mich in den Pausen ärgerte. Sie tippte mir von hinten auf die Schulter und kickte mich in die Kniekehlen. So ein verrücktes Huhn«, meint er. Und muss doch zugeben: »Mir gefiel die freche, quicklebendige Blondine. Ihr Aussehen mag dabei auch eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben.« Doch wirklich näher kamen sie sich erst bei einer AntifaDemo. Von der Polizei fast ganz eingekesselt, griffen sie sich bei den Händen und suchten das Weite. Auf einer Parkbank ruhten sie sich von der überstandenen Gefahr aus und kamen ins Gespräch. Telefonnummern wurden ausgetauscht. »Willst du dir meine nicht aufschreiben«, wunderte sich Stella. »Nein, die kann ich mir merken«, versicherte er selbstbewusst. Zwei Tage ließ er sie schmoren; erst am dritten meldete er sich bei ihr. Der kräftige, dunkelhaarige Wirtschaftsingenieur mit der runden Brille hat einen genau abgezirkelten Bart, der um die Mundwinkel nur einen dünnen Strich zeichnet. Er hat klare Vorstellungen von seinem Leben. Genau das war es, was Stella gefiel. »Er war für mich wie ein Fels, sehr stabil und verlässlich. Er wusste genau, was er wollte, an ihm konnte ich mich orientieren.« Stella musste die meiste Zeit ihres Lebens
ohne einen Vater auskommen; vielleicht ist das der Grund, warum Ömer ihr so imponierte und sie so für sich einnahm. »Missverständnisse, nein, die gab es nicht bei uns«, ist Ömer sich sicher. »Ich habe immer ganz genau gesagt, wie ich was meine. Ich bin immer sehr offen und klar. Tu das, was du nicht lassen kannst, habe ich immer gesagt.« Stella nickt zustimmend. »Ich stellte sie stets vor die Wahl. Ich sagte ihr, was mir gut gefallen würde, und sie konnte entscheiden, ob sie mitmachen wollte oder nicht.« Stella fällt dazu ein Beispiel ein: »Du wolltest nicht so gerne, dass ich mich mit Männern allein verabredete. Du hast mir deine Ansicht erklärt, und sie hat mir eingeleuchtet.« »Ich habe einfach den Spieß umgedreht: Wie würdest du es finden, wenn ich mich mit anderen Frauen allein zum Frühstück verabrede?« Ömer ist für klare Verhältnisse. Ehrlichkeit ist für ihn das oberste Gebot. »Angeschwindelt haben wir uns nie. Uns etwas vorzumachen, das haben wir nicht nötig«, meint er ganz selbstsicher. Schließlich gab es die feste gemeinsame Basis. Ömer meint: »Ich habe mir immer eine Familie mit Kindern gewünscht. Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, kann ich noch so kaputt sein, auf meine Kinder und meine Frau freue ich mich immer. Das ist für mich Erholung.« Stella sieht das genauso. Sie arbeitet an drei Tagen als Sozialpädagogin. Ihre beiden Kinder, sieben und fünf Jahre, lohnen die Aufmerksamkeit, die sie fordern. »Ab einem gewissen Alter denke ich, muss man als Mann bereit sein, Verantwortung für Frau und Kinder zu übernehmen. Wenn man dazu nicht bereit ist, dann braucht man auch nicht Kinder in die Welt zu setzen und zu heiraten. Das ist schließlich keine Spielerei«, ist Ömer überzeugt. »Mit den Gefühlen einer Frau zu spielen ist nicht meine Art gewesen.« Stella fand seine klare Haltung sehr überzeugend: »Er hatte sich schon viel mehr Gedanken gemacht als ich. Er
hat mehr Richtlinien mitbekommen von seiner Familie, von seiner Kultur und von seiner Tradition. Ich war zu der Zeit noch am Schwimmen.« So ergaben sie eine gute Kombination. Die Kinder haben beide türkische Vornamen bekommen. »Mir war das nicht so wichtig, aber Stella wollte es unbedingt«, meint Ömer großzügig. »Sie sollten zu unserem gemeinsamen Nachnamen passen«, begründet seine Frau. Wenn Ömer nach Hause kommt, ist es sein Part, die Kinder ins Bett zu bringen. Er nutzt die Zeit, um ihnen Geschichten vorzulesen. Meistens sind es türkische Erzählungen. So wollte er sie auch an die türkische Sprache heranführen. Beim Sohn hat das mehr Früchte getragen als bei der Tochter. »Bei ihm war ich noch konsequenter, ich konnte mich ganz auf ihn einlassen. Als die Kleine dazukam, hatte ich zwei Bedürfnisse zu befriedigen. So flossen auch immer mehr deutsche Gutenachtgeschichten mit ein«, gibt Ömer zu. Doch bei beiden sei ein Grundstock gelegt, der ausbaufähig sei, glaubt er. Der gemischtsprachige Kindergarten und der Türkischunterricht in der Schule sollen ein Übriges tun. Stella liebt die Türkei. »Das Land riecht so gut. Und erst die türkische Küche. Ich liebe diese Gerichte.« Bei ihrer Schwiegermutter, die in der gleichen deutschen Stadt wie die junge Familie wohnt, hat sie das Kochen der türkischen Gerichte gelernt. »Das ist eine bemerkenswerte Frau«, findet Stella. »Sie ist ganz allein, ohne ihren Mann, nach Mekka gereist«, bewundert sie die Selbstständigkeit dieser türkischen Frau. Bereits ganz am Anfang ihrer Beziehung bekam sie einen Eindruck von der Großherzigkeit, die sie auch heute noch bewundert und die sie zum Teil beschämt. »Die Familie war in die Türkei gefahren um eine Hochzeit zu feiern. Da ich ganz in der Nähe ihrer nun leeren Wohnung einen Job angenommen
hatte, bot die Mutter mir an, in dieser Zeit dort zu schlafen. Als ich ankam, lag da sogar ein wenig Geld zum Einkaufen für mich auf dem Tisch. So eine Freigebigkeit kannte ich nicht. Bei uns zu Hause war immer alles sehr eng.« Dieser Eindruck bestätigte sich bei ihrem ersten gemeinsamen Türkeiaufenthalt. »Diese Gastfreundschaft ist überwältigend. Sie haben manchmal so wenig und schlachten noch das letzte Huhn für ihre Gäste.« Die deutsche Pfennigfuchserei können die beiden Partner dagegen gar nicht leiden. »Wenn wir mit Freunden weggehen, bezahlt immer nur einer. Nichts ist schrecklicher als das peinlich genaue Auseinanderrechnen am Schluss«, finden beide. Diesen lockeren Umgang schätzen sie in ihrem Freundeskreis, der sich sehr international zusammensetzt. »Wie kann man in Deutschland nur davon überzeugt sein, dass es hier keinen täglichen Rassismus gibt«, wundert sich die schlanke Frau. »Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, kann überall kleine Zurückweisungen beobachten.« Durch ihren Mann hat sie mittlerweile einen Blick dafür entwickelt. Der eloquente Ömer hat sich dazu seine Gedanken gemacht: »Das wird auch durch die Politik unterstützt. Wie können Politiker von den Einwanderern Integration fordern, wenn sie sie gleichzeitig immer noch als Gastarbeiter bezeichnen. Sie haben immer noch nicht akzeptiert, dass diese Menschen eingewandert sind und bleiben werden. Die junge Generation hat gar keine Wahl, sie ist hier geboren und kennt die Türkei gar nicht. Dennoch wird ihnen eine Heimat verweigert. Wenn sie sich hier wohlfühlen können, werden sie sich gerne in Deutschland einbringen und integrieren. Das haben andere Länder schon wesentlich besser verstanden. In England gehören zum Beispiel andere Kulturen in den Medien, in den Unternehmen und in der Politik zum normalen Bild. Da hat Deutschland noch einiges nachzuholen.«
Ömer weiß, wovon er redet. Er hat sich als einer der wenigen Türken eine feste, gut bezahlte Stelle im Management eines großen Unternehmens erobert. »Meine Kollegen sagen oft zu mir: ›Du bist gar kein richtiger Türke.‹ Dann sage ich zu ihnen: ›Für euch bin ich genau der richtige Türke.‹« Bei Sitzungen im internationalen Rahmen kommen die Vorteile seiner interkulturellen Erfahrung klar zum Vorschein. »Zu den Franzosen finde ich viel leichter einen Draht als meine deutschen Kollegen. Wir Türken sind viel geübter im leichten Smalltalk. Die Deutschen wollen dagegen immer gleich zum Inhaltlichen vorstoßen und vergessen, wie wichtig die Atmosphäre bei solchen Gesprächen ist. Da kann ich ihnen ein bisschen helfen«, freut sich Ömer. Für Stella ist die positive Reaktion auf ihren Mann ganz logisch: »Ömer hat immer gute Laune, er hat einfach eine positive Einstellung dem Leben gegenüber«, bestätigt sie. Doch auch in der eigenen Familie gab es Vorbehalte. »Für manche Verwandten wurdest du erst interessant, als die hörten, du willst einen Türken heiraten«, empört sich Ömer. »Plötzlich wollten sie sich um dich kümmern und dich vor deinem Unglück bewahren.« Zu einem Onkel von Stella haben sie den Kontakt abgebrochen, da er Ömer als Mann für seine Nichte nicht akzeptieren konnte. »Das war für mich eine schwierige Erfahrung, weil dieser Onkel früher für mich ein Ersatz für meinen ständig abwesenden Vater war. Es war für mich ein schwerer Gang zu akzeptieren, dass das gar nicht zusammenpasste«, gibt Stella zu. Ömers Vater musste ebenfalls erst überzeugt werden, dass die Ehe mit einer Deutschen gut gehen könne. Mit einem gut platzierten Hinweis auf die vielen gescheiterten türkisch-türkischen Beziehungen in seinem Bekanntenkreis brachte Ömer ihm seine Entscheidung für Stella bei. »Meine Eltern mussten das akzeptieren. Ich hatte mich entschieden.«
Ömer hat sich seit seiner Jugend mit dem Glauben beschäftigt. »Wer sich die Welt mit all ihren kleinen und großen Wundern ansieht, kann wohl kaum an einen Zufall glauben. Hinter all dem muss etwas Größeres stehen.« Ömer sieht es so: »Was habe ich zu verlieren, wenn ich an Gott glaube? Wenn ich Recht habe, ist es gut. Und wenn ich Unrecht hatte, habe ich durch meinen Glauben im Leben wenigstens einen Halt gehabt.« Stella konnte sich seiner Überzeugungskraft nicht entziehen; sie ist zum Islam konvertiert. »Ich bin nicht christlich erzogen worden. Ich wurde auch nicht getauft und konfirmiert. Das waren günstige Voraussetzungen«, erzählt sie lachend. Schweinefleisch wurde auch in ihrer Familie nicht gegessen, da ihre Schwester eine Nahrungsmittelallergie hatte. »Da trafen sich unsere Familiengewohnheiten. Ich brauchte mich nicht groß umzugewöhnen«, berichtet sie. Den Kindern zuliebe feiern die beiden heute auch Weihnachten und Ostern. »Ich habe sogar einen Baum gekauft und ihn in die Wohnung getragen, das muss man sich mal vorstellen. Was tut man nicht alles für seine Kinder«, wundert Ömer sich über sich selbst. »Wir sehen das als ein Zeichen der Gemütlichkeit. Außerdem duftet er gut«, tröstet Stella. Die islamischen Feste begeht die kleine Familie im Kreise der türkischen Verwandten. Unter ihnen gibt es viele praktizierende Muslime, bei denen die Kinder die islamischen Feiern miterleben können. »Das ist nicht inszeniert, sondern ganz natürlich«, freut sich Stella. »So erleben die Kinder beides.« Ihr Sohn wurde beschnitten. »So hat er später die freie Wahl«, erklärt Stella. »Wenn wir mal in der Türkei wohnen sollten, muss er sich dort nicht anders fühlen.« So gut, wie es den beiden dort gefällt, können sie sich das schon vorstellen. »Doch wegen der Kinder bleiben wir erst einmal hier. Das
wäre doch schon komisch! Deine Eltern sind ausgewandert, um ihren Kindern mehr Möglichkeiten in Deutschland zu bieten, und wir ziehen wieder in die Türkei zurück«, meint Stella. »Wer weiß, vielleicht sieht das in 15 oder 20 Jahren schon anders aus«, überlegt Ömer. Er selbst war mit neun Jahren nach Deutschland gekommen. Seine Eltern waren schon drei Jahre zuvor umgezogen, bevor sie die Kinder nachholten. Die beiden haben schon viel gemeinsam geschafft. »Da gab es auch harte Zeiten. Nach dem Abitur habe ich neben dem Studium immer gearbeitet. Alles was wir haben, haben wir allein finanziert«, erzählt Ömer stolz. »Wir hatten eben klar unsere gemeinsamen Ziele vor Augen: Wir wollten eine Familie zusammen aufbauen.« Stella erklärt: »Bis 30 wollte ich mein erstes Kind haben, da mussten wir uns ranhalten.« Stella erinnert sich an ihre Hochzeit. Sie lacht: »Unsere Hochzeitsbilder waren zum Schreien komisch: Auf der einen Seite lauter blonde, kleine Friesen und auf der anderen Seite lauter schwarzhaarige, kräftige Türken. Das war ein lustiger Anblick«, erzählt sie. »Da prallten schon Welten und Ansichten aufeinander.« Sie freut sich über die gelungene Mischung, die sie gemeinsam angerichtet haben. »Mit uns klappt es gut, nicht wahr?«, fragt Ömer seine Frau zum Schluss. Er ist sich ihrer Antwort sicher. Sie braucht ihm nur wortlos ihre Hände hinzustrecken. Mit zufriedener Miene nimmt er sie und drückt sie einmal kurz.
Ihre Aufgabenbereiche sind klar aufgeteilt. Nach seiner Doktorarbeit bekleidet er die gewünschte Position im gehobenen Management, und sie betreut den zweijährigen Sohn. Sie: Er hat nie versucht, über mich zu bestimmen. Er: Sie verbindet südländische Lebensart mit deutscher Zuverlässigkeit. Außerdem schätze ich wirklich sehr, dass sie so delikat kochen kann.
Ich würde wieder eine türkische Frau heiraten TÜRKISCHE BÜROKAUFFRAU, 32 & DEUTSCHER WIRTSCHAFTSINGENIEUR, 35
»Meine Eltern hätten es sehr gerne gesehen, wenn ich einen türkischen Ehemann gefunden hätte. Doch irgendwann hatte ich sie dann so weich gekocht, dass sie meinten, ich sollte jetzt endlich heiraten, sonst würde ich noch eine alte Jungfer werden. Zu diesem Zeitpunkt war es ihnen schon egal. Hauptsache ein Ehemann«, lacht Selvi. So durfte es auch ein Deutscher sein. »Ich war dein Retter«, scherzt ihr Mann Torben. »Meine Mutter hat ihn sofort als Schwiegersohn akzeptiert«, erklärt die junge Frau mit dem mädchenhaften Gesicht. »Mein Vater hätte zwar lieber einen Türken gehabt. Da er im Deutschen nicht sehr flüssig ist, findet zwischen ihnen nicht so ein Gespräch statt, wie er es sich gewünscht hätte. Er ist jemand, der gerne türkische Witze und Geschichten zum Besten gibt. Die kommen jetzt leider bei Torben nicht so zur Geltung.« Vor acht Jahren haben sich die beiden in ihrer Heimatstadt im Weserbergland kennen gelernt. Die Altbauwohnung, die sie
heute mit ihrem zweijährigen Sohn bewohnen, liegt in einem schicken Stadtteil. Nachdem ihnen beiden klar war, dass sie zusammenbleiben wollten, informierte sich Torben bei seiner zukünftigen Frau genau, wie ein Heiratsantrag bei ihren Eltern standesgemäß zu stellen wäre. So wurde erst ein Freund der Familie gebeten nachzufragen, ob ein Besuch zusammen mit Torbens Eltern möglich wäre. Diesem Ansinnen wurde zugestimmt. Bei diesem Anlass bat dann Torbens Mutter um Selvis Hand. Danach wurde heftig um den Brautpreis gefeilscht. »Mein Vater wollte alte, türkische Goldtaler haben, aber nicht für sich. Er wollte, dass ich eine Art Mitgift bekomme«, erzählt Selvi. »Das wurde wirklich cash über den Tisch geschoben. Eine fünfstellige Summe. Das gehörte dazu«, wirft Torben ein. »Das wurde natürlich hinterher wieder in das Familieneinkommen zurückgeführt…« »Ja, ja, mein Lieber«, neckt Selvi ihren Mann ein wenig vorwurfsvoll. »Nun, wir haben halbe, halbe gemacht. Für die eine Hälfte haben wir eine Küche gekauft. Die andere Hälfte hast du behalten«, verteidigt sich Torben. »Einen Fehler habe ich allerdings gemacht«, gibt der habilitierte Wirtschaftsingenieur heute zu. »Auf die Frage, wie wollen wir denn Hochzeit feiern, habe ich etwas blind und kopflos geantwortet: ›Wir wollen eine türkische Hochzeit feiern‹, denn ich fand deutsche Hochzeiten immer sehr langweilig und steif. So dachte ich, wir machen eine großartige, türkische Hochzeit.« »Bist du dir sicher?«, hatte Selvi ihn damals ungläubig gefragt. Heute sei ihm klar, warum. Bei einer türkischen Hochzeit handele es sich nicht um eine sondern um fünf Feiern, die organisiert, vorbereitet, durchgeführt und bezahlt werden müssen. Und bei allen seien 200 bis 450 Gäste anwesend gewesen. »Die Hälfte davon habe ich bei meiner Hochzeit zum ersten Mal gesehen und werde sie
höchstwahrscheinlich auch nicht wieder sehen«, meint Torben skeptisch. Auch die Gäste hatten ein paar Eingewöhnungsschwierigkeiten. »Den Türken war die Beleuchtung zu dunkel, den Deutschen zu hell. Den Türken war die Musik zu leise, den Deutschen zu laut«, benennt Torben die unterschiedlichen Erwartungen. »Die Türken wollen halt hauptsächlich feiern und tanzen. Den Deutschen sind das Essen und die Unterhaltung wichtiger«, erklärt Selvi. Doch noch heute werde Torben von seinen Freunden auf seine Hochzeit angesprochen: »Du, deine Hochzeit, die war schon cool…« »Zum Glück hat sich Selvi vor der Hochzeit nicht traditionell verhalten. Mir haben die türkischen Männer erzählt, dass die Frauen sich vor der Hochzeit zieren und anfangen zickig zu werden. Der Mann soll herausgefordert werden sich zu bemühen. Die Männer kennen das und spielen dieses Spiel mit. Wenn Selvi das gemacht hätte, dann hätte ich die Hochzeit wohl abgesagt. Ich war emotional, mental und psychisch nicht mehr in der Lage, irgendwelche Spielereien zwischen uns zu ertragen. Zum Glück haben wir uns in der Zeit gut verstanden und an einem Strang gezogen«, erinnert sich Torben. Selvi ist Alevitin, Torben evangelischer Christ. Für ihren Jungen haben sie sich vorgenommen, ihm beide Religionen vorzuleben und so näher zu bringen. »Aus Selvis Sicht ist es allerdings so: Jedes Kind wird erstmal als Moslem geboren. Erst wenn es getauft ist, wird es ein Christ«, erläutert Torben. »Ein Abtrünniger…«, wirft Selvi ein. Torben fährt fort: »Bis jetzt haben wir das Problem umschifft, indem wir gesagt haben, unser Sohn soll später selbst entscheiden, ob er getauft wird.« Selvi räumt ein: »Ich dachte eine Zeit lang darüber nach, ihn taufen zu lassen, weil er doch Deutscher ist. Er lebt in einer deutschen Umgebung und so liegt es nahe, dass er auch Christ
wird. Zum Islam hat er nur den Bezug über mich, über seine Großeltern und die paar Urlaube, die wir machen werden«, überlegt sie. »Aber auf der anderen Seite sehe ich auch, dass es hier keine gelebte Religion mehr gibt. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass man an irgendetwas glauben muss. Wenn man das nicht hat, dann fehlt einem was. Und das stelle ich bei ganz vielen Deutschen fest. Da schweifen so viele in Sekten, Alkohol oder Drogen ab«, findet sie. »Na gut, aber das könnte ich ihm ja auch vorleben«, wirft Torben ein. »Ich bin zwar keiner, der das nach außen trägt, aber ich habe schon einen festen Glauben.« Etwas nachdenklich geworden fügt er hinzu: »Das wird natürlich noch ziemlich spannend für uns beide, wo sich unser Sohn später so einordnen wird…« Über die Wahl der Familiensprache bzw. -sprachen waren sie sich schneller einig: »Ich spreche mit ihm in meiner Muttersprache«, erklärt Selvi. »Ich wollte, dass er Türkisch lernt, schon allein wegen der Verwandten in der Türkei. Ich selber bin mit drei Jahren nach Deutschland gekommen und kann mich nicht erinnern, dass ich Deutsch gelernt habe. Mit vier, fünf Jahren konnte ich es einfach. In dem Alter sollte man die Sprache gelernt haben, später ist es schwieriger. Im Türkischen gibt es dazu ein Sprichwort: Die Zunge dreht sich nicht mehr.« Untereinander sprechen die Ehepartner Deutsch. Doch da Torben Türkisch ganz gut versteht, kann er auch die Gespräche zwischen Selvi und dem Sohn mitverfolgen. Torben kann die Türkeiaufenthalte bei Selvis Familie in einem Dorf bei Izmir in vollen Zügen genießen, denn er lässt sich dort nach Herzenslust verwöhnen. »Das ist schon super. Ich fühle mich extrem wohl dort. Den türkischen Kulturkreis genieße ich sehr. Ich verstehe die Sprache nicht perfekt, daher achte ich auf ganz andere Dinge. Auf Gestik, auf Mimik.« Er lacht auf: »Manchmal reicht es bereits, wenn ich treudoof
gucke. Dann kommt die Tante und sagt: ›Selvi, er will Tee, mach Tee, sofort!‹ Und Selvi muss dann in die Küche dackeln und Tee machen. Und ich sitze da und freue mich…«, grinst er. Ihm fällt noch ein Beispiel ein: »Wir haben von den Verwandten jeder einen Olivenbaum in der Türkei geschenkt bekommen, damit wir auch einen Anker in diesem Land haben. Wir sollen den Kontakt zu ihnen halten, damit wir immer wieder kommen. Das finde ich sehr schön.« Torben ist der erklärte Liebling aller Frauen im Dorf, da er als einziger Mann seiner Frau beim Wickeln, beim Flaschemachen und bei der Betreuung des Kindes zur Hand geht. »Da sind alle neidisch auf mich«, erläutert Selvi. »Als Deutscher kann ich mir das erlauben. Als türkischer Mann wäre das nicht so gut angesehen«, überlegt Torben. »Ich wollte niemals einen Türken. Das hat mich nie gereizt. Für mich waren sie verwöhnte Paschas, die das, was sie von ihren Müttern kennen gelernt haben, von ihren Ehefrauen fortgesetzt haben möchten. Ich wollte die Zwänge, die ich in der Familie erlebt habe, auf keinen Fall fortsetzen. Kein türkischer Mann würde in der Art mit mir leben wollen wie Torben und mich so lassen, wie ich bin. Die sind alle Machos – so dachte ich jedenfalls damals«, erinnert sich Selvi. Heute sieht sie das etwas differenzierter: »Es gibt extreme Machos, gemäßigte und leichte Machos.« Im hinteren Teil der Wohnung ist etwas umgefallen. Man hört das Kind schreien. Selvi bleibt ruhig sitzen, obwohl die Rufe des Kleinen nach »Anne, Anne!« deutlich zu hören sind. Ohne ein Wort darüber verlieren zu müssen, steht Torben auf und schaut nach dem Jungen. »Ich habe jetzt Feierabend…«, erklärt sie. Die beiden haben ihre Aufgabenbereiche aufgeteilt. Als Torben wieder zurückkommt, erklärt er: »Wir sind
gleichberechtigt, das ist für mich normal. Aber ich spüre schon die Trennung der Geschlechter und die unterschiedlichen Aufgaben. Es ist so, dass ich nicht den Putzteufel spiele und groß koche, wenn ich nach Hause komme. Das ist eher Selvis Part. Ich bin derjenige, der das Geld verdient. Wenn sich das einmal ändern wird und Selvi mit verdient, habe ich gar nichts dagegen. Je mehr Geld wir haben umso besser«, meint er großzügig. Es sei für ihn selbstverständlich, sich für das Kind genauso verantwortlich zu fühlen wie seine Frau. Wann immer es geht, nimmt er ihr den Kleinen ab, damit sie Zeit für sich hat. In der Kleinkindphase, als das Durchschlafen noch schwierig war und Selvi unter ständigem Schlafentzug litt, stellte er seinen Wecker auf halb sechs, legte das Kind in den Buggy und joggte mit ihm anderthalb Stunden, um danach zur Arbeit zu gehen. So verschaffte er seiner Frau eine Zeit, in der sie ganz ungestört und tief schlafen konnte. »Selvi bereichert mein Leben«, ist das Resümee von Torben. Er schätzt an seiner Frau, dass sie mit ihrem Temperament und ihrer südländischen Lebensart sein Leben in Deutschland einfach verschönere. »Sie hat eine andere Wahrnehmung für bestimmte Dinge. Das finde ich sehr schön. Dazu gehören auch ganz banale Sachen wie den Haushalt organisieren oder Kochen. Ich meine damit nicht, irgendetwas warm machen sondern delikat kochen. Das ist sehr beeindruckend. Das geht nicht nur mechanisch, sondern hat viel mit Gefühl zu tun. Trotzdem ist sie sehr deutsch. Sie kann sehr häuslich sein und ist dabei nie langweilig. Da Selvi beide Kulturen in sich trägt, funktioniert das sehr gut in der deutschen Gesellschaft«, begründet er. Selvi wiederum schätzt ihr Plus an Freiraum und Unterstützung durch ihren deutschen Ehemann. »Wenn du von mir ein Schlusswort hören möchtest«, bietet Torben zum Ende des Gespräches an, »wäre es dieses: Ich würde immer wieder
eine türkische Frau heiraten.« Nach einem Blick auf seine Frau, die ihre Augenbrauen beim letzten Satz schon leicht in die Höhe gezogen hatte, ergänzt er schnell: »Und am liebsten Selvi.«
Mit 18 Jahren war sie, um ihre Verheiratung zu verhindern, unter Lebensgefahr untergetaucht. Sie: Heute bin ich die Einzige aus meiner Familie, die ein glückliches und geordnetes Leben führt.
