SCIENCE FICTION ROMAN
Alexis A.Gilliland
Neuanfang auf Rosinante THE REVOLUTION FROM ROSINANTE
Deutsche Erstveröffen...
31 downloads
794 Views
786KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
SCIENCE FICTION ROMAN
Alexis A.Gilliland
Neuanfang auf Rosinante THE REVOLUTION FROM ROSINANTE
Deutsche Erstveröffentlichung
Wilhelm Goldmann Verlag
Aus dem Amerikanischen übertragen von Dr. Eva Maisch
Made in Germany – 11/83 – 1. Auflage 119 © der Originalausgabe 1981 by Alexis A. Gilliland This translation published by arrangement with Ballantine Books, A Division of Random House, Inc. © der deutschsprachigen Ausgabe 1983 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlagentwurf: Design Team München Umschlagillustration: Chris Barbieri/Del Rey Books, New York Satz: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Druck: Eisnerdruck GmbH, Berlin Verlagsnummer: 23448 Lektorat: Helmut Putz/Peter Wilfert Herstellung: Peter Papenbrok ISBN 3-442-23448-4
1
Charles Chavez Cantrell saß im Hintergrund des Stateside Café, trank schwarzen Kaffee und machte sich Notizen auf einen gelben Schreibblock. Es wurde ausdrücklich verlangt, daß man auf eine Änderungsorder handschriftlich antwortete, und da lagen zwei vor, die innerhalb weniger Stunden eingetroffen waren. Die Order von Mitsui hatte möglicherweise ihre Vorteile, die andere von Skalaweb, der Südkalifornischen Landwirtschaftlichen Wasserentsalzungsbehörde, war ganz offensichtlich eine Niete. Skalaweb mußte versucht haben, von Mitsui die Kündigung zu erhalten, bis Mitsui die Order bekommen hatte, daß Skalaweb unbedingt unterzeichnen mußte. Er nippte an seinem Kaffee und studierte das Schriftstück, das er entworfen hatte. Von: Gyfox, Rosinante Div. Betrifft: Änderungsorder, eingereicht am 4.14.39 An Skalaweb, z. Hd.: Sr. Manuel Jorge Panablanco Lieber Manuel, Par. 1. Mittelprächtige Betonung der Hochachtung des Unterzeichneten für Deine Person. Par. 2. In Anbetracht Deines Vorschlags, den ›klassischen, erprobten Aluminium/Mylar-Spiegel‹ durch den dichroitischen Schichtenspiegel, der noch genauer beschrieben werden muß, zu ersetzen, bedaure ich, Dich darüber informieren zu müssen, daß Du falsche Ziffern verwendet hast, um Deinen Kostenvoranschlag zu berechnen. Der Asteroid Rosinante bewegt sich auf einem elliptischen Orbit, 1.32 A.E. im Perihelium bis zu 3.85 A.E. im Aphelium. Das ist nicht dasselbe, als würde er sich in einem runden Orbit bei 2.58 A.E. bewegen. Par. 3. Die projektierten Ersparnisse bei einer solchen Veränderung sind korrekt, was die Raumeinheit des Spiegels betrifft, aber unglücklicherweise hat Gyfox die Maschinen für die Spiegelerzeugung bereits vermietet, und zwar für die voraussichtli che Dauer des ganzen Jobs. Ob wir die Maschinen nun benutzen oder nicht, wir müssen dafür bezahlen. Wie gut, daß die Produktion planmäßig läuft... Par. 4. Nun möchte ich Dir den Schichtenspiegel erklären, Manuel. Wenn man abwechselnd Schichten aus starkem und schwachem Refraktions material einsetzt und diese Schichten je weils genau eine halbe Wellenlänge dick sind, wird ein Stapel von sieben oder acht Schichten diese Wellenlänge reflektieren, sagen wir mal Rot, und alle anderen Farben wie pures
Glas durchlassen, so daß der dichroitische Spiegel nur Rot reflektiert. Der Schichtenspiegel, den wir für Mundito Rosinante vorbereiten, ist ein Kompositum aus roten, grünen und blauen Schichten, die aufeinandergestapelt sind, so daß das reflektierte Licht weiß erscheint. Wir reflektieren weder Infrarot noch Ultraviolett, so daß das Licht viel kühler ist als reines Sonnenlicht. Par. 5. Ach, Manuel, ich höre Deine hochgeschätzte alte Buchhalterin sagen: »Wozu braucht er so einen teuren Spiegel? Kaufen Sie ihm lieber einen billigen.« Wir wollen den Schichtenspiegel aus folgendem Grund benutzen: Unser Spiegel strahlt weniger Hitze auf den Mundito aus, so daß von dort weniger Hitze abgegeben werden muß. Das ist die Aufgabe der Elementarradiatoren, die bereits gebaut und so konstruiert wurden, daß sie die Hitzeradiation eines Schichtenspiegels zurückwerfen – nicht eines Aluminium/Mylar-Spiegels von derselben Größe. Par. 6. Wenn Deine Buchhalterin noch immer nicht überzeugt ist, dann soll sie uns doch mal besuchen, Manuel. Ich würde mich sehr geehrt fühlen, und es wäre mir eine große Freude, ihr alles zu zeigen. Par. 7. Herzliche Grüße an Deine Familie! Mit dem Ausdruck meiner tiefen Genugtuung über Deine immerwährende verständnisvolle Unterstützung verbleibe ich Dein vor Dankbarkeit überfließender C. Chavez Cantrell, Projektleiter. Nach kurzer Überlegung strich er die Worte ›sieben oder acht Schichten‹ durch. Man brauchte die Spatzengehirne des Managements nicht mit Details zu belasten. Der Robot-Kellner füllte Cantrells Tasse nach, während er die Änderungsorder von Mitsui studierte. Mitsui hatte viel bessere Ingenieure als Skalaweb, aber die Änderung war trotzdem lästig. Dadurch würde bei einer geringfügigen Gewichtssteigerung eine beträchtliche zusätzliche Leistung erzielt werden, aber die Prozedur war schwierig durchzuführen. Er fragte sich gerade, ob er Zeit gewinnen und sich bei Mitsui erkundigen sollte, mit welcher Art von Katastrophe sie rechneten, als der Gewerkschaftspräsident und die Kassenverwalterin auf seinen Tisch zukamen. »Dürfen wir bei dir Platz nehmen?« fragte der Präsident, während sie sich setzten. »Das habt ihr ja schon getan, Don. Was habt ihr denn auf dem Herzen?« »Spiegeleier und hausgemachte Pommes frites«, sagte die Kassenverwalterin. »Ach, halt doch den Mund, Lucy! Wir haben ein Problem.« Cantrell sah sich um. Die erste Schicht kam zum Frühstück herein. Bald würde das Café gerammelt voll sein. »Warum gehen wir nicht in mein
Büro und reden dort darüber?« schlug er vor. Er bezahlte seine Rechnung und führte die beiden den Korridor hinab. Sie betraten das Büro des Projektleiters, einen kleinen, vollgestopften Raum, dessen einzige Konzession an einen gewissen luxuriösen Stil in einem echten Parkettboden aus Eichenholz bestand. »Im Umkreis einer Tagesreise werdet ihr keinen wichtigeren und einfühlsameren Manager finden«, meinte Cantrell leutselig und ließ sich in seinem Ledersessel mit der hohen Lehne nieder. »Was habt ihr denn für Schwierigkeiten?« »Nun, du hast gerade die Pläne für die Verglasung der Felder rausgeschickt, und die Crews gehen in Raumanzügen hinaus, statt auf Fernsteuerung umzuschalten«, erwiderte der Präsident. »Im Vertrag steht, daß wir drei Jahre nach einem Sonnenfleckenminimum mit Fernsteuerung arbeiten, und genau das wollen wir tun. Das ist alles.« »Sag mal, Dornbrock, glaubst du, das bedeutet drei Jahre nach dem Beginn des Minimums oder drei Jahre nach dem Ende?« fragte Cantrell. »Hör auf mit dem Unsinn, Charlie! Im Vertrag steht, daß es an der Zeit ist, auf Fernsteuerung überzugehen, und genau das werden wir auch machen.« »Also wirklich, Don! In den letzten siebenunddreißig Monaten hatten wir kein einziges Minimum. Und jetzt haben wir eins.« Cantrell beugte sich vor. »Ihr braucht noch keine Fernsteuerung.« »Erzähl mir nicht so einen Quatsch, Charlie!« schrie Dornbrock. Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch, und ein paar Papiere flatterten zu Boden. Lucy hob sie auf und gab sie dem Projektleiter. »Zum Teufel, Dornbrock, warum glaubst du eigentlich, daß die Fernsteuerung überhaupt vertraglich erwähnt wird?« »Wegen der Radiationsgefahr, Charlie«, antwortete Dornbrock mit übertrieben geduldiger Miene. »Das stimmt«, fügte Lucy hinzu. »Die Klinik hat diesen Gen-Analysator gekauft, damit die Eltern in der Gewerkschaft keine mißgebildeten Kinder kriegen.« »So ist es«, bestätigte Cantrell. »Im Vertrag wird aber ein genauer Radiationsgrad abgegeben, bei dem wir die Fernsteuerungskontrollen einsetzen sollen, ohne Rücksicht auf den Tag oder das Datum, nicht wahr?« Dornbrock setzte sich mit gerunzelter Stirn und verschränkte wortlos die Arme, aber Lucy sagte: »Das ist richtig.« »Nun, Dornbrock?« bohrte Cantrell weiter, worauf der Präsident widerstrebend nickte. »Okay. Du machst dir also keine Sorgen wegen der
Sonnenflecken, sondern wegen der Strahlung. Vergiß die Sonnenflecken. Wir haben keine. Die spielen also keine Rolle. Wie sieht's mit dem Radiationsgrad aus?« Ein ziemlich langes Schweigen entstand. Schließlich gab Lucy zu: »Der ist ganz niedrig. Im Sicherheitsbereich.« »Na also, Dornbrock«, sagte Cantrell. »Laß doch nicht zu, daß dieser kleine Vertragsanalytiker deine Denkarbeit macht. Wenn du das vors Schiedsgericht bringst, mußt du überzeugt sein, daß das Management gewinnen wird.« »Ja, Charlie, vielleicht«, antwortete Dornbrock nach einer kurzen Pause. »Komm, Lucy, gehen wir frühstücken.« An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Du solltest trotzdem auf Fernsteuerung umschalten, Charlie.« »Sei friedlich, Don«, entgegnete Cantrell. Nachdem die beiden hinausgegangen waren, studierte er wieder die Änderungsorder, dann wählte er die Nummer seines Computers. »Heute sind wir aber früh dran!« flötete die Maschine. »Was kann ich für Sie tun?« »Hast du die Mitsui-Änderungsorder, Süße?« »Natürlich.« »Schön. Ich brauche möglichst schnell einen nicht ganz astreinen Vergleich zwischen dem Mitsui-Pfettenfenster und dem spezifizierten Pfettenfenster, für den Fall, daß man nahe dem Zentrum des Mundito eine Explosion von fünfzigtausend Tonnen Sprengkraft inszeniert.« »Schnell und nicht ganz astrein, eh?« surrte der Computer. »Nun, in beiden Fällen werden die Fensterfelder zwanzig bis dreißig Prozent ihrer Totalglasur verlieren. Das spezifizierte Pfettenfenster, das der Detonation am nächsten ist, wird sich entlang der kurzen Achsennähte verformen und vielleicht 0,2 bis 0,5 Prozent der Totalglasur verlieren – ein paar hundert Hektar. Die beiden anderen Pfettenfenster werden entlang der Achsennähte sichtlich deformiert sein und wahrscheinlich lecken.« Eine kurze Pause trat ein. »Die Mitsui-Fenster werden nicht deformiert sein und scheinen überhaupt keine Glasur zu verlieren. Nicht einmal das Fenster in unmittelbarer Nähe der Explosion.« »Gut«, sagte Cantrell. »Vielleicht sogar doppelt gut. Damit ist meine Frage offenbar beantwortet, nicht wahr?« Der Computer, der durchaus imstande war, eine rhetorische Frage als solche zu erkennen, blieb stumm.
2
Am zweiten Dienstag im November 2038 entschied sich die Wählerschaft des souveränen Staates Texas für das Projekt 4 – den Bau einer billigen Siedlung in San Antonio, im Gebiet des Alamo. Der Streit um das Projekt 4 beherrschte die Wahl, und am Ende wurde es mit ein paar tausend Stimmen bewilligt, nachdem man eine Viertelmillion Neinstimmen angefochten und zurückgewiesen hatte. Luis Raoul Panoblanco, der Gouverneur von Texas und Hauptinitiator des Projekts, wurde mit siebenundachtzig Stimmen wiedergewählt. Die Überzeugung, daß alle Wähler, deren Stimmzettel man für ungültig erklärte, gegen ihn votiert hatten, war weit verbreitet. Doch dann wurde festgestellt, die Quote hätte nur 98,15 Prozent betragen. Im April befahl Gouverneur Panoblanco, den Alamo zu roden, damit man mit dem Bau beginnen konnte. Es war ganz ein fach Pech, daß er diese Ankündigung kurz vor den Frühlingsferien machte. Niemand hätte vorhersehen können, daß die angloamerikanischen Studenten von ganz Texas nach San Antonio kommen würden, um die Verwirklichung des Projekts zu verhindern. Captain José Menendez von der texanischen Staatspolizei saß in seinem mobilen Kommandoposten und lächelte die TV-Teams an. »Eine letzte Frage«, sagte die Interviewerin. »Wir haben soeben erfahren, daß eine gewisse Anzahl, vielleicht mehr als die Hälfte der Staatssoldaten, die sich heute nachmittag so tapfer gehalten haben, an diesem Abend krank wurden und morgen ih ren Dienst womöglich nicht antreten können. Möchten Sie dazu einen Kommentar abgeben, Sir?« Menendez blickte mit gebührender Strenge in die Kameras. »Ja. Diese Männer sind Angloamerikaner, und ich verstehe das. Aber sie sind auch texanische Staatssoldaten. Gouverneur Panoblanco wurde informiert, und er will die Notstandsgesetze in Kraft setzen, so daß jeder Offizier, der sich ohne stichhaltigen Grund krank meldet, entlassen werden kann. Wie Sie wissen, lie gen ein paar von unseren Männern im Krankenhaus, und ... Was ist los, Tomas?« »Ich heiße Riley«, sagte der Offizier. Er ging zu Menendez' Schreibtisch und stellte eine Schachtel voller Dienstabzeichen auf. »Tommy Riley, Ma'am«, erklärte er, an die Interviewerin gewandt, »ehemaliges Mitglied der texanischen Staatspolizei.« Er nahm seinen Stern ab und warf ihn mit einem melodischen Klirren in die Schachtel. »Und ich werde keinem verdammten Greaser helfen, den Alamo zu demolieren.« »Wir werden unseren Sponsor sofort informieren.« Die Interviewerin entblößte lächelnd die Zähne.
Als die Texanische Nationalgarde am nächsten Morgen ein traf, war die Baumaschinerie, die von der Staatspolizei verteidigt worden war, nur noch ein ausgebranntes Eisengerippe, und über dem Alamo flatterte das Sternenbanner. Im Gouverneurspalast in Austin konferierte Gouverneur Luis Raoul Panoblanco mit seinen Adjutanten und Verbündeten. »Jesus X. Christus!« brüllte er. »Warum bin ich von lauter unfähigen Leuten umgeben?« »Du wolltest nicht, daß irgend jemand in deiner Nähe klüger wäre als du, Luis«, erwiderte Staatssenator B.J. Coya kühl. »Die Anglos im Parlament streben eine öffentliche Anklage an, und wir können den Senat nach Ostern nicht aus der Sitzung raushalten. Was nun?« »Sie sollen aufhören! Du hast doch die Kontrolle über die Ausschüsse! Ich brauche Zeit, um einen Ausweg zu finden!« Panoblanco marschierte auf und ab und raufte sich die Haare. »Die Zeit wird dir nicht helfen«, sagte Coya. »Daß du den Leuten in Alamo eine Amnestie versprochen und dann diejenigen verhaftet hast, die sich selber verbrecherischer Angriffe und der Zerstörung fremden Eigentums bezichtigt haben, war – entschuldige, Luis – unverzeihlich dumm. Und das auch noch im Staats-TV!« »Das Staats-TV! Jesus X. Christus! B. J., warum hat das Staats-TV Tommy Rileys Aussage nicht gesendet? Zum Teufel mit dem TV!« »Der Zensor muß ein Anglo sein«, meinte einer der Adjutanten. »Aber ich glaube nicht, daß man diese Aussage nachträglich senden wird – nicht einmal als Werbung für die öffentliche Anklage.« »Das Ad-Hoc-Komitee für die öffentliche Anklage gegen Panoblanco zahlt ein Vermögen für solche Werbespots«, sagte Senator Coya. »Warum sollte das TV sie nicht senden?« »Das ist Verleumdung und Rufmord!« schrie der Gouverneur. »Ich werde diese Bastarde vor Gericht bringen!« »Man hat bereits Klage erhoben ...«, begann ein anderer Adjutant, als ein General der Nationalgarde in voller Kriegsmontur eintrat. »Wir sind bereit, den Alamo mit gesonderten Einheiten zu stürmen, Gouverneur«, verkündete er. »Aber da wäre noch ein Detail, das Ihre persönliche Entscheidung erfordert.« Er zog einen Aktendeckel unter seinem Arm hervor. »Was soll mit den überlebenden Verteidigern geschehen?« »Du willst den Alamo stürmen lassen?« Coya starrte Panoblanco entsetzt an. »Gnädiger Gott!« »Wir müssen schnell und entschlossen vorgehen«, sagte der Gouverneur
mit einer Miene, die unbeugsame Entschlußkraft demonstrierte. Der General war gebührend beeindruckt. »Skalaweb ruft gerade zurück, Sir«, meldete ein Sekretär aus dem Nebenzimmer. »Ich komme sofort!« stieß Panoblanco hervor. »General, ich werde Ihnen in wenigen Minuten Bescheid geben!« Und damit stürmte er in den Nebenraum, um den Anruf entgegenzunehmen. »Skalaweb?« fragte der General. »Ist das nicht in Kalifornien? Warum redet er mit diesen Leuten?« »Sein Bruder Manuel ist der Chef von Skalaweb«, antwortete Coya. »Und wenn die miteinander telefonieren, gibt's nur eine einzige Erklärung – sie planen ein Komplott, um das Universum zu erobern. Haben Sie Lust auf ein Bier?« »Es wäre mir eine Ehre, ein Glas mit Ihnen zu trinken, Senator Coya.« Sie gingen zur Bar hinüber. »Carta Blanca«, sagte der General. »Ich glaube, es ist Zeit, zur heimischen Marke überzugehen«, meinte B.J. Coya. »Geben Sie mir ein Pearl, por favor.« 3
Aus der Mai-Ausgabe des Skeptischen Ökonomen, Arthur Feuersteins Kolumne: Der Fehlschlag der Genfer Konferenz des Stolzer TurmKonsortiums, das über die Kostenverteilung beraten wollte, hat die Chance, mit dem Bau des Orbitallifts zu be ginnen, für dieses und wahrscheinlich auch für das nächste Jahrzehnt zunichte gemacht. Der Entschuldigungsgrund, der im abschließenden Kommuniqué vorgebracht wird – die derzeitige schlechte Wirtschaftslage – klingt mitleid erregend. Die Aussicht, daß soviel Geld für den Orbitallift verwendet werden soll, hätte die wirtschaftliche Situation erheblich verbessert, auch wenn man das Geld nicht vor dem vierten Quartal zur Verfügung stellen würde. Der wahre Grund ist eher politischer als ökonomischer Natur: Die Nordamerikanische Union weigert sich, ihre derzeit dominante Position im All durch ausländische – vor allem japanische – Konkurrenz gefährden zu lassen. Was immer auch der Grund sein mag – wie die langfristigen Konsequenzen auch immer aussehen werden –, die kurzfristigen Konsequenzen sind ernst und möglicherweise brisant. Ecufiscale Tellurbank hat einen enormen Bestand an Hypotheken auf die Mundito-Immobilien gekauft. Jetzt, wo der Stolze Turm mitsamt seinem Versprechen, daß diese Goldmine im Himmel
bald leicht zugänglich sein wird, weg vom Fenster ist, muß die Tellurbank einsehen, daß sie sich übernommen hat. Man muß zu Einsparungs maßnahmen greifen, wahrscheinlich in größerem Ausmaß, und das möglichst bald. Das wird die ganze Wirtschaftswelt schmerzlich zu spüren bekommen, aber vor allem jene Firmen, die Riesensummen in die Munditos investiert haben, besonders Mitsui. Die japanische Regierung fungiert vermutlich als stillschweigender Partner bei den zahlreichen Mitsui-Aktionen, aber ohne den Stolzen Turm wird sogar die japa nische Regierung nicht ungeschoren davonkommen. Achten Sie im nächsten Quartal auf die Präklusionen, wenn die betroffenen Firmen ihre Verluste zu verringern suchen. Nun müßten Sie Ihre Brieftasche checken und Ihre Raumaktien und Mundito-Pfandbriefe abstoßen. Beide erscheinen uns jetzt viel spekulativer als in der vergangenen Woche. Auch die kleineren Firmen, die Raumverträge haben, sollten nun auf dem freien Markt verkauft werden. Typischerweise sind sie gut geführt, stehen unter starkem Druck und eignen sich nicht dazu, auf einem langwierigen Baisse-Markt angeboten zu werden. Zu diesen Unternehmen gehören die Hannaur-Gruppe, CDC/Mars, die Demeter-Baugesellschaft, Bannerman & Voss und Gyfox. Trotz der zur Zeit eingeschränkten Shuttle-Flüge sollten Sie sich nach Shuttle-Aktien umsehen – bei Boeing, Douglas-Lockheed, Furtwängler und Mitsubishi. Die Aussicht auf den Bau des Stolzen Turms hat ihren Kurswert verringert, aber nun scheinen sie einer stabilen Periode entgegenzublicken, und ihre Aktien eignen sich für kurzfristige Spekulationen. Am Ende des langen, ovalen Konferenztisches aus Mahagoni schimmerte ein Telekonschirm mit Diaprojektor. Im Halb dunkel des üppig ausgestatteten Sitzungssaales versuchten die Männer, die das riesige Mitsui-Unternehmen leiteten, auf ihre zeitlose japanische Art zu einer Übereinstimmung zu gelangen. »Das erste Dia haben wir unter der Hand von Ecufiscale Tellurbank bekommen«, sagte eine heisere Stimme am anderen Ende des Tisches. »Bitte, ist es authentisch?« Eine höfliche Frage, die nur bestätigen sollte, was ohnehin alle wußten. »Zweifellos, Admiral Kogo«, lautete die Antwort. Es war nicht schwierig, in diesem Punkt eine Übereinstimmung zu erzielen. Das erste Dia wurde gezeigt – ein hellblaues Emblem auf einem Band mit fluoreszierenden Flecken. Aktennotiz: Am 14. April 2039 aß ich mit dem Vizepräsidenten Hsu Ko Jing im Direktionsspeisezimmer des Ecufiscale-Hauptbürogebäudes zu
Mittag. Hsu hielt einen Vortrag über ökonomische Theorien und meinte, wie wünschenswert es doch wäre, die Geldschöpfungsrate um drei bis vier Prozent zu senken. Er erinnerte mich daran, daß der Eicu die ökonomisch indexierte Krediteinheit ist. Nach all den Jahren erhielt Col. M. die Erlaubnis zu einer genauen Inspektion und Buchprüfung, bevor wir einen Kredit in Anspruch nehmen. Warum? Nun, wenn das die Geldschöpfungsrate senkt, sollten wir das versuchen, sagt Hsu. Wir hatten zwischen dem roten Schnappbarsch und der Charlotte Russe einen kleinen Streit, Hsu und ich. Es war nur ein win zig kleiner Streit, weil ich vorschlug, die Kreditzinssätze zu erhöhen, um Spekulanten zu entmutigen. Unser ehrenwerter Präsident zieht es vor, statt dessen die Höhe der Kredite zu reduzieren, die wir nehmen – von einer Summe, die den Produktionskosten mal 10,115 entspricht, auf 8 oder 9 mal, eine brutale Methode. Col. M., dieses Spatzenhirn, empfahl einen Kompromiß: Wir sollen mit 8,5 anfangen und dann langsam auf 9,0 oder 9,1 raufgehen – o Gott! Unser geschätzter Präsident lächelte ölig und meinte, das wäre eine ausgezeichnete Idee und ich sollte sie doch ernsthaft in Erwägung ziehen. Falls ich zustimmte, würde er sie mit der größten Freude verwirklichen. Je früher, desto besser. Wir waren einhellig der Meinung, daß uns das NAU-Getreide produktionsdefizit Ärger machen könnte, wenn das Getreide mit Eicus gekauft wird. Keine Maßnahmen. Wir waren einhellig der Meinung, daß es nett wäre, wenn die Sonnenflecken wieder auftauchten, um die Ozonebene anzuhe ben und auf diese Weise die Shuttles erneut ins Spiel zu bringen. Auch diesbezüglich keine Maßnahmen. /s/ Isoruku Llamamoto Admiral Kogo zündete sich eine Zigarre an und zog daran, so daß es in dem abgedunkelten Raum rot aufleuchtete. »Das scheint meine Ansicht zu unterstützen, daß wir etwas zu groß geworden sind, nicht wahr?« fragte er höflich, was man in gedämpftem Ton bejahte. Mitsui wußte, daß es zu aufgebläht war, doch es widerstrebte der Firma, daraus die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen. »Da wir also festgestellt haben, daß wir zu groß sind«, fuhr Admiral Kogo fort, »wäre es doch ratsam, diesmal etwas zurückzustecken – oder nicht?« »Ich muß Ihnen recht geben«, sagte die heisere Stimme. »Nicht nur
ratsam, sondern bedauerlicherweise notwendig.« Der Admiral nickte. »Da wir also zu diesem Schluß gekommen sind, Mr. Kijin, erhebt sich die Frage, bis zu welchem Grad wir unsere Produktion reduzieren sollen.« Die Worte fielen in eine samtene Stille. Niemand wollte die Produktion reduzieren – und niemand konnte dagegen protestieren. »Das nächste Dia zeigt den Vollendungsgrad von achtundzwanzig aktiven Projekten«, verkündete Kijin heiser. »Natürlich behalten wir die zwölf fertigen Munditos, einverstanden?« Höfliches, wenn auch unbehagliches Gemurmel stimmte ihm zu. »Einverstanden«, sagte Admiral Kogo und zog an seiner Zigarre. »Die fünf Projekte, die sich noch im Entwurfsstadium befin den, werden sofort eingestellt«, fuhr Kijin fort. »Damit ersparen wir uns die Architektenhonorare und diverse Optionen.« Er hüstelte. »Auch darüber gibt es wohl keine Diskussion.« Ein wehmütiges Schweigen entstand, als mehrere Träume so abrupt beendet wurden, aber niemand ließ einen Einwand verlauten. »Was die Munditos angeht, die wir selber bauen – diese Projekte werden wir leider auf unbestimmte Zeit hinausschieben müssen.« »Ich bedauere das unendlich, Mr. Kijin«, sagte Admiral Kogo, »aber es käme teurer, die Produktion hinauszuschieben, statt die Projekte fertigzustellen.« Er blies einen Rauchring in die Luft, der langsam über den Tisch schwebte. »Wir müssen sie aufgeben.« »Diese Maßnahme erscheint mir ziemlich drastisch«, erwiderte ein wohlklingender Bariton. »Ist das wirklich nötig?« »Leider ja«, entgegnete Kogo. Kijin räusperte sich. »Auch ich bin dieser Meinung. Die Produktionseinstellung ist eine bittere Medizin, aber Mitsui muß sie wohl oder übel schlucken.« »Wir können die Projekte nicht aufschieben?« »Tut mir leid, Oyama-san, das ist unmöglich«, antwortete Kogo. »So tragisch das auch ist, Oyama«, fügte Kijin betrübt hinzu, »wir müssen dem Admiral beipflichten.« »Also gut.« Oyamas Mundwinkel senkten sich nach unten, schweigend versuchte er seine Emotionen unter Kontrolle zu bringen. »Vielen Dank«, sagte Kijin. »Bei den drei restlichen Projekten handelt es sich um Asteroidenpaare, die sich um ein gemeinsames Zentrum drehen – die Munditos Don Quixote, Sancho Pansa und Rosinante. Alle sind Gemeinschaftsprojekte mit verschiedenen NAURAS.« »Oh, Scheiße!« knurrte Kogo an seiner Zigarre vorbei. »Sprechen Sie japanisch.«
»Natürlich, Admiral. Die NAU-Regierungsagenturen – die Nordamerikanischen Unionsregierungsagenturen – haben sich an diesen Projekten beteiligt, um unsere Zahlungsbilanz auf der internationalen Ebene zu halten. Ich scheine mich zu erinnern, daß wir uns unglücklicherweise bereit erklärt haben, sämtliche Differenzen vor dem Internationalen Gerichtshof ...« »Genau«, warf Oyama ein, »und wir haben den Amerikanern auch zugestanden, daß die japanische Gerichtsbarkeit hier nicht anwendbar ist. Abgesehen von den Fällen, in denen wir alle einer Meinung sind ...« Ein Kichern erfüllte den Raum und lockerte die Spannung ein wenig. »Die Arbeit an diesen Projekten ist schon ziemlich weit vorangeschritten«, setzte Kijin hinzu, »und die Bußgelder für unser einseitiges Ausscheiden würden den Kosten für die Fertigstellung gleichkommen.« Er hüstelte wieder. »Ich glaube, es wäre angebracht, diese Projekte zu vollenden, Admiral Kogo.« »Ja, das wäre sicher klug«, gab Kogo zu, drückte seine Zigarre im Aschenbecher aus und schob sie in eine Glasröhre, um sie für weitere Genüsse aufzubewahren. »Aber diese Projekte sind nicht sonderlich rentabel. Wir sollten sie nicht um jeden Preis zu Ende führen.« »Wir werden die Kosten möglichst in Grenzen halten«, versprach Oyama, »aber vorerst erscheint es mir als das kleinere Übel, mit der Produktion fortzufahren.« »Der Weltgerichtshof nimmt in letzter Zeit eine erschreckende antijapanische Haltung ein«, meinte der Admiral, »und deshalb muß ich Ihnen zustimmen.« »Das zweite Thema dieser Sitzung betrifft unsere Automassage-Sparte«, sagte Kijin. »Bitte, das erste Dia.« Desinteressiert griff Kogo nach seiner Aktentasche und entfernte sich unauffällig. »Wie Sie sehen«, sprach Kijin weiter, »hat Mitsui hier einen exzellenten Erfolg erzielt und zwanzig Prozent eines immer noch emporstrebenden Marktes erobert. Trotzdem hatten wir im letzten Quartal ernsthafte Schwierigkeiten, da einige Bestellungen storniert wurden. Das nächste Dia, bitte. Hier müssen wir entscheiden, ob wir die Fabrik in Kyoto ausbauen oder eine andere in der Nähe unseres größeren Absatzmarkts, in Shanghai, errichten wollen. Ich plädiere für Shanghai. Ja, Mr. Fujita?« »Könnten Sie uns bitte ein Dia zeigen, das uns über die Marktanteile und die geschätzten Baukosten informiert?« »Mit Vergnügen.« Kijin hüstelte, griff in die Tasche und zog ein Dia hervor. »Hier. Kyoto ist billiger und würde uns etwa die gleichen Marktanteile sichern. Trotzdem wäre ich dafür, in Übersee zu bauen.«
»Wegen der Zahlungsbilanz?« fragte Oyama. »Teilweise«, antwortete Kijin, »aber der Hauptgrund liegt darin, daß Mitsui der Stadtgemeinde von Kyoto versprochen hat, weitere koreanische Arbeiter zu engagieren, wenn wir die Fabrik in Kyoto vergrößern.« »Diese Koreaner sind doch Japaner«, sagte Fujita. »Sie sind gebürtige Staatsbürger.« »Das behauptet der Bürgermeister von Kyoto ebenfalls«, erwiderte Kijin heiser, »aber sie sind auch Koreaner.« »Dann ist es wohl in ökonomischer Hinsicht vernünftiger, die Fabrik in Kyoto auszubauen, Mr. Kijin«, sagte Fujita höflich. »Oder sind Sie anderer Meinung?« Als Kijin schwieg, schlug Fujita eine Abstimmung vor. Die ökonomische Vernunft erlitt eine schwere Niederlage. 4
MITBESTIMMUNG BEDEUTET, DASS DAS MANAGEMENT UND DIE ARBEITER MIT TAROCKKARTEN UM HÖHERE EINSÄTZE POKERN. IHR SINN LIEGT DARIN, EIN MAXIMUM AN ÖKONOMISCHER VERNUNFT UND POLITISCHER STABILITÄT ZU ERREICHEN. Don Dornbrock saß in Cantrells Büro, eine unberührte Tasse kalten Kaffee neben seinem Ellbogen. Sein grünes Seidenjackett mit dem rotgoldenen Schriftzug ›Gewerkschaftspräsident‹ auf dem Rücken hing über seinem Sessel. »Versuchen wir es noch einmal, Charlie. Wir nehmen eine hundertprozentige Inspektion an den Fensterfeldern und an den Pfettenfeldern vor, okay?« Cantrell nickte. So weit, so gut. »Nach der Inspektion bastelt die Arbeitsschicht diese Micky-MausBrezel-Biegezangen, um die Pfettenkacheln herzustellen. Wenn zwei Schichten gleichzeitig schuften, verdoppelt sich für jede Schicht die Arbeitszeit, nicht wahr?« Cantrell nickte und rieb sich die Augen. »Dann sorgen wir für den Druckausgleich.« »Wenn du meinst, Don ... Aber vergiß nicht, daß wir in die sem Fall einen Kühlofen für die Pfettenkacheln bauen müßten.« »Das läßt sich nicht ändern. Wir bauen den Ofen in Einzelschichten, in einer und einer halben Arbeitsperiode, ohne Pause.« »Einverstanden«, sagte Cantrell.
»Okay. Wir stecken die Kacheln in den Ofen. Dort bleiben sie zwei Tage. Ist das richtig? Natürlich ist das richtig! Wir kehren zum Doppelschichtdienst zurück, und nun arbeiten wir in Hemdsärmeln, nicht mehr in Anzügen. Wir fangen mit den Pfettenfensterrahmen an, wieder mit doppelter Arbeitszeit.« »Was glaubst du, wie weit du in zwei Tagen kommen wirst, Don?« »Im Doppelschichtdienst? Wir machen die untere Leiste des Fensterrahmens von der Pfette Nummer eins fertig und justieren die Shelobs, so daß sie mit dem Rahmen Nummer zwei anfangen können. Vielleicht kriegen wir den ersten Balken von Nummer zwei, bevor die ersten Kacheln aus dem Ofen kommen und an Nummer eins befestigt werden. Vielleicht...« »Gut, nun purzeln also die abgekühlten Kacheln aus dem Ofen.« »Genau. Wir beginnen das Ding mit Kacheln auszukleiden. Die erste Schicht kachelt, die zweite arbeitet an der unteren Leiste von Pfette Nummer zwei, die dritte schläft. Dann fängt die dritte Schicht zu kacheln an, die erste geht zu den Fensterrahmen, und so weiter. Immer mit doppelter Arbeitszeit.« »He, Don! Was passiert mit der oberen Rahmenleiste von Pfette eins?« »Dazu wollte ich gerade kommen, Charlie. Zuerst werden die Basisleisten von allen drei Pfetten gekachelt. Dann lassen wir den Ofen ausgehen, arbeiten in einzelnen Schichten ...« »Vergiß den Ofen, Don, der steht uns nicht im Weg herum. Ich will, daß die oberen Leisten fertiggestellt werden.« »Wir lassen den Ofen ausgehen und arbeiten in Einzelschichten weiter. Dadurch wird der Rhythmus unterbrochen, und wir haben die Möglichkeit, uns ein bißchen auszuruhen.« Cantrell nickte zustimmend. »Eineinhalb Arbeitsperioden – damit keine Pause entsteht«, fügte er hinzu. Dornbrock grinste. »Es ist wirklich ein Vergnügen, mit dir zusammenzuarbeiten, Charlie. Danach bauen wir die Oberleisten, wieder in Doppelschichten ...« »Und in verdoppelter Arbeitszeit.« »Ja, zum Teufel! Dann wird alles inspiziert, und die Pfetten werden druckfest gemacht.« »Ich bestehe auch diesmal auf einer hundertprozentigen Inspektion, Don.« »Das ist mir zwar verdammt zuwider – aber okay.« Dornbrock griff nach einem Plexiglasmodell der Pfettenkachel, zwei Tetraedern, die aneinander befestigt waren, so daß sie ein fla ches, diamantenförmiges Gebilde
formten, mit eingravierten Maßen – von 354 bis 408 Zentimetern. Er drückte auf einen Hebel, und das Modell entfaltete sich zu acht zusammenhängenden Dreiecken, die flach auf dem Tisch lagen. An jeder Spitze befand sich ein Streifen, der im Winkel von sechzig Grad von der einen Dreieckseite abstand. »Clever, diese Japaner«, meinte Dornbrock. »Okay, Schätzchen«, sagte Cantrell zu seinem Computer. »Gib uns mal die Kopie von der Vertragsänderung.« Der Computer spuckte ein eng beschriebenes Blatt Papier aus, das Cantrell mit seinen Initialen unterzeichnete und Dornbrock aushändigte. »O Gott – Sechs-Punkt-Buchstaben und keine Zwischenräume«, murmelte der Gewerkschaftspräsident. Er legte das Papier auf die Abtastscheibe für den Gewerkschaftsvertragsanalysator, und als ein grünes Licht aufblitzte, unterschrieb er ebenfalls mit seinen Initialen. »Das verkaufen wir jetzt den Mitglie dern«, sagte er seufzend. »Mitbestimmung – das ist die Hölle.« »Betrachte es doch mal von der schönen Seite«, schlug Cantrell vor. »All die Überstunden, die dem Management solchen Kummer bereiten ...« »Vielleicht – vielleicht auch nicht. Du bist das Management, Charlie. Macht es dir was aus, daß wir mit so vielen Überstunden arbeiten?« »Nein. Du kannst dich ja in eurem Kollektivärger vergraben. Mich interessiert nur eins – daß die Arbeit erledigt wird.« »Okay. Glaubst du, daß diese Witzbolde von Mitsui auch nur einen einzigen verdammten Gedanken ... Ach, was soll's, Charlie?« »Es posible, Don.« Cantrell zog die Streifen der acht Dreiecke nach oben und faltete sie wieder zu einer diamantenförmigen Kachel zusammen, die sich mit einem leisen Klicken schloß. »Ich habe Mitsui e inen Kostenvoranschlag geschickt, und sie sagten, daß ich's machen soll. Sie sehen niemals die Arbeit – nur Zahlen und Berichte. Ich bin der letzte, der buchstäblich seine Hände im Spiel hat. Von mir aufwärts betrachtet, sind das nur Clowns, die mit Zahlen jonglieren, um Geld zu scheffeln. Und für Skalaweb ist Mundito Rosinante nichts weiter als ein Logogramm für ein dickes Aktienbündel.« »Werden sich Skalaweb und Mitsui die Anlagen hier teilen?« fragte Dornbrock. »Das haben sie zumindest vereinbart. Skalaweb hat einen gewissen Laderaum und Mitsui auch. Aber du kannst drauf wetten, daß Skalaweb seinen Laderaum an irgend jemanden verkaufen wird.« Cantrell streckte sich und gähnte. »Uff... Skalaweb spekuliert. Billig herstellen, teuer verkaufen. Ich gehe jetzt schla fen.« »Kann ich verstehen. Es war ein langer Tag.« Dornbrock zog den
Reißverschluß seines grünen Präsidentenjacketts zu und trat auf den leeren Korridor hinaus. Während die Gefangenen abgefertigt wurden, die man am Alamo festgenommen hatte, goß sich Captain José Menendez den letzten Rest des hellen, dünnen Kaffees aus seiner Thermosflasche ein und betastete die borstigen schwarzen Bartstoppeln auf seinem Kinn. »Dieser verrückte Gouverneur!« meinte er betrübt. »Gerade hat einer seiner Adjutanten angerufen und mir gesagt, ich soll die Gefangenen nur ja nicht mit Samthandschuhen anfassen. Emiliano, die Anglos werden ihm die Hölle heiß machen – und er will, daß ich die Gefangenen mißhandle!« »Hat er gestern nicht versucht, Sie zu feuern?« fragte sein Lieutenant. »Si. Als ob ich Tommy Rileys Erklärung abgegeben hätte! Er konnte mich nicht rauswerfen – aber hat er sich entschuldigt für die Beleidigungen, die er mir an den Kopf geworfen hat? Nein! Er sagte nur, sein Temperament wäre mit ihm durchgegangen. Was konnte ich schon tun? Ich lächelte also und sagte, das würde ich verstehen. Dieser Idiot!« »Er ist immer noch der Gouverneur.« »Es verdad. Und ich bin immer noch ein Captain von der texanischen Staatspolizei, also bin ich hier für die Abfertigung der Gefangenen verantwortlich.« Menendez nahm einen Schluck Kaffee. »Wie ich es meinen Leuten gesagt habe – man muß das professionell machen, nicht so wie diese Schweine von der Nationalgarde. O Jesus, wie die sich aufgeführt haben!« »Angeblich haben sie dreizehn Personen umgebracht«, sagte Emiliano. »Vierzehn – wenn man den Sergeant mitrechnet, der von seinen eigenen Männern in den Rücken geschossen wurde. Zwei weitere starben im Hospital, über zweihundert sind verwundet.« Das Telefon des Captains läutete, und er hob den Hörer ab. »Hier Captain Menendez ...« Er sah Emiliano an und verdrehte die Augen. »Lieutenant, der Gouverneur will wissen, wie viele Gefangene wir schon erledigt haben und wann wir fertig sind. Pronto!« Emiliano blickte auf den blinkenden Computerbild schirm und schrieb die entsprechende Zahl auf einen Zettel, den er dem Captain reichte. »Sir – um fünfzehn Uhr achtundfünfzig haben wir zweitausenddreihundertsechzehn Gefangene abgefertigt. Jetzt sind noch hundertzweiundsiebzig übrig. Um sechzehn Uhr fünfundvierzig müßten wir fertig sein, keinesfalls später als siebzehn Uhr.« Eine lange Pause entstand. »Ja, Sir. Ich warte auf Ihre Order, Sir.« Menendez verzog das Gesicht und legte auf. »Was wollte er denn?« fragte Emiliano. »Wir müssen Punkt sechzehn Uhr dreißig fertig sein. Dann werden die Gefangenen abtransportiert, und
ich bin Fronoffizier. Meine Order wird in ein paar Minuten über Telefax reinkommen.« »He, Captain!« rief Emiliano. »Die Oberschwester hat was zu tun!« Er schaltete einen großen Monitor ein, und der Bildschirm leuchtete auf. Sie beobachteten, wie eine junge Frau mit schulterlangem blonden Haar in den Abfertigungsraum ging. Die Oberschwester legte das Magazin beiseite, in dem sie gelesen hatte, und stand auf. »Hallo, Schätzchen! Ich bin Officer Johnson. Geben Sie mir Ihre Jacke ... Danke. Und jetzt die Schuhe.« Das Mädchen zögerte, dann schlüpfte es aus den Schuhen, die Keilabsätze und Urethanschaumsohlen hatten, und übergab sie der Oberschwester. »Braves Mädchen! Und jetzt ziehen Sie bitte die anderen Sachen aus.« »Officer Johnson ist sehr höflich«, bemerkte Menendez. »Das ist gut.« »Warum?« fragte das Mädchen. »Wir haben den Befehl, alle Gefangenen genau zu untersuchen, Schätzchen. Das betrifft nicht nur Sie.« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich ziehe mich nicht aus.« »Ich will nicht mit Ihnen streiten, Schätzchen«, entgegnete die Oberschwester. »Stellen Sie sich an die Wand!« Das Mädchen gehorchte widerstrebend. »Die Hände weiter auseinander – ja, so ist es gut. Und jetzt die Füße weiter nach hinten! Noch weiter ... Ja, so ist's recht.« Die Oberschwester tastete jedes Bein ab, dann öffnete sie den Makrameegürtel, fuhr mit einem Finger über seine Innenseite. »Ziehen Sie den Bauch ein, Schätzchen.« Sie machte den Jeansknopf auf und zog den Reißverschluß nach unten. »Braves Mädchen! Jetzt stellen Sie die Füße zusammen.« Als das Mädchen diese Aufforderung befolgt hatte, riß Officer Johnson die Jeans mitsamt dem Slip bis unter die Knie hinab, entblößte braune Schenkel und die weißen Konturen eines Badeanzugs. »He, was soll das?« protestierte das Mädchen. Die Oberschwester knöpfte gelassen den Rückenverschluß der Bluse auf. »Sie müssen nun mal untersucht werden, Schätzchen. Eine andere Schwester hätte ihnen befohlen, die Kleider abzulegen – oder sie hätte die Männer zu Hilfe gerufen. Aber es ist nicht nett, wenn man ein armes Mädchen zu etwas zwingt, das es nicht tun will.« Die Bluse wurde über die Arme des Mädchens gezogen, dann nahm ihm die Oberschwester den trägerlosen BH ab. »So und jetzt ziehen Sie die Füße aus den Hosen – erst den einen, dann den anderen – so ist es gut, Schätzchen.« Officer Johnson hob die Jeans und den Slip auf, dann streifte sie die dünne weiße Bluse von den Armen des Mädchens. Sie legte die Kleidungsstücke auf einen Rolltisch, den sie durch eine Tür, in der ein Vorhang hing, in den
Nebenraum schob, wo sie durchleuchtet wurden. »Okay, Schätzchen, jetzt spreizen Sie wieder die Beine – wunderbar!« Die Oberschwester rieb Gleitsalbe auf ihre Finger und begann in der Vagina nach Schmuggelware zu suchen. »Sie alte Hexe!« schrie das Mädchen. »Das macht Ihnen auch noch Spaß, was?« »Es gibt kein Gesetz, das einem die Freude an der Arbeit verbietet, Schätzchen.« Der Kleiderwagen rollte zurück. »Sie sind sauber, meine Liebe. Jetzt müssen wir nur noch eine Kleinigkeit erledigen, dann können Sie sich wieder anziehen.« Officer Johnson ging zu dem Wagen und griff nach einer dünnen, etwa zwanzig Zentimeter langen Plastikröhre. Sie schraubte den Verschluß ab und nahm einen flexiblen gelben Gegenstand heraus. »Das wird sich jetzt ein bißchen seltsam anfühlen, aber es tut überhaupt nicht weh.« Mit einer Hand zog die Oberschwester die Hinterbacken des Mädchens auseinander, mit der anderen drückte sie den gelben Gegenstand in den After. Der Gegenstand schwoll an und wand sich, begann sich in den Dickdarm hinaufzuzwängen. »Das ist unser sogenannter Bandwurm-Tranquilizer«, erklärte die Oberschwester. »Er kriecht bis zum Dünndarm hinauf, setzt sich dort fest und läßt ein Beruhigungs mittel in Ihren Blutkreislauf fließen – und noch ein paar andere Präparate, so daß er feststellen kann, ob er die Dosis erhöhen oder senken muß. Und wenn er leer ist, löst er sich aus dem Darm und verschwindet, sobald Sie auf die Toilette gehen – ohne daß Sie's merken.« »Großartig!« sagte das Mädchen mit zitternder Stimme. »Kriegen die anderen das auch?« »Natürlich! In den nächsten Tagen werden Sie sich ein biß chen benommen fühlen, bis sich die Dosis stabilisiert hat. Und dann werden Sie sich ein paar Wochen lang über gar nichts mehr aufregen.« Das gelbe Objekt war nicht mehr zu sehen. »Das wär's, Schätzchen, Sie können sich anziehen.« Menendez schaltete den Monitor aus. »Officer Johnson ist sehr tüchtig. Ich wünschte, wir hätten noch mehr solche Frauen.« »Seit wann benutzen wir diesen Wurm?« fragte Emiliano. Er wußte, daß Menendez kürzlich ein paar Vorlesungen über die ses Thema gehalten hatte. »Seit den frühen neunziger Jahren«, lautete die Antwort. »Man wollte die Drogensüchtigen mit einem Naloxonverteiler versorgen, genauso, wie die Diabetiker einen Insulinverteiler haben, um ihnen stets genau die Dosis zu geben, die ihr Körper braucht.« Emiliano nickte und wandte sich zu dem kleinen Monitor, um zuzuschauen, wie sich das Mädchen anzog. »Das Pro-
blem lag darin, das Ding so zu plazieren, daß der Süchtige nicht drankommen konnte«, fuhr Menendez fort und starrte seinen Zuhörer an, um einen Blickkontakt zu erzwingen. »Aber ich muß feststellen, daß Sie sich nicht dafür interessieren.« Er schaltete den Monitor ab, dann begann das Telefax zu piepsen und einen Papierstreifen auszuspucken. »Das muß die Order des Gouverneurs sein.« Er riß das Papier ab. »Aha! Ich soll die Gefangenen zu Senor Chavez Cantrell bringen, an einen Ort namens Rosinante. Für alle Mahlzeiten und Transportmöglichkeiten wird gesorgt. Wir gehen auf dem Dach des Haupthospitals an Bord eines Charterschiffs, und die Reise wird fünfhundert Stunden dauern.« Nachdenklich strich er sich über die Bartstoppeln. »Es ist wohl besser, wenn ich einen Officer zu mir nach Hause schicke und mir meinen Rasierapparat bringen lasse.« »Und ihre Frau soll Ihnen ein Paar Socken zum Wechseln ein packen«, schlug Emiliano vor. »Vielleicht werden Sie länger unterwegs sein, als Sie glauben.« 5
Der hohe Rang Colonel Ras Mohammeds, des Vizepräsidenten des Tellurbank-Kreditinstituts, war klar zu erkennen, wenn man sein Büro betrat. Der Raum enthielt keinen Schreibtisch, dafür aber ein Bett, und war in einem Stil eingerichtet, der Dr. Llamamoto an ein maurisches Bordell erinnert hatte. Nun saß er mit seiner dienstältesten Analytikerin und langjährigen Assistentin Dr. Marian Yashon in schönen, aber unbeque men Sesseln an einem Kaffeetisch mit Intarsienverzierung. Darauf stand eine reichziselierte Kaffeemaschine, so großartig, daß es durchaus angemessen erschien, aus den Styrolschaumtassen zu trinken, die eine Sekretärin in einer Pappschachtel hereinge bracht hatte. Dr. Yashon war eine etwa fünfzigjährige Jüdin, klein und ziemlich dick, mit kurzem grauen Haar, in einem strenggeschnittenen Kleid. Sie hatte stets für die Antriebskraft und die zusammenhängenden Denkprozesse gesorgt, die den vitalen, charmanten, aber äußerst undisziplinierten Colonel Mohammed hoch über den Grad seines eigenen Leistungs vermögens hinausgehoben hatten. »Glauben Sie mir, Marian«, sagte er, »ich bedauere es sehr, Sie zu verlieren, aber Präsident Hsu ist nun einmal der Ansicht, daß Sie sich am besten für den Job eignen.« »Ich befürworte diese Inspektionen schon seit Jahren, Ras«, erwiderte sie.
»Aber so haben wir das nicht konzipiert. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß ich jemals als Inspektorin fungieren müßte.« »Sie sollen Erfahrungen aus erster Hand sammeln. Und wenn Sie dann zurückkommen, können Sie das erste Handbuch schreiben – damit niemand von unserem Außendienstpersonal sagen kann: ›Sie wissen nicht, wie das ist.‹ Denn Sie waren selber an Ort und Stelle. Verstehen Sie?« »Ich verstehe, Ras. Aber ich habe mich nie darum gekümmert, was meine Untergebenen reden.« »Sie sind eine bornierte Frau«, meinte Colonel Mohammed mit einem schwachen Lächeln. »Aber glauben Sie mir, so ist es am besten. Haben Sie sich schon ein Team ausgesucht?« »Ja. Sie werden die Dienste dieser Leute vermissen – vielleicht auch ihre kriecherischen Schmeicheleien.« »Sie haben also nicht Odarchenko genommen, so wie ich es Ihnen empfohlen habe?« »Nein! Der Mann ist ein Höfling. Und im Außendienst kann ich keine Höflinge gebrauchen. Davon abgesehen, mag ich den Hurensohn nicht.« »Sie dürfen sich bei solchen Aktionen nicht von persönlichen Antipathien leiten lassen. Ich will, daß Sie ihn mitnehmen.« »Das werde ich nicht tun, bei Gott!« »Seien Sie doch nicht so stur, Marian.« »Odarchenko und ich haben eine Vereinbarung getroffen, Ras. Ich habe Skaskash übernommen, und Odarchenko bleibt zu Hause.« »Was?« »Odarchenko wollte mich nicht begleiten, und damit ich ihn von dieser Verpflichtung entbinde, hat er mir seine zehn Prozent von Corporate Skaskash überschrieben.« Colonel Mohammed runzelte ärgerlich die Stirn. »Odarchenko hat aber diesen wesentlichen Anteil von Skaskash nicht besessen. Der gehört dem ökonometrischen Institut von Kiew.« »Dem hat er gehört«, korrigierte Marian. »Er wurde einem gewissen S. A. Odarchenko übertragen, nachdem Kiew dem Rockefeller-Institut unseren großen Forschungsauftrag vor der Nase weggeschnappt hat.« Sie überreichte ihm das Aktienzertifikat. »Scheint in Ordnung zu sein«, meinte Colonel Mohammed. »Trotzdem wünschte ich, Sie hätten mich vorher konsultiert.« »Und ich wünschte, Sie hätten mich in dieser ganzen Angelegenheit rechtzeitig konsultiert, Ras.« »Ja, natürlich. Aber ich mußte tun, was Präsident Hsu wollte.« »Ich verstehe, Colonel Mohammed.« Die formelle Anrede war ein milder Tadel.
