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Vorwort Am 1. Dezember 2009, mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, ist ein nahezu zwei Jahrzehnte währender Prozess zu einem zumindest vorläufigen Ende gekommen, in dem die Europäische Union ihre verfassungsrechtlichen Grundlagen an die neue historische Situation nach dem Ende des Kalten Krieges angepasst hat. Dieser Prozess, der es der EU ermöglichen sollte, auf die neuen Herausforderungen der Süd- und Osterweiterung, der Wirtschaftsund Währungsunion und der Aufrechterhaltung europäischer Gesellschaftsmodelle unter den Bedingungen einer multipolaren und zunehmend globalisierten Welt adäquat und Erfolg versprechend zu reagieren, führte über die Etappen Maastricht, Amsterdam, Nizza und dem letztlich gescheiterten Verfassungsvertrag schließlich zum Vertrag von Lissabon. Dieser Vertrag hat die EU grundlegend umgestaltet, etwa in den Bereichen der Rechtsetzung, der interinstitutionellen Beziehungen auf Unionsebene oder des Verhältnisses zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten. Jedoch ist der Veränderungsprozess mit seinem Inkrafttreten noch nicht abgeschlossen. Der Vertrag ist der konstitutionelle Rahmen, der die Bedingungen für das politische und juristische Tagesgeschäft seither festlegt. Viele der vertraglich vorgesehenen Neuerungen werden seit dem 1. Dezember 2009 durchgeführt und umgesetzt, sozusagen mit Leben erfüllt, ein Prozess, der auch bei Drucklegung des vorliegenden Bandes noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Wie zu erwarten war, traten und treten bei der Implementierung des Vertrags von Lissabon zahlreiche politische und rechtliche Fragen auf, deren Beantwortung für die tatsächliche künftige Organisation und Funktionsweise der Union von herausragender Bedeutung ist. Um die wichtigsten Aspekte sowie deren Konsequenzen eingehend zu analysieren, veranstalteten ECSA Austria, die Universität Innsbruck und die Universität Salzburg am 10. und 11. Juni 2010 in Salzburg eine Konferenz unter dem Titel „Rechtsfragen der Implementierung des Vertrages von Lissabon“. 19 Themen wurden von ausgewiesenen akademischen Experten aus den Bereichen Europarecht, Öffentliches Recht und Politikwissenschaft
VI
Vorwort
sowie von Praktikern aus den einschlägigen europäischen und österreichischen Institutionen in einem Referat aufbereitet und anschließend von einem zahlreich erschienenen Fachpublikum diskutiert. Der vorliegende Band hat nicht nur zum Ziel, die Ergebnisse dieser Analysen und Diskussionen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und damit die Basis der Debatte zu vertiefen. Er ist auch – ein Jahr nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon – eine erste Bestandsaufnahme darüber, wie der neue verfassungsrechtliche Rahmen der Europäischen Union seither genutzt wurde, welche Regelungen sich bewährt haben und welche eher nicht, und welche Folgen der Vertrag für die Mitgliedstaaten hat, insbesondere, aber nicht nur, für Österreich. Die Herausgeber möchten es an dieser Stelle nicht versäumen, für die großzügige Unterstützung durch die Europäische Kommission im Rahmen des Programms für lebenslanges Lernen sowie durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, das Amt der Salzburger Landesregierung, das Amt der Tiroler Landesregierung, das Amt der Vorarlberger Landesregierung, die Rechtsakademie der Universität Salzburg, die Red Bull GmbH und das SCEUS der Universität Salzburg zu danken. Ohne ihrer aller Hilfe wären weder die Durchführung der Konferenz noch die Publikation des vorliegenden Bandes möglich gewesen. Unser besonderer Dank gilt außerdem ebenso Frau Martina Ullrich von der Universität Salzburg für die professionelle Vorbereitung und Begleitung der Tagung wie Frau Elisabeth Beer von der Wirtschaftsuniversität Wien für die Herstellung des druckfertigen Manuskripts. Innsbruck und Salzburg, im Oktober 2010 Thomas Eilmansberger
Stefan Griller
Walter Obwexer
Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis
XI
Teil I: Das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Gerda Falkner Stolpersteine auf dem Weg zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon: Die EU in einer Vertragsreformfalle?
1
Rudolf Streinz Rechtliche Verankerung der Garantien für Irland und der „Fußnote“ für Tschechien
23
Walter Obwexer Rechtsfragen des Übergangs von „Nizza“ zu „Lissabon“
47
Teil II: Die Anwendung und Durchführung grundlegender Reformen Charlotte Beaucillon / Friedrich Erlbacher „Comme une lettre à la poste“. Rechtliche und praktische Aspekte der Rechtsnachfolge von der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union
101
Eckhard Pache Die Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes unter besonderer Berücksichtigung des Beitritts der Union zur EMRK
121
Hubert Isak Die Anwendung der demokratischen Grundsätze unter besonderer Berücksichtigung der Europäischen Bürgerinitiative
143
Teil III: Die Durchführung wichtiger institutioneller Änderungen Christa Peutl Organisation und Arbeitsweise des Europäischen Rats
199
Andreas J. Kumin Organisation und Arbeitsweise des Rates
209
VIII
Inhaltsverzeichnis
Evelyn Waldherr Organisation und Arbeitsweise des Europäischen Parlaments
231
Bernhard Schima Organisation und Arbeitsweise der Europäischen Kommission
251
Gregor Schusterschitz Organisation und Arbeitsweise der Hohen Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik sowie des Europäischen Auswärtigen Dienstes
269
Thomas Kröll Rechtsetzungsverfahren und Rechtsakte
313
Maria Berger Die Ausgestaltung der Neuerungen im Rechtsschutzsystem
343
Teil IV: Die Ausgestaltung wesentlicher Politikbereiche Peter-Christian Müller-Graff Realisierung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
359
Elfriede Regelsberger Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU nach Lissabon – Dynamik durch Flexibilisierung?
385
Christoph Ohler Die Umsetzung der Gemeinsamen Handelspolitik nach dem Vertrag von Lissabon 407 Teil V: Die Mitwirkung der Parlamente der Mitgliedstaaten Stefan Griller Ausgestaltung der Mitwirkung des Parlaments in Österreich 441 Martin Nettesheim Die gesetzgebenden Organe der Bundesrepublik Deutschland im Integrationsprozess
467
Inhaltsverzeichnis
IX
Teil VI: Ausblick und Wertung Sonja Puntscher Riekmann Europas Verfassung nach Lissabon. Europäische Politik in der Finanz- und Wirtschaftskrise zwischen Pragmatismus und Legitimation Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
497 527
Abkürzungsverzeichnis aA: anderer Auffassung ABl: Amtsblatt der Europäischen Union vor 1993: der Europäischen Gemeinschaften) Abs: Absatz A-Drs: Ausschussdrucksache AEUV: Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union aF: alte Fassung AFET: Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments AGRI: Landwirtschaftsausschuss des EP allg: allgemein ArchVöR: Archiv des Völkerrechts Art: Artikel AStV: Ausschuss der Ständigen Vertreter (der Mitgliedstaaten) AT: Österreich AusweitG: Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestags und des Bundesrats in Angelegenheiten der EU (Deutschland)
BAnz: Bundesanzeiger (Deutschland) BBV: Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union (Deutschland) BDG: Beamten-Dienstrechtsgesetz BE: Belgien BG: Bulgarien BGBl: Bundesgesetzblatt (Deutschland und Österreich) BIP: Bruttoinlandsprodukt BIT: Bilateral Investment Treaty BlgNR: Beilage(n) zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates (Österreich) BLV: Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Länder über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union (Deutschland) BT: Bundestag (Deutschland)
XII
Abkürzungsverzeichnis
BT-Drs: Bundestagsdrucksache BUDG: Budgetausschuss des EP BVerfG: Bundesverfassungsgericht (Deutschland) BVerfGG: Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (Deutschland) BVG: Bundesverfassungsgesetz (Österreich) B-VG: Bundes-Verfassungsgesetz (Österreich) bzw: beziehungsweise ca: circa CAP: Centrum für angewandte Politikforschung CATS: Comité de l’article trente-six (Ausschuss nach Artikel 36 des Vertrags über die Europäische Union) CCA: Consultative Committee on Appointment CDE: Cahiers de Droit Européen CDU: Christlich Demokratische Union CEPS: Centre for European Policy Studies CERDP: Centre européen de la recherche et de la documentation parlementaire
CFSP: Common Foreign and Security Policy (= GASP) CMLR: Common Market Law Review CMPD: Crisis Management and Planning Directorate (des Rates) COAFR: Ratsarbeitsgruppe für Afrika COD: Codecision COEST: Ratsarbeitsgruppe für die Länder der ehemaligen Sowjetunion COJUR: Ratsarbeitsgruppe für Völkerrecht COLAT: Ratsarbeitsgruppe für Lateinamerika COMAR: Ratsarbeitsgruppe für Seerecht COMECON: Council for Mutual Economic Assistance (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, RGW) COREPER: Comité des représentants permanents (= AStV) COSAC: Conférence des Organes Spécialisés dans les Affaires communautaires (Konferenz der Europaausschüsse) COSI: Ständiger Ausschuss des Rates für die innere Sicherheit
Abkürzungsverzeichnis
CPCC: Civilian Planning and Conduct Capability (des Rates) CSU: Christlich-Soziale Union CY: Zypern CZ: Tschechische Republik DE: Deutschland dh: das heißt DK: Dänemark Dok: Dokument DöV: Die öffentliche Verwaltung EAD: Europäischer Auswärtiger Dienst EAG: Europäische Atomgemeinschaft EAGV: Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft EBA: European Banking Authority ebd: ebenda EBI: Europäische Bürgerinitiative EC: European Community / Communities ECB: European Central Bank (= EZB) ECIO: European Citizens’ Initiative Office ECOFIN: Economic and Financial Affairs ed(s): editor(s)
XIII
EDA: European Defence Agency EE: Estland EG: Europäische Gemeinschaft(en) EGKS: Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGMONT: The Royal Institute for International Relations EGMR: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EGV: Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (wenn nicht anders vermerkt in der Fassung des Vertrags von Nizza) EIF: Institut für europäische Integrationsforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften EIOPA: European Insurance and Occupational Pensions Authority EK: Europäische Kommission EL: Griechenland ELR: European Law Reporter EMRK: Europäische Menschenrechtskonvention endg: endgültig EP: Europäisches Parlament EPC: European Policy Centre
XIV
Abkürzungsverzeichnis
EPIN: European Policy Institutes Network EPZ: Europäischen Politischen Zusammenarbeit ER: Europäischer Rat Erkl: Erklärung Erwgr: Erwägungsgründe ES: Spanien ESDP: European Security and Defense Policy (= ESVP) ESMA: European Securities and Markets Authority ESRB: European Systemic Risk Board ESS: Europäische Sicherheitsstrategie ESZB: Europäisches System der Zentralbanken EU: Europäische Union EUCE: European Union Centre of Excellence EuG: Gericht (der Europäischen Union) (= Europäisches Gericht) EuGH: Gerichtshof (der Europäischen Union) (= Europäischer Gerichtshof) EuGRZ: Europäische Grundrechte-Zeitschrift EULEX: European Union Rule of Law Mission EUMS: Militärstab der Europäischen Union EuR: Europarecht
Euratom: Europäische Atomgemeinschaft Eurojust: European Union Judicial Cooperation Unit Europol: European Police Office EUROSUR: Europäisches Grenzkontrollsystem EUV: Vertrag über die Europäische Union (wenn nicht anders vermerkt in der Fassung des Vertrags von Lissabon) EuZBBG / EUZBBG: Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (Deutschland) EuZBLG / EUZBLG: Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (Deutschland) EuZW: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht EVV: Vertrag über eine Verfassung für Europa EWG: Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWGV: Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
Abkürzungsverzeichnis
EWR: Europäischer Wirtschaftsraum EWSA: Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss EZB: Europäische Zentralbank f / ff: folgende/fortfolgende FAO: Food and Agriculture Organization FAZ: Frankfurter Allgemeine Zeitung FDP: Freie Demokratische Partei FI: Finnland FIDE: Fédération Internationale de Droit Européen Fidesz: Magyar Polgári Szövetség (Ungarischer Bürgerbund) Fn: Fußnote FPÖ: Freiheitliche Partei Österreichs FR: Frankreich Frontex: Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen FS: Festschrift GA: Generalanwältin / Generalanwalt GASP: Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik GATS: General Agreement on Trade in Services
XV
GATT: General Agreement on Tariffs and Trade GD: Generaldirektion GEI: Gericht erster Instanz (bis Dezember 2009) (= EuG) gem: gemäß GermanLJ: German Law Journal GG: Grundgesetz (Deutschland) GO: Geschäftsordnung GOG-NR: Geschäftsordnungsgesetz (des Österreichischen Nationalrats) GP: Gesetzgebungsperiode (des Österreichischen Nationalrats) GR: Griechenland GRC[h]: Charta der Grundrechte der Europäischen Union Grüne: Bündnis 90 / Die Grünen GSVP: Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik hA: herrschende Auffassung Hg: Herausgeber HU: Ungarn HV: Hohe/r Vertreter/in der Union für die Außenund Sicherheitspolitik IA: Initiativantrag
XVI
Abkürzungsverzeichnis
IAEO: International Atomic Energy Organization idF: in der Fassung idgF: in der geltenden Fassung idR: in der Regel IE: Irland ieS: im eigentlichen/engeren Sinne IGH: Internationaler Gerichtshof IIEA: Institute of International and European Affairs IMF: International Monetary Fund (= IWF) inkl: inklusive insb: insbesondere IntVG: Gesetz über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (Deutschland) IPEX: Interparliamentary EU Information Exchange IPR: Internationales Privatrecht iSv: im Sinne von IT: Informationstechnologie IT: Italien iVm: in Verbindung mit IWF: Internationaler Währungsfonds
iwS: im weiteren Sinne iZm: im Zusammenhang mit JRP: Journal für Rechtspolitik JURI: Justizausschuss des EP Komm: Europäische Kommission KritV: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft LIBE: Ausschuss für bürgerliche Freiheiten des EP lit: litera LT: Litauen LU: Luxemburg LV: Lettland MdEP: Mitglied des Europäischen Parlaments mE: meines Erachtens MEP: Mitglied des Europäischen Parlaments MFR: mehrjähriger Finanzrahmen milit: militärisch MS: Mitgliedstaat[en] MT: Malta mwN: mit weiteren Nachweisen NAM: Non-Aligned Movement NATO: North Atlantic Treaty Organization
Abkürzungsverzeichnis
nF: neue Fassung NJW: Neue Juristische Wochenschrift NL: Niederlande Nr: Nummer NRO: Nichtregierungsorganisation(en) NVwZ: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht ODS: Obanská demokratická strana (Demokratische Bürgerpartei in der Tschechischen Republik) OECD: Organisation for Economic Co-operation and Development OGV: ordentliches Gesetzgebungsverfahren OIC: Organization of the Islamic Conference ÖJZ: Österreichische Juristen-Zeitung OLAF: Office européen de lutte antifraude (Europäisches Amt für Betrugbekämpfung) OLP: Ordinary Legislative Procedure OSZE: Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa PDS: Partei des Demokratischen Sozialismus PECH: Fischereiausschuss des EP
XVII
Pkt: Punkt PL: Polen PLO: Procédure législative ordinaire PP: Parlamentsprotokoll Prot: Protokoll PSK: Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee (des Rates) PT: Portugal QM: Qualifizierte Mehrheit RAA: Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ RAA/AB: Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ / Auswärtige Beziehungen RAB: Rat Auswärtige Beziehungen RAuswAng: Rat „Auswärtige Angelegenheiten“ RELEX: Relations Extérieures (Außenbeziehungen) RFSR: Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts RL: Richtlinie Rn: Randnummer RO: Rumänien Rs: Rechtssache(n) RTDE: Revue Trimestrielle de Droit Européen Rz: Randzahl S: Seite
XVIII
Abkürzungsverzeichnis
SAEGA: Strategischer Ausschuss des Rates für Einwanderungs-, Grenzund Asylfragen Satzung GH: Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union SchlA: Schlussanträge SE: Schweden SI: Slowenien SitCen: Situation Centre (des Rates) SK: Slowakei Slg: Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts erster Instanz (der Europäischen Union) SNE: Seconded National Expert sog: sogenannt SPD: Sozialdemokratische Partei Deutschlands spez: speziell SSRN: Social Science Research Network SSZ: Ständige Strukturierte Zusammenarbeit SWP: Stiftung Wissenschaft und Politik TO: Tagesordnung TRIPS: Agreement on TradeRelated Aspects of Intellectual Property Rights UAbs: Unterabsatz
UCD: University College of Dublin UK: Vereinigtes Königreich UN[O]: United Nations [Organization] UNCTAD: United Nations Conference on Trade and Development Unidroit: International Institute for the Unification of Private Law US[A]: United States [of America] UVS: Unabhängiger Verwaltungssenat v: von va: vor allem verb: verbundene VerfO EuGH: Verfahrensordnung des Gerichtshofs (der Europäischen Union) VfGG: Verfassungsgerichtshofgesetz (Österreich) VfGH: Verfassungsgerichtshof (Österreich) vgl: vergleiche VN: Vereinte Nationen VO: Verordnung Vorbem: Vorbemerkung VvL: Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung
Abkürzungsverzeichnis
der Europäischen Gemeinschaft VwGH: Verwaltungsgerichtshof (Österreich) wbl: Wirtschaftsrechtliche Blätter WEU: Westeuropäische Union WKO: Wirtschaftskammer Österreich WTO: World Trade Organization WV[R]K: Wiener Vertragsrechtskonvention WWU: Wirtschafts- und Währungsunion Z: Ziffer ZaöRV: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zB: zum Beispiel ZEuS: Zeitschrift für Europarechtliche Studien ZfRV: Zeitschrift für Rechtsvergleichung ZG: Zeitschrift für Gesetzgebung Ziff: Ziffer ZJS: Zeitschrift für das Juristische Studium ZÖR: Zeitschrift für Öffentliches Recht ZRP: Zeitschrift für Rechtspolitik zT: zum Teil
XIX
Gerda Falkner1
Stolpersteine auf dem Weg zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon: Die EU in einer Vertragsreformfalle? I. Einleitung II. Vom Verfassungsvertrag zum Lissabon-Vertrag III. Stolpersteine am Weg zur Ratifizierung des Vertrags von Lissabon IV. Der Fall Irland V. Weitere Stolpersteine A. Fast ein Stolperstein: Polen B. Fast ein Stolperstein: Deutschland C. Fast ein Stolperstein: Tschechische Republik D. Konklusionen: Die EU in der „Vertragsreformfalle“?
1 2 6 6 8 13 14 16 18
I. Einleitung Der vorliegende Band widmet sich den Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon. Dieser Einleitungsbeitrag weicht davon in doppelter Hinsicht ab: Es handelt sich um keine juristische Analyse,2 und es geht nicht um die Umsetzung des Vertrags, sondern um seine Vorgeschichte. Dies wäre im Grunde passende Materie für eine rein zeitgeschichtliche Analyse – darüber soll hier aber im Sinne von politikwissenschaftlicher Grundlagenforschung auch etwas hinausgegangen werden. Nachdem einleitend der Hintergrund und die schwierige Vorgeschichte dieses Vertrags von Lissabon wieder in Erinnerung gerufen und die Problemfälle Irland, Polen, Deutschland und 1 2
Ich danke Mag. Lukas Schweiger für seine Unterstützung bei der Sammlung und Auswertung der Literatur. Als juristische Analysen zum Vertrag von Lissabon seien hier beispielsweise genannt: Stefan Griller / Jacques Ziller (eds), The Lisbon Treaty. EU Constitutionalism without a Constitutional Treaty?, (2008); Waldemar Hummer / Walter Obwexer (Hg), Der Vertrag von Lissabon (2009).
T. Eilmansberger et al. (eds.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon © Springer-Verlag Wien 2011
2
Gerda Falkner
Tschechische Republik jeweils einzeln analysiert werden (siehe auch Tabelle 1 und 2 mit den Daten und Fakten dazu), soll ausleitend diskutiert werden, inwiefern das Schicksal dieses Vertrags ein Beispiel dafür ist, dass die europäische Integration strukturell vor gewisse „Entscheidungsfallen“ gestellt ist.3 II. Vom Verfassungsvertrag zum Lissabon-Vertrag Der am 1. Februar 2003 in Kraft getretene Vertrag von Nizza wird voraussichtlich der letzte sein, der nach rein „inter-gouvernementalem“ Muster – also gänzlich ohne breitere Einbeziehung von Akteuren in einem „Konvent“ – verhandelt wurde: Er war das Ergebnis von elf Monaten Verhandlungen im Rahmen einer Regierungskonferenz der damals noch 15 Mitgliedstaaten. Am 11. Dezember 2000 hatten ihn auf der Tagung des Europäischen Rats in Nizza die Staats- und Regierungschefs politisch angenommen und am 26. Februar 2001 unterzeichnet. Allerdings besteht breiter Konsens dahingehend, dass diese und auch schon die vorangegangene Regierungskonferenz zum Vertrag von Amsterdam (1997) keine zufrieden stellenden Antworten auf die anstehenden institutionellen Fragen gegeben hatten, und dass mehr oder weniger mechanische Anpassungen an die vergrößerte Mitgliederzahl nicht ausreichten.4 Vor diesem Hintergrund wurden bekanntlich schon in einer der Schlussakte der Regierungskonferenz 2000 beigefügten Erklärung Themen für die nächsten Reformanstrengungen genannt. Und schon wenige Monate nach Unterzeichnung des Vertrags von Nizza kamen die Regierungen der EU beim Europäischen Rat von Laeken im Dezember 2001 überein, dass zur Unterstützung der Reformanstrengungen ein „Konvent“ einberufen werden sollte. Eine so genannte Versammlung hatte es schon im Zuge der Ausarbeitung der Charta der Grundrechte gegeben, aber für eine EU-Vertragsreform war dies ein „Wendepunkt in der Geschichte der Änderungen der Verträge: darin zeigt sich der Wille, von den Klausurtagungen abzukommen, an denen allein die Vertreter der Regierungen teilneh3 4
Gerda Falkner (ed), The EU’s Decision Traps: Comparing Policies (Oxford University Press, forthcoming 2011). Dies wird auch auf den offiziellen Websites der EU-Kommission so formuliert, von der für diesen Beitrag die historischen Daten übernommen wurden (http://europa.eu/scadplus/european_convention /introduction_de.htm, 5.6.2010).
Stolpersteine auf dem Weg zum Inkrafttreten des Vertrags
3
men.“5 Der Europäische Konvent6 beendete seine Arbeit am 10. Juli 2003, die nachfolgende Regierungskonferenz tagte von Oktober 2003 bis Juni 2004. Schließlich wurde ein „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ am 29. Oktober 2004 von den 25 Staatsund Regierungschefs in Rom unterzeichnet. Hintergrund für den Vertrag von Lissabon und sein stürmisches Schicksal im Zuge nationaler Ratifizierungsprozesse ist der nicht in allen Aspekten unähnliche Verlauf der Nicht-Implementierung dieses Vorgängervertrags. Die folgende Tabelle7 veranschaulicht sowohl zustimmende (mittlere Spalte) als auch ablehnende Reaktionen (rechte Spalte) in den Mitgliedstaaten. Tabelle 1: Schritte der Ratifizierung des Verfassungsvertrags DATUM RATIFIZIERUNG ABLEHNUNG 11.11.2004 Litauen ratifiziert als erstes Land den Vertrag. 20.02.2005 Die spanische Bevölkerung stimmt in einem konsultativen Referendum dem Vertrag mit 76,7 % zu, bei 42,32 % Wahlbeteiligung.
5 6
7
Worte der EU-Kommission: http://europa.eu/scadplus/european_ convention/introduction_de.htm (5.6.2010). Der Konvent umfasste: Valéry Giscard d'Estaing als Präsident, die Vizepräsidenten Giuliano Amato und Jean Luc Dehaene; 15 Vertreter der Staats- bzw Regierungschefs der Mitgliedstaaten (einer pro Mitgliedstaat); 13 Vertreter der Staats- bzw Regierungschefs der Kandidatenländer (einer pro Kandidatenland); 30 Vertreter der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten (zwei pro Mitgliedstaat); 26 Vertreter der nationalen Parlamente der Kandidatenländer (zwei pro Kandidatenland); 16 Vertreter des Europäischen Parlaments; sowie 2 Vertreter der Europäischen Kommission. Sie beruht auf Vorarbeiten von Mag. Lukas Schweiger.
4
Gerda Falkner
DATUM RATIFIZIERUNG ABLEHNUNG 12.05.2005 Der deutsche Bundestag stimmt dem Vertrag zu, am selben Tag erhob aber Peter Gauweiler (CSU) Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht. 29.05.2005 Frankreich lehnte den Vertrag in einem Referendum mit 54,68 % ab, bei 69,34 % Wahlbeteiligung. 01.06.2005 Zu diesem Zeitpunkt Die Niederlande lehnten hatten LT, HU, SI, IT, den Vertrag in einem ES, AT, GR, BE, SK konsultativen Referenund DE den Vertrag dum mit 61,5 % ab, bei 63,3 % Wahlbeteiligung. bereits ratifiziert. 10.07.2005 Luxemburg stimmt dem Vertrag in einem konsultativen Referendum mit 56,52 % zu, bei 87,77 % Wahlbeteiligung. 2005-6 Malta, Zypern, Litauen, Die Ratifikation wurde Belgien, Estland, Finn- in allen anderen Länland ratifizieren den dern gestoppt. Eine Verfassungsvertrag. Volksabstimmung wäre in allen weiteren Ländern mit Ausnahme Schwedens, Bulgariens und Rumäniens vorgesehen gewesen. Schon am 17. Juni 2005 hatte Jean-Claude Juncker im Europäischen Rat eine Reflektionsperiode angekündigt, die im Oktober 2005 von der Kommissionsvizepräsidentin Margot Wallström mit dem so genannten „Plan D“ (Demokratie, Dialog und Debatte) näher spezifiziert wurde. Bis zu den Wahlen zum Europäischen Parlament 2009 sollte eine Lösung gefunden werden.
Stolpersteine auf dem Weg zum Inkrafttreten des Vertrags
5
Die wesentlichen Vorschläge der Debatten 2006 – 2007 lassen sich als „Nizza-Plus“ und „Verfassungs-Minus“ zusammenfassen. Großbritannien, Frankreich, die Niederlande, Tschechien und Polen traten für eine Lösung nah am Nizzavertrag ein, während das Europäische Parlament und die meisten Länder, die den Verfassungsvertrag bereits ratifiziert hatten, für eine Lösung nah am Verfassungsvertrag optierten. Alternative Vorschläge wie etwa ein „mini-traité“ (Sarkozy), ein Europa der zwei Geschwindigkeiten (Chirac), ein Sozialprotokoll (verschiedene Linksparteien), Ratifikation per EU-weitem Referendum (österreichische Präsidentschaft) fanden nur wenig Zustimmung. Im Juni 2007 beschloss der Europäische Rat in Brüssel, den Ratifizierungsprozess des Verfassungsvertrags zu beenden. Man einigte sich auf ein detailliertes Mandat für eine Regierungskonferenz, die am 23. Juli 2007 eröffnet wurde. Schon am 5. Oktober 2007 wurde ein erster Entwurf des Reformvertrags präsentiert, ein informeller Gipfel in Lissabon löste am 19. Oktober letzte Konfliktpunkte und am 13. Dezember 2007 wurde der Vertrag in Lissabon unterzeichnet.8 Church und Phinnemore9 beurteilen die Situation zu diesem Zeitpunkt folgendermaßen: „the majority of the Constitutional Treaty had been rescued and given a new framework. It remained to be seen whether this de-constitutionalization would achieve its end of facilitating ratification.”10 Damit wären wir am Ausgangspunkt jenes Prozesses, der hier das Thema im engeren Sinne darstellt.
8
9
10
Für eine Gegenüberstellung des Verfassungsvertrags und des Lissabonner Vertrags siehe Sebastian Kurpas, The Treaty of Lisbon – How much “Constitution” is left?, CEPS Policy Brief, Centre for European Policy Studies No. 147, 2007, und dort besonders die Tabelle auf Seite 2. Clive Church / David Phinnemore, Shackled by the Mandate: Negotiating and Ratifying the Treaty of Lisbon. Unpublished manuscript. Queen's University Belfast (2009) 19. Die Analyse von unterschiedlichen EU-Politikfeldern ergibt jedenfalls erstaunlich großes Reformpotential des Vertrags von Lissabon, wie ein kollaboratives Working Paper des Teams am EIF aufzeigt (http://www.eif.oeaw.ac.at/workingpapers/): Gerda Falkner (ed), EU Policies in the Lisbon Treaty: A Comparative Analysis, EIF Working Paper No. 3, 2008.
6
Gerda Falkner
III. Stolpersteine am Weg zur Ratifizierung des Vertrags von Lissabon Eingangs sei festgehalten, dass eine ganze Reihe von möglichen weiteren Hürden quasi „entschärft“ wurde: x So entschied man sich in Frankreich, wo für die Ratifizierung eine Verfassungsänderung nötig war, diesmal keine Volksabstimmung abzuhalten. x Gleiches gilt für die Niederlande, wo entschieden wurde, dass der neue Vertrag keine konstitutionellen Elemente enthalte und daher keiner Volksabstimmung bedürfe.11 x Und auch der dänische Premierminister Rasmussen scheint der deutschen Kanzlerin Merkel zugesichert zu haben, dieses zu vermeiden. Das war nur möglich auf der Basis eines Entscheids durch ein Panel des dänischen Justizministeriums dahingehend, dass der Vertrag keinen weiteren Transfer von Kompetenzen bedeute.12 Trotzdem waren extreme Hürden in einer Reihe von Ländern zu nehmen. Irland mit seiner abschlägigen Volksabstimmung war dabei zwar das offensichtlichste Problem, andere standen im Endeffekt aber nur wenig nach. IV. Der Fall Irland Als Hauptmotive für das ablehnende Votum der irischen Bevölkerung am 12. Juni 2008 gelten:13 x ungenügendes Wissen über den Vertrag: „(I)t was not only the ‘average’ voter that was ill-informed. The Irish prime minister admitted that he had not read the Lisbon Treaty and Ireland’s 11 12
13
Per Entscheidung des Staatsrats vom September 2007 (Church / Phinnemore, Shackled by the Mandate (Fn 9) 19). Church / Phinnemore, Shackled by the Mandate (Fn 9) 19; Finn Laursen, Denmark and the Ratification of the Lisbon Treaty: How a Referendum was avoided, Dalhousie EUCE Occasional Paper No. 7, 2009. The Gallup Organization, Post-referendum survey in Ireland. Analytical Report, Flash Eurobarometer Series No. 245, 2008; Cathal M. Brugha, Why Ireland rejected the Lisbon Treaty. Journal of Public Affairs 8 (4) 2008, 303; Deirdre Curtin, The Irish “No” to the Lisbon Treaty: Ireland’s Voice and Europe’s Exit? Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 7 (1) 2009, 31, diskutieren das eingehend.
Stolpersteine auf dem Weg zum Inkrafttreten des Vertrags
x x x x x
7
EU Commissioner, Charlie McCreevy, added that “no sane person would.”14 Misstrauen gegenüber den Politikern; das Gefühl, politischer Protest könne im Rahmen der EU nicht ausreichend zum Ausdruck gebracht werden und werde daher zur Opposition gegen die EU; Ängste vor Verlust der irischen Identität und Neutralität; Bedenken in Verbindung mit dem Verlust eines „irischen“ Kommissars (bzw einer Kommissarin) und vor einem EU„Superstaat“; Ängste vor allfälliger EU-Einmischung in der Steuerpolitik, in Abtreibungsfragen, Arbeitnehmerschutz, Sterbehilfe und Homosexuellen-Ehe.
Es gab eine relativ breite Diskussion verschiedener Modelle, mit der Ablehnung im Referendum umzugehen. So wurden etwa im offiziellen Bericht „Ireland’s Future in Europe“, der vom Unterausschuß des irischen Parlaments in Auftrag gegeben wurde, gleich 10 mögliche Szenarien diskutiert.15 Als wichtigste Gründe für die Akzeptanz beim zweiten Referendum am 2. Oktober 2009 gelten demgegenüber: x die damals schon stark verschärfte Wirtschaftskrise; x Angst vor einem Ausgeschlossenwerden aus der EU und einem Schicksal als „zweites Island“;16 14 15
16
Curtin, The Irish “No” to the Lisbon Treaty (Fn 13) 38. Gavin Barrett et al., Ireland’s Future in Europe: Scenarios and Implications. Commissioned by the Oireachtas Sub-Committee on Ireland’s Future in the European Union, UCD Dublin European Institute Policy Papers No. 08-1, 2008. Weitere Beiträge, die Szenarien diskutieren, sind: Desmond Dinan, Institutions and Governance: Saving the Lisbon Treaty – An Irish Solution to a European Problem, Journal of Common Market Studies 47, 2009, 113; Dominik Hierlemann, Irish Vote, Europe’s Future: Four options after the “No”, Spotlight Europe 6, 2008; John O’Brennan, Ireland & the Lisbon Treaty: Quo Vadis? CEPS Policy Brief, Centre for European Policy Studies No. 176, 2008; Wolfgang Wessels, Die Debatte nach „Irland“: Festhalten an Lissabon, Aufbruch zu Alternativen oder doch Leben mit Nizza? Integration 3/2008, 312; Heinrich Schneider, „Weiter so!“ – oder ganz anders? Die Europapolitik nach dem irischen „Nein“, Integration 3/2008, 319. Dinan, Institutions and Governance (Fn 15).
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Gerda Falkner
die Konzessionen, die am Europäischen Rat von Brüssel im Juni 2009 zugesprochen wurden.17 Diese inkludierten bekanntlich – neben der Aufrechterhaltung der Regel eines Kommissionsmitglieds pro Land – Versicherungen, der Vertrag von Lissabon tangiere nicht die oben genannten für Irland sensiblen Politikbereiche (wie etwa Schutz des Rechts auf Leben, Schutz der Familie, Zuständigkeit für Steuerpolitik, Sicherheit und Verteidigung). Zusätzlich wurde eine „feierliche Erklärung zu den Rechten der Arbeitnehmer, zur Sozialpolitik und zu anderen Angelegenheiten abgegeben“.18 V. Weitere Stolpersteine
Mit der Zustimmung der Iren waren aber noch keineswegs alle Hürden für ein Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon genommen. Eine strategisch wichtige Entscheidung war sicher, dass im Unterschied zu den ablehnenden Referenden zum Verfassungsvertrag man diesmal den Prozess der Ratifizierung NICHT ab- bzw für eine Reflexionsphase unterbrach.19 Curtin20 sieht Gründe darin, dass ähnliche Vertragsinhalte nun schon dreimal verhandelt worden waren, dass Irland innerhalb der EU viel kleiner und periphärer als Frankreich ist, und dass Irland das einzige Land mit einem Referendum zum Vertrag von Lissabon war. In der Folge der Ablehnung in Irland wuchsen aber verständlicher Weise die Bedenken, dass andere Länder durch Zeitablauf zu weiteren Stolpersteinen werden würden: so etwa Großbritannien nach einem Machtwechsel zu den europaskeptischen Konservativen und Tschechien, wo Václav Klaus den Lissabonner Vertrag zu Fall bringen könnte, wenn das tschechische Verfassungsgericht viel Zeit für sein Urteil brauche.21 17
18 19
20 21
Siehe Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 1122572/09 REV 2, Anlage 1, 18./19.6.2009; Diskussion in IIEA, The Guarantees Explained, 2009, Institute of European Affairs. Ibid, Anlage 2. Siehe auch Rudolf Streinz nachstehend auf S 23. Gavin Barrett, The Immediate Aftermath of the ‘Yes’ Vote in Ireland to the Treaty of Lisbon. (November 6, 2009). Available at SSRN: http://ssrn.com/abstract=1501222. Curtin, The Irish “No” to the Lisbon Treaty (Fn 13). Barrett, The Immediate Aftermath of the ‘Yes’ Vote in Ireland (Fn 19).
Stolpersteine auf dem Weg zum Inkrafttreten des Vertrags
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Um den Prozess in hier gebotener Kürze zusammenzufassen, wird wiederum eine Tabelle kompiliert.22 Tabelle 2: Schritte der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon DATUM 6. Feber 2008
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20. Feber 2008 Feber bis Mai 2008
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12. Juni 2008
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Juni bis Juli 2008
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EREIGNIS Malta und Ungarn schließen als erste Mitgliedstaaten durch Hinterlegung des Dekretes bei der italienischen Regierung die Ratifikation ab. Das ungarische Parlament stimmte als einziges noch 2007 über die Ratifikation ab; das maltesische stimmte der Ratifikation einstimmig zu. Das Europäische Parlament stimmt dem Vertrag mit 525 Stimmen bei 115 Gegenstimmen und 29 Enthaltungen zu. Frankreich, Rumänien, Slowenien, Bulgarien, Österreich und Dänemark schließen (in dieser Reihenfolge) den Ratifikationsprozess ab. In Irland lehnt die Bevölkerung zu 53,4 % (bei 53,3 % Wahlbeteiligung) den Vertrag ab. In den anderen Mitgliedstaaten wird die Ratifikation fortgesetzt. Ein halbes Jahr nach Unterzeichnung des Lissabon-Vertrags haben acht Staaten ratifiziert, darunter fünf neue Mitglieder und nur ein Gründungsmitglied. Lettland, Portugal, die Slowakei, das Vereinigte Königreich und Luxemburg schließen den Ratifizierungsprozess ab.
Hier wurden zusätzlich Informationen aus Church / Phinnemore Shackled by the Mandate (Fn 9) sowie von der Europäischen Kommission verwendet; der vollständigste Überblick findet sich aber unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Vertrag_von_Lissabon#Verfahren_ in_einzelnen_Mitgliedstaaten.
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Gerda Falkner
DATUM 8. August 2008
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EREIGNIS Italien ratifiziert und bleibt neben Malta das einzige EU-Land, in dem der Vertrag (zuvor) vom Parlament ohne Gegenstimme akzeptiert wurde. Mit der Ratifikation Italiens haben nun mehr als die Hälfte der Mitgliedsstaaten den Ratifizierungsprozess abgeschlossen, davon neun neue Mitgliedsländer und drei Gründungsmitglieder. Griechenland, Zypern und Litauen ratifizieren. Mit 63,27 % wurde der Vertrag in Zypern zuvor von der EU-weit geringsten parlamentarischen Mehrheit akzeptiert. Die Niederlande, Estland und Finnland ratifizieren. Finnlands Präsidentin Tarja Halonen zögerte ihre Unterschrift aufgrund eines Disputes zwischen Finnland und den autonomen Åland Inseln zunächst hinaus;23 die Inseln ratifizierten erst am 25. November 2009.
Die Åland Inseln sind schwedischsprachig, gehören aber zu Finnland und haben einen Autonomiestatus. Sie blockierten lange Zeit die Ratifizierung, weil sie ein Verbot des Verkaufs von Kautabak („Snus“) auf Fähren einerseits und ein Verbot der Jagd auf bestimmte Wasservögel andererseits befürchteten. Weiters strebten sie einen eigenen Sitz im EP, Teilnahme an Ratssitzungen und eigenständige Möglichkeit zum Auftreten vor dem EuGH an. Am 25.11.2009 ratifizierte das regionale Parlament von Åland, ohne dass das Autonomiestatut schon fertig neu ausgehandelt worden wäre (Pia Alilonttinen / Savino Ruà, Lisbon Treaty Ratification: Will the Åland Islands become Finland’s Greenland?, EPIN Commentary, European Policy Institutes Network: coordinated by Centre for European Policy Studies, Brussels, No. 1, 2008; Siobhán Dowling, Snuffing Out EU Hopes. Tiny Åland Islands Threaten to Reject Lisbon Treaty; Der Spiegel online 2008, http://www.spiegel.de/international/europe/0,1518,druck-5412 81,00.html, 16. März 2010).
Stolpersteine auf dem Weg zum Inkrafttreten des Vertrags
DATUM Oktober 2008
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20. November 2008
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13. Dezember 2008
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EREIGNIS Spanien und Belgien schließen die Ratifikation ab. In Belgien mussten neben den beiden Kammern des nationalen Parlaments und der königlichen Zustimmung noch fünf regionale Versammlungen zustimmen. In Schweden stimmt das Parlament dem Vertrag zu. Das Erreichen der erforderlichen 5/6-Mehrheit stand kurz zuvor noch in Zweifel. Die Hinterlegung der Urkunde in Rom erfolgt am 10. Dezember. Ein Jahr nach Unterzeichnung des Vertrags sind die vier Länder, die noch nicht ratifiziert haben, mittlerweile zu potentiellen Stolpersteinen geworden: Irland kündigte nach Zugeständnissen seitens der EU an, im September oder Oktober 2009 ein zweites Referendum abzuhalten. In Deutschland stimmte das Parlament zwar schon im Mai 2008 zu; Bundespräsident Horst Köhler kündigte jedoch an, mit der Unterschrift bis zu Entscheidungen in anhängigen Verfassungsklagen zuzuwarten. Die Tschechische Republik ist das einzige Land, in dem die parlamentarische Ratifikation noch nicht abgeschlossen ist. Das Unterhaus stimmte zwar schon Anfang 2008 zu, allerdings sind Verfassungsklagen anhängig und Senatoren der teils europakritischen ODS sowie Präsident Václav Klaus zögern die weitere Ratifikation hinaus. In Polen kündigte Präsident Lech Kaczyski an, die Ratifizierungsurkunde nicht zu unterzeichnen, bis die Situation in Irland geklärt ist.
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DATUM 6. Mai 2009
Gerda Falkner
STAND
30. Juni 2009
23. September 2009 25. September 2009 2. Oktober 2009 10. Oktober 2009 12. Oktober 2009 23. Oktober 2009 3. November 2009
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EREIGNIS Der Senat in Tschechien stimmt dem Vertrag zu. Der scheidende Premierminister Topolánek konnte genügend Senatoren seiner ODS überzeugen, dass dieser mit einer klaren Mehrheit akzeptiert wurde. Václav Klaus kündigt an, den Vertrag aufgrund des irischen Neins nicht zu unterzeichnen. Das deutsche Bundesverfassungsgericht erklärte den Vertrag und sein Zustimmungsgesetz als verfassungskonform, jedoch müssen Änderungen am Begleitgesetz durchgeführt werden. Der deutsche Bundespräsident Horst Köhler unterschreibt das Dekret zur Ratifizierung. Die deutsche Ratifizierungsurkunde wird in Rom hinterlegt. Die irische Bevölkerung stimmt dem Vertrag im zweiten Anlauf mit 67,1 % bei 59,0 % Wahlbeteiligung zu. Polens Präsident Kaczyski unterzeichnet die Ratifizierungsurkunde.
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Die polnische Ratifizierungsurkunde wird in Rom hinterlegt.
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Die irische Ratifizierungsurkunde wird in Rom hinterlegt. Das tschechische Verfassungsgericht bestätigt, dass der Vertrag mit der tschechischen Verfassung kompatibel ist. Präsident Klaus unterschreibt – nach diversen inhaltlichen Konzessionen der EU – noch am selben Tag.
Stolpersteine auf dem Weg zum Inkrafttreten des Vertrags
DATUM 13. November 2009
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EREIGNIS Die tschechische Ratifizierungsurkunde wird als letzte in Rom hinterlegt. Damit ist der Vertrag von Lissabon in allen Mitgliedstaaten ratifiziert.
A. Fast ein Stolperstein: Polen Sowohl das Unterhaus als auch der Senat des polnischen Parlaments stimmten am 1. bzw 2. April 2008 für den Vertrag von Lissabon. Kritische Themen waren hier vor allem x die Möglichkeit einer kleineren Minderheit als prinzipiell vertraglich vereinbart, um EU-Entscheidungen zu blockieren bzw für weitere Kompromisssuche auszusetzen;24 x Bedenken, dass durch eine Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte-Charta gleichgeschlechtliche Eheschließungen oder Sterbehilfe eingeführt werden könnten (Polen verlangte ein opt-out und erhielt dies bekanntlich);25 x prozedurale innerstaatliche Fragen wie etwa, ob der Präsident ein internationales Abkommen unterzeichnen MUSS, wenn das Parlament zugestimmt hat.26 Präsident Lech Kaczyski unterzeichnete am 10. April 2008 zwar das Begleitgesetz zu diesem Vertrag, jedoch noch nicht die Ratifizierungsurkunde selbst. Im Juni 2008, nach der ablehnenden Volksabstimmung in Irland, erklärte er vielmehr den Vertrag von Lissabon für gegenstandslos. Später lenkte er etwas ein und deutete an, zu einer Ratifizierung des Vertrags bereit zu sein, sofern auch alle übrigen EU-Staaten diesen ratifizierten. Von Politikern anderer 24
25 26
Sog Follow-up zum Ioannina-Kompromiss laut Anlagen zum Vertrag von Lissabon, Kamil Zwolski, Euthanasia, Gay Marriages and Sovereignty: Polish Ratification of the Lisbon Treaty, Journal of Contemporary European Research 5 (3), 2009, 489 (490). Wie auch Großbritannien und zuletzt die Tschechische Republik; siehe zum polnischen Fall etwa Die Presse vom 30.10.2009. Zum innenpolitischen Hintergrund sowie zu polnischen Interpretationen des Vertrages sowie der Wirkungen auf Polen, siehe Zwolski, Euthanasia, Gay Marriages and Sovereignty (Fn 24); sowie Piotr M. Kaczyski / Sebastian Kurpas / Peadar Ó. Broin, Ratification of the Lisbon Treaty: Ireland is not the only problem, EPIN Working Papers, European Policy Institutes Network: coordinated by Centre for European Policy Studies, Brussels, No. 18, 2008.
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Gerda Falkner
Länder, vor allem auch Nicolas Sarkozy, stark unter Druck gesetzt,27 unterzeichnete Kaczyski dann jedoch die polnische Ratifikationsurkunde am 10. Oktober 2009 schon eine Woche nach dem zweiten irischen Referendum. B. Fast ein Stolperstein: Deutschland In Deutschland war das Problem demgegenüber weniger ein politisches als vielmehr ein verfassungsrechtliches. Zwar hatten der Bundestag (24. April 2008) sowie auch der Bundesrat (23. Mai 2008) den Vertrag mit klaren Mehrheiten akzeptiert. Zugleich jedoch reichte der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler28 in Karlsruhe beim Bundesverfassungsgericht Klage gegen den Vertrag ein.29 Das deutsche Bundesverfassungsgericht fällte sein mit Spannung erwartetes Urteil am 30. Juni 2009, es wurde insgesamt als „Ja, aber“-Entscheidung gewertet.30 Die zentralen Punkte können hier nur sehr knapp zusammengefasst werden: x Für alle Fälle eines vereinfachten Verfahrens zur Änderung oder Anpassung des Lissabonner Vertrags (Anwendung der „Passerelle“ bzw auch der Flexibilitätsklausel) bedarft es demnach in Deutschland einer gesetzlichen Regelung der Beteiligungsrechte in Hinblick auf eine notwendige Zustimmung des Bundestags sowie des Bundesrats. Damit ist die gewünschte Vereinfachung dieser Fälle zwar auf EU-Ebene, aber nicht mehr im Mitgliedstaat Deutschland gegeben. x Die für Deutschland bestehenden politischen und rechtlichen Grenzen des europäischen Integrationsprozesses wurden neu gesteckt durch die Benennung von Bereichen unantastbarer Gestaltungshoheit des nationalen Gesetzgebers. Auch wurde die umfassende verfassungsgerichtliche Kontrolle jeder weite27 28 29
30
Zwolski, Euthanasia, Gay Marriages and Sovereignty (Fn 24). Er hatte bereits 2005 gegen den Europäischen Verfassungsvertrag geklagt. Elmar Brok / Martin Selmayr, Der „Vertrag der Parlamente“ als Gefahr für die Demokratie? Zu den offensichtlich unbegründeten Verfassungsklagen gegen den Vertrag von Lissabon, Integration 3/2008, 217 (217). Christian Calliess, Das Ringen des Zweiten Senats mit der Europäischen Union: Über das Ziel hinausgeschossen, ZEuS 12 (4) 2009, 559 (561).
Stolpersteine auf dem Weg zum Inkrafttreten des Vertrags
x
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ren Reform der EU betont, ua durch die Versicherung, dass Bürger diesbezüglich verfassungsbeschwerdefähige Rechte besitzen. Die Schwelle zur Bundesstaatlichkeit dürfe von der EU nicht überschritten werden.
Das Urteil wurde inzwischen viel diskutiert31 und stark kritisiert. Hier sei nur die zusammenfassende Einschätzung von Calliess beispielhaft erwähnt: „Mit seinen Ausführungen zum Verständnis der EU wagt sich das Bundesverfassungsgericht weit in die politische Arena hinein. … Vor diesem Hintergrund versucht der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts im ‚Lissabon-Urteil’ so viel wie möglich: Die Alltagsarbeit der EU wird mit der Ultra-viresKontrolle und wohl auch mit der Identitätskontrolle unter seine Aufsicht gestellt. Gleiches geschieht mit der Zukunft der EU, die die Richter … auf dem vorstehend skizzierten Weg einzufrieren versuchen. Ergänzend kommt noch die Kontrolle am Maßstab des Art. 79 Abs. 3 GG hinzu. Wird alles wahr, was in dem Urteil angelegt ist, dann droht in der Tat eine ‚Totalaufsicht’ des Bundesverfassungsgerichts, die die beim Bundestag angemahnte Integrationsverantwortung ins Leere laufen lässt.“32 Die Ratifizierung in Deutschland wurde zwar nicht unterbunden, aber von einer Anpassung des vorbereiteten „Ausweitungsge31
32
Beispielsweise sei verwiesen auf Daniel Thym, Europäische Integration im Schatten souveräner Staatlichkeit. Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 48 (4), 2009, 559; Christian Wohlfahrt, The Lisbon Case: A Critical Summary, German Law Journal 10 (8), 2009, 1277; Calliess, Das Ringen des Zweiten Senats mit der Europäischen Union (Fn 30); Peter Becker / Andreas Maurer, Deutsche Integrationsbremsen. Folgen und Gefahren des Kalrsruher Urteils für Deutschland und die EU, SWPAktuell No. 41, 2009; Heinrich Schneider, Die Gretchenfrage an die Mitgliedstaaten: „Sag, wie hast Du’s mit der Integration?“, Institut für europäische Integrationsforschung (EIF) Working Paper No. 2, 2010, http://www.eif.oeaw. ac.at/workingpapers/index. Die Referenzen dieses Beitrags enthalten auch einige internationale Beiträge zum Thema. Calliess, Das Ringen des Zweiten Senats mit der Europäischen Union (Fn 30).
16
Gerda Falkner
setzes“ abhängig gemacht. Schon im August 2009 einigte sich die deutsche Koalitionsregierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel mit den Ländern auf neue Begleitgesetze. Diese legen fest, dass der Bundestag bei „grundlegenden Machtverschiebungen“ auf EU-Ebene oder neuen Zuständigkeiten der Kommission in der Zukunft seine Zustimmung geben muss, bevor die Bundesregierung zustimmen darf. Die Länder erhalten außerdem weitergehende Mitbestimmungsrechte in den Bereichen Arbeitsrecht, Umweltpolitik und EU-Haushalt. Die insgesamt vier Gesetze wurden am 8. September 2009 vom Bundestag mit großer Mehrheit und am 18. September 2009 vom Bundesrat einstimmig angenommen.33 In der Folge unterzeichnete der deutsche Bundespräsident diese Gesetze und am 25. September 2009 wurde noch vor dem zweiten irischen Referendum die Ratifikationsurkunde in Rom hinterlegt. C. Fast ein Stolperstein: Tschechische Republik In Tschechien war die Ratifizierung des Lissabonner Vertrags sowohl auf politischer als auch auf juristischer Ebene eine umstrittene Sache, wobei beide Problemebenen von Teilen der Regierungspartei ODS betrieben wurden, der auch Präsident Václav Klaus angehört. Zweimal befassten Parteigänger Klaus’ das tschechische Verfassungsgericht, im ersten Fall nur mit bestimmten konkreten Fragen (Kompetenzverteilung, Flexibilitätsklausel, Passerelle, Rechtspersönlichkeit der EU, Status der Grundrechte-Charta). Nachdem diese als verfassungskonform beurteilt wurden, legten ODS-Senatoren im zweiten Verfahren Klage gegen den Vertrag von Lissabon in seiner Gesamtheit ein. In beiden Parlamentskammern bildete sich nach eingehenden Debatten schließlich eine Mehrheit für die Ratifizierung heraus, worauf der Präsident sogar den Ehrenvorsitz seiner Partei niederlegte. Im Februar 2009 stimmte das Abgeordnetenhaus mit großer Mehrheit für den Vertrag, im Mai auch der Senat. Präsident Klaus erklärte daraufhin, die Ratifikationsurkunde vor einem zweiten Re33
Siehe zB (http://www.tagesschau.de/inland/eureformvertrag104. html), zuletzt aufgerufen am 6.6.2010. Viele Details zur deutschen Ratifizierung unter (http://de.wikipedia.org/wiki/Vertrag_von_ Lissabon#Verfahren_in_ einzelnen_Mitgliedstaaten), zuletzt aufgerufen am 6.6.2010.
Stolpersteine auf dem Weg zum Inkrafttreten des Vertrags
17
ferendum in Irland nicht zu unterzeichnen. Dies führte, wie auch in Polen, zu einer hitzigen Debatte über die Rechte des Staatspräsidenten und hätte bis zu einem Amtsenthebungsverfahren führen können.34 Auch nach dem zweiten irischen Referendum erklärte Klaus, die Ratifizierung noch nicht zu unterzeichnen und setzte sich damit starker nationaler wie internationaler Kritik aus. Nun wollte er neue Forderungen erfüllt sehen, vor allem ein opt-out von der Grundrechte-Charta, damit diese nicht die Beneš-Dekrete berühren könne. Dies wurde von vielen Regierungen inklusive der tschechischen verurteilt, der EU-Gipfel vom 29. Oktober 2009 nahm die Bedingungen jedoch an, vor allem erhielt Tschechien (wie schon Großbritannien und Polen) ein Opt-out von der Grundrechte-Charta der EU. Als dann am 3. November 2009 das tschechische Verfassungsgericht die Konformität des Vertrags von Lissabon mit dem nationalen Verfassungsrecht erklärte, unterzeichnete Václav Klaus schließlich die Ratifizierungsurkunde doch, die als letzte aller EULänder am 13. November 2009 in Rom hinterlegt wurde.35 Abschließend sei noch festgehalten, dass laut Medienberichten ein Brief des damaligen britischen Oppositionsführers David Cameron an den Präsident der Tschechischen Republik Václav Klaus mindestens implizit zur Blockade aufforderte – auf Grundlage der Ankündigung, dass Cameron im Fall seines sehr wahrscheinlichen Wahlsiegs bei den Parlamentswahlen im Mai 2010 im Vereinigten Königreich ein Referendum über den Vertrag abhalten werde, wenn Klaus die endgültige Ratifizierung bis dahin hinauszögere.36 Durch seine Unterschrift im November 2009 hat Václav 34
35
36
Mats Braun, Understanding Klaus. The Story of Czech Eurorealism, EPIN Working Papers, European Policy Institutes Network: coordinated by Centre for European Policy Studies, Brussels, No. 26, 2009 (6). Zum Hintergrund der tschechischen Debatten siehe va Jan Komárek, The Czech Constitutional Court’s Second Decision on the Lisbon Treaty of 3 November 2009, European Constitutional Law Review 5 (3), 2009, 345; Mats Braun, Understanding Klaus (Fn 34); Petr Kratochvíl / Mats Braun, The Lisbon Treaty and the Czech Republic: past imperfect, future uncertain, Journal of Contemporary European Research 5 (3), 2009, 498. Siehe auch Rudolf Streinz nachstehend auf S 23. ZB Der Standard vom 23.9.2010.
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Klaus also immerhin verhindert, dass Großbritannien zu einem letalen Stolperstein des Vertrags von Lissabon hätte werden können. D. Konklusionen: Die EU in der „Vertragsreformfalle“? Wenngleich unverzichtbar, schon infolge der steil anwachsenden Mitgliederzahlen, erwiesen sich in den letzten 15 Jahren Vertragsreformen der EU als äußerst schwierige Unterfangen. Dies gilt, wie oben ausgeführt, auch für den Vertrag von Lissabon, den eine ganze Reihe von Stolpersteinen letztlich nur knapp doch nicht zu Fall brachte, und der insgesamt ja noch mehr potentiell gefährliche Klippen zu umschiffen hatte als die hier beschriebenen gravierendsten Hürden. Gemessen am zeitlichen Ziel, das sich der Vertrag von Lissabon selbst gesteckt hatte, wurden zwar die Vorgaben nicht erreicht: der 1. Jänner 2009 wurde um 11 Monate verfehlt. Sieht man jedoch die Menge und Größe der Stolpersteine, so muss die verspätete Wirkungskraft des Vertrags ungleich positiver beurteilt und die Verzögerung gegenüber dem insgesamt nicht unwahrscheinlichen Scheitern in den Hintergrund der Bewertung gerückt werden. Dies gilt für die Frist zwischen Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon einerseits und seinem Inkrafttreten andererseits. Allerdings ist noch in Betracht zu ziehen, dass der eigentlich relevante Zeitraum ein anderer ist, nämlich jener zwischen x dem Erkennen der Sinnhaftigkeit bzw sogar Notwendigkeit einer Reform, und x dem Inkrafttreten dieser Reformen. Wie einleitend bemerkt, wurde der Vertrag von Nizza am 11. Dezember 2000 akkordiert. Schon zu diesem Zeitpunkt war sein wenig zufrieden stellender Charakter weithin akzeptierte Einsicht. Man könnte sogar schon den Vertrag von Amsterdam (1997), der auch nicht als großer bzw zumindest definitiv nicht als abschließender Wurf gelten durfte, als zeitlichen Ankerpunkt heranziehen. Wie auch immer man hier die Maßstäbe setzt, in jedem Fall wird offensichtlich, dass Problemeinsicht und Problemlösung weit auseinanderklaffen, wenn es um die institutionelle Basis der EU geht. Diese Lage hat sich durch die Stolpersteine auf dem Weg zur Ratifizierung von Lissabon durchaus noch verschärft: Schon angesichts der neuen konstitutionellen Hürden in Deutschland und der tiefen politischen Klüfte, die der Ratifizierungsprozess in mehreren Mitgliedstaaten aufgerissen bzw vertieft hat, drängt sich die Erwar-
Stolpersteine auf dem Weg zum Inkrafttreten des Vertrags
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tung auf, dass künftige Reformprozesse der EU noch viel schwieriger wenn nicht geradezu unmöglich sein könnten. Damit ist die grundlegende Frage gestellt, ob die vereinbarte „immer engere“ Kooperation der Völker nicht in einer Form von „Politikverflechtungsfalle“ steckt. Dieses politikwissenschaftliche Konzept wurde Mitte der 1980er Jahre von Fritz W. Scharpf in einem Vergleich zwischen deutschem Föderalismus einerseits und der EU andererseits entwickelt37. Zwei grundlegende Bedingungen auf institutioneller Ebene sind demnach prägend: x die Regierungen der unteren Ebene (in der EU: jene der Mitgliedstaaten) sind auf der oberen Ebene die direkten Entscheidungsträger, ihre Eigeninteressen werden durch kein Repräsentationsprinzip „gefiltert“, x dies geschieht unter (annäherndem) Einstimmigkeitserfordernis. Diese speziellen und hohen Anforderungen an die Entscheidungsfindung in einem (quasi-)föderalen System führen gemäß den Erwartungen von Scharpfs Modell dazu, dass gemessen an den Ergebnissen eines wirkungsmächtigeren Zentralstaates einerseits und effektiver Problemlösung andererseits die Politikergebnisse suboptimal sein werden: es entstehen Blockadesituationen oder Minimalkompromisse bei der Formulierung von Politiken. Dieses politikwissenschaftliche Modell darf auch nach einem Vierteljahrhundert noch starke Prognosekraft für sich beanspruchen, allerdings wurden seit der Formulierung dieser Thesen auch Ergänzungen vorgenommen sowie Mechanismen analysiert, die gegebenenfalls auch Auswege aus der „Politikverflechtungsfalle“ erlauben können (für einen Überblick siehe Falkner)38. Dazu gehören vor allem Gestaltungspotentiale supranationaler Akteure wie der EU-Kommission und dem Europäischen Gerichtshof. Diese können über den supranational-hierarchischen Modus von EU-Politikgestaltung eingreifen, was in einzelnen Situationen ein Entkommen aus der Falle darstellen kann (zB Scharpf).39 Ebenso tragen Pro37
38 39
Fritz W. Scharpf, Die Politikverflechtungsfalle, Europäische Integration und Deutscher Föderalismus im Vergleich, Politische Vierteljahresschrift 26 (4), 1985, 323. Falkner (ed), The EU’s Decision Traps (Fn 3). Fritz W. Scharpf, The Joint-Decision Trap Model: Context and Extensions, in Falkner (ed), The EU’s Decision Traps: Comparing Policies (forthcoming 2011).
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zesse des Delegierens an „technokratische“ Komitees und langfristige Verschiebungen von Präferenzen (Regierungswechsel in den Mitgliedstaaten, externe Krisen, etc) dazu bei, dass Blockadesituationen nicht ewig bestehen bleiben müssen.40 In Bezug auf das in diesem Beitrag diskutierte Thema ist diese prinzipiell die „EU-Tagespolitik“ betreffende Debatte insofern relevant, als man auch eine Form der „Politikverflechtungsfalle“ auf konstitutioneller Ebene konzeptionalisieren kann – also außerhalb der „einfachen“ Politikgestaltung im Rahmen der EU-Tätigkeit, welche Scharpf meinte. Bei einer solchen „Vertragsreformfalle“ würde dann zu den beiden oben genannten strukturellen Charakteristika noch kommen, dass neben jeder einzelnen Regierung auch noch alle nationalen politischen Systeme bei der Ratifizierung mitgehen müssen. Und spätestens seit dem oben angesprochenen Karlsruher Urteil kommt dazu noch die stark erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass ein nationales Verfassungsgericht eine EU-Vertragsreform untersagt. Es ist nicht undenkbar, dass etwa der deutsche Verfassungsgerichtshof eine künftige EU-Reform entgegen dem Willen der politischen Akteure aller anderen Länder sowie auch im Extremfall gegen den Willen der deutschen Regierung und des deutschen Parlaments stoppen könnte. Die konsenstechnischen Anforderungen an künftige EU-Vertragsreformen sind also außerordentlich hoch. Zugleich ist festzuhalten, dass dies nicht nur negative Aspekte, sondern auch gute Gründe hat. Demzufolge ist vielleicht besser von einem „Dilemma“ zu sprechen als von einer „Falle“. Denn selbstredend ist Kontrolle der Verfassungskonformität in jedem Rechtsstaat notwendig und als solche (demokratie)politisch sinnvoll. Auch sind die Bedingungen für Verfassungsreformen in politischen Systemen typischerweise besonders anspruchsvoll. Demgegenüber ist aber zu bedenken, dass es sich bei der Quasi-Verfassung der EU um ein besonderes Gebilde handelt. Es geht über traditionelle Verfassungen im engeren Sinne mit ihrer grundlegenden Kompetenzverteilung und ihre Verfahrensregelungen weit hinaus. Vielmehr wird auch eine Vielzahl an inhaltlich-
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Für einen Vergleich verschiedener EU-Politikfelder in Bezug auf diese Mechanismen und weiter bestehende EU-Entscheidungsfallen siehe Falkner (ed), The EU’s Decision Traps (Fn 3).
Stolpersteine auf dem Weg zum Inkrafttreten des Vertrags
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politischen Festlegungen getroffen.41 Diese werden möglicherweise nach gewissen Zeitabläufen von allen oder vielen politischen Entscheidungsträgern nicht mehr als problemadäquat betrachtet, sondern als Hürden am Weg zu effektiven oder effizienten Problemlösungen (zu konkreten Innovationshürden in der EU-Steuerpolitik siehe etwa Genschel).42 Als Beispiel können die Bestimmungen zur europäischen Wirtschafts- und Währungsunion herangezogen werden. Vertragsänderungen der 1990er Jahre enthielten dazu Festlegungen, die im Zuge der Finanzkrise vom Frühjahr 2010 plötzlich hinderlich waren. Von der Problemlage her müsste man also den Vertrag von Lissabon bzw die EU-Verträge schon wieder reformieren (siehe etwa das Interview mit der österreichischen EuGHRichterin Maria Berger43) – von der Praxis her ist das nahezu unmöglich. Trotzdem es also gute Argumente für strenge Konsenserfordernisse bei Verfassungsreformen sowie für strenge Verfassungskonformitätsüberprüfungen durch nationale Instanzen gibt, ist im Fall der spezifischen Konstitution der EU mit zugleich so extremen Zustimmungs- und Einstimmigkeitserfordernissen im Reformfall – die auch angesichts der so stark gestiegenen Mitgliederzahl nicht entsprechend verändert wurden – doch festzustellen, dass sich in der Zukunft negative Konsequenzen einer „Vertragsreformfalle“ noch deutlicher als bislang zeigen könnten. Nicht zuletzt die zahlreichen Stolpersteine, die schon der Vertrag von Lissabon nur mit letzter Kraftanstrengung und mit vielen Konzessionen überwinden konnte (Opt-outs, Widersprüche in Fußnoten und Anhängen zum Vertrag, etc), lassen befürchten, dass die EU sich in der Zukunft unter den gegebenen Entscheidungsregeln als noch weniger reformfähig erweisen wird als bislang. Damit scheint die EU doch recht weit entfernt von einer Kongruenz der Herausforderungen durch politische und wirtschaftliche Problemstellungen einerseits und diesen adäquaten Möglichkeiten zu ihrer Lösung andererseits. 41
42
43
Arthur Benz, Escaping Joint-Decision Traps: National and supranational experiences compared, in Falkner (ed), The EU’s Decision Traps: Comparing Policies (forthcoming 2011). Philipp Genschel, One trap, many exits, but no free lunch: How the Joint-Decision Trap shapes EU tax policy, in Falkner (ed), The EU’s Decision Traps: Comparing Policies (forthcoming 2011). Maria Berger, Der Standard vom 2./3.6.2010.
Rudolf Streinz
Rechtliche Verankerung der Garantien für Irland und der „Fußnote“ für Tschechien I. Einleitung II. Garantien für Irland A. Hintergrund B. Inhalt 1. Ermittlung der konkreten Bedenken in Irland – Zusicherungen des Europäischen Rates vom 11./12. Dezember 2008 2. Beschlüsse bei der Tagung des Europäischen Rates vom 18./19. Juni 2009 a. Beschluss der im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs b. Beschluss des Europäischen Rates C. Rechtliche Verankerung D. Ergebnis III. „Fußnote“ für Tschechien A. Hintergrund B. Inhalt C. Rechtliche Verankerung D. Ergebnis IV. Einlösung der Garantien bzw Zusagen A. Rechtsfragen B. Mögliche politische Hindernisse V. Ergebnis VI. Thesen
23 28 28 28
28 30 30 31 32 34 35 35 35 37 38 38 38 39 39 39
I. Einleitung Am 1. Dezember 2009 ist der Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur
T. Eilmansberger et al. (eds.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon © Springer-Verlag Wien 2011
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Gründung der Europäischen Gemeinschaft1 in Kraft getreten. Gem Art 6 Abs 1 des Vertrags von Lissabon bedurfte es dazu der Ratifikation durch alle 27 Mitgliedstaaten gem ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften. Wie bereits beim Vertrag über eine Verfassung für Europa (Verfassungsvertrag) vom 29. Oktober 2004,2 dessen Scheitern man nach den ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden einsehen musste,3 kam es auch beim Vertrag von Lissabon zu Hindernissen, trotz aller Bemühungen, diese von vornherein zu vermeiden.4 So verzichtete man in Frankreich und den Niederlanden sicherheitshalber auf ein – ohnehin nur fakultatives – Referendum. Obwohl in Dänemark die in der Verfassung vorgesehene Mehrheit von fünf Sechsteln im Folketing5 nicht erreicht wurde, glaubte man unter Hinweis auf das Referendum zum Vertrag von Maastricht6 auf ein Referendum zum Vertrag 1
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Text in ABl 2007 C 306/1. Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union in ABl 2008 C 115/1. Letzte berichtigte Fassung (30.3.2010) in ABl 2010 C 83/1. Bezeichnung als „Vertrag von Lissabon“ gem Art 7 des Vertrags. Text in ABl 2004 C 310/1. Vgl zum Ratifikationsprozess, zu den Gründen des Scheiterns und zu den Reaktionen, die schließlich zum Mandat des Europäischen Rates vom 21./22.6.2007 (Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat – Brüssel –, Anlage I, EU-Nachrichten, Dokumentation Nr 2/2007, 9 ff) geführt haben; Rudolf Streinz, Entstehungsgeschichte des Vertrags von Lissabon, in Streinz / Ohler / Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU. Einführung mit Synopse3 (2010) 22 ff; Waldemar Hummer, Von der „Verstaatlichung“ der EU durch den Verfassungs-Vertrag (2004) zu ihrer „Entstaatlichung“ durch den Vertrag von Lissabon (2007) – Das Scheitern des „Verfassungs-Konzepts“, in Hummer / Obwexer (Hg), Der Vertrag von Lissabon (2009) 19 (22 ff). Vgl zum Ratifikationsprozess Streinz, Entstehungsgeschichte des Vertrags von Lissabon (Fn 3) 27 ff. Siehe auch Gerda Falkner vorstehend auf S 1. Vgl § 20 der Verfassung des Königreichs Dänemark, deutsche Übersetzung in Adolf Kimmel / Christiane Kimmel, Verfassungen der EUMitgliedstaaten (2005) Nr 2: 90 Abgeordnete stimmten mit Ja, 25 mit Nein. Vgl zu den dänischen Referenden Waldemar Hummer, Zum weiteren Schicksal des Vertrages von Lissabon, in Hummer / Obwexer (Hg),
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von Lissabon verzichten zu können. In Österreich wurde wie bereits zum Verfassungsvertrag auch zum Vertrag von Lissabon das rechtliche Erfordernis einer Volksabstimmung verneint, zumal mit der Nichtübernahme der Bestimmung über den Vorrang (Art I-6 EVV) ein Streitpunkt beseitigt war.7 In Deutschland stimmten Bundestag und Bundesrat mit Mehrheiten weit über die durch Art 23 Abs 1 Satz 3 iVm Art 79 Abs 2 GG geforderten zwei Drittel der Mitglieder des Bundestages und der Stimmen des Bundesrates für das gem Art 23 Abs 1 Satz 2 GG erforderliche Zustimmungsgesetz. Wie beim Verfassungsvertrag, wo sich ein Urteil des BVerfG nach – bedenklicher8 – Verzögerung durch dessen Scheitern erledigt hatte, wurde die Ratifikation durch den Bundespräsidenten wegen erhobener Organklagen und Verfassungsbeschwerden bis zum Urteil des BVerfG vom 30. Juni 20099 und, da das BVerfG hinsichtlich der deutschen Begleitgesetze Nachbesserungen verlangte,10 bis zu deren Verabschiedung durch Bundestag und Bundesrat11 verzö-
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Der Vertrag von Lissabon (2009) 471 (488 ff). Nach dem „Nein“ (50,7 %) vom 2.6.1992 erfolgten Zugeständnisse durch das „Edinburgh-Agreement“ (Europäischer Rat Edinburgh, 11./12.12.1992, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Anlagen 1-3, Bulletin der EG 121992; vgl auch ABl 1992 C 348), die nachträglich anlässlich des Vertrags von Amsterdam in Protokollen festgehalten wurden. Daraufhin stimmten im zweiten Referendum vom 18.5.1993 56,8 % mit „Ja“. Zu den Zugeständnissen an Dänemark vgl auch Gunnar Schuster, Der Sonderstatus Dänemarks im Vertrag über die Europäische Union, EuZW 1993, 177 (177 ff). Vgl dazu Waldemar Hummer, Der „Verfassungs-Konvent“: Ausgangslage, Zusammensetzung, Arbeitsweise, Ergebnisse, in Hummer / Obwexer (Hg), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa (2007) 32. Der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat durch Beschluss vom 30.9.2008 Anträge auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Zustimmung des Nationalrats zum Vertrag von Lissabon und dessen Ratifikation wegen Unzuständigkeit als unzulässig zurückgewiesen, EuGRZ 2008, 728 f. Vgl dazu Rudolf Streinz / Christoph Herrmann, Missverstandener Judicial Self-restraint oder: Einmischung durch Nichtstun, EuZW 2007, 289 (289). BVerfG, EuGRZ 2009, 339 (= BVerfGE 123, 267). Vgl BVerfG, EuGRZ 2009, 339 Tz 406 ff und Rudolf Streinz, Boxenstopp für Lissabon, NJW 30/2009, III. Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundes-
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gert.12 Zu einem erneuten „Ratifikationsunfall“13 kam es in Irland, wo ein Referendum bei substantiellen Änderungen der EU-Gründungsverträge nach dem Urteil des High Court zur Einheitlichen Europäischen Akte im Fall Crotty14 als obligatorisch angesehen wird.15 Im Referendum vom 12. Juni 2008 sprachen sich 53,4 % der Abstimmenden gegen den Vertrag aus. Dieser „Unfall“ konnte letztlich durch ein zweites Referendum am 2. Oktober 2009, in dem 67,1 % bei immerhin 58 % Beteiligung mit „Ja“ stimmten, geheilt werden.16 Um dieses Referendum politisch einigermaßen seriös zu ermöglichen, bedurfte es Garantien, die einerseits den Iren einen neuen Abstimmungsgegenstand präsentierten, andererseits aber so ausgestaltet werden mussten, dass sie nicht den Vertrag von Lissabon in einer Weise änderten, der in den Mitgliedstaaten, die bereits ratifiziert hatten, eine Wiederholung dieses Verfahrens forderten. An das irische Referendum knüpfte in Polen der Staatspräsident seine Entscheidung, die Ratifikation herbeizuführen, was dann auch geschah. In der Tschechischen Republik erhob der Staatspräsident, ein
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tages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 22.9.2009 (BGBl I 3022) mit Integrationsverantwortungsgesetz (IntVG) und Änderung der Gesetze über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag bzw Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (EuZBBG bzw EuZBLG). Der Bundespräsident hatte selbst gegen die Verfassungsmäßigkeit keine Bedenken und unterzeichnete daher das Vertragsgesetz. Entgegen europa- oder parteipolitisch motivierter Kritik unterließ er aber bis zum Urteil des BVerfG die durch ihn herbeizuführende (vgl Art 59 Abs 1 Satz 2 GG) Ratifikation, da er dazu aus Gründen der Verfassungsorgantreue verpflichtet ist und andernfalls der Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 32 BVerfGG) in Betracht käme, die politisch negative Wirkungen hätte. Begriff bei Hummer, Zum weiteren Schicksal des Vertrages von Lissabon (Fn 6) 534. Urteil vom 9.4.1987 (Crotty v An Taoiseach), CMLR 2/1987, 666. Vgl dazu Rudolf Streinz, Europarecht8 (2008) Rn 89. Vgl zur Referendumspflicht in Irland Hummer, Zum weiteren Schicksal des Vertrages von Lissabon (Fn 6) 479 ff. Vgl zu den irischen Referenden Streinz, Entstehungsgeschichte des Vertrags von Lissabon (Fn 3) 28.
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entschiedener Gegner des Lissabonner Vertrags, nachdem seine Versuche, durch Anrufung des tschechischen Verfassungsgerichts seitens Parteifreunden die Ratifikation zu verhindern, gescheitert waren,17 kurz vor Torschluss die Forderung nach einer Ausnahmeklausel hinsichtlich der Grundrechtecharta. Nachdem auch diese zugesichert war, ratifizierte auch die Tschechische Republik als letzter Mitgliedstaat am 13. November 2009 den Vertrag,18 der gem seinem Art 6 Abs 2 am 1. Dezember 2009 in Kraft trat. Bereits die Einigung auf das Mandat für die Regierungskonferenz erforderte Kompromisse, die wie die zeitlich gestaffelten Regeln über die qualifizierte Mehrheit im Rat19 zur weiteren Verkomplizierung des ohnehin nicht leicht lesbaren Vertragswerks oder wie die Ausnahmen für das Vereinigte Königreich und Polen zu Differenzierungen selbst im Grundrechtsbereich20 führten. Auf der Regierungskonferenz von Lissabon mussten weitere Forderungen berücksichtigt werden, zB die Italiens nach einem weiteren Sitz im Europäischen Parlament oder die Österreichs nach einem befristeten Anhalten der Vollstreckung des Urteils des EuGH zum Hochschulzugang.21 Die Besonderheit der Garantien für Irland und der Zusage an die Tschechische Republik liegt darin, dass sie nach der Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon am 13. Dezember 2007 erfolgten. Dies wirft die Frage nach ihrer rechtlichen Verankerung und ihren Folgen für den Vertrag von Lissabon auf.
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Vgl zum Verhalten des tschechischen Staatspräsidenten Václav Klaus insb Hummer, Zum weiteren Schicksal des Vertrages von Lissabon (Fn 6) 495 ff. Hinterlegung der Ratifikationsurkunde durch den Ministerpräsidenten Jan Fischer. Siehe dazu Gerda Falkner vorstehend auf S 1. Vgl Art 16 Abs 4 und Abs 5 EUV iVm Art 3 des Protokolls Nr 36 über die Übergangsbestimmungen, ABl 2010 C 83/322. Vgl Protokoll Nr 30 über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich, ABl 2010 C 83/313. Vgl dazu Rudolf Streinz, Die „Verfassung“ der Europäischen Union nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages und dem Vertrag von Lissabon, ZG 2008, 105 (110, Fn 31 mwN).
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II. Garantien für Irland A. Hintergrund Hintergrund der Garantien für Irland war das Erfordernis, aus politischen Gründen eine geänderte Entscheidungsgrundlage zu präsentieren, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, man lasse solange abstimmen, bis das Ergebnis „stimmt“. Dazu musste versucht werden, die Gründe für das irische „Nein“ zum Vertrag von Lissabon22 zu ermitteln. Von den bei Referenden immer vielfältigen Motiven waren insoweit allein diejenigen relevant, die sich auf konkrete Sachfragen bezogen, und zwar unabhängig davon, ob sie sachlich berechtigt waren oder nicht. Denn es kam allein darauf an, bestehende Bedenken zu entkräften. Hier wurden Ängste vor der Erosion der irischen Neutralität, der Abschaffung des Abtreibungsverbots, der verpflichtenden Rekrutierung zu militärischen „Petersberg-Maßnahmen“ zur Friedenssicherung, dem Verlust des „irischen“ Kommissars, dem Verlust der Kontrolle über die öffentlichen Dienste und der Erhöhung der niedrigen Unternehmenssteuern, vor allem aber vor dem möglichen Verlust arbeits- und sozialrechtlicher Errungenschaften ermittelt.23 Dem sollte Rechnung getragen werden, ohne den von allen Mitgliedstaaten unterzeichneten und von den meisten Mitgliedstaaten bereits ratifizierten Vertrag zu ändern. B. Inhalt 1. Ermittlung der konkreten Bedenken in Irland – Zusicherungen des Europäischen Rates vom 11./12. Dezember 2008 Der Europäische Rat beschloss auf seiner Tagung vom 19./20. Juni 2008, angesichts bereits erfolgter Zustimmung zum Vertrag von Lissabon in 19 Mitgliedstaaten den Ratifikationsprozess in den übrigen Ländern fortzusetzen und hinsichtlich Irland zu einer Lö22 23
Vgl dazu Hummer, Zum weiteren Schicksal des Vertrages von Lissabon (Fn 6) 492 ff. Siehe auch Gerda Falkner vorstehend auf S 1. Hummer, Zum weiteren Schicksal des Vertrages von Lissabon (Fn 6) 493, unter Bezugnahme auf die Untersuchung des Beratungsinstituts Millward Brown IMS (Hg), Post Lisbon Treaty Referendum. Research Findings, September 2008; Department of Foreign Affairs, Minister Martin publishes Report on Lisbon Treaty referendum results, 10/09/2008.
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sung durch „weitere konkrete Ergebnisse in den verschiedenen für die Bürgerinnen und Bürger belangreichen Politikbereichen“ zu kommen.24 Die sachlich motivierten, nicht unbedingt tatsächlich begründeten Bedenken, die zur Ablehnung des Vertrags von Lissabon im ersten irischen Referendum führten, wurden seitens der irischen Regierung aufgrund einer Studie eines Beratungsinstituts ermittelt.25 Sie wurden von der irischen Regierung zusammengefasst und dem Europäischen Rat übermittelt. Der Europäische Rat hielt am 11./12. Dezember 2008 die wichtigsten Problempunkte fest: Zusammensetzung der Kommission, Steuerpolitik, Familien- und Sozialpolitik, Recht auf Leben, Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Neutralitätspolitik. Konkret kam der Europäische Rat bereits überein, dass – sofern der Vertrag von Lissabon in Kraft tritt – im Einklang mit den erforderlichen rechtlichen Verfahren ein Beschluss gefasst wird, wonach weiterhin ein Staatsangehöriger jedes Mitgliedstaats der Kommission angehören soll. Im Gegensatz zum Vertrag von Nizza, der – was oft übersehen wird – zwingend die Reduktion der Mitglieder der Kommission vorsah,26 enthält Art 17 Abs 5 UAbs 1 EUV eine Abweichungsmöglichkeit: Danach ist die Reduktion der Kommission auf zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten vorgesehen, aber nur, „sofern der Europäische Rat nicht einstimmig eine Änderung dieser Anzahl beschließt“. Eben ein solcher Beschluss wurde zugesagt. Der Europäische Rat sagte ferner zu, erforderliche rechtliche Garantien zu den Punkten Zuständigkeiten im Bereich der Steuerpolitik, Sicherheits- und Verteidigungspolitik und Neutralitätspolitik, Recht auf Leben, Bildung und Familie zu geben und den weiteren von Irland genannten Punk24
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Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Brüssel) vom 19./20.6.2008, EU-Nachrichten, Dokumentation Nr 2/2008, 2 (Nr 25). Vgl Hummer, Zum weiteren Schicksal des Vertrages von Lissabon (Fn 6) 491. Zum Beratungsinstitut siehe oben Fn 23. Vgl die durch Art 4 des Protokolls über die Erweiterung der Union (ABl 2001 C 80/49) für den Amtsantritt der ersten Kommission nach dem (bereits am 1.1.2007 erfolgten) Beitritt des 27. Mitgliedstaates vorgesehene Änderung des Art 213 Abs 2 und 3 EGV. Zwar sollte danach die Zahl der Mitglieder der Kommission vom Rat einstimmig festgesetzt werden. Aber: „Die Zahl der Mitglieder liegt unter der Zahl der Mitgliedstaaten“. Die Besetzung sollte auf der Grundlage einer gleichberechtigten Rotation erfolgen.
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ten, insbesondere hinsichtlich der Arbeitnehmerrechte, „hohe Bedeutung“ beizumessen. Im Gegenzug sagte Irland in der Erwartung, dass diese Zusagen zufriedenstellend umgesetzt werden, zu, die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon anzustreben.27 2. Beschlüsse bei der Tagung des Europäischen Rates vom 18./19. Juni 2009 Um dies umzusetzen, wurden bei der Tagung des Europäischen Rates vom 18./19. Juni 2009 Beschlüsse gefasst, wobei zwischen dem Europäischen Rat, der damals gemäß Art 4 Abs 2 EUV aF aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten und dem Präsidenten der Kommission bestand,28 und den im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs zu unterscheiden ist. a. Beschluss der im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs Die im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten fassten einen Beschluss, dass weder der Vertrag von Lissabon im Bereich der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art 67- 89 AEUV) noch die durch den Vertrag (Art 6 Abs 1 EUV) in Bezug genommene Charta der Grundrechte Geltungsbereich und Anwendbarkeit der Bestimmungen der irischen Verfassung über den Schutz des Rechts auf Leben (Art 40 Abs 1 Nr 3), des Schutzes der Familie (Art 41) und des Schutzes der Rechte in Bezug auf Bildung (Art 42; in Bezug auf Religion Art 44 Abs 2 Nr 4-6) berühren, ferner durch den Vertrag für keinen Mitgliedstaat irgendeine Änderung in Bezug auf den Umfang und die Ausübung der Zuständigkeiten der EU im Bereich der Steuerpolitik erfolgt und schließlich, dass die in ihren Leitlinien (vgl Art 21 EUV) beschriebene Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik weder die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der einzelnen Mitgliedstaaten, „einschließlich Irlands“, noch die Verpflichtungen irgendeines Mitgliedstaates berührt. Der Vertrag würde „Irlands traditionelle Politik der militärischen Neutralität“ nicht berühren oder beeinträchtigen und es den Mitgliedstaaten „einschließlich Irlands, das im Geiste der Solidarität und unbeschadet seiner traditionellen 27
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Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Brüssel) vom 11./12.12.2008, EU-Nachrichten, Dokumentation Nr 4/2008, 2 f (Nr I. 1-4) und Anlage 1, ebd, 10. Durch den Vertrag von Lissabon kommt gem Art 15 Abs 2 EUV der Präsident des Europäischen Rates (Art 15 Abs 5 EUV) hinzu.
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Politik der militärischen Neutralität handelt“ unbenommen lassen, zu bestimmen, welche Art von Hilfe oder Unterstützung sie einem Mitgliedstaat leisten, der von einem Terroranschlag oder einem bewaffneten Angriff auf sein Hoheitsgebiet betroffen ist. Diese Einschränkungen erscheinen weitgehend, wenn man demgegenüber Art 42 EUV vergleicht. Die Staats- und Regierungschefs erklärten zu diesem Beschluss, dass damit die rechtliche Garantie gegeben wird, dass die dort aufgeführten bestimmten Angelegenheiten, die der irischen Bevölkerung Anlass zur Sorge geben (Recht auf Leben; Familie und Bildung; Steuerwesen; Sicherheit und Verteidigung), durch das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nicht berührt werden, der Inhalt der dort gegebenen Zusicherungen mit diesem Vertrag voll und ganz vereinbar ist und keine erneute Ratifikation dieses Vertrags erforderlich macht. Der Beschluss soll rechtlich bindend sein und am Tag des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon wirksam werden. Die in der Anlage festgehaltenen Bestimmungen des Beschlusses sollen zum Abschluss des nächsten Beitrittsvertrags in ein Protokoll aufgenommen werden, das von den Mitgliedstaaten nach Maßgabe ihrer jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften genehmigt und dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügt wird. Dieses Protokoll soll in keiner Weise die Beziehungen zwischen der EU und den Mitgliedstaaten verändern sondern allein den im Beschluss enthaltenen Klärungen uneingeschränkt Vertragsstatus verleihen.29 b. Beschluss des Europäischen Rates Der Europäische Rat hat sich vor dem Hintergrund der Bemühungen, den irischen Bedenken Rechnung zu tragen „auf folgenden Beschluss und folgende Erklärung verständigt, die mit dem Vertrag voll und ganz vereinbar sind, um eine Zusicherung zu geben und den Anliegen der irischen Bevölkerung zu entsprechen: a) Beschluss der im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu den Anliegen der irischen Bevölkerung bezüglich des Vertrags von Lissabon (Anlage 1); b) Feierliche Erklärung zu den Rechten der Arbeitnehmer, zur Sozialpolitik und zu anderen Angelegenheiten (An-
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Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Brüssel) vom 18./19.6.2009, EU-Nachrichten, Dokumentation Nr 2/2009, 15 f (Anlage 1).
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lage 2)“.30 Dies wird hier wörtlich zitiert, weil der Europäische Rat als Unionsorgan31 offensichtlich auf den Beschluss der Staats- und Regierungschefs als völkerrechtlicher Erklärung Bezug nimmt und sich diese wohl zu eigen macht. Der Europäische Rat nahm ferner Kenntnis von der einseitigen Erklärung Irlands zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU und zu Irlands traditioneller Politik der militärischen Neutralität,32 die der irischen Ratifikationsurkunde zum Vertrag von Lissabon beigefügt wird.33 C. Rechtliche Verankerung Der Beschluss des Europäischen Rates erfolgte im Rahmen des Rechts der Europäischen Union. Er erlangt damit die unionsrechtliche Verbindlichkeit, die solchen Beschlüssen zukommt und die in ihrer juristischen Wirkung begrenzt ist.34 Dem Beschluss der Staatsund Regierungschefs, die jeweils für ihre Mitgliedstaaten handeln, kommt völkerrechtliche Selbstbindung zu.35 Unklar erscheint die Wirkung der Bezugnahme auf den Beschluss der Staats- und Regierungschefs in Punkt a) des Beschlusses des Europäischen Rates. Sieht man im Europäischen Rat vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ungeachtet der Mitwirkung des Präsidenten der Kommission lediglich eine Regierungskonferenz,36 so ergibt sich kein Unterschied. Aber selbst ein unionsrechtlich verbindlicher Beschluss des Europäischen Rates kann über die Selbstverpflichtung, das zugesagte Protokoll zusammen mit dem nächsten Beitritts30 31
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Ebd, 4 (Nr 4). Unter dem damals noch maßgeblichen Vertrag von Nizza war die Organqualität des Europäischen Rates noch strittig (vgl Matthias Pechstein, Art. 4 EUV, in Streinz (Hg), EUV/EGV-Kommentar (2003) Rn 9; Christian Wichard, Art. 4 EUV, in Calliess / Ruffert (Hg), EUV/EGV-Kommentar3 (2007) Rn 9 f), der Vertrag von Lissabon führt den Europäischen Rat in Art 13 EUV ausdrücklich unter den Organen der Union auf. Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Brüssel) vom 18./19.6.2009, EU-Nachrichten, Dokumentation Nr 2/2009, 18 f (Anlage 3). Ebd, 4 (Nr 4 b). Vgl dazu Streinz, Europarecht (Fn 14) Rn 321. Hummer, Zum weiteren Schicksal des Vertrages von Lissabon (Fn 6) 537. So Pechstein, Art. 4 EUV (Fn 31) Rn 9.
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vertrag in ein Vertragsänderungsverfahren einzubringen, nicht hinausgehen. Die Regierungen verpflichten sich auch, auf die Ratifikation in den jeweiligen Mitgliedstaaten hinzuwirken. Diese Verpflichtung besteht bereits nach allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen für den jeweiligen Mitgliedstaat, unabhängig von einem Regierungswechsel. Darüber hinaus kann die Ratifikation des Protokolls, die von der Mitwirkung anderer Organe und gegebenenfalls (im konkreten Fall allerdings kaum) einem Referendum abhängt, nicht zugesichert werden. Die „Feierliche Erklärung“ des Europäischen Rates hat lediglich deklaratorisch-programmatischen Charakter.37 Die vom Europäischen Rat zur Kenntnis genommene und damit akzeptierte „Nationale Erklärung Irlands“ verwehrt in Zukunft Einwände gegen die Geltendmachung der darin formulierten Postulate. Sie ist als eine sich auf den Vertrag beziehende Urkunde zu dessen Auslegung heranzuziehen.38 Ungeachtet des Unterschieds zu den von der Konferenz beim Abschluss des Vertrags von Lissabon zur Kenntnis genommenen Erklärungen einzelner Mitgliedstaaten (Erklärungen Nr 51-65 zum Vertrag von Lissabon)39 hat sie letztlich dieselbe Wirkung. Um die Verbindlichkeit der Zusicherungen auf der Ebene des Primärrechts zu sichern, sollen diese auf Verlangen Irlands und nach Zusicherung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten in ein Protokoll, das Bestandteil der Verträge ist (Art 51 EUV), aufgenommen werden, das zusammen mit dem nächsten Beitrittsvertrag ratifiziert werden soll. Nach Ansicht des Europäischen Rates und der Staats- und Regierungschefs sind die im Protokoll festzuhaltenden Zusicherungen an Irland lediglich deklaratorisch und ändern die Verträge nicht inhaltlich (meritorisch). Sie sind jedenfalls nach der Fixierung in einem Protokoll aber rechtlich verbindlich und für die Auslegung der Verträge bedeutsam, zumal sie als Protokolle Bestandteil der Verträge mit gleichem rechtlichem Rang sind. Die getroffenen limitierenden Klarstellungen sind sowohl für den Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts als auch insbesondere für die 37 38
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Hummer, Zum weiteren Schicksal des Vertrages von Lissabon (Fn 6) 538. Ebd unter Hinweis auf EuGH, Rs C-192/99, Kaur, Slg 2001, I-1237 Rn 24; EuGH, Rs C-233/97, KappAhl, Slg 1998, I-8069 Rn 23. Vgl auch Art 31 WVRK. ABl 2010 C 83/355.
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Gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik von Bedeutung, zumal insoweit – wie zur Steuerpolitik – auch allgemeine und nicht nur Irland betreffende Aussagen getroffen werden. Insoweit besteht ein Unterschied zu den speziellen Zusicherungen, die Dänemark nach dem Scheitern des ersten dänischen Referendums zum Vertrag von Maastricht gemacht wurden, während sich im Übrigen Irland bei seinem Vorgehen und auch der Europäische Rat bzw die Staats- und Regierungschefs ersichtlich am dänischen Beispiel orientierten. Die allgemeinen Aussagen sind für alle Mitgliedstaaten relevant und bestätigen insoweit eine restriktive Auslegung des Vertrags von Lissabon. In einigen Bereichen trifft sich dies mit der Auffassung des deutschen Bundesverfassungsgerichts, die dieses im Lissabonurteil vertreten hat, um zur Vereinbarkeit des Vertrages bzw des deutschen Zustimmungsgesetzes „nach Maßgabe der Gründe“ mit dem Grundgesetz zu kommen.40 D. Ergebnis Die Irland gegebenen Zusicherungen sind inhaltlich relativ konkret. Die „Vertretung“ – der Begriff ist an sich mit der Konstruktion der Kommission als allein dem Unionsinteresse verpflichtetem Organ41 unvereinbar – eines jeden Mitgliedstaats in der Kommission bleibt gesichert. Anders als der Vertrag von Nizza ermöglicht dies der Wortlaut des Vertrags von Lissabon, obwohl seine Intention in eine andere Richtung ging. Die als lediglich deklaratorisch verstandenen Zusicherungen legen nach der Verankerung in einem Protokoll die Auslegung der betreffenden Vertragsbestimmungen fest. Damit wird insoweit eine restriktive Vertragsauslegung unionsrechtlich – und nicht lediglich wie im Lissabonurteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts als verfassungsrechtliches Postulat – fixiert. Die konkreten Auswirkungen in den genannten Bereichen müssen sich in der Praxis zeigen. Die Ratifikation des Vertrags durch Irland war eine Vorleistung im Vertrauen darauf, dass das betreffende Protokoll tatsächlich ratifiziert wird. Die Mitgliedstaaten und insbesondere deren Regierungen sind verpflichtet, darauf hinzuwirken.
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Vgl zur gemeinsamen Verteidigungspolitik BVerfG, EuGRZ 2009, 339 Tz 381 ff. Vgl Art 17 Abs 3 UAbs 2 und 3 EUV.
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III. „Fußnote“ für Tschechien A. Hintergrund Die sog „Fußnote“ für Tschechien beruht auf dem Widerstand des tschechischen Staatspräsidenten Václav Klaus gegen den Vertrag von Lissabon, verbunden mit einem innenpolitischen Kalkül. Nachdem alle politischen und juristischen Versuche, den Vertrag von Lissabon zu stoppen, an beiden Kammern des Parlaments42 und am ersten Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts (Brünn)43 gescheitert waren, schließlich auch das erhoffte zweite negative Referendum in Irland ausblieb, wurde als letzter Verhinderungsversuch die Forderung nach einer nachträglichen Vertragsänderung durch ein Protokoll erhoben. Dieses Protokoll wurde durch die Staats- und Regierungschefs wörtlich formuliert und es wurde zugesichert, es zusammen mit dem nächsten Beitritt eines Mitgliedstaats zu ratifizieren. Von einer bloßen „Fußnote“ kann insoweit also keine Rede sein. Nach dieser Zusicherung und nachdem auch das zweite Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts vom 3. November 2009 keine durchgreifenden Einwände gegen die Vereinbarkeit der tschechischen Zustimmung zum Vertrag von Lissabon ergab,44 machte Klaus den Weg zur Ratifikation des Vertrages frei. B. Inhalt Bei der Tagung des Europäischen Rates vom 29./30. Oktober 2009 sind die Staats- und Regierungschefs „unter Berücksichtigung des Tschechischen Standpunkts“ übereingekommen, dass sie ein in Anlage I zu den Schlussfolgerungen des Vorsitzes enthaltenes Protokoll zum Abschluss des nächsten Beitrittsvertrages und im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beifügen. „In diesem Zusammenhang“ bestätigte der Europäische Rat, also das Organ im Rahmen der EU bzw (jetzt eindeutig) der EU selbst, „in Bezug auf die rechtliche Anwendung des Vertrags von Lissabon und seine Beziehung zu den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, dass (a) im 42 43 44
Vgl dazu Hummer, Zum weiteren Schicksal des Vertrages von Lissabon (Fn 6) 496. Urteil vom 26.11.2008 (Pl US 19/08). Urteil vom 3.11.2009 (Pl US 29/09).
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Vertrag von Lissabon Folgendes vorgesehen ist: „Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten.“ (Art 5 Abs 2 EUV) (b) die Charta „für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union (gilt).“ (Art 51 Abs 1 der Charta).45 Der Begriff „Fußnote“, der offenbar auf eine entsprechende Formulierung von Václav Klaus für seine Forderung zurück geht, sicherzustellen, dass die Grundrechtecharta nach dem Vertrag von Lissabon nicht gegenüber den diskriminierenden sog BenešDekreten eingewandt werden kann,46 trifft allein auf diese Bestätigung des Europäischen Rates zu, da hier allein die Bestimmungen der Art 5 Abs 2 EUV bzw Art 51 Abs 1 Grundrechtecharta wiedergegeben werden, nicht aber auf das von den Staats- und Regierungschefs zugesagte Protokoll. Denn dieses führt nach seiner Ratifikation wie das Irland-Protokoll zu einer Vertragsänderung. Das in Anlage I der Schlussfolgerungen des Vorsitzes wiedergegebene „Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf die Tschechische Republik“47 erstreckt den Anwendungsbereich des Protokolls Nr 30 über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich inhaltlich unverändert auf die Tschechische Republik. Damit gilt für dieses Protokoll nach dessen Ratifikation die gleiche rechtliche Beurteilung wie für das entsprechende Protokoll hinsichtlich Polens und des Vereinigten Königreichs. Die Limitierung der Wirkungen der Charta durch die Bezugnahme auf das jeweilige nationale Recht ist eingeschränkt, da die beiden anderen Quellen der Trias unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes (Europäische Menschenrechtskonvention, Art 6 Abs 2 EUV; Unionsgrundrechte, Art 6 Abs 3 EUV) davon unberührt 45
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Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Brüssel) vom 29./30.10.2009, EU-Nachrichten, Dokumentation Nr 2/2009, 3 (Nr I.2). Vgl Steve Peers, Lisbon Treaty guarantees for Ireland (http://www. statewatch.org/news/2009/jun/lisbon-ireland.pdf). Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Brüssel) vom 29./30.10.2009, EU-Nachrichten, Dokumentation Nr 2/2009, 12 f (Anlage I).
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bleiben. Auswirkungen sind allerdings im Bereich der ausdrücklich hervorgehobenen sozialen Rechte des Titels IV (Solidarität, Art 27 – 38) der Grundrechtecharta denkbar. Problematischer ist generell für die EU als „Rechtsgemeinschaft“ der Eindruck eines Europas mehrerer Geschwindigkeiten im Bereich des Grundrechtsschutzes. Im Hinblick auf das Protokoll hinsichtlich der Tschechischen Republik kommt die destruktive Konnotation mit den sog BenešDekreten hinzu.48 Dieser aus bezeichnenden innenpolitischen Gründen hergestellte Zusammenhang kommt allerdings weder im Protokoll noch im Beschluss des Europäischen Rates vom 29./30. Oktober 2009 zum Ausdruck. Ein indirekter Hinweis könnte allenfalls in der genannten „Berücksichtigung des Standpunkts der Tschechischen Republik“ gesehen werden. Ob die Grundrechtecharta insoweit überhaupt eine Auswirkung haben kann, ist ohnehin äußerst zweifelhaft. Sie entfaltet keine Rückwirkung auf in der Vergangenheit liegende Maßnahmen wie die Beneš-Dekrete und gilt für die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ (Art 51 Abs 1 Satz 1 GRCh). Soweit es um aktuelle diskriminierende Maßnahmen gehen sollte, greifen die Diskriminierungsverbote der Verträge sowie die Unionsgrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts (Art 6 Abs 3 EUV). Offenbar in der Erkenntnis, dass dieses Protokoll für die BenešDekrete keine Bedeutung hat, hat die davon – hauptsächlich im Verhältnis zu Ungarn – ebenfalls betroffene Slowakei sich diesem Protokoll entgegen ersten Erwägungen nicht angeschlossen. C. Rechtliche Verankerung Für die rechtliche Verankerung dieses Protokolls gelten die Ausführungen zum Protokoll hinsichtlich Irlands entsprechend. Die Staats- und Regierungschefs haben das völkerrechtlich bindende Versprechen gegeben, das in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates aufgenommene Protokoll, auf das sie Bezug nehmen, zusammen mit dem nächsten Beitrittsvertrag zu ratifizieren. Die Erklärungen des Europäischen Rates zum Prinzip der begrenzten Ermächtigung und zum Anwendungsbereich der Grundrechtecharta geben allein den Vertragstext wörtlich wieder, haben damit keine selbständige rechtliche Bedeutung. 48
Vgl zu den Beneš-Dekreten im Hinblick auf das EU-Recht Martin Nettesheim, EU-Beitritt und Unrechtsaufarbeitung, EuR 2003, 1 (1 ff).