Ein radikaler Bruch TÜRKISCHE KÜNSTLERIN, 44 & DEUTSCHER LEHRER, 50
Semas Vater hatte für seine Tochter einen Ehemann ausgesucht. »Verlob dich erst einmal mit ihm. Dann kannst du ihn ein wenig kennen lernen. Wenn er dir dann nicht gefällt, kannst du die Verlobung wieder auflösen«, versuchte der Vater das junge Mädchen zu überreden. Doch Sema wusste: »Das stimmte nicht, dann kann ich nicht mehr zurück.« Die junge Frau kannte ihre Familie ganz genau. Ihr Vater war mit seinen Kindern, als Sema noch im Kleinkindalter war, nach Deutschland gekommen. Die Mutter blieb in der Türkei. So bedeutete der Umzug für Sema auch den Verlust der Mutter. Ihr Vater sorgte ab diesem Zeitpunkt allein für seine drei Kinder. Immer wieder aber kamen Frauen ins Haus. »Doch Frederike, Helga und Gisela verschwanden leider immer wieder nach kurzer Zeit.« Sema fand die deutschen Frauen so sympathisch, dass sie sie gerne als Mutter behalten hätte, doch der Vater beendete die Beziehungen, sobald die Frauen an Heirat dachten. Eine deutsche Frau, nein, er glaubte nicht daran, dass eine solche Beziehung auf Dauer funktionieren würde. Dann kam nach Gisela eine türkische
Frau. Und diese blieb. »Doch ausgerechnet mit ihr verstand ich mich überhaupt nicht«, erinnert sich Sema. Mit 15 Jahren nahm ihr Vater sie aus der Schule. Seitdem arbeitete sie in der Produktion bei Siemens. Die Verheiratung, die ihr Vater nach weiteren zwei Jahren in die Wege geleitet hatte, machte ihr klar: Sie musste sich entscheiden; entweder wollte sie nach ihren eigenen Vorstellungen leben oder nach denen ihrer Familie. Sie wagte den folgenschweren Entschluss: Sie tauchte unter. Mit Hilfe einer Arbeitskollegin, schaffte sie kurz nach ihrem 18. Geburtstag den Ortswechsel. Monatelang hatten die beiden die Flucht sorgfältig geplant. Sie sollte bei der Schwester der Kollegin wohnen, die mehrere 100 Kilometer entfernt lebte. Alles war gut verlaufen. Niemand aus Semas Familie hatte bisher ihre Spur aufnehmen können. »Doch die Todesangst verließ mich nicht. Ich wurde schließlich durch meine Kollegin bestens auf dem Laufenden gehalten, welche Schritte meine Familie unternahm, um mir auf die Schliche zu kommen. Mir war klar, dass sie alles tun würden, um mich zu finden.« So nahm sie gerne das Angebot ihrer Gastgeberin an, sie in ihren Urlaub nach Spanien zu begleiten. »Ich bin danach für ein Jahr dort geblieben. Endlich konnte ich mich sicher fühlen.« Erst nach dieser Zeit wagte Sema es, wieder nach Deutschland zurückzukehren. »Ich jobbte als Putzfrau und ging gleichzeitig zur Erzieherfachschule, um meinen Realschulabschluss nachzuholen und eine Berufsausbildung zu machen.« Sema strahlt in der Erinnerung übers ganze Gesicht: »Da hatte ich meine wilde Zeit. Ich genoss es, frei zu sein und hatte viele Freunde.« Ihr war klar: »Nie würde ich meine Unabhängigkeit wieder aufgeben. Heiraten wollte ich nicht und Kinder kriegen auch nicht.« Ihr Frauenarzt hatte ihr ohnehin mitgeteilt, dass sie keine Kinder bekommen konnte. Sie erkannte klar den Vorteil darin: Keine Abhängigkeiten! Sie
hatte viele Freundinnen aus der Lesbenszene, obwohl sie selbst nicht dazugehörte. »Die hatten viel mit mir vor. Sie dachten, ich könnte noch mein Abitur machen und studieren. Aber ich hatte immer Zweifel daran, ob das zu mir passen würde.« Sema sah sich nicht als Intellektuelle. Mit 22 Jahren traf sie dann in einer WG, in der eine Freundin von ihr lebte, auf den frisch gebackenen Lehrer Jürgen. Sie dachte zunächst an eine Beziehung von vielen. Auf Dauer war nichts in ihrem Privatleben angelegt. Sie wollte schließlich ihre gerade gewonnene Freiheit ausschöpfen. »Da herrschte das Lustprinzip vor.« Jürgen, der bis hierhin seiner Frau das Erzählen überlassen hat, wirft mit einem angedeuteten, fast zufriedenen Lächeln ein: »Doch dann hat sich unsere Beziehung naturgegeben anders entwickelt.« Sema nickt. »Ich wurde schwanger, trotz der Aussage des Arztes.« Und sie fährt mit einem Augenzwinkern fort: »Was für mich aber nicht bedeutete, dass die Beziehung zu Jürgen festgezurrt werden musste. Ich konnte das Kind kriegen, weiter zur Schule gehen und Jürgen konnte uns ab und zu besuchen«, war ihre damalige Vorstellung. Der linksliberale Jürgen aus der WG war da aber ganz anderer Auffassung: »Ich wollte kein Vater werden, ohne an der Erziehung beteiligt zu werden.« So machte er Sema einen Heiratsantrag. »Was meinen WG-Genossen einen tiefen Schock versetzte«, freut er sich noch heute diebisch. »Kinder kriegen mochte noch angehen, aber Heiraten war damals tabu.« Es freute ihn, mit einem Verhalten, das bis vor kurzem noch konventionell war, jetzt provozieren zu können. Doch Sema war von seinem Ansinnen keineswegs angetan. »Drei Tage habe ich geheult«, bekennt sie. Sollte sie eine Entscheidung treffen, die ihr womöglich neue Fesseln anlegte? Genoss sie nicht gerade ihr selbstständiges Leben mit den vielen unverbindlichen Freundschaften? Doch nach diesen drei Tagen des Insichgehens wusste sie es: Sie wollte den Schritt
wagen, der im Gegensatz zu dem ersten Antrag ganz allein ihre eigene Entscheidung war. »Das war ein schwerer Prozess, aber am Ende wusste ich, was ich wollte, und freute mich auf unsere Heirat.« Sie grinst: »Außerdem hatte ich einen Wunsch frei, nachdem ich endlich ja gesagt hatte.« Jürgen erklärt: »Ich musste mir also meinen Bart abnehmen.« »Ich wollte schließlich mal sehen, mit wem ich mich gerade verlobt hatte.« Jürgens Mutter, die ihn ohne den früh verstorbenen Vater allein großzog, war von der Braut Sema gleich angetan. »Das war bei ihren Vorgängerinnen ganz anders«, meint Jürgen. »Wir haben uns bis zu ihrem Tod letzten Sommer im Alter von 91 Jahren sehr gut verstanden«, bestätigt Sema. »Meine Frau hat mir immer mal wieder vorgeworfen, dass ich so wenig Kontakt zu meiner Mutter hatte«, meint Jürgen nachdenklich. Er hat eine Erklärung gefunden: »Ich musste mich im Gegensatz zu ihr von meiner Mutter, die zu ihrem Sohn als allein erziehende Frau natürlich eine besonders enge Beziehung und an ihn viele Erwartungen hatte, erst einmal lösen.« Sema dagegen genoss es, wieder eine Mutter zu haben. »Ich hatte schließlich keine schlechten Erfahrungen mit einer überbehütenden Mutter gemacht.« Ganz im Gegenteil: So konnte sie sich unbefangen über die neuen Familienbande freuen. Man fand eine Wohnung, die Platz für die eigene Kleinfamilie bot. »Sie lag in Sichtweite zu meiner alten Wohnung«, freut sich Sema, die ihre nette Hausgemeinschaft nur ungern aufgegeben hätte. In der noch leeren Wohnung feierten sie ihre Hochzeit. Ihre Hochzeitsreise nach Spanien hatten sie vorgezogen; sie wussten, dass die Zeit nachher knapp werden würde: Der Geburtstermin des Kindes war drei Wochen nach der Hochzeit. Sema brach ihre Erzieherschule
ab; sie wollte sich erst einmal auf ihre neuen Aufgaben konzentrieren. Sie brachte einen Sohn zur Welt. »Jürgen machte sein Versprechen wahr und kümmerte sich zu gleichen Anteilen mit um die Erziehung.« Nach zwei Jahren musste er sogar für ein Jahr fast die ganze Erziehungsarbeit leisten. Sema bekam ihr zweites Kind, doch es war schwer krank. Es litt an Niereninsuffizienz. Sie verbrachte fast die ganze Zeit mit ihrem kleinen Sohn im Krankenhaus. Sema stehen bei dieser Erinnerung die Tränen in den Augen. »Nach einem Jahr haben wir ihn verloren.« In solchen Momenten vermisst sie den Rückhalt einer großen Familie besonders. »Sie können einem solche Schicksalsschläge ertragen helfen«, meint auch Jürgen. Nach weiteren zwei Jahren wurde Sema erneut schwanger: Das Mädchen, das sie zur Welt brachte, sei gesund, bescheinigte man ihr. Doch nach einem halben Jahr stellte sich heraus, dass auch sie an der Krankheit ihres verstorbenen Bruders leidet. »Doch sie ist stärker. Heute ist sie ein kesses, 17-jähriges Mädchen.« Wenig später klingelt es und ein schlankes Mädchen mit braunen Locken kommt zur offenen Küche herein. Sie begrüßt zuerst den Kater und dann mit einer langen Umarmung ihre Mutter und ihren Vater. Die Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrer mädchenhaften Mutter ist unverkennbar. Der Sohn kommt die Treppe herunter: »Ich geh dann mal zu meinem Freund.« Der 21-Jährige mit dem lockigen, schwarzen Haarschopf klemmt sich die Spielesammlung aus dem Wohnzimmerregal und eine Tüte Kekse unter den Arm und verabschiedet sich. Die Tochter geht mit einem fröhlichen »Salut« nach oben in ihr Zimmer. Inzwischen ist die Familie in ein Endreihenhaus in einer schön gelegenen Wohngegend gezogen. Sie haben es ganz nach ihren Vorstellungen umgebaut. »Wenn Sie auf ein Haus stoßen, das wie eine kleine Schwimmhalle aussieht, dann sind
Sie richtig«, hatte Sema den Weg beschrieben. Die gutbürgerlichen Nachbarn waren zunächst nicht ganz einverstanden mit ihren unkonventionellen Umbauplänen, die das Backsteinhaus um einen Anbau mit viel Glas und einem schrägen Balkonaufsatz erweitern sollten. In diesem kreativ gestalteten, hellen Vorbau steht der großzügige Holztisch mit den vielen Stühlen, an dem wir Platz genommen haben. »Apropos Ablösungsprozesse«, meint Sema ganz unschuldig lächelnd, »unser Sohn sieht keinerlei Grund für einen solchen. Ich stände dem aber sehr positiv gegenüber, schließlich sollen unsere Kinder auch irgendwann ihr Leben selbstständig meistern können.« Ihre Handbewegungen sind dabei unmissverständlich: Mit einer wedelnden Geste macht sie die Entwicklungsrichtung für ihren Sohn klar. Offensichtlich gefällt es ihm aber im Haus seiner Eltern so gut, dass er keinen Grund für eine baldige Umorientierung sieht. »Da gab es auch Unterschiede in unseren Erziehungsvorstellungen«, erinnert sich Sema. »Ich habe den Kindern immer mehr Freiheiten gegeben, Jürgen plädierte dagegen für engere Grenzen.« Sie erzählt von einem Beispiel: »Ich habe unserem Sohn schon früh erlaubt, abends länger wegzugehen. Da ich auch ein Nachtmensch bin, hatte ich vollstes Verständnis dafür, dass er erst um drei, vier Uhr morgens nach Hause kam. Das bedeutete dann natürlich auch, dass er am nächsten Tag etwas länger schlafen musste.« Da fiel das gemeinsame Frühstück oder auch Mittagessen, das Jürgen sich am Wochenende mit seiner Familie gewünscht hätte, oft aus. »Wenn er dann um eins immer noch nicht aus seinem Zimmer gekommen war, fand ich das schon etwas merkwürdig«, bemerkt Jürgen. Nachdem der Sohn geboren worden war, kam eine Tante von Sema aus München, um die neue deutsch-türkische Familie in Augenschein zu nehmen. Sema hatte sie unter großen
Vorsichtsmaßnahmen von ihrem Verbleib in Kenntnis gesetzt. Unter ihrer Mitwirkung wurde ein Treffen mit dem Vater auf neutralem Boden, in ihrer Münchner Wohnung, vereinbart. »Solange Jürgen und mein Sohn noch dabei waren, lief alles in nettem, höflichem Ton ab. Doch als wir abends allein zusammensaßen, wurde Tacheles geredet. Mein Vater schlug einen harten, aggressiven Ton an und machte mir große Vorwürfe. Er nahm ein herumliegendes Werkzeug zur Hand und meinte, er hätte es mir in den Bauch gerammt, wenn es den kleinen Jungen nicht geben würde.« Sema erinnert sich mit Bangen an die brenzlige Situation. Doch der Vater beruhigte sich wieder. Sie wusste nun: »Ich hatte es geschafft, aus dem Einflussbereich meines Vaters zu gelangen. Er konnte mir nichts mehr tun. Ich fuhr mit meinem Mann und Sohn wieder unbehelligt zurück in unsere Wohnung.« Vor elf Jahren hat sie ihren Vater, der inzwischen in die Türkei zurückgekehrt ist, in Istanbul besucht. »Dort hatten wir nach so langer Zeit endlich Gelegenheit, wirklich miteinander zu sprechen.« Ihr Vater ist inzwischen ein alter Mann geworden, der auch in der Türkei nicht alles so vorfand, wie er sich es gewünscht und erträumt hatte. Er konnte mittlerweile auch Fehler zugeben. »Er erklärte, warum er meine Mutter in der Türkei zurückgelassen hatte. Ich konnte endlich verstehen, was in dem einsamen, entwurzelten Mann vorgegangen sein musste, als er sich so vehement für die Einhaltung der Tradition bei der Erziehung seiner Kinder einsetzte.« Sema kann aus dem zeitlichen Abstand mit Milde auf die harten Entscheidungen ihres Vaters blicken. Nach der Geburt der Tochter wollte Sema etwas Neues beginnen. »Ich spürte plötzlich, dass ich malen wollte.« Sema ging in das Atelier, in dem ihr Mann schon immer gerne zeichnete, und begann, großformatige Ölgemälde auf die Leinwand zu werfen. »Für mich ist das eine sinnliche
Angelegenheit, ich brauche die Inspiration der Farben und ihrer Gerüche.« Viele Ausstellungen liegen nun schon hinter ihr. Ihre Bilder rufen Reaktionen hervor. Entweder berühren die abstrakten Gemälde die Betrachter sofort oder sie haben Schwierigkeiten, sie zu verstehen. »Wenn man in die Öffentlichkeit geht, muss man die Reaktionen der Umwelt aushalten können«, gibt Sema zu. Die zarte Frau hat gelernt, mit ihnen umzugehen. Aus der Produktionshelferin Sema war nun eine Künstlerin geworden. Doch während ihre Umgebung ihre großen Talente lobte, blieb sie immer bescheiden. »Mein Hauptberuf war immer Mutter«, betont sie. Ihre Freunde sahen stets mehr in ihr. So kam es, dass einige von ihnen sie ermunterten, eine Ausbildung zur Familientherapeutin zu machen. »Ich war total erstaunt und sogar entsetzt, denn ich mochte mir eine solche Ausbildung nicht zutrauen«, meint Sema, die bei sich zwar praktische Pluspunkte aber theoretische Defizite vermutete. Doch sie wagte den Schritt und stieg mit Ärzten und Psychologen in den Kurs ein, der als berufsbegleitende Zusatzausbildung konzipiert war. »Am Anfang verstand ich zwar vieles noch nicht, aber bald wurde mir klar, dass auch ich etwas einzubringen hatte, was die anderen so nicht konnten.« Nach erfolgreichem Abschluss stand sie dennoch vor verschlossenen Türen, wenn es um eine Arbeitsstelle ging. »Mir fehlte immer noch der entscheidende Schein.« Sie brauchte den Abschluss der vor Jahren abgebrochenen Erzieherschule, um die Ausbildung als Therapeutin anerkennen zu lassen. Ihre Lebenserfahrung zählte für eine Einstellung in Deutschland nicht. So biss sie in den sauren Apfel und holte die fehlenden Jahre der Erzieherschule nach. »Da saß ich nun mit meinen über 40 Jahren neben den 17- bis 18-Jährigen. Eine interessante Erfahrung!« Nachdem auch diese Hürde genommen war, arbeitet Sema heute stundenweise
in der Betreuung von Migrantenfamilien und kann endlich ihre interkulturellen Kenntnisse auch beruflich einbringen. Sema ist Alevitin. Das hindert sie aber nicht daran, seit sieben Jahren im Kirchenchor der evangelischen Gemeinde ihres Wohngebietes zu singen. »Sehr nette Leute, alle aus der Generation der Altachtundsechziger«, sagt sie. Eine Freundin hatte sie eingeladen. Zunächst hatte sie entsetzt abgewehrt. »Einmal war ich vorher schon in einer Kirche gewesen und gleich wieder umgedreht. So kalt und spröde erschien es mir dort, dass ich mich spontan unwohl fühlte.« Doch ganz anders in ihrer Chorgemeinde. »Eine warme, herzliche Atmosphäre.« Seitdem singt Sema mit Leidenschaft und Begeisterung christliche Kirchenlieder. »Ich glaube an ein höheres Wesen. Mit welcher religiösen Ausrichtung ist mir dabei unwichtig.« Ihre beiden Kinder wurden nicht getauft. Der Sohn holte es allerdings auf eigenen Wunsch nach, damit ihm die Konfirmation ermöglicht wurde. »Alle seine Klassenkameraden gingen zum Konfirmandenunterricht, da wollte er auch«, erklärt seine Mutter. Sema hatte einen radikalen Bruch gewagt. Sie wollte ein selbstbestimmtes Leben führen. Mit ihrem Mann hat sie ihr Leben genau so eingerichtet, wie es für sie beide passt. Dabei emanzipierten sich beide von den jeweils in ihrem Umfeld herrschenden Vorstellungen; Sema von denen ihrer Familie und Jürgen von denen seiner lockeren WG. Während Sema ein Mehr an Freiheit suchte, wünschte sich Jürgen ein Mehr an Verbindlichkeit. Sie trafen sich in der Mitte. Heute kann selbst Semas Vater anerkennen. »Als einziges meiner Kinder führst du ein glückliches und erfolgreiches Leben«, musste auch er seiner Tochter kürzlich selbstkritisch eingestehen.