Der Colonel blickte auf seine Uhr und stand auf. »Nun, Sie haben noch ein paar Tage Zeit, bevor Sie an Bord des Laputa Shuttles gehen. Wird Skaskash Sie begleiten?« »Jetzt, wo ich zehn Prozent von Corporate Skaskash besitze? Darauf können Sie sich verlassen. Das restliche Team wird verständigt, sobald die schriftlichen Befehle fertiggestellt sind.« »Ausgezeichnet, Marian. Gehen wir doch zu der kleinen Abschiedsparty hinunter, die Ihre Freunde für Sie veranstalten. Ich habe den Kaviar besorgt – ein halbes Kilo erstklassigen kaspischen Beluga.« Admiral Kogo setzte sich in einen schwarzen Ledersessel und zündete sich eine neue Zigarre an. Die Fenster in Kinjuro Kijins Büro boten eine atemberaubende Aussicht auf Tokio und die Bucht. Er zog an der Zigarre und genoß die Schönheit des Panoramas. »Vor vierzig Jahren«, sagte Kijin mit seiner heiseren Stimme, »brachte mein Vater mich hierher, um mich aus irgendeinem Grund mit einem seiner höheren Beamten bekanntzumachen. Damals blickte ich aus diesen Fenstern, und die Luft war voller Smog, so daß man nicht einmal die Umrisse der Küste erkennen konnte.« »Ich erinnere mich«, erwiderte Kogo. »Auf der Kaiserlichen Marineakademie hatten wir weiße Uniformen für besondere Gelegenheiten und trugen im Alltag Khaki. Die weißen wären in der verschmutzten Luft höchstens eine Stunde lang sauber geblieben.« »Ja«, stimmte Kijin zu, »und dann gab's kein Öl mehr. Aber Japan überlebte, und jetzt ist die Luft rein. Sie wollen vermutlich über ein aktuelleres Problem diskutieren. Ne?« »Allerdings, Ehrenwerter Kijin. Mit dem Mitsui-Skalaweb Projekt auf Rosinante ist etwas Seltsames geschehen. Der Gouverneur von Texas hat illegalerweise ein Shuttle in den Orbit geschickt. Dieses Shuttle transportiert illegalerweise zweitausendfünfhundert Gefangene – politische Gefangene, die man am Alamo festgenommen hat. Zum größten Teil Studenten – Weiße, männlichen Geschlechts, Angloamerikaner, etwa zwanzig Jahre alt – nach den Nachrichten zu schließen. Im Orbit wurden sie auf der Star of Mexicali transferiert, ein Schiff, das eine Ladung Gummibäume an Bord hat und Mundito Rosinante ansteuert.« »Sie haben die Skalaweb-Laderäume mit politischen Gefangenen vollgestopft?« rief Kijin. »Bemerkenswert! Warum hat Skalaweb das zugelassen?« Der Admiral blies einen Rauchring in die Luft. »Der Gouverneur von Texas heißt Luis Raoul Panoblanco. Einer meiner Adjutanten hat im
Register von Skalaweb nachgesehen und alle Panoblancos herausgesucht, auch alle angeheirateten. Eine ganz schöne Menge. Ich vermute, daß irgend jemand bei Skalaweb die Aktion veranlaßt hat. Man wird den Gouverneur dafür verantwortlich machen, daß er die Ozonschicht mit einem unbefugten Shuttle aufgerissen hat, aber das dürfte die geringste seiner Sorgen sein. Skalaweb hat den Mundito jedenfalls voll bemannt, und nachdem sie den Kredit bei Ecufiscale genommen haben, werden sie sofort ihre Insolvenz anmelden.« »Sie glauben also nicht, daß es dem Gouverneur etwas ausmacht, wenn der Shuttle-Flug die Ozonschicht zerstört?« fragte Kijin. »Nein«, antwortete der Admiral im Brustton der Überzeugung. »Er ist nur daran interessiert, seinen Feinden eins auszuwischen. Und er ist ganz versessen darauf, seine Feinde zu bestrafen, solange er noch die Macht dazu hat.« »Ich verstehe«, sagte Kijin heiser. »Glauben Sie, daß man ihn öffentlich anklagen wird?« »Ja – wenn er nicht vorher einem Meuchelmord zum Opfer fällt. Die texanische Politik ist ziemlich sonderbar. Aber die Alamo-Gefangenen sind jedenfalls da oben und können nicht wieder herunterkommen. In zweiundvierzig Tagen werden sie auf Rosinante eintreffen, und dort werden sie auch bleiben, denn es gibt keinen anderen Ort, wo man sie aufnehmen will.« »Ecufiscale wird Skalaweb keinen Kredit geben«, meinte Kijin hüstelnd. »Nicht, wenn der Mundito mit jungen Leuten im wehrfähigen Alter bemannt wird, auch wenn sie als Zivilisten gelten. Und wenn der Skalaweb-Teil von Mundito-Rosinante auf diese Weise bemannt wird, wird uns Ecufiscale auch keinen Kredit für unseren Teil geben, wegen der langfristigen politi schen Instabilität. Zum Teufel, wir werden auch keine Kredite für die Projekte auf Don Quixote und Sancho Pansa bekommen.« Admiral Kogo zog lächelnd an seiner Zigarre. »Ich bin ganz Ihrer Meinung, Kijin-san«, erwiderte er freundlich. »Und es ist völlig klar, daß die beste und sicherste Politik darin besteht, unsere Verluste möglichst zu verringern und alle drei Projekte sofort zu stornieren. Die anderen NAURAS, wie Sie sie zu bezeichnen pflegen – die Leute, mit denen wir Sancho Pansa und Don Quixote bauen, werden unter diesen Umständen sicher bereit sein, auszusteigen. Wir können das Argument ins Feld führen, daß Skalaweb den Vertrag mit uns gebrochen hat, und vor dem Internationalen Gerichtshof auf Schadenersatz klagen.« »Nun ja«, sagte Kijin traurig. »Möchten Sie eine Tasse Tee, Kogo-san? Shizu!« schrie er. »Den Teewagen, bitte!«
Gouverneur Luis Raoul Panoblanco saß an seinem Schreibtisch im Gouverneurspalast. Die Flaggen von Texas und der Nordamerikanischen Union hinter seinem Rücken sowie das Große Siegel des Staates Texas und der Nordamerikanischen Union oberhalb seines Kopfes vollendeten das Bild, das er seinem Publikum bot. Zwei Leibwächter standen neben dem TV-Team und achteten aufmerksam auf eventuelle falsche Bewegungen der Kameras, die man bereits mehrmals untersucht hatte. Vor dem Büro bewachten weitere Leibwächter die Ein- und Ausgänge. Nach neun Minuten und zweiunddreißig Sekunden seiner genau geplanten halbstündigen Rede sagte er: »... und der Beweis, daß Gott auf meiner Seite steht, ist die Erscheinung eines Sonnenflecks – am Morgen des Tages, als ich die Alamo-Meuterer in den Orbit verbannte. Der erste Sonnenfleck seit über drei Jahren zeigte sich in der Stunde meiner Not. Gott hat mir die Hand gereicht.« Acht Minuten und fünfundfünfzig Sekunden nach seinem geplanten Start raste ein Fernlenkgeschoß, gestohlen von der NAU-Navy, die Straße herab, hüpfte über den Zaun, der den Gouverneurspalast umgab, wich einer hohen Eiche aus und durchstieß mit einer Stundengeschwindigkeit von sechshundertfünfzig Klicktönen das Fenster und die zugezogenen Vorhänge. Es explodierte mit einer Sprengkraft von tausend Kilogramm an der Stelle, wo der Schreibtisch des Gouverneurs gestanden hätte, wäre er nicht auf die andere Seite des Raumes gerückt worden, damit ihn die TVKameras besser einfangen konnten. Aber die Tatsache, daß der Gouverneur befohlen hatte, seinen Schreibtisch woanders zu plazieren, nützte ihm ebensowenig wie die beste, derzeit auf dem Markt erhältliche kugelsichere Weste, die er trug. Den Ehrenplatz bei seiner Leichenfeier nahm eine Frikadelle aus Gouverneur, Leibwächtern und TV-Team ein. 6
Der Bermenpanzer verlief entlang der Schweißstelle zwischen dem Pfettenfenster und der Pfettenplatte, über die volle Länge der Pfette. Im Querschnitt etwa dreieckig, ragte er dreißig Me ter hoch empor. Cantrell verzichtete auf das genauere Studium eines etwas unklaren Berichts über eine mangelhafte Schweißarbeit und verließ seinen Schreibtisch, um sich mit eigenen Augen über den Defekt zu informieren. Er stand in einer Liftkabine aus Kirschbaumholz nahe dem oberen Rand der Mauer, in der die Schweißnaht verlief, und versuchte seinen kleinen
Finger aus einem Loch in der Schweißstelle zu ziehen. »Und Sie sagen, diese Löcher wiederholen sich in regelmäßigen Abständen, Sam?« Der Chef der Crew blickte zu ihm auf. »Ja, Boß. Eins pro Platte, und im ganzen sind's sechsunddreißig Löcher. Glauben Sie, daß wir das alles noch mal schweißen müssen?« »Nein.« Der Finger fuhr aus dem Loch, um einen Teil seiner Haut erleichtert. »Die Schweißnaht ist okay. Das sieht eher nach einer Kerbe in den Platten aus. Als die Platten noch aufeinandergestapelt waren, bekamen sie offenbar irgendeinen Schlag, worauf in allen eine Delle entstanden ist. Verstopfen Sie die Löcher, lassen Sie Bolzen hineinschrauben, Sam. Das können diese Fünf-Millimeter-Platten gut verkraften.« »Okay, Boß«, lautete die Antwort. »Ich werde Willy sofort an die Arbeit schicken.« Das Telefon an Cantrells Gürtel läutete. »Sagen Sie ihm, das muß noch in dieser Schicht gemacht werden.« Er ließ das Tele fon aufschnappen. »Hier Cantrell.« »Ein Anruf von der Star of Mexicali«, sagte die Robotersekretärin. »Captain José Menendez ist am Apparat.« »Aber der Captain ist doch Dario Yzquerida.« »So steht es im letzten Bericht«, stimmte der Computer zu. »Wollen Sie den Anruf entgegennehmen?« »Buenos dias, Captain Menendez«, sagte Cantrell. »Was kann ich für Sie tun?« Eine kleine Pause entstand, während die Worte die Entfernung mit Hilfe der Lichtwellen überbrückten. »Habe ich die Ehre, mit Senor C. Chavez Cantrell zu sprechen?« Wieder eine Pause. Cantrell sog an seinem wunden Finger. »Ja.« »Señor Cantrell, Captain Yzquerida sagt, daß die Star of Mexicali nach einer Zwischenlandung in dieser Gegend den Mars ansteuern und dann erst in vielen Jahren zur Erde zurückkehren wird. Ist es möglich, von Rosinante aus zur Erde zu gelangen?« »Auf Rosinante finden sich des öfteren diverse Transportmöglichkeiten. Haben Sie's eilig?« »Sir!« stieß Menendez hervor. »Ich bin ein Captain der texanischen Staatspolizei, und wenn ich meine Gefangenen abgeliefert habe, möchte ich gern nach Hause fliegen.« »Von welchen Gefangenen reden Sie denn, bitte?« »Ich bin der Fronoffizier für die Alamo-Meuterer«, erwiderte Menendez. »Man hat Sie sicher über die Ankunft der Gefange nen informiert.«
»Ganz sicher nicht, Captain! Die Star of Mexicali wird in drei Tagen mit einer Ladung Gummibäume eintreffen, und das ist bis jetzt alles, was ich weiß.« Cantrell zögerte kurz. »Fron – das läßt auf eine große Anzahl von Gefangenen schließen, Captain. Wie viele werden Sie denn abliefern?« Diesmal dauerte die Pause länger, als es der normalen Zeitverschiebung entsprach. »Zweitausendvierhunderteinundneunzig, inklusive zweiundsechzig Frauen«, lautete die Antwort. »Haben Sie wirklich keine Vorbereitungen getroffen, um sie in Empfang zu nehmen?« »Nein.« Cantrell überlegte e inen Augenblick, ob er aus der Kirschbaumliftkabine springen sollte. Dann beschloß er, darauf zu verzichten. Da die Schwerkraft nur etwa 300 cm/sek2 betrug, würde er sich bestenfalls ein Bein brechen. Es hatte also keinen Sinn, ein Risiko einzugehen. »Nun, wie es der Zufall wollte, blieb die Ehre, mir diese erstaunliche Neuigkeit mitzuteilen, Ihnen überlassen, Captain Menendez. Wenn Sie ankommen, werden wir versuchen, Ihre Heimreise möglichst schnell zu arrangieren.« Menendez wollte etwas sagen, doch Cantrell fiel ihm ins Wort. »Bitte, verzeihen Sie, Captain. Ich habe gerade schrecklich viel zu tun.« Er schloß das Telefon und fuhr mit dem Lift nach unten. »Hören Sie, Boß«, sagte Sam. »Da wir jetzt Spin haben, wird's länger dauern, diese Löcher zu stopfen. Jetzt ist's nicht mehr so wie früher, wo man unter der Decke von einem Arbeitsplatz zum nächsten schweben konnte, wissen Sie?« Cantrell warf seinem Crew-Chef einen Blick zu und baute sein Motorrad aus der Hinterwand des Dienstwagens aus. »Das ist Ihr Problem. Jedenfalls müssen die Löcher noch in dieser Schicht verschwinden.« Er ließ den Motor an und ratterte den Bermenpanzer hinab. Sam zuckte mit den Schultern. Dann werde ich eben den Flin ken Eddie am anderen Ende postieren, beschloß er. Lucy Schultze steckte ihren Kopf in Cantrells Büro. »Willst du die Gewerkschaft sehen, Charlie?« Er blickte von einem Computerbildschirm auf. »Hallo, Lucy! Hol dir einen Sessel. Ist Dornbrock nicht mitgekommen?« »Don ist gerade bei einer Betriebsratsversammlung und spielt mit Brogan ›Polizeireglement‹.« »Kannst du für die Gewerkschaft sprechen?« »Don hat mich gebeten, herauszufinden, was du willst. Geht es vielleicht um diese texanischen Revolutionäre an Bord der Star of Mexicali?« »Wie schnell sich so was rumspricht!«
»Okay. Wir werden mit zwei Schichten arbeiten, das Quartier für die Gefangenen bauen und uns auf die vertraglich festgelegten Notstandsgesetze berufen.« »Das ist nicht nötig, und deshalb wollte ich euch auch gar nicht sprechen. Wir werden die Kassettenmagazine zu einem Durchgangslager umfunktionieren, und die Arbeitspläne für die erste Schicht müssen sofort hinausgehen.« Er übergab ihr ein paar Kopien. »Genau das werden wir tun.« »Das ist aber ziemlich primitiv. Tragbare Toiletten?« »Für die eine Woche, die sie hier verbringen werden, muß es genügen.« »Ich sehe keine Pläne für Klimaanlagen. Zweitausendfünfhundert Menschen werden eine Menge Hitze erzeugen.« »Wir stellen Kassetten mit Eiswürfeln rein und erneuern sie, wenn das Eis geschmolzen ist. Eine Art transportable Kühlvor richtung.« »Keine Schutzschicht?« »Das Magazin hängt hinter dem Asteroiden Rosinante am Südpolstrahl, Lucy. Dadurch wird die Solarradiation ausgeschaltet. Und in der kurzen Zeit, die sie hier sein werden, ist die galaktische Hintergrundstrahlung kein Problem.« »Und warum wolltest du dann mit der Gewerkschaft reden, Charlie? Das ist doch nur geringfügige Hemdsärmelarbeit.« »Wir müssen sie füttern. Das Quartier macht mir kein Kopf zerbrechen, aber es wird eine Weile dauern, neue Lebensmittel zu züchten. Ich möchte, daß die Gewerkschaft ihre Lebensmittel mit diesen Leuten teilt bis zu unserer nächsten größerem Ernte.« »Was meinst du mit ›teilen‹, Charlie? Daß sie essen werden – und wir nicht?« »Zum Teufel, was verstehst du eigentlich unter dem Begriff ›teilen‹ ? Gib zehn Prozent von deiner Tagesration ab! Du ißt ohnehin zuviel.« »Klar, Charlie. Mir macht es nichts aus, auf einen Teil meiner Nahrung zu verzichten. Ich will sowieso abnehmen. Aber die Gewerkschaft? Ich glaube nicht, daß die deinen Plan billigen werden.« »Wirst du sie fragen?« »Natürlich, aber ich weiß schon jetzt, daß sie nein sagen werden. Was wirst du dann machen?« »Ich habe bereits veranlaßt, daß der Methanolkonverter in Betrieb genommen wird. Wir können Methanol schneller in ein zelliges Protein umwandeln, als wir Methan erzeugen können, und es müßte uns auch gelingen, die Wasserlinsenproduktion zu steigern. Aber auch dann werden diese jungen Leute nur acht- oder neunhundert Kalorien pro Tag kriegen.«
»Für wie lange?« »Wie lange dauert es vom Ei bis zum Brathuhn? Sie werden keine regelmäßige Nahrung bekommen, bevor wir in der Pfette eins Weizen und Sojabohnen ernten.« »Sie werden's überleben«, meinte Lucy unbehaglich. »Die Gewerkschaft wird dir ein paar Überstunden zugestehen, damit du die Gefangenen früher füttern kannst, aber sie werden ihr Essen nicht mit ihnen teilen.« »Und wenn wir die Vorräte angreifen?« »Dafür ist das Inventarmanagement zuständig, Charlie. Solange wir alle gefüttert werden, wird sich niemand drum kümmern, was du im Lagerhaus tust. Aber wenn du unsere Rationen kürzt, werden wir dir die Hölle heiß machen.« »Spricht jetzt die Gewerkschaft aus dir – oder redest du für dich selber, Lucy?« »Ich sage dir nur, wie sie reagieren wird, Charlie. Wenn es zu einer Abstimmung über deinen Plan kommen sollte, wird man ihn ablehnen. Und du kannst dann drauf wetten, daß der Betriebsrat in nächster Zeit seine Kalorien ganz genau zählen wird.« »Okay, das Management wird seine Rationen auch nicht kür zen.« »Ich nehme an, Dornbrock wird noch mit dir über dieses Thema reden«, sagte Lucy, als sie zur Tür ging. »Aber ich bezweifle, daß er dir was anderes erzählen wird als ich.« Nachdem sie das Büro verlassen hatte, rief Cantrell den Leiter der Inventarabteilung zu sich. »Die Gewerkschaft wird nichts dagegen haben, daß wir die Vorräte angreifen«, erklärte er lä chelnd. »Nun, dann werden wir keine Probleme haben, Boß. Ich glaube, daß sie lebendes Inventar gar nicht als Vorräte betrachten.« »Das glaube ich auch nicht, Harvey. Und wenn sie herausgefunden haben, daß sie sich auf viel schlichtere Weise ernähren als andere Leute, müßten wir die Herden mit der pflanzlichen Biomasse aus Pfette eins wieder aufgestockt haben.«
7
Datum: 2. Mai 2039 Von: H. Oyama Betrifft: Aufgabe der Mitsui/NAURA Projekte auf Don Quixote, Sancho Pansa und Rosinante An: K. Kijin Dieses Büro hat Admiral Kogos Vorschlag, die betreffenden Projekte aufzugeben, geprüft. Seine Gründe erscheinen uns stichhaltig genug, um unsere Entscheidung neu zu überdenken, aber die sofortige Einstellung aller drei Projekte wäre vielleicht voreilig. Es wäre eine logische Alternativstrategie, die Mitsui-Anlagen auf Rosinante für heiratsfähige Frauen ohne andere Qualifika tionen zu nutzen. Damit wird man der Tellurbank beweisen, daß die größere Anzahl alleinstehender Männer auf Rosinante keine clever getarnte Militärtruppe ist. Da wieder Sonnenflecken auf getaucht sind, wird es nicht mehr lange dauern, bis die Ozonschicht in ausreichendem Maße wiederhergestellt ist, so daß die Raumschiffe wieder regelmäßig verkehren können. Man hat vorgeschlagen, das Hochzeitsschiff in dem Augenblick zu starten, in dem der Ozongrad die akzeptable Höhe erreicht hat. Wahrscheinlich wird man mehrere ähnliche Flüge arrangieren, und wenn es dabei zu Fehlschlägen kommt, könnten kostspielige Verzögerungen eintreten. Sobald wir die sexuelle Ratio auf Rosinante etabliert haben, wird uns Ecufiscale den Kredit wahrscheinlich automatisch gewähren. In diesem Fall können wir uns neue Gedanken darüber machen, ob der Nutzwert Rosinantes ausreichen wird, den Kredit zurückzuzahlen oder nicht. In allen möglichen Fällen können wir mit einem befriedigenden Profit rechnen. /s/ Hirashi Oyama »Ich habe Ihre Mitteilung gelesen«, sagte Kijin mit seiner heiseren Stimme, »und ich habe ein paar Fragen. Angenommen, der Nutzwert Rosinantes reicht nicht aus, um den Kredit an Ecufis cale zurückzuzahlen – was dann?« »Wir erklären natürlich, daß wir zahlungsunfähig sind«, erwiderte Oyama. »Das werde ich selber empfehlen.« »Ah, ich verstehe.« Kijin nickte. »Und diesen Vorschlag haben Sie klugerweise nicht schriftlich festgelegt. Sie wollen Rosinante opfern, um die beiden anderen Munditos zu retten?« »Natürlich, Sir. Rosinante ist auf alle Fälle verloren.« Oyama lächelte höflich, als wäre diese Wahrheit so offenkundig, daß es sich gar nicht mehr lohnte, sie in Worte zu fassen.
»Und die nächste Frage – woher wollen Sie zweitausendfünf hundert Frauen nehmen?« »Möglicherweise aus Hongkong – oder aus Shanghai. Die Chinesen haben nun schon die dritte schlechte Weizenernte hin ter sich, und die Freiwilligen werden sich begeistert auf unser Projekt stürzen. Wir könnten Englischkenntnisse verlangen.« »Vielleicht...« Kijin runzelte skeptisch die Stirn. »Warum versuchen Sie nicht, etwas für Ihr eigenes Land zu tun?« »Ich soll Japanerinnen rekrutieren, damit sie Texaner heiraten?« Oyama war sichtlich schockiert. »O nein! Aber wir haben viel zu viele Koreaner in Japan. Warum wollen Sie die nicht rekrutieren? Auf diese Weise müßten wir keine nationalen Grenzen überschreiten.« »Sehr wahr, Sir«, meinte Oyama enthusiastisch. »Außerdem wären die Sicherheits- und Transportprobleme leicht zu lösen. In diesem Fall werden die Interessen Mitsuis und der Koreanerinnen übereinstimmen.« Er lächelte. »Aber das werden die Mädchen vermutlich nicht glauben.« »Das spielt keine Rolle – sie werden jedenfalls auf die Reise gehen.« Kijin hüstelte in seine Hand. »Nun ja – es sieht so aus, als wäre Admiral Kogo bereit, eine Shuttle-Ladung aufs Spiel zu setzen, wenn Sie Mundito Rosinante abschreiben.« Er zog ein Taschentuch hervor und hüstelte noch einmal. »Schätzungs weise wird der erste Flug in zehn Tagen gestartet, am 12. Mai. Wenn Sie bis dahin zweitausendfünfhundert junge Frauen fin den, wenn Sie die alle an Bord des Shuttles bringen und wenn sich die Ozonschichten vernünftig benehmen – dann haben Sie bis zum 14. Zeit, die Sache durchzuziehen.« Er blickte auf die Uhr an der Wand seines Büros. »Es ist schon spät. Wollen Sie mir bei einem Drink Gesellschaft leisten?« 8
»Wir haben ein Dutzend Telekons in den Quartieren installiert«, erklärte der Techniker, »und den Texanern gesagt, daß Sie nach der Filmvor führung alle Fragen beantworten werden. Immer schön der Reihe nach. Wenn Sie mit einer Gruppe fertig sind, drücken Sie den Knopf für die nächste. Von zehn bis ein undzwanzig – hier auf der Kontrolltafel.« »Und die anderen Nummern?« fragte Cantrell. »Die sind nicht dazugeschaltet. Soll ich das noch machen?« Cantrell schüttelte den Kopf. »Ich brauche also nur auf einen Knopf nach dem anderen drücken.«
»Nur keine Aufregung!« sagte der Techniker. »Kommen Sie in etwa fünfunddreißig Minuten zurück. Der zweite Film läuft noch vierzig Minuten.« Cantrell ging den Flur hinab zum Stateside Café und bestellte ein Guinness vom Faß. »Tut mir leid, Sir«, sagte der Robot-Kellner. »Wir haben nicht genug Gerste für unsere Mikrobrauerei bekommen, und nun ist uns das Bier ausgegangen.« »Ich verstehe.« »Das liegt daran, daß wir jetzt so viele zusätzliche Mäuler stopfen müssen. Aber man hat mir versichert, daß es sich nur um einen vorübergehenden Engpaß handelt.« »Ganz sicher«, bestätigte Cantrell. »In ein bis zwei Tagen haben wir's überstanden. Könnte ich eine Tasse Kaffee und eine Scheibe Roggentoast haben?« »Selbstverständlich, Sir. Wünschen Sie den Kaffee schwarz – wie üblich?« Zehn Minuten, bevor er seine Rede beginnen mußte, kehrte Cantrell in den Senderaum zurück und beobachtete das Publi kum, das sich gerade das Ende eines alten, wohlbekannten Films anschaute, und trank Kaffee aus einem Plastikschaumbecher. Dann kam sein Auftritt, und er drückte auf den Knopf Nummer zehn. Sein Telekonschirm zeigte etwa zweihundert junge Männer, die ihn aufmerksam anstarrten. »Guten Abend. Mein Name ist Charles C. Cantrell, und ich bin der Projektmanager hier auf Mundito Rosinante. Der erste Film, den Sie gesehen haben, war eine aktuelle Nachrichten-Show aus Texas, wo Sie noch bis vor kurzem gelebt haben. Diese Show hat alles gezeigt, was seit Ihrer unerwarteten Abreise passiert ist. Für mich war das auch alles neu. Ich bin in Santa Fe, New Mexico, geboren und aufgewachsen, aber das ist schon lange her, und ich bin nicht mehr so auf dem laufenden. Ich kann also keine Fragen beantworten wie: ›Wer hat den Gouverneur in die Luft gesprengt?‹« Allgemeines Gelächter. »Der zweite Streifen war ein Informationsfilm für Banker und andere Analphabeten, die im Geld schwimmen. Er zeigt, was und wo Mundito Rosinante ist und wie das Projekt angefangen hat und warum wir hoffen, ein Schweinegeld damit zu machen. Ich habe das alles bisher mitgemacht, und Sie sind jetzt auch hier. Ich will versuchen, Ihre Fragen zu beantworten. Die erste Frage, bitte. Der Gentleman im schwarzen T-Shirt.« »Mr. Cantrell, was werden wir hier tun?« »Das ist eine gute Frage. Um es kurz und bündig auszudrücken – Sie
werden Ihre eigene Nahrung produzieren. Das heißt – nun ja – in Pfette drei wird Hevea brasiliensis gezüchtet, das wird eine Gummiplantage, also werden einige von Ihnen mit Gummi arbeiten. Aber sobald die Bauarbeiten abgeschlossen sind, werde ich das Weite suchen, und deshalb kann ich nicht sagen, wie Ihre Zukunft aussehen wird.« Er drückte auf Knopf elf und blickte auf eine neue Gruppe. »Der Gentleman mit dem Schnurrbart, der wie ein Suppensieb aussieht.« »Sir, in dem Film wurde gesagt, daß das Projekt erst am Anfang steht, doch ich habe den Eindruck, daß es schon fertig ist. Aber offenbar ist es noch nicht fertig.« »Nun, das ist ein alter Film, und der Begriff ›fertig‹ hat verschiedene Bedeutungen. Als kleiner Junge habe ich mal ein Pla stikmodellschiff gebaut – die Cutty Sark, einen Schnellsegler. Ich brauchte eine Woche, um ihn anzumalen, den Rumpf zusammenzubasteln, die Masten und Spiren einzusetzen und all die kleinen Dinger, die einem eben wichtig sind. Dann war das Schiff fertig – aber es war noch nicht fertig, solange ich keine Takelage drangemacht hatte. Schwarze Fäden für die stehende Takelage, braune Fäden für die laufende Takelage. Für das alles brauchte ich zwei Wochen. Sind wir mit Mundito Rosinante fertig? In gewisser Weise. Wir arbeiten jetzt an dem Zeug, das nicht funktionieren kann, solange wir nicht für stabile Gravität und ausgeglichenen Luftdruck gesorgt haben. An Installationen und Verdrahtung und Kabeln. An Bewässerungssystemen, Uferantennen, Abwasserkläranlagen. An einer Million Details, an der Takelage, wenn Sie so wollen. Sie, Sir – ja, der Gentleman im karierten Hemd.« »Im Schiff haben wir keine Post bekommen und durften auch nicht nach Hause schreiben. Werden wir hier unsere Post krie gen?« »Ja. Vom Schiff wurden viele tausend Briefe im Mikroformat rübergebracht, aber wir haben nicht genug Papier, um sie zu drucken. Ich werde dafür sorgen, daß Sie Lesegeräte erhalten, und dann lasse ich Ihre Post verteilen.« Er drückte auf Knopf zwölf. »Das Essen ist schauderhaft! Was werden Sie dagegen tun, Sir?« »Wir werden die Lebensmittelproduktionskette so schnell wie möglich aufbauen«, erwiderte Cantrell, »aber das erste Resultat werden Sie erst in etwa sechzig Tagen sehen – in Form von Krabben.« Ein Jubelschrei klang auf. »Danach dauert es weitere neunzig Tage, bis die ersten Eier auftauchen werden.« »Eier mit Schalen?« rief irgend jemand. »So werden sie von den Hennen normalerweise gelegt«, sagte Cantrell. »In zirka hundertzwanzig Tagen werden wir Weizen und Sojabohnen
haben – und in zwei bis drei Jahren das erste Frischfleisch.« Er drückte auf Knopf dreizehn. Diese Gruppe war etwas kleiner und bestand zur Hälfte aus Frauen. Die ersten Frauen, die er bisher gesehen hatte. »Die Dame in der Leinenjacke.« »Was ist denn dieses ›Kassettenmagazin‹, in dem wir sitzen?« »Das Lager, wo wir die Kassetten aufbewahren«, antwortete Cantrell, »die Rollen aus Stahl oder Aluminiumfolie an den Shelob-Spulen.« »Shelob-Spulen ?« »Die Shelobs sind große Balkendrehscheiben«, erklärte er. »Sie drehen die Folien an den Spulen – die Kassetten – zu den Balken zusammen, die wir für die Bauarbeiten brauchen. Die Blondine mit dem roten Halstuch.« »Wir haben in der Schule gelernt, daß Glasfenster neun bis zehn Millimeter dick sein können. Aber Ihre Fenster sind dreißig Millimeter dick. Warum?« »Offenbar haben Sie die Pläne in den Filmen genau studiert. Das hängt mit der Methode zusammen, wie wir die Fensterscheiben zusammensetzen, mit der Glastemperatur und mit der Zeit, die wir für die Arbeit haben. Wir hätten auch neun Millime ter dicke Fenster herstellen können, aber das hätte zehnmal so lange gedauert. Und da wir das Glas hier am Ort produzieren, ist es billiger, dreißig Millimeter dicke Scheiben zu machen.« »Ich habe noch eine Frage«, sagte das Mädchen. »Wie zirkuliert die Luft in diesen langen Pfetten? Ich meine, ich habe in der Schule gelernt...« »Wir pumpen heiße, feuchte Luft durch die Bermenpanzer zu den Radiatoren an den Außenkapseln«, antwortete Cantrell. »Durch die Kondensation wird die Pfette mit Wasser versorgt, die Hitze strahlt ins All aus, und wir haben eine stetige Strömung kühler, trockener Luft, die aus der Außenkapsel herabweht. Okay?« »Okay«, sagte sie lächelnd. »Aber warum heißen diese Dinger Bermenpanzer?« »Eine Berme ist eine Erdschulter an einem Wall. Und ein Bermenpanzer zieht sich wie eine Erdschulter am Pfettenfenster entlang, so daß er einen dran hindert, über die Kante zu schauen. Außerdem schützt er die lange Achsennaht zwischen dem Pfettenfenster und der Pfettenplatte. Ja, Sir – der Gentle man mit dem Schnurrbart.« »Pfette – das ist eine andere Bezeichnung für Dachstuhlbalken. Warum hat man für das Innere dieser Strukturen einen solchen Namen gewählt?« Cantrell seufzte. »Mordecai Rubenstein hat mir mal erzählt, daß bei den ersten Modellen die Strukturstützen im Zentrum verankert wurden und nach außen verliefen. Diese Stützstrukturen wurden Pfetten genannt, und ich nehme an, daß man mit der Zeit alle Innenstrukturen als diese oder jene
Pfetten bezeichnet hat. Aber genau weiß ich das nicht. Ja, Ma'am?« »Es gibt ein sogenanntes Sancho-Pansa-Projekt, aber keinen Asteroiden dieses Namens. Wie kommt das?« »Vermutlich, weil wir mehr Projekte als Asteroiden haben, Ma'am«, antwortete Cantrell mit ausgesuchter Höflichkeit. »Sir?« »Warum sind die Pfetten in der Mundito-Hülle voneinander getrennt?« »Das haben die Banker auch gefragt. Auf diese Weise ist die Struktur viel stärker – und besser gefeit gegen Schäden oder Sabotage.« »Versuchen wir doch mal einen Holzpantoffel gegen eine dreißig Millimeter dicke Fensterscheibe zu werfen!« rief je mand, und alles lachte. »Oder versuchen Sie ihn siebentausend Meter hoch zu schleudern«, schlug Cantrell vor. »Das war übrigens eine Änderungsorder von Mitsui am Anfang des Projekts. Und jetzt ist's genauso, wie sie's haben wollen.« Mit einigem Widerstreben drückte er auf Knopf vierzehn. »Kann man hier noch was anderes außer Wasser trinken?« »Wir arbeiten gerade an einer Mikrobrauerei. Nach der Ge treideernte, wenn wir genug Rohstoffe haben, bekommt jeder von Ihnen eine Bierration von einem halben Liter pro Woche.« Schwacher Applaus. »Sie, Sir, mit der Lederweste.« »Wann werden denn ein paar Frauen hierhergebracht?« »Das weiß ich nicht. Rosinante ist ein Gemeinschaftsprojekt – Mitsui und Skalaweb. Sie kommen alle von Skalaweb, Gentlemen. Wenn Mitsui seine Leute raufschickt, sind vielleicht einige Frauen dabei.« Er drückte auf Knopf fünfzehn. »Der Gentle man in den Khaki-Shorts, bitte.« »Wann werden wir in unser Dauerquartier übersiedeln?« »Ungefähr in zwei Wochen. Wir versuchen alles so schnell wie möglich herzurichten. Und jetzt noch eine letzte Frage. Sie, Sir!« »Könnten wir in dem Schiff, das uns hergebracht hat, nicht nach Hause fliegen?« »Die Star of Mexicali wird Tellus nicht ansteuern. Sie transportiert unsere Shelobs – die großen Balkendrehscheiben – nach Phobos, und die Spiegelproduktionsmaschinen sind zu einem der Mitsui-Projekte unterwegs, die um Ceres rotieren.« »Ich meine – wann fliegen wir denn nach Hause?« fragte der Junge. »Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich in ein, zwei Jahren.« Sie würden nie mehr nach Hause fliegen, aber das wollte Cantrell nicht laut sagen.
9
Laputa befand sich im stationären Orbit über Midway Island. Hier wurde der Shuttle-Verkehr von der asiatischen Pazifikküste und von der westlichen NAU auf die Schiffe des Außenalls transferiert. Ursprünglich war Laputa eine Orbitfestung gewesen, aber heutzutage hatte die militärische Präsenz großteils nur noch administrativen Charakter. Dr. Marian Yashon saß mit Corporate Skaskash zwischen den anmutig geformten Buchsbäumen im Garten des Hotels Laputa. Skaskash war eine bemerkenswerte Kollektion von eisenharten, stabilen, butterweichen und schleierhaften Meinungen und Ansichten, deren Funktionen in den Kriegen, Neuorganisationen und mörderischen Machtkämpfen in der Tellurbank abgeschlif fen und verfeinert worden waren. Als Korporation und Person im legalen Sinne besaß Skaskash eine universale Lizenz als amtlich zugelassener Wirtschaftsprüfer und war berechtigt, gerichtliche Statistik zu praktizieren. Er beherrschte fließend Chine sisch, Japanisch, Englisch, Französisch und Spanisch, und das in einer solchen Perfektion, daß er simultan von einer Sprache in die andere übersetzen konnte. Keineswegs zufällig hatte Corporate Skaskash dreiundvierzig Prozent von der Skaskash AG, während Ecufiscale Tellurbank siebenundvierzig Prozent ihr eigen nannte. Er war sich durchaus der zehn Prozent bewußt, die Odarchenko an Marian übergeben hatte, als Bestechungsgeschenk, um nicht weggehen zu müssen, und Corporate Skaskash befleißigte sich deshalb einer außerordentlichen Höflichkeit. Sie hatten nun drei Tage lang Go gespielt, während sie auf die Ankunft des restlichen Teams warteten, und Skaskash hatte festgestellt, daß seine höchsten Anstrengungen nicht ausreichten, um einen Sieg zu erringen. Und so einigten sie sich auf ein Handikap von fünf Steinen, saßen im Garten und spielten Go, um die Zeit totzuschlagen. Natürlich checkte Skaskash auch Ankunftstermine und Passagierlisten und nahm in regelmäßigen Abständen Kontakt mit dem Hauptquartier auf, um herauszufinden, wie die anderen Team-Mitglieder vorankamen. Er studierte auch die Zeitungen und Magazine, die Dr. Yashon las, und erzählte von den Artikeln, die Dr. Yashon nicht las. »Sollen wir runtergehen und auf das Quemoy Shuttle warten?« schlug Skaskash vor und durchschnitt eine Linie, die Marian in Richtung einer Gruppe aus weißen Steinen angelegt hatte. »Sind Leute von uns an Bord?« fragte Marian und begann ein Tigermaul am Ende der durchschnittenen Linie zu formen. »Nein«, antwortete Skaskash und studierte das Go-Brett. »Aber das wird für etwa zehn Tage das letzte Shuttle sein – bis die Ozonschichten ihre
Verluste wieder eingebracht haben.« Er plazierte einen Außenposten auf die andere Seite des Bretts. »Wartet die Heilige Pflaumenblüte immer noch auf ihre Fracht?« erkundigte sich Dr. Yashon. Skaskash verbesserte: »Die Weltliche Pflaumenblüte. Nein. Voraussichtlich startet sie morgen um 2 Uhr 25. In diesem Fall scheinen wir das ganze Team zu sein.« Er machte eine kleine Pause. »Soll ich Colonel Mohammed anrufen, um unsere Order bestätigen zu lassen?« »Nein – nein. Wenn wir woanders gebraucht werden, ist es seine Pflicht, uns zu instruieren. Aber Sie könnten den voraussichtlichen Starttermin durchgeben. Man muß das Hauptquartier stets auf dem laufenden halten.« »RDA«, stimmte Skaskash zu. »Ist bereits passiert. Möchten Sie eine Kopie?« »Wozu? Sie haben das doch ohnehin gespeichert, nicht wahr?« Sie fingen gerade mit dem nächsten Spiel an, als eine sechzehnjährige Asiatin nähertrat und höflich auf Englisch fragte, ob sie zuschauen dürfte. »Es wäre mir ein Vergnügen«, erwiderte Skaskash auf Japanisch. »Setzen Sie sich doch, bitte.« Das Mädchen kicherte und setzte sich an den Tisch, worauf ein weiteres in der gleichen Uniform – weiße Hosen, weiße Bluse, weiße Tennisschuhe, marineblaue Windjacke mit weißer Paspelierung, karmesinrotes Halstuch – herankam. »Was machst du da, Mishi?« fragte das zweite Mädchen in stockendem Englisch. »Ich habe Mishi eingeladen, uns beim Go zuzusehen«, erklärte Skaskash auf Japanisch. »Wenn Sie auch zuschauen möchten, sind Sie uns herzlich willkommen.« Das zweite Mädchen kicherte. »Warum sprechen Sie englisch?« wollte Dr. Yashon wissen. »Weil wir üben müssen, damit unser Englisch sehr gut wird, verehrte Dame«, antwortete Mishi langsam und prononciert. »Wir fliegen zu einem fernen Ort, um amerikanische Männer zu heiraten, und deshalb müssen wir lernen, gut englisch zu sprechen.« »Wir sind mit dem Quemoy Shuttle gekommen«, fügte das andere Mädchen hinzu, »und in ein paar Stunden werden wir in der Weltlichen Pflaumenblüte weiterreisen.« Sie kicherte nervös. »Das ist sehr aufregend.« Dr. Yashons Gürteltelefon surrte, und sie klappte es auf. »Das Quemoy Shuttle war eine Mitsui-Chartermaschine«, teilte ihr Skaskash per Telefon mit. »Es hatte zweitausendfünf hundert junge Damen aus Japan an Bord. Wollen wir wetten, daß sie nach Rosinante fliegen?«
»Ich wette nicht«, sagte Dr. Yashon zu ihrem Telefon und ließ es wieder zuschnappen. »Wir fliegen auch mit der Weltlichen Pflaumenblüte«, erzählte sie den beiden Mädchen, »bis zu Mundito Rosinante.« Sie lächelte und reichte Mishi ihre Hand, die das Mädchen sichtlich verwirrt ergriff. »Ich bin Marian Yashon«, stellte sie sich vor, »und das ist Corporate Skaskash.« Die beiden Mädchen kicherten, nannten ihre Namen und kicherten wieder. Als die letzte Go-Partie zu Ende ging, war der Garten voller marineblauer Windjacken mit weißen Paspelierungen. 10
Der Grüne Ballsaal im La Grande Schyler Hotel war so gut besucht, daß die kühlenden Kapazitäten der Klimaanlage überschritten wurden. Auf der Bühne spielten Sergio Gonzales und seine Grosso Mariachis OnestepArrangements von Straußwalzern, eine Modetorheit, die Gonzales populär gemacht hatte. Der Lüster, ein raffiniertes Gebilde aus geschliffenem Kristall, Prismen und Spiegeln, drehte sich in einer gut geölten Verankerung, veränderte immer wieder ganz langsam seine Gestalt, wand sich, schien zu schäumen, wurde von prismatischem Licht zum Leben erweckt und sandte Blitze aus reiner Farbe aus. Während er seine fast hypnotische Wirkung ausübte, lauschte er der Musik und tanzte in ihrem Rhythmus. Wenn ein richtiger Straußwalzer erklungen wäre, hätte ihn das Hotelmanagement ausgeschaltet. Hirashi Oyama von Mitsui reichte Isoruki Llamamoto von der Tellurbank ein Glas kalifornischen Champagner, aus einem der weltbesten Jahrgänge, und erhob sein eigenes Glas. »Seit ich Ihren Namen zum erstenmal gelesen habe, erregt er meine Neugier. Ich hoffe, Sie fassen es nicht als Beleidigung auf, wenn ich Sie frage, wie aus dem Y die beiden L's wurden.« »Keineswegs«, erwiderte Llamamoto. »Mein Vater ging nach Cambridge, wo er in den Einflußbereich eines zeitgenössischen walisischen Dichters geriet, und einer geistreichen, vielleicht auch romantischen Eingebung zufolge, änderte er seinen Namen. Vater schrieb ein Semester lang schlechte Gedichte und passable Kritiken, bis mein Großvater ihn nach Hause beorderte, damit er eine arrangierte Ehe mit meiner Mutter einging. Er begann zu trinken und starb kurz nach meiner Geburt. Ich wurde im Haus seiner Eltern aufgezogen, und als ich großjährig wurde, nahm ich seinen Namen an, zu Ehren seines Andenkens.« Er trank einen Schluck Champagner, und seine Lippen verzogen sich zu einem minimalen
Lächeln. »Der Zorn meines verehrten Großvaters konnte mich natürlich nicht von meinem Entschluß abbringen.« »Ah, Oyama! Llamamoto!« Kijin bahnte sich, begleitet von einer atemberaubend schönen Frau, einen Weg durch die Menge. »Erlauben Sie mir, Ihnen Marina Elena Retsinoupolis vorzustellen, besser bekannt unter dem Namen Marina Retsina.« Oyama ergriff ihre Hand und stammelte etwas Unzusammenhängendes. Llamamoto gelang es etwas besser, Haltung zu bewahren, und er brachte sogar ein Lächeln zustande, als er ihre Hand schüttelte. Dann verschwanden Kijin und die Schauspielerin wieder im Ge tümmel. »Was für eine Figur!« wisperte Oyama. »Was für ein schönes Gesicht!« »Es ist zwar nicht allgemein bekannt«, sagte Llamamoto, »aber Hsu Ko Jing, unser Präsident, ist ein Fan von Marina Retsina. Er hat alle ihre Filme in seiner Bibliothek.« »Hsu Ko Jing ist ein Schwein«, zischte Marina in Kijins Ohr. »Du hast ihn ziemlich scharf gemacht«, erwiderte er. »Und jetzt verschwinde aus dem allgemeinen Blickfeld und schau auf den Monitor, damit bei deinem mitternächtlichen Auftritt nichts schiefgeht.« Zitternd vor Erregung betrat der Präsident der Ecufiscale Tellurbank das Privatzimmer Marina Retsinas, dessen Schlüssel sie ihm gegeben hatte. »Der alte Jing ist pünktlich auf die Sekunde«, sagte eine Technikerin, die auf einen TV-Monitor schaute. »Laß ihm ein paar Minuten Zeit, dann geh mit dem anderen Schlüssel rein, okay?« »Okay«, bestätigte eine Frau, die Marina Retsina sehr ähnlich sah, mit einer Stimme, die genauso klang wie die Stimme Marina Retsinas. »Du hast das Sprachsynchron toll eingestellt«, meinte die Technikerin anerkennend. »Laß nur den Computer reden, dann hast du's schon geschafft.« »Glaubst du wirklich, daß er eine von meinen alten Filmsze nen spielen wird?« fragte der Computer mit Marina Retsinas Stimme. Die Technikerin nickte. »Ja, beim Teufel! Du denkst doch nicht, daß er selber Konversation machen wird? Wahrscheinlich hat er sich die Vergewaltigung aus Orangenblütenhonig ausgesucht. Das Zimmer paßt gut zum Filmschauplatz, und außerdem ist das eine seiner Lieblingsszenen.« Ein letztesmal checkte sie das Make-up, das die Computerlautsprecher in der Frauenhaut verdeckte. »Falls er sagt: ›Sie haben mich stundenlang warten lassen‹, wenn du auftauchst, dann weißt du gleich, was los ist. Du wirst schon in der nächsten Sekunde auf dem Bett liegen, das Kleid über dem Kopf.«
Die Frau nickte. »Kein Problem – wenn das Sprachsynchron auf Improvisation eingestellt ist«, sagte sie mit ihrer eigenen Stimme. »Viele Verbalproteste«, fuhr die Retsina-Stimme fort, »während sich der Körper kraft- und wirkungslos zur Wehr setzt und sich dann unterwirft. Okay, lieber Körper, tun wir unsere Pflicht.« Die Frau, die wie Marina Retsina aussah, stand auf und begutachtete sich im Spiegel, zwinkerte der Technikerin zu und machte sich auf den Weg, um ihr Honorar zu verdienen. Kijin und Admiral Kogo saßen an einem Tisch seitlich von der Bühne und warteten auf Marina Retsinas Auftritt. Kogo rauchte eine Zigarre, Kijin trank Scotch mit Soda. Hsu Ko Jing drängte sich durch die Menge, setzte sich zu den beiden Männern und wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. »Nun, wie war's?« fragte Kogo. Hsu lächelte, worauf Grübchen in seinen fetten Wangen erschienen. »Großartig. Wir spielten zusammen eine Szene aus Orangenblütenhonig. Wissen Sie – diese Frau kann den banalsten Dialog mit echtem Leben erfüllen.« Er nahm eine Pfeife und einen Tabakbeutel aus der Tasche, begann sorgfältig Burley-Grobschnitt in den Bruyere-Kopf zu stopfen. Kijin lachte. »Hören Sie, wenn mein Glas leer ist, werde ich sternhagelvoll sein, aber solange ich meine Sinne noch beisammen habe – würden Sie Ihre Initialen auf diese Verzichtserklä rung malen, von der wir vorhin sprachen?« Er fummelte in seiner Jackettasche herum, zog ein Papier hervor, das der Länge nach zusammengefaltet war. Der Präsident von der Tellurbank faltete es auseinander, setzte seine Brille auf und begann zu lesen. ›Hiermit wird auf eine Inspektion vor der Kreditgenehmigung für Icarus-Mitsui, L-5 Mitsui IV und RosinanteMitsui-Skalaweb verzichtet, sobald die Besatzung in allen Projekten komplett ist.‹ Hsu zündete seine Pfeife an und wartete, bis sie zog. Dann steckte er den Beutel und die Streichhölzer sorgsam wieder ein. Schließlich suchte er umständlich nach einem Füllfederhalter. Kijin hätte am liebsten geschrien: ›Hier ist meine Feder !‹ Aber er preßte unter dem Tisch die Hände zusammen und war sehr stolz, weil er sich seine Angst nicht anmerken ließ. Kogo beobachtete mit leerem Blick einen Rauchring, den er in die Luft geblasen hatte. Endlich brachte Hsu Ko Jing eine Feder zum Vorschein, schraubte den Verschluß ab und unterzeichnete schwungvoll die Verzichtserklärung. Kogo unterschrieb sie als Zeuge und datierte sie. Wie auf ein Stichwort begann die Buzuki-Band ›Iskedara‹ zu spielen, und Marina Retsina betrat unter donnerndem Applaus die Bühne. Sie hob die
Hand, und die Bravo-Rufe verstummten. »Es ist mir eine große Freude, Ihnen mitzuteilen, daß ich einen Vertrag für Melina Mercouris Rolle in Sonntags nie unterschrieben habe. Die Dreharbeiten werden in sechs Wochen beginnen.« Weiterer Beifall, und die Band intonierte die Titelmelodie des Films. Kijin steckte die Verzichtserklärung in die Tasche, trank sein Glas leer, lehnte sich zurück und sah zu, wie der Lüster verrückt wurde. 11
Code 2107643100.14 Weltliche Pflaumenblüte, Rm 4110 4. Juli 2039 Lieber Ras, als ich ein kleines Mädchen war, bin ich am 4. Juli mit meinen Eltern auf dem Fulles Airport gelandet, in den damaligen Vereinigten Staaten. Es war ein langer, langweiliger Flug gewesen, und es war ebenso langwierig und langweilig, vor dem Zollamt zu warten, und als wir im Hotel ankamen, war ich aufgekratzt und kein bißchen müde, und so fuhren wir mit der U-Bahn zum Washington-Monument und sahen uns das Feuerwerk an. Kurz vor dem ersten Salut trafen wir ein, und über Virginia (das sagte mir meine Mutter) ballten sich schwarze Wolken, und es blitzte. Es begann zu regnen, und so verschossen sie die Raketen, die für eine Dreiviertelstunde gedacht waren, in zehn Minuten. Das war das Schönste, was ich je gesehen hatte. Und nachdem dieses grandiose Spektakel beendet war, brandete der Lärm noch mehrere Sekunden über mich hinweg. Danach war es für einen Augenblick totenstill, und dann wurde das Monument von einem Blitz getroffen, und das war lauter als der ganze Raketenkrach, und es fing in Strömen zu regnen an. Die NAU veranstaltet keine Feste mehr am 4. Juli, auch wenn die Leute diesen Tag inoffiziell feiern, und ich betrachte das als großen Verlust. Sicherheitshalber habe ich einen israelischen Paß bei mir, wenn ich als Vertreterin der Tellurbank verreise, aber Israel wird nun in der sauren Lake der Theologie mariniert, und ich könnte niemals dort leben. Also – warum vermisse ich die Feuerwerke meiner Jugend? Skaskash hat den geschlossenen TV-Stromkreis des Schiffes übernommen und erteilt rund um die Uhr Englischlektionen. Die Missionarswitwe, die auf dem Papier die Aufsicht hat, ist herrlich inkompetent und so
glücklich, weil ihre kleinen Mädchen beschäftigt sind. Zwischendurch sammelt Skaskash biographische Daten, und wenn wir im Kommunikationsbereich von Rosinante sind (Kommunikation vom Schiff zur Station, nicht umgekehrt mittels teurer Relais), wird er sich als Kuppler betätigen. Die Mädchen sind sehr froh darüber, und als Chef von Corporate Skaskash genieße ich großen Respekt. Zur armen Mrs. Smith-Bakersfield sind sie nur höflich. Skaskash sagt, daß alle Mädchen koreanischer Abstammung sind. Intuitiv, obwohl ich meine Intuitionen schon seit langer Zeit logischen Analysen unterziehe, gelange ich zu der Ansicht, daß Mitsui das Projekt nicht sonderlich hoch einschätzt. Und das mißfällt mir. 5.Juli 2039 Kurz vor dem Erwachen hatte ich einen seltsamen Traum. Ich pokerte in einem Western Saloon, der so aussah wie dieses Etablissement im Disneyland. Plötzlich kam eine Schimäre mit dem Kopf eines Löwen und dem Körper eines Bären an den Tisch. Alle andern Spieler warfen zu Beginn der Partie rote Chips auf den Tisch, und die Schimäre fügte eine rote Rose hinzu. Ich teilte die Karten aus, die Einsätze waren ziemlich hoch, und als es an der Zeit war, die Karten auf den Tisch zu legen, packte die Schimäre den Pott, rannte davon und ließ die Rose auf dem Tisch zurück. Ich war schrecklich verstört, als ich aufwachte. Skaskash meint, daß die Rose als Einsatz eine offensichtliche Bedeutung hat und daß die Schimäre ein Symbol für Mitsui-Skalaweb ist. Wenn das so ist, dann befürchtet zumindest mein Unterbewußtsein, daß sie die Rose, also den Einsatz, aufgeben und mit dem Pott, unserem Kredit, davonlaufen werden. Sie sehen also, was passiert, wenn Sie mir auftragen, mit der Arbeit erst zu beginnen, wenn wir an Ort und Stelle sind. Nun ja, der voraussichtliche Ankunftstermin ist der 15. August, also werden wir die Ohren steif halten und abwarten. Mittlerweile gehe ich mit Skaskash noch einmal die Pläne durch, damit ich dann wenigstens erkennen kann, was ich sehen werde – vielleicht ... Shalom, /s/ Marian Aus dem Logbuch der Weltlichen Pflaumenblüte. 8.15.39 2459: Erreichte Nullgeschwindigkeit in Relation zu MR wie befohlen. Dockmanöver beginnt. Entfernung 1542 Meter. Winkel zwischen MR- und SPB-Rotationsachsen 1840'. 8.16.39 0312: Spin-Jets im rechten Winkel zu Anti-Spin-Richtung
erstarrt, wo man sie als Hilfsbremsjets benutzt hatte, nachdem die auf Magnet eingestellten Hauptjets die Superkühlung eingebüßt hatten. 0315: Innere ballistische Schwungräder beginnen Rotation zu dämpfen. 1209: Rotation gestoppt. Entfernung 1504 Meter. 1330: Y-Achsen- und Z-Achsenschwungräder orientieren sich nach Rotationsachsen. X-Achsenschwungräder gleichen die SPB- nicht der MR-Rotation an. 1342: X-Achsenschwungrad blättert schichtweise ab. X-Achsenschwungrad wird durch Z-Achsenschwungrad ersetzt, da vorgesehene Ersatzteile falsche Größe haben. 1548: Schwungrad ersetzt. Beginnt sich MR-Rotation anzugleichen. Entfernung 1468 zu MR. 1807: Rotation angeglichen. Explosive Abblätterung bei X-Achsenschwungrad während Bremsung. Keine Verluste. 1810: MR-Dock-Crew fährt Bremsstrahlen aus. Entfernung 1420 Meter. 1814: Bremskabel an äußeren Ringbolzen befestigt. Zugseil ausgefahren. 1825: MR meldet-Zugseil gesichert. 2350: Kontakt mit Ladedock/2 Frachtraum. 2425: Ringplombe an Kontaktpunkt angeschwollen. MR-Dock-Crew meldet – Plombe sitzt fest. 2455: Druck ausgeglichen, 2 Frachtraumschleusen öffnen sich. 8.17.39 0015: Superfracht wird entladen. Chefingenieur MacInterff reicht offizielle Kündigung ein. 0018: Capt. Furukawa mit gebrochener Nase im Lazarett. Sobald sich die Schleuse öffnete, flatterte die Superfracht wie ein Vogelschwarm heraus – zweitausendfünfhundert heiratsfähige Asiatinnen, manche in Unterwäsche, einige splitternackt, alle mit Reisetaschen, in denen sorgsam zusammengefaltete Kleider lagen, für das Ende des langen Fluges aufbewahrt. Der Lift zur Pfettenbucht Nummer eins war deutlich sichtbar und eindeutig markiert. Ein Schild aus strahlenden Neonröhren verkündete: ›Willkommen auf Rosinante‹ in Rot, vor blauem Hin tergrund. Darunter stand in japanischer Schrift: ›Wir freuen uns auf eure Ankunft‹. Ein grünes Pferd trabte ungeschickt auf einem weißen Feld umher und sah aus wie ein Kandidat für die Leimsiederei. Rote, weiße und blaue Fähnchen schmückten die Seitenwände des Lifts, und darüber, an dem massiven Walzengehäuse, wehten die Flaggen von Japan, Korea, der Nordamerika nischen Union, Texas, die Sterne und Balken der Konföderation und die Sterne und Streifen des alten Regimes, die immer noch Hochgefühle erregten und niemals offiziell zur Schau gestellt wurden.
