Regionalspezifische Intonationsverläufe im Kölnischen
Pia Bergmann
Max Niemeyer Verlag
Linguistische Arbeiten
525
Herausgegeben von Klaus von Heusinger, Gereon Mller, Ingo Plag, Beatrice Primus, Elisabeth Stark und Richard Wiese
Pia Bergmann
Regionalspezifische Intonationsverl'ufe im Kçlnischen Formale und funktionale Analysen steigend-fallender Konturen
Max Niemeyer Verlag Tbingen 2008
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-30525-0
ISSN 0344-6727
( Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul<ssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielf) tiefes Tonh¨ohenregister hohes Tonh¨ohenregister Sonstige Konventionen ni=mehr Verschleifungen innerhalb von Einheiten ((lacht)) Charakterisierung parasprachlicher und außersprachlicher Handlungen oder Vorg¨ange > beschreibende oder interpretierende Kommentare mit Angabe der Reichweite ( ) unverst¨andliche Passage, je nach L¨ange (also) vermuteter Wortlaut ((...)) Auslassung im Transkript .h, .hh, .hhh Einatmen, je nach Dauer ⇒ Verweis auf die im Text besprochene Transkriptzeile k06 Sprecherk¨urzel 333 Transkriptzeile
F¨ur einige aus anderen Arbeiten u¨ bernommene Beispiele m¨ussen zus¨atzlich folgende Konventionen ber¨ucksichtigt werden (vgl. Selting 2000a): Tonh¨ohe am Einheitenbeginn upstep, Heraufstufung downstep, Herabstufung continuing, Beibehaltung der Tonh¨ohe Tonh¨ohenakzentbewegungen \ fallend auf mittleres Tonh¨ohenniveau \− fallend auf tiefes Tonh¨ohenniveau / steigend auf mittleres Tonh¨ohenniveau /− steigend auf hohes Tonh¨ohenniveau – gleichbleibend /\ steigend-fallend \/ fallend-steigend Globale Tonh¨ohenverl¨aufe F( ) fallend S( ) steigend M( ) mittel H( ) hoch T( ) tief T,F( ) fallend innerhalb von tiefem Tonh¨ohenregister [( )( )] kombinierte Konturen innerhalb einer u¨ bergeordneten intonatorischen Einheit
1 Zielsetzung und Fragestellung Die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag zur Untersuchung der regionalen Variation von Intonation im Deutschen. Sie widmet sich speziell der Intonation des K¨olnischen. Obwohl intonatorische Unterschiede zwischen verschiedenen Dialekten des Deutschen im Alltagsverst¨andnis der Kommunikationsgemeinschaft fest verankert sind – dies verr¨at der g¨angige Alltagsbegriff des “Sing-Sangs”1 –, hat sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema erst sehr sp¨at entwickelt. Noch 1983 beklagt Heike den a¨ ußerst l¨uckenhaften Wissensstand im Bereich regionalspezifischer Intonations- und Suprasegmentalienforschung und kann nicht mehr als vier Arbeiten aus diesem Forschungsbereich anf¨uhren (vgl. Heike 1983: 1162 ff.). Demgegen¨uber l¨asst sich zum heutigen Zeitpunkt ein eklatanter Zuwachs an Arbeiten zu diesem Thema verzeichnen. Es ist auch keineswegs der Fall, dass intonatorische oder prosodische Unterschiede in der fr¨uheren Forschung nicht beachtet worden w¨aren. Gerade zum “Rheinischen” finden sich einige, wenn auch wenige, verstreute Artikel, die sich mit suprasegmentalen Besonderheiten verschiedener rheinischer Dialekte besch¨aftigen. Oftmals handelt es sich um Darstellungen zur “rheinischen Akzentuierung” oder um kleinr¨aumige, ortsbezogene Beschreibungen der “Sprechmelodie”. Wie Schmidt (1986) in Bezug auf die “rheinische Akzentuierung” eindrucksvoll darstellt, zeichnen sich die fr¨uhen Publikationen zu diesem Thema jedoch durch eine extreme terminologische Uneinheitlichkeit aus, die der Entwicklung einer systematischen, in sich koh¨arenten Forschungstra¨ dition im Wege steht. Ahnlich verh¨alt es sich auch mit den Untersuchungen zur regionalspezifischen Sprechmelodie. Uneinheitliche Terminologie und Beschreibungskriterien und/oder eine impressionistische Herangehensweise erschweren eine Vergleichbarkeit der fr¨uhen Forschungsergebnisse (siehe bspw. Fuchs 1904, Menzerath 1927/1928, Dittmaier 1943, Meinhold 1967). In den letzten Jahren ist jedoch eine weitgehende Einigung in Hinblick auf grundlegende Konzepte der formalen Beschreibung von Intonation erzielt worden, die es erm¨oglicht, der Forderung nach einer systematischen Aufarbeitung des Forschungsdesiderats “Regionale Variation der Intonation” nachzukommen. Die Konzepte basieren in erster Linie auf dem autosegmental-metrischen Ansatz, der seit den fr¨uhen 1980er Jahren zur Beschreibung intonatorischer Ph¨anomene zugrunde gelegt wird (vgl. Ladd 1996). Hinzu kommen die technischen M¨oglichkeiten f¨ur akustisch-phonetische Analysen der Intonation, die es erm¨oglichen, den subjektiven H¨oreindruck einer akustischen Pr¨ufung zu unterziehen. Auch in der vorliegenden Arbeit wird zur Beschreibung der formalen Spezifika der k¨olnischen Intonation auf die Konzepte des autosegmental-metrischen Ansatzes sowie auf akustisch-phonetische Analysen zur¨uckgegriffen. Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit ist jedoch zweifach: Es richtet sich nicht nur auf die Form der regionalspezifischen Intonationsverl¨aufe, sondern ausgehend von den Formen sollen die interaktionalen Funktionen herausgearbeitet werden, die mit den entsprechenden Verl¨aufen verkn¨upft sind. Wie Auer et al. (2000: 223) unterstreichen, handelt es sich bei der Intonation um ein a¨ ußerst komplex strukturiertes Ph¨anomen, dessen Struktur u.a. ¨ durch die segmentelle Grundlage einer Außerung, die Wortakzentuierung, syntaktische, se1
¨ F¨ur einen Uberblick zur Verwendung der Bezeichnung der “singenden” Sprechmelodie siehe Zimmermann (1998).
2 mantische und pragmatische Aspekte bestimmt wird. Ganz wesentlich ist dabei jedoch, dass die Intonation vor allem durch das Vorkommen in nat¨urlicher gesprochener Sprache gepr¨agt ist. Sie tr¨agt dazu bei, die Interaktion zu strukturieren und dient den Interaktionsteilnehmern als Mittel, konversationelle “Aufgaben” wie beispielsweise die Verteilung des Rederechts, die thematische Strukturierung oder die Vermittlung von Einstellungen und Emotionen zu bew¨altigen (vgl. Auer & Selting 2000). In Arbeiten des autosegmental-metrischen Ansatzes wird das konversationelle Vorkommen der Intonation allerdings zumeist vernachl¨assigt, so dass f¨ur die funktionale Analyse ein Ansatz herangezogen werden muss, der sich dezidiert mit der Analyse interaktionaler Fragestellungen auseinandersetzt. Es handelt sich hierbei um den Ansatz der Interaktionalen Linguistik (vgl. Couper-Kuhlen & Selting 1996, Selting & Couper-Kuhlen 2000). Es ist selbstverst¨andlich zu bedenken, dass eine Analyse des Vorkommens regionalspezifischer Intonationsverl¨aufe in spontansprachlichen Daten tats¨achlich einige Nachteile mit sich bringt. So k¨onnen bestimmte Einflussfaktoren f¨ur die Realisierung von Intonationskonturen, wie beispielsweise die Silbenanzahl von W¨ortern, nicht im Voraus kontrolliert werden. Da die nat¨urlich-sprachliche Interaktion in der vorliegenden Arbeit als prim¨arer Ort der Verwendung von Intonation angesehen wird, soll nichtsdestotrotz der Versuch unternommen werden, die regionalspezifischen Intonationsverl¨aufe in ihrem konversationellen Vorkommen zu beschreiben. Bei der Beschreibung ist es besonders wesentlich, nicht aus den Augen zu verlieren, dass die Intonation ein Mittel ist, das von den Interaktionsteilnehmern “in situ” eingesetzt wird. Die funktionale Analyse kann sich deshalb nicht damit begn¨ugen, den untersuchten Intonationsverl¨aufen von außen, d.h. aus der Forscherperspektive, bestimmte Funktionen zuzuschreiben. Dies hat zur Konsequenz, dass die funktionale Analyse in erster Linie auf der Rekonstruktion der Teilnehmerperspektive basieren muss; die Herangehensweise sollte entsprechend induktiv sein. Ein Aspekt der induktiven Herangehensweise ist, dass bei der funktionalen Analyse die interne Variation der Konturverl¨aufe ber¨ucksichtigt wird. Auf diesem Wege kann untersucht werden, ob die Variation sich systematisch mit der konversationellen Verwendung durch die Interaktionsteilnehmer in Zusammenhang bringen l¨asst. Ziel der Arbeit ist somit, ein umfassendes Gebrauchsprofil regionalspezifischer Intonationsverl¨aufe des K¨olnischen aufzustellen. Die formale Beschreibung soll dazu dienen, die untersuchten Verl¨aufe in den Forschungskontext einzubetten und im Vergleich mit a¨ hnlichen Verl¨aufen anderer Variet¨aten des Deutschen die regionalen Besonderheiten der K¨olner Verl¨aufe herauszustellen. Zudem soll sie die interne Variation eines Verlaufs ermitteln, die dann wiederum in Zusammenhang mit den konversationellen Funktionen gesetzt werden kann. Die funktionale Analyse soll aufzeigen, welche Rolle die regionalspezifischen Intonationsverl¨aufe f¨ur die Organisation der Interaktion spielen. Die eingangs erw¨ahnte “rheinische Akzentuierung” wird in der vorliegenden Arbeit nur thematisiert, sofern sich Einfl¨usse auf die ¨ Außerungsintonation feststellen lassen (siehe Kap. 3.1.2, 4.1, 4.2). Die Arbeit gliedert sich folgendermaßen: In Kapitel 2 wird der relevante theoretische Hintergrund der Intonationsphonologie und der Interaktionalen Linguistik vorgestellt. Es werden die grundlegenden Analysekategorien der Arbeit eingef¨uhrt, die f¨ur die formale Beschreibung auf der Intonationsphonologie und f¨ur die funktionale Beschreibung auf der Interaktionalen Linguistik beruhen. Außerdem werden die Grundlagen der Beschreibung regionaler intonatorischer Variation dargestellt.
3 Kapitel 3 f¨uhrt in Material und Methoden der vorliegenden Arbeit ein. Es wird ein kurzer ¨ Uberblick u¨ ber die segmentellen und suprasegmentalen Eigenschaften des K¨olnischen gegeben. Es werden dann das Korpus, die untersuchten Sprecher und die Analysemethoden vorgestellt. Kapitel 4 bildet das Zentrum der Arbeit. Es widmet sich der Analyse eines sehr auff¨alligen regionalspezifischen Verlaufs, der sich durch eine steigend-fallende Bewegung im Nukleus der Intonationsphrase auszeichnet. Es wird zun¨achst ein Forschungs¨uberblick u¨ ber das Vorkommen nuklear steigend-fallender Verl¨aufe in anderen Variet¨aten des Deutschen gegeben (Kap. 4.1). Die Kontur wird dann auf ihre interne Variation hin untersucht (Kap. 4.2, 4.3). Schließlich erfolgt die funktionale Analyse der Kontur (Kap. 4.4). Zuletzt werden die Analyseergebnisse zusammengefasst und diskutiert (Kap. 4.5). Kapitel 5 widmet sich einem zweiten regionalspezifischen Verlauf des K¨olnischen, der jedoch weniger salient und weniger h¨aufig ist als der in Kapitel 4 untersuchte nuklear steigendfallende Verlauf. Es handelt sich wiederum um eine Kontur mit steigend-fallender Bewegung, die sich jedoch nicht nur u¨ ber den Nukleus der Intonationsphrase erstreckt, sondern u¨ ber die ¨ vollst¨andige Intonationsphrase. Die Kontur hat Ahnlichkeit mit der f¨ur das Standarddeutsche (und andere Sprachen) beschriebenen “Hutkontur” (vgl. F´ery 1993, Ladd 1996). Auch hier wird zun¨achst die interne Variation der steigend-fallenden Bewegung beschrieben (Kap. 5.1, 5.2), bevor schließlich auf die konversationellen Verwendungsweisen des Verlaufs eingegangen wird (Kap. 5.3). Kapitel 6 schließlich fasst die erzielten Forschungsergebnisse zusammen.
2 Theoretische Grundlagen und Forschungshintergrund Ziel des folgenden Kapitels ist es, in die theoretischen Grundlagen der Arbeit einzuf¨uhren und den Forschungshintergrund zur regionalen Variation der Intonation im Deutschen zu beleuchten. Unter Intonation wird in der vorliegenden Arbeit der “Verlauf der Sprechmelodie u¨ ber die ¨ Außerung hinweg” (Pompino-Marschall 2 2003: 246) verstanden. Zur Intonation wird folglich nur der Tonh¨ohenverlauf gez¨ahlt, nicht die Dauer oder die Lautst¨arke.1 Die Begriffe Intonation(sverlauf) und Tonh¨ohe(nverlauf) werden synonym gebraucht. Wie in der Einleitung erw¨ahnt wurde, beruht die vorliegende Arbeit auf zwei Forschungsrichtungen, die sich in fundamentalen Ansichten voneinander unterscheiden (s.u.). Beide Forschungsrichtungen werden jedoch ben¨otigt, um das angestrebte Untersuchungsziel – die formale und funktionale Analyse regionalspezifischer Intonationsverl¨aufe im K¨olnischen – zu erreichen. Um eine fundierte formale Beschreibung der ausgew¨ahlten Intonationsverl¨aufe zu leisten, die auch die Vergleichbarkeit der Analysen mit aktuellen Erkenntnissen der Intonationsforschung erm¨oglicht, basiert die formale Analyse auf den Beschreibungskategorien der autosegmentalmetrischen Phonologie sowie – in geringerem Maße – der Britischen Schule. Entsprechend stellt der Abschnitt 2.1 die Kategorien zur strukturellen Beschreibung der Intonation vor, wobei sowohl der Ansatz der Britischen Schule als auch der neuere autosegmental-metrische Ansatz ber¨ucksichtigt werden. Kapitel 2.2 f¨uhrt in den theoretischen Hintergrund der Intonationsphonologie nach Ladd (1996) ein, um den relevanten theoretischen Hintergrund der beiden soeben erw¨ahnten Ans¨atze zur formalen Beschreibung der Intonation zu illustrieren. Die funktionale Analyse basiert in der vorliegenden Arbeit auf der Interaktionalen Linguistik, vor deren Hintergrund auch die zentrale Fragestellung der Arbeit steht, n¨amlich in welcher Weise die Interaktionsteilnehmer die regionalspezifischen Verl¨aufe in der spontansprachlichen Interaktion einsetzen. Die Interaktionale Linguistik bildet den zentralen theoretischen Hintergrund der vorliegenden Arbeit, da sie nicht nur den Rahmen f¨ur die Fragestellung der Arbeit bereitstellt, sondern auch denjenigen f¨ur das zu Grunde gelegte Analysematerial und ¨ die Analysemethoden. Einen Uberblick u¨ ber den theoretischen Hintergrund und die Zielsetzungen der Interaktionalen Linguistik sowie u¨ ber die Anforderungen an Material und Methoden gibt der Abschnitt 2.3. Es ist zu beachten, dass die Frage nach den Funktionen oder der Bedeutung von Intonation auch in den als intonationsphonologisch bezeichneten Arbeiten eine große Rolle spielt. Sie unterscheiden sich jedoch von den interaktionslinguistisch orientierten Arbeiten, insbesondere auch der vorliegenden Arbeit, nicht nur hinsichtlich der Zielsetzungen und Analysemethoden, sondern auch in Hinblick auf die grundlegende Konzipierung des Verh¨altnisses von Intonation und Bedeutung, was im Rahmen der Einf¨uhrung in die Intonationsphonologie (Kap. 2.2) und in die Interaktionale Linguistik (Kap. 2.3) knapp diskutiert wird. Zur Verdeutlichung “intonationsphonologischer” funktionaler Analysen und in Abgrenzung zu den funktionalen Analysen der vorliegenden Arbeit werden in Kapitel 2.2 exemplarisch einige intonationsphonologische Analysen vorgestellt. In Kapitel 2.4 schließlich werden die wichtigsten Merkmale zur Beschreibung der regionalen Variation der Intonation sowie die zentralen Forschungsergebnisse zur intonatorischen Variation im Deutschen vorgestellt.
1
Zum akustischen Korrelat der Tonh¨ohe siehe Kap. 3.3.
6
2.1
Grundlagen der strukturellen Beschreibung von Intonation
Es werden traditionell zwei Ans¨atze zur Beschreibung von Intonation unterschieden: der Ansatz der Britischen Schule und der Tonsequenzansatz.2 Bei dem Ansatz der Britischen Schule handelt es sich um den a¨ lteren Ansatz mit fr¨uhen Arbeiten aus den 1920er Jahren (vgl. Gibbon 1976, Cruttenden 2 1997); er l¨asst sich als konturbasierter Ansatz beschreiben. Die Entwicklung des Tonsequenz- oder autosegmental-metrischen Ansatzes setzt in den fr¨uhen 1980er Jahre ein und geht nicht auf konturbasierte Ans¨atze zur Beschreibung der Intonation zur¨uck, sondern auf sogenannte Ebenenmodelle wie das von Pike (1945) oder Trager & ¨ Smith (1951), in denen der Tonh¨ohenverlauf einer Außerung auf der Basis von vier Ebenen dargestellt wird. W¨ahrend Intonationsverl¨aufe in der Britischen Schule entsprechend als kontinuierliche Verl¨aufe wie beispielsweise “steigend” oder “fallend” beschrieben werden, fundiert der autosegmental-metrische Ansatz seine Beschreibung auf die lineare Abfolge von hohen oder tiefen Zielpunkten. Ein ansteigender Tonh¨ohenverlauf wird folglich als Abfolge von einem tiefen und einem hohen tonalen Zielpunkt aufgefasst, die durch Interpolation des Tonh¨ohenverlaufs miteinander verbunden sind.3 Die hohen und tiefen T¨one gelten als diskrete, kategorische Ereignisse, die in regulierter Weise mit der Segmentschicht, d.h. mit der ¨ textuellen Grundlage, einer Außerung verbunden sind. Demgegen¨uber konzipiert die Briti¨ sche Schule die Intonationsverl¨aufe als graduelle Uberg¨ ange (vgl. Cruttenden 2 1997, Grice & Baumann 2002, Ladd 1996). Die a¨ lteren Arbeiten der Beschreibung des Deutschen sind vor allen Dingen der Britischen Schule verpflichtet (siehe von Essen 1956, Pheby 1975);4 neuere Arbeiten (ab den 1980ern) orientieren sich hingegen am Tonsequenzansatz (siehe Altmann et al. 1989, F´ery 1993, Gibbon 1998, Grabe 1998a, Uhmann 1991, Wunderlich 1988). Wie f¨ur einige andere Sprachen auch, liegt f¨ur das Deutsche eine Intonationsbeschreibung in der Tradition des ToBI-Systems vor, das auf Pierrehumbert (1980) zur¨uckgeht.5 Es handelt sich entsprechend um ein Tonsequenzmodell und wird als GToBI bezeichnet (vgl. Grice & Baumann 2002). Wesentliche Aspekte einer strukturellen Beschreibung der Intonation sind die Abgrenzung von Intonationseinheiten sowie deren interne Gliederung, wobei diese von den beiden Ans¨atzen unterschiedlich konzipiert wird. Der Abgrenzung von Intonationseinheiten widmet sich Abschnitt 2.1.1, die interne Gliederung der Intonationseinheit wird in Abschnitt 2.1.2 besprochen.
2
F¨ur eine Einf¨uhrung zur Intonation im Stil der Britischen Schule sowie einen kurzen historischen Abriss ihrer Entwicklung siehe Cruttenden (2 1997), f¨ur eine Erl¨auterung des autosegmental-metrischen ¨ Ansatzes Ladd (1996). Ein Uberblick u¨ ber diese und andere Beschreibungsmodelle findet sich auch in Fox (2000) sowie sehr knapp in Grice & Baumann (2002). 3 Im Gegensatz zu den fr¨ uhen Ebenenmodellen zeichnet sich der autosegmental-metrische Ansatz dadurch aus, dass nur zwei Tonh¨ohenebenen angenommen werden. 4 Eine Ausnahme bilden Isaˇcenko & Sch¨adlich (1966), die bereits ein zweistufiges Ebenenmodell verwenden. 5 Eine autosegmental-metrische Beschreibung der Intonationssysteme verschiedener Sprachen findet sich in Jun (2005).
7 2.1.1
Abgrenzung von Intonationseinheiten
Bevor die interne Gliederung einer Intonationseinheit bestimmt werden kann, sieht man sich zun¨achst vor die Aufgabe gestellt, die Grenzen einer Intonationseinheit festzulegen. Die Gliederung gr¨oßerer Redeabschnitte in Intonationseinheiten gilt jedoch zumeist als problematisch. M¨ogliche Kriterien zur Untergliederung in Intonationseinheiten sind Pausen zwischen den Einheiten, anakrustische Silben, die den Beginn einer neuen Intonationseinheit markieren, durch final lengthening gedehnte einheitenfinale Silben und eine generelle Verlangsamung des Sprechtempos am Ende von Einheiten (vgl. Grabe 1998a: 41). Vor allem im Hinblick auf spontansprachliche Daten ist die G¨ultigkeit dieser Kriterien allerdings stark eingeschr¨ankt. Abbr¨uche, Verz¨ogerungen und Hesitationspausen ebenso wie “Durchhecheln” k¨onnen die Entscheidung u¨ ber eine vorliegende Einheitengrenze erschweren. Als stabilere Indikatoren f¨ur die Spezifikation von Einheitengrenzen k¨onnen sich in der Spontansprache m¨oglicherweise tonale Eigenschaften erweisen. Generell gelten Tonh¨ohenbewegungen auf unbetonten Silben, Tonh¨ohenspr¨unge oder die Wiederholung des gleichen Tonh¨ohenverlaufsmusters als Hinweise auf vorliegende Einheitengrenzen.6 Wie Grabe (1998a) betont, sind sich die meisten Intonationsforscher dar¨uber einig, dass eine Intonationseinheit eine bestimmbare Intonationskontur mit wenigstens einem Tonh¨ohenakzent aufweisen muss. Auch Selting (1995), die spontansprachliche Daten analysiert, geht davon aus, dass eine “Intonationskontur” minimal einen Akzent beinhaltet. Ihre “Intonationskontur” ist jedoch durch eine variablere Ausdehnung gekennzeichnet als im Rahmen autosegmentaler oder tonetischer Ans¨atze u¨ blich: Selting charakterisiert die Intonationskontur als “koh¨asive Akzentsequenz”, die von den Interaktionsteilnehmern als ganzheitlich wahrgenommen wird. Die Intonationskontur kann so auch einen Sprecherwechsel u¨ berschreiten, indem ein zweiter Sprecher die begonnene Akzentsequenz seines Vorredners fortsetzt (vgl. Selting 1995: 39ff.). Aufgrund des rein systembezogenen Forschungsinteresses, und da das Datenmaterial zumeist nicht spontansprachlich ist, fallen die Intonationseinheiten autosegmental ¨ oder tonetisch orientierter Forscher in der Regel k¨urzer aus. H¨aufig wird eine Ubereinstimmung von intonatorischen und syntaktischen Einheiten angenommen, wobei die intonatorische Phrasierung aus der syntaktischen Phrasierung abgeleitet wird (vgl. Grabe 1998a: 41). Grunds¨atzlich kann mit Cruttenden (1997) festgehalten werden, dass eine Untergliederung in Intonationseinheiten vor allem in der Spontansprache nicht immer mit Sicherheit vorgenommen werden kann. Es ist m¨oglich, dass mehrere der erw¨ahnten Kriterien als Merkmalsb¨undel auftreten und eine Einheitengrenze markieren, ebenso ist jedoch m¨oglich, dass keines der Kriterien beobachtet werden kann und dennoch eine Abgrenzung vorgenommen wird. In solchen unklaren F¨allen werden auch syntaktische und semantische Merkmale der ¨ Außerung in die Entscheidung einbezogen (vgl. Cruttenden 1997: 29ff., siehe hierzu auch Kapitel 5.3). Die Terminologie zur Bezeichnung der Intonationseinheit ist in den Arbeiten zur Intonationsforschung recht divergent. Zur¨uckgehend auf Pierrehumbert (1980) kristallisiert sich innerhalb autosegmentaler Arbeiten die “Intonationsphrase” als g¨angigster Begriff heraus. Er wird beispielsweise bei Uhmann (1991), F´ery (1993) und Grabe (1998a) verwendet und auch f¨ur das deutsche ToBI-System (GToBI) u¨ bernommen (vgl. Grice & Baumann 2002). In 6
Die Problematik der Abgrenzung von Intonationseinheiten wird in Kapitel 5.2 nochmals aufgegriffen.
8 Arbeiten der britischen Tradition entsprechen dem die Begriffe der “tone group” (Halliday 1967, Brazil 1975) bzw. “Tongruppe” (Pheby 1975), der “tone unit” (Crystal 1969) oder der “intonation group” (Cruttenden 1997).
2.1.2
Interne Gliederung und tonale Gestaltung von Intonationseinheiten
2.1.2.1 Die Britische Schule Die interne Gliederung von Intonationsphrasen f¨uhrte in der Britischen Schule traditionell zu einer Zwei- oder Vierteilung der Phrase (vgl. Ladd 1986: 318). Beiden M¨oglichkeiten ist gemeinsam, dass vor der prominentesten Silbe der Intonationsphrase ein Einschnitt vorgenommen wird. W¨ahrend der vorangehende Abschnitt als fakultativ betrachtet wird, gilt der mit der prominentesten Silbe beginnende Abschnitt als obligatorisch und relevant f¨ur die Positionierung distinktiver Tonh¨ohenverl¨aufe. Die Vierteilung resultiert aus einer weiteren Gliederung der beiden Abschnitte in “prehead” und “head” bzw. “nucleus” und “tail”, wobei sich der Head von der ersten prominenten Silbe bis zur prominentesten Silbe, dem Nukleus, erstreckt. Den Prehead bilden m¨ogliche Silben vor der ersten prominenten Silbe, den Tail m¨ogliche Silben nach dem Nukleus (vgl. Crystal 1969: 207ff.). Diese Vierteilung findet sich f¨ur das Deutsche bei von Essen (1956). Dem Prehead entspricht hier der “Vorlauf”, der Head ist mit dem “rhythmischen K¨orper” gleichzusetzen, der Nukleus mit der “Schwerpunktsilbe” und der Tail mit dem “Nachlauf”. Diese Aufteilung veranschaulicht die folgende Abbildung, f¨ur die die deutschsprachige Terminologie gew¨ahlt wurde (vgl. auch Gilles 2005: 9). Nukleus Vorlauf
meine
Kopf
MUTter ist echte
Nukleussilbe
Nachlauf
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nerin
Abbildung 2.1: Interne Gliederung der Intonationsphrase gem¨aß der Britischen Schule
Pheby (1975: 63) u¨ bernimmt von Halliday (1967) demgegen¨uber eine Zweiteilung der Phrase und bezeichnet alle Silben bis zur prominentesten Silbe als “Vorlauf” (Hallidays “pretonic”), die folgenden Silben als “Tonstelle” (Hallidays “tonic”). Sowohl Pheby als auch Halliday heben die prominente Silbe aus der Tonstelle bzw. dem Tonic begrifflich als “Tonsilbe” oder “tonic syllable” heraus. Auch Kohler (1995) nimmt eine Zweiteilung vor und geht von dem
9 besonderen Status des mit der letzten Akzentsilbe beginnenden Abschnitts aus (vgl. Kohler 1995: 195ff.).7 Begriffe wie Nukleus, Schwerpunktsilbe und Tonstelle sind bezeichnend f¨ur den hohen Stellenwert, der diesem Phrasenabschnitt zugewiesen wird. Ungeachtet der Entscheidung f¨ur oder gegen eine Zweiteilung dieses Abschnitts wird zudem h¨aufig angenommen, dass die im Nachlauf vorliegende Tonh¨ohenbewegung g¨anzlich durch die akzentuierte Silbe bestimmt wird. Nach der akzentuierten Silbe soll demnach keine eigenst¨andige Tonh¨ohenbewegung mehr folgen: “In no case is a separate contrast carried by any feet after the tonic foot; the pitch movement is distributed over the whole tonic, and there is no ‘posttonic’ element.” ¨ (Halliday 1967: 14; zu a¨ hnlichen Außerungen vgl. Crystal 1969: 208, Pheby 1975: 52). W¨ahrend von Essen (1956) und Crystal (1969) davon ausgehen, dass die der akzentuierten Silbe nachfolgenden Silben in der Regel die vorgegebene Richtung fortsetzen, stellen Halliday und Pheby zwei Tonh¨ohenverl¨aufe fest, die einen Richtungswechsel vorsehen: den fallend-steigenden und den steigend-fallenden Verlauf. Auch Kohler (1995: 196) erw¨ahnt einen fallend-steigenden Verlauf.8
2.1.2.2
Der autosegmental-metrische Ansatz (AM-Ansatz)
Von den beschriebenen Ans¨atzen britischer Tradition zu unterscheiden sind die Untersuchungen im Rahmen des autosegmental-metrischen Ansatzes. Dem AM-Ansatz liegt, wie eingangs erw¨ahnt wurde, die Annahme zugrunde, dass sich Intonationsverl¨aufe auf eine Abfolge tonaler Zielpunkte zur¨uckf¨uhren lassen, die in bestimmter Weise mit der Textebene einer ¨ Außerung verkn¨upft sind. Aus dieser Ton-Text-Assoziation resultieren verschiedene tonale Kategorien, die sich daraus ergeben, mit welchem Element der Textebene ein Ton assoziiert ist. Die Assoziation wird in der Regel dadurch angezeigt, dass der Ton zeitlich an dem entsprechenden Element ausgerichtet ist. Entsprechend ihrer Ton-Text-Assoziation werden folgende Tonkategorien angenommen (vgl. im Folgenden Grice & Baumann 2002, Ladd 1996, Peters 2005): Akzentt¨one, Begleitt¨one der Akzentt¨one, Phrasenakzente (bzw. Phrasent¨one bei Peters (2005)) und Grenzt¨one. Die Akzentt¨one sind mit einer betonten Silbe verkn¨upft und dienen ihrer Hervorhebung. Alle u¨ brigen T¨one k¨onnen mit unbetonten Silben verkn¨upft sein. Begleitt¨one zeichnen sich dadurch aus, dass sie in einem relativ festen zeitlichen Abstand zum Akzentton erfolgen; sie orientieren sich in ihrer Ausrichtung nicht an einem bestimmten Element der Textebene, sondern an dem Akzentton, dem sie vorangehen (Leitton oder Leadington) oder nachfolgen k¨onnen (Folgeton oder Trailington). Die Grenzt¨one sind mit den initialen oder finalen Silben von Intonationsphrasen verkn¨upft; sie dienen der Abgrenzung von Intonationsphrasen. Phrasenakzente stellen hinsichtlich ihrer Ausrichtung an der Textebene eine Besonderheit dar: Sie gelten als Grenzt¨one von intermedi¨aren Intonationsphrasen (s.u.), sind jedoch h¨aufig an be-
7
¨ Eine Uberblicksdarstellung mit einigen hier nicht aufgef¨uhrten Phrasierungsm¨oglichkeiten findet sich bei Uhmann (1991: 124). Siehe außerdem Fox (2000: 301ff.) zur Struktur der Intonationsphrase in verschiedenen Beschreibungsmodellen. 8 Mit einem nuklear steigend-fallenden Verlauf setzt sich Kapitel 4 ausf¨ uhrlich auseinander.
10 tonbaren Silben ausgerichtet, ohne diese allerdings hervorzuheben.9 Alle tonalen Kategorien ¨ k¨onnen als hohe oder tiefe T¨one ausgepr¨agt sein. Die folgende Tabelle gibt einen Uberblick u¨ ber die tonalen Kategorien und ihre konventionelle Notation,10 die auch in der vorliegenden Arbeit verwendet wird (siehe hierzu Kapitel 3.3). Tabelle 2.1: Tonale Kategorien im AM-Ansatz Tonkategorie Akzentton Begleitton
Leitton Folgeton
Notation L*, H* L+, H+ +L, +H
Phrasenakzent
L-, H-
Grenzton
L%, H% bzw. %L, %H
Ton-Text-Assoziation mit betonter Silbe dem Akzentton vorangestellt dem Akzentton nachgestellt mit intermedi¨arer Phrasengrenze evtl. ausgerichtet an betonbarer Silbe mit finaler bzw. initialer Intonationsphrasengrenze
Die im AM-Ansatz u¨ bliche Auffassung von der Intonation als linearer Abfolge hoher oder tiefer tonaler Zielpunkte hat Konsequenzen f¨ur die Gliederung der Intonationsphrase. Die Dominanz der letzten akzentuierten Silbe inklusive des Folgeabschnitts u¨ ber die ihr vorangehenden Silben wird zugunsten einer Gleichrangigkeit aller Akzenttonsilben aufgehoben. Nichtsdestotrotz wird die letzte Akzenttonsilbe der Intonationsphrase h¨aufig als Nukleussilbe bezeichnet. Zum Teil wird f¨ur die Nukleussilbe zudem ein gesondertes Toninventar aufgestellt, so dass diese allein aufgrund der m¨oglichen tonalen Gestaltungen bereits von den u¨ brigen Akzentsilben abgehoben wird (vgl. F´ery 1993). Nach Beckman und Pierrehumbert (1986) ist eine Intonationsphrase im Amerikanischen in intermedi¨are Intonationsphrasen unterteilbar. Diese beinhalten wenigstens einen Tonh¨ohenakzent und werden durch einen Phrasenakzent begrenzt. Zur Begrenzung der u¨ bergeordneten Intonationsphrase schließt sich an diesen noch ein finaler Grenzton an. Obwohl der letzten Akzentsilbe kein gesonderter Status zugesprochen wird, folgt aus diesem Inventar dennoch, dass die Endsequenz einer Intonationsphrase theoretisch tonal komplexer gestaltet ist als ihre medialen Abschnitte. Nur wenige Untersuchungen zum Deutschen greifen die Unterteilung in intermedi¨are Intonationsphrasen oder das Konzept des Phrasenakzents auf. F´ery (1993) geht zwar von der M¨oglichkeit intermedi¨arer Phrasierung aus, nicht aber von der Existenz eines Phrasenakzents. Sie weist ausdr¨ucklich darauf hin, dass die M¨oglichkeiten tonaler Gestaltungen des postnuklearen Raums im Deutschen eingeschr¨ankter sind als im Englischen (vgl. F´ery 1993: 78). Bei Wunderlich (1988), Uhmann (1991) und Grabe (1998a) findet sich weder eine Phrasierungsebene unterhalb der Intonationsphrase noch ein Phrasenakzent. Das deutsche ToBISystem (GToBI) beinhaltet demgegen¨uber beide Konzepte (siehe Kap. 2.1.3). Wie auch bei den Arbeiten der Britischen Schule sehen nicht alle autosegmental metrischen Beschreibungen des Deutschen Richtungswechsel nach der tiefen oder hohen Nukleussilbe vor. Steigend-fallende oder fallend-steigende finale Bewegungen werden bei Uhmann, F´ery und Grice & Baumann eingef¨uhrt. Sie setzen sich entsprechend aus Kombinationen 9
Das Konzept des Phrasenakzents wird im Zusammenhang mit der Beschreibung der nuklear steigend-fallenden Kontur im K¨olnischen eingehend thematisiert (siehe Kapitel 4.3). 10 F¨ ¨ ur einen Uberblick u¨ ber das AM-Toninventar und eine Gegen¨uberstellung mit dem Kontureninventar der Britischen Schule siehe auch Ladd (1996: 79ff.).
11 von tiefen, hohen und tiefen T¨onen bzw. hohen, tiefen und hohen T¨onen zusammen. (Einen ¨ Uberblick u¨ ber final steigend-fallende Konturen im Standarddeutschen und regionalen Variet¨aten des Deutschen gibt Kap. 4.1). Aus den unterschiedlichen Konzeptionen ergibt sich, dass die Arbeiten in Hinblick auf die Toninventare des Deutschen voneinander abweichen. Dies muss jedoch nicht zwangsl¨aufig bedeuten, dass sie auch von unterschiedlichen Intonationsverl¨aufen ausgehen. Vielmehr k¨onnen die Verl¨aufe durch verschiedene Tonkombinationen ausgedr¨uckt werden.
2.1.3
GToBI
Zur Veranschaulichung eines autosegmental-metrischen Ansatzes werden im Folgenden die T¨one mit entsprechender Ton-Text-Assoziation auf der Basis von GToBI (nach Grice & Baumann 2002) wiedergegeben. GToBI (German Tone and Break Index) wurde in der Mitte der 1990er Jahre als autosegmental-metrisches Transkriptionssystem f¨ur Intonation entwickelt. Es setzt sich aus drei bis vier Beschreibungsebenen, den “Tiers”, zusammen. Auf dem Text¨ Tier wird die segmentelle Basis einer Außerung wiedergegeben, der Ton-Tier steht f¨ur die Transkription der T¨one zu Verf¨ugung, der Break-Index-Tier gibt die St¨arke der intonatorischen Phrasierung wieder. Zus¨atzlich kann ein vierter Tier (miscellaneous Tier) f¨ur Kommentare genutzt werden (vgl. Grice & Baumann 2002: 275ff.). Die Tiers werden zumeist untereinander u¨ ber oder unter einer Darstellung des f0-Verlaufs angeordnet, so dass die zeitliche Ausrichtung der verschiedenen Beschreibungsebenen zueinander in Beziehung gesetzt und visualisiert wird.11 Das Toninventar in GToBI setzt sich aus sechs verschiedenen Akzentt¨onen,12 drei Phrasenakzenten und zwei Grenzt¨onen zusammen. Die Akzentt¨one k¨onnen monotonal oder bitonal sein, sich also aus einem einfachen Ton oder aus der Kombination von Akzentton und Begleitton zusammensetzen, wobei sowohl Leading- als auch Trailingt¨one angenommen werden. Folgende mono- und bitonalen Akzentt¨one sind vorgesehen: H*, L+H*, L*, L*+H, H+L*, H+!H*. Wie oben erw¨ahnt wurde, werden die Phrasenakzente als Grenzt¨one der intermedi¨aren Phrase betrachtet und k¨onnen mit einer lexikalisch betonten Silbe im postnuklearen Abschnitt assoziiert sein. Grice & Baumann stellen die Phrasenakzente L-, H- und !H- fest. Das Diakritikum “!” symbolisiert einen “Downstep”, d.h. eine leichte Herabstufung der gew¨ohnlichen Tonh¨ohe. Nach dem Phrasenakzent folgt der finale Grenzton, der am Ende der Intonationsphrase erscheint und entweder hoch (H%) oder tief (L%) sein kann. Der hohe Grenzton kann zus¨atzlich durch einen “Upstep” erh¨oht werden (ˆH%). An jedem Intonationsphrasenende entsteht ein komplexer Grenzton aus Phrasenakzent (Grenzton der intermedi¨aren Phrase) und finalem Grenzton. Hierbei kommen nach GToBI folgende Kombinationen vor: H-%, H-ˆH%, L-H% und L-%. Die folgende Tabelle fasst das Toninventar aus GToBI zusammen:
11
Die Beschreibung der Intonation u¨ ber verschiedene Tiers wird auch in der vorliegenden Arbeit angewandt, siehe dazu Kap. 3.3. 12 In der Terminologie von GToBI werden die Akzentt¨ one als “Tonakzente” bezeichnet. Um Verwechslungen mit den lexikalisch distinktiven Tonakzenten zu vermeiden (siehe Kap. 3.1.2), werden sie in dieser Arbeit als Akzentt¨one wiedergegeben.
12 Tabelle 2.2: Das Toninventar des Standarddeutschen nach GToBI (Grice & Baumann 2002: 277ff.) Akzentt¨one
Phrasenakzente
H* L+H* L* L*+H H+L* H+!H*
LH!H-
Grenzt¨one (kombiniert) H-% H-ˆH% L-H% L-% L-ˆH% H-L% %H
Nach GToBI lassen sich aus diesem Toninventar die im Standarddeutschen vorkommenden, funktional distinktiven Intonationskonturen zusammensetzen. Die in GToBI angef¨uhrten nuklearen Konturen gibt die folgende Tabelle wieder. Die Tabelle ist dem Artikel von Grice & Baumann (2002) nachgebildet und beinhaltet neben den tonalen Konfigurationen auch die angenommenen Vorkommenskontexte sowie Beispiele von Tr¨ager¨außerungen. Die linke Spalte gibt den nuklearen Verlauf an. In der zweiten Spalte wird die tonale Zusammensetzung des Verlaufs aufgef¨uhrt, es folgt in der dritten Spalte die schematische Darstellung der Kontur. Die fett gedruckte Linie verweist auf die Nukleussilbe, die etwas schmaler herausgestellte Linie auf die Position einer lexikalisch betonten Silbe im postnuklearen Abschnitt. In der vierten Spalte ist der Vorkommenskontext angegeben, die f¨unfte Spalte beinhaltet eine m¨ogliche Tr¨ager¨außerung. Tabelle 2.3: Nukleare Konturen des Standarddeutschen nach GToBI (Grice & Baumann 2002: 285-286)
GToBI
Schematische Kontur
Kontext
Beispiel
H* L-%
Neutrale Aussage, Neutrale W-Frage
Mein ZAHN tut WEH.
L+H* L-%
Kontrastive Feststellung
Schon der VerSUCH ist STRAFbar.
L*+H L-%
Selbstverst¨andliche Feststellung
Das WEISS ich SCHON.
Engagierte oder sarkastische Feststellung
Der Blick ist ja FAbelHAFT.
Fallend
Steigendfallend (sp¨ater Gipfel)
continue
13 GToBI
Kontext
Beispiel
Neutrale Entscheidungsfrage
Tauschen Sie auch BRIEFMARken?
Echo-Frage
Von wem ich das HAbe?
Emp¨orung
DOCH!
Melden am Telefon
BECkenBAUer?
(L+)H* H-ˆH%
Anschlussfrage
...oder ist Ihr BRUder HIER?
(L+)H* H-%
¨ Weiterweisende Außerung
ANdererSEITS...
Floskelhafte Ausdr¨ucke
Guten MORgen!
(L+)H* L-H%
H¨ofliches Angebot
M¨ogen Sie ¨ ROGgenBROTchen?
H+!H* L-%
Best¨atigung einer bekannten Tatsache
Hab’ ich mir schon geDACHT
H+L* L-%
Beruhigende oder h¨ofliche Aufforderung
¨ Nun erZAHle doch MAL
(L+)H* !H-%
Ausrufe
BECkenBAUer!
L* H-ˆH%
Steigend
Gleichbleibend
Fallendsteigend
Schematische Kontur
L* L-H%
¨ Fruher Gipfel
Stilisierte Herabstufung
Die Tabelle zeigt, dass von zwei fallenden, einer steigend-fallenden, drei steigenden, einer gleichbleibenden und einer fallend-steigenden Kontur ausgegangen wird, die sich jeweils tonal unterscheiden. Hinzu kommen zwei fallende Konturen mit fr¨uhem Gipfel und eine ebenfalls fallende Kontur, die als “stilisierte Herabstufung” umschrieben wird. Es handelt sich hierbei um die klassische “Rufkontur”. In die Vorkommenskontexte sind Informationen hin¨ sichtlich des Außerungsmodus (Aussage, Frage), der Einstellung des Sprechers (engagiert,
14 sarkastisch, h¨oflich, emp¨ort) und des ge¨außerten Sprechakts / der konversationellen Aktivit¨at (Angebot, Best¨atigung, Ausruf, Melden am Telefon etc.) eingegangen. Die Beispiele sind teilweise aus anderen Darstellungen von F´ery (1993), von Essen (1964) und anderen u¨ bernommen. Die GToBI-Daten selbst sind auf der Basis von Map-Task-Dialogen erhoben (vgl. Grice & Baumann 2002: 285ff.). Die herangezogenen Bedeutungen/Funktionen der nuklearen Verl¨aufe sind somit a¨ ußerst divers und nur schwer systematisierbar. Sie beruhen zudem zum großen Teil auf spontanen Eindr¨ucken. Es f¨allt auf, dass auch in autosegmental-metrischen Arbeiten h¨aufig von steigenden (fallenden, steigend-fallenden usw.) Intonationsverl¨aufen gesprochen wird. Nichtsdestotrotz bilden die intonatorischen T¨one in ihrer Assoziation mit bestimmten Elementen der Segmentkette die Grundlage der phonologischen Beschreibung der Intonation. Dass die Verbindung oder Interpolation des Tonh¨ohenverlaufs zwischen diesen T¨onen einen (mehr oder weniger) kontinuierlichen Verlauf ergibt, steht außer Frage. In diesem Sinne macht Ladd (1996) darauf aufmerksam, dass der autosegmental-metrische Ansatz die wesentliche Einheit der Britischen Schule, die “tone-unit”, als wichtige funktionale Einheit nicht außer Kraft setze: “There is no necessary contradiction in recognising both the functional unity of ‘nuclear tones’ or other such ‘tunes’ and the phonological separateness of their component parts.” (ebd.: 45). Der nukleare Abschnitt einer Intonationsphrase bildet also nach Ladd in funktionaler Hinsicht eine Einheit, setzt sich aber aus phonologisch separaten T¨onen zusammen. Diese Aussage deutet auf eine bestimmte Auffassung des Verh¨altnisses von Intonation und Bedeutung hin, die nicht von allen Vertretern des autosegmental-metrischen Ansatzes geteilt wird. Es stehen sich hier kompositionale und konturbasierte Ans¨atze (“compositional approach” vs. “contour approach”) gegen¨uber, die weiter unten vorgestellt werden (vgl. Pierrehumbert & Hirschberg 1990 vs. Gussenhoven 1984).
2.2
Intonationsphonologie
Der folgende Abschnitt f¨uhrt in die phonologische Betrachtung von Intonation und die daraus resultierende Auffassung von Intonation und Bedeutung ein. Der Zusammenhang von Intonation und Bedeutung ist alles andere als unkontrovers. Zahlreiche Untersuchungen widmen sich dem Thema der Bedeutung von Intonation, wobei unter “Bedeutung” sehr unterschiedliche Aspekte ber¨ucksichtigt werden (vgl. u.a. Bolinger 1986, Brazil 1975, Crystal 1969, Halliday 1967, Ladd 1980).13 So umfassen die Bedeutungen, die Bolinger (1986) verschiedenen intonatorischen Profilen zuweist, sowohl informationsstrukturelle Aspekte als auch attitudinale Aspekte, beziehen die Positionierung im Diskurs ebenso ¨ ein wie konkrete Aktivit¨atstypen. Ahnliches wurde im vorangegangenen Abschnitt f¨ur die in Grice & Baumann (2002) angef¨uhrten Vorkommenskontexte festgestellt. Wie Grabe unter13
F¨ur einen Literatur¨uberblick u¨ ber verschiedene Funktionsaspekte der Intonation siehe CouperKuhlen (1986: 110ff.), wo die Forschungsergebnisse nach informationsstrukturellen, grammatischen, illokution¨aren, attitudinalen, diskursbezogenen und indexikalischen Funktionen geordnet werden. Einen weiteren sehr informativen Forschungs¨uberblick nicht nur zu den Funktionen von Intonation, sondern auch zu verschiedenen Ans¨atzen der Intonationsforschung im allgemeinen geben Botinis et al. (2001).
15 streicht, ist “the meaning of intonation [...] notoriously hard to pin down” (Grabe 1998a: 18). Trotz aller Schwierigkeiten l¨asst sich, so Ladd (1996), dennoch eine generelle “Linguist’s Theory of Intonational Meaning” postulieren, die im Rahmen der phonologisch orientierten Intonationsforschung allgemein anerkannt wird: “The central view of this idea is that the elements of intonation have meaning. These meanings are very general, but they are part of a system with a rich interpretative pragmatics, which gives rise to very specific and often quite vivid nuances in specific contexts.” (Ladd 1996: 39-40)
Das Zitat deutet zum einen auf eine Zweiteilung in generelle Bedeutungen einerseits und spezifische, kontextgebundene Bedeutungen andererseits hin. Zum anderen wird angedeutet, dass die generellen Bedeutungen durch die “Elemente der Intonation”, d.h. in erster Linie die ¨ tonale Struktur eine Außerung, transportiert werden. Die intonatorischen Elemente sind dabei abstrakt genug, um Raum f¨ur spezifische Ausdeutungen in bestimmten Kontexten zu geben (vgl. auch Peters 2006a, siehe außerdem dieses Kapitel). Die Zweiteilung l¨asst sich auf der Formseite in einer Trennung in Phonetik und Phonologie spiegeln, auf der Funktionsseite in einer Trennung in paralinguistische und linguistische Funktionen. Beide sollen im Folgenden erl¨autert werden. Zu diesem Zweck werden die Grundannahmen der Intonationsphonologie vorgestellt, die zugleich Aufschluss u¨ ber die Problematik des Verh¨altnisses von Intonation und Bedeutung geben.
2.2.1
Intonationsphonologie und phonetische Implementierung
Die Intonationsphonologie (“intonational phonology”) wird unter dieser Bezeichnung erstmals von Ladd (1996) umfassend vorgestellt. Ihre Grundlage bildet die autosegmental-metrische Theorie, in der – wie oben bereits erw¨ahnt wurde – tonale Zielpunkte als eigenst¨andige diskrete Ereignisse aufgefasst werden, die mit Elementen der Segmentkette verkn¨upft sind. Die Tatsache, dass zu vergleichsweise sp¨atem Zeitpunkt eine Monographie zur Intonationsphonologie verfasst wird, ist bereits ein Hinweis darauf, dass nicht nur das Verh¨altnis von Intonation zu Bedeutung, sondern grunds¨atzlich der linguistische Status der Intonation lange Zeit unklar war (und teilweise immer noch ist). Ladd begr¨undet den problematischen Status der Intonation zum einen damit, dass Intonationsverl¨aufe im Vergleich zu Elementen der segmentellen Phonologie gradueller und “somehow more relative” (ebd.: 1) seien: Den durch artikulatorische und akustische Eigenschaften einigermaßen klar definierbaren Lauten stehe in der Intonation eine einfache Bewegung – “a simple sliding scale of up and down” – gegen¨uber, die zudem von Sprecher zu Sprecher stark variieren k¨onne. Der zweite Grund f¨ur die schwierige Position der Intonation liegt in ¨ ihrer engen Verbindung zu paralinguistischen Funktionen: Uber die Intonation werden unter anderem auch unser Geschlecht, das Alter und der emotionale Zustand transportiert (vgl. ebd.: 1). Hierbei besteht h¨aufig ein ikonisches Verh¨altnis zwischen dem sprachlichen Mittel und den vermittelten Eigenschaften. Ein Beispiel: Wenn eine hohe Stimmlage auf eine kindliche Stimme hindeutet, kann eine h¨ohere Stimmlage auf ein noch kleineres Kind hindeuten. Ebenso kann eine laute und leicht erhobene Stimme leichte Ver¨argerung signalisieren und
16 eine lautere und st¨arker erhobene Stimme entsprechend st¨arkere Ver¨argerung.14 Diese Art der ikonischen Beziehung zwischen Ausdrucksmittel und zu vermittelndem Inhalt existiert bei der segmentellen Phonologie in der Regel nicht. Durch die Dehnung des Vokals in einem Wort wie [bo:t] wird nicht signalisiert, dass es sich um ein großes Boot handelt. Auch liegen die Wortbedeutungen von [bo:t] und [ka:nu] dichter beisammen als die von [bo:t] und ¨ [ba:t], obwohl die lautliche Ahnlichkeit zwischen den beiden letzten wesentlich gr¨oßer ist. Die f¨ur sprachliche Zeichen grunds¨atzlich angenommene Arbitrarit¨at der Form-BedeutungsBeziehung ist im Fall der Intonation demnach nicht immer gew¨ahrleistet. Neben der Arbitrarit¨at f¨uhrt Gussenhoven (2004) zwei weitere Aspekte an, die den linguistischen Status der Intonation in Frage stellen. Er bezieht seine Diskussion auf einige der Charakteristika, die Charles Hockett (1958) menschlicher Sprache zuschreibt, und er¨ortert die Eigenschaften der Diskretheit und der Dualit¨at. Beide ließen sich bei intonatorischen Ph¨anomenen nicht durchgehend feststellen. Die Eigenschaft der Diskretheit besagt, dass ein sprachliches Merkmal entweder vorhanden oder abwesend ist. Dies treffe auf die Intonation nicht zu. So k¨onne ein Tonh¨ohengipfel H* in seiner H¨ohe graduell variieren und dadurch unterschiedlich starke Emphase zum Ausdruck bringen. Das Merkmal ‘Tonh¨ohengipfel’ kann also mehr oder weniger stark ausgepr¨agt sein (ebd.: 51ff.). Dualit¨at bedeutet, dass die lautliche und inhaltliche Seite der Sprache eine je eigenst¨andige Struktur aufweisen. Erst durch die Kombination der lautlichen Elemente ergeben sich bedeutungstragende Elemente, so dass beispielsweise gleich anlautende W¨orter auf v¨ollig unterschiedliche Dinge referieren k¨onnen, wie das obige Beispiel veranschaulicht. Wenn ein Sprecher jedoch entr¨ustet seine Stimme hebe, so sei hier keine Dualit¨at gegeben (ebd.: 53). W¨ahrend die Intonation sich in einigen Aspekten anders verh¨alt als die segmentelle Phonologie, gibt es dennoch Bereiche, in denen die wesentlichen Merkmale der Arbitrarit¨at, Diskretheit und Dualit¨at gew¨ahrleistet sind. F¨ur ein arbitr¨ares Verh¨altnis spricht nach Gussenhoven beispielsweise, wenn Fragen nicht mit einer (vermeintlich) universalen steigenden finalen Tonh¨ohenbewegung, sondern mit einer fallenden Bewegung realisiert w¨urden. Diskretheit demonstriert er an phonetisch identischen Verl¨aufen, die sich jedoch aus unterschiedlichen Tonsequenzen zusammensetzen. Die zugrundeliegende Tonsequenz kann verborgen sein, wenn zu wenig segmentelles Material zur Verf¨ugung steht, u¨ ber die sich der Verlauf erstrecken kann. So tragen die beiden Fragen “JOHN Peck?” und “JOHN PECK?” ¨ als Reaktion auf die Außerung “I’ve invited John Peck as well” phonetisch ann¨ahernd den gleichen Tonh¨ohenverlauf (Abb. 2.2), weisen jedoch unterschiedliche tonale Strukturen auf, die mit unterschiedlichen Bedeutungen korrespondieren. Der erste Verlauf setzt sich aus einem hohen Akzentton mit tiefem Trailington auf JOHN und einem steigenden Grenzton zusammen, wobei der finale Anstieg relativ schwach ausgepr¨agt ist: H*+L L-H%. Der zweite Verlauf besteht hingegen aus zwei Akzentt¨onen, von denen der erste wie bei Verlauf 1 ein fallender Akzent auf JOHN ist, der zweite ein steigender Akzent auf PECK mit folgendem hohen Grenzton: H*+L L*+H H-H%. Auf nur zwei Silben verteilt, resultieren diese diskret unterschiedlichen Kombinationen in einem phonetisch na¨ hezu identischen Verlauf. Die erste Außerung mit nur einem Akzentton fokussiert jedoch auf den Vornamen und kontrastiert so mit beispielsweise ‘GREGORY Peck’: “I thought we had 14
Vgl. hierzu auch Gussenhoven (2002a, b), der in Anlehnung an Ohala (1983) von drei “biological codes” ausgeht (frequency code, effort code, production code) und die physiologische R¨uckbindung der Intonation diskutiert.
17
Abbildung 2.2: Unterschiedliche Tonsequenzen bei phonetisch a¨ hnlichen Verl¨aufen (Gussenhoven 2004: 56)
¨ agreed to invite only GREGORY Peck” (ebd.: 55). Die zweite Außerung fokussiert nicht auf den Vornamen, sondern auf die Gesamt¨außerung, so dass sich als m¨ogliche Fortf¨uhrung ergibt “I thought we had agreed NOT to invite John Peck” (ebd. 55). Die unterschiedliche tonale Struktur, d.h. die Abwesenheit bzw. das Vorhandensein eines Akzenttons als diskretes Ereignis, ist somit mit verschiedenen Bedeutungen verkn¨upft. Dualit¨at schließlich liegt dann vor, wenn zwei oder mehr diskrete tonale Ereignisse wie beispielsweise Akzentt¨one gemeinsam ein bedeutungstragendes Element bilden. Dies ist nach Gussenhoven bei Rufkonturen wie auf “Jo-ohn” der Fall, die sich aus der Abfolge der T¨one H* und !H zusammensetzen und in dieser Kombination “routineness” signalisieren (ebd.: 57). Das unter 2.1.1 angef¨uhrte Zitat aus Ladd (1996) deutet ebenfalls auf die duale Struktur der Intonation hin: nukleare Konturen als bedeutungstragende Elemente setzen sich aus phonologisch separaten Elementen, den T¨onen, zusammen. Intonation weist entsprechend dieser Ausf¨uhrungen sowohl solche Bereiche auf, die nicht wie Elemente der segmentellen Phonologie strukturiert sind, als auch solche, in denen dies der Fall ist. In Anlehnung an Bolinger spricht Gussenhoven (2004) deshalb von der Intonation als einer “half-tamed savage” mit Eigenschaften nicht-menschlicher Kommunikation und Eigenschaften menschlicher Sprache (ebd. 57ff.). Damit erkl¨art sich der problematische linguistische Status der Intonation. Eine Phonologie der Intonation umfasst nun die Struktur 15 Die tonalen ¨ der diskreten tonalen Ereignisse bezogen auf die segmentelle Außerungskette. Hoch- und Tiefpunkte werden entsprechend ihrer Einbettung in die prosodische Hierarchie, die in der Assoziation mit der Segmentkette zum Ausdruck kommt, den in Kapitel 2.1.2 15
Phonologie wird in diesem Zusammenhang in einem weiten Sinne verstanden als mindestens bestehend aus einer Beschreibungsebene mit kategorisch distinkten Einheiten (den T¨onen) sowie einer Ebene der Umsetzung dieser Einheiten durch kontinuierliche Parameter (vgl. Ladd 1996: 11).
18 beschriebenen tonalen Kategorien (Akzentton, Grenzton, Begleitton und Phrasenakzent) zugeordnet. Die strukturelle, linguistische Beschreibung der Intonation setzt dabei eine Trennung zwischen dem linguistischen und dem paralinguistischen Bereich voraus. Gussenhoven schl¨agt vor, die linguistische Ebene als Bestandteil der Grammatik aufzufassen, w¨ahrend die paralinguistische Ebene in die phonetische Implementierung verlagert wird, die selbst nicht Teil der Grammatik ist: “The non-linguistic kind of intonation is to be understood as purposeful variation in the phonetic implementation, while structural intonation is morphologically and phonologically encoded, and is thus part of the grammar.” (ebd.: 57-58)
Die Assoziation intonatorischer T¨one mit bestimmten tontragenden Einheiten geschieht auf ¨ der Außerungsebene durch postlexikalische Regeln, die eine Oberfl¨achenrepr¨asentation bereitstellen, welche wiederum durch phonetische Implementierungsregeln umgesetzt wird (vgl. das Schaubild in Gussenhoven 2004: 58). Phonetische Variation ist damit nicht Bestandteil der Grammatik. Dennoch k¨onnen offenbar auch Funktionen, die zumeist als linguistisch gelten, durch die phonetische Implementierung umgesetzt werden. Ein Beispiel hierf¨ur ist die Markierung von engem Fokus im Serbo-Kroatischen. Gegen¨uber neutralem Fokus wird sie durch eine pr¨azisere und fr¨uhere Lokalisierung des Tonh¨ohengipfels erreicht. W¨ahrend ¨ Außerungen mit neutralem Fokus den Tonh¨ohengipfel nach der tiefen Akzentsilbe realisie¨ ren, erscheint der Tonh¨ohengipfel bei Außerungen mit engem Fokus bereits in der Akzentsilbe. Obwohl diese Variation auch auf eine phonologische Unterscheidung zwischen den Konturen L*+H f¨ur neutralen Fokus bzw. H*+L f¨ur engen Fokus zur¨uckgehen k¨onnte, wie Gussenhoven ausf¨uhrt, wird sie letztendlich als Bestandteil der phonetischen Implementierung betrachtet (vgl. Gussenhoven 2004: 60ff.). Paralinguistische Funktionen werden demnach immer durch die phonetische Implementierung u¨ bernommen, w¨ahrend gemeinhin als linguistisch eingestufte Funktionen wie die Markierung von Fokus sich sowohl in der phonologischen Repr¨asentation als auch in der phonetischen Implementierung niederschlagen k¨onnen. Als grundlegendes Problem der (phonologischen) Intonationsforschung stellt Gussenhoven daher die Frage heraus, ob ein Bedeutungsunterschied, der mit einer bestimmten phonetischen Variation einhergehe, auf die unterschiedliche Implementierung einer gemeinsam zugrundeliegenden tonalen Struktur zur¨uckgehe oder auf zwei verschiedene tonale Strukturen. Auf ein weiteres Problem weist Bolinger (1951) hin. Er fordert bereits eine Trennung von linguistischen und paralinguistischen Funktionen, um eine sinnvolle strukturelle Beschreibung der Intonation zu erm¨oglichen, gibt jedoch zu bedenken, dass die beiden Arten von Bedeutungen kaum voneinander zu trennen seien: “Where do emotional meanings stop and intellectual meanings begin?” (ebd.: 204). Sowohl die Zuordnung eines intonatorisch umgesetzten Bedeutungsunterschieds zur phonologischen oder phonetischen Ebene als auch die Trennung von linguistischen und paralinguistischen Bedeutungen selbst ist somit problematisch. Die vorangegangenen Ausf¨uhrungen haben deutlich gemacht, dass die Intonationsphonologie in ihrem Kern auf der Trennung zwischen linguistischen und paralinguistischen Funktionen auf der einen Seite und auf der Trennung zwischen Phonologie und Phonetik auf der anderen anderen Seite aufbaut, deren Verh¨altnis zueinander jedoch nicht eindeutig ist. Der n¨achste Abschnitt widmet sich den Modellierungen von Intonation und Bedeutung im kompositionalen und konturbezogenen Ansatz.
19 2.2.2
Modellierung von Intonation und Bedeutung
Obwohl vielfach darauf hingewiesen wird, dass die Analogie der Intonationsphonologie zur segmentellen Phonologie nicht l¨uckenlos sei (vgl. z.B. Gussenhoven 1984, Peters 2006a), wird dennoch davon ausgegangen, dass die intonatorischen Elemente eine distinktive Funktion inne haben. So lehnen Altmann et al. (1989) ihre Untersuchungen zur Intonation16 im Zusammenhang mit Modus- und Fokusmarkierungen explizit an die in der segmentellen Phonologie g¨angige Minimalpaaranalyse an. Sie untersuchen segmentell und in Bezug auf die Akzentstruktur identische Tests¨atze mit je variierenden Intonationsverl¨aufen, um so die “linguistisch relevanten intonatorischen Eigenschaften” (ebd.: 3) herauszustellen. Grunds¨atzlich gehen sie allerdings davon aus, dass intonatorische Merkmale immer nur als “komplexer Formtyp” in Kookkurrenz mit den Modus und Fokus regulierenden lexikalischen und morphosyntaktischen Mitteln Bedeutung tragen. Darin weichen sie von den zwei Hauptans¨atzen zur Beschreibung von Intonation und Bedeutung ab, die den intonatorischen Elementen selbst eine konstante Bedeutung zusprechen. Diese beiden Ans¨atze, der “compositional approach” und der “contour approach”, unterscheiden sich voneinander hinsichtlich der morphologischen Interpretation der Intonation. Beide stimmen darin u¨ berein, dass die tonalen Elemen¨ te die Grundlage der phonologischen Beschreibung der Intonation darstellen. Uber welche Dom¨ane sich jedoch die bedeutungstragende Einheit erstrecken soll, ist in den Ans¨atzen divergent. Im Gegensatz zur segmentellen Phonologie, in der das Morphem eine klar umgrenzte bedeutungstragende Bezugsgr¨oße darstellt, ist die Ausdehnung intonatorischer “Morpheme” prinzipiell alles andere als eindeutig. Gussenhoven (2002b: 271ff.) weist darauf hin, dass die Dom¨ane einer morphologischen Analyse nicht von vornherein feststehe. So k¨onne die gesamte Intonationsphrase, der nukleare Abschnitt oder auch ein einzelner Ton ein bedeutungstragendes Morphem sein. Der kompositionale Ansatz geht davon aus, dass jeder Ton eine bedeutungstragende Funktion erf¨ullt, der konturbezogene Ansatz hingegen davon, dass die Kombination von T¨onen im nuklearen Abschnitt bedeutungstragend ist, jeder Einzelton aber nur bedeutungsunterscheidend. Der kompositionale Ansatz geht auf Pierrehumbert & Hirschberg (1990) zur¨uck, die den jeweiligen Akzent-, Phrasen- und Grenzt¨onen bestimmte Bedeutungen zuschreiben, die u¨ ber unterschiedliche Verwendungskontexte hinweg konstant sind. Der Konturansatz wird am explizitesten von Gussenhoven (1984) eingef¨uhrt. Unter den neuesten Arbeiten zur regionalen Variation der Intonation im Deutschen wird dieser Ansatz von K¨ugler (2007) vertreten, w¨ahrend Peters (2006a) eher am kompositionalen Ansatz orientiert ist (s.u.). Die von Gussenhoven konzipierte Form des Konturansatzes sieht eine Trennung zwischen Basiskonturen und modifizierten Konturen vor. Die Basiskonturen haben sehr allgemeine Bedeutungen, die durch tonale Prozesse, wie die zeitliche Verschiebung eines Tons, auf bestimmte Weise spezifiziert werden k¨onnen. Wesentlich ist, dass beide Ans¨atze davon ausgehen, dass die veranschlagten Bedeutungen konstant sind, dass Intonation also gewissermaßen vorhersagbar ist. Da Altmann et al. (1989) unter Ber¨ucksichtigung der Kookkurrenz mit syntaktischen und anderen Signalisierungsmitteln von intonatorischen Prototypen ausgehen, d.h. von typischen 16
Altmann et al. (1989) definieren Intonation im weiten Sinne als alle “nichtsegmentalen lautli¨ chen Eigenschaften von Außerungen, also mindestens die Grundfrequenz (F0)/Tonh¨ohe, die Inten¨ sit¨at/Lautst¨arke und die zeitliche Strukturierung von Außerungen.” (ebd.: 2)
20 Tonsequenzen zur Signalisierung von Modus und Fokus in bestimmten Kontexten, sind Intonationsverl¨aufe auch hier in gewissem Sinne vorhersagbar oder zumindest wahrscheinlich,17 so z.B. das Auftreten von hohen Grenzt¨onen bei Frages¨atzen mit Verbzweitstellung, sog. Deklarativfragen (siehe dazu auch Kap. 4.4.2.1, 4.4.2.2). Die Ansicht, dass Intonation nur im Verbund mit anderen sprachlichen Mitteln Bedeutung trage, unterscheidet den Ansatz jedoch von dem kompositionalen und dem konturbezogenen Ansatz. Es muss nat¨urlich beachtet werden, welche Art von Bedeutung f¨ur eine “morphologische” Analyse der Intonation herangezogen wird. Auch hier wird deutlich, wie sehr sich eine Intonationsphonologie von der segmentellen Phonologie unterscheidet, wo hinsichtlich der zu Grunde zu legenden lexikalischen oder grammatischen Bedeutungen generell Konsens besteht.18 Im Gegensatz hierzu ist die Ausschlag gebende Bedeutungsdimension im Bereich der Intonation unklar. Sie entscheidet u¨ berdies u¨ ber die Dom¨ane der bedeutungstragenden Einheit. F¨ur eine Bedeutung wie “Widerspruch” (contradiction) wird eine vollst¨andige IP angenommen (vgl. Liberman & Sag 1974), eine Bedeutung wie “Weiterweisung” jedoch kann den nuklearen Abschnitt oder sogar nur den finalen Grenzton als bedeutungstragend ausweisen. Die in der Intonationsphonologie bei Weitem am h¨aufigsten ber¨ucksichtigten Bedeutungs¨ aspekte sind informationsstrukturelle Aspekte, die die Gliederung einer Außerung in alte vs. neue Information/Fokus vs. Hintergrund betreffen. Diese Perspektive auf die Funktionen von Intonation hat eine vergleichsweise lange Tradition, die sich in die Forschungsrichtungen der Funktionalen Grammatik und Diskursanalyse einbetten lassen (siehe z.B. Halliday 1967 sowie Brown & Yule 1998 zur Diskursanalyse im Allgemeinen und zur Informations¨ strukturierung im Besonderen). Die Ubermittlung von Information wird als wesentlicher Be¨ standteil des Diskurses aufgefasst. Als wichtige Funktion von Außerungen eines Sprechers gilt die Modifizierung des aktuellen Wissensstandes des H¨orers, so dass vor diesem Hinter¨ grund die Informationsstrukturierung von Außerungen eine bedeutende Rolle spielt. Sowohl der kompositionale als auch der konturbezogene Ansatz lassen sich in diese Tradition einordnen. Obwohl auch in der vorliegenden Arbeit der Beitrag der Intonation zur Informationsstrukturierung als bedeutende Funktion anerkannt wird, gilt das Untersuchungsinteresse den gespr¨achsstrukturierenden und Kontextualisierungsfunktionen der Intonation. Wie bereits erw¨ahnt wurde, hat dieses Untersuchungsinteresse schwerwiegende Konsequenzen f¨ur das zu analysierende Datenmaterial und die Analysemethoden (siehe dazu ausf¨uhrlich Kap. 2.3). Die vorliegende Arbeit weicht in dieser Hinsicht deutlich von dem kompositionalen und dem konturbezogenen Ansatz ab. Zur Illustration sollen die beiden Ans¨atze im Folgenden anhand der Arbeiten von Gussenhoven (1984) und Pierrehumbert & Hirschberg (1990) in Umrissen vorgestellt werden.19 In beiden F¨allen werden abschließend die aktuellen Umsetzungen der Ans¨atze durch K¨ugler (2007) und Peters (2006a) kurz skizziert.
17
Die Prototypen ergeben sich aus der Vorkommensh¨aufigkeit der Verl¨aufe in bestimmten Kontexten. Vor diesem Hintergrund ist erkl¨arlich, dass sich die autosegmental-metrische Intonationsphonologie aus Arbeiten zu Tonsprachen entwickelt hat, in denen die Intonation distinktive Funktion auf lexikalischer Ebene erf¨ullt (vgl. dazu Ladd (1996)). 19 Ausf¨ uhrliche Zusammenfassungen finden sich auch bei Grabe (1998a) und K¨ugler (2007). 18
21 2.2.2.1
Konturbezogener Ansatz: Gussenhoven (1984)
Die Arbeit von Gussenhoven widmet sich – wie der Titel verspricht – einer “semantic analysis of the nuclear tones of English”, wodurch bereits der nukleare Abschnitt als morphologische Einheit des Intonationsverlaufs deutlich gemacht wird. Das Inventar an nuklearen Verl¨aufen umfasst drei Basiskonturen sowie drei Modifikationen, so dass sich mit allen m¨oglichen Kombinationen zw¨olf nukleare Konturen ergeben. Hinzu kommt die Option, alle Konturen durch einen erweiterten oder eingeschr¨ankten Stimmumfang zu modulieren (range). Sowohl die Basiskonturen als auch die Modifikationen tragen jeweils konstante Bedeutungen. Eine Basiskontur wird durch eine tonale Modifikation dementsprechend auf eine spezifische Weise ver¨andert. Die durch die nukleare Kontur vermittelte Bedeutung bezieht sich auf den informationellen Status, den der Sprecher seinem Beitrag in Hinblick auf den angenommenen bestehenden Hintergrund zumisst. Hintergrund (background) ist zu verstehen als “a miniature body of knowledge, which has either been explicitly created as a result of the exchanges so far, or is felt by the speaker to be implicitly called up by those exchanges [...]” (ebd.: 201). Die drei grundlegenden Bedeutungen sind A DDITION, S ELECTION und R ELEVANCE T ESTING, die den nuklearen Basiskonturen “fall”, “fall-rise” und “rise” eindeutig zugewiesen werden. Entsprechend wird durch fallende nukleare Konturen eine Information zum Hintergrund hinzugef¨ugt (A DDITION), durch fallend-steigende Konturen ein bestehender Informationsbestandteil ausgew¨ahlt (S ELECTION) und durch steigende Konturen die Zugeh¨origkeit zum Hintergrund in Frage gestellt bzw. dem H¨orer zur Best¨atigung u¨ berlassen (R ELEVANCE T ESTING). Zu den basalen tonalen Kategorien kommen die m¨oglichen Modifikationen D ELAY, S TYLISATION und H ALF -C OMPLETION hinzu. D ELAY steht f¨ ur eine zeitlich leicht verz¨ogerte Assoziation eines Tons mit der Textebene. Semantisch wird diese Modifikation mit der Bedeutung “non-routine, very significant” in Verbindung gebracht20 (vgl. ebd.: 217ff.). S TYLI SATION bezieht sich auf die Dehnung von tontragenden Silben und die Anhebung/Senkung der Tonh¨ohe auf mittleres Niveau. Die Modifikation signalisiert im Gegensatz zu D ELAY “routineness” (wie beispielsweise bei der Rufkontur). Unter H ALF -C OMPLETION schließlich ist zu verstehen, dass eine Tonh¨ohenbewegung nicht vollst¨andig ausgef¨uhrt wird, und die Tonh¨ohe die mittlere Ebene nicht u¨ berschreitet, so dass aus dem Fall H*L ein Fall auf mittlere H¨ohe wird (H*M). Die Bedeutung von H ALF -C OMPLETION wird mit “This is my Variable [i.e. my contribution, P.B.], but please don’t make a big thing of it” (ebd.: 223) umschrieben. ¨ Der Sprecher markiert seine Außerung durch die Modifikation als “nicht so wichtig”. Basiskonturen k¨onnen auch durch mehrere Modifikationen zugleich ver¨andert werden, wodurch sich nicht nur ihre formale Komplexit¨at, sondern auch ihre semantische Komplexit¨at erh¨oht. Die Kombination von semantisch widerspr¨uchlichen Modifikationen (z.B. D ELAY + S TYLISATION ) wird von Gussenhoven nicht ausgeschlossen. Solche Kombinationen k¨ onnten auf ¨ eine besonders markierte Außerung hinweisen.
20
¨ Dies steht in Ubereinstimmung mit der Bedeutung des ‘sp¨aten Gipfels’ bei Kohler (1995). Anhand der Tr¨ager¨außerung “Das hast du geKAUFT” charakterisiert er die Bedeutung des sp¨aten Gipfels als starken Gegensatz zwischen den Einstellungen/ Erwartungen des Sprecher und den Gegebenheiten einer Kommunikationssituation. Er paraphrasiert die Bedeutung mit “Das kann doch nicht wahr sein!” (Kohler 1995: 123).
22 Zur Veranschaulichung des Ansatzes werden im Folgenden zwei solcher doppelt modifizierter Konturen aus der Arbeit von Gussenhoven vorgestellt. Bei beiden kommen die Modifikationen D ELAY und S TYLISATION zum Einsatz, Basiskontur ist im ersten Fall eine fallende Kontur, im zweiten Fall eine steigende Kontur. Die Tr¨ager¨außerung beider Konturen ist die ¨ Außerung “It’s a UNicorn”. Der phonetische Verlauf des ersten Beispiels (H*L mit den Modifikationen D ELAY und S TYLISATION) l¨asst sich als eine tiefe Akzentsilbe mit folgendem Anstieg zu mittel hohem Plateau und darauf folgendem Abfall zu einem etwas tieferen Plateau darstellen (Abb. 2.3a).21 Der zweite Verlauf (L*H mit den Modifikationen D ELAY und S TYLISATION) kann phonetisch durch eine tiefe Nukleussilbe mit folgendem Plateau auf mittlerer H¨ohe stilisiert werden (Abb. 2.3b):
(a)
h
h
m
m
l
l
(b)
Abbildung 2.3: Schematisierter Verlauf der Konturen (a) H*L mit D ELAY und S TYLISATION und (b) L*H mit D ELAY und S TYLISATION
Die fallende Basiskontur H*L wird bei der phonetischen Implementierung dergestalt modifiziert, dass der H*-Ton auf der Folgesilbe als plateauartiger M*-Ton erscheint (D ELAY + S TYLISATION) und der L-Ton als etwas tieferer plateauartiger M-Ton (S TYLISATION). Bei der steigenden Basiskontur L*H wirken sich die Modifikationen zum einen in einer Verschiebung auf die Folgesilbe und gleichzeitigen Erh¨ohung von L* zu plateauartigem M* aus (D ELAY + S TYLISATION), zum anderen in der Senkung des H zu ebenfalls plateauartigem M (S TYLISATION), so dass sich das in der Abbildung veranschaulichte finale mittel hohe Plateau nach tiefer Nukleussilbe ergibt. ¨ Die semantischen Interpretationen der Außerungen werden u¨ ber potenzielle Vorkommens¨ kontexte eingef¨uhrt. So sei die erste Realisierung der Außerung “It’s a unicorn” in einem motherese-Kontext denkbar, in dem ein Sprecher ein Benennungsspiel mit einem kleinen Kind spiele: “Here, the delay signifies that the speaker considers it important that the child should pay attention to this addition to their background [...]. At the same time, however, she wishes to impress on the child that this should be an easy task, i.e. that the fact the object is called a unicorn is a matter of routine (stylisation).” (ebd.: 233). F¨ur das zweite Beispiel wird eine Szene entworfen, in der der Sprecher einen sich zierenden H¨orer ungeduldig dazu anh¨alt eine einfache Aufgabe auszuf¨uhren, die darin besteht, eine mit dem Satz “It’s a unicorn” beginnende Satzliste vorzulesen. “The delay [...] is interpreted as an expression of the speaker’s impatience with the reader’s slowness in getting started [...], the stylisation as an expression of the fact that, in the opinion of the speaker, the task is easy (routine).” (ebd.: 236). 21
Die Abbildungen stellen eine Interpretation der Ausf¨uhrungen von Gussenhoven dar; er selbst gibt keine Veranschaulichung des phonetischen Verlaufs.
23 K¨ugler (2007) legt seiner Beschreibung der Intonation verschiedener deutscher Variet¨aten ebenfalls nukleare Basiskonturen mit m¨oglichen zus¨atzlichen Modifikationen zu Grunde. Auch er stuft die Konturen und Modifikationen als bedeutungstragende Morpheme ein. K¨ugler nimmt f¨ur die Variet¨aten des Obers¨achsischen und des Schw¨abischen je drei (zum Teil unterschiedliche) Basiskonturen und die Modifikation L-A FFIXATION an, die der Basiskontur einen L-Ton voranstellt.22 Phonetisch wird die Pr¨afigierung durch eine Verz¨ogerung des tiefen Akzenttons umgesetzt, so dass sie der Gussenhoven’schen Modifikation D ELAY entspricht. Auch die Bedeutung “significant, non-routine” wird f¨ur die pr¨afigierten Basiskonturen veranschlagt. Die Bedeutungen der Basiskonturen entsprechen ebenfalls den von Gussenhoven angenommen A DDITION, S ELECTION und R ELEVANCE -T ESTING, wobei die Form-Bedeutungs-Beziehung selbstverst¨andlich nicht 1:1 u¨ bertragen wird. Die Datenbasis der Arbeit von K¨ugler besteht aus Map-Task-Dialogen, so dass die Bedeutungen nicht durch Introspektion, sondern durch die Analyse spontansprachlicher Daten bestimmt werden. Dies illustriert abschließend das folgende Beispiel von K¨ugler aus dem Obers¨achsischen. Die im Beispiel zur Diskussion stehende Basiskontur ist fallend-steigend, modifiziert durch L-P REFIXATION, so dass sich eine steigend-fallend-steigende Kontur ergibt, die im Obers¨achsischen mit den Bedeutungskomponenten S ELECTION + S IGNIFICANT charakterisiert ist. Der Gespr¨achsausschnitt stammt aus einem Map-Task-Dialog und gibt eine Diskussion u¨ ber ein Symbol (‘Windm¨uhle’) wieder, das auf der Karte des Anweisungsgebers (A) existiert, aber nicht auf der Karte des Anweisungsempf¨angers (B).23 (1)
⇒
platzhalter 01 02 03 04 05
A: B: A:
bis du zu der WINDm¨ uhle kommst m: die gibt=s keine WINDm¨ uhle eine DREhende windm¨ uhle L+HL H% gibt=s NICH oder wie (aus: K¨ugler 2007: 167)
Nachdem sich der Referent Windm¨uhle als problematisch erwiesen hat, charakterisiert Spre¨ cher A das Element durch das Attribut drehende (Z 4). Die Außerung tr¨agt eine steigendfallend-steigend nukleare Kontur, die als modifizierte fallend-steigende Basiskontur interpretiert wird: Durch die Basiskontur wird ein bereits in den Diskurs eingef¨uhrtes Element ausgew¨ahlt (S ELECTION), die L-Pr¨afigierung und der enge Fokus auf drehende markieren die Tatsache als bedeutsam (“significant”), dass es ich um eine bestimmte Windm¨uhle handelt. ¨ K¨ugler umschreibt die Bedeutung der Außerung durch “I remind you that it is a particular windmill we are talking about” (ebd.: 167). Der n¨achste Abschnitt widmet sich dem kompositionalen Ansatz in seiner Umsetzung durch Pierrehumbert & Hirschberg (1990) und Peters (2006a). 22
K¨ugler (2006, 2007) geht sowohl von L-P REFIXATION als auch von L-S UFFIXATION aus, wobei Ersteres im Obers¨achsischen festzustellen sein, Letzteres im Schw¨abischen (siehe auch Kap. 2.4.2.1). 23 Die in K¨ ¨ ugler (2007) gegebene englische Ubersetzung des Beispiels wurde weggelassen.