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D. Ergebnis Die eigentliche „Fußnote“ für Tschechien bedarf keiner weiteren Maßnahmen, außer dass man sich an die Verträge hält, was man angesichts mancher Praktiken schon für erwähnenswert halten mag. Das Protokoll bewirkt nach seiner Ratifikation allerdings eine Vertragsänderung, die sich inhaltlich auf ganz andere Bereiche als dem vorgeblichen Bezug auf die Beneš-Dekrete auswirken kann. Die Ratifikation soll zusammen mit der Ratifikation des nächsten Beitrittsvertrags erfolgen. Fraglich ist, ob zwischen den drei unterschiedlichen Gegenständen ein Junktim besteht. Faktisch ist dies sicher der Fall, weil die Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten, also auch Irland und der Tschechischen Republik, erfolgen muss, die jeweils auf der Ratifikation des sie begünstigenden Protokolls bestehen werden. IV. Einlösung der Garantien bzw Zusagen Die rechtliche Verbindlichkeit der zugesicherten Protokolle hängt von der Ratifikation des nächsten Beitrittsvertrags und damit von dessen Realisierung ab. Die Einlösung der Garantien bzw Zusagen kann auf rechtliche und politische Hindernisse stoßen. A. Rechtsfragen Für Beitrittsverträge gilt Art 49 EUV, für Vertragsänderungen Art 48 EUV. Die jeweiligen Verfahren sind unterschiedlich. So muss zB das Europäische Parlament einem Beitritt eines neuen Mitgliedstaates mit der Mehrheit seiner Mitglieder zustimmen (Art 49 Abs 1 Satz 3 EUV), während es bei Vertragsänderungen nur angehört wird und ein Beschlussrecht allein hinsichtlich des möglichen Verzichts auf die Einberufung eines Konvents hat (Art 48 Abs 3 EUV). Das Verhältnis beider Bestimmungen zueinander ist hinsichtlich nicht konkret notwendig beitrittsbedingter Änderungen strittig. Im konkreten Fall dürfte die Übernahme der beiden Protokolle in die Ratifikation des Beitrittsvertrags im politischen Ermessen stehen und keine durchgreifenden rechtlichen Probleme aufwerfen, wenn man die dadurch überschießende Beteiligung des Europäischen Parlaments akzeptiert und nicht als Präzedenzfall auffasst. Gegebenenfalls kann dies klargestellt werden. Eine Alternative wäre die parallele Durchführung beider Verfahren sowohl auf Unionsebene als auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten. Da Referenden nicht erfor-
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derlich sein dürften, könnte allein durch eventuelle Gerichtsverfahren oder politische Blockaden eine Verzögerung eintreten. B. Mögliche politische Hindernisse Hinsichtlich des in Aussicht genommenen nächsten Beitrittskandidaten Kroatien wurde dessen Grenzkonflikt mit Slowenien als Problem gesehen. Nach dem Referendum vom 6. Juni 2010, in dem in Slowenien eine knappe Mehrheit dafür stimmte, den Grenzkonflikt durch ein Schiedsgericht entscheiden zu lassen,49 besteht die Chance, dieses Hindernis auszuräumen. In Ungarn äußerte die jetzige Regierungspartei Fidesz als damalige Oppositionspartei Vorbehalte hinsichtlich des Protokolls für Tschechien wegen der Konnotation mit den Beneš-Dekreten. Da sich die Slowakei nicht angeschlossen hat, könnte sich die Haltung als Regierungspartei geändert haben. Fraglich ist schließlich, ob sich die europäische Schuldenkrise auf laufende Beitrittsprozesse auswirkt. V. Ergebnis Die Garantien für Irland waren erforderlich, um ein zweites Referendum zu ermöglichen. Die sog „Fußnote“ für Tschechien wurde zugesichert, um den Widerstand nicht der Tschechischen Republik, sondern speziell von deren Präsident Václav Klaus zu überwinden. VI. Thesen 1.
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Wie der Verfassungsvertrag stieß auch der Vertrag von Lissabon trotz aller Bemühungen, diese von vorneherein zu vermeiden, auf Ratifikationshindernisse, zB Verzögerungen durch die Anrufung von Verfassungsgerichten. Ein „Ratifikationsunfall“ ereignete sich in Irland durch die Ablehnung des Vertrags im Referendum vom 12. Juni 2008. Dieser „Ratifikationsunfall“ wurde durch das zweite irische Referendum vom 2. Oktober 2009 „geheilt“. Bereits zuvor hatte nach dem Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts und nach Erfüllung von dessen Nachbesserungsverlangen hinsichtlich der deutschen Begleitgesetze Deutschland den Vertrag ratifiziert. Nach dem irischen Referendum unterzeichnete auch der polnische Staatspräsident, der seine EntVgl Süddeutsche Zeitung vom 8.6.2010, 7: „Slowenen beenden Gebietsstreit mit Kroatien“.
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scheidung davon abhängig gemacht hatte, das Vertragsgesetz. Der tschechische Staatspräsident machte, nachdem seine Versuche, über das tschechische Verfassungsgericht die Ratifikation stoppen zu lassen, gescheitert waren, die Ratifikation durch Zusicherungen hinsichtlich der eingeschränkten Geltung der Grundrechtecharta für die Tschechische Republik abhängig. Nachdem diese erteilt worden waren, ratifizierte die Tschechische Republik als letzter Mitgliedstaat den Vertrag, der am 1. Dezember 2009 in Kraft trat. Die Abhaltung eines zweiten Referendums in Irland erforderte, um das Volk in politisch vertretbarer Weise erneut befragen zu können, Garantien für Irland, die einerseits den ermittelten sachlichen Bedenken Rechnung trugen, andererseits aber zu keiner Änderung des von anderen Mitgliedstaaten bereits ratifizierten Lissabonner Vertrags führten, die eine Wiederholung des Ratifikationsprozesses erfordern würden. Die Garantien für Irland und die Zusicherung für die Tschechische Republik unterscheiden sich von Kompromissen, die bei der Einigung auf das Mandat der Regierungskonferenz erzielt wurden, und von Zugeständnissen, die vor der Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon am 13. Dezember 2007 gemacht wurden, dadurch, dass sie nach der Ratifikation des Vertrags durch die anderen Mitgliedstaaten erfolgen und den Vertrag als solchen (zunächst) nicht ändern. Dies wirft die Frage nach ihrer rechtlichen Verankerung und nach ihren Auswirkungen auf den Vertrag von Lissabon auf. Die sachlich motivierten (nicht unbedingt begründeten) Bedenken, die zur Ablehnung des Vertrags von Lissabon im ersten irischen Referendum führten, wurden seitens der irischen Regierung aufgrund einer Studie eines Beratungsinstituts ermittelt. Sie wurden von der irischen Regierung zusammengefasst und dem Europäischen Rat übermittelt. Der Europäische Rat hielt am 11./12. Dezember 2008 die wichtigsten Problempunkte (Zusammensetzung der Kommission, Steuerpolitik, Familien- und Sozialpolitik, Recht auf Leben, Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Neutralitätspolitik) fest. Konkret kam der Europäische Rat bereits überein, dass – sofern der Vertrag von Lissabon in Kraft tritt – im Einklang mit den erforderlichen rechtlichen Verfahren (vgl Art 17 Abs 5 UAbs 1 EUV: Reduktion der Kommission auf zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten, „sofern der Europäische Rat nicht
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einstimmig eine Änderung dieser Anzahl beschließt“) ein Beschluss gefasst wird, wonach weiterhin ein Staatsangehöriger jedes Mitgliedstaats der Kommission angehören soll. Der Europäische Rat sagte zu, erforderliche rechtliche Garantien zu den Punkten Zuständigkeiten im Bereich der Steuerpolitik, Sicherheits- und Verteidigungspolitik und Neutralitätspolitik, Recht auf Leben, Bildung und Familie zu geben und den weiteren von Irland genannten Punkten (insbesondere Arbeitnehmerrechte) „hohe Bedeutung“ beizumessen. Im Gegenzug sagte Irland in der Erwartung, dass diese Zusagen zufriedenstellend umgesetzt werden, zu, die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon anzustreben. Um dies umzusetzen, wurden bei der Tagung des Europäischen Rates vom 18./19. Juni 2009 folgende Beschlüsse gefasst, wobei zwischen dem Europäischen Rat (damals Art 4 Abs 2 EUV aF: Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten und Präsident der Kommission; jetzt Art 15 Abs 2 EUV: zuzüglich Präsident des Europäischen Rates, Art 15 Abs 5 EUV) und den im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs zu unterscheiden ist. Die im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten fassten einen Beschluss, dass weder der Vertrag von Lissabon im Bereich der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art 67-89 AEUV) noch die durch den Vertrag (Art 6 Abs 1 EUV) in Bezug genommene Charta der Grundrechte Geltungsbereich und Anwendbarkeit der Bestimmungen der irischen Verfassung über den Schutz des Rechts auf Leben, des Schutzes der Familie und des Schutzes der Rechte in Bezug auf Bildung berühren, durch den Vertrag für keinen Mitgliedstaat irgendeine Änderung in Bezug auf den Umfang und die Ausübung der Zuständigkeiten der EU im Bereich der Steuerpolitik erfolgt und dass die in ihren Leitlinien (vgl Art 21 EUV) beschriebene Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik weder die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der einzelnen Mitgliedstaaten, „einschließlich Irlands“, noch die Verpflichtungen irgendeines Mitgliedstaates berührt, der Vertrag „Irlands traditionelle Politik der militärischen Neutralität“ nicht berührt oder beeinträchtigt und es den Mitgliedstaaten „einschließlich Irlands, das im Geiste der Solidarität und unbeschadet seiner traditionellen Politik der militärischen Neutralität handelt“ unbenommen bleibt, zu bestimmen,
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welche Art von Hilfe oder Unterstützung sie einem Mitgliedstaat leisten, der von einem Terroranschlag oder einem bewaffneten Angriff auf sein Hoheitsgebiet betroffen ist (vgl demgegenüber Art 42 EUV). Die Staats- und Regierungschefs erklärten zu diesem Beschluss, dass damit die rechtliche Garantie gegeben wird, dass die dort aufgeführten bestimmten Angelegenheiten, die der irischen Bevölkerung Anlass zur Sorge geben (Recht auf Leben; Familie und Bildung; Steuerwesen; Sicherheit und Verteidigung), durch das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nicht berührt werden, der Inhalt der dort gegebenen Zusicherungen mit diesem Vertrag voll und ganz vereinbar ist und keine erneute Ratifikation dieses Vertrags erforderlich macht. Der Beschluss soll rechtlich bindend sein und am Tag des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon wirksam werden. Die in der Anlage festgehaltenen Bestimmungen des Beschlusses sollen zum Abschluss des nächsten Beitrittsvertrags in ein Protokoll aufgenommen werden, das nach Maßgabe ihrer jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügt wird. Dieses Protokoll soll in keiner Weise die Beziehungen zwischen der EU und den Mitgliedstaaten verändern sondern allein den im Beschluss enthaltenen Klärungen uneingeschränkt Vertragsstatus verleihen. Der Europäische Rat hat sich vor dem Hintergrund der Bemühungen, den irischen Bedenken Rechnung zu tragen, „auf folgenden Beschluss und folgende Erklärung verständigt, die mit dem Vertrag voll und ganz vereinbar sind, um eine Zusicherung zu geben und den Anliegen der irischen Bevölkerung zu entsprechen: a) Beschluss der im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu den Anliegen der irischen Bevölkerung bezüglich des Vertrags von Lissabon (Anlage 1); b) Feierliche Erklärung zu den Rechten der Arbeitnehmer, zur Sozialpolitik und zu anderen Angelegenheiten (Anlage 2)“. Er nahm ferner Kenntnis von der einseitigen Erklärung Irlands zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU und zu Irlands traditioneller Politik der militärischen Neutralität, die der irischen Ratifikationsurkunde zum Vertrag von Lissabon beigefügt wird.
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Während der Beschluss des Europäischen Rates im Rahmen des Rechts der Europäischen Union erfolgt und damit unionsrechtliche Verbindlichkeit erlangt, kommt dem Beschluss der Staats- und Regierungschefs völkerrechtliche Selbstbindung zu. Unklar erscheint die Wirkung der Bezugnahme auf den Beschluss der Staats- und Regierungschefs in Punkt a) des Beschlusses des Europäischen Rates. Die „Feierliche Erklärung“ des Europäischen Rates hat lediglich deklaratorisch-programmatischen Charakter. Die vom Europäischen Rat zur Kenntnis genommene und damit akzeptierte„Nationale Erklärung Irlands“ verwehrt in Zukunft Einwände gegen die Geltendmachung der darin formulierten Postulate. Sie ist als eine sich auf den Vertrag beziehende Urkunde zu dessen Auslegung heranzuziehen. Ungeachtet des Unterschieds zu den von der Konferenz beim Abschluss des Vertrags von Lissabon zur Kenntnis genommenen Erklärungen einzelner Mitgliedstaaten (Erklärungen Nr 51- 65 zum Vertrag von Lissabon) hat sie letztlich dieselbe Wirkung. Um die Verbindlichkeit der Zusicherungen auf der Ebene des Primärrechts zu sichern, sollen diese auf Verlangen Irlands und nach Zusicherung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten in ein Protokoll, das Bestandteil der Verträge ist (Art 51 EUV), aufgenommen werden, das zusammen mit dem nächsten Beitrittsvertrag ratifiziert werden soll. Nach Ansicht des Europäischen Rates und der Staats- und Regierungschefs sind die im Protokoll festzuhaltenden Zusicherungen an Irland lediglich deklaratorisch und ändern die Verträge nicht inhaltlich (meritorisch). Sie sind jedenfalls nach der Fixierung in einem Protokoll aber rechtlich verbindlich und für die Auslegung der Verträge bedeutsam. Die getroffenen limitierenden Klarstellungen sind sowohl für den Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts als auch insbesondere für die Gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik von Bedeutung, zumal insoweit – wie zur Steuerpolitik – auch allgemeine und nicht nur Irland betreffende Aussagen getroffen werden. Diese sind für alle Mitgliedstaaten relevant und bestätigen insoweit eine restriktive Auslegung des Vertrags von Lissabon. Der im Anschluss an die Blockade der Ratifikation des in der Tschechischen Republik vom Parlament und vom
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Verfassungsgericht gebilligten Vertrags von Lissabon gebrauchte Begriff einer „Fußnote“ für Tschechien trifft allein auf die Bestätigungen des Europäischen Rates vom 29./30. Oktober 2009 hinsichtlich des Prinzips der begrenzten Ermächtigung und des Geltungsbereichs der Europäischen Charta der Grundrechte zu, da hier allein die Bestimmungen der Art 5 Abs 2 EUV bzw Art 51 Abs 1 Grundrechtecharta wiedergegeben werden. Darüber hinaus hat der Rat nämlich der Tschechischen Republik zugesichert, „dass sie das in Anlage I enthaltende Protokoll zum Abschluss des nächsten Beitrittsvertrages und im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beifügen“. Damit wird aber eine inhaltliche (meritorische) Vertragsänderung herbeigeführt (Art 51 EUV), da der Anwendungsbereich der über Art 6 Abs 1 EUV primärrechtliche Qualität erhaltenden Grundrechtecharta eingeschränkt wird. Dieses Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf die Tschechische Republik erstreckt den Anwendungsbereich des Protokolls Nr 30 über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich inhaltlich unverändert auf die Tschechische Republik. Damit gilt für dieses Protokoll nach dessen Ratifikation die gleiche rechtliche Beurteilung wie für das entsprechende Protokoll hinsichtlich Polens und des Vereinigten Königreichs. Die Limitierung der Wirkungen der Charta durch die Bezugnahme auf das jeweilige nationale Recht ist eingeschränkt, da die beiden anderen Quellen der Trias unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes (Europäische Menschenrechtskonvention, Art 6 Abs 2 EUV; Unionsgrundrechte, Art 6 Abs 3 EUV) davon unberührt bleiben. Auswirkungen sind allerdings im Bereich der ausdrücklich hervorgehobenen sozialen Rechte des Titels IV (Solidarität, Art 27-38) der Grundrechtecharta denkbar. Problematischer ist generell für die EU als „Rechtsgemeinschaft“ der Eindruck eines Europas mehrerer Geschwindigkeiten im Bereich des Grundrechtsschutzes. Im Hinblick auf das Protokoll hinsichtlich der Tschechischen Republik kommt die destruktive Konnotation mit den BenešDekreten hinzu. Dieser aus bezeichnenden innenpolitischen Gründen hergestellte Zusammenhang kommt allerdings weder
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im Protokoll noch im Beschluss des Europäischen Rates vom 29./30. Oktober 2009 zum Ausdruck (allenfalls in der genannten „Berücksichtigung des Standpunkts der Tschechischen Republik“). Ob die Grundrechtecharta insoweit eine Auswirkung haben kann, ist ohnehin zweifelhaft. Die Slowakei hat sich diesem Protokoll entgegen ersten Erwägungen nicht angeschlossen. 19. Für Beitrittsverträge gilt Art 49 EUV, für Vertragsänderungen Art 48 EUV. Das Verhältnis beider Bestimmungen zueinander ist hinsichtlich nicht konkret notwendig beitrittsbedingten Änderungen strittig. Im konkreten Fall dürfte die Übernahme der beiden Protokolle in die Ratifikation des Beitrittsvertrags im politischen Ermessen stehen und keine durchgreifenden rechtlichen Probleme aufwerfen. 20. Die rechtliche Verbindlichkeit der zugesicherten Protokolle hängt von der Ratifikation des nächsten Beitrittsvertrags und damit von dessen Realisierung ab. Hinsichtlich des in Aussicht genommenen nächsten Beitrittskandidaten Kroatien dürfte dessen Grenzkonflikt mit Slowenien mittlerweile ausgeräumt sein. In Ungarn äußerte die jetzige Regierungspartei Fidesz (als damalige Oppositionspartei) Vorbehalte hinsichtlich des Protokolls für Tschechien wegen der Konnotation mit den BenešDekreten. Fraglich ist, ob sich die europäische Schuldenkrise auf laufende Beitrittsprozesse auswirkt.
Walter Obwexer
Rechtsfragen des Übergangs von „Nizza“ zu „Lissabon“ I. Einführung II. Zusammensetzung und Arbeitsweise der Organe und Einrichtungen A. Europäisches Parlament 1. Zusammensetzung 2. Geschäftsordnung 3. Änderung der Rahmenvereinbarung mit der Kommission B. Europäischer Rat 1. Präsident 2. Geschäftsordnung C. Rat 1. Ratsformationen 2. Vorsitz 3. Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit – neuer Ioannina-Mechanismus 4. Generalsekretär 5. Geschäftsordnung D. Europäische Kommission 1. Zusammensetzung und Investitur 2. Interregnum 3. Geschäftsordnung E. Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik 1. Übergangsweise Ernennung 2. Reguläre Ernennung 3. Beschäftigungsbedingungen 4. Europäischer Auswärtiger Dienst F. Gerichtshof der Europäischen Union 1. Bezeichnung
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T. Eilmansberger et al. (eds.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon © Springer-Verlag Wien 2011
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2. Eignungsprüfungsausschuss 3. Verfahrensordnungen 4. Hinweise zu Vorabentscheidungen G. Rechnungshof H. Ausschüsse Anpassung der Rechtsetzungsverfahren A. Interinstitutionelle Beschlussfassungsverfahren 1. Umnummerierung der Rechtsgrundlage(n) 2. Änderung des Rechtsetzungsverfahrens 3. Formelle Änderung von Vorschlägen 4. Ersetzung von Vorschlägen durch neue Vorschläge 5. Umwandlung von Empfehlungen in Vorschläge B. Ausgestaltung der neuen Rechtsetzungsverfahren 1. Delegierte Rechtsetzung 2. Durchführungsrechtsetzung Struktur des Amtsblattes A. Reihe L – Rechtsvorschriften B. Reihe C – Mitteilungen und Bekanntmachungen Notifizierung der Rechtsnachfolge der EU Vom Gemeinschaftsrecht zum Unionsrecht A. Inhalt B. Rechtswirkungen C. Übergangsbestimmungen betreffend das Unionsrecht „alt“ Berichtigungen des Vertrags von Lissabon Zusammenfassung und Schlussbetrachtungen
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I. Einführung Nachdem der am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnete Vertrag über eine Verfassung für Europa (Europäischer Verfassungsvertrag, EVV)1 Ende Mai/Anfang Juni 2005 in Frankreich und in den Nie1
ABl 2004 C 310/1. Vgl zB Walter Obwexer, Die neue Verfassung für Europa, ecolex 2004, 674; Waldemar Hummer / Walter Obwexer (Hg), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa (2007).
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derlanden von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt worden war, wurde nach einer beinahe zweijährigen Reflexionsphase über die Zukunft der Europäischen Union (EU) das Verfassungs-Konzept aufgegeben und im Sommer 2007 Konsens darüber erzielt, zu einem (bloßen) Reform-Konzept überzugehen. Dabei sollten die meisten der im Verfassungsvertrag enthaltenen Neuerungen in einen Reformvertrag übernommen und in die bestehenden Verträge eingearbeitet werden.2 Die dafür einberufene Regierungskonferenz konnte bereits am 18./19. Oktober 2007 ein politisches Ergebnis akkordieren. Der Reformvertrag3 wurde am 13. Dezember 2007 in der Hauptstadt Portugals als Vertrag von Lissabon (VvL)4 unterzeichnet. Nach Überwindung mehrerer rechtlicher und politischer Hindernisse im Ratifikationsverfahren5 konnte das Vertragswerk – letztlich rascher als erwartet6 – am 1. Dezember 2009 in Kraft treten. Der Vertrag von Lissabon verfolgt das Ziel, den mit dem Vertrag von Amsterdam (1997) und dem Vertrag von Nizza (2001) eingeleiteten Prozess, mit dem die Effizienz und die demokratische Legitimität der Union erhöht und die Kohärenz ihres Handelns ver2
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Vgl zB Waldemar Hummer, Von der „Verstaatlichung“ der EU durch den Verfassungs-Vertrag (2004) zu ihrer „Entstaatlichung“ durch den Vertrag von Lissabon (2007). Das Scheitern des „Verfassungskonzepts“, in Hummer / Obwexer (Hg), Der Vertrag von Lissabon (2009) 19. CIG 1/1/07 vom 5.10.2007. Vgl zB Ingolf Pernice, Der Vertrag von Lissabon: Ende des Verfassungsprozesses der EU? EuZW 2008, 65; Thorsten S. Richter, Die EU-Verfassung ist tot, es lebe der Reformvertrag! Übersicht über Zeitplan, Streichungen, Ergänzungen und Übernahmen aus dem Verfassungsentwurf, EuZW 2007, 631. ABl 2007 C 306/1, berichtigt ABl 2009 C 290/1 und ABl 2010 C 81/1. Vgl zB Klemens H. Fischer, Der Vertrag von Lissabon. Text und Kommentar zum Europäischen Reformvertrag2 (2010); Stefan Griller / Jacques Ziller (eds), The Lisbon Treaty. EU Constitutionalism withouth a Constitutional Treaty? (2008); Waldemar Hummer / Walter Obwexer (Hg), Der Vertrag von Lissabon (2009); Rudolf Streinz / Christoph Ohler / Christoph Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU. Einführung mit Synopse3 (2010). Vgl zB Waldemar Hummer, Zum weiteren Schicksal des Vertrages von Lissabon, in Hummer / Obwexer (Hg), Der Vertrag von Lissabon (2009), 471 (494 ff). Siehe auch Rudolf Streinz vorstehend auf S 23. Siehe dazu Gerda Falkner vorstehend auf S 1.
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bessert werden sollen, abzuschließen (Erwgr 1 VvL). Das gegenständliche Ziel soll durch weitreichende inhaltliche Weiterentwicklungen der die EU begründenden Verträge erreicht werden.7 Diese betreffen in erster Linie die Bestimmungen über den Aufbau und die institutionelle Ausgestaltung der EU. Der damit einhergehende Strukturwandel der EU machte eine Reihe von Regelungen notwendig, um einen möglichst reibungslosen Übergang vom alten auf das neue Regime zu ermöglichen. Diese Regelungen betreffen primär die Zusammensetzung und die Arbeitsweise der Organe und Einrichtungen der EU (II.), die Rechtsetzungsverfahren (III.), die Struktur des Amtsblattes der EU (IV.) und die Notifizierung der Rechtsnachfolge der EU (V.). Eng mit dem Übergang vom alten auf das neue Regime verbunden sind der Wechsel vom Gemeinschaftsrecht zum Unionsrecht (VI.) sowie die Berichtigungen des Vertrags von Lissabon (VII.).
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Vgl zB Christian Calliess, Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon (2010); Armin Hatje / Anne Kindt, Der Vertrag von Lissabon – Europa endlich in guter Verfassung? NJW 2008, 1761; Vanessa Hellmann, Der Vertrag von Lissabon. Vom Verfassungsvertrag zur Änderung der bestehenden Verträge – Einführung mit Synopse und Übersichten (2009); Andreas Hofman / Wolfgang Wessels, Der Vertrag von Lissabon – eine tragfähige und abschließende Antwort auf konstitutionelle Grundfragen?, Integration 2008, 3; Doris König / Alexander Nguyen, Der Vertrag von Lissabon – ausbildungsrelevante Reformen im Überblick, ZJS 2008, 140; Olaf Leiße (Hg), Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon (2010); Alina Lengauer, Der Reformvertrag – Ein bedeutender Schritt in der Herausbildung einer Europäischen Verfassungsordnung, ZfRV 2008, 4; Franz C. Mayer, Die Rückkehr der Europäischen Verfassung? Ein Leitfaden zum Vertrag von Lissabon, ZaöRV 2007, 1141; Walter Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, ecolex 2008, 285; Theo Öhlinger, Soll über den Vertrag von Lissabon in Österreich das Volk entscheiden?, ecolex 2008, 290; Ingolf Pernice, Der Vertrag von Lissabon: Reform der EU ohne Verfassung? (2008); Peter Schiffauer, Zum Verfassungszustand der Europäischen Union nach Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon, EuGRZ 2008, 1; Jürgen Schwarze / Armin Hatje (Hg), Der Reformvertrag von Lissabon, EuR Beiheft 1-2009; Jörg Philipp Terhechte, Der Vertrag von Lissabon: Grundlegende Verfassungsurkunde der europäischen Rechtsgemeinschaft oder technischer Änderungsvertrag? EuR 2008, 143.
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II. Zusammensetzung und Arbeitsweise der Organe und Einrichtungen Die neue institutionelle Ausgestaltung der EU erforderte entsprechende Änderungen in der Zusammensetzung und/oder in der Arbeitsweise der Organe und mancher Einrichtungen der Organisation. A. Europäisches Parlament Das Europäische Parlament war im Juni 2009 auf der Grundlage von Art 190 EGV und in Anwendung des Direktwahlaktes8 für die Wahlperiode 2009-2014 gewählt worden. Es zählt gemäß dem damals geltenden Art 189 Abs 2 EGV insgesamt 736 Abgeordnete. Davon wurden gemäß Art 190 Abs 2 UAbs 1 EGV beispielsweise in Deutschland 99 Abgeordnete gewählt, in Österreich 17 Abgeordnete und in Malta 5 Abgeordnete. 1. Zusammensetzung Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon sieht Art 14 EUV nunmehr vor, dass die Vertreter der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger im Europäischen Parlament die Zahl von 750, zuzüglich des Präsidenten, nicht überschreiten dürfen. Die Vertretung der Bürgerinnen und Bürger hat degressiv proportional zu erfolgen, wobei jeder Mitgliedstaat mindestens 6 Sitze zugeteilt bekommen muss und keiner mehr als 96 Sitze erhalten darf. Bereits während der Verhandlungen der Regierungskonferenz 20079 hatte das Europäische Parlament die Initiative ergriffen und mit Entschließung vom 11. Oktober 2007 zur Zusammensetzung des Europäischen Parlaments10 die Zahl der in jedem Mitgliedstaat gewählten Abgeordneten mit Wirkung ab dem Beginn der Wahlperiode 2009-2014 festgesetzt. Demnach würden zwölf Mitgliedstaaten mehr Abgeordnete zustehen als in Art 190 Abs 2 UAbs 1 EGV festgelegt waren; Deutschland mit derzeit 99 Abgeordneten würde als einziger Mitgliedstaat Sitze im Europäischen Parlament 8
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Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments, ABl 1976 L 278/1 idF ABl 2002 L 283/1. Vgl Tünde Fülöp, Die Regierungskonferenz 2007: Ausgangslage, Arbeitsweise, Ergebnisse, in Hummer / Obwexer (Hg), Der Vertrag von Lissabon (2009) 69. P6_TA(2007)429; A6-351/2007.
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verlieren und hätte in Übereinstimmung mit Art 14 Abs 2 UAbs 1 EUV nur noch 96 Sitze. Von den zwölf „begünstigten“ Mitgliedstaaten würde beispielsweise Österreich 2 zusätzliche Abgeordnete erhalten und könnte damit insgesamt 19 entsenden. Die vom Europäischen Parlament vorgeschlagene neue Zusammensetzung dieses Organs konnte allerdings nicht fristgerecht für die Wahlen im Juni 2009 verabschiedet werden, da der Vertrag von Lissabon nicht rechtzeitig in Kraft getreten war. Seit 1. Dezember 2009 könnte der Europäische Rat gestützt auf Art 14 Abs 2 UAbs 2 EUV den dafür vorgesehenen einstimmigen Beschluss (mit Zustimmung des Europäischen Parlaments) fassen, hat dies bislang aber nicht getan. Dessen ungeachtet erfüllt das im Juni 2009 neu gewählte Europäische Parlament die neuen primärrechtlichen Vorgaben in mehreren Punkten nicht: So erreicht Malta mit 5 Abgeordneten nicht die Mindestzahl von 6, während Deutschland mit 99 Abgeordneten über der Höchstzahl von 96 liegt. Darüber hinaus sind die gewählten Abgeordneten nicht strikt degressiv proportional auf die einzelnen Mitgliedstaaten verteilt, wie die vom Parlament vorgeschlagene und von der Regierungskonferenz 2007 akzeptierte neue Zahl der jedem Mitgliedstaat zugeteilten Abgeordneten belegt. Schließlich liegt die Gesamtmitgliederzahl mit 736 unter der zulässigen Höchstmitgliederzahl von 751. Letztere Abweichung stellt jedoch keinen Verstoß gegen die einschlägige Vorgabe dar, da die Höchstmitgliederzahl ausgeschöpft werden kann, aber nicht erreicht werden muss. Das in Art 2 des Protokolls (Nr 36) über die Übergangsbestimmungen enthaltene Übergangsregime für das Europäische Parlament vermag die Kollision mit Art 14 Abs 2 EUV jedoch nicht zu sanieren. Art 2 Abs 2 Prot Nr 36 bezieht sich nämlich – im Gegensatz zu den Übergangsregelungen betreffend den Rat (Art 4 Prot Nr 36) und die Kommission (Art 5 Prot Nr 36) – ausdrücklich auf die bereits abgelaufene Wahlperiode 2004-2009. Dieser eindeutige Wortlaut lässt es kaum zu, die gegenständliche Bestimmung unter Berufung auf ihr Ziel und ihren Zweck (Gewährleistung eines reibungslosen Übergangs auf das neue Primärrecht, indem das zum Zeitpunkt des Inkrafttretens im Amt befindliche Parlament bis zum Ende der Wahlperiode im Amt bleibt und Änderungen in der Zusammensetzung erst mit der nächsten Wahlperiode wirksam wer-
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den) sowie ihrer „nützlichen Wirkung“11 (Vermeidung einer Unterbrechung der Tätigkeit des Europäischen Parlaments) dahin gehend auszulegen, dass sie nicht auf die explizit erwähnte Wahlperiode 2004-2009 beschränkt ist, sondern allgemein die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon laufende Wahlperiode, konkret die Wahlperiode 2009-2014, betrifft.12 Dies hat allerdings zur Folge, dass das Europäische Parlament den seit 1. Dezember 2009 geltenden neuen primärrechtlichen Vorgaben angepasst werden muss. Ein – auch nur vorübergehendes – Abweichen von diesen Vorgaben muss primärrechtlich erlaubt werden. Fehlt eine derartige Übergangsbestimmung oder ist sie nicht (mehr) anwendbar, so sind die neuen institutionellen Bestimmungen für das betroffene Organ ab ihrem Inkrafttreten anzuwenden. Die daraus resultierende Notwendigkeit zur Anpassung der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments kann entweder durch eine – politisch wohl nicht opportune – Neuwahl des Parlaments oder durch eine entsprechende – zumindest vorübergehend geltende – Änderung des Primärrechts erfolgen. Bis dahin könnte die explizit auf die Wahlperiode 2004-2009 beschränkte Übergangsbestimmung in Art 2 Abs 2 Prot Nr 36 analog angewendet werden. Sie wurde nämlich im Hinblick auf das noch für 2008 erwartete Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon formuliert und ist durch das verspätete Inkrafttreten des Vertrags obsolet geworden. Dadurch entstand eine Regelungslücke, die mit der analogen Anwendung der Übergangsbestimmung geschlossen werden könnte. Auf dieser Basis bliebe das Parlament ordnungsgemäß zusammengesetzt und voll funktionsfähig. Vor dem Hintergrund des zeitlich verzögerten Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon ist der Europäische Rat bereits im Rahmen seiner Tagung vom 11./12. Dezember 2008 übereingekommen, „im Einklang mit den erforderlichen rechtlichen Verfahren so früh wie möglich Übergangsmaßnahmen“ zu treffen, um die Zahl der Abgeordneten jener zwölf Mitgliedstaaten zu erhöhen, für die nach der im Rahmen der Regierungskonferenz 2007 akkordierten neuen Zusammensetzung des Parlaments eine höhere Zahl an Abgeord-
11 12
Vgl zB EuGH, Rs C-304/02, Kommission/Frankreich, Slg 2005, I6263 Rn 80 ff. Vgl Walter Obwexer, Der Vertrag von Lissabon: EU-rechtliche Hindernisse auf dem Weg aus der Krise, JRP 2009, 157 (166).
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neten vorgesehen ist.13 Eine Reduktion der in Deutschland gewählten 99 Abgeordneten auf 96 hat der Europäische Rat dabei – scheinbar aus wahlrechtlichen Gründen – ausgeklammert. Dem folgend soll die Gesamtzahl der Abgeordneten des Parlaments bis zum Ende der Legislaturperiode 2009-2014 von 736 auf 754 steigen. Diese Änderung in der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments soll möglichst während des Jahres 2010 in Kraft treten. Im Rahmen der Tagung des Europäischen Rates vom 18./19. Juni 2009 wurden diese Übergangsmaßnahmen in zwei Punkten präzisiert: Zum einen wurde die Verteilung der zusätzlichen 18 Sitze auf die zwölf „begünstigten“ Mitgliedstaaten – entsprechend dem Vorschlag des Europäischen Parlaments vom Oktober 2007 und der Erklärung (Nr 4) zum Vertrag von Lissabon zur Zusammensetzung des Europäischen Parlaments – festgelegt, zum anderen festgehalten, wie diese zusätzlichen Sitze innerstaatlich zu vergeben sind.14 Diese vom Europäischen Rat akkordierten Übergangsmaßnahmen widersprechen allerdings in zwei Punkten den Vorgaben des neuen Primärrechts: Erstens übersteigt die Gesamtzahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments mit 754 um 3 Abgeordnete die in Art 14 Abs 2 UAbs 1 EUV niedergelegte Höchstzahl von 751 Abgeordneten. Zweitens können die den betroffenen Mitgliedstaaten zustehenden zusätzlichen Sitze auch dadurch vergeben werden, dass ihre nationalen Parlamente aus ihrer Mitte die erforderliche Zahl von Mitgliedern ernennen. In diesem Fall gilt die im Direktwahlakt festgeschriebene Regel des Verbots der Mandatshäufung. Dieser Bestellungsmodus steht im Widerspruch zu Art 14 Abs 3 EUV, wonach die Mitglieder des Europäischen Parlaments in „allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl (…) gewählt werden“. Von diesen primärrechtlichen Vorgaben kann nur durch eine primärrechtlich verankerte Ausnahme abgewichen werden, wie zB die Übergangsmaßnahme in Art 24 Abs 3 der Beitrittsakte 200515 zeigt, die es Bulgarien und Rumänien erlaubte, für den Zeitraum ab ihrem Beitritt bis zur Durchführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen ihrer Völker zum Europäischen Parlament die
13 14 15
Europäischer Rat vom 11./12.12.2008, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Dok 17271/08 vom 12.12.2008, Rn 1 ff. Europäischer Rat vom 18./19.6.2009, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Dok 11225/09 vom 19.6.2009, Rn 1 ff. ABl 2005 L 157/211.
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Abgeordneten des Europäischen Parlaments durch die nationalen Parlamente zu bestimmen. Den Vorgaben des Europäischen Rates folgend unterbreitete die spanische Regierung – Spanien übernahm im ersten Halbjahr 2010 den Vorsitz im Rat – wenige Tage nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon einen Vorschlag zur Änderung der Verträge betreffend die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments.16 Der Vorschlag wurde gem Art 48 Abs 2 EUV dem Europäischen Rat übermittelt und den nationalen Parlamenten zur Kenntnis gebracht. In der Folge konsultierte der Europäische Rat gem Art 48 Abs 3 EUV das Europäische Parlament und die Kommission; das Parlament wurde gleichzeitig um seine Zustimmung ersucht, keinen Konvent einzuberufen, da dies „aufgrund des Umfangs der vorgeschlagenen Änderungen nicht gerechtfertigt ist“. Die Kommission gab am 28. April 2010 eine befürwortende Stellungnahme ab. Das Europäische Parlament bezog am 6. Mai 2010 positiv Stellung und erteilte gleichzeitig die Zustimmung, keinen Konvent einzuberufen.17 Unter Bezugnahme auf diese Stellungnahme fasste der Europäische Rat am 17. Juni 2010 den Beschluss, eine Regierungskonferenz einzuberufen, die den von der spanischen Regierung eingebrachten Vorschlag zur Änderung der Verträge prüfen soll.18 Inhaltlich enthält der Vorschlag ein Protokoll zur Änderung des Protokolls (Nr 36) über die Übergangsbestimmungen. Demnach soll Art 2 Prot Nr 36 folgende neue Fassung erhalten: Für den ab Inkrafttreten dieses Artikels verbleibenden Zeitraum der Legislaturperiode 2009-2014 werden den 736 bestehenden Sitzen insgesamt 18 Sitze hinzugefügt, wodurch sich die Gesamtzahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments bis zum Ende der Legislaturperiode 2009-2014 vorübergehend auf 754 erhöht. Die 18 zusätzlichen Sitze werden wie folgt verteilt: Bulgarien 1, Spanien 4, 16 17
18
Rat der EU, Dok 17196/09 vom 4.12.2009. Der Ausschuss für konstitutionelle Fragen des Europäischen Parlaments hatte am 7.4.2010 der vorgeschlagenen Vertragsänderung zugestimmt. Vgl EuZW 2010, 364. Beschluss 2010/350/EU des Europäischen Rates vom 17.6.2010 über die Prüfung der von der spanischen Regierung vorgeschlagenen Änderungen der Verträge in Bezug auf die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments durch eine Konferenz von Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten und die Nichteinberufung eines Konvents, ABl 2010 L 160/5.
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Frankreich 2, Italien 1, Lettland 1, Malta 1, Niederlande 1, Österreich 2, Polen 1, Slowenien 1, Schweden 2 und Vereinigtes Königreich 1 (Art 2 Abs 1 Prot Nr 36). Abweichend vom Grundsatz der allgemeinen, unmittelbaren, freien und geheimen Wahl in Art 14 Abs 3 EUV bezeichnen die betroffenen Mitgliedstaaten die Persönlichkeiten, die die zusätzlichen 18 Sitze einnehmen werden, nach ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unter der Voraussetzung, dass diese Persönlichkeiten in allgemeinen direkten Wahlen gewählt wurden, und zwar a) entweder in allgemeinen unmittelbaren ad-hoc-Wahlen in den betroffenen Mitgliedstaaten nach den für die Wahlen zum Europäischen Parlament geltenden Bestimmungen, oder b) auf der Grundlage der Ergebnisse der Europawahlen vom 4. bis 7. Juni 2009, nach dem von ihnen festgelegten Verfahren, oder c) indem sie ihre nationalen Parlamente die erforderliche Zahl von Mitgliedern aus ihrer Mitte ernennen lassen (Art 2 Abs 2 Prot Nr 36).19 Das Protokoll bedarf gem Art 48 Abs 4 UAbs 2 EUV der Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten nach Maßgabe ihrer verfassungsrechtlichen Vorschriften. Es soll am 1. Dezember 2010 in Kraft treten, sofern bis dahin alle Ratifikationsurkunden hinterlegt worden sind, andernfalls am ersten Tag des auf die Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde folgenden Monats (Art 2 Änderungsprotokoll). In Österreich ist das gegenständliche Änderungsprotokoll iSv Art 50 Abs 1 Ziff 2 B-VG als Staatsvertrag, durch den die vertraglichen Grundlagen der EU geändert werden, zu qualifizieren und gem Art 50 Abs 4 B-VG von Nationalrat und Bundesrat mit qualifizierter Mehrheit – Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder und Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen – zu genehmigen. Nach Inkrafttreten des Änderungsprotokolls sind die 2 Österreich zustehenden zusätzlichen Sitze im Europäischen Parlament auf der Grundlage des – konsumptiven – Bundesverfassungsgesetzes, mit dem besondere Bestimmungen für die Neuermittlung der Verteilung von nach der Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments 2009 zu vergebenden Mandaten durch die Bundeswahlbehörde erlassen werden,20 zu besetzen. Demnach hat die Bundes19 20
Vgl Antwort des Rates auf die Schriftliche Anfrage P-2072/10 von Jörg Leichtfried, Dok 8749/10 vom 19.4.2010. BGBl I 2009/32.
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wahlbehörde die zu vergebenden Mandate auf der Grundlage der Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments 2009 gem § 77 Abs 3 bis 9 der Europawahlordnung21 unter Zugrundelegung der veränderten Mandatszahl zu ermitteln. Bis zum Inkrafttreten des Änderungsprotokolls können jene Mitgliedstaaten, denen nach der neuen Rechtslage zusätzliche Sitze im Europäischen Parlament zustehen, gem Art 11 Abs 4 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments (GO EP)22 Beobachter entsenden. Diese dürfen gem Art 11 Abs 2 GO EP an den Verhandlungen des Parlaments teilnehmen und können in den Ausschüssen und Fraktionen das Wort ergreifen. Sie sind jedoch nicht berechtigt, an Abstimmungen teilzunehmen oder sich innerhalb des Parlaments in ein Amt wählen zu lassen. Hinsichtlich der Nutzung von Einrichtungen des Parlaments und der Erstattung der mit ihrer Tätigkeit als Beobachter verbundenen Kosten sind sie gem Art 11 Abs 3 GO EP den Mitgliedern des Parlaments gleichgestellt. In Österreich wurde Ende Juli 2010 mit dem Bundesverfassungsgesetz, mit dem zur Durchführung des Vertrags von Lissabon das Bundes-Verfassungsgesetz und das Bundesverfassungsgesetz, mit dem besondere Bestimmungen für die Neuermittlung der Verteilung von nach der Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments 2009 zu vergebenden Mandaten durch die Bundeswahlbehörde erlassen werden, geändert werden (Lissabon-Begleitnovelle)23 die innerstaatliche Rechtsgrundlage für die Benennung der 2 Beobachter geschaffen. Demnach hat die Bundeswahlbehörde jene Bewerber zu ermitteln, denen bei einer Neuermittlung der Mandate die zusätzlich zu vergebenden Mandate zugewiesen würden. 2. Geschäftsordnung Mit Beschluss vom 25. November 2009 passte das Europäische Parlament seine Geschäftsordnung den Vorgaben des Vertrags von Lissabon an.24 Die gegenständlichen Änderungen sind am 1. Dezember 2009 wirksam geworden.25
21 22 23 24 25
BGBl 1996/117 idF BGBl I 2009/11. Abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/parliament/expert/sta ticDisplay.do?language=DE&id=56 (Stand: Anfang Juli 2010). BGBl I 2010/57. Vgl 978/A BlgNR XXIV. GP. P7_TA-PROV(2009)0088; A7-0043/2009. Siehe dazu Evelyn Waldherr nachstehend auf S 231.
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3. Änderung der Rahmenvereinbarung mit der Kommission Ausgehend vom neuen institutionellen Gleichgewicht, das mit dem Vertrag von Lissabon geschaffen wurde, forderte das Europäische Parlament mit Entschließung vom 9. Februar 2010 eine Revision der geltenden Rahmenvereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommission26 für die nächste Wahlperiode.27 Damit soll eine besondere Partnerschaft zwischen dem Parlament und der Kommission begründet und ein erster Grundstein für eine erneuerte Union in der Zeit nach Lissabon gelegt werden. Zur Erreichung dieses Ziels soll das Parlament künftig ua an der Kontrolle und Überwachung der Umsetzung und Anwendung der Rechtsvorschriften der Union durch die Mitgliedstaaten beteiligt werden, indem an den Treffen der Kommission mit Sachverständigen der Mitgliedstaaten auch Sachverständige des Parlaments teilnehmen dürfen (Pkt 3b und Pkt 3e Entschließung). Personen, die für die Stelle eines Exekutivdirektors von Regulierungsagenturen benannt sind, sollten zu Anhörungen der parlamentarischen Ausschüsse kommen (Pkt 3g Entschließung). Des Weiteren soll die Kommission sich verpflichten, das Parlament unverzüglich und umfassend über internationale Abkommen (einschließlich der Festlegung der Verhandlungsleitlinien) zu informieren (Pkt 3h Entschließung) und bei internationalen Konferenzen dafür eintreten, dass dem Vorsitz der Delegation des Parlaments bei wichtigen Sitzungen ein Beobachterstatus eingeräumt wird (Pkt 3i Entschließung). Diese Forderungen des Europäischen Parlaments müssen allerdings erst noch mit der Kommission vereinbart und als Änderungen in die geltende Rahmenvereinbarung aufgenommen werden. B. Europäischer Rat Der Europäische Rat erhielt mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon gem Art 13 Abs 1 UAbs 2 EUV explizit den Status eines Organs der Union. Dem folgend finden die für die Organe geltenden horizontalen Bestimmungen auch auf den Europäischen Rat Anwendung. Seine Rechtsakte unterliegen der Kontrolle des Ge-
26 27
ABl 2006 C 117 E/123. P7_TA-PROV(2010)0009; B7-0091/2010.
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richtshofs der Union, sofern sie Rechtswirkungen für Dritte erzeugen (Art 263 AEUV).28 1. Präsident Art 15 Abs 2 EUV sieht nunmehr vor, dass der Europäische Rat neben den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten und dem Präsidenten der Kommission auch seinen eigenen Präsidenten als Mitglied umfasst. Dieser Präsident ist gem Art 15 Abs 5 EUV vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit für eine Amtszeit von zweieinhalb Jahren zu wählen und kann ein einziges Mal wiedergewählt werden. Er darf gem Art 15 Abs 6 UAbs 3 EUV kein einzelstaatliches Amt ausüben. Der Präsident des Europäischen Rates hat im Wesentlichen zwei Aufgabengebiete: Unionsintern führt er gem Art 15 Abs 6 UAbs 1 EUV den Vorsitz bei den Arbeiten des Organs, sorgt in Zusammenarbeit mit dem Präsidenten der Kommission für die Vorbereitung und Kontinuität der Arbeiten des Europäischen Rates, wirkt darauf hin, dass Zusammenhalt und Konsens im Europäischen Rat gefördert werden und legt dem Europäischen Parlament im Anschluss an jede Tagung des Europäischen Rates einen Bericht vor.29 An den Abstimmungen im Europäischen Rat darf er allerdings – ebenso wie der Präsident der Kommission – nicht teilnehmen (Art 235 Abs 1 UAbs 2 AEUV). Nach außen nimmt der Präsident des Europäischen Rates gem Art 15 Abs 6 UAbs 2 EUV auf seiner Ebene und in seiner Eigenschaft, unbeschadet der Befugnisse des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, die Außenvertretung der Union in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wahr. Am Tag des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon wählte der Europäische Rat – gestützt auf Art 15 Abs 5 EUV – Herrn Herman van Rompuy für die Zeit vom 1. Dezember 2009 bis zum 31. Mai 2012 zum Präsidenten des Europäischen Rates.30 Gleichzeitig wurden auch die Beschäftigungsbedingungen festgelegt.31 28 29
30 31
Vgl Walter Obwexer, Die Rechtsstellung Einzelner in der Union nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, ÖJZ 2010, 101 (107 f). Vgl Hubert Isak, Institutionelle Ausgestaltung der Europäischen Union, in Hummer / Obwexer (Hg), Der Vertrag von Lissabon (2009) 133 (146 ff). Beschluss 2009/879/EU, ABl 2009 L 315/48. Beschluss 2009/909/EU, ABl 2009 L 322/35.
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Demnach gelten die Bestimmungen der Verordnung Nr 422/67/ EWG, 5/67/Euratom des Rates vom 25. Juli 1967 über die Regelung der Amtsbezüge für den Präsidenten und die Mitglieder der Kommission sowie den Präsidenten, die Richter, die Generalanwälte und den Kanzler des Gerichtshofs und für den Präsidenten, die Mitglieder und den Kanzler des Gerichts sowie für den Präsidenten, die Mitglieder und den Kanzler des Gerichts für den öffentlichen Dienst der EU32 entsprechend für den Präsidenten des Europäischen Rates. Das monatliche Grundgehalt des Präsidenten des Europäischen Rates entspricht dem Betrag, der sich aus der Anwendung des Prozentsatzes von 138% auf das Grundgehalt eines Beamten der EU in der Besoldungsgruppe 16, dritte Dienstaltersstufe, ergibt.33 Da der Amtsantritt des Präsidenten des Europäischen Rates in den laufenden Halbjahres-Vorsitz Schwedens fiel, führte der Regierungschef dieses Mitgliedstaates noch den Vorsitz im Rahmen der Tagung vom 10./11. Dezember 2009.34 Diese Vorgangsweise war bereits am 11./12. Dezember 2008 vom Europäischen Rat – ausgehend von der Erklärung (Nr 8) zum Vertrag von Lissabon – vereinbart worden und sollte der Berücksichtigung der geleisteten Vorarbeiten und der Sicherstellung einer harmonischen Kontinuität der Arbeit dienen.35 Der nachfolgende Halbjahres-Vorsitz, nämlich Spanien, hatte dann den Auftrag, im Einklang mit den Verträgen die erforderlichen konkreten Maßnahmen zu den organisatorischen und sachbezogenen Aspekten der „Übergabe“ des Vorsitzes zu treffen. Dabei war eine enge Konsultation zwischen diesem Vorsitz und dem gewählten Präsidenten des Europäischen Rates durchzuführen.36 32 33 34 35
36
ABl 1967 L 187/1. Zu den Vorrechten und Befreiungen des Präsidenten des Europäischen Rates siehe Pkt VII. nachstehend auf S 91. Vgl Europäischer Rat vom 10./11.12.2009, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, EUCO 6/09 vom 11.12.2009. Erklärung des Europäischen Rates: Vertrag von Lissabon – Übergangsmaßnahmen betreffend den Vorsitz des Europäischen Rates und den Vorsitz des Rates „Außenbeziehungen“, Anlage 1 zu den Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Dok 17271/1/08 REV 1 vom 13.2.2009. Erklärung des Europäischen Rates: Vertrag von Lissabon – Übergangsmaßnahmen betreffend den Vorsitz des Europäischen Rates
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2. Geschäftsordnung Zeitgleich mit dem Vertrag von Lissabon trat am 1. Dezember 2009 auch die Geschäftsordnung des Europäischen Rates in Kraft. Diese wurde im schriftlichen Verfahren angenommen.37 C. Rat Der Rat wurde mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zum Ko-Gesetzgeber des Europäischen Parlaments und übt gemeinsam mit diesem die Haushaltsbefugnisse aus (Art 16 Abs 1 EUV). Gleichzeitig erfolgten einige organisatorische Änderungen, welche die Effizienz seiner Arbeitsweise verbessern sollen. 1. Ratsformationen Gem Art 16 Abs 6 UAbs 1 EUV tagt der Rat in verschiedenen Zusammensetzungen. Primärrechtlich vorgesehen sind in Art 16 Abs 6 UAbs 2 und UAbs 3 EUV der Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ und der Rat „Auswärtige Angelegenheiten“. Andere Zusammensetzungen sind nach Art 236 AEUV vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit in einer eigenen Liste festzulegen. In Art 4 des Protokolls (Nr 36) über die Übergangsbestimmungen ist vorgesehen, dass bis zum Inkrafttreten des Beschlusses des Europäischen Rates nach Art 16 Abs 6 UAbs 1 EUV der Rat in seiner Zusammensetzung „Allgemeine Angelegenheiten“ mit einfacher Mehrheit die Liste jener Ratsformationen festlegen kann, die zu den Zusammensetzungen „Allgemeine Angelegenheiten“ und „Auswärtige Angelegenheiten“ hinzukommen. Gestützt auf diese Rechtsgrundlage legte der Rat mit Beschluss vom 1. Dezember 2009 die Liste jener Zusammensetzungen des Rates fest, welche die in Art 16 Abs 6 UAbs 2 und 3 EUV genannten Zusammensetzungen ergänzen.38 Dabei stützte er sich auf die vom Europäischen Rat auf seiner Tagung vom 21./22. Juni 2002 in Sevilla vereinbarten und in der Folge vom Rat (Allgemeine Angelegenheiten) am 22. Juli 2002 als Teil des Anhangs I der Geschäftsordnung des Ra-
37 38
und den Vorsitz des Rates „Außenbeziehungen“, Anlage 1 zu den Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Dok 17271/1/08 REV 1 vom 13.2.2009. Beschluss 2009/882/EU, ABl 2009 L 315/51. Siehe dazu Christa Peutl nachstehend auf S 199. Beschluss 2009/878/EU, ABl 2009 L 315/46.
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tes festgelegten Liste der Ratsformationen.39 Diese Liste von insgesamt 9 Zusammensetzungen wurde lediglich um eine Ratsformation erweitert, indem die Zusammensetzung „Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen“ den primärrechtlichen Vorgaben entsprechend in die Zusammensetzungen „Allgemeine Angelegenheiten“ und „Auswärtige Angelegenheiten“ getrennt wurde. Dem folgend kann der Rat seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon weiterhin in den etablierten Zusammensetzungen tagen. 2. Vorsitz Gem Art 16 Abs 9 EUV wird der Vorsitz im Rat in allen seinen Zusammensetzungen mit Ausnahme des Rates „Auswärtige Angelegenheiten“ von den Vertretern der Mitgliedstaaten im Rat nach einem System der gleichberechtigten Rotation wahrgenommen. Die Bedingungen dafür sind gem Art 236 AEUV vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit festzulegen. In der Erklärung (Nr 9) zum Vertrag von Lissabon akkordierte die Regierungskonferenz den Entwurf eines Beschlusses des Europäischen Rates über die Ausübung des Vorsitzes im Rat, der am Tag des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon angenommen werden sollte. Dieser Vorgabe kam der Europäische Rat mit dem Beschluss vom 1. Dezember 2009 über die Ausübung des Vorsitzes im Rat nach (Vorsitz-Beschluss).40 Demnach wird der Vorsitz im Rat außer in der Zusammensetzung „Auswärtige Angelegenheiten“ von zuvor festgelegten Gruppen von 3 Mitgliedstaaten für einen Zeitraum von 18 Monaten wahrgenommen („Teampräsidentschaft“).41 Diese Gruppen werden in gleichberechtigter Rotation der Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung ihrer Verschiedenheit und des geografischen Gleichgewichts innerhalb der Union zusammengestellt (Art 1 Abs 1 VorsitzBeschluss). Jedes Mitglied der Gruppe nimmt den Vorsitz in allen Zusammensetzungen des Rates außer in der Zusammensetzung
39
40 41
Vgl Waldemar Hummer / Walter Obwexer, Art 203 EGV, in Streinz (Hg), EUV/EGV. Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (2003) Rn 32. Beschluss 2009/881/EU, ABl 2009 L 315/50. Vgl Roland Bieber, Der neue institutionelle Rahmen, in Fastenrath / Nowak (Hg), Der Lissabonner Reformvertrag. Änderungsimpulse in einzelnen Rechts- und Politikbereichen (2009) 47 (57); Isak, Institutionelle Ausgestaltung der Europäischen Union (Fn 29) 150 ff.
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„Auswärtige Angelegenheiten“ im Wechsel für einen Zeitraum von sechs Monaten wahr. Die anderen Mitglieder der Gruppe unterstützen den Vorsitz auf der Grundlage eines gemeinsamen Programms bei all seinen Aufgaben. Die Mitglieder der Gruppe können „untereinander alternative Regelungen beschließen“ (Art 1 Abs 2 Vorsitz-Beschluss). Dem folgend dürfen sie von den (allgemeinen) Vorgaben in Art 1 Abs 2 Vorsitz-Beschluss im Einvernehmen abweichen und zB vorsehen, dass ein Mitglied der Gruppe den Vorsitz im Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ für 12 Monate wahrnimmt während ein anderes Mitglied der Gruppe in derselben Zeit den Vorsitz im Rat „Wirtschaft und Finanzen“ wahrnimmt. Der Vorsitz im Ausschuss der Ständigen Vertreter wird von einem Vertreter des Mitgliedstaates wahrgenommen, der den Vorsitz im Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ innehat (Art 2 Abs 1 Vorsitz-Beschluss). Der Vorsitz im Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee wird von einem Vertreter des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik wahrgenommen (Art 2 Abs 2 Vorsitz-Beschluss). Der Vorsitz in den vorbereitenden Gremien des Rates in seinen verschiedenen Zusammensetzungen – außer in der Zusammensetzung „Auswärtige Angelegenheiten“ – wird von dem Mitglied der Gruppe wahrgenommen, das den Vorsitz in der entsprechenden Zusammensetzung des Rates führt (Prinzip der vertikalen Kohärenz), sofern der Rat nichts anderes beschließt (Art 2 Abs 3 Vorsitz-Beschluss). Der Rat in der Zusammensetzung „Allgemeine Angelegenheiten“ sorgt im Rahmen einer Mehrjahresplanung in Zusammenarbeit mit der Kommission für die Kohärenz und die Kontinuität der Arbeiten des Rates in seinen verschiedenen Zusammensetzungen. Die den Vorsitz wahrnehmenden Mitgliedstaaten treffen mit Unterstützung des Generalsekretariats des Rates alle für die Organisation und den reibungslosen Ablauf der Arbeiten des Rates erforderlichen Vorkehrungen (Art 3 Vorsitz-Beschluss). Der Rat hat mit Beschluss Bestimmungen zur Anwendung des gegenständlichen Beschlusses zu erlassen (Art 4 Vorsitz-Beschluss). Dieser Vorgabe kam der Rat umgehend – noch am 1. Dezember 2009 – mit dem Beschluss zur Festlegung von Maßnahmen für die Durchführung des Beschlusses des Europäischen Rates über die Ausübung des Vorsitzes im Rat und über den Vorsitz in den Vor-
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bereitungsgremien des Rates (Vorsitz-Durchführungsbeschluss)42 nach. Darin wurde die Reihenfolge, in der die Gruppen von Mitgliedstaaten den Vorsitz für aufeinander folgende Zeiträume von 18 Monaten wahrnehmen werden, festgelegt. Dabei konnte der Rat sich darauf stützen, dass bereits am 1. Jänner 2007 ein System von Achtzehnmonatsprogrammen – basierend auf einer Vereinbarung der drei in dem betreffenden Zeitraum amtierenden Vorsitze – eingeführt und in der Geschäftsordnung des Rates verankert worden war. Dem folgend wird im Durchführungsbeschluss auf die mit Beschluss des Rates vom 1. Jänner 2007 festgelegte Reihenfolge43 verwiesen, in der die Mitgliedstaaten den Vorsitz im Rat ab dem 1. Jänner 2007 wahrnehmen (Art 1 Abs 1). Die Einteilung dieser Reihenfolge in Gruppen von drei Mitgliedstaaten ist in Anhang I des Durchführungsbeschlusses festgelegt. Demnach befindet sich Österreich in der Gruppe mit Rumänien und Finnland; dieser Gruppe obliegt der Vorsitz im Achtzehnmonatszeitraum Jänner 2019 bis Juni 2020. Die praktischen Modalitäten für die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten einer Teampräsidentschaft sind einvernehmlich zwischen den Mitgliedstaaten der Gruppe festzulegen (Art 2 Abs 3 Vorsitz-Durchführungsbeschluss). Der Vorsitz in den Vorbereitungsgremien des Rates wird in Anhang II (Vorbereitungsgremien des Rates „Auswärtige Angelegenheiten“) und Anhang III (Vorbereitungsgremien mit festem Vorsitz) geregelt (Art 4 und 5 Vorsitz-Durchführungsbeschluss). Vor dem 1. Juli 2017 hat der Rat über die Reihenfolge zu beschließen, in der die Mitgliedstaaten den Vorsitz ab dem 1. Juli 2020 ausüben werden (Art 3 Vorsitz-Durchführungsbeschluss). Im Rat „Auswärtige Angelegenheiten“ führt gem Art 18 Abs 3 EUV der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik den Vorsitz.44 In der Praxis bedeutet dies eine stabile Präsidentschaft für jeweils fünf Jahre.45 Der neuen Rechtslage folgend hätte in dieser Ratsformation am 1. Dezember 2009 ein Vorsitzwechsel stattfinden müssen. Diesbezüglich waren allerdings im
42 43 44 45
Beschluss 2009/908/EU, ABl 2009 L 322/28, berichtigt ABl 2009 L 344/56. ABl 2007 L 1/11. Vgl Isak, Institutionelle Ausgestaltung der Europäischen Union (Fn 29) 166. Vgl Bieber, Der neue institutionelle Rahmen (Fn 41) 57.
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Rahmen der Tagung des Europäischen Rates vom 11./12. Dezember 2008 – in Übereinstimmung mit der Erklärung (Nr 8) zum Vertrag von Lissabon – Übergangsmaßnahmen akkordiert worden, die eine harmonische Kontinuität der Arbeit sicherstellen sollten. Demnach sollte der amtierende Halbjahres-Vorsitz (Schweden) bis zum Ende des zweiten Halbjahres 2009 den Vorsitz aller verbleibenden Tagungen des Rates (einschließlich jener des Rates „Auswärtige Angelegenheiten“) weiter führen. Erst der nachfolgende Halbjahres-Vorsitz (Spanien) hatte den Auftrag, den Vorsitz des Rates „Auswärtige Angelegenheiten“ zu übergeben. Er hatte im Einklang mit den Verträgen die erforderlichen organisatorischen und sachbezogenen Maßnahmen in enger Konsultation mit dem (benannten) Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik zu treffen. 3. Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit – neuer Ioannina-Mechanismus In der Erklärung (Nr 7) zu Art 16 Abs 4 EUV und Art 238 Abs 2 AEUV ist der Entwurf eines Beschlusses des Rates enthalten, der einen reibungslosen Übergang von der bis zum 31. Oktober 2014 geltenden Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit „nach Nizza“ (Art 3 Abs 3 Prot Nr 36) zum System der doppelten Mehrheit „nach Lissabon“ (Art 16 Abs 4 EUV und Art 238 Abs 2 AEUV), die ab dem 1. November 2014 – mit einer Übergangszeit bis zum 31. März 2017 – gelten wird, gewährleisten soll. Dieser Beschlussentwurf sollte am Tag der Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon angenommen werden und am Tag des Inkrafttretens dieses Vertrags Geltung erlangen. Dem folgend wurde der Beschlussentwurf am 13. Dezember 2007 vom Rat im schriftlichen Verfahren angenommen; er trat gem seinem Art 7 am Tag des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon – also am 1. Dezember 2009 – in Kraft.46 Eine allfällige Änderung dieses Beschlusses oder einzelner seiner Bestimmungen erfordert nach dem Prot Nr 9 eine vorläufige Beratung über den entsprechenden Entwurf im Europäischen Rat, der dabei gem Art 15 Abs 4 EUV im Konsens handeln muss. Daraus resultiert für jeden Mitgliedstaat ein „Vetorecht“. Für die formale Beschlussfassung im Rat ist lediglich die qualifizierte Mehrheit vorgesehen. 46
Beschluss 2009/857/EG (richtig wohl 2007/857/EU), ABl 2009 L 314/73.
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Der gegenständliche Beschluss beinhaltet sowohl für die Übergangszeit vom 1. November 2014 bis zum 31. März 2017 als auch für die Zeit ab dem 1. April 2017 einen modifizierten IoanninaMechanismus. Demnach können mehrere Mitgliedstaaten, die die Annahme eines Rechtsaktes mit qualifizierter Mehrheit ablehnen, erzwingen, dass der Rat alles in seiner Macht stehende tun muss, um innerhalb einer angemessenen Zeit und unbeschadet der durch das Unionsrecht vorgeschriebenen zwingenden Fristen eine zufrieden stellende Lösung für die von diesen Mitgliedstaaten vorgebrachten Anliegen zu finden (Art 2 bzw Art 5 Beschluss). Diese Mitgliedstaaten müssen während der Übergangszeit vom 1. November 2014 bis zum 31. März 2017 entweder mindestens drei Viertel der Bevölkerung oder mindestens drei Viertel der Anzahl der Mitgliedstaaten vertreten, die für die Bildung einer Sperrminorität erforderlich sind (Art 1 Beschluss). Ab dem 1. April 2017 wird die Inanspruchnahme des Mechanismus erleichtert und erfordert nur noch entweder mindestens 55 % der Bevölkerung oder mindestens 55 % der Anzahl der Mitgliedstaaten, die eine Sperrminorität bilden (Art 4 Beschluss).47 4. Generalsekretär Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon endete die Doppelfunktion des Generalsekretärs und Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (Art 207 Abs 2 EGV).48 Seine Aufgaben als Hoher Vertreter gingen auf den neu geschaffenen Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik (Art 18 EUV) über. Gleichzeitig wurde die Funktion des stellvertretenden Generalsekretärs, der für die organisatorische Leitung des Generalsekretariats verantwortlich ist (Art 207 Abs 2 EGV), im Primärrecht gestrichen (vgl Art 240 AEUV). Dieser neuen Rechtslage folgend ernannte der Rat – gestützt auf Art 240 Abs 2 UAbs 1 AEUV – mit Beschluss vom 1. Dezember 2009 Herrn Pierre de Boissieu für die Zeit vom 1. Dezember 2009 bis zum Tag nach der Tagung des Europäischen Rates vom Juni 2011 zum Generalsekretär des Rates.49
47 48 49
Vgl Isak, Institutionelle Ausgestaltung der Europäischen Union (Fn 29) 157. Vgl Hummer / Obwexer, Art 207 EGV (Fn 39) Rn 45 ff. Beschluss 2009/911/EU, ABl 2009 L 322/37.
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Mit Beschluss vom gleichen Tag legte der Rat die Beschäftigungsbedingungen des Generalsekretärs fest.50 Demnach erhält der Generalsekretär des Rates ein Grundgehalt, das dem eines Beamten der EU der Besoldungsgruppe 16, dritte Dienstaltersstufe, multipliziert mit 100 %, entspricht. Hinzu kommen die im Beamtenstatut vorgesehenen Familienzulagen und Vergütungen (Art 1 Abs 1 Beschluss), Kostenerstattungen (Art 1 Abs 2 Beschluss) und eine Residenzzulage (Art 3 Beschluss). Wenige Wochen später traf der Rat bereits die Entscheidung über den Generalsekretär für die Zeit nach der Tagung des Europäischen Rates vom Juni 2011. Mit Beschluss vom 22. Dezember 2009 ernannte er Herrn Uwe Corsepius für die Zeit vom 26. Juni 2011 bis zum 30. Juni 2015 zum Generalsekretär.51 5. Geschäftsordnung Schließlich änderte der Rat mit Beschluss vom 1. Dezember 2009 auch seine mit Beschluss vom 15. September 2006 angenommene Geschäftsordnung.52 Dies war notwendig geworden, da der Vertrag von Lissabon mehrere Änderungen betreffend Zusammensetzung, Vorsitz und Arbeitsweise des Rates sowie Art und Annahme der Rechtsakte der Union brachte. Dabei wurde die Geschäftsordnung des Rates neu gefasst und dem gegenständlichen Beschluss als Anhang beigefügt. Die neue Geschäftsordnung ist am 1. Dezember 2009 „wirksam“ geworden.53 Des Weiteren enthält der Beschluss eine Übergangsregelung, wonach die Bestimmungen der neuen Geschäftsordnung betreffend die Subsidiaritätsrüge der nationalen Parlamente54 (Art 3 Abs 3 GO Rat) erst für Entwürfe von Legislativakten gelten, die ab dem Tag des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon angenommen und übermittelt wurden (Art 2 Beschluss).
50 51 52 53 54
Beschluss 2009/912/EU, ABl 2009 L 322/38. Beschluss 2009/1009/EU, ABl 2009 L 347/31. Verordnung (gemeint ist wohl Beschluss) 2009/937/EU, ABl 2009 L 325/35. Siehe dazu Andreas J. Kumin nachstehend auf S 209. Vgl Walter Obwexer, Der Vertrag von Lissabon: Auswirkungen auf das öffentliche Recht Österreichs, in Lienbacher / Wielinger (Hg), Jahrbuch Öffentliches Recht 08 (2008) 67 (71 ff).
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D. Europäische Kommission Gem Art 45 Abs 2 lit c Beitrittsakte 200355 und dem dieser Vorgabe entsprechenden Beschluss des Rates vom 19. November 2004 über die Ernennung des Präsidenten und der Mitglieder der Kommission der Europäischen Gemeinschaften56 endete die Amtszeit der Kommission Barroso am 31. Oktober 2009. Nach der damals geltenden Rechtslage – Art 213 Abs 1 UAbs 2 EGV in der Fassung des Protokolls über die Erweiterung der EU (2001),57 in Kraft getreten mit dem Beitritt des 27. Mitgliedstaates am 1. Jänner 200758 – hätte die Zahl der Mitglieder der neuen Kommission unter der Zahl der Mitgliedstaaten liegen müssen. Demnach hätte diese Kommission höchstens 26 Mitglieder haben dürfen. Die Mitglieder der Kommission wären auf der Grundlage einer gleichberechtigten Rotation auszuwählen gewesen, deren Einzelheiten der Rat einstimmig hätte festlegen müssen.59 1. Zusammensetzung und Investitur Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon änderte sich diese Rechtslage. Gem Art 17 Abs 4 EUV besteht die Kommission, die zwischen dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon und dem 31. Oktober 2014 ernannt wird, aus je einem Staatsangehörigen jedes Mitgliedstaats (einschließlich ihres Präsidenten und des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, der einer der Vizepräsidenten der Kommission ist). Erst ab dem 1. November 2014 ist die Zahl der Mitglieder der Kommission (einschließlich ihres Präsidenten und des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik) auf zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten zu reduzieren, sofern der Europäische Rat nicht einstimmig eine Änderung dieser Anzahl beschließt. Diesbezüglich ist der Europäische Rat am 11./12. Dezember 2008 übereingekommen, den Beschluss zu fassen, dass weiterhin ein Staatsangehöriger jedes Mitgliedstaats der Kommis55 56 57 58 59
ABl 2003 L 236/47. Beschluss 2004/780/EG, Euratom, ABl 2004 L 344/33. Vgl Waldemar Hummer / Walter Obwexer, Der Vertrag von Nizza (2001) 94 (97 f). Vgl Beitrittsvertrag 2005, ABl 2005 L 157/10. Vgl Obwexer, Der Vertrag von Lissabon: EU-rechtliche Hindernisse auf dem Weg aus der Krise (Fn 12) 163.
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sion angehören wird.60 Des Weiteren wurde das bislang geltende Investiturverfahren der Kommission (Art 214 EGV)61 in mehreren Punkten modifiziert.62 Die wichtigste Neuerung betrifft das Verfahren zur Bestellung des Präsidenten der Kommission. Dieser wird nicht mehr vom Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs nach Zustimmung des Europäischen Parlaments mit qualifizierter Mehrheit designiert (Art 214 Abs 2 UAbs 1 EGV), sondern auf Vorschlag des Europäischen Rates vom Europäischen Parlament gewählt. Gem Art 17 Abs 7 UAbs 1 EUV schlägt der Europäische Rat dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor. Dabei hat er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament zu berücksichtigen. Die erforderlichen Konsultationen sollen nach der Erklärung (Nr 11) zum Vertrag von Lissabon zu Art 17 Abs 6 und Abs 7 EUV vor dem Beschluss des Europäischen Rates zwischen Vertretern des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates in einem Rahmen durchgeführt werden, der als am besten geeignet erachtet wird. Sie sollen das Profil der Kandidaten für das Amt des Präsidenten unter Berücksichtigung der Wahlen zum Europäischen Parlament zum Gegenstand haben. Nach Abschluss der Konsultationen wählt das Europäische Parlament den vorgeschlagenen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder. Wird diese Mehrheit nicht erreicht, schlägt der Europäische Rat innerhalb eines Monats mit qualifizierter Mehrheit einen neuen Kandidaten vor (Art 17 Abs 7 UAbs 1 EUV). Die Bestellung des Präsidenten der Kommission durch Wahl des Europäischen Parlaments mit der Mehrheit seiner Mitglieder (absolute Mehrheit) erfordert ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen der Volksvertretung und dem designierten Kommissionspräsidenten. Das zuvor geltende Recht verlangte für die Zustimmung des Europäischen Parlaments zum Vorschlag des Rates, welche Persönlichkeit er zum Präsidenten der Kommission zu ernennen 60 61
62
Europäischer Rat vom 11./12.12.2008, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Dok 17271/08 vom 12.12.2008, Rn 2. Vgl zB Matthias Ruffert, Art 214 EGV, in Calliess / Ruffert (Hg), EUV/EGV. Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechte-Charta. Kommentar3 (2007) Rn 3 ff. Vgl Isak, Institutionelle Ausgestaltung der Europäischen Union (Fn 29) 162 ff.
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beabsichtigt, nämlich bloß die Mehrheit der abgegebenen Stimmen (relative Mehrheit). Im Gegensatz zum Verfahren zur Bestellung des Präsidenten blieb das Verfahren zur Ernennung der übrigen Mitglieder der Kommission im Wesentlichen unverändert (Art 17 Abs 7 UAbs 2 und 3 EUV). Die einzige Neuerung besteht darin, dass die Ernennung formal nicht mehr durch den Rat, sondern durch den Europäischen Rat erfolgt. Vor diesem Hintergrund wurde das Verfahren zur Investitur der neuen Kommission zweigeteilt. Bereits im Rahmen seiner Tagung vom 11./12. Dezember 2008 war der Europäische Rat übereingekommen, „dass der Prozess zur Ernennung der künftigen Kommission, insbesondere die Benennung ihres Präsidenten, unverzüglich nach den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2009 eingeleitet wird“.63 Dem folgend einigten sich die Staats- und Regierungschefs im Rahmen der Tagung des Europäischen Rates vom 18./19. Juni 2009 – gestützt auf das geltende Investiturverfahren in Art 214 EGV – einmütig auf Herrn José Manuel Durao Barroso als die Persönlichkeit, die sie als Präsident der Kommission für den Zeitraum von 2009-2014 zu benennen beabsichtigten. Der zu diesem Zeitpunkt amtierende tschechische und der künftige schwedische Vorsitz des Europäischen Rates wurden ersucht, Gespräche mit dem Europäischen Parlament zu führen, um festzustellen, ob das Parlament in der Lage ist, der Benennung auf seiner Plenartagung im Juli 2009 zuzustimmen. Vor dem Hintergrund dieser Gespräche fasste der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs – gestützt auf Art 214 Abs 2 UAbs 1 EGV – am 9. Juli 2009 im schriftlichen Verfahren64 den Beschluss, Herrn José Manuel Durao Barroso als die Persönlichkeit zu benennen, die der Rat für den Zeitraum vom 1. November 2009 bis zum 31. Oktober 2014 zum Präsidenten der Kommission zu ernennen beabsichtigt.65 Dieser Benennung stimmte das Europäische Parlament in Form einer geheimen Wahl (Art 105 GO EP) am 16. September 2009 mit 382 zu 219 Stimmen und 117 Enthaltungen bei insgesamt 718 Abstimmenden zu.66 Damit konnte der designierte 63
64 65 66
Erklärung des Europäischen Rates: Vertrag von Lissabon – Ernennung der künftigen Kommission, Anlage 1 zu den Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Dok 17271/1/08 REV 1 vom 13.2.2009. Vgl Die Presse vom 10.7.2009, 4. Beschluss 2009/532/EG, ABl 2009 L 179/61. ABl 2010 C 22 E/67.
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Präsident nicht nur die – nach dem damals geltenden Recht erforderliche – einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen, sondern auch die – nach der neuen Rechtslage notwendige – absolute Mehrheit der Mitglieder des Parlaments erreichen. Nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nahm der Rat am 4. Dezember 2009 – im Einvernehmen mit dem gewählten Präsidenten der Kommission – die Liste der anderen Persönlichkeiten an, die er als Mitglieder der Kommission vorschlägt.67 Diese Liste wurde im Zuge der Anhörungen der designierten Kommissionsmitglieder in den zuständigen Ausschüssen des Europäischen Parlaments am 22. Jänner 2010 durch eine neue Liste ersetzt.68 Dabei wurde die designierte Kommissarin aus Bulgarien, Frau Rumiana Jeleva durch Frau Kristalina Georgieva ersetzt. Ebenfalls am 4. Dezember 2009 ernannte der Europäische Rat mit Zustimmung des Präsidenten der Kommission Frau Catherine Ashton für den Zeitraum ab dem Ende der Amtszeit der zu diesem Zeitpunkt amtierenden Kommission bis zum 31. Oktober 2014 zur Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik.69 Bereits am 1. Dezember 2009 hatte der Europäische Rat im Einvernehmen mit dem Präsidenten der Kommission Frau Catherine Ashton zur Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik für die Zeit vom 1. Dezember 2009 bis zum Ende der Amtszeit der zu diesem Zeitpunkt amtierenden Kommission ernannt.70 Am 9. Februar 2010 stellten sich der gewählte Präsident, die Hohe Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und die übrigen Mitglieder der Kommission gem Art 17 Abs 7 UAbs 3 EUV dem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments. Dieses erteilte dem Kollegium seine Zustimmung.71 Auf der Grundlage dieser Zustimmung ernannte der Europäische Rat noch am selben Tag die Kommission.72 Diese trat am 10. Februar 2010 ihr Amt an und ist bis zum 31. Oktober 2014 im Amt. 67 68 69 70 71
72
Beschluss 2009/903/EU, ABl 2009 L 321/51. Beschluss 2010/41/EU, Euratom, ABl 2010 L 20/5. Beschluss 2009/950/EU, ABl 2009 L 328/69. Beschluss 2009/880/EU, ABl 2009 L 315/49. Siehe dazu Pkt II.E. nachstehend auf S 74. Vgl Beschluss des Europäischen Parlaments vom 9.2.2010 mit der Zustimmung zur Ernennung der Kommission, P7_TA-PROV(2010) 0010. Beschluss 2010/80/EU, ABl 2010 L 38/7.
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2. Interregnum Da die Amtszeit der Kommission Barroso I am 31. Oktober 2009 ausgelaufen war und die Amtszeit der Kommission Barroso II erst am 10. Februar 2010 begann, war ein Interregnum von gut drei Monaten entstanden. Dieses Interregnum konnte nicht mit einer formalen Verlängerung der Amtszeit der Kommission Barroso I durch Beschluss des Rates vermieden werden, da die im Rang von Primärrecht stehende Beitrittsakte 200373 ausdrücklich vorsieht (Art 45 Abs 2 lit c), dass die Amtszeit dieser Kommission am 31. Oktober 2009 endet. Dem folgend ist die Kommission Barroso I am 31. Oktober 2009 aus dem Amt geschieden. Sie war jedoch verpflichtet, als geschäftsführende Kommission bis zum Amtsantritt der neuen Kommission weiter tätig zu sein, war dabei allerdings auf die laufenden Geschäfte beschränkt. In diesem Sinne sind wohl auch die Erwägungsgründe im Beschluss des Europäischen Rates zur Ernennung der Europäischen Kommission zu verstehen, wonach „(a)ufgrund der Umstände im Zusammenhang mit der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon (…) die am 22. November 2004 ernannte Kommission nach dem 31. Oktober 2009 im Amt geblieben (ist)“.74 Die Verpflichtung zur Überbrückung der Vakanz ergibt sich zunächst aus zwei Bestimmungen des Primärrechts, die analoge Sachverhalte regeln: Art 215 Abs 4 EGV, wonach „außer im Falle der Amtsenthebung (…) die Mitglieder der Kommission bis zur Neubesetzung ihres Sitzes (…) im Amt (bleiben)“ bzw Art 246 Abs 6 AEUV, wonach bei „Rücktritt aller Mitglieder der Kommission (…) diese bis zur Neubesetzung ihres Sitzes (…) für die verbleibende Amtszeit im Amt (bleiben) und (…) die laufenden Geschäfte weiter(führen)“, sowie Art 201 Abs 2 EGV bzw Art 234 Abs 2 AEUV, wonach im Falle eines Misstrauensvotums des Europäischen Parlaments alle Mitglieder der Kommission ihr Amt niederlegen müssen, aber „im Amt (bleiben) und (…) die laufenden Geschäfte bis zu ihrer Ersetzung (…) weiter(führen)“. Bestätigt wird diese Lösung durch einen allgemeinen Rechtsgrundsatz, wonach die Verpflichtung zur Besorgung der laufenden Geschäfte Ausdruck des „allgemeinen Kontinuitätsprinzips“ der öffentlichen Verwaltung ist und in jedem Fall Anwendung findet, in
73 74
Vgl zB EuGH, verb Rs 31 u 35/86, LAISA, Slg 1988, 2285 Rn 14. Erwgr 1 Beschluss 2010/80/EU, ABl 2010 L 38/7.
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dem die Amtszeit der Kommission ausläuft, ohne dass das Verfahren zur Ernennung der neuen Kommission abgeschlossen ist.75 Schließlich gibt es für eine derartige Überbrückung eines Interregnums bereits Präzedenzfälle. Am 6. Jänner 1995 endete die Amtszeit der am 6. Jänner 1993 eingesetzten Kommission Delors. Die neue Kommission Santer konnte ihr Amt aber nicht – wie primärrechtlich vorgesehen – am 7. Jänner 1995 antreten, sondern wurde erst am 23. Jänner 1995 eingesetzt. Das daraus resultierende Interregnum von zwei Wochen wurde dadurch überbrückt, dass die „alte“ Kommission Delors als geschäftsführende Kommission weiter tätig war und die laufenden Geschäfte bis zum Amtsantritt der „neuen“ Kommission Santer erledigte.76 Auch die Kommission Barroso I konnte ihr Amt nicht – wie von Art 45 Abs 2 lit c der Beitrittsakte 200377 vorgesehen – am 1. November 2004 antreten, sondern wurde erst mit 22. November 2004 ernannt.78 Bis dahin führte die Kommission Prodi die laufenden Geschäfte weiter.79 Was zu den laufenden Geschäften zählt, ist nicht eindeutig festgelegt. Unbestritten ist lediglich, dass diese Geschäftsführungsbefugnis sachlich alle der Kommission gem Art 17 Abs 1 EUV übertragenen Aufgaben umfasst. Inhaltlich sind der Kommission dabei enge Grenzen gezogen, deren genauer Verlauf allerdings umstritten ist. Nach einem differenzierten Ansatz kann eine geschäftsführende Kommission in Erfüllung ihrer Aufgaben jene Agenden erledigen, die nach ihrer Natur, wegen ihrer Dringlichkeit oder als 75
76
77 78 79
Vgl Commission Européenne, Avis du service juridique. Objet: Etendue des pouvoirs de la Commission après l’expiration du mandat de ses membres. Expédition des affaires courantes – Annexe: Compétences d’un gouvernement démissionnaire. Principe de l’expédition des affaires courantes. Situation dans les Etats membres, Bruxelles, le 9 janvier 1995, 1. Vgl Waldemar Hummer / Walter Obwexer, Die „geschäftsführende Kommission“ der Europäischen Gemeinschaften, JRP 1999, 181 (184). Siehe dazu Pkt II.D. vorstehend auf S 68. Siehe dazu Pkt II.D. vorstehend auf S 68. Vgl Beschluss 1999/627/EG, EGKS, Euratom der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften vom 15.9.1999 zur Ernennung des Präsidenten und der Mitglieder der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, ABl 1999 L 248/30.
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unbestrittene Erledigungen laufende Geschäfte darstellen.80 3. Geschäftsordnung Wenige Tage nach ihrem Amtsantritt passte die Kommission mit Beschluss vom 24. Februar 2010 – gestützt auf Art 249 AEUV – ihre Geschäftsordnung den neuen primärrechtlichen Vorgaben an.81 Die geänderte Geschäftsordnung ist am 5. März 2010 in Kraft getreten.82 E. Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik Der mit dem Vertrag von Lissabon eingeführte Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik ist zwar kein Organ der Union, nimmt aber eine institutionelle Sonderstellung ein. Er ist zum einen Vorsitzender des Rates „Auswärtige Angelegenheiten“ (Art 18 Abs 3 EUV) und zum anderen Mitglied und einer der Vizepräsidenten der Kommission (Art 18 Abs 4 EUV).83 Der Hohe Vertreter ist vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit und mit Zustimmung des Präsidenten der Kommission zu ernennen (Art 18 Abs 1 EUV). Er muss sich als Mitglied des Kollegiums der Kommission einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments stellen (Art 17 Abs 7 UAbs 3 EUV).84 Bei der Erfüllung seines Auftrags, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU zu leiten und für die Kohärenz des auswärtigen Handelns der EU zu sorgen, stützt der Hohe Vertreter sich auf einen Europäischen Auswärtigen Dienst (Art 27 Abs 3 EUV). 1. Übergangsweise Ernennung Nach dem Protokoll (Nr 36) über die Übergangsbestimmungen (Art 5 Prot Nr 36) und unter Berücksichtigung der Erklärung (Nr 12) zum Vertrag von Lissabon zu Art 18 EUV sollte die Ernennung des ersten Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik am Tag des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon erfolgen; seine Amtszeit sollte bis zum Ende der Amtszeit der an diesem Tag 80 81 82 83 84
Siehe dazu ausführlich Hummer / Obwexer, Die „geschäftsführende Kommission“ der Europäischen Gemeinschaften (Fn 76) 187 ff. ABl 2010 L 55/60. Siehe dazu Bernhard Schima nachstehend auf S 251. Vgl Isak, Institutionelle Ausgestaltung der Europäischen Union (Fn 29) 164 ff. Siehe dazu Gregor Schusterschitz nachstehend auf S 269.
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amtierenden Kommission dauern. Bei den Vorbereitungsarbeiten zur Ernennung des Hohen Vertreters sollten geeignete Kontakte zum Europäischen Parlament stattfinden. Dem folgend ernannte der Europäische Rat mit Zustimmung des Präsidenten der Kommission mit Beschluss vom 1. Dezember 2009 Frau Catherine Ashton zur Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik für die Zeit vom 1. Dezember 2009 bis zum Ende der Amtszeit der an diesem Tag amtierenden Kommission.85 Gemeint war damit die seit 1. November 2009 auf die Führung der laufenden Geschäfte begrenzte Amtszeit der Kommission Barroso I.86 Da Frau Ashton bereits Mitglied der Kommission war, wurde die in Art 5 Prot Nr 36 vorgesehene Übergangsregelung, wonach mit der Ernennung des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik die Amtszeit des Mitglieds der Kommission endet, das die gleiche Staatsangehörigkeit wie dieser besitzt, obsolet. 2. Reguläre Ernennung Am 4. Dezember 2009 ernannte der Europäische Rat mit Zustimmung des Präsidenten der Kommission Frau Catherine Ashton für den Zeitraum ab dem Ende der Amtszeit der zu diesem Zeitpunkt amtierenden Kommission bis zum 31. Oktober 2014 zur Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik.87 In der Folge musste sich die Hohe Vertreterin gem Art 17 Abs 7 UAbs 3 EUV mit dem Präsidenten und den übrigen Mitgliedern der Kommission als Kollegium einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments stellen.88 3. Beschäftigungsbedingungen Mit Beschluss vom 1. Dezember 2009 legte der Rat die Beschäftigungsbedingungen des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik fest.89 Demnach finden die Bestimmungen der Verordnung Nr 422/67/EWG, 5/67/Euratom des Rates vom 25. Juli 1967, die für die Mitglieder der Kommission gelten, auch auf den Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik An85 86 87 88 89
Beschluss 2009/880/EU, ABl 2009 L 315/49. Siehe dazu Pkt II.D.2. vorstehend auf S 72. Beschluss 2009/950/EU, ABl 2009 L 328/69. Siehe dazu Pkt II.D.1. vorstehend auf S 68. Beschluss 2009/910/EU, ABl 2009 L 322/36.
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wendung. Das monatliche Grundgehalt des Hohen Vertreters entspricht 130 % des Grundgehalts eines Beamten der EU in der Besoldungsgruppe 16, dritte Dienstaltersstufe (Art 1 Beschluss). 4. Europäischer Auswärtiger Dienst Der dem Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik unterstellte Europäische Auswärtige Dienst (EAD) umfasst Beamte aus den einschlägigen Abteilungen des Generalsekretariats des Rates und der Kommission sowie abgeordnetes Personal der nationalen diplomatischen Dienste. Er hat mit den diplomatischen Diensten der Mitgliedstaaten zusammenzuarbeiten. Die Organisation und die Arbeitsweise des Europäischen Auswärtigen Dienstes sind mit Beschluss des Rates auf Vorschlag des Hohen Vertreters nach Anhörung des Europäischen Parlaments und nach Zustimmung der Kommission festzulegen (Art 27 Abs 3 EUV). Die Vorarbeiten zur Errichtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes waren bereits mit Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon am 13. Dezember 2007 einzuleiten. Sie oblagen dem Generalsekretär des Rates und Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, der Kommission und den Mitgliedstaaten (Erkl Nr 15). Ein erstes Ergebnis wurde im Bericht des Vorsitzes an den Europäischen Rat über Leitlinien für den Europäischen Auswärtigen Dienst90 festgehalten. Dieser Bericht wurde am 29./30. Oktober 2009 vom Europäischen Rat gebilligt. Gleichzeitig ersuchte der Europäische Rat „den künftigen Hohen Vertreter, möglichst bald nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon einen Vorschlag über die Organisation und die Arbeitsweise des EAD vorzulegen, der dann spätestens Ende April 2010 vom Rat angenommen werden sollte“.91 Aufbauend auf den einschlägigen Vorarbeiten erfolgten nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon intensive Verhandlungen. Auf deren Grundlage konnte die Hohe Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik am 25. März 2010 einen Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Organisation und Arbeitsweise des Europäischen Auswärtigen Dienstes vorlegen.92 Demnach soll der Europäische Auswärtige Dienst als funktional unabhängige 90 91 92
Dok 14930/09 vom 23.10.2009. Europäischer Rat vom 29./30.10.2009, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Dok 15265/1/09 REV 1 vom 1.12.2009, Rn 3. Dok 8724/1/10 REV 1 vom 23.4.2010.
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Einrichtung der EU mit eigener Rechts- und Geschäftsfähigkeit und Sitz in Brüssel ausgestaltet werden und der Leitung des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik unterstehen.93 F. Gerichtshof der Europäischen Union Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon erhielt das judikative Organ der Union die Bezeichnung „Gerichtshof der Europäischen Union“ (Art 13 Abs 1 EUV). Dieses Organ umfasst den „Gerichtshof“, das „Gericht“ und „Fachgerichte“ (Art 19 Abs 1 EUV).94 1. Bezeichnung Die nunmehr geltende Bezeichnung „Gerichtshof der Europäischen Union“ stellt zunächst begrifflich klar, dass dieses Organ institutionell der Union zugeordnet ist.95 Gleichzeitig wird dadurch die mehrfache Bedeutung des zuvor verwendeten Begriffes „Gerichtshof“ überwunden. Im EG-Vertrag bezeichnete der Begriff „Gerichtshof“ nämlich nicht nur den Gerichtshof selbst, sondern umfasste darüber hinaus auch das Gericht (erster Instanz) und die letzterem beigeordneten gerichtlichen Kammern. Nunmehr beschreibt der Begriff „Gerichtshof der Europäischen Union“ das Organ in seiner Gesamtheit und bezeichnet entweder alle Rechtsprechungsinstanzen zusammen oder – der internen Zuständigkeitsverteilung folgend – ein Fachgericht, das Gericht oder den Gerichtshof. Der Begriff „Gerichtshof“ bezeichnet hingegen nur noch die Rechtsprechungsinstanz Europäischer Gerichtshof (EuGH).96 2. Eignungsprüfungsausschuss Die Ernennungsvoraussetzungen für die Richter und Generalanwälte des Gerichtshofs und die Richter des Gerichts sind unverändert geblieben (Art 19 Abs 2 UAbs 3 EUV iVm Art 253 und Art 254 AEUV). Unverändert geblieben sind auch das Benennungsrecht der einzelnen Mitgliedstaaten und die Ernennung durch die Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen. Geändert 93 94 95 96
Siehe dazu Gregor Schusterschitz nachstehend auf S 269. Siehe dazu Maria Berger nachstehend auf S 343. Vgl Isak, Institutionelle Ausgestaltung der Europäischen Union (Fn 29) 175. Vgl Walter Obwexer, Gerichtssystem und Rechtsschutz, in Hummer / Obwexer (Hg), Der Vertrag von Lissabon (2009) 237 (242 f).
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wurde allerdings das Ernennungsverfahren. Nunmehr sind die Regierungen der Mitgliedstaaten nämlich verpflichtet, vor der Ernennung im gegenseitigen Einvernehmen einen eigenen Ausschuss anzuhören (Art 255 AEUV). Der Ausschuss hat die Aufgabe, eine Stellungnahme zur Eignung der Bewerber für die Ausübung des Amts eines Richters oder Generalanwalts beim Gerichtshof oder beim Gericht abzugeben (Art 255 Abs 1 AEUV). Diese Stellungnahmen sind nicht verbindlich, wirken sich aber positiv auf die Objektivität und die Transparenz des Verfahrens aus.97 Der gegenständliche Eignungsprüfungsausschuss setzt sich aus sieben Persönlichkeiten zusammen. Diese werden aus dem Kreis ehemaliger Mitglieder des Gerichtshofs und des Gerichts, der Mitglieder der höchsten einzelstaatlichen Gerichte und der Juristen von anerkannt hervorragender Befähigung ausgewählt; ein Mitglied des Ausschusses wird vom Europäischen Parlament vorgeschlagen (Art 255 Abs 2 AEUV). Das konkrete Verfahren zur Ernennung der Mitglieder des Ausschusses ist auf Initiative des Präsidenten des Gerichtshofs mit Beschluss des Rates zu regeln (Art 255 Abs 2 S 2 AEUV). Nach demselben Verfahren ist ein Beschluss des Rates zur Festlegung der Vorschriften für die Arbeitsweise des Ausschusses zu erlassen (Art 255 Abs 2 S 2 AEUV). Diesen Vorgaben kam der Rat am 25. Februar 2010 mit zwei Beschlüssen nach. Mit dem ersten Beschluss wurden die 7 Mitglieder des Ausschusses für die Dauer von 4 Jahren ab dem 1. März 2010 ernannt (Ernennungs-Beschluss).98 Die Zusammensetzung des Ausschusses soll in geografischer Hinsicht ausgewogen und zudem für die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten repräsentativ sein. Zu den Mitgliedern des Ausschusses zählt ua der ehemalige EuGHRichter Peter Jann; Vorsitzender ist der Vizepräsident des französischen Conseil d‘Ètat Jean-Marc Sauvé. Der zweite Beschluss regelt die Arbeitsweise des Ausschusses (Arbeitsweise-Beschluss).99 Demnach ist beispielsweise eine einmalige Wiederernennung der Mitglieder des Ausschusses zulässig. Die Sekretariatsgeschäfte 97
98 99
Vgl Ulrich Everling, Rechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, in Schwarze / Hatje (Hg), Der Reformvertrag von Lissabon, EuR Beiheft 1-2009, 71 (83). Beschluss 2010/125/EU, ABl 2010 L 50/20. Beschluss 2010/124/EU, ABl 2010 L 50/18.
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werden vom Generalsekretariat des Rates wahrgenommen. Der Ausschuss ist beschlussfähig, wenn mindestens fünf seiner Mitglieder anwesend sind. Seine Beratungen finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Der Ausschuss kann die Regierung, von der der Vorschlag stammt, ersuchen, ihm zusätzliche Informationen oder andere Angaben zu übermitteln, die ihm für seine Beratungen erforderlich erscheinen. Außer in den Fällen, in denen es sich um einen Vorschlag zur Wiederernennung eines Richters oder Generalanwalts handelt, führt der Ausschuss eine nicht öffentliche Anhörung des Bewerbers durch. Die Stellungnahme des Ausschusses ist zu begründen und muss die wesentlichen Gründe nennen, auf die sie sich stützt. 3. Verfahrensordnungen Ende März 2010 wurden die Verfahrensordnungen des Gerichtshofs, des Gerichts und des Gerichts für den öffentlichen Dienst der EU den Neuerungen des Vertrags von Lissabon formal angepasst.100 In der Verfahrensordnung des Gerichtshofs101 wurden beispielsweise die Bezeichnung „Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften“ durch „Gerichtshof“, die Worte „Gemeinschaft“ oder „Gemeinschaften“ durch „Union“, die Worte „Gericht erster Instanz“ durch „Gericht“ und das Wort „Kommission“ durch die Worte „Europäische Kommission“ ersetzt. Diese Änderungen sind am 13. April 2010 in Kraft getreten. Anfang Juli 2010 wurde eine konsolidierte Fassung der Verfahrensordnung des Gerichtshofs veröffentlicht.102 In der Verfahrensordnung des Gerichts103 wurden beispielsweise die Worte „Gericht erster Instanz“ durch den Ausdruck „Gericht“ und die Worte „Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften“ durch das Wort „Gerichtshof“ ersetzt. Die gegenständlichen Änderungen sind ebenfalls am 13. April 2010 in Kraft getreten. Eine konsolidierte Fassung der Verfahrensordnung des Gerichts wurde zeitgleich mit jener des Gerichtshofs veröffentlicht.104
100 101 102 103 104
Siehe dazu Maria Berger nachstehend auf S 343. ABl 2010 L 92/12. ABl 2010 C 177/3. ABl 2010 L 92/14. ABl 2010 C 177/39.
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In der Verfahrensordnung des Gerichts für den öffentlichen Dienst der EU105 wurden ähnliche formale Änderungen vorgenommen. Diese sind ebenfalls am 13. April 2010 in Kraft getreten. Eine konsolidierte Fassung der Verfahrensordnung wurde Anfang Juli 2010 veröffentlicht.106 4. Hinweise zu Vorabentscheidungen Bereits Anfang Dezember 2009 hat der Gerichtshof neue Hinweise zur Vorlage von Vorabentscheidungen durch die nationalen Gerichte veröffentlicht,107 die insbesondere dem neuen Eilvorlageverfahren (Art 23a Satzung GH und Art 104b VerfO EuGH) Rechnung tragen.108 G. Rechnungshof Für den Rechnungshof brachte der Vertrag von Lissabon lediglich geringfügige Neuerungen. Er ist nunmehr Organ der Union (Art 13 EUV) und nimmt die Rechnungsprüfung für die Union wahr (Art 285 Abs 1 AEUV).109 Nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon passte der Rechungshof seine Geschäftsordnung formal den neuen primärrechtlichen Regelungen an. Die auf Art 287 Abs 4 UAbs 5 AEUV gestützte Geschäftsordnung110 wurde vom Rat am 22. Februar 2010 genehmigt und trat am 1. Juni 2010 in Kraft. H. Ausschüsse Im Rahmen der allgemeinen Bestimmungen zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sieht Art 71 AEUV vor, dass im Rat ein ständiger Ausschuss (Ausschuss Artikel 71) eingesetzt wird, um innerhalb der Union die operative Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit zu fördern und zu verstärken. Der Ausschuss soll unbeschadet der Befugnisse des Ausschusses der Ständigen
105 106 107 108
ABl 2010 L 92/17. ABl 2010 C 177/71. ABl 2009 C 297/1. Vgl Obwexer, Die Rechtsstellung Einzelner in der Union (Fn 28) 110. 109 Vgl Isak, Institutionelle Ausgestaltung der Europäischen Union (Fn 29) 177 f. 110 ABl 2010 L 103/1.