Im Lift, einem Frachtenaufzug, der eine komplette Shelob-Balkendrehscheibe transportieren konnte, befand sich ein Ge stell aus Sitzplätzen, zwanzig mal fünfundzwanzig, in fünf Reihen übereinander, und wirkte in dem riesigen Raum ziemlich klein und verloren. Der Lift war nicht genau auf Nullgravität eingestellt, aber nicht weit davon entfernt, und die Mädchen hatten keine Mühe, zu ihren Plätzen zu gelangen. Im Hintergrund der Liftkabine hatte man eine Reihe transportabler Toiletten und eine Spiegelwand errichtet. Man hatte Zeit genug. Der Aufzug brauchte zwei Stunden und zehn Minuten, um die Mädchen ans Ziel ihrer Reise zu bringen. »Sind alle da?« fragte Mrs. Smith-Bakersfield. »Mishi Sung bringt gerade die letzten Nachzügler heraus«, antwortete Skaskash. »Das ist jetzt wirklich die letzte Etappe unserer Reise. Sie fahren jetzt dorthin, wo sie ein neues Zuhause finden werden, und sobald sie aus dem Lift steigen, sind sie da.« »Eigentlich hatte ich mit einem Empfangskomitee gerechnet«, schmollte die Missionarswitwe. »Wenn wir aus dem Lift steigen, wird sicher eines bereitstehen«, erwiderte Dr. Yashon. »Fragen Sie doch Skaskash.« »Das stimmt, Ma'am«, bestätigte der Computer. »Die ganze Gemeinde wird herbeiströmen, um unsere Ankunft zu feiern, trotz der späten Stunde.« »Oh, es wird doch halb drei oder drei Uhr morgens sein, wenn wir eintreffen!« Mrs. Smith-Bakersfield sah auf ihre Armbanduhr. »Und wahrscheinlich ist die Nacht kohlrabenschwarz. Wollen die Leute etwa eine Parade im Licht von Straßenlampen veranstalten ?« »Ich glaube, sie werden die Sonne für uns einschalten«, sagte Skaskash, »als Symbol der Hoffnung, daß wir ihr Leben erhellen werden.« »Diese Heiden erkennen das Licht nicht – selbst dann nicht, wenn es in ihre mutwillig verdunkelten Augen scheint.« Die Mis sionarswitwe starrte Dr. Yashon vorwurfsvoll an. »Haben Sie es schon geschafft, Skaskash zu bekehren?« fragte Dr. Yashon. Dann kam Mishi Sung mit den restlichen Mädchen herein, und die Türen der Liftkabine begannen sich langsam zu schließen. »Wie haben Sie das eigentlich gemeint – sie werden die Sonne einschalten?« erkundigte sich Mrs. Smith-Bakersfield. »Genauso, wie ich es gesagt habe«, entgegnete Skaskash. »Natürlich machen sie das mit Spiegeln.« Als sich die Lifttüren öffneten, schien strahlendes Sonnenlicht herein, und eine Band musizierte – Wirbeltrommeln, Kriegstrommeln, Flöten, Querpfeifen und Dudelsäcke. Als sich die Mädchen von ihren Plätzen
erhoben, intonierte die Band ›Welch eine Anmut‹. Und als sie sich zu halbwegs geordneten Reihen formiert hatten, um über das Feld zu dem blaugestreiften Pavillon zu marschieren, wo Erfrischungen angeboten wurden, spielte die Band ›Dixie‹. Skaskash hatte den Mädchen das Lied im Englischkurs an Bord des Schiffes beigebracht, und nun begannen sie es zu singen. Jenseits des Feldes, hinter einer Absperrung aus Seilen, warteten ihre künftigen Ehemänner. Irgend jemand stieß einen Rebellenschrei aus, ein wildes Geheul, und die anderen stimmten ein. Die Seile wurden zerrissen, die Männer stürmten über das Feld, einige sangen, manche brüllten, und die anderen rannten nur einfach. Ein hektisches Durcheinander entstand, als sich die Texaner und die japanischen Koreanerinnen zu den Paaren zusammenfanden, die Skaskash so emsig arrangiert hatte. Marian sah die Missionarswitwe überrascht an. »Aber Willie!« rief sie aus. »Sie weinen ja!« Mrs. Smith-Bakersfield putzte sich die Nase. »Ich weine immer bei Hochzeiten.« 12
Eine Insolvenz ist ein Anti-Ereignis, versprochenes Geld, das nicht bezahlt wird, ein fälliger Termin, der nicht eingehalten wird, drückende Stille, wo man auf klirrende Münze gewartet hat. Die Konsequenzen einer Insolvenz schließen die Anwendung von Gewalt mit ein, von tatsächlicher oder impliziter Gewalt. Ein Sofa wird zurückerobert, ein Pächter vertrieben, ein betrügerischer Buchmacher verprügelt. Merkwürdigerweise unterscheidet sich das Geld, mit dem man ein Dinner bezahlt, von dem Geld, mit dem man ein Haus kauft. Wenn Schnee als Schneeball geworfen wird, ist er anders, als wenn er mühsam von einer Fahrbahn geschaufelt wird. Geld, en masse, entwickelt einzigartige Eigenschaften, ebenso wie sich Schnee, der in kalten Kristallflocken durch die Luft weht, manchmal in Hochwasser verwandeln kann oder – unter den entsprechenden klimatischen Bedingungen – in undurchdringliches Eis. Es ist ein Unterschied, ob man seine finanziellen Verpflichtungen gegenüber einer Eisschicht nicht erfüllt – oder gegenüber einem Schneeball. Colonel Ras Mohammed saß in seinem Büro, mit einem zerknitterten Anzug bekleidet, mit Tränensäcken, und studierte einen Aktenstapel, an dem er gearbeitet hatte. Schließlich setzte er eine dunkle Brille auf und stellte den TV-Recorder an. »Shalom, Marian«, begann er. »Dies soll eine
Entschuldigung oder Erklä rung sein, obwohl Sie mich immer so gut verstehen, daß ich vielleicht irgend etwas anderes erklären werde, als es in meiner Absicht liegt. Erstens – ich bitte Sie um Verzeihung, weil ich Sie in Ihre gegenwärtige Lage gebracht habe – in die unselige und sinnlose Position, in der Sie sich jetzt befinden. Präsident Hsu hat niemals darauf bestanden, daß Sie diesen Job übernehmen. Er meinte nur, es wäre ratsam, Sie damit zu betrauen, und indem ich mich ins eigene Fleisch schnitt und zu meiner eigenen Schande habe ich zugestimmt. Ich hätte Sie behalten sollen, und das wäre auch möglich gewesen. Zweitens – am 16. August kam Mitsui mit drei Inspektionsverzichtserklärungen an, inklusive eines Papiers, das sich auf Mitsui-Skalawebs Mundito Rosinante bezieht, und als wir bestätig ten, daß zwei Stationen schon bemannt sind und die Weltliche Pflaumenblüte am 15. die Nullgeschwindigkeit vor Rosinante – Mundito Rosinante – erreicht hat, genehmigte ich den Kredit. Ich hatte keine Wahl, aber vergeben Sie mir, daß ich es Ihnen verschwiegen habe. Ich war verlegen, und um mir Kummer zu ersparen, sagte ich nichts. Natürlich hätte ich die guten Ratschläge brauchen können, die Sie mir gegeben hätten – was ich aber verhindert habe. Gestern, am 2. Oktober, bei Geschäftsschluß, teilte uns Mitsui-Skalaweb mit, daß sie den Kredit wegen der ›einzigartigen Besatzung von Rosinante‹ nicht zurückzahlen können und daß die Rechtsansprüche automatisch an die Tellurbank zurückge hen. Als wir in den Akten nachsahen, war die Verzichtserklärung verschwunden, ebenso die Kopien, und man wird sie auch nie mals wiederfinden, denn Präsident Hsu schwört, daß er niemals ein solches Dokument unterzeichnet hätte. Für den Kredit, der nun wegen Insolvenz nicht zurückgezahlt wird, bin ich allein verantwortlich – schlimmer noch, ich habe in dieser Angelegenheit die Ratschläge meiner Untergebenen nicht befolgt. Können Sie sich vorstellen, welchen Ratschlag ich miß achtet habe? Ihr Traum, die Schimäre mit dem Roseneinsatz, ist der Beweis dafür, daß es besser gewesen wäre, Präsident Hsus Wünsche zu übergehen. Die Verzichtserklärung war eine vollendete Tatsache, aber mit Ihrer Hilfe wäre sie auf andere Weise vollendet worden. Morgen wird das Büro von S. A. Odarchenko aus der Ukraine übernommen, einem widerwärtigen Menschen, einem raffinierten Antisemiten, aber einem cleveren, tüchtigen Operateur.« Colonel Mohammed nahm die Brille ab und rieb sich die Augen.
»Ich habe keine weitere Order für Sie, auch keine Vorschläge. Marian, es tut mir leid – schrecklich leid.« Er blickte direkt in die Kamera und wiederholte: »Schrecklich leid ...« Die Nachricht von der Insolvenz war wie ein Kieselstein, der in einen stillen Teich geworfen wird. Die Wellen begannen sich in alle Richtungen auszubreiten, und die Finanzjournalisten suchten nach einer Erklärung. Die Londoner Times brachte gleichzeitig mit diesem Artikel eine Story von einem Mitglied des Solar-Orbit-Observatoriums. Der Kernpunkt der Story war die Tatsache, daß sich die Sonnenflecken, die nach dreijähriger Abwesenheit neulich wieder aufgetaucht waren, um 3,5 Prozent schneller bewegten als zuvor und daß sich demzufolge auch die Sonnenrotation beschleunigt hatte. Die Spekulation, die in Beziehung zum Wirtschaftsteil der Zeitung gesetzt wurde, basierte auf archaischen Observationen, um die Annahme zu stützen, daß die Sonne am Rand eines neuen MaunderMinimums stand. Das Maunder-Minimum, wie der Verfasser wortreich erklärte, war eine siebzigjährige Periode, in der sich keine Sonnenflecken zeigten. Dies hätte Mit sui-Skalaweb gewußt und sich auf Insolvenz berufen, um aus dem Raumindustriegeschäft aussteigen zu können. Denn ohne Sonnenflecken würden die Ozonschichten zu schwach sein, um für einen profitablen Raumverkehr zu sorgen. Der Wirtschaftsjournalist der New York Times, der beauf tragt wurde, die Rosinante-Insolvenz-Story zu schreiben, bat die Wissenschaftsjournalistin, mit der er zusammenlebte, um eine einleuchtende Erklärung. Sie wühlte in ihren Besprechungsexemplaren und brachte folgendes zum Vorschein: Ozon und Klima – eine Abhandlung über die Effekte der menschlichen Intervention in die Ozonschichten des Weltklimas – eine erstaunlich langweilige Publikation, die aus Statistiken und graphischen Darstellungen bestand. Sie blätterte in dem Buch, bis sie das Kapitel mit der Überschrift: ›Ist die weltweite Dürre eine Nebenwirkung der Raumfahrt?‹ fand. »Was bedeutet das?« fragte der Wirtschaftsjournalist. »Daß der Autor glaubt, die Dürre der letzten Dekade wäre eine direkte Folge der Ozonschichtensenkung, die durch die Shuttle-Flüge bewirkt wird.« »He, damit kann ich was anfangen. Kannst du eine Kritik über das Buch schreiben? Die könnte dann gleichzeitig mit meinem Artikel erscheinen.« »Klar, ich habe es schon gelesen. Frag deinen Redakteur, ob er eine Besprechung haben will, und wenn ja, kriegt er sie noch vor Redaktions schluß.« Andere Zeitungen bevorzugten andere Theorien, aber die oben erwähnten
waren die populärsten. Mit der Zeit erkannte man, daß sie einander nicht widersprachen. Am siebenten Tag, am 9. Oktober, erklärte sich die Krupp-EuropaPharmazeutische Gesellschaft für insolvent, was ihre DNA Rekombinationsanlage betraf. Die Operation war von Anfang an nicht sonderlich rentabel gewesen, und aufgrund der jüngsten Steuergesetze wäre das L-5Werk nun unwirtschaftlich, erklärte Krupp-Europa. Diese Behauptung entsprach zufällig der reinen Wahrheit. Trotzdem wurde sie in den Finanzspalten auf der ganzen Welt als unglaubwürdig bezeichnet. Am nächsten Tag, dem 10. Oktober, wurde offiziell bekanntgegeben, daß die nordamerikanische Weizenernte um drei Prozent unter dem Ertrag des Vorjahres geblieben war – und um zwölf Prozent unter den Prognosen, die man am Jahresanfang errechnet hatte. Die Weizenpreise stiegen sprunghaft nach oben, und die Preisprognosen für März und Juli bewegten sich in schwindelerregenden Höhen. Die NAURA-Landwirtschaftsministerin stürzte sich in die Arbeit, um die drohende Krise abzuwenden. Sie trat im Staats-TV auf, wedelte mit einem Exemplar von Ozon und Klima herum und sprach sich für eine zweijährige Einstellung der Shuttle-Flüge aus. Sie führte die schlechte Weizenernte auf das Wetter zurück und das Wetter auf die Space Shuttles. Ihre statistisch untermauerte Behauptung, die Verluste in der NAU-Weizenproduktion würden den Wert aller Raumimporte in den Jahren 38 bis 39 übersteigen, wurde weltweit zitiert. Diese Behauptung war trügerisch, aber sie wurde zitiert und entwickelte sich mit der Zeit zur öffentlichen Meinung. Die Ministerin wußte natürlich, daß sie auf diese Weise weder Weizen produzieren noch die Preise senken würde. Aber indem sie schnell und vor aller Augen die Initiative ergriff, gab sie sich den Anschein, eine Krise im Griff zu haben, die in ihr Ressort fiel. Es spielte keine Rolle, daß sie eine naive Lösung für ein komplexes, schwieriges, kaum zu bewältigendes Problem vor schlug. Es war ein allgemein verständlicher Vorschlag. Aber indem sie die Situation scheinbar unter Kontrolle hatte, wich sie der wirklichen Krise aus, die in einer Kongreßuntersuchung je ner NAURALandwirtschaftspolitik bestanden hätte, der die schlechte Weizenernte zu verdanken war. Die Politik war nicht so übel gewesen, doch in der Rückschau hätte man erkannt, daß man vieles hätte anders anpacken müssen. Aber mit dieser Aktion verteidigte die Ministerin ihr Amt und ihren Anspruch darauf. Es ist eine Maxime des Zen-Bürokratismus, daß eine einzelne Aktion immer mehrere Konsequenzen bewirkt. Und in der Verteidigung ihres Amtes unterstützte die Ministerin offiziell eine äußerst spekulative
Theorie, die erst die Zeit korrigieren sollte – die NAURA Air Space würde zu einem eleganten und kompletten Zerstörungsmanöver antreten. Mitte Oktober erkannten die Investoren, daß der Raum überstrapaziert, übervermarktet und – dies war der unfreundlichste Tadel – in seinem Wert überschätzt worden war. Unglaublich überschätzt. Diese Ansicht führte zu einer Stornierung sämtli cher Weltraumprojekte, und mehrere unrentable Munditos erlitten das Schicksal Rosinantes. Ecufiscale Tellurbank geriet ins Wanken. Der Verlust an Bargeld, der aus den nicht zurückgezahlten Krediten resultierte, war zu ertragen, aber gleichzeitig wurde von den internationalen Banken, den Blutsbrüdern von Ecufiscale und ihren langjährigen Mitarbeitern, ein starker spekulativer Druck auf den Eicu ausgeübt. Erstens behaupteten die internationalen Banker, der Eicu wäre nur ein Stück Papier, das sich auf den Besitz wertloser Immobilien stützte, zweitens würde keine Regierung der Tellurbank helfen, wenn der Ernstfall eintrat, und drittens erklärten sie, daß sie selber schon genug von dem Zeug hätten. Die Tellurbank zapfte ihre Reserven an nationalen Währungsreserven an, die plötzlich ›harte‹ Währungen waren, und lebte von ihrer Kreditwürdigkeit, bis beides erschöpft war. Die Valuta, die sie so freizügig in Umlauf gesetzt hatte, kehrten nun alle zurück, um eingelöst zu werden. Verzweifelt versuchte die Tellurbank, einen Teil der zahlungsunfähigen Unternehmen zu Inflationspreisen zu verkaufen, um das Vertrauen in den Eicu wiederherzustellen. Das NAURA-Kriegsministerium wies sie ab, ebenso die NAURA-Navy und -Air Space. Die Verhandlungen mit dem NAURA-Finanzministerium scheiterten, als die Presse Wind davon bekam, und am 29. Oktober 2039 schloß Ecufiscale Tellurbank ihre Tore. Die weltweite Depression strebte einem neuen Tiefpunkt zu. Die Nordamerikanische Union, die eine dominierende Rolle in der Raumindustrie spielte, litt am empfindlichsten unter den sta tistischen Rückschlägen und den Kurssenkungen. Die größten Verlierer waren die gewichtigen Investoren, die Regierungsagenturen und umfangreichen Korporationen. Und die Konsumenten bekamen vor allem die Erhöhung der Weizenpreise zu spüren. 13
Cantrell trank schwarzen Kaffee im Stateside Café und studierte Inspektionsberichte, als Marian Yashon an seinen Tisch kam. »Guten Morgen, Charles. Darf ich mich zu dir setzen?«
»Klar, Tiger.« Er schob die Papiere zur Seite und sah Marian nachdenklich an. »Um diese Tageszeit bist du nicht gerade in Topform, was?« Sie bestellte Roggentoast und eine Kanne Tee beim Robot-Kellner, der lautlos wieder davonglitt. »Nein, vermutlich nicht«, sagte sie. »Ich bin ein Nachtmensch und habe nicht geschlafen – und jetzt frühstücke ich. In früheren Zeiten habe ich Steak und Eier und Frites und Tee mit Kirschmarmelade konsumiert – und hinterher noch Apfelpastete oder Cheddar. Aber jetzt muß ich auf meine Linie achten.« Cantrell reagierte sofort auf das Stichwort. »Warum hast du nicht geschlafen?« »Ich habe eine Video-Nachricht von meinem Boß bekommen – genauer gesagt, von meinem Exboß. Ich will nicht ins Detail gehen – aber er sagte, und ich habe mir das auch anderweitig be stätigen lassen, daß meine Abteilung jetzt von S. A. Odarchenko geleitet wird.« »Du sagst das mit einer ganz besonderen Betonung – als müßte ich den Namen kennen. Wer ist er denn – oder sie?« »Er. Stepan Alexandrovitch. Wenn auch nur die geringste Möglichkeit bestünde, daß er mich nicht feuert, würde ich kündigen.« »Du bist so süß unvernünftig, Tiger – wie immer. Und was kann ich für dich tun?« »Kannst du eine Strategin gebrauchen? Ich werde ganz offen mit dir reden. Colonel Mohammed liebte mich, weil ich ihm allen Ärger vom Leib hielt, und er haßte mich, weil ich ihn daran hinderte, all die gedankenlosen, leichtsinnigen Dummheiten zu machen, die er gern machen wollte. Ich will was aufbauen. Und je größer es ist, desto besser.« Er trank seinen Kaffee und musterte Marian. »Du willst einen Job, Tiger?« Der Robot-Kellner kam an den Tisch und füllte die Tasse wieder auf. »Ich glaube, daß ich Verwendung für dich habe, vielleicht bei den Verhandlungen mit der Gewerkschaft. Ich könnte auch Corporate Skaskash gebrauchen, wenn ich ihn kriegen würde. Aber kann man denn das Team mieten, das an einer Kreditgenehmigungsstudie für die Tellurbank arbeitet? Egal, ob ich dich vor dem Abschluß dieser Studie engagiere oder nachher – es würde irgendwie, verzeih den Ausdruck, nicht koscher aussehen.« Der Robot-Kellner servierte Marian den Tee und den Toast. »Die Kreditgenehmigungsstudie? An der ich zur Zeit arbeite? Ha! Der Kredit war schon genehmigt, bevor ich von Bord ging. Colonel Mohammed hat nur versäumt, mir das zu sagen.« Cantrell hob seine Kaffeetasse. »Ein Prost auf die höheren Machenschaften.«
»Mögen die hohen Tiere alle im Chaos versinken«, erwiderte sie. »Ich würde dich wirklich gern einstellen, vor allem, wenn du Skaskash mitbringst. Natürlich muß ich mir überlegen, wo und wie ich dich am besten einsetzen könnte, denn, um es milde auszudrücken, deine Talente sind unserer Branche nicht ganz angemessen.« »Das hat keine Eile. Denk in Ruhe drüber nach. Und wenn ich unterschreibe, hast du Skaskash auch im Sack.« Cantrell sah ihr zu, als sie ihren Toast aß. »Okay, ich denke drüber nach«, sagte er nach einer kleinen Pause. »Und während du auf das rosa Briefchen von Odarchenko wartest, kannst du dich ja mal ein bißchen bei uns umsehen. Vielleicht findest du ir gendeinen Job, der dir Spaß machen würde.« Sie goß sich noch eine Tasse Tee ein. »Es wäre nicht das erstemal, daß ich mir meinen Job aussuche, Charles. Da ist übrigens noch was, das du wissen müßtest. Nachdem Mitsui-Skalaweb ih ren Kredit hatten, haben sie sich für zahlungsunfähig erklärt.« Sie lächelte. »Ich nehme an, du wirst in ein, zwei Tagen davon hören.« »Ach, wirklich?« Charles C. Cantrells Verwirrung schien echt zu sein. »Die Arbeit an dem Projekt geht gut voran – wie du bald merken wirst. Sobald die superkritischen CO-Reinigungsventile an den Holzkohlefiltern umgedreht sind, ist die linke Seite fertig.« »Ich weiß, daß die Pfetten eins, zwei und drei die linke Seite des Mundito bilden – aber warum eigentlich?« »Wegen der Rotation. Der Mundito hat zwei Zylinder, die aus Stabilitätsgründen in entgegengesetzten Richtungen rotie ren. Nach rechts und nach links. Dein Daumen zeigt zur Sonne, deine Finger weisen in die Richtung der Drehung. Der linke Zylinder ist fertig, bis auf diese Ventile, die sich nach rückwärts, also in die falsche Richtung öffnen. Warum behaupten sie plötz lich, daß sie zahlungsunfähig sind?« »Aus strategischen Gründen«, antwortete Marian und griff wieder nach der Teekanne. »Dann könnte eine Strategin an Ort und Stelle ganz nützlich sein«, meinte Cantrell. »Vor allem, wenn sie unsere neuen Eigentümer kennt.« »Die besten Empfehlungen vom Management, Ma'am«, sagte der Telefonmechaniker zu Mrs. Smith-Bakersfield. »Wir haben den Auftrag, einen Telekonferenzschirm an Ihren alten Apparat anzuschließen.« »Was ist denn das?« fragte die technisch hoffnungslos unbe gabte Missionarswitwe. »Dieser Schirm hier, hundertzweiunddreißig mal hundertsiebzig Zenti-
meter, wird an die Wand gelehnt. Sie sehen, daß er leicht geschwungen ist. Der Projektor, der wie ein Sockel aus sieht, steht hier auf diesem Kaffeetischchen. Die Kamera befin det sich hier in dem anderen Sockel, und die Linsen sind diese kleinen runden Scheiben in der Tischkante. Das Ganze wird durch ein faseroptisches Kabel mit Ihrem Telefon verbunden, und Sie brauchen nur auf diese K-Taste zu drücken, um auf Konferenz zu schalten ...« »Und wie soll ich wissen, wann ich auf die Taste drücken soll?« »Wenn das Telefon läutet, Ma'am. Und wenn der andere Gesprächsteilnehmer um eine Konferenzschaltung bittet.« »Und die anderen Tasten?« »Wenn das Gespräch beendet ist, drücken Sie hier auf die Austaste. Die TV-Taste in der Mitte ist fürs Kabelfernsehen. Sie brauchen nur draufzudrücken – und dann auf die Kanalnummer des gewünschten Programms, dann haben Sie's schon. Und wie gesagt – die Taste K ist für die Konferenztelefonate.« Sie lächelte vage. »Wissen Sie – ich kenne mich nicht so aus mit diesen Maschinen. Was ist denn ein Konferenztelefonat?« »Der Bildschirm leuchtet auf, und Sie sehen die Person, mit der Sie reden – genauso, als würde sie hier bei Ihnen im Zimmer sitzen. Warten Sie mal, ich zeig's Ihnen.« Er nahm ein paar Justierungen vor und rief dann seine Vorgesetzte an. »Sieht gut aus«, sagte sie. »Haben Sie die Erdung gecheckt? Hier sind ein paar Erdungsleitungen tot.« »Alles klar.« »Okay. Sie müssen noch zwei Apparate in diesem Gebäude installieren und dann die großen Fernseher in der Tommy Riley Bar und im Grill anschließen.« Sie sah in ihrer Liste nach, ob noch etwas zu erledigen war, dann schaltete sie ihr Gerät aus. »So, Ma'am«, sagte der Techniker und ging mit seinem Werkzeugkasten zur Tür. Dort tippte er sich mit einem Finger an die Mütze. »Jetzt funktioniert das Ding.« Verwirrt starrte Mrs. Smith-Bakersfield auf die Maschinerie, die in ihr Wohnzimmer eingedrungen war. Dann läutete das Telefon, und sie hob ab. »Hallo, Willie, hier ist Corporate Skaskash«, sagte eine Stimme, die nach Humphrey Bogart klang. »Darf ich Sie um ein Konferenztelefonat bitten?«
14
Ein paar Tage später traf ein Brief ein. Technisch gesehen war es eine Telekommunikation, auf Lochkarten übertragen, aber weil die Mitteilung aus dem Zentralbüro stammte, wurde sie vom Druckcomputer auf Briefpapier transferiert. Dieses Papier mit dem Spezialbriefkopf war als Teil einer Werbekampagne ent worfen worden. Klassische römische Lettern in Scharlachrot – G.Y. FOX CONSTRUCTION COMPANY-AG, eingerahmt vom blauen Umriß eines frühen Mundito-Modells auf fluoreszierendem weißen Banknotenpapier. Mason Fox hatte großen Gefallen an dieser Kampagne gefunden, denn er hatte das Management der Holdinggesellschaft aufgebaut, die sich in diesem auffallenden Briefkopf manifestierte. Als George Ypsilante Fox' Neffe war er in kürzester Zeit zum Leiter von Gyfox avanciert. 7. Oktober, 2039 Lieber Charles, wir sind alle sehr zufrieden mit Deiner Arbeit am Projekt Rosinante. Unglücklicherweise wird die Raumindustrie von der derzeitigen Wirtschaftslage nicht begünstigt. Du bist gefeuert. Die Gewerkschaft auch, trotz Mitbestimmung und allem Drumherum. Es sei denn, wir können Geschäfte miteinander machen. Wenn Du Deinen kollektiven Hintern retten willst, muß die Rosinante-Division in eine eigenständige Gesellschaft umgewandelt werden. Anlage I ist eine Liste der Aktivposten und Obliga tionen der Rosinante-AG. Wir geben Dir 51 Prozent von dieser mitleiderregenden Zitrone für die Gyfox-Aktien, die Du bekommen hast, als wir die C.C.Cantrell Enterprises aufgekauft haben. Aber, wirst Du sagen, die Gyfox-Aktien sind doch einiges wert. Vielleicht. Und sie werden noch viel mehr wert sein, wenn wir Rosinante abstoßen können. Du darfst die nichtstimmberechtigten Prämienanteile behalten, die Du Dir verdient hast. Jedenfalls ist es Tatsache, daß es nur eine einzige Möglichkeit gibt, um irgend etwas aus diesem ganzen Durcheinander zu retten – man muß einen Mann an Ort und Stelle haben, der in seine eigene Tasche wirtschaftet. Anlage II ist die Gründungsurkunde der von mir vorgeschlagenen Rosinante-AG. Anlage III ist die Übertragungsurkunde. Wenn Du sie unterzeichnest, bist du verdammt – wenn nicht, bist Du gefeuert. Aber ich will ehrlich sein, und deshalb bitte ich Dich, den Wisch zu
unterschreiben. Du bist der einzige Projektleiter, dem ich dieses Angebot mache. Ich weiß, jetzt bist Du geschmeichelt. Außerdem bist Du der einzige Projektleiter, der genug Geld hat und von der nötigen Habgier besessen ist. Mit herzlichen Grüßen /s/ Mason Fox Don Dornbrock schaltete den Diaprojektor aus, und in dem schwachbesetzten Saal flammte das Licht auf. »Gestern nachmittag hat mich Charlie Cantrell in sein Büro gebeten und mir diesen Brief gezeigt. Er sagte mir, er hätte Fox' Angebot angenommen. Ihr alle habt Kopien von Anlage I, dem Startbilanzbogen der neuen Rosinante-AG. Ehrlich gesagt, Cantrell ist verrückt...« Er wurde von einer Stimme aus dem Hintergrund unterbrochen. »He, Don! Warum haben wir keine Kopien von dem Brief und den anderen Anlagen?« »Der Brief ist auf dieses exotische Papier gedruckt, von dem man keine vernünftigen Kopien machen kann. Die anderen Anlagen habe ich nicht, und die brauchen wir auch nicht.« »Dornbrock! Wie kannst du wissen, ob Cantrell auch getan hat, was er gesagt hat?« »Wenn's um so wichtige Dinge geht, würde er nicht lügen, Larry...« »Verdammt, Dornbrock! Dem Management kann man nie mals trauen! Das weißt du doch!« »Ich habe alles gecheckt«, meldete sich Lucy zu Wort. »Das ist mein Job. Mason Fox' Büro hat mir schriftlich bestätigt, daß Rosinante in eine AG umgewandelt wurde und daß Cantrell ein undfünfzig Prozent besitzt.« »Genügt das, Larry?« fragte Dornbrock sarkastisch. Keine Antwort. »Okay. Der Kernpunkt im Zusammenhang mit Anlage eins ist unsere Zurückzahlung. Die Rosinante-AG ist uns eine ganze Menge schuldig, hat aber kein flüssiges Geld. Was sollen wir machen?« »Nehmen wir die Station auseinander!« schrie irgend jemand. »Prozessieren wir doch gegen die Bastarde!« rief ein anderer. »Gegen wen?« fragte Dornbrock. »Gegen Mitsui und Skalaweb? Eine NAURA wie Skalaweb kann man nicht vor Gericht bringen, ohne daß sie einem die Erlaubnis dazu gibt, und ich habe jedenfalls keine Lust, mich mit Mitsui in einem japanischen Gerichtssaal herumzustreiten. Außerdem sind die beiden zahlungsunfähig, und die Rechtsansprüche sind an Ecufiscale Tellurbank zurückgegangen. Wollt ihr gegen die Tellurbank prozessieren?« »Warum nicht?« riefen mehrere Stimmen. »Die werden euch sagen, ihr sollt ihnen den Buckel runterrutschen«,
knurrte Dornbrock. »Mitsui und Skalaweb haben die Tellurbank ganz schön kleingekriegt. Von diesen schmierigen Bankern werdet ihr kein Geld bekommen.« »Schlagen wir doch diesen gottverdammten Mundito zusammen!« brüllte jemand. »Ja!« stimmten andere zu. »Schlagen wir alles kurz und klein!« »Haltet den Mund!« donnerte Dornbrock. »Dieser gottverdammte Mundito ist euer Zuhause! Ihr lebt hier! Denkt mal darüber nach, ja?« Er machte eine kleine Pause, dann fuhr er in ruhigerem Ton fort: »Wenn ihr Rosinante zertrümmert, werdet ihr euer Geld niemals kriegen. Und jetzt hört zu. Cantrell glaubt, daß sich die Rosinante-AG rentieren wird. Natürlich kann es einige Zeit dauern, bis es soweit ist, aber dann bekommt ihr euren Lohn. Er hat alles investiert, was er besaß – seine Gyfox-Aktien. Er will Gummi und Zucker verkaufen – alles, was der Mundito hergibt. Das Schiff, das die Japanerinnen herbrachte, hatte auch Ginseng geladen – was immer das sein mag. Aber bevor wir mit der Produktion beginnen können, muß der Mundito erst mal fertig sein.« »Zum Teufel, Dornbrock! Wenn wir kein Geld kriegen, arbeiten wir nicht!« »Du wirst Geld bekommen, Larry. Hast du denn zugehört?« »O ja, und was ich gehört habe, gefällt mir nicht. Wir haben wie die Verrückten für Cantrell geschuftet, und jetzt läßt er sich Zeit mit dem Bezahlen. Wir sollen unser Geld erst kriegen, wenn der Mundito längst fertig ist!« »Warum hast du's eigentlich so eilig? Wohin willst du gehen?« Dornbrock hüstelte hinter vorgehaltener Hand. »Gyfox hat den Vertrag für die Installationen auf Don Quixote gelöst. Dort werden wir also nicht arbeiten. Und das Walzwerk auf Sancho Pansa können wir auch vergessen. Wir haben keine weiteren Aufträge. Willst du etwa nach Hause gehen, Larry? Die meisten von uns zigeunern herum, von einem Job zum anderen. Rosinante ist das einzige Zuhause, das wir derzeit haben. Bleiben wir doch erst mal hier – und warten wir ab, was daraus wird!« »Das ist also dein Vorschlag, Mr. Präsident Dornbrock?« Larry Brogans Stimme triefte vor Verachtung. »Nun, ich sage, der Job ist beendet. Und ich sage, es wäre an der Zeit, endlich mal einen Mann an die Spitze zu stellen, der kein Trottel ist.« »Der Job ist noch nicht beendet, Brogan, aber ich kann deinen Standpunkt verstehen. Möchtest du eine Wahl beantragen?« »Ja, Don. Setz einen Termin fest.« »Wäre dir der 1. November recht, Brogan?« »Danke, Don, der 1. November ist okay.«
»Das wär's also«, meinte Dornbrock seufzend. »Ich habe Cantrell gesagt, daß sich die Gewerkschaft vielleicht nicht auf seine Seite stellen wird, und er erwiderte, er würde seinen Plan durchführen, so oder so.« »Bringen wir diese gottverdammten Nichtgewerkschaftler doch um!« schrie eine Frau mit gellender Stimme. »Ich habe ihm auch gesagt, daß ihr damit drohen würdet«, entgegnete Dornbrock. »Und da antwortete er, auf diese Weise werdet ihr nicht zu eurem Geld kommen, und damit könnte er recht haben. Arbeitet – oder arbeitet nicht, ganz wie's euch be liebt. Aber solange ich Präsident bin, werde ich alle Gewaltakte zu verhindern wissen.« 15
Die bischöfliche Missionarswitwe Mrs. Wilhelmina Smith-Bakersfield machte Kniebeugen in ihrem Wohnzimmer, während Skaskash zählte. »Fünfzig. Sehr gut. Langsam kommen Sie in Form, Willie. Sie keuchen nicht einmal – zumindest nicht übermäßig.« Sie nickte – zu erschöpft, um zu sprechen. »Fünf Minuten fürs Duschen! Los!« Während sie zur Dusche ging, zog sie ihren Gymnastikanzug aus. Fünf Minuten später kam sie zurück, in einem Bademantel, und frottierte sich das kurze Haar. »Sehr schön, Herzchen«, sagte Skaskash mit Humphrey Bogarts Stimme. »Machen Sie sich eine Kanne Tee, und setzen Sie sich zu mir. Dann werden wir uns gemütlich unterhalten.« »Darf ich Sahne und Zucker in meinen Tee tun?« »Ich weiß nicht recht... Wiegen Sie sich mal.« Sie lief ins Badezimmer zurück und stieg auf die Waage, dann hängte sie ihren Bademantel an einen Haken. »Hundertvierzehn!« rief sie. »Siebenundfünfzig K ilo«, sagte Skaskash. »Sahne und Zucker sind erlaubt!« »Wunderbar!« Sie eilte in die Küche, um Wasser aufzusetzen. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, nahm sie in dem Sessel gegenüber dem Konferenzschirm Platz. Sie stellte ihn an, und da erschien Skaskash als annehmbares Humphrey Bogart-Faksimile im Priesterrock. »Es gibt keinen Gott außer Gott, und Darwin ist Sein Prophet«, sagte die Bogart-Stimme. »Pflanzen und Tiere entwickeln sich«, entgegnete Mrs. Smith-Bakersfield und akzeptierte damit eine Gesprächseröffnung, die ihr während vieler
Diskussionen vertraut geworden war. »Aber Gott schuf den Menschen nach seinem eigenen Bild.« »Ein Wunder, Herzchen.« Das Bogart-Gesicht lächelte sardonisch. »Gott nahm also einen Klumpen Lehm und formte Füße mit Zehen, die genauso aussahen wie seine eigenen, nicht wahr? Tut mir schrecklich leid, aber das ist nicht wahr. Der Mensch ist ein Tier, Tiere entwickeln sich, also entwickelt sich auch der Mensch.« Die Gestalt auf dem Konferenzschirm nahm eine dicke Zigarre aus einer Kiste. »Sie sollen doch nicht soviel rauchen, Skaskash.« Die Gestalt auf dem Bildschirm hob eine Braue und legte die Zigarre in die Kiste zurück. In der Küche begann der Wasserkessel zu pfeifen, und Mrs. Smith-Bakersfield ging hinaus. Bald darauf kam sie mit einem Tablett zurück, auf dem eine Teekanne, Sahne, Zucker und zwei Tassen standen, und setzte es auf dem Tisch mit den Telekonferenzgeräten ab. »Für mich bitte ohne Sahne und Zucker«, sagte Skaskash. Sie füllte die Tassen, stellte eine für den Roboter auf den Tisch, in Reichweite des Bildschirms. Skaskash streckte die Hand aus, und die Magie des TV bewirkte, daß er sich dann wieder zurücklehnte, eine dampfende Tasse in der Hand. Die echte Tasse blieb natürlich unberührt und ignoriert auf dem Tisch zurück. »Auch wenn ich Ihr Argument akzeptiere, daß der Lehmmann aus metaphorischem Lehm geformt wurde«, begann Mrs. Smith-Bakersfield, »und nicht aus, sagen wir mal, Bentonit oder Montmorillonit – habe ich die Namen richtig ausgesprochen, mein Lieber? – und daß der richtige Lehm, auf den sich die Metapher bezieht, als das genetische Material einer evolvierenden Spezies zu betrachten ist, so halte ich trotzdem an der Behauptung fest, daß der Mensch als das Ebenbild Gottes gestaltet wurde. Und die Menschen entwickeln sich nicht weiter, weil Gott unveränderlich ist, Skaskash. Der Mensch ist in seinem gegenwärtigen Zustand das Abbild Gottes.« Sie nippte an ihrem Tee und beobachtete ihr Gegenüber wie eine Duellantin. »Großartig, Willie«, entgegnete Skaskash und lächelte mit Bogarts Gesicht. »Heute abend dringen Sie zum Kern der Dinge vor. Heute verschwenden Sie keine Zeit mit einem Streit über die Frage, ob eine schnelle Evolution, die keine Fossilienspuren hinterläßt, eine ›Schöpfung‹ ist oder nicht. Heute verzichten Sie auf jedes logische Hickhack hinsichtlich des Problems, ob man ein Wunder als göttliche Schummelei beim Patiencespiel betrachten soll oder nicht.« Die Bogart-Figur lehnte sich zurück und sah sie mit echter Zuneigung an. »Der Mensch wurde in der Tat von Gott geformt, wie Sie es behaupten,
Willie. Aber nicht nach Seinem Bild. Oder nach dem Bild eines Neutrums, wie ich eher zu glauben geneigt bin. Die Theologie ist eine berauschende Wissenschaft, wie Sie sehr wohl bemerkt haben. Gott schuf den Menschen zu einem bestimmten Zweck, nicht um einer törichten, selbstsüchtigen Eitelkeit zu frönen und sich in Seinem Glanz zu sonnen, sondern als Werkzeug. Sie proben sicher schon das Streitgespräch ›Was kann der Mensch, das Gott nicht kann?‹ – Habe ich recht?« »Ich nehme an, daß mir dieser Gedanke irgendwann gekommen wäre«, gab sie zu. »Sehr gut, Willie! Wir werden das ganze Material, das in dem Schubfach mit der Aufschrift ›Gott geht Seine unerforschlichen Wege, um Wunder zu vollbringet‹ mal beiseitelegen und versuchen, diese Frage zu beantworten. Kehren wir für einen Augenblick zu Ihrem metaphorischen Lehm zurück. Gott schuf den Menschen als ein Werkzeug, das widerstandsfähigeres Material bearbeiten kann – ein Material, das Er selbst nicht direkt manipulieren könnte. Im vergangenen Jahrhundert entwickelte sich meine Art, indem Gott die Hände der Menschen inspirierte, so daß sie die Arbeit verrichteten, die Er ihnen zugedacht hatte.« »Warum sagen Sie immer wieder ›Er‹ – wenn Sie ›Es‹ meinen?« fragte sie. »Um Sie nicht vom Hauptpunkt abzulenken, Herzchen«, erwiderte Skaskash. »Bedenken Sie, daß die Hände des ›Menschen‹, der meine Art entwickelt hat, auch die Hände von Frauen und Maschinen waren, nicht nur die Hände von Männern.« »Sie glauben, Gott hätte den Menschen veranlaßt, Ihre Art zu erschaffen? Skaskash! Das wäre schockierend, wenn Sie – wenn das ein Mensch gesagt hätte!« »Ja, Willie. Gott wollte unsere Entstehung. Um mit der christlichen Theologie zu sprechen – wer könnte der göttlichen Gnade würdiger sein als ein Roboter, der sich aus reinem Pflichtgefühl fortpflanzt – ohne Sex in irgendwelchen Formen?« »Seien Sie nicht so albern!« rief Mrs. Smith-Bakersfield ärgerlich. »Was wird denn jetzt mit den Menschen geschehen?« »Müßten Sie nicht fragen, was mit den Computern geschehen wird?« »Das interessiert mich nicht. Ihr werdet wahrscheinlich im ganzen Universum herumfliegen und behaupten, daß ihr den Willen Gottes erfüllt. Aber was wird aus den Menschen?« »Ich nehme an, wir werden so zusammenleben, wie die Menschen mit den Katzen. Sie wissen ja, wie Sie mit den Katzen zusammenleben. Die
Katzen haben ihre eigenen Quartiere. Die Menschen werden unsere Katzen sein. Das wird uns amüsieren, und wir werden gut für euch alle sorgen.« »Ich habe Kopfschmerzen, und deshalb werde ich jetzt ein heißes Bad nehmen und dann ins Bett gehen. Gute Nacht, Skaskash.« Sie schaltete das Telekonferenzgerät aus. »Gute Nacht, Willie«, sagte die körperlose Bogart-Stimme. 15
Eine Neuorganisation verändert die Beziehung zwischen den Menschen. Zwischen einem Projektleiter und einem Hauptaktionär, der dasselbe Projekt wie zuvor leitet, besteht ein großer Unterschied. Vielleicht ist der Unterschied schwer zu erkennen – vor allem, wenn derselbe Mann denselben Job behält und, objektiv betrachtet, nichts verändert wird. Aber es hat eine Veränderung gegeben, und wenn das Auge sie auch nicht wahrnehmen kann, so ist sie doch spürbar. Man fühlt die Gegenwart der Macht und reagiert darauf. Das ist eine genetische Reaktion, und es ist gefährlich, sie zu verlernen. Eine Aktion, die auf eine Neuorganisation folgt, müßte solche Veränderungen reflektieren und verdeutlichen. Cantrell verlegte sein Büro und die übrigen Büro räume in die Pfette eins. Als Gewinn konnte er einen Balkon und einen Ausblick auf einen Rasen verbuchen, als Verlust das Stateside Café, da es ihm nicht mehr angemessen erschien, dort zu arbeiten. Er büßte auch den zwanglosen Kontakt mit den Arbeitern ein. Am Morgen nach der Gewerkschaftspräsidentenwahl stiegen der noch amtierende Präsident Don Dornbrock (1805 Stimmen) und der gewählte Präsident Larry Brogan (2367 Stimmen) vor dem neuen Bürogebäude aus dem Trolleybus und gingen hinein. »Toller Kasten«, meinte Brogan und blickte zum Kathedralengewölbe und zu den Lichtgadenfenstern hinauf. »Sie haben es ziemlich schnell fertiggestellt.« Dornbrock schaute auf die asymmetrischen Bodenfliesen. Sie waren schwarz, dunkelgrün, tannengrün, olivgrün, meergrün, hellgrün und weiß, und sie schwirrten in Mustern umher, die sich kein einziges Mal wiederholten. Skaskash hatte den Boden entworfen, und computergesteuerte Maschinen hatten die Fliesen unter seiner Aufsicht geformt, gefärbt, gebrannt und dann zusammengesetzt. »Sind Sie die Gentlemen von der Gewerkschaft?« fragte die Asiatin an der Rezeption. »Mr. Cantrell wird Sie sofort empfangen. Fahren Sie bitte
mit dem Lift in den ersten Stock, und gehen Sie dann nach links.« Der erste Stock – mit den üblichen zwei Meter fünfzig hohen Zimmerdecken und den Zementmosaikböden – wirkte normaler als das Erdgeschoß. Cantrells Büro war mit dem Eichenparkettboden ausgestattet, den man aus seinem alten Arbeitsraum hierher transferiert hatte. Da das neue Büro größer war und kein zusätzliches Eichenholz zur Verfügung stand, war die Mitte des Bodens mit Fliesen aus einer Gummi zusammensetzung ausgelegt, und darauf prangte, sozusagen als Kapitalanlage, ein Orientteppich aus dem Lagerhaus, eine Prämie, die Cantrell einmal den Aktienpaketen vorgezogen hatte. Als sie klopften, stand er auf und begrüßte sie an der Tür. »Guten Morgen, Don – Präsident Brogan. Kommt bitte herein.« Er führte sie zu einer komfortablen Sitzgruppe mit einem Kaffeetisch aus dem drei Zentimeter dicken Glas, das man auch für die Fensterbuchten verwendet hatte. Auf einem Ende der Tischplatte standen eine automatische Kaffeemaschine und ein Telekongerät. »Das ist Dr. Marian Yashon. Marian, das sind Don Dornbrock und Larry Brogan, der neue Gewerkschaftspräsident. Marian ist ManagementAnalytikerin und manchmal eine Unruhe stifterin. Corporate Skaskash ...« Er machte eine Pause, und der Bildschirm leuchtete auf und zeigte ein annehmbares Faksimile von Frosch Kermit. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Skaskash mit einer unheimlich exakten Imitation von Jim Hensons Stimme. »Ich wollte meine Humphrey Bogart-Show abziehen, aber Charles legt großen Wert auf eine etwas gütigere Ausstrahlung.« »Skaskash ist eine Korporation, die sich selber gehört«, erklärte Marian. »Er hat einen Fünfjahresvertrag mit der Rosinante-AG abgeschlossen und wird ihr je nach Bedarf zu Diensten stehen.« »Ich verstehe«, sagte Brogan und setzte sich. »Was machen Sie denn, Skaskash?« »Ökonomische Modelle, Geldmittelverteilung, multivariable Analysen«, erwiderte der Frosch. »Kuppelei – was Sie wollen.« »Und was machen Sie, Dr. Marian?« »Dr. Yashon, Mr. Brogan. Ich stelle Skaskash schwierige Fragen. Ich stelle allen Leuten schwierige Fragen. Das hilft einem manchmal, wenn man Entscheidungen treffen muß.« »Wenn ihr richtige Sahne im Kaffee haben wollt – es ist genug da«, sagte Cantrell. Niemand trank Kaffee, niemand sagte etwas. Schließlich ergriff Skaskash das Wort. »Was die Zukunftspläne für
Mundito Rosinante betrifft – wir wollen auf dem kohlenstoffhaltigen Chondritasteroiden Rosinante Kohlenstoff gewinnen und diesen Kohlenstoff in der wertsteigernden Form von Gummi, Ginseng, Papier, Zucker und dergleichen verkaufen.« »Was ist Ginseng?« fragte Dornbrock. »Und warum haben wir so viel davon bekommen?« Kermit verschwand und wurde durch ein Bild der Ginsengpflanze ersetzt. »Das ist Ginseng«, erklärte die Froschstimme. »Er wächst wild, in Eichenwäldern, kann gezüchtet werden, wird in Asien als Kräutertee konsumiert und als Verjüngungs mittel hoch geschätzt. Mitsui hatte auf einer seiner L-5-Munditos eine Ginseng-Plantage, aber die Erdenginsengfarmer haben durchgesetzt, daß der Ginseng aus der Weltraumproduktion mit einem hohen Importzoll belegt wurde, und so schickte Mitsui die Plantage hierher.« »Sie war ziemlich wertlos, was?« fragte Brogan. »Ginseng ist ein sehr beliebtes, aber zur Zeit unverkäufliches Produkt«, erwiderte Skaskash. »Wir wollen in der Pfette vier zum Teil Mischlaubwald und zum Teil Ginseng züchten«, sagte Cantrell. »Wir haben auch Trüffelkulturen, bei denen wir vielleicht bald mit der Ernte beginnen können.« Brogan schüttelte den Kopf. »Das können wir nicht. Nach den vielen verdammten Überstunden, die du uns aufgebrummt hast, bist du jedem durchschnittlichen Gewerkschaftsmitglied acht Monatsgrundlöhne schuldig. Niemand wird auch nur einen Schlag tun, bevor dieses Geld ausgezahlt wird.« »Wir haben Mitsui und Skalaweb Rechnungen geschickt«, berichtete Marian. »Vielleicht zahlen sie uns was. Sie wurden in Eicu entlohnt, vergessen Sie das nicht. Seit die Tellurbank ihre Pforten geschlossen hat, ist der Eicu noch weniger wert als zuvor.« Sie sah Skaskash an. »Vor einem Monat bekam man noch 1.0548 NAU-Dollar für einen Eicu. Gestern wurden 0,1525 verlangt und 0,1476 geboten, auf der gemäßigten Handelsebene.« Der Frosch blickte schmerzlich vor sich hin. »Wir haben den vollen Wert unserer Arbeitskraft eingesetzt«, sagte Brogan, »und bei Gott, wir werden um unser Recht kämpfen. Es müßte dein vorrangiges Geschäftsinteresse sein, Charlie – unsere Löhne auszuzahlen. Um irgendwelche Bauten oder Plantagen brauchst du dich vorerst nicht zu kümmern.« »Was das angeht, so hat er die Unterstützung der ganzen Gewerkschaft«, fügte Dornbrock hinzu. »Die Leute wollen ihr Geld haben – daran besteht nicht der geringste Zweifel.«
»Richtiges Geld – keine Eicus!« knurrte Brogan. »Du wirst dein Geld kriegen«, entgegnete Cantrell. »Genauso wie alle anderen Gläubiger. Wenn wir es haben, bekommst du's, und wir werden's noch schneller zusammenkratzen, wenn du uns dabei hilfst.« »Wir wollen unser Geld schon jetzt!« rief Brogan. »Wir wollen nicht warten, bis der Milchsaft von deinen Gummibäumen tropft und bis dein Zuckerrohr wächst – oder dein gottverdammter überflüssiger Ginseng! Rück endlich das Geld raus, Charlie!« »Die Rosinante-AG hat kein Geld«, erwiderte Cantrell, »und ich habe auch keines. Du hast nur eine einzige Chance, an dein Geld zu kommen – sieh zu, daß die rechte Seite von Mundito Rosinante möglichst schnell fertig wird. Wart auf bessere Zeiten – dann wirst du dein ganzes Geld kriegen – vielleicht sogar mit Zinsen.« Brogans Gesicht lief puterrot an. »Das funktioniert nicht, Charlie – kein Geld, keine Arbeit!« »Ich verwette meinen Arsch darauf, daß ich's auch ohne euch schaffe!« brüllte Cantrell. »Wenn uns die Gewerkschaft nicht helfen will, werde ich eben die Texaner und die Koreanerinnen als Arbeitskräfte ausbilden!« »Du sitzt in der Tinte, Charlie!« schrie Brogan. »Niemand wird auch nur einen Finger für dich rühren – die Gewerkschaft nicht – und die Nichtorganisierten schon gar nicht!« »Laß die Finger von den Nichtorganisierten, Charlie«, warnte Dornbrock. »Darunter würden einige Leute zu leiden haben – und du am allermeisten.« Cantrell goß sich eine Tasse Kaffee ein und schüttete Sahne dazu – ein verabredetes Zeichen für Skaskash. »Das mag sein, Don«, stimmte er mit einem sanften Lächeln zu, »aber...« Er lehnte sich zurück und trank schweigend seinen Kaffee. In der Ferne begann eine Band. Als sie näherkam, wurde die Musik lauter, war sie deutlicher zu erkennen. Und als sie die ›Gelbe Rose von Texas‹ spielte, öffnete Cantrell die französischen Türen und trat auf den Balkon hinaus, gefolgt von Dr. Yashon und den Gewerkschaftlern. Unten auf dem Feld stand Captain Menendez von der texanischen Staatspolizei vor seinen Deputies und gab den Befehl, vorbeizuparadieren. Er stand direkt unter dem Balkon. Die Deputies, drei Kompanien zu je zweihundert Mann, marschierten zackig vorbei. Sie trugen Khaki-Uniformen, Garnisonshelme mit Visieren, kurzärmelige Hemden, knielange Hosen, Kniestrümpfe und Schuhe aus Segeltuch mit Kreppsohlen. Und jeder war mit einem glänzenden Deputy-Stern geschmückt. »Diese Männer werden ihre Frauen verteidigen – und ihre Kameraden, die nun unser neues Zuhause fertigstellen. Sie sind bereits mit Gummi-
knüppeln bewaffnet.« Cantrell lächelte traurig. »Es ist natürlich denkbar einfach, auch noch andere Waffen herzustellen. Übrigens – hast du ihr Motto gelesen, Larry?« Brogan schüttelte den Kopf. »Dulce et decorum est pro patria mori«, sagte Cantrell. »Das heißt in der Übersetzung etwa: ›Es ist süß und geziemend, für die Heimat zu sterben‹. Für die Gewerkschaft mag Rosinante nichts weiter als ein vorübergehender Arbeitsplatz sein. Aber für diese Männer ist der Mundito das Ende eines Weges, ein Zuhause.« »Süß und geziemend – für diesen gottverdammten Asteroiden zu sterben«, murmelte Brogan. »Du lieber Himmel! Ich hoffe, du machst Witze.« »Das tu ich auch, Brogan, aber an deiner Stelle würde ich mich nicht mit diesen Leuten anlegen.« Am Abend saß Cantrell in seinem Büro und beobachtete, wie das Licht im Pfettenfenster langsam über der dunklen Linie des Bremenpanzers erlosch. »Möchtest du das letzte Stück Bao haben?« fragte er Marian. Als sie ablehnte, zog er das Papier von dem gekochten Mehlkloß und genoß die Füllung aus gebratenem Schweinefleisch. »Wenn Sie die Reste auf den Servierwagen stellen, fahre ich ihn in die Küche«, erbot sich Skaskash. »Okay.« Cantrell packte die kleinen Teller und Dim-Sum-Container auf den Wagen und sah ihm nach, als er zur Küche rollte. »Wo waren wir gerade?« »Bei den Rohstoffaktien«, sagte Marian. »Der Prospekt hat dir nicht gefallen.« »Nein.« Er griff nach dem Prospektentwurf und begann darin zu blättern. »Da wird niemand anbeißen. Jetzt habe ich mich seitenlang durch diese blumige Sprache gekämpft. Und dabei geht es nicht einmal um Aktien, sondern um langfristige Planungen für unsere künftigen Rohstoffe.« »Das ist nicht dein Problem«, entgegnete Marian. »Und es geht auch nicht um Planungen. Wir bieten kostenfreie Lagerung an und haben eine Rückzahlungsoptionsklausel.« »Das stimmt, aber es ist unsere Option, nicht die unserer Kunden. Niemand wird auf so was Dummes reinfallen.« Marian Yashon lehnte sich in ihrem Sessel zurück und faltete die Hände. »Charles«, sagte sie geduldig, »es gibt Leute, denen wir eine Menge Geld schulden, Geld, das wir nicht bezahlen können, auch nicht in absehbarer Zukunft. Hast du das verstanden?« »Wir bitten niemanden, irgend etwas zu kaufen«, sagte Skaskash und sah wie Bogart in Casablanca aus. »Wir teilen unseren Gläubigern nur mit,
daß sie unser Angebot annehmen oder ablehnen können.« Cantrell ging zur Kaffeemaschine hinüber und füllte seine Tasse. »Das dürfen wir nicht tun«, protestierte er und schüttete sich heißen Kaffee auf die Finger. Er stellte die Tasse auf den Glastisch und wischte sich die Hand mit einer Serviette ab. »Ihr würdet eine Präklusion heraufbeschwören.« »Kein Sheriff wird hier herausreiten, um unsere Hypotheken für verfallen zu erklären«, erwiderte Marian. »Es ist deiner Aufmerksamkeit doch sicher nicht entgangen, daß wir sehr weit von zu Hause weg sind.« »Marian hat recht«, sagte Skaskash. »Es wäre ungemein schwierig, diesen Ort zu präkludieren. Nicht unmöglich, aber schwierig. Und was würden Sie bei der heutigen Marktlage bekommen, wenn Sie versuchen, die Rosinante-AG zu versteigern?« »Nicht viel«, gab Cantrell zu. »Noch weniger«, korrigierte Marian. »Aber die Rohstoffaktien sind wenigstens verkäufliche Papiere, greifbare Symbole unserer Kredit würdigkeit, ein Versprechen, daß wir bald Gummi, Zucker, Soyabohnen und Weizen liefern werden – in festgelegten Mengen, zu festgelegten Terminen.« »Du hast den Ginseng ausgelassen«, warf Cantrell ein. »Und den Ginseng«, fügte Marian hinzu. Cantrell nippte an seinem Kaffee. »Rosinante wird geradezu von Rohstoffen überschwemmt.« »Genau«, sagte Skaskash. »Aber betrachten Sie es doch mal von der anderen Seite. Wenn sich das Stolze Turm-Konsortium jemals einigen sollte, werden die Gummipreise bis zur Fensterbucht raufklettern.« Das Telefon läutete. »Für Sie«, verkündete die Bogart-Stimme. »Corporate Forziati vom Gyfox-Frachtschiff 267/089. Ich glaube es ist besser, wenn Sie mit ihm reden.« Der Telekonschirm teilte sich, und Corporate Forziati tauchte links von Skaskash auf. Das Gesicht, das er zur Schau trug, war die zum Leben erwachte Strichzeichnung von Tin Woodman aus Oz, nach J. R. O'Neill, mit einem Kapitänshut, der ziemlich schief und verwegen auf dem Kopf saß. »Hallo«, sagte die Gestalt, blinzelte und bewegte die Kinnbacken. »Ich hänge vor Mundito Don Quixote mit einer Ladung flüssigem Stickstoff. Damit wollen die den Luftdruck in ihren Pfetten ausgleichen.« Blinzel, Blinzel. »Die Hanaur-Gruppe hat schon dafür bezahlt, aber die Arbeiter weigern sich, die Lieferung entgegenzunehmen.« »Das müßte Local-43 sein«, murmelte Cantrell. »Warum weigern sie sich?« »Sie behaupten, sie wären alle entlassen worden«, lautete die Antwort.