24 2.2.2.2 Kompositionaler Ansatz: Pierrehumbert & Hirschberg (1990) Ziel der Arbeit von Pierrehumbert & Hirschberg ist es, den Beitrag von Intonationskonturen zur Diskursinterpretation herauszuarbeiten (vgl. ebd.: 271). Wie oben erw¨ahnt, tragen Akzentt¨one, Phrasenakzente und Grenzt¨one dabei jeweils eigenst¨andige Bedeutungen und beziehen sich auf unterschiedliche prosodische Dom¨anen. Die Bezugsdom¨ane des Akzenttons ist das lexikalische Element, mit dem er assoziiert ist, die Dom¨ane des Phrasenakzents die intermedi¨are Phrase und die Dom¨ane des Grenztons die Intonationsphrase. Die u¨ bergeordnete Einheit der kompositionalen Bedeutungsanalyse ist ebenfalls die Intonationsphrase. Grunds¨atzlicher Bedeutungsaspekt der T¨one sind auch hier informationsstrukturelle Gesichtspunkte. Die Intonation tr¨agt dazu bei, den Status des Gesagten in Hinblick auf das (vom Sprecher angenommene) geteilte Wissen zu bestimmen bzw. die semanto-pragmatische Relation aufeinander folgender Einheiten zu verdeutlichen. Eine Grundannahme des kompositionalen Ansatzes ist, dass Konturen mit gleichen tonalen Bestandteilen eine irgendwie geartete gemeinsame Bedeutungskomponente haben, was durch die Partikularisierung der Bedeutung zum Ausdruck gebracht werden soll. Das Vorkommen eines Tonh¨ohenakzents markiert die tontragende Einheit als salient. Der Akzenttyp (d.h. L* oder H*) gibt dar¨uber hinaus Auskunft dar¨uber, wie das Element hinsichtlich des (angenommenen) gemeinsamen Wissens, des propositionalen Gehalts und der weiteren Bearbeitung einzustufen ist. W¨ahrend ein hoher Akzentton H* einen neuen Referenten kennzeichne, u¨ ber den eine Aussage gemacht werde, die dem “mutual belief space” des H¨orers hinzugef¨ugt werden soll, stehe ein tiefer Akzentton L* f¨ur einen zwar salienten Referenten, u¨ ber den jedoch keine Aussage gemacht werde. Entsprechend wird der H*-Akzent in ¨ einer bestimmten Kombination mit Phrasen- und Grenzton f¨ur “neutral declarative”-Außerungen angenommen, der L*-Akzent hingegen f¨ur “canonical yes-no questions”, wie in dem Beispielsatz “Do PRUnes have FEET” mit zwei tiefen Akzentsilben und hohem Phrasen- und Grenzton (ebd.: 290, 292). Die m¨oglichen bitonalen Tonh¨ohenakzente (L*+H, H+L*, L+H*, H*+L) u¨ bernehmen diese Charakteristika des prominenten Tons. Phrasenakzente signalisieren, in welchem Zusammenhang die tontragende intermedi¨are Phrase zur darauf folgenden intermedi¨aren Phrase steht. Ein hoher Phrasenakzent weist darauf hin, dass die aktuelle Phrase nicht unabh¨angig von der folgenden Phrase zu interpretieren sei. Ein tiefer Phrasenakzent steht demgegen¨uber f¨ur eine inhaltliche Trennung der aktuellen Phrase von der folgenden Phrase (vgl. ebd.: 302ff.). Die Grenzt¨one erf¨ullen die gleiche Rolle f¨ur die Koh¨arenz zwischen aufeinander folgenden Intonationsphrasen. Sie entscheiden, ob eine IP “forwardlooking” ist (H) oder nicht (L).24 Im Vergleich mit den bei Gussenhoven zu Grunde gelegten Bedeutungen sind die Bedeutungen dieses Ansatzes auf grundlegende Aspekte der Koh¨arenzbildung konzentriert: Die Intonation tr¨agt dazu bei, die Einbettung der u¨ bermittelten Information sowohl in Hinblick auf den vorangegangenen als auch auf den nachfolgenden Diskursabschnitt zu signalisieren. Demgegen¨uber bringen die Bedeutungen bei Gussenhoven zus¨atzliche attitudinale Bedeutungskomponenten wie “routineness” oder “Herunterspielen der Wichtigkeit” ein. F¨ur die kontextgebundene Ausdeutung ergibt sich daraus ein breiter Interpretationsspielraum, wie die pr¨asentierten Beispiele verdeutlichen. 24
¨ Einen Uberblick u¨ ber die m¨oglichen tonalen Kombinationen mit korrespondierenden Bedeutungen gibt K¨ugler (2007: 157).
25 Peters (2006a) stellt wie Gussenhoven Basiskonturen heraus, die durch weitere intonatorische Prozesse wie Downstep u¨ berlagert werden k¨onnen. Jedoch beruht sowohl die formale als auch die semantische Beschreibung der Intonation nicht auf nuklearen Konturen, sondern auf Einzelt¨onen, so dass der Ansatz den kompositionalen Beschreibungen zuzurechnen ist. Auch schließen die veranschlagten basalen Bedeutungen attitudinale Komponenten aus und orientieren sich wie bei Pierrehumbert & Hirschberg an Fragen der Koh¨arenzbildung. Peters trennt dabei zwischen der abstrakten und invariablen semantischen Kernbedeutung der tonalen Elemente und konversationellen Funktionen, die im kontextuellen Rahmen zu analysieren sind. Der “Spielraum” der konversationellen Funktionen wird durch die zugrundeliegenden Kernbedeutungen eingeschr¨ankt, l¨asst sich aus diesen jedoch nicht zwangsl¨aufig direkt ableiten (vgl. ebd.: 102). Das Toninventar beinhaltet keine Phrasenakzente, so dass sich der nukleare Abschnitt aus Akzentton mit oder ohne Folgeton und einem finalen Grenzton zusammensetzt, wobei jeder Ton in bestimmter Weise zur Interpretation der Tr¨ager¨außerung im Kontext beitr¨agt (vgl. ebd.: 106ff.): Nukleare Akzentt¨one beinhalten Information u¨ ber die ¨ “kommunikative Relevanz” der aktuellen Außerung in Hinblick auf die Folge¨außerung: hohe Akzentt¨one (H*) signalisieren eigenst¨andige kommunikative Relevanz, w¨ahrend tiefe Akzentt¨one (L*) darauf verweisen, dass die Information erst im Verbund mit der Folge¨außerung kommunikativ relevant ist. Die Folget¨one f¨ugen der akzenttontragenden Einheit die Komponente der informatorischen Abgeschlossenheit hinzu. Der Tontyp des Folgetons (H oder L) muss nicht weiter spezifiziert werden, da er sich aus dem Akzentton ergibt. (Akzentton und Folgeton m¨ussen immer komplement¨ar sein). Die finalen Grenzt¨one schließlich geben Aufschluss u¨ ber die konversationelle Abgeschlossenheit der begrenzten Intonationsphrase. Hi 25 weist darauf hin, dass die IP konversationell unvollst¨andig ist, Li darauf, dass sie konversationell vollst¨andig ist. Die Kernbedeutung der konversationellen Abgeschlossenheit kor¨ reliert h¨aufig mit der sequenziellen Position der entsprechenden Außerung, d.h. final hohe ¨ Außerungen kommen h¨aufig innerhalb eines Redebeitrags vor und dienen als Turnfortsetzungssignal. Peters betont allerdings, dass diese Korrelation nicht zwingend sei. Besonders an konversationellen Fragen, die h¨aufig mit final (leicht) steigenden Intonationsverl¨aufen verbunden sind,26 sei zu erkennen, dass ein hoher finaler Grenzton nicht mit einer Turnfortsetzung gleichzusetzen sei, da auf diese meistens ein Sprecherwechsel erfolge (vgl. ebd.: 125ff.). Theoretisch sind alle Bestandteile des Toninventars miteinander kombinierbar (dargestellt als Finite State Grammar, ebd.: 98). Aufgrund semantischer Unvertr¨aglichkeit schließt Peters die nukleare Verwendung von H* (ohne Begleitton) in Kombination mit Li jedoch aus. Das Fehlen des Begleittons signalisiert informatorische Unabgeschlossenheit der akzentuierten Einheit, der tiefe finale Grenzton aber konversationelle Abgeschlossenheit der Intonationsphrase, so dass ein semantischer Konflikt entsteht, der das Auftreten der nuklearen Kontur ¨ H* Li unwahrscheinlich mache. Die folgenden beiden (fiktiven) Außerungen veranschaulichen den Kontrast zwischen den nuklearen Konturen H*L Li und H* Li . Im ersten Beispiel mit tiefem Begleitton wird die Information abgeschlossen oder “gest¨uckelt” (vgl. ebd.: 121) pr¨asentiert, im zweiten Beispiel wird hingegen keine informatorische Abgeschlossenheit der akzentuierten Einheit signalisiert. Die tiefen finalen Grenzt¨one signalisieren in beiden F¨allen 25
Hi bzw. Li symbolisiert in der Notation von Peters (2006a) einen Grenzton und ist mit H% bzw. L% gleichzusetzen. 26 Siehe hierzu aber Kapitel 4.4.2, wo die intonatorische Gestaltung konversationeller Fragen eingehend diskutiert wird.
26 Abgeschlossenheit auf der IP-Ebene, so dass es im zweiten Beispiel zu erw¨ahntem semantischen Konflikt kommt (vgl. ebd.: 122).27 (2)
Beim Durchbl¨attern eines Fotoalbums: Wer ist das denn?
a.
{das k¨onnte maRIa sein}i {oder vielleicht ANna}i H*L Li Li → H*L Li (?) Li →
b.
{das k¨onnte maRIa sein}i {oder vielleicht ANna}i H* H*L Li (?) Li → Li Li →
(nach Peters 2006a: 121, 122)
In Beispiel (a) verhalten sich alle intonatorischen Elemente gleichlaufend und signalisieren die Eigenst¨andigkeit der ersten Teil¨außerung: Zus¨atzlich zu den informatorische und konversationelle Abgeschlossenheit signalisierenden tiefen T¨onen weist der hohe Akzentton auf die eigenst¨andige kommunikative Relevanz der akzentuierten Einheit hin. Beispiel (b) hingegen signalisiert Unabgeschlossenheit auf informatorischer Ebene und Abgeschlossenheit auf konversationeller Ebene. Grunds¨atzlich erscheint die Abgrenzung der verschiedenen Bedeutungskomponenten zum Teil durchaus problematisch, so dass eine wirkliche Kompositionalit¨at der Gesamtbedeutung nicht immer ohne weiteres herauszuarbeiten ist. Dies mag unter anderem daran liegen, dass die drei Komponenten “(un)abh¨angige kommunikative Relevanz der akzentuierten Einheit”, “informatorische (Un)Abgeschlossenheit der akzentuierten Einheit” und “konversationelle (Un)Abgeschlossenheit der Intonationsphrase” zudem durchweg den gleichen Effekt zu erzielen scheinen, n¨amlich die Erwartung bzw. Nicht-Erwartung einer koh¨arent anschließenden ¨ Außerung – sei es durch den gleichen oder einen anderen Sprecher. Als ein Beispiel f¨ur die Schwierigkeit der Abgrenzung der Bedeutungskomponenten seien abschließend die von Peters zur Veranschaulichung der Semantik von Akzentt¨onen angef¨uhrten Listenelemente dargestellt, siehe Beispiel (3). Die Listen in den Beispielen 3a) und 3b) sind durch hohe Akzentt¨one gekennzeichnet, die in 3c) hingegen jeweils durch einen tiefen Akzentton. 3a) unterscheidet sich von 3b) dadurch, dass die Akzentt¨one einen tiefen Begleitton aufweisen, w¨ahrend die Akzentt¨one in 3b) monotonal sind. Nach Peters handelt es sich bei den Beispiel¨außerungen um eine exemplarische Liste, die beliebig erweiterbar ist und deren Bestandteile untereinander frei vertauscht wer¨ den k¨onnen. Die Außerung in c) mit tiefen Akzentt¨onen sei weniger angemessen, da diese 27
Der Pfeil (→) verweist auf “Spreading” des vorangehenden Tons, d.h. die Tonh¨ohe wird beibehalten.
27 eine Interpretation nahe legten, “wonach die einzelnen Glieder nicht unabh¨angig von einem folgenden Glied relevant sind, was dem Charakter der Aufz¨ahlung widerspricht.” (ebd. 111). (3)
platzhalter
a.
{ich war in JEna } {in LEIPzig } {in HEIdelberg} H*L→ Øi Li H*L→ Øi Li H*L→ Øi Li →
Ich war schon u¨ berall!
b.
{ich war in JEna } {in LEIPzig } {in HEIdelberg} Li → H*→ Øi Li H*→ Øi Li H*→ Øi
Ich war schon u¨ berall!
c. {ich war in JEna } {in LEIPzig } {in HEIdelberg} L*H→ Øi Li L*H→ Øi Li L*H→ Øi (?) Li →
Ich war schon u¨ berall!
(aus: Peters 2006a: 111)
Ein Problem der Bedeutungszuweisung liegt sicherlich in dem hohen Grad an Introspektion, der zur Beurteilung der Angemessenheit oder Unangemessenheit bestimmter intonatorischer Realisierungen ben¨otigt wird. Neben der Beurteilung der Unangemessenheit von c) ist ¨ beispielsweise auch die semantische Unterscheidung der Außerungen a) und b) anhand des Kriteriums der informatorischen Abgeschlossenheit schwer nachzuvollziehen. Wenn es sich bei beiden um frei austauschbare Listenelemente handelt, warum sollten dann die Bestandteile in a) gegen¨uber b) informatorisch abgeschlossen sein? Aus phonetischer Perspektive sollte weiterhin darauf hingewiesen werden, dass es schwierig sein kann, den in a) vorliegenden Tonh¨ohenabfall der ersten beiden Bestandteile tats¨achlich auf einen bitonalen Akzentton zur¨uckzuf¨uhren. Aufgrund des geringen segmentellen Materials ist nicht mit Sicherheit zu sagen, ob nicht ebenso ein tiefer Grenzton in Folge eines hohen Akzenttons vorliegen k¨onnte. Die kompositionale Bedeutungsanalyse mit introspektiver Zuschreibung der beschriebenen semantischen Merkmale scheint folglich nicht unproblematisch zu sein. Wie im konturbasierten Ansatz dienen die Bedeutungen auch hier als konstante semantische ¨ Kernbedeutungen, die der kontextgebundenen Interpretation einer aktuellen Außerung gewisse Beschr¨ankungen auferlegen. In beiden Ans¨atzen findet sich die eingangs zitierte “Linguist’s Theory of Intonational Meaning” deutlich wieder.
28
2.3
Interaktionale Prosodieforschung
Die Intonationsforschung im Rahmen der interaktional orientierten Linguistik hebt sich deutlich von den intonationsphonologisch orientierten Arbeiten ab. Dies betrifft nicht nur die theoretischen Pr¨amissen, sondern auch die Zielsetzungen des Ansatzes und in der Folge die verwendeten Methoden und das zugrundegelegte Datenmaterial. Wie oben bereits erw¨ahnt wurde, ist das Verh¨altnis von Intonation und Bedeutung einer der wesentlichen Aspekte hinsichtlich dessen sich die Forschungsrichtungen unterscheiden. Das vorliegende Kapitel glie¨ dert sich in die folgenden Abschnitte: Es wird zuerst ein Uberblick u¨ ber den theoretischen Hintergrund und die Zielsetzungen der Interaktionalen Prosodieforschung gegeben. In diesem Zusammenhang erfolgt eine Darstellung des Verh¨altnisses von Intonation und Bedeutung. Es werden dann die Anforderungen an das Datenmaterial und die Untersuchungsmethoden angef¨uhrt. Zuletzt werden die Untersuchungsschwerpunkte der Interaktionalen Prosodieforschung exemplarisch veranschaulicht.
2.3.1 Theoretischer Hintergrund und Zielsetzungen Die Interaktionale Prosodieforschung wird hier als Zweig der Interaktionalen Linguistik verstanden, die es sich zum Ziel setzt, sprachliche Strukturen in Hinblick auf ihre Relevanz f¨ur die Interaktionsteilnehmer zu beschreiben. Sprachliche Strukturen werden als Ressourcen aufgefasst, auf die die Teilnehmer zur¨uckgreifen k¨onnen, um die gegenw¨artige Interaktion zu organisieren. Zu den Aspekten, die organisiert werden m¨ussen, sind unter anderem der Sprecherwechsel, die Herstellung von Koh¨arenzbez¨ugen und die Rahmung von konversationellen Aktivit¨aten zu rechnen (vgl. Auer & Selting 2001). Auch hier spielt demnach der klassische Untersuchungsgegenstand der Informationsvermittlung eine Rolle, der in den diskursanalytisch orientierten Arbeiten der Intonationsphonologie vorherrschend ist. Im Gegensatz zur Diskursanalyse steht dieser Aspekt jedoch nicht von vornherein im Vordergrund des Interesses, sondern ist den anderen interaktionalen “Aufgaben” nebengeordnet. Die Interaktionale Linguistik versteht sich als deskriptiver Ansatz. Sie fußt vor allen Dingen auf den Ans¨atzen der ethnomethodologischen Konversationsanalyse, der Kontextualisierungsforschung und der anthropologischen Linguistik (vgl. Selting & Couper-Kuhlen 2000: 77ff.). Fr¨uhe Arbeiten sind die Untersuchungen aus den 1980er Jahren von John Local und Mitarbeitern, die sich mit einer “Phonologie der Konversation” besch¨aftigen (vgl. Local et al. 1985, Local et al. 1986). Ziel der Arbeiten ist es, die wesentlichen phonetischen Signalisierungsmittel herauszustellen, die der Organisation der Konversation dienen, und sie zu einer konversationellen Phonologie zusammenzuf¨uhren. Die Autoren unterstreichen die Notwendigkeit, als Ausgangspunkt der Analyse die phonetische Ebene zu w¨ahlen. Auf diese Weise soll vermieden werden, relevante Merkmale deshalb zu u¨ bersehen, weil sie nicht den g¨angigen phonologischen Kategorien entsprechen, die in der Regel nicht in Hinblick auf ihre Relevanz f¨ur die Interaktion erstellt wurden. Weiterhin fordern sie, neben der Tonh¨ohe auch andere prosodische Merkmale wie Lautst¨arke, Dauer und Rhythmus zu ber¨ucksichtigen und sich nicht von vornherein auf die Intonation als wichtigstes Signalisierungsmittel f¨ur delimitative und informationsstrukturelle Funktionen festzulegen. Die Beschreibung der Ph¨anomene soll impressionistisch, d.h. auditiv-phonetisch, sein, und auf der Grundlage der impressionis-
29 tischen Beschreibung sollen die phonologisch relevanten Kategorien erarbeitet werden (vgl. Local et al. 1986: 413). Alle Forderungen stehen im Dienste der Rekonstruktion einer Teilnehmerperspektive, die die Voraussetzung f¨ur eine “konversationelle Phonologie” darstellt. Die Arbeiten von Local et al. stehen im Rahmen der ethnomethodologischen Konversationsanalyse, und sie beinhalten bereits viele Aspekte der sp¨ateren Interaktionalen Linguistik. Dazu z¨ahlen die Ber¨ucksichtigung der Teilnehmerperspektive und die sich daraus ergebende Notwendigkeit, authentisches, spontansprachliches Datenmaterial als Grundlage der Analyse zu w¨ahlen, ebenso wie die Auffassung sprachlicher Strukturen als Ressourcen zur Bew¨altigung interaktionaler “Aufgaben”. Um die theoretische Einbettung der Interaktionalen Linguistik zu verdeutlichen, werden die Forschungsrichtungen der ethnomethodologischen Konversationsanalyse und der Kontextualisierungsforschung im Folgenden knapp skizziert.
2.3.1.1
Ethnomethodologische Konversationsanalyse
Die ethnomethodologische Konversationsanalyse (im Folgenden auch KA) reicht in die 1960er Jahre zur¨uck und wird generell mit Harvey Sacks und dessen “Lectures on Conversation” in Verbindung gebracht, die 1992 von Gail Jefferson herausgegeben wurden (vgl. Sacks 1992).28 Einer der Grundgedanken der Ethnomethodologie besteht darin, die soziale Wirklichkeit des Menschen als “Vollzugswirklichkeit” (vgl. Bergmann 1981: 12) zu begreifen, die nicht a priori vorhanden ist, sondern durch die Menschen im Hier und Jetzt produziert wird. Im Zentrum des Interesses der Ethnomethodologie stehen die Methoden, die die Gesellschaftsteilnehmer anwenden, wenn sie ihre Wirklichkeit in wechselseitig verstehbarer Weise produzieren. Dies geschieht dadurch, dass sie die ihnen zur Verf¨ugung stehenden (sprachlichen und auch nicht-sprachlichen) Mittel in geordneter Weise einsetzen. Die wechselseitige Verstehbarkeit beruht somit auf gemeinsam hergestellter Ordnung, die in jeder Interaktion neu umgesetzt und dadurch wiederum manifestiert wird. Von besonderer Bedeutung ist, dass die Gesellschaftsteilnehmer einander die Ordnung sichtbar machen m¨ussen, um die Interaktion tats¨achlich zu bewerkstelligen. Sie m¨ussen einander aufzeigen und miteinander aushandeln, was sie tun und wie sie das verstehen, was sie tun. Dies hat weitreichende methodische Folgen, da es die Herstellung der sozialen Ordnung an die “Oberfl¨ache” transportiert und somit beobachtbar macht. Wie immer wieder hervorgehoben wird, stellt die sprachliche Interaktion f¨ur die Ethnomethodologie kein prinzipiell “bevorzugtes” Untersuchungsfeld dar, sondern die Tatsache, dass sich der Fokus der Aufmerksamkeit auf die sprachliche Interaktion oder Konversation gerichtet hat, verdankt sich alleine der Tatsache, dass diese aufgezeichnet werden kann und der Analyse damit zug¨anglich ist (vgl. Sacks 1984). Im Zusammenhang mit der Beobachtbarkeit sind f¨ur die ethnomethodologische Konversationsanalyse die Begriffe des “display” und der “Sequenzialit¨at” zentral. Damit ist zum ¨ einen die Eigenschaft einer Außerung gemeint, aufzuzeigen, wie der Sprecher die vorange¨ gangene Außerung verstanden hat (display), zum anderen die Tatsache, dass sich dieses Auf28
Als Begr¨under der Ethnomethodologie ist Harold Garfinkel zu nennen (vgl. Auer 1999: 127 ff.). Eine gut lesbare Einf¨uhrung in die Ethnomethodologie bietet Patzelt (1987); Grundlagen der Ethnomethodologie werden auch in Brinker & Sager (19962: 114ff.) behandelt. F¨ur eine kritische Betrachtung der ethnomethodologischen Konversationsanalyse siehe v.a. Deppermann (2000, 2001).
30 ¨ zeigen in aufeinanderfolgenden Außerungen vollzieht (Sequenzialit¨at). Es ist zu beachten, dass “Verstehen” nicht in erster Linie als inhaltliche Interpretation des Gesagten aufzufassen ist, sondern sich auch sehr allgemein auf das Ausf¨uhren einer konversationellen Aktivit¨at bezieht. Produziert beispielsweise ein Sprecher eine Frage, so signalisiert der folgende Spre¨ cher durch koh¨arentes Anschließen an die Außerung und Schließen der Wissensl¨ucke, dass er ¨ die Außerung als Frage verstanden hat und als solche behandelt, indem er antwortet. W¨urde ¨ er keine solche Außerung produzieren, sondern beispielsweise eine Gegenfrage, h¨atte dies Konsequenzen f¨ur den weiteren Ablauf des Gespr¨achs, da nun wiederum der erste Sprecher dem Zugzwang ausgesetzt w¨are, eine koh¨arent anschließende Antwort zu produzieren. In Kapitel 4.4.2.4 wird gezeigt, wie auf eine syntaktisch und lexikalisch als Frage markierte ¨ Außerung (“was willst du mir denn verbieten”) mit einer Zur¨ucknahme der darin enthaltenen Pr¨asupposition reagiert wird (“nee. verbieten tu ich es dir ja nicht.”). Die zweite Sprecherin ¨ zeigt dadurch auf (display), dass sie die Außerung nicht als Frage, sondern als Vorwurf interpretiert, und der weitere Verlauf des Gespr¨achs best¨atigt diese Interpretation, indem der ¨ erste Sprecher Sanktionen androht, falls die Sprecherin sich nicht an ihre Außerung halten sollte (“dann komm ich nicht mehr hierhin.”) (vgl. Kap. 4.4.2.4, Bsp. 202). Die Beispiele verdeutlichen, dass es sich bei Gespr¨achen um einen Aushandlungsprozess handelt, an dem alle Teilnehmer gleichermaßen beteiligt sind und der sich schrittweise vollzieht. In ihrem Artikel zum Turn-Taking-System (Sacks et al. 1974, siehe auch Kap. 4.4.1.1) machen die Autoren darauf aufmerksam, dass eine der zentralen “Aufgaben”, die von den Interaktionsteilnehmern bew¨altigt werden m¨ussen, der Sprecherwechsel ist. Sie weisen auf die Relevanz sprachlicher Mittel zur L¨osung dieser Aufgabe hin, u¨ berlassen die Analyse aber zuk¨unftiger linguistischer Forschung (vgl. ebd.: 703, Fußnote 12). An diesem Punkt setzen entsprechend die oben angesprochenen Arbeiten von Local et al. an.29
2.3.1.2 Kontextualisierungsforschung W¨ahrend die ethnomethodologische Konversationsanalyse ihr prim¨ares Augenmerk auf die “oberfl¨achlichen” Strukturen und die nach außen getragenen Aushandlungsprozesse richtet, bezieht die Kontextualisierungsforschung auch Interpretationsprozesse in ihre Analysen ein. Der Begriff der Kontextualisierung geht auf Gumperz (1984) zur¨uck und bezeichnet den Einsatz verbaler und non-verbaler Mittel zur Signalisierung relevanter Interpretationsschemata. Gumperz (1984: 173ff.) veranschaulicht die Relevanz der Kontextualisierung unter anderem anhand des Beispiels von weiblichen Flughafenangestellten indischer und pakistanischer Herkunft, die in der Kantine eines Londoner Flughafens Essen ausgeben. Sie wurden von den britischen G¨asten der Kantine u¨ berwiegend als “unh¨oflich” eingestuft, was letztendlich auf den Intonationsgebrauch der indischen Angestellten zur¨uckgef¨uhrt werden konnte: Sie produzierten die Nachfrage “gravy?” (im Sinne von “m¨ochten Sie noch Soße?”) mit final fallender Intonation, was im Britischen keiner h¨oflichen Nachfrage entspricht. Hier w¨urde eine h¨ofliche Nachfrage im entsprechenden Kontext durch final steigende Intonation kontextualisiert. Die Angestellten indischer Herkunft hingegen verwenden die in ihrer Sprechgemeinschaft gebr¨auchliche final fallende Intonation f¨ur eine h¨ofliche Nachfrage. Die Intonation dient in 29
Die Details der Koordination des Sprecherwechsels werden in Kapitel 4.4.1.1 besprochen.
31 diesem Beispiel somit als Kontextualisierungshinweis zur Interpretation eines bestimmten Aktivit¨atstyps. Das Beispiel verdeutlicht dar¨uber hinaus, dass Kontextualisierungshinweise kulturspezifisch sind und beim Transfer in eine andere Sprache oder eine andere Variet¨at zu Missverst¨andnissen f¨uhren k¨onnen.30 Eine wesentliche Annahme der Kontextualisierungsforschung ist weiterhin, dass Interpre¨ tationen konkreter Außerungen und Handlungen immer kontextgebunden vollzogen werden. Der Kontext wird dabei nicht als etwas Pr¨aexistentes, Vorgegebenes betrachtet, sondern die f¨ur die Interpretation notwendigen Kontextmerkmale m¨ussen durch die Interaktionsteilnehmer selbst relevant gemacht werden31 (vgl. Auer 1986a: 22ff.). Zu solchen Kontextmerkmalen z¨ahlen beispielsweise Teilnehmerrollen. Ein klassisches Beispiel ist das des Arztes, der sich mit seinem Nachbarn in der Rolle des Nachbarn u¨ ber den Kirschbaum unterhalten kann, aber ebenso die Rolle des ratgebenden Arztes u¨ bernehmen kann. Solche Wechsel der Teilnehmerrollen, aber auch des Aktivit¨atstyps, des Themas etc. werden durch Kontextualisierungshinweise, sog. contextualization cues, begleitet. Die Kontextualisierungshinwei¨ se verweisen also auf wesentliche Interpretationsschemata f¨ur die entsprechende Außerung: “Contextualization cues are used by speakers in order to enact a context for the interpretation of a particular utterance.” (Auer 1992: 25). Die Kontextualisierungsforschung besch¨aftigt sich dabei mit solchen sprachlichen Mitteln, die keine lexikalische und keine referenzielle Bedeutung haben. Dazu z¨ahlen die Bereiche Prosodie, Gestik, das Blickverhalten und die sprachliche Variation (bspw. der Wechsel zwischen verschiedenen Dialektniveaus, vgl. Auer 1986b). Kennzeichen der Kontextualisierung sind weiterhin, dass h¨aufig mehrere Hinweise auf verschiedenen Ebenen miteinander kookkurrieren, so dass die Kontextualisierung in diesen F¨allen redundant ist. Die m¨oglicherweise uneindeutige Kontextualisierungsleistung eines einzelnen Hinweises wird auf diese Weise durch die kookkurrierenden Hinweise verdeutlicht und gest¨utzt (vgl. Auer 1992: 29ff.). Besonders zentral f¨ur die vorliegende Arbeit ist, dass die Intonation als prosodischer Kontextualisierungshinweis nicht mit einer kontextfreien Bedeutung in Zusammenhang gebracht wird. Diese Auffassung steht in deutlichem Widerspruch zur “Linguist’s Theory of Intonational Meaning” (siehe Kapitel 2.2), wo der Intonation eine konstante Bedeutung auf basaler Ebene zugeschrieben wird. Besonders pointiert formuliert Gussenhoven (1984) diesen Standpunkt: In Erwiderung auf Cutler (1977), die darauf hinweist, dass kein Linguist so “tollk¨uhn” (“foolhardy enough”) sei, Intonationskonturen referenzielle Bedeutungen zuzuschreiben, schreibt er: “[...] we should be careful not to be misled into assuming that intonational meaning is principally different from what we have so far believed linguistic meaning is like. It would be foolhardy, too, to assume that intonational meaning is variable, depends on other choices it combines with, and cannot therefore be given specific characterisations. If this was true, how would language be learnable? Just how many combinations of tune and text are there?” (Gussenhoven 1984: 197-198)
30
Auf diese M¨oglichkeit verweist auch Ladd (1996: 121 ff.) im Zusammenhang mit “semantic differences” zwischen verschiedenen Intonationssystemen (siehe dazu auch Kap. 2.4.1). 31 Die Ansicht, dass der relevante Kontext erst durch die Interaktionsteilnehmer hervorgerufen wird, teilt auch die ethnomethodologische Konversationsanalyse.
32 Die Kontextualisierungsforschung geht demgegen¨uber tats¨achlich davon aus, dass die Intonation bestenfalls ein bestimmtes Bedeutungspotenzial besitzt, das je nach kontextueller Einbettung und Kookkurrenz mit anderen Hinweisen unterschiedlich ausgenutzt werden kann (vgl. Auer 1992: 32ff., Couper-Kuhlen & Selting 1996: 20ff.). Ein entsprechendes Bedeutungspotenzial liegt beispielsweise bei der Kontextualisierung von Abschluss und Weiterweisung vor, d.h. bei der Signalisierung von Turnabgabe und Turnbeibehaltung. Typische weiterweisende Konturen sind final flach steigend oder gleichbleibend, typische abschließende Konturen sind hingegen fallend oder steil steigend (vgl. Selting 1995: 192ff.). Dies variiert jedoch zum einen regional (vgl. Gilles 2005, Peters 2006a), zum anderen l¨asst sich ein bestimmter Konturverlauf nicht durchg¨angig auf eine Funktion festlegen, obwohl es sich bei Abschluss und Weiterweisung um sehr basale Funktionen handelt. Die Funktion variiert mit dem Vorkommenskontext, wie in Kap 4.4 eingehend diskutiert wird. Dabei ist zu beachten, dass die von Gussenhoven angesprochenen “combinations of tune and text” (s.o.) bei systematischer Ber¨ucksichtigung der Kookkurrenz mit anderen sprachlichen Mitteln und ¨ der kontextuellen Einbettung der entsprechenden Außerungen offenbar nicht so zahllos und wom¨oglich willk¨urlich sind, wie es das Zitat nahe legt. Die Auffassung, dass sich intonatorischen Ph¨anomenen keine konstante Bedeutung, sondern allenfalls ein bestimmtes Bedeutungspotenzial zuschreiben l¨asst, u¨ bernimmt die Interaktionale Prosodieforschung von der Kontextualisierungsforschung. Darin liegt, wie eingangs erw¨ahnt wurde, ein gewichtiger Unterschied zwischen Interaktionaler Linguistik und Intonationsphonologie. Ein weiterer Unterschied zwischen Interaktionaler Linguistik und Intonationsphonologie ist, dass die Intonationsphonologie, wie oben beschrieben wurde, auf einer Trennung von paralinguistischen und linguistischen Funktionen sowie auf einer Trennung von Phonetik und Phonologie aufbaut, die paralinguistisches Detail und Variation in die phonetische Implementierung verlagert, welche wiederum nicht Bestandteil der Grammatik ist (vgl. Abschnitt 2.2, S. 28). Die Trennung von paralinguistischen und linguistischen Funktionen l¨asst sich in der Interaktionalen Linguistik nicht aufrechterhalten. Da die Bezugsebene f¨ur die Herausarbeitung der Funktionen die sich ergebenden konversationellen “Aufgaben” sind – sei es die Koordination des Sprecherwechsels, die Signalisierung der Teilnehmerrolle oder die Hervorhebung eines Informationsbestandteils als besonders relevant –, ergibt eine Trennung in linguistische und paralinguistische Funktionen keinen Sinn. Alle durch die Kontextualisierung relevant gemachten Interpretationsschemata sind f¨ur die Interaktion zum gegebenen Zeitpunkt gleichermaßen von Bedeutung und k¨onnen nicht als “paralinguistisch” vernachl¨assigt und in die phonetische Implementierung ausgelagert werden. Als Konsequenz ergibt sich, dass auch die Unterteilung in Phonologie und phonetische Implementierung hinf¨allig ist, denn die in der Intonationsphonologie durch die phonetische Implementierung aufgefangenen Details zur Vermittlung paralinguistischer Funktionen sind als Kontextualisierungshinweise in die Phonologie eingebettet. In letzter Konsequenz stellen sich die unterschiedlichen Auffassungen als fundamental verschiedene Auffassungen von “Grammatik” dar. W¨ahrend in der Intonationsphonologie (nach Gussenhoven) ein Einschnitt zwischen phonologischen, abstrakten Einheiten und phonetischem Detail vorliegt, wobei letzteres mit “paralinguistischen” Funktionen verkn¨upft ist, geh¨ort genau dieses phonetische Detail in interaktional orientierten Arbeiten zum Kern der Grammatik hinzu. Schegloff et al. (1996) diskutieren diese Problematik in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband “Interaction and grammar”. Sie stellen zun¨achst fest, dass ein
33 Großteil der linguistischen Forschung implizit darauf aufbaue, dass “the primary organization of language is situated at the syntactic, semantic, lexical, and phonological levels, with only the surviving, unordered ‘details’ – the ‘residual variation’ – being referred to pragmatic or sociolinguistic or interactional ‘factors’.” (ebd.: 25-26). Demgegen¨uber fordern sie eine zentrale Rolle f¨ur die vernachl¨assigten und der Grammatik ausgelagerten interaktionalen und pragmatischen Funktionen ein: “[...] does it not make more sense, is it not theoretically more plausible, to suppose that interactional and pragmatic organizations play a primary and formative role, rather than a residual one, in the organization of conduct, including talk, and that grammar and syntax are, if not subordinate, then not more then coordinate with them, for example, by being among the available resources and practices informing the interactional and pragmatic organizations?” (ebd.: 26)
Aus dem Zitat geht hervor, dass sprachliche Strukturen jeder Ebene gleichermaßen als Ressourcen f¨ur die Koordination des Diskurses genutzt werden k¨onnen. Auch die Signalisierungsmittel, die f¨ur gew¨ohnlich als “Details” oder “Variation” vernachl¨assigt werden, spielen eine wesentliche Rolle f¨ur die interaktionale Organisation. Zwischen der Interaktion und den sprachlichen Strukturen bzw. der Grammatik besteht eine enge Verbindung, die sich darin a¨ ußert, dass auf der einen Seite die sprachlichen Strukturen als interaktionale Ressourcen dienen, dass auf der anderen Seite aber auch die Interaktion die Ausformung der sprachlichen Strukturen pr¨agt. Diese beiden Perspektiven auf Interaktion und Grammatik fassen Schegloff et al. (1996) unter den Schlagworten “grammar organizes social interaction” und “social interaction organizes grammar” zusammen (ebd.: 33, 36). Das bedeutet, dass grammatische Strukturen durchl¨assig sind f¨ur interaktionale Einfl¨usse und nicht nur einseitig die Interaktion determinieren. Gefordert ist somit eine gebrauchsbasierte Grammatik, die den prim¨aren Verwendungskontext von Sprache, die face-to-face Interaktion, als Grundlage f¨ur die Entwicklung von Strukturen begreift: “[...] in fact grammar must be seen as emerging from discourse.” (ebd. 10). Es l¨asst sich zusammenfassen, dass die Interaktionale Linguistik ihr prim¨ares Untersuchungsziel in der Rekonstruktion der f¨ur die Interaktionsteilnehmer relevanten sprachlichen (und nicht-sprachlichen) Strukturen sieht. Die Strukturen werden als Ressourcen begriffen, die die Teilnehmer einsetzen, um interaktionale Aufgaben zu bew¨altigen. Eine dieser Ressourcen stellen intonatorische Mittel dar, wobei von Bedeutung ist, dass sie als Kontextualisierungshinweise f¨ur gew¨ohnlich in Kookkurrenz mit anderen Hinweisen auftreten und wirksam sind. Die intonatorischen Mittel haben keine eigenst¨andige, konstante Bedeutung, sondern entfalten im gegebenen Kontext ihr spezifisches Bedeutungspotenzial. Der folgende Abschnitt skizziert die methodischen Konsequenzen und die Anforderungen an das zu untersuchende Datenmaterial, die sich aus dem theoretischen Hintergrund und den Zielsetzungen der Interaktionalen Prosodieforschung ergeben.
2.3.2
Anforderungen an Material und Methoden
Couper-Kuhlen & Selting (1996) fassen die wichtigsten Anforderungen, die das Datenmaterial interaktionslinguistischer Analysen erf¨ullen sollte, in drei Maximen zusammen. Zur
34 ersten Maxime “Give priority to the analysis of naturally occurring talk” (ebd.: 25) a¨ ußern sich die Autorinnen folgendermaßen: “Close inspection of prosody in large quantities of everyday conversational data should make it possible to reconstruct member’s prosodic devices for achieving their conversational goals.” (ebd.: 25). F¨ur die Rekonstruktion von konversationellen Funktionen der Prosodie ist demnach von wesentlicher Bedeutung, dass das Datenmaterial spontansprachlich ist. Unter experimentellen Bedingungen erhobene Daten, im schlechtesten Fall die Produktion vorgefertigter isolierter S¨atze oder Texte, verf¨alschen die von den Interaktionsteilnehmern zu bew¨altigenden Aufgaben und f¨uhren so unter Umst¨anden zu falschen Ergebnissen (vgl. Schegloff et al. 1996: 25ff.). Die Daten sollten außerdem nicht zum Zweck der Aufnahme, sondern unter nat¨urlichen Bedingungen entstanden sein. Im Rahmen der zweiten Maxime “Treat the data as an integral part of the context in which it occurs” (ebd.: 26) wird gefordert, die analysierten Ph¨anomene in ihrer kontextuellen Einbettung zu betrachten. Diese Forderung beinhaltet die Ber¨ucksichtigung des vorangehenden und nachfolgenden Kontextes sowie des gemeinsamen Vorkommens der analysierten Ph¨anomene mit anderen verbalen und non-verbalen Mitteln. Zuletzt muss die Zeitlichkeit der interaktionalen Daten bedacht werden: “Treat the data as emergent in real time of ongoing interaction” (ebd.: 28). Dies bedeutet, dass die Analyse dem zeitlichen Ablauf der Interaktion folgen muss. Die interaktionalen Daten sollten als Prozess und nicht als statisches Produkt betrachtet werden. Couper-Kuhlen & Selting (1996: 31ff.) geben weiterhin f¨unf Richtlinien an, die die Analyse des Materials leiten und Aufschluss u¨ ber die konversationellen Funktionen eines Kontextualisierungshinweises geben k¨onnen. Sie basieren vor allen Dingen auf den theoretischen Annahmen der Sequenzialit¨at, des displays und der Redundanz der Hinweise, die sich in ihrer Kookkurrenz widerspiegelt. Sie beinhalten erstens die Analyse des zur Diskussion stehenden Hinweises oder Signals zum vorangegangenen Turn bzw. zu vorangegangenen Turns (“relati-onship of the device to prior turns”). Zweitens ist die Kookkurrenz des Hinweises mit Hinweisen auf anderen sprachlichen Ebenen zu ber¨ucksichtigen (“co-occurring evidence within the turn”).32 Einen weiteren Anhaltspunkt auf die konversationellen Funktionen eines Kontextualisierungssignals gibt die Behandlung des Signals bzw. der entsprechenden ¨ Außerung im weiteren Verlauf des Gespr¨achs (“subsequent treatment of the interactional device”). Als vierte Richtlinie geben die Autorinnen die Unterscheidbarkeit der Hinweise an. Ein bestimmter Hinweis kann mit anderen Hinweisen an gleicher Position verglichen werden, um die spezielle Kontextualisierungsfunktionen des Mittels herauszuarbeiten (“discriminability of the interactional device”). Die f¨unfte und letzte Richtlinie bezieht sich auf die Analyse von abweichend oder ungew¨ohnlich strukturierten Gespr¨achsausz¨ugen, die Hinweise auf die gew¨ohnliche Funktion der involvierten Elemente geben k¨onnen (“deviant cases in the use of the device”). Ein Beispiel f¨ur die abweichende Verwendung eines Signals ist der oben beschriebene Gebrauch fallender Intonation mit h¨oflichen Nachfragen im britischen Englisch. Wie die Reaktionen der britischen Interaktionsteilnehmer verdeutlicht, bringt der unangemessene Gebrauch eine Ver¨anderung der Interpretation mit sich, die einen Hinweis auf die Bedeutung der entsprechenden Signale gibt. Die hier angef¨uhrten Richtlinien f¨ur die Analyse spontansprachlicher Daten leiten auch die eigene Analyse (siehe auch Kap. 3.3).
32
Auf die Notwendigkeit, kookkurrierende Formen auf anderen sprachlichen Ebenen zu ber¨ucksichtigen, weisen im Rahmen der intonationsphonologischen Arbeiten beispielsweise auch Pierrehumbert & Hirschberg (1990: 288) und Peters (2006a: 102) hin.
35
2.4
Die Beschreibung regionaler Variation
Die Auseinandersetzung mit der regionalen Variation der Intonation hat in den letzten f¨unf bis zehn Jahren stark zugenommen, und obwohl Esther Grabe noch im Jahr 2002 schreibt, dass dialektale und sprecherbezogene Variation in autosegmental-metrischen Studien keine große Rolle spiele, ist es doch gerade dieser theoretische Rahmen, der die Grundlage der meisten Arbeiten bildet. Alleine in den letzten Jahren sind drei Monographien zur regionalen Variation der Intonation im Deutschen erschienen, die zumindest zur formalen Beschreibung der Intonation auf die Grundlagen der autosegmental-metrischen Theorie rekurrieren. Zwei der Arbeiten (Gilles 2005, Peters 2006a) entstanden im Rahmen des DFG-Projekts “Zur Struktur und Funktion regionaler Variation der Intonation im Deutschen”, die dritte als Dissertationsschrift an der Universit¨at Potsdam (K¨ugler 2007). Weiterhin wurde im Jahr 2004 ein Sammelband zur regionalen Variation der Intonation in verschiedenen europ¨aischen Sprachen ver¨offentlicht (Gilles & Peters 2004). Zu diesen Arbeiten kommen einzelne Studien zu regionalspezifischen intonatorischen Besonderheiten im deutschsprachigen Raum hinzu (Atterer & Ladd 2004, Barker 2002, 2005, Fitzpatrick-Cole 1999). In der Einleitung zum erw¨ahnten Sammelband weisen Gilles & Peters dar¨uber hinaus darauf hin, dass sich in den “Proceedings of the International Congress of Phonetic Sciences” der Anteil an variationsintonatorischen Beitr¨agen in den Jahren 1995 bis 2003 verdoppelt habe (vgl. ebd.: 3). Insgesamt l¨asst sich demnach ein deutlicher Zuwachs an Arbeiten zum Thema der intonatorischen Variation feststellen, wenn auch – gemessen an anderen Ebenen sprachlicher Variation – die Besch¨aftigung mit intonatorischer Variation vor allem in nicht speziell phonologisch/phonetisch oder prosodisch ausgerichteten Bereichen immer noch einen sehr geringen Anteil ausmacht. Der folgende Abschnitt beschreibt die g¨angigen Kategorien intonatorischer Variation, die kontrastiven Analysen auf der Basis der autosegmental-metrischen Theorie zugrunde gelegt werden. Es wird zun¨achst die Taxonomie zur Erfassung intonatorischer Besonderheiten von Ladd (1996) vorgestellt, die in den intonationsphonologischen Ansatz eingebettet ist. Es werden dann die von Selting (2003a) im Rahmen des erw¨ahnten DFG-Projekts als wesentlich herausgestellten Ebenen intonatorischer Variation dargestellt, da das Projekt zur formalen Beschreibung der Intonation zwar ebenfalls auf autosegmental-metrische Kategorien zur¨uckgreift, theoretisch aber interaktionslinguistisch ausgerichtet ist. Zuletzt werden die Beschreibungsebenen aufgef¨uhrt, die auch der vorliegenden Arbeit als Leitlinie dienen. Sie werden von Gilles (2005) eingef¨uhrt und kombinieren ebenfalls interaktionslinguistische Zielsetzung mit autosegmental-metrischem Beschreibungsinventar. Der darauf folgende Ab¨ schnitt gibt dann einen Uberblick u¨ ber die Forschungsergebnisse zum Deutschen.
2.4.1
Ebenen der Variation
Im Folgenden wird beschrieben, welche intonatorischen Merkmale regional variieren k¨onnen. Es werden zuerst die intonationsphonologisch orientierten Beschreibungskategorien vorgestellt, dann die interaktionslinguistisch orientierten.
36 2.4.1.1 Intonationsphonologie: Ladd (1996) Die Taxonomie f¨ur kontrastive Untersuchungen der Intonation von Ladd (1996) steht im Zusammenhang mit seiner Darlegung der Intonationsphonologie. Er betont allerdings, dass es sich bei der Taxonomie um eine heuristische Aufstellung handele, der nicht notwendigerweise theoretisches Gewicht beigemessen werden m¨usse (ebd.: 120). Die ber¨ucksichtigten intonatorischen Variationsebenen werden als semantische, systemische, realisationale und phonotaktische Unterschiede angegeben. Semantische Unterschiede beziehen sich auf die Bedeutung bzw. den Gebrauch tonal identischer Konturen. Auf der systemischen Ebene werden Unterschiede im Inventar an distinktiven Konturen erfasst, w¨ahrend die realisationale Ebene die phonetische Variation phonologisch identischer Konturen umfasst. Auf der phonotaktischen Ebene schließlich werden Unterschiede behandelt, die die Ton-Text-Assoziation und m¨ogliche Kombinationen von T¨onen betreffen (vgl. ebd.: 119ff.). Als Beispiel f¨ur semantische Unterschiede dient Ladd die in allen englischen Variet¨aten gebr¨auchliche hoch steigende Frageintonation (“high-rising ‘question’ intonation”, ebd.: 121), die im nordamerikanischen, neuseel¨andischen und australischen Englisch auch mit Aussagen vorkomme, ohne dass ein tonaler oder phonetischer Unterschied zwischen den Konturen der verschiedenen Variet¨aten festzustellen sei. Eine identische Kontur wird folglich mit unterschiedlichen “Bedeutungen” eingesetzt. Systemische Unterschiede veranschaulicht Ladd anhand der nuklear steigend-fallenden Konturen in einigen nord-britischen Variet¨aten (“ ‘Urban North British’ statement intonation”, ebd.: 123). Diese existieren weder in der englischen Standardvariet¨at (RP) noch im Amerikanischen Englisch, so dass zwischen den Variet¨aten ein Unterschied im Inventar vorliegt. Ein typisches Beispiel realisationaler Unterschiede ist die Variation in der zeitlichen Ausrichtung von T¨onen in Hinblick auf die Segmentkette. So sei ¨ die nukleare Fallkontur in deklarativen Außerungen, die in den meisten europ¨aischen Sprachen existiere, zwar immer dadurch gekennzeichnet, dass auf einen lokalen Tonh¨ohengipfel (H*) auf betonter Silbe ein steiler Fall und dann ein etwas flacherer Fall bis zur Intonationsphrasengrenze hin folge, ob der Gipfel fr¨uh oder sp¨at in der betonten Silbe erscheine, und wann dementsprechend die steile Fallbewegung beginne, variiere jedoch von Variet¨at zu Variet¨at. W¨ahrend das Englische und Deutsche zu mittleren oder sp¨aten Gipfeln tendiere, sei der Gipfel im Italienischen fr¨uh in der betonten Silbe ausgerichtet, so dass der Fall bereits vor Beginn der Folgesilbe einsetze (vgl. ebd.: 128ff.). Phonotaktische Unterschiede schließlich werden anhand des Italienischen veranschaulicht, in dem entgegen der Ton-TextAssoziation eines Akzenttons auch unbetonte Silben mit einem Tonh¨ohenakzent versehen werden k¨onnen (zur Ton-Text-Assoziation siehe Kap. 2.1.2). Unter Emphasebedingungen k¨onnen a¨ ußerungsfinale Silben einen zus¨atzlichen fallenden Akzent (H*L) erhalten, wie bei¨ spielsweise in der Außerung “mi fai male” (“du tust mir weh”), in der auf den Hochakzent auf “ma” ein weiterer Hochakzent auf “le” folgen k¨onne (vgl. ebd.: 129). Die phonotaktische Besonderheit liegt also darin, dass eine unbetonte Silbe die Tr¨agersilbe eines Akzenttons sein kann. So wie die Intonationsphonologie generell eine zumindest partielle Analogie zur segmentellen Phonologie voraussetzt (vgl. Kap. 2.1), ist auch diese Taxonomie an eine Beschreibung der Variation im segmentellen Bereich der Phonologie angelehnt.33 Dies wird vor allen Din33
Ladd bezieht sich explizit auf die Beschreibung segmentell phonologischer und phonetischer Variation von Wells (1982).
37 gen bei der semantischen Variationsebene deutlich, denn die semantische Beschreibung setzt voraus, dass die Konturen sich konstant mit bestimmten Bedeutungen in Verbindung bringen lassen, also selbst bedeutungstragend sind. Auch die systemische Ebene impliziert aber eine segmental-phonologische Perspektive auf die Intonation, da die Erstellung einer systemischen Beschreibung die M¨oglichkeit voraussetzt, eindeutig funktional kontrastierende Konturen herausarbeiten zu k¨onnen. Demgegen¨uber stehen die im Folgenden darzustellenden Variationsebenen vor interaktionslinguistischem Hintergrund und fassen Intonation entsprechend als indexikalisches Zeichen ohne konstante Form-Bedeutungs-Beziehung auf.
2.4.1.2
Interaktionale Linguistik: Selting (2003a) / Gilles (2005)
Im Rahmen der Interaktionalen Linguistik, in der die Intonation als indexikalisches Zeichen und als Ressource f¨ur die konversationelle Organisation beschrieben wird, k¨onnen alle funktional relevanten intonatorischen Besonderheiten als Bestandteil einer “Phonologie der Konversation” aufgefasst werden. Diese Ansicht legt eine Vorgehensweise nahe, die die konversationellen Funktionen als Ausgangspunkt nimmt und die relevanten formalen Ressourcen zu deren Umsetzung herausarbeitet. F¨ur eine umfassende Beschreibung intonatorischer Variation empfiehlt es sich allerdings, nicht allein von den Funktionen auszugehen und deren formale Korrelate zu erfassen, denn es ist durchaus m¨oglich, dass ein intonatorischer Unterschied zwischen zwei Variet¨aten vorliegt, der jedoch keine funktionale Entsprechung hat. Dieser w¨urde in einer rein funktional orientierten Phonologie der Konversation nicht ber¨ucksichtigt, obwohl er doch wesentlich zur formalen Unterscheidung der Variet¨aten beitragen kann. Es erscheint deshalb notwendig, zwischen formaler Beschreibung der Intonation und funktionaler Interpretation zu unterscheiden. Entsprechend sieht das interaktionslinguistisch orientierte Projekt “Untersuchungen zur Struktur und Funktion regionalspezifischer Intonationsverl¨aufe im Deutschen” zur Beschreibung der regionalen Variation zun¨achst eine Erfassung der formalen intonatorischen Besonderheiten vor, die dann hinsichtlich ihrer konversationellen Funktionen untersucht werden (vgl. Auer 2001, siehe auch Kap. 3.3). Drei wesentliche Bereiche, in denen regionale Unterschiede der intonatorischen Form auftreten k¨onnen, benennt Selting (2003a): Erstens seien die Variet¨aten durch “die Herstellung regionalisierter lokaler prosodischer Strukturen” (ebd: 2) gekennzeichnet. Hierunter fallen beispielsweise die im vorigen Abschnitt angef¨uhrten Unterschiede in der Ausrichtung von T¨onen. Zweitens ließen sich Unterschiede in der “globalen Strukturierung von Intonationskonturen” (ebd.: 2) feststellen, worunter z.B. Abweichungen im Einsatz von Deklination zu verstehen sind, aber auch die generelle Bewegtheit von Konturen, die Ausdehnung des genutzten Stimmumfangs etc. Als Drittes erw¨ahnt Selting die “Verwendung regionalspezifischer salienter Konturen” (ebd.: 2) als relevantes Unterscheidungskriterium der Variet¨aten. W¨ahrend das erste Kriterium Unterschiede auf niedriger prosodischer Hierarchieebene betrifft, bezieht sich das zweite Kriterium auf die gesamte Intonationsphrase oder gr¨oßere Abschnitte. Das dritte Kriterium, hinsichtlich dessen sich einzelne Variet¨aten intonatorisch unterscheiden k¨onnen, bezieht die Verwendung bestimmter Konturverl¨aufe mit ein. Es ist zu beachten, dass die Kontur als Ganzes als Grundlage f¨ur den funktionalen Vergleich herangezogen wird. Weiterhin wird deutlich, dass die m¨oglichen formalen Variationsbereiche nicht weiter systematisch nach linguistischer Beschreibungsebene differenziert sind.
38 W¨ahrend Ladd durch die Differenzierung in realisationale und systemische Unterschiede eindeutig eine Trennung zwischen phonetischen und phonologischen Kennzeichen vornimmt, ist diese Unterscheidung bei Selting nicht vorhanden. Die Beschreibung beinhaltet alle formbezogenen Merkmale, die erst im Zusammenhang mit der funktionalen Analyse zur Phonologie zusammengef¨uhrt werden. Es muss an dieser Stelle daran erinnert werden, dass “Phonologie” im Sinne von Ladd nicht gleichbedeutend mit einer “Phonologie der Konversation” ist. W¨ahrend sich die Phonologie der Konversation im Zusammenhang mit konversationellen Funktionen ergibt, bezeichnet die “Phonologie” bei Ladd lediglich die Einbettung kategorisch distinkter Ereignisse zur prosodischen Hierarchie und ihre Umsetzung durch graduelle Merkmale (siehe Kap. 2.2). Gilles (2005) unterteilt hingegen die formale Beschreibung in zwei Ebenen. Seine Beschreibung der regionalen intonatorischen Variation umfasst insgesamt drei Ebenen: Auf formaler Seite unterscheidet er zwischen phonetischer und tonologischer Ebene, unter Hinzunahme der funktionalen Analyse kommt die phonologische Ebene hinzu (vgl. ebd.: 15). Gilles (2005) f¨uhrt demzufolge die Tonologie als neue Ebene ein. Sie fußt auf den g¨angigen Beschreibungskategorien der autosegmental-metrischen Intonationsforschung und beschreibt die Einbettung der tonalen Ereignisse in Hinblick auf die Segmentkette, wobei von der exakten Ausrichtung der T¨one abstrahiert wird. Diese zu beschreiben, ist Aufgabe der phonetischen Ebene. Die Trennung zwischen Phonetik, Tonologie und Phonologie erm¨oglicht es, bestimmte Konturen einerseits auf ihre tonale Grundlage zur¨uckzuf¨uhren, also beispielsweise einen steigend-fallenden Verlauf als Kombination aus tiefem Akzentton, hohem Begleitton und tiefem Grenzton zu analysieren (tonologische Ebene) (vgl. dazu Kap. 4.1). Andererseits k¨onnen phonetische Regionalspezifika bei der Umsetzung tonaler Kategorien beschrieben werden, wie zum Beispiel die typisch mannheimerische steile Fallbewegung bei H*+LAkzentt¨onen (vgl. ebd.: 193ff., siehe außerdem Abschnitt 2.4.2). Unter die m¨oglichen phonetischen Besonderheiten fallen auch die bei Selting unter dem Aspekt der “Globalstrukturierung” erw¨ahnte Deklination, der genutzte Stimmumfang etc. Sowohl die phonetischen als auch die tonologischen Besonderheiten k¨onnen, m¨ussen aber nicht mit bestimmten Funktionspotenzialen in Zusammenhang stehen. Es ist m¨oglich, dass eine tonologische Kontur zwei phonetische Varianten aufweist, die durch jeweils eigenst¨andige Vorkommenskontexte und somit Bedeutungspotenziale gekennzeichnet sind. Ebenso besteht aber auch die M¨oglichkeit, dass zwei Konturverl¨aufe, die sich auf tonologischer Ebene unterscheiden, hinsichtlich ihres Bedeutungspotenzials nicht voneinander abgegrenzt werden k¨onnen. Der flexible FormFunktions-Zusammenhang spiegelt sich in der deutlichen Trennung von formaler und funktionaler Beschreibung wider. Welche der auf der formalen Seite herausgestellten regionalen Merkmale relevant werden, wird folglich induktiv erschlossen. Die Unterteilung in die phonetische, tonologische und phonologische Beschreibung der Intonation, die Gilles (2005: 15) als “Drei-Ebenen-Modell des Intonationssystems” bezeichnet, liegt auch der vorliegenden ¨ Arbeit zugrunde. Sie wird anhand der folgenden tabellarischen Ubersicht aus Gilles (2005) nochmals verdeutlicht:
39 Tabelle 2.5: “Drei-Ebenen-Modell des Intonationssystems” nach Gilles (2005: 15) Intonatorische Strukturebene Phonetik Tonologie Phonologie
Aufgabe Realisation von Intonationskonturen autosegmental-metrische Strukturierung der m¨oglichen Intonationskonturen Funktion von Intonationskonturen
Es l¨asst sich zusammenfassen, dass die Beschreibung regionalspezifischer Intonation in die phonetische, tonologische und phonologische Ebene untergliedert werden kann. Es handelt sich um eine rein deskriptive Erfassung der regionalen Unterschiede in Form und Funktion der Intonation. Die Beschreibung sieht davon ab, feste Form-Funktionszuschreibungen vorzunehmen, so dass eine wirklich systemische Beschreibung der Intonation streng genommen nicht m¨oglich ist. Es ist allerdings m¨oglich, regionalspezifische Inventare an tonologischen Strukturen herauszustellen sowie regionale Besonderheiten der phonetischen Gestaltung zu erfassen. Zudem werden regionaltypische Verwendungsweisen der Intonation beschrieben. ¨ Das folgende Kapitel gibt einen Uberblick u¨ ber die Forschungsergebnisse zur intonatorischen Variation im Deutschen. Es gliedert sich in zwei Abschnitte, von denen der erste den intonationsphonologisch orientierten Arbeiten gewidmet ist, der zweite Abschnitt den interaktionslinguistisch orientierten Arbeiten. Wenn m¨oglich, richtet sich die Darstellung nach der Unterteilung in die beschriebenen Ebenen Phonetik, Tonologie und Phonologie.
2.4.2
Intonatorische Variation im Deutschen
Die meisten Untersuchungen zur intonatorischen Variation im Deutschen legen spontansprachliches Datenmaterial zugrunde, das Map-Task-Daten, Interviews und dokumentarische Fernsehformate umfasst (eine Ausnahme bilden Barker 2002, 2005, Fitzpatrick-Cole 1999); die Untersuchungen stehen sowohl in intonationsphonologischem (Barker 2005, FitzpatrickCole 1999, K¨ugler 2007, Peters 2006a) als auch in interaktionslinguistischem Zusammenhang (Auer 2001, Gilles 2001a, Selting 2000b, 2001, 2003a, b). Im Folgenden werden zuerst einige Ergebnisse umrissen, die in intonationsphonologischem Rahmen entstanden sind, dann die Ergebnisse aus interaktionslinguistischen Untersuchungen. Die Darstellung konzentriert sich auf die Untersuchungen zu bundesdeutschen Variet¨aten.
2.4.2.1
Intonationsphonologische Untersuchungen
Wie erw¨ahnt wurde, z¨ahlen die Monographien von Peters (2006a) und K¨ugler (2007) zu den intonationsphonologischen Arbeiten. Sie beinhalten Intonationsgrammatiken f¨ur verschiedene Variet¨aten des Deutschen: die Variet¨aten von Hamburg, Berlin, Duisburg, K¨oln, Mannheim und Freiburg (Peters 2006a) sowie Variet¨aten des Obers¨achsischen (Leipzig) und Schw¨abischen (Stuttgart) (K¨ugler 2007). Die Arbeiten lassen sich in Anlehnung an die Taxonomie von Ladd als schwerpunktm¨aßig systemische Untersuchungen charakterisieren. Sie
40 ber¨ucksichtigen dar¨uber hinaus realisationale Unterschiede (d.h. Unterschiede in der phonetischen Implementierung). Semantische Unterschiede sind im phonologischen System von Peters, das funktionale Kontraste einbezieht, von wesentlicher Bedeutung. Auch K¨ugler diskutiert semantische Unterschiede. Grundlage f¨ur die semantische Analyse bilden informationsstrukturelle Gesichtspunkte (siehe Kap. 2.1). Peters (2006a) legt der Analyse der regionalspezifischen Intonationsgrammatiken als Referenzpunkt eine Intonationsgrammatik des N¨ordlichen Standarddeutschen (NDS) zugrunde. In Hinblick auf dieses Referenzsystem stellt er fest, dass die Abweichungen im intonatorischen Inventar von Norden nach S¨uden zunehmen (vgl. ebd: 453ff.). Die einzige Variet¨at, die auf phonologischer Ebene deutliche Unterschiede zum System des N¨ordlichen Standarddeutschen aufweist, ist die Freiburger Variet¨at. Es ist an dieser Stelle zu bedenken, dass die Analyse von Peters Beschreibungsebenen verschiedenen Abstraktionsgrads umfasst. Die Ebene mit dem geringeren Abstraktionsgrad beinhaltet ein Inventar an relativ oberfl¨achennah beschriebenen Intonationskonturen. Hier zeigt sich besonders deutlich die angesprochene ¨ Nord-S¨ud-Aufteilung der Abweichungen: das Hamburgische zeigt v¨ollige Ubereinstimmung mit dem Konturinventar des NDS; das Berlinische weist gegen¨uber dem NDS zwei L¨ucken auf, stimmt davon abgesehen aber mit diesem u¨ berein. Das Duisburgische weist bereits drei abweichende nukleare Basiskonturen von insgesamt sieben auf, das K¨olnische f¨unf (+ ei¨ ne L¨ucke), und das Mannheimerische zeigt keinerlei Ubereinstimmung im Konturinventar. Im Freiburgischen finden sich allerdings wieder zwei formal identische Konturen zum NDS, aber auch drei L¨ucken im Inventar (vgl. ebd. 455). Wie Peters betont, sind es vor allem die “L¨ucken” im System, die einen Hinweis auf die m¨ogliche Entfernung der Systeme voneinander geben k¨onnen, denn auf n¨achsth¨oherer Abstraktionsebene, der phonologischen Ebene, spielen die funktionalen Kontraste eine Rolle, die die Konturen tragen. L¨ucken im System bringen es dabei mit sich, dass die funktionalen Kontraste im Gesamtsystem anders auf die Konturen “aufgeteilt” werden m¨ussen als im Referenzsystem. Im Variet¨atenvergleich k¨onnen oberfl¨achlich identische Konturen daher auf phonologischer Ebene einen unterschiedlichen Status aufweisen, wie es beispielsweise f¨ur einige Konturen des Berlinischen bezogen auf das NSD der Fall ist. Das Freiburgische weicht in dieser Hinsicht am st¨arksten vom NSD ab, da alle Konturen einen anderen phonologischen Status aufweisen als die nordstandarddeutschen formalen Entsprechungen (vgl. ebd.: 463ff.). Auch in einer weiteren Hinsicht weist das Freiburgische nach Peters die gr¨oßten Unterschiede zum NSD auf: Zus¨atzlich zur Basisgrammatik stellt Peters einige Elemente einer erweiterten Grammatik heraus, die als tonale Modifikationen “accentual downstep”, “sp¨ate Gipfel” und “L-Pr¨afigierung” umfassen. Charakteristisch f¨ur das Freiburgische ist in Hinblick auf das Merkmal “accentual downstep”, dass es nicht wie im NSD nur den nuklearen Akzent betrifft, sondern sich auch auf den bitonalen Phrasenakzent, also auf ein postnukleares Element, bezieht, der im Freiburgischen ohnehin einzigartig ist. Wie Peters formuliert, “stellt sich das Freiburgische [...] als ein System dar, das im Unterschied zu den n¨ordlichen Variet¨aten die generelle Tendenz aufweist, tonale Kontraste im Bereich finaler Grenzt¨one (in der Position des Phrasenakzents) statt im Bereich des nuklearen Tonh¨ohenakzents zu realisieren.” (ebd.: 474). Im Rahmen der Taxonomie von Ladd d¨urfte es sich hierbei um einen phonotaktischen Unterschied handeln. Zusammenfassend l¨asst sich sagen, dass auf weniger abstrakter formaler Ebene einige Unterschiede im Konturinventar der verschiedenen Variet¨aten bestehen, wobei eine Steigerung von Nord nach S¨ud festzustellen ist, dass auf abstrakter phonologischer Ebene aber nur f¨ur das Freiburgische ein abweichendes System konstatiert wird.
41 Die von K¨ugler (2007) untersuchten Variet¨aten des Schw¨abischen (Stuttgart) und Obers¨achsischen (Leipzig) weisen unterschiedliche Intonationsgrammatiken auf, d.h. sie sind durch ein jeweils spezifisches Inventar an nuklearen Basiskonturen gekennzeichnet (vgl. ebd.: 173ff.). Dar¨uber hinaus a¨ ußern sich intonatorische Unterschiede zwischen den beiden Variet¨aten in einer je eigenen Umsetzung der tonalen Modifikation “L-Affigierung”, die in diesem Kapitel im Zusammenhang mit der Bedeutung von Intonation bereits zur Sprache gekommen ist (vgl. Kap. 2.2). W¨ahrend das Obers¨achsische den zus¨atzlichen L-Ton als Pr¨afix an die entsprechende nukleare Kontur hinzuf¨ugt (“L-Prefixation”, vgl. K¨ugler 2007: 174ff.), tritt die tonale Modifikation im Schw¨abischen als Suffix an die nukleare Kontur hinzu (“L-Suffixation”, vgl. ebd.: 174ff.). Die vermittelte Bedeutungskomponente ist jedoch die Gleiche, unabh¨angig von der tonalen Implementierung als Suffix oder Pr¨afix. Besonders bemerkenswert ist weiterhin, dass das Schw¨abische im Gegensatz zum S¨achsischen (und – mit Ausnahme des Freiburgischen – auch im Gegensatz zu den u¨ brigen Variet¨aten des Deutschen) nur steigende nukleare Akzente aufweist. Grunds¨atzlich kann festgehalten werden, dass sich die intonatorischen Systeme beider Variet¨aten aus je drei nuklearen Basiskonturen zuz¨uglich der tonalen Modifikation “L-Affigierung” zusammensetzen, wobei die Systeme eine formale und funktionale ¨ Uberschneidung aufweisen, die die Basiskontur mit steigendem nuklearen Akzent betrifft. Die u¨ brigen beiden Basiskonturen variieren hinsichtlich der nuklearen Akzentsilbe, die im Schw¨abischen steigend, im Obers¨achsischen jedoch fallend ist. Die drei Basiskonturen und die L-Affigierung veranschaulicht die folgende Tabelle nach K¨ugler (2007: 169). Sie gibt ¨ einen Uberblick u¨ ber die Konturen und ihre zugewiesenen Bedeutungen (vgl. dazu auch Kap. 34 2.1). Tabelle 2.6: Bedeutung der nuklearen Basiskonturen (+ Modifikation) im Schw¨abischen und Obers¨achsischen (nach K¨ugler 2007: 169) Meaning A DDITION S ELECTION R ELEVANCE T ESTING S IGNIFICANT
SwabG L*H L% L*HL H% L*H H% +L
SaxG H*L H*L H% L*H H% L+
Die beiden vorgestellten intonationsphonologischen Arbeiten zeigen, dass die untersuchten Variet¨aten des Deutschen sowohl in ihren oberfl¨achlichennahen formalen Konturinventaren als auch in ihren abstrakten phonologischen Systemen voneinander abweichen k¨onnen, wobei nach Peters (2006a) ein Zunahme der Abweichungen vom n¨ordlichen Standarddeutschen in Nord-S¨ud-Richtung festzustellen ist. Das folgende Unterkapitel widmet sich nun den Arbeiten, die vornehmlich im Rahmen der Interaktionslinguistik entstanden sind. Es beinhaltet unter anderem eine Zusammenfassung der phonetischen Variation in der regionalspezifischen Intonation.
34
Die Tabelle u¨ bernimmt nicht die bei K¨ugler (2007: 169) ebenfalls angegeben Konturen des Britischen nach Gussenhoven (2004).
42 2.4.2.2
Interaktionslinguistische Untersuchungen
Zu den interaktionslinguistischen Untersuchungen z¨ahlt die Monographie zur regionalen Variation der Intonation von Gilles (2005) sowie zahlreiche Einzelver¨offentlichungen aus dem Projekt zur Dialektintonation. Die untersuchten Variet¨aten von Hamburg, Berlin, Dresden, Duisburg, K¨oln, Mannheim, Freiburg und M¨unchen unterscheiden sich hinsichtlich phonetischer, tonologischer und funktionaler Merkmale. Auf phonetischer Ebene spielen die Ausrichtung und Skalierung von Akzentt¨onen, die Anstiegs- und Fallgeschwindigkeiten der Tonh¨ohe, das Vorkommen von Trunkierung oder Kompression, der genutzte Tonh¨ohenumfang sowie das Vorkommen von Deklination eine wesentliche Rolle f¨ur die Regionalspezifik der Intonation. Auf tonologischer Ebene zeigt sich, wie auch oben beschrieben wurde, dass die Variet¨aten zum einen unterschiedliche Inventare aufweisen k¨onnen und dass zum anderen tonologisch a¨ hnliche Konturen unterschiedliche Funktionen u¨ bernehmen k¨onnen. Es zeigt sich außerdem, dass oberfl¨achlich a¨ hnliche Verl¨aufe wie beispielsweise die nuklear steigend-fallende Bewegung, die den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit bildet, auf unterschiedliche tonale Kombinationen zur¨uckgef¨uhrt werden k¨onnen (siehe dazu ausf¨uhrlich Kap. 4.1). Dar¨uber hinaus zeichnen sich die Variet¨aten durch typische holistische Konturen aus, die in jeweils spezifischen Verwendungskontexten zum Einsatz kommen. Es sollen nun die wesentlichen phonetischen Besonderheiten aufgef¨uhrt werden, hinsichtlich derer die Variet¨aten variieren. Eine umfassende Analyse der phonetischen Spezifika der oben aufgef¨uhrten Variet¨aten legt Gilles (2005) vor. An dieser Stelle werden lediglich einige Merkmale vorgestellt; f¨ur Details sei der Leser auf die Arbeit von Gilles verwiesen.
2.4.2.2.1 Phonetische Regionalspezifika: Horizontale und vertikale Ausrichtung von Akzent- und Grenzt¨onen Dass die Ausrichtung von Tonh¨ohengipfeln und -t¨alern mit Bezug zur Segmentkette regional variiert, wird auch von Kohler (1991), Ladd (1996) und Gibbon (1998) festgestellt (s.o.). Die Ausrichtung von Tonh¨ohengipfeln und -t¨alern unterliegt nicht nur phonotaktischen Bedingungen, variiert also nicht nur mit der zugrundeliegenden Silbenstruktur (z.B sonorante vs. nichtsonorante Silbencoda; s.u. zu Trunkierung und Kompression), sondern ist auch grunds¨atzlich regional unterschiedlich reguliert. Ein Beispiel hierf¨ur bilden die Variet¨aten des Hamburgischen und Berlinischen, die sich sowohl hinsichtlich der vertikalen Skalierung der Tonh¨ohengipfel als auch hinsichtlich der horizontalen Ausrichtung an der Segmentkette unterscheiden. Gilles 2001a unterscheidet f¨ur die vertikale Skalierung vier unterschiedliche H¨ohen von nuklearen H*+L-T¨onen: normale, hohe, sehr hohe und heruntergestufte (downstep) Gipfel. Diese unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer quantitativen Vorkommensh¨aufigkeit in den beiden Variet¨aten, sondern auch hinsichtlich ihrer funktionalen Nutzung. Tendenziell l¨asst sich feststellen, dass im Hamburgischen die hohen Gipfel den gr¨oßten Anteil ausmachen, im Berlinischen jedoch die normal-hohen Gipfel. Weiterhin treten im Berlinischen zu etwa einem Drittel Downstep-Gipfel auf, w¨ahrend diese im Hamburgischen recht selten sind. Insgesamt machen die sehr hohen und hohen Gipfel im Hamburgischen beinahe 60% aller H*-Gipfel aus, w¨ahrend sie im Berlinischen nur zu etwa 15% vorkommen (vgl.
43 ebd.: 178). F¨ur die funktionale Nutzung stellt Gilles fest, dass der konversationelle Abschluss im Hamburgischen h¨aufiger durch hohe Gipfel kontextualisiert wird, im Berlinischen hingegen durch normal-hohe und auch Downstep-Konturen. Auch hinsichtlich der horizontalen Ausrichtung des Gipfels weisen die beiden Variet¨aten deutliche Unterschiede auf. Die Gipfelposition wird in fr¨uhe, mittlere und sp¨ate Gipfel unterteilt, wobei die phonetische Analyse herausstellt, dass das Hamburgische eine deutliche Tendenz zu fr¨uhen Gipfeln aufweist (mit ca. 60%), das Berlinische hingegen eine deutliche Tendenz zu sp¨aten Gipfeln (ebenfalls mit ca. 60%) (vgl. ebd.: 191ff.). Die Gipfelposition im Hamburgischen wird auch von Peters (2002a) thematisiert, wo sie in Zusammenhang mit der Signalisierung von engem vs. weitem Fokus gebracht wird. F¨ur die u¨ brigen Variet¨aten des Deutschen l¨asst sich nach Gilles (2005) erg¨anzen, dass die vertikale Skalierung des H-Tons bei Fallkonturen eine Ost-West-Aufteilung aufweist: W¨ahrend die o¨ stlichen Variet¨aten (Berlin, Dresden, M¨unchen) relativ tiefe Gipfel aufweisen, sind die westlichen Variet¨aten (Duisburg, K¨oln, Mannheim) durch relativ hohe Gipfel gekennzeichnet (vgl. ebd.: 170ff.).35 Bez¨uglich der horizontalen Ausrichtung der Akzentt¨one lassen sich ebenfalls die genannten o¨ stlichen Variet¨aten zu einer Gruppe zusammenfassen: der Tonh¨ohengipfel ist hier in der Mitte der Nukleussilbe platziert; fr¨uhe Gipfel weisen das Hamburgische und Mannheimerische auf, das K¨olnische und Duisburgische nehmen in dieser Hinsicht eine Zwischenposition ein (vgl. ebd.: 183ff.). Die Tiefakzente bei Anstiegskonturen lassen sich hinsichtlich der horizontalen Ausrichtung in zwei Gruppen untergliedern: die erste Gruppe mit fr¨uher Lokalisierung der minimalen Tonh¨ohe umfasst die Variet¨aten von Berlin, Dresden und M¨unchen; die zweite Gruppe mit mittlerer Lokalisierung der minimalen Tonh¨ohe findet sich in Mannheim und K¨oln. (Bei den u¨ brigen Variet¨aten ist die Variabilit¨at der Ergebnisse zu groß f¨ur eine eindeutige Einordnung) (vgl. ebd.: 273ff.). Von besonderer Bedeutung ist, dass die fr¨uhe gegen¨uber der mittleren Lokalisierung des Tonh¨ohenminimums zur unterschiedlichen Wahrnehmung der Aktentt¨one f¨uhrt. Das fr¨uh positionierte Tonh¨ohenminimum mit folgendem schnellen Anstieg f¨uhrt zur Wahrnehumg einer hohen Nukleussilbe, das sp¨ater positionierte Tonh¨ohenminimum mit dar¨uber hinaus eher flach realisierter Nukleussilbe (vor allem im K¨olnischen und Mannheimerischen) f¨uhrt zur Wahrnehmung eines tiefen Akzenttons (vgl. ebd.: 282ff.). Die vertikale Skalierung von finalen Grenzt¨onen a¨ ußert sich in der Falltiefe bzw. der Anstiegsh¨ohe von final fallenden und steigenden Konturen. Nach Gilles lassen sich f¨ur den Parameter der finalen Tiefe bei Fallkonturen ausgepr¨agte regionale Unterschiede feststellen. Hervorzuheben ist hier das Dresdnerische, das im Gegensatz zu den u¨ brigen Variet¨aten h¨aufig finale Fallbewegungen aufweist, “bei denen die finale L¨osungstiefe nicht erreicht wird.” (Gilles 2005: 174). Das K¨olnische und Mannheimerische weisen u¨ berwiegend Falltiefen auf, die im Bereich der minimalen Referenzwerte der Sprecher liegen; die u¨ brigen Variet¨aten liegen zum Großteil unterhalb dieses Referenzwerts (vgl. ebd.: 173ff.). Finale Hocht¨one sind demgegen¨uber nicht so variabel und liegen bei fast allen Variet¨aten h¨aufig im Bereich des hohen Referenzwerts (vgl. ebd.: 267ff.).