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Vertreter gem Art 240 AEUV die Koordinierung der Maßnahmen der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten fördern. Über den Beschluss des Rates zur Einsetzung des Ständigen Ausschusses für die operative Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit wurde bereits Anfang Dezember 2009 eine politische Einigung erzielt.111 Die formale Annahme des Beschlusses scheiterte jedoch an Parlamentsvorbehalten einiger Mitgliedstaaten. Deshalb konnte der Beschluss erst am 25. Februar 2010 gefasst werden.112 Er ist am Tag seiner Annahme in Kraft getreten. Der Ständige Ausschuss für die innere Sicherheit (COSI) erleichtert und verstärkt die Koordinierung der operativen Maßnahmen der für den Bereich der inneren Sicherheit zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten (Art 2 Beschluss). Des Weiteren unterstützt er den Rat bei der Anwendung der in Art 222 AEUV verankerten Solidaritätsklausel (Art 3 Abs 3 Beschluss). Der Ständige Ausschuss beteiligt sich jedoch nicht an der Durchführung von Operationen; für diese sind weiterhin die Mitgliedstaaten zuständig (Art 4 Abs 1 Beschluss). Ebenso beteiligt er sich nicht an der Ausarbeitung von Rechtsakten (Art 4 Abs 2 Beschluss). Obwohl Art 71 AEUV den zuvor geltenden Art 36 EUV(alt) ersetzt hat,113 sollen der auf letzterer Vertragsbestimmung beruhende Koordinierungs-Ausschuss „Artikel 36“ und der Strategische Ausschuss für Einwanderungs-, Grenz- und Asylfragen gemäß Beschluss des Ausschusses der Ständigen Vertreter (AStV) bis zum 1. Jänner 2012 weiter bestehen bleiben. Anschließend erfolgt eine erneute Bewertung durch den AStV.114 Die rechtliche Grundlage für das Weiterbestehen dieser Ausschüsse ist wohl im Selbstorganisationsrecht des Rates zu suchen. Der aus leitenden Ministerialbeamten zusammengesetzte Ausschuss Artikel 36 (CATS) soll weiterhin – unter der Leitung des Ausschusses der Ständigen Ver111 Sachstandsbericht des Vorsitzes an den Europäischen Rat über die Umsetzung des Vertrags von Lissabon, Dok 17033/09 vom 2.12. 2009. 112 Beschluss 2010/131/EU, ABl 2010 L 52/50. 113 Vgl Martin Böse, Art 36 EUV, in Schwarze (Hg), EU-Kommentar (2009) Rz 5. 114 Sachstandsbericht des Vorsitzes an den Europäischen Rat über die Umsetzung des Vertrags von Lissabon, Dok 17033/09 vom 2.12. 2009.
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treter – die Zusammenarbeit im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und der polizeilichen Zusammenarbeit koordinieren. Der 1999 zur Vorbereitung der Beratungen des Rates bezüglich Einwanderungs-, Grenz- und Asylfragen eingesetzte strategische Ausschuss (SAEGA)115 soll sich in Hinkunft auf strategische Fragen konzentrieren, zu denen der Ständige Ausschuss für die innere Sicherheit keinen Beitrag leisten kann. Sofern angebracht, kann er auch in die Gesetzgebungsarbeit einbezogen werden, wobei der Ausschuss der Ständigen Vertreter aber nach wie vor allein für die Ausarbeitung von Gesetzgebungsakten zuständig bleibt.116 III. Anpassung der Rechtsetzungsverfahren Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon mussten zunächst die zu diesem Zeitpunkt von der Kommission bereits vorgelegten Vorschläge, die sich in unterschiedlichen Phasen des Rechtsetzungsverfahrens befanden, auf die neue Rechtslage umgestellt werden. Gleichzeitig waren die neu geregelten Verfahren der delegierten Rechtsetzung und der Durchführungsrechtsetzung näher auszugestalten. A. Interinstitutionelle Beschlussfassungsverfahren Am 2. Dezember 2009 präsentierte die Kommission eine eigene Mitteilung, in der sie die Auswirkungen des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon auf die laufenden interinstitutionellen Beschlussfassungsverfahren erläuterte.117 Dabei stützte sie sich auf ein Verzeichnis der vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon unterbreiteten und zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens noch anhängigen Vorschläge. Dieses Verzeichnis mit ca 215 Vorschlägen ist der Mitteilung als Anlage 4 beigefügt. An diesen Vorschlägen waren folgende Anpassungen vorzunehmen: 1. Umnummerierung der Rechtsgrundlage(n) In allen Vorschlägen waren die angeführten Rechtsgrundlagen gem
115 Vgl Dok 7440/04 vom 16.3.2004. 116 Dok 16072/09 vom 16.11.2009. 117 KOM(2009) 665 endg vom 2.12.2009 idF KOM(2010) 147 endg vom 12.4.2010.
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Art 5 VvL entsprechend den Übereinstimmungstabellen im Anhang des Lissabonner Vertrags umzunummerieren. Jedes zuständige Organ hatte die entsprechenden Umnummerierungen durchzuführen. 2. Änderung des Rechtsetzungsverfahrens Bei jenen Vorschlägen, bei denen sich das anzuwendende Rechtsetzungsverfahren änderte, war jeweils das neue Verfahren anzuwenden. Dies galt insbesondere für jene Rechtsgrundlagen, die nunmehr das ordentliche Gesetzgebungsverfahren vorsehen. 3. Formelle Änderung von Vorschlägen Bei einer begrenzten Anzahl von Vorschlägen gingen die mit dem Vertrag von Lissabon verbundenen Änderungen ihrer Rechtsgrundlage über eine einfache Neunummerierung hinaus. Diese Vorschläge wurden von der Kommission in ihrer Mitteilung formell geändert. Sie sind in Anlage 1 der Mitteilung enthalten. Dazu zählt beispielsweise der ursprünglich auf Art 308 EGV gestützte Vorschlag für eine Verordnung des Rates über das Gemeinschaftspatent,118 dessen Rechtsgrundlage nunmehr Art 118 AEUV bildet. Letztere Vertragsbestimmung beinhaltet eine neue Kompetenzgrundlage der Union zur Schaffung europäischer Rechtstitel über einen einheitlichen Schutz der Rechte des geistigen Eigentums. 4. Ersetzung von Vorschlägen durch neue Vorschläge Bei einigen Vorschlägen (insgesamt 12) wurde mit dem Vertrag von Lissabon der primärrechtliche Rechtsrahmen tiefgreifend modifiziert. Dabei handelte es sich um Vorschläge im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen gem Titel VI EUV(alt), die nunmehr zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gem Titel V AEUV gehören. Bei diesen Vorschlägen war es aufgrund von Art und Inhalt der Rechtsakte nicht möglich, die ursprüngliche Rechtsgrundlage einfach durch eine neue zu ersetzen. Deshalb wurden diese Vorschläge von der Kommission formell zurückgezogen und sollen in den meisten Fällen möglichst rasch durch neue Vorschläge auf der Grundlage von Titel V AEUV ersetzt werden. Sie sind in Anlage 2 der Mitteilung enthalten. Zu den gegenständlichen Vorschlägen zählt zB der Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über bestimmte Verfahrens118 KOM(2000) 412 endg vom 1.8.2000.
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rechte in Strafverfahren innerhalb der EU119 oder der Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über das Recht auf Verdolmetschung und Übersetzung in Strafverfahren.120 5. Umwandlung von Empfehlungen in Vorschläge Im Rahmen des Defizitverfahrens wandelte die Kommission ihre ursprünglich auf Art 104 Abs 6 EGV gestützten Empfehlungen formell in Vorschläge gem Art 126 Abs 6 AEUV um. Diese Empfehlungen sind in Anlage 3 der Mitteilung aufgeführt. Die gegenständliche Anlage beinhaltet beispielsweise die Empfehlung für eine Entscheidung des Rates über das Bestehen eines übermäßigen Defizits in Österreich.121 B. Ausgestaltung der neuen Rechtsetzungsverfahren Beim Erlass neuer Rechtsakte ist nunmehr zwischen delegierten Rechtsakten (Art 290 AEUV) und Durchführungsrechtsakten (Art 291 AEUV) zu unterscheiden.122 1. Delegierte Rechtsetzung Bereits wenige Tage nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon unterbreitete die Kommission eine Mitteilung zur Umsetzung von Art 290 AEUV.123 Darin brachte sie zum Ausdruck, dass für die konkrete Anwendung des Art 290 AEUV „kein verbindlicher Rechtsakt des abgeleiteten Rechts erforderlich“ ist. Begründet wurde dies in erster Linie damit, dass die gegenständliche Vertragsbestimmung über die delegierte Rechtsetzung konkrete Kriterien vorgebe, die direkt angewendet werden können. Dennoch hielt es die Kommission für „sinnvoll und notwendig, einen allgemeinen Rahmen für diese Befugnisübertragung vorzugeben“. Dem folgend unterbreitete sie Standardformulierungen für einige Artikel, die in künftige Vorschläge für Gesetzgebungsakte aufgenommen werden
119 120 121 122
KOM(2004) 328 endg vom 28.4.2004. KOM(2009) 338 endg vom 8.7.2009. SEK(2009) 1518. Vgl zB Gregor Schusterschitz, Rechtsakte und Rechtsetzungsverfahren, in Hummer / Obwexer (Hg), Der Vertrag von Lissabon (2009) 209 (216 ff). 123 KOM(2009) 673 endg vom 9.12.2009.
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sollen. Diese Standardformulierungen sind als Muster in einem eigenen Anhang der Mitteilung beigefügt.124 2. Durchführungsrechtsetzung Im Gegensatz zur delegierten Rechtsetzung in Art 290 AEUV erfordert die konkrete Anwendung der Durchführungsrechtsetzung in Art 291 AEUV einen rechtlichen Rahmen, der die allgemeinen Regeln und Grundsätze beinhaltet, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren. Diese allgemeinen Regeln sind durch Verordnung im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren festzulegen. Anfang März 2010 unterbreitete die neue Kommission125 einen Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren.126 Demnach sollen die bislang vorgesehenen „Komitologie-Verfahren“127 vereinfacht sowie auf ein Beratungsverfahren und ein Prüfverfahren reduziert werden. Gleichzeitig sollen die in bereits geltenden Rechtsakten vorgesehenen „Komitologie-Verfahren“ „automatisch“ auf die neuen Verfahren umgestellt werden.128 IV. Struktur des Amtsblattes Im Hinblick auf das bevorstehende Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon hatte das Direktorium des Amtes für amtliche Veröffentlichungen der EU bereits am 20. November 2009 eine aus Vertretern der Juristischen Dienste der Organe bestehende ad-hoc-Arbeitsgruppe beauftragt, zu prüfen, welche Anpassungen an der Struktur des Amtsblattes der EU vorgenommen werden müssen, um den neuen primärrechtlichen Vorgaben zu entsprechen. Auf der 124 Vgl Entwurf einer einseitigen Erklärung des Rates, Dok 17512/09 vom 14.12.2009. Siehe dazu Thomas Kröll nachstehend auf S 313. 125 Vgl Entwurf einer Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission zur Umsetzung des Artikels 291 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Dok 17477/09 vom 11.12.2009. 126 KOM(2010) 83 endg vom 9.3.2010. 127 Vgl Michael Schweitzer / Waldemar Hummer / Walter Obwexer, Europarecht. Das Recht der Europäischen Union (2007) Rn 483. 128 Siehe dazu Thomas Kröll nachstehend auf S 313.
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Grundlage dieser Vorarbeiten unterbreitete der Direktor des Amtes für amtliche Veröffentlichungen dem Direktorium einen – vom Vertreter des Juristischen Dienstes des Rates in der vorgenannten Gruppe ausgearbeiteten – Vorschlag für eine neue Struktur des Amtsblattes. Dieser Vorschlag wurde in der Folge genehmigt und mit 1. Dezember 2009 wirksam.129 Seither hat das Amtsblatt der EU folgende Struktur:130 A. Reihe L – Rechtsvorschriften Die Reihe L beinhaltet insgesamt vier Rubriken. In der Rubrik L I werden die Gesetzgebungsakte kundgemacht: a) Verordnungen, b) Richtlinien, c) Beschlüsse und d) Haushaltspläne. Die Rubrik L II ist den Rechtsakten ohne Gesetzescharakter gewidmet: a) Internationale Übereinkünfte, b) Verordnungen, c) Richtlinien, d) Beschlüsse, e) Empfehlungen, f) Leitlinien, g) Geschäfts- und Verfahrensordnungen sowie h) Rechtsakte von Gremien, die im Rahmen internationaler Übereinkünfte eingesetzt wurden. Die Rubrik L III betrifft Sonstige Rechtsakte und umfasst derzeit lediglich einen Punkt, nämlich a) den Europäischen Wirtschaftraum. Die Rubrik L IV dient – vorübergehend – der Kundmachung der vor dem 1. Dezember 2009 in Anwendung des EG-Vertrags und des EU-Vertrags sowie des Euratom-Vertrags angenommenen Rechtsakte. Für das „Unionsrecht (alt)“131 ist sie tatsächlich nur vorübergehend erforderlich. Unklar ist allerdings, in welcher Rubrik das Gemeinschaftsrecht der EAG, das ja weiter besteht, künftig kundgemacht wird. Dafür würde sich die gegenständliche Rubrik anbieten. B. Reihe C – Mitteilungen und Bekanntmachungen Die Reihe C beinhaltet insgesamt fünf Rubriken. Die Rubrik C I trägt die Überschrift Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen und dient der Kundmachung dieser 129 Vgl Dok 17392/1/09 REV 1 vom 16.12.2009; Dok 6700/10 vom 5.3.2010. 130 Vgl Dok 6700/1/10 REV 1 vom 8.6.2010. 131 Vgl Obwexer, Die Rechtsstellung Einzelner in der Union (Fn 28) 104. Siehe dazu Pkt VI.C. nachstehend auf S 91.
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Rechtsakte. Die Stellungnahmen umfassen die nicht obligatorischen Stellungnahmen. Die Rubrik C II betrifft Mitteilungen. Sie enthält a) Interinstitutionelle Vereinbarungen, b) Gemeinsame Erklärungen sowie c) Mitteilungen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU. Die Rubrik C III enthält die Vorbereitenden Rechtsakte. Gemeint sind Vorschläge, Empfehlungen, Initiativen, obligatorische Stellungnahmen und andere vorbereitende Rechtsakte. Diese werden wie folgt gegliedert: a) Initiativen der Mitgliedstaaten, b) Europäisches Parlament, c) Rat, d) Europäische Kommission, e) Gerichtshof der EU, f) Europäische Zentralbank, g) Rechnungshof, h) Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, i) Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss, j) Ausschuss der Regionen, k) Europäische Investitionsbank und l) sonstige Stellen der EU. Die Rubrik C IV beinhaltet verschiedene Informationen: a) Informationen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU, b) Informationen der Mitgliedstaaten, c) den Europäischen Wirtschaftsraum betreffende Informationen und d) Informationen von Drittstaaten. Die Rubrik C V schließlich dient der Veröffentlichung von Bekanntmachungen, die folgende Bereiche betreffen: a) Verwaltungsverfahren, b) Gerichtsverfahren, c) Verfahren bezüglich der Durchführung der gemeinsamen Handelspolitik, d) Verfahren bezüglich der Durchführung der Wettbewerbspolitik und e) sonstige Rechtshandlungen. V. Notifizierung der Rechtsnachfolge der EU Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon erhielt die mit dem EU-Vertrag (1992) am 1. November 1993 gegründete „Europäische Union“ explizit den Status einer internationalen Organisation, der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen (Art 1 Abs 1 EUV). Gem Art 47 EUV besitzt die Union Rechtspersönlichkeit. Damit wurde ihr explizit Völkerrechtsfähigkeit verliehen. Ergänzend dazu besitzt die Union gem Art 335 AEUV in jedem Mitgliedstaat die weitestgehende Rechts- und Geschäftsfähigkeit, die juristischen Personen nach dessen Rechtsvorschriften zuerkannt ist; sie kann insbesondere bewegliches und unbewegliches Vermögen erwerben
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und veräußern sowie vor Gericht stehen. Zu diesem Zweck wird sie in der Regel von der Kommission vertreten. Die so ausgestaltete Union ist gem Art 1 Abs 3 EUV der Europäischen Gemeinschaft (EG) – nicht aber der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) – nachgefolgt und vollinhaltlich in deren Rechtspositionen eingetreten.132 Dem folgend wurden im gesamten EG-Vertrag die Worte „Gemeinschaft“ oder „Europäische Gemeinschaft“ durch „Union“ ersetzt (Art 2 Nr 2 lit a VvL). Als Rechtsnachfolgerin der Europäischen Gemeinschaft hatte die Union alle internen Rechte und Pflichten auf der Grundlage des am 30. November 2009 geltenden primären und sekundären Gemeinschaftsrechts zu übernehmen. Dazu zählten insbesondere jene Rechte und Pflichten, die die Europäische Gemeinschaft in Ausübung ihrer innerstaatlichen Rechts- und Geschäftsfähigkeit (Art 282 EGV) erworben bzw übernommen hatte. Des Weiteren hatte die Union alle externen Rechte und Pflichten, die der Europäischen Gemeinschaft aus völkerrechtlichen Verträgen erwachsen, zu übernehmen. Ferner ging das gesamte Aktiv- und Passivvermögen der Europäischen Gemeinschaft sowie deren Archive auf die Union über. Die von der Europäischen Gemeinschaft auf der Grundlage des EGVertrags erlassenen Rechtsakte gelten weiter, sind seit 1. Dezember 2009 aber der Union zuzurechnen. Bereits vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wurde unionsintern an einer Verbalnote für die Notifizierung der Rechtsnachfolge an Drittstaaten und internationale Organisationen gearbeitet.133 Damit sollten einerseits die Drittstaaten und andererseits die internationalen Organisationen von der Rechtsnachfolge informiert und davon unterrichtet werden, dass die Union alle Rechte und Pflichten der Europäischen Gemeinschaft unter Wahrung der bestehenden Rechte und Pflichten der EU übernimmt. Gleichzeitig sollte mitgeteilt werden, dass – sofern akkreditiert – die Delegation der Kommission der Europäischen Gemeinschaften zur „Delegation der Europäischen Union“ wird.134 Die gegenständliche Verbalnote wurde am 27. November 2009 unterzeichnet und noch vor dem 1. Dezember 2009 an die mit der 132 Vgl Obwexer, Die Rechtsstellung Einzelner in der Union (Fn 28) 102. 133 Vgl Dok 16654/1/09 REV 1 vom 27.11.2009. 134 Siehe dazu Charlotte Beaucillon / Friedrich Erlbacher nachstehend auf S 101.
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Europäischen Gemeinschaft bzw der Europäischen Union verbundenen Drittstaaten und internationalen Organisationen gesandt.135 VI. Vom Gemeinschaftsrecht zum Unionsrecht Die Rechtsnachfolge der Union gegenüber der Europäischen Gemeinschaft und die Ersetzung der Worte „Gemeinschaft…“ durch „Union…“ führten dazu, dass es seit 1. Dezember 2009 in der Union nur noch Unionsrecht gibt. Dabei handelt es sich um eine im Primärrecht selbst vorgesehene Bezeichnung (vgl zB Art 6 Abs 3 und Art 19 Abs 1 UAbs 2 EUV),136 die in der Folge auch in das Sekundärrecht übernommen wurde.137 A. Inhalt Zum Unionsrecht zählen in erster Linie der EU-Vertrag und der Vertrag über die Arbeitsweise der EU sowie die darauf gestützten Rechtsakte, insbesondere EU-Verordnungen, EU-Richtlinien und EU-Beschlüsse. Ebenso zum Unionsrecht gehört die GrundrechteCharta.138 Schließlich umfasst das Unionsrecht auch das am 30. November 2009 in der Europäischen Gemeinschaft geltende Gemeinschaftsrecht sowie das bis zu diesem Zeitpunkt im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und in der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen erlassene „alte“ Unionsrecht (vgl Art 9 Prot Nr 36). Gemeinschaftsrecht gibt es seit 1. Dezember 2009 nur noch im Rahmen der EAG. Dieses ist allerdings nicht Teil des Unionsrechts. B. Rechtswirkungen Das seit 1. Dezember 2009 geltende Unionsrecht ist – bis auf eine ausdrücklich vorgesehene Ausnahme139 – zur Gänze supranational ausgestaltet. Die Supranationalität resultiert aus dem Vorrang des 135 Vgl Sachstandsbericht des Vorsitzes an den Europäischen Rat über die Umsetzung des Vertrags von Lissabon, Dok 17033/09 vom 2.12. 2009. 136 Vgl Obwexer, Die Rechtsstellung Einzelner in der Union (Fn 28) 103 f. 137 ZB Verfahrensordnung des EuGH; vgl Pkt II.F.3. vorstehend auf S 79. 138 ABl 2010 C 83/389. 139 Siehe dazu Pkt VI.C. nachstehend auf S 91.
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Unionsrechts. Dabei ist – wie beim zuvor geltenden Gemeinschaftsrecht – zwischen dem Vorrang ieS und dem Vorrang iwS zu unterscheiden. Der Vorrang ieS besteht im Anwendungsvorrang, wonach im Kollisionsfall die Bestimmungen des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung jede wie auch immer geartete innerstaatliche Rechtsvorschrift verdrängen. Der Vorrang iwS beinhaltet Elemente der „nützlichen Wirkung“ („effet utile“) des Unionsrechts und umfasst die Verpflichtung zu unionsrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts,140 grundlegende Rechtsschutzvorgaben (insbesondere das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz sowie die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität)141 und die Staatshaftung.142 Der Vorrang des Unionsrechts wurde mit dem Vertrag von Lissabon nicht explizit vertraglich verankert. Er resultiert lediglich implizit aus der Rechtsnachfolge der Union gegenüber der Europäischen Gemeinschaft, deren Rechtsordnung – das Gemeinschaftsrecht – diesen Vorrang hatte, sowie aus dem Ziel des Lissabonner Vertrags, den Integrationsprozess fortzusetzen. Bestätigt wird dies durch die – rechtlich nicht bindende – Erklärung (Nr 17) zum Vertrag von Lissabon, in der die Konferenz darauf hinweist, dass die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben. Aus dem dieser Erklärung beigefügten Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates geht ua hervor, dass die Tatsache, „dass der Grundsatz (des) Vorrangs nicht in den künftigen Vertrag aufgenommen wird, (…) nichts an seiner Existenz und an der bestehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs (ändert)“.143
140 Vgl EuGH, Rs C-105/03, Pupino, Slg 2005, I-5285 Rn 41 ff. 141 Vgl zB EuGH, Rs C-506/04, Wilson, Slg 2006, I-8613 Rn 46 f; Rs C2/08, Fallimento Olimpiclub, Urteil vom 3.9.2009, noch nicht in Slg veröffentlicht, Rn 24. 142 Vgl zuletzt EuGH, Rs C-445/06, Danske Slagterier, Slg 2009, I-2119 Rn 19 f. 143 Vgl ausführlich Walter Obwexer, Der Vertrag von Lissabon und die Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts. Auswirkungen grundlegender Neuerungen im Unionsrecht auf den Verwaltungsgerichtshof, ÖJZ 2010 (im Erscheinen) Pkt B.2.
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C. Übergangsbestimmungen betreffend das Unionsrecht „alt“ Die Rechtsakte der Union, die vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auf der Grundlage des („alten“) EU-Vertrags angenommen wurden, behalten gem Art 9 Prot Nr 36 so lange „Rechtswirkung“, bis sie in Anwendung der Verträge aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert werden. Dies gilt auch für Übereinkommen der Mitgliedstaaten. Daraus folgt, dass diese Rechtsakte (Unionsrecht „alt“) intergouvernemental bleiben, bis sie inhaltlich ersetzt oder geändert werden. Mit ihrer Ersetzung oder auch nur mit ihrer (bloßen) Änderung werden die gegenständlichen Rechtsakte zu Unionsrecht und erhalten die diesem zukommenden supranationalen Rechtswirkungen („vergolden“ von „altem“ Unionsrecht).144 Des Weiteren unterliegen die gegenständlichen Rechtsakte übergangsweise nur eingeschränkt der Jurisdiktion des Gerichtshofs der Union. Gem Art 10 Prot Nr 36 bleiben die limitierten Befugnisse des Gerichtshofs nach Titel VI EUV(alt) bis zu einer Änderung der betreffenden Rechtsakte bestehen. Mit einer Novellierung unterfällt der gesamte geänderte Rechtsakt in Bezug auf diejenigen Mitgliedstaaten, für die er gilt, der umfassenden Zuständigkeit des Gerichtshofs der Union. Die gegenständliche Übergangsregelung tritt fünf Jahre nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon – also am 1. Dezember 2014 – außer Kraft. Ab diesem Zeitpunkt unterfallen dann alle „alten“ Rechtsakte betreffend die polizeiliche Zusammenarbeit und die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen der Zuständigkeit des Gerichtshofs der Union, unabhängig davon, ob sie zwischenzeitlich eine Änderung erfahren haben oder nicht.145 VII. Berichtigungen des Vertrags von Lissabon Im Zuge der Anwendung des Vertrags von Lissabon auf der Basis der am 17. Dezember 2007 im Amtsblatt der EU kundgemachten Version146 traten mehrere redaktionelle „Fehler“ zutage. Diese wurden in der Folge in zwei Berichtigungen „korrigiert“. 144 Vgl Obwexer, Die Rechtsstellung Einzelner in der Union (Fn 28) 104. 145 Vgl Art 10 Abs 1 bis Abs 3 Prot Nr 36; RV 417 BlgNR XXIII. GP, 227 f. 146 ABl 2007 C 306/1.
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Die erste Berichtigung wurde mit einem Protokoll vorgenommen, das am 27. November 2009 in Rom von der Regierung der Italienischen Republik als Depositär unterzeichnet wurde.147 Das gegenständliche Protokoll beinhaltet insgesamt 10 Berichtigungen. Diese sind allesamt legistischer Natur und betreffen ua die Unionsbürgerschaft (Art 8, umnummeriert Art 9 EUV), einzelne Protokolle und die Übereinstimmungstabellen. Die zweite Berichtigung wurde ebenfalls in Form eines Protokolls vorgenommen und am 23. März 2010 in Rom unterzeichnet.148 Sie betrifft das Protokoll (Nr 7) über Privilegien und Immunitäten. Demnach werden die darin enthalten Vorrechte und Befreiungen für die Beamten und sonstigen Bediensteten der EU nicht nur auf die Mitglieder der Kommission, sondern – neu – auch auf den Präsidenten des Europäischen Rates erstreckt. Diese Berichtigung beinhaltet eine materielle Änderung des geltenden Primärrechts und stößt insoweit an die Grenzen des Zulässigen. VIII. Zusammenfassung und Schlussbetrachtungen Mit dem Übergang von „Nizza“ zu „Lissabon“ war ein markanter Strukturwandel der EU verbunden. Dem folgend musste der Wechsel vom alten zum neuen Regime von mehreren Regelungen begleitet werden. Diese betrafen in erster Linie die Zusammensetzung und die Arbeitsweise der Organe und Einrichtungen der EU, die Rechtsetzungsverfahren, die Struktur des Amtsblattes der EU und die Notifizierung des Eintritts der EU in die Rechte und Pflichten der Europäischen Gemeinschaft (EG) an dritte Staaten und internationale Organisationen. Eng mit dem Wechsel vom alten auf das neue Regime verbunden waren der Übergang vom Gemeinschaftsrecht zum Unionsrecht sowie zwei Berichtigungen des Vertrags von Lissabon. Im Einzelnen machte der Übergang von „Nizza“ zu „Lissabon“ folgende Begleitregelungen notwendig: 1. Das im Juni 2009 auf der Grundlage von Art 190 EGV und in Anwendung des Direktwahlaktes für die Wahlperiode 20092014 gewählte Europäische Parlament erfüllt mit seiner daraus resultierenden Zusammensetzung (insgesamt 736 Abgeordnete, davon ua 99 aus Deutschland und 5 aus Malta) die 147 ABl 2009 C 290/1. 148 ABl 2010 C 81/1.
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neuen primärrechtlichen Vorgaben (Art 14 EUV) in mehreren Punkten nicht (höchstens 751 Mitglieder sowie degressiv proportionale Vertretung der Bürgerinnen und Bürger, wobei jeder Mitgliedstaat mindestens 6 Sitze und keiner mehr als 96 Sitze haben darf). Die Übergangsregelung (Art 2 Prot Nr 36) ist wegen ihrer ausdrücklichen Bezugnahme auf die Wahlperiode 2004-2009 nicht anwendbar. Sie könnte aber – zumindest übergangsweise – im Analogieweg zur Anwendung gelangen, um die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu gewährleisten. Die erforderliche Anpassung der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments an die neuen vertraglichen Vorgaben soll primärrechtlich durch ein Protokoll zur Änderung des Protokolls (Nr 36) über die Übergangsbestimmungen erfolgen. Demnach sollen bis zum Ende der Legislaturperiode 20092014 den 736 bestehenden Sitzen insgesamt 18 Sitze hinzugefügt werden, wodurch sich die Gesamtzahl der Abgeordneten vorübergehend auf 754 erhöht. Die 18 zusätzlichen Sitze können die begünstigten Mitgliedstaaten (darunter Österreich mit 2 zusätzlichen Abgeordneten) nach ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften besetzen, und zwar entweder in ad hocWahlen oder auf der Grundlage der Ergebnisse der Europawahlen vom Juni 2009 oder durch Ernennung von Mitgliedern der nationalen Parlamente. Das gegenständliche Protokoll soll nach erfolgter Ratifikation durch alle 27 EU-Mitgliedstaaten am 1. Dezember 2010 in Kraft treten. In Österreich ist das Protokoll als „Staatsvertrag, durch den die vertraglichen Grundlagen der EU geändert werden“, gem Art 50 Abs 1 Ziff 2 iVm Abs 4 B-VG zu genehmigen. Die 2 zusätzlichen Abgeordneten sollen auf der Grundlage der Europawahl 2009 ermittelt werden. Bis dahin können diese als Beobachter entsandt werden (Art 11 Abs 2 GO EP), sobald innerstaatlich die erforderlichen Voraussetzungen dafür vorliegen. Die Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments wurde fristgerecht den Vorgaben des Vertrags von Lissabon angepasst und mit Wirkung ab 1. Dezember 2009 entsprechend geändert. Die geltende Rahmenvereinbarung mit der Kommission soll ebenfalls der neuen Rechtslage angepasst und dabei auf eine besondere Partnerschaft umgestellt werden. Der Europäische Rat wählte zeitgerecht mit Herman van Rompuy seinen Präsidenten ab 1. Dezember 2009 für zweieinhalb Jahre (Art 15 Abs 5 EUV) und legte gleichzeitig dessen
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Beschäftigungsbedingungen fest. Die Übergabe des Vorsitzes erfolgte schrittweise. Zeitgleich mit dem Vertrag von Lissabon trat am 1. Dezember 2009 die – im schriftlichen Verfahren angenommene – Geschäftsordnung des Europäischen Rates in Kraft. Der Rat legte zunächst mit 1. Dezember 2009 vorübergehend die Liste jener Ratsformationen fest, die zu den primärrechtlich vorgesehenen Zusammensetzungen „Allgemeine Angelegenheiten“ und „Auswärtige Angelegenheiten“ hinzukommen (Art 4 Prot Nr 36). Dabei wurde die bislang geltende Liste übernommen. Ebenfalls am 1. Dezember 2009 fasste der Europäische Rat den – bereits im Rahmen der Regierungskonferenz 2004 bzw 2007 akkordierten – Beschluss über die Ausübung des Vorsitzes im Rat. Demnach wird der Vorsitz im Rat außer in der Zusammensetzung „Auswärtige Angelegenheiten“ von zuvor festgelegten Gruppen von drei Mitgliedstaaten – zusammengestellt auf der Grundlage gleichberechtigter Rotation und unter Berücksichtigung ihrer Verschiedenheit und des geografischen Gleichgewichts innerhalb der Union – für einen Zeitraum von 18 Monaten wahrgenommen (Teampräsidentschaft). Der Vorsitz-Beschluss des Europäischen Rates wurde noch am 1. Dezember 2009 mit Beschluss des Rates näher durchgeführt. Dabei wurden insbesondere die Teampräsidentschaften zusammengestellt. Dies erfolgte unter Heranziehung der bereits 2007 festgelegten Reihenfolge der Übernahme des Vorsitzes im Rat. Letzteres war möglich, weil die betreffende Reihenfolge bereits auf einem System von Achtzehnmonatsprogrammen unter Berücksichtigung der Verschiedenheit der Mitgliedstaaten und des geografischen Gleichgewichts basierte. Österreich befindet sich im Team mit Rumänien und Finnland, das von Jänner 2019 bis Juni 2020 den Vorsitz übernehmen wird. Der bereits im Rahmen der Regierungskonferenz 2004 bzw 2007 akkordierte Entwurf eines Beschlusses des Rates über die Anwendung der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit „nach Lissabon“ war vom Rat am Tag der Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon am 13. Dezember 2007 angenommen worden und ist am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten. Der darin enthaltene modifizierte IoanninaMechanismus kommt allerdings erst mit dem Übergang auf das neue System der doppelten Mehrheit ab 1. November 2014 zur Anwendung. Infolge der Beendigung der Doppelfunktion des
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Generalsekretärs und Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ernannte der Rat mit Beschluss vom 1. Dezember 2009 seinen Generalsekretär und legte gleichzeitig auch dessen Beschäftigungsbedingungen fest. Schließlich änderte der Rat mit Beschluss vom 1. Dezember 2009 seine Geschäftsordnung und passte deren Bestimmungen den neuen primärrechtlichen Vorgaben an. Die Europäische Kommission war zunächst damit konfrontiert, dass ihre Amtszeit – primärrechtlich vorgegeben – am 31. Oktober 2009 zu Ende ging und die Zahl der Mitglieder der neuen Kommission unter der Zahl der EU-Mitgliedstaaten hätte liegen müssen. Der Vertrag von Lissabon änderte diese Vorgabe dahingehend, dass die zwischen dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens und dem 31. Oktober 2014 amtierende Kommission aus je einem Staatsangehörigen jedes Mitgliedstaats (einschließlich ihres Präsidenten und des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik) besteht (Art 17 Abs 4 EUV). Gleichzeitig wurde das bislang geltende Investiturverfahren der Kommission (Art 214 EGV) modifiziert (Art 17 Abs 7 EUV). Vor diesem Hintergrund wurde das Verfahren zur Investitur der neuen Kommission zweigeteilt. Der Präsident der Kommission wurde noch auf der Grundlage von „Nizza“ designiert und vom Parlament gewählt. Dabei wurde darauf geachtet, dass auch die künftigen prozeduralen Vorgaben „nach Lissabon“ erfüllt werden (Benennung durch den Europäischen Rat nach Konsultationen mit dem Europäischen Parlament und unter Berücksichtigung der Wahlen zum Europäischen Parlament sowie Wahl durch das Europäische Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder). Die Ernennung des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und die Benennung der übrigen Mitglieder des Kollegiums erfolgte dann auf der Grundlage von „Lissabon“. Dasselbe gilt für das Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments und die Ernennung der Mitglieder der Kommission durch den Europäischen Rat. Die so installierte neue Kommission Barroso II trat am 10. Februar 2010 ihr Amt an. Die Amtszeit der Kommission Barroso I war aber schon am 31. Oktober 2009 ausgelaufen. Dem folgend war ein Interregnum von gut drei Monaten entstanden. In dieser Zeit war die Kommission Barroso I als geschäftsführende Kommission weiter im Amt und als solche verpflichtet, die laufenden Geschäfte weiter zu führen. Dazu zählten jene
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Aufgaben, die nach ihrer Natur, wegen ihrer Dringlichkeit oder als unbestrittene Erledigungen laufende Geschäfte darstellten. Wenige Tage nach ihrem Amtsantritt passte die neue Kommission ihre Geschäftsordnung den seit 1. Dezember 2009 geltenden primärrechtlichen Vorgaben an; die gegenständlichen Änderungen sind am 5. März 2010 in Kraft getreten. Das neue Amt des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik (Art 18 EUV) war mit 1. Dezember 2009 zu besetzen. Mit Beschluss vom 1. Dezember 2009 ernannte der Europäische Rat mit Zustimmung des Präsidenten der Kommission – gestützt auf die Übergangsbestimmungen (Art 5 Prot Nr 36) – übergangsweise das britische Mitglied der Kommission, Frau Catherine Ashton, zur Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik für die Zeit vom 1. Dezember 2009 bis zum Ende der Amtszeit der an diesem Tag amtierenden Kommission. Wenige Tage später ernannte der Europäische Rat mit Zustimmung des Präsidenten der Kommission Frau Catherine Ashton für den Zeitraum ab dem Ende der Amtszeit der zu diesem Zeitpunkt amtierenden Kommission bis zum 31. Oktober 2014 zur Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik. In der Folge musste sich die Hohe Vertreterin mit dem Präsidenten und den übrigen Mitgliedern der Kommission als Kollegium einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments stellen (Art 17 Abs 7 UAbs 3 EUV). Der Rat legte mit Beschluss vom 1. Dezember 2009 die Beschäftigungsbedingungen für den Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik fest. Der dem Hohen Vertreter unterstellte Europäische Auswärtige Dienst (EAD) befindet sich noch im Aufbau. Derzeit wird intensiv an der Regelung über die Organisation und die Arbeitsweise gearbeitet. Das judikative Organ der Union erhielt die Bezeichnung „Gerichtshof der Europäischen Union“ (Art 13 Abs 1 EUV). Davon umfasst sind der „Gerichtshof“ (EuGH), das „Gericht“ (EuG) und „Fachgerichte“ (Art 19 Abs 1 EUV). Gleichzeitig wurde das Ernennungsverfahren für Richter und Generalanwälte objektiver und transparenter gestaltet, da nunmehr vor deren Ernennung im gegenseitigen Einvernehmen der Regierungen der Mitgliedstaaten ein eigener Ausschuss angehört werden muss (Art 255 AEUV). Dieser aus insgesamt 7 Mitgliedern bestehende Ausschuss wurde mit Beschluss des Rates
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vom 25. Februar 2010 eingerichtet. Mit einem zweiten Beschluss vom selben Tag wurde die Arbeitsweise des Ausschusses geregelt. Ende März 2010 haben der Gerichtshof, das Gericht und das Gericht für den öffentlichen Dienst der EU ihre Verfahrensordnungen formal den Neuerungen des Vertrags von Lissabon angepasst. 7. Der Rechnungshof passte Ende Februar 2010 seine Geschäftsordnung formal den neuen primärrechtlichen Vorgaben an. Die gegenständlichen Anpassungen sind allerdings erst am 1. Juni 2010 in Kraft getreten. 8. Innerhalb der Einrichtungen der EU war im Rat ein ständiger Ausschuss einzusetzen, dessen Aufgabe darin besteht, innerhalb der Union die operative Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit zu fördern und zu verstärken (Art 71 AEUV). Der Beschluss zur Einsetzung dieses Ausschusses (Ausschuss „Artikel 71“) konnte erst am 25. Februar 2010 gefasst werden und trat am Tag seiner Annahme in Kraft. Obwohl Art 71 AEUV den zuvor geltenden Art 36 EUV(alt) ersetzt hat, sollen der auf letzterer Vertragsbestimmung beruhende Ausschuss „Artikel 36“ und der Strategische Ausschuss für Einwanderungs-, Grenz- und Asylfragen bis zum 1. Jänner 2012 vorübergehend weiter bestehen bleiben. Die Rechtsgrundlage dafür bildet das Selbstorganisationsrecht des Rates. 9. Im Rahmen der interinstitutionellen Beschlussfassungsverfahren mussten die Vorschläge der Kommission, die sich am 1. Dezember 2009 bereits bzw noch im Rechtsetzungsverfahren befanden, auf die neue Rechtslage umgestellt werden. Dabei waren folgende Änderungen vorzunehmen: a) in allen Fällen eine Umnummerierung der Rechtsgrundlage(n), b) allenfalls eine Änderung des Rechtsetzungsverfahrens, c) in manchen Fällen eine Änderung der Vorschläge, d) in einigen Fällen sogar die Ersetzung der Vorschläge durch neue Vorschläge und e) im Defizitverfahren die Umwandlung von Empfehlungen in Vorschläge. Daneben mussten die neuen Rechtsetzungsverfahren der delegierten Rechtsetzung (Art 290 AEUV) und der Durchführungsrechtsetzung (Art 291 AEUV) näher ausgestaltet werden. 10. Das Amtsblatt der EU musste den neuen primärrechtlichen Vorgaben angepasst und in seiner Struktur modifiziert werden. So wird nunmehr insbesondere in der Reihe L zwischen Ge-
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setzgebungsakten (L I) und Rechtsakten ohne Gesetzescharakter (L II) differenziert. 11. Die unionsintern geregelte Rechtsnachfolge der EU gegenüber der Europäischen Gemeinschaft und ihr Eintritt in deren Rechtspositionen (Art 1 Abs 3 EUV) erforderte völkerrechtlich eine Notifikation an Drittstaaten und internationale Organisationen. Diese Notifikation erfolgte am 1. Dezember 2009 mit einer eigenen Verbalnote. 12. Die Rechtsnachfolge der Union gegenüber der Europäischen Gemeinschaft und die Ersetzung der Worte „Gemeinschaft…“ durch „Union…“ führten dazu, dass es seit 1. Dezember 2009 in der Union nur noch Unionsrecht gibt. Gemeinschaftsrecht gilt nur noch im Rahmen der EAG. Das Unionsrecht ist – bis auf eine ausdrücklich vorgesehene Ausnahme – zur Gänze supranational ausgestaltet. Die Supranationalität resultiert aus dem Vorrang des Unionsrechts. Davon ausgenommen sind lediglich die Rechtsakte der Union, die vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auf der Grundlage des („alten“) EUVertrags angenommen wurden (Unionsrecht „alt“). Diese Rechtsakte bleiben (vorübergehend) intergouvernemental, bis sie inhaltlich ersetzt oder geändert werden. 13. Der am 17. Dezember 2007 im Amtsblatt der EU kundgemachte Vertrag von Lissabon wurde in der Folge zwei Mal berichtigt. Das erste Protokoll vom November 2009 beinhaltet insgesamt 10 Berichtigungen, die allesamt legistischer Natur sind. Das zweite Protokoll vom März 2010 enthält unter dem Titel „Berichtigung“ eigentlich eine Ergänzung des Primärrechts, indem es die im Immunitäten-Protokoll (Nr 7) normierten Vorrechte und Befreiungen auch auf den Präsidenten des Europäischen Rates erstreckt. In der Praxis ist der Übergang vom alten auf das neue Regime ohne „gröbere Zwischenfälle“ erfolgt. Die zuständigen Organe der EU haben ihre diesbezüglichen Verpflichtungen ordnungsgemäß und großteils – trotz enormen Zeitdrucks – auch fristgerecht erfüllt. Etwas zu spät erfolgten die Anpassungen der Geschäftsordnung der Kommission und der Geschäftsordnung des Rechnungshofs sowie die Novellierungen der Verfahrensordnungen des Gerichtshofs, des Gerichts und des Gerichts für den öffentlichen Dienst der EU. Rechtlich schwierig gestaltete sich die Anpassung der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments an die neuen primärrechtlichen Vorgaben. Einerseits ist die einschlägige Übergangsregelung
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wegen ihrer ausdrücklichen Bezugnahme auf die Wahlperiode 2004-2009 nicht anwendbar, andererseits wollten die Mitgliedstaaten weder eine Verlängerung der alten Zusammensetzung für beinahe eine ganze Wahlperiode noch vorzeitige Neuwahlen des Parlaments. Deshalb blieb als einziger Ausweg eine rasche Änderung des Primärrechts, die noch vor Ende 2010 über ein eigenes Änderungsprotokoll erfolgen soll.
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„Comme une lettre à la poste“. Rechtliche und praktische Aspekte der Rechtsnachfolge von der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union1 I. Die Rechtsnachfolge von internationalen Organisationen im Völkerrecht und in der Staatenpraxis A. Die Rechtsnachfolge von internationalen Organisationen ist völkerrechtlich nur sehr rudimentär determiniert und folgt grundsätzlich dem Prinzip der Vertragsfreiheit B. Gegenstand der durch den Vertrag von Lissabon ausgelösten Rechtsnachfolge 1. EURATOM 2. EU – EU 3. EG – EU C. Die typischerweise bei Rechtsnachfolge von internationalen Organisationen auftretenden rechtlichen Probleme konnten bei der Rechtsnachfolge der EG zur EU verhindert werden 1. Fehlende Verfahrensbestimmungen in den Gründungsverträgen 2. Probleme bei der Auflösung von Organen oder beim Wegfall von Zuständigkeiten 3. Anerkennung der Rechtsnachfolge durch dritte Völkerrechtssubjekte
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Dieser Beitrag ist auf der Grundlage des Vortrags entstanden, den Friedrich Erlbacher im Rahmen des Symposiums an der Universität Salzburg am 11.6.2010 gehalten hat. Die Vortragsform wurde weitgehend beibehalten. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönlichen Meinungen der Autoren wieder.
T. Eilmansberger et al. (eds.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon © Springer-Verlag Wien 2011
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II. Die praktische Vorgangsweise bei der Rechtsnachfolge von der EG zur EU A. Im Innenverhältnis B. Im Außenverhältnis III. Eine Anekdote zum Schluss
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Mit dem am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon wurde in Art 1 Abs 3 Satz 2 festgelegt: „Die Union tritt an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft, deren Rechtsnachfolgerin sie ist.“ Nach dieser Bestimmung hat somit die Europäische Gemeinschaft (EG) mit diesem Datum aufgehört zu existieren und ist in der Europäischen Union (EU, Union) aufgegangen. Nicht in die EU einbezogen wurde die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM), die als eigene internationale Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit neben der Union weiter besteht. Anders als noch im Verfassungsvertrag2 wurde mit dem Vertrag von Lissabon auch die bisherige, mit dem Vertrag von Maastricht geschaffene Europäische Union nicht aufgelöst und in eine neue Rechtsperson mit demselben Namen eingebracht. Vielmehr besteht der bisherige EU-Vertrag, wenn auch grundsätzlichen umgestaltet, fort. Das vorliegende Thema wird in der Folge in zwei Schritten behandelt: In einem ersten Schritt wird die durch den Vertrag von Lissabon bewirkte Rechtsnachfolge in ihren völkerrechtlichen Kontext gestellt, um den Gegenstand der Rechtsnachfolge genauer abzugrenzen. Weiters werden verschiedene Rechtsfragen erörtert, die bei der Rechtsnachfolge von internationalen Organisationen regelmäßig auftreten und gezeigt, dass und warum diese Rechtsfragen in dem uns interessierenden Zusammenhang entweder gar nicht aufgetreten sind oder aber ohne größere Probleme gelöst werden können. In einem zweiten Schritt wird die praktische Vorgangsweise bei der Rechtsnachfolge mit dem Inkrafttreten des Vertrags vom Lissabon am 1. Dezember 2009 dargestellt.
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Art IV-438 Abs 1 Vertrag über eine Verfassung für Europa (EVV), ABl 2004 C 310/1.
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I. Die Rechtsnachfolge von internationalen Organisationen im Völkerrecht und in der Staatenpraxis A. Die Rechtsnachfolge von internationalen Organisationen ist völkerrechtlich nur sehr rudimentär determiniert und folgt grundsätzlich dem Prinzip der Vertragsfreiheit Auch wenn es per definitionem zum Wesen von internationalen Organisationen gehört, auf Dauer eingerichtet zu sein, so handelt es sich doch um dynamische Völkerrechtssubjekte. Einmal zu einem bestimmten Ziel gegründet, können internationale Organisationen von den hinter ihnen stehenden Rechtspersonen wieder aufgelöst werden. Dies geschieht etwa, wenn die Vertragsgrundlage zwischen den Parteien weggefallen ist oder der Vertragszweck erfüllt ist. Fälle der schlichten Auflösung internationaler Organisationen sind allerdings selten. Europa hat solche Fälle etwa bei der Auflösung des Warschauer Pakts und des COMECON erlebt. Im viel häufigeren Fall ersetzen die Vertragsväter auf die eine oder andere Weise eine einmal bestehende internationale Organisation durch eine andere, die ihrer Ansicht nach besser geeignet ist, das von ihnen angestrebte Ziel zu erreichen. Letztere tritt sodann die Rechtsnachfolge der bisherigen Organisation an. Die Formen der Rechtsnachfolge internationaler Organisationen sind vielfältig: eine kann durch eine andere ersetzt werden; verschiedene können miteinander verschmolzen werden; eine neue kann gegründet werden, der die Aufgaben einer bestehenden zum Teil übertragen werden. Welche Form die Vertragsparteien auch wählen, in der Sache liegt Rechtsnachfolge von internationalen Organisationen immer dann vor, wenn eine internationale Organisation in die Schuhe einer anderen tritt und die Rechte und Pflichten übernimmt (oder solche ihr übertragen werden), die bisher von der Vorgängerorganisation wahrgenommen wurden.3 Da internationale Organisationen funktionelle Völkerrechtssubjekte sind, steht auch bei der Rechtsnachfolge zwischen zwei internationalen Organisationen die Übertragung von Funktionen und Zuständigkeiten im Vordergrund.4 3
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Beispiele liefert etwa Robin van der Hout, Die völkerrechtliche Stellung der Internationalen Organisationen unter besonderer Berücksichtigung der Europäischen Union. Rechtspersönlichkeit, Handlungsfähigkeit und Autonomie (2006) 195. Patrick R. Myers, Succession between International Organizations
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Trotz der Vielzahl bzw wohl gerade wegen der Vielzahl und der Heterogenität der auftretenden Sukzessionsfälle internationaler Organisationen, ist die Rechtsnachfolge von internationalen Organisationen völkerrechtlich nur äußerst rudimentär geregelt. Ansätze der Völkerrechtskommission, eine Kodifizierung des einschlägigen Völkerrechts vorzunehmen, wurden 1971 mit der Begründung abgebrochen, dass nicht ausreichend Material dafür vorläge.5 Vorrang hat die Vertragsfreiheit der Völkerrechtssubjekte, der „Herrn der Verträge“. Eingebettet wird diese Vertragsfreiheit in einige wenige Bestimmungen der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK 1969), auf die später noch kurz eingegangen werden wird. B. Gegenstand der durch den Vertrag von Lissabon ausgelösten Rechtsnachfolge 1. EURATOM Klar und eindeutig ist, dass der Vertrag von Lissabon in Bezug auf EURATOM keine Rechtsnachfolge bewirkt hat. Diese Organisation besteht weiter als von der EU getrennte Rechtspersönlichkeit und wurde nur durch die in Protokoll 2 zum Lissabon-Vertrag vorgesehenen Änderungen des EURATOM Vertrags in das einheitliche institutionelle Gefüge eingebracht. 2 . E U –E U Anders als noch im Verfassungsvertrag6 wurde mit dem Vertrag von Lissabon auch die bisherige, mit dem Vertrag von Maastricht geschaffene Europäische Union (EU) nicht aufgelöst und in eine neue Rechtsperson mit demselben Namen eingebracht. Vielmehr besteht der bisherige EU-Vertrag, wenn auch grundsätzlichen umgestaltet, fort. Gleichzeitig wurde der EU ausdrücklich Völkerrechtspersönlichkeit eingeräumt, die die EU, nach der herrschenden Meinung und der Praxis, bereits implizit innehatte.7 Geht man also mit der
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(1993) 11. Nachweise bei Myers, Succession between International Organizations (Fn 4) 1. Art IV-438 Abs 1 EVV. Vgl dazu stellvertretend und mit weiteren Nachweisen Friedrich Erlbacher, Rechtspersönlichkeit und Rechtsnachfolge, in Hummer / Obwexer (Hg), Der Vertrag von Lissabon (2009) 123.
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herrschenden Meinung und der Praxis davon aus, dass die EU vor dem Vertrag von Lissabon bereits als Völkerrechtsperson existiert hat, so ist es auch in Bezug auf die EU zu keiner Rechtsnachfolge gekommen. Nimmt man hingegen, entgegen der herrschenden Meinung und der Praxis, an, dass der EU bisher keine Rechtspersönlichkeit zukam und dass tatsächlich im Namen der EU gesetzte Rechtsakte Dritten Völkerrechtssubjekten gegenüber nicht der EU, sondern der EG oder den Mitgliedstaaten zuzurechnen gewesen sind, so hat insofern der Vertrag von Lissabon ein neues Völkerrechtssubjekt geschaffen und diesem Rechte und Pflichten übertragen. Da die Autoren der herrschenden Meinung folgen,8 können in der Folge Fragen der Rechtsnachfolge EU – EU ausgeklammert werden, da sie hypothetisch erscheinen. 3 . E G –E U Man kann sich die Frage stellen, ob Art 1 Abs 3 EUV im Sinne der völkerrechtlichen Praxis tatsächlich korrekt formuliert ist. Könnte man nicht auch argumentieren, dass der Vertrag von Lissabon den Vertrag, auf den die bisherige EG gegründet war (nämlich den EGV), nicht aufgehoben, sondern lediglich geändert und als AEUV umbenannt hat, der weiterhin als „Vertrag von Rom“ existiert? Könnte man nicht vertreten, dass das Völkerrechtssubjekt EG gar nicht untergegangen ist, sondern lediglich mit der bisherigen EU verschmolzen und als EU umbenannt worden ist? Könnte man in diesem Sinne nicht folgern, dass es somit gar nicht zu einer Rechtsnachfolge im Sinne des Völkerrechts und der Staatenpraxis gekommen ist? Abgesehen davon, dass eine solche Argumentation nicht im Einklang mit dem Wortlaut des Art 1 Abs 3 EUV steht, nach dem doch die Union an die Stelle der EG tritt und deren Rechtsnachfolgerin ist und dass es daher ein venire contra factum proprium darstellen würde, wenn die EU eine solche Argumentation dritten Völkerrechtssubjekten entgegen halten würde, so erscheint diese Argumentation jedenfalls nicht zutreffend zu sein. Auszugehen ist von Art 1 Abs 3 EUV idF Vertrag von Nizza. Danach war die EU auf drei Pfeiler gestützt, nämlich die EG als eigenes Völkerrechtssubjekt und die großteils zwischenstaatliche Zusammenarbeit der 2. und 3. Säule. Mit dem Vertrag von Lissabon 8
Vgl Fn 7.
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verschwindet das Völkerrechtssubjekt EG. Die bisherigen Rechte und Pflichten der EG werden auf die EU übertragen. Daher handelt es sich völkerrechtlich nicht um einen Fall der reinen Kontinuität, sondern ist durchaus eine Rechtsnachfolge eingetreten. Art 1 Abs 3 EUV ist daher korrekt gefasst und auch die Notifizierung an dritte Völkerrechtssubjekte, die weiter unten behandelt werden wird, ist gerechtfertigt. C. Die typischerweise bei Rechtsnachfolge von internationalen Organisationen auftretenden rechtlichen Probleme konnten bei der Rechtsnachfolge der EG zur EU verhindert werden So wenig allgemeine völkervertrags- und völkergewohnheitsrechtliche Rechtssätze die Rechtsnachfolge von internationalen Organisationen determinieren, so vielfältig sind doch die rechtlichen Probleme, die dabei regelmäßig in der Praxis auftreten. Es kann aber gezeigt werden, dass diese Rechtsprobleme im Fall der Rechtsnachfolge von der EG zur EU zum allergrößten Teil entweder gar nicht auftreten oder aber ohne weitere Schwierigkeiten gelöst werden können. 1. Fehlende Verfahrensbestimmungen in den Gründungsverträgen Die rechtlichen Probleme beginnen in aller Regel damit, dass die Gründungsverträge der internationalen Organisationen zu den Modalitäten ihrer Auflösung schweigen. Zu sehr sind die Vertragsparteien bei ihrer Gründung darauf bedacht, dauerhafte Organisationen zu schaffen, als dass sie sich solchen Fragen widmen. Jedenfalls bei internationalen Organisationen, die auf eine politische Integration der beteiligten Staaten abzielen, wird ein Ansprechen dieser „sujets qui fâchent“ offenbar als schlechtes Omen gesehen. Ausdrückliche Bestimmungen über die Auflösung oder Umwandlung der Organisationen finden sich, wenn überhaupt, bei technischen Organisationen, etwa bei internationalen Finanzorganisationen, die über ein beträchtliches Vermögen verfügen, das im Fall der Auflösung zur Verteilung gelangen muss. So sieht etwa das Statut des IWF vor, dass die Auflösung der Organisation nur durch einen geordneten Beschluss des Gouverneursrats (Board of Governors) erfolgen kann.9 Eine besondere Ausnahmestellung nahm in 9
Art 27(2) des Statuts; weitere Beispiele bei Heribert Franz Köck / Peter Fischer, Das Recht der Internationalen Organisationen3 (1997) 601.
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diesem Zusammenhang die EGKS ein, die ausdrücklich für 50 Jahre geschlossen worden war und somit am 23. Juli 2002 von der Bildfläche verschwunden ist.10 Enthalten die Gründungsverträge einer internationalen Organisation (wie das auch bei der EG der Fall war) keine Bestimmungen über ihre Auflösung, so stellt sich die Frage, welche Form und welche Rechtsnatur der Akt haben muss, mit dem diese aufgelöst wird. In der Regel wird angenommen, dass diese Auflösung durch einen actus contrarius zu erfolgen hat: Nach Art 54 lit b WVK 1969 kann die Kündigung eines internationalen Vertrags jederzeit durch Einvernehmen zwischen allen Vertragsparteien erfolgen; nach Art 59 Abs 1 lit a WVK 1969 gilt ein Vertrag als beendet, wenn alle Vertragsparteien später einen sich auf denselben Gegenstand beziehenden Vertrag schließen und aus dem späteren Vertrag hervorgeht, dass die Vertragsparteien beabsichtigen, den Gegenstand durch den späteren Vertrag zu regeln. Umstritten ist, ob sich in den letzten Jahrzehnten darüber hinaus eine völkergewohnheitsrechtliche Regel herausgebildet hat, nach der das Hauptentscheidungsorgan einer Organisation über die Kompetenz zur Auflösung derselben verfügt.11 Letztlich anerkannt wurden aber Fälle der Auflösung von Organisationen durch einen abgeleiteten Rechtsakt, wie etwa die Beendigung des Völkerbunds durch eine Resolution der Versammlung oder des COMECOM durch einen Beschluss des Ministerrats seiner Mitglieder oder des Warschauer Pakts durch Beschluss des Politischen Beratungsausschusses.12 Auch die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften sahen bekanntlich keine Regelungen über ihre Auflösung vor. Nach Art 312 EGV13 war der EG-Vertrag auf unbegrenzte Zeit 10
11 12
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Siehe dazu Waldemar Hummer, Untergang, „Entkernung“ und Funktionsnachfolge Internationaler Organisationen – dargestellt am Beispiel der EGKS und der WEU, in Zehetner (Hg), FS Folz (2003) 117; Walter Obwexer, Das Ende der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EuZW 2002, 517. Vgl Myers, Succession between International Organizations (Fn 4) 59 ff. Henry G. Schermers / Niels M. Blokker, International Institutional Law4 (2004) § 1624; Köck / Fischer, Das Recht der internationalen Organisationen (Fn 9) 602. Wie im Übrigen auch im EU-Vertrag in seiner ursprünglichen Fas-
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abgeschlossen. Allerdings ist die Auflösung der EG im Wege einer Vertragsänderung und durch einen ausdrücklichen Akt (Art 1 EUV) erfolgt, der einvernehmlich nach demselben Verfahren angenommen worden ist, wie ihr Gründungsvertrag, durch die „Herrn der Verträge“ also. Der Vertrag von Lissabon hat zwar (im Gegensatz zum gescheiterten Verfassungsvertrag) nicht die bestehenden Verträge aufgehoben und ersetzt, sondern die bisherigen Verträge, EGV und EUV, lediglich geändert, ua insofern, als die Mitgliedstaaten damit eine andere Organisation, die EU, mit der Umsetzung der ihr übertragenen Kompetenzen betraut haben. In Bezug auf die EG kommt der Vertrag von Lissabon dennoch, wie bereits erwähnt, einem Auflösungsvertrag gleich, weshalb völkerrechtlich wohl die Bestimmungen der WVK 1969 über die Auflösung bzw Ersetzung gemeinsam mit denjenigen über die Änderung (wofür es natürlich Regelungen im EGV gab) anzuwenden sind. Es kann also keinen Zweifel daran geben, dass die Auflösung der Gemeinschaft völkerrechtlich und europarechtlich einwandfrei erfolgt ist. Freilich wurde für den Fall der europäischen Integration verschiedentlich argumentiert, dass eine Auflösung der EG bzw nunmehr der EU dem Vertragszweck der „immer engeren Union der Völker Europas“ zuwiderliefe und aufgrund der sehr weit vorgeschrittenen wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Verflechtung ihrer Mitglieder unzulässig geworden wäre.14 Eine solche Argumentation kann aber nur ein politischer Befund sein; völkerrechtlich ist sie nicht haltbar, solange die Auflösung als actus contrarius erfolgt.15 Entscheidend ist im vorliegenden Zusammenhang aber, dass eine solche Argumentation unter gar keinen Umständen zutreffen kann, da die EG nicht ersatzlos aufgelöst worden, sondern in der EU aufgegangen ist, die eine noch weiter gehende Integration verfolgt.
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sung (Art 51). Siehe nunmehr auch Art 53 EUV und 356 AEUV. Dierk Booß, Art 53 EGV, in Lenz / Borchardt (Hg), EU-Verträge. Kommentar5 (2010) Rn 2; van der Hout, Die völkerrechtliche Stellung (Fn 3) Fn 698. Wolff Heintschel von Heinegg, Art IV-446 EVV, in Vedder / Heintschel von Heinegg (Hg), Europäischer Verfassungsvertrag (2007) Rn 2.
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2. Probleme bei der Auflösung von Organen oder beim Wegfall von Zuständigkeiten Besteht keine klare organisatorische oder funktionale Kontinuität zwischen der alten und der neuen Rechtsperson, so folgen daraus eine Reihe von Rechtsfragen, die in erster Linie ad hoc zwischen den Vertragsstaaten zu regeln sind. Komplexe Rechtsfragen kann die Sukzession etwa mit sich bringen, wenn die hinter der erlöschenden und neu entstehenden Organisation stehenden Rechtspersonen verschieden sind, wie dies etwa beim (überlappenden) Übergang vom Völkerbund zu den Vereinten Nationen der Fall war. Rechtsfragen werfen auch solche Situationen auf, bei denen es zweifelhaft ist, ob die Vertragsväter der Nachfolgeorganisation in Schulden der Vorgängerin einsteigen. Problematisch erwies sich in diesem Zusammenhang etwa auch, wenn die nachfolgende Organisation nicht ausdrücklich in alle Zuständigkeiten der Vorgängerorganisation eingestiegen ist. Im Namibia-Gutachten von 197116 hat der IGH einen Übergang der Überwachungskompetenzen des Völkerbunds über die vormalige deutsche Kolonie auf die UNO angenommen und sich dabei insbesondere auf die faktische Notwendigkeit gestützt, weiterhin eine internationale Aufsicht über das Gebiet auszuüben. Im Anschluss daran wurde im Schrifttum die Möglichkeit eines „automatischen“ Übergangs von Funktionen einer Organisation auf eine andere erörtert, aber großteils verworfen.17 Mangelt es an Kontinuität kann sich schließlich auch die Frage der Weiterbeschäftigung der Mitarbeiter der Organisation stellen. So bedurfte es für die Weiterbeschäftigung eines Teils der Bediensteten des Völkerbunds bei den Vereinten Nationen einer neuen vertraglichen Regelung. All diese rechtlichen Fragen sind aber im Fall der Rechtsnachfolge EG – EU nicht schlagend geworden. Erstens sind die Mitgliedstaaten der EG (bzw der EU idF Vertrag von Nizza) und der nunmehrigen EU ident. Zweitens sind die Zuständigkeiten der aufgelösten Gemeinschaft gänzlich auf die Union übergegangen. Zwar ist insofern der Text des Art 1 Abs 3 EUV denkbar knapp gehalten: „Die Union tritt an die Stelle der Europäischen 16 17
ICJ Reports (1971) 16 ff. Köck / Fischer, Das Recht der internationalen Organisationen (Fn 9) 603. Nachweise bei van der Hout, Die völkerrechtliche Stellung (Fn 3) Fn 724.
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Gemeinschaft, deren Rechtsnachfolgerin sie ist“. Dennoch lässt der Wortlaut und eine Gesamtbetrachtung dieser Bestimmung keinen Zweifel daran zu, dass die Vertragsväter damit eine Gesamtrechtsnachfolge erreichen wollten, also einen Übergang aller internen und externen Rechte und Pflichten der bisherigen EG zur geänderten und ausdrücklich mit Rechtspersönlichkeit ausgestatteten EU. Interessant ist insoweit ein Vergleich des Art 1 Abs 3 EUV mit der Regelung der Rechtsnachfolge, wie sie im Entwurf über eine Verfassung für Europa vorgesehen war: Art IV-3 des Entwurfs bestimmte unter dem Titel „Rechtliche Kontinuität im Verhältnis zur Europäischen Gemeinschaft und zur Europäischen Union“, dass die Union die Rechtsnachfolge der EG und der bisherigen EU „in allen ihren internen und aus internationalen Übereinkünften erwachsenden Rechten und Pflichten [antritt], die sich vor Inkrafttreten des Vertrags über die Verfassung aus den früheren Verträgen, Protokollen und Rechtsakten ergeben haben“. Außerdem wurde hinzugefügt, dass die Union „das gesamte Aktiv- und Passivvermögen der Gemeinschaft und der Union sowie deren Archive [übernimmt]“. Im entsprechenden Text, der schließlich in den Europäischen Verfassungsvertrag Eingang gefunden hat (Art IV-438 Abs 1 EVV), wurden diese Präzisierungen bereits nicht mehr vorgenommen („Die [EU] tritt die Rechtsnachfolge […] der Europäischen Gemeinschaft an“); er entspricht im Wesentlichen dem nunmehrigen Art 1 Abs 3 EUV. Zwar ist ein Teil der im Entwurf enthaltenen und im Vertrag von Lissabon nicht mehr übernommenen Präzisierungen darauf zurückzuführen, dass der Verfassungsvertrag die bisherigen Verträge aufheben hätte sollen, wohingegen der Vertrag von Lissabon die bestehenden Verträge lediglich geändert hat. Weshalb allerdings die Präzisierungen im späteren (gescheiterten) Verfassungsvertrag (und sodann im Vertrag von Lissabon) nicht aufgenommen worden sind, wonach die Rechtsnachfolge alle internen und externen Rechte und Pflichten umfassen sollte und wonach die Union das gesamte Aktiv- und Passivvermögen der Gemeinschaft sowie deren Archive übernimmt, ist aus den gesichteten Materialien nicht erkenntlich. Es kann allerdings die Vermutung angestellt werden, dass im Verfassungsvertrag und sodann auch im Vertrag von Lissabon bewusst eine Terminologie verwendet worden ist, die den Aspekt der Kontinuität zwischen dem alten und dem neuem institutionellen Gefüge unterstreichen sollte und dass daher soweit wie möglich auf
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eine Wortwahl verzichtet worden ist, die die Auflösung der EG heraushebt. Rechtliche Schlüsse lassen sich aus der unterschiedlichen Wortwahl aber dennoch keine ableiten. Trotz des knappen Wortlauts des Art 1 Abs 3 EUV muss diese Bestimmung zweifellos so gelesen werden, dass die EU die Gesamtrechtsnachfolgerin der EG in allen internen und externen Rechten und Pflichten, Aktiva und Passiva geworden ist. Im gegebenen Gesamtzusammenhang kann dem Wort „Rechtsnachfolge“ keine andere Bedeutung zugemessen werden. Gesondert geregelt wurde im Vertrag von Lissabon durch das Protokoll 37 über die finanziellen Folgen des Ablaufs des EGKSVertrags und über den Forschungsfonds für Kohle und Stahl der Umgang mit dem Vermögen und den Verbindlichkeiten, die mit Ende der EGKS am 23. Juli 2002 auf die EG übergegangen sind. Ohne dies ausdrücklich zu erwähnen, bekräftigt dieses Protokoll, dass auch diese Aktiva und Passiva auf die EU übergegangen sind, mit welchen nun entsprechend den dort festgelegten Modalitäten vorzugehen ist. Drittens haben sich die Zuständigkeiten der EU auch gegenüber denjenigen der EG nicht verringert, weshalb sich auch die Frage des Schicksals von bisherigen Zuständigkeiten nicht stellt, denen die Rechtsgrundlage entzogen worden wäre. Viertens bestehen die bisherigen Organe der Gemeinschaft weiter. Die Organe wurden in das umgestaltete bisherige Obergebäude integriert und nur, wenn überhaupt, umbenannt. Keiner hat sich die Frage gestellt, ob die Gebäude, sonstiges Eigentum oder die Archive der Gemeinschaft auch tatsächlich auf die Union übergegangen sind und kein Mitarbeiter der EU Institutionen hat sich je um den Fortbestand seines Dienstverhältnisses unter demselben Dienstvertrag gesorgt. Im Innenverhältnis ist der Übergang vom alten zum neuen institutionellen Gefüge zweifellos von Kontinuität gekennzeichnet. 3. Anerkennung der Rechtsnachfolge durch dritte Völkerrechtssubjekte Die Rechtsnachfolge der EG zur EU ist zunächst ein autonomer, einseitiger Akt der Mitgliedstaaten. Eine andere Frage ist, ob diese Rechtsnachfolge dritten Völkerrechtssubjekten (Drittstaaten und anderen internationalen Organisationen) entgegengehalten werden kann. Theoretisch denkbar ist es, dass dritte Völkerrechtssubjekte, die mit der bisherigen Gemeinschaft völkerrechtliche Beziehungen
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hatten, Einwände dagegen erheben könnten, dass diese Beziehungen und die sich daraus ergebenden Rechte und Pflichten nunmehr von einer anderen Rechtsperson, der EU, wahrgenommen werden. Die einschlägige Literatur behandelt diese Frage sehr selten bzw es wird sogleich angefügt, dass solche Schwierigkeiten in der Praxis nicht auftreten oder pragmatisch gelöst werden.18 Interessanterweise wurde diese Frage ausdrücklich (Art 73 Abs 2) von der Wiener Konvention über das Recht der Verträge zwischen Staaten und internationalen Organisationen bzw zwischen internationalen Organisationen von 198619 ausgenommen. Die einzige Richtschnur kann somit das völkergewohnheitsrechtliche Prinzip pacta sunt servanda sowie die WVK 1969 geben. Die WVK 1969 erlaubt es zwar den Vertragsparteien, einen Vertrag einseitig aufzukündigen, auch wenn dies im betroffenen Vertrag nicht vorgesehen ist, sofern – im vorliegenden Zusammenhang einzig einschlägig – die Vertragspartei geltend machen kann, dass eine grundlegende Änderung der beim Vertragsabschluss gegebenen Umstände vorliegt (rebus sic stantibus, Art 62 WVK 1969). Es scheint allerdings anhand der oben behandelten Umstände der Rechtsnachfolge im vorliegenden Zusammenhang unproblematisch zu argumentieren, dass der Übergang der Funktionen und Zuständigkeiten der bisherigen EG zur EU keine solche grundsätzliche Änderung darstellt. Heikler könnte diese Frage in Bezug auf internationale Organisationen sein, bei denen die EG bisher entweder Mitglied oder Beobachter war. Hier ist in erster Linie das Statut der jeweiligen internationalen Organisationen heranzuziehen. So enthält zB das Statut der FAO keinerlei Bestimmung, wonach Mitgliedsorganisationen im Fall der Rechtsnachfolge einen neuen Antrag auf Mitgliedschaft stellen müssen. Das Statut verpflichtet die Mitgliedsorganisationen lediglich, der FAO Änderungen von Zuständigkeitsverteilungen zwischen der Mitgliedsorganisation und ihren Mitgliedstaaten mitzuteilen. Jedenfalls könnte sich die EU wohl wieder auf die rebus sic stantibus-Klausel berufen und dabei die Tatsache vorbringen, dass sich das organisationelle und funktionale
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Etwa Bardo Fassbender, Die Völkerrechtssubjektivität der Europäischen Union nach dem Entwurf des Verfassungsvertrages, ArchVöR 42 (2004) 26 (28). ILM XXV (1986), 543 ff („WVK II“).
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Gefüge durch den Vertrag von Lissabon nicht grundlegend geändert hat. Dritten Staaten und anderen internationalen Organisationen kann der Übergang der Rechte und Pflichten von der EG auf die EU somit entgegengehalten werden, wenn diese dritten Völkerrechtssubjekte sie als das Völkerrechtssubjekt anerkannt haben, das die Rechte und Pflichten der Vorgängerorganisation übernommen hat. Dies kann ausdrücklich in einem förmlichen Akt erfolgen, findet in der Praxis jedoch in der Regel konkludent statt, etwa indem die internationalen Vertragspartner bisher von der EG bzw den Mitgliedstaaten geschlossene Verträge oder sonstige Beziehungen aufrechterhalten. II. Die praktische Vorgangsweise bei der Rechtsnachfolge von der EG zur EU A. Im Innenverhältnis Aufgrund von Art 1 Abs 3 EUV übernahm die Union alle internen Rechte und Pflichten der Gemeinschaft auf der Grundlage des bis dahin geltenden primären und sekundären Gemeinschaftsrechts. Dazu zählen jene Rechte und Pflichten, die die EG in Ausübung ihrer Rechts- und Geschäftsfähigkeit (Art 282 EGV) erworben bzw übernommen hat und die die EU nunmehr als voll geschäftsfähige Organisation (Art 335 AEUV) fortführt. Die EU hat auch das Archiv der EG übernommen und das Personal der verschiedenen Institutionen bleibt unverändert bei diesen beschäftigt. In Bezug auf den Besitzstand (Sekundärrecht) bestimmt Art 9 des dem EUV und AEUV angehängten Protokolls No 36 über die Übergangsbestimmungen, dass die Rechtsakte der Organe, die vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auf der Grundlage des bisherigen EUV angenommen worden sind, ihre Rechtswirkungen behalten. Dies gilt auch in Bezug auf Übereinkommen, die auf der Grundlage des EUV zwischen den Mitgliedstaaten geschlossen wurden. Diese Klausel ist allerdings auf die bisher im Rahmen der zweiten und dritten Säule erlassenen Rechtsakte beschränkt. Hier ist festzustellen, dass der (interne) Rechtsübergang im Verfassungsvertrag genauer und ausführlicher geregelt war (Art IV438 EVV). Dort wurde ausdrücklich festgehalten, dass der Besitzstand (Sekundärrecht) allgemein bis zu einer Änderung weiter gilt und auch die Rechtsprechung der europäischen Gerichte weiterhin einschlägig ist. Diese Weitergeltung des Besitzstandes und Ein-
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schlägigkeit der Rechtsprechung ist nach dem Regime des Vertrags vom Lissabon aus dem Primärrecht implizit zu entnehmen. B. Im Außenverhältnis Da die Rechtsnachfolge der EG zur EU den Übergang aller Rechte und Pflichten, die der EG aus völkerrechtlichen Verträgen oder sonstigen Übereinkünften (nicht bindende Memoranda of understanding) erwachsen sind, umfasste, erschien es den Institutionen angezeigt, alle bisherigen Vertragspartner der EG davon formell in Kenntnis zu setzen.20 Aufgrund des verzögerten Ratifikationsprozesses des Vertrags von Lissabon durch die Mitgliedstaaten standen die Vorbereitungen und die Durchführung der Unterrichtung der Drittstaaten und internationalen Organisationen unter beträchtlichem Zeitdruck. Die Modalitäten dieses Vorgangs waren Gegenstand von Verhandlungen im COREPER am 22.21 und 23.22 Oktober 2009. Auf dieser Grundlage wurden schließlich vom Rat am 27. November 200923 entschieden, dass nach der Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde und vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 alle Drittstaaten und internationalen Organisationen über die Rechtsnachfolge unterrichtet werden. Der Rat hat bei dieser Gelegenheit auch den Wortlaut der entsprechenden Schreiben festgelegt. Praktisch verblieben den Dienststellen (Generalsekretariate des Rates und der Kommission in Zusammenarbeit mit anderen Dienststellen) somit lediglich 3 Tage (inkl eines Wochenendes), um dieses „Monsterprojekt“ durchzuführen. Es wurde daher entschieden, die etwa 500 notwendigen Notifikationen in der Form einer nichtpersonalisierten Verbalnote vorzunehmen, die entweder – wo vorhanden – über die Vertretung der Kommission oder sonst per e-mail versandt worden sind. Dabei wurden 4 verschiedene Modelle verwendet, deren zentraler Inhalt im Vermerk der Sitzung des COREPER vom 22. Oktober 2009 festgehalten wurde.
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Siehe dazu Walter Obwexer vorstehend auf S 47. http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/09/st14/st14784.de09.pdf. http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/09/st14/st14928.de09.pdf. http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/09/st16/st16654-re01.de09. pdf.
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Drittstaaten wurde Folgendes mitgeteilt, wobei die letzten beiden Absätze des folgenden Textes nur solchen Drittstaaten übermittelt wurden, in denen die Kommission eine Vertretung innehatte: „Der Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft tritt am 1. Dezember 2009 in Kraft. Folglich tritt ab diesem Tag die Europäische Union an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft und wird deren Rechtsnachfolgerin (Artikel 1 Absatz 3 des Vertrags über die Europäische Union in der durch den Vertrag von Lissabon geänderten Fassung). Somit übernimmt die Europäische Union ab diesem Tag alle Rechte und Pflichten der Europäischen Gemeinschaft unter Wahrung der bestehenden Rechte und Pflichten der Europäischen Union. Insbesondere gehen ab diesem Tag alle Übereinkünfte zwischen (Name des Drittstaats) und der Europäischen Gemeinschaft/Europäischen Union und alle Verpflichtungen der Europäischen Gemeinschaft/Europäischen Union gegenüber (Name des Drittstaats) bzw. die Verpflichtungen (Name des Drittstaats) gegenüber der Europäischen Gemeinschaft/Europäischen Union auf die Europäische Union über. Ab dem genannten Tag wird die bei Ihrer Regierung akkreditierte Delegation der Kommission der Europäischen Gemeinschaften zur „Delegation der Europäischen Union“. Gemäß dem Vertrag von Lissabon wird die Vertretung der Europäischen Union auf Delegationsebene vor Ort unter der Verantwortung des Hohen Vertreters der Union für Außenund Sicherheitspolitik vereinigt und werden die bisher von den Delegationen der Kommission wahrgenommenen Aufgaben mit der Rolle und den Aufgaben zusammengelegt, die der Mitgliedstaat, der den turnusmäßig wechselnden sechsmonatigen Vorsitz des Rates innehat, im Rahmen der ihm von den Verträgen zugewiesenen Befugnisse derzeit ausübt. Die Einzelheiten des Übergangs von der Rolle, die der sechsmonatige Ratsvorsitz noch für eine begrenzte Dauer wahrnimmt, bis zu der vollständigen Übergabe der Aufgaben an die Delegationen der Union werden möglichst bald mitgeteilt.“ Internationalen Organisationen, bei denen die EG einen Mitglieds- oder Beobachterstatus innehatte, wurde ein im Wesentlichen
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gleichlautendes Schreiben übermittelt, wieder mit oder ohne den Hinweis auf die Delegation der EU. Hinzugefügt wurde ein Satz, dass der Organisation in der Folge die sich aus dem Vertrag von Lissabon ergebenden Änderungen in der Vertretung der Union mitgeteilt werden.24 Schließlich wurden die Organisationen gebeten, ihrerseits die gegebenenfalls notwendigen Schritte für die nunmehrige Vertretung der EU durch die EU-Delegation einzuleiten. In einigen wenigen Fällen hat der Rat außerdem entschieden, Vertragsparteien nochmals ausdrücklich von der Rechtsnachfolge in Kenntnis zu setzen.25 Diese Vorgangsweise scheint aber eine unnötige Verdopplung zu sein. Abweichend von den genannten Modellverbalnoten wurde für die Vereinten Nationen entsprechend der „Rule VIII of the UN Manual of Procedure“ im Namen der Präsidenten des Rates und der Kommission am 30. November 2009 ein inhaltlich im Wesentlichen gleichlautendes, aber persönliches Schreiben an den Generalsekretär der Weltorganisation gerichtet. Darüber hinaus wurde der Vertrag von Lissabon am 11. Mai 2010 offiziell in das UN-Register der internationalen Abkommen aufgenommen. Schließlich wurde die Rechtsnachfolge auch den Hinterlegungsorganen von den von der EG abgeschlossenen internationalen Abkommen mit der Bitte notifiziert, die Tatsache der Rechtsnachfolge all den Vertragsparteien dieser Abkommen mitzuteilen. Bemerkenswert ist, dass die von den Organen der EG (in den Tagen vor ihrem Verschwinden) in den genannten Verbalnoten und Schreiben verwendete Diktion sehr „low profile“ ist. Es wird mit keinem Wort erwähnt, dass der EU durch den Vertrag von Lissabon ausdrücklich Rechtspersönlichkeit übertragen worden ist. Noch weniger sprechen diese Noten und Schreiben von einem Rechtsübergang von der „alten“ zur „neuen“ Union.
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Praktisch handelte es sich dabei zunächst um die Mitteilung, dass für eine Übergangszeit die ständige Vertretung der rotierenden Präsidentschaft weiterhin die Aufgaben der Vertretung der EU bei der Organisation wahrnehmen würde, bis die Delegationen in der Lage sein werden, diese Aufgaben umfassend zu übernehmen. So etwa Art 2 des Beschlusses des Rates und der Kommission vom 29.3.2010 über den Abschluss des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Montenegro andererseits, ABl 2010 L 108/1.
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Trotzdem es mit dem Vertrag von Lissabon zweifellos zu einer Auflösung der EG und einer Übertragung externer Rechte und Pflichten auf eine andere Völkerrechtsperson, die EU, gekommen ist, sollte mit der Wortwahl dieser Verbalnoten und Schreiben wohl ganz besonders die Kontinuität unterstrichen werden; es sollten offenbar Reaktionen nicht provoziert werden, mit denen dieser Prozesses und die sich daraus ergebenden Rechtsfolgen hinterfragt würden. Man kann das Fehlen eines Verweises auf die ausdrückliche Rechtspersönlichkeit der EU aber durchaus auch als ein weiteres Indiz werten, dass in der Praxis (zu Recht) davon ausgegangen worden ist, dass der EU dieser rechtliche Status bereits vorher implizit eingeräumt worden ist. Ebenso wenig gehen diese Verbalnoten und Schreiben auf die Zuständigkeiten der EU ein, es wird den internationalen Partnern der EU also etwa nicht mitgeteilt, dass ihr nunmehriger Ansprechpartner über dieselben (bzw erweiterten) Kompetenzen verfügt wie die bisherige EG. Strittig war bei den Verhandlungen zwischen den Institutionen über diese Verbalnoten und Schreiben zweierlei (und zwar bis zuletzt – Versendung erst am 27. November 2009, also drei Tage vor Erlöschen der EG). Zum einen wurde über den letzten Absatz gestritten, mit denen den Drittstaaten bzw den internationalen Organisationen, bei denen die Kommission bisher und die EU nunmehr Delegationen führt(e), Details über die nunmehrige Ausübung der Vertretung mitgeteilt worden sind. Besonders strittig war dabei, welche Aspekte der bisherigen Außenvertretung (und für welche Zeitspanne) die rotierende Präsidentschaft weiterhin ausüben sollte – also eine Frage, die mit der eigentlichen Rechtsnachfolge nicht unmittelbar etwas zu tun hat.26 Zum anderen war strittig, von wem diese Dokumente unterschrieben und versandt werden sollten. Rechtlich hat sich in diesem Zusammenhang die Frage gestellt, ob dieser Vorgang der GASP zuzuordnen gewesen war und damit verbunden nach der alten Rechtslage die rotierende Präsidentschaft zuständig gewesen wäre, oder ob es sich dabei um eine institutionelle Frage handelte und dem folgend die Kommission handeln hätte sollen. Als Kompromiss hat man sich dann – nicht 26
Bestimmten internationalen Organisationen wurde im Übrigen in der Folge ein umfangreiches Dokument über die Arbeitsteilung zwischen der nunmehrigen EU-Delegation und der Vertretung Spaniens, das in den ersten 6 Monaten des Jahres 2010 die Ratspräsidentschaft innehatte, mitgeteilt.
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verwunderlich – darauf geeinigt, dass diese Dokumente im Namen der Präsidenten sowohl des Rates als auch der Kommission versandt wurden. Praktisch erfolgte die Durchführung der Versendung zum großen Teil durch die Dienstellen der Kommission, GD RELEX, welche über das ausreichende Personal verfügen, das dazu notwendig gewesen ist. Aus der Praxis kann berichtet werden, dass – abgesehen von wenigen von außereuropäischen Staaten aufgeworfenen, aber nicht weiter verfolgten Fragen – bis dato keine Fälle bekannt geworden sind, bei denen Drittstaaten oder internationale Organisationen als Reaktionen auf die Notifizierungen die bisherigen Beziehungen mit der EG, welche nunmehr auf die EU übergegangen sind, ernsthaft in Frage gestellt hätten. Ganz im Gegenteil wurde in vielen Fällen dieser Übergang von den Drittstaaten oder internationalen Organisationen ausdrücklich zur Kenntnis genommen. Andernfalls kann jedenfalls davon ausgegangen werden, dass der Übergang der Rechten und Pflichten auf die EU auch Dritten gegenüber konkludent durch das Aufrechterhalten der Beziehungen oder durch Briefwechsel verbindlich geworden ist. In der Praxis wird allerdings die Rechtsnachfolge von Drittstaaten gelegentlich als Anlass genommen, um institutionelle, nicht mit der Rechtsnachfolge als solcher zusammenhängende Fragen in internationalen Organisationen aufzuwerfen. III. Eine Anekdote zum Schluss Die Rechtsnachfolge von der EG zur EU kann, im Vergleich zur eingangs geschilderten völkerrechtlichen Staatenpraxis, als zwar kurzfristig sehr arbeitsintensiv aber insgesamt problemlos bezeichnet werden – „Comme une lettre à la poste“. Das bedeutet aber nicht, dass der Übergang vom alten zum neuen Primärrecht nicht mit erheblichen Unsicherheiten und zum Teil äußerst komplexen Rechtsfragen einhergegangen ist und weiterhin einhergeht und dass es in vielen Bereichen zu einer Neupositionierung und einem neuerlichen Machtmessen zwischen den beteiligten „playern“ kommt. Einige davon sind in anderen Beiträgen dieses Buches angesprochen worden; sie hängen aber nicht unmittelbar mit dem Verfahren der Rechtsnachfolge zusammen.27
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Siehe zB Walter Obwexer vorstehend auf S 47.
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Eine Tätigkeit ist bei Juristen in den EU-Institutionen (aber sicher nicht nur dort) insbesondere in den ersten Monaten nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zu einem nicht unbedingt beliebten, aber sehr intensiv ausgeübten Hochleistungssport geworden: „lisbonisieren“. Tagein und tagaus wurden und werden Rechtstexte auf die neue Nummerierung und auf die neue Wortwahl in den geänderten Verträgen angepasst; täglich wird geprüft, ob Texte den neuen Bestimmungen entsprechen. Aus der Praxis kann – als Anekdote – ein Fall geschildert werden, bei dem Verwaltungen in einem außereuropäischen Drittstaat diesem Sport offenbar etwas abgewinnen konnten. Im Schriftverkehr mit den Kommissionsdienststellen hat kürzlich eine Verwaltung eines außereuropäischen Drittstaats den Kommissionsdienststellen den Text eines Abkommens der EG mit jenem Drittstaat zur Prüfung vorgelegt, den die Verwaltung dieses Drittstaats selbst an die neue Wortwahl, Nummerierung und Inhalt des Vertrags von Lissabon angepasst hatte. Am Tag der Eröffnung eines anderen sportlichen Großereignisses28 muss offenbar festgestellt werden, dass „lisbonisieren“ nun schon ein weltumspannender Hochleistungssport geworden ist. Es scheint, als könne diese Anekdote als Zeichen dafür gesehen werden, dass international der Übergang von der EG zur EU assimiliert worden ist.
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Dieser Vortrag wurde am 11.6.2010, dem Tag der Eröffnung der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika, gehalten.
Eckhard Pache
Die Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes unter besonderer Berücksichtigung des Beitritts der Union zur EMRK I. Veränderungen der Grundrechtsarchitektur der EU durch den Vertrag von Lissabon A. Europäische Grundrechtecharta B. Beitritt zur EMRK C. Fortgeltung der Grundrechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts D. Zusammenfassender Befund II. Implementierung, Ausgestaltung und Rechtsfragen A. Grundrechtecharta, Art 6 Abs 1 EUV 1. Keine Erweiterung der Zuständigkeiten der EU 2. Protokolle Polen, Vereinigtes Königreich und Tschechien 3. Änderungen der Grundrechtecharta B. Grundrechte als allgemeine Grundsätze, Art 6 Abs 3 EUV C. Beitritt der EU zur EMRK, Art 6 Abs 2 EUV 1. Anpassungen der EMRK 2. Voraussetzungen des EU-Rechts für einen Beitritt 3. Festlegung des Verhandlungsmandats 4. Entschließung des Europäischen Parlamentes 5. Weiteres Beitrittsverfahren III. Bewertung der Implementierungsperspektiven
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Im Bereich der Grundrechte hat die jüngste Reform des europäischen Primärrechts erhebliche Veränderungen bereits bewirkt oder für die Zukunft ermöglicht: Der Grundrechtsschutz in der EU1 ist 1
Allgemein zum Grundrechtsschutz in der EU, seiner Entstehung und seinen dogmatischen Grundlagen etwa Thomas Oppermann / Claus Dieter Classen / Martin Nettesheim, Europarecht4 (2009) 305 ff
T. Eilmansberger et al. (eds.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon © Springer-Verlag Wien 2011
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Eckhard Pache
unmittelbar durch das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon2 zum 1. Dezember 20093 mit Wirkung qua lege grundlegend umgestaltet, erweitert und ergänzt worden.4 Die durchaus erheblichen norma-
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mwN; Siegfried Broß, Grundrechte und Grundwerte in Europa, JZ 2003, 429; Thorsten Kingreen, Die Gemeinschaftsgrundrechte, Jus 2000, 857; ders, Theorie und Dogmatik der Grundrechte im europäischen Verfassungsrecht, EuGRZ 2004, 570; Hans D. Jarass, EUGrundrechte (2005); Hans-Werner Rengeling / Peter Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union (2004) § 2 f; Andreas Haratsch / Peter Schiffauer (Hg), Grundrechtsschutz in der Europäischen Union (2007); Dirk Ehlers (Hg), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten3 (2009); Sebastian M. Heselhaus / Carsten Nowak (Hg), Handbuch der Europäischen Grundrechte (2006); Manfred A. Dauses, Der Schutz der Grundrechte in der Rechtsordnung der EU – unter besonderer Berücksichtigung des institutionellen Schutzes dieser Rechte (2010) 25 ff; Manfred Zuleeg, Zum Verhältnis nationaler und europäischer Grundrechte, EuGRZ 2000, 511; Josef Franz Lindner, Fortschritte und Defizite im EU-Grundrechtsschutz, ZRP 2007, 57; Manuel Strunz, Strukturen des Grundrechtsschutzes der Europäischen Union in ihrer Entwicklung (2006); Christoph Grabenwarter, Auf dem Weg in die Grundrechtsgemeinschaft? EuGRZ 2004, 563; Eckhard Pache, Die Rolle der EMRK und der Grundrechte-Charta in der EU, Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht 94 (2009) 113. Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, unterzeichnet in Lissabon am 13.12.2007, ABl 2007 C 306/1); die konsolidierte Fassung des Vertrags über die Europäische Union ist im ABl 2010 C 83/13 veröffentlicht; die Publikation des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union in konsolidierter Fassung findet sich in ABl 2010 C 83/47. Nach der Ratifikation durch Tschechien als letztem Mitgliedstaat am 3.11.2009 konnte der Vertrag nach seinem Art 6 Abs 2 zum 1.12. 2009 in Kraft treten. Siehe dazu Gerda Falkner vorstehend auf S 1. Für einen Überblick über die durch den Vertrag von Lissabon bewirkten Änderungen vgl Eckhard Pache, Die Rolle der EMRK und der Grundrechte-Charta in der EU, in Fastenrath / Nowack (Hg), Der Lissabonner Reformvertrag – Änderungsimpulse in einzelnen Rechts- und Politikbereichen (2009) 113; Eckhard Pache / Franziska Rösch, Die neue Grundrechtsordnung der EU nach dem Vertrag von Lissabon, EuR 2009, 769; Eckhard Pache / Franziska Rösch, Europäischer Grundrechtschutz nach Lissabon – die Rolle der EMRK und der Grundrechtecharta in der EU, EuZW 2008, 519; Elena Schulte-
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tiven Veränderungen der Grundrechtsordnung der EU bedürfen allerdings trotz ihrer bereits eingetretenen rechtlichen Wirksamkeit weiterer Umsetzung und Konkretisierung. Entsprechender Ausgestaltungsbedarf besteht in den verschiedenen Bereichen der künftig dreischichtigen Grundrechtsordnung der EU in unterschiedlichem Umfang und ist durch unterschiedliche Akteure zu erfüllen. Dennoch lässt sich grundsätzlich feststellen, dass für die Effektuierung des neu geschaffenen Systems europäischen Grundrechtsschutzes generell dessen weitere Ausgestaltung und die Klärung verschiedener offener Rechtsfragen erforderlich sind. Ich möchte nachfolgend die wichtigsten erforderlichen Schritte zur Umsetzung, Effektuierung und Ausgestaltung des durch den Vertrag von Lissabon umgestalteten Grundrechtsschutzsystems der EU in drei Schritten ansprechen, indem ich I. zunächst knapp die durch den Vertrag von Lissabon bewirkten Veränderungen der Grundrechtsarchitektur der EU vorstelle, dann II. den Implementierungsbedarf bzw die absehbaren Rechtsfragen in den unterschiedlichen betroffenen Bereichen der Grundrechtsordnung der EU darstelle, und III. zum Abschluss eine kurze Bewertung der Implementierungsperspektiven vornehme. I. Veränderungen der Grundrechtsarchitektur der EU durch den Vertrag von Lissabon Der Vertrag von Lissabon hat zwei zentrale Fixpunkte der bisherigen Grundrechtsordnung der EU grundlegend verändert: Erstens hat er die Europäische Grundrechtecharta und mit ihr den seit langem geforderten ausformulierten geschriebenen Grundrechtekatalog rechtsverbindlich in das europäische Primärrecht integriert, und zweitens hat er die im Gutachten 2/94 des EuGH geforderten unionsverfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Beitritt der EU zur EMRK geschaffen.5
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Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, ZEuS 2009, 343; Franz C. Mayer, Der Vertrag von Lissabon und die Grundrechte, EuR 2009, 87. Näher hierzu Susanne Stock, Der Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention als gemischtes Abkommen? (2010) 178; Andrea Huber, Der Beitritt der Europäischen
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Daneben hat der Vertrag zugleich die Grundlage, die Substanz und den bisherigen Entwicklungsstand des Grundrechtsschutzes in der EU erhalten und bekräftigt, indem er die Fortgeltung eigenständiger Grundrechte der EU als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts, wie sie der EuGH seit Jahrzehnten in wertender Rechtsvergleichung aus den Rechtserkenntnisquellen der EMRK und der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten herleitet, bestätigt und bekräftigt hat.6 A. Europäische Grundrechtecharta Zentrale und sichtbarste Neuerung der Grundrechtsordnung der EU ist die in Art 6 Abs 1 UAbs 1 EUV normierte rechtsverbindliche Anerkennung der Rechte, Freiheiten und Grundsätze der Europäischen Grundrechtecharta7 und ihre Integration in das europäische Primärrecht.8 Diese Integration erfolgt nicht unmittelbar im EUV oder AEUV, sondern außerhalb dieser beiden Verträge als eigenständiges, den Verträgen gleichrangiges Grundrechtsdokument, wie Art 6 Abs 1 UAbs 1 EUV als Geltungsanordnung und Rangzuweisung anordnet und klarstellt.9
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Union zur europäischen Menschenrechtskonvention (2008) 17; Hans-Michael Wolffgang, Art 6 EUV, in Lenz / Borchardt (Hg), EUVerträge. Kommentar5 (2010) Rn 7 f. So Pache / Rösch, Die neue Grundrechtsordnung (Fn 4) 786; Bernhard Schima, Grundrechtsschutz, in Hummer / Obwexer (Hg), Der Vertrag von Lissabon (2009) 330 f. Der Text der am 7.12.2000 von Rat, Kommission und Europäischem Parlament feierlich proklamierten Europäischen Grundrechtecharta ist im ABl 2000 C 364/1 abgedruckt; nach dem Vertrag von Lissabon rechtlich verbindlich ist die Grundrechtecharta in der neu verkündeten Fassung vom 12.12.2007, ABl 2007 C 306/1. Zur Stellung der Grundrechtecharta außerhalb der Verträge vgl Clemens H. Fischer, Der Vertrag von Lissabon. Text und Kommentar zum europäischen Reformvertrag2 (2010) 138; Pache / Rösch, Die neue Grundrechtsordnung (Fn 4) 775; Franz C. Mayer, Die Rückkehr der Europäischen Verfassung? Ein Leitfaden zum Vertrag von Lissabon, ZaöRV 67 (2007) 1141 (1155); Schima, Grundrechtsschutz (Fn 6) 327. Zu Bedeutung und Qualifikation des Art 6 Abs 1 UAbs 1 EUV in Abgrenzung zu Verweisungs- und Inkorporationsnormen näher Andreas Haratsch / Christian Koenig / Matthias Pechstein, Europarecht7 (2010) Rn 662 mwN.
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Die unterbliebene Integration der Charta unmittelbar in die Verträge mag zwar die politische Symbolkraft ihrer rechtsverbindlichen Anerkennung schwächen10 – hinsichtlich ihrer rechtlichen Bindungswirkung und ihrer Gleichrangigkeit mit EUV und AEUV bedeutet die eigenständige Stellung der Grundrechtecharta im Primärrecht aber keinerlei Einschränkung, und für die Erkennbarkeit und Übersichtlichkeit der Grundrechte und der Grundrechtsbindung der EU kann die Eigenständigkeit der Grundrechtecharta sogar durchaus als Vorteil betrachtet werden.11 Eher problematisch erscheinen die Einschränkungen der Anwendung der Grundrechtecharta, die das vorhandene Protokoll Nr 30 zum Lissabonner Vertrag über die Anwendung der Charta der Grundrechte auf Polen und das Vereinigte Königreich vorsieht12 und die nach einer vom Europäischen Rat in Brüssel 2009 gegenüber Tschechien abgegebenen Zusage beim Abschluss des nächsten Beitrittsvertrags auch auf Tschechien erstreckt werden sollen.13 B. Beitritt zur EMRK Zweite zentrale Neuerung des Lissabonner Vertrags im Bereich der Grundrechte ist die Schaffung der nach dem Gutachten 2/94 des EuGH14 erforderlichen primärrechtlichen Grundlage für einen Beitritt der EU zur EMRK. Art 6 Abs 2 Satz 1 EUV bestimmt insoweit: „Die Union tritt der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei.“ Diese Bestimmung enthält nicht nur die nach der Rechtsprechung des EuGH erforderliche Beitrittsermächtigung für die EU, sondern erlegt der EU zugleich eine Beitrittsverpflichtung jedenfalls im Sinne einer verbindlichen Zielvorgabe europäischen 10 11 12
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Auf diese Motivation für die Ausgliederung der Charta aus den Verträgen weist Schima, Grundrechtsschutz (Fn 6) 327 mwN, hin. In diesem Sinne auch Schulte-Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz (Fn 4) 347 f mwN. Zu dieser Problemstellung vgl Fischer, Der Vertrag von Lissabon (Fn 8) 138 ff; Schima, Grundrechtsschutz (Fn 6) 334 ff; Rudolf Streinz / Christoph Ohler / Christoph Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU. Einführung mit Synopse3 (2010) 126. Vgl die Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Brüssel, 29./30.6.2009. Siehe auch Rudolf Streinz vorstehend auf S 23. EuGH, Gutachten 2/94, EMRK, Slg 1996, I-1759.