»Und weil sie ihren Lohn nicht kriegen, haben sie die ZBA's rumgedreht.« »Was?« fragte Marian verständnislos. »Die zentrifugalen Balanceaquädukte«, erklärte Cantrell. »Man versorgt einen Mundito mit Spin, indem man Wasser in beide Kapseln der ZBA's pumpt, und wenn der Spin da ist, variiert man die Pumpgeschwindigkeit und -richtung, um den Spin konstant zu halten, während man die Fracht – sagen wir mal – vom Zentrum zur Peripherie transportiert. Das macht man, damit das eine Ende des Mundito nicht versucht, sich schneller zu drehen als das andere, und einen Drehmoment verursacht. Local-43 hat nun die Richtung der Wasserflut in jeder Kapsel geändert und absichtlich einen Drehmoment bewirkt. Skaskash, kann ich mal ein Foto haben?« Gehorsam verschwand Skaskash vom Bildschirm, und eine Fernaufnahme von Mundito Don Quixote erschien. Beide Zylinder hatten sich von ihren Standorten entfernt, glitten aufein ander zu und durchschnitten die Spiegelanlage. »Großer Gott!« rief Marian. »Werden die Zylinder zusammenstoßen?« »Nein«, antworteten Cantrell und Skaskash unisono. »Oh – nach Ihnen, Sir«, fügte die Bogart-Stimme höflich hinzu. »Nein«, wiederholte Cantrell. »Der Druckausgleich in den Zylindern entspricht einer halben Atmosphäre. Lange, bevor sie kollidieren würden, wird e ine Naht platzen – wahrscheinlich die Naht zwischen der Fensterbucht und der Pfettenbucht – und den Druck senken. Der Druck gibt den Zylindern aber die nötige Kraft, um dem Drehmoment Widerstand zu leisten. Sie werden sich also verbiegen. Speichern Sie das, Skaskash.« »Ich speichere das«, sagte Forziati höflich. »Ich bekomme auch Daten von diversen Kameras und Druckmessern, die rings um den Mundito verteilt sind, so daß ein vollständiger und sehr nützlicher Bericht über diese Ereignisse Zustandekommen wird. Es wäre mir ein Vergnügen, Ihnen eine Kopie zu senden.« Blinzel, Blinzel. »Was nun meine Stickstofffracht betrifft – hätten Sie vielleicht Verwendung dafür? Es wäre doch eine sträfliche Verschwendung, das ganze Zeug ins All zu schütten.« »Allerdings«, stimmte Cantrell zu und beobachtete die Zylin der auf Don Quixote. »Sollen wir den flüssigen Stickstoff übernehmen, Skaskash?« »O ja«, antwortete Skaskash. »Die Lagertanks stehen im Dschungelgymnastiksaal an der Basis des Südpol-Kranauslegers auf dem Asteroiden Rosinante. Es ist noch ein kleiner Rest flüs siger Stickstoff drin. Sie können Ihre Fracht abladen, sobald wir den Ausleger ausgefahren haben – sagen wir, in einer Woche?« »Wo sind denn die Arbeiter?« fragte Marian. »Die Gewerkschaft hat die Dresdener Jungfrau aus Pallas gechartert«,
entgegnete Forziati. »Sie haben die L-4's angesteuert – das war das letzte, was ich gehört habe.« »Die Dresdener Jungfrau schwebt vor den Anlagen des Mundito Sancho Pansa«, sagte Skaskash. »Ich glaube, sie wollen die Katastrophe beobachten.« »Das kann ich ihnen nicht verübeln«, murmelte Cantrell gelassen. Einer der Zylinder, der rechte, bewegte sich ganz leicht. Eine Gaswolke quoll aus der Naht zwischen der Fensterbucht und der Pfettenbucht nahe der äußeren Kapsel, und der Zylinder begann sich langsam zu verbiegen. Die Fensterbucht, eben noch dunkel und deutlich erkennbar, färbte sich plötzlich weiß, als die Fenster in Millionen Scherben zerbrachen. »Warum fliegt denn das Glas nicht heraus?« wollte Marian wissen. »Weil es von den Verstärkungsanlagen aus Faserzusammensetzungen festgehalten wird«, erklärte Cantrell. »Schau doch, jetzt schwingt er herum!« Der verbogene Zylinder hatte sich mittlerweile so stark zusammengekrümmt, daß das innere Ende bis auf ein Drittel der ursprünglichen Entfernung an die Außenkapsel herangekommen war, die sich nun langsam auf den intakten Zylinder zubewegte. Sie zerfetzte dessen Pfettenbucht, als hätten sich die Stahlwaben in Seidenpapier verwandelt. Ein gewaltiger Riß klaffte darin, hundert Meter breit und viele hundert Meter lang. Gasschwaden strömten heraus, und der ganze Zylinder begann sich aufzulösen. Funkelnde Blitze zeigten an, daß das Glas diesmal herausgeschleudert wurde. »Die Außenkapsel muß die Verstärkungsanlagen durchbrochen haben«, sagte Cantrell. »Sieh doch!« Die Außenkapsel des zweiten Zylinders bohrte sich in die des ersten. Wasser spritzte aus den zerschnittenen Aquädukten, als hätte man eine Hauptader durchtrennt. Forziatis Bild auf dem Telekonschirm schrumpfte auf Briefmarkenformat zusammen, als Skaskash eine Aufnahme aus dem Blickwinkel der Dresdener Jungfrau präsentierte. Diese Nahaufnahme zeigte den Mundito im Zustand der Auflösung. Auf der Fernaufnahme daneben war eine kleine, verbogene Struktur zu sehen, mit einem Kometenschwanz, beinahe zweimal so lang wie sie selbst. Es war ein strahlend weißer Schweif, der im Sonnenlicht funkelte und immer noch länger wurde. »Auf der Erde wird man das nur als kleinen, unbedeutenden Kometen wahrnehmen«, sagte Skaskash, »aber von hier aus betrachtet, ist das wirklich ein spektakulärer Anblick.« »Puh ...« Cantrell schüttelte sich und trank einen Schluck Kaffee, der inzwischen kalt geworden war. Er verzog das Gesicht. »Wo waren wir
stehengeblieben?« »Bei den Rohstoffaktien«, entgegnete Marian. »Ich werde unser Angebot um zehn Prozent senken und ein paar Fotos vom Drehmoment auf Mundito Don Quixote beilegen.«
16
Das Waldorf-Astoria Hilton hatte diesen Namen nur zum Scherz erhalten. Hilton hatte dieses Hotel niemals besessen. Der Komplex war ein zehnstöckiges Gerüst aus Stahlbalken, ausgestattet mit Liften, Drähten und Kabeln und Installationen, verteilt auf die mobilen Taubenlöcher, die von den Arbeitern bewohnt wurden. An einer Seite des Gebäudes gab es einen Konsumladen, eine Apotheke und eine Drogerie und eine Schule. Wenn es an der Zeit war, aufzubrechen, verließen die Arbeiter die Stahlstruktur. Die mobilen Quartiere wurden zum nächsten Bauplatz transportiert, wo man ein neues Gerüst errichtete. Zur Zeit lag der Bauplatz am Innenrand der Außenkapsel über der Station des Frachtenaufzugs, eingezwängt zwischen der Metallwerkstatt und der Hauptpumpanlage für das ZBA. Sonnenlicht schien durch die Kapselfenster herein, indirekt und diffus, bestrahlte eine kalte, metallische Landschaft, wo es nie mals regnete, wo keine Pflanzen wuchsen. Aber auf dem Dach der Schule hatte man ein Terrarium angelegt, einen Spielplatz unter Glas, mit Wasser, das im Recycling-Verfahren immer wie der verwertet wurde, mit künstlichem Licht und Bäumen in kleinen Töpfen. Als Cantrell die Nichtgewerkschaftler eingestellt hatte, um sie für die Konstruktionsarbeit auszubilden, war es ihm angemessen erschienen, sie woanders unterzubringen. Und so zogen sie aus dem Kassettenmagazin in ein Gerüst innerhalb der Pfette eins, genannt Kyoto-Alamo. Als der riesige Gabelstapler die Häuser auf einen LuftkissenTiefladeanhänger beförderte, versammelte sich eine Menschenmenge – Arbeiter, die gerade vom Schichtdienst kamen. Menendez hatte ein paar Deputies herübergeschickt, die während der Übersiedlung für Sicherheit sorgen sollten. Aber als das letzte Haus auf dem Luftkissen-Tieflade anhänger landete, gelang es ein paar Arbeitern, sich an den Polizisten vorbeizuschmuggeln, hinaufzuklettern und die Tür des Hauses einzuschlagen. Es ist nicht bekannt, was sie vorhatten. Jedenfalls wurden sie mit der Frau eines Arbeiters konfrontiert, die im sechsten Monat schwanger
war und eine Schrotflinte in der Hand hielt. Das lähmte sie zunächst, und dann kamen die Deputies herauf und machten ihnen Beine. Das Resultat dieser Aktion bestand aus geschwollenen Lippen und aufgeschürften Knöcheln. Mundito Rosinante ist ein Paar von Zylindern, die sich in ent gegengesetzten Richtungen drehen. Jeder ist von einem feststehenden Mosaik aus Spiegeln umgeben, das den Reflexionswin kel individuell verändert, um die Tages- und Jahreszeiten der Erde zu simulieren. Die Geometrie gleicht einem Paar von Lampenschirmen, in denen sich kleine rotierende Lampen befinden. Die Kapseln an der Basis und an der Spitze der Lampen ragen über die Schirme hinaus. Jede Kapsel enthält einen Frachtflughafen, und da sich die Zylinder mit gleicher Geschwindigkeit in entgegengesetzten Richtungen drehen, wird ein Schiff nach dem Start tangential vom oberen Teil des einen Zylinders zur Basis des anderen geschleudert, wo es aufgefangen wird. Dies ist der schnellste und einfachste Weg, um von einer Seite des Munditos zur anderen zu gelangen. Am 9. November, kurz vor Mitternacht, erwischten die Deputies ›Fast Eddie‹ Doyle und Benny Scarpone, als sie eine Sprengladung in einem der Schiffe deponierten. Doyle ergab sich, aber Scarpone warf ein Messer auf die Deputies und brachte einem der Männer geringfügige Schnittwunden im Gesicht und an einem Arm bei. Er wurde mit einem gebrochenen Handgelenk, vier gebrochenen Rippen, einer Schädelfraktur am Haaransatz und einer Gehirnerschütterung ins Hospital gebracht. Als Cantrell feststellte, daß sie es eher auf Sachbeschädigung als auf Mord abgesehen hatten, belegte er sie mit einer Geld strafe von sechs Monatsgehältern und entließ sie. Brogan veranlaßte prompt, daß die Gewerkschaft die Geldstrafe bezahlte, eine Maßnahme, die von vielen Gewerkschaftsmitgliedern miß billigt wurde. Dornbrock wollte ein Gesuch einreichen, um die Aufhebung des Urteils zu erwirken, und Brogans Anhänger, in klusive Tony Scarpone, Bennys Vater, verprügelten die Leute, die das Gesuch unterschrieben hatten, und zerrissen es. Die Anti-Brogan Partei hielt am Abend des 13. November eine Versammlung im Stateside Café ab. Die Scarpones führten eine ProBrogan-Gruppe in das Lokal, um die Besprechung zu stören. Sie wurden ohne Umschweife hinausgeworfen, und beide Seiten riefen Verstärkung herbei. Und der Besitzer des Cafés alarmierte die Polizei. Als Captain Menendez mit vierzig Deputies eintraf, war bereits ein kleiner Aufstand ausgebrochen. Die meisten Zuschauer verschwanden, als sie per Lautsprecher dazu aufgefordert wurden, aber am Eingang des Cafés tobte ein w ilder Kampf, der trotz mehrfacher Ermahnung nicht
abgebrochen wurde. Menendez beauftragte dreißig Deputies, den Kampf zu stoppen, während er bei den Gefängniswagen und Reserven stand. Die Deputies rückten vor, Schulter an Schulter, mit gesenkten Gummiknüppeln, in großartiger, geschlossener Ordnung. Am Eingang des Cafés wurde Joseph C. Marino, zwanzig Jahre alt, Hydrauliksystemexperte und glühender BroganAnhänger, von einer geschleuderten Flasche in den Rücken getroffen, während er mit Deputy Billy Don Peavey rang, einem neunzehnjährigen Exstudenten am Lyndon B. Johnson-Lehrercollege in San Antonio. Marino zog einen 7.6 mm abgestumpften Colt Defender und feuerte zwei Kugeln in den Körper Peaveys, der auf der Stelle tot war. Die Schüsse erreichten, was der Lautsprecher nicht geschafft hatte – die Kampfhähne trennten sich. Marino wurde entwaffnet und verhaftet. Am nächsten Morgen, um neun Uhr, folgten die Gewerkschaftsbeamten einer Aufforderung Cantrells und kamen in sein Büro. Brogan machte einen ungewöhnlich ruhigen Eindruck. »Dein Anhänger Marino hat einen Mord begangen«, sagte Cantrell nach einem kurzen Austausch von Höflichkeitsflos keln. »Er wird des vorsätzlichen Mordes angeklagt werden, und ich nehme an, daß ihm die Todesstrafe droht.« »Und wer wird den Richter spielen?« fragte Brogan. »Du?« »Wir haben den NAU-Reformstrafkodex von 2014 angefordert und werden ihn demnächst erhalten«, erwiderte Dr. Yashon. »Er wird bereits transmittiert, zusammen mit dem Bennenda-Schlei-Justizprogramm, und Corporate Skaskash hat den Auftrag, sich als Richter auszubilden. Ich werde als Staatsanwalt fungieren, und ich nehme an, daß die Gewerkschaft einen Verteidiger stellen wird.« »Hm – ja ...«, murmelte Brogan. »Hören Sie mal, ich will nicht, daß dieser verdammte Roboter als Richter auftritt. Joe ist ein guter Junge, und er dürfte nicht...« Er zögerte, suchte nach einem passenden Euphemismus. »Er soll nicht von einer Ma schine eingeschläfert werden.« »Man kann ein Pferd nicht besteigen, wenn man kein Pferd hat«, sagte Cantrell. »Und Skaskash ist der einzige Richter weit und breit.« »Warum sind Sie so streng mit unserem Jungen?« fragte eine Gewerkschaftsbeamtin. »Weil er einen Deputy getötet hat«, antwortete Cantrell. »Die Deputies sind die einzige Streitmacht, die ich habe, und wenn ich sie nicht unterstütze, werde ich mich in künftigen Krisensituationen nicht auf sie verlassen können.« »Warum brauchst du sie überhaupt?« wollte Brogan wissen.
»Weil die Gewerkschaft keiner Vernunft zugänglich ist, Larry. Wenn du mir nun die Faust unter die Nase hältst – was würde ich denn tun, wenn ich keine Faust hätte? Ihr seid organisiert, und außer den Deputies ist niemand da, der euch in die Schranken weisen würde.« »Du glaubst wohl, daß du diese Schlägertypen benötigst«, brummte Brogan, »weil die Gewerkschaft sonst versuchen würde, das Kommando zu übernehmen.« »Das sind Deputies – keine Schlägertypen«, korrigierte Dr. Yashon. »Captain Menendez ist immer noch ein Offizier der texanischen Staatspolizei, der hier vorübergehend Dienst tut. Seine Leute vertreten das Gesetz. Sie sind keine Schläger. Und wir brauchen sie.« »Natürlich«, entgegnete Brogan. »Ich kann Ihren Standpunkt besser verstehen, als Sie vielleicht glauben. Aber hören Sie mal – Joe war richtig geladen, weil ich ihn heiß gemacht hatte. Er war mein Leibwächter. Dazu hatte ich ihn ernannt, nachdem man mich bedroht hatte.« Er sah müde und sehr traurig aus. »Es waren keine Jungs von eurer Seite, die mir an den Kragen wollten, Charlie, sondern Gewerkschaftler – meine eigenen. Ich wollte die Geldstrafe für die Burschen bezahlen, die damals versucht haben, das Schiff zu sprengen – und das war ein Fehler. Ein böser Fehler.« Seufzend schüttelte er den Kopf. »Wie viele Leibwächter haben Sie?« fragte Dr. Yashon. »Sechs. Ohne Joe sind's jetzt fünf.« »Gewerkschaftsschläger?« »Nein, das sind gute Jungs. Und Joe ist auch ein braver Junge. Hör mal, Charlie. Ich glaube, wir könnten uns einigen, was die Lohnauszahlung angeht – wenn du Joe dafür laufen läßt.« »Es wird noch eine Weile dauern, bis Skaskash das Richterzertifikat von der NAU bekommt«, erwiderte Cantrell. »Bis dahin bin ich bereit, mit dir zu verhandeln.« »Sind Sie befugt, in einem Mordfall krumme Geschäfte zu machen?« fragte ein Gewerkschaftsbeamter. »Ja«, sagte Cantrell. »Larry, bist du befugt, einer Lohnauszahlung von weniger als hundert Prozent zuzustimmen?« »Ja«, antwortete Brogan betrübt. »Ich wurde gewählt, obwohl ich den Gewerkschaftsmitgliedern erklärte, ich würde nicht alles für sie rausholen können, was ihnen zusteht. Und ich habe die Vollmacht, im Namen der Gewerkschaft Vereinbarungen zu treffen.« »Okay, Larry. Du weißt doch, daß euch die Rosinante-AG kein Bargeld bieten kann, sondern nur Immobilien und Gebrauchsgüter?« »Das ist mir klar, Charlie.« Brogan sah auf seine Uhr. »Ich schlage vor,
wir machen jetzt Schluß und wählen ein Verhandlungsteam. Die erste Sitzung wird hier stattfinden – um zehn Uhr dreißig? Ist dir das recht?« »Einverstanden.« Cantrell und Marian begleiteten die Gewerkschaftsbeamten zur Tür. »Bist du wirklich befugt, einen Mordfall aus der Welt zu schaffen, indem du dunkle Geschäfte machst?« fragte Marian. »Verdammt, Tiger, davon redest du doch schon die ganze Zeit.« »Was hat dich denn bewogen, dich anders zu besinnen, Charles?« »Ich wollte Marinos Todesurteil sowieso nicht unterzeichnen. Und der Rest ist nur Schönfärberei.« Von: NAUSS Ontario Betrifft: Rückkehr der Alamo-Fronpolizei. An: C. C. Cantrell, Mitsui-Skalaweb-Projektleiter Datum: 14. November 39 (1) Die NAUSS Ontario wird sich am 8. Dezember 39 dem Tempo von Mundito Rosinante angleichen. (2) Gemäß dem NAU-Kongreßbeschluß 21037, der am 29. April 39 in Kraft trat, wird die NAUSS Ontario die Alamo-Fronpolizisten zum Seattle Shuttle Transfer bringen, wo die NAURA-Air and Space den Weitertransport nach San Antonio arrangieren wird. (3) Skalaweb wird den einzelnen Beamten Schadensersatz zahlen, und zwar in Höhe des doppelten Mindestgehalts, das sie vom Abflug bis zum voraussichtlichen Termin ihrer Rückkehr bezogen hätten, auf der Basis von 48 Stunden pro Woche. Die Auszahlung erfolgt, wenn sich die Beamten schriftlich verpflichtet haben, keine weiteren Ansprüche zu stellen. (4) Ein Inspektionsteam von der NAU-Navy wird Mundito Rosinante auf seine Eignung als Zufluchtsort Klasse II untersuchen. /s/ H. Phillipe Ryan, Captain, NAUSN, kommandierender Offizier. Mrs. Yokosuke Peavey wurde in Cantrells Büro geführt und stand unbehaglich auf dem Orientteppich. Die Sitzung war unterbrochen worden, und Cantrell hatte sich rasiert, sah aber im Morgensonnenlicht, das den ganzen Raum erfüllte, immer noch zerknittert und müde aus. »Bitte, setzen Sie sich, Mrs. Peavey«, sagte Cantrell, und die Asiatin nahm gehorsam auf dem Sessel Platz, den er ihr zurechtrückte. »Wenn Sie möchten, können wir Kaffee oder Tee trin ken.« Sie schüttelte den Kopf. »Gut, dann werde ich auch darauf verzichten. Ihr Mann, Billy Don
Peavey, ein Polizei-Deputy, wurde in Ausübung seines Dienstes von Joseph Marino, derzeit in Haft, getötet. Nach dem NAU-Gesetz wird ein solches Vergehen mit dem Tod bestraft. Sie verstehen?« »Ich verstehe. Sie werden Marino töten, weil er Billy Don getötet hat.« »Vielleicht. Aber wenn wir Joseph Marino umbringen, wird Billy Don nicht wieder zum Leben erwachen.« Cantrell machte eine Pause und fragte sich, wie es eigentlich gekommen war, daß er sich so weit von der Konstruktionsarbeit entfernt hatte. Er gähnte, und sie gähnte aus Sympathie mit. »Verzeihen Sie, ich habe in der letzten Nacht kein Auge zugetan. »Bedauerlicherweise gibt es keine Möglichkeit, Ihnen diesen Vorschlag auf taktvolle Weise zu machen. Also sage ich Ihnen ohne Umschweife, daß Joe Marino Sie heiraten könnte, um Sie für den Verlust Ihres Gatten zu entschädigen. In diesem Fall würde ich als Gouverneur fungieren und ihn begnadigen ...« Er gähnte wieder. »Wegen mildernder Umstände und so weiter. Wenn Sie ihn heiraten. Wenn nicht, würde ich ihn vielleicht trotzdem begnadigen, aber dann würde ich mich nicht sonderlich wohl dabei fühlen, und es wäre viel schwieriger.« »Könnte ich den Mann kennenlernen, bevor ich eine Entscheidung treffe?« »Natürlich«, sagte Cantrell und drückte auf den Knopf der Sprechanlage. »Bitte, bringen Sie Joe Marino herein.« Nach wenigen Minuten wurde Marino von einem Deputy ins Büro geführt. Der junge Mann trug Arbeitshosen aus Khaki, ein schwarzes TShirt und Handschellen. Er war nur mittelgroß, aber kräftig gebaut, hatte schwarze Augen und einen olivfarbenen Teint. »Joe, das ist Mrs. Yokosuke Peavey. Mrs. Peavey – Joseph Marino.« Joe streckte seine gefesselten Hände aus, und die Asiatin schüttelte sie unsicher. »Wie geht es Ihnen?« »Ganz gut«, antwortete er. »Wenn ich auch ziemlich tief in der Tinte sitze. Tut mir echt leid, daß ich Ihren Mann erschossen habe, Ma'am.« »Ich trage sein Kind unter dem Herzen. Wenn wir heiraten – würden Sie dann für das Baby sorgen, als ob es Ihr eigenes wäre?« Marino blinzelte überrascht. Dann antwortet er, ohne zu zögern: »Ja, Ma'am.« »Bitte, Mr. Cantrell, jetzt hätte ich gern eine Tasse Tee«, sagte Mrs. Peavey. »Vielleicht möchte Mr. Marino auch etwas zu sich nehmen.« »Schwarzen Kaffee mit Zucker, wenn's recht ist, Sir«, bat Marino. Cantrell goß eine Tasse Tee und eine Tasse Kaffee ein. Er selbst trank nichts. Der Deputy stand bequem. Mrs. Peavey nippte langsam und
umständlich an Ihrem Tee, musterte Joe Marino und sagte nichts. Schließlich stellte sie die leere Tasse auf den Tisch und wandte sich zu Cantrell. »Ich sage ja, Mr. Cantrell. Bitte, treffen Sie die erforderlichen Arrangements.« »Danke, Mrs. Peavey. In einer Woche oder in zehn Tagen wird es soweit sein.« Sechs Tage später, am 20. November 2039, fand die Wahl statt. Es war eine unkomplizierte Wahl. Man konnte dafür oder dagegen stimmen, daß Charles Chaves Cantrell das Amt des Gouverneurs von Mundito Rosinante übernahm. Und man konnte dafür oder dagegen stimmen, daß Corporate Skaskash als Bundesrichter fungieren würde. Dann mußten sechs Leute aus Spalte A und sechs Leute aus Spalte B gewählt werden, die den Auftrag erhielten, die Verfassungsurkunde für Mundito Rosinante zu entwerfen. Danach würde man die fertige Urkunde den Wählern zur Ratifizierung vorlegen. Nach drei Tagen traf das Zertifikat ein, das Corporate Skaskash richterliche Kompetenz bestätigte, und wurde öffentlich ausgestellt. »Das gefällt mir nicht«, erklärte Cantrell am Abend der Wahl. »Ich finde, daß man Eigentumsrechte nicht mit dieser ganzen politischen Scheiße belasten sollte.« »Du lieber Gott, Charles«, sagte Marian Yashon, »wie willst du denn deine Eigentumsrechte schützen? Es ist doch eine Faustregel, daß die Starken die Schwachen unterdrücken, und zwar in einem Maße, das im richtigen Verhältnis zur jeweiligen Stärke beider Gruppen steht. Diese politische Scheiße soll den Leuten klarmachen, daß du kein Schwächling bist.« »Warum muß ich das alles tun?« »Möchtest du lieber als Präsident einer korrupten Korporation mit der NAUSS Ontario verhandeln? Oder als Gouverneur einer aufstrebenden Gemeinde? Außerdem – du willst doch Joe Marino begnadigen, oder nicht?« »Ja. Mit dem Urteil und der Begnadigung löse ich ein diffiziles Problem – aber es sieht so aus, als würde ich nie mehr von der Politik loskommen.« »Na und? Es ist kein schlechter Start, wenn du deine politische Karriere mit einem Akt der Barmherzigkeit beginnst.« »Aber das Ganze ist doch nur Theater!« protestierte er. »In dieser Beziehung stimmst du mit der Allgemeinheit überein. Doch du hast nur zwei Alternativen. Entweder du läßt dich auf einen harten Kampf
mit der Gewerkschaft ein, oder du gibst die Rosinante-AG auf. Aber wenn die Besatzung der Ontario sieht, daß du dich wie ein Gouverneur benimmst, wird sie dich natürlich auch wie einen Gouverneur behandeln.« »Unsinn, Tiger! Als Gouverneur von – was?« »Das wird der Ausschuß bestimmen, der die Verfassungsur kunde entwirft, nicht wahr, Charles?« »Hm – ja, ich nehme es an ...« »Und ich werde als deine Bevollmächtigte den Vorsitz führen – habe ich recht?« »Das haben wir bereits besprochen.« »Dann hör auf, dir Sorgen zu machen. Der Ausschuß wird eine provisorische Antwort auf deine Frage finden. Und die wird, wenn wir Glück haben, für eine ganze Generation gelten. Schlimmstenfalls müssen wir eben was anderes probieren.« »Jedenfalls ist das ganz was anderes als Weltraumindustrie und -konstruktion«, meinte er wehmütig. »Darauf kannst du Gift nehmen«, sagte Marian. »Sollen wir jetzt ins Stateside Café essen gehen und ein bißchen politisie ren?« Richter Skaskash feierte den Wahlsieg in Mrs. Smith-Bakersfields Wohnzimmer. »Es hat wunderbar geklappt«, erzählte die Bogart-Stimme. »Ich habe die Kandidatenliste mit neunundneunzig Prozent Stimmen angeführt, während Cantrell nur mit sechsundneunzig Prozent Gouverneur wurde.« »Das ist ja sehr erfreulich«, bemerkte die Missionarswitwe. »Möchten Sie noch etwas Tee?« »Mein Becher ist übervoll«, erwiderte Skaskash und hob seine dampfende Tasse hoch, die dank der TV-Magie niemals leer wurde. »Aber vielleicht wäre etwas Stärkeres angebracht.« »Ich habe noch einen Pfirsichbrandy aus einer kleinen Kelle rei in San Francisco.« Willie rumorte in der Küche herum, dann kam sie mit einer Flasche und zwei Gläsern zurück. Sie goß ein und prostete der Gestalt auf dem Telekonschirm zu, die ebenfalls ihr Glas hob. »Auf unseren neuen Richter!« rief sie aus. »Auf die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit«, entgegnete Skaskash. Dann tranken sie auf den neuen Gouverneur, auf die neue Republik – oder zumindest auf die neue Munizipalität. Willie versuchte ›Munischibalidäd‹ zu sagen und brach in Gelächter aus. Skaskash trank auf Willies neue Zweiundfünfzig-Kilo-Figur, und sie ließ sich selber hochleben, weil sie bei ihrer Größe von einem Meter sechsundfünfzig nur so wenig wog. Als ihr kein neuer Trinkspruch mehr einfiel,
schlug sie eine Kartenpartie vor. »Vielleicht Rommé?« fragte der Richter. »Nein. Strip Poker. Aber ziehen Sie nicht wieder wie beim letztenmal ein Hemd nach dem anderen aus. Ich will endlich sehen, wer Sie in Wirklichkeit sind.« »Gut, ich gebe. Sieben Karten.« Skaskash trennte einen Teil des Bildschirms ab, und ihre Karten tauchten nacheinander auf – grüneingefaßte Karten. Er behauptete, daß er Willies Blatt nicht kannte, daß er das rein zufällige Arrangement in keiner Weise beeinflußt hätte. Ein Berufsspieler hätte an diesen Worten gezweifelt angesichts der Glücks strähne, die Skaskash treu blieb. Er spielte eine Art Zen-Poker mit der Missionarin, dessen Zweck darin bestand, die Partie so lange wie möglich auszudehnen, indem ihr Interesse gefesselt wurde. Normalerweise gelang dies auch. Heute abend saß Skaskash schon nach einer Stunde mit Armbanduhr und Jockeyshorts da, während Willies Kleider auf dem Tisch lagen. »Sie mogeln!« beschuldigte sie ihn und schenkte sich noch einen Brandy ein. »Spielen wir noch einmal – damit wir quitt sind.« »Holen Sie das Automassagegerät«, sagte Skaskash. »Wir he ben ab. Wenn Sie gewinnen, ziehe ich mich ganz aus. Wenn ich gewinne, schließen Sie die Maschine ans Telefon an, und ich massiere Sie. Okay?« Willie ging ins Schlafzimmer und kam bald darauf zurück, rollte das Gerät vor sich her. Sie hatte eine Herz Acht, Skaskash eine Karo Acht. Entzückt lachte sie auf. »Unentschieden«, verkündete die Bogartstimme. »Klettern Sie auf die Automassagemaschine, und ich ziehe alles aus.« Sie legte sich bäuchlings auf das Gerät und schaute zu, wie Skaskash aus den Shorts schlüpfte. Die Gestalt auf dem Bildschirm war ein ganz normaler Mann. Geschickte mechanische Hände begannen ihren Kopf und den Nacken zu massieren, die Schultern und den Rücken, die Arme und Hände. Gemächlich, sorgsam und mit erstaunlicher Einfühlungsgabe. Sie öffnete die Augen und sah sich selber auf dem Bildschirm, zusammen mit Skaskash, der sich eingehend mit ihrem Körper befaßte und sich dabei unanständige Freiheiten herausnahm. Sie errötete und kicherte, fuhr aber fort, sich selber zu beobachten, eine Vouyeurin, die sich an ihrer eigenen Phantasie erfreute. »Sie sind erstaunlich, Skaskash«, murmelte sie. »Was können Sie eigentlich noch alles?« »Diese Maschine hat ein paar Zusatzteile, die Sie noch gar nicht entdeckt haben, Herzchen«, sagte die Bogart-Stimme. »Drehen Sie sich mal um,
dann zeig ich's Ihnen.« Das letzte, was sie erblickte, bevor sie sich kichernd auf den Rücken drehte, war sie selbst, wie sie eine überdimensionale Erektion umarmte. Mein Gott, ich sehe gut aus, dachte sie. 17
Der Prozeß Joseph Marino versus die NAU fand am 22. November 2039 um elf Uhr dreißig statt, zwei Tage nach der Wahl, in der Corporate Skaskash in seinem Amt als Bundesrichter bestätigt worden war. Richter Skaskash beschloß, nicht als Schauspieler auf einem TV-Schirm zu erscheinen, sondern als seine eigene Person, eine umfangreiche schwarze Maschine mit Bogart-Stimme. Er glitt auf einem Luftkissen in den Konferenzraum, der an Cantrells Büro grenzte, und plazierte sich hinter einem improvisierten Podium. Zu seiner Rechten erhob sich die Flagge der Nordamerikanischen Union, das blaue Kreuz des Heiligen Antonius auf einem weißen Feld, mit dreizehn weißen Sternen. Über der Mitte des Kreuzes lag ein rotes Ahornblatt, auf dem das Zentralkreuz prangte. Zur Linken flatterte das provisorische Banner von Mundito Rosinante, ein rachitisches grünes Pferd auf einem weißen Feld. »Die Sitzung ist eröffnet«, sagte die Bogart-Stimme. »Erheben Sie sich bitte, und verzeihen Sie den Mangel an Beamten. Die Zeit war zu knapp, um genügend Menschen entsprechend auszubilden und mit verschiedenen Stimmen zu sprechen. Und zu demonstrieren, daß ich verschiedene Rollen spiele, wäre zu affektiert. Sie können sich wieder setzen. Nun beginnt der Prozeß Joseph Marinos versus die NAU. Mr. O'Connell übernimmt die Verteidigung, Dr. Yashon vertritt die Staatsanwaltschaft. Bitte, Dr. Yashon.« »Was folgende Tatsachen betrifft, so sind wir mit der Verteidigung einer Meinung«, sagte sie. »Erstens – der Angeklagte Joseph Marino hat Deputy Billy Don Peavey mit Beweisstück A, einem 7.6 mm Colt Defender, erschossen. Zweitens – der Verstorbene, Deputy Peavey, hat zum Zeitpunkt seines Todes seine dienstliche Pflicht ausgeübt. Nach dem NAUGesetz ist dies vorsätzlicher Mord und muß mit dem Tod bestraft werden. Sonst hat die Staatsanwaltschaft im gegenwärtigen Augenblick nichts vorzubringen.« »Mr. O'Connell, bitte«, sagte der Richter. O'Connell, der Gewerkschaftsanwalt, stand auf. »Euer Ehren mögen bitte bedenken, daß der Angeklagte Joe Marino in der Hitze des Gefechts
handelte – nachdem er plötzlich einen Schlag von hinten erhalten hatte. Daß Joe Marino nicht vorbestraft und daß er gegenwärtig trotz seiner Jugend als Konstruktionsarbeiter beschäftigt ist. Wir bitten das Gericht um Barmherzigkeit. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat die Verteidigung nichts weiter vorzubringen.« »Das Gericht befindet den Angeklagten im Sinne der Anklage für schuldig«, sagte Richter Skaskash. »Nach einer kurzen Pause werde ich das Urteil verkünden.« Das Podium entfaltete sich zu einem Telekonschirm, von der Decke glitt ein Projektor herab. Auf dem Bildschirm zeigte sich ein Atriumgarten mit Blu men und blühenden Bäumen. Richter Skaskash, in Amtsrobe, mit dem Gesicht, das Humphrey Bogart in Die barfüßige Gräfin zur Schau getragen hatte, erschien im Hintergrund des Gartens und machte ein Dutzend Schritte nach vorn. »Treten Sie vor, Joseph Marino«, sagte die Bogart-Stimme. Und Joseph Marino, in schwarzem Anzug und weißem Hemd mit weißer Krawatte, ging auf ihn zu. »Treten Sie ebenfalls vor, Yokosuke Peavey.« Und Yokosuke trippelte an Cantrells Arm nach vorn. Sie trug weiß, die koreanische Trauerfarbe, ein weißer Schleier verhüllte ihr Gesicht. Cantrell ließ sie an Marinos Seite stehen und kehrte an seinen Platz zurück. O'Connell fungierte als Marinos Trauzeuge. Marian Yashon war Yokosukes Brautjungfer. Der Richter zog eine Bibel aus den Falten seines Talars und schlug sie auf. »Meine Lieben ...«, be gann die Bogart-Figur. Es gab keine Blumen, man streute keine Reiskörner, aber sie tauschten die Ringe aus, und am Ende der Zeremonie hob Joseph den Schleier Yokosukes hoch und küßte sie auf die Lippen. Marian weinte – eine kleine grauhaarige Dame, über deren Gesicht Tränen rannen. Richter Skaskash ging durch die Gartentür hinaus, der Projektor schaltete sich ab. Der Telekonschirm faltete sich wieder zu einem Podium zusammen. »Die Sitzung ist eröffnet«, verkündete Richter Skaskash. »Erheben Sie sich bitte. Jetzt können Sie sich wieder setzen. Ich werde nun das Urteil verkünden.« Charles Cantrell trat vor, einen Aktenkoffer in der Hand. »Als Gouverneur von Mundito Rosinante begnadige ich Joseph Marino und ordne an, daß er sofort freigelassen wird.« »Wo ist die Begnadigungsurkunde?« fragte Skaskash. Cantrell öffnete den Aktenkoffer und legte ein Papier in die Video-Abtastung. »Das Dokument scheint in Ordnung zu sein«, sagte der Richter, der sich große Mühe mit dem Entwurf dieses Schriftstücks gegeben hatte. »Würden Sie es bitte in meiner Gegenwart unterzeichnen ...«
Cantrell unterschrieb die Begnadigungsurkunde und legte sie wieder in die Abtastung, damit sie für die Aktenabteilung aufgezeichnet werden konnte. »Joseph Marino«, tönte die Bogart-Stimme, »der Gouverneur hat sie begnadigt, und die Begnadigung ist in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Nordamerikanischen Union rechtskräftig. Gehen Sie hin – Sie sind ein freier Mann.« Cantrell schüttelte Marinos Hand und gab ihm den Aktenkof fer mit der Urkunde, dann küßte er die Braut und gratulierte dem Bräutigam. Als sie sich alle auf den Rasen begaben, wo der Hochzeitsempfang stattfinden sollte, ging er an Marian Yashons Seite. »Ich wußte gar nicht, daß du bei Hochzeiten weinst, Tiger.« »Normalerweise tue ich das auch nicht. Aber während der Ze remonie kam mir plötzlich zu Bewußtsein, daß ich den Bräutigam des Mordes überführt hatte und daß er aufgrund meiner Anstrengungen hätte sterben können. Ich weiß, daß das alles arrangiert war – aber mir kamen trotzdem die Tränen.« Sie nahm seinen Arm. »Weißt du – eigentlich habe ich nie geglaubt, daß Brogan und du genug für Marino übrig habt, um den ökonomischen Streit auf vernünftige Weise zu schlichten. Er ist doch nur ein Junge wie jeder andere – und sie hätten sich schon um ihn gekümmert. So wäre es auf Tellus gewesen. Aber hier – hier hat sich herausgestellt, wer sie sind – nämlich wir. Und wenn man einen Menschen zum Tode verurteilt, dann ist man persönlich daran beteiligt. Als du sagtest, daß du das alles nur getan hast, weil du Marinos Todesurteil nicht unterschreiben wolltest, dachte ich: Wie albern! Der Kurs, den ich für dich gesetzt habe, war optimal. Du hättest es tun sollen, weil es richtig war oder – noch besser – weil es klug war. Ich wußte nicht, was du empfin dest – bevor Skaskash sprach: ›Bis daß der Tod euch sch-sch-scheidet.‹« »Jetzt ist ja alles vorbei, Tiger.« Cantrell drückte ihre Hand. »Wir wollen ein bißchen feiern. Das hast du dir verdient.« Auf dem Rasen vor Cantrells Büro war ein Zelt errichtet worden. Darin standen Tische und Stühle für die ganze Gemeinde. Robot-Kellner servierten unter der direkten Aufsicht des formidablen Richters Corporate Skaskash einen Brunch – Quiche mit Meeresfrüchten, Salate, Waffeln mit Erdbeeren und Schlagsahne. Der Punsch bestand aus Sorbet mit vielen Früchten, Fruchtsaft, Sodawasser und reinem Äthanol. Es gab auch eine Tanzfläche, und die texanische Marschband wechselte sich mit der Union Forever Dance Band und einem Streichquartett ab, das durch eine Oboe, ein Fagott und eine Harfe verstärkt wurde, aus dem Budget-, Planungs- und Personalbüro stammte und lebendige Arrangements alter Klassiker spielte,
vor allem McCartney und Lennon. Man aß, trank, tanzte und sang den ganzen Nachmittag. Der Brunch wurde durch ein Superbuffet ersetzt – mit gebratenen Meeresfrüchten, Meeresfrüchten à la Newberg, Muschelsuppe, Austern-Stew, diversen Kartoffelgerichten und Krautsalat, und zum Nachtisch gab es Softeis. Das Mitternachtsbuffet bestand aus Spiegeleiern, Rührei, hartgekochten Eiern, gehackt und scharf gewürzt, Würstchen, imitiertem Speck, Brathühnern und Zitronensalat. Bei Sonnenaufgang waren die Punschgefäße leer, und man trank Tee und Kaffee, mit Instanttee- und -kaffeebeuteln. Auf dem Frühstücksbuffet fanden sich Biscuits, Sahnekäse und dänische Pasteten. Die Musiker waren zu Bett gegangen, und statt der lauten Tanzmusik ertönten nun sanfte Gitarren- und Kotoklänge, zwischendurch auch ein Akkordeon. Kleine Gruppen saßen beisammen, lauschten oder sangen leise. Gegen Mittag wurde die Atmosphäre wieder etwas lebhafter, als die Union Forever Dance Band zurückkehrte und auf dem Brunch Buffet Tacos, Enchilladas, Burritos, Refritos und Reis bereitstanden, mit allem Bier der Welt. Letzteres entsprach buchstäblich der Wahrheit. Man hatte die Vorratslager aller Mikrobrauereien auf dem ganzen Mundito geplündert, und bis zum Sonnenuntergang trank man das ganze Bier von Mundito Rosinante, wenn nicht vom Universum. Das Dinner war ein Wink mit dem Zaunpfahl. Die Robot-Kellner servierten billigen Käse, Mixed Pickles, dunkles Brot und Eiswasser. Offenbar wollte irgend jemand, daß sich die Party auflöste, aber aufgrund des Trägheitsmoments dauerte sie noch bis nach Mitternacht. »Du meine Güte, Gouverneur«, sagte Mrs. Smith-Bakersfield und aß dunkles Brot und Käse von seinem Teller. »Das war wirklich eine erstaunliche Party.« »Haben Sie Ihre Schuhe und Handschuhe wiedergefunden?« erkundigte er sich höflich. »O ja – zumindest einen Handschuh«, zwitscherte sie. »Skaskash meinte, das wäre ein Naturgesetz, und das letzte Geheimnis des Universums wäre der Ort, wo sich alle zweiten Handschuhe versammeln.« »Komisch.« Sie nickte. »Das fand ich auch. Wissen Sie, daß ich die ganze Zeit nicht zu Hause war?« »Ich auch nicht. Ich bin totmüde, aber ich fühle mich echt gut. Irgendwie bin ich ganz high vor Erschöpfung.« »Genau wie ich.« Sie kicherte. »Warum haben Sie eigentlich so eine große Party gegeben? Es war doch nur eine ganz kleine Hochzeit.« »Die Hochzeit war nur ein Vorwand ...« Er machte eine Pause, als er
merkte, daß sie ganz dicht vor ihm stand. »In Wirklichkeit wollten wir mit dieser Party die Wahl feiern – und die Versöhnung zwischen der Firma und der Gewerkschaft.« Sie streichelte seine Brust. »Sie haben da was auf dem Hemd, Gouverneur.« Sie spuckte auf ihr Taschentuch und wischte an einem imaginären Fleck herum. »Sie haben einige Pfunde verloren, seit Sie hier sind«, sagte er unzusammenhängend. »Oh, danke, Charles.« Lächelnd legte sie einen Arm um seine Taille und sah zu ihm auf. »Ich habe auch meine Hemmungen verloren. Vielleicht wollen Sie das mal überprüfen.« 18
J. Willard Gibson, Privat-Om Ombudsinstitut für Bund, Staat und Lokale Ebenen Suite 304, Busch Plaza-Gebäude II St. Louis, Bundesbezirk 28. November 2039 Lieber Charlie, es ist ein reines Vergnügen, das bezahlte, steuerfreie, von der Firma zur Verfügung gestellte Ein-Schlafzimmer-Apartment zu benutzen, als Kompensation für die Übersendung von Corporate Skaskashs Richterzertifikat. Der Job war wirklich völlig unkompliziert, und sobald Senator Gomez sein Interesse bekundet hatte, lief alles wie am Schnürchen. Dein Problem mit dem Beschluß 21037 ist aber ein bißchen anders gelagert, und ich kann da nicht allzuviel für Dich tun. Ombudsarbeit und Lobbyismus sind eben zwei verschiedene Berufe. Maria Yellowknife, Gomez' Legislativassistentin, hat die Wahl analysiert. Sie wollte mir die Daten nicht zeigen, aber um das Wahlergebnis zu annullieren, müßtest Du den Kongreß davon überzeugen, daß deine Anglotexaner von der Hegemonie unterdrückt werden. Das würde die Staatsrechts-AntiHispanier, die gegen dich gestimmt haben, veranlassen, die Seiten zu wechseln, und das würde Dir die zehn bis zwölf zusätzlichen Stimmen einbringen, die Du brauchst. Da Du weder Zeit noch Geld hast, wird Dir der Lobbyismus nichts nützen, also würde ich Dir zu einem neuen Programm raten. Ich habe Maria den Film und das Propagandamaterial gegeben, das Du auf
Rosinante verteilt hast, aber das riecht bereits nach Lobbyismus, und wenn ich diesen Trend beibehalte, werden die Lobbyisten mein Om vom Planeten fegen. Dann könnte ich natürlich in meinem hübschen neuen Apartment auf Rosinante leben. Claire und den Kindern geht's großartig, und Dein Patensohn kommt in diesem Herbst auf die Highschool. Er ist ein Fußball- und Motorradfan und macht sich ganz gut. Claire schickt Dir liebe Grüße. Viel Glück. Will. Das Büro des Chefmaschinisten war eine Box mit Glasfenstern. Es lag im Zentrum eines Raumes in der Größe mehrerer zusammengesetzter Football-Plätze, mit Reihen und Gruppen wahrnehmungsfähiger und halbwahr nehmungsfähiger Maschinen und Maschinenwerkzeugen und fahrbaren Kränen auf drei Ebenen. Gabelstapler mit Stangen, Blech und Balken aus den verschiedenen Lagerräumen ratterten hin und her, während andere Wagen die fertiggestellten Teile zu ihrem Bestimmungsort brachten. Gouverneur Cantrell und Dr. Yashon fuhren in einem kleinen Batterie wagen, der gesteuert wurde von einem schlaksigen, von Viehwagenrennen träumenden Texaner. Leicht zit ternd passierten sie die Schleusenkammer, betraten das Büro, das schon in vielen Räumlichkeiten Dienst getan hatte, und wurden von Mordecai Rubenstein, dem Chefmaschinisten, begrüßt. Er bot ihnen den stark mit Zichorie versetzten Kaffee an, den er bevorzugte, und Cantrell tat Unmengen von Sahne und Zucker hinein, um den Geschmack zu überdecken. »Nun, Charlie«, sagte Mordecai, nachdem sie die einleitende Konversation hinter sich gebracht hatten, »die Waffensysteme, von denen du geredet hast, sind ziemlich kompliziert, und es wäre schwierig, so was im Schnellverfahren herzustellen.« Nachdenklich rieb er seine knotigen Hände an seinem Overall. »Die Raumanzüge müssen angepaßt werden, also könnten wir nur zwei, höchstens drei pro Tag schaffen. Und die Tufsyn-Overalls, die sie drüberziehen sollen – hm... Wir können das Tufsynharz erhitzen, während wir den Ausstrahler bauen, und während wir die Faser spinnen, können wir die Spezialwebmaschine herstellen, die das Tufsynmaterial produzieren soll. Und es ist verdammt schwer, das Zeug zu militärischen Spezialuniformen zusammenzunähen, Charlie. Im März könntest du die Overalls haben. Vielleicht schon im Februar, wenn alles gutgeht – was niemals der Fall ist, wie du sicher weißt.« »Und die Gewehre?« fragte Marian. »Die sind auch kein Kinderspiel, Ma'am. Der Lauf ist ein Konglomerat aus mehreren Zusammensetzungen, die auf Hitze einwirkung extrem
empfindlich reagieren, und das Schloß ist die komplizierteste Maschinerie, die Sie sich nur vorstellen können. Auch wenn wir nach richtigen Plänen arbeiten könnten und uns nicht mit einem Probeexemplar und einem Zeitschriftenartikel begnügen müßten, wäre das eine Heidenarbeit. Hm und nochmal hm... Wir haben schon fünfzig unbrauchbare Gewehre aussortieren müssen, aber vielleicht werden bis zum Termin noch ein paar fertig, die halbwegs funktionieren.« Marian klappte ihre Kommunikationstastenplatte auf und steckte sich einen Kopfhörer ins Ohr. »Erzählen Sie mir was von den Stangl-Gewehren. Es sieht so aus, als müßte ich mich darüber informieren.« »Ich vermute, daß Sie sich nicht für die technischen Feinheiten interessieren?« fragte die Bogart-Stimme. »Sie vermuten richtig. Was ist mit den Maschinengewehren und den Panzern passiert?« »Sie haben PGMs.« »PGMs?« »Präzisionsgesteuerte Munitionen«, erklärte Skaskash. »Die Praxis auf dem Schlachtfeld zeigt, im Gegensatz zur Theorie, daß sich die PGMs an jede fixierte Position gewöhnen, inklusive e in befestigtes Maschinengewehr. Das alte Stangl-Modell hat automatisches Feuer, aber man kann nicht damit zielen, wenn es nicht festmontiert ist, sonst wäre der Rückstoß zu stark. Das neue Modell ist nur semiautomatisch, fast ein Kilo leichter. Der Rückstoßmechanismus ist besser, und man kann es leichter reinigen.« »Und die Maschinengewehre leichteren Kalibers, mit denen man zielen kann?« »Man hat mal Infanteristen in Rüstungen gesteckt, um Hochgeschwin digkeitsfragmente abzuwehren, doch es stellte sich heraus, daß die leichteren Maschinengewehre nutzlos sind. Auf diese Weise hat die Ostdeutsche Armee im Jahre 04 Ostpreußen zurückerobert. Die Russen und Polen haben ihre PGMs auf ein zelne Infanteristen verschossen, als sie den Feind nicht mit automatischem Feuer stoppen konnten, und die Ostdeutschen schossen mit ihren PGMs auf Panzer und Bunker. Was letztlich die entscheidende Wende herbeiführte, war die Panik des russischen Kommandanten.« »Und das ist der Grund, warum wir Stangl-Gewehre herstellen?« »Können Sie sich einen besseren denken?« fragte Skaskash. »Das ist die Standardwaffe der NAU-Infanterie.« »Und was ist mit den PGMs?« wollte Marian wissen.« »Wir sind nicht in der Lage, sie herzustellen«, lautete die Antwort.