35
Die Gipfelh¨ohe der Fallkontur wurde in Relation zu einem sprecherbezogenen Referenzwert bestimmt, der die durchschnittlich realisierte Gipfelh¨ohe des Sprechers/der Sprecherin erfasst (vgl. Gilles 2005: 171).
44 Auch Auer (2000a) thematisiert die vertikale Skalierung von T¨onen, wobei diese im Verbund einer holistischen Kontur diskutiert wird. Es handelt sich um Konturen mit extra-hohem Phrasenansatz, d.h. initiale Grenzt¨one, die typisch f¨ur das Hamburgische sind. Der hohe Ansatz kann zum einen zwischen extra-hohem Niveau und hohem Niveau variieren, zum anderen kann er mit unterschiedlichen Folgekonturen kombiniert werden.
2.4.2.2.2 Phonetische Regionalspezifika: Anstiegs- und Fallgeschwindigkeit der Tonh¨ohe Auch bei den Anstiegs- und Fallgeschwindigkeiten der Tonh¨ohe lassen sich regionale Differenzen zwischen den Variet¨aten feststellen. Oben ist bereits angeklungen, dass bei Anstiegskonturen mit Tiefakzent unterschiedliche Anstiegsgeschwindigkeiten auftreten, die im Extremfall zur Wahrnehmung unterschiedlicher Akzentt¨one f¨uhren (s.o.). Bei diesen Anstiegen wird die Geschwindigkeit und der Umfang der Anstiegsbewegung in Relation zu dem Gesamtanstieg im Nukleus angegeben. Es zeigt sich hier, dass beispielsweise im Berlinischen ein Großteil (71%) des nuklearen Anstiegs bereits in der Akzentsilbe geleistet wird, w¨ahrend im Mannheimerischen mit 17% der gesamten Anstiegsbewegung nur ein geringer Teil in der Akzentsilbe stattfindet. Auch das K¨olnische weist einen geringen Anstieg in der Akzentsilbe auf (29%); die u¨ brigen Variet¨aten bewegen sich mit 39% bis 57% zwischen dem berlinischen und mannheimerischen Extrem (vgl. Gilles 2005: 277ff.). Bei den Fallkonturen mit hoher Akzentsilbe zeigt ganz im Gegenteil das Mannheimerische einen H¨ochstwert in Bezug auf die Fallgeschwindigkeit; die geringste Fallgeschwindigkeit weist das Dresdnerische auf. Gemeinsam mit dem Berlinischen und M¨unchnerischen ist das Dresdnerische in der Nukleussilbe durch einen Abfall von etwa 20% des gesamten nuklearen Abfalls gekennzeichnet, das Mannheimische hingegen durch einen Abfall von gut 75%. Das Hamburgische, K¨olnische und Duisburgische bewegen sich zwischen gut 50% und ca. 27% (vgl. ebd.: 207ff.).
2.4.2.2.3 Phonetische Regionalspezifika: Trunkierung vs. Kompression Grabe (1998a) stellt f¨ur das Deutsche gegen¨uber dem Englischen abweichende Pr¨aferenzen hinsichtlich des Einsatzes von Trunkierung und Kompression fest. W¨ahrend Trunkierung bei zu wenig segmentellem Material zu einem “Abschneiden” der Tonh¨ohenbewegung f¨uhrt, bedeutet Kompression, dass die Tonh¨ohenbewegung bei geringem sonoranten Material beschleunigt und dadurch gestaucht wird. Die von Grabe untersuchte standardnahe Variet¨at des Braunschweigischen weist gegen¨uber dem Englischen eine Tendenz zur Trunkierung auf, wenn das sonorante Material reduziert wird. Dies gilt f¨ur nukleare H*+L Konturen, also final fallende Konturen (vgl. ebd.: 76ff.). Final steigende Konturen zeigen im n¨ordlichen Standarddeutschen hingegen eine Tendenz zur Kompression (vgl. Grabe 1998b: 136ff., 141). Auch die u¨ brigen deutschen Variet¨aten verhalten sich unterschiedlich hinsichtlich dieses Merkmals. W¨ahrend das Berlinische bei Fallkonturen zur Trunkierung tendiert, zeigt sich beim Hamburgischen tendenziell Kompression (vgl. Gilles 2001a: 194ff.). F¨ur die u¨ brigen Variet¨aten gilt bei Fallkonturen, dass neben dem Berlinischen auch das Duisburgische, Mannheimerische, M¨unchnerische und Dresdnerische trunkieren, das K¨olnische dagegen wie das Hamburgische
45 komprimiert (vgl. ebd.: 215ff.). Bei Anstiegskonturen zeigen alle untersuchten Variet¨aten (inkl. des Standarddeutschen, s.o.) Kompression (vgl. ebd.: 284ff.).
2.4.2.2.4
Phonetische Regionalspezifika: Tonh¨ohenumfang
Der Parameter des Tonh¨ohenumfangs steht im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von intonatorisch bewegteren gegen¨uber monotoneren Variet¨aten. Wie Selting herausstellt, wird beispielsweise das Dresdnerische h¨aufig als monotone Variet¨at charakterisiert (vgl. Selting 2003b: 142ff.). Grunds¨atzlich l¨asst sich f¨ur dieses Merkmal allerdings eine große Sprechervariation konstatieren, so dass Gilles (2005) von geringer Aussagekraft f¨ur die Regionalspezifik spricht (vgl. ebd.: 86ff.). Auf der Basis der durchschnittlich genutzten globalen Tonh¨ohenumf¨ange kann der Variet¨at des Duisburgischen mit einem Umfang von 9,43 Halbt¨onen eine Spitzenposition zugewiesen werden. Den geringsten Umfang weist mit durchschnittlich 6,97 Halbt¨onen das Freiburgische auf. Die phonetischen Analysen von Gilles geben weiterhin Aufschluss u¨ ber die relativen Umf¨ange der Fall- und Anstiegskonturen gemessen an den von den Sprechern global genutzten Tonh¨ohenumf¨angen. Bei den Fallkonturen weist das Dresdnerische den relativ geringsten Tonh¨ohenumfang im nuklearen Abschnitt auf, das Duisburgische und K¨olnische den gr¨oßten (vgl. ebd.: 164ff.). Die Anstiegskonturen sind in allen Variet¨aten durch einen gemessen am Referenzwert geringeren Tonh¨ohenumfang gekennzeichnet; den relativ geringsten Umfang verzeichnet das Duisburgische, der relativ ausgedehnteste Umfang gilt f¨ur das Berlinische (vgl. ebd.: 266ff.).
2.4.2.2.5
Phonetische Regionalspezifika: Deklination
Gilles (2001a) bespricht die Deklination im Zusammenhang mit der vertikalen Skalierung der Tonh¨ohengipfel im Hamburgischen und Berlinischen, da Deklination – d.h. der globale Abw¨artstrend der Tonh¨ohe in einer Intonationsphrase – indirekt u¨ ber die abnehmende Tonh¨ohe der Gipfelakzente in der Phrase mitbestimmt werden kann. Zus¨atzlich wirkt sich der physiologische Faktor des Atemdrucks auf das Vorkommen von Deklination aus (vgl. ebd.: 169ff.). Ob bzw. wie der Deklinationstrend regional variiert, ist bislang noch nicht g¨anzlich gekl¨art. Zwar weist beispielsweise das Hamburgische durch seine hohen und sehr hohen Gipfel (s.o.) bei nuklearen H*+L-Akzenten im Gegensatz zum Berlinischen eine deutliche Gegentendenz zum Deklinationstrend auf, in anderen tonalen Kontexten jedoch widersetzt sich das Berlinische diesem Trend, w¨ahrend das Hamburgische ihm nachkommt. Es handelt sich dabei um nukleare L*+H-Kontexte mit finalem Plateau, bei denen das Plateau im Hamburgischen im Gegensatz zum Berlinischen phrasenfinal leicht abgesenkt wird (vgl. ebd.: 196, Selting 2001). ¨ Der Abschnitt hat einen knappen Uberblick u¨ ber die neuesten Forschungsergebnisse zur regionalen Variation der Intonation im Deutschen gegeben. Es sind intonationsphonologische und interaktionslinguistische Arbeiten vorgestellt worden. Weiterhin wurden m¨ogliche Beschreibungsebenen von intonatorischer Variation eingef¨uhrt. Die vorliegende Arbeit ist –
46 wie mehrfach erw¨ahnt wurde – interaktionslinguistisch orientiert und baut auf den Beschreibungsebenen der Phonetik, Tonologie und Phonologie (d.h. Zusammenhang der Konturen mit konversationellen Funktionen) auf. Material und Methoden der Arbeit werden im folgenden Kapitel vorgestellt.
3
Material und Methoden
In diesem Kapitel werden Material und Methoden der vorliegenden Arbeit beschrieben. Es werden zuerst die segmentellen und suprasegmentalen Merkmale des K¨olnischen vorgestellt (Kap. 3.1). Kapitel 3.2 beschreibt das untersuchte Korpus sowie die Datenerhebung, und in Kapitel 3.3 werden die Methoden der formalen und funktionalen Analyse dargelegt.
3.1
Dialektmerkmale des K¨olnischen
Im Folgenden wird das K¨olnische hinsichtlich seiner segmentellen und suprasegmentalen Merkmale vorgestellt. Das in der vorliegenden Arbeit untersuchte “K¨olnische” bezieht sich auf die in der Stadt K¨oln und in deren Umfeld gesprochene Regionalvariet¨at, die in sich heterogen ist und nur selten basilektale Merkmale umfasst. Entsprechend stellen Lausberg (1993) und Bhatt & Lindlar (1998) stabile und labile segmentelle Variablen f¨ur die k¨olnische Regionalvariet¨at heraus, die im ersten Abschnitt dieses Kapitels aufgef¨uhrt werden.1 Hinsichtlich seiner dialektgeographischen Einordnung geh¨ort das K¨olnische zu den ripuarischen Dialekten, die als Teil der mittelfr¨ankischen Dialekte in den westmitteldeutschen Dialektraum eingebettet sind. Entsprechend handelt es sich beim K¨olnischen in Bezug auf die Durchf¨uhrung der 2. Lautverschiebung um ein Mischgebiet mit teilweise unverschobenen Tenues, wie weiter unten deutlich wird (vgl. Newton 1990). Weiterhin ist von besonderer Bedeutung, dass das K¨olnische mit anderen mittelfr¨ankischen Variet¨aten das Vorkommen von Tonakzenten teilt. Einzigartig im deutschen Sprachraum weisen diese Variet¨aten somit lexikalische Distinktionen auf, die durch tonale Eigenschaften transportiert werden. Den Tonakzenten im K¨olnischen, die unter den Bezeichnungen “Rheinische Sch¨arfung” oder “Rheinische Akzentuierung” seit langem viel Beachtung erfahren (vgl. u.a. Frings 1916, Heike 1964, 1988, Jongen 1972, Schmidt 1986, 2002, Gussenhoven & Peters 2004, Peters 2006b), widmet sich der u¨ bern¨achste Abschnitt zu den suprasegmentalen Merkmalen des K¨olnischen. Dar¨uber hinaus werden in diesem Abschnitt die nicht lexikalisch distinktiven intonatorischen Merkmale des K¨olnischen vorgestellt, soweit bereits Erkenntnisse hierzu vorliegen.
3.1.1
Segmentelle Merkmale
Die Grundlage der folgenden Darstellung bildet die Zusammenstellung von Dialektvariablen des K¨olnischen aus Bhatt & Lindlar (1998), die sich in erster Linie auf die von Lausberg (1993) und Kreymann (1994) erhobenen Daten beziehen. Erg¨anzend werden die Aufstellun¨ gen aus Gilles (2005) und Peters (2006a) ber¨ucksichtigt. Der folgende Uberblick unterteilt sich in vokalische und konsonantische Variablen sowie Tilgungserscheinungen; es werden 1
Vgl. zur sprecherinternen Variabilit¨at vor allem Macha (1991), Lausberg (1993) und Kreymann (1994). Eine detaillierte Analyse der Phonologie des K¨olner Stadtdialekts gibt Heike (1964). F¨ur ¨ einen Uberblick u¨ ber die neuere Entwicklung des Rheinischen siehe Macha (2000).
48 anschließend die von Bhatt & Lindlar (1998) ermittelten stabilen und labilen Variablen angegeben. Vokale Zu den Besonderheiten der K¨olner Regionalvariet¨at im Bereich der Vokale z¨ahlen: - ausbleibende neuhochdeutsche Diphthongierung von /i:, y:, u:/; ([i:s], [y:l], [hu:s] f¨ur nhd. ‘Eis’, ‘Eule’, ‘Haus’) - teilweise Dehnung von mhd. /a/ zu [a:]; ([ma:x@] ‘machen’) - teilweise Bewahrung von mhd. /ei, ou/; ([mEIst5] ‘Meister’, [boum] ‘Baum’) - teilweise mhd. /a:, o:/ zu [o:, u:]; ([Stro:s] ‘Straße’, [bru:t] ‘Brot’) - teilweise mhd. Diphthonge /ie, uo, yœ/ als Monophthonge [e:, o:, œ:]; ([bre:f] ‘Brief’, [jo:t] ‘gut’, [mœ:t] ‘m¨ude’) - teilweise mhd. /e, ae/ als [i:]; ([mi:] ‘mehr’, [ki:s] ‘K¨ase’) - teilweise mhd. /¨ou/ als [œy]; ([hœy] ‘Heu’) Konsonanten Als konsonantische Besonderheiten der K¨olner Regionalvariet¨at gelten folgende Merkmale: - unvollst¨andig durchgef¨uhrte 2. Lautverschiebung bei postvokalischem /p/ sowie lexemgebunden bei postvokalischem /t/; ([kOp] ‘Kopf’, [Op] ‘auf’; [vat] ‘was’, [dat] ‘das’, [@t] ‘es’) - Frikativierung von /b/ zu [v, f]; ([Ev5] ‘aber’, [jra:f] ‘Grab’) - Frikativierung von /g/ zu [j, ö, x, S]; ([j@jaN@] ‘gegangen’, [fu:ö@l] ‘Vogel’, [da:x] ‘Tag’, [ve:S] ‘Weg’) - Koronalisierung von /c¸/ zu [C, S]; ([IC] ‘ich’, [pES] ‘Pech’) - Velarisierung von /n/ zu [N] im Silbenauslaut; ([hUNk] ‘Hund’, [mIN] ‘mein’) - Velarisierung von /t/ zu [k] im Silbenauslaut; ([tsIk] ‘Zeit’, [lYk] ‘Leute’) - Velarisierung von postvokalischem /l/ zu [ì]; ([jEìt] ‘Geld’) Tilgungserscheinungen Typische Tilgungserscheinungen der K¨olner Regionalvariet¨at sind: - @-Tilgung bei Substantiven sowie bei schwachen Verben in der 1. und 3. Pers. Sg. Pr¨at. ([jo:5] ‘Jahre’) - n-Tilgung bei Endungen auf -en ([Es@] ‘Essen’) - t-Tilgung im Auslaut ([frOs] ‘Frost’) sowie lexemgebunden bei ‘sind’, ‘und’, ‘jetzt’ und ‘ist’. Zu den stabilen Dialektmerkmalen, die auch von standardnahen Sprechern realisiert werden, z¨ahlen nach Bhatt & Lindlar (1998) die ch-Koronalisierung, die g-Frikativierung, die lexemgebundenen unverschobenen /t/ sowie die lexemgebundene t-Tilgung. Labil sind hingegen die n-Tilgung, die @-Tilgung, die b-Frikativierung sowie die Hebung von /a:/ zu [o:] (vgl. ebd.: 34ff.). Es ist allerdings zu beachten, dass etliche der hier aufgef¨uhrten Merkmale von Bhatt & Lindlar nicht ber¨ucksichtigt werden; dies betrifft insbesondere die vokalischen Merkmale, die in erster Linie von Gilles (2005) und Peters (2006a) u¨ bernommen wurden.
49 3.1.2
Suprasegmentale Merkmale
Wie oben bereits erw¨ahnt wurde, z¨ahlt das K¨olnische zu den mittelfr¨ankischen Dialekten, die durch das Vorkommen von Tonakzenten gekennzeichnet sind. Tonakzente sind nach Schmidt (2002: 204) “distinktive Prosodeme, die auf einzelsprachspezifische Silbenstrukturen und fest vor “-positionen” beschr¨ankt sind. Sie distinguieren lexikalische Einheiten und Grammeme.” Im K¨olnischen handelt es sich bei den distinktiven Prosodemen um zwei Tonakzente (im Folgenden auch TA1 und TA2), die sich durch unterschiedliche akustisch-phonetische Merkmale auszeichnen. Der Tonakzent 1 (die “Sch¨arfung”) wird als steiler Abfall oder Anstieg in der Tonh¨ohe bei gleichzeitigem schnellen Abfall der Intensit¨at und kurzer Dauer beschrieben, der Tonakzent 2 hingegen ist durch gleichbleibende Tonh¨ohe, andauernde Intensit¨at und Dehnung gekennzeichnet (vgl. Heike 1964, Gussenhoven & Peters 2004: 252ff.). Strukturelle Voraussetzung f¨ur das Vorkommen der Tonakzente ist, dass der Reim der Tr¨agersilbe minimal zweimorig ist; er kann sich aus einem Langvokal, einem Diphthong oder einem Kurzvokal mit folgendem Sonoranten zusammensetzen. Dar¨uber hinaus muss die Silbe Wortakzentstatus besitzen. Die Entscheidung, ob ein Wort Tonakzent 1 oder Tonakzent 2 tr¨agt, h¨angt zum einen davon ab, welcher Klasse das entsprechende Wort historisch zugeh¨orig ist, zum anderen davon, ob die folgende Silbengrenze stimmhaft oder stimmlos war (vgl. Gilles 2005: 72ff.). Die distinktive Funktion der Tonakzente umfasst die Unterscheidung von Lexemen und die Numerus- und Kasusunterscheidung innerhalb eines Lexems, wie die folgenden Beispiele aus Gilles (2005: 73) verdeutlichen, ist aber prinzipiell nicht stark belastet: Tabelle 3.1: Distinktionen der Tonakzente im K¨olnischen (nach Gilles 2005: 73) TA1
TA2
Funktion
[bE:n1 ]
[bE:n2 ]
Numerus Kasus lexikalisch
‘Beine’ [hu:1 s] ‘Haus’ (Dat.) [møl1 ] ‘M¨uhle’
‘Bein’ [hu:2 s] ‘Haus’ (Nom.) [møl2 ] ‘M¨ull’
Trotz ihrer geringen funktionalen Belastung gelten die Tonakzente als stabiles Dialektmerkmal des k¨olnischen Stadtdialekts (vgl. Peters 2006a: 242). Es lassen sich sowohl in interrogativen als auch in deklarativen Einzel¨außerungen phonetische Auswirkungen der Tonakzente ¨ auf die Außerungsintonation feststellen (vgl. Gussenhoven & Peters 2004, Gilles 2005, Peters 2006a, b). Sie k¨onnen einerseits die Anstiegs- bzw. Fallgeschwindigkeit der Tonh¨ohe in der tonakzenttragenden Silbe und deren Folgesilbe(n) betreffen, andererseits die realisierte Tonh¨ohe in der tonakzenttragenden Silbe (siehe hierzu auch Kap 4.2). Grunds¨atzlich weisen ¨ die Außerung mit Tonakzent 1-W¨ortern als Nukleussilbe steilere Anstiegs- und Fallbewegun¨ gen auf, wobei die Anstiegsbewegungen mit interrogativen Außerungen (mit L*) erscheinen, ¨ die Fallbewegungen jedoch mit deklarativen Außerungen (mit H*). Dies veranschaulichen die folgenden Abbildungen aus Gilles (2005: 74). Die ersten beiden, oberen Abbildungen verdeutlichen die Tonh¨ohenbewegungen bei Deklarativs¨atzen. Die segmentell identischen akzentuierten Silben møl unterscheiden sich hinsichtlich der auf ihnen realisierten Fallbewegung, die bei TA1 steil ausgepr¨agt ist, bei TA2 jedoch flach. Bei den Interrogativs¨atzen zeigt sich analog dazu eine steile Anstiegsbewegung beim TA1-Wort und ein flach bleibender Tonh¨ohenverlauf beim TA2-Wort. Die Abbildungen machen deutlich, dass die Tonakzente zwar phonetische Auswirkungen auf die
50
¨ Abbildung 3.1: Einfluss von Tonakzent 1 und Tonakzent 2 auf deklarative und interrogative Außerungen
¨ Außerungsintonation haben, sich jedoch grunds¨atzlich an den Globalverlauf anpassen. D.h. die Wahl des Akzenttons als H* f¨ur Deklarative und L* f¨ur Interrogative wird ungeachtet der Tonakzente geleistet. Diese Regularit¨at best¨atigen auch die Resultate von Gussenhoven & Pe¨ ters (2004) und Peters (2006a, b), die auf isolierten Außerungen basisdialektaler Sprecher des Stadtk¨olnischen Dialekts beruhen. Die Untersuchungen ber¨ucksichtigen neben einfach steigenden (“continuative”) und einfach fallenden (“declarative”) Intonationskonturen auch die Auswirkungen der Tonakzente auf steigend-fallende (“interrogative”) Konturen.2 Den Effekt der Dehnung bzw. des sp¨ateren oder weniger steilen Anstiegs bzw. Abfalls bei TA2-W¨ortern f¨uhren sie phonologisch auf einen zus¨atzlichen, tonal unspezifizierten Ton (T) zur¨uck, der bei ¨ TA2-W¨ortern zur Außerungsintonation hinzutritt, bei TA1-W¨ortern jedoch nicht. Die zuerst von Heike (1964) zusammenh¨angend beschriebenen Intensit¨ats- und Dauereffekte der Tonakzente gelten dabei als unterst¨utzende Merkmale der tonalen Gestaltung, besitzen aber keinen phonologischen Status (vgl. Peters 2006a: 261ff.). ¨ Uber die akustisch-phonetischen Auswirkungen des Tonakzents und dessen phonologische Interpretation hinaus diskutiert Peters (2006a, b) auch die Neutralisierung des Tonakzentkontrasts (vgl. Peters 2006a: 265ff.). Er beschreibt f¨unf m¨ogliche Ursachen f¨ur eine Neutralisierung: die Silbenstruktur, die (Satz-)intonation, die zugrundeliegenden Lexeme, die Mor2
F¨ur die final steigend-fallenden Konturen ergibt sich eine Besonderheit, da der finale Abfall in Anlehnung an K¨unzel & Schmidt (2001) als mittelbarer Effekt von Tonakzent 1 aufgefasst wird (bezeichnet als “Epiton”). Hier liegt dementsprechend keine bloße Manipulation des bestehenden Globalverlaufs vor, sondern dem Verlauf wird eine zus¨atzliche Bewegung hinzugef¨ugt (vgl. Peters 2006a). Siehe dazu ausf¨uhrlich Kap. 4.1.
51 phologie und die Phonologie. Die silbenstrukturell bedingte Neutralisierung tritt bei Silben ein, die nur eine sonorante More aufweisen; hier wird kein Tonakzentkontrast realisiert (s.o.). Unter intonatorisch bedingter Neutralisierung ist zu verstehen, dass nur Silben einen Tonakzentkontrast transportieren k¨onnen, die auch einen intonatorischen Akzentton tragen. Im K¨olnischen zeigen teilweise bereits solche Silben eine Neutralisierung des Tonakzentkontrasts, die zwar einen Akzentton tragen, der aber nicht nuklear ist. Nicht-akzentuierte Silben sind von der Vermittlung des Tonakzentkontrasts ausgeschlossen. Die lexikalische Neutralisierung h¨angt mit dem Verlust der Kenntnis von basisdialektalen Formen bei j¨ungeren Sprechern zusammen, was dazu f¨uhrt, dass der Tonakzentkontrast nicht mehr oder in abweichender Form realisiert wird. Eine morphologisch bedingte Neutralisierung wird dann vollzogen, wenn eine bestimmte Funktion nicht mehr u¨ ber den Tonakzentkontrast geleistet wird. So verwendet nach Peters keiner der untersuchten Sprecher mehr den Tonakzentkontrast, um zwischen /daa1 g/ und /daa2 g/ bzw. /huu1 s/ und /huu2 s/ zu unterscheiden (in beiden F¨allen handelt es sich um die Kasusunterscheidung Dat. vs. Nom.). Dies trifft auch auf die Sprecher zu, die den Tonakzentkontrast ansonsten aufrecht erhalten. Die phonologisch bedingte Neutralisierung schließlich liegt dann vor, wenn der Tonakzentkontrast generell nicht mehr realisiert wird. Es zeigt sich nach Peters bei Aufhebung des Kontrasts eine Tendenz zu einer generellen Realisierung der phonetischen Auspr¨agung von Tonakzent 2 (vgl. Peters 2006a: 269). Auch bei Sprechern der K¨olner Regionalvariet¨at lassen sich nach Peters (2006a) Reflexe ¨ der Tonakzente auf die Außerungsintonation nachweisen, sofern sie dialektnah sind (vgl. ebd.: 280ff.). Dieser Aspekt wird in Kapitel 4 der vorliegenden Arbeit aufgegriffen, da es ¨ sich aufgrund von Uberschneidungen im untersuchten Korpus um Sprecher handelt, die auch in dieser Arbeit untersucht wurden. Grunds¨atzlich werden die Tonakzente in der vorliegenden ¨ Arbeit nur dann ber¨ucksichtigt, wenn sie Auswirkungen auf die Außerungsintonation haben. Im Folgenden werden nun noch einige intonatorische Besonderheiten der k¨olnischen Regionalvariet¨at vorgestellt, sofern sie nicht ausf¨uhrlich in Kapitel 4 zur nuklear steigend-fallenden Kontur thematisiert werden. ¨ Einen Uberblick u¨ ber die tonologischen nuklearen Konturen des K¨olnischen gibt Gilles (2005: 340ff.). Je nach Vorkommen in Weiterweisungs- oder Abschlusskontexten stellt Gilles die Kombinationen L*+H%, L* H%, L* H-L% und (L+) H* % bzw. H*+L (L)% und H* L% fest. Im K¨olnischen werden entsprechend einfach fallende Konturen f¨ur die Abschlusssignalisierung eingesetzt, einfach steigende und steigend-fallende Konturen hingegen f¨ur die Weiterweisungssignalisierung. Fallend-steigende Konturen sind nicht belegt. Hinter den Tonsequenzen der fallenden Verl¨aufe verbirgt sich zum einen ein Verlauf mit einem Tonh¨ohenabfall in unmittelbarer Folge zur Nukleussilbe, nach dem die Tonh¨ohe bei ausreichend segmentellem Material bis zur IP-Grenze tief bleiben kann (H*+L (L)%). Zum anderen verbirgt sich dahinter ein kontinuierlicher Abfall zur IP-Grenze, was durch den fehlenden tiefen Begleitton nach der hohen Nukleussilbe zum Ausdruck gebracht wird (H* L%). Die Weiterweisungskonturen umfassen neben der steigend-fallenden Kontur, die in Kapitel 4 ausf¨uhrlich behandelt wird, zwei Anstiegskonturen mit tiefer Nukleussilbe und einem kontinuierlichem Anstieg bis zur IP-Grenze (L* H%) bzw. einem Anstieg in unmittelbarer Folge auf die Nukleussilbe und hohem Plateau bis zur IP-Grenze (L*+H %) sowie eine Kontur mit hoher Nukleussilbe und folgendem hoch bleibenden Plateau bis zur IP-Grenze ((L+) H* %). Die Konturen lassen sich schematisch folgendermaßen darstellen:
52
H*+L
(L)
%
H*
L%
L*
H%
Abbildung 3.2: Nukleare Abschlusskonturen im K¨olnischen
%
L*+H
L*
H-
L%
(L+) H*
%
Abbildung 3.3: Nukleare Weiterweisungskonturen im K¨olnischen
Peters (2006a: 454ff.) hebt als intonatorische Abweichung des K¨olnischen gegen¨uber dem n¨ordlichen Standarddeutschen (auf oberfl¨achennaher Beschreibungsebene) in erster Linie hervor, dass das K¨olnische einen zus¨atzlichen finalen Abfall der Tonh¨ohe aufweise, der sich an die im NDS final steigenden Verl¨aufe anschließe. Der finale Abfall wird auf einen durch den Tonakzent 1 hervorgerufenen Epiton zur¨uckgef¨uhrt. Die Beschreibung von Peters weicht insofern von der Beschreibung in Gilles (2005) ab, als final steigende Konturen bei Peters durchweg durch Trunkierung des finalen Abfalls bedingt sind, und somit keine eigenst¨andigen Konturen im Inventar des K¨olnischen darstellen. Dies wird in den Kapiteln 4.1 und 4.2 noch ausf¨uhrlich besprochen.
3.2
Korpus
Das zur Untersuchung vorliegende Korpus setzt sich aus ca. 12 Stunden spontansprachlichem Datenmaterial zusammen. Es umfasst informelle Gespr¨ache, Episoden der halbdokumentarischen Fernsehsendung “Die Fußbroichs” und Ausz¨uge aus der ersten Staffel der realitytv-Sendung “Big Brother”. Die informellen Gespr¨ache tragen die Aufnahmenbezeichnungen k06 bis k10, die Sendungen der Fußbroichs die Bezeichnungen k01 bis k05. Die Big Brother Daten sind durch das K¨urzel ‘bb’ gekennzeichnet.
53 Die informellen Gespr¨ache wurden im Rahmen des von Peter Auer (Freiburg) und Margret Selting (Potsdam) geleiteten DFG-Projekts “Zur Struktur und Funktion regionaler Intonation im Deutschen” im Jahr 2002 durchgef¨uhrt (vgl. Auer et al. 2000). Es handelt sich um sechs etwa einst¨undige Gespr¨ache mit k¨olnischen SprecherInnen zwischen 50 und 80 Jahren. Die Gespr¨achsleiterin war zum Zeitpunkt der Aufnahmen 21 Jahre alt. Alle Beteiligten sind geb¨urtige K¨olnerInnen, sind in K¨oln aufgewachsen und haben die meiste Zeit ihres Lebens in K¨oln verbracht. Die Gespr¨ache wurden von der Gespr¨achsleiterin telefonisch vereinbart und in der Wohnung der Gespr¨achspartner mit einem SONY DAT-Recorder aufgezeichnet; es wurden jeweils zwei Ansteckmikrophone verwendet. Sprecher k06 ist der Vater der Gespr¨achsleiterin. Er ist auch an der Aufnahme k09 beteiligt, deren zweiter Sprecher ein guter Freund ist, den die Gespr¨achsleiterin ebenfalls kennt. Die u¨ brigen Gespr¨achspartnerInnen waren der Gespr¨achsleiterin vor dem Telefonkontakt nicht bekannt. Die Gespr¨achleiterin hatte einen Leitfaden mit m¨oglichen Fragen erhalten und war u¨ ber den Zweck der Aufnahme informiert. Die Gespr¨achsteilnehmerInnen hatten die Information erhalten, an einem heimatkundlichen Gespr¨ach u¨ ber “den typischen K¨olner/die typische K¨olnerin in seiner/ihrer Stadt” teilzunehmen. Neben den Gespr¨achen wurden 8 Folgen der WDR-Produktion “Die Fußbroichs” ausgewertet, was einer Laufzeit von knapp 4 Stunden entspricht. Es handelt sich bei der Sendung um eine halbdokumentarische Fernsehsendung, in der eine K¨olner Arbeiterfamilie in ihrem Alltag begleitet wird. Es existierte kein Drehbuch. Die Hauptbeteiligten der Aufnahmen sind Fred Fußbroich (fv), Annemarie Fußbroich (fm) und ihr gemeinsamer Sohn Frank Fußbroich ¨ (fs). In Einzelf¨allen wurden weiterhin Außerungen der Freundin von fs (ft), eines Freundes von fs (ff) sowie der Schwester (fr) und eines Bekannten (fx) von fv ber¨ucksichtigt.3 Die Episoden stammen aus den fr¨uhen 1990er Jahren, wurden erstmals im Fr¨uhjahr 1990 im WDR ausgestrahlt und bei einer sp¨ateren Ausstrahlung im Jahr 2001/2002 aufgezeichnet. Schließlich wurden 6 Episoden der reality-tv-Sendung “Big Brother” (RTL II) ausgewertet. Es wurden die Sendungen ber¨ucksichtigt, die zum Ende der Laufzeit der ersten Staffel im Jahr 2000 ausgestrahlt wurden, da hier 3 k¨olnische Sprecher beteiligt waren. Als Hauptspre¨ cher wurden J¨urgen Franke (jrg) und Sabrina Lange (sbr) ausgewertet; einzelne Außerungen von Andrea Singh (adr) wurden ebenfalls ber¨ucksichtigt. Die Laufzeit der untersuchten Big Brother-Episoden betr¨agt ca. 3:15 Stunden. ¨ Die folgende Tabelle gibt einen Uberblick u¨ ber die der Untersuchung zugrundeliegenden Aufnahmen und Hauptsprecher (vgl. auch Peters 2006a: 500ff., Gilles 2005: 374): ¨ Tabelle 3.2: Uberblick u¨ ber die untersuchten SprecherInnen Sprecher¨ kurzel fv fm fs
Beruf
Stadtteil
Alter
Aufnahme
Dauer
Vorarbeiter Sekret¨arin Gem¨usegroßh¨andler
Buchheim Buchheim Buchheim
50-56 43-49 22-28
k01-k05 k01-k05 k01-k05
ca. 4:00 ca. 4:00 ca. 4:00 continue
3
In den Gespr¨achsausz¨ugen sind teilweise auch noch andere SprecherInnen beteiligt, die aber f¨ur die formale intonatorische Analyse nicht herangezogen wurden.
54 Sprecher¨ kurzel k06 / k09a k07 k08 k09b k10a k11 i jrg sbr
3.3
Beruf
Stadtteil
Alter
Aufnahme
Dauer
Ingenieur Verk¨auferin Pf¨ortner Kaufmann Angestellter Postangestellte i.R. Studentin Feinblechner
Nippes Weiss S¨udstadt Nippes Knipprath Nippes
50 66 62 53 55 80
k06, k09 k07 k08 k09 k10 k11
0:44, 1:10 1:12 1:11 1:10 1:13 1:16
Nippes (unbekannt)
21 36
s.o. ca. 3:15
Dachdeckerin
(unbekannt)
32
k06-k11 bb72, 91, 92, 94, 95z, 96 bb72, 91, 92, 94, 95z, 96
ca. 3:15
Methoden
Die Aufnahmen wurden wenn n¨otig digitalisiert und als Tondateien k01 bis k11 zur Analyse bereitgestellt. F¨ur die Aufnahmen wurden Grobtranskripte mit der Transkriptionssoftware CLAN4 erstellt. Diese beiden Schritte wurden im Rahmen des DFG-Projekts von studentischen Hilfskr¨aften an der Universit¨at Freiburg ausgef¨uhrt. ¨ Im ersten Analyseschritt wurden auf auditiver Basis intonatorisch auff¨allige Außerungen ¨ ausgew¨ahlt. Die Außerungen wurden in dem akustischen Analyseprogramm PRAAT5 extrahiert und in die Datenbank prosoDB u¨ berspielt.6 Die Intonationsverl¨aufe wurden zun¨achst ¨ grob nach Ahnlichkeit kategorisiert und mit vorl¨aufigen Bezeichnungen versehen. Es wurden dann zwei Verl¨aufe f¨ur die Detailanalyse ausgew¨ahlt. Das Datenmaterial wurde nun nochmals gezielt auf diese Verl¨aufe hin durchsucht; f¨ur jeden Verlauf wurde in prosoDB eine Belegsammlung angelegt. Entsprechend dem in Kapitel 2 vorgestellten Drei-Ebenen-Modell des Intonationssystems von Gilles (2005) wird die Analyse der Intonationsverl¨aufe auf phonetischer, tonologischer und phonologischer Ebene vorgenommen. Es werden folglich die Realisation der Intonationskonturen, ihre autosegmental-metrische Strukturierung und die konversationellen Funktionen der Intonationskonturen analysiert (siehe Kap. 2.4.1). Auf diese Weise kann zum einen festgestellt werden, worin die regionalspezifischen formalen Besonderheiten eines Intonationsverlaufs zu sehen sind. Zum anderen l¨asst sich die interne formale Variation eines Verlaufs beschreiben und mit dem konversationellen Gebrauch des Verlaufs in Zusammenhang bringen. Der erste Analyseschritt besteht jeweils in der Ermittlung der phonetischen Varianten eines Verlaufs, es werden dann die tonologischen Varianten ermittelt und schließlich die konversationellen Funktionen. 4
CLAN wurde von Brian MacWhinney entwickelt und kann als Freeware unter http://childes.psy. cmu.edu/clan/ heruntergeladen werden. [letzter Zugriff: 22.07.2008] 5 Das Programm wurde von Paul Boersma & David Weenink entwickelt und kann als Freeware unter http://www.fon.hum.uva.nl/praat/ heruntergeladen werden. [letzter Zugriff: 22.07.2008] 6 Zum Aufbau von prosoDB vgl. Gilles (2001b).
55 Auf phonetischer Ebene wird der Verlauf zun¨achst m¨oglichst theorieneutral beschrieben. Die Silben, auf denen sich ein tonaler Wendepunkt ereignet oder die den Anfangs- oder Endpunkt einer bestimmten prosodischen Dom¨ane darstellen, werden mit einer Markierung der Tonh¨ohe versehen. Die Tonh¨ohenmarkierung umfasst dabei nicht nur zwei Tonh¨ohen (hoch und tief), sondern kann auch mittlere, extrahohe oder andere Tonh¨ohen bezeichnen, sofern die entsprechenden Verl¨aufe dies nahe legen. Die Notation erweitert damit die in GToBI vorgesehenen Beschreibungskategorien und orientiert sich eher an den im IViE-Projekt7 verwendeten Kategorien. Zus¨atzlich wird die Auspr¨agung der Anstiegs- oder Fallbewegungen von Verl¨aufen ber¨ucksichtigt. Es ist zu beachten, dass die phonetische Beschreibung der Verl¨aufe nicht g¨anzlich theorieneutral ist, da auch sie bereits auf die Phrasierung in Intonationsphrasen Bezug nimmt. So werden nicht nur die tonalen Wendepunkte hinsichtlich ihrer Tonh¨ohe charakterisiert, sondern auch die grenzinitialen oder -finalen Tonh¨ohen. Weiterhin wird dem in Kapitel 2.1.2 eingef¨uhrten Nukleus besondere Beachtung geschenkt. Dies gilt vor allem f¨ur die in Kapitel 4 beschriebene steigend-fallende Kontur, die sich u¨ ber den Nukleus erstreckt. Pr¨anukleare Bewegungen werden bei dieser Kontur nicht ber¨ucksichtigt. Da die ausgew¨ahlten Intonationsverl¨aufe den Ausgangspunkt der Analyse bilden, reduziert sich in der vorliegenden Arbeit das in Kapitel 2.1.1 angesprochene Problem der Abgrenzung von Intonationsphrasen: Die Abgrenzung ist auf intonatorischer Ebene bereits gegeben; alle ausgew¨ahlten Belege stellen vollst¨andige Intonationsphrasen dar. Die phonetische Analyse der Belege wird sowohl akustisch-phonetisch als auch auditiv durchgef¨uhrt. Da die Teilnehmerperspektive eine wesentliche Rolle bei der abschlie¨ ßenden funktionalen Analyse der jeweiligen konturtragenden Außerungen spielt, wurde in Zweifelsf¨allen der H¨oreindruck als ausschlaggebendes Kriterium gew¨ahlt. Dies betrifft beispielsweise Silben, die durch steil steigende Tonh¨ohenbewegungen gekennzeichnet sind, und die je nach H¨oreindruck als tief oder mittelhoch eingestuft wurden (siehe Kap. 4.2.1). Die ¨ akustisch-phonetische Analyse des Grundfrequenzverlaufs der Außerung erfolgte mit PRAAT. F¨ur die Darstellung des Grundfrequenzverlaufs wurde eine logarithmische Skalierung gew¨ahlt. Dies steht vor dem Hintergrund, dass die physikalische Gr¨oße der Grundfrequenz von der wahrgenommenen Tonh¨ohe unterschieden werden muss. Die Grundfrequenz in Hertz gibt die Anzahl der Schwingungen der Stimmlippen pro Zeiteinheit wieder. Die Verdopplung der Grundfrequenz entspricht bei der Wahrnehmung der Tonh¨ohe einer Oktave. Der Abstand zwischen 100 Hertz und 200 Hertz wird entsprechend ebenso als Oktave wahrgenommen wie der Abstand zwischen 1000 Hertz und 2000 Hertz. Das Verh¨altnis von Erh¨ohung der Schwingfrequenz und wahrgenommener Tonh¨ohe ist somit nicht linear; ein konstanter Grundfrequenzabstand von beispielsweise 100 Hertz wird je nach Frequenzbereich als unterschiedlich großes Intervall wahrgenommen. Dies ber¨ucksichtigt die logarithmische Skalierung, bei der die Verdopplung der Grundfrequenz als Ausgangspunkt f¨ur die graphische Darstellung gleicher Abst¨ande genommen wird. Im Gegensatz zu einer linearen Skalierung n¨ahert sich die
7
Bei IViE (Intonational Variation in English) handelt es sich um das erste gr¨oßere Projekt, das sich systematisch mit der Intonation verschiedener Variet¨aten (in diesem Fall des Englischen) auseinandersetzt. Es wurde von 1997 bis 2002 von Esther Grabe, Francis Nolan und Brechtje Post durchgef¨uhrt. F¨ur eine Projektbeschreibung und -ergebnisse siehe u.a. Fletcher et al. (2003), Grabe (2002, 2004), Grabe et al. (2000, 2001, 2002) sowie http://www.phon.ox.ac.uk/ esther/ivyweb/. [letzter Zugriff: 22.07.2008]
56 logarithmische Skalierung damit der Wahrnehmung der Tonh¨ohe an (vgl. hierzu Reetz 2003: 91ff., Gilles 2005: 59ff.). Die folgende Abbildung veranschaulicht einen logarithmisch skalierten Verlauf, der in PRAAT erstellt wurde.
Pitch (Hz)
350
200
150 m
schO=ma mit der
FAEH
re
0
h
m
rü
ber 1.24
Time (s)
Abbildung 3.4: Darstellung eines Intonationsverlaufs in PRAAT
Die Abbildung stellt den Intonationsverlaufs des zugrundeliegenden Sprachsignals dar. Im ¨ untersten Tier ist der Text der Außerung eingetragen, im Tier dar¨uber die phonetische Beschreibung der tonalen Zielpunkte. Die linke vertikale Achse gibt die Grundfrequenz in Hertz (Hz) an. Der dargestellte Bereich bel¨auft sich in diesem Fall auf minimal 150 Hz und maximal 350 Hz. Die silbische Segmentierung, angezeigt durch die vertikalen Linien, wird in der vorliegenden Arbeit in der Regel f¨ur den Nukleus vorgenommen, wie in der Abbildung zu erkennen ist. Dies steht vor dem Hintergrund, dass das zentrale Interesse der Arbeit auf einem nuklearen Intonationsverlauf liegt (siehe Kap. 4). Die Abbildung veranschaulicht dar¨uber hinaus die Kennzeichnung einzelner tonaler Zielpunkte mit Symbolen f¨ur die Tonh¨ohe. Auch diese werden in der Regel nur im nuklearen Abschnitt eingetragen; pr¨anukleare tonale Zielpunkte werden folglich nicht mit Symbolen versehen. Im vorliegenden Beispiel wurde die nukleare Akzentsilbe FAEH als mittelhoch eingestuft und entsprechend mit dem Symbol ‘m’ versehen; es folgen ein Anstieg zu einem hohen tonalen Zielpunkt auf r¨u (gekennzeichnet durch ‘h’) und ein Abfall auf mittlere Tonh¨ohe (‘m’). Die finale Tonh¨ohe auf der Silbe ber liegt zwar etwas tiefer als auf der nuklearen Akzentsilbe, jedoch h¨oher als im pr¨anuklearen Abschnitt der Phrase. Die u¨ brigen untersuchten phonetischen Parameter wurden zus¨atzlich in Tabellenform registriert. Die tonologische Analyse widmet sich der Ton-Text-Assoziation der untersuchten Verl¨aufe bzw. der tonalen Zielpunkte der Verl¨aufe (vgl. Kap. 2.4.1.2 sowie Gilles 2005). W¨ahrend die phonetische Beschreibung sich um eine m¨oglichst exakte, oberfl¨achennahe Beschreibung bem¨uht und beispielsweise die genaue Positionierung von T¨onen vermerkt, werden auf tonologischer Ebene Abstraktionen vorgenommen. Grundlage der tonologischen Beschreibung sind die tonalen Kategorien des AM-Ansatzes und die f¨ur sie angenommene Ausrichtung ¨ an der segmentellen Basis der zugrundeliegenden Außerung (vgl. Kap. 2.1.2). Alle Belege werden in Hinblick auf ihre Ton-Text-Assoziation untersucht, und es werden die m¨oglichen tonalen Kategorien diskutiert. Es ist zu beachten, dass auf dieser Beschreibungsebene die f¨ur
57 den Verlauf zur Verf¨ugung stehende Silbenanzahl eine besondere Rolle spielt. Je weniger Silben dem Verlauf zu Grunde liegen, desto weniger Zeit stehen f¨ur seine Ausdehnung zur Verf¨ugung. Um den tonalen Status eines Tons bestimmen zu k¨onnen, ist es jedoch erforderlich, dass gen¨ugend Auswahlm¨oglichkeiten f¨ur die Ausrichtung des Tons vorhanden sind. Ein Beispiel: Bei einer steigenden Intonationsbewegung, deren Tiefton an einer akzentuierten Silbe ausgerichtet ist, soll dar¨uber entschieden werden, ob es sich bei dem folgenden h-Ton um einen Trailington zum Akzentton oder um einen Phrasenakzent handelt. W¨ahrend der Trailington in seiner Positionierung von dem Akzentton abh¨angt, weist der Phrasenakzent eine Ausrichtung an einer lexikalisch betonbaren Silbe auf (vgl. Kap. 2.1.2). Folgt auf die Akzentsilbe in einem konkreten Fall nun jedoch nur eine weitere Silbe, die lexikalisch betonbar ist und auf der der h-Ton erscheint, so l¨asst sich nicht eindeutig kl¨aren, ob es sich um einen Trailington oder um einen Phrasenakzent handelt. Der tonologische Status des zur Diskussion stehenden Tons ist somit “verdeckt” (siehe dazu auch Kap. 2.2.1). Erst die Analyse einer gr¨oßeren Datenbasis mit mehrsilbigen Verl¨aufen erm¨oglicht die Beurteilung des tonologischen Status. In Analogie zu diesen wird in der vorliegenden Arbeit auf den tonologischen Status der “verdeckten” T¨one geschlossen. Im Gegensatz zur phonetischen Beschreibung wird bei der tonologischen Analyse der Intonationsverl¨aufe folglich von der sprachlichen Oberfl¨ache abstrahiert. Die phonologische Analyse beinhaltet die Analyse der konversationellen Funktionen der Intonationsverl¨aufe. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt bei den phonetischen Varianten, so dass ber¨ucksichtigt werden kann, ob bzw. in welcher Weise sich die Varianten auf den konversationellen Gebrauch der entsprechenden Kontur auswirken. Durch die Zugrundelegung der phonetischen Varianten wird eine vorschnelle Abstraktion von der sprachlichen Oberfl¨ache bei der funktionalen Analyse verhindert. Es wird somit eine weitgehend induktive Herangehensweise an Form und Funktionen der regionalspezifischen Intonationskonturen erm¨oglicht, denn erst bei der funktionalen Analyse stellt sich heraus, welche der phonetischen und tonologischen Varianten als phonologisch zu betrachten sind. Die funktionale Analyse bedient sich der in Kapitel 2.3.2 dargestellten Methoden der Interaktionalen Linguistik. Als wesentliche Nachweisverfahren f¨ur konversationelle Funktionen bestimmter sprachlicher Mittel werden damit die Analyse der Kookkurrenz des zur Diskussion stehenden Mittels mit anderen sprachlichen Mitteln, die Analyse der Teilnehmerreaktionen sowie die kontextgebundene sequenzielle Analyse angewandt. In die jeweiligen Verfahren wird in den einzelnen Kapiteln nochmals gesondert eingef¨uhrt (siehe Kap. 4.4.1.2, 4.4.1.6, 4.4.2.2). F¨ur die Analyse wur¨ den Feintranskripte nach GAT (vgl. Selting et al. 1999, siehe auch den Uberblick u¨ ber die Transkriptionskonventionen S. XI-XII) angefertigt.
58 Um die drei Beschreibungsebenen voneinander abzugrenzen, werden in der vorliegenden Arbeit drei verschiedene Notationsweisen verwendet: Zur Kennzeichung der phonetischen Ebene werden Kleinbuchstaben verwendet, die tonologische Ebene wird durch Kleinbuchstaben mit Diakritika gekennzeichnet und auf phonologischer Ebene werden die in den meisten Intonationsbeschreibungen g¨angigen Großbuchstaben mit Diakritika verwendet. Die Diakritika richten sich nach den im AM-Ansatz u¨ blichen Symbolen zur Kennzeichnung der verschiedenen tonalen Kategorien (siehe auch Kap. 2.1.2). In der vorliegenden Arbeit kommen folgende Bezeichnungen zur Verwendung: ¨ Tabelle 3.3: Uberblick u¨ ber die verwendeten Notationssymbole Beschreibungsebene
Symbol
Inhalt
Phonetik
l m h fm
tiefe Tonh¨ohe mittelhohe Tonh¨ohe hohe Tonh¨ohe minimal flach fallende Tonh¨ohe
Tonologie
l* h* !h* lhhc l%
tiefer Akzentton hoher Akzentton herabgestufter Akzentton tiefer Phrasenakzent hoher Phrasenakzent kopierter hoher Ton tiefer finaler Grenzton
Phonologie
L* +H HLL%
tiefer Akzentton hoher Trailington hoher Phrasenakzent tiefer Phrasenakzent tiefer finaler Grenzton
Bei der Auflistung f¨allt zun¨achst auf, dass auf tonologischer Ebene mehr Beschreibungskategorien notwendig sind als auf phonetischer Ebene. Dies resultiert aus der Tatsache, dass die Tonh¨ohenniveaus, die auf phonetischer Ebene theorieneutral beschrieben werden, auf tonologischer Ebene eine Interpretation im Rahmen des AM-Ansatzes erfahren. Ein Wendepunkt im Intonationsverlauf, der auf hohem Niveau liegt und auf phonetischer Ebene durch ein ‘h’ bezeichnet wird, kann tonologisch je nach Ton-Text-Assoziation beispielsweise als hoher Akzentton ‘h*’ oder als hoher Phrasenakzent ‘h-’ interpretiert werden. Weiterhin ist auff¨allig, dass die notwendigen Beschreibungskategorien der phonologischen Ebene gegen¨uber der tonologischen Ebene wieder stark abnehmen. Dies deutet bereits darauf hin, dass nicht alle tonologischen Varianten tats¨achlich funktional distinktiv sind und somit nicht in das phonologische Inventar u¨ bernommen werden m¨ussen. Siehe dazu jedoch im Detail die tonologischen und funktionalen Analysen (Kap. 4.3, 4.4, 5.3) sowie die Zusammenfassung der Analyseergebnisse (Kap. 4.5, 5.4).
4
Nuklear steigend-fallende Kontur
Das folgende Kapitel widmet sich den nuklear oder final steigend-fallenden Intonationsverl¨aufen, die ein besonders auff¨alliges intonatorisches Merkmal des K¨olnischen darstellen. Der nuklear steigend-fallende Verlauf ist durch eine tief liegende Nukleussilbe gekennzeichnet, auf die ein Anstieg zu einem postnuklearen Tonh¨ohengipfel erfolgt, nach dem die Tonh¨ohe bis zur Grenze der Intonationsphrase wieder abf¨allt. Der Tonh¨ohengipfel kann dabei sowohl als spitzer, einsilbiger Gipfel als auch als Hochplateau ausgepr¨agt sein, das sich u¨ ber wenigstens zwei Silben erstreckt. Die folgende schematische Abbildung veranschaulicht die beiden Auspr¨agungen des Verlaufs. Die grau unterlegte Fl¨ache markiert jeweils die Nukleussilbe.
(a)
(b)
Abbildung 4.1: Stilisierter steigend-fallender Verlauf ab der Nukleussilbe mit (a) einsilbigem Tonh¨ohengipfel und (b) Hochplateau
¨ Das erste Teilkapitel (4.1) gibt einen Uberblick u¨ ber den Forschungshintergrund zu final steigend-fallenden Konturen. Es werden das Standarddeutsche, die Regionalvariet¨aten des Deutschen und auch einige andere Sprachen vorgestellt. Der weitere Aufbau des Kapitels orientiert sich an der Unterteilung in Phonetik, Tonologie und Phonologie. Der steigend-fallende Verlauf wird zun¨achst mit seinen phonetischen Varianten vorgestellt (Kap. 4.2). Es folgt dann die tonologische Interpretation des Verlaufs, bei der in erster Linie der tonologische Status des H-Tons diskutiert wird (Kap. 4.3). Zuletzt erfolgt eine ausf¨uhrliche Diskussion der konversationellen Funktionen des Verlaufs (Kap. 4.4), die zur phonologischen Interpretation des Verlaufs und seiner Varianten f¨uhren wird (Kap. 4.5).
4.1
Forschungshintergrund
Nuklear steigend-fallende Verl¨aufe werden sowohl in Beschreibungen der standarddeutschen Intonation erw¨ahnt, als auch in Beschreibungen verschiedener deutscher Regionalvariet¨aten. Es ist dabei allerdings zu bedenken, dass dem Verlauf trotz a¨ hnlicher Auspr¨agung unterschiedliche tonologische und phonologische Interpretationen zu Grunde liegen k¨onnen, die sich daraus ergeben, welchen tonologischen Status die Einzelt¨one erhalten und welche (konversationellen) Funktionen die Verl¨aufe erf¨ullen. Die steigend-fallenden Verl¨aufe k¨onnen einander deshalb nicht ohne Weiteres als a¨ quivalent gegen¨uber gestellt werden, ohne ihre tonologische und phonologische Struktur zu ber¨ucksichtigen. Eine abschließende Gegen¨uberstel-
60 lung der steigend-fallenden Verl¨aufe in den verschiedenen Variet¨aten wird daher erst zum Schluss der Darstellung m¨oglich sein. Der Forschungs¨uberblick wendet sich nun zuerst den Beschreibungen des Standarddeutschen zu, dann den Beschreibungen der Regionalvariet¨aten.
4.1.1 Nuklear steigend-fallende Konturen im Standarddeutschen Die g¨angigen Beschreibungen der Intonation des Standarddeutschen widmen sich nur zum Teil final steigend-fallenden Konturen, und auch dort werden die Konturen zumeist nur beil¨aufig und am Rande beschrieben. Erw¨ahnung finden steigend-fallende Konturen bei Pheby (1975), Uhmann (1991), F´ery (1993) und GToBI (Grice & Baumann 2002). Von Essen (1956), Wunderlich (1988), Kohler (1995) und Grabe (1998a) hingegen beziehen die Konturen nicht in ihre Beschreibung ein.1 Phebys Analyse steht als einzige derjenigen, die den steigend-fallenden Verlauf erw¨ahnen, nicht im Rahmen des autosegmental-metrischen Ansatzes. Er orientiert sich in seiner tonetischen Analyse des Deutschen an Halliday (1967) und beschreibt f¨unf verschiedene Tonmuster, die die m¨oglichen Tonh¨ohenbewegungen der Nukleussilbe + Nachlauf (“Tonstelle”) umfassen.2 Zu diesen z¨ahlen zwei Tonmuster mit komplexen Bewegungen, Tonmuster 4 und Tonmuster 5. W¨ahrend Tonmuster 4 einen fallend-steigenden Verlauf wiedergibt, beschreibt Tonmuster 5 einen steigend-fallenden Verlauf: “Hier steigt zwar die Tonh¨ohe innerhalb oder unmittelbar nach der Tonsilbe [d.i. Nukleussilbe, PB], aber dann kehrt sie wieder zur tieferen Lage zur¨uck.” Als Beispiele gibt er folgende drei- und zweisilbige nukleare Verl¨aufe:3 (1)
° . //5 kann er auch//
(2)
° . //5 muss ich ja//
(3)
° . //5 das/weiß ich schon//
(4)
°. //5 sicher// (vgl. Pheby 1975: 55)
1
Unter der Bezeichnung “scooped fall” beschreibt auch Ladd (1983) f¨ur das Deutsche einen steigendfallenden Verlauf beginnend mit der tiefen Nukleussilbe, den er zun¨achst als sp¨aten Gipfel (H*) interpretiert, sp¨ater jedoch als tiefe Nukleussilbe und folgenden hohen Trailington (L*+H) reinterpretiert (1996). In diesem Sinne kann auch Kohlers “sp¨ater Gipfel” (1995) als Evidenz eines steigend-fallenden Verlaufs im Standarddeutschen aufgefasst werden. 2 Zur Untergliederung der Intonationsphrase in der Britischen Schule siehe Kap. 2.1. 3 Die Schreibweise ist ann¨ahernd von Pheby u ¨ bernommen. Der Doppelstrich markiert die Grenzen der Tongruppe, d.h. der Intonationsphrase. Die Ziffer 5 steht f¨ur die Bezeichnung des steigendfallenden Tonmusters, die Unterstreichung gibt die Tonsilbe an, die Zeichen u¨ ber dem Text den Tonh¨ohenverlauf.
61 Pheby schreibt dem Verlauf die Bedeutung “Aussage mit verbindlicher Implikation” zu, die eventuell “selbstbewußt” oder “trotzig” gef¨arbt sein kann (58). Die Intonationsgrammatik von Uhmann (1991) beinhaltet ebenfalls einen steigendfallenden Verlauf, der durch einen Anstieg in unmittelbarer Folge des nuklearen Tieftons gekennzeichnet ist, auf den wiederum ein sofortiger Tonh¨ohenabfall erfolgt. Ihre Analyse st¨utzt sich allerdings auf nur einen Beleg, der außerhalb ihrer systematischen Datenerhebung aufgezeichnet wurde. Es handelt sich dabei um einen einsilbigen Beleg, so dass keine Aussagen u¨ ber die tonale Gestaltung des Verlaufs bei l¨angeren nuklearen Abschnitten gemacht ¨ werden k¨onnen. Die konturtragende Außerung ist folgende: (5)
L* +H L% was ist hier LOS (vgl. Uhmann: 1991: 170ff.)
¨ Bei der Außerung handelt es sich um eine Vorl¨auferfrage, die vor Beginn des eigentlichen Experiments vom Experimentleiter ge¨außert wurde (vgl. Uhmann 1991: 171). Gem¨aß der Beschreibung von F´ery (1993) folgt auf die tiefe Nukleussilbe der steigendfallenden Kontur unmittelbar ein Anstieg zu hoher Tonh¨ohe, nach dem die Tonh¨ohe wiederum unmittelbar zu tiefer Tonh¨ohe abf¨allt. Das Tonh¨ohenniveau der Grenze entspricht offenbar in etwa dem der Nukleussilbe. F´ery bezieht sich dabei auf ein-, zwei- und dreisilbige Phrasenabschnitte. W¨ahrend bei den einsilbigen Abschnitten der gesamte Verlauf auf eine Silbe gestaucht ist, wird bei den dreisilbigen Abschnitten jede Silbe mit einem Ton assoziiert: (6)
L* HL GERN
(7)
L* H L WEISS ich auch
Ob der H-Ton bei den zweisilbigen Abschnitten noch mit der ersten oder mit der zweiten ¨ Silbe verkn¨upft wird, geht aus ihrer Darstellung nicht eindeutig hervor. Uber die Assoziation der T¨one bei mehr als dreisilbigen Abschnitten wird nichts ausgesagt.4 Die Bedeutung des Verlaufs umschreibt F´ery mit “of course” oder als leicht drohend (vgl. F´ery 1993: 93ff.). Bei GToBI (Grice & Baumann 2002) wird der steigend-fallende Verlauf ebenfalls als Anstieg noch innerhalb der tiefen Nukleussilbe oder unmittelbar auf sie folgend beschrieben, woraufhin die Tonh¨ohe zur Grenze auf tiefes Tonh¨ohenniveau abf¨allt. Dies veranschaulichen die folgenden dreisilbigen Belege: (8)
L* +H L-% das WEISS ich schon
(9)
L* +H L-% der blick ist ja FAbelhaft
Auch die GToBI Trainingsmaterialien, die auf der Basis von Map-Task-Dialogen entstanden sind, beinhalten einen Beleg mit steigend-fallendem Verlauf. Er erstreckt sich u¨ ber die 4
Siehe hierzu aber K¨ugler (2004: 84), der die tritonale Analyse F´erys zur¨uckweist, da der finale L-Ton bei l¨angeren nuklearen Abschnitten mit der IP-Grenze assoziiert sei.
62 ¨ Einwort-Außerung “NEIN” und wird im Folgenden zur Veranschaulichung des Verlaufs als F0-Kurve in Praat dargestellt. 300
Pitch (Hz)
200
150
100 lhl
NEIN 0
0.61558 Time (s)
Abbildung 4.2: Steigend-fallender Verlauf im Standarddeutschen auf einsilbigem Nukleus
¨ Die mit diesem Verlauf verbundenen Außerungen werden als “selbstverst¨andliche Feststellung” (Bsp. 8) oder “engagierte oder sarkastische Feststellung” (Bsp. 9) charakterisiert (vgl. Grice 2002 & Baumann: 285ff.). Allen Beschreibungen des Standarddeutschen ist gemeinsam, dass der Anstieg zur postnuklearen Tonh¨ohe als unmittelbar auf die tiefe Nukleussilbe folgend dargestellt wird. Dies spiegelt sich in den tonologischen Interpretationen5 des Verlaufs wider, wenn diese auch teilweise voneinander abweichen. F¨ur Uhmann (1991) setzt sich der Verlauf aus einem bitonalen Akzentton L*+H und einem Grenzton L% zusammen. F´ery geht von einem tritonalen Gebilde L*HL aus, bei dem sowohl der H- als auch der L-Ton als Trailingt¨one gelten.6 Der letzte L-Ton ist zwar immer mit der letzten Silbe der Phrase verkn¨upft, wird jedoch nicht als Grenzton konzipiert. Dies steht in Zusammenhang mit F´erys Entscheidung, generell nur von einem fakultativen H-Ton als Grenzton auszugehen und tiefe Grenzen als tonal nicht spezifiziert zu betrachten. Liegt eine Fallbewegung auf dem letzten Wort der Intonationsphrase vor, so wird dieses laut F´ery als akzentuiert wahrgenommen, so dass die Fallbewegung nicht als Grenzton fungiert (vgl. F´ery 1993: 72ff.). Da in ihrem Inventar demnach kein L-Grenzton existiert, ist sie gezwungen, die finale Fallbewegung durch einen zus¨atzlichen L-Trailington zu beschreiben. Im GToBI-System wird demgegen¨uber der tiefe Ton als L-Phrasenakzent interpretiert, da er als Grenzton, wenn m¨oglich, sekund¨ar mit einer postnuklear betonbaren Silbe verkn¨upft ist (mit der Silbe haft im obigen Beispiel “das ist ja FAbelhaft” bzw. mit der Silbe schon in “das WEISS ich schon”). Der Anstieg wird ebenfalls auf einen Akzentton + Trailington L*+H zur¨uckgef¨uhrt. 5
Die hier referierten Arbeiten nehmen keine Trennung zwischen tonologischer und phonologischer Ebene vor. Die als phonologisch angegebenen Tonsequenzen spiegeln jedoch die Ausrichtung der T¨one an der Segmentkette wider und werden deshalb als tonologisch wiedergegeben. 6 Zur Vereinheitlichung der Notation werden aus Trailingt¨ onen kombinierte Tonsequenzen im Folgenden mit dem +-Zeichen verkn¨upft, auch wenn die Originalnotation davon abweicht. Ebenso wird die von Uhmann verwendete Bezeichnung von tiefen T¨onen als T* bzw. T% als L* bzw. L% u¨ bernommen.
63 Bei allen Beschreibungen, (mit Ausnahme von Pheby (1975), dessen Arbeit der Britischen Schule zuzurechnen ist), wird die hohe Tonh¨ohe folglich als Trailington zum tiefen Akzentton und damit als von diesem abh¨angig interpretiert. Plateauartige Auspr¨agungen wie im K¨olnischen werden in keiner der Untersuchungen erw¨ahnt. Hinsichtlich der Funktionen handelt es sich bei allen Beschreibungen um ad-hoc-Eindr¨ucke. Die folgende Tabelle fasst die aufgef¨uhrten Verwendungsweisen und tonologischen Interpretationen des steigend-fallenden Verlaufs im Standarddeutschen zusammen: Tabelle 4.1: Final steigend-fallender in Intonationsbeschreibungen des (Standard-)Deutschen steigend-fallender Verlauf Tonologische Interpretation Verwendung Pheby 1975
Ø
Aussage mit verbindlicher Implikation, trotzig oder selbstbewusst
Uhmann 1991
L*+H L%
Vorl¨auferfrage
F´ery 1993
L*+H+L
“of course”, leicht drohend
GToBI 2002
L*+H L-%
selbverst¨andliche Feststellung, engagierte oder sarkastische Feststellung
4.1.2
Nuklear steigend-fallende Konturen in Regionalvariet¨aten des Deutschen
Steigend-fallende Konturen werden von Gibbon (1998) als Charakteristikum der Dialekte des Rheintals von der Schweiz bis nach K¨oln angegeben: “The delayed rise to high following the nuclear syllable, with fall to mid or low [...], is common to a chain of dialects along the Rhine valley, from Switzerland (‘Schwyzer D¨utsch’) to Cologne (‘K¨olsch’).” (Gibbon 1998: 93). Inzwischen best¨atigen einige detaillierte Untersuchungen das Vorkommen der steigendfallenden Kontur im s¨udwestlichen deutschen Sprachraum. Sie zeigen jedoch zum einen, dass die Kontur nicht auf diesen Raum beschr¨ankt ist und zum anderen, dass sich die Konturen trotz der gemeinsamen nuklear steigend-fallenden Bewegung hinsichtlich der phonetischen, tonologischen und phonologischen Gestaltung unterscheiden k¨onnen. Final steigend-fallende Konturen werden f¨ur die Regionalvariet¨aten von Duisburg, K¨oln (vgl. Gilles 2005, Peters 2006a), das Obers¨achsische (vgl. K¨ugler 2003), Mannheim, Freiburg (vgl. Gilles 2005), f¨ur das Schw¨abische (vgl. K¨ugler 2004, 2007) sowie f¨ur das Tirolische (vgl. Barker 2002) und das Schweizerdeutsche in Bern (vgl. Fitzpatrick-Cole 1999) beschrieben. Die Untersuchungen der Variet¨aten von Duisburg, K¨oln, Mannheim und Freiburg beruhen auf spontansprachlichem Datenmaterial (Interviews), ebenso wie die Untersuchung zum Obers¨achsischen und Schw¨abischen (Interviews, Map-Task-Dialoge). Den Studien des Tirolischen und Berner Schweizerdeutschen liegen gelesene S¨atze mit minimaler kontextueller Einbettung zu Grunde. W¨ahrend die Arbeiten von Gilles und Peters konversationelle Funktionen ber¨ucksichtigen, thematisieren die u¨ brigen Untersuchungen den Zusammenhang des ¨ Verlaufs mit der Fokusstruktur der Außerungen. Alle Arbeiten bewegen sich im Rahmen des autosegmental-metrischen Ansatzes. Die Vorstellung der Analysen geht chronologisch vor
64 und beginnt entsprechend mit dem Berner Schweizerdeutschen, wendet sich dann dem Tirolischen, Obers¨achsischen und Schw¨abischen zu und widmet sich schließlich den st¨adtischen Variet¨aten von Freiburg, Mannheim, K¨oln und Duisburg.
4.1.2.1 Berner Schweizerdeutsch (Fitzpatrick-Cole 1999) Fitzpatrick-Cole beschreibt den neutralen Tonh¨ohenakzent (“default pitch accent”) des Ber¨ ner Schweizerdeutschen (“Bern Swiss German”, im Folgenden BSG) in deklarativen Außerungen und schildert ihn als tiefe Akzentsilbe, auf die ein Anstieg zu hoher Tonh¨ohe folgt, die noch in der betonten Silbe aber auch erst nach ihr erreicht werden kann. Erscheint der Akzent in nuklearer Position, folgt nach dem Tonh¨ohengipfel ein Fall der Tonh¨ohe, der durch einen tiefen Phrasenakzent LP bewirkt wird. Der Abfall zu tiefer Tonh¨ohe beginnt nach der Beschreibung von Fitzpatrick-Cole sofort nach dem Tonh¨ohengipfel. Die steigend-fallende Bewegung in nuklearer (und auch pr¨anuklearer) Position ist an der folgenden Abbildung nachzuvollziehen. Der zur Diskussion stehende nukleare Verlauf er¨ streckt sich u¨ ber den Außerungsteil Bsuecherstuehl der Gesamt¨außerung Dr Fanger d¨utet uf ” e Bsuecherstuehl“.
Abbildung 4.3: Steigend-fallende Kontur im BSG (aus: Fitzpatrick-Cole 1999: 942)
Der Hochton wird als Bestandteil des Akzenttons interpretiert (L*+H), die finale Tiefe als “Intonation Phrase boundary tone LI (L%), which has the option of being stress-seeking.” (ebd.: 944). Die Eigenschaft des Tieftons, mit einer betonten Silbe verkn¨upft zu sein, zeigt sich deutlich ¨ in der folgenden Abbildung, die eine Außerung mit weitem Fokus wiedergibt. Die Tiefe wird auf der Silbe mor erreicht, der letzten lexikalisch betonbaren Silbe und insgesamt vorletzten Silbe der Phrase “E Fanatiker het e Politiker ermordet”. Als Tonfolge der steigend-fallenden Verl¨aufe im BSG ergibt sich nach Fitzpatrick-Cole somit die Sequenz L*+H LI . Es l¨asst sich zu dieser Analyse zum einen kritisch anmerken, dass in der abschließenden Interpretation der Autorin mit LI nur noch ein tonaler Tiefpunkt verzeichnet ist. Der zuvor eingef¨uhrte Tiefton LP ist offenbar in LI und dessen Eigenschaft “stress-seeking” zu sein, inkorporiert. Zum anderen f¨allt bei Abbildung (4.4) auf, dass es im Anschluss an den Tonh¨ohengipfel zur Ausbildung eines Hochplateaus kommt, das Fitzpatrick-Cole als “fairly
65
Abbildung 4.4: Steigend-fallende Kontur im BSG, weiter Fokus (vgl. Fitzpatrick-Cole 1999: 942)
gradual fall to the next stressed syllable” (ebd.: 942) beschreibt. Statt eines graduellen Falls scheint jedoch eher ein Hochplateau mit steilem Abfall auf der postnuklear betonten Silbe vorzuliegen. Es ist daher plausibler, von einem zweiten H-Ton auszugehen, der die anhaltend hohe Tonh¨ohe bis zur postnuklear betonten Silbe verursacht. Der steile Abfall in dieser Silbe spricht f¨ur einen komplexen Phrasenakzent HL-, nach dem ein tiefer Abschnitt bis zur Grenze LI (bzw. L%) erfolgt. Diese Interpretation steht in Einklang mit der Analyse von Gilles (2005) und Peters (2006a) zur steigend-fallenden Kontur in Freiburg, das wie das BSG zu den Dialekten des Alemannischen z¨ahlt (siehe auch unten, Kapitel 4.1.2.5) Die Gemeinsamkeit mit den Analysen des steigend-fallenden Verlaufs im Standarddeutschen besteht in der Annahme eines bitonalen L*+H-Akzents. Auch im BSG ist der postnukleare Tonh¨ohenanstieg auf einen hohen Trailington zur¨uckzuf¨uhren und steht somit in Abh¨angigkeit zur tiefen Nukleussilbe.
4.1.2.2
Tirolisch (Barker 2002)
Das Tirolische z¨ahlt zu den bairisch-¨osterreichischen Dialekten und weist nach Barker (2002) ¨ einen nuklear steigend-fallenden Intonationsverlauf bei deklarativen Außerungen ohne semantische Besonderheiten auf. Der Verlauf zeichnet sich durch einen Anstieg in der Nukleussilbe aus, dessen Gipfel am Ende der Nukleussilbe erreicht wird. Daraufhin f¨allt die Tonh¨ohe zu einem tiefen Zielpunkt und kann bis zur Grenze flach bleiben. Der beschriebene Verlauf beginnt in der folgenden Abbildung auf der Nukleussilbe MOR der Gesamt¨außerung “Ruf mich MORgen an”. Die entsprechende Tonsequenz beschreibt Barker als L*+H L-. Die final tief bleibende Tonh¨ohe erh¨alt somit keine eigenst¨andige tonale Entsprechung. Auspr¨agungen mit Hochplateau werden nicht erw¨ahnt.
66
Abbildung 4.5: Steigend-fallende Kontur im Tirolischen (aus: Barker 2002: 139)
4.1.2.3 Obers¨achsisch (K¨ugler 2003) Das Obers¨achsische geh¨ort als einzige der beschriebenen regionalen Variet¨aten mit final steigend-fallender Kontur zu den ostmitteldeutschen Dialekten. Der steigend-fallende Verlauf findet sich hier bei spontansprachlichen Entscheidungsfragen. Er wird als Sequenz von tiefer Nukleussilbe mit hohem Trailington und abschließendem tiefen Grenzton (L*+H L%) ¨ interpretiert. Die folgende Abbildung zeigt den Verlauf auf der Außerung “Hat sie mich verTEIdigt”. Die Nukleussilbe TEI ist tief und leicht steigend, der Tonh¨ohengipfel wird fr¨uh in der Folgesilbe erreicht, bevor die Tonh¨ohe zur Grenze hin wieder abf¨allt.
Abbildung 4.6: Steigend-fallende Kontur im Obers¨achsischen (aus: K¨ugler 2003: 18)
Der Verlauf kontrastiert bei Entscheidungsfragen mit einem Verlauf mit hohem Grenzton (L*+H H%), wobei die Wahl des Grenztons im Zusammenhang mit dem erwarteten Informationsstatus der Antwort steht: Entscheidungsfragen mit tiefem Grenzton werden ge¨außert, wenn der Sprecher bereits eine Erwartung hinsichtlich der Antwort hat, hohe Grenzt¨one er-
67 scheinen, wenn der Sprecher keine solche Erwartung hat, die Antwort also neue Information darstellt (vgl. K¨ugler 2003: 21ff.)7
4.1.2.4
Schw¨abisch (K¨ugler 2004, 2007)
Wie das Berner Schweizerdeutsche und die Freiburger Stadtvariet¨at z¨ahlt auch das Schw¨abische zu den alemannischen Dialekten. Die Auspr¨agung des steigend-fallenden Verlaufs scheint jedoch a¨ quivalent zu der im Tirolischen zu sein. Der Verlauf wird auf die Tonsequenz L*+H (L-)L% zur¨uckgef¨uhrt. Auspr¨agungen mit Hochplateau finden keine Erw¨ahnung. Hinsichtlich der Ausrichtung des Falls stellt K¨ugler im Zusammenhang mit der Fokusstruktur der ¨ Außerung eine interessante Spezifikation des Verlaufs fest. Bei engem Fokus orientiert sich die Ausrichtung an der morphologischen Wortgrenze der fokussierten Dom¨ane. ¨ Dies veranschaulicht die folgende Abbildung einer Außerung mit Kontrastakzent aus K¨ugler (2004), die einen Abfall der Tonh¨ohe zur Grenze des hervorgehobenen Worts zeigt, wo¨ raufhin die Tonh¨ohe bis zur IP-Grenze flach bleibt. Die Außerung lautet “oberhalb von der Libelle”, das Wort oberhalb stellt die fokussierte Dom¨ane dar. Der tiefe Phrasenakzent L- ist an der Grenze dieses Wortes ausgerichtet.
Abbildung 4.7: Steigend-fallende Kontur im Schw¨abischen, Kontrastfokus (aus: K¨ugler 2004: 85)
Demgegen¨uber ist der finale Tonh¨ohenabfall bei weitem Fokus lediglich an der Grenze der IP ¨ ausgerichtet. Es gibt folglich keinen zus¨atzlichen tiefen Zielpunkt. W¨ahrend f¨ur Außerungen mit weitem Fokus also die Tonsequenz L*+H L% anzusetzen ist, beschreibt die Tonsequenz ¨ ¨ L*+H L-L% Außerungen mit engem Fokus. Diese weisen gegen¨uber den Außerungen mit weitem Fokus ein finales Tiefplateau auf. K¨ugler (2007) legt eine modifizierte phonologische Interpretation der steigend-fallenden Verl¨aufe vor. Sie werden zum einen als Kontur mit steigender Akzentsilbe (L*H) und tiefem Grenzton (L%) interpretiert, zum anderen als eine 7
K¨ugler (2005) beschreibt steigend-fallende Konturen im Obers¨achsischen auch f¨ur deklarative ¨ Außerungen. Der Tonh¨ohengipfel wird jedoch bereits in der Nukleussilbe erreicht; es handelt sich nach K¨uglers phonologischer Interpretation um einen fallenden H*L-Akzent mit pr¨afigiertem L-Ton (vgl. ebd.: 202ff., siehe dazu auch Kap. 2.2.2, 2.4.2.1).
68 durch L-Suffigierung modifizierte steigend-fallende Kontur (L*H+L %). Beide kommen bei ¨ deklarativen Außerungen vor, wobei die L-Suffigierung die semantische Modifikation S IGNI FICANT bewirkt8 (siehe dazu auch Kap. 2.2.2, 2.4.2.1).
4.1.2.5 Freiburg (Gilles 2005, Peters 2006a) Wie oben bereits angedeutet wurde, sind f¨ur die steigend-fallenden Konturen im Freiburgischen Auspr¨agungen mit Hochplateaus belegt, die hier gegen¨uber den Auspr¨agungen ohne Plateau deutlich die Mehrzahl bilden. Der Anstieg zu dem Hochplateau erfolgt unmittelbar nach der tiefen Nukleussilbe und wird durch den bitonalen Akzentton L*+H (bzw. L*H bei Peters (2006a)) zum Ausdruck gebracht. Der Abfall nach dem Hochplateau zeichnet sich wie auch im BSG durch eine steile Fallbewegung in einer postnuklear betonten Silbe (der schweren Silbe des letzten Fußes) aus. Dieser Fallbewegung wird durch den bitonalen Phrasenakzent HL- (bzw. HI +L) Rechnung getragen. Je nach L¨ange des Nukleus kann auf das erreichte tiefe Niveau ein Tiefplateau bis zum Ende der IP erfolgen. Der gesamte Verlauf mit Hochplateau wird von Gilles (2005) durch die Tonfolge L*+H HL-L% beschrieben, von Peters (2006a) durch die a¨ quivalente Tonfolge L*H HI L LI . Peters (2006a) stellt neben dem Hauptverlauf der steigend-fallenden Kontur zwei weitere Verl¨aufe heraus, die sich von der beschriebenen Kontur unterscheiden. Es handelt sich zum einen um eine steigend-fallend-gleichbleibende Kontur, die phrasenfinal eine nur unvollst¨andige Fallbewegung aufweist. Sie wird durch die Tonsequenz L*H HI LØI dargestellt. Zum anderen handelt es sich um eine final steigende Kontur, die als steigend-fallend-steigende Kontur bezeichnet und durch die Tonsequenz L*H HI L HI zum Ausdruck gebracht wird. Einen Intonationsverlauf der Hauptkontur L*H HI L LI bzw. L*+H HL-L% zeigt die fol¨ gende Abbildung aus Peters (2006a). Die konturtragende Außerung lautet “mir wohn jetz in KIRCHhofe drauße”. Unmittelbar nach der tiefen Nukleussilbe beginnt das Hochplateau. Der Abfall zur Grenze hin erfolgt steil auf der Silbe drau, die Tonh¨ohe bleibt daraufhin tief. Funktional steht die steigend-fallende Kontur in Freiburg im Zusammenhang mit dekla¨ rativen Außerungen, die einen konversationellen Abschluss bilden k¨onnen (vgl. Gilles 2005: 343). Sie k¨onnen demnach turnfinal auftreten. Nach Peters sind sie “unabh¨angig kommunikativ relevant”9 (Peters 2006a: 423). Dies wird besonders darin deutlich, dass der Verlauf bei ¨ Zitatformen und isolierten Außerungen wie beispielsweise Antworten auf Fragen verwendet wird (vgl. ebd.: 423). F¨ur den unvollst¨andig fallenden Verlauf L*H HI LØI stellt Peters fest, dass er bevorzugt bei listenartigen Aufz¨ahlungen, die “unter Bezug auf einen Aspekt der Stereotypie oder Formelhaftigkeit beschreibbar sind” (ebd.: 428-429), vorkomme.
