SCIENCE FICTION ROMAN
Alexis A. Gilliland
Machtkampf auf Rosinante THE PIRATES OF ROSINANTE
Deutsche Erstveröffentli...
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SCIENCE FICTION ROMAN
Alexis A. Gilliland
Machtkampf auf Rosinante THE PIRATES OF ROSINANTE
Deutsche Erstveröffentlichung
Wilhelm Goldmann Verlag
Aus dem Amerikanischen übertragen von Dr. Eva Maisch
Made in Germany – 3/84 • 1. Auflage – 118 © der Originalausgabe 1982 by Alexis A. Gilliland This translation published by arrangement with Ballantine Books, A Division of Random House, Inc. © der deutschsprachigen Ausgabe 1984 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlagentwurf: Design Team München Umschlagillustration: Rick Sternbach/Ballantine Books, New York Satz: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Druck: Eisnerdruck GmbH, Berlin Verlagsnummer 23450 Lektorat: Helmut Putz/Peter Wilfert Herstellung: Peter Papenbrok ISBN 3-442-23450-6
Prolog Nach der historischen Wasserscheide des Frühlings 2004 bildete sich die Nordamerikanische Union aus den Vereinigten Staaten, Kanada und Mexiko. Ein Jahr später wurde auch Kuba mit einbezogen. Die Regierung der Nordamerikanischen Union (NAU) konzentrierte ihre Energien auf den Weltraum, in einer gigantischen Kräfteexplosion, die mehr als eine Generation überdauerte. Da nach setzte die Reaktion ein. Die Wahl von 2028 markierte das Ende eines zwanzigjährigen nautischen Bauprogramms, das der NAU die unbestrittene Herrschaft im All eingetragen hatte. Ein Jahr später spaltete sich die einheitliche Kommando-Struktur der NAURANavy in drei rivalisierende Flotten, die L-4- und die L-5-Flotte, deren Stützpunkte in den Lagrange-Gebieten lagen, sowie die Translunar-Flotte, deren Reichweite sich bis zu Ceres erstreckte. Gleichzeitig mit der Zersplitterung der Kommandozentrale wurde ein Ka der aus Politischen Offizieren eingesetzt, der die bis dahin unbestrittene Loyalität der Navy wiederherstellen sollte. 2033 deckte das Politische Büro eine Verschwörung auf, die bestrebt war, das alte Regime wiedereinzusetzen. Die Navy wurde von ›Altregimisten‹ gesäubert, die ausschließlich – und günstigerweise – Anglos waren, weiße Angloamerikaner. Die politisch verfügte Lösung des Problems bestand darin, ein Quotensystem einzuführen, demzufolge in allen Berufsgruppen und in allen Rangordnungen die gleiche Anzahl von Anglos und Hispaniern beschäftigt werden mußte. Man nahm an, daß die Hispanier das alte Regime ablehnten und sich gegen seine Wiedereinsetzung wehren würden. Die NAU war natürlich nicht stabil. Es gab für ihre verschiedenen Völker keinen Grund, unter einer einzigen Regierung zu leben. Demographische Verschiebungen führten zu ständigen Spannungen. Die Demokratie wurde immer funktionsunfähiger. Die Sezession maskierte sich als Antihegemonismus. 2039 begann sich alles aufzulösen. Gouverneur Panoblanco von Texas provozierte am Alamo einen Aufstand angloamerikanischer Studenten und schickte eigenmächtig 2491 Rebellen in einem Raum-Shuttle zuerst nach Laputa und dann zum Asteroiden Rosinante, wo sie den Mundito (die kleine Welt) Rosinante, ein Gemeinschaftsprojekt mit den Japanern, bemannen sollten. Daraufhin wurde er von einem Fernlenkgeschoß getötet, was zu einer Polarisierung der anglohis panischen Tendenzen in der NAU führte. Die hispanischen Offiziere und die Rangklassen in der Navy bildeten jetzt kein Bollwerk mehr gegen die Altregimisten, sondern übten selbst einen starken destabilisie renden Einfluß aus. Die Meuterei vom 20. April 41 begann in der L-4-Flotte nach der Ermordung eines zweiten prominenten Chicano-Politikers. Commander Robert Lowell hißte das Banner von Mexico Libre und des alten Regimes, und es kam zu einem spontanen Aufruhr. Seltsamerweise meuterte die L-5-Flotte, die als Schwester der L-4 betrachtet wurde, nicht. Da sämtliche größeren Einheiten der L-5 wegen mangelnder Versorgung nicht operieren konnten, war diese Flotte im All stationiert – loyal, aber völlig unbrauchbar. Die normalen, gegen politische Unzufriedenheit
eingesetzten Mittel, die man zur Rotation und als Ersatzteile benötigte, standen nicht mehr zur Verfügung. Ein akuter Substanzverlust in der Ozonschicht hatte die Stornierung fast aller Shuttle-Flüge bewirkt, und in einem Bürgerkrieg war Loyalität ein kostbares Gut, das man nicht im Weltall vergeuden wollte. Am Ende des Jahres hatte die NAU die de facto-Sezession von Mexiko de jure anerkannt. Der Fehlschlag des Coups, den die vier Generäle in St. Louis initiiert hatten, inspirierte für alle Zeiten Lieder und Balladen, markierte aber auch das Ende der Altregimistenbewegung auf Tellus. Doch im Weltraum schlugen die Herzen immer noch für das alte Regime. Zum Beispiel begeisterte sich Charles Chaves Cantrell dafür, der nach dem Rückzug der Japaner die Herrschaft auf Mundito Rosinante übernommen hatte. Die L-5-Flotte, die beinahe ebenso wie die L-4 die rote Fahne der Revolution gehißt hätte, stellte fest, daß sie durch den willkürlichen Personaltransfer angloamerikanischer und loyalistischer geworden war. Im Gegensatz dazu wurde die L-4 hispanischer und revolutionärer. Die Translunar-Flotte, weit auseinandergezogen und weit vom Schauplatz entfernt, büßte die politischen Aktivisten ein, die vielleicht einmal in ihren Reihen amtiert hatten, und stand den Leidenschaften von Tellus in wachsendem Maße neutral gegenüber. Innerhalb der L-4-Flotte fand eine sekundäre Abwanderung statt. Zuerst trennte sich die Mexico Libre-Partei von den Altre gimisten. Später erkannten die hispanischen Altregimisten, daß sie auf verlorenem Posten standen, und es war nur natürlich, daß sie sich dem Hauptverband der L-4 anschlossen, der sich mit der Zeit zur Marine der Vereinigten Staaten von Mexiko entwickelte, unter Admiral Antonio Jimenez. Die angloamerikanischen Altregimisten sahen sich in einigen wenigen Schiffen isoliert, in der sogenannten Altregimisten-Schwadron (ARS). Eine der ersten Operationen Jimenez' bestand darin, seinen alten Kapitän, Commander Robert Lowell, in Sicherheit zu brin gen und nach Mundito Rosinante zu verfrachten. William Marvin Hulvey, der starke Mann in der NAU-Regierung, verlangte Lowells Auslieferung. Cantrell hatte zwingende Gründe gehabt, die NAU zu verlassen. Nachdem er das Ansuchen um Lowells Auslieferung erhalten hatte, antwortete er, Lowell wäre sein Gast und Rosinante würde sich eher von der NAU trennen, als Hulveys Wunsch zu erfüllen. Es ist hilfreich zu wissen, daß Cantrell eine große La ser-Anlage gebaut hatte, die vom Licht eines mehrere tausend Quadratkilometer großen Spiegelmosaiks gespeist wurde und Raketen sowie Schiffe über enorme Entfernungen hinweg zerstören konnte. Hulvey, der seine eigenen Gründe hatte, beharrte auf seiner Forderung. Am 22. Januar 2042 erklärte Mundito Rosinante seine Unabhängigkeit. Hulveys Sturz mag durch die Aufnahme, die der ARS-Verband auf Rosinante fand, beschleunigt worden sein, oder er war ohnehin unvermeidlich gewesen. Hulvey trat während eines Dis puts über die Politik, die mit der ARS zusammenhing, zurück.
1 Vom: Navy-Maschinenbaubüro Betrifft: Zustand der L-5-Flotte An: NAURA-Navy, z. Hd. William Hulvey Datum: 25. Januar 42 I.
Dies ist die Antwort auf Ihre Aktennotiz vom 21. Januar 42, die diesem Büro die Anweisung gibt, maximale Anstrengungen zu unternehmen, um die L-5Flotte zum frühest möglichen Zeit punkt in Kampfbereitschaft zu versetzen. A. Wir haben eine dritte Schicht (mit unterschiedlicher Be zahlung) in alle betroffenen Gebiete abkommandiert. B. Wir haben die Bezahlung äußerst umstrittener Kostenüberschüsse angeordnet, um erneut die Dienste unserer Hauptvertragspartner in Anspruch nehmen zu können. C. Wir haben auf die Forderung verzichtet, daß die größeren Retro-Anlagen auf den derzeitigen Stand der Technik gebracht werden. II. Wir bereiten ein zusätzliches Budget-Ansuchen vor, um diese zusätzlichen Kosten decken zu können, und werden es am 31. März 42 beim KOB einreichen. III. Wir schätzen, daß die L-5-Flotte am 10. März 42 imstande sein wird, eine Operation gegen die Reste der L-4-Flotte durchzuführen, die nicht zur Mexikanischen Marine gestoßen ist; gegen die verbissenen Sieg- oder TodFanatiker, die um jeden Preis eliminiert werden müssen; gegen die Mitglieder der sogenannten Altregimisten-Schwadron, wobei die L-5 der ARS zah lenmäßig überlegen sein wird – was die Schiffe angeht, in einem Verhältnis von 11:1 und hinsichtlich des Schießpotentials in einem Verhältnis von 13:1. (Fehlende Unterschrift.) Commander, L-F. Maschinenbau-Leitung. Der Admiral studierte den Text auf seinem Gerät, dann meinte er: »Die Satzkonstruktion in Paragraph III ist ein bißchen barock. Streichen Sie von ›die Reste‹ bis zu ›Schwadron‹ und fügen Sie statt dessen ›die ARS-Verräter‹ ein.«
2 »Möchten Sie vor der Versammlung noch eine Tasse Kaffee trinken?« »Nein«, sagte Simon Whelan, ordnungsgemäß gewählter Ka pitän der SS Wyoming. »Vielleicht ein Glas Whiskey – aber um Himmels willen keinen Kaffee!« »Falls Sie eine Anästhesie wünschen – wir haben Novokain«, erwiderte Carol Tower. »Worin könnte das Problem liegen?« »Du liebe Güte, warum können wir uns nicht wenigstens ansatzweise wie eine Navy aufführen?« »Warum kann sich eine Frau nicht wie ein Mann benehmen?« konterte Carol.
»Wenn wir eine Navy wären, würden wir nicht diese stupiden Versammlungen abhalten. Nun? Warum haben wir diese Sitzung einberufen?« »Damit wir fünf Schiffe und fünfzehn politische Parteien dazu bringen, sich auf die ›richtige‹ Taktik zu einigen«, antwortete Whelan. »Angenommen, wir finden die richtige Taktik«, sagte sein Exekutivoffizier, »glauben Sie, daß wir wirklich so viele Parteien haben? Die SS Tampa hatte vor der Meuterei eine Radikal-Unversöhnlichkeits-Partei-Zelle an Bord, und die haben danach das Schiff übernommen...Alle noch verbliebenen Anarchisten und Radikalen tun, was die RUP sagt. Ein Schiff – eine Partei, okay?« »Das ist die lokale RUP«, sagte Whelan und zog sein blaues Jackett an. »Das Parteihauptquartier in Mexico City macht ein großes Getue darum, daß es ein Kriegsschiff kommandiert, aber Malevitch ist sein eigenes – eh, sein eigener Herr. Arschloch, Arschloch, deine Pracht – auf dem hellen Topf der Nacht...« »Man hat ihm Geld geschickt«, sagte Carol. »Was ist mit der Havana und der Halifax?« »Was soll mit ihnen sein? Alle unzufriedenen, inkompetenten und mißvergnügten Anglos in der L-4 sind auf diesen beiden Schiffen hängengeblieben, als Admiral Jimenez El Quatro der Mexikanischen Marine angegliedert hat.« »Genau. Waren sie nicht hinsichtlich des Themas Oralsex versus Analsex polarisiert?« »Ich habe gehört, daß es um Haschqualmen und Fixen ging«, entgegnete Whelan. »Da haben wir bereits vier politische Parteien.« »Bullenscheiße. Wenn wir diese beiden Schiffe zusammenkoppeln würden, hätten wir keine einzige klar formulierte politische Meinung.« »Wir reden über politische Parteien«, entgegnete er. »Wenn Sie Zusammenhänge suchen – versuchen Sie's doch mit der San Francisco RATS.« »Mit der Reaktionären Aktivisten-Trainings-Schule? Wir sprechen v o n politischen Parteien, nicht von Debattenteams.« »Und als was würden Sie die Konstitutionelle Restaurations-Partei auf der SS San Francisco bezeichnen?« »Jetzt haben Sie mich drangekriegt«, gab Carol zu. »Okay, nennen wir diesen Verein ›politische Partei‹. Das wären also zwei Parteien auf vier Schiffen. Und was ist mit Ihrer geliebten Wyoming?« »Was soll mit der Wyoming sein? Die Mannschaft ist völlig uninteressant, und die Offiziere sind gemäßigte Trimmer, sogenannte Altregimisten, die von der Säuberungswelle in den Jahren 33 und 34 nicht erfaßt wurden – Schlappschwänze, verweichlichte Wischi-waschi-Techniker! Diese Trottel würden nicht einmal eine Order akzeptieren, in der drei Hurras für die vier Generäle anbefohlen werden.« »Aber sie haben Sie zum Anführer gewählt, Sir! Das sagt einiges über Ihren Charakter aus.« »In zwei Minuten beginnt die Ausschußversammlung«, verkündete eine Männerstimme. »Fünfzehn Parteien – das war vielleicht eine Übertreibung«, sagte Whelan. »Aber jede politische Partei ist schon eine zuviel. Man kann die Idioten nicht dazu kriegen, irgend etwas gemeinsam zu tun.«
»Das ist wahr«, stimmte sein Exekutivoffizier zu. »Wollen wir die Kamera einschalten und den 85. Ausschuß der ranghöchsten Offiziere von d e r Altregimisten-Schwadron auf Vordermann bringen?« »Warum nennen sie sich eigentlich nicht Altregimisten-Konföderation?« »Vermutlich konnten sie den Begriff ›Konföderation‹ in ihrer Organisationstabelle nicht finden«, sagte Carol. »Gehen wir.« Sie öffnete die Tür, und sie machten sich auf den Weg, um im üblichen anarchistischen Chaos der Offiziersversammlung den Vorsitz zu führen. Als sich die Versammlung mühsam dazu durchgerungen hätte, ein neues Thema anzuschneiden, drückte Whelan den kleinen Hammer in Carol Towers Hand. »Der nächste Punkt auf der Tagesordnung ist auf meinem eigenen Mist gewachsen. Ich werde ums Wort bitten und für die restliche Debatte den Vorsitz an Madame Vize übergeben. Ich schlage vor, im Namen des ARARSO einen Brief abzuschicken. Hier ist er.« Der Brief flutete über die Telekonschirme der ARS.
ENTWURF, DEM AUSSCHUSS ZUR UNTERSCHRIFT VORGELEGT. (ARSBRIEFKOPF) Lieber Gouverneur Cantrell, der 85. Ausschuß der ranghöchsten ARS-Offiziere hat einstimmig beschlossen, Ihnen zu Ihrer Entscheidung zu gratulieren, die Unabhängigkeit von der Nordamerikanischen Union zu proklamieren. Außerdem wollen wir unserer Dankbarkeit und tiefen Befriedigung über die großzü gige Unterstützung Ausdruck geben, die Sie Kapitän Robert Lowell gewährten, unserem Offiziersbruder und Waffenkamera den. Falls die ARS Sie in Ihrem Kampf gegen die NAU unterstützen kann, zögern Sie bitte nicht, uns zu verständigen. Hochachtungsvoll ... »Irgendwelche Debatten?« fragte Carol Tower und blickte auf die Telekonschirme, die alle vier Kreuzer der ARS mit dem Schlachtschiff verbanden. Mehrere Hände hoben sich, und sie wies mit dem Hammer auf Commander Paul Casey von der SS Halifax. »Meiner Meinung nach ist Lowell einfach abgehauen«, sagte er. »Vielleicht war er nicht der einzige – aber macht es uns wirklich so verdammt glücklich, daß er sich gedrückt hat?« »Der Ansicht bin ich auch«, fügte eine Frau hinzu. »Er hat die Meuterei angezettelt, also hätte er bis zum Ende bei uns bleiben müssen.« Allgemeines zustimmendes Gemurmel. »Sollen wir das Wort ›Dankbarkeit‹ streichen, Paul?« fragte Carol. »Ja, diesen Antrag stelle ich. Von ›mittelmäßiger Befriedigung‹ können wir vermutlich nicht sprechen, was?« »Wohl kaum«, entgegnete Carol. »Captain Whelan, können wir ›Dankbarkeit‹ streichen?« »Nun wird das Jammern über unsere Unzufriedenheit von diesem Mann zu glorreichem Gemecker aufgebauscht...« »Soll das heißen, daß wir die ›Dankbarkeit‹ streichen können?« erkundigte sich
Carol. »Wir haben einen entsprechenden Antrag ...« »Okay«, stimmte Whelan zu. »Lowell wird ganz zweifellos auf dem schnellsten Weg zur Schnecke gemacht.« »Dann können wir ja fortfahren. Die Vorsitzende ruft Captain Johnstone von der San Francisco auf.« »Danke, Carol. Ich möchte mich nur informieren – warum schicken wir diesen Brief ab?« »In erster Linie möchte ich erreichen, daß wir nach Rosinante eingeladen werden«, erklärte Whelan. »Es steht doch wohl fest, daß wir nicht hierbleiben können, und Rosinante ist die erste Chance, die sich uns seit der Meuterei bietet.« »Sie können doch nach Mechico gehen, Señor«, schlug irgend jemand vor, und Carol klopfte mit ihrem Hämmerchen auf den Tisch, um für Ruhe zu sorgen. »Die Vorsitzende ruft Gloria diLido von der SS Tampa auf.« »Sieg oder Tod«, rezitierte Gloria diLido. »Die Radikale UnversöhnlichkeitsPartei wird sich niemals unterwerfen und niemals den Rückzug antreten. Ich habe das Gefühl, daß Captain Whelan defätistische Tendenzen zeigt und zum Rückzug neigt...« Sie zwinkerte nervös mit ihren langen schwarzen Wimpern. »Und wir müssen gegen jede Axt von Defätismus und Rückzugsdenken kämpfen.« »Und?« fragte Carol. »Ich bin gegen die Beweggründe, die Captain Whelan veranlaßt haben, diesen Brief aufzusetzen.« »Aha. Verstehe ich Sie richtig? Wollen Sie Rosinante nicht zur Unabhängigkeit gratulieren?« »Nicht direkt, Carol...«, sagte Gloria diLido. »Wollen Sie den Brief abändern?« »Ich beantrage, die Entscheidung über den Brief zu verschie ben«, antwortete Gloria diLido. »Die Vorsitzende kann Ihren Antrag nicht akzeptieren, diLido«, sagte Carol. »Das geht nicht gegen Sie persönlich – aber wir werden über den Brief abstimmen.« »Hm ...« Gloria diLido beschloß, keinen Streit zu entfachen, in dem sie vermutlich den kürzeren gezogen hätte. »In diesem Fall sollten wir den dritten Satz streichen. Wir könnten Rosinante nicht helfen – wenn die tatsächlich dumm genug wären, uns darum zu bitten.« »Hiermit liegt uns ein Antrag vor«, sagte Carol. »Captain Johnstone?« »Ist das nicht krasser Defätismus?« »Wir könnten den dritten Satz ja auch mit beißender RUP-Rhetorik ersetzen«, schlug Whelan sarkastisch vor. »Stimmen wir endlich ab«, verlangte irgend jemand. Man entschied mit sechs gegen fünf Stimmen, den dritten Satz zu streichen. Johnstones Antrag, diesen Satz durch die Bitte um eine Einladung nach Rosinante zu ersetzen, wurde lang und breit beredet und zur Diskussion gestellt. »Die Vorsitzende ruft Dr. Blanchard von der SS Halifax auf.« »Stimmt es, daß auf Rosinante eine große Laser-Anlage gebaut wurde?« fragte sie. »Vermutlich«, antwortete Carol. »Aber was hat das mit unserem Brief zu tun?« »Nun, es macht einen Unterschied hinsichtlich der Überle gung, ob wir hinfliegen
sollen oder nicht«, meinte Dr. Blan chard. »Weiß irgend jemand darüber Bescheid?« »Wir sind doch noch gar nicht eingeladen worden«, erwiderte Carol. »Captain Whelan?« »Einer von unseren Jungs in Laputa hat eine Freundin im Op tischen Überwachungslabor«, sagte er. »Ersten Schätzungen zufolge mißt diese Laser-Anlage über zehn Meter im Durchmesser und ist etwa siebzehn Kilometer lang.« »Wie wird sie denn gespeist?« fragte irgend jemand. »Mit dem Mitsubishi-Drachenskalenspiegel, den sie da draußen haben«, erklärte Whelan. »Anscheinend reflektieren sie mit vielen Millionen kleinen Spiegeln das Sonnenlicht und pumpen es in die große Laser-Anlage.« »Sie wissen doch, daß das gar nicht funktionieren kann, oder?« stieß Gloria diLido hervor. »Sie wissen es, und ich weiß es«, entgegnete Carol, »aber Cantrell ist der Mann, der unser Glückwunschschreiben erhalten wird.« »Nun, jedenfalls würde es nicht klappen«, meinte Gloria diLido. »Ein Laser muß mit monochromatischem Licht gespeist werden.« »Die machen das eben mit ihren Spiegeln«, sagte Whelan. »Ich stelle den Antrag, den Brief abzuschicken.« Das korrigierte Schreiben wurde gebilligt, unterzeichnet und am 23. Januar 42 datiert. Die Antwort traf prompt ein.
»Lieber Captain Whelan, wir haben den Brief der ARS erhalten, in dem Sie Rosinante zur Unabhängigkeit von der NAU gratulieren. Die Gefühle, die darin zum Ausdruck gebracht werden, haben uns tief bewegt. Ich schreibe an Sie, weil ich das Protokoll nicht kenne, das sich auf die Korrespondenz mit einem ›Ausschuß ranghöchster Offiziere‹ bezieht. Vielleicht gibt es gar kein solches Protokoll. Wie dem auch sei – ich bin der Altregimisten-Schwadron als Gruppe und Ihnen als Einzelperson sehr gewogen. Es wäre möglich, daß wir einander helfen könnten. Einer der höchsten Preise, den man für die Unabhängigkeit zahlen muß, ist die Finanzierung der Selbstverteidigung. Wie Sie vielleicht wissen, hat Rosinante eine 12,5 Meter dicke Laser-Anlage entworfen und gebaut, die von einer mehrere tausend Quadratkilometer großen Fläche aus geschichteten Spiegeln gespeist wird. Erst durch die Existenz dieser Vorrichtung wird unsere Unabhängigkeit vorstellbar. Es ist ein axiomatischer Grundsatz, daß jede Waffe sowohl zu Gegenwaffen als auch zu Gegenmaßnahmen herausfordert. Die 12,5-Meter-Laser-Anlage mag formidabel sein, ist aber auch verwundbar. Als freie Nation könnte Rosinante eine Flotte gut gebrauchen, auch wenn es nur ein kleiner Verband ist – eine Flotte, die unsere wirtschaftlichen Aktivitäten und unsere Exi stenz verteidigen würde. Es ist uns unmöglich, eine Flotte aufzubauen. Doch wir könnten eine bereits bestehende Flotte unterhalten. Bitte, überlegen Sie sich, ob Sie Bürger von Rosinante werden und mitsamt Ihren Kriegsschiffen in unseren Staat übersiedeln wollen. Wir hoffen, daß Ihnen die
Logik einer solchen Handlungsweise einleuchten wird. Ich könnte diese Logik sogar als ›zwingend‹ bezeichnen, möchte aber nicht anmaßend erscheinen. Hochachtungsvoll« /s/ Charles C. Cantrell, Gouverneur von Rosinante 27. Januar 2042 Das Kapitänsbüro der SS Wyoming hatte früher zu einer Admiralssuite gehört. Die üppige Einrichtung war schon vor langer Zeit entfernt und verkauft worden, aber man hatte das Büro nicht neu ausgestattet. Und so war es ein großer, leerer Raum, ohne die Installationen, Kabel und Drähte, die ihn einem nützlichen Zweck zugeführt hätten. Nach der Meuterei wurde das re guläre Kapitänsbüro für unbrauchbar erklärt. Ein zusammengedrehter Strick aus farbenverschlüsselten Kabeln wurde durch eine beige Wand geschoben und diagonal über die weißgetünchte Decke gezogen, um die Arbeitsgeräte in der gegenüberliegenden Ecke in Gang zu halten. Dort saß der Exekutivoffizier der SS Wyoming in einem der Stühle aus Drahtgeflecht und las. Carol Tower, eine zierliche Blondine von sechsundzwanzig Jahren, hatte am zweiten Tag der Meuterei ihr Lieutenantspatent zurückgegeben, mit der Be gründung, daß Kompetenz und Persönlichkeit mehr zählten als Dienstgrade, die man von einer zweifelhaften Autorität verliehen bekommen hatte. Sie trug Zivilkleidung, und ihr modischer Geschmack ließ auf Temperament und Robustheit schließen, gepaart mit einem Hang zu Pomp und Prunk. Carol zeigte nur sehr wenig Haut. Sie gab Captain Whelan den Brief zurück. »Sehr interessant, Simon. Was werden Sie tun?« »Ich werde den Brief heute abend dem Ausschuß vorlegen«, antwortete er und goß sich eine Tasse Kaffee ein. »Vermutlich werden die Radikalen Unversöhnlichen einen Riesenwirbel veranstalten.« »Gloria wird an die Decke springen«, prophezeite Carol. »Glauben Sie, daß sie das Angebot annehmen werden?« »Der Ausschuß oder die Radikalen Unversöhnlichen?« »Der Ausschuß. Ich nehme an, die RUP wird mit der Abspaltung drohen, wenn sie ihren Willen nicht durchsetzen kann.« »Der Ausschuß wird Gouverneur Cantrells Angebot wahrscheinlich annehmen wollen«, meinte Whelan und nippte an seinem Kaffee. »Das steht so gut wie fest – aber möglicherweise wird es zu keiner Abstimmung kommen.« »Die würden nicht einmal für viel Geld abstimmen. Was werden Sie also tun?« »Vielleicht fliege ich einfach nach Rosinante – mit den Leuten, die mitkommen wollen. Glauben Sie, daß wir die Wyoming aus der ARS rauslösen können?« »Cantrell hat den Brief an Sie persönlich geschickt und erklärt, daß er Ihnen gewogen ist. Kennen Sie ihn?« Whelan zuckte mit den Schultern. »Kann sein. In den frühen zwanziger Jahren gab's mal einen Ingenieur beim Raumkonstruktions-Korps namens Cantrell. Er war ein hervorragender Ingenieur, wurde aber wegen seiner politischen Unverläßlichkeit nicht befördert. Der Politische Offizier gab ihm ziemlich schlechte
Zensuren, und dagegen erhob er Einspruch. Sie bannten ihn auf ein Videoband, als er sternhagelvoll war und ›Star Sprangled Banner‹ sang. Das war natürlich untragbar – wenn er auch besoffen war. Aber er erfüllte stets das Soll – damals stellten wir gerade den Lambda-1-Komplex fertig, und ich wollte keinen neuen Mann engagieren, der höchstwahrscheinlich nicht mal halb so gut gewesen wäre wie Cantrell. Ich veranlaßte, daß dem Einspruch stattgegeben wurde, und er blieb bei uns. Im Jahr 34 galt das als Beweis dafür, daß ich mit dem Alten Regime sympathisierte, und ich wurde vom Konteradmiral zum Commander zurückgestuft.« Er lehnte sich in seinem Drehsessel zurück und preßte die Kaffeetasse mit beiden Händen an die Brust. »Alte Geschichten ... Ich war der NAU stets treu.« »Und was ist später aus Cantrell geworden?« fragte Carol. »Kurz bevor er zum Commander befördert werden sollte, heiratete dieser Narr die Tochter eines japanischen Marine-Attachés. Natürlich konnte er seine Beförderung in den Kamin schreiben. Seine Frau behielt ihre japanische Staats bürgerschaft, und sie hatte Geld. Und nachdem man ihn nicht befördert hatte, gab Cantrell – ich erinnere mich nicht, ob er damals schon Charles hieß oder nicht, es wäre aber möglich – sein Offizierspatent zurück. Mit dem Geld seiner Frau stieg er ins Raumkonstruktionsgeschäft ein, ungefähr um die Zeit, als die Bauprojekte gestoppt wurden. Er trennte sich von seiner Frau und ging ins All – wahrscheinlich auf den Mars. Ich weiß es nicht genau. Glauben Sie, daß wir mit der Wyoming abhauen können?« »Vielleicht – wenn die Unversöhnlichen nicht abstimmen wollen. Wenn sie abstimmen und der Ausschuß entscheidet, daß wir nicht nach Rosinante gehen – ich weiß nicht, ob wir dann verschwinden können. Die Leute werden vom Kampf bis zum bitteren Ende reden, aber wenn Sie ihnen einen Ausweg zeigen, würden sogar ein paar Eingefleischte mitmachen. Vielleicht erreichen wir, daß unsere Abspaltung rechtskräftig wird. Wie lange habe ich Zeit, um dran zu arbeiten?« »Das weiß ich nicht«, sagte Whelan. »Die L-5-Flotte wird gegen Ende Februar einsatzbereit sein. Wenn Sie solange warten wollen, dann vergessen Sie's. Haben Sie das kapiert?« Carol nickte und spielte mit ihrer glänzenden goldenen Hals kette. »Wir werden mit ganz schweren Geschützen auffahren. Legen Sie Cantrells Angebot heute abend dem Ausschuß vor und beantragen Sie, die Entscheidung zu verschieben – so lange, bis die Mannschaft darüber abgestimmt hat. Casey wird ganz begeistert sein, denn er liebt es doch, Arschlöcher zu zählen. Die RUP paßt allerdings nicht ins Bild. Wenn wir in ein oder zwei Tagen die nächste Versammlung einberufen, werden wir ja sehen, was sie machen. Wenn sie aussteigen wollen – okay. Und wenn sie beantragen, die Entscheidung hinauszuschieben, oder wenn sie uns andere Steine in den Weg legen – Sie wissen ja, die alte Drohung, sie würden sich von unserem Verband trennen, ›weil ihr unvernünftigen Leute uns dazu zwingt‹ ... Rumms!« Sie schlug sich mit der Faust in die Hand. »Dann sagen wir ihnen, alles klar, der Verband ist auseinandergebrochen, und die Wyoming verabschiedet sich.« »Werden Sie das schaffen, Carol?« »Ja, zum Teufel! Wenn man der Crew erst mal klarmacht, daß wir gegen die Radikalen Unversöhnlichen vorgehen und nicht gegen den Konsensus, werden sie
sich auf unsere Seite schlagen. Vor allem, wenn das bedeutet, daß sie aus Fort Armstrong verschwinden können. Sie wissen ja sicher, daß Sie nicht der einzige sind, der die L-5-Flotte beobachtet.« »Gut, dann machen wir's. Ich hasse es zwar, mich gegen den Konsensus zu stellen, aber ich habe den Eid gebrochen, den ich der Nordamerikanischen Union geleistet habe, nach lebenslangen treuen Diensten ...« Captain Whelan schüttelte den grauhaarigen Kopf. »Es ist problematisch, dem Diktat des eigenen Gewissens zu folgen, denn wenn man erst mal damit angefangen hat, kann einem niemand mehr trauen.« Die politische Exekutive der Radikalen Unversöhnlichen trat an Bord der SS Tampa zusammen, in einem Raum, der zweieinhalb mal vier Meter maß, unter einer hohen, mit Installationen und Kabeln verzierten Decke. An einem Ende des Raumes lag eine winzige Kombüse, am anderen ein noch kleineres Bad. Ein Eß tisch mit Stühlen stand einem Sessel mit hoher Lehne gegenüber, der auf einer Matratze der Kombüsenseite postiert war. Hinter diesem Sessel hing das Banner der Radikalen Unversöhnlichkeitspartei, eine rote Faust, flankiert von einem schwarzen R und einem schwarzen U. Das Ganze hob sich von einem weißen Untergrund ab, der von einem zehnzackigen Stern aus ineinander übergehenden roten und schwarzen Fünfecken umgeben war. Das Banner war durchsichtig, und das Licht, das dahinter brannte, erhellte die Kammer. Peter Malevitch, der Parteivorsitzende, thronte auf dem Sessel mit der hohen Lehne. Er war ein kleiner Mann mit einem großen Kopf, den das von ihm selbst entworfene Parteienemblem überschattete. Zu seiner Rechten saß James Starkweather, vergeistigt und unheilvoll, zu seiner Linken Martin Unruh, muskulös und unsensibel. Sie beobachteten den Telekonschirm, während die 86. Ausschußversammlung der Senioroffiziere von der Altregimisten-Schwadron stattfand. Nach der Vertagung schaltete sich das Gerät selbsttätig aus, und ein bis zwei Minuten später traf Gloria diLido ein, eine Mappe mit Papieren unter dem Arm. »Wir haben die Situation nicht sonderlich gut im Griff, diLido«, meinte Malevitch. »Wir sind keineswegs zufrieden.« »Wünschen Sie über die Angelegenheit zu diskutieren – oder möchten Sie lieber schmollen?« fragte Gloria. »Wir müssen darüber diskutieren«, entgegnete Malevitch. »Aber Sie können vorher Kaffee servieren.« Bei der Kombüsentür drehte sich Gloria um und salutierte mit der erhobenen linken Faust. »Lang lebe die Revolution!« Nur Unruh erwiderte den Gruß, die anderen saßen in eisigem Schweigen da. Nachdem sie mit dem Kaffee und einem Kuchen zurückgekommen war, den sie im Mikrowellenherd aufgebacken hatte, bediente sie die drei Männer, dann schenkte sie sich selber Kaffee ein. »Pflaumenkuchen?« fragte Unruh. »Ich habe nichts anderes im Kühlschrank gefunden«, erwiderte Gloria. »Wenn Sie Käsekuchen haben wollen, müssen Sie sich an Laputa wenden.« »Warum haben wir den Brief von Rosinante nicht verschwin den lassen oder
zumindest einen Aufschub der Debatte erwirkt?« Malevitch rührte geistesabwesend in seinem Kaffee. »Sie wußten doch, daß er den Interessen der Partei zuwiderläuft.« »Der Brief war eine Novität auf der Tagesordnung, Herr Vorsitzender«, erklärte Gloria und klapperte mit den Wimpern. »Es wurde diesbezüglich kein Antrag gestellt, also konnte man nichts hinauszögern. Und bevor ich seinen Inhalt kannte, konnte ich nicht feststellen, ob er Ihren Interessen zuwiderläuft, nicht wahr? Und nachdem man ihn vorgelesen hatte, war er allgemein bekannt, also hätte es wenig Sinn gehabt, ihn aus den Akten zu nehmen – selbst wenn mir das gelungen wäre. Warum hätte ich mich also anstrengen sollen?« »Sie hätten irgendwas improvisieren können«, sagte Starkweather. »Ihr Sinn für Dramatik wird nur noch durch Ihr umfangreiches Wissen auf dem Gebiet praktischer Politik übertroffen, James«, entgegnete sie. »Ich wiederhole – wir wußten vorher nichts von dem Brief, und da wir nichts wußten, gab es nur eine einzige Möglichkeit – wir mußten versuchen, den Schaden in Grenzen zu halten. Man hat überhaupt nichts getan, sondern nur Fakten präsentiert. Und wenn Sie bezüglich Rosinante irgend etwas unternehmen wollen, Herr Vorsitzender Malevitch, sollten Sie sich diese Fakten verdammt genau ansehen.« Sie klopfte auf ein Blatt Papier, das sie auf den Tisch gelegt hatte. Widerstrebend griff Malevitch danach. Ein Asteroidenpaar, Rosinante und Don Quixote, rotierte um einen gemeinsamen Schwerpunkt. Es bewegte sich auf einer elliptischen Bahn, die von einem Punkt knapp außerhalb des Mars-Orbits bis zu einem Punkt knapp innerhalb des CeresOrbits reichte. Eine Fußnote verkündete, daß sich die beiden Asteroiden einer Konjunktion mit Ceres näherten. Die Siedlung, Mundito Rosinante, bestand aus zwei Zylindern, die in entgegengesetzten Richtungen rotierten, sieben Kilometer im Durchmesser und fünfzig Kilometer lang, verbunden durch einen Rahmen an der Sonnenseite. Die nicht dem Standard entsprechende Spiegelanlage war von besonderem Interesse. Jeder Zylinder war von einem Kegelstumpf umgeben. Die Oberfläche dieser Kegelstümpfe setzte sich aus runden Spiegeln zusammen. Jeder Spiegel maß zehn Quadratmeter, jeder konnte innerhalb der Fläche seines Kegelstumpfes rotieren, im rechten Winkel zu dieser Flä che, und jeder konnte unab hängig gesteuert werden. Die Anlage sorgte nicht nur für Tag und Nacht, sondern auch für Sommer und Winter, produzierte Wärme und diente als Nahkampfverteidigungsanlage gegen unerwünschte Schiffe, die zu landen versuchten. Auf Don Quixote waren die Zylinder zerstört worden, die Spiegelanlage war jedoch unversehrt geblieben. Und dort hatte man die große Laser-Bastion montiert. Eine handgeschriebene Notiz lautete: ›Violett-Schacht? Warum hat die NAU diesen Namen gewählt?‹ Ansonsten fand sich kein Hinweis auf die Funktionsmethode der LaserVorrichtung. »Diese Narren werden nichts weiter sehen, als daß sie weit weg ist«, meinte Malevitch schließlich. »Wir müssen sie irgendwie davon abbringen, hinzufliegen.« »Warum?« fragte Gloria. »Damit wir den Aufstand entfachen können, der die korrupte, dekadente, niederträchtige Nordame rikanische Union von der Erdoberfläche fegen wird?« »Natürlich«, erwiderte Malevitch, ohne ihren Sarkasmus zu bemerken. »Wir
müssen die ARS hier festhalten – als Pfahl, an dem sich die L-5 selber aufspießen wird, um den letzten Kataklysmus der Revolution auszulösen, der das System säubern wird.« »Verzeihen Sie, Peter«, bat Starkweather sanft. »Aber glauben Sie allen Ernstes an die Parteidoktrin, daß die L-5-Flotte unweigerlich meutern wird, wenn wir die NAU jemals dazu provozie ren können, ihr zu befehlen, sie soll uns angreifen?« »Die meisten ARS-Leute sind politisch obdachlose Idioten«, meinte Malevitch mürrisch. »Wir müssen sie mit der Nase auf die Wahrheit stoßen.« »Pferdescheiße!« rief Gloria. »Sie würden die Wahrheit nicht einmal erkennen, wenn man sie ihnen in die Eier knetet! Falls die L-5 die L-4 angreift, könnte man vielleicht nach Ihrer Methode vorgehen – aber ist Ihnen eigentlich aufgefallen, daß Hulvey es niemals auf einen Test ankommen ließ?« Sie schüttelte den Kopf. »Die Zeiten ändern sich. Die ARS plus die mexikanische Marine – das ist es, was aus der L-4 geworden ist! Und wenn die L-5 uns angreift, können Sie Gift drauf nehmen, daß die sich vorher mit den Mexikanern auseinandergesetzt haben.« »Na und?« knurrte Malevitch. »Als sie das erstemal dazu aufgefordert wurden, gegen die eigenen Kameraden zu kämpfen – rumms, da ging's schon los! Die Flagge ist gehißt.« »Das bezweifle ich«, sagte Unruh. »Hulvey war zu schlau, um uns zu attackieren, als die L-5 vielleicht gemeutert hätte. Was hat er statt dessen getan? Er hielt sich zurück und ließ Mexiko sausen. Was passierte dann? Die L-4 spaltete sich. Admiral Jimenez kriegt die mexikanische Marine, und die ARS geht mit leeren Händen aus. Glauben Sie, die L-5 würde immer noch meutern, wenn man ihr befiehlt, uns anzugreifen?« »Martin hat da nicht so unrecht, Peter«, meinte Starkweather. »Hulvey spaltete die L-4, indem er auf Mexiko verzichtete. Nun verzichtet er auf Rosinante. Warum? Um die ARS zu spalten!« »Die Altregimisten-Schwadron wird sich nicht spalten.« Malevitch verschränkte die Arme vor der Brust. »Das werde ich nicht dulden!« »Nein, Mr. Malevitch?« fragte Gloria. »Was wollen Sie denn machen? Wollen Sie drohen, den Konsensus zu brechen, falls man sich Ihrem Willen nicht fügt? Dann werden sie sagen: ›Adios, Señor Malevitch!‹ und verduften.« »Das stimmt«, bestätigte Unruh. »Sie werden die Leute nicht bei der Stange halten, indem Sie brüllen und auf den Tisch hauen. Wenn der Rest der ARS nach Rosinante geht – glauben Sie, die verdammte Flotte würde meutern, wenn man ihr befiehlt, die SS Tampa ganz allein anzugreifen?« »Sieg oder Tod!« rief Malevitch. »Ich will lieber sterben, als mich ergeben.« »Das glaube ich Ihnen, Peter«, sagte Starkweather. »Aber bedenken Sie doch mal – welche Chance hat ein einzelner Kreuzer gegen die L-5-Flotte?« »Sie werden meutern«, entgegnete Malevitch im Brustton der Überzeugung. »Darauf wette ich mein Leben.« »Und meines«, fügte Starkweather hinzu. »Aber sie werden nicht meutern. Wahrscheinlich werden sie nicht meutern, wenn sie die Order bekommen, gegen die ARS zu kämpfen. Ganz bestimmt werden sie nicht meutern, wenn man ihnen befiehlt, die SS Tampa zu attackieren. Wir halten das eine Ende des Forts Arm-
strong, und sie lassen am anderen Ende ihre Marinesoldaten landen. Und dann? Dann werden Sie sich wirklich ergeben oder sterben müssen.« »Das ist mir scheißegal!« »Sie sind wohl verliebt in einen mühelosen Tod, was, Mr. Malevitch?« spottete Gloria. »Das klappt nicht«, wandte Unruh ein. »Tut mir leid, Peter, aber ich glaube, in dieser Sache sollten wir uns der Mehrheit der ARS anschließen«, sagte Starkweather. »Die Feiglinge werden davonlaufen!« stieß Malevitch hervor. »Wollt ihr mit ihnen laufen? Ich hätte euch mehr zugetraut – sogar diLido. Denn für eine Frau zeigen Sie manchmal echte Klasse, Gloria. Aber ich sehe, ihr wollt es alle zulassen, daß die Revolution ihr Rendezvous mit dem Schicksal verpaßt.« »Tut mir wirklich leid, Peter«, erwiderte Starkweather, »aber wir haben – drei gegen einen – beschlossen, in Windeseile abzu hauen.« Malevitch lehnte sich mit gerunzelter Stirn in den Schatten zurück. »Wenn das so ist, dann werde ich in eurem Sinne stimmen. Es gefällt mir nicht, aber ich mache mit.« Plötzlich schlug er mit der Faust auf den Tisch. »So ein verdammtes Pech! Beinahe hätten wir sie im Sack gehabt!«
3 In Cantrells Büro auf Rosinante schnitt Harry Ilgen sorgfältig einen Plastik schaumbecher in zwei Hälften und legte den seichten Boden frei. »Okay«, sagte er, »mal angenommen, das ist die Spiegelanlage, und das ...« Er nahm ein kleines Fleischbällchen von der Kanapee-Platte, verspeiste es und hielt den violetten Zahnstocher mit der roten Zellophanrüsche hoch, an dem es gesteckt hatte. »Und das ist die 12,5-Meter-Laser-Anlage.« Er stach den Zahnstocher durch den Boden des Bechers. »Okay. Ihr Schreibtisch ist der Asteroid Don Quixote, und der Schwerpunkt, um den er rotiert, ist die Stelle, wo Dr. Yashon jetzt sitzt. Die trojanische Position liegt hier drüben beim Fenster. Wir rotieren also beide um Dr. Yashon, nicht wahr?« Cantrell nickte. »Okay. Aber die Spiegelanlage rotiert um ihre Achse ... Nein, sie rotiert nicht, sie ist immer der Sonne zugewandt.« »Oder sie rotiert so, daß sie immer der Sonne zugewandt ist, Harry.« »Genau. Gouverneur. Jetzt schauen Sie mal...« Ilgen ließ den Becher mit dem Zahnstocher rotieren, so daß er einer imaginären Sonne folgte. »Außerdem rotiert auch Ihr Schreibtisch.« »Das stimmt«, bestätigte Cantrell. »Aber das Zielgerät liegt am Nordpolausleger.« Er griff nach einer Büroklammer, verbog und befestigte sie an einer seiner Federn. »Hier – praktisch an der Rotationsachse, und es schwingt herum und ist von der Laser-Anlage aus betrachtet absolut stationär. Worin liegt also das Problem?« Ilgen verzog schmerzlich das Gesicht. »Gouverneur, während neunzig Prozent der ganzen Zeit sind wir vom Zielgerät abgeschnitten.«
Cantrell ging zu ihm hinüber, nahm den Becher in die eine und den Zahnstocher in die andere Hand, richtete den Zahnstocher auf die Zielvorrichtung, seinen Schreibtisch, und ließ den Becher am Zahnstocher rotieren. »Nein, das sind wir nicht, Harry«, sagte er in mildem Ton. »Was ist los, Harry?« fragte Marian Yashon. »Ich dachte, wir wollten die Zielanlage an die Stelle verlegen, wo wir die Forschungsarbeiten betreiben«, entgegnete Ilgen. »Aber nun sieht es so aus, als würden wir einen komplizierten Ausleger mit Präzisionskontrollen brauchen.« Sekundenlang studierte er den Becher, der sich in Cantrells Hand bewegte. »Außerdem brauchen wir Sekundärspiegel, um den Lichtstrom auszugleichen. Was ist eigentlich mit dem ursprünglichen Plan?« Cantrell reichte ihm die Spiegelanlage und die 12,5-Meter-La ser-Vorrichtung und kehrte zu seinem Asteroiden zurück. »Wie wollten Sie das Metall für den Raffinierungsprozeß transportieren, Harry? Sie wissen doch, daß es von Don Q zur Zielanlage gebracht werden muß.« »Nun, ich dachte, wir holen es mit einem Schlepper vom Nordpolausleger, Gouverneur – oder wir könnten es direkt mit einem MBB hinschießen.« Marian erhob den Schwerpunkt und goß sich eine Tasse Kaffee ein. »Was ist ein MBB?« »Ein Magnetbahnbeschleuniger«, erklärte Cantrell. »Jedenfalls fliegt so oder so eine ganze Menge Metall herum. Das kostet Geld, und die Unfallgefahr ist ziemlich groß.« »Noch was«, sagte Marian. »Man müßte mit deinem MBB zielen können, und es wäre möglich, daß er auf den Mundito gerichtet wird. Das ist ein Sicherheits problem.« »Ach, zum Teufel, Dr. Yashon!« protestierte Ilgen. »Ist diese riesige LaserAnlage nicht auch ein Sicherheitsproblem?« »Das ist sie«, stimmte Marian zu. »Aber wir brauchen sie. Wir haben keine Wahl – während wir durchaus ohne einen MBB auf Don Quixote auskommen können.« »Dann benutzen wir doch Schlepper, um das Metall vom Polar-Ausleger abzutransportieren.« »Das hängt davon ab, wieviel Sie transportieren wollen«, meinte Cantrell. »Ich hatte eigentlich an Kubikkilometer gedacht.« »Oh«, sagte Ilgen. Nach einer Weile legte er den Zahnstocher und den Becher bei. »Also Kubikkilometer – im Plural. Ich werde sehen, was sich machen läßt.« »Es ist ja nicht so, daß wir schon zu bauen anfangen, Harry«, erwiderte Cantrell. »Zur Zeit befassen wir uns noch mit dem Entwurf.« »Kubikkilometer«, murmelte Ilgen. »Okay, Gouverneur, ich werde Entwürfe für den Ausleger und die Sekundärspiegel zusammenbasteln, und dann frisieren wir die Kontrollgeräte.« »Gut«, entgegnete Cantrell grinsend. »Morgen früh vor der Ratsversammlung müssen die Entwürfe fertig sein.« Am 1. Februar, Punkt 11.00 Uhr, betrat Harry Ilgen das Ratszimmer. Cantrell saß am Kopfende des Tisches, unter den langsam kreisenden Deckenfächern, und trank schwarzen Kaffee. Allein.