Sie wuchs als Einzelkind in einem wohlbehüteten Elternhaus auf. Trotz der strikten Ablehnung ihrer Eltern heiratete sie einen Deutschen. Das schlechte Gewissen war jahrelang ihr ständiger Begleiter. Erst nach der Geburt ihrer Tochter hat sich das Verhältnis zu ihren Eltern verbessert. Sie: Manchmal war ich kurz davor, mit dem Auto gegen eine Mauer zu fahren.
Niemanden enttäuschen DEUTSCHER PROKURIST, 45 & TÜRKISCHE FREMDSPRACHENKORRESPONDENTIN, 44
»Ich war die Vorreiterin für viele Frauen in meinem Bekanntenkreis«, meint Semra. Mit sanfter Stimme spricht sie, sorgsam formuliert sie ihre Sätze. Ihr Mann hat ihr gegenüber in der Sitzecke Platz genommen. Immer wieder streicht er, wenn er wie jetzt nachdenklich wird, über seine raspelkurzen Haare. »Ja, ich glaube, wir haben eine interessante Geschichte zu erzählen«, stimmt er seiner Frau zu. Semras Eltern waren schon Ende der fünfziger Jahre nach Deutschland gekommen. Doch sie wollten hier kein schnelles Geld verdienen; das hätten sie mit ihrer guten Vorbildung auch in der Türkei erreichen können. Der Vater hatte bereits studiert und die Mutter Abitur. Nein, der Vater wollte zu weiteren Studien für ein paar Jahre nach Deutschland. Auslandserfahrungen galten damals schon als Zeichen der Qualifizierung. Kurz nach seiner Heirat entschloss sich das junge Ehepaar, dafür gemeinsam ins hoch angesehene Deutschland zu gehen. Um sein Studium zu finanzieren, eröffnete der Vater ein Übersetzungsbüro und die Mutter
bekam eine Stelle im türkischen Konsulat – kein Problem mit der Hilfe ihrer einflussreichen Istanbuler Familie. Der Vater verdiente mit seinem Büro bald so gut, dass er auf sein Studium verzichtete. Dann wurde ihre Tochter Semra geboren. Die Eltern entschlossen sich, doch länger als geplant in Deutschland zu bleiben, denn die Situation in der Türkei hatte sich inzwischen verschlechtert. Also kam Semra in den Kindergarten und danach in die Schule. »Meine Eltern haben mir eigentlich alle Freiheiten gelassen«, meint sie rückblickend. Sie durfte ausgehen, sie durfte Sport treiben, sie durfte sich amüsieren. Doch das änderte sich, als ihre Eltern mitbekamen, dass sie sich anscheinend mit einem speziellen Jungen etwas öfter traf. »Plötzlich verschlechterte sich die Stimmung zu Hause. Ich durfte nur noch zu bestimmten Zeiten weg. Nur noch einen Abend in der Woche durfte ich ausgehen und auch nicht mehr so lange wie die anderen«, erklärt Semra. Schon mit 17 hatte sie Manfred kennen gelernt, und sie hatten sich ineinander verliebt. Für Semra wurde das Leben zu einer sehr komplizierten Angelegenheit: »Ich lebte zwei Leben. Wenn ich zur Haustür hereinkam, wurde ich zur braven Tochter, die genau aufpassen muss, was sie sagt. Sie darf sich auf keinen Fall verplappern. Ich lebte mit ständigen Lügen. Kaum war ich draußen, wurde ich zu einem aufgeschlossenen Mädchen, das sich ganz wie alle anderen verhielt.« Manfred meint: »Während ich meinen Eltern Semra gleich vorgestellt habe und sie spontan von ihr angetan waren, konnte sie mich nicht mit nach Hause nehmen.« Fünf Jahre währte ihre heimliche Beziehung. »Mit einer Unterbrechung«, gibt Semra zu. Ihre Eltern hatten sich eine interessante Strategie ausgedacht, um ihre Tochter auf neue Gedanken zu bringen. »Sie schlugen mir ein Auslandsjahr vor. Nach meinem Abitur sollte ich für ein Jahr
nach England gehen. Tolle Idee, dachte ich. So liberale Eltern habe ich also«, bekam sie wieder einmal bestätigt. Und die Strategie zeigte Wirkung. Als sie wiederkam, trennte sie sich voller neuer Eindrücke von Manfred. »Das war zum ersten Mal eine völlig stressfreie Zeit mit meinen Eltern. Wunderbar war die total gelöste Stimmung zu Hause. Keine Ermahnungen, keine Vorwürfe und kein Lügen, keine Heimlichkeiten mehr. Herrlich war das.« Doch sie vermisste Manfred schrecklich. Er versuchte immer wieder, Kontakt zu ihr aufzunehmen, und sie merkte, dass ihre Zuneigung nicht geringer geworden war. »So kamen wir nach ein paar Monaten doch wieder zusammen, aber ich deutete bei meinen Eltern nichts davon an. Ich wollte keinen neuen Stress«, erinnert sich Semra. Doch Manfred wollte wissen, woran er mit seiner Freundin war. »Würden wir zusammenbleiben oder würde sie sich wieder von mir trennen, wenn ihre Eltern dahinter kamen? Ich wollte von ihr eine klare Entscheidung für oder gegen unsere Beziehung«, bestätigt Manfred. Semra gab ihm grünes Licht für eine gemeinsame Zukunft, die sie sich nicht mehr ohne Manfred vorstellen konnte. Er hielt nach einer Wohnung Ausschau, die ausreichend Platz für sie beide bot. Er fand sie und unterschrieb den Mietvertrag. »Da fuhren wir abends in die Wohnung und renovierten sie gemeinsam. Dann fuhr ich wieder nach Hause, als wenn ich von einer Freundin käme, und meine Eltern ahnten gar nichts von alledem. Sie wussten nicht einmal, dass ich wieder mit Manfred zusammen war.« Semra erinnert sich mit Schrecken an diese Zeit. »Das war furchtbar. Ich war nur auf der Hut. Ich durfte mich nie natürlich verhalten. Immer musste ich lügen.« Das fiel ihr besonders schwer, weil sie ihre Eltern doch liebte. Sie hatten ihr nur Gutes getan, und sie war ihnen eigentlich zu Dank verpflichtet. Stattdessen hinterging sie sie.
»Mein Vater hatte die Angewohnheit, immer auf mich zu warten, wenn ich aus war. Ich hatte immer eine genaue Uhrzeit mitbekommen. Zu der stand er dann schon auf unserem Balkon und erwartete mich.« Auch bei Wind und Wetter stand er dort und hielt nach ihr Ausschau. »Egal wie spät es war, wir setzen uns dann zusammen in die Küche, kochten etwas Schönes zusammen und aßen gemeinsam. Dabei redeten wir über alles Mögliche.« Sie redeten über alles, nur nicht darüber, wo Semra gerade gewesen war und mit wem sie sich getroffen hatte. Das war tabu. »Ich freute mich, einmal nicht lügen zu müssen.« Doch Semra hielt die Situation nicht mehr aus. »Oft habe ich auf dem Heimweg aus unserer Wohnung gedacht, am besten fährst du jetzt einfach mit dem Auto gegen die nächste Wand und alles ist erledigt.« Sie befand sich in einer Zwickmühle. Weder ihre Eltern noch ihren Freund konnte und wollte sie enttäuschen. Beide liebten sie und hatten schon so viel für sie getan. Doch beiden gleichzeitig konnte sie es nicht recht machen. Manfred meint: »Ich dachte oft: Warum kann sie ihren Eltern nicht endlich reinen Wein einschenken? Irgendwann mussten sie es doch erfahren!« Doch Semra konnte es nicht. Sie wagte zu Hause keine offene Diskussion und verschwieg ihren Eltern ihre wahren Beweggründe, Wünsche und Vorstellungen. Sie erzählte nur das, was ihren Eltern auch genehm war. Manfred fragte sich immer wieder: »Wie hatten sich ihre Eltern das eigentlich gedacht? Sie leben hier in Deutschland, bringen hier ein Kind zur Welt, lassen es hier zur Schule gehen, hier Freunde haben und erwarten dann, dass es einfach mit in die Türkei zurückgeht? War das nicht blauäugig?« Doch Semra hatte nie woanders gelebt als in Deutschland. In einem fast komplett deutschen Umfeld. »Das hatte einen einfachen Grund«, erzählt Semra, »in meiner Kindheit und Jugend gab es noch sehr wenig andere türkische Kinder in
Deutschland. Auf der Schule war ich stets das einzige. So hatte ich nur deutsche Freunde.« »War es da nicht nur natürlich, dass sie einen deutschen Mann kennen lernte?«, fragt Manfred. Semra erzählt weiter: »Eines Abends fasste ich auf dem Nachhauseweg aus der neuen Wohnung den Entschluss: Jetzt erzählst du es deinen Eltern. Woher ich den Mut dazu fand, weiß ich bis heute nicht.« Vielleicht war es der Mut der Verzweiflung. Schlimmer als ihre jetzige Situation konnte es kaum noch werden. Die Lügen mussten ein Ende haben. »Ich ging zu meinen Eltern ins Wohnzimmer, wo beide zusammen in der Sitzecke vor dem Fernseher saßen. Ich setzte mich zu ihnen und sagte schlicht: ›Ich werde heiraten, einen Deutschen.‹« Als erstes meinte die Mutter zum Vater: »Ich glaube, du machst besser den Fernseher aus.« Dann folgten Fragen über Fragen. Die Mutter wollte erst die sachlichen Umstände geklärt wissen. Wann sollte die Hochzeit sein, welchen Beruf hat er, wie lange geht das schon, wo wollt ihr heiraten, und so weiter. Die meisten Fragen konnte Semra gar nicht beantworten, sie waren noch nicht geklärt. »Dann versuchte meine Mutter, mir ins Gewissen zu reden und mich umzustimmen, zunächst noch auf eine verständnisvolle, ruhige Art. Als ich darauf nicht reagierte, schlug die Stimmung um. Sie fing an zu schreien und zu schimpfen. Mein Vater hörte die meiste Zeit zu und streute nur ab und zu ein paar Bemerkungen ein.« Als sie merkten, dass ihre Tochter auch darauf nicht reagierte, schickten sie sie auf ihr Zimmer. Semra ging aus dem Wohnzimmer: »Ich hoffte die ganze Zeit, dass meine Mutter den Satz sagen würde: ›Geh weg, ich will dich nicht mehr sehen. Verschwinde aus unserer Wohnung.‹« Kurze Zeit später kam die Mutter in Semras Zimmer und redete weiter auf ihre Tochter ein. »Ich schaltete auf stur. Sie
merkte, dass sie nicht weiter kam und sagte den ersehnten Satz. Sie warf mich aus der Wohnung.« Semra steckte ein paar Sachen in ihre Tasche und ging zur Wohnungstür. »Ich weiß noch, dass mein Vater hinter mir herkam und mich fragte, wo ich denn jetzt um diese Zeit noch hinwolle. Ich antwortete, zu einer Freundin. Da sie auch mit meinen Eltern befreundet war, beruhigte das meinen Vater.« Doch bevor sie ihre Worte in die Tat umsetzte, musste sie zunächst zu Manfred. »Als ich die Treppen zu der Wohnung hochging, dachte ich die ganze Zeit: Hoffentlich sagt er jetzt nichts Verkehrtes!« Als Manfred die Tür öffnete, konnte Semra nicht sprechen. Sie weinte nur und blickte ihn tränenüberströmt an. »Du hast es ihnen gesagt«, wusste Manfred sofort. Er verstand sie auch ohne Worte, stellte Semra erleichtert fest. Sie brauchte ihm nichts zu erklären. Im Gegenteil, Manfred verstand, was Semra für ihn geleistet hatte. Sie, die den Frieden mit ihren Mitmenschen so sehr schätzte, war in offene Konfrontation mit ihren Eltern getreten. Jetzt war kein Rückzug mehr möglich. Nachdem Semra sich etwas beruhigt hatte, wollte sie zur Freundin fahren. »In dem Punkt wollte ich wenigstens die Wahrheit gesagt haben. Ich wollte nicht bei Manfred übernachten.« Dabei blieb es. Erst in ihrer Hochzeitsnacht schlief sie das erste Mal in der gemeinsamen Wohnung. Eine Woche lang blieb sie bei der Freundin. Von ihr erfuhr sie auch, dass ihre Mutter in dieser Nacht noch mit einem Nervenzusammenbruch ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Semra blieb bei ihrem Entschluss. Ihre Mutter verstand, dass sie den Tatsachen ins Auge blicken musste. Nach einer Woche durfte Semra sie wieder besuchen. »Nun hatte meine Mutter die Strategie gewechselt. Jetzt sollte die Hochzeit schnell in die Wege geleitet werden, damit alle anderen sehen konnten, dass alles den gewünschten Gang
nahm. Keiner sollte denken können, dass diese Entwicklung ohne die Einwilligung meiner Eltern stattgefunden hatte.« So fing die Mutter mit den Hochzeitsvorbereitungen an. Sie ließ Karten drucken, sie bestellte ein Restaurant in einer noblen Gegend, sie ging mit Semra das Hochzeitskleid und den Schmuck einkaufen. Außerdem erwies es sich als praktisch, dass sie sich als Konsulatsmitarbeiterin direkt an der Quelle für die nötigen Dokumente befand. »Was an Papieren sonst manchmal einige Monate bis zu einem Jahr brauchte, war nun innerhalb weniger Tage in Deutschland.« So ging alles sehr schnell. Schon kurze Zeit später war die Hochzeit. »Ich erinnere mich noch, dass ich mich nach unserem Empfang in dem Restaurant von meinen Eltern verabschiedete und dann mit Manfred zusammen zu unserem Wagen lief. Ich rannte tatsächlich. Ich wollte nur schnell weg. Ich weiß noch, dass Manfred zu mir sagte: ›Wink doch noch mal!‹ Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Ich war so froh, das alles hinter mir zu lassen.« Doch ganz frei konnte sich Semra in der ersten Zeit noch nicht fühlen. Zu sehr hatten sie die letzten Jahre geprägt. Das wurde ihr klar. »Immer wieder wachte ich nachts schweißgebadet mit dem Gedanken auf: Du darfst hier in dieser Wohnung mit diesem Mann nicht in einem Bett liegen.« Dann musste Semra aufstehen und ins Wohnzimmer gehen und ihre Hochzeitsurkunde herausholen. »Schwarz auf weiß musste ich es sehen, dass es ganz legal war, dass ich hier bin, bis ich es wirklich glauben konnte. Ich durfte hier bei Manfred sein. Es war alles ganz in Ordnung. Wir waren tatsächlich verheiratet.« Manfreds Eltern hatten immer wieder gefragt: »Was können wir machen, um euch in dieser Situation zu helfen? Wie verhalten wir uns Semras Eltern gegenüber am besten?«
»Sie haben uns immer geholfen, wo sie nur konnten«, bestätigt Semra. Ihre Mutter allerdings konnte auch nach der Hochzeit kein herzliches Verhältnis zu ihrem Schwiegersohn aufbauen. »Wenn wir sie besuchten, redete sie nicht mit ihm. Obwohl beide perfekt Deutsch sprechen können, sprach sie fast immer Türkisch und schloss Manfred so aus dem Gespräch aus. Nur der Vater richtete ab und zu ein Wort an meinen Mann«, erzählt Semra. »Doch Manfred ist immer wieder zu meinen Eltern mitgekommen«, bewundert Semra. »Selbstverständlich«, meint er dazu schlicht, »wir gehören schließlich zusammen, also gehen wir sie zusammen besuchen«, war für ihn immer klar. »Meine Mutter hat ihre ganz eigenen Tricks, um meine Loyalität ihr gegenüber immer wieder zu prüfen. So rief sie abends um halb acht bei uns an um zu sagen: ›Ich habe für euch gekocht. Schick Manfred mal kurz los, um das Essen abzuholen.‹ Dann musste ich ihr sagen: ›Manfred hat sich gerade seine Freizeitsachen angezogen, nachdem er müde von der Arbeit gekommen ist. Er kann jetzt nicht noch einmal losfahren.‹ Ich versprach ihr, morgen selbst vorbeizukommen und das Essen abzuholen. Damit hatte ich ihr gezeigt, dass das Wohlergehen meines Mannes mir wichtiger war als ihres. Meine Mutter legte dann ohne ein weiteres Wort auf. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben, und ich war wieder einmal so undankbar gewesen.« Semra versteht diese Zeichen ihrer Mutter aufs Beste. Schritt für Schritt lernte sie, sich nicht von ihnen beeinflussen zu lassen. Die Stimmung besserte sich erst, als die Tochter geboren wurde. »Erst dann hat meine Mutter wohl wirklich verstanden, dass wir zusammenbleiben werden und dass es nun darum geht, das Beste aus der Situation zu machen.« Nun interessierte sie sich für die junge Familie. Jetzt wurde sie gebraucht. Sie
durfte als Oma auf das Kind aufpassen, wenn Semra zur Arbeit ging. Semra arbeitete zu dieser Zeit bei Turkish Airlines, nachdem sie ihre Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin abgeschlossen hatte. Heute hat sie in das Schulsekretariat einer Berufsschule gewechselt. Mittlerweile sind ihre Eltern in die Türkei zurückgekehrt. Sie leben wieder in Istanbul. »Jetzt ist unser Verhältnis hervorragend. Besser könnte es gar nicht sein«, berichtet auch Manfred. Semra ergänzt: »Selbst die beiden Schwiegereltern besuchen sich gegenseitig. Manfreds Eltern haben sogar schon einmal eine Zeit lang allein im Haus meiner Eltern gewohnt.« »Zu Feiertagen rufen sie sich gegenseitig an.« So vergessen Semras Eltern nie, zu Weihnachten zu gratulieren und Manfreds Eltern rufen zu Bayram an. Selbst zu Geburtstagen ist ein Glückwunsch fällig. »Das ist aber bei uns eher unüblich, da die Geburtstage in der Türkei nur wenig Beachtung finden«, erklärt Semra. Manfred überlegt: »Gerade nach meinen Erfahrungen würde ich sehr skeptisch reagieren, wenn meine Tochter nach Hause käme und uns mitteilen würde, sie hätte einen türkischen Freund. Ich würde ihr heftig abraten.« Die Tochter ist heute fünfzehn, also durchaus in dem Alter, wo Jungen an Bedeutung gewinnen. »Ich würde ihr solche Schwierigkeiten, wie wir sie hatten, gerne ersparen.« Seine Frau sieht das etwas anders: »Mir ist wichtiger, dass sie mit uns immer ehrlich sein kann. Sie soll mit uns frei reden können und nicht lügen müssen. Sonst können wir ihr gar nicht beistehen. In so eine Situation, dass meine Tochter zur Tür hereinkommt und mir Knall auf Fall mitteilt, dass sie heiratet, möchte ich als Mutter nie kommen.« Ihr fällt ein: »Dabei haben eigentlich meine Eltern genau unsere Situation am eigenen Leib erleben müssen. Sie haben
auch gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet. Meine Mutter hat sich heimlich den Pass besorgt, ist getürmt und hat meinen Vater geheiratet. Danach sind sie gleich nach Deutschland gegangen«, erinnert sie sich – sehr verwundert darüber, dass ihre Eltern die Entwicklung mit ihrer eigenen Tochter in umgekehrter Rollenbesetzung noch einmal erleben mussten. »Komisch, dass sie uns nichts erleichtert haben, obwohl sie wissen mussten, wie schrecklich das für ein Paar ist«, schüttelt sie den Kopf.