8
Der Tonh¨ohengipfel wird bei diesen Konturen noch vor dem Ende der Nukleussilbe erreicht. F¨ur Details der horizontalen Ausrichtung der tonalen Zielpunkte siehe K¨ugler (2007: 73ff.). Der Tonh¨ohengipfel wird bei diesen Konturen noch vor dem Ende der Nukleussilbe erreicht. 9 Zur semantischen Interpretation der Intonationsverl¨aufe bei Peters siehe auch Kap. 2.2.2.
69
Abbildung 4.8: Steigend-fallende Kontur im Freiburgischen (aus: Peters 2006a: 415)
Der folgende Gespr¨achsausschnitt aus Peters (2006a) gibt einen Auszug mit Gebrauch der L*H HI L LI -Kontur wieder.10 Gespr¨achsthema sind “die kirchlichen Aktivit¨aten verschiedener Gemeinden”. ¨ Uber die kirchlichen Aktivit¨aten verschiedener Gemeinden
(10) 01 02 03
FR01b
FR01a FR01b FR01a
→
04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16
→
17 18
→
19 20
10
FR01b FR01a FR01b FR01a FR01b FR01a
AL-1
aber wIE GSAGT n- n- (--) ich GLAUB (-) der stUhlinger hett nIE so verEINsm¨ aßig wa[s geBOde (...........) [so Ischs au in HERdern [(...) tau [geNAU JA (-) geh¨ Ore mehr zu de STADT aber hErdern het kei [eigene prozesSION mit [dann ischs die mache ja bei fronlEIchnam in de STADT mit JA EB[be [JA und des wAR ebbe [(bei uns AUCH) [mir H¨ ANN des halt noch LI L* H-> HI LI LI JA (-) mir=h¨ ann sogar noch=e FLURprozession LI L* H-> HI LLI do gehn wir dann [ins WILDt[al LI L* HHI LLI [ JA>
Der in der Notation des Intonationsverlaufs verwendete Pfeil (→) verweist auf ‘Spreading’ des vorangehenden Tons, d.h. die Tonh¨ohe wird auf dem angegebenen Niveau beibehalten (vgl. Kap. 2.2.2, Fußnote 27).
70 21 22 23 24 25
FR01b FR01a AL-1 FR01b
[hm:: hmhm ACH ja [was pasSIERT da [bei mir AUCH
Quelle: FR01-1162ff (aus: Peters 2006a: 423-424)
¨ Die konturtragenden Außerungen in den Zeilen 16, 18 und 19 sind nach Peters “jeweils un¨ abh¨angig von nachfolgenden Außerungen kommunikativ relevant” (ebd.: 424). Mit jeder der ¨ drei Außerungen sei der thematische Beitrag zur Situation im Stadtteil Herdern potenziell abgeschlossen und ein thematischer Wechsel m¨oglich.
4.1.2.6 Mannheim (Gilles 2005, Peters 2006a) Auch im Mannheimerischen kommt die steigend-fallende Kontur vor. Die Auspr¨agung und tonologische Analyse des Verlaufs heben sich jedoch deutlich von den bisher beschriebenen Variet¨aten ab. Statt eines unmittelbaren Anstiegs der Tonh¨ohe nach der tiefen Nukleussilbe mit Erreichen des hohen Tonh¨ohenniveaus sp¨atestens in der Folgesilbe zur Nukleussilbe zeigt sich hier keine Abh¨angigkeit des H-Tons von der Nukleussilbe, sondern von einer postnuklearen lexikalisch betonten Silbe. Plateauf¨ormige Auspr¨agungen sind sehr selten; zumeist wird ein einsilbiger Tonh¨ohengipfel realisiert (vgl. Gilles 2005: 345). In der folgenden Abbildung erstreckt sich der nukleare Verlauf u¨ ber die Silben RUNner gflo:ge der Gesamt¨außerung “sin die bOmbe schon RUNner gflo:ge”. Nach der tiefen Nukleussilbe steigt die Tonh¨ohe bis zum postnuklearen Tonh¨ohengipfel auf der Silbe gflo: an und f¨allt zur IP-Grenze wieder auf tiefes Niveau ab.
Abbildung 4.9: Steigend-fallende Kontur im Mannheimerischen (aus: Peters 2006a.: 381)
Zur Beschreibung des Verlaufs im Mannheimerischen wird bei Gilles (2005) die Tonfolge L* H- L% angesetzt. Der H-Phrasenakzent verdeutlicht die Ausrichtung des Tonh¨ohengipfels an
71 einer lexikalisch betonten Silbe im Nachlauf. Die final tiefe Tonh¨ohe wird auf einen tiefen Grenzton zur¨uckgef¨uhrt. Im Gegensatz zu Gilles (2005) f¨uhrt Peters (2006a) den finalen Abfall auf einen tonal unspezifizierten Epiton zur¨uck, der nach H-T¨onen tiefe Tonqualit¨at annimmt. (Das Ph¨anomen des Epitons wird bei der Darstellung der k¨olnischen steigend-fallenden Konturen noch ausf¨uhrlich besprochen; siehe Kapitel 4.1.2.7) Er stellt fest, dass die Konturen mit finalem Abfall ¨ jeweils ein Aquivalent ohne die final fallende Tonh¨ohenbewegung aufweisen. Einige der untersuchten Sprecher verwenden ausschließlich Konturen ohne finalen Fall, andere verwenden nur solche mit finaler Fallbewegung und wieder andere verwenden sowohl die eine als auch die andere Auspr¨agung. Nach Peters’ Analyse stehen die Gebrauchsgewohnheiten der Sprecher nicht in Verbindung mit dem Dialektalit¨atsniveau ihrer Sprache, sondern mit ihrer regionalen Herkunft. Dies sei darauf zur¨uckzuf¨uhren, dass Mannheim an der Grenze zwischen zwei Dialektregionen liege, in deren s¨udlichem Abschnitt die final fallenden Varianten bevorzugt werden, im n¨ordlichen Teil hingegen die Varianten ohne finalen Fall. Dar¨uber hinaus l¨asst sich ein Zusammenhang des Konturengebrauchs mit verschiedenen Fragetypen feststellen, dergestalt dass Entscheidungsfragen im s¨udlichen Abschnitt mit steigend-fallender Kontur realisiert werden, Erg¨anzungsfragen hingegen mit einer anderen final fallenden Kontur (vgl. Peters 2006a: 385ff.). Grunds¨atzlich teilt Peters die steigend-fallende Kontur mit tiefer Nukleussilbe, postnuklearer H¨ohe und finalem Fall in drei Konturen ein, von denen zwei im Gegensatz zur Analyse von Gilles einen bitonalen Akzentton L*H aufweisen, eine wie auch bei Gilles einen monotonalen Akzentton L*. Bei den beiden Erstgenannten handelt es sich um eine steigendsteigend-fallende Kontur und um eine steigend-gleichbleibend-fallende Kontur. Sie heben sich gegen¨uber der Kontur mit monotonalem Akzentton durch einen schnelleren Anstieg zu hohem Tonh¨ohenniveau ab, auf das vor dem finalen Fall entweder ein gleichbleibendes Plateau oder ein nochmaliger Anstieg im Bereich einer lexikalisch betonten Silbe erfolgt. Die entsprechenden Tonfolgen lauten L*H HI LI f¨ur die steigend-steigend-fallende Kontur und L*H ØLI f¨ur die steigend-gleichbleibend-fallende Kontur. Die Tonfolge L* HI LI umschreibt die oben nach Gilles als L* H- L% beschriebene Grundkontur, die sich durch einen flacheren Anstieg zum einsilbigen Tonh¨ohengipfel auszeichnet und von Peters mit tief-steigend-fallend benannt wird. Im Gegensatz zur steigend-fallenden Kontur im Freiburgischen stehen alle steigendfallenden Konturvarianten in Mannheim im Zusammenhang mit konversationeller Weiterweisung. Der Gebrauch der Kontur signalisiert somit, dass der Sprecher beabsichtigt weiterzusprechen. Die Kontur kann dementsprechend nicht turnfinal vorkommen (vgl. Gilles 2005: 365). Peters beschreibt sie als “kommunikativ nicht unabh¨angig von einer nachfolgenden ¨ Außerung relevant” (ebd.: 394), wodurch ebenfalls ihr weiterweisender Charakter zum Ausdruck kommt. In Hinblick auf die von ihm festgestellten Konturvarianten unternimmt er eine funktionale Unterscheidung, indem er die Verl¨aufe mit bitonalem Akzentton L*H und Pla¨ teaubildung (steigend-gleichbleibend-fallend) Außerungen in sequenziellen Aufz¨ahlungen ¨ zuschreibt, die Verl¨aufe mit monotonalem Akzentton L* hingegen Außerungen, die in elaborativen Sequenzen vorkommen. F¨ur die steigend-steigend-fallende Kontur wird keine funktionale Spezifikation vorgenommen (vgl. ebd. 394ff.). ¨ Ein Beispiel f¨ur eine solche steigend-steigend-fallende Außerung im Kontext gibt der n¨achste Gespr¨achsauszug. Thematisiert werden “Verladetechniken im Hafen fr¨uher und heute”.
72 ¨ Uber Verladetechniken im Hafen fr¨uher und heute
(11)
→
01 02 03 04 05 06 07 08 09
AL-2
10 11 12
MA06b MA06a
13
AL-2
MA06a AL-2 MA06b MA06a
und die hatten wohl fr¨ uher noch SACKtr¨ ager die (-) die die SCHIFfe leer gemacht habm JA (.) dEs is schon LANG her kann [k¨ onn (...) [des sIn e paar JOH(re) ja Isch ¨ ah: kann noch ¨ ah misch erINnern wo noch sAckgut AUSgelade worre is (-) awwer seit die conTAIner kumme sin LI -> L* H HI LI ah is ja ALles in denne KISCHde drin (--) des gIbt doch (--) ¨ ah (--) von hAnd sowas ¨ uberHAUPT ni=mer hm
Quelle: MA06-737ff (aus: Peters 2006a: 394)
Im Gegensatz zu den steigend-fallenden Konturen im Freiburgischen zeigt sich hier deutlich, ¨ dass die konturtragende Außerung (Z 9) keinen konversationellen Abschluss darstellen kann. Sie ist sowohl inhaltlich als auch syntaktisch von der Folge¨außerung des Sprechers in Z 11 abh¨angig (vgl. ebd.: 394).
4.1.2.7 K¨oln (Gilles 2005, Peters 2006a) Im K¨olnischen zeigt die steigend-fallende Kontur ein h¨oheres Vorkommen als in Mannheim oder Duisburg (s.u.). Der Verlauf wird von Gilles wie in Mannheim durch L* H- L% beschrieben, wodurch zum einen die Unabh¨angigkeit des postnuklearen Hochtons von der Nukleussilbe zum Ausdruck kommt, zum anderen die finale Tiefe wiederum auf einen tiefen Grenzton zur¨uckgef¨uhrt wird (vgl. Gilles 2005: 353ff.). Peters (2006a) geht demgegen¨uber von einem tiefen Epiton aus, der im Anschluss an hoch abschließende IPs realisiert wird und somit einen Tonh¨ohenabfall bewirkt. Der Begriff des Epitons geht auf K¨unzel & Schmidt (2001) zur¨uck, die ihn im Zusammenhang mit den mittelfr¨ankischen Tonakzenten einf¨uhren. In ihrer Studie zur Realisierung der mittelfr¨ankischen ¨ Tonakzente in interrogativen Außerungen stellen die Autoren IP-final einen leichten Abfall der Tonh¨ohe fest, der allerdings nur dann erscheint, wenn die Nukleussilbe phrasenfinal auftritt und zugleich ein TA1-Wort darstellt. Sie f¨uhren den Tonh¨ohenabfall hypothetisch auf die schnelle Anstiegsbewegung der Tonh¨ohe bei TA1-W¨ortern zur¨uck, die einen “komplexen Ausschwingvorgang der Stimmb¨ander” (437) nach sich ziehe (vgl. ebd.: 436ff.). Der finale Abfall w¨are somit artikulatorisch-phonetisch bedingt und k¨onnte kein phonologisches intonatorisches Merkmal darstellen. Auch Peters weist dem tiefen Epiton keinen phonologischen Status zu, der etwa in tonalem Kontrast zu finalen H-T¨onen stehen w¨urde. Vielmehr generalisiert Peters das Konzept
73 des Epitons und geht, unabh¨angig von Tonakzenten und Position der Nukleussilbe, davon aus, dass jeder finale Ton von einem tiefen Epiton gefolgt werde, der nur nach H-T¨onen realisiert werde. Steht zu wenig segmentelles Material f¨ur die Realisierung des Epitons zur Verf¨ugung oder liegt hohe Sprechgeschwindigkeit vor, so wird der Abfall trunkiert (vgl. Peters 2006a: 276). Durch diese Auffassung wird der phonologische Kontrast zwischen final steigend-fallenden Verl¨aufen und final steigenden Verl¨aufen aufgehoben. In Peters’ Sinne gibt es somit im K¨olnischen keine einfach steigenden Verl¨aufe, da sie alle von einem Epiton gefolgt werden. Diese Konzeptionierung hat m.E. den Nachteil, dass sie stark von der sprachlichen Oberfl¨ache abstrahiert und letztendlich nicht mehr nachvollziehbar macht, ob es sich bei den grunds¨atzlich als final fallend ausgewiesenen Verl¨aufen um einen phonetisch steigenden oder steigend-fallenden Verlauf handelt. Auch die funktionale Analyse nimmt bei Peters die generellen Konturen mit (angenommenem) Epiton als Ausgangspunkt, so dass eventuelle Unterschiede zwischen phonetisch steigenden und steigend-fallenden Konturen von vornherein nicht feststellbar sind. Weiterhin erscheint unplausibel, dass alle oberfl¨achlich steigenden Verl¨aufe im K¨olnischen auf Trunkierung zur¨uckzuf¨uhren sein sollten. Auf diesen Aspekt wird das folgende Kapitel 4.2 zur phonetischen Gestaltung der steigend-fallenden Konturen zur¨uckkommen. Abgesehen von der von Gilles (2005) abweichenden Konzeptionierung des finalen Falls stellt Peters analog zum Mannheimerischen zus¨atzlich drei verschiedene Varianten des Verlaufs heraus, die sich hinsichtlich der Anstiegsgeschwindigkeit und der Auspr¨agung der postnuklearen H¨ohe unterscheiden. Zwei Varianten weisen einen bitonalen Akzentton auf, wodurch ein steiler Anstieg der Tonh¨ohe in der Folge der Nukleussilbe zum Ausdruck gebracht wird. Die erste dieser Varianten ist durch einen weiteren Anstieg gekennzeichnet, bevor die Tonh¨ohe ab der Kopfsilbe des letzten Fußes wieder abf¨allt. Diese steigend-steigend-fallende Variante wird durch die Tonsequenz L*H HI LI bezeichnet. Als Beispiel gibt Peters den fol¨ ¨ genden Verlauf auf der Außerung “in der OFfentlischkeit”:
Abbildung 4.10: Steigend-fallende Kontur im K¨olnischen: L*H HI LI (aus: Peters 2006a: 270)
Die zweite der Varianten mit bitonalem Akzentton bleibt nach Erreichen der hohen Tonh¨ohe flach und f¨allt final zu tieferer Tonh¨ohe ab. Sie ist demnach durch ein Hochplateau gekennzeichnet und wird durch die Tonfolge L*H ØI LI umschrieben (steigend-gleichbleibend-fal-
74 ¨ ¨ lend). Die konturtragende Außerung des entsprechenden Verlaufs lautet “wenn die BLUten alle runterkommen”:
Abbildung 4.11: Steigend-fallende Kontur im K¨olnischen: L*H ØI LI (aus: Peters 2006a: 270)
Demgegen¨uber steht als dritte Variante ein Verlauf mit monotonaler Akzentsilbe. Der Anstieg nach der Nukleussilbe erfolgt hier flacher, die postnukleare Tonh¨ohe wird auf einer lexikalisch betonten Silbe (der Kopfsilbe des letzten Fußes) erreicht, von wo aus sie zur Grenze hin abf¨allt. Diese nach Peters tief-steigend-fallende Kontur gibt die Tonfolge L* HI LI wie¨ ¨ der. Der nukleare Abschnitt MObel kriejen der Gesamt¨außerung “da kOnn se hUndertmal ¨ neue MObel kriejen” weist eine zun¨achst flach tief bleibende Tonh¨ohe auf, bevor auf krie der postnukleare Tonh¨ohengipfel erreicht wird.
Abbildung 4.12: Steigend-fallende Kontur im K¨olnischen: L* HI LI (aus: Peters 2006a: 271)
Die steigend-fallende Kontur fungiert grunds¨atzlich wie auch in Mannheim als Weiterweisungssignal; sie kommt nicht turnfinal vor (vgl. Gilles 2005: 347ff.). Entsprechend der Funktionen der Mannheimer steigend-fallenden Konturen beschreibt Peters auch die K¨olner kon¨ ¨ turtragenden Außerungen als “kommunikativ nicht unabh¨angig von einer nachfolgenden Außerung relevant” (Peters 2006a: 291-292). Er stellt f¨ur die Konturen mit bitonalem Akzentton das Vorkommen in additiven Sequenzen fest, f¨ur die Kontur mit monotonalem Akzentton hingegen das Vorkommen in elaborativen Sequenzen. Dies veranschaulichen die folgenden
75 beiden Beispiele. Das erste Beispiel zeigt einen Gespr¨achsausschnitt mit steigend-fallenden Konturen mit bitonaler Akzentsilbe. Der Sprecher a¨ ußert sich zum Thema “Altern”. ¨ Uber das Altern
(12) 01
→
02 03 04
→
05
→
06 07 08 09
FF
dann sAg ich mEnsch da h¨ att die frAU (...) die AUgen zugemacht h¨ att se dat leid alles erSPART un die oma AUCH / ne (--) aber wie=ich jetz hIEr wo=isch ¨ uber FUFFzisch bin LI -> L* H HI LI (-) mein mutter die geht uff de ACHTzig an= LI -> L* H HLI =die oma uff die NEU:Nzig LI -> LL* H HLI dat is doch KLAR dat die mal gehen m¨ ussen LI -> H* L-> LI (1,0) nur dat se jetzt zerST¨ UKkelt so wird dat find isch OCH doof
Quelle: K01-218ff (aus: Peters 2006a: 292)
¨ In diesem Beispiel sind die Außerungen in Z4, Z5 und Z6 als steigend-fallend verzeichnet. ¨ Sie werden als von der Außerung in Z7 kommunikativ abh¨angig beschrieben, da sie nur “insofern relevant [sind], als sie Gr¨unde f¨ur die Aussage in Z7 liefern.” (ebd.: 292). Wie auch in Mannheim zeigt sich hier deutlich die konversationell weiterweisende Funktion der steigend-fallenden Kontur. Es ist allerdings zu beachten, dass die Analyse der Konturen als steigend-fallend teilweise der automatischen Hinzuf¨ugung des tiefen Epitons geschuldet ist, wie bereits angemerkt ¨ wurde. So ist im gegebenen Beispiel zwar die Außerung in Z 4 mit einem auch auditiv und ¨ akustisch-phonetisch steigend-fallenden Verlauf verkn¨upft, die Außerungen in den Zeilen 5 und 6 jedoch tragen eine nach H¨oreindruck und akustischer Analyse final steigende Kontur. Die funktionale Analyse der steigend-fallenden Kontur bei Gilles (2005) spricht bemerkenswerterweise gegen eine Gleichbehandlung der zur Diskussion stehenden Konturen als steigend-fallend. Seine Analyse weist die steigend-fallende Kontur in Kontexten mit sukzessiv reihender Weiterweisung aus. Sie komme dem gegen¨uber nicht bei gleichordnend reihender Weiterweisung vor, wie sie beispielsweise bei Listen oder generell der Reihung von gleichrangigen Fakten vorliegt. Hier seien vielmehr final steigend-gleichbleibende Verl¨aufe zu beobachten (vgl. Gilles 2005: 364ff.). Es l¨asst sich demzufolge eine systematische Verteilung der steigend-fallenden Kontur gegen¨uber den steigenden Konturen feststellen, die auch im obigen Beispiel nachvollziehbar ist. Dies legt nahe, auditiv und akustisch-phonetisch steigende von steigend-fallenden Verl¨aufen getrennt zu betrachten.11 11
Auch die eigene Analyse wird zeigen, dass sich die steigenden von den steigend-fallenden Konturen hinsichtlich der funktionalen Funktionen voneinander abgrenzen lassen. Siehe dazu insbesondere Kap. 4.4.1.5 und 4.4.1.6
76 Der zweite Gespr¨achsausschnitt veranschaulicht nun noch den Gebrauch der steigendfallenden Kontur mit monotonaler Akzentsilbe L*. Die Sprecherin thematisiert den schmerzlichen Verlust von Verwandten. ¨ Uber den Verlust von Verwandten
(13)
→
01 02 03 04
→
05 06 07 08 09
AF
wenn man dann en lIEben menschen verLIEren sollte alsodat dat wIEgt dat Allet nit AUF da k¨ Onn se hUndertmal nEUe M¨ Obel kriejen LI H* L H* L H* L LL* -> HI LI neues AUto kriejen LI LL* -> HI LI (-) in dEm moment is ihnen alles eGAL LI H* L !H* LLI ne=da w¨ Urden se gerne auf alles verZICHten (2.0) und (-) ich WEESS et nit also et Is Is TRAUrig
Quelle: K01-53ff (aus: Peters 2006a: 294)
¨ Auch hier sind die konturtragenden Außerungen weiterweisend und “kommunikativ nur zu¨ sammen mit der Außerung in Z. 6 relevant.” (Peters 2006a: 294). Im Gegensatz zu den kon¨ turtragenden Außerungen im vorangegangenen Beispiel werden sie als Bestandteile einer ¨ elaborativen und nicht einer additiven Außerungssequenz beschrieben. In der Sequenz werden Elemente angef¨uhrt, die nach Ansicht der Sprecherin den Verlust eines nahe stehenden Menschen nicht aufwiegen k¨onnten.
4.1.2.8 Duisburg (Gilles 2005, Peters 2006a) Wie f¨ur Mannheim und K¨oln wird die Duisburger steigend-fallende Kontur von Gilles (2005) durch die Tonfolge L* H- L% beschrieben. Der postnukleare Tonh¨ohengipfel ist einsilbig und an einer lexikalisch betonbaren Silbe im Nachlauf ausgerichtet. Plateaubildungen sind nicht registriert. Der Fall erreicht zumeist mittlere Tiefe. Peters (2006a) stellt zwei Varianten steigend-fallender Konturen fest, die er insofern in Beziehung zu den Konturen des Nordstandarddeutschen (NSD) setzt, als sie zu denjenigen mit hohem finalen Grenzton eine finale Fallbewegung hinzuf¨ugen. Die beiden Varianten unterscheiden sich untereinander hinsichtlich der Falltiefe: Bei der einen Variante “wird das F0-Maximum auf der Kopfsilbe des letzten Fußes der IP erreicht, und F0 f¨allt von da bis zur IP-Grenze nur leicht ab. Bei der [anderen] Variante wird das F0-Maximum wie bei der [ersten] Variante auf der Kopfsilbe des letzten Fußes erreicht, wonach F0 deutlich abf¨allt, a¨ hnlich wie im K¨olnischen.” (ebd. 333). Tief fallende IP-Grenzen kommen im Anschluss an hoch-steigende Konturen (mit hoher Nukleussilbe H*) und zweifach-steigende Konturen (mit tiefer Nukleussilbe L*) vor, flach fallende Grenzen ebenfalls im Anschluss an diese beiden Konturen und zus¨atzlich auch nach tief-steigenden Konturen (mit tiefer Nukleussilbe
77 L*). Der tiefe Fall wird durch einen zus¨atzlichen finalen L-Ton zum Ausdruck gebracht, die flach fallenden Verl¨aufe erhalten keine zus¨atzliche tonale Spezifikation. Es ergeben sich somit die Tonfolgen L* HI - f¨ur die tief-steigend-fallende Kontur, L*H HI LI bzw. L*H HI - f¨ur die zweifach-steigende Kontur und H* HI LI bzw. H* HI - f¨ur die hoch-steigende Kontur. Die zuletzt genannte hoch-steigende Kontur weist als einzige der bisher vorgestellten Konturen eine hohe Nukleussilbe H* auf. Sie geh¨ort deshalb im engeren Sinne nicht zu den nuklear steigend-fallenden Konturen und wird aus diesem Grund im Folgenden außer Acht gelassen. ¨ Funktional stehen die steigend-fallenden Außerungen in Duisburg wie auch in Mannheim ¨ und K¨oln im Zusammenhang mit konversationell weiterweisenden Außerungen (vgl. Gilles 2005: 365). Alle Varianten sind wiederum kommunikativ nicht unabh¨angig vom Folgenden relevant. Die Verl¨aufe mit bitonaler Akzentsilbe stehen, wie im K¨olnischen, im Zusammenhang mit additiven Sequenzen, die mit monotonaler Akzentsilbe hingegen mit elaborativen Sequenzen (vgl. Peters 2006a: 348ff.). Funktionale Unterschiede hinsichtlich der Falltiefe der Verl¨aufe werden nicht erw¨ahnt. ¨ Die folgende Tabelle gibt abschließend einen Uberblick u¨ ber die Verwendung und tonologische Interpretation der steigend-fallenden Verl¨aufe in den regionalen Variet¨aten des Deutschen. Es wird jeweils die Notationsweise der entsprechenden Autoren u¨ bernommen. ¨ Tabelle 4.2: Uberblick u¨ ber steigend-fallende Verl¨aufe in den regionalen Variet¨aten des Deutschen Tonologische Interpretation
Verwendung
Tirolisch
L*+H L-
¨ neutrale deklarative Außerungen
BSG
L*+H LI
¨ neutrale deklarative Außerungen
L*+H HL- L% (Gilles 2005)
¨ deklarative Außerungen konversationeller Abschluss generell unabh¨angig kommunikativ relevante ¨ Außerungen
Freiburg
Schw¨abisch
L*H HI L LI L*H HI L ØI (Peters 2006a)
bei listenartigen Aufz¨ahlungen
L*+H L% bzw. L*H L% L*+H L-L% bzw. L*H+L%
deklarative und interrogative ¨ Außerungen weiter Fokus enger Fokus bzw. S IGNIFICANT
L* H- L% (Gilles 2005) Mannheim L*H HI LI L*H ØI LI L* HI LI (Peters 2006a)
¨ deklarative Außerungen konversationelle Weiterweisung, sukzessiv-reihend generell kommunikativ nicht unabh¨angig relevant bei sequenziellen Aufz¨ahlungen bei elaborativen Sequenzen continue
78 Tonologische Interpretation
Verwendung
L* H- L% (Gilles 2005)
¨ deklarative Außerungen konversationelle Weiterweisung, sukzessiv-reihend generell kommunikativ nicht unabh¨angig relevant bei additiven Sequenzen
K¨oln L*H HI LI L*H ØI LI L* HI LI (Peters 2006a) Obers¨achsisch
bei elaborativen Sequenzen ¨ interrogative Außerungen Erwartungen hinsichtlich der Antwort
L*+H L
¨ deklarative Außerungen konversationelle Weiterweisung, sukzessiv-reihend
L* H- L% (Gilles 2005) Duisburg
generell kommunikativ nicht unabh¨angig relevant bei additiven Sequenzen bei elaborativen Sequenzen
L*H HI L* HI - (Peters 2006a)
Die Verl¨aufe lassen sich in vier Typen unterteilen, die im Folgenden anhand schematischer Abbildungen vorgestellt werden. Die Typen abstrahieren von den jeweiligen intonatorischen Systemen, die die einzelnen Autoren zu Grunde legen und stellen eine rein deskriptive Darstellung des Verlaufs dar. Tabelle 4.3: Die tonologischen Varianten des steigend-fallenden Verlaufs in (Regional-)Variet¨aten des Deutschen
- Schw¨abisch Typ 1
- Obers¨achsisch l%
l*+h
- Standarddeutsch - Tirolisch
Typ 2
- Schw¨abisch l*+h
l-
%
continue
79
- Berner Schweizerdeutsch Typ 3
- Freiburg l*+h
hl-
l%
- Mannheim - K¨oln
Typ 4
- Duisburg l*
h-
l%
Typ 1 zeichnet sich durch einen raschen Anstieg nach der tiefen Nukleussilbe und einen kontinuierlichen Abfall bis zur IP-Grenze aus. Bei Typ 2 ist die finale Tiefe demgegen¨uber an einer postnuklear betonbaren Silbe ausgerichtet; im Anschluss daran bleibt die Tonh¨ohe bis zur IP-Grenze tief. Auch Typ 3 ist durch einen raschen Anstieg zu hoher Tonh¨ohe gekennzeichnet; im Gegensatz zu den ersten beiden Typen kommt es jedoch zu einem Hochplateau. Die Tonh¨ohe f¨allt dann auf einer betonbaren Silbe im Nachlauf steil ab und wird bis zur IPGrenze tief gehalten. Typ 412 schließlich weist einen kontinuierlichen Anstieg von der tiefen Nukleussilbe bis zu einer betonbaren Silbe im Nachlauf auf; von dort f¨allt die Tonh¨ohe bis zur IP-Grenze (meist) bis auf mittlere Tiefe ab. Selten kommt diese Variante auch mit einem Hochplateau vor. Bei der k¨olnischen steigend-fallenden Kontur handelt es sich um Typ 4. Die phonetischen Varianten und Details der Ausrichtung des Tonh¨ohengipfels im Nachlauf der IP werden in den Kapiteln 4.2 und 4.3 beschrieben.
4.1.3
Nuklear steigend-fallende Konturen in anderen Variet¨aten
Final steigend-fallende Verl¨aufe werden auch f¨ur Standard- und Regionalvariet¨aten außerhalb des deutschen Sprachraums erw¨ahnt. Besonders bekannt sind hier die steigend-fallenden Verl¨aufe im Ungarischen, Rum¨anischen und Griechischen, die als Eastern European Question Tune (EEQT) zusammengefasst werden (vgl. Ladd 1996, Grice et al. 2000, K¨ugler 2004) sowie die steigend-fallenden Verl¨aufe einiger englischer Variet¨aten (vgl. Ladd 1996, Cruttenden 2 1997, Grabe 2002, Grabe et. al. 2002). W¨ ahrend es sich bei den Konturen im Englischen um ¨ deklarative Außerungen handelt, ist die Kontur in den genannten osteurop¨aischen Sprachen ¨ typisch f¨ur interrogative Außerungen. Es folgt zuerst eine knappe Darstellung der Kontur im Englischen, danach wird die EEQT vorgestellt.
12
Die tonologische Beschreibung weicht von Peters (2006a) ab, der f¨ur die Variet¨aten sowohl monoals auch bitonale Akzentt¨one vorsieht (siehe Tab. 2).
80 4.1.3.1 Variet¨aten des Englischen Cruttenden (1997) stellt fest, dass sich die nordenglischen St¨adte prinzipiell durch einen geh¨auften Gebrauch steigender Verl¨aufe auszeichnen. Diese steigenden Verl¨aufe unterteilt er in vier Varianten, von denen zwei einen finalen Abfall der Tonh¨ohe vorsehen: der “riseplateau-slump” und der “rise-fall”. Den rise-plateau-slump charakterisiert er als “a jump-up on the unaccented syllable following the nucleus and the maintenance of this level on succeeding unaccented syllables, except that the last one or two syllables may decline slightly” (ebd.: 133). Der rise-fall hingegen wird als “a rise-fall in which the voice reaches the baseline and which is accomplished without any plateau between rise and fall” (ebd.: 133) beschrieben. W¨ahrend der steigend-fallende Verlauf ohne Plateau (rise-fall) in erster Linie dem Welsh English zugeschrieben wird, sei der steigend-fallende Verlauf mit Plateau und nur leichtem finalen Abfall (rise-plateau-slump) in den Variet¨aten von Belfast, Liverpool, Tyneside und Birmingham dominant (vgl. ebd. 133ff.). Die Beschreibung des rise-plateau-slump legt eine Abh¨angigkeit des Anstiegs von der tiefen Nukleussilbe nahe, da er offenbar in ihrer unmittelbaren Folge auftritt. Aus der Beschreibung des rise-fall hingegen geht nicht hervor, in welchem Abstand zur Nukleussilbe der Anstieg erfolgt. Ladd (1996) widmet sich detailliert dem steigend-fallenden Verlauf in Glasgow, den er als “a low valley immediately preceding the accented syllable and a high peak in the following unstressed syllable, followed by a gradual fall to the utterance-final low” (ebd. 124) beschreibt. Die Beschreibung entspricht einem steigend-fallenden Verlauf ohne Plateau, was die folgende Abbildung aus Ladd (1996) veranschaulicht.
Abbildung 4.13: Steigend-fallende Kontur in Glasgow (aus: Ladd 1996: 124)
Ladd f¨uhrt zun¨achst aus, dass die Ausrichtung des L- und H-Tons des Anstiegs unmittelbar vor bzw. nach der Nukleussilbe Probleme bei der tonologischen Analyse der T¨one mit sich bringe. Der L-Ton ist nicht eindeutig mit der betonten Silbe verkn¨upft, so dass es sich nicht um einen “starred tone” im engen Sinne handele. In Anbetracht der Tatsache, dass auch das
81 Griechische bei pr¨anuklearen Akzenten eine a¨ hnliche Ausrichtung der T¨one aufweise, die demzufolge nicht ungew¨ohnlich sei, wenn auch abweichend vom nordamerikanischen Standardenglisch, entscheidet Ladd sich letztendlich doch f¨ur einen L*-Ton. Zur Beschreibung der gesamten Kontur zieht Ladd die Tonfolge L*..H..L% heran. Er r¨aumt allerdings ein, dass das Alignment des L- und des H-Tons generell sehr variabel sei, so dass m¨oglicherweise auch Kombinationen wie H*..H..L% oder L*+H..H..L% denkbar seien. Weiterhin sei unklar, ob in der Variet¨at von Glasgow ein intonatorischer Unterschied zwischen Aussagen und Fragen bestehe (vgl. Ladd 1996: 144ff.). Die neueren Untersuchungen von Grabe et al., die im Rahmen des IViE-Projekts durchgef¨uhrt wurden, best¨atigen den steigend-fallenden Verlauf mit Plateau in deklarativen Aussagen in der Variet¨at von Belfast. In deklarativen Fragen (d.h. Fragen mit Verbzweitstellung) kommt dieser Verlauf auch in Dublin vor. Liverpool hingegen findet in diesem Zusammenhang keine Erw¨ahnung, obwohl es ebenfalls zu den untersuchten St¨adten z¨ahlte. Auch Cardiff, das nach Cruttenden (1997) einen steigend-fallenden Verlauf ohne Plateau aufweisen sollte, wird nicht erw¨ahnt. Tonologisch wird der Verlauf durch die Tonfolge L*H L% umschrieben, wobei L*H einen bitonalen Akzentton darstellt (vgl. Grabe 2002, Grabe et al. 2002). In den Beschreibungen des Englischen wird der H-Ton demzufolge wie im Standarddeutschen und den meisten deutschsprachigen Variet¨aten als abh¨angig von der Nukleussilbe dargestellt.
4.1.3.2
Eastern European Question Tune (EEQT)
Die ausf¨uhrlichste neuere Behandlung der steigend-fallenden Konturen in den osteurop¨aischen Sprachen stellt Grice et al. (2000) dar. Sie widmen sich der EEQT vor dem Hintergrund der Diskussion um den Status von Phrasenakzenten in der intonatorischen Phonologie. Unter Phrasenakzenten sind Grenzt¨one zu verstehen, die “an additional or alternative tendency to co-occur with a stressed syllable or some other designated tone-bearing unit” (Grice et al. 2000: 144) aufweisen (vgl. Kapitel 4.3). Deutlich wird dies an einer steigend-fallenden Kontur, die im Standard-Ungarischen, -Rum¨anischen und -Griechischen sowie einigen ihrer Nicht-Standard-Variet¨aten vorkommt. Sie zeichnet sich durch eine tiefe Nukleussilbe aus, auf die ein Anstieg zu hoher Tonh¨ohe mit anschließendem Abfall zur Grenze folgt (vgl. ebd.: 148ff.). Wie zum Teil auch in den oben beschriebenen Variet¨aten des Mannheimerischen, K¨olnischen und Duisburgischen weist der Anstieg nun keine Abh¨angigkeit zur tiefen Nukleussilbe auf. Sofern der nukleare Abschnitt lang genug ist, ist er statt dessen entweder fest mit der vorletzten Silbe der Intonationsphrase verkn¨upft (Standard-Ungarisch), oder er ist an einer postnuklearen, lexikalisch betonten Silbe ausgerichtet (Standard-Griechisch, Standard-Rum¨anisch). Die Nicht-Standard-Variet¨aten verhalten sich zum Teil anders als ihre ¨ standard sprachlichen Aquivalente. So richtet das Zypriotische Griechisch beispielsweise den postnuklearen Tonh¨ohengipfel generell an der letzten oder vorletzten Silbe der Intonationsphrase aus, unabh¨angig von einer eventuell vorhandenen lexikalisch betonten Silbe (vgl. ebd. 153ff.). Generell zeigt sich jedoch die Tendenz, den H-Ton unabh¨angig von der Nukleussilbe zur rechten Phrasengrenze hin auszurichten, so dass in allen F¨allen von einem Phrasenakzent gesprochen wird. Die Tonfolge wird deshalb als L* H- L% angegeben.
82 Interessant ist weiterhin, dass sowohl das transsilvanische Rum¨anisch als auch das Ungarische offenbar ausschließlich plateauf¨ormige Auspr¨agungen der steigend-fallenden Kontur aufweisen. Auf die tiefe Nukleussilbe erfolgt ein sofortiger Anstieg zu hoher Tonh¨ohe, die bis zum Abstieg hoch gehalten wird. W¨ahrend der Tonh¨ohenabfall im transsilvanischen Rum¨anisch mit einer postnuklear betonten Silbe verkn¨upft ist, richtet er sich im transsilvanischen Ungarisch an der vorletzten Silbe der IP aus. Die Plateaubildung wird nichtsdestotrotz vollst¨andig auf einen H-Phrasenakzent zur¨uckgef¨uhrt und nicht etwa durch einen zus¨atzlichen H-Ton beschrieben, der den fr¨uhen Anstieg zu hoher Tonh¨ohe gew¨ahrleisten k¨onnte. Dies steht vor dem Hintergrund des Bestrebens, sowohl die Auspr¨agung mit Plateau als auch die Auspr¨agung ohne Plateau auf eine gemeinsame Tonfolge zur¨uckzuf¨uhren. Der Beginn des Plateaus wird deshalb auf einen kopierten H-Phrasenakzent zur¨uckgef¨uhrt (vgl. ebd. 158ff.). Auch f¨ur die steigend-fallende Kontur mit Plateau gilt deshalb die Tonfolge L* H- L% (siehe Kapitel 4.3 zur tonologischen Analyse der steigend-fallenden Kontur im K¨olnischen). Die vorangegangene Darstellung hat alle vorliegenden Beschreibungen der steigend-fallenden Verl¨aufe in deutschsprachigen Variet¨aten und exemplarisch einige Vorkommen in anderen Variet¨aten zusammengefasst. Es ist nat¨urlich nicht auszuschließen, dass die Kontur auch in anderen, hier nicht beschriebenen Variet¨aten auftritt, die in der bisherigen Forschungsliteratur noch nicht erfasst werden. Es hat sich gezeigt, dass die Verl¨aufe trotz oberfl¨achlicher ¨ Ahnlichkeit unterschiedliche tonologische Interpretationen nach sich ziehen k¨onnen und auch mit unterschiedlichen Funktionen verkn¨upft sein k¨onnen. Allen gemeinsam ist die Annahme einer tiefen Akzentsilbe. Die postnukleare Tonh¨ohe wird entweder als hoher Trailington, hoher Phrasenakzent oder eine Kombination aus beidem aufgefasst. F¨ur den finalen Abfall wird entweder ein finaler tiefer Grenzton, eine Kombination aus tiefem Phrasenakzent und tiefem Grenzton oder ein tiefer Epiton verantwortlich gemacht. Der n¨achste Abschnitt beschreibt die phonetische Variation der steigend-fallenden Kontur im K¨olnischen.
4.2
Phonetische Varianten
Die untersuchten 350 steigend-fallenden Verl¨aufe im K¨olnischen variieren phonetisch hinsichtlich der H¨ohe und Auspr¨agung der Nukleussilbe, hinsichtlich der Anstiegsbewegung unmittelbar nach der Nukleussilbe und hinsichtlich der Tiefe des finalen Falls. Die Nukleussilbe kann tief oder auch mittelhoch realisiert werden. Dar¨uber hinaus kann sie sich durch einen flachen Verlauf oder eine mehr oder weniger steile Anstiegsbewegung auszeichnen. Sowohl bei flachem als auch bei steigendem Verlauf kann ein tiefer oder mittel hoher H¨oreindruck vorliegen. Bei der Anstiegsbewegung nach der Nukleussilbe lassen sich kontinuierliche gegen¨uber sprunghaften Anstiegen sowie flachere (flach bleibende) gegen¨uber steileren Verl¨aufen feststellen. Der finale Fall schließlich kann tief, mittel tief oder hoch enden. Dar¨uber hinaus kommt der steigend-fallende Verlauf mit plateauartiger und mit einsilbiger Auspr¨agung des postnuklearen Tonh¨ohengipfels vor (siehe auch Kap. 4.1, 4.3). Die phonetische Variation ist bei beiden Auspr¨agungsformen gleichermaßen gegeben.
83 Grunds¨atzlich ist zu fragen, ob die phonetische Variation durch sprachliche Faktoren bedingt ist. So ist beispielsweise denkbar, dass die Tiefe des finalen Falls mit dem zur Verf¨ugung stehenden segmentellen Material zusammenh¨angt. Auf diesen Aspekt wurde im vorangegangenen Abschnitt im Zusammenhang mit der Trunkierung des Epitons nach Peters verwiesen. Wie unten noch weiter ausgef¨uhrt wird, ist es außerdem nicht ausgeschlossen, dass die H¨ohe und Auspr¨agung der Nukleussilbe im Zusammenhang mit den mittelfr¨ankischen Tonakzenten steht, die von zwei Sprechern m¨oglicherweise noch realisiert werden (vgl. Peters 2006a: 278ff.). In diesem Abschnitt werden nun die oben genannten Variationsparameter anhand von Beispielen vorgestellt und in ihrer Vorkommensh¨aufigkeit beschrieben. Es wird außerdem diskutiert, ob die Variation auf sprachliche Faktoren zur¨uckzuf¨uhren ist.
4.2.1
Variation der Nukleussilbe
Nach Gilles (2005) u¨ berwiegen bei den steigend-fallenden Konturen im K¨olnischen flach ausgepr¨agte Nukleussilben. Dies wird durch das hier untersuchte Korpus best¨atigt. Einen Verlauf mit flach ausgepr¨agter Nukleussilbe veranschaulicht die folgende Abbildung (Abb. 4.14). 200
Pitch (Hz)
150
100
70 l
die mAUer vom
BAHN
0
ge
h
l
län
de 1.18789
Time (s)
Abbildung 4.14: k06-241-a, flache Nukleussilbe
Die Nukleussilbe BAHN ist tief und flach. Es folgt ein kontinuierlicher Anstieg zum postnuklearen Tonh¨ohengipfel auf l¨an, bevor die Tonh¨ohe abschließend auf maximal tiefes Niveau f¨allt. Die plateauartige Auspr¨agung der Nukleussilbe kann leicht fallend, leicht steigend oder, wie in der obigen Abbildung, g¨anzlich flach sein. Steil steigende Verl¨aufe sind gegen¨uber den flachen sehr selten. Einen typischen steil steigenden Beleg zeigt das folgende Bild (Abb. 4.15). Auf der Nukleussilbe WA steigt die Tonh¨ohe steil an. Sie steigt daraufhin bis zum Tonh¨ohengipfel auf he weiter steil an und f¨allt schließlich auf mittleres Niveau. Die wahrgenommene Tonh¨ohe der Nukleussilbe ist mittel hoch.
84 400
Pitch (Hz)
300
200 m
sEtzt man (–) n
WA
h
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he
m
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0
ter 1.88941
Time (s)
Abbildung 4.15: bb95z-423-sbr, steil steigende Nukleussilbe
¨ Der Ubergang zwischen steil steigenden und nur leicht steigenden Verl¨aufen in der Nukleussilbe kann fließend sein. Die beiden oben abgebildeten Verl¨aufe (Abb. 4.14, 4.15) repr¨asentieren in dieser Hinsicht Extrempole. Die folgende Abbildung zeigt hingegen einen weniger deutlichen Fall, bei dem der Anstieg nicht so steil ist wie im vorherigen Beispiel. 400
Pitch (Hz)
300
200 m
fängt an
RO
dn
h
l
kir
schen
0
1.365 Time (s)
Abbildung 4.16: k07-1552-a, Nukleussilbe steil steigend m. Vorb.
¨ Mit ca. 70 Hz werden in der Nukleussilbe etwa ein Drittel des Gesamtranges der Außerung ¨ durchschritten, in der vorangegangenen Außerung sind es mit ca. 80 Hz gut die H¨alfte des ¨ Außerungsumfangs. In Abb. 4.15 deutet sich zudem eine leicht konkave Bewegung an, die in Abb. 4.16 nicht vorliegt. Beide Nukleussilben sind offen und weisen einen Langvokal im Silbenkern auf. Es ist also auszuschließen, dass die unterschiedlich steilen Anstiegsbewegungen in der Nukleussilbe durch das zugrundeliegende segmentelle Material bedingt werden. Von allen 350 steigend-fallenden Belegen weisen 317 Belege flache Auspr¨agungen des Nukleussilbenverlaufs auf, in nur 23 F¨allen wird die Nukleussilbe steil steigend realisiert. 10 Verl¨aufe in der Nukleussilbe wurden als steil steigend unter Vorbehalt eingestuft. Diese Verteilung verdeutlicht die starke Tendenz, die Nukleussilbe der steigend-fallenden Kontur im K¨olnischen flach zu realisieren.
85 Hinsichtlich der Tonh¨ohe der Nukleussilbe stellt Gilles (2005) fest, dass sie u¨ berwiegend tief realisiert werde, seltener auch auf mittlerem Tonh¨ohenniveau. Das vorliegende Korpus setzt sich mit 126 mittel hohen Nukleussilben immerhin zu einem guten Drittel aus Nukleussilben auf mittlerem Niveau und zu zwei Dritteln aus Nukleussilben auf tiefem Niveau zusammen. Prototypen dieser beiden Auspr¨agungen zeigen die folgenden beiden Abbildungen (Abb. 4.17, 4.18), deren nuklearer Abschnitt sich jeweils u¨ ber 4 Silben erstreckt. Das erste Bild veranschaulicht einen Verlauf mit tiefer Nukleussilbe, das zweite einen Verlauf mit mittel hoher Nukleussilbe. Die mittel hohe Nukleussilbe ist in diesem Fall flach ausgepr¨agt. In einigen F¨allen wurden jedoch auch steigende Nukleussilben als mittel hoch eingestuft, sofern der H¨oreindruck dies nahe legte (vgl. Abb. 4.15, 4.16). 200
Pitch (Hz)
150
100
70 l
der rIschter wollte dann=ene
BRÜ
0
cke
h
l
bau
en 2.00301
Time (s)
Abbildung 4.17: k06-2186-a, tiefe Nukleussilbe
Abbildung 4.18: k07-1366-a, mittel hohe Nukleussilbe
86 4.2.1.1 Exkurs: Einfluss der Tonakzente? Peters (2006a) diskutiert sowohl die H¨ohe als auch die Verlaufsauspr¨agung der Nukleussilbe im Zusammenhang mit den mittelfr¨ankischen Tonakzenten im K¨olnischen.13 Seiner Analyse liegt zum Teil das gleiche Korpus zugrunde wie den Analysen der vorliegenden Arbeit. Er stellt fest, dass die hier als fv und fm bezeichneten Sprecher bestimmte Variationen bei dem Verlauf der Nukleussilbe produzieren, die als Reflexe der Tonakzente gedeutet werden k¨onnen. Diese Varianten sollen im Folgenden kurz erl¨autert werden. Wie bereits im vorangegangenen Abschnitt beschrieben wurde, geht Peters f¨ur das K¨olnische grunds¨atzlich von zwei steigend-fallenden Konturvarianten mit bitonalem Akzentton L*H und einer Konturvariante mit monotonalem Akzentton L* aus. Diese beiden Varianten zeigen ein unterschiedliches Verhalten, wenn ihre Nukleussilbe zugleich ein potenzieller Tr¨ager von TA1 bzw. TA2 ist. Phonetisch deutlicher ist die Beeinflussung durch die Tonakzente offenbar bei den Varianten mit bitonalem Akzentton. Hier zeigt sich bei m¨oglicherweise durch TA1 gepr¨agten W¨ortern eine steil steigende Nukleussilbe (s. Abb. 4.19), bei TA2-W¨ortern hingegen eine flach ausgepr¨agte Nukleussilbe (s. Abb. 4.20). Folgt der postnukleare Tonh¨ohengipfel unmittelbar auf die Nukleussilbe, so wird diese unter Einfluss von TA2 auf mittel hohes Niveau angehoben (s. Abb. 4.21), unter Einfluss von TA1 bleibt der steile Verlauf auf der Nukleussilbe unver¨andert.
Abbildung 4.19: Steigend-fallende Kontur (mit L*H); steil steigende Nukleussilbe (aus: Peters 2006a: 284)
Die ersten drei Abbildungen veranschaulichen Auspr¨agungen der steigend-fallenden Kontur mit L*H-Akzent. Abbildung 4.19 zeigt einen steilen Anstieg in der Nukleussilbe (Variante A bei Peters), Abbildung 4.20 hingegen eine flache Auspr¨agung der Nukleussilbe (Variante B). Im dritten Beispiel (Variante B) folgt unmittelbar auf die Nukleussilbe der postnukleare Tonh¨ohengipfel, die Nukleussilbe ist mittel hoch. Es handelt sich in allen F¨allen um ¨ Außerungen des Sprechers fv. Peters schreibt hierzu: “Der Kontrast zwischen Variante A und Variante B l¨asst sich bei Akzentsilben mit mindestens zwei sonoranten Moren als Tonakzentkontrast interpretieren, wobei Variante A Akzent 1 im K¨olner Stadtdialekt entspricht und Variante B Akzent 2.” (ebd.: 285). 13
Zu den Tonakzenten im K¨olnischen siehe auch Kap. 3.1.2.
87
Abbildung 4.20: Steigend-fallende Kontur (mit L*H); tiefe, flache Nukleussilbe (aus: Peters 2006a: 284)
Abbildung 4.21: Steigend-fallende Kontur (mit L*H); mittel hohe, flache Nukleussilbe (aus: Peters 2006a: 285)
Bei der Konturvariante mit monotonalem Akzentton lassen sich nach Peters bei TA1-W¨ortern keine Ver¨anderungen gegen¨uber der Realisierung ohne TA feststellen, die Nukleussilbe wird also flach realisiert. Bei TA2-W¨ortern kommt es hier im Gegensatz zu den TA2-W¨ortern bei den Varianten mit bitonalem Akzentton nicht zur Erh¨ohung der Nukleussilbe auf mittleres Niveau; sie wird hier mit gew¨ohnlichem tiefem Plateau realisiert. Gegen¨uber der L*-Variante mit TA1 hebt sie sich durch eine st¨arkere Dehnung der Nukleussilbe und einen langsameren Anstieg zur postnuklearen Tonh¨ohe ab. F¨ur die Varianten der L*-Konturen unterstreicht Peters ausdr¨ucklich, dass nicht mit Sicherheit von einer Verursachung durch die Tonakzente ausgegangen werden k¨onne: “Die Zuordnung von Variante A und Variante B zu Akzent 1 und Akzent 2 des Stadtdialekts wird durch die vorhandenen Daten zwar nahe gelegt, f¨ur eine verl¨assliche Einsch¨atzung ist die Anzahl der Belege jedoch zu gering.” (ebd.: 288). Auf der Grundlage der eigenen Analyse kann die Beeinflussung des Tonh¨ohenverlaufs durch die Tonakzente noch weiter beleuchtet werden. Zun¨achst zur mittel hohen Realisierung der Nukleussilbe: Nach Peters kommt sie bei L*HKonturen unter Einfluss von TA2 und mit postnuklearem Tonh¨ohengipfel auf der Folgesilbe zur Nukleussilbe vor (siehe Abb. 4.21). Diese Beobachtung von Peters stimmt allerdings
88 mit der hier durchgef¨uhrten Untersuchung nicht u¨ berein. Wie bereits oben erw¨ahnt wurde, zeichnen sich etwa ein Drittel (n=126) aller steigend-fallenden Konturen durch eine mittel hohe Nukleussilbe aus. 112 davon sind zus¨atzlich auch flach ausgepr¨agt. Das Beispiel (4.18) verdeutlicht allerdings, dass solch mittel hohe, flache Nukleussilben auch dann vorkommen, wenn der postnukleare Tonh¨ohengipfel nicht unmittelbar auf die Nukleussilbe folgt. Insgesamt kommen 47,6% der flachen, mittel hohen Nukleussilben bei Verl¨aufen vor, bei denen der Tonh¨ohengipfel direkt auf die Nukleussilbe folgt. Der Rest ist bei Verl¨aufen festzustellen, die einen gr¨oßeren Abstand zwischen Nukleussilbe und Tonh¨ohengipfel aufweisen. Dar¨uber hinaus finden sich mittel hohe Nukleussilben nicht nur bei den Sprechern fv und fm, sondern auch bei anderen Sprechern, die von Peters nicht als Sprecher mit noch aktiv produzierter Tonakzentdistinktion ausgewiesen sind. Es lassen sich außerdem mittel hohe Nukleussilben vor postnuklearem Gipfel feststellen, die nur eine sonorante More aufweisen (z.B. IS (von sein)), was der Mindestvoraussetzung von zwei sonoranten Moren f¨ur das Tonakzentvorkommen widerspricht. ¨ Ahnliches gilt f¨ur die steil steigenden Verl¨aufe (siehe Abb. 4.19). Auch sie kommen zum Teil bei Sprechern vor, die die Tonakzente h¨ochstwahrscheinlich nicht mehr realisieren und in zumindest einem Fall auch bei einer Nukleussilbe mit nur einer sonoranten More (WES in westernfilm). Die hier gemachten Beobachtungen deuten darauf hin, dass die phonetischen Varianten der Nukleussilbe nicht notwendigerweise auf einen Zusammenfall mit den Tonakzenten zur¨uckzuf¨uhren sind. Zwar ist es nicht auszuschließen, dass einige Realisierungen tats¨achlich im Zusammenhang mit den Tonakzenten stehen, die Produktion der entsprechenden Varianten durch Sprecher ohne aktive Tonakzentdistinktion und in abweichenden phonetischen Kontexten sprechen jedoch daf¨ur, dass die beschriebene phonetische Variation der Nukleussilbe auch ohne Tonakzentvorkommen gegeben ist.
4.2.2 Variation der Anstiegsbewegung Gilles (2005) beschreibt die Anstiegsbewegung zur postnuklearen Tonh¨ohe im K¨olnischen als “mehr oder weniger kontinuierlichen Anstieg [...], der sich je nach L¨ange des Nukleus u¨ ber mehrere Silben erstrecken kann.” (348). Da er die Nukleussilbe u¨ berwiegend als flach charakterisiert, wird der Beginn der Anstiegsbewegung f¨ur den Nachlauf angesetzt. Peters (2006a) stellt unterschiedliche Verlaufsformen der Anstiegsbewegung fest, die sich in seiner Unterscheidung in einen monotonalen und einen bitonalen Akzentton niederschlagen. Konturen mit bitonalem Akzentton L*H zeichnen sich durch eine fr¨uhere Anstiegsbewegung aus als Konturen mit monotonalem L*-Akzent (ebd.: 271). Sowohl Peters als auch Gilles konstatieren somit eine Variabilit¨at der Anstiegsbewegung. Auch die Untersuchung des vorliegenden Korpus best¨atigt, dass die Anstiegsbewegung der steigend-fallenden Kontur variiert. Es kommen zu etwa gleichen Teilen flache und steile Anstiegsbewegungen vor, die jeweils sowohl kontinuierlich als auch “gesprungen” verlaufen k¨onnen. Die folgenden vier Abbildungen veranschaulichen die m¨oglichen Kombinationen.
89 Der erste Verlauf ist steil und kontinuierlich steigend (Abb. 4.22), der zweite hingegen steil und sprunghaft steigend (Abb. 4.23). Gegen¨uber diesen steilen Anstiegs- oder Sprungbewegungen zeigen die n¨achsten beiden Abbildungen flachere Verl¨aufe. Im ersten Beispiel handelt es sich um einen flachen, kontinuierlichen Verlauf (Abb. 4.24), im zweiten um einen flachen, “gesprungenen Anstieg” (Abb. 4.25).
400
Pitch (Hz)
300
200
150 l
bei Uns hier wat
HO
len
h
l
woll
te
0
1.2851 Time (s)
Abbildung 4.22: k06-1549-i, Steiler kontinuierlicher Anstieg
250 200
Pitch (Hz)
150
100
70 l
weil
BOH
nen
0
h
m
ka
ffee 1.02673
Time (s)
Abbildung 4.23: k06-422-a, Steiler gesprungener Anstieg
Die Steilheit der Anstiegsbewegung h¨angt nicht notwendig mit der Silbenanzahl des Nukleus zusammen. Sowohl lange als auch kurze Nuklei bzw. große und kleine Abst¨ande zwischen Nukleussilbe und postnuklearem Tonh¨ohengipfel weisen steile und flache Anstiegsbewegungen auf. Die sprunghaften oder stufenartigen Anstiege kommen erwartungsgem¨aß nach flachen Nukleussilben vor und hier vor allem dann, wenn die Silbengrenze nicht sonorant ist ¨ und/oder ein ungespannter Vokal als Silbenkern vorliegt (z.B. GLUCKSf¨ alle, STADTanzeijer). Dies ist sicherlich auf das fehlende sonorante Material f¨ur eine gleitende Anstiegsbewegung zur¨uckzuf¨uhren.
90 250 200
Pitch (Hz)
150
100
70 m
n bin mit EInem jahr hier nach
KÖLN
je
h
m
zo
gen
0
2.04971 Time (s)
Abbildung 4.24: k07-4197-a, flacher kontinuierlicher Anstieg.
200
Pitch (Hz)
150
100
70 l
vom
h fm
WEIH
nachts
0
jeld 0.865093
Time (s)
Abbildung 4.25: k03-459-ff, Anstieg flach gesprungen
¨ Es ist wiederum anzumerken, dass die Uberg¨ ange zwischen den phonetischen Varianten fließend verlaufen. Die dargestellten Belege verk¨orpern prototypische Auspr¨agungen. Dies stellt m.E. auch ein Problem f¨ur die kategorische Unterscheidung in L*-Konturen und L*HKonturen bei Peters dar. Zwar gibt es eindeutige F¨alle wie beispielsweise den Verlauf in Abb. 4.25, der auch in der Folgesilbe zur Nukleussilbe flach bleibt und so auf einen monotonalen Akzentton schließen l¨asst. Ebenso legt der steile Anstieg in Abb. 15 einen bitonalen Akzentton L*H nahe. Zahlreiche Belege machen jedoch eine Entscheidung f¨ur einen mono- oder bitonalen Akzentton extrem schwierig. So zeigt der Beleg in Abb. 4.17 einen deutlichen Anstieg in der Folgesilbe zur Nukleussilbe, bevor in der darauf folgenden Silbe der postnukleare Tonh¨ohengipfel erreicht wird. Dennoch ist unklar, ob dieser Anstieg auf den H-Ton eines bitonalen Akzenttons zur¨uckzuf¨uhren sein sollte oder als einfache Interpolation zwischen einer tiefen monotonalen Akzentsilbe und dem folgenden postnuklearen H-Ton aufzufassen ist. Dies gilt auch f¨ur das Beispiel (Abb. 4.22) und das noch folgende Beispiel (Abb. 4.31) sowie f¨ur etliche andere Belege im Korpus. Besonders problematisch gestaltet sich die Zuordnung, wenn der postnukleare Tonh¨ohengipfel unmittelbar in der Folgesilbe der Nukleussilbe vor-
91 liegt, da die Folgesilbe hier zwangsl¨aufig durch einen Anstieg gekennzeichnet ist. Dies ist bei der Mehrzahl der dreisilbigen Belege und bei allen zweisilbigen Belegen der Fall. Die Unterschiede in der Anstiegsbewegung werden deshalb im Folgenden als graduell aufgefasst, wobei die Extrempole des flach bleibenden Verlaufs und des steil steigenden Verlaufs durchaus existieren. Im Zusammenhang mit der funktionalen Analyse (Kap. 4.4) wird nochmals auf die kategorische Unterscheidung von Peters eingegangen, da er f¨ur die beiden Konturvarianten unterschiedliche konversationelle Funktionen annimmt.14 Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch die Konturen mit plateauartiger Auspr¨agung des Tonh¨ohengipfels sowohl steile als auch flache Anstiegsbewegungen aufweisen. Dies widerspricht der Beobachtung von Peters (2006a), nach der die Plateaubildung nur bei Konturen mit bitonaler Akzentsilbe vorkommt (vgl. ebd. 270ff.). Die folgende Abbildung veranschaulicht demgegen¨uber einen Verlauf, der als prototypischer Vertreter einer flach bleibenden Anstiegsbewegung zu betrachten ist (Abb. 4.26). 400
Pitch (Hz)
300
200
150 l
und als die
WÄH
h
rungs
re
form
h fm
dann
kam
0
1.41798 Time (s)
Abbildung 4.26: k07-4265-a, Anstieg flach bleibend mit Plateaubildung
Die Folgesilbe zur tiefen Nukleussilbe bleibt flach. Es kommt dann zu einem stufenartigen Anstieg zum postnuklearen Hochplateau, das sich u¨ ber drei Silben erstreckt. Der finale Fall setzt in der letzten Silbe der IP ein. Verl¨aufe wie diese sprechen dagegen, dass die Anstiegsbewegung von der Nukleussilbe abh¨angt, wie dies bei einem bitonalen Akzentton zu erwarten w¨are. Dies wird im n¨achsten Abschnitt zur tonologischen Interpretation des postnuklearen Gipfels diskutiert (siehe Kap. 4.3).
14
Das Problem der kategorischen Unterscheidung der Konturvarianten spielt auch f¨ur die Diskussion der durch m¨ogliches Tonakzentvorkommen verursachten Varianten eine Rolle, da Peters hier von unterschiedlichen Effekten ausgeht, je nachdem, ob es sich um L*- oder L*H-Konturen handelt. Da bereits die Entscheidung f¨ur oder gegen einen mono- bzw. bitonalen Verlauf h¨aufig schwer f¨allt, bereitet es umso mehr Probleme, dievorkommenden phonetischen Varianten zuverl¨assig auf Tonakzente zur¨uckzuf¨uhren.
92 4.2.3 Variation der Falltiefe Die finale Fallbewegung ist nach Gilles (2005) und Peters (2006a) u¨ berwiegend als Fall auf mittleres Tonh¨ohenniveau ausgepr¨agt. Fallbewegungen bis zur maximalen Tiefe werden hingegen als selten eingestuft. F¨ur die vorliegende Untersuchung wurde eine dreistufige Kategorisierung in minimal, mittel und maximal tief fallende Verl¨aufe vorgenommen. Die Grenze wurde als tief eingestuft, wenn das Tonh¨ohenniveau in etwa dem des tiefsten Punkts der IP entspricht, was in den meisten F¨allen die Nukleussilbe oder bei mittel hohen Nukleussilben die pr¨anukleare Silbe ist. Dies veranschaulicht die folgende Darstellung eines maximal tief fallenden Verlaufs (Abb. 4.27): 250 200
Pitch (Hz)
150
100
70 l
TACH
zu
h
l
sam
en
0
0.65445 Time (s)
Abbildung 4.27: k06-742-a, Grenze maximal tief
Einen Beleg mit mittlerer Falltiefe veranschaulicht die folgende Abbildung (Abb. 4.28). Die Fallbewegung ist deutlich ausgepr¨agt, erreicht jedoch nicht das tiefe Niveau der Nukleussilbe. 200
Pitch (Hz)
150
100
70 l
da werden am tAch tAUsendzweihundert 0
AU
hm
tos
ge
baut 2.15945
Time (s)
Abbildung 4.28: k03-495-ff, Grenze mittel tief
Abbildung (4.29, siehe n¨achste Seite) zeigt einen steigend-fallenden Verlauf mit nur minimal fallender Tonh¨ohenbewegung am IP-Ende. Die Fallbewegung ist dennoch deutlich als solche h¨orbar.
93 200
Pitch (Hz)
150
100
70 l
janz
je
HEIM
0
h fm
nis
voll 1.0065
Time (s)
Abbildung 4.29: k06-1681-a, Grenze minimal tief
Im Korpus der 350 steigend-fallenden Belege weisen 102 Belege maximale Tiefe auf, 165 Belege mittlere Tiefe und 83 Belege minimale Tiefe. Wie auch Gilles (2005) und Peters (2006a) feststellen, ist der Abfall in die maximale Tiefe gegen¨uber den minimal und mittel tief fallenden Verl¨aufen somit deutlich seltener. Grunds¨atzlich ist f¨ur die Realisierung des finalen Falls ein Minimum an segmentellem Material erforderlich. Ist dies nicht gegeben, kommt es zur Trunkierung der Fallbewegung. Gilles veranschlagt mehrere sonorante Segmente (wie in [fi:na:]) oder dehnbare Segmente (wie in [pe:g@l]) als Minimum f¨ur die Fallbewegung. Auch Peters (2006a) schreibt, dass es zur Trunkierung komme, sobald die finale Silbe mit H-Ton “nur einen kurzen stimmhaften Abschnitt aufweist.” (ebd.: 276). Bei der vorliegenden Analyse hat sich eine More pro Ton als minimale Anforderung f¨ur die Realisierung der Kontur herausgestellt. Die Fallbewegung kann so auch auf offener Reduktionssilbe wie in [ti:K@:] realisiert werden, wenn diese gedehnt ist. Auch ein einsilbiger Nukleus mit steigend-fallender Kontur ist belegt. Der Silbenreim besteht aus einem gedehnten Diphthong, so dass drei Moren zur Realisierung der T¨one vorliegen: [mE.k5.KaI:]. (Der Silbenonset wird im Deutschen f¨ur gew¨ohnlich nicht zum Silbengewicht hinzu gez¨ahlt (vgl. Auer 1991a: 11ff.)). Diese Beobachtung steht in Einklang mit der Annahme, dass im K¨olnischen die More als tontragende Einheit fungiert (vgl. Schmidt 2002: 222). Steigend-fallende Konturen mit weniger zugrundeliegendem segmentellen Material kommen nicht vor (vgl. hierzu auch Kapitel 4.3.2). Wie die folgenden beiden Abbildungen veranschaulichen, l¨asst sich kein zwingender Zusammenhang zwischen der Tiefe des Falls und dem zur Verf¨ugung stehenden Material feststellen. Der erste Beleg (Abb. 4.30) zeigt einen zweisilbigen Nukleus mit silbischem Nasal in IP-finaler Position. Die Fallbewegung erreicht trotz des geringen Materials maximale Tiefe. Demgegen¨uber zeigt die n¨achste Abbildung (4.31) einen viersilbigen Beleg, bei dem der H-Ton auf der vorletzten Silbe lokalisiert ist. Dennoch ist das finale Tonh¨ohenniveau nur minimal tief. Dies verdeutlicht, dass die Falltiefe nicht vollst¨andig durch das vorhandene segmentelle Material bedingt ist.
94 400
Pitch (Hz)
300
200
150
isch kAnn nisch (heut) anfangen zu
l
hl
KO
chen
0
1.6536 Time (s)
Abbildung 4.30: k01-2637-ft, Grenze maximal tief (auf zwei Silben)
400
Pitch (Hz)
300
200
150 l
bis auf die
UN
ter
h
fm
ho
se
0
0.807532 Time (s)
Abbildung 4.31: bb96-74-jrg, Grenze minimal tief (auf vier Silben)
In Kapitel 4.1 wurde das Konzept des Epitons eingef¨uhrt, der nach K¨unzel & Schmidt (2001) und Peters (2006a) f¨ur den finalen Abfall der Tonh¨ohe verantwortlich gemacht wird.15 Nach Peters ist der tiefe Epiton bei allen hoch abschließenden Intonationsphrasen im K¨olnischen zu erwarten, so dass phonetisch hoch endende Phrasen nur bei Trunkierung des finalen Falls vorkommen sollten. Wie in Kapitel 4.1.2 bereits angesprochen wurde, nimmt Peters im Gegensatz zu Gilles (2005) somit keine Unterscheidung zwischen final steigend-gleichbleibenden und steigend-fallenden Konturen im K¨olnischen vor, sondern konzipiert sie statt dessen als phonotaktisch bedingte Varianten einer Kontur (vgl. Peters 2006a: 273ff.). Gem¨aß den hier erzielten Untersuchungsergebnissen besteht keine Notwendigkeit zur Trunkierung, sobald f¨ur jeden Ton eine More zur Verf¨ugung steht. Es ist allerdings einzukalkulieren, dass erh¨ohte Sprechgeschwindigkeit ebenfalls zur Trunkierung der Fallbewegung f¨uhren kann (vgl. Peters 2006a: 276). Dennoch weist das Korpus Belege f¨ur final steigende bzw. 15
Zu den spezifischen Vorkommensbedingungen des Epitons bei K¨unzel & Schmidt (2001) vgl. Kapitel 4.1.
95 hoch bleibende Konturen in Kontexten auf, die eine Trunkierung nicht notwendigerweise erforderlich machen. Dies veranschaulicht das folgende Beispiel (Abb. 4.32). Der nukleare Abschnitt TENnis spielt erstreckt sich u¨ ber drei Silben. Die letzte betonbare Silbe der IP spielt weist gen¨ugend Moren auf, um einen H-Ton und einen L-Ton zu realisieren. Dennoch ist die Tonh¨ohe flach hoch ausgepr¨agt. Eine Fallbewegung ist weder auditiv wahrnehmbar, noch akustisch-phonetisch nachzuvollziehen. Dies spricht dagegen, steigendgleichbleibende Konturen im K¨olnischen als phonotaktische, d.h. durch Trunkierung bedingte, Varianten der steigend-fallenden Kontur aufzufassen (siehe hierzu auch Kap. 4.1.2). 150
Pitch (Hz)
100
70 l
dat die wIrklisch wieder WELTklasse 0
TEN nis
h
spielt 2.27691
Time (s)
Abbildung 4.32: k02-35-fv, Final steigender Verlauf
4.2.4
Zusammenfassung
Abschließend werden nun die phonetischen Varianten in stilisierter Form dargestellt. Die erste Abbildung veranschaulicht die Variante mit wenigstens einer flach bleibenden Silbe nach der Nukleussilbe (Abb. 4.33). Bei der zweiten Variante ist die Nukleussilbe flach ausgepr¨agt, die Tonh¨ohe steigt ab der postnuklearen Silbe an (Abb. 4.34). Die dritte Variante schließlich ist durch einen steil steigenden Verlauf in der Nukleussilbe gekennzeichnet (Abb. 4.35). Bei allen drei Varianten kann die H¨ohe der Nukleussilbe zwischen tiefem (l) und mittel hohem (m) Niveau variieren, ebenso kann die Anstiegsbewegung zwischen kontinuierlich und gesprungen variieren. Die finale Tonh¨ohe kann minimal (fm), mittel (m) oder maximal tief (l) sein. Alle Varianten k¨onnen zudem einsilbige oder plateauartige postnukleare Gipfel aufweisen. Dies wird durch ein zus¨atzliches, eingeklammertes “h” zum Ausdruck gebracht.
96
minimal tief (fm) mittel tief (m) maximal tief (l) m/l
(h) h
l
Abbildung 4.33: Variante 1: Flache Nukleussilbe, flach bleibend
minimal tief (fm) mittel tief (m) maximal tief (l)
m/l
(h) h
l
Abbildung 4.34: Variante 2: Flache Nukleussilbe, Anstieg ab Folgesilbe
minimal tief (fm) mittel tief (m) maximal tief (l) m/l
(h) h
l
Abbildung 4.35: Variante 3: Steil steigende Nukleussilbe
Die letzte Variante mit steil steigender Nukleussilbe stellt mit Abstand die seltenste Auspr¨agung des steigend-fallenden Verlaufs dar: Mit nur 23 Belegen macht die Variante einen ¨ Anteil von 6,6% aller konturtragenden Außerungen im Korpus aus. 218 Belege wurden Variante 2 mit relativ flacher Nukleussilbe und Anstieg in der Folgesilbe zugeordnet. Dies entspricht einem Anteil von 62,3%. Als Auspr¨agung der Variante 1 mit flacher Nukleussilbe und flach bleibender Folgesilbe ¨ wurden 71 Belege kategorisiert, was einen Anteil von 20,3% aller konturtragenden Außerungen darstellt. Die restlichen 38 Belege konnten keiner Variante eindeutig zugeordnet werden: 28 Bele¨ ge (8%) wurden als Ubergang zwischen Variante 1 und Variante 2 kategorisiert, 10 Belege ¨ (2,9%) als Ubergang zwischen Variante 2 und Variante 3. Diese Verteilung veranschaulicht die folgende Abbildung (4.36, siehe n¨achste Seite). Hinsichtlich der u¨ brigen Variationsparameter l¨asst sich zusammenfassen, dass mittel hohe Nukleussilben mit einer Vorkommensh¨aufigkeit von ca. 33% wesentlich seltener sind als tiefe Nukleussilben. Demgegen¨uber kommen minimal und mittel tiefe finale Tonh¨ohen deutlich
97 h¨aufiger vor als maximal tiefe Fallbewegungen. Diese machen nur ca. 29% aller steigendfallenden Verl¨aufe aus. 7%
20%
3% V1 8%
.
V1-V2 V2 V2-V3 V3
62%
Abbildung 4.36: Quantitative Verteilung der phonetischen Varianten
Wie durch die obige Einf¨uhrung von Zwischenvarianten deutlich wird, ist generell zu beden¨ ken, dass die hier zusammengefassten Variantengruppen durch kontinuierliche Uberg¨ ange gekennzeichnet sind. Eine kategorische Unterteilung in die Gruppen kann an dieser Stelle nur vorl¨aufig sein und ist anhand der Zuordnung zu konversationellen Funktionen zu u¨ berpr¨ufen. Ebenso wird zu pr¨ufen sein, ob die H¨ohe der Nukleussilbe, die Tiefe der finalen Fallbewegung und die Unterscheidung in Konturen mit und ohne Plateaubildung, die alle nicht eindeutig auf sprachliche Bedingungsfaktoren zur¨uckgef¨uhrt werden konnten, in Zusammenhang mit verschiedenen konversationellen Funktionen zu bringen sind. Dies wird Aufgabe des u¨ bern¨achsten Kapitels sein (Kap. 4.4). Das n¨achste Kapitel widmet sich zun¨achst der tonologischen Interpretation des steigendfallenden Verlaufs.
4.3
Tonologische Varianten: Eine OT-Analyse
Ziel dieses Kapitels ist die tonologische Bestimmung des postnuklearen Tonh¨ohengipfels. Zu diesem Zweck wird die Position des Gipfels bei unterschiedlichem zur Verf¨ugung stehendem segmentellen Material analysiert. Die zur Diskussion stehenden Konturen erstrecken sich u¨ ber minimal 1 Silbe und u¨ ber maximal 8 Silben. Handelt es sich um einen hohen Trailington wie bei den in Abschnitt 4.1 beschriebenen steigend-fallenden Konturen des (Standard-) Deutschen und einiger anderer Variet¨aten, so ist zu erwarten, dass sich der H-Ton unmittelbar an die Nukleussilbe anschließt. Alternativ ist eine Interpretation als Grenzton denkbar, wobei der H-Ton in Abh¨angigkeit zur Grenze der Intonationsphrase steht und somit einen bitonalen Grenzton hl% bilden w¨urde. Eine letzte M¨oglichkeit im Rahmen des g¨angigen autosegmental-metrischen Toninventars besteht darin, den H-Ton als Phrasenakzent zu interpretieren, der auf einer lexikalisch betonten oder unbetonten Silbe zwischen der Nukleussilbe
98 und der Grenze stehen kann und teilweise als Grenzton einer intermedi¨aren Intonationsphrase aufgefasst wird (vgl. Grice & Baumann 2002).16 Grundlage der Analyse bilden die 350 steigend-fallenden Belege des Korpus. Besonders zu ber¨ucksichtigen ist bei der tonologischen Analyse die Variation zwischen Verl¨aufen mit Plateaubildung und jenen ohne Plateaubildung, da die Verl¨aufe mit Plateaubildung einen zus¨atzlichen hohen tonalen Zielpunkt aufweisen m¨ussen, der das Hochplateau verursacht. Zur Erinnerung werden die beiden Varianten in der folgenden Abbildung nochmals veranschaulicht (siehe auch Kap. 4.1). Bei der ersten Variante bildet die postnukleare Tonh¨ohe einen Gipfel, der mit nur einer Silbe verkn¨upft ist. Bei der zweiten Variante erstreckt sich die postnukleare Tonh¨ohe u¨ ber wenigstens zwei Silben und bildet ein Hochplateau.
(a)
(b)
Abbildung 4.37: Stilisierter steigend-fallender Verlauf ab der Nukleussilbe mit (a) einsilbigem Tonh¨ohengipfel und (b) Hochplateau
Von den 350 steigend-fallenden Konturen werden 59 mit Plateau realisiert, 291 mit einsilbigem Tonh¨ohengipfel. Unter den 291 steigend-fallenden Konturen ohne Plateau befinden sich mit jeweils 106 Belegen u¨ berwiegend drei- und viersilbige Abschnitte, 24 Belege erstrecken sich u¨ ber 5 Silben, 20 Belege u¨ ber 6 bis 8 Silben. Es kommen außerdem 34 zweisilbige und 1 einsilbiger Beleg vor. Bei den steigend-fallenden Konturen mit Hochplateau zeigen ¨ jeweils 17 Außerungen eine Ausdehnung u¨ ber 4 und 5 Silben. 11 Plateaus kommen bei den dreisilbigen Nuklei vor, 14 Plateaus bei den sechs- bis achtsilbigen Nuklei. Diese Verteilung veranschaulicht die folgende Abbildung (4.38, n¨achste Seite). Der n¨achste Abschnitt widmet sich der Ausrichtung des postnuklearen Tonh¨ohengipfels in der steigend-fallenden Kontur. Es werden zuerst die Konturen mit einsilbigem Tonh¨ohengipfel besprochen (4.3.2), dann die Konturen mit hohem Plateau (4.3.3). Es werden jeweils Kriterien aufgestellt, die die Positionierung des Tonh¨ohengipfels bestimmen. In Anlehnung an die Optimalit¨atstheorie werden die Kriterien als Constraints formuliert und nach ihrem Stellenwert f¨ur die Festlegung des Tonh¨ohengipfels geordnet. Zuletzt werden die beiden Konturvarianten mit und ohne Plateau auf eine gemeinsame, variable Constrainthierarchie zur¨uckgef¨uhrt (4.3.3). Es folgt zun¨achst eine kurze Einf¨uhrung in die Optimalit¨atstheorie (4.3.1).
16
Zu tonologischen Varianten der steigend-fallenden Kontur in Variet¨aten des Deutschen siehe Kap. 4.1.