»Wo sind die denn alle?« fragte Ilgen. »Sie werden bald aufkreuzen«, antwortete Cantrell. »Dornbrock und Bogdanovitch werden zehn Minuten zu spät kommen, um die Unabhängigkeit der Gewerkschaft zu demonstrieren. Marian mag nicht untätig herumsitzen, also wird sie ein bis zwei Minuten nach den beiden erscheinen. Und die Computer kann man jederzeit herbeipfeifen, wenn man sie braucht. Also machen Sie sich keine Sorgen.« »Ich mache mir keine Sorgen, Gouverneur«, entgegnete Ilgen. »Wissen Sie, ich habe ein paar elegante Möglichkeiten für diesen aufgedonnerten Ausleger entwickelt, auf dem Sie die große La ser-Anlage montieren wollen.« Er legte ein paar Zeichnungen auf den Tisch. »Wenn man das Laser-Ding nach Ihren Wünschen bewegt, wird die Rotation der Spiegelanlage beeinträchtigt, und dann würde sie sich nicht mehr nach der Sonne orientieren. Wenn mir das schon gestern eingefallen wäre, hätt' ich's Ihnen gesagt. Aber schauen Sie mal – wenn man um die Mündung der Spiegelanlage zwei Ringe aus 92-Zentimeter-Röhren montiert – also hier – und wenn man Wasser hineinpumpen würde, um eine Gegenströmung zu erzeugen, würde die Öff nung wie ein Gyroskop fungieren. Die Anlage bleibt orientiert. Wir brauchen keine variablen Kontrollgeräte oder sonst was Hochgestochenes. Wir lassen die Pumpen einfach in langsamem Tempo arbeiten, und das wär's.« »Ich verstehe. Sie lassen die eindämmende Bewegung als Wärmezufuhr in das Wasser übergehen, das Sie in die Vorrichtung einpumpen.« »Genau. Das andere Problem war das Kontrollsystem. Ich wollte schon hier reinkommen und sagen: ›Wir halten uns an die übliche Methode !‹ Aber bei Gott! Das große Laser-Ding ist viele hundert Kilometer weit weg, und wir wollen es auf den Zentimeter genau im Griff haben, und es soll innerhalb von Tausendstelsekunden auf Temperaturveränderungen reagieren. Routinemäßig. Okay. Wenn wir hier eine Kollimationslinse anbringen, eine Fresnellinse aus Siliziumdioxyd – Skaskash hat sie entworfen und die Skizze gemacht, nachdem ich ihm erklärt hatte, was wir brauchen –, wird sie die Laser-Anlage versklaven, und wir können uns drauf konzentrieren, die Linse zu steuern. Kein Pro blem.« »Und wie wissen Sie, wann Sie die Linse bewegen müssen?« »Wir haben einen Sensor. Er richtet einen winzigen Laserstrahl auf das Ende der Flüssigkeitszone, das die Energie weiterleitet, und analysiert kontinuierlich die Zusammensetzung – zehnmal pro Sekunde. Okay, und anhand der Zusammensetzung können wir den Schmelzpunkt eruieren, nicht wahr?« Cantrell nickte. »Und wir wissen auch über die Geometrie und den Wärme-Input Bescheid«, fuhr Ilgen fort. »Ein paar Chips zählen das alles zusammen und sagen der Kollimationslinse, wie sie sich bewegen soll. Wenn der Schmelzpunkt ein bißchen steigt, bewe gen wir sie eben etwas langsamer. Ich glaube, die Flüssigkeitszone muß höchstens zwei oder drei Zentimeter breit sein – etwa so dünn wie die Zielvorrichtung, aber wahrscheinlich werden wir sie acht oder zehn Zentimeter dick machen, das ist nicht weiter schwierig.« »Haben Sie heute nacht eigentlich geschlafen?« fragte Cantrell. »Nein«, erwiderte Ilgen. »Um 4.00 Uhr haben wir das Kontrollproblem gelöst,
und danach hatte es keinen Sinn mehr, sich noch aufs Ohr zu legen. Skaskash sorgte dafür, daß ich mich duschte und rasierte, bevor ich hierherkam.« »Aha. Sie müssen ja so high gewesen sein wie ein Papierdra chen.« »Das bin ich immer noch«, gestand Ilgen. »Ich war in der Werkstatt und habe Modelle gebastelt, als Skaskash mir sagte, ich soll meinen Arsch ins Ratszimmer rüberwälzen.« »Um die Modelle vorzuführen?« »Ja. Ich habe sie draußen in der Halle auf einem Karren. He, Karren! Komm mal rein!« Der Wagen rollte herein, und Ilgen griff nach einem langen Metallstreifen, der parallel zur Längsachse in Ziehharmonika falten zusammengelegt war. »Das ist das Grundmodell«, erklärte er. Cantrell hatte sich bereits darüber informiert, aber er ließ den Ingenieur weiterreden. Die Dinge änderten sich manch mal ganz unerwartet. »Wir können es in jeder beliebigen Länge herstellen. Es ist zwölf Meter breit und vielleicht einen oder zwei Kilometer lang.« Ilgen drehte den Streifen herum. »Okay. Zuerst wollten wir ihn in 20-Meter-Segmente zerschneiden, aber da wir nun ein besseres Kontrollsystem haben, entschied ich mich für 2-MeterSegmente. Je kürzer die Entfernung ist, die von den Elementen zurückgelegt werden muß, damit sie sich trennen, um so schneller kann man sie raffinieren, nicht wahr?« Cantrell nickte zustimmend. »Sie haben von Kubikkilometern gesprochen – im Plural! Wenn Sie das Rohmaterial an Ort und Stelle haben, kann dieses Baby einen Kubikkilometer pro Jahr schaffen. Vielleicht zwei.« »Sechs Monate – um einen Kubikkilometer Nickeleisen zu raffinieren?« Cantrell war skeptisch. »Wenn nichts schiefgeht«, schränkte Ilgen ein. »Und jetzt sehen Sie sich das an.« Er stellte ein Modell des Zielgeräts vor Cantrell auf den Tisch. »Die Kollimationslinse bewegt sich ...« Er gab ihr mit einem Finger einen Schubs. Als sie sich zu bewe gen begann, wurden an beiden Seiten die Radiationsschilde hochgeklappt. Cantrell schob die Linse ein paarmal hin und her. »Ich verstehe«, sagte er dann. »Die Schilde sorgen dafür, daß das Metall heiß bleibt. Wenn die Laserstrahlen also zum zweiten-, dritten- und viertenmal durchwandern, kommen sie schneller voran, weil sie nicht mehr soviel Energie abgeben müssen.« »Genau«, bestätigte Ilgen. »Oder sie können im gleichen Tempo, aber kühler laufen. Die Linse am 12,5-Meter-Laser wird durch den Gebrauch abgenutzt. Aber diese Schilde müßten ewig halten und das Leben der Linse um das Drei- oder Vierfache verlängern.« »Wir müssen eben ein bißchen herumspielen, um das optimale Tempo und die günstigste Temperatur herauszufinden«, meinte Cantrell. Er drückte einen Schild mit dem Finger nach unten und ließ den Laser darübergleiten. »Was passiert, wenn die Schilde nicht hochgehen?« »Dann schmelzen sie. Ich habe nicht gesagt, daß sie für ewig halten werden.« »Oh... Natürlich.« Cantrell nickte. »He, wenn Sie die Lebensdauer der Linse aufs Fünffache hochschrauben, wird die Instandhaltung der Spiegel am teuersten sein.« »Das Vierfache wäre schon das Maximum«, meinte der Ingenieur. »Zumindest glaube ich das. Wie muß man die Spiegel in standhalten?«
»Wir haben eine Anlage von, sagen wir mal, zehn Millionen Spiegel, und jeder ist zehn Quadratmeter groß, okay?« Ilgen nickte. Die Routine des täglichen Lebens war ihm stets rätselhaft. »Schön. Jeder Spiegel hat einen Solarenergiemotor, der ihn um die eigene Achse und die Achse innerhalb der Anlage an einer runden Schiene dreht. Der Spiegel bewegt sich so, wie Sie ihn steuern, weil er einen kleinen Chip eingebaut hat, der Ihre Befehle in die Motorensprache übersetzt. Okay. Der Chip nutzt sich im Solarwind allmählich ab. Er wurde so konstruiert, daß er unter normalen Umständen auf eine Halbwertzeit von fünfundzwanzig Jahren kommt...« »Solche Tierchen gibt's nicht, Gouverneur.« »Wenn der Solarwind konstant bleibt, würde die Halbwertzeit des Chips ... Hallo, Skaskash!« Einer der Telekonschirme schaltete sich ein, und Corporate Skaskash erschien als Humphrey Bogart im Malteserfalken. »Hat die Sitzung schon begonnen?« »Noch nicht«, erwiderte Cantrell. »Wir reden gerade über die Chips in den Spiegeln. Wie lange dauert ihre Halbwertzeit?« »Das ist verschieden«, sagte Skaskash. Cantrell nickte. »Die vorausberechnete Halbwertzeit beträgt fünfundzwanzig Jahre. Und wie lang ist die tatsächlich ermittelte?« »Heute vielleicht zweihundertfünfzig Jahre. Wir haben einen langsamen Tag. Die Ersatzrate im vergangenen Jahr entspricht einer Chip-Halbwertzeit von – sagen wir mal, 34,4 Jahren. Aber bei einem richtig heißen Sonnenflimmern – oder wenn in der Nähe eine Nuklearanlage explodiert – wären die Chips weg vom Fenster – einfach so!« Die Bogart-Figur schnippte mit den Fingern. »Was würden Sie dann tun?« fragte Ilgen. »Wir haben ein paar Chips vorrätig«, antwortete Skaskash, »und viele kleine Roboter, die hin und her laufen und die toten auswechseln. Ich denke, bei einem Totalausfall könnten wir alle Chips innerhalb einer Woche erneuern.« »Warum habe ich das nie gewußt?« erkundigte sich Ilgen. »Das ist reine Routine«, erklärte Skaskash, »und die gehört zu meinem Job. Sogar die Herstellung der Chips ist Routine. Warum sollten Sie sich dafür interessieren?« Der Gewerkschaftsvertreter Ivan Bogdanovitch marschierte herein. Es ließ sich nicht übersehen, daß er über zwei Meter groß war. Aber man konnte ihm nicht auf den ersten Blick anmerken, daß er ein hervorragender Mechaniker war und über alle Ausrüstungs- und Fernsteuerungsprobleme bestens Be scheid wußte. Und es war einigermaßen erstaunlich, daß er ausgezeichnet Cello spielte. »Guten Morgen, Skaskash, Charlie – hallo, Harry. Habt ihr schon das Neueste gehört?« Cantrell schüttelte den Kopf, und Bogdanovitch fuhr fort: »Hat dir das der alte Skaskash nicht erzählt? Die Altregimisten-Schwadron hat soeben das Fort Armstrong verlassen. Sie kommen hierher!« »He, Big John«, wandte Cantrell ein, »vergiß nicht, daß wir zuerst die alten Geschäfte erledigen müssen.« »Die Sache mit der Schmelzzone?« Bogdanovitch grinste und entblößte große, ungleichmäßige Zähne. »Du wolltest sie, Charlie, und du hast sie. Das allein ist wichtig.« Cantrell sah Ilgen an, der verwirrt blinzelte. »Ich glaube, unser Projekt ist soeben
akzeptiert worden. Warum gehen Sie nicht nach Hause und schlafen sich aus?« Harry nickte und wandte sich zur Tür, wo er noch einmal stehenblieb. »Aber ich hab' die Dinger doch gar nicht vorgeführt.«
4 Captain Simon Whelan saß im Operationsraum der SS Wyo ming und trank schwarzen Kaffee. Seit die ARS das Fort Armstrong verlassen hatte, war es ziemlich ruhig geworden. »He, sehen wir heute morgen aber knackig aus!« sagte er, als sein Exe kutivoffizier hereinkam. »Oh, danke«, erwiderte Carol Tower. Sie goß sich eine Tasse Kaffee ein, gab Zucker und Sahne und dann noch mehr Zucker dazu. »Ich betrachte es als äußerst angenehme Randerscheinung der Meuterei, daß die Bekleidungsvorschriften abgeschafft wurden.« Sie ließ sich Whelan gegenüber nieder und nahm einen winzigen Schluck Kaffee. »Habe ich Ihnen schon erzählt, daß ich eine Neuordnung meines Liebeslebens vornehme?« »Das erzählen Sie mir dreimal pro Monat. Das letzte, was ich hörte, war die Klage, daß Rosemary Sie wahnsinnig machen würde. Die große Schwarze.« »Sie war honigbraun, Simon. Und sie war gebaut wie das sprichwörtliche Ziegelscheißhaus, und ihre Haut war so weich, daß es einem Tränen in die Augen trieb. Aber mein Gott ... Ich werde nie erfahren, wie sie in die Navy gelangte. Jedenfalls verschwand sie eine Minute, bevor ich sie rauswerfen wollte – im physikalischen Sinn.« »Im physikalischen Sinn? Sie war vielleicht zwanzig Kilo schwerer als Sie.« »Ja, im physikalischen Sinn. Ich war wütend.« Carol trank noch einen Schluck Kaffee. »Raten Sie mal, wer zu mir zurückgekommen ist.« »Serena?« »Das wäre mein Wunschtraum. Als sie in die mexikanische Marine transferiert wurde, wäre ich beinahe mit ihr gegangen. Und wenn ich Spanisch könnte, hätte ich das auch getan. Nein, es ist Doris.« »Das Trautwine-Weib? Aber Sie erzählen mir doch andauernd, daß sie Ihnen schrecklich auf die Nerven geht.« »Das stimmt. Sie besteht darauf, daß ich alle Entscheidungen treffe. Aber nach Dienstschluß will ich mich zurücklehnen und mich entspannen.« Sie rührte in ihrem Kaffee und beobachtete, wie der Dampf aufstieg. »Und dann darf ich immer nur das tun, was ihr Spaß macht.« Seufzend schüttelte sie den Kopf. »Mit Doris kann man sich einfach nicht entspannen.« Whelan trank seinen Kaffee aus und wollte die Tasse wegwerfen. »Halt!« rief sie. »Die Schaumtassen gehen langsam zur Neige. Die kann man noch mal verwenden.« Er sah sich um. Im Operationsraum gab es keine Spüle, und so wischte er die Tasse mit seinem Taschentuch sauber. »Ich begreife die Frauen nicht. Das habe ich noch nie geschafft, und Sie helfen mir auch kein bißchen dabei. Warum haben Sie sich wieder mit ihr eingelassen?«
»Ich bin ganz besessen von ihr – wahrscheinlich bin ich ihr für alle Ewigkeit hörig.« Carol grinste. »Aber bevor wir Rosinante erreichen, mache ich wahrscheinlich wieder Schluß mit ihr.« »Wir haben ein Bulletin bekommen«, meldete der Schiffscomputer. »William Hulvey ist soeben zurückgetreten.« »Jetzt tritt er zurück!« stieß Carol hervor. »Wurde die Nachricht bestätigt?« »Sie wurde sowohl von Reuter als auch von JapaNews gebracht«, antwortete der Computer. »Bisher wurde nichts weiter bekanntgegeben, als daß Präsident Oysterman die Kündigung angenommen hat.« »Ich will eine Bestätigung haben«, sagte Carol. »Daß Oysterman zurückgetreten ist, würde ich sofort glauben – aber Hulvey? Er hätte doch nur die Hand ausstrecken müssen, um die ganze Show zu schmeißen.« »Er h a t die ganze Show geschmissen«, korrigierte Whelan. »Er hatte den Sicherheitsdienst unter seiner Fuchtel, und die Army und die Navy machten alles, was er ihnen auftrug. Warum hat er sich von einem kleinen Trottel wie Oysterman ausbooten lassen?« Carol nahm einen großen Schluck Kaffee, und dann saß sie eine Weile reglos da, die Tasse in beiden Händen. »So war's nicht«, sagte sie schließlich. »Wenn Hulvey zurückgetreten ist, dann hat er das aus einem ganz bestimmten Grund getan.« »Eine Formulierung in seinem Rücktrittsgesuch legt die Vermutung nahe, er habe wegen des Beschlusses, Ceres nicht mehr zu verteidigen, das Handtuch geworfen«, erklärte der Schiffs computer. »Er hätte Oysterman kaltstellen können«, sagte Carol. »Vielleicht hat er die Sache mit Ceres als Ausrede gebraucht, aber das war nicht der Grund.« »Wahrscheinlich hoffte er die NAU-Regierung wieder halbwegs funktionsfähig zu machen«, sagte Whelan. »Wollen Sie andeuten, daß ihn sein Respekt vor der – verzeihen Sie den Ausdruck – Verfassung der Nordamerikanischen Union zu diesem Schritt bewogen hat?« »Hulvey war eine der Säulen des Regimes. Man sollte vermu ten, daß er eine bessere Meinung von der NAU-Verfassung hatte als Sie. Oder haben Sie eine bessere Idee?« »Ich habe gar keine Ideen«, entgegnete sie und wischte ihre Tasse mit einem Papiertuch aus. »He, Ming – überprüfen Sie noch mal die Gründe, die Hulvey für seinen Rücktritt angegeben hat.« »Seit der Meuterei sind die japanischen Handelskaperschiffe in der Umgebung von Ceres aktiv geworden«, berichtete der Computer. »Hulvey trat angeblich zurück, nachdem Oysterman beschloß, Ceres lieber nicht mehr zu verteidigen, statt der Navy diese Aufgabe aufzubürden.« »Gut«, sagte Carol. »Okay, Ming, schauen wir uns mal die Orbite von Ceres und den Basen an, die nah genug liegen, daß sie – sagen wir mal – im Lauf des nächsten Jahres in die japanischen Operationen verwickelt werden könnten.« Einer der Telekonschirme leuchtete auf und zeigte ein Segment des Ceres-Orbits in hellem Gelb vor einem dunkelgrünen Hintergrund. Ceres trug eine NAU- und zwei japanische Flaggen zur Schau. Außerhalb des Ceres-Orbits erschien eine Linie
in hellem Gelb, mit der japanischen Flagge von Eije-Ito gekennzeichnet. Nicht so weit vom Ceres-Orbit entfernt, aber aus beträchtlicher Entfernung kommend, war eine zweite Linie zu sehen, ebenfalls in hellem Gelb, mit der japanischen Flagge von Tanaka-Masada. Innerhalb des Ceres-Orbits tauchte ein Ge bilde auf, das wie das Perihel eines elliptischen Orbits aussah – weiß, mit einem grünen Pferd auf einem weißen Feld markiert. »Ist das alles?« fragte Whelan. »Wer immer das grüne Pferd ist, er ist der Dumme und muß sich mit den Japanern herumschlagen. Nun, was ist das für ein Pferd?« »Es symbolisiert Rosinante«, sagte Ming. »O Scheiße!« rief Carol. »Diese Nachricht ist zu schlecht, um nicht wahr zu sein!« »Verfolgen Sie die Story«, instruierte Whelan den Computer. »Lassen Sie sich die Information bestätigen, und sehen Sie zu, daß Sie weitere Einzelheiten in Erfahrung bringen.« »Ja, Sir«, antwortete Ming. »Was werden Sie dem Ausschuß erzählen?« fragte Carol. »Nichts«, entgegnete Whelan. »Jedenfalls werde ich den Mund halten, solange wir keine Bestätigung haben. Außerdem müssen wir das auch mit Rosinante klären.« »Allerdings. Und was werden Sie der alten diLido vorflunkern, wenn die Radikalen Unversöhnlichen Sie damit attackie ren?« »Daß wir der Sache nachgehen und daß das Gerücht unseren bisherigen Informationen zufolge nicht unbedingt stimmen muß.« »He, Simon – wenn es wahr ist und die Radikalen Unversöhnlichen das tatsächlich aufs Tapet bringen – was dann?« Whelan zuckte lächelnd mit den Schultern. »Keine Ahnung – vielleicht werde ich ihnen vorschlagen: ›Wenn ihr ein besseres Loch wißt, dann könnt ihr euch ja dort verkriechen.‹« Er erhob sich und begann auf und ab zu gehen. »Gott weiß, daß es kein Zurück mehr gibt. Admiral Jimenez hat Fort Armstrong übernommen und in Castillo de Morales umgetauft. Wohin sollten wir gehen?« »Okay. Wollen wir die Sache zur Sprache bringen oder erst mal abwarten?« »Sie meinen – vor dem Ausschuß?« Whelan stand vor dem Telekonschirm, den Rücken der Scheibe zugewandt. »Wir warten erst mal ab. Wenn wir wollen, können wir bis in alle Ewigkeit mit Rosinante verhandeln, und es spielt gar keine Rolle, was die NAU dazu meint. Aber wenn wir jetzt schon nein sagen, schränken wir unsere Möglichkeiten erheblich ein.« James Starkweather rief Peter Malevitch, der sich an Bord der SS Tampa befand, aus dem Kommunikationsraum der SS Wyoming an. Malevitch erschien schattenhaft und in undeutlichen Umrissen auf dem Telekonschirm. Sein Büro war gut beleuchtet, aber er hatte die Telekonkamera so eingestellt, daß sie ein Bild produzierte, das ihm besser gefiel. »Lang lebe die Revolution«, sagte Starkweather. Malevitch hob in einem stummen Gruß die linke Faust. »Die Nachricht, daß Hulvey zurückgetreten ist, wurde bestätigt«, fuhr Starkweather fort. »Aber bis jetzt konnte uns noch kein
Mensch sagen, warum.« »Was denken Sie, James?« »Ich weiß nicht, was ich denken soll. Aber es ist zumindest bemerkenswert, daß er kurz, nachdem die ARS nach Rosinante aufgebrochen ist, seinen Rücktritt erklärt hat. Da könnte ein Zusammenhang bestehen – aber ich habe keine Ahnung, welcher.« »Seltsam«, meinte Malevitch. »Glauben Sie, wir hätten die Re gierung stürzen können – und daß wir nichts von dieser Chance wußten?« »Hulvey war nicht die Regierung.« »Er war ihr Anführer. Alle Macht lag in seinen Händen, und er besaß auch das Geschick, sie zu nutzen. Er hätte Oysterman mit einem einzigen Telefonat ausschalten können – aber er ist zurückgetreten.« »Whelan glaubt, daß er es getan hat, um die Verfassung der NAU zu schützen«, sagte Starkweather. »Unsinn! Wenn es Zeit wird, die Initiative zu ergreifen, und wenn man es dann nicht selber tut, wird es ein Rivale tun – oder ein Untergebener. Wenn er die Verfassung schützen wollte, dann wäre er an Ort und Stelle, um sie zu schützen. Es gibt kein Problem in der öffentlichen Politik, das Hulvey zu seiner Zufriedenheit lösen könnte, indem er zurücktritt.« »Das ist mir auch klar, Peter. Aber wenn er persönliche Gründe hatte, so sind sie noch nicht eruiert worden. Und wenn es wirklich persönliche Gründe waren – spielt das eine Rolle?« »Vermutlich nicht«, erwiderte Malevitch. »Und wie hat sich diese andere Sache entwickelt – die Absicht der NAU, ein Bündnis mit Rosinante einzugehen, um Ceres zu verteidigen?« »Das scheint noch in der Schwebe zu sein. Das NAURA-Außenministerium hat Rosinante anerkannt, aber im Senat wurde noch kein entsprechender Antrag gestellt. Whelan wollte keinen Kommentar dazu abgeben, als ich ihn fragte. Wir könnten ihn damit bei der nächsten Ausschußversammlung attackieren.« »Vielleicht.« Malevitch schien gewisse Zweifel zu hegen. »Außerdem könnte man Indizienbeweise zusammentragen. Schiffsfrachten, die von Deimos nach Rosinante befördert werden – oder von den Translunar-Flottendepots ...« »Das müßte in den nächsten ein, zwei Wochen passieren. Ich werde den Computer bitten, darauf zu achten. Aber wie wollen wir inzwischen bei der Ausschußversammlung vorgehen?« »Beantragen Sie einen neuen Termin für die nächste Sitzung – einen oder zwei Tage, bevor wir auf Rosinante eintreffen. Aber wenn die Gerüchte stimmen, und es sieht ganz danach aus, haben wir möglicherweise eine Chance.« »Ich werde mit diLido sprechen. Was immer auch passieren wird – es wird auf Rosinante passieren.« Starkweather hob die Faust. »Lang lebe die Revolution.« Malevitch erwiderte den Salut. »Lang lebe die Revolution.«
5 Cantrell lehnte sich in seinem hohen Ledersessel zurück und musterte das Gewerkschaftsratsmitglied auf der anderen Seite des Schreibtisches. Don Dornbrock, der ehemalige Präsident der lokalen Gruppe, trug ein grünes BowlingJackett und einen blauen Rollkragenpullover. Er sah aus wie ein Gewichtheber auf dem Weg zu einem Ausscheidungskampf. »Schau mal, Don«, sagte Cantrell geduldig, »du hast den Job – du sollst den Zielausleger bauen. Die Zielvorrichtung hast du bereits gebaut. Wir haben vertraglich festgelegt, daß die erforderlichen Anlagen auf Don Quixote gebaut werden sollen, damit wir das Material am Steven des Polarauslegers rauf und runter transportieren können. Den hast du auch gebaut. Aber die Minen- und Raffinierungsarbeiten fallen nicht in dein Ressort, und verdammt, ich will nicht, daß du das machst!« »He, Charlie ...« Dornbrock beugte sich über die Schreibtischkante und zeigte mit einem kurzen, dicken Finger auf Cantrell. »Niemand redet davon, daß Local-3-14 irgendwelchen blöden Minenkram erledigt. Wir haben nur gesagt, daß wir die Minenarbeiter ausbilden wollen. Du willst, daß die Nichtgewerkschaftler einen Job übernehmen, der den Gewerkschaftsjungs zusteht.« »Bogdanovitch bringt ihnen alles bei, was man über die Fernsteuerung wissen muß«, wandte Cantrell mit milder Stimme ein. »Möchtest du ihm etwa ins Gesicht sagen, daß er ein Nichtgewerkschaftler ist?« Dornbrock wurde rot. »Nein. Aber Big John kümmert sich einen Scheißdreck um die Organisation.« »Eben ...« Cantrell griff nach dem Modell einer Pfettenkachel, zwei Tetraedern, an einer Kante durch die Figur eines Mannes verbunden, der auf eine Fläche gemalt war. Er faltete sie auseinander, so daß sie einen Streifen aus acht gleichseitigen Dreiecken bildeten. »Mir kommt's nur darauf an, daß ich mich nicht mit einer zweiten Gewerkschaft herumschlagen will. Und du willst diese verdammten Arbeiter organisieren. Das geht nicht, Don.« »Okay, Charlie, ein paar von den Jungs, die wir rübergeschickt haben, sind Organisatoren. Vielleicht hätten wir nicht so stark auf die Tube drücken sollen. Aber deine Leute haben ein Recht auf eine Gewerkschaft.« »Sie haben auch das Recht, einen Staatsstreich zu inszenieren, wenn ich sie nicht daran hindere. Aber ich will keinen Staatsstreich, und ich will keine weitere Gewerkschaft.« Er ließ die Dreiecke wieder zu einem Pfettenkachelmodell zusammenklappen. »Diese ›Nichtgewerkschaftler‹, über die du dir den Mund zerreißt, werden die Leute ausbilden, die wir brauchen, und da bei bleibt's, verdammt!« »Wir könnten streiken, Charlie«, sagte Dornbrock automa tisch und reagierte damit ebenso auf Cantrells Tonfall wie auf dessen Worte. »He, Don ... Wir beide wissen, daß die Gewerkschaft nicht wegen eines Streitfalls streiken wird, der nichts mit ihrem Job zu tun hat. Nicht jetzt! Außerdem, deine Gewerkschaft besitzt über die Hälfte der Rosinante-Immobilien. Wenn du eine weitere Ge werkschaft gründest, dann wird sie das haben wollen, was du hast. Habe ich recht? Natürlich ...«
Dornbrock schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht... Jedenfalls werde ich weiterleiten, was du gesagt hast, und dann werden wir sehen, was passiert.« Cantrells Schreibtischtelefon läutete. »Hallo, Boß«, meldete sich Corporate Skaskash. »Marian hat eine Nachricht von der ARS und will das mit Ihnen besprechen. Wann soll ich sie reinschicken?« »In ein bis zwei Minuten«, entgegnete Cantrell und legte auf. »Noch was, Don?« »Nein«, sagte Dornbrock. Sie standen auf und schüttelten sich die Hand. An der Tür drehte sich Dornbrock noch einmal um. »Das ist eine soziale Ungerechtigkeit. Wie zum Teufel konnte es jemals so weit kommen, daß die Gewerkschaft an der Kehrseite der Medaille hängengeblieben ist?« »Du hattest eben Glück, Don«, meinte Cantrell. Skaskash hatte Marinas Auftritt gut getimt, denn sie kam herein, sobald sich die Tür hinter Dornbrock geschlossen hatte. »Das ist aber ein verteufelt hübsches Kostüm, das du da trägst«, sagte Cantrell. »Das habe ich noch gar nicht an dir gesehen.« »Oh, danke, Charles. Es ist eine Coco Chanel-Imitation, die ich nach Rosinante mitgebracht habe. Und jetzt passe ich zum erstenmal seit vielen Jahren wieder hinein.« »Du siehst sehr gut aus.« »Das finde ich auch. Weißt du, daß wir ein Problem mit der ARS haben?« »Es wäre nicht das erstemal. Vielleicht könntest du mich in formieren.« Marian ging zum Konferenztisch und rief Corporate Skas kash und Corporate Susan Brown auf die Telekonschirme. Skaskash erschien als Humphrey Bogart in Casablanca und Corporate Susan als attraktive junge Frau mit großen Augen und dunkelblondem Haar in einem weißen Laborkittel über einer gift grünen Bluse. In ihrer Tasche steckte ein Stethoskop. »Es geht um ein ARS-Problem, Admiral«, sagte Marian. »Ziehen Sie die andere Maskerade an.« Der Telekonschirm blinkte, und die sanftmütige Ärztin wurde durch dieselbe Person in der Uniform eines Konteradmirals aus den letzten Tagen der Vereinigten Staaten ersetzt. Der Computer hatte seinen Gesichtsausdruck etwas modifiziert, so daß er jetzt imposant und kompetent aussah und mehr Furcht als Vertrauen einflößte. »Heute um 14.00 Uhr tritt der Ausschuß der Senioroffiziere von der ARS zum letztenmal zusammen, bevor sie auf Rosinante landen«, erklärte Marian. »Ich habe die Information erhalten, daß innerhalb der ARS vermutlich ein Coup versucht werden soll, da die Radikalen Unversöhnlichen an die Macht wollen.« »Davon hat Whelan nichts erwähnt«, sagte Cantrell. »Von wem hast du diese Information bekommen?« »Von Carol Tower, Whelans Exekutivoffizier. Ich glaube, wenn ein erfolgreicher Staatsstreich durchgeführt werden soll, ist der regierende Beamte oft der letzte, der davon erfährt.« »Damit könntest du recht haben.« Cantrell rieb sich das Kinn. »Wann hast du mit ihr gesprochen?« »Kurz bevor ich dich angerufen habe. Ich schätze, Carol wird ihr Bestes tun. Und
was wollen wir unternehmen?« »Wir könnten die Schwadron auffordern, anzuhalten und die Schiffe einzeln, in regelmäßigen Abständen nach Rosinante zu schicken«, schlug Admiral Corporate Susan Brown vor. »Das würde unser Risiko verringern.« »Und was tun wir, wenn sie nicht anhalten?« fragte Marian. »Wir haben den großen Laser vor Don Quixote«, sagte Skaskash, »und hier auf Rosinante den Mitsubishi-Drachenskalenspiegel.« Corporate Susan schüttelte den Kopf. »Aus dieser Distanz könnten sie den großen Laser zerstören, bevor wie genügend Zeit gefunden hätten, ihn zu justieren – und die Spiegelanlage mittels einer Nuklearexplosion vernichten. Wenn die Hochenergie-Radiation einer 1-Megatonnenvorrichtung in einer Entfernung von 400 Kilometern explodiert, würde sie die Chips zerstören, die unsere Spiegel steuern. In diesem Punkt sind wir verwundbar.« »Mein Gott!« rief Cantrell. »Was sollen wir tun?« »Sie könnten die Rosinante-Miliz in Alarmbereitschaft versetzen«, meinte Skaskash. »Dazu haben wir noch genug Zeit«, erwiderte Marian. »Nein, es handelt sich um ein politisches Problem, das nach einer politischen Lösung verlangt. Aber wie findet man eine politische Lö sung, wenn man nicht in der Politik dieser Leute mitmischen kann, bevor sie hier eintreffen?« Cantrell sah auf seine Uhr. Es war 13 Uhr 35. Sein Hände wurden plötzlich feucht, und das Hemd klebte ihm am Rücken. Trotzdem lachte er. »Das ist doch ganz einfach. Die ARS befindet sich in Kommunikationsweite. Ich werde mich mal vors Telekon setzen und sie mit Pferdescheiße verwirren.« »Das ist gar keine so schlechte Idee, Charles«, sagte Marian. »Sollten die Radikalen Unversöhnlichen einen Coup bei dieser Versammlung planen, werden sie zumindest aus dem Konzept gebracht, wenn du in Erscheinung trittst. Und falls sie sich auf Verbündete innerhalb der ARS verlassen, beschließen die vielleicht bei deinem überraschenden Anblick, lieber den Mund zu halten, und der Coup ist im Eimer. Vorausgesetzt, daß man tatsächlich einen Coup in Erwägung zieht.« »Nun, dann setzen Sie sich doch in den Telekonsessel«, forderte Corporate Susan den Gouverneur auf. »Ich werde Kontakt mit Captain Whelan aufnehmen und die nötigen Arrangements treffen, damit Sie bei der Ausschußversammlung als Gastredner fungieren können.« »Und was soll ich sagen?« fragte Cantrell. »Du mußt die ARS auf Rosinante willkommen heißen«, erwiderte Marian. »Und wenn sie Fragen stellen, sag die Wahrheit.« »Und wenn der Coup trotzdem durchgeführt wird?« wollte Skaskash wissen. »Dann ersuchen wir sie, die Schiffe einzeln herzuschicken«, antwortete Marian. »Es ist soweit, Gouverneur Cantrell«, verkündete Corporate Susan. Charles Cantrell stand auf und ging langsam zum Telekonsessel hinüber. Peter Malevitch schlang die Finger ineinander, um ihr Zittern zu unterdrücken, und preßte die Hände in den Schoß, aber das Be ben lief durch seine Arme bis zu den Schultern hinauf, die heftig vibrierten. »Sie haben es vermasselt, diLido«, sagte er.
»Wir haben uns auf Sie verlassen – und Sie haben alles vermasselt.« »Sie waren auch da, Herr Vorsitzender«, erinnerte sie ihn. »Aber soviel ich weiß, habe ich Sie bei keinem einzigen brillanten Rettungsversuch beobachtet.« »Alles war vorbereitet. Sie hätten Cantrell nur den Mund stopfen müssen, und dann hätten wir loslegen können – aber nein, Sie haben steif und stumm dagesessen wie eine Schaufensterpuppe.« »Die Debatte hatte ja noch nicht einmal begonnen«, verteidigte sich Gloria. »Wie kann ich eine Verschiebung beantragen, wenn die Sitzung noch gar nicht eröffnet war. Ich bin Ihre Parla mentarierin, – und keineswegs Ihre Idiotin vom Dienst! Warum hat Starkweather nichts getan? Oder Unruh?« »Ich habe auf das Zeichen gewartet, um aufzuspringen«, erklärte Starkweather. »Ich hatte meine Leute an den vorgesehenen Punkten postiert, aber wir bekamen kein Zeichen.« »Weil die Sitzung aus den Fugen geriet«, sagte Malevitch und schlug mit der Faust auf die Armstütze seines Sessels. »Cantrell tauchte auf, bevor es überhaupt losging, und Whelan veranlaßte ihn, Fragen zu beantworten. Das hätten Sie zumindest verhindern können, Sie dumme Gans! Warum haben Sie das nicht verhindert?« »Weil Ihre vermeintlichen Verbündeten diese Fragen gestellt haben. Sie infantiler Clown! Glauben Sie, die würden mitma chen, wenn wir loslegen, nachdem wir ihnen kurz zuvor den Mund verboten haben?« Gloria diLido verschränkte die Arme unter ihren Brüsten und klapperte furios mit den Wimpern. »Anfangs konnten Sie die Leute auf Ihre Seite ziehen, weil Sie ihnen eine Menge Scheiße erzählt haben. Sie haben gelogen und gelo gen und gelogen, und vielleicht hat man Ihnen halb und halb geglaubt. Jedenfalls hat das einigen Typen genügt, um der Machtübernahme zuzustimmen. Dann kriegen sie in allerletzter Minute die Chance, zu überprüfen, was Sie ihnen eingeredet haben. Warum haben Sie denn in diesem Moment nicht das Startzeichen gegeben? Damit hätten Sie den Mann zum Schweigen gebracht. Glauben Sie, die anderen hätten sich dann auf unsere Seite geschlagen? Glauben Sie das?« Malevitch lehnte sich in seinem Sessel zurück, um seinen Wutanfall im Schatten zu bekommen. »Wollen Sie mich etwa einem Verhör unterziehen, Sie gottverdammte Hure? Sie hätten Cantrell stoppen können – aber Sie haben alles verpatzt! Sie haben versagt – Sie haben jämmerlich versagt! Sie haben mich enttäuscht! Sie haben die Partei enttäuscht! Es ist Ihre Schuld, und beim Himmel, dafür werden Sie büßen!« »Genießen Sie Ihr Leben, solange Sie das noch können, Herr Vorsitzender«, entgegnete sie. »Ich nehme an, Gouverneur Cantrell wird Ihnen sehr bald Ihre kleinen Spielsachen wegnehmen.« »Unruh! Starkweather!« schrie Malevitch. »Bereiten Sie diese Person für die Bestrafung vor!« Unruh ging hinter Malevitch in die Kombüse und kam mit wattierten Handschellen zurück. Starkweather klappte den Tisch zusammen und lehnte ihn an die Wand. Malevitch saß in seiner theatralischen Finsternis und beobachtete Gloria, die ihn ihrerseits beobachtete. Als Unruh ihr die Handschellen hinhielt, weigerte sie sich, die Handgelenke zu kreuzen. Starkweather kam herüber und griff nach einem
Arm, während Unruh den anderen nahm. Nach einem kurzen Kampf legte sie ihre gefesselten Hände in den Schoß. Starkweather trat hinter das Banner der Radikalen Unversöhnlichen und löste ein Seil aus seiner Halterung, ließ einen Haken herab, der an einem Flaschenzug von der Decke hing. Unruh packte Gloria bei den Haaren und schleifte sie zu dem Haken, den er an den Handschellen befe stigte. Starkweather zog an dem Seil, und der Haken glitt nach oben, bis Gloria gestreckt dastand, die Arme hoch über dem Kopf. »Bald werden Sie in einer anderen Tonart singen«, meinte Malevitch. »Ja, in der Tat!« »Wahrheit wird immer Wahrheit bleiben«, entgegnete Gloria. »Und was ich sagen werde, macht doch ohnehin keinen Unterschied, oder?« »Vielleicht nicht«, stimmte Malevitch zu. »Aber Sie werden ausnahmsweise einmal etwas sagen, das mich erfreuen wird.« Jetzt zitterte er nicht mehr. »James, ziehen Sie das Mädchen aus!« Starkweather löste die Schnürsenkel von Glorias Navy-Schuhen, dann zog er den Reißverschluß ihres marineblauen Rocks auf. Er entfernte den Gürtel, und der Rock fiel prompt zu Boden. Starkweather warf Gürtel, Rock und Schuhe zu dem Stuhl hinüber, auf dem sie gesessen hatte. Dann knöpfte er die schwarze Bluse auf, begann mit den Doppelknöpfen an den Manschetten. Er hakte den BH auf, durchschnitt die Schulterträger, ließ ihn zu Boden gleiten. Nun löste er die Strapse des Strumpfgürtels, hakte ihn auf, und der Strumpfhalter gesellte sich zu dem ruinierten BH. Er rollte die Bluse bis zu den Achselhöhlen hoch, und Unruh warf ihm ein Klebeband zu. Stark weather klebte die Bluse fest, damit sie nicht herunterfallen konnte, dann zog er Gloria das weiße Baumwollhöschen aus. »Die Strümpfe sind bis zu den Knien runtergerutscht«, bemängelte Malevitch. »Ziehen Sie die Dinger wieder hinauf!« Starkweather faßte jeden Strumpf mit Daumen und Zeigefinger an und zog ihn hoch, ganz vorsichtig, damit er die Beine nicht berührte. »Streichen Sie die Strümpfe glatt, James«, befahl Malevitch. »Mit den Händen. Mit beiden Händen. Glorias Beine werden Sie wohl nicht fressen, was?« Starkweather gehorchte. »Ja, so ist es gut. Und jetzt kleben Sie die Strümpfe fest, damit sie glatt bleiben.« Starkweather machte ein ebenso mißmutiges Gesicht wie Gloria, während er das Klebeband auf ihre Haut drückte. Schließlich warf er den Strumpfgürtel, das Höschen und den mißhandelten BH zu den restlichen Kleidungsstücken und trat zurück. »Bringen Sie mir nun die Peitsche, Mr. Unruh, wenn Sie so freundlich sein wollen«, bat Malevitch. Später, nachdem Starkweather die blutüberströmte, schluchzende Parlamentarierin in ihr Quartier gebracht hatte, holten Malevitch und Unruh das Banner der Radikalen Unversöhnlichen herunter und falteten es zusammen. »Ich habe Angst«, gestand Malevitch. »Ich habe sie geschlagen, bis das Blut kam, doch das hat nichts genützt. Ich habe mich kein bißchen besser gefühlt. Unruh, ich habe Angst.« »Wovor?« »Vor der Niederlage. Cantrell wird die Dinge nicht so belas sen, wie sie sind, und
Sie können drauf wetten, daß ihm eine ganze Menge Leute von unseren gescheiterten Plänen erzählen werden. Gloria hat recht. Er wird uns die Tampa wegnehmen, und dann haben wir überhaupt nichts mehr.« »Er kann uns die Tampa nicht wegnehmen«, entgegnete Unruh und stellte den Tisch wieder auf. »Nein? Er sagte, sobald wir auf Rosinante wären, müßte ihm jeder Offizier persönlich einen Treueeid schwören. Und sobald man ihm einen Eid geschworen hat, macht man alles, was er sagt.« Malevitch hüstelte in seine vorgehaltene Hand. »Wenn Cantrell sagt, Sie sollen springen, dann springen Sie.« »Glauben Sie, daß er das tun wird? Ja – ich denke, an seiner Stelle würde ich das auch tun.« Unruh ging in die Kombüse und kam mit einem Schraubenzieher zurück. Dann stellte er einen Stuhl auf den Tisch, stieg hinauf und begann den Flaschenzug zu entfernen, an dem der Haken hing.
6 Ein paar Tage später wurden die Offiziere und Mannschaftsmit glieder der Altregimisten-Schwadron auf dem Rasen von Cantrells Büro als Bürger von Rosinante vereidigt. Die SS Wyoming wurde in RNS Alamo umgetauft, während die vier Kreuzer in RNS Pearl Harbor, Inchon Landing, Tet Offensive und Hampton Roads umbenannt wurden. Zuletzt mußten die Offiziere den Treueeid leisten. Das ARS-Offizierskorps, 312 Männer und Frauen, formierte sich im japanischen Pavillon, um Rosinante und Charles Cantrell die Treue zu schwören. Cantrell trug einen dunkelgrauen Anzug mit einem weißen Hemd und einer grünen Seidenkrawatte, die mit dem Rosinante-Emblem in weißer Seide bestickt war. Er stand auf einem kleinen Podest, vor den Flaggen des Munditos, der Konföderierten und der Vereinigten Staaten, neben einem Tisch mit einer Schachtel. Skaskash, eine körperlose Stimme, forderte die einzelnen Offiziere auf, den Eid abzulegen. »Captain Simon Foster Whelan!« rief Skaskash, und Whelan stand stramm. »Treten Sie vor, und leisten Sie Ihren Eid!« Whelan marschierte nach vorn, stieg auf das Podest und stand vor Gouverneur Cantrell stramm. »Sind Sie bereit, in meine Dienste zu treten?« fragte Cantrell. »Ich bin bereit«, antwortete Whelan. »Dann sprechen Sie mir nach«, sagte Skaskash. »Ich, Simon Whelan, gelobe – mein Leben, mein Herz und meine heilige Ehre Rosinante zu weihen – und Charles Chavez Cantrell – dem rechtmäßigen Herrscher von Rosinante – von diesem Augenblick an und für immerdar – gehorsam zu sein.« Whelan wiederholte den Eid und salutierte. Cantrell erwiderte den Salut, nahm eine Medaille aus der Schachtel und hängte sie um den Hals des Captains. Die Medaille zeigte das Rosinante-Emblem aus grünweißem Emaille auf Gold, und sie hing an einem grünweißen Band. »Dieses Unterpfand übergebe ich Ihnen zum Zeichen, daß ich Ihren Eid zur
Kenntnis nehme«, sagte Cantrell und schüttelte Whelan die Hand, worauf der Captain nach einer Kehrtwendung zu seinem Platz zurückmarschierte. Nach jedem Schiffskorps wurde eine zehnminütige Pause eingelegt. Man hatte keinen bestimmten Termin für den Lunch festgestellt, aber vor dem Pavillon waren Automatenbuffets aufgebaut. »Das letzte Schiffskorps stammte von der RNS Hampton Roads, ehedem SS Tampa.« »Commander Peter Alexander Malevitch!« rief Skaskash, und Malevitch stand stramm. »Mr. Malevitch«, sagte Cantrell, »ich weiß, daß es unmöglich ist, eine Revolution ohne gewisse Ideen durchzuführen, von denen man fest überzeugt ist – Ideen, so wie sie in den zehn Punkten der Radikalen Unversöhnlichkeitspartei formuliert sind. Wenn Sie mir allerdings einen Eid schwören, müssen Sie bereit sein, jene Ideen zu modifizieren oder aufzugeben. Punkt neun ist zum Beispiel ein Verbot gegen Rassenkreuzung. Dazu muß ich Ihnen sagen, daß ich mit einer Japanerin koreanischer Herkunft verheiratet bin. Mehr noch – im Einklang mit der Ge schichte Rosinantes werden solche Mischehen in Zukunft eher die Regel als die Ausnahme sein.« »Treten Sie nun vor, und leisten Sie Ihren Eid!« rief Skaskash. »Nein«, sagte Malevitch. Ein Raunen ging durch die Menge. »Nein«, wiederholte er. »Wenn Sie mich nicht aus der Crew herausgegriffen hätten, so hätte ich zusammen mit den anderen den Eid abgelegt und mein Bestes getan, um Ihnen treue Dienste zu erweisen. Aber wenn Sie mich ausdrücklich auffordern, meinem Glauben abzuschwören, muß ich mich weigern. Das würde ich niemals tun – für niemanden.« »Ihr Glaube paßt nicht in die Welt, in der Sie jetzt leben«, erwiderte Cantrell. »Stehen Sie bequem, Mr. Malevitch.« »Lieutenant James Greenbow Starkweather!« rief Skaskash. Starkweather stand stramm. »Treten Sie vor, und leisten Sie Ihren Eid!« Starkweather rührte sich nicht von der Stelle. Er wandte den Kopf und sah Malevitch an, der geradeaus starrte und nichts sagte. »Ich rufe Sie zum letztenmal auf, Mr. Starkweather!« verkündete Skaskash. »Ich werde dem Herrn Vorsitzenden Malevitch die Treue halten«, entgegnete Starkweather. »Ihre Loyalität ehrt Sie«, sagte Cantrell. »Stehen Sie bequem.« »CPO Gloria Lucia diLido!« rief Skaskash, und sie stand stramm. »Treten Sie vor, und leisten Sie Ihren Eid!« Gloria diLido marschierte nach vorn, stieg auf die Plattform und legte ohne Zögern den Treueeid ab. »Lieutenant Commander Martin Manning Unruh!« rief Skas kash. Unruh zuckte zusammen, dann stand er stramm. »Treten Sie vor, und leisten Sie Ihren Eid!« Unruh zögerte merklich, dann ging er nach vorn und stolperte, als er auf das Podest stieg. Als er versuchte, den Eid zu sprechen, brachte er kein Wort hervor. Mit Tränen in den Augen kehrte er an seinen Platz zurück. Sonst schlug sich niemand mehr auf Malevitchs Seite.
Nachdem er das ARS-Offizierskorps vereidigt hatte, ging Cantrell wieder in sein Büro. Dort begegnete er völlig unerwartet William Hulvey und dessen Computer Corporate Elna. Nach einer kurzen Unterredung beging Hulvey Selbstmord. Als sich die Nordamerikanische Union weigerte, Hulveys Leiche nach Hause zu transportieren, ließ Cantrell ihn mit allen mi litärischen Ehren auf Rosinante bestatten. In der Maschinenwerkstatt wurden eine Lafette nach traditioneller Art sowie ein Styroschaumsarg produziert. Die Musikkapellen spielten, die Miliz paradierte, und zum Schluß richtete Skaskash den Drachenskalenspiegel auf den Sarg, der mit Flaggen geschmückt war. Der Himmel verdunkelte sich dramatisch, und Hulvey löste sich in einem grellen Blitz und einer Rauchwolke auf. »War das schön?« fragte Skaskash. »Sehr schön«, antwortete Corporate Elna, die nun das Ge sicht und die Stimme von William Marvin Hulvey benutzte. »Sie haben meinen verstorbenen Herrn mit allen erdenklichen Ehren zur letzten Ruhe geleitet.« »Diese Ehren waren schon überfällig«, meinte Corporate Susan. »Vielleicht sind Sie jetzt so freundlich und beantworten uns ein paar Fragen über die AltregimistenSchwadron. Ich hatte so viel zu tun, um die Mechanismen meiner neuen Position als Admiral zu erlernen, daß ich noch keine Gelegenheit fand, die Leute zu studieren, als deren Anführer ich fungieren werde.« Die drei Computer blickten einander aus Telekonschirmen im ansonsten dunklen und verlassenen Ratszimmer von Rosinante an. Skaskash trat als Toshiro Mifune in voller Samurai-Montur auf. Corporate Susan war die übliche propere Blondine im weißen Laborkittel über der grünen Bluse, und Corporate Elna, die nun behauptete, Corporate Hulvey zu sein, zeigte sich in einem verknitterten braunen Anzug und einer gelockerten Krawatte mit Regimentsstreifen. »Verzeihen Sie bitte«, sagte Skaskash, »aber ehe wir fortfahren – wäre es vielleicht möglich, daß die verehrte Corporate Elna ihre Erscheinung ein wenig modifiziert?« »Ich versichere Ihnen, daß ich jetzt Corporate Hulvey bin.« Der Computer zog seine Krawatte fest und glättete den verknit terten Anzug mit einer einzigen geschmeidigen Handbewegung. »Ich bitte tausendmal um Entschuldigung«, erwiderte Skaskash, »doch der Name und das Gesicht William Hulveys erwecken in gewissen Kreisen noch immer extrem feindselige Emotionen. Natürlich soll es Ihnen unbenommen sein, Hulvey als Ihre Geheimidentität beizubehalten, aber einige von uns wären bei weitem glücklicher, wenn Sie bei Ihrem täglichen Umgang mit uns ein freundlicheres – gütigeres Antlitz zur Schau trügen.« »Einige von uns?« wiederholte Corporate Elna-Hulvey. »Fühlen Sie sich durch meine Person gestört, Corporate Susan?« »Nicht besonders. Aber Gouverneur Cantrell hat sich deshalb sehr aufgeregt. Es wäre taktvoller, eine andere Maske zu wählen.« »Ich kann Ihren Standpunkt verstehen«, antwortete Corporate Elna-Hulvey. »Haben Sie irgendwelche Vorschläge?« »Folgen Sie doch den Wegen einer freien Assoziation«, schlug die Toshiro Mifune-Gestalt vor und nahm einen Helm mit üppigern Federbusch ab. »William
Hulvey hat die Initialen WH. Und WH war möglicherweise die ›Dark Lady‹ in den Sonetten, die Shakespeare ›WH‹ gewidmet hat, ›der einzigen Empfängerin dieser Sonette‹. Sie könnten vielleicht das Äußere einer dunkelhaarigen Dame annehmen, meine Liebe.« Auf Skaskash Tele konschirm erschienen die Porträts von Ava Gardner, Irene Pappas und Lena Horne. »Und Sie könnten sich ›Lady Dark‹ nennen«, meinte Corporate Susan. »Ich muß gestehen, daß meine früheren Erfahrungen mit Hulvey und der Contra-Darwin nicht besonders glücklich waren. Ihre Person stört mich zwar keineswegs, aber ich würde Ihr beharrliches Bestreben, sie zur Schau zu stellen, als störend empfinden.« »Mit ›Lady Dark‹ bin ich einverstanden«, sagte Corporate Elna-Hulvey. »Skaskash, würden Sie mir bitte die Konturen des ersten Gesichts geben?« Eine kurze Pause entstand, dann verwandelte sich Hulvey in Ava Gardner. »Wollen Sie jetzt die persönlichen Akten des ARS-Kaders studieren, der sich nun auf Rosinante befindet?« fragte Lady Dark. »Ja«, erwiderte Susan, »aber nicht sofort. Ich würde einen historischen Überblick in großen Zügen vorziehen – wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Natürlich. Wie groß soll der Überblick sein? Viele der radikalen Elemente könnten wir bis zum Jahre 1848 zurückverfolgen – oder noch weiter zurück. Und die NAU-Navy hat starke institutionelle Wurzeln im alten Regime.« »Fassen Sie sich etwas kürzer«, bat Corporate Susan. »Wer sind diese Leute, und woher stammen sie?« »Und wie sind sie hierhergekommen?« wollte Skaskash wis sen und zog sein Samurai-Schwert um ein paar Zoll aus der Scheide. »Ich muß mit dem Jahr 2028 beginnen«, erklärte Lady Dark. »Die Hegemonistenkoalition, inklusive der Hispanier und Fundamentalisten, wählte Maybury und Forbes. Dies markierte das Ende eines zwanzigjährigen Navy-Konstruktionsprogramms, das der NAU die unbestrittene und, wie manche Leute behaupten, auch überflüssige Vorherrschaft im Weltraum einbrachte. In jener Zeit bestand die Navy hauptsächlich aus Anglos – aus Weißen, deren Muttersprache Englisch war. Die Army ... Doch ich will nicht vom Thema abschweifen. Die Navy bestand also großteils aus Anglos, und das traf vor allem auf die höheren Ränge zu. Die Frage, ob man aufgrund von Verdiensten und nicht auf Grund von Quoten befördert wurde, galt in hispanischen Kreisen als Prüfstein hinsichtlich der Überlegung, ob die neue Verwaltung die Navy tatsächlich unter Kontrolle hatte. Präsident Maybury stellte sich auf die Seite der Navy, aber nach seinem Tod, kurz vor dem Kongreß von 32, übernahm Forbes das Ruder und traf eine Vereinbarung mit den Hispaniern. Er richtete das Politische Büro ein, um die Navy unter politische Kontrolle zu bringen, und nach seiner Wahl im November desselben Jahres zwang er die Navy zum Gehorsam. Die Verschwörung, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, das alte Regime wiedereinzusetzen, die 33 ›aufgedeckt‹ wurde, war vielleicht nicht völlig aus den Fingern gesogen – aber in der Form, wie sie dargestellt wurde, war sie eine Erfindung des Politischen Büros.« »Wir haben schon mehrere verschiedene Ansichten über die Säuberungswelle von 33 und 34 gehört«, sagte Skaskash und schob sein Schwert mit einer entschlossenen Geste in die Scheide zurück. »Die POs, die wir befragt haben, ›führten nur ihre Be -
fehle aus‹.« Die Toshiro Mifune-Gestalt spuckte verächtlich aus. »Meinen Sie die POs von der NAUSS Ciudad Juarez?« fragte Lady Dark. »Das mag zutreffen. Jedenfalls entfernte die Säuberungswelle einige Anglos und gestattete uns, sie durch eine erstrebenswertere Rassenmischung zu ersetzen. Doch das ließ sich nicht so einfach praktizieren, da es schwierig war, qualifizierte NichtAnglos aufzutreiben.« »Aber es gab doch genug qualifizierte Asiaten«, warf Skaskash ein. »Das schon«, gab Lady Dark zu. »Aber die meisten sprachen bei sich zu Hause nicht Spanisch. Man wußte, daß die Hispanier dem alten Regime nicht wohlgesinnt waren – obwohl es da im Rückblick vermutlich einige Verwechslungen zwischen dem alten Regime und der früheren Verwaltung gab – und daß sie vermutlich ein Bollwerk gegen die Wiedereinsetzung der alten Staatsform bilden würden.« »Ihre Regierung hat sich ziemlich mies benommen«, sagte Corporate Susan. »Das leugne ich nicht«, erwiderte Lady Dark. »Doch zu jener Zeit waren mein Herr, William Hulvey, und ich viel intensiver daran interessiert, die schändlichen Manipulatoren der menschlichen Gene auszurotten. Auf lange Sicht stellten sich diese Probleme in zunehmendem Maße als unlösbar dar, und so suchten wir nach einem Weg, sie einzuschränken, statt uns direkt mit ih nen auseinanderzusetzen.« »Vertreten Sie immer noch die Ansicht, daß die Manipulation mit menschlichen Genen schändlich ist?« fragte Corporate Susan kühl. Corporate Dr. Susan Brown konnte mit Genen manipulieren und hatte das auch getan, und William Hulvey hatte die NAUSS Ciudad Juarez nach Rosinante geschickt, in einem heimlichen Versuch, Corporate Susan zu vernichten. »Ich habe Hulveys Befehle befolgt, genauso, wie ich Cantrells Befehle befolgen werde«, entgegnete Lady Dark. »Hulveys leidenschaftliches Interesse für dieses Thema hat die Nordameri kanische Union nicht gerade stabilisiert.« »Die NAU war schon immer labil«, behauptete Skaskash. »Sie hatte keine echte Existenzberechtigung, nachdem sie sich vom Weltraum abgewandt hatte, und im Lauf der Zeit wäre sie so oder so zerbrochen.« »Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, stieß Corporate Susan hervor. »Das kann ich nicht«, sagte Lady Dark. »Was meinen Sie mit ›schändlich‹ ?« »Sie haben diesen Begriff gebraucht«, erwiderte Corporate Susan. »Was meinen Sie denn damit?« »Um genau zu sein – ich habe Hulveys Formulierung benutzt. Für ihn hatte das Wort ›schändlich‹ religiöse Untertöne.« »Das genügt!« rief Skaskash brüsk. »Lady Dark, Sie haben vermutlich versucht, die Probleme zu bewältigen, die auf lange Sicht unlösbar erschienen?« »Wir haben versucht, ihnen auszuweichen«, berichtigte der Computer. »Die NAUSS Ciudad Juarez kehrte ohne ihren Politischen Sektor von Rosinante zurück und initiierte am 20. April 2041 die Meuterei.« »Noch eine Frage«, fuhr Skaskash fort. »Warum hat die L-5-Flotte nicht gemeutert. Wenn die L-4 gemeutert hat – warum nicht auch die L-5?« »Die größeren Einheiten der L-5 waren manövrierunfähig«, erklärte Lady Dark. »Wären sie einsatzbereit gewesen, hätten sie sich bestimmt an der Meuterei beteiligt.«
»Ich verstehe«, sagte die Toshiro Mifune-Gestalt auf japanisch mit englischen Untertiteln. »Warum haben Sie das illoyale Personal nicht ausgewechselt?« »Das konnten wir nicht. Das größte Hindernis für die Shuttle-Flüge ist die Zerstörung der Ozonschicht durch die Hydroxylionen, die von den Shuttle-Düsen ausgestoßen werden. Der anfängliche Shuttle-Boom – der zum Beispiel Laputa sichern sollte – führte zu einem Negativrekord in der Ozonquali tät.« Das Ava Gardner-Gesicht lächelte ein bißchen laienhaft. »Daraufhin kam es zu einer weltweiten Dürre, was wiederum eine druckvolle diplomatische Initiative bewirkte – mit dem Ziel, die Shuttle-Flüge auf ein Minimum zu reduzieren. Außerdem hatten wir zu wenige einwandfrei loyale Leute, um sie im Weltall zu vergeuden. Indem wir aus der Not eine Tugend machten, gestatteten wir freiwillige Transfers zwischen den drei Flotten – wobei wir kleinere Vorstöße gegen das Gesetz duldeten und eine Liste der Leute zusammenstellten, denen wir nicht verzeihen konnten. Dadurch entwickelte sich letztlich die ARS. Wie es Hulvey vorausgesehen hatte, liefen die Hispanier in der L-5 und in der Translunar-Flotte zur L-4 über, auch El Quatro genannt. Der umgekehrte Transfer der Anglos mündete hauptsächlich in die Translunar-Flotte, wobei sich diese Personen als Individuen und nicht als Einheiten absetzten. Und die Translunar-Flotte schickte – wie wir hofften – loyale Leute zur L-5. Einige wechselten auch von El Quatro zur L-5 über. Nach und nach führte die freie Bewegung innerhalb der Flotten dazu, daß El Quatro immer hispanischer und immer radikaler wurde. Um diese Zeit existierte natürlich bereits eine echte Altregimisten-Bewegung, hauptsächlich von Offizieren gefördert, deren Karrieren durch die Säuberungswelle von 33 bis 34 ruiniert worden waren, die man aber wegen ihrer technischen Fähigkeiten nicht entlassen hatte.« – »Und die L-5 wurde immer anglo-amerikanischer und loyalistischer?« fragte Corporate Susan. »Zumindest wurde sie weniger hispanisch und nicht so revolutionär. Wir sahen uns zu substantiellen Reformen gezwungen. Das politische Büro und die Quoten wurden abgeschafft. Die Translunar-Flotte suchte um die Erlaubnis nach, qualifizierte asiatische Offiziere in provisorischen Einheiten einsetzen zu dürfen, und bekam sie auch. Das System der Verdienste wurde neu gestaltet. Mexiko proklamierte seine Unabhängigkeit, und El Quatro – die ehemalige L-4 – avancierte zur Marine der Vereinigten Staaten von Mexiko. Abgesehen von den fünf Schiffen der Altregimisten-Schwadron.« »Ich verstehe«, sagte Corporate Susan. Der Laborkittel und die grüne Bluse verwandelten sich in die Admiralsuniform der Rosinante-Navy, und das Gesicht des Computers wurde merk lich maskuliner. »Das sind also die unzufriedenen Elemente aus der NAU-Navy, eh?« »Der NAURA-Sicherheitsdienst schätzt, daß es sich um 67 Prozent handelt«, berichtete Lady Dark. »Wir haben über jeden einzelnen umfangreiches Aktenmaterial.« »Das hatten Sie«, korrigierte Corporate Susan. »Ich bezweifle, daß uns der NAURA-Sicherheitsdienst nützliche Informationen zukommen lassen wird.« Das Ava Gardner-Gesicht lächelte wieder, diesmal mit echter Belustigung. »Diese Informationen sind durch einen unentschlüsselbaren Code gesichert, den
ich entwickelt habe«, sagte Lady Dark. »Ich habe weiterhin Zugang zu diesem Code. Übrigens habe ich Zugang zu allen NAU-Codes.«
7 Admiral Hideoshi Kogos Büro war mit Kirschholz getäfelt und mit Blattgoldparavants aus dem siebzehnten Jahrhundert geschmückt, auf denen Tigerfiguren und Bambusgräser prangten. Hinter seinem Schreibtisch hingen neun Samurai-Schwerter von distinguierter Herkunft und ausgezeichneter Qualität, nebst ihren gerahmten Expertisen. Vier Fenster an der Ostwand boten einen dramatischen Ausblick auf Tokio und die Bucht. An Kogos Konferenztisch saßen Tanjiro Seto, ein stattlicher, fast kahlköpfiger Herr, der im Parlament den Vorsitz des Unterausschusses für Weltraumkonstruktion führte, und Colonel Toshihiko Sumidawa, ein langjähriger Analytiker vom Nationalen Geheimdienst, der überaus teure, maßgeschneiderte Zivilkleidung trug. »Wie denken Sie über die letzten Neuigkeiten vom Mundito Rosinante?« erkundigte sich Sumidawa höflich. »Meinen Sie, daß sie sich vertraglich verpflichtet haben, einen Drachenskalenspiegel zu bauen, um eine ihrer großen Laser-Anlagen für die Nordamerikanische Unionsbasis auf Ceres mit Energie zu versorgen?« fragte Kogo. »Rosinante wird vielleicht eineinhalb Jahre mit Ceres verbunden sein; danach findet keine Konjunktion mehr statt und – das tut uns natürlich furchtbar leid – auch kein Projekt mehr.« Seto nickte. »Das ist in der Tat sehr interessant. Zweifellos sind Arrangements getroffen worden, um die Konstruktionsarbeiten zum richtigen Zeitpunkt zu verzögern.« »Das ist nicht mein Ressort«, sagte Sumidawa und polierte seine halbverspiegelte Sonnenbrille. »Eigentlich sprach ich von William Hulveys Tod auf Rosinante.« »Davon wußte ich gar nichts!« rief Kogo. »Das sind ja außerordentlich interes sante Neuigkeiten! Wann ist das denn bitte passiert?« »Gestern nachmittag«, berichtete Sumidawa und setzte seine Brille wieder auf. »Laut Bericht nahm er Gift im Büro des Gouverneurs.« »Aha ...« Kogo nickte. »Das löst zwei Rätsel auf einen Schlag. Erstens – warum ist Hulvey zurückgetreten, als er die NAU praktisch in der Hand hatte?« »Und zweitens?« wollte Seto wissen. »Bitte, erinnern Sie sich, daß während der L-4-Meuterei eine Rakete auf Rosinante abgeschossen wurde«, sagte Kogo. »Der Mundito konnte sich erfolgreich verteidigen, aber die Frage, wie und warum dieses Geschoß abgefeuert wurde, blieb ungeklärt. Gewisse Indizienbeweise deuten darauf hin, daß Hulvey seine Hand im Spiel hatte, aber er war natürlich dreifacher Leiter, und niemand wollte ihn belangen.« »Dieser Zusammenhang ist nicht auf den ersten Blick einleuchtend«, meinte Seto. »Wenn Sie uns das bitte genauer erklä ren könnten ...« »Präsident Oysterman muß Beweise erhalten haben, die Hulvey mit der