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Handelns auf.15 Die Beitrittsverpflichtung gilt unmittelbar für die EU selbst als ausdrücklich benannte Adressatin der Norm. Sie kann aber über die mitgliedstaatliche Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit und zur Unionstreue, wie sie in Art 4 Abs 3 EUV normiert ist,16 oder als Selbstverpflichtung der Mitgliedstaaten17 auch die Mitgliedstaaten verpflichten, den Beitritt der EU zur EMRK zu ermöglichen oder jedenfalls nicht zu behindern. Problematisch im Zusammenhang mit der Begründung der Kompetenz und der Verpflichtung der EU zum Beitritt zur EMRK ist die Regelung des Art 6 Abs 2 Satz 2 EUV, nach der der Beitritt der EU zur EMRK nicht die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der EU verändert. Diese Regelung soll klarstellen, dass auch durch einen Beitritt der EU zur EMRK die EU keine allgemeine und umfassende, von sonstigen Zuständigkeiten unabhängige Grundrechtskompetenz erhalten und die Mitgliedschaft der EU in der EMRK nicht kompetenzerweiternd wirken soll.18 C. Fortgeltung der Grundrechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts Drittes Element der europäischen Grundrechtsarchitektur bleiben nach Art 6 Abs 3 EUV die Grundrechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts, wie sie der EuGH seit seiner Entscheidung Stauder19 im Jahre 1969 in ständiger Rechtsprechung im Wege wertender Rechtsvergleichung aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und aus den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, insbesondere aus der EMRK, hergeleitet und als Gemeinschaftsgrundrechte anerkannt hat.20 15 16 17 18 19 20
Ebenso Wolffgang, Art 6 EUV (Fn 5) Rn. 7; Schima, Grundrechtsschutz (Fn 6) 331 f. Vgl auch Schima, Grundrechtsschutz (Fn 6) 331 ff mwN. Hierzu näher Schulte-Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz (Fn 4) 360 mwN. Hierzu bereits Fischer, Der Vertrag von Lissabon (Fn 8) 138; Schima, Grundrechtsschutz (Fn 6) 332. EuGH, Rs 29/69, Stauder, Slg 1969, 419. Zusammenfassend Hans-Werner Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft. Bestandsaufnahme und Analyse der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Schutz der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze (1993) 1 mwN; Eckhard Pache, Begriff, Geltungsgrund und Rang der Grundrechte,
Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes und Beitritt zur EMRK 127
Die Fortgeltung dieser ungeschriebenen Grundrechte der EU als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts neben der nunmehr verbindlichen Grundrechtecharta wird teilweise kritisiert, weil sie zu einer Bedeutungsreduktion des geschriebenen und stärker demokratisch legitimierten Grundrechtskataloges der Grundrechtecharta führen kann.21 Sie erscheint aber sinnvoll jedenfalls, um einerseits den bereits durch die bisherige Rechtsprechung des EuGH erreichten aktuellen Stand der europäischen Grundrechtsentwicklung zu sichern,22 andererseits eine judikative Dynamisierung des Grundrechtsschutzes in der EU zu ermöglichen23 und schließlich auch, um eventuellen grundrechtlichen Herausforderungen aufgrund der Sonderregelungen für das Vereinigte Königreich, Polen und künftig möglicherweise auch Tschechien im Hinblick auf die Anwendung der Grundrechtecharta wirksam zu begegnen.24 D. Zusammenfassender Befund Als erstes Zwischenresultat zum Grundrechtsschutz der EU nach Lissabon lässt sich also festhalten: Nach dem Vertrag von Lissabon verfügt die EU über ein komplexes, mehrschichtiges System des materiellen Grundrechtsschutzes, das aus der nunmehr rechtsverbindlichen Grundrechtecharta, den fortgeltenden ungeschriebenen Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts und
21 22 23 24
in Heselhaus / Nowak (Hg), Handbuch der Europäischen Grundrechte (2006) § 4 Rn 106 ff mwN; zur Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der EU instruktiv Gert Nicolaysen, Historische Entwicklungslinien, in Heselhaus / Nowak (Hg), Handbuch der Europäischen Grundrechte (2006) § 1 Rn 1 ff mwN; einen Überblick über die Grundrechtsjudikatur des EuGH geben auch Peter Selmer, Die Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards durch den EuGH. Zum Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH am Beispiel des Rechtsschutzes gegen die Bananenmarkt-Verordnung (1998) 119 ff mwN, und Matthias Schmidt-Preuß, Regierungskonferenz 2000. Zur Fortentwicklung des europäischen Vertragswerks, in Dörr et al (Hg), FS Schiedermair (2001) 705 (730 mwN). Nachweise zur Kritik bei Schima, Grundrechtsschutz (Fn 6) 330 Fn 25. So Pache / Rösch, Die neue Grundrechtsordnung (Fn 4) 786. In diesem Sinne Nachweise bei Schima, Grundrechtsschutz (Fn 6) 330, Fn 24. Ebenso Schima, Grundrechtsschutz (Fn 6) 331.
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der Befugnis und Verpflichtung zum Beitritt zur EMRK besteht. Dieses dreigliedrige System mag zwar die Übersichtlichkeit der europäischen Grundrechtsordnung und ihre Transparenz nicht eben erhöhen. Es stärkt durch die nunmehr rechtsverbindliche ausformulierte Grundrechtecharta aber jedenfalls die Sichtbarkeit der Grundrechtsbindung, der materiellen Wertorientierung und der rechtsstaatlichen Verfasstheit der EU, sichert durch die Fortgeltung der Grundrechte als allgemeine Grundrechte des Unionsrechts den bisherigen Stand der europäischen Grundrechtsentwicklung und die Möglichkeit ihrer judikativen Fortentwicklung und eröffnet die unionsrechtliche Möglichkeit der direkten Bindung der EU an die EMRK und damit den Weg zu einer weitergehenden Harmonisierung und Parallelisierung der Grundrechtsordnungen in Europa.25 II. Implementierung, Ausgestaltung und Rechtsfragen Diese neue dreischichtige Grundrechtsordnung der EU bedarf aber – und damit sind wir bei der Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes – noch in vielfältiger Hinsicht der internen Koordinierung und Abstimmung, der weiteren Entfaltung oder der Klärung offener Rechtsfragen. Dieser Ausgestaltungsbedarf der Grundrechtsordnung soll nachfolgend für jede der drei Schichten europäischer Grundrechte behandelt werden. A. Grundrechtecharta, Art 6 Abs 1 EUV Zunächst zur ersten in Art 6 Abs 1 EUV angesprochenen Ebene der europäischen Grundrechtsordnung, zur Europäischen Grundrechtecharta: Die Heranziehung und Anwendung der Europäischen Grundrechtecharta nicht mehr nur als Rechtserkenntnisquelle,26 sondern als unmittelbar verbindliche Rechtsquelle des europäischen Grundrechtsschutzes scheint prinzipiell unproblematisch. Die Europäische Grundrechtecharta ist seit dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags in der Rechtsprechung des EuGH bereits mehrfach als unmittelbar rechtsverbindlicher Maßstab herangezogen worden. So hat der EuGH seiner Vorabentscheidung vom 19. Januar 2010 über die Vereinbarkeit einer deutschen arbeitsrechtlichen Re25 26
So bereits Pache / Rösch, Europäischer Grundrechtschutz nach Lissabon (Fn 4) 521 f. Vgl auch Streinz / Ohler / Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU (Fn 12) § 14, 121.
Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes und Beitritt zur EMRK 129
gelung mit dem Verbot der Altersdiskriminierung das Grundrecht aus Art 21 Abs 1 der Grundrechtecharta als unmittelbar rechtsverbindliche Grundrechtsquelle der EU zugrunde gelegt.27 In gleicher Weise hat er sich in seiner Entscheidung vom 4. März 2010 unmittelbar auf das in der Charta garantierte Grundrecht auf Achtung des Familienlebens gestützt.28 Auch die Generalanwälte berücksichtigen mittlerweile die Garantien der Grundrechtecharta als unmittelbar bindendes Primärrecht,29 und der Unionsgesetzgeber geht in seinen Begründungserwägungen ausdrücklich auf die Vereinbarkeit eines Rechtsaktes mit den Grundrechten und Grundsätzen der Grundrechtecharta ein.30 Welche Probleme können also bei der Anwendung der Grundrechtecharta auftreten? Hier sollen zumindest drei Problembereiche kurz angesprochen werden: die Grundrechtecharta darf keine Erweiterung der Zuständigkeiten der EU bewirken (1.), die Auswirkungen der Protokolle über die Anwendbarkeit der Charta auf Polen, das Vereinigte Königreich und künftig möglicherweise auch Tschechien bedürfen näherer Bestimmung (2.), und eine eventuelle künftige Änderung der Charta wirft einige Rechtsfragen auf (3.). 1. Keine Erweiterung der Zuständigkeiten der EU Nach Art 6 Abs 1 UAbs 2 EUV werden durch die Bestimmungen der Charta die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert. Diese kompetenzbegrenzende Norm entspricht der bereits in der Grundrechtecharta selbst enthaltenen Bestimmung des Art 51 Abs 2 der Grundrechtecharta, der ebenfalls anordnet, dass durch die Charta keine neuen Zuständig27 28 29
30
EuGH 19.1.2010, Rs C-555/07, Kücükdeveci/Swedex, noch nicht in Slg veröffentlicht, Rn 22. EuGH 4.3.2010, Rs C-578/08, Chakroun/Niederlande, noch nicht in Slg veröffentlicht, Rn 44. Vgl etwa Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott vom 6.5.2010 in der Rs C-499/08, Ole Andersen, Rn 69, hier auch mit Ausführungen zu den Gründen der Heranziehung der Grundrechtecharta als unmittelbar verbindliches Primärrecht zur Beurteilung von Maßnahmen, die vor Inkrafttreten der Charta erlassen wurden, in Fn 58. Vgl hierzu etwa den Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) 2488/2000 über die Aufrechterhaltung des Einfrierens von Geldern betreffend Herrn Miloševi und Personen seines Umfeldes, KOM(2010) 217 endg vom 12.5.2010.
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keiten oder Aufgaben der Union begründet werden. Diese doppelte Betonung der kompetenzbegrenzenden – und nicht kompetenzbegründenden – Funktion der Grundrechtecharta, die der Sorge einiger Mitgliedstaaten vor einer Umdeutung der Grundrechte zu Unionszielen oder negativen Kompetenzschranken gegenüber den Mitgliedstaaten Rechnung trägt,31 dürfte spätestens dann Anwendungsprobleme aufwerfen, wenn vor dem EuGH Schutzpflichten der EU für die Grundrechte der Grundrechtecharta geltend gemacht werden.32 Hier stellt sich die Frage, ob durch den ausdrücklichen Ausschluss einer Zuständigkeitserweiterung der EU die Schutzpflichtdimension der Grundrechte der Grundrechtecharta generell oder jedenfalls in den Fällen ausgeschlossen sein soll, in denen die grundrechtlichen Gewährleistungen der Charta außerhalb der Regelungskompetenzen der EU liegen. Ein solches Verständnis könnte zu einer Abkoppelung der Wirkungen und Funktionen der Grundrechte der Grundrechtecharta von den Grundrechten der EMRK und der nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten führen, bei denen die Schutzpflichtdimension zunehmend deutlich zutage tritt. Eine solche Entwicklung wäre jedenfalls geeignet, die Kohärenz und Einheitlichkeit des Grundrechtsschutzes in Europa grundrechtsdogmatisch erheblich zu beeinträchtigen und damit den Zielen der Neuordnung der Grundrechtsordnung der EU diametral entgegenzulaufen. 2. Protokolle Polen, Vereinigtes Königreich und Tschechien Eine weitere offensichtlich nicht abschließend geklärte Frage bei der Anwendung der Grundrechtecharta wird die Bedeutung sein, die dem Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte auf Polen und das Vereinigte Königreich sowie dem geplanten weiteren Protokoll für Tschechien zukommt.33 Handelt es sich hier 31 32
33
So Armin Hatje / Anne Kindt, Der Vertrag von Lissabon – Europa endlich in guter Verfassung? NJW 2008, 1761 (1766). Zur grundrechtlichen Schutzpflichtdimension vgl Joachim Suerbaum, Die Schutzpflichtdimension der Gemeinschaftsgrundrechte, EuR 2003, 390; Horst Dreier (Hg), GG-Kommentar, Band 1 (1996) Vorbemerkungen Rn 62 ff. Hierzu bereits Schima, Grundrechtsschutz (Fn 6) 334 ff; Walter Frenz, Handbuch Europarecht, Band 4: Europäische Grundrechte (2009) Rn 19 ff.
Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes und Beitritt zur EMRK 131
wirklich, wie vielfach befürchtet, um ein vollständiges Opt-out von der Bindung an die Grundrechtecharta, oder kommt den Protokollen eine eingeschränktere Bedeutung zu?34 Konkret haben Polen, das Vereinigte Königreich und jetzt auch Tschechien für sich eine ausdrückliche Regelung erreicht,35 nach der die Grundrechtecharta keine Ausweitung der Befugnis des Gerichtshofs der Europäischen Union oder eines Gerichts Polens, des Vereinigten Königreichs oder Tschechiens bewirkt, festzustellen, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Verwaltungspraxis oder Verwaltungsmaßnahmen Polens, des Vereinigten Königreichs und Tschechiens nicht mit den durch die Charta bekräftigten Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen in Einklang stehen. Insbesondere, und um jeden Zweifel auszuräumen, – so wird ausdrücklich klargestellt –, werden mit Titel IV der Charta und seinen sozialen Grundrechten keine für Polen, das Vereinigte Königreich und mithin auch Tschechien geltenden einklagbaren Rechte geschaffen, soweit solche Rechte nicht im nationalen Recht vorgesehen sind. Dieses Protokoll bedeutet entgegen vielfacher Auffassung nicht, dass die Charta der Grundrechte gegenüber Polen, dem Vereinigten Königreich bzw Tschechien grundsätzlich nicht bindend oder justitiabel ist, dass sich vor Gerichten in diesen Staaten Kläger nicht auf die Charta berufen können oder dass sich das Recht Polens, des Vereinigten Königreichs und Tschechiens nicht an der Charta messen lassen muss.36 Durch das Protokoll ausgeschlossen wird vielmehr ausdrücklich allein eine Ausweitung der Befugnisse des EuGH und der nationalen Gerichte durch die Charta zur Feststellung der Grundrechtswidrigkeit nationaler Maßnahmen und die Begründung neuer einklagbarer Rechte durch Titel IV der Charta. Soweit die Charta aber Rechte anerkennt und gewährt, die bereits bislang als allgemeine Rechtsgrundsätze gelten – und dies ist bei der ganz über34 35
36
Zu den unterschiedlichen Auffassungen ausführlicher Schulte-Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz (Fn 4) 364 ff mwN. Zu den möglichen Gründen des Opt-outs des Vereinigten Königreichs und Polens vgl Franz C. Mayer, Die Rückkehr der Europäischen Verfassung? Ein Leitfaden zum Vertrag von Lissabon, ZaöRV 67 (2007) 1141 (1161). So aber Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Der Vertrag von Lissabon, Nr 1/08 vom 19.12.2007, 3.
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wiegenden Mehrzahl der in der Charta garantierten Rechte der Fall –, soweit steht das Protokoll der Anwendung der Grundrechtecharta durch den EuGH und die nationalen Gerichte der drei betroffenen Mitgliedstaaten nicht entgegen. Wenn der EuGH in seiner künftigen Rechtsprechung auch zu diesem Ergebnis gelangt, wird er sich mit der ansonsten naheliegenden Frage, inwieweit aus den nach Art 6 Abs 3 EUV fortgeltenden ungeschriebenen Grundrechten der EU identische Gewährleistungen wie aus der Grundrechtecharta hergeleitet werden können, für die keine Bindungs- oder Anwendungseinschränkungen bestehen, wohl nicht näher auseinanderzusetzen brauchen. 3. Änderungen der Grundrechtecharta Nicht völlig unproblematisch erscheint außerdem die Frage, nach welchen Regeln eventuelle künftige Änderungen der Grundrechtecharta erfolgen können.37 In Art 48 EUV ausdrücklich geregelt ist allein das Verfahren zur Änderung der Verträge,38 also zur Änderung von EUV und AEUV, in die die Grundrechtecharta gerade nicht integriert worden ist. Ausdrückliche Aussagen zur Änderung der Grundrechtecharta dagegen enthalten weder die Verträge noch die Grundrechtecharta selbst. Damit kann sich die Frage stellen, ob auf Änderungen der Grundrechtecharta das allgemeine völkerrechtliche Vertragsänderungsverfahren nach Art 39 WVRK, wegen der besonderen Art ihrer Entstehung ein spezielles Änderungsverfahren im Rahmen des EUV oder das allgemeine Änderungsverfahren des Art 48 EUV entsprechend anwendbar sein soll. Letztere Ansicht erscheint mir wegen der in Art 6 Abs 1 EUV angeordneten rechtlichen Gleichrangigkeit von Charta und Verträgen, aber auch zur Vermeidung unterschiedlicher Änderungsverfahren für verschiedene Teile des europäischen Primärrechts, die leicht zum Eindruck der Existenz von Primärrecht unterschiedlicher Wertigkeit führen könnten, vorzugswürdig.39 37 38
39
Dazu näher Schima, Grundrechtsschutz (Fn 6) 328. Zum Vertragsänderungsverfahren nach Art 48 EUV Andreas J. Kumin, Vertragsänderungsverfahren und Austrittsklausel, in Hummer / Obwexer (Hg), Der Vertrag von Lissabon (2009) 301 (303 f); Haratsch / Koenig / Pechstein, Europarecht (Fn 9) 42 ff mwN. Ebenso ausführlicher Schulte-Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz (Fn 4) 348 f mwN.
Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes und Beitritt zur EMRK 133
B. Grundrechte als allgemeine Grundsätze, Art 6 Abs 3 EUV Im Hinblick auf die zweite Ebene der europäischen Grundrechtsordnung, die Grundrechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts, erscheinen mir nur wenige Aspekte klärungsbedürftig. Näherer Klärung bedarf vor allem das Verhältnis der fortgeltenden Grundrechte als ungeschriebene allgemeine Grundsätze des Unionsrechts, also der zweiten Schicht der Grundrechtsordnung der EU, zu deren erster Schicht, der nunmehr rechtsverbindlichen Grundrechtecharta. Die durch Art 6 Abs 1 und Abs 3 EUV angeordnete Doppelung der Grundrechtsquellen der EU wirft die Frage auf, ob künftig die Europäische Grundrechtecharta wegen ihrer systematisch vorrangigen Stellung in Art 6 Abs 1 EUV, aufgrund ihrer stärkeren demokratischen und partizipatorischen Legitimation oder aufgrund eines rechtsstaatlich gebotenen Vorrangs des geschriebenen Rechts die ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze als Grundrechtsquellen verdrängen wird,40 oder ob durch die Fortgeltung der ungeschriebenen allgemeinen Grundsätze eher eine Marginalisierung des geschriebenen Grundrechtskataloges drohen kann. Jedenfalls sichert die Fortgeltung der bisher vom EuGH anerkannten ungeschriebenen Grundrechte und die ausdrückliche primärrechtliche Anerkennung der auch künftig fortbestehenden Kompetenz des EuGH, auch in Zukunft auf der Grundlage ungeschriebener allgemeiner Grundsätze der Unionsrechtsordnung die Wahrung des Rechts in der EU im Grundrechtsbereich zu gewährleisten, sowohl die Kontinuität als auch die Entwicklungsoffenheit der europäischen Grundrechtsordnung. Abzuwarten bleibt, welche Grundrechtsquellen der EuGH in seiner künftigen Rechtsprechung bevorzugt heranziehen wird. Nach den wenigen bis heute vorliegenden Entscheidungen des EuGH zur rechtsverbindlichen Grundrechtecharta scheint bisher die kumulative Heranziehung der unterschiedlichen Rechtsquellen der Grundrechte der EU die bevorzugte Vorgehensweise des Gerichtshofs, die sich allerdings mit fortschreitender Dauer der Existenz eines geschriebenen Grundrechtekataloges durchaus auch ändern kann.
40
Die unterschiedlichen für einen Vorrang der Grundrechtecharta angeführten Aspekte betont Schulte-Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz (Fn 4) 353 ff mwN, ohne allerdings den von ihr angenommenen Vorrang rechtlich näher zu qualifizieren.
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C. Beitritt der EU zur EMRK, Art 6 Abs 2 EUV Der weitestgehende Bedarf nach Implementierung und Ausgestaltung besteht offensichtlich auf der dritten Ebene der Grundrechtsordnung der EU, bei der neu geschaffenen Befugnis und Verpflichtung der EU, der EMRK beizutreten. Auf dem Weg zu einem Beitritt der EU zur EMRK und damit zu einer künftig nicht nur mittelbaren, sondern auch formalen, unmittelbaren Bindung der EU an die Garantien der EMRK und zu einer unmittelbaren Kontrolle des EGMR über Hoheitsakte der EU41 sind zwar sowohl auf Seiten des Europarates als auch seitens der EU bereits erste Schritte unternommen worden, zahlreiche Rechts- und Verfahrensfragen, sowohl im Recht der EU als auch im Recht der EMRK, sind hier aber noch zu klären.42 1. Anpassungen der EMRK Zunächst war für einen Beitritt der EU zur EMRK eine Anpassung der Beitrittsvoraussetzungen der EMRK erforderlich.43 Diese ist mit dem 14. Zusatzprotokoll zur EMRK44 zwischenzeitlich erfolgt, nachdem Russland seinen Widerstand gegen eine Ratifikation dieses Protokolls als letzter Konventionsstaat im Januar 2010 überraschend aufgegeben hatte.45 Durch dieses 14. Zusatzprotokoll, das mit Wirkung zum 1. 41
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Bisher nur mittelbare Kontrolle mit Vermutung der Konventionskonformität vgl EGMR, Bosphorus Hava Yollari Turizm ve Ticaret Anonim Sirketi gegen Irland, Urteil vom 30.6.2005, NJW 2006, 197. Ausführlich hierzu Huber, Der Beitritt der Europäischen Union zur europäischen Menschenrechtskonvention (Fn 5) 41 ff; Stock, Der Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention (Fn 5) 273 ff; Frenz, Handbuch Europarecht (Fn 33) Rn 114. Ursprünglich konnten gem Art 59 Abs 1 Satz 1 EMRK der Konvention nur Mitglieder des Europarates beitreten, welche wiederum nach Art 4 der Satzung des Europarates nur Staaten sind. Protokoll Nr 14 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Änderung des Kontrollsystems der Konvention SEV-Nr 194, veröffentlicht in EuGRZ 2005, 178. Über mehrere Jahre hinweg hat Russland die Reformbemühungen blockiert, weil die russische Staatsduma sich seit dem 20.12.2006 mit großer Mehrheit geweigert hatte, das Zusatzprotokoll Nr 14 zu ratifizieren.
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Juni 2010 in Kraft getreten ist, ist Art 59 EMRK, nach dem bislang nur Mitglieder des Europarates der EMRK beitreten konnten, der wiederum nach Art 4 seiner Satzung nur Staaten als Mitglieder aufnehmen kann, so geändert worden, dass er nunmehr ausdrücklich einen Beitritt der EU zur EMRK ermöglicht. Konkret ist durch Art 17 des 14. Zusatzprotokolls in Art 59 EMRK ein neuer Abs 2 eingefügt worden, der wörtlich lautet: „Die Europäische Union kann dieser Konvention beitreten.“ Damit haben sich die EMRK und ihre Konventionsstaaten einem Beitritt der EU grundsätzlich geöffnet. Zusätzlich zu dieser grundsätzlichen Öffnung sind aber für einen tatsächlichen Beitritt der EU noch zahlreiche weitere Anpassungen der EMRK erforderlich.46 Diese weiteren Änderungen können entweder durch ein weiteres Zusatzprotokoll zur EMRK oder im Rahmen des auszuhandelnden Beitrittsvertrags der EU mit den Konventionsstaaten erfolgen.47 2. Voraussetzungen des EU-Rechts für einen Beitritt Zu verschiedenen im Rahmen der Beitrittsverhandlungen zu klärenden Fragen enthält das geltende Unionsrecht für die EU verbindliche Verhandlungsvorgaben, deren Verwirklichung in den Verhandlungen mit dem Europarat anzustreben ist und die insoweit als Beitrittsvoraussetzungen oder Beitrittsbedingungen verstanden werden können.48 Zunächst darf der Beitritt der EU zur EMRK nach Art 6 Abs 2 Satz 2 EUV nicht die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der EU verändern. In dieser Norm kommen erneut die Sorgen verschiedener Mitgliedstaaten vor einer allzu aktiven EU-Grund46
47 48
So ist beispielsweise in zahlreichen Konventionsgarantien der Begriff „Staat“ durch anderweitige Formulierungen zu ersetzen, um auch die nichtstaatliche supranationale Organisation der Europäischen Union zu erfassen, oder es ist zusätzlich auf die Europäische Union Bezug zu nehmen; betroffen sind ua der Wortlaut der Art 8 Abs 2, 10 Abs 1 Satz 2, 11 Abs 2 Satz 2, 12, 17 etc EMRK; hinsichtlich sonstiger notwendiger Anpassungen vgl Frenz, Handbuch Europarecht (Fn 33) Rn 114. Hierzu auch Streinz / Ohler / Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU (Fn 12) § 19, 155 mwN. Zur Relativierung der Beitrittsverpflichtung durch die unionsrechtlichen Vorgaben näher Schulte-Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz (Fn 4) 360 f mwN.
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rechtspolitik im Rahmen der EMRK zum Ausdruck, denen im Rahmen der Beitrittsverhandlungen durch eine eher restriktive Ausgestaltung der Mitwirkungsrechte der EU im Rechtsschutzsystem der EMRK Rechnung getragen werden könnte. Konkretere Vorgaben für ein Beitrittsübereinkommen stellt das Protokoll Nr 8 zu Art 6 Abs 2 EUV über den Beitritt der EU zur EMRK auf. Nach diesem Protokoll muss in dem auszuhandelnden Beitrittsübereinkommen sichergestellt werden, dass die besonderen Merkmale der Union und des Unionsrechts erhalten bleiben, insbesondere im Hinblick auf eine Beteiligung der Union an den Kontrollgremien der EMRK und auf die Übermittlung von Beschwerden von Nichtmitgliedstaaten oder von Individualbeschwerden an die Mitgliedstaaten und an die Union.49 Weiter soll sichergestellt werden, dass die Zuständigkeiten der Union und die Befugnisse ihrer Organe unberührt bleiben und dass durch den Beitritt der EU die jeweilige individuelle besondere Situation der einzelnen Mitgliedstaaten im Hinblick auf Protokolle, Vorbehalte und Notstandsmaßnahmen zur EMRK nicht verändert wird. Schließlich darf das Beitrittsübereinkommen auch nicht das Rechtsprechungsmonopol des EuGH nach Art 344 AEUV für Streitigkeiten über die Anwendung und Auslegung der Verträge in Frage stellen, eine Regelung, die teilweise als unionsrechtliche Vorgabe eines Ausschlusses der Staatenbeschwerde der EMRK im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und der Union verstanden wird.50 3. Festlegung des Verhandlungsmandats Welche sind nun die absehbaren nächsten Schritte zur Vorbereitung des in Art 6 Abs 2 EUV vorgesehenen Beitritts der EU zur EMRK? Der Beitritt der EU zur EMRK erfordert den Abschluss eines entsprechenden völkerrechtlichen Übereinkommens durch die Union. Für die Aushandlung dieses Übereinkommens gibt Art 218 AEUV vor, dass zunächst der Rat das Mandat und die Verhandlungsrichtlinien für diese Verhandlungen festlegen muss. Die Europäische Kommission hat dem Rat am 17. März 2010 ihren als vertraulich klassifizierten und nicht veröffentlichten Vorschlag für ein Verhandlungsmandat vorgelegt. Der Rat Justiz und 49
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Die Forderung nach dem Erhalt der Besonderheiten der Rechtsordnung der EU erhebt ergänzend auch die Erklärung Nr 2 zum Vertrag von Lissabon zu Art 6 Abs 2 EUV. Hierzu Schima, Grundrechtsschutz (Fn 6) 332 mwN.
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Inneres hat am 23. April 2010 hierüber beraten, allerdings noch verschiedene Fragen für ungeklärt gehalten, insbesondere die Errichtung eines Mechanismus für den Verfahrensbeitritt als Mitbeklagter, die Wahrung der Zuständigkeiten des Europäischen Gerichtshofs, den Beitritt der EU zu den Protokollen der EMRK sowie die Frage des Verhandlungsführers der EU.51 Desungeachtet hat die aktuelle spanische Ratspräsidentschaft erklärt, sie wolle das Verhandlungsmandat der EU-Kommission für die Verhandlungen über den Beitritt der EU zur EMRK noch im Juni 2010 beschleunigt verabschieden.52 Tatsächlich ist das Verhandlungsmandat vom Rat Justiz und Inneres am 3. und 4. Juni 2010 in Luxemburg beraten und das erforderliche Verhandlungsmandat festgelegt worden.53 Auf dieser Grundlage haben die offiziellen Gespräche über den Beitritt der EU zur EMRK am 7. Juli 2010 begonnen. Thorbjørn Jagland, Generalsekretär des Europarates, und Viviane Reding, zuständige Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, trafen sich zum Beginn dieses gemeinsamen Prozesses in Straßburg. 4. Entschließung des Europäischen Parlamentes Welche sind nun die Fragen, die in den Verhandlungen zu klären sind? Die auftretenden Rechtsfragen eines Beitritts der EU zur EMRK sind in der jahrzehntelangen rechtswissenschaftlichen Diskussion weitgehend identifiziert worden.54 Notwendige Änderungen der EMRK betreffen insbesondere die Art der Einbeziehung eines Richters der EU in das Rechtsschutzsystem der EMRK,55 die 51 52
53 54
55
Rat der Europäischen Union, Pressemitteilung 8920/10, Brüssel 23.4.2010, 11. Vgl Norbert Paul Engel, Konsequenzen eines Beitritts der Europäischen Union zur EMRK für die EU selbst, für den Europarat und den EGMR, EuGRZ 2010, 259. Vgl COUNCIL OF THE EUROPEAN UNION, EN, 10630/1/10 REV 1, 4.6.2010. Vgl insoweit nur Huber, Der Beitritt der Europäischen Union zur europäischen Menschenrechtskonvention (Fn 5) 41 ff; Stock, Der Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention (Fn 5) 273 ff; Frenz, Handbuch Europarecht (Fn 33) Rn 114. Ad-hoc-Richter oder Ständiger Richter, Beteiligung dieses Richters nur an den Verfahren gegen die EU oder auch an Verfahren gegen andere Vertragsparteien, Bildung einer speziellen EU-Kammer oder Zuordnung des EU-Richters zu einer bestehenden Kammer etc, vgl
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Einzelheiten der Repräsentation und des Stimmrechts der EU im Ministerkomitee des Europarates, die Zulässigkeit von Staatenbeschwerden der Mitgliedstaaten der EU untereinander oder gegenüber der EU,56 aber etwa auch eine Anpassung des Textes zahlreicher materieller Garantien der EMRK an die Mitgliedschaft einer nichtstaatlichen supranationalen Organisation57 sowie zahlreiche weitere Einzelfragen. Grundsätzlich umstritten scheint aktuell vor allem noch die Frage, ob für Fälle, in denen im Rahmen einer Individualbeschwerde die Konventionswidrigkeit von Unionsrecht zu überprüfen ist, ohne dass im Zuge der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges zuvor der EuGH über die Grundrechtskonformität des maßgeblichen Unionsrechtsaktes hat entscheiden können, im Verfahren vor dem EGMR vor einer Entscheidung dieses Gerichtshofs eine Entscheidung des EuGH eingeholt werden sollte.58 Hinweise auf den aktuellen Stand der Diskussion innerhalb der EU gibt im übrigen insbesondere die Entschließung des Europäischen Parlaments zu den institutionellen Aspekten des Beitritts der EU zur EMRK, die auf der Grundlage eines ausführlichen Berichts des konstitutionellen Ausschusses59 am 19. Mai 2010 gefasst worden ist.60 In dieser Entschließung betont das Europäische Parlament
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Hans Christian Krüger / Jörg Polaciewicz, Vorschläge für ein kohärentes System des Menschenrechtsschutzes in Europa, EuGRZ 2001, 92 (102 mwN). Auch hierzu instruktiv Krüger / Polaciewicz, Vorschläge für ein kohärentes System des Menschenrechtsschutzes in Europa (Fn 55) 103 ff mwN; vgl auch Christoph Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in Cremer et al (Hg), FS Steinberger (2002) 1129 (1148 ff mwN). Anzupassen sind hier etwa Art 8 Abs 2, 10 Abs 1 Satz 2, 11 Abs 2 Satz 2, 12, 13, 15 Abs 1, 17, 27 Abs 2 u 3 Satz 2, 33, 36 Abs 1, 38 Abs 1 lit a, 41, 52, 56 Abs 1 u 4, 57 Abs 1 Satz 1, 59 Abs 1 Satz 1 EMRK sowie eventuell auch die Protokolle. Näher hierzu Council of the European Union, 10568/10, 2. June 2010, unter Hinweis auf die unterschiedlichen hierzu vertretenen Auffassungen. Berichterstatter Ramón Jáuregui Atondo, A/0144/2010. 2009/2241 (INI).
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zunächst, dass bei dem auszuhandelnden Beitrittsübereinkommen die bereits angesprochenen Vorgaben und Bedingungen des Unionsrechts und insbesondere des Art 6 Abs 2 EUV sowie des Protokolls Nr 8 zum Vertrag von Lissabon eingehalten werden müssen, dass also insbesondere die Autonomie der Unionsrechtsordnung und das grundsätzliche Rechtsprechungsmonopol des EuGH nicht in Frage gestellt werden dürfen, dass keine Erweiterung der Befugnisse der EU erfolgen und dass keine allgemeine Zuständigkeit der EU im Bereich der Menschenrechte begründet werden darf.61 Zu der umstrittenen Frage eines Beitritts der EU auch zu den Protokollen zur EMRK schlägt das Europäische Parlament vor, dass die EU allen Zusatzprotokollen beitreten soll, die Rechte betreffen, welche Rechten der Grundrechtecharta entsprechen, und zwar unabhängig von einer Ratifikation durch die Mitgliedstaaten der EU.62 Klärungsbedürftig ist weiter eine angemessene Einbeziehung der EU in die Organe und Institutionen der EMRK. Hierzu fordert das Europäische Parlament, dass die EU – wie bislang alle Konventionsstaaten der EMRK nach Art 22 EMRK – der Parlamentarischen Versammlung des Europarates eine Liste mit drei Kandidaten für einen für die EU zu wählenden Richter vorlegt. Bei der Wahl eines Richters aus dieser Liste soll eine noch festzulegende Anzahl von Vertretern des Europäischen Parlaments für die EU in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates stimmberechtigt mitwirken. Der für die EU gewählte Richter soll sich gleichberechtigt mit allen anderen Richtern an der Arbeit des EGMR beteiligen. Bei der Überwachung der Vollstreckung von Urteilen des EGMR schließlich soll die Europäische Kommission für die EU mit Stimmrecht an den Sitzungen des Ministerkomitees teilnehmen, ebenso bei der Entscheidung über die Einholung von Gutachten nach Art 47 EMRK.63 Im Bereich des Prozessrechts des EGMR hält das Europäische Parlament es für notwendig, dass sich Individualklagen grundsätzlich ausschließlich entweder gegen die EU oder gegen einen Mitgliedstaat richten, je nach dem, welches Organ die angegriffene Handlung oder Unterlassung vorgenommen hat und unabhängig
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Nr 2 der Entschließung. Nr 3 der Entschließung. Nr 7 der Entschließung.
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davon, ob in einem Individualbeschwerdeverfahren auch über die Konventionskonformität unionsrechtlicher Grundlagen nationaler Umsetzungsmaßnahmen zu entscheiden ist. Diesem Umstand soll durch ein Beteiligungsrecht der EU bzw der Mitgliedstaaten in entsprechenden Verfahren als Mitbeklagte Rechnung getragen werden. Zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes soll zusätzlich bei Unklarheit oder Zweifeln über den richtigen Klagegegner eine Individualklage auch gleichzeitig gegen die EU und einen Mitgliedstaat erhoben werden können. Das gelegentlich geforderte Vorabentscheidungsverfahren zwischen EGMR und EuGH oder eine andere Form der Formalisierung der judikativen Kooperation zwischen beiden Gerichtshöfen lehnt das Europäische Parlament grundsätzlich ab.64 Gleichzeitig plädiert es dafür, die Staatenbeschwerde nach Art 33 EMRK zwischen EU und Mitgliedstaaten im Geltungsbereich des Unionsrechts auszuschließen, da durch eine solche Staatenbeschwerde das Rechtsprechungsmonopol des EuGH nach Art 344 AEUV in Frage gestellt würde.65 Neben den angesprochenen Gesichtspunkten stellen sich zahlreiche weitere Einzelfragen, etwa die nach organisatorischer, administrativer und finanzieller Unabhängigkeit des EGMR vom Europarat und vom Generalsekretär des Europarates66 oder nach einer Mitwirkung der EU auch bei der Prüfung der Qualifikation und der Wahl der Richter der anderen Konventionsstaaten. Wie weit all diese Fragen konkret bereits in dem vom Rat festzulegenden Verhandlungsmandat beantwortet werden sollten oder wie weit ihre Beantwortung sinnvoll erst im Laufe der Verhandlungen zwischen EU und Europarat erfolgen sollte, kann durchaus unterschiedlich eingeschätzt werden. Für die weitere Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes im Sinne des Art 6 Abs 2 EUV wichtig und erforderlich ist jedenfalls, dass die EU die Beitrittsverhandlungen möglichst bald auf der Grundlage eines noch zu beschließenden Verhandlungsauftrages formal in Angriff nehmen kann. 5. Weiteres Beitrittsverfahren Auch wenn die Beitrittsverhandlungen zeitnah, mit gutem Willen 64 65 66
Nr 15 der Entschließung. Nr 8 der Entschließung. Engel, Konsequenzen eines Beitritts der Europäischen Union zur EMRK (Fn 52) 260.
Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes und Beitritt zur EMRK 141
und konstruktiven Ansätzen auf beiden Seiten in Angriff genommen und selbst wenn sie inhaltlich zügig und erfolgreich abgeschlossen werden, ist damit noch keineswegs gewährleistet, dass tatsächlich ein Beitritt der EU zur EMRK erfolgt. Das Beitrittsübereinkommen muss nämlich nicht nur von allen Konventionsstaaten der EMRK akzeptiert und ratifiziert werden. Auch und vor allem sieht der EUV für den EU-Beitritt zur EMRK ein Beitrittsverfahren vor, das ganz erhebliche Hürden für die tatsächliche Realisierung des EMRK-Beitritts der EU errichtet. Der Abschluss des Beitrittsvertrags hat grundsätzlich nach dem völkerrechtlichen Vertragsschlussverfahren des Art 218 AEUV zu erfolgen. Allerdings verlangt der AEUV für den Beitritt der EU zur EMRK – in Abweichung vom Verfassungsentwurf, nach dem lediglich die qualifizierte Mehrheit im Rat erforderlich war67 – einen einstimmigen Ratsbeschluss nach Zustimmung des Europäischen Parlaments,68 und dieser einstimmige Ratsbeschluss tritt erst in Kraft, nachdem die Mitgliedstaaten ihn im Einklang mit ihren nationalen Verfassungsbestimmungen ratifiziert haben. Diese doppelte Verschärfung der prozeduralen Beitrittsanforderungen – Einstimmigkeit statt qualifizierter Mehrheit und zusätzliches Ratifikationserfordernis – stellt ungeachtet des primärrechtlichen Beitrittsauftrags an die EU und die Mitgliedstaaten zumindest tatsächlich durchaus in Frage, ob jemals ein Beitritt der EU zur EMRK durchgeführt werden kann. Die Gefahr der innerunionalen Blockade einer Beitrittsentscheidung durch einzelne Mitgliedstaaten liegt auf der Hand. III. Bewertung der Implementierungsperspektiven Wie sind nun die Perspektiven der Implementierung und Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes der EU nach Lissabon zu bewerten? Das neue dreiteilige System europäischen Grundrechtsschutzes in der EU stärkt durch die verbindliche Grundrechtecharta die Sichtbarkeit der Grundrechtsbindung, der materiellen Wertorientierung und der rechtsstaatlichen Verfasstheit der EU, sichert durch die Fortgeltung der Grundrechte als allgemeine Grundsätze des 67 68
Vgl Art III-325 EVV. Vgl Art 218 Abs 6 UAbs 2 Buchst a ii) iVm Abs 8 UAbs 2 Satz 2 AEUV.
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Eckhard Pache
Unionsrechts den bisherigen Stand der europäischen Grundrechtsentwicklung und die Möglichkeit ihrer judikativen Fortentwicklung und eröffnet die unionsrechtliche Möglichkeit der direkten Bindung der EU an die EMRK und damit den Weg zu einer weitergehenden Harmonisierung und Parallelisierung der Grundrechtsordnungen in Europa. Die größten grundrechtlichen Herausforderungen der neuen Grundrechtsordnung dürften derzeit in einer primärrechtskonformen Bestimmung des Verhältnisses der ausformulierten Grundrechte der Grundrechtecharta zu den ungeschriebenen Grundrechten als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts, in der weiteren Harmonisierung dieser beiden Grundrechtsschichten der EU untereinander und mit den Garantien der EMRK sowie in der Gewährleistung eines weiterhin einheitlichen Grundrechtsstandards und Grundrechtsschutzes innerhalb der EU ungeachtet der in den Protokollen für Polen, das Vereinigte Königreich und Tschechien deutlich erkennbar gewordenen Vorbehalte verschiedener Mitgliedstaaten bestehen. Hinzu kommt die große Aufgabe der rechtlichen Vorbereitung und später auch der politischen Durchsetzung eines Beitritts der EU zur EMRK. Sollte auch diese Aufgabe ungeachtet aller prozeduralen und sicher auch europapolitischen Herausforderungen vor allem in den Mitgliedstaaten in absehbarer Zeit erfolgreich bewältigt werden können, so sind die Veränderungen der Grundrechtsordnung in der EU durch den Vertrag von Lissabon insgesamt als erheblicher Gewinn für den Grundrechtsschutz in Europa zu bewerten.
Hubert Isak
Die Anwendung der demokratischen Grundsätze unter besonderer Berücksichtigung der Europäischen Bürgerinitiative I. Einleitung II. Verankerung demokratischer Grundsätze im Lissabonner Vertrag und ihre Umsetzung A. Demokratie als zentraler Wert der Union B. Grundsatz demokratischer Gleichheit C. Grundsatz der repräsentativen Demokratie 1. Der Grundsatz 2. Demokratische Repräsentation der BürgerInnen a. Unmittelbar durch das Europäische Parlament b. Mittelbar im Europäischen Rat bzw im Rat, deren Mitglieder jeweils in demokratischer Weise gegenüber dem nationalen Parlament oder den BürgerInnen Rechenschaft ablegen müssen c. Besondere Verantwortung der politischen Parteien für die Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins D. Grundsatz der partizipativen Demokratie 1. Beteiligung der BürgerInnen in allen Bereichen des Handelns der Union 2. Die Europäische Bürgerinitiative (EBI) als direkt-demokratisches Element in der Unionsverfassung III. Umsetzung der EBI A. Ausgangslage B. Grünbuch zur Europäischen Bürgerinitiative C. Verordnungsvorschlag 1. Überblick
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T. Eilmansberger et al. (eds.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon © Springer-Verlag Wien 2011
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Hubert Isak
2. Einzelne Regelungen bzw damit zusammenhängende Fragen a. Gegenstand und Begriffsdefinitionen b. Mindestzahl der Mitgliedstaaten und Mindestzahl der Unterzeichner je Mitgliedstaat c. Anforderungen an Organisator und Unterzeichner d. Registrierung einer geplanten Bürgerinitiative e. Verfahren und Bedingungen für die Sammlung von Unterstützungsbekundungen f. Entscheidung über die Zulässigkeit einer registrierten EBI g. Überprüfung und Zertifizierung von Unterstützungsbekundungen durch die Mitgliedstaaten h. Vorlage der EBI bei der Kommission sowie Überprüfung der EBI durch die Kommission i. Sonstige Bestimmungen IV. Bewertung und Ausblick
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I. Einleitung Der europäische Integrationsprozess steht seit vielen Jahren in der Kritik mangelnder oder zumindest unzureichender Mitgestaltungsmöglichkeiten wie auch einer faktisch äußerst geringen Partizipation der BürgerInnen am politischen Prozess.1 Das Verhältnis der Union zu ihren BürgerInnen ist nach wie vor ein 1
Es ist eine glückliche Fügung, dass diese Tagung in Salzburg stattfindet, das über eine langjährige Tradition direkt-demokratischen Engagements verfügt und in dem auch besonders qualifizierte Förderer des Gedankens einer Europäischen Bürgerinitiative aktiv sind. Im Mai 2010 wurde hier ein „European Citizens’ Initiative Office“ gegründet, ein Verein nach österreichischem Recht. Das ECIO versteht sich als unabhängiger Think Tank, als Kompetenzzentrum, Dokumentationszentrum und als Informationsschub für BürgerInnen aus ganz Europa, die eine EBI planen sowie als konkretes Unterstützungszentrum für Initiativgruppen. Vgl Johannes W. Pichler / Bruno Kaufmann (eds), The European Citizens’ Initiative – into new democratic territory (2010) 121 f.
Anwendung der demokratischen Grundsätze
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schwieriges und zwar in beide Richtungen: Die BürgerInnen haben es schwer mit dem bürokratischen Element der Integration, auf der anderen Seite gelingt es der Union und ihren Institutionen und Proponenten nach wie vor nicht, die Leistungen der Union glaubhaft und nachhaltig zu kommunizieren und damit das Interesse der BürgerInnen an „ihrer“ Union zu wecken.2 Nicht wenige BürgerInnen, insbesondere auch in Österreich, sehen den Integrationsprozess als einen Prozess der Eliten, der zwar zu massiven Eingriffen in ihre berufliche und private Welt führt, aber ihnen nicht adäquate Teilhabe ermöglicht.3 Dies ist umso paradoxer, als es gerade ein zentrales Anliegen des Vertrags von Lissabon gewesen ist, das demokratische Element der Verfassung der Europäischen Union zu stärken, in gewissem Sinne „mehr Demokratie zu wagen“. Schon in einem der beiden Präambularparagrafen des Vertrags von Lissabon (VvL) wird darauf hingewiesen, dass es Zweck dieses Vertrags unter anderem ist, „den mit dem Vertrag von Amsterdam und dem Vertrag von Nizza eingeleiteten Prozess, mit dem die Effizienz und die demokratische Legitimität der Union erhöht und die Kohärenz ihres Handelns verbessert werden sollen, abzuschließen“. Auch in der Präambel des Vertrages über die Europäische Union (EUV) wird nicht weniger als dreimal auf die Demokratie Bezug genommen: Zum Einen wird auf das Erbe Europas verwiesen, aus dem sich unter anderem Demokratie als universeller Wert entwickelt hat; es wird ferner bestätigt, dass sich die Union zum Grundsatz der Demokratie bekennt4 und schließlich wird auch an den Wunsch erinnert, mit diesem Vertrag die Demokratie und Effizienz der Arbeit der Organe zu stärken. Im EU-Vertrag selbst hat Demokratie ihre Verankerung als einer der Grundwerte der Union in Art 2 EUV gefunden und ganz 2
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Hubert Isak, Die Europäische Union und ihre BürgerInnen – eine schwierige Beziehung, in Hösele (Hg), Die EU und wir. Skepsis – Erwartung – Mitgestaltung, Gesellschaft und Politik 1 (2009) 9 ff. Vgl dazu die Fundamentalkritik durch Max Haller, European Integration as an Elite Process. The Fail of a Dream? (2008), der va eine seiner Meinung nach immerzu wachsende mächtige supranationale Bürokratie als Hauptproblem sieht (152 ff). Zur sukzessiven Verankerung des Demokratieprinzips in der Union siehe auch Walter Obwexer / Julia Villotti, Die Europäische Bürgerinitiative. Grundlagen, Bedingungen und Verfahren (Manuskript; erscheinend) 1 ff mwN.
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Hubert Isak
besonders in dem von mir in weiterer Folge näher zu behandelnden Titel II, der die Überschrift „Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze“ trägt. Darüber hinaus stellt Demokratie durch Einbeziehung in die allgemeinen Bestimmungen des Art 21 Abs 1 EUV, demzufolge die Grundsätze, die für die Entstehung und Entwicklung der Erweiterung der Union maßgebend waren, auch das auswärtige Handeln leiten sollen, nunmehr einen das auswärtige Handeln der Union determinierenden Wert dar, wobei die Förderung von dessen weltweiter Geltung ein Ziel des auswärtigen Handelns der Union ist.5 Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) nimmt, soweit ersichtlich, an zwei Stellen explizit Bezug auf demokratische Elemente: Zunächst in Art 165 Abs 2 5. Spiegelstrich, wonach die verstärkte Beteiligung der Jugendlichen am demokratischen Leben in Europa ein Ziel ihrer Bildungspolitik ist. Gemäß der Solidaritätsklausel (Art 222 AEUV) hat die Union ferner alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einschließlich der von den Mitgliedstaaten bereit gestellten militärischen Mittel zu mobilisieren, um ua die demokratischen Institutionen und die Zivilbevölkerung vor etwaigen Terroranschlägen zu schützen (Art 222 Abs 1 lit a 2. Spiegelstrich AEUV). Dessen ungeachtet gehört das sog Demokratiedefizit der Europäischen Union zu den scheinbar nach wie vor unverzichtbaren Topoi der europapolitischen Diskussion.6 Gewiss ist es, gemessen an klassischen Grundsätzen der Demokratie, insbesondere dem Erfordernis der Gleichheit der Wahl problematisch, dass große Mitgliedstaaten in den parlamentarischen Vertretungsorganen unterrepräsentiert sind, wenn etwa für einen Sitz im EP in Luxemburg 67.000 Stimmen, in Österreich 450.000, in Deutschland aber 830.000 Stimmen erforderlich sind. Auf der anderen Seite muss man daran erinnern, dass selbst die in diesem Punkt überaus sensible deutsche Verfassungslehre und -dogmatik für diesen Zustand eine Rechtfertigung akzeptiert hat. Die Tatsache, dass 5
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ME kommt dieser Zielsetzung durch die nunmehrige Verknüpfung mit dem Werte-Artikel größeres Gewicht zu als aufgrund des seinerzeitigen Art 11 EUV. Für eine kurze Übersicht zur Debatte und ihren Spezifika vgl Andrea Kirsch, Demokratie und Legitimation in der Europäischen Union (2008) 37 ff; Klemens H. Fischer, Die Legitimation von supranationalen Organisationen, ZÖR 62 (2007) 323 (insb 339 ff).
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durch den EU-Vertrag der vom Grundgesetz garantierte Grundsatz der Gleichheit der Wahl ja sogar ausdrücklich ausgeschlossen ist (vgl Art 14 Abs 2 Satz 3 und 4 EUV), hat zur Konsequenz, dass aus deutscher Sicht zwar für die Übertragung von Legislativkompetenzen Grenzen bestehen, aber die degressiv-proportionale Sitzverteilung als solche angesichts der Besonderheiten der Union als Integrationsgemeinschaft und der Legitimation ihrer Rechtsetzung auch über den Rat (insbesondere angesichts der nunmehr verstärkten Berücksichtigung des demografischen Faktors durch das neue System der doppelqualifizierten Mehrheit im Rat) „akzeptabel“7 ist. Es geht weniger um die Frage, ob ein solches Demokratiedefizit besteht, wobei die Antwort davon abhängt, welchen Maßstab man anlegt; es geht vielmehr darum, wie man unter Berücksichtigung der internationalen Organisationsstruktur der Union das demokratische Element an sich stärken kann. Insoweit hat das BVerfG in seiner Entscheidung vom 30. Juni 2009 dieses der Union zugrunde liegende Strukturproblem richtig dargestellt: Während einerseits die politische Gestaltungsmacht der Union fast schon „staatsanalog“ entwickelt sei, seien die internen Entscheidungs- und Ernennungsverfahren nach wie vor überwiegend völkerrechtsanalog ausgestaltet, eben dem Muster einer internationalen Organisation entsprechend.8 Angesichts der unterschiedlichen Zugänge zu dieser Fragestellung kann es nicht überraschen, dass der Befund zur aktuellen demokratiepolitischen Lage der Union höchst unterschiedlich ausfallen kann. Vertreten die einen die Auffassung, dass „[N]icht die demokratische Ordnung, sondern das demokratische Defizit bis auf weiteres konstitutiv für die Gemeinschaft (bleibt)“9, so meinen andere, dass „das Demokratiedefizit der Union schwächer als das mancher ihrer Mitgliedstaaten (erscheint)“.10 Weniger spektakulär, aber gewiss zutreffend, hat Piepenschneider die Situation charakterisiert: Union und Bürger tragen gemeinsam eine gegenseitige Verantwortung für die europäische Einigung, auch wenn nicht zu bestreiten ist, dass die Integration in den ersten 7 8 9 10
Rudolf Streinz, Europarecht8 (2008) Rn 355. BVerfG, 2 BvE vom 30.6.2009, Rn 288. Adam Konrad, Die Herrschaft der Experten. Europa funktioniert auch ohne Bürger, Merkur Heft 704 (2008) 44. Jean-Paul Jacqué, Der Vertrag von Lissabon – neues Gleichgewicht oder institutionelles Sammelsurium?, Integration 2010, 103 (112).
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Hubert Isak
Jahrzehnten primär ein Projekt von Eliten gewesen ist.11 Wenn man nun davon ausgeht, dass strukturbedingt eine vollkommene Beseitigung des solcherart beschriebenen Demokratiedefizits faktisch ausgeschlossen ist, bieten sich im Wesentlichen drei Wege zu seiner Reduktion an: die Stärkung der demokratischen Rechte des Europäischen Parlaments (repräsentative Demokratie), eine stärkere Einbindung der Zivilgesellschaft einschließlich der Einführung direkt-demokratischer Instrumente (partizipative Demokratie) und eine stärkere Rolle für die nationalen Parlamente im Integrationsprozess. In meinen weiteren Ausführungen werde ich mich hauptsächlich auf die ersten beiden Aspekte beschränken, da der dritte Aspekt ausführlich in den Beiträgen von Griller12 und Nettesheim13 behandelt wird. II. Verankerung demokratischer Grundsätze im Lissabonner Vertrag und ihre Umsetzung A. Demokratie als zentraler Wert der Union Der schon vor dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags in Art 6 EUV (Nizza) verankerte Grundsatz der Demokratie14 gehört zu den zentralen Werten dieser Integrationsgemeinschaft. Obwohl auch der Unionsvertrag hinsichtlich dieses Grundsatzes auf seine Ausformung im staatlichen Bereich verweist, dürfte unbestritten sein, dass die inhaltlichen Anforderungen an die demokratische Legitimation der Union wohl nach einem unionsspezifischen Demokratiebegriff zu bestimmen sein werden.15 Da sich, dem Wortlaut auch des Art 2 11 12 13 14
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Melanie Piepenschneider, Die EU nach Lissabon – Bürgerfreundlich, bürgertauglich?, Integration 2009, 153. Siehe dazu Stefan Griller nachstehend auf S 441. Siehe dazu Martin Nettesheim nachstehend auf S 467. Vgl dazu Stefan Dettke, Voranschreitende Demokratisierung der Europäischen Union: Erfüllung des Demokratiegebotes aus Artikel 6 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union durch das Europäische Parlament im Mehrebenen-System der Europäischen Union? (2010) 36 ff. Vgl dazu Christian Calliess, Art I-2 EVV, in Calliess / Ruffert (Hg), Verfassung der Europäischen Union. Kommentar der Grundlagenbestimmungen (2006) Rn 25. Zu Recht verweist Calliess darauf, dass sich ein mitgliedstaatlicher Demokratiebegriff schon allein deshalb verbiete, weil auch zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten
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EUV folgend, die Union unter anderem auf den Wert der Demokratie gründet und dieser den Mitgliedstaaten gemeinsam ist, wirkt das Demokratiegebot sowohl im Verhältnis zwischen der Union und den Mitgliedstaaten als auch horizontal zwischen den Mitgliedstaaten selbst. Im herkömmlichen Sinn umfasst der Demokratiebegriff, wie er insbesondere auch in Art 3 1. Zusatzprotokoll zur EMRK verankert ist, ua folgende Elemente: Die Abhaltung freier und geheimer Wahlen in angemessenen Zeitabständen, um solcherart dem Volk die freie Meinungsäußerung bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften zu gewährleisten; weiters politische Pluralität und die Ermöglichung eines Machtwechsels im System. Zum Kernbereich des Demokratiebegriffs in den Mitgliedstaaten gehören neben dem Recht auf Meinungsfreiheit und freie Wahlen mit einer Mehrheit von Parteien aber auch das Selbstbestimmungsrecht und der Minderheitenschutz.16 Zentrales Merkmal des für die Union in Art 10 EUV verankerten Demokratiekonzepts ist, dass es auf zwei einander ergänzenden Legitimationssträngen beruht, nämlich über das EP einerseits und über die nationalen Parlamente, denen gegenüber die mitgliedstaatlichen Vertreter im Rat und im Europäischen Rat verantwortlich sind, andererseits.17 Anders als noch im Verfassungsvertrag fehlt allerdings im reformierten Unionsvertrag ein expliziter Hinweis auf die unmittelbare Legitimation durch den Bürger selbst.18 Titel II EUV enthält die Bestimmungen über die drei Elemente des Demokratiekonzepts, wie es nunmehr für die Union verankert ist: die Bestimmungen über demokratische Gleichheit (Art 9 EUV), über die repräsentative (Art 10 EUV) und über die partizipative Demokratie (Art 11 EUV). Ergänzt wird die Regelung der demokratischen Grundsätze auf Unionsebene durch die explizite
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hinsichtlich seiner konkreten Ausprägung durchaus erhebliche Unterschiede bestünden. Vgl Calliess, Art I-2 EVV (Fn 15) Rn 26. Calliess, Art I-2 EVV (Fn 15) Rn 27. Vgl den Wortlaut des Art I-1 Abs 1 Satz 1 EVV, der aber insoweit wohl eher symbolhaften Charakter hatte: „Geleitet von dem Willen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten, ....“
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Fixierung von Rechten und Aufgaben der nationalen Parlamente in Art 12 EUV.19 B. Grundsatz demokratischer Gleichheit Gemäß Art 9 EUV achtet die Union „in ihrem gesamten Handeln den Grundsatz der Gleichheit ihrer Bürgerinnen und Bürger, denen ein gleiches Maß an Aufmerksamkeit seitens der Organe, Einrichtungen und Stellen der Union zuteil wird“.20 Diese (neue) Festlegung wird, zunächst überraschend, in Satz 2 mit der Unionsbürgerschaft verknüpft, hat aber ihre innere Logik, indem sie den Konnex zwischen demokratischer Gleichheit und Unionsbürgerschaft, wie er sich in der Judikatur des EuGH zur Unionsbürgerschaft entwickelt hat, auch im Vertrag zum Ausdruck bringt.21 Der Gerichtshof versteht ja in ständiger Rechtsprechung die Unionsbürgerschaft mittlerweile als jenen Status des Unionsbürgers, der ihm einen Anspruch auf rechtliche Gleichbehandlung verleiht.22 Art 9 Satz 1 EUV stellt eine Ausformung des allgemeinen Gleichheitssatzes dar, wie er in Art 2 EUV verankert ist und meint damit die gleiche Repräsentation der Bürgerinnen und Bürger.23 Im Kern handelt es sich um ein Bürgerrecht, das seinen richtigen Platz 19
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Zur insb in Großbritannien geführten Debatte darüber, ob denn ein souveränes nationales Parlament überhaupt in dieser Weise in Pflicht genommen werden könne, vgl Isak, Die Europäische Union und ihre BürgerInnen (Fn 2) 174 mwN. Dieser Zusatz, dessen praktische Bedeutung nicht unmittelbar erkennbar ist, wird von manchen Kommentatoren durchaus kritisch gesehen, weil darin ein „paternalistischer Unterton“ zum Ausdruck komme, der dem Gedanken der Stärkung des Demokratieprinzips zuwider laufe: Matthias Ruffert, Art I-45 EVV, in Calliess / Ruffert (Hg), Verfassung der Europäischen Union. Kommentar der Grundlagenbestimmungen (2006) Rn 7. ME ergibt sich diese Verpflichtung ohnedies bereits aus dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz. Zum Zusammenhang von Unionsbürgerschaft, Legitimation und Demokratie vgl Melanie Wiener, Bürger und Union. Die Unionsbürgerrichtlinie in Österreich (2009) 150 ff. Dazu näher Walter Obwexer, Aufbau, Systematik, Struktur und tragende Grundsätze des Vertrages von Lissabon, in Hummer / Obwexer (Hg), Der Vertrag von Lissabon (2009) 95 (110). Die aber, wie bereits ausgeführt, in der Union nicht gegeben ist.
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wohl eher in der Grundrechte-Charta hätte. Der Grundsatz demokratischer Gleichheit ist als solcher nicht unmittelbar anwendbar, gewährt auch keine subjektiven Rechte und ist auch nicht justiziabel. Er bedarf somit der Konkretisierung in speziellen Vorschriften der Verträge, insbesondere den Gleichheitsrechten in der Grundrechte-Charta, wobei allerdings der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit als Kern der demokratischen Gleichheit aller Stimmberechtigten nach wie vor nicht verankert ist.24 C. Grundsatz der repräsentativen Demokratie 1. Grundsatz Gemäß Art 10 Abs 1 EUV beruht die Arbeitsweise der Union auf der repräsentativen Demokratie. Dies wird in Art 10 Abs 2 EUV dahingehend spezifiziert, dass einerseits die Bürgerinnen und Bürger auf Unionsebene unmittelbar im EP vertreten sind und andererseits die Union ihre demokratische Legitimation auch daraus bezieht, dass die Vertreter der Mitgliedstaaten im Europäischen Rat (Staats- und Regierungschefs) bzw im Rat (Mitglieder der Regierungen) ihrerseits ebenfalls in demokratischer Weise gegenüber ihrem nationalen Parlament oder ihren Bürgerinnen und Bürgern verantwortlich sind (Art 10 Abs 2 UAbs 1 und 2 EUV). Art 10 Abs 3 EUV, der das Recht der Bürger festhält, am demokratischen Leben der Union teilzunehmen, schlägt die Brücke zu Art 11 EUV und seinen Bestimmungen zu den partizipativdemokratischen Elementen der Union. Die in derselben Bestimmung verankerte Feststellung, dass die Entscheidungen der Union so offen und bürgernah wie möglich getroffen werden, entspricht Art 1 Abs 2 EUV und war in dieser Form auch schon in der Vertragslage vor Lissabon gegeben. Auf der politischen Ebene wird den politischen Parteien in Art 10 Abs 4 EUV eine besondere Rolle zugestanden, da sie zur Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union beitragen sollen. Wohl zu Recht wurde in der dem jetzigen Art 10 Abs 2 EUV entsprechenden Bestimmung des Verfassungsvertrags25 „die vielleicht gelungenste Norm“ in der Unionsverfassung gesehen, weil sie die Besonder24
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Vgl dazu Hans-Peter Folz, Art I-45 EVV, in Vedder / Heintschel von Heinegg (Hg), Europäischer Verfassungsvertrag. Handkommentar (2007) Rn 2. Art I-46 Abs 2 EVV.
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heiten der politischen Herrschaft im Mehrebenensystem der Union berücksichtige und die duale Legitimation der Union über Bürgerinnen und Bürger einerseits (unmittelbar vertreten im EP) und die Staaten andererseits zum Ausdruck bringe.26 2. Demokratische Repräsentation der BürgerInnen a. Unmittelbar durch das Europäische Parlament Mit Art 10 Abs 2 EUV, der „Schlüsselnorm“ der Verfassung bzw des Unionsvertrags, da die demokratische Legitimation der supranationalen Herrschaft das Kernproblem der rechtlichen Konstruktion der Integration darstellt,27 wird für die Union erstmals ein demokratiepolitisches Konzept niedergelegt. Die Anerkennung der zentralen Stellung des EP für die demokratische Legitimation der Europäischen Union hat in der deutlichen Aufwertung und Ausweitung seiner Rechte durch den Lissabonner Vertrag Ausdruck gefunden.28 Es sei nur auf die Etablierung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens als zentrales Verfahren der Rechtsetzung mit gleichberechtigter Beteiligung des EP, die Aufwertung des EP im Haushaltsverfahren29 und die Ausweitung seiner Rechte im Außenverhältnis beim Abschluss völkerrechtlicher Übereinkommen durch die Union hingewiesen. Dazu kommt die Wahl des Präsidenten der Kommission durch eine Mehrheit der Mitglieder des EP auf Vorschlag des Europäischen Rates, der dabei das Ergebnis der Wahlen zum EP zu berücksichtigen hat (Art 14 Abs 1, 26 27 28
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Ruffert, Art I-46 EVV (Fn 20) Rn 3. Ruffert, Art I-46 EVV (Fn 20) Rn 1. Hinsichtlich der Umsetzung dieser Rechte durch das EP kann auf den Beitrag von Evelyn Waldherr, nachstehend auf S 231, verwiesen werden. Vgl auch Beschluss des EP vom 25.11.2009 zu der Anpassung der Geschäftsordnung des Parlaments an den Vertrag von Lissabon, P7_TA(2009)0088. Im Haushaltsverfahren hat das EP nunmehr tatsächlich das letzte Wort, nämlich dann, wenn der Rat den Haushaltsvorschlag ablehnt, über den im Vermittlungsausschuss Einigung erzielt wurde. Es sei aber, so Jacqué, Der Vertrag von Lissabon (Fn 10), sehr unwahrscheinlich, dass dieser Fall je einträte, denn die Ratsmitglieder müssten ja ihre eigene Entscheidung im Ausschuss revidieren. Bei diesem Recht des EP handle es sich wohl eher um „ein symbolisches Zugeständnis ohne wirkliche Tragweite“ (112). Das ist auch die Meinung von Jean-Claude Piris, The Lisbon Treaty. A Legal and Political Analysis (2010) 299.
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Art 17 Abs 7 EUV). Das Parlament erhält erstmals ein Initiativrecht bei künftigen Vertragsänderungen (Art 48 Abs 2 und 6 EUV) und wirkt in dem im Rahmen des ordentlichen Änderungsverfahrens einzuberufenden Konvent30 mit (Art 48 Abs 3 EUV). Eine wichtige Manifestation einer gestärkten repräsentativen Demokratie in der Union stellt auch die primärrechtliche Verankerung der Öffentlichkeit der Debatten im Rat über Entwürfe zu Gesetzgebungsakten dar (Art 16 Abs 8 EUV). Umstritten hingegen ist das „informelle Initiativrecht“,31 das sich das EP im Zuge der Bestellung der Kommission Barroso II erstritten hatte. Am Tag vor der Zustimmung (die am 10. Februar 2010 erteilt wurde), hat das EP nach informellen Gesprächen mit Barroso eine Entschließung angenommen, mit der die aktuelle Rahmenvereinbarung32 zwischen EP und Kommission substantiell zugunsten des EP verändert würde.33 Gemäß Nr 3 lit c der Entschließung fordert das Parlament nunmehr für die revidierte Rahmenvereinbarung die Aufnahme einer Zusage der Kommission, binnen drei Monaten nach der Annahme eines legislativen Initiativberichtes gem Art 225 AEUV über die konkrete Weiterbehandlung der Aufforderungen zur Vorlage von Gesetzgebungsinitiativen zu berichten; spätestens nach einem Jahr müsse die Kommission einen Gesetzesvorschlag vorlegen oder den Vorschlag in das jährliche Arbeitsprogramm des Folgejahres
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Vgl zur Bedeutung des Konvents für die demokratiepolitische Legitimation der EU Hubert Isak, Kann die demokratische Legitimation der Europäischen Union auch durch ein verbessertes Vertragsänderungsverfahren gestärkt werden?, in Mantl / Rieckmann / Schweitzer (Hg), Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union (2005) 13 ff. Ein formelles Initiativrecht zur Gesetzgebung, wie es für Parlamente charakteristisch ist, fehlt dem EP nach wie vor. Die einschlägige Passage der Nr 14 UAbs 3 der derzeit geltenden ANLAGE XIV zur GO-EP, 7. Wahlperiode, Dezember 2009, lautet: „Die Kommission wird allen Aufforderungen des Parlaments, gemäß Artikel 192 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Gesetzgebungsvorschläge zu unterbreiten, Rechnung tragen und auf jede derartige Aufforderung eine umgehende und ausreichend detaillierte Antwort geben.“ Vgl Entschließung des EP vom 9.2.2010 zu einer revidierten Rahmenvereinbarung zwischen dem EP und der Kommission für die nächste Wahlperiode, P7-TA (2010)0009 vom 9.2.2010.
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aufnehmen. Legt die Kommission keinen Vorschlag vor, so hat sie gegenüber dem EP die Gründe dafür im Einzelnen zu erläutern. Nach allgemeiner Einschätzung würde es bei vollständiger Umsetzung dieser Forderung in der neuen Rahmenvereinbarung dem Parlament gelingen, auf Umwegen doch zu einem Initiativrecht zu gelangen, weil damit der Kommission ein „Aussitzen“ solcher Initiativen nicht mehr möglich sei. Nach dem schon bisher (Art 192 EGV) geltenden „Initiativaufforderungsrecht“ besaß das EP keine Handhabe, die Behandlung einer solchen Aufforderung durch die Kommission wirklich zu erzwingen. Art 225 AEUV verstärkt dieses indirekte Initiativrecht durch die Verpflichtung der Kommission, dem Parlament die Gründe mitzuteilen, wenn sie keinen Vorschlag vorlegt. Die zukünftige Bestimmung der Rahmenvereinbarung, so wie sie zwischen dem Parlament und der Kommission vereinbart wurde, verpflichtet die Kommission, dem Parlament über die konkreten Maßnahmen zu berichten, die sie nach der Aufforderung des Parlaments getroffen hat. Mit den vom Parlament gewünschten Rahmenvereinbarungsbestimmungen wäre diese Verpflichtung der Kommission aber erheblich spezifiziert sowie auch inhaltlich konkretisiert und weiterentwickelt. Die Verschärfung würde insbesondere darin bestehen, dass die Kommission binnen einer vergleichsweise kurzen Frist von drei Monaten nach Annahme des Legislativberichts des Parlaments über dessen konkrete Weiterbehandlung berichten und spätestens innerhalb eines Jahres einen entsprechenden Gesetzesvorschlag vorlegen muss. Wenn sie das nicht tut, muss sie dem Parlament eine detaillierte Begründung hierfür geben. Die Einschätzung dieser Entwicklung ist einmal mehr unterschiedlich: Sehen die einen darin einen „wichtigen Stein im Mosaik der Politik der Demokratisierung und der Bürgernähe der Union“,34 so vertreten andere die Auffassung, das EP gehe mit dieser Forderung über den Vertragstext hinaus und sei im Begriff, das wichtigste Vorrecht der Kommission auszuhöhlen. Diese Initiative des EP füge sich in eine Reihe weiterer massiver Versuche des EP, das institutionelle Gleichgewicht zu seinen Gunsten und zulasten der anderen Organe zu verschieben. Auch der Juristische Dienst des
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Manfred A. Dauses, Europaparlament erkämpft Stärkung seines Initiativaufforderungsrechts, EuZW 2010, 241.
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Rates hat in einem Gutachten35 in diesem Vorstoß eine unzulässige Einschränkung der Rechte der Kommission gesehen. Es darf auch nicht übersehen werden, dass das EP mit der Androhung eines Misstrauensvotums oder einfach durch eine Blockade von Budgetmitteln oder die Verweigerung der Entlastung seinem Anliegen Nachdruck verschaffen kann. Der der Kommission auferlegte Zeitdruck könnte auch dazu führen, dass sie zB nicht die für erforderlich erachteten Anhörungen durchführen kann, was wiederum eine Verletzung des Art 11 EUV darstellen könnte. Die österreichische Interessenlage in dieser Frage ist dadurch bestimmt, dass angesichts der vergleichsweise geringen und tendenziell abnehmenden Zahl an Mitgliedern des EP, von denen überdies ein relativ hoher Anteil fraktionslos und damit faktisch ohne jeden Einfluss ist, eine Aufrechterhaltung der spezifischen Stellung der Kommission, wo zumindest formal die Einflussmöglichkeit größer ist, bevorzugt wird. b. Mittelbar im Europäischen Rat bzw im Rat, deren Mitglieder jeweils in demokratischer Weise gegenüber dem nationalen Parlament oder den BürgerInnen Rechenschaft ablegen müssen In diesem Zusammenhang stellt sich insbesondere die Frage nach der Relevanz der neuen Regel zur qualifizierten Mehrheit für die demokratische Legitimation der EU als Folge der stärkeren Berücksichtigung der Bevölkerungszahl der die qualifizierte Mehrheit bildenden Mitgliedstaaten. Nach wohl zutreffender Einschätzung dürfte die neue Mehrheitsregel angesichts der Rahmenbedingungen überhaupt nur begrenzte praktische Bedeutung haben.36 Dieser Mechanismus wird grundsätzlich erst ab November 2014 bzw ausschließlich ab April 2017 zur Anwendung kommen. Der reaktivierte und modifizierte Ioannina-Mechnismus, der ebenfalls tendenziell zugunsten der (geringeren) Bevölkerungszahl wirkt, kommt nur zum Tragen, wenn der Vertrag keine Fristen vorsieht, weshalb seine Anwendung zB im Haushaltsverfahren und nach der ersten Lesung im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ausgeschlossen ist. Außerdem kann eine Mehrheit der Mitglieder des Rates aufgrund des Art 11 Abs 1 UAbs 2 GO Rat 2009 eine Abstimmung erzwingen und so die Blockade durchbrechen. 35 36
Dok 7149/10 vom, 4.3.2010. Zum Folgenden vgl insb Jacqué, Der Vertrag von Lissabon (Fn 10) 113 f.
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Überhaupt sei, so Jacqué, das angebliche Konfliktpotenzial zwischen großen und kleinen Mitgliedstaaten eine „Illusion“ und entspreche nicht der Abstimmungswirklichkeit: Die Positionen der Mitgliedstaaten seien Ausdruck ihrer (ökonomischen, kulturellen, ökologischen, sozialen) Interessen und die Demografie spiele idR dabei keine große Rolle, weshalb letzten Endes die Bezugnahme auf Bevölkerung mehr von symbolischer Bedeutung sei. Im Übrigen habe sich das System „Nizza“ auch nach der großen Erweiterung nicht als spezielles Hindernis für die Beschlussfassung erwiesen, weil der Rat trotz Möglichkeit der Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit zumeist ohnedies einstimmig entscheide und ein Mitgliedstaat, der allein diese Mehrheit nicht verhindern kann, sich eher „arrangieren“ werde; es dominiere also die Logik der Solidarität statt der Konfrontation im Rat. In der Praxis dürfte auch die als zusätzlicher Schutz gegen den Einfluss der Großen gedachte Festlegung, dass mindestens vier Staaten für die Sperrminorität erforderlich sind, ohne Bedeutung bleiben, da es den drei großen Mitgliedstaaten nicht schwer fallen dürfte, mindestens einen vierten Staat zu finden, der sich ihnen anschließt.37 c. Besondere Verantwortung der politischen Parteien für die Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins Die besondere Verantwortung der politischen Parteien (Art 10 Abs 4 EUV) war schon bisher im Vertrag vorgesehen (Art 191 Abs 1 EGV). Die Neuerung besteht darin, dass die politischen Parteien zur Entwicklung eines europäischen politischen Bewusstseins beitragen sollen. Da das europäische politische System weitgehend auf der Praxis der Parteiendemokratie fußt, kommt den politischen Parteien als Mittler zwischen der politischen Herrschaft und der gesellschaftlichen Selbstorganisation eine wesentliche Rolle zu.38 Sekundärrechtlich sind die politischen Parteien durch die Verordnung (EG) Nr 2004/200339 geregelt. Unter einer politischen 37 38
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Jacqué, Der Vertrag von Lissabon (Fn 10) 114. Ruffert, Art I-46 EVV (Fn 20) Rn 8. Zur Rolle der politischen Parteien in der Demokratie der Union siehe auch Brendan Donelly / Matthias Jopp, European Political Parties and Democracy in the EU, in Bonvicini (ed), Democracy in the EU and the role of the European Parliament, IAI Quaderni English Series 14 (2009) 23 ff. Verordnung (EG) Nr 2004/2003 des EP und des Rates vom 4.11.2003 über die Regelungen für die politischen Parteien auf
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Partei im Sinne dieser Verordnung wird eine Vereinigung von Bürgern verstanden, die politische Ziele verfolgt und die nach der Rechtsordnung mindestens eines Mitgliedstaats anerkannt ist oder in Übereinstimmung mit dieser Rechtsordnung gegründet wurde (Art 2 Nr 1). Gemäß Art 3 der Verordnung muss eine politische Partei auf europäischer Ebene folgende Voraussetzungen erfüllen: Sie besitzt in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, Rechtspersönlichkeit; sie ist in mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten durch Mitglieder des EP oder in den nationalen oder regionalen Parlamenten oder Regionalversammlungen vertreten oder sie hat in mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten bei der letzten Wahl zum EP mindestens drei Prozent der abgegebenen Stimmen in jedem dieser Mitgliedstaaten erreicht. Ferner hat sie in ihrem Programm und ihrer Tätigkeit die Grundsätze, auf denen die Europäische Union beruht, zu beachten; sie hat an den Wahlen zum EP teilgenommen oder die Absicht bekundet, dies zu tun. Eine politische Partei auf europäischer Ebene iSd Art 10 Abs 4 EUV ist eine politische Partei oder ein Bündnis politischer Parteien, die die Voraussetzungen des Art 3 der Verordnung erfüllt. D. Grundsatz der partizipativen Demokratie Mit Art 11 EUV, zu dem Art 10 Abs 3 EUV mit dem dort verankerten generellen Recht auf Teilhabe des Bürgers am demokratischen Leben der Union und deren Verpflichtung auf offene und bürgernahe Entscheidungsfindung ausdrücklich die Brücke schlägt, werden alternative Demokratiekonzepte in den primärrechtlichen Grundlagen der Union verankert. Art 11 EUV spiegelt Elemente der partizipativen (Abs 1), assoziativen (Abs 2) und deliberativen Demokratie wider.40 Dieses Demokratieverständnis steht in einem engen Zusammenhang mit dem Konzept der „governance“, worunter allgemein die Aufgabenbewältigung durch Staaten (oder eine internationale Organisation) durch Einbeziehung auch privater Akteure verstanden wird.41 Die Kommission hatte sich schon in ihrem Weißbuch zum „Europäischen Regieren“ 200142 ein Verständnis von „governance“ zu eigen gemacht, „das für die
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europäischer Ebene und ihre Finanzierung, ABl 2003 L 297/1 idF ABl 2007 L 343/5. Vgl Ruffert, Art I-47 EVV (Fn 20) Rn 2 ff mwN. Vgl Ruffert, Art I-47 EVV (Fn 20) Rn 1. KOM(2001) 428 endg vom 25.7.2001.
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Regeln, Verfahren und Verhaltensweisen (steht), die die Art und Weise, wie auf europäischer Ebene Befugnisse ausgeübt werden, kennzeichnen, und zwar insbesondere in Bezug auf Offenheit, Partizipation, Verantwortlichkeit, Wirksamkeit und Kohärenz.“43 Organisierte Repräsentanten der Zivilgesellschaft sollten in Konsultationsprozesse, Koregulierungsverfahren und auch in Selbstverpflichtungsvereinbarungen eingebunden werden. Art 11 EUV hat eine über die repräsentative Demokratie hinausgehende Form demokratischer Meinungsäußerungen44 vor Augen, die in einer sehr unbestimmten Form Elemente direkter Bürgerbeteiligung enthält, wie sie bisher im Primärrecht nicht vorgesehen waren.45 Eine allgemein anerkannte Definition von „partizipativer Demokratie“ im europäischen Kontext gibt es nicht. Man könnte aber sagen, partizipative Demokratie versucht die Beteiligung möglichst vieler an möglichst vielen Bereichen des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens zu erreichen.46 Konsens dürfte auch darüber bestehen, dass die partizipative Demokratie die repräsentative Demokratie ergänzt, nicht aber ersetzt.47 Partizipative Demokratie trägt zu erhöhter Legitimität staatlicher oder hoheitlicher Entscheidungen bei. Das Ziel wird nicht nur durch Mitwirkung von Bürgern an politischen Entscheidungsprozessen im Sinne einer direkten Demokratie erreicht, sondern vor allem durch deren Teilhabe an der Entwicklung der Entscheidung einerseits und deren Umsetzung andererseits. Dies kann insbesondere durch den Ausbau einer aktiven und organisierten Zivilgesellschaft erfolgen. Neu ist also nicht die Beteiligung von (insbesondere wirtschaftlichen) 43 44 45 46
47
KOM(2001) 428 endg vom 25.7.2001, 10 und 13. Obwexer, Aufbau, Systematik, Struktur und tragende Grundsätze (Fn 22) 110f. Folz, Art I-47 EUV (Fn 24) Rn 1 f. Mit Partizipation im Allgemeinen ist die Mitsprache, Mitentscheidung und Mitgestaltung an Planungsund Entscheidungsprozessen angesprochen, von denen die BürgerInnen direkt betroffen und worüber zu urteilen sie fähig sind. Vgl Eva Feldmann-Wojtachnia, Identität und Partizipation, CAP Analyse 8 (2010) 6. Vgl Jo Leinen / Jan Kreutz, Herausforderung partizipative europäische Demokratie: Zivilgesellschaft und direkte Demokratie im Vertrag von Lissabon, Integration 2008, 241 (242 mwN).
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Interessengruppen oder die Einholung von Meinungen der Betroffenen, ehe die Kommission einen Vorschlag erstellt, sondern die vertragliche Verankerung dieser Vorgangsweise sowie die Verpflichtung zu einem regelmäßigen, offenen und transparenten Dialog.48 Partizipative Demokratie unterscheidet sich von bloßem Lobbyismus49 insbesondere dadurch, dass im letzteren Fall Interessensvertreter von sich aus aktiv werden, um möglichst frühzeitig Themen oder individuelle Präferenzen in den Entscheidungsprozess einzubringen, während im ersteren Fall die Einholung der Meinung der BürgerInnen darauf ausgerichtet ist, eine für die Gesamtheit der Normunterworfenen optimale Entscheidung zu treffen. 1. Beteiligung der BürgerInnen in allen Bereichen des Handelns der Union Art 11 EUV sieht eine Beteiligung der BürgerInnen in allen Bereichen des Handelns der Union vor und zwar in Form des Dialoges mit den BürgerInnen, repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft (Art 11 Abs 1 und 2 EUV)50 sowie durch Konsultation zur Gewährleistung von Transparenz und Kohärenz des Handelns (Art 11 Abs 3 EUV). Während Art 11 Abs 1 EUV auf die Dialogbereitschaft der Organe abstellt, verpflichtet sie Abs 2, diesen Dialog aktiv zu suchen und offen, transparent und regelmäßig mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft zu pflegen.51 Der Kommission wird in Art 11 Abs 48 49
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51
Jacqué, Der Vertrag von Lissabon (Fn 10) 115. Diese haben gleichwohl von jeher ihren anerkannten Platz im System der EU. Zur Verhinderung intransparenter Lobby-Arbeit wurde im Zuge der Europäischen Transparenzinitiative bei der Kommission das „Register der Interessenvertreter“ eingerichtet („LobbyRegister“), um den Bürger zu informieren, welche allgemeinen oder besonderen Mittel der Interessenvertretung den EUEntscheidungsprozess beeinflussen und welche eingesetzt werden. Interessenvertreter, die sich freiwillig in das Register eintragen, unterwerfen sich einem bestimmten Verhaltenskodex. Vgl dazu die im Oktober 2009 vorgelegte Bilanz des Registers: IP/09/1608 vom 28.10.2009. In der Terminologie des Wirtschafts- und Sozialausschusses: horizontaler bzw vertikaler ziviler Dialog, Europäischer Wirtschaftsund Sozialausschuss (EWSA), SC/032 vom 17.3.2010, Ziff 1.2. Obwexer, Aufbau, Systematik, Struktur und tragende Grundsätze (Fn 22) 111.
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3 EUV spezifisch die Pflicht auferlegt, im Interesse der Gewährleistung von Kohärenz und Transparenz des Handelns der Union – das ja maßgeblich durch die Initiativen der Kommission bestimmt wird – jeweils umfangreiche Anhörungen der Betroffenen durchzuführen, wenn sie Gesetzgebungsakte vorbereitet. Allerdings handelt es sich bei dieser Konsultation nicht um ein Bürgerrecht – dieses wird erst durch die Konsultation ermöglicht –, sondern vielmehr um eine top-down-Maßnahme im Rahmen obrigkeitlichen Handelns.52 Art 11 EUV wirft durch die Verwendung unbestimmter Begriffe wie „Zivilgesellschaft“, „Betroffener“ oder „repräsentative Verbände“ eine Reihe von Fragen auf, deren Beantwortung Voraussetzung für ein kohärentes Verständnis der Vorschrift und deren adäquate Umsetzung ist. Echter normativer Gehalt im Sinne des Grundsatzes partizipativer Demokratie kommt aber nur dem unten näher zu behandelnden Abs 4 zu.53 So kann „Zivilgesellschaft“ als Opposition zur staatlichen Autorität oder im Sinne eines Mittlers zwischen staatlichen Entscheidungsträgern und Bürgern verstanden werden; im Zusammenhang mit Art 11 EUV macht wohl nur letzteres Sinn. Nicht von vornherein klar ist auch, wer „Betroffener“ im Sinne zB eines Rechtes auf Anhörung in einem bestimmten Verfahren sein soll. Hier wird es wesentlich auf die Konkretisierung dieser Vorgaben ankommen. Dasselbe gilt in gewissem Maße auch für die Frage der Repräsentativität eines zivilgesellschaftlichen Verbandes. Man könnte hier am mit dem Vertrag von Nizza in Art 257 EG eingeführten Begriff der „organisierten Zivilgesellschaft“ anknüpfen, der Zivilgesellschaft als Überbegriff für nichtstaatliches gesellschaftliches Handeln benennt. Die Kommission rechnet dazu unter anderem die Sozialpartner, Nichtregierungsorganisationen (NROs), Berufsverbände und Bürgervereinigungen. Offenkundig ist also damit gemeint, dass es sich dabei nicht bloß um Vertreter eines in der Gesellschaft identifizierten Interesses mehrerer Menschen handeln kann und bloße Betroffenheit somit nicht ausreicht, sondern dieses Interesse auch organisiert sein muss, es sich somit um Vertreter von Verbänden oder Vereinigungen mit einem
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EWSA, SC/032 Ziff 4.3.1. So Folz, Art I-47 EUV (Fn 24) Rn 1.
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Mindestmaß an Organisation handeln muss.54 Während beim EWSA nach wie vor die Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in den Vordergrund gestellt werden (Art 300 Abs 2 AEUV), ist dieser Begriff im Kontext des Art 11 EUV jedenfalls weiter zu verstehen. Dessen ungeachtet wird es notwendig sein, klare quantitative und qualitative Kriterien für die Repräsentativität solcher Verbände aufzustellen.55 Aus dem Vorstehenden sollte deutlich geworden sein, dass es für die Umsetzung der Vorgaben des Art 11 EUV konkretisierender Rechtsetzung bedarf. Dies kann entweder durch eine für alle Organe geltende sekundärrechtliche Regelung in Form einer Verordnung oder im internen Organisationsrecht der einzelnen Organe (jeweilige Geschäftsordnung) erfolgen. Denkbar wäre aber auch zB eine Vereinbarung zwischen den Institutionen und Vertretern der Zivilgesellschaft zur Durchführung von Konsultationen. Darin müssten sich die Institutionen nicht nur zu einer Konsultation zu allen maßgeblichen politischen Fragen verpflichten, sondern auch zB Leitlinien für die Auswahl der zivilgesellschaftlichen Vertreter für Anhörungen festgelegt werden. Auch sollten nicht nur „repräsentative“ NROs,56 sondern gegebenenfalls auch solche eingeladen werden, die „Nischen“ besetzen, dort aber eine besondere Expertise aufweisen. Hilfreich wäre auch eine Datenbank sowohl der in den Mitgliedstaaten
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Oliver Suhr, Art 257 EGV, in Calliess / Ruffert (Hg), EUV/EGV3 (2007) Rn 11. Siehe dazu auch die entsprechende Forderung des EWSA, SC/032 Ziff 4.1.2. Der EWSA führt insgesamt neun Kriterien an, die eine Organisation erfüllen muss, um als „repräsentativ“ angesehen zu werden und am zivilen Dialog teilnehmen zu können: dauerhafte Organisation auf Gemeinschaftsebene; direkter Zugriff auf Expertise der Mitglieder; Vertretung allgemeiner Anliegen; Repräsentativität auch auf Ebene der Mitgliedstaaten; Mitgliedsorganisationen in der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten; Rechenschaftspflicht gegenüber Mitgliedern; Mandat zur Vertretung auf europäischer Ebene; Unabhängigkeit und Weisungsungebundenheit; Transparenz in finanzieller Hinsicht und in den Entscheidungsstrukturen. Vgl näher EWSA, SC/032 Ziff 4.2.4.
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bestehenden NROs bzw NRO-Netzwerke in gleicher Weise wie der in Brüssel bei den Europäischen Institutionen tätigen Lobbyisten.57 Künftig wird es also darum gehen, den primärrechtlichen Auftrag des Art 11 EUV58 zu erfüllen und die darin angelegten Möglichkeiten stärker zu nutzen. In vielen Bereichen kann auf schon bestehender Praxis aufgebaut werden, die im Detail darzustellen hier nicht der Ort ist. Die Zivilgesellschaft bzw ihre Repräsentanten (vor allem NROs) haben schon bisher eine wichtige Rolle beim Agenda-Setting, in der Politikberatung und durch Beibringung von Expertisen sowie in der Rückkoppelung europapolitischer Entscheidungen zwischen Institutionen und Bürgern gespielt.59 Zu erinnern ist auch an die substantielle Beteiligung von NROs am Verfassungskonvent. Andererseits können solche NROs natürlich auch Zentren des „Widerstands“ gegen Entscheidungen der EU-Institutionen sein.60 Als primärer, seit jeher institutionell verankerter Förderer partizipativer Demokratie in der EU versteht sich der Europäische Wirtschafts57
58
59 60
Leinen / Kreutz, Herausforderung partizipative europäische Demokratie (Fn 47) 248 f. Zum Register der Interessenvertreter siehe vorstehend Fn 49. Der Verfassungsvertrag hätte unmittelbar anschließend an den nunmehrigen Art 11 EUV in Art I-48 VVE auch eine Regelung zur Rolle der Sozialpartner und zum autonomen sozialen Dialog enthalten. Darin erkannte die Union die Rolle der Sozialpartner auf der Ebene der Union unter Berücksichtigung der Unterschiedlichkeit der nationalen Systeme an. Ferner sollte die Union, unter Beachtung der Autonomie der Sozialpartner, den sozialen Dialog fördern. Auch der 2003 durch Ratsbeschluss geschaffene Dreigliedrige Sozialgipfel wäre in den VVE übernommen worden. Diese Vorschrift findet sich jetzt, systematisch durchaus zutreffend, in Art 152 AEUV, da in diesem Fall ja nicht der Dialog der Union oder bestimmter Organe mit den BürgerInnen im Allgemeinen, sondern der sehr spezifische Dialog der Sozialpartner miteinander angesprochen ist. Inhaltlich greift Art 152 AEUV Elemente der ex-Art 138 und 139 EG auf. Vgl dazu Sebastian Krebber, Art 138 EGV, in Calliess / Ruffert, EUV/EGV3 (2007) insb Rn 26 ff bzw Art 139 EGV. Leinen / Kreutz, Herausforderung partizipative europäische Demokratie (Fn 47) 244 f. Vgl näher bei Leinen / Kreutz, Herausforderung partizipative europäische Demokratie (Fn 47) 244 ff mwN. Man denke etwa an die Aktivitäten von ATTAC gegen die Dienstleistungsrichtlinie.
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und Sozialausschuss (EWSA), ist er doch gemäß Art 300 Abs 2 AEUV der organisierte Vertreter der Zivilgesellschaft als Mittler zwischen Verwaltung und Bürgern.61 Fraglich ist allerdings, wie repräsentativ der EWSA ist, da nach wie vor Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände dominieren. Von den Interessenvertretungen wird das EP als am zugänglichsten wahrgenommen. Die Geschäftsordnung des EP enthält in Art 9 Abs 4 Bestimmungen betreffend den Zugang für registrierte und einem Verhaltenskodex unterliegende Interessenvertreter bzw in Anlage XIX Ziele und Grundsätze zur Kommunikation über EUThemen, die von EP, Rat und Kommission beachtet werden sollen. Diese sollen die Bürger in die Lage versetzen, ihr Recht auf Teilhabe am demokratischen Leben der Union auch tatsächlich wahrzunehmen. Mit NROs bestehen informelle, aber enge und regelmäßige Kontakte einzelner Mitglieder des EP. Der Dialog ist unstrukturiert, das EP als Ganzes steht einer verstärkten Einbindung der Zivilgesellschaft insgesamt wohl positiv gegenüber. 2007 wurde vom EP die sog Agora eingeführt, ein Instrument zur Organisation regelmäßiger Konsultationen zwischen Zivilgesellschaft und Mitgliedern des EP zu horizontalen politischen Fragen. Die erste Agora fand am 8./9. November 2007 zum Vertrag von Lissabon statt und versammelte rund 400 VertreterInnen der Zivilgesellschaft und einige MEPs. Die Rolle der Agora ist so definiert, dass die partizipative Energie der europäischen Gesellschaften, wie sie in Vereinsnetzwerken, Berufsverbänden und Gewerkschaften zum Ausdruck kommt, mit der repräsentativen Demokratie verknüpft werden soll.62 Die Bezeichnung wurde bewusst in Würdigung des ersten Forums öffentlicher Debatte im Rahmen „direkter“ Demokratie Athens gewählt. Nicht zuletzt hat auch der Konvent zur Zukunft Europas deutlich gemacht, dass sich sogar in einer ganz und gar nicht homogenen
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Die GO-EWSA (März 2008) enthält Bestimmungen zur Regelung des Dialogs mit der Zivilgesellschaft; so etwa in Art 24 betreffend die Einbindung von Delegierten der organisierten Zivilgesellschaft bzw repräsentativer Organisationen in Beratende Kommissionen oder in Art 25 und 26 zum Dialog mit den wirtschaftlichen und sozialen Organisationen der Union und Drittländern. http://www.europarl.europa.eu/parliament/archive/staticDisplay.do? id= 189&pageRank=2&language=DE (5.6.2010)
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Versammlung in weiten Bereichen durch bloße Diskussion ohne Abstimmung Einigkeit erzielen lässt. Die Kommission führt regelmäßig Konsultationen und Anhörungen durch.63 Allerdings haben die Generaldirektionen selbst vergleichsweise wenig direkten Kontakt zur Zivilgesellschaft, selten erfolgten auch Rückmeldungen an die Zivilgesellschaft, ob bzw inwieweit deren Beiträge bei den Vorschlägen der Kommission berücksichtigt wurden. Keine direkten Kontakte regelmäßiger Natur mit der Zivilgesellschaft gibt es seitens des Rates. Gerade angesichts der gestiegenen Einflussmöglichkeiten könnte man sich auch auf dieser Ebene mehr Transparenz und Dialog mit der Zivilgesellschaft und den Betroffenen wünschen. 2. Europäische Bürgerinitiative (EBI) als direktdemokratisches Element in der Unionsverfassung Die EBI64 kann als erstes direkt-demokratisches65 Instrument der
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Vgl auch die Verpflichtung zu „umfangreichen Anhörungen“ gem Art 2 des Subsidiaritäts-Protokolls, bevor die Kommission einen Gesetzgebungsakt vorschlägt oder die Konsultationen im Sozialbereich (Art 154 AEUV). Die von der Kommission angewendeten Konsultationsstandards schließen einen konkreten Zeitrahmen, verpflichtende Berichterstattung über die Ergebnisse, Verpflichtung zu angemessener Reaktion und die Einrichtung eines single access points für öffentliche Konsultationen ein. Vgl Victor Cuesta Lopez, The Lisbon Treaty’s provisions on democratic principles: a legal framework for participatory democracy, European public law 16 (2010), 123 (133 f). Von der EBI begrifflich klar zu unterscheiden ist das (hier nicht zu behandelnde) „Europäische Referendum“. Darunter wird eine direktdemokratische Entscheidung der Bürger der EU über eine grundsätzliche Richtungsentscheidung der Europäischen Union verstanden. Für ein solches europäisches Referendum (das nicht nur eine Summe nationaler Referenden wäre), fehlt es indes sowohl am politischen Willen als auch an einer Rechtsgrundlage. Zum europäischen Referendum vgl Leinen / Kreutz, Herausforderung partizipative europäische Demokratie (Fn 47) 251 f. Wenn wir von der EBI als einem Instrument direkter Demokratie sprechen, so verstehen wir darunter „die Ausübung von [üblicherweise] Staatsfunktionen durch das Volk statt durch gewählte und verantwortliche Repräsentanten“, va in Form von Abstim-
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Union66 bezeichnet werden, als mit ihr partizipative Demokratie im Sinne echter Mitwirkung und nicht bloß Konsultation mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen unter der Federführung der Kommission stattfinden soll.67 Seit Beginn der 1990er Jahre wurde über die Einführung direkt-demokratischer Elemente in der Europäischen Gemeinschaft diskutiert. Im Verfassungskonvent wurde das Thema erst sehr spät Gegenstand der Verhandlungen. Auslöser war eine Initiative der NRO „Democracy International“, doch erst ein formeller Kompromissantrag des Vertreters des Deutschen Bundestages, Meyer, am 6. Juni 2003 wurde vom Konvent angenommen. Daraufhin wurde der Artikel über die partizipative Demokratie im Entwurf des Verfassungsvertrags entsprechend ergänzt.68 Von den europäischen Akteuren machte sich vor allem das EP für die EBI stark, für die Liberale Fraktion stellt die EBI eine der drei Schlüsselinnovationen des seinerzeitigen Verfassungs- und nunmehrigen Reformvertrags dar. Auch die Kommission steht der EBI positiv gegenüber. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mehrheit der europäischen Akteure die EBI allenfalls neutral, zT auch durchaus ablehnend bewertet.69
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mungen. Vgl Peter Pernthaler, Österreichisches Bundesstaatsrecht. Lehr- und Handbuch (2004) 83. Vergleichbare Instrumente existieren in 9 Mitgliedstaaten: Italien, Litauen, Niederlande, Österreich, Polen, Rumänien, Slowenien, Spanien, Ungarn; vgl Andreas Maurer / Stephan Vogel, Die Europäische Bürgerinitiative. Chancen, Grenzen und Umsetzungsempfehlungen, SWP-Studie S 28 (2009) 16 f. In Österreich entspricht der EBI das Volksbegehren gem Art 41 Abs 2 B-VG: 100.000 Unterstützer oder ein Sechstel der Stimmberechtigten aus mindestens drei Bundesländern sind für einen solchen Gesetzesvorschlag im Nationalrat betreffend eine durch Bundesgesetz zu regelnde Angelegenheit erforderlich; vgl näher Theo Öhlinger, Verfassungsrecht8 (2009) Rn 452. Zur Rechtslage in Deutschland vgl Christoph Degenhart, Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht. Mit Bezügen zum Europarecht. Mit höchstrichterlichen Entscheidungen25 (2010) Rn 111; Christoph Gröpl, Staatsrecht I (2009) Rn 299 ff; Ekkehart Stein / Götz Frank, Staatsrecht20 (2007) 124 f. Maurer / Vogel, Die Europäische Bürgerinitiative (Fn 66) 5. Maurer / Vogel, Die Europäische Bürgerinitiative (Fn 66) 9. Quelle: SWP-Dossier, Vertrag von Lissabon. Umsetzungsmaßnahmen. Europäische Bürgerinitiative: http://vt-www.bonn.iz-
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Gemäß Art 11 Abs 4 EUV können Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Anzahl mindestens eine Million beträgt und bei denen es sich um Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten handeln muss, die Initiative ergreifen und die Europäische Kommission auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse70 geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsaktes der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen (Art 11 Abs 4 UAbs 1 EUV). Hinsichtlich der Verfahren und Bedingungen, die für eine solche Bürgerinitiative gelten sollen, enthält UAbs 2 einen Umsetzungsauftrag und verweist auf eine nach Art 24 Abs 1 AEUV von EP und Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren anzunehmende Verordnung. Die EBI bedarf somit einer näheren Ausgestaltung, die aber die primärrechtlichen Vorgaben zu beachten hat. Das neue Rechtsinstitut hat von Anfang an großes Interesse bei zivilgesellschaftlichen Gruppierungen wie auch in wissenschaftlichen Kreisen gefunden und dort intensive Forschungs- und Organisationsanstrengungen ausgelöst.71
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soz.de/swpthe men/servlet/de.izsoz.dbclear.query.browse.Browse Facette/domain=swp/lang=de/filter=11/sable=true/qup=true?f58=125 83,12623,12668_12668&order=creator,-pubyear,title. Mangels einer entsprechenden Verbands- oder Organkompetenz ist daher eine EBI in folgenden Bereichen ausgeschlossen: Grundrechte; Änderung des Primärrechts, Rechtsharmonisierung in Politikbereichen, in denen eine solche primärrechtlich ausgeschlossen ist (zB Bildung, Kultur, Gesundheit); auch Initiativen im Bereich der GASP fallen nicht in den Kompetenzbereich der Kommission, sondern der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik. Vgl Obwexer / Villotti, Die Europäische Bürgerinitiative (Fn 4) Manuskript 12. Vgl die „Initiative for a European Citizen’s Initiative“, die auch eine eigene Website betreibt (http://www.citizens-initiative.eu/). Aus der Wissenschaft gehören sicherlich der Grazer Rechtswissenschaftler Johannes Pichler bzw das von ihm geleitete Österreichische Institut für Europäische Rechtspolitik in Salzburg zu den Vorreitern; vgl nur die von ihm 2008, 2009 und 2010 (mit-)herausgegebenen einschlägigen Werke zur EBI; Johannes W. Pichler (ed), We change Europe! (2008); Johannes W. Pichler (ed), Direkte Demokratie in der Europäischen Union (2009). Pichler / Kaufmann, The European Citizens’ Initiative (Fn 1).