99 100%
20 24
14 > 5er
75% 5er
106
17 4er
50% 3er 17
106
2er
25% 1er 34
11
1
ohne Plateau (n=291)
mit Plateau (n=59)
Abbildung 4.38: Verteilung der Kontur mit und ohne Plateau auf ein- bis achtsilbige Nuklei
4.3.1
Grundlagen der Optimalit¨atstheorie
Die Optimalit¨atstheorie entwickelte sich in den 1990er Jahren vor dem Hintergrund der generativen Grammatik (vgl. im Folgenden Archangeli & Langendoen 1997, Kager 1999). Sie versteht sich als Theorie, auf deren Grundlage sowohl dem Universalit¨atsanspruch einer Grammatik Gen¨uge getan werden kann als auch der sprachlichen Variation zwischen verschiedenen Sprachen. Sie geht von einer zugrundeliegenden Repr¨asentation sprachlicher Strukturen aus, dem Input, aus dem unter Einhaltung bestimmter Bedingungen (Constraints) die optimale sprachliche Oberfl¨achenform (Output) abgeleitet wird. Das formale Modell, das diese Operation gew¨ahrleistet, setzt sich deshalb aus dem Generator und dem Evaluator zusammen, der wiederum die Constraints beinhaltet. Der Generator bringt f¨ur einen bestimmten Input eine Vielzahl theoretisch m¨oglicher Outputkandidaten hervor, aus denen im Evaluator der optimale Kandidat ausgew¨ahlt wird. Die Auswahl erfolgt auf der Basis der Constraints, die Postulate bez¨uglich sprachlicher Strukturen darstellen. So sagt beispielsweise das Constraint N O R ISE bezogen auf Tonh¨ohenverl¨aufe aus, dass innerhalb einer Silbe keine Kombination eines L-Tons und eines H-Tons vorkommen soll (vgl. Gussenhoven 2004: 146ff.). Ein durch den Generator hervorgebrachter Kandidat mit einer solchen Kombination w¨urde bei Beachtung des Constraints demnach als m¨oglicher Outputkandidat ausscheiden, sofern ein Kandidat existiert, der dem Constraint Gen¨uge leistet. Das Besondere an den Constraints ist jedoch, dass sie zwar Anspruch auf Universalit¨at erheben, sprachspezifisch aber verletzbar sind. Eine Sprache, die ein Tal mit folgendem Tonh¨ohengipfel in einer Silbe aufweist, zeigt lediglich, dass N O R ISE gegen¨uber einem h¨oher gerankten Constraint als weniger wichtig einzustufen ist. Dies wird im Folgenden anhand eines (hypothetischen) Beispiels veranschaulicht: Im Input befinden sich die T¨one L und H sowie eine Silbe (σ), die als tontragende Einheit dient. Der Generator erstellt nun verschiedene Kandidaten, die eine unterschiedliche Verteilung der T¨one auf die Silbe aufweisen. Theoretisch sind dem Generator bei der Erstellung von Outputkandidaten keine Grenzen gesetzt, sofern sich die Kandidaten aus zul¨assigen
100 sprachlichen Elementen wie Silben, Moren etc. zusammensetzen (vgl. Kager 1999: 20). Der Einfachheit halber werden im Folgenden nur zwei Kandidaten er¨ortert.17 Diese sind in der linken Spalte der folgenden Tableaus untereinander angef¨uhrt. Die oberste Zeile beinhaltet die Constraints in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit: links stehende Constraints dominieren die rechts davon stehenden Constraints. Die notwendigen Constraints zur Auswahl eines der beiden Kandidaten sind: (14)
N O R ISE(σ):
(15)
M AX -IO(T):
L und H d¨urfen nicht in einer Silbe auftreten Alle T aus dem Input m¨ussen in den Output u¨ bernommen werden
Das erste Tableau gibt das Ranking f¨ur eine Variet¨at wieder, in der Kombinationen von LH in einer Silbe m¨oglich sind.18 M AX -IO(T) >> N O R ISE (σ)
(16) Input:
σ L, H
Max-IO(T)
NoRise(σ)
σ a.
*! L σ
b.
+
* L
H
¨ Kandidat b) stellt mit der Ubernahme beider T¨one in den Output den optimalen Kandidaten dar. N O R ISE(σ) wird zwar verletzt, das h¨oher stehende M AX-IO aber eingehalten. Kandidat a) hingegen scheidet aus, da er zwar keinen Anstieg in einer Silbe beinhaltet, aber nicht alle im Input gegebenen T¨one in den Output u¨ bernimmt; er verletzt M AX-IO und weist dadurch einen gr¨oberen Verstoß gegen die Constraints auf als Kandidat b). M AX-IO(T) dominiert somit in dieser Variet¨at N O R ISE(σ): M AX-IO(T) >> N O R ISE(σ). Demgegen¨uber zeigt das n¨achste Tableau das Ranking der Constraints, das sich f¨ur eine Variet¨at ergibt, die LH nicht in einer Silbe zul¨asst. Der optimale Kandidat ist nun a), der den H-Ton aus dem Input nicht in den Output u¨ bernimmt und so die Assoziierung der Silbe mit den zwei T¨onen vermeidet. Die Reihenfolge der beiden Constraints kehrt sich in diesem Fall um: N O R ISE(σ) >> M AX-IO(T).
17
Da die Beispiele an dieser Stelle in erster Linie der Veranschaulichung des Auswahlmechanismus in der OT dienen sollen, sind sie so einfach wie m¨oglich gestaltet. M¨ogliche Kandidaten, bei denen die Silbe statt mit einem L-Ton nur mit einem H-Ton oder auch mit keinem der T¨one verkn¨upft sind, werden deshalb nicht diskutiert. Siehe daf¨ur aber Gussenhoven (2004: 146ff.). 18 Die graue Unterlegung der Tableaufelder zeigt an, dass das entsprechende Constraint nicht mehr ausschlaggebend f¨ur die Auswahl des Kandidaten ist. Bereits die Verletzung des weiter links stehenden Constraints durch einen der beiden Kandidaten schließt diesen als optimalen Kandidaten aus. Dies signalisiert das Ausrufezeichen hinter dem Asterisk, der generell f¨ur die Verletzung eines Constraints steht.
101 N O R ISE (σ) >> M AX -IO(T)
(17) Input:
σ L, H
NoRise(σ)
Max-IO(T)
σ a.
+
* L σ
b.
*! L
H
Das Beispiel verdeutlicht, dass Outputkandidaten trotz der Verletzung von Constraints als optimal eingestuft werden k¨onnen, sofern sie weniger schwerwiegende Verletzungen aufweisen als die u¨ brigen Kandidaten. Obwohl die Constraints als (tendenziell) universal g¨ultig angesehen werden, sind sie demnach doch einzelsprachlich verletzbar. Sprachspezifische Grammatiken k¨onnen somit durch das unterschiedliche Ranking universaler Constraints dargestellt werden (vgl. Archangeli et al. 1997, Kager 1999). Es werden drei Typen von Constraints angenommen: Faithfulness-, Markedness- und ¨ Alignment-Constraints. Faithfulness-Constraints beziehen sich auf die Ubereinstimmung von Input und Output. Bei dem oben bereits eingef¨uhrten M AX-IO handelt es sich um ein solches Faithfulness-Constraint. W¨ahrend es daf¨ur sorgt, dass alle Elemente aus dem Input in den Output u¨ bernommen werden, erfordert ein weiteres Faithfulness-Constraint, D EPIO, dass der Output nur Elemente enth¨alt, die eine Entsprechung im Input haben. Weiterhin gew¨ahrleistet das Constraint I DENT(element), dass die Auspr¨agung eines Inputelements a¨ quivalent zum entsprechenden Outputelement ist, dass also beispielsweise ein H-Ton im Input nicht als L-Ton im Output erscheint (vgl. Gussenhoven 2004: 147ff.). Markedness-Constraints machen Aussagen u¨ ber die Markiertheit von sprachlichen Formen. F¨ur die Beschreibung intonatorischer und tonaler Ph¨anomene f¨uhrt Gussenhoven (2004) zwei wesentliche Gruppen von Markedness-Constraints an, OCP (Obligatory Contour Principle) und N O C ONTOUR. OCP wirkt der Abfolge gleichartiger T¨one entgegen, N O C ON TOUR hingegen der Abfolge verschiedenartiger T¨ one. Das im obigen Beispiel eingesetzte Constraint N O R ISE stellt eine Spezifizierung des Constraints N O C ONTOUR dar. Alignment-Constraints schließlich geben Auskunft u¨ ber die Positionierung sprachlicher Elemente in Bezug auf die Struktur der Bezugsdom¨ane. So w¨urde ein finaler Grenzton L einer Intonationsphrase das Alignment A LIGN-L(IP, RT) aufweisen, wobei in Klammern die Bezugsdom¨ane (IP) und deren rechter Rand (RT) als Ausrichtungsort des L-Tons angegeben ist. Gussenhoven (2004) trifft in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen dem Alignment und der Assoziation von T¨onen. Die Notwendigkeit dieser Unterscheidung f¨uhrt Gussenhoven zum einen auf die Tatsache zur¨uck, dass T¨one nicht zwangsl¨aufig mit einem Element der segmentellen Ebene assoziiert sein m¨ussen, jedoch dennoch realisiert werden, also auf der Oberfl¨ache “aligniert” sind. Dies gelte beispielsweise f¨ur Trailingt¨one, die keine feste Assoziation zur Segmentkette haben, sondern in Abh¨angigkeit zum vorangehendem Akzentton stehen. Ihre Lokalisierung richtet sich nach der Position des Akzenttons, und sie gehen keine eigenst¨andige Assoziation mit einem tontragenden Element ein (siehe da-
102 zu auch Kap. 2.1). Zum anderen sei es m¨oglich, dass zwei T¨one mit zwei verschiedenen Dom¨anen assoziiert sind, die unter Umst¨anden an der sprachlichen Oberfl¨ache zusammenfallen k¨onnen. Als Beispiel f¨uhrt Gussenhoven Tonakzente in einigen mittelfr¨ankischen Dialekten der Niederlande an, deren lexikalischer H-Ton mit dem rechten Rand der Silbe verkn¨upft ist, w¨ahrend zugleich ein L-Grenzton auftreten kann, der mit dem rechten Rand der IP verkn¨upft ist. Kommt die tontragende Silbe nun IP-final vor, fallen die Assoziationsstellen der T¨one entsprechend zusammen. Das Alignment kann nun beschreiben, welcher der T¨one an der Oberfl¨ache zuerst erscheint (vgl. Gussenhoven 2004: 148ff.). W¨ahrend also alle realisierten T¨one ein Alignment aufweisen, setzt dies nicht voraus, dass sie auch grunds¨atzlich bzw. an dieser Stelle assoziiert sind: “Thus, the task of alignment is to determine the location of each tone, while association to a TBU [tone bearing unit, PB] will follow if a legitimate TBU is available in the location concerned. In this view, all tones are aligned, but only some are associated.” (Gussenhoven 2000: 157).
4.3.2
Der Tonh¨ohengipfel bei Konturen ohne Plateau
Der folgende Abschnitt setzt sich zum Ziel, die Positionierung des postnuklearen H-Tons bei einsilbigen Tonh¨ohengipfeln mit Hilfe der Optimalit¨atstheorie zu beschreiben. AlignmentConstraints werden dabei zwangsl¨aufig eine große Rolle spielen. Da in dieser Arbeit ein oberfl¨achennaher Ansatz zur Beschreibung der Formen und Funktionen von Intonation verfolgt wird, richtet sich das Hauptinteresse der Analyse auf das Alignment des H-Tons. Um den tonologischen Status des H-Tons bestimmen zu k¨onnen, werden Fragen der Assoziation jedoch im weiteren Verlauf ebenfalls ber¨ucksichtigt. Die Assoziation des Akzenttons l* mit der nuklearen Silbe wird im Folgenden ebenso vorausgesetzt wie das Alignment des finalen Grenztons l% mit der rechten Grenze der Intonationsphrase.
4.3.2.1 Der H-Ton: Bestandteil einer bitonalen Tonsequenz oder Phrasenakzent? C ONCATENATE vs. H → σLex Die verschiedenen Optionen zur tonologischen Interpretation des H-Tons machen ein unterschiedliches Alignment des Tons in Bezug auf die anderen T¨one der Kontur und auf die ¨ segmentelle Außerungsbasis erwartbar. Wie oben erw¨ahnt, ist es wahrscheinlich, dass der H-Ton entweder als Trailington zu einem tiefen Akzentton, als erster Ton eines bitonalen Grenztons oder als Phrasenakzent zu interpretieren ist. Die folgende Analyse wird zeigen, dass die Interpretation des H-Tons als Phrasenakzent zutreffend ist. In den ersten beiden eben genannten F¨allen (Trailington oder bitonaler Grenzton) ist davon auszugehen, dass der HTon in unmittelbarer N¨ahe des zweiten Tons der bitonalen Kombination erscheint. Dies kann durch das Constraint C ONCATENATE ausgedr¨uckt werden, das fordert, dass die T¨one einer bitonalen Kombination in zeitlicher N¨ahe zueinander erfolgen, also “miteinander aligniert” sind (vgl. Gussenhoven 2004): (18)
C ONCATENATE:
Die T¨one einer bitonalen Kombination sind miteinander aligniert
103 Handelt es sich bei dem H-Ton hingegen um einen Phrasenakzent, richtet sich sein Alignment nicht nach dem vorausgehenden Akzentton oder dem nachfolgenden Grenzton, sondern nach ¨ der morphologischen Struktur der zugrundeliegenden Außerung: Phrasenakzente weisen zumeist eine Ausrichtung an lexikalisch betonbaren Silben auf (vgl. Grice et al. 2000), was mit dem Constraint H → σLex zum Ausdruck gebracht wird. (19)
H → σLex :
Der H-Ton ist mit einer lexikalisch betonbaren Silbe aligniert
Die lexikalische Betonbarkeit bezieht sich auf den unabh¨angig von seiner Realisierung in ¨ der konkreten Außerung gegebenen Wortakzent. Als lexikalisch betonbar gelten in der Regel die sogenannten Inhaltsw¨orter gegen¨uber Funktionsw¨ortern, die abgesehen von Kontrastierungen nicht betonbar sind (vgl. Uhmann 1991: 221ff.). Auch Nebenakzente oder sekund¨are Wortakzente in komplexen Wortformen wie Pflegeheime, abschneiden und hinstellen werden als lexikalisch betonbar aufgefasst. Sie stellen zwar nicht den Hauptakzent des Wortes dar, sind aber metrisch prominenter als die u¨ brigen Silben des Wortes (vgl. Liberman & Prince 1977: 256ff., 263ff., Ramers 2002: 115ff.). Es ist zu u¨ berlegen, ob sich das Kriterium der lexikalischen Betonbarkeit durch ein rein prosodisches Kriterium f¨ur die Alignierung des H-Tons ersetzen l¨asst. In Frage kommt die ¨ Fußstruktur der Außerung, wobei der Kopf des Fußes der hauptbetonten Silbe entspricht. ¨ Der Nachteil bei einer Ubernahme der Fußstruktur ist, dass sie im Zusammenhang mit dem ¨ Rhythmus der Außerung stehen soll, aber dennoch meistens a priori auf der Basis der abstrak¨ ten Wortformen bestimmt wird (vgl. Hayes 1995: 9ff.). Der tats¨achliche Außerungsrhythmus bleibt daher bei Beschreibungen der Fußstruktur oftmals unber¨ucksichtigt. Die Zuweisung ¨ der Fußstruktur auf der Basis der Außerung jedoch ist insbesondere bei der vorliegenden steigend-fallenden Kontur problematisch, denn der H-Ton tr¨agt m¨oglicherweise selbst dazu bei, die Tr¨agersilbe als rhythmisch schwer wahrzunehmen, so dass diese als Kopfsilbe eines Fußes klassifiziert wird. Daraus erg¨abe sich die Schlussfolgerung, dass der H-Ton mit der Kopfsilbe eines Fußes assoziiert sein muss, so dass sich die Untersuchung der Fußstruktur im Zusammenhang mit dem Alignment des H-Tons als zirkul¨ar erweist. Um dieser Gefahr zu entgehen, wird die Fußstruktur im Folgenden nicht als relevantes Kriterium f¨ur das Tonalignment verwendet, sondern, wie oben beschrieben, die lexikalische Betonung.19 Dies entspricht der in GToBI u¨ blichen Beschreibung, die allerdings keine Definition von lexika¨ lischer Betonung beinhaltet. Es steht jedoch nicht in Ubereinstimmung zu den Arbeiten von Peters (2002b) zu postnuklearen Tonh¨ohengipfeln im K¨olnischen und Duisburgischen. ¨ F¨ur die Uberlegung, ob bei der Alignierung des H-Tons das Constraint C ONCATENATE o- der H → σLex wirksam ist, sind die Belege besonders aussagekr¨aftig, die sich u¨ ber eine m¨oglichst große Anzahl an Silben erstrecken, denn hier sind die Optionen zur Lokalisierung des H-Tons vielf¨altig. Auch die Gefahr, dass die an den l*-Ton bzw. den l%-Ton angrenzende Silbe zugleich lexikalisch betonbar ist, kann so eher umgangen werden. Diese Gefahr zeigt sich bei den folgenden beiden Belegen, die sich u¨ ber vier Silben erstrecken und lexikalisch betonbare Silben nach bzw. vor dem potenziellen tiefen Bezugston aufweisen. Diese tragen den postnuklearen H-Ton. 19
Es ist allerdings zu beachten, dass diese Entscheidung im Wesentlichen auf die besondere Problematik der steigend-fallenden Kontur zur¨uckzuf¨uhren ist. Generell wird in der vorliegenden Arbeit ¨ davon ausgegangen, dass die Fußstruktur auf die rhythmische Struktur der tats¨achlichen Außerung bezogen sein sollte.
104 (20)
l* h l% RAUS.ge.hen..mal
(21)
l* h l% BIER..ge.trun.ken
Es ist anhand dieser Belege nicht m¨oglich, C ONCATENATE und H → σLex zueinander zu gewichten, da beiden entsprochen wird. Allerdings l¨asst sich bereits hier vermuten, dass eine h¨ohere Gewichtung von C ONCATENATE gegen¨uber H → σLex unwahrscheinlich ist, da es nicht plausibel ist, den H-Ton einmal als Bestandteil eines bitonalen Grenztons zu alignieren und einmal als Bestandteil eines bitonalen Akzenttons. C ONCATENATE bleibt demnach in beiden F¨allen zwar unverletzt, l¨asst aber unterschiedliche Schl¨usse auf den tonologischen Status des H-Tons zu, da es sich auf bitonale Kombinationen generell bezieht, ungeachtet ihrer Position in der IP. Die folgenden f¨unf- und sechssilbigen Belege, die noch mehr Raum f¨ur die Lokalisierung des H-Tons geben, best¨atigen die Vermutung, dass das Constraint H → σLex h¨oher zu bewerten ist als C ONCATENATE. (22)
l* h l% JELD..ver.die.nen..muss
(23)
l* h l% ka.MEL.le..schmei.ßen..sin
(24)
l* h l% SIE.ben.je.bir.re.je
(25)
l* h l% WIE.se..lie.gen..ge.habt
Die Beispiele belegen die Unabh¨angigkeit des H-Tons sowohl vom vorangehenden Akzentton als auch vom nachfolgenden Grenzton. Die Position des H-Tons variiert stattdessen mit der postnuklearen, lexikalisch betonbaren Silbe. Die Gewichtung der zur Diskussion stehenden Constraints kann daher auf H → σLex >> C ONCATENATE festgelegt werden. Da das Constraint C ONCATENATE als ein spezifisches Constraint f¨ur das Alignment bitonaler Kombinationen formuliert ist, wird es im Folgenden außer Acht gelassen: Bei dem H-Ton handelt es sich erwiesenermaßen nicht um einen Bestandteil einer bitonalen Kombination, so dass die Strukturbedingungen f¨ur die Anwendung des Constraints nicht gegeben sind. Es stellt damit ein vacuous Constraint dar (vgl. Kager 1999: 9), dessen Weiterf¨uhrung keinen Gewinn bei der Beschreibung der Alignierung des H-Tons bringt. Mit H → σLex steht ein erstes wesentliches Constraint f¨ur die Ausrichtung des H-Tons fest. Welche Regelm¨aßigkeiten lassen sich jedoch feststellen, wenn der Nachlauf mehr als eine oder keine lexikalisch betonbare Silbe aufweist? Diesen Fragen widmet sich der n¨achste Abschnitt. Es werden zuerst die vielsilbigen Belege er¨ortert, die mehr als eine postnukleare, lexikalisch betonbare Silbe aufweisen. Darauf folgt die Er¨orterung der Belege ohne lexikalisch betonbare Silbe im Nachlauf.
105 4.3.2.2
Der H-Ton bei mehr als einer lexikalisch betonbaren Silbe im Nachlauf
4.3.2.2.1
D EP-IO(T) und A LIGN-RT
¨ Zu den zur Diskussion stehenden Außerungen mit mehr als einer lexikalisch betonbaren Silbe im Nachlauf geh¨oren die Folgenden: (26)
l* h l% GR¨ OSS.te..kir.sche..bau.en
(27)
l* h l% WERK.statt..ma.ch.en..konn.te
(28)
l* h l% an..der..THEK..mit..e.rum..la.berst
Es f¨allt auf, dass die lexikalisch betonbaren Silben den H-Ton auf sich ziehen, die weiter rechts in der Intonationsphrase stehen. Die generelle Tendenz zum rechten Rand der IP wird u¨ blicherweise durch ein Alignmentconstraint A LIGN-H(H,RT,IP,RT) zum Ausdruck gebracht (im Folgenden verk¨urzt zu A LIGN -RT). (29)
A LIGN -RT:
Der H-Ton ist an der rechten Grenze der IP aligniert
Es handelt sich hierbei um ein graduelles Constraint, das mit jeder Silbe, die der H-Ton von der Grenze entfernt ist, einmal verletzt wird (vgl. Zhang 2000). Die folgenden Tableaus verdeutlichen die Rangfolge der zwei Constraints, die zum korrekten Output f¨uhrt. Im ersten Tableau wird die Rangfolge A LIGN -RT >> H → σLex evaluiert, im zweiten die Rangfolge H → σLex >> A LIGN -RT. Die Rangfolge A LIGN -RT >> H → σLex Tableau (30) ist nicht in der Lage, den optimalen Kandidaten zu bestimmen. Die dargestellte Dominanz von A LIGN -RT u¨ ber H → σLex f¨uhrt f¨alschlicherweise zur Auswahl von a) als optimalem Kandidaten.20 (30)
A LIGN -RT >> H → σLEX
Input: a. * + b. c.
20
σ', σ, σLex, σ, σLex , σ L* , H, L% l* hl% GR¨ OSS.te..kir.sche..bau.en l* h l% GR¨ OSS.te..kir.sche..bau.en l* h l% GR¨ OSS.te..kir.sche..bau.en
Align-Rt
H → σLex *
*! *!**
Es w¨are m¨oglich, an dieser Stelle auch Kandidaten zu ber¨ucksichtigen, die ein Hochplateau zwischen l* und l% aufweisen. Dieses k¨onnte durch die Dominierung durch ein Faithfulness-Constraint D EP-IO(T) oder auch durch ein Constraint N O S PREAD verhindert werden, die die Hinzuf¨ugung eines H-Tons bzw. dessen Ausbreitung verbieten (vgl. Gussenhoven 2004: 149). Da sich Kapitel 4.3.3 jedoch gesondert den steigend-fallenden Konturen mit Hochplateau widmet, sollen solche Kandidaten vorerst außer Acht gelassen werden.
106 Demgegen¨uber zeigt sich, dass die Dominanz von H → σLex u¨ ber A LIGN -RT zum erw¨unschten Output-Kandidaten f¨uhrt (Tab. 31). Kandidat a) verst¨oßt einmal gegen H → σLex und ist dadurch im Nachteil gegen¨uber den Kandidaten b) und c). Diese verstoßen nicht gegen H → σLex . Kandidat b) und c) unterscheiden sich in der Anzahl der Verletzungen von A LIGN -RT. W¨ahrend b) das Constraint nur einmal verletzt, bringt Kandidat c) drei Verst¨oße mit sich. Das bedeutet, dass das Ranking korrekterweise zu Kandidat b) als optimalem Output f¨uhrt. (31)
H → σLEX >> A LIGN -RT
Input: a. b. c.
+
σ', σ, σLex, σ, σLex , σ L* , H, L% l* hl% GR¨ OSS.te..kir.sche..bau.en l* h l% ¨ GROSS.te..kir.sche..bau.en l* h l% ¨ GROSS.te..kir.sche..bau.en
Align-Rt
H → σLex
*! * *!**
F¨ur die bis hierhin vorgestellten Belege l¨asst sich somit folgendes Ranking der Constraints festhalten: (32)
H → σLex >> A LIGN -RT
4.3.2.2.2 Einschr¨ankung von A LIGN -RT: N O FALL Den im vorangegangenen Abschnitt vorgestellten Belegen ist gemeinsam, dass die letzte Silbe der Phrase eine Reduktionssilbe ist. Eine weitere interessante Spezifikation des Rankings ergibt sich nun, wenn man Belege ber¨ucksichtigt, deren letzte Silbe zugleich lexikalisch betonbar ist. Den Constraints H → σLex und A LIGN -RT k¨onnte in diesen F¨allen durch Positionierung des H-Tons auf der letzten Silbe entsprochen werden. Dies gilt tats¨achlich f¨ur die folgenden vier- und f¨unfsilbigen Belege: (33)
l* h l% AU.tos..ge.baut
(34)
l* hl% K¨ U.sch.en.per.so.nal
Es gilt jedoch nicht f¨ur Belege wie die Folgenden. Es handelt sich um drei- bis sechssilbige Belege, bei denen die letzte Silbe lexikalisch hauptbetont ist. Es ist daher zu erwarten, dass der postnukleare Tonh¨ohengipfel mit dieser Silbe assoziiert wird. Stattdessen zeigt sich jedoch, dass die vorletzte Silbe oder eine fr¨uhere Silbe den postnuklearen Gipfel tr¨agt. (35)
l* h l% grade.AUS..jetz..fahrn
107 (36)
l* h l% FERN.weh..mehr
(37)
l* h l% K¨ O.nigs.forst..fahrn
(38)
l* h l% SCH¨ ON.heits.farm..war
(39)
l* h l% JELD..ver.die.nen..muss
(40)
l* h l% WIE.se..lie.gen..ge.habt
(41)
l* h l% STIN.ke.fin.ger..ge.zeigt
Ganz offensichtlich wird in diesen Belegen gegen A LIGN -RT verstoßen. Wodurch l¨asst sich dieser Verstoß rechtfertigen? Im Unterschied zu der vorangegangenen Beleggruppe weist diese Gruppe eine zus¨atzliche, weiter vorne stehende Silbe auf, die lexikalisch betonbar ist. Diese erh¨alt den H-Ton. Unter der Voraussetzung also, dass H → σLex weiterhin entsprochen werden kann, wird die Positionierung des H-Tons auf der letzten Silbe vermieden. Dies l¨asst sich aus der Tendenz erkl¨aren, zwei T¨one m¨oglichst nicht auf einer Silbe zu realisieren (vgl. Gussenhoven 2004: 146). Es wird deshalb das Constraint N O FALL eingef¨uhrt, das es erlaubt, die Kompression von hohem Ton und tiefem Ton auf einer Silbe zu vermeiden. (42)
N O FALL:
Die T¨one H und L d¨urfen nicht mit derselben Silbe verkn¨upft sein
Das folgende Tableau veranschaulicht das korrekte Ranking H → σLex >> N O FALL >> A LIGN -RT anhand des sechssilbigen Belegs STIN.ke.fin.ger..gezeigt. Im Input befinden sich sechs Silben sowie die T¨one L*, H und L%. (43)
H → σLEX >> N O FALL >> A LIGN -RT
Input: a. b. c.
+
σ', σ, σLex, σ, σLex , σ L* , H, L% l* h l% STIN.ke..fin.ger..ge.zeigt l* h l% STIN.ke..fin.ger..ge.zeigt l* h l% STIN.ke..fin.ger..ge.zeigt
H → σLex
NoFall
Align-Rt
*! *** *!
****
Kandidat c) verletzt H → σLex einmal und scheidet deshalb gegen¨uber den Kandidaten a) und b) aus, die das Constraint nicht verletzen. Zwischen den Kandidaten a) und b) f¨allt die korrekte Entscheidung auf den Kandidaten b), der zwar dreimal gegen A LIGN -RT verst¨oßt, aber das h¨oher stehende N O FALL beachtet. W¨urde A LIGN -RT das Constraint N O FALL dominieren, k¨ame es f¨alschlicherweise zur Auswahl von Kandidat a) als optimalem Kandidaten.
108 Obwohl die Rangfolge von H → σLex und N O FALL in Belegen mit mehreren lexikalisch betonbaren Silben keine Rolle spielt, (die beiden Constraints k¨onnten in dem Tableau ohne Probleme vertauscht werden), zeigt sich die Dominanz von H → σLex u¨ ber N O FALL in solchen Belegen, die nur eine lexikalisch betonbare Silbe in IP-finaler Position aufweisen (siehe die Belege (33) und (34)). Die Dominanz von N O FALL u¨ ber H → σLex w¨urde zum Ausschluss des tats¨achlich vorkommenden Outputkandidaten f¨uhren, wie das folgende Tableau f¨ur den Beleg AU.tos..ge.baut veranschaulicht. N O FALL >> H → σLEX >> A LIGN -RT
(44) Input:
a. * + b.
σ', σ, σ, σLex L* , H, L% l* h l% AU.tos..ge.baut l* h l% AU.tos..ge.baut
NoFall
H → σLex
Align-Rt
*
**
*!
Es zeigt sich also, dass das zuvor bestimmte Ranking H → σLex >> N O FALL >> A LIGN -RT sowohl in der Lage ist, bei Belegen mit IP-finaler lexikalisch betonbarer Silbe ohne Ausweichm¨oglichkeit auf eine fr¨uhere Silbe den richtigen Kandidaten auszuw¨ahlen, als auch bei Belegen mit einer solchen Auswahlm¨oglichkeit. Ebenso umfasst es die unter (26) bis (28) vorgestellten Belege mit Reduktionssilbe als letzter Silbe der IP. Zwar ist das Constraint N O FALL hier ohne Relevanz, da durch die h¨ohere Einstufung von H → σLex keine Gefahr besteht, den H-Ton gemeinsam mit L% mit der IP-finalen Silbe zu verbinden.21 Das Constraint wird dadurch aber nicht verletzt, so dass seine Aufnahme in die Constrainthierarchie unproblematisch ist. Trotz leicht voneinander abweichender Strukturen des Inputs in Bezug auf die Anzahl, Struktur und Position der Silben kann f¨ur das Alignment des H-Tons in der steigendfallenden Kontur ohne Plateau folglich ein Ranking der Constraints angenommen werden, das folgendermaßen gestaltet ist: (45)
H → σLex >> N O FALL >> A LIGN -RT
Die gegebene Constrainthierarchie ist tauglich f¨ur die konturtragenden Belege mit wenigstens einer lexikalisch betonbaren Silbe im Nachlauf, die entweder IP-final oder fr¨uher erscheint. Sie legt fest, dass der H-Ton mit einer lexikalisch betonbaren Silbe verkn¨upft wird, die m¨oglichst weit rechts steht, dass jedoch die Bildung einer Fallbewegung auf einer Silbe verhindert wird, sofern die Verkn¨upfung mit einer lexikalisch betonbaren Silbe weiterhin gew¨ahrleistet ist.
21
Denkbar w¨are allerdings ein steiler Fall auf der lexikalisch betonbaren Silbe mit anschließendem Tiefplateau bis zur IP-Grenze. Um diesen steilen Abfall zu initiieren, m¨usste aber ein zus¨atzlicher L-Ton im Anschluss an den postnuklearen H-Ton angenommen werden.
109 4.3.2.3
Der H-Ton ohne lexikalisch betonbare Silbe im Nachlauf
4.3.2.3.1
M AX-IO(T) und N O R ISE, T → µ und D EP-IO(µ)
Der folgende Abschnitt wendet sich nun der Frage zu, was geschieht, wenn der Nachlauf keine lexikalisch betonbare Silbe aufweist. Die bisherige Hierarchie h¨atte in diesem Fall zur Folge, dass der H-Ton noch auf der Nukleussilbe realisiert wird. Die Daten belegen jedoch, dass dies nicht der Fall ist, wie weiter unten gezeigt wird. Die Konturbelege ohne lexikalisch betonbare Silbe im Nachlauf setzen sich vor allem aus Belegen zusammen, die sich u¨ ber zwei Silben erstrecken. Selten sind dreisilbige Belege. Auch ein einsilbiger Beleg liegt vor, bei dem die Nukleussilbe IP-final ist. Neben Fragen der Ausrichtung des H-Tons tritt bei diesen Belegen die Frage nach den segmentellen Minimalanforderungen f¨ur die Realisierung der Kontur in den Vordergrund. Gilles (2005: 333ff.) stellt fest, dass die Kontur zu ihrer Realisierung wenigstens zwei Silben ben¨otigt, deren zweite mindestens aus einem Reduktionsvokal mit schließendem sonoranten Konsonanten bestehen muss. Diese Feststellung l¨asst sich auf der Basis des von mir untersuchten Korpus nicht best¨atigen. Die folgenden Beispiele veranschaulichen zum einen, dass auch zweisilbige Nuklei mit offener Reduktionssilbe konturtragend sein k¨onnen. Sie veranschaulichen zum anderen, dass der H-Ton nicht mit der Nukleussilbe verkn¨upft ist, wie es auf der Grundlage der erstellten Constrainthierarchie erforderlich w¨are. Es werden zuerst nur die drei- und zweisilbigen Belege eingef¨uhrt, der einsilbige Beleg wird sp¨ater besprochen. (46)
l* h l% ANT.wor.ten
(47)
l* h l% WOH.nung
(48)
l* h l% FLIE.gen
(49)
l* h l% VOR.ne:
Das sonorante Material f¨ur die Realisierung der T¨one nimmt bei den Beispielen von oben nach unten ab. Das erste Beispiel erstreckt sich u¨ ber drei Silben, deren letzte reduziert ist. W¨ahrend die postnukleare und zugleich IP-finale Silbe im zweiten Beispiel noch einen Vollvokal aufweist, haben die beiden folgenden Belege einen Reduktionsvokal im Silbenkern. In Beispiel (48) wird die Silbe durch einen sonoranten Konsonanten geschlossen, in Beispiel (49) hingegen ist sie offen. Der auslautende Vokal im letzten Beispiel ist deutlich gedehnt. In keinem Beispiel ist der H-Ton mit einer lexikalisch betonbaren Silbe verkn¨upft. Durch welche Constrainthierarchie kann nun dieser Output erreicht werden? Das Alignment betreffend ist zun¨achst zu verhindern, dass der H-Ton noch in der Nukleussilbe auf den tiefen Akzentton folgt. Analog zum Constraint N O FALL wird zu diesem Zweck das Constraint N O R ISE eingef¨uhrt: (50)
N O R ISE:
Die T¨one L und H d¨urfen nicht mit derselben Silbe verkn¨upft sein
110 Sofern N O R ISE das Constraint N O FALL dominiert, verhindert es zwar, dass der H-Ton noch in der Nukleussilbe erreicht wird. Die – wenn auch geringere – Wirkkraft von N O FALL in Kombination mit N O R ISE jedoch w¨urde eine Realisierung des H-Tons unm¨oglich machen, wenn es nicht durch ein Faithfulness-Constraint dominiert w¨urde, das die Realisierung aller im Input befindlichen T¨one gew¨ahrleistet: (51)
M AX -IO(T):
Jeder Ton im Input muss eine Entsprechung im Output haben
Sowohl N O R ISE als auch M AX-IO(T) m¨ussen N O FALL dominieren, damit die Kontur in der gegebenen Outputform realisiert wird. Eine Gewichtung der neuen Constraints ist f¨ur die Erzielung der bisherigen Outputkandidaten nicht notwendig. Das folgende Tableau veranschaulicht das Ranking dieser drei Constraints. Im Input befinden sich zwei Silben sowie die drei T¨one L*, H und L%: M AX -IO(T), N O R ISE >> N O FALL
(52) Input: a. b. c. d.
+
σ', σ L* , H, L% l* h l% WOH.nung l* h WOH.nung l* l% WOH.nung l* hl% WOH.nung
Max-IO(T)
NoRise
NoFall
*! *! *! *
Wenden wir uns nun dem einsilbigen Beleg zu: (53)
l* hl% me.k.e.REI:
Alle drei T¨one sind mit der Nukleussilbe verkn¨upft. Diese ist, ebenso wie die finale Silbe im obigen Beleg VOR.ne:, stark gedehnt. Dies gibt einen Hinweis auf die Minimalanforderungen f¨ur die Realisierung der Kontur. Zwar ist die Reduktionssilbe im Beispiel VOR.ne: nicht durch einen sonoranten Konsonanten geschlossen, dieser Mangel wird jedoch durch die Dehnung ausgeglichen. Bedenkt man, dass die tontragende Einheit im K¨olnischen die More ist (vgl. Schmidt 2002: 222), so wird deutlich, dass die Kontur realisiert wird, sobald f¨ur jeden Ton eine freie More zur Verf¨ugung steht. Dies wird im zweisilbigen Beleg VOR.ne durch Dehnung der Reduktionssilbe erzielt, die dadurch zwei Moren erh¨alt. Im einsilbigen Beleg ¨ wird die diphthongische Nukleussilbe gedehnt, so dass sie drei Moren aufweist. Uberschwere Silben, die u¨ ber (die im Standarddeutschen u¨ blichen) zwei Moren hinausgehen, erhalten in diesem Zusammenhang somit im K¨olnischen Relevanz (vgl. Auer 1991a: 16). Die resultierende Silbenstruktur veranschaulichen die folgenden Abbildungen:
111 σ
σ
O
R N
f
O N
C
µ
µ
O
5
R
n
L
C
µ
µ
@
:
H
L
Abbildung 4.39: Struktur des zweisilbigen Nukleus ‘VOR.ne:’
σ O
R N
K
C
µ
µ
µ
a
I
:
L
H
L
Abbildung 4.40: Struktur des einsilbigen Nukleus ‘me.k.e.REI:’
In Hinblick auf die zu erstellende Constrainthierarchie sind nun folgende Aspekte zu ber¨ucksichtigen: Die minimale segmentelle Grundlage f¨ur die vollst¨andige Realisierung der Kontur besteht aus einer More pro Ton. Diese Voraussetzung kann durch das Constraint T → µ ausgedr¨uckt werden (vgl. Gussenhoven 2004: 148ff.). (54)
T → µ:
Jeder Ton ist mit einer More verkn¨upft
Steigend-fallende Konturen auf der Grundlage von weniger segmentellem Material sind nicht dokumentiert. Es ist also davon auszugehen, dass beispielsweise der Ausfall der Dehnung der offenen Reduktionssilbe zur Trunkierung des finalen L-Tons der Kontur f¨uhrt. Besonders bemerkenswert ist, dass es auch unter diesen Umst¨anden nicht zur Alignierung des H-Tons mit der Nukleussilbe kommt, obwohl diese immer wenigstens zwei Moren aufweist (siehe Abb. 4.39). Die Kombination der Tonfolge LH auf einer Silbe findet sich nur in dem einsilbigen Beleg. Dies bedeutet zum einen, dass das Constraint N O R ISE offenbar f¨ur den einsilbigen Beleg einen anderen Stellenwert hat als f¨ur alle u¨ brigen Belege. Es bedeutet zum anderen, dass die M¨oglichkeit der Dehnung, die einen Verstoß gegen ein Faithfulness-Constraint darstellt (der Output enh¨alt mehr Moren als der Input), eher genutzt wird als die Kombination der T¨one LH in einer Silbe. N O R ISE ist demnach h¨oher einzustufen als das Constraint D EPIO(µ), das sich folgendermaßen formulieren l¨asst:
112 (55)
D EP -IO(µ):
Der Output darf nicht mehr Moren aufweisen als der Input22
Das Fehlen von Konturen auf zweisilbigen Nuklei, die eine zweimorige Nukleussilbe und eine einmorige finale Silbe aufweisen (also beispielsweise VOR.ne ohne Dehnung der Reduktionssilbe), l¨asst weiterhin darauf schließen, dass N O R ISE st¨arker beachtet wird als das Faithfulness-Constraint M AX-IO(T), denn unter diesen Umst¨anden kommt es offensichtlich zur Trunkierung eines Tons, so dass die Tonfolge LHL nicht mehr als steigend-fallende Kontur realisiert wird.23 L¨asst man zun¨achst den einsilbigen Beleg außer Acht, ergibt sich folgende Rangfolge, die zur Generierung des richtigen Kandidaten f¨uhrt: N O R ISE >> T → µ >> M AX-IO(T) >> D EP-IO(µ) >> N O FALL. Die Hierarchie wird im folgenden Tableau exemplifiziert. N O R ISE >> T → µ >> M AX -IO(T) >> D EP -IO(µ) >> N O FALL
(56) Input: a. b. c. d.
+
σ', σ L* , H, L% l* h l% VOR.ne l* l VOR.ne l* hl% VOR.ne: l* hl% VOR.ne
NoRise
T → µ
Max-IO(T)
Dep-IO(µ)
NoFall
*
*
*! *!
*!
*
Die Hierarchie f¨uhrt zum optimalen Outputkandidaten c). Kandidat a) kombiniert die T¨one L und H in einer Silbe und verst¨oßt dadurch gegen N O R ISE. Kandidat b) tilgt den H-Ton, wodurch M AX-IO(T) verletzt wird. Kandidat d) schließlich realisiert zwar alle Inputt¨one und verst¨oßt auch nicht gegen N O R ISE, verkn¨upft aber drei T¨one mit nur zwei Moren, wodurch T → µ verletzt wird.
22
Kager (1999: 156) bezeichnet dieses Constraint auch als anti-lengthening-Constraint. Er gibt es als D EP-µ-IO wieder; aus Gr¨unden der Einheitlichkeit wird es in der vorliegenden Arbeit analog zu den u¨ brigen Faithfulness-Constraints als D EP-IO(µ) bezeichnet. 23 Diese Uberlegung ¨ ist selbstverst¨andlich bis zu einem gewissen Grad spekulativ, da sie nur auf negativer Evidenz, also dem Nicht-Vorkommen des Konturverlaufs, beruht. Um von Trunkierung auszugehen, muss f¨ur einen Output beispielsweise der Form LH ein abweichender, komplexerer tonaler Input angenommen werden, z.B. LHL. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich trotz anderer Erscheinung an der sprachlichen Oberfl¨ache um diese Tonfolge handelt, kann in experimentellen Daten ¨ dadurch kontrolliert werden, dass funktional vergleichbare Außerungen in identischem Kontext auf variierendem segmentellen Material produziert werden. Beim hier untersuchten Korpus handelt es ¨ sich jedoch um Außerungen aus spontansprachlichen Daten, die aufgrund der funktionalen Komplexit¨at und der Vielf¨altigkeit ihrer kontextuellen Einbettung keine Vergleichbarkeit gew¨ahrleisten.
113 4.3.2.3.2
Spezifizierung von N O R ISE
Wie verh¨alt sich nun der einsilbige Beleg zu den eingef¨uhrten Constraints? Er verst¨oßt gegen N O R ISE und beachtet dennoch T → µ und M AX-IO(T). Geht man jedoch von der oben gegebenen Constrainthierarchie aus, ist N O R ISE undominiert. Es m¨usste zwangsl¨aufig zur Tilgung des H-Tons kommen, so dass ein final tiefer Konturbeleg als optimaler Kandidat bleiben w¨urde, wie das n¨achste Tableau veranschaulicht. (57)
N O R ISE >> T → µ >> M AX -IO(T) >> D EP -IO(µ) >> N O FALL
Input: a. b. * + c. d.
σ' L* , H, L% l* h me.k.e.REI l* me.k.e.REI l* hl% me.k.e.REI l* hl% me.k.e.REI:
NoRise
T → µ
*!
Max-IO(T) Dep-IO(µ)
NoFall
* **
*! *!
*
* *
*
Kandidat b) wird durch diese Hierarchie als optimaler Kandidat bestimmt. Der tats¨achlich vorkommende Kandidat ist jedoch d). Dieser kann aber nur erreicht werden, wenn N O R ISE hinter T → µ und M AX-IO(T) eingeordnet wird. Vor dem Hintergrund des Bestrebens, f¨ur alle Belege unabh¨angig von der zugrundeliegenden Silbenzahl eine generell g¨ultige Constrainthierarchie zu bestimmen, stellt sich die Frage, ob diese Umstellung der Constraints f¨ur den einsilbigen Beleg vermieden werden kann. Alle 291 konturtragenden Belege mit Ausnahme des einsilbigen Belegs beachten N O R ISE, so dass dessen undominierter Status außer Zweifel steht. Eine L¨osungsm¨oglichkeit liegt in der Ber¨ucksichtigung der IP-finalen Position der Nukleussilbe. Zhang (2000) stellt in Bezug auf komplexe Konturt¨one in der Tonsprache Kukuya fest, dass die Kombination LHL nur in phrasenfinalen Silben vorkommt. Dies setzt sie in der optimalit¨atstheoretischen Darstellung durch ein positional tonal markedness constraint“ (Zhang 2000: 608) um, das die Kombination al” ler T¨one nur auf der finalen Silbe zul¨asst: *T1 T2 T3 -σnonfinal : no HLH or LHL is allowed on ” a nonfinal ?. (ebd. 608). Dieses spezifische positionelle Constraint kann als phonetisch be” gr¨undet (phonetically grounded, vgl. Kager 1999: 11) und damit universal angesehen werden, da phrasenfinale Silben durch final lengthening zus¨atzlich gedehnt werden und so mehr Zeit f¨ur die Realisierung der T¨one geben (vgl. Zhang 2000: 605ff.). F¨ur die vorliegenden Zwecke gen¨ugt es, das Constraint N O R ISE in dieser Hinsicht zu spezifizieren: N O R ISE-σnonfinal . Es blockiert alle Kombinationen von L und H in einer nicht phrasenfinalen Silbe (vgl. Gussenhoven 2004: 157ff.). (58)
N O R ISE-σnonfinal :
Die T¨one L und H d¨urfen nicht gemeinsam mit einer nicht phrasenfinalen Silbe verkn¨upft sein
114 Die Ersetzung des generellen N O R ISE durch dieses Constraint erlaubt es, die einsilbigen Belege gemeinsam mit den u¨ brigen Belegen unter einer Constrainthierarchie zusammenzufassen. Es kann f¨ur alle Belege undominiert gelten. Die Constrainthierarchie f¨ur die besprochenen ein- und zweisilbigen Belege lautet nun: (59)
N O R ISE-σnonfinal >> T → µ >> M AX -IO(T) >> D EP -IO(µ) >> N O FALL
Die Hierarchie ist g¨ultig f¨ur alle Belege ohne lexikalisch betonbare Silbe im Nachlauf, beginnend bei der Grundlage von einer Silbe bis hin zu drei Silben (ANT.wor.ten, AR.bei.ten). Sie bewirkt, dass die Kombination von L und H in einer Silbe blockiert wird, sofern es sich nicht um die IP-finale Silbe handelt. Jeder Ton muss einer More zugewiesen werden k¨onnen, um realisiert zu werden. Das Einf¨ugen einer zus¨atzlichen More durch Dehnung ist m¨oglich, um ¨ die Ubernahme aller T¨one aus dem Input in den Output zu erm¨oglichen. Fallbewegungen auf einer Silbe kommen zugunsten der Einhaltung der u¨ brigen Constraints vor. Die ersten drei Constraints der Hierarchie stellen nun gewissermaßen die Minimalanforderungen dar, die gegeben sein m¨ussen, damit die Kontur u¨ berhaupt realisiert wird. Eine Verletzung eines der Constraints ist f¨ur die steigend-fallende Kontur fatal.
4.3.2.4 Kombination der Constrainthierarchien Es ist jetzt zu fragen, ob sich das soeben erstellte Ranking mit dem f¨ur die mehrsilbigen Belege mit lexikalisch betonbarer postnuklearer Silbe in Einklang bringen l¨asst, so dass letztendlich eine Hierarchie aufgestellt werden kann, die f¨ur alle Inputs der steigend-fallenden Kontur die Realisierung des korrekten Outputkandidaten gew¨ahrleistet. ¨ Der Ubersichtlichkeit halber wird die Hierarchie f¨ur die Belege mit lexikalisch betonbarer Silbe an dieser Stelle nochmals angef¨uhrt (vgl. (45)): (60)
H → σLEX >> N OFALL >> A LIGN -RT
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Anwendung dieser Hierarchie auf die Belege ohne lexikalisch betonbare Silbe im Nachlauf falsche Aussagen u¨ ber den korrekten Outputkandidaten macht. Umgekehrt f¨uhrt auch die Anwendung der Constrainthierarchie in (59) auf die Belege mit lexikalisch betonbarer Silbe im Nachlauf zur Auswahl des falschen Kandidaten: Jeder Kandidat k¨ame in Frage, der den H-Ton nicht auf der Nukleussilbe und nicht auf der letzten Silbe platziert. Um die Ausrichtung des H-Tons f¨ur alle vorkommenden segmentellen Grundlagen zu beschreiben, ist deshalb eine Kombination der beiden Hierarchien notwendig. Es ist hierbei davon auszugehen, dass die Constraints, die im Zusammenhang mit den ein- bis dreisilbigen Belegen aufgestellt wurden, weiter links einzuordnen sind, d.h. h¨oher gewichtet werden als andere. Sie geben die Minimalanforderungen an die Realisierung und Ausrichtung des Tons wieder und werden auch von den vielsilbigen Belegen nicht verletzt – wenn sie bei diesen auch nicht in der Lage sind, den korrekten Kandidaten zu bestimmen. Umgekehrt jedoch verletzen alle Belege ohne lexikalisch betonbare Silbe im Nachlauf per definitionem ein wesentliches Constraint der Hierarchie f¨ur die Belege mit lexikalisch betonbarer Silbe im Nachlauf, n¨amlich H → σLEX . Diese Verletzung ist zwar nicht fatal, da das Constraint in den gegebenen F¨allen ein vacuous Constraint darstellt, das auf die Strukturbedingungen
115 des Inputs nicht zutrifft (es gibt keine lexikalisch betonbare Silbe im Nachlauf). Es ist aber dennoch nicht sinnvoll, es den anderen Constraints, die f¨ur alle Belege relevant sind, voranzustellen. W¨ahrend also die Rangfolge N O R ISE-σnonfinal >> T → µ >> M AX-IO(T) >> D EP-IO(µ) >> N O FALL von allen Belegen ber¨ucksichtigt wird, gilt dies f¨ur die Rangfolge H → σLEX >> N O FALL >> A LIGN-RT nicht. Sie ist spezifischer und erfordert mehr Auswahlm¨oglichkeiten f¨ur die Ausrichtung des H-Tons. ¨ Eine Uberschneidung der Hierarchien ergibt sich bei dem Constraint N O FALL. Es kommt in beiden Hierarchien vor. Alle vor N O FALL eingestuften Constraints m¨ussen auch in der kombinierten Hierarchie vor ihm stehen, und alle dahinter vorkommenden Constraints m¨ussen in der kombinierten Hierarchie dahinter stehen. H → σLEX verh¨alt sich indifferent gegen¨uber D EP-IO(µ), beide aber dominieren N O FALL. Es ergibt sich somit die folgende Hierarchie: (61)
N O R ISE-σnonfinal >> T → µ >> M AX -IO(T) >> H → σLEX, D EP -IO(µ) >> N O FALL >> A LIGN -RT
Die kombinierte Constrainthierarchie ist in der Lage, f¨ur alle Belege den korrekten Outputkandidaten auszuw¨ahlen. Dies soll exemplarisch an zwei Belegen durchgespielt werden, von denen der erste zwei lexikalisch betonbare Silben im Nachlauf besitzt (RAUS.ge.hen..mal), der zweite hingegen keine (TIE.re:).
b. c. d.
+
*!
Align-Rt
NoFall
Dep-IO(µ)
l* h l% RAUS.ge.hen..mal l* h l% RAUS.ge.hen..mal l* h l% RAUS.ge.hen..mal l* hl% RAUS.ge.hen..mal
H → σLex
a.
Max-IO(T)
σ', σLex , σ, σLex L* , H, L%
T → µ
Input:
NoRise-σnonfinal
N O R ISE-σnonfinal >> T → µ >> M AX -IO(T) >> H → σLEX , D EP -IO(µ) >> N O FALL >> A LIGN -RT
(62)
*** ** *!
* *!
Kandidat a) scheidet aufgrund einer Verletzung des hoch gerankten Constraints N O R ISEσnonfinal aus. Zur Auswahl stehen dann noch die Kandidaten b), c) und d). Kandidat c) verletzt das Constraint H → σLEX , weshalb nun noch b) und d) als optimale Kandidaten in Frage kommen. Ausschlaggebend ist nun das Constraint N O FALL, das von d) verletzt wird, von b) jedoch beachtet wird. Kandidat b) steht damit als korrekter optimaler Outputkandidat fest. Es folgt die Evaluierung des zweisilbigen Beleges TIE.re:
116
b. c.
+
d.
*!
Align-Rt
NoFall
Dep-IO(µ)
l* h l% TIE.re l* hl% TIE.re l* hl% TIE.re: l* h TIE.re
H → σLex
a.
Max-IO(T)
σ', σ L* , H, L%
T → µ
Input:
NoRise-σnonfinal
N O R ISE-σnonfinal >> T → µ >> M AX -IO(T) >> H → σLEX , D EP -IO(µ) >> N O FALL >> A LIGN -RT
(63)
* *!
* * *!
* *
*
*
Die Kandidaten a), b) und d) sind nicht optimal, da sie gegen N O R ISE-σnonfinal , T → µ bzw. M AX-IO(T) verstoßen. c) bleibt ohne Verstoß gegen diese Constraints und stellt damit den optimalen Kandidaten dar. Es f¨allt auf, dass die Verletzung von H → σLEX hier bereits keine Relevanz mehr f¨ur die Evaluierung des Outputs hat. Dies steht im Gegensatz zu den mehrsilbigen Belegen, die eine lexikalisch betonbare Silbe im Nachlauf aufweisen. Das bedeutet, dass im K¨olnischen f¨ur alle steigend-fallenden Belege ohne Plateau eine g¨ultige Constrainthierarchie aufgestellt werden kann, deren Relevanzbereiche aber abh¨angig vom Input variieren. Je mehr Optionen f¨ur die Alignierung des H-Tons gegeben sind, desto mehr Constraints m¨ussen ber¨ucksichtigt werden, um den korrekten Kandidaten zu erhalten.
4.3.2.5
Variation innerhalb der steigend-fallenden Kontur ohne Plateau
Obwohl die oben gegebene Constrainthierarchie den korrekten Output f¨ur die u¨ berwiegende Mehrzahl der vorkommenden steigend-fallenden Belege ausw¨ahlt, lassen sich doch einige Belege finden, die sich durch die Hierarchie nicht bestimmen lassen. Es handelt sich um insgesamt 18 Belege, die vor dem Hintergrund der erstellten Constrainthierarchie als nicht wohlgeformt zu bezeichnen sind. Die Abweichungen sind als unbegr¨undete Verst¨oße gegen die Constraints H → σLEX , A LIGN-RT und N O FALL beschreibbar, wie die folgende Auflistung veranschaulicht.
4.3.2.5.1 Verletzung von H → σLEX und A LIGN -RT Gegen H → σLEX in seiner Interaktion mit A LIGN -RT verstoßen die folgenden Belege:
117 (64)
l* h l% SCHAT.ten..da
(65)
l* h l% TREPP.chen..is
(66)
l* h l% ver.LIE.ren..soll.te
(67)
l* h l% J¨ U.te..sie.jel
(68)
l* h l% WEI.ter..ent.wi.ck.eln
(69)
l* h l% ZU.ge.zo.ge.nen
(70)
l* h l% SPON.so.ren..nit
(71)
l* h l% SALZ.was.ser..schluck
(72)
l* h l% VOR.ruh.stand..ma.ch.en
(73)
l* h l% MIR.sie.ben..wo.ch.en
(74)
l* h l% WA.gen.he.ber..drun.ter
(75)
l* h l% EIN.ge.zo.gen..wor.den
(76)
l* h l% ho.TEL..be.kom.men..h¨ at.ten
(77)
l* h l% WA.gen..kau.fen..woll.te
(78)
l* h l% RAT.schl¨ a.ge..in..d=a.po.the.ke
(79)
l* h l% ¨ KRUTH.stra.ße..ge.born..is
Die ersten acht Belege verstoßen gegen H → σLEX . Die optimalen Kandidaten w¨urden H → σLEX in keinem der Belege verletzen. Die Belege (72) bis (79) verletzen zwar nicht H → σLEX , ausgehend von der Wirksamkeit von A LIGN -RT wird in den gegebenen Beispielen jedoch die falsche lexikalisch betonbare Silbe ausgew¨ahlt. Die Constrainthierarchie w¨urde beispielsweise in Beleg (72) die Silbe mach als Tr¨agersilbe bestimmen, in den Belegen (73) und (74) die Silben woch und drun. In Beispiel (79) w¨urde unter Mitwirkung von N O FALL die Silbe born als Tr¨agersilbe ausgew¨ahlt.
118 4.3.2.5.2 Verletzung von N O FALL Gegen das Constraint N O FALL verstoßen die folgenden zwei Belege: (80)
l* hl% ¨ FAHRT..man..da
(81)
l* h l% GAR..nichts..mehr
H → σLEX wird in beiden Belegen nicht verletzt. Die Rangfolge H → σLEX >> N O FALL >> A LIGN -RT jedoch w¨urde dazu f¨uhren, den H-Ton auf der jeweils vorletzten Silbe man bzw. nichts zu realisieren. Knapp die H¨alfte der Abweichungen betrifft die Rechtsausrichtung des H-Tons bei mehr als einer lexikalisch betonbaren Silbe (8 Belege). Ebenfalls knapp die H¨alfte der Abweichungen missachtet die Ausrichtung an H → σLEX generell (8 Belege). Die u¨ brigen 2 Belege schließlich bewerten den Zwang zur Rechtsausrichtung h¨oher als das Constraint N O FALL. Es l¨asst sich folglich kein einheitliches Muster f¨ur alle Abweichungen aufstellen. Eine Ver¨anderung der bestehenden Constrainthierarchie ist deshalb nicht gerechtfertigt.
4.3.3
Der Tonh¨ohengipfel bei Konturen mit Plateau
Wie eingangs erw¨ahnt wurde, kommt die steigend-fallende Kontur im k¨olnischen Korpus in 59 F¨allen auch mit hoher Plateaubildung vor. Der folgende Abschnitt widmet sich nun der Frage, wie die Plateaubildung im Rahmen der Optimalit¨atstheorie beschrieben werden kann. F¨ur die OT-Analyse ist zun¨achst eine grunds¨atzliche Entscheidung zu treffen, n¨amlich, ob als Input ein oder zwei H-T¨one angenommen werden sollen. In der Literatur vorliegende tonologische Analysen dieses Konturverlaufs in K¨oln weisen zwei H-T¨one auf (vgl. Kapitel 4.1). Der erste an der Sprachoberfl¨ache auftretende H-Ton wird als Trailington zur tiefen Nukleussilbe interpretiert, der zweite H-Ton weiterhin als Phrasenakzent, so dass sich die Tonfolge L*+H H- L% ergibt (vgl. Gilles 2005, Peters 2004). Dies soll die Tatsache widerspiegeln, dass der erste H-Ton in Abh¨angigkeit zur Nukleussilbe steht und in ihrer unmittelbaren N¨ahe aligniert ist. Sowohl Peters als auch Gilles weisen allerdings auf große Variation bei der Ausrichtung des ersten H-Tons hin. Diese Variation l¨asst sich auch im vorliegenden Korpus nachweisen. Das Plateau kann in der Folgesilbe zur Nukleussilbe, aber auch erst (maximal) drei Silben sp¨ater und auf allen Silben dazwischen einsetzen, wie die folgenden Beispiele zeigen: (82)
l* h h l% VOR..dei.nem..a.qua.ri.um
(83)
l* h h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te
(84)
l* h h l% ¨ WAH.rungs.re.form..dann..kam
119 (85)
l* h h l% FAR.be..drauf..ge.tr¨ au.felt
Der Beginn des Plateaus, und damit die Ausrichtung des ersten H-Tons, ist demnach so variabel, dass es meines Erachtens nicht sinnvoll ist, von einem bitonalen Akzentton auszugehen. Dar¨uber hinaus erscheint es nicht w¨unschenswert, die steigend-fallende Kontur in dem einen Fall durch einen bitonalen Akzentton mit Phrasenakzent zu beschreiben und im anderen Fall durch einen monotonalen Akzentton mit Phrasenakzent.24 Nichtsdestotrotz muss die plateauartige Auspr¨agung in Abgrenzung zum einsilbigen Tonh¨ohengipfel durch irgendein zus¨atzliches tonales Ereignis erkl¨art werden. Bis auf wenige Ausnahmen endet das Plateau auf der letzten lexikalisch betonbaren Silbe der Intonationsphrase, so dass der zweite H-Ton offenbar die Anforderungen des “gew¨ohnlichen” Phrasenakzents erf¨ullt, der im vorangegangenen Unterabschnitt beschrieben wurde: Er ist mit einer lexikalisch betonbaren Silbe verbunden und weist eine Tendenz zur rechten Phrasengrenze auf. Erkl¨arungsbed¨urftig verbleibt somit der Beginn des Plateaus, also der tonologische Status des ersten H-Tons. Dieser ist weder regelm¨aßig mit einer lexikalisch betonbaren Silbe verkn¨upft, noch orientiert er sich systematisch an der Grenze des prosodischen Wortes oder irgend einer anderen prosodischen Konstituente, wie die oben gegebenen Beispiele bereits andeuten. Es l¨asst sich im gesamten Korpus der 59 Belege keine einheitliche Tendenz f¨ur die Ausrichtung des ersten H-Tons feststellen. Die u¨ berblicksartige Darstellung zu “Tonausbreitung und mehrfacher Ausrichtung” in Peters (2006a: 38ff.) stellt drei M¨oglichkeiten zusammen, um plateauf¨ormige Auspr¨agungen auf der Basis eines Tones zu konzipieren: Mehrfache Assoziation, mehrfaches Alignment und tone copying. W¨ahrend mehrfache Assoziation und mehrfaches Alignment in nur einem Ton resultieren, f¨uhrt tone copying zu mehr als einem Ton. Mehrfache Assoziation und mehrfaches Alignment unterscheiden sich unter anderem darin voneinander, dass bei mehrfacher Assoziation nur ein phonetischer Zielpunkt spezifiziert ist, bei mehrfachem Alignment aber mehr als einer. Im vorliegenden Fall ist weiterhin von Bedeutung, dass die zeitliche Realisierung bei mehrfacher Assoziation stabiler sein soll als bei mehrfachem Alignment. Eine stabile zeitliche Realisierung ist bei den zur Diskussion stehenden Plateaubildungen in keinster Weise gegeben. Auch das Konzept des mehrfachen Alignments ist jedoch problematisch, da hier zwar eine gewisse Variabilit¨at in der zeitlichen Realisierung zul¨assig ist, jedoch eigentlich eine Ausrichtung an der “Kante” einer prosodischen Konstituente oder eines Tons erkennbar sein sollte. Wie oben bereits gezeigt wurde, l¨asst sich jedoch kein solches Element ausmachen. Beide Konzepte scheinen somit f¨ur das untersuchte Datenmaterial nicht ohne weiteres zutreffend zu sein. Die dritte M¨oglichkeit des tone copying wird von Grice et al. (2000) u.a. im Zusammenhang mit dem EEQT (Eastern European Question Tune) angesprochen. Die EEQT besteht aus einer steigend-fallenden finalen Tonh¨ohenbewegung, die je nach Sprache und Dialekt – wie im K¨olnischen – mit und ohne plateauartige Auspr¨agung vorkommen kann (siehe hierzu auch Kap. 4.1). Die Plateauform f¨uhren Grice et al. nun auf einen H-Phrasenakzent zur¨uck, der zu einer weiteren Assoziationsstelle “kopiert” wird. Die von ihnen untersuchten Variet¨aten mit hohem Plateau (transsilvanisches Ungarisch und Rum¨anisch) weisen einen steilen An24
Kapitel 4.4 wird obendrein zeigen, dass es hinsichtlich des konversationellen Gebrauchs keinen Unterschied zwischen den steigend-fallenden Konturen mit plateauf¨ormigem Gipfel und denen mit einsilbigem Gipfel gibt.
120 stieg zum Plateau auf, so dass sie den ersten H-Ton mit der nuklearen Silbe in Verbindung bringen: “Specifically, we analyse the plateau as being the result of two occurrences of a H- phrase accent tone, one associated with the nuclear syllable and one with the appropriate postnuclear stressed syllable. [...] With either a multiple association or a copying analysis, [...] the high plateau can be explained as the reflex of the H- phrase accent.” (ebd. 160)
Wie dem Zitat zu entnehmen ist, interpretieren Grice et al. das Plateau als “Reflex” des hohen Phrasenakzents, wobei sie weder tone copying noch mehrfache Assoziation ausschließen. Kopierte T¨one sollen sowohl Downstep als auch Deklination unterliegen (vgl. Peters 2006a: 41), was allerdings bei den zur Diskussion stehenden Plateaukonturen nicht u¨ berpr¨uft werden kann, da der H-Ton zum einen nach links kopiert wird und zum anderen nicht in einem Downstep hervorrufenden tonalen Kontext erscheint (es geht kein anderer H-Ton vorweg). Es muss an dieser Stelle daher gesagt werden, dass auf der Basis des vorhandenen Datenmaterials keine endg¨ultige Entscheidung hinsichtlich des zutreffenden Konzeptes getroffen werden kann. Es ist zu bedenken, dass nur 59 spontansprachliche Konturbelege zur Verf¨ugung stehen, die in Hinblick auf den Plateaubeginn stark variieren. Eine Analyse auf der Grundlage eines gr¨oßeren Korpus kann hier m¨oglicherweise deutlichere Tendenzen zu Tage f¨ordern und zu mehr Klarheit hinsichtlich des angemessenen Konzeptes f¨uhren. Im Folgenden soll nun die OT-Analyse auch f¨ur die Konturbelege mit Hochplateau fortgesetzt werden; das Konzept, das der Analyse zugrunde gelegt wird, ist das des tone copying, wobei nicht auszuschließen ist, dass sich nach zuk¨unftigen Analysen andere Konzepte als angemessener herausstellen werden.
4.3.3.1 Der Plateaubeginn: Ausrichtung des ersten H-Tons Im Gegensatz zu den Hochplateaus der ungarischen und rum¨anischen Variet¨aten erscheint der erste H-Ton der steigend-fallenden Konturen im K¨olnischen nicht in unmittelbarer Folge der Nukleussilbe. Seine Ausrichtung ist im untersuchten Korpus variabel und nur durch einen Mindestabstand sowohl zur vorangehenden tiefen Nukleussilbe als auch zum das Plateau abschließenden H-Ton eingeschr¨ankt. Die OT-Analyse muss folglich in der Lage sein, dieses variable Alignment des ersten H-Tons zum Ausdruck zu bringen. F¨ur den zweiten H-Ton tritt die zuvor unter (61) bestimmte Constrainthierarchie in Kraft. Die erforderliche Variabilit¨at der Hierarchie f¨ur den ersten H-Ton wird durch Unterdeterminierung der Hierarchie erreicht. Ihr Einsatz f¨uhrt damit nicht zu einem optimalen Output, sondern erbringt mehrere Kandidaten, die gleichermaßen als optimal gelten. Im Input befindet sich als zugrundeliegende Form wie bei der steigend-fallenden Kontur ohne Plateau nur ein H-Ton. Input und Output weichen also in der Anzahl der vorhandenen T¨one voneinander ab, da an der sprachlichen Oberfl¨ache von zwei H-T¨onen ausgegangen werden muss. Es muss deshalb ein Constraint geben, das eine “Kopie” des H- Phrasenakzents erstellt: H-C OPY.25 25
Ein solches Constraint verst¨oßt gegen OCP-Constraints, weshalb der zweite h-Ton besser durch ein externes Kriterium erzwungen werden sollte (Richard Wiese, p.c.). Bei den vorliegenden Daten ist
121 (86)
H-C OPY:
Kopiere den H-Ton
F¨ur das Alignment des zus¨atzlichen H-Tons ist nun die Einhaltung von N O R ISE erforderlich, da der Ton nie bereits in der Nukleussilbe erscheint. Das Constraint N O R ISE bleibt damit undominiert. Im Gegensatz zum zweiten H-Ton, (und zur gew¨ohnlichen eingipfligen Kontur mit H-Phrasenakzent), ist es nicht notwendig, von einem spezifischen Constraint wie H → σLEX auszugehen. Um sicherzustellen, dass der H-Ton an der Oberfl¨ache erscheint, gen¨ugt das Constraint H-C OPY. Hinsichtlich der Silbenstruktur ist der H-Ton mit einer beliebigen Silbe aligniert. Sie kann, muss aber nicht lexikalisch betonbar sein. Auch reduzierte Silben sind als Positionierungsstelle m¨oglich, selbst wenn eine lexikalisch betonbare Silbe als potenzielle Tr¨agersilbe vorhanden ist. Die sich ergebende Rangfolge N O R ISE-σnonfinal >> H-C OPY reicht jedoch noch nicht aus, um die Plateaubildung ausreichend einzuschr¨anken, wie das folgende Tableau anhand des Belegs VOR..dei.nem..a.qua.ri.um veranschaulicht. Die Rangfolge ist nicht in der Lage, Kandidaten zu verhindern, die das Plateau zur Phrasengrenze hin ausrichten, den kopierten H-Ton also hinter dem u¨ blichen H-Phrasenakzent positionieren. N O R ISE-σnonfinal >> C OPY-H
(87) Input: a.
+
b. * +
σ', σLex, , σ, σ, σLex , σ, σ L* , H, L% l* h h l% VOR..dei.nem..a.qua.ri.um l* h h l% VOR..dei.nem..a.qua.ri.um
NoRise-σnonfinal
H-Copy
Kandidat a) wird korrekterweise ausgew¨ahlt, da der H-Ton auf einer der Silben zwischen L* und H- positioniert wird. Kandidat b) hingegen wird f¨alschlicherweise ausgew¨ahlt. Es sind keine F¨alle belegt, bei denen das Plateau nach dem ordnungsgem¨aß auf der letzten lexikalisch betonbaren Silbe ausgerichteten H-Phrasenakzent produziert wird. Die inkorrekte Auswahl zeigt, dass das Constraint zur Verhinderung dieser Positionierung des kopierten H-Tons noch weiter spezifiziert werden sollte, indem die Richtung angegeben wird, in die der Ton kopiert werden soll:26 (88)
H-C OPY-LT:
Kopiere den H-Ton nach links
es jedoch m.E. unklar, worin dies bestehen sollte, da sich keine eindeutigen Assoziations- und/oder Alignmentkriterien f¨ur den h-Ton ausmachen lassen. Die einzige M¨oglichkeit best¨unde m.E. darin, den Beginn des Plateaus nicht mit dem H-Phrasenakzent in Beziehung zu setzen, sondern auf einen H-Trailington zur¨uckzuf¨uhren, der variabel ausgerichtet ist, wie dies Gilles (2005) und Peters (2006a) tun. Dadurch w¨urden allerdings die zur Diskussion stehenden Varianten der steigendfallenden Kontur einen unterschiedlichen Input aufweisen, so dass der Versuch, sie in einer Constrainthierarchie abzubilden, ohnehin hinf¨allig w¨are. 26 Dieses Constraint ist in Anlehnung an Gussenhovens (2004: 153ff.) Constraints f¨ ur mehrfaches Alignment gebildet.
122 Durch dieses Constraint ist gew¨ahrleistet, dass nur Silben als Tr¨agersilben in Frage kommen, die links von H- stehen. Es ergibt sich folgendes Ranking der Constraints: (89)
N O R ISE -σnonfinal >> H-C OPY-LT
Das n¨achste Tableau zeigt alle m¨oglichen Outputkandidaten, die von der Hierarchie als optimal bestimmt werden. Sie zeigt zudem den Ausschluss des obigen Kandidaten, der jetzt H-C OPY-LT verletzt. N O R ISE-σnonfinal >> H-C OPY-LT
(90) Input: a.
+
b.
+
c.
+
d. e. f.
σ', σLex, , σ, σ, σLex , σ, σ L* , H, L% l* h h l% VOR..dei.nem..a.qua.ri.um l* h h l% VOR..dei.nem..a.qua.ri.um l* h h l% VOR..dei.nem..a.qua.ri.um l* h h l% VOR..dei.nem..a.qua.ri.um l* h l% VOR..dei.nem..a.qua.ri.um l* h h l% VOR..dei.nem..a.qua.ri.um
NoRise-σnonfinal
H-Copy-Lt
*! *! *!
Die Constrainthierarchie bestimmt die Kandidaten a) bis c) als optimal, die Kandidaten d) bis f) hingegen scheiden aus. N O R ISE verhindert die Positionierung des kopierten H-Tons noch in der Nukleussilbe (f), C OPY-H-LT verhindert sowohl, dass dem Input kein weiterer H-Ton hinzugef¨ugt wird (e), als auch die Verschiebung des kopierten H-Tons hinter den HPhrasenakzent (d). Es wird somit nicht ein einziger optimaler Kandidat erw¨ahlt, sondern mehrere Formen. Dies spiegelt die Tatsache wider, dass alle diese Kandidaten gleichermaßen wohlgeformt sind.
123 4.3.4
Gemeinsame Constrainthierarchie der tonologischen Varianten
Es ist nun zu u¨ berlegen, ob die beiden Varianten des Inputs L* H- L% in einer Constrainthierarchie zusammengefasst werden k¨onnen. Die folgende Abbildung veranschaulicht noch einmal die vorkommende Variation. Gemeinsamer Input: L* H- L%
I Kontur ohne Plateau
II Kontur mit Plateau
Position von H-:
Position von kopiertem H-: (generell variabel)
N O R ISE-σnonfinal >> T → µ >> M AX -IO(T) >> H → σLEX, D EP -IO(µ)
N O R ISE-σnonfinal >> H-C OPY-LT
>> N O FALL >> A LIGN -RT → gilt f¨ur 273 Belege
→ gilt f¨ur 59 Belege
Abweichungen: • Verst¨oße gegen diverse Constraints → 18 Belege
Abbildung 4.41: Vorkommen und Constrainthierarchien der tonologischen Varianten der steigendfallenden Kontur
Die steigend-fallende Kontur weist zwei Varianten auf: eine Variante mit hoher Plateaubildung und eine Variante ohne Plateaubildung. Mit insgesamt 291 Belegen ist die Auspr¨agung ohne Plateau wesentlich h¨aufiger als die mit Plateau, die 59 Belege aufweist. Die Ausrichtung des H-Phrasenakzents ist als sehr regelm¨aßig zu bezeichnen: nur 18 der 291 Belege weichen von der erstellten Constrainthierarchie ab. Bei den Plateaus entspricht die Position des zweiten H-Tons, der das Ende des Plateaus festlegt, dem H-Phrasenakzent und ist entsprechend regelm¨aßig. Der Beginn des Plateaus jedoch, der auf einen kopierten H-Ton zur¨uckgef¨uhrt wird, ist variabel. Die Constrainthierarchie ist entsprechend unterdeterminiert, um jeweils alle vorkommenden Auspr¨agungen als optimale Outputkandidaten bestimmen zu k¨onnen. Ein gemeinsames Ranking muss in der Lage sein, die zwei (und nur die zwei) Varianten als optimalen Output zu bestimmen. Das Ranking sollte außerdem in der Lage sein, ann¨ahernde Aussagen u¨ ber die H¨aufigkeitsverteilung der Varianten zu machen. Zur Darstellung von Variation im Rahmen der Optimalit¨atstheorie sind verschiedene Vorschl¨age gemacht worden. Ihnen ist gemeinsam, dass die Rangfolge der Constraints gelockert wird. Der urspr¨ungliche Anspruch der OT, jedes einzelne Constraint in Hinblick auf jedes andere Constraint eindeutig bewerten zu m¨ussen, wird dadurch aufgehoben. Stattdessen besteht die M¨oglichkeit, beispielsweise durch eine “partial order” (Anttila & Cho 1998) oder ein “floating constraint” (Nagy & Reynolds 1997) Variation systematisch in die Hierarchie zu integrieren.
124 Zur Darstellung der vorliegenden Variation wird der Ansatz der floating constraints gew¨ahlt. Er besagt, dass ein oder mehrere Constraints nicht fest an eine Stelle in der Hierarchie gebunden sind, sondern in einem bestimmten Bereich floaten k¨onnen, also mehrere Ankerpunkte in der Hierarchie aufweisen k¨onnen. Auch benachbarte Constraints k¨onnen untereinander floaten und so einmal den einen, einmal den anderen Kandidaten als optimal ausw¨ahlen. Ein Blick auf die beiden dargestellten Constrainthierarchien verdeutlicht, dass zun¨achst ein Constraint ben¨otigt wird, das die Kopie des H-Tons verhindert. Dieses k¨onnte dann als floating constraint eingesetzt werden. Da durch die Kopie des H-Tons ein zus¨atzlicher Ton im Output erscheint, der nicht im Input gegeben ist, bietet es sich an, zu dessen Vermeidung ein Faithfulness-Constraint einzusetzen, das die Hinzuf¨ugung eines Tones bestraft: D EP-IO(T).27 (91)
D EP -IO(T):
Jeder Ton im Output muss eine Entsprechung im Input haben
Steht dieses Constraint nun vor H-C OPY-LT, so gewinnt der Kandidat ohne Plateaubildung, steht es jedoch hinter H-C OPY-LT, so gewinnt der Kandidat mit Plateaubildung.
(92)
. . . >>
H-C OPY-LT >> . . . D EP -IO(T)
Die geschweiften Klammern machen deutlich, dass die beiden Constraints untereinander floaten. Je nachdem, welches bei der Auswahl des Kandidaten h¨oher gerankt ist, kommt es zur Auswahl eines anderen Kandidaten. Die Variation zwischen Plateau und Nicht-Plateau kann somit durch das Floaten der beiden Constraints erzielt werden. Dieses Teilranking w¨urde allerdings bedeuten, dass jeweils in 50% der F¨alle ein plateauf¨ormiger bzw. nicht-plateauf¨ormiger Kandidat gewinnt. Das entspricht nicht der tats¨achlichen H¨aufigkeitsverteilung, wie sie im Korpus festgestellt wurde. Diese liegt bei einem Verh¨altnis von ca. 5:1, d.h. die Auspr¨agung ohne Plateau kommt f¨unfmal h¨aufiger vor, als die Auspr¨agung mit Plateau. Um diese H¨aufigkeitsverteilung zu erzielen, muss der Floatingbereich des Constraints ver¨andert werden. Der Bereich muss in der Weise gestaltet sein, dass mehr Hierarchien einen Kandidaten ohne Plateau als optimal ausweisen als einen Kandidaten mit Plateau. Das bedeutet, dass D EP-IO(T) keinesfalls noch weiter hinter H-C OPY-LT floaten darf, denn in diesen F¨allen bestimmt die Hierarchie einen Kandidaten mit Plateau als optimal. D EP-IO(T) muss stattdessen, wenn m¨oglich, weiter nach links floaten, da wann immer es vor H-C OPY-LT eingestuft ist, nicht-plateauf¨ormige Kandidaten ausgew¨ahlt werden. H-C OPYLT muss den Constraints N O R ISE-σnonfinal und T → µ unterstellt sein, gegen¨uber den u¨ brigen Constraints verh¨alt es sich indifferent. Eine einfache M¨oglichkeit besteht deshalb darin, das Constraint H-C OPY-LT an letzter Stelle der Hierarchie einzuordnen und das Constraint D EPIO(T) entsprechend floaten zu lassen. Die als Mindestanforderung f¨ur die Realisierung der Kontur herausgestellten ersten drei Constraints fallen auf diese Art nicht in den Floatingbereich von D EP-IO(T). Der relevante Constraintbereich f¨ur das floating constraint D EP-IO(T) ist folgendermaßen zu beschreiben:
27
Bei alternativen Konzipierungen des Plateaus durch mehrfache Assoziation oder mehrfaches Alignment m¨usste man an dieser Stelle wohl mit den Constraints N O S PREAD oder N OTARGET in Interaktion mit entsprechenden Assoziations- und Alignmentcontraints arbeiten, die die Ausbreitung des Tones erfordern (vgl. Gussenhoven 2004: 148ff.).
125 (93)
N O R ISE-σnonfinal >> T → µ >> M AX -IO(T) >>
............ . . . . . . ........ . . . ..........D EP -IO(T)............. . . . ......... . . . . . . ........ H → σLex , D EP -IO(µ) >> N O FALL >> A LIGN -RT >> H-C OPY-LT
Die geschweiften Klammern geben den Bereich an, in dem das Constraint floatet. Es kann zum einen vor H → σLex , D EP-IO(µ), N O FALL, A LIGN -RT und H-C OPY-LT stehen, zum anderen aber auch hinter H-C OPY-LT. Nur im letzten Fall kommt es zur Auswahl eines Kandidaten mit Plateaubildung, in den u¨ brigen f¨unf F¨allen hingegen zur Auswahl eines Kandidaten ohne Plateau. Dieses Constraintranking sagt somit eine H¨aufigkeitsverteilung von 5:1 vorher.28 Die folgenden exemplarischen Evaluierungen verschiedener Kandidaten sollen erweisen, ob D EP-IO(T) tats¨achlich in allen dargestellten Positionen stehen kann und zur Auswahl des optimalen Kandidaten f¨uhrt. Die Positionen werden von links nach rechts vorgestellt. Im ersten Tableau steht D EP-IO(T) also vor H → σLex , im zweiten vor D EP-IO(µ) usw.
d. e. f.