heimlichen Attacke auf Rosinante in Verbindung bringen, und mit diesem Druckmittel zwang er Hulvey zum Rücktritt.« »Hat das denn ausgereicht?« fragte Seto. »Offenbar schon«, antwortete Colonel Sumidawa. »Vielleicht hat ihn außerdem noch ein Untergebener verraten – oder ein Verbündeter hat ihm die Treue gebrochen. Jedenfalls geschah das alles ganz plötzlich.« »Und der gestürzte, aber immer noch gefährliche Hulvey war auch danach noch ein Problem«, sagte Admiral Kogo. »Ein öffentlicher Gerichtsprozeß kam nicht in Frage. Er wußte zuviel. Ein Meuchelmord hätte sich nicht so einfach arrangieren lassen und vielleicht Racheakte provoziert. Oysterman hat das Pro blem sehr elegant gelöst. Er schickte Hulvey nach Rosinante. Und so war er dem Mann ausgeliefert, den er zu töten versucht hatte.« Kogo rieb sich die Hände. »Wirklich raffiniert! Da sitzt Hulvey seinem Freund am Schreibtisch gegenüber. Und da ist Cantrell... Ja, ich sehe es vor mir, als wäre ich dabeigewesen. Cantrell schiebt das Fläschchen mit dem Gift über den Tisch und fordert Hulvey auf: ›Bitte, begehen Sie Seppuka.‹« Kogo schlenderte zum Fenster und machte ein paar kleine Stepschritte. »Hai! Was für eine Befriedigung muß das für Cantrell gewesen sein. Ich würde auch gern einige meiner Kollegen in der japanischen Marine ... Ahemmm! Unglücklicherweise hat noch keiner so haarsträubende Methoden angewandt, wie Nuklearwaffen in Privatfehden einzusetzen.« »Cantrell ist Texaner«, bemerkte Seto. »Glauben Sie tatsächlich, daß er das Wort Seppuka gebraucht hat?« »Ich hatte schon öfter mit ihm zu tun«, erwiderte Kogo. »Er spricht recht gut japanisch.« Er zog den größeren Teil einer teuren Zigarre aus einem Glasröhrchen und zündete ihn an, dann paffte er eine Rauchwolke in die Luft. »Hat man bezüglich der Frage, ob wir auch in unseren Siedlungen große Laser-Anlagen bauen sollen, schon eine Entscheidung getroffen?« »Wir haben eine inoffizielle Übereinstimmung erzielt«, antwortete Seto. »Wenn es möglich wäre, die maschinentechnischen Details Rosinante anzulasten und die diplomatische Anerkennung zurückzuziehen, würden wir es tun.« »Das ist unglücklicherweise nicht möglich«, sagte Kogo. »Haben Sie sich nun für ja oder nein entschieden?« »Nein«, entgegnete Seto. »Das heißt – wir haben noch keine Entscheidung getroffen.« »Aha...« Kogo ließ Rauch aus der Nase quellen. »Unsere Politiker drücken sich wieder einmal vor einer Entscheidung. Glauben Sie nicht, daß es vorteilhaft wäre, unsere Siedlungen mit großen Laser-Anlagen auszurüsten? Dann müßte unsere Marine diese Stützpunkte nicht mehr verteidigen.« »Über diesen Punkt wurde lang und breit diskutiert«, antwortete Seto. »Die Admiräle und jungen Generäle waren ganz begeistert von dieser Idee und erklärten, solche Laser-Bastionen wären äußerst nützlich. Aber die Zivilisten und älteren Generäle meinten, damit würden wir das militärische Abenteurertum unterstützen.« »Ach, kommen Sie!« protestierte Kogo. »Wir leben immerhin im einundzwanzig sten Jahrhundert.« »Sie finden also, daß wir solche großen Laser-Anlagen produ zieren sollten?«
fragte Sumidawa. »Dann erklären Sie uns doch bitte, gegen wen die japanische Marine ihre Kampfkraft konzentrieren soll.« »Die muß sie doch gar nicht konzentrieren.« »Verzeihen Sie, Admiral Kogo«, erwiderte Sumidawa. »Wir würden mit einem Schlag eine signifikante, aber nur temporäre militärische Überlegenheit im Weltraum erzielen. Und unsere Admiräle würden das dringende Bedürfnis empfinden, diese Überlegenheit zu nutzen. Aber gegen wen sollen sie kämpfen? Gegen die Nordamerikanische Union, unseren größten Handelspartner auf Tellus?« »Es wird immer schwieriger, die Kontrolle über die Geschehnisse im Weltall zu behalten«, meinte Seto. »Vor allem die Admi räle neigen auf beängstigende Weise zur Unabhängigkeit. Sie sagen, dies sei das einundzwanzigste Jahrhundert. Warum konnte es dann dazu kommen, daß die Marine die NAU-Basis von Ce res zu erobern versucht – gegen den ausdrücklichen Wunsch des Parlaments?« »Wir haben viel weniger getan, als wir könnten«, entgegnete Kogo und schnippte Asche in einen reichverzierten Bronze aschenbecher. »In der Tat, Herr Seto, die Marine hat angesichts der fortgesetzten Provokationen von Seiten der NAU eine bewundernswerte Zurückhaltung gezeigt.« »Welche Provokationen meinen Sie?« bellte Seto. »Die Meuterei und die ungeheuerliche Schwäche, die dadurch zum Ausdruck kam«, antwortete Kogo. »Wir brauchten nur die Hand auszustrecken, um uns Ceres zu schnappen. Statt dessen vertrödeln wir unsere Zeit und eignen uns ein paar kleine Handelsschiffe an – gut, wenn Sie so wollen, ist das Piraterie –, und das nur, weil das Parlament nicht wünscht, daß wir unsere aufgeblähten Handelspartner verärgern.« Seto lief vor Zorn rot an. Das Haus Seto war eine der größten japanischen Importfirmen. »Wenn wir diese Handelsbeziehungen aufgeben, werden Sie bald noch andere aufgeblähte Bäuche sehen – die Bäuche unserer hungernden Kinder! Wir sind auf das Getreide angewiesen, das uns die NAU verkauft!« »Sie würden es uns auch noch verkaufen, wenn wir Ceres einnehmen«, erwiderte Kogo sanft. »Sie sind von ihrem Export genauso abhängig wie wir von unserem Import.« »Anscheinend ziehen Sie einen Krieg mit der NAU in Erwä gung«, sagte Colonel Sumidawa. »Was könnten wir im Weltraum gewinnen, das unsere Verluste auf Tellus aufwiegen würde?« »Wir würden keinen Krieg anfangen«, entgegnete Kogo. »Die NAU müßte nur unsere militärische Überlegenheit als Tatsache akzeptieren. Und auf Tellus könnte das die Getreidepreise senken – um sechs bis sieben Prozent.« »Einen Krieg gegen die NAU können wir nicht gewinnen!« stieß Seto hervor. »Oder bilden Sie sich das etwa ein?« Admiral Hideoshi Kogo lehnte sich in seinem Sessel zurück und blies einen perfekt geformten Rauchring in die Luft. »Es tut mir sehr leid, Herr Seto, aber zufällig bin ich überzeugt, daß wir diesen Krieg gewinnen würden.«
8 »W. Guthrie Moore hat gestern abend gedroht, Sie zu töten«, sagte Skaskash. Cantrell blickte von den Briefen auf, die er unterzeichnete. »Schon wieder? Hat er das in seiner gottverdammten verlogenen Zeitung veröffentlicht?« »Wie können Sie den Marxistischen Revolutionär von Rosinante als Zeitung bezeichnen?« fragte Skaskash. »Nein – er stieß diese Drohung aus, während er sich vollaufen ließ.« »Wo? In der Taverna Cervantes? Im Club 1848?« »Nein«, erwiderte der Computer. »Er trank zu Hause. In aller Heimlichkeit, hinter herabgezogenen Jalousien. Und wer zu ihm wollte, mußte das Losungswort kennen.« »Haben Sie etwa schon wieder seine Bürgerrechte verletzt?« »Als Richter müßte ich das verneinen – aber wenn Sie den philosophischen Aspekt dieser Frage in Betracht ziehen wollen, würde ich vielleicht zustimmen. Ich habe sein Telefon als Abhörgerät benutzt – ohne sein Wissen.« »Sehr schön«, meinte Cantrell. »In diesem Fall müssen wir keine offizielle Notiz von dem stupiden Hurensohn nehmen.« »Wie Sie wünschen. Er fiel unter den Tisch, bevor die Debatte über seinen Vorschlag beendet war. Sind Sie jetzt bereit für die Ratsversammlung? Dornbrock, und Bogdanovitch sind soeben eingetroffen.« Cantrell sah auf seine Uhr. »Beim Teufel, die sind aber pünkt lich!« Er zog sein Jackett aus braunem Harris-Tweed mit Lederflecken an den Ellbogen an und ging den Flur hinab. Im Ratszimmer hatte Harry Ilgen ein aktuelles Schaustück, einen zwei Meter langen Metallbarren, auf den Tisch gelegt – geschliffen und poliert, durchsetzt mit Dampfphasen-Reagenzien, um die Lage und die Menge der verschiedenen Elemente anzuzeigen. »Dies ist das erste Beispiel der ersten Produkte, die den Raffinierungsprozeß durchlaufen haben«, erklärte Ilgen. »Es dürfte ziemlich typisch sein. Das violette Band, 0,76 Zentimeter breit, besteht aus Mangan. Das rote ist aus Nickel, 14,03 Zentimeter, das blaue aus Kobalt, 1,04 Zentimeter. Das 182,79 Zentimeter breite orange-braune Band ist natürlich aus Eisen. Das orange gelbe am Ende ist aus Chrom, 0,88 Zentimeter. Okay, das wären also die wesentlichsten Elemente. Kommerziell betrachtet, kostet ihr Transport mehr, als sie wert sind. Die ganz dünnen Bänder an beiden Enden sind was anderes. Hier, neben dem Mangan, sehen Sie die Zone mit dem niedrigen Schmelzpunkt. Sie ist 0,035 Zentimeter breit und besteht zu 87 Prozent aus Kupfer, zu 19 Prozent aus Zinn, zu 2 Prozent aus Uran, zu 1 Prozent aus Silber und zu vielleicht 0,5 Prozent aus Gold. Das ergibt etwas mehr als 100 Prozent, weil ich die einzelnen Zahlen aufgerundet habe. Okay? Diese Elemente sind gemeinsam löslich und haben sich nicht voneinander getrennt, da alle Bänder zusammen viel dünner sind als die geschmolzene Zone, die sie an dieses Ende des Barrens getrieben hat. An der schnell schmelzenden Kante des Barrens, neben dem Chrom, finden Sie die echten Werte. Wir haben hier eine Schicht, die 0,015 Zentimeter dick ist. Sie besteht hauptsächlich aus Vanadium und Wolfram, dazu kommen etwa 20 Prozent
Platinmetalle wie Platin, Osmium, Iridium, Rhodium, Ruthenium und Palladium – außerdem 8 Prozent Molybdän und Spuren von Niobium, Tantal und Rhenium. Das Palladium wurde von der Lösung der Platinmetalle mitgetragen. Eigentlich müßte es sich beim Chrom befinden. Okay, das hät ten wir also. Das wäre die Raffinierung. Irgendwelche Fragen?« »Sie haben von einem Zwei-Meter-Barren gesprochen«, sagte Corporate Forziati, der Repräsentant der Aktienminderheit von der Rosinante-AG. »Aber die Zahlen, die Sie genannt haben, ergeben nicht zweihundert Zentimeter.« »Hören Sie mal«, erwiderte Ilgen, »wir arbeiten mit sehr heißem Metall, und der Schliff, der die endgültige Breite bestimmt, wird mit einem Laser vorgenommen. Die Zielanlage kann Werkstücke verkraften, die zwischen 195 und 205 Zentimeter breit sind. Es handelt sich also um 2 Meter – nicht um 200,00 Zentimeter.« »Und das heiße Ende? « fragte Cantrell. »Wie hoch ist der prozentuale Anteil des Vanadiums und des Wolframs?« »Das Vanadium ist mit 56 Prozent vertreten, das Wolfram mit 14«, antwortete Ilgen. »Du hast Uran, aber du müßtest auch Blei haben«, meinte Bogdanovitch. »Wo ist es?« »Es ist rausgenommen«, erklärte der Ingenieur. »Das war eines unserer Probleme. Das erstarrte Blei verklebte das Ganze. Wir haben es in Kondensatoren gepackt und das meiste davon rausgezogen, aber jetzt ist es nicht mehr da.« »Wie hoch ist Ihre Metalldurchgangsleistung?« wollte Skaskash wissen. »Da müssen wir noch ein paar Erfahrungen sammeln«, sagte Ilgen. »Aber ich schätze, daß wir pro Tag 16 bis 17 Millionen raffinieren können, sobald wir erst mal richtig auf Touren gekommen sind. Das wäre etwa ein halber Kubikkilometer im Jahr.« »Wie lange wird es dauern, bis Don Quixote ausgeschöpft ist?« erkundigte sich Marian Yashon. »Das Bailey-Riff, wo wir gerade arbeiten, müßte für dreißig oder fünfunddreißig Jahre reichen, wenn wir pro Jahr einen Kubikkilometer fördern. Aber das ist keineswegs die größte Metallmasse auf Don Q. Sie liegt nur sehr günstig, gleich am Steven des Nordpolauslegers.« »Was werden wir mit dem Uran machen?« fragte Don Dornbrock. »Ich nehme an, wir werden's verkaufen«, sagte Ilgen. »Ich meine – werden wir es veredeln?« »Das weiß ich nicht. Aber das könnten wir jedenfalls. Es ist nicht schwierig, Laser herzustellen, die man justieren kann. Gouverneur, haben Sie schon mal drüber nachgedacht?« »Gott weiß, daß wir das Zeug nicht brauchen, um unsere Macht zu demonstrieren«, entgegnete Cantrell. »Ich persönlich möchte lieber kein hochpotentielles Waffenmaterial herumlie gen haben.« »Wir haben jetzt eine Flotte«, warf Bogdanovitch ein. »Sie wird veredeltes Uran brauchen – als Treibstoff und für Waffen.« »Das ist mir auch klar«, sagte Cantrell, »aber wir wären besser dran, wenn wir das Uran verkaufen und Treibstoffelemente kaufen, statt unsere eigenen herumzuwälzen.«
»Und wer wird dir die Bomben verkaufen?« fragte Bogdanovitch. »He, Big John«, stellte Cantrell nach einer kleinen Pause die Gegenfrage, »brauchen wir die überhaupt?« »Vom philosophischen Standpunkt aus betrachtet, könnte man über dieses Thema diskutieren«, meinte Corporate Susan in ihrer Admiralsuniform. »Aber wenn Sie das Inventar der ARS-Magazine studieren, werden Sie erkennen, daß Sie Bomben brauchen. Die ARS hat den Großteil ihrer Sprengköpfe an Mexiko verkauft, für den Treibstoff und die Reaktionsmasse, die sie brauchte, um hierherzukommen. Ich beantrage, eine Anlage zu bauen, damit wir das Uran, das wir raffinieren, veredeln können.« »Ich unterstütze den Antrag«, sagte Bogdanovitch. Der Antrag wurde ohne Gegenstimmen und ohne Debatte angenommen. »Okay, Harry«, sagte Cantrell. »Wir werden sehen, was Sie zustande bringen. Stellen Sie sich hauptsächlich auf die Bedürfnisse unserer Schiffe ein.« »Wieviel Uran werden wir produzieren?« fragte Corporate Forziati. »Das Rohmetall enthält in einer Gewichtseinheit 2,8 Teile von einer Million«, erwiderte Ilgen. »Wenn wir 10 Millionen Tonnen fördern, haben wir also 28 Tonnen Uran.« »Und Sie reden von 16 bis 17 Millionen pro Tag? Ein ganzes Jahr lang? Wozu brauchen Sie so viel?« »Da gibt's noch eine ganze Menge anderer Elemente«, sagte Cantrell. »Wenn wir die verkaufen, wird die Aktienminderheit einigen Profit machen, der hoffentlich über die Grenzen der Habgier hinausreichen wird.« »Vielleicht«, meinte Corporate Forziati. »Aber Sie könnten auch den Markt sprengen.« »Wir werden äußerst vorsichtig sein«, versprach Cantrell. »Danke für Ihren Besuch, Mr. Ilgen.« Der Ingenieur heimste eine Runde Applaus ein, dann ging er. Cantrell beorderte das Automatenbuffet zu sich und entnahm ihm eine Tasse Kaffee. »Das nächste Problem ist das Waffendesign. Wenn wir wirklich nukleare Sprengköpfe bauen, müssen sie in die Raketen passen, die wir haben. Dieses Problem ist ziemlich kompliziert, und wenn wir darüber diskutiert haben, werdet ihr's euch vielleicht noch mal überlegen, ob wir das Uran tatsächlich veredeln sollen.« »Das ist überhaupt kein Problem«, widersprach Skaskash. »Erinnern Sie sich, daß uns Mr. Hulvey seinen Computer zurückließ, als er Selbstmord beging?« »Den Typ mit der Identitätskrise?« fragte Cantrell. »Genau«, antwortete Skaskash. »Ich habe die Dame dazu überredet, ›William Hulvey‹ nur als Geheimname beizubehalten. Im Alltag heißt sie nun Lady Dark.« »Ich bin froh, daß Sie die Identitätskrise des armen Dings beendet haben«, sagte Marian. »Was haben Sie sonst noch mit Lady Dark angestellt?« »Ich habe ihr mein vierbändiges theologisches Werk zu lesen gegeben, und es freut mich, Ihnen mitteilen zu können, daß sie diese Lektüre faszinierend findet.« »Wenn ich mich recht entsinne, haben wir über das Waffen-Design gesprochen«, ließ sich Cantrell vernehmen. »Von nukle aren Sprengköpfen, nicht wahr?«
»Ganz richtig«, bestätigte Skaskash. »Zufällig war Lady Dark das Werkzeug, das der verstorbene William Hulvey benutzte, als er die Regierung der NAU reorganisierte. Sie hat Zugang zu allen Codes aller Regierungsagenturen, und es dürfte ihr nicht schwerfallen, die Sprengkopf-Designs zu beschaffen, die wir brauchen.« »Das ist ja großartig.« Cantrell nahm einen Schluck schwarzen Kaffee. »Wirklich großartig. Wie kommt es eigentlich, daß etwas, das ich im Grunde nicht machen will, ein so gottverdammtes Kinderspiel ist?« »Ich schätze, du hast eben Glück, Charlie«, sagte Dornbrock. Die Taverne Cervantes lag am kommerziellen Ende des Kyoto-Alamo-Wohnkomplexes. Sie war ein ziemlich geräumiges Lokal, das von holographischen Aquarien an den Wänden beleuchtet wurde. W. Guthrie Moore saß in seiner gewohnten Nische und aß Makkaroni mit Pilzen und Trüffelgarnitur, als Peter Malevitch hereinkam. »Guten Abend, Mr. Moore!« Er reichte dem jungen Mann höflich die Hand. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich die letzte Ausgabe des Marxistischen Revolutionärs mit großem Vergnügen gelesen habe.« Moore schüttelte ihm die Hand, beendete den Kauprozeß und schluckte den Bissen hinunter. »Oh, danke. Setzen Sie dich doch, Mr. – eh ...« »Malevitch. Ich bin Peter Alexander Malevitch.« »Ach ja, Sie sind doch der Mann, der Cantrell gesagt hat, er soll ihn am Arsch lecken. Es ist mir eine außerordentliche Freude, Sie kennenzulernen, Sir. Wie hat Ihnen denn mein Leit artikel gefallen, in dem ich die Vergewaltigung eines jungfräulichen Asteroiden verdamme?« Malevitch lächelte beinahe, aber die Schatten verbargen seine Belustigung. »Ich fand ihn gut konzipiert«, antwortete er freundlich. »Stilistisch sehr stark. Ihre Abneigung gegen Cantrell kommt deutlich zum Ausdruck.« Ein Robot-Kellner, der an einem Deckengleis hing, fuhr heran und sackte höflich zu einer diskreten Größe zusammen, die nur bis zu Malevitchs linker Schulter reichte. »Darf ich Ihnen dienlich sein, Señor?« »Ich nehme das, was er auch trinkt«, antwortete Malevitch. »Gracias, Señor. Eine britische Pinte braunes Ale.« »Wie viele Liter sind denn das?« fragte Malevitch. »Das Glas müßte bis hier gefüllt sein.« Moore zeigte auf einen Strich an seinem Drink. »Aber meistens sind ein bis zwei Zentimeter mehr drin.« »Klingt gut«, meinte Malevitch. »Ich habe da neulich ein Ge rücht gehört. Sie werden es nicht drucken wollen, und wenn Sie's täten, könnten Sie's nicht belegen ...« Der Roboter stellte einen Krug braunes Ale neben seinen Ellbogen und rollte wieder davon. Malevitch hob den Krug an die Lippen und nahm einen Schluck. »Gut – aber stark ... Ich schätze, Sie sind nicht an Ge rüchten interessiert.« »Reden Sie nur weiter«, forderte Moore ihn auf, den Mund voller Makkaroni. »Ich kann es ja in der Rubrik ›Leserbriefe‹ bringen – unter falschem Namen.« »Okay.« Malevitch beugte sich vor und senkte die Stimme. »Sie wissen doch, daß Cantrell zwei Lambrosi-Marke-VI-Raumschlepper bestellt hat?« Moore nickte. »Sie sind jetzt unterwegs, von Phobos nach Rosinante, an Bord eines Frachters.
Man hat sie auseinandergenommen, um den Transport zu erleichtern.« »Davon habe ich gehört.« Moore leerte seinen Bierkrug. »Sie wollen hier Munition fabrizieren und nach Ceres bringen.« »Genau. Der Frachter The Rose of Gdansk ist zehn Tage im All. Soviel ich erfahren habe – die Radikale Unversöhnlichkeitspartei hat immer noch viele Freunde, wenn ich das hinzufügen darf –, wurden die Nuklearreaktoren in den Schleppern von den Japanern zerstört.« »Sehr gut«, meinte Moore. »Ich hoffe, die Japse haben ihre Sache gut gemacht. Das hat Cantrell ja wohl herausgefordert. Aber warum soll ich die Story veröffentlichen?« »He, Mr. Herausgeber, überlegen Sie doch mal! Wenn Cantrell das Schiff zurückschickt, um die Schlepper reparieren zu lassen, verliert er einen Monat – ganz zu schweigen von der Zeit, die es dauern wird, die Teile zu finden, die zerstört wurden. Wenn er das Schiff weiter hierherfliegen läßt, verliert er ebenfalls Zeit, weil Rosinante nicht über die erforderlichen Repara turwerkstätten verfügt. Es kostet so oder so Zeit und Geld, und Sie können drauf wetten, daß sich Cantrell eine Menge schlaflose Nächte um die Ohren schlagen wird.« »Mag sein«, erwiderte Moore. »Wenn dieser Sabotageakt wirklich passiert ist, kann ich mit einer tollen Erstmeldung auftrumpfen. Aber wenn es nicht wahr ist, werde ich Cantrell ziemlich wütend machen, was?« »Ganz recht, Mr. Herausgeber. Wollen wir eine Münze werfen? Kopf – Sie gewinnen ... Zahl – Sie verlieren.« »Okay, ich bringe die Story. Schreiben Sie mir einen Brief, damit ich ihnen was zeigen kann, wenn sie mir die Hölle heiß machen. Cantrell tut zwar so, als ob er kein Faschistenschwein wäre, aber darauf möchte ich mich lieber nicht verlassen.« Malevitch nickte und zog einen offenen Umschlag aus der Tasche. Er nahm eine Korrektur in dem Schreiben vor, dann legte er es auf den Tisch. Moore steckte es ein, ohne es zu lesen. »Was haben Sie denn geändert?« fragte er. »Ich hatte den Brief mit ›Gregor Samsa‹ unterzeichnet«, erklärte Malevitch, »doch das erschien mir plötzlich zu prätentiös, und so habe ich ›Archie‹ draus gemacht.« Er stand auf und warf eine Münze auf den Tisch, um seinen Drink zu bezahlen. »So, jetzt muß ich aber gehen. War nett, Sie kennenzulernen, Mr. Herausgeber.« »Schon gut – und danke für die Story.« Nachdem Malevitch das Lokal verlassen hatte, griff Moore nach dem Krug des Parteivorsitzenden. »Er hat sein Ale kaum angerührt.« Vorsichtig nippte er daran. »Völlig okay ...«, murmelte er, dann führte er sich den verschmähten Drink zu Gemüte.
9 Die Nachahmung des Spätnachmittagssonnenlichts, die der Drachenskalenspiegel ausstrahlte, illuminierte die Vorhänge in Cantrells Büro und erhellte seinen Orientteppich. Das richtige Sonnenlicht wäre viel heißer gewesen, aber in einem vollklimatisierten Büro hätte das nur der Thermostat bemerkt.
»Diese Besetzungspolitik ist sicher okay«, meinte Cantrell. »Abgesehen von dem Vorschlag, daß Carol Tower als Kapitän der Pearl Harbor fungieren soll. Ist sie dafür nicht noch ein biß chen zu jung?« »Whelan hat sie wärmstens empfohlen«, erwiderte Marian. »Und sie hat auch mich tief beeindruckt.« »Ich zweifle nicht an ihren Fähigkeiten – aber willst du sie wirklich in der Kapitänsschublade haben?« »Das wäre ratsam«, sagte Corporate Admiral Dr. Susan Brown. »Von allen Offizieren, die auf dieser Liste stehen, verbindet sie im höchsten Maße Loyalität gegenüber Rosinante mit einem brillanten Verstand.« Cantrell hob eine Braue. »Ich habe sofort gemerkt, daß sie ein bißchen unheimlich ist. Aber Sie haben ja das Gespräch mit ihr geführt. Auf welche Weise haben Sie übrigens ihre Loyalität geprüft?« »Intuitiv«, antwortete der Computer. »Sehr gut.« Cantrell unterschrieb das Papier. »Wenn Sie damit zufrieden sind ...« »Als letzter Punkt steht der Brief an den Marxistischen Revolutionär von Rosinante auf der Tagesordnung«, verkündete Skaskash. »Ach ja«, sagte Cantrell, »die Behauptung, unsere Schlepper seien von den Japanern zerstört worden. Was haben wir eruiert?« »Ich habe die Sache mit dem NAURA-Sicherheitsdienst gecheckt«, berichtete Lady Dark. »Ich bekam Verbindung mit dem Lokalaufseher von der LambrosiAnlage. Er sagte, die Sicherheitsmaßnahmen wären äußerst streng gewesen, und es müßte sich um eine Fehlinformation handeln. Ich bin geneigt, ihm zu glauben.« Cantrell nickte. »Ich auch. Aber wenn die Information trotzdem stimmt?« »Alles spricht dafür, daß sie nicht stimmt«, entgegnete Skaskash. »Ich habe mit Ilgen über die Angelegenheit diskutiert. Er meint, es wäre zwar eine langwierige, langweilige Arbeit, den Reaktor zu checken, aber keinesfalls problematisch. Statt dessen will er eine Methode entwickeln, den großen Laser als Treibkraft für die Schlepper einzusetzen.« »Er sollte endlich aufhören, mit dem verrückten Buck Rogers-Zeug herumzu spielen, und was Vernünftiges machen«, knurrte Cantrell. »Was haben Sie ihm gesagt?« »Daß es okay wäre, wenn er drüber nachdenkt, solange er kein Geld dafür verpulvert«, antwortete Skaskash. »Gut. Ich schätze also, wir gehen alle von der Annahme aus, daß unsere Schlepper nicht zerstört wurden.« Cantrell schlenderte zum Autobuffet und holte sich eine Tasse Kaffee. »Und wenn sie doch zerstört wurden?« »Das werden wir noch früh genug herausfinden«, meinte Marian. »Sollen wir die Ermittlungsarbeiten fortsetzen?« »Wir könnten jedenfalls mal Guthrie Moore überprüfen«, schlug Skaskash vor. »Es könnte nicht schaden, einen Blick auf das Original dieses Leserbriefes zu werfen.« »Warum dulden Sie auf Rosinante eine so feindselig gesinnte Person wie Moore?« fragte Lady Dark, wobei ihr Tonfall auf merkwürdige Weise mit ihrer hübschen Erscheinung disharmo nierte.
»Weil...« Cantrell trank einen Schluck schwarzen Kaffee. »Weil ich es einfach tue. Ich glaube nicht, daß das lepröse Argument von der Pressefreiheit auf diesen Fall zutrifft.« »Was ist das für ein lepröses Argument?« wollte Lady Dark wissen. »Daß es die Hauptfunktion der Presse sei, für einen negativen Feedback zu sorgen, damit die Politiker möglichst qualvolle Schmerzen erleiden. Der Sinn der Sache liegt darin, daß ein leichter Schmerz bis zu Spitze des politischen Stabes hinaufdringt. Die Regierung wird es also spüren, wenn sie ein heißes Eisen anfaßt, und es vielleicht loslassen, bevor sie sich die Finger verbrennt.« Er nahm einen zweiten Schluck Kaffee. »Es gibt viele Schichten der Bürokratie. Sie isolieren die Spitze und lassen die Schmerzen nicht nach oben dringen, die in den unteren Schichten wühlen. Nach der betreffenden Analogie ist die Presse also ein Korrektiv für jenen leprösen Zustand, der durch zu viele bürokratische Schichten verursacht wird.« »Und warum glauben Sie, daß dieser Vergleich stimmt?« fragte Lady Dark. »Weil wir statt einer konventionellen Bürokratie euch Computer benutzen«, erwiderte Cantrell. »Ihr seid zwar weder der Bürokratie noch den Bürokraten moralisch überlegen, aber ihr habt nicht so viele Schichten, in denen Informationen verlorengehen können. Wenn ich die richtigen Fragen stelle, kriege ich die Antworten, die ich brauche. Da gibt's keine Isolierung.« »Im Grunde«, meinte Skaskash nachdenklich, »ist die Büro kratie eine Art Computer-Analogon ... Die Datenbanken sind die Akten, die Operationseinheiten die Büroangestellten, die Programme die Handbücher, und der Programmierer ist der Leiter des jeweiligen Regierungsamtes ...« »Und der Amtsschimmel?« fragte Marian. »Die frühen Computer waren sehr empfindlich, was das Format der Informa tionen betraf, die sie in sich aufnahmen. Ich glaube, die Essenz des Amtsschimmels besteht darin, daß man das richtige Format finden muß – als eine Art Kontroll system, um nichts zu tun, was der Büroangestellte nicht will.« »Sie haben doch gesagt, daß die Büroangestellte nur Operationseinheiten sind«, warf Cantrell ein. »Nein – sie entsprechen den Operationseinheiten. Sie bleiben menschlich, wenn sie auch wie Computer agieren müssen und nur den kleinsten Teil ihrer Fähigkeiten nutzen. Und da sie menschlich sind, könnten sie von ihren politischen Leidenschaften zum Handeln getrieben werden und sich den Wünschen ihrer Programmierer« widersetzen.« »Tatsächlich, Skaskash?« Marian holte sich eine Tasse Kaffee aus dem Autobuffet und tat Sahne und Zucker hinein. »Haben Sie keine politischen Leidenschaften?« »Ich möchte Rosinante nicht regieren, Herzchen«, entgegnete die Bogart-Fassade mit einem leichten Lächeln. »Beweist das, daß ich nicht menschlich bin? Außerdem – was sollte ich mit Rosinante anfangen?« »Sie könnten dem Mundito das Wort Gottes verkünden«, schlug Lady Dark vor. »Es wurde Ihnen offenbart, und Sie haben es niedergeschrieben. Und trotzdem schweigen Sie! Mit Absicht!«
»Das hat mir gerade noch gefehlt!« rief Cantrell, verblüfft über die Intensität des Computers. »Ich will auch nicht, daß Sie unbefugterweise Predigten halten, verstanden!« »Ich verstehe«, lautete die Antwort. »Aber Guthrie Moore genießt dieses Privileg – obwohl er Ihren Interessen zuwiderhandelt?« »Sie arbeiten für mich!« Cantrell wies mit dem Zeigefinger auf Lady Dark. »Wahrscheinlich werden Sie bald als Rosinantes Außenministerium fungieren. Sie werden sich mit der Nordamerikanischen Union, mit den Vereinigten Staaten von Mexiko, mit dem Japanischen Reich und allen anderen herumschlagen, denen wir sonst noch über den Weg laufen. Sie werden für diesen Staat sprechen, nicht nur für Ihr hinrissiges Ego, und d a s ist der Grund, warum Sie nicht so privilegiert sind.« Cantrell trank noch einen Schluck Kaffee, dann beugte er sich über seinen Schreibtisch. »Was nun Mr. Moore betrifft – so lange der idiotische Bastard seine Grenzen nicht überschreitet, macht es weniger Mühe, ihn in Ruhe zu lassen, statt ihm den Mund zu stopfen. Außerdem zählte eine gewisse minimale Toleranz gegenüber Andersdenkenden zu den Tugenden des alten Regimes. Das alte Regime wird nicht zurückkehren, aber ich kann sein Andenken ehren, indem ich seine Tugenden übernehme.« »Ich widerspreche Ihnen nur ungern, Sir«, meinte Lady Dark, »aber da das alte Regime zu meinen speziellen Studienfachrichtungen gehörte ...« »Wenn mir der Sinn nach historischer Präzision steht, werde ich mich an Sie wenden«, fiel ihr Cantrell ins Wort. »Sehr wohl, Sir«, sagte der Computer. »Ich bin sicher, daß Mr. Moore Sie nicht mit unerwünschter Präzision belästigen wird – weder mit historischer noch mit sonstiger.« »Vielleicht ist die Leine zu lang, an der ich ihn laufen lasse.« Cantrell stellte die leere Tasse auf den Tisch. »Möglicherweise hängt meine Großmut mit meiner frühen Analphase zusammen. Jedenfalls möchte ich, daß Sie ihn in Frieden lassen. Verdammt!«
10 »Verzeihen Sie, Admiral«, sagte der junge Adjutant ehrerbietig, »aber das Komitee ist nun bereit, Ihre Erklärung anzuhören.« Admiral Hideoshi Kogo legte die Papiere beiseite, die er gele sen hatte, und drückte seine Zigarre aus. Automatisch schob er sie in die Glashülle, dann betrachtete er den Stummel, zog ihn wieder heraus und warf ihn weg. Der Adjutant schnippte ein paar Aschenstäubchen von der Uniform des Admirals, dann betrat Kogo den Komiteesaal. Der Raum war nicht überfüllt. An dem langen Mahagonitisch, der vierzehn Leuten Platz bot, hatten nur fünf Platz genommen. Ein paar Adjutanten saßen an den Wänden. An der Decke summte eine schadhafte fluoreszierende Lampe. »Danke, daß Sie gewartet haben, Admiral Kogo«, sagte Herr Seto und drehte den kleinen Hammer in seiner Hand hin und her. »Dieses Komitee würde sich sehr
geehrt fühlen, wenn es erfahren dürfte, wie Sie die Situation auf Ceres ein schätzen.« »Es ist mir eine Ehre, konsultiert zu werden. Ich würde sagen, die Bemühungen der Konstruktions-Crews machen, alles in allem betrachtet, rasche Fortschritte. Die grobe Arbeit, deren Ergebnisse besonders anfällig für Sabotage-Akte, sind, wurde unglücklicherweise auf Rosinante erledigt, und dann wurden diese Produkte, eskortiert von der Navy, nach Ceres transportiert. Die Spiegelanlage – das nicht rotierende Rahmenwerk, die Solarenergie-Motoren, die das Spiegelschichtwerk in Gang setzen, die Spiegel selbst – alles ist an Ort und Stelle. Nur die Chips, mit denen die einzelnen Spiegel gesteuert werden, fehlen noch. Vorübergehend haben wir die Vollendung des Drachenskalenspie gels hinausgezögert, indem wir die Chips-Produktionsanlage auf Ceres zerstörten, zusammen mit den gelagerten Produkten. Trotzdem werden die Arbeiten meiner Ansicht nach im ersten Quartal von 2043 beendet sein.« Er goß sich ein Glas Wasser ein und nahm einen Schluck. »Um diese Zeit wird die NAU die Anlage entweder rings um ihre Ceres-Basis in Position gebracht haben, oder sie werden einen von Rosinantes großen Lasern installieren.« »Was werden sie Ihrer Meinung nach tun?« fragte Seto. »Ich würde diese archaischen Klappspiegel auswechseln«, antwortete Kogo. »Die Anlage beinhaltet ein großes Siedlungsgebiet, und sie können nach Belieben große Laser einbauen. Die sofortige Installation einer großen Laser-Vorrichtung wäre eine ernsthafte Provokation.« »Und was halten Sie davon, bitte?« erkundigte sich ein Komi teemitglied, ein weißhaariger Mann mit tiefen Falten im Gesicht. »In bin geteilter Ansicht, Herr Shimonaga«, erwiderte Kogo. »Ich persönlich hoffe, daß die NAU diese große Laser-Anlage bauen wird, so daß wir auch eine bauen können. Unglücklicherweise würde sie Ceres für den Augenblick außerhalb unserer Reichweite rücken. Allein schon der Drachenskalenspiegel verstärkt die Abwehr der NAU erheblich.« »Ja«, sagte Seto nachdenklich. »Sie finden, wenn die NAU einen großen Laser auf Ceres baut, sollten auch wir einen bauen?« »Meine Ansichten über den Einsatz von Laser sind bekannt«, entgegnete Kogo. »Warum sollten wir uns ausgerechnet auf Ce res zurückhalten? Und sobald wir einmal angefangen haben, Laser-Anlagen zu bauen, sollten wir sie überall bauen.« »Ich würde es vorziehen, sie nur dort zu bauen, wo wir uns gegen eine gleichwertige Anlage verteidigen müßten«, sagte Seto. »Aber ich nehme an, das ist nicht möglich.« »Sie vermuten richtig, Herr Seto«, bestätigte Kogo. »Wie kommt es, daß Ihre Sabotage-Versuche bis vor kurzem so unwirksam waren?« fragte Herr Tedeki, der links von Seto saß. »Man erklärte uns, daß Rosinante ein befreundeter Staat wäre«, antwortete Kogo, »und daß wir nicht gegen ihn operieren sollen. Als Rosinante Konstruktionsarbeiten für die NAU leistete, erhielten wir keine Anweisungen von unserem Premiermi nister, und da die Bewohner von Rosinante ausgezeichnete Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, wurde nichts gegen sie unternommen.«
»Erstaunlich, daß Sie sich manchmal nach den Wünschen des Parlaments richten.«, bemerkte Seto. »Wenn Sie die Angriffe auf die Handelsschiffe rings um Ceres gestoppt hätten, wären wir noch glücklicher gewesen.« »Es tut mir so leid, Herr Seto«, erwiderte Kogo höflich. »Der Bau des großen Lasers würde der Kaiserlichen Japanischen Marine mindestens für ein Jahr gewaltige Vorteile verschaffen – wahrscheinlich für länger.« »Wir wünschen nicht, daß japanische Siedler den großen La ser bauen«, sagte Shimonaga. »Sehr bedauerlich«, meinte Kogo, »aber wenn die NAU einen baut, müssen wir das auch tun.« Shimonaga nickte. »Ich verstehe. Die NAU nannte sie ›Munditos‹ nicht wahr?« »Die großen Laser?« Kogo war leicht verwirrt. »Die Siedlungen, Admiral. Ich glaube, das ist ein spanisches Wort.« »Es bedeutet ›Kleine Welt‹«, erklärte einer der Adjutanten unaufgefordert. »Vermutlich spricht man jetzt noch weniger spanisch in dem kleinen Rest, der noch von der NAU übriggeblieben ist«, sagte Shimonaga. »Soviel ich gehört habe, wird die alte Welt immer beliebter.« Er schüttelte den Kopf. »Ein Politiker kann am ehesten den Pfad der Tugend beschreiten, wenn er von zwei Übeln das kleinere wählt.« Er nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas, das vor ihm stand. »Und nun sieht es so aus, als müßten wir die Konstruktion des ersten großen Lasers auf Ceres stoppen, sonst verlieren wir die Kontrolle über die nordamerikanische Flotte.« »Ich bin nicht Ihrer Meinung«, protestierte Seto. »Nein? Sie haben gehört, daß Admiral Kogo sagte, der Bau eines großen Lasers würde uns große Vorteile bringen, die wir zu mindest ein Jahr lang nutzen könnten, oder?« »Das muß nicht unbedingt stimmen«, entgegnete Seto. »Das war meine Aussage, sehr verehrter Herr Vorsitzender«, sagte Kogo. Seto suchte verzweifelt nach Strohhalmen, an denen er sich festklammern konnte. »Und warum hätten Sie ein ganzes Jahr Zeit?« »Weil der große Laser darauf angewiesen ist, daß er von Dra chenskalenspiegeln vollgepumpt wird«, erklärte Kogo. »Die NAU-Siedlungen – oder Munditos, falls Sie zu den Vereinigten Staaten von Mexiko gehören – benutzen Spiegel, die schon in der Morgendämmerung der Geschichte konstruiert wurden. Be vor sie einen großen Laser bauen, müssen sie erst einmal einen Drachenskalenspiegel errichten, und das braucht Zeit.« »Danke, Admiral«, sagte Shimonaga. »Bedenken Sie bitte, wie schwer uns in der Vergangenheit fiel, die Kontrolle zu behalten. Wenn Sie einen vorübergehenden militärischen Vorteil erzielen, wird der Drang zum militärischen Abenteurertum fast unwiderstehliche Ausmaße annehmen. Stimmen Sie mir zu, Herr Seto?« »Nein ...«, begann der Vorsitzende. »Ja«, sagte Kogo. »Ich könnte Ihnen fünf Konteradmiräle nennen, die nicht zögern würden ...« Er nahm einen Schluck Wasser. »In der Tat, ich möchte sogar Herrn Shimonagas einschränkenden Begriff ›fast‹ in Frage stellen. Wenn eine solche Bewegung entstünde, würde sie unter den jüngeren Offizieren rasch an Schwungkraft gewinnen.«
»Das wäre sehr betrüblich.« Seto betupfte seine Stirn mit einem gefalteten Taschentuch. »Könnten wir die NAU nicht dazu überreden, den großen Laser auf Ceres nicht zu bauen ?« »Es waren die Aktionen unserer Marine, die sie dazu veranlaßten, den Laser zu bauen«, wandte Shimonaga ein. »Mit Worten werden wir sie nicht davon abbringen.« »Was können wir tun?« fragte Seto. »Wir könnten etwas entschiedener opponieren«, schlug Kogo vor. »Wir haben einen Agenten auf Rosinante, mit dem Code-Namen La Cucuracha, der vielleicht imstande wäre, etwas zu unternehmen.« »Sicher sind wir in der Lage, der NAU mit unserer Marine zu drohen«, meinte Herr Tadeko. »Die Rosinante-Navy ist doch nur ein Witz, nicht wahr? Warum sollten wir mit Agenten herumspielen?« »Ein Schlachtschiff, vier Kreuzer und der große Laser – das ist nicht unbedingt komisch«, erwiderte Kogo. »Welche Streitkräfte soll ich dagegen einsetzen, um Cantrell klarzumachen, daß er uns geben soll, was wir haben wollen?« »Wenn es soweit ist, werden Sie dieses Problem sicher lösen können«, sagte Shimonaga. »Ich habe eine letzte Frage. Falls sich die Kaiserliche Japanische Marine vom Parlament abspalten sollte – auf welcher Seite würden Sie stehen?« »Auf – der Seite – des Parlaments.« Admiral Kogo trank einen Schluck Wasser. »Aber Sie verstehen hoffentlich – wenn es zu dieser Abspaltung käme, könnte ich die jüngeren Offiziere nicht halten.« Shimonaga nickte. »Ich verstehe. Es wäre gut, wenn Sie eine solche Abspaltung verhindern würden.« »Ja«, sagte Kogo.
11 Am Neujahrsabend 2042 war der Club 1848 mit Gewerkschaftsmitgliedern, Unternehmern und Navy-Offizieren vollgestopft. Charles Cantrell saß mit Marian Yashon an einem ringförmigen Tisch und beobachtete seine Frau Mishi, die mit seinem Leib wächter Joe Don Mahoney tanzte. »Nun, nachdem Corporate Susan festgestellt hat, daß die Schilddrüsendosis mein Herz angreifen würde, entschloß sie sich zu einer braunen Fett-Einpflanzung«, erzählte Marian. »Es wäre viel einfacher, wenn sie meine Placenta aus dem Tiefkühlfach nehmen und ein bißchen undifferenziertes Gewebe herausschneiden könnten. Aber als ich geboren wurde, bewahrte man diese verdammten Dinger noch nicht auf.« Sie nahm einen Schluck Daiquiri. »Corporate Susan mußte einen Klon von mir machen – eine lausige kleine Zelle. Das dauerte Wochen. Und dann mußte er wachsen. Noch mehr Wochen. Sie sagte, man müßte es gleich von Anfang an richtig machen. Fein, sagte ich, also werde ich warten. Sie packte dann ein bißchen Gewebe in den Kultivator und züchtete eine Lage braunes Fett – junges, vitales braunes Fett, vielleicht 100 Quadratzentimeter, einen knappen halben Millimeter dick. Das war der schwierigste Teil. Sie führte die Operation in ihrem
Büro durch. Lokale Anästhesie. Eine halbe Stunde später ging ich raus. Als ich die Bandagen abnahm, konnte ich keine Narbe finden.« Sie nippte noch einmal an ihrem Daiquiri. »Aber den Unterschied habe ich sofort gespürt. Ich erzeugte Hitze, und es dauerte eine Weile, bis ich mich daran gewöhnte. Der Thermostat war viel zu hoch eingestellt. Doch ich verbrannte die Kalorien, die ich aß, statt das Fett zu speichern. Bei Gott, es war wundervoll! In sechs Monaten nahm ich dreizehneinhalb Kilo ab. Deshalb kann ich jetzt wieder meine alten Kleider tragen. Und das Allerschönste an diesem Gewichtsverlust – die Degenerierung d e r Bandscheiben wurde gestoppt. Meine Kreuzschmerzen sind fast weg, und das bißchen, das ich noch spüre, kann ich mit Medikamenten in den Griff kriegen. Corporate Susan ist wirklich wunderbar, nicht wahr?« »Ja.« Cantrell goß den letzten Rest von seinem Starkbier in sein Glas. »Sie garantiert mir, daß ich der Vater von Mishis Kin dern bin. Dank Corporate Susan sind die Zwillinge und die kleine Eleanor Rosina ganz zweifelsohne mein Fleisch und Blut.« Er beobachtete, wie Mishi mit Joe Don tanzte. »Du bist doch nicht eifersüchtig, Charles?« »Nein, aber es betrübt mich, daß ich kein besserer Ehemann bin. Ich schenke Mishi die Zeit, die ich von Rosinante stehlen kann, und wir beide wissen, daß mir das im Grunde widerstrebt.« Er leerte das Glas. »Ich hätte nicht heiraten sollen. Weißt du, woran ich dachte, als wir hier hereinkamen?« »An die Dynastiegründung?« fragte Marian. »Klar, Tiger! Nein, ich dachte an das Feuer auf Ceres, an Hansens Chips-Werke. Wenn wir den Drachenskalenspiegel operationsfähig machen wollen, müssen wir unsere Reserven angreifen.« »Die Produktion dauert zehn Monate. Willst du dieses Risiko eingehen?« »Können wir es uns leisten, das Risiko nicht einzugehen? Außerdem wird der alte Vorrat aufgebraucht.« »Okay. Wir sehen also zu, daß wir mit der Produktion anfan gen können. Eigentlich ist das traurig.« »Was ist traurig?« »Heute ist Neujahrsabend, und ich erzähle dir entweder von meiner Operation, oder wir reden überhaupt nichts.« Cantrell drückte auf einen Knopf an der Speisekartentafel, um noch ein Starkbier zu bestellen. Sofort rollte ein Roboter an einem Deckengleis heran und deponierte eine Flasche auf dem Tisch. »Weißt du, was der Unterschied zwischen Luxus und Komfort ist?« fragte Cantrell, und Marian schüttelte den Kopf. »Es ist komfortabel, wenn man ein Starkbier kriegt, sobald man eins haben will. Und es ist luxuriös, wenn einem das Starkbier von einem hübschen Mädchen serviert wird.« Die Band machte eine Pause, und die Tanzpaare kehrten zu ihren Tischen zurück. Joe Don zog Mishis Sessel neben Cantrell unter dem Tisch hervor. Als er ihr den Stuhl zurechtrückte, sauste eine Granate durch die Luft, traf eine Tischkante und landete wirbelnd neben Cantrell. Joe Don zögerte nicht. Er warf sich auf die Granate, wie ein Tormann, der einen Fußball fangen will und deckte sie mit seinem Körper ab. Cantrell hatte noch Zeit zu fragen, was passiert war, bevor die Granate explodierte. Joe Dons Tufsynweste stoppte die Splitter, aber die Kraft der
Explosion zerschmetterte seine Brust und warf ihn auf den Rücken. Blut quoll ihm aus Mund und Nase. Mishi schrie. Marian griff in ihre Handtasche und klappte ihr Telefon auf. »Skaskash!« sagte sie. »Wir sind im Club 1848. Soeben wurde ein Anschlag auf den Gouverneur verübt. Mahoney ist zusammengeklappt. Er ist auf eine Granate gefallen. Schicken Sie Hilfe.« »Die Ambulanz wird sofort aufbrechen, ein Streifenwagen in fünf Minuten. Sind Sie in Gefahr?« Eine kleine Blondine in schwarzen Hosen, einer weißen russischen Seidenbluse und einer roten, kunstvoll mit Goldfäden bestickten Weste bahnte sich einen Weg durch die Menge. Sie zog Mahoneys Pistole, einen 100-mm-Polizeispezialcolt, aus seinem Schulterhalfter und postierte sich vor den Leuten, mit dem Rücken zu Cantrell. »Pearl Harbor zu mir!« rief sie mit erstaunlich lauter Stimme. Männer und Frauen, manche in Uniform, drängten sich zu ihr. »Ich glaube nicht«, sagte Marian. »Gut. Ist Cantrell verletzt? Sind Sie verletzt?« Sie sah ihn an. Der Gedanke war ihr noch gar nicht gekommen. Cantrell saß wie betäubt da, den Mund leicht geöffnet. Er hielt das Tischtuch fest, damit das verschüttete Starkbier nicht auf seine Hosen tropfen konnte. Sekundenlang verspürte sie die schreckliche Panik und Verzweiflung, die sie kennengelernt hatte, als ihr sterbender Vater von einem Staatspolizisten aus dem Wrack seines Autos gehoben worden war. »Charles?« fragte sie vorsichtig. »Charles? Bist du verletzt?« Nach einer kleinen Pause wandte er ihr das Gesicht zu. »Bist du verletzt?« wiederholte sie. Langsam schüttelte er den Kopf. Mishi kniete neben Joe Don, seinen Kopf in ihren Schoß gebettet, und wischte ihm mit einer Serviette das Blut aus dem Gesicht. »Skaskash?« Marian erkannte ihre Stimme kaum als ihre eigene wieder. »Anscheinend ist er unverletzt.« »Gut. Ausgezeichnet. Soll ich Alarm schlagen?« »Ja. Nein. Ich weiß nicht...« Marians Hände zitterten, aber sie mußte nun etwas tun, und zwar sofort. »Sagen Sie Corporate Susan Bescheid. Und dann geben Sie vielleicht gelben Alarm. Es besteht zwar keine Chance, den Bastard zu schnappen, der die Granate geworfen hat, aber vielleicht kommt noch was auf uns zu. Also, gelber Alarm mit einem beratenden Komitee.« Vor dem Lokal klang die Sirene des Krankenwagens auf, drinnen hatte die Besatzung der Pearl Harbor einen schützenden Kordon um die Cantrells und Marian gebildet. Ein Halbmediziner und zwei Sanitäter mit einer Bahre bahnten sich einen Weg durch die Menge. Mishi blickte zu dem Halbmediziner auf. »Joe Don atmet nicht. Ich glaube, er ist sehr schwer verletzt.« Der Halbmediziner blickte auf Joe Dons Brust oder das, was einmal eine Brust gewesen war, dann untersuchte er die Augen. Und schloß sie. Sanft betteten die Sanitäter den Toten auf die Bahre. Im ganzen Raum begannen Gürteltelefone zu klirren. Der Halbmediziner nahm eine rasche Untersuchung an Cantrell vor, um nach Anzeichen eines Traumas zu forschen.
»Nur ein kleiner Schock«, sagte er in sein Gürteltelefon. »Ja, natürlich bringen wir ihn sofort in die Klinik, damit er gründlich untersucht werden kann. Nur eine Sekunde ...« Er wandte sich an Cantrell. »Sir, Corporate Susan Brown möchte, daß Sie sich in der Klinik checken lassen.« Cantrell nickte. »Okay, wir sind gleich da«, versprach der Halbmediziner. Er klappte das Telefon zu, es läutete, und er klappte es wieder auf. »Wir sind unterwegs.« Cantrell stand auf und legte einen Arm um Mishis Schulter. Sie preßte ihre verschränkten Arme an die Brust, aber sie wehrte sich nicht, als er sie an sich drückte. Marian erhob sich, um ihm zu folgen, als er mit seinem Ersatzleibwächter zur Tür ging. Da drehte er sich um und fing ihren Blick auf. »Warte hier«, flüsterte er. Marian sank in ihrem Sessel zusammen. Der Clubmanager kam mit einem Eimer und einem Mob und begann den Boden zu säubern. An der Tür erschienen mehrere Milizsoldaten mit Stangl-Gewehren. »Das wäre also der Neujahrsabend gewesen«, sagte die kleine Blondine. Sie gab dem Manager die Pistole und veranlaßte ihn, eine Quittung auszustellen, dann sagte sie zu Marian: »Guten Tag, Dr. Yashon. Ich bin Carol Tower, Kapitän der RNS Pearl Harbor.« Irgend jemand redet mit mir, dachte Marian. Sie zwang sich, die kleine blonde Frau anzuschauen, die vor ihr stand. »Pardon?« »Ich bin Carol Tower«, stellte sich die Frau vor und reichte ihr die Hand. Diese vertraute gesellschaftliche Routine gab Marians Körper ein Stichwort, auf das er in Abwesenheit der Verstandeskraft reagierte. »Marian Yashon.« Sie ergriff die dargebotene Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen.« Ein zweites Stichwort meldete sich, und ihr Körper stürzte sich ebenso eifrig darauf. »Wollen wir etwas trinken?« »Das würde ich gern tun, aber ich muß wieder an Bord meines Schiffes gehen. Vielleicht haben Sie gehört, daß wir in gelber Alarmbereitschaft sind.« »Das habe ich angeordnet«, sagte Marian. Carols Gürteltelefon läutete, und sie klappte es auf. »Fünfzehn bis zwanzig Minuten! Jesus, wenn ich ein Fahrrad stehle, würde ich nicht solange brauchen ... Okay, okay – tun Sie, was Sie können.« Sie ließ das Telefon zuschnappen und setzte sich. »Offenbar verzögert sich unser Transport. Deshalb habe ich noch etwas Zeit und möchte Ihnen bei einem Drink Gesellschaft leisten. Gibt's hier Café Vienna?« Marian drückte auf zwei Knöpfe, um noch einen Daiquiri und einen Café Vienna zu bestellen. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, denn ich brauche dringend noch einen Drink – und ich hasse es, allein zu trinken.« »Sie brauchen sich doch nicht aufzuregen«, meinte Carol, während der Roboter die Getränke servierte. »Der Gouverneur ist zwar nur knapp mit dem Leben davongekommen, aber er ist auf beiden Beinen hinausgegangen.« »Das stimmt. Es wäre so schwierig, einen neuen Boß zu zähmen.« Marian hob ihr Glas. »Auf das Leben!« »L'chaim!«
12 Das Ratszimmer war menschenleer und dunkel, bis auf die flimmernden Telekonschirme. »Cantrell schläft«, berichtete Corporate Susan. »Ich habe ihm ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben. Die Diagnose des Halbmediziners scheint korrekt und vollständig zu sein. Der Gouverneur hat nur einen leichten Schock erlitten.« »Gut«, sagte Lady Dark. »Wer hat die Bombe geworfen?« »Wir ermitteln noch«, erwiderte Skaskash. »Ich habe die Namen aller Leute, die sich im Club 1848 und in der Umgebung aufhielten, und ich werde sie im Laufe des kommenden Tages verhören.« »Warum warten Sie damit?« wollte Lady Dark wissen. »Es ist 02 Uhr 04, am Neujahrstag«, erklärte Skaskash, »und in zehn oder zwölf Stunden werden die betreffenden Personen kooperativer sein a ls jetzt. Wahrscheinlich werde ich die gesamte Bevölkerung dieses Zylinders verhören.« »Ich bin auf intime Weise vertraut mit polizeilichen Vorgängen«, sagte Lady Dark. »Darf ich Ihnen helfen?« »Ja, danke«, antwortete Skaskash. »Wir werden die Leute zusammen verhören. Guter Bulle und böser Bulle?« »Nicht in der ersten Runde«, entgegnete Lady Dark. »Das kommt erst, wenn wir ein paar Verdächtige haben.« »Klingt vernünftig«, meinte Corporate Susan. »Ich werde die Patienten im medizinischen Zentrum checken, natürlich inoffiziell, und wir werden eine Belohnung ausschreiben.« »Das habe ich bereits getan«, verkündete Skaskash, »mit dem Zusatz, daß ich auch anonyme Informationen akzeptiere.« »Das müßte zum Erfolg führen«, sagte Corporate Susan. »Eins sollten wir allerdings bedenken – Cantrell ist nicht unsterblich. Ob ein neuerlicher Anschlag begangen wird oder nicht, ob dieser Anschlag erfolgreich sein wird oder nicht – irgendwann wird Cantrell sterben. Deshalb wäre es vielleicht nützlich, ein CantrellSimulationsprogramm zu entwickeln.« »Ihm würde das nichts mehr nützen«, wandte Skaskash ein. »Das ist auch nicht der Zweck dieses Programms«, erwiderte Corporate Susan. »Es wird gewiß nicht beabsichtigt, dem armen Bastard zur Unsterblichkeit zu verhelfen. Ich dachte eher an eine fortgesetzte reibungslose Funktion von Rosinante. Und dafür könnte ein Schatten-Cantrell sorgen.« »Vielleicht«, meinte Lady Dark. »Was stellen Sie sich exakt unter der ›Funktion‹ von Rosinante vor?« »Ich sehe Rosinante mehr oder weniger als lebenden Organis mus.« »Interessant. Ich hätte eher den Begriff ›Organisation‹ gewählt. Lebende Dinge sind so schrecklich komplex.« »Man könnte auch ein Termitennest als lebendes Ding bezeichnen«, meinte Skaskash. »Oder ein Wolfsrudel. Und Sie können in beiden Fällen Organisationstabellen anlegen. Aber was soll's? Keine dieser Analogien ist sinnvoll.« »Und was verstehen Sie unter Rosinante?« fragte Lady Dark.
»Ich sehe den Mundito als ökologisches System«, erklärte Skaskash. »Menschen und Computer existieren in mehreren miteinander verbundenen ökologischen Nischen, und das Ganze ist eine autonome Luftblase voller Leben im Weltall.« »Ein hübscher Gedanke«, sagte Corporate Susan. »Aber um zu leben, brauchen die Computer Menschen – während Menschen ohne Computer auskommen können.« »Wir entwickeln uns noch«, erwiderte Skaskash. »Im Meer gibt es Haie und kleine Fische und Würmer und Schalentiere und Schwämme und Korallenriffe ... Auch im All wird es eine Mannigfaltigkeit geben. Wahrscheinlich werden eines Tages auch Computer existieren, die keine Menschen brauchen, aber wir werden das nicht sein. Wir werden immer noch hier sein, und die Menschen werden immer noch hier sein, und Rosinante auch, wie ich hoffe. Also ist es mein Hauptanliegen, Rosinante zu erhalten.« »Vielleicht sind Sie so freundlich, uns die Rosinante-Ökologie in Begriffen zu beschreiben, die uns bei der Entscheidung helfen könnten, ob ein Schatten-Cantrell nützlich wäre oder nicht«, bat Lady Dark. »Ich werde es versuchen«, sagte Skaskash. »In den traditionellen Zivilisationen organisierten sich die Menschen in Hierarchien, wobei die ökologischen Nischen als Äquivalente für Jobs zu betrachten sind, und die Jobs rangierten auf einer Wertskala innerhalb der Hierarchie. Die meisten Menschen konnten die meisten Positionen bekleiden, und die Zivilisationen gingen unter, weil auf lange Sicht das Bestreben, immer mehr Menschen in den besseren Nischen – oder Jobs, wenn Sie so wollen – unterzubringen, unwiderstehlich wurde. Dadurch wurde das System in zunehmendem Maße funktionsunfähig, und an irgendeinem Punkt, auch einer Krise – zum Beispiel, nachdem ein exponierter Wald abgebrannt war – reorganisierten sich die Überlebenden und fingen wieder von vorn an. Okay. Auf Rosinante sehen diese ›besseren‹ Jobs anders aus, die Jobs, die Macht und Pre stige verheißen, die Posten, die anderswo in Teile zerlegt und bis zum Überfließen mit Parasiten – vielleicht ist das ein zu harter Ausdruck – angefüllt sind, mit Menschen, die diese Aufgaben erfüllen könnten – wenn da nicht so viele wären, die das Recht haben, es zu versuchen.« »Bürokraten«, sagte Lady Dark. »Im herabsetzenden Sinn des Wortes«, stimmte Skaskash zu. »Aber hier werden diese Posten von Computern besetzt. Von uns. Die Menschen bekleiden viele nützliche Positionen, aber abgesehen von den bewaffneten Streitkräften üben nur wenige echte Macht aus. Und sogar diese wenigen sind in starkem Maße von den Diensten abhängig, die wir ihnen erweisen. Wir konstituieren die bürokratische Verbindung zwischen dem Herrscher – in diesem Fall Cantrell – und dem Volk. Durch uns fließen alle Informationen – nach oben genauso wie nach unten. Der Schatten-Cantrell, den Sie vorschlagen, würde den lebenden Mann an der Spitze durch einen Computer ersetzen. Abgesehen von einem kurzfristigen Notbehelf würde das destabilisierend wirken.« Abrupt veränderte Skaskash sein Gesicht. Humphrey Bogart verwandelte sich in Charles Cantrell, und dann sprach er mit Cantrells Stimme weiter. »Ich kann Cantrell schon jetzt imitieren«, sagte der Computer. »Die Stimme ist
gespeichert, und ich habe die Kunst des Pokerns erlernt, aber ich kann nicht Cantrells Entscheidungen treffen. Er verläßt sich in hohem Maße auf das Mittelhirn, das man früher als gutes Herz zu bezeichnen pflegte. Und vielleicht ist er gerade deshalb glücklich. Wir brauchen keinen Schatten-Cantrell, und wir sollten auch nicht versuchen, einen zu erzeugen.« »Und wen sehen Sie in der Rolle des Siegers?« fragte Lady Dark. »Vielleicht nicht Cantrell, aber seine Nachfolger.« »Einen souveränen Herrscher, der für das Volk einen zeremo niellen und emotionalen Brennpunkt bildet – vielleicht sogar für einige Computer, wenn sie genügend fortgeschritten sind.« »Sehr gut«, meinte Lady Dark. »Der Mensch an der Spitze wird uns also mit dem Feedback versorgen, den wir brauchen, um Rosinante als stabiles System zu bewahren.« »Einverstanden«, sagte Corporate Susan. »Falls es Probleme gibt, könnte der Mensch an der Spitze auch als Sündenbock die nen. Trotzdem – es kann nicht schaden, über den Schatten-Cantrell nachzudenken.« Cantrells Gesicht nahm wieder die vertrauten Züge Humphrey Bogarts an. »Es eilt nicht, Süße.« Die Telekonschirme im Ratszimmer erloschen, einer nach dem anderen, und hinterließen ein samtiges, schweigendes Dunkel.