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Im Folgenden soll nun den vom Primärrecht offen gelassenen bzw mit der Umsetzung der EBI einhergehenden Fragen im Einzelnen nachgegangen werden. III. Umsetzung der EBI A. Ausgangslage Das neue Instrument der EBI ist nicht nur vor dem Hintergrund der Unterstützung oder Ablehnung durch die anderen zentralen Akteure des europäischen Systems wie EP, Rat und Kommission zu beurteilen,72 sondern es ist auch der europarechtliche bzw systematische Kontext im Auge zu behalten, in den die EBI eingebettet ist. In ihrer Wirkung gegenüber der Kommission ist die EBI mit dem seit den Römer Verträgen 1957 bestehenden Aufforderungsrecht des Rates und des EP (eingeführt durch den Vertrag von Maastricht) in die nunmehrigen Art 241 AEUV bzw Art 225 AEUV vergleichbar.73 Weiters ergänzt die EBI sowohl die Petition an das EP als auch die Beschwerde an dessen Bürgerbeauftragten. Sie unterscheidet sich von der Petition vor allem dadurch, dass sie die Möglichkeit bietet, einen neuen Rechtsakt vorzuschlagen, während sich die Petition grundsätzlich auf bestehendes Recht bezieht.74 Andererseits ist die Beschwerde an den Bürgerbeauftragten von ihrer Konzeption her darauf ausgerichtet, allgemeine Missstände in den Institutionen, mit Ausnahme des Gerichtshofs, aufzugreifen. Während Konflikte der EBI mit der Beschwerde an den Bürgerbeauftragten eher unwahrscheinlich sind – es sei denn, die EBI und die Anregung des Bürgerbeauftragten betreffen denselben Gegenstand, weichen aber stark voneinander ab, das EP greift die Frage auf und die Kommission ignoriert die Aufforderung des EP75 – weist in der Einschätzung von Maurer / Vogel das Verhältnis zwischen Petition und EBI durchaus ein hohes Konfliktpotential
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So hat zB die Kommission eine eigene Webseite „The European Citizens’ Initiative“: http://ec.europa.eu/dgs/secretariat_general/citi zens_initiative/index_en.htm eingerichtet. Dazu Maurer / Vogel, Die Europäische Bürgerinitiative (Fn 66) 7 ff. Zum Verhältnis zwischen EBI und Petitionsrecht vgl näher Obwexer / Villotti, Die Europäische Bürgerinitiative (Fn 4) Manuskript 16 ff. Maurer / Vogel, Die Europäische Bürgerinitiative (Fn 66) 14 f.
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auf.76 Zur Lösung derartiger Konfliktsituationen schlagen Maurer / Vogel den Abschluss einer interinstitutionellen Vereinbarung zwischen Kommission und Parlament vor, um gegebenenfalls ein Vermittlungsverfahren durchzuführen.77 Ferner sollte oder könnte es durch entsprechende Änderung der Geschäftsordnung des EP möglich gemacht werden, dass das EP noch vor dem Votum der Kommission und unabhängig davon Initiativberichte ausarbeiten könnte, allenfalls dann im Ergebnis mit der Aufforderung an die Kommission, gemäß Art 225 AEUV zu handeln. Ebenso könnte im Fall des Konflikts zwischen Initiative der Kommission und EPAufforderung das Vermittlungsverfahren eingeleitet werden. In einer solchen Situation müsste aber mE der Kommission aufgrund der ihr vom Vertrag zugewiesenen Funktion Priorität zukommen, zumal das EP ohnedies die Möglichkeit hat, seine Position später im von der Kommission eingeleiteten Gesetzgebungsverfahren einzubringen.78 Auch für das Verhältnis zwischen EBI und Rat schlagen die beiden Autoren eine Geschäftsordnungsregelung vor, wonach sich der Rat automatisch mit einer EBI in Form einer Debatte im Rat befassen sollte, die gegebenenfalls in eine Aufforderung an die Kommission, einen Rechtsakt vorzulegen, münden könnte (wiederum iSd Art 241 AEUV). Auch hier stellt sich die Frage, ob das in der Tat notwendig ist oder ob es nicht vielmehr Sache des Rates wäre, abzuwarten, ob seitens der Kommission, die ja durch Art 11 Abs 4 EUV definitiv für zuständig erklärt wurde, ein entsprechendes Verfahren eingeleitet wird. B. Grünbuch zur Europäischen Bürgerinitiative
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Auf der Basis eines von der Kommission im November 2009 vorgelegten Vorschlags wurde zwischen 11.November 2009 und 31.Januar 2010 eine umfangreiche öffentliche Konsultation zur EBI durchgeführt. Bürger, Organisationen und Behörden wurden eingeladen, Erklärungen dazu abzugeben. Innerhalb der Kommission war die Direktion „Bessere Rechtssetzung“ zuständig. 76 77 78 79
Denkbar wäre etwa eine „Gewerkschafts-EBI“ im Konflikt mit einer Petition von kleinen oder mittleren Unternehmen. Maurer / Vogel, Die Europäische Bürgerinitiative (Fn 66) 15. Vgl näher dazu Maurer / Vogel, Die Europäische Bürgerinitiative (Fn 66) 5. KOM(2009) 622 endg vom 11.11.2009.
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Im Grünbuch hatte die Kommission die rechtlichen, administrativen und praktischen Fragen aufgelistet, die ihrer Meinung nach in der Verordnung zu klären sein würden. Konkret handelte es sich im Wesentlichen um folgende Fragen, die auch Regelungsgegenstand des Verordnungsentwurfs sind: Wieviele Staaten stellen eine „erhebliche Anzahl“ dar? Wie groß soll die Mindestzahl an Unterstützungserklärungen je Mitgliedstaat sein? Wer soll berechtigt sein, eine EBI in die Wege zu leiten oder zu unterstützen und in welcher Form soll dies erfolgen (können)? Welche Anforderungen sollen an die Sammlung, Überprüfung und Authentifizierung der Unterstützungsbekundungen gestellt werden? Wie lange soll der Zeitraum sein, während dessen die Unterstützungserklärungen gesammelt werden können? Welche sonstige Anforderungen – etwa hinsichtlich Transparenz, Finanzierung, Detailliertheit der EBI usw – sollten an die Organisatoren gestellt werden? Sollte es erlaubt sein, mehrere Initiativen zum selben Thema durchzuführen bzw eine im ersten Anlauf gescheiterte EBI zu wiederholen? Wie würde die Überprüfung der EBI durch die Kommission aussehen? Die Kommission hat mehr als 300 Stellungnahmen zu ihrem Grünbuch erhalten.80 Von den europäischen Institutionen ist eine formelle Stellungnahme (des Europäischen Ombudsmannes) eingegangen. Der EWSA hat eine Initiativstellungnahme zur EBI angenommen, das EP hat mehrere Entschließungen dazu verabschiedet.81 Dazu kommen Stellungnahmen von 9 nationalen (darunter Österreich) und 8 regionalen Regierungen (darunter das Amt der Vorarlberger Landesregierung, die Vertretung der österreichischen Bundesländer und das Land Salzburg), 11 Stellungnahmen nationaler Parlamente (darunter der Ständige Unterausschuss des Hauptausschusses in Angelegenheiten der Europäischen Union des Österreichischen Nationalrates), 10 regionale Parlamente, 63 eingetragene Organisationen (darunter die Landwirtschafts- und die Bundesarbeiterkammer Österreich) sowie 70 nicht eingetragene Organisationen, darunter etwa das Bündnis 90/Die Grünen, der Österreichische Gewerkschaftsbund oder der
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Die Stellungnahmen können unter folgendem link eingesehen werden: http://ec.europa.eu/dgs/secretariat_general/citizens_initiative /contributions_en.htm. 7.5.2009, 25.11.2009 und 9.2.2010.
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Österreichische Städtebund. Dazu kamen Stellungnahmen von insgesamt 159 Einzelpersonen. In der Entschließung des EP vom 7. Mai 2009 wurde die Kommission auf der Grundlage des Initiativberichtes Kaufmann82 aufgefordert, einen Vorschlag für eine Verordnung vorzulegen. In der Entschließung vom 25. November 2009,83 die sich an sich mit dem Stockholm-Programm befasste, wurde im Kontext der Rechte im Zusammenhang mit der Unionsbürgerschaft in Ziff 33 der Entschließung darauf hingewiesen, dass die Bürger durch die Einführung der Bürgerinitiative die Möglichkeit hätten, die Ausübung der souveränen Macht der Union unmittelbar zu beeinflussen, da sie zum ersten Mal unmittelbar an der Initiierung europäischer Rechtsetzungsvorschläge beteiligt sein würden. Das EP fordert in dieser Entschließung die Kommission auf, das neue Instrument auf eine Art und Weise umzusetzen, die die Menschen wirklich zu seiner Verwendung ermutigt. Weiters wird die Kommission aufgefordert, alle Initiativen, die die rechtlichen Kriterien erfüllen, gebührend zu berücksichtigen. Ebenso fordert das EP die Kommission in Ziff 34 auf, bei der Vorlage ihres Vorschlags für die praktischen Aspekte der Umsetzung der EBI die Rolle des Parlaments und das bestehende Petitionsrecht gebührend zu berücksichtigen. In der Entschließung des Parlaments vom 9. Februar 2010 zur revidierten Rahmenvereinbarung zwischen Parlament und Kommission für die nächste Wahlperiode fordert das Parlament in Ziff 3 lit d „eine Zusage zu enger Zusammenarbeit zwischen Parlament und Kommission in einer frühen Phase bei Aufforderung zur Vorlage von Gesetzgebungsinitiativen, die aus Bürgerinitiativen hervorgehen“. Was mit „einer frühen Phase“ konkret gemeint ist, wird nicht näher ausgeführt und es bleibt daher offen, ob damit schon der Beginn des Gesamtprozesses gemeint ist oder erst jene Phase, in der die Initiative konkret bei der Kommission zur Beurteilung eingereicht wurde. Sehr ausführlich hat sich der EWSA in seiner Initiativstellungnahme mit den allgemeinen Aspekten wie auch den einzelnen im Grünbuch aufgeworfenen Fragen der EBI auseinandergesetzt.84 Er 82 83 84
A6-0043/2009 vom 3.2.2009. P7_TA(2009)0090. EWSA, SC/032 insb Ziff 4.4 bis 4.16. Zu seinen darüber hinausgehenden Forderungen und Anregungen hins einer weiteren Förderung der Demokratie siehe insb Ziff 4.5.
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spricht sich dafür aus, die EBI nach einer entsprechenden Vertragsrevision auch für ständig im Unionsgebiet wohnhafte Drittstaatsangehörige zu öffnen.85 Das institutionelle Gleichgewicht sollte durch die Möglichkeit der EBI indes keinesfalls verschoben werden: Die Kommission würde durch eine solche „Agendainitiative“ zu legislativem Handeln aufgefordert, das legislative Initiativrecht müsse bei ihr verbleiben und ein eventuell folgender Gesetzgebungsprozess im Rahmen der vorgesehenen Verfahren verlaufen.86 Der EWSA teilt daher absolut nicht die Auffassung des EP, „dass die politische Aufgabe des Parlaments darin besteht, den Prozess der Bürgerinitiative zu kontrollieren“ und spricht sich gegen die Kontrolle eines Prozesses im prälegislativen Bereich durch den Gesetzgeber aus. Eine solche „Kontrolle“ würde das Prinzip der Gewaltenteilung verletzen; deshalb regt der EWSA die Schaffung einer unabhängigen „Beratungsinstanz“ bzw eines „Helpdesk“ an, welche/r Initianten bei der Vorbereitung und Lancierung einer EBI zur Seite stehen kann, sodass offensichtliche Konflikte mit den Zulassungs- und Durchführungsbestimmungen wenn nicht ausgeschlossen, so doch im Regelfall vermieden werden können. Wenig überraschend bietet sich der EWSA als dieser Helpdesk an. Interessanterweise weist der EWSA als einziger auf die Möglichkeit hin, dass es wie im indirekten/parlamentarischen auch im direkten/bürgerschaftlichen Prozess der Meinungsbildung geschehen könne, dass „sich extremistische Gruppierungen der vorhandenen Kanäle der Meinungsbildung bedienen und diese für ihre eigenen Zwecke (miss)brauchen“. Eine moderne repräsentative Demokratie müsse aber „darauf angelegt sein, auch unbequeme, ja sogar extremistische Anliegen offen und transparent diskutieren zu können.“87 C. Verordnungsvorschlag 1. Überblick Die Kommission hat die Ergebnisse der Konsultation in einem Arbeitspapier88 zugleich mit dem Verordnungsvorschlag89 vorgelegt.
85 86 87 88
EWSA, SC/032 Ziff 4.4.1. EWSA, SC/032 Ziff 4.4.2. EWSA, SC/032 Ziff 4.4.7. SEK(2010) 370 endg vom 31.3.2010.
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Am 22. Februar 2010 hat für alle jene, die sich an der Konsultation beteiligt hatten, eine öffentliche Anhörung in Brüssel stattgefunden. Am 26. April 201090 fand eine Orientierungsaussprache im Rat über den Vorschlag statt, am 14. Juni 2010 hat der Rat politische Einigung über den Vorschlag erzielt.91 Im EP wurden im Mai bzw Juni 2010 die Berichterstatter bestellt; der Bericht steht noch aus, doch haben die Berichterstatter Gurmai und Lamassoure am 22. Juni 2010 ein Arbeitsdokument vorgelegt, in dem sie bereits sehr konkrete Vorschläge zur Verordnung zur Diskussion stellen. Die Kommission strebt eine Verabschiedung der Verordnung binnen eines Jahres nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon – also vor dem 1. Dezember 2010 – an.92 Die EBI fällt in den Verantwortungsbereich des Vizepräsidenten der Kommission und Kommissionsmitglieds für interinstitutionelle Beziehungen Maroš Šefovi aus der Slowakei. Der Verordnungsentwurf umfasst 20 Artikel und 8 Anhänge sowie den Finanzbogen. Mit dem Entwurf verfolgt die Kommission nach eigenem Bekunden zwei Leitlinien: Einerseits sollen die Bedingungen für die EBI gewährleisten, dass Bürgerinitiativen repräsentativ für ein unionsweites Interesse und so ausgestaltet sind, dass das Instrument einfach zu handhaben ist, die Verfahren einfach und benutzerfreundlich sind, Betrug oder Missbrauch des Systems verhindert und den Mitgliedstaaten keine unnötigen Verwaltungslasten aufgebürdet werden.93 Von Zirkeln der 89
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92 93
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bürgerinitiative, KOM(2010) 119 endg vom 31.3.2010 (Entwurf EBI-VO). Dok 8967/10, 26.04.2010 „Allgemeine Ausrichtung zu einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bürgerinitiative“, Dok 10626/2/10 REV 2 vom 22.6.2010 (weiterhin: Allgemeine Ausrichtung). Diese aufgrund der Beratungen vom 14.6.2010 überarbeitete Fassung unterscheidet sich von der ursprünglichen Vorlage (10626/1/10 REV 1 vom 11.6.2010) hauptsächlich dadurch, dass der Akt der Registrierung und jener der Entscheidung über die Zulässigkeit einer EBI wie von der Kommission vorgeschlagen getrennt und in jeweils eigenen Bestimmungen (Art 4 und 8) geregelt werden. So in der Anfragebeantwortung zur mündlichen Anfrage Van Hecke, H-0386/09 vom 15.10.2009. KOM(2010) 119 endg, 2.
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Wissenschaft und der Zivilgesellschaft, die in Sachen EBI engagiert sind, wird im Hinblick auf den Vorschlag der Kommission unter anderem kritisiert, dass die Kommission es darin verabsäumt habe, ihre eigenen Befugnisse genau zu regeln. Allerdings ist dies mE nicht wirklich überraschend, denn dass die Kommission nicht bereit sein würde, ihren Rechtsstatus oder ihre Rechtsautonomie einzuschränken, lag auf der Hand und ist wohl auch durch Art 11 Abs 4 EUV keineswegs nahegelegt. Außerdem handelt es sich hier um einen Vorschlag, der in seiner Endfassung noch gewisse Elemente der Spezifizierung der Kommissionsverpflichtungen enthalten könnte. In der Folge sollen nun die wesentlichsten Regelungen, wie sie die Kommission in ihrem Entwurf vorgeschlagen hat, in Zusammenhang mit den von Rat in der Allgemeinen Ausrichtung bzw den Berichtestattern des EP in ihrem Arbeitsdokument vorgeschlagenen Positionen vorgestellt werden. Zentrale Fragen sind dabei Voraussetzungen und Zeitpunkt der Registrierung bzw Zulässigkeitsentscheidung und wie die Kommission mit einer EBI, die die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt, konkret verfahren soll. 2. Einzelne Regelungen bzw damit zusammenhängende Fragen a. Gegenstand und Begriffsdefinitionen Gegenstand der Verordnung ist die Festlegung der Verfahren und Bedingungen für eine Bürgerinitiative gemäß Art 11 EUV und Art 24 AEUV.94 Art 11 Abs 4 EUV statuiert – wie schon ausgeführt – neben den numerischen Voraussetzungen zwei primärrechtliche Vorgaben für die EBI: EBIs müssen mit den Verträgen konsistent sein, dh sie müssen innerhalb der Kompetenzen der Union angesiedelt sein, es darf kein Widerspruch zu höherrangigem Unionsrecht bestehen, es darf keine Verletzung der Grundrechte der EU vorliegen und die geplante EBI muss im Rahmen der der Kommission zukommenden Befugnisse liegen. Art 2 Entwurf EBI-VO definiert die maßgeblichen Begriffe. In direkter Anlehnung an Art 11 Abs 4 EUV wird die „Bürgerinitiative“ als eine Initiative definiert, die der Kommission gemäß dieser Verordnung vorgelegt und in der die Kommission aufgefordert wird, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht 94
Art 1 Entwurf EBI-VO.
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der Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen, und die die ordnungsgemäße Unterstützung von mindestens einer Million berechtigter Unterzeichner aus mindestens einem Drittel aller Mitgliedstaaten erhalten hat.95 „Unterzeichner“ sind „Bürger der Union, die sich an einer EBI beteiligen, indem sie für diese Initiative eine Unterstützungsbekundung abgegeben haben“ (Ziff 2). „Organisator“ ist eine „natürliche oder juristische Person oder Organisation, die für die Vorbereitung und Einreichung einer Bürgerinitiative bei der Kommission verantwortlich ist“ (Ziff 3). b. Mindestzahl der Mitgliedstaaten und Mindestzahl der Unterzeichner je Mitgliedstaat Die Festlegung der „erheblichen Anzahl“ von Mitgliedstaaten gehörte zu den ersten zentralen Fragen, doch wurde darüber vergleichsweise rasch Einvernehmen erzielt. Der solcherart festzulegende Schwellenwert musste eine gewisse Repräsentativität der Initiative gewährleisten, durfte eine solche aber auch nicht unmöglich machen oder überaus erschweren. Dass es sich bei der „erheblichen Anzahl“ von Mitgliedstaaten eher nicht um eine Mehrheit der Mitgliedstaaten handeln würde, war relativ klar, da es sonst dieser besonderen Formulierung nicht bedurft hätte. Die im Konsultationsverfahren zum Weißbuch abgegebenen Stellungnahmen pendelten im Wesentlichen zwischen einem Drittel und einem Viertel der Mitgliedstaaten.96 Art 7 Abs 1 Entwurf EBIVO legt nun fest, dass die Mindestzahl der Mitgliedstaaten, aus denen die Unterstützungsbekundungen kommen müssen, ein Drittel der Mitgliedstaaten, derzeit also neun, betragen muss. Diese Maßzahl orientiert sich an anderen Vertragsbestimmungen, in denen ein Drittel gefordert ist, wie zB für die Begründung einer Verstärkten Zusammenarbeit oder als Schwellenwert für die Einleitung des Verfahrens nach Art 7 Abs 2 Subsidiaritäts-Protokoll („gelbe Karte“).
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Art 2 Ziff 1 Entwurf EBI-VO. Das EP (ebenso der EWSA) hatte in Anlehnung an Art 76 AEUV, der allerdings eine sehr sektorspezifische Regelung darstellt, ein Viertel der Mitgliedstaaten vorgeschlagen, was derzeit 7 Mitgliedstaaten entspräche. Die Präferenz der Kommission und der Anhörung lag deutlich bei einem Drittel, gerade auch wegen der Parallele zu anderen einschlägigen Vertragsregelungen.
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Damit in engem Zusammenhang steht allerdings die Frage, ob und wenn ja, welche Mindestzahl bzw allenfalls Mindestprozentsatz an Unterzeichner aus jedem der mindestens neun Mitgliedstaaten kommen müssten. Durch Art 11 Abs 4 EUV ist ja nur eine Gesamtzahl von mindestens 1 Million vorgegeben.97 Eine entsprechende Verteilung der Unterstützung auf die beteiligten Mitgliedstaaten ist unverzichtbar, will man erreichen, dass die EBI ein angemessenes Meinungsspektrum widerspiegelt. Fixe numerische Vorgaben würden kleinere Mitgliedstaaten benachteiligen. Auch eine zunächst erwogene prozentuelle Festlegung hätte offenkundige Nachteile: So war zunächst erwogen worden, sich an der Quote zu orientieren, die für die Gesamtstimmenanzahl gefordert ist; eine Million entspricht in etwa 0,2 % der Gesamtbevölkerung der Union.98 Umgelegt auf die Mitgliedstaaten hätte das aber zB für Deutschland ca 160.000 Unterstützungserklärungen, für Belgien 20.000 bedeutet. In einzelnen Mitgliedstaaten wäre der Satz zT erheblich höher gewesen.99 Die Kommission hat sich daher in Art 7 Abs 2 Entwurf EBI-VO gegen einen festen Prozentsatz und für einen festen Schwellenwert pro Mitgliedstaat entschieden, der aber degressiv proportional zur Bevölkerung jedes Mitgliedstaats festgelegt ist. Die Kommission hat als Kriterium ein Vielfaches der Zahl der Mitglieder im EP für jeden Mitgliedstaat gewählt.100 Während der Kommissionsvorschlag die entsprechenden Zahlen in Anhang I anführte, enthält Art 7 Abs 2 idF Allgemeine Ausrichtung die ausdrückliche Festlegung der Berechnungsmethode: „Für die Berechnung dieser Mindestzahl wird die Anzahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments der einzelnen Mitgliedstaaten gemäß dem Entwurf eines Beschlusses des Europäischen Rates über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments in der 97
Die österreichische Bundesregierung hat in diesem Zusammenhang die Auffassung vertreten, dass es sich hierbei um eine absolute Zahl handle, die durch Sekundärrecht nicht erhöht werden könne, EB RV 417 BlgNR XXIII. GP, 60. 98 Die österreichische Bundesarbeiterkammer hatte zB in ihrer Stellungnahme einen Prozentsatz von 0,1 %, die Wirtschaftskammer Österreich hingegen einen von 0,5 % angeregt. 99 ZB in Österreich bei 1,2 %, in Lettland bei 10 %. 100 Es war auch mit dem Faktor 1000 oder 500 experimentiert worden, doch hatten diese keine befriedigenden Resultate ergeben.
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Legislaturperiode 2009–2014, dem das Europäische Parlament am 11. Oktober 2007 und der Europäische Rat – mit einer Abänderung – während der Regierungskonferenz 2007 im Grundsatz zugestimmt hat, zugrunde gelegt und mit 750 multipliziert.“101 Bei Anwendung dieser Berechnungsmethode ergibt das für Österreich (bei 19 Mitgliedern des EP) 14.250 notwendige Unterstützungsbekundungen, für Deutschland 72.000, für das Vereinigte Königreich Die 54.750, für Luxemburg 4.500 usw.102 Unterstützungserklärungen sollen gemäß Art 7 Abs 4 Entwurf EBIVO idF Allgemeine Ausrichtung jenem Mitgliedstaat zugerechnet werden, der für die Überprüfung ihrer Unterstützungsbekundungen zuständig ist.103 c. Anforderungen an Organisator und Unterzeichner Der Vorschlag unterscheidet zwischen einer natürlichen Person als Organisator, die jedenfalls Unionsbürger sein und das erforderliche Alter für das aktive Wahlrecht bei Wahlen zum EP besitzen muss (Art 3 Abs 1 UAbs 1 Entwurf EBI-VO) und einer juristischen Person oder Organisation als Organisator einer EBI. Letztere muss in einem Mitgliedstaat niedergelassen sein und, falls sie nach geltendem nationalen Recht keine Rechtspersönlichkeit besitzt, 101 Dok 10626/2/10 REV 2 vom 22.6.2010. Anpassungen des Anhangs I als Folge einer allfälligen Neufestlegung der Sitzverteilung im EP durch Beschluss des Europäischen Rates sollen durch die Kommission im Wege des Beschlusses delegierter Rechtsakte erfolgen. Die Anpassung käme aber erst für nach deren Inkrafttreten registrierte EBIs zum Tragen. Vgl Art 7 Abs 3 idF Allgemeine Ausrichtung. 102 Damit liegt der Schwellenwert für die meisten Mitgliedstaaten zT deutlich unter 0,2 % bzw in den kleineren Mitgliedstaaten darüber. Anders gesagt ist die Zahl der notwendigen Unterzeichner in größeren Mitgliedstaaten relativ geringer als in kleineren Mitgliedstaaten. 103 Der Kommissionsvorschlag (Art 7 Abs 3) hatte auf jenen Mitgliedstaat abgestellt, der das in der Unterstützungsbekundung angegebene Ausweispapier ausgestellt hat. Aus Gründen der Verlässlichkeit der Prüfung und der praktischen Umsetzung scheint die vom Rat vorgeschlagene Lösung vernünftig, obwohl die Kommission in ihrem Vorschlag einen Kompromiss zwischen minimaler Sicherheitsprüfung bei gleichzeitiger Vermeidung von Betrug und leichter Teilnahme an der EBI gesehen hatte.
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über Vertreter verfügen,104 die befugt sind, in ihrem Namen rechtliche Verpflichtungen einzugehen und die Haftung zu übernehmen (Art 3 Abs 1 UAbs 2 Entwurf EBI-VO). Gemäß Allgemeiner Ausrichtung soll in der Verordnung (Art 3 Abs 1 UAbs 3) ausdrücklich das Recht der Kommission festgeschrieben werden, vom Organisator gegebenenfalls geeignete Nachweise zu verlangen, dass die genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Das Arbeitsdokument (der EP-Berichterstatter) hält es für sinnvoll, nur natürliche Personen als Organisatoren zuzulassen, um den „wesentlichen Kern des Prozesses“ zu wahren, nämlich, dass die EBI ein Instrument der Bürger bleibt.105 Juristische Personen sollten aber, entsprechende Transparenz vorausgesetzt, das Recht haben, Organisatoren finanziell, logistisch usw zu unterstützen.106 Eine Einschränkung auf natürliche Personen lässt sich insofern vertreten, als der Wortlaut, vor allem aber der Geist des (seinerzeitigen Art 17 EG und jetzigen) Art 20 Abs 1 AEUV wohl deutlich auf den Bürger als „citoyen“ abstellt107 und die meisten der mit der Unionsbürgerschaft einhergehenden Rechte nur von natürlichen Personen wahrgenommen werden können; andererseits sollen sich auch juristische Personen auf Unionsbürgerrechte berufen können, wenn deren Anwendung auf sie sachlich möglich ist.108 Formal wird man sie daher als Organisatoren wohl nicht ausschließen können, doch sollten nur solche akzeptiert werden, die tatsächlich „citoyens“ repräsentieren. Wohl kaum mit dem Vertrag vereinbar dürfte mE die im Arbeitsdokument zur Diskussion gestellte Idee eines „Bürgerausschusses“ sein, der dazu beitragen sollte, den Prozess einer EBI von Anfang an „so europäisch wie möglich zu gestalten
104 Diese Vertreter müssen gemäß Allgemeiner Ausrichtung dieselben Anforderungen erfüllen wie natürliche Personen als Organisatoren (Art 3 Abs 1 UAbs 2 Satz 2). 105 Eine Initiative politischer Parteien, wie sie zB der deutsche SPDVorsitzende und der österreichische Bundeskanzler am 18.5.2010 vorgeschlagen haben, wäre damit nicht möglich. 106 Arbeitsdokument Ziff I.2. 107 Vgl Meinhard Hilf, Art 17 EGV, in Grabitz / Hilf (Hg), Das Recht der Europäischen Union. Kommentar (2009) Rn 40. 108 Vgl Winfried Kluth, Art 17 EGV, in Calliess / Ruffert (Hg), EUV/EGV3 (2007) Rn 10.
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und eine intensivere Debatte zu fördern“.109 Diesem „Bürgerausschuss“ sollten mindestens sieben Personen aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten angehören. Damit könnte gewährleistet werden, so die Erwartung der Berichterstatter, dass nur europaweite Themen zur Sprache kommen und der bevorstehende Prozess der Sammlung von Unterschriften erleichtert würde, weil es bereits einen Vertreter in einem Viertel der Mitgliedstaaten geben würde. Es ist nicht erkennbar und wird auch nicht näher ausgeführt, worin das fördernde Element dieses Ausschusses nun tatsächlich bestehen soll. Letztlich scheint es eher ein einschränkender Sachzwang zu sein, was im Arbeitsdokument zwar angesprochen, aber verneint wird; die davon erwartete Erleichterung des restlichen Verfahrens ist nicht zu erkennen. Im Arbeitsdokument wird auch die Frage aufgeworfen, ob die Organisatoren einer EBI sinnvollerweise aufgefordert werden sollten, sich der „Unterstützung einiger direkt gewählter Personen zu versichern, die die Initiative unterstützen würden“. Eine diesbezügliche Vorgabe ist mE durch das Primärrecht nicht gedeckt, jedenfalls ausgeschlossen ist es, gar die Zulässigkeit einer EBI von einer Mindestanzahl derartiger Unterstützungen abhängig machen zu wollen.110 Vielmehr wird es im Interesse der Organisatoren selbst gelegen sein, sich aus eigenem Antrieb der Unterstützung europaweit bekannter Mitglieder des EP zu vergewissern. Geradezu befremdlich mutet es an, wenn ausgerechnet aus dem EP als dem Repräsentanten der Bürger die Frage kommt, ob nicht von den Organisatoren eine Kaution verlangt werden sollte (die sie bei erfolgreicher EBI zurück erhalten sollten).111 Als Unterzeichner kommen nach übereinstimmender Auffassung von Kommission und Rat nur Unionsbürger in Frage, die das (in ihrem jeweiligen Mitgliedstaat) erforderliche Mindestalter für die Teilnahme an Wahlen zum EP erreicht haben. 109 Arbeitsdokument Ziff I.3. 110 So aber Arbeitsdokument Ziff I.5.1. 111 Arbeitsdokument Ziff I.5.2. Sollen künftig die Bürger auch eine Kaution für die Behandlung ihrer Anliegen durch den Petitionsausschuss oder den Bürgerbeauftragten hinterlegen? Und wann ist die EBI erfolgreich: Wenn die erforderliche Zahl an Unterstützungen erreicht ist oder wenn die Kommission einen Vorschlag für einen Rechtsetzungsakt unterbreitet hat?
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Für diese ebenso vertretbare wie praktikable Regelung hatte es in der Konsultation eine deutliche Präferenz112 gegeben, während die Überlegung, ein einheitliches Mindestalter festzulegen, rasch verworfen wurde, zumal mit Ausnahme Österreichs (16 Jahre) ohnedies alle anderen Mitgliedstaaten ein Mindestalter von 18 Jahren vorsehen.113 Im Zusammenhang mit der Organisation einer EBI wurde im Konsultationsprozess auch von verschiedenster Seite die Kostenfrage angesprochen. Die Zivilgesellschaft fordert vehement administrative, organisatorische, rechtliche und auch finanzielle Unterstützung für EBIs ein, sei es durch die Kommission und/oder die Mitgliedstaaten. Auch die Idee einer „Europäischen Agentur für Bürgerinitiativen“ wurde ins Spiel gebracht. Pichler meint, dass eine EBI ohne finanzielle Unterstützung überhaupt nicht möglich sein werde.114 Die österreichische Bundesarbeiterkammer plädiert ebenfalls für öffentliche Unterstützung, da diese weniger schädlich sei als eine Übermacht privater Akteure. Das Bundesministerium für Inneres schlägt eine 50:50-Kostenteilung zwischen Organisatoren und EU vor. Tatsache ist, dass weder im Primärrecht noch im Entwurf EBI-VO ein Kostenersatz vorgesehen ist. Dies entspricht durchaus der Rechtslage bei nationalen Volksbegehren, die idR die vollständige Finanzierung durch die Initiatoren voraussetzen.115 Für einen Kostenersatz spricht, dass er auch 112 Kritisch zur Heranziehung dieses Kriteriums aber zB Pichler / Kaufmann, The European Citizens’ Initiative (Fn 1) 135 ff, da es sich ja nicht um eine Wahl, sondern nur um einen „Akt des Agenda-Setting“ handle. 113 Hätte man hingegen in der Verordnung ein Mindestalter festlegen wollen (mit großer Wahrscheinlichkeit von 18 Jahren), so hätte das für Österreich einen erheblichen Aufwand bedeutet und zwei Jahrgänge aus der Wahlberechtigung ausgeschlossen. 114 Pichler, We change Europe! (Fn 71) 109. Wenn die Kommission nicht Finanzierung und einen unterstützenden Rahmen bereitstelle, produziere die EBI genau das Gegenteil ihrer eigentlichen Zielsetzung beim Bürger, nämlich Frustration. 115 Österreich bildet (ebenso wie Spanien) eine Ausnahme, indem es eine geringe Kostenerstattung im Ausmaß von max 11.000 € bietet, wenn das Volksbegehren 100.000 Unterschriften erreicht hat. Bei einem Volksbegehren in Österreich entstehen allerdings geringe Kosten für die Sammlung der Unterstützungserklärungen, da sie verpflichtend in Amtsstuben stattfindet; da aber die
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finanzschwachen Initiativen eine EBI ermöglichen würde. Andererseits besteht natürlich die Gefahr des Missbrauchs,116 etwa auch dahingehend, dass eine EBI nur als Werbung für die eigene Organisation oder gar für ein kommerzielles Produkt eingesetzt wird. d. Registrierung einer geplanten Bürgerinitiative Art 4 Abs 1 Entwurf EBI-VO sieht vor, dass noch bevor die Sammlung von Unterstützungsbekundungen für eine geplante EBI eingeleitet wird, der Organisator bei der Kommission diese anzumelden und jene Informationen zum Gegenstand und zu den Zielen sowie zu den Quellen der Finanzierung und Unterstützung bereitzustellen hat, die Anhang II auflistet.117 Dazu gehören die Bezeichnung der geplanten Bürgerinitiative in höchstens 100 Zeichen, die Bezeichnung des Gegenstands in höchstens 200 Zeichen, die Beschreibung der Ziele des Vorschlags, in dessen Zusammenhang die Kommission zum Tätigwerden aufgefordert werden soll, in höchstens 500 Zeichen; die Rechtsgrundlage der Verträge, die der Kommission das Tätigwerden ermöglichen;118 die vollständige Bezeichnung, Postanschrift und Email-Adresse des Organisators bzw des gesetzlichen Vertreters einer juristischen Person oder Organisation und alle Quellen zur Finanzierung und Unterstützung der geplanten Initiative zum Zeitpunkt der Registrierung.119
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Eintragungsmöglichkeit nur für eine Woche besteht, besteht ein hoher finanzieller Werbeaufwand. Der EWSA kann „[K]einesfalls akzeptieren“, dass keine Form öffentlicher Unterstützung und Finanzierung von EBIs vorgesehen ist. Das Missbrauchsargument lässt er nicht gelten; EWSA, SC/032 Ziff 4.13.2. Die Anforderungen an die Organisatoren hinsichtlich der Registrierung sollen einerseits die notwendige Transparenz auch hinsichtlich der Finanzierung und andererseits ihre demokratische Rechenschaftspflicht absichern. Anhang II Nr 4 idF der Allgemeinen Ausrichtung sieht die Angabe der möglichen Rechtsgrundlage für das Tätigwerden der Kommission aus der Sicht des Organisators vor. Dies allerdings zu Recht nur fakultativ, weil die Prüfung der Rechtsgrundlagen durch die Kommission zu erfolgen hat und nicht dem Organisator aufgebürdet werden kann und soll. Diese Informationen sind in einer der Amtssprachen der Union in einem zu diesem Zweck von der Kommission zur Verfügung
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Grundsätzlich registriert die Kommission die geplante Initiative unter einer einheitlichen Registrierungsnummer und übersendet dem Organisator eine Bestätigung (Art 4 Abs 2 Entwurf EBI-VO); die registrierte EBI wird im Register veröffentlicht (Art 4 Abs 5 Entwurf EBI-VO),120 in dem auch die Informationen über die EBI bereitgestellt werden (Art 4 Abs 2 UAbs 2 Satz 1 Entwurf EBIVO). Die Registrierung bedeutet nicht die Unterstützung der EBI durch die Kommission. Nicht registriert werden sollen Bürgerinitiativen, die „berechtigterweise als unangemessen betrachtet werden können, weil sie missbräuchlich sind oder es ihnen an Ernsthaftigkeit fehlt“ (Art 4 Abs 3 Entwurf EBI-VO); ebenso soll die Registrierung geplanter Bürgerinitiativen, „die sich eindeutig gegen die in Artikel 2 EUV verankerten Werte der Union richten“ oder die „eindeutig nicht in den Geltungsbereich der Verträge fallen“ (Art 4 Abs 4 Entwurf EBI-VO),121 abgelehnt werden. Die Konformität mit den Unionswerten wird an Art 2 EUV und seiner Ausformung in einschlägigen Dokumenten und Initiativen der Union zu messen sein. Für die Beurteilung der Frage, wann eine geplante Bürgerinitiative als unangemessen anzusehen ist, worin der Missbrauch besteht oder wann es an der Ernsthaftigkeit fehlt, enthalten die Vorschläge keine konkreten Vorgaben; hier wird jeweils eine Einzelfallprüfung zu erfolgen haben. Durch den Entwurf nicht geklärt bzw geregelt ist unter anderem die Frage, in welcher Form die Bürgerinitiative vorzulegen bzw wie sie abzufassen ist? Soll es sich bereits um einen ausformulierten Entwurf eines Rechtsaktes handeln?122 Eine solche Forderung wurde weitgehend als „unnötig und schwerfällig“ erachtet123 und ist auch dem Wortlaut des EUV nicht zu entnehmen.
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gestellten Online-Register bereitzustellen (Art 4 Abs 1 UAbs 2 Entwurf EBI-VO). Die Bereitstellung der registrierten EBI in anderen Amtssprachen soll dem Organisator freistehen (Art 4 Abs 1 UAbs 2 Satz 2 Entwurf EBI-VO idF der Allgemeinen Ausrichtung). Mit der Veröffentlichung auf der Website, also noch vor Beginn der Sammlung der Unterstützungsbekundungen, beginnen die an die Anmeldung der geplanten Bürgerinitiative geknüpften Fristen zu laufen. Art 4 Abs 4 Entwurf EBI-VO idF der Allgemeinen Ausrichtung. Wie zB in Österreich und anderen Mitgliedstaaten bei Volksbegehren verlangt. Die Bundesarbeiterkammer sieht in einer solchen Forderung eine „völlig unzumutbare Hürde“.
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Andererseits könnte ein solches Kriterium als Filter hinsichtlich der Seriosität einer Bürgerinitiative angesehen werden. Jedenfalls vermieden werden sollte ein unklarer, nicht hinreichend detaillierter Text, da er einerseits für die Unterzeichner irreführend sein könnte und es andererseits der Kommission schwer macht, präzise zu antworten. Zumindest Ziel und Gegenstand müssen klar formuliert sein. Ferner: Ist eine negative Entscheidung der Kommission hinsichtlich der Registrierung der EBI in einem Rechtsschutzverfahren bekämpfbar? Eine Nichtigkeitsklage natürlicher oder juristischer Personen gegen den Kommissionsakt ist grundsätzlich nur zulässig, wenn dieser Rechtswirkungen gegenüber diesen hat und deren Rechte beeinträchtigt.124 Die Ablehnung der Registrierung ist dem Organisator zumindest in Form der „Bestätigung“ bekannt zu geben und zu begründen, dies mit dem Ziel, die Überprüfung des Aktes im Hinblick auf seine Rechtmäßigkeit durch den Gerichtshof zu ermöglichen. Sollte die Kommission untätig bleiben, ist wohl eine Untätigkeitsklage gemäß Art 265 AEUV möglich. e. Verfahren und Bedingungen für die Sammlung von Unterstützungsbekundungen Für die Sammlung der notwendigen Unterstützungserklärungen ist der Organisator verantwortlich. Die Sammlung kann entweder in Papierform oder elektronisch erfolgen (Art 5 Abs 2 Entwurf EBIVO). Wird die Unterstützungserklärung in Papierform abgegeben, so sind hiefür die in Anhang III an den Verordnungsvorschlag angeschlossenen Formulare zu verwenden, die in einem ersten Teil vom Organisator selbst und in einem zweiten Teil vom Unterzeichner auszufüllen sind. Der Unterzeichner hat dabei insbesondere neben seinem Namen, Anschrift und Geburtsdatum und -ort auch die Staatsangehörigkeit und eine persönliche Identifikationsnummer anzugeben. Diese ergibt sich entweder aus dem Personalausweis, Reisepass oder der Sozialversicherungsnummer. Anzugeben ist auch der Mitgliedstaat, der die Identifikationsnummer bzw das Ausweisdokument ausgestellt hat, weil sich daraus die Zuordnung der Unterstützungserklärung zu den einzelnen Mitgliedstaaten ergibt. In Punkt 7 weist das Formular ausdrücklich daraufhin, dass der Unterzeichnende bestätigen muss, dass er diese Bürgerinitiative nur einmal unterstützt hat, so wie es sich aus Art 5 Abs 2 und Abs 3 124 EuGH, Rs 60/81, IBM/Kommission, Slg 1981, 2639, Rn 9.
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Entwurf EBI-VO ergibt.125 Schließlich enthält Art 5 Abs 3 Entwurf EBI-VO weitere Anforderungen über die Angaben zu den personenbezogenen Identitätsdaten. Die Allgemeine Ausrichtung sieht in Art 5 Abs 3a weiters vor, dass einerseits die Mitgliedstaaten Änderungen der in Anhang III enthaltenen Informationen der Kommission zu übermitteln haben und die Kommission darauf hin im Wege delegierter Rechtsakte die entsprechenden Änderungen des Anhangs III beschließen kann. Der Unterstützungsbekundung in Papierform gleichzuhalten ist eine elektronische, die mittels einer fortgeschrittenen elektronischen Signatur iSd RL 1999/93/EG126 unterzeichnet wurde (Art 5 Abs 2 UAbs 2 Entwurf EBI-VO idF Allgemeine Ausrichtung). Die Sammlung der Unterstützungsbekundungen kann wie erwähnt auch durch Online-Sammelsysteme erfolgen. Die näheren technischen Anforderungen zur Gewährleistung der Sicherheit der Online-Sammelsysteme enthält einerseits Art 6 Abs 4 lit a - lit d Entwurf EBI-VO bzw soll gemäß Art 6 Abs 5 iVm Art 19 Entwurf EBI-VO die Kommission innerhalb von zwölf Monaten127 nach Inkrafttreten der Verordnung im Regelungsverfahren (Art 5 und Art 7 Beschluss 1999/468/EG) technische Spezifikationen für die Umsetzung der in Art 6 genannten Anforderungen erlassen.128 Das Regelungsverfahren wird im gegenständlichen Fall jedoch voraussichtlich keine Anwendung mehr finden, da die geltenden Komitologie-Verfahren mit 1. Oktober 2010 durch zwei neue Verfahren ersetzt werden sollen.129 Im Wesentlichen geht es darum 125 Dennoch kann es hier zu Problemen kommen. So hat zB die WKO in ihrer Stellungnahme als Beispiel angeführt, dass es allein in Österreich 500 Personen gibt, deren Vor- und Familienname ident ist. 126 Richtlinie 1999/93/EG des EP und des Rates vom 13.12.1999 über gemeinschaftliche Rahmenbedingungen für elektronische Signaturen, ABl 2000 L 13/12. 127 Gemäß Allgemeiner Ausrichtung des Rates bereits nach 9 Monaten (Art 6 Abs 5). 128 Zum Regelungsverfahren vgl zB Waldemar Hummer / Walter Obwexer, Art 202 EGV, in Streinz (Hg), EUV/EGV. Kommentar (2003) Rn 47. 129 Der – auf Art 291 AEUV gestützte – Vorschlag für eine Verordnung des EP und des Rates zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren
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sicherzustellen, dass die Online-Sammelsysteme über angemessene Sicherheitsmerkmale und solche technische Merkmale verfügen, die gewährleisten, dass nur natürliche Personen ein Formular online einreichen können, dass die Identität der Person überprüft werden kann, dass die online-bereitgestellten Daten sicher abgespeichert werden und sichergestellt ist, dass sie nicht verändert werden oder für einen anderen Zweck als die Bürgerinitiative verwendet werden können, dass sie gegen zufällige oder unrechtmäßige Zerstörung, den zufälligen Verlust, die unberechtigte Änderung, die unberechtigte Weitergabe und den unberechtigten Zugang geschützt werden. Schließlich muss das System einzelne Unterstützungsbekundungen in einer Form erzeugen können, die dem in Anhang III dargelegten Modell entspricht.130 Das österreichische Innenministerium hat in Bezug auf die OnlineSammelsysteme und auf das erforderliche Datenclearing eine Reihe von Bedenken angemeldet. Es ist unbestritten, dass es hier entsprechende Kontrollmechanismen geben muss. Andererseits wird in pragmatischer Betrachtung von vielen darauf hingewiesen, dass sehr viel kriminelle Energie erforderlich ist, um Unterstützungserklärungen im großen Stil zu fälschen. Für große Organisationen ist es wesentlich leichter und billiger, über normales Lobbying ihre Positionen bei der Kommission zu deponieren. Nicht auszuschließen ist aber die Gefahr des Abschöpfens dieser Erklärungen durch professionelle Datenjäger. Art 5 und 6 Entwurf EBI-VO stellen einen gangbaren Kompromiss dar. Die Voraussetzungen an die Sammlung sollten einerseits gewährleisten, dass die Echtheit und Zahl der Unterschriften entsprechend geprüft werden kann, andererseits aber keine übermäßigen bürokratischen Anforderungen damit verbunden sind. Ursprünglich waren als Option auch die Anknüpfung an bestehende nationale Regelungen oder überhaupt eine vollständige Angleichung durch eine eigene Verordnung erwogen worden. Die (KOM[2010] 83 endg vom 9.3.2010), sieht nur noch ein Beratungsverfahren und ein Prüfverfahren vor; letzteres soll an die Stelle des Regelungsverfahrens treten (Art 5 und Art 10 Verordnungsvorschlag). Vgl Obwexer / Villotti, Die Europäische Bürgerinitiative (Fn 4) Manuskript 15 f. 130 Auf die mit der Erfüllung dieser Voraussetzungen zusammenhängenden technischen Fragen kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.
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erste Option hätte allerdings eine Reihe von Schwierigkeiten mit sich gebracht, da die nationalen Regelungen zT sehr unterschiedlich sind, während andererseits die vollständige Angleichung wiederum zusätzliche Anforderungen für jene Mitgliedstaaten bedeutet hätte, die schon entsprechende Regelungen haben. Einen wichtigen Diskussionspunkt in der Konsultationsphase stellte die Frage dar, wie lang der Zeitraum für die Unterstützungsbekundungen nach erfolgter Registrierung sein sollte. Die vorgeschlagenen Zeiträume schwankten im Wesentlichen zwischen 6 und 18 Monaten.131 Sowohl der Entwurf EBI-VO als auch die Allgemeine Ausrichtung sehen nunmehr in Art 5 Abs 4 einen Zeitraum von 12 Monaten vor. Dieser Zeitraum ist als adäquat anzusehen, da einerseits die auf mindestens 9 Mitgliedstaaten verteilte Sammlung von Unterschriften nicht leicht und zügig erfolgen kann, zum Anderen aber ein längerer Zeitraum die Dynamik der EBI gefährden könnte.132 Im Entwurf nicht geregelt ist die Frage, ob eine Initiative zu ein und demselben Thema mehrfach eingebracht werden kann, bzw ob unter Umständen auch gleichzeitig mehrere EBIs zum selben Thema trotz Veröffentlichung der Anmeldung einer Initiative zulässig sein sollen oder ob eine wiederholte Einbringung einer einmal bereits gescheiterten EBI ebenfalls möglich ist. Der EWSA hält alle diese Möglichkeiten für uneingeschränkt zulässig, da die EBI nur dem Agenda-Setting diene. Dies könnte aber auch die Ernsthaftigkeit der EBI als Instrument gefährden. Es wäre daher sinnvoll, bei Zulässigkeit der erneuten Einbringung gewisse Fristen bzw Voraussetzungen vorzusehen. Zu strikt scheint hier die Auffassung der Wirtschaftskammer Österreich, die ein zweijähriges Moratorium vorsehen will. Faktum ist, dass das Primärrecht keine derartige Beschränkung vorsieht und eine solche daher rechtlich auch nicht im Sekundärrecht eingeführt werden kann. Allerdings 131 Die Wirtschaftskammer Österreich hat beispielsweise vorgeschlagen, für die Kampagne zur EBI einen Zeitraum von 4 bis 6 Monaten einzuräumen, für die Abgabe der Unterstützungsbekundungen jedoch nur einen Monat. Diese relativ restriktive Variante kommt allerdings den österreichischen Regelungen entgegen, die überhaupt nur die Sammlung in Amtsräumlichkeiten bzw in Anwesenheit von Amtspersonen wie Notaren usw vorsieht und dies nur innerhalb einer Woche. 132 So auch das Arbeitsdokument Ziff IV-19.
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wird man berücksichtigen müssen, dass durch mehrfaches Einbringen ein und derselben Initiative diese in der Praxis wohl entwertet würde. f. Entscheidung über die Zulässigkeit einer registrierten EBI Der Modus und die Frage, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form die Zulässigkeit einer EBI geprüft werden sollte, gehört zu den zentralen Fragen des Entwurfs. Derzeit liegen folgende Varianten auf dem Tisch: Nach dem Entwurf der Kommission (Art 8) soll die Entscheidung über die Zulässigkeit der geplanten EBI erst erfolgen, nachdem der Organisator 300.000 Unterstützungsbekundungen aus mindestens drei Mitgliedstaaten gesammelt hat. Der Rat schlägt nunmehr vor, die Zahl der für diese Phase erforderlichen Unterstützungsbekundungen auf 100.000 zu reduzieren,133 nachdem er in der früheren Fassung der Allgemeinen Ausrichtung134 die Entscheidung über die Registrierung und die Zulässigkeit in einem getroffen sehen wollte. Das Arbeitsdokument der EP-Berichterstatter ist in dieser Frage etwas unentschlossen, doch wollen diese einer Prüfung erst nach einer Sammlung von 100.000 oder 300.000 Unterschriften jedenfalls nicht zustimmen, weil dies den Organisatoren zu große Enttäuschung bereiten würde.135 Das Arbeitsdokument stellt überhaupt eine ganz andere Vorgangsweise bei der Zulässigkeitsentscheidung zur Diskussion: Diese sollte entweder nach 5000 gesammelten Unterschriften oder überhaupt direkt nach der Registrierung erfolgen.136 Um die Kommission nicht dem Verdacht auszusetzen, eher aus politischen als aus rechtlichen Gründen über die Zulässigkeit einer EBI zu entscheiden, könnte ein „Ad-hoc-‚Ausschuss der Weisen’“ eingesetzt werden, von denen neun von den Organen Kommission, Rat und EP ernannt würden, dazu ein Vertreter der Kommission, der Präsidentschaft und ein Mitglied des EP, dh insgesamt 10 oder 12 Personen.137 Im Falle einer Unzulässigkeitsentscheidung sollte eine Berufungsmöglichkeit an die Kommission bestehen, bzw bei
133 134 135 136 137
Art 8 Abs 1 idF Allgemeine Ausrichtung. Dok 10626/1/10 REV 1 vom 11.6.2010, Art 4. Arbeitsdokument Ziff III.9. Arbeitsdokument Ziff III.9. Arbeitsdokument Ziff III.10-11.
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Ablehnung auch durch diese an den EuGH.138 Es ist nicht ersichtlich, welchen Vorteil diese Konstruktion haben sollte; sie ist in keiner Weise durch das Primärrecht indiziert und vor allem hätte sie wohl eher das Gegenteil ihres angebliches Zieles – Wahrung der Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit der Kommission – zur Folge. Gestützt auf Art 11 Abs 4 EUV formuliert Art 8 Abs 2 Entwurf EBI-VO zwei positive Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Initiative: Sie muss ein Thema betreffen, zu dem ein Rechtsakt der Union verabschiedet werden kann, um die Verträge umzusetzen (lit a) und sie muss in den Rahmen der Befugnisse der Kommission, einen Vorschlag zu unterbreiten, fallen (lit b). Im Hinblick auf diese beiden Voraussetzungen wurde die Frage aufgeworfen, ob eine EBI auch auf die Aufhebung eines bestehenden Rechtsakts oder gar auf eine Initiative der Kommission zu einer Vertragsänderung abzielen kann. Nach hA139 ist die EBI nicht als Initiative zu einer Vertragsänderung konzipiert: Zum Einen sind die möglichen Vertragsänderungsverfahren in Art 48 EUV abschließend geregelt und es ist nicht vorgesehen, dass die Kommission in dieser Frage zur Ausübung ihres Initiativrechts nach Art 48 Abs 1 EUV aufgefordert werden kann; vor allem aber spricht der Wortlaut des Art 11 Abs 4 EUV dagegen, wenn er darauf abstellt, dass Unionsbürger die Kommisson auffordern140 können, „im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen.“ Wohl aber zulässig könnte eine Initiative in Form der EBI für vereinfachte Vertragsändungen gemäß Art 48 Abs 7 EUV sein, weil hier – anders als Art 48 Abs 2 bis Abs 6 EUV – die Initiatoren nicht abschließend genannt seien.141 Eine solche Argumentation mag formal vertretbar sein, ob sie allerdings dem Geist des Art 11 Abs 4 EUV entspricht, darf bezweifelt werden. Darüber hinaus scheint auch der Wortlaut klar auf Gesetzgebungsvorschläge der Kommission im Rahmen der 138 Arbeitsdokument Ziff III.12. 139 Vgl die Nachweise bei Maurer / Vogel, Die Europäische Bürgerinitiative (Fn 66) 21. 140 Zur Frage, ob und inwieweit die Kommission dieser Aufforderung tatsächlich Folge leisten muss siehe Pkt III.C.2.h nachstehend auf S 191. 141 Maurer / Vogel, Die Europäische Bürgerinitiative (Fn 66) 22.
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Verfahren zur Setzung sekundären Unionsrechts abzustellen. Daher ist die Zulässigkeit einer Initiative zur Aufhebung eines eben beschlossenen Rechtsaktes wohl eher zu verneinen.142 Über Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer EBI hat die Kommission gemäß Art 8 Abs 2 Entwurf EBI-VO binnen zwei Monaten ab Eingang des Antrags143 zu „entscheiden“. Das hierfür zur Verfügung stehende Instrument ist der Beschluss iSd Art 288 Abs 4 Satz 2 AEUV. Da dieser aber nicht nur den Organisator trifft, sondern auch die Unterzeichner, ist er mit allgemeiner Geltung zu erlassen und gemäß Art 297 Abs 2 UAbs 2 AEUV im Amtsblatt der Union zu veröffentlichen.144 Er kann sowohl vom Organisator als auch durch jeden Unterzeichner mit Nichtigkeitsklage bekämpft werden. Bei Untätigkeit kommt eine Untätigkeitsklage in Frage. g. Überprüfung und Zertifizierung von Unterstützungsbekundungen durch die Mitgliedstaaten Hat der Organisator die erforderlichen Unterstützungsbekundungen in den einzelnen Mitgliedstaaten gesammelt, so legt er den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaates die Unterstützungsbekundungen in Papier- oder in elektronischer Form zur Überprüfung und Zertifizierung vor, wobei er hiefür das Formular in Anhang VI verwenden muss. ME hat man sich zu Recht für die Prüfung und Zertifizierung nicht durch die Kommission, sondern durch die Mitgliedstaaten ausgesprochen, da diese Prüfung von der späteren inhaltlichen Beurteilung der EBI streng getrennt werden muss. Abgesehen davon dürfte die Kommission auch weder die quantitative noch inhaltliche Kapazität dafür haben. In Österreich wird das Bundesministerium für Inneres die zuständige Behörde sein. Da gemäß Art 7 Abs 4 Entwurf EBIVO idF Allgemeine Ausrichtung ein Unterzeichner als aus dem Mitgliedstaat stammend gilt, der für die Überprüfung der Unterstützungsbekundungen zuständig ist, kommt der Festlegung
142 Obwexer / Villotti, Die Europäische Bürgerinitiative (Fn 4) Manuskript 12, vertreten indes die Auffassung, dass eine EBI sowohl den Erlass neuer als auch die Änderung oder Aufhebung bestehender Rechtsakte zum Gegenstand haben kann. 143 Hierzu hat der Organisator das Formular gemäß Anhang V zu verwenden. 144 Obwexer / Villotti, Die Europäische Bürgerinitiative (Fn 4) Manuskript 12.
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der hierfür zuständigen Behörden große Bedeutung zu. Art 9 Abs 1 des Kommissionsentwurfs verweist in diesem Zusammenhang auf Art 14 und die gemäß dieser Bestimmungen von den Mitgliedstaaten zu benennenden zuständigen Behörden. Art 9 Entwurf EBI-VO idF Allgemeine Ausrichtung legt die Kriterien des für die Überprüfung der Unterstützungsbekundungen zuständigen Mitgliedstaates in Abs 1 UAbs 2 fest. Es ist dies demnach entweder der Mitgliedstaat, der das/die in der Unterstützungsbekundung angegebene Ausweisdokument/Identitätsnummer ausgestellt hat, sofern der betreffende Mitgliedstaat in Teil B des Formulars im Anhang III aufgeführt ist oder in allen anderen Fällen der in der Unterstützungsbekundung angegebene Mitgliedstaat des Wohnsitzes des Unterzeichners gemäß Teil A des Formulars in Anhang III.145 Die Überprüfung durch die zuständigen Behörden hat innerhalb von höchstens drei Monaten nach Erhalt des Antrags zu erfolgen und diese sodann dem Organisator eine Bescheinigung entsprechend dem Modell in Anhang VII über die Zahl der gültigen Unterstützungsbekundungen für diesen Mitgliedstaat auszustellen (Art 9 Abs 2 UAbs 1 Entwurf EBI-VO idF Allgemeine Ausrichtung). Eine wichtige Frage ist jene, wie intensiv oder ausführlich die Überprüfung durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zu erfolgen hat. Der Kommissionsentwurf sah in Art 9 Abs 2 eine Überprüfung in „angemessener Form“ vor; die Allgemeine Ausrichtung ergänzt dies insoweit, als die vorgelegten Unterstützungserklärungen „in angemessener Form im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ zu überprüfen sind. Haben die zuständigen Behörden nur die Echtheit der Unterstützungsbekundung oder auch die Angaben bezüglich Wohnsitz, Staatsbürgerschaft usw zu überprüfen? Ist jede einzelne Unterstützungserklärung zu überprüfen oder genügt eine stichprobenartige Überprüfung. Letzteres ist für das Bundesministerium für Inneres „undenkbar“, während zB das 145 In Teil A des Anhangs werden jene Mitgliedstaaten angeführt (Dänemark, Irland, Niederlande, Finnland, Vereinigtes Königreich und Slowakei), die neben den grundlegenden Daten der Unterstützer keine weiteren Angaben zur Identifizierung der Person verlangen, während in Teil B jene Staaten aufgelistet sind, die ganz konkrete Ausweisdokumente bzw Identitätsnummern für die Unterstützungsbekundung verlangen; in Österreich sind das Reisepass oder Personalausweis.
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Arbeitsdokument davon ausgeht, dass Stichprobenprüfungen der effizienteste Weg sein dürfte.146 In der Tat scheint eine Überprüfung aller Unterstützungsbekundungen im Einzelnen in der Praxis kaum bewältigbar. Doch selbst bei umfassender Einzelprüfung wird man Missbrauch (etwa durch Doppelstaatsbürger) nicht vollständig ausschließen können, sondern sich darauf verlassen müssen, dass der Bürger, wie in Nr 7 der Unterstützungsbekundung gefordert, die EBI nur einmal unterstützt. Offen bleibt, was getan werden kann, wenn ein Mitgliedstaat nicht innerhalb der vorgesehenen Dreimonatsfrist die Überprüfung und Zertifizierung vornimmt. Praktisch wird das wohl zu einem Dialog der Kommission mit dem Mitgliedstaat führen. Letzten Endes ist aber auch die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen den betreffenden Mitgliedstaat nicht ausgeschlossen. h. Vorlage der EBI bei der Kommission sowie Überprüfung der EBI durch die Kommission Hat der Organisator die Zahl der im betreffenden Mitgliedstaat gesammelten gültigen Unterstützungsbekundungen gemäß Anhang VII erhalten, so kann er die EBI bei der Kommission zur inhaltlichen Beurteilung einreichen, womit das Verfahren in die entscheidende Phase eintritt. Für das Einreichen der EBI ist das Formular gemäß Anhang VIII zusammen mit den Kopien der oben genannten Bescheinigungen der zuständigen Behörden in Papieroder elektronischer Form zu verwenden; die Kommission kann auch die Vorlage der Originale der Bescheinigungen verlangen. In der Allgemeinen Ausrichtung wird zusätzlich die Übermittlung der Informationen über alle Formen der Finanzierung und Unterstützung für die EBI verlangt (Art 10 Abs 3). Dies scheint allerdings an dieser Stelle wenig sinnvoll, da die Information über Finanzierung und Unterstützung für die inhaltliche Beurteilung nicht mehr relevant sein sollte. Vielmehr ist diese zu Beginn der EBI wichtig, wenn abgeschätzt werden muss, ob es sich nicht um eine missbräuchliche Verwendung des Instruments handelt. Die Kommission hat die eingereichte EBI unverzüglich auf ihrer Webseite zu veröffentlichen (Art 11 Abs 1 lit a Entwurf EBIVO), „die Bürgerinitiative zu überprüfen und innerhalb von vier Monaten in einer Mitteilung ihre Schlussfolgerungen zu der 146 Arbeitsdokument Ziff 5.20.
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Initiative sowie ihr weiteres Vorgehen und die Gründe hierfür darzulegen“ (lit b). Schon bei der Vorbereitung des Kommissionsvorschlages war klar, dass, obwohl im Vertrag selbst keine Frist für die Prüfung durch die Kommission vorgesehen ist und die Dauer dieser Prüfung auch von der Komplexität abhängig sein wird, doch ein gewisser Zeitrahmen vorgegeben werden sollte, der einerseits lang genug sein müsste, um eine gründliche Prüfung zu ermöglichen, aber andererseits angemessen sein soll, sodass eine Information der Initiatoren über das weitere Vorgehen der Kommission ermöglicht wird. Als Maximalzeitraum waren sechs Monate diskutiert worden. Das EP hatte vorgeschlagen, die Prüfung am Ende vorzunehmen, aber zwei Monate für die Repräsentativität und weitere drei Monate für das weitere Vorgehen der Kommission vorzusehen. Diese Grundlinie behält auch das Arbeitsdokument bei, das einen zweistufigen Prozess bei der Kommission vorsieht: Innerhalb von zwei Monaten sollte in einer ersten Phase der Beschluss über die rechtlichen Aspekte der EBI erfolgen und in einer zweiten Phase ein politischer Beschluss über die Weiterbehandlung der EBI. Die Schlussfolgerungen sollten an die Organisatoren gesandt und in einer Mitteilung an Rat und EP erläutert sowie anschließend im Amtsblatt der EU und auf der spezifischen Website der EBI veröffentlicht werden, auch das innerhalb von zwei Monaten.147 Die entscheidende Frage ist aber, welche Verpflichtungen sich konkret für die Kommission aus einer EBI, die die Voraussetzungen von Vertrag und Verordnung erfüllt, ergeben. Unbestritten ist, dass sich die Kommission mit der EBI sachlich und pflichtgemäß auseinandersetzen muss. Dennoch bleiben viele Fragen offen: Ist zB ein Vorschlag für einen Gesetzgebungsakt, sofern ein solcher der EBI angeschlossen ist, wortgetreu zu übernehmen oder hat die Kommission, wenn sie sich für eine Legislativinitiative entscheidet, die Freiheit, diesen für ihren Gesetzgebungsvorschlag zu modifizieren? Die Annahme einer Verpflichtung, einen vorgelegten Entwurf oder Rechtsetzungsakt vollständig zu übernehmen, wäre wohl ein nicht tolerabler Eingriff in die Freiheit und Unabhängigkeit der Kommission im Rahmen ihres Initiativrechts. Übereinstimmung dürfte dahingehend bestehen, dass die Kommission eine EBI jedenfalls nicht unbeantwortet lassen darf und im Fall der Zurückweisung dies zu 147 Arbeitsdokument Ziff V.21.
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begründen hat.148 Reagiert die Kommission überhaupt nicht auf die EBI, so würde das wohl eine klare Verletzung ihrer Pflichten zum Tätigwerden bzw auch eine Verletzung des Art 11 Abs 4 EUV darstellen. Würde man einen solchen Vorschlag nur als bloß unverbindliche Anregung verstehen, wäre die EBI selbst überflüssig. Manche Autoren sehen in der Tat keine Verpflichtung der Kommission zur Vorlage eines Rechtsaktes und stützen sich dabei insbesondere auf den Wortlaut, der nur vorsieht, dass die Kommission aufgefordert wird, die EBI im Hinblick auf eine mögliche Legislativinitiative zu prüfen.149 Andere wiederum sehen sehr wohl eine Verpflichtung zur Vorlage eines Rechtsaktentwurfs, der aber unter Umständen dem Entwurf der EBI auch diametral entgegengesetzt sein könnte. Hier wird die Auffassung von Maurer / Vogel geteilt, wonach die Kommission aufgrund ihres Initiativmonopols150 eine entsprechende Freiheit haben muss. Die einzige Schranke besteht darin, dass der Vorschlag sich auf das Thema der EBI beziehen muss. Eine vermittelnde Position nimmt Ruffert ein,151 der meint, dass ein Vorschlag der Kommission nur in begründeten, klar definierten Ausnahmefällen entfallen könne, weil das neue Bürgerrecht sonst leerliefe. Es bleibt allerdings fraglich, wie man diese Ausnahmefälle vorweg definieren soll. Für den Fall, dass die Kommission beschließt, keinen Vorschlag vorzulegen, vertritt das Arbeitsdokument des EP die Meinung, dass zur Vermeidung von Enttäuschung seitens der Bürger ein Ausweichverfahren vorgesehen werden müsste, für das es mehrere Optionen gäbe: Zum Einen könnte die Kommission immer noch beschließen, einen Vorschlag auf Grundlage einer EBI vorzulegen, die nicht genug Unterstützung enthalten hat, aber doch ein stichhaltiges Thema anspricht. Rat und EP könnten ebenfalls eine nicht erfolgreiche EBI gemäß ihren Initiativrechten aufgreifen, das EP könnte insbesondere eine Anhörung der Organisatoren abhalten und eine entsprechende Entschließung einbringen. Bei 148 So auch Sylvia-Yvonne Kaufmann / Wolfram Jens (Hg), Die EU und ihre Verfassung. Linke Irrtümer und populäre Missverständnisse zum Vertrag von Lissabon (2008) 175. 149 Folz, Art I-48 EVV (Fn 24) Rn 3. 150 Zum Verhältnis zwischen EBI und Initiativmonopol der Kommission siehe auch Obwexer / Villotti, Die Europäische Bürgerinitiative (Fn 4) Manuskript 15 f. 151 Ruffert, Art I-47 EVV (Fn 20) Rn 19.
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Vorliegen der in der Geschäftsordnung des EP festgelegten Kriterien könnten die Organisatoren die EBI gegebenenfalls auch in eine Petition umwandeln.152 Diese Möglichkeiten sind den genannten Organen schon aufgrund des Primärrechts unbenommen und bedürfen daher keiner ausdrücklichen Erwähnung in der Verordnung selbst. Die Prüfung der Kommission gemäß Art 10 Entwurf EBI-VO umfasst einerseits die formelle Prüfung der Repräsentativität der EBI und andererseits die materielle Prüfung des Anliegens der EBI. Erstere muss durch gerichtlich nachprüfbaren Beschluss erfolgen, letztere kann aufgrund des weiten Ermessens der Kommission im Rahmen ihres Initiativrechts auch bloß zu einer Mitteilung führen. Im Ergebnis dürfte eine erfolgreiche Anfechtung einer negativen Entscheidung sehr schwierig werden.153 i. Sonstige Bestimmungen Die weiteren Bestimmungen des Verordnungs-Vorschlags betreffen den Schutz personenbezogener Daten (Art 12), die Haftung der Organisatoren für Schäden aufgrund der Organisation einer EBI und dafür vorzusehende Sanktionen (Art 13), die schon besprochenen Bestimmungen über die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten (Art 14), das Verfahren zur Änderung der Anhänge (Art 15), Ausübung und Widerruf der Befugnisübertragung an die Kommission zum Erlass delegierter Rechtsakte (Art 16 und 17), die Erhebung von Einwänden gegen delegierte Rechtsakte (Art 18) und die Einsetzung des Ausschusses, der die Kommission im Verfahren unterstützt (Art 19). Art 20 sieht eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten vor, der Kommission die besonderen Bestimmungen zu notifizieren, die der Mitgliedstaat zur Umsetzung der Verordnung verabschiedet. Da es sich bei der EBI um ein ganz neues Verfahren handelt, sieht Art 21 idF Allgemeine Ausrichtung eine Überprüfungsklausel vor, nach der drei Jahre nach Beginn der Anwendung der Verordnung die Kommission dem EP und dem Rat einen Bericht über die Umsetzung der Verordnung vorlegen muss.154 Die Verordnung soll am 20. Tag nach ihrer 152 Vgl Arbeitsdokument Ziff VI.II.25. 153 In diesem Sinne auch Obwexer / Villotti, Die Europäische Bürgerinitiative (Fn 4) Manuskript 14. 154 Der Kommissionsentwurf hatte hiefür eine Fünfjahresfrist vorgesehen.
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Veröffentlichung im Amtsblatt der EU in Kraft treten und nach Ablauf von 12 Monaten gelten.155 Damit soll den Mitgliedstaaten die erforderliche Zeit zur Umsetzung gegeben werden. Bezüglich des Schutzes der personenbezogenen Daten soll gemäß Art 12 Entwurf EBI-VO einerseits die RL 95/46/EG156 für Organisator und Behörden der Mitgliedstaaten Anwendung finden (Art 12 Abs 1 Entwurf EBI-VO) und die Verordnung (EG) Nr 45/2001157 auf die Organe und Einrichtungen der Union. Zwar wird die Verordnung nicht ausdrücklich in Art 12 erwähnt, wohl aber in Erwägungsgrund 20 der Präambel. Zusätzlich wird der Organisator in der Verordnung explizit als „Verantwortlicher“ iSd RL 95/46/EG bezeichnet. Die Daten müssen vom Organisator spätestens 1 Monat nach Einreichen der EBI bei der Kommission gemäß Art 10 Entwurf EBI-VO oder spätestens 18 Monate nach Registrierung einer geplanten EBI vernichtet werden, jeweils abhängig davon, welches das frühere Datum ist (Art 12 Abs 3 Entwurf EBI-VO). Außerdem muss der Organisator sicherstellen, dass die für eine bestimmte EBI gesammelten personenbezogenen Daten für keinen anderen als den für diese Initiative erklärten Zweck verwendet werden.158 Außerdem werden in Art 12 Abs 4 Entwurf EBI-VO idF Allgemeine Ausrichtung auch die zuständigen Behörden verpflichtet, die für eine bestimmte Bürgerinitiative erhaltenen personenbezogenen Daten ausschließlich zum Zweck der Überprüfung der Unterstützungsbekundungen gemäß Art 9 Abs 2 Entwurf EBI-VO zu verwenden und alle Unterstützungsbekundungen und Kopien derselben spätestens einen Monat nach Ausstellung der Bescheinigungen zu zerstören. Auch der Organisator selbst hat die technischen und organisatorischen Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich, geeignet und notwendig sind, um den Schutz gegen die zufällige oder unrechtmäßige 155 So Art 22 Abs 2 Entwurf EBI-VO idF Allgemeine Ausrichtung. 156 Richtlinie 95/46/EG des EP und des Rates vom 24.10.1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, ABl 1995 L 281/31. 157 Verordnung (EG) Nr 45/2001 des EP und des Rates vom 18.12.2000 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr, ABl 2001 L 8/1. 158 So die Ergänzung in Art 12 Abs 3 Satz 1 Entwurf EBI-VO idF Allgemeine Ausrichtung.
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Zerstörung, den zufälligen Verlust, die unberechtigte Änderung, die unberechtigte Weitergabe oder den unberechtigten Zugang – insbesondere wenn im Rahmen der Verarbeitung Daten in einem Netz übertragen werden – und gegen jede andere Form der unrechtmäßigen Verarbeitung personenbezogener Daten zu verhindern (Art 12 Abs 5 Entwurf EBI-VO). Obwohl die RL 95/46/EG uneingeschränkt gilt und entsprechende Bestimmungen betreffend Rechtsbehelfe, Haftung und Sanktionen vorsieht, verpflichtet Art 13 Entwurf EBI-VO idF Allgemeine Ausrichtung die Organisatoren ausdrücklich zur Haftung entsprechend dem anwendbaren Recht für alle Schäden, die sie bei einer Organisation einer Bürgerinitiative verursachen und Art 13a Entwurf EBI-VO zur Gewährleistung geeigneter Sanktionen gegen die Organisatoren für Verstöße gegen diese Verordnung, insbesondere für falsche Erklärungen der Organisatoren oder Datenmissbrauch. Diese Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.159 IV. Bewertung und Ausblick Mit Art 11 Abs 4 EUV wird „selbst im weltweiten Vergleich demokratisches Neuland betreten. Zum ersten Mal in der Geschichte der Demokratie erhalten Bürgerinnen und Bürger aus mehreren Staaten gemeinsam ein transnationales Mitbestimmungsrecht.“160 Die Bestimmung fügt sich damit in das im Lissabonner Vertrag erkennbare Bemühen ein, „Europa mit seinen Bürgern zu versöhnen und um Interesse und Engagement für Europa zu werben“.161 Die EBI bietet hierfür ein konkretes Instrument. Wo ihre Potentiale und Grenzen liegen, wird die Zukunft zeigen. Für die EBI – für ihren Sinn und Zweck – sprechen insbesondere jene Argumente, die traditionell für jede Form partizipativer Demokratie ins Treffen geführt werden können, also eine bessere Kontrolle der Organe, ein umfangreicheres Wissen der BürgerInnen über Entscheidungsprozesse, damit verbunden möglicherweise eine höhere Akzeptanz der Entscheidungen usw. Auch könnte die EBI einen Beitrag zur Herausbildung transnationaler Diskurse europäischer Bewegungen und Organisationen leisten. Auf der anderen Seite sind die Grenzen der EBI ebenfalls klar: Ihre 159 Art 13 Abs 2 Entwurf EBI-VO idF Allgemeine Ausrichtung. 160 EWSA, SC/032 Ziff 5.4. 161 Piepenschneider, Die EU nach Lissabon (Fn 11) 163.
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Funktion wird im Wesentlichen im Agenda-Setting bestehen, ein Eingriff in den Rechtsstatus der Kommission und ihre Autonomie ist damit wohl nicht verbunden. Unklar ist auch, was die Unionsbürger in ihrer Gesamtheit von einer solchen EBI halten, denn auch eine EBI mit mehr als einer Million Stimmen aus 9 Mitgliedstaaten belegt ja nur, dass eine relevante Minderheit von 0,2 % der Unionsbevölkerung in mehreren Mitgliedstaaten eine bestimmte Regelung befürwortet.162 Man wird also von EBIs keinen umfassenden Politikwandel erwarten dürfen und auch nicht unbedingt eine politische Aktivierung breiterer Bevölkerungsschichten. Daher werden sich auch die Transnationalisierungseffekte vermutlich in Grenzen halten. Manche sehen die Funktion der EBI primär in ihrer Mediation durch die Institutionen der Union und den daraus resultierenden deliberativen Elementen, ohne die extremen Nachteile direkter Demokratie, wie etwa Dominanz der Politik durch nichtrepräsentative Gruppen oder instabile politische Agenda aufzuweisen.163 Vieles wird auch von der Umsetzungsquote der EBI abhängen. Gemessen an den Erfahrungen der Mitgliedstaaten kann oder muss festgestellt werden, dass von den meisten Parlamenten Bürgerinitiativen häufig nicht in Gesetze umgesetzt werden. In Österreich, Italien, Spanien liegt der Schnitt bei 14 bis 20 %. In Österreich sind im Zeitraum seit 1945–2005 insgesamt 6 von 30, dh 20 % der Initiativen ganz oder teilweise als Gesetz beschlossen worden.164 Auf EU-Ebene könnte die Quote höher sein, weil hier die in der innerstaatlichen Politik traditionell dominierende Konkurrenz zwischen Regierung und Opposition (als solche wird auch die Bürgerinitiative gesehen) fehlt. Andererseits sind im Unionsgesetzgebungsprozess viele Akteure und auch viele „VetoSpieler“ beteiligt, die die Umsetzung behindern oder verhindern können. Bei der Frage der Umsetzungsquote muss man sich auch vor Augen halten, dass im Falle einer Ablehnung einer EBI Millionen von EU-Bürgern vor den Kopf gestoßen würden. Im Normalfall sollte eine EBI Ausdruck eines real existierenden gesellschaftlichen Problems sein, das von den Bürgern als wert erachtet wird, dass eine öffentliche Institution tätig wird. Die bloße 162 Maurer / Vogel, Die Europäische Bürgerinitiative (Fn 66) 11. 163 Editorial Comments, Direct Democracy and the European Union … Is that a Threat or a Promise? CMLR 45 (2008), 929 (938 f). 164 Maurer / Vogel, Die Europäische Bürgerinitiative (Fn 66) 18, Fn 56.
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Erklärung der Kommission, sie besitze hinsichtlich des Vorschlags keine Handlungsbefugnis aufgrund der Verträge, wäre daher möglicherweise rechtlich zutreffend, aber politisch inadäquat. Für diesen Fall wollen manche Autoren weitere Verpflichtungen der Kommission bzw aller Institutionen der Union annehmen.165 So sollte im Fall eines abschlägigen Bescheides die Kommission den Organisatoren mitteilen, wer die Befugnis besitze, die gestellte Frage zu behandeln und weiters sollte sich die Kommission selbst verpflichten, das Schicksal der Initiative trotzdem weiter zu verfolgen und zu überwachen. Neben der Kommission sollte aber auch das EP als „guardian of the citizens’ initiative“ agieren und gegebenenfalls das zuständige Kommissionsmitglied auffordern, eine Erklärung in der Sache abzugeben. Schließlich sollte es nach Kaczyski überhaupt nicht nur das formale Initiativrecht der Kommission, sondern auch ein politisches Initiativrecht in dem Sinn geben, dass die Kommission die EBI wie eine Aufforderung des EP nach Art 225 AEUV sehen sollte, „nämlich geeignete Vorschläge zu Fragen zu unterbreiten, die nach seiner Auffassung die Ausarbeitung eines Gemeinschaftrechtsakts zur Durchführung des Vertrags erfordern“ bzw auch die Aufforderung durch den Rat, sich einer Sache anzunehmen. Dieses politische Initiativrecht würde in gleicher Weise der Kommission, dem Europäischen Rat, dem EP und der organisierten Zivilgesellschaft zukommen. ME sollte zunächst das vorhandene Instrument mit Leben gefüllt werden und nicht daraus weiterreichende Ableitungen für das institutionelle Gefüge gezogen werden. Der Erfolg der partizipativen Demokratie ist nicht davon abhängig, sondern von Substanz und Repräsentativität einer EBI. Eine wichtige Rolle wird hierbei wohl auch dem EuGH in der Definition der politischen Qualität und des demokratischen Potentials der EBI durch Auslegung des Art 24 AEUV zukommen.166 Die EBI könnte ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung vom „Europa für die Bürger“ zu einem „Europa der Bürger“ sein. Es wird an den BürgerInnen selbst liegen, den durch den Vertrag von Lissabon geöffneten „demokratischen Raum in Besitz zu
165 Piotr Maciej Kaczyski, The European Citizens’ Initiative: A Proper Response from the Commission, CEPS Commentary (2010) 8.1.2010. 166 Editorial Comments, Direct Democracy (Fn 161) 939-940.
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nehmen“167 und durch ihre Partizipation an dieser „hybriden Demokratie sui generis“168 die Legitimation der Union zu stärken.
167 Jacqué, Der Vertrag von Lissabon (Fn 10) 115. 168 Jared Sonnicksen, Die demokratischen Grundsätze, in Marchetti / Demesmay (Hg), Der Vertrag von Lissabon. Analyse und Bewertung (2010) 143 (157-158).
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Organisation und Arbeitsweise des Europäischen Rats I. Der Europäische Rat im VvL A. Wesentliche Neuerungen B. Der Europäische Rat als Organ und seine Geschäftsordnung C. Der Präsident des Europäischen Rates D. Format und Häufigkeit der Tagungen II. Veränderungen im Institutionengefüge
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I. Der Europäische Rat im VvL A. Wesentliche Neuerungen Mit dem Vertrag von Lissabon1 erhielt der Europäische Rat (ER) erstmals Organstatus2 und ist somit eines der sieben Organe der Union. Dies kann als konsequente Verankerung der zunehmenden politischen Bedeutung des Europäischen Rates im Gefüge der EUEntscheidungsprozesse zu sehen sein.3 Gewisse Konsequenzen dieser Aufwertung sind bereits jetzt nach einem dreiviertel Jahr seit Inkrafttreten des Vertrags sichtbar, werden jedoch einer laufenden Neubewertung zu unterziehen sein. Die wichtigste Definition der Aufgaben und Funktionsweise des Europäischen Rates erfolgt durch Art 154 EUV.
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Im Folgenden auch als „der Vertrag“ bezeichnet. Art 13 EUV. Der Europäische Rat wurde 1974 in der Absicht geschaffen, ein informelles Gesprächsforum für die Staats- und Regierungschefs einzurichten. Einen förmlichen Status erhielt er 1992 durch den Vertrag von Maastricht, nach dem der Europäische Rat der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse gibt und die allgemeinen politischen Zielvorstellungen für diese Entwicklung festlegt. Ersetzt den bisherigen Art 4 EUV.
T. Eilmansberger et al. (eds.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon © Springer-Verlag Wien 2011
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Abs 1 definiert die zentrale Aufgabe des ER, nämlich Impulse zu geben und die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten festzulegen – dies ist die wortidente Definition der Aufgaben, wie sie schon im Vertrag von Nizza vorgesehen war. Die Zuständigkeit für die Formulierung von Zielvorstellungen und Leitlinien umfasst de facto alle Bereiche des Unionshandelns, auch wenn für einzelne Spezialbereiche, wie der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik und dem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, die jeweilige Festschreibung in separaten Artikeln erfolgt (Art 26 EUV und Art 68 AEUV). Neu ist hingegen die explizite Festlegung, dass der ER nicht gesetzgeberisch5 tätig wird, also nicht in das ordentliche Gesetzgebungsverfahren eingebunden ist. Allerdings kann der Europäische Rat in bestimmten, vom Vertrag vorgesehenen Fällen, auch bindende Rechtsakte in Form Europäischer Beschlüsse6 erlassen. Neben der Schaffung des Organstatus ist die Abschaffung des einheitlichen rotierenden Vorsitzes durch die Schaffung eines permanenten Präsidenten des Europäischen Rates7 die gravierendste Änderung in Bezug auf den ER und mit beachtlichen Folgen und Verschiebungen des Kräftegleichgewichts innerhalb der Union verbunden. Hintergrund dieser Änderung war die häufig geäußerte Kritik, dass mit dem halbjährlich rotierenden Vorsitz dem Unionshandeln die Kontinuität nach innen und außen mangle. Der neue permanente Präsident soll dieses Defizit korrigieren, es ist somit nur konsistent, dass der Vertrag vorsieht, dass dieser kein einzelstaatliches Amt8 ausüben darf. Auch wenn der Vertrag keine Regelung vornimmt, was das Profil des permanenten Präsidenten betrifft, war durchgängig unbestritten, dass die Rekrutierung aus dem Kreise der aktiven oder ehemaligen Staats- und Regierungschefs erfolgt. Der erste Präsident, Herman Van Rompuy, auf den die politische Wahl
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Art 15 Abs 1 EUV. Der Umfang der Beschlüsse ist in wesentlichen Grundzügen unverändert, im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik teilweise weiter gefasst. In anderen Fällen wurde dem Organstatuts Rechnung getragen und „der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs“ konsequenterweise durch den „Europäischen Rat“ ersetzt. Art 15 Abs 5 EUV und für die Aufgaben des Präsidenten Abs 6. Art 15 Abs 6 EUV.
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im November9 2009 fiel, war bis zu diesem Zeitpunkt Ministerpräsident Belgiens. Die Zusammensetzung10 des Europäischen Rates trägt dem neugeschaffenen Amt des permanenten Präsidenten des Europäischen Rates Rechnung, Mitglieder sind somit die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, der Präsident des Europäischen Rates und der Präsident der Europäischen Kommission. Der (neue) HV11 der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik nimmt an den Beratungen teil, ist aber nicht Mitglied des Europäischen Rates. Daneben kommt dem ER eine wichtige Rolle bei der Ernennung von Amtsträgern12 sowie bei Vertragsänderungen, sowohl im ordentlichen Änderungsverfahren als auch in den neuen vereinfachten Änderungsverfahren13 zu („Passerelle“). B. Der Europäische Rat als Organ und seine Geschäftsordnung Mit der Verleihung des Status eines Organs an den Europäischen Rat hat sich dieser erstmals eine eigene Geschäftsordnung14 gegeben. Die Geschäftsordnung, die teilweise eine wörtliche Wiedergabe einzelner primärrechtlicher Passagen aufweist,15 legt nicht nur die prozeduralen Rahmenbedingungen für die Vorbereitung der Schlussfolgerungen16 des Europäischen Rates sowie die Bedingungen für den Ablauf der Tagungen der Europäischen Räte fest, son9
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Anlässlich eines informellen Abendessens der Staats- und Regierungschefs am 19.11.2009 in Brüssel unter Vorsitz des amtierenden Präsidenten des Europäischen Rates und schwedischen Ministerpräsidenten Fredrick Reinfeldt. Art 15 Abs 2 EUV. Eigentlich die neue Hohe Vertreterin, Catherine Ashton. Europäische Kommission, Hoher Vertreter, EZB. Art 48 Abs 6 EUV für gewisse interne Politikbereiche sowie in Art 83 Abs 1 AEUV, spezielle Brückenklausel für die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. 16561/1/09 REV1; es gibt somit nun eine GO des Rates und eine GO des ER. Aufgrund teilweise massiver Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten bei Erarbeitung der Geschäftsordnung war die wortgetreue Übernahme einzelner primärrechtlicher Passagen der einzig gangbare Kompromiss. Es ist nur folgerichtig, dass Dokumente des Europäischen Rates nunmehr über ein eigenes Akronym EUCO verfügen.
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dern auch, dass der Europäische Rat und insbesondere sein Präsident auf das Generalsekretariat des Rates zur Unterstützung zurückgreifen können (Art 13: „Der Europäische Rat und sein Präsident werden vom Generalsekretariat des Rates unter der Aufsicht seines Generalsekretärs unterstützt.“). Es werden daher keine neuen Verwaltungsstrukturen geschaffen und auf technischer Ebene die inhaltliche Konsistenz mit den Vorbereitungen auf Ebene der diversen Ratsformationen gewahrt. Allerdings verfügt der Präsident des ER über ein eigenes Kabinett. In der Geschäftsordnung ist auch festgelegt, dass der Europäische Rat in Brüssel zusammentritt.17 Damit wird der politische Kompromiss anlässlich der Verhandlungen zum Vertrag von Nizza, dass ab 2005 alle Tagungen der Europäischen Räte in Brüssel stattfinden und der in einer Erklärung18 festgehalten wurde, sekundärrechtlich verankert. Unter außergewöhnlichen Umständen19 kann einstimmig ein anderer Tagungsort festgelegt werden. Hier dürfte die Entwicklung offen sein. So hat sich Herman Van Rompuy dafür ausgesprochen,20 zumindest eine Großveranstaltung, etwa den Europäischen Rat, in jenem Mitgliedstaat stattfinden zu lassen, der die rotierende Präsidentschaft innehat – aus symbolischen Gründen. Offen gelassen ist somit auch, ob informelle Tagungen der Staats- und Regierungschefs auch an anderen Orten, zB im Vorsitzland, stattfinden können. Seit Inkrafttreten des Vertrags hat es aber keinen diesbezüglichen Anwendungsfall gegeben. Eine weitere Implikation des Organstatus ist, dass das Gebot der loyalen Zusammenarbeit zwischen den Organen nunmehr auch zwischen Rat und Europäischem Rat gilt. Der Europäische Rat ist somit formal erstmals ein eigener Akteur, als „Scharnier“ wirkt der ebenfalls neu geschaffene Rat „Allgemeine Angelegenheiten“, der – in Zusammenarbeit mit dem Präsidenten der Kommission – den
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Art 1 Abs 2 der GO des ER, 16561/1/09 REV1. Erklärung Nr 22 zum Vertrag von Nizza. Die Erklärung sieht vor, dass „sobald die Union achtzehn Mitglieder zählt, […] alle Tagungen des Europäischen Rates in Brüssel statt[finden]“. Art 1 Abs 2 der GO des ER, 16561/1/09 REV1. APA0569 vom 6.4.2010.
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Europäischen Rat vorbereitet21 und der durch den rotierenden Vorsitz geführt wird. C. Der Präsident des Europäischen Rates Die Formulierungen des Vertrags, in denen die Aufgaben des Präsidenten des ER22 näher festgelegt werden, gehörten sicherlich zu den am heftigsten umkämpften Passagen des neuen Vertrags. Dahinter verbirgt sich eine lange Debatte um das Profil („job description“) des neuen Postens. Im Kern ging es um die Frage, ob die neue Funktion sich auf eine möglichst neutrale Vorsitzführung mit Vorbereitung von Kompromissen im Hintergrund beschränken solle oder eine eigene Agenda – im Sinne der Herausforderungen der Union – betreiben sollte. Im Vertrag selbst wurde schlussendlich das Profil wie folgt festgelegt: Vorsitzführung, Impulsgeber, Förderer des Zusammenhalts und Konsenses im Europäischen Rat. Gerade mit Bezug auf letztere Formulierung sei darauf verwiesen, dass der Europäische Rat – sofern in Einzelbestimmungen keine abweichenden Regeln festgelegt sind – im Konsens23 entscheidet. Diese Formulierung soll somit auch den Auftrag umfassen, dass auch im Sinne der Außenwirkung des Europäischen Rates als „politisches Leitorgan“ Weichenstellungen im Vorfeld möglichst umfassend vorbereitet werden. Herman Van Rompuy hat allerdings schon frühzeitig deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er seine Rolle strategisch und proaktiv anlegen möchte. Schon anlässlich der Feier des Inkrafttretens des Vertrags am 1.12.2009 betonte er die Verantwortung des Europäischen Rates für zentrale Herausforderungen der nächsten Jahre24 und hob die wesentlichen Akteure in diesem Zusammenhang hervor: den Präsidenten des Europäischen Parlaments, den Präsidenten der Europäischen Kommission und sich selbst. Dies lässt auf eine bemerkenswert zügige selbstbewusste Rollendefinition schließen. Nach neun Monaten Amtszeit kann man als Zwischenergebnis fest21 22 23 24
Art 15 und 16 EUV. Siehe auch Andreas Kumin nachstehend auf S 209. Insb Art 15 Abs 6 EUV. Art 15 Abs 4 EUV. PCE 02/09, Generalsekretariat des Rates: „… Tackling the economic crisis, promoting employment, preserving our social model, fighting climate change and ensuring energy security.“
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halten, dass der bis dato einer breiten Öffentlichkeit unbekannte Politiker diesen Anspruch mit Leben erfüllt hat. Auf die Befugnis des Präsidenten des Europäischen Rates zur Außenvertretung25 auf seiner Ebene und das Spannungsverhältnis hierbei zur Hohen Vertreterin, dem Präsidenten der Europäischen Kommission und den entsprechenden Funktionsträgern der rotierenden Präsidentschaft wird hier nicht näher eingegangen. D. Format und Häufigkeit der Tagungen Der Vertrag sieht vor,26 dass zweimal pro Halbjahr Tagungen des ER stattfinden. Damit wurde im Nachhinein die Praxis der letzten Jahre der Abhaltung von zwei Tagungen pro Halbjahr als gesetzliche Regel fixiert. Der Vertrag von Nizza hatte noch zwei Tagungen im Jahr als Mindestzahl vorgesehen. Weiters wird die Möglichkeit der Abhaltung zusätzlicher Tagungen explizit ermöglicht, diese werden als außerordentliche Tagungen27 bezeichnet. In allen Fällen kommt es dem neugeschaffenen Präsidenten des ER zu, die Einberufung vorzunehmen. Völlig neu ist die Regelung der Teilnahme anderer Minister an den Tagungen des Europäischen Rates. Art 15 Abs 3 sieht vor, dass sich die Mitglieder des ER von jeweils einem Minister28 unterstützen lassen können. Dies ist eine gravierende Änderung im Vergleich zur bisherigen Regelung.29 Diese sah vor, dass jeweils die Außenminister an den Tagungen des ER teilnahmen. Somit sind es nicht mehr automatisch die Außenminister (in der Vertragssprache: Minister für auswärtige Angelegenheiten), die die Begleitung und Unterstützung der Staats- und Regierungschefs vornehmen, sondern jeweils ein Minister, wobei die Vertragsformulierung nahelegt, dass die Wahl des betreffenden Ministers vom Gegenstand der Tagung abhängt. Diese Änderung ist konsequent vor dem Hintergrund der Schaffung eines eigenen Rates „Allgemeine Angelegenheiten“, der für die Vorbereitung der Europäischen Räte sorgen soll und in welchem es keine zwingende Logik der Vertretung durch Außenmi25 26 27 28 29
Art 15 Abs 6 EUV. Art 15 Abs 3 EUV. Art 15 Abs 3 EUV. Im Falle des Kommissionspräsidenten von einem Mitglieder der Kommission. Art 4 EUV (Nizza).
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nister gibt, vielmehr wird dies bei einer zunehmenden Anzahl von Staaten durch einen Europaminister oder -staatssekretär wahrgenommen. Neu ist auch, dass die Teilnahme von Ministern eine „KannBestimmung“ ist: „….können die Mitglieder des Europäischen Rates beschließen, sich jeweils von einem Minister … unterstützen zu lassen.“ Somit bedarf es eines ausdrücklichen Beschlusses, sich dieser „Unterstützung“ zu bedienen.30 Erfolgt dieser Beschluss nicht, finden die Treffen der Europäischen Räte als Regel ohne weitere Begleitung statt. Für viele Beobachter überraschend hat der neue Präsident im Zusammenwirken mit der schwedischen Präsidentschaft diese Regel schon bei der ersten Tagung des Europäischen Rates im Dezember durchgesetzt – seither fanden alle Tagungen der Europäischen Räte ohne ministerielle Begleitung statt. Allerdings wurde schon im März31 2010 festgelegt, dass im September 2010 ein außerordentlicher Europäischer Rat stattfinden soll, der sich mit dem Verhältnis der EU mit ihren strategischen Partnern auseinandersetzen soll und bei dem die Außenminister eingeladen sind, teilzunehmen. Gleichzeitig wurde gegenüber der Presse klargestellt, dass dies die Regel werden soll – einmal im Jahr sollen gewisse außenpolitische Weichenstellungen im Beisein der Außenminister diskutiert werden. Offen und nicht geregelt blieb die Frage, ob es ergänzend andere Formen der Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs geben kann. De facto haben insbesondere das letzte Jahr – nicht zuletzt vor dem akuten Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise – gezeigt, dass neben den formellen Tagungen die Anzahl der informellen Tagungen zunimmt. Da es für diese Treffen kein formalisiertes Vorbereitungsverfahren im Sinne der Geschäftsordnung gibt, werden auch keine Schlussfolgerungen erstellt. Nicht unüblich sind jedoch gemeinsame Erklärungen. Beispielsweise wurde anlässlich des informellen Treffens der Staats- und Regie-
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Auch dieser neuen Festlegung wohnt eine organisatorische Logik inne. Bei einer Union von 27 Mitgliedstaaten ist ein Sitzungsablauf mit jeweils zwei Teilnehmern pro Mitgliedstaat nicht mehr vereinbar mit der effektiven Wahrnehmung der Aufgaben des ER – ab einer gewissen Teilnehmerzahl sind politische Debatten und eine Konsensfindung schwer möglich. EUCO 7/10; Schlussfolgerungen des ER.
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rungschefs am 11. Februar 2010 eine gemeinsame Erklärung zu Griechenland abgegeben.32 Neu – und politisch sehr kontrovers – sind auch Treffen der Eurogruppe auf Ebene der Staats- und Regierungschefs. Bisher hat es zweimal33 Treffen dieser Art gegeben, in beiden Fällen durch eine krisenhafte Entwicklung, die in speziellem Maße die Eurozone betraf, legitimiert. In beiden Fällen wurde eine Erklärung34 verabschiedet. II. Veränderungen im Institutionengefüge Die Umwandlung des Europäischen Rats in ein Organ verbunden mit der Schaffung eines ständigen Vorsitzes ist in seinen Konsequenzen nicht zu unterschätzen und hat manche überrascht – lag doch der Schwerpunkt des analytischen Interesse in den letzten Jahren auf dem Amt des Hohen Vertreters der Union für die Außenund Sicherheitspolitik und der damit verbundenen „Doppelhut“Konstruktion. Es ist sicherlich zu früh, eine „konsolidierte“ Beurteilung der Auswirkungen des Vertrags auf das Verhältnis der Institutionen untereinander und der Implikationen auf die Substanz der Unionspolitiken vorzunehmen. Es besteht weitgehende Einigkeit, dass die anvisierte bessere institutionelle Aufstellung der Union in den ersten Monaten nach Inkrafttreten des Vertrags nicht sichtbar wurde, eher bot sich das Bild von Kompetenzstreitigkeiten und Unsicherheiten.35 Hier muss allerdings darauf verwiesen werden, dass es jedem komplexen System inhärent ist, dass institutionellen Neuerungen tektonische Systemverschiebungen implizieren, die als noch nicht abgeschlossen betrachtet werden können. Dennoch können einige Tendenzen festgemacht werden.
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Statement by the Heads of State or Government of the European Union vom 11.2.2010. Am 12.10.2008 unter dem Vorsitz von N. Sarkozy als Präsident des Europäischen Rates und am 7.5.2010 unter dem Vorsitz von H. Van Rompuy. Declaration on a concerted European Action Plan of the Euro Area Countries vom 12.10.2008 und Statement of the Heads of State or Government of the Euro Area vom 7.5.2010 SN 2542/4/10. Siehe auch Daniela Kietz / Nicolai von Ondarza, Willkommen in der Lissabonner Wirklichkeit, SWP-Aktuell 29, 2010.
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Der ständige Vorsitz im Europäischen Rat wird tendenziell dem ursprünglich formulierten Anspruch einer verbesserten mittelfristigen Planung und Kontinuität in seinen Schwerpunkten gerecht. So legen die Schlussfolgerungen der Europäischen Räte erstmals eine Art Mittelfristplanung für gewisse Schwerpunktthemen fest. Beispielsweise wurde am Europäischen Rat im März 201036 festgelegt, dass im Oktober 2010 das Thema Innovation und Anfang 2011 das Thema Energie gesamthaft debattiert werden sollte. Diese Festlegungen bringen sowohl die jeweiligen Fachräte als auch die Europäische Kommission unter Zugzwang, rechtzeitig Input für diese Debatten vorzubereiten. Der Spielraum für rotierende Präsidentschaften für nationale „Spezialthemen“ wird hiermit zusätzlich kleiner – eine durchaus intendierte Einschränkung. Die im Vertrag starke Rolle des neuen Rates „Allgemeine Angelegenheiten“ in seiner Vorbereitung der Tagungen des Europäischen Rates und als Scharnier zu den anderen Ratsformationen konnte bisher nicht eingelöst werden. Dies hängt allerdings auch mit den zwangsläufigen Schwerpunkten37 des letzten Jahres zusammen, nämlich der Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise und der Nachfolgestrategie der im Jahre 2010 auslaufenden Lissabon-Strategie. In beiden Fällen war der Rat der Finanzminister (ECOFIN) inhaltlich bestimmend, der Rat Allgemeine Angelegenheiten nahm eher die Rolle einer „Durchlaufstelle“ zwischen den Debatten im Ausschuss der Ständigen Vertreter und jenen am Europäischen Rat ein.38 Die belgische Präsidentschaft, die den Vorsitz im zweiten Halbjahr innehat, hat angekündigt, eine aktivere Rolle für den Rat Allgemeine Angelegenheiten vorzusehen. Die Aufgabe der Einheitlichkeit des Vorsitzes im Rat, die Etablierung neuer Akteure, insbesondere der Präsident des Europäischen Rates und die Hohe Vertreterin, verbunden mit einer Zunah36 37
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EUCO 7/10 Schlussfolgerungen des ER. Auf die spezielle Konstellation der unter dem Vorsitz von Van Rompuy eingerichteten Task-Force, die Lehren aus der Krise ziehen soll, wird hier nicht eingegangen. Zur Einsetzung siehe Rn 7 Schlussfolgerungen EUCO 7/10. Nicht ganz friktionsfrei im Verhältnis zur Europäischen Kommission gestaltete sich auch die Einberufung einer informellen Tagung der Staats- und Regierungschefs für den 11.2.2010 zur Debatte der Nachfolgestrategie der Lissabon-Strategie, Europa 2020, durch H. Van Rompuy.