+
NoFall
*!
*!
H-Copy-Lt
c.
*
Align-Rt
b.
*!
Dep-IO(µ)
l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* hl% AB.ge.m¨ aht..hat.te
H → σLex
a.
Dep-IO(T)
σ', σ, σLex , σLex , σ L* , H, L%
Max-IO(T)
Input:
T → µ
Erste Position von D EP -IO(T): Kein Plateau NoRise-σnonfinal
(94)
** ** ***
*
*!*
*
* *
*!
*
*
*
* *
Die Evaluierung verdeutlicht, dass das Ranking den korrekten Outputkandidaten ohne Plateaubildung ausw¨ahlt. Das Gleiche gilt f¨ur die folgenden vier Evaluierungen, bei denen – bei nach rechts floatendem D EP-IO(T) – ebenfalls der Kandidat ohne Plateau als optimal bestimmt wird.
28
Geht man davon aus, dass auch die Constraints H → σLex und D EP-IO(µ) ihre Positionen tauschen k¨onnen, erh¨alt man ein Verh¨altnis von 6:1.
126
d. +
f.
*!
NoFall
Dep-IO(µ)
*!*
*
*
*
*
*
* *
d. +
NoFall
*!
*!
H-Copy-Lt
c.
*
Align-Rt
b.
*!
Dep-IO(T)
l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* hl% AB.ge.m¨ aht..hat.te
Dep-IO(µ)
a.
H → σLex
σ', σ, σLex , σLex , σ L* , H, L%
f.
*
Dritte Position von D EP -IO(T): Kein Plateau
Input:
e.
** ** ***
*
Max-IO(T)
(96)
*!
T → µ
e.
*!
H-Copy-Lt
c.
*
Align-Rt
b.
*!
Dep-IO(T)
l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* hl% AB.ge.m¨ aht..hat.te
H → σLex
a.
Max-IO(T)
σ', σ, σLex , σLex , σ L* , H, L%
T → µ
Input:
NoRise-σnonfinal
Zweite Position von D EP -IO(T): Kein Plateau
NoRise-σnonfinal
(95)
** ** ***
*
*!*
*
* *
*!
*
*
*
* *
127
d. +
f.
*!
*
Dep-IO(T)
NoFall
*!*
*
*
*
*
b. c. d. +
* *
*!
*
*!*
*
* *
*
H-Copy-Lt
** ** ***
*
*!
Dep-IO(T)
*
Align-Rt
*!
NoFall
l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* hl% AB.ge.m¨ aht..hat.te
Dep-IO(µ)
a.
H → σLex
σ', σ, σLex , σLex , σ L* , H, L%
f.
*
F¨unfte Position von D EP -IO(T): Kein Plateau
Input:
e.
** ** ***
*
Max-IO(T)
(98)
*!
T → µ
e.
*!
H-Copy-Lt
c.
*
Align-Rt
b.
*!
Dep-IO(µ)
l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* hl% AB.ge.m¨ aht..hat.te
H → σLex
a.
Max-IO(T)
σ', σ, σLex , σLex , σ L* , H, L%
T → µ
Input:
NoRise-σnonfinal
Vierte Position von D EP -IO(T): Kein Plateau
NoRise-σnonfinal
(97)
*
*! * *
128 Erst die folgende Constrainthierarchie erwirkt einen gravierenden Unterschied und erw¨ahlt nun nicht mehr Kandidat e) ohne Plateau, sondern Kandidat d) mit Plateau als optimalen Output.
d. e. f.
+
*!
** ** ***
*
*!*
*
*
* * *!
*
*
Dep-IO(T)
H-Copy-Lt
c.
*
Align-Rt
b.
*!
NoFall
l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* hl% AB.ge.m¨ aht..hat.te
Dep-IO(µ)
a.
H → σLex
σ', σ, σLex , σLex , σ L* , H, L%
Max-IO(T)
Input:
T → µ
Letzte Position von D EP -IO(T): Plateau NoRise-σnonfinal
(99)
* *! *
Die Evaluierungen haben erwiesen, dass alle dargestellten Positionen von D EP-IO(T) zur Auswahl des korrekten Kandidaten ohne (5x) bzw. mit Plateau (1x) f¨uhren. Die durch das floating constraint variabel gestaltete Constrainhierarchie ist somit in der Lage, die steigendfallenden Konturen im K¨olnischen mit ihren Varianten und deren Vorkommensh¨aufigkeiten zu beschreiben. Das obige Schaubild zur Variation der Kontur im K¨olnischen kann nun um die gemeinsame Constrainthierarchie f¨ur die beiden Varianten erg¨anzt werden.
129 Gemeinsamer Input: L* H- L%
I Kontur ohne Plateau
II Kontur mit Plateau
Position von H-:
Position von kopiertem H-: (generell variabel)
N O R ISE-σnonfinal >> T → µ >> M AX -IO(T) >> H → σLEX, D EP -IO(µ)
N O R ISE-σnonfinal >> H-C OPY-LT
>> N O FALL >> A LIGN -RT → gilt f¨ur 273 Belege
→ gilt f¨ur 59 Belege
Abweichungen: • Verst¨oße gegen diverse Constraints → 18 Belege
Gemeinsame Constrainthierarchie N O R ISE-σnonfinal >> T → µ >> M AX -IO(T) >>
............ . . . . . . ........ . . . ..........D EP -IO(T)............. . . . ......... . . . . . . ........ H → σLex , D EP -IO(µ) >> N O FALL >> A LIGN -RT >> H-C OPY-LT
Abbildung 4.42: Gemeinsame Constrainthierarchie der tonologischen Varianten der steigend-fallenden Kontur
4.3.5
Zusammenfassung
Die Darstellung der Positionierung des H-Tons bei einsilbigen postnuklearen Tonh¨ohengipfeln und bei postnuklearen Hochplateaus hat erwiesen, dass der H-Ton bzw. das Plateauende an einer lexikalisch betonbaren Silbe ausgerichtet ist. Zugleich weist er eine Tendenz zur rechten Phrasengrenze auf. Es wird deshalb davon ausgegangen, dass es sich bei dem Gipfel der final steigend-fallenden Konturen um einen H- Phrasenakzent handelt (vgl. Grice et al. 2000, Grice & Baumann 2002). Die Auspr¨agungen mit und ohne Plateau k¨onnen beide auf diesen Phrasenakzent zur¨uckgef¨uhrt werden. Der erste H-Ton der Plateaus, der den fr¨uheren Anstieg zur hohen Tonh¨ohe bewirkt, wird zum gegebenen Zeitpunkt als eine “Kopie” des H-Phrasenakzents konzipiert. Dies hat den Vorteil, dass beide Auspr¨agungen der steigendfallenden Kontur als Varianten einer Kontur aufgefasst werden k¨onnen. Die tonologischen Varianten werden im Folgenden als l* h- l% und l* hc h- l% wiedergegeben. Das indizierte ‘c’ verweist auf den Status des ersten H-Tons als “kopierter” H-Phrasenakzent. Die funktionale Analyse muss erweisen, ob es sich bei diesen Varianten um Allotone in freier Variation handelt, oder ob sie sich mit unterschiedlichen konversationellen Funktionen korrelieren lassen, also als komplement¨ar distribuierte Allotone zu beschreiben sind.
130
4.4
Phonologische Interpretation: Konversationelle Funktionen
Das folgende Kapitel widmet sich den Funktionen der final steigend-fallenden Konturen im K¨olnischen. In Abschnitt 4.1 wurde bereits ein Forschungs¨uberblick u¨ ber Untersuchungen zu Funktionen steigend-fallender Konturen im Deutschen gegeben, darunter auch zum K¨olnischen. In diesem Abschnitt werden nun die eigenen Ergebnisse der funktionalen Analyse vorgestellt. Zun¨achst ist darauf hinzuweisen, dass die steigend-fallende Kontur im K¨ol¨ ¨ nischen sowohl bei deklarativen Außerungen als auch bei interrogativen Außerungen vor¨ ¨ kommt, wobei die deklarativen Außerungen im untersuchten Korpus von 350 Außerungen mit 307 Konturvorkommen den weitaus gr¨oßeren Anteil ausmachen als die interrogativen ¨ Außerungen, auf die 43 Konturvorkommen entfallen. Beide Vorkommen werden getrennt ¨ voneinander behandelt: Kapitel 4.4.1 widmet sich den deklarativen Außerungen, in Kapitel ¨ 4.4.2 werden die interrogativen Außerungen besprochen. Methodisch orientiert sich die Analyse in beiden F¨allen an der Interaktionalen Prosodieforschung. Der umgebende Kontext der Kontur, die Kookkurrenz mit anderen sprachlichen Merkmalen und vor allen Dingen die Rezipientenreaktionen auf die Kontur bilden die Basis der Analyse. Die Analyse umfasst sowohl quantitative als auch qualitative Verfahren.
4.4.1
¨ Deklarative Außerungen
Die Analyse konzentriert sich auf die Funktionen der steigend-fallenden Kontur f¨ur die Einheitenkonstruktion und den Sprecherwechsel (Kap. 4.4.1.1 bis 4.4.1.3) sowie auf spezifische Kontextualisierungsfunktionen im Zusammenhang mit konversationellen Aktivit¨aten (Kap. 4.4.1.6). Weiterhin werden typische Sequenzformate des Vorkommens der Kontur vorgestellt (Kap. 4.4.1.5).
4.4.1.1 Einleitung: Einheitenkonstruktion und Sprecherwechsel Mit der Arbeit von Sacks, Schegloff und Jefferson (1974) sind die Einheitenkonstruktion und der Sprecherwechsel als von den Interaktionsteilnehmern gemeinsam zu bew¨altigende Aufgabe in den Vordergrund konversationsanalytischen Interesses ger¨uckt. Seitdem sind zahlreiche Publikationen erschienen, die sich mit diesem Thema, insbesondere auch im Zusammenhang mit Intonation, besch¨aftigen.29 Drei grundlegende Aspekte des wegweisenden Artikels bestimmen auch die folgende Analyse: Erstens, Einheitenkonstruktion und Sprecherwechsel werden als interaktive Leistungen betrachtet. Zweitens, diese Leistungen werden als Ph¨anomene mit inh¨arentem zeitlichem Charakter betrachtet, und drittens, zur Umsetzung von Einheitenkonstruktion und Sprecherwechsel werden Mittel verschiedener sprachlicher Ebenen eingesetzt. Dieser letzte Aspekt bleibt bei Sacks et al. zwar weitgehend unber¨uhrt – sie erw¨ahnen knapp syntaktische und intonatorische Mittel, legen die weitere Analyse der 29
Siehe z.B. zum Englischen French & Local (1983, 1986) Cutler & Pearson (1986), Wells & Pepp´e (1996), Furo (2001); zum Holl¨andischen Caspers (1998, 2003); zum Deutschen Selting (1995), Auer (1996b).
131 sprachlichen Merkmale von Einheitenkonstruktion und Sprecherwechsel aber zuk¨unftiger linguistischer Forschung nahe (vgl. Sacks et al. 1974: 703, siehe auch Kap. 2.3). Die (interaktional orientierte) linguistische Forschung hat sich diesem Themenbereich dann auch zugewandt und einige Ergebnisse erzielt, die als Diskussionshintergrund f¨ur die Analyse dienen werden (vgl. Schegloff 1996: 53). Zur Kl¨arung der Rolle der final steigend-fallenden Intonationskontur f¨ur die Konstruktion von Turneinheiten und den Sprecherwechsel wird nun zun¨achst dieser Diskussionshintergrund n¨aher beleuchtet. Was ist unter einer Turneinheit zu verstehen, und wie wird sie konstruiert? Welche sprachlichen Ebenen sind relevant f¨ur die Umsetzung von Turnabgabe und Turnbeibehaltung? Um diese Fragen beantworten zu k¨onnen, wird zuerst knapp das Turn-Taking-Modell von Sacks et al. vorgestellt und diskutiert. Es werden dann die sprachlichen Ebenen, auf denen Einheitenkonstruktion und Sprecherwechsel organisiert werden, dargestellt. Wie oben erw¨ahnt wurde, stellen die interaktive Koordination, der zeitliche Charakter und die sprachliche Umsetzung auf verschiedenen Ebenen (und damit auch die Beobachtbarkeit des Ph¨anomens, vgl. Kap. 2.3) wesentliche Aspekte des Turn-Taking-Modells von Sacks, Schegloff und Jefferson (1974) dar. Das Modell soll kontextfrei und kontextsensitiv sein, es abstrahiert also von Gegebenheiten des aktuellen (situativen) Kontexts und stellt einen Mechanismus dar, der an aktuelle Kontexte angepasst werden kann (699). Es besteht aus einer turn-constructional component und aus einer turn-allocation component, die die Konstruktion und Zuweisung von Redebeitr¨agen regulieren. Die Konstruktion eines Redebeitrags beruht auf verschiedenen unit-types, die von den Sprechern eingesetzt werden. Besonderes Merkmal solcher unit-types ist, dass sie Projektionen hinsichtlich ihrer Beendigung aufbauen. Zum Zeitpunkt ihrer Beendigung entsteht dann eine M¨oglichkeit zur Turn¨ubergabe, der turn¨ubergabe-relevante Raum (transition-relevance place oder TRP), der auf der Grundlage der aufgebauten Projektion f¨ur die anderen Interaktionsteilnehmer “vorhersehbar” ist. Eine Turnkonstruktionseinheit (turn constructional unit, im Folgenden auch TCU) m¨undet demnach in einen TRP, der von Teilnehmern zum Sprecherwechsel genutzt werden kann, aber nicht muss. Diese Komponente des Modells bildet die Basis daf¨ur, dass zumeist nur ein Sprecher spricht, dass Phasen gemeinsamen Sprechens zwar vorkommen, aber kurz sind, und dass ¨ Sprecherwechsel u¨ berwiegend ohne oder mit nur minimalen Uberlappungen oder Pausen vorkommen (vgl. die Beobachtungen (2) bis (4), die der Erl¨auterung des Modells bei Sacks et al. vorweg gehen (700-701)). Die Turnzuweisung wird mit Hilfe eines Regelapparates gew¨ahrleistet, der die Selbstwahl und Fremdwahl des n¨achsten Sprechers umfasst. Wenn durch den aktuellen Redebeitrag ein n¨achster Sprecher gew¨ahlt wird (“current speaker selects next”), so hat nur dieser das Recht und die Verpflichtung, den Turn zu u¨ bernehmen30 (Regel 1a). Wird durch den aktuellen Beitrag kein neuer Sprecher ausgew¨ahlt, so erh¨alt der Sprecher den Turn, der zuerst einsetzt 30
Es ist zu beachten, dass das Format ‘current speaker selects next’ offenbar nicht die Selbstwahl des aktuellen Sprechers umfasst. Im Zusammenhang mit der lokal regulierten Verteilung der Redebeitr¨age schreiben die Autoren zwar: “rule 1a allows current speaker to select any other party as next speaker” (711; Hervorhebung P.B.). Regel 1c legt jedoch die Interpretation nahe, dass Selbstwahl des aktuellen Sprechers nicht in ‘current selects next’ beinhaltet ist: “If the turn so-far is so constructed as not to involve the use of a current speaker selects next’ technique, then current speaker may, but ’ need not continue, unless another self-selects.” (704). Die Turnbeibehaltung nach einem TRP tritt
132 (Regel 1b). Erst wenn dies nicht der Fall ist, kann der aktuelle Sprecher fortfahren, muss dies aber nicht tun (Regel 1c). Die Regeln sind rekursiv, setzen also bei dem n¨achsten TRP in gleicher Abfolge erneut ein (Regel 2). Durch die Turnzuweisungsregeln wird explizit der Tatsache Rechnung getragen, dass die meisten Sprecherwechsel durch “no gap and no overlap” oder “slight gap or slight overlap” (701) gekennzeichnet sind. Der interaktive Aspekt des Modells ist leicht darin zu erkennen, dass sich das Modell der Koordination einer gemeinsamen Aufgabe aller Interaktionsteilnehmer widmet. Sprecherwechsel und Turnbeibehaltung gehen immer auf das Agieren aller Beteiligten zur¨uck. Der interaktive Charakter der Turnzuweisungskomponente mag offensichtlicher sein, als der der Turnkonstruktionskomponente. Da die Einheitenkonstruktion jedoch in Hinblick auf den (m¨oglichen) Turn vorgenommen wird und von den u¨ brigen Teilnehmern auch in Hinblick darauf interpretiert wird, ist auch die Turnkonstruktionskomponente nicht von der Interaktionalit¨at zu trennen (vgl. auch Schegloff 1996: 54ff.). Der inh¨arent zeitliche Charakter des Modells zeigt sich ebenfalls sowohl in der Turnkonstruktionskomponente als auch in der Turnzuweisungskomponente. Die Konstruktion von Turneinheiten mit Projektion ihrer erwartbaren Beendigung ist ebenso als ein Prozess zu verstehen wie die Koordination des Sprecherwechsels. Bei diesem wird die Abfolge der Regeln als ein Nacheinander entworfen, das zeitliche Konsequenzen haben muss. So ist durch die oben beschriebene Abfolge zu erwarten, dass eine Turnbeibehaltung an einem TRP (d.h. die Wiederaufnahme durch den gleichen Sprecher) mit leichter Verz¨ogerung vonstatten geht, da sie erst nach der Option der Selbstwahl eines anderen Sprechers als neue Option zur Verf¨ugung steht. Die von Sacks et al. gegebenen Beispiele weisen dementsprechend Pausen auf, bevor der aktuelle Sprecher an seinen Beitrag ankn¨upft (vgl. 704, Fußnote 14).31 Die Konstruktion von Turneinheiten selbst ist im Sinne einer online-Produktion und -Prozessierung der unit types ebenfalls zeitlich gepr¨agt (vgl. Auer 2005: 10). Voraussetzung f¨ur das Funktionieren der Turnzuweisungsregeln ist ja, dass alle Teilnehmer darin u¨ bereinstimmen, wo oder vielmehr wann ein TRP vorliegt. Verantwortlich f¨ur die “Vorhersehbarkeit” oder Projektion des TRPs sind die unit types, die als linguistische Konstruktionsschemata mit gestalthaften Eigenschaften aufgefasst werden und deshalb ihr Ende projektieren: “Linguistic construction schemata typically have a beginning, a trajectory, and an end. The initiation of a particular construction schema, as well as its emergent production, can be used as a device to project schema closure or completion.” (Selting 2000a: 492)
Sacks et al. selbst sprechen zwar nicht von der Gestalthaftigkeit der unit types, sehen aber deren Projektionsf¨ahigkeit vor. In Hinsicht auf die sprachlichen Ebenen, die eine solche Projektion zulassen, erw¨ahnen sie in erster Linie die syntaktische Ebene: demzufolge erst dann in Kraft, wenn kein anderer Sprecher den Turn u¨ bernommen hat. Der aktuelle Sprecher kann sich an einem TRP folglich nicht selbst als pr¨aferierten n¨achsten Sprecher einsetzen. F¨ur diese Interpretation sprechen auch die Erl¨auterungen zur Rangfolge der Regeln (704ff.), wo u.a. erw¨ahnt wird, dass “[c]urrent speaker may continue (rule 1c) if self-selection is not done”. Die Fortsetzung des gleichen Sprechers scheint demnach nicht durch “self-selection” m¨oglich zu sein. Die Turnbeibehaltung muss deshalb in erster Linie durch die Projektion gr¨oßerer unit-types geleistet werden und erst zweitrangig durch die Turnzuweisung an einem TRP. 31 F¨ ¨ ur eine empirische Uberpr¨ ufung dieser Annahme anhand des eigenen Korpus siehe Kapitel 4.4.1.2.
133 “There are various unit-types with which a speaker may set out to construct a turn. Unit-types of English include sentential, clausal, phrasal, and lexical constructions [...]. Instances of the unittypes so usable allow a projection of the unit-type under way, and what, roughly, it will take for an instance of that unit-type to be completed.” (Sacks et al. 1974: 702)
Die Autoren machen an anderer Stelle deutlich, dass die Syntax nicht das einzige Mittel zur Konstruktion von TCUs darstellt. Erw¨ahnung findet auch die Prosodie: “Clearly, in some understanding of ‘sound production’ (i.e. phonology, intonation etc.), it is also very important to turn-taking organization” (722). Prosodie und Syntax geh¨oren heute zu den am gr¨undlichsten untersuchten sprachlichen Ebenen im Zusammenhang mit der Organisation des Sprecherwechsels. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass sie in der Reichweite der durch sie aufgebauten Projektionen divergieren. W¨ahrend die Syntax global projektieren kann, wird der Prosodie lokal projektierende Kraft zugesprochen (vgl. Selting 1995, Auer 1996a). Als weitere sprachliche Ebenen, die aufgrund ihrer Projektionsf¨ahigkeit Relevanz f¨ur Einheitenkonstruktion und Sprecherwechsel haben, werden außer Prosodie und Syntax die Lexiko-Semantik, die Semantik und die Pragmatik angenommen (vgl. Ford et al. 1996, Selting 2000a, Auer 2005, Gilles 2005). Die Ebenen zeichnen sich dadurch aus, dass sie unterschiedlich weit projektieren k¨onnen. Besonders weitreichende Projektionen sind auf der pragmatischen Ebene m¨oglich. Hierunter fallen unter anderem auch die sogenannten big packages wie beispielsweise konversationelle Erz¨ahlungen. Durch die Einleitung eines solchen big package, u¨ ber dessen strukturellen Ablauf die Interaktionsteilnehmer Schemawissen besitzen, kann der aktuelle Sprecher einen ausgedehnten Redebeitrag f¨ur sich “reservieren” (vgl. Auer 2005: 9, Selting 2000a: 504ff.). Die Tatsache, dass die Reichweite der Projektion auf verschiedenen sprachlichen Ebenen unterschiedlich weit sein kann, wirft die Frage auf, wie sich diese Ebenen zu Einheitenkonstruktion und Sprecherwechsel verhalten. Im besprochenen Turn-Taking-Modell von 1974 ist eine TCU dadurch gekennzeichnet, dass an ihrem Ende ein TRP erfolgt, der zum Sprecherwechsel genutzt werden kann, aber nicht muss. Wenn die Fortsetzungsprojektionen auf den sprachlichen Ebenen nun unterschiedlich weit reichen, ist fraglich, wann ein TRP erreicht ist. Werden TCU und TRP als streng miteinander verbunden angesehen, so muss die am weitesten projektierende Ebene als eine TCU betrachtet werden. Eine konversationelle Erz¨ahlung w¨urde dementsprechend eine TCU darstellen, an deren Ende dann der TRP in Kraft tritt. Alle “kleineren” sprachlichen Einheiten – beispielsweise syntaktische und prosodische Einheiten – innerhalb dieser TCU m¨ussten als TCU-interne Phrasierungseinheiten analysiert werden. Selting (2000a) stellt dieser M¨oglichkeit die M¨oglichkeit gegen¨uber, TCU und TRP voneinander zu trennen. Auf diese Weise k¨onnen alle kleineren Einheiten innerhalb eines big package als TCUs gelten, ohne zwangsl¨aufig zu einem TRP zu f¨uhren. Eine TCU stellt dann eine sprachlich definierte Einheit dar, ein TRP hingegen stellt eine Einheit dar, die in Hinblick auf den potenziellen Turnabschluss definiert ist. Dieser tritt erst dann in Kraft, wenn auch auf der am weitesten projektierenden Ebene ein Abschluss erreicht ist. Selting spricht in diesem Fall von finalen TCUs; kommen die Einheiten innerhalb eines TRPs vor, von nicht-finalen TCUs (vgl. Selting 2000a: 487ff.). F¨ur diese Annahme spricht die empirisch belegte Beobachtung, dass Sprecherwechsel am h¨aufigsten bei komplexer Abschlusssignalisierung, d.h. Abschlusssignalisierung auf allen sprachlichen Ebenen, vorkommt (vgl. Ford & Thompson 1996).
134 Im Folgenden werden Turnkonstruktionseinheiten daher als linguistisch abgrenzbare Einheiten aufgefasst, die erst bei Abschluss auch auf der weitest projektierenden Ebene zu einem TRP f¨uhren. Welches sind nun die sprachlichen Ebenen, die zur Konstruktion von TCUs beitragen? Selting (2000a) zeigt, dass sowohl Prosodie als auch Syntax in ihrem Zusammenspiel notwendig sind, um eine TCU zu definieren. Prosodie alleine reiche nicht aus, da prosodisch vollst¨andige Einheiten bei unvollst¨andiger Syntax als nicht abgeschlossen behandelt werden, also keine eigenst¨andige Turnkonstruktionseinheit bilden. Syntax alleine reiche nicht aus, da syntaktisch abgeschlossene Einheiten durch prosodische Mittel als nicht abgeschlossen oder erweiterbar markiert werden k¨onnen (vgl. auch Auer 1996b). “A TCU is thus a unit that is constituted and delimited by the interplay of syntax and prosody: it is constituted as a cohesive whole by the deployment of syntactic and prosodic construction schemata, and it ends with the co-occurrence of a possible syntactic and a possible prosodic unit completion in its sequential context.” (Selting 2000a: 504)
Zur Veranschaulichung der Interdependenz von Prosodie und Syntax dienen die folgenden beiden Beispiele aus Selting (2000a). Das erste Beispiel zeigt eine syntaktische Einheit, die in mehrere prosodische Einheiten aufgespalten ist.32 (100) 30
31 32
33
IDA:
und: (.) SECHS stunden; F[M(\ ) man kann das nur SECHS stundn:, (.) (\ / ) INnerhalb ¨ a:hm (..) von den FOLgenden sechs STUNden. F(\ \ \− ) nachDEM es pasSIERT ist. N¨ Ahen.=ne, F(\ \− ) (\ /)]
(aus: Selting 2000a: 498)
Das Beispiel zeigt, dass prosodische Vollst¨andigkeit33 nicht gen¨ugt, um eine Turnkonstruktionseinheit bereitzustellen: Vier vollst¨andige Intonationsphrasen werden verwendet, um eine syntaktische Einheit zum Abschluss zu bringen (vgl. Selting 2000a: 499ff). Das zweite Beispiel belegt den umgekehrten Fall, dass syntaktische Abgeschlossenheit allein nicht ausreicht, um eine Turnkonstruktionseinheit zu bilden.
32 33
Die Transkriptionskonventionen werden auf Seite XII eingef¨uhrt. Zum Begriff der prosodischen Vollst¨andigkeit siehe unten.
135 (101) ((...)) 981 NAT: ((...)) 984 985
JAA:; geNAU; da mußt ich ARbeiten; M(\ ) M(\ ) M(\ ) genau da mußt ich ARbeiten un dann: war ich noch F(\ auf ner ANdern fete einge[laden. \ )
((...)) (aus: Selting 2000a: 494-495)
Sowohl in Zeile 981 als auch in Zeile 984 kommt das Wort genau vor. Es wird jedoch prosodisch unterschiedlich behandelt. W¨ahrend genau in Z 981 eine eigenst¨andige prosodische Einheit darstellt (Akzent auf NAU, Abgrenzung vom folgenden da durch flach fallende Intonation), ist es in Z 984 prosodisch in die Gesamt¨außerung integriert (keine Akzentuierung und abgrenzende Intonationsbewegung). Das Wort genau, das als Interjektion eine syntaktisch vollst¨andige Einheit darstellen kann, wird erst mit Hilfe der Prosodie als eigenst¨andige TCU (Z 981) oder integriertes Element (Z 984) umgesetzt (vgl. Selting 2000a: 495). Prosodie und Syntax in Kombination dienen demnach dazu, TCUs zu bilden. An dieser Stelle ist eine Bemerkung zur prosodischen Vollst¨andigkeit notwendig. Als pro¨ sodisch vollst¨andig werden f¨ur gew¨ohnlich solche Außerungseinheiten bezeichnet, die wenigstens eine akzentuierte Silbe, einen Grenzton (abgrenzende Tonh¨ohenbewegung), finale ¨ Dehnung und eventuell eine Pause im Anschluss an die Außerung aufweisen (vgl. Grabe 1998a: 40ff., siehe auch Kap. 2.1.1). In diesem Sinne wird die Bezeichnung auch bei Selting (2000a) gebraucht, wenn sie beispielsweise die beiden Realisationen von genau (Bsp. (101)) als prosodisch vollst¨andig (Z 981) bzw. nicht vollst¨andig (Z 984) beschreibt. Auch bei der Analyse von Beispiel (100) zeigt sich diese Verwendungsweise: Alle in einer Zeile dargestell¨ ten Außerungseinheiten gen¨ugen dem Anspruch, wenigstens eine akzentuierte Silbe und eine finale, abgrenzende Tonh¨ohenbewegung aufzuweisen. Es ist jedoch zu beachten, dass die ver¨ schiedenen Außerungseinheiten ungeachtet der Art der finalen Tonh¨ohenbewegung als abgeschlossen analysiert werden: W¨ahrend Z 30 eine leicht fallende Tonh¨ohenbewegung aufweist, ist Z 31 durch eine leicht steigende Bewegung gekennzeichnet. Problematisch wird diese Begriffsverwendung bei Beispielen wie dem Folgenden. Eine syntaktisch unvollst¨andige Einheit ist hier mit einer prosodisch vollst¨andigen Einheit mit steigender Tonh¨ohenbewegung verkn¨upft. Es handelt sich um einen vorangestellten wenn-Satz (Z 1, 2), der zur Vollst¨andigkeit die durch dann eingeleitete Apodosis erfordert (Z 4). (102) 01 02 03 04
NAT:
bloß wenn es darum ging daß ICH seine hilfe BRAUCHte? .hh is egal wIe? (.) dann gIng das I:Rgendwie GINGS dann nich;
(aus: Selting 2000a: 481)
136 Selting argumentiert anhand dieses Beispiels mit Lerner (1996), dass die syntaktische Signalisierung von Unvollst¨andigkeit hier die prosodische Signalisierung von Vollst¨andigkeit “¨uberbiete”: “[...] he can here confirm the primacy of syntax over prosody for the interpretation of the entire complex sentence as a TCU.” (Selting 2000a: 482). Selbstverst¨andlich handelt es sich in den Zeilen 1-2, 3 und 4 um vollst¨andige (“complete”) Intonationsphrasen. Es ist jedoch missverst¨andlich, hieraus den Schluss zu ziehen, dass die Syntax die Prosodie u¨ berbiete. Die final steigende Intonation macht in diesem Fall deutlich, dass eine Fortsetzung durch den gleichen Sprecher zu erwarten ist. Nicht nur auf syntaktischer Ebene, sondern auch auf intonatorischer Ebene ist hier also kein Abschluss zu erwarten. Dieses Beispiel verdeutlicht die Notwendigkeit, nicht nur die intonatorische Vollst¨andigkeit, sondern auch die tonale Gestaltung des Abschlusses systematisch zu ber¨ucksichtigen, worauf auch Selting (2000a: 508ff.) in einem sp¨ateren Abschnitt ihres Artikels hinweist. W¨ahrend auf syntaktischer Ebene Unvollst¨andigkeit mit Weiterweisung und Vollst¨andigkeit mit potenziellem Abschluss verkn¨upft sind, muss auf intonatorischer Ebene zwischen vollst¨andigen und “abschließenden” Intonationsphrasen unterschieden werden. Vollst¨andige Intonationsphrasen k¨onnen sowohl abschließend als auch weiterweisend sein. Als weiterweisend oder progredient gelten in der Regel gleichbleibende und (flach) steigende finale Tonh¨ohenbewegungen. Fallende und (steil) steigende Verl¨aufe werden zumeist als abschließend eingestuft (vgl. Selting 1995, 2000a, von Essen 1956). Der in der vorliegenden Arbeit zur Diskussion stehende final steigend-fallende Verlauf wird, sofern er u¨ berhaupt besprochen wird, als weiterweisend charakterisiert (vgl. Gilles 2005, Wennerstrom et al. 2003). Wie oben bereits erw¨ahnt wurde, spielen neben der Prosodie und Syntax auch andere sprachliche Ebenen eine Rolle f¨ur die Koordination des Sprecherwechsels. Aufgrund ihrer Projektionsf¨ahigkeit tragen sie dazu bei, den Zeitpunkt eines m¨oglichen TRPs zu bestimmen, der m¨oglicherweise u¨ ber mehrere TCUs hinaus geht. Bei den sprachlichen Ebenen handelt es sich um die Lexiko-Semantik, die Semantik und die Pragmatik, und es wird im Folgenden zu fragen sein, wie sie zur Konstruktion ausgedehnterer Redebeitr¨age (von Selting (2000a: 504) als multi-unit turn bezeichnet) beitragen. Wie kann also projektiert werden, dass u¨ ber eine TCU hinaus die Fortsetzung des gleichen Sprechers zu erwarten ist? Mit anderen Worten: Wann kann eine TCU als weiterweisend bezeichnet werden? Hinsichtlich der Intonation wurden oben bereits (flach) steigende und gleichbleibende Intonationskonturen als typischerweise weiterweisend aufgef¨uhrt. Bez¨uglich der Syntax ergibt sich vor dem Hintergrund der vorangegangenen Erl¨auterungen, dass sie eigentlich gar nicht u¨ ber die Grenze einer TCU hinausweisen kann. Da das syntaktische Weiterweisungspotenzial auf der Unvollst¨andigkeit m¨oglicher syntaktischer Konstruktionen beruht (z.B. vorangestellte Nebens¨atze, Linksversetzungen etc.), Voraussetzung f¨ur eine TCU aber eine syntaktisch (und prosodisch) vollst¨andige Einheit sein soll, kann die Syntax folglich nicht dazu dienen, u¨ ber eine TCU hinweg zu projektieren. Die syntaktische Unvollst¨andigkeit wird im Rahmen der vorliegenden Untersuchung dennoch eine wesentliche Rolle spielen. Dies erkl¨art sich vor dem Hintergrund des Untersuchungsziels dieses Kapitels, das im Folgenden deshalb nochmals skizziert werden soll. Es wird weiterhin die Vorgehensweise der empirischen Korpusanalyse dargelegt.
137 4.4.1.2
Zielsetzung und Vorgehensweise der empirischen Analyse
Wie anfangs erw¨ahnt wurde, setzt sich dieses Kapitel zum Ziel, das Weiterweisungspotenzial der final steigend-fallenden Kontur im K¨olnischen herauszuarbeiten. Weiterweisung ist in der Regel begrifflich als Fortsetzungserwartung durch den gleichen Sprecher gefasst: Der Sprecher signalisiert, dass er seinen Redebeitrag fortsetzen m¨ochte (vgl. Gilles 2005: 52ff.). In Zusammenhang damit steht der Begriff der Projektion, der jedoch etwas vom Begriff der Weiterweisung abweicht. Schon im Turn-Taking-Modell von 1974 wird davon ausgegangen, dass bestimmte unit-types “allow a projection of the unit-type under way, and what, roughly, it will take for an instance of that unit-type to be completed.” (Sacks et al. 1974: 702, s.o.). Der Begriff der Projektion wird hier somit erstrangig im Sinne einheiteninterner Erwartung verwendet, w¨ahrend Weiterweisung immer im Sinne einer Fortsetzungserwartung u¨ ber eine TCU hinaus gebraucht wird. Weiterhin wird durch den Begriff der Projektion auch das “wie” der Fortsetzung ber¨uhrt. Die Projektion gilt als Ph¨anomen, das die Interaktionsteilnehmer kognitiv entlastet, indem es die Fortsetzungsm¨oglichkeiten sukzessiv einschr¨ankt (vgl. Auer 2005: 9). Eine Projektion kann beinhalten, dass der gleiche Sprecher u¨ ber eine TCU hinaus fortfahren m¨ochte, sofern das entsprechende Schemawissen dies beinhaltet (wie beispielsweise bei Erz¨ahlungen). Sie kann aber auch das genaue Gegenteil beinhalten (wie beispielsweise bei der Paarsequenz Frage - Antwort). Im Gegensatz zur Weiterweisung, die immer f¨ur Fortsetzungserwartung steht, kann die Projektion somit auch Abschlusserwartung umfassen. Die folgende Analyse besch¨aftigt sich ausschließlich mit der Weiterweisung. Paarsequenzen, die einen Sprecherwechsel erwartbar machen, wie Frage und Antwort, werden deshalb aus der Analyse ausgeschlossen.34 Bei der Analyse des Weiterweisungspotenzials der steigend-fallenden Kontur werden zwei konversationsanalytische Verfahren angewandt, die Aufschluss dar¨uber geben sollen, wie die Kontur von den Interaktionsteilnehmern eingesetzt und bearbeitet wird. Zum einen wird untersucht, mit welchen anderen sprachlichen (Weiterweisungs-)Elementen der Intonationsverlauf kookkurriert, und zum anderen wird untersucht, wie die Interaktionsteilnehmer auf das Konturvorkommen reagieren, d.h. ob es im Anschluss an die Kontur zum Sprecherwechsel kommt oder nicht (vgl. dazu Couper-Kuhlen & Selting 1996, Local et al. 1986, siehe auch Kapitel 2.3.2 sowie 3.3). Diese Verfahren sind im Einklang mit der ethnomethodologischen Grundannahme der “Vollzugswirklichkeit” (vgl. Bergmann 1981: 12), die auch dem Turn-Taking-Modell zugrundeliegt. Der Sprecherwechsel muss von den Interaktionsteilnehmern lokal ausgehandelt werden, und die Aushandlung muss an der Oberfl¨ache sichtbar werden. Die Interaktionsteilnehmer zeigen sich durch ihre (Folge-)Handlungen auf, wie sie das Vorangegangene verstanden haben (display) und konstruieren dadurch prozesshaft ihre Realit¨at (siehe hierzu ¨ ausf¨uhrlich Kap. 2.3.2). Kommt es also im Anschluss an die konturtragende Außerung regelm¨aßig zur unproblematischen Turnbeibehaltung – unproblematisch sei hier zun¨achst im Sinne von ‘no/slight gap, no/slight overlap’ verstanden –, so zeigen die Interaktionsteilnehmer durch dieses Verhalten, dass sie die Kontur als weiterweisend auffassen. Da die sprachliche Signalisierung von Sprecherwechselabsichten h¨aufig redundant ist, also auf mehreren Ebenen gleichzeitig geleistet wird, gibt auch die Kookkurrenz mit der Weiterweisungssignalisierung auf anderen Ebenen Aufschluss u¨ ber das Weiterweisungspotenzial der Kontur. 34
¨ Die interrogativen Außerungen des Korpus werden in Kap. 4.4.2 detailliert behandelt.
138 Ausschlaggebend f¨ur die Bestimmung der Kontur als weiterweisend oder abschließend sind letztendlich jedoch die Sprecherreaktionen im Anschluss an die Kontur. ¨ Den Ausgangspunkt der Analyse bilden ausschließlich die Außerungen mit final steigend¨ fallender Kontur. Zur Analyse liegen damit 307 deklarative Außerungen vor, die alle dem K¨olner Intonationskorpus aus Interviewdaten, Fußbroichs- und Big-Brother-Daten entnom¨ men sind. Die konturtragenden Außerungen dienen als Fixpunkt f¨ur die Untersuchung der Kookkurrenz mit anderen sprachlichen Weiterweisungssignalen und f¨ur die Untersuchung des Sprecheranschlusses. Hierin liegt auch die oben angedeutete Tatsache begr¨undet, dass bei der Analyse des Weiterweisungspotenzials auch unvollst¨andige syntaktische Einheiten zum Tragen kommen werden: Da es sich bei der Kontur um eine finale Tonh¨ohenbewegung ¨ handelt, sind alle zur Diskussion stehenden, konturtragenden Außerungen intonatorisch vollst¨andig im oben erl¨auterten Sinne (siehe S. 135). Sie k¨onnen nun aber sowohl mit abgeschlossener Syntax als auch mit unabgeschlossener Syntax kookkurrieren. Bei Kookkurrenz mit vollst¨andiger Syntax handelt es sich dann um vollst¨andige TCUs, deren Weiterweisungspotenzial u¨ ber die TCU hinaus beurteilt werden kann. Bei Kookkurrenz mit unvollst¨andiger Syntax ist das Konturvorkommen TCU-intern. Eine Fortsetzung des gleichen Sprechers ist hier auf der Basis der syntaktischen Projektion erwartbar. ¨ Alle Außerungen werden zun¨achst auf ihr Weiterweisungspotenzial hin analysiert und kategorisiert. Dies erm¨oglicht Aussagen u¨ ber die Vorkommensverteilung der Kontur in Korrelation mit der Weiterweisung auf anderen sprachlichen Ebenen, gibt also Aufschluss u¨ ber die Kookkurrenz intonatorischer und anderer Weiterweisungssignale. Die Kriterien zur Bestim¨ mung des Weiterweisungspotenzials einer Außerung sind die syntaktische Unabgeschlossenheit sowie lexiko-semantische und semanto-pragmatische Weiterweisungssignale. Diese Kriterien werden weiter unten anhand von Beispielen detailliert vorgestellt. F¨ur die Untersuchung des Sprecherwechsels im Anschluss an die Kontur wird auch die Komplexit¨at der Weiterweisung ber¨ucksichtigt. Unter komplexer Weiterweisung ist zu verstehen, dass Weiterweisungssignale auf mehreren sprachlichen Ebenen gleichzeitig vorkommen. Die Entscheidung, bei der Untersuchung des Sprecherwechsels die Komplexit¨at der Weiterweisung zu ber¨ucksichtigen, steht vor dem Hintergrund, dass f¨ur die Abschlusssignalisierung festgestellt werden konnte, dass komplex signalisierte Abschl¨usse signifikant h¨aufiger zu Sprecherwechseln f¨uhren als einfache (vgl. Ford & Thompson 1996: 155ff.). Analog dazu kann f¨ur die Weiterweisungssignalisierung vermutet werden, dass komplexe Weiterweisung ¨ h¨aufiger zu Turnbeibehaltung f¨uhrt als einfach signalisierte Weiterweisung. Alle Außerungen wurden deshalb nach der Komplexit¨at ihres Weiterweisungspotenzials eingestuft, und die Weiterweisungskomplexit¨at wurde mit dem Vorkommen oder Nichtvorkommen eines Spre¨ cherwechsels im Anschluss an die Außerung in Beziehung gesetzt. Als Sprecherwechsel wird jede Turn¨ubernahme gewertet, die einen lexikalischen Beitrag35 leistet. Lachen und Interjektionen wie boah etc. wurden ebenfalls als Sprecherwechsel gewertet. Nicht als Sprecherwechsel gewertet wurden H¨orersignale und Lautproduktionen wie Husten, R¨auspern o.¨a. (vgl. Wennerstrom et al. 2003). 35
Der Terminus “lexikalischer Beitrag” lehnt sich an Wennerstrom et al. (2003: 82ff.)) an, die bei den Reaktionen der Interaktionspartner zwischen “nonlexical sounds” / “backchannels” und “lexical responses” unterscheiden. Sie basieren die Unterscheidung im Wesentlichen auf den semantischen Gehalt des entsprechenden Beitrags, r¨aumen jedoch Schwierigkeiten bei der Zuordnung von Beitr¨agen zu einer der beiden Kategorien ein.
139 Das weitere Kapitel gliedert sich folgendermaßen: Es werden zuerst die Kriterien zur Be¨ stimmung des Weiterweisungspotenzials einer Außerung veranschaulicht (4.4.1.2.1). Darauf folgt die exemplarische Darstellung der komplexen Weiterweisungskategorien (4.4.1.2.2). Das n¨achste gr¨oßere Kapitel (4.4.1.3) widmet sich dann den Ergebnissen der quantitativen Analyse von Kookkurrenz und Sprecherwechsel. Es wird dargestellt, wie h¨aufig die kontur¨ tragenden Außerungen mit Weiterweisungssignalen welcher Art kookkurrieren und wie das quantitative Verh¨altnis von Weiterweisungskomplexit¨at und Sprecherwechsel ist.
4.4.1.2.1
Kriterien zur Bestimmung von Weiterweisung
¨ Im Folgenden werden die Kriterien zur Bestimmung des Weiterweisungspotenzials von Außerungen vorgestellt. Es wird zuerst die Weiterweisung auf der Basis syntaktischer Kriterien beschrieben, danach werden die lexiko-semantische, semantische und pragmatische Weiterweisung dargestellt. Semantische und pragmatische Weiterweisung werden zu SemantoPragmatik zusammengefasst (s.u.).
4.4.1.2.1.1 Syntax Wie oben bereits beschrieben wurde, wird syntaktisch motivierte Weiterweisung durch syntaktische Unabgeschlossenheit erzielt. Da die Bezugsgr¨oße die vollst¨andige Intonationsphrase ist, bezieht sich die Unabgeschlossenheit nicht auf das Phraseninnere, sondern muss u¨ ber die Phrase hinausweisen: “Bei der syntaktisch motivierten Weiterweisung befindet sich in der Phrase eine explizit projektierende syntaktische Konstruktion, die eine Fortf¨uhrung in der Folgephrase erforderlich macht. Damit ist also nicht die projektierende Kraft der (emergenten) Syntax innerhalb einer Intonationsphrase gemeint, sondern ausschließlich die u¨ ber die IP hinausweisende Projektion.” (Gilles 2005: 52-53)
Diese projektierende Kraft besitzen beispielsweise vorangestellte Nebens¨atze, Linksversetzungen und (bis zum Intonationsphrasenende) unvollst¨andige syntaktische Konstruktionen, ¨ wie die folgenden Beispiele veranschaulichen. Die konturtragende Außerung ist jeweils durch einen Pfeil markiert. Im ersten Beispiel liegt eine temporale wenn-dann Konstruktion mit vorangestelltem wennSatz vor. Dieser macht eine Vervollst¨andigung erwartbar, die im Beispiel in der Folge¨außerung geliefert wird. (103) ⇒
k07-wagen kamen; V1
1364 k07 1365
l h m un wenn dann die schweren WAgen kamen da kamen die polizIsten und dr¨ uckten uns ALle je=en de WAND; ne,
140 Das folgende Beispiel zeigt eine Linksversetzung, die in einer eigenen Intonationsphrase produziert wird und eine Vervollst¨andigung erfordert. (104) ⇒
386 387
k03-weihnachtsjeld; V1 ff
l h m und vom WEIHnachtsjeld da lassen macht sisch dat schOn beMERKbar; ne,
¨ Auch die n¨achsten Beispiele zeichnen sich durch eine syntaktisch unvollst¨andige erste Außerung aus, die eine Fortsetzung projektiert. Im ersten Beispiel ist die erste Phrase konturtragend. Syntaktisch bildet sie gemeinsam mit der Folgephrase eine Topikalisierung, deren rhematischer Teil im Folgenden wie zu erwarten geliefert wird. Es ist auff¨allig, dass die kon¨ turtragende Außerung hier ebenso wie in den bisherigen Beispielen die Vor-Vorfeldposition einnimmt. (105)
⇒
k09-bohnenkaffee; V1/V2
705
k09a
706 707 707 708 709 711
k09b k09a
712 713 714 715
banKROTTm¨ ull is der au' K¨ OLsche ausdruck f¨ ur ne KAFfeem¨ uhle [gewesen. [ja (--) ja dat=dat hat doch heut ¨ uberhaupt keine beDEUtung mehr. KAFfee (.) wird immer BILliger. krist beim Aldi et pfund f¨ ur isch WE:ß nit wat et kost. (.) aber datl h m hm: fr¨ uher (.) eschter BOHnenkaffee l h m den man MAHlen musste .h da muss=te f¨ ur !SPA!ren. da gingen die leute bank!ROTT! dran.
In Beispiel (106) kommt die steigend-fallende Kontur zweimal vor.36 Sie erscheint beide Male auf der gleichen Tr¨ager¨außerung (Z 293 und Z 295), die syntaktisch unvollst¨andig ist, da die ¨ Valenz des Verbs nachweisen noch nicht ausgef¨ullt ist. W¨ahrend auf die erste Außerung ein Einschub erfolgt, wird die Fortsetzungserwartung im Anschluss an die zweite konturtragende ¨ ¨ Außerung erf¨ullt. Auch hier r¨uckt die konturtragende Außerung in die Vor-Vorfeldstellung, da die Folge¨außerung mit Verbzweitstellung und nicht als (erwartbarer) subordinierender Konjunktionalsatz produziert wird. (106) ⇒
36
293
k04-nachweisen; V2/V2 fv
l h l du musst NACHweisen
¨ Zum zweimaligen Vorkommen der Kontur sowie zur Stellung der konturtragenden Außerungen in der Vor-Vorfeldposition siehe Kapitel 4.4.1.5 bzw. 4.4.1.6.
141
⇒
¨' die k¨ o onne nit jede PENner hier UPPnemme der liegt hier=eRUM. l h fm (.) du musst NACHweisen hier isch hab JELD? isch lebe von MEInem jeld, Oder isch ARbeite hier.
295 296 297 298
4.4.1.2.1.2 Lexiko-Semantik Gilles (2005) spricht von semantisch motivierter Weiterweisung, “wenn ein lexikalisches Element in einer Phrase eine Entsprechung in der Folgephrase erwartbar macht.” (Gilles 2005: 53). Dies kann durch Ausdr¨ucke wie erstmal, erst, f¨angt an oder zwar und nicht nur geleistet werden. Da diese Art der semantischen Weiterweisung immer an bestimmte lexikalische Ausdr¨ucke gekn¨upft ist, wird hier die Bezeichnung lexiko-semantisch bevorzugt. ¨ Im ersten Beispiel der Gruppe der lexiko-semantisch weiterweisenden Außerungen wird durch erst signalisiert, dass eine Folge¨außerung zu erwarten ist. Diese wird mit und dann ¨ unmittelbar an die konturtragende Außerung angeschlossen. (107) ⇒
843 844
k07-sieschf¨ahre; V3 k07
m h fm Erst mit der kleenen SIESCHf¨ ahre und dann mit der rhEInf¨ ahre auf die ander SEIte,
Eine sofortige Erwartungseinl¨osung erfolgt auch in den Beispielen (108) und (109). Hier werden die Konstruktionen zwar und nich nur in den Folge¨außerungen durch aber und ja ¨ auch vervollst¨andigt. In Beispiel (109) ist die projektierende Außerung zus¨atzlich in zwei Phrasen aufgespalten. (108) ⇒
k07-mittelschule; V2
2616 k07 2617
(109) ⇒
806
⇒
807 808
m h m die gingen zwar auf die MITtelschule .hh aber von abiTUR war ja konnt ja gar keine REde sein; ne,
k06-ausdr¨ucke, k06-reschtschreibung; V2/V2 k06a
l h m et sIn ja nit nur die AUSdr¨ ucke l h m oder die RESCHTschreibung et geht ja auch um=um gramMATische: sachen.
142 4.4.1.2.1.3 Semanto-Pragmatik Der Bereich der semanto-pragmatischen Weiterweisung ist am schwierigsten zu operationalisieren, da die Bestimmung bis zu einem gewissen Grad intuitiv bleibt. Auf diese Schwierigkeit verweisen zahlreiche Autoren (vgl. Ford & Thompson 1996, Gilles 2005, Schegloff 1996, Wennerstrom et al. 2003). Alltagssprachlich kann formuliert werden, dass von semantopragmatisch motivierter Weiterweisung dann gesprochen werden kann, wenn aus dem Kon¨ text hervorgeht, dass mit der zur Diskussion stehenden Außerung eine bestimmte Handlung oder ein bestimmter Inhalt noch nicht sinnvoll abgeschlossen ist. So ist beispielsweise bei Erz¨ahlungen zu erwarten, dass der Erz¨ahler auch eine Pointe pr¨asentiert und nicht die Erz¨ahlung nach der Orientierungsphase abbricht. Semantischer und pragmatischer Abschluss liegen folglich dann vor, wenn keine handlungsbezogenen oder inhaltlichen Erwartungen mehr offen sind (vgl. Gilles 2005: 53ff.). Zu dieser Weiterweisungsgruppe z¨ahlen Bestandteile der bereits erw¨ahnten big packages wie Erz¨ahlungen oder Argumentationen, u¨ ber deren sequenziellen Ablauf die Interaktionsteilnehmer Schemawissen besitzen. Nicht zu dieser Gruppe z¨ahlen demgegen¨uber Paarsequenzen, die zwar die eindeutigste pragmatische Projektion vornehmen (vgl. Auer 2005: 9), aber einen Sprecherwechsel implizieren, also nicht unter die hier verwendete Definition von Weiterweisung fallen. Wie schwierig die Kategorisierung von (semanto-)pragmatischer Weiterweisung ist, zeigt die ¨ Analyse einer Außerung, die von Schegloff (1996) als pragmatisch abschließend eingeordnet, aber mit einer Fußnote versehen wird, dass sie auch als weiterweisend beurteilt werden ¨ k¨onne. Es handelt sich um die Außerung “He’s flying” in folgendem Telefongespr¨achsauszug aus Schegloff (1996). Es ist ein Gespr¨ach zwischen einem geschiedenen Ehepaar, deren beinah vollj¨ahriger Sohn Joey beim Vater lebt, die Ferien aber bei der entfernt lebenden Mutter verbracht hat. Der Vater ruft am Tag der geplanten R¨uckkehr des Sohnes an. Der Auszug beginnt unmittelbar nach der Begr¨ußung mit der Frage der Mutter, ob Joey bereits nach Hause gekommen sei:37 (110) ((...)) Marsha: Tony: Marsha: Tony: Marsha: Marsha:
37
Did Joey get home yet? Well I wz wondering when ‘e left. (0.2) .hhh Uh(d) did Oh: .h Yer not in on what ha:ppen’.(hh) (d) No(h)o= =He’s flying. (0.2) En Ilene is going to meet im: .Becuz the to:p wz ripped off’v iz car (...) (aus: Schegloff 1996: 70)
Die Transkriptionskonventionen im vorliegenden Beispiel weichen in folgenden Punkten von den GAT-Konventionen ab: Unterstreichung (z.B. Joey, when) markiert die Hervorhebung des Wortes, graduell nach St¨arke der Hervorhebung. Wortinterne, eingeklammerte Buchstaben (z.B. No(h)o) verweisen auf Atmen, Lachen oder a¨ hnliche Laut¨außerungen (vgl. Ochs et al. 1996: 461ff.).
143 ¨ Die Außerung “He’s flying” wird als projektierte Fortsetzung der (pr¨asupponierten) Aussage, dass etwas passiert sei, interpretiert und als auf allen Ebenen vollst¨andig beschrieben: “It is built to be complete, syntactically, prosodically, and pragmatically” (Schegloff 1996: 71). Die entsprechende Fußnote jedoch f¨ugt hinzu: “The last of these [i.e. pragmatically, P.B.] is open to question, for the ‘preface’ – ‘you’re not in on what happened’ – could be taken to project not (only) an announcement but a story, in which case there is projectably more (more telling, that is) to come after ‘He’s flying’ ” (Schegloff 1996: 119). Dieses Beispiel veranschaulicht die Probleme, die mit der Entscheidung f¨ur oder gegen pragmatische Weiterweisung verkn¨upft sind. ¨ In der vorliegenden Arbeit w¨urde die Außerung “He’s flying” als weiterweisend analysiert, da sie auf inhaltlicher Ebene keinen ad¨aquaten Abschluss f¨ur die Aussage, dass etwas passiert sei, darstellt. Dies untermauert die Notwendigkeit, bei der Beurteilung von Weiterweisung auch die semantische Ebene zu ber¨ucksichtigen. Deshalb werden Semantik und Pragmatik hier in einer Kategorie zusammengefasst. Im Folgenden werden zwei Beispiele f¨ur die semanto-pragmatische Weiterweisung gegeben, wobei nun wieder Beispiele mit steigend-fallender Intonation gew¨ahlt werden. ¨ Bei allen Beispielen sind die konturtragenden Außerungen nur auf semanto-pragmatischer Ebene weiterweisend. Sie zeigen keine syntaktischen oder lexiko-semantischen Weiterweisungssignale. Dem ersten Gespr¨achsausschnitt geht eine scherzhafte Diskussion voraus, in deren Verlauf Jrg die Ansicht vertritt, in chinesischen Restaurants werde Hunde- und Katzenfleisch verwertet. Zur Veranschaulichung schildert er, wie und wo dieses Fleisch erworben wird. Im Kontext ¨ kann die erste Außerung dieser Veranschaulichungssequenz (“die gehn in=n TIERheim”) als weiterweisend beurteilt werden, obwohl sie isoliert keine lexikalischen oder syntaktischen ¨ Kennzeichen einer weiterweisenden Außerung tr¨agt. (111)
⇒
bb72-tierheim; V2
1256 1257 1258 1259
Jrg
1260 1261 1262 1263 1264
Jrg
Ver
Ver Jrg
ja was MEINST=e wie die das SONST mit dem preis machen. (1.5) die beZAHlen nix f¨ ur des flEIsch. ((schnauft)) m h l (-)die gehn in=n TIERheim (-)und dann (.) so ALte (-) ((kichert)) ja die se EH ni=mehr quItt kriegen; die wer=n dann MITgenommen.
F¨ur die Bestimmung der semanto-pragmatischen Weiterweisung ist die kontextuelle Einbet¨ tung der zur Diskussion stehenden Außerung unbedingt zu ber¨ucksichtigen. Nur so k¨onnen beispielsweise auch Einsch¨ube, die eine laufende Handlung suspendieren, zu der anschließend zur¨uckgekehrt wird, als weiterweisend interpretiert werden. Hinsichtlich der Weiter¨ weisungsfunktion sind solche Außerungen bivalent: Sie sind abschließend in Hinblick auf die eingeschobene Handlung, w¨urden aber im gegebenen Kontext eine Turn¨ubernahme des
144 Gegen¨ubers sinnlos erscheinen lassen. Nur vor dem Hintergrund des umgebenden Kontexts ist die Fortsetzungserwartung des gleichen Sprechers sinnvoll. Das folgende Beispiel veranschaulicht einen solchen Einschub. Der Ausschnitt steht im Kontext einer ausgedehnteren Erkl¨arungssequenz, in der Jrg die notwendigen Schritte zur Bew¨altigung einer Aufgabe beschreibt. (112) 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 ⇒
47 48 49 50
bb96-unterhose; V2 Jrg
Sbr Jrg
Sbr
=diese umRANdung, .h und dann tYpische mErkmale (.) da DRAUFmalen oder dranh¨ angen oder wa; wie auch IMmer. ((Gemurmel)) JA; paß=AUF; ((Jrg und Sbr beginnen sich auf Holz zu malen)) was MACHST du; jetzt-> ja=sch (.) zieh misch erstmal AUS? m h fm (.) bis auf die UNterhose; und dann machst=e umRANdung. nIsch mit den klaMOTten, (-) NEE-
¨ Die zu beurteilende konturtragende Außerung (Z 47) liefert in Form einer prosodisch eigenst¨andigen syntaktischen Ausklammerung eine Pr¨azisierung des zuvor ge¨außerten Arbeitsschritts (vgl. Auer 1996b). Dieser ge¨außerte Arbeitsschritt (Z 46) ist auf lexiko-semantischer Ebene durch erstmal als weiterweisend markiert. Die dadurch projektierte Fortsetzung (ein folgender Arbeitsschritt) wird jedoch durch die Folge¨außerung nicht eingel¨ost, so dass die Fortsetzungserwartung weiterhin besteht. Die Weiterweisung wird somit nicht durch die eingeschobene Pr¨azisierung bewirkt, sondern durch das Vorangegangene. Im folgenden Abschnitt werden die Kategorien komplexer Weiterweisung vorgestellt, die die Grundlage f¨ur die Analyse des Sprecherwechsels bilden.
4.4.1.2.2 Komplexe Weiterweisung Die soeben dargestellten Weiterweisungskriterien bilden die Grundlage f¨ur die Kategorien ¨ der komplexen Weiterweisung. In der konturtragenden Außerung k¨onnen theoretisch syntaktische, lexiko-semantische und semanto-pragmatische Weiterweisungssignale gemeinsam vorkommen (S+LS+SP), es k¨onnen jeweils zwei der Signale gemeinsam vorkommen (S+SP, S+LS, LS+SP) oder nur eines (S, LS, SP). Im letzten Fall liegt nicht komplexe, sondern einfache Weiterweisung vor. Hinzu kommt die M¨oglichkeit, dass auf keiner der vorgestellten Ebenen weiterweisendes Potenzial festzustellen ist ((-S)+(-LS)+(-SP) oder Ø). Die m¨oglichen Kombinationen abnehmender Komplexit¨at sind in folgendem Schaubild zusammenfassend
145
Abnehmende Weiterweisungskomplexit¨at
dargestellt. Es ist zu beachten, dass die Kombinationen S+LS+SP, S+LS, S und LS im Korpus nicht belegt sind; die belegbaren Kombinationen werden im Schaubild durch Fettdruck markiert: S+LS+SP
S+SP, S+LS, LS+SP
LS, SP
(-S)+(-LS)+(-SP)
Abbildung 4.43: M¨oglichkeiten komplexer Weiterweisung
Die genannten drei Kombinationen, die im untersuchten Korpus nicht vorkommen, beinhalten zwar Weiterweisungssignale auf lexiko-semantischer und/oder syntaktischer Ebene, aber keine semanto-pragmatische Weiterweisung. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass sich diese theoretisch zwar m¨oglichen Kombinationen empirisch nicht belegen lassen, denn sobald auf syntaktischer oder lexiko-semantischer Ebene Unabgeschlossenheit vorliegt, steht zu¨ meist auch auf semanto-pragmatischer Ebene eine weitere Außerung aus, um eine bestimmte Handlung oder einen Inhalt sinnvoll zum Abschluss zu bringen. Die folgenden Korpusbelege veranschaulichen die belegbaren Kombinationen.
4.4.1.2.2.1 Syntax + Semanto-Pragmatik (S+SP) Als Beleg f¨ur die Kombination aus syntaktischer und semanto-pragmatischer Weiterweisung l¨asst sich das schon als (104) gegebene Beispiel anf¨uhren. Die erste, konturtragende Intonationsphrase stellt eine Linksversetzung dar, die auf syntaktischer Ebene eine Fortsetzung pro¨ jektiert. Auch auf semanto-pragmatischer Ebene ist nach der Außerung mit einer Fortf¨uhrung zu rechnen. Der Ausschnitt stammt aus den “Fußbroichs”. Die Sprecher thematisieren die Tatsache, dass ff ausschließlich in der Nachtschicht arbeite. Ff begr¨undet seine Entscheidung, dies noch bis Weihnachten zu tun, mit dem (h¨oheren) Weihnachtsgeld, das er dann bekomme. (113) 379 380 381 382 383 384 385
k03-weihnachtsjeld; V1 fs ff fs ff fm ff
wie lang willst=e dat noch DURCHziehn? ja bis WEIHnachten NOCH; (.) [noch (des WEIHnachtsjeld,) [hast=e LETZtes jahr AUCH gesagt. [NEI:N. [h¨ Omma et gibt ja auch mEhr SCHOTter; ne, ja JUT-=
146 ⇒
386 387 388
fm
l h m =un:d vom WEIHnachtsjeld da lassen macht sisch dat SCHON ja: dAt is RISCHtisch;
4.4.1.2.2.2 Lexiko-Semantik + Semanto-Pragmatik (LS+SP) Der folgende Ausschnitt belegt die Kombination aus lexiko-semantischer und semanto-pragmatischer Weiterweisung. Er wurde ebenfalls bereits als Beispiel (90) angef¨uhrt. Die Weiterweisung auf lexiko-semantischer Ebene wird durch die Formulierung “nicht nur - sondern auch” (Z 807-809) geleistet. Zugleich liegt Weiterweisung auf semanto-pragmatischer Ebe¨ ne vor, da die Ausf¨uhrung von k06a nach den zur Diskussion stehenden Außerungen nicht sinnvoll abgeschlossen ist. Der Sprecher a¨ ußert sich zu der Notwendigkeit, sich neben dem Dialekt auch in einer standardnahen Variet¨at ausdr¨ucken zu k¨onnen. Im zur Diskussion ste¨ henden Abschnitt mit den konturtragenden Außerungen schildert der Sprecher, wodurch sich die (schriftliche) Standardsprache vom Dialekt unterscheide. (114)
k06-ausdr¨ucke, k06-reschtschreibung; V2/V2
789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806
k06
⇒
807
k06
⇒
808 809
i k06 i k06
i k06 i k06 i k06 i
man sollte schon SO spreschen k¨ onnen:dass man sisch ¨ Uberall auch verST¨ ANdigen kann. .h uberall in DEUTSCHland. ¨ isch mein- ((lacht)) zuMINdest (.) ja. JA. zuMINdest .hh sisch verST¨ ANdigen kann, .h ¨ ah: UN: man soll=et rischtisch SCHREIben k¨ onnen. dAt denk isch is also [AUCH ganz wischtig [ !NEIN! dass man sich in einem TEXT den man SCHREIBT; jaju:t oKAY= =gramMAtisch [rischtig ausdr¨ uckt.= [ l h m =et sIn ja nit nur die AUSdr¨ ucke l h m oder die RESCHTschreibung et geht ja auch um=um gramMATische: sachen.
4.4.1.2.2.3 Semanto-Pragmatik (SP) Allein semanto-pragmatisch weiterweisend ist der folgende Beleg. Die Sprecherin berichtet von einem Krankheitsfall in ihrer Familie und der Reaktion ihres Sohnes Frank auf diese
147 ¨ Situation. Die konturtragende Außerung ist in eine Zwischensequenz eingebettet, so dass ein ¨ konversationeller Abschluss nach der Außerung nicht zu erwarten ist. (115) ⇒
47 48
k01-krankenhaus; V2 fm
49 50 51 52 53
(wir war=n) a ¨h wAr der le' ¨ ah n TACH VORher war der noch l h h m bei der Uroma im KRANkenhaus- .hh (--) un isch kAm dann von der ARbeit. un da saß PIa saß nebenAn; hatten sisch KAFfee gemacht- (1.8) frank kam von der toiLETte; un dann (.) war der am !HEU!len;
4.4.1.2.2.4 Kein Weiterweisungspotenzial ((-S)+(-LS)+(-SP)) Einen Beleg ohne Weiterweisungspotenzial veranschaulicht der folgende Gespr¨achssausschnitt. Er stammt aus dem Interview k07. Die Sprecherin k07 berichtet von den Fahrradtouren, die sie mit ihrem Mann unternommen hat. Die Aufnahmeleiterin erkundigt sich in diesem Zusammenhang, ob das Gep¨ack bei diesen Touren von einem Gep¨ackdienst transportiert worden sei. Die Sprecherin f¨uhrt daraufhin aus, dass sie alles selbst gemacht h¨atten und “einfach gefahren” seien. Vor diesem Hintergrund a¨ ußert sie, dass sie (trotzdem) immer ¨ Unterkunft gefunden h¨atten und veranschaulicht dies durch die Außerungen in den Zeilen ¨ 766-767. Nach der konturtragenden Außerung ist ein potenzieller Abschlusspunkt gegeben. (116) 760
i
761 762 763 764
k07
765 766 ⇒
k07-hotel bekommen h¨atten; V2
767
i k07
hAm sie dat SO organisIErt dass irgend en gep¨ Ackdienst das [WEIter gefahrn hat[nEIn nEIn nEIn; wir ham ALles sElbst ge[macht. [ [wir sind EINfach gefahren .hhh penSION oder hoTEL bekommen h¨ atten
Es folgt nun die Vorstellung der quantitativen Ergebnisse. Es werden zuerst die Ergebnisse zur Kookkurrenz vorgestellt, dann die Ergebnisse zur Analyse des Sprecherwechsels.
148 4.4.1.3
Quantitative Ergebnisse: Kookkurrenz und Sprecherwechsel
4.4.1.3.1
Kookkurrenz
Vorkommensh¨aufigkeit (abs.)
Die erste Graphik veranschaulicht das gemeinsame Vorkommen der steigend-fallenden Kontur mit den Weiterweisungssignalen auf den anderen sprachlichen Ebenen. Wie oben erw¨ahnt wurde, existieren keine Belege f¨ur die Kookkurrenz der steigend-fallenden Kontur mit den Kategorien S+LS+SP, S+LS, S und LS. Sie werden in der Graphik deshalb nicht aufgef¨uhrt. 160 126
122
SP
(-LS)+(-S)+(-P)
120
80 42
40 17 LS+P
S+P
Abbildung 4.44: Kookurrenz der steigend-fallenden Kontur (n=307) mit Weiterweisung auf anderen Ebenen
Am h¨aufigsten kookkuriert die Kontur mit einfach semanto-pragmatischer Weiterweisung ¨ (n=126). Innerhalb der als weiterweisend eingestuften Außerungen folgt die Kookkurrenz mit komplex syntaktisch und semanto-pragmatisch signalisierter Weiterweisung (n=42), daraufhin die Kookkurrenz mit komplex lexiko-semantisch und semanto-pragmatisch signalisierter ¨ Weiterweisung (n=17). Eine Kookkurrenz der Kontur mit Außerungen, die kein Weiterweisungspotenzial zeigen, liegt in 122 F¨allen vor. Das bedeutet, dass die Kontur in insgesamt 185 F¨allen mit Weiterweisungssignalen auf anderen Ebenen kookkurriert. Das entspricht 60,3% ¨ aller konturtragenden Außerungen. In 39,7% (=122) aller F¨alle l¨asst sich keine Kookkurrenz mit anderen Weiterweisungssignalen feststellen. Als Vergleich l¨asst sich eine Referenzgruppe mit 50 final (flach) steigenden Intonationsverl¨aufen heranziehen, die zu diesem Zweck ausgewertet wurde. Final (flach) steigende Intonationsverl¨aufe werden zumeist als weiterweisend charakterisiert (vgl. Kap. 4.4.1.1), und es ¨ zeigt sich, dass hier eine ganz a¨ hnliche Verteilung vorliegt. 34% (=17) der Außerungen der Referenzgruppe kookkurrieren mit keinerlei Weiterweisungssignalen auf nicht-intonatorischer ¨ Ebene. Von den u¨ brigen 66% verteilen sich 46% auf die Außerungen mit semanto-pragmatisch signalisierter Weiterweisung, 18% (=9) auf die komplex syntaktisch und semanto-pragmatisch signalisierte Weiterweisung und 2% (=1) auf die komplex lexiko-semantisch und semantopragmatisch signalisierte Weiterweisung. Die vermutete Tendenz zur Kookkurrenz der steigend-fallenden Kontur mit Weiterweisung auf anderen sprachlichen Ebenen zeigt sich best¨atigt: In knapp zwei Dritteln der F¨alle ist die ¨ Kontur auf weiterweisende Außerungen verteilt. Aufschluss u¨ ber die tats¨achliche Wirkung der Kontur muss die Analyse der Sprecherreaktionen im Anschluss an das Konturvorkom-
149 ¨ men geben. Besonders interessant ist hier die Außerungsgruppe, die kein Weiterweisungspotenzial auf den u¨ brigen sprachlichen Ebenen aufweist. Es ist hier zu erwarten, dass geh¨auft Sprecherwechsel auftreten, da die Fortsetzungserwartung des aktuellen Sprechers auf keiner ¨ der diskutierten sprachlichen Ebenen signalisiert wird. Uberwiegen jedoch deutlich die Turnbeibehaltungen, so kann dies nur auf die Wirkung der Intonation zur¨uckgef¨uhrt werden. Die steigend-fallende Kontur w¨are im K¨olnischen damit als weiterweisend zu interpretieren.
4.4.1.3.2
Sprecherwechsel
Vorkommensh¨aufigkeit (in %)
¨ Um zu untersuchen, wie h¨aufig die konturtragenden Außerungen unterschiedlicher Weiterweisungskomplexit¨at von Sprecherwechseln gefolgt werden, musste zun¨achst eine leichte Reduzierung des Korpus vorgenommen werden. Dies ist darauf zur¨uckzuf¨uhren, dass die Fußbroichs- und Big-Brother-Daten monologische Abschnitte38 enthalten, bei denen kein Sprecherwechsel m¨oglich ist. Diese Abschnitte wurden aus der Auswertung herausgenom¨ men. Es ergibt sich eine Gesamtmenge von 290 Außerungen, die sich wie folgt auf die Weiterweisungskategorien verteilen: LS+SP = 16, S+SP = 41, SP = 120 und (-LS)+(-S)+(-SP) = ¨ 113. Im Anschluss an die untersuchten Außerungen kommen insgesamt 28 Sprecherwechsel ¨ vor. Dies entspricht einem prozentualen Anteil von 9,1% der konturtragenden Außerungen; ¨ auf knapp jede zehnte Außerung folgt somit ein Sprecherwechsel. ¨ Die folgende Graphik zeigt, wie h¨aufig die Außerungen der verschiedenen Weiterweisungskategorien von einem Sprecherwechsel gefolgt werden. Die Weiterweisungskategorien, bei denen keine Kookkurrenz mit der steigend-fallenden Kontur festzustellen war, werden nicht aufgef¨uhrt. 20
18.6 %
15
10 5%
5 2.4 % LS+P
S+P
SP
(-LS)+(-S)+(-P)
Abbildung 4.45: Vorkommen von Sprecherwechsel (n=28) bezogen auf die Weiterweisungskategorien
Die Graphik verdeutlicht, dass die Gruppe der nicht oder nur intonatorisch weiterweisenden ¨ ¨ Außerungen die meisten Sprecherwechsel nach sich zieht: 18,6% aller Außerungen der Ka38
Bei diesen monologischen Abschnitten handelt es sich im Fall der Big-Brother-Daten um die sogenannten “Statements”, also Kommentare, die die Bewohner des Hauses zu bestimmten Zeiten alleine in einem geschlossenen Raum vor laufender Kamera abgegeben haben. Im Fall der FußbroichsDaten kommen ebenfalls Passagen vor, wo sich einzelne Beteiligte alleine vor der Kamera a¨ ußern.
150 tegorie (-LS)+(-S)+(-SP) werden von einem Sprecherwechsel gefolgt (21 Sprecherwechsel abs.). Demgegen¨uber folgt auf 5% (abs. 6) der einfach semanto-pragmatisch weiterweisen¨ den Außerungen und auf 2,4% (abs. 1) der syntaktisch und semanto-pragmatisch weiterwei¨ senden Außerungen ein Sprecherwechsel. In der Gruppe der komplex lexiko-semantisch und ¨ semanto-pragmatisch weiterweisenden Außerungen kommt kein Sprecherwechsel vor. 75% ¨ aller Sprecherwechsel entfallen damit auf die Gruppe der nicht-weiterweisenden Außerungen.
Vorkommensh¨aufigkeit (in %)
¨ ¨ Auch hier l¨asst sich eine deutliche Ahnlichkeit zwischen den steigend-fallenden Außerungen ¨ und den steigenden Außerungen der Referenzgruppe (n=50) feststellen. Diese weist zu 6% ¨ Sprecherwechsel im Anschluss an die Außerungen auf. Alle Sprecherwechsel erfolgen nach ¨ ¨ Außerungen der Kategorie (-LS)+(-S)+(-SP), die insgesamt 17 Außerungen umfasst. Da¨ mit werden in der Referenzgruppe 17,7% der nicht-weiterweisenden Außerungen von einem Sprecherwechsel gefolgt. ¨ Dem l¨asst sich eine Gruppe abschließender Außerungen mit final fallender Intonation und ohne weitere Weiterweisungssignale (n=50) gegen¨uberstellen, die zu Vergleichszwecken un¨ tersucht wurde. Die Analyse hat erwiesen, dass hier 44% der Außerungen von einem Spre¨ cherwechsel gefolgt werden. W¨ahrend in der Gruppe der nicht-weiterweisenden Außerungen ¨ mit final fallender Intonationsbewegung also nahezu jede zweite Außerung (44%) von einem Sprecherwechsel gefolgt wird, gilt dies in der entsprechenden Gruppe der steigenden und ¨ ¨ der steigend-fallenden Außerungen nur f¨ur knapp jede f¨unfte Außerung (17,7% bzw. 18,6%). Diese Verteilung veranschaulicht die folgende Graphik: 60 44 %
45
30 17.7 %
18.6 %
steig
steig-fall
15
fall
Abbildung 4.46: Sprecherwechselvorkommen im Anschluss an nicht-weiterweisende final steigende, steigend-fallende und fallende Intonationsverl¨aufe in %
Die Verteilung spricht deutlich f¨ur die Auswirkungen von Intonation auf die Weiterweisungssignalisierung im Allgemeinen und f¨ur die weiterweisende Wirkung der steigend-fallenden Kontur im Besonderen. Analog zur Beobachtung von Ford & Thompson (1996) bez¨uglich der Abschlusssignalisierung l¨asst sich abschließend festhalten, dass komplexe Weiterweisung deutlich seltener zur ¨ Turnabgabe f¨uhrt als einfache Weiterweisung. Die Außerungen ohne Weiterweisungssignale auf syntaktischer, lexiko-semantischer und semantopragmatischer Ebene weisen die meisten ¨ Sprecherwechsel auf. Die Außerungen, die komplex weiterweisend sind, weisen die wenigsten oder sogar gar keine Sprecherwechsel auf. Weiterhin kann festgehalten werden, dass die
151 ¨ intonatorische Gestaltung der Außerung einen deutlichen Einfluss auf das Sprecherverhal¨ ten hat: Final steigend-fallende und steigende Außerungen f¨uhren gegen¨uber final fallenden ¨ Außerungen deutlich seltener zu Sprecherwechseln. Die weiterweisende Wirkung der final steigend-fallenden Kontur kann somit quantitativ als best¨atigt angesehen werden. Nichtsdestotrotz bleiben die auftretenden Sprecherwechsel jedoch problematisch und erkl¨arungsbed¨urftig. Sie werden daher am Ende dieses Kapitels noch detailliert untersucht (siehe Kap. 4.4.1.4.2). Als problematisch kann außerdem die uneinheitliche Datengrundlage angesehen werden, die aus Interviewdaten und aus interaktionalen Daten (Fußbroichs und Big Brother) besteht. In Interviews besteht zumeist eine st¨arkere Tendenz zur Turnbeibehaltung durch den Interviewten, da der Gespr¨achsleiter eine rege Beteiligung des Interviewpartners anstrebt. Unter Ber¨ucksichtigung der Datengrundlage m¨ussen die Ergebnisse daher m¨oglicherweise relativiert werden, wenn sich herausstellen sollte, dass s¨amtliche Turnbeibehaltungen in der Interviewsituation stattfinden. F¨ur die Gruppe (-LS)+(-S)+(-SP) m¨ussten sich demnach in den interaktionalen Daten keine oder kaum Turnbeibehaltungen finden lassen. Alle Sprecherwechsel m¨ussten hingegen diesen interaktionalen Daten entstammen. Es folgen deshalb nun einige Bemerkungen zur Verteilung der Sprecherwechsel auf die verschiedenen Datentypen: ¨ Von den insgesamt 307 konturtragenden Außerungen kommen 133 in den interaktionalen ¨ Daten vor, 174 in den Interviewdaten. Von den interaktionalen Daten sind 116 Außerungen auswertbar f¨ur die Analyse des Sprecherwechsels. Die u¨ brigen befinden sich in monologischen Abschnitten. Ohne Ber¨ucksichtigung der Weiterweisungskategorien verteilen sich die 28 Sprecherwechsel folgendermaßen auf die Daten: 18 Sprecherwechsel kommen in den interaktionalen Daten vor, die restlichen 10 in den Interviewdaten. Das bedeutet, dass 15,5% aller interaktio¨ nalen Außerungen von einem Sprecherwechsel gefolgt werden, aber nur 5,7% der Interview¨außerungen. Erwartungsgem¨aß ist der Anteil der Sprecherwechsel bei den interaktionalen Daten damit h¨oher als bei den Interviewdaten. Dennoch zeigt sich auch bei den inter¨ aktionalen Daten eine deutliche Tendenz zur Turnbeibehaltung, da 84,5% aller Außerungen keinen Sprecherwechsel nach sich ziehen. Außerdem zeigt sich, dass auch in den Interviewdaten einige Sprecherwechsel zu verzeichnen sind. Der Drang zur Turnbeibehaltung ist also ¨ nicht so zwingend, dass Sprecherwechsel nach weiterweisenden Außerungen vollst¨andig blockiert w¨urden. ¨ Wie verh¨alt es sich nun mit den Außerungen der Gruppe (-LS)+(-S)+(-SP) in den interaktionalen Daten? Die Verteilung der Sprecherwechsel auf die verschiedenen Weiterweisungskategorien innerhalb der interaktionalen Daten ergibt, dass 14 der 18 Sprecherwech¨ sel in der Gruppe (-LS)+(-S)+(-SP) vorkommen. Diese Gruppe umfasst 60 Außerungen, so ¨ dass insgesamt 23,3% der nicht- bzw. nur intonatorisch weiterweisenden Außerungen von ¨ einem Sprecherwechsel gefolgt werden. 7,7% der komplex weiterweisenden Außerungen sind durch einen Sprecherwechsel gekennzeichnet. Innerhalb der Interviewdaten verteilen sich die 10 Sprecherwechsel in a¨ hnlicher Weise auf die Weiterweisungskategorien: 7 der 10 Sprecherwechsel kommen in der Gruppe (-LS)+(-S)+(-SP) (n=53) vor. Das entspricht einem prozentualen Anteil von 13,2% Sprecherwechseln in dieser Gruppe. Die Gruppen der kom¨ plex weiterweisenden Außerungen (n=121) weisen demgegen¨uber einen Anteil von 2,5% an Sprecherwechseln auf.