Als sie schwanger wurde, entschlossen sie sich zur Heirat. Sie haben mittlerweile zwei kleine Töchter. Sie: Meine Mutter hat mich am Anfang jeden Tag angerufen und gefragt: »Schlägt er dich auch nicht, dein türkischer Ehemann?«
Wie ein Reißverschluss TÜRKISCHER INFORMATIKER, 33 & DEUTSCHE POLITIKSTUDENTIN, 23
Andrea war in eine WG mitten in einem turbulenten Szeneviertel gezogen. Eines Tages stellte sich ein neuer WGGenosse vor. »Den habe ich erst gar nicht richtig wahrgenommen, da ich mit einer Magen-Darm-Grippe im Bett lag. Ich hatte gerade noch die Kraft, ihn abzunicken.« Erst als sie wieder gesund war, konnte sie ihn richtig in Augenschein nehmen: ein etwa gleich großer, schlanker Mann mit honigbraunem Teint und schwarzen kurzen Haaren und einem sympathischen, offenen Lachen um die Mundwinkel. Andrea hatte Quartier in der WG bezogen, nachdem sie sich von ihrem Münchner Elternhaus verabschiedet hatte. Sie wollte eine möglichst große Distanz zwischen sich und ihr bisheriges Leben bringen. Sie hatte kurz vor dem Abitur die Schule hingeworfen und wollte nun ihr Leben umkrempeln. Eine Tischlerlehre sollte es sein, um den vorgezeichneten Bahnen zu entkommen. Sie wollte Neues ausprobieren. Doch sie merkte bald, dass das in dem Lehrberuf kaum möglich war. So brach sie die Ausbildung ab. »Bevor ich gar nichts tat, habe ich dann doch lieber die Schule beendet.«
Allzu oft begegneten die beiden sich in ihrem WG-Alltag zunächst nicht. Andrea musste früh raus, während Erkan sich seine Zeit als Student der Informatik sehr frei einteilen konnte und das Studentenleben in vollen Zügen genoss. Doch dann gewöhnte Andrea sich an, den Langschläfer wachzurütteln, wenn sie aus der Schule kam. Sie unternahmen immer mehr gemeinsam. »Irgendwann dachte ich, dass wir so etwas Ähnliches wie eine Affäre hatten«, erinnerte sie sich. »Ich glaube aber, Erkan wusste es schon eher als ich, dass er mehr von mir wollte.« Heute wohnen sie in einem wesentlich ruhigeren Stadtteil. Schmale Straßen, viele noch mit Kopfsteinpflaster belegt, reihen sich hier aneinander. Zwischen die Altbauhäuser sind Neubauten eingestreut. Ab und zu belebt ein Cafe, ein kleiner Laden oder ein Restaurant das Straßenbild. Hier im Erdgeschoss eines Altbaus liegt ihre Eigentumswohnung. Hohe Decken, weiße Wände und warmer Dielenfußboden ziehen sich durch alle Räume. Denn inzwischen hat sich in ihrem Leben auch sonst einiges verändert: Ihre Zweisamkeit hat sich um zwei kleine Kinder erweitert. Viele Fotos der beiden Mädchen schmücken die Wände im Flur, wo die große Dreijährige noch ihre letzten Runden vor dem Zubettgehen drehen darf. Die Kleine, die bald ein Jahr wird, liegt schon im Bett. Ein Blick in die Gesichter der beiden verrät, dass seit der Zeit in der WG nicht allzu viel Zeit vergangen sein kann. Erkan quittiert messerscharf: »Die Kinder waren ein Überraschungscoup. Das hatten wir nicht so geplant. Aber wir sind flexibel. Wir haben gute Integrationsarbeit geleistet«, bemerkt er nicht ohne Anspielung. Der damals 28-Jährige ließ sich auf die Familiengründung mit der 21-jährigen Andrea ein. Das erste Kind wurde noch in der WG geboren. Gezwungenermaßen, da sie keine Wohnung
fanden. »Uns wurde zwar stets gesagt, dass dies damit zu tun hätte, dass Kinderwagen im Hausflur störten, aber wir konnten schon vermuten, dass die Herkunft von Erkan auch eine Rolle spielte. Nach dem 11. September waren alle besonders hellhörig und empfindlich«, meint Andrea. Nach einer Zwischenstation in einer Wohnung direkt an den SBahngleisen sahen sie sich gezwungen, statt einer Miet- eine Eigentumswohnung zu nehmen. Erkan sieht so etwas gelassen: »Ich versuche solche Probleme nicht ganz so ernst zu nehmen.« Sein Selbstwertgefühl will der beruflich sehr erfolgreiche Programmierer und sympathisch wirkende Mann nicht von solchen Zeitgenossen abhängig machen. Er versucht stattdessen über sie zu lachen. »Ich verfüge darin über eine langjährige Übung. Schließlich kenne ich das schon von klein auf. Ich war immer jemand, der auffiel.« Er wuchs in einer Kleinstadt in der Nähe von Bremen auf. Auf dem Gymnasium war er der einzige schwarzhaarige Ausländer. »Zogen die anderen über Türken her und ich machte sie darauf aufmerksam, dass einer neben ihnen stünde, dann sagten sie nur: ›Wieso, du sprichst doch Deutsch, du bist kein Türke.‹« Erkan entsprach nicht ihrem Klischee von einem Türken, somit wurde er kurzerhand zum Deutschen erklärt. Doch Erkan ist sich klar: »Ich bin ein Türke mit einem deutschen Pass.« Er ist bis zum Alter von sieben Jahren in der Türkei aufgewachsen. Erst dann sind seine Eltern nach Deutschland gezogen. Nach seinem Abitur haben sie den Schritt zurück in die Türkei ohne ihre Kinder unternommen. »Sie hatten dort gewisse Anpassungsschwierigkeiten. In Deutschland wurden sie nicht richtig anerkannt, weil sie Türken waren. Und in der Türkei, ihrer Heimat, wurden sie nicht richtig anerkannt, weil sie aus Deutschland kamen. Doch mittlerweile haben sie sich wieder eingewöhnt, sie wissen, wie man wen am besten schmiert«, bemerkt Erkan trocken.
Die Zeit nach dem Schulabschluss nutzte er, um sich in der Welt ein wenig umzusehen. Er wollte wissen, wo und wie es mit seinem Leben weitergehen sollte. Zunächst reiste er mit einem Interrailticket durch Deutschland und Europa. Danach reizte ihn Lateinamerika, das er etliche Monate erkundete. »Ich genoss es, endlich mal nicht mehr aufzufallen. In Mexiko war ich einfach ein großer Mexikaner«, freut sich der für deutsche Größennormen eher klein geratene Erkan. Hier erlebte er, dass die Nationalität keine große Rolle spielte. Für die südamerikanischen Staaten gehört ein Mix aus verschiedenen Nationalitäten zur Normalität. Doch schließlich stellte er zu seinem Erstaunen fest, dass er durch seine Lebensjahre in Deutschland sehr geprägt worden war. »Diese Lässigkeit mit Terminabsprachen fand ich schwierig. Da fehlte mir wider Erwarten die deutsche Ordnung«, wundert er sich über sich selbst. Nachdem er diesen Entscheidungsprozess abgeschlossen hatte, kehrte er nach Deutschland zurück und begann nach dem Zivildienst in einem Kinderheim und einer abgebrochenen Ausbildung zum Erzieher sein Informatik-Studium. Hier traf er auf Andrea, die seine weitere Planung ein wenig durchrüttelte. Die junge Frau, die sehr kommunikativ war, unkompliziert und immer für Neues offen, gefiel ihm. Ihre Eltern reagierten allerdings nicht ganz so aufgeschlossen. »Ihre Reaktion auf meinen neuen Freund war gleich überschattet von meiner überraschenden Schwangerschaft. So hatten sie sich den Werdegang ihrer Tochter nicht vorgestellt«, versucht Andrea die Reaktion ihrer Eltern zu verstehen. Immer wieder fragte ihre Mutter besorgt nach, wie es denn der Tochter mit ihrem türkischen Mann so gehe. Häufige, besorgte Anrufe kamen: »Schlägt er dich auch nicht, dein türkischer Ehemann?« Man höre doch so viele Geschichten in den Medien, die Zweifel an den Qualitäten der türkischen Männer aufkeimen ließen.
Bei ihren Schwiegereltern in der Türkei gestaltet sich die Aufnahme stets wesentlich unkomplizierter. Diese Lässigkeit genießt Andrea bei ihren Aufenthalten. »Ich fühle mich bei seinen Eltern wohler als bei meinen. In der Türkei werden die Kinder ganz herzlich aufgenommen. Es macht überhaupt nichts, wenn sie ihrem Opa auf dem Kopf herumturnen. Das ist sehr angenehm und entspannend, während es bei meinen Eltern immer heißt: ›Pass auf, stoß’ das Glas nicht um, mach’ das nicht schmutzig.‹ Ein typisch deutsches Verhalten«, konstatiert Andrea. Sie hätte die Vorteile einer Großfamilie in der Türkei schätzen gelernt. »Für junge Paare, die Kinder bekommen und eine Familie gründen wollen, ist die Betreuung und Unterstützung durch die Großfamilie ideal. Dagegen finde ich es ein bisschen schade, dass wir in der deutschen Kultur nur noch den Individualismus im Auge haben«, begründet Andrea ihre Einschätzung. Eigentlich war es ihr gemeinsames Ziel, die Kinder zweisprachig aufzuziehen. »Sie hätten doch die einmalige Chance, zwei Sprachen zu lernen«, findet Andrea. Erkan ist jedoch zu sehr in seinem Beruf eingespannt, um genügend Zeit dafür zu finden, mit den Kindern Türkisch zu sprechen. »Abends sind die Kinder häufig schon im Bett, wenn ich komme, und am Wochenende wollen wir als Familie etwas zusammen unternehmen. Doch die Familiensprache ist nun einmal Deutsch«, erklärt er. Nicht nur in dieser Hinsicht hoffen sie auf die Zukunft. Andrea möchte ihren Mädchen auch gerne ein ausgewogenes Rollenbild vorleben. »Doch im Moment haben wir eine ganz klassische Verteilung. Erkan verdient das Geld, und ich bin Mutter und Hausfrau. Ich hoffe, wir können uns bald abwechseln.« Erkan unterstreicht diesen Wunsch mit heftigem Kopfnicken. »Das würde ich sofort unterstützen. Liebend
gerne würde ich die Entwicklung meiner beiden Mädchen intensiver verfolgen können. Ich würde sofort zu Hause bleiben und Andrea könnte das Geld verdienen.« Andrea versucht diesem Ziel näher zu kommen; sie hat gerade ein Fernstudium im Fach Politik aufgenommen und freut sich schon auf die intensive Zusammenarbeit in ihrer Arbeitsgruppe, die sich regelmäßig an ihrem Wohnort treffen wird. In einem Punkt empfindet sie Erkan doch als sehr geprägt durch seine türkische Erziehung. »Er ist von seiner Mutter wenig dazu angehalten worden, im Haushalt mitzuhelfen.« Erkan bestätigt: »Jeder hatte bei uns in der Familie nur einen Zuständigkeitsbereich. Ich war für das Staubsaugen zuständig. Das mache ich auch bei uns.« »Das stimmt«, bestätigt Andrea, »Staubsaugen tust du, aber leider nichts anderes.« »Ich habe eben nichts anderes gelernt«, verteidigt sich Erkan mit einem unschuldigen Lächeln. Ausgewogenheit ist auch in Religionsfragen das Ideal der jungen Mutter. »Am liebsten würde ich unseren Kindern alle Religionen vorstellen, doch wir werden uns auf die beiden beschränken, die wir kennen. Ich werde ihnen die christlichen Traditionen ein wenig zeigen und Erkan die islamischen«, wünscht sich Andrea. Doch wie soll sie verfahren, wenn sie im Widerspruch zueinander stehen? Da ist sie sich noch unsicher. »Darf ich unseren Kindern sagen, dass Gott eine Person ist, wie es in vielen biblischen Geschichten zum Ausdruck kommt?«, fragt sie ihren Mann. »Gott steckt in allem. Gott als Personifizierung gibt es aber im Islam nicht«, ist seine Meinung. Überfordert man Kinder mit gegensätzlichen Auffassungen oder darf man sie ihnen zumuten? Die älteste Tochter ist jetzt in einem Alter, in dem sie die ersten Fragen
stellt. Andrea meint: »Das wird noch eine spannende Zeit werden.« »Auch ich bin eigentlich christlich aufgewachsen«, findet Erkan. »Meine Eltern haben mich nicht religiös erzogen, so bin ich durch meine Umgebung geprägt worden. Selbstverständlich feiern wir zusammen Weihnachten. Das ist schließlich eher ein Fest des Konsumrausches geworden als eines der christlichen Religion.« Amüsiert denkt er an ein Erlebnis an einem dieser Festtage zurück. »Jahrelang hatte ich immer wieder von schrecklichen Ereignissen zu Weihnachten gehört. Als ich das erste Mal bei Andreas Eltern mitfeierte, durfte ich tatsächlich dabei sein, als ihr Weihnachtsbaum umkippte und in Flammen aufging. Ich fand das sehr witzig, die anderen leider nicht so sehr, die waren in heller Panik. Aber ich war live dabei und konnte mich sehr amüsieren«, grinst Erkan in der Erinnerung. Eine Eigenschaft schätzt Andrea besonders an Erkan. »Er ist alles andere als oberflächlich. Er hinterfragt alles. Äußerlichkeiten interessieren ihn überhaupt nicht. Das ist in unserer heutigen Gesellschaft sehr selten. Er reflektiert sich immer selbst.« Erkan freut sich bei seiner Partnerin über die Eigenschaften, die er selbst weniger hat. »Wir nutzen den Reißverschlusseffekt. Was der eine nicht hat, kann der andere. Andrea gibt mir die emotionale Tiefe, die mir nicht so liegt. Ich finde, wir ergänzen uns gegenseitig ziemlich gut.« Erkan erzählt zum Schluss lachend von seinem neuerdings übernommenen Ehrenamt: »Ich bin seit einem Jahr als Schöffe tätig. Das ist schon sehr witzig. Da sitze ich nun und berate die Richter bei Straftaten von türkischen Jugendlichen. Als ich das erste Mal ins Gericht kam und mich auf die Bank zu den anderen Schöffen setze, fragte der Richter mich doch glatt: ›Sitzen Sie nicht auf der falschen Seite?‹«
Erkan bricht in lautes Lachen aus. »Auch die Deutschen haben noch manche vertraute Vorstellung zu hinterfragen«, freut er sich. »Wenn ich ihnen dabei behilflich sein kann, gerne!«
V Urlaubsbekanntschaften
Nicht alle Paare sind sich in Deutschland begegnet. Die Reisefreudigkeit der Deutschen hat auch viele in die Türkei geführt. Aus einer spontanen Urlaubsliebe ist bei vier Paaren eine langfristige Beziehung geworden. Eine Partnerschaft war für alle nur durch eine schnelle Heirat zu erreichen. Nur mit dem Trauschein konnten die türkischen Partner die Einreisemöglichkeit nach Deutschland erhalten. Die meisten mussten diesen Schritt tun, bevor sie sich richtig kennen gelernt hatten. Der türkische Partner musste danach sein komplettes bisheriges Leben aufgeben, um eine gemeinsame Beziehung Wirklichkeit werden zu lassen. Meist ohne Sprachkenntnisse, Vorbildung und Vorbereitung mussten die türkischen Partner in Deutschland Fuß fassen. Ihr deutscher Partner trug zunächst die gesamte Verantwortung für ihr Wohlergehen. »Nicht einmal ein Brot konnte ich kaufen gehen. All mein bisheriges Wissen war plötzlich nichts mehr wert«, stellte ein türkischer Mann fest. Eine schwere Bewährungsprobe für eine Beziehung, die nur mit viel Anstrengungsbereitschaft und Offenheit auf beiden Seiten zum Erfolg werden konnte. Die deutschen Ehefrauen verdienten zumindest zu Beginn der Beziehung das Haushaltseinkommen. Sie vermittelten für ihre Partner Weiterbildungsmöglichkeiten und Arbeitsplätze. Je jünger die Männer zum Zeitpunkt der Heirat waren, desto besser kamen sie damit zurecht. Die Entscheidung für Deutschland als Standort war nur für ein Paar von Anfang an klar. Alle anderen haben die Vor- und
Nachteile ihres Lebensmittelpunktes sorgsam gegeneinander abgewogen. Ein Paar hat das Leben in beiden Ländern ausprobiert. Da die türkischen Partner zu Beginn der Beziehung kaum über deutsche Sprachkenntnisse verfügen konnten, bemühten sich ihre deutschen Partner verstärkt, Türkisch zu lernen. Ein Paar kommuniziert heute in seinem Alltag auf Türkisch.
Mit 19 verliebte sie sich während eines Türkeiurlaubes in ihn. Spontan zog sie zu ihm. Mittlerweile sind sie mehrfach zwischen Deutschland und der Türkei hin – und hergezogen, wenn das Heimweh des anderen zu groß wurde. Sie: Er hat mir zuliebe sogar einer kirchlichen Trauung zugestimmt, weil ich so gerne in einem weißen Brautkleid heiraten wollte.