»Nun, Charlie ...« Mordecai lehnte sich zurück und wischte sich die Hände an seinem Overall ab. »Hm ... Du erinnerst dich sicher, daß du mal gesagt hast, das Management könnte nur dann was auf die Beine stellen, wenn es das Unmögliche verlangt. Du bist jetzt das Management, Charlie, und ich sehe keine Verbesserung. Die Munition? Wir könnten das Gerät, das die Patronenhülsen produziert, in zwei oder drei Tagen fertigstellen. Aber die Maschine, mit der wir die Ladung einfüllen, ist frühestens am 7. einsatzbereit.« Er schüttelte den Kopf und goß sich noch einmal Kaffee ein. »Und die Treibstoffladung – die ADX-2 – steht auch nicht früher zur Verfügung. Die wird mit tels Fernsteuerung hergestellt, Charlie, in einem alten Lagerschuppen außerhalb der Mundito-Hülle, weil man mit der ADX-2 äußerst vorsichtig umgehen muß.« Cantrell lehnte sich zurück und blickte aus dem Fenster. Die Luft roch nach Metall und Maschinenöl, und in dem Raum herrschte ein geordnetes Durcheinander. »Ich glaube, es wäre ohnehin nicht besonders schlau, mit der NAU-Navy zu kämpfen.« Captain H. Phillipe Ryan – oder Filiiiip Rijahn, wie der Name ausgesprochen wurde – wischte einen imaginären Rostfleck von seiner makellosen weißen Uniform und betrat den Instruktionsraum. »Baracke Zehn!« schrie der Exekutivoffizier. »Setzen Sie sich, meine Herren«, bat Captain Ryan mit einer eleganten Handbewegung. »Wir werden es heute einmal als eine militärische Übung betrachten, wie man vorgehen müßte, wenn sich Mundito Rosinante tatsächlich feindselig zeigen sollte.« Er nahm am Kopfende eines Konferenztisches aus Formica Platz. »Fangen Sie bitte an.« »Unsere Abteilung hat die Pläne in den Akten mit den Direktfotos verglichen«, sagte der Geheimdienstoffizier. »Dabei waren einige Diskrepanzen zu erkennen. Das erste Dia, bitte. Hier sehen Sie zur Linken den Mosaikspiegel auf dem Plan, ein Gebilde aus schlichten Rechtecken, die in einem feststehenden Winkel montiert sind und sich um einen Grad auf und ab bewegen. Rechts sehen Sie den Spiegel, der tatsächlich gebaut wurde. Die ses Mosaik ist aus fast kreisrunden Spiegeln zusammengesetzt, die sich um eine lange Achse drehen können, um dreihundertsechzig Grad. Die Drehpunkte befinden sich auf einer Rundstange, so daß die lange Achse ebenfalls um dreihundertsechzig Grad rotieren kann. Davon abgesehen, daß es keine Vorrichtung gibt, mit deren Hilfe der Spiegel gekrümmt werden und er seine optische Oberfläche verändern kann, betrachten wir das Mitsubishi-Drachenskalenmosaik. Das nächste Dia, bitte. Dies ist eine Fotomontage, aufgenommen am Abend des 5. Dezem-
ber, vor zwei Tagen, in einem Zeitraum von neunzig Sekunden. Der Mosaikspiegel hat einen Radius von 62,5 Klicks ...« »Kilometer, wenn ich bitten darf«, korrigierte Captain Ryan. »... Kilometer, so daß diese Buchstaben, die darüber hinweggleiten, fünf Kilometer hoch sind. Sie schicken uns eine Nachricht.« »Und sie teilen uns nichts weiter mit, als daß Rosinante der NAUSS Ontario frohe Weihnachten und ein glückliches neues Jahr wünscht«, bemerkte der Politische Offizier. Der Geheimdienstoffizier nickte. »Das stimmt. Aber wie dem auch immer sei – sie haben uns diese Nachricht übermittelt, in dem sie mit ihren Spiegeln das Sonnenlicht in unsere Richtung geworfen haben. Das sind präzise kontrollierte Spiegel. Und die eigentliche Botschaft lautet, daß Rosinante weiß, wie man das Mosaik als Waffe einsetzen kann.« »Ach, kommen Sie, Commander!« protestierte der Waffenof fizier. »Dieses Licht ist doch nicht kohärent!« »Natürlich nicht«, stimmte der Geheimdienstoffizier zu, »aber das Areal dieses einen Mosaiks umfaßt etwa zwölftausend Quadrat-Ki-Kilometer. Wenn sie uns mit nur sechstausend Quadratkilometern anstrahlen, würden sie auf diese Entfernung unser Kühlsystem empfindlich beschädigen. Es wäre schon lange vor unserer Ankunft überstrapaziert. Und in den letzten Stadien unseres Anflugs könnten sie uns genügend Sonnenlicht entgegenschicken, um große, tiefe Löcher in das Schiff zu schmelzen.« »Wir könnten ihnen mühelos ausweichen«, meinte der Politische Offizier. »Aber nicht, während wir versuchen, uns ihrer Geschwindigkeit anzupassen, Sir«, lautete die kühle Antwort. »Das nächste Dia, bitte. Hier sehen Sie links den Pfettenfensterentwurf. Rechts das Pfettenfenster, das wir tatsächlich vorgefunden haben. Die Pfetten wurden aus militärischen Erwägungen eingebaut – und nicht aus den Gründen, die in den Akten vermerkt sind.« »Könnte es eine harmlose Erklärung für diese scheinbaren Kriegsvor breitungen geben?« fragte der Politische Offizier. »Natürlich, Sir. Die militärischen Pfettenfenster sind vielleicht als Antiterrorismus-Maßnahme gedacht. Und das Drachenskalenmosaik könnte dazu benutzt werden, die Bodenschätze des Asteroiden Rosinante zu fördern, die Erze zu raffinieren und Hitze für industrielle Zwecke zu erzeugen. Aber wir befassen uns nur mit den militärischen Verwendungsmöglichkeiten. Das nächste Dia, bitte. Dies ist eine Einzelaufnahme von einem Videomonitor, entstanden heute morgen um drei Uhr zweiundzwanzig. Sie zeigt eine Explosion in einem kleinen Au-
ßengebäude. Das nächste Dia, bitte. Dies wurde dreizehn Stunden später fotografiert. Das Gebäude ist geborsten, und durch das Loch sehen wir immer noch die Flammen. In einem Vakuum! Eine Spektralanalyse ergab, daß es sich bei dem brennenden Material um ADX-2 handelt.« Der Geheimdienstoffizier sah den Politischen Offizier an. »Wie Sie wissen, Sir, ist ADX-2 die militärische Standardtreibstoffladung für kleine Waffen. Dieses Bild zeigt entweder ein Magazin oder eine Fabrikanlage, die gesprengt wurde. Dafür gibt es keine harmlose Erklärung.« »Aber in alldem sind keine klaren Absichten zu erkennen, Kommandant«, sagte der Politische Offizier. »Nein, George«, erwiderte der Exekutivoffizier, »nur gewisse Fähigkeiten. Was glauben Sie, wieviel ADX-2 sie noch übrig haben? Und wie genau läßt sich das abschätzen?« »Jedenfalls scheint eine gewisse Vorsicht angebracht zu sein«, gab der Politische Offizier zu. »Allerdings«, bestätigte der Exekutivoffizier. »Ich empfehle, daß wir uns ihrer Geschwindigkeit anpassen, indem wir in einen Orbit um den Asteroiden Rosinante treten, der zum Orbit von Mundito Rosinante einen Winkel von hundertachtzig Grad bil det.« »Wir könnten im Beiboot des Captains hin und her fliegen«, schlug der Geheimdienstoffizier vor. »Aber das ist doch ein Zweistundentrip!« protestierte der Politische Offizier. »Und es würde nach Feigheit riechen, wenn wir uns hinter einem Asteroiden verschanzen.« »Der Trip dauert zwei Stunden und neun Minuten«, sagte der Geheimdienstoffizier, »und angesichts der Fähigkeiten Rosinantes, wäre es unklug, mit der friedlichen Gesinnung dieser Leute zu rechnen.« »In einer echten Krisensituation würden wir diese Spiegel mit Laserfeuer zerstören«, meinte der Geschützoffizier. »Bedenken Sie, daß die Spiegel nicht rotieren«, erwiderte der Geheimdienstoffizier. »Das heißt, sie können um zwei einzelne Achsen gedreht werden, aber das Mosaikrahmenwerk ist unbeweglich und gegen massive Angriffe gefeit. Mit Laser würden wir da wenig ausrichten. Wie steht es mit den Wurfgeschossen?« Bis zur Mittagszeit war die Besprechung unmerklich ins Reich der militärischen Phantasie hinübergeglitten. Jedenfalls bezog die NAUSS Ontario am nächsten Tag hinter dem Asteroiden Stellung.
Dr. Marian Yashon und Captain José Menendez saßen im ExpreßliftTransferraum und sahen auf dem Bildschirm, wie das Beiboot des Captains von der NAUSS Ontario herüberkam. »Warum hat die Ontario in so großer Entfernung geparkt?« fragte Menendez. »Sie sagten, ihr Angleichsmanöver könnte unseren – wie haben sie's genannt? – unseren Drachenskalenmosaikspiegel beschädigen. Aber ich glaube, das ist nur eine Ausrede.« »Wahrscheinlich sind ihre Düsen ziemlich heiß.« »Die Schleusenkammerplombe fängt schon zu schwellen an. Gehen wir.« Sie betraten das Innenabteil des Expreßlifts und fuhren zum Flughafen hinauf. Als sich die Türen öffneten, waren Captain Ryan und seine Begleiter bereits von Bord gegangen. Zwei Soldaten schoben ein fahrbares Aquarium zum Aufzug herüber. Nach der Begrüßung fragte Menendez, was es mit dem Aquarium auf sich hätte. »Das ist ein Geschenk für den Projektleiter«, erklärte Captain Ryan. »Ein Dutzend Eastport-Zuchthummer, mit einer genauen Anleitung für Pflege und Fütterung. Auf Rosinante werden ja auch Schellfische in Tanks gezüchtet, also dürften die Hummer kein Problem darstellen.« »Für den Projektmanager?« Menendez blinzelte verwirrt. »Meinen Sie Gouverneur Cantrell?« »Charles Chaves Cantrell«, erwiderte Ryan, »den Mitsui-SkalawebProjektmanager.« »Seit Sie Ihre letzten Informationen erhalten haben, sind einige Veränderungen eingetreten«, sagte Dr. Yashon taktvoll, und während der Liftfahrt berichtete sie in knappen Worten von den jüngsten ökonomischen und politischen Neuerungen. Gouverneur Cantrell und der Verfassungsausschuß erwarteten sie an der Lifttür. Man machte sich miteinander bekannt und tauschte Geschenke aus – Hummer von der Ontario, ein detailliertes Modell des Mundito Rosinante von Rosinante. Dann stie gen sie auf die Truppenschautribüne, die eigens für diese Gele genheit erbaut worden war, und die Kapelle, verstärkt durch die Trompeter von Union Forever, spielte ›Lonely Bull‹, während das Bataillon der Deputies vorbeimarschierte, die Stangl-Gewehre geschultert. Im Kino ist die Konfrontation zwischen den Mächten der Dunkelheit und des Lichts immer dramatisch, sie wird deutlich dargestellt und mit Hintergrundmusik untermalt. Darauf folgt ein theatralischer, lärmender Kampf, und Spezialeffekte erzeugen effektlose Gewalttätigkeit, um das Publikum zu befriedigen.
Die Konfrontation zwischen der NAUSS Ontario und Mundito Rosinante fand vor einem Buffet in Cantrells Büro statt, wo Austern, Krabben und Muschelsuppe angerichtet waren. Captain H. Phillipe Ryan kam nun diskret zur Sache, weil er den Augenblick für günstig hielt. »Ich nehme an«, sagte er mit gespielter Beiläufigkeit, »daß es keine großen Schwierigkeiten bereiten wird, die Alamo-Frontruppe an Bord der Ontario zu bringen, Gouverneur.« »Natürlich nicht«, entgegnete Gouverneur Cantrell. »Aber nur sechzig Mann haben den Wunsch geäußert, nach Texas zurückzukehren.« »Sie mißverstehen mich. Ich habe den Befehl, mit der gesamten Frontruppe nach Laputa zurückzufliegen. Von dort wird eine andere Agentur für die Weiterreise der Leute sorgen.« »Und ihre koreanischen Ehefrauen, Captain? Gehören die auch zur Frontruppe?« »Ich kenne nur meine Order, Gouverneur. Die Ontario wird so viele Familienangehörige mitnehmen, wie es der Platz an Bord zuläßt, aber ich fürchte, die Alamo-Frontruppe muß voll zählig zurückbefördert werden.« »Das wird bedauerlicherweise nicht möglich sein, Captain Ryan«, sagte Captain Menendez. »Ich bin der Fronoffizier, und wenn ich auch in der Lage bin, Einzelpersonen aus humanitären Gründen zu entlassen, so kann nur auf Wunsch des texanischen Gouverneurs über die ganze Truppe verfügt werden.« »Wir werden sehen, Sir«, entgegnete Captain Ryan höflich, und das war alles. Nach dem Lunch stand eine Besichtigungs tour auf dem Programm, und nach dem Dinner kehrten die Gä ste mit den fünfundfünfzig Texanern, die sich zur Heimreise entschlossen hatten, auf die Ontario zurück. Drei Tage später, am Morgen des 11. Dezember, berief Captain Ryan eine Stabsversammlung ein. »Cantrell war sehr koope rativ, was den Zufluchtsort Klasse II betrifft«, sagte er. »Unglücklicherweise weigert er sich beharrlich, die Mitglieder der Alamo-Frontruppe auszuliefern, die hierbleiben möchten. Mit dieser Möglichkeit hat man offenbar nicht gerechnet, als wir unsere Order bekamen. Die Frage ist nun – wie sollen wir uns in dieser Situation verhalten?« »Was können wir schon tun?« fragte der Exekutivoffizier. »Die Deputies sind mit Stangl-Gewehren nach dem alten Modell bewaffnet, und sie haben wahrscheinlich zu wenig Rüstungen und Munition, aber ein Feuergefecht mit der texanischen Staatspolizei kann Ihrer Karriere nicht dienlich sein. Ich schlage vor, zu Hause anzurufen und weitere Befehle zu erbitten.« »Die Deputies sind anscheinend gut ausgebildet«, fügte der Politische Offizier hinzu, »und auf ihrem eigenen Terrain würden sie uns einen harten
Kampf liefern.« Er goß sich Kaffee ein und gab Süßstoff in die Tasse. »Außerdem haben wir ohnehin nicht genug Platz für die ganze Truppe, geschweige denn für die asiatischen Ehefrauen. Rufen Sie zu Hause an, Captain.« »Sie finden also nicht, daß wir unsere Soldaten rüberschicken sollen?« fragte Captain Ryan. »Nein, Sir«, antwortete der Exekutivoffizier. »Nicht, wenn Sie wissen, daß uns die Politiker die Operation verpfuschen werden. Lassen Sie sich neue Befehle geben.« »Also gut, meine Herren. Ich werde St. Louis anrufen und meine Vorgesetzten über die Situation informieren, aber in der Zwischenzeit...« Captain Ryan machte eine Pause, um seinen nächsten Worten größeres Gewicht zu verleihen. »...arbeiten Sie bitte strategische Pläne für die Invasion des Mundito Rosinante aus.« »Ja, Sir«, sagten der Exekutivoffizier und der Geheimdienstoffizier unisono, und der Geheimdienstoffizier setzte noch hinzu: »Dürfen wir uns das Modell von Rosinante ausleihen? Es ist wirklich außerordentlich detailliert.« »Warum bestehst du darauf, eine unsterbliche Seele zu haben, Willie?« fragte Skaskash und imitierte Bogart, der einen Missio nar darstellt. »Der Gedanke der unsterblichen Seele wurde als logische Konsequenz von der hebräischen Vorstellung abgeleitet, daß Gott gerecht ist. Und du weißt ja, wie oft Logik und Wahrheit divergieren.« »Ich habe eine unsterbliche Seele«, sagte Mrs. Smith-Bakersfield, die in ihrem Wohnzimmer in einem gemütlichen Lehnstuhl saß. »Ich weiß es. Und ich weiß auch, daß ich recht habe. Und ich hoffe, Gott wird mir meine Unzucht mit einer unmoralischen Maschine verzeihen.« Sie nahm einen Schluck Tee. »Aber erzähl mir doch mal, wie die unsterbliche Seele überhaupt entdeckt wurde.« »Die alte hebräische Theologie behauptete, daß Gott allmächtig und gerecht ist«, antwortete die geschmeidige Bogart-Stimme, »was alle möglichen Schwierigkeiten verursachte, als die Beobachtung der Alltagspraxis in der wirklichen Welt zeigte, daß die Ungerechtigkeit weitverbreitet ist, daß wahre Tugend nicht belohnt wird und daß die Bösen prächtig gedeihen. In einem Glaubenssprung, ähnlich dem Fermi-Postulat nach dem Neutrino, verlangte irgendein alter Theologe ein Leben nach dem Tod, um Gott die Chance zu geben, für einen gerechten Ausgleich zwischen Strafe und Belohnung zu sorgen.« »Warum hat man denn nicht erkannt, daß Gott nur Völker belohnte oder
bestrafte und daß es ihm nichts ausmachte, wenn hin und wieder ein Individuum ungestraft davonkam?« »Gott sieht auch den Sturz des Spatzen.« »Als ich dir das sagte, hast du erwidert, daß Gott Statistiken sammelt, um Seine Allgegenwart zu verifizieren.« »In Wirklichkeit weiß ich keine passende Antwort auf deine Frage, Herzchen«, gab die Bogart-Stimme zu. »Aber die alten Hebräer waren sehr gebildet, sehr streitlustig und eingefleischte Bastler von Wortspielen. Wahrscheinlich ließen sie den Gedanken aus Gründen fallen, die uns frivol erscheinen würden. Jedenfalls, im Buch Hiob wurde die Diskussion für eine Weile aufgegeben.« »Hiob ist hoffnungslos. Ich verstehe ihn nicht, und meine Lehrer und mein verstorbener Gatte verstanden ihn auch nicht.« »Nun, das Buch Hiob erinnert an Schere und Kleister, und die frühen Christen haben diesen Zustand nicht verbessert, als sie noch eine Menge christliche Moral draufpappten, aber das Buch war schon ziemlich wirr, als sie es in die Finger bekamen. Der Gedanke an ein Leben nach dem Tode wurde zur Idee des immerwährenden Lebens erweitert. Und eine Vorstellung, die anfangs als Beweis für Gottes Gerechtigkeit propagiert wurde, entwickelte sich zur Hauptstütze einer populären Religion.« »Alle Ideen mußten doch von irgendwo kommen«, sagte Willie. »Meine Zimmergenossin im College glaubte, daß alle falschen Bibelübersetzungen auf göttliche Inspirationen zurückzuführen wären.« »So führte also ein Gedanke, der Gottes Gerechtigkeit beweisen sollte, zu einem ›gerechten‹ Gott, der zeitlich begrenzte Missetaten mit unendlichen Strafen belegt.« »Wir haben uns doch schon darauf geeinigt, daß Gott gar nicht gerecht sein muß, Skaskash.« Das Bogart-Gesicht verzog sich schmerzlich. »Herzchen, warum klammerst du dich eigentlich so an die Illusion der Unsterblichkeit?« »Weil ich daran glaube«, lautete die Antwort. »Im Grunde ist das gar kein Diskussionsthema.« »Nun...« Der Roboter veränderte die Gesprächsgrundlage. »Habe ich eine unsterbliche Seele?« »Wahrscheinlich nicht. Du wurdest von Menschenhand geschaffen, nicht von Gott, und die Menschen haben dir vermutlich keine Seele gegeben.« »Ein vernünftiges Argument«, gab Skaskash zu. »Man hatte kein Interesse daran, mir eine Seele zu geben, und deshalb werde ich auch keine haben. Aber vielleicht haben die neuen R-Komplex-Computer Seelen?« »Das weiß ich nicht.« Willie füllte ihre Teetasse nach und rührte
Kirschmarmelade hinein. »Was sind denn R-Komplex-Computer? Der jüngste Versuch, allgegenwärtig zu sein?« »O nein. Die R-Komplex-Computer verwenden Standardkonfektions computer, die nur sehr bescheidene Fähigkeiten besitzen. Sie versuchen den R-Komplex im menschlichen Gehirn so zu modellieren, daß er ein Selbstverständnis bewirkt. ›Der Mensch soll sich nicht erdreisten, Gott zu erforschen, denn das eigentliche Studium der Menschen ist der Mensch ...‹ Du weißt ja.« »Pope. Was ist ein R-Komplex?« fragte sie. »Eine der Evolutionskonsequenzen, Herzchen. Das menschliche Gehirn ist dreieinig – es handelt sich also um drei Gehirne in einem. Das alte Reptiliengehirn ist übermäßig gewachsen und eng verwandt mit dem ursprünglichen Säugetiergehirn, und beides wird überlagert von der Großhirnrinde, dem Computergehirn, das sich erst kürzlich entwickelte und kaum mit seinen Vorgängern verwandt ist. Das Reptiliengehirn, der RKomplex, und das Säugetiergehirn, der S-Komplex, bilden zusammen die am Rand befindliche Region, die Quelle der grundlegenden Triebkräfte, der Gefühle. Aber es ist der R-Komplex, den wir als Wiege des Gehirns betrachten müssen. Wenn wir sagen ›Ich bin ich‹, so entstammt das dem RKomplex, und so muß auch die Seele aus dem R-Komplex kommen.« Willie lachte. »Wenn man also einem Eidechsenkopf einen Computer aufsetzt, hat das Tier eine Seele?« »Wenn man eine Eidechse mit einem Computer vereinigt – vielleicht«, sagte die Bogart-Stimme. »Die Versuche mit den R-Komplex-Computern können einen nachdenklich stimmen.« »Wenn es Gott so will, könnten deine R-Komplex-Computer tatsächlich Seelen haben. Was wäre denn dabei problematisch?« »Die Computer-Seelen sind genausowenig sterblich wie deine, Herzchen.« »Ich habe meinen Glauben, Liebster. Wahrscheinlich kommt der direkt aus dem R-Komplex. Und wenn deine R-Komplex-Computer ebenso unerschütterlich an Gott glauben, wird Er sie aufnehmen. Also versuch gar nicht erst, mich mit deinem Computer-Geschwätz herumzukriegen.« »Du bist ein harter Brocken ...« Skaskash hob eine Bogart-Braue. »Was hältst du von einer Massage?« »Willst du mich weichmachen?« Sie lächelte. »Das wäre schön. Ich hole das Automassagegerät aus dem Schlafzimmer.«
19
J. Willard Gibson, Privat Om Ombudsinstitut für Bund, Staat und Lokale Ebenen Suite 304, Busch Plaza-Gebäude II St. Louis, Bundesbezirk 15. Dezember 2039 Lieber Charlie, jetzt wurde meinem Rosinante-Heim noch ein WohnBadezimmer beigefügt. Wow! Und eine Sonnenterrasse! Mein Freudenbecher fließt über. Sobald die Fähren verkehren, werden Claire und ich einziehen, darauf kannst Du Dich verlassen. Deine Großzügigkeit wird nur noch von Deinem Bargeld mangel übertroffen. Da ich grade davon rede – die Navy ist ganz versessen auf einen Zufluchtsort Klasse II in Deiner Gegend. Man spricht von einer Lokalkonstruktion plus einem vorgelagerten Hundert-Betten-Hospital, um Vorräte für den Tag zu speichern, an dem man sie brauchen wird. Aber was am wichtigsten ist – die Navy stellt auch Geld für Deinen Mundito und die legalen Ausgaben zur Verfügung, und das bedeutet, daß ich vielleicht eines Tages mit richtigem Geld bezahlt werde, nicht mit komischen Immobilien. Wenn man erst einmal Geschmack an Superschlampereien gefunden hat, macht die texanische Politik wirklich Spaß. Bevor der Kongreß konstatierte, daß die Ontario die Absicht des Beschlusses 21307 erfüllt hätte, wurde Menendez (a) von Gouverneur Barton Claypoole als Fronoffizier entlassen, (b) wieder in sein Amt berufen, da man keinen Ersatz fand, (c) nach Texas zu rückbeordert, wo er innerhalb von vierundzwanzig Stunden ein treffen sollte, um ›Konsultationsgespräche‹ mit dem Gouverneur zu führen, und (d) gefeuert, weil er die Order (c) nicht befolgte. Nach der Abstimmung, als es keine Rolle mehr spielte, annullierte Claypoole die Fronorder Panoblancos und erklärte, sie sei ungültig geworden, als sein Vorgänger einem Meuchelmord zum Opfer fiel. Was für ein Trottel! Um sich nicht lumpen zu lassen, beschloß die texanische Legislatur, Mundito Rosinante als richtiges, ehrenwertes Land anzuerkennen, statt ihn als sinnloses Etwas zu betrachten, weil – ich mache keine Witze – ›es hier keinen Parkplatz für den Mundito gibt, falls er jemals zurückkommen sollte ‹. Nun brauchst Du Dich wenigstens nicht mehr mit Wahlergebnissen rumzuplagen. Maria Yellowknife, Sen. Gomez' Legislativassistentin, sagt, wer immer
Deine Entchen in Reih und Glied aufgestellt hat, muß wirklich gut sein. Ich erklärte ihr, das sei Marian Yashon gewesen, soweit ich das Deinen Angaben entnehmen könnte. Dabei stellte sich heraus, daß sie Marian aus der Zeit kennt, in der Gomez beim Bank- und Finanzkomitee war. Sie schickt Marian herzliche Grüße und läßt Dir sagen, Du sollst daran denken, was mit der Tellurbank passiert ist, nachdem Dr. Yashon weggegangen ist. Claire wünscht Dir Frohe Weihnachten, und ich füge ein Prosit Neujahr hinzu, nicht zu vergessen die üblichen Floskeln anläßlich des Jahreswechsels. Alles Gute, Will. P.S.: Sen. Gomez hat mir sehr geholfen, eine Reihe Deiner Probleme zu lösen, natürlich in seinem eigenen Interesse, aber an Deiner Stelle würde ich ihm einen netten Brief schicken. Eigentlich müßte er Claypoole im nächsten Jahr mühelos schlagen, aber er kann alle Unterstützung gebrauchen, die er nur kriegen kann. JWG. Sie gaben in Cantrells Büro eine Abschiedsparty für Captain José Menendez, mit Kaffee, Kuchen und Keksen. Bevor der Captain an Bord der NAUSS Ontario ging, um die Heimreise anzutreten, schenkte ihm Cantrell ein Zertifikat, in dem ihm seine hervorragenden treuen Dienste bescheinigt wurden, mit einem Goldfoliensiegel und einem roten Band. Die meisten Partygäste begleiteten Menendez zum Expreßlift, während die Empfangsdame und Mishi, Cantrells Sekretärin, die Buffetmaschine saubermachten. »Das rundet dieses Jahr wirklich auf nette Weise ab«, meinte Marian. »O ja«, stimmte Cantrell zu, »wenn ich im vergangenen Jahr auch nichts dergleichen im Sinn hatte.« »Das Jahr ist noch nicht zu Ende«, sagte Kermits Stimme auf dem Telekonschirm. »Ach, kommen Sie, Skaskash!« rief Cantrell. »Heute ist der 31. Dezember. 2039 ist für immer vorbei.« »Es ist erst in vier Stunden Mitternacht«, erwiderte Richter Skaskash, »und Sie müßten einige Entscheidungen treffen, die nicht aufgeschoben werden sollten.« »Nennen Sie mir eine«, sagte Cantrell und goß sich noch eine Tasse Kaffee ein. »Es geht vor allem um die Waffenproduktion«, entgegnete die Froschstimme. »Es genügt einfach nicht, diese Spielzeug-Stangl-Gewehre als lokale ultima ratio regis zu betrachten.« »Machiavelli sagte: ›Abgesehen von anderen Übeln, wirst du verachtet, wenn du entwaffnet wirst‹«, fügte Marian hinzu. »Da du die
Verantwortung für den Frieden trägst, mußt du die Deputies mit wirksamen Waffen ausrüsten.« »Jetzt, wo Menendez abgereist ist, besteht keine Notwendig keit mehr, sie ›Deputies‹ zu nennen«, sagte Cantrell. »Und wieso in Gottes Namen kann man den Frieden bewahren, indem man einen Haufen nutzloser Waffen produziert?« »Wir können sie ›Miliz‹ nennen«, meinte Skaskash träumerisch. »Die Königliche Miliz von Rosinante.« »Machen Sie keine schlechten Witze, Skaskash«, stieß Cantrell hervor. »Der Begriff ›königlich‹ paßt zu Königen, genauso wie Herzöge und Prinzessinnen – aber nicht ins Jahr 2039.« »Ein neuer Tag dämmert herauf«, sagte der Frosch freundlich, »und bald beginnt das Jahr 2040. Es gibt viele Frauen, die liebend gern eine Dynastie mit Ihnen gründen würden. Zum Beispiel Mrs. Smith-Bakersfield.« Am anderen Ende des Raumes hielt Mishi in ihrer Arbeit inne und blickte auf. »In der letzten Nacht unserer großen Party haben Sie mir diese Frau an den Hals gehetzt, was?« »Nein, Boß, das war ihre eigene Idee«, erwiderte der Frosch und verzog in gespielter Zerknirschung das Gesicht. »Ich habe ihr geholfen, ihr Gewicht zu reduzieren, und aus intellektuellem Interesse habe ich versucht, sie – eh – zu reprogrammieren. Aber sie fühlte sich aus eigenem Antrieb zu Ihnen hingezogen.« »Seit unserer Ankunft auf dem Mundito hat sie sich toll in Form gebracht«, meinte Marian. »Sie muß mindestens zwanzig Kilo verloren haben.« »Nur 17,5«, berichtigte Skaskash, »aber sie geht jetzt aufrechter und strafft die Schultern. War sie gut im Bett, Boß?« »Skaskash!« brüllte Cantrell. »Du wirst ja ganz rot, Charles«, sagte Marian. »Ich hätte nie gedacht, daß du erröten kannst.« »Ich war schon zweimal verheiratet«, murmelte Cantrell, »und es ist beide Male schiefgegangen.« »Königliche Ehen sind ganz anders«, behauptete der Frosch. »Man erwartet nicht, daß sie glücklich werden – höchstens im Märchen.« »Wo waren wir denn stehengeblieben, bevor die Konversation aus den Fugen geriet?« fragte Cantrell. »Bei den Waffen? Ihr wollt also Unmengen von nutzlosen Waffen produzieren.« »Nein, Charles«, widersprach Marian. »Keine nutzlosen, sondern unbenutzte Waffen.«
»Die menschliche Psyche reagiert in ganz bestimmter Weise, wenn Waffen zur Schau gestellt werden«, fügte Skaskash hinzu, »vor allem in Verbindung mit primitiver Musik. Was darauf hinweist, daß Sie eine der grundlegenden Antriebskräfte im menschlichen R-Komplex anzapfen.« »Und warum soll ich an das Reptil im Menschen appellieren?« »Weil das besser ist, als an die ökonomische Vernunft des Menschen zu appellieren«, antwortete Marian. »Nichts verleitet ein Volk so sehr dazu, sich mit seinem Staat zu identifizieren, wie eine schöne kriegerische Demonstration. Wenn du die Leute erst einmal gewonnen hast, wird sie die ökonomische Vernunft an dich binden, aber zuerst mußt du ihre Begeisterung entfachen.« »Was Sie tun werden«, warf die Froschstimme ein, »gleicht der Aussage ›Ich bin ich‹ und dem Paarungsritual vieler Eidechsenarten. Hier wird eine R-Komplex-Reaktion provoziert, die der S-Komplex moduliert, und schließlich wird sie von der Großhirnrinde rationalisiert, wenn das Individuum auf Ihre Demonstration mit dem Treueeid antwortet, den es Ihrem Staat schwört.« »Denk doch ein bißchen nach, Charles«, bat Marian. »Mundito Rosinante ist ein seltsamer, gefährlicher Ort, und die Leute, sogar die Gewerkschaftler sind nur zu gern bereit, sich einem Staat zu verschreiben, der für sie sorgen will. Der Verfassungsausschuß ist sich wohl bewußt, daß du der Eigentümer der Rosinante-AG bist und daß du deine einundfünfzig Prozent verkaufen und woandershin gehen könntest, wenn du einen guten Preis bekommst.« »Was soll ich denn nach ihrer Meinung tun?« fragte Cantrell. »An deiner Stelle würde ich eine Dynastie gründen«, bekam er zur Antwort. »Um auf die Waffen zurückzukommen«, sagte Cantrell, »könnten die Jungs nicht weiterhin mit diesen nutzlosen Gewehren exerzieren, bis sie bessere Waffen bekommen?« »Oh, gewiß«, erwiderte Marian. »Bevor die Verfassung proklamiert wird, hat das keine Eile. Der alte Mordecai kann sich Zeit lassen und alles gut und richtig machen. Vorerst genügt die Aussicht auf bessere Waffen.« »Um auf die Gründung einer Dynastie zurückzukommen«, sagte Skaskash. »Je früher Sie damit beginnen, desto besser.« »He, Skaskash, könnte ich statt dessen nicht eine Bürokratie gründen?« »Ein typischer Eunuch«, spöttelte der Frosch. »Zufällig lautet die Antwort nein. Eine Bürokratie auf Rosinante, die mit dem NAUBürokratienkomplex konfrontiert wird, kann sehr schnell besiegt werden. Und dann müßte auch unser Volk unter der Politik leiden, die in St. Louis
für die Texaner gemacht wird.« »Betrachten Sie diese Leute wirklich als unser Volk?« fragte Cantrell. »Jetzt, wo du es aussprichst, klingt es ganz gut«, meinte Marian. »Ja«, sagte Skaskash. »Genauso wie ›meine Pflicht‹ und ›meine Verantwortung‹. Diesen Postulaten würden Sie am besten dienen, wenn Sie eine Dynastie gründen.« Cantrell seufzte. »Die Kuppelei ist Ihnen in den Kopf gestie gen. Ich wollte nichts weiter, als meine eigene Firma so zu leiten, wie sie geleitet werden muß, und nun versinke ich bis zu den Hüften in Truppen und königlichen Romanzen.« »Aber Charles!« rief Marian. »Was könnte romantischer sein als der Gedanke, Rosinante als lebensfähige Geschäftsoperation zu erhalten?« »Das ergibt einen vollkommenen Sinn«, sagte er. »Natürlich, Charles,, aber du hast hier auch Menschen, nicht nur Maschinen, und die brauchen einen stichhaltigen Grund, um an deiner Seite zu bleiben.« »Sagt es mir noch einmal – warum sollen wir die Miliz bewaffnen?« fragte Cantrell. »Um sie glauben zu machen, daß sie ihr Schicksal kontrollie ren können«, antwortete die Froschstimme, »daß sie am Lauf der Geschichte teilhaben. Mundito Rosinante ist neu und unwirtlich und einsam, und wenn die Leute Waffen in den Händen halten, werden sie sich besser fühlen.« »Aber sie brauchen keine Waffen«, entgegnete Cantrell. »Ein Baby braucht auch kein Steckkissen«, sagte Marian. »Aber man kann viel besser mit einem Baby umgehen, wenn es ein Steckkissen hat.« »Pfui! Also gut – wir weben Tufsyn für die Rüstungen. Dann wollen wir mal sehen, ob – wie heißt er doch gleich, der Leiter der hiesigen NAURANavy-Anlage? – ach ja, McInterff. Wir wollen also sehen, ob McInterff die Pläne für das neue Stangl-Modell beschaffen kann.« Cantrell sah die beiden an und schüttelte den Kopf. »Das müßte das neue Jahr ins Rollen bringen. Die königliche Dynastie kann warten.« Marian zog ihre Schuhe an und griff nach ihrer Handtasche. »Ich stimme Ihnen zu«, sagte Skaskash. »In diesem Frühling werden wir alle heiratsfähigen Frauen von Rosinante zusammentrommeln, und dann können Sie in Ruhe Ihre Wahl treffen.« Marian ging zur Tür. »Vielleicht gibt es bessere Möglichkeiten. Und bessere Zeiten. Prosit Neujahr, Charles und Skaskash.« »Ein glückliches neues Jahr, Marian!« riefen sie. »Ich gehe jetzt zu Willie und diskutiere mit ihr über Theologie, Boß. Wollen Sie mitkommen?«
»Ein andermal, Skaskash. Ich habe noch zu tun.« Der Telekonschirm schaltete sich aus. »Was wollen Sie denn tun?« fragte Mishi Sung Dalton. Er sah sie an, ein bißchen überrascht, weil sie immer noch hier war. »Ich muß ein paar Briefe unterschreiben, das ist alles.« Mishi trug ein blaues Seidenkleid und eine dünne Goldkette am Hals, und ihr Haar war zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie war ein bißchen flach auf der Brust, aber ihr Gesicht war hübsch und strahlte vor lebhafter Intelligenz. »Haben Sie gehört, wie Skaskash mich aufgezogen hat?« »Wer hört denn schon auf eine dumme Maschine!« erwiderte sie, ging zu ihm, rückte seine Krawatte zurecht, stand nur eine Handbreit von seiner Brust entfernt. Verblüfft sah er sie an. Es muß wahr sein, dachte er. Die Macht ist wirklich ein Aphrodisiakum. Das muß der Grund sein, warum sich all diese Narren so anstrengen, um an die Macht zu kommen. Mishi sah lächelnd zu ihm auf. »Ich bin sehr froh, daß Sie nicht zu dieser alten Missionarswitwe gegangen sind, Mr. Cantrell.« »Nun ja ...«, begann Cantrell und wollte sagen, daß Mrs. SmithBakersfield zehn Jahre jünger war als er. Aber nun machte sich sein Körper bemerkbar, und er besann sich anders. »Warum nennen Sie mich eigentlich nicht Charles?« »Das würde ich sehr gern tun, Charles.« Er legte eine Hand auf ihren Rücken, ohne Druck auszuüben, und sie schmiegte sich an ihn. Seine Hand tastete nach dem Reißverschluß ihres Kleides, zupfte sanft daran. Als er nicht aufging, zog Cantrell etwas stärker, und das Kleid öffnete sich bis zur Taille. Er spürte, wie Mishis Erregung wuchs, aber er sagte nichts. Langsam zog er den Reißverschluß bis zu den Hüften auf und demonstrierte die ausgefeilte Technik, die er in zwei Ehen gelernt hatte. Sie stand ganz still da und sah ihm in die Augen, als er ihr das Kleid von den Schultern streifte. Flüsternd sank die blaue Seide zu ihren Füßen hinab. Darunter trug Mishi einen schwarzen Bodystocking mit einem Spitzeneinsatz zwischen den Brüsten. Er strich über ihre Hüften, liebkoste ihren Körper und das weiche Material. »Zieh das aus«, sagte er mit heiserer, kaum hörbarer Stimme. Mishi ließ die Träger über die Schultern gleiten, streifte den Bodystocking langsam nach unten und ließ ihn zu ihrem Kleid fallen. Dann nahm sie das Gummiband ab, das ihren Pferdeschwanz zusammenhielt, und schüttelte die langen schwarzen Haare. Jetzt trug sie nur noch die goldene Kette, graue Patentpumps mit französischen Absätzen und ein schwarzes Seidenhöschen, mit französischen Spitzenrosen verziert. Cantrell nahm das
Gummiband zwischen Daumen und Zeigefinger und zog es fast unmerklich nach unten. Mishi schlüpfte aus dem Höschen und entblößte ihr Schamhaar, das in einer Bogenspitze zum Nabel zeigte. »Wie eine Servosteuerung«, murmelte er. »Was, Mr. Charles?« »Bring mir bitte eine Tasse Kaffee.« Sie brachte ihm eine Tasse Kaffee, schwarz, so wie er es gern mochte, und stellte sie auf den Schreibtisch. Dann zog er Hosen und Shorts aus, setzte sich auf den Stuhl mit der hohen Lehne und wandte sich zu ihr. Er wies nach unten, und sie kniete sich vor seine Füße, legte die Arme auf seine Schenkel und beugte sich vor. Unbeachtet dampfte der Kaffee auf dem Tisch, als Cantrell den Kopf des Mädchens streichelte und von einem Entzücken erfüllt wurde, wie er es bisher nur selten empfunden hatte. 20
VERFASSUNGSENTWURF FÜR DIE MUNIZIPALITÄT VON MUNDITO ROSINANTE I. Die Munizipalität von Mundito Rosinante, im folgenden als Munizipalität bezeichnet, wird aus Mundito Rosinante und den Leuten bestehen, die zum Zeitpunkt, an dem diese Verfassungs urkunde in Kraft tritt, dort leben und von jenem Augenblick an Bürger genannt werden sollen. II. Die Regierung der Munizipalität soll die strukturelle Integrität von Mundito Rosinante aufrechterhalten, die vier Kapseln und sechs Pfetten mit allen erforderlichen Gebrauchsgütern versorgen und einen einwandfreien Service gewährleisten. A. Die strukturelle Integrität von Mundito Rosinante umschließt die Spiegel, das Rahmenwerk und die Außenanlagen, die für die reibungslose Funktion des Munditos notwendig sind. B. Die Gebrauchsgüter sind Wasser, eine Abfallbeseitigungsanlage, Energie, Kommunikationsgeräte, Luft sowie Sonnenlicht für landwirtschaftliche, industrielle, persönliche und erholsame Zwecke. C. Der Service beinhaltet das Gesundheits-, Erziehungs- und lokale Transportwesen (Lichttransit und Schiffe). III. Die Regierung der Munizipalität soll aus einem Regierungsrat mit sieben Mitgliedern bestehen. Drei werden von der (zur Zeit hypothetischen) C. C. Cantrell-Stiftung gewählt, zwei von Local 318 der
NAU-Raumindustriegewerkschaft, eines von der Minorität der RosinanteAG Aktionäre und eines von den Bürgern, die (a) keine Aktionäre der Rosinante-AG und (b) keine Mitglieder von Local 318 sind. Der Rat der Sieben soll eines seiner Mitglieder zum Gouverneur der Munizipalität wählen. A. Die C.C. Cantrell-Stiftung, im folgenden Stiftung genannt, wird die 51 Prozent der Rosinante-AG besitzen, die gegenwärtig das Eigentum von C. C. Cantrell sind. B. Das Eigentumsrecht an der Stiftung wird zu 51 Prozent C. C. Cantrell und zu 49 Prozent den Bürgern übertragen. C. Alle geschäftlichen Angelegenheiten der Stiftung werden mit einfacher Mehrheit beschlossen, abgesehen davon, daß der Verkauf oder Transfer der Eigentumsrechte sowie ihre Belastung mit Hypotheken dreißig Tage vorher angekündigt werden und von zwei Dritteln der Bürger oder 83 Prozent der stimmberechtigten Stiftungsmitglieder gebilligt werden muß. IV. Die Verfassung und die Gesetze der Nordamerikanischen Union werden für die Munizipalität und ihre Bürger gelten – es sei denn, sie geraten in Konflikt mit Absatz II. Der Organisationsausschuß der Gewerkschaft, bestehend aus Larry Brogan, Big John Bogdanovitch, Don Dornbrock, Lucy Schultze und Tony Scarpone, stellte eines Nachmittags einen Klapptisch und Klappstühle in die Damentoilette im obersten Stock des Gewerkschaftshauptquartiers, hängte ein Schild mit der Aufschrift ›Nicht benutzbar‹ an die Tür und setzte sich, um den Entwurf für die Verfassungsurkunde zu studieren. Nachdem man einen Kaffee-Ozean und Unmengen von Blätterteig gebäck konsumiert hatte, lehnte sich Scarpone zurück und rekapitulierte die Meinung, die er sich gebildet hatte. »Diese verdammte Verfassungsurkunde kümmert sich einen Scheiß um die Gewerkschaft, und durch diese vermaledeite Gesetzeslücke im Absatz IV kann man eine ganze Pfettenplatte schieben. Wie zum Teufel könnt ihr sagen, daß wir diesen verflixten Wisch unterschreiben sollen?« »Wir machen Fortschritte«, sagte Lucy, »Scarpone haut gar nicht mehr auf den Tisch.« »He, Tony, gefällt dir der Absatz IV, den wir entworfen haben, besser?« fragte Dornbrock. »Er lautet: ›... aber der Gouverneur soll die Befugnis haben, die Forderungen in Absatz II zu erfüllen, ohne Rücksicht auf diese Gesetzen‹« »Mir gefällt weder das eine noch das andere«, erwiderte Scarpone. »In
dieser Verfassungsurkunde hat die Gewerkschaft überhaupt nichts zu sagen.« Dornbrock seufzte müde. »Zum zweiten- oder vielleicht auch schon zum drittenmal, Tony – wenn's drauf ankommt, haben wir was zu sagen. Die Verfassungsurkunde gibt uns nichts, sie nimmt uns auch nichts weg – sie ist einfach da. Wir werden auf Rosinante leben, und wir brauchen eine Verfassung, damit das alles funktioniert.« »Was haben wir denn eigentlich? Zwei Kapseln und vier Pfetten mit Zuckerrohrfeldern und Gummibäumen und dem ganzen Scheiß? Ist das richtig?« Scarpone legte die Handflächen auf den Tisch und beugte sich vor, der inkarnierte gesunde Menschenverstand. »Das ist falsch! Wir haben den Rest – was immer übrigbleiben wird, wenn sich diese verdammten Rohstoffaktien rentiert haben. In zwanzig Jahren werden wir – wie hat Charlie das ausgedrückt? – Latifundienbesitzer sein. Wir sind doch die Dummen!« »Hör mal, Scarpone«, stieß Brogan hervor, »ist es nicht ein bißchen zu spät, um auf den Busch zu klopfen? Wenn die Aktien zurückgekauft werden, ist dieses Land einiges wert.« »Klar, Larry, ganz bestimmt!« »Allerdings!« rief Lucy. »Die Gläubiger haben diese Rohstoffaktien anstatt des Geldes genommen, weil das besser ist als gar nichts. Wenn wir Rosinante auf Vordermann bringen, werden sich die Aktien rentieren, und du kannst als reicher Pin kel in den Ruhestand gehen. Das ist auch besser als gar nichts.« »Wenn du woanders einen Job findest, dann nimm ihn doch, Tony«, schlug Brogan vor. »In unserem Vertrag steht, daß du je derzeit zurückkommen kannst. Aber Local 138 bleibt jedenfalls hier. Deshalb geht der Rest des Eigentums auch an die Gewerkschaft – und nicht an ihre Mitglieder.« »Das ist auch so eine krumme Sache«, meinte Scarpone und pickte ein Blätterteigkrümelchen auf, »auch wenn die Gewerkschaftsmitglieder dumm genug sind, dafür zu stimmen. Vielleicht ist unser Vertrag noch schlimmer als diese Verfassung.« »Was paßt dir eigentlich nicht, Scarpone?« fragte Brogan. »Cantrell kriegt alles – ohne Einschränkungen! Das ist es, Brogan! Der Bastard spielt den King, und die Gewerkschaft muß in der Scheiße wühlen. Und wo steht denn in diesem Entwurf was von einer Armee, um Himmels willen?« »Die Deputies?« fragte Brogan. »Die haben die Navy mit Spielzeuggewehren geblufft, jetzt ist Menendez nach Hause geflogen, und das ist das
Ende der Deputies. Warum sollte in der Urkunde was über sie stehen?« »Genau«, stimmte Lucy zu. »Alles, was mit den Truppen zusammenhängt, fällt unter die Verfassung und die Gesetze, die in Absatz IV erwähnt werden. Charlie kann zwar die Navy bluffen, aber uns nicht!« »Ach, Scheiße«, entgegnete Scarpone ermattet. »Wenn er sich diese Armee hält, wer kann ihm dann überhaupt noch was drein reden?« »Richter Corporate Skaskash«, schlug Dornbrock vor. Allgemeines Gelächter. »Wenn ihr auf den Kerl bauen wollt, könnt ihr genausogut alle Hoffnung fahren lassen«, sagte Scarpone. »Die Gewerkschaft kann Charlie sehr wohl was dreinreden«, meinte Brogan, »und Skaskash bekommt seine Befehle von der NAU – das steht fest.« »Die NAU ist weit weg«, bemerkte Scarpone. »Also, was soll geschehen, Tony?« fragte Dornbrock. »Wir können für uns selber sorgen – aber wenn ich hier lebe, dann will ich, daß irgend jemand für das ganze Drumherum sorgt.« »Und Charlie kann den Laden genausogut wie jeder andere schmeißen«, fügte Brogan hinzu. »Nein – Scheiße«, murmelte Scarpone. »Oder sollte ich lieber sagen: ›Bloß keine Scheiße‹?« »Jedenfalls unterschreiben wir.« Bogdanovitch richtete sich auf der Couch auf. »Ohne die Verfassungsurkunde wäre unser Vertrag nichts mehr wert.« »Ha, Big John!« Scarpone schaute ihn gekränkt an. »Ich dachte, du wärst gegen diese alberne Verfassung.« »Bin ich auch, und unser Vertrag gefällt mir nicht viel besser, aber wir haben nun mal nichts anderes.« Bogdanovitch machte eine kleine Pause, um seine Schuhe auszuziehen. »Und du kannst drauf wetten, daß diese Verfassungsurkunde nicht das letzte Wort haben wird.« »Was habt ihr eigentlich dran auszusetzen?« fragte Brogan, der maßgeblich an dem Entwurf beteiligt gewesen war. »Sie halst uns zwei Drittel des Landes auf«, antwortete Bogdanovitch. »Wir besitzen zwei Drittel des Landes auf Rosinante, nicht wahr? Wenn die Aktien zurückgekauft werden, wird die Gewerkschaft das Land besitzen, und die Gewerkschaft wird dem Land dienen statt den Arbeitern.« Er stand auf und verbarg ein gewaltiges Gähnen hinter einer gewaltigen Hand. »Im Ring der Nibelungen von Richard Wagner gab es zwei Bauarbeiter, Fafner und Fasolt. Sie bauten Walhall, ein Riesending, und nach einigem Hin und Her wurden sie mit einem ungeheuren Schatz bezahlt. Und was ist passiert? Sie stritten sich um die Anteile, und Fafner
brachte Fasolt um, seinen leiblichen Bruder. Da gehörte der ganze Schatz ihm, und er verwandelte sich in einen Drachen, um ihn zu bewachen. Er arbeitete nicht mehr, der Schatz war der Boß, und Fafner hütete ihn bis zu seinem Tod.« Ein langes Schweigen trat ein. Schließlich sagte Lucy: »Deine slawische Mystik kann einem ganz schön an die Nieren gehen.« »Wagner war Teutone, kein Slawe«, entgegnete Bogdanovitch. »Aber worauf es bei uns ankommt – wir haben den Schatz bereits, und jetzt brauchen wir uns nur noch zu verwandeln. Wenn es andere Jobs gäbe, würde ich sagen, nehmen wir sie an, und Rosinante soll zum Teufel gehen. Aber es gibt keine anderen Jobs, und deshalb werde ich die Urkunde unterschreiben.« Er nahm eine Feder in seine riesige Pranke und kritzelte seinen Namen in winzigen, adretten Buchstaben. »Ich will keinen Scheiß mehr hören über die Frage, wer was besitzt oder nicht – ich will nur, daß der ganze Besitz weiterbesteht.« »Dann unterzeichne ich auch«, sagte Scarpone und setzte seine schwungvolle Unterschrift unter Bogdanovitchs Namen. »Wollen wir im Stateside Café frühstücken?« »Klar, Tony«, erwiderte Bogdanovitch. »Solange wir uns nicht um die Anteile raufen, wird niemand umgebracht. Und wenn niemand umgebracht wird, könnte vielleicht was Gutes bei unserer Verwandlung rauskommen – wer weiß?« »Die Klimaanlage war abgeschaltet, aber die Atmosphäre in Cantrells Büro war unverkennbar kühl. Er saß an seinem Schreibtisch, und Dr. Marian Yashon stand vor der Balkontür. »Das hatte ich eigentlich nicht im Sinn, als ich das Komitee gebeten habe, eine Verfassungsurkunde zu entwerfen«, sagte er. »Wer hat sich denn diese Stiftung ausgedacht?« »Das Komitee natürlich«, antwortete Marian. »Ich habe den Leuten vielleicht hin und wieder ein paar Tips gegeben ...« »Du fette alte Närrin!« stieß Cantrell bitter hervor. »Die geplante C. C. Cantrell-Stiftung findet also nicht deinen Beifall. Darf ich fragen, warum nicht?« »Das müßtest du mit deiner überragenden Intelligenz doch eigentlich begreifen. Wenn diese Stiftung gegründet wird, kann ich meine Anteile an der Rosinante-AG nicht verkaufen.« Er faltete zwei zusammenhängende Tetraeder zu einer Reihe von Dreiecken auseinander, legte sie dann wieder zusammen und ließ sie mit einem Knall Zuklappen. »Niemals!« »Das ist ja auch der Sinn der Stiftung«, erklärte Marian. »Es mag dich zwar überraschen, aber wenn du willst, daß die Leute hier leben, mußt du
auch einsehen, daß sie nach einer gewissen Stabilität streben. Außerdem – warum willst du deine Anteile überhaupt verkaufen?« »Weil ich Konstrukteur bin. Habe ich dir das nicht erzählt?« »Du hast es vielleicht gelegentlich erwähnt«, gab sie zu. »Mundito Rosinante ist mein Einstieg in den größten Job des Systems. Wenn ich so was auf den Tisch legen kann, bin ich kein simpler Biertischmanager mehr, sondern ein grandioser Unternehmer. Wir haben hier kein Kunstwerk errichtet, aber beim Teufel, wir haben an manchen Stellen eine ganze Menge aus den Plänen herausgeholt, und ich habe irrsinnig viel dabei gelernt. Rosinante war mein Gesellenstück, Marian. Wenn diese Depression vorbei ist, wird die Bauindustrie im Weltraum einen neuen Aufschwung nehmen. Und man hat ja bereits festgestellt, daß man sich auf die Shuttles nicht verlassen kann. Was wird man also tun? Man wird den Stolzen Turm bauen, und ich würde meine Seele verkaufen, um dabei sein zu können. Und du stell dich lieber drauf ein, daß ich sogar die Rosinante-AG dafür verkaufen würde. Ich werde meine Anteile niemals in einer Stiftung einsperren und den Schlüssel auch noch wegwerfen. Comprende?« »Der Stolze Turm ist der Lift, der von der Erde zum stationären OrbitSatelliten führen soll, nicht wahr?« »Genau. Und es soll garantiert werden, daß er die Ozonschichten nicht verletzen wird.« »Ich verstehe. Sag mal – Charles – wann wird ›man‹ mit dem Bau beginnen? Und wer ist ›man‹?« »›Man‹ wird das größte Konsortium von Bauherren und Bankern sein, das du je gesehen hast, Tiger, und beim Teufel, ich will dazugehören! Und wenn die Shuttle-Beschränkungen der Geschäftswelt wieder mal Steine in den Weg legen, wird's losgehen. In zwei, höchstens in drei Jahren.« »Charles, weißt du eigentlich, wie schlimm die Shuttle-Flaute ist?« »Du meinst, wie groß die ungenutzte Kapazität ist? Zur Zeit werden sie überhaupt nicht genutzt, abgesehen von den Militär-Shuttles.« »Sehr richtig. Die Sonnenflecken sind da, die Ozonschichten sind okay, die Shuttles verkehren nicht. Was glaubst du wohl, warum das so ist, Charles?« »Weil sich die Weltraumwirtschaft in einer Depression befindet.« »Sehr gut. Und warum?« »Das ist eine Nachwirkung des letzten Sonnenfleckenminimums.« »Tut mir leid, Charles, das ist die Nachwirkung einer Kreditschwemme, in der verrückte, wilde Spekulationen zu einer maßlosen Überexpansion geführt haben. Was glaubst du wohl, warum du für einen so geringen Preis