152 Die quantitativen Ergebnisse f¨ur beide Datengruppen verdeutlichen wieder, dass nur intonatorische Weiterweisung weniger zwingend f¨ur eine Turnbeibehaltung ist als komplex signalisierte Weiterweisung. Die Gefahr, den Turn zu verlieren, ist bei den interaktionalen Daten erwartungsgem¨aß h¨oher als bei den Interviewdaten, obwohl auch hier Turnabgaben vorkommen. Auch bei den interaktionalen Daten werden 76,7% aller nur intonatorisch wei¨ terweisenden Außerungen durch den gleichen Sprecher fortgesetzt. Turnbeibehaltungen sind demnach bei den Interviewdaten zwar wahrscheinlicher, da das Risiko des Rederechtsverlust hier offensichtlich nicht so hoch ist wie bei den interaktionalen Daten. Der hohe Anteil der Turnbeibehaltungen auch bei den interaktionalen Daten zeigt jedoch, dass die Turnbeibehaltungen keineswegs nur als Reflex der Interviewsituation gewertet werden k¨onnen. Die weiterweisende Funktion der steigend-fallenden Kontur wird dadurch nochmals best¨atigt. Es folgt nun die quantitative Analyse der interaktionalen Gestaltung der Sprecherwechsel. Es ¨ werden das Vorkommen von Pausen und Uberlappungen im Anschluss an die konturtragen¨ den Außerungen besprochen.
4.4.1.4
Die interaktionale Gestaltung des Sprecherwechsels
4.4.1.4.1 Quantitative Analyse Ausgangspunkt der Analyse ist zun¨achst die bereits angesprochene Beobachtung aus Sacks et al. (1974), dass die u¨ berwiegende Mehrzahl der Sprecherwechsel durch “no gap, no overlap” bzw. “slight gap, slight overlap” gekennzeichnet ist. Sollten die Turn¨ubergaben durch ¨ auff¨allig viele l¨angere Pausen und Uberlappungen gekennzeichnet sein, k¨onnte dies ein Indiz auf problematische Turn¨ubergaben darstellen. Im Zentrum der Analyse wird dement¨ sprechend zuerst die quantitative Analyse des Pausen- und Uberlappungsvorkommens im ¨ Anschluss an die konturtragende Außerung stehen. Da mittlerweile weithin anerkannt ist, ¨ dass Pausen und Uberlappungen nicht zwangsl¨aufig auf interaktionale Probleme hindeuten m¨ussen (vgl. G¨unthner 1998), ist diese quantitative Analyse nur als erster Schritt zu verstehen, der den Boden f¨ur die sp¨atere qualitative Analyse bildet. Hier wird dann diskutiert ¨ werden, ob sich die Pausen und Uberlappungen als Zeichen eines Turn¨ubergabeproblems deuten lassen. ¨ F¨ur die quantitative Auswertung wurden alle Pausen gemessen und alle Uberlappungen re¨ gistriert, die sich an die konturtragende Außerung anschließen. Zwar bildet den Schwerpunkt der Analyse die Gestaltung des Sprecherwechsels, als Referenzwert wird jedoch auch das ¨ ¨ Pausen- und Uberlappungsvorkommen bei den Außerungen mit Turnbeibehaltung gemes¨ sen. Auf diese Weise kann die Vorkommensh¨aufigkeit der Pausen und Uberlappungen bei Sprecherwechseln in Relation zu ihrer Vorkommensh¨aufigkeit bei den Turnbeibehaltungen betrachtet werden. Als Pausen wurden alle Passagen ohne Lautproduktion gemessen, die zwischen dem Ab¨ schluss der konturtragenden Außerung und der Folge¨außerung auftreten. Nicht als Pausen gewertet wurden beispielsweise gehaltene Glottalverschl¨usse (vgl. Local & Kelly 1986 zu “holding silences”). Die Pausen wurden entsprechend ihrer Dauer in 4 Gruppen unterteilt. Vor dem Hintergrund der angenommenen Wahrnehmbarkeit von Pausen ab 0.3 Sekunden
153 umfasst die erste Gruppe die minimale Dauer von >0 bis 0.2 Sekunden, die weiteren Gruppen beinhalten die Dauern von 0.3-0.5 Sekunden, 0.6-0.9 Sekunden und ab 1.0 Sekunden. Die Entscheidung f¨ur diese Gruppen steht im Zusammenhang mit Forschungen zur Korrelation von Pausendauer und der Wahrscheinlichkeit von Sprecherwechsel, auf die weiter unten noch eingegangen wird (vgl. Wennerstrom et al. 2003). Das folgende Beispiel veranschaulicht einen Konturbeleg mit einer Pause von 1.0 Sekunden Dauer. (117) ⇒
452 453 454
k03-vorlage; V2 fm
m h l oder gib mir irgend=ne VORlage (1.0) dann weis=isch UCH alles.
¨ Als Uberlappungen wurden alle simultanen Lautproduktionen zweier oder mehrerer Sprecher gewertet, sofern es sich nicht um H¨orersignale und/oder R¨uckversicherungen handelt. Es wur¨ den sowohl Uberlappungen gez¨ahlt, die innerhalb des nuklearen Abschnitts der konturtragenden Intonationsphrase beginnen, als auch solche, die bereits davor einsetzen. Voraussetzung ¨ ist allerdings, dass die u¨ berlappte Außerung eindeutig als steigend-fallend zu identifizieren ¨ sein muss. Weiterhin wurden solche Uberlappungen ber¨ucksichtigt, die im Vorlauf der Fol¨ ge¨außerung, d.h. vor der ersten Akzentsilbe der Folge¨außerung, auftreten. Uberlappungen k¨onnen zur Turnabgabe f¨uhren, wenn der hereinkommende Sprecher den Turn u¨ bernimmt, sie k¨onnen aber auch von einer Turnbeibehaltung gefolgt sein, wenn der hereinkommende Sprecher seinen Redebeitrag zur¨uckzieht oder einen nur sehr kurzen Beitrag a¨ ußert. Der fol¨ gende Gespr¨achsausschnitt veranschaulicht eine Uberlappung im Vorlauf der Folge¨außerung. Der Sprecher k09a a¨ ußert sich zu der Frage, in welchen Kontexten sein Sohn den k¨olnischen Dialekt h¨atte erwerben k¨onnen. (118) 530 ⇒
531 532 533 534 535
k09-familie nit spreschen; V1-2 k09a
k09b k09a
ja ansonsten wo soll der dat wirklisch jeLERNT haben. m h l wenn ma=t in der faMIlie nit spreschen .hhh oh: [wenn et in der SCHUle nit jesprochen wird¨ [SCHUlewenn et also gar nit gehtun: wo=wo willste dat denn sonst HERkriegen.
¨ Die Uberlappung erfolgt in Zeile 533 durch Sprecher k09b, nachdem k09a im Anschluss an ¨ ¨ die konturtragende Außerung ein gedehntes Verz¨ogerungssignal produziert hat. Die Uberlappung setzt vor der ersten Akzentsilbe der Folge¨außerung ein; es handelt sich um einen sehr kurzen Beitrag, k09a beh¨alt seinen Turn bei. Es werden nun die Ergebnisse der quantitativen Auswertung zum Pausenvorkommen und ¨ zum Uberlappungsvorkommen vorgestellt.
154 4.4.1.4.1.1 Pausen ¨ Insgesamt treten im Anschluss an die 307 untersuchten Außerungen 142 Pausen auf. 46,3% ¨ der konturtragenden Außerungen sind damit von einer Pause gefolgt, bevor entweder der gleiche Sprecher fortf¨ahrt oder ein neuer Sprecher einsetzt. Die Auswertung hinsichtlich des Pausenvorkommens bei Turnabgabe und Turnbeibehaltung zeigt jedoch keinen relevanten Unterschied: 42,9% aller Sprecherwechsel kommen mit Pausen vor. Bei den Turnbeibehaltungen entstehen in 46,6% aller F¨alle Pausen. Ein gr¨oßerer Unterschied zeigt sich, wenn man das Pausenvorkommen auf die verschiedenen Weiterweisungskategorien bezieht: Es folgen auf ¨ 64,8% aller nur intonatorisch weiterweisenden Außerungen eine Pause, w¨ahrend nur 34,1% ¨ aller komplex weiterweisenden Außerungen von einer Pause gefolgt sind. Der Wert der Referenzgruppe mit steigender Intonation zeigt demgegen¨uber ein wesentlich geringeres Pausenvorkommen mit insgesamt 28% (=14) Pausen im Anschluss an die ¨ Außerungen. Auch l¨asst sich kein besonders ausgepr¨agter Unterschied zwischen komplex ¨ und nur intonatorisch weiterweisenden Außerungen feststellen: 35% der nur intonatorisch ¨ ¨ weiterweisenden Außerungen und 24% der komplex weiterweisenden Außerungen werden von Pausen gefolgt. Das generelle Pausenvorkommen ist im Anschluss an die steigend-fallende Kontur somit ¨ sehr hoch; bei komplex weiterweisenden Außerungen ist es deutlich geringer als bei nur ¨ ¨ intonatorisch weiterweisenden Außerungen, und Außerungen ohne Sprecherwechsel weisen ¨ ein h¨oheres Pausenvorkommen auf als Außerungen mit Sprecherwechsel. Wie gestaltet sich nun das Pausenvorkommen unter Einbeziehung der Pausendauer? Nimmt man die Reihenfolge der Turnzuweisungsregeln des Turn-Taking-Modells von Sacks et al. ernst, ergeben sich als zeitliche Konsequenzen, dass die Option des Sprecherwechsels fr¨uher in Kraft tritt als die der Turnbeibehaltung. Die Regelung, dass der zuerst einsetzende nicht aktuelle Sprecher den Turn erh¨alt, sofern keine current selects next Technik eingesetzt wurde, verst¨arkt noch den Zwang, m¨oglichst schnell an den vorangegangenen Turn anzuschließen. Die Option der Turnbeibehaltung hingegen setzt erst dann ein, wenn kein anderer Sprecher u¨ bernommen hat. Spricht der aktuelle Sprecher nicht weiter, werden die Regeln von neuem g¨ultig. In der “zweiten Runde” w¨are dann also wieder zuerst ein Sprecherwechsel zu erwarten, nach kurzer Verz¨ogerung die Turnbeibehaltung usw. Ein Sprecherwechsel ist dementsprechend entweder sofort oder nach l¨angerer Pause zu erwarten. ¨ Auch Wennerstrom et al. (2003) nehmen diese Uberlegungen als Ausgangspunkt f¨ur ihre Untersuchung zum Zusammenhang von Pausendauer und Wahrscheinlichkeit von Sprecherwechsel in nat¨urlichen Gespr¨achen. Ihre Ergebnisse zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit f¨ur einen Sprecherwechsel innerhalb der ersten 0.5 Sekunden tats¨achlich leicht sinkt und danach wieder ansteigt. W¨ahrend Sacks et al. in ihrem Modell keinen Unterschied zwischen intonatorisch weiterweisenden und abschließenden TCUs machen, korrelieren Wennerstrom et al. Pausendauer und Wahrscheinlichkeit f¨ur Sprecherwechsel mit dem Auftreten verschiedener Intonationskonturen: Folgt die Pause auf weiterweisende Intonationskonturen (low rise-, partial fall-, plateau-Konturen), sinkt nicht nur die generelle Wahrscheinlichkeit f¨ur einen Sprecherwechsel, sondern sie erreicht auch ihren Tiefpunkt bereits etwas fr¨uher, n¨amlich nach ca. 0.4 Sekunden. Der Bereich der geringsten Wahrscheinlichkeit f¨ur einen Sprecherwechsel nach weiterweisenden Konturen umfasst in etwa den Zeitraum von 0.3 bis 0.5 Sekunden. Danach steigt die Wahrscheinlichkeit wieder auf ihr anf¨angliches Niveau an und bleibt ab et-
155
Vorkommensh¨aufigkeit (abs.)
wa 0.9 Sekunden auf diesem Niveau (vgl. Wennerstrom et al. 2003: 93ff.). Diese Ergebnisse best¨atigen die bei Sacks et al. implizierte zeitliche Struktur der Sprecherwechselorganisation. Der Zeitraum um die 0.4 Sekunden herum ist (bei weiterweisender Intonation) demnach als der Zeitraum zu betrachten, nach dem die Option f¨ur den Sprecherwechsel verstrichen ist und der aktuelle Sprecher mit seinem Turn fortf¨ahrt. Danach setzt die Zeitspanne ein, in der das Turn¨ubernahmerecht wiederum an den nicht aktuellen Sprecher geht. Dass die zeitlichen Implikationen des Turn-Taking-Modells so ohne weiteres auf weiterweisende Konturen u¨ bertragbar sein sollen, ist sicherlich erstaunlich. Es wirft sich hier wieder ¨ die Frage auf, ob intonatorisch weiterweisende Außerungen u¨ berhaupt als TRP gewertet werden k¨onnen oder nicht, da sie zwar vollst¨andig sind, aber keinen Sprecherwechsel erwarten lassen. Wennerstrom et al. a¨ ußern sich dazu nicht, stellen aber fest, dass f¨ur die Behandlung der Pausen zus¨atzlich zur Intonationskontur auch die Syntax eine Rolle spielt. Ist weiterweisende Syntax mit der Intonationskontur partial fall verkn¨upft, kommt es ungeachtet der Pausendauer nicht zum Sprecherwechsel (vgl. Wennerstrom et al. 2003: 99ff.). Dies deutet darauf hin, dass auch hier komplex signalisierte Weiterweisung sicherer zur Turnbeibehaltung f¨uhrt als einfach signalisierte Weiterweisung. F¨ur die Analyse der Sprecherwechsel in den eigenen Daten bedeuten diese Ergebnisse, dass die meisten Sprecherwechsel ohne Pause oder in der Zeitspanne von 0.1-0.2 Sekunden zu erwarten sind, sofern es sich um unproblematische Sprecherwechsel handelt. Im Zeitraum von 0.3-0.5 Sekunden hingegen sollten kaum Sprecherwechsel auftreten. Sprecherwechsel, die ab einer Pause von 0.6 Sekunden auftreten, sind als Sprecherwechsel der “zweiten Runde” zu werten, d.h. hier sind die u¨ blichen Optionen zur Turn¨ubernahme und Beibehaltung bereits verstrichen, was auf eine Unsicherheit der Interaktionsteilnehmer hinsichtlich der Turn¨ubernahme hindeuten kann. Um die Vergleichbarkeit mit den Daten von Wennerstrom et al. (2003) zu gew¨ahrleisten, werden nur die interaktionalen Daten f¨ur die Analyse herangezogen. Die Datenmenge wird dadurch recht klein und bel¨auft sich auf 18 Sprecherwechsel in den interaktionalen Daten. Die Repr¨asentativit¨at der Ergebnisse ist daher stark eingeschr¨ankt. Die folgende Graphik veranschaulicht die Verteilung der Sprecherwechsel auf die verschiedenen Pausendauern. 20
15 12 10
5 2 0
0.1-0.2
1 0.3-0.5
2 0.6-0.9
1 ab 1.0
Pausendauer (in sec.) Abbildung 4.47: Vorkommen der Sprecherwechsel (n=18) bezogen auf die Pausendauer
156 Tats¨achlich zeigt sich bei den Daten, dass die u¨ berwiegende Mehrzahl der Sprecherwechsel ohne Pause oder nach einer minimalen Pause bis zu 0.2 Sekunden vorgenommen werden (n=14; 77,8% der Sprecherwechsel). In der Zeitspanne von 0.3 bis 0.5 Sekunden findet sich nur ein Sprecherwechsel, zu den kritischen Sprecherwechseln der zweiten Runde sind drei Sprecherwechsel zu z¨ahlen. Der zeitliche Einsatz der Sprecherwechsel entspricht den Erwartungen des Turn-TakingModells und den Ergebnissen von Wennerstrom et al. Es ist allerdings weiterhin zu beden¨ ken, dass dieses Ergebnis vor dem Hintergrund der Hypothese, dass die Außerungen weiterweisend sind, fragw¨urdig ist. Das Turn-Taking-Modell soll schließlich auf m¨ogliche TRPs ¨ anwendbar sein, zu denen die weiterweisenden Außerungen nicht zu z¨ahlen sind. Dass die zeitliche Gestaltung des Sprecherwechsels bei weiterweisenden und bei abschließenden Intonationskonturen kaum voneinander abweicht, wie Wennerstrom et al. feststellen, widerspricht jeglicher Intuition und stellt die Plausibilit¨at der zeitlichen Implikationen des gesamten Modells in Frage.
Vorkommensh¨aufigkeit (abs.)
Von Interesse ist nun, wie sich die Turnbeibehaltungen auf die Pausendauern verteilen. Best¨atigt sich auch hier die zeitliche Tendenz des Turn-Taking-Modells? Komplement¨ar zu den steigenden und sinkenden Wahrscheinlichkeiten f¨ur den Sprecherwechsel ist hier zu erwarten, dass die Mehrzahl der Turnbeibehaltungen nach 0.3 bis 0.5 Sekunden auftritt, fr¨uher und sp¨ater m¨ussten weniger Turnbeibehaltungen zu finden sein. ¨ Grundlage der Auswertung bilden die 116 nicht monologischen Außerungen der interaktionalen Daten, von denen 18 durch einen Sprecherwechsel gekennzeichnet sind. Es kommt also zu 98 Turnbeibehaltungen. Bei 43 der nicht monologischen Turnbeibehaltungen treten Pausen auf. 43,9% der interaktionalen Turnbeibehaltungen entstehen demnach mit Pausen. ¨ Die folgende Graphik gibt einen Uberblick u¨ ber die Verteilung der Turnbeibehaltungen auf die verschiedenen Pausendauern. 60
55
45
30 17 15
11
9
0.6-0.9
ab 1.0
6 0
0.1-0.2
0.3-0.5
Pausendauer (in sec.) Abbildung 4.48: Vorkommen von Turnbeibehaltungen (n=98) bezogen auf die Pausendauer
Die generelle Aussage, dass Turnbeibehaltungen erst als zweite M¨oglichkeit nach der Turnabgabe und damit zeitlich verz¨ogert auftreten sollten, zeigt sich in den interaktionalen Daten nicht best¨atigt: 54 (56,1%) der 98 Beibehaltungen folgen ohne Pause. Eine schwache Ten-
157 denz, die Turnbeibehaltungen im Zeitraum von 0.3 bis 0.5 Sekunden anzusiedeln, l¨asst sich allerdings feststellen. In dieser Hinsicht ließen sich die Beobachtungen von Wennerstrom et al. demnach best¨atigen. Die Auswertung verdeutlicht, dass auch die Turnbeibehaltungen schwerpunktm¨aßig ohne Pause auftreten. Dies ist ein erwartbares Ergebnis, wenn man davon ausgeht, dass die ¨ Außerungen weiterweisend sind. Es zeigt jedoch auch, dass die Anwendbarkeit des TurnTaking-Modells und der Ergebnisse von Wennerstrom et al. auf die zur Diskussion stehenden ¨ ¨ Außerungen tats¨achlich fragw¨urdig ist. Auch die Ubereinstimmung der zeitlichen Erwartungen des Modells mit den Sprecherwechseln relativiert sich vor dem Hintergrund der Beibehaltungsergebnisse: Sowohl Beibehaltungen als auch Abgaben weisen ja einen deutlichen Schwerpunkt beim Einsatz ohne oder mit minimaler Pause auf. Dies deutet auf eine generelle ¨ Tendenz hin, m¨oglichst schnell an die vorige Außerung anzuschließen, unabh¨angig davon, ob es sich dabei um den aktuellen Sprecher oder einen anderen Sprecher handelt. Abschließend l¨asst sich sagen, dass die quantitative Analyse des Pausenvorkommens keine R¨uckschl¨usse auf m¨ogliche problematische Sprecherwechsel im Anschluss an die konturtra¨ gende Außerung zul¨asst. Hinsichtlich des allgemeinen Pausenvorkommens lassen sich kaum Unterschiede zwischen Sprecherwechsel und Turnbeibehaltung feststellen. ¨ 4.4.1.4.1.2 Uberlappungen ¨ 7,6% (n=22) aller konturtragenden (nicht monologischen) Außerungen (n=290) kommen mit ¨ ¨ Uberlappungen vor. Die Referenzgruppe mit final steigender Tonh¨ohe weist ein Uberlappungsvorkommen von insgesamt 10% auf, die Referenzgruppe mit final fallender Intonation hingegen ein Vorkommen von 22%. Vergleichbar zum Pausenvorkommen l¨asst sich auch hier ¨ ¨ feststellen, dass die komplex weiterweisenden Außerungen durch weniger Uberlappungen ¨ gekennzeichnet sind als die nur intonatorisch weiterweisenden Außerungen: Auf 11,5% ¨ ¨ (n=13) der nur intonatorisch weiterweisenden Außerungen folgt eine Uberlappung, aber nur auf 5,1% (n=9) der komplex weiterweisenden (bei der Referenzgruppe mit steigender Intonation entsprechend 23,5% gegen¨uber 3%). Anders als beim Pausenvorkommen ist das ¨ Uberlappungsvorkommen außerdem durch deutliche Unterschiede bei der Verteilung auf Sprecherwechsel und Turnbeibehaltung gekennzeichnet. Beinahe jeder dritte Sprecherwech¨ sel (32,1%) steht in Zusammenhang mit einer Uberlappung, aber nur knapp 5% (4,7%) aller ¨ Turnbeibehaltungen kommen mit einer Uberlappung vor. Dass das nicht darauf zur¨uck zu ¨ f¨uhren ist, dass Beibehaltungen m¨oglicherweise generell seltener mit Uberlappungen vor¨ kommen, wird dadurch deutlich, dass 40,9% aller Uberlappungen einen Sprecherwechsel ¨ nach sich ziehen, aber sogar 59,1% eine Turnbeibehaltung. Es enden also mehr Uberlappungen in einer Turnbeibehaltung als in einer Turnabgabe. Dies ist der Fall, wenn der hereinkommende Sprecher seinen Redebeitrag zur¨uckzieht, wie eingangs veranschaulicht wurde. ¨ Ob diese deutliche H¨aufung der Uberlappungen bei Sprecherwechsel als Hinweis auf dessen Dispr¨aferiertheit im Anschluss an die Kontur zu werten ist, wird die qualitative Analyse der Sprecherwechsel erweisen. Zusammenfassend l¨asst sich sagen, dass es sowohl in den komplex weiterweisenden als auch ¨ in den einfach intonatorisch weiterweisenden Außerungsgruppen zu “gaps” und “overlaps” ¨ kommt. Uberlappungen sind weniger h¨aufig als Pausen. Die Pausen stehen in deutlichem
158 ¨ ¨ Zusammenhang zum Weiterweisungspotenzial der Außerungen, w¨ahrend die Uberlappungen eine deutliche Korrelation mit dem Sprecherwechsel aufweisen. Der folgende Abschnitt widmet sich der qualitativen Analyse der auftretenden Sprecherwechsel.
4.4.1.4.2 Die interaktionale Gestaltung des Sprecherwechsels: Qualitative Analyse Mit etwa 9% (n=28) aller Anschl¨usse an die steigend-fallende Kontur im K¨olnischen stellen die Sprecherwechsel einen relativ geringen Anteil der Anschl¨usse dar. Vor dem Hintergrund ¨ ¨ der quantitativen Uberzahl der Außerungen mit Turnbeibehaltung ist das Vorkommen der Sprecherwechsel jedoch von besonderem Interesse. Es besteht zum einen beispielsweise die M¨oglichkeit, dass die Sprecherwechsel von den Beteiligten als kompetitive Turn¨ubernahmen ¨ behandelt werden. In diesem Fall w¨aren die konturtragenden Außerungen trotz des Sprecherwechsels als weiterweisend einzustufen. Zum anderen besteht die M¨oglichkeit, dass die Turn¨ubernahmen ohne Anzeichen von Kompetitivit¨at gestaltet werden. In diesen F¨allen ließe sich zun¨achst nicht ohne weiteres von einem Weiterweisungspotenzial der konturtragen¨ den Außerung ausgehen. Es w¨are stattdessen zu u¨ berlegen, welchen Bedingungen der nichtweiterweisende Gebrauch der Kontur unterliegt. Hierbei ist allerdings zun¨achst zu bedenken, ¨ dass auch nicht-kompetitive Ubernahmen vorkommen k¨onnen, die das Weiterweisungspo¨ tenzial der konturtragenden Außerung nicht in Frage stellen. So k¨onnen beispielsweise kollaborative Vervollst¨andigungen durch einen anderen Sprecher ein Hinweis auf das Weiterwei¨ sungspotenzial der konturtragenden Außerung sein, obwohl in diesen F¨allen ein Sprecherwechsel vorliegt. ¨ Prim¨ares Ziel der qualitativen Analyse ist es somit, herauszustellen, ob die Außerungen mit ¨ steigend-fallender Kontur auch bei folgendem Sprecherwechsel als weiterweisende Außerungen eingestuft werden k¨onnen, oder ob sich keine Evidenz f¨ur das Weiterweisungspotenzial feststellen l¨asst. Die Analyse hat ergeben, dass tats¨achlich sowohl Belege existieren, die ¨ f¨ur die Weiterweisungsannahme der konturtragenden Außerung sprechen als auch solche, die gegen diese Annahme sprechen. Dies bedeutet, dass das Bedeutungspotenzial “Weiterweisung” offenbar nicht f¨ur alle Konturvorkommen G¨ultigkeit besitzt. Zu kl¨aren bleibt dann, unter welchen Bedingungen bzw. in welchen Kontexten die steigend-fallende Kontur nicht weiterweisend wirkt. Im Folgenden werden nun zuerst die Belege vorgestellt, die keine Weiterweisungsinter¨ pretation der konturtragenden Außerung zulassen. Wie soeben erw¨ahnt wurde, ist hier von ¨ besonderem Interesse, ob sich diese Außerungen in bestimmter Weise gruppieren lassen, so dass spezifische Gebrauchsbedingungen der Kontur bei Nicht-Weiterweisung herausgestellt werden k¨onnen. Die Analyse legt nahe, von drei Gruppen von nicht-weiterweisenden Konturvorkommen auszugehen: Die Kontur tritt in Vorwurfssequenzen, Argumentationen und handlungsbegleitend auf, was sogleich veranschaulicht wird. Es folgen danach die Belege, die ¨ trotz Sprecherwechsels daf¨ur sprechen, die konturtragende Außerung als weiterweisend einzustufen. Auch hier konnten drei wesentliche Gruppen herausgearbeitet werden: zum einen sind die Sprecherwechsel, wie oben bereits angedeutet wurde, teilweise auf kollaborative Vervollst¨andigungen zur¨uckzuf¨uhren. Zum anderen existieren Sprecherwechsel, die im weiteren Verlauf des Gespr¨achs als problematisch bearbeitet werden. Schließlich stehen eini-
159 ge der Sprecherwechsel im Zusammenhang mit Zwischensequenzen, die zur Kl¨arung eines Sachverhalts eingef¨ugt werden und in deren Anschluss die erwartbare Ankn¨upfung an die ¨ konturtragende Außerung erfolgt.
4.4.1.4.2.1
Konturvorkommen ohne Weiterweisungspotenzial
Im Folgenden werden zun¨achst exemplarisch die Konturvorkommen mit Sprecherwechsel in Vorwurfssequenzen und in Argumentationen vorgestellt. Ihnen ist gemeinsam, dass durch die ¨ konturtragende Außerung keine Weiterweisungserwartung etabliert wird. Die sequenzielle ¨ Einbettung der Außerung legt vielmehr eine Turn¨ubernahme durch den anderen Sprecher nahe.
4.4.1.4.2.1.1 Vorwurfssequenzen Das Konturvorkommen in Vorwurfssequenzen zeigen die ersten drei Beispiele. Die kontur¨ tragende Außerung tr¨agt keinerlei Weiterweisungspotenzial. Sie ist mit einem Vorwurf oder einer Rechtfertigung verkn¨upft, die eine Reaktion des Gegen¨ubers – eine Rechtfertigung, einen Gegenvorwurf, eine Einlenkung etc. – erwartbar macht. Die Verwendung der Kontur in diesem Kontext stellt folglich einen eindeutigen Widerspruch zur Weiterweisungsfunktion dar. Beim ersten Beispiel handelt es sich um einen Auszug aus den Fußbroichs, in dem ein h¨aufig thematisierter Streitpunkt zwischen dem Sohn (fs) und seiner Freundin (ft) zu Tage tritt: die Frage, wer f¨ur Haushalt und Kochen zust¨andig ist. Die anderen beiden Beispiele stellen scherzhafte Vorw¨urfe in spielerischen Situationen dar. (119)
⇒
k01-kochen; V2 ((Fs kommt zu seiner Freundin ft nach Hause und hat offenbar erwartet, dass sie bereits gekocht hat.))
1328 1329 1330 1331 1332
fs
1333 1334
ft
1335 1336 1337 1338 1339 1340 1341
ft fs
fs ft
N:¨ A:. (-) l hl isch kann nisch noch anfangen zu KOchen (-) (---)
160
¨ Die konturtragende Außerung (Z 1335) steht als Rechtfertigung in der Folge des Vorwurfs von fs, dass das Essen noch nicht zubereitet sei (Z 1328, 1331, 1332). Ft verneint zun¨achst ¨ die in Zeile 1332 formulierte Erwartung und liefert mit der konturtragenden Außerung eine Rechtfertigung f¨ur ihr Handeln. Es folgt darauf eine Pause, und die Vorwurfssequenz wird durch die Frage von fs retrospektiv als abgeschlossen markiert. (120)
⇒
k04-salzwasser schluck; V2 ((Fm und fv befinden sich in Mallorca im Wasser und tauchen sich gegenseitig unter.))
576 577 578 579
fm
580 581 582 583 584 585 586
fm fv fm fv
fv
fm fv
!UI! (1.0) (ekel hast das) SALZwasser [(nisch geschluckt). [ ( [ ) l h h fm [dat is UNgesund wenn man SALZwasser schluck. JA:? da sin bakTErien drin. is och schlescht wenn man seinen MANN untertaucht. (1.0) krist=e WIDder. isch WARne disch.
In diesem Beispiel wendet sich fm mit einer Belehrung an fv (Z 580), die vor dem Hintergrund, dass fv sie soeben untergetaucht hat, als impliziter Vorwurf interpretiert werden kann. Nachdem eine Rechtfertigung oder ein Gegenvorwurf durch fv in Zeile 581 ausbleibt, untermauert fm die Gef¨ahrdung durch das Salzwasser (Z 582). Es folgt nun eine Rechtfertigung von fv (Z 583), der sein Handeln als Konsequenz bzw. “Revanche” ihres eigenen Handelns darstellt. Nach einer Pause k¨undigt fm ihrerseits eine Revanche an (Z 585). (121)
⇒
bb72-meckerei; V2-3 ((Sabrina hat die Aufgabe, J¨urgen f¨ur einen “chinesischen Abend” als Chinesen anzumalen. Die Situation ist eine spielerische; Frotzeleien zwischen den beiden Beteiligten sind h¨aufig.))
10 11 12 13 14 15
Jrg
16 17 18 19
Sbr
Sbr Jrg
Jrg
((kichert)) (3.0) n¨ a; NOCH nisch; lh m [JA. d' ¨ oh sch' es gibt da LOTsen, (.) un die f¨ Uhrn einen dann dursch [dieses: FELsije
180 .h MAgellanstraße dursch? 1045 1046 1047 1048 1049 1450
i k08
i
[ jAbis hinten andere seite chI:le wieder RAUF? bis ma oben PAnamakanal warn; auf dieser tour hatt=n wa ZW¨ OLF h¨ Afen.
¨ Den Beispielen ist gemeinsam, dass die dazwischen geschobene Außerung nach der steigendfallenden Kontur den Turn nicht dauerhaft f¨ur sich beansprucht. Das prinzipielle Rederecht geht dem vorherigen Sprecher nicht verloren. Die Belege des letzten Abschnitts haben gezeigt, dass die vorkommenden Sprecherwechsel keinen Widerspruch zu dem Weiterweisungspotenzial der steigend-fallenden Kontur darstellen. Die kollaborativen Anschl¨usse, die dispr¨aferierten Wechsel und die Zwischensequenzen ¨ mit Wiederankn¨upfen an die steigend-fallende Außerung machen die Orientierung der Sprecher auf eine erwartbare Fortsetzung des ersten Sprechers deutlich. Der vorherige Abschnitt hingegen hat deutlich gemacht, dass die Kontur ebenso in Kontexten vorkommt, die keine Weiterweisungserwartung wecken. Auch die Kontur f¨uhrt nicht zum Aufbau einer solchen Erwartung. Vor dem Hintergrund der in Kapitel 4.4.1.3 erzielten Ergebnisse zum quantitativen Zusammenhang von finalem Intonationsverlauf und folgendem Sprecherwechsel ließe sich vermuten, dass die Sprecherwechsel nach steigend-fallender Kontur u¨ berdurchschnittlich h¨aufig auf solche Verl¨aufe folgen, die final maximale Falltiefe aufweisen. Dies ist jedoch nicht der Fall: ¨ Die quantitative Verteilung zeigt, dass die konturtragenden Außerungen mit folgendem Spre¨ cherwechsel (n=28) zu 28,6% (n=8) maximal tief enden. Die konturtragenden Außerungen ohne folgenden Sprecherwechsel (n=322) enden in 29,2% (n=94) der F¨alle maximal tief. Der Anteil der Verl¨aufe mit maximaler Falltiefe ist bei Belegen mit und ohne Sprecherwechsel also nahezu identisch. Es kann somit ausgeschlossen werden, dass die finale Falltiefe der steigend-fallenden Kontur einen Einfluss auf den Sprecherwechsel hat. Auch im Zusammenhang mit den auf der qualitativen Analyse beruhenden Vorkommenskontexten der Konturbelege mit Sprecherwechsel ergeben sich keine nennenswerten Auff¨alligkeiten hinsichtlich des Gebrauchs der verschiedenen Konturvarianten. Es muss an dieser Stelle bedacht werden, dass die Gruppen, die sich aus der qualitativen Analyse ergeben, zum Teil sehr klein sind. So beinhaltet die Gruppe der Konturvorkommen in Vorwurfssequenzen nur 3 Belege, die zwar ausschließlich die phonetischen Varianten V2 und V2-3 aufweisen, es ist jedoch sehr fraglich, ob sich hieraus Schl¨usse auf einen systematischen Gebrauch der Konturvarianten ziehen lassen. Innerhalb der Gruppe der Argumentationen, die sechs Belege umfasst, lassen sich bereits alle Konturvarianten (V1, V2, V3) feststellen. Auch die u¨ brigen untersuchten Konturvorkommen geben keinen Anlass zu der Annahme, dass ein fester Zusammenhang zwischen Variantengebrauch und Vorkommenskontext besteht. Der aus Gr¨unden der induktiven Herangehensweise gew¨ahlte Ansatz, bei der funktionalen Analyse die phonetischen Varianten als Grundlage zu nehmen (vgl. Kap. 1, Kap. 3), scheint zumindest in Hinblick auf die beschriebenen phonetischen Variationsparameter f¨ur die untersuchten Funktionen keine aussagekr¨aftigen Ergebnisse zu erzielen.
181 Im folgenden Kapitel wird nun das Konturvorkommen bei quantitativ dominierender Turnbeibehaltung beschrieben. Es folgt zuerst eine Darstellung der typischen sequenziellen Einbettung der Kontur (Kap. 4.4.1.5). Danach wird das Kontextualisierungspotenzial der Kontur detailliert betrachtet (Kap. 4.4.1.6).
4.4.1.5
Spezifisches zur Weiterweisung: Das Sequenzformat und seine Varianten
Im vorangegangenen Kapitel wurde die steigend-fallende Kontur im K¨olnischen als Kontur herausgestellt, die meistens weiterweisend wirkt. Der speziellen Ausformung der Weiterweisung widmet sich nun dieses Kapitel. Es wird gezeigt, dass die Fortsetzung nach der ¨ konturtragenden Außerung nicht v¨ollig beliebig ist, sondern dass sich ein bestimmtes Sequenzformat ausmachen l¨asst, f¨ur das das Konturvorkommen typisch ist. In Anlehnung an ¨ Jefferson (1972) wird unter einer Sequenz eine nicht-zuf¨allige Abfolge von Außerungen verstanden, die “zusammen geh¨oren”: “The term ‘sequence’ refers to events that occur as a ‘serial unit’, which belong together and follow one after another” (304). Zu dem prototypischen Sequenzformat existieren Varianten, die jedoch die allgemeine G¨ultigkeit des grundlegenden Formats nicht in Frage stellen. Das Vorkommen der Kontur in einer bestimmten sequenziellen Abfolge deutet zugleich darauf hin, dass es sich bei der Kontur nicht um eine beliebige Weiterweisungskontur handelt, die in s¨amtlichen Kontexten mit Fortsetzungserwartung eingesetzt werden kann. Vielmehr ist ihr Vorkommen an bestimmte Bedingungen gekn¨upft, die im Folgenden beschrieben werden. Das grundlegende Format f¨ur das Konturvorkommen ist eine zweiteilige Sequenz, mit ¨ deren erster Außerung der steigend-fallende Tonh¨ohenverlauf verkn¨upft ist. Der zweite Teil ¨ weist immer fallende Intonation auf und schließt die Sequenz ab. Die beiden Außerungen stehen dabei inhaltlich in engem Zusammenhang, der aus einem Kontrast, zwei aufeinander folgenden Handlungsschritten oder a¨ hnlichem bestehen kann. Zumeist handelt es sich um ¨ ¨ gleichrangige, koordinierte Außerungen. Die enge Zusammengeh¨origkeit der beiden Außerungen wird zum Teil durch die Kookkurrenz mit lexiko-semantischen oder syntaktischen Weiterweisungssignalen unterstrichen. Dies veranschaulichen die folgenden beiden Beispiele: (141)
⇒
01 02
(142)
⇒
01 02
LS+SP, k07-mittelschule; V2
k07
m h m die gingen zwar auf die MITtelschule aber von abiTUR war ja konnt ja gar keine REde sein; ne,
S+SP, k07-wagen kamen; V1
k07
l h m un wenn dann die schweren WAgen kamen da kamen die polizisten und dr¨ uckten uns alle je=n de WAND; ne,
182 Das erste Beispiel ist durch ein lexiko-semantisches Weiterweisungssignal (zwar) gekennzeichnet, das zweite Beispiel durch ein syntaktisches (den vorangestellten wenn-Satz). Beide erfordern einen zweiten Teil, der dann den Abschluss der Sequenz darstellt. Auch ohne Kookkurrenz mit lexiko-semantischen oder syntaktischen Signalen ist die zweiteilige Struktur zu beobachten, wie die n¨achsten Beispiele zeigen: (143)
⇒
01 02
(144)
⇒
01 02
SP, k05-arbeite; V2
fm
l h m isch ARbeite und wenn isch lust hab fahr isch ins ST¨ ADTschen.
(-LS)+(-S)+(-SP), k03-stern drinne; V3
fv
l h l da war hier=n STERN drinne und da liefen die FARben so WEG.
Das erste Beispiel ist im Kontext semanto-pragmatisch weiterweisend, das zweite weist keinerlei nicht-intonatorisches Weiterweisungspotenzial auf. Dennoch ist die zweiteilige Struktur deutlich zu erkennen, die prosodisch durch die abschließende, fallende Intonation der ¨ zweiten Außerung markiert wird. ¨ Die beiden Außerungen bilden gemeinsam einen abgeschlossenen Komplex. Aufgrund der f¨ur gesprochene Sprache typischen Erweiterbarkeit sprachlicher Strukturen, sind Erweiterungen dieses Komplexes allerdings m¨oglich und tats¨achlich h¨aufig. Die zweiteilige Struktur ist entsprechend als Grundger¨ust zu verstehen, das auf verschiedene Arten variiert werden kann. Eine M¨oglichkeit zeigt das folgende Beispiel aus einem Interview, bei dem die Sprecherin verschiedene Stationen eines Radwegs am Rhein entlang schildert. Der Stadtteil Rodenkirchen stellt den Ausgangspunkt des Wegs dar. (145)
⇒
965 966 967 968 969 970 971 972 973 974
k07-rodenkirschen; V2-3
k07
i k07
m h l (.) ¨ ah: ROdenkirschen und dann kommt (.) der wEIße RHEINbogen? und dann kommt S¨ URTH? .hh und dAnn m¨ ussen se (--) ¨ ah: m¨ ussen se HOCH. (-) m¨ ussen se quasi (.) ¨ uber den RADwesch der be: NEUN fahren; weil se um den godorfer HAfen rum m¨ ussen; hm und dann hm WESseling do' ¨ ahm ¨ ahm WESseling m¨ ussen sie AUCH ah (.) ¨ ¨ uber die STRAße fahrnund dann k¨ onnen sie (.) wieder runter (--) an den RHEIN, und dann k¨ onnen sie quasi bis bonn bad GOdesberg
183 Dieses Beispiel zeigt, dass es nicht bei den zwei Bestandteilen der Sequenz bleiben muss. ¨ Auf die konturtragende Außerung folgt eine mehrz¨ugige Beschreibung der Etappen auf dem Weg von K¨oln nach Bonn. Bemerkenswert ist, dass die Kontur nur auf dem ersten Teil der ¨ Beschreibung steht. Alle anderen, internen Außerungen sind durch final steigende, flach steigende oder auch fallende Tonh¨ohenverl¨aufe gekennzeichnet. Mit Erreichen des “Ziels” und mit Abschluss der Sequenz wird eine final fallende Kontur produziert. Dies verdeutlicht, dass das zweiteilige Grundger¨ust zwar erweitert werden kann, dass die Zweiteiligkeit als Klammerstruktur aber erhalten bleibt. Weiterhin ist zu erkennen, dass die steigend-fallende Kontur nicht als gew¨ohnliche Weiterweisungskontur eingesetzt wird. In diesem Fall w¨are sie auch im Inneren der Sequenz zu erwarten, wo jedoch nur die u¨ blichen progredienten Konturen zu finden sind. Statt dessen hat sie am Sequenzbeginn eine exponierte Position inne. Von besonderem Interesse ist es auch, die Analyse bereits einige Zeilen vor dem oben beschriebenen Konturvorkommen anzusetzen. Hier kommt n¨amlich die Kontur ebenfalls vor, ohne aber zu der beschriebenen Klammerstruktur zu f¨uhren. Dennoch ist der Ausschnitt nicht als Gegenbeispiel zur beschriebenen zweiteiligen Struktur zu sehen, sondern ganz im Gegenteil als ein Argument f¨ur deren Wirksamkeit, was sogleich n¨aher erl¨autert wird. (146) ⇒
962 963 964
⇒
965
k07-rodenkirschen; V2-3 / V2 k07
m h l also f¨ angt an ROdenkirschen ne, (-) wir (.) k¨ onn ja von hier aus bIs k¨ Oln am RHEIN entlang fAhren; ne, m h m (.) ¨ ah: ROdenkirschen
¨ Nach der ersten konturtragenden Außerung “also f¨angt an ROdenkirschen ne,” folgt ein durch tieferes Tonh¨ohenniveau prosodisch abgesetzter Einschub, der inhaltlich nicht mit einer erwartbaren Fortf¨uhrung der projizierten Wegbeschreibung anschließt, sondern Hintergrundwissen bereitstellt (Z 963-964). Entsprechend sind diese drei aufeinanderfolgenden ¨ Außerungen nicht als eine zusammengeh¨orende Sequenz zu bewerten, sondern als eine be¨ gonnene und durch den Einschub suspendierte Sequenz. In der ersten Außerung nach dem ¨ Einschub (Z 965) wird nun die erste konturtragende Außerung zum Teil wiederholt, und zwar wieder mit der steigend-fallenden Kontur. Erst jetzt setzt die oben beschriebene Beschrei¨ bung ein, die mit der inhaltlich und prosodisch abschließenden Außerung in Zeile 974 endet ¨ (siehe Bsp. 145). Die Hintergrundwissen liefernden Außerungen in Zeile 963-964 werden dadurch auch retrospektiv als Einschub und somit nicht regul¨arer Abschluss der vorherigen ¨ Außerungsabfolge markiert. Das Beispiel widerspricht damit nicht der G¨ultigkeit der zweiteiligen Struktur, sondern untermauert vielmehr die er¨offnende Funktion der steigend-fallenden Kontur und die Not¨ wendigkeit des inhaltlichen und prosodischen Abschlusses durch die zweite Außerung der Klammerstruktur. Das Beispiel vermittelt einen ersten Eindruck davon, dass das zweiteilige Grundger¨ust durch verschiedene Erweiterungen ver¨andert werden kann, die dann zu Varianten des Formats f¨uhren. ¨ Die Sequenzerweiterungen setzen in diesem Beispiel nach der konturtragenden Außerung
184 ¨ ein, sie k¨onnen aber auch im Bereich der zweiten, abschließenden Außerung entstehen. Sie bestehen entweder aus weiteren Ausf¨uhrungen des aktuellen Sprechers, oder aus H¨orersignalen oder Zwischenfragen eines anderen Sprechers. Zum Schluss folgt immer eine intona¨ ¨ torisch fallende Außerung des ersten Sprechers, die sich inhaltlich auf die erste Außerung r¨uckbezieht und den ge¨offneten Rahmen schließt. Im Folgenden werden die Varianten der zweiteiligen Sequenzen vorgestellt. Es folgen zuerst die Erweiterungen durch den aktuellen Sprecher, dann die Erweiterungen, die auf den anderen Sprecher zur¨uckzuf¨uhren sind: H¨orersignale und Zwischenfragen.
4.4.1.5.1
Variante 1: Erweiterungen durch den aktuellen Sprecher
Die erste Variante der zweiteiligen Sequenz entsteht durch zus¨atzliches Material, das der Sprecher einf¨uhrt, bevor es zum Abschluss der Sequenz kommt. Dieses zus¨atzliche Materi¨ al wird im Anschluss an die konturtragende Außerung produziert oder im Rahmen der ab¨ schließenden Außerung. Es folgen zuerst Beispiele f¨ur die Erweiterungen im Anschluss an ¨ die konturtragende Außerung, dann werden Beispiele f¨ur die Erweiterungen im Bereich des zweiten Teils der Sequenz gegeben.
4.4.1.5.1.1
¨ Position 1: Erweiterungen im Anschluss an die konturtragende Außerung
Wie das obige Beispiel gezeigt hat, k¨onnen Einsch¨ube oder weitere Bestandteile einer chronologisch reihenden Erz¨ahlung zur Erweiterung der Sequenz f¨uhren. Der Einschub war in diesem Beispiel dadurch gekennzeichnet, dass die Kontur mit der R¨uckkehr zur suspendierten Sequenz erneut produziert wird. Weitere M¨oglichkeiten, das zweiteilige Format auszudehnen sind korrigierende Nachtr¨age und Elaborierungen des aktuellen Sprechers. Die erste ¨ und letzte Außerung bleiben dabei als Klammerstruktur der Sequenz erhalten. ¨ Hinsichtlich der intonatorischen Gestaltung sind die dazwischen liegenden Außerungen noch genauer zu spezifizieren. In den bisher gegebenen Beispielen zeichnen sich die Erweiterungen mit zus¨atzlichen, chronologisch reihenden Bestandteilen u¨ berwiegend durch steigende oder gleichbleibende finale Intonationsverl¨aufe aus, aber auch durch einige fallende Verl¨aufe. Der vorgestellte Einschub weist final (flach) fallende Intonation auf. Weitere Beispiele f¨ur diese Erweiterungen best¨atigen dies im Folgenden.
4.4.1.5.1.1.1 Erweiterungen durch chronologisch reihende Bestandteile Die ersten beiden Beispiele veranschaulichen erneut die M¨oglichkeit des Sprechers, im An¨ schluss an die konturtragende Außerung weitere, chronologisch aufeinander folgende Schritte eines Ereignisses zu erw¨ahnen. Im ersten Beispiel wird eine Radroute geschildert, auf der bestimmte F¨ahren u¨ ber die Fl¨usse Sieg und Rhein benutzt werden m¨ussen. Das Beispiel verl¨auft strukturell analog zu Beispiel (145), wobei deutlich weniger Zwischenetappen geschildert werden. Der Ausgangspunkt ist mit der steigend-fallenden Kontur belegt, es folgt
185 ¨ ¨ eine flach steigende Außerung, die abschließende Außerung, die den R¨uckweg schildert, ist mit fallender Intonation belegt. (147) ⇒
01 02 03
k07-sieschf¨ahre; V3 a
m h fm Erst mit der kleenen SIESCHf¨ ahre un dann mit der rhEInf¨ ahre auf die ander SEIte, und dann hier am rhEIn entlang wieder zuR¨ UCK.
¨ Die Sequenz im zweiten Beispiel dehnt sich ebenfalls u¨ ber drei Außerungen aus. Das Beispiel entstammt den Fußbroichs-Daten und steht im Zusammenhang einer Auseinandersetzung u¨ ber das Rauchen und das Abnehmen. Fv, der nicht raucht und unter seinen Gewichtsproblemen leidet, schildert den u¨ brigen Anwesenden, dass er im Gegensatz zu seiner Frau nicht rauchen, sondern essen w¨urde. (148)
k02-bierknacker; V3
1060 fv 1061 1062 fm ⇒
1063 fv 1064 1065
ISCH han de HUNger; isch=¨ on jetz am [k¨ UHlschrank[gAnz EINfach. l h m nem mir zwei BIERknacker (.) un ESS die- (--) un SIE m¨ a:t si=ne zigaRETT oder [ZWEI a:n.
Der syntaktisch integrierte, aber prosodisch abgegrenzte Nachtrag “un ESS die-” erweitert die Klammerstruktur von “nem mir zwei BIERknacker” und “un SIE m¨a:t si=ne zigaRETT oder ZWEI a:n”. Er tr¨agt einen final gleichbleibenden Intonationsverlauf. Inhaltlich wird hier deutlich ein Kontrast produziert, bei dem fv sein eigenes Verhalten dem seiner Frau gegen¨uber stellt. Dieser Kontrast ist in Zeile 1065 abgeschlossen.
4.4.1.5.1.1.2 Einsch¨ube Das n¨achste Beispiel zeigt demgegen¨uber erneut, dass nach einem Einschub die gleiche Kontur nochmals produziert wird, um die unterbrochene Sequenz erneut einzuleiten und zum Abschluss zu bringen. Es handelt sich wiederum um einen Ausschnitt aus den Fußbroichs, in dem die M¨oglichkeit, als Ausl¨ander auf Mallorca zu leben, thematisiert wird. (149) 288 289 290 291 292
k04-nachweisen; V2 / V2 fv
ja du mUßt doch von wat LEben. (1.2) de spanier wirft disch RAU:S, wenn de nit ARbeitest; (.) du mußt dat SPARbuch zeigen; wat de HAST,
186 293 ⇒
294 295
⇒
296 297 298 299
DANN darfste rEIn. (---) l h l du mußt NACHweisen '¨ u die k¨ onne nit jede PENner hier UPPnemme der liegt hier eR¨ OM. (-) l h fm du mußt NACHweisen HIER isch hab JELD? isch lebe von MEInem jeld- (-) od=isch ARbeite hier.
Der Sprecher fv beginnt in Zeile 294 eine Veranschaulichung seines Standpunkts, unterbricht sich dann mit einem neuen Argument, das als Appell an den common sense des Gegen¨ubers zu werten ist, und wiederholt danach wortgetreu und mit gleicher intonatorischer Gestaltung ¨ die Außerung vor dem Einschub. Es folgt dann eine fiktive Redewiedergabe, die die Bedingungen veranschaulicht, unter denen ein bleibender Aufenthalt auf Mallorca m¨oglich ist. Intonatorisch zeigt sich wieder die typische Gestaltung, bei der nach der ersten, steigendfallenden Kontur gew¨ohnliche progrediente Konturen verwendet werden (Z 297, 298), bevor es mit dem inhaltlichen Abschluss der Sequenz zu einer fallenden Kontur kommt (Z 299).
4.4.1.5.1.1.3 Reparaturen und Elaborierungen Zu belegen bleiben nun noch die erw¨ahnten Reparaturen und Elaborierungen, die dazu f¨uhren k¨onnen, die zweiteilige Struktur auszudehnen. Bei beiden Erweiterungstypen werden die er¨ weiternden Außerungen mit steigenden Verl¨aufen produziert. Zuerst folgt ein Beispiel f¨ur eine Korrektur. Es handelt sich um einen Interviewausschnitt, bei dem die Sprecherin von ihrer R¨uckkehr aus der Evakuierung berichtet. (150) 321 322 323 324 325 ⇒
326 327 328
k07-rausfuhren; V2 k07
da si=mer zu FUSS bis nach' (---) sin wer ZW¨ OLF tage zu FUSS gelaufen wir kInder; (-) mein brUder war grade VIER, .hhh (1.0) und NEUN tage auf einem OFfenem g¨ Uterwagen wieder nach k¨ Oln rEIn. da war der krIEch dann zu ENde; ne? l h l (--) .h und Immer in dem Ort wo wIr RAUSfuhrenoder rAUsGINGen, kam von hInten der RUSse rEIn.
Die Sprecherin schildert in den Zeilen 321-325 knapp ihren R¨uckweg aus der Evakuierung (in Th¨uringen) und f¨ugt dann hinzu, dass ihnen dabei die russischen Soldaten unmittelbar gefolgt seien. Diese Episode, die die Dramatik der R¨uckkehr unterstreicht, wird mit der zweiteiligen ¨ Klammer gebildet. Sie wird durch eine Außerung erweitert, die das zuvor gegebene RAUSfuhren (Z 326) zu rAUsGINGen modifiziert. Die markierte Akzentuierung der Silbe GING
187 ¨ verdeutlicht die Kontrastierung zu dem vorherigen fuhren und pr¨asentiert die Außerung als Reparatur. Im Gegensatz zu den vorherigen Beispielen wird hier also weder ein Einschub eingef¨ugt noch werden weitere, aufeinander folgende Schritte geschildert. Stattdessen wird ein gegebenes Element modifiziert bzw. ersetzt. Der Intonationsverlauf ist flach steigend. Das Gleiche gilt f¨ur die folgenden beiden Beispiele zur Veranschaulichung von Erweiterungen durch Elaborierung des aktuellen Sprechers. ¨ Der erste Ausschnitt zeigt einen Relativsatz, der auf die konturtragende Außerung folgt und den gerade eingef¨uhrten “Chef” des Sprechers charakterisiert. Das Beispiel ist den Interviewdaten entnommen. Die Beteiligten sprechen u¨ ber ihre Gewohnheiten des Dialektgebrauchs in Abh¨angigkeit von dem Gespr¨achspartner und den situativen Gegebenheiten. (151) ⇒
01 02 03
k09-chef spresche; V2 k09b
l h m aber wenn isch mit meinem CHEF spresche der die k¨ olsche art auch gerne MA:CH, ah: da merk ich dann jar ni-mehr dat isch rischtisch K¨ ¨ OLSCH am reden bin.
¨ Die konturtragende Außerung stellt die Protasis einer wenn-dann-Konstruktion dar. Bevor jedoch die Apodosis eingef¨ugt wird, erfolgt zun¨achst eine Erweiterung des wenn-Satzes um einen Relativsatz, der zus¨atzliche, relevante Information hinsichtlich des Chefs liefert. Der Relativsatz ist durch flach steigende Intonation gekennzeichnet, die folgende Apodosis durch final fallende Intonation. Die Klammerstruktur ist deutlich zu erkennen und wird durch die syntaktische Struktur unterstrichen. Ein weiteres Beispiel f¨ur eine Erweiterung durch Elaboration ist der folgende Ausschnitt. W¨ahrend das vorangegangene Beispiel durch einen Relativsatz erweitert wurde, entsteht die Erweiterung hier durch eine Rechtsversetzung, an die noch ein Kommentar angeh¨angt wird. Das Beispiel ist einem Interview entnommen; die Sprecherin berichtet von ihren Erinnerungen an den Aufbruch aus der Evakuierung zur¨uck nach K¨oln. (152)
⇒
k07-vater vor der t¨ur; V1
305 306 307 308
k07
309
k07
310 311 312
i
(.) und ¨ ah dann (.) sind wir da HINgekommen, (---) (1.5) und da WAR der krIEch ja noch nIch; da wUr' da fIElen keine BOMben in DEM sInn; ne? ja. l NUR .hh (--) stand EInes tAges dann unser VATer vor der h m t¨ ur (.) mim HUND, (.) verjEss isch NIE, (-) und sAgte wir m¨ ussen hier WEG;
¨ Die zweiteilige Klammer erstreckt sich von der konturtragenden Außerung “...VATer vor der ¨ t¨ur” (Z 309) bis zur Außerung “und sAgte wir m¨ussen hier WEG;”, die mit fallender Intona¨ tion produziert wird. Die letzte Außerung schließt durch die Konjunktion und unmittelbar an
188 ¨ ¨ die erste Außerung an. Die dazwischen liegenden Außerungen liefern Detailwissen hinsichtlich des beschriebenen Ereignisses und kommentieren den Stellenwert, den das Ereignis f¨ur ¨ die Sprecherin hat. Prosodisch sind die Außerungen deutlich voneinander und von den voran¨ gegangenen bzw. folgenden Außerungen abgegrenzt. Sie tragen beide u¨ bliche progrediente, n¨amlich flach steigende finale Tonh¨ohenverl¨aufe. Eine intonatorische Besonderheit weist das letzte Beispiel zur Veranschaulichung der Elaborierungen auf: die steigend-fallende Kontur erscheint zweimal hintereinander in unmittelbarer Abfolge. Das Beispiel stammt ebenfalls aus den Interviewdaten. Der Sprecher erkl¨art, wie es zu der k¨olnischen Bezeichnung “Bankrottm¨ull” (Bankrottm¨uhle) f¨ur Kaffeem¨uhle gekommen ist. (153)
⇒
k09-bohnenkaffee; V1 / V2
705
k09a
706 707 708 709 710 711
k09b
712 713 714 715
k09a
¨Lsche ausdruck f¨ banKROTTm¨ ull is der au' KO ur ne KAFfeem¨ uhle [gewesen. [ja (--) ja dat=dat hat doch heut ¨ uberhaupt keine beDEUtung mehr. KAFfee (.) wird immer BILliger. krist beim Aldi et pfund f¨ ur isch WE:ß nit wat et kost. (.) aber datl h m hm: fr¨ uher (.) eschter BOHnenkaffee l h m den man MAHlen musste .h da muss=te f¨ ur !SPA!ren. da gingen die leute bank!ROTT! dran.
Wie schon in Beispiel (151) handelt es sich bei der Folge¨außerung zur ersten konturtragen¨ den Außerung um einen Relativsatz, in dem Information zur Charakterisierung des zuvor eingef¨uhrten Elements (BOHnenkaffee) gegeben wird. Im Gegensatz zum vorangegangenen Beispiel ist diese Information jedoch aus dem Element selbst erschließbar: Bohnenkaffee muss immer gemahlen werden, bevor er weiter verarbeitet werden kann. Die doppelte Ver¨ wendung der Kontur, im Fall der zweiten Außerung auf redundanter Information, deutet auf eine besondere informatorische Heraushebung hin (siehe dazu auch Kap. 4.4.1.6). Der Eindruck der Heraushebung wird außerdem durch die syntaktische Struktur des Abschnitts ¨ unterstrichen. Die Außerungen in den Zeilen 712 und 713 sind topikalisiert und stehen im ¨ Vor-Vorfeld der abschließenden Außerungen in den Zeilen 714 und 715, die syntaktisch und ¨ prosodisch parallel strukturiert sind. Diese beiden Außerungen weisen zudem sehr ausgepr¨agte Akzentuierungen auf, so dass generell der Eindruck der Heraushebung des Abschnitts entsteht. Bezogen auf die zweiteilige Klammerstruktur liegt hier also wieder eine Erweiterung durch Elaboration vor, wobei die Besonderheit des doppelten Konturvorkommens zu beachten ist.
189 Die bisherigen Beispiele haben Erweiterungen des ersten Teils der zweiteiligen Struktur gezeigt. Sie kamen durch Einsch¨ube, weitere Bestandteile einer chronologisch reihenden Erz¨ahlung, Korrekturen und Elaborierungen zu Stande.
4.4.1.5.1.2 Position 2: Erweiterungen im Bereich des zweiten Teils Im Folgenden soll gezeigt werden, dass auch Erweiterungen des zweiten Teils der Klammer m¨oglich sind. Das erste Beispiel zeigt wieder eine wenn-dann-Konstruktion. Diesmal erfolgt die Erweiterung jedoch nicht vor der Apodosis, sondern diese wird unterbrochen, um einen adressatenbezogenen Kommentar einzubringen. Bei dem Beispiel handelt es sich um einen Interviewausschnitt, in dem die Beteiligten (Vater und Tochter) u¨ ber Heimatgef¨uhle sprechen. (154) 165 166 167 168 169 170 171 ⇒
k06-hause kam; V2 k06
i k06
172 173 174 175
SCH¨ ON wird dat ganze DAdursch dat man sisch dann doch !WOHL! f¨ uhlt hier. (--) JA? (.) [hm, [un: mit den LEUten zurescht kommt; mit der LEbensart zurescht kommt, (---) oh: (.) dat ma hIEr ¨ ¨ oh::m (1.0) ((schmatzt)) oh !KL¨ ¨ AN!ge h¨ ort an die ma jeW¨ OHNT is; .h l h fm isch weiß' (.) we=ma so aus=m Urlaub nach HAUse kam da hab ich also: OFT gesAgt, dat musst=e disch vielleischt AU noch dran erINnern k¨ onn.hh ma kUcken wen ma als ERstes sehn wen ma KENNT.=
¨ In der Folge¨außerung zur konturtragenden Außerung wird erwartungsgem¨aß mit dem resumptiven Pronomen da an die Protasis der wenn-dann-Konstruktion angeschlossen (Z 173). ¨ ¨ Die Außerung k¨undigt eine Redewiedergabe an, die jedoch nicht in dieser Außerung realisiert wird. Stattdessen f¨ugt der Sprecher nach der Ank¨undigung einen Kommentar an seine Tochter ein (Z 174) und a¨ ußert erst danach die direkte Rede (Z 175). Der zweite Teil der Klammerstruktur wird hier also zu Gunsten eines adressatenbezogenen Kommentars aufgebrochen. Das n¨achste Beispiel zeigt demgegen¨uber eine eingeschobene Selbstreparatur. Der Sprecher veranschaulicht die Verst¨adterung eines K¨olner Stadtteils durch einen Vergleich mit seiner Jugendzeit, als dieser jetzige Stadtteil noch durch Kornfelder gepr¨agt war. (155) ⇒
01 02 03 04
k10-hinfuhren; V2 k10a
l h fm wenn wir da HINfuhren da fuhren se (.) wIrklich (.) stUndenlangNICH stUndenlang; aber so ne hAlbe stunde durch KORNfelder dursch.
190 Wie im obigen Beispiel schließt auch hier erwartungsgem¨aß die durch da eingeleitete Apodosis an die vorangegangene Protasis der wenn-dann-Konstruktion an (Z 1-2). Der Sprecher bricht diese nach dem Element stUndenlang ab und modifiziert seine Aussage (Z 3). Nach einer weiteren Modifikation, die prosodisch in die Folge¨außerung integriert ist, kn¨upft er an die zuvor begonnene Konstruktion an und schließt die Satzklammer (Z 4). ¨ Das letzte Beispiel f¨ur die Erweiterungsm¨oglichkeiten im Bereich der zweiten Außerung der Klammerstruktur zeigt diesmal keine wenn-dann-Konstruktion. Auch handelt es sich bei dem eingeschobenen Element weder um eine Korrektur noch um einen adressatenbezogenen Kommentar. Vielmehr wird ein eingef¨uhrtes Element durch einen Relativsatz n¨aher umschrieben. Es handelt sich folglich wieder um eine Elaboration. Das Beispiel entstammt den Big-Brother-Daten und steht im Zusammenhang einer scherzhaften Diskussion um die Herkunft des Fleischs in chinesischen Restaurants. (156)
bb72-tierheim; V2
1256 Jrg 1257 1258 1259 Ver ⇒
1260 Jrg 1261 1262 Ver 1263 Jrg 1264
ja was MEINST=e wie die das SONST mit dem preis machen. (1.5) die beZAHlen nix f¨ ur des flEIsch. ((schnauft)) m h l (-)die gehn in=n TIERheim (-)und dann (.) so ALte (-) ((kichert)) ja die se EH nimmer quItt kriegen; die wer=n dann MITgenommen.
¨ Die konturtragende Außerung “die gehn in=n TIERheim” ist semanto-pragmatisch weiterweisend und stellt den ersten Teil einer Veranschaulichung dar. Der zweite Teil der Klammer¨ struktur schließt sich unmittelbar an die erste Außerung an, ist aber mehrfach aufgebrochen. Zum einen folgt nach dem Referenten so ALte ein Abbruch, und der Referent wird durch den folgenden, prosodisch eigenst¨andigen Relativsatz n¨aher charakterisiert. Zum anderen liegt ¨ wieder eine Topikalisierung vor. Die schließende Außerung “die wer=n dann MITgenom¨ men” wird mit Verbzweitstellung realisiert, so dass die beiden vorigen Außerungen in die Vor-Vorfeldstellung r¨ucken. Bei diesen Beispielen, die eine Erweiterung des zweiten Teils der Struktur zeigen, wird die intendierte Klammerstruktur besonders deutlich, da der zweite Teil immer unmittelbar ¨ an die konturtragende Außerung angeschlossen und letztendlich auch zu Ende gef¨uhrt wird. Generell ist die Erweiterbarkeit der zweiteiligen Struktur zwar nicht auf die steigend-fallende Kontur zur¨uckzuf¨uhren, sondern in der Struktur gesprochener Sprache angelegt. Die Kookkurrenz der Kontur mit dem ersten Teil der Klammer ist jedoch ein typisches Kennzeichen des Konturvorkommens, so dass man davon sprechen kann, dass die Kontur das Erscheinen des zweiten Teils bedingt erwartbar macht. Die folgende Graphik fasst die m¨oglichen Positionen f¨ur Erweiterungen der Klammerstruktur zusammen: Die einfachste M¨oglichkeit zur Umsetzung der Klammerstruktur besteht in einer Realisierung der a¨ ußeren Bestandteile 1 und 2 (kursiv und fett gedruckt). Kommt es zu einem Einschub nach dem ersten Klammerteil, wird dieser wiederholt. Einsch¨ube weisen abschließend fallende Intonation auf. Auf den ersten Teil der Klammer, ganz gleich ob mit vorhe-
191
Klammerteil
1
Finaler
Kategorie
Tonh¨ohenverlauf
1. Teil der Klammer: Er¨offnung
Einschub
1
1. Teil der Klammer, Wiederaufnahme Bestandteile einer chronologisch reihenden Erz¨ahlung, Reparaturen, Elaborierungen
2
2. Teil der Klammer, Abbruch Kommentare, Reparaturen, Elaborierungen
2
2. Teil der Klammer: Abschluss
Abbildung 4.49: Die Klammerstruktur und M¨oglichkeiten ihrer Erweiterung durch den aktuellen Sprecher
rigem Einschub oder nicht, k¨onnen Bestandteile einer chronologisch reihenden Erz¨ahlung, Korrekturen oder Elaborierungen folgen. Nur bei den Bestandteilen einer chronologisch reihenden Erz¨ahlung kann es (selten) zu fallender Intonation kommen, u¨ blich sind ansonsten die gew¨ohnlichen progredienten, d.h. gleichbleibende oder flach steigende, Intonationsverl¨aufe. Der zweite Klammerteil kann abgebrochen und durch Kommentare, Korrekturen oder Elaborierungen erweitert werden. Hier ließen sich u¨ berwiegend gleichbleibende und flach steigende, selten auch fallende Intonationsverl¨aufe feststellen. Zum Abschluss folgt die obligatori¨ sche, inhaltlich schließende Außerung als zweiter Klammerteil mit fallender Intonation.
192 4.4.1.5.2
Variante 2: Erweiterungen durch andere Sprecher
Die Vollendung der Klammerstruktur wird auch dann geleistet, wenn ein anderer Sprecher nach dem Konturvorkommen einen Redebeitrag einbringt. Im Gegensatz zu den soeben vorgestellten Erweiterungen durch den aktuellen Sprecher kommen diese nur im Anschluss an ¨ die konturtragende Außerung vor. Im untersuchten Korpus handelt es sich bei diesen Redebeitr¨agen zum einen um H¨orersignale43 und zum anderen um Zwischenfragen, die Kl¨arungssequenzen nach sich ziehen. Die beiden M¨oglichkeiten werden im Folgenden anhand von Beispielen veranschaulicht.
4.4.1.5.2.1 H¨orersignale Es folgen zun¨achst drei Beispiele f¨ur die Erweiterung durch H¨orersignale. Das erste Beispiel ist einem Interview entnommen. Die Sprecherin berichtet von den Problemen, mit denen man als Radfahrer an der Rheinpromenade konfrontiert ist: (157) 910
k07-spazierg¨anger; V2 k07
911 ⇒
912 913 914
i
¨nes WETter is is das = = m h m spaZIERg¨ anger [.hhh [hm und dAnn die ganzen
210 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796
fv
fm fv
fm
da [m¨ ast du nur de HAUShalt. [ isch sitz nit zu HAUS, isch hab ¨ an AUto dann. isch fahr disch zur ARbeit, und dann bin isch WEG(--) na LEverku[se. [JA'. [
Zu Beginn des Ausschnitts vertritt fm ihre Ansicht der Zukunftsperspektive von fv (Z 743746). Die beiden Folge¨außerungen verdeutlichen, dass hieran die Manifestierung der Mei¨ nungsverschiedenheit ankn¨upft, die auch die n¨achsten (zum Teil herausgek¨urzten) Außerungen beherrscht. Die hohe Lautst¨arke und h¨aufige starke Akzentuierung beider Beteiligter verdeutlicht die Emphase. In diesem Kontext leitet die steigend-fallende Kontur die zweiteilige Veranschaulichungssequenz ein, die fv ein negatives Zukunftsbild vor Augen f¨uhrt, das nach Ansicht von fm zwangsl¨aufig aus seinem Verhalten resultieren wird. Die Sequenz wird wieder inhaltlich und prosodisch als Einheit realisiert, indem sie einen Kontrast aufstellt und durch hohe Lautst¨arke von der eigenen Folge¨außerung fms abgehoben ist. Diese wird auch sofort durch den lauten Einsatz fvs u¨ berlappt. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Beispielen kommt es hier nicht zur Ratifizierung der von fm vertretenen Position. Der Ausschnitt endet mit dem Gegenentwurf der Zukunft durch fv und der resignativen Reaktion von fm. ¨ Das folgende Beispiel zeigt, dass die konturtragende Außerung von den Interaktionsteilnehmern auch in scherzhaften Interaktionen eingesetzt wird. Das Beispiel stammt aus den Big-Brother-Daten. Die kontextuelle Einbettung der Kontur ist prototypisch f¨ur das Konturvorkommen mit offen divergenten Positionen: An eine Behauptung J¨urgens, die nicht positiv ¨ aufgenommen wird, schließt er eine Veranschaulichungssequenz an, deren erste Außerung konturtragend ist. Dieser Behauptung geht eine Kontroverse u¨ ber die Herkunft des Fleischs in chinesischen Restaurants voraus. Verena begegnet der Ansicht J¨urgens, dass es sich dabei um Hunde-, Katzen- (und sp¨ater auch Hamster-)Fleisch handele, mit Unglauben. Sabrina stellt sich gegen den Standpunkt J¨urgens. (Da es sich um ein gemeinsames Essen handelt, sind John und Andrea ebenfalls anwesend, sie beteiligen sich aber nicht an der Auseinandersetzung). (174)
bb72-tierheim; V2
1222 Ver 1223 1224 Jrg 1225 1226 1227 Jhn
=oKEEis zwar nur katze und [HUND drin? aber[kann mir von EUsch] eener (-) ne
211
1228 Ver 1229 Sbr 1230 Adr 1231 Jrg 1232 1233 1234 1235 Ver 1236 Jrg 1237 (...) 1247 Ver 1248 1249 Sbr 1250 1251 Jrg 1252 1253 Sbr 1254 Jrg 1255 Sbr 1256 Jrg 1257 1258 1259 Ver ⇒
1260 1261 1262 1263 1264 1265 1266 1267
Jrg Ver Jrg Ver Sbr Jrg
zi(g)aRETte [geben? [((lacht)) J¨ URgen; ja KLAR (--) streunende HUNde; (.) und KATzen. (-) aber das sind doch keine KATzen und HUNde. (-) [ [KLAR. [GOLDhamster; ALLes. [RED nisch mit IH:M. ((lacht leise)) (jetz AUS.) ja was MEINST=e wie die das SONST mit dem preis machen. (1.5) die beZAHlen nix f¨ ur des flEIsch. ((schnauft)) m h l (-)die gehn in=n TIERheim (-)und dann (.) so ALte (-) ((kichert)) ja die se EH ni=mehr quItt kriegen; die wer=n dann MITgenommen. ((kichert)) J¨ UR GEN;> ((lacht))
Nachdem die abweichenden Ansichten der Beteiligten offengelegt sind, wendet sich J¨urgen mit einem expliziten Appell und einem common-sense-Argument (“ja was MEINST=e wie die das SONST mit dem preis machen.”) an seine Interaktionspartner. Dieser Appell verhallt ohne Resonanz, woraufhin J¨urgen die Behauptung “die beZAHlen nix f¨ur des flEIsch.” produziert. Auch diese erf¨ahrt keine positive Resonanz. Zur St¨utzung seiner Position f¨uhrt J¨urgen nun die herausgehobene Veranschaulichung an, die “Pseudo-Fakten” hinsichtlich der Beschaffungsweise des Fleisches darstellt. Die Veranschaulichungssequenz zeigt nicht nur eine typische Einbettung in den gr¨oßeren Kontext, sondern ist auch intern typisch zweiteilig strukturiert (siehe dazu Abschnitt 4.4.1.5, Beispiel 156). ¨ Die Scherzhaftigkeit der Auseinandersetzung wird durch die Ubertreibung des Hauptsprechers (KLAR. GOLDhamster; ALLes., Z 1252), durch die Drastik seiner Position und vor allem die Drastik der Veranschaulichung der Fleischbeschaffung (Z 1260-1264) deutlich: Der Ausdruck quItt kriegen, der in etwa “etwas loswerden” bedeutet, wird im Allgemeinen nicht
212 im Zusammenhang mit Lebewesen, sondern mit alten, wertlosen Gegenst¨anden gebraucht. Die Orientierung auf die Scherzhaftigkeit a¨ ußert sich dar¨uber hinaus in wiederkehrenden Lachpartikeln und im abschließenden Lachen, das die witzige und unterhaltende Funktion der Passage best¨atigt. Merkmale einer m¨oglichen Kontroverse oder Meinungsverschiedenheit tra¨ gen zun¨achst die Außerungen Verenas, die Unglauben erkennen lassen (Z 1235, 1247). Eine Kontroverse besteht zwischen J¨urgen und Sabrina, die sich J¨urgen gegen¨uber tadelnd verh¨alt ¨ (Z 1229, 1266). Es kommt außerdem zu Uberlappungen (Z 1250-1253), die ebenfalls als Merkmale einer offenen Kontroverse gedeutet werden k¨onnen. Auch hier zeigen sich jedoch ¨ ¨ Ubertreibungen, die die scherzhafte Uberformung der Interaktion andeuten, n¨amlich das an Verena gerichtete “RED nisch mit IH:M” (Z 1253) und das eigentlich f¨ur den Umgang mit Hunden gebrauchte “jetz AUS.” (Z 1255). Trotz der Scherzhaftigkeit der Interaktion zeigt die Kontur vordergr¨undig ihre typischen Funktionen in Kontexten mit offen divergenten Positionen, n¨amlich, das Gegen¨uber von der eigenen Position zu u¨ berzeugen, indem (vermeintliche) Fakten in einer Veranschaulichungssequenz dargeboten werden. W¨ahrend die Kontur in den vorangegangenen Beispielen eine fiktive Veranschaulichung zur St¨utzung der Position eingeleitet hat, werden im folgenden Beleg zu diesem Zweck Fakten eingebracht, die dem Gegen¨uber nicht bekannt sind. Auch ist das Beispiel nicht durch allgemeine Emphase gepr¨agt. Die divergierenden Positionen treten vor Kontureinsatz nicht offen zu Tage. Vielmehr schildert der Sprecher eine Einsch¨atzung, die vor dem Hintergrund der kulturell g¨ultigen Normanspr¨uche außergew¨ohnlich und m¨oglicherweise auch kritisierbar ist, n¨amlich, dass er die Kinder von Bekannten mehr groß gezogen habe als deren eigener Vater. Sein Verhalten zeigt, dass er sich an dieser potenziellen Streitbarkeit orientiert, da er im Anschluss an seine Behauptung Fakten liefert, die seine Position st¨utzen (vgl. Deppermann 1997, Deppermann & Lucius-Hoehne 2003). Diese st¨utzenden Fakten tragen die steigendfallende Kontur: (175)
k09-arbeiten gewesen; V1 / V1
251 252 253
i k09b i
254 255 256
k09b
258
i
⇒
259
k09b
⇒
260 261 262 263
i
wArn dirk un daniel da schon auf der WELT? ja=JA:, als ihr da geWOHNT habt? (-) sch=w¨ urd sAgen isch hab die g- die: ZWEI:dIrk und dAniel MEHR groß gezogen wie der HArald. (--) .h weil isch war grade zu dem ZEITpunkt auch wo die kk- klein warn hab isch=ja bei denen geWOHNT. (-) jA. l h m un der hArald is ja abends ARbeiten gewesen l h m der musst ja nAchmittags immer zum STADTanzeiger Is der=hAt der ne norMAalso nich nur NACHTSCHICHT gehabt? sondern IMmer, (-)
213 264
k09b
265 266 267 268 269
i k09b
der hat fas ¨ ah: (seine) nEUnzisch prozEnt IMmer (.) von nAchmittags DREI? bis Abends ZW¨ OLF oder so. (.) oder von ZWEI [bis zw¨ Olf. [ (--) .hhh von DAher hab ich also mit den kIndern SCHON (1.5) sa=ma MEHR kontAkt gehabt wie der HArald.