Eine romantische Liebesgeschichte DEUTSCHE ZAHNARZTHELFERIN, 35 & TÜRKISCHER KAUFMANN, 37
Die 19-jährige Kirsten ist verliebt. Keine Grenze scheint ihr für ihre Gefühle unüberwindbar. Der Auslöser für diese Gefühle heißt Resul. Im Urlaub in Alanya am Mittelmeer hat sie ihn kennen gelernt. Der smarte, junge Mann aus dem Juweliergeschäft hat es ihr angetan. »Er hatte eine sympathische, zurückhaltende Art ohne schüchtern zu sein. Er war gleichzeitig kontaktfreudig und hatte doch eine ruhige, angenehme Ausstrahlung«, beschreibt sie ihn. Auch als sie wieder in Deutschland ist, geht er ihr nicht aus dem Kopf. So schnell wie möglich bucht die junge Zahnarzthelferin einen weiteren Urlaub in der Türkei, um ihn wieder zu sehen. Dieses Treffen bestätigt endgültig ihre Gefühle: Mit Resul will sie ihr Leben verbringen. Für ihren türkischen Freund steht allerdings von vornherein fest, dass er nicht mit Kirsten nach Deutschland kommen will. Sein guter Posten in dem familiär geführten Juwelierbetrieb, seine vertraute Umgebung, der feste Halt durch die Familie, das warme Klima und die schöne Landschaft lassen bei ihm
den Wunsch nach Veränderung sehr gering ausfallen. Für die nicht mal 20-jährige Kirsten steht der Entschluss schnell fest: Dann muss sie in die Türkei ziehen. Bei ihrer Heimkehr berichtet sie ihren Eltern von ihren Absichten. »Sie waren geschockt, als ich sagte, ich kündige jetzt. Ich gehe in die Türkei, denn ich will mit Resul für immer zusammen sein. Für meine Mutter war es schwer, ihre Tochter so weit weg zu wissen und für meinen Stiefvater kam ein Türke gar nicht in Frage.« Doch Kirstens Entschluss war unerschütterlich. »Als ich vom zweiten Urlaub zurückkam, hatte ich das Gefühl, ich mache alles ganz richtig.« Ihre Mutter stand nach vielen Gesprächen auf ihrer Seite. »Sie hat mich immer unterstützt und zu mir gesagt: Wenn du diesen Weg wirklich willst, dann geh ihn auch.« So besorgte sich Kirsten ein Touristenvisum und zog zu Resul in die Türkei. Doch die ungewohnte Umgebung überforderte die junge Frau. »Ich bekam ganz viel Heimweh. Zudem vertrug ich das Klima dort nicht und war in den drei Monaten sehr viel krank.« Was sollte das junge Liebespaar machen? »Ich habe schon früh gemerkt, dass ich mich in der Türkei nicht wohl fühlen kann. Immer drehte sich bei mir der Gedanke im Kopf: Was soll ich bloß nach den drei Monaten machen? Kirsten konnte nicht in der Türkei leben, aber auch nicht ohne Resul in Deutschland. Es kam für mich gar nicht in Betracht ihn zu fragen, ob er mit mir kommen würde, denn es war von Anfang an klar gewesen, dass er nicht nach Deutschland wollte.« Doch Resul spürte, wie seiner Freundin ums Herz war und schlug ihr von sich aus vor, mit ihr nach Deutschland zu ziehen. »Er hat nicht gesagt, dann probiere ich das mal aus. Er war sich ganz klar, ich komme nach Deutschland, wir leben dort und wir bleiben dort.« Beiden war bewusst, dass dies sofortige Konsequenzen nach sich ziehen musste: In Deutschland mussten sie innerhalb der
ersten drei Monate heiraten, damit Resul auch danach bei Kirsten bleiben konnte. So kehrte sie zurück und begann gleich mit den Hochzeitsvorbereitungen. »Meine Mutter freute sich, dass sie mich wieder in ihrer Nähe haben konnte.« Vier Monate musste Kirsten auf die Ankunft ihres Freundes in Deutschland warten. Nur das Telefon blieb dem Paar, um in Kontakt zu bleiben – und um die Hochzeitsfeier zu planen. Die knappe Finanzlage schränkte die Möglichkeiten ein. Kirsten träumte trotzdem von einer romantischen Feier. Sie wollte in der Kirche heiraten, in der sie auch getauft worden war. »Als ich sagte, dass ich so gerne in der Kirche heiraten würde, lehnte er zunächst kategorisch ab. Doch dann merkte er, wie traurig ich war.« Nicht die religiöse Bedeutung war ihr wichtig, doch sie wollte diesen Tag in einem weißen Brautkleid in einer Kirche begehen. Resul ließ sich schließlich doch darauf ein – ein großes Zugeständnis ihres muslimischen Bräutigams, das weiß Kirsten heute noch besser zu würdigen als damals. Ein Brautkleid wurde geliehen und ihre romantischen Vorstellungen konnten Realität werden. Vier Wochen nach Resuls Eintreffen wurde der Bund fürs Leben mit dem Segen eines evangelischen Pastors geschlossen. Die Hochzeitsfeier fand im großen Haus ihrer Tante statt, das in der Nähe der gewünschten Kirche lag. »So kam ich tatsächlich zu einer Feier, wie ich sie mir immer gewünscht hatte.« Nun begann Resuls Zeit in Deutschland. Kirsten war so froh und glücklich, dass er endlich bei ihr war. »Doch es gab auch ein paar Eingewöhnungsschwierigkeiten. Resul kannte Deutschland nicht, er kannte die Menschen hier nicht, er kannte nur mich. Er kam ganz ins Ungewisse, er hatte niemanden neben mir. Diese große Verantwortlichkeit hat mich am Anfang ganz schön überfordert.« Resul zog zu Kirsten in ihre kleine Wohnung in der norddeutschen Großstadt. Sie musste sich erst umgewöhnen. »Am Anfang
habe ich immer von meiner Wohnung, von meinem Auto usw. gesprochen. Das hat ihn gekränkt. Doch ich tat das nur aus Gewohnheit, nicht weil ich so fühlte.« Wenn sie später gefragt wurden, warum sie geheiratet hätten, dann hat Kirsten immer auf ihre ehrliche, klare Art geantwortet: »Weil Resul sonst nicht nach Deutschland kommen konnte. Die Leute haben natürlich erwartet, dass ich sage aus Liebe. Selbstverständlich habe ich Resul geliebt, aber das war nicht der Grund, warum wir geheiratet haben. Deswegen hätten wir irgendwann später geheiratet, aber nicht genau zu diesem Zeitpunkt«, stellt sie klar. Auf diese Idee wären sie in ihrem Alter gar nicht gekommen. Kirsten erinnert sich: »Als ich die drei Monate in der Türkei war und ganz traurig wurde, wenn ich daran dachte, dass ich Resul bald verlassen musste, da schlug uns jemand vor: ›Dann müsst ihr eben heiraten.‹ Ich war noch gar nicht auf die Idee gekommen, dass unsere Lösung das Heiraten gewesen wäre. Ich kann mich noch an den Abend erinnern, wo Resul von der Arbeit nach Hause kam und ich fragte: ›Willst du mich denn überhaupt heiraten?‹ Das war bis dahin noch gar kein Thema zwischen uns gewesen.« Doch Deutschland erlaubte keine andere Möglichkeit des Zusammenkommens. »Es ging nur ganz oder gar nicht.« Mit Vorurteilen hatten beide zu kämpfen. In der Türkei galten sie zunächst als eine der üblichen Verbindungen zwischen einem türkischen Mann und einer deutschen Touristin, die kaum lange Bestand haben würde. »Alle hatten schon ihre Bedenken. Dass wir mehr Pläne hatten, das haben sie uns anfangs nicht geglaubt. Als klar war, dass wir heiraten, haben sie mich sehr gut aufgenommen. Sie haben mich immer sehr respektvoll behandelt.« In Deutschland hieß es nur: »›Ja klar, der will nach Deutschland kommen.‹ Da haben viele gelauert, wie sich das mit uns entwickelt. Wenn es schief
gegangen wäre, hätten sie das schon von Anfang an vorhergesehen. Etwas anderes war denen nicht zu vermitteln; das passte nicht ins Bild. Es gab nur wenige, die anerkennen konnte, was für einen Schritt Resul gewagt hatte.« Kirsten und Resul hatten genau geplant, wie es in Deutschland weitergehen sollte. Hier kam ihnen ihr Alter zugute. Resul hatte noch genügend Zeit, sich um eine gute Ausbildungsgrundlage zu kümmern. Er besuchte ein Jahr lang einen Deutschintensivkurs: viermal die Woche fünf Stunden. Da seine Abschlüsse in Deutschland nicht anerkannt wurden, hat er danach zunächst seinen Hauptschulabschluss nachgemacht. Eigentlich hatten die beiden auch geplant, dass er seinen Realschulabschluss anhängen sollte, doch noch während er auf den Hauptschulabschluss hinarbeitete, wurde ihm bereits ein Ausbildungsplatz als Reiseverkehrskaufmann angeboten. »Dann haben wir uns gedacht: Das ist ja viel mehr wert. Leider ging mittendrin das Reisebüro Pleite. Aber wie alles Schlechte auch etwas Gutes hat, so wurde ihm gleich eine Ausbildung als Speditionskaufmann angeboten. Bei der Nachfolgefirma dieses Unternehmens arbeitet Resul noch heute.« Inzwischen hat Resul Karriere in dem Unternehmen gemacht. Er hat sich eine sichere Position erworben, in der die Firma nicht mehr auf ihn verzichten möchte. Die konsequente Planung hat sich ausgezahlt. Doch als sich ihre Situation gerade in gefestigten Bahnen entwickelte, kam das junge Paar in eine Krise. Nach fünf Jahren wurde Resul deutlich: »Ich kann mir nicht vorstellen, bis zu meinem Rentenalter in Deutschland zu leben.« Doch er wagte nicht, sein Unwohlsein Kirsten gegenüber zu formulieren. »Ich habe nur gemerkt, dass er sich immer mehr zurückgezogen hat.« Kirsten hakte nach. »Er hat nur gesagt, dass er so nicht auf Dauer in Deutschland weiter leben kann. Ich habe ihn nicht gefragt, ob er auch ohne mich gehen würde.
Als ich gemerkt habe, wie ernst es ihm ist, war ich bereit, einen zweiten Versuch in der Türkei zu unternehmen.« So beschlossen die beiden, zurück in die Türkei zu ziehen. »Das war aber auch gerade der Zeitpunkt, wo wir uns überlegt hatten, dass wir jetzt gerne ein Kind bekommen wollten. Ein halbes Jahr nachdem unser erster Sohn geboren worden ist, sind wir umgezogen.« Resul konnte seinen deutschen Arbeitsvertrag für ein Jahr ruhen lassen. »Ich hatte ganz große Hoffnung, dass ich mit meiner jetzigen Reife und meiner größeren Erfahrung das Leben in der Türkei besser meistern würde. Doch das war leider nicht der Fall.« Kirsten fühlte sich auch beim zweiten Versuch in der Türkei nicht wohler. »Das lag nie an Resuls Familie«, versichert sie. Ihre Fürsorge konnte sie stets schätzen. »Ich bin ein Familienmensch.« Doch automatisch stellten sich wieder die Gedanken ein: Was mache ich, wenn das Jahr um ist? »Da wurde mir bewusst, dass ich mich wieder nicht auf das Land einlassen konnte.« Zum Teil mag das auch an Kirstens Sprachschwierigkeiten gelegen haben. »Sprachen zu lernen war schon immer einer meiner Schwachpunkte.« In Alanya war der Alltag zwar ohne weiteres auf Deutsch zu bewältigen, doch die Kontakte mit der Familie und mit nichtdeutschen Nachbarn litten darunter. Auch an eine berufliche Perspektive war so nicht zu denken. Immer größer wurden Kirstens Sorgen, die sie sich um die Zukunft ihrer kleinen Familie machte. Wo sollten sie nur leben? Sie schaffte es nicht in der Türkei, Resul fühlte sich in Deutschland nicht wohl. In dieser ausweglosen Situation wies ihnen ein trauriger Anlass den Weg. Resuls Bruder, der das Juweliergeschäft leitete, in dem Resul wieder arbeitete, ging unerwartet Pleite. Ohne dass jemand aus der Familie wohl das ganze Ausmaß der finanziellen
Katastrophe geahnt hätte, musste er die Firma mit einem Riesenberg Schulden schließen. Alle Familienmitglieder waren in das Unternehmen eingebunden gewesen. Alle fühlen sich mit verantwortlich, jeder gab sich ein wenig die Schuld. »Dass in einem Moment alles ganz toll und im nächsten Moment alles weg ist, hatten wir hautnah miterlebt. Plötzlich bekamen auch für Resul die Dinge, die mir schon immer wichtig waren, einen Wert. In Deutschland hätten wir eine soziale Sicherheit gehabt, die uns in der Türkei nicht zur Verfügung stand. Das waren die Aspekte, die Resul ein wenig nach hinten gedrückt hatte und die für ihn nicht so präsent waren. Sie wurden in diesem Moment des Bankrotts auch für ihn ganz deutlich.« Nach einem halben Jahr Aufenthalt schlug Resul von sich aus vor, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Beiden Partnern hat dieser zweite Versuch wichtige Erkenntnisse gebracht. »Für Resul war das ein ganz wichtiger Schritt, weil er von sich aus diese Erfahrung machen konnte. In Deutschland hat er dann noch mehr Elan in seinen Beruf gesteckt und sich hier einen größeren Freundeskreis aufgebaut. Er hatte erkannt, dass sich seine Freundschaften in der Türkei in der Zwischenzeit auch verändert hatten und er auf sie nicht mehr bauen konnte.« Resul war jetzt wirklich in Deutschland angekommen. Seit zehn Jahren leben die beiden jetzt wieder in Deutschland; eine Rückkehr in die Türkei war seitdem nie wieder Thema. Die Urlaube verbringt die kleine Familie allerdings regelmäßig in der Türkei. »Am Anfang hätte ich mir schon manchmal gewünscht, im Hotel zu wohnen«, erinnert sich Kirsten. »In der Familie, die etwas außerhalb von Alanya in einem Dorf lebt, war mir die ungewohnte Nähe manchmal zu viel. Nie konnten wir die Tür zumachen. Gleich hatte die Schwägerin Sorge, dass wir uns nicht wohl fühlen oder dass
uns etwas fehlen könnte. Unseren Wunsch nach Zweisamkeit konnte dort keiner nachvollziehen.« Sie rechnet der Familie aber hoch an, dass sie sie nie verändern wollte. »Es kam nie vor, dass sie gesagt haben, was ich tun oder lieber lassen sollte. Sie haben mich immer so genommen, wie ich war, was zurückblickend eine enorme Leistung war. Damals mit meinen 20 Jahren habe ich einfach wenig nachgedacht. Dass ich mit meinen kurzen Hosen und mit meinem ärmellosen T-Shirt dasaß, wenn Besuch kam, muss meine Schwiegereltern in Bedrängnis gebracht haben. Da saß ich da so lockerflockig, und meine Schwiegermutter hat nie irgendwas gesagt. Das finde ich sehr bemerkenswert, gerade weil sie sehr religiös sind.« In dem Dorf war die Deutsche eine Besonderheit. »Dort gab es außer mir keine Deutschen. So kam das ganze Dorf abends zu Besuch, weil jeder mich mal sehen wollte.« Viel Neues hat sich auch für Kirsten erschlossen: »Ich wusste nichts über die Türkei.« Manche Sitten konnte sie am Anfang nicht deuten. »Manche Männer haben mich nicht angeguckt, und ich wusste nicht warum. Manche Männer haben mir die Hand nicht gegeben, und ich wusste auch nicht warum. Bis ich das alles verstanden habe, dauerte es etwas, auch mehr als einen Urlaub, aber sie haben mir die Zeit gelassen.« Mittlerweile haben sie einen zweiten Sohn bekommen. Beide bekamen als ersten einen türkischen Namen und als zweiten einen deutschen. Diese Regelung war Resul sehr wichtig. »Am Anfang dachten die deutschen Verwandten, dass sie die Kinder beim deutschen Namen nennen könnten. Ich habe schnell klargestellt, dass das nicht in Frage kommt.« Als Familienname kam für Resul nur der türkische in Betracht. »Ich wollte immer einen gemeinsamen Familiennamen. Wenn meine Kinder anders heißen würden als ich, fände ich das schrecklich. Da ich meinen eigenen immer sehr umständlich
und lang fand, konnte ich mich gut mit Resuls kürzerem anfreunden«, erklärt Kirsten. Gewünscht hatten sich beide, dass die Kinder zweisprachig aufwachsen könnten. Anfangs waren Resuls Bemühungen groß, seinem Sohn seine Muttersprache näher zu bringen. »Doch immer wenn unser Sohn etwas nicht verstand, erklärte Resul es ihm auf Deutsch. Irgendwann mussten wir erkennen, dass er mit ihm eigentlich mehr Deutsch redete als Türkisch. Heute ergreift Resul immer wieder mal die Initiative und erzählt seinem Sohn etwas in seiner Sprache. In dem Moment dreht sich unser Sohn einfach um und geht weg, so als wenn Resul überhaupt nicht mit ihm geredet hätte. Inzwischen denke ich, er fühlt sich wirklich nicht angesprochen, wenn Resul Türkisch redet.« In jedem Urlaub äußern die Verwandten immer wieder ihr Bedauern, dass die Sprachkenntnisse der Söhne nicht dazu ausreichen, sich mit ihnen zu unterhalten. »In der Kleinkindphase fiel das noch nicht so ins Gewicht, doch mittlerweile sind sie sieben und drei Jahre, da steigen die Ansprüche.« In Sachen Religion verfahren sie nach folgendem Motto: »Jeder bringt den Kindern das nahe, was er selbst in seiner Kindheit erfahren hat. Wir sind beide mit gewissen religiösen Vorstellungen aufgewachsen und haben bestimmte Traditionen kennen gelernt. Wir haben beide eine Gläubigkeit von etwa gleicher Intensität.« Jeder von ihnen lebt seine Religion. Keiner versucht, den anderen zu beeinflussen. »Die Kinder sollen wissen, dass wir unterschiedlicher Religion sind.« Deswegen begehen sie sowohl die christlichen als auch die muslimischen Feiertage. Kirsten ist Weihnachten sehr wichtig: »Weihnachten hat ganz viel mit Wärme, Gefühl und Familie zu tun. Wir sind dann immer zu meinen Eltern gefahren.« In die Kirche kommt ihr Mann aber nicht mit. »Anfangs war mir sehr daran gelegen,
dass wir alle zusammen als Familie am Heiligabend in die Kirche gehen. Jedes Jahr habe ich aufs Neue versucht, ihn dazu zu bewegen. Erfolglos! Mittlerweile habe ich das jetzt akzeptiert.« Kirsten erinnert sich belustigt: »Das war schon früh ein Thema: Was die Kinder für eine Religion kriegen. Zunächst wollte jeder seine Sache durchsetzen. Als es noch um die Theorie ging, sind wir total aneinander geraten. Gerade in der Anfangszeit haben wir uns gestritten, gestritten und nochmals gestritten, weil wir nicht auf einen Nenner kamen, wie die Kinder erzogen werden sollten. Als das erste Kind dann da war, waren die Diskussionen plötzlich überflüssig. Wir wollten nicht mehr unsere Vorstellungen durchsetzen, sondern uns ging es nur noch um das Wohl unseres Kindes. So entwickelten sich die Lösungen von ganz allein, ohne dass wir viel darüber diskutieren mussten.« Nur in einem Punkt haben sie noch keine Lösung gefunden: »Das einzige noch offene Thema, aber kein Streitthema, ist das Beschneiden. Auch hier sind wir uns eigentlich einig: Resul möchte es aus religiösen Gründen, und ich könnte es aus hygienischen Gründen gutheißen. Aber unser großer Sohn ist ein sehr sensibles Kind. Ich mag es ihm einfach nicht zumuten. Wir sehen diese Problematik beide und wir schleppen sie seit Jahren mit uns rum. Wir sagen immer, ja, wir müssten, und dann wird es wieder vertagt.« Kirsten hat zwischen den beiden Kindern den Kontakt zu ihrer Zahnarztpraxis nicht aufgegeben und stundenweise dort weiter gearbeitet. Inzwischen arbeitet sie an drei Tagen fünf Stunden und findet diese Lösung ideal, um ihre Aufgaben als Mutter und Hausfrau mit denen des Berufs zu vereinbaren. Kirsten und Resuls Beziehung hat zahlreiche Bewährungsproben überstanden. Sie haben sich gegenseitig mehr als einmal bewiesen, dass sie bereit sind, füreinander
alles aufzugeben. Ihre Liebe, die so romantisch begann, hat es tatsächlich auch im Alltag geschafft, Grenzen und Hindernisse zu überwinden.
Beim Cocktailtrinken am Pool wurde die gewichtige Dame von dem smarten Kellner angesprochen. Sie dachte an einen Augenfehler. Mittlerweile sind sie fünf Jahre verheiratet, und er lebt und arbeitet in Deutschland. Er: Es läuft einfach so: Ich muss besser arbeiten als die anderen, dann nehmen sie mich. Sie: Einen Pascha, der den ganzen Tag auf meinem Sofa sitzt, kann ich nicht gebrauchen. Auch wenn er seinen Teppich fünfmal am Tag ausrollen würde, wäre meine Toleranzgrenze überschritten.