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me der Befugnisse des Europäischen Parlaments als Ko-Gesetzgeber, versetzen auch die Europäische Kommission in eine teils schwierige Lage, die richtige Balance in der Kooperation zu finden, ohne das Initiativmonopol in weiten Strecken zu verlieren.
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Organisation und Arbeitsweise des Rates I. Ein geschwächter Rat im neu gestalteten institutionellen Geflecht? A. Vorbemerkung B. Europäischer Rat einschließlich Präsident des Europäischen Rats 1. Europäischer Rat als dem Rat übergeordnetes Leitungsorgan 2. Präsident des Europäischen Rats versus Ratsvorsitz C. Europäisches Parlament 1. Rat und Parlament als gleichberechtigte Mitgesetzgeber 2. Zusammenarbeit Parlament und Kommission („Rahmenvereinbarung“) D. Nationale Parlamente 1. Stellung als „funktionelle“ EU-Organe 2. Eigenständige Subsidiaritätsprüfung mit oranger Karte sowie Vetorechte bei Brückenklauseln II. Neuerungen der internen Organisation A. Ratsformationen und ihre Zuständigkeiten B. Vorsitz im Rat 1. Rat Allgemeine Angelegenheiten sowie Fachministerräte 2. Sonderregelung für den Rat Auswärtige Angelegenheiten 3. Vorsitz in den vorbereitenden Gremien a. Allgemeine Regelung b. Sonderregelung für die vorbereitenden Gremien im Bereich „auswärtiges Handeln“ III. Neuerungen betreffend die Funktionsweise
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T. Eilmansberger et al. (eds.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon © Springer-Verlag Wien 2011
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Vorbereitung und Durchführung der Beschlüsse des Europäischen Rats B. Wegfall der Außenvertretungsbefugnis für den Ratsvorsitz C. Trennung von legislativen und nicht-legislativen Tätigkeiten D. Weitere ausgesuchte Neuerungen
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I. Ein geschwächter Rat im neu gestalteten institutionellen Geflecht? A. Vorbemerkung Bevor wir auf die wichtigsten neuen Bestimmungen der internen Organisation und die entsprechend angepassten Verfahren des Rates als endogene Faktoren eingehen, scheint es mir für ein besseres Gesamtverständnis der neuen Realverfassung der EU förderlich, auch ein bisschen den veränderten Stellenwert des Rats im einheitlichen institutionellen Rahmen der Union darzulegen. Es werden dabei als exogene Faktoren nur diejenigen Unionsorgane erwähnt, die durch ihre neue innere Ausgestaltung und durch zusätzlich ihnen übertragene Befugnisse auch tatsächlich eine geringere Machtfülle des Rats bewirken. Bei der hier nicht näher angesprochenen Europäischen Kommission ist dies meiner Einschätzung nach im Vergleich zur Rechtslage vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon kaum der Fall. Denn es sind ihr zumindest rein typologisch keine neuen Funktionen übertragen worden, welche zulasten des Rats gehen, sehr im Gegensatz zum Europäischen Rat, Europäischen Parlament und bis zu einem gewissen Grad auch den nationalen Parlamenten. Anders ausgedrückt: das Meiste läuft in der Union noch immer über den Rat, immer weniger wird aber allein durch den Rat bestimmt. B. Europäischer Rat einschließlich Präsident des Europäischen Rats Es ist gewiss kein Zufall, dass der Europäische Rat (ER) bei der Beleuchtung der institutionellen Reformen im Rahmen dieses Bandes als erstes Organ der EU aufscheint und dass der Rat von ER und Europäischem Parlament (EP) gewissermaßen ins „Sandwich“ genommen wird. Die Einrichtung des ER als vollberechtigtes Unionsorgan mit speziellen Befugnissen hat nach der hier vertre-
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tenen Auffassung die stärksten Auswirkungen auf die neue Rolle des Rates. 1. Europäischer Rat als dem Rat übergeordnetes Leitungsorgan Die besondere Brisanz des Verhältnisses ER – Rat besteht darin, dass diese beiden Organe einerseits gemeinsam eine der drei Seiten im interinstitutionellen Dreieck Parlament, Kommission und Mitgliedstaaten bilden. ER und Rat teilen sich somit die Rolle der offiziellen Vertretung der mitgliedstaatlichen Interessen auf europäischer Ebene. Theoretisch sollte bei ihnen daher Interessensidentität oder zumindest -konvergenz bestehen und sie sollten homogen auftreten. Andererseits herrscht zwischen ihnen aber auch eine – ungleiche – Konkurrenz, zumal der ER mit seiner allgemeinen Leitlinienfunktion gemäß Art 15 Abs 1 EUV dem Rat hierarchisch eindeutig übergeordnet ist. Ferner bestehen in der Zusammensetzung der beiden Organe nicht unbedeutende Unterschiede, schließt der intergouvernementale ER doch neben den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten auch den Präsidenten der Europäischen Kommission sowie die Hohe Vertreterin für Außenund Sicherheitspolitik (HV) mit ein, welche in ihren sonstigen Rollen mit dem Rat zB als Initiatorin von Rechtssetzungsverfahren in Interaktion treten. Damit wird der Rat als zentrale politische Schaltstelle und Scharnier bzw Relais der laufenden Rechtsetzungstätigkeit der Union zumindest teilweise bei der Durchführung von Leitlinien, welche der ER zuvor mit bindender Wirkung für Europäische Kommission (EK) und Rat beschlossen hat, fremdbestimmt. „Gesetzgebung“ im technischen Sinne ist dem ER ja ausdrücklich verwehrt (Art 15 Abs 1 letzter Satz EUV). Der einschränkende Zusatz „nach Maßgabe der Verträge“ bei der Aufgabenumschreibung des Rats in Art 16 Abs 1 EUV mit „Festlegung der Politik und die Koordinierung“ kommt aber dennoch nicht von ungefähr und ist als ein Hinweis auf die geschilderte zumindest teilweise Heteronomie des Rates gerechtfertigt. Die Teilnahme am ER eines jeweiligen Vertreters der Mitgliedstaaten im Rat ist ausdrücklich in der Regel nicht mehr vorgesehen – es bedarf eines bewussten Willensaktes der Mitglieder des ER dazu (Art 15 Abs 3 zweiter Satz EUV iZm Art 4 Abs 4 UAbs 2 GO ER). Die HV als bloße Vorsitzende und nicht eigentliches Mitglied des Rates Auswärtige Angelegenheiten wird in die-
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sem Sinne ebenfalls nicht als eine Vertreterin der institutionellen Interessen des Rats angesehen werden können. Ihre Teilnahme versteht sich aus ihrer führenden Rolle bei der inhaltlichen Gestaltung der Außen- und Sicherheitspolitik, für die der Europäische Rat immer noch besondere gestalterische und Recht setzende Befugnisse innehat. Wenn nämlich schon die Teilnahme einer Vertreterin des Rates Auswärtige Angelegenheiten in Frage kommt, warum dann ausgerechnet die Vorsitzende dieser einen Formation und nicht etwa auch der Vorsitz des Rates Allgemeine Angelegenheiten? Auf diese Frage komme ich später noch zu sprechen (siehe dazu unten III.B). Weitere Beispiele einer „Bevormundung“ des Rats durch den ER werden uns weiter unten bei der Schaffung neuer Ratsformationen begegnen, die gemäß Art 236 lit a) AEUV vom ER beschlossen wird, sowie ebenfalls bei der Festlegung der Vorsitzregelung im Rat gemäß Art 236 lit b) AEUV. ER und Rat besitzen neben ihren Rollen im Institutionengefüge der EU auch eine latente innenpolitische Funktion, um nicht zu sagen ein ebensolches Konfliktpotential, weil ihre Mitglieder eben einerseits die Staats- und Regierungschefs, andererseits die „einfachen“ Minister der nationalen Regierungen sind. Für Einparteienregierungen schafft das weniger ein Problem als potentiell für Koalitionsregierungen, weil bei diesen nur eine der Regierungsparteien auch auf höchster europäischer Ebene vertreten sein kann, und noch dazu in einer sämtlichen anderen Regierungsmitgliedern des kleineren Koalitionspartners übergeordneten Rolle. 2. Präsident des Europäischen Rats versus Ratsvorsitz Auch für den sechsmonatigen, rotierenden EU-Ratsvorsitz gibt es neue Konkurrenz, und zwar in der Person des gewählten Vorsitzenden des ER. Nicht selten ertappt man unrichtige Darstellungen in diversen Medien, wer denn gerade „Ratspräsident“ sei: nach alter Manier und etwas unscharf behaupten manche auch jetzt noch, der spanische Ministerpräsident Rodríguez Zapatero sei dies für das erste Halbjahr 2010 bzw der belgische Regierungschef im darauffolgenden Halbjahr. Die beiden genannten sind aber – vom offensichtlichen Übergangscharakter des derzeitigen Regimes in seiner ersten, von pragmatischen Lösungen geprägten Anwendungsphase einmal abgesehen – nur der Regierungschef desjenigen Landes, welches im Rat den Vorsitz führt. An und für sich fallen die Vor-
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sitzperioden von Rat und ER eindeutig auseinander, selbst wenn man die mehrjährige Programmierung im Rahmen eines Dreierteams des Ratsvorsitzes berücksichtigt, welche sich lediglich auf eineinhalb und nicht auf zweieinhalb Jahre wie die Regentschaft des ER-Präsidenten erstreckt. Die Annahme eines einheitlichen EURatsvorsitzes auf Regierungschef- und auf Ministerebene stellt auf der Basis des nunmehrigen Primärrechts daher eine bloße Fiktion und Extrapolation der oben angesprochenen Identität der Interessenvertretung von ER und Rat dar. Auf die gesteigerte Bedeutung der Rolle des Rats Allgemeine Angelegenheiten für die sowohl horizontale als auch hier angesprochene vertikale Kohärenz des Vorgehens der Vorsitze in ER und Rat werden wir noch näher eingehen. Eine besondere Ironie der neuen Funktionsregelungen für die Institutionen der EU aber besteht in diesem Zusammenhang wohl darin, dass sich ausgerechnet die Regierungschefs und die Außenminister für ihren ureigenen Bereich durch die Abschaffung der rotierenden Vorsitzführung eines wesentlichen Gestaltungsmittels der EU-Politik begeben haben. Sie treten in ihren jeweiligen EU-Gremien im Gegensatz zu den Fachministern ab sofort in der Regel lediglich als einfache Mitglieder auf. An ihre Stelle treten jeweils der gewählte Präsident des ER sowie die HV im Rat Auswärtige Angelegenheiten. Was schließlich eine der Funktionen des Rates als exekutive Gewalt anbelangt, nämlich die Wahrnehmung der Außenvertretung im Bereich GASP/GSVP, so ist hier noch besonders anzumerken, dass diese auf Ebene der Staats- und Regierungschefs ebenfalls den politischen Funktionären der Mitgliedstaaten abhanden gekommen und in die Hände des ER-Präsidenten verlagert worden ist. C. Europäisches Parlament 1. Rat und Parlament als gleichberechtigte Mitgesetzgeber Eine wesentliche Aufwertung durch den Vertrag von Lissabon hat das EP zulasten des Rats in jenen Bereichen erfahren, in denen das ordentliche Gesetzgebungsverfahren eingeführt worden ist. Das hat vor allem Auswirkungen auf den Geschäftsgang während einer Eingewöhnungsphase für diejenigen Ratsformationen, die bisher gar nicht oder nur in Ausnahmefällen im bisherigen Mitentscheidungsverfahren tätig geworden sind, wie etwa für den Landwirtschaftsrat oder den Rat Auswärtige Angelegenheiten, wenn er mit handelspolitischen Gesetzgebungsakten zu tun haben wird.
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Nach unserer Beobachtung besteht ein strukturell bedingter Startnachteil des nur 27 Mitglieder zählenden Rats gegenüber dem aus 736 bzw pro futuro 751 (und nach Inkrafttreten der bereits beschlossenen Änderungen am Protokoll Nr 36 über die Übergangsbestimmungen bis 2014 sogar 754) Mitgliedern zusammengesetzten EP darin, dass der Rat aus völlig gleichberechtigten Mitgliedern mit disparater Interessenlage gebildet wird. Das EP hingegen ist hierarchisch und fraktionell straff organisiert und agiert durch seine Ausschüsse stärker arbeitsteilig. Dies ermöglicht eine viel effizientere Abgleichung von Interessen im EP, während ein inhomogener Rat viel öfter in sich uneinig und somit auch weniger verhandlungsfähig ist. „Divide et impera“ in umgekehrter Proportionalität, wobei man doch annehmen müsste, dass das kleinere Organ Rat leichter zu einer erfolgsträchtigen einheitlichen Haltung finden sollte als das um ein Vielfaches größere EP? Ein Machtverlust des Rats gegenüber dem EP ist auch im Bereich des Haushaltsverfahrens zu verzeichnen, und zwar durch die Abschaffung der Unterscheidung in obligatorische und nicht-obligatorische Ausgaben. Dazu passend ein bezeichnendes Schlaglicht aus der Realverfassung praeter aut contra legem:1 seit Jahr und Tag erteilt das EP dem Rat die sog „Entlastung“ und macht der Rat regelmäßig politische Zugeständnisse im Zuge dieser Ausübung finanzieller Kontrolle, obwohl im einschlägigen Art 319 AEUV davon kein Wort verloren wird, sondern nur von der Entlastung der EK als für den Vollzug des Unionshaushalts verantwortliche Behörde. Geht man dann noch davon aus, dass sich das aufgrund der Direktwahl unmittelbar durch die Unionsbürger legitimierte EP am Selbstverständnis des englischen Parlaments orientiert, also eines allumfassend in politischer Hinsicht zuständigen Vollparlaments – mit Ausnahme des ihm nicht zustehenden Initiativrechts – so muss hinter dem Wort „gleichberechtigt“ in der Kapitelüberschrift fast schon ein Fragezeichen stehen.
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Auf diese sowie eine Reihe weiterer hier angerissener Beobachtungen aus der täglichen Praxis des Rates wurde der Autor dankenswerter Weise von seinem Kollegen Dr. Peter Krois aus der europapolitischen Grundsatzabteilung hingewiesen.
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2. Zusammenarbeit Parlament und Kommission („Rahmenvereinbarung“) EP und EK haben mittlerweile aus Anlass des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon ein neues Zusammenarbeitsabkommen verhandelt, in welchem das EP in einigen Bereichen Informations- und Beteiligungsrechte zugestanden werden, welche nicht nur über den ausdrücklichen Wortlaut der Verträge hinausgehen, sondern auch in Befugnisse und Interessen des Rats bzw der dort vertretenen Mitgliedstaaten erheblich eingreifen. Die bedeutendsten Stoßrichtungen seien hier nur beispielsweise erwähnt: Informationen in Bereichen, die außerhalb der Organzuständigkeiten des EP liegen (wie im exekutiven Bereich der Aushandlung von internationalen Abkommen oder betreffend den Stand der Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten), Versuche sich im Rahmen der noch gemäß Art 291 AEUV zu beschließenden Modalitäten für die Kontrolle der EK durch die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts über die Hintertür wieder hineinzureklamieren, sowie die Verschiebung des institutionellen Gleichgewichts zu Ungunsten des Rats durch Einräumung an das EP von prioritären und privilegierten Rechten im Verlauf von Legislativverfahren. Selbst wenn es sich bei einigen der solcherart aus der Sicht des Rates problematischen Bestimmungen augenscheinlich nur um Selbstbindungen der EK gegenüber dem EP handeln sollte, dürften wir es mit einem klassischen Vertrag zu Lasten Dritter zu tun haben. Zwar haben auch diesmal wieder EK und EP den Rat eingeladen, sich im Sinne der Erklärung Nr 3 zum Vertrag von Nizza betreffend das Loyalitätsgebot des Art 10 EGV der interinstitutionellen Vereinbarung anzuschließen, jedoch hat der Rat dies aufgrund der intendierten Stoßrichtung des Rahmenabkommens von vorneherein nicht für zielführend erachtet. D. Nationale Parlamente 1. Stellung als „funktionelle“ EU-Organe Im Gesetzgebungsverfahren der Union sind die nationalen Parlamente ab sofort ausdrücklich als handelnde Organe vorgesehen, indem sie mit ihren Stellungnahmen zur Vereinbarkeit von Gesetzesinitiativen mit dem Subsidiaritätsprinzip (den sog „Subsidiaritätsrügen“) nicht nur beratende Äußerungen erstatten, sondern bei Überschreiten der erforderlichen Quoren die Überprüfung der Legislativvorschläge und unter bestimmten Umständen auch die formelle Beendigung eines Gesetzgebungsverfahrens bewirken können. Die
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Parlamente der Mitgliedstaaten bleiben damit zwar formell außerhalb des einheitlichen institutionellen Rahmens, sind aber funktionell unzweifelhaft als ein Teil desselben anzusehen. 2. Eigenständige Subsidiaritätsprüfung mit oranger Karte sowie Vetorechte bei Brückenklauseln Die unter anderem während des Europäischen Konvents debattierte Möglichkeit einer „roten Karte“, direkt durch einen Einspruch eines nationalen Parlaments ein Gesetzgebungsverfahren beenden zu lassen, wurde zwar nicht verankert, wohl aber die „orange Karte“. Dabei müssen die von einem Drittel bzw einem Viertel der stimmberechtigten nationalen Parlamente vorgebrachten Subsidiaritätsbedenken zumindest noch von einem der beiden Zweige des Unionsgesetzgebers mehrheitlich geteilt werden, damit ein Legislativvorschlag nicht mehr weiter verfolgt wird; Zweierlei Einwirkungen auf die Sphäre des Rats sind im Zusammenhang mit der Subsidiaritätsprüfung zu gewärtigen: erstens könnte damit ein Projekt, welches vom Rat selbst für besonders wünschenswert erachtet oder zumindest befürwortet wird, durch ein repräsentativdemokratisch bahnbrechendes Zusammenwirken nationaler Parlamente und des EP „bachab geschickt werden“, wie man in der Schweiz sagen würde. Das freie Spiel mehrerer Kräfte in einem Gesetzgebungsverfahren in diesem Szenario wäre eben kein Nullsummenspiel. Zweitens erfolgt im Zuge der nationalen Begleitgesetzgebung zur Verankerung der Subsidiaritätskontrolle in den nationalen Verfassungen und Parlamentsgeschäftsordnungen, nicht zuletzt durch den von manchem Höchstgericht gegebenen Anstoß zu einer gesteigerten Wahrnehmung der „Integrationsverantwortung“ der nationalen Parlamente, eine nicht unbedeutende Ausweitung auch ihrer übrigen Informations- und Stellungnahmerechte zu europapolitischen „Vorhaben“. Auch Österreich scheint vor einer solchen Entwicklung nicht gänzlich gefeit, wenn man Art 23f Abs 3 B-VG in der Fassung der sogenannten Lissabon-Begleit-Bundesverfassungsgesetznovelle 2 liest, welcher eine nähere Ausgestaltung der Informationsverpflichtungen der Ressorts gegenüber dem Parlament einem noch zu erlassenden Bundesgesetz (sog „Informationsgesetz“) vorbehält. 2
BGBl I Nr 57/2010 vom 27.7.2010, in Kraft getreten am 1.8.2010. Siehe auch den Beitrag von Stefan Griller nachstehend auf S 441.
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II. Neuerungen der internen Organisation A. Ratsformationen und ihre Zuständigkeiten Erstmals findet sich ein ausdrücklicher Hinweis auf besondere Ratsformationen in den Verträgen, wohingegen der bisherige „Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs“ (mit bestimmten Funktionen vor allem im Bereich WWU sowie bei sogenannten Sanktionen gegen Mitgliedstaaten, die gegen die Grundwerte der EU verstoßen oder zu verstoßen drohen), abgeschafft wurde. Die diesbezüglichen Funktionen sind systemkonform im ER aufgegangen. Die zwei ausdrücklich mit spezifischen Aufgabenbereichen in Art 16 Abs 6 EUV genannten Formationen des Rats sind: x Erstens der Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ (im Folgenden: „RAA“); diesem kommen als Kernaufgaben die horizontale Koordination der Fachministerräte sowie die Vor- und Nachbereitung der Tagungen des Europäischen Rates zu. Unter Fachministerräten sind hier nicht nur die für die internen Politiken zuständigen Formationen, sondern auch der Rat Auswärtige Angelegenheiten zu verstehen. x Zweitens der Rat „Auswärtige Angelegenheiten“ (im Folgenden: „RAuswAng“), 3 der für das „auswärtige Handeln“ der Union zuständig ist. Dieser Rat hat auch nach Abschaffung der alten Säulen der EU durch sein Tätigwerden in der GASP und GSVP ein gewisses Schwergewicht im intergouvernementalen Bereich, vereint in sich jedoch etwa mit der klassisch ausschließlichen „verunionisierten“ Gemeinsamen Handelspolitik auch supranationale Züge, was eine von der Methodik der Geschäftsbehandlung eigenartige Gemengelage darstellt. In einer Reihe von Mitgliedstaaten werden immer noch die beiden Ratsformationen, die sich vor einigen Jahren als Doppelformation Rat Allgemeine Angelegenheiten/Auswärtige Beziehungen („RAA/AB“) an ein- bis eineinhalb aufeinander folgenden Sit3
Diese Abkürzung wird vom Autor hier bewusst gewählt. Im informellen täglichen Gebrauch hält sich für diese Ratsformation im Deutschen allerdings weiterhin die Abkürzung „RAB“ in Anlehnung an seinen Vorgänger „Rat Auswärtige Beziehungen“, weil sonst infolge der gleichen Anfangsbuchstaben des Rates Auswärtige Angelegenheiten keine Unterscheidbarkeit vom Rat Allgemeine Angelegenheiten gegeben wäre.
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zungstagen, aber mit jeweils eigener Tagesordnung und gemeinsamer A-Punkteliste, fast unsichtbar diversifiziert und auseinander entwickelt haben, von den Außenministern beschickt. Diese werden allenfalls von Europaministern oder Europastaatssekretären begleitet. Beide Formationen werden auch derzeit noch „back to back“ abgehalten, allerdings spielen manche sechsmonatige Ratsvorsitze schon mit dem Gedanken, die beiden Formationen zu jeweils anderen Terminen und mit abweichenden Sitzungsrhythmen abzuhalten. Ein neuartiges Problem hat sich bei der Tagung der beiden genannten Räte am 14. Juni 2010 gestellt: es ergab sich sogar eine zeitweilige Überlappung beider Formationen infolge der jeweils sehr gedrängten Tagesordnungen. In einem solchen Fall können einzelne Mitgliedstaaten, darunter Österreich, bei einer der beiden Formationen nur auf Beamtenebene vertreten sein und daher formell ihr Stimmrecht nicht ausüben, sofern das österreichische Ratsmitglied dieses nicht gemäß Art 239 AEUV sowie Art 11 Abs 3 GO Rat auf ein anderes Ratsmitglied überträgt. Im Hinblick auf seine Koordinationsfunktion wird für den RAA auch wiederholt zur Überlegung gestellt, ob nicht seine Wahrnehmung durch den jeweiligen Regierungschef – insbesondere jenes des sechsmonatigen Vorsitzes – angezeigt erschiene. Denn nur dieser wäre aufgrund seiner internen Leitlinienbefugnis oder Koordinierungsfunktion der jeweiligen gesamten Regierungspolitik auch mit den innerstaatlichen Instrumenten ausgestattet, die auf europäischer Ebene getroffenen Prioritäten und Handlungslinien gegen innerstaatlichen Widerstand der zuständigen Fachminister als Vertreter in den Fachministerratsformationen durchzusetzen. Hier sollen jedoch einer solchen Betrachtung die folgenden Überlegungen entgegengehalten werden, welche aus der oben angedeuteten spezialisierten und diversifizierten Arbeitsteilung zwischen den EU-Organen ER und Rat gewonnen werden, wie sie aus der Zusammenschau der den ER und den Rat betreffenden Bestimmungen der Verträge abzuleiten ist: die Vertretung der mitgliedstaatlichen Interessen auf Ebene der Regierungschefs ist dem ER vorbehalten, während der Rat „auf Ministerebene“ tagt (Art 16 Abs 2 EUV). Es entscheidet zwar jeder Mitgliedstaat selbst darüber, auf welche Weise er sich im Rat vertreten lässt (siehe auch in diesem Sinne den Passus im Anhang I zur GO Rat), eine systematische Entsendung von Regierungschefs in den RAA würde allerdings zu einem Schönheitswettbewerb oder „race to the top“ führen, wonach auch andere Mitgliedstaaten nicht mehr auf einfacher Ministerebene ver-
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treten sein wollten. Selbst bei nur fallweiser und einzelner Vertretung durch Regierungschefs hätte man es ratsintern mit einer eigenartigen Disparität der Vertretungsebene zu tun. Ferner wäre zu bedenken, dass dann Regierungschefs auf europäischer Ebene zwei Foren zur Verfügung stünden, bzw diese durch eine doppelte Wahrnehmung derselben einem erheblichen zeitlichen Zusatzaufwand ausgesetzt wären, der ihre Kapazitäten übersteigen könnte. Weiterhin finden unter der Ägide des RAuswAng im Einklang mit Art 2 Abs 5 UAbs 1 GO Rat etwa auch Treffen der Verteidigungsminister, die weiterhin über keine eigene Ratsformation verfügen, sowie der Entwicklungsminister und zu besonderen Anlässen der WTO-Verhandlungen auch der Handelsminister statt. Im Rahmen des RAA treffen sich im Einklang mit Art 2 Abs 2 GO Rat auch die bereits genannten für Europafragen sowie für Erweiterung zuständigen Minister, und auch die institutionellen und administrativen Fragen sowie Querschnittsthemen mit Bezug zu mehreren Politikbereichen der Union wie der mehrjährige Finanzrahmen ressortieren dorthin. Die übrigen Fachministerräte wurden entsprechend Art 4 Protokoll Nr 36 über die Übergangsbestimmungen mit dem dort vorgesehenen Beschluss des Rates4 wie bisher übernommen. Die jeweils aktuelle Aufzählung der Formationen findet sich so wie bisher in der GO Rat im Anhang I. Manche Politiken werden unverändert nicht in der Bezeichnung der Ratsformation selbst sondern in Fußnoten genannt, so etwa Haushalt, welcher im ECOFIN abgehandelt wird. Teilweise mussten diesen Formationen wegen neu eingeführter Unionspolitiken neue Aufgabenbereiche zugewiesen werden, zB Energie zum Rat Verkehr und Telekommunikation. Manche neuen Politiken wie Sport, welcher zum Rat Bildung, Jugend und Kultur ressortiert, sowie Weltraumpolitik werden im Anhang I zur GO Rat vorerst nicht ausdrücklich angeführt. Entsprechende ratsinterne Vorbereitungen zur Zuweisung des Sports an den Rat Bildung, Jugend und Kultur sowie der Weltraumpolitik zum Rat Wettbewerbsfähigkeit sind jedoch mittlerweile bereits getroffen worden. Zur diesbezüglichen Beschlussfassungsbefugnis siehe die nachstehenden Ausführungen. Für die Umbenennung bzw Umwidmung und Aufgabenerweiterung sowie Schaffung neuer Formationen des Rates ist nicht der 4
Beschluss des Rates (Allgemeine Angelegenheiten) Nr 2009/878/EU vom 1.12.2009, ABl 2009 L 315/46.
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Rat selbst zuständig, sondern gemäß Art 16 Abs 6 EUV iZm Art 236 lit a) AEUV sowie Art 2 Abs 1 GO Rat ein Beschluss des Europäischen Rates mit qualifizierter Mehrheit erforderlich. Darin könnte man entweder je nach Standpunkt eine Systemwidrigkeit erblicken wegen der Einmischung eines EU-Organs in interne organisatorische Angelegenheiten eines anderen EU-Organs, oder aber weitere Hinweise auf die hierarchische Unterordnung des Rates unter den ER bei einem leichten Durchschimmern einer gewissen vertikal verlängerten Identität. B. Vorsitz im Rat 1. Rat Allgemeine Angelegenheiten sowie Fachministerräte Die Regelung über die Vorsitzführung treffen gemäß Art 16 Abs 9 EUV sowie Art 236 lit b) AEUV ein Beschluss 2009/881/EU des ER vom 1. Dezember 2009 über die Ausübung des Vorsitzes im Rat5 samt Durchführungsbeschluss des Rates 2009/908/EU.6 Das der Vorsitzführung im Rat zugrunde liegende Basismodell ist das folgende: ein Team einer Triopräsidentschaft führt über jeweils 6 Monate den Vorsitz, somit erstreckt sich die Regentschaft eines Dreierteams über jeweils insgesamt 18 Monate. Daher erfolgte auch die Anpassung der legislativen Programmierung im Rat auf diese 18 Monate (Art 2 Abs 6 GO Rat), wobei die früheren Jahresund Mehrjahresprogramme auf dieses 18-Monatsprogramm zusammengezogen worden sind. Die Festlegung der jeweiligen Gruppen erfolgt gemäß Art 1 Abs 1 des oben genannten Beschlusses des ER iZm Art 1 Abs 4 GO Rat in gleichberechtigter Rotation der Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung ihrer Verschiedenheit und des geografischen Gleichgewichts innerhalb der Union. Der Beschluss des Rates 2007/5/EG vom 1. Jänner 2007 zur Festlegung der Reihenfolge für die Wahrnehmung des Vorsitzes im Rat7 berücksichtigt diese Vorgaben bereits und wird deshalb vom oben genannten Durchführungsbeschluss des Rates über die Ausübung des Vorsitzes in Art 1 zitiert. Die Einteilung der Mitgliedstaaten in Dreiergruppen im Sinne von Art 1 Abs 1 des ER-Beschlusses über die Ausübung des
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ABl 2009 L 315/50. ABl 2009 L 322/28, berichtigt durch ABl 2009 L 344/56. ABl 2007 L 1/11.
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Vorsitzes findet sich in Anhang I des Durchführungsbeschlusses des Rats bestätigt. Österreich wird demnach von Jänner bis Juni 2019 als Mitglied des Dreierteams neben Rumänien und Finnland den Ratsvorsitz ausüben. De facto ergibt sich daher vorerst kaum eine Veränderung in der tatsächlichen Ausübung des Ratsvorsitzes, weil dennoch eine „individuelle Gesamtverantwortung“ der Sechsmonatspräsidentschaft horizontal für sämtliche Bereiche mit Ausnahme des Sonderfalles RAuswAng gegeben ist. Dies wird auch durch Art 1 Abs 2 des Beschlusses des ER bestätigt. Die anderen Mitglieder der Gruppe unterstützen den Vorsitz auf der Grundlage eines gemeinsamen Programms bei all seinen Aufgaben (Art 1 Abs 2 Satz 2 ER-Beschluss iZm Art 2 Abs 1 Durchführungsbeschluss Rat). Es besteht aber die Möglichkeit gemäß Art 1 Abs 2 letzter Satz Beschluss des ER iZm Art 2 Abs 2 und 3 Durchführungsbeschluss des Rates, unter den drei Mitgliedstaaten für die gesamten 18 Monate alternative Regelungen zu beschließen und beispielsweise eine vertikale Verteilung vorzusehen. Jeder der Mitgliedstaaten würde dann für die gesamten 18 Monate die Verantwortung in bestimmten Formationen übernehmen. Diesfalls sind diese Mitgliedstaaten zusätzlich verpflichtet, gemäß Art 2 Abs 3 des Durchführungsbeschlusses des Rates die praktischen Modalitäten über die Zusammenarbeit einvernehmlich festzulegen. Wiewohl dies nicht ausdrücklich in den zitierten Rechtsvorschriften gesagt wird, würde es sich zwecks gleichmäßiger Verteilung der Gesamtverantwortung für den Ratsvorsitz sowie für die Identifizierung aller Teammitglieder mit demselben anbieten, beim RAA eine Ausnahme von der vertikalen Verteilung zu machen und dort – sowie davon abgeleitet im Ausschuss Ständiger Vertreter – alle 6 Monate abwechselnd einen der drei Mitgliedstaaten den Vorsitz führen zu lassen. 2. Sonderregelung für den Rat Auswärtige Angelegenheiten Im Rat Auswärtige Angelegenheiten ist bereits von Vertrags wegen der dauernde Vorsitz durch die Hohe Vertreterin vorgesehen. Die HV ist selbst aber nicht Mitglied des Rates, eine formelle Mitgliedschaft wäre angesichts ihrer zweiten Hälfte des „Doppelhuts“, Vizepräsidentin der EK, eine im Hinblick auf die Gewaltenteilung bedenkliche Verschränkung von EK und Rat. Bis zu einem gewissen Grad stellt die HV aber dennoch einen „Fremdkörper“ im Rat dar: sie wird zwar vom Vertrag – im Ge-
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gensatz zum Verfassungsvertrag – nicht als solche bezeichnet, erfüllt aber dennoch die Funktion der „Außenministerin“ der Union; daher auch ihre Rolle als Vorsitz im Rat der Außenminister der Mitgliedstaaten. Hierarchisch ist sie den Mitgliedern des RAuswAng jedoch übergeordnet, nicht nur durch ihre Vorsitzfunktion, sondern auch aufgrund des Verfahrens für ihre Bestellung: diese erfolgt nicht etwa – was durchaus denkbar gewesen wäre – mittels Wahl durch die Außenminister der Mitgliedstaaten, sondern durch den ER mit Zustimmung des EK-Präsidenten (Art 18 Abs 1 EUV). Dasselbe gilt natürlich auch für ihre Abbestellung, welche nur durch den ER, ein Misstrauensvotum des EP oder aber auf Aufforderung zum Rücktritt durch den EK-Präsidenten erfolgen kann (Art 18 Abs 1 EUV iZm Art 17 Abs 6 letzter Abs EUV), den Sonderfall einer Amtsenthebung durch den EuGH nach Art 247 AEUV einmal ausgenommen. Die politische Loyalität und Verantwortlichkeit der HV bezieht sich daher auf eine andere Ebene. Für eine erfolgreiche und vertrauensvolle Arbeitsbeziehung mit ihren Außenminister“kollegInnen“ erscheint es daher unumgänglich, mit den Mitgliedern ihres Rates engstens zu kooperieren, diese in die Willensbildung einzubinden und den Rat nicht nur zum bloßen Abstempeln ihrer eigenen Vorhaben zu verwenden. Nur erforderlichenfalls kann sich die HV bei der Vorsitzführung im RAuswAng von jenem Mitglied vertreten lassen, das den Mitgliedstaat vertritt, der den halbjährlichen Vorsitz des Rates wahrnimmt. Auf eine Sonderregel zur Sonderregel wäre in diesem Zusammenhang dann aber auch noch hinzuweisen: gemäß Art 2 Abs 5 UAbs 2 GO Rat und dortiger Erklärung a) in Fußnote 9 lässt sich der Präsident des RAuswAng im Falle der Einberufung dieser Formation im Zusammenhang mit Fragen der gemeinsamen Handelspolitik vom halbjährlichen Vorsitz vertreten, wie in Art 2 Abs 5 UAbs 2 vorgesehen. 3. Vorsitz in den vorbereitenden Gremien a. Allgemeine Regelung Für die Vorsitzführung in den vorbereitenden Gremien des Rates, anders gesagt den Ratsarbeitsgruppen, gilt das Prinzip der vertikalen Kohärenz gemäß Art 2 UAbs 1 des oben genannten Beschlusses 2009/881/EU des Europäischen Rates: jener Mitgliedstaat, der im Rat den Vorsitz führt, leitet auch die jeweils seinem Bereich zuzuordnenden vorbereitenden Gremien. Eine jeweils aktualisierte Liste dieser Ratsarbeitsgruppen wird gemäß Art 19 Abs 3 UAbs 2 GO Rat in regelmäßigen Abständen veröffentlicht.
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Daher wird wegen der strikten Rotation im RAA jedenfalls der Vorsitz im Ausschuss Ständiger Vertreter (AStV) von den Mitgliedstaaten auch rotierend wahrgenommen (Art 2 UAbs 1 ER-Beschluss und Art 19 Abs 4 GO Rat). Aus dem einheitlichen Vorsitz im RAA und im AStV ergibt sich die Kernachse des Ratsvorsitzes, die dann vertikal darüber hinaus und in den ER hineinreichen bzw wirken sollte, wenn auch dort die Rolle des Präsidenten des ER jene des Regierungschefs des jeweiligen Ratsvorsitzlandes in den Hintergrund treten lässt (siehe dazu unten III.B.). Von der genannten Regel der vertikalen Identität der Vorsitzführung finden sich nur ganz wenige Abweichungen in Art 19 Abs 5 und 6 GO Rat: diese sehen die Wahrnehmung des Vorsitzes auf Arbeitsebene mit Ausnahme des AStV durch den jeweils nachfolgenden Mitgliedstaat bei der Vorberatung für Tagungen von Ratsformationen vor, die nur im ersten Halbjahr eines Jahres tagen. Ähnlich das Modell bei Dossiers, die im Wesentlichen nur in einem bestimmten Halbjahr zu behandeln sind. Ausdrücklich ist dies in Art 19 Abs 6 UAbs 2 GO Rat für die Erörterung des EU-Haushalts so bestimmt, dort erscheint sogar die anlassbezogene Übernahme des Vorsitzes auf Ratsebene möglich, allerdings erfordert dies das Einvernehmen der beiden Mitgliedstaaten. In Ergänzung zur auch auf Arbeitsebene gegebenen Hauptverantwortung des rotierenden Vorsitzes bzw zwecks Vertretung desselben im Verhinderungsfall wird in Art 20 Abs 2 GO Rat auch noch die Unterstützung des aktuellen Vorsitzes durch den nachfolgenden Vorsitz sowie die Möglichkeit zu einer arbeitsteiligen Vorgangsweise näher ausgeführt. Für eine Reihe von Vorbereitungsgremien, die in Anhang III zum Durchführungsbeschluss des Rats 2009/908/EU genannt sind, wird der Vorsitz gemäß Art 5 eben dieses Beschlusses von festen Vorsitzen wahrgenommen, wobei diese Möglichkeit auch schon vor dem Vertrag von Lissabon bestanden hat. Diese festen Vorsitze werden wiederum entweder gewählt oder aber aus dem Generalsekretariat des Rates dazu bestimmt. Zu den Ratsarbeitsgruppen mit festen Vorsitzen zählen etwa der Militärausschuss oder die Gruppe Information. b. Sonderregelung für die vorbereitenden Gremien im Bereich „auswärtiges Handeln“ Obwohl das „auswärtige Handeln“ als rechtsbegriffliche Umschreibung eines der beiden großen Politikfelder (das zweite sind die „internen Politiken“) eine Reihe ganz konkret genannter Politiken
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umfasst, wird ein Teil dieser Politiken, die bereits zuvor in – teilweise sogar ausschließlicher – Gemeinschaftszuständigkeit gewesen sind, nicht der vollen Verantwortung der HV übertragen, auch nicht was ihre Rolle im Rat betrifft. So bleiben also trotz Formationszuständigkeit des RAuswAng für die Entwicklungszusammenarbeit und die Gemeinsame Handelspolitik dort die Vertreter der allgemeinen rotierenden Ratspräsidentschaft für die Vorsitzführung in den einschlägigen Vorbereitungsgremien verantwortlich (Kategorie I im Anhang II „Vorsitz der Vorbereitungsgremien des Rates – Auswärtige Angelegenheiten“ zur GO Rat). Auf die Details der Regelung hinsichtlich der Ratsarbeitsgruppen für die GASP/GSVP, wo die Hausmacht der HV und des ihr zuarbeitenden Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) stärker zu spüren sind, wird im Beitrag meines Kollegen Gregor Schusterschitz8 näher eingegangen. III. Neuerungen betreffend die Funktionsweise A. Vorbereitung und Durchführung der Beschlüsse des Europäischen Rats Eine zentrale Rolle nimmt der RAA gemäß Art 15 Abs 6 lit b) iZm Art 17 Abs 6 UAbs 2 zweiter Satz EUV und Art 2 Abs 2 GO ER sowie Art 2 Abs 2 GO Rat ein: es obliegt ihm die Vorbereitung der Tagungen des ER in Verbindung mit dem ER-Präsidenten und mit der EK, sowie die Sorgetragung für das weitere Vorgehen im Nachhang zu diesen. Lange Zeit kontroversiell bei der Ausgestaltung der einschlägigen Bestimmungen war der inhaltliche Umfang der Vorbereitung durch den Rat, inwieweit also die Tagesordnung (TO) und die Entwürfe für die Schlussfolgerungen des ER-Präsidenten durch den RAA zumindest zuvor zur Kenntnis genommen, wenn nicht gar maßgeblich gestaltet werden müssten. Man ist auf folgende Lösungen verfallen: • Der Entwurf für die erläuterte TO wird dem RAA mindestens vier Wochen vor einer ordentlichen Tagung des ER durch den ER-Präsidenten in enger Zusammenarbeit mit dem Regierungschef des Vorsitzlandes und mit dem EK-Präsidenten vorgelegt.
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Siehe dazu Gregor Schusterschitz nachstehend auf S 267
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Die Beiträge der übrigen Ratsformationen zu den Beratungen des ER werden dem RAA spätestens zwei Wochen vor der Tagung des ER übermittelt. • Die Beschlussentwürfe, die Leitlinien für die Schlussfolgerungen des ER – diese nehmen derzeit die Gestalt von nicht zur Gänze ausformulierten Punktationen mit den zentralen Begriffen und Gedanken an – und gegebenenfalls auch die ausformulierten Schlussfolgerungen selbst werden von seinem Präsidenten ebenfalls dem RAA in Absprache mit der EK und dem Sechsmonatevorsitz im Entwurf vorgelegt. Diese Dokumente bilden gemäß Art 2 Abs 3 lit a) dritter UAbs GO Rat den Gegenstand einer Aussprache des RAA. Das Ergebnis dieser Aussprache wird bestenfalls in Schlussfolgerungen des Vorsitzes münden, welche in geeigneter Form dem ER-Präsidenten mitzuteilen sind. Dieser wieder bezieht derartige Beiträge in seine Überlegungen für allfällige Anpassungen an seinen Entwürfen bzw für vertiefte Erörterungen im ER zu allfälligen Problembereichen ein. Von einer Beschlussfassung in irgendeiner Form durch den RAA wird an dieser Stelle ganz bewusst nicht gesprochen. • Innerhalb der letzten fünf Tage vor der nächsten Tagung des ER tritt der RAA zu einer letzten Tagung zusammen. Auf der Grundlage dieser Aussprache wird vom ER-Präsidenten die vorläufige TO erstellt. In der Regel sollten alle auf eine TO des ER gesetzten Themen vom RAA geprüft worden sein (Art 2 Abs 3 lit c) GO Rat). Gleichlautende Bestimmungen finden sich in der GO ER (Art 2 und 3). Außer aus zwingenden und unvorhergesehenen Anlässen, zB im Zusammenhang mit dem internationalen Tagesgeschehen (also wohl vor allem im Rahmen des RAuswAng) darf zwischen dieser Vorbereitungstagung des RAA und dem ER keine andere Ratsformation und auch kein Vorbereitungsgremium Angelegenheiten beraten, die Gegenstand der Arbeiten des ER sind (Art 2 Abs 3 lit b) GO Rat). Eine weitere Kontroverse entspann sich unter den Mitgliedstaaten bei der Ausarbeitung der Geschäftsordnung des Europäischen Rates sowie jener des Rates hinsichtlich der notwendigen Präsenz des ER-Präsidenten im RAA einerseits bzw zur Frage andererseits, wer die Berichterstatterrolle für den RAA im ER über die getätigten Vorbereitungsarbeiten übernehmen sollte. Als Optionen standen der Vorsitzende des RAA oder aber das jeweilige Mit-
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glied im ER, dessen Land den Vorsitz im RAA führt, zur Auswahl. Geeinigt hat man sich auf Letzteres in Art 4 Abs 1 UAbs 2 GO ER. In dieser Regelung haben wir es demnach mit der einzigen verbliebenen, wirklichen Schnittstelle zwischen dem sechsmonatigen Ratsvorsitz und dem längeren ER-Vorsitz zu tun und zugleich mit einem wesentlichen vertikalen Koordinationselement. Denn die ebenfalls diskutierte Teilnahme des ER-Präsidenten an jenem Teil des RAA, welcher der Vorbereitung des ER gewidmet ist, wurde – aus nahe liegenden Gründen, die oben unter II.A angedeutet werden – ebenso wenig vorgesehen wie die direkte Teilnahme des RAA-Vorsitzenden am ER. Die Aufgaben, die der RAA in Bezug auf den ER wahrzunehmen hat, schaffen mit diesem eine vertikale Achse, welche den RAA in eine privilegierte Position diesem gegenüber bringt, wenn man ihn mit den übrigen Ratsformationen vergleicht. Nun haben wir aber schon von der HV gehört, dass sie ex lege an den Tagungen des ER teilnehmen kann, wenn auch nur mit beratender Stimme. Somit befindet sie sich als Vorsitzende des RAuswAng in einer bevorzugten Stellung gegenüber den Vorsitzenden der übrigen Ratsformationen, welche mit dem ER nur über die Gesamtkoordination des RAA und den eigenen Regierungschef als Mitglied im ER kommunizieren können. Für den Gesamtkoordinator RAA zeichnet sich hier eine bedenkliche Konstellation der an ihm teilweise vorbeiführenden Weisungs- und Berichterstattungslinien ab, die an die fayolsche Brücke in der Verwaltungswissenschaft erinnern (oder seltener auch „Passerelle“ genannt, wobei wir sie aber von der gleichnamigen Brückenklausel des Europarechts in Art 48 Abs 7 EUV unterscheiden müssen). Fayol beschreibt damit sinngemäß folgendes Phänomen: eine direkte Verbindung zwischen zwei hierarchisch nicht direkt über- oder untergeordneten Stellen, indem Informationen seitlich unter Duldung der Vorgesetzten und unter Umgehung einer großen Zahl zwischengeschalteter Stellen ausgetauscht werden. Für die HV als Vorsitzende des RAuswAng und den Vorsitz des RAA handelt es sich nur um eine solche Brücke geringerer Spannweite und vertikaler anstatt horizontaler Ausrichtung, nämlich um das mögliche Überspringen einer einzigen sonst gleichgeordneten Instanz auf die nächste Ebene. Schon nach den Erfahrungen der ersten Monate scheint sich diese angesprochene Eigenständigkeit und Koordinationsresistenz der HV als Vorsitzende des RAuswAng aber auch tatsächlich zu bestätigen, was gerade für die Gesamtkohärenz zukünftiger „Ratsvorsit-
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ze“ gewisse Befürchtungen verstärkt. So verfügte zuletzt nicht selten der den RAA unmittelbar vorbereitende AStV II-Vorsitzende nicht rechtzeitig über die nötigen Informationen zur TO und zu den darauf besonders heiklen Debattenthemen, um den letzten RAuswAng vor dem ER auch entsprechend kohärent mit den Beiträgen aller übrigen Ratsformationen vorbereiten zu können. Der ausdrückliche Auftrag zur Vor- und Nachbereitung der Beschlüsse des ER bedingt auch einen zeitlich zwischen diesen beiden abgestimmten Tagungsrhythmus. Dieser Gedanke findet seinen Niederschlag in Art 1 Abs 1 UAbs 2 GO ER, wonach spätestens ein Jahr vor Beginn jedes Halbjahres die geplanten Termine bekannt zu geben sind und zwar in Absprache mit dem jeweils zu dieser Zeit regierenden Sechsmonatsvorsitz. Ob die Mitglieder des RAA mehr oder weniger begeistert wären als die Mitglieder des ER selbst über die anfänglich geäußerten Pläne seines Präsidenten, monatliche Tagungen abzuhalten, sei hier dahingestellt. Ihr Sitzungsrhythmus würde sich jedenfalls indirekt auch entsprechend intensivieren. Sollte es sich dabei um rein informelle Treffen handeln, die also einem bloß informellen Meinungsaustausch ohne formelle Tagesordnung sowie ohne Befähigung zum Fassen von formellen Beschlüssen dienen soll, würde die Sache aus der Sicht der Institution Rat sogar noch problematischer werden: dann könnte darin allenfalls sogar ein Versuch gesehen werden, eben diese spezifische, formell abgesicherte Ingerenz des RAA zu umgehen und eine von ihm unabhängige Willensbildung zu schaffen, wenn diese auch zur Wahrung des institutionellen Gleichgewichts nicht formalisiert werden dürfte. Auch losgelöst vom konkreten Sitzungsgeschehen soll aber die in Art 2 Abs 3 GO ER vorgesehene Verpflichtung des ER-Präs zu regelmäßigen Treffen mit dem Vorsitz des Rats und mit der EK eine enge Zusammenarbeit und Abstimmung in der Achse ER – Rat in inhaltlicher Hinsicht gewährleisten. B. Wegfall der Außenvertretungsbefugnis für den Ratsvorsitz Unter den exekutiven Funktionen des Rates sticht seit jeher eine Aufgabe besonders hervor: die Außenvertretung der Union im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik (GASP/GSVP). Für diese hatte die alleinige Verantwortung nach der Rechtslage vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon der rotierende Ratsvorsitz des früheren Rates Auswärtige Beziehungen (RAB). Er wurde gemäß dem alten Art 18 EUV vom früheren Hohen Vertreter sowie durch die mittler-
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weile nicht mehr existierende Troika in ihrer durch den Vertrag von Amsterdam reformierten Form unterstützt. Diese Rolle ist auf Ebene der Minister auf die HV übergegangen 9 und auf „Gipfel“Ebene der Staats- und Regierungschefs auf den ER-Präsidenten. Für eine entsprechend auch nach innen legitimierte Außenvertretung der EU im Bereich der GASP/GSVP durch die HV erscheint es indes unumgänglich, dass die von ihr gesetzten Handlungen auf einer vorherigen möglichst umfassenden bzw eindeutigen Willensbildung im Rat beruhen bzw zumindest bei Gefahr im Verzug bzw Geschäftsführung ohne ausdrücklichen Auftrag in transparenter Form dem Rat berichtet werden, damit zumindest eine nachprüfende politische Kontrolle stattfinden kann. Noch sind die Erfahrungswerte zu gering, um einen aussagekräftigen Befund in die eine oder andere Richtung zu erstellen, aber in Ermangelung der beschriebenen politischen Kontrollfunktion müsste man zum Schluss kommen, dass die Institutionalisierung der EU-Außenpolitik für den aus der Sicht der Mitgliedstaaten und ihrer Außenministerien empfindlich hohen Preis des Einflussverlustes im Innen- sowie im Außenverhältnis erkauft worden wäre. C. Trennung von legislativen und nicht-legislativen Tätigkeiten In den Debatten, die Anfang des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts um die „Zukunft Europas“ bzw konkret im Rahmen des Europäischen Konvents, der zur Ausarbeitung des Verfassungsvertrags eingesetzt worden war, geführt worden sind, findet sich auch die Figur der Gesetzgebung in der EU durch ein Zweikammerparlament: die erste Kammer wäre das EP gewesen, die zweite Kammer – gewissermaßen ein europäische Senat – der Rat. Diese Idee wurde aufgrund des Widerstands vor allem der Regierungen der Mitgliedstaaten zwar ebenso wenig verwirklicht wie die Beauftragung nur einer einzigen Formation des Rates (genannt „legislative Angelegenheiten“), welche für die Behandlung und Annahme von Legislativvorhaben in den Politiken sämtlicher Fachministerräte zuständig sein hätte sollen. Ein kleiner Rest dieser funktionellen Spezialisierung hat sich allerdings in das neue Primärrecht herübergerettet, wobei sämtliche Ratsformationen davon betroffen sind. In den Tagesordnungen des Rates werden systematisch die legislativen von den nicht-legislativen Tagesordnungspunkten getrennt, weil diese lt GO Rat jeweils unter abweichenden Öffentlichkeitsvorschriften ab9
Siehe dazu Gregor Schusterschitz nachstehend auf S 267.
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gehalten werden, siehe Art 16 Abs 8 EUV iZm Art 3 Abs 6 GO Rat. Von Bedeutung in diesem Zusammenhang ist auch die Unterscheidung zwischen öffentlichen Debatten einerseits und öffentlichen Beratungen andererseits: Art 7 GO Rat sieht öffentliche Tagungen bei Gesetzgebungsverfahren vor, Art 8 Abs 1 GO Rat öffentliche Beratungen bei der ersten Behandlung von Rechtsakten ohne Gesetzescharakter, und Art 8 Abs 2 öffentliche Aussprachen über wichtige Fragen, die die Interessen der EU und ihrer Bürger berühren. Der RAA führt ferner gemäß Art 8 Abs 3 GO Rat eine öffentliche Orientierungsaussprache über das 18-Monats-Programm ab, auch andere Formationen halten eine solche Aussprache über ihre Prioritäten öffentlich. D. Weitere ausgesuchte Neuerungen Im Zeichen der erhöhten Handlungsfähigkeit des Rates auch in Zeiten, in denen gerade die jeweils zuständige Fachformation nicht zusammentritt bzw vielleicht gar keine Ratstagung in sinnvoller Frist vorgesehen ist, steht die Ausweitung der Formen des vereinfachten Verfahrens der Annahme von Rechtsakten. Dabei können eine Reihe von Beschlüssen des Rates anstatt im Rahmen von Tagungen in schriftlicher Form im Umlaufverfahren getroffen werden (vgl Art 12 GO Rat). In organisatorischer Hinsicht wäre abschließend und abrundend noch darauf hinzuweisen, dass der frühere „Doppelhut“ durch einen neuen Doppelhut ersetzt worden ist. Früher hat der Hohe Vertreter auch gleichzeitig formell die Funktion des Generalsekretärs des Rates ausgefüllt, wobei er hinsichtlich letztgenannter Aufgabe im Tagesgeschäft vor allem von einem stellvertretenden Generalsekretär unterstützt bzw vertreten worden ist. Jetzt ist der Generalsekretär des Rats gemäß Art 240 Abs 2 AEUV bekanntlich als vom HV für GASP und in Personalunion Vizepräsidenten der EK getrennte Funktion eingerichtet worden. Dafür sind aber der Generalsekretär ebenso wie das Ratssekretariat ausdrücklich auch für die Unterstützung des ER-Präsidenten sowie des ER zuständig (Art 13 GO ER). Die Aufgaben des Generalsekretärs werden in Art 23 GO Rat umfassend beschrieben. Dabei handelt es sich typologisch vor allem um organisatorische, budgetäre sowie inhaltliche und koordinierende Tätigkeiten.
Evelyn Waldherr1
Organisation und Arbeitsweise des Europäischen Parlaments I. Die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments II. Rechtsetzung A. COD = OLP = PLO = OGV = nicht Neues, aber mehr davon! B. Neue Zustimmungsverfahren C. Eine Revolution im institutionellen Gefüge: nationale Parlamente als Akteure im Gesetzgebungsverfahren 1. Die Subsidiaritätskontrolle 2. Die interparlamentarische Zusammenarbeit D. Von Delegation und Durchführung 1. Delegierte Rechtsakte 2. Durchführungsmaßnahmen III. Haushaltsbefugnis IV. Kontrollbefugnisse
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Das Europäische Parlament (EP) hat in allen seinen Aufgaben, vor allem aber in seiner Rolle als Gesetzgeber und Haushaltsbehörde durch den Vertrag von Lissabon einen beträchtlichen Bedeutungszuwachs erfahren. Was weiterhin fehlt und wofür auch im Verfassungskonvent nicht gekämpft wurde, ist ein echtes Initiativrecht des EP.2 Im Folgenden sollen in drei Abschnitten die Änderungen der 1 2
Die vorgetragenen Bewertungen geben nur die persönlich Auffassung der Autorin wieder. Abgesehen vom Initiativrecht für einen Beschluss über seine Zusammensetzung (Art 14 Abs 2 EUV) und einem Initiativrecht zur Vertragsrevision nach Art 48 EUV kommt dem EP in vier Bereichen des Sekundärrechts ein originäres Initiativrecht zu: Entwurf für ein einheitliches Wahlverfahren – Art 223 Abs 1 AEUV; Abgeordnetenstatut – Art 223 Abs 2 AEUV; Ausübung des parlamentarischen Untersuchungsrechts – Art 226 AEUV und Ausübung der Aufgaben des Bürgerbeauftragten – Art 228 AEUV. Darüber hi-
T. Eilmansberger et al. (eds.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon © Springer-Verlag Wien 2011
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verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Zusammensetzung des EP, die neuen Aspekte im Gesetzgebungsverfahren und die Änderungen in den Haushaltsbefugnissen näher dargestellt werden. I. Die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments Das Europäische Parlament ist nicht mehr die Vertretung der Völker Europas,3 sondern setzt sich aus Vertretern der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zusammen.4 Neu ist auch, dass die Zahl der auf jeden Mitgliedstaat entfallenden Abgeordneten nicht mehr im Primärrecht selbst, sondern durch einen Sekundärrechtsakt auf Initiative des Europäischen Parlaments festgelegt wird. Die primärrechtlichen Vorgaben beschränken sich auf die Gesamtzahl von 751 Sitzen, die nach dem Prinzip der – im Vertrag nicht näher definierten – degressiven Proportionalität5 auf die Mitgliedstaaten zu verteilen sind, wobei der Höchstzahl von 96 und der Mindestzahl von sechs Sitzen pro Mitgliedstaat Rechnung zu tragen ist. Als Sekundärrechtsakt wird der Beschluss über die Sitzverteilung künftig der nachprüfenden Kontrolle des EuGH unterliegen. Das Prinzip der degressiven Proportionalität folgt aus dem Anspruch, dass einerseits die Bürger aller Mitgliedsaaten angemessen, also mindestens im Basisspektrum der nationalen politischen Strömungen vertreten sein müssen, und andererseits die Arbeitsfähig-
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naus besteht ein abgeleitetes Initiativrecht, demzufolge das EP die Kommission zur Unterbreitung eines Vorschlages auffordern kann. Eine Ablehnung muss die Kommission begründen (Art 225 AEUV). Art 189 EGV. Art 14 Abs 2 EUV – das reflektiert auch besser den Umstand, dass jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, über das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum EP verfügt (Art 22 Abs 2 AEUV). Der Grundsatz der degressiven Proportionalität bedeutet, dass das Verhältnis zwischen der Bevölkerung und der Zahl von Sitzen jedes Mitgliedstaates in Abhängigkeit von seiner jeweiligen Bevölkerung variieren muss, so dass jeder Abgeordnete eines bevölkerungsreicheren Mitgliedstaates mehr Bürger vertritt als jeder Abgeordnete eines bevölkerungsärmeren Mitgliedstaates und umgekehrt, dass kein bevölkerungsärmerer Mitgliedstaat über mehr Sitze verfügt als ein bevölkerungsreicherer Mitgliedstaat (Bericht Lamassoure/Severin vom 31.10.2007, A 6-0351/2007).
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keit des EP gesichert bleiben muss. Eine proportionale Repräsentanz auf dem Prinzip der Wahlgleichheit – aus deren Fehlen das deutsche Bundesverfassungsgericht ein systemimmanentes Demokratiedefizit und eine nur hilfsweise Legitimationsfunktion des EP folgert – würde bedeuten, dass sich das Europäische Parlament aus 7.426 Abgeordneten zusammensetzen müsste.6 Die letzten Wahlen zum Europäischen Parlament haben im Juni 2009 auf der Grundlage des Vertrages von Nizza mit den in der Beitrittsakte für Rumänien und Bulgarien vorgenommenen Anpassungen stattgefunden.7 Auf dieser Grundlage setzt sich das EP zurzeit aus 736 Mitgliedern zusammen. Das EP hat aber schon im Oktober 2007 – auf Ersuchen des Europäischen Rates und im Hinblick auf das erhoffte rechtzeitige Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon vor den Wahlen zum EP 2009 – einen Entwurf über seine künftige Zusammensetzung entsprechend dem Protokoll 36 des Lissabon Vertrages über die Übergangsbestimmungen vorgelegt, in dem es das freiwerdende Kontingent von 17 Sitzen (+ 14 Sitze zur Aufstockung auf 750 und + 3 Sitze aus der Reduktion des Kontingents für Deutschland) auf 12 Mitgliedstaaten verteilte.8 Bei Abschluss der Regierungskonferenz zum Vertrag von Lissabon wurde Italien ein weiterer Sitz im EP zugewiesen9 und der Euro6
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Ausgehend davon, dass ein maltesischer Abgeordneter 67.333 maltesische Einwohner vertritt. Würde man die 858.729 Einwohner als Maßstab heranziehen, die ein deutscher Abgeordneter vertritt, so würde das EP nur aus 582 Abgeordneten bestehen, eine Reihe von Mitgliedstaaten wäre allerdings bei dieser Schwelle gar nicht vertreten. Entsprechend Art 9 (2) der Akte vom 25.4.2005 über die Bedingungen des Beitritts der bulgarischen Republik und Rumäniens. DE 96 = -3, FR 74 = +2, UK 73 = +1, IT 72, ES 54 = +4, PL 51= +1, RO 33, NL 26 = +1, EL 22, PT 22, BE 22, CZ 22, HU 22, SE 20 = + 2, AT 19 = +2, BG 18 = +1, DK 13, SK 13, FI 13, IE 12, LT 12, LV 9 = +1, SI 8 = +1, EE 6, CY 6, LU 6, MT 6 = +1, vgl EP Entschließung vom 3.10.2007 ABl 2008, C 227 (Bericht Lamassoure/ Severin). Zur Kritik an diesem Entwurf: Felix Arndt, Ausrechnen statt aushandeln: Rationalitätsgewinne durch ein formalisiertes Modell für die Bestimmung der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments, ZaöRV 68, 2008, 247. Wortlaut des Art 14 (2) EUV: „750 .... zuzüglich des Präsidenten“ und Erklärung Nr 4 zur Schlussakte der Regierungskonferenz: „Der zusätzliche Sitz im Europäischen Parlament wird Italien zugewie-
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päische Rat erklärte, dass er einem in diesem Sinn überarbeiteten Entwurf des EP seine Zustimmung erteilen würde. Als absehbar wurde, dass der Vertrag von Lissabon nicht rechtzeitig vor den Wahlen in Kraft treten würde, erklärte der Europäische Rat im Dezember 2008 seine Absicht, die Sitzzahl im EP für die Legislaturperiode von 2009-2014 vorübergehend auf 754 Mitglieder aufzustocken, um die Erhöhung der Sitzzahl für 12 Mitgliedsaaten, die im Entwurf des EP vorgesehen war, zu ermöglichen. Der Europäische Rat bekräftigte diese Auffassung bei seinem Treffen im Juni 200910 und präzisierte, dass die 18 zusätzlichen Abgeordneten entweder durch eine ad hoc Wahl, durch geeignete Vorkehrungen bei der Wahl im Juni 2009 oder durch Benennung aus dem Kreis der nationalen Abgeordneten designiert werden sollen.11 Da damit die im Vertrag vorgesehen Obergrenze von 751 Mitgliedern vorübergehend überschritten werden soll, ist eine Primärrechtsänderung erforderlich. So kam es, dass dem EP weniger als drei Wochen nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ein Vorschlag des Europäischen Rates zur Änderung des Protokolls Nummer 36 des Vertrags von Lissabon vorgelegt wurde (obwohl allgemein die Auffassung vertreten wurde, dass der Vertrag von Lissabon die unveränderbare Arbeitsgrundlage der EU für die nächsten Jahrzehnte
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sen“. Historisch war die Sitzzahl unter den 4 großen Mitgliedstaaten lange Zeit gleich kontingentiert. Nach der deutschen Wiedervereinigung blieb immerhin noch die Sitzzahl von FR, UK und IT gleich. Der Vorschlag des EP hat erstmalig eine unterschiedlich Sitzzahl dieser drei Mitgliedstaaten vorgesehen, wogegen Italien heftig protestierte. Auf Anregung Italiens wurden auch Überlegungen angestellt, ob es nicht möglich wäre statt der Einwohnerzahl wie sie jährlich von Eurostat festgelegt wird, die Zahl der europäischen Bürger als Referenzkriterium heranzuziehen. Schlussfolgerungen der Präsidentschaft vom 18/19.6.2009, Annex 4: Die folgenden 18 Sitze werden den 736 durch die Wahlen im Juni 2009 vergebenen Sitzen hinzugefügt: Bulgarien 1, Spanien 4, Frankreich 2, Italien 1, Lettland 1, Malta 1, Niederlande 1, Österreich 2, Polen 1, Slowenien 1, Schweden 2, Großbritannien 1. Diese letzte Variante widerspricht dem Anspruch des EP sich nur aus direkt gewählten Mitgliedern zusammenzusetzen und steht damit im Widerspruch zur Direktwahlakte aus 1976, ist allerdings nicht anfechtbar, da die Änderung des Protokolls 36 ebenfalls Primärrechtsrang hat.
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darstellen würde). In zwei Entschließungen vom 6. Mai 2010 hat das EP einerseits seine inhaltliche Zustimmung zur vorgeschlagenen Änderung des Protokolls Nummer 36 gegeben und andererseits zugestimmt, dass in dieser Frage auf die Einberufung eines Konvents verzichtet wird. Mittlerweile wurde diese Vertragsänderung in einer Regierungskonferenz am 23. Juni 2010 beschlossen. Durch eine Anpassung seiner Geschäftsordnung12 hat das EP dafür Sorge getragen, dass die zusätzlichen Abgeordneten in der Zeit zwischen der Zustimmung zu der Änderung des Protokolls Nummer 36 und ihrem Inkrafttreten ihren Sitz als Beobachter einnehmen können. Ob das Änderungsprotokoll von allen 27 Mitgliedstaaten vor den nächsten Wahlen in 2014 ratifiziert werden wird, bleibt abzuwarten. II. Rechtsetzung A. COD = OLP = PLO = OGV
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= nicht Neues, aber mehr davon!
Das Mitentscheidungsverfahren wird nunmehr als das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“ bezeichnet, bleibt aber inhaltlich unverändert. Eine weitere terminologische Neuerung besteht darin, dass künftig auch das Europäische Parlament in erster Lesung einen „Standpunkt“ festlegt. Das EP hat es sich bereits vor dieser sprachlichen Gleichstellung mit dem Rat zur Gewohnheit gemacht, das Ergebnis seiner ersten Lesung in Form eines konsolidierten Textes an den Rat zu übermitteln. Diese Praxis ist insofern nicht ganz unproblematisch, als die parlamentarische Abstimmung sich im Regelfall nur auf die einzelnen Änderungsanträge, aber nicht auf den konsolidierten Text in seiner Gesamtheit bezieht.14 Es kommt allerdings aufgrund der Tendenz, Mitentscheidungsverfahren vermehrt in erster Lesung abzuschließen,15 und in Fällen besonderer
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Art 11 Abs 4 der GO EP, zurückgehend auf den Bericht Martin zur Anpassung der Geschäftsordnung des Parlaments an den Vertrag von Lissabon, Beschluss des EP vom 25.11. 2009, A7-0043/2009. Codecision = Ordinary legislative procedure = procédure législative ordinaire = ordentliches Gesetzgebungsverfahren, Art 294 AEUV. Vgl Art 180 Abs 4 GO EP. Nach dem Tätigkeitsbericht 1.5.2004 bis 13.7.2009 (6. Wahlperiode) der Delegationen im Vermittlungsausschuss wurden in der letzten
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Dringlichkeit mitunter dazu, dass in erster Lesung über einen fertig ausverhandelten konsolidierten Text abgestimmt wird, was zwar mit der GeO nicht ausdrücklich unvereinbar ist, demokratiepolitisch aber auch nicht ganz unbedenklich erscheint.16 Neu ist, dass das Mitentscheidungsverfahren nicht mehr ausschließlich von der Ausübung des Initiativrechts der Kommission abhängt, sondern auch auf Initiative einer Gruppe von Mitgliedstaaten, auf Empfehlung der Europäischen Zentralbank oder auf Antrag des EuGH in den im Vertrag vorgesehenen Fällen in die Wege geleitet werden kann. Die mengenmäßige Ausweitung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens auf eine Vielzahl von bereits bestehenden und neuen Rechtsgrundlagen wird vermutlich zu Recht als der größte Erfolg des Europäischen Parlaments im Regelwerk des Vertrags von Lissabon angesehen. Wesentlich ist aber nicht die Machtentfaltung eines Organs, sondern, dass durch die Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens auf nunmehr 72 Rechtsgrundlagen die demokratische Legitimation des Unionhandelns beträchtlich gestärkt wird. Nach allgemeiner Diktion wird das ordentliche Gesetzgebungsverfahren durch diese Ausdehnung zum Regelverfahren schlechthin. Diese Betrachtungsweise ist aber vielleicht doch etwas zu euphemistisch und übersieht, dass es im Vertragswerk immer noch eine Vielzahl von Rechtgrundlagen gibt, die entweder nur die Anhörung des EP vorsehen oder die sogar ohne jegliche Einbindung des EP zustande kommen.17 Folgende Rechtsgrundlagen wurden durch den Vertrag von Lissabon in das ordentliche Gesetzgebungsverfahren überführt: x Landwirtschaftspolitik – gemeinsame Organisation der Agrarmärkte und Bestimmungen zur Verwirklichung der gemeinsamen Agrar- und Fischereipolitik – Art 43 Abs 2 und 4, 42 AEUV; x Niederlassungsrecht – Ausschluss bestimmter Tätigkeiten von der Anwendung der Bestimmungen der Niederlassungsfreiheit
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Legislaturperiode über 70 % der Mitentscheidungsverfahren in erster Lesung abgeschlossen. Vgl zB den in erster Lesung angenommen Standpunkt des EP im Verfahren COD 2009/0028. 48 Rechtsgrundlagen gewähren dem EP weiterhin nur die Anhörung und immerhin 22 Rechtsgrundlagen sehen keinerlei Einbindung des EP vor.
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– Art 51 AEUV; Dienstleistungen – Ausdehnung der Dienstleistungsfreiheit auf innerhalb der EU ansässige Drittstaatsangehörige –; Liberalisierungsrichtlinien für bestimmte Dienstleistungen – Art 56 und 59 AEUV; Kapital- und Zahlungsverkehr – Maßnahmen für den Kapitalverkehr mit dritten Ländern im Zusammenhang mit Direktinvestitionen – Art 64 Abs 2 AEUV; Angleichung der Rechtsvorschriften – RL zur Beseitigung von Verzerrungen der Wettbewerbsbedingungen – Art 116 AEUV; Wirtschaftspolitik – Einzelheiten des Verfahrens der multilateralen Überwachung – Art 121 Abs 6 AEUV; Währungspolitik – Änderung der von näher bezeichneten Bestimmungen der Satzung der ESZB und der EZB – Art 129 Abs 3 AEUV; Strukturfonds – Festlegung von Zielen und Organisation; Koordinierung der Fonds untereinander und mit anderen Finanzierungsinstrumenten; Errichtung eines Kohäsionsfonds – Art 177 AEUV; Bildung von dem Gericht beigeordneten Fachgerichten – Art 257 AEUV; Änderung der Satzung des EuGH (mit Ausnahme des Titels I und von Art 64) – Art 281 AEUV; Gemeinsame Bestimmungen für den Finanzrahmen und den Jahreshaushaltsplan – Haushaltsvorschriften für die Aufstellung des Haushaltsplanes sowie die Rechnungslegung und Rechnungsprüfung, Vorschriften zur Kontrolle der Verantwortung der Finanzakteure – Art 322 Abs 1 AEUV; Dienstrecht der EU-Beamten und sonstigen Bediensteten – Art 336 AEUV.
Durch den Vertrag von Lissabon wurden überdies folgende Rechtsgrundlagen neu geschaffen oder substantiell neu formuliert: x Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse – Art 14 AEUV; x Schutz personenbezogener Daten – Art 16 Abs 2 AEUV; x Bürgerinitiative – Art 24 AEUV; x Terrorismusbekämpfung: Rahmen für Verwaltungsmaßnahmen betreffend Kapitalbewegungen (Einfrieren von Geldern) – Art 75 AEUV;
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Politik im Bereich von Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Art 77 Abs 2, 78 Abs 2, 79 Abs 2 und 4 AEUV; Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen mit grenzüberschreitendem Bezug – Art 81 Abs 2 und 3 AEUV; Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen einschließlich Eurojust – Art 82 Abs 1 und 2, 83 Abs 1 und 2, 84 und 85 Abs 1 AEUV; Polizeiliche Zusammenarbeit einschließlich Europol – Art 87 Abs 2, 88 Abs 2 AEUV; Schaffung europäischer Rechtstitel über einen einheitlichen Schutz der Rechte geistigen Eigentums sowie zur Einführung von zentralisierten Zulassungs-, Koordinierungs- und Kontrollregelungen auf Unionsebene – Art 118 AEUV; Währungspolitik: nötige Maßnahmen zur Verwendung des Euro – Art 133 AEUV; Sport: Fördermaßnahmen unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung – Art 165 AEUV; Gesundheitswesen: Maßnahmen zur Festlegung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Arzneimittel und Medizinprodukte; Maßnahmen, die unmittelbar den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung vor Tabakkonsum und Alkoholmissbrauch zum Ziel haben unter Ausschluss von Harmonisierung – Art 168 Abs 4 und 5 AEUV; Forschung: Maßnahmen zur Verwirklichung eines europäischen Raums der Forschung (in Ergänzung zum mehrjährigen Rahmenprogramm) – Art 182 Abs 5 AEUV; Raumfahrtpolitik: zur Zielverwirklichung notwendige Maßnahmen unter Ausschluss von Harmonisierung, ggfs in Form eines europäischen Raumfahrtprogramms – Art 189 Abs 2 AEUV; Energie: notwendige Maßnahmen zur Zielverwirklichung – Art 194 Abs 2; Tourismus: spezifische Maßnahmen zur Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten unter Ausschluss von Harmonisierung – Art 195 Abs 2 AEUV; Katastrophenschutz: Zur Zielverfolgung erforderliche Maßnahmen unter Ausschluss von Harmonisierung – Art 196 Abs 2 AEUV; Verwaltungszusammenarbeit: erforderliche Maßnahmen unter Ausschluss von Harmonisierung – Art 197 Abs 2 AEUV;
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Gemeinsame Handelspolitik: Maßnahmen zur Bestimmung eines Rahmens für die Umsetzung der gemeinsamen Handelspolitik – Art 207 AEUV; Wirtschaftliche, finanzielle und technische Zusammenarbeit mit Drittländern: erforderliche Maßnahmen zur Durchführung – Art 212 Abs 2 AEUV; Humanitäre Hilfe: Festlegung eines Rahmens zur Durchführung und Regelungen betreffend ein Europäisches Freiwilligenkorps – Art 214 Abs 3 und 5 AEUV; Durchführungsbefugnisse (ex-Komitologie): allgemeine Regeln und Grundsätze zur Kontrolle durch die Mitgliedstaaten bei der Wahrnehmung von Durchführungsbefugnissen durch die Kommission (nur wenn es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung bedarf) – Art 291 Abs 2 AEUV; Europäische Verwaltung: Bestimmungen für eine offene, effiziente und unabhängige europäische Verwaltung – Art 298 AEUV.
Im Ergebnis kann davon ausgegangen werden, dass sich durch die Ausweitung der das Mitentscheidungsverfahren vorsehenden Rechtsgrundlagen die Anzahl der Verfahren erhöhen wird, was wiederum zu einem verstärkten Arbeitsanfall in den betroffenen thematischen Ausschüssen führen wird. Das EP hat für die 7. Legislaturperiode die Zuständigkeiten seiner 20 ständigen Ausschüsse unverändert beibehalten (siehe Anlage VII der GO EP). Allerdings wird sich die gesetzgeberische Lastenverteilung ändern. Besonders betroffen werden die Ausschüsse für Landwirtschaft (AGRI), Fischerei (PECH) und bürgerliche Freiheiten (LIBE) sein. Ganz nebenbei wäre noch zu erwähnen, dass das Verfahren der Kooperation (ex-Art 252 EGV) durch den Vertrag von Lissabon abgeschafft wurde, wodurch ein Beitrag zur Vereinfachung im Wege der Verringerung der Anzahl der Rechtsetzungsverfahren geleistet wurde. B. Neue Zustimmungsverfahren Das Zustimmungsverfahren wird erheblich ausgeweitet, da nach Art 218 Abs 6 lit a) Ziffer v) AEUV für alle internationalen Übereinkünfte in Bereichen, bei denen das ordentliche Gesetzgebungsverfahren Anwendung findet, die Zustimmung des EP erforderlich ist. Besonders betroffen ist davon die gemeinsame Handelspolitik, deren Grundverordnungen künftig im Mitentscheidungsverfahren
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festzulegen sein werden.18 Daher wird für handelspolitische Abkommen in Zukunft grundsätzlich die Zustimmung des EP eingeholt werden müssen. Der parlamentarische Ausschuss für internationalen Handel (INTA) sieht sich durch diese neuen Verfahrensregeln in seiner Bedeutung elementar gestärkt. Die Rechte des EP für den Abschluss internationaler Abkommen wurden generell gestärkt, da ihm – mit Ausnahme der Abkommen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik – entweder die Zustimmung oder zumindest eine Anhörung und darüber hinaus umfassende Information in allen Phasen des Verfahrens vertraglich zugesichert wurden.19 Diese erweiterten Befugnisse haben ihren Niederschlag in der GO EP gefunden, die vorsieht, dass auf Vorschlag des zuständigen Ausschusses, einer Fraktion oder von mindestens 40 Mitgliedern, der Rat ersucht werden kann, Verhandlungen über internationale Abkommen erst aufzunehmen, nachdem das Parlament seinen Standpunkt dargelegt hat; darüber hinaus behält sich das EP auch vor, auf der Grundlage eines vom zuständigen Ausschuss erarbeiteten Berichts Empfehlungen in jeder Phase der Verhandlungen anzunehmen, die vor dem Abschluss der Verhandlungen berücksichtigt werden sollten und zwar unabhängig davon, ob die Zustimmung des EP erforderlich ist oder nicht. Die verstärkte Einbeziehung sowie die unverzügliche und umfassende Information des Parlaments in allen Phasen der Verhandlungen über internationale Abkommen (einschließlich der Festlegung von Verhandlungsleitlinien), insbesondere bei Verhandlungen, die zum Abschluss von zustimmungspflichtigen Abkommen führen, ist derzeit auch Gegenstand der Beratungen mit der Kommission über ein revidiertes Rahmenabkommen.20 Durch den Vertrag von Lissabon wird darüber hinaus das Zustimmungsverfahren in den folgenden Fällen eingeführt:
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Art 207 Abs 1 AEUV. Demgegenüber wird das EP am Erlass von konkreten Einzelmaßnahmen – wie etwa der Einführung von Antidumpingzöllen – weiterhin nicht beteiligt werden. Art 218 Abs 6 und 10 und 207 Abs 3, 3. UAbs AEUV. Vgl die Entschließung des EP vom 9.2.2010 B7-0091/2010, Pkt 3 h) und j). Der Wunsch des EP bei internationalen Konferenzen Beobachterstatus für Delegationen des EP zu erhalten, ist einer der noch verbliebenen Stolpersteine für den Abschluss der revidierten Rahmenvereinbarung.
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Zustimmung des EP zu seiner Zusammensetzung – Art 14 Abs 2 EUV; förmliche Vertragsänderung – Art 48 Abs 3 und 7 EUV; Beitritt zur EU – Art 49 EUV; Austritt – Art 50 EUV; Antidiskriminierungsmaßnahmen – Art 19 Abs 1 AEUV; Ergänzung der Rechte der Unionsbürger – Art 25 Abs 2 AEUV; Mindestvorschriften für spezifische Aspekte des Strafverfahrens (Brückenklausel) – Art 82 Abs 2 lit d) AEUV; Ausdehnung der Befugnisse der europäischen Staatsanwaltschaft – Art 86 Abs 4 AEUV; Aufnahme verstärkter Zusammenarbeit – Art 329 Abs 1 AEUV; Bestimmung weiterer Kriminalitätsbereiche zu deren Bekämpfung Mindestvorschriften im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren festgelegt werden können – Art 83 Abs 3 AEUV; Einheitliches Wahlverfahren – Art 223 Abs 1 AEUV; Durchführungsmaßnahmen zum System der Eigenmittel – Art 311 AEUV; Verordnung zur Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens – Art 312 Abs 2 AEUV; Flexibilitätsklausel für ein Tätigwerden der Union ohne ausdrücklich vorgesehene Befugnisse – Art 352 Abs 1 AEUV. C. Eine Revolution im institutionellen Gefüge: nationale Parlamente als Akteure im Gesetzgebungsverfahren
1. Die Subsidiaritätskontrolle Die Subsidiaritätskontrolle durch nationale Parlamente wurde im Konvent als wesentliche Errungenschaft gepriesen.21 Im Verhältnis zum Verfassungsvertrag sieht der Vertrag von Lissabon eine noch weitergehende Einbindung der nationalen Parlamente insbesondere durch Art 12 EUV aber auch durch den ausgebauten Mechanismus 21
Der Vertrag von Amsterdam führte erstmals ein Protokoll (Nr 30) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit ein und sah ebenso erstmalig ein Protokoll (Nr 9) über die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der Europäischen Union vor.
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der sogenannten gelben und orangen Karte gemäß Art 7 Abs 3 des Protokolls Nummer 2 vor. Die den nationalen Parlamenten in den Protokollen Nummer 1 und 2 eingeräumte 8-wöchige Frist zur Stellungnahme – zu Entwürfen von Gesetzgebungsakten in Angelegenheiten, die nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fallen – über die Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes ist als zwingendes Formerfordernis zu qualifizieren, dessen Nichteinhaltung einen Rechtsakt mit Nichtigkeit bedrohen würde. Im Wege der Anpassung seiner GO an den Vertrag von Lissabon hat das EP für die Subsidiaritätskontrolle eine eigene Bestimmung vorgesehen, durch die die fachlich zuständigen Ausschüsse verpflichtet werden, nicht vor Ablauf der 8-Wochenfrist über einen Vorschlag in der Sache abzustimmen.22 Für das Gesetzgebungsverfahren stellt die Subsidiaritätskontrolle eine zusätzliche Komplikation dar, nicht sosehr, weil zu befürchten stünde, dass die Schwellenwerte jemals erreicht werden, sondern weil in Fortsetzung der bereits seit 2006 bestehenden sogenannten Barroso-Initiative23 die nationalen Parlamente kaum der Verlockung widerstehen werden, sich über Subsidiaritätsfragen hinaus inhaltlich auf Gesetzgebungsentwürfe einzulassen und mit ihrer Position Lobbying bei den europäischen Abgeordneten des betreffenden Mitgliedstaates zu betreiben.24 Bei wohlwollender Betrachtungsweise bleibt zu hoffen, dass ein verstärkter Austausch der Standpunkte zwischen dem EP und den nationalen Parlamenten zu einem verbesserten wechselseitigen Verständnis und zu einer Annäherung innerstaatlicher und europäischer politischer Debatten führen wird. 22 23
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Art 38a GO EP. Der Kommissionspräsident ergriff die Initiative die nationalen Parlamente zu einem rechtlich unverbindlichen legislativen Dialog aufzufordern. Aufgrund der in den Mitgliedsstaaten durchwegs gegebenen politischen Identität von Regierungs- und Parlamentsmehrheit führt die Beteiligung der nationalen Parlamente an der Subsidiaritätskontrolle näherungsweise zu einer doppelten Kontrolle der nationalen Parlamente, die nicht nur ihre Regierungsvertreter kontrollieren, sondern ihren Einfluss auch vor dem Europäische Parlament geltend machen können und zwar, soweit erste Erfahrungen zeigen, auch über den engeren Bereich der Subsidiaritätskontrolle hinaus, im Sinn allgemeiner inhaltlicher Stellungnahmen zu Rechtsetzungsvorhaben.
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In dieser Hoffnung hat das Europäische Parlament die neuen Rechte, die den nationalen Parlamenten zur Beachtung des Subsidiaritätsgrundsatzes eingeräumt wurden, ausdrücklich begrüßt und vertritt die Ansicht, dass eine verstärkte Kontrolle europäischer Politiken durch die nationalen Parlamente zu einer stärkeren Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Tätigkeiten der Union führen wird.25 2. Die interparlamentarische Zusammenarbeit Die Zusammenarbeit mit nationalen Parlamenten hat zwar insbesondere wegen des Art 12 EUV eine neue Dimension angenommen, ist aber schon seit Jahren ein wahrlich vielschichtiges Unterfangen: die bestehenden Beziehungen umfassen Aktivitäten, die im BrokBericht26 wie folgt zusammengefasst werden: x gemeinsame parlamentarische Treffen zu ausschussübergreifenden, horizontalen Themen (zB: Europäische Energiegemeinschaft),27 x regelmäßige gemeinsame Ausschusssitzungen, x interparlamentarische ad hoc Treffen auf Ausschussebene, x interparlamentarische Treffen auf der Ebene der Ausschussvorsitzenden, x Zusammenarbeit auf der Ebene der Parlamentsvorsitze im Rahmen der Konferenz der Parlamentspräsidenten der Parlamente der EU (Speakers’ Conference), x Besuche von Mitgliedern der nationalen Parlamente beim EP zur Teilnahme an Ausschusssitzungen und x Treffen innerhalb der politischen Fraktionen oder Parteien auf europäischer Ebene, bei denen Politiker aus allen Mitgliedstaaten mit Mitgliedern des EP zusammentreffen. Ergänzend dazu ist noch zu erwähnen, dass mittlerweile alle Parlamente der Mitgliedstaaten einen Korrespondenten nach Brüs25
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Entschließung des EP vom 7.5.2009 zu den neuen Aufgaben und Zuständigkeiten des Parlaments bei der Umsetzung des Vertrags von Lissabon, Pkt 63. Entwicklung der Beziehungen zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten im Rahmen des Vertrags von Lissabon (2008/2120/INI), EP Entschließung vom 7.5.2009, A60133/ 2009. Diese Treffen werden vom EP und dem Vorsitzland des Rates gemeinsam organisiert.
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sel entsandt haben (wobei fast alle im EP selbst beherbergt werden), und dass seit bereits über zwanzig Jahren zweimal jährlich Treffen der COSAC28 stattfinden. Der Lissabon Vertrag schreibt vor, dass das EP und die nationalen Parlamente gemeinsam festlegen, wie ein effiziente und regelmäßige Zusammenarbeit zwischen den Parlamenten innerhalb der Union gestaltet und gefördert werden kann.29 Das EP hat mit der Annahme des Brok-Berichts30aus seiner Sicht die mögliche Entwicklung der Beziehungen zwischen dem EP und den nationalen Parlamenten skizziert und dabei vorgeschlagen, die Aktivitäten auf Ausschussebene mit Schwerpunkt auf dem praeund postlegislativen Dialog zu konzentrieren und die groß dimensionierten Veranstaltungen eher zu verringern.31 Innerhalb des EP arbeitet derzeit eine Steering-Group32 an einer Strategie für die interne Organisation des EP zur Gestaltung der Beziehungen zu den nationalen Parlamenten.33 Dabei stehen folgende Anliegen im Vordergrund: bessere Koordinierung interparlamentarischer Treffen, moderne und informelle Formen des interparlamentarischen Dialogs (Videokonferenzen, Treffen zwischen Berichterstattern und nationalen Gegenspielern), bessere Nutzung von IPEX und CERDP,34 verstärkte interparlamentarische Kooperation für die besonders betroffenen Ausschüsse JURI, LIBE, 28 29 30 31
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Conférence des Organes Spécialisés dans les Affaires communautaires. Protokoll Nr 1, Art 9. Entschließung vom 9.5.2009. Weitere Vorschläge bezogen sich auf folgende Punkte: verstärkte Zusammenarbeit zwischen Berichterstattern, neue Formen der Kommunikation zB mittels Videokonferenz, verstärkte Rolle der Konferenz der Ausschussvorsitzenden vor allem im Hinblick auf die Koordinierung der Aktivitäten, Reziprozität der wechselseitigen Besuchsmöglichkeiten, prae- und postlegislativer Dialog. Bestehend aus drei Vizepräsidenten, die für die Beziehungen zu den nationalen Parlamenten zuständig sind, Vertretern der Fraktionen und dem Vorsitzenden des Ausschusses für Verfassungsfragen (in Vertretung des Vorsitzenden der Konferenz der Ausschussvorsitzenden). Ein Bericht soll September 2010 der Konferenz der Präsidenten vorgelegt werden. Centre européen de la recherche et de la documentation parlementaire.
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BUDG und AFET, Ausbau des Netzes von Korrespondenten, sowie regelmäßige Abstimmung mit dem zuständigen Kommissar und dem Minister des Vorsitzlandes. Im Generalsekretariat des EP besteht in der Generaldirektion I (Présidence) eine aus zwei Abteilungen bestehende Direktion für die Beziehungen zu nationalen Parlamenten, die sich um den legislativen Dialog und die institutionelle Zusammenarbeit kümmert. Wie genau der Artikel 9 des Protokolls Nummer 1 zum Lissabon Vertrag mit Leben gefüllt wird, bleibt noch abzuwarten. D. Von Delegation und Durchführung Der Vertrag von Lissabon schafft eine völlig neue Situation im Hinblick auf die Komitologieverfahren, indem er eine Normenhierarchie einführt, bei der zwischen Gesetzgebungsakten, delegierten Rechtsakten und Durchführungsrechtsakten unterschieden wird.35 Mit den Art 290 und 291 AEUV stellt der Vertrag die längst fällige Unterscheidung zwischen der Wahrnehmung legislativer und exekutiver Aufgaben her. Das alte Komitologieverfahren wird durch das neue System von delegierter Gesetzgebung und exekutiven Befugnissen abgelöst und besteht nur solange fort, bis der bestehende Acquis angepasst wird.36 1. Delegierte Rechtsakte Art 290 AEUV schafft eine Rechtsgrundlage für die Übertragung legislativer Befugnisse an die Kommission. Nur Gesetzgebungsakte, also Rechtsakte die durch das ordentliche oder durch ein besonderes Gesetzgebungsverfahren angenommen werden, können der Kommission die Befugnis übertragen, Rechtsakte mit allgemeiner Geltung zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften eines Gesetzgebungsaktes zu erlassen. Die Grenzen für die Ausübung der Befugnisübertragung muss der Gesetzgeber im jeweiligen Gesetzgebungsakt klar und genau de35
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In diesem Zusammenhang ist ein Wort des Bedauerns angebracht, dass die von der Verfassung angestrebte Vereinfachung der Terminologie mit der Unterscheidung zwischen Europäischen Gesetzen und europäischen Rahmengesetzen als Gesetzgebungsakten auf der einen Seite und Verordnungen und Entscheidungen auf der anderen Seite nicht beibehalten wurde. Art 202 EGV wurde aufgehoben. Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon können daher neue Rechtsakte keine Komitologieverfahren nach dem Beschluss Nr 1999/468/EG mehr vorsehen.
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finieren: Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Befugnisübertragung müssen ausdrücklich festgelegt werden. Die Kontrolle des Gesetzgebers erfolgt in Form des Widerrufsrechts – mit dem den beiden Zweigen der legislativen Gewalt das einseitige Recht verliehen wird, die Befugnisübertragung zu beenden (wovon delegierte Rechtsakte die bereits in Kraft getreten sind nicht berührt werden) – oder des Einspruchsrechts, mit dem das Inkrafttreten eines konkreten delegierten Rechtsaktes verhindert werden kann. Nach Auffassung der Kommission sind die genannten Kontrollmechanismen im Vertrag abschließend geregelt.37 Nach Auffassung des EP haben sie nur beispielhaften Charakter,38 sollten aber jedenfalls beide in jeden Basisrechtsakt der eine Delegation vorsieht, aufgenommen werden. Zur „Umsetzung“ des Artikels 290 AEUV ist kein verbindlicher Rechtsakt des abgeleiteten Rechts notwendig. Die Kommission hat in ihre Mitteilung vom Dezember 200939 im Sinne der Qualität der Rechtsetzung Standardformulierungen vorgeschlagen, die mit leichten Veränderungen im ersten Mitentscheidungsverfahren das eine Delegation vorgesehen hat, übernommen wurden.40 Die dabei verwendeten Formulierungen für die Befugnisse und Bedingungen der delegierten Gesetzgebung wurden seither in allen anderen Mitentscheidungsverfahren verwendet, die die Möglichkeit delegierter Gesetzgebung vorsehen.41 Ob diese Standardformulierungen und andere Fragen der Delegation in einem interinstitu-
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Mitteilung der Kommission vom 9.12.2009 an das Europäische Parlament und den Rat zur Umsetzung von Art 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, KOM(2009) 673 endg, Pkt 5.1. Entschließung des EP vom 5.5.2010 zur legislativen Befugnisübertragung (2010/202(INI)), A7-0110/2010, Pkt 2: Nach Auffassung des EP wären als weitere Möglichkeiten der Befugnisübertragung die ausdrückliche Zustimmung des Gesetzgebers zu jedem delegierten Rechtsakt oder die Möglichkeit einzelne bereits in Kraft getretene delegierte Rechtstakte nachträglich aufzuheben, denkbar. Vorzitiert in Fn 37. Veterinärbedingungen für die Verbringung von Heimtieren zu anderen als Handelszwecken, 2009/0077(COD), Legislative Entschließung des EP vom 9.3.2010, A7-0082/2009. COD 2008/0263, COD 2008/222 und COD 2008/223.
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tionellem Abkommen geregelt werden sollen, bildet derzeit den Gegenstand von Verhandlungen zwischen EP, Rat und Kommission. 2. Durchführungsmaßnahmen Der neue Artikel 291 AEUV schafft die Befugnis für die Rechtsetzungsorgane, Durchführungsbefugnisse auf die Kommission zu übertragen,42 wenn es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung verbindlicher Rechtsakte (also nicht nur von Gesetzgebungsakten!) bedarf. Die Bestimmung bekräftigt die primäre Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Durchführung des Unionsrechts. EP und Rat sind verpflichtet, im Voraus allgemeine Regeln und Grundsätze festzulegen, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren. Die Kommission hat einen entsprechenden Vorschlag auf der Grundlage des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens bereits vorgelegt,43 der Vorschlag befindet sich zurzeit in erster Lesung im Parlament.44 Strittige Punkte dieses Vorschlags dürften vor allem die Frage eines Kontrollrechts des EP in Anlehnung an Art 8 des Komitologiebeschlusses und die automatische Anpassung der geltenden Rechtsvorschriften nach Artikel 10 des Kommissionsentwurfes sein. III. Haushaltsbefugnis Das EP hat in einer Gesamteinschätzung die neuen Finanzvorschriften des Vertrags von Lissabon insgesamt positiv beurteilt, da sie eine bessere demokratische Kontrolle und mehr Transparenz der Finanzen der Union bewirken. Im Detail fällt das Urteil etwas nuancierter aus:45 42 43
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Nur bei Vorliegen besonderer Umstände kann auch eine Übertragung auf den Rat erfolgen. Vorschlag vom 9.3.2010 für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren, KOM(2010) 83 endg, 2010/0051 COD. Am 20.5.2010 hat der Berichterstatter den Entwurf eines Berichts vorgelegt, über den der sachlich zuständige Rechtsausschuss demnächst abstimmen wird. Entschließung vom 7.5.2009 über die finanziellen Aspekte des Vertrags von Lissabon, A6-0183/2009.
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So bedauert das EP, dass es bei der Entscheidung über die Eigenmittel der Union nur angehört wird (Art 311 AEUV) und dass nicht die Gelegenheit genutzt wurde, ein System wirklicher Eigenmittel der Union zu errichten, das einem demokratischen Beschlussfassungsverfahren unterliegt. Der mehrjährige Finanzrahmen (MFR) wird durch den Vertrag von Lissabon auf eine formelle Grundlage gestellt (Art 312 AEUV). Er wird künftig im Wege einer Verordnung durch ein besonderes Gesetzgebungsverfahren angenommen, wobei der Rat einstimmig nach Zustimmung des EP mit der Mehrheit seiner Mitglieder beschließt. Das EP bedauert allerdings, dass das Erfordernis der einstimmigen Beschlussfassung im Rat aufrechterhalten wurde. Der Wunsch des EP, dass der MFR zeitlich so weit wie möglich der Wahlperiode des Parlaments und der Amtszeit der Kommission angeglichen wird, wird in der Praxis kaum zu verwirklichen sein, da der Verhandlungszeitraum auf mindestens ein Jahr zu veranschlagen ist. Für das jährliche Haushaltsverfahren (Art 314 AEUV) ist die Aufhebung der Unterscheidung zwischen obligatorischen und nichtobligatorischen Ausgaben positiv zu bewerten. Damit wurde eine völlige Gleichstellung der beiden Haushaltsbehörden bewirkt, denn das EP entscheidet mit dem Rat nunmehr über den gesamten EU-Haushalt einschließlich der Agrarkosten. Das neue Haushaltsverfahren besteht nur mehr aus einer Lesung, gefolgt von einem Vermittlungsverfahren, wenn es nicht rechtzeitig zu einer Einigung gekommen ist. Wenn das EP den Text des Vermittlungsausschusses mit der Mehrheit seiner Mitglieder ablehnt, ist die Vermittlung gescheitert und die Kommission muss einen neuen Entwurf vorlegen (Art 314 Abs 7 lit c) AEUV). Bei einer Ablehnung des gemeinsamen Entwurfes des Vermittlungsverfahrens durch den Rat bei gleichzeitiger Billigung durch das EP kann der gemeinsame Entwurf in Kraft treten, es sei denn, es gelingt dem EP mit einer qualifizierten Mehrheit (Mehrheit der Mitglieder und drei Fünftel der abgegebenen Stimmen), seine Änderungen aus der ersten Lesung durchzusetzen (Art 314 Abs 7 lit d) AEUV). Diese Fallvariante wird von Lehre und Praxis allerdings für relativ unwahrscheinlich gehalten. In seiner Entschließung über die finanziellen Aspekte des Vertrags von Lissabon hat das EP die nationalen Parlamente dazu eingeladen, jährlich an einer gemeinsamen öffentlichen Debatte über die Leitlinien der nationalen und der gemeinschaftlichen Haushalts-
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politik im Vorfeld der Prüfung der jeweiligen Haushaltsplanentwürfe teilzunehmen, um einen gemeinsamen Reflexionsrahmen für die Koordinierung der nationalen Politiken der Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung des Beitrags der Gemeinschaft einzuführen. Die Krisenphänomene des Frühjahrs 2010 lassen diesen Vorschlag als überaus sinnvoll erscheinen. IV. Kontrollbefugnisse Die Kontrollbefugnisse des EP wurden durch den Vertrag von Lissabon nur punktuell erweitert. Sofern man in einem weiteren Sinn auch die Funktion des EP als Wahlgremium zu den Kontrollmechanismen zählen kann, verdient die Wahl des Präsidenten der Kommission an erster Stelle genannt zu werden.46 Außerdem wurde dem EP eine bescheidene Form der Mitwirkung an der Ernennung von Richtern und Generalanwälten des Gerichtshofs und des Gerichts eingeräumt, indem das EP eines von sieben Mitgliedern der beratenden Gruppe von Sachverständigen (Art 255 AEUV) benennen kann. Generell lässt sich feststellen, dass die Kontrolle des EP gegenüber der Kommission umfassend ist, während gegenüber dem Europäischen Rat und dem Rat Kontrollrechte nur in Form der Anhörung bestehen.
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Art 17 Abs 7 AEUV.
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Organisation und Arbeitsweise der Europäischen Kommission I. Die Änderungen der Vorschriften über die Kommission in den Verträgen A. Die Zahl der Mitglieder der Kommission B. Das Verfahren zur Bestellung der Kommission C. Die Stellung des Präsidenten innerhalb der Kommission II. Die Auswirkungen der Vertragsänderungen auf die Arbeit der Kommission Barroso II A. Die Abfassung politischer Leitlinien für die Kommission durch den Präsidenten B. Die Rolle des Präsidenten bei der internen Organisation der Kommission C. Bewertung III. Überblick über andere Vertragsänderungen mit Auswirkungen auf die Arbeit der Kommission A. Das Initiativrecht der Kommission B. Sonstige Änderungen IV. Schlussfolgerungen
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Der Vertrag von Lissabon hat die Vorschriften über die Organe der Union in verschiedenen Punkten geändert. Zugleich ist es dadurch zu einer teilweisen Neubestimmung des Verhältnisses der Organe zueinander im institutionellen Gefüge der Union gekommen. In den folgenden Ausführungen sollen die Änderungen der Vertragsvorschriften betreffend die Kommission selbst den Ausgangspunkt bilden. Daran anschließend soll gezeigt werden, wie sich diese Änderungen auf der untervertraglichen Ebene und in der Praxis niedergeschlagen haben. Schließlich sollen die Auswirkungen der institutionellen Änderungen im Vertrag insgesamt auf die Arbeit der 1
Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Verfassers wieder. Die Vortragsform wurde beibehalten.