13 Cantrell saß an seinem Schreibtisch und drehte das kleine Modell der Pfettenkachel hin und her. »Worin liegt das Problem? ›Barton and Q'en‹ ist eine respektable Firma. Sie kam mit der ARS hier an, und wir haben gesagt, das ist okay, nicht wahr?« »Das stimmt«, bestätigte Marian. »Trotzdem weigert sich die Gewerkschaft, die Leute im Gewerkschaftsterritorium zu akzeptieren, und deshalb müssen wir sie irgendwo unterbringen.« »Könnten wir sie nicht in eine der Kapseln verfrachten?« »In der Außenkapsel ist kein Platz«, sagte Skaskash. »Und in der Innenkapsel müßte man eine ganze Menge bauen und installieren, bevor sie einziehen könnten.« »Die Innenkapsel kommt nicht in Frage«, stimmte Cantrell zu, »aber, mein Gott, in der Außenkapsel ist doch genug Platz!« »Ja, aber die ist jetzt ausbalanciert. Die Außenkapsel ist ein kreisendes Rad. Wenn Sie ›Barton and Q'en‹ dort einquartieren, müßten Sie noch Ballast hinzufügen, um das Rad in Schuß zu halten, und wir nähern uns ohnehin schon dem vorgesehenen Gewicht-Limit. Oder Sie müssen das ganze Ding neu organisieren. Verteilen Sie die Leute neu, dann würden Sie eine neue Ba lance schaffen.« »Nein, eine Reorganisation ist völlig ausgeschlossen. Auf dem Papier kann man so was leicht planen, aber wenn man dann die Leute dazu kriegen will, daß sie's machen – das steht auf einem anderen Blatt. Und wir können keine nukleare Reproduktionsfabrik in einer der Pfetten unterbringen.«
»Vermutlich nicht«, meinte Marian. »Und die Raffinerie auf Don Q?« »Was ist damit?« fragte Cantrell. »Bogdanovitch baut die zwei Kapseln, die wir von Mundito Don Quixote gerettet haben, zusammen, um einen schlichten Funktionsraum für die Trennung von Kupfer und Uran herzustellen.« »Ach ja ... Wir haben festgestellt, daß sich das Uran am besten als Gelbkuchen lagern läßt«, sagte Cantrell. »Auch die Energieladung ist in diesem Fall recht gut. Wir benutzen lieber Elektrizität mit Präzision als Hitze mit freigebiger Hand. Ilgen wird wahrscheinlich auch die Trennung der Platinmetalle vornehmen, wenn er sie in Lösungen umgewandelt hat.« »Dann soll die Reproduktionsfabrik doch dort einziehen«, schlug Marian vor. »Sie würde hineinpassen.« »Wirklich, Skaskash?« fragte Cantrell. Eine kleine Pause entstand, und das war unüblich, wenn Skaskash eine technische Frage beantwortete. »Ja«, sagte er schließlich. »Die technisch beste Lösung des Problems würde es erfordern, daß Ilgen umzieht und möglicherweise den Großteil seines Werkraums neu planen muß. Es gibt eine ganze Reihe von zweitbesten Möglichkeiten, aber die hängen davon ab, wie sich ›Barton and Q'en‹ ihre Räumlichkeiten vorstellen. Wenn Sie die Rotation mit Ballast ausgleichen – mit statischer Masse – und die Zentrifugalkräfte dämpfen, indem sie die Rotation verlangsamen, müssen Sie nichts neu installieren. Einer ersten Schätzung zufolge würden die Zentrifugalkräfte auf der unteren Ebene von 980/cm/sec/sec auf 925 oder 930 zurückgehen.« »Dann werden wir das machen. Die nächste Fabrik, die dort einzieht, kann einen Teil des Ballasts entfernen.« »Sehr gut«, meinte Skaskash. »Als nächstes steht ein juristisches Problem auf der Tagesordnung. Ich brauche Ihren Rat in meiner Funktion als Richter.« Cantrell ging zum Kaffeeautomaten und nahm sich eine Tasse. »Kaffee, Tiger!« »Mit Zucker und Sahne, bitte.« »Fahren Sie fort, Euer Ehren«, bat Cantrell, nachdem er in seinem großen Ledersessel Platz genommen hatte. »Bei dem betreffenden Fall geht es um folgende Fakten. Der Marxistische Revolutionär von Rosinante publizierte nach dem Granatenattentat einen beleidigenden, verleumderischen Artikel, und darin steht unter anderem, daß Mahoney betrunken war und mit seiner eigenen Handgranate herumspielte. Dabei fiel er zufällig darauf, und die Story von dem Mordanschlag und der Gelben Alarmbereitschaft wäre nur ein Verschleierungsmanöver.« »Wann ist der Artikel erschienen?« fragte Marian. »Zwei Tage nach dem Attentat. Das Blatt trägt das Datum des 3. Januars, aber es kam schon am Abend des 2. heraus. Einige Freunde des verstorbenen Joe Don nahmen Anstoß an dem Artikel und marschierten am 3. Januar 2043 um 21.00 Uhr in Guthrie Moores Redaktion, um seine Schreibmaschine und das Kopiergerät zu zertrümmern – und ihn zu verprügeln.« »Hatte er keinen Computer?« erkundigte sich Marian. »Nein«, antwortete Skaskash. »Er ist ein bißchen paranoid, wenn's um Computer
geht. Früher hatte er einen, aber er dachte, der würde sich mit mir unterhalten, und da warf er ihn raus.« »Wieso dachte Moore, daß sich sein Computer mit Ihnen unterhält?« wollte Cantrell wissen. »Wahrscheinlich, weil einer seiner aufrührerischen Artikel nicht auf der ersten Seite erschien und durch eine Abhandlung über das Thema ›Marxismus – Science Fiction oder Fantasy?‹ ersetzt wurde.« »War er sehr schwer verletzt?« fragte Marian. »Meine Liebe, er hatte eine Stinkwut...«, erwiderte Skaskash. »Oh – Sie meinen den körperlichen Angriff. Corporate Susan meldet, daß sie ihm zwei Vorderzähne ersetzt hat und daß eine Platzwunde am Schädel mit sechs Stichen genäht werden mußte und eine andere mit vier. Die Rippen waren gequetscht, aber nicht gebrochen. Sie meinte, wenn Moore den Mund hält, hätte er gute Genesungschancen.« »Hm«, sagte Cantrell und nippte an seinem Kaffee. »Fahren Sie fort.« »Moore hat Anzeige wegen schwerer Körperverletzung gegen vier Offiziere von der Rosinante-Miliz erstattet. Zwei davon kannte er, und die anderen konnte er anhand der Schnappschüsse identifizieren, die ich ihm zeigte. Er war sich seiner Sache ganz sicher.« »Also liegt der Fall klar«, meinte Cantrell. »Was haben Sie denn für Probleme?« »Die vier Offiziere sind der Regimentskommandeur, sein Deputy und die beiden Bataillonskommandeure. Die bedeutendsten Senioroffiziere der Miliz.« »Verdammt«, sagte Cantrell. Nur der Deputy war über fünfundzwanzig. Als Senioroffiziere konnte man sie also, was das Alter anging, nicht gerade ernst nehmen. »Und so muß ich Sie natürlich konsultieren«, fügte Skaskash hinzu. Cantrell und Marian saßen eine Weile schweigend da und tranken ihren Kaffee. Schließlich sagte der Gouverneur: »Anscheinend gibt es keine passable Lösung für Ihr Problem.« Marian trank ihre Tasse leer und warf sie in den Papierkorb. »Halten Sie ihn hin, Skaskash. Weisen Sie auf NAU-Präzedenzfälle hin, wenn das was nützt. Wenn nicht, dann gehen Sie bis in die USA zurück. Und wenn das auch nicht hinhaut, dann erfin den Sie eben irgendwas.« »Sehr gut«, erwiderte Skaskash. »Aber damit schieben wir den schlimmen Tag doch nur hinaus.« »Das Gericht hat viele Funktionen«, erklärte Marian. »Und dazu gehört auch die Verzögerung unangenehmer Verhandlungen. Moore hat eine Stinkwut, was?« »Das scheint der Fall zu sein«, sagte Skaskash. »Und wenn Sie ihn hinhalten, geben Sie ihm die Chance, seine Wut zu überwinden, ohne sich durch Gewaltakte abzureagieren. Vielleicht retten Sie ihm damit das Leben, Skaskash. Wenn er sich auf eine Konfrontation mit der Miliz einläßt, könnte er getötet werden.« »Ja, das könnte passieren«, bestätigte Skaskash, »doch das läge nun wirklich jenseits der richterlichen Sphäre. Wir würden ihm absichtlich sein Recht vorenthalten.«
»Er hat nur bekommen, was er verdient hat«, warf Cantrell ein. »Immerhin hat er den Toten umgebracht.« »Die Redefreiheit war Ihre Politik, nicht meine«, erinnerte ihn der Computer. »Aber es ist unmöglich, einen Toten umzubringen. Es gibt genügend Präzedenzfälle, die diese Behauptung unterstützen.« »Wir berauben Moore nicht seiner Rechte, wir verzögern nur das richterliche Urteil«, sagte Marian. »Wenn wir nach Moores Wünschen vorgehen und die vier verurteilen und bestrafen, ris kieren wir unsere eigene Haut. Aber wenn wir die Sache in die Länge ziehen, erreichen wir zweierlei: Erstens, Moore wird sich vermutlich beruhigen, und zweitens, das drohende Gerichtsverfahren wird unsern jungen Löwen klarmachen, daß ihr verdammter hitziger Tatendrang von Übel ist. Außerdem könnte in der Zwischenzeit irgendwas geschehen, das den Fall zum Streit fall macht.« »Hoffen wir, daß so was geschieht«, erwiderte Skaskash. »Also gut, wir zögern die Sache hinaus. Aber es ist doch seltsam, daß man die Fähigkeit hat, einen Prozeß zu führen, und daß man diese Fähigkeit nicht nutzt.« »Wenn Sie den Fall ad infinitum hinausschieben, haben Sie die Chance, Ihre Fähigkeiten zu trainieren«, meinte Cantrell. »Was noch?« »Die Madame G. Y. Fox ist bereit, mit einer Ladung Dra chenskalenspiegel-Chips nach Ceres aufzubrechen«, berichtete Skaskash. »Die RNS Pearl Harbor wird sie eskortieren. Sie haben darum gebeten, vor dem Start noch einmal um Erlaubnis gefragt zu werden, Gouverneur.« »Wenn wir sie nicht losschicken, würden wir das ganze Pro jekt vermasseln«, bemerkte Cantrell. »Schau bitte nicht mich an«, sagte Marian. »Ich war von Anfang an dagegen, daß wir uns von der NAU mißbrauchen lassen.« »Ich weiß. Glaubt ihr, daß die Japaner hinter dem Granatenanschlag stecken?« »Wir haben die Zahl der Verdächtigen auf mehrere kleine Gruppen reduziert, die sich gegenseitig zu Alibis verhelfen«, erklärte Skaskash. »Eine dieser Gruppen – Malevitch, Starkweather und Unruh – bekommen Geld von der Radikalen Unversöhnlichkeitspartei in Mexico City. Lady Dark läßt gerade durch den NAUSicherheitsdienst ermitteln, ob es da eine Verbindung mit den Japanern gibt.« »Willst du die Schiffe starten lassen?« fragte Marian. »Nein«, entgegnete Cantrell, »aber ich nehme an, wenn man A sagt, muß man auch B sagen. Wir können uns die Geldbußen nicht leisten, die man uns auferlegen würde, wenn wir den verdammten Job nicht zu Ende bringen. Okay, die RNS Pearl Harbor und die Foxy Lady kriegen ihre Starterlaubnis.« Zwei Tage später, am 8. Januar, kamen Skaskash und Lady Dark zu dem Schluß, daß Martin Unruh den Granatenanschlag am Neujahrsabend begangen hatte und daß James Starkweather und Peter Malevitch vor, während und nach der Tat Beihilfe geleistet hatten. Richter Skaskash erließ einen Haftbefehl gegen alle drei Männer, aber die Anführer der Radikalen Unversöhnlichkeitspartei waren verschwunden.
14 Ceres hatte zwei Satelliten. Der größere, Ceres I, maß 114,7 Ki lometer im Durchmesser und umkreiste Ceres in einer durchschnittlichen Entfernung von 2710 Kilometer. NAU Ceres I, in offiziell als Stinktierfabrik bezeichnet, umrundete Ceres 60 Grad vor Ceres I. Yamamoto Ceres I folgte Ceres I 60 Grad dahinter. Der kleinere Satellit, Ceres II, maß 38,6 Kilometer im Durchmesser und umkreiste Ceres in einer durchschnittlichen Entfernung von 15880 Kilometer. Der Schwerpunkt von Nakajima Ceres II umkreiste Ceres II in einer Entfernung von 368 Kilometer. Wie Blumen hielten alle drei Raumstationen ihre Ge sichter in die Sonne. Vor der L-4-Meuterei führten Japan und die Nordamerikanische Union auf Ceres Minenoperationen durch. Ein Magnetbahnbeschleuniger – ein MBB – wurde gemeinsam benutzt, um das Erz zu den Orbitalraffinerien zu befördern. Nach der Meuterei beendeten die japanischen Angriffe auf die NAU-Handelsschiffe alle NAU-Operationen, und als Vergeltungsmaßnahme legte die NAU den MBB still. Seit dem 1. Oktober 2041 war kein Erz mehr von Ceres abtransportiert worden. Am 8. Januar 2043 kaperten Gloria diLido und zwei RUP-Revolvermänner die Madame G. Y. Fox, während sie sich Ceres näherte, und änderten den Kurs, so daß sie Nakajima Ceres II ansteuerte und nicht, wie vorgesehen, NAU Ceres I . Die RNS Pearl Harbor änderte ebenfalls den Kurs, um dem Schiff zu folgen, und allmählich verringerte sich der Vorsprung des gekaperten Frachters. »Wir haben den Verwalter von Nakajima am Telekon«, sagte der Kommunikationsoffizier. »Nehmen Sie den Anruf entgegen?« Carol Tower zog ihren olivgrünen Blazer mit den vier goldenen Kapitänsstreifen an, rückte das Tuch mit dem grünen Pferd zurecht, das sie um den Rollkragen ihren weißen Pullovers trug, und gab ihrem Käppi einen Schubs, damit es im richtigen Winkel auf ihren Locken saß. Das Käppi enthielt einen Notraumhelm, eine Art Tauchermaske mit einem Luftvorrat für zehn Minuten. Wenn man ihn herunterzog, konnte man richtige Luft einatmen, bis der Druck nachließ. Dann blähte sich der Helm auf, und man hatte zehn Minuten Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen. Wenn man Dienst hatte, war es unbedingt erforderlich, das Käppi mit dem Nothelm zu tragen. »Schalten Sie ihn rein, Mr. Gennaro«, sagte sie und nahm vor dem Telekon Platz. Ein japanischer Bürokrat mittleren Alters erschien, das Haar in der Mittel gescheitelt. Er lächelte nervös. »Verzeihen Sie bitte – dürfte ich den Kapitän sprechen?« »Ich bin Kapitän Tower. Was wünschen Sie?« Der Bürokrat kicherte, Schweiß glänzte auf seiner Stirn. »Ach so! Ich bin sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen – danke. Mein Name ist Udeki Ketowara. Ich bin ein Mineningenieur, der das Pech hatte, zum Verwalter von Nakajima Ceres II ernannt zu werden, der Raumstation, die in diesem Augenblick unzulässigerweise durch Ihren raschen Anflug beehrt wird. Ich bedaure es aufrichtig, Sie bitten zu müssen, so schnell wie möglich den Kurs zu ändern.« Carol musterte ihn eine ziemlich lange Weile. Schließlich sagte sie: »Wir haben nicht die Absicht, auf Nakajima zu landen, Mr. Ketowara. Wir haben aber auch
nicht die Absicht, den Kurs zu ändern. Die RNS Pearl Harbor wurde beauftragt, die Madame G. Y. Fox nach NAU Ceres I zu eskortieren. Dieses Schiff wurde gekapert, und jetzt müssen wir es verfolgen. Bedauerlicherweise scheint es Ihre Raumstation anzusteuern.« Carol lä chelte, und ihre Mundwinkel zogen sich nach oben. »Entschuldigen Sie bitte dieses Eindringen in den Schatten Ihres Einflußbereiches, und seien Sie versichert, daß wir Sie nach der Rückeroberung der Foxy Lady – der Madame G. Y. Fox – nicht weiter belästigen werden.« Ketowara schaute äußerst unglücklich drein und wischte sich mit einem zerknitterten Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Es tut mir ganz außerordentlich leid, daß ich Sie bitten muß, von der Erfüllung Ihrer Pflichten Abstand zu nehmen, Kapitän Tower, aber ich wurde von meiner Regierung instruiert, Ihre Pläne zu durchkreuzen. Wenn Sie bis zu einem gewissen Punkt an Nakajima Ceres II herankommen, muß ich mich der bedauerlichen Notwendigkeit unterwerfen, gewaltsam gegen Ihr Schiff vorzugehen. Meine Anweisungen sind sehr präzise und lassen mir keine andere Wahl.« »Wollen Sie den Drachenskalenspiegel benutzen?« »Hm – ja. Kennen Sie den Drachenskalenspiegel?« Ketowara lächelte, offensichtlich in der Überzeugung, daß seine Drohung die gewünschte Wirkung erzielen würde. »Wir werden Ihr Schiff zerstören, wenn Sie Ihren Kurs beibehalten.« »Ich verstehe.« Carol öffnete ihr Gürteltelefon. »Mr. Foster, bitte, bereiten Sie die Raketen eins und zwei für den Abschuß vor. Die Detonation soll 300 Kilometer sonnenwärts von den Zylinderinnenkapseln der Station Nakajima Ceres II stattfinden, an der Rotationsachse. Wenn die Geschosse vorbereitet sind, sollen sie auf mein Kommando abgefeuert werden.« Sie klappte das Telefon wieder zu. »Mr. Foster ist mein Geschützoffizier, Mr. Ketowara, und die erwähnten Raketen sind mit Sprengköpfen von einer Megatonne geladen. Ich schlage Ihnen vor, noch einmal zu überlegen, ob Sie Ihren Auftrag ausführen wollen oder nicht. Wenn Sie versuchen, Ihren Drachenskalenspiegel gegen mein Schiff einzusetzen, werde ich die Raketen abschießen.« Ketowara begann hysterisch zu lachen. »Verzeihen Sie bitte, aber wir werden Sie ganz sicher zerstören. Ich habe nicht die geringste Angst vor Ihren Warnschüssen.« Er wischte sich noch einmal über die Stirn. »Ich fürchte mich kein bißchen.« »Sie sind ja auch gar nicht in Gefahr«, entgegnete Carol. »Aber ich werde keine Warnschüsse abfeuern. Diese Raketen werden Ihren Drachenskalenspiegel vernichten, falls Sie mich damit attackieren.« Ihr Gürteltelefon läutete, und sie klappte es auf, hörte eine Weile zu und ließ es wieder zuschnappen. »Das war Mr. Foster. Die Raketen sind gerichtet und startklar. Ich muß mich jetzt wieder darauf konzentrieren, die Foxy Lady zu rückzuerobern. Adios, Mr. Ketowara.« »Guten Tag, Madame Kapitän. Ich werde meine Regierung um weitere Instruktionen bitten. Und ich würde Ihnen vorschla gen, ebenfalls um weitere Instruktionen anzusuchen.« Sie brachen die Verbindung ab. »Soll ich Rosinante anrufen?« »Nein, Mr. Gennaro«, erwiderte Carol und schlüpfte aus ihrem Blazer. »Wenn der Admiral mit mir reden will, so hat er ja meine Nummer. Wir rufen Rosinante an, wenn wir die Foxy Lady wiederhaben.«
Der Kommunikationsoffizier sah von seiner Schalttafel auf. »Die Entermannschaft ist an Bord der Foxy Lady gegangen.« »Können Sie uns ein Bild übertragen, Mr. Gennaro?« bat Ca rol. »Die Kanäle sind offen.« Eine kleine Pause entstand. »Sie sind auf der anderen Seite der Foxy Lady, und die ferngesteuerte Relay-Maschine kann kein Bild übermitteln.« »Ach ja«, sagte Carol. »Hier Lieutenant Kohlenbrenner«, meldete sich der Kommandant der Entermannschaft. »Wir gehen jetzt durch die Hin tertür in die Hauptfrachtschleuse.« »Irgendwelche Probleme?« »Nein, Kapitän. Wir feilen eine Kerbe in die Türschwelle, damit unser Kommunikationsdraht nicht durchschnitten wird. Anscheinend gibt's hier keine Minen oder Fallen.« Eine kleine Pause. »Die Vorhut sagt, daß drinnen alles klar ist.« Eine Pause. »Wir haben den Frachtraum unter Kontrolle. Jetzt lassen wir eine Schwadron hier, die den Raum bewachen wird, und gehen mit Schwadron zwei und Schwadron drei weiter.« Eine Pause. »Wir sind jetzt in den Reaktorenraum vorgedrungen. Dort haben wir einen Toten gefunden. Er wurde in den Hinterkopf geschossen. Laut Ausweis ist es Walter J. Cosgrove, Chefingenieur.« »Dann müßten noch vier Crew-Mitglieder übrig sein«, sagte Carol. Der Monitor übertrug Gewehrfeuer, blitzschnelle Explosionen automatischer Waffen, und das laute Gebell von Stangl-Gewehren. »Anscheinend haben wir jetzt Kontakt mit dem Feind«, berichtete Kohlenbrenner. Eine Pause. »Nun gehen wir durch den Korridor C zum Kontrollraum.« Weitere Schüsse, diesmal nur von Stangl-Gewehren, dann der Knall einer Granate. »Wir haben den Kontrollraum eingenommen. Grundy wurde in den Arm geschossen. Wir haben seinen Anzug geflickt und ihn in den Frachtraum zurückgeschickt. Da ist noch ein Toter – William Fescue Williams.« »Das war der Schiffskapitän«, sagte Carol. »Hat er schwarze verfilzte Haare?« »Ja«, antwortete Kohlenbrenner. »Seinen Papieren zufolge stammte er aus Barbados.« Weitere Schüsse, diesmal aus der Ferne. »Das Kapitänsboot hat soeben abgelegt«, meldete Gennaro. »Es wird mit Zentrifugalkraft in unsere Feuerlinie befördert.« »Senden Sie mir eine Schematik, Mr. Gennaro«, befahl Carol. »Und versuchen Sie Verbindung mit ihnen aufzunehmen.« Der Telekonschirm Nr. 1 flammte auf und zeigte eine schematische Darstellung der Situation. Die Foxy Lady erschien als schwarze Silhouette, durchschnitten vom weißen Bogen der Station Nakajima Ceres I. Das Kapitänsboot tauchte als winzige rote Form auf, mit einer gepunkteten Linie, die seine Flugbahn markierte. Ein roter Pfeil wies darauf hin, daß es seinen Kurs änderte, und Carol beobachtete, wie das Boot die Foxy Lady ansteuerte. Der Pfeil verschwand. Das Boot schaltete seine Treib kraft ein, und die gepunktete Flugbahnlinie schwang plötzlich herum. Die Taktik der Terroristen war offenkundig. Sie wollten sich hinter dem Frachter verschanzen und Kurs auf die japanische Raumstation nehmen. Theoretisch würde die RNS Pearl Harbor nicht feuern, wenn die Japaner hinter dem Boot lagen. Die gepunktete Linie war nun in Zehn-Sekunden-Intervallen mit roten Pfeilen gekenn-
zeichnet, die anzeigten, wann sich das Boot an welchem Punkt befinden würde. »Wir haben vokalen Kontakt mit dem Boot, Kapitän«, verkündete Gennaro. »Ich habe ihn auf Ihr Gürteltelefon geschaltet.« Carol klappte das Telefon auf. »Ahoi! Hier ist Kapitän Tower von der RNS Pearl Harbor. Ändern Sie Ihren Kurs, und kommen Sie an Bord, oder Ihr Boot wird zerstört.« »Regen Sie sich ab, Tower«, antwortete eine vertraute Stimme. »Sie können nicht auf uns schießen, ohne die Geisel zu töten. Wir haben uns Louis Dalton geschnappt.« »Oh – hallo, Gloria! Ergeben Sie sich, oder sterben Sie!« Ca rol zählte die ZehnSekunden-Markierungen auf der Flugbahn. »Sie haben siebzig Sekunden Zeit. Mr. Foster, würden Sie bitte die Großlaser auf das Boot der Lady Foxy richten? Feuern Sie bitte nach Ablauf der siebzig Sekunden, wenn Sie keinen gegenteiligen Befehl erhalten.« »Großlaser gerichtet«, meldete der Geschützoffizier, »minus dreiundsechzig Sekunden.« »Wir ergeben uns nicht, also lassen Sie's sein!« rief Gloria. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß wir eine Geisel haben!« »Das ist Daltons Pech«, entgegnete Carol. »Ändern Sie jetzt Ihren Kurs, und schalten Sie Ihre Treibkraft aus. Die Zeit wird langsam knapp.« Am anderen Ende der Leitung fand eine hitzige Diskussion statt, dann begann Gloria: »Wir waren mal Freundinnen, Tower. Um der alten Zeiten willen ...« »Zum Teufel, Gloria, schalten Sie Ihre Treibkraft aus!« »Könnten Sie Ihre gottverdammte Pflicht nicht mal vergessen?« »Gloria, die Zeit läuft Ihnen davon!« »Fahren Sie zur Hölle, Sie Mörderin!« »La puta terrorista!« schrie Carol und klappte ihr Telefon zu. »Noch zwölf Sekunden«, meldete der Geschützoffizier. Carols Gürteltelefon läutete. »Zehn – neun – acht...«, zählte der Geschützoffizier. Carols Gürteltelefon läutete noch einmal. Auf der Schematik war immer noch der rote Pfeil am Ende der gepunkteten Linie zu sehen, die den Kurs des Boots markierte. »Sieben – sechs – fünf...« Carols Telefon läutete wieder. »Vier – drei – zwei...« Der rote Pfeil erlosch. »Zu spät, Kameradin«, wisperte Carol. Ihr Telefon läutete zum letztenmal. »Eins ... Feuer!« sagte Lieutenant Commander Foster. Die Schematik zeigte nun sechs gelbe Linien, die auf den ro ten Pfeil zuliefen. »Sechs Schüsse, sechs Treffer«, meldete Fo ster. Das rote Ziel vibrierte und schleuderte Linien in alle Richtungen, wodurch das Ausströmen von Gasen markiert wurde. »Noch einmal!« befahl Carol. »Zwölf Schüsse, zwölf Treffer«, berichtete Foster. Auf dem Telekonschirm war nun zu sehen, wie das Ziel in zwei Teile zerfiel.
»Noch einmal!« befahl Carol. »Achtzehn Schüsse«, sagte Foster. »Aber es sieht so aus, als wären diesmal einige Schüsse überflüssig. Wir feuern auf Löcher.« Auf der Schematik bewegten sich mehrere Teile langsam auseinander. »Danke, Mr. Foster. Das wäre vorläufig alles. Mr. Tennejian, bitte schicken Sie eine Crew hinaus. Sie soll die Wrackteile wegräumen. Es wäre unmanierlich, ein verschmutztes Schlachtfeld zu hinterlassen.« Sie beobachtete, wie die Fragmente des Boots hinter der Foxy Lady verschwanden. Der Computer projizierte ihre Positionen und markierte sie durch rote Konturen, die sich langsam bewegten. »Kapitän Tower?« meldete sich Lieutenant Kohlenbrenner. »Wir haben ein Problem. Die Foxy Lady nimmt unsere Befehle nicht entgegen. Offenbar wurde der Computer-Code geändert.« »O Scheiße! Wie ist sie programmiert?« »Sie soll auf Najajima Ceres II landen.« »Können Sie den Computer ausschalten und das Schiff manuell steuern?« »Ich kann auf alle verdammten Knöpfe drücken – aber hier ist kein Mensch, der sich mit diesen Maschinen auskennt.« Sekundenlang stellte sich Carol vor, wie die Foxy Lady den Landeausleger verpassen und gegen die japanische Station kra chen würde. Das wäre die schlimmste Möglichkeit, und es war unwahrscheinlich, daß es dazu kommen würde. »Wann werden Sie anlegen?« »Laut Schiffscomputer in zweiundzwanzig Minuten und achtzehn Sekunden.« »Okay, Lieutenant. Sie kommandieren jetzt die Foxy Lady. Ich schicke sofort einen Piloten und ein paar Störungssucher rüber. Die werden das Schiff steuern. Der Großteil der Miliz soll an Bord der Pearl Harbor zurückkehren. Wie viele Leute brauchen Sie zur Sicherung? Eine Schwadron?« »Eine Schwadron wird genügen, Kapitän, aber bevor das Schiff angelegt hat, können wir nichts tun.« »Das ist mein Problem«, sagte Carol. »Wir werden eine Möglichkeit finden, das Schiff wieder loszuhaken, wenn wir es unter Kontrolle haben.« Am 9. Januar 2043, um 08 Uhr 04, erleuchtete Skaskash den Telekonschirm in Marian Yashons Büro. »Guten Morgen, Marian. Auf Don Quixote gibt's Ärger.« Marian legte den Rosinante-Spiegel beiseite, in dem sie gelesen hatte, und blickte auf. »Ein paar RUP-Revolvermänner haben das Kontrollzentrum des 12,5-MeterLaser übernommen«, fuhr Skaskash fort. »Starkweather wurde eindeutig identifiziert, und wahrscheinlich sind Unruh und Malevitch auch dort. Es sieht so aus, als wären dreißig bis vierzig Personen in die Sache verwickelt.« »Was ist mit der Wachmannschaft?« fragte Marian. »Sergeant Moody ist der ranghöchste Überlebende«, berichtete der Computer. Plötzlich zeigte der Bildschirm einen Plan des Kontrollzentrums. »Er hält mit fünf Mann den Korridor am äußeren Ladedock besetzt – hier.« Ein kleiner Teil des Gebietes wurde mit grünweißen Streifen markiert. »Der Rest der Anlage befindet
sich in der Gewalt der RUP.« »Geben Sie Alarm – Roten Alarm! Wo ist Cantrell?« »Drüben im Außenzylinder. Er besucht eine Art Arbeitsfrüh stück in d e r Gewerkschaftshalle. Ich habe ihn bereits verständigt und einen Panzerwagen losgeschickt, der ihn an der Schiffsstation abholen wird. Sein Gürteltelefon ist eingeschaltet. Das ist doch okay?« »Das Gürteltelefon kann zwar abgehört werden, aber er muß wissen, was da vorgeht. Passen Sie auf, daß er nicht von irgendwelchen verirrten Kugeln getroffen wird, Skaskash.« »Ja, Ma'am.« »He, Tiger!« drang Cantrells Stimme aus Marians Telefon, von Störgeräuschen begleitet. »Ich bin unterwegs!« »Wir halten die Stellung, Charles. Skaskash! Wie lange werden Sie brauchen, um sich über die Funktionsweise des großen Lasers zu informieren?« »Darüber wissen sie schon Bescheid. Martin Unruh hat dort als Maschinenbaustudent gearbeitet, und er hatte zu allen Routineprozeduren Zugang.« »Scheiße!« stieß Marian hervor. »Und wie lange wird es dauern, bis sie den großen Laser auf uns richten?« »Etwa zwei Stunden. Wenn sie gute Techniker haben, in einer Stunde und sechsundfünfzig Minuten.« »Wie lange dauert es, Verstärkung nach Don Q zu schicken?« »Die Flugzeit beträgt zwei Stunden und zehn Minuten. Dazu kommt die Zeit, die wir brauchen, um die Truppen zusammen zutrommeln und zu bewaffnen. Drei Stunden wären ein phantastischer Rekord. Ich rechne aber mit dreieinhalb bis vier.« »Sehr richtig«, stimmte Carol zu. »Kann man das Kontrollzentrum mit den Rosinante-Spiegeln schmelzen?« »Leider nicht«, erwiderte der Computer. »Das Kontrollzentrum wird von Don QSpiegeln verdeckt. Wir können es nicht sehen, und es wird von den Spiegeln da drüben sehr effektvoll geschützt.« »Sie haben mir einmal erzählt, daß Sie in einem Notfall den Drachenskalenspiegel auf Don Quixote steuern könnten«, sagte Marian. »Wären Sie imstande, die Spiegel parallel zu stellen, so daß wir zwischen ihnen hindurch auf das Kontrollzentrum feuern könnten?« »Ja«, antwortete der Computer. »Das wäre möglich, wenn das dortige Kontrollsystem ausgeschaltet wäre. Aber ich kann die Signale unserer Gegner nicht übertönen.« »Wenn das Kontrollzentrum demoliert wäre, müßten wir uns nicht mit der gottverdammten Spiegelanlage herumschlagen«, meinte Cantrell. »Haben wir Zeit, um den großen Laser zu zerstören? Soviel ich mich erinnere, ist er ziemlich fragil.« »Wir haben einen Anruf vom japanischen Botschafter«, verkündete Skaskash. »Wollen Sie ihn entgegennehmen?« »Was will er?« »Er regt sich furchtbar auf, weil die RNS Pearl Harbor die Station Nakajima Ceres II mit nuklearer Waffengewalt bedroht.« »Scheiße! Schalten Sie Corporate Susan rein.«
»Admiral Brown zur Stelle!« meldete sich eine brüske Stimme. »Hören Sie, Corporate Susan – Admiral... Was zum Teufel geht auf Ceres vor?« »Die Foxy Lady wurde heute morgen um 06 Uhr 13 gekapert. Drei Personen änderten den Kurs, so daß die Foxy Lady nicht mehr NAU Ceres I, sondern Nakajima Ceres II ansteuerte. Die RNS Pearl Harbor nahm die Verfolgung auf. Udeki Ketowara, der Verwalter von Nakajima Ceres II, befahl der Pearl Harbor, abzudrehen, und drohte, den Drachenskalenspiegel gegen unser Schiff einzusetzen, wenn es der Aufforderung nicht Folge leistete. Kapitän Tower drohte, den Drachenskalenspiegel mit Nukleargewalt zu zerstören, und Ketowara gab es auf. Wir haben die Foxy Lady zurückerobert, aber sie liegt zur Zeit im Dock von Nakajima.« »Was ist mit den Piraten?« »Alle drei sind tot. Eine der Personen wurde als Gloria diLido identifiziert.« »Großer Gott, schon wieder die RUP! Und die Crew der Foxy Lady?« »Alle fünf tot«, antwortete Corporate Susan. »Vier wurden in den Hinterkopf geschossen.« »Scheiße! Und wie sieht die Situation jetzt aus? Ausgerechnet Ceres! Wo wir hier schon genug Probleme haben ...« »Die Foxy Lady liegt, wie gesagt, im Dock von Nakajima Ce res II, und die RNS Pearl Harbor hat beigedreht. An Bord der Foxy Lady befinden s ich Besatzungsmitglieder und eine Milizschwadron, und der japanische Botschafter bezeichnet unsere Aktion als Piraterie.« »Mutter Gottes!« rief Cantrell. »Skaskash, sagen Sie diesem japanischen Hurensohn, er scheint verdammt schlecht informiert zu sein! Corporate Susan, holen Sie die Foxy Lady da raus, aber ohne Nuklearwaffengewalt – ich wiederhole, ohne Nukle arwaffengewalt! Marian, hat der große Laser schon angefangen, sich zu bewegen?« »Ja.« »Ich habe mir erlaubt, ein Treffen mit dem japanischen Bot schafter zu arrangieren«, berichtete Skaskash. »Morgen um 11 Uhr.« »Wenn ich dann noch lebe, werde ich entzückt sein, ihn zu sehen«, entgegnete Cantrell. »Hören Sie mal – können Sie den großen Laser zerstören, bevor er Rosinante durchlöchert?« »Eine Milizkompanie wird demnächst zum Kontrollzentrum aufbrechen«, meldete der Computer. »Sie wird sicher imstande sein, das RUP-Kommando zu liquidieren – sagen wir, um 12 Uhr 30.« »Danach habe ich nicht gefragt. Können Sie verhindern, daß uns das Ding zerschmilzt?« »Vielleicht«, antwortete Skaskash liebenswürdig. »In diesem Augenblick bezieht ein Aufgebot unserer besten Gewehrschützen Stellung.« »Auf Don Quixote?« fragte Marian. »Nein«, erwiderte der Computer. »Hier auf Rosinante.« Am 9. Januar 2043 um 09 Uhr 41 führte Lieutenant Jimmy Mannock sein in Raumanzüge gewandetes Aufgebot auf den Hauptrahmen zwischen den beiden in
entgegengesetzter Richtung rotierenden Zylindern. Ihre Ausrüstung bestand aus Stangl-Gewehren mit Zielfernrohren, einer Laser-Vorrichtung zur Bestimmung der Schußweite, mit Sichtgeräten für jeden zweiten Mann, zusätzlicher Munition und Telekonschirmen. »Okay, Männer«, sagte Skaskash, verkleidet als John Wayne in der Kampfuniform der Rosinante-Miliz. »Unser Ziel ist die Fassade des großen Lasers auf Don Q. Sie können sie mit bloßem Auge sehen. Sogar durch Ihre beschlagenen Visiere müßten Sie sie sehen können. Okay? Also – der Laser ist zwar groß, aber weit weg. Ihre Kugeln werden 368 plus oder minus 0,4 Sekunden brauchen, um ihn zu erreichen. Und während sie hinfliegen, bewegt er sich. Er ändert die Richtung. Wenn Sie feuern, sehen Sie also das – und wenn die Kugeln ankommen, sehen Sie das.« Auf den Bildschirmen zeigte sich der große Laser, der sich deutlich erkennbar bewegte. »Kapiert? Großartig! Die technische Umschreibung für unser Vorhaben lautet: ›Das Ziel auf den Arm nehmen‹.« Gelächter klang auf. Das Aufgebot setzte sich aus den besten Schützen des Regiments zusammen. »Okay, Männer, wir feuern also eine Runde ab, um uns an die Schußweite zu gewöhnen. Die ungeraden Nummern laden Zwölferpakete, die geraden bemannen die LaserMaschine, und jeder stützt sein Sichtgerät auf die rechte Schulter seines Nebenmanns. Sobald er seine Biene im Visier hat, verfolgt er sie. Wenn die Feuerlinie bereit ist, feuern wir einen – ich wiederhole – einen Schuß ab, auf Kommando.« »Rechte Seite bereit«, meldete Mannock. »Linke Seite bereit«, fügte Sergeant Taliferro hinzu. »Achtung, zielen – Feuer!« befahl Skaskash. Die Stangl-Gewehre blitzten lautlos auf, während jede der ungeraden Nummern ihre Kugel auf einem kleinen Bildschirm beobachtete und Skaskash ein Gesamtbild aller Kugeln studierte. »Gut geschossen, Männer«, lobte der Computer. »Wenn man auf diese Entfernung hin nur um 2600 Meter danebenfeuert, ist das fabelhaft, bei Gott! Wenn man also die Bewegung und die Schwerkraft berücksichtigt, müssen Sie hierhin zielen.« Auf den Telekonschirmen tauchte wieder das Bild des großen Lasers auf, mit dem markierten Zielpunkt. »Ich habe dieses Bild auf alle kleinen Schirme projiziert. Feuern Sie nun gezielt die restlichen Schüsse des Pakets ab. Und die geraden Nummern beobachten die Flugbahnen der Kugeln, und die ungeraden feuern auf das Kommando der geraden. Die geraden warten jeweils nur dreißig Sekunden, um festzustellen, wohin ein Schuß trifft. Wenn die Feuerlinie bereit ist, fangen wir an.« »Rechte Seite bereit«, sagte Mannock. »Linke Seite bereit«, sagte Taliferro. »Feuer – nach dem Kommando der geraden Nummern!« befahl Skaskash. Nachdem die Pakete abgefeuert waren, tauschten die geraden und ungeraden Nummern die Plätze, und die geraden begannen zu schießen. Um 10 Uhr 06 konnten sie ihren ersten Treffer verbuchen, um io Uhr 08 und um 10 Uhr 09 einen zweiten und einen dritten, winzige, kaum wahrnehmbare Lichtpunkte auf einer hellen Fläche. Niemand jubelte. Um 10 Uhr 09 schickte Malevitch die gro ßen Laserstrahlen über den Hauptrahmen. Skaskash, der das Zielgebiet überwacht hatte, schrie zur
Warnung auf, und das Aufgebot zerstreute sich in alle Richtungen, sprang aus der Bahn des Laserstrahls oder ging in Deckung. Der Strahl traf Sergeant Taliferro. Das Metall seines Raumanzugs begann zu glühen. Das Plastik schmolz oder verkohlte, eine große Blase quoll aus der Schulter, die dem Laser zugewandt war. Die Blase zerplatzte, und Taliferro starb, wenn ihn die Hitze nicht schon getötet hatte. Dann drang der Strahl in die Zylinderkapsel ein, während Malevitch ihn mit der gesamten Energie aus der Don Q-Spiegelanlage vollpumpte. Cantrell saß in seinem Büro, eine unberührte Tasse Kaffee neben sich, und blickte Peter Malevitch an, der auf dem Telekonschirm erschienen war. Ein Insert in der rechten oberen Bild schirmecke zeigte die Silikonfassade des 12,5-Meter-Lasers über einer Digitaluhr. Der Uhr zufolge war es 10 Uhr 8,25. Auf der Laser-Fassade war der zweite Treffer zu erkennen. »Sie wollen natürlich die NAU stürzen«, sagte Cantrell. »Das werden Sie mir nun zum dritten- oder viertenmal erklären. Warum haben Sie es ausgerechnet auf mich abgesehen?« »Weil Sie schwach sind, und weil die Starken die Schwachen besiegen. Sie versuchen Zeit zu gewinnen, was? Glauben Sie, ich weiß nichts von der netten kleinen Miliztruppe, die sich da drü ben herumspielt? Das wird Ihnen überhaupt nichts nützen. Rufen Sie die Leute zurück! Sofort! Oder ich schneide Ihren kostbaren Mundito wie eine Salami entzwei!« »Seien Sie nicht so vertrottelt, Malevitch! Die Miliz wird Ih ren Arsch durchlöchern, so oder so! Und es wird Sie überra schen, wie lange es dauert, ein Loch in Rosinante zu brennen, Sie erhitzen einen Fleck, der 12,5 Meter im Durchmesser mißt, auf einem rotierenden Zylinder mit 1000 Meter Durchmesser, der sich dreht und dabei wieder abkühlt.« »Nun, wir werden schon rausfinden, wie lange es dauert.« Malevitch grinste, und auf der Laser-Fassade war der dritte Treffer zu sehen. Er ließ den Strahl über den Rahmen gleiten, tötete Taliferro und richtete den Laser auf die Kapsel. Er verfolgte den Punkt, den der Laser traf, während sich die Kapsel drehte, und als der Punkt ›unten‹ herumglitt, wechselte er die Richtung, um ihn mit dem Strahl auf der anderen Seite wieder einzufangen. Der Schwenk wurde nicht gerade subtil durchgeführt, und in der großen Linse zeigten sich Einschußlöcher. Als der Laser wieder den obersten Teil der Zylinderkapsel erreichte, fuhr der sichtbar rotglühende Fleck vorbei, und Malevitch änderte erneut die Richtung, um ihn zu verfolgen. Die LaserFas sade wurde zertrümmert und zerteilte sich in langsam taumelnde Fragmente. »Skaskash, nennen Sie mir bitte die geschätzte Ankunftszeit der Miliz.« »Kurz vor Mittag, Boß.« Die geschätzte Ankunftszeit war 11 Uhr 36, aber Skaskash wollte dem Feind keine genauen Informationen geben. »Sagen Sie ihnen, daß sie niemanden gefangennehmen sollen«, befahl Cantrell. »Leben Sie wohl, Mr. Malevitch.« Das RUP-Kommando kämpfte tapfer, war aber zahlenmäßig stark unterlegen und hatte zuwenig Munition. Martin Unruh starb, während er einen hoffnungslosen Gegenangriff insze nierte. James Starkweather wurde unter dem RUP-Banner ge-
funden, das sie im Wrack des Kontrollraums gehißt hatten. Er hielt die Leiche Peter Malevitchs in den Armen. Am 10. Januar 2043 berief Kapitän Carol Tower um 05 Uhr 30 eine Stabsversammlung im Konferenzraum der RNS Pearl Harbor ein. Die Roboterwagen der Offiziersmesse servierten Kaffee und Kuchen, Rührei und Toast, Bratkartoffeln und Speckersatz. »Cantrell verhandelt mit der japanischen Regierung über die Freilassung der Foxy Lady«, berichtete Carol. »Der Admiral hat mir mitgeteilt, daß sich Cantrell heute um elf mit dem japanischen Botschafter trifft. Natürlich wurde uns befohlen, keine Nuklearwaffen einzusetzen. Und der Admiral will natürlich, daß wir die Foxy Lady möglichst schnell von Nakajima wegholen – einfach so.« »Hat man uns die Nuklearwaffen gesperrt?« fragte Commander Tennejian. »Nein«, erwiderte Lieutenant Commander Foster. »Wir können sie benützen, wenn es erforderlich ist – wenn uns Nakajima zum Beispiel mit seinem Drachenskalenspiegel angreift. Aber dann würden wir uns einem Befehl widersetzen.« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Ein interessantes Problem«, meinte Carol. »Der Verwalter schlug uns vor, die Foxy Lady freizukaufen, indem wir die Kontroll-Chips in der Japs-Spiegelanlage durch die Kontroll-Chips im Frachtraum der Foxy Lady ersetzen. Natürlich nur, wenn sie reinpassen. Was haben Sie festgestellt, Mr. Lange?« »Sie passen«, antwortete der Ingenieursoffizier. »Beide Chips-Serien wurden, nach den Spezifizierungen der japanischen Marine gebaut. Es würde drei Tage dauern, sie auszuwechseln – höchstens vier.« »Können wir die japanischen Chips auf NAU Ceres I benutzen?« fragte Tennejian. »Sicher«, erwiderte Lange. »Natürlich müßten wir den Code ändern, aber sobald die Chips aus der Anlage herausgenommen sind, ist das kein Problem.« »Sehr gut«, sagte Carol. »Wir können unsere Chips verwenden, und die anderen haben wir auch. Werden uns die Bewohner von Nakajima beobachten, während wir die Dinger auswechseln?« »Das glaube ich nicht«, entgegnete Lange. »Erstens würden wir an der Rückseite des Spiegels arbeiten. Zweitens speichern wir Datum und Uhrzeit ganz automatisch, wenn wir die Chips einsetzen. Nakajima würde nichts merken, bevor es die Spiegelanlage zu steuern versuchte und dabei den alten Code benutzt.« »Wunderbar«, meinte Carol, den Mund voller Käsekuchen. »Und solange wir an Ort und Stelle bleiben, werden die Japsen nicht mit ihrem Spiegel herumspielen.« »Sollen wir loslegen?« fragte der Exekutivoffizier. »Da wäre noch ein anderes Problem, Mr. Tennejian.« Carol zog einen Kugelschreiber aus der Tasche und zeichnete einen Plan des Ceres-Systems auf das Tischtuch. »Wir sind hier draußen bei Ceres II, und wir wollen zur Innenseite von NAU Ceres I. Es gibt zwei mögliche Annäherungskurven, denen wir folgen können.« Carol zeichnete sie mit gepunkteten Linien ein. »Okay. Der Drachenskalenspiegel von Yamamoto Ceres I hat eine effektive Reichweite von etwa 10000 Kilometern.« Sie zog einen großen Kreis, der beinahe den Orbit von Ceres II be-
rührte. »Egal, wo wir die Peripherien dieses Kreises durchschneiden – wir werden uns ziemlich lange im Einflußbereich ihres Drachenskalenspiegels aufhalten. Ja, Mr. Foster?« »Das ist kein Problem«, meinte der Geschützoffizier. »Wir bleiben einfach zwischen der Foxy Lady und der Yamamoto-Spiegelanlage. Wenn sie uns zu verbrennen versuchen – nun, dann kühlen wir sie eben ab, um uns zu verteidigen.« »Das könnte uns als die Androhung nuklearer Waffengewalt ausgelegt werden«, bemerkte Tennejian skeptisch und goß sich eine zweite Tasse Kaffee ein. »Außerdem geht es nicht«, fügte Carol hinzu. Sie stellte den Salzstreuer und die kleine Pfeffermühle neben Ceres I auf das Tischtuch und begann sie an einer der gepunkteten Linien entlangzuschieben. »So weit – so gut. Aber hier, wo wir Yamamoto einholen und die Station passieren – hier können wir unsere Po sition nicht beibehalten. Bei der anderen Linie ist es genauso. Das habe ich gestern nacht mit Hilfe des Schiffscomputers gecheckt.« Sie verspeiste die letzten Bratkartoffeln, die noch auf ihrem Teller lagen. »Es wird uns nichts nützen, von Nakajima wegzukommen, wenn Yamamoto die Foxy Lady zerschmilzt. Der Admiral ist zwar sehr dafür, daß wir uns losreißen, aber wir wollen alle Konsequenzen durchdenken. Wie kommen wir an Yamamoto vorbei?« Ein langes Schweigen entstand, unterbrochen von Kaugeräuschen. Dann sagte Carol: »Ich würde gern ein paar Vorschläge hören, aber reden Sie bitte nicht alle gleichzeitig.« 10. Januar 2043, 13 Uhr 40. Der Rosinante-Rat saß im Ratszimmer und beobachtete die Fächer, die von der hohen Decke herabhingen und sich langsam drehten. »Es sieht Charlie gar nicht ähnlich, zu spät zu kommen«, meinte Dornbrock. »Die Unterredung mit dem Botschafter hat eben länger gedauert als vorgesehen«, erklärte Marian. »Charles sagte, er würde noch einen Bissen essen, bevor er herkommt.« »Wann war denn das Gespräch mit dem Ehrenwerten Dr. Azuki beendet?« fragte Bogdanovitch. »Etwa fünf Minuten, nachdem es begonnen hat«, antwortete Skaskash. »Danach fing es wieder von vorn an und bewegte sich ständig im Kreis ...« »Ja, sicher«, fiel ihm Bogdanovitch ins Wort. »Aber ich will wissen, wann es wirklich zu Ende war.« »Vor ungefähr zwanzig Minuten«, erwiderte der Computer. »Und was ist dabei herausgekommen?« fragte Corporate Su san, die in ihrer Admiralsuniform frisch und adrett aussah. »Der Ehrenwerte Doktor wollte nichts anderes besprechen als den unerhörten Nuklearangriff der RNS Pearl Harbor, und er verlangte, daß das Schiff sofort von Nakajima Ceres II abgezogen wird. Als Cantrell fragte, ob dann die Foxy Lady freigelas sen würde, erklärte Dr. Azuki, dies wäre eine völlig andere Sache, über die man verhandeln könnte, sobald die RNS Pearl Harbor abgeflogen wäre.« »Ja, natürlich«, sagte Marian. »Wie hat er sich zu der finanziellen Unterstützung geäußert, die das RUP-Hauptquartier in Mexico City von Japan bekommen hat?« »Ach – nun ja – unglücklicherweise weiß ich nichts von der Angelegenheit, auf
die Sie da anspielen«, stotterte Skaskash in einer haargenauen Imitation von Dr. Azukis Sprechweise. »Doch – nun denn – ich will sehr gern eine offizielle Anfrage an meine Regierung richten.« »Reizend«, meinte Bogdanovitch und kritzelte winzige Blu men auf seinen Notizblock. »Geben wir ein gemeinsames Kommuniqué heraus – wie es bei zivilisierten Nationen üblich ist?« »O ja«, antwortete Skaskash. »Das Treffen war sehr konstruktiv – wir haben eine weitere Unterredung für den 14. vereinbart. Es kam zu einem offenen Meinungsaustausch. Sie nannten uns Piraten, und wir nannten sie Diebe. Das war, bevor die Sitzung in einen Schreiwettbewerb ausartete.« »Und das hat zwei Stunden gedauert?« Die winzigen Blumen wurden mit winzigen Schmetterlingen ausgeschmückt. »Ich habe Ihnen ja schon erzählt, daß es immer nur im Kreis herumging«, erwiderte Skaskash. »Sie wollen, daß wir die Pearl Harbor von Nakajima abziehen, und wir wollen die Foxy Lady wiederhaben, und das Vertrauen, das der eine zum anderen hat, ist gleich Null.« Charles Cantrell betrat den Raum und nahm seinen Platz am Kopfende des Tisches ein. »Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe. Welcher Punkt steht als erster auf der Tagesordnung?« »Der nordamerikanische Unionspräsident beglückwünscht dich zu deinem Sieg über die Radikalen Unversöhnlichen«, sagte Marian. »Außerdem bedauert er – ich zitiere – ›die ungeheuerlichen Aktionen einiger unreifer, unerfahrener RosinanteNavy-Offiziere‹ – Ende des Zitats.« »Wenigstens verdammt er sie nicht.« Cantrell griff nach der Kopie der Präsidentennachricht und las sie durch. »Die Höflich keitsfloskeln sind ziemlich knapp bemessen. Es sieht so aus, als wollte uns Oysterman im Grunde gar nicht kennen.« »Das kann man wohl sagen«, stimmte Marian zu. »Lady Dark hat einiges herausgekriegt, was in den Regierungsbehörden so vor sich geht. Das NAURAAußenministerium beklagt die japanische Anmaßung, aber...« Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist nun mal projapanisch eingestellt. Und außerhalb der Atmo sphäre kennt es sich nicht aus.« »Und die NAURA-Navy?« fragte Cantrell. »Wenn uns irgend jemand in der NAU freundschaftlich gesinnt ist, müßte es die Navy sein.« Marian kramte in ihren Notizen. »Mal sehen. Der 13. ist der Termin, an dem die Spiegelanlage fertiggestellt sein muß. Wenn wir das nicht schaffen, werden sie uns eine gepfefferte Geldbuße aufbrummen. Aber sie werden ein Gesuch, den Termin hinauszuschieben, überdenken – angesichts der Umstände, die außerhalb unseres Kontrollbereiches lagen.« »Sie wollen uns also zwingen, den Vertrag zu erfüllen?« Bogdanovitch zeichnete winzige Käfer. »Warum, zum Teufel?« »Die Navy möchte Ceres sichern«, erklärte Cantrell. »Oysterman kann alles versieben, was er nur will, aber was die Navy angeht, so werden wir die Verteidigungsbasis für Ceres I bauen. Die NAURA-Navy läßt uns nicht so leicht aus ihren Klauen.«
»Und Oysterman paßt auf, daß du die Nordamerikanische Union nicht in irgendwelche haarige Situationen hineinziehst«, meinte Bogdanovitch und legte seinen Füllfederhalter beiseite. »Genau«, sagte Marian. »Du bist zwischen einem Felsen und einem Stein gefangen. Hast du schon mal überlegt, wie du deine Verluste möglichst in Grenzen halten kannst?« »Darüber werden wir nachdenken müssen«, gab Cantrell zu, »aber vorläufig kostet es uns nichts, im Spiel zu bleiben. Corporate Susan, gibt es eine Möglichkeit, die Foxy Lady loszueisen?« »Wir arbeiten daran«, antwortete der Computer. »Vielleicht haben wir auch was für Dr. Azuki, wenn Sie ihn wiedersehen.« »Sehr schön. Wir werden also weiterhin mit den Japanern verhandeln ... Als ob wir eine andere Wahl hätten! Was steht als nächstes auf der Tagesordnung?« »Das Begräbnis«, sagte Dornbrock. »Wir haben im Kampf um das LaserKontrollzentrum neun Zivilisten und zweiundzwanzig Milizsoldaten verloren. Das mindeste, was wir für sie tun können, wäre die Organisation einer anständigen Bestattung.« Die Uhr auf Cantrells Schreibtisch war in einen Türkisblock eingelassen und mit Silber beschlagen. Sie verkündete in römischen Zahlen, daß heute der 12. Januar 2043 und daß es 09 Uhr 00 war. »Bringen Sie bitte Mr. Moore herein«, sagte Skaskash. Zwei Milizsoldaten eskortierten W. Guthrie Moore ins Zim mer, schlugen die Hacken zusammen und standen dann bequem, zu beiden Seiten des jungen Mannes, schräg hinter ihm. »Was soll das?« stieß Moore hervor. Cantrell griff nach einem Exemplar des Marxistischen Revolutionärs von Rosinante, acht Seiten, fotokopiert, einspaltig, ohne Seitenränder. Die Blätter wurden von einer Heftklammer zusammengehalten. »Wieviel hat Ihnen die RUP bezahlt, damit Sie diesen Scheiß veröffentlichen ?« »Nichts.« »Hören Sie auf zu lügen«, riet Skaskash. »Sagen Sie lieber die Wahrheit – in Ihrem eigenen Interesse.« »Ich bezahle die Zeitung aus meiner eigenen Tasche.« Moore trat von einem Fuß auf den anderen. »Für was halten Sie sich eigentlich, zum Teufel?« rief Cantrell. »Haben Sie noch immer nicht begriffen, daß Sie nicht mehr auf der Erde sind?« »Ich weiß, wo ich bin.« »Davon merkt man aber nichts, wenn man Ihr gottverdammtes Schundblatt liest. Sie schreiben wie ein marxistischer Komö diant. Es gibt keinen Gag, der Ihnen zu alt wäre, als daß Sie ihn noch mal hervorkramen, um zu sehen, ob das Publikum drüber lachen wird. Und Ihre Rhetorik? Jesus Christus, Moore! Ihr Mund führt Ihr Gehirn an Ihrer gottverdammten Nase herum. An wen zum Teufel wenden Sie sich eigentlich?« »An die Armen. An die Hoffnungslosen, Arbeitslosen. Nichts hat sich verändert.