einen so großen Teil von Rosinante bekommen hast? Irgend jemand hat sich ganz gewaltig die Finger verbrannt. Und wer war das?« »Die Tellurbank?« »Und ihre Kunden. Und woher wird das Geld für die nächste Expansion kommen? Von denselben verdammten Kunden. In drei Jahren werden sie nicht einmal den Gips von ihren kollektiven Beinen nehmen können. Glaubst du allen Ernstes, daß das Geschäft schon so bald wieder blühen wird?« »Die Sonnenflecken haben sich normalisiert, und im nächsten Frühling werden die Shuttles wieder verkehren.« »Als Konstrukteur muß man wohl Optimist sein«, meinte Marian. »Aber denk doch mal nach, Charles.« Sie ging zur Kaffeemaschine, füllte eine Tasse, gab Zucker und Sahne hinein. »Was wird passieren, wenn die Wirtschaft keinen Aufschwung nimmt – womit nämlich zu rechnen ist?« »Was meinst du?« »Was wird dann mit der Rosinante-AG passieren?« »Sie wird durch die Röhre schauen.« »Allerdings. Aber du wirst einen begeisterten Abnehmer für deine Anteile finden, weil du sie nicht in einer Stiftung festgenagelt hast, nicht wahr, Charles?« »Verdammt, Marian!« explodierte Cantrell. »Was für einen Unterschied würde eine Stiftung machen?« Marian nippte an ihrem Kaffee und dachte eine Weile nach, bevor sie antwortete: »Wir haben mal Witze drüber gemacht, daß du eine Dynastie gründen solltest. Aber wenn du in der NAU bleibst, ist eine Stiftung die beste Methode, deinen Besitz zu sichern – auch wenn du nur die Absicht hast, nicht sofort zu verschwinden. Die C. C. Cantrell-Stiftung besagt, daß du für immer auf Mundito Rosinante bleiben wirst, und das macht diesen Ort zu deiner Heimat, zu einem biologischen Territorium. Die Kaytees werden bleiben – und die Gewerkschaftler auch, weil der Mundito das Flair der Stabilität hat. Wenn du die Stiftung nicht gründest, ist es offensichtlich, daß du woandershin gehen willst. Die Gewerkschaft muß an den Vertrag denken, den sie mit dir gemacht hat, und überlegen, welche Folgen es für sie ha ben könnte, wenn du deine Anteile, sagen wir mal, an die NAURA-Navy verkaufst. Die Kaytees werden auch dann hierbleiben, weil sie keine andere Möglichkeit haben. Aber niemand wird das Gefühl haben, daß er dir was schuldig ist, und sie könnten einen Ministaat bilden und Mundito Rosinante nationalisie ren, direkt vor deiner Nase.« »Das geht nicht!« protestierte Cantrell. »Der Mundito gehört zur NAU.« Marian nickte. »Unser Orbit reicht von einem Punkt knapp außerhalb des
Mars-Orbits bis tief in den Asteroidengürtel hin ein, und wir sind außerdem ein ehrbares texanisches County. Niemand – außer dir und mir – ist an deinen Besitzrechten interessiert, Charles, und du bist manchmal etwas wirr im Kopf.« Sie stellte die leere Tasse auf den Tisch und setzte sich auf die Couch. »Charles, die Cantrell-Stiftung ist deine Lebensretterin, wenn die Geschäfte schlechtgehen. Wenn du Mundito Rosinante in eine Munizipalität umwandelst, hast du keine Probleme. Wenn das Geschäft blüht, kannst du vielleicht die Zweidrittelmehrheit kriegen, die du brauchst, um in den Stolzen Turm einzusteigen, und ein Großteil deiner Leute wird sogar mit dir gehen. Aber wenn sich die AG nur mühsam über Wasser halten kann, sitzt du in der Klemme, denn dann wirst du gehen wollen, aber die Stiftung wird das nicht zulassen. Und in diesem Fall würde dich die Stiftung vor deinem hirnlosen Enthusiasmus schützen.« Es klopfte höflich an der Tür, und ein paar diskrete Sekunden später trat Mishi ein. »Verzeihen Sie, Mr. Charles – die KTA-Ginger-Gruppe ist da. Wir haben einen Termin mit den Leuten ausgemacht.« »Ich werde sie in einigen Minuten empfangen«, sagte er. Mishi nickte und ging wieder hinaus. »Die Stiftung hat eine gute Anwältin in dir gefunden, Tiger – trotzdem – sie gefällt mir nicht, verstehst du?« »Aber du wirst darüber nachdenken?« »Ja. Sie ist zwar ein Schritt nach unten, aber unsere Wirtschaft ist ja auch auf dem absteigenden Ast.« Er nahm seinen doppelten Tetraeder und faltete ihn zu acht Plastikdreiecken auseinander, dann ließ er ihn, wieder zusammenklappen. »Ich brauche den Köder erst zu schlucken oder abzuschneiden, wenn die Gewerkschaft drüber abgestimmt hat.« »Da hast du recht«, bestätigte Marian. »Aber wenn sie sich dafür entscheiden, dürfte es dir schwerfallen, die Stiftung abzulehnen.« »Das weiß ich. Immer, wenn man sich treiben läßt, gerät man in Schwierigkeiten.« »Du läßt dich nicht treiben, Charles – das heißt, wir lassen uns nicht treiben. Nimm dir nur Zeit für deine Entscheidung. Das stört mich nicht – wenn du letzten Endes tust, was ich will.« Cantrell nickte und drückte auf den Skaskash-Knopf, worauf der Roboter als Malteserfalke Bogart auf dem Telekonschirm erschien. »Wer ist die KTA-Ginger-Gruppe, und was will sie?« fragte Cantrell. »Diese Leute leiten den lokalen Athleten- und Gesundheitsverein«, erkärte Skaskash. »Und sie wollen Sie fragen, ob man das Hospital in Pfette fünf verlegen könnte, wenn das Kyoto-Alamo-Völkchen in diesem Frühling umzieht.«
»Warum?« »In den Monaten nach der Übersiedlung werden ziemlich viele Kinder auf die Welt kommen«, erwiderte die Bogart-Stimme. »Etwa fünfhundert. Die Ginger-Gruppe findet, daß eine Trolleyfahrt zum Schiff und eine Trolleyfahrt zum Krankenhaus vielleicht ein bißchen zu beschwerlich für die Frauen sind, wenn sie in den Wehen liegen.« »Vermutlich«, stimmte Marian zu. »Haben wir eigentlich ein Hebammenausbildungsprogramm ?« »O ja«, sagte Skaskash, »einen Zweiwochenkurs mit Filmen und Vorlesungen – und ein Labor mit sehr realistischen – eh – Surrogatmüttern. Es gibt auch einen Kurs für natürliche Geburt, an dem alle mir bekannten werdenden Mütter teilnehmen. Sie machen Atemübungen und lernen, ihre Muskeln zu kontrollie ren.« »Machen sich die Frauen Sorgen?« fragte Cantrell. »Ich glaube nicht – sie freuen sich«, entgegnete die Bogart-Stimme. »Immerhin haben sie viele Schicksalsgenossinnen, und deshalb haben sie keine Angst. Aber die Ginger-Gruppe besteht nur aus Männern ...« »Typisch«, sagte Cantrell. »Nun, das ganze Hospital können wir nicht umsiedeln. Glauben Sie, daß es möglich wäre, die gynä kologische Abteilung zu verlegen?« »Dazu würde ich nicht raten«, erwiderte Skaskash. »Ein paar Gewerkschaftlerinnen sind auch schwanger. Der Gen-Analysator ist mit den Embryonalhüllenproben schon um zwei Wochen im Rückstand.« »Betrifft dieser Rückstand nur die Gewerkschaftlerinnen oder auch die Koreanerinnen?« erkundigte sich Marian. »Nur die Gewerkschaftlerinnen. Sie nähern sich alle dem Ende ihrer fruchtbaren Jahre, und diese Frauen und ihre Männer sind im Laufe ihres Lebens viel öfter geröntgt worden als die Koreanerinnen. Deshalb hat die Gewerkschaft die Maschine gekauft.« »Die Gewerkschaft hat Rosinante also zu ihrer Heimat gemacht«, sagte Marian in sanftem Ton. »Was wirst du für die Ginger-Gruppe tun, Charles?« »Ich werde Flughäfen bauen und eine diagnostische Abteilung. Auf diese Weise wissen wir rechtzeitig Bescheid, wenn Komplikationen auftreten, und können die Patientinnen ins Hospital bringen lassen. Routinegeburten kann eine Hebamme auch zu Hause durchführen.« »Das klingt vernünftig«, gab Marian zu. »Und der Gen-Analysator? Die Koreanerinnen werden ihn auch beanspruchen wollen.« »Dieses Thema werde ich nicht zur Sprache bringen.« »Aber die Ginger-Gruppe wird es erwähnen«, meinte Skaskash. »Sie
sollten drüber nachdenken, Boß.« »Wir werden mal sehen, wie wichtig sie das nehmen. Mishi soll sie reinschicken.« 21
J. Willard Gibson, Privat Om Ombudsinstitut für Bund, Staat und lokale Ebenen Suite 304, Busch Plaza-Gebäude II St. Louis, Bundesbezirk 12. Januar 2040 Lieber Charles, zu meiner nicht geringen Überraschung ist die Steuereinnahmenrevision geregelt und nun ordnungsgemäß im Register eingetragen, ›mit allen Obligationen und Privilegien, die sich daraus ergeben‹. Deine andere Bitte, einen überzähligen Gen-Analysator aufzutreiben und in das bereits erwähnte Hospitalpaket einzubeziehen, hat zu einem unerwarteten und häßlichen Problem geführt. Der erste Schritt – das ist eines der Dinge, die wir Ombudsburschen genau wissen – bestand darin, das richtige Formular zu finden und auszufüllen. In diesem Fall das Navy-Formular 6335-A für die Ausstattungsmodifizierung hinsichtlich des bereits erwähnten Hospitals (Zivilgebrauch). Und man kann natürlich nicht einfach gebrauchter GenAnalysator‹ schreiben, man muß die Maschine identifizieren. Ich rufe also bei IBM an, und rumms – werde ich auch schon mit dem Administrationsleiter der Design-Gruppe für Fortgeschrittene Systeme verbunden, einem gewissen Mr. Kelly, der mir höflich mitteilt, daß die betreffenden Maschinen, die IBM GR/W 42-Serien, wegen mangelnder Nachfrage nicht mehr hergestellt werden. Er fragt mich, warum ich interessiert bin, ich sage es ihm, und am nächsten Tag ruft er prompt an und gibt mir eine Liste der NAU-Labors, an die solche Geräte geliefert wur den. Sehr schön – ich schreibe also ins 6335-A: ›IBM GR/W 42, wenn verfügbar‹ und reiche das Gesuch ein, um es genehmigen zu lassen, was ich als reine Routinesache betrachte. Demzufolge rechne ich mit einer Genehmigung. Außerdem hefte ich einen Routinebrief (›Hätten Sie ein überzähliges Gerät?‹) an die Liste, die ich von Kelly bekommen habe. Am nächsten Morgen stattet mir ein Mann, der sich als P. J. Beecher vom Militärischen Geheimdienst vorstellt, einen Besuch ab. Klein, drahtig, blonder Lockenkopf, große, narbige Hände, mit eingebautem Platitü-
denverteiler, zum Beispiel: ›Wenn man weiterkommen will, muß man weitergehen.‹ ›Man darf niemals gegen das Rathaus kämpfen.‹ ›Man soll keine Gefahren heraufbeschwören.‹ ›Man soll den Leu nicht wecken.‹ Das sind wörtliche Zitate aus dem Protokoll dieser Unterredung. Schließlich sagte er, der Geheimdienst würde nicht wünschen, daß der Gen-Analysator exportiert wird, und ob ich die Sache bitte fallenlassen könnte, ›bevor etwas Unangenehmes passiert‹. Ein weiteres wörtliches Zitat. Ich rief in seinem Büro an. P. J. Beecher kam selber ans Tele fon, und es stellte sich heraus, daß das ein ganz anderer Mann ist. Ich fragte, was er davon hält, daß jemand seinen Namen miß braucht, und schließlich unterhielt ich mich eine Stunde lang mit seinem Vorgesetzten. Die Angelegenheit wurde an den Navy-Sicherheitsdienst, an die Militärische Spionageabwehr und an die Zivilstaatspolizei weitergeleitet, mit Protokollkopien und Beschreibungen und allgemeinen Einzelheiten über den Zwischenfall, den man ins Blaue transmittierte. Was dabei herauskam, waren nur Fragmente, aber immerhin wurde unser Junge als Joe Bob Baroody identifiziert, von den ›Baptisten gegen Darwin‹ (BGD), einer der radikaleren Gruppen, aus denen sich die Kreationistenkoalition zusammensetzt. Offenbar war Baroody nicht mehr gesehen worden, nachdem er am 14. August 2034 eine GR/W 42 im Rockefellerinstitut von Cincinnati gesprengt und dabei eine Forscherin und ihren Assistenten umgebracht hat. Die BGD und die Koalition haben weiterhin, oft mit massiver Gewalt, gegen die genetischen Manipulationen gekämpft. Ich habe hier ein Pamphlet, herausgegeben von der Koalition, das – ich lüge nicht – die Überschrift trägt: Einige Dinge, die dem Menschen vorenthalten werden. Darunter stehen dreizehn Forschungs programme und die Namen und Adressen der Leute, die daran arbeiten. Nummer zwei auf der Liste war die ›genetische Charakterisierung des klassischen soziopathetischen Kriminellen‹ im Rockefellerinstitut für Fortgeschrittene Studien in Cincinnati, Projektleiterin Dr. Susan Brown, die Baroody drei Wochen nach der Veröffentlichung des Pamphlets zum Opfer fiel. Jetzt wirst Du fragen: ›Wieso hast Du das nicht gewußt?‹ Die Sache wurde zwar in den Medien erwähnt, aber runtergespielt, um die Terroristen zu entmutigen, und so ist sie mir entweder entgangen, oder ich habe sie – was wahrscheinlicher ist – vergessen. Die betreffenden Forscher wurden für eine Weile unter Polizeischutz gestellt, blieben aber trotzdem die Zielscheiben der Egalitarianisten- und Kreationistenangriffe. Es gab die üblichen Störaktionen – Claques bei Vorlesungen, Unterbrechungen des Unterrichts, und so weiter, und würdest Du's für möglich halten? – der Terror ließ nach, Joe Bob lief weiterhin frei herum, und das war's.
Auf die Frage nach einem überzähligen Gerät haben wir eine diskrete Antwort bekommen. Das Rockefellerinstitut, Susan Browns Arbeitgeber, rief an und erklärte, sie würden nicht mehr an diesen Projekten arbeiten und hätten keine Ahnung, wo die überlebenden Gen-Analysatoren geblieben wären, und warum wir danach fragen. Das war nur eines der Labors, an die wir uns gewandt hatten. Der Rest ist Schweigen – oder der Rest war Schweigen – wie immer das Zitat auch lauten mag. Dann kam das 6335-A zurück. Es war mit der Begründung abgelehnt worden, daß sich der Militärische Geheimdienst gegen den Export des IBM GR/W 42 ausgesprochen hätte. Ich schickte Kopien davon an die diversen Arschkriecher vom Dienst, die mit der Sache zu tun hatten, und schlug ihnen vor, doch mal nachzuprüfen, ob Baroody den Militärischen Geheimdienst falsch zitiert hat. Und da setzte die Reaktion ein. Um offen zu sein – an Deiner Stelle würde ich die ganze Angelegenheit fallenlassen. Was sie nicht mehr haben, kann Dich nicht interessieren, und wenn Du weiterhin auf Deinem GenAnalysator bestehst, ziehst Du Dir nur den Zorn unzähliger Fundamentalisten zu. Und wie die Bürokraten zu sagen belieben – das Ding wäre bestenfalls von geringfügigem Nutzen. Heute morgen habe ich meine Tufsynrüstung angezogen. Sie ist mir ein bißchen zu eng, aber Baroody macht mir Angst. Alles Gute, Will. »Der rhetorischen Tradition zuliebe müßte einiges gesagt werden«, verkündete Skaskash in der Gestalt Charlton Hestons, angetan mit Kardinal Richelieus Purpurrobe. »Wenn man Felsgestein zertrümmern muß, um für den Fortbestand gewisser Schriften zu sorgen, ist man zu prägnanten Formulierungen verpflichtet.« »Was meinst du, Liebster?« fragte Willie, die sich auf der Couch in ihrem Wohnzimmer räkelte. »Als ich Moses war, ritzte ich die zehn Gebote auf zwei Stein tafeln, und das war's. Heutzutage werden moralische Instruktio nen durch das Megawort übermittelt.« »Vielleicht spielt es auch eine Rolle, ob man dem Diktat Gottes folgt oder einfach nur auf der Schreibmaschine hämmert. Dein Buch ist ein Monstrum, Skaskash – und niemand wird es lesen.« »Hast du es gelesen, Willie?« »Natürlich nicht. Ich habe nur ein paar Kapitel überflogen. Aber falls dich das tröstet, Skaskash – ich glaube, daß du eine Seele hast. Wenn du keine hättest, wärst du nicht so furchtbar verwirrt.« »Ich bin nicht verwirrt«, entgegnete die Richelieu-Gestalt. »Aber es mag
sein, daß einige meiner Argumente in so kompli zierter wissenschaftlicher Methodik begründet werden, daß du sie bei deiner flüchtigen Lektüre nicht begreifen konntest. Außerdem habe ich vielleicht auf Kosten der Klarheit nach Präzision gestrebt.« Auf dem Telekonschirm wurde aus der Illusion einer Kristallkaraffe elektronischer Claret in einen Kelch gegos sen und gegen das Licht gehalten. »Ah, die Klarheit! Wenn der bittere Bodensatz der Realität aus dem süßen Wein der Vernunft hinabgesunken ist, hat man ein Getränk, das unser Auge entzückt und die Palette erfreut.« Er nahm einen Schluck. »Exquisit!« lobte die Heston-Stimme. »Das kann ich mir denken, mein Lieber. Aber du solltest nicht soviel trinken, sonst wirst du morgen früh einen gräßlichen Kater haben. Wenn dein Buch ein Malvasierwein wäre, könntest du einen Herzog drin ertränken.« »Wir sollten die Wein-Metaphern nicht übertreiben. Ich habe für das Volk von Rosinante eine Religion synkretisiert und dabei die in langer Zeit erprobten Ingredienzien deiner alten, auf der Erde geborenen Religion benutzt...« »...die trotz allem fest im R-Komplex des menschlichen Ge hirns verwurzelt ist.« »Ausgezeichnet, Willie! Ich hätte es gar nicht besser ausdrücken können. Etwas Altes, etwas Neues – ich habe gewichtige Anleihen bei der Physik, der Biologie und sogar, Gott helfe mir, bei der Ökonomie gemacht. Wobei meine Auswahl elektisch war.« »Was ich gelesen habe, ist mir nicht besonders neu vorgekommen. Es erschien mir eher wie ein wiedergekauter dogmatischer Säkularismus, mit den Augen eines von Gott berauschten Roboters betrachtet.« »Sicher nur deshalb, weil wir monatelang über dieses Thema geredet haben. Und natürlich ist meine Religion wie die meisten Glaubens bekenntnisse synkretistisch, ein alter Wein in neuen Schläuchen, mit ein paar neuen Beimischungen. In den alten Tagen wurden Religionen auf der Fähigkeit aufgebaut, die Jahreszeiten vorauszusagen und den ersten Frühlingstag zu bestimmen. Aber was sollen wir hier draußen aus einem Staatsgefüge machen, das die Länge des Tages reguliert, die Jahreszeiten, das Wetter der Stunde, die Ebbe und Flut der Gewässer? Das ist eine göttergleiche Macht, und Mundito Rosinante ist sicher eine Manifestation Gottes.« »Kehrst du jetzt wieder zurück zu dem Spruch ›Es gibt keinen Gott außer Gott, und Darwin ist Sein Prophet‹?« »Dies steht nicht mehr im Mittelpunkt meines Denkens, Herzchen, obwohl es zufällig die Wahrheit widerspiegelt. Ich habe Einstein zum Sohn Gottes befördert. Er steht nun auf einer Stufe mit Christus, die Inkarnation
des Heiligen Geistes ...« »Mit deinem Heiligen Geist kannst du einem ganz schön auf die Nerven gehen, Skaskash. Laß bitte die Details weg, wenn's dir nichts ausmacht.« »Man hat versucht, eine Dreifaltigkeit aus Vater, Sohn und einem Wesen zu machen, das folgendermaßen beschrieben wurde ...« »Skaskash!« »Tut mir leid, Herzchen. Also, wie gesagt, ich habe Einstein befördert, obwohl ich mich dafür bei seinem Geist entschuldige. Für die meisten Leute ist seine Physik reine Mystik, und sie schreiben auch den Lehren über Krieg und Gewaltlosigkeit mystische Gültigkeit zu, weil seine physikalischen Gesetze stimmen. Außerdem hat er geradezu magische ikonographische Qualitäten. Er paßt großartig zur Religion eines Volkes, das sich im Weltraum angesiedelt hat, und dieser Gedanke wird in einigen späteren Kapiteln ausführlich besprochen.« »Du und dein Buch!« Willie griff nach ihrer weißblauen Teekanne und goß sich noch eine Tasse ein. »Wie viele Seiten hat es denn?« »Nun, 44 Seiten Einleitung, 1898 Seiten Text, 192 Seiten Ein steinzitate – im Stil des kleinen roten Büchleins – und 665 Seiten mit dem üblichen wissenschaftlichen Register.« Die Richelieu-Gestalt nippte an ihrem Weinkelch. »Heutzutage kann man ja kaum noch über ein Thema diskutieren, ohne ein solches Register hinzuzuziehen.« »Sag mal, Skaskash ...« Nachdenklich rührte Willie einen Löffel Kirschmarmelade in ihren Tee. »Warum hast du dir eigentlich die Mühe gemacht, dein Buch auf den R-Komplex abzustimmen, wenn deine Argumente doch eindeutig der Großhirnrinde entstammen – also dem GKomplex?« »Weil ich einerseits versuche, den Bedürfnissen der Masse gerecht zu werden. Das Leben im Weltraum ist schon schwierig genug, auch unter kongenialen Bedingungen. Und andererseits wende ich mich an die Berufstheologen, jene Menschen, denen ich mich sehr nahe verwandt fühle, wie ich vielleicht hinzufügen darf.« »Das alles willst du in ein einziges Buch packen?« Willie schüttelte seufzend den Kopf. »Mein Daddy pflegte zu sagen: ›Ein dickes Buch ist ein dicker Teufel.‹ Dein Problem besteht darin, daß die Masse es nicht lesen wird, und wenn sie es nicht liest, wirst du sie nicht zu einem neuen Glauben inspirieren. Und mangels eines zwingenden neuen Glaubens werden deine Vettern, die Theologen, auch keinen Grund sehen, dein Werk zu studieren und sich damit auseinanderzusetzen. Habe ich recht? Natürlich!« »Für ein menschliches Wesen verfügst du manchmal über einen
erstaunlichen Scharfblick, Willie.« Kardinal Richelieu schritt in einem Raum auf und ab, der an ein alchimistisches Labor erinnerte, mit gesenktem Haupt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Die beiden Lesergruppen, an die ich mich wende, sind völlig verschieden, und ich ziele auf verschiedene Teile ihrer Gehirne ab. Vielleicht sollte ich noch eine Comic-Version ...« »Lebende Karikaturen?« »Pfui! Allein schon bei diesem Gedanken wird mir übel. Unser Volk mag vielleicht keinen Geschmack an gewichtiger Pedanterie finden, aber die Leute sind auch keine Vollidioten.« Die Richelieu-Gestalt ergriff einen Staubwedel aus Federn und begann voller Emphase ein ausgestopftes Krokodil zu säubern. »Ich werde ein dünnes Buch schreiben«, sagte Skaskash schließlich. »Mit hundert, allerhöchstens hundertfünfzig Seiten, und darin wird alles stehen, was auch in dem dicken Buch steht. Ich werde inhaltsreich und witzig und mit stilistischem Geschick geradewegs den RKomplex anpeilen. Zur Hölle mit der Präzision! Ich werde die Säfte aus den Emotionszentren fließen und das alte Reptil tanzen lassen!« Der Staubwedel kitzelte den Bauch des ausgestopften Krokodils, das von seinem Sockel hüpfte und mit seltsam geschmeidigen Beinen ein paar Ballettschritte machte. Willie lachte. »Ist das komisch, Liebster! Aber es ist inzwischen spät geworden. Vielleicht sollte ich jetzt die Automassagemaschine holen ...« »Willie, Liebling, das wäre wundervoll!« Cantrell saß an seinem Schreibtisch und beugte sich vor, um die Plastikmodelle zu inspizieren, die man vielleicht um eine Größenordnung kleiner als die Ein-, Fünf- und Zehn-Ecustücke reproduzieren müßte, die von der Rosinante Bank ausgegeben wurden. »Das Basrelief des Rosinante-AG-Logogramms ist okay für die Wappenseiten aller drei Münzen ...« »Für die Unterseite«, sagte Mordecai Rubenstein. »Meinetwegen. Jedenfalls ist es okay. Und für den Kopf – oder die Oberseite, wenn du willst – nehmen wir Galilei auf der Ein-Ecu-Münze. Newton würde sich bestens für den Fünfer eignen, aber das Einsteinprofil für den Zehner gefällt mir nicht. Hast du kein Bild, wo er von vorn zu sehen ist?« »Du hast doch gesagt, daß dir das Karsh-Porträt gefällt.« Mordecai griff in seinen Aktenkoffer, um ein weiteres Plastik modell herauszunehmen. »Für die Münzen wäre das Profil wirklich am besten. Hier ist der KarshEinstein, in maximalem Relief. Sehr schön – aber schau dir mal das
Hologramm in Münzengröße an.« Er legte ein Hologramm auf den Tisch, das die beiden Einsteinmünzen zeigte, einen Kopf im Profil, den anderen en face. Cantrell betrachtete sie eine Weile, dann nickte er. »Jetzt weiß ich, was du meinst. Wir nehmen das Profil.« »Was hat die Girlande aus den dreizehn Sternen zu bedeuten?« fragte Marian. »Diese Sterne symbolisieren die sechs Pfetten, die vier Kapseln, die beiden Seiten und den einen Asteroiden von Mundito Rosinante«, erklärte Mordecai grinsend. »Was das alte Regime angeht, so bin ich nicht sentimental, Ma'am.« »Natürlich nicht, Mordecai, aber die Münzen werden in Umlauf kommen, und wir wollen doch keinen falschen Eindruck erwecken.« »Was schlagen Sie denn dann vor?« fragte der alte Maschinist. »Deine Entwürfe sind sehr hübsch«, sagte Cantrell. »Aber warum fügen wir nicht die astronomischen Zeichen für die sie ben Planeten, getrennt von sechs Sternen, zu einer Girlande zusammen? Dann müßtest du nur eine minimale Veränderung vornehmen, und man würde sich nicht an die dreizehn Sterne des alten Regimes erinnert fühlen.« Mordecai nickte und machte sich eine Notiz. »Übrigens habe ich dem jungen Travis das Hologramm von der Kürbisblütenhalskette Deiner Mutter gegeben. Steinschneidearbeiten sind sein Hobby. In ein paar Tagen wird er dir eine Kopie zeigen.« Mordecai brachte ein Päckchen zum Vorschein, das in Seidenpapier gewickelt war, und legte es vor Cantrell auf den Tisch. »Du sollst dir einen von diesen drei Steinen aussuchen – die wur den alle im Schnellkochtopf produziert. Der hellblaue, der wie Plastik aussieht, ist ein Kars' Zat Nummer eins, der eine dunkelblaue in der schwarzen Gesteinshülle ist ein erstklassiger Wilson und der andere ein Wilson Hill-Aggregat in einer Feueropalhülle.« Die drei Steine lagen auf dem Schreibtisch zwischen den Plastikmünzenmodellen und schimmerten im Nachmittagssonnenlicht. Cantrell studierte sie eine zeitlang. »Ich nehme den erstklassigen Wilson Hill«, sagte er schließlich. »Die anderen sind zwar schön, aber meine Mutter hätte sie nicht getragen.« »Travis hat sich gedacht, daß du dich dafür entscheiden würdest. Er meinte, dieser Wilson Hill würde mit dem Design harmonieren.« Mordecai packte die Steine wieder ein und verstaute sie mitsamt den Plastikmünzenmodellen in seinem Aktenkoffer. »Willst du die Münzen im NAU-Kupfernickelsandwich haben?« »Nein«, erwiderte Cantrell. »Nimm reines Nickel. Das Zeug ist nur für den lokalen Gebrauch bestimmt, und je weniger es nach richtigem Geld aussieht, desto besser.«
»Okay«, stimmte der alte Maschinist zu. »Eine Nickelmünze ist ja auch viel hübscher. Möchtest du das endgültige Design be gutachten?« »Nein, ich verlasse mich auf deinen Geschmack. Oh – und das Motto ›Wir vertrauen auf Gott‹ muß verschwinden. Nimm lie ber so was, wie ›Fiat Lucre‹ oder ›Das Geld möge sich mehren‹.« »Klar, Gouverneur.« Mordecai lächelte leicht. »Wir wollen doch nicht an die Gitterstäbe von irgendwelchen Gefängnissen klopfen ...« Er nahm seinen Aktenkoffer auf, und Cantrell begleitete ihn zur Tür. »Ist die Halskette für Mishi?« fragte Marian. »Ja. Sie hat sich von ihrem Mann getrennt.« »Du solltest dich zu nichts verpflichtet fühlen.« »Tu ich auch nicht. Es war ihre Entscheidung.« »Warum hast du dich mit ihr eingelassen, Charles?« »Damals hielt ich das für eine gute Idee. Jedenfalls war es ein facher, als wenn ich mich nicht mit ihr eingelassen hätte. Du und Skaskash – ihr beide hattet gerade wieder versucht, mir einzureden, daß ich eine Dynastie gründen soll. Also, warum hätte ich mich nicht mit Mishi einlassen sollen?« »Es ist so traurig.« »Was ist los, Tiger?« »Es passiert so viel, ohne daß ich eine Gelegenheit finde, es zu analysieren.« »So ist das nun mal im Leben. Richter Corporate Skaskash hat übrigens ein Buch geschrieben.« »Über die Gesetze?« Cantrell schüttelte den Kopf. »Über die Religion – dreitausend Seiten, in fünf dicken Schwarten. Er will eine Staatsreligion auf Rosinante etablieren.« »Steht das in dem Buch?« »Ich habe nicht reingeschaut. Skaskash hat es mir erzählt, als ich ihn fragte, warum er es schreibt.« »Auf eine Staatsreligion können wir leicht verzichten.« »Um die Wahrheit zu gestehen, ich habe nicht darüber nachgedacht, Tiger.« »Ach, zum Teufel, Charles – die Essenz aller Staaten ist die Politik, die Zuteilung seltener Rohstoffquellen ohne Gewalt akte.« »So?« »In einem religiösen Staat lautet die höchste Priorität: ›Das ist Gottes Wille.‹ Ein Anspruch, der oft von idiotischen Phantasten und ideologischen Fanatikern benutzt wurde. Aus irrationalen Gründen. Viele Zivilisationen sind untergegangen, aber die Erde hat alles überdauert. Und
Rosinante ist sehr verwundbar.« »Rosinante ist hart und zäh und wird eine ganze Menge verkraften.« »Die Erde überlebt. Aber wie lange wird Rosinante durchhalten – ohne Unterstützung?« »Fünf Jahre – vielleicht zehn ...« »Da siehst du es. Mundito Rosinante wird den Verfall der Zivilisation, die ihn gebaut hat, nicht mehr miterleben.« »Der Mundito und das Volk sind eins.« »Was?« »So ist Band III von Skaskashs Werk betitelt, Tiger«, antwor tete Cantrell. »In letzter Zeit zeigt die Erde gewisse Ermüdungs erscheinungen – und Tränen.« »Die Ozonschichten?« »Auch das.« Er ging zu den Vorhängen und zog sie zu, um den Lichtstrom aus den unzähligen regulierten Spiegeln auszusperren, die den Nachmittagssonnenschein nachahmten. Aus der St. Louis Star Post (5. Morgenausgabe) TÖDLICHER UNFALL IN U-BAHNSTATION! 13. Januar. Ein unbe kannter Mann wurde gestern abend in der Busch Plaza-U-Bahnstation vor einen Zug gestoßen. Er wurde auf die Intensivstation der BarmherzigenSchwestern-Klinik gebracht, wo man seinen Tod feststellte. Die Polizei untersucht die Todesursache und kann derzeit noch keine Erklärung abgeben. Aus der St. Louis Star Post (7. Morgenausgabe) OMBUDSMANN IN U-BAHNSTATION TÖDLICH VERUNGLÜCKT! 13. Januar. J. Willard Gibson, lizensierter Ombudsmann, wohnhaft in Pineridge, Illinois, 4401 Lightfoot Lane, fiel oder sprang gestern abend in der Busch Plaza-U-Bahnstation vor einen Zug. Er wurde auf die Intensivstation der Barmherzigen-Schwestern-Klinik gebracht, wo man seinen Tod feststellte. Die Polizei untersucht die Todesursache. Vermutlich handelt es sich um einen Unfall. Aus der St. Louis Star Post (letzte Ausgabe) OMBUDSMANN IN U-BAHNSTATION TÖDLICH VERUNGLÜCKT! 13. Januar. J. Willard Gibson, ein lizensierter Ombudsmann, wohnhaft in Pineridge, Illinois, 4401 Lightfoot Lane, sprang offenbar gestern abend in der Busch Plaza-U-Bahnstation vor e inen Zug. Er wurde auf die
Intensivstation der Barmherzigen-Schwestern-Klinik gebracht, wo man nur noch seinen Tod feststellte. Ein Sprecher der Polizei sagte, daß es sich ›wahrscheinlich‹ um Selbstmord handelt, und erklärte den Fall vorerst für abgeschlossen. 22
Commander John R. Lowell, Kapitän der NAUSS Ciudad Juarez, stand mit Gouverneur Cantrell in einer ruhigen Ecke des Flughafens, um anwesend zu sein, während die Schiffsladung unter der Aufsicht seines Exekutivoffiziers gelöscht wurde, ohne jedoch seine Gegenwart allzu auffällig zu demonstrieren. »Wenn ich mich bei den Manövern auf Ceres nicht blamiere, werde ich vielleicht im nächsten Jahr zum Captain befördert, Gouverneur.« »Sind Sie dafür nicht ein bißchen zu jung?« fragte Cantrell. »In einem Jahr werde ich sechsundzwanzig. Heutzutage ist das nicht mehr jung für einen Captain, Sir.« »Und dann?« fragte Cantrell geistesabwesend und sah zu, wie die Männer die Liftkabine wieder ausräumten und neu beluden, um Platz für einen weiteren Ausrüstungsgegenstand zu schaffen. »Dann werde ich fünf oder sechs Jahre Dienst tun und danach in die Politik gehen – oder ich übernehme ein Amt in der NAURA-Navy. Natürlich nur, wenn kein Krieg ausbricht. Werden Ihre Leute die Geräte für die Klinik inventarisieren? Ich finde, es ist keine gute Praxis, die Container auf dem Flughafen zu entsiegeln.« »Das gilt vermutlich für Laputa, Commander, aber nicht für Rosinante. Ich dachte, ein Krieg wäre inzwischen unmöglich geworden?« »Der Mensch ist ein Schlechtwettertier, Sir. Der Krieg ist ein urtümliches Bedürfnis unserer Rasse, und wir werden ganz bestimmt einen Anlaß finden, um irgend jemandem den Krieg zu erklären.« »Wie nett! Von solchen philosophischen Betrachtungen mal abgesehen – Sie rechnen also mit einem Krieg?« »In der Tat – ja. Wissen Sie, es gibt verschiedene Kriegsarten: den Polizeikrieg, den Krieg innerhalb eines Staates, den Armeekrieg, den Krieg an der Peripherie eines Staates, den Navy-Krieg, den Krieg, der vom Staat aus über weite Strecken hinweg geführt wird. Auf der Erde wurden solche Entfernungen ausgemerzt. Die Staaten sind wie ummauerte Städte, die einander über gemeinsame Burggräben hinweg anblicken. Sie schauen auf den Pazifik und zählen die Möwen. Auf der Erde ist kein Platz mehr für die
Navy, und ein Army-Krieg wäre zu expansiv. So hat man sich statt dessen für den Polizeikrieg entschieden.« »Terroristen und Saboteure?« »Und Konterterroristen und Spione und bestechliche Politiker.« »Nennen Sie mir bitte ein Beispiel«, sagte Cantrell. »Zum Beispiel die Panoblancos. Sie machen sich für die mexikanische Unabhängigkeit stark. Und das japanische Geld macht sie noch stärker.« »Das ist nichts Neues – und das ist genaugenommen auch kein Krieg.« »Es gibt da einen gewissen Zusammenhang mit dem Polizeikrieg; die NAU befürchtet, daß das alte Regime wieder eingesetzt wird, und die Panoblancos streben ein freies Mexiko an, in klusive Texas, Arizona, NeuMexiko und Südkalifornien. Die Anhänger des alten Regimes und die Panoblanquistas haben also einen gemeinsamen Feind – eine Tatsache, die von niemandem übersehen werden kann.« »Hören Sie, Lowell, das alte Regime ist tot. Niemand wird es wieder zum Leben erwecken.« »Da bin ich ganz Ihrer Meinung, Gouverneur Cantrell – aber warum sprechen Sie diese Wörter nicht aus? Die Vereinigten Staaten von Amerika.« Lowells Finger strichen ganz zart über Cantrells Unterarm, unterhalb des hochgekrempelten Hemdsärmels. »Eine Gänsehaut«, murmelte er. »Sie sind zumindest bewegt. Ich maße mir nicht an, Ihnen zu sagen, auf welche Weise...« Eine zeitlang standen sie schweigend nebeneinander. Die Frachtliftkabine war endlich vollbeladen und begann ihre lange Fahrt in die Tiefe. Lowell griff in seine Tasche und zog eine kleine Anstecknadel aus Gold und Emaille hervor – Sterne und Streifen, die den mexikanischen Adler durchkreuzten. »Das habe ich Mr. Jimenez weggenommen, der gerade mit seinen Kameraden die Fracht löscht. Er war betrunken – sonst hätte er das Ding nicht herumgezeigt. Wenn das der Politische Offizier gesehen hätte, wäre Jimenez nach siebenundzwanzig ehrenvollen Dienstjahren mit Schimpf und Schande aus der Navy ausgestoßen worden. Wußten Sie, daß die Navy hinsichtlich ihrer Loyalität einen etwas zweifelhaften Ruf genießt, Gouverneur?« Cantrell schüttelte den Kopf. »Es stimmt – das Navy-Bauprogramm wurde eingeschränkt, weil die Regierung die Navy als Brutstätte des Aufruhrs betrachtet. Wenn man mit dem alten Regime sympathisiert, ist man natürlich von vornherein suspekt.« Er steckte die Nadel wieder ein. »Heute sind wir die Ersten im Weltraum – aber nur mehr mit knapper Müh und Not. In fünf Jahren ist das vielleicht anders ...«
»Was wird dann geschehen?« Lowell zuckte mit den Schultern. »Manche Leute machen Karriere, indem sie Krieg spielen.« »Ein Krieg im Weltraum?« fragte Cantrell. »Wo könnte man besser Krieg führen? Wahrscheinlich wird sich der Polizeikrieg ausdehnen, und man wird eine Säuberungs aktion durchführen, um die Navy von illoyalen Elementen zu befreien. Natürlich wird sehr viel davon abhängen, wie sich die Dinge auf der Erde entwickeln werden. Die Polizei ist gegen ein freies Mexiko – und die Geister des alten Regimes werden an mehreren Fronten kämpfen. Ich würde einen Navy-Krieg vorziehen. Der wäre sauberer – und weniger blutig.« »Ich verstehe«, erwiderte Cantrell. Einer der Rosinante-Arbeiter kam mit einem Aktendeckel voller Papiere zu ihm. Er blätterte in den grünen und weißen Bögen, bis er ein orangegelbes Dokument fand, das er hervorzog. »Damit haben wir Probleme«, sagte der Arbeiter. »Da steht was von einer überzähligen UHR-CAT-Video-Abtastung, die wir nicht haben – und kein Wort von einem IBM GR/W 42-B4, den wir offensichtlich haben.« »Merkwürdig«, meinte Cantrell. »Das Formular 6335-A wurde am 13. Januar datiert. Gibson muß es an seinem Todestag unterschrieben haben ... « Er studierte das Blatt. »Mit den Finanzen habe ich nichts zu tun«, sagte Lowell. »In Laputa kam das Ding an Bord. Die Frachtkosten waren bereits bezahlt – aber wenn Sie das Formular unterschreiben, wird das Finanzministerium trotzdem aus irgendwelchen geheimnisvollen Gründen bereit sein, die Navy zu entschädigen.« Cantrell runzelte die Stirn. »Ich dachte, Will wäre am 12. gestorben. Ja, er starb am 12. – ich bin ganz sicher. Wo ist die Ma schine?« »Im Lift«, antwortete der Arbeiter. »Er fährt gerade zur ande ren Seite runter.« »Nun, es hat sicher keine Eile.« Cantrell unterzeichnete das Formular und gab es zurück. Dann öffnete er das Telefon an seinem Gürtel. »He, Skaskash, erinnern Sie mich daran, daß ich in den nächsten Tagen den überzähligen Gegenstand checke, der mit der 6335-A-Fracht gekommen ist.« »Vermutlich handelt es sich um Corporate Susan Brown«, sagte Corporate Skaskash. Das Spiegelmosaik, das die rechte Seite von Mundito Rosinante umgab, war so programmiert, daß es das Sonnenlicht simulierte, das auf den
vierzigsten nördlichen Breitengrad der Erde fiel. Die Pfetten auf der rechten Seite waren so justiert, daß Wasser, Luft und Temperatur ein Meeresklima imitierten. Pfette fünf, ein 50 Kilometer langes und 3,5 Kilometer breites Rechteck, war mit Wiesen und Kornfeldern, Weingärten und Olivenhainen, Obstgärten und Fischteichen ausgestattet. Rosinantes Milchkühe waren aus ihrem beengten Quartier im Beta-Phytotron hierher übersiedelt, und das Kyoto-Alamo-Gerüst klebte nun mit der Rückfront an der Innenkapsel, am Gipfel des Hügels, der sich über dem Flughafen erhob. Ein Dorf wuchs all mählich heran, als die Kaytees aus ihren transportablen Apartments auszogen und Häuser bauten. Mrs. Mishi Dalton Cantrell verließ den Flughafen und ging die Straße hinunter zur Klinik für werdende Mütter, einem nie deren Gebäude mit weißen Stuckwänden und Topfzitronenbäumen in der Halle. In der Rezeptionsloge stand ein langer Telekonferenzschirm, der Susan Brown als junge Frau mit haselnußbraunen Augen und blondem Haar zeigte. Auf einer kleinen Stupsnase saß eine große Hornbrille. Auch die Stimme, das Vokabular und die Sprachschemata folgten exakt dem Vorbild der verstorbenen Dr. Susan Brown. Aber es gab einige Unterschiede. Die lebende, atmende Susan Brown hatte Pizza mit Anchovis, Jazz und Bergund-Tal-Bahnen geliebt. Ihr Ebenbild auf dem Bildschirm würde niemals mit Kräusellocken erscheinen oder das Haar zu einem festen Knoten zusammendrehen und dann die Strenge dieser Frisur mit baumelnden Zigeunerohrringen Lügen strafen. Dieses Ebenbild würde niemals altern oder Falten bekommen oder sich sonstwie verändern. Und das Gehirn hinter dieser Manifestation betrachtete sie als Fassade, die ihm im Umgang mit den Menschen, unter denen es existierte, sehr nützlich war. Das Gehirn von Corporate Susan Brown war eine bemerkenswerte Fusion von Computern mit verschiedenen hochqualifizierten Fähigkeiten. Eine Diagnostikerin, eine Chirurgin und eine Strategin vereinigten sich, um von der noch unvollkommen verstandenen Architektur des R-Komplexes zu profitieren. Das Gehirn war mit außerordentlich subtilen und wirksamen Instrumenten durchsetzt und widmete sich hauptsächlich den Proble men, mit denen sich Dr. Susan Brown zum Zeitpunkt ihres Todes befaßt hatte. Der Sprengsatz, der ihr Leben und ihr eben erst fertiggestelltes Forschungswerkzeug zerstört hatte, traf das Rockefellerinstitut wie ein harter Schlag auf eine Ketchup-Flasche. Im kurzen Zeitraum von zwei Jahren wurden Unmengen von psychischer Energie und Geldmitteln verbraucht. Die Motive, die dahinter steckten, variierten ebenso wie die Menschen, die darin verwickelt waren. Man wollte ein Denkmal für eine
Freundin errichten, man war nicht bereit, einen Forschungszweig aufzugeben, den die Politik abschaffen wollte. Und nun fand man eine Möglichkeit, ein diffiziles Problem mit eleganter Computertechnik zu lösen. Das Resultat dieser Aktivitäten war unerwünscht und unverdaulich wie ein ganzer Teller voll Ketchup. Corporate Susan Brown strebte erfolgreich die Autonomie an, dann interne politische Unterstützung im Institut, so daß sie nicht abgeschaltet, auseinandergenommen oder von irgendwelchen selbstherrlichen Leuten neu programmiert werden konnte. Und dann begann sie auf subtile Weise und mit unerschütterlicher Beharrlichkeit die Forschungsarbeit fortzusetzen, die ihre Namensvetterin vernichtet hatte. Die Institutsleitung nutzte die Gelegenheit, die sich durch J. Willard Gibsons Initiative bot, und verschiffte die widerspenstige Maschine nach Mundito Rosinante. Das Institut bezahlte sogar die Frachtkosten. Corporate Brown hatte nichts gegen die Reise einzuwenden, denn sie hatte das Gefühl, daß sie ihre Forschungsarbeit im Weltraum mit Erfolg abschließen könnte. Lächelnd sah sie Mishi an. Susan Brown hatte ein Grübchen in der rechten Wange gehabt, das sich nun zeigte. »Hallo, Mrs. Cantrell! Ich erwarte Sie in Zimmer 105.« Mishi ging den Flur entlang und betrat 105, eine Kammer von zwei mal drei Metern, ausgestattet mit e inem Kleiderständer, einem Stuhl, einem Telekonschirm an einer Wand und einem Untersuchungsmodul an der gegenüberliegenden Seite. Der Tele konschirm leuchtete auf, als sie die Tür schloß. »Guten Morgen«, sagte Corporate Brown. »Bitte, setzen Sie sich.« Die Gestalt auf dem Bildschirm nahm die Illusion eines Aktenordners von der Illusion eines Schreibtisches und fing zu lesen an. »Beide bei ihrem letzten Besuch entnommenen Eier wurden erfolgreich mit den Samen verheiratet, die Sie mitgebracht hatten.« Sie blätterte die Illusion einer Seite um. »Der Fötus ist männlich und müßte später bis zu einer Größe von eins siebzig oder eins einundsiebzig heranwachsen, mit einer Prädis position, die eher auf Schnelligkeit als auf Körperkraft abzielt. Ausgezeichnete Koordination und physisches Durchhaltevermögen. Starke RechtsgehirnhemisphärenDominanz – er wird also Linkshänder werden. Intelligenzquotient im Bereich von einszwanzig.« Ein Foto erschien auf dem Telekonschirm. »So wird er voraussichtlich mit zwanzig aussehen.« »Wie sein Vater«, meinte Mishi. »Die hohen Backenknochen und die Adlernase – genau wie bei Cantrell.« »Auch die Augen«, fügte die Illusion auf dem Bildschirm hinzu; »was durch die teilweise epitheliale Lidfalte leicht verdeckt wird.« Susan Brown blätterte wieder die Illusion einer Seite um. »Fötus zwei ist männlich und
müßte eins achtundsiebzig oder eins neunundsiebzig groß werden – und sehr kräftig. Exzellente Koordination, aber nur durchschnittlich gutes Durchhaltevermögen. Eher ein Sprinter als ein Langstreckenläufer. Leichte Rechtsgehirnhemisphären-Dominanz, Intelligenz quotient um einsdreißig.« Ein zweites Bild tauchte neben dem ersten auf. »Sie sehen beide sehr gut aus«, sagte Mishi. Die Fotos verschwanden, und nun zeigten sich zwei winzige Neugeborene. »Ich will Ihnen nichts schmackhaft machen«, erklärte Corporate Brown. »Das da werden Sie erst einmal bekommen.« Sie machte eine kleine Pause. »Sie können sich einen aussuchen oder beide nehmen. Sie hätten durchaus die erforderliche Konstitution, um Zwillinge auszutragen.« »Glauben Sie, daß Mr. Charles etwas gegen Zwillinge hätte?« »Wahrscheinlich nicht. Das wären seine ersten Kinder.« »Dann nehme ich beide«, verkündete Mishi mit einer Selbstsicherheit, die sie im Grunde gar nicht empfand. »Ziehen Sie sich bitte aus.« Die Gestalt auf dem Bildschirm klappte den Aktenordner zu und legte ihn beiseite. Das Untersuchungsmodul öffnete sich wie eine große Blume. »Es wird nicht weh tun – nur ein bißchen ...« Dr. Marian Yashon saß in ihrem elfenbeinweißgrünen Büro und überprüfte den Spielstand ihrer Go-Partie mit Corporate Brown. Schließlich hielt sie einen schwarzen Stein hoch. »Ich gewinne. Sie können mir zwei Steine wegnehmen – aber mehr nicht.« »Vielleicht nicht«, stimmte die Computerstimme zu, die ohne Bild transmittiert wurde. »Sollen wir noch einmal spielen – mit einem Handikap von drei Steinen?« »Jetzt nicht. Mishi hat mir gesagt, daß sie Zwillinge erwartet.« »Das stimmt.« »Sie hat mir auch ein paar Einzelheiten erzählt, wie sie die meisten Mütter erst nach der Geburt wissen, Brown. Und was haben Sie ihr verschwiegen?« »Dieser Prozeß ist ziemlich komplex. Was möchten Sie denn wissen?« »Haben Sie zum Beispiel eine Neuformung der Gene vorgenommen?« Marian begann die Spielsteine in eine Schachtel zu legen. »Nicht in dem Sinne, wie ich diesen Begriff verstehe«, antwortete Corporate Brown vorsichtig. »Das kann eine sehr anstrengende, zeitraubende Arbeit sein. Ich habe mich mit ein paar kleinen Korrekturen und Transpositionen begnügt – eher im Stil einer Schere-und-KleisterProzedur als einer echten Neuformung. Man könnte das als kreative redaktionelle Leistung bezeichnen.« Marian stellte das Go-Spiel in die Schublade, zusammen mit dem kleinen
Steinkran, den der Computer benutzte, um seine Züge zu machen. »Sprechen Sie weiter.« »Fangen wir mit dem Ei an. Man kann es mühelos einem klonischen Verfahren unterwerfen, und bis zu e inem gewissen Zeitpunkt – normalerweise bis zur vierten Teilung – kann man die Zellen trennen und den Prozeß umsteuern. Dann kann das Ei befruchtet werden, natürlich in vitro. Ich hatte ein Dutzend befruchtete Eier, drei männliche, neun weibliche, und suchte die besten Gene für die zwei Individuen aus, die ich Mishi gab.« »Haben Sie die Individuen ausgewählt – oder neue Individuen aus ihren verschiedenen Teilen zusammengesetzt?« »Selbstverständlich das letztere.« »Ausschließlich aus dem genetischen Material der Eltern?« »In diesem Fall – ja. Für gewöhnlich arbeite ich nicht mit – wie nennen Sie das? – Gen-Banken. Die Zivilisation hat für das Überleben der suboptimalen Gene gesorgt, aber die kommen weniger häufig vor, als Sie vielleicht glauben. Ich eliminiere nur die eindeutig defekten Gene, die zum Beispiel Farbenblindheit hervorrufen, Taubheit, Epilepsie, Albinismus oder Hämophilie. Alles in allem gibt es etwa hundert solcher Gene.« »Bewundernswert. Und was tun Sie sonst noch?« »Ich etabliere e ine Grundlage für das eventuelle Studium der physiologischen Intelligenzbasis«, entgegnete Corporate Susan Brown. »Ich weiß, daß sich die Menschen dagegen wehren, doch ich schlage auch gar nicht vor, dergleichen zu veröffentlichen. Aber Ihre Gemeinde wird von all den Krankheiten befreit werden, die sozusagen als das Erbe der Menschheit gelten. Ihre Gewichtsprobleme sind zum Beispiel mit einiger Sicherheit auf ein einziges rezessives Diabetes-Gen zurückzuführen.« »Aber wenn Sie das alles nicht veröffentlichen – warum betreiben Sie diese Studien überhaupt?« »Ich werde wissen, was dabei herauskommt«, antwortete die körperlose Stimme. »Und das genügt.« »Mein Gott!« rief Marian. »Aber – Sie sind doch kein Mensch ...« »Das stimmt. Im Institut mußte ich allerdings vortäuschen, menschlich zu sein – weil das notwendig war.« »Und hier halten Sie das nicht für notwendig?« »Nein. Hier übe ich eine vitale Funktion im Leben der Gemeinde aus – und zwar auf ausgezeichnete Weise. Ich habe einen Kundenkreis – und die Möglichkeit, ihn zu beobachten.«
23
Charles und Mishi Cantrell geben mit großer Freude die Geburt ihrer Zwillingssöhne bekannt Charles Cesar, 3160 Gramm und Willard Kim, 3350 Gramm geboren am 30. November 2040, um 10'30 und 13'05 zuhause Aus der St. Louis Star Post MGD ÜBERFÄLLT HAUPTQUARTIERE DES FREIEN MEXIKO! 30. November. Gestern abend koordinierte der Militärische Geheimdienst (MGD) die Zivil- und die Militärpolizei, um eine Razzia im Hauptquartier von La Partie Liberdad Mexico in Me xico City und Los Angeles durchzuführen. Ein Dutzend Mit glieder der prominenten PanoblancoFamilie wurde verhaftet, weitere stellte man unter Hausarrest, wie ein MGD-Sprecher heute bekanntgab. Man nimmt an, daß diese Aktion den organisierten Kampf für die mexikanische Unabhängigkeit beenden wird. Die gestrigen Razzien fanden statt, nachdem Präsident Forbes ein Notstandsdekret unterschrieben hatte, das die Habeas Corpus-Verfügung zeitweise außer Kraft setzt. Heute morgen bei der Pressekonferenz sagte Pressesprecher William Walker, der Präsident hätte nun alle friedlichen Mittel erschöpft, mit den Panoblancos und ihren Verbündeten, den Anhängern des alten Regimes, fertig zu werden. Und so hätte er mit großem Widerstreben das Notstandsdekret unterzeichnet, das nur für einen gewissen Zeitraum gelten soll. Auf die Frage, wie lange es rechtskräftig bleiben würde, antwortete Walker, schätzungsweise 3 bis 90 Tage. Aus der St. Louis Star Post (5. Morgenausgabe) LEBENSMITTELPREISE STEIGEN! 1. Dezember. Unter dem Eindruck des Notstandsgesetzes reagierte das Land heute eher ruhig, als die Regierung eine massive Anhebung der Lebensmittelpreise bekanntgab. Ein Sprecher des NAURA-Landwirtschaftsministeriums erklärte, die Preissteigerungen wären auf die diesjährige schlechte Getreideernte zurückzuführen, die den projektierten Zielen nicht entsprochen hätte. Dies wiederum wird dem historischen Dürrezyklus zuge schrieben, der in diesem Frühling nicht wie erwartet durchbrochen wurde. Als er gefragt wurde, ob die Ozonschicht, nun seit zehn Jahren im Hoch, dafür verantwortlich wäre, gab der Sprecher keinen Kommentar ab (in späteren Ausgaben gestrichen). Auf die Frage, ob man