T. Eilmansberger et al. (eds.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon © Springer-Verlag Wien 2011
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Kommission gestreift werden. Dieser letzte Teil erhebt freilich keinen Anspruch auf Vollständigkeit und dient vor allem dazu, Querverbindungen zu anderen institutionellen Änderungen herzustellen. I. Die Änderungen der Vorschriften über die Kommission in den Verträgen Der Inhalt des Vertrags von Lissabon ist bereits einigermaßen gründlich aufgearbeitet worden und kann beinahe als bekannt vorausgesetzt werden. Die einschlägigen Änderungen sollen daher an dieser Stelle nur als Ausgangspunkt kurz dargestellt werden, während das Hauptaugenmerk in der Folge den praktischen Auswirkungen gilt. A. Die Zahl der Mitglieder der Kommission Was die Zusammensetzung, die Bestellung und die Arbeitsweise der Kommission angeht, sah der Vertrag von Lissabon im Wesentlichen drei Änderungen vor. Die erste und wichtigste davon wird, wie aufgrund der Zusagen an Irland feststeht, nicht in der Weise wirksam werden, in der dies grundsätzlich im Vertrag vorgesehen war. Es handelt sich dabei um die Verringerung der Zahl der Mitglieder der Kommission. Der Vertrag von Lissabon hatte für die Verkleinerung der Kommission allerdings einerseits einen Zeitzünder und andererseits eine Notbremse vorgesehen. Gem Art 17 Abs 5 EUV sollte die Zahl der Mitglieder der Kommission ab dem 1. November 2014 zwei Dritteln der Zahl der Mitgliedstaaten entsprechen, sofern der Europäische Rat nicht einstimmig eine Änderung dieser Anzahl beschloss. Diese Regelung hat sich rückblickend als weise herausgestellt, denn sie ermöglicht es ohne neuerliche Vertragsänderung, dass der Europäische Rat die Notbremse betätigt, bevor der Zeitzünder ausgelöst wird. Aufgrund der Rechtslage nach dem Vertrag von Nizza wäre eine Beibehaltung eines Kommissars pro Mitgliedstaat nicht möglich gewesen. Im Hinblick auf die neue Rechtslage hat der Europäische Rat vom 11./12. Dezember 2008 Irland zugesichert, dass er im Fall des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon im Einklang mit den erforderlichen rechtlichen Verfahren einen Beschluss fassen werde, wonach weiterhin ein Staatsangehöriger jedes Mitgliedstaats der Kommission angehören werde.2 Man mag 2
Dazu auch Streinz vorstehend auf S 23 und Obwexer vorstehend auf S 47.
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sich fragen, ob es zulässig ist, dass dieser Beschluss die Regel fortschreibt, wonach der Kommission pro Mitgliedstaat ein Kommissar angehören soll, oder ob dazu eine Vertragsänderung nötig ist. Den Intentionen der Vertragsväter des Vertrags von Nizza entspräche die Beibehaltung einer „großen“ Kommission sicherlich nicht. Der Vertrag von Lissabon hat allerdings ohne jegliche Einschränkung die Möglichkeit einer Änderung der Zahl der Kommissare durch den Europäischen Rat eingeführt. Der Wortlaut des Vertrags spricht somit für die Zulässigkeit einer Beibehaltung der aktuellen Zusammensetzung der Kommission, und dass die Parteien des Vertrags von Lissabon in jedem Fall an einer Verkleinerung der Kommission festhalten wollten, ist im Lichte dieses klaren Wortlauts einerseits kaum zu erhärten und trifft andererseits wohl auch nicht auf alle Vertragsparteien zu. Wie auch immer diese Frage in der Praxis gelöst werden wird, im Ergebnis wird damit dem Europäischen Rat eine andere Aufgabe erspart bleiben, um die ihn wohl kaum jemand beneidet hat,3 nämlich die Festlegung des Rotationssystems unter den Kommissionsmitgliedern, für das Art 244 AEUV die Grundsätze vorgesehen hatte.4 Das Spektrum an Meinungen über die richtige Größe der Kommission könnte breiter kaum sein.5 Für die Verkleinerung lassen sich der kollegiale Charakter,6 die Effizienz,7 die Betonung der 3
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Auf das Konfliktpotenzial weist zB die Joint Study CEPS, EGMONT and EPC, The Treaty of Lisbon: Implementing the Institutional Innovations (2007) 30, hin. Johann Schoo, Das neue institutionelle Gefüge der EU, EuR, Beiheft 1, 2009, 51 (65 f), meint, im Vergleich zur Umsetzung dieser Kriterien erscheine die Quadratur des Kreises als Kinderspiel. Siehe zB den Überblick bei Christian Mestre, La composition de la Commission. De faux semblants en rendez-vous manqués, in Demaret / Govaere / Hanf (Hg), European Legal Dynamics. Revised and updated edition of 30 Years of European Legal Studies at the College of Europe (2007) 99 (103). Pieter van Nuffel, Préparer l’Union européenne pour l’avenir? Les révisions nécessaires du Droit Primaire après la non-ratification du Traité établissant une constitution pour l’Europe, in Köck / Karollus (Hg), Preparing the European Union for the Future? FIDE XXIII Congress Linz 2008, Bd 1 (2008) 357 (366). Nach Hervé Bribosia, The Main Institutional Innovations in the Lisbon Treaty, in Griller / Ziller (Hg), The Lisbon Treaty. EU Constitu-
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Sacharbeit, die vereinfachte Koordinierung und Beratung sowie die Stärkung der Unabhängigkeit der Kommission von mitgliedstaatlichen Interessen ins Treffen führen.8 Andererseits vermag eine Beteiligung von Kommissaren aus allen Mitgliedstaaten der Bestimmung eines europäischen Allgemeininteresses gegenüber den Mitgliedstaaten und der öffentlichen Meinung in den Mitgliedstaaten ebenso größere Legitimität zu verleihen wie der Ausübung der verschiedenen Kontrollfunktionen der Kommission.9 Zu den Aufgaben der Kommission gehört es, nötigenfalls auch Härte gegenüber einzelnen Mitgliedstaaten bei der Durchsetzung des Unionsrechts zu zeigen. Dabei stößt sie nicht in jedem Einzelfall auf das volle Verständnis der Öffentlichkeit, und die Politik und die Medien tragen oft wenig zur Erhöhung dieses Verständnisses bei. Die grundsätzliche Möglichkeit, dass die Kommission derartige Entscheidungen ohne Beteiligung eines Kommissars aus dem inkriminierten Mitgliedstaat treffen könnte, birgt großes Konfliktpotenzial, und ein Vorteil der Beibehaltung eines Kommissars pro Mitliedstaat liegt sicherlich in der Vermeidung solcher Konflikte.10 Freilich ist in einer größeren Kommission das Gewicht jedes einzelnen Kommissars grundsätzlich geringer und der Bedarf an
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tionalism without a Constitutional Treaty? (2008) 57 (74), wäre es in einer verkleinerten Kommission einfacher, im Fall der Uneinigkeit Abstimmungen durchzuführen. Marcus Höreth, Die EU-Organe nach dem Vertrag von Lissabon, in Marchetti / Demesmay (Hg), Der Vertrag von Lissabon. Analyse und Bewertung (2010) 167 (171). Bribosia, Institutional Innovations (Fn 7) 74, meint, eine verkleinerte Kommission würde vom Rat und insbesondere von den größeren Mitgliedstaaten eher akzeptiert. JeanPaul Jacqué, Le traité de Lisbonne. Une vue cavalière, RTDE 2008, 439 (459), sieht einen wichtigen Grund für die von ihm konstatierte Schwächung der Kommission darin, dass sie nicht das allgemeine europäische Interesse, sondern die Summe von einzelstaatlichen Interessen vertritt. Alfonso Mattera, Une composition de la Commission telle que prévue par le traité de Nice conduirait vers un affaiblissement de l’autorité de l’Institution et une fragilisation de sa légitimité populaire, Revue du Droit de l’Union Européenne 2009, 5; van Nuffel, Préparer l’Union? (Fn 6) 366. Auch eine starke Kommission benötigt den Rückhalt wichtiger Mitgliedstaaten, Joint Study CEPS, EGMONT and EPC, The Treaty of Lisbon (Fn 3) 31.
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Koordinierung größer. Die Beibehaltung einer großen Kommission dürfte somit die Rolle des Präsidenten stärken, der, wie sogleich zu zeigen sein wird, auch durch die anderen Änderungen der Verträge aufgewertet wurde. Was die Stellung der Kommission im Institutionengefüge angeht, wird eine große Kommission es vermutlich leichter haben, auf die Akzeptanz der Mitgliedstaaten und somit des Rates zu stoßen, als eine verkleinerte. Diese zu erwartende Offenheit für mitgliedstaatliche Interessen mag man begrüßen oder bedauern, aber die bisherige Entwicklung der europäischen Integration hat gezeigt, dass die Bestimmung eines gesamteuropäischen Interesses immer eine Berücksichtigung der Gegebenheiten in allen Mitgliedstaaten einschließt. B. Das Verfahren zur Bestellung der Kommission Die zweite vertragliche Neuerung betreffend die Kommission betrifft das Bestellungsverfahren.11 Nach Art 17 Abs 7 EUV muss das Europäische Parlament dem Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission, den der Europäische Rat dem Parlament unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Wahlen zum Europäischen Parlament vorschlägt, nicht mehr bloß zustimmen, sondern ihn „wählen“. Die Kritik an dieser Formulierung, die dahin geht, dass der politische Einigungsvorgang zwischen den Mitgliedstaaten im Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament kaum die Bezeichnung „Wahl“ verdient,12 erscheint berechtigt. Andererseits wird durch die neue Terminologie die Legitimation des designierten Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament augenfälliger.13 Noch stärker als bisher muss es dem Kandidaten ein An-
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Näher Hubert Isak, Institutionelle Ausgestaltung der Europäischen Union, in Hummer / Obwexer (Hg), Der Vertrag von Lissabon (2009) 133 (162 f), sowie Obwexer vorstehend auf S 47. ZB Paul Craig, The Treaty of Lisbon: Process, architecture and substance, ELR 2008, 137 (155); Höreth, EU-Organe nach Lissabon (Fn 8) 175; Koen Lenaerts / Nathan Cambien, The Democratic Legitimacy of the EU after the Treaty of Lisbon, in Wouters / Verhey / Kijver (Hg), European Constitutionalism Beyond Lisbon (2009) 185 (196). In diese Richtung Jacqué, Le traité de Lisbonne (Fn 8) 458; van Nuffel, Préparer l’Union? (Fn 6) 373. Auch Sean van Raepenbusch, La réforme institutionnelle du Traité de Lisbonne: l’émergence juri-
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liegen sein, seine politischen Vorstellungen dem Parlament zu unterbreiten und von diesem bestätigt zu bekommen. Im Übrigen ist im Begriff der „Wahl“ eine Politisierung grundgelegt, die es den politischen Parteien bei den Wahlen zum Europaparlament nahelegen könnte, konkret mit einem Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten zu werben. Da die Wahl durch die Mehrheit der Mitglieder erfolgen muss, müssten die Fraktionen freilich schon frühzeitig über die Bildung von Koalitionen in dieser Frage nachdenken. Der Europäische Rat könnte einen diesbezüglichen Vorschlag der Mehrheit des Europäischen Parlaments, sollte es dazu kommen, wohl nur schwer ignorieren.14 Beobachter konstatieren daher eine stärkere „Politisierung“ der Beziehungen zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommission15 und bewerten diese Politisierung nicht nur positiv.16 Während es also hinsichtlich der Zusammensetzung der Kommission insgesamt dabei bleibt, dass die Nähe zu den Mitgliedstaaten gewahrt wird, rückt die Figur des Präsidenten auf dem institutionellen Spielfeld näher an das Europäische Parlament heran.
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dique de l’Union européenne, CDE 2007, 573 (612), sieht durch diese Vorschrift das institutionelle Gleichgewicht berührt. Joint Study CEPS, EGMONT and EPC, The Treaty of Lisbon (Fn 3) 26; Schoo, Das neue institutionelle Gefüge der EU (Fn 4) 66. Freilich ist eine solche Vorgangsweise des Europäischen Parlaments schon nach der bisherigen Rechtslage möglich gewesen. Bribosia, Institutional Innovations (Fn 7) 75. Joint Study CEPS, EGMONT and EPC, The Treaty of Lisbon (Fn 3) 25. Ausführlich Michael Dougan, The Treaty of Lisbon 2007: Winning Minds, not Hearts, CMLR 45, 2008, 617 (693 f). Er sieht die Gefahr, durch die Annäherung an das Parlament könnte die Unabhängigkeit der Kommission vom täglichen Spiel der Links-Rechts-Politik gefährdet werden, wie es für gewöhnlich in den Mitgliedstaaten anzutreffen ist. Es dürfe nicht die Situation entstehen, in der die politische Allianz des Präsidenten mit einer Mehrheit im Europäischen Parlament zu einer Entfremdung politisch anders Denkender in den Mitgliedstaaten führe. Schädlich sei dies insbesondere bei der Wahrnehmung der Kontrollaufgaben der Kommission. Kritisch auch Bribosia, Institutional Innovations (Fn 7) 75 f.
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C. Die Stellung des Präsidenten innerhalb der Kommission Die dritte Neuerung hinsichtlich der Kommission dürfte die Wirkungen der soeben dargestellten noch verstärken. Sie liegt in der Hervorhebung der Rolle des Präsidenten:17 Seine politische Führungsrolle wird dadurch unterstrichen, dass es nunmehr in Art 17 Abs 6 lit a EUV ausdrücklich heißt, dass er die Leitlinien festlegt, nach denen die Kommission ihre Aufgaben ausübt. Außerdem kann er nach Art 17 Abs 6 letzter UAbs EUV in Zukunft ein Mitglied der Kommission dazu auffordern, sein Amt niederzulegen, ohne dafür, wie es bisher erforderlich war, die Zustimmung des Kollegiums zu benötigen. Durch diesen Machtzuwachs hat sich die Rolle des Präsidenten in den Augen mancher gegenüber jener eines primus inter pares deutlich weiterentwickelt.18 Der Präsident ist durch die eigenständige Abfassung von Leitlinien für die Kommission, deren Inhalt als Grundlage für seine Wahl durch das Europäische Parlament betrachtet werden kann, dem Parlament in besonderer Weise verpflichtet. Zugleich kann er auf die Legitimation dieses politischen Programms durch das Parlament verweisen.19 Er kann sich daher berufen fühlen, im Kollegium politische Vorgaben umzusetzen, für deren Inhalt nur er selbst verantwortlich ist. Wenngleich es nach wie vor gem Art 17 Abs 6 lit b EUV Aufgabe des Präsidenten ist, das Kollegialitätsprinzip sicherzustellen, hat dieses Prinzip insoweit eine Modifizierung erfahren.20
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Die Bedeutung dieses Aspekts betont auch van Nuffel, Préparer l’Union? (Fn 6) 367, 373. Jacqué, Le traité de Lisbonne (Fn 8) 458. Joint Study CEPS, EGMONT and EPC, The Treaty of Lisbon (Fn 3) 27. Höreth, EU-Organe nach Lissabon (Fn 8) 173, hält bei einer großen Kommission einen starken Präsidenten an der Spitze zwar für unverzichtbar, warnt aber, dass der kollegiale Charakter der Kommissionstätigkeit nicht durch einen zu mächtigen Präsidenten unterminiert werden dürfe. Sonst bestünde die Gefahr, dass die Kommission nicht mehr geschlossen und kohärent auftrete.
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II. Die Auswirkungen der Vertragsänderungen auf die Arbeit der Kommission Barroso II A. Die Abfassung politischer Leitlinien für die Kommission durch den Präsidenten Die Praxis betreffend die Kommission Barroso II vermag das eben Gesagte zu illustrieren: Am 3. September 2009 präsentierte Präsident Barroso noch im Rahmen seiner ersten Amtszeit der Öffentlichkeit, aber wohl vor allem dem Europäischen Parlament, ein Dokument, das nach damaliger Rechtslage, also vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, rechtlich nicht leicht einzuordnen war und sich „Politische Leitlinien für die nächste Kommission“ betitelte.21 Ihr Inhalt ließ keinen Zweifel daran, dass Barroso die Rolle der Leitlinien nicht bloß als interne Dienstanweisung über das „Wie“ der Aufgabenwahrnehmung durch die Kommission verstand, sondern vielmehr als politisches Dokument, das für seine nächste Amtsperiode bereits die wesentlichen inhaltlichen Akzente setzen sollte. Dass dies nach den Vorstellungen der Vertragsväter der Inhalt der Leitlinien sein sollte, erscheint zwar bei der Lektüre von Art 17 Abs 6 EUV auf den ersten Blick nicht selbstverständlich, findet aber jedenfalls darin eine Stütze, dass lit a und b dieser Bestimmung zwischen den Leitlinien auf der einen Seite und den Beschlüssen über die interne Organisation auf der anderen Seite unterscheiden. Außerdem löst lit a jenen Teil des früheren Art 217 Abs 1 EG ab, der ausdrücklich auch schon damals die politische Führungsrolle des Präsidenten verankerte, während sich lit b auf seine administrative Führungsrolle bezieht. In den Leitlinien vom 3. September 2009 finden sich zunächst in der Einleitung allgemeine Aussagen, etwa über die Tunlichkeit, die Prioritäten für Europa in einer Zehnjahresperspektive festzulegen, um die Arbeit der Kommission in den kommenden fünf Jahren besser zu definieren,22 über die Ablösung der „LissabonStrategie“ durch eine Strategie „EU 2020“,23 oder die Einschätzung, wir brauchten ein politischeres Europa sowie eine besondere Partnerschaft zwischen der Kommission und dem Europäischen Parla21 22 23
http://ec.europa.eu/commission_2010-2014/president/pdf/press_2009 0903_de.pdf, abgefragt am 15.5.2010. Ebenda, 3. Ebenda, 3.
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ment, den beiden EU-Organen par excellence.24 Von Bedeutung ist auch der einleitende Hinweis, die Leitlinien seien kein Arbeitsprogramm. Dieses werde bis zum neuen Kollegium warten müssen. „Sollte“, heißt es weiter wörtlich, „das Europäische Parlament meiner Ernennung auf der Grundlage dieser Vision zustimmen, würde ich zusammen mit den neuen Kommissionsmitgliedern die hier skizzierten Leitlinien zu einem ausführlicheren Programm ausarbeiten“.25 Im zentralen Teil mit dem Titel „Politische Leitlinien für die neue Kommission“ werden die Themenbereiche, die Barroso für die nächste Kommission am Herzen liegen, überblicksartig dargestellt und die seiner Ansicht nach wichtigsten Aktionen der nächsten Jahre in diesen Bereichen skizziert. Während Barroso an vielen Stellen die geäußerte Auffassung als seine eigene kenntlich macht, findet sich zB zur Einwanderungspolitik auch die Formulierung: „Die neue Kommission wird sich dafür einsetzen, dass diese Herausforderungen solidarisch angegangen werden, da dies ein gemeinsames Problem aller unserer Mitgliedstaaten ist: ...“26 Es folgt eine Aufzählung der wichtigsten Handlungsbereiche auf dem Gebiet der Einwanderungspolitik. An anderer Stelle heißt es, die neue Kommission werde eine „Europäische Digitale Agenda“ (mit einem entsprechenden Legislativprogramm) erarbeiten.27 Die Bereiche, in denen die Kommission handeln soll, werden somit einigermaßen genau vorgegeben, wenn auch für die genauen Inhalte Spielraum in vielen Richtungen offen bleibt. Was den zentralen Begriff der Strategie „EU 2020“ angeht, beschloss noch die alte, geschäftsführende Kommission am 24. November 2009, eine öffentliche Konsultation durchzuführen.28 Auf der entsprechenden Internetseite des Generalsekretariats wurde bei der Bekanntmachung der Konsultation ausdrücklich auf Präsident Barrosos Programm für die nächste Kommission, also vermutlich auf die politischen Leitlinien, hingewiesen. In Ausübung seiner durch den Vertrag von Lissabon unveränderten Aufgaben bei der Auswahl der Mitglieder der künftigen 24 25 26 27 28
Ebenda, 4. Ebenda, 5. Ebenda, 32. Ebenda, 36. Arbeitsdokument KOM(2009) 647 endg.
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Kommission gab Barroso am 27. November 2009 die Liste der Kandidaten für die neue Kommission mit Zuständigkeitsbereichen bekannt. Jedes designierte Kommissionsmitglied erhielt mit diesem Datum ein Schreiben, das mit einem Hinweis auf die politischen Leitlinien begann und dann den zukünftigen Aufgabenbereich umschrieb.29 Die inhaltlichen Vorstellungen, die Barroso über die Ausübung des Portfolios hatte, waren in einzelnen Punkten durchaus konkret. So heißt es zB im Schreiben an die designierte Kommissarin für Justiz, Grundrechtsschutz und Unionsbürgerschaft Reding: „Ich möchte, dass Sie Anfang 2010 einen Aktionsplan vorschlagen, um das Programm von Stockholm umzusetzen ...“30 In der Folge fand das Anhörungsverfahren der designierten Kommissionsmitglieder vor dem Europäischen Parlament statt, das sich außer durch seinen grundsätzlich – sieht man vom Fall der ersten bulgarischen Kandidatin, Rumiana Jeleva, ab – harmonischeren Verlauf nicht grundlegend vom Anhörungsverfahren 2004 unterschied. Nach der Plenarabstimmung am 9. Februar 2010 nominierte der Rat die neue Kommission am 10. Februar 2010, und sie trat am selben Tag ihr Amt an. Bereits einen Tag später, am 11. Februar 2010, hielt Präsident Barroso im Rahmen des informellen Europäischen Rats, anknüpfend an die politischen Leitlinien, einen Vortrag mit dem Titel „Europa 2020“.31 Das neue Kollegium vervollständigte diesen Rahmen durch die Mitteilung „EUROPA 2020 – Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ vom 3. März 2010.32
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Englische Texte abfragbar auf der Internetseite der Kommission 2010-2014, http://ec.europa.eu/commission_2010-2014/mission_letters/ index_de.htm unter dem Titel „Aufgabenbeschreibungen von Präsident Barroso an die ernannten Kommissare“. Gemeint ist das kurz darauf vom Rat förmlich angenommene Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger, Ratsdokument 17024/09 vom 2.12.2010. http://ec.europa.eu/commission_2010-2014/president/news/statemen ts/pdf/20102010_2_de.pdf. KOM(2010) 2020 endg.
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B. Die Rolle des Präsidenten bei der internen Organisation der Kommission Am 10. Februar 2010 entschied Präsident Barroso außerdem förmlich über die Verteilung der Portfolios der Kommissionsmitglieder33 und wandte sich mit einer Mitteilung über die Arbeitsmethoden der Kommission 2010-201434 an das Kollegium. Aus der Einleitung geht hervor, dass der Präsident sich dabei auf Art 17 Abs 6 lit b EUV stützte. Bei diesem Dokument handelt es sich in der Tat um einen Text, der die interne Organisation betrifft. Der Vertrag von Lissabon hat hier insofern Eingang gefunden, als der Präsident ausdrücklich auf die Vorschriften verweist, die seine Befugnisse betreffen, und außerdem die Hierarchie zwischen den politischen Leitlinien des Präsidenten, den politischen Prioritäten der Kommission für ihre fünfjährige Amtszeit und dem jährlichen Arbeitsprogramm klarmacht.35 Nur zwei Wochen später, am 24. Februar 2010, nahm die Kommission Änderungen ihrer Geschäftsordnung an. Das in Art 1 verankerte Kollegialitätsprinzip lautete bisher: „Die Kommission handelt als Kollegium nach Maßgabe dieser Geschäftsordnung unter der politischen Führung ihres Präsidenten.“ Der geänderte Art 1 umschreibt das Kollegialprinzip nunmehr so: „Die Kommission handelt als Kollegium nach Maßgabe dieser Geschäftsordnung sowie unter Beachtung der Prioritäten, die sie im Rahmen der vom Präsidenten nach Art 17 Abs 6 EUV festgelegten politischen Leitlinien formuliert hat.“ Art 2 betont neuerlich die Hierarchie von Leitlinien, Prioritäten und Arbeitsprogramm sowie dem Haushaltsplan. Eine der Durchführungsbestimmungen zu dieser Vorschrift, die der Geschäftsordnung als Anhang 2 beigefügt sind, lautet: „Das Arbeitsprogramm der Kommission und der Entwurf des Haushaltsplans für das Folgejahr entsprechen den vom Präsidenten festgelegten politischen Leitlinien und den von der Kommission formulierten Prioritäten.“ Art 3 der Geschäftsordnung widmet sich ausführlich der Rolle des Präsidenten und enthält neben Wiederholungen der Vertragsvorschriften unter anderem in Abs 2 dritter UAbs die Bestimmung: „Der Präsident kann die Kommissionsmitglieder bit-
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K(2010) 1000. K(2010) 1100. Ebenda, 6.
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ten, besondere Maßnahmen durchzuführen, um die Umsetzung der von ihm festgelegten politischen Leitlinien und der von der Kommission formulierten Prioritäten zu gewährleisten.“ Gem Art 6 der Geschäftsordnung legt der Präsident für jede Sitzung der Kommission die Tagesordnung fest. Nach Punkt 3.3 der Durchführungsbestimmungen zu Art 6 der Geschäftsordnung ist in einem Antrag auf Aufnahme in die Tagesordnung unter anderem der Bezug zu den vom Präsidenten festgelegten politischen Leitlinien und den von der Kommission formulierten Prioritäten anzugeben. Dem Präsidenten sind zwei horizontale Dienste der Kommission unmittelbar unterstellt, nämlich der Juristische Dienst und das Generalsekretariat. Anlässlich der Revision der Geschäftsordnung erfuhren der Generalsekretär und das Generalsekretariat, deren Rolle in Art 20 und 23 Abs 5 beschrieben wird, eine deutliche Aufwertung. Am allgemeinsten sieht zunächst Art 20 Abs 1 vor, dass der Generalsekretär den Präsidenten unterstützt, damit die Kommission die Prioritäten, die sie sich gesetzt hat, im Rahmen der vom Präsidenten vorgegebenen politischen Leitlinien verwirklichen kann. Er trägt gem Art 20 Abs 2 zur Gewährleistung der politischen Kohärenz bei. In den Durchführungsbestimmungen zu Art 20 heißt es dazu, dass der Generalsekretär unter der Verantwortung des Präsidenten sicherstellt, dass die Vorschläge mit den vom Präsidenten festgelegten politischen Leitlinien und den von der Kommission formulierten Prioritäten in Einklang stehen. Der Generalsekretär wacht ferner über die inhaltliche Qualität und die Beachtung der Formerfordernisse bei den Dokumenten, die der Kommission vorgelegt werden, und gewährleistet hierdurch, dass sie den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, externen Anforderungen, interinstitutionellen Erwägungen und der Kommunikationsstrategie der Kommission entsprechen. In Punkt 5.1 der Durchführungsbestimmungen zu Art 6 der Geschäftsordnung wird nunmehr entsprechend der bestehenden Praxis festgehalten, dass der Generalsekretär den Vorsitz in der wöchentlichen Sitzung der Kabinettchefs führt, die die in der Tagesordnung der Kommissionssitzungen vorgesehenen Punkte vorbereitet. Das Generalsekretariat muss nunmehr im Rahmen der förmlichen dienststellenübergreifenden Konsultation, dem kommissionsinternen Begutachtungsverfahren, bei allen Initiativen gehört werden, die im mündlichen Verfahren genehmigt werden müssen, so-
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wie bei allen Stellungnahmen oder gemeinsamen Initiativen, die die Kommission gegenüber anderen Organen oder Einrichtungen verpflichten können (Art 23 Abs 5). Schon bisher war das Generalsekretariat bei allen Initiativen zu hören, die von politischer Bedeutung sind, im Jahresarbeitsprogramm aufgeführt sind, institutionelle Aspekte betreffen oder einer Folgenabschätzung oder öffentlichen Konsultation unterzogen werden. Dadurch ist dem Generalsekretariat bereits im Rahmen der dienststellenübergreifenden Konsultation in allen genannten Fällen die Möglichkeit gegeben, auf die Beachtung der politischen Leitlinien des Präsidenten und der Prioritäten hinzuwirken, die sich die Kommission in deren Rahmen gesetzt hat. Beachtenswert ist ferner die Rolle des Ausschusses für Folgenabschätzung, der dem Präsidenten unterstellt und beim Generalsekretariat angesiedelt ist. Eine Folgenabschätzung soll, wie es in den Arbeitsmethoden der Kommission heißt, bei allen wichtigen Vorschlägen vorgenommen werden. Grundsätzlich, heißt es dort weiter, bedarf es vor Einleitung der dienststellenübergreifenden Konsultation einer befürwortenden Stellungnahme des Ausschusses für Folgenabschätzung.36 Obwohl sich in der Geschäftsordnung selbst keine Bestimmungen finden, in denen dieser Punkt aufgegriffen wird, wird diesem Ausschuss damit praktisch ein Vetorecht gegen die von ihm untersuchten Entwürfe der Dienststellen der Kommission eingeräumt. Verfolgt man die ersten Schritte der Kommission Barroso II weiter, so handelt es sich bei der erwähnten Mitteilung der Kommission vom 3. März 2010 – EUROPA 202037 – wohl um politische Prioritäten, die sich die Kommission im Sinne der Geschäftsordnung im Rahmen der von Präsident Barroso formulierten Leitlinien gesetzt hat. Darauf folgte am 13. März 2010 die Annahme des Arbeitsprogramms der Kommission für 2010.38 Im Internet wird dieses Arbeitsprogramm unter anderem mit den folgenden Worten präsentiert: „Das Arbeitsprogramm der Kommission 2010 setzt die von Präsident Barroso in den politischen Leitlinien festgelegten Prioritäten in konkrete Maßnahmen um ... Zum ersten Mal bietet das Arbeitsprogramm 2010 einem mehrjährigen Überblick über die
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Arbeit, die die Kommission in den kommenden Jahren plant ... Für die Jahre 2010-2014 legt [die Kommission] indikative Listen weiterer wichtiger Initiativen vor.“39 Aus diesen Formulierungen wird deutlich, dass die Kommission in diesem Dokument neben dem jährlichen Arbeitsprogramm auch politische Prioritäten für die Dauer ihrer gesamten Amtszeit festlegt. C. Bewertung Es ist zu diesem Zeitpunkt schwer abzuschätzen, ob die erwähnten Änderungen der Arbeitsweise der Kommission auch tatsächliche Änderungen der politischen Führungsrolle des Präsidenten mit sich bringen. Diese Führungsrolle war schließlich, wenn auch allgemeiner umschrieben, auch bisher im Vertrag vorgesehen und wurde auch von früheren Kommissionspräsidenten ausgeübt. Sichtbare Unterschiede liegen jedenfalls darin, dass sich Präsident Barroso gegenüber dem Kollegium mehrfach und ausdrücklich auf seine im Vertrag vorgesehenen Zuständigkeiten und insbesondere auf seine Kompetenz zum Erlass politischer Leitlinien beruft, sowie darin, dass er neben den Vertragsvorschriften seine Wahl durch das Europäische Parlament als Legitimationsgrund für die verbindliche Wirkung dieser Leitlinien gegenüber dem Kommission nennt. III. Überblick über andere Vertragsänderungen mit Auswirkungen auf die Arbeit der Kommission Neben den Vertragsvorschriften, die die Organisation und Arbeitsweise der Kommission unmittelbar betreffen, finden sich in den geänderten Verträgen nach dem Vertrag von Lissabon zahlreiche andere Bestimmungen, die sich auf die Arbeit der Kommission auswirken werden. A. Das Initiativrecht der Kommission Hervorzuheben sind hier die Bestimmungen über das Initiativrecht der Kommission. Das grundsätzliche Initiativmonopol der Kommission wurde in Art 17 Abs 2 EUV erstmals ausdrücklich verankert. Es gilt, soweit in den Verträgen nichts anderes festgelegt ist,40 je-
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denfalls für Akte, die im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren anzunehmen sind.41 Für den Bereich der GASP kommt es zu keiner Ausdehnung des Initiativrechts der Kommission. Hier liegt die Initiative beim Hohen Vertreter – gegebenenfalls mit Unterstützung der Kommission – und bei den einzelnen Mitgliedstaaten.42 Im Bereich der Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und der Polizeilichen Zusammenarbeit – der früheren Dritten Säule – besteht neben dem Initiativrecht der Kommission weiter ein Initiativrecht eines Viertels der Mitgliedstaaten.43 Wie bisher wird die Kommission auch in Zukunft ihre Vorschläge nicht in einem politischen Vakuum erstatten, sondern auf Impulse hören, die ihr von anderen Organen gegeben werden.44 Das wird in verstärktem Maß der Europäische Rat sein.45 Für Parlament und Rat bleibt es dabei, dass sie die Kommission auffordern können, von ihrem Initiativrecht Gebrauch zu machen.46 Neu ist allerdings, dass die Kommission in diesen Fällen Gründe angeben muss, wenn sie einer solchen Aufforderung nicht Folge leistet. Auf die Ausübung des Initiativrechts wird sich ferner der Frühwarnmechanismus auswirken, der gem dem Protokoll Nummer 2 über die Grundsätze des Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit nationalen Parlamenten bzw ihren Kammern die Möglichkeit gibt, innerhalb von acht Wochen nach Übermittlung eines Vorschlags Bedenken hinsichtlich der Beachtung des Subsidiaritätsprinzips geltend zu machen.47 Von der Übermittlung zur möglichen Stellungnahme gem Art 4 von Protokoll Nummer 2 ist die Übermittlung zur bloßen Information gem Art 2 von Protokoll Nummer 1 über die
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Initiativrecht des Gerichtshofs für seine Verfahrensordnung, van Nuffel, Préparer l’Union? (Fn 6) 375. Art 294 Abs 2 AEUV, siehe Höreth, EU-Organe nach Lissabon (Fn 8) 177. Art 30 Abs 1 EUV, siehe van Nuffel, Préparer l’Union? (Fn 6) 376. Art 76 AEUV, siehe van Nuffel, Préparer l’Union? (Fn 6) 375. Vgl van Nuffel, Préparer l’Union? (Fn 6) 375. ZB betr den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufgrund von Art 68 AEUV, siehe Höreth, EU-Organe nach Lissabon (Fn 8) 177 f. Art 225 und 241 AEUV, dazu van Nuffel, Préparer l’Union? (Fn 6) 375; van Raepenbusch, Réforme institutionnelle (Fn 13) 589. Höreth, EU-Organe nach Lissabon (Fn 8) 178.
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Rolle der nationalen Parlamente zu unterscheiden. Diese erfolgt auch in den Bereichen, in denen aufgrund der ausschließlichen Zuständigkeit der Union das Subsidiaritätsprinzip keine Anwendung findet. Zuständig für die Übermittlung von Texten an die nationalen Parlamente ist das Generalsekretariat (Art 20 Abs 4 der Geschäftsordnung). Schließlich ist in diesem Zusammenhang die Möglichkeit einer Bürgerinitiative zu erwähnen, die Art 11 Abs 4 EUV vorsieht.48 Einen Vorschlag über die dabei zu beachtenden Verfahren und Bedingungen hat die Kommission am 31. März 2010 vorgelegt.49 Obwohl dies im Vertrag nicht ausdrücklich vorgesehen ist, schlägt die Kommission vor, im Fall einer eingegangenen Bürgerinitiative innerhalb von vier Monaten in einer Mitteilung ihre Schlussfolgerungen zu der Initiative sowie ihr weiteres Vorgehen und die Gründe hierfür darzulegen.50 B. Sonstige Änderungen Die Ausübung von Durchführungszuständigkeiten der Kommission wird in Zukunft durch die Art 290 und Art 291 AEUV bestimmt, auf die an dieser Stelle nur kurz hingewiesen werden soll.51 Die Arbeitsfähigkeit der Kommission wird wesentlich davon abhängen, auf welche Einordnung von Maßnahmen als delegierte Rechtssetzung oder Durchführungsmaßnahmen man sich mit Parlament und Rat verständigen kann. Bloß erwähnt seien ferner die Verschiebungen, zu denen es in den Vertragsvorschriften im Bereich der Außenbeziehungen gekommen ist, die Rolle des Hohen Vertreters für die GASP, auf die hinsichtlich der Arbeitsweise der Kom48 49 50 51
Dazu Hubert Isak vorstehend auf S 143. Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bürgerinitiative, KOM(2010) 119 endg. Art 11 Abs 1 lit b des Vorschlags. Siehe zu Art 290 AEUV die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Umsetzung von Artikel 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, KOM(2009) 673 endg, und zu Art 291 AEUV den Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren, KOM(2010) 83 endg. Näher dazu nachstehend Thomas Kröll auf S 313.
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mission Bedacht zu nehmen ist,52 sowie die Rolle des Europäischen Rates und seines Präsidenten.53 In allen diesen Fragen kommt es derzeit zu einer Neubestimmung des interinstitutionellen Gleichgewichts, die nicht in allen Fällen völlig konfliktfrei verläuft. Von besonderem Interesse für die tägliche Arbeit der Kommission dürfte der Inhalt der künftigen Rahmenvereinbarung über die Beziehungen zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommission sein. An diesem Dossier zeigt sich, dass das Parlament die besondere Verbindung zum Präsidenten der Kommission, die der Vertrag von Lissabon verstärkt hat, als Legitimation dafür sieht, sich mit seinen Forderungen an den Inhalt der Rahmenvereinbarung direkt an den designierten Kommissionspräsidenten zu wenden. Mit ihm hat sich eine Arbeitsgruppe des Parlaments bereits am 27. Januar 2010 über wesentliche Änderungen der Rahmenvereinbarung verständigt, und am 9. Februar 2010, dem Tag der Plenarabstimmung über die neue Kommission, hat das Parlament mit großer Mehrheit auch eine Entschließung zu einer revidierten Rahmenvereinbarung angenommen.54 Nach mehreren Verhandlungsrunden zwischen Parlament und Kommission wurde im Juni 2010 eine Einigung erzielt. Im Ergebnis wurde allen Forderungen des Parlaments Rechnung getragen. Einige verdienen aus der Sicht der Kommission besondere Hervorhebung: die Zurverfügungstellung umfassender Informationen über die Sitzungen der Ausschüsse nationaler Sachverständiger, die die Kommission leitet, sowie die Möglichkeit für die Kommission, Sachverständige des Parlaments einzuladen; der Wunsch, die Kommission solle binnen drei Monaten nach der Annahme eines legislativen Initiativberichts gem Art 225 AEUV über dessen Weiterbehandlung berichten; die Konsultation des Parlaments zu Akten nichtzwingenden Rechts in Bereichen, in denen das Parlament am Gesetzgebungsverfahren beteiligt ist; die Forderung, das Instrument der Neufassung von Rechtsakten solle als Standardverfahren angewendet werden; die Übermittlung von summarischer Information über alle Vertragsverletzungsverfahren ab dem Aufforderungs52 53 54
Dazu nachstehend Gregor Schusterschitz auf S 269. Dazu vorstehend Christa Peutl auf S 199. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 9.2.2010 zu einer revidierten Rahmenvereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommission für die nächste Wahlperiode, B70091/2010.
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schreiben; die Zusage einer parlamentarischen Anhörung bei Änderungen der Zuständigkeitsverteilung der Kommissionsmitglieder während der Amtszeit; sowie eine verstärkte Einbeziehung des Parlaments in allen Phasen der Verhandlungen über internationale Abkommen einschließlich eines Eintretens der Kommission dafür, dass dem Vorsitz der Delegation des Parlaments bei wichtigen Sitzungen ein Beobachterstatus eingeräumt werde. Manche Mitgliedstaaten beobachten diese Entwicklungen, die die Befugnisse des Europäischen Parlaments zum Teil deutlich in rechtliches Neuland hinein ausdehnen, mit Misstrauen. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass die Anwendung der neuen Rahmenvereinbarung in konkreten Punkten zu Rechtsstreitigkeiten führt. IV. Schlussfolgerungen Das institutionelle Gefüge der Europäischen Union hat durch den Vertrag von Lissabon einschneidende Änderungen erfahren, die zum Teil noch gar nicht in ihrer vollen Tragweite sichtbar geworden sind. Im Verhältnis zwischen der Zentralgewalt und den Mitgliedstaaten ist es dadurch zu einer Polarisierung gekommen, die Spannungen erzeugt. Am Organ Kommission ist diese Polarisierung besonders deutlich sichtbar durch die Beibehaltung eines Kommissionsmitglieds pro Mitgliedstaat bei gleichzeitiger Stärkung des Präsidenten und stärkerer Anbindung an das Europäische Parlament. Die Kommission steht vor der Herausforderung, zwischen diesen beiden Polen nicht aufgerieben zu werden und ihrer Rolle als Vermittlerin zwischen einzelstaatlichen und gesamteuropäischen Interessen weiter gerecht zu werden.
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Organisation und Arbeitsweise der Hohen Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik sowie des Europäischen Auswärtigen Dienstes1 I. Einleitung II. Die Außenvertretung der EU – vertragliche Grundlagen A. Präsident des Europäischen Rates B. Die Europäische Kommission C. Der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik D. Der Europäische Auswärtige Dienst III. Erste praktische Umsetzung des neuen institutionellen set-up im Bereich der auswärtigen Beziehungen A. Ernennung der neuen HV und die Rolle des Europäischen Parlaments im Ernennungsverfahren B. Praktische Anpassungen in den Arbeitsweisen von Kommission und Generalsekretariat des Rates C. Vorsitzführung in den einschlägigen Ratsgremien D. Übergangsvereinbarungen mit der spanischen Ratspräsidentschaft IV. Die Errichtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes – zeitlicher Ablauf A. Vorarbeiten bis Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon
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Der Beitrag bringt die persönliche Meinung des Autors zum Ausdruck. Der Autor dankt Jutta Edthofer, die vom österreichischen Außenministerium der Task Force der Hohen Vertreterin Ashton für den Aufbau des EAD zur Verfügung gestellt wurde, für die kritische Durchsicht des Manuskripts und zahlreiche wertvolle Kommentare.
T. Eilmansberger et al. (eds.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon © Springer-Verlag Wien 2011
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VII.
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Änderungen mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon C. Verhandlungen unter spanischer Ratspräsidentschaft 1. Übernahme des Vorsitzes durch EUDelegationen 2. Verhandlungen über die Rechtsgrundlagen für den EAD Aufbau und Tätigkeit des EAD gemäß Ratsbeschluss Ausgewählte Rechtsfragen bei der Errichtung des EAD A. Umfang der Außenvertretung (zB Euratom, konsularische Funktion) B. Grundsätzliche Verortung im EUInstitutionengefüge – Agentur oder Kommissionsdienststelle C. Personelle Zusammensetzung des EAD und Rolle der von den Mitgliedstaaten entsandten Diplomaten 1. Rolle und Anteil der nationalen Diplomaten 2. Ernennungsverfahren 3. Quellen nach 2013 4. Auslegung des Begriffs „Personal der nationalen diplomatischen Dienste“ D. Vertretung der EU bei internationalen Organisationen E. Programmierung der Außeninstrumente F. Vertretung der HV G. Rolle des Europäischen Parlaments Rolle des EAD in der zukünftigen Außenvertretung der Union A. Kohärenz B. Effektivität Schluss
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I. Einleitung Der gesamte Bereich der Außenvertretung der Union kann als eine der großen Neuerungen des Vertrags von Lissabon gegenüber den davor geltenden Verträgen EUV und EGV angesehen werden. Das bereits für den EU-Verfassungsvertrag vom Europäischen Rat in Laeken 2001 erklärte Ziel war es, die EU als globalen Akteur zu etablieren: „Muss Europa nicht – nun, da es endlich geeint ist – eine führende Rolle in einer neuen Weltordnung übernehmen, die Rolle einer Macht, die in der Lage ist, sowohl eine stabilisierende Rolle weltweit zu spielen als auch ein Beispiel zu sein für zahlreiche Länder und Völker?“.2 Mit dieser klaren Vorgabe wurden schon im Verfassungsvertrag wichtige Neuerungen vorgenommen, die nunmehr, gemäß dem Mandat für die Regierungskonferenz 2007,3 in den Vertrag von Lissabon übernommen wurden. Angesichts dieser Bedeutung der internationalen Rolle der EU wurde daher die internationale Dimension als prominentes Ziel gleich in Art 3 Abs 5 EUV aufgenommen.4 Dabei ist jedoch hervorzuheben, dass sich die Neuerungen weniger im Bereich der Effizienzsteigerung der Verfahren abspielen, wo weiterhin überwiegend das Einstimmigkeitsprinzip gilt, als in der institutionellen Zusammensetzung: Ein wahrer Quantensprung wird allein durch die Verschmelzung von EG und EU (Art 1 EUV) erreicht. Damit gehören diffizile und von vielen Partnern nur schwer verstandene Feinheiten der Außenvertretung (einmal EG, ein anderes Mal EU) der Vergangenheit an. Dazu kommen auch ein „neuer“ Hoher Vertreter der Union für Außenund Sicherheitspolitik mit neuen Rechten und Befugnissen sowie schlussendlich auch eine institutionelle Unterfütterung durch den einzurichtenden Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD). Dabei
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Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union, Kap I, Anlage zu den Schlussfolgerungen des Vorsitzes; Ratsdokument SN 300/1/01 REV 1. Z 15 des Mandats für die Regierungskonferenz 2007, Ratsdokument 11218/07. Gemäß dieser Vorgabe entspricht Art 27 Abs 3 EUV der Vorgängerbestimmung in Art III-296 Abs 3 EU-Verfassungsvertrag. Eine genauere Umschreibung der Ziele der GASP findet sich in Art 21 EUV, der gemäß Art 205 AEUV für das gesamte auswärtige Handeln der EU gilt.
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wurde – wie in anderen Bereichen des Vertrages auch5 – folgende Methode gewählt: Das neue institutionelle Gefüge wird grob skizziert, aber dafür werden kaum konkrete Regelungen getroffen, sondern diese den Umsetzungsarbeiten 6 bzw der späteren Praxis 7 überlassen. Daher hielt sich die Literatur abgesehen von Hoffnungsäußerungen bislang zurück, konkrete Aussagen zu treffen: „ [I]t is not possible to make accurate predictions on the basis of the texts.“8 Angesichts der Tatsache, dass sich das Regierungssystem der EU nach dem Vertrag von Lissabon erst in der Anfangsphase befindet, können auch im vorliegenden Beitrag nur beschränkt konkrete Aussagen bezüglich des Funktionierens des neuen Gefüges in der Außenvertretung gemacht werden. Vielmehr soll es das Ziel sein, die ersten Schritte des neuen Gefüges sowie die Verhandungen und Ergebnisse zum EAD darzustellen und sie einer ersten Wertung zu unterziehen. Da die Dinge im hier beschriebenen Bereich so sehr im Fluss sind, kann nur eine Momentaufnahme geboten werden. II. Die Außenvertretung der EU – vertragliche Grundlagen Was sagen nun die Verträge zur Außenvertretung der EU? Gemäß Art 21 Abs 3 UAbs 2 EUV sind der Rat und die Kommission zur Sicherstellung der Kohärenz in den auswärtigen Beziehungen verpflichtet, wobei sie vom HV unterstützt werden. Es gibt jedoch deutlich mehr Akteure auf der Bühne:9
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Man denke nur an die Rolle des Präsidenten des Europäischen Rates oder an die rudimentären Regelungen der Art 290 und 291 AEUV. ZB Erlass der Beschlüsse zum EAD gemäß Art 27 Abs 3 EUV und zum Anschubfonds gemäß Art 41 Abs 3 EUV. Angesichts des weiterhin vorherrschenden Einstimmigkeitsprinzips wird es weiterhin darauf ankommen, ob sich die EU-Mitgliedstaaten auf gemeinsame Positionen einigen können. Gibt es keine einheitliche Position, sind auch die Manövriermöglichkeiten des HV und des EAD beschränkt. Christine Kaddous, Role and position of the High Representative of the Union for Foreign Affairs and Security Policy under the Lisbon Treaty, in Griller / Ziller (Hg), The Lisbon Treaty. EU Constitutionalism without a Constitutional Treaty? (2008) 205 (219). In der folgenden Aufzeichnung fehlt das Europäische Parlament, das auch in Bereichen der GASP immer mehr mitbestimmen will und
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A. Präsident des Europäischen Rates Der Präsident des Europäischen Rates nimmt „auf seiner Ebene“ die Außenvertretung in GASP-Angelegenheiten wahr, dies aber „unbeschadet“ der Befugnisse des HV (Art 15 Abs 6 UAbs 2 EUV). Damit vertritt der Präsident des Europäischen Rates die EU auf Staats- und Regierungschefebene, im Verhältnis zum HV gibt es aber eine Vorrangregelung zugunsten des HV. Ob sich damit seine Rolle in der Tat auf „die einem Staatsoberhaupt nachempfundene allgemeine, formelle Vertretungsbefugnis“ 10 beschränken wird, wird die Praxis zeigen.11 B. Die Europäische Kommission Gemäß Art 17 Abs 1 EUV bleibt die Kommission weiterhin außenvertretungsbefugt in den Bereichen, die den gemeinsamen Politiken unterliegen (alte erste Säule). Dies schlägt sich auch in den Regeln betreffend den Abschluss von völkerrechtlichen Verträgen in Bereichen, die im Titel III des AEUV geregelt sind, nieder. C. Der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik Der HV hat mit dem Vertrag von Lissabon eine Generalkompetenz für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) bekommen. In den davor geltenden Verträgen war lediglich festgehalten, dass der HV den Ratsvorsitz in der GASP „unterstützt“.12 Nunmehr ist das Wort „Unterstützung“ weiter nach hinten gerutscht und findet sich nur im Art 21 Abs 3 EUV. Das heißt, der HV „vertritt“ die Union in Bereichen der GASP und „unterstützt“ Rat und Kommission bei der Realisierung der Kohärenz in den auswärtigen Beziehungen.13 Daneben führt der HV gemäß Art 18 Abs 3 EUV den Vor-
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Einfluss nimmt. In den Verträgen ist eine solche Rolle des Europäischen Parlaments allerdings nur rudimentär angelegt. Christoph Vedder, Außenbeziehungen und Außenvertretung, in Hummer / Obwexer (Hg), Der Vertrag von Lissabon (2009) 267 (290). Gregor Schusterschitz, Die Institutionen der EU im Vertrag von Lissabon und nach dem Europäischen Rat vom Dezember 2008, in Wirtschaftspolitische Blätter Sonderausgabe EU-Integration 2009, 7 (14 f). Art 18 Abs 3 EUV alt. Mit der Formulierung des Art 21 Abs 3 EUV wird die „Doppelhutfunktion“ des HV deutlich. Als Vorsitzender des Rats Auswärtige
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sitz im Rat Auswärtige Angelegenheiten, der einzigen Ratsformation, die damit einen ständigen Vorsitzenden hat und dem rotierenden Vorsitz entzogen ist. D. Der Europäische Auswärtige Dienst Neben obigen Neuerungen bzw Verschiebungen findet sich im Vertrag von Lissabon eine weitere Neuerung, und zwar den EAD, der die generelle Aufgabe hat, den HV zu unterstützen und Beamten den entsprechenden Einheiten des Ratssekretariats, der Kommission und Angehörigen der nationalen diplomatischen Dienste besteht. Daneben ist er verpflichtet, mit den diplomatischen Diensten der Mitgliedstaaten zusammenzuarbeiten. Ansonsten finden sich keine weiteren inhaltlichen Regelungen in Art 27 Abs 3 EUV, sondern diese werden dem vom Rat anzunehmenden Beschluss über den EAD überlassen. In diesem Zusammenhang stellt sich bereits die interessante Frage der inhaltlichen Zuständigkeit des EAD: Diese wird im Vertrag nicht weiter festgelegt: Daher ist zu klären, ob sie sich nur auf die GASP bezieht, oder auch auf die anderen Zuständigkeiten des HV in den auswärtigen Beziehungen der Union.14 Gemäß Erklärung Nr 15 zum Vertrag von Lissabon sollen die Arbeiten für den EAD eingeleitet werden, sobald der Vertrag unterzeichnet wurde (13. Dezember 2007). III. Erste praktische Umsetzung des neuen institutionellen set-up im Bereich der auswärtigen Beziehungen Wie bereits oben festgehalten, müssen die ersten praktischen Erfahrungen zeigen, wie das neue System funktioniert und welches Regierungssystem sich herausbildet. Dies ist ein allgemeiner Grundsatz vor allem des Verfassungsrechts, wo zwischen gesatzter Verfassung und Realverfassung differenziert wird. Dies gilt noch viel mehr für die EU. In der politischen Praxis gibt es eine de facto gesetzesgleiche Wirkung des Präzedenzfalls. Daher sind die ersten Monate bzw Jahre entscheidend für die spätere Realverfassung: Dies erklärt, warum gerade im Bereich Außenvertretung bei vielen Institutionen die Nerven blank liegen und man als Außenstehender den Eindruck bekommt, die EU beschäftige sich wieder mal nur mit
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Angelegenheiten sowie als Vizepräsident der Kommission verkörpert er das Scharnier zwischen beiden Institutionen. Siehe dazu nachstehend Pkt VI.A. auf S 293.
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internem Gerangel. 15 Dieser Eindruck entspricht wahrscheinlich nicht dem ganzen Bild, dennoch sind in den Monaten nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon gerade auch im Bereich der auswärtigen Beziehungen Bemühungen vor allem der Kommission und des Europäischen Parlaments erkennbar, über den Vertrag hinaus Kompetenzen zu bekommen. Auf der anderen Seite ist auch das Bemühen mancher Mitgliedstaaten erkennbar, über die Praxis gewisse „Auswüchse“ des Vertrages wieder einzufangen. Unverkennbar ist auch das gewisse Unbehagen der Akteure an den weitreichenden Regelungen. Aus diesem Grunde enthalten die unten geschilderten Regelungen, wie die Vorsitzführung in außenpolitischen Ratsarbeitsgruppen und der EAD-Beschluss oftmals umfangreiche Überprüfungsklauseln. Es ist das Ziel dieses Kapitels, die ersten praktischen Umsetzungsarbeiten unmittelbar nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zu schildern und dabei darzustellen, wie versucht wurde, stabile Pflöcke für die zukünftige Abgrenzung von Zuständigkeiten einzuschlagen. A. Ernennung der neuen HV und die Rolle des Europäischen Parlaments im Ernennungsverfahren Erste Probleme bei der Anwendung der neuen Bestimmungen ergaben sich bereits bei der Ernennung der neuen HV. Gemäß Art 18 Abs 1 EUV wird der HV durch den Europäischen Rat ernannt, wobei kein Zustimmungsrecht des Europäischen Parlaments vorgesehen ist. Das Europäische Parlament kann erst dann über den HV mitentscheiden, wenn dieser sich gemeinsam mit dem gesamten Kommissionkollegium der Abstimmung stellt (Art 17 Abs 7 UAbs 3 EUV). Um hier spätere Probleme bei der Bestellung des HV zum Vizepräsidenten der Kommission zu vermeiden, wurde Erklärung Nr 12 zum Vertrag von Lissabon angenommen, die vorsieht, dass es vor der Ernennung eines neuen HV (was gemäß Art 6 des Protokolls Nr 36 mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon erfolgen 15
Klemens H. Fischer, Der Europäische Auswärtige Dienst: Mittel zum Zweck oder Selbstzweck?, AIES Fokus 4/2010, 4: „Auch wenn die eigentliche Frage die der Errichtung eines Auswärtigen Dienstes ist, behandelt die Union das Thema als nahezu ausschließliche Innenangelegenheit mit den üblichen Nebengeräuschen.“ Die Institutionen stellen „nicht die Sache in den Mittelpunkt…, sondern die machtpolitischen Aspekte“.
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muss) „geeignete Kontakte“ mit dem Europäischen Parlament geben soll. Gemäß Art 1 des Beschlusses 2004/537/EG, Euratom16 lief das Mandat von Javier Solana als HV bis 17. Oktober 2009. Nachdem nun der Vertrag von Lissabon nicht wie in seinem Art 6 Abs 2 eigentlich vorgesehen, am 1. Jänner 2009 in Kraft treten konnte und im Oktober 2009 nicht absehbar war, ob das Inkraftreten noch 2009 oder erst zu Beginn 2010 erfolgen würde, stellte sich nach einer ersten Zwischenverlängerung bis 31. Oktober 200917 die Frage, ob das Mandat des amtierenden HV Solana bis zum Dienstantritt einer neuen Kommission (wenn die Ernennung noch nach den Verträgen idF des Vertrags von Nizza erfolgen sollte; das Mandat der amtierenden Kommission endete eigentlich am 31.10.2009)18 oder bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon verlängert werden sollte? Eine Verlängerung der Amtszeit über das Inkrafttreten hinaus wäre gemäß Art 6 des Protokolls Nr 36 nicht möglich gewesen. Bei den Verhandlungen über die Verlängerung der Amtszeit standen folgende Überlegungen im Vordergrund: Wird die Amtszeit des vorherigen HV verlängert, selbst wenn klar ist, dass er nicht der neue HV à la Vertrag von Lissabon sein will, hätte man es mit einer „lame duck“ zu tun, von der man keine weitreichenden Schritte zB in der Frage der Vorlage eines Vorschlags für den EAD-Beschluss erwarten könne. Ernennt man dagegen bereits einen neuen HV, wenn Erklärung Nr 12 noch nicht anwendbar ist und daher eine Konsultierung des Europäischen Parlaments nicht zu erfolgen hat, hat man zwar schon einen langfristigen Ansprechpartner, verärgert aber das Europäische Parlament, da es in diesem Fall bei der Erneuerung der Ernennung mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon kaum seine Mitwirkungsrechte effektiv wahrnehmen könnte.19 Daher gab es mehrere Beschlüsse: Am 17. Oktober 2009 wurde die Amtszeit von HV Solana bis zum 31. Oktober 2009 verlängert und am 29. Oktober 2009 schließlich bis zum 31. Dezember 2009 oder bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissa16 17 18 19
ABl 2004 L 236/16. Beschluss 2009/772/EG, Euratom, ABl 2009 L 277/19. Art 45 Abs 2 lit c der Beitrittsakte 2003. Hätte es sich gegen den neuen vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ernannten HV ausgesprochen, hätte dies zur Folge gehabt, dass der Europäische Rat eine andere Person ernennen müsste, die EU also in einem Zeitraum von wenigen Monaten drei HV gehabt hätte.
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bon verlängert. Daher hat man sich angesichts des bald zu erwartenden Inkrafttretens 20 des Vertrags von Lissabon dafür entschieden, dem Europäischen Parlament eine effektive Wahrnehmung seiner Befugnisse zu ermöglichen. Am 1. Dezember 2009 erfolgte dann schließlich die Ernennung von Catherine Ashton zur HV bis zum Ende der Amtszeit der damals amtierenden Kommission.21 Im Vorfeld war allerdings bereits mit dem Europäischen Parlament abgeklärt worden, dass es auch für den neuen HV ein Hearing im Parlament geben sollte. Da gemäß Art 6 Protokoll Nr 36 aber der neue HV am 1. Dezember sein Amt antreten musste, wurde im außenpolitischen Ausschuss am 2. Dezember 2009 eine Art „Hearing“ abgehalten und dann am 4. Dezember 2009 Catherine Ashton bis zum Ende der Amtszeit der noch zu ernennenden Kommission (31. Oktober 2014) bestellt.22 Dabei war klar, dass Ashton am 2. Dezember 2009, am zweiten Tag der Amtsübernahme noch wenig konkrete Aussagen würde tätigen können, dennoch war gerade dem Europäischen Parlament die Durchsetzung eines Formalstandpunkts – wie so oft – wichtiger als inhaltliche Fragen. B. Praktische Anpassungen in den Arbeitsweisen von Kommission und Generalsekretariat des Rates Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wurden zum ersten Mal die Funktionen des Generalsekretärs des Rates und des Hohen Vertreters getrennt. Damit war für die neue HV der Zugriff auf Einheiten der Ratssekretariats keine Selbstverständlichkeit. Auf die relevanten Einheiten der Kommission konnte die HV ebenso nicht so-
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Das zweite Referendum in Irland war bereits positiv ausgegangen und auch die Signale, die im Vorfeld der Verkündigung des Urteils des tschechischen Verfassungsgerichts am 3.11.2009 zu vernehmen waren, deuteten auf ein positives Urteil des Verfassungsgerichts hin. Damit war Ende Oktober 2009 absehbar, dass es bis Jahresende zu einem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon kommen dürfte. Beschluss 2009/880/EU, ABl 2009 L 315/49. Beschluss 2009/950/EU, ABl 2009 L 328/69. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass im Beschluss vom 1.12.2009 Ashton noch mit ihrem vollen Titel als „Baroness Catherine Margaret Ashton of Upholland“ genannt wird, während sie vier Tage später ohne Adelstitel schnöde als „Catherine Ashton“ bezeichnet wird. Ashton selbst verwendet ihren Adelstitel nie, sie bezeichnet sich als „High Representative and Vicepresident of the Commission“.
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fort zugreifen, da es ja noch bis zum Amtsantritt der neuen Kommission eine Kommissarin gab, der die relevante Generaldirektion Außenbeziehungen (Relex) unterstand. Um der HV jedoch eine möglichst friktionsfreie Arbeitsaufnahme zu ermöglichen, hat der neue Generalsekretär des Rates (und vormaliger stellvertretender Generalsekretär), Pierre de Boissieu, sofort am 1. Dezember 2009 die „Policy Unit“, die Generaldirektion Außenbeziehungen und andere Einheiten des Ratssekretariats, einschließlich militärisches und ziviles Krisenmanagement, der neuen HV zur Verfügung gestellt. Das in der Person der HV angelegte Doppelhutsystem musste entsprechend auch auf Arbeitsebene umgesetzt werden. Bei der Erstellung von Rechtsakten, Schlussfolgerungen bis hin zu Hintergrundinformationen und Speaking Notes (bzw Briefing Notes) arbeiten die jeweiligen Abteilungen von Ratssekretariat und Kommission zusammen. Im Bereich der Briefing Notes haben Ratssekretariat und Kommission (Generaldirektion Relex) unmittelbar nach Amtsantritt von Ashton ein System vereinbart, wonach alle Sprechnotizen und Hintergrundinformationen für die HV gemeinsam erarbeitet werden. 23 Das ist zwar eigentlich ein logischer Schritt, der sich aus Art 18 EUV ergeben sollte, die systematische Anwendung dieser neuen Arbeitsweise ist aber dennoch durchaus als beachtenswert einzustufen: Zum ersten Mal in der Geschichte der EU schreiben Ratssekretariat und Kommission, die sich sonst eher misstrauisch beäugt haben, gemeinsame Briefing Notes. Diese sollen idealerweise auf Arbeitsebene vereinbart und dann in den jeweiligen Hierarchien genehmigt werden. Ein gemeinsames „clearing team“ bestehend aus Vertretern des Ratssekretariats und der Kommission, koordiniert die Unterlagen. Probleme haben sich dabei eher auf Seiten der Kommission ergeben: Die anderen mit den Außenbeziehungen befassten Einheiten wie zum Beispiel die Generaldirektion Entwicklung (Afrika) und die Generaldirektion Erweiterung (Balkan) sahen gewisse Schwierigkeiten darin, sich von der Generaldirektion Relex, der im kommissionsinternen Organisationsschema keine Koordinierungsfunktion zukommt, koordinieren zu lassen. Das Ratssekretariat, flache Hierarchien gewohnt, wiederum konnte die Notwendigkeit der „interservice consultation“ der Kommission nicht nachvollziehen. 23
Für diese Information danke ich Michael Dóczy, der vom österreichischen Außenministerium in die Policy Unit des Ratssekretariats entsandt wurde.
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Das neue System wurde buchstäblich von einem Tag auf den anderen eingesetzt. C. Vorsitzführung in den einschlägigen Ratsgremien In Verbindung mit der Frage nach der Rolle des HV und des EAD war auch die Frage der Vorsitzführung in den einzelnen Vorbereitungsgremien im Rat zu klären. Bedeutet der Vorsitz im Rat, dass auch die Vorbereitungsgremien dem rotierenden Ratsvorsitz entzogen sind? Jegliche Entscheidung in diesem Bereich, die im Zuge der Reform der Geschäftsordnung des Rates noch im Oktober/November 2009 getroffen werden musste, hat ja eine erhebliche Auswirkung auf das Entstehen gemeinsamer EU-Positionen in der GASP. Im Grunde war es eine vorgezogene EAD-Diskussion, da damit die Rolle des EAD bei den Vorbereitungen gemeinsamer Positionen in Brüssel determiniert wurde. Wird der Vorsitz von der HV abgeleitet, stärkt das ihre Position, ein rotierender Vorsitz könnte sie schwächen. Permanente Vorsitze tendieren wiederum eher in Richtung der größeren Mitgliedstaaten, da diese oftmals mehr Expertise und „manpower“ einbringen können. Ein HVVorsitz demgegenüber kann zu einer „Entfremdung“ zwischen EUEbene und Mitgliedstaaten führen, was ebenfalls die Kohärenz beeinträchtigen kann. Auf Ratsebene ist die Aufgabenaufteilung geprägt von der Trennung zwischen dem Rat Allgemeine Angelegenheiten und dem Rat Auswärtige Angelegenheiten, die bislang gemeinsam stattgefunden haben. Der Rat Allgemeine Angelegenheiten steht weiterhin unter einem rotierenden Vorsitz, im außenpolitischen Rat wird die Vorsitzfunktion durch die HV wahrgenommen. Bei den Verhandlungen über die Geschäftsordnung des Rates war für einige Mitgliedstaaten, darunter Österreich, eine wichtige Rolle des Rats Allgemeine Angelegenheiten bedeutend, daher kam es zu einer demonstrativen Aufzählung mancher Kompetenzen dieser Ratsformation in Art 2 Abs 2 der Geschäftsordnung24 (va Finanzielle Vorausschau, Erweiterung).25 Obwohl im Rat Auswärtige Angelegenheiten der Vorsitz durch die HV vorgesehen ist, wurde eine gewisse Einflussmöglichkeit für den Außenminister des Vorsitzlandes geschaffen, da die HV sich gemäß Art 2 Abs 5 vom Außenminister des 24 25
Beschluss 2009/937/EU, ABl 2009 L 325/35. Zu den Arbeitsmethoden des Rates siehe Andreas Kumin vorstehend auf S 209.
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semestriellen Ratsvorsitzes vertreten lassen kann.26 Die Vertretung durch die rotierende Präsidentschaft war während der Verhandlungen zur Geschäftsordnung sehr umstritten und während der Verhandlungen zum EAD-Beschluss nicht unproblematisch, da unterschiedliche Vertretungsregelungen im Beschluss und in der Geschäftsordnung wohl nicht kohärenzfördernd sein dürften. Bei den „politischen“ Vorbereitungsgremien war schnell klar, dass der Ausschuss der Ständigen Vertreter unter rotierendem Vorsitz steht und ein Vertreter der HV den Vorsitz im in Art 38 EUV umschriebenen Politischen und Sicherheitspolitische Komitee führt. Eine längere Diskussion ergab sich bei der Regelung der Vorsitzführung der entsprechenden GASP-Ratsarbeitsgruppen. Sollte hier auch ein Vertreter des HV oder die semestrielle Präsidentschaft den Vorsitz wahrnehmen. Gerade bei den sogenannten geographischen Ratsarbeitsgruppen27 forderten das Ratssekretariat und einige Mitgliedstaaten einen permanenten Vorsitz. Österreich war zu Beginn aus zwei Gründen skeptisch. Zum einen müssen dafür, dass die GASP wirklich funktionieren kann, die Mitgliedstaaten ein gewisses Gefühl der Ownership haben (va auch die nationalen Verwaltungen). Zum anderen sollten umständliche Wahlkämpfe für Vorsitzfunktionen, in denen die größeren Mitgliedstaaten tendenziell erfolgreicher sind, eher vermieden werden. Nach längeren Diskussionen wurde ein Kompromiss gefunden, der sich in Anhang II zum Ratsbeschluss betreffend die Vorsitzführung in Rat und Vorbereitungsgremien 28 befindet: Die Ratsarbeitsgruppen, die interne Politiken behandeln (Handel, Entwicklung) stehen unter dem Vorsitz der semestriellen Präsidentschaft. Dazu gehört beispielsweise auch die Ratsarbeitsgruppe EFTA, die interdisziplinär arbeitet, aber überwiegend interne Politiken behandelt. Für die geographischen Ratsarbeitsgruppen wird es einen permanenten Vorsitz geben, der 26
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Beziehungsweise sich gemäß Erklärung (a) zur Geschäftsordnung vertreten lassen muss, wenn Angelegenheiten der Gemeinsamen Handelspolitik besprochen werden, da dieser Bereich nicht der GASP unterliegt. Hier gibt es eine de facto permanente Derogation von der Vorsitzführung durch die HV zugunsten der rotierenden Präsidentschaft. Dh den Ratsarbeitsgruppen, die für gewisse Regionen zuständig sind, zB COAFR (Afrika), COEST (ex-GUS-Staaten), COLAT (Lateinamerika). Siehe dazu Walter Obwexer vorstehend auf S 47. Beschluss 2009/908/EU, ABl 2009 L 322/28.
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aber nicht unbedingt aus dem EAD kommen muss. Auch gewisse horizontale Gruppen werden unter einem permanenten Vorsitz stehen, mit Ausnahme der Gruppen, denen bestimmte Experten zumeist aus den Hauptstädten angehören (RELEX, COJUR, COMAR usw).29 Den permanenten Vorsitz wird der HV auswählen, wobei aber auf bestimmte, im genannten Anhang II aufgezählte, Kriterien Rücksicht zu nehmen ist. Beispielsweise muss der Vorsitzende „das Vertrauen der Mitgliedstaaten“ genießen, dh es könnte doch wieder zu „Wahlkämpfen“ kommen. Der Vorsitzende wird für die Zeit der Vorsitzführung in den EAD aufgenommen. Das neue System tritt zum Teil nach 6 Monaten, zum Teil nach spätestens 12 Monaten nach Erlass des EAD-Beschluses in Kraft, wobei eine spätere Überprüfung des Systems ebenfalls vorgesehen ist. D. Übergangsvereinbarungen mit der spanischen Ratspräsidentschaft Das neue institutionelle set-up wurde für den Rat erstmals am 18. Jänner 2010 wirklich getestet: Die HV hat die Vorsitzführung im Rat Auswärtige Angelegenheiten übernommen, aber der Vorsitz im Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee (PSK) verblieb noch bei Spanien (es wurde vereinbart, an dieser Lösung zumindest bis zum Inkrafttreten des EAD-Beschlusses festzuhalten). In Bezug auf die Vorsitzführung in anderen Gremien (va Drittstaatentreffen) gab es eine ad-hoc-Absprache zwischen Spanien und der HV, demnach einige Drittstaatentreffen mit Regionen, die Spanien am Herzen liegen oder wenn die HV keine Zeit hat, vom spanischen Ratsvorsitz vorgenommen werden. GASP-Erklärungen werden bereits im Namen der HV vorgenommen, allerdings noch vom rotierenden Vorsitz koordiniert. Dies änderte sich am 1. Juni 2010, seitdem koordiniert das Ratssekretariat GASP-Erklärungen und nicht mehr der rotierende Vorsitz.
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Wobei va die Ratsarbeitsgruppe RELEX etwas aus diesem Rahmen fällt, da diese eindeutig „Brussels-based“ ist und weniger wie die anderen Gruppen einem Meinungsaustausch dient, sondern konkrete Rechtsakte verhandelt.
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IV. Die Errichtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes – zeitlicher Ablauf A. Vorarbeiten bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Die allgemeinen Vorarbeiten für das neue Vertragswerk fanden in gewisser Weise in drei Phasen statt. Schon im Frühjahr 2005 gab es erste Diskussionen, die allerdings nach den negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden eingestellt wurden. Nach Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon fing die slowenische Ratspräsidentschaft Anfang 2008 mit Umsetzungsarbeiten an, die nach dem negativen Referendum in Irland sistiert wurden. Daher gingen die Arbeiten erst wieder unter dem schwedischen Ratsvorsitz in der zweiten Jahreshälfte 2009 weiter. Die konkreten Arbeiten vor Inkrafttreten waren schaumgebremst, da man nicht den Eindruck erwecken wollte, man nehme das Inkrafttreten vorweg, aber andererseits war jedermann klar, dass man nicht erst nach Inkrafttreten mit den Arbeiten beginnen könne. Um das irische Referendum am 2. Oktober 2009 nicht negativ zu beeinflussen, ergab sich dann gerade ab Anfang Oktober ein gewisses Momentum. Für den EAD musste die Arbeit allerdings anders strukturiert werden, da ja gemäß Art 27 Abs 3 EUV das Initiativrecht beim HV und nicht bei der Kommission liegt. Angesichts der Unsicherheiten, wann es genau einen neuen HV geben würde und angesichts des Wunsches, das neue System möglichst rasch umzusetzen, beschäftigte man sich mit dem EAD, obwohl es weder den HV noch seinen Vorschlag gab. Vielmehr war es für die Institutionen wichtig, die Grundlinien vorzugeben: Ein erster Vorschlag des HV sollte in jedem Fall in die richtige Richtung gehen. Daher führten sowohl Rat als auch das europäische Parlament intensive Diskussionen schon im Oktober 2009 und in diesem Monat legten beide Institutionen ihre Standpunkte, wie der EAD funktionieren sollte, fest. Am 23.Oktober 2009 legte der Rat einen Bericht des Vorsitzes an den Europäischen Rat vor.30 Der Europäische Rat vom 29. Oktober 2009 verwies in seinen Schlussfolgerungen darauf und formulierte das Ziel, dass der Rat sich bis April 2010 auf den EAD-Beschluss einigen sollte.31 Das Europäische Parlament nahm am 22. Oktober 2009 eine Ent-
30 31
Ratsdokument Nr 14930/09. Z 3 der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates vom 29./30.10.2009, Ratsdokument 15265/1/09 REV 1.
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schließung zum EAD an, in dem es seine Vorstellungen niederlegte.32 Im Ratsbericht vom Oktober 2009 wurden folgende Grundsätze festgelegt: x Es soll ein Desksystem geben, wobei ein geographischer Desk für die Gesamtheit der Beziehungen zu einer Region zuständig sein soll (daneben ausgewählte thematische Desks, zB Menschenrechte). Die Bereiche Erweiterung, Handel und Entwicklungszusammenarbeit verbleiben bei der Kommission. x Die ESVP-Strukturen (Militärstab EUMS, Krisenplanungsdirektion CMPD, Zivile Planungsabteilung CPCC) wandern auch in den EAD, ebenso das Situationszentrum (SitCen). x Der EAD soll bei der strategischen Programmierung der Außenfinanzierungsinstrumente33 eine Rolle spielen und in den relevanten Entscheidungsfindungsprozessen involviert sein. x Die EU-Sonderbeauftragten werden Teil des EAD. x Der EAD soll als Einrichtung sui generis irgendwo zwischen einer Kommissionsdienststelle (zB OLAF) und einer Agentur angesiedelt werden. x Wichtig ist die Respektierung des im EUV niedergelegten Grundsatzes der Zusammensetzung des EAD aus Vertretern der Kommission, des Ratssekretariats und der nationalen diplomatischen Dienste. Es soll eine völlige Gleichberechtigung zwischen den drei Quellen geben. Auch bei den Posten des „höheren Dienstes“ (Diplomaten im engeren Sinne, Posten der Kategorie AD im EU-Gehaltsschema) sollen im Endausbau (zumindest) ein Drittel von nationalen Diplomaten gestellt werden. Hier darf es keine Übergangsbestimmung geben, die nationale Diplomaten aus (vordergründig) Praktikabilitätsgründen diskriminiert. x Der HV soll die alleinige Ernennungsautorität haben, allerdings sind die Mitgliedstaaten bei der Auswahl höherrangigen Personals einzubinden. 32 33
Resolution P7_TA(2009)0057 vom 29.10.2009. Europäisches Nachbarschaftsinstrument, Entwicklungszusammenarbeitsinstrument, Europäischer Entwicklungsfonds, Stabilitätsinstrument, Menschenrechte- und Demokratieförderungsinstrument, Nukleare Sicherheitsinstrument, Instrument für Zusammenarbeit mit Industrieländern; vgl Liste in Art 9 Abs 2 EAD-Beschluss, ABl 2010 L 201/30.
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Das Grundprinzip der Rotation sollte auch für Kommissionsund Ratssekretariatsbedienstete gelten. x Wichtig ist, dass möglichst wenig Kosten entstehen dürfen. Da dies wohl nicht völlig durchsetzbar sein dürfte, wurde folgender Grundsatz festgelegt: „cost-efficiency aiming towards budget neutrality“. x Die EU-Delegationen sollen als Teil des EAD mit EAD- und Kommissionspersonal besetzt werden. Für die Übernahme der lokalen Präsidentschaftsfunktion von der Botschaft des rotierenden Ratsvorsitzes sollte es einen fixen Zeitplan geben. In den Diskussionen zum Bericht kristallisierte sich früh heraus, welche Punkte für den Rat besonders wichtig sind: die Rolle der Diplomaten der Mitgliedstaaten im EAD, gerade in der Aufbauphase, Äquidistanz des EAD va von der Kommission, ein handlungsfähiger EAD mit ausreichenden Kompetenzen und Budgetneutralität. 34 Die Entschließung des Europäischen Parlaments setzte erwartungsgemäß andere Prioritäten, sah etliche Bereiche aber ähnlich wie der Rat: x Wahrung des „Gemeinschaftsmodells“, dh der EAD sollte so weit wie möglich in die „Verwaltungsstruktur“ der Kommission (zB Teil des Kommissionshaushalts) eingebunden werden. x Es müsse eine Einbindung des Europäischen Parlaments va über das Budget erfolgen, das Parlament müsse die volle Haushaltskontrolle ausüben können.35 x Die EU-Delegationen sollen unter Führung des EAD stehen. x Die einzelnen Kategorien der Mitarbeiter müssen gleichberechtigt sein. x Die Personalhoheit müsse beim HV liegen. x Für nationale Diplomaten sollte eine Versetzung zum EAD als fester Bestandteil der nationalen Karriere vorgesehen werden. 34
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Wer die Vorliebe Brüssels für Präzedenz und fait accompli kennt, weiß, dass es sehr schwierig wird, eine gewisse Rolle einzunehmen, wenn sich einmal Kommissions- und Ratssekretariatsvertreter die wichtigsten Posten untereinander aufgeteilt haben und diese auf Jahre hinaus angesichts der unflexiblen und sehr arbeitnehmerfreundlichen Beschäftigungsbedingungen von EU-Bediensteten besetzen. Dies wäre in jedem Fall bei Einbindung des EAD in das Kommissionsbudget wie im Falle von OLAF gegeben.
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Möglichkeit der Wahrnehmung konsularischer Funktionen durch EU-Delegationen. x Verpflichtendes Hearing für zukünftige Delegationsleiter durch das Europäische Parlament (nach Vorbild des US-Senats). x Aufbau einer europäischen Diplomatenschule, um eine einheitliche (unionsfreundliche) Ausbildung der EAD-Angehörigen zu erreichen. In ersten Gesprächen der schwedischen Ratspräsidentschaft mit dem Europäischen Parlament wurde in manchen Bereichen Kongruenz festgestellt (Rolle der Delegationen, Personalhoheit, Desksystem usw), bei manchen Forderungen des Parlaments aber klargemacht, dass deren Umsetzung nicht realistisch ist (Diplomatenschule, Hearing für Delegationsleiter, volle Einbindung des Europäischen Parlaments). Eine ursprüngliche Forderung des Parlaments nach eigenen Mitarbeitern bei den Delegationen wurde schon im Vorfeld der Annahme der Resolution abgewehrt. Nunmehr findet sich in der Resolution lediglich die Forderung, dass es in den Delegationen Ansprechpartner für das Parlament geben müsse, gerade auch im Hinblick auf interparlamentarische Kontakte. 36 Österreich befürwortete auch das Eintreten des Parlaments für eine konsularische Funktion der Delegationen, hier waren aber vor allem die großen Mitgliedstaaten dagegen.37 Auch die Kommission versuchte, im Vorfeld der eigentlichen Verhandlungen ihren Standpunkt zu verteidigen, indem sie sich aktiv an den Verhandlungen zum Ratsbericht beteiligte. Aus Kommissionssicht waren va die Absicherung des eigenen Personals und der Status der Delegationen wichtig (Delegationsleiter sollten von der Kommission kommen, bzw von ihr mit ausgewählt werden, Weisungsrecht in Bezug auf Kommissionszuständigkeiten, weitestgehender Ausschluss des Rotationsprinzips für Kommissionsmitarbeiter usw). Ein weiterer wichtiger Punkt war der Verbleib der Implementierung der Außenhilfsinstrumente bei der Kommission. Ausgangspunkt der Kommission war überhaupt die vollständige Ansiedlung des höchstdotierten Instruments (Entwicklungszusammenarbeitsinstrument und Europäischer Entwicklungsfonds) bei der Kommission. 36 37
Z 6 lit f der Resolution (Fn 32). Siehe Pkt VI.A. nachstehend auf S 293.
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B. Änderungen mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 konnte HV Ashton ihre Arbeit aufnehmen und ihr Team zusammenstellen. Um ihr eine Beschleunigung der Arbeiten zum EAD zu ermöglichen, wurde ihr ab März 2010 eine spezielle Task Force unter dem dänischen Ständigen Vertreter bei der EU beigestellt (der zu diesem Zweck vom nationalen Dienst freigestellt wurde). Wie schon in der Vorbereitungsphase wurden auf Basis von sogenannten „fiches“, dh Arbeitsdokumenten, gewisse Punkte weiter besprochen. Auf diese Weise sollten einige Fragen bereits einer inhaltlichen Klärung zugeführt werden, bevor ein konkreter Text vorgelegt würde. Es ist nicht verwunderlich, dass HV Ashton ihren Beschlussentwurf gemäß Art 27 Abs 3 EUV nicht gleich zu Beginn vorlegen konnte; sie war schließlich mit einigen praktischen Problemen konfrontiert: Sie war neu im Amt (und auch noch relativ neu im Brüsseler Biotop, schließlich wurde sie erst im Oktober 2008 zur Kommissarin ernannt), verfügte über ein kleines Team, das sich erst einspielen musste, und musste institutionelles Neuland (die Gründung einer Organisation aus Teilen anderer Institutionen und gleichzeitig unabhängig – aber nicht zu sehr – von diesen Institutionen) betreten. Dennoch wurde bei den Verhandlungen im Dezember 2009 rasch klar, dass man konkrete Texte benötige, um weiter diskutieren zu können. Neben der Frage des EAD und der Delegationen spielte in den Außenbeziehungen die Verschmelzung von EG und EU eine wichtige Rolle. Aus diesem Grund wurde unmittelbar nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon eine Note an alle Drittstaaten und internationalen Organisationen ausgesandt, in der zum Ausdruck gebracht wurde, dass es nun nur mehr die EU als Rechtspersönlichkeit gibt.38 C. Verhandlungen unter spanischer Ratspräsidentschaft Der spanische Ratsvorsitz in der ersten Jahreshälfte 2010 war mit einer zweifachen Aufgabenstellung konfrontiert: Einerseits musste die Rechtsgrundlage für den EAD in Form des Beschlusses gemäß Art 27 Abs 3 EUV und in Form diverser anderer Rechtsakte (An38
Siehe dazu Charlotte Beaucillon / Friedrich Erlbacher vorstehend auf S 101. Gleichzeitig wurde in der Note angekündigt, dass bald die Übernahme der lokalen Vorsitzfunktion durch die EU-Delegation erfolgen werde.
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passung der Haushaltsordnung, des Personalstatuts und des Budgets) geschaffen werden, und andererseits waren die allgemeinen Vertragsbestimmungen in Bezug auf die Außenvertretung umzusetzen. So legt ja zum Beispiel Art 221 Abs 1 AEUV fest, dass der lokale Vorsitz in Drittländern und bei internationalen Organisationen durch die EU-Delegationen vorgenommen wird. 1. Übernahme des Vorsitzes durch EU-Delegationen Für die Glaubwürdigkeit der EU-Außenvertretung war es wichtig, dass der Übergang der lokalen Vorsitzfunktion zwar möglichst rasch, aber auch möglichst gut vorbereitet erfolgt. Damit dieser Übergang ohne gröbere Probleme vonstatten geht (Absprache mit Drittstaaten, personelle Ausstattung der EU-Delegation usw), wurde vereinbart, dass der Übergang sukzessive erfolgen soll und so wurde eine Liste erstellt, gemäß der in jedem Dienstort der Vorsitz übergeht. Es gibt vier Listen: In 53 Orten erfolgte der Übergang bereits am 1. Jänner 2010, in 28 weiteren während des ersten Halbjahrs 2010, 29 Delegationen haben den Vorsitz am 1. Juli 2010 übernommen, der Rest sollte bis Ende 2010 folgen.39 Im Fall von bilateralen Delegationen war der Übergang grundsätzlich einfacher zu bewerkstelligen als bei internationalen Organisationen, da das diplomatische Protokoll in den einzelnen Ländern wesentlich flexibler ist als die verschiedenen Verfahrensvorschriften der Organisationen.40 Bei den Delegationen, die schon am 1. Jänner 2010 die Vorsitzfunktion übernahmen, erfolgte dies sehr kurzfristig, da diese im Regelfall erst gegen Ende Dezember 2009 davon informiert wurden. Bislang gibt es aber noch keine Beschwerden. 2. Verhandlungen über die Rechtsgrundlagen für den EAD Wie schon unter den Vorgängerpräsidentschaften wurden die Umsetzungsarbeiten für den Vertrag von Lissabon während des spanischen Vorsitzes auf der Ebene des Ausschusses der Ständigen Vertreter (AStV) in Brüssel fortgesetzt. Auf Grundlage dieser Vorarbeiten legte die HV schließlich am 25. März 2010 den Entwurf eines EAD-Beschlusses vor.41 Da insbesondere mit dem Auftreten 39 40 41
Darunter Oman, wo in der Zwischenzeit die Österreichische Botschaft den lokalen Vorsitz wahrnimmt. Siehe dazu Pkt VI.D. nachstehend auf S 302. Ratsdokument 8724/10 vom 25.3.2010.
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des Europäischen Parlaments als zusätzlicher Verhandlungspartner ein Abschluss der Arbeiten innerhalb eines Monats als nicht realistisch angesehen werden konnte, war klar, dass die terminliche Zielvorgabe des Europäischen Rates vom Oktober 2009 (Annahme des Beschlusses bis Ende April 2010)42 nicht zu halten sein würde. Der erste Beschlussentwurf beschränkte sich darauf, eher einen allgemeinen Rahmen für den EAD festzulegen, als dass er Details regeln würde. In der Folge wurden auch Entwürfe für die anderen anzupassenden Rechtsakte vorgelegt, 43 die aber teilweise parallel verhandelt wurden (zB im Fall der umstrittenen Beteiligung der Kommission bei der Ernennung von Delegationsleitern und der Vertragsdauer für Diplomaten aus den Mitgliedsstaaten, beides im Personalstatut geregelt). Nach Vorlage dieser Entwürfe wurden die Verhandlungen im Rat auf Ebene der Botschafter sowie mit dem Europäischen Parlament fortgeführt. Das Parlament unterstrich, dass es eine Paketlösung geben müsse, dh über die Mitbestimmung bei der Haushaltsordnung und dem Personalstatus sollte auch Einfluss auf den EAD-Beschluss genommen werden. Da die Bedeutung des EAD über die auswärtigen Beziehungen hinausgeht und eher als institutionelle Frage anzusehen ist, wurde das EAD-Paket nicht vom Rat auswärtige Angelegenheiten, sondern vom Rat allgemeine Angelegenheiten behandelt (dh unter spanischem Vorsitz). Bei der Ratssitzung am 26. April 2010 konnte eine grundsätzliche politische Einigung auf einen ersten Entwurf erreicht werden, der in der Folge mit dem EP diskutiert werden konnte. Für die Verhandlungen mit dem EP entwickelte sich ein neuer Verhandlungsmodus in der Geschichte der europäischen Integration, der sogenannte „Quadrilog“, dh Verhandlungen mit folgenden Teilnehmern: Kommission, HV, Ratspräsidentschaft und EP.44 Um eine 42 43
44
Siehe oben Fn 31. Novellierung der Haushaltsordnung (Verordnung (EG) Nr 1605/ 2002), Novellierung des Beamtenstatuts und der Beschäftigungsbedingungen. Ausständig war lediglich noch ein Entwurf für das Budget des EAD, der am 27.7.2010 vorgelegt wurde (Ratsdokument 12224/10). Bekannter ist das traditionelle Forum für die Verhandlung von Rechtsakten im Mitentscheidungs-/ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, der Trilog (Kommission, Ratsvorsitz, Parlament), der im politischen Leben der EU eine herausragende Rolle einnimmt.
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rechtzeitige Ausschreibung der ersten EAD-Dienstposten sicherstellen zu können, wurde als Ziel angepeilt, eine interinstitutionelle Einigung noch vor der Sommerpause herbeizuführen. In Verhandlungen auf Ebene der Botschafter und Quadrilogen wurde auf Basis des von der HV im März 2010 vorgelegten Texts ein Paket geschnürt, auf das man sich beim letzten Quadrilog in Madrid am 21. Juni 201045 einigen konnte. Das Paket enthielt den Ratsbeschluss samt Anhang und vier Erklärungen der HV. Hier ist insbesondere die Erklärung der HV zur politischen Verantwortlichkeit vor dem Europäischen Parlament hervorzuheben, in der sie verschiedene Zusagen macht, wie sie das Europäische Parlament in die GASP und die Arbeit des EAD einbinden will. In den letzten Wochen der Verhandlungen waren va zwei Bereiche klärungsbedürftig: Auf Ratsseite stand die Frage im Vordergrund, wie das Mitgliedstaatendrittel möglichst rasch und effektiv erreicht werden könne,46 während auf Seiten des Europäischen Parlaments va das Schicksal der „Gemeinschaftsmethode“ wichtig war: dh möglichst weitgehende Budgetkontrolle seitens des Parlaments, möglichst unabhängige Rolle der Kommission (gegenüber EAD und Rat, nicht gegenüber Parlament) und eine größtmögliche Besetzung des EAD mit EU-Beamten. 47 Weiters forderte das Parlament, dass die HV vor dem Parlament politisch vertreten sein müsse, nicht bloß durch einen Beamten (Generalsekretär); es forderte „political deputies“. Nach dem Hinweis, dass solche nicht im Vertrag vorgesehen seien, wollte das Parlament zumindest die Ernennung eines (oder mehrerer) Sonderbeauftragten, die einen politischen Hintergrund haben sollten. Schließlich konnte diese Frage mittels der unten dargelegten Vertretungsregel gelöst werden. 48 Eine andere wesentliche Forderung des EP war die geographische Ausgewogenheit. Nachdem wie oben festgehalten am 21. Juni 2010 Einigung erzielt werden konnte, nahm das Europäische Parlament am 8. Juli 45
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48
Siehe gemeinsame Presseerklärung Nr A 109/10 von HV, Rat, Parlament und Kommission. http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms _data/ docs/pressdata/EN/foraff/115429.pdf. Wobei Österreich als Sprecher einer Gruppe von 10 Mitgliedstaaten besonders aktiv war. Dh Mindestanzahl von EU-Beamten, Durchlässigkeit für Bedienstete anderer EU-Institutionen, erleichterter Wechsel von nationalen Diplomaten auf permanente Stellen als EU-Bedienstete. Siehe Pkt VI.F. nachstehend auf S 306.
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2010 seinen Bericht49 an und am 26. Juli 2010 erließ der Rat den Beschluss 2010/427/EU über die Organisation und Arbeitsweise des Europäischen Auswärtigen Dienstes. 50 Die Beschlussfassung für die anderen Rechtsakte (Haushaltsordnung, Personalstatut, Berichtigungshaushalt für 2010 und 2011) soll im Herbst 2010 erfolgen. V. Aufbau und Tätigkeit des EAD gemäß Ratsbeschluss Bevor auf ausgewählte Rechtsfragen bei der Errichtung des EAD eingegangen wird, soll ein grober Überblick über den Aufbau des EAD gemäß Ratsbeschluss gegeben werden. Der EAD wird als „funktional eigenständige Einrichtung“ errichtet, der der HV untersteht und der aus der Zentrale und den EU-Delegationen besteht (Art 1). 51 Der EAD unterstützt die HV bei der Erfüllung ihrer Aufgaben, wobei keine Einschränkung auf die GASP erfolgt, 52 aber auch den Präsidenten des Europäischen Rates, den Kommissionspräsidenten und die Kommission allgemein im Bereich der Außenbeziehungen. Der EAD arbeitet mit den Mitgliedstaaten und den entsprechenden Unionsdienststellen zusammen (insbesondere OLAF) und kann gemäß Art 3 Abs 3 auch Dienstleistungen anderer Einrichtungen in Anspruch nehmen. 53 Oberster Verwaltungsbeamter des EAD ist ein „geschäftsführender
49 50
51 52 53
Dokument P7_TA(2010)0280. ABl 2010 L 201/30. Kurz vor Annahme im Rat gab es noch Aufregung, da überlegt wurde, ob die Bezugnahme auf die HV im Beschluss nicht geschlechtsneutral erfolgen sollte („Er/sie“). Der Juristische Dienst des Rates legte am 23.7.2010 ein schriftliches Gutachten vor, wonach eine solche Vorgangsweise den Verträgen und der legislativen Praxis der EU widersprechen würde (Ratsdokument 12518/10; nicht öffentliches Dokument). Schlussendlich konnte sich der Juristische Dienst des Rates aber nicht durchsetzen und in allen Sprachfassungen sollten die entsprechenden Korrekturen vorgenommen werden. Im veröffentlichten Beschluss ist dies allerdings nicht geschehen. Unter Umständen wird es eine Berichtigung geben. Zitate von Artikeln ohne Quellenangabe sind in weiterer Folge als Zitate des EAD-Beschlusses (Fn 51) zu verstehen. Art 2 Abs 1. Siehe dazu Pkt VI.A. nachstehend auf S 293. Dies gilt gemäß Art 4 Abs 5 insbesondere für das Generalsekretariat des Rates und die Kommission.
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Generalsekretär“, der von zwei Stellvertretern unterstützt wird. 54 Daneben wird es auch einen Generaldirektor für Haushalt und Verwaltung geben, der direkt der HV unterstellt wird (Art 4 Abs 3 lit a zweiter Spiegelstrich 2. Satz).55 Darunter sind neben gewissen Zentraleinrichtungen (Planungsstab, Rechtsabteilung, interne Revision usw) verschiedene Generaldirektionen vorgesehen, einerseits geographische, andererseits thematische. Die militärischen Strukturen, die in den EAD übergeführt werden, behalten ihr Eigenleben. Der Leiter einer EU-Delegation ist Mitglied des EAD und für das gesamte Personal einer Delegation verantwortlich, das aus Personal des EAD und aus Personal der Kommission besteht. Das Personal der Kommission ist für die Durchführung von internen Politiken zuständig (Finanzierungsprogramme, Handelspolitik usw) und kann in diesen Bereichen auch direkt Weisungen der Kommission erhalten. Der Delegationsleiter kann von der Kommission ermächtigt werden, Auszahlungen für konkrete Unionsprojekte vorzunehmen und er ist befugt die Union „beim Abschluss von Verträgen und als Partei bei Gerichtsverfahren zu vertreten“ (Art 5 Abs 8). Die HV muss dafür sorgen, dass die Delegationen den gleichen Status wie bilaterale Botschaften erhalten. Eine gewisse konsularische Hilfestellung ist in Art 5 Abs 10 vorgesehen.56 Das Personal setzt sich aus EU-Bediensteten, nationalen Diplomaten und nationalen Experten (SNE)57 zusammen. Allein die HV ist gegenüber dem Personal weisungsbefugt. Wichtig ist, dass 54
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Nachdem Großbritannien den Posten der HV erhielt, machte Frankreich sehr früh klar, dass der Generalsekretär Franzose sein müsse, Deutschland, Italien und Polen reklamieren die Stellvertreter für sich. Die kleineren Mitgliedstaaten scheinen eher leer auszugehen. Diese Aussichten scheinen dem Europäischen Parlament recht zu geben, wenn es befürchtet, dass der EAD vom Direktorium der großen Mitliedstaaten übernommen wird und damit die „Gemeinschaftsmethode“ zu kurz kommen könnte. Das Parlament fordert daher, dass zumindest ein Vertreter des Führungsquartetts (vorzugsweise ein stv Generalsekretär) aus der Kommission kommen muss. Die HV wollte die Funktion, die ihr sehr wichtig ist, prominenter zu Beginn des Art 4 anführen. Der jetzige – schwer zu zitierende – Platz entspricht einem typischen Brüsseler Kompromiss: es gibt die Funktion, aber sie wird irgendwo im Beschlusstext „vergraben“. Siehe dazu Pkt VI.A. nachstehend auf S 293. SNE = Seconded National Experts.
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zwar das Leistungsprinzip ausschlaggebend sein sollte, aber dennoch Gender, geografische Verteilung und Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen sind (Art 6 Abs 6); die HV ist zwar die alleinige Ernennungsautorität, Ratssekretariat, Kommission und Mitgliedstaaten sind aber in die Auswahl von Personal einzubeziehen. Mindestens ein Drittel des Personals haben aus den Mitgliedstaaten zu kommen, mindestens 60 % des Personals hat sich aus EU-Bediensteten zusammen zu setzen (Art 6 Abs 9). Die Mitarbeiter des EAD sind unabhängig von ihrer dienstlichen Herkunft gleich zu behandeln. Dies gilt auch für eine gewisse grundsätzliche Mobilität. EAD-Personal aus den Mitgliedstaaten darf maximal 10 Jahre im EAD tätig sein. Die Überführung des Personals aus den Institutionen (dh der Dienststellen des Ratssekretariats und der Kommission, die im Anhang zum Beschluss aufgezählt sind) erfolgt mit 1. Jänner 2011. Haushaltsrechtlich wird der EAD so wie andere unabhängige Institutionen wie der Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Ombudsmann behandelt (Erwähnung in Art 1 der Haushaltsordnung). Der EAD wirkt an den Finanzierungsprogrammen der Kommission mit, wobei jedoch die Mitwirkung an Vorschlägen betreffend die Durchführung der Programme variiert (Art 9 Abs 4 bis 6). Zur Kontrolle der Umsetzung des Beschlusses wird die HV zwei Berichte vorlegen, einen bereits bis Ende 2011 und einen zweiten bis Mitte 2013 (Art 13). Während der 2011 fällige Bericht die Funktionsweise der Delegationen (einschließlich konsularischer Funktion) und die Mitwirkung bei den Finanzierungsprogrammen zum Inhalt hat, soll der 2013 fällige Bericht eine generelle Bewertung vornehmen, aber sich auch besonders mit der Frage des Personals (Zusammensetzung usw) beschäftigen und allenfalls Änderungen des Beschlusses vorschlagen. VI. Ausgewählte Rechtsfragen bei der Errichtung des EAD Im Zuge der Verhandlungen über den EAD haben sich eine Reihe von Rechtsfragen ergeben, die für die Struktur und zukünftige Arbeit des EAD bedeutend sind. Da hier nicht alle Rechtsfragen erschöpfend dargestellt werden können, soll eine Auswahl der wichtigsten Diskussionspunkte dargestellt werden.
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A. Umfang der Außenvertretung (zB Euratom, konsularische Funktion) Wie oben dargestellt58 ist die HV nicht nur für die GASP zuständig, sondern hat ein Mitwirkungsrecht an den gesamten Außenkompetenzen der Union (Doppelhut). Bedeutet nun die Formulierung in Art 27 Abs 3 Satz 1 EUV („Bei der Erfüllung seines Auftrags stützt sich der Hohe Vertreter auf einen Europäischen Auswärtigen Dienst“), dass der EAD die HV in allen ihren Funktionen unterstützt oder nur im Bereich der GASP? Werden die Regeln der systematischen Interpretation angewandt, könnte man davon ausgehen, dass der EAD die HV nur in Angelegenheiten der GASP unterstützen dürfe, schließlich findet sich die Regelung betreffend den EAD im Kapitel 2 des Titels V des EUV „Besondere Bestimmungen über die Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik“, dh die Rechtsgrundlage für den EAD wird im Rahmen der besonderen Verfahren für die GASP geschaffen. Legt man der Bestimmung allerdings die Wortinterpretation zugrunde, könnte diese so verstanden werden, dass der EAD die HV in all ihren Aufgabengebieten („Bei der Erfüllung seines Auftrags…“) zu unterstützen hat, dh auch in jenen Bereichen, die nicht der GASP unterliegen (zB Sicherstellung der Kohärenz der Außenvertretung, Art 21 Abs 3 EUV, Wahrnehmung des Initiativrechts gemeinsam mit der Kommission bei restriktiven Maßnahmen gemäß Art 215 AEUV, Wahrnehmung der Funktion des Vizepräsidenten der Kommission).59 In Art 2 Abs 2 des EAD-Beschlusses werden nun explizit auch die über die GASP hinausgehenden Kompetenzen der HV erfasst, Unterstützung erfolgt auch in den Funktionen als Präsidentin des Rates und als Vizepräsidentin der Kommission. Damit ist geklärt, dass sich die HV in allen Belangen des EUV und des AEUV auf den EAD stützen kann. Bei den Verhandlungen zum Beschluss ergab sich die Frage, ob sich die Außenvertretungsbefugnis auch auf Euratom bezieht. Auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, der in seinem Protokoll Nr 1 lediglich gewisse formale Korrekturen am EAGV vornahm, bleibt die EAG als eigenständige
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Siehe Pkt II.C. vorstehend auf S 273. Vgl Waldemar Hummer, Art III-296 EVV, in Vedder / Heintschel von Heinegg (Hg), Europäischer Verfassungsvertrag (2007) Rn 10.