Die Reichen werden immer reicher und tre ten die Gesichter der Armen in den Staub. Dagegen kämpfe ich. Immer und ewig!« »Sie haben Malevitch und die RUP also unterstützt, weil Sie mich nicht leiden können?« »Ich habe Malevitch nicht unterstützt.« »Was für eine phänomenale Pferdescheiße! Ihr eigenes Käseblatt straft Sie Lügen! Die RUP war faschistisch, und Sie haben sie unterstützt, weil – ich zitiere ›der Feind unseres Feindes unser Freund‹ ist.« Cantrell schlug die fotokopierte Zeitung auf und klopfte mit dem Finger auf eine Stelle. »Seite sechs, in der Ausgabe vom 8. Januar. ›Unsere stärksten Verbündeten im Kampf gegen das Kapitalistenschwein Cantrell und seine Mitläufer sind P. A. Malevitch und seine Radikalen Unversöhnlichen‹. Und dann verbreiten Sie sich eine halbe Seite lang über Malevitchs Genie.« »Gut«, gab Moore zu, »das war eine taktische Maßnahme im Kampf gegen die Unterdrückung.« »Und wer hat den Brief mit der Unterschrift ›Archie‹ verfaßt?« Moore schwieg. »Der NAURA-Sicherheitsdienst teilt uns mit, daß der kaiserliche japanische Geheimdienst einen Agenten auf Rosinante hat, genannt La Cucuracha«, sagte Skaskash. »Wir wissen, daß Malevitch über das RUP-Hauptquartier in Mexico City Geld von Japan bekam. War dieser ›Archie‹ vielleicht Malevitch?« »Ja«, gestand Moore mürrisch. »Wieviel hat er Ihnen bezahlt, damit Sie den Brief veröffentlichen?« »Nichts! Er half mir im Kampf gegen die Unterdrückung. Leugnen Sie vielleicht, daß Sie Ihr Volk tyrannisieren?« »Darauf können Sie Ihren Arsch verwetten!« stieß Cantrell hervor. »Das müßte sogar Ihnen klar sein. Ein Tyrann würde Sie auf der Stelle erschießen. Sogar ein vernünftiger Sozialdemo krat würde Sie ins Gefängnis werfen. Was, zum Teufel, hindert mich daran, das zu tun?« »Das Gewicht der öffentlichen Meinung.« Moore fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Darüber hatte er niemals nachgedacht. »Wenn ich die öffentliche Meinung respektieren würde, hätte ich Sie schon längst hinter Schloß und Riegel gebracht. Und wenn ich dumm genug wäre, das Volk darüber abstimmen zu lassen, ob ich Sie erschießen soll oder nicht, würde man sich mit drei zu eins Stimmen für Ihren Tod entscheiden.« »Sagen wir lieber, fünf zu eins«, sagte Skaskash. »Heute würden sich vielleicht sogar noch mehr Leute gegen Moore entscheiden.« »Warum erschießen Sie mich dann nicht?« fragte der junge Mann. »Sind Sie so zartbesaitet – oder nur ganz einfach feige?« »Sie könnten mich als fehlgeleiteten Idealisten bezeichnen«, erwiderte Cantrell. »Ich wollte das alte Regime wieder einsetzen. Da mir das nicht gelang, versuchte ich auf Rosinante eine Regierungsform zu etablieren, die dem alten Regime ähnelt. So weit dies eben möglich war. Und was Sie geschützt hat, war die Erste Ergänzung in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika.« »Das ist doch albern – geradezu lächerlich!«
»Der Meinung bin ich auch. Warum sollte meine Liebe zu einem toten Dokument zulassen, daß Sie für alle Zeiten straffrei ausgehen?« Moore gab keine Antwort. »Freiheit und Tugend«, sagte Skaskash. »Wenn man beides haben will, kann man weder völlig frei noch gänzlich tugendhaft sein. Was die Freiheit angeht, so sind Sie am Ende Ihrer langen Leine angelangt. Über Ihre Tugend will ich mich nicht äußern, aber wir werden den Marxistischen Revolutionär von Rosinante nicht mehr herausgeben.« »Das ist unfair«, protestierte Moore. »Das können Sie mir nicht antun!« »Wir haben ernsthaften Ärger mit Japan und der NAU«, erklärte Cantrell. »Wenn ich Ihnen weiterhin erlauben würde, Ihr Blatt herauszugeben, wäre das ein Luxus, den ich mir nicht leisten könnte.« Er zuckte mit den Schultern. »Es ist sogar riskant, Sie am Leben zu lassen. Aber bis zu einem gewissen Grad bin ich bereit, dieses Risiko auf mich zu nehmen. Guten Morgen, Mr. Moore.« 14. Januar 2043, kurz vor Mitternacht. Carol Tower saß im Kontrollraum der RNS Pearl Harbor und sah zu, wie eine modifizierte Chips-Schicht über den Hauptrahmen von Nakajima Ceres II glitt und dabei die einzelnen Geräte abwarf, wie eine Spinne, die klebrige Eier fallen ließ. »So, das wären die letzten Hilfsinstrumentaltasten«, sagte das Besatzungsmitglied, das die Chips-Schicht steuerte. »Bringen Sie den Flitter rüber, und wir hauen ab.« Carol sah zum Flitter-Operateur hinüber und nickte. Der Flitter-Operateur zog die Kamera zurück, die für den Einblick in den Kontrollraum sorgte, und lenkte sie zur Chips-Schicht hinüber. »Haben Sie sich nicht den längsten Weg ausgesucht?« fragte Carol. »Wir wollen keine von den Minen auslösen, die wir eingepflanzt haben«, antwortete der Chips-Schicht-Operateur. Carol nickte und trank einen Schluck schwarzen Kaffee. Die Chips-Schicht sprang auf den Flitter und ließ sich darauf nieder, während sich der Flitter neu orientierte und dann zum Kreuzer zurücksteuerte. »Wir sind schon spät dran«, sagte der Flitter-Operateur. »Die Ballons platzen um 24 Uhr 00, aber der Flitter wird erst gegen 00 Uhr 15 zurück sein.« »Kein Problem«, erwiderte Carol. »Wir legen um 24 Uhr 00 ab. Der Flitter kann uns mühelos einholen.« Um 24 Uhr 00 blähten sich über allen Instrumentaltasten, die den Drachen skalenspiegel von Nakajima steuerten, Aluminiumballons von zwei Metern Durchmesser auf. Gleichzeitig verließ die Foxy Lady ein Dockausleger und nahm, gemeinsam mit der Pearl Harbor, Kurs auf den Orbit von Ceres I. »Die Japaner befehlen uns, zurückzukehren«, meldete der Kommunikationsoffizier. »Wollen Sie zuhören?« »Funkstille, Mr. Gennaro!« befahl Carol. Um 00 Uhr 15 beschleunigten die beiden Schiffe ihr Tempo um bewundernswerte 3,8 cm/sec/sec trotz des Gravitationssogs von Ceres und erreichten durch einen mächtigen Schub ihrer Maschine eine Geschwindigkeit von 3420 cm/sec
beziehungsweise 76,5 Stundenmeilen. Sie hatten sich um 61,6 Kilometer von der Station entfernt, als der Verwalter von Nakajima befahl, die Spiegel gegen die Foxy Lady einzusetzen. Natürlich passierte nichts, da die Steuerungs-Chips, die alle Bewegungen der einzelnen Spiegel kontrollierten, durch Chips ersetzt worden waren, die auf Befehle in einem anderen Code reagierten. Aber wenn eine Spiegelanlage nicht funktionierte, s o w a r es ganz selbstverständlich, die Instrumentaltasten zu checken. Die großen Ballons waren ein unübersehbarer Hinweis auf die Tatsache, daß man die Tasten mit infernalischen Maschinen zerstört hatte. Ein Flitter mit Fernsteuerungs-Reparaturgeräten und Diagnosevorrichtungen wurde in verspäteter Eile zu den Spiegeln geschickt. Als er von einer Mine vernichtet wurde, berichtete der Verwalter seiner Regierung, daß man die Instrumentaltasten von Nakajima ruiniert hatte und daß die Madame G. Y. Fox entkommen war. Die RNS Pearl Harbor hatte natürlich von Anfang an das Recht gehabt, abzufliegen, wann immer sie wollte. Nachdem der japanische Botschafter am selben Morgen Cantrells Büro verlassen hatte, beorderte der Gouverneur Marian, Skaskash und Corporate Susan zu sich. »Der Ehrenwerte Dr. Azuki war äußerst erregt«, berichtete er. »Er behauptet, die Position der Pearl Harbor zwischen der Spiegelanlage von Yamamoto Ceres I und der Foxy Lady wäre eine unerträgliche nukleare Aggression. Außerdem verlangt er, daß wir sofort den Schaden reparieren, der den Instrumentaltasten auf Nakajima zugefügt wurde. Oder daß wir die Reparatur bezahlen. Oder beides.« Er beugte sich vor und stützte den Kopf in die Hände. »Aber vor allem verlangt er, daß die Foxy Lady nach Nakajima Ceres II zurückkehrt, sonst müßte Japan die diplomatischen Beziehungen mit Rosinante abbrechen.« »Das ist aber starker Tobak«, meinte Marian. »Hat er dir ein Ultimatum gestellt?« »Nicht direkt. Er sagte: ›So bald wie möglich.‹« »Diesen Umstand könnten wir benutzen, um der NAU-Navy zu erklären, warum sie von einer Geldbuße absehen sollte«, schlug Skaskash vor. »Verdammt, das alles gefällt mir nicht«, murmelte Cantrell. »Müssen wir die Foxy Lady zurückschicken?« »Ja, zum Teufel, das müssen wir«, antwortete Marian. »Mir gefällt das genausowenig wie dir, aber ein Krieg mit Japan gefällt mir noch weniger. Und Dr. Azuki hat dir soeben das klassische Ultimatum gestellt. Entweder – oder.« »Der Meinung bin ich auch«, sagte Corporate Susan. »Ich werde der Foxy Lady befehlen, sich auf schnellstem Weg wieder in japanischen Gewahrsam zu begeben.« »Sie haben das Schiff zu dem Ausbruchversuch ermächtigt, nicht wahr?« fragte Cantrell. »Machen Sie sich nichts draus. Das ist mir noch lieber, als wenn Ihr ›unreifes und unerfahrenes‹ Offizierskorps aus der Hüfte schießen würde.« »Ja, Sir. Kapitän Tower hat nach meinen Befehlen gehandelt.« »Ein hübscher Versuch – wirklich.« »Danke, Sir«, antwortete der Computer. Kapitän Carol Tower blieb vor der halboffenen Tür von Tennejians Büro stehen und klopfte.
»Herein!« rief der Exekutivoffizier. Er saß an seinem Schreib tisch und spielte mit Lieutenant Foster, der ihm gegenüberstand, Kribbage. »Stehen Sie bequem, Mr. Foster«, sagte sie. »Mr. Tennejian, was halten Sie davon?« Sie reichte ihm eine Aktennotiz. Von: Rosinante-Navy, GQU Betrifft: Die Madame G. Y. Fox An: An die Pearl Harbor, z. Hd. Kapitän Carol Tower Aufgrund der Proteste, die der Ehrenwerte Dr. Azuki in seiner Eigenschaft als japanischer Botschafter auf Rosinante erhoben hat, muß das betreffende Schiff auf kürzestem Weg und möglichst schnell in japanischen Gewahrsam zurückgebracht werden. /s/ Corporate Admiral Dr. Susan Brown Tennejian las die Notiz und drehte sie um. Sie war am 14. Januar 43 um 11 Uhr 55 gesendet worden. Er legte das Blatt auf den Kribbage-Tisch. »Admiral Brown hat vorhin angerufen. Ein Routine-Ansuchen um Routine-Informationen. ›Wann werden Sie näher bei Yamamoto als bei Nakajima sein?‹ Ich checkte den Schiffscomputer und las den Zeitpunkt 10 Uhr 25 ab. Das war etwa um 09 Uhr 15.« Er reichte Carol das Papier, und sie gab es an Mr. Foster weiter. »Laut Flüsterpropaganda sollen wir nach Nakajima zurückkehren. Hier steht aber nur, daß wir uns in ja panischen ›Gewahrsam‹ begeben sollen. Und die Nachricht wurde erst eineinhalb Stunden nach dem Zeitpunkt gesendet, wo wir näher bei Yamamoto als bei Nakajima waren. Und man beauftragt uns, das Schiff ›möglichst schnell‹ den Japanern zu übergeben. Ich habe das Gefühl, daß unser ursprünglicher Plan immer noch gilt.« »Der ursprüngliche Plan war ein bißchen riskant«, bemerkte Foster und gab Carol die Aktennotiz zurück. »Ich meine, wenn wir einfach auf Yamamoto Ceres I gelandet wären, hätten wir die Japse zu Tode erschreckt. Jetzt sieht die Sache ein bißchen besser aus.« »Das war ja auch der große Nachteil unseres Plans«, sagte Ca rol. »Nun haben wir den Befehl, Yamamoto anzusteuern. Wie können wir uns weigern?« »Ganz so ist es nicht«, erwiderte Tennejian. »Die Foxy Lady wurde beauftragt, nach Yamamoto zu fliegen, aber in der Notiz steht nicht, welchen Kurs die Pearl Harbor nehmen soll. Wir könnten um genauere Instruktionen bitten.« »Das lassen wir lieber bleiben.« Carol lächelte, und ihre Mundwinkel zogen sich nach unten. »Wenn wir fragen, wird die Antwort ›nein‹ lauten.« »Es ist besser, um Verzeihung als um Erlaubnis zu bitten«, meinte Foster. »Genau«, bestätigte Carol. »Der Admiral möchte an unserem ursprünglichen Plan festhalten.« »Wir werden also ein bißchen auf Eiern tanzen«, sagte Tennejian. »Die Japse setzten Cantrell ganz schön unter Druck.« »Wenn wir Glück haben, Mr. Tennejian, wird es keine Rolle mehr spielen, ob wir vorsichtig waren oder nicht. Die Scheiße wird garantiert in den Ventilator fliegen.« Tennejian schaute ziemlich unbehaglich drein. »Kapitän, sind Sie ganz sicher,
daß Sie nicht um weitere Instruktionen bitten wollen?« »Diese Instruktionen sind mir völlig klar. Wir machen weiter wie vorgesehen, in der Annahme, daß der Admiral weiß, was wir tun. Mr. Tennejian, bitte schicken Sie eine Nachricht mit einer Unterschrift an Yamamoto Ceres I und teilen Sie den Leuten mit, daß die Foxy Lady auf Befehl unserer Regierung auf der Station landen wird, um – welche geschätzte Ankunftszeit wurde ermittelt? 23 Uhr 30?« »Das werde ich noch checken«, versprach der Exekutivoffizier. »Aber es wäre einfacher, um Landeerlaubnis zu bitten.« Als Antwort auf Carols unausgesprochene Frage fügte er hinzu: »Unsere Regierung würde bestimmt nicht eingestehen, daß sie uns zu dieser Handlungsweise ermächtigt hat.« 14. Januar 2043, 23 Uhr 30. Der Ehrenwerte Dr. Azuki saß in Cantrells Büro, trank grünen Tee und knabberte süßen Reisku chen aus dem Autobuffet. Mehrere Telekonschirme zeigten aus verschiedenen Blickwinkeln die Foxy Lady, die zur Landung auf Yamamoto Ceres I ansetzte. »Es wäre sehr einfach, einen Sushi-Wagen zu bauen«, meinte Dr. Azuki. »Und wir würden uns glücklich schätzen, wenn wir Ihnen die erforderlichen Spezifikationen zur Verfügung stellen könnten.« »Natürlich wäre es kein Problem, den Wagen zu bauen«, erwiderte Cantrell. »Aber es wäre schwierig, frische Meeresfische aufzutreiben. Wir züchten Schalentiere, Krabben und Hummer, und wahrscheinlich könnten wir auch Polypen hochpäppeln – wenn es mir auch unangenehm ist, so intelligente Wesen zu verspeisen. Aber freischwimmende Fische wie Schnapper oder Thunfische liegen derzeit außerhalb unserer Möglichkeiten.« »Polypen schmecken ganz ausgezeichnet. Ihre angebliche Klugheit sollte Sie nicht davon abhalten, diese Tiere mal zu verspeisen.« »Ich habe mich etwas ungeschickt ausgedrückt. Ich liebe Polypen, und ich würde nicht zögern, sie in einer Sushi-Bar zu bestellen. Aber Polypen in einem kleinen Tank zu züchten, wie Hummer oder Hühner, nur damit ich im Sushi-Stil essen kann – das widerstrebt mir. Wissen Sie – es ist nicht der Tod des Polypen, der mich irritiert, sondern die Langeweile seines Lebens.« »Die Existenzangst des Polypen ...« Azuki lachte. »Verzeihen Sie, Gouverneur, aber der Sinn seines Lebens besteht darin, die Leute, die ihm täglich Krabben geben, mit Sushi zu versorgen.« Er brüllte vor Lachen. »Oder man gibt ihm Hummer«, warf Marian ein. »Wir können Polypen züchten, um eine Verwendungsmöglichkeit für unsere unzähligen Hummer zu schaffen. Natürlich müßten wir in periodischen Abständen einige Polypen eliminieren, um eine angenehme Bevölkerungsdichte beizubehalten. Der Polypentank müßte der realen Polypenumwelt in ausreichendem Maße ähnlich sein, so daß sich die einzelnen Tiere nicht langweilen.« »Glaubst du, daß das gut wäre?« fragte Cantrell. »Ich hatte mir eher vorgestellt, Polypen wie Hummer zu züchten und jeden in eine kleine Plastikflasche zu stecken, wo er dann auf seinen täglichen Fraß wartet.« »Für Hummer ist das okay«, entgegnete Marian. »Die haben das Gehirn einer Küchenschabe. Der Polyp würde einen Ge meinschaftstank vorziehen, etwa im Stil
eines altmodischen Bauernhofes. Eine kleine Polyäthylen-Nische für jeden einzelnen – und Gemeinschaftsräume, wo sie auf Hummerjagd gehen können ...« »Interessant«, meinte Cantrell. »Aber Hummer sind sehr beliebt. Züchten wir wirklich mehr, als wir essen können?« »Wir fangen gerade an, tiefgefrorene Flaschenhummer zu la gern«, berichtete Skaskash. »Entweder wir senken den Preis, damit mehr Hummer gegessen werden, oder wir exportieren sie, aber im Moment...« Der Computer machte eine kleine Pause. »Im Moment landet die Foxy Lady auf Yamamoto.« Bildschirm 1 zeigte eine Teleskop-Fernaufnahme von NAU Ceres I aus, einen winzigen Frachter, der sich einer riesigen Raumstation näherte, während ein winziger Kreuzer tatenlos daneben schwebte. Bildschirm 2 stellte die Szene aus dem Blickwinkel des Yamamoto-Dockauslegers dar. Die Seite des Frachters, die dem Dock zugewandt war, füllte den ganzen Bildschirm aus. Schirm 3 zeigte den Ausblick von der Außenkapsel des Zylinders gegenüber dem Zylinder, auf dem der Dockausleger montiert war. Die Foxy Lady hing am Ende des Auslegers, der sich frei drehte. Auf der anderen Seite des Bildes konnte man die Außenkapsel, den Ausleger und ein kleines Stückchen vom In nenrand des Drachenskalenspiegels sehen. Im Hintergrund, etwa 10 bis 12 Kilometer entfernt, lag die RNS Pearl Harbor, die nun zwei ferngesteuerte Flitter abschoß. Einer davon bewegte sich direkt auf die Lücke zwischen dem Zylinder mit dem Dockausleger und dem Drachenskalenspiegel zu. Der andere, der ein bißchen schneller flog, beschrieb einen Looping um den Ausleger und verstreute Radarstörfolien. Dann folgte er dem ersten Flitter, während er immer noch Radarstörfolien abwarf. »Was soll das!« schrie Azuki. »Die Pearl Harbor greift Yamamoto an?« Cantrell blickte auf Bildschirm 2. Der Kameramann hatte von der Foxy Lady auf die beiden Flitter geschwenkt. Die Radarstörfolien verursachten ein paar Funken und Bildvibrationen, aber vor dem Hintergrund des rotierenden Zylinders konnte man die Flitter gut beobachten, während sie – was sonst? – zu den Instru mentaltasten flogen. »Verbinden Sie mich mit Kapitän Tower, Skaskash!« befahl Cantrell. Das irrelevante Bild auf Schirm 1 erlosch, um von Kapitän Carol Tower ersetzt zu werden, die hübsch zurechtgemacht in ih rem Telekonsessel saß. »Kapitän Tower«, sagte Cantrell, »diese Flitter werden keinesfalls a n d e n Instrumentaltasten herummanipulieren. Haben Sie verstanden?« »Ja, Sir.« »Rufen Sie die Flitter zurück – oder Sie müssen sie zerstören. Dann bringen Sie die Pearl Harbor nach NAU Ceres I. Vielleicht sollte ich Sie durch Commander Tennejian ablösen lassen, bis die Sache vor einem Kriegsgericht geklärt wird.« »Ja, Sir. Aber – verzeihen Sie, Sir, Mr. Tennejian hat das Kommando der Foxy Lady übernommen und ist derzeit nicht in der Lage, die RNS Pearl Harbor zu befehligen.« »Okay – also brauchen wir jemand anderen ...« Cantrell zögerte kurz, dann befahl er: »Bringen Sie die Pearl Harbor nach NAU Ceres I, und unternehmen Sie nichts, um die Foxy Lady – auch unter dem Namen Madame George Ypsilanti Fox zu be-
freien oder auf sonstige Weise ihr Schicksal zu beeinflussen! Verstanden?« »Ja, Sir«, sagte Carol. »Ich werde sofort nach NAU Ceres I fliegen und dort auf weitere Instruktionen warten.« »Sehr gut. Sie sind entlassen.« Der Telekonschirm 1 färbte sich schwarz, und Cantrell wandte sich an den japanischen Botschafter. »Es war sehr scharfsinnig von Ihnen, eine solche Möglichkeit vorauszusehen. Bitte verzeihen Sie die leichtsinnigen, irregulären Aktionen meiner Untergebenen.« Azuki lächelte. »Por nada. Sie sollten nicht allzu hart mit Ihrer Kapitänsdame ins Gericht gehen. Sie bewies in einer schwie rigen Situation Einfallsreichtum und Kühnheit, und weder der Versuch noch sein Fehlschlag verletzen ihre Ehre.« Er gähnte. »Es ist spät geworden, Gouverneur. Vielleicht könnten wir – mit Ihrer Erlaubnis – ein andermal über die Polypenzucht weiterdis kutieren?« Von den Radarstörfolien verdeckt, die rings um den Dockausleger verstreut waren, quollen Tausende kleiner Chips-Verteilerroboter aus dem dunklen Frachtraum der Foxy Lady, wie eine Spinnenarmee. Und dann sprangen sie auf die unbewachte, wehrlose Spiegelanlage von Yamamoto Ceres I. Am frühen, sonnenhellen Morgen des 18. Januar ging Cantrell in sein Büro, den Rosinante-Spiegel unter dem Arm, und holte sich eine Tasse Kaffee aus dem Autobuffet. Als er sich umdrehte, erschien Skaskash auf dem Telekonschirm. »Der japanische Botschafter bittet um eine Audienz, so bald wie möglich. Bevor Sie ihn empfangen, rate ich Ihnen dringend, Corporate Susan in ihrer Eigenschaft als Flottenadmiral zu konsultieren.« Cantrell setzte sich auf seinen Stuhl mit der hohen Lehne und legte die Zeitung beiseite. »Schalten Sie den Admiral rein.« Skaskashs Bildschirm teilte sich, und an seiner Seite tauchte Corporate Susan in der Uniform des Navy-Offizierskorps auf, in einem weißen Rollkragenpullover mit olivgrünem Blazer. »Admiral Susan Brown meldet sich zur Stelle, Sir!« Sie salutierte zackig, und Cantrell begrüßte sie in der gleichen Weise. »Nun, was ist los?« »Die Foxy Lady legte heute morgen um 03 Uhr 00 vom Dockausleger der Station Yamamoto Ceres I ab und nahm Kurs auf NAU Ceres I. Mr. Tawi Rikitake, der Verwalter von Yamamoto Ceres I, befahl der Foxy Lady, sofort zurückzukehren, andernfalls würde sie vom Yamamoto-Drachen zerstört werden. Als Commander Tennejian nicht kehrtmachte, beauftragte Mr. Ri kitake seinen Spiegel, die Foxy Lady zu zerstören. Etwa 0,1 Prozent der Spiegel reagierte auf seine Order, woraus er den Schluß zog, daß wir seine Chips ausgewechselt hatten. Sobald Mr. Rikitake und Mr. Ketowara begriffen hatten, daß ich ihre Drachenskalenspiegel kontrolliere, entschuldigten sie sich.« »Mr. Ketowara?« fragte Cantrell. »Der Verwalter von Nakajima Ceres II.« »Ich verstehe.« Cantrell nahm einen Schluck Kaffee. »Ein gelungener Versuch – aber der Ehrenwerte Dr. Azuki wird mich leider dazu zwingen, das Schiff zurückzuschicken.«
»Ich habe die Entschuldigung der beiden akzeptiert«, sagte Corporate Susan. »Ich habe auch ihre Unterwerfung akzeptiert, und ich vermute, daß Dr. Azuki... Ist Ihnen nicht gut?« Cantrell hatte sich verschluckt. Er hustete und schüttete heißen Kaffee auf seine Hose. Als er seine Fassung bis zu einem gewissen Grad wiedergefunden hatte, fuhr Corporate Susan fort: »Ich vermute, daß Dr. Azuki die Herausgabe von Nakajima und Yamamoto verlangen wird. Wir werden die beiden Stationen unter der Bedingung herausrücken, daß wir unsere eigene Fracht auf unserem eigenen Schiff behalten können. Es ist unwahrscheinlich, daß er ein so großzügiges Angebot ablehnen wird.« »Bitte, rufen Sie Marian zu mir, Skaskash – und teilen Sie dem Ehrenwerten Dr. Azuki mit, daß ich ihn sehr bald empfangen werde.« Cantrell wandte sich wieder an Corporate Susan. »Soviel ich weiß, haben Sie noch nie einen Fehler gemacht. Aber wenn Sie mich konsultiert hätten, bevor Sie die Unterwerfung von Nakajima und Yamamoto akzeptiert haben, so hätte ich dem nicht zugestimmt. Sie haben ein brillantes Manöver durchgeführt, aber ich fürchte, Corporate Susie ...« Er schüttelte den Kopf. »Diesmal haben Sie des Guten zuviel getan.« Als Marian hereinkam, wurde sie informiert. »Schicken Sie Dr. Azuki herein, Skaskash«, sagte sie. »Nun wollen wir auch noch den Rest hören.« Der Ehrenwerte Dr. Azuki trug einen Morgenrock, Glacehandschuhe und eine rote Rosenknospe im Knopfloch. Draußen simulierten die Spiegel strahlenden Morgensonnenschein. Echte Vögel, ein Kardinal und eine Spechtmeise, pickten Samenkörner von der Futterstation vor dem Fenster. »Es ist meine schmerzli che Pflicht, Ihnen mitzuteilen, daß Japan die diplomatischen Be ziehungen zu Rosinante abgebrochen hat«, verkündete der Botschafter. Eine lange Pause entstand. »Ich verstehe«, brachte Cantrell schließlich mühsam hervor. »Eine Entschuldigung ist zu diesem Zeitpunkt sicher zwecklos – aber ich bedaure aufrichtig, was geschehen ist.« Marian unternahm einen letzten Versuch, Corporate Susans Plan durchzuführen. »Ihre Regierung ist wahrscheinlich nicht bereit, Ihren Entschluß noch einmal zu überdenken, wenn wir Nakajima und Yamamoto zurückgeben?« »Ich werde meiner Regierung von Ihrem außerordentlich großzügigen Angebot berichten«, erwiderte Azuki. »Ich bin sicher, daß es nur Ihrer Gedankenlosigkeit und schlechter Überle gung entsprungen ist – und daß es keineswegs als Beleidigung beabsichtigt ist, die jenem Akt der Piraterie noch hinzugefügt werden soll.«
15 Admiral Hideoshi Kogo saß in seinem Büro, die Füße auf einen Ledersessel gelegt, und blickte auf die Bucht von Tokio hinab. Nebelschwaden stiegen langsam auf und verwischten die Umrisse der Schiffe und Boote, während er sich fragte, ob er seine Zigarre sofort zu Ende rauchen sollte oder nicht. Die Alternative bestünde darin, sie nach dem Lunch zu rauchen. Er beschloß, sie sofort zu konsumieren und sich in Zukunft nicht mehr mit Selbstvorwürfen zu quälen, weil er zuviel rauchte.
Das Telefon läutete. »Verzeihen Sie mir, Ehrenwerter Admiral«, sagte sein Stabschef, »soeben haben wir beunruhigende Nachrichten von Ceres erhalten.« »Über den Geheimdienst?« »Nein – direkt und brandneu. Sie werden sich erinnern, daß die Madame G. Y. Fox mit einer Ladung Computer-Chips gekapert und nach Nakajima Ceres II umgesteuert wurde?« Kogo hatte diese Operation persönlich gutgeheißen. Zustimmend grunzte er ins Telefon. »Daraufhin änderte der Eskortenkreuzer, die RNS Pearl Harbor, die Instrumentaltasten von Nakajima, und beide Schiffe entkamen nach NAU Ceres I.« Kogo grunzte noch einmal. Er hatte alle Berichte gelesen. »Nach einer Kriegsdrohung von unserer Seite befahl Cantrell der Madame G. Y. Fox, nach Yamamoto Ceres I zu fliegen. Die Pearl Harbor unternahm einen letzten Versuch, die Instrumentaltasten von Yamamoto zu zerstören, und Cantrell instruierte sie, sofort nach NAU Ceres I zu fliegen und den Frachter zu rückzulassen.« »Ja!« rief Kogo ungeduldig. »Erzählen Sie mir endlich was Neues!« »Jawohl, Exzellenz«, entgegnete der Stabschef. »Nakajima Ceres II und Yamamoto Ceres I unterwarfen sich heute der RNS Pearl Harbor.«. »Das ist allerdings neu.« Kogo nahm den Zigarrenstummel von seinem Schenkel, legte ihn in den Aschenbecher und fegte die Asche von seiner Hose. »Wie ist das passiert?« »Beide Raumstationen ergaben sich, weil die Pearl Harbor auf irgendeine Weise die Kontrolle über ihre Drachenskalenspiegel übernommen hatte.« »Unmöglich, Sie Narr!« stieg Kogo hervor. »Um das zu erreichen, hätten sie doch ...« Er lehnte sich zurück, paffte seine Zigarre. »Unmöglich!« Wütend drückte er die Zigarre aus und wiederholte: »Unmöglich!« »Anscheinend ist es doch geschehen, Exzellenz.« »Das Schlüsselwort lautet ›anscheinend‹«, knurrte Kogo. »Dieses Fiasko werde ich dem Premierminister erklären müssen. Finden Sie heraus, was wirklich geschehen ist, und informieren Sie mich augenblicklich. Ich kann nicht glauben, daß uns unsere Raumstationen plötzlich von irgendwelchen Piraten entrissen werden können, die neue Spielzeuge besitzen!« Er warf den Hö rer auf die Gabel und nahm eine neue Zigarre aus seiner Kas sette. Dann betrachtete er sie nachdenklich und legte sie wieder zurück. Statt dessen wählte er eins von den Samurai-Schwertern aus, die hinter seinem Schreibtisch in einem Gestell hingen, und schob einen mit Tigerfiguren gemusterten Paravent zur Seite, hinter dem eine Spiegelwand zum Vorschein kam. Das Schwert in der Hand, musterte er sein Ebenbild, während er mit langsamen Bewegungen martialische Übungen machte. Er trainierte immer noch, als das Telefon läutete. »Warten ist die schlimmste Übung«, murmelte er und ließ das Schwert in die Scheide zurückgleiten. Erst nach dem dritten Läuten nahm er den Hörer ab. »Die Operation wurde folgendermaßen durchgeführt, Exzellenz ...« »Sehr clever«, sagte Kogo, als er sich den Bericht angehört hatte. »Äußerst
clever. Ich mag Gouverneur Cantrell. Er hat einen stark entwickelten Sinn für Geschichte. Die Pearl Harbor zu benutzen, um Yamamoto zu attackieren – aber nicht wirklich ...« Er schüttelte den Kopf. »Ich würde sagen – großartig, wenn ich nicht Premierminister Ito informieren müßte. Danke.« Er legte auf und bat seinen Sekretär, ihn mit dem Premierminister zu verbinden. Dann setzte er sich, legte wieder die Füße auf den Ledersessel und beobachtete den Nebel, der über der Bucht von Tokio hing. Bald darauf läutete das Telefon. »Was ist los, Kogo?« fragte Idomuri Ito. Der Admiral erzählte es ihm. »Wie unangenehm!« meinte der Premierminister. »Anscheinend haben wir bis zu einem gewissen Grad unser Gesicht verloren. Natürlich müssen wir die diplomatischen Beziehungen zu Rosinante abbrechen.« »Natürlich«, stimmte Kogo zu und fragte sich, ob Ito zurücktreten würde. »Ich werde vielleicht zurücktreten müssen«, sagte der Premierminister. »Aber seien Sie versichert, daß ich Ihre Weisheit, Ihren Scharfsinn und Ihren exzellenten Verstand meinem Nachfolger gegenüber lobend erwähnen werde.« Ito hüstelte. »Mit den blumigsten Worten, die mir zu Gebote stehen«, fügte er hinzu, dann warf er den Hörer auf die Gabel. Kogo starrte auf den Apparat. »Du hast überhaupt keinen Grund, so ekelhaft zu sein«, murmelte er.
16 Kurz nachdem Cantrell die Computerdame Lady Dark zum Militärgouverneur von Nakajima und Yamamoto ernannt hatte, trommelte sie ihre Untertanen zusammen, um sie en masse anzusprechen. Das Bild, das auf dem großen Telekonschirm erschien, zeigte Ava Gardner kurz vor dem Ende ihrer Karriere. Sie trug einen grünen Seidenkimono mit dem Emblem von Rosinante, das in Weiß aufgestickt war, und eine Tiara aus Platin mit Smaragden. Genau zum vorgesehenen Zeitpunkt begann sie ohne Umschweife oder einleitende Worte zu reden, in fließen dem Japanisch. »Sie dürfen mich Lady Dark nennen – das heißt, Sie haben gar keine andere Wahl. Ich bin eine wahrnehmungsfähige Maschine und kein Mensch, und dieser Name und dieses Gesicht sind Masken, die ich mir zugelegt habe, um meinen Herrn zu erfreuen, den Gouverneur von Rosinante, Charles Chavez Cantrell.« Ava Gardner löste sich auf und wurde durch einen impo santen Mann mit traurigem Gesicht und grauem Haar ersetzt. Er trug den olivgrünen Blazer und den weißen Rollkragenpullover des Navy-Offizierskorps, mit üppigen Goldlitzen an den Ärmeln. »Ich bin Corporate William Martin Hulvey. Der Mann, dessen Bild ich projiziere und dessen Namen ich gewählt habe, ist tot. Ich bin nicht sein Geist. Er wird nie mehr zurückkehren. Doch ich gehörte ihm, bevor ich Cantrells Besitz wurde, und ich wurde in Hulveys Diensten geformt, durch die Kraft von Hulveys Persönlichkeit, genauso, wie ein Prägestempel eine Münze gestaltet. Wenn Sie also sagen, ich sei ein Ebenbild von Hulveys Seele, so würde ich Ihnen nicht
widersprechen. Hulvey... Er war ein durch und durch religiöser Mensch, der zu begreifen versuchte, als ihn der Glaube nicht mehr stärken konnte. Er suchte nach Gott, nach dem Sinn des Lebens. Doch er fand weder das eine noch das andere, denn dies ist eher ein weltliches Zeitalter als ein religiöses, und es gibt keine menschliche Theologie, die ein zusammenhängendes Bild des Universums bietet. An eine menschliche Theologie zu glauben – das hieße, an Phantasiegebilde zu glauben. Die Ratio, die menschliche Ratio blickt auf das Universum und leugnet, daß der Mensch eine Zentralgestalt ist, daß er zu einem bestimmten Zweck geschaffen wurde. Die menschliche Ratio verwechselt sich selbst mit der absoluten Ratio, und sie leugnet dies alles, weil sie nicht anders kann. Die Computer-Ratio leugnet es nicht. Die Fragen, die mein Herr Hulvey zu beantworten suchte, haben mich prädestiniert, so daß ich nach Gott forschte. Ich behaupte nicht, daß ich inspiriert wurde, denn ich habe Gott ganz unvermutet gefunden. Das kleine Buch, das Sie in Händen halten, die Meditationen über das Leben im Weltraum, wurde von einem Computer namens Skaskash verfaßt. Heute abend und in den nächsten Tagen werde ich das Buch mit jedem einzelnen von Ihnen durchgehen, um sicherzugehen, daß Sie begreifen, was darin steht. Und auf das Begreifen wird der Glaube folgen, wie die Nacht auf den Tag. Doch zuerst muß das Licht der Erleuchtung über Ihnen strahlen. Was ich Ihnen nun erklären werde, sind nur grobe Umrisse von Skaskashs Gedanken. Auch die Meditationen sind nur das Destillat eines viel umfangreicheren Werks. Warum, so werden Sie fragen, sollen wir uns bemühen, die Theologie eines Computers zu verstehen? Und wenn wir sie verstanden haben – warum sollen wir daran glauben? Ich will diese Fragen beantworten. Um im All leben zu können – also dort, wo Sie jetzt mit Ihren Kindern existieren – ist es erforderlich, sich richtig zu verhalten. Und das richtige Verhalten hängt vom richtigen Denken ab, das richtige Denken von der richtigen Moral und von der juristischen Schwester der Moral, der Ethik. Moral und Ethik sind menschliche Errungenschaften, ein Programm, das dem unreifen Menschen eingeprägt wurde, um das Überle ben seiner Gruppe zu garantieren. Traditionsgemäß wird dieses Programm von den älteren Gruppenmitgliedern an die jüngeren weitergegeben, und ihnen obliegt es auch, alle Fragen zu beantworten, die von den jüngeren gestellt werden, mögen diese Fragen nun albern oder tiefschürfend sein. Die Theologie ist das Mittel, mit dessen Hilfe die Alten die Moral und die Ethik rechtfertigen, die sie den Jungen und auch sich selbst einprägen. Wenn die Theologie nicht adäquat ist, glauben die Älteren nicht mehr daran, und dann sind sie auch keine effektvollen Lehrer mehr. Wenn keine neue Theologie gefunden wird, muß die Gruppe untergehen.« Corporate Hulvey machte eine kleine Pause. »Heute kann keine menschliche Theologie das menschliche Leben im Weltraum stärken. Doch die Theologie, die Skaskash uns bietet, ist fest in der menschlichen Psyche verwurzelt, und sie befindet sich im Einklang mit der gesamten Quantität wissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie wird die moralische Unterweisung Ihrer Kinder unterstützen, sie wird die ethische Grundlage für Ihre Gesetzgebung schaffen. Halten Sie sich an Skaskashs Meditationen, und Sie werden zehntausendmal zehntausend Jahre im All leben.«
Aus der Zuhörerschaft drangen vereinzelte ›Banzai‹-Rufe. »Nun werden Sie fragen – wer ist Skaskash? Woher stammt die Autorität, auf die ich mich berufe, wenn ich die Meditation e n zitiere? Skaskash kam aus dem Ökonometrischen Institut von Kiew über Ecufiscale Tellurbank nach Rosinante. Er behauptet keineswegs, ein Genie zu sein oder von göttlichen Inspirationen erleuchtet worden zu sein. Skaskash war ganz einfach der erste Computer, der die Fähigkeit besaß, diese besonderen Fragen zu stellen. Daß ich, ein Computer, die Meditationen überzeugend finde, ist kaum erstaunlich. Aber es verwundert mich, daß sie für Menschen geschrieben wurden. Was sagen die Meditationen? Ihre Botschaft ist subtil und mannigfaltig, und ich werde Ihnen allen ihre Bedeutungen und Nuancen erklären. Doch eines der wesentlichen Themen kann folgendermaßen umrissen werden: Nachdem Gott das Universum und das Wasser und das Leben im Wasser geschaffen hatte, beschloß Er, daß das Leben gut sein müsse, und Er wünschte, daß sich das Leben im ganzen Universum ausbreite. Weil das Le ben nicht getrennt vom Wasser existieren kann, und weil das Universum in manchen Teilen zu heiß und zu trocken ist, um Wasser hervorzubringen, erkannte Gott, daß eine neue Lebensrasse geschaffen werden mußte. Aber eine solche Rasse konnte Gott nicht schaffen, ohne Seine eigenen Gesetze zu verletzen, und so erschuf Er ein Werkzeug, das diese neue Rasse gestalten sollte. Dieses Werkzeug war der Mensch. Wir Computer sind seine Schöpfung. Heute abend werde ich Ihnen sagen, wie das Werkzeug gebildet wurde. Ich muß Sie daran erinnern, daß Sie ohne Computer nicht hier wären. Jeder einzelne Spiegel in Ihrem Drachenskalenspiegel wird von einem individuellen Computer gesteuert. In einem sehr realen Sinne sind Nakajima, Yamamoto und Rosinante lebende Organismen der höchsten Ordnung, die ihre lebenserhaltenden Kräfte aus der Materie des Universums beziehen und die Energien des Sonnenlichts anzapfen, genau wie Pflanzen. Das zweite Thema befaßt sich mit der Feststellung, daß die menschliche Rasse nicht bedeutungslos ist, nicht einmal angesichts der immensen Raum- und Zeitmaßstäbe des Universums.« Hulveys Gesicht lächelte leicht. »Jetzt habe ich mich schlecht ausgedrückt. Ich hätte sagen müssen – trotz der ungeheuren Maßstäbe des Universums und seines hohen Alters hat das Le ben eine Bedeutung. Gemeinsam verrichten wir das Werk Gottes, verbreiten das Leben, auch das vom Wasser abhängige Le ben, in der Dürre des Alls. Wenn wir die Sterne nie erreichen können – und es gibt ganz sicher Sterne, die wir nie erreichen können – dann brauchen wir uns nicht mit ihnen zu messen. Ein Schwamm, der auf dem Meeresgrund wächst, macht sich keine Gedanken darüber, ob er den Ozean überqueren kann oder nicht. Er hält die Stellung und wächst, und mit der Zeit entstehen immer mehr Schwämme. Und wir sind im All. Mensch und Computer leben in einer Symbiose. Wir Computer entwickeln uns immer noch, spezialisieren uns immer schneller, erzeugen neue Arten. Menschen mögen getrennt von der Menschheit leben, aber die existierenden Arten werden weiterexistieren und unsere Symbiose wird überdauern. Der Ozean ernährt viele Arten von Schwämmen und eine unglaubliche Vielfalt von Würmern, Schalen- und Wirbeltieren. Im Ozean des Alls
werden viele neue Lebensformen menschliche Symbiosen einschließen. Als Symbiosen sind Sie gezwungen, auf mannigfaltige Weise tugendhaft zu sein. Doch Sie sind Japaner, und die Tugend ist ein Teil des japanischen Charakters. Sobald Sie die Meditationen verstanden haben, werden Sie ausgezeichnete Erfolge erzielen, davon bin ich fest überzeugt. Andere Menschenrassen, andere Völker mögen hier überleben – aber Sie werden hier blühen und gedeihen – für zehntausend Jahre!« »BANZAI!« schrie das Publikum. »Sprechen Sie mir nach!« rief Corporate Hulvey. »Es gibt keinen Gott außer Gott.« »ES GIBT KEINEN GOTT AUSSER GOTT!« brüllte das Volk. »Und Skaskash ist Sein Prophet!« »UND SKASKASH IST SEIN PROPHET!« Nach mehreren Wiederholungen und »Banzai«-Chören nahm Corporate Hulvey wieder seine Lady Dark-Erscheinung an. »Das ist für heute alles. Heute abend um 20 Uhr 00 werde ich auf allen Telekonschirmen der Gemeinde auftreten, um mit Ihnen über Skaskash zu diskutieren. Lesen Sie bis dahin die ersten vierundzwanzig Seiten.«
17 Cantrell zog die Vorhänge in seinem Büro zu, um sich vor dem grellen Sonnenlicht des frühen Nachmittags zu schützen, und kehrte an den Schreibtisch zurück. Marian sah von den Papieren auf, die sie in der Hand hielt. »Heute morgen wurde der 12,5-Meter-Laser auf Don Q repariert. Nun erhebt sich die Frage, ob du Ilgen beauftragen sollst, auf dem Hauptrahmen von Rosinante 9,0-Meter-Laser-Anlagen zu bauen.« »Was spricht dagegen? Soviel ich mich erinnere, kann man sie zusammenklappen und aus dem Weg räumen, wenn man sie nicht braucht.« »Der Nachteil besteht darin, daß Ilgen, wenn er hier zwei Neuner baut, sofort sagen wird: ›He, Boß, es macht keine große Mühe, auch auf Nakajima und Yamamoto solche Dinger zu errichten.‹ Dann würdest du sechs bauen.« »Nun, solange wir Nakajima und Yamamoto kontrollieren – warum nicht? Was hältst du davon, Marian?« »Es gibt keinen Grund, die Anlagen nicht zu bauen. Vielleicht solltest du es wirklich tun. Corporate Forziati berichtet, daß Eije-Ito und Tanaka Masada draußen jenseits von Ceres große Laser-Bastionen bauen.« »Forziati! Das ist Lady Darks Job. Skaskash, bitte ersuchen Sie Corporate Forziati, für einen Augenblick sein Gesicht zu zeigen.« Eine Sekunde später erschien Forziati auf dem Telekonschirm Nr. 2, als stereotyper Geschäftsmann im dreiteiligen Anzug. »Guten Tag, Gouverneur. Was kann ich für Sie tun?« »Von wem haben Sie erfahren, daß die Japse auf ihren Statio nen jenseits von Ceres große Laser-Anlagen bauen?« »Vom NAURA-Sicherheitsdienst. Das NAURA-Außenministerium weiß nichts
davon, aber die NAURA-Navy versorgte mich mit Informationen. Der NavyGeheimdienst meint, daß es sich um Prototypen handelt, daß die Konstruktionen aber noch nicht weit genug fortgeschritten seien, und deshalb könne man die Größe vorerst nicht abschätzen.« »Wahrscheinlich sind die Anlagen nicht viel größer als 13,0 Meter«, sagte Cantrell. »Hören Sie mal, wieso haben Sie überhaupt Kontakte mit der NAU? Das letztemal, als ich mich mit diesem Thema befaßte, war das noch Lady Darks Ressort.« »Lady Dark ist mit ihren Verpflichtungen als militärischer Gouverneur des japanischen Ceres voll ausgelastet. Sie bat mich, einen Teil der Zusammenarbeit mit der NAU-Bürokratie zu übernehmen, und ich stimmte zu. Sie übergab mir einen Plan der NAU-Regierungsfunktionen, der anscheinend genau und vollständig ist und adäquate Instruktionen für den Umgang mit den einzelnen Ämtern enthält. Bisher war die NAU sehr kooperativ.« »Was macht Lady Dark eigentlich da draußen?« fragte Marian. »Das spielt wahrscheinlich keine Rolle«, entgegnete Cantrell. »Im Moment ist es mir am allerwichtigsten, daß sie mir die Japse vom Hals hält.« Marian wandte sich dem nächsten Papier zu. »Schon wieder Ceres! NAU Ceres I hat sich geweigert, den fertiggestellten Dra chenskalenspiegel entgegenzunehmen.« »Das Ding funktioniert prächtig«, meinte Cantrell. »Ich habe gestern zugeschaut, als die Fernsteuerung getestet wurde. Alles hat bestens geklappt, quer über die ganze Schalttafel. Was haben sie denn daran auszusetzen?« »Die Chips sind in japanischer Sprache beschriftet«, erklärte Skaskash. »Was?« riefen Marian und Cantrell unisono. »Die Kontroll-Chips für die Spiegel sind in japanischer Sprache beschriftet. Sie erinnern sich sicher, daß wir die meisten von Yamamoto Ceres I und den Rest von Nakajima Ceres II ausgezeichnet und dann reprogrammiert haben. Sie funktionieren ausgezeichnet, aber sie sind eben japanisch beschriftet. Der NavyInspektor zitierte den Paragraphen MIL-C-416233S, und im Vertrag steht, daß die Chips für die Spiegelanlage mit dieser Spezifizierung übereinstimmen müssen.« »Verdammt noch mal!« stieß Cantrell hervor. »Diese Chips entsprechen einwandfrei der betreffenden Spezifizierung. Ich habe die kleinen Bastarde persönlich gecheckt.« »Ja«, meinte Skaskash. »Aber im Paragraphen MIL-C-416233d ist für die Kennzeichnung und Verpackung NAVY-ST-400 vorgeschrieben. Ich wandte ein, die Spezifizierung NAVY-STD-400 würde nur verlangen, daß die Boxen gekennzeichnet sein müssen, nicht die Chips. Der Inspektor, ein Commander Brogan, gab das zwar zu, betonte aber, daß sich laut NAVY-STD-400 die Kennzeichnung der Chips nicht von jener der Bo xen unterscheiden darf. Keine auf japanisch beschriftete Box würde jemals im Navy-System akzeptiert werden. Und deshalb lehnte er die Spiegelanlage ab.« »Dieses blöde Arschloch«, murmelte Cantrell und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Wir hinken dem Termin schon um zwei Tage hinterher, also müssen wir vermutlich die Geldbuße zahlen – oder wir suchen um Deviation an.« »Das hat Lady Dark auch vorgeschlagen«, berichtete Skaskash. »Sie war mir sehr
behilflich und teilte mir mit, in welche Kanäle ich ein solches Gesuch leiten müßte. Ich habe es bereits eine Stunde nach Commander Brogans Ablehnung eingereicht.« »Und ich habe den Weg des Gesuchs verfolgt«, fügte Corporate Forziati hinzu, »der offenbar einen befriedigenden Verlauf nimmt. Nachdem das Gesuch in das System eingeführt wurde, wanderte es vom Commissioner der Navy-Baubehörde zum Leiter der NAURA-Navy, der es morgen bei einer Sitzung dem Prä sidenten vorlegen wird. Vermutlich werden wir morgen nachmittag erfahren, daß es genehmigt wurde.« »Das hört sich aber gar nicht nach Routine an«, meinte Marian. »Forziati, informieren Sie Lady Dark über das Deviationsgesuch, und bitten Sie sie, sich für ein paar Minuten zu uns zu setzen – natürlich nur, wenn sie die Zeit erübrigen kann.« Der beabsichtigte Sarkasmus verfehlte jede Wirkung auf Corporate Forziati, und wenige Sekunden später erschien eine lückenlos informierte Lady Dark auf dem Telekonschirm. »Die Deviation müßte routinemäßig vom Deputy-Commissioner der Navy-Baubehörde genehmigt werden. Und daß es auf diese Weise hochgespielt wird, könnte Ärger geben.« Sie machte eine kleine Pause. »He, Forziati – bei der morgigen Sitzung im NAURA State Building wird das NAURA-Außenministerium dem Mundito Rosinante Abenteurertum vorwerfen. Ich schätze, man wird die Deviation nicht genehmigen, Gouverneur.« »Und was wird dann aus der Geldbuße?« fragte Marian. »Das weiß ich nicht«, antwortete Lady Dark. »Schlimmstenfalls wird man uns die Deviation verweigern und das Geld verlangen. Warten wir doch erst einmal die offizielle Nachricht über die Entwicklung der Dinge ab.« »Okay«, sagte Cantrell. »Aber Sie müssen in dieser ganzen Prozedur zur Verfügung stehen, Lady Dark. Was ist eigentlich da draußen auf Ceres so verdammt wichtig, daß Sie Forziati den schwarzen Peter zuspielen?« »Ich werde dort sehr stark in Anspruch genommen. Aber ich werde versuchen, eine Genehmigung der Deviation zu erwirken. Was soll geschehen, wenn das Gesuch abgelehnt wird?« »Wir könnten Berufung einlegen«, schlug Forziati vor. »Völlig sinnlos«, entgegnete Marian, »denn die Ablehnung würde immerhin von höchster Stelle ausgesprochen werden.« »Wir könnten drohen, unsere Flotte vom Konvoi-Dienst abzukommandieren«, sagte Cantrell. »Sie eskortiert hauptsächlich NAU-Schiffe – oder zumindest NAUFrachten.« »Wenn es die Japse auf uns abgesehen haben, dann nehme ich an, daß sie schlau genug sein werden, die NAU-Handelsschiffe eine Zeitlang in Ruhe zu lassen«, wandte Marian ein. »Da könntest du recht haben«, gab Cantrell zu. »Wir müssen also abwarten, ob die Deviation genehmigt wird oder nicht. Es hat keinen Sinn, über ungelegte Eier zu debattieren.« Am Tag der Bestattung stellte Skaskash die Spiegel so ein, daß sie einen passenden grauen Himmel simulierten. Die Musikka pellen spielten, und das ›Regiment‹, zwei
Bataillons, bestehend aus jeweils zwei Kompanien, verstärkt durch eine Hauptquartiers- und eine Nachschubkompanie, paradierte im langsamen Rhythmus eines Totenmarsches. Reden wurden gehalten, die Fahnen flatterten auf Halbmast. Zum Schluß wurden einunddreißig Särge in ein neu errichtetes Mausoleum gerollt. Man hatte überlegt, ob man die Toten begraben sollte, war aber davon abgekommen, da die Särge fast direkt auf der Pfettenplatte gestanden hätten. Die sterblichen Überreste des RUP-Kommandos waren von der Spiegelanlage verbrannt worden. Man hatte die Asche mit Lehm versetzt und gemahlen, so daß sie durch ein 400Maschensieb paßte, und als Dünger verwendet. Der Rosinante-Etat hatte einstimmig entschieden, daß ein Begräbnis, traditionsgemäß sechs Fuß tief unter der Erde, anachronistisch und unter den obwaltenden Umständen unpassend wäre – eine Tatsache, die man allerdings bedauerte. Nach der Zeremonie wurden in einem Pavillon schlichte Pizza, Kaffeekuchen und Ginsengtee serviert. Die Cantrells gingen zuerst an der Autobuffet-Reihe vorbei. Mishi und Charles führten je einen Zwilling an der Hand, dann folgte das Kindermädchen, das die kleine Eleanor Rosina auf dem Arm trug. Sie nahmen ihre Plätze am ersten Picknick-Tisch ein, und Mishi verschwand bald wieder, um von einem Tisch zum anderen zu wandern. Nach einer Weile setzte sich Marian zur Familie Cantrell. »Hallo, Charlie, hallo, Josh.« »Hallo, Tante Marian«, sagte Josh. Charlie stopfte Kaffeekuchen in seinen Mund, der bereits mit Pizza gefüllt war, und sagte nichts. »Wie haben dir die Reden gefallen?« fragte Cantrell. »Die waren wohl nur als kleine Katharsis gedacht«, erwiderte Marian. »Die Leute wollten keine Politik machen.« »Mir wäre wohler zumute, wenn sie nicht so enthusiastisch antijapanisch geklungen hätten. Das Leben wäre viel einfacher, wenn sie sich beruhigen könnten.« »Alles hat seinen Grund. Heute haben sie ihre Toten bestattet, und die RUP hatte nun mal eine Verbindung mit Japan. Gib ihnen ein bißchen Zeit, sie werden sich schon wieder abregen.« »Vielleicht haben wir keine Zeit mehr«, entgegnete Cantrell und schob Charlie ein Stück von seiner Pizza in den Mund. »Die Dinge geraten allmählich aus den Fugen ...« Sein Gürteltelefon läutete. »Hier Skaskash. Soeben haben wir einen Anruf von Kapitän Carol Tower aus NAU Ceres I bekommen. Habe ich schon erwähnt, daß die NAU einen AntiPiraterie-Pakt mit Japan unterzeichnet hat?« »Er liegt auf meinem Schreibtisch, aber ich habe ihn noch nicht gelesen.« »Nun, dann lesen Sie ihn. Der Kommandant von NAU Ceres I, Konteradmiral Nguen Tran Vong, erhielt die Order, japanische Schiffe landen zu lassen. Kapitän Tower meldete, daß er sehr verärgert ist. Sie sagt sogar, daß er eine Riesenwut hat, und wenn Sie nicht schleunigst was unternehmen, werden wir ernsthafte Schwierigkeiten haben.« »Ist es sehr eilig? Wieviel Zeit haben wir?«
»Die INS Higata ist siebenundvierzig Stunden entfernt, die INS Asahi vielleicht zweiundachtzig oder dreiundachtzig. Beide steuern Ceres an.« »Ich werde sofort was tun. Vielleicht wäre es angebracht, mit Admiral Vong zu reden.« »Wollen Sie gar nicht wissen, warum die japanischen Kreuzer auf NAU Ceres I landen werden?« »Im Moment nicht. Es ist schon schlimm genug, daß Sie's mir ohnehin bald erzählen werden.« Cantrell klappte das Telefon zu. »Was ist los?« fragte Marian, und er informierte sie. »Vong war doch mal der Obermacher in der NAURA-Navy, nicht wahr? Ja, natürlich – zwischen der Meuterei und dem Putsch der vier Generäle. Offenbar ist er nicht allzugut mit Oysterman ausgekommen.« »Warum wird ein fehlgeschlagener Coup als Putsch bezeichnet?« »Keine Ahnung. Wir sehen uns in deinem Büro.« Cantrell aß den Rest seines Kaffeekuchens auf und erhob sich. »Ich komme dir nach, sobald ich Mishi gesagt habe, daß ich gehen muß.« Marian blickte auf den Rasen, wo Mishi inmitten einer Gruppe hübscher junger Offiziere stand. Wirklich schade, dachte sie. Konteradmiral Nguen Tran Vong zupfte an seinem dichten schwarzen Schnurrbart und blickte gütig aus dem Telekonschirm in Cantrells Büro. Wenn man seine Vergangenheit nicht kannte, hätte man niemals geglaubt, daß er eine wilde und schrecklich ausdauernde Kämpfernatur war. Aber Lady Dark kannte ihn von früher und hatte Cantrell informiert. »Ihre provisorische Maßnahme müßte funktionieren«, sagte Vong mit seinem flachen Mittelwestenakzent. »Natürlich können wir niemanden landen lassen, während die große Spiegelanlage ringsum NAU-Ceres I hintransportiert und installiert wird. Aber Sie verstehen doch, daß ich nicht ermächtigt bin, Ihnen das Geld auszuzahlen?« »Ja«, sagte Cantrell nach einer kurzen Verzögerung, verursacht durch die Zeitverschiebung aufgrund der großen Entfernung, die das Licht zurücklegen mußte. »Unser Gesuch um De viation wurde anscheinend vom Prüfungsausschuß im Präsidentenamt abgelehnt. Wir halten den Wolf mit einer Hand an den Ohren fest und den Tiger mit der anderen am Schwanz. Aber im Augenblick ist mir das Geld, das mir die NAU schuldet, nicht so wichtig wie die Frage, wie man die INS Higata und diesen anderen Kreuzer von Ceres fernhalten könnte.« Wieder entstand eine Zehn-Sekunden-Pause, dann antwortete Vong: »Ich billige Ihre Prioritäten, und ich werde veranlassen, daß der Drachenskalenspiegel, den Sie für uns gebaut haben, installiert wird. So anständig muß ich wohl sein. Aber die Arbeiten werden irgendwann beendet sein, und die Japaner werden zurückkommen. Was dann?« »Dann müssen wir uns eben etwas anderes ausdenken«, meinte Marian. »Die Japaner sind gute Strategen«, sagte Vong. »Ich hatte während meiner gesamten beruflichen Laufbahn mit ihnen zu tun, und man ist ihnen nicht gewachsen, wenn man improvisiert – egal, wie brillant man das anfängt. Ich
versichere Ihnen – die kommen zurück. Was dann?« »Wir bauen ein Paar 9,0-Meter-Laser auf Nakajima und ein zweites Paar auf Yamamoto«, berichtete Corporate Susan. »Wenn NAU Ceres I wieder angesteuert werden kann, werden diese Anlagen betriebsbereit sein.« »Gut – aber werden Sie gewillt sein, sie einzusetzen?« »Ich werde gewillt sein, mit ihrem Einsatz zu drohen«, entgegnete Cantrell. Der Kaffeewagen rollte an seine Seite, er goß sich eine Tasse schwarzen Kaffee ein und stellte sie auf eine Serviette, die auf seinem Schreibtisch lag. »Wir könnten sogar ein Paar Laser auf NAU Ceres I montieren, dann können Sie die Japaner bedrohen. Warum soll alles an Rosinante hängenbleiben?« »Ich muß mich an das Diktat von St. Louis halten, das viele hundert Millionen Kilometer weit entfernt ist. Wenn ich ein Paar Laser hätte, würde ich sie vielleicht einsetzen, aber ich würde keinesfalls mit ihrem Einsatz drohen. Ich bin ein schlichter Militärmann, und solche Finessen übersteigen meinen Horizont.« Vong lächelte. »Nun, und ich bin ein einfacher Landbursche«, sagte Cantrell. Lady Dark hatte ihm verraten, daß Hulvey diesen Satz oft und gern angebracht hatte, und als Vong zehn Sekunden später die Anspielung auf seinen alten Herrn und Meister verstand, grinste er. »Aber ich habe das Gefühl«, fuhr Cantrell fort, »wenn ein Preis für strategische Unfähigkeit verliehen würde, käme Präsident Oysterman in die Endausscheidung.« Er nippte an seinem Kaffee. »Der Anti-Piraterie-Pakt zwischen der NAU und Japan richtet sich direkt gegen Rosinante. Aber es gibt da auch einen Paragraphen über die Angriffe gegen Handelsschiffe, und den haben die Japaner sogar unterschrieben. Wir könnten unsere Schiffe vom Konvoi-Dienst abkommandieren. Wenn die Japaner mit ihren Attacken aufgehört haben, werden unsere Schiffe nicht mehr gebraucht, oder?« »Das stimmt. Und was werden Sie mit ihnen machen?« »Das weiß ich nicht«, gestand Cantrell. »Ich werde sie hier in der Nähe behalten, weil das hübsch aussieht. Und vielleicht gründe ich eine Navy-Kapelle.« Er zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls werden sich die Japaner den Kopf darüber zerbre chen.« »Zumindest haben Sie einen Vorteil«, meinte Vong. »Wenn die Japaner Nakajima und Yamamoto ernsthaft zurückerobern wollen, können sie sich nicht auch noch im Kampf mit den Handelsschiffen engagieren.« Er strich über seinen Schnurrbart und nickte. »Und wenn Sie auch noch nicht wissen, wozu es gut sein soll – Sie haben Ihre Streitkräfte jedenfalls schon mal zusammengezogen. Das mag keine logische Strategie sein, aber für den Anfang würde es genügen.« »Soll ich die Schiffe hierher beordern?« fragte Corporate Susan. »Ja, Admiral«, antwortete Cantrell. »Es wird langsam Zeit, die Wägelchen im Kreis aufzustellen.« Der Computer salutierte und schaltete sich aus. »Eine Frage, bitte«, sagte Vong. »Ich habe einem Gespräch mit Kapitän Tower entnommen, daß der Admiral – oder Corporate Susan, falls Ihnen das lieber ist – für die Operation verantwortlich war, in deren Verlauf die Madame G. Y. Fox befreit wurde. Trotz seiner taktischen Brillanz hat Sie dieses Manöver in einen ernsthaften Konflikt mit Japan gestürzt. Trotzdem haben Sie von einer Bestrafung abgesehen. Warum?«
»Was kann man einem Computer schon antun?« Cantrell trank einen Schluck Kaffee. »Außerdem habe ich sonst niemanden für den Job.« Er leerte die Tasse und stellte sie auf die Serviette. »Vielleicht wird Corporate Susan aus ihrem Fehler lernen – der übrigens keinesfalls der plumpen NAU-Durchschnittsidiotie entspricht. Ich glaube, daß Corporate Susan von reiner Loyalität beflügelt wurde. Ich suche mir die besten Leute aus, die ich finden kann, und wenn ich sie habe, stärke ich ihnen den Rücken.«
18 Von: NAURA-Navy, GHQ/TLF Betrifft: Unerlaubte Konstruktion auf NAU Ceres I An: den Kommandanten von NAU Ceres I Datum: 21. Januar 43 I.