Solange deine Augen leuchten DEUTSCHE BÜCHEREIANGESTELLTE, 52 & TÜRKISCHER KELLNER, 29
Sie hätten sich, wie Inge mit ihrem gewohnt trockenen Witz bemerkt, »auf die übliche Art kennen gelernt«. Auch in der heutigen Rückschau nach fast acht Jahren ist ihre Verwunderung über sich selbst immer noch spürbar. Seit fünf Jahren teilt sie ihr Leben mit ihrem zweiten Mann Orhan. Obwohl bei beiden ein gleich großes Maß an Lebensfreude, Energie und Aufgeschlossenheit zu spüren ist, ist der Unterschied an Lebensalter unübersehbar. Dieses Paar verbindet anscheinend etwas jenseits der üblichen Vorstellungen von »gleich und gleich«. Inge erzählt: »Meine Freundin und ich waren gerade im Hotel in Antalya angekommen. Sie war zur Massage, und ich lag am Swimmingpool. Da kam Orhan und stellte seine üblichen Fragen. ›Wann bist du angekommen, wie lange bleibst du‹, und so weiter…« War es auch üblich, dass er sie für den
Abend zum Fernsehen einlud? Sie kannte sich in diesen Gepflogenheiten nicht aus. So teilte sie ihrer Freundin nur mit: »Süßer Kerl, aber leider viel zu jung. Der muss einen Augenfehler haben. Hier gibt es viel passendere als mich. Ich gehe nicht hin.« Doch Orhan ließ nicht locker. Am nächsten Tag fragte er, wo sie denn gewesen wäre, er hätte auf sie gewartet. Inge nahm sich vor, dass sie sich doch ein einziges Mal mit ihm treffen würde, aber nur um die Angelegenheit auf ihre Art zu klären. So stand sie an diesem Abend am verabredeten Treffpunkt. Als sie mit ein paar Getränken versorgt zum Strand gegangen waren, forderte Inge Orhan auf, ihr seinen Pass zu zeigen. Verdutzt holte er ihn heraus. »Da dachte ich, ich guck nicht richtig, das war ja noch viel schlimmer, als ich dachte. Da habe ich meinen Ausweis rausgeholt und ihm hingehalten. Er meinte nur: ›Na und?‹ Ich habe gemeint, ob er mal aufs Datum gucken würde.« Doch Inges Alter interessierte Orhan nicht. Doch was dann? Sie löcherte ihn mit vielen Fragen an diesem Abend. »Willst du nur nach Deutschland? Willst du einfach einen netten Urlaub verbringen? Warum ausgerechnet ich?« Der 22-jährige, schlanke Mann mit den kurzen, schwarzen Haaren konnte die Fragen der dreißig Jahre älteren Frau nicht zufriedenstellend beantworten. Ob das auch an seinen mangelnden Sprachkenntnissen lag, konnte Inge nicht ganz klären. Doch die Gesellschaft des sportlichen Orhan mit seinem bezaubernden Lächeln tat ihr gut. Warum sollte sie sich eigentlich so viele Gedanken im Vorwege machen? »Dann saßen wir am Hafen. Da hat er mich auf die Wange geküsst, und ich meinte, damit wollen wir lieber gar nicht erst anfangen«, erinnert sie sich. Doch die guten Vorsätze nützten nichts. Am nächsten Tag lud Orhan Inge zum Motorradausflug ein. »Noch nie hatte ich auf so einem Ding gesessen. Wenn das meine arme Mutter wüsste! Touristin mit Kellner auf dem
Motorrad in den Bergen verschollen, würde sie in der Zeitung lesen müssen. Ich dachte die ganze Zeit, ich bin in einem Film. Das bin doch nicht ich, die solide Büchereiangestellte.« Doch Inge genoss die Auszeit von ihrem wohlgeordneten Leben in der norddeutschen Großstadt mit ihrem wohlsortierten Freundes- und Bekanntenkreis. Orhan spürte, dass er mit dieser Frau gut konnte. Mit ihrer burschikosen, direkten Art und ihrem frechen Mundwerk konnte er gut umgehen. Sie war stets offen und ehrlich und sagte, was sie dachte. Am Ende des Urlaubs war Inge todtraurig. Als ein Kollege von Orhan sie damit tröstete, dass sie ja im nächsten Urlaub wieder kommen könne, war sie völlig überrascht. An eine Fortsetzung der schönen Zeit hatte sie gar nicht zu denken gewagt. So kam es, dass sie in den nächsten zweieinhalb Jahren alle Urlaube in der Türkei mit Orhan verbrachte. Stets fragte sie vorher an, ob sie noch kommen solle. »Du kannst ruhig ehrlich sein. Ich weiß schon, dass bei euch ständig Frischfleisch ankommt«, ermunterte sie Orhan selbstkritisch. Doch dieses Hin und Her zwischen zwei Welten machte Inge irgendwann zu schaffen. »Ich kam mir vor wie ein Mutant. Ich dachte, irgendwann kriege ich noch einen Herzinfarkt, wenn er sich auf dem Flughafen umdreht und weggeht.« Sie wollte eine Entscheidung. Gemeinsam legte man die Marschroute fest. Orhan sollte sich zunächst Deutschland ansehen um zu entscheiden, ob er dort mit Inge leben könnte. Doch Plan A scheiterte: So oft Inge auch ein Dreimonatsvisum beantragte, nie kam eine positive Antwort. Heirat war anscheinend der einzige Weg, um ein gemeinsames Leben in Deutschland auszuprobieren. Nun protestierten die Freunde und die Familie. »Meine Mutter war total dagegen. ›Warum willst du verletzt werden?‹ fragte sie immer wieder. Sie plädierte dafür, ihn in der Türkei zu lassen und nur als Urlaubsflirt zu sehen. Selbst
meine Freundin war der gleichen Überzeugung.« Doch Inge meinte: »Ich bin, denke ich, alt genug geworden um meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Was hatte ich denn zu verlieren? Im Zweifelsfall hatte ich ein paar Jahre weniger allein auf der Couch gesessen.« Orhans Familie reagierte gelassen. Sie war es gewohnt, dass die Söhne ihre eigenen Wege gingen. In Orhans Familie war es üblich, den Jungen großen Freiraum einzuräumen. Sie mussten früh lernen, für ihr Leben Verantwortung zu übernehmen. Schon mit 14 Jahren hatte sich Orhan seinen ersten Job gesucht und sich seitdem allein finanziert. So hatte sich auch niemand in seine Entscheidung eingemischt, zu einer wesentlich älteren Frau nach Deutschland zu ziehen. »Meine Eltern akzeptieren das, was ich mache«, ist sich Orhan sicher. So hatte er keine Angst vor der Entscheidung, die ihn als verheirateten Mann nach Deutschland führen sollte. »Ich habe bisher immer mein Auskommen gefunden. Ich komme überall klar«, sagte ihm seine bisherige Lebenserfahrung. So ist es auch. Orhan hat, seitdem er in Deutschland ist, mit Inges Hilfe bis auf ganz kurze Zeiträume immer Arbeit gefunden. Er hat das System schnell verstanden. »Wenn ich gut bin und mehr arbeite als die anderen, nehmen sie mich immer wieder.« Er arbeitet zurzeit in einer Zeitarbeitsfirma, die sich auf Gastronomie- und Hotelbetriebe spezialisiert hat. Doch zunächst musste viel Bürokratie in Deutschland und der Türkei überwunden werden. Als endlich alle Papiere zusammen waren, Inge in der Türkei angekommen war und Orhan um einen Termin bei einer speziellen Stelle für Ausländerhochzeiten anfragte, hieß es plötzlich: ›Morgen!‹ »Da war es mir auf einmal zu schnell. Nun hatten wir so lange gewartet, dass ich mir das Wochenende noch als Bedenkzeit ausgebeten habe«, erinnert sich Inge lachend. Doch am Montag war es soweit. In einer Wellblechhütte mit dem
Teeverkäufer als Trauzeugen heirateten die beiden in einer fünfminütigen Zeremonie. Zwei Monate später zog Orhan bei Inge ein. Das Türschild aus Ton zeigt heute jedem, der das Treppenhaus des Miethauses betritt, wer gemeinsam hinter dieser Wohnungstür wohnt. »Inge und Orhan« steht dort mit geschwungenen Lasurbuchstaben. Die Wohnung ist mit viel Liebe zur Dekoration bis ins letzte Detail gestaltet. Man merkt sofort, dass hier zumindest eine Katzenliebhaberin zu Hause ist. Neben dem Katzenpärchen aus Fleisch und Blut bevölkern viele Katzenfiguren die flauschigen, hellen Teppichböden und die Regale der Mahagonimöbel. Nach dem Tod ihres ersten Mannes nach 25 Jahren Ehe hatte Inge sich hier ein eigenes gemütliches Nest geschaffen. »Natürlich hatte ich, bevor Orhan zu mir kam, einige Dinge klargestellt«, berichtet Inge. »Ich brauche keinen Pascha, der den ganzen Tag auf dem Sofa liegt.« Doch das war nicht Orhans Art. Er packt gerne mit an. Genauso wichtig war Inge ein weiterer Punkt: »Hättest du deinen Teppich hier fünfmal am Tag ausgerollt, wäre das nicht gegangen.« Das hätte ihren Toleranzrahmen als bekennende Atheistin nun doch gesprengt. »Mein Mann ist nur fünf Jahre lang zur Schule gegangen und noch nie im Ausland gewesen«, überlegt Inge. Wie sollte sie ihm in der Türkei begreiflich machen, was ihn in Deutschland erwartete? »Ich versuchte ihm zu erklären, welche Unterschiede er in Deutschland vorfinden würde. Ich habe viel erzählt, aber kam schnell an meine Grenzen. Wie willst du das alles jemandem erklären, der noch nie aus seinem Land herausgekommen ist?« Orhan dachte dagegen, er kenne die Deutschen, schließlich hatte er viele von ihnen als Touristen getroffen. Doch er musste feststellen: »Hier sind sie anders als in ihrem Urlaub. Hier haben sie weniger Zeit und nehmen sich weniger Muße zum Reden.« Inge fällt dazu eine Begebenheit
ein: »Einmal als ich nach Hause kam, war Orhan ganz erschüttert. Völlig entsetzt berichtete er mir, dass er sich heute ganz lange auf den Balkon gestellt habe, aber niemand mit ihm geredet hätte. Was für ein unkommunikatives Land Deutschland doch sei!« In solchen Fällen versucht Inge zu erklären: Hier in Deutschland suche man sich seine Gesellschaft eben aus. Nur weil man mit Leuten zusammen in einem Haus wohne oder mit ihnen verwandt sei, sei man nicht verpflichtet sich ständig zu besuchen. Sie selbst hat eine Erfahrung geprägt: Als ihr Ehemann krank wurde, wäre keiner aus seiner Familie erschienen, um sich um ihn zu kümmern, aber alle seine Freunde wären ständig an seinem Bett gewesen. Inge versuchte, Orhan von Anfang an in ihren Freundeskreis mit einzubinden. Als er in Deutschland ankam, lud sie alle ihre Arbeitskollegen und Nachbarn zu einem großen Fest ein. Ihre Mutter kam noch am Tag seiner Ankunft zu Besuch, um ihn in Augenschein zu nehmen. Mit ihr versteht Orhan sich gut. »Ich mag gerne alte Leute, sie sind niedlich«, meint er. Inge lacht laut los: »Ja, ja, deine Vorliebe für ältere Frauen kenne ich!« Doch auch Inge hat durch Orhan in eine andere Welt hineingeblickt. »Die Türken hatte ich vorher überhaupt nicht auf dem Zettel. Ich habe mich nie viel um ihre besondere Situation gekümmert. Jetzt besuche ich mit Orhan eine türkische Familie in Köln und erlebe tatsächlich eine Frau, die seit 40 Jahren in Deutschland lebt und nur zehn Wörter Deutsch kann. Das hätte ich vorher nie für möglich gehalten. Okay, man sieht darüber etwas im Fernsehen, aber man kann sich nicht erklären, wie so etwas geht. Jetzt habe ich gesehen, dass sie in ihrem Stadtviertel alles hat, was sie braucht. Es gibt einen türkischen Schlachter, Gemüsemann, Frisör, Anwalt und Arzt. Sie kann hervorragend ohne Deutsch klarkommen.« Sie spürt aber auch die andere Lebenswelt, wenn sie bei Orhans Familie ist. »Neulich rief der Vater ganz aufgeregt hier
bei uns an. Seine Kuh war gestorben. Sein Sohn in Deutschland sollte helfen. Urlaub war sowieso schon geplant. Also saßen wir wenig später in der Türkei mit den anderen Brüdern zusammen, um zu besprechen, wie dem Vater zu helfen wäre. Plötzlich beschäftigt man sich mit der Beschaffung einer Kuh, den Preisen, ihrem Ertrag, ihrer Qualität, dem Transport«, wundert sich Inge. Doch ein Umstand erstaunte die resolute Frau noch mehr: »Ich saß, während auch über mein Geld im Wohnzimmer in einer Männerrunde diskutiert wurde, mit den Frauen in der Küche und trank Tee.« Sie erklärt sich das mit ihren noch unzureichenden Türkischkenntnissen. Doch Orhan merkt vorsichtig an: »Es geht um unsere Eltern, da hast du als meine Frau nur wenig Mitspracherecht.« Inge bestätigt das in ihrem Gefühl, das sie stets beschleicht, wenn sie in Antalya in ihrer Ferienwohnung sind: »Ich werde immer noch nur als Touristin gesehen. Ich kenne da zwar schon viele Leute, aber so richtig in der Familie komme ich nicht vor. Wenn ich mich am Telefon melde, legen sie einfach auf.« Sie versucht, das zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen: Wenn die Verwandten kommen, geht sie zum Strand und genießt die Sonne. Mit ihrem ersten Mann hätte sie früher eine ganz andere Strategie eingeschlagen. »Damals haben wir über alles diskutiert und gestritten. Es gab nichts, was einfach stehen gelassen wurde. Heute bin ich viel gelassener geworden. Ich plane nicht mehr. Ich nehme das Leben so, wie es kommt, und versuche das Beste aus dem zu machen, was ich nicht ändern kann.« Nur so konnten Orhan und Inge auch eine Grundlage für ihre Vereinbarungen finden. »Ich will niemanden neben mir haben, der leidet. Wenn deine Augen nicht mehr leuchten, müssen wir unseren gemeinsamen Plan überdenken. Dann müsstest du
wieder zurückgehen, und ich würde dich doch weiter besuchen«, war immer für sie klar. »Wenn das noch innerhalb der ersten drei Jahre passiert wäre, hättest du auch dann wieder zurück müssen. Jetzt nach fünf Jahren Verheiratetsein hast du ja ein eigenes Bleiberecht.« Orhan hätte darin keine Probleme gesehen: »Was hat das mit der Aufenthaltsbestimmung zu tun? Ich bin so ein Typ, der einfach geht, wenn ihm etwas nicht passt. Wenn wir uns nicht verstanden hätten, wäre ich wieder gegangen, ganz klar.« Orhan hat sich während seiner Zeit in Deutschland verändert. Das wird deutlich, wenn sie zusammen in der Türkei sind. Sein Schritt ist schneller geworden. Bei seinen Besorgungen, die Inge allerdings immer noch viel zu lange dauern, legt er mittlerweile an Tempo zu. Er verlangt von Handwerkern, dass sie sich an Termine halten. Schließlich sei er nur kurz im Lande. Wenn er vor einem Schalter steht, der wieder einmal nicht besetzt ist, beschwert er sich. Wenn dann die Entgegnung kommt, es sei geschlossen, antwortet er schlagfertig: »Und wo stehen eure Öffnungszeiten? In Deutschland ist es so üblich, dass man sich auch daran hält«, wirft er dann seinen Landsleuten vor. Nichts ist selbstverständlich in so einer unkonformen Beziehung. Orhan ist klar: »Wir müssen viel reden, sonst erfährt man nichts vom anderen.« Dazu musste er erst die deutsche Sprache lernen. Inge bemüht sich zwar, auch ihre Kenntnisse in der türkischen Sprache zu erweitern, aber sie stellt fest: »Man merkt eben doch, dass man älter geworden ist, das geht nicht mehr so schnell.« Zuerst saßen sie nur mit dem Wörterbuch in der Hand und versuchten sich auf diese Weise zu verständigen. Jetzt klappt die Verständigung auch ohne solche Hilfsmittel sehr gut. Anscheinend kommen die beiden trotz der großen Unterschiede gut miteinander klar. Orhan erklärt: »Unsere Art
passt gut zusammen. Ich bin besonders mit Inge verbunden. Wir können sehr gut Fragen miteinander klären.« Inges direkte, ehrliche Art harmoniert gut mit Orhans Aufgeschlossenheit. Er freut sich über die neuen Möglichkeiten, die er durch Inge hat. Dafür ist er auch bereit, in vielen Fragen umzulernen. Er war schließlich stets gewohnt, sich auf seinem Weg durchs Leben den Verhältnissen anzupassen und das tut er nun auch in Deutschland bei Inge. Das konfrontierte auch Inge mit ungewohnten Aufgaben: »So musste ich mich auf meine alten Tage noch mal mit dem Thema Bewerbung auseinander setzen. Wer hätte das gedacht?« Sie dagegen genießt die Gesellschaft des smarten, jungen Mannes mit den verschmitzten Augen, der das, was sie ihm bieten kann, so zu schätzen weiß. Sie führen eine für deutsche – und auch für türkische – Verhältnisse ungewöhnliche Beziehung, die mit vielen Klischeebildern behaftet ist. Doch Inge steht mittlerweile so souverän im Leben, dass sie sich über die Erwartungen der Umwelt locker hinwegsetzen kann. »Ich brauche keine Rücksichten mehr darauf zu nehmen, was die Leute über mich denken könnten. So etwas ficht mich nicht mehr an.« Sie erlaubt sich, ihr Zusammensein mit Orhan unbeschwert zu genießen. »Und sollte er noch einmal Kinder haben wollen, dann ist er ja noch jung genug, um sie auch nach mir zu bekommen«, stellt sie ihm ganz pragmatisch in Aussicht.
VI Bikulturelle Liebesgeschichten Wie deutsch-türkische Paare ihre Beziehung leben
Insgesamt habe ich mit 42 Paaren gesprochen. Alle ihre Geschichten in diesem Buch zu erzählen, hätte leider den Rahmen gesprengt. Um ihre Erzählungen aber dennoch mit einfließen zu lassen, will ich im letzten Kapitel versuchen, die Erfahrungen aller Paare zu ein paar Kernpunkten zusammenzufassen. Mit Zitaten zu Wort kommen lassen werde ich dabei hauptsächlich die Paare, deren Geschichten aus Platzgründen nicht im Buch vorkommen können. Auch sie haben soviel zu sagen, dass es schade gewesen wäre, sie nicht aufzunehmen.
Die Frage der Familie »Lass dich bloß nicht mit einem türkischen Mädchen ein, die hat Brüder.« So dachte auch einer meiner deutschen Gesprächspartner, bevor er seine türkischstämmige Frau kennen lernte. Die Erfahrungen der 42 Paare sind da nicht ganz so eindeutig: In vielen Fällen reagierten beide Familien gleichermaßen aufgeschlossen. »Meine Eltern haben mir keine Warnungen mitgegeben, als sie hörten, dass ich mich in einen Türken verliebt habe«, erzählte eine deutsche Frau. »Meine Eltern haben meine deutsche Freundin offen aufgenommen. Ich lebte schließlich in Deutschland und sie hatten wohl damit gerechnet, dass meine Partnerin eine Deutsche sein könnte«, berichtete ein türkischstämmiger Ehemann. Diese Paare hatten
also tolerante Eltern, die ihren Kindern bei der Wahl ihres Partners vertrauten. Doch es gab auch Eltern, denen dieses Vertrauen zu ihren Kindern und deren Partnern fehlte. Sie waren besorgt über die offensichtlich gewordenen Unterschiede zwischen ihren Vorstellungen und denen ihrer Kinder. »Meine Eltern unterstellten mir Blauäugigkeit, da ich mich mit einem Türken und seinem gewalttätigen Familienclan eingelassen hätte«, erzählte eine deutsche Partnerin. »Ihr werdet euch über alle Fragen eures Zusammenlebens streiten«, prognostizierte ein türkischer Vater. Die Sorgen dieser Eltern um das Wohl ihres Kindes und ihrer Familie waren so groß, dass sie ihren Einfluss geltend machen wollten. »Eigentlich hatten wir uns ja einen Mann aus unserer Nachbarschaft als Schwiegersohn gewünscht«, wurde ein türkischstämmiger Mann beim Antrittsbesuch bei den deutschen Eltern seiner Freundin empfangen. Er konnte nur entgegnen: »Entschuldigen Sie, damit kann ich nicht dienen. Ich bin nun mal Türke.« Diese Eltern bestanden vor der Heirat ihrer Tochter auf einem Ehevertrag. »So saßen wir zwei Tage vor unserer Hochzeit ihnen zuliebe bei einem Anwalt«, berichtete die deutsche Tochter. »Wir wollten die Stimmung zwischen ihnen und uns schließlich nicht noch weiter verschlechtern.« Fas 25 Jahre lebt dieses Paar mittlerweile zusammen Diejenigen, deren Eltern ihre Partner ablehnten, fühlten sich hin- und her gerissen. Sie liebten sowohl ihren Partner als auch ihre Eltern und mussten sich um Verständnis auf beiden Seiten bemühen. »Ich wollte niemanden enttäuschen. Doch beiden recht machen konnte ich es offenbar nicht«, beschrieb eine Türkin ihre damalige Situation. Die türkischen Männer fällten ihren Entschluss für eine deutsche Partnerin meist unabhängiger von ihrer Herkunftsfamilie als die Frauen. In der Mehrzahl waren es die
türkischen Frauen, die eher Rücksicht auf die Interessen der Familien nahmen: Sie bezogen deren Wünsche in ihre Überlegungen und Entscheidungen mit ein und bemühten sich um eine harmonische Verständigung. Doch auch die enge Verbindung zu ihren Eltern hielt sie keineswegs davon ab, eine eindeutige Entscheidung für ihren Liebespartner zu fällen – zur Not in der Übergangszeit heimlich. Individuelle Lebensziele stellten für sie keinen Gegensatz zu einem ausgeprägten Familiensinn dar. Der Trauschein war für viele türkischstämmige Frauen der zweiten Generation sehr wichtig. »Erst nach der Hochzeit gehören wir offiziell zusammen«, meinte eine türkischstämmige Frau. Die meisten von ihnen zogen (zumindest vor ihrer Familie) erst mit ihrem Partner in eine gemeinsame Wohnung, nachdem sie verheiratet waren. »In der türkischen Gesellschaft ist es sehr wichtig, sich keinen schlechten Namen zu machen. Man darf sich oder seiner Familie keine Schande bereiten«, erklärte eine Türkin. Bis heute besitzt die 34-jährige, die unverheiratet mit ihrem deutschen Freund in einer Wohnung zusammenlebt, eine extra Telefonleitung, damit ihre Eltern denken, dass sie noch in ihrer ehemaligen Singlewohnung wohnt. Mit dieser Art der Rücksichtnahme müssen sich die deutschen Partner auseinandersetzen. Einigen fiel es schwerer, dafür Verständnis zu entwickeln. Andere schätzten den Wert der Familie genau so hoch ein und konnten sich leichter auf die Kompromisse, die damit verbunden waren, einlassen. »Das gehört für mich zum selbstverständlichen Respekt vor den Älteren dazu, dass wir auf ihre Erwartungen Rücksicht nehmen«, erklärte ein deutscher Ehemann. Die Hochzeit diente insofern dazu, das Paar in die jeweilige Gesellschaft einzuführen, im großen Rahmen als Paar aufzutreten und zu bekennen: Alles läuft in geregelten Bahnen!