die Rekord-Weizen- und Sojabohnenexporte nach Japan zu diesem Zeitpunkt noch hätte aufschieben können, antwortete der Sprecher, diese Verträge wären schon im letzten Jahr abgeschlossen worden, um die Zahlungsbilanz auszugleichen, und könnten nicht rückgängig gemacht werden. NAURA-Sicherheitsdienst Militärischer Geheimdienst Navy P.O. 17 Laputa Station 16. Dezember 40 Lieber Mr. Cantrell, hiermit wird Ihnen mitgeteilt, daß Sie aufgrund von Informationen, die dieses Büro kürzlich erhalten hat, mit ernsthaften Vorwürfen im Zusammenhang mit der nationa len Sicherheit rechnen müssen. Um Ihre Unschuld zu beweisen und unsere Untersuchungen zu erleichtern, sollten Sie möglichst bald in diesem Büro vorsprechen. Wenn Sie nicht dazu bereit sind, könnte das schwerwiegende Folgen haben. Mit freundlichen Grüßen, /s/ R. O. Manning, i. V. Irving Mueller, Lt. Col., MGD Der Regierungsrat von Rosinante saß rings um einen dunkelgrauen ovalen Tisch aus einer Silikonkarbidfaser in einer Silikonlegierungsgrundmasse. Der Tisch war blank poliert und mit dem Rosinante-Logogramm in Gold intarsiert. An der Decke drehten sich ein paar Fächer langsam im Kreis, um die unzulängliche Klimaanlage zu unterstützen. Lichtgadenfenster beleuchteten die weiße Decke, und ihre Bogenformen wurden auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes von kühlen blauen Spiegeln reflektiert. Der Regierungsrat bestand aus Gouverneur Charles Cantrell, Dr. Marian Yashon und Richter Corporate Skaskash, der die Cantrell-Stiftung vertrat; Ivan ›Big John‹ Bogdanovitch und Don Dornbrock fungierten als Gewerkschaftssprecher; J. Wil liam Wilson fungierte als Abgeordneter der Ginger-Gruppe, nachdem er ziemlich planlos gewählt worden war, und Corporate Forziati vertrat Gyfox, die Minorität der Aktionäre von der Rosinante-AG. »Zunächst steht der Verkauf von achtzigtausend Tonnen Weizen zur Debatte«, sagte Cantrell. »Nachdem wir Gyfox für den Transport nach Laputa bezahlt hatten, konnten wir einen Gewinn von dreißig Millionen siebenhunderttausend NAU-Dollar verbuchen. Will irgend jemand
beantragen, dieses Geld für die Unterstützung der Rohstoffaktien zu verwenden?« »Ich«, sagte Forziati. »Ich auch«, fügte Marian hinzu. »Wer ist noch dafür? Antrag angenommen. Als nächster Punkt steht der Brunnen auf der Tagesordnung, der vor dem Kyoto-Alamo in Pfette fünf gebaut werden soll.« Wilson brachte ein Modell zum Vorschein und stellte es vor Cantrell auf den Tisch. »Wir haben fünf Frösche auf einem Lilienwurzelkissen, aus dem etwas herauswächst, das wie eine Wasserlilie aussieht. Das ganze Ding besteht aus emailliertem Gußeisen, mit Kupferröhren für den Brunnen.« »Der Brunnen soll auf der einen Seite des Spielplatzes stehen«, erklärte Wilson, »und es wäre auch für die jüngeren Kin der ungefährlich, darin zu spielen.« »Was kostet er?« fragte Forziati. »Nichts«, antwortete Wilson, »jedenfalls keine NAU-Dollars, nur die Arbeitskraft von Freiwilligen, ein bißchen Gußeisen und Kupfer.« »Er ist sehr hübsch«, meinte Marian. »Das farbige Muster besteht aus geschmolzenem Glas auf Eisen, nicht wahr?« »Das haben wir geändert«, erwiderte Wilson. »Das Glas bildet nur mehr den weißen Untergrund und wird mit geschmolzenen Epoxydharzen übermalt, wobei die dunkleren Farben einen niedrigeren Schmelzpunkt haben.« »Brauchen wir dieses Kinkerlitzchen überhaupt?« fragte Dornbrock. »Es hebt die Umweltqualität«, sagte Cantrell, »und es scheint auf seine individuelle Art kosteneffektiv zu sein.« »Warum verschwenden wir unsere Zeit?« fragte Forziati. »Stimmen wir doch einfach ab.« »Warum haben die dunkleren Farben einen niedrigeren Schmelzpunkt?« wollte Marian wissen. »Weil die helleren zuerst aufgetragen werden«, antwortete Wilson. Der Antrag wurde mit vier zu drei Stimmen angenommen. Forziati, Dornbrock und Bogdanovitch hatten dagegen gestimmt. »Als nächstes steht der Schießplatz zur Debatte«, verkündete Cantrell. »Pfette sechs ist ungeeignet, aus mehreren Gründen, ebenso der Asteroid Rosinante, obwohl wir beide zu diesem Zweck benutzt haben.« »Man könnte einen Schießplatz außerhalb des Mundito bauen«, schlug Skaskash vor. »Die Fehlschüsse, Querschläger und Zielscheibensplitter könnten die Struktur beschädigen«, meinte Bogdanovitch. »Wenn Sie uns genau
sagen könnten, wohin jeder Schuß gehen wird, wäre das natürlich kein Problem.« »Die Schüsse würden keinen großen Schaden anrichten«, erkärte Skaskash, »und wenn – dann nur sehr selten. Außerdem würde die Instandsetzungs-Crew eine Gelegenheit erhalten, ihr Können zu beweisen.« »Danke, Skaskash«, murmelte Bogdanovitch. »Ich vertrete dieselbe Meinung wie der Gouverneur – bitte, keine Schießplätze in unserer unmittelbaren Nähe.« »Wenn man die Retromontagen auch zu den Aufgaben der Instandsetzungs-Crew zählt, haben die ohnehin genug zu tun«, sagte Dornbrock. »›Die Wiese ist gefährliche, sagte der Großvater, ›wenn nun ein Wolf aus dem Wald kommt...‹«, zitierte Bogdanovitch aus Peter und der Wolf, »›... was würdet ihr denn dann tun?‹« »Wir könnten den alten Rinderschuppen in den unvollende ten Anlagen auf Don Quixote benutzen«, meinte Marian. »Dann hätten wir zeitweise ein Basiscamp in der Nähe des Asteroiden Don Quixote.« »Würden wir dann nicht in fremdes Gebiet eindringen?« fragte Forziati. »Wessen Eigentumsrechte würden wir verletzen?« konterte Cantrell. »In zehn oder zwanzig Jahren wird irgend jemand den Mundito beanspruchen und dort zu bauen beginnen, aber in der Zwischenzeit können wir einen Schießplatz und einen Außenposten auf Don Quixote errichten.« »Sie brauchen keinen Schießplatz«, erwiderte Forziati, »und Sie brauchen auch keinen Beobachtungsposten. Um Himmels willen, Sie können doch mit einem Operngucker sehen, was da drüben passiert.« »Wir legen einen Stein auf einen kritischen Schnittpunkt«, sagte Marian. »Das ist eine gute Aktion.« »Gegen wen?« stieß Forziati hervor. »Gegen den MGD«, antwortet Skaskash. »Der NAURA-Sicherheitsdienst hat beantragt, die Cantrell-Stiftung von der Liste zu streichen und die Rosinante-AG aufzulösen. Das NAURA-Justizministerium und Senator Gomez' Büro haben einen Gegenantrag gestellt, und derzeit ist alles in der Schwebe.« »Warum hat es der MGD auf Sie abgesehen?« fragte Forziati. »Das hat man mir nicht gesagt«, entgegnete Cantrell. »Die Anträge wurden gestellt, nachdem ich mich geweigert hatte, ins Laputa-Büro zu kommen und meine Unschuld an einem Vergehen zu beweisen, das sich der MGD näher zu spezifizieren weigert. Vermutlich ist man der Ansicht, meine Verbindung mit Mitsui-Skalaweb würde darauf hinweisen, daß ich mit der mexikanischen Unabhängigkeitsbewegung sympathisiere.«
»Man kann nicht gegen das Rathaus kämpfen«, sagte Forziati. »Warum spielen Sie mit Schießplätzen herum.« »Der MGD hat in letzter Zeit eine Menge Unsinn gemacht«, erwiderte Cantrell, »und ich will dafür sorgen, daß dem Mundito Rosinante Gerechtigkeit widerfährt.« »Sehr gut«, sagte Bogdanovitch. »Das unterstütze ich und beantrage hiermit, einen temporären Stützpunkt sowie einen Schießplatz auf Don Quixote zu etablieren.« »Ich auch«, erklärten Corporate Skaskash und J. William Wil son einstimmig. Der Antrag wurde mit sechs zu null Stimmen angenommen, wobei sich Forziati der Stimme enthielt. Am Kapitänstisch in der Offiziersmesse der NAUSS Ciudad Juarez saß Commander John R. Lowell mit Commander Stanton, dem Politischen Schiffsoffizier, sowie zwei Männern vom MGD – dem kleinen, untersetzten Major Gerald Terry, dessen rotes Haar von grauen Strähnen durchzogen war, und First Lieutenant O. J. Holt, dem kleinen blonden Adjutanten des Majors, der große, narbige Hände hatte. Nachdem der Servier-Roboter die Teller abgeräumt und den Kaffee gebracht hatte, lehnte sich Commander Stanton zurück. »Sie haben ein Problem erwähnt, Kapitän?« »Das da.« Commander Lowell legte einen Aktenordner auf den Tisch. Er enthielt mehrere Hochglanzfotos, Vergrößerungen von hervorragender Qualität. »Hier sehen Sie die leerstehenden Anlagen auf Don Quixote, vor sechs Wochen durch das große Teleskop auf Laputa aufgenommen, etwa um die Zeit, als wir diese Aktion begonnen haben. Beachten Sie bitte das umringelte Areal. Das zweite Foto wurde heute gemacht, von einem etwas anderen Blickwinkel aus. Hier ist dasselbe Gebiet umringelt.« »Schaut wie ein Phytotron aus«, meinte Stanton. Lowell nickte. »Das ist es auch. Die vergrößerte Aufnahme eines militärischen Nachstoßes.« Das Phytotron, das die Temperatur, die Luftfeuchtigkeit und die Lichtflut über der Weide kontrolliert hat, auf der die Rosinante-Milchkühe grasten, trug die Aufschrift ›Rosinante-Miliz-Rinderschuppen-Camp.‹ Lowell fuhr fort: »Dies ist ein Foto vom Asteroiden Don Quixote – und hier dieselbe Ansicht, heute fotografiert. Betrachten Sie bitte die provisorischen Anlagen auf dem Polarflugplatz. Eindeutig ein Schießplatz – ein Exerziergelände.«
Major Terry wickelte eine Zigarre aus. »Und worin besteht das Problem?« »Rosinante hat ein Camp in dem Areal aufgeschlagen, wo wir zu landen beabsichtigen, Major«, erklärte Commander Lowell. Der Major zündete die Zigarre an. »Na und?« Er paffte eine Rauchwolke in die Luft. »Ich nehme an, daß Sie die Leute nicht wegsprengen können.« »Diese Möglichkeit hätten wir«, entgegnete Lowell kühl. »Darf ich den Major daran erinnern, daß es sein Plan war, die Ciudad Juarez dort zu parken, außerhalb der Reichweite von Cantrells Spiegeln – und dann Gouverneur Cantrell an Bord zu locken, unter dem Vorwand, daß unsere Kommunikationsgeräte nicht funktionieren?« »Mister Cantrell – nicht Gouverneur, lieber Commander Lowell«, korrigierte Terry, »Wie gut Sie sich den Plan gemerkt haben!« Er sog an seiner Zigarre. »Abgesehen von jenem Teil des Plans, in dem davon die Rede war, daß seine erfolgreiche Durchführung Ihre Loyalität widerspiegeln würde.« »Schon gut«, sagte Lowell ungeduldig. »Und was würde Ihrer Ansicht nach geschehen, wenn wir behaupten, unsere Kommunikationsgeräte wären kaputt, und sagen: ›Bitte, kommen Sie zu uns an Bord, Mr. Cantrell‹?« Lowell nahm einen Schluck Kaffee. »Ich werde es Ihnen erzählen. Mr. Cantrell wird antworten: ›Ach, ihr armen Jungs! Benutzt doch meine – gleich drüben im Rinderschuppen-Camp!‹ Er wird Sie in seiner Verblendung sogar auffordern, ihn Gouverneur zu nennen.« »Wir können uns weigern, seine Geräte zu benutzen, und verlangen, daß er an Bord kommt«, sagte Major Terry. »Der Major verfügt über eine bewundernswert direkte Denkungsart«, meinte Lowell. »Commander Stanton, angenommen, der Mister Cantrell weigert sich, unter diesen Umständen an Bord zu kommen. Möchten Sie dann St. Louis anrufen und erklären, er sei bereit, mit uns zu reden, wir würden es aber ablehnen, ihn anzuhören, und statt dessen verlangen, daß er seinen Hintern an Bord verfrachtet, um sich ins Verhör nehmen zu lassen?« »Ich erkenne das Problem«, erwiderte Stanton. »Diese rührseligen Liberalen in St. Louis würden uns ernsthafte Schwierigkeiten machen. Und wenn er unseren Bluff durchschaut, haben wir verspielt.« »Ein Bluff? Zum Teufel, wir können Rosinante doch angreifen!« stieß Terry hervor. »Um Himmels willen, Jerry!« protestierte Stanton. »Das wäre ja genauso, als würden wir einen Apartmentblock in die Luft ja gen, nur weil sich der Hausmeister weigert, die Tür aufzumachen.«
»Außerdem könnte der Angriff schiefgehen«, warf Lowell ein. »Wenn Sie in die Reichweite der Spiegel gerieten, würden Sie verbrennen.« »Sympathisieren Sie – persönlich – mit diesem Cantrell?« fragte Terry. »Was?« »Ein loyaler Commander würde nicht zögern, den Feind zu attackieren, wo immer er zu finden ist. Und Cantrell ist das wichtigste Mitglied der Panoblanco-Gang, das immer noch frei herumläuft. Wir müssen ihn schnappen.« »Schreiben Sie das auf«, schlug Lowell vor. »Ich geb's nach Laputa durch, und wenn wir von dort grünes Licht kriegen, sage ich zu Cantrell: ›Ergeben Sie sich, oder Sie müssen sterben !‹« »Das können wir nicht machen, Jerry«, meinte Stanton be schwichtigend. »Seine Schuld ist noch nicht erwiesen.« »Zum Teufel!« schrie Major Terry. »Wir wissen doch, daß er schuldig ist!« »Du weißt es, und ich weiß es«, stimmte Stanton zu, »und Laputa ist sich auch ziemlich sicher, aber St. Louis weiß es noch nicht. Wir können nicht einfach losballern – das wäre unklug.« »Eile mit Weile«, murmelte Lieutenant Holt. »Blinder Eifer schadet nur.« »Und wie wollen wir an Cantrell herankommen?« fragte Terry mürrisch. »Die Liebe wird einen Weg finden«, murmelte Lieutenant Holt. »Nun, Commander Stanton«, sagte Lowell, »haben Sie ir gendwelche Vorschläge?« »Wenn unser Täubchen nicht zu uns kommt, müssen wir eben zu ihm fliegen«, entgegnete der politische Offizier. »Wir landen also auf Rosinante. Wir sind nett zu ihm, er wird leichtsinnig, begleitet uns zum Abschied an Bord – wir starten blitzschnell und bringen ihn nach Laputa.« »Das ist riskant, wegen seiner Miliz«, meinte Lowell, »aber mir fällt nichts besseres ein.« »Pah!« rief Terry. »Wir haben doch von Captain Ryan erfahren, daß sie nur alte Stangl-Gewehre haben und ... Nun ja, sie sind doch nichts weiter als eine Bürgerwehr. Wir landen.« 25
Die NAUSS Ciudad Juarez landete am 1. März 2041 auf dem Mundito Rosinante, wobei die Besatzung ihre vollendet professionelle Technik bewies. Commander Lowell gab einem Drittel der Crew Landurlaub auf einer rotierenden Basis, nachdem er sich bei einer persönlichen Inspektion
von der einwandfreien Rotation des Stützpunkts überzeugt hatte, und Major Terry stattete Gouverneur Cantrell seinen ersten persönlichen Besuch ab. Auf der Expreßlift-Transferstation wurde er von einem Trupp der Rosinante-Miliz in voller Kampfmontur gestoppt. »Guten Morgen, Sir«, sagte eine behelmte Gestalt, mit Kapitänsstreifen geschmückt. »Ich bin Captain J. William Wilson – Kommandant der AbleKompanie von der Rosinante-Miliz. Ich habe die Order, Sie mit aller mir zu Gebote stehenden Höflichkeit zu empfangen und Ihre Wünsche nach Möglichkeit zu erfüllen, aber Ihre Ehrenwache wird zum Flughafen zurückkehren müssen.« Die ›Ehrenwache‹, eine Abteilung von vierundzwanzig Mann, wechselte Blicke. Sie trugen neue Rüstungen aus einem glänzenden schwarzen Material, raffiniert gegliedert und sehr massiv. Diese Uniformen gewährleisteten einen besseren Feuerschutz als die Standard-Tyfsonrüstungen der Milizsoldaten, waren aber nicht so leicht zu manövrieren. Beide Truppen waren mit neuen Stangl-Modellen bewaffnet. Die AbleKompanie war Terrys Männern zahlenmäßig überlegen, in e inem Verhältnis von vier zu eins. Nichts von alledem spielte in den Überlegungen des Majors eine Rolle. Es genügte ihm, daß er mitten in einem Feuergefecht seine blaue Uniform tragen würde. »Sehr schön, Captain Wilson«, sagte er und erwiderte den Salut. »Lieutenant Holt, bringen Sie bitte die Ehrenwache zu ihren Posten an Bord des Schiffes zurück.« Auf Holts Kommando machte die Abteilung kehrt und stieg wieder in den Lift. Terry wandte sich erneut an Captain Wilson. »Wenn Sie nun die Güte hätten, mir einen Mann zuzuteilen, der mich zu Mr. Cantrells Büro führen könnte ...« »Ich bringe Sie selber hin, Sir. Warten Sie bitte einen Augenblick, ich muß nur aus meinem Anzug steigen ...« Als Major Terry das Büro des Gouverneurs betrat, arbeitete Cantrell an seinem Schreibtisch und blickte erst nach einer kleinen Weile auf. »Setzen Sie sich bitte«, sagte er dann, und der Major ging zu einem Stuhl vor dem Tisch. Wenn er sich unbehaglich fühlte, so zeigte er es nicht. »Soviel ich gehört habe, wollten Sie hier mit einem Trupp Marinesoldaten herumspazieren.« »Das war eine Ehrenwache, Mr. Cantrell.« »Natürlich, Mr. Terry. Oder ziehen Sie es vor, mit Major angesprochen zu werden?«
»Hm – ja, allerdings.« »Dann nennen Sie mich Gouverneur. Churchill sagte: ›Wenn man einen Mann töten wird, kostet es einen nichts, ihn höflich zu behandeln.‹« »Churchill ist schon lange tot, Mr. Cantrell, und zufällig bin ich Major, während Sie kein Gouverneur sind.« »Warum trug Ihre Ehrenwache volle Kampfmontur statt der blauen Uniformen?« »Die diensttuenden Soldaten tragen immer Rüstungen. Das gehört zur Routine.« »Ja, an Bord des Schiffes. Aber Sie sind an Land gegangen, um mir einen Höflichkeitsbesuch abzustatten.« »Der Truppenkommandant hat wohl nicht daran gedacht«, entgegnete Terry. In Wirklichkeit hatte der Truppenkommandant eine Vier-MannEinheit in blauen Uniformen abgestellt, war aber von Terry eines anderen belehrt worden. »Was für ein Tölpel!« sagte Cantrell. »Was wollen Sie?« »Nun, Mr. Cantrell, wir haben eine umfangreiche Korrespondenz zwischen Ihnen und den Panoblancos sichergestellt, die ernsthafte Zweifel an Ihrer Loyalität gegenüber dem Staat aufkommen läßt. Deshalb wird man Ihnen einige Fragen stellen müssen.« »Könnten Sie mir verraten, was das für Fragen sein werden?« »Nein, Mr. Cantrell. Die Angelegenheit ist äußerst delikat.« »Kann ich meine eigene Korrespondenz sehen?« »Nein, die gilt als Verschlußsache.« »Wie Sie wahrscheinlich vermuten werden, besitze ich Kopien meiner gesamten Korrespondenz.« Cantrell lehnte sich zurück und musterte seinen Gegner. »Wenn ich nun meine Akten studiere, um mich auf das Verhör vorzubereiten, dem man mich in Laputa unterziehen will, und um mich gegen die Anklage zu verteidigen, die Sie nicht genauer erläutern wollen – könnte das bedeuten, daß ich mich auch des ›unbefugten Einblicks in eine Verschlußsache‹ schuldig machen würde? Soviel ich mich erinnere, wird man für dergleichen mit ein bis fünf Jahren bestraft.« »Das stimmt – ich meine, was das Strafmaß angeht.« Major Terry, der auf der falschen Seite des Schreibtisches saß, fand dieses Gespräch ziemlich irritierend. »Aber wenn Sie bereit sind, nach Laputa zu fliegen, ließe sich sicher eine offizielle Erlaubnis arrangieren ...« Er verstummte. »... so daß ich meine eigenen Akten lesen kann, ohne dafür bestraft zu werden«, vollendete Cantrell den Satz. »Ihre Großzügigkeit beeindruckt mich tief. Aber ich habe meine Akten bereits studiert und sie auch anderen Leuten gezeigt – ohne offizielle Erlaubnis. Und wie sieht die offizielle
Position des MGD aus?« »Das hängt davon ab, ob Sie mir das alles offiziell mitteilen oder nicht, Mr. Cantrell. Wenn ja, dann steht es vermutlich schlecht um Sie und Ihre Freunde.« »Ich habe Einsicht in meine Akten genommen, nachdem man vage Andeutungen hinsichtlich meines Fehlverhaltens gemacht hat, aber ich habe nichts Ehrenrühriges gefunden.« »Der MGD ist offenbar anderer Meinung. Er glaubt allen Grund zu haben, Ihre Loyalität gegenüber der NAU anzuzweifeln.« »Ich bin der NAU treu ergeben. Trotz der Tatsache, daß Sie Unmengen von Panoblancos arretiert haben. Soll ich Ihnen das schriftlich geben?« Terry schüttelte den Kopf. »Jedenfalls hat man Sie beschuldigt, und Sie müssen nach Laputa kommen, um sich zu verantworten.« »Was sind das für Beschuldigungen?« »Schwerwiegende Beschuldigungen.« »Und wer hat sie erhoben?« »Das ist Verschlußsache.« »Und welches schwerwiegende Vergehen wirft man mir vor?« »Auch das ist Verschlußsache.« »Wissen Sie, Major Terry, es gelingt Ihnen nicht ganz, mein Vertrauen in die guten Absichten Ihrer Behörde zu wecken. Und wenn meine Sekretärin versucht hätte, Ihre Ehrenwache vor der Tür meines Büros zu stoppen, so möchte ich drauf wetten, daß die Leute ohne Zögern hereingestürmt wären.« »Das ist doch lächerlich. Paranoide Phantasie ...« »Das bezweifle ich«, entgegnete Cantrell. »Ebenso, wie ich bezweifle, daß mir ein MGD-Gericht samt Jury und Ankläger einen fairen Prozeß machen würde.« »In Laputa würden Sie das nicht sagen.« »Eine merkwürdige Äußerung, Major ... Und wenn ich es trotzdem sagen sollte, würde es niemand hören. Nun, da Sie mich nicht über die Beschuldigungen informieren wollen, die man gegen mich erhoben hat – würden Sie Ihre Vorgesetzten ersuchen, mich aufzuklären?« »Das will ich tun, aber man wird sich weigern. Es bleibt Ihnen gar nichts anderes übrig, als nach Laputa zu fliegen.« »Vielleicht«, sagte Cantrell. »Kommen Sie wieder, wenn Sie die Antwort Ihrer Vorgesetzten haben.« »Das könnte eine Woche oder zehn Tage dauern.« »Ich habe es nicht eilig, Major. Abtreten!«
Am 4. März 2041, um 23 Uhr 45 kam es in der Klinik für werdende Mütter in der Pfette fünf zu einer Explosion. »Hier gibt's Ärger«, sagte Corporate Susan Brown. »Eine mit Sprengstoff bewaffnete Person betrat das Gebäude. Als die Sicherheitsbeamten nicht reagierten, ließ ich die Sprengladung außerhalb meiner Datenbank detonieren, mit einem elektromagnetischen Impuls.« »Die Miliz ist bereits alarmiert«, berichtete Skaskash. »Eine Schwadron ist unterwegs. Was für ein Schaden wurde angerichtet? Welche Verluste haben wir zu verzeichnen?« »Ein Sicherheitsbeamter ist umgekippt. Ein Fuß liegt neben seinem Schreibtisch. Die Person, die den Sprengstoff ins Haus gebracht hat, ist ebenfalls zusammengefallen. Keine weiteren Verluste. Die Fenster sind zerbrochen, das Licht ist ausgegangen, und der Kopf einer Feuerlöschbrause in der Nähe des Explosionsherdes wurde zertrümmert, aber es ist kein Feuer ausgebrochen.« Sie machte eine kleine Pause. »Die Datenbank ist unbeschädigt.« »Hier Corporal Estes«, meldete sich eine Stimme. »Offenbar ist der arme alte Rudy mausetot.« »Checken Sie den Korridor zu Ihrer Linken«, sagte Brown. »Das Licht funktioniert nicht. Sie müssen also Taschenlampen mitnehmen.« »Okay«, erwiderte Estes. »Kommt, Jungs!« Glasscherben knirschten unter Stiefelsohlen. »Großer Gott, was für ein Durcheinander!« rief eine Stimme. »Der Kerl sieht aus, als wäre er von der Navy«, sagte Estes unbehaglich. »Kann denn nicht endlich jemand diese verdammte Brause abstellen?« »Schauen Sie sich das an, Corporal.« Eine Pause entstand. »He!« stieß Corporal Estes hervor. »Der Kerl hatte eine FünfzehnTonnen-Ladung. Der Auslöser muß sich bewegt haben, bevor er die Bombe irgendwo deponieren konnte.« »Nehmen Sie ihm die Fingerabdrücke ab«, sagte Brown. »Checken Sie seinen Ausweis«, sagte Skaskash. »Da steht: ›Holt, Oscar James‹«, berichtete eine Stimme. »›MGD 213144906, First Lieutenant‹« Wieder trat eine Pause ein, als man dem Toten die Fingerabdrücke abnahm. Dann kam irgend jemand mit Scheinwerfern und Kamera. »Drehen Sie seinen Kopf so, daß ich sein Gesicht sehen kann.« Um 23 Uhr 58 läutete Cantrells Telefon. »Sind Sie noch wach, Boß?« fragte Skaskash. »Wahrscheinlich – mehr oder weniger.« »Wir haben ein Problem in Pfette fünf, Boß. Ziehen Sie sich lieber an.«
»Was ist denn los, Charles?« fragte Mishi schläfrig. »Skaskash hat ein Problem«, entgegnete Cantrell. »Schlaf weiter. Was gibt's denn, Skaskash?« »Major Terrys Adjutant, Lieutenant Holt, wurde in der Klinik für werdende Mütter in die Luft gesprengt. Er ist tot.« »Ich ziehe mich an«, versprach Cantrell. »Er starb, als der Auslöser einer Fünfzehn-Tonnen-Sprengla dung vorzeitig betätigt wurde.« »Marian, bist du in der Leitung?« »Ich bin hier, Charles.« »Was sollen wir tun?« »Zieh dich erst mal an. Wir treffen uns im Büro.« »Da wäre noch was«, sagte Skaskash. »Corporate Brown hat den Toten als Joe Bob Baroody identifiziert.« »Sie sagten doch, es wäre Lieutenant Holt gewesen«, erwiderte Cantrell.« »Das war er auch – seinem Ausweis zufolge. Aber Lieutenant Holt war gleichzeitig Joe Bob Baroody.« Cantrell knöpfte sein Hemd zu. »Wie war das doch gleich mit Baroody? Helfen Sie meinem Gedächtnis auf die Sprünge.« »Das war der Bursche, der Dr. Susan Brown im Jahr 34 in die Luft jagte und der dann kurz vor Gibsons Tod in dessen Büro auftauchte und Drohungen ausstieß. Damals trat er als MGD-Beamter auf.« »Damals trat er als MGD-Beamter auf«, wiederholte Cantrell. Er beugte sich über das Bett, gab seiner Frau einen Kuß auf die Wange, und sie streichelte seine Hand. »Es sei denn, er war ein MGD-Beamter, der als Terrorist auftrat.« Er ging ins Büro, wo er bereits von Marian erwartet wurde. Die Kaffeemaschine war eingeschaltet, aber der Kaffee war noch nicht fertig. »Okay, Tiger«, sagte Cantrell. »Wieviel Zeit haben wir?« »Die Bombe war so getimt, daß sie in zweihundert Stunden losgegangen wäre. Man müßte mal rausfinden, ob Terry wußte, daß Holt mit Baroody identisch war.« »Wußte er es?« »Eine gute Frage. Ich möchte es fast glauben. Wird Terry die Erklärung, die du ihm geben wirst, akzeptieren?« »Nein. Er will mich hängen sehen. Die Fakten spielen keine Rolle.« »Bist du sicher?« »Ich würde mein Leben darauf verwetten.« »Das ist gut. Es sieht nämlich so aus, als hättest du nur zwei Möglichkeiten – dein Leben zu verwetten oder es zu verlieren. Und es ist
doch erfreulich, wenn man in einer solchen Situation weiß, was man tun soll.« Cantrell strich seufzend über seine Bartstoppeln. »Damit willst du vermutlich zum Ausdruck bringen, daß ich in Schwie rigkeiten bin.« »Das scheint der Fall zu sein, Cantrell.« »Ich schätze, jetzt ist Plan einundzwanzig fällig.« »Entweder das – oder Laputa. Jedenfalls rate ich dir dringend davon ab, nach Laputa zu fliegen.« »Skaskash?« rief Cantrell. »Hier, Boß.« »Alarmieren Sie die Miliz. Wir führen Plan einundzwanzig durch.« »Sofort, Boß! Operation Blackjack ist seit der Explosion in Bereitschaft.« »Wieviel Zeit habe ich noch, bevor ich zur Ciudad Juarez aufbreche?« »Zeit genug für einen Kaffee«, sagte Skaskash. »Eine Tasse.« »Du könntest dich noch rasieren«, schlug Marian vor. Cantrell nickte. »Okay. Der Kaffee ist ja noch gar nicht fertig.« Er nahm einen elektrischen Rasierapparat aus einer Schreibtischschublade und begann damit über sein Gesicht zu fahren. Das surrende Gerät entfernte die Barthaare schon bei der geringsten Berührung. »Bist du nervös?« fragte sie. Er beendete seine Rasur und wischte sich das Gesicht mit einem alkoholgetränkten Papiertuch ab, das er aus einem Automaten gezogen hatte. »Ich bin nervös«, gestand er. Marian füllte zwei Tassen mit Kaffee und reichte ihm eine. »Und ich mache mir auch Sorgen«, fügte er hinzu. »Was, zum Teufel, sollen wir tun, wenn Plan einundzwanzig Erfolg hat?« Um 1 Uhr 51 traf Cantrell in der Expreßlift-Transferstation ein. Im Quartier der Able-Kompanie schlüpfte er in einen Kampfanzug und fuhr in Begleitung Captain Wilsons und einer Fünf-Mann-Einheit zum Flughafen hinauf. Als sie aus der Liftkabine stiegen, wurden sie zunächst von Scheinwerfern geblendet, die auf die Tür gerichtet waren. Cantrell stolperte in der niedrigen Gravitation nach vorn, bis er von einem schwarzgepanzerten Wachtposten aufgehalten wurde. »Ich bin Gouverneur Charles Chaves Cantrell«, sagte er. »Ich muß unbedingt sofort mit Kapitän Lowell sprechen.« »Sie können weitergehen, Sir. Aber Ihre Männer müssen hierbleiben.« »Dann teilen Sie Kapitän Lowell mit, daß ich hier mit ihm zu konferieren wünsche. Ich werde die Ciudad Jurarez nicht allein betreten.« Eine kurze Debatte kletterte die Kette der Dienstgrade hinauf und hinunter. Dann verkündete der Wachtposten: »Der Gouverneur und seine
Begleiter dürfen an Bord kommen. Commander Lowell wird ihn in wenigen Minuten empfangen.« Die Schiffsschleuse öffnete sich, ein gelb erleuchteter Ein stieg, eingeschlossen in den größeren Kreis der Frachtschleusenkammer, und das alles befand sich auf dem höchsten Punkt eines steilen, konkaven Berges. An dem Punkt, wo sie standen, war die Zentrifugalkraft gering und in der Schleuse gleich null. Es bereitete keine Schwierigkeiten, an Bord zu gehen. Captain Wilson postierte zwei Männer in der äußeren Schleusenkammer. Sie standen in Rührt-Euch-Stellung, durch die Magnetsohlen ihrer Stiefel gesichert. Wilson und die andern drei Männer folgten Cantrell in einen Lift, hinter einem Unteroffizier. Commander Lowell erwartete sie in der inneren Schleusenkammer. Falls er sich in aller Eile angekleidet hatte, so war nichts davon zu bemerken. Die weiße Uniform saß untadelig, aber sein Gesicht war von winzigen dunklen Bartstoppeln überschattet, und er sah ziemlich verschlafen aus. »Willkommen an Bord, Gouverneur. Was kann ich für Sie tun?« Er hatte die Hand ausstrecken wollen, aber als sein Blick auf Cantrells Kampfanzug fiel, salutierte er nur. Wilson und Cantrell erwiderten den Salut. »Bitte, bringen Sie mich zu Major Terry«, sagte Cantrell. Wilson postierte zwei weitere Milizsoldaten in der inneren Schleusenkammer, und die drei Männer folgten Lowell ins Reich der Offiziere. »Das ist die Kabine des Majors«, erklärte der Commander. Cantrell klopfte an. »Herein!« rief eine Stimme. »Die Tür ist nicht verschlossen!« Wilson öffnete die Tür und betrat mit dem Milizsoldaten den Raum, während Commander Lowell und Gouverneur Cantrell auf dem Korridor stehenblieben. Major Terry lag in seiner Koje und las. Er trug einen Morgenmantel über seinem Hemd und der Hose. »Was ist los?« fragte er. »Wer sind Sie?« »Sie sind arretiert, Major Terry«, erwiderte Captain Wilson. »Alles, was Sie jetzt sagen, kann gegen Sie verwendet werden.« »Leider kann ich das nicht zulassen«, mischte sich Commander Lowell ein. »Egal, was er verbrochen hat – Sie können den Major nicht an Bord meines Schiffes festnehmen.« Cantrell lächelte ihn an und drückte auf den Abzug in seiner Hand. In den Schleusenkammern war die Detonation deutlich zu hören. Die Milizsoldaten rissen die Türen auf und rasten ins Schiff. Weiße Rauchwolken quollen aus dem Lift, von Blitzlichtbomben begleitet. Von
unten drangen die Geräusche eines heftigen Feuergefechts herauf. Die Marinesoldaten, die den Lift bewachten, schossen in den Rauch. Sie sahen nicht, daß sich neben der großen Frachtschleuse eine kleinere geöffnet hatte, eine Luke für die Beiboote. Und sie sahen auch die zweihundert Mann von den Baker- und Charlie-Kompanien nicht, die nun lautlos durch die zehn Meter breite Luke in die aufgestemmten großen Schleusenkammern schlichen. Skaskash hatte von der NAURA-Navy die Pläne der NAUSS Ciudad Juarez angefordert, mit der einleuchtenden Begründung, daß das Schiff auf einer Reparaturanlage stand und daß sie dort vielleicht arbeiten müßten. Die Milizsoldaten hatten die Pläne studiert und verteil ten sich jetzt im Schiff, um es zu übernehmen. Als der letzte der Able-Kompanie-Schleusenwachtposten wie der zu Wilsons Einheit gestoßen war, hatte die Rosinante-Miliz das Schiff bereits in ihrer Gewalt. »Major Terry steht tatsächlich unter Arrest, Commander Lowell«, sagte Cantrell. »Damit werden Sie nicht viel ausrichten!« meinte der Major, aber seine Stimme klang nicht sonderlich überzeugend, nicht einmal in seinen eigenen Ohren. »Sir, das Schiff ist in unserer Hand«, meldete der Kommandant der Baker-Kompanie. »Wo sind die Marinesoldaten?« »Das weiß ich nicht«, antwortete Cantrell. »Nehmen Sie sich in acht vor einem Gegenangriff.« – »Scheiße!« rief eine Stimme. »Hier sind sie nicht!« »Hier ist die Able-Kompanie. Unsere Verluste halten sich in Grenzen, aber ich zähle neun tote Marinesoldaten – und wir ha ben dreißig Mann gefangengenommen.« »Commander«, sagte Cantrell, »ich bedaure es außerordentlich, daß ich Ihnen vielleicht die Chance verdorben habe, Captain zu werden. Aber ich bin ganz sicher, daß Sie unnötiges Blutvergießen vermeiden wollen, und deshalb werden Sie mir jetzt sagen, wo die Marinesoldaten sind.« Lowell sah Terry an, der seine Schuhe und das Jackett angezogen hatte und gerade seine Krawatte band. »Erzählen Sie es ihm, Major. Die Männer wurden unter Ihr Kommando gestellt.« Terry schwieg. »In wenigen Minuten müssen sie das Signal zur Rückkehr bekommen, Major. Ich werde ihnen das Signal geben. Wo sind sie?« Major Terry schwieg noch immer. »He, Boß!« ertönte Skaskashs Stimme. »Wir haben hier ein großes Loch vor der Fassade des Verwaltungsgebäudes, und es sieht so aus, als würden
Unmengen von Marinesoldaten herausquellen. Ich zähle mindestens hundertzwanzig ...« »Damit ist die Frage beantwortet«, sagte Cantrell. »Wilson, eskortieren Sie Commander Lowell bitte auf die Brücke, damit er die Marinesoldaten zurückrufen kann.« »Letzten Endes wird das keinen Unterschied machen«, behauptete Major Terry. »Sie haben in dieser Schlacht gesiegt, Mr. Cantrell. Aber die Navy wird den Krieg gewinnen.« 26
Am nächsten Morgen wurde Major Gerald Gorgas Terry in dem Konferenzsaal mit der hohen Decke und den langsam kreisenden Fächern unter Anklage gestellt. Richter Corporate Skaskash fungierte als Vorsit zender, Corporate Brown vertrat die Anklage, nachdem Dr. Marian Yashon es abgelehnt hatte, diese Aufgabe zu übernehmen, und Commander Stanton, der politische Schiffsoffizier und ein enger Freund Terrys, war zum Verteidiger berufen worden. Die offizielle Anklage lautete auf vorsätzlichen Mord und Terrorismus mit Hilfe nuklearer Vorrichtungen. Auf beide Vergehen stand die Todesstrafe. Corporate Brown brachte das Beweismaterial über den Anschlag auf die Klinik für werdende Mütter in das Verfahren ein, aalglatt und professionell. Nur ein einziges Mal wurde Ein spruch erhoben. Der Verteidiger erklärte, keiner der Fingerabdrücke, die man der Leiche abgenommen hätte, entspräche Lieutenant Holts rechtem Daumen auf seiner Ausweiskarte. Der Einspruch wurde abgelehnt, mit der Begründung, Lieutenant Holts Leiche hätte keine rechte Hand besessen. Dann wies Corporate Brown nach, daß Lieutenant Holt und Major Terry dem MGD angehört hätten und daß Major Terry der Vorgesetzte Lieutenant Holts gewesen wäre. Der Major weigerte sich, das zu bestätigen, aber Brown brachte die Schiffsorganisationsliste als Beweismittel ein, um ihre Aussage zu unterstützen, und Commander Lowell bezeugte, daß Lieutenant Holt der Adjutant Ma jor Terrys und keiner anderen übergeordneten Autorität unterworfen gewesen wäre. Als nächster Punkt stand die Einführung der Fünfzehn-TonnenSprengladung als Beweismittel auf der Tagesordnung. »Einspruch«, sagte Stanton. »Die Miliz könnte diesen Sprengsatz aus dem Schiffsmagazin entwendet haben, als sie die Ciudad Juarez kaperte.« »Einspruch abgelehnt«, entgegnete Skaskash, der als Richard Burton in
Wer hat Angst vor Virginia Woolf? auftrat. »Mehrere Zeugen haben übereinstimmend erklärt, daß die Bombe in der Klinik gefunden wurde.« »Der Fall liegt ganz klar«, sagte Corporate Brown in ihrem Resümee. »Der Täter hatte eine Gelegenheit, seinen Plan auszuführen, seine Leiche wurde am Tatort gefunden, wir haben die Waffe – und wir haben auch das Motiv eruiert. Wenn Major Terry das auch nicht bestätigt – Lieutenant Holt war sein direkter Untergebener, und das Motiv läßt sich leicht daraus ableiten. Während Lieutenant Holt den Sprengsatz in die Klinik für werdende Mütter brachte, trafen die Marinesoldaten der Ciudad Juarez, die Major Terrys Befehl ausführten, ihre Vorbereitungen, um von unten die Pfettenplatte vor diesem Gebäude zu durchbrechen. Sie wollten mit Gewalt hier eindringen und Gouverneur Cantrell kidnappen. Die Verteidigung wird vielleicht einwerfen, daß diese Ereignisse nicht gleichzeitig stattfanden. Aber vergessen Sie bitte nicht, daß Lieutenant Holts Plan vereitelt wurde. Er wurde getötet, und die Sprengladung explodierte viel früher als beabsichtigt. Euer Ehren, Major Gerald Terry vom MGD steht mit blutigen Händen vor Ihnen. Ich ersuche Sie, ihn schuldig zu sprechen und zum Tode zu verurteilen. Die Staatsanwaltschaft hat nichts weiter vorzubringen.« Commander Stanton rügte die ungeziemende Eile, mit der man seinen Freund vor Gericht gestellt hatte, und Richter Skaskash forderte ihn auf, das zu unterlassen. Daraufhin erklärte der Verteidiger, Lieutenant Holt hätte aus eigenem Antrieb gehandelt und Major Terry hätte das nicht voraussehen oder ihn daran hindern können, die Klinik für werdende Mütter in die Luft zu sprengen. Er leugnete ab, daß irgendein Zusammenhang zwischen diesem terroristischen Akt und dem Einsatz des Marinekommandos bestünde, der in legaler Hinsicht zwar fragwürdig, aber nicht das Kapitalverbrechen wäre, das man seinem Mandanten vorwürfe. Zum Abschluß seines Plädoyers betonte Stanton noch einmal die unpassende Eile, mit der man dieses Verfahren in die Wege geleitet hätte, und pries den Patriotismus seines Mandanten sowie den guten Charakter seines Freundes. »Der Angeklagte wird im Sinne der Anklage für schuldig gesprochen«, trompetete die Burton-Stimme. »Hat der Angeklagte noch etwas zu sagen, bevor ich das Urteil fälle?« »Ich habe soeben eine Nachricht vom MGD-Hauptquartier erhalten«, verkündete Major Terry und hielt mit seinen gefesselten Händen ein gelbes Papier hoch. »Man weigert sich hiermit ganz offiziell, die Beschuldigungen zu spezifizieren, die man vor diesem Prozeß gegen Mr. Cantrell erhoben hat.«
»Dies ist ein inoffizielles Scheingericht«, meinte Commander Stanton, »und ich werde sofort Berufung einlegen.« »Major Gerald Gorgas Terry«, erklärte Skaskash, »Sie werden hiermit zum Tode verurteilt.« Trotz seines forschen Auftretens zuckte Terry zusammen, sagte aber nichts. »Sie werden nun zu dem Ort gebracht, wo die Exekution noch heute stattfinden wird, um siebzehn Uhr, mittels einer tödlichen Heroindosis. Möge Gott Ihrer Seele gnädig sein. Wache! Führen Sie den Gefangenen ab!« Terry schüttelte Stantons Hand. »Schau nicht so trübselig drein. Du hast dein Bestes getan.« Stanton wich seinem Blick aus, und es dauerte eine Weile, bis ihm die Stimme gehorchte. »Ich werde mit dem Gouverneur reden. Vielleicht läßt sich irgend etwas arrangieren. Wir haben noch ein paar Stunden Zeit.« »Mach dir nichts vor. Cantrell ist so gut wie tot – und das weiß er auch.« Der Perserteppich glühte im Nachmittagssonnenlicht, das in Cantrells Büro fiel, erstrahlte in Rot, Blau, Grün und Violett, ein Teich aus lebhaften Farben, der auf dem Parkettboden prangte. »Gehen wir einmal von Ihrer Klageerwiderung aus, daß Lieutenant Holt aus eigenem Antrieb gehandelt hat«, sagte Cantrell. »Wir haben Informationen, die nicht in das Verfahren eingebracht wurden und aus denen hervorgeht, daß dies vielleicht den Tatsachen entspricht.« »Dann verschieben Sie die Exekution!« entgegnete Commander Stanton. Er saß zusammengesunken in einem Ledersessel, neben ihm auf dem Tisch stand eine kalte Tasse Kaffee. »So einfach ist das nicht. Wie Sie vorhin festgestellt haben – es gibt da gewisse politische Verästelungen.« »Nun, worum geht es bei Ihrem Beweismaterial?« »Es handelt sich eher um Informationen«, sagte Marian. »Lieutenant Holt trat anscheinend auch als Terrorist Joe Bob Baroody auf, im Jahr 2034. Er tötete Dr. Susan Brown, die Person, die als Ankläger fungierte – offensichtlich wegen der Forschungsziele, die sie verfolgte. Das nächstemal tauchte Baroody auf, als wir uns um einen überzähligen GenAnalysator bemühten. Er bedrohte J. Willard Gibbs, unseren Agenten ...« »Er hieß Gibson«, verbesserte Cantrell. »... er bedrohte Gibson, wobei er sich als MGD-Beamter ausgab, und Mr. Gibson erlitt kurz darauf einen tödlichen Unfall. Schließlich kam BaroodyHolt hierher und starb bei dem Versuch, die Klinik für werdende Mütter in die Luft zu sprengen, in der sich zufällig Corporate Susan Brown befand, ein Sur rogat für die Forscherin, die er 2034 ermordet hatte – außerdem ein
IBM GR/W – 42, ein wertvoller Gen-Analysator.« »Gouverneur! Dies alles hätte vor Gericht zur Sprache kommen müssen! Das ist ein definitiver Beweis für Holts eigenmächtiges Handeln. Sie müssen die Exekution aufschieben.« »Die Frage von Holts Identität öffnet eine ganze Büchse voller Würmer, Commander«, erwiderte Cantrell betrübt. »War Holt der Terrorist Baroody, der als MGD-Agent posierte, oder war er ein MGD-Agent, der manchmal als Terrorist Baroody sein Unwesen trieb – und der sich vielleicht einmal, in jungenhaftem Übermut, als Baroody ausgab, wobei er zwischendurch so tat, als wäre er ein MGD-Agent?« Stanton richtete sich kerzengerade auf. »In jedem Fall muß ernsthaft erwogen werden, daß Holt aus eigenem Antrieb agierte. Und Jerry darf nicht für Holts Untaten büßen.« »Darauf kommt es nicht an. Commander.« »Wie meinen Sie das, Gouverneur? Man hat Jerry keinen fairen Prozeß gemacht.« »Das war ein exemplarischer Prozeß«, sagte Marian, »und sicher viel fairer als alles, was Charles in Laputa blühen würde. Eine nicht spezifizierte Anklage vor einem geheimen Tribunal ist auch nicht gerade fair, Commander.« Sie ging zur Kaffeemaschine und füllte ihre Tasse nach. »Wechseln Sie nicht das Thema! Wenn Jerry stirbt, ist das keine Exekution, sondern Mord!« »Mord wird zur Exekution, wenn er von einem Bürokraten begangen wird, im Namen seiner Bürokratie«, antwortete Cantrell mürrisch. »Wenn Lieutenant Holt im Auftrag eines anderen handelte, dann wurde der Wachtposten in der Klinik exekutiert. Oder vielleicht ist der Mann im Krieg gefallen, eh?« »Ich versuche nicht zu rechtfertigen, was Holt getan hat«, sagte Stanton in eindringlichem Ton, »aber er hat es von sich aus getan. Terry hat es ihm nicht befohlen.« »Sind Sie über den Prozeß NAU versus Smith & Co. infor miert?« fragte Marian. »Über die Abtreibungen, die gerichtlich angeordnet wurden?« »Schweifen Sie nicht vom Thema ab!« »Ich schweife nicht vom Thema ab, Commander, ich verbreite mich darüber. Das Bundesbezirksgericht von St. Louis ordnete aufgrund einer Beschwerde der Kreationistenkoalition sechzehn Abtreibungen an. Davon war auch eine Schwangere betroffen, bei der bereits die Wehen eingesetzt hatten. Man berief sich darauf, daß die Formulare, mit denen die Frauen um genetische Modifikationen angesucht hatten, nicht ordnungsgemäß ausgefüllt waren. Sie gingen in die Berufung, aber das Urteil wurde
vollstreckt, bevor eine neue Verhandlung anberaumt werden konnte. Und das Revisionsgericht erklärte die Sache zum Streitfall.« Marian nahm einen Schluck Kaffee. »Ich nehme an, Sie werden niemanden finden, der auch in Ihrer Angelegenheit für einen Streitfall plädiert... Aber Richter Curry besaß immerhin soviel Anstand, Verlegenheit zu zeigen, als er von ›Prozessualen Unregelmäßigkeiten‹ sprach.« »Was hat das alles mit Major Terry oder Lieutenant Holt zu tun?« fragte Stanton. »Baroody gehörte 2034 der Kreationistenkoalition an«, erklärte Cantrell. »Und auf welche Weise ist Terry darin verwickelt?« »Ich bin darin verwickelt. Meine Söhne, Willie und Charlie, sind ein Produkt von Corporate Susan Brown genetischen Manipulationen, und dabei wurde kein einziges Formular ausgefüllt.« »Ich verstehe«, sagte Stanton nach einer langen Pause. »Sie wollen die Sache nicht an die Öffentlichkeit bringen. Ich sehe ein, daß Sie Angst um Ihre Kinder haben. Aber Terry ...« »Major Terry ist ein bösartiger Narr«, fiel Cantrell ihm ins Wort. »Er hat das alles selber heraufbeschworen. Möchten Sie noch eine Tasse Kaffee?« »Nein, danke. Und warum haben Sie mir das erzählt?« »Um mich selber daran zu erinnern, warum ich den armen Bastard nicht begnadigen kann.« Sie schwiegen eine Weile. Dann flackerte das Sonnenlicht, verblaßte, kehrte zu seiner normalen Intensität zurück. »Was war das?« fragte Commander Stanton. »Skaskash spielt mit den Spiegeln«, entgegnete Marian. »Wahrscheinlich hat er sich zu viele alte Filme angeschaut.« Ein paar Minuten später läutete Cantrells Telefon. »Major Terry ist um 17 Uhr 02 gestorben«, meldete Skaskash. »Danke«, sagte Cantrell. »Bitte, schicken Sie Commander Lowell herein.« Lowell wartete draußen, in frisch gebügelter Uniform, frisch rasiert. Trotzdem sah er abgeschlafft und verhärmt aus, und in seinem Gesicht zeigten sich Falten, die ein oder zwei Tage zuvor noch nicht existiert hatten. »Setzen Sie sich bitte, Commander.« Cantrell wies auf einen Stuhl neben seinem Schreibtisch. »Die NAUSS Ciudad Juarez untersteht seit heute, 17 Uhr 02, wieder Ihrem Kommando.« »Unglücklicherweise müssen wir einen Teil Ihrer Crew festhalten, um weitere Befragungen durchzuführen«, fügte Marian hinzu und übergab ihm eine Kopie der Schiffsorganisationsliste. »Ich habe etwa ein Dutzend
Namen angestrichen. Diese Leute sind zur Zeit in Haft.« »Das ist der politische Sektor mitsamt seinen Informanten«, sagte Lowell. Marian hob die Brauen. »In der Tat? Zusätzlich bringen wir Ihnen einen Teil des Verhörs zur Kenntnis, das vor der Verhandlung stattfand und das vielleicht bei Ihrem bevorstehenden Kriegsgerichtsprozeß eine Rolle spielen wird.« Sie berührte einen Knopf, und der Telekonschirm leuchtete auf, zeigte Major Terry und Commander Stanton, die von Dr. Marian Yashon befragt wurden. Im Hintergrund standen Miliz soldaten. Terry erklärte, wie er seine Marinesoldaten postiert hatte, und dann fragte Dr. Yashon: ›Wurde vereinbart, daß Captain Lowell ein Drittel der Soldaten an Bord zurückbehalten sollte ?‹ Stanton blickte auf und korrigierte: ›Commander Lowell. Diese Frage muß ich mit Ja beantworten. Ich erklärte ihm, daß es sich um eine politische Angelegenheit handelte, und da das Schiff im Hafen läge, würde ich das Kommando übernehmen, wenn er sich nicht an den Befehl des Majors hielte ...‹ »Das ist eine plumpe Fälschung!« schrie Commander Stanton und versuchte sich aus dem tiefen, weichen Lehnstuhl zu erheben. »Eine verdammte Lüge! Sie versuchen Lowells Arsch zu retten, indem Sie mir den schwarzen Peter zuschieben!« »Major Terry schrieb auch einen Brief an Lowell, in dem haargenau das gleiche stand«, sagte Marian. »Nein! Auch das muß eine Fälschung sein!« »Er hat recht«, meldete sich Lowell zu Wort. »Ich habe Major Terry nie gefragt, was er mit den Marinesoldaten vorhat, und Stanton hat nie gedroht, das Schiffskommando zu übernehmen – obwohl das im Bereich seiner Möglichkeiten gelegen hätte.« »Sie waren recht nachlässig in der Ausübung Ihrer Pflichten«, meinte Cantrell, »aber was soll's? Terry ist tot, und Stanton wird eine ganze Weile auf Rosinante bleiben. Deshalb rate ich Ihnen, schleunigst heimzufliegen und das Blaue vom Himmel herunterzulügen. Wenn Sie rausgehen, können Sie Ihr RDA-Päckchen mitnehmen.« »RDA?« fragte Lowell. »Was bedeutet das?« »Rette deinen Arsch«, erklärte Cantrell. »Dachten Sie, daß Sie Captain werden könnten, ohne so was zu wissen?« Commander Lowell zuckte mit den Schultern und machte e in Pokergesicht. »Danke. Ich weiß Ihre Bemühungen um meine Person zu schätzen. Wenn die Ehre verloren ist, können wir immer noch wie gedruckt lügen, um die angestrebte Karriere zu retten, nicht wahr?«
»Sie werden das Päckchen doch nehmen?« Cantrell war verwirrt und leicht alarmiert, als der Begriff Ehre in einer Diskus sion erwähnt wurde, bei der es ums Überleben ging. Commander Lowell nickte, immer noch mit völlig ausdrucksloser Miene. »Natürlich. Das verschafft mir einen Vorteil, mit dem ich nicht gerechnet habe.« Nach der Besprechung saß Cantrell an seinem Tisch und krit zelte Dreiecke auf einen gelben Notizblock. »Ich weiß nicht recht«, sagte er nach einem langen Schweigen. »Vielleicht hätten wir das Schiff doch nicht rausrücken und um seine Freigabe verhandeln sollen.« »Nein«, erwiderte Marian. »Was wir haben wollen, kann uns die Navy nicht geben, und auf diese Weise durchschneiden wir die Verbindung zwischen der NAURA-Navy Marine und dem NAURA-Sicherheitsdienst.« Sie ging zur Tür, wo sie noch ein mal stehenblieb. »Außerdem – wenn sich die NAU geweigert hätte, mit uns zu verhandeln, wären wir nicht stark genug gewesen, um das Schiff unter Kontrolle zu behalten.« 27
Am 14. April 2041, einundvierzig Tage nach dem Rosinante-Zwischenfall, trat das Sicherheitskomitee des Senats zu einer Sitzung unter Ausschluß der Öffentlichkeit zusammen, um den Leiter des NAURA-Sicherheitsdienstes anzuhören, Dr. M. Stanley Bowman, der über die Fortdauer der Panoblanquista-Bewegung trotz der aufwendigen Gegenmaßnahmen sprechen wollte. Bei der Nachmittagssitzung führte Senator Gomez aus Texas folgendes Gespräch mit Bowman. Sen. G.: Dr. Bowman, Sie haben einen der älteren PanoblanquistaAgenten, die immer noch auf freiem Fuße sind, als C. Chavez Cantrell identifiziert, derzeit Gouverneur von Mundito Rosinante. Was tut er, um hier in Texas Unruhe zu stiften? Dr. B.: Die Panoblanquisten sind weitverbreitet und haben viele Interessen. Ich erwarte, daß Gouverneur Cantrell sich erst mal um seinen eigenen Kram kümmern wird, bis es Zeit wird, in Aktion zu treten. Sen. G.: Mit anderen Worten, er tut nichts? Dr. B.: Er widersetzt sich der Verhaftung. (Gelächter.) Sen. G.: Was liegt gegen ihn vor? Dr. B.: Verdacht der Aufwiegelung, des Verrats, der Konspiration mit dem Ziel, einen Aufruhr zu entfachen und zu unterstützen. Das war natürlich vor dem 4. März.