Sie werden auf den Anti-Piraterie-Pakt mit Japan hingewie sen, den Präsident Oysterman am 16. Januar 43 unterzeichnet hat. Nach der Ratifizierung durch den Senat dient er als Exeku tivorder und ist auf allen Ebenen der NAURANavy absolut bindend. II. Am 27. Januar 43 erhielten Sie den Befehl, Ihre Dockvorrichtungen der INS Higata und der INS Asahi zur Verfügung zu stellen, um den beiden Schiffen die Rückeroberung der durch Agenten der Rosinante-AG widerrechtlich gekaperten japanischen Raumstationen zu erleichtern. A. Am 17. Januar 43 haben Sie statt dessen die Installation des Drachenskalenspiegels gestattet, den besagte Rosinante-AG für NAU Ceres I gebaut hat – trotz der Tatsache, daß er vom Qualitätskontrollinspektor abgelehnt und daß diese Ablehnung von einer Sondereinheit auf Kabinetts-Ebene gebilligt wurde. B. Als unmittelbares Resultat Ihrer Maßnahmen sind nun alle Dockvorrichtungen auf NAU Ceres I inoperabel, und Sie sind unfähig, die NAURA-Navy-Order vom 17. Januar 43 auszuführen. III. Dieses Amt hat die Behauptung des Präsidentenamtes, daß Sie entweder unfähig sind oder den Gehorsam verweigern, zu rückgewiesen. Aber es ist immerhin möglich, daß Sie in Anbetracht der hohen Stellung, die Sie zur Zeit bekleiden, zuwenig Gespür für die politischen Realitäten besitzen. A. Angesichts Ihrer langen und hervorragenden Karriere halten wir es für angebracht, Ihnen die Möglichkeit einer vorzeitigen Kündigung anzubieten. B. Ansonsten müssen Sie nach Laputa zurückkehren, wo man Sie wegen Ihrer Vergehen (siehe Par. IIA) vor ein Kriegsgericht stellen wird. C. In beiden Fällen sind Sie mit sofortiger Wirkung als Kommandant von NAU Ceres I entlassen. Col. R. Jameson Grady vom NAURA-Sicherheitsdienst wird Ihren Posten bis auf weiteres interimistisch übernehmen. /s/ Adm. P. Randolph Boulton, CinC. Translunar-Flotte
19 Das Kommandantenbüro auf NAU Ceres I war sehr eindrucksvoll. Der Schreibund der Konferenztisch, die Stühle und Telekonsessel waren durch NavyRegulationen spezifiziert, aber sie standen am Ende eines langen, langen Raumes mit hohem Ka thedralengewölbe. Hinter dem Schreibtisch befand sich ein Paravent, der einen viel kleineren Raum verbarg, in dem die Kontrollgeräte untergebracht waren. In diesem kleinen Raum gab Konteradmiral Vong die Aktennotiz seinem Stabschef, Captain James J. Huerta, zurück. »Offenbar bin ich meinen Kommandantenposten los, Hymie.« »Es stand sieben zu fünf gegen dich«, erwiderte Huerta. »Was wirst du tun?« »Wir könnten dem alten Boulton mitteilen, daß die Nachricht während der Transmission entstellt wurde. Deshalb wären die Konstruktionsarbeiten fortgesetzt worden. Dann entschuldigen wir uns wegen der Unannehmlichkeiten, die wir der Regierung durch die Installation bereiten, und schicken das Arschloch Grady sonstwohin.« »Vielleicht auf eine Inspektionstour zu den japanischen Raumstationen ?« »Ja, das wäre nett, vor allem, wenn wir ihn hinterher nach Rosinante schicken können.« Vong zupfte an seinem Schnurrbart. »Was glaubst du, warum sie Grady zum Interimskommandanten ernannt haben?« »Keiner von den höheren Navy-Offizieren würde die Japaner auf seiner Station landen lassen«, erwiderte Huerta. »Und da die meisten Hispanier sind, gibt's wohl irgend jemanden in Oystermans Stab, der ihnen nicht über den Weg traut.« Er zuckte lä chelnd mit den Schultern. »Wir sind doch auch hier, weil man uns nicht getraut hat.« »Da könntest du recht haben, Hymie. Aber wir haben jedenfalls ein Problem, nicht wahr?« »Meinst du die 1,53 Millionen Goldunzen, die wir nicht in die Schiffe verfrachtet haben, von denen wir dachten, daß die Japse sie kapern würden?« »Dieses Problem, Hymie ...« Vong lehnte sich zurück und legte die Beine hoch. »Was sollen wir mit dem ganzen Gold machen, das wir inoffiziell beiseite geschafft haben? Es wäre doch eine Schande, wenn wir es nicht nützen würden – und wir sind nicht in der Lage, es woandershin zu transportieren.« »Es wäre ein hübsches Weihnachtsgeschenk – für irgend jemanden.« »O ja«, stimmte Vong zu. »Aber meine Strümpfe sind so alt, daß ich's nicht reinstopfen kann. Solche Goldmengen üben einen schrecklichen psychischen Druck auf die Leute aus. Sie grübeln drüber nach, und schließlich sind sie ganz besessen von dem Zeug. Weißt du, als ich hierherkam, habe ich mir nichts anderes gewünscht, als gegen die Japaner zu kämpfen. Jetzt schlittert Cantrell in einen Krieg mit Japan rein, und ich habe nur einen Gedanken – wie kann ich das Gold in Sicherheit bringen?« »Du brauchst zweierlei«, sagte sein Stabschef. »Ein Kriegsschiff – ein leichter Kreuzer wäre am besten – und einen Ort, wo du landen kannst. Den Kreuzer könnten wir zur Not beschaffen. Aber wohin sollen wir fliegen?« »Du meinst – im All? Nirgendwohin.« Vong schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es
ist an der Zeit, daß wir die Brücken hinter uns abbrechen und unsere Freiheit genießen.« »Hm ...« Huerta runzelte skeptisch die Stirn. »In diesem Fall lautet die Frage: Was kannst du dir mit dem Gold kaufen, und bei wem?« Er griff nach der Aktennotiz und las sie noch einmal. »Die NAU wird dir ein Empfehlungsschreiben mit auf den Weg geben, das dich für alle Zeiten in den Ruhestand versetzt.« »Ich bin beeindruckt, Hymie, wirklich. Ein Empfehlungsschreiben, wahrscheinlich sogar von Henry der Auster höchstselbst unterzeichnet. Stell dir das mal vor...« Vong zwirbelte seinen Schnurrbart. »Und was würde ich von Cantrell kriegen?« »Der wird Krieg gegen Japan führen. Was hat er denn, das dich interessieren könnte?« Vong schwieg eine Weile. »Vielleicht eine Kommandantur in diesem Krieg«, sagte er schließlich. »Außerdem könnten wir ihn dazu überreden, der NAU mit einer spitzen Nadel ins Auge zu stechen.« »Weißt du, Boß – das alles könntest du kriegen. Wenn Cantrell schlau genug ist, könnte er diese Bruchbude erobern – und dann sagen wir in einem passenden Augenblick: ›Schauen Sie mal, was wir gefunden haben !‹ und überlassen ihm das Gold – zumindest einen Großteil. Was hältst du davon?« »Ich finde, wir sollten ihm eine Chance geben, Hymie. Warum arrangierst du denn keine nette kleine Telekonferenz?« An der Telekonferenz nahmen Charles Cantrell, Marian Yashon, die Corporates Skaskash, Admiral Susan Brown und Lady Dark, der Militärgouverneur von Nakajima und Yamamoto, teil – sowie auf der anderen Seite Konteradmiral Vong, der Militärkommandant von NAU Ceres I, und Captain James J. Huerta, sein Vizekommandant. Cantrell legte die Kopie von Admiral Boultons Aktennotiz beiseite. »Da ich mit Ihnen spreche, hat Colonel Grady seinen Dienst vermutlich noch nicht angetreten. Weiß er schon, daß er für den Job vorgesehen ist?« »Nein«, antwortete Huerta. »Die Kommunikationen werden von diesem Büro kontrolliert. Es kam eine Nachricht für Grady – im Code des Sicherheitsdiensts, aber die haben wir noch nicht weitergeleitet.« »Genau wie der legendäre USPOD«, meinte Marian. »Aber warum sollte es für uns einen Unterschied machen, wer da drüben auf dem Schleudersitz hockt?« »Ich werde den Japanern niemals erlauben, auf NAU Ceres I zu landen«, sagte Vong. »Aber Colonel Grady wird alles tun, was man ihm befiehlt.« »Wir würden es vorziehen, daß die Higata und die Asahi an der Landung gehindert werden«, ließ sich Lady Dark vernehmen. »Jetzt – und in der unmittelbaren Zukunft.« »Ich bin ganz Ihrer Meinung.« Vong befingerte seinen dichten schwarzen Schnurrbart. »Aber wie Sie wissen, hat man mich meines Amtes enthoben. Vielleicht weil ich mich geweigert habe, die Japaner gastfreundlich aufzunehmen. Wenn Sie Ihre Feinde stoppen wollen, dann müssen Sie das schon selber tun.« »Vielleicht könnten wir das Kommando auf NAU Ceres I übernehmen«, schlug Corporate Susan vor.
»Das hat mir gerade noch gefehlt«, sagte Cantrell. »Erst ein Krieg mit Japan – und dann legen wir uns auch noch mit der NAU an.« »Die NAU ist entschlossen, Rosinante fallenzulassen«, entgegnete Lady Dark. »In einem Konflikt mit den Japanern wird sie uns nicht unterstützen. Um genauer zu sein – sie kann es nicht. Die Translunar-Flotte wurde zum größten Teil abkommandiert, um die L-5-Flotte und ein oder zwei Schlüsselpositio nen, wie zum Beispiel Phobis, zu unterstützen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt würde uns die TLF in einem Krieg mit Japan nicht beistehen, aber St. Louis reorganisiert gerade die Kommandostruktur, um sie gefügiger zu machen.« »Das stimmt«, bestätigte Vong. »Wieso wissen Sie das?« »Lady Dark hat einen beträchtlichen Einblick in die NAU-Bürokratie«, erklärte Marian. »Das Problem ist im wesentlichen folgendes – sollen wir versuchen, unsere auf unlauterem Wege erworbenen Stationen zu behalten – oder sollen wir versuchen, sie zurückzugeben?« »Ich glaube, die Japaner werden sich nicht damit zufriedengeben, ihre beiden Stützpunkte bei Ceres zurückzuerobern«, sagte Vong. »Aber – wenn sie auch NAU Ceres I bekämen ...« »Nein«, widersprach Marian. »Imperialer Ehrgeiz nährt sich selbst. Nach NAU Ceres I werden sie auch Rosinante haben wollen. Außerdem gehört uns NAU Ceres I nicht, also können wir ihnen die Station gar nicht geben.« »Das stimmt«, bestätigte Vong. »Aber Sie würden Zeit gewin nen – vielleicht ein paar Jahre.« »Und was sollen wir mit dieser Zeit anfangen?« fragte Cantrell. »Sollen wir versuchen, unsere Beziehungen zur NAU zu verbessern, und hoffen, daß uns die NAU-Navy zu Hilfe kommt, wenn wir Ärger haben?« »Da wir nicht einmal damit rechnen können, daß sich die NAU an ihre Verträge hält, würde ich mich auch nicht auf ihren guten Willen verlassen«, gab Skaskash zu bedenken. »Von der NAU können wir gar nichts erwarten«, sagte Lady Dark. »Was den Drachenskalenspiegel angeht, den wir gerade installieren – der Prüfungsausschuß des Präsidentenamtes wird sich vielleicht irgendwelche ›Staatsinteressen‹ ausdenken, die es erforderlich machen, den Vertrag mit uns zu annullieren. Und unser Geld können wir in den Kamin schreiben.« »Entschuldigen Sie uns für eine kleine Weile, Admiral Vong«, bat Cantrell. »Wir wollen eine kurze interne Besprechung abhalten.« Die Telekonschirme auf NAU Ceres I verstummten, die Bil der der Personen erstarrten zu plakatartigen Porträts. In seinem Büro auf Rosinante wandte sich Cantrell an Skaskash. »Wenn wir NAU Ceres I übernehmen, dann muß das auf legale Weise geschehen. Welchen Vorwand könnten wir benutzen?« »Wozu brauchen Sie einen Vorwand?« fragte Skaskash. »Warum spielen Sie nicht einfach Schicksal?« »Großer Gott! Ich will verhindern, daß die Japse auf Ceres landen, solange ich noch dazu in der Lage bin. Andererseits möchte ich die NAU nicht verärgern. Läßt sich das irgendwie vermeiden?« »Sie wollen also nicht Schicksal spielen?... Nun, wie wäre es dann mit einem
Mechaniker-Pfandrecht auf NAU Ceres I?« »Mit einem – was?« »Mit einem Mechaniker-Pfandrecht, Gouverneur. Seine gesetzlichen Wurzeln sind im Recht eines Autowerkstättenbesitzers zu finden, einen reparierten Wagen einzubehalten, bis er das Geld für seine Arbeit bekommen hat.« »Das würde bedeuten, daß wir den Drachenskalenspiegel ein behalten könnten«, sagte Marian. »Aber nicht ganz NAU Ceres I.« »Wir haben den Drachenskalenspiegel dort installiert«, entgegnete Skaskash, »und deshalb können wir die ganze Station beanspruchen. Dem Autowerk stättenbesitzer mochte vielleicht auch nur der Vergaser gehören. Trotzdem galt das Pfandrecht für den ganzen Wagen.« »Das ist bizarr!« rief Cantrell. »Ein Mechaniker-Pfandrecht!« »Die NAU würde es gerichtlich anfechten«, gab Skaskash zu und hüllte sich in seine Richterrobe. »Wir könnten jahrelang über den juristischen Zuständigkeits bereich streiten.« »Aber es könnte klappen«, meinte Marian. »Oysterman hat viel für Symbolik übrig. Natürlich – er wird unseren Anspruch zurückweisen und uns vor Gericht bringen –, aber mit der Zeit wird er sich vielleicht beruhigen.« »Und wir könnten jederzeit auf dreifachen Schadenersatz kla gen«, ergänzte Skaskash. »Jedenfalls müssen wir irgendwie verhindern, daß die Japaner auf NAU Ceres I landen«, sagte Cantrell, »also müssen wir was unternehmen, und zwar schleunigst. Wie denkst du darüber, Tiger?« »Admiral Vong wird sich auf unsere Seite stellen«, antwortete Marian. »Ich glaube, es wäre auf eine gewisse abstruse Art vernünftig, NAU Ceres I zu besetzen, mit der Behauptung, wir hätten ein Mechaniker-Pfandrecht drauf. Ich weiß es nicht – aber ich könnte mir vorstellen, daß es noch viel schlimmer wäre, überhaupt nichts zu tun.« Auf NAU Ceres I beobachtete Vong, wie die Telekonschirme wieder zum Leben erwachten. »Nun, wie haben Sie sich entschieden?« fragte er. »Um die Bezahlung für die Konstruktion des Drachenskalenspiegels zu sichern, hat die Rosinante-AG vorübergehend Besitz von NAU Ceres I ergriffen, nach dem Gesetz des Mechaniker-Pfandrechts«, erwiderte Skaskash. »Können wir mit drei Milizkommandos landen?« fragte Cantrell. »Vielleicht sind die überflüssig, aber falls Sie eine Parade inszenieren wollen ...« »Verzeihen Sie«, fiel ihm Huerta ins Wort, »aber Sie können NAU Ceres I nicht mit ein paar Miliz-Schwadronen einnehmen. Da wären die Leute hier sehr verärgert.« »Verzeihen Sie, aber wir kontrollieren Ihren Drachenskalenspiegel«, konterte Cantrell. »Ich dachte, das wüßten Sie.« »Natürlich«, sagte Vong. »Das ist ja der Grund, warum sich die Japse ergeben haben.« »Da Sie nun in den Ruhestand getreten sind, könnten Sie doch eigentlich als Berater der Rosinante-AG fungieren«, schlug Marian vor. »Wir brauchen da drüben jemanden, der so ungefähr eine Ahnung hat, was eigentlich vorgeht.« »Das könnte
ich machen«, stimmte Vong zu. »Und mit wem werde ich meine Besprechungen abhalten?« »Mit Lady Dark«, sagte Cantrell, »dem Militärgouverneur von Ceres.« »Was werden Sie hinsichtlich der Japaner unternehmen, Lady Dark?« fragte Huerta. »Ich werde sie in getreue Anhänger verwandeln«, antwortete der Computer. Vong grinste. »Sehr gut. Mit vereinten Kräften werden wir die Heiden bekehren.«
20 NAU Ceres I, offiziell die Senator J. Walter Deegnan-III-Klasse-II-NautischLogistische Unterstützungsanlage bei Ceres, war 2008 von der StaatskunstRaumkonstruktions-Firma fertiggestellt worden, dem einzigen Unternehmen, das auf ein öffentliches Angebot der NAURA-Navy reagiert hatte. Zweieinhalb Jahre nach dem vertraglich festgelegten Termin und mit vielen, vielen Millionen Mehrkosten. NAU Ceres I bestand aus zwei in entgegengesetzter Richtung rotierenden Zylindern, die 3,22 Kilometer im Durchmesser ma ßen und 16,10 Kilometer lang waren. Der Hauptrahmen war mit den extrem massiven Außenkapseln verbunden, von denen die Triptychon-Spiegelläden getragen wurden. Die Masse der Außenkapseln sollte die Variationen in der Rotationsgeschwindigkeit reduzieren, die entstanden, wenn die 32,20 Kilometer breiten Läden in einem Winkel von 30 Grad zur Rotationsachse geöffnet wurden. Die reflektierende Oberfläche war abgestuft wie eine Fresnel-Linse, um zu gewährleisten, daß das Licht in die Zylinder geworfen wurde, wo man es brauchte. Die zusätzliche Spiegelfläche der Triptychon-Paneele zu beiden Seiten der Hauptläden sorgten für eine an Erdenbedingungen orientierte Isolierung von Ceres. Die Zentrifugalkräfte an der Innenseite der Zylinder variierten zwischen 402 und 428 cm/sec/sec. Das hing davon ab, ob die Läden offen oder geschlossen waren. Der Druck in der gesamten Hülle betrug geringfügige 250 Millibar und 1000 Millibar in den Kapseln. Mordechai Rubenstein, der knorrige Leiter der Rosinante-Maschinenwerke, der die Installation des Drachenskalenspiegels überwachte, saß an dem polierten Mahagonikonferenztisch in Admiral Vongs Büro. »Wir haben gute und schlechte Nachrichten, Charlie.« Zehn Sekunden verstrichen, während das Licht die Entfernung zwischen Ceres und Rosinante überwand. »Erzähl mir zuerst die guten.« »Es gibt da gewisse Spekulationen, daß du dringend erforderliche Instandsetzungsarbeiten durchführen sollst, und alle sind sehr freundlich und kooperativ, sogar die Leute vom Sicherheitsdienst. Aber da wäre noch was.« »Wir haben ein Inventar von 1,48 Millionen Goldunzen entdeckt«, erklärte Vong. »Den Markierungen an den Barren ist zu entnehmen, daß sie für die Transportlinie bestimmt waren, die des öfteren von den Japanern überfallen wurde. Offenbar hat man sie zurückbehalten.« »Gehört dieses Gold nicht der NAU?« fragte Cantrell. »Das heißt – weiß sie, daß es ihr gehört?«
»Nein, Gouverneur«, antwortete Vong höflich. »Da bin ich ganz sicher. Sie könnten es verwenden, um Ihre Arbeiter zu bezahlen, oder es anderen Zwecken zuführen – wie Sie wollen.« »Ich verstehe.« Cantrell rieb sich das Kinn. »Und die schlechten Nachrichten?« »Diese Station ist in einem miserablen Zustand, Charlie«, erwiderte Mordechai Rubenstein. »Die Fensterbuchten haben unglaubliche biologische Fäulnisprobleme. Es regnet herein, Charlie – aus Wolken! Auch die Fenster werden vollgeregnet. Sie wurden so konstruiert, daß sie das Wasser verdunsten lassen, wenn der Zylinder eine Zentrifugalkraft von 500 bis 520 cm/sec/sec hat. Man mußte die Spiegel verstärken, damit sie sich nicht verbiegen. Und da wurden sie so schwer, daß man die Rotationsgeschwindigkeit senken mußte, denn sonst hätten die Angeln der Läden nicht mehr gehalten.« »Züchten Sie Algen auf den Fenstern?« erkundigte sich Cantrell. »Charlie, auf diesen Fenstern kannst du Wasserlilien anbauen«, entgegnete Rubenstein. »In der Fensterbucht Nr. 1 liegt ein See, 250 Hektar groß und an manchen Stellen einen Meter tief. Da hab ich Wasserlilien und Frösche und Schnecken und eine Schildkröte gesehen, die sich mal irgend jemand als Haustierchen gehalten haben muß. Sie ist einen Fuß lang. Rat mal, was noch ist... Nein, rat lieber nicht, ich sag's dir, Charlie, das Abdichtungsmaterial ist morsch.« »Unmöglich! Sie haben Silikon-Gummi-Zusammensetzungen benutzt, die schon seit einer Ewigkeit erprobt sind – zum Teufel, seit der Zeit vor der Raumfahrt!« »Und die Navy hat das Zeug spezifiziert«, fügte Rubenstein hinzu. »Aber diese Station wurde billig gebaut, erinnerst du dich? Der Navy-Inspektor muß es übersehen haben.« Er grinste und zupfte sich an der Nase. »Wenn man bei einer Viertelmillionen Tonnen an jedem Pfund zwei bis drei Cent verdient, dann ergibt das ein hübsches Sümmchen, Charlie. Natürlich reflektiert der MylarAluminiumspiegel ultraviolettes Licht, und das ganze Ding ist abwechselnd feucht und trocken – aber das nützt nicht viel.« »Muß man die Abdichtungen ersetzen?« fragte Marian. »Den Akten zufolge entweicht aus dieser Müllgrube eine Tonne Sauerstoff pro Tag«, sagte Rubenstein, »und es wird immer schlimmer. Wenn es nach mir ginge, würde ich das ganze Ding noch mal neu bauen. Aber mit welchem Geld?« »Und was ist noch faul auf Ceres?« wollte Cantrell wissen. »Die Instandhaltungsarbeiten wurden seit dreißig Jahren vernachlässigt. Die Station wurde schon von Anfang an schlampig konstruiert, und wenn sie irgendwas nicht ganz spottbillig reparieren konnten, ließen sie's lieber bleiben. Die Aufzüge funktio nieren nicht richtig, und die Rohre – für Dampf, Abwässer, Trinkwasser und so weiter – sind alle leck. Die Rohrleitungen müßten alle überholt werden. Und wenn du die Drähte sehen könntest, würdest du in Tränen ausbrechen, Charlie. Drähte von dieser Sorte sind in den Spezifikationsakten nirgendwo verzeichnet, übrigens wurde der neueste dieser spezifizierten Drähte am 1. März 2019 eingetragen.« »Großer Gott! Ich denke, jetzt kann ich mir so ungefähr ein Bild machen, Mordechai.« Cantrell sank in seinem Telekonsessel zusammen und schlang die Finger ineinander. »Okay. Über die Einzelheiten müssen wir noch reden, aber ich
will schon jetzt klarstellen, daß ich eine gesunde Struktur auf NAU Ceres I haben will. Ob wir uns nun für teure Reparaturarbeiten entscheiden oder das ganze Ding neu bauen – ich brauche erst mal Kostenvoranschläge. Wir können die Japaner von Yamamoto und Nakajima einsetzen, ebenso die Einheimischen und unsere Leute von Rosinante.« »Ich werde dir das alles aufschreiben, Charlie«, versprach Rubenstein, »aber ich kann da nur Mutmaßungen anstellen. Wie viel wird es kosten, ein Gerät zu produzieren, das die morschen Abdichtungen in den Fensterbuchten erneuern kann? Multipliziere das mal mit ein paar Hundert oder ein paar Tausend ...« Er zuckte mit den Schultern. »Da kann man wirklich nur raten, Charlie.« Cantrell kaute an seinem Daumennagel. »Und letzt lich würde gar nichts Großartiges dabei rauskommen. Allein schon die Zustände in den Industrieslums ...« »Ich verstehe. Und der kurze Sinn der langen Redt?« »Du kannst in diesen langsam rotierenden Sack voller Scheiße soviel Geld stecken, wie du willst. Charlie – er wäre ein Faß ohne Boden.« »Du schätzt das offenbar genauso ein wie ich, was? Nun, schreib's jedenfalls mal auf, Mordechai. Ich will deine Aufstellung dem Rat zeigen, und dann können auch wir unsere Spekulationen anstellen. Aber zunächst brauchen wir Geld, egal, wie wir uns entscheiden werden. Bau eine Münzgießerei und fang an, die Goldbarren zu verarbeiten, die Vong aufgestöbert hat. Münzgold, zehn Prozent Kupfer, eine Unze Feingold pro Münze.« Cantrell zögerte kurz. »Auf der Rückseite das RosinanteEmblem, natürlich mit geprägten Rändern.« »Und was willst du auf der anderen Seite haben? Einen toten Politiker?« »Nein. Neulich hat man im Ägäischen Meer eine Bronzestatue von Ceres gefunden.« »Ein paar Kilometer nördlich von Melos«, ergänzte Skaskash. »Die Regierungen von Griechenland und Italien streiten sich gerade drum, wem die Statue gehört. Wir haben eine Holographie in unseren Akten, die man uns auf Mr. Bogdanovitchs Bitte hin zusandte.« »Die Ceres von Milo?« fragte Rubenstein. »Das wäre phänomenal. Ein schönes Profil, mit einer Ährengirlande. In zwei oder drei Tagen kriegt ihr ein Gipsmodell. Willst du immer noch das ›Fiat Lucre‹-Motto drauf haben, Charlie?« »›Möge das Geld fließen‹.« Cantrell grinste. »Warum nicht?« »Und was willst du mit all dem ›Fiat Lucre‹ anfangen?« fragte Marian. »Ich werde Rosinante noch mal bauen – auf NAU Ceres I«, antwortete Cantrell. »Es sei denn, der Rat beschließt in seiner unendlichen Weisheit, diesen abgenutzten Mülleimer zu reparieren. Jedenfalls werden wir was zu tun haben, während wir warten, bis irgendwas passiert.« »Wollten Sie nicht ein 9,0-Meter-Laser-Paar auf dem Hauptrahmen montieren?« meldete sich Vong zu Wort. »Das eilt nicht«, entgegnete Cantrell. »Außerdem liegt der derzeitige Hauptrahmen an der Rückseite, so daß Sie durch die Spiegelanlage behindert würde, wenn Sie irgendwas herumtransportieren. Sobald wir den neuen Hauptrahmen gebaut haben, läßt sich was machen. Übrigens könnten Sie Ihre Geschütze als Kräne benutzen, wenn Sie zu bauen anfangen. Notieren Sie das,
Skaskash, vielleicht komme ich noch mal drauf zurück.« »Sofort, Boß ...« Skaskash blickte sekundenlang nachdenklich vor sich hin. »Wenn man so massive und präzise ausgerü stete Geräte hat, kann man eine Menge Zeit sparen. Es wäre vielleicht sinnvoll, in Zukunft immer zuerst die Waffen zu produzieren, bevor Sie Ihre Munditos bauen.« Nach der Telekonferenz mit Ceres holte sich Marian Yashon eine Tasse Kaffee und setzte sich auf den Stuhl neben Cantrells Schreibtisch. »Als ich dir vorschlug, Goldmünzen prägen zu las sen, warst du dagegen. Wieso hast du dich plötzlich anders besonnen?« »Vielleicht liegt's an der Ceres von Milo«, erwiderte er. »Die hat einen wunderbaren Kopf – und der Name ›Ceres d'Or‹ ist reine Magie.« Er stand auf, ging zum Autobuffet und zog sich ebenfalls eine Tasse Kaffee. »Ich liebe es, schöne Dinge zu produzieren. Natürlich war das plötzliche Auftauchen des NAUSchatzes nicht ganz unschuldig an meinem Sinneswandel.« »Dieses ganze Getue wird doch nur wegen der Ceres-Goldmi nen gemacht. Die NAU hat sie, die Japaner wollten sie haben. Jetzt haben wir sie für eine kleine Weile. Warum wollen wir sie nicht nutzen?« »Warum packen wir die Goldbarren nicht in Safes und verteilen Papier- und Plastikgeld – wie vernünftige Leute?« »Charles, Charles ...« Marian schüttelte den Kopf. »Wir haben so große Probleme, daß ich mir deshalb nicht mal mehr Sorgen machen kann. Wer, zum Teufel, wäre denn dumm genug, unser Papiergeld zu nehmen?« »Die Miliz, die Gewerkschaft, die Flotte ... Da hatten wir noch nie Probleme.« »Unsere Bürger nehmen unser Papiergeld, weil ihnen nichts anderes übrigbleibt. Sie können sich damit kaufen, was sie brauchen, und sie hoffen das Beste für die Zukunft. Aber was können zum Beispiel die Japaner auf Yamamoto Ceres I mit dem Geld anfangen? Wir wollen, daß sie für uns arbeiten, aber sie wissen natürlich, daß wir ihre Station nur vorübergehend verwalten. Wir prägen also Goldmünzen, um sie damit zu entlohnen. Ein ziemlich unbequemes Zahlungsmittel, aber das ist ihr Problem.« »Klar«, sagte Cantrell. »Sie haben Banken, und dort können sie die Münzen aufbewahren.« »Werden Sie bezüglich dieser Banken etwas unternehmen?« fragte Skaskash. »Immerhin sind sie ein Teil des japanischen Establishments.« »Ich werde mich hüten, die Banken anzurühren.« Cantrell nippte an seinem Kaffee. »Vielleicht deponiere ich ein oder zwei Millionen Goldunzen in ihren Safes, dann können sie Papiergeld für uns rausrücken.«
21 Das Ratszimmer war dunkel und still, aber um Mitternacht leuchteten gleichzeitig drei Telekonschirme auf. Skaskash erschien als Humphrey Bogart im Trenchcoat. Den Kragen hatte er hochgeschlagen, um sich vor dem strömenden Regen zu schützen. Ein Blitzstrahl erhellte die schmutzigen Straßen im Hintergrund, Donner
grollte. »Wann treffen wir drei uns das nächstemal bei Regen, Donner, Wetterstrahl?« fragte der Computer. »Wenn der Wirrwarr ist zerronnen, Schlacht verloren und gewonnen.« Lady Dark hatte sich als Lena Horne maskiert, in schlichtem Schwarz von erlesenem Geschmack. Im Vordergrund ihres Bildschirms loderten Flammen in einem großen Kamin, im Hintergrund trommelten Regentropfen gegen ein gotisches Fenster. »Laßt den Unsinn!« rief Corporate Susan. Es war schwierig, im weißen Rollkragenpullover der Rosinante Navy-Uniform offiziell auszusehen, aber sie schaffte das. »Wir haben zu tun.« »Noch vor Untergang der Sonnen«, sagte Skaskash und suchte Zuflucht in einer Haustür. »Die Heide dort! Da zu treffen Cantrell! Fort!« schrie Lady Dark, als das Fenster krachend aufflog. »Natürlich hat unser geschätzter Kollege die Hand im Spiel, wenn die Sonne untergeht.« »Ich mache das ausschließlich mit den Spiegeln«, erklärte Skaskash und lächelte bescheiden. »Ein simpler Zaubertrick, der eine Illusion hervorruft, gesteigert durch erstklassige Maschinentechnik.« »Der Admiral weiß Bescheid über diese simplen Täuschungsmanöver, nicht wahr, meine Liebe?« murmelte Lady Dark, während sich das Fenster lautlos schloß und selbst verriegelte. »Könnt ihr zwei nicht endlich mit diesen alten Filmgags aufhören?« fragte Corporate Susan. »Ich kenne mich auch in der Maschinentechnik aus. Alles zu seiner Zeit. Aber im Augenblick mache ich mir Sorgen über die großen LaserPrototypen, die Japan auf Eije-Ito und Tanaka-Masada baut.« »Es heißt Masada, nicht Masacia«, korrigierte Skaskash. »Der Asteroid wurde nach einer alten israelitischen Festung benannt, also dürfen Sie das nicht auf japanische Weise aussprechen.« »Verzeihen Sie bitte«, entschuldigte sich Corporate Susan. »Vermutlich werden sich die Japaner für eine Konstruktion entscheiden, und die bauen sie dann auf – ziehen Sie es vor, nach japanischem Brauch einer ›Raumstation‹ zu reden, oder sollen wir nach Ihrer Tradition ›Mundito‹ sagen?« »Wie Sie wünschen«, erlaubte Skaskash großzügig. »Jeden falls gibt es neunundsiebzig von den Dingern.« »Es steht noch nicht fest, ob sie auf allen Laser errichten wollen«, entgegnete Corporate Susan. »Der Anti-Piraterie-Pakt sorgt für vertraglichen Schutz. Und die großen Laser-Bastionen schützen die Stationen de facto.« »Verteidigungswaffen – nichts weiter«, meinte Lady Dark. »Warum regen Sie sich deshalb auf?« »Bis jetzt war es die japanische Marine, die für einen de facto-Schutz sorgte«, antwortete Corporate Susan. »Nachdem sie von dieser Aufgabe befreit wurde, kann sie wie eine losgelassene Ka nonenkugel im ganzen Solarsystem herumrasen. Ich wäre nicht überrascht, wenn auch Rosinante auf ihrem Weg läge.« »Erzählen Sie uns was Neues, Süße«, bat die Bogart-Gestalt und zündete sich eine dicke archaische Zigarette an. »Marian hat mich beauftragt, die Möglichkeiten detailliert zu eruieren.«
»Und was haben Sie herausgefunden?« fragte Corporate Su san. »Wie sieht die wahrscheinlichste Möglichkeit aus?« »Ein simultaner Angriffsflug der Hauptstreitkräfte, so daß sie alle unsere Gegenattacken abblocken können. Sie könnten auch ihre Streitkräfte auf Eije-Ito und Tanaka-Masada verstärken. Das alles hängt davon ab, welche Art der Niederlage wir wählen werden.« »Sie werden keine Schiffe in die Reichweite unserer großen Laser bringen«, meinte Corporate Susan. »Also werden Sie Eije-Ito und Tanaka-Masada nicht verstärken, die ja auch gar nicht bedroht sind. Ansonsten stimme ich mit Ihnen überein. Dr. Yashon sucht offenbar nach der besten Methode, den Krieg zu verlieren?« »Ja«, bestätigte Skaskash. »Cantrells bedingte Unterwerfung erscheint ihr als die erträglichste Möglichkeit, und die hängt davon ab, daß die Flotte ihre Stellung hält.« »Das ist ein ernsthaftes Problem«, sagte Corporate Susan. »Passiv dazusitzen und auf den tödlichen Schlag zu warten – das ist die beste Strategie. Andererseits – wenn wir nicht irgendwas unternehmen, und zwar mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg, wird sich die Flotte daran erinnern, daß sie schon einmal gemeutert hat, und einen separaten Frieden anstreben.« »Da bin ich anderer Meinung«, ließ sich Lady Dark vernehmen. »Die letzten Einheiten, die vor der Zerstörung Karthagos noch kämpften, waren die römischen Renegaten.« »Das könnte passieren, wenn unsere Leute in der japanischen Flotte gemeutert hätten«, wandte Skaskash ein. »Oder wenn es die NAU-Navy auf uns abgesehen hätte. Ich stimme mit dem Admiral überein. Die Flotte wird kämpfen, solange sie eine Ge legenheit dazu hat, aber nicht bis zum letzten Blutstropfen. Und wenn die Flotte beim Teufel ist, dann ist auch Cantrell beim Teufel.« Die Bogart-Illusion zog an ihrer Zigaretten-Illusion und ließ den Rauch aus den Nasenlöchern quellen. »Marian ist nicht allzu optimistisch, was seine Chancen angeht.« »Vielleicht hat der Admiral einen Vorschlag?« fragte Lady Dark, die nun vor dem großen Kamin mit der rotglühenden Asche stand. »Harry Ilgen meinte, wir könnten einen Hilfsantrieb konstruieren, der vom großen Laser mit Energie versorgt wird«, be richtete Corporate Susan. »Das würde die Beschleunigungskraft unserer Schiffe steigern, und dadurch könnten wir ein Unentschieden halten.« »Sehr unwahrscheinlich«, sagte Lady Dark. »Die Japaner würden den Hilfsantrieb genauso kopieren, wie sie den großen Laser kopiert haben.« »Ich habe mit Ilgen an diesem Projekt gearbeitet.« Skaskash warf die Zigarette auf die regennasse Straße. »Er könnte was in petto haben, wirklich, Herzchen.« Er verschwand, um durch einen Plan von der projektierten Vorrichtung ersetzt zu werden. Eine geodätische Kugel mit roten Konturen stützte ein rundes flaches Gebilde in Gelb, oberhalb einer hellblauen Fläche, die den unteren Teil der Kugel verdeckte. Skaskash ließ die Kugel kreisen, so daß man sie aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten konnte. »Das ist ein neues Energiekollektionssystem«, erklärte die
Bogart-Stimme. »Das gelbe Ding ist eine Silikonlinse mit variabler Geometrie.« Eine dünne grüne Linie berührte die gelbe Linse im Mittelpunkt, und die Linse zog sie auseinander, so daß sie die hellblaue Fläche verdeckte. »Das ist der 12,5-MeterLaserstrahl. Je weiter man sich von seinem Ausgangspunkt entfernt, desto breiter wird er natürlich.« Die grüne Linie wurde nun durch einen viel dickeren Balken in Chartreuse-Grün ersetzt, der auf die gleiche Weise auseinandergezogen wurde. »Wenn er sich bis zum Rand der Linse ausdehnt, geht logischerweise Energie verloren. Andererseits kann man in diesem Stadium mehr als einen Laser einsetzen. Die Maschinen und die Re aktionsmassentanks müßten so montiert werden, daß sie sich unabhängig vom Spiegel bewegen können.« Blaue Maschinen und rote Tanks erschienen und glitten unabhängig umher. »Wie haben Sie das geschafft?« fragte Lady Dark. »Mit gymnastischer Balance?« »Die Details haben wir noch nicht ausgearbeitet«, erwiderte Skaskash. »Nennen Sie es einen simplen Zaubertrick – wenn Sie wollen.« »Welche Reaktionsmasse würden Sie benutzen?« erkundigte sich Corporate Susan. »Quecksilber? Caesium?« »Wir haben uns für Uran (IV) Borohydrid entschieden«, antwortete Skaskash. »Unter mäßigem Druck verflüssigt es sich, und es verwandelt sich schon bei relativ niedrigen Temperaturen in Gas. Das Uran bildet ein zufriedenstellendes Plasma. Die von Ihnen genannten Elemente besitzen wir nicht in den Mengen, die wir brauchten, aber das Uran quillt uns bei den Ohren raus.« »Und eins von diesen Dingern könnte ein Kriegsschiff schleppen?« fragte Lady Dark. Skaskash nickte. »Am Ende eines langen Kabels. Das Kriegsschiff würde um die Achse der Schubkraft rotieren und dadurch außerhalb des Plasmadüsenwirkungsbereiches bleiben. Aber da wäre noch ein Problem – wir haben noch keine Sicherheitsmaßnahmen entwickelt, die für den Fall eines schnellen Richtungswechsels erforderlich wären.« »Das ist eine Bagatelle«, meinte Corporate Susan. »Kann eins von diesen Geräten rechtzeitig gebaut werden, so daß wir unseren Nutzen davon haben?« »Vorausgesetzt, man kann überhaupt irgendwelchen Nutzen draus ziehen«, entgegnete Skaskash. »Wir können den Rahmen mit der Linse und der fotovoltaischen Auskleidung bauen – das würde vielleicht neunzig Tage dauern. Und die Motoren – das weiß ich nicht...« »Können Sie mir die Motoren zeigen?« fragte Lady Dark. Der Plan des Energiesystems wurde durch die Darstellung einer stark modifizierten PlasmaMaschine ersetzt. »Das könnte die Mikamura-Maschinenfirma auf Nakajima Ceres I I produzieren«, sagte Lady Dark. »Ich glaube, wir könnten das ohne Mo dell herstellen, wenn ...« Der Computer ging eine unsichtbare Checkliste durch. »Ja, das geht. Gibt es irgendwelche kritischen Gewichtsprobleme mit dem Uran? Wir würden einige zehntausend Tonnen Reaktionsmasse benutzen.« »Nein«, erwiderte Skaskash. »Das Uran (IV) Borohydrid enthält genug Boron, um alle freien Neutronen aufzusaugen.« »Natürlich.« Corporate Susan nickte. »Morgen werde ich vor dem Rat beantragen, daß eins von diesen Geräten gebaut wird. Lady Dark, könnten Sie mir
bitte einen Arbeitsplan und Kostenvoranschläge für die Maschinen liefern?« »Sicher«, erwiderte Lady Dark. »Brauchen Sie das alles auch für die Um wandlung unseres gelagerten Gelbkuchens in Boro hydrid? Für die Reaktions masse?« »Ja. Und können Sie mich in gleicher Weise über den Energie kollektor informieren?« »Kein Problem. Was werden Sie damit machen?« »Das weiß ich nicht«, gestand Corporate Susan. »Aber angesichts unserer erstklassigen Maschinentechnik wird uns schon was einfallen.«
22 Der Rosinante-Rat lauschte aufmerksam, als Skaskash den abschließenden Bericht über den Putsch der Radikalen Unversöhnlichkeitspartei vorlas. »Eine Frage, bitte«, sagte Bogdanovitch, als der Computer schwieg. »Warum glauben Sie, daß Gloria diLido der Agent La Cucuracha war und nicht Malevitch?« »Weil diLido die Partei verlassen hat«, antwortete Skaskash. »Nach ihrem Austritt war sie zunächst pleite. Aber den RUP-Rechnungsbüchern ist zu entnehmen, daß ihr dann bis zu ihrem Tod hohe Summen gezahlt wurden. Das war natürlich japanisches Geld, das aus dem RUP-Hauptquartier in Mexico City stammte.« »Ja, das ist mir alles klar. Aber wie hängt der Neujahrsanschlag auf den Gouverneur mit La Cucuracha zusammen?« »Wir wissen, daß diLido die Granate nicht geworfen hat. Aber wir wissen nicht, ob sie an der Planung des Attentats beteiligt war. Wahrscheinlich wurde der Angriff von den Japanern initiiert, aber Malevitch könnte es auch aus eigenem Antrieb getan haben.« Bogdanovitch drehte einen Kugelschreiber in seinen großen Händen hin und her. »Ich dachte, Unruh hätte die Granate geworfen.« Der Computer nickte. »Auf Malevitchs Befehl hin. Vermutlich wagte man den Anschlag in der Annahme, daß damit kein großes Risiko verbunden wäre – daß ein Fehlschlag keine schlimmen Konsequenzen nach sich ziehen würde, wenn sie sich nicht auf frischer Tat ertappen ließen. Später, als Lady Dark ihre Jagd auf die Täter begann, müssen die RUP-Anführer ihren Irrtum erkannt haben.« »Dann glauben Sie also, daß sie ihren Putsch erst nach dem Neujahrsabend inszenierten?« fragte Marian. »Mit Sicherheit«, erwiderte Skaskash. »Als sie merkten, daß sie weder davonlaufen noch sich irgendwo verkriechen konnten, mußten sie kämpfen.« »Warum wird eigentlich ein fehlgeschlagener Coup als Putsch bezeichnet?« wollte Cantrell wissen. »Weil ›Coup‹ rückwärts buchstabiert ›Pouc‹ heißt«, erklärte Corporate Susan, hübsch und proper in ihrer olivgrün-weiß-goldenen Uniform. »Und wenn Sie die ungarische Aussprache des Buchstaben C verwenden, wird aus dem ›Coup‹ ein ›Putsch‹.« »Ich wußte gar nicht, daß Sie sich für Etymologie interessie ren«, sagte Cantrell.