Die Behauptung, dass k09b die Kinder seiner Bekannten mehr groß gezogen habe als deren eigener Vater wird durch sch=w¨urd sAgen eingeleitet und damit als subjektive Einsch¨atzung produziert (Z 254-255). Dies stellt nun eine erkl¨arungsbed¨urftige Aussage dar, da sie den u¨ blichen Normvorstellungen widerspricht. Die Orientierung an diesem Erkl¨arungsbedarf zeigt k09b in der angeschlossenen Begr¨undung, dass er dort gewohnt habe, als die Kinder klein waren. I reagiert nach einer kurzen Pause minimal best¨atigend. (Da I und k09b miteinander bekannt sind, ist die gegebene Begr¨undung f¨ur I keine neue Information). Die ¨ folgenden konturtragenden Außerungen liefern beide Fakten, die dazu dienen k¨onnen, den ungew¨ohnlichen Umstand zu erkl¨aren. Aussagekr¨aftig ist hier der Gebrauch der Modalpar¨ tikel ja in allen begr¨undenden Außerungen (Z 256, 259, 260). Sie kommt h¨aufig im Zusammenhang mit Argumentationen vor und ist dort u¨ berwiegend mit der Pr¨asentation von Fakten verkn¨upft und erf¨ullt so die Argumentfunktion der Begr¨undung (vgl. Rost-Roth 1998: 303ff.). ¨ Die Kookkurrenz der Partikel mit den konturtragenden Außerungen unterstreicht deren Fak¨ tizit¨at. Wieder kommen die Konturen nicht bei den als subjektiv markierten Außerungen vor, sondern sind mit objektiven Informationen verkn¨upft, die zur St¨utzung der eigenen Position geeignet sind. Informationsbezogene Heraushebung zum Zweck, dem Gegen¨uber die eigene ¨ Position nahe zu bringen, stellt also auch hier die Funktion der Außerungen mit steigend¨ fallender Kontur dar. Die Zwischensequenz, die sich an die konturtragenden Außerungen ¨ anschließt, verdeutlicht, dass auch I den Informationswert der Außerungen als wesentlich und relevant f¨ur die Begr¨undung der Situation auffasst. Die Sequenz kl¨art die Arbeitszeiten des Vaters der Kinder, vor deren Hintergrund der Umstand der ungew¨ohnlichen Erziehungsverh¨altnisse plausibel wird, und vertieft damit den in den Begr¨undungen angef¨uhrten Aspekt. I schließt die Sequenz durch Ratifizierung ab. K09b kn¨upft daraufhin mit von DAher an seine vorherige Begr¨undung an und wiederholt leicht abgeschw¨acht die nun unproblematische Behauptung. Damit ist auch die zweiteilige Struktur der konturtragenden Sequenzen gewahrt, wie bereits in Kapitel 4.4.1.5 beschrieben wurde. Die Ursache f¨ur die informationsbezogene Heraushebung lag in den vorangegangenen Beispielen in offen oder potenziell divergierenden Positionen. Die Interaktionsteilnehmer produzieren Veranschaulichungen und Argumente und manifestieren dadurch, dass sie im gegebenen Kontext die Notwendigkeit sehen, ihre Position gegen¨uber dem Interaktionspartner zu st¨utzen. Die steigend-fallende Kontur leitet die Veranschaulichungen und Argumente ein, wobei die entsprechenden Sequenzen deutlich von den umgebenden subjektiven und ¨ teilweise emphatischen Außerungen abgegrenzt sind und selbst nicht mit Merkmalen emphatischen Sprechens kookkurrieren. Die Heraushebungsfunktion auf informationsbezogener Ebene wird dadurch unterstrichen. Die steigend-fallende Kontur kontextualisiert in diesem Zusammenhang die eingeleitete Sequenz als wichtige, verl¨assliche Information zur Unterst¨utzung des eigenen Standpunkts.
214 Dass die informationsbezogene Heraushebung zum Bedeutungspotenzial der steigendfallenden Kontur z¨ahlt, veranschaulichen auch die folgenden Beispiele. Sie zeigen die Kontur in einem weiteren typischen Vorkommenskontext, der allerdings nicht, wie oben, durch divergierende Positionen gekennzeichnet ist. Es handelt sich statt dessen um Wissensasymmetrien, bei denen ein Interaktionsteilnehmer mit Wissensvorsprung dem anderen einen Sachverhalt schildert. Es zeigt sich, dass die Funktionen der informationsbezogenen Heraushebung und der Weiterweisung konstant bleiben, dass aber die Ursache f¨ur den Einsatz dieser Funktionen kontextbedingt sind: Nicht die St¨utzung einer pers¨onlichen Position verursachen hier den Gebrauch der konturtragenden Sequenz, sondern die Notwendigkeit, dem Gegen¨uber einen Sachverhalt nahe zu bringen. Die Kontextualisierung der Sequenz als wichtige und verl¨assliche Information bleibt demnach erhalten, ist aber kontextuell bedingt anders begr¨undet.
4.4.1.6.2.3 Warum informationsbezogene Heraushebung? Kontext II: Wissensasymmetrien Die n¨achsten Beispiele veranschaulichen Wissensasymmetrien, die durch Nachfragen eines Interaktionsteilnehmers offen gelegt werden. Die steigend-fallende Kontur ist in diesen F¨allen ¨ mit der ersten Außerung von zweiteiligen Erkl¨arungssequenzen verkn¨upft. Die ersten beiden Beispiele stammen aus den Big-Brother-Daten, das letzte Beispiel aus den Fußbroichs-Daten. (176)
⇒
804
Adr
805 806 807
Sbr
808 809 810 811 812
(177)
64 65 66 ⇒
bb72-warm machen; V3 ((Andrea m¨ochte kochen und dabei den Wok benutzen. Sie erkundigt sich nun bei Sabrina, die die Gebrauchsanweisung des Woks gelesen hat, nach dessen Funktionsweise.))
67
Adr Sbr Adr
nee NUR ob man den nochmal vorher richtig hEIß AUSwaschen mußob der einmal DURCHkochen muß ¨ ahm-= =ach SO:, das WEISST du nisch;= l h m =man muß den einmal WARM machen; ne, und dann mit ¨ Ol AUSwischen.> ne?
bb96-98-108; V2 / V2 ((J¨urgen erkl¨art Andrea die Wochenaufgabe, die die Hausbewohner gestellt bekommen haben.)) Adr Jrg
(1.3)
215
⇒
68 69 70 71
Adr Jrg Adr
72 73 74 75 76 77 78
Jrg Adr Jrg Adr
[ [dann mach=st ne umRANdung?> .h ach SO; dann [muss das AUSgeschnittenm h m [ aber du machst nisch disch SELber, sondern DISCH [macht jEmand. [jemandhm,
Die Wissensasymmetrie wird in beiden Beispielen durch die nichtwissende Interaktionsteilnehmerin manifestiert. Im ersten Beispiel schließt sich an die Ratifizierung der Wissensl¨ucke durch Sabrina die zweiteilige Erkl¨arungssequenz an, deren erster Teil die steigend-fallende Kontur tr¨agt. Im zweiten Beispiel f¨uhrt J¨urgen nach der Nachfrage Andreas schrittweise die zu vollbringenden Handlungsschritte ein. Die intonatorische Phrasierung ist sehr kleinr¨aumig, was wiederum heraushebenden Effekt hat und J¨urgens Orientierung auf die Verstehensleistung Andreas anzeigt. Diese bekundet ihr Verstehen durch ausgepr¨agtes R¨uckmeldeverhalten. Da es sich in beiden Beispielen um explizit erfragte Information handelt, kann davon ausgegangen werden, dass der Informationswert f¨ur die Rezipientin entsprechend hoch ist. Auch hier werden die durch die Kontur eingeleiteten Sequenzen als wichtige und verl¨assliche Information kontextualisiert. Die gleiche Kontextualisierungsfunktion l¨asst sich f¨ur das folgende Beispiel veranschlagen. Ff erh¨alt nach einer offenen Frage von fm das Rederecht f¨ur einen ausgedehnten Redebeitrag, in dem er seine berufliche T¨atigkeit erkl¨art. Innerhalb dieser Erkl¨arung entsteht wiederum ein erkl¨arungsbed¨urftiger Unteraspekt. Dieser wird unter Nutzung der steigend¨ fallenden Kontur in einer zweiteiligen Sequenz behoben. Ahnlich wie in Beispiel (175) des vorangegangenen Unterabschnitts, bearbeitet der Sprecher auch hier ein potenzielles Verstehensproblem, das noch nicht offen zu Tage getreten ist. Im Unterschied zu diesem Beispiel bezieht sich die potenzielle Problematik aber auf das Verstehen eines Sachverhalts und nicht auf die Unterst¨utzung einer subjektiven Behauptung. (178) 395 396 445 446 447 ⇒
448 449 450 451 452
k03-produktion gefahren; V1 fm ff
wat MACHSTe=n da. isch bin ¨ ahm (2.0) inSTANThaltungskoordinator. also .hhh wir sind daf¨ ur ZUst¨ andisch, auf NACHT alle reparaturen durschzuf¨ uhren die auf fr¨ Uh und ¨ spAt .hh anfallen.= =weil auf fr¨ Uh und sp¨ At kann man nix repaRIEren, l h m da wird nur .hh produkTION gefahrn und wIr machen die reparaTURen alle NACHTS. (-) viel mit der NEUen teschnikmit RObotern (-) CE en CE(.) und mir fahren noch ne klEIne st¨ uckzahl an produkTION;
216
Das Konturvorkommen (Z 448) f¨uhrt Informationen ein, die notwendig sind, um den zuvor erkl¨arungsbed¨urftig gewordenen Aspekt zu begr¨unden. Ff beginnt seinen Redebeitrag im Anschluss an fms Frage zun¨achst mit seiner Berufsbezeichnung und f¨uhrt dann seinen Zust¨andigkeitsbereich aus: in der Nachtschicht die angefallenen Reparaturarbeiten zu leisten. Die daraufhin durch weil angekn¨upfte Begr¨undung verdeutlicht, dass er diese Ausf¨uhrung ¨ f¨ur erkl¨arungsbed¨urftig h¨alt. Die folgende konturtragende Außerung wiederum erl¨autert die Ursache, warum in der Fr¨uh- und Sp¨atschicht keine Reparaturarbeiten geleistet werden. Sie bildet zugleich eine Einheit mit der Folge¨außerung, indem sie einen Kontrast aufbaut zwischen dem, was da in der Fr¨uh- und Sp¨atschicht gearbeitet wird, n¨amlich produkTION gefahrn und dem, was sie in der Nachtschicht leisten: die anfallenden Reparaturarbeiten. Die wesentliche Information zum Verst¨andnis des Sachverhalts, dass in den anderen Schichten keine Reparaturarbeiten geleistet werden, wird durch die steigend-fallende Kontur herausge¨ hoben. Auf sie folgt die abschließende, wiederholende Außerung der eigenen T¨atigkeit. Die ¨ Tatsache, dass ff im Anschluss an die abschließende Außerung (“und wIr machen die reparaTURen alle NACHTS.”) mit einer Detaillierung fortfahren kann, ohne dass Zwischenfragen erfolgen, verdeutlicht, dass dieser zu Beginn als erkl¨arungsbed¨urftig behandelte Sachverhalt nun als unproblematisch eingestuft wird. Zuletzt soll noch ein weiterer Kontext angef¨uhrt werden, in dem die steigend-fallende Kontur Heraushebungsfunktion auf informationsbezogener Ebene erf¨ullt. Dies ist ihr Vorkommen in Erz¨ahlungen.
4.4.1.6.2.4 Warum informationsbezogene Heraushebung? Kontext III: Erz¨ahlungen Aussagekr¨aftig f¨ur die funktionale Interpretation der Kontur in Erz¨ahlungen ist die Tatsache, ¨ dass sie nicht mit Außerungen verkn¨upft ist, die sich in der Komplikation oder Pointe befin¨ den, sondern mit Außerungen des Orientierungsteils. Komplikation und Pointe zeichnen sich zumeist durch geh¨aufte erz¨ahlerische Inszenierungsverfahren und emphatischen Sprechstil aus (vgl. Quasthoff 1980, Selting 1994). Dies gilt nicht f¨ur den Orientierungsteil, der dazu dient, die notwendigen Protagonisten und Lokalit¨aten der Erz¨ahlung einzuf¨uhren. Dass die Kontur hier erscheint, unterstreicht einmal mehr ihre informationsbezogene Heraushebungsfunktion. Dies verdeutlicht die folgende Erz¨ahlung, die dem Interview zwischen der Gespr¨achsleiterin und ihrem Vater entnommen ist. Dem Ausschnitt geht bereits eine Erz¨ahlung mit witziger Pointe und gleichem Protagonisten voraus. Zu Beginn des Ausschnitts leitet k06 durch “ja aber geNAUso?” zu dieser Erz¨ahlung u¨ ber und k¨undigt sie dadurch als ebenfalls witzige Erz¨ahlung an. Geschildert wird ein Missverst¨andnis, das sich aus der ungew¨ohnlichen r¨aumlichen Gestaltung der G¨arten in der Nachbarschaft des Erz¨ahlers ergibt. Diese sind nicht voneinander abgetrennt, so dass es m¨oglich ist, zum einen Haus hineinzugehen und aus einem anderen herauszukommen. Der Protagonist “H¨annes” wird (wie auch in der unmittelbar zuvor erz¨ahlten Geschichte) als u¨ bertrieben pflichtbewusster, aber nicht sehr intelligenter “Aufpasser” der Nachbarschaft dargestellt, der in der vorliegenden Geschichte aufgrund dieser Eigenschaften einem Missverst¨andnis zum Opfer f¨allt.
217 (179)
k06-garten; V2 / V2
1002 k06 1003 1004 1005 1006 1007 i 1008 k06 1009 1010 1011 1012 1013 ⇒
1014
⇒
1015 1016 1017 1018 1019 1020 i 1021 k06 1022 1023 1024 1025 1026 1027 1028 1029 1030 1031 1032 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045
i k06
i k06
die T¨ Uren AUfhaben ALle. (.) in den G¨ ARten. (-) ne? die g¨ arten ham ja keine Z¨ AUne? (.) ah un: [un: .hh (-) ¨ [ja'; ma kann ja hier bei ¨ oh: bei m¨ Ullers eRIN:? un beim: bei dOhms eRUS. (--) JA? dat ¨ ah: dat' dat JEHT ja. .hhh (---) sO: un: (--) m: der THIlo is mal- (1.2) isch glaub bei UNS oder bei M¨ ULlers !REI:N!? .h (-) l h m hat DANN hier hinten im: GARten l h h l INGrid getroffen .h (-) ingrid wo:t dem thilo jet ZEIgen im: haus? un dann wollt de thilo nach HAUse? .hh (--) un kam DANN? (---) an der T¨ UR bei dOhms raus. (-) ja. (--) JA? (.) un et Ingrid sagt dann TSCH¨ O, un SO wat; .hh (--) un dann kam ne stunde SP¨ Ater, kam de Oliver nach HAUse, .hh (--) PARKte? (-) direkt vorm HAUS? (.) PARKplatz, (--) steigt AUS, (--) m¨ a:t de H¨ ANnes det FENster rus? un s¨ a:t (.) zum Oli? kumm=ens HER? (--) a: oli jeht HIN,> l h fm janz jeHEIMnisvoll .hh (--) un da s¨ a:t de=¨ ah: (---) m da s¨ a:t de H¨ ANnes? .h (-) HEY- (.) DER; (-) mit dem BART;> der h¨ at immer zum Oli gesagt de BARTmann. h¨ at der immer geSAGT, .hh (--) der jeht an dinge FRAU; wenn du nit DO bis, ((lacht [ )) [((lacht))
218 In der Orientierungsphase der Erz¨ahlung (Z 1003-1023) gibt der Sprecher relevante Informationen u¨ ber den Ort des Geschehens. Der Protagonist l¨asst sich aus dem vorangegangenen Kontext erschließen, die u¨ brigen Beteiligten ergeben sich aus der Ortsbeschreibung (die H¨auser der unmittelbaren Nachbarschaft) und werden im Laufe der Erz¨ahlung spezifiziert. Nach dem wesentlichen Teil der Orientierung kommt es zu einem kurzen R¨uckversicherungsaustausch zwischen I und k06, bevor dann mit der R¨uckkehr des Ehemanns der Frau Ingrid die Komplikation einsetzt (Z 1024). Diese tr¨agt zahlreiche Merkmale der erz¨ahlerischen Inszenierung. Hierzu z¨ahlen die Verwendung des Pr¨asens (Z 1029-1035), die (imitierende) Redewiedergabe (Z 1032, 1036-1038) und auch die “ ‘Atomisierung’ des Ereigniskontinuums” mit kleinr¨aumiger intonatorischer Phrasierung (vgl. Quasthoff 1980: 28, 216ff.). Der Abschnitt der Orientierung, in dem die Kontur zweimal unmittelbar hintereinander vorkommt, tr¨agt demgegen¨uber wesentlich weniger Anzeichen von Inszenierung. Nichtsdestotrotz l¨asst ¨ sich auch hier die Heraushebungsfunktion der konturtragenden Außerungen rechtfertigen. ¨ Die beiden Außerungen bilden syntaktisch eine Einheit, sind aber prosodisch eigenst¨andig, was den Bestandteilen mehr Gewicht verleiht und den Heraushebungseffekt unterstreicht. Sie f¨uhren zudem Information ein, die zum Verst¨andnis der Erz¨ahlung notwendig ist und stellen damit den Interpretationsrahmen f¨ur das Kommende bereit. Auch im Kontext von Erz¨ahlungen l¨asst sich somit die informationsbezogene Heraushebung als Funktion der steigend-fallenden Kontur best¨atigen. Durch ihr Erscheinen in der Ori¨ entierungsphase der Erz¨ahlung sind die Außerungen zudem weiterweisend auf semanto-pragmatisch Ebene. Die sonst u¨ bliche Weiterweisung mit Projektierung eines abschließenden zweiten Teils, l¨asst sich in diesem Kontext nicht feststellen. Der Zwang, in der Orientierung schrittweise notwendige Information einzuf¨uhren und dann zur Komplikation u¨ berzugehen, ¨ steht dem typischen zweiteiligen Sequenzformat aus konturtragender erster Außerung und ¨ final fallender, inhaltlich abschließender Außerung entgegen. Es zeigt sich folglich auch hier wieder des Bedeutungspotenzial der Kontur, informationsbezogene Heraushebung zu kontextualisieren. Die Ursache f¨ur den Einsatz dieser Funktion liegt nicht in divergierenden Positionen, vor deren Hintergrund bezweckt wird, dem Gegen¨uber die eigene Position nahe zu bringen. Der Einsatz ist auch nicht durch offene Wissensasymmetrien und die Notwendigkeit, einen Sachverhalt zu vermitteln, verursacht. Statt dessen werden schrittweise orientierende Informationen eingef¨uhrt, die dem Aufbau eines Szenarios dienen, vor dessen Hintergrund sich die kommende Komplikation und Pointe einer Erz¨ahlung abspielen. Zwar l¨asst sich die zweiteilige Struktur nicht best¨atigen, die generelle Weiterweisungsfunktion bleibt in diesem Kontext jedoch erhalten.
4.4.1.6.3 Fazit Auf der Grundlage der vorgenommenen funktionalen Analyse unter Einbeziehung der Kookkurrenz der Kontur mit besonderen syntaktischen Formaten und ihrer weiteren kontextuellen Einbettung lassen sich zusammenfassend folgende Aussagen machen:
219 Zum Bedeutungspotenzial der steigend-fallenden Kontur z¨ahlt ihre Heraushebungsfunktion auf informationsbezogener Ebene. Sie dient dazu, die gegebene Information als wichtig und verl¨asslich zu kontextualisieren. Hierbei ist bemerkenswert, dass das Konturvorkommen in der Regel nicht mit Emphase verkn¨upft ist, wie man aufgrund der ausgepr¨agten intonatori¨ schen Bewegung im Nukleus der Außerung vermuten k¨onnte. Zumeist zeigt sich das Vorkommen in zweiteiligen Sequenzen best¨atigt, wobei die Kontur ¨ mit der ersten Außerung der Sequenz verkn¨upft ist. Weiterweisung und Heraushebung stellen somit einen wichtigen Bestandteil des Bedeutungspotenzials dar. W¨ahrend sich die Heraushebung jedoch als stabile Funktion erwiesen hat, unterliegt die Weiterweisung kontextuellen Bedingungen. Zum einen kann die spezifische Weiterweisungsfunktion, die das Erscheinen des zweiten Sequenzteils bedingt erwartbar macht, in bestimmten Kontexten hinter andere sequenzielle Zw¨ange zur¨ucktreten, wie die Analyse der Erz¨ahlung gezeigt hat. Zum anderen lassen sich Konturvorkommen anf¨uhren, die kein Weiterweisungspotenzial aufweisen. Dies ist der Fall bei den im vorherigen Kapitel beschriebenen Vorwurfssequenzen, Argumentationen und handlungsbegleitenden Kommentaren. Kontextuell bedingt sind weiterhin die Ursachen, die der Nutzung der besonderen Kontextualisierungsfunktion zugrundeliegen. Die Heraushebung von Information als relevant und verl¨asslich wird in Kontexten mit offen oder potenziell divergierenden Positionen eingesetzt, um dem Gegen¨uber die eigene Position nahe zu bringen. In Kontexten mit offenen Wissensasymmetrien stellt die Kontur aufgrund ihres Kontextualisierungspotenzials ebenso eine geeignete Ressource f¨ur die Interaktionsteilnehmer dar, wobei es hier nicht um das Nahebringen einer Position oder pers¨onlichen Einstellung geht, sondern um die Vermittlung eines Sachverhalts. Die gleiche Kontextualisierungsleistung wird in den Orientierungsabschnitten von Erz¨ahlungen genutzt. Hier geht es darum, mit der Information ein Szenario zu entwerfen, das das Verst¨andnis der folgenden Erz¨ahlung erm¨oglicht.
4.4.2
¨ Interrogative Außerungen
4.4.2.1
Einleitung
¨ Die bisherige funktionale Analyse widmete sich den deklarativen Außerungen mit steigend¨ fallender Kontur, nun sollen die restlichen 43 interrogativen Außerungen hinsichtlich ihrer konversationellen Funktionen beschrieben werden. Das Vorkommen der steigend-fallenden ¨ Kontur mit interrogativen Außerungen ist vor dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse zun¨achst einmal erstaunlich, wurde doch der Großteil der konturtragenden deklarativen ¨ Außerungen als weiterweisend analysiert. Weiterweisung im Sinne der Turnbeibehaltung ist bei Fragen jedoch nicht zu erwarten. Selting (1995) definiert eine (konversationelle) Frage in folgender Weise, die auch die Grundlage der vorliegenden Untersuchung bildet: “Eine ‘konversationelle Frage’ ist [...] eine konversationelle Aktivit¨at einer Sprecherin bzw. eines Sprechers, die eine ‘Antwort’reaktion des Rezipienten konditionell relevant macht. Eine Frage fokussiert einen Sachverhalt als ‘offen’, f¨ur deren Beantwortung dem Adressaten ein ‘Expertenwissen’ zugeschrieben wird. Die Form der ‘Frage’ legt dabei einer m¨oglichen ‘Antwort’reaktion” des Rezipienten Restriktionen auf: Sie schließt koh¨arent an und liefert z.B. die ‘erfragte’, fokussierte Information”. (Selting 1995: 235)
220 ¨ ¨ Im Gegensatz zu den deklarativen Außerungen mit Kontur ist bei den interrogativen Außerungen dementsprechend eine Turnabgabe erwartbar. Weiterhin ist zu erwarten, dass die Folge¨außerung inhaltlich koh¨arent an die Frage anschließt und eine darin markierte Wissensl¨ucke schließt. Traditionell orientiert sich die Besch¨aftigung mit der Intonation im Zusammenhang mit Fragen im Wesentlichen an zwei Fragestellungen: Zum einen an der Frage, was die Differen¨ ¨ zierung zwischen interrogativen Außerungen und deklarativen Außerungen (verschiedener Modi) bewirkt, und zum anderen an der Frage, welche Bedeutungsdifferenzierungen sich ¨ innerhalb von interrogativen Außerungen feststellen lassen und wodurch sie bewirkt werden (bspw. h¨oflich vs. unh¨oflich, beteiligt vs. unbeteiligt). Die meisten vorliegenden Untersuchungen zur Frageintonation sind dabei experimentell (vgl. Oppenrieder 1988, Batliner 1989a, b, van Heuven & Haan 2002) oder gehen bei der Interpretation des Bedeutungsgehalts der Intonation introspektiv vor (vgl. von Essen 1956, Pheby 1975, Klein 1982). Seltings Arbeit (1995) bildet hier eine Ausnahme, indem sie konversationelle Fragen kontextgebunden auf der Basis spontansprachlicher Daten untersucht und die Interpretation der “Bedeutung” an das Verhalten der Interaktionsteilnehmer zur¨uckbindet. Grice & Savino (1997) machen darauf aufmerksam, dass der Konturgebrauch bei Fragen stark von dem zugrundeliegenden Datentyp abh¨angt. W¨ahrend Entscheidungsfragen in ihren Lesedaten zu 78% mit final steigender Intonation realisiert werden, kommt der gleiche Fragetyp bei spontansprachlichen Daten (Map-Task-Dialoge) zu nur 13% mit final steigender Intonation vor, die restlichen 87% werden fallend produziert (vgl. ebd.: 1, 3ff.). Dieses Ergebnis ist zugleich bedeutsam in Hinblick auf die f¨ur Fragen oftmals als “Normalfall” angenommene final steigende Intonationsbewegung. Dies betrifft vor allem solche Fragen, die syntaktisch nicht als Interrogative markiert sind, so dass der Intonation hier disambiguierende Funktion zugesprochen wird. Bereits in den 1980er Jahren hat jedoch Geluykens (1989) darauf hingewiesen, dass final steigende Intonation bei deklarativen Fragen (“Queclaratives”) durchaus nicht den Normalfall darstelle, sondern dass hier u¨ berwiegend fallende Intonation vorkomme (vgl. ebd.: 569). Oppenrieder (1988) auf der anderen Seite stellt auf der Basis seiner experimentellen Untersuchung final steigende Verl¨aufe als quantitativen Prototypen f¨ur deklarative Fragen heraus. Da es sich bei dem von Geluykens verwendeten Datenmaterial im Gegensatz zu Oppenrieder (1988) um spontansprachliche Daten handelt, ist zu vermuten, dass die Datengrundlage ein ausschlaggebender Faktor f¨ur die abweichenden Ergebnisse von Geluykens und Oppenrieder ist. Weiterhin ist zu beachten, dass der finale ¨ Tonh¨ohenverlauf nicht das einzige Merkmal zur Signalisierung einer Frage darstellt. Uber den finalen Verlauf hinaus spielen weitere Faktoren wie die H¨ohe des Gesamtregisters der ¨ Außerung, die H¨ohe des Onsets der Intonationsphrase und auch die H¨ohe und horizontale Position der einzelnen Akzentt¨one eine Rolle (vgl. Batliner 1989b: 147ff., Gussenhoven & Chen 2000: 2ff., Haan-van Ditzhuyzen 2001: 53, Oppenrieder 1988: 179ff., Selting 1995: 242ff.). Van Heuven & Haan (2002) erw¨ahnen zudem die kontrastive Akzentuierung des Ob¨ jekts als f¨orderlich f¨ur die Interpretation einer Außerung als Frage (vgl. ebd.: 80ff.). Neben prosodischen Einflussfaktoren sind auch lexikalische, syntaktische und pragmatische Faktoren zu ber¨ucksichtigen. Unter pragmatischem Gesichtspunkt sei es beispielsweise von Bedeu¨ tung, ob eine Außerung “question-prone” oder “statement-prone” sei (vgl. Geluykens 1987: ¨ ¨ 484ff.). Unter einer question-prone Außerung ist eine Außerung zu verstehen, die Informati¨ on thematisiert, die dem Sprecher nicht zug¨anglich sein kann, wie in der Außerung “You feel ¨ ill”, die Geluykens (1987) als Beispiel heranzieht. Eine Außerung wie “I feel ill” hingegen
221 wird als statement-prone angesehen, da hier Wissen thematisiert wird, das nur dem Sprecher zug¨anglich ist. Nach Geluykens macht das Vorkommen der entsprechenden pragmatischen Signale intonatorische Merkmale nahezu u¨ berfl¨ussig: “Provided pragmatic cues are sufficiently strong to determine speech act status, rising intonation is shown to be virtually without impact; if, on the other hand, pragmatic cues do not favour any particular speech act type, intonation may, but need not, act as a cue for determining questionstatus.” (ebd.: 483)
Lexikalische Einflussfaktoren werden von Batliner (1989b) erw¨ahnt, der darauf aufmerksam macht, dass die Verbsemantik und bestimmte Modalpartikeln wie etwa einen Hinweis auf den interrogativen Modus (gegen¨uber exklamativem oder imperativischem Modus) einer ¨ Außerung geben k¨onnen. Syntaktische Einflussfaktoren beruhen auf den verschiedenen Positionen des Verbs im Zusammenhang mit eventuellen einleitenden w-W¨ortern oder -Phrasen, die sich noch zu den lexikalischen Merkmalen von Fragen z¨ahlen lassen. ¨ Die Identifizierung einer Außerung als Frage beeinflussen folglich zahlreiche Faktoren. Noch ist nicht gekl¨art, in welcher Weise die Faktoren dabei zusammenwirken. Das obige Zitat von Geluykens deutet auf eine Entlastung beispielsweise der intonatorischen Signalisierung ¨ hin, wenn auf der pragmatischen Ebene bereits gen¨ugend Hinweise auf den Außerungsmodus existieren. Ebenso spricht Haan-van Ditzhuyzen (2001: 56) von einem “functional tradeoff” zwischen verschiedenen Signalen, was letztendlich auf eine m¨oglichst o¨ konomische Verwendung der zur Verf¨ugung stehenden Signalisierungsm¨oglichkeiten hinweist. Auf der anderen Seite werden Fragen mit Verberststellung, d.h. syntaktisch als interrogativ markierte ¨ Außerungen, von verschiedenen Autoren als h¨aufig steigend beschrieben (vgl. Pheby 1975, Oppenrieder 1988, mit Einschr¨ankung auch Geluykens 1988), so dass hier eine mehrfache, gleichlaufende Signalisierung auf verschiedenen sprachlichen Ebenen vorliegt. Auch im Rahmen der Interaktionalen Linguistik wird davon ausgegangen, dass die Kontextualisierung bestimmter Funktionen oftmals redundant ist, dass also funktional gleichlaufende Signale auf verschiedenen Ebenen kookkurrieren. ¨ Ebenso wie das Problem der Identifizierung einer Außerung als Frage ist auch oder vor allem das Problem der speziellen Interpretation einer gegebenen Frage mit divergierenden Intonationsverl¨aufen nicht gel¨ost. Es werden beispielsweise attitudinale Kriterien zur Unterscheidung herangezogen, die eine Frage als mehr oder weniger h¨oflich, ungeduldig, freundlich usw. charakterisieren (Pheby 1975, Scherer et al. 1984).48 Informationsstrukturelle Funktionen verschiedener Intonationsverl¨aufe stellen Grice & Savino (1995) f¨ur eine Variet¨at des Italienischen und K¨ugler (2003, 2004) f¨ur die Variet¨aten Obers¨achsisch und Schw¨abisch fest. So sei eine final steigend-fallende Entscheidungsfrage in obers¨achsischen spontansprachlichen Dialogen gegen¨uber einer einfach steigenden Frage dadurch gekennzeichnet, dass der Sprecher davon ausgehe, dass die Antwort keine v¨ollig neue Information f¨ur ihn enthalte. Der Sprecher hat hinsichtlich des Informationsstatus der Antwort also bestimmte Erwartungen (vgl. K¨ugler 2003: 19ff.). Ganz a¨ hnlich stellen Grice & Savino (1995) bei der Analyse von Map-Task-Dialogen exklusive intonatorische Markierungen f¨ur Fragen fest, die “confident” 48
Ziel des Artikels von Scherer et al. (1984) ist allerdings nicht in erster Linie die Kategorisierung der Fragentypen, sondern die Untersuchung der Frage, in welcher Weise intonatorische und verbale Mittel miteinander interagieren, um emotionalen Affekt zu signalisieren.
222 oder “very confident” hinsichtlich der Bekanntheit der erfragten Information sind. Es handelt sich bei den Fragen um versichernde R¨uckfragen, sogenannte “Checks” und “Aligns”. Die u¨ brigen Kategorien “Query” und “Object”, die f¨ur eine informationssuchende Frage bzw. eine problemmanifestierende Frage stehen, sind hinsichtlich der Intonation nicht voneinander abzugrenzen. Auch bei diesen Untersuchungen spielen zus¨atzlich zu den informationsbezogenen Aspekten (given vs. new information in der Antwort) demnach attitudinale Kriterien eine Rolle, um die Funktion der Intonation innerhalb einer Fragekategorie wie “Entscheidungsfrage” zu erfassen.
4.4.2.2 Vorgehensweise Ziel dieses Kapitels kann nun keine ersch¨opfende Diskussion der Frageintonation im K¨olnischen sein. Ausgangs- und Zielpunkt der Analyse bilden die steigend-fallenden interro¨ gativen Außerungen und ihre m¨oglichen funktionalen Besonderheiten. Um diese herauszu¨ arbeiten werden die steigend-fallenden Außerungen Fragen ohne steigend-fallende Kontur gegen¨ubergestellt. Die Vorgehensweise orientiert sich wie im vorangegangenen Kapitel an den Nachweisstrategien der Interaktionalen Linguistik (siehe Kap. 2.2), so dass die Frage¨außerung bez¨uglich ihrer Kookkurrenz mit anderen sprachlichen Mitteln, ihrer sequenziellen Position im gegebenen Gespr¨achsauszug und der weiteren Bearbeitung durch die Interaktionsteilnehmer untersucht wird. Die Analyse kn¨upft an Selting (1995) an, die eine Taxonomie konversationeller Fragen erstellt: Um die konversationellen Funktionen einer Frage herauszuarbeiten, betrachtet sie syntaktische, semantische und intonatorische Merkmale im B¨undel und verbindet sie auf der Grundlage der empirischen Analyse spontansprachlicher Daten mit bestimmten Funktionen. Die syntaktischen Merkmale umfassen die u¨ blichen topologischen Formate zur Charakterisierung von Satztypen wie Verberststellung, Verbzweitstellung mit w-Wort etc. (s.u.). Die semantischen Merkmale beziehen sich auf den thematischen Bezug der Frage zum unmittelbar vorangegangenen Gespr¨ach. Die thematische Relation wird durch die drei Kategorien Neufokussierung, Fokusweiterf¨uhrung und Refokussierung beschrieben. Neufokussierende Fragen beinhalten einen Themenwechsel oder eine Fokusverschiebung innerhalb eines thematischen Rahmens, w¨ahrend fokusweiterf¨uhrende Fragen ein Element eines bestehenden Themas aufgreifen und vertiefend weiterf¨uhren. Refokussierende Fragen nehmen einen Sachverhalt eines zuvor behandelten Themas auf und stellen ihn in Frage. Die syntaktischen und semantischen Kategorien werden in den n¨achsten beiden Abschnitten anhand von Beispielen erl¨autert. Als intonatorische Merkmale legt Selting final fallende und steigende Verl¨aufe zugrunde. Weiterhin ber¨ucksichtigt sie die globale Tonh¨ohe, die Lautst¨arke und relative St¨arke der Akzente bzw. der lokalen Tonh¨ohenbewegungen, die die Frage als prosodisch markiert oder unmarkiert kennzeichnen k¨onnen (vgl. ebd.: 238ff.). In der vorliegenden Untersuchung stellen die finalen Verl¨aufe den Ausgangspunkt dar: Es soll untersucht werden, ob sich f¨ur den steigend-fallenden Verlauf ein spezifisches Gebrauchsprofil in Hinblick auf die Kookkurrenz mit den syntaktischen und semantischen Kategorien feststellen l¨asst. Zu diesem Zweck wird zuerst die quantitative Verteilung der steigendfallenden und nicht steigend-fallenden Verl¨aufe auf die beiden Kategorien ermittelt und miteinander verglichen. Zus¨atzlich zu den 43 steigend-fallenden Fragen wurden als Referenzgruppe 50 nicht steigend-fallende Fragen aus dem Material zuf¨allig ausgew¨ahlt, so dass f¨ur
223 die Analyse insgesamt 93 Fragen zur Verf¨ugung stehen. Von den 50 nicht steigend-fallenden Fragen sind 24 final fallend und 26 final steigend. Es ist zu beachten, dass die Datenmenge f¨ur eine statistische Auswertung nicht ausreicht. Die quantitative Auswertung der Verteilung auf die syntaktischen und semantischen Kategorien dient der Ermittlung von m¨oglichen Tendenzen und Auff¨alligkeiten. F¨ur die qualitative Analyse der konversationellen Funktionen der Fragen werden die nach ihrem intonatorischen Verlauf gruppierten Fragen einander in “Minimalpaaren” gegen¨ubergestellt. Bei gr¨oßtm¨oglicher syntaktischer und semantischer Gemeinsamkeit soll der spezifische Beitrag des Intonationsverlaufs zur konversationellen Funktion der Frage herausgearbeitet und auf diese Weise das besondere Bedeutungspotenzial der steigend-fallenden Kontur bei Fragen ermittelt werden. Grundlage der Minimalpaarbildung sind die von Selting erstellten Merkmalsb¨undel, die entsprechend ihrer Taxonomie die gleichen konversationellen Funktionen erf¨ullen. Die Taxonomie wird weiter unten im Anschluss an die Erl¨auterung der syntaktischen und semantischen Kategorien vorgestellt. Das Kapitel gibt nun zun¨achst eine Erl¨auterung der syntaktischen und semantischen Analysekategorien. Daran schließt sich die quantitative Auswertung der fallenden, steigenden und steigend-fallenden Verl¨aufe an. Dann werden die Minimalpaargruppen eingef¨uhrt und einige Minimalpaare exemplarisch diskutiert. In diesem Zusammenhang wird das Bedeutungspotenzial der steigend-fallenden Kontur erl¨autert. Die Analyse wird zeigen, dass sich die steigendfallenden Fragen durchg¨angig von den final fallenden Fragen abgrenzen lassen, w¨ahrend sie ¨ deutliche funktionale Uberschneidungen mit den final steigenden Fragen aufweisen.
4.4.2.2.1
Syntaktische Kategorien
F¨ur die Beschreibung der syntaktischen Formate haben sich die folgenden Formate als notwendig herausgestellt: V1-Stellung, die traditionell als Entscheidungsfrage bestimmt wird, V2-Stellung mit w-Wort (trad. Erg¨anzungsfrage), V2-Stellung ohne w-Wort (trad. Assertivfrage), elliptische Formate mit w-Wort und elliptische Formate ohne w-Wort. Weiterhin wurde eine Klasse f¨ur Sonderf¨alle eingef¨uhrt, in der u¨ berwiegend elliptische Frageformate zu finden sind, die als Ausklammerungen oder Nachtr¨age an eine vorangehende Frage angeschlossen sind. Im Folgenden werden die syntaktischen Formate der Reihe nach vorgestellt und ihre gemeinhin angenommene intonatorische Gestaltung knapp beschrieben. Wenn m¨oglich, wird f¨ur jede Kategorie je ein Beispiel f¨ur die drei finalen Tonh¨ohenbewegungen (steigend, fallend, steigend-fallend) gegeben.
4.4.2.2.1.1 V1-Stellung ¨ Die V1-Stellung des Verbs wird bei interrogativen Außerungen traditionell als Entscheidungsfrage bezeichnet. (In diese Kategorie wurde auch ein Vorkommen einer Alternativfrage mit final fallender Intonation eingeordnet. Andere Satzarten mit V1-Stellung wie z.B. uneingeleitete Konditionals¨atze werden hier nicht ber¨ucksichtigt). Nach Oppenrieder (1988) und Pheby (1975) weist dieser Fragetyp u¨ berwiegend steigende finale Tonh¨ohenbewegungen auf,
224 kommt aber auch mit final fallender Intonation vor, was laut Pheby mit einer “vergewissernden Implikation” einhergeht. ¨ Die folgenden drei Außerungen veranschaulichen V1-Stellungen mit fallendem, steigendem und steigend-fallendem Verlauf: (180)
final fallend (k07-2779-i) h l hatten sie dat jesch¨ aft HIER drin
(181)
final steigend (k06-1130-i) l h ham die dat wirklisch geLERNT so in der SCHUle
(182)
final steigend-fallend (k08-446-i; V2) l hm wAr=n sie in braSIlien
Im Korpus kommen demnach alle drei finalen Verl¨aufe mit V1-Stellung vor, fallende Verl¨aufe sind mit nur 4 Belegen bei insgesamt 41 V1-Fragen jedoch selten. Weiterhin liegen 11 einfach steigende und 26 steigend-fallende Belege vor. Hinsichtlich der finalen Falltiefe der steigendfallenden Verl¨aufe l¨asst sich feststellen, dass 11 Belege maximal tief enden, 12 Belege auf mittel tiefem Niveau und nur 3 Belege auf minimal tiefem Niveau.
4.4.2.2.1.2 V2-Stellung mit w-Wort Dieses syntaktische Format wird traditionell mit Erg¨anzungsfragen in Verbindung gebracht. Es wird nach Oppenrieder (1988) im Deutschen zu 80% mit final fallender Intonation realisiert (vgl. ebd.: 197ff.). Pheby (1975) bringt fallende, steigende und fallend-steigende Verl¨aufe mit unterschiedlichen Bedeutungen der Frage¨außerungen in Verbindung, wobei fallende Verl¨aufe “neutral” und “unbeteiligt” sein k¨onnen, steigende Verl¨aufe “skeptisch”, “beteiligt” und “expressiv”, und fallend-steigende Verl¨aufe wiederum “neutral” (vgl. ebd. 155ff.). Beispiele f¨ur Fragen mit V2-Stellung und w-Wort geben die n¨achsten drei Belege (183) bis (185): (183)
fallend (k01-1652-fv) h l warum SETZ de disch dann nit
(184)
steigend (k01-1577-fv) l h und wie soll isch dat auf der arbeit MAchen
225 (185)
steigend-fallend (k07-2414-i; V1-2) l h l wie lang IS der zuch hier
Wieder kommen alle drei finalen Intonationsverl¨aufe mit diesem syntaktischem Format vor. ¨ Von insgesamt 20 Außerungen dieses Formats sind 12 fallend, 5 steigend und 3 steigendfallend (2 x bis zu mittlerer Tiefe, 1 x bis zu maximaler Tiefe).
4.4.2.2.1.3 V2-Stellung ohne w-Wort Fragen mit V2-Stellung ohne w-Wort gelten als Assertivfragen. Sie enden nach Oppenrieder (1988) prototypisch hoch (vgl. aber die Einleitung zu diesem Kapitel). Im K¨olner Korpus gibt es sowohl steigende als auch steigend-fallende und fallende Fragen dieser syntaktischen Kategorie, wie die folgenden Beispiele belegen: (186)
fallend (k08-22-i) h h l un et gibt auch keinen Anderen platz wo se LEben wollen
(187)
steigend (k06-790-i) l h der hat ne LIVEsendung gemAcht
(188)
steigend-fallend (k06-1622-i; V1) h l h fm aber der hat NICH die poliZEI angerufen
Von insgesamt 12 Frage¨außerungen dieser Kategorie sind 5 final fallend, 4 final steigend und 3 final steigend-fallend (1 x minimal tief, 2 x mittel tief).
4.4.2.2.1.4 Elliptisch mit w-Wort Elliptische Formate werden bei Oppenrieder (1988) und Pheby (1975) nicht ber¨ucksichtigt. Im vorliegenden Korpus kommen sie nur mit fallender Intonation vor. Einen Beleg gibt das folgende Beispiel: (189)
fallend (k04-533-fm) h l wieso REISCH
Es liegen insgesamt 3 Belege dieser Kategorie vor.
226 4.4.2.2.1.5 Elliptisch ohne w-Wort Auch dieses syntaktische Format wird bei Oppenrieder (1988) und Pheby (1975) nicht behandelt. Im Gegensatz zu den elliptischen Auspr¨agungen mit w-Wort kommen hier nur final steigende oder steigend-fallende Verl¨aufe vor, was die folgenden beiden Beispiele belegen. ¨ Die Kategorisierung der Außerungen als Frage ergibt sich aus ihrer sequenziellen Position. ¨ Im ersten Fall stellt die Außerung den ersten Teil einer Paarsequenz dar. Der angesprochene Interaktionspartner liefert in seiner Antwort die eingeforderte Information. Der zweite Beleg stammt aus einer multi-party Situation, in der eine zuvor gestellte Frage durch eine Zwischensequenz suspendiert wurde und nach Abschluss der eingeschobenen Sequenz erneut ge¨außert wird. (190)
steigend (k10-856-i) h l h un dat TAkufeld dann AUCH schon
(191)
steigend-fallend (k04-1243-fm; V2) m h m KAFfee trinken
Es liegen insgesamt 12 elliptische Fragen ohne w-Wort vor, wobei jeweils 6 final steigend bzw. steigend-fallend sind; (von diesen sind je zwei Belege minimal, mittel und maximal tief fallend).
4.4.2.2.1.6 Sonstiges In die Kategorie “Sonstiges” wurden solche Belege aufgenommen, die als Expansion an die ¨ eigentlich interrogative Außerung angeschlossen sind. In der Referenzgruppe der einfach stei¨ genden und fallenden interrogativen Außerungen findet sich kein Beleg dieser Kategorie. Die folgenden beiden Belege mit steigend-fallender Kontur veranschaulichen das Format: (192)
01 ⇒
02
(193)
01 02
steigend-fallend (k06-1871-i; V2) l h sa=ma wart ihr eigentlisch bei der SPARk¨ asschenauszahlung l h l im KORNbrenner
steigend-fallend (bb96-112-jrg; V3) l h wusstes DU dass=s sowas gibt lh bee HAS
227 ⇒
03
m h l schon mit siliKON drinne
Diese Kategorie umfasst 6 Belege, die alle final steigend-fallende Verl¨aufe aufweisen. Alle 43 steigend-fallenden Belege und alle 50 Belege der Referenzgruppe ohne steigendfallende Kontur wurden in eine der Kategorien eingeordnet. Ein vorl¨aufiger Blick auf die quantitative Verteilung zeigt, dass die steigend-fallende Kontur in ihrer Verteilung auf die ¨ syntaktischen Formate mehr Ahnlichkeit zu einfach steigenden als zu einfach fallenden Verl¨aufen aufweist. Kommt ein Format nicht mit allen Verl¨aufen vor, so liegen entweder nur final fallende Verl¨aufe vor (so bei elliptischem Format mit w-Wort), oder es liegen nur final steigende und steigend-fallende, aber keine final fallenden Verl¨aufe vor (so bei elliptischem Format ohne w-Wort). Eine Ausnahme bilden die sonstigen F¨alle, die nur mit steigend-fallenden Verl¨aufen belegt sind. Hier ist allerdings anzumerken, dass die zuf¨allige Auswahl der Belege f¨ur die Referenzgruppe diese L¨ucke verursacht haben kann, da die ausgeklammerten ¨ Außerungen nicht auf den ersten Blick als Frage zu identifizieren sind und so bei der Auswahl m¨oglicherweise nicht ber¨ucksichtigt wurden.
4.4.2.2.2
Semantische Kategorien
Zur semantischen Kategorisierung der Belege wurden die Kategorien Neufokussierung, Fokusweiterf¨uhrung und Refokussierung zugrundegelegt. Wie oben bereits beschrieben wurde, ¨ geben diese die Koh¨arenzbeziehung zwischen der Frage und den vorangehenden Außerungen an. Als Vorwegnahme der konversationellen Funktionen der Merkmalsb¨undel l¨asst sich sagen, dass sie außerdem in engem Zusammenhang mit der Art der Bearbeitung der Frage durch den Gespr¨achsteilnehmer stehen. Neufokussierende Fragen wirken nach Selting immer nicht-einschr¨ankend, d.h. sie geben dem Rezipienten uneingeschr¨ankt Raum zur Beantwortung der Frage, den dieser zumeist auch in Anspruch nimmt. Sie fungieren h¨aufig als Gespr¨achsfortsetzungsinitiativen. Sowohl fokusweiterf¨uhrende als auch refokussierende Fragen erf¨ullen hingegen verschiedene einschr¨ankend weiterf¨uhrende Funktionen; sie fordern das Gegen¨uber nicht zu elaborierten Ausf¨uhrungen zu einem Thema auf, sondern bearbeiten beispielsweise Verstehensprobleme oder wirken inferenz¨uberpr¨ufend (vgl. Selting 1995: 241, 258ff.). Diese Funktionen werden f¨ur die semantischen Kategorien unabh¨angig von ihrem syntaktischen Format angenommen. In der vorliegenden Arbeit ergeben sich bei der semantischen Kategorisierung Schwierigkeiten mit einer kleinen Gruppe an Fragen, die eine fiktive oder tats¨achliche Redewiedergabe darstellen. Solche Redewiedergaben sind h¨aufig aus dem Kontext herausgehoben, und es ist nicht unproblematisch, sie in eine der semantischen Kategorien einzuordnen. Das gr¨oßte Problem allerdings ist darin zu sehen, dass f¨ur die wiedergegebene Rede nicht die gleichen konditionellen Relevanzen angesetzt werden k¨onnen wie f¨ur das aktuelle Gespr¨ach (vgl. Br¨unner 1991). Selbst wenn sich f¨ur eine Frage eine plausible semantische Kategorie ausmachen l¨asst, entspricht die Aufnahme durch den (fiktiven) Adressaten der Frage nicht notwendigerweise der erwartbaren Reaktion. Zum einen ist es m¨oglich, dass die Antwortreaktion gar nicht in
228 die Redewiedergabe aufgenommen wird, zum anderen ist die m¨oglicherweise wiedergegebene Antwort nicht mit einer tats¨achlichen Reaktion des Adressaten gleichzusetzen. Aus diesem Grund werden die Redewiedergaben als Sonderkategorie behandelt und im Abschnitt “Qualitative Analyse” diskutiert. ¨ Eine weitere Anderung gegen¨uber der Taxonomie von Selting betrifft die neufokussierenden Fragen, die immer nicht-einschr¨ankende Funktion haben sollen. Im vorliegenden Korpus haben sie unter bestimmten Bedingungen jedoch auch einschr¨ankende Funktion, was weiter unten erl¨autert wird. Es folgt nun zun¨achst eine knappe Darstellung der semantischen Kategorien auf der Basis von Beispielen von Selting (1995).
4.4.2.2.2.1 Neufokussierung Unter Neufokussierung ist zu verstehen, dass es gegen¨uber dem zuvor Ge¨außerten zu einem Themenwechsel oder zu einer Fokusverschiebung innerhalb eines thematischen Rahmens kommt. Die Fragen fungieren als nicht-einschr¨ankende, offene Fragen. Dies veranschaulicht das folgende Beispiel aus Seltings Arbeit. Hier ist deutlich die Funktion als Gespr¨achsfortsetzungsinitiative zu erkennen, da zwar das vorherige Thema gerade beendet wurde, das Gespr¨ach aber mit einem neuen Thema weitergef¨uhrt wird.49 (194)
49
.
208 209 210
R: N: I:
ich weiß gar nich wie ich das verschriftlichen soll ((lacht)) ((lacht))
211 *
N:
wie SIEHTS jetzt eigntlich AUS mit dem fach muSIK F(\ \ /)
212
N:
also da H¨ ORT man ja auch gar nichts mehr ne F(\ /)
213
R:
im moMENT . ¨ ah: weiß ich AUCH nichts neues ... M(/ \ )
214
R:
das das: ¨ oh scheint auf EIS zu liegen oder M(\ )
215
R:
216
I:
217
N:
JEdnfalls so .. rein nach AUssen hin T(\ \ ) mhm nhn \/
Zur Erl¨auterung der Transkriptionskonventionen bei diesem und den folgenden Beispielen aus Selting (1995) siehe S. XII.
229 218 219 220
N: R: R:
un wer letz das: ¨ ahn der der .. ¨ ahm ... lehrbetrieb is jetzt sonst w . ¨ ah ganz normal weitergelaufn
(aus: Selting 1995: 244)
4.4.2.2.2.2 Fokusweiterf¨uhrung Fokusweiterf¨uhrung stellt gegen¨uber der Neufokussierung eine Beibehaltung der bisherigen Fokussierung dar, wobei “der Gespr¨achsgegenstand sukzessive detaillierend (weiter) verschoben wird” (ebd.: 240). Dies gilt f¨ur die Frage im n¨achsten Beispiel aus Selting, die detaillierte Informationen bez¨uglich der zuvor eingef¨uhrten ANdern methodn erbittet: (195)
.
307
L:
m: und ...... also es GIBT da auch GUTE arbeitn= S(\ / )
308
L:
=aber die beN¨ UTzn: MEIstens ohne er zu sagn F(\ \
309
L:
auch diese ANdern methodn ne \ /)
310
C:
311 *
E:
hn: \ ja WIE siehtn das konkret AUS (?) F(/ \ )
312
L:
es is EIgnlich M(/ )
313
L:
also ICH empf:inde das als eine ¨ ahm: .. F(/
314
L:
ah NACHerz¨ ¨ ahlung mit PSYCHOanalytischem vokabuLAR ..... \ \ \)
315
E:
316
L:
AUS der sicht . des SCHREIbenden F(\ \ ) mhm \/
[...] (aus: Selting 1995: 260-261)
230 4.4.2.2.2.3 Refokussierung Refokussierung schließlich bezieht sich auf die Wiederaufnahme eines zuvor fokussierten Sachverhalts, wie das n¨achste Beispiel zeigt. Die Frage wirkt einschr¨ankend weiterf¨uhrend und verdeutlicht, dass L ein Bedeutungsverstehensproblem hat. Sie ist somit problemmanifestierend. (196)
.
268
E:
un das ERste mal in einer SALzadisko F(/ \ )
269 * 270
L:
was is DAS denn F(\ ) *mhm \/
271
E:
dassis irgnwie ne ne beSTIMMte art von M(/
272
E:
TANZ ¨ oh ... den die da offensichtlich TANzn \ \ /)
273
?:
mhm \/
274
E:
aber ich hab das also NICH unterscheiden k¨ onnen F(/
275
?:
276
E:
C:
nhn \/ von . ganz normalem DISko ... TANzen .. \ \ )
(aus: Selting 1995: 287)
Neufokussierende Fragen stehen laut Selting also im Zusammenhang mit nicht-einschr¨ankenden, offenen Fragen, fokusweiterf¨uhrende und refokussierende Fragen hingegen mit einschr¨ankend weiterf¨uhrenden. Wie oben angedeutet wurde, l¨asst sich dieser Zusammenhang f¨ur die eigenen Daten allerdings nicht durchgehend nachweisen. Eine Abweichung ergibt sich ¨ bei den Außerungen, die in handlungsbegleitenden sprachlichen Interaktionen vorkommen. Es zeigt sich bei diesen, dass auch neufokussierende Fragen einschr¨ankend weiterf¨uhrende Funktionen haben k¨onnen. Ihnen ist gemeinsam, dass mit der neufokussierenden Frage ein ¨ Element aus dem situativen Kontext thematisiert wird. Die interrogative Außerung ist in solchen F¨allen zumeist mit der Manifestation eines Erwartungsproblems vergleichbar. Hinsichtlich der Rezipientenreaktion stellt eine ein Erwartungsproblem manifestierende Frage eine “Aufforderung an den Rezipienten zur Beteiligung an der Widerspruchskl¨arung” (ebd. 294)
231 dar. Problemmanifestierende Fragen zeichnen sich weiterhin dadurch aus, dass sie das Be¨ zugselement aus einer vorhergehenden Außerung refokussierend wieder aufnehmen (siehe Bsp. (196)). Der Refokussierung auf ein Element im sprachlichen Kotext entspricht in handlungsbegleitenden Beispielen allerdings die Neufokussierung auf ein Element im situativen Kontext. Neufokussierung kann somit im Zusammenhang mit einschr¨ankenden Fragen stehen, wenn Referenten aus dem situativen Kontext thematisiert werden. W¨ahrend sich die Analyse Seltings ausschließlich auf den sprachlichen Kotext bezieht, muss f¨ur die eigene Analyse deshalb auch der situative Kontext ber¨ucksichtigt werden, wenn die Koh¨arenzbeziehungen beurteilt werden sollen.50 Die Kategorie “Neufokussierung” wird aus diesem Grund aufgespalten in Neufokussierung auf der Basis des sprachlichen Kontexts auf der einen Seite und Neufokussierung auf der Basis des situativen Kontexts auf der anderen Seite. Nachdem im vorangegangenen Unterkapitel die auftretenden syntaktischen und semantischen Formate eingef¨uhrt wurden, widmet sich das folgende Kapitel der quantitativen Verteilung der Formate auf die Intonationsverl¨aufe. F¨ur die final steigend-fallenden, steigenden und fallenden Verl¨aufe werden auf diese Weise quantitative Gebrauchsprofile ermittelt.
4.4.2.3
Quantitative Auswertung
Die quantitative Auswertung zeigt, wie sich die syntaktischen und semantischen Kategorien auf die fallenden, steigenden und steigend-fallenden Verl¨aufe verteilen. Es wurde oben bereits ¨ angedeutet, dass sich, ausgehend von den syntaktischen Formaten, eine Ahnlichkeit zwischen den steigenden und den steigend-fallenden Verl¨aufen feststellen l¨asst. Ziel der folgenden ¨ quantitativen Auswertung ist es, m¨ogliche Ahnlichkeiten oder Besonderheiten der steigendfallenden Kontur im Kontrast zu den anderen beiden Verl¨aufen herauszustellen. Wie schon ¨ bei der Analyse der deklarativen Außerungen dient die quantitative Auswertung zun¨achst ¨ als Hinweis auf solche Ahnlichkeiten oder Besonderheiten, die dann durch eine qualitative Analyse u¨ berpr¨uft werden m¨ussen. Es wird nun zuerst die Verteilung der Intonationsverl¨aufe auf die syntaktischen Kategorien beschrieben, dann die Verteilung auf die semantischen Kategorien.
4.4.2.3.1
Syntax
Die folgenden Diagramme stellen syntaktische Gebrauchsprofile der jeweiligen Intonationsverl¨aufe dar. Die erste Abbildung veranschaulicht, wie sich die final fallenden Verl¨aufe auf die verschiedenen syntaktischen Kategorien verteilen. Die zweite Abbildung stellt dies f¨ur die final einfach steigenden Verl¨aufe dar und die dritte Abbildung f¨ur die final steigendfallenden Verl¨aufe. Die in der Legende angegebenen Kategorien beziehen sich auf die in Kapitel 4.4.2.2.1 eingef¨uhrten syntaktischen Kategorien.
50
¨ Eine hilfreiche Operationalisierung der Koh¨arenzbeziehungen von Außerungen im Zusammenhang mit dem situativen Kontext und dem sprachlichen Kotext bieten Linell & Korolija (1997).
232 13%
0%
0%
22% V1 13%
V2 +w-Wort V2 -w-Wort
.
ell +w-Wort ell -w-Wort sonstig
52%
Abbildung 4.51: Kookkurrenz des finalen Falls (n=24) mit syntaktischen Formaten 43%
0%
V1 V2 +w-Wort V2 -w-Wort
.
ell +w-Wort 23%
ell -w-Wort 19%
sonstig
15% 0%
Abbildung 4.52: Kookkurrenz des finalen Anstiegs (n=26) mit syntaktischen Formaten 60%
V1 V2 +w-Wort V2 -w-Wort
.
ell +w-Wort 7%
ell -w-Wort sonstig
7% 12% 14%
0%
Abbildung 4.53: Kookkurrenz des final steigend-fallenden Verlaufs (n=43) mit syntaktischen Formaten
233 Die Gegen¨uberstellung der drei Verl¨aufe macht deutlich, dass die final fallenden Verl¨aufe (Abb. 4.51) und die final steigend-fallenden Verl¨aufe (Abb. 4.53) in ihrer Verteilung auf die syntaktischen Kategorien kaum Gemeinsamkeiten aufweisen. W¨ahrend beinahe die H¨alfte ¨ aller final fallenden Verl¨aufe auf Außerungen mit V2-Stellung und w-Wort entfallen, machen diese nur 7% aller steigend-fallenden Verl¨aufe aus. Die final steigenden Verl¨aufe liegen hier mit 19% dichter bei den steigend-fallenden als bei den fallenden Verl¨aufen. Der deutliche ¨ Schwerpunkt der steigend-fallenden Konturen liegt mit 60% bei den Außerungen mit V1Stellung, die wiederum einen nur geringen Anteil der fallenden Konturen ausmachen (13%). Wieder liegen die final einfach steigenden Konturen mit 43% Vorkommen mit V1-Stellung dichter bei den steigend-fallenden Konturen als bei den fallenden Konturen. Gemeinsam ist den steigenden und den steigend-fallenden Konturen, dass sie nicht mit elliptischen Formaten mit w-Wort vorkommen, wohingegen die syntaktische Kategorie “elliptisch ohne w-Wort” ausschließlich durch diese beiden Intonationsverl¨aufe besetzt ist. Die Verteilung in der Kategorie V2-Stellung ohne w-Wort“ untermauert die zu Beginn des ” ¨ Kapitels wiedergegebenen Ergebnisse, dass auch syntaktisch unmarkierte Außerungen in spontansprachlichen Daten mit final fallenden Konturen vorkommen k¨onnen. 21% der fallenden Konturen, 7% der steigend-fallenden Konturen und 15% der steigenden Konturen kookkurrieren mit diesem syntaktischen Format. Das bedeutet, dass 41,7% (n=5) der Fragen mit Verbzweitstellung ohne w-Wort mit final fallender Kontur realisiert werden. Die restli¨ chen 58,3% werden durch die final steigenden und die final steigend-fallenden Außerungen gestellt. Es muss hinzugef¨ugt werden, dass 2 der 5 final fallenden Verl¨aufe ein steigendes R¨uckversicherungssignal ne im Anschluss an den Fall aufweisen. Auf die u¨ brigen 3 Verl¨aufe trifft dies allerdings nicht zu, und die Tatsache, dass sie dennoch problemlos als Fragen eingeordnet werden k¨onnen (und von den Interaktionsteilnehmern auch so behandelt werden), ¨ verdeutlicht, wie wichtig die kontextuelle Einbettung f¨ur die Interpretation von Außerungen ist. Grunds¨atzlich ist also festzuhalten, dass sich die steigend-fallenden Konturen gemessen an ihrer quantitativen Verteilung auf die syntaktischen Formate eher mit den final steigenden Verl¨aufen gruppieren lassen als mit den final fallenden Verl¨aufen.51 Inwiefern sich die quantitative Verteilung allerdings weiter interpretieren l¨asst, ist fraglich. Funktionszuweisungen auf der Basis der u¨ blichen Kategorien “Entscheidungsfrage”, “Erg¨anzungsfrage” usw. sind f¨ur eine Analyse der konversationellen Funktionen sicherlich nicht ausreichend. Wie auch Seltings Ergebnisse nahe legen, lassen sich syntaktische Frageformate nicht eindeutig auf bestimmte konversationelle Funktionen abbilden. Erst im Zusammenspiel mit den semantischen Kategorien ergeben sich zuverl¨assige Hinweise auf konversationelle Funktionen. So k¨onnen V1-Fragen je nach semantischer Kategorie “nicht-einschr¨ankend, offen” (bei Neufokussierung), “einschr¨ankend, enger” (bei Fokusweiterf¨uhrung) oder “erstaunte Nachfragen” (bei Refokussierung) sein. “Nicht-einschr¨ankend, offen” k¨onnen bei Neufokussierung aber auch ebenso Fragen mit w-Wort wirken. Die Syntax alleine l¨asst hier demnach noch keinen Schluss auf die konversationelle Nutzung der Frage zu. Die Kombination von syntaktischem Format mit semantischer Kategorie wird weiter unten noch ausf¨uhrlich behandelt. Zun¨achst folgt die quantitative Verteilung der Intonationsverl¨aufe in Hinblick auf die semantischen Kategorien. 51
Nicht ohne weiteres in dieses Bild passt die Verteilung auf die Kategorie “Sonstiges”. Auf das m¨ogliche Zustandekommen dieser Verteilung wurde bereits weiter oben hingewiesen.
234 4.4.2.3.2 Semantik Im Folgenden werden die semantischen “Gebrauchsprofile” der drei untersuchten Intonationsverl¨aufe beschrieben. Die erste Abbildung (Abb. 4.54) veranschaulicht die Verteilung der final fallenden Verl¨aufe, die zweite Abbildung (Abb. 4.55) die der final steigenden Verl¨aufe und die letzte Abbildung (Abb. 4.56) schließlich die der steigend-fallenden Verl¨aufe. Es ist zu beachten, dass sich die Datenmenge durch die Herausnahme der Redewiedergaben um 11 Belege reduziert hat. In der Gruppe der final fallenden Fragen liegen 4 Redewiedergaben vor, in der Gruppe der final steigenden 3 und in der Gruppe der final steigend-fallenden Fragen wiederum 4, die jeweils abgezogen wurden. 40%
Neufok sit Neufok spra
.
0% 25%
Fokuswei Refok
35%
Abbildung 4.54: Kookkurrenz des final steigend-fallenden Verlaufs (n=20) mit syntaktischen Formaten
26% 22% Neufok sit Neufok spra
.
Fokuswei Refok
30%
22%
Abbildung 4.55: Kookkurrenz des finalen Anstiegs (n=23) mit semantischen Formaten
Besonders auff¨allig an der quantitativen Verteilung auf die semantischen Kategorien ist der große Anteil an neufokussierenden Fragen bei der steigend-fallenden Kontur: 61% aller stei¨ gend-fallenden interrogativen Außerungen fallen in diese Kategorie. Dem stehen 38% neufokussierende Fragen bei den steigenden und 29% neufokussierende Fragen bei den fallenden Fragen gegen¨uber. Auff¨allig ist weiterhin der relativ geringe Anteil an refokussierenden Fragen bei den steigend-fallenden Fragen (14%) im Vergleich zu den steigenden Fragen (mit 23%) und vor allen Dingen den fallenden Fragen (mit 33%). Auch die fokusweiterf¨uhrenden
235 15% 23% Neufok sit 18%
Neufok spra
.
Fokuswei Refok
44%
Abbildung 4.56: Kookkurrenz des final steigend-fallenden Verlaufs (n=39) mit semantischen Formaten
Fragen bilden gegen¨uber den u¨ brigen Intonationsverl¨aufen bei den steigend-fallenden Konturen den kleinsten Anteil mit 18% gegen¨uber 30% bzw. 25% bei den steigenden und den fallenden Fragen. Im Gegensatz zu der Verteilung auf die syntaktischen Formate l¨asst sich hier nicht eindeutig f¨ur ein a¨ hnliches Verhalten der steigenden und der steigend-fallenden Fragen argumentieren. Zwar weisen die final steigenden Fragen beispielsweise einen h¨oheren Anteil an neufokussierenden Fragen auf als die final fallenden Fragen, ber¨ucksichtigt man jedoch auch die eingef¨uhrte Unterteilung in Neufokussierung auf der Basis des sprachlichen Kontexts bzw. auf der Basis des situativen Kontexts, so zeigt sich, dass die fallenden Fragen bei den Erstgenannten durch einen wesentlich h¨oheren Prozentsatz gekennzeichnet sind als die steigenden Fragen (35% vs. 22%). Die steigend-fallenden Fragen liegen in ihrer Verteilung (44% Neufok spra) damit tendenziell dichter bei den fallenden Fragen, und da die beiden Neufokussierungskategorien unterschiedliche konversationelle Bearbeitungen nach sich ziehen, m¨ussten ¨ sie in ihren konversationellen Funktionen hier mehr Ahnlichkeit mit den fallenden Konturen aufweisen als mit den steigenden Konturen. Im Fall der anderen Neufokussierungskatego¨ rie (Neufok sit) jedoch ließe die quantitative Verteilung auf eine Ahnlichkeit der steigenden Verl¨aufe mit den steigend-fallenden Verl¨aufen schließen. Ebenso wie bei den neufokussie¨ renden Außerungen ergibt sich auch bei den fokusweiterf¨uhrenden und den refokussierenden ¨ Außerungen kein einheitliches Bild. Die quantitative Verteilung auf die semantischen Kategorien erm¨oglicht demnach keine Gruppierung der steigend-fallenden Kontur mit einem der anderen Verl¨aufe. Da die semantischen Kategorien aber nach Selting mit verschiedenen Formen der konversationellen Bearbeitung in Verbindung gebracht werden k¨onnen, lassen sich bereits anhand der Verteilung der steigend-fallenden Verl¨aufe einige funktionale Tendenzen vermuten. Ausgehend von Seltings Taxonomie konversationeller Fragen wirken neufokussierende Fragen immer nichteinschr¨ankend und offen, fokusweiterf¨uhrende und refokussierende Fragen hingegen immer einschr¨ankend weiterf¨uhrend. Die fokusweiterf¨uhrenden Fragen sind dabei verst¨andigungsbearbeitend, die neufokussierenden Fragen problemmanifestierend (vgl. Selting 1995: 241). Der u¨ berdurchschnittlich hohe Anteil an (sprachlich) neufokussierenden Fragen bei der steigend-fallenden Kontur weist entsprechend darauf hin, dass die steigend-fallenden Fragen
236 wesentlich h¨aufiger als die anderen Fragen nicht-einschr¨ankend wirken und ausgedehnte Redebeitr¨age des Interaktionsteilnehmers nach sich ziehen. Zugleich deutet der hohe Prozentsatz an neufokussierenden Fragen generell darauf hin, dass kein besonders enger inhaltlicher Zusammenhang zum Vorangegangenen bestehen muss, dass mit der konturtragenden Frage also eine inhaltliche Z¨asur gesetzt werden kann. Die konturtragenden Fragen werden offensichtlich nicht bevorzugt in Kontexten eingesetzt, die inhaltlich eng an Vorangegangenes anschließen und dieses dem Gegen¨uber zwecks Verst¨andigungs- oder Problembearbeitung pr¨asentieren. Diese Hypothesen werden im n¨achsten Abschnitt anhand exemplarischer Analysen u¨ berpr¨uft.
4.4.2.4 Qualitative Analyse: “Minimalpaare” Es wurde oben darauf hingewiesen, dass sich erst bei Ber¨ucksichtigung der Syntax im Zusammenhang mit den semantischen Kategorien zuverl¨assige Aussagen u¨ ber m¨ogliche konversationelle Funktionen machen lassen. Eine einzelne Beschreibung der Verteilung auf syntaktische und semantische Formate ist dennoch sinnvoll, da die Syntax nicht bei allen semantischen Kategorien einen Unterschied bei den konversationellen Funktionen bewirkt und einige syntaktische Formate sich diesbez¨uglich zu Gruppen zusammenfassen lassen. Die folgende ¨ tabellarische Auflistung gibt einen Uberblick u¨ ber das Zusammenspiel von Syntax und Semantik und die resultierenden Funktionen. Die Grundlage bildet die Taxonomie von Selting (1995). Tabelle 4.6: Konversationelle Funktionen semantischer und syntaktischer Frageformate nach Selting (1995: 241). Semantik
Syntax
Konversationelle Funktion
Neufokussierung
V1-Stellung, w-Wort
nicht-einschr¨ankend, offen
Fokusweiterf¨uhrung
V1-Stellung, w-Wort
einschr¨ankend, enger
V2-Stellung ohne w-Wort
Inferenz¨uberpr¨ufung
V1-Stellung, V2 ohne w-Wort
“erstaunte Nachfrage”
w-Wort
“Nachfrage” Referenzverstehensproblem akustisches Verstehensproblem wieso / warum Nachfrage “erstaunte Nachfrage”
Refokussierung
Die Tabelle verdeutlicht, dass die Syntax innerhalb der neufokussierenden Fragen keine “bedeutungsunterscheidende” Funktion innehat. Allerdings werden nach Selting auch nicht alle syntaktischen Formate in dieser semantischen Kategorie verwendet. Innerhalb der fokusweiterf¨uhrenden Fragen lassen sich Fragen mit V1-Stellung und Fragen mit w-Wort zusammen gruppieren, innerhalb der refokussierenden Fragen hingegen Fragen mit V1-Stellung und Fragen mit V2-Stellung ohne w-Wort. Diese Gruppierungen sollen im Folgenden die Grundlage ¨ f¨ur die exemplarische Analyse der steigend-fallenden interrogativen Außerungen im Kon-
237 text sein. Es wird f¨ur jede Gruppe ein steigend-fallender Verlauf vorgestellt. Wenn m¨oglich, werden die steigend-fallenden Belege mit steigenden und fallenden Fragen kontrastiert. Die Gegen¨uberstellung entspricht damit gewissermaßen der Bildung von intonatorischen Minimalpaaren, so dass sich hier u¨ ber die quantitative Verteilung hinaus das besondere Funktionspotenzial der steigend-fallenden Kontur zeigen kann. Es ist allerdings zu bedenken, dass eine “Minimalpaarbildung” im eigentlich Sinne mit spontansprachlichen Daten kaum m¨oglich ist, da zu viele Faktoren nicht kontrollierbar sind. Die kontrastive Analyse kann so aber zumin¨ dest auf Fragen mit gr¨oßtm¨oglicher Ahnlichkeit eingeschr¨ankt werden. ¨ Die folgende Tabelle gibt einen Uberblick u¨ ber die Verteilung der Intonationsverl¨aufe auf die Minimalpaargruppen. Die farbig unterlegten Zeilen entsprechen den von Selting herausgestellten Gruppen. Diese umfassen jedoch nicht alle im Korpus vorkommenden Kombinationen von Semantik und Syntax. Deshalb werden in den unteren, nicht farbig markierten Zeilen die zus¨atzlichen Kombinationen angegeben und die Verteilung der Konturen angezeigt. F¨ur diese Kombinationen ist noch keine funktionale Gruppierung m¨oglich, so dass die syntaktischen Formate einzeln aufgef¨uhrt werden. Tabelle 4.7: Verteilung der finalen Intonationsverl¨aufe auf semantische und syntaktische Kategorien L* H-L% (abs.)
L* H% (abs.)
H* L% (abs.)
V1-Stellung, w-Wort
10
3
5
V1-Stellung, w-Wort
4
3
3
V2-Stellung ohne w-Wort
1
4
2
V1-Stellung, V2 ohne w-Wort
5
6
4
w-Wort
1
0
3
V2-Stellung / elliptisch ohne w-Wort
3
2
2
Sonstige
4
0
0
V1-Stellung
7
3
0
w-Wort
0
0
0
V2-Stellung / elliptisch ohne w-Wort
2
2
0
Sonstige
0
0
0
Fokusweiterf¨uhrung
Sonstige
2
0
0
Redewiedergaben
V1-Stellung
4
0
0
w-Wort
0
3
4
V2-Stellung / elliptisch ohne w-Wort
0
0
0
Sonstige
0
0
0
Semantik
Syntax
Neufok spra Fokusweiterf¨uhrung
Refokussierung
Neufok spra
Neufok sit
238 Es wird deutlich, dass viele der Gruppen nicht oder nur sehr sp¨arlich besetzt sind. Um eine vollst¨andige Analyse der intonatorischen Kennzeichnung verschiedener Fragetypen durchzuf¨uhren, ist eine wesentlich umfangreichere Datenmenge erforderlich. F¨ur die folgende qualitative Analyse werden die grau unterlegten Gruppen exemplarisch herausgegriffen. Zus¨atzlich werden zur Veranschaulichung des spezifischen Bedeutungspotenzials der steigend-fallenden Kontur die Belege vorgestellt, die sich in dieser Hinsicht als besonders aussagekr¨aftig erwiesen haben. Es handelt sich dabei um elliptische Fragen ohne w-Wort, bei denen sich die steigend-fallenden von den steigenden Fragen abgrenzen lassen, sowie um die Redewiedergaben, bei denen die steigend-fallende Kontur ihr exklusives Bedeutungspotenzial deutlich entfaltet. Es folgt zuerst die Darstellung neufokussierender Fragen, dann werden die fokusweiterf¨uhrenden und refokussierenden Fragen beschrieben. Schließlich werden die elliptischen Fragen ohne w-Wort und die Fragen in Redewiedergaben diskutiert.
4.4.2.4.1 Exemplarische Analysen: Neufokussierung Wie bereits erw¨ahnt wurde, handelt es sich bei (auf der Grundlage des sprachlichen Kontexts) neufokussierenden Fragen um nicht-einschr¨ankende, offene Fragen, die h¨aufig die Funktion haben, das Gegen¨uber zum Erz¨ahlen aufzufordern. Die Adressaten produzieren im Anschluss an die Frage entsprechend ausgedehnte Redebeitr¨age, so auch im ersten Beispiel mit steigendfallender Kontur. Es stammt aus einem Interview und veranschaulicht sehr deutlich den offenen Charakter dieses Fragetyps. Die Interviewpartnerin antwortet auf die Frage mit einer ausgedehnten Beschreibung, die an das konkret Erfragte anschließt, dann aber in dem gesetz¨ ten thematischen Rahmen weiter ausschweift. Ubergeordnetes Thema sind Fahrradtouren, die k07 fr¨uher mit ihrem Mann unternommen hat. (197)
⇒
k07-weitergefahrn hat; V1
752 753 754 755 756 757 758 759 760 761
k07
762 763 764 765 766 767 768
k07
i
i k07
wir sind also d'=¨ ube ¨ uber den F¨ AHRmannsund r¨ uber; (.) auf die insel FEHmarn; und dann zuR¨ UCK, timmendorfer STRANDund RATzeburschund und ALles so beFAHren; ne? .hh immer so so ACHT tAge. immer so EIne . (.) ham sie dat SO organisiert dass irgend en gep¨ Ackdienst das l h l [WEIter gefahrn hat [ wir ham ALles sElbst gemacht. [. [wir sind EInfach geFAHren, wir ham auch IMmer Unterkunft gekriegt. wir mussten nicht ein EINziges mal l¨ anger FAHren, weil wir kein .hh pensIOn oder hoTEL bekommen h¨ atten;
239 769 770 771 772 773
.h allerdIngs sind wir auch NICH in der hAUptsaison gefahren. wir ham uns also IMmer so Ende auGUST, bis ANfang sepTEMber. genommen. weil dann der HAUPTstrom ja WEG is; ne,
Die Reaktion von k07 erfolgt bereits u¨ berlappend mit der Frage von i (Z 760, 761). Sie verneint sie und f¨ahrt dann fort, im Allgemeinen auszuf¨uhren, wie sie und ihr Mann ihre fr¨uheren Fahrradtouren organisiert haben. Besonders deutlich ist die Funktion der konturtragenden Frage als Gespr¨achsfortsetzungsinitiative zu erkennen. Das vorherige Thema l¨auft aus, was ¨ in diesem Beispiel durch die Wiederholung der eigenen Außerung und die kurze Pause im Anschluss an k07s Beitrag zum Ausdruck kommt (Z 758-760). Das Beispiel ist in dieser Hinsicht typisch f¨ur die neufokussierenden Fragen mit steigend-fallender Kontur. Es zeigt sich somit sowohl die Annahme der Z¨asurbildung durch die entsprechende Frage best¨atigt als auch ihr “raumgebendes” Potenzial. Die Fragen mit steigend-fallender Kontur unterscheiden sich darin jedoch nicht von einfach steigenden neufokussierenden Fragen, wie der folgende Ausschnitt veranschaulicht. Er ist ebenfalls einem Interview entnommen und zeigt sogar eine wesentlich st¨arkere inhaltliche Z¨asur durch die neufokussierende Frage “un a¨ hm wissen sie warum et frIngsveedel FRINGSveedel jenannt wird”, die sich inhaltlich deutlich von der zuvor thematisierten Integration von Ausl¨andern in das st¨adtische Leben abhebt. (198) 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 ⇒
k08-187-i k08
i k08
i
118
119 120 121 122 123 124 125
k08
i k08
k¨ Oln is huMA:N, un wer mit uns nit KLAR kommt, isset SELbert SCHULD un:(--) ((lacht)) ( ) sie ORDnen sich schon unter; mit ihren moSCHEEN.h un wAs se mittlerweile hier in k¨ oln HAben; ne, h l un ¨ ahm wIssen sie warum et frIngsveedel FRINGSveedel jenannt l wird .hh JA:, nach dem ¨ ah: KIRschenf¨ ursten. .h im f- FRINGS. nIsch von dem ¨ ah KARdinal frings den wir in k¨ oln hattensondern VORher schon. ah JA. aus dem MITtelalter heraus; ne,
240 Die Frage wird mit einem Gliederungs- und einem Verz¨ogerungssignal (un a¨ hm) eingeleitet, und ihr geht die zweimalige Best¨atigung stimmt des zuvor Ge¨außerten von k08 voran (Z 116, 117). Im Anschluss an die Frage erfolgt zun¨achst die Bejahung durch k08 und dann ein etwas schleppender Einstieg in einen ausf¨uhrlicheren Redebeitrag u¨ ber den Namensgeber des Stadtviertels, der sich nach dem Ausschnitt noch fortsetzt. Auch hier zeichnet sich die neufokussierende Frage demnach durch eine inhaltliche Z¨asur zum Vorangegangenen und die Zuweisung eines ausgedehnten Redebeitrags aus. Interessanterweise lassen sich die neufokussierenden Fragen mit final fallender Intonation nicht durch diese Funktionen charakterisieren, wie das n¨achste Beispiel veranschaulicht. Auch hier wird eine inhaltliche Z¨asur zum Vorangegangenen gesetzt, die Bearbeitung der Frage durch den angesprochenen Gespr¨achspartner beinhaltet aber keinen ausgedehnten Redebeitrag. Der Gespr¨achsauszug ist den Fußbroichs entnommen, der Freund des Sohnes fs berichtet der Mutter fm von der Produktionsweise bei seiner Arbeitsstelle. (199)
⇒
k03-502-fm
407 408 409
ff
410 411 412 413 414 415 416
fm
417
ff
ff fm ff fm
da werden am tAch tAUsendzweihundert AUtos gebaut (.) wenn die FR¨ UH und die SP¨ AT nur neunhundert bAUen, .hh (-) h l wieviel a' wieviel leute ARbeiten an sOlschen sachen denn SO: viel k¨ onnen dat ja U nit sein; [ne? [n¨ a SIN ni=mehr viele, so=n so=n ROboter oder wat [wEIß=isch[