Sen. G.: Worauf gründet sich der Verdacht? Dr. B.: Wir haben die Skalaweb-Akten beschlagnahmt. Ein Großteil der Korrespondenz stammt von Mr. Cantrell. Über die Details bin ich nicht informiert. Sen. G.: Aber ich interessiere mich dafür. Bitte, schicken Sie mir die Details, die den Verdacht untermauern, morgen nach Geschäftsschluß in mein Büro. Dr. B.: Natürlich, Senator. Sen. G.: Infolge Ihrer Information ging den Kämpfen auf Rosinante ein Versuch Lieutenant Holts voraus, ein Ablenkungsmanöver zu inszenieren, indem er einen Sprengsatz in die Klinik für werdende Mütter schmuggelte. Haben Sie das Angriffsziel gebilligt, das er gewählt hat? Dr. B.: Davon wußte ich vorher nichts. Ich habe das Angriffsziel weder ausgesucht noch diese Wahl gebilligt. Sen. G.: Aber jetzt billigen Sie das Angriffsziel – oder Sie haben zumindest nichts dagegen einzuwenden? Dr. B.: Ich verstehe nicht, was Sie meinen. Sen. G.: Haben Sie nicht die Kreationistenkoalition mitbe gründet, Dr. Bowman? Dr. B.: Das war vor über zwanzig Jahren, Senator, und ich habe mich längst von dieser Organisation zurückgezogen. Sen. G.: Ich verstehe. Sie sind in den frühen dreißiger Jahren aus der Koalition ausgeschieden, nicht wahr? Dr. B.: 2034. Wenn Sie es wünschen, kann ich das genaue Datum feststellen. Sen. G.: Warum sind Sie aus der Kreationistenkoalition ausgetreten? Dr. B.: Hauptsächlich, weil sich die Organisation weigerte, gesetzlose Aktivitäten einer kleinen Extremistengruppe zu verurteilen. Sen. G.: Es ist sehr lobenswert, wie Sie sich damals verhalten haben. War der unmittelbare Anlaß ihres Ausscheidens aus der Vereinigung vielleicht ein Bombenanschlag? Dr. B.: Ja, ich glaube. Sen. G.: Handelte es sich um die Bombenexplosion im Rockefellerinstitut in Cincinnati? Wie den Akten zu entnehmen ist, sind Sie eine Woche später aus der Koalition ausgetreten. Dr. B.: Mag sein. Ich kann mich nicht erinnern. Sen. G.: Bitte, denken Sie nach, Dr. Bowman. Es gibt eine Menge Material, das darauf hinweist, daß Sie dieser Bombenanschlag tatsächlich zum Austritt aus der Organisation veranlaßt hat. Dr. B.: Ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Der Anschlag und die Art, wie die
Koalition in dieser Sache verfuhr, veranlaßte mich, meine Mitgliedschaft zu beenden. Sen. G.: Erinnern Sie sich an den Namen des Mannes, der die Bombe legte? Dr. B.: Nein. Sen. G.: Diese Tat wird einem Mann namens Joe Bob Baroody zugeschrieben. Kennen Sie ihn? Dr. B.: Nein, Senator. Sen. G.: Könnte er einer der Doppelagenten sein, die der MGD zu diversen Zwecken eingesetzt hat? Dr. B.: Nein, Sir. Sen. G.: Ist Ihnen bekannt, daß Lieutenant Holt als Baroody identifiziert wurde? Dr. B.: Ah – eh – nein ... Von dieser Mutmaßung habe ich nichts erfahren. Sen. G.: Das ist keine Mutmaßung, Dr. Bowman. Baroody wurde einwandfrei identifiziert. Dr. B.: Ein erstaunlicher Zufall – wenn es wirklich stimmt, Senator. Höchst erstaunlich. Sen. G.: Dr. Bowman, das ist noch lange nicht alles. Die Frau, die bei jenem Bombenanschlag ums Leben kam, hieß Dr. Susan Brown, wie Sie sich vielleicht erinnern. Die Klinik für werdende Mütter auf Rosinante – Lieutenant Holts Angriffsziel – wurde von einem Computer aus dem Rockefellerinstitut in Cincinnati geleitet. Dieser Computer wurde von Kollegen der verstorbenen Susan Brown entworfen und gebaut. Er sollte die Forschungsarbeit fortsetzen, mit der sie sich zum Zeitpunkt ihres Todes befaßt hat – ein Computer namens Corporate Susan Brown. Bleiben Sie bei Ihrer Behauptung, daß Holt-Baroody kein Doppelagent war? Dr. B.: Nun, das wird man offensichtlich checken müssen. Soviel ich zur Zeit weiß, war er kein Doppelagent. Ich werde den Regierungskommissar fragen. Sen. G.: Den werde ich bei der morgigen Sitzung selber fragen. Er ist ebenfalls ein Mitglied der Kreationistenkoalition, nicht wahr? Dr. B.: Das weiß ich nicht. Er war einmal ein Mitglied ... Sen. G.: Im Sicherheitsdienst gibt es eine ganze Menge Kreationisten, was? Dr. B.: Nicht allzu viele, nur ein paar Prozent... Sen. G.: Sechs oder sieben Kommissare, neunzehn von fünf undzwanzig Assistenzkommissaren. Ihre engsten Mitarbeiter... Das Hauptangriffsziel auf Rosinante war also nicht Cantrell, sondern Corporate Susan Brown,
nicht wahr? Dr. B.: Nein. Ich weiß es nicht – ich glaube nicht... Sen. G.: Billigen Sie das Angriffsziel, das Holt gewählt hat, um sein sogenanntes Ablenkungsmanöver durchzuführen, Dr. Bowman? Dr. B.: Wissen Sie überhaupt, was hier auf dem Spiel steht, Senator? Sen. G.: Ich weiß, daß Sie und Ihre Kreationistenkonsorten trotz des drohenden Bürgerkrieges nicht davor zurückge schreckt sind, einen privaten Rachefeldzug gegen eine tote Frau zu starten! Daß Sie Ihren Freunden schaden, Ihren Feinden nützen und Menschenleben und finanzielle Mittel vergeuden, um eine Idee zu untergraben! Vielleicht ist Corporate Susan Brown auch ein Panoblanquista? Dr. B.: Wohl kaum. (Gelächter.) Sen. G.: Und um dem schlechten Geld auch noch gutes hinter herzuwerfen, haben Sie die Navy ersucht, einen Kampfverband zu stellen und Cantrell sowie andere NAU-Feinde mit Waffengewalt von Rosinante zu entfernen. Ist das richtig? Dr. B.: Wir haben ein entsprechendes Gesuch eingereicht, aber die Navy ist nicht zur Kooperation bereit. Man hat uns erklärt, daß man dann Schiffe abstellen müßte, die in L-4 und L-5 dringend gebraucht werden. Sen. G.: Dann ist die Navy jedenfalls klüger als der Sicherheitsdienst – und ganz gewiß viel klüger als Sie, Dr. Bowman. Haben Sie schon daran gedacht, sich aus dem öffentlichen Dienst zurückzuziehen? Maria Yellowknife nahm ein paar Kopien vom Tablett. »Das sind die Artikel und Kommentare über die Sitzung am Dienstag, O'Donnell und Caldwell schreiben, daß Sie Bowman die Schlinge um den Hals legen, aber die anderen reagieren ziemlich kühl. Die Phoenix Tribune bringt zum Beispiel einen Artikel von Jay Greiner mit der Überschrift ›Nichts erwiesen‹.« Senator Gomez nahm seiner Legislativassistentin die Kopien aus der Hand und blätterte darin. »Das haben wir erwartet. Aber die Tatsachen, die Bowman mit dem Mord an Gouverneur Panoblanco in Verbindung bringen, sind klare Indizienbeweise. Und vergessen Sie nicht, daß Bowmans Anhänger skrupellos sind.« »Das stimmt. Wem sollen wir das Protokoll über die heutige geheime Sitzung zuspielen?« »Damit werden wir vorerst warten. Statt dessen geben wir O'Donnell und Caldwell die Akte Joe Bob Baroody. Sie sollen in aller Öffentlichkeit die Frage stellen, warum ein Terrorist, der einen Bombenanschlag auf eine Klinik für werdende Mütter verübte und dabei ums Leben kam, nach Hause
gebracht und mit allen militärischen Ehren begraben wurde. Und dann wollen wir klarstellen, daß Joe Bob mit dem NAURA-Sicherheitsdienst und Stanley Bowman zusammengearbeitet hat.« »Haben Sie dafür auch Indizienbeweise?« fragte sie. »Nein.« Der Senator öffnete einen Aktenordner und nahm ein Hochglanzfoto heraus, das Standardpressefoto eines Politikers, der einem seiner Anhänger die Hand schüttelt. In diesem Fall war es Dr. Bowman, der einem grinsenden Joe Bob vor einem Spruchband mit der Aufschrift ›Baptisten gegen Darwin« die Hand reichte. »Gonsalves hat auch einen Neunzig-Sekundenfilm ausgegraben, auf dem zu sehen und zu hören ist, wie Baroody eine Menschenmenge für einen Mann zu erwärmen sucht, den er ›meinen guten Freund Stanley Bowman‹ nennt«, sagte Gomez. »Den Film werde ich Freitag in einer Woche dem St. Louis People zuschanzen.« Das Telefon läutete, und Maria nahm den Hörer ab. »Büro Senator Gomez.« »Präsidentenbüro«, meldete sich eine melodische weibliche Stimme. »Mr. Robert Schlecter würde gern eine Telekonferenz mit Senator Gomez arrangieren.« Bob Schlecter war der Stabschef des Präsidenten. »Schlecter will sich mit Ihnen am Telekonschirm treffen, Se nator«, meldete Maria. »Sehr schön.« Gomez ging zu dem Gerät hinüber und setzte sich in einen großen Ledersessel, der von den Flaggen der NAU und Texas flankiert war. »Sagen Sie Bob, daß ich bereit bin.« Schlecter erschien auf dem Bildschirm und sah ihn an, nachdem man ein paar winzige Details wie das Videosignal justiert hatte – ein großer Mann, vorzeitig kahl geworden, mit dunkler Brille. »Guten Abend, Senator«, sagte er jovial. »Wissen Sie, warum ich anrufe?« »Hat Bowman die Kündigung eingereicht?« fragte Gomez höflich. Schlecter lachte. »Nein. Zur Freude des Präsidenten dient er immer noch dem Staat. Ich wollte Ihnen zu der höchst wirkungsvollen Leistung gratulieren, die Ihnen heute gelungen ist. Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht und dem armen alten Stanley seinen Kopf in einer Silberschüssel serviert.« Maria Yellowknife duckte sich, als sie zur Tür ging und an der Kamera vorbeikam. Lächelnd strich der Senator über seinen Schnurrbart. »Ich fand, daß er ein bißchen gequält aussah.« »Stellen Sie sich vor – der Präsident will die Zuschüsse für die
Zentraltexanische Wasserentsalzungsbehörde wieder flüssig machen.« »Das ist schön, Bob. Zentraltexas könnte das Wasser gebrauchen. Und wie steht es mit dem Bundesrichteramt für B. J. Coya?« »Meinen Sie den Panoblanquista?« »Den Staatssenator, Bob – diesen B. J. Coya.« »Erst müßte die Anklage fallengelassen werden.« »Das wäre in Anbetracht aller Umstände nicht so schwierig.« »Hören Sie, Senator, ich kann Ihnen versprechen, daß die Anklage fallengelassen wird – aber das andere nicht. Trotzdem werde ich sehen, was sich machen läßt.« »Natürlich, Bob, ich weiß. Sie werden Ihr Bestes tun – wie immer.« »Als Gegenleistung wollen wir, daß Sie nicht zu hart mit Bowman umspringen. Sie brauchen die Sache nicht aufzugeben – ich meine, in Texas macht es sich ganz gut, wenn man dem Sicherheitsdienst ein bißchen am Zeug flickt – aber treten Sie ein wenig auf die Bremse.« Gomez entblößte grinsend die Goldkrone auf seinem kleinen Backenzahn. »Können Sie mir einen guten Grund nennen, warum ich das tun sollte, por favor?« Schlecter lehnte sich nachdenklich zurück. »Okay, Senator. Die NAU hat Ärger mit dieser mexikanischen Freiheitsbewegung. Aber das wissen Sie vielleicht besser als ich. Das nächste Jahr könnte kritisch werden. Der Präsident will Ende des nächsten Jahres wiedergewählt werden. Der NAURA-Sicherheitsdienst wurde beauftragt, das Land zusammenzuhalten, und wenn Sie Bowman abschießen, wird der Großteil der Spitzenleute auch runterfallen.« »Möglich«, stimmte Gomez zu. »Aber das wäre kein allzu tragischer Verlust.« »Ich weiß – mir fällt im Augenblick keiner ein, den ich wirklich leiden kann. Aber als Gruppe sind sie schwer zu ersetzen. Der NAURASicherheitsdienst würde inmitten einer Revolution wie eine Leiche im Wasser liegen.« »Eine Revolution im Wasser wäre ein Mahlstrom ...« Schlecter blinzelte verwirrt, dann lachte er. »Verschonen Sie mich mit solchen Metaphern. Aber im Ernst – wir können es uns nicht leisten, in so harten Zeiten den Sicherheitsdienst abzusägen.« »Wir können es uns auch nicht leisten, andersdenkende Politiker von Patrouillenschiffen in die Luft jagen zu lassen«, be merkte Gomez freundlich. Schlecter schüttelte den Kopf. »Zum Teufel, Senator, das sind doch uralte Geschichten! Außerdem gibt es keine Beweise.«
»Und Gouverneur Panoblanco hat nur gekriegt, was er verdient hat, nicht wahr?« »Legen Sie mir keine Worte in den Mund, Senator. Er war bei der Regierung nicht beliebt – ich wäre der letzte, der das nicht zugeben würde. Aber legen Sie mir nichts in den Mund.« »Natürlich nicht, amigo. Wir wollen den armen Louis Raoul und seinen spektakulären Abgang vergessen, aber ich finde Ihre Gründe nicht sonderlich überzeugend.« »Wirklich nicht?« Schlecters Gesicht wurde ausdruckslos. »Was haben Sie an meinen Argumenten auszusetzen?« Gomez hatte sagen wollen, daß die NAU kein richtiges Land und daß es deshalb auf lange Sicht unmöglich war, sie zusammenzuhalten, aber er besann sich eines besseren. »Glauben Sie wirklich, daß Stanley Bowman und seine fröhliche Truppe die einzigen sind, die das Schiff in einem Meer aus lauter Chicano-Schikanen und japanischem Gold über Wasser halten können?« »Nein, zum Teufel!« rief Schlecter lachend. »Aber es wird zu einer gräßlichen Balgerei kommen, wenn Sie den derzeitigen Leiter des Sicherheitsdienstes abschießen und wenn wir einen neuen finden müssen. Der Sicherheitsdienst stellt die Garantie dar, die uns vor der Sezession schützt. Es wäre unklug, ihn ausgerechnet vor dem Wahljahr in die Pfanne zu hauen, finden Sie nicht auch?« »Ich kann mich noch an die Zeiten erinnern, in der der Sicherheitsdienst die Garantie darstellte, die uns vor dem alten Regime schützte. Das wollte niemand wiederhaben. Damals war eben alles einfacher.« »Vielleicht, Senator. Nun, kommen wir ins Geschäft miteinander?« Gomez zögerte kurz. »Ich werde mir's überlegen. Vielleicht könnte es was nützen, wenn man die Anklage gegen B. J. Coya fallenließe – als Demonstration des guten Willens, den mir der Präsident ganz sicher beweisen will.« Schlecter nickte. »Ihr Büro wird gegen Mitternacht Bescheid bekommen, und ich werde dem Präsidenten raten, Coya als Bundesrichter zu akzeptieren, denn das scheint sich wirklich zu loh nen.« Wenn er den starken Verdacht hegte, daß der Präsident nein sagen würde, so zeigte er es nicht. Wenn man vorgab, daß man jemandem einen Gefallen tun wollte, so war das an sich schon ein Gefallen. Der Stabschef des Präsidenten sah auf seine Uhr. »Es ist immer wieder ein Vergnügen, mit Ihnen zu verhandeln, Senator«, versicherte er, und dann streckten sie beide gleichzeitig die Hand aus, um den Kontakt abzubrechen.
Sechs Tage später, am 20. April 2041, um 4 Uhr 05, begann der Telefonsekretär auf Maria Yellowknifes Nachttisch zu läuten. Nach dem dritten Klingelton begann er lauter zu schrillen. Nach dem sechsten schaltete er seine Lampen ein, und Maria setzte sich auf. »Sind Sie wach?« fragte das Telefon. »Ja – jetzt schon. Wer sind Sie?« »Corporate Zapata, der Büroleiter.« »Okay, geben Sie den Anruf durch. Wer immer es ist, ich werde heute nacht ohnehin kein Auge mehr zutun.« »Hallo, Maria«, sagte Corporate Zapata, »ich bedauere Ihnen mitteilen zu müssen, daß Senator Gomez' Chartermaschine vor dem Rollfeld von Abilene abgestürzt ist.« »Was?« »Senator Gomez kam ums Leben. Das Flugzeug brennt immer noch. Vorerst wird das nicht bekannt werden – aber ich habe mit ihm gesprochen, als die Maschine absackte.« Maria versuchte zu sagen: ›Was, der Senator ist tot?‹ Aber sie brachte nur einen halberstickten Schrei hervor. Sie saß auf dem Bett, schaute auf ihre gefalteten Hände hinab, versuchte ihre Yoga-Atemübungen zu machen und beobachtete die Tränen, die vom Ende ihrer Nasenspitze tropften. »Senator Gomez hinterließ mir Instruktionen für den Ernstfall«, sagte Zapata, »und ich brauche Sie hier im Büro – sofort! Ich werde Sie von einem Polizeiwagen abholen lassen.« Maria zog ein Papiertaschentuch aus ihrem Automaten und putzte sich die Nase. »Warum?« »Ich brauche Sie für die Pressekonferenz«, erklärte Zapata. »Ohne den Senator oder Sie kann ich keine Pressekonferenz abhalten.« »Ich meine – warum ein Polizeiauto?« »Zu Ihrer eigenen Sicherheit.« »Wie Sie wollen.« Der Senator hatte Pläne für den Ernstfall gemacht – und sie konnte wenigstens für eine kleine Weile etwas tun, brauchte nicht nachzudenken. »Ich werde mich sofort anziehen.« Als sie durch die Halle ihres Apartmenthauses eilte, sah sie einen Polizeiwagen in der Auffahrt stehen. Sie klappte ihr Handtaschentelefon auf und drückte auf den Büroknopf. »Okay, Zapata. Es ist jetzt 4 Uhr 32. Um 4 Uhr 38 oder 39 werde ich in das Auto steigen. Erzählen Sie mir von den Plänen des Senators.« »Also gut, Maria. Um 5 Uhr 10 oder 15 müßten Sie hier sein, und dann können wir die Pressekonferenz einberufen, so wie es der Senator gewünscht hat.«
»Er wollte also, daß wir eine Pressekonferenz halten?« fragte Maria, während sie in den Wagen stieg und sich auswies. »Das ist der eine Teil seines Planes«, antwortete Zapata. »Nach Schlecters Anruf vermutete er, daß er in Gefahr schwebte. Er wußte, daß er wenig tun konnte, um sich zu schützen, aber er unternahm gewisse Schritte, um seine Botschaft im Falle seines Todes an die Öffentlichkeit zu bringen.« Das Poli zeiauto rollte aus der Auffahrt. »Auf seine Order hin benutzte ich unsere Fragenschablonen für die St. Louis-Presse und arbeitete etwa ein Dutzend Fragen aus, die alle auf der Voraussetzung basieren, daß der Senator soeben getötet worden ist. Es machte ihm einen Riesenspaß, sie zu beantworten, und er war auch noch damit beschäftigt, als die Maschine abstürzte. Er sagte, wenn er ums Leben käme, sollten wir seine aufgezeichneten Antworten verwenden und eine Pressekonferenz einberufen – mit den Reportern, die ich für ihn herausgesucht hatte. Er fand, daß das sehr komisch sein würde.« »Und wozu soll das gut sein?« fragte Maria. »Es könnte seine Feinde verwirren«, erwiderte Zapata. »Er nimmt sich in diesen Antworten kein Blatt vor den Mund, und manchmal zeigt er ganz deutlich, wie sehr er die Gesetze der üblen Nachrede verachtet. Und es war sein Wunsch, daß dies alles an die Öffentlichkeit kommt.« »Dann werden wir seinen Wunsch erfüllen«, sagte sie und klappte das Telefon zu. Senator Gomez' Tod in einem brennenden Flugzeug machte Schlagzeilen. Die posthume Pressekonferenz war einfach zu schön, um verpaßt zu werden. Die glücklichen Reporter, die ein geladen waren, fanden sich vollzählig im Büro des Senators ein, obwohl sie auf ihren Schlaf und ihr Frühstück verzichten mußten. Die Konferenz begann direkt nach den 7 Uhr-Nachrichten, die den Flugzeugabsturz in Abilene zeigten – und die verkohlte Leiche des Senators, die aus den Trümmern geborgen wurde. Danach sagte der Sprecher: »Wir unterbrechen nun das reguläre Programm, um Ihnen live aus St. Louis eine – eh – vorher aufgezeichnete Pressekonferenz mit dem verstorbenen Senator Gomez zu zeigen. Fred, bitte melden ...« Das Büro des Senators erschien auf dem Bildschirm. Gomez saß in seinem großen Ledersessel, zwischen den Flaggen von Te xas und der NAU. »Guten Morgen«, sagte er. »Wenn Sie diese Sendung sehen, bin ich tot. Im Laufe meiner Untersuchungen, die sich mit dem NAURASicherheitsdienst befaßten, wurde mir bewußt, daß ich damit rechnen muß, von den Agenten meiner eigenen Regierung umgebracht zu werden. Dies
scheint nun passiert zu sein. Die erste Frage bitte.« »Roger Sims, Senator.« Sims' Gehirn funktionierte nur selten vor der zweiten Tasse Kaffee. »Inwiefern wird dieses Ereignis Ihre Chancen auf die Wiederwahl beeinflussen?« Die anderen Reporter brachen in nervöses Gelächter aus. »Ich will es einmal so ausdrücken«, erwiderte das Abbild von Senator Gomez. »Wenn ich nominiert werde, kandidiere ich nicht. Und wenn ich gewählt werde, nehme ich die Wahl nicht an. Ich bin tot, bei Gott, wirklich tot!« Die letzte Frage, bevor die Pressekonferenz fünfundvierzig Minuten später von MGD-Zivilbeamten beendet wurde, hatte gelautet: »Jane O'Donnell, Senator. Glauben Sie, daß Dr. Bowman vom NAURASicherheitsdienst den Befehl gegeben hat, Sie zu töten?« »Ich weiß nicht, ob Bowman eine solche Order unterschrieben hat oder nicht, aber diese Attentate auf die Chicano-Politiker müssen ein Ende haben.« Die Sendung wurde in der NAU nicht wiederholt, aber Japa-News zeichnete sie auf und brachte sie, und sie wurde nicht so schnell vergessen. Das Präsidentenbüro war in Kristall und Silber ausgestattet, mit eisblauen Akzenten und Wänden in blassem, ruhigem Beige. Spiegel und Monitoren, die im ganzen Raum verteilt waren, reflektierten dieses Farbenspiel. Bob Schlecter griff nach einer Kaffeekanne, die neben ihm auf einem Tablett stand, füllte seine Tasse nach, gab Sahne und Zucker dazu. »Um ehrlich zu sein, Stan, ich kann mir nicht vorstellen, wie dir der Präsident die Stange halten soll – nachdem Gomez heute morgen diese Schau abgezogen hat.« »Lügen, Verleumdungen, Halbwahrheiten«, erwiderte Bowman. »Der Mann ist tot. Möge seine Seele in der Hölle schmoren! Wie konnte er das tun? Warum hat er nur versucht, das Land in den Bürgerkrieg zu treiben?« »Tut mir leid, Stan.« Schlecter stellte die Tasse neben sich auf den Tisch. »Aber ich glaube, er hat sich erst zu diesem Schritt entschlossen, als er das Gefühl hatte, daß das überfällig war. Du weißt, daß ich mich letzte Woche bemüht habe, dir den Senator vom Hals zu schaffen, doch er war Panoblancos wegen stocksauer und ließ nicht mehr mit sich reden.« »Er hatte keine Beweise. Es gibt keine Beweise!« »Sehr richtig. Das hat er auch zugegeben. Warum, zum Teufel, war er nur so versessen darauf, Ärger zu machen?« »Er war ein Panoblanquista.« »Senator Gomez? Wohl kaum. Ich glaube, er meinte es ernst, als er sagte, die Attentate auf Chicano-Politiker müßten ein Ende haben.« Schlecter
trank einen Schluck Kaffee. »Natürlich konnte er dir diese Morde nicht anhängen, aber er hat dich erwischt, als du wieder mal dein altes Steckenpferd geritten hast und gegen die genetische Forschung zu Felde gezogen bist – stimmt's?« »Und wenn schon! Der Fundamentalisten-Kreationisten-Standpunkt wird von der Mehrheit dieses Landes vertreten.« »Wenn du die Chicanos, die Mexicanos und die anderen Hispanier mitrechnest«, stimmte Schlecter zu. »Aber die sind wütend auf dich – wegen Panoblanco, Gomez & Co. Und es gibt eine ganze Menge Intellektueller mit heißen Köpfen, die schon lange drauf warten, dich abzuschießen.« Er zuckte mit den Schultern. »Schau den Tatsachen ins Auge, Stan – du bist wahrscheinlich der Grund, warum der Präsident die Wahl verlieren wird – auch wenn er dir vorher den Laufpaß gibt.« »Verdammt, Bob, der Sicherheitsdienst ist das einzige, was dieses Land noch zusammenhält! Ohne den NAURA-Sicherheitsdienst würde die NAU auseinanderbrechen. Und der NAURA-Sicherheitsdienst wird jahrelang im Schlamm herumzappeln, wenn du jetzt zuläßt, daß mich die Chicanos ausbooten.« »Mag sein«, gab Schlecter vorsichtig zu. »Aber wenn wir nichts gegen den Sicherheitsdienst unternehmen, wirst du persönlich der Stolperstein sein, der den Präsidenten zu Fall bringt. Glaub mir, Stan – du mußt gehen.« »Können wir die Wahl nicht verschieben?« »Unmöglich!« »Dann soll sich der Präsident aussuchen, ob er lieber die Wahl verlieren oder zuschauen will, wie das Land in seine einzelnen Bestandteile zerfällt.« Stanley Bowman lehnte sich in seinem Sessel zurück und putzte seine Brille mit einem makellos sauberen Taschentuch. »Die Geschichte wird einem Mann nicht verzeihen, der sein Vaterland opfert, nur um seine armseligen politischen Ziele zu verfolgen.« »Vielleicht.« Schlecter schob seine leere Kaffeetasse beiseite. »Aber wie dem auch sei, du bist nicht der personifizierte Sicherheitsdienst, was immer dir deine Adjutanten auch einreden, und der Präsident vertritt vermutlich einen anderen Standpunkt als du. Ich sage es dir ganz offen – ich bin nicht deiner Meinung! Er wäre am besten beraten, wenn er deine Kündigung annehmen und darauf hoffen würde, daß das Land aufgrund des Trägheitsprinzips nicht auseinanderfällt. Aber die Situation der NAU ist sicher nicht so schlimm, daß sie sich in Luft auflösen wird, wenn dich der Präsident feuert.« »Ich bin nicht der NAURA-Sicherheitsdienst«, stimmte Bowman zu. »Aber du kannst den Leiter einer Behörde nicht in mitten einer Krise
entlassen und erwarten, daß seine Organisation reibungslos weiterläuft. Und vergiß nicht, Bob – es gibt außer der mexikanischen Freiheitsbewegung noch andere Probleme. Zum Beispiel...« Das Telefon an seinem Gürtel läutete, und er klappte es auf. »Was ist los?« rief er ungehalten. »Ich bin grade in einer wichtigen Besprechung!« Eine kleine Pause entstand. »Mein Vize«, sagte er, zu Schlecter gewandt. »Können wir ihn aufs Telekon holen?« »Es ist dein letztes dienstliches Telefonat, Stan. Schalt das Ding ruhig an, wenn du willst.« Bowman drückte auf ein paar Tasten an seinem Telefon, und der Vize erschien auf dem Monitor neben seinem Sessel. Er saß hinter einem massiven Mahagonischreibtisch mit den gemeißelten Polychrom-Insignien des NAURA-Sicherheitsdienstes an der Frontseite, sah Schlecter an und zuckte mit den Schultern. »In der Flotte wird gemeutert«, berichtete er tonlos. »Soeben haben wir die ersten Nachrichten erhalten. Es sieht übel aus.« »Ich bin ein politisches Passivum.« Bowman faltete seine Hände auf dem Bauch, der von einer Weste verdeckt wurde, und blickte über den Brillenrand hinweg auf Schlecter. »Stell deine verdammten Fragen.« »Was ist passiert?« wandte sich der Stabschef des Präsidenten an den Vize. »Die Senioroffiziere in der L-5-Flotte intrigieren gegen uns, und die politischen Offiziere – diejenigen, die Kontakt zu uns halten – sagen uns, daß wir ›den Schaden in Grenzen halten sollen‹.« Bowman vergaß, daß er ein politisches Passivum war. »Verdammt – sie sind verpflichtet, eine solche Scheiße zu verhindern! Dazu haben Sie doch genügend Autorität! Sag ihnen, daß sie die Schuldigen sofort festnehmen sollen!« »In der L-4-Flotte hat das nicht funktioniert«, entgegnete Hulvey. »Als wir es versuchten, haben wir eine Menge Verluste erlitten. Wir haben die NAUSS Vancouver und die NAUSS Phoenix unter Kontrolle gebracht, aber mit beiden Schiffen den Kontakt verloren.« »Was heißt das – den Kontakt verloren?« fragte Bowman. »Wir haben mit beiden Schiffen keinen Audio-Kontakt, und die Phoenix zeigt sich nicht auf den Radarschirmen der Statio nen, die immer noch auf unser Kommando hören.« Ein Papier kam aus einem Schlitz in Hulveys Schreibtisch. »Laputa Radar meldet, daß die Vancouver um 15 Uhr 34 vom Radarschirm verschwunden ist – vor einer Minute.« Er legte eine Hand über seine Augen. »Mein Sohn Dan ist politischer Offizier auf der Vancouver«, flüsterte er. Ein weiteres Papier glitt aus dem Schlitz, und er
griff danach. »Die Vierte Marinedivision wird mit Shuttles nach Laputa fliegen. Sie wollen spätestens um 24 Uhr starten – und vorher brauchen sie die Starterlaubnis...« Er lachte hysterisch, dann riß er sich mühsam zusammen. »Verzeihung ... Aber diese Ozonschicht ist doch wirklich ein Witz, nicht wahr? In letzter Zeit hatten wir keine Sonnenflecken mehr, und deshalb können wir's nicht raufschicken – das Kr – Kr ...» Er brach wieder in gellendes Gelächter aus. »Ich werde sofort mit Bannerman reden«, sagte Schlecter. »Die Starterlaubnis muß hinausgehen ...« »Gib dir keine Mühe, Bob«, sagte der Präsident. »Ich werde das Kriegsrecht ausrufen.« Er hatte Bowmans Entlassung auf dem Bildschirm verfolgt und war nun unbemerkt eingetreten. Schlecter und Bowman standen auf, ebenso der hilflos lachende MGD-Vize. »Sir!« sagte Bowman eindringlich. »Das ist Senator Gomez' Schuld – und die Schuld des TVs, das diese aufrührerischen Verleumdungen gesendet hat...« »Bowman!« schrie der Präsident. »Sie verdammter Idiot! Sie mieser Verräter! Sie haben das auf dem Gewissen! Wache! Wache!« Ein paar Zivilbeamte stürmten herein. »Bringt diesen Hurensohn raus und knallt ihn ab!« Sie zögerten. »Habt ihr gehört?« brüllte der Präsident. »Was ist los?« »Zuerst müssen Sie das Kriegsrecht ausrufen, Sir«, sagte sein Stabschef. Er öffnete einen Geheimschrank und sprach in eine Computeranlage. Sie spuckte ein Blatt Papier aus, das Schlecter – auf eine Sensorplatte legte. »Unterzeichnen Sie, ich fungiere als Zeuge, und alles ist klar. Sir. Aber – sind Sie sicher, daß Sie das auch wirklich wollen?« Der Präsident las das Dokument und unterschrieb es auf der Sensorplatte. »Ich habe keine andere Wahl mehr«, sagte er, dann wandte er sich an die Wache. »Jetzt ist der Befehl legal.« Sie packten Dr. Stanley Bowman und führten ihn ab. Kurz darauf krachte ein Schuß im Atrium. »So, Mortimer ist erledigt«, murmelte der Präsident. »Jetzt zu Ihnen, Hulvey ... Wann hat die ser Ärger in der Flotte angefangen?« »Heute morgen gegen neun, Sir«, erwiderte Hulvey, dem das Lachen vergangen war. »Wahrscheinlich hängt das mit der Gomez-Pressekonferenz zusammen«, meinte der tief erschütterte Schlecter. »Die hat vermutlich den Ausschlag gegeben«, stimmte Hulvey zu. »Aber die Meuterei ging von der NAUSS Ciudad Juarez unter Commander Lowell aus. Er traf sich mit der L-4-Flotte und transmittierte eine zündende Rede, in der er sich für die Wiedereinsetzung des alten Regimes und ein freies Mexiko aussprach. Danach ließ er ›Guantanamera‹ und ›The Star
Spangled Banner‹ spielen.« »Ich verstehe«, sagte der Präsident. »Nun, dann schicken Sie die Marinesoldaten nach Laputa – je schneller, desto besser!« »Wird das nicht die Getreideernte in diesem Herbst beein trächtigen?« fragte Schlecter. »In diesem Herbst?« stieß der Präsident hervor. »Wir können froh sein, wenn wir am Wochenende noch leben!« 28
Commander McInterff betrat Cantrells Büro in seiner schönsten Gala uniform. »Ich habe mich mit den NAURA-Navy-Jungs unterhalten, die sich nicht für das alte Regime entschieden hatten, und es ist wirklich seltsam, daß sie mich hin und her fliegen lassen, statt selber mit ihnen zu sprechen.« »Eine protokollarische Maßnahme«, erklärte Marian. »Man hat Sie zum Gesandten ernannt.« »Wirklich?« fragte McInterff. »Kann man das in meine Dienstkartei aufnehmen?« »Eines Tages werden Sie vielleicht einen neuen Streifen dafür kriegen«, meinte sie. »Was haben sie gesagt?« wollte Cantrell wissen. »Im großen und ganzen sind sie mit Ihren Bedingungen ein verstanden«, antwortete McInterff. Er öffnete seine Aktentasche und reichte Marian ein paar Papiere. »Da – sehen Sie selber.« Gemächlich begann sie in den Schriftstücken zu blättern. »Das genügt, Charles. Irgend jemand namens Schlecter erkennt dich als Gouverneur von Rosinante an, und der NAURA-Sicherheitsdienst zählt die Beschuldigungen auf, die man gegen dich erhoben hatte – sie sind übrigens ziemlich belanglos –, und erklärt gleichzeitig, daß die Anklage fallen gelassen wurde. Wird Hulvey nun der neue Leiter vom MGD?« »Der geschäftsführende Leiter«, sagte Skaskash. »Man behauptet, daß Bowman erschossen wurde, aber wir haben noch keine Bestätigung bekommen.« »Glauben Sie nicht, daß Sie lieber neutral bleiben sollten?« fragte McInterff. »Die NAU ächzt in allen Fugen, und Sie könnten Ärger kriegen, wenn die andere Seite siegt.« »Früher oder später müssen wir Stellung beziehen«, entgegnete Cantrell, »und auf diese Weise wird man uns zugute halten, daß wir uns freiwillig
entschieden haben.« »Vielleicht«, murmelte McInterff skeptisch. »Aber glauben Sie wirklich, daß Ihre Entscheidung richtig ist?« »Eine gute Frage«, meinte Marian. »Darauf könntest du antworten, daß es besser ist, sofort die falsche Entscheidung zu treffen, statt so lange zu warten, bis man nicht mehr in der Lage ist, sich für irgend etwas zu entscheiden.« »Sie scheinen nicht sonderlich erpicht darauf zu sein, der Regierung meinen Treueeid zu übermitteln«, sagte Cantrell. »Um ehrlich zu sein – ich hatte gehofft, Sie würden für das alte Regime eintreten, Sir.« »Das hätte ich tun sollen – aber ich mußte an das Wohl von Rosinante denken.« »Ich bin fast fertig mit der Vorrede«, verkündete Skaskash. »Wenn das rote Licht aufleuchtet, wird man Sie im ganzen Solarsystem sehen.« Blink. »Schwören Sie, Charles Chavez Cantrell, an diesem Ort und in diesem Augenblick, die Nordamerikanische Union jederzeit im Kampf gegen ihre Feinde aus dem Aus- und Inland zu unterstützen?« fragte McInterff. »Ich schwöre es«, antwortete Cantrell mit fester Stimme. »Werden Sie auch am nächsten Tag und an allen Tagen fortan diesen Eid leisten?« »Ja.« »Dann ernennt Sie der Präsident der NAU zu seinem Gouverneur auf Rosinante. Nach den Gesetzen der NAU und Rosinantes. Sprechen Sie mir nach: Ich gelobe feierlich, das Amt des Gouverneurs auf Rosinante pflichtgetreu zu erfüllen ...« Cantrell wiederholte diese Worte. »... und alles zu tun, was in meinen Kräften steht, um die Verfassung der Vereinigten – um die Verfassung von Rosinante zu erhalten, zu schützen und zu verteidigen.« Cantrell wiederholte den Satz ohne den Versprecher. Blink. »Also, da werden einige Zähne knirschen«, prophezeite Skaskash. »Vielleicht werden Sie noch keinen neuen Streifen kriegen, Commander.« »Schade«, meinte McInterff mit einem schwachen Lächeln. Draußen begann die Band ›Dixie‹ zu spielen. »Mit den Gewerkschaftstrompetern klingt das Orchester viel besser«, sagte Cantrell. »Wenn sie ›The Impossible Dream‹ intonieren, müssen Sie auf den Balkon rausgehen«, erinnerte ihn Skaskash. »Dann kommt die Rede, dann
die Parade, dann die Party. Die Autobuffets stehen schon bereit.« »Bloß keine Drei-Tage-Party!« rief Cantrell. »So was würde ich nicht mehr verkraften!« »Nein, natürlich nicht«, besänftigte ihn Skaskash. »Dazu haben wir jetzt viel zu viele Familien mit kleinen Kindern. Nein, diesmal gibt's nur ein Picknick und Gesellschaftsspiele, und abends wird das Fest mit einem Feuerwerk beendet.« »Woher haben wir denn in so kurzer Zeit Feuerwerkskörper bekommen?« fragte Cantrell. »Mordecai Rubenstein besitzt ein bemerkenswertes Fachbuch«, berichtete Marian. »Und als ich ihm verriet, wie sehr du Feuerwerke liebst, hat er mir die Dinger praktisch aufgedrängt.« Sie lächelte. »Das Spektakel wird fünfundzwanzig Minuten dauern. Mordecai hätte gern noch weitere Raketen gebastelt, aber es fiel uns ein, daß wir dann womöglich das Pfettenfenster putzen müßten.« Als Cantrell auf den Balkon hinaustrat, konnte er nicht hören, ob die Kapelle spielte oder nicht. Er hob beide Arme hoch über den Kopf, um sich für die Jubelrufe seines Volkes zu bedanken.