Es gab aber auch türkischstämmige Frauen der zweiten Generation, die sich über solche Regeln souverän hinwegsetzten. Eine türkischstämmige Psychologin und ihr deutscher Partner, ein Physiker, heirateten erst nach neun Jahren des Zusammenlebens, als sie an Nachwuchs dachten. Sie kommentierte das so: »Ich galt sowieso schon immer als Rebellin in unserer Familie.«
Die Frage der Religion Bei einem deutsch-türkischen Paar geht man automatisch von einem christlich-islamischen Paar aus. Dass das nicht unbedingt den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht, beweisen die interviewten Ehepaare: Gut die Hälfte der Paare waren der Meinung, dass die Religion in ihrem gemeinsamen Leben keine Rolle spielen würde. »Wir sind eine religionsfreie Familie«, betonte eine deutsche Frau. Bei ihnen hätte es keinen Abstimmungsbedarf in Punkto Religion gegeben, meinten diese Paare. Fast genau so wenig Diskussionsbedarf wie die nichtreligiösen Paare hatten diejenigen, die sich gleichermaßen als gläubig, aber nicht als einer bestimmten Religion verbunden empfanden. Ein türkischer Mann beschrieb es so: »Ich glaube an einen Gott, wie auch immer er nun heißen mag. Aber gegenüber den Religionen bin ich sehr kritisch geworden.« Und eine türkische Ehefrau meinte dazu: »Ob muslimisch, katholisch oder evangelisch – Gott ist einzig.« Diese Paare konnten sich schnell auf gemeinsame Werte für ihr Leben einigen: Werte wie Respekt, Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit, Toleranz, Hilfsbereitschaft und Offenheit bestimmten ihre Maßstäbe. Sie begingen die religiösen Feste
häufig gemeinsam und nahmen sie als eine willkommene Gelegenheit zu einem Familientreffen wahr. Es gab auch Paare, bei denen für beide die Religion ein bestimmender Faktor in ihrem Leben war, wenn auch unterschiedlich geprägt. Die meisten verfuhren nach dem Prinzip der Parallelität. »Ich bin Moslem, sie ist Katholikin. Das ist so, das können und wollen wir nicht ändern. Wir haben Respekt vor dem anderen und akzeptieren ihn voll«, meinte ein türkischer Ehemann. Seine deutsche Frau bestätigte: »Jeder hat zwar seinen eigenen Glauben und andere Gebete und Symbole, aber wir fühlen uns beide wohl mit dem Gedanken, dass wir an Gott glauben.« Beide Partner ließen sich gegenseitig den Raum, um ihren jeweils eigenen Traditionen nachzugehen, und boten dem anderen die Möglichkeit, daran teilzuhaben oder auch nicht. Mit dieser praktisch gelebten Akzeptanz der Religion des Partners verfuhren die meisten am besten. Ein Ehepaar hatte folgenden Weg für sich gefunden: »Wir geben uns gegenseitig genügend Raum, um der eigenen Religion nachzugehen, versuchen aber gemeinsam alle religiösen Feste zu feiern.« Manche Paare waren sich von Anfang an darüber im Klaren, dass eine Beeinflussung in die jeweils eigene Richtung zu Schwierigkeiten führen könnte und versuchten daher, sie konsequent zu vermeiden. Andere konnten diese Konflikt vermeidende Richtlinie erst im Laufe ihrer Beziehung immer mehr beherzigen, nachdem sie die problematischen Konsequenzen selbst durchlebt hatten. »Immer wieder fragte sie mich, ob ich nicht Weihnachten mit in die Kirche kommen könnte. Ich wollte aber nicht. Da gab es häufig Streit«, erzählte ein türkischer Mann. »Es hat einige Jahre gebraucht, bis ich aufgegeben habe«, bestätigte seine deutsche Frau.
Die Kinderfrage Einige der interviewten Paare haben sich gegen eigene Kinder entschieden. Sie setzten andere Schwerpunkte: erfüllende Berufstätigkeit beider Partner oder intensives Reisen. Eines der kinderlosen Paare räumte ein: »Würden wir in der Türkei leben, hätten wir selbstverständlich schon lange Kinder bekommen. Hier stehst du mit der Verantwortung für die Kinder alleine da. In der Türkei helfen alle bei der Erziehung mit und fühlen sich verantwortlich für den Mitmenschen«, meinten sie. Eine türkischstämmige Partnerin hat erlebt: »Dass wir beide keine eigenen Kinder haben wollen, führt immer wieder zu Verwunderung, besonders in türkischen Kreisen. ›Aber Kinder sind doch das Beste im Leben‹, sagen sie dann zu mir«, erzählte sie. »›Und habt ihr Kinder?‹, frage ich sie dann. ›Ja, selbstverständlich‹, antworten sie mir darauf. ›Dann seid doch zufrieden, dann habt ihr ja euer Bestes‹«, wusste sich die schlagfertige Frau zu verteidigen. Die meisten Paare aber hatten sich klar für Kinder entschieden: Entweder hatten sie schon Nachwuchs oder sie planten ihn in näherer Zukunft.
Die Frage der Erziehung »Unsere Kinder bekommen eine Bandbreite von Lebensmöglichkeiten vorgelebt, aus denen sie sich später ihren eigenen Weg zusammenstellen müssen. Damit sie damit nicht überfordert sind, müssen wir ihnen frühzeitig Eigenverantwortung erlauben«, fasste ein türkischstämmiger Vater seine Erziehungshaltung zusammen. Hinterfragen von gesellschaftlichen Regeln und Konventionen gehörte für die meisten Eltern nicht nur zu ihrem partnerschaftlichen Konzept
sondern auch zu ihren Erziehungszielen. Fast alle legten den Schwerpunkt ihrer Erziehung darauf, ihre Kinder zu Selbstständigkeit zu befähigen. »Das haben wir immer so gehalten. Ich erkläre meinem Sohn meine Auffassung, er mir seine. Ab und zu erinnere ich ihn an gewisse Absprachen. Das hat bisher gut geklappt«, erklärte ein türkischer Vater sein Erziehungskonzept. Dabei verfolgten die Paare folgendes Ziel: »Die Toleranz und Akzeptanz für den anderen und seine Sichtweisen wollen wir unbedingt an unser Kind weitergeben.« Schließlich leben sie ihnen als Paar vor, wie so etwas Wirklichkeit werden kann. Genauso wichtig war es ihnen aber auch, ihren Kindern ein Verantwortungsgefühl im Zusammenleben mit anderen zu vermitteln. »Unser Sohn soll sich nicht nur in unserer kleinen Familieneinheit ganz sicher und angenommen fühlen. Er soll auch das Aufgehobensein in der Großfamilie erleben«, sagte ein türkischstämmiger Vater. Für die meisten stellte es das Ideal dar, ihren Kindern beide Blickrichtungen erfahrbar zu machen. Gerade in der Geborgenheit innerhalb einer größeren Gemeinschaft sahen sie die besseren Möglichkeiten für die eigene Selbstverwirklichung. Ob sie diesen Zusammenhalt eher in ihrer Kleinfamilie, in der Großfamilie oder im Freundeskreis verorteten, hing dabei von ihren eigenen Erfahrungen ab. Diesen Punkt aber alleine an den türkischen oder deutschen Wurzeln festmachen zu wollen, wird durch die Erzählungen der Paare nicht gestützt. Unter ihnen gab es gerade verhältnismäßig viele türkischstämmige Partner, denen ihre Freiheit sehr wichtig war und die sie keinesfalls für ein Kollektiv einschränken wollten. Sie schätzten in Deutschland gerade die größeren Möglichkeiten zur Individualität. Diese Haltung war dann auch für ihre Erziehung maßgeblich.
Doch diese grundsätzlichen Ziele führten manchmal im Konkreten zu Abstimmungsschwierigkeiten. »Wenn die Stimmung gut ist, ist es kein Problem, aber wenn Stress ist, zieht sich jeder auf das zurück, was er gelernt und gelebt hat«, bemerkte dazu eine deutsche Interviewpartnerin über sich und ihren türkischen Lebensgefährten. Doch sie weiß auch: »Wenn man nicht streitet, dann kann man nicht den richtigen Weg finden. Erst im Streiten um die richtige Lösung kann klar werden, was man selber und was der andere wirklich will.« Ein junges Paar erklärte seine Strategie, mit der es bisher gut gefahren war, so: »Wir verfahren vor unseren Kindern genauso wie vor unseren Eltern. Auch vor den Kindern zeigen wir stets Einigkeit. Wir versuchen uns immer vorher abzustimmen. Sollten wir das mal nicht geschafft haben, streiten wir uns erst hinterher, ob die Haltung des anderen wirklich die beste war.«
Die Frage der religiösen Erziehung Wenn die Paare Kinder bekamen, nahm meist das Bedürfnis zu, seine eigenen Erfahrungen, Vorstellungen und Weltanschauungen seinem Kind mitzugeben. Dann bekam auch das Thema Religion in ihren Gesprächen wieder Hochkonjunktur. »Jeder möchte seinem Kind das mitgeben, was für ihn wichtig ist.« Eine erste, weit reichende Frage stand schon bald für viele auf der Tagesordnung: Beschneidung oder Taufe? Auch vielen wenig religiös geprägten, türkischstämmigen Partnern war das Thema Beschneidung wichtig. Gründe, die für sie für eine Beschneidung sprachen, waren ganz unterschiedlicher Art: Selten waren sie nur religiös begründet, eher spielten die größere Hygiene, die Familien-Tradition und die Zugehörigkeit zu den Vorfahren für die Befürworter eine
Rolle. »Ich hätte gerne diese Verbindung zwischen Vater und Sohn gehabt. Mehr als ein Art der Gemeinsamkeit als aus einer religiösen Begründung«, erläuterte ein türkischer Vater. Der deutsche Partner reagierte aber in den meisten Fällen abwartend bis ablehnend. »Ich konnte es nicht übers Herz bringen, meinem völlig gesunden Sohn eine Operation zuzumuten. Das ging mir gegen den Strich«, erklärte eine deutsche Ehefrau. »Wir konnten uns nicht einigen und haben das Thema immer wieder verschoben. Jetzt ist er zu alt.« Damit befinden sie sich in Gesellschaft der Mehrheit der Paare: Die wenigsten haben sich zu einer gemeinsamen Entscheidung für die Beschneidung durchringen können, sie immer wieder vertagt und damit faktisch abgelehnt. Die Frage der Taufe wurde bei den meisten Paaren ebenso abschlägig beschieden. Sie verfuhren in dieser Frage wie bei der Frage der Religionszugehörigkeit ihres Kindes insgesamt: Keine frühzeitigen, einseitigen Weichenstellungen, damit seine freie Wahlmöglichkeit nicht eingeschränkt wird. Die Partner, die sich als religiös bezeichneten, bei den Paaren, bei denen mindestens einer der Partner sich als religiös bezeichnet, wollten ihren Kindern weitergeben, was sie für ihr Leben als hilfreiche Stütze und Halt empfanden. Gleichzeitig wollten sie aber den Glauben des Partners nicht verletzen. Die meisten verfuhren so, dass beide ihren Kindern ihren eigenen Weg zeigten und ihnen schließlich die Wahl ließen, welcher der ihre werden könnte. »Wir versuchen ihm viele Aspekte verschiedener Religionen zu zeigen und er kann sich später für seine eigene Richtung frei entscheiden«, stellte ein türkischstämmiger Vater klar. Lebten ein religiöser und ein atheistischer Partner zusammen, entstand der höchste Diskussionsbedarf. Die »Ungläubigen« (meist türkischer Abstammung) hatten am meisten Bedenken, dass ihren Kindern eventuell eine eingeschränkte religiöse
Weltsicht vermittelt würde. Sie konnten am wenigsten Verständnis dafür aufbringen, dass religiöse Traditionen für ihre Kinder notwendig oder hilfreich sein könnten. Ihnen war es besonders wichtig, dass die Wahl der Religion durch einen Prozess der intellektuellen Auseinandersetzung und weniger durch emotionale Anbindung bestimmt wurde. Besonders zufrieden schienen die Paare, die es geschafft hatten, ihren Kindern mehrere Möglichkeiten zu zeigen und gleichzeitig einen übergeordneten Gottesglauben zu vermitteln. »Die Grundüberzeugungen in allen Religionen sind so ähnlich, dass wir keine Probleme darin sehen. Unser Kind soll mitbekommen, dass man die Welt verschieden sehen und erklären kann. Und wenn sie später Buddhistin wird, ist es auch in Ordnung«, erläuterte ein deutscher Vater seine Meinung. Ein Paar illustrierte das an einem Beispiel: »Wir glauben beide an einen Gott, sind aber nicht an eine Religion gebunden. Als wir neulich einmal wieder über der Gehaltsabrechnung saßen und unser Blick auf die abgezogene Kirchensteuer fiel, überlegten wir, ob wir diesen Punkt einsparen und austreten sollten. Doch das erschien uns nicht richtig, schließlich unterstützt die Kirche auch viele lobenswerte Projekte. Also haben wir uns gesagt, wenn wir die Steuer schon bezahlen, dann wollen wir wenigstens etwas davon haben. Seitdem gehen wir öfter mal in die Kirche und nehmen unseren Sohn mit zum Kindergottesdienst«, meinte die türkische Ehefrau.
Die Frage der Identität »Ich glaube, unser Sohn hat keine Probleme mit seiner Identität«, meinte ein türkischstämmiger Vater. Seine Frau
nickte: »Nein, dass er uns beide, eine Deutsche und einen Türken als Eltern hat, geht für ihn, glaube ich, in Ordnung.« Aus Gesprächen mit acht der schon erwachsenen Kinder konnte ich auch etwas über ihre Sicht auf das Leben mit zwei Kulturen erfahren. Bei den meisten Paaren erleben die Kinder eine große Bandbreite an Möglichkeiten, das Leben zu gestalten. Sie werden schon früh an andere Kulturen, Sprachen und Traditionen herangeführt. Meist fiel ihnen erst spät auf, dass sie eigentlich in einer besonderen Familie lebten. »Für mich war meine Familiensituation mit meinem türkischen Vater, mit dem ich Türkisch sprach, und meiner deutschen Mutter, mit der ich Deutsch sprach, ganz normal. Erst auf dem Gymnasium wurde sie zu einer Besonderheit«, erzählte eine deutsch-türkische Studentin. Im Laufe ihrer Pubertät spielten für die deutsch-türkischen Jugendlichen Fragen der Identität eine immer größere Rolle. In dieser Lebensphase, in der die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Gleichaltrigen die Orientierung erleichtern kann, fanden sie ihre größeren Auswahlmöglichkeiten mitunter als sehr anstrengend. Zu keiner Gruppe gehörten sie ganz dazu, zu jeder aber ein wenig. Viele Fragen stellten sich ihnen oder wurden ihnen gestellt: »Wo gehöre ich hin? Wo will ich leben? Wer bin ich?«, fragten sich fast alle von ihnen. Da gab es Phasen, wo sie sich ganz bewusst auf die eine oder die andere Seite schlugen, bis sie merkten, dass sie nirgendwo alle Anteile ihrer Persönlichkeit entdecken konnten. Waren sie in deutscher Umgebung, sehnten sie sich vielleicht nach der türkischen Herzlichkeit. Waren sie in türkischer Umgebung, vermissten sie eventuell die deutsche Ehrlichkeit. Immer gab es für sie eine bessere Alternative, die sie im Gegensatz zu den anderen kennen gelernt hatten.
Zu schaffen machen konnte ihnen auch das geringe Ansehen, das die türkische Kultur allgemein in Deutschland genießt. Dass sie meist mit einer wenig gebildeten Arbeiterschicht in Verbindung gebracht und demzufolge für rückschrittlich gehalten wird, konnte zeitweise zu einer Ablehnung führen. Oder zu einer Trotzreaktion, die in einem »Jetzt erst recht!« mündete. Bei den Kindern, mit denen ich sprach, hatte der türkischstämmige Elternteil es geschafft, die türkische Kultur so mit in die Familie einzubringen, dass sie als Bereicherung wahrgenommen wurde. Viele sahen es als ihre Aufgabe an, den Deutschen zu zeigen, dass auch die türkische Kultur viel zu bieten hat, wenn man ihr vorurteilsfrei begegnet. Viele können heute in ihrer erlebten Kulturvielfalt eine Ressource sehen, die ihnen ein Leben in einer globalisierten Welt vielmehr erleichtert als erschwert. Für die meisten ist es ihr Ideal, ihre Erfahrungen mit zwei Kulturen in ihr Leben einbringen zu können. Eine Entscheidung für nur eine von ihnen würden sie als große Einschränkung empfinden. Sie wollen sich auf kein Entweder-Oder festlegen lassen, sondern ein Sowohl-Als-Auch leben. Auch auf einen einzigen Lebensmittelpunkt wollen sich viele von ihnen nicht beschränken. Für sie stehen viele denkbare Optionen offen: Türkei, Deutschland oder ganz woanders? Für die Eltern war diese Phase nicht immer ganz leicht: »Haben wir unseren Kindern zuviel zugemutet? Manchmal wünsche ich mir, wir hätten ihnen nur einen Weg gezeigt«, geriet eine deutsche Mutter ins Nachdenken. Ihrem türkischen Mann kam seine eigene Erfahrung mit mehreren Kulturen zugute. Er meinte: »Ich hätte drei Wege noch besser gefunden.«
Die Frage des Haushalts Das Klischee des türkischen Paschas hält sich hartnäckig. Unter den Paaren lag die Quote des Ehemannes, der sich bedienen lässt, aber deutlich unter dem bundesdeutschen Durchschnitt. Nur jede siebente deutsche Ehefrau bezeichnete laut einer neueren Untersuchung der Uni Bamberg ihre Aufgabenteilung als partnerschaftlich. Bei den interviewten deutsch-türkischen Paaren war es immerhin die Hälfte, die meinte, dass sie die Aufgaben im Haushalt ausdrücklich gleichberechtigt erledigt. »Gleichberechtigung – das war für uns damals keine Diskussion sondern eine Selbstverständlichkeit«, stellte eine deutsche Frau klar. Vor allem Paare, die in den frauenbewegten Achtzigern groß geworden sind, fanden auch für die Zeiten, in denen ihre Kinder klein waren, Lösungen zur ausbalancierten Aufteilung der Arbeitsgebiete. »Wir haben alle Aufgaben unter uns aufgeteilt«, erzählte ein türkischstämmiger Mann. »Das war für mich selbstverständlich. Das habe ich auch schon so mit meiner früheren türkischen Partnerin gehandhabt«, berichtete ein anderer. »Ich musste nach der Geburt unserer Tochter unbedingt wieder arbeiten, sonst wäre ich verrückt geworden«, erzählte eine Partnerin, die wie ihr türkischer Mann in einem Jugendzentrum arbeitet. »So bin ich einfach groß geworden. Ich gehöre zu einer Generation von Frauen, der man immer eingetrichtert hat, unabhängig und selbstständig zu sein.« Ihr Partner räumte dazu ein: »Finanziell hat es sich zwar nicht ausgezahlt, und wir hatten zusätzlichen Stress mit dem Organisieren der Betreuung unserer Tochter, doch es war uns wichtiger, dass jeder von uns zufrieden ist.« Wenn sich die Partner für eine Aufgabentrennung entschlossen hatten, waren es aber vermehrt die Frauen, die sich der Aufgabe der Kindererziehung bewusst widmen
wollten und dafür auch Abstriche in ihrer beruflichen Karriere in Kauf nahmen. »Ich habe mich erst einmal für meine Kinder entscheiden und gegen meinen Beruf«, sagte eine türkischstämmige, studierte Mutter. Wie alle anderen Frauen sah sie das für sich aber keineswegs als eine zwangsläufige Entwicklung sondern als eine ganz selbst bestimmte Wahl an. Eine türkische Krankenschwester, die heute 72 ist, verfuhr ganz anders: Um für ihre Familie tagsüber ganz da sein zu können, übernahm sie im Krankenhaus zusätzlich zu ihren Pflichten als Hausfrau und Mutter die Nachtschichten. Der Prozentsatz der selbstbewussten, starken Frauen unter den Paaren war hoch. Schließlich hatten sich die meisten der aus türkischstämmigen Frauen ihren eigenen Weg mit zwei Kulturen in der deutschen Gesellschaft und ihrer türkischen Familie erst erobern müssen. Das ließ sie auch in ihrer Partnerschaft selbstbewusst auftreten. Auch die deutschen Frauen unter ihnen waren an konformen Wegen meist wenig interessiert. Das galt in Bezug auf ihre Partnerwahl aber oft auch für die Gestaltung ihres partnerschaftlichen Alltags. »Man kann schon sagen, dass wir die Diskussionen, wie man gemeinsam lebt, wirklich intensiv geführt haben«, sagte dazu eine deutsche, volltags beschäftigte Krankengymnastin, die mit ihrem türkischen Partner insgesamt sechs Kinder betreut.