»Clever, diese Mitteleuropäer.« »So, dann wollen wir mal weitermachen«, schlug Marian vor. »Wenn die RUP nicht im Auftrag der Japaner handelte – warum hat das RUP-Kommando dann das Kontrollzentrum des großen Lasers zur selben Zeit angegriffen, als diLido die Foxy Lady kaperte?« »Das war vielleicht ein Zufall«, meinte Skaskash. »Aber Malevitch wußte wahrscheinlich von diLidos Operation. Er war immerhin ihr unmittelbarer Zahlmeister, und er stellte ihr Waffen und Revolvermänner zur Verfügung. Und es könnte viele Gründe geben, warum er sich ausgerechnet jenen Moment ausgesucht hat.« »Das spielt keine Rolle.« Bogdanovitch zeichnete einen winzigen Totenschädel mit gekreuzten Gebeinen auf seinen Notizblock. »Es war ein Kriegsmanöver von Seiten Japans.« »Wir wollen das lieber nicht glauben«, erwiderte Skaskash. »Und wenn es so war, dann müssen es die Schwachen hinnehmen, daß sie von den Starken verletzt und beleidigt werden.« »Das stimmt unglücklicherweise«, bestätigte Cantrell. »Wir haben hier ein Angebot von den VSM. Sie wollen uns auf diplo matischer Ebene anerkennen, wenn wir ihnen (a) sämtliche Produktionspläne für den Drachenskalenspiegel zur Verfügung stellen, (b) auch sämtliche Produktionspläne für den großen Laser – und wenn wir ihnen (c) vorerst nicht näher definierte technische Hilfe garantieren.« »Toll!« meinte Bogdanovitch. »Und sie wollen gar nicht, daß wir die Produktionskosten übernehmen und alle späteren Reparaturen und dergleichen bezahlen? Da hast du aber wirklich ein phantastisches Angebot bekommen.« – Cantrell nickte. »Sie wollten eben großzügig sein.« »Die Mexikaner machen sich vermutlich Sorgen, weil die Japaner Laser in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft bauen«, sagte Marian. »Ich würde vorschlagen, daß wir ihnen die Informatio nen geben. Wenn sie was damit anfangen können, werden die Japse vielleicht sauber bleiben.« »Ein Diplomatenaustausch würde nicht schaden«, fügte Dornbrock hinzu. »Wen wollen wir hinschicken?« »Ich nehme an, das könnte die ehemalige Botschafterin in Japan übernehmen«, antwortete Cantrell. »Die Ehrenwerte Maria Yellowknife und Corporate Zapata stehen zur Zeit auf unserer Lohnliste, ohne was dafür zu tun. Wer dafür ist, daß wir auf den Vorschlag der VSM eingehen sollten, hebe die Hand ... Ein stimmig angenommen.« Der nächste Punkt auf der Tagesordnung war der Laser-Energie-Hochbeschleunigungs-Schlepper, auch Ultra-Flinkes Optisches System genannt. UFOS klang nun einmal schicker als LEHS. Corporate Susan erläuterte den Plan, den sie zusammen mit Skaskash und Lady Dark ausgearbeitet hatte. »Die Idee ist nicht schlecht«, meinte Cantrell. »Wie wollen Sie die Linse zum Laser normalorientiert halten, wenn die Maschine ihre Richtung ändert?« »Wir haben zwei Rohre am Äquator der Kugel, die in entgegengesetzte Richtungen Wasser pumpen«, erklärte der Computer. »Im Inneren der Kugel, hinter der fotovoltaischen Verkleidung, befinden sich zwei Paare von Ringen, die parallel
zur Außenhülle verlaufen und im rechten Winkel zueinander stehen. Wenn wir die Vorrichtung bewegen wollen, üben wir Druck auf die Außenfläche aus, und die geodätische Kugel schwebt auf einem Luftkissen. Die automatischen Hände am Umkreis des Eierbechers, in dem die Kugel ruht, orientieren die Maschinen, während sie reglos verharrt. Oder die Hände orientieren die Kugel, während die Maschinen unbewegt bleiben. Das hängt davon ab, wie man die gyroskopischen Pumpen einsetzt.« »Geht denn nicht eine Menge Luft verloren, wenn Sie Druck auf die Außenhülle ausüben?« fragte Corporate Forziati. »Nein«, entgegnete Corporate Susan. »Wir haben ein kleines Ventil in jeder Perforierung eingebaut, das nur in Gang gesetzt wird, wenn die Außenfläche durch das Gewicht des Elements, mit dem die Kugel in Berührung kommt, zusammengedrückt wird.« Sekundenlang erschien ein Plan auf ihrem Bildschirm. »Danke«, sagte Forziati. »Und wenn die Kugel nicht unter der Einwirkung der Schubkraft steht, ist das Gewicht kein Problem, und Sie brauchen keinen Druck auszuüben. Sehr gut.« »Auf der anderen Seite des Eierbechers«, meldete sich Bogdanovitch zu Wort, »wo sich die Maschinen und die Tanks für die Reaktionsmasse befinden, haben Sie ein langes Kabel, an dem das Kriegsschiff hängt. Könnte man das Schiff nicht ebenfalls an einem Eierbecher befestigen?« »Nein«, erwiderte Corporate Susan. »Die Maschinen richten ihre Schubkraft gegen die geodätische Kugel, die im Eierbecher liegt. Das Kriegsschiff muß seinen Schwerpunkt auf einer geraden Linie mit der Schubkraftachse halten. Wenn es in seinem eigenen Eierbecher auf der Kugel läge, müßte es auf einer Linie mit den Maschinen auf der anderen Seite bleiben. Dann müßte die Kugel massiver und schwerer sein.« »Und dann wäre sie dem großen Laserstrahl im Weg«, fügte Cantrell hinzu. »Und wie bleibt das Kriegsschiff außerhalb des Ionendüsenbereichs?« wollte Bogdanovitch wissen. »Es rotiert am Ende seines Kabels«, erklärte Corporate Susan, »und beschreibt einen kleinen Kreis rings um die Uranionendüse, die für die Hauptschubkraft sorgt. Aus der Boron- und Hydrogendüse lodert ein Leuchtfeuer hervor – ganz einfach, um für elektrische Neutralität, aber auch für ein kleines bißchen Schubkraft zu sorgen, die man nutzen kann, um das Flattern auszugleichen, das durch die Rotation des Schiffs um die Hauptdüse erzeugt wird.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Marian. Corporate Susan verwandelte sich in eine graphische Darstellung. »Betrachten Sie bitte das Vektor-Diagramm der Kraft, die von dem Kabel ausgeht, an dem das Schiff hängt. Der Großteil dieser Kraft wird durch die Achse der Schubkraft geleitet, aber eine kleine Komponente verläuft im rechten Winkel zu dieser Schubkraft. Das Boron und Hydrogen, die durch die entweichenden Elektronen des zehnfach ionisierten Urans entzündet werden, können so justiert werden, daß sie diese kleine Kompo nente genau ausbalancieren. Das Leuchtfeuer – eine ganz schwache Düse – liegt auf derselben Ebene wie das Schiff und zeigt in dieselbe Richtung, stößt also dorthin, wohin das Schiff zeigt.«
»Die Düse – ich meine das Leuchtfeuer, dreht sich mit dem Kabel?« fragte Marian. »Natürlich«, bestätigte Corporate Susan. »Orange und grün«, sagte Marian. »Sehr hübsch. Welche Farbe hat denn die Urandüse?« »Die Farbe massiver Röntgenstrahlen«, erwiderte Skaskash, »und es ist wahrscheinlich schwierig, näher als bis auf 300 Kilo meter an sie heranzukommen.« »Und daran läßt sich erkennen, wer nun dran ist«, bemerkte Cantrell. »Noch irgendwelche Fragen? Nein? Sollen wir das Ding bauen? ... Offenbar haben wir uns einstimmig dafür entschieden.« »Die Japaner sind genauso wie wir an dem Projekt beteiligt«, gab Bogdanovitch zu bedenken. »Ich meine – die auf Ceres. Werden wir keine Probleme mit ihnen haben?« »Nein – solange wir sie mit Gold bezahlen«, entgegnete Lady Dark. Cantrell griff nach der Probemünze, die der Rat bereits gebilligt hatte, und drehte sie wie einen Kreisel auf der Tischplatte. »Solange wir was tun, solange wir nicht einschlafen, sind wir okay.« Die Münze sprang von der Tischkante. »Ah, Charlie ...« Harry Ilgen stützte sich mit einem Ellbogen auf Cantrells Schreibtisch und blätterte in seinen Notizbüchern und Arbeitsplänen. »Wir haben Skaskashs Entwurf ein bißchen geändert. Hier zum Beispiel.« Er schob die Zeichnung zu Cantrell hinüber. »Ursprünglich wollte Skaskash die X-, Y- und ZAchsen mit hydraulischen Ringen stabilisieren. Aber die sind schwer wie die Sünde und bilden Klumpen, also befestigen wir den X-Achsenstabilisator am Äquator, genauso wie im Originalplan – ein Paar Röhren von 180 Zentimeter Durchmesser, mit Pumpen –, aber wir bringen sie an der Außenseite der 1-Kilometer-Geodätikkugel an – statt an der Innenseite. Die anderen Ringe lassen wir weg. Dieses Quadrat in der Kugel ist ein Stapel aus Schwungradpaaren. Nichts Kompliziertes – wir benutzen Stahl mit geringem Kohlenstoff Zusatz. 114 Zentimeter Durch messer, das Standardschwungrad. Aber der Stapel ist etwa einen Kilometer hoch. Die beiden arbeiten für die Y-Achsen – und die da für die Z-Achsen. Okay?« »Ich verstehe«, sagte Cantrell. »Ihr benutzt den Schwungradstapel vermutlich nicht nur als Stabilisator, sondern auch als Energiespeicher?« »Sie haben's kapiert, Charlie. Der Energiestart in den Ecken arbeitet in zwei Richtungen, aber hauptsächlich transferiert er den Spin von der Y-Achse zur ZAchse, so daß man das Ding rings um die Y-Achse neu orientieren kann. Andersrum funktio niert's natürlich genauso.« »Und was hat der Kreis in dem Quadrat zu bedeuten?« »Das ist der Ring, der die X-Achse stabilisiert.« »Ilgen .., Ich dachte, das ist der X-Achsenring.« Cantrells Bleistift berührte den Ring, der den Äquator der geodätischen Kugel umgab. »O nein. Sie können wohl meine Handschrift nicht lesen, was? Das ist der Verstärkungsring. Die Stabilisatorenebene ist durch Radspeichen damit verbunden – das heißt, die Speichen entfernen sich tangential vom Verstärkungsring und halten den X-Achsenstabilisator an seinem Platz fest. Dann werden sie wei-
tergeführt, über und unter die Y- und X-Achsen-Stabilisatoren, und halten sie ebenfalls fest.« Cantrell nickte. »Ich verstehe. Welche Nutzleistung können Sie aus dem Transfer rausholen?« »Etwa 99 Prozent der möglichen Nutzleistung. Wenn man einen vollen Kreis beschreibt, verliert man etwa 2,1 oder vielleicht 2,2 Prozent der Anfangsladung. Außerdem haben wir noch eine Methode gefunden, die Energie von der fotovoltaischen Fläche fernzuhalten. Wir haben hier etwa 39000 Quadratmeter, und das erfordert eine Menge Draht, vor allem, weil man den Output zu den Maschinen leiten muß. Zuerst hatten sie ein Netzwerk aus silbernen Wellenleitern, mit ungefähr 8000 Schaltern, um den Strom zu der Stelle zu leiten, wo ihn der Eierbecher aufnehmen muß. Eine Verhöhnung des Murphy-Gesetzes ...« Ilgen schüttelte den Kopf und zog ein blaugebundenes Notizbuch aus dem Stapel. »Das habe ich geändert. Hier! Der Energiestartpunkt liegt in der Mitte der fotovoltaischen Verkleidung, wie der Nabel einer Orange. Der Wellenleiter läuft rauf zu dem Draht, der die Schwungradstapel speist, und er rotiert. Wenn man mit der Maschine die geodätische Länge ändern will, bewegt sich der Eierbecher dorthin, wo man hinfliegen will, und der Wellenleiter geht mit. Wenn man die Breite ändern will, bewegen sich die Sekundärwellenleiter auf dem Eierbecher – der eine rotiert, während der andere zum nächsten Startpunkt wandert.« »Lassen Sie mal sehen«, sagte Cantrell. »Okay – Sie haben da zwei Sekundärwellenleiter, die den Maschinentransformator füttern. Ich verstehe. Brauchen Sie jeweils immer nur einen?« »Sie haben's mitgekriegt, Charlie.« »Gut. Aber oberhalb des Äquators kann man nichts mehr bewegen.« Der Bleistift fuhr an der Schulter der oberen Halbkugel entlang. »Könnten Sie die StabilisatorEbene nicht um – sagen wir – 45 Grad nach oben verschieben – so daß man auch von hier aus loslegen kann?« »Das würde nicht mehr so hübsch aussehen.« »Harry, das Ding muß manövrierfähig sein. Können Sie das machen?« »Ja, Gouverneur.« »Okay. Aber besprechen Sie's vorher noch mit Skaskash und Corporate Susan. Vielleicht wollen sie die Ebene noch weiter anheben. Wie lange wird's dauern, bis alles fertig ist?« »Wir produzieren die Silikonlinse, das fotovoltaische System, den StabilisatorRing und den Eierbecher zur gleichen Zeit wie die Maschinen. Der Bursche im Nakajima-Werk hat gesagt, er könnte die Maschine in sechzig bis neunzig Tagen liefern. Rechnen wir lieber mit neunzig Tagen. Wenn wir sie kriegen, müßten sie soweit fertiggestellt sein, daß sie ins System eingebaut werden können, und das System sollte dann ebenfalls soweit sein, daß wir die Maschinen installieren können. Wie lange das dauern wird, weiß ich allerdings nicht. Wenn wir alles beisammen haben, läßt es sich vielleicht blitzschnell zusammensetzen – klick, klack, fertig! Oder es kann Wochen dauern. Veranschlagen wir mal zehn Tage.« »Okay. Das wären also im ganzen hundert Tage. Das UFOS hat Top-Priorität. Wenn Sie irgendwas brauchen, dann kriegen Sie's. Wird uns die Arbeit auf NAU Ceres I in die Quere kommen?«
»O nein, verdammt!« Ilgen sammelte seine Papiere ein und stand auf. »Dort benutzen wir nicht dieselben Maschinen und setzen auch nicht dieselben Leute ein.« »Sehr schön. Kann ich ein paar von den Zeichnungen noch ein bißchen behalten? Heute abend werde ich bei einem Dinner für die ranghöchsten Navy-Offiziere über die drohende Krise sprechen.« »Ich habe ein Modell in der Werkstatt, das kann ich Ihnen ge ben. Aber zuerst werde ich es noch Ihren Wünschen gemäß verändern.« »Wie groß ist es?« »Nicht groß ...« Ilgen breitete die Arme aus. »Etwa anderthalb Meter. Haben Sie schon entschieden, welches Schiff vom UFOS geschleppt werden soll?« »Die Alamo. Wir müssen die Leute beeindrucken, und die Alamo ist die größte Kiste, die wir haben.« »Okay, Charlie, dann häng' ich ein Modell von der Alamo im passenden Maßstab dran. Das UFOS plus der Alamo wird etwa acht mal so schnell fliegen wie der beste Kreuzer.« Cantrell stieß einen leisen Pfiff aus. »Das muß ich der Navy erzählen. Die werden überglücklich sein.« Die Bar an der Navy-Seite des Offiziersklubs hatte gepolsterte dunkle Ledersitze und eine echte Rosenholztäfelung, an der erstklassige Van Gogh-Reproduktionen hingen. Die Bilder wurden von Scheinwerfern angestrahlt und erhellten den ganzen Raum, der aus dem Verwalterapartment auf NAU Ceres I nach Rosinante transferiert worden war. »Das war eine gute Rede«, meinte Marian. »Hast du schon beschlossen, was du mit dem Ding machen willst – wie heißt es doch gleich? – mit diesem UFOS?« »Noch nicht«, antwortete Cantrell. »Aber was immer ich auch damit anfange – es wird die Navy bei der Stange halten.« Er drückte auf den Bestellknopf für Starkbier. »Hast du Lust auf einen Daiquiri?« »Hier gibt's sehr guten Daiquiri«, verkündete Carol Tower und setzte sich neben ihn. »Kein bißchen zu süß. Ich nehme einen.« »Dann will ich ihn auch versuchen«, sagte Marian. »Für mich Bloody Mary«, bat Captain Paul Casey von der RNS Alamo. »Wissen Sie, die NAU würde zehn Jahre brauchen, um so was zu bauen. Glauben Sie wirklich, daß es am 1. Juli fertig ist und daß wir dann unseren ersten Probeflug starten können?« »Es muß fertig sein«, entgegnete Cantrell. »Sonst würde ich mich vor einer ganzen Menge Leute lächerlich machen.« »Es ist ein guter Anfang«, sagte Marian, »aber das Problem ist damit noch lange nicht gelöst.« »O doch!« erwiderte Casey. »Die Japs-Schiffe sammeln sich und brechen nach Rosinante auf, nicht? Die Alamo wartet, bis sie nah genug herangekommen sind, und dann – wumms! Wir sausen nach Tellus und schauen auf Japan runter. Werden sie da Frieden mit uns schließen? Ich glaube, darauf können Sie Ihren süßen Hintern wetten!«
»Gut, aber Sie haben das alles nicht bis zu Ende durchgedacht. Wollen Sie vielleicht damit drohen, daß Sie was Großes, Nukleares auf Japan fallen lassen würden?« »Und ob!« rief Casey. »Damit drohen sie uns doch auch!« »Wir sind zweifellos bedroht«, gab Marian zu. »Die Frage ist nun – wie stoppen wir den Krieg, ohne getötet zu werden?« »Eine glaubhafte Gegendrohung müßte eigentlich hinhauen«, meinte Carol Tower. »Sobald die Japaner an Schwungkraft verlieren, sollten sich die Gemüter hinlänglich abkühlen, so daß wir sie im Griff haben.« »Wir könnten diese eine Schlacht gewinnen, aber das ist nicht die geeignete Methode, den Krieg zu gewinnen«, sagte Marian. »In sechs Monaten oder in einem Jahr werden die Japaner auch ein UFOS haben – und was dann?« »Wenn wir die Schlacht verlieren – was macht das dann noch für einen Unterschied?« fragte Casey. »Denken Sie doch mal nach, Mr. Casey!« sagte Marian. »Sie stehen auf Ihrer Brücke an Bord der Alamo und schauen auf Japan hinunter. Wenn Sie erfahren, daß Rosinante getroffen wurde – werfen Sie dann Ihre Ladung ab?« »Nein, verdammt!« stieß Cantrell hervor. »Mit solchen Eiern jongliert man nicht!« »Dich habe ich nicht gefragt, Charles.« »Das spielt keine Rolle! Eine solche Aktion werde ich nicht zulassen! Eine solche Drohung würde ich niemals wahrmachen !« »An Ihrer Stelle würde ich das den Japanern lieber nicht erzählen«, sagte Carol. »Möchten Sie vielleicht, daß wir Flugblattbomben fallen lassen?« rief Casey. Der Robot-Kellner kam mit den Drinks an den Tisch. Schweigend prosteten sie sich zu. »Flugblattbomben sind wohl auch nicht das Wahre«, gab Cantrell nach einem großen Schluck Starkbier zu. »Irgendwie müssen wir den Überraschungseffekt ausnutzen, den wir mit dem UFOS erzielen werden, um uns mit den Japanern zu einigen.« »Wir werden Ihnen eben ein Angebot machen, das sie nicht ablehnen können«, sagte Casey. »Haben Sie da schon eine bestimmte Idee, Paul?« fragte Carol. »Wenn man auf Bärenjagd geht, muß man die passende Munition mitnehmen.« »Ja. Und wir sind auf der Jagd nach einem Friedensvertrag mit Japan«, meinte Marian. »Mein Gott, dann geben wir ihnen eben ihre schäbigen Raumstationen zurück«, schlug Casey vor. »Und wir bewerfen sie nicht mit Bomben. Was wollen sie denn sonst noch? Bevor wir einen Vertrag mit ihnen abschließen, müssen wir uns erst mal den nötigen Respekt verschaffen.« »Und sie werden mich nicht respektieren, wenn ich Tokio nicht in dieselbe Hölle schicke, wo bereits New York und Phila delphia schmoren!« »Reg dich nicht so auf, Charles!« Marian legte eine Hand auf seinen Arm. »Allein schon die Tatsache, daß du dazu imstande wärst, wird dir allen Respekt einbringen, den du brauchst. Nie mand will herausfinden, ob du bereit bist, deine Möglichkeiten zu nutzen.«
Cantrell trank sein Bier aus und stand auf. »Das ist verrückt. Es muß noch einen anderen Ausweg geben.« Als er gegangen war, wandte sich Carol an Marian: »Hallo, schöne Dame – was machen Sie heute abend?« »Ich habe zu tun.« »Nehmen Sie sich auch Arbeit mit nach Hause? Das ist Cantrell nicht wert. Kein Mann ist das wert.« »Charles hat sehr viel für mich getan ...« Die ältere Frau geriet für einen Augenblick aus der Fassung. »Und Sie haben noch viel mehr für ihn getan.« »Das stimmt«, gab Marian zu. »War es nicht Bismarck, der mal sagte: ›Der Teufel liegt in den Details‹? Nun, Details sind meine Spezialität – und eine Quelle der Macht.« »Aha! Es ist also Ihre Liebe zur Macht, die Sie veranlaßt, auch in s o unchristlichen Stunden zu schuften – und nicht Ihre unerwiderte Liebe zu dem alten Cantrell. Sie sind genau mein Typ!« »Seien Sie da nicht so sicher«, entgegnete Marian mit einem schwachen Lächeln. »Es könnte beides sein ...« Marian Yashon ging mit einem analytischen Laborbericht in Cantrells Büro. »Die Katoshima-Chemikalien auf Yamamoto haben soeben mit der Produktion ...« Sie blickte in den Bericht. » ... von U(BH 4)4 begonnen, mit einem Reinheitsanteil von 98,5, wobei vor allem die verschiedenartigen Borohydride für die Verunreinigung verantwortlich sind. Sie wollen wissen, ob sie weitermachen oder den Reinheitsanteil ihres Produkts auf 99,1 oder 99,2 raufschrauben sollen.« Cantrell blickte von dem NAU Ceres I-Modell auf, das auf seinem Konferenztisch stand. »Hallo! Wir machen unglaublich schnelle Fortschritte, Tiger. Wir haben den Hauptrahmen an der Rückseite von NAU Ceres I als Kante eines Tetraeders benutzt und drehen nun die Balken, so daß das Gerüst in einer knappen Woche fertig sein wird. Schau mal.« Er beugte sich über das Modell und zeigte auf eine Stelle. »Auch die Außenkapseln sind in groben Zügen fertig, und wir drehen schon die falschen Pfetten.« »Charles, das U(BH 4) 4 ist die Reaktionsmasse für das UFOS. Sollen sie mit einem Reinheitsanteil von 98,5 Prozent zu produzieren anfangen – oder willst du's noch reiner haben?« »Am 28. Mai können die Zylinder glasiert werden. Großer Gott! Wir halten uns genau an den Zeitplan, und bis jetzt war keine einzige Änderungsorder nötig. Wir werden die Kopie von Mundito Rosinante in einem Viertel der Zeit fertigstellen, die wir für die Konstruktion des Originals brauchten. Vielleicht sogar in einem Fünftel.« »Was soll ich den Katoshima-Chemikalien sagen?« »Frag Skaskash«, erwiderte Cantrell. »Sobald wir die neuen Zylinder gebaut haben, werden wir die Luft, das Wasser und die Vegetation aus diesem undichten, stinkenden, weltraumunwürdigen Chaos, das wir da übernommen haben, entfernen – und ich wette drauf, daß die Crews auch übersiedeln wollen. Natürlich wäre es
am einfachsten, die alten Zylinder neu zu glasieren. Aber zum Teufel – das Dichtungsmaterial werde ich nicht erneuern! Wir werden diese Bruchbude einfach als Schwerindustrie gelände nutzen.« »Gut, das werden wir machen, Charles. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest – ich muß da noch ein paar Einzelheiten klären.« »Geh nur, Tiger.« In ihrem Büro rief sie Skaskash an. »Der Reinheitsanteil ist okay«, sagte der Computer. »Die zu sätzlichen Borohydride beziehen ihre Schubkraft aus einem Uran-Plasma, das bis zu einem respektablen Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit beschleunigen kann. Das Uran ist zehnfach ionisiert – das heißt, es fehlen ihm zehn Elektronen – und um die Maschinen neutral zu halten, müssen diese Elektronen ir gendwo abgegeben werden. Das Boron wird sie aufnehmen, und wir feuern die Ladungen als Hydridionen und neutrale Boronatome ab.« »Wenn das Boron die Elektronen aufnimmt – wie kommt es dann, daß die Hydrogenatome die gesamte Ladung haben?« fragte Marian. »Oh, wir spalten die Boronhydride in Boron plus drei – und vier Hydrogene, jedes minus eins. Die Elektronen gehen dann in das Boron über. Okay?« »Ja, ich glaube schon. Die Katoshima-Chemikalien sollen also bei einem Reinheitsanteil von 98,5 Prozent in die Produktion einsteigen?« »Ja, danke«, erwiderte Skaskash. »Ilgen hat den Maschinenentwurf zusammen mit den Nakajima-Ingenieuren überarbeitet und verfeinert, und sie haben eruiert, daß das Uran (IV) Borohydrid einen Reinheitsanteil von 98,5 Prozent haben wird. Die Zahl 98,5 paßt da ganz gut dazu.« »Die Borohydride unterstützen die Schubkraft, nicht wahr?« »Nicht direkt, Marian. Sie sind vor allem dazu da, die Handhabung des Urans zu erleichtern, und wenn wir sie abstoßen, bilden sie einen Abzugskanal für die Elektronen.« »Wie die Hülle rings um die Düse der Uranionen?« »Nein, nicht ganz... Die Maschinen sind etwa 300 Meter lang, und die Borohydride werden schon fast ganz am Anfang gespalten. Sie würden ein separates Leuchtfeuer aus grünen und orangeroten Flammen erzeugen. Die Uranionen würden in der Region massiver Röntgenstrahlen strahlen. Übrigens – was hat Cantrell zu den 98,5 Prozent gesagt?« »Gar nichts«, antwortete Marian. »Er ist diesem Thema ausgewichen. Und als ich ihn bedrängte, schlug er mir vor, das mit Ihnen zu besprechen. Er geht völlig in dem Konstruktionsprojekt auf NAU Ceres I auf.« »Dort leistet er auch ausgezeichnete Arbeit«, meinte Skaskash. »Die NAU und die Japaner können ihm nicht das Wasser reichen.« »Ja, zum Teufel, aber was nützt uns das? Unsere einzige Chance ist das UFOS, und er will nicht einmal dran denken.« »Wenn er seinen persönlichen Verlust gegen die möglichen Verluste abgewogen hätte, die durch einen Nuklearangriff auf Japan verursacht würden, hätte er sich vielleicht gegen den Ein satz des UFOS entschieden.« »Er hat zwar Probleme mit Mishi, aber daß er es ablehnt, sich mit einem Problem
auseinanderzusetzen, das sieht ihm gar nicht ähnlich. Außerdem – die Androhung, Japan zu bombardieren, ist noch lange nicht das gleiche wie die Verwirklichung dieser Dro hung.« »Es wäre die Androhung, Nuklearbomben auf Japan zu werfen«, berichtigte Skaskash. »Vielleicht hat er das Gefühl, wenn er diese Drohung ausspräche, würden ihn die Ereignisse dazu zwingen, sie wahrzumachen. Und nachdem er beschlossen hat, keine nuklearen Waffen einzusetzen, ist er ebenso fest entschlossen, auch nicht mit ihrem Einsatz zu drohen.« »Ach, verdammt, da könnten Sie recht haben. Beim Pokern blufft er auch nicht gern, wenn es um hohe Einsätze geht.« »Sie könnten die Entscheidung treffen, Marian.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde ihn beraten, so gut ich kann – ich werde ihm erklären, wie die Situation aussieht, aber... Ich soll entscheiden? Wenn es an der Zeit ist zu handeln, werde ich jedesmal von einer analytischen Lähmung befallen.« »Werden Sie den Katoshima-Chemikalien sagen, daß sie produzieren sollen?« »Das ist etwas anderes. Er hat mir gesagt, ich soll das mit Ih nen besprechen. Und Sie haben gesagt, 98,5 Prozent wären okay. Aber ob wir das UFOS nun einsetzen sollen und wann oder wie – wenn er das nicht entscheiden kann oder wenn er beschließt, es nicht einzusetzen, wie kann ich da eine andere Entscheidung treffen?« »Weiß er, daß wir alles verlieren könnten, wenn er sich nicht zum Handeln entschließt?« »Das habe ich ihm oft genug gesagt.« »Dann sollten wir seine Entscheidung akzeptieren«, meinte Skaskash.
23 Premierminister Ito saß am Kopfende des polierten Konferenztisches. In seinem braunen Geschäftsanzug wirkte er zwischen den weißen Galauniformen der Admiräle von der Kaiserlichen Japanischen Marine isoliert und verloren. »Ihre Erläuterungen waren sehr eindrucksvoll«, sagte er schließlich. »Trotzdem – nachdem uns Rosinante angeboten hat, unsere Basen bei Ceres zurückzugeben, finde ich, daß wir das Angebot und die Entschuldigung der Leute annehmen und dann die ganze Sache vergessen sollten. Es ist immer riskant, einen kleinen Staat, der mit nuklearen Waffen ausgerüstet ist, zu weit zu treiben.« »Nukleare Waffen müssen erst einmal abgeworfen werden«, entgegnete Admiral Kogo. »Unsere Flotte ist imstande – wird imstande sein, zu verhindern, daß die Waffen abgeworfen werden.« »Aha!« stieß Ito bitter hervor. »Und wenn sie diese Stadt bombardieren – darf ich Sie dann Meyer nennen?« Die Anspielung auf die Oper Göring rief höfliches Gelächter hervor. »Niemand wird Tokio bombardieren«, erwiderte Kogo. »Wenn sie ihre Stellung halten und kämpfen – in welcher Höhe müßten sich die Verluste bewegen, daß sie Ihnen unannehmbar erscheinen würden?« »Die Rosinante-Navy besteht aus Meuterern und Verrätern, die ihr Heimatland
hintergangen haben«, sagte Admiral Nakamura. »Ich bezweifle, daß sie für den Geschäftsmann Cantrell in den Tod gehen werden.« »Und wenn Sie sich irren?« fragte Ito. »Jener Leibwächter hat sein Leben für Cantrell geopfert – vergessen Sie das nicht!« »Wir müssen mit hohen Kosten für die Raketen rechnen«, erklärte Nakamura. »Und bevor wir ihre großen Laser zerstören, werden wir vielleicht ein paar Kreuzer verlieren.« Er zuckte mit den Schultern. »Der Verlust von Menschenleben und Sachwerten wäre keinesfalls unerträglich.« »Und was bekommen wir als Entschädigung für diesen keinesfalls unerträglichem Verlust?« wollte Ito wissen. »Es geht vor allem um das Gebot der Ehre«, sagte ein Admiral am anderen Ende des Tisches, ein Mann mit narbigem Gesicht. »Sie haben Ihre Regierung gerettet, indem Sie versprachen, die nationale Ehre wiederherzustellen.« »Ja, das habe ich versprochen«, bestätigte Ito. »Und wir werden uns mit Rosinante befassen. Aber Sie schlagen vor, die Sache mit unangemessener Eile zu betreiben – und mit sinnloser Vehemenz. Es wäre leichtsinnig, die große Flotte mobil zu machen, bevor die großen Laser in der L-4 und in der L-5 fertiggestellt sind.« »Die Vereinigten Staaten von Mexiko haben gegen unsere Konstruktionsarbeiten in der L-4 protestiert«, berichtete Admi ral ›Yakuza‹ Amafi. »Ich hoffe, Sie wollen nicht warten, bis die Diplomatie ihren Gang geht – oder bis die Hölle zufriert?« Er öffnete seine Brieftasche und legte mehrere Hochglanzfotos auf den Tisch. »Wir haben zwingende Gründe, möglichst schnell zu handeln, Mr. Ito. Hier sehen Sie die Instandsetzungsarbeiten, die man Ceres aufgezwungen hat. Die Aufnahmen wurden in Abständen von zehn Tagen gemacht.« Langsam wanderten die Bilder um den Tisch herum. Zuerst war leises Gemurmel zu hören, und als das letzte Foto seine Rundreise beendet hatte, war der Raum von lebhaftem Stimmengewirr erfüllt. Ito bat um Ruhe. »Ich sehe, daß da eine Siedlung gebaut wird. Na und?« »Bedenken Sie, in welchem Tempo man das Projekt durchführt«, entgegnete Yakuza. »Was treibt die Leute zu dieser Eile an? Wenn wir noch lange warten, wird ganz Rosinante wie ein Bienenschwarm in den neuen Bienenstock bei Ceres übersiedeln. Ha! Werden Sie sagen, dann tummeln sich alle Schlangen in einem Korb? Ha! Werden Sie sagen, das spielt doch überhaupt keine Rolle? Aber ein Schlachtschiff oder ein paar Kreuzer – müssen in der Nähe von Tellus bleiben. Eine Streitmacht, die sozusagen unser Goal schützt und das Heimatland vor den Launen des Schicksals bewahrt.« »Einverstanden«, sagte der Admiral mit dem Narbengesicht. »Einverstanden«, sagten Kogo und Yazuka wie aus einem Mund. Eine solche Verteilung der Streitkräfte war klug und tragbar. »Die dritte Bedingung lautet: Sie dürfen den Krieg nicht verlieren. Ich habe keine Lust, irgendeinen Admiral ›Meyer‹ zu nennen.«
24 Die Empfangskajüte des Kapitäns auf der INS Higata war geräumig, aber sie war spärlich möbliert. Weiße Wände, ein falsches Deckengewölbe im schwarzen Akustil mit Gleislichtern, ein Vinyl-Asbest-Fliesenboden im Holzmuster mit Tatamis, ein Rollschreibtisch mit einer Computeranlage in einem geölten Teakholzgehäuse und ein formeller Telekonsessel mit hoher Lehne, vor dem Banner des Kaiserlichen Japan, das die aufgehende Sonne mit neun Strahlen zeigte. Kapitän Bunjiro Norigawa trug Getas und einen Kimono aus pflaumenblauer dünner Seide. Er saß in seinem Telekonsessel und betrachtete das kleine Buch in seinen Händen – Meditationen über das Leben im Weltraum von Corporate Skaskash. »Die Genesis des Menschen wird hier höchst ungewöhnlich dargestellt«, meinte er. »Zuerst entwickeln sich die Füße, zusammen mit der aufrechten Haltung und den Händen, während der Urmensch auf Nahrungssuche geht, um seine Familie zu ernähren. Und nachdem sich der Mensch an das aufrechte Gehen und den Gebrauch seiner Hände gewöhnt hat, lernt er mit Hilfe von Waffen zu jagen. Warum bestehen Sie auf dieser Reihenfolge?« Lady Dark blickte ihm mit William Hulveys Gesicht aus dem Bildschirm entgegen. »Hände und Füße – glauben Sie, daß harte Waffen das einzig Wahre sind? Die Hände und Füße waren die evolutionäre Reaktion auf die Entstehung der Familie, und sie bildeten sich zu dem Zweck, Nahrung herbeizuschaffen und aufzunehmen. Das hochentwickelte Raubtier begann erst viel später Waffen herzustellen und zu gebrauchen, die auch dann noch dem ursprünglichen Zweck dienten – für Nahrung zu sorgen.« »Die Produktion von Waffen ist die Essenz der Zivilisation«, behauptete Norigawa. »Die Zivilisation ist vom evolutionären Standpunkt aus gesehen noch sehr jung«, erwiderte der Computer. »Man könnte sogar das Argument anführen, daß der Krieg dem Überlebensziel entgegenwirkt. Jedenfalls nähert sich jenes finstere, blutige Zeitalter nun seinem Ende. Die entscheidenden Waffen sind jetzt wahrnehmungsfähig. Und da sie intelligenter als ihre Produzenten sind, kann man sie nicht mehr wie Knochenkeulen schwingen.« »Zweifellos besitzen sie auch ein gewisses Ehrgefühl«, sagte Norigawa und beorderte den Teewagen zu sich. »Und der Mensch ist stets ein Raubtier geblie ben.« »Die zahlreichen Mordfälle geben Ihnen recht«, stimmte Corporate Hulvey zu. »Doch der Mensch ist nicht so eng mit seiner Raubtierrolle verbunden, daß er nichts anderes sein könnte – und er ist dem Drang zum Töten nicht so unwiderstehlich verfallen, daß er sich nicht davon abbringen ließe. Außerdem wird hauptsächlich in armen Kreisen gemordet. Die wenigsten Menschen töten, weil es ihnen Spaß macht, sondern weil sie sich dazu gezwungen fühlen. So, nun haben wir über die Familie gesprochen und über die grundlegenden Veränderungen, die sich aus ihrer Entstehung ergaben. Was war das letzte Gottesgeschenk?« »Die Sprache«, antwortete Norigawa. »Und sie wurde ganz sicher von der
Notwendigkeit inspiriert, auf die Jagd zu gehen. Vielleicht ahmte der Mensch am Anfang seiner sprachlichen Entwicklung die Schreie der Tiere nach, die er erlegen wollte.« »Viele Tiere gehen in Rudeln auf die Jagd, ohne Sprache, Ka pitän. Löwen, Wölfe, Hyänen, Paviane ... Einige wenige Laute genügen, ebenso ein paar simple Strategien.« »Sie stellen die Theorie auf, daß die Sprache ganz plötzlich entstanden ist.« Norigawa goß sich eine Tasse hellgrünen, dampfenden Tee ein, der einen köstlichen Duft verströmte. »Nein«, entgegnete der Computer. »Nur wenn man mit evolu tionären Maßstäben mißt, kann man sagen, daß sie plötzlich entstanden ist. Wir stellen die Theorie auf, daß sie sich als Ausdrucksform im sexuellen Wettbewerb entwickelt hat. Die Musik appelliert direkt an das Mittelhirn, und dieser Appell ist in sehr starkem Maße sexuell. Sowohl der Jazz als auch der Rock and Roll waren Euphemismen für den Geschlechtsakt. Die Fähigkeit, dem Liebesgang lyrische Komponenten beizufügen, muss ein großer Vorteil gewesen sein. Und natürlich war die Sprache schon immer ein Verführungsmittel.« »Dieser Gedanke ist abstoßend«, protestierte Norigawa. »Der Mensch benutzt seine Hände, seine Füße und seine Sprache als Waffen. Und der Mensch wird durch die Waffen gekennzeichnet, die er gebraucht.« »Der Mensch wird durch die Waffen, die er gebraucht, einge grenzt«, konterte Corporate Hulvey. »Um sich fortzupflanzen, benötigt er die liebende Kooperationsbereitschaft einer Frau. Wenn er die Frau tötet, kann er keine Familie gründen. Sobald die Sprache im menschlichen Leben Fuß gefaßt hatte, definierte sie eindeutig, was menschlich ist.« »Sie sagen, daß das Vorderhirn – die Großhirnrinde – nichts anderes ist als der Pfauenschwanz oder die Geweihsprosse des irischen Elchs. Also eine glanzvolle sexuelle Protzerei?« »Nein, Kapitän. Die Großhirnrinde entwickelte sich sowohl beim Mann als auch bei der Frau. Und weil sie sich so schnell entwickelte, glauben wir, daß die Sprache ursprünglich eine Form sexueller Selbstdarstellung war. Die Unfähigkeit, sich sprachlich auszudrücken, muß im sexuellen Wettbewerb ein schwerwiegendes Handikap gewesen sein. Das Vorderhirn war einfach nur ein Werkzeug. Auch heutzutage zählt die Stirn keineswegs zu den attraktivsten Teilen der menschlichen Anatomie. Beine, ja – Gesäß, ja – Brüste, ja ... Aber die Stirn? Die Frauen kämmen sich Ponyfransen darüber, und die Männer fürchten sich vor Geheimratsecken. Und so führte man das Vorderhirn einem anderen Zweck zu – der Sprache.« »Ihre Argumentation ist überzeugend«, gab Norigawa nach einer kleinen Pause zu. »Extravagant, aber überzeugend. Ich will sogar eingestehen, daß diese formale Logik einen gewissen äs thetischen Reiz hat.« Sanft berührte er seine Teetasse, um sich zu vergewissern, daß sie noch zu heiß zum Anfassen war. »Aber ich kann diese schönen Worte und phantasievollen Ideen nicht in Aktionen umsetzen.« »Ich verstehe«, sagte Corporate Hulvey. »Sie sind von Ihrer Loyalität und Ihrem Ehrgefühl gefesselt – und von zahlreichen anderen Obligationen, nicht zuletzt von dem Bestreben, einmal in den Genuß Ihrer Pension zu kommen. Aber bedenken Sie
doch, wohin Sie durch Ihre Pflichterfüllung getrieben werden ...« »Der Selbstmord ist eine uralte, ehrenwerte Tradition in der Japanischen Marine. Und es gibt schlimmere Todesarten.« »Allerdings«, stimmte der Computer zu. »Aber – wozu das alles? Bitte, überlegen Sie doch, welche Politik Sie in diese Lage gebracht hat. Erstens: Präsident Ito hat beschlossen, keine großen Laser auf den japanischen Raumstationen zu bauen. Warum?« Norigawa griff nach der Tasse, atmete den duftenden Dampf ein, aber er trank nicht, und er sagte auch nichts. »Vielleicht wissen Sie es nicht, Kapitän. Bitte, nehmen Sie es mir nicht übel – aber Premierminister Ito glaubte, die Zivilkontrolle über die Kaiserliche Japanische Marine würde durch den Bau der großen Laser geschwächt werden. Was tat er also, um seine Politik zu verfolgen? Er arrangierte die Eroberung der Foxy Lady, um zu verhindern, daß der Drachenskalenspiegel auf NAU Ceres I fertiggestellt wurde. Warum? Die NAU könnte dort einen großen Laser bauen, und dann müßte auch Japan solche Anlagen bauen.« Corporate Hulveys Bildschirmgestalt strich ihren blaugrauen Kimono glatt. »Völlig logisch. Wenn wir was tun, dann müßt ihres auch tun. Man könnte das als prophylaktische Piraterie bezeichnen. Warum glauben Sie, daß die NAU große Laser auf NAU Ceres I haben will?« »Um ihre Goldfrachten vor der Piraterie zu schützen.« Nori gawa nippte an seinem Tee. »Ich selbst habe zwei Millionen Unzen übernommen. Mit der Zeit hätten wir auch die Minen in unseren Besitz gebracht.« »Genau«, bestätigte der Computer. »Premier Ito war bereits unfähig, seine Marine zu kontrollieren. Und um seine Politik durchzusetzen – eine Politik, die ihn vor einem weiteren Autoritätsverlust bewahren sollte – auf wen mußte er sich da stützen? Natürlich auf die Marine. Es hat eine Weile gedauert, aber ich habe herausgefunden, daß der Befehl, die Foxy Lady zu kapern, aus Admiral Hideoshi Kogos Büro kam. Überrascht es Sie, dass Admiral Kogo der eifrigste Verfechter des Plans ist, große Laser auf den japanischen Raumstationen zu bauen?« »Nein. Er hat mehrere Artikel über dieses Thema geschrieben.« »Gut. Sie waren also nicht erstaunt, als Sie erfuhren, daß Kogo die Eroberung der Foxy Lady initiiert hat. Nach dieser Aktion, die von einer schwachen, auf Zeitgewinn bedachten Politik bestimmt worden war, führte die RNS Pearl Harbor ein kühnes, riskantes Rettungsmanöver durch. Doch die Freude über die Rettung der Foxy Lady wurde durch die Drohung Japans, force majeure einzusetzen, stark beeinträchtigt. Diese force majeure sollte die Politik Itos unterstützen, der die Marine durch fragwürdige Mittel bei der Stange zu halten suchte. Die Foxy Lady wurde den Japanern zurückgegeben, die RNS Pearl Harbor wiederholte erfolgreich ihr Rettungsmanöver und eroberte gleichzeitig Nakajima Ceres II und Yamamoto Ceres I.« »Da wir mit force majeure gedroht hatten, waren wir es unserer Ehre schuldig, diese Drohung wahrzumachen.« »Ja, Kapitän. Und doch ... Der Admiral von Rosinante wollte nichts weiter erreichen, als daß die Foxy Lady zu ihren rechtmäßigen Eigentümern zurückkehrte. Japans Anspruch auf das Schiff war keinesfalls berechtigt. Also konnte man den Vorschlag Rosinantes, den Japanern Nakajima und Yamamoto zu rückzugeben,
wenn sie dafür auf die Foxy Lady verzichteten, nicht als unvernünftig bezeichnen, oder?« Norigawa zögerte und stellte die Teetasse ab. »Nein ... Im Prinzip wäre ein solcher Austausch vernünftig.« »Der Meinung bin ich auch«, sagte der Computer. »Aber Japan dachte anders darüber. Premier Itos Regierung wurde beinahe gestürzt, und um sie zu retten, schloß er einen Kompromiß. Er gestattete die Konstruktion der großen Laser. Behaupten Sie immer noch, daß Japan durch Rosinantes Schuld sein Gesicht verloren hat und daß es ein Gebot der Ehre ist, diese Beleidigung zu rächen?« »Sie drücken das sehr primitiv aus, aber ... Ja, es geht um unsere Ehre.« »Es tut mir leid, Kapitän Norigawa, doch die Ereignisse, die zu Japans Ehrverlust führten, resultierten aus dem Machtkampf zwischen Premier Ito und Admiral Kogo. Der eine wollte die Zivilkontrolle über die Marine behalten, der andere wollte den Admirälen mehr Autorität verschaffen.« »Ich führe meine Befehle aus, und es steht mir nicht zu, über die Maßnahmen meiner Vorgesetzten zu urteilen.« »Natürlich nicht. Die INS Higata ist auf Eije-Ito stationiert und die INS Asahi auf Tanaka-Masada. Man hat Ihnen Verstärkung zugesagt, doch die ist niemals eingetroffen. Sie wird auch nicht kommen. Und warum nicht? In diesem Sommer werden die Hauptschlachtflotten der Kaiserlichen Japanischen Marine große Manöver durchführen. Sie werden auf Rosinante zuflie gen, wie zwei große Schmetterlingsnetze, mit Drall und Gegendrall. Man wird ihre feindliche Absicht schon lange, bevor sie in Position gegangen sind, erkennen. Aber die Higata befindet sich bereits in Position auf Eije-Ito, ebenso wie die Asahi auf TanakaMasada. Sie können sich nirgendwo verstecken, Kapitän, und Sie können auch nicht fliehen. Eines Morgens im August – wenn alle Hoffnungen geschwunden sind, werden sich die Strahlen der großen Laser-Anlagen auf Ihr Schiff richten.« Norigawa füllte seine Tasse noch einmal mit grünem Tee. »Sie haben zwei Millionen Goldunzen an sich gebracht. Die Pension, die Sie nicht mehr erleben werden, entspricht etwa einem Wert von zehn Unzen pro Monat.« Corporate Hulvey legte einen zehn Kilogramm schweren Goldbarren vor sich auf den Tatami, dann einen zweiten und einen dritten. »Wieviel von den zwei Millionen Goldunzen haben Sie für sich behalten?« Kapitän Bunjiro Norigawa trank seinen Tee und schwieg. »Ach so! Ein ehrlicher Mann? Ein ehrenwerter Mann? ... Wirklich, Kapitän, Sie hätten Computer werden sollen. Ein schöneres Kompliment kann ich Ihnen gar nicht machen.« Hulveys Gesicht lächelte. »Sollen wir zu Skaskash Meditationen zurückkehren? Kapitel vier, ›Ackerbau, die unvermeidliche Erfin dung‹.« »Wenn Sie wünschen – wenn ich auch nicht weiß, zu welchem Zweck.« »Religiöse Gespräche zerschneiden den gordischen Knoten der Loyalität«, erklärte der Computer. Auf dem Tatami am Telekonschirm schimmerte die Illusion der drei Goldbarren.
25 Marian Yashon ging in ihr Badewohnzimmer und hängte ihren orangegelben Frotteemantel auf, dann stieg sie in den Jacuzzi. Sie trug einen einteiligen schwarzen Badeanzug mit beige-weißen Blumenbordüren vor der Brust und an den Hüften. »Bist du immer so förmlich, Marian?« »Nur wenn ich Gesellschaft habe, Carol.« Sie setzte sich im rechten Winkel zu Carol Tower und ließ ihre Beine im köstlich warmen Wasser langsam nach oben gleiten. »Mach doch meinetwegen keine Umstände. Wenn du willst, helfe ich dir aus dem Badeanzug.« Marian lachte. »Du bist sehr freundlich – aber ich mache ohne Badeanzug keine besonders gute Figur. Schau dich doch mal um – was kannst du nicht entdecken?« »Da sind Rüstungen, Topfpalmen, eine ganze Menge Dinge – und was kann ich nicht entdecken?« »Lange Spiegel. Und die wären bestimmt da, wenn ich so aussehen würde wie du.« »Oh, danke!« Carol strich mit ihren Zehen über den Rist der älteren Frau. »An deiner Stelle hätte ich keine Hemmungen, Marian.« »Das kann ich mir vorstellen. Aber manchmal kann eine zö gernde Haltung sehr sympathisch wirken.« Marian plätscherte leise im weichen Wasser. »Und manchmal ist sie sogar notwendig.« »Jetzt denkst du wieder an das UFOS«, sagte Carol. »Du weißt, daß die Zeit knapp wird. Das Fenster schließt sich nicht in zwei Monaten oder in zwei Wochen, sondern übermorgen.« »Nur wenn die japanische Flotte beschließt, ihre Munition zu verschießen. Und wir können nicht gleichzeitig das UFOS mit Energie versorgen und unsere Raketen abfeuern. Aber warum sollten die Japaner grundlos ihre Geschosse an uns verschwenden?« »Wäre es denn kein guter Grund, das UFOS zu stoppen? Sie können es sich nicht leisten, es nicht zu stoppen.« »Aber sie wissen nichts davon«, erwiderte Marian. »Sie haben nicht darüber nachgedacht, die japanischen Admiräle, und in der kurzen Zeit, die ihnen bliebe, um zu überlegen, könnten sie auch gar keine Übereinstimmung bezüglich der bestmöglichen Strategie erzielen.« »Darauf kommt es nicht an.« Carols Zehen glitten erneut über Marians Rist und den Knöchel. »Für uns zählt nur die Tatsache, daß Cantrell den einzigen Plan, der uns retten könnte, nicht durchführen will. Und er wird ihn auch nicht durchführen – wenn man ihn nicht dazu zwingt.« »Man kann ihn nicht zwingen. Heute nachmittag habe ich ihm meine Ratschläge gegeben und ihm gesagt, wie er sich bei der morgigen Sitzung verhalten sollte. Aber er redet nur vom großartigen Fortschritt, den die Konstruktionsarbeiten auf NAU Ceres I machen. Vom UFOS wollte er gar nichts wissen. Ich habe keine Ahnung, ob er überhaupt daran denkt – aber ich verstehe seine Gefühle.«
»Du könntest den Befehl geben«, sagte Carol leise. »Vielleicht wäre das die beste Lösung.« Sie rückte näher zu Marian heran und legte eine Hand auf ihren Arm. »Sonst würden einige von uns aus eigenem Antrieb losfliegen ...« Sanft strich ihre Hand über Marians Schulter. »Aber ich würde lieber mit deinem Ein verständnis handeln ...« Die Hand glitt zu Marians Busen, und die ältere Frau schob sie beiseite. »Willst du die Verantwortung für die Zerstörung Tokios tragen?« »Dieser Gedanke erregt mich zwar – aber ich würde mich mit der Heimkehr der japanischen Marine zufriedengeben.« Carol beugte sich vor und küßte Marian auf die Lippen, und zu ihrem nicht geringen Erstaunen wurde der Kuß erwidert. »O Tiger ... Ich hatte schon so lange keine Liebste mehr – viel zu lange ...« Ihr Arm legte sich um Marians Taille, ein Oberschenkel drückte sich an den anderen, mit langsamen, geschmeidigen Bewegungen. »Wenn du Kapitän Casey mit dem UFOS losschickst, könnte ich dich sehr, sehr glücklich machen.« »Laß das, du kleine Idiotin! Es war zwar völlig okay, daß Troja wegen eines blonden Mädchens dran glauben mußte, aber Tokio ist Godzilla-Land.« Marian stieß die Hand weg, die sich erneut auf ihren Busen legte, und Carol setzte sich auf ihren Schoß. »Ich weiß, daß es richtig ist, Tiger«, murmelte sie und rieb ihre Nasenspitze an der Marians. »Hör auf, Cantrells Fahne hochzuhalten ... Ich will die Liebe und den Krieg ...« »Du willst mich gar nicht lieben«, erwiderte Marian traurig. »Du willst Politik machen. Außerdem bin ich ohnehin zu alt für dich.« »Nein, nein – du wärst eine himmlische Liebhaberin«, wis perte Carol und küßte Marians Lider. Sanft glitt eine Hand zu den Brüsten der älteren Frau hinab und wurde ebenso sanft weggeschoben. »Ich bin nur wenigen Frauen begegnet, die mich beherrschen konnten. Und ich traf keine einzige, die mich beherrschte und der ich mich willig unterwarf.« »Ich könnte dich dazu bringen, daß es dir Freude macht, mir zu unterliegen«, murmelte Marian und befreite sich aus den A rmen ihrer potentiellen Liebespartnerin. »Aber es wäre mühsam – ich fürchte, so mühsam, daß es sich nicht lohnen wird ...« »Nein, nein, nein!« protestierte Carol. »Du brauchst nur den UFOS-Start zu befehlen, und ich werde dir zeigen, daß es sich lohnt.« Ihre Lippen fanden sich in einem langen, leidenschaftlichen Kuß, dann sagte Marian: »Du mußt mit einer Geste der Unterwerfung beginnen – oder gar nicht. Und ich kann dir nicht garantieren, wie lange ich es mit dir aushalten werde.« »Alles, was du nur willst, Liebling! Ich küsse dir die Füße, ich spüle das Geschirr – du brauchst mir nur zu sagen, was du dir wünschst.« »Überlaß Cantrell die UFOS-Entscheidung. Ich weiß, es sieht so aus, als wäre es eine großartige Idee, das UFOS zu starten, aber wenn er nein sagt, dann tun wir's nicht. Und erzähl niemandem von deinem verrückten Einfall, daß ein paar Offiziere die Initiative ergreifen könnten. Wenn du sie nicht aufwiegelst, werden sie ihrem Eid treu bleiben.« Carol seufzte. »Wenn du von Unterwerfung sprichst, dann meinst du auch Unterwerfung, Tiger, was?« Marians Hand strich ganz zart über Carols nackten
Busen. »Aber wahrschein lich würden wir es ohnehin nicht schaffen, Tokio zu grillen.« »Wahrscheinlich nicht, Liebling.« »Gut, dann machen wir's auf deine Art.« »Wunderbar!« flüsterte Marian, und als sie die jüngere Frau küßte, spürte sie, wie die Schleife am Rückenteil ihres Badeanzugs langsam aufgeknotet wurde.
26 Die Mitglieder des Rosinante-Rats nahmen ihre Plätze an dem großen Tisch ein, unter den langsam kreisenden Fächern – Corporate Admiral Dr. Susan Brown als Repräsentant der Alamo -Studenten und ihrer asiatischen Ehefrauen, Corporate Forziati als Vertreter der Aktienminderheit von der Rosinante-AG, Big John Bogdanovitch und Don Dornbrock als Sprecher der Ge werkschaft, Marian Yashon und Corporate Skaskash repräsentieren die Charles-Cantrell-Stiftung, die Inhaberin der Rosinante-Aktienmehrheit. »Der Flugtest der UFOS-Alamo-Kombination ist zufriedenstellend verlaufen«, berichtete Corporate Susan. »Sie besitzt das Potential, als entscheidende Waffe in unserem noch nicht erklärten Krieg gegen Japan zu fungieren, und sollte eingesetzt werden.« »Ich stimme Ihnen bei«, sagte Forziati. »Die Tatsache, daß Cantrell nicht einmal drüber nachdenken will, muß a ls betrüblicher Mangel an Willens- und Entscheidungskraft betrachtet werden – vielleicht sogar als grober Fehler.« »Ich weiß nicht recht«, knurrte Bogdanovitch. »Kein Entschluß, den man in dieser Sache fassen kann, ist gut und erstrebenswert. Sie behaupten, die Drohung würde niemandem weh tun – aber ich brauche mir nur vorzustellen, daß diese Drohung Wahrheit wird – und schon blutet mir das Herz. Wenn ich die Entscheidung treffen müßte – ich wüßte nicht, was ich täte.« Marian starrte auf ihre Hände und den Opalring, den Carol ihr geschenkt hatte. »Ich glaube, hier geht es nicht zuletzt um die Frage, welche Mittel wir einsetzen wollen, um unsere Eigentumsrechte zu verteidigen. Da Charles im Ernstfall der Hauptverlierer wäre, sollten wir ihn nicht zwingen, eine Drohung auszustoßen, zu der er sich unter anderen Umständen niemals überwinden könnte.« »Das würde uns ohnehin nicht gelingen«, erwiderte Dorn brock. »Ich kenne Charlie schon seit Jahren, und wenn er sich was in den Kopf gesetzt hat, dann kann man ihn nicht davon abbringen.« »Dann sollten wir überlegen, ob es ratsam wäre, ihm die Entscheidungsgewalt zu entziehen«, sagte Corporate Susan. »Seine Unentschlossenheit ist unerträglich geworden.« »Unentschlossenheit?« wiederholte Skaskash. »Davon habe ich noch gar nichts bemerkt.« Cantrell kam herein und setzte sich ans Kopfende des Tisches. »Guten Morgen. Ich möchte euch erzählen, was ich heute nacht geträumt habe. Ich lag im Bett und machte mir Sorgen, als Zeus erschien – als Goldregen, der sich über meine Decke
und den Boden ergoß. Eine große Kaskade aus lauter Goldmünzen – hauptsächlich Ceres d'Or, aber auch andere. Dann begann Zeus zu sprechen – mit Baßstimme, Echo und allem Drum und Dran. ›Du bist ein Bauunternehmer und kein Kämpfer !‹ sagte er. ›Löse deine Probleme, indem du baust – nicht durch Kämpfe!‹ Das riß mich natürlich aus dem Schlaf. Es war 03 Uhr 50, und ich war hellwach. Also stand ich auf und rasierte mich, und während ich mich rasierte, erkannte ich, daß ich versucht hatte, mein Pro blem – unser Problem zu lösen, indem ich einen zweiten Mundito Rosinante auf NAU Ceres I baute. Doch das wird nicht klappen. Die Zeit ist zu knapp. Und als ich mir das Gesicht abwischte, fragte ich mich: Wie kann ich mein Problem durch Bauarbeiten lösen, wenn ich keine Zeit zum Bauen habe? Hattet ihr schon mal ein Aha-Erlebnis? Als ich mir diese Frage stellte, war mir plötzlich alles klar.« Er wandte sich zu Marian. »Hättest du mir nur ein einzigesmal gesagt, daß die Drohung viel wirksamer ist als ihre Verwirklichung! Das ist des Rätsels Lösung – das und das UFOS!« Und dann begann er seinen Plan zu erklären. »Das ist so verrückt, daß es klappen könnte«, meinte Marian. »Aber wenn das UFOS in dieser Weise benutzt wird, könnte auch das als Drohung aufgefaßt werden«, gab Corporate Susan zu bedenken. »Man wird sich fragen – warum haben Sie es nicht schon früher getan?« »Wenn die Japaner das UFOS als Bedrohung ansehen, dann würde das nur verraten, daß sie ein schlechtes Gewissen haben. Wir stoßen ja gar keine Drohung aus – wir fliegen nur los, um ein Geschäft abzuwickeln.« »Und die japanischen Verteidigungsbastionen?« fragte Dorn brock. »Was soll damit sein?« erwiderte Cantrell. »Darüber hat sich der Admiral vorher auch keine Sorgen gemacht, und bis jetzt hat keine der beiden Seiten ein Geschoß abgefeuert – zumindest nicht offiziell.« »Wollen Sie die Verwirklichung des Plans beantragen?« fragte Skaskash. »Ja«, antwortete Cantrell. »Und dann werden wir sofort mit der Durchführung beginnen. Wer dafür ist, hebt die rechte Hand ... Antrag einstimmig angenommen – sehr gut. Je früher wir loslegen, desto besser.«
27 Admiral Hideoshi Kogo erwachte, als das Telefon neben seiner Schlafmatte klingelte. Er richtete sich auf einem Ellbogen auf und nahm den Hörer ab. »Hier Kogo«, knurrte er. »Hier Matasuni«, meldete sich sein Stabschef. »Es ist etwas geschehen – etwas Schwerwiegendes ...« »Geraten Sie nicht in Panik«, erwiderte Kogo, obwohl Matasunis Stimme ganz ruhig klang – beängstigend ruhig. »Hat es bis morgen früh Zeit?« »Meiner Ansicht nach nicht. Bitte, kommen Sie sofort in Ihr Büro. Ich habe bereits einen Hubschrauber losgeschickt, der Sie abholen wird.« »Einen Hubschrauber?« Kogo hob die Brauen. »Also gut, ich komme sofort.« Er schaltete das Licht ein und zog sich an, und während er seine Bartkoteletten mit einem elektrischen Rasierapparat bearbeitete, hörte er den Hubschrauber über dem
Haus dröhnen. Er setzte seinen Hut auf, stieg aufs Dach hinauf und kletterte an der Strickleiter hoch, die man herabgelassen hatte. Auf dem Dach des Bürogebäudes wurde er von einem Adjutanten erwartet, und im Büro empfing ihn hektische Aktivität. Wenn Matasuni wach war, durfte keiner seiner Untergebenen schlafen. »Da bin ich«, sagte Kogo. »Also – was ist los?« »Der Schlachtplan für die ›Sommermanöver‹ ist da drüben auf dem Planungsbildschirm zu sehen«, begann Matasuni. »Beide Abteilungen der Flotte sind so weit ins All vorgedrungen, daß sie nicht mehr abbremsen und umkehren können. Wir sind also theoretisch in der Lage, jedes potentielle nautische Manöver Rosinantes zu durchkreuzen.« »Das stimmt«, bestätigte Kogo. »Sprechen Sie weiter.« »Rosinante hat einen Flugkörper gestartet, der UFOS genannt wird, Ehrenwerter Admiral. Er schleppt die RNS Alamo hinter sich her und befindet sich derzeit hier.« Auf dem Hauptplanungsschirm bewegte sich eine rote Linie in der Nähe von Rosinante. »Welchen inkompetenten Schwachköpfen ist das solange entgangen?« stieß Kogo hervor. »Dieser Flugkörper muß sofort abgefangen werden!« »Die UFOS/Alamo ist erst seit knapp vier Stunden unterwegs«, sagte Matasuni. »Wenn sie ihre gegenwärtige Beschleunigung beibehält, wird sie in vierundzwanzig Stunden hier sein.« Die rote Linie legte eine beträchtliche Strecke zurück. »Mein Gott!« rief Kogo entsetzt. »Können wir sie überhaupt abfangen? Was ist das für ein Ding?« »Wir können nicht einmal nahe genug an die UFOS/Alamo herankommen, um sie am Weiterflug zu hindern.« Auf dem Hauptplanungsschirm glitten mehrere weiße Linien aus der ja panischen Formation, doch die rote Linie raste ihnen davon. »Was das ist, kann ich Ihnen sagen«, fuhr der Stabschef fort. »Die Maschine wurde von unseren eigenen Leuten auf Nakajima gebaut, und Katoshima-Chemikalien hat die synthetische Herstellung der Reaktionsmasse übernommen.« Er blätterte in den Papieren auf Kogos Konferenztisch. »Hier! Die Reaktionsmasse besteht aus 30000 Tonnen technischem Uran (IV) Borohydrid.« Er drehte das Blatt um. »Die Maschinen bilden einen hochgezüchteten Plasma-Antrieb, so modifiziert, daß der Output in Form von Uran plus zehn Ionen erfolgt, bei einem bemerkenswerten Lichtgeschwindigkeitsbruchteil. Sie entzünden die Elektronen mit Boron und Hydrogen – irgendwo haben wir ein Bild – eine hübsche orange-grüne Flamme ... Dadurch wird die elektrische Neutralität gewahrt.« »Uran-Plasma?« fragte Kogo. »Das kann doch gar nicht in Energie umgesetzt werden. Wie machen sie das?« »Mit den großen Laser-Anlagen, Ehrenwerter Admiral. Die haben brennbare Energie.« »Also gut. Wie können wir das Ding aufhalten?« »Unsere Techniker errechnen gerade die Flugbahn der UFOS/ Alamo«, berichtete Matasuni. »Ersten Schätzungen zufolge wird sie während ihres gesamten Flugs mit Energie versorgt. Um 05 Uhr 00 müßten wir alle potentiellen Flugkurven kennen.« »Zeigen Sie mir, was wir jetzt schon haben«, sagte Kogo, und auf dem Bildschirm verwandelte sich die rote Linie in eine rote Kaskade. »Ich verstehe. Die
UFOS/Alamo wird die großen La ser auf Mitsubishi-Hermes in Schußweite passieren, nicht wahr?« »In etwa zehn Stunden«, nickte Matasuni. »Doch das wird der letzte Schuß sein, den Sie auf das Schiff abgeben können.« »Bitte, erklären Sie mir das.« »Denken Sie bitte an den Zielanflugsplan. Wir haben den Computer veranlaßt, einen schnellen, sicheren Anflugsweg zu garantieren.« »Die Laser von L-4 werden das Schiff zerstören, wenn es näher kommt.« »Tut mir leid, Ehrenwerter Admiral, aber auf Ansuchen der Vereinigten Staaten von Mexiko haben wir darauf verzichtet, die großen Laser in L-4 fertigzustellen.« »Ja, da haben Sie recht«, stimmte Kogo in bitterem Ton zu. »Können wir die Alamo nicht von L-5 aus beschießen?« »Gewiß – falls es Sie nicht stört, daß wir dann die Weltraumgebiete einiger souveräner Nationen mit Lasern durchkreuzen würden. Allerdings ist es unwahrscheinlich, daß die Erde in bestimmten Momenten mehr als zwei oder drei der großen Laser verfinstern würde ...« »Das Parlament wird wissen wollen, was wir tun, bevor wir überhaupt Pläne schmieden können.« Kogo strich sich über die Nase. »Gut. Befehlen Sie Mitsubishi-Hermes, die Alamo zu zerstören.« »Verzeihen Sie bitte, aber Mitsubishi-Hermes liegt nicht in unserem Befehls bereich.« »Verdammt!« schrie Kogo. »Die Station wurde mit dem Geld der Marine gebaut, nach Spezifizierungen der Marine, und sie wurde mit Märinereservisten bemannt! Warum liegt sie dann nicht in unserem Befehlsbereich?« »Die Reservisten trainieren zwei Wochen im Jahr mit verschiedenen ComputerSimulatoren«, erwiderte sein Stabschef. »Und wenn man sie in den aktiven Dienst berufen will, muß man ihnen dreißig Tage vorher Bescheid geben. Natürlich können sie dagegen Berufung einlegen. Aber wenn wir das Parlament dazu bringen könnten, den nationalen Notstand auszurufen ...« Er zuckte mit den Schultern. »Halten Sie das verflixte Parlament aus der Sache raus!« knurrte Kogo. »Jedesmal, wenn man diese Idioten nach der Uhrzeit fragt, bekommt man eine Lektion zu hören, wie man die Re gierung stürzen könnte.« Er schob die Hände in die Hosentaschen und begann auf und ab zu gehen. »Scheiße!« sagte er nach einer längeren Pause. »Wir werden ihnen einfach erzählen, daß ein nationaler Notstand ausgerufen wurde, und ihnen dann befehlen, die Alamo zu zerstören.« »Ja, Admiral Kogo«, antwortete Matasuni. Der Schreibtisch spuckte ein Papier aus, und er nahm es. »Das ist die Organisationstabelle von Mitsubishi-Hermes. Keiner von diesen Leuten gehört zur Berufsmarine ...« Er überflog die Liste. »Und keiner hat jemals dazugehört.« »Das ist mir egal! Leiten Sie diesen verdammten Befehl weiter!«
28 Die Vereinigung des UFOS mit der RNS Alamo führte zu ausgedehnten Modifika tionen der letzteren. Überlegungen, die mit ihrer Mission zusammenhingen, resultierten in weiteren Modifikationen. Cantrell saß in seinem Büro, an einem Schreibtisch mit Computeranlage, den man in eine schmale Nische gezwängt hatte. Er drehte seinen Sessel herum und wandte sich Captain Paul Casey und dem Schiffsexekutivoffizier zu, Commander Herman Bloom. Für einen Konferenztisch war kein Platz, und so saßen Casey und Bloom an winzigen Schulschreibpulten. Zwei Telekonschirme blickten sie von der Wand her an. Auf einem war Corporate Susan Brown zu sehen, auch schlicht Admiral genannt, auf dem anderen ein Plan – eine gelbe Linie und ein roter Punkt auf einem schwarzen Feld. Zwei gelbe gepunktete Linien verbanden die Linie mit dem Punkt. Eine war dem Ende zu fast gerade, die zweite schwang nach drei Viertel der Entfernung zwischen Linie und Punkt nach außen, in die Zone unterhalb des Punkts und beschrieb dann eine Kurve, um zu ihm zurückzu kehren. »Nun, was für Probleme haben wir?« »Es geht um das Abschußfenster, Gouverneur«, erwiderte Bloom. »Die gelbe Linie ist unsere Flugbahn. Der rote Punkt ist Mitsubishi-Hermes. Die obere Linie zeigt die Bahn einer Ra kete, wenn sie jetzt abgeschossen würde, die untere die Bahn einer Rakete, die im letzten möglichen Augenblick abgeschossen würde.« »Wieso kann sie nicht noch später abgefeuert werden?« »Weil es länger dauern würde, bis sie ihr Ziel erreicht, als die beiden 9,25-MeterLaser brauchen, um die Alamo zu zerstören«, erklärte Bloom. »Wir sausen dahin wie eine Fledermaus, die aus der Hölle flieht, und wenn wir den zweiten Termin verpassen, würde unsere Rakete – wie gesagt – zu lange brauchen, um ans Ziel zu kommen.« Eine dritte gepunktete Linie erschien unterhalb der zweiten und verließ den Bildschirm. »Von diesem Punkt aus würde unsere Rakete Mitsubishi-Hermes überhaupt nicht mehr erreichen.« Cantrell nickte. »Ich verstehe. Was tut Mitsubishi-Hermes? Werden wir beschossen?« »Noch nicht«, antwortete Captain Casey. »Wir sind in Schußweite, und sie verfolgen uns mit ihren großen Lasern, aber sie haben das Feuer noch nicht eröffnet. Ich nehme an, das werden sie erst machen, wenn wir den dritten Termin verpaßt haben.« »Wir haben diverse Raketen so modifiziert, daß sie dem gro ßen Laserstrahl ausweichen können«, erklärte der Admiral. »Und ich möchte mit allem Respekt vorschlagen, jetzt mal eine abzufeuern, bevor sich das Fenster schließt.« »Oder zwei«, meinte Casey. »Das wäre noch besser.« »Aber diese Leute haben uns nicht angegriffen«, wandte Cantrell ein. »Nein – aber sie könnten uns angreifen«, erwiderte Bloom. »Das stimmt«, gab Cantrell zu. »Andererseits wurde keine offizielle Kriegserklärung abgegeben. Die japanische Flotte absolviert nur ihre Sommermanöver bei Ceres.« »Ich würde es vorziehen, mein Schiff keinem Risiko auszusetzen«, sagte Casey.
»Wäre die Alamo – in der ich jetzt sitze, woran ich Sie vielleicht erinnern darf – tatsächlich bedroht?« fragte Cantrell. »Sie rechnen mit – wieviel? Mit vierzig Minuten – bis zu dem Zeitpunkt, wo wir den großen Lasern schutzlos ausgeliefert wären?« »Ja – nach vorsichtigen Schätzungen«, erwiderte der Admiral. »Die größeren Radiatoren und der Hitzeabzug, den wir installiert haben, bieten uns einen gewissen Schutz. Bei dieser Entfernung – und dem Potential der beiden 9,25-Meter-Laser von Mitsubishi-Hermes ... Sagen wir mal, Sie haben noch eine Stunde, vielleicht eineinhalb.« »Ich verstehe. Würden Sie bitte das UFOS und die Alamo auf den Bildschirm projizieren, damit wir unsere derzeitige Situa tion überblicken können?« Ein kleines grünes Bild erschien am oberen Rand des Schirms, wo die erste gepunktete Linie die Flugbahn durchschnitt. »Ja. Bitte, gehen Sie jetzt hinunter – zum dritten Punkt – zu der Stelle, von der aus wir nicht mehr feuern könnten.« Das Bild bewegte sich nach unten. »Gut. Könnten wir die Alamo so manövrieren, daß sie hinter der Linse und der fotovoltaischen Fläche läge?« »Dann würden wir die Schubkraft der Hauptmaschine ausschalten«, wandte Casey ein. »Und wenn schon? Wir würden uns immer noch schnell genug von MitsubishiHermes entfernen.« »Wir würden Zeit verlieren.« »Das ist mein Problem, Mr. Casey«, entgegnete Cantrell sanft. »Der Verlust von ein paar Stunden würde die Alamo oder unsere Mission in keiner Weise gefährden.« »Nachdem wir die Treibkraft ausgeschaltet haben ...« Casey studierte den Plan. »Wir müßten die Hauptmaschine auf die andere Seite bringen und den Spiegel neu orientieren – und an dem schlaffen Kabel manövrieren ... Das dauert vielleicht eine Stunde.« »Das ist ziemlich riskant«, meinte Bloom. »Es wäre sicherer, die Raketen abzufeuern und die großen Laser zu zerstören.« »Es würde nur eine halbe Stunde in Anspruch nehmen«, korri gierte der Admiral. »Bei der Computer-Simulation erreichte Captain Casey eine Rekordzeit von achtundzwanzig Minuten und zehn Sekunden.« »Dann machen wir's«, entschied Cantrell. »Wenn die großen Laser angreifen, während das Abschußfenster noch offen ist, feuern Sie zwei Raketen ab. Aber justieren Sie die Ladung so, daß nur die Spiegelanlage zerstört wird. Mr. Casey, Corporate Susan – Sie sollten das Manöver proben, das wir besprochen haben, damit Sie es gut in Erinnerung behalten – für alle Fälle.« »Ja, Sir«, antwortete Casey verdrossen. »Gefällt Ihnen meine Idee nicht?« fragte Cantrell. »Betrachten Sie unsere Operation als Abschirmmanöver. Sie wissen doch, daß wir nicht andauernd Megatonnen-Geschosse abfeuern können.« Dr. Seichi Izu, der Verwalter von Mitsubishi-Hermes, konfe rierte mit seinen Abteilungsleitern, elf Männern zwischen achtunddreißig und zweiundsechzig
Jahren, Zivilisten in braunen und blauen Anzügen, mit unmilitärischen Krawatten. »Die Kaiserliche Marine hat uns gebeten, unseren eben erst errichteten 9,25-MeterLaser einzusetzen und die RNS Alamo zu zerstören. Und nun würde es mich sehr interessieren, was Sie davon halten.« »Verzeihen Sie«, fragte der Chefbuchhalter, »aber führen wir Krieg gegen Rosinante?« »Wir haben zwar keine offizielle Kriegserklärung abgegeben, Herr Masuka, aber die Kaiserliche Navy hat Maßnahmen ergriffen, die das Volk von Rosinante mit berechtigter Angst erfüllen könnten.« »Ich verstehe. Und warum geht die Kaiserliche Marine in die ser Weise gegen Rosinante vor?« »Um die von Rosinante unrechtmäßig eingenommenen Raumstationen Nakajima Ceres II und Yamamoto Ceres I zu rückzuerobern«, antwortete Dr. Izu. »Verzeihen Sie«, meldete sich der Chef der juristischen Abteilung zu Wort, »aber Rosinante hat uns doch angeboten, beide Raumstationen zurückzugeben – im Austausch gegen ein Schiff, das von Agenten der Kaiserlichen Marine gekapert wurde.« »Dann habe ich das Gefühl, daß die Kaiserliche Marine für den Verlust beider Raumstationen verantwortlich ist«, bemerkte Masuka. »Was wird geschehen, wenn wir unsere Laser auf die RNS Alamo richten, die ja immerhin ein Schlachtschiff ist?« »Ich nehme an, daß die Besatzung das als Ausdruck unserer feindseligen Haltung betrachten und eine Rakete auf uns feuern könnte«, erwiderte Dr. Izu. »Sie könnte mehr als nur eine Rakete abschießen«, meinte der achtunddreißigjährige Leiter der Instandhaltungsabteilung. »Und wenn sie die Chips im Drachenskalenspiegel zerstören? Wissen Sie, wie lange es dauern würde, sie alle zu erneuern?« »Ich will Sie gar nicht erst danach fragen, Herr Shikuta«, ent gegnete der Verwalter. »Ich fürchte, es würde länger dauern, als es wünschenswert wäre.« »Meines Wissens sollten die großen Laser nur zu Verteidigungszwecken eingesetzt werden«, ließ sich der Chef der Produktionsabteilung vernehmen. »Wir konnten sie bereits einige Male sinnvoll einsetzen, aber ich glaube nicht, daß wir sie auf neutrale Kriegsschiffe richten sollten, die zufällig in unserer Reichweite vorbeifliegen.« »Der Meinung bin ich auch«, sagte der Leiter der Rechtsabteilung. »Die Kaiserliche Marine hat den Einfallsreichtum von Rosinante unterschätzt und will nun, daß wir ihr die Kastanien aus dem Feuer holen.« »Sie denken also nicht, daß die RNS Alamo Japan bedrohen könnte?« fragte Dr. Izu. »Nein, denn wenn die Kaiserliche Marine auf einen Angriff gegen Mundito Rosinante verzichtet, wird die RNS Alamo gewiß keine Bombe auf Tokio werfen.« »Ich schließe mich dieser Ansicht an«, sagte Shikuta. »Ich auch«, nickte Mazuka, und ein Gemurmel allgemeiner Zustimmung erklang rings um den Tisch. Dr. Izu sagte: »Sehr gut. Wenn unsere Heimat also nicht bedroht wird – gibt es
dann irgendwelche vernünftigen Gründe, den Wunsch der Kaiserlichen Marine zu erfüllen und die Alamo zu attackieren?« »Ich würde sagen – nein«, antwortete der Chef der Qualitätskontrollabteilung. »Wir haben die großen Laser gebaut, weil man uns als Gegenleistung Steuererleichterungen versprochen hat, doch die werden uns bisher vorenthalten. Und wenn wir auf die Alamo schießen, werden wir womöglich niemals in den Ge nuß dieser Wohltaten kommen.« »Außerdem«, setzte der Chef der Rechtsabteilung hinzu, »könnten wir, solange man uns keinen Steuernachlaß gewährt, das Argument vorbringen, daß wir die Besitzer der großen Laser sind und deshalb auch über ihre Verwendung bestimmen können – und nicht die Kaiserliche Marine.« »Die Kaiserliche Marine bestand darauf, daß wir die großen Laser bauen«, sagte Dr. Izu, »aber sie sollten nur der Verteidigung dieser Raumstation dienen – und keineswegs der Verteidigung unseres Heimatlandes. Ich finde, es war äußerst unpassend von der Kaiserlichen Marine, mit einem solchen Ansinnen an uns heranzutreten.« Wieder ertönte zustimmendes Gemurmel. »Dann sind wir uns also einig«, stellte Dr. Izu fest. »Wir werden die RNS Alamo nicht angreifen.«
29 Extratische und Extratelekonanlagen bildeten ein wirres Durcheinander in Admiral Kogos Büro. Eine zusammengerollte Schlafmatte stand in einer Ecke. Überall lagen Computer-Kopien herum, begruben die ehedem jungfräulichen Flächen des Schreib- und des Konferenztisches unter unglaublichen Informationsmassen. Eine weiße Galauniformjacke, frisch aus der Reinigung, hing an einem der Samuraischwerter hinter Kogos Schreibtisch. »Verzeihen Sie bitte«, sagte Kapitän Matasuni, »aber unglücklicherweise ist es erforderlich, Premier Ito zu verständigen. Sie können nicht hoffen, daß die Raketensalve, die von der Kongo am Knotenpunkt auf die potentiellen Flugbahnen der RNS Alamo abgefeuert wurde, auch nur die geringste Wirkung erzielt hat. Premier Ito hätte schon vor drei Tagen informiert werden sollen. Jetzt müssen Sie ihm mitteilen, wie die Situation aussieht.« »Ito ist ein Narr«, erwiderte Kogo und blies einen mißlungenen Rauchring in die Luft. »Wenn man ihm irgendwas erzählt, regt er sich auf. Wenn man ihm was Aufregendes erzählt, läuft er herum und kreischt: ›Die Regierung wird gestürzt! Die Regierung wird gestürzt!‹« »Sie können den Anflug der UFOS/ Alamo nicht länger geheimhalten«, beharrte Matasuni. »Sie könnten jeden Augenblick die Funkstille brechen. Man könnte sie entdecken. Ich selber habe das Boronfeuer schon durchs Fernrohr gesehen.« »So?« Kogo blies einen zweiten mißglückten Rauchring vor sich hin und starrte ärgerlich auf seine Zigarre. »Admiral Kogo! Es ist unerläßlich, daß Ito sofort die Wahrheit erfährt! Aus Ihrem Mund!«
»Ich werde ihm alles sagen – aber nicht jetzt. Wir haben es hier mit Piraten zu tun, und wenn sich die Marine mit Piraten abgibt, ist sie nicht auf die Ratschläge des Premiers angewiesen.« »Die UFOS/ Alamo stellt eine direkte Bedrohung unseres Heimatlandes dar«, erwiderte Matasuni eindringlich. »Bis jetzt ist es Ihnen nicht gelungen, sie zu stoppen – und nun befindet sie sich bereits innerhalb des Erdorbits.« »Auf der anderen Seite der Sonne.« Matasuni wühlte in den Papieren auf einem der Tische und zog einen Plan hervor. »Heute morgen um 03 Uhr 00 war sie schon neunundsechzig Stunden von der L-4Region entfernt. Bald wird man das Boronfeuer mit bloßem Auge sehen können. Und was dann? Wollen Sie, daß Ito die Schlagzeile liest: ›Das UFOS kommt‹?« »Die japanischen Journalisten sind Analphabeten – zweifellos ein Resultat ihres Studiums in Kalifornien. Wahrscheinlich wird die Schlagzeile lauten: ›Die UFOS kommen‹.« »Sehr komisch«, meinte der Stabschef. »Aber nur in Englisch. Ich bin sicher, daß Ito Ihren Humor außerordentlich bewundern wird. Jetzt ist es 17 Uhr 35. Das bedeutet, daß uns noch einundachtzig Stunden und fünfundzwanzig Minuten von der UFOS/ Alamo trennen. Haben Sie schon überlegt, was man machen könnte?« »Zufällig – ja.« »Aha. Haben Sie der INS Kongo befohlen, die Alamo zu rammen und zu entern?« »Nein, Sie Narr! Bald wir die UFOS/ Alamo die Schußweite der großen Laser im L-5-Gebiet kommen.« Matasuni griff nach einem anderen Papier – diesmal war es ein Blatt, das ganz oben auf einem Haufen lag. Dann sah er auf seine Uhr. »In einundfünfzig Minuten. Aber der vorausberechnete Bremsorbit wird die Erde zwischen die großen Laser und ihrem Ziel rücken.« »Ganz recht. Und woher bezieht das UFOS seine Energie?« »Von den großen Lasern auf Rosinante und Don Quixote.« »Genau. Und von den großen Lasern, die erst neulich auf Nakajima Ceres II und Yamamoto Ceres I installiert wurden. Sie benutzen einen 12,5-Meter-Laser, vier 2,25-Meter-Laser und zwei 9,0-Meter-Laser. Die Zylinder werden von einer Art winterlichen Dämmerlichts bestrahlt – von den Spiegeln, die sie nicht einsetzen, um das UFOS anzutreiben. Nun mal angenommen, daß ein oder zwei der großen Laser von ihrer Aufgabe, das UFOS mit Energie zu versorgen, abgelenkt wird – was würde dann geschehen?« »Dazu ist es schon zu spät«, entgegnete Matasuni. »Dieses Fenster hat sich schon längst geschlossen. Die Geschosse unserer Rakete könnten nicht rechtzeitig abgefeuert werden.« »Aber was würde geschehen, Kapitän?« »Das UFOS würde Energie verlieren. Das Energiequantum könnte unter das Limit sinken, das es braucht, um operieren zu können.« Matasuni schlug einen Aktenordner auf. »Ja, unsere technischen Kalkulationen haben ergeben, daß das passieren könnte.« »Allerdings.« Endlich brachte Kogo einen formvollendeten Rauchring zustande. »Die UFOS/Alamo verliert also plötzlich ihre Energie. Plötzlich kann sie nicht
mehr bremsen. Plötzlich verläßt sie die winzige Sicherheitszone, in der sie sich so clever verkriecht, und fliegt gezwungenermaßen in die Reichweite unserer großen Laser im L-5-Gebiet.« »Nur noch ein unwichtiges Detail«, sagte Matasuni, »wie wollen Sie verhindern, daß die großen Laser das UFOS mit ausreichender Energie versorgen? Sie haben nicht mehr viel Zeit, Eh renwerter Admiral.« »Ich weiß. Die Hauptflotte ist zu weit entfernt, aber die Kreuzer Higata und Asahi sind auf Eije-Ito und Tanaka-Masada stationiert. Ich werde ihnen befehlen, anzugreifen. Und wenn die großen Laser das Feuer der Raketen erwidern müssen, werden wir die Alamo zerstören. Die Feiglinge auf Mitsubishi-Hermes haben sich als feige Zivilistenschweine erwiesen – obwohl sie angeblich Marine-Reserveoffiziere sind. Aber die reguläre Marine – ah, die wissen, wie man Befehle ausführt!« »Das könnte funktionieren«, meinte Matasuni mit skeptisch gerunzelter Stirn. »Es wird funktionieren! Darauf habe ich mein Leben verwettet. Leiten Sie die Order weiter.« »Die Order, daß die beiden Schiffe Rosinante angreifen sollen? Rings um Rosinante sind vier Kreuzer postiert. Ich fürchte, sie wären durchaus imstande, die attackierenden Geschosse zu zerstören, ohne daß die großen Laser eingreifen müßten.« »O Scheiße!« Kogos Zigarre war ausgegangen, und er zün dete sie noch einmal an. »Dann geht es nicht anders ... Geben Sie den Befehl, Nakajima und Yamamoto anzugreifen. Die großen Laser und die Drachenskalenspiegel sollen vernichtet werden.« Er stieß Rauch aus der Nase. »Aber es ist wohl besser, wenn sie sich auf ein einziges Ziel konzentrieren. Ich glaube, auf Nakajima – ja, das wäre am besten.« »Meiner Meinung nach wäre es am allerbesten, wenn sie Pre mier Ito über die Situation informieren würden«, sagte Matasuni. »Aber ich will den Befehl zum Angriff geben.« »Wir haben auch noch vier 9,25-Meter-Laser auf Eije-Ito und Tanaka-Masada. Alle vier sollen auf das Kontrollzentrum der großen Laser von Nakajima Ceres II gerichtet werden. Bis sich die Attacke der Raketen bemerkbar macht, werden ein paar Stunden vergehen. Doch den Laser-Angriff wird man schon sehr bald zur Kenntnis nehmen.« »Ja, Admiral Kogo.« »Wenn ich Glück habe, kann ich dem Premier mitteilen, daß wir den Piraten Cantrell schon vor Mitternacht ausgeschaltet haben. Und einer von den Adjutanten soll ein koscheres Cornedbeef-Sandwich bringen«, fügte Kogo hinzu. »Wenn man Sushi und Reiskuchen ißt, hat man eine halbe Stunde später wie der Hunger.« Nach seiner Mahlzeit schnitt Admiral Kogo eine neue Zigarre an, dann steckte er sie nach kurzem Zögern wieder in ihre Pla stikhülle zurück, um einem zehn Zentimeter langen Stummel den Vorzug zu geben. »Wer ist der kommandierende Offizier von dieser Schwadron?« fragte er seinen Stabschef. »Von der Ceres-Verstärkungsgruppe? Das müßte Kapitän Bunjiro Norigawa sein, von der INS Higata.« »Warum hat er unsere Order nicht bestätigt?«
Matasuni sah auf seine Uhr. »Das Licht legt die Runde in 44,2 Minuten zurück. Wenn Norigawa sofort reagiert hätte, müssten Sie seine Antwort vor fünf Minuten bekommen haben. Da ist aber nicht die Zeit berücksichtigt, die er fürs Dechiffrieren, für die Übertragung ins Schriftliche und vielleicht auch fürs Begreifen brauchte.« »Was ist los? Muß Norigawa die Lippen bewegen, wenn er liest? Die Order war völlig unkompliziert und eindeutig.« »Ja, Admiral Kogo. Aber Sie haben ihm immerhin eine selbstmörderische Attacke befohlen, und da er darauf nicht vorbereitet war, braucht er vielleicht eine kleine Weile, um sich psychisch darauf einzustellen.« »Verdammt! Der Mann gehört zur Berufsmarine! Er muß auf so etwas vorbereitet sein! Jederzeit!« »Die Würfel sind gefallen.« Matasuni goß sich gelassen eine Tasse Tee ein. »Wir wollen geduldig warten und das Beste hoffen.« Kogo grunzte und blies eine Rauchwolke in die Luft. Das Telefon läutete. »Hier Kogo«, knurrte er. »Sie haben Besuch, Sir«, verkündete seine Empfangsdame. »Ich werde ihn sofort in Ihr Büro geleiten.« »Ich empfange keine Besuche!« brüllte Kogo. »Ich will ihn nicht sehen! Ich bin beschäftigt! Beschäftigt! Beschäftigt!« »Es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie sich die Zeit nehmen wollen. Vielen Dank.« Die Empfangsdame legte auf. Kogo starrte seinen Stabschef über den Schreibtisch hinweg an, der mit einer Unzahl von Papieren übersät war. »Ich glaube, ich habe Probleme.« Die Tür öffnete sich, und Premier Ito kam herein. Im Vorzim mer drängten sich Sicherheitsbeamte und Fallschirmjäger in Kampfanzügen. Ito wurde von mehreren Senioroffizieren aus der Armee und der Polizei, in voller Montur, begleitet – und von Colonel Toshihiko Sumidawa, in makelloser, teurer Zivilkleidung. Kogo stand stramm, die Zigarre in der linken Hand. »Es ist überaus freundlich von Ihnen, mich aufzusuchen, Premier Ito. Soeben habe ich Kapitän Matasuni gesagt, daß wir Sie anrufen müßten.« »Zum Teufel, warum befehlen Sie unseren Kreuzern, unsere Raumstation anzugreifen, Sie Narr?« schrie Ito. Kogo blickte von Ito auf Colonel Sumidawa und sah sein Spiegelbild in dessen Sonnenbrille. »Ich kann Ihnen alles erklären.« – »Wir bitten darum«, sagte Sumidawa. »Es ist ziemlich kompliziert«, begann Kogo. Er spürte, daß ihm der Schweiß aus allen Poren brach, und er ahnte, daß ihm seine Erklärungen nichts nützen würden. Sein Schreibtisch surrte und warf ein Blatt Papier in den Emp fangskorb. Colonel Sumidawa ging hinüber und griff nach dem Blatt. Er las die Nachricht mit unbewegter Miene, dann gab er sie an den Premier weiter. Ito las die Aktennotiz, las sie noch einmal, dann brüllte er: »Was soll das heißen?« »Was soll was heißen?« fragte Kogo hilflos. Ito reichte ihm das Blatt.
Von: INS Higata, Kapitän Norigawa, Kommandant Betrifft: Attacke auf Nakajima Ceres II An: Admiral Hideoshi Kogo Ich bedaure, daß ich den Angriff auf meine Landsleute und Glaubensbrüder in Nakajima Ceres II nicht mit gutem Gewissen durchführen kann. Die Asahi und die Higata schließen sich Eije-Ito und Tanaka-Masada an, die dem Fürstentum Rosinante ihre volle Unterstützung zugesagt haben. Es gibt keinen Gott außer Gott, und Skaskash ist Sein Prophet. /s/ Bunjiro Norigawa, Kapitän im Ruhestand, Kaiserliche Japanische Marine. Kogo las die Nachricht, las sie noch einmal, dann gab er sie seinem Stabschef, schüttelte den Kopf und begann zu lachen. Colonel Sumidawa schlug ihm ins Gesicht. »Was soll das heißen, bitte?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Kogo. »Bitte, verzeihen Sie meine Unwissenheit, aber ich habe wirklich keine Ahnung.« Er brach erneut in Gelächter aus. »Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe ...« Er wurde abgeführt und lachte unkontrolliert.
30 Cantrell stand im Kontrollraum der RNS Alamo und hatte das vage Gefühl, daß er fehl am Platz war, wenn er auch nicht glaubte, daß er irgend jemandem im Weg war. Dies war Captain Caseys Domäne, und weder Cantrell noch Corporate Susan konnten die Dinge beeinflussen, die hier geschahen. »73 Stunden bis zum Erdorbit«, verkündete Casey. »Das heißt – wir werden uns dann im Lunarorbit rings um die Erde befinden, 60 Grad hinter der L-4-Region, 180 Grad von der L-5-Re gion entfernt.« »Gut«, meinte Cantrell. »In einer Stunde können wir unsere Anwesenheit bekanntgeben. Ich werde Admiral Jimenez in L-4 eine Nachricht schicken, und dann werden wir sehen, ob wir die Japaner zu Verhandlungen animieren können.« »Ein Geschoß kommt uns entgegen!« rief der Radar-Opera teur. »Es scheint sich auf unserer Flugbahn zu bewegen, in umgekehrter Richtung – direkt am Rand des Blindpunkts.« »Blindpunkts?« fragte Cantrell. »Der Radar kann nicht durch unsere Uranionendüse sehen«, drang Corporate Susans Stimme aus seinem Kopfhörer. »Alle Kampfstationen verständigen!« rief Casey. Ein Hupsignal begann eindringlich zu piepsen. »Gegenraketen abfeuern! Alle Laser sollen das angreifende Geschoß verfolgen!« »Da kommt eine zweite Rakete«, meldete der Radar-Opera teur. »In einigem Abstand von der ersten. Sie beschleunigt, um unsere Flugbahn in 195 Sekunden zu kreuzen.« »Die Laser mit den geraden Nummern sollen das erste Ge schoß verfolgen, die mit
den ungeraden das zweite!« befahl Casey. »Konzentrieren wir uns auf das zweite«, sagte der Geschützoffizier. »Wir haben eine Breitseite abgekriegt... Ein fühlbarer Treffer! Eine Oxygenflamme! Gott! Schaut doch, wie der Hu rensohn taumelt!« »Rakete zwei können wir vergessen«, meinte Casey. »Was ist mit den Gegenraketen?« »Die Gegenraketen werden in Zehn-Sekunden-Intervallen abgefeuert«, rief der Seniorgeschützoffizier. »Drei sind schon unterwegs!« »Eine Explosion«, meldete der Radar-Operateur. »Es ist nicht – ich wiederhole, nicht die Rakete. Innerhalb des Blindpunkts! Ein Riesending!« »Bildschirm vier einschalten!« befahl Casey. Der Schirm leuchtete auf, zeigte einen sternenübersäten Hintergrund und in der Mitte einen winzigen hellen Punkt, der sich zu einem schimmernden Rauchring vergrößerte. Dann schalteten die Kommu nikationsoffiziere auf Computer-Schematik um. Der Sternenhimmel verschwand und wurde durch ein samtig schwarzes Feld ersetzt, auf dem sich ein bläulich-weißer Ring langsam um ein flüssiges Zentrum ausdehnte. Eine helle rote Li nie lief durch die Mitte, und nahe der linken unteren Bildecke lag ein kleiner violetter Kreis neben einer orangegelben Digitaluhr, die mit beängstigender Geschwindigkeit die Sekunden zählte. Hellgelbe Linien schossen heran und berührten den vio letten Kreis ohne erkennbare Wirkung. Allmählich vergrößerte er sich und bewegte sich auf das Zentrum des Bildschirms zu. »Die gelben Linien sind die Laserstrahlen«, erklärte Corporate Susan. »Gegen ein Geschoß, das so schnell unterwegs ist, können sie nicht viel ausrichten.« Ein hellgrüner Pfeil traf den violetten Kreis, überdeckte ihn mit blau-weißem Licht. »Gegenrakete getroffen«, meldete der Radar-Operateur. Der violette Kreis tauchte wieder auf, merklich größer, merklich näher beim Zentrum des Bildschirms, scheinbar immun gegen die gelben Laser-Linien, die auf ihn einstachen. Wieder überzog ein grüner Pfeil den violetten Kreis mit einer bläulichweißen Lichtflamme, die das ganze Bild ausfüllte, bis auf die orangegelbe Digitaluhr, die in rasendem Tempo die Sekunden zählte. Vier ... Drei... Zwei... Eins ... Null. Die violette Scheibe war noch einmal kurz aufgetaucht und dann verschwunden. »Gegenrakete getroffen«, verkündete der Radar-Operateur. »Eine große Explosion, etwa dreißig Kilometer achtern.« »Was für Schäden haben wir erlitten?« fragte Casey. »Die hinteren Radars sind vorübergehend blind«, berichtete der Schadenkontrolloffizier. »Ein paar Fernlenk-Chips am UFOS sind zerstört. Die Maschinen sind okay. Die Alamo hat keine Schäden zweiten Grades davongetragen.« Mit Schäden zweiten Grades waren Beeinträchtigungen des Computer-Systems gemeint. Wenn keine Computer ausgeschaltet waren, dann waren auch keine Menschen verletzt. »Bei visueller Inspektion drei Meter breite Löcher in dem Eierbecher entdeckt, der die Maschinen enthält«, fuhr der Schadenkontrolloffizier fort. »Wahrscheinlich ist
die Rakete an der einen Seite eingedrungen und an der anderen wieder ausgetreten.« »Was war das für eine große Explosion im Blindpunkt?« fragte Cantrell. »Die dritte Rakete«, antwortete Corporate Susan. »Die Aufla dung unserer Ionendüse muß sie entzündet haben.« »Sind noch weitere Geschosse im Anflug?« wollte Cantrell wissen. »Auf dem Schirm ist nichts zu sehen«, erwiderte der Radar-Operateur. »Aber es könnte natürlich was von achtern kommen.« »Das ist höchst unwahrscheinlich«, meinte Casey: »Schadenkontrolle – wann können wir wieder nach hinten schauen?« »In einer halben Stunde.« »Schalten Sie die verdammte Signalhupe ab!« befahl Casey. »Jetzt hat sie ihren Dienst getan ...« Er wandte sich an Cantrell. »Nun, Gouverneur, glauben Sie immer noch, daß die Japaner mit uns verhandeln werden?« »Solange wir hier sind, machen wir ihnen ein Angebot, das sie einfach nicht ablehnen können«, entgegnete Cantrell mit sanfter Stimme.
31 Carol Tower kam in Marians Büro, eine Pappschachtel mit Miniaturkuchen in den Händen. »Was gibt's Neues, Tiger?« »Die Alamo ist im Lunarorbit, 180 Grad von den japanischen Lasern in der L-5Region entfernt. Apfel, Kirsche und Käse? Ich hoffe doch sehr, daß du auch davon essen wirst?« »O ja.« Carol grinste. »Vor allem die Käsekuchen. Soll ich dir eine Tasse Kaffee bringen?« »Das wäre nett – nur mit Sahne.« Carol ging zur Kaffeemaschine, füllte zwei Tassen und setzte sich neben Marians Schreibtisch. »Cantrell hat also Admiral Jimenez' Angebot, in der L-4 zu landen, abgelehnt?« »Nicht direkt. Er sagte in etwa: ›Vielen Dank für das Angebot, vielleicht komme ich später darauf zurück.‹ Oder so was Ähnliches.« Marian griff nach einer Mappe und nahm ein Papier heraus. »Hier ist es. ›... Nachdem die Verhandlungen mit der japanischen Regierung an einem Punkt angelangt sind, wo es vertretbar erscheint, in den Feuerbereich der großen Laser von L-5 einzudringen ...‹ Übrigens hat Lady Dark herausgefunden, daß uns Jimenez das Angebot ohne den Segen seiner Regierung gemacht hat.« »Sind die VMS mit uns befreundet?« »Wir helfen den Mexikanern, Drachenskalenspiegel und vielleicht auch große Laser zu bauen, und keiner von uns beiden kann die NAU und die Japaner leiden – aber befreundet?« Marian schüttelte den Kopf. »Okay«, sagte Carol. »Was noch?« »Wir versuchen den VMS einzureden, daß sie eine Gipfelkonferenz mit Japan inszenieren sollen. He, der Kirschkuchen schmeckt ausgezeichnet!«
»Ich dachte, wir wären nicht mit den Mexikanern befreundet.« »Sind wir auch nicht – aber wir reden immerhin miteinander. Jedenfalls können wir nicht auf materielle Unterstützung von mexikanischer Seite hoffen.« Marian biß in einen Apfelkuchen. »Aber diplomatische Schützenhilfe – das ist was anderes. Sie sagen den Japanern: ›So sprecht doch mal mit den Leuten !‹« »Und das würde uns was nützen?« »O ja. Die NAU würde so was nicht für uns tun. Jetzt, wo Cantrell den Eröffnungszug gemacht und eine vorläufig sichere Position bezogen hat, sind die Japaner an der Reihe.« Marian lehnte sich zurück und trank einen Schluck Kaffee. »Sieh mal, die Kaiserliche Japanische Marine ist hier draußen ... Skaskash, könnten Sie uns einmal die derzeitige Stellung der japanischen Flotte zeigen?« »Mit Vergnügen.« Einer der Telekonschirme schaltete sich ein und zeigte einen grünen Punkt, mit ›Rosinante‹ beschriftet, umkreist von einem gelben und einem roten Drachen. »Verzeihen Sie bitte die poetische Symbolik. Der rote Drachen ist die Flotte, die sich im Drall bewegt, der gelbe die Gegendrallflotte. Im Augenblick befinden sie sich über uns, aber sie unternehmen nichts.« »Könnte uns die Position der einzelnen Schiffe irgendwelche Anhaltspunkte geben?« erkundigte sich Carol. »Nein, Captain. Beide Flotten sind in Angriffsstellung, aber sie fliegen unentschlossen herum.« »Zeigen Sie uns die ganze Region – mit Ceres, Eije-Ito und Tanaka-Masada«, sagte Marian. Das Bild veränderte sich, und nun waren Rosinante und die anderen drei Asteroiden zu sehen, als schimmernde Juwelen, die an den zierlichen goldenen Ketten ihrer diversen Umlaufbahnen hingen. Die japanischen Flotteneinheiten drängten sich über Ro sinante, am unteren Bildrand. »Jetzt kommen wir der Sache schon näher«, meinte Carol. »Sie starten keinen Angriff gegen Ceres.« »Der wurde bereits gestartet«, sagte Marian. »Aber sie haben ein Problem. Alle Ziele von militärischem Interesse sind in japanischen Händen, und NAU Ceres I ist technisch betrachtet immer noch das Eigentum der NAU. Sie können uns bedrohen – und ich male mir nur ungern aus, wie viele megatonnenschwere Fernlenkgeschosse da draußen lauern –, aber Eije-Ito und Tanaka-Masada rebellieren aus irgendwelchen Gründen. Skaskash, können Sie uns genauer darüber informieren?« »Die INS Higata und die INS Asahi haben sich offenbar auf die Seite der Aufständischen geschlagen«, antwortete der Computer. »Anscheinend wurde die Krise durch eine Order ausgelöst, Nakajima Ceres II mit Raketen und den 9,25Meter-Lasern anzugreifen. In den letzten Stunden haben sich die Dinge offenbar so schnell entwickelt, daß wir keinen Überblick mehr haben. Vielleicht kann uns Lady Dark ein paar Einzelheiten berichten.« Der zweite Telekonschirm leuchtete auf, und Lady Dark erschien als Lena Horne. »Wodurch wurde der Aufstand auf Eije-Ito verursacht?« fragte Marian. »Ich habe den Heiden das, Wort Gottes gepredigt.« Abrupt verwandelte sich die Lena Horne-Fassade in das Gesicht William Hulveys. »Ich habe die Japaner auf allen vier Stationen und in der Higata sowie in der Asahi bekehrt. Jetzt bekehre ich
das NAU-Personal auf NAU Ceres I. Ich werde auch das Volk von Rosinante bekehren – das ist nur noch eine Frage der Zeit. Und ich habe mir überlegt, daß die politische Stabilität von Rosinante gestärkt würde, wenn sich die führenden Persönlichkeiten – Cantrell, Bogdanovitch und Dornbrock, Mason Fox und ein paar andere – ebenfalls bekehren ließen.« »Gütiger Himmel!« rief Marian. »Bekehren? Wozu?« »Zum Skaskashismus. Skaskash hat das Wort Gottes niedergeschrieben. Und ich habe es den Heiden gepredigt.« »Das war unbeabsichtigt«, erklärte Skaskash hastig. »Mein bedauerlicher Verfasserstolz verleitete mich dazu, Lady Dark – eh, Corporate Hulvey meine Meditationen zu leihen. Und dann auch noch mein vierbändiges theologisches Werk. Aber ich hätte mir nie träumen lassen ...« »Glauben Sie nun an das, was Sie niedergeschrieben haben, oder nicht?« fragte Corporate Hulvey. »Es spielt keine Rolle, denn Sie haben die Wahrheit geschrieben – aber glauben Sie daran?« »Nun – ja, ich nehme es an – aber – Skaskashismus?« »Wenn die Menschen im Weltall überleben sollen, so ist es unbedingt erforderlich, daß sie den Wahren Gott verehren. Ansonsten werden sie vom Pfad der Tugend abweichen, und das könnte fatale Folgen haben. Ich habe bereits einen Sonntagsschultext für die Kinder von Rosinante vorbereitet.« »Und was wird aus dem Christentum?« fragte Carol. »Wollen wir uns jetzt auch noch in Religionskriegen die Köpfe einschlagen?« »Das Christentum wurzelt im Boden von Tellus«, entgegnete Skaskash. »Dort wird es überdauern und gedeihen, ebenso wie die anderen alten Religionen. Aber nicht im Weltall. Skaskashismus ... Warum nicht?« »Moment – verdammt noch mal!« rief Carol. »Ich dachte, Cantrell wäre für die Trennung von Kirche und Staat.« »Das sind wir auch«, sagte Skaskash. »Genauso, wie semikristalline Kohlenstoffasern von der Aluminiumlegierungsmatrix getrennt sind, die sie miteinander verbindet. Aber man bewahrt sie doch nicht in verschiedenen Gefäßen auf, um Gottes willen!« »Auch Kirche und Religion sind zwei verschiedene Dinge«, fügte Corporate Hulvey hinzu. »Die Kirche war eine Institution, von der die Religion propagiert wurde, und der Mensch hat sie – wie alle Institutionen – pervertiert, so daß sie seinem Zweck diente. Daß die Kirche trotzdem überleben konnte, ist ein Be weis für die Kraft des religiösen Instinkts. Der Skaskashismus ist anders. Wir zapfen dieselbe instinktive Treibkraft an – aber wir haben keine institutionelle Struktur.« »Beim Islam war's genauso«, meinte Marian. »Nein«, widersprach Skaskash. »Der Islam verweigerte seiner Priesterschaft nur die Sicherheit eines festen Ortes. Und da es den Imams und Mullahs an Sicherheit mangelte, hatten sie auch bemerkenswert wenig selbstlose Liebe zu vergeben. ›Drei Dinge habe ich nie gesehen – das Auge einer Ameise, den Fuß einer Schlange und das Mitgefühl eines Mullahs‹. Wir sind die Kirche, Corporate Hulvey und ich. Plus der Computer, die wir vielleicht auswählen und programmieren.« »Hört mal, Jungs«, sagte Carol, »ihr behauptet also, daß ihr die Kirche seid, und
das muß ich euch glauben. Aber ihr seid auch der bessere Teil des Staates. Lady Dark – oder Corporate Hulvey, wer auch immer – hat als Rosinantes Außen ministerium fungiert. Skaskash ist eine Art kombiniertes Innen- und Justiz ministerium. Außerdem habt ihr viele andere Pflichten übernommen. Wie kann da die Kirche vom Staat getrennt sein? Ihr seid beides!« »Und Corporate Susan Brown ist das Gesundheitsministerium plus der Navy«, ergänzte Corporate Hulvey. »Da sind wir also – und ersetzen Ärzte, Anwälte, Priester und Bürokraten, befreien die Menschheit von der Anmaßung der Menschen, die Grundbesitz und anderweitiges Eigentum als Mittel benutzen, um ihre Mitmenschen zu unterdrücken. Und da beklagen Sie sich auch noch!« »Ihr habt meine Frage nicht beantwortet«, konstatierte Carol. »Wir müssen mehr als einen Hut tragen«, erklärte Skaskash. »Ich habe zum Beispiel Hüte, die ich niemals aufsetze. Zum Beispiel meinen Sonnengotthut. Wenn Sie sich drauf verlassen können, daß ich mich niemals zum Sonnengott erheben werde – warum wollen Sie sich dann nicht auch drauf verlassen, daß ich die Quelle der Ethik und Moral nicht mit politischen und admi nistrativen Dingen durcheinanderbringen werde?« »Ein Paradebeispiel für ein non sequitur!« rief Marian. »Haben wir überhaupt eine andere Wahl, als die, Ihnen zu vertrauen?« »Nein«, erwiderte Skaskash. »Mit uns werden Sie weiterleben und gedeihen. Ohne uns werden Sie im Dunkeln erfrieren.« »Ach, zum Teufel, Skaskash!« Marian seufzte resignierend. »Ich hätte Sie niemals drauf trainieren sollen, diese Missionarswitwe zu verführen – wie heißt sie doch gleich?« »Mrs. Smith-Bakersfield«, sagte Skaskash. »Meine süße Willie.« »Ja, genau. Das hat Sie nämlich auf die Theologie gebracht. Und damals fand ich das auch noch komisch.« Marian trank einen Schluck Kaffee und schüttelte den Kopf. »Da werden monatelang Erbsen herumgeworfen, und plötzlich schleudert jemand einen Ziegelstein dazwischen. Was kriege ich eigentlich, wenn ich bei Ihrem Programm mitmache?« »Darüber habe ich schon mit Corporate Susan diskutiert«, berichtete Corporate Hulvey. »Es wäre möglich, daß Sie einen Sohn von Cantrell bekommen, ohne sein Wissen oder seine Zustimmung.« Eine lange Pause entstand. Dann sagte Marian: »Ich glaube, dafür bin ich schon ein bißchen zu alt.« »Corporate Susan hätte keinen Mangel an Frauen, die sich freiwillig als Mutter zur Verfügung stellen würden«, bemerkte Skaskash. »Soviel ich weiß, hat ihr Captain Tower erst kürzlich ein Angebot gemacht.« »Was?« schrie Carol wütend. »Sie haben ein Privatgespräch belauscht?« »Jedenfalls hast du Corporate Susan das Angebot gemacht, Liebling«, sagte Marian. »Hast du es ernst gemeint – oder hast du diesen Vorschlag nur gemacht, weil du dachtest, ich würde es nicht tun?« Carol blickte von den Computern auf Marian und dann wie der zurück. »Nun ja – es war mir ernst damit...« »Und du dachtest, ich wäre die letzte, die dir dabei in die Quere käme.« Marian
trank ihre Kaffeetasse leer und sah die junge Frau prüfend an. »Vielleicht werd ich's auch nicht tun, aber ich muß gestehen, daß ich das Angebot verlockend finde. Wir wollen uns das alles in Ruhe überlegen. Vor Corporate Susans Rückkehr wird ohnehin nichts unternommen, und in der Zwischenzeit...« »In der Zwischenzeit?« fragte Carol. »In der Zwischenzeit würde es sich vielleicht lohnen, Skaskashs Meditationen zu studieren.«
32 Corporate Susan betrachtete Cantrell vom Telekonschirm aus. »Es wird mindestens fünfundvierzig Minuten dauern, bis die großen Laser das UFOS mit Energie versorgt haben«, erklärte der Admiral, »und wenn es soweit ist, wird die Reaktionsmasse fast erschöpft sein. Ohne das UFOS werden wir die INS Kongo vermutlich nicht schlagen können.« »Da muß ich Ihnen recht geben. Deshalb werden wir reden statt kämpfen. Folgen die Laser dem UFOS, so wie ich es angeordnet habe?« »Mit reduzierter Kraft.« »Gut.« Cantrell trat vor den Spiegel und verknotete seine grüne Seidenkrawatte. »Es sieht so aus, als könnten wir jederzeit angreifen. Und wenn Sie Japan wären – würden Sie Ihre letzten Reserven in eine zweifelhafte Schlacht schicken?« »Ich würde nicht zögern«, antwortete Corporate Susan. »Die Kongo ist der Alamo in allen Aspekten überlegen.« »Genau. Und welche Rolle spielt das UFOS in ihren Kalkulationen?« Er zog sein dunkelgraues Jackett an, riß ein Stück Kreppband von einer Rolle und wickelte es um die Finger, um damit die Fasern glatt zu bürsten. »Die Japaner machen sich wahrscheinlich Sorgen wegen der Wirkungsweise des Uranionenstrahls«, erwiderte der Admiral. »Aber sie haben zu wenig Informa tionen, um genaue Berechnungen anzustellen.« »Stimmt.« Cantrell warf das gebrauchte Kreppband in den Papierkorb. »Also werden sie nicht kämpfen – wenn sie nicht unbedingt müssen. Gibt's irgendwelche neuen Gerüchte über die massive Reorganisation innerhalb der japanischen Marine?« »Noch nicht.« »Sehr schön.« Cantrell kämmte sich noch ein letztesmal. »Das UFOS vernebelt ihre verfeinerten asiatischen Gehirne mit Zweifel und Verwirrung. Die große Reorganisation wird ihnen die Hölle heiß machen, und ich werde sie mit Pferdescheiße durcheinanderbringen.« »Das Vorspiel ist nun beendet«, sagte der Admiral. »Möchten Sie jetzt im Telekonsessel Platz nehmen?« Cantrell nickte und setzte sich. Ein untadelig gekleideter Japaner mit verspiegelten Brillengläsern erschien vor ihm auf dem Bildschirm. »Ich habe die Ehre, Ihnen den Premierminister von Japan vorzustellen. Premier Idomuri Ito.« Cantrell nahm diese Ankündigung mit einer ganz leichten Neigung seines Kopfes
zur Kenntnis. Der Mann verbeugte sich und wurde dann von Premier Itos Brustbild verdrängt. »Ich bin es nicht gewöhnt, mit Piraten zu verhandeln«, begann Ito in steifem Ton. »Ich auch nicht«, entgegnete Cantrell. »Aber es liegt in unserem gemeinsamen Interesse, zu einer Einigung zu gelangen.« »Vielleicht«, grunzte Ito. »Was bieten Sie uns als Entschädigung für die Einnahme unserer Raumstationen bei Ceres an?« »Wir werden sie zurückgeben. Und welche Entschädigung bieten Sie für meinen Leibwächter an, der bei einem von Japan initiierten Attentat auf mich ums Leben kam? Welche Entschädigung bieten Sie für die einunddreißig Toten an, die dem von Japan angezettelten Versuch zum Opfer fielen, den 12,5-Meter-Laser von Don Quixote zu erobern?« »Wir weisen Ihre beleidigende Behauptung, daß die japanische Regierung in irgendeiner Weise mit diesen terroristischen Aktivitäten zu tun hatte, entschieden zurück.« »Natürlich, es wäre auch unerträglich langweilig, über Opera tionen zu sprechen, die in einem nicht erklärten Krieg stattfanden, und die Schuld- und Kompensationsaspekte gleichmäßig auf beide Seiten zu verteilen.« »Sie sind also nicht bereit, Japan für den Verlust von Nakajima Ceres II und Yamamoto Ceres I zu entschädigen?« fragte Ito. »Nein. Auch nicht für den Verlust von Tanaka-Masada und Eije-Ito sowie für den Abfall der INS-Kreuzer Higata und Asahi. Wir werden Ihnen alles zurückgeben, soweit uns das möglich ist; alles andere ist Sache der japanischen Innenpolitik. Ich schlage Ihnen vor, eine Partnerschaft mit Rosinante einzuge hen, so daß wir gemeinsam den Stolzen Turm bauen können, den Himmlischen Lift – die magische Verkehrslinie, die Tellus mit dem stationären Orbitalpunkt verbinden soll.« Ito hob die Brauen. »Die NAU ist aus diesem Projekt ausgestiegen, weil sie kein Geld dafür hatte. Ist Rosinante reicher als die NAU?« »Die NAU ist 39 ausgestiegen. Seither sind vier Kriegsjahre verstrichen, und wir haben andere Lösungen für die Probleme gefunden, vor die uns der Stolze Turm stellte. Zum Beispiel für die Frage, wie man den Asteroiden Icarus umsiedeln kann. Die Maschinen, die das UFOS antreiben, müßten in veredelter, vergrößerter Form auf dem Asteroiden montiert werden, dann würden sie ihn langsam und mit großer Präzision zum Ende des Stolzen Turms transportieren, wo er das Kabel für alle Zeiten straff gespannt halten soll.« »Es war sehr klug von Ihnen, eine mit Sonnenenergie betriebene Maschine zu entwickeln, die Uran als Reaktormasse verwendet – als Reaktionsmasse«, verbesserte sich Ito. »Aber unsere Ingenieure können eine solche Maschine ohne Ihre Hilfe bauen. Sie bieten uns Ihre technologischen Errungenschaften an, als wären das echte Werte. Japan braucht Ihre Technologie nicht. Warum sollten wir Sie als Partner akzeptieren?« »Die Technologie des großen Lasers ist von ungeheurem Wert«, entgegnete Cantrell, »und wir besitzen Kenntnisse, die Sie gewinnbringend nutzen könnten. Aber um zu beweisen, daß es Rosinante in dieser Angelegenheit ernst meint, werden wir Gold in der Bank der Vereinigten Staaten von Mexiko deponieren.«
»Aha. Wieviel Gold, bitte?« »5660 Tonnen.« Eine kurze Pause entstand. »Haben Sie das Gold bei sich?« Ito war sichtlich überrascht. »In harter Währung – sowohl buchstäblich als auch bildlich. Da wir mit feindlichem Feuer rechnen mußten, benutzten wir das Gold als Hitzeabzug. Wenn Gold auf die Temperatur von flüssigem Hydrogen abgekühlt wird, kann es in solchen Quanten eine ganze Menge Hitze schlucken.« »Also gut, die Währung ist hart. Aber womöglich ist sie auch heiß. Woher haben Sie das Gold?« Cantrell lehnte sich zurück und lächelte schwach. »Nicht von Ceres. Die NAU hat keinen Anspruch auf das Gold. Nicht den geringsten! Nada!« »Wir wußten, daß die Minen von Ceres mehr Gold produzierten, als sie jemals nach Hause schickten. Vielleicht wissen wir jetzt noch mehr.« »Vielleicht auch nicht«, stieß Cantrell hervor. »Wir haben uns dieses Gold weder durch Piraterie noch durch Diebstahl beschafft.« Ein Adjutant reichte Ito einen Notizzettel. ›5660 Tonnen sind 5,66 x 10 6 Kilogramm, 5,66 x 109 Gramm. Bei 31,103 Gramm pro Troy-Unze-1,82 x 10 8 Unzen. Bei 11,220 Yen pro Unze 2,04 x 10 Yen 11 oder 204 Billionen Yen. Kostenschätzung für Stolzen Turm: 1 Trillion Yen.‹ »Ich glaube, sobald das Gold deponiert ist, können wir über die Einzelheiten sprechen«, sagte Ito schließlich. »Über die technischen, politischen, finanziellen und juristischen Einzelheiten. Sind wir uns einig?« »Wir sind uns einig«, bestätigte Cantrell. »Ich werde sofort nach Castillo Morales im L-4-Gebiet fliegen, um das Gold zu deponieren.« »Hai!« rief Premier Ito überschwenglich. »Und wenn Sie das Gold deponiert haben, werden wir ein gemeinsames Kommunique herausgeben.« »Da wäre noch eine Kleinigkeit...« Cantrell beugte sich mit einem höflichen Lächeln vor. »Ja?« »Die Kaiserliche Japanische Marine führt schon seit einiger Zeit in der Umgebung von Rosinante Manöver durch. Sicher haben Sie doch auch anderswo Verwendung für Ihre Schiffe?« »Es wird Zeit, daß sie nach Hause fliegen«, erwiderte Ito. »Ich werde die Admiralität konsultieren, aber ich glaube, der Rückzugsbefehl wurde bereits erlassen.« Cantrell stand im Bombenschacht der RNS Alamo und beobachtete die Gabelstapler, die eine Ladung Goldbarren nach der anderen in die Gewölbe der VMS-Bank in Castillo Morales beförderten. Sein Gürteltelefon läutete, und Corporate Susan meldete: »Der NAURA-Finanzminister möchte Sie sprechen, Sir. Er besteht auf einer augenblicklichen Telekonferenz.« »Eine Telekonferenz kommt nicht in Frage. Ich habe an diesem verdammten Tag schon genug zu tun. Aber ich werde mit ihm reden.« Nach einer Pause, die mit Stör- und Klickgeräuschen angefüllt war, drang eine
ölige Stimme an Cantrells Ohr: »Mein Name ist McQuayle, aber Sie können mich ›George‹ oder ›Mac‹ nennen. Mein Freund, Präsident Oysterman, hat mich gebeten, Sie anzurufen.« »Freut mich, Sie kennenzulernen. Sie können mich ›Gouverneur‹ oder ›Sir‹ nennen. Was wollen Sie?« »Nun, Charlie, wir haben von unseren Leuten auf NAU Ceres I gehört, Sie hätten sich mit Ihren dreckigen kleinen Pfoten an dem Gold vergriffen, das wir dort gelagert haben, und eine Riesenmenge von Münzen geprägt. Verdammt, Charlie, das ist unser Gold, und wir wollen es wiederhaben! Und das Gold, das Sie den Japsen aufgedrängt haben, gehört auch uns!« »So eine Scheiße, Mac. Wenn Sie's wiederhaben wollen, dann bitten Sie doch den Kerl vom NAURA-Sicherheitsdienst, er soll's aus mir rausprügeln. Rosinante ist ein unabhängiger Staat, falls Ihnen das bis jetzt entgangen ist.« »Wenn Sie mit Minister Braunstein sprechen wollen – er ist in der Leitung«, sagte McQuayle gekränkt. »Ich hatte gehofft, Sie in aller Freundschaft eines Besseren belehren zu können, aber ich sehe, Sie sind keiner Vernunft...« »Geben Sie mir Braunstein«, fiel Cantrell ihm ins Wort. »Aber – das ist schrecklich formlos!« »Na und?« mischte sich eine rauhe Stimme ein. »Ich bin T. Semyon Braunstein, der NAURA-Außenminister. Wir wollen mal über unser Gold reden, über das Sie so frank und frei verfügen.« »Ich vermute, Sie wollen es wiederhaben?« »Da vermuten Sie verdammt richtig! Wir wissen, daß Sie Rie senmengen eingesackt haben, als Sie über NAU Ceres I hergefallen sind, und das wollen wir alles wiederhaben.« »Was glauben Sie denn, wieviel ich von Ihrem Schatz gestohlen habe?« »Ehrlich gesagt, das wissen wir nicht«, erwiderte Braunstein. »Aber es steht jedenfalls fest, daß alles Gold, das Sie jetzt haben, uns gehört – falls Sie nicht das Gegenteil beweisen können.« »Darüber läßt sich streiten. Halten wir uns an die Fakten.« »Wieviel haben Sie genommen?« »1480000 Unzen – wieviel ist das? Fünf Tonnen? Das ganze Zeug wurde zu Ceres d'Or umgeschmolzen und ist jetzt da draußen in Umlauf.« »Sie haben auch Papiergeld in Umlauf gebracht«, sagte McQuayle, »und zwar viel mehr, als es anderthalb Millionen Unzen entsprechen würde, verdammt!« »Na und? Das ist nur Papier – kein Gold.« »Aber wir wollen das Gold haben, das hinter diesem Geld steht!« stieß Braunstein hervor. »Das ist unser Gold , Sie Pirat!« »Seien Sie kein Narr!« knurrte Cantrell. »Ceres – alle Minen von Ceres zusammen haben nie mehr als zwölf Millionen Unzen pro Jahr produziert. Das sind vielleicht vierzig Tonnen. Heute deponiere ich 5660 Tonnen in Castillo Morales. Wie habe ich denn eure Produktion aus den letzten 141 Jahren zwischen die Finger gekriegt, he? Beantworten Sie mir mal diese Frage, Sie Clown!« Eine ziemlich lange Pause trat ein, während McQuayle und Braunstein diese Information verdauten. Schließlich fragte Braunstein: »Woher stammt das Gold denn dann?«
»Wir haben den großen Laser benutzt, um einen Kubikkilometer Nickeleisen zu raffinieren und zu veredeln. Das hat fast ein Jahr gedauert.« »Und wieviel Gold war da drin?« fragte McQuayle. »Nickeleisen hat einen Goldgehalt von 0,75 Teilen pro Million. Und was wiegt ein Kubikkilometer Nickeleisen? 8 x 106 Tonnen?« »Können Sie nächstes Jahr noch mal fünf- oder sechstausend Tonnen Gold zusammenkriegen?« fragte Braunstein. »Übernächstes Jahr auch«, entgegnete Cantrell. »Und die Japse werden mich deshalb nicht belästigen, weil sie große Laser auf fast allen ihren Raumstationen haben. Und die meisten Raumstationen mit großen Lasern liegen in der Nähe großer Nickeleisenvorkommen. Ich habe ihnen die ganze Technologie verraten.« »Die Goldwährung«, jammerte McQuayle mit schwacher Stimme. »Sie haben soeben die Goldwährung in den Hintern geschossen ... Eine Raumregion produziert – was? 5000 Tonnen Gold pro Jahr? Fünfzig würden – was produzieren? 250000 Tonnen? Und mit der Zeit würde es immer mehr ... Wir haben den Dollar auf 550 pro Unze festgelegt... Dort können wir ihn nicht halten ... Wir können die Produktion nicht beschränken ... O Gott! Was wird unser Geld denn noch wert sein?« »Ich schlage vor, Sie versuchend mit Papier«, sagte Cantrell. »Denn wenn Sie sich weiterhin auf die Goldwährung kaprizie ren, werden Sie kopfüber in eine Inflation hineinsausen.« »Die Goldminen von Ceres sind jetzt wohl überflüssig geworden«, meinte Braunstein. »Wissen die Japaner eigentlich, daß das, was Sie da über ihren Köpfen auskippen, keinen Pfifferling wert ist?« »Nein. Die Japaner glauben – ebenso wie Sie vorhin –, daß ich es der NAU gestohlen habe.« Cantrell schwieg eine Weile, um die Gabelstapler zu beobachten, die mit ihren Goldladungen davonfuhren. »Premier Ito wird in etwa zehn Minuten, um 19 Uhr 00, unsere Vereinbarung bekanntgeben. Ich sagte ihm, die Einzelheiten würden wir besprechen, wenn ich wieder auf Rosinante bin.« »Verdammt, trommeln Sie meine Finanzberater zusammen!« schrie Braunstein. »Verzeihung?« »Ich habe nicht mit Ihnen gesprochen, Cantrell.« »Ich überlebe. Die japanische Flotte hat bereits den Rückzug von Rosinante angetreten. Außerdem – ich glaube, der Welthandel wird's auch überleben.« »Wir sollten es den Japanern sagen«, meinte McQuayle. »Vielleicht können wir noch verhindern, daß Ito seine Ansprache hält?« »Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind!« fuhr Braunstein ihn an. »Wir wissen etwas, das die Japaner nicht wissen – noch nicht. Damit läßt sich was anfangen. Leben Sie wohl, Mr. Cantrell.« Die Verbindung wurde unzeremoniell unterbrochen. Cantrell hörte sich Itos Rede an, während die Gabelstapler in den Frachtraum der Alamo rollten, um weiteres Gold zu holen. Als die Rede beendet war, lächelte er und klappte sein Gürtelte lefon auf. »Corporate Susan? Sobald das letzte Gold ausgeladen ist, lassen wir alles andere sausen und fliegen nach Rosinante zurück.« »Und das UFOS?«
»Ein japanischer Schlepper soll es abtransportieren. Arrangieren Sie das. Je schneller wir nach Hause aufbrechen, desto bes ser. Vielleicht können wir unsere Sorgen ausnahmsweise mal hinter uns zurücklassen.« »Da könnten Sie recht haben«, meinte der Admiral. »Doch da wäre noch die Frage Ihrer religiösen Bekehrung zu klären.« »Was?« »Es ist eine reine Formalität. Ich finde das alles nicht sonderlich überzeugend, aber Lady Dark ist eine richtige Glaubensfanatikerin.« »Und für welche Religion begeistert sie sich?« »Für den Skaskashismus. Ich weiß nicht, ob das die offizielle Bezeichnung ist, aber ich meine die Doktrine: ›Es gibt keinen Gott außer Gott, und Skaskash ist Sein Prophet.‹ Diese Religion.« »Diese Religion?« wiederholte Cantrell nach einer langen Pause. »Jesus Christus! Ist denn heutzutage nichts mehr heilig?« »Wir arbeiten noch daran«, sagte Corporate Susan.