Die Frage der Sprache/n Die Hälfte der deutschen Partner konnte kein Türkisch. »Wir brauchen das Türkische in unserem gemeinsamen Alltag in Deutschland nicht. Ich spreche Deutsch genauso gut wie Türkisch. Warum sollte also meine Partnerin unbedingt Türkisch lernen? Das braucht sie höchstens für Besuche bei der Familie in der Türkei. Auch die in Deutschland lebenden
Familienangehörigen können schließlich Deutsch«, erklärte ein türkischstämmiger Mann. Dennoch würden sich die meisten deutschen Partner türkische Sprachkenntnisse wünschen. »Ich bin aber beruflich zurzeit so eingespannt, dass ich keine Zeit dafür finde Türkisch zu lernen«, bedauerte ein deutscher Mann. Ein Drittel der deutschen Partner besaß Grundkenntnisse, die eine Verständigung mit der türkischen Familie ermöglichten. Einige konnten die Sprache perfekt und nutzten sie zum Teil auch zur alltäglichen Kommunikation mit dem Partner. »Wir reden miteinander auf Türkisch. Schließlich hat unsere Beziehung auch in dieser Sprache angefangen«, begründete eine deutsche Frau, die ihren Mann während eines Sprachurlaubs in der Türkei kennen lernte. Doch bei der überwiegenden Zahl der Paare war ihre Familien- und Beziehungssprache Deutsch. Dabei überraschte eine deutsche Frau: »Mein türkischstämmiger Partner ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, trotzdem gab es manche Begriffe, die wir erst definieren mussten, um sicher zu gehen, dass wir wirklich über dasselbe reden.« Eine andere fragte sich immer wieder: »Hat er auch wirklich das verstanden, was ich ausdrücken wollte, oder interpretiert er seine Sichtweise in mein Gesagtes hinein?« Dann hieß es nachfragen, genau zuhören und sich einfühlen. Die Paare mussten intensiv kommunizieren, um sich wirklich zu verstehen. Sie wussten mit der Zeit, dass es unproduktiv war, von so genannten »Selbstverständlichkeiten« auszugehen.
Die Frage der Zweisprachigkeit Fast alle Paare wünschten sich eine Zweisprachigkeit für ihre Kinder. »Für mich hätten beide Sprachen, Türkisch und
Deutsch, in Frage kommen können. Doch ich wollte meiner Tochter auch etwas von meiner Kultur mitgeben können«, erläuterte ein türkischer Vater. Zwei Drittel der Paare, die Kinder haben, praktizierten die Zweisprachigkeit auch. »Es ist doch wunderbar, wenn man als Kind eine zweite Sprache dazu geschenkt bekommt«, fand eine türkische Mutter. Ein Paar dachte sich eine besondere Regel aus: Sie sprechen beide mit ihrem Kind Deutsch, während die Schwester der türkischstämmigen Mutter sich bereit erklärt hat, für die türkische Sprache zuständig zu sein. Die Mutter meinte dazu: »Mein Mann kann kein Türkisch, und ich werde später doch diejenige sein, die mit unserem Sohn Hausaufgaben macht.« Die Sprachaufteilung schien zu klappen: Der Sohn sprach schon mit 21 Monaten in beiden Sprachen. Es gab unterschiedliche Konzepte: Manche Eltern bevorzugten wie die letztgenannte Mutter eine klare Aufgabenteilung. Für sie bedeutete das: Der eine Elternteil sprach mit dem Kind nur auf Türkisch, der andere nur auf Deutsch. Die meisten aber haben sich für eine weniger strenge Regelung entschieden: Der türkischstämmige Partner wechselte je nach Situation mit seinen Kindern die Sprache. Für den deutschen Partner, der eventuell nur über rudimentäre Kenntnisse in der türkischen Sprache verfügte, war das nicht immer ganz einfach: Er musste ertragen können, dass er nicht mitverfolgen konnte, was der türkischstämmige Partner mit dem Kind besprach. »Das ist wie eine Geheimsprache zwischen meiner Frau und meiner Tochter. Ab und zu kam ich mir schon ausgeschlossen vor«, erzählte ein deutscher Vater. Viele der Paare waren aber überzeugt, dass es sich lohnt: »Durch die Zweisprachigkeit ab der Geburt wird das Gehirn für Sprachen geöffnet.« Die Kinder könnten dann auch später leichter noch eine weitere Sprache dazu lernen. Doch Geduld war gefragt. Eine deutsche Mutter erzählte: »Erst als unsere
Tochter mit drei in den Kindergarten kam, fing sie an zu sprechen. Vorher hatte sie die beiden Sprachen in ihrem Kopf quasi gespeichert. Jetzt redet sie wie ein Wasserfall auf Türkisch und auf Deutsch.« Viele Eltern erlebten, dass ihre Kinder verschiedene Phasen durchmachten: Mal erlahmte das Interesse an der zweiten Sprache, schlug bisweilen in Ablehnung um, um später wieder neu aufzuflammen. »Alle seine Freunde in der Schule sind türkische Jungs. Also wollte er auch unbedingt Türkisch sprechen können«, sagte ein Vater über seinen Sohn. »Unsere Tochter orientiert sich im Moment eher an ihren deutschen Freundinnen. Wenn ihr Vater sie auf Türkisch anspricht, antwortet sie ihm jetzt einfach auf Deutsch«, erzählte eine Mutter. Wenn Kinder im Laufe ihrer Entwicklung mitbekamen, dass die türkische Sprache in Westeuropa meist nur eine untergeordnete Rolle spielt, konnte das ihre Freude an der Sprache beeinflussen. »Türkisch ist eine Sprache, die mir in Deutschland keine wirtschaftlichen Vorteile bringt«, bemerkte dazu ein deutsch-türkischer Sohn, der seinen Lebensmittelpunkt heute ganz klar in Deutschland verortet. Doch etliche Paare zogen ihre Kinder nicht zweisprachig auf. Meist aus Zeitgründen. Denn das Erlernen einer Sprache erfordert viel Aufmerksamkeit. Das gelang nur, wenn der türkischsprachige Partner ausreichend Zeit mit dem Kind verbringen konnte. Wenn der türkischstämmige Ehepartner aber in Vollzeit arbeitete, wollte er das magere Zeitbudget mit seiner Familie oft nicht mit Sprachübungen verbringen. »Morgens war Serkan noch voll frischer Energie und wollte seinen Kindern unbedingt seine Muttersprache beibringen. Für alle Zutaten auf dem morgendlichen Tisch lernte er mit ihnen die Vokabeln. Bis abends, wenn er müde von der Arbeit kam, war seine Energie meist wieder erlahmt. So kennen sie bis
heute nur wenig mehr als die Wörter für Sachen wie Marmelade, Honig, Brot und Kaffee«, berichtete eine deutsche Mutter. Doch manchmal fiel die Entscheidung gegen eine Zweisprachigkeit auch aus einer bewussten Entscheidung heraus: In zwei Fällen überwog die Angst, dass das Kind dann später weder in der einen noch in der anderen Sprache fehlerfrei sprechen könne. »Uns sind zu viele Kinder begegnet, die mit dem Erlernen von zwei Sprachen gleichzeitig überfordert gewesen waren und nun beide nur halb beherrschten«, begründete ein Paar seine Entscheidung. Ein anderes brach die zweisprachige Erziehung ab, als das Kind anfing, beide Sprachen durcheinander zu bringen. »Meine Mutter hatte zunächst mit mir Türkisch gesprochen und mein Vater Deutsch. Mit zwei Jahren brachte ich die Sprachen durcheinander«, berichtete der Sohn. Da es damals kaum jemanden gab, den man hätte fragen können, rang sich seine Mutter dazu durch, auf ihre Muttersprache zu verzichten. Auch sie sprach fortan mit ihm nur noch Deutsch. Ein anderes Paar wollte seinem Kind die Identitätsfindung in einer deutschen Gesellschaft nicht unnötig erschweren. »Wir wollen, dass unser Kind sich in diesem Land heimisch fühlen kann und sich nicht hin- und her gerissen vorkommen muss«, meinte der türkische Vater.
Die Frage des sozialen Umfelds Viele der Schwierigkeiten, die den Paaren im Laufe ihrer Beziehung zu schaffen machten, wurden von außen an sie herangetragen. Während Paare, die innerethnisch heiraten, sich meist auf die Unterstützung ihrer Umgebung verlassen können, stehen diese Paare unter besonderer Beobachtung. »Wir
wollten unserer Umgebung beweisen, dass wir recht gehabt hatten: Wir passen doch zusammen«, erklärte ein deutscher Ehemann den höheren Erfolgsdruck, der auf ihrer heftig umstrittenen Ehe lag. Besonders innerhalb der türkischen Familien, in denen traditionell die Hilfsbereitschaft und Solidarität innerhalb der Familienbande groß geschrieben wird, führt der mögliche Verlust dieser Unterstützung zu Ängsten. Doch nicht nur durch die familiären Erwartungen wurden Probleme an die Paare herangetragen. Ebenso belastete viele, dass ihr türkischer Partner in der deutschen Gesellschaft oft mit Schwierigkeiten konfrontiert wurde, die einem deutschen wohl erspart geblieben wären: schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche, diskriminierende Erfahrungen bei Behörden und Bildungsinstitutionen. »Die Deutschen begegnen mir als Türken mit sehr viel Skepsis und Vorurteilen. Ich habe gegen ein Türkeibild anzukämpfen, das überwiegend negativ geprägt ist. In den Medien wird nur Schlechtes über die Türken berichtet«, klagte ein türkischer Ehemann. »Wir fanden lange Zeit keine Wohnung. Ich habe mich schon mit meinem deutschen Namen am Telefon gemeldet, aber wenn mein Mann mit zur Wohnungsbesichtigung kam, war sie auf einmal schon vergeben«, erzählte eine deutsche Ehefrau. Ein türkischstämmiger Partner berichtete: »Immer wenn ich eine Bewerbung losgeschickt hatte, musste ich kurze Zeit später anrufen, um zu beweisen, dass ich als in Deutschland geborener Türke auch akzentfrei Deutsch sprechen kann und gute Umgangsformen habe. Sonst bekam ich immer gleich die Unterlagen zurückgeschickt.« Bei fast allen deutschen Partnern bewirkte das im Laufe ihrer Beziehung die Entwicklung eines sensibleren Blicks für die Ungerechtigkeiten in ihrem Heimatland. »Wer denken kann, in
Deutschland gäbe es keinen Rassismus mehr, hat noch nicht genau hingeschaut«, meinte eine deutsche Ehefrau dazu. Ebensolchen Erklärungsbedarf bewirkte die Tatsache, dass der deutsche Partner sich einen Muslimen als Partner ausgesucht hatte. Der Islam wurde oft mit der Unterdrückung der Frau gleichgesetzt. »Schlägt er dich auch nicht, dein türkischer Ehemann«, wurde eine deutsche Ehefrau von ihrer Familie besorgt gefragt. Dieser Vermutung sieht sich wohl kaum ein deutsch-deutsches Paar im Vorwege ausgesetzt.
Neue Lebenswelten Nach all den Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt: Was ist nun das Reizvolle an einer solchen kulturübergreifenden Beziehung? »Durch meine Partnerschaft habe ich Einblicke in ganz andere Lebenswelten gewonnen«, meinte eine deutsche Ehefrau. »Mein Leben ist bunter und vielfältiger geworden«, drückte es ein deutscher Ehemann aus. Ihre bikulturelle Beziehung weitete entscheidend ihren Blick. Sie regte dazu an, die eigenen Wurzeln bewusster wahrzunehmen und zu reflektieren. Sich hinterfragen zu lassen wurde zum Test für die eigenen Meinungen. »Wer die Hinterfragung eigener und fremder Vorstellungen nicht als lästige Störung ansieht, sondern Spaß daran hat, sich dieser intellektuellen Herausforderung immer wieder neu zu stellen, wird sicher mehr Freude an einer interkulturellen Beziehung haben als der, der eher die Bestätigung im Gleichklang sucht«, fasste ein türkischer Partner zusammen. Darin waren die türkischstämmigen Partner häufig besser geübt. Ein türkischer Ehemann bemerkte dazu: »Etwas mir Ähnliches zu treffen konnte ich mir in Deutschland sowieso nicht vorstellen – ich war schließlich immer der Außenseiter.«
Da keines der Paare seine Verbindung als Zweckgemeinschaft ansah, ergab sich ein intensives Bemühen um Verständnis. »Wir müssen sicher mehr erklären als andere Paare«, glaubte auch ein türkischer Ehemann. Wer die Bereitschaft zum Nachdenken über seine eigene Kultur mitbrachte, erlebte die Erweiterung seines Horizontes. »Offenheit für andere Sichtweisen zu entwickeln«, sah auch eine deutsche Ehefrau als Voraussetzung. »Immer wieder neugierig bleiben auf Veränderungen«, fand ein anderes Paar wichtig. Dabei hatten diese Paare, die bezogen auf ihre Herkunftsgruppe immer eine Minderheit darstellen, auch einen Vorteil. »Wir haben eine Art Narrenfreiheit«, meinte einer der Gesprächsteilnehmer. »Wir sind sowieso einen Sonderweg gegangen.« Für sie wurde im besten Fall die Zubereitung eines besonderen Kulturmixes möglich. »Wir picken uns das Beste aus beiden Kulturen heraus«, waren die meisten überzeugt. Die türkische Küche, Geselligkeit, Herzlichkeit, Aufgeschlossenheit und der »türkische« Familienzusammenhalt gehörten für viele zum Erhaltenswerten. Die »deutsche« Zuverlässigkeit, Genauigkeit, Pünktlichkeit, Ehrlichkeit und die »deutsche« Freiheit zur Individualität waren für viele ebenfalls Bestandteile ihrer Mischung. Eine Verknüpfung des Denkens im »Wir« und im »Ich« versuchten viele zu erreichen. Die beiden Denkkreise ihrer Kulturen übereinander zu schieben und ihnen eine Schnittmenge zu geben, die ausreichend Raum für das gemeinsame Leben ermöglicht, war das Ziel der meisten Paare. Die meisten haben mehr Überschneidungen entdeckt, als sie zunächst gedacht hatten. Doch wenn sie einmal keine gemeinsame Lösung fanden, hatten sie auch kein Problem damit, dem Partner die Freiheit zum eigenen Weg zu geben. »In Diskussionen sollte man nicht
gleich das Veränderungsprogramm für den Partner im Kopf fertig haben«, meinte eine deutsche Partnerin dazu. Sondern eher die Freiräume für den einzelnen vergrößern: »Da wir uns absolut vertrauen können, geben wir uns gegenseitig sehr viel Freiheit, unseren eigenen Vorstellungen nachzugehen«, schilderte ein deutsch-türkisches Paar seinen Weg.
Typisch deutsch, typisch türkisch? »Vielleicht läuft es bei uns gerade deswegen so gut, weil wir unsere Unterschiede nie kulturell eingetütet haben«, vermutete ein türkischer Ehemann. »Nie haben wir gesagt: Ihr Deutschen macht das so, Ihr Türken macht das so.« Schubladen schätzten diese Paare wenig. »Mein Mann ist nicht in erster Linie türkisch, sondern er ist eben Onur«, meinte eine deutsche Partnerin. Klischees behinderten sie nur in ihrem Zusammenleben. Deswegen versuchten sie Klassifizierungen in »typisch deutsch« und »typisch türkisch« möglichst zu vermeiden. »Wir haben unsere Probleme nie als türkischdeutsche sondern mehr als Probleme zwischen Mann und Frau gesehen«, bemerkte dazu eine deutsche Partnerin. Nur in der Begegnung zwischen Individuen ist Verständnis möglich. Wenn in der Diskussion Verstärkung aus dem eigenen Kulturkreis hinzugezogen wurde, bekam sie leicht Schlagseite. Wenn sich »die Deutschen« oder »die Türken« mit in die Diskussion einschalteten, wurde eine gleichberechtigte Einigung eher unwahrscheinlicher, so war ihre Erfahrung. Gerade am Themenkreis Religion, der gemeinhin als die schwierigste Klippe gilt, zeigt die sich erfolgreichste Strategie der Paare, die sich auch auf andere Themen übertragen lässt. Immer wenn ihre beiden Kulturkreise nur wenig Überschneidung boten, hatten sie kein Problem damit, sie
nebeneinander stehen und den Partner sich zeitweise in seinen Bereich zurückziehen zu lassen. Die meisten Paare ließen die Traditionen, die sich aus ihren christlichen und islamischen Wurzeln ergaben, nebeneinander laufen. »Ich will gerne auf meine deutsche Partnerin zukommen, aber ich bleibe ein Moslem. Meine Religion ist mir wichtig. Ich bete und faste«, stellte ein türkischstämmiger Partner klar. Diesen Respekt seinem Partner zu geben, war für alle eine wichtige Grundlage ihrer Beziehung. Das Motto eines Paares: »Alles erklären, aber nichts rechtfertigen müssen« passte für die meisten. Dieses Motto der Toleranz und der Akzeptanz anderer Weltsichten verfolgten sie auch bei der Erziehung der Kinder. Ihnen lebten sie ihre verschiedenen kulturellen Wurzeln vor und trauten ihnen auch Widersprüchlichkeiten zu. Da die Kompetenzen dieser Paare im Erklären und Kommunizieren durch ihr großes Trainingsfeld in ihrer Partnerschaft als eher überdurchschnittlich angesehen werden können, gelang ihnen das auch meist im Hinblick auf ihre Kinder. Eine deutsche Mutter freute sich in der Rückschau: »Mit uns beiden erleben sie, dass es verschiedene Kulturen geben kann. Sie bekommen mit, dass man mit verschiedenen Traditionen und Lebensvorstellungen glücklich werden kann. Das ist doch ziemlich Horizont erweiternd, oder?«
Außergewöhnliche Beziehungen Obwohl die Anzahl binationaler Ehen dagegen spricht, werden diese Beziehungen immer noch als außerhalb der Norm stehend betrachtet. Sie sind immer noch ungewohnt und erscheinen als außergewöhnlich. Doch die meisten Probleme, die die Paare in ihren Erzählungen schildern, sprechen eher von den üblichen Alltagsabstimmungen. Welches Paar muss
schließlich keine Absprachen in Fragen des Zusammenlebens treffen? »Wenn sich zwei Menschen begegnen, müssen sie sich immer erst einmal kennen lernen. Sie müssen viel erzählen und erklären, um sich wirklich verstehen zu können«, meinte ein deutscher Partner dazu. »Ich habe jedenfalls Melitem nicht in erster Linie als Türkin sondern als Frau gesehen.« Es treffen schließlich immer zwei unterschiedliche Persönlichkeiten mit ihren Vorstellungen, Lebensidealen, Vorlieben, Abneigungen, Erziehungserfahrungen und Familienstrukturen aufeinander. Bikulturelle Paare sind sich der Notwendigkeit zur intensiven Kommunikation wohl schon zu Zeiten bewusst, in denen monokulturelle Paare sich noch in völliger Harmonie wähnen. Die Lösungen, zu denen sie gekommen sind, dürften allerdings auch den meisten monokulturellen Paaren bekannt vorkommen. Das Bewusstsein um Unterschiedlichkeiten und die Akzeptanz der Differenz in einigen Punkten, die deutsch-türkische Paare im Laufe ihrer Beziehung trainieren, kommt auch Paaren zugute, die ihre Wurzeln in derselben Kultur verorten. »Die deutsche und die türkische Kultur passen einfach nicht zusammen!« Mit diesem Statement sahen sich viele Paare konfrontiert. Doch in der persönlichen Begegnung zwischen zwei Menschen werden mehr Schattierungen in diesem Schwarz-Weiß-Bild sichtbar. Kultur ist eben nicht eine statisch festgeschriebene Größe sondern das Zwischenergebnis eines fließenden Prozesses. Das gilt sowohl für die Kultur der Menschen, die einstmals als Migranten nach Deutschland kamen, als auch für die deutsche Kultur. Auch sie hat sich durch vielfältige Einflüsse in einer globalisierten Welt verändert. Diese stetige Weiterentwicklung kann heute schon als eine Norm betrachtet werden, der sich Gesellschaften stellen müssen, um auf dem Weltmarkt mithalten zu können.
Die deutsch-türkischen Paare stellen sich aktiv dieser kulturellen Veränderung, indem sie sie in ihrem alltäglichen Privatleben praktizieren. Sie zeigen, wie anregend es sein kann, einen intensiven »interkulturellen Dialog« zu führen. Sie erlernen damit eine Flexibilität, die ihnen das Zurechtfinden in einer zukünftig immer mehr global agierenden Welt erleichtern wird. Die Gesellschaften in den Industrienationen werden voraussichtlich immer multikultureller werden. In ihnen dürften dann bikulturelle Partnerschaften auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung längst zu einem selbstverständlichen Bestandteil geworden sein.
Zum Schluss das Wichtigste Ich möchte mich ganz herzlich bei allen Paaren bedanken, die mir so vertrauensvoll aus ihrem ganz privaten Leben erzählt haben. Ich danke ihnen für die große Offenheit, mit der ich stets empfangen wurde. Dieses Dankeschön gilt in besonderem Maße auch denjenigen, die leider nicht mehr mit einer ausführlichen Geschichte in diesem Buch vertreten sein konnten. Ohne die Bereitschaft aller, mir von ihren Erfahrungen zu berichten, hätte dieses Buch nicht entstehen können.