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internationale Organisation bestehen. Gemäß Art 106a EAGV60 teilt die EAG die Organe mit der EU. Diese Bestimmung bezieht sich allerdings nicht auf den EAD und die Zuständigkeit des EAD kann sich rein rechtlich daher nicht auf diesen Vertrag beziehen. Dennoch ergibt sich das Problem, dass es keine Kommissions-Delegationen mehr gibt, also die Außenvertretung der EAG (zB gegenüber der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEO in Wien) nicht mehr sichergestellt wäre. Gleichzeitig kann die Zuständigkeit des EAD nicht im Wege eines Erwägungsgrunds im EAD-Beschluss ausgedehnt werden. Ein ähnliches Problem ergab sich bei der vorgesehenen Mitwirkung des EAD an der Programmierung des „Instruments für Zusammenarbeit im Bereich der nuklearen Sicherheit“. 61 Wichtig war, in der Formulierung der Erwägungsgründe klarzustellen, dass sich eine Mitvertretung der EAG durch die Delegationen nicht aus den Verträgen ergibt, sondern es im Wesentlichen auf einer Absprache zwischen der Kommission, die weiterhin für die Außenvertretung der EAG zuständig ist, und dem EAD ankommt, wie eine Vertretung der EAG funktionieren könnte. Deshalb wird in Erwägungsgrund 18 des EAD-Beschlusses festgehalten, dass es den Delegationen lediglich ermöglicht werden sollte, die Vertretung der EAG wahrzunehmen. In Bezug auf die Finanzierungsprogramme wird schon in Art 9 Abs 1 die Verantwortung der Kommission festgehalten. Eine weitere ausführlich diskutierte Frage war eine mögliche konsularische Funktion der Delegationen. Österreich und andere kleinere Mitgliedstaaten forderten diese, da der EAD einen spürbaren Mehrwert für Unionsbürger haben müsse. Für die Wahrnehmung der EU wäre es hilfreich, wenn sich Unionsbürger in Orten, an denen es keine Vertretungsbehörde ihres Heimatlandes gäbe, an die Delegation wenden könnten. Auch das Europäische Parlament legte auf diesen Punkt großen Wert. 62 Gerade größere Mitgliedstaaten wandten sich jedoch dagegen und verwiesen darauf, dass die konsularische Hilfestellung in den Art 20 Abs 3 lit c und Art 23 AEUV sich nur auf Vertretungsbehörden anderer Mitgliedstaaten,
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Siehe konsolidierte Fassung des EAGV in ABl 2010 C 84/1. VO (Euratom) Nr 300/2007, ABl 2007 L 81/1. Vgl Z 10 der Resolution des Parlaments vom Oktober 2009 (siehe oben Fn 32).
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aber nicht auf EU-Delegationen beziehe.63 Im Ergebnis wird es nun den Delegationen möglich sein, auf Verlangen die Mitgliedstaaten bei der Bereitstellung von konsularischem Schutz zu unterstützen, wobei ausdrücklich auf Art 35 Abs 3 verwiesen wird. Diese Unterstützung hat jedoch „ressourcenneutral“ zu erfolgen (Art 5 Abs 10). Dabei ist klar, dass keine vollständige konsularische Betreuung gemeint ist, sondern vielmehr eine gewisse konsularische Erstversorgung (Kontaktierung der nächstgelegenen Vertretungsbehörde usw). Allerdings wird extra darauf verwiesen, dass die Konsularfrage im Rahmen der vorgesehenen Reviewfrage wieder überprüft werden wird. B. Grundsätzliche Verortung im EU-Institutionengefüge – Agentur oder Kommissionsdienststelle Diese Frage war zu Beginn va für das Europäische Parlament von großer Wichtigkeit, um eine umfassende Kontrolle zu wahren; je näher an die Kommission angebunden, desto weitreichender die Kontrollmöglichkeiten des Parlaments, und desto vollständiger auch die Vergemeinschaftung des EAD (im Gegensatz zu der vom Parlament befürchteten Intergouvernementalisierung). Auch die Kommission konnte diesem Gedanken etwas abgewinnen, hatte aber bereits im Oktober 2009 einer sui-generis-Lösung zugestimmt. Im Rat herrschte der Wunsch, den EAD nicht zu eng an die Kommission anzubinden, da es ja geradezu die Grundphilosophie des EAD ist, Kommission und Mitgliedstaaten institutionell zu verschränken. Daher war bereits bei den ersten Diskussionen zum EAD im Frühjahr 2005 die Rede davon, dass es sich beim EAD nur um eine Einrichtung handeln könne, die einen neuen Platz auf der Bandbreite zwischen Kommissionseinrichtung und Agentur beziehen wird. 64 Auch im Bericht des Rates an den Europäischen Rat vom Oktober 2009 wird von einer Institution sui generis 65 gesprochen.
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Gleichwohl ist festzuhalten, dass in Art 35 Abs 3 EUV sehr wohl auch die EU-Delegationen erfasst sind. Jan Wouters / Cominic Coppens / Bart De Meester, The European Unions’s External Relations after the Lisbon Treaty, in Griller / Ziller (Hg), The Lisbon Treaty. EU Constitutionalism without a Constitutional Treaty? (2008) 143 (158 f). Siehe oben Fn 30.
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Bereits zu Beginn der Diskussionen herrschte Einigkeit darüber, dass der EAD keine Agentur sein sollte, sondern va der Haushalt unter voller Kontrolle der EU-Institutionen („Art 1 der Haushaltsordnung“) stehen müsse. Für das Europäische Parlament war es eine Frage der politischen Kontrolle (angesichts früherer Konflikte mit dem Rat betreffend das GASP-Budget, aus diesem Grunde kam es auch zur – rechtlich fragwürdigen – Nichtentlastung früherer Budgets), für die Kommission stand die Frage der Tätigkeit der Delegationen bei der Verwaltung der Außenhilfsinstrumente im Vordergrund. Auch für den Rat war eine Agentur nicht denkbar, da die politische Kontrolle des Rates bei Agenturen ebenfalls begrenzt ist. Dh es wurde früh zwischen Rat und Kommission vereinbart, dass der EAD als „Organ“ iSd der Haushaltsordnung in deren Art 1 eingefügt wird. Damit wird es einen separaten Einzelplan im Unionsbudget für den EAD geben (wie im Falle des Ausschusses der Regionen, des Wirtschafts- und Sozialausschusses, des Datenschutzbeauftragten und des Ombudsmanns), der EAD also nicht dem Kommissionsbudget zugeschlagen (wie zB OLAF dessen Budget sich in Titel 24 des Einzelplans 3 befindet, in Einzelplan 3 befindet sich das Kommissionsbudget). Das Europäische Parlament bestand imZuge der Verhandlungen darauf, dass auch von Mitgliedstaaten entsandte Bedienstete voll unter den Anwendungsbereich der Korruptionsbestimmungen der EU sowie der Haftungsregeln für EU-Beamte (Art 66 Haushaltsordnung; Haftung durch Anweisungsbefugte) fallen sollten, daher wurden hier noch im Text entsprechende Klarstellungen vorgenommen.66 Auch bei der Personalauswahl wird der EAD eigene Wege gehen, da die HV direkt die Personalhoheit innehat und auch als Einstellungsbehörde agiert. Dienstrechtlich werden für den EAD weitreichende Sonderregeln bestehen.67
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Prüfbefugnis durch OLAF, siehe Art 5 Abs 5 EAD-Beschluss, Sicherstellung der Haftung gemäß Art 66 Haushaltsordnung, siehe Art 6 Abs 7 letzter Satz EAD-Beschluss. So wird in das Beamtenstatut ein eigener Titel VIIIa eingefügt werden, der Sonderbestimmungen für den EAD enthält. Kommissionsentwurf in Ratsdokument 10912/10.
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C. Personelle Zusammensetzung des EAD und Rolle der von den Mitgliedstaaten entsandten Diplomaten Die Frage der personellen Zusammensetzung erwies sich gerade auf Ratsseite als eine der zentralen Fragen bei der Errichtung des EAD. Dabei wurden verschiedene Teilbereiche diskutiert: Die Rolle und Zahl der nationalen Diplomaten, das Ernennungsverfahren und die Zusammensetzung nach 2013. Zudem war zu klären, welche Personen unter den Begriff „abgeordnetes Personal der nationalen diplomatischen Dienste“ in Art 27 Abs 3 EUV zu subsumieren sind. 1. Rolle und Anteil der nationalen Diplomaten Art 27 Abs 3 EUV gibt nur die drei generellen Quellen des EAD vor, ohne deren Verhältnis untereinander näher zu spezifizieren. Der Ratsbericht von Oktober 2009 formulierte die klare Vorgabe, dass es eine „Gleichberechtigung“ zwischen den einzelnen Gruppen von Bediensteten geben müsse, nicht nur was den Status, sondern auch was die quantitative Vertretung und die Vertretung auf den verschiedenen Ebenen im EAD anbelangt: Mindestens ein Drittel der EAD-Bediensteten im Bereich des höheren Dienstes (dh ADLevel), inklusive an den Delegationen, müsse aus den Mitgliedstaaten kommen.68 Dieses Ziel war im Sinne der Grundphilosophie des EAD konsequent, allerdings gibt es einige praktische Probleme, die eine längere Übergangsfrist notwendig machen. Gemäß Anhang zum EAD-Beschluss werden gewisse Einheiten von Kommission und Ratssekretariat en bloc in den EAD transferiert (Kommission unter anderem: Generaldirektion Relex, Generaldirektion Entwicklung; Ratssekretariat unter anderem: Policy Unit, Generaldirektion E, ESVP-Einrichtungen). Das sind zu Beginn ca 800 AD-Posten. Hinsichtlich der Zusammenführung ergibt sich nun das Problem, dass gemäß EU-Dienstrecht Bedienstete nicht schlechter gestellt werden dürfen.69 Damit sind zwei Probleme vorgegeben: x Die durch Zusammenlegung zweier paralleler Systeme möglichen Synergieeffekte können in Wahrheit nur mit größten Schwierigkeiten lukriert werden. x Auf absehbare Zeit wird es – gerade auf höherer Ebene – kaum Platz für nationale Diplomaten geben (zB waren im Juni 2010 nur 12 Posten unbesetzt!). 68 69
Z 20 des Ratsberichts (Fn 30). Vgl auch Art 7 Abs 1 UAbs 3 EAD-Beschluss.
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Das heißt, dass eine rasche Auffüllung des EAD mit nationalen Diplomaten realistischerweise nur durch die Schaffung neuer Posten möglich wäre. Dies wiederum würde sich kaum mit dem Ziel einer weitmöglichen Budgetneutralität des EAD verbinden lassen.70 Das Problem der Besetzung höherrangiger Posten besteht aber nicht nur auf Grund des eher starren und wohl nicht mehr zeitgemäßen Dienstrechts der EU,71 sondern auch in der Motivation der Mitarbeiter der verschiedenen beteiligten Institutionen. Für Mitarbeiter der Generaldirektion Relex der Kommission, die bislang allein das Personal der Delegationen gestellt haben, sind mit einem Schlag zwei Drittel ihrer Karrieremöglichkeiten weg, da dort nationale Diplomaten und Vertreter des Ratssekretariats hineindrängen. Auch die höheren Positionen müssten im Sinne der Erzielung des Drittels in nächster Zeit an nationale Diplomaten gehen, wobei Beamte aus Ratssekretariat und Kommission das Nachsehen hätten. Daher ist es verständlich, dass die HV hier behutsam vorgehen möchte. Es gibt auch erste Anzeichen dafür, dass einige Kommissions- und Ratssekretariatsmitarbeiter unter diesen Umständen lieber vorher noch in andere Generaldirektionen wechseln. Die Mitgliedstaaten haben diese praktischen Probleme anerkannt, verweisen aber zu Recht auf die Grundphilosophie des EAD als Einrichtung der Institutionen und der Mitgliedstaaten. Als Ziel wurde daher lediglich vorgegeben, das Drittel der Mitgliedstaaten bis 1. Juli 2013 zu erreichen. Die Mitgliedstaaten, va die oben bereits genannte Gruppe von 10 Mitgliedstaaten („G-10“), als deren Sprecher Österreich agierte, hat dabei vor allem mit der „ownership“ argumentiert: Die Mitgliedstaaten würden sich dann viel leichter mit einer Koordinierungsfunktion des EAD und der Delegationen anfreunden, wenn sie das Gefühl haben, dort entsprechend vertreten zu sein. Auf Aufforderung des Rates bei seiner Sitzung am 24. April 2010 hat daher die HV Anfang Juni einen Plan vorgelegt, der die Erreichung des Drittelziels ermöglichen soll. Darin wird va auf eine Konversion von SNE-Posten in permanente Dienstposten verwiesen und die Möglichkeit vorgeschlagen, eine Reihe von neuen Posten (ca 200) zu schaffen, die va an nationale Diplomaten gehen sollten. Klar ist in jedem Fall, dass von den
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Vgl Z 27 des Ratsberichts (Fn 30). Im BDG wurde demgegenüber die Möglichkeit eingeführt, höhere Funktionen nur mehr auf Zeit zu besetzen, siehe § 141 BDG.
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Mitgliedstaaten abgestellte nationale Experten (SNE), nicht auf den Mitgliedstaatenanteil angerechnet werden.72 Bei den Delegationen ist das Auffüllen durch nationale Diplomaten einfacher, da dort das Rotationsprinzip herrscht. Daher wurden 2010 schon 31 Delegationsleiterposten und 81 Zugeteiltenposten ausgeschrieben, für die sich auch nationale Diplomaten beworben haben bzw bewerben und für die sie zum Zug kommen sollten. Beim Europäischen Parlament herrschten völlig anders gelagerte Befürchtungen vor. Dort sorgte man sich um die Wahrung des „Gemeinschaftscharakters“ des EAD und fürchtete einen zu hohen Anteil von nationalen Diplomaten im EAD. Deshalb verlangte das Parlament, dass zusätzlich ein Erwägungsgrund aufgenommen wird, der den EAD-Bediensteten vorschreibt, sich nur von den Interessen der Union leiten zu lassen.73 Zudem wurde in Art 6 Abs 9 EAD-Beschluss aufgenommen, dass mindestens 60 % des EAD-Personals auf AD-Ebene EU-Beamte sein müssten. Um den endgültigen Wechsel von nationalen Diplomaten in den EAD als permanente EUBedienstete zu erleichtern, forderte das Parlament entsprechende Bestimmungen im Personalstatut.74 2. Ernennungsverfahren Bei der Ernennung von zukünftigen EAD-Mitarbeitern zeigt sich die delikate Zusammensetzung aus drei Quellen, denn jede der „Quellen“ möchte eine Mitsprache bei der Auswahl haben, gleichzeitig soll der Spielraum der HV aber auch nicht zu weit eingeengt werden. Grundsätzlich gilt die Regel, dass Kommission, Ratssekretariat und Mitgliedstaaten in die Auswahl einzubeziehen sind (Art 6 Abs 8 letzter Satz). Hinsichtlich der Auswahlkriterien herrschte die Meinung vor, dass die Qualifikation ausschlaggebend sein sollte,
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Dies ergibt sich daraus, dass sich die Drittelvorschrift in Art 6 Abs 9 erster Satz nur auf die in Art 6 Abs 2 UAbs 1 genannten Bediensteten aus den Mitgliedstaaten bezieht, während die SNE in Art 6 Abs 3 angeführt sind. EG 9 EAD-Beschluss. Damit soll diesem Prinzip, das sich ohnehin in Art 9 Abs 4 EAD-Beschluss befindet, politisch stärker abgesichert werden. Dahinter steht die Überlegung, dass nationale Diplomaten mit Aussicht auf eine permanente Anstellung beim EAD eher die Unionsinteressen in den Vordergrund stellen.
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nationale Quoten wurden zwar va von den 2004 und später beigetretenen Mitgliedstaaten angedacht, aber dann doch nicht vorgesehen. Wohl soll gemäß Art 6 Abs 8 eine geographische und Gender-Ausgewogenheit erzielt werden und eine „bedeutsame Präsenz“ aller Mitgliedstaaten erreicht werden. Wie die Auswahl von Personal erfolgen soll, erläuterte die HV in einer Erklärung, die im politischen Paket zur EAD-Einigung enthalten ist.75 Gemäß dem in der Erklärung entworfenen Modell, sollen alle drei Quellen bei der Personalauswahl involviert sein. Dies erfolgt durch die Bestellung eines „Beratenden Ausschusses für Ernennungen“ (Consultative Committee on Appointment, CCA) in dem Vertreter der Mitgliedstaaten, der Kommission, des Ratssekretariats und des EAD vertreten sind. Dieser Ausschuss stellt den Auswahlausschuss für Ernennungen von hochrangigem Personal zusammen (dh ab Direktoren und Delegationsleiterebene). Der CCA „begleitet“ ferner die Auswahl von Personal unter der Direktorenebene, va hinsichtlich der geographischen Ausgewogenheit und der Ausgewogenheit im Geschlechterverhältnis. Bei der Auswahl der Delegationsleiter hat die Kommission ursprünglich auf einem Vetorecht bestanden, da die Delegationsleiter auch Verantwortung für die Verwaltung von Finanzierungsprogrammen übernehmen sollen und andere Kommissionskompetenzen ausführen. Der Rat war jedoch dagegen, daher erfolgt die Auswahl der Delegationsleiter auch durch den CCA, allerdings wird die Auswahl auf Grundlage einer Liste von Bewerbern erfolgen, die nach Meinung der Kommission in der Lage sind, Haushaltsführungsaufgaben wahrzunehmen, dh de facto wird es der Kommission möglich sein, hier bereits eine Vorausauswahl zu treffen. 3. Quellen nach 2013 Die Zusammenführung bestehender Strukturen und die Einführung eines neuen Elements in diese bedingt, dass der EAD nicht über Nacht errichtet werden kann. Daher wurde eingeplant, dass der Zeitraum bis 2013 eine Übergangsphase sein wird: Es wird eine gewisse Zeit lang die Wertigkeit der Posten nicht unbedingt mit den Wertigkeiten der diese Posten besetzenden Personen übereinstimmen (bei EU-Personal); bei der Neubesetzung von Posten muss es bis zur Erreichung des Drittelanteils einen gewissen Vorrang für nationale Diplomaten geben. Art 27 Abs 3 EUV legt zwar dar, wo75
Ratsdokument 12401/10 ADD 2.
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her die ersten Bediensteten des EAD kommen müssen, er trifft aber keine längerfristigere Aussage: So wird es kaum realistisch sein, dass zukünftige EAD-Mitarbeiter, wenn sie nicht dem Mitgliedstaatendrittel zuzurechnen sind, vorher Bedienstete des Ratssekretariats und der Kommission gewesen sein müssen, da die einschlägigen Einheiten ja in den EAD transferiert wurden und daher zukünftige Kommissions- und Ratssekretariatsmitarbeiter eben gerade wenig einschlägige Erfahrung im außenpolitischen Bereich haben. Der Anteil der nationalen Diplomaten wird somit langfristig zunehmen. Europäisches Parlament und Kommission haben daher vehement gefordert, dass der Zugang zum EAD nach der der Regelung des Art 27 Abs 3 EUV zugrundeliegenden Übergangsphase für alle EU-Bediensteten (dh auch Parlament, Agenturen usw) geöffnet werden sollte. Die Kommission unterstützte dies mit dem Argument, dass dies aufgrund der bereits bestehenden interinstitutionellen Mobilität ohnehin möglich sei. Ein Parlamentsbeamter könne über den Umweg eines Transfers zur Kommission als Kommissionsbeamter in den EAD. Die Mitgliedstaaten hingegen zeigten sich zu Beginn skeptisch, akzeptierten aber die Argumentation, dass die längerfristige Zusammensetzung im Vertrag schlichtweg nicht geregelt worden war. Daher spricht Art 6 Abs 2 nur sehr allgemein von „Beamten und sonstige(n) Bedienstete(n) der Europäischen Union“. In Art 98 Abs 1 UAbs 2 des Personalstatuts soll vorgesehen werden, dass sich ab 1. Juli 2013 sämtliche EU-Bedienstete bewerben können. EU-Bedienstete verbleiben als permanente Mitarbeiter im EAD, während nationale Diplomaten gemäß Art 6 Abs 11 maximal 10 Jahre verbleiben können. Diese Lösung entspricht Art 27 Abs 3 EUV, wo nur bei den nationalen Diplomaten von „abgeordnet“ die Rede ist. 4. Auslegung des Begriffs „Personal der nationalen diplomatischen Dienste“ Für die Mitgliedstaaten stellt sich in der Folge die Frage, wer als nationaler EAD-Bediensteter abgestellt werden kann. Art 27 Abs 3 EUV spricht von Angehörigen der „nationalen diplomatischen Dienste“. Das heißt, dass potenzielle temporäre Mitarbeiter des EAD Mitglieder der entsprechenden Dienste sein müssen, bevor sie zum EAD entsandt werden. Wer Mitglied eines nationalen diplomatischen Dienstes ist, wird im Vertrag aus naheliegenden Gründen nicht definiert. Die nationale Außenpolitik sowie die Gestaltung der öffentlichen Dienste verbleiben weiterhin in der Kompetenz der
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Mitgliedstaaten, 76 insbesondere dann, wenn hoheitliche Aufgaben wahrzunehmen sind. Da die diplomatischen Dienste unzweifelhaft hoheitliche Aufgaben wahrnehmen, ist das Unionsrecht auf sie nur äußerst beschränkt anwendbar. Insbesondere ist es nicht auf die Zugangsverfahren anwendbar. Daher ist der Begriff „nationaler diplomatischer Dienst“ von jedem Mitgliedstaat nach seinem nationalen Recht auszulegen. Dies wird vom EAD und der Kommission auch anerkannt, da Bewerber für eine Funktion im EAD einen „Nachweis ihrer Beschäftigung in einem nationalen diplomatischen Dienst“ vorlegen müssen. Das heißt, die jeweiligen nationalen Behörden müssen prüfen, ob nach nationalem Recht jemand als Angehöriger des nationalen diplomatischen Dienstes angesehen wird. In Österreich wird der diplomatische Dienst im „Bundesgesetz über Aufgaben und Organisation des auswärtigen Dienstes – Statut“, BGBl I Nr 129/1999 idgF, geregelt, das den Begriff „auswärtiger Dienst“ wählt, da er einen größeren Anwendungsbereich als der Begriff „diplomatischer Dienst“ hat (als „diplomatischer Dienst“ im engeren Sinne gelten nur die Angehörigen der Verwendungsgruppen A/v1). Personal des auswärtigen Dienstes muss dabei das Auswahlverfahren gemäß § 13 Statut absolviert haben.77 Nur dann gelten Personen als „Angehörige des auswärtigen Dienstes“ im Sinne der österreichischen Rechtsordnung und damit als „Personal der nationalen diplomatischen Dienste“ iSd Art 27 Abs 3 EUV. Dabei kann auch nicht auf eine mögliche vorübergehende Verwendung als Bundesbediensteter an einer diplomatischen Vertretungsbehörde (zB Polizeiattachés), abgestellt werden, da derartige Bedienstete zwar vorübergehend diplomatischen Status haben, aber eben nicht Mitglied des diplomatische Dienstes gemäß Statut sind. Daher ist eine Entsendung von Bediensteten anderer Bundesministerien an den EAD rechtlich ausgeschlossen.
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Vgl den Ausschluss der Arbeitnehmerfreizügigkeit bei den öffentlichen Diensten in Art 45 Abs 2 AEUV. Sogenanntes „examen préalable“, vgl Verordnung der Bundesministerin für europäische und internationale Angelegenheiten über das kommissionelle Auswahlverfahren zur Eignungsfeststellung für die Verwendung im auswärtigen Dienst („Préalable“) des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten, BGBl II Nr 246/2007.
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D. Vertretung der EU bei internationalen Organisationen Die EU Delegationen nehmen gemäß Art 221 Abs 1 AEUV den lokalen Vorsitz in Drittstaaten und bei internationalen Organisationen wahr. Damit ist allerdings nur der Übergang vom rotierenden Ratsvorsitz auf die EU-Delegation erfasst, aber keine inhaltlichen Unterschiede in der Qualität der Vorsitzführung. Dennoch haben erste Erfahrungen gezeigt, dass manche Delegationen dazu tendieren, Vorsitz mit Vertretung zu verwechseln und manchmal wenig Lust zeigen, sich mit den Mitgliedstaaten abzusprechen. Hier müssen sich die Abläufe einspielen und viel wird vom Auftreten der jeweiligen Delegationen und ihrer Leiter abhängen, welchen Spielraum die EU-Delegation vor Ort bekommt. Gerade bei multilateralen Vertretungen muss auf die lokalen Gegebenheiten besonders Rücksicht genommen werden, da sich das Agieren der Delegationen als Vorsitz nicht nur nach diplomatischem Protokoll richtet, sondern vor allem nach den Verfahrensvorschriften der betreffenden Organisation. Gerade die politischen internationalen Organisationen sind im Regelfall nur für Staaten offen und aus diesem Grunde kann es hier manchmal praktische Probleme geben. Zwei Fälle sind in diesem Zusammenhang besonders interessant: die VN-Standorte New York und Genf. Bei der Frage der Vertretung der EU in den Diskussionen der Generalversammlung stellt sich das Problem, dass die EU (bis 1. Dezember 2009 die EG) Beobachterstatus bei den VN genießt, in der Generalversammlung Beobachter gemäß ständiger Praxis allerdings erst nach allen Mitgliedstaaten sprechen dürfen. Zudem ist es ständige Praxis, dass sog „Gruppenstatements“ (dh im Namen der EU, OIC, NAM etc) von Mitgliedstaaten auf Wunsch an den Beginn der Rednerliste vorgezogen werden. Das heißt, während früher die rotierende Präsidentschaft in ihrer Eigenschaft als VN-Mitglied relativ früh auf der Rednerliste erscheinen konnte, dürfte die EU nun erst zwischen dem Heiligen Stuhl und der palästinensischen Vertretung das Wort ergreifen. Dies würde aber nicht den durch den Vertrag von Lissabon gewünschten Effekt erzielen, der ganzen Welt zu zeigen, dass die EU geeint im internationalen Rahmen auftritt und ein globaler Player auf der Weltbühne sein will. Es soll daher erreicht werden, dass die EU – wie vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, als noch der rotierende Vorsitz für sie sprach – relativ zu Beginn einer Generalversammlungsdebatte sprechen kann. Dazu wurden seit Jänner 2010 Konsultationen in New
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York abgehalten, wobei das größte Problem zu sein scheint, dass andere Regionalorganisationen ein ähnliches Recht für sich verlangen. Am 14. September 2010 kam ein Resolutionsentwurf78 zur Abstimmung, der vorsah, dass Vertreter der EU an der Generalversammlung „effektiv teilnehmen“ können und daher „in a timely manner“ wie generell große regionale Gruppen unter anderem das Rederecht bekommen sollten. 79 Dies sollte es ermöglichen, ohne Änderung der Satzung der VN oder der Geschäftsordnung der Generalversammlung, der EU-Delegation die gleichen Mitwirkungsmöglichkeiten wie den VN-Mitgliedstaaten, die Gruppenstatements abgeben, einzuräumen.80 Der Entwurf fand allerdings keine Mehrheit, sondern es wurde beschlossen, die Angelegenheit auf die 65. Session der VN-Generalversammlung (die am 15. September 2010 begann) zu verschieben. In Genf besteht das Problem der Unterschiedlichkeit der internationalen Organisationen. Zum einen gibt es eine Vielzahl von VN-Einheiten (Menschenrechtsbereich, diverse Sonderorganisationen usw) und zum anderen die WTO. Während ein großer Teil der VN-Aktivitäten in Genf unter die GASP fällt, ist die EU gegenüber der WTO allein außenvertretungsbefugt (auf Grund der ausschließlichen Zuständigkeit der Union gemäß Art 3 AEUV für Handelspolitik). Damit ergeben sich auch unterschiedliche Weisungsstränge und eine unterschiedliche Rolle der Kommissionsvertreter an der Delegation. Daher wurde die Delegation gespalten: eine EU-Delegation gegenüber der WTO, und eine EU-Delegation gegenüber den VN. Beide verbleiben allerdings Teil des EAD. Diese Lösung entspricht der langjährigen Tradition der EU-Vertretung in Wien, auch dort gibt es eine Delegation für die Organisationen der VN-Familie und eine Delegation für die OSZE.
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A/64/L.67. Die Rechte des Heiligen Stuhls und der palästinensischen Vertretung sind ebenfalls in eigenen Resolutionen der Generalversammlung geregelt, siehe Resolutionen 52/250 und 58/314. Damit würde die EU zwei Etappen in einem nehmen: Schritt 1 ist die Gleichstellung auf der Rednerliste einer Beobachter-Organisation (EU) mit anderen VN-Mitgliedstaaten, Schritt 2 ist die Anwendung der Regel des Vorrangs der Gruppenstatements auf die EU. Ich danke für diesen Hinweis Konrad Bühler, Gesandten an der Ständigen Vertretung Österreichs bei den VN in New York.
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Problematisch ist die Frage, wer die interne EU-Koordinierung übernimmt. Das tritt va in Genf zutage, wo im VN-Bereich nicht nur die GASP, sondern auch viele unions- und mitgliedstaatliche Kompetenzen abgedeckt werden: Arbeitnehmerschutz, Gesundheit, humanitäre Hilfe und ähnliches. Hier wurde formell bis jetzt keine Lösung gefunden, da sich manche Mitgliedstaaten weigern, die EU Delegation die interne Koordinierung bei nicht-EU Kompetenzen übernehmen zu lassen und verlangen, dass diese weiterhin von der rotierenden Präsidentschaft wahrgenommen werden muss. E. Programmierung der Außeninstrumente Es gibt eine Reihe von Finanzierungsinstrumenten in den Außenbeziehungen (Nachbarschaftsinstrument, Menschrechte- und Demokratieförderungsinstrument, Entwicklungszusammenarbeit, Stabilitätsinstrument usw),81 die angesichts der involvierten Summen eine erhebliche Auswirkung auf die Außenbeziehungen der Union und vor allem auch auf die Wahrnehmung der Union durch Drittstaaten und internationale Organisationen haben. Die Festlegung der Programme und Projektauswahl erfolgen dabei mit den Mitgliedstaaten im Komitologieverfahren. 82 Auch eine informelle Einbindung des Europäischen Parlaments wird vorgenommen. Angesichts der außenpolitischen Bedeutung kam rasch der Wunsch auf, der EAD sollte bei der strategischen Ausrichtung der Finanzierungsprogramme eine Rolle spielen, gerade auch vor dem Hintergrund der Funktion der HV als Vizepräsidentin der Kommission (Kohärenzgebot!). Man stelle sich nur vor, die Kommission finanziert Projekte in Staaten, die von EAD und HV als politisch schwierige Partner eingestuft werden und finanziert Projekte nicht in Ländern, die von HV und EAD als Schwerpunktländer identifiziert und behandelt werden. Deshalb wurde schon im Ratsbericht vom Oktober 2009 eingemahnt, dass der EAD bei der Planung der Außenhilfsinstrumente eine Rolle spielen müsse.83 Die Kommission war zu Beginn eher skeptisch, da die Durchführung von Unionsprogrammen
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Siehe die Liste in Art 9 Abs 2 EAD-Beschluss. In der Regel gilt für das Jahresprogramm das Verwaltungsverfahren (Art 4 Komitologiebeschluss 1999/468/EG, ABl 1999 L 184/23 idF Beschluss 2006/512/EG, ABl 2006 L 200/11) und für die Projektauswahl das Beratungsverfahren (Art 3 Komitologiebeschluss). Z 9 Ratsdokument (Fn 30).
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in der Verantwortung der Kommission erfolgt.84 Nunmehr ist in Art 9 Abs 3 vorgesehen, dass der EAD relevante Kommissionsentscheidungen vorbereiten soll. Die Vorlage an die Kommission erfolgt dann gemeinsam durch die HV und den inhaltlich zuständigen Kommissar (Art 9 Abs 4). Während eine solche Lösung nach der alten Rechtslage (Art 202 EGV) nicht möglich gewesen wäre,85 ist nun mit der neuen Rechtslage nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon (Art 291 AEUV, Erlass von Durchführungsrechtsakten) grundsätzlich eine Rolle des EAD in von der Kommission verwalteten Programmen möglich. Diese Möglichkeit müsste aber explizit in die gemäß Art 291 Abs 3 AEUV zu verhandelnde neue Komitologie-Verordnung aufgenommen werden.86 F. Vertretung der HV Ein grundsätzliches Problem ist die Frage der Vertretung der HV. Auf Grund der Fülle der Aufgaben ist klar, dass das Aufgabenfeld für eine Person manchmal zu groß sein kann. Deshalb wurde schon im Falle der Vorsitzführung im Rat auswärtige Angelegenheiten die Möglichkeit der Vertretung durch den Außenminister des rotierenden Ratsvorsitzes vorgesehen.87 Im Entwurf des EAD-Beschlusses war nur ein Generalsekretär des EAD vorgesehen, dem va der interne Dienstbetrieb obliegt, der aber nach Vorstellung des Rates auch die Vertretung der HV gegenüber dem Europäischen Parlament wahrnehmen könnte. Das Europäische Parlament, das ja (nur) 84
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Auch die Frage der konkreten Mittelausschüttung vor Ort wurde diskutiert, da die Kommission weiterhin nur Kommissionsmitarbeiter damit befasst sehen will, während der Delegationsleiter aber auch eine Mitsprache haben sollte. Wie schnell wird ein Drittstaat realisieren, dass der Delegationsleiter zwar der nominelle Vorgesetzte ist, der Kommissionsmitarbeiter aber auf der Geldtasche sitzt; vgl dazu auch Fischer, Der Europäische Auswärtige Dienst (Fn 15) 3. Das ist weder für die Kohärenz noch für delegationsinterne Atmosphäre besonders förderlich. Zu der gefundenen Lösung, siehe Pkt V. vorstehend auf S 290. Gemäß Art 202 EGV konnte der Rat Durchführungsbefugnisse an die Kommission übertragen oder sie sich selbst vorbehalten. Von einer weiteren Gemeinschaftsinstitution, wie es nun der EAD wäre, war im Art 202 EGV nicht die Rede. Die Verhandlungen sind noch im Gange und sollten unter belgischem Ratsvorsitz noch 2010 abgeschlossen werden können. Siehe Pkt III.C. vorstehend auf S 279.
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eine beschränkte politische Kontrolle ausüben kann, bestand jedoch auf einer politischen Vertretung, va bei Debatten im Parlament. Eine formelle Vertretungsregelung gerade für Kontakte mit dem Parlament wurde jedoch von Rat und auch der HV abgelehnt. Die HV hat allerdings eine Erklärung über politische Verantwortlichkeit formuliert, die wie die anderen bereits genannten Erklärungen Teil des politischen Pakets des EAD-Beschlusses bildet. 88 Gemäß Z 6 der Erklärung wird sich die HV, wenn sie nicht persönlich an einer Aussprache im Parlament teilnehmen kann, entweder vom Außenminister des rotierenden Ratsvorsitzes (oder eines anderen Landes der Triopräsidentschaft), wenn die Angelegenheit in den Bereich der GASP fällt, oder vom zuständigen Kommissar, wenn die Angelegenheit in den Bereich der internen Politiken der EU fällt, vertreten lassen. Diese pragmatische Vorgangsweise wurde von den Mitgliedstaaten darunter auch Österreich, ausdrücklich begrüßt. Offen ist noch eine generelle Regelung für Drittstaatentreffen, die bislang ad hoc zwischen den jeweiligen rotierenden Präsidentschaft und der HV getroffen wurde. G. Rolle des Europäischen Parlaments Wie in den einzelnen Punkten erwähnt, wurde das Europäische Parlament va über den Hebel der Rechtsakte, die im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren anzunehmen sind,89 ein wichtiger Akteur in den Verhandlungen über die Errichtung des EAD. Etlichen Forderungen wurde entsprochen, bei manchen war dies nicht möglich oder tunlich. Wie erwähnt, kamen der Rat und die HV dem Parlament zum Beispiel in Fragen der Haftung, der Zusammenarbeit mit OLAF, der Öffnung des EAD für alle EU-Bedienstete und der politischen Vertretung der HV entgegen. Auch ist in Erwägungsgrund 6 vorgesehen, dass es spezielle Regelungen über den Zugang des Europäischen Parlaments zu klassifizierten Dokumenten geben soll; bis dahin gilt die interinstitutionelle Vereinbarung über den Zugang des Parlaments zu GASP-Verschlusssachen.90 Trotz allem Verständnis für parlamentarische Kontrolle ist bei der inhaltlichen Arbeit doch deutlich zwischen Exekutive und Legislative zu tren88 89 90
Daher ist sie auch der Entschließung des Parlaments zum EAD als Anhang beigefügt (Fn 32). Personalstatut, Haushaltsordnung und Budget, siehe Pkt IV.C.2. vorstehend auf S 287. ABl 2002 C 298/1.
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nen. So konnte sich das Europäische Parlament mit einigen Forderungen nicht durchsetzen: Zum einen wurde zu Beginn gefordert, dass auch Parlamentsbeamte eigene Abteilungen an wichtigen Delegationen einrichten sollten, die so als Außendienst des Parlaments tätig werden würden.91 Weiters wurde die Forderung erhoben, dass Parlamentsvertreter stets Teil der Unionsdelegationen bei internationalen Konferenzen und Vertragsverhandlungen sind, etwas was international wohl einzigartig wäre. Auch mit einer letzten Forderung konnte sich das Parlament nicht durchsetzen: Es verlangte, inspiriert vom US-Senat, dass zukünftige Delegationsleiter sich einem Hearing im Parlament stellen müssten und diese dann vom Parlament bestätigt werden müssten. Das vom Europäischen Parlament herangezogene Argument, der US-Senat habe dieses Recht, wurde damit entkräftet, dass die US-Verfassung dieses Recht der Mitwirkung bei der Ernennung von Botschaftern explizit vorsehe,92 die „EU-Verfassung“ (dh die Verträge) aber eben nicht. Dennoch sagte die HV in ihrer Erklärung zur politischen Verantwortlichkeit zu, dass ernannte Delegationsleiter vor ihrem Amtsantritt im außenpolitischen Ausschuss des Parlaments (AFET) Fragen der Abgeordneten beantworten würden.93 Wenn auch einige Forderungen nicht durchgesetzt werden konnten, konnte sich das Europäische Parlament doch eine effektive Kontrollfunktion erkämpfen und zudem manche Wünsche einiger Mitgliedstaaten nach zu starker Renationalisierung der GASP im Wege des EAD neutralisieren und dafür sorgen, dass die „Gemeinschaftsmethode“ beim EAD erhalten bleibt.
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Dem Vernehmen nach plant das Europäische Parlament nun eigene Auslandsvertretungen, nachdem man sich mit der Forderung nach eigenen Abteilungen an den Delegationen nicht durchgesetzt hat. Dies würde jedoch dem Kohärenzgedanken und der Sparsamkeit in der Verwaltung so eklatant widersprechen, dass ein solches Vorhaben nur schwer vorstellbar erscheint. Art II Abschnitt 2 der US-Verfassung: Der Präsident „shall nominate, and by and with the Advice and Consent of the Senate, shall appoint Ambassadors, other public Ministers and Consuls“. Z 5 Anhang zur Resolution des Parlaments (Fn 49).
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VII. Rolle des EAD in der zukünftigen Außenvertretung der Union Der EAD soll zwei wichtige Aufgaben in der Außenpolitik erfüllen, er soll für Kohärenz sorgen und gleichzeitig die Effektivität der EU-Außenpolitik erhöhen. Für beide Punkte gibt es allenfalls gewisse Anzeichen, zumindest wurden die Instrumente dafür geschaffen. Sichere Aussagen können aber wohl erst nach einiger Zeit getroffen werden. Deshalb sieht der EAD-Beschluss in Art 13 Abs 3 eine Überprüfung Mitte 2013 vor, die zu einer Änderung des Beschlusses bis Anfang 2014 führen könnte. Dennoch erscheinen erste Einschätzungen bereits zum jetzigen Zeitpunkt (August 2010) gerechtfertigt. A. Kohärenz Die technische Zusammenlegung von Einheiten und ein neues Organigramm führen nicht notwendigerweise zu mehr Kohärenz. Noch viel weniger natürlich unverbindliche Zielbestimmungen in Vertragsbestimmungen. Allerdings darf man hier den Faktor Mensch nicht unterschätzen. Es kann durchaus behauptet werden, dass das Zusammenschweißen verschiedener Dienste in gewisser Weise zu mehr Kohärenz führt. Schon jetzt zeigt sich eine deutlich intensivere Zusammenarbeit zwischen der Generaldirektion Relex der Kommission und dem Ratssekretariat. Das Hinein- und Hinausrotieren von nationalen Diplomaten wird einerseits die ownership für die GASP und die europäische Sache allgemein in den Außenministerien der Mitgliedstaaten stärken, andererseits aber auch den früheren Bediensteten der Kommission helfen, manche institutionelle Scheuklappen abzulegen. Dh schon auf Grund dieser menschlichen Durchmischung dürfte ein positiver Effekt zu erwarten sein. Es bleibt zu hoffen, dass sich dies auch auf die Bereiche auswirkt, in denen institutionelle Interessen dazukommen, wie zum Beispiel der Bereich der Außenhilfeinstrumente, wo EAD und Kommission zusammenarbeiten werden. Auch auf der politischen Ebene ist Kohärenz erzielbar, wenn die Akteure klug vorgehen. Zwar haben Spanien, Belgien und Ungarn in ihrem Triopräsidentschaftsprogramm 11 Seiten der GASP gewidmet, allerdings noch ohne vorherige Abstimmung mit der HV. Hier wird es auf zukünftige Triopräsidentschaften ankommen, die
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HV im Vorfeld besser einzubinden.94 In der jetzigen Triopräsidentschaft wird es allerdings der HV auch möglich sein, Initiativen zu setzen, ohne der Triopräsidentschaft zu widersprechen. Auch die pragmatischen Absprachen zwischen HV und rotierendem Ratsvorsitz betreffend die Wahrnehmung der Vorsitzfunktion bei Drittstaatentreffen deuten an, dass alle Seiten bemüht sind, die Kohärenz auf politischer Ebene Wirklichkeit werden zu lassen. Die wichtigsten Schritte in Richtung höhere Kohärenz sind zweifellos die Einführung des Doppelhutcharakters für die HV und die Zusammenlegung von EG und EU durch den Vertrag von Lissabon. B. Effektivität Bleibt die Frage, wie effektiv der EAD und die neue Rolle der HV im täglichen politischen Leben sein werden. Der EAD und die HV müssen den diffizilen Ausgleich zwischen Mitgliedstaatsinteressen und Unionsinteressen schaffen. Hier ist zu beachten, dass das Problem auf EU-Ebene ja nicht die Vertretung vor Ort, oder der Informationsfluss oä ist, sondern die Frage einer gemeinsamen Position. Bei vielen Themen mag es zielführend sein, die Abstimmung der EU-Position auf lokaler Ebene durchzuführen. Bei gewichtigeren Entscheidungen können die EU-Delegationen allerdings nur Positionen vertreten, die vorher in Brüssel abgestimmt wurden. In der Außenwirkung hängt der impact des EAD daher stark von Brüssel ab, und zwar in zweierlei Hinsicht: Wie weit sind Brüssel (und die Hauptstädte) bereit, den Delegationen und nationalen Botschaften vor Ort einen gewissen Spielraum einzuräumen? Und: Wie effizient erfolgt die Koordination in Brüssel bei der Formulierung gemeinsamer Positionen? Eine starke EAD-Rolle in Brüssel 95 mag hier zwar helfen, aber die Notwendigkeit, 27 Mitgliedstaaten auf einen Nenner zu bringen, bleibt. Hier gibt es immer wieder ernüchternde Erlebnisse (zB konnte sich die EU nicht auf eine Position hinsichtlich der Teilnahme der Angelobung des sudanesischen Präsidenten al-Bashir einigen). Wenn es nicht gelingt, gemeinsame Positionen zu entwickeln, wird auch der EAD nicht sehr effektiv sein 94
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Was für die derzeit im Amt befindliche Triopräsidentschaft kaum möglich war, da Ashton erst im November 2009 ernannt wurde und die Programme für Triopräsidentschaften im Regelfall ein Monat vor Beginn schon festgelegt sind. Vorsitz im Rat, Vorsitz im Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee und in diversen geographischen Arbeitsgruppen usw.
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können. Zudem muss der EAD samt den Delegationen eine gewisse Zurückhaltung üben. Gehen sie zu forsch vor und stimmen sie sich nicht genug mit dem Mitgliedstaaten ab, verliert er unter Umständen die Loyalität der Mitgliedstaaten (Stichwort „ownership“) und letztere werden weniger bereit sein, dem EAD, der HV und den EU-Delegationen eine gewisse Rolle zu überlassen. Erfolgt dann eine bewusste Parallelaktion einzelner Mitgliedstaaten, die nicht mit HV oder EAD abgestimmt ist, wäre dies wohl nicht im Sinne der Vertragsväter. VIII. Schluss Wie zu sehen ist, sind noch viele Fragen offen. Manche Bereiche sind noch gar nicht geregelt (zB Berichtslegung, Sprachenfrage, Rückwirkung auf nationale Karrieren, langfristige Personalzusammensetzung usw). Es kommt nicht oft vor, dass Einheiten aus verschiedenen Institutionen verschmelzen. Wer die Liebe vieler EUBeteiligter für institutionelle Fragen und die enorme Wichtigkeit, die gerade Kommission und Parlament ihrer institutionellen Stellung zumessen, kennt, wird wissen, was die Errichtung einer interinstitutionellen EAD bedeutet. Schon die Tatsache, dass der EAD errichtet wird, ist daher ein großer Erfolg, was immer dann herauskommt. Auch wenn manche hohe Erwartungen vielleicht zu Beginn enttäuscht werden: die Geschichte der europäischen Integration zeigt, dass institutionelle Verschiebungen langfristig auch zu politischen Änderungen führen können.
Thomas Kröll
Rechtsetzungsverfahren und Rechtsakte I. Einleitung und Themeneingrenzung
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II. Wahl der Rechtsgrundlage im Rechtsetzungsverfahren
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III. Delegierte Rechtsetzung und Durchführungsrechtsetzung
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A. Delegierte Rechtsakte
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B.
Durchführungsrechtsakte
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IV. Abschließende Bemerkungen
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I. Einleitung und Themeneingrenzung In Anbetracht der Weite des Themenbereiches „Rechtsetzungsverfahren und Rechtsakte“ im Rahmen des Vertrages von Lissabon und seiner Implementierung beschränkt sich der vorliegende Beitrag auf zwei Themen: Zum einen auf die Wahl der Rechtsgrundlage im Rechtsetzungsverfahren, also sowohl im ordentlichen und in den besonderen Gesetzgebungsverfahren, als auch in den sonstigen Rechtsetzungsverfahren; zum anderen mit delegierten Rechtsakten und Durchführungsrechtsakten sowie deren Erlassung. II. Wahl der Rechtsgrundlage im Rechtsetzungsverfahren Der am 1. Dezember 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon1 hat eine formelle Unterscheidung von Gesetzgebungsakten und sonstigen Rechtsakten eingeführt. Gemäß Art 289 Abs 3 AEUV sind „Rechtsakte, die gemäß einem Gesetzgebungsverfahren angenommen werden, … Gesetzgebungsakte“. Im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, dem Regelverfahren nach dem Vertrag von Lissabon, erlassen nach Art 289 Abs 1 AEUV das Europäische Parlament und der Rat auf Vorschlag der Kommission gemeinsam Gesetzgebungsakte. In bestimmten, in den Verträgen vorgesehenen 1
ABl 2007 C 306/1, berichtigt durch ABl 2009 C 290/1. Konsolidierte Fassung ABl 2008 C 115 und ABl 2010 C 83.
T. Eilmansberger et al. (eds.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon © Springer-Verlag Wien 2011
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Fällen werden nach Art 289 Abs 2 AEUV in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren der Rat mit Beteiligung des Europäischen Parlaments oder das Europäische Parlament mit Beteiligung des Rates als Gesetzgeber tätig. Am 29. Mai 2010 wurde die Verordnung (EU) Nr 439/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Errichtung eines Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen im Amtsblatt der Europäischen Union kundgemacht.2 Ausweislich ihrer Präambel wurde diese Verordnung, gestützt auf die Art 74 und Art 78 Abs 1 und 2 AEUV, im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen: „DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION – gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 74 und Artikel 78 Absätze 1 und 2, auf Vorschlag der Europäischen Kommission, gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren …, in Erwägung nachstehender Gründe …“. Nach Art 78 Abs 2 AEUV erlassen das Europäische Parlament und der Rat gemeinsam gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen in Bezug auf das in Art 78 Abs 1 AEUV genannte gemeinsame europäische Asylsystem zur Entwicklung einer gemeinsamen Politik „im Bereich Asyl, subsidiärer und vorübergehender Schutz, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Schutz geboten wird“. Im Gegensatz zu Art 78 AEUV betreffend die gemeinsame Asylpolitik sieht Art 74 AEUV3 aber kein ordentliches Gesetzgebungsverfahren, sondern nur ein Rechtsetzungsverfahren vor. Um die Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Dienststellen der Mitgliedstaaten und in den Bereichen des Titels V (Der Raum der 2
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VO (EU) Nr 439/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.5.2010 zur Errichtung eines Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, ABl 2010 L 132/11. Vgl Art 1 Protokoll Nr 35 zu Art 67 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (2001), dem zufolge der Rat ab dem 1.5. 2004 beim Erlass der Maßnahmen nach Art 66 EGV mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments beschließt, ABl 2006 C 321 E/317; und EG 5 Beschluss 2004/927 des Rates vom 22.12.2004 über die Anwendung des Verfahrens des Artikels 251 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft auf bestimmte Bereiche, die unter Titel IV des Dritten Teils dieses Vertrages fallen, ABl 2004 L 396/45.
Rechtsetzungsverfahren und Rechtsakte
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Freiheit, der Sicherheit und des Rechts) des Dritten Teils des AEU-Vertrages sowie die Zusammenarbeit zwischen diesen Dienststellen und der Kommission zu gewährleisten, erlässt der Rat Maßnahmen auf Vorschlag der Kommission vorbehaltlich von Art 76 AEUV4 und nach Anhörung des Europäischen Parlaments. Mangels Anordnung der Beschlusserfordernisse in Art 74 AEUV beschließt der Rat dabei gemäß Art 16 Abs 3 EUV mit qualifizierter Mehrheit. In Anbetracht der Verordnung (EU) Nr 439/2010 und ihrer Rechtsgrundlage stellen sich nun zwei Fragen: Ist es erstens – im Hinblick auf die ausdrückliche primärrechtliche Unterscheidung von Gesetzgebungsakten und sonstigen Rechtsakten in Art 289 Abs 3 AEUV – zulässig, zwei in den Verträgen vorgesehene Rechtsgrundlagen zu kombinieren, von denen eine ein Gesetzgebungsverfahren, die andere aber nur ein Rechtsetzungsverfahren vorsieht? Und sind zweitens, auch nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon, in den Verträgen vorgesehene Rechtsgrundlagen kombinierbar, die unterschiedliche Rechtsetzungsverfahren vorsehen? In dem auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung5 basierenden Zuständigkeitssystem der Europäischen Union, dies gilt sowohl für die Rechtslage vor (Art 5 EUVaF und Art 5 EGV), als auch nach (Art 5 Abs 1 und 2 EUVnF) dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. Dezember 2009, kommt der Wahl der Rechtsgrundlage primärrechtliche Bedeutung zu. Ausgehend davon, dass in den in den Verträgen vorgesehenen Ermächtigungsgrundlagen unterschiedliche Rechtsetzungsverfahren festgelegt sind, kann sich die Wahl der Rechtsgrundlage auf die inhaltliche Ausgestaltung der Rechtsakte auswirken. Ist das Europäische Parlament am Rechtsetzungsprozess durch Mitentscheidung beteiligt, kann das Ergebnis des Rechtsetzungsprozesses ein anderes sein, als wenn das Europäische Parlament vor der Erlassung eines Rechts 4
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Gemäß Art 76 AEUV werden die in Art 74 AEUV genannten Maßnahmen auf Vorschlag der Kommission oder auf Initiative eines Viertels der Mitgliedstaaten erlassen. Zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung siehe Georg Lienbacher, Art 5 EGV, in Schwarze (Hg), EU-Kommentar2 (2009) Rn 9 ff; Martin Nettesheim, Kompetenzen, in von Bogdandy / Bast (Hg), Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge2 (2009) 389 (398 ff); Thomas Eilmansberger, Rechtsetzung in EG und EWR, wbl 1994, 1 (1, 2 f).
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aktes durch den Rat diesem nur zustimmen muss, vom Rat nur anzuhören ist oder nicht einmal angehört werden muss. Dies gilt auch im Hinblick auf die Beschlusserfordernisse im Rat; die inhaltliche Ausgestaltung eines Rechtsaktes, der vom Rat einstimmig angenommen werden muss, kann ein anderer sein, wenn der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheiden kann. In diesem Sinn hat auch der Gerichtshof für Recht erkannt, dass „grundsätzlich … die fehlerhafte Anwendung eines Vertragsartikels als Rechtgrundlage mit der Folge, dass die qualifizierte Mehrheit im Rat durch Einstimmigkeit ersetzt wird, nicht als rein formaler Fehler angesehen werden [kann], weil sich eine Änderung des Abstimmungsmodus auf den Inhalt des erlassenen Rechtsakts auswirken kann“.6 Die Prinzipien zur Wahl der Rechtsgrundlage der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofes im Rahmen des Zuständigkeitssystems der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft vor dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. Dezember 2009 sind folgende: Die Wahl der Rechtsgrundlage eines Rechtsaktes muss sich nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen, zu denen insbesondere das Ziel und der Inhalt des Rechtsaktes gehören.7 Hat ein zu erlassender Rechtsakt zwei Zielsetzungen oder umfasst er zwei Komponenten, von denen eine die hauptsächliche oder überwiegende ist, während die andere nur nebensächliche Bedeutung hat, so ist der Rechtsakt nur auf eine Rechtsgrundlage zu stützen, und zwar auf jene, welche die hauptsächliche oder überwiegende Zielsetzung oder Komponente erfordert. Umfasst der zu erlassende Rechtsakt hingegen gleichzeitig zwei oder mehrere Zielsetzungen oder Komponenten, die untrennbar mit einander verbunden sind, ohne dass die eine gegenüber der anderen nur zweitrangig und mittelbar ist, so ist der Rechtsakt ausnahmsweise auf beide einschlägigen Rechtsgrundlagen zu stützen.8 Ein Rückgriff auf eine doppelte Rechtsgrundlage ist aber ausgeschlossen, wenn sich die für die beiden Rechtsgrundlagen jeweils vorgesehenen Rechtsetzungsverfahren nicht miteinander vereinbaren lassen und/oder 6 7 8
EuGH, Rs C-211/01, Kommission/Rat, Slg 2003, I-8913 Rn 52. EuGH, Rs C-166/07, Europäisches Parlament/Rat, Slg 2009, I-7135 Rn 42 mwN. EuGH, Rs C-411/06, Kommission/Europäisches Parlament und Rat, Slg 2009, I-7585 Rn 46 f mwN.
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wenn die Verbindung die Rechte des Parlaments beeinträchtigen würde.9 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes ist eine Heranziehung von Art 308 EGV als Rechtsgrundlage für einen Rechtsakt nur dann gerechtfertigt, wenn keine andere Bestimmung des EG-Vertrages den Gemeinschaftsorganen die zum Erlass dieses Rechtsaktes erforderliche Befugnis verleiht; soll sie doch „einen Ausgleich in Fällen schaffen, in denen den Gemeinschaftsorganen durch spezifische Bestimmungen des Vertrages ausdrücklich oder implizit verliehene Befugnisse fehlen, die gleichwohl erforderlich erscheinen, damit die Gemeinschaft ihre Aufgaben im Hinblick auf die Erreichung eines der vom Vertrag festgelegten Ziele wahrnehmen kann“.10 Will die Europäische Gemeinschaft mit einem Rechtsakt eine Zielsetzung verfolgen, die sich zwar aus dem EGVertrag ergibt, ohne dass die im Vertrag vorgesehene, einschlägige Rechtsgrundlage ihr eine dieser besonderen Zielsetzung entsprechende Befugnis verleiht, ist der Rechtsakt sowohl auf diese Rechtsgrundlage, als auch auf Art 308 EGV zu stützen und dabei die entsprechenden Rechtsetzungsverfahren einzuhalten.11 Diese Rechtsprechung, die ihren Ausgangspunkt im Urteil des Gerichtshofes vom 11. Juni 1991 in der Rechtssache Titandioxid findet,12 ist sehr kasuistisch und weder kohärent noch konsistent. Ausgehend von seinem Urteil vom 27. September 1998 in der Rechtssache Kommission/Rat, in dem er für Recht erkannt hat, dass, „wenn die Zuständigkeit eines Organs auf zwei Vertragsbestimmungen beruht, das Organ verpflichtet ist, die entsprechenden Rechtsakte auf der Grundlage dieser beiden Bestimmungen zu erlassen“,13 hat der Gerichtshof in der Rechtssache Titandioxid entschieden, dass diese Rechtsprechung in der zu entscheidenden 9
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EuGH, Rs C-155/07, Europäisches Parlament/Rat, Slg 2008, I-8103 Rn 37 mwN; sowie Rs C-94/03, Kommission/Rat, Slg 2006, I-1 Rn 52 mwN; und Rs C-178/03, Kommission/Europäisches Parlament und Rat, Slg 2006, I-107 Rn 57 mwN. EuGH, Rs C-166/07, Europäisches Parlament/Rat, Slg 2009, I-7135 Rn 40 f mwN. EuGH, Rs C-166/07, Europäisches Parlament/Rat, Slg 2009, I-7135 Rn 69; verb Rs C-402/05 P und C-15/05 P, Kadi, Slg 2008, I-6351 Rn 211-214; und Rs 242/87, Kommission/Rat, Slg 1989, 1425 Rn 37. EuGH, Rs C-300/89, Kommission/Rat, Slg 1991, I-2867. EuGH, Rs 165/87, Kommission/Rat, Slg 1988, 5545 Rn 11.
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Rechtssache keine Anwendung finden könne. Während die eine in Betracht kommende Rechtsgrundlage – Art 100a EWGV (Rechtsangleichung im Binnenmarkt) – die Anwendung des Verfahrens der Zusammenarbeit gemäß Art 149 Abs 2 EWGV vorschreibe, verlange die andere – Art 130s EWGV (Umweltpolitik) eine einstimmige Beschlussfassung im Rat nach einer Anhörung des Europäischen Parlaments. Der Gerichtshof war der Auffassung, dass „in diesem Fall … durch einen Rückgriff auf mehrere Rechtsgrundlagen das Verfahren der Zusammenarbeit ausgehöhlt“ werde. Er befasste sich zunächst mit dem Verfahren der Zusammenarbeit: In diesem entscheide der Rat mit qualifizierter Mehrheit, wenn er die vom Europäischen Parlament formulierten und von der Kommission in ihrem überprüften Vorschlag übernommenen Abänderungen seines gemeinsamen Standpunktes akzeptieren will, während er Einstimmigkeit erzielen müsse, wenn er nach Ablehnung des gemeinsamen Standpunktes durch das Europäische Parlament entscheiden oder den überprüften Vorschlag der Kommission ändern will. Diesem wesentlichen Element des Verfahrens der Zusammenarbeit würde, so der Gerichtshof, Abbruch getan, wenn der Rat wegen der gleichzeitigen Bezugnahme auf die Art 100a und 130s EWGV auf jeden Fall einstimmig entscheiden müsste. Der Gerichtshof gelangte zur Auffassung, dass das „mit dem Verfahren der Zusammenarbeit verfolgte Ziel, die Beteiligung des Europäischen Parlaments am Gesetzgebungsverfahren der Gemeinschaft zu stärken, … damit in Frage gestellt [werde]“; er habe bereits in seinen Urteilen vom 29. Oktober 1980 in der Rechtssache Roquette Frères/Rat und in der Rechtssache Maizena/Rat festgestellt,14 dass „diese Beteiligung auf Gemeinschaftsebene ein grundlegendes demokratisches Prinzip wider[spiegle], nach dem die Völker durch eine Versammlung ihrer Vertreter an der Ausübung der hoheitlichen Gewalt beteiligt sind“. Daher sei, so der Gerichtshof, im vorliegenden Fall ein Rückgriff auf die doppelte Rechtsgrundlage der Art 100a und 130s EWGV ausgeschlossen und folglich zu prüfen, welche dieser beiden Bestimmungen die geeignete Rechtsgrundlage darstelle.15
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EuGH, Rs 138/79, Roquette Frères/Rat, Slg 1980, 3333 Rn 33; und Rs 139/80, Maizena/Rat, Slg 1980, 3393 Rn 34. Siehe auch Rs C65/93, Europäisches Parlament/Rat, Slg 1995, I-643 Rn 21. EuGH, Rs C-300/89, Kommission/Rat, Slg 1991, I-2867 Rn 17-21.
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Der Gerichtshof bestätigte seine Ausführungen in der Rechtssache Titandioxid zunächst in seinem Urteil vom 25. Februar 1999 in den verbundenen Rechtssachen Europäisches Parlament/Rat, indem er ausführte, dass eine Verbindung von Rechtsgrundlagen ausgeschlossen sei, wenn die für sie jeweils vorgesehenen Rechtsetzungsverfahren miteinander unvereinbar seien.16 In seinem Urteil vom 10. Dezember 2002 in der Rechtssache British American Tobacco betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen über die Gültigkeit der auf Art 95 (Rechtsangleichung im Binnenmarkt) und Art 133 EGV (Handelspolitik) als Rechtsgrundlagen gestützten Richtlinie 2001/37/EG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen17 und über die Beurteilung der Frage, ob Art 133 EGV als zusätzliche Rechtsgrundlage überhaupt erforderlich sei, führte der Gerichtshof aus, dass es, „anders als in dem Fall, der dem Titandioxid-Urteil zugrunde lag, … im vorliegenden Fall der Wesenskern des Rechtsetzungsverfahrens, der in der Unterscheidung zwischen den Fällen einer qualifizierten Mehrheitsentscheidung und denen einer einstimmigen Entscheidung des Rates besteht, durch die gleichzeitige Bezugnahme auf die beiden in der Richtlinie genannten Rechtsgrundlagen nicht beeinträchtigt worden“ sei.18 Nachdem der Gerichtshof in seinem Urteil vom 24. April 2004 in der Rechtssache Kommission/Rat das Urteil vom 25. Februar 1999 in den verbundenen Rechtssachen Europäisches Parlament/ Rat bestätigt hatte, indem er ausführte, dass eine Häufung von Rechtsgrundlagen ausgeschlossen sei, wenn die für sie jeweils vorgesehenen Rechtsetzungsverfahren miteinander unvereinbar seien,19 präzisierte er seine im Urteil in der Rechtssache Titandioxid gemachten Erwägungen in seinen Urteilen vom 10. Jänner 2006 in den Rechtssachen Kommission/Rat sowie Kommission/Europä 16 17
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EuGH, verb Rs C-164/97 und C-165/97, Europäisches Parlament/ Rat, Slg 1999, I-1139 Rn 14. Richtlinie 2001/37/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.6.2001 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen, ABl 2001 L 194/26. EuGH, Rs C-491/01, British American Tobacco, Slg 2002, I-11453 Rn 109. EuGH, Rs C-338/01, Kommission/Rat, Slg 2004, I-4829 Rn 57.
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isches Parlament und Rat dahingehend, dass „der Rückgriff auf eine doppelte Rechtsgrundlage ausgeschlossen [sei], wenn sich die für die beiden Rechtsgrundlagen jeweils vorgesehenen Verfahren nicht miteinander vereinbaren lassen und/oder wenn die Verbindung der Rechtsgrundlagen die Rechte des Parlaments beeinträchtigen würde“.20 Es ist davon auszugehen, dass sich die erste Fallkonstellation („sich die für die beiden Rechtsgrundlagen jeweils vorgesehenen Verfahren nicht miteinander vereinbaren lassen“) auf die Abstimmungserfordernisse im Rat bezieht (Einstimmigkeit oder qualifizierte Mehrheit), während die zweite („wenn die Verbindung der Rechtsgrundlagen die Rechte des Parlaments beeinträchtigen würde“) sich auf die Form der Mitwirkung des Europäischen Parlaments im Rechtsetzungsverfahren (Mitentscheidung, Zustimmung, Anhörung, keine formelle Mitwirkung) bezieht. Mit der Wortfolge „und/oder“ wird verdeutlicht, dass ein Rückgriff auf eine doppelte Rechtsgrundlage auch dann ausgeschlossen sein soll, wenn sich die Fallkonstellationen häufen. Der Gerichtshof hat in Folge mit Urteil vom 10. Jänner 2006 in der Rechtssache Kommission/Europäisches Parlament und Rat betreffend die Nichtigerklärung der nur auf Art 175 Abs 1 und nicht auch auf Art 133 EGV gestützten Verordnung (EG) Nr 304/2003 über die Aus- und Einfuhr gefährlicher Chemikalien21 für Recht erkannt, dass die Rechtsgrundlagen Art 133 Abs 4 EGV (Handelspolitik – Abstimmungserfordernis im Rat: qualifizierte Mehrheit, keine formelle Mitwirkung des Europäischen Parlaments) und Art 175 Abs 1 EGV (Umweltpolitik – Verfahren der Mitentscheidung gemäß Art 251 EGV) miteinander vereinbar seien. Zum einen könne der zusätzliche Rückgriff auf Art 133 EGV keine Auswirkungen auf die im Rat geltenden Abstimmungsregeln haben, weil Art 133 Abs 4 EGV ebenso wie Art 175 Abs 1 EGV vorsehe, dass der Rat bei der ihm in diesem Artikel übertragenen Befugnisse mit qualifizierter Mehrheit beschließt. Zum anderen, so der Gerichtshof, sei ein gemeinsamer Rückgriff auf die Art 133 und Art 175 20
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EuGH, Rs C-94/03, Kommission/Rat, Slg 2006, I-1 Rn 52; und Rs C178/03, Kommission/Europäisches Parlament und Rat, Slg 2006, I107 Rn 57. VO (EG) Nr 304/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28.1.2003 über die Aus- und Einfuhr gefährlicher Chemikalien, ABl 2003 L 63/1.
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Abs 1 EGV auch nicht dazu angetan, die Rechte des Europäischen Parlaments zu beeinträchtigen, da zwar der erste dieser beiden Artikel die Beteiligung dieses Organs beim Erlass eines Rechtsaktes nicht formell vorsehe, aber der zweite ausdrücklich auf das Verfahren nach Art 251 EGV verweist. Anders als in der Rechtssache Titandioxid bewirke die Verbindung der Rechtsgrundlagen im vorliegenden Fall keinerlei Einschränkung der Rechte des Europäischen Parlaments, weil der Rückgriff auf Art 175 Abs 1 EGV eine Beteiligung dieses Organs am Erlass des Rechtsaktes im Mitentscheidungsverfahren ermöglicht.22 Aus demselben Grund hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 6. November 2008 in der Rechtssache Europäisches Parlament/Rat23 betreffend die Nichtigerklärung des nur auf Art 181a und nicht auch auf Art 179 EGV gestützten Beschlusses 2006/ 1016/EG über eine Garantieleistung der Gemeinschaft für etwaige Verluste der Europäischen Investitionsbank aus Darlehen und Darlehensgarantien für Vorhaben außerhalb der Gemeinschaft24 auch die Kombinierbarkeit der Rechtsgrundlagen Art 179 Abs 1 EGV (Entwicklungszusammenarbeit – Verfahren der Mitentscheidung gemäß Art 251 EGV) und Art 181a Abs 2 EGV (Wirtschaftliche, finanzielle und technische Zusammenarbeit mit Drittländern – Abstimmungserfordernis im Rat: qualifizierte Mehrheit, Anhörung des Europäischen Parlaments) bejaht. Zunächst stellte der Gerichtshof fest, dass, anders als in dem der Rechtssache Titandioxid zugrunde liegenden Fall, der Rat sowohl in dem in Art 179 EGV genannten, als auch in dem in Art 181a EGV vorgesehenen Verfahren mit qualifizierter Mehrheit entscheide. Es treffe zwar zu, dass Art 179 EGV das Verfahren der Mitentscheidung gemäß Art 251 EGV vorsehe, Art 181a Abs 2 EGV hingegen nur eine Anhörung des Europäischen Parlaments; unter Hervorhebung der „Bedeutung der Rolle des Parlaments im Gesetzgebungsprozess der Gemeinschaft“ sei aber, anders als in der Rechtssache Titandioxid, der Rückgriff auf 22 23 24
EuGH, Rs C-178/03, Kommission/Europäisches Parlament und Rat, Slg 2006, I-107 Rn 58 f. EuGH, Rs C-155/07, Europäisches Parlament/Rat, Slg 2008, I-8103 Rn 76-80. Beschluss 2006/1016/EG des Rates vom 19.12.2006 über eine Garantieleistung der Gemeinschaft für etwaige Verluste der Europäischen Investitionsbank aus Darlehen und Darlehensgarantien für Vorhaben außerhalb der Gemeinschaft, ABl 2006 L 414/95.
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eine durch die Art 179 und 181a EGV gebildete doppelte Rechtsgrundlage unter den im vorliegenden Fall gegebenen Umständen nicht geeignet, die Rechte des Europäischen Parlaments zu beeinträchtigen. Der Rückgriff auf Art 179 EGV brächte nämlich eine intensivere Beteiligung des Europäischen Parlaments mit sich, weil er das Verfahren der Mitentscheidung gemäß Art 251 EGV vorsehe. Darüber hinaus sprächen, so der Gerichtshof, mehrere Gesichtspunkte für die Schlussfolgerung, dass die Kombination der Rechtsgrundlagen Art 179 und 181a EGV im Hinblick auf den in der gegenständlichen Rechtssache angefochtenen Beschluss „ebenso möglich wie geeignet“ gewesen wäre.25 25
Der Gerichtshof führte aus, dass zum einen die Komponenten des angefochtenen Beschlusses untrennbar miteinander verbunden seien. In Anbetracht dessen, dass es sich bei der Kategorie der Entwicklungsländer im Sinne des Titels XX EGV um eine sich weiterentwickelnde Kategorie handelt, und in Anbetracht der Erfordernisse der Rechtssicherheit sei es nämlich praktisch kaum möglich, stattdessen zwei Rechtsakte nebeneinander zu erlassen. Zum anderen sei keine dieser Komponenten gegenüber der anderen von nebensächlicher Bedeutung. Eine Lösung, die wegen der Unterschiede zwischen den Rechtsetzungsverfahren in Art 179 bzw Art 181a EGV darin bestünde, nur Art 179 EGV als eine intensivere Beteiligung des Europäischen Parlaments umfassende Grundlage als Rechtsgrundlage zu wählen, würde dazu führen, dass die wirtschaftliche, finanzielle und technische Zusammenarbeit mit Drittländern, die keine Entwicklungsländer sind, von der gewählten Rechtsgrundlage nicht ausdrücklich erfasst würde. In einem solchen Fall wäre aber die gesetzgeberische Rolle des Rates jedenfalls in der gleichen Weise berührt wie durch den Rückgriff auf eine durch Art 179 und 181a EGV gebildete doppelte Rechtsgrundlage. Im Übrigen könnten, ebenso wenig wie Art 181a EGV die Rechtsgrundlage für Maßnahmen bilden kann, mit denen die in Art 177 EGV angesprochenen Ziele betreffend die Entwicklungszusammenarbeit im Sinne des Titels XX EGV verfolgt werden, Maßnahmen der Zusammenarbeit, mit denen nicht solche Ziele verfolgt werden, grundsätzlich nicht auf Art 179 EGV gestützt werden. Unter den spezifischen Umständen des vorliegenden Falles, die insbesondere dadurch gekennzeichnet seien, dass sich die Titel XX und XXI EGV gegenseitig ergänzen, sowie dadurch, dass die Art 179 und 181a EGV gleichsam im Sinne gegenseitiger Abhängigkeit miteinander verknüpft seien, könnten, so der Gerichtshof, folglich die in diesen beiden Artikeln jeweils vorgesehenen Verfahren nicht als miteinander unvereinbar angesehen werden. Vgl EuGH, Rs C-155/07, Europäisches Parlament/Rat, Slg 2008, I-8103 Rn 81-83.
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Im Jahr 2004 hat der Gerichtshof noch in seinem Urteil vom 29. April 2004 in der Rechtssache Kommission/Rat26 betreffend die Nichtigerklärung der Richtlinie 2001/44/EG über die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen im Zusammenhang mit Maßnahmen, die Bestandteil des Finanzierungssystems des Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft sind, sowie von Abschöpfungen und Zöllen und bezüglich der Mehrwertsteuer und bestimmter Verbrauchsteuern27 entschieden, dass die Rechtsgrundlagen Art 93 (Steuerpolitik – Abstimmungserfordernis im Rat: Einstimmigkeit, Anhörung des Europäischen Parlaments) sowie Art 94 (Rechtsangleichung im Binnenmarkt – Abstimmungserfordernis im Rat: Einstimmigkeit, Anhörung des Europäischen Parlaments) nicht mit Art 95 EGV (Rechtsangleichung – Verfahren der Mitentscheidung gemäß Art 251 EGV) vereinbar seien. Er begründete seine Entscheidung damit, dass „während nämlich für den Erlass eines auf Art 93 und 94 EGV gestützten Rechtsakts Einstimmigkeit erforderlich ist, … für den Erlass eines Rechtsakts auf der Grundlage des Art 95 EGV qualifizierte Mehrheit aus[reiche]“; daher könnten „von den genannten Bestimmungen nur die Art 93 und 94 EGV zu einer Rechtsgrundlage für den Erlass eines Rechtsakts verbunden werden“. Dem gegenüber erachtete der Gerichtshof im Jahr 2009 in seinem Urteil vom 3. September 2009 in der Rechtssache Europäisches Parlament/Rat28 die Rechtsgrundlage Art 159 Abs 3 EGV (Kohäsionspolitik – Verfahren der Mitentscheidung gemäß Art 251 EGV) für mit Art 308 EGV (Flexibilitätsklausel – Abstimmungserfordernis im Rat: Einstimmigkeit, Anhörung des Europäischen Parlaments) kombinierbar. Der Gemeinschaftsgesetzgeber hätte zur Erlassung der angefochtenen Verordnung (EG) Nr 1968/2006 über Finanzbeiträge der Gemeinschaft zum Inter 26 27
28
EuGH, Rs C-338/01, Kommission/Rat, Slg 2004, I-4829 Rn 58. Richtlinie 2001/44/EG des Rates vom 15.6.2001 zur Änderung der Richtlinie 76/308/EWG über die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen im Zusammenhang mit Maßnahmen, die Bestandteil des Finanzierungssystems des Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft sind, sowie von Abschöpfungen und Zöllen und bezüglich der Mehrwertsteuer und bestimmter Verbrauchsteuern, ABl 2001 L 175/17. EuGH, Rs C-166/07, Europäisches Parlament/Rat, Slg 2009, I-7135 Rn 69.
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nationalen Fonds für Irland (2007–2010)29 „auf Art 159 Abs 3 und Art 308 EGV zusammen zurückgreifen und dabei die entsprechenden Gesetzgebungsverfahren einhalten müssen, nämlich sowohl das so genannte Mitentscheidungsverfahren nach Art 251 EGV als auch die einstimmige Beschlussfassung innerhalb des Rates“. Der Rechtsprechung des Gerichtshofes sind folgende Vorgaben für die Wahl der Rechtsgrundlage zu entnehmen: Erstens ist bei der Kombination von zwei Rechtsgrundlagen jene vorzuziehen, welche das Rechtsetzungsverfahren mit der stärkeren Mitwirkung des Europäischen Parlaments vorsieht; andernfalls liegt eine „Beeinträchtigung der Rechte des Europäischen Parlaments“ vor.30 Zweitens sind unterschiedliche Abstimmungserfordernisse im Rat zulässig; der Rat hat mit Einstimmigkeit zu entscheiden, wenn eine Rechtsgrundlage eine Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit, die andere hingegen Einstimmigkeit vorsieht. Und schließlich ist die Verknüpfung zwischen den Abstimmungserfordernissen im Rat und der Mitwirkung des Europäischen Parlaments, anders als noch in der Rechtssache Titandioxid und in der im Jahr 2004 entschiedenen Rechtssache Kommission/Rat, gelöst. Die jüngste Entscheidung des Gerichtshofes vom September 2009 in der Rechtssache Europäisches Parlament/Rat geht nicht nur in diese Richtung, indem sie die Kombination der in den Rechtsgrundlagen vorgesehenen Rechtsetzungsverfahren Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit im Rat und Mitentscheidung des Europäischen Parlaments (Art 159 Abs 3 EGV) mit Beschlussfassung mit Einstimmigkeit im Rat und Anhörung des Europäischen Parlaments (Art 308 EGV) zu Beschlussfassung mit Einstimmigkeit im Rat und Mitentscheidung des Europäischen Parlaments (Art 159 in Verbindung mit Art 308 EGV) erlaubt, sondern auch eine Kombination von Rechtgrundlagen ermöglicht, die unterschiedliche Abstimmungserfordernisse im Rat vorsehen, also Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit einerseits und mit Einstimmigkeit andererseits. In diesem Fall hat der Rat einstimmig zu beschließen. Aus einer Gesamtbetrachtung der Rechtsprechung des Gerichtshofes seit seiner Entscheidung in der Rechtssache Titandioxid 29
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VO (EG) Nr 1968/2006 des Rates vom 21.12.2006 über Finanzbeiträge der Gemeinschaft zum Internationalen Fonds für Irland (2007– 2010), ABl 2006 L 409/81, berichtigt durch ABl 2007 L 36/31. Vgl GA Maduro, EuGH, Rs C-411/06, Kommission/Europäisches Parlament und Rat, Slg 2009, I-7585, SchlA, Rn 6.
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kann man schließen, dass im Prinzip – mit einer Ausnahme – alle im EG-Vertrag vorgesehenen Rechtsetzungsverfahren miteinander vereinbar und damit alle Rechtsgrundlagen kombinierbar sind. In dieser Deutlichkeit hat der Gerichtshof dies aber noch nicht bestätigt. Die Ausnahme führt zurück zum Ausgangspunkt dieser Rechtsprechung des Gerichtshofes, zur Rechtssache Titandioxid31 und damit zum Verfahren der Zusammenarbeit und dessen besonderer Ausgestaltung. Diese ist darin zu sehen, dass gemäß Art 149 Abs 2 EWGV „der Rat mit qualifizierter Mehrheit [entscheidet], wenn er die vom Europäischen Parlament formulierten und von der Kommission in ihrem überprüften Vorschlag übernommenen Abänderungen seines gemeinsamen Standpunkts akzeptieren will, während er Einstimmigkeit erzielen müsse, wenn er nach Ablehnung des gemeinsamen Standpunkts durch das Europäische Parlament entscheiden oder den überprüften Vorschlag der Kommission ändern will“. Der Gerichtshof gelangte zur Auffassung, dass bei einer Kombination der Rechtsgrundlagen Art 100a und Art 130s EWGV das Verfahren der Zusammenarbeit dadurch „ausgehöhlt“ werde, dass der Rat nunmehr auf jeden Fall einstimmig entscheiden müsse. Die Rechte des Europäischen Parlaments würden dadurch beeinträchtigt, dass der Rat nicht mit qualifizierter Mehrheit darüber beschließen könne. Nach der Darstellung der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist nun darauf einzugehen, wie mit dieser die primärrechtlichen Vorgaben unterlaufen werden: So wenig auf eine Mitwirkung des Europäischen Parlaments an der Rechtsetzung in der in der konkreten Rechtsgrundlage vorgegebenen Form (Mitentscheidung, Zustimmung oder Anhörung) in einem bestimmten Politikbereich verzichtet werden kann, so wenig ist es zulässig, in einem anderen Politikbereich, wo dies nicht formell vorgesehen ist, die Mitwirkung des Europäischen Parlaments an der Rechtsetzung zu stärken bzw eine solche zu schaffen. Damit wird nämlich nicht nur der im EG-Vertrag festgelegte Rechtsetzungsprozess verändert, sondern auch das interinstitutionelle Gleichgewicht verschoben. Im Fall von Mitentscheidung statt Zustimmung, Mitentscheidung statt Anhörung oder Mitentscheidung statt keiner formellen Mitwirkung oder Zustimmung statt Anhörung des Europäischen Parlaments geschieht dies zu Lasten des Rates, der in seiner Rechtsetzungsbefugnis eingeschränkt wird, weil er 31
EuGH, Rs C-300/89, Kommission/Rat, Slg 1991, I-2867 Rn 18 f.
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diese nunmehr mit dem Europäischen Parlament teilen muss.32 Eine Verschiebung des interinstitutionellen Gleichgewichts zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat, das sich in den Rechtsetzungsverfahren durch eine unterschiedliche Beteiligung des Europäischen Parlaments und verschiedene Abstimmungserfordernisse im Rat ausdrückt, berührt auch die vertikale Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten, weil die konkreten Einzelermächtigungen jeweils das anzuwendende Rechtsetzungsverfahren festlegen. Dies gilt auch für den Fall, dass in den Rechtsgrundlagen unterschiedliche Abstimmungserfordernisse im Rat vorgesehen sind, also eine Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit und Einstimmigkeit. Hat nach der Rechtsprechung der Rat im Fall einer doppelten Rechtsgrundlage nicht mit qualifizierter Mehrheit, sondern einstimmig zu entscheiden, bedeutet dies keine Stärkung der Position des Rates gegenüber einem Europäischen Parlament, das mit stärkerer Mitwirkung am Rechtsetzungsverfahren als in der jeweiligen Einzelermächtigung im EG-Vertrag vorgesehen tätig wird. Es muss meines Erachtens nicht besonders hervorgehoben werden, dass es nicht die Zuständigkeit des Gerichtshofes, sondern ausschließlich der Vertragsparteien ist, den Rechtsetzungsprozess in der Europäischen Gemeinschaft festzulegen. Genau darüber setzt sich der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung hinweg. Die ständige Rechtsprechung, prinzipiell jene Rechtsgrundlage vorzuziehen, die eine stärkere Mitwirkung des Europäischen Parlaments vorsieht, ist vor diesem Hintergrund unzulässig. Sie widerspricht den in den Einzelermächtigungen festgelegten Rechtsetzungsverfahren und findet im EG-Vertrag keine Grundlage.33 Was die Begründung der Rechtsprechung durch den Gerichtshof, insbesondere in den Rechtssachen Titandioxid, Europäisches Parlament/Rat34 und Europäisches Parlament/Rat35 betrifft, ist 32
33 34
Vgl EuGH, Rs C-178/03, Kommission/Europäisches Parlament und Rat, Slg 2006, I-107, GA Kokott, SchlA, Rn 60 f; Rs C-155/07, Europäisches Parlament/Rat, Slg 2008, I-8103, GA Kokott, SchlA, Rn 89; und Rs C-411/06, Kommission/Europäisches Parlament und Rat, Slg 2009, I-7585, GA Maduro, SchlA, Rn 6. So auch GA Maduro, EuGH, Rs C-411/06, Kommission/Europäisches Parlament und Rat, Slg 2009, I-7585, SchlA, Rn 6. EuGH, Rs C-65/93, Europäisches Parlament/Rat, Slg 1995, I-643 Rn 21.
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anzumerken, dass es zwar richtig ist, dass die Beteiligung des Europäischen Parlaments am Rechtsetzungsverfahren der Europäischen Gemeinschaft „Ausdruck eines grundlegenden demokratischen Prinzips [ist], nach dem die Völker durch eine Versammlung ihrer Vertreter an der Ausübung der hoheitlichen Gewalt beteiligt sind“. Wie weit diese Beteiligung reicht, entscheiden aber ausschließlich die Vertragsparteien. Dies muss dem Gerichtshof bewusst sein, wenn er in der Rechtssache Europäisches Parlament/Rat36 gleichzeitig feststellt, dass „die wirksame Beteiligung des Parlaments am Gesetzgebungsverfahren der Gemeinschaft gemäß den im Vertrag vorgesehenen Verfahren … für das vom Vertrag gewollte Gleichgewicht wesentlich“ ist. Auch die Argumente des Gerichtshofes in der Rechtssache Europäisches Parlament/Rat37 vermögen nicht zu überzeugen. Zunächst hat der Gerichtshof nicht schlüssig begründet, warum „es praktisch kaum möglich [sein soll], [statt dem Beschluss 2006/1016/EG] zwei Rechtsakte nebeneinander zu erlassen“; die Untrennbarkeit der Komponenten, die Qualifikation der Entwicklungsländer als „eine sich weiterentwickelnde Kategorie“ der weiteren Drittländer und die „Erfordernisse der Rechtssicherheit“ schließen dies meines Erachtens nicht aus. Auch die Erwägung, dass im Falle der Heranziehung von Art 179 EGV als ausschließlicher Rechtsgrundlage „die gesetzgeberische Rolle des Rates jedenfalls in der gleichen Weise berührt [wäre] wie durch den Rückgriff auf eine von den Art 179 und 181a EGV gebildete doppelte Rechtsgrundlage“, verkennt, dass es von den Vertragsparteien in Anbetracht des in Art 181a EGV vorgesehenen Rechtsetzungsverfahren (Anhörung des Europäischen Parlaments) nicht gewollt ist, dass in den Angelegenheiten der wirtschaftlichen, finanziellen und technischen Zusammenarbeit mit Drittländern das Europäische Parlament im Sinn von Art 251 EGV mitentscheidet. Was schließlich die Erwägungen betrifft, dass „unter den spezifischen Umständen des vorliegenden Falles, die insbesondere dadurch gekennzeichnet sind, dass sich die Titel XX und XXI des Vertrags gegenseitig ergänzen, sowie dadurch, dass die Art 179 und 181a EGV 35 36 37
EuGH, Rs C-155/07, Europäisches Parlament/Rat, Slg 2008, I-8103 Rn 78. EuGH, Rs C-65/93, Europäisches Parlament/Rat, Slg 1995, I-643 Rn 21. EuGH, Rs C-155/07, Europäisches Parlament/Rat, Slg 2008, I-8103 Rn 78 und 80-83.
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gleichsam im Sinne gegenseitiger Abhängigkeit miteinander verknüpft sind, … folglich die in diesen beiden Artikeln jeweils vorgesehenen Verfahren nicht als miteinander unvereinbar angesehen werden“ können, ist festzuhalten, dass auch wenn diese Erwägungen zutreffen, die Vertragsparteien unterschiedliche Rechtsetzungsverfahren in den Art 179 und 181a EGV festgelegt haben. Dies darf der Gerichtshof nicht unberücksichtigt lassen. Eine Kombination von Rechtsgrundlagen – sowohl durch den Gerichtshof als auch durch den Gemeinschaftsgesetzgeber – ist meines Erachtens nur dann zulässig, wenn die in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen dasselbe Rechtsetzungsverfahren vorsehen, also die Beschlusserfordernisse im Rat und die Form der Mitwirkung des Europäischen Parlaments einander entsprechen. Zurück zu den Verträgen in der Fassung des Vertrags von Lissabon. In Anbetracht der Stellung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens als Regelverfahren und seinem – im Vergleich zum bisherigen Mitentscheidungsverfahren – mit 1. Dezember 2009 beträchtlich ausgeweiteten Anwendungsbereich haben sich einige der bisher bei der Wahl der Rechtsgrundlage aufgetretenen Probleme gelöst.38 Die damit verbundenen potentiellen Organstreitverfahren, beispielsweise in den Politikbereichen Handel (Art 207 Abs 2 AEUV) und Umwelt (Art 192 Abs 2 AEUV) oder wirtschaftliche, finanzielle und technische Zusammenarbeit mit Drittländern (Art 212 Abs 2 AEUV) und Entwicklungszusammenarbeit (Art 209 Abs 1 AEUV), entfallen in Zukunft. Dies gilt aber nur für Politikbereiche, in welchen die Rechtsgrundlage entweder das ordentliche Gesetzgebungsverfahren vorsieht, oder für solche, in denen besondere Gesetzgebungsverfahren oder Rechtsetzungsverfahren mit einander entsprechenden Abstimmungserfordernissen im Rat und Mitwirkungsformen des Europäischen Parlaments vorgeschrieben werden. Rechtsgrundlagen, welche das ordentliche Gesetzgebungsverfahren vorsehen, sind meines Erachtens beliebig kombinierbar, weil dabei das interinstitutionelle Gleichgewicht in der Europäischen Union nicht berührt wird. Dies muss auch für Rechtsgrundlagen gelten, die besondere Gesetzgebungsverfahren festlegen, sofern die Abstimmungserfordernisse im Rat und Mitwirkungsformen des Europäischen Parlaments einander entsprechen. Es stellt sich 38
Vgl Jean-Claude Piris, The Lisbon Treaty. A Legal and Political Analysis (2010) 365-368 und 373-378.
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schließlich die Frage nach der Zulässigkeit einer Kombination von Rechtsgrundlagen, die unterschiedliche Rechtsetzungsverfahren vorsehen. Zur Kombination von Rechtsgrundlagen, von denen eine ein Gesetzgebungs-, die andere ein Rechtsetzungsverfahren vorsieht: Im Hinblick auf die ausdrückliche primärrechtliche Unterscheidung zwischen Gesetzgebungs- und sonstigen Rechtsakten und damit zwischen Gesetzgebungs- und Rechtsetzungsverfahren gehe ich davon aus, dass eine Kombination von Rechtsgrundlagen, von denen eine ein Gesetzgebungs- und die andere nur ein Rechtsetzungsverfahren vorsieht, unzulässig ist. Damit würde nicht nur die von den Vertragsparteien in Art 289 Abs 3 AEUV angeordnete Unterscheidung aufgehoben. Es würden ferner die mit dem Gesetzgebungsverfahren verknüpften Besonderheiten wie beispielsweise die Verpflichtung des Rates nach Art 16 Abs 8 EUV zur öffentlichen Beratung und Beschlussfassung über Entwürfe zu Gesetzgebungsakten, oder die in den Art 5 Abs 3 und Art 12a EUV in Verbindung mit den Protokollen Nr 1 und 239 verankerten Mitwirkungsrechte der nationalen Parlamente, die sich ausschließlich auf Gesetzgebungsakte beziehen, auf Rechtsetzungsverfahren erstreckt. Die eingangs zitierte Verordnung (EU) Nr 439/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Errichtung eines Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen wurde gemäß ihrer Präambel im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren auf der Basis von zwei Rechtsgrundlagen (Art 74 und Art 78 Abs 1 und 2 AEUV) erlassen, von denen eine (Art 74 AEUV) nur ein Rechtsetzungsverfahren vorsieht.40 Die Verordnung ist meines Erachtens insofern als primärrechtswidrig anzusehen, als sie auf einer Rechtsgrundlage beruht, die keine Ermächtigung zur Erlassung eines Gesetzgebungsaktes vorsieht. Zur Kombination von Rechtsgrundlagen, von denen eine das 39
40
Protokoll Nr 1 über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union und Protokoll Nr 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. In ihrem Vorschlag vom 18.2.2009 stützte die Kommission die Verordnung auf die Art 63 Abs 1 und 2 und Art 66 EGV, siehe KOM(2009) 66 endg. Im Zuge des Inkrafttretens des Vertrages von Lissabon wurde die Rechtsgrundlage auf die Art 74 und Art 78 Abs 2 AEUV geändert, siehe KOM(2009) 665 endg.
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ordentliche und die andere ein besonderes Gesetzgebungsverfahren vorsieht: Der Vertrag von Lissabon hat ein neues interinstitutionelles Gleichgewicht geschaffen, in dem das Europäische Parlament über eine deutlich gestärkte Position verfügt. Die konkreten Zuständigkeiten des Europäischen Parlaments in den Rechtsetzungsverfahren sind von den Vertragsparteien bewusst festgelegt worden. Jede weitere Verschiebung dieses Gleichgewichtes zugunsten des Europäischen Parlaments – und damit zu Lasten des Rates und der Mitgliedstaaten – durch jemand anderen als die Vertragsparteien selbst ist unzulässig. Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Europäischen Union gilt nach Art 5 Abs 1 EUV der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Diesem zufolge wird die Europäische Union nach Art 5 Abs 2 EUV „nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der niedergelegten Ziele übertragen haben“; alle der Europäischen Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten.41 Gemäß Art 13 EUV hat „jedes Organ nach Maßgabe der ihm in den Verträgen zugewiesenen Befugnisse nach den Verfahren, Bedingungen und Zielen, die in den Verträgen festgelegt sind“, zu handeln. Rechtsetzungsverfahren, die durch eine Kombination von Rechtsgrundlagen in der Rechtsprechung des Gerichtshofes neu geschaffen werden, sind – im Hinblick auf die den Organen konkret übertragenen Handlungsermächtigungen – „nicht in den Verträgen festgelegt“. Dies gilt für jede Kombination von Rechtsgrundlagen, von denen eine das ordentliche, die andere ein besonderes Gesetzgebungsverfahren vorsieht, auch und insbesondere für eine Kombination einer Rechtsgrundlage, welche das ordentliche Gesetzgebungsverfahren vorsieht, mit Art 352 Abs 1 AEUV, der in ihrem Anwendungsbereich deutlich ausgeweiteten „Flexibilitätsklausel“. Das nach dieser Bestimmung anzuwendende besondere Gesetzgebungsverfahren sieht nur eine vorherige Zustimmung des Europäischen Parlaments zu einem vom Rat zu erlassenden Rechtsakt vor. Eine durch die Kombination von Art 352 Abs 1 AEUV mit einer das ordentliche Gesetzgebungsverfahren vorsehenden Rechtsgrundlage bewirkte Mitentscheidung des Europäischen Parlaments im Rahmen von Art 352 Abs 1 AEUV würde 41
Vgl auch Art 4 Abs 1 EUV und Erklärung Nr 18 zur Abgrenzung der Zuständigkeiten.
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dem ausdrücklichen und offensichtlichen Willen der Vertragsparteien widersprechen. Daher ist meines Erachtens auch eine Kombination von Rechtsgrundlagen, von denen eine das ordentliche, die andere hingegen ein besonderes Gesetzgebungsverfahren vorsieht, nicht zulässig. Die Vertragsparteien haben sich mit der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Kombination von Rechtsgrundlagen im Vertrag von Lissabon nicht beschäftigt. In anderen Bereichen hat die Rechtsprechung hingegen durchaus Eingang in den Vertragstext gefunden und ist dort positiviert worden. Die grundsätzliche Neugestaltung der Gesetzgebungs- und Rechtsetzungsverfahren deutet aber meines Erachtens darauf hin, dass eine Adoption der bisherigen Rechtsprechung nicht im Sinne der Vertragsparteien liegt. Dafür spricht insbesondere zum einen die nunmehrige Qualifikation des Europäischen Parlaments als „Gesetzgeber“ (gemeinsam mit dem Rat im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren) in Art 14 Abs 1 Satz 1 EUV und die – im Gegensatz zur bis zum 1. Dezember 2009 geltenden Rechtslage42 – „gemeinsame Annahme“ von Gesetzgebungsakten im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren; zum anderen die Ausweitung des Anwendungsbereiches des bisherigen Mitentscheidungsverfahrens gemäß Art 251 EGV und nunmehrigen ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens nach Art 289 Abs 1 AEUV.43 Es ist aber nicht auszuschließen – ich würde vielmehr davon ausgehen –, dass der Gerichtshof die Prinzipien seiner bisherigen 42
43
Nach der bis zum 1.12.2009 geltenden Rechtslage war auch ein im Mitentscheidungsverfahren erlassener Rechtsakt als ein Rechtsakt des Rates zu qualifizieren. Dies ergibt sich nicht nur aus Art 251 EGV selbst (siehe Abs 2 erster und zweiter Spiegelstrich: „kann er [der Rat] den vorgeschlagenen Rechtsakt … erlassen“) und noch deutlicher aus der ursprünglichen Ausgestaltung des Mitentscheidungsverfahrens in Art 189b EGV in der Fassung des Vertrages von Maastricht (siehe Abs 2 lit a und b sowie Abs 3), sondern auch aus Einzelermächtigungen, welche das Verfahren der Mitentscheidung vorsehen, beispielsweise Art 95 Abs 1 („Der Rat erlässt gemäß dem Verfahren nach Artikel 251 …“) oder Art 175 Abs 1 EGV („Der Rat beschließt nach dem Verfahren des Artikels 251 …“). So auch EuGH, Rs C-259/95, Europäisches Parlament/Rat, Slg 1997, I-5303 Rn 26; sowie Johann Schoo, Das neue institutionelle Gefüge der EU, EuR-Beiheft 1-2009, 51 (59). Vgl Piris, The Lisbon Treaty (Fn 38) 365-368 und 373-378.
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Rechtsprechung zur Kombination von Rechtsgrundlagen auch nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. Dezember 2009 anwenden wird. Dies hat zur Folge, dass der Gerichtshof die Mitwirkung des Europäischen Parlaments an der Gesetzgebung und der Rechtsetzung der europäischen Union auch dort stärken bzw eine solche dort schaffen kann, wo diese von den Vertragsparteien mit Absicht nicht gewollt und vorgesehen ist, nämlich in jenen Politikbereichen, in deren Rechtsgrundlagen ein besonderes Gesetzgebungsverfahren oder ein Rechtsetzungsverfahren angeordnet ist. III. Delegierte Rechtsetzung und Durchführungsrechtsetzung Nach den primärrechtlichen Vorgaben von Art 290 und 291 AEUV kann ein und derselbe Rechtsakt nicht zugleich als ein delegierter Rechtsakt im Sinne von Art 290 AEUV und als ein Durchführungsrechtsakt im Sinne von Art 291 AEUV zu qualifizieren sein. Ein Rechtsakt nach Art 290 AEUV ist definitionsgemäß vom Geltungsbereich des Art 291 AEUV ausgeschlossen und umgekehrt.44 Verschwommen bleibt das Abgrenzungskriterium.45 A. Delegierte Rechtsakte Gemäß Art 290 Abs 1 UAbs 1 AEUV kann die Kommission vom Unionsgesetzgeber in Gesetzgebungsakten ermächtigt werden, „Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Gesetzgebungsaktes zu erlassen“. Im betreffenden Gesetzgebungsakt (Basisrechtsakt) sind nach UAbs 2 „Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer“ der Ermächtigung ausdrücklich festzulegen; die wesentlichen Aspekte eines Bereichs sind dem Gesetzgebungsakt vorbehalten und eine diesbezügliche Ermächtigung deshalb unzulässig. Die Vertragsparteien haben in Art 290 Abs 1 UAbs 2 Satz 2 AEUV nicht definiert, welche Aspekte eines Bereichs als „wesentlich“ anzusehen sind, sodass ihre Regelung dem Unionsgesetzgeber in einem Gesetzgebungsakt vorbehalten und eine Ermächtigung der 44
45
So auch Europäische Kommission, Mitteilung vom 9.12.2009 an das Europäische Parlament und den Rat: Umsetzung von Art 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, KOM(2009) 673 endg, 3. So auch Michael Dougan, The Treaty of Lisbon 2007: Winning Minds, not Hearts, CMLR 45, 2008, 617 (649).
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Kommission zur Erlassung eines delegierten Rechtsaktes ausgeschlossen ist. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 17. Dezember 1970 in der Rechtssache Köster46 im Hinblick auf Art 145 zweiter Spiegelstrich und Art 155 letzter Spiegelstrich EWGV „zwischen Vorschriften, die für die zu regelnde Materie wesentlich sind und daher der Zuständigkeit des Rates vorbehalten bleiben müssen, und Vorschriften, deren Erlass, da sie nur der Durchführung dienen, der Kommission übertragen werden kann“, unterschieden. Nach der bis zum 1. Dezember 2009 geltenden Rechtslage – Art 202 letzter Spiegelstrich EGV – waren nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes Bestimmungen als „wesentlich“ anzusehen, „durch welche die grundsätzlichen Ausrichtungen der Gemeinschaftspolitik umgesetzt“47 werden bzw die als die „wesentlichen Grundzüge der zu regelnden Materie“48 anzusehen sind.49 Meines Erachtens spricht nichts dagegen, diese Definition wesentlicher Bestimmungen auf Art 290 AEUV zu übertragen. Gemäß Art 290 Abs 1 UAbs 1 AEUV kann die Kommission zum Erlass eines delegierten Rechtsaktes mit allgemeiner Geltung „zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Gesetzgebungsaktes“ ermächtigt werden. Ausgehend davon, dass in Art 290 Abs 1 UAbs 1 AEUV von einem „Rechtsakt mit allgemeiner Geltung“ gesprochen wird, sind individuelle Rechtsakte vom Geltungsbereich dieser Bestimmung ausgeschlossen;50 dies ergibt sich auch daraus, dass Gesetzgebungsakte durch delegierte Rechtsakte ergänzt oder geändert werden können. Mit einem delegierten Rechtsakt kann zum einen der Basisrechtsakt in bestimmten nicht wesentlichen Vorschriften – sowohl im verfügenden Teil als auch in seinen Anhängen – geändert und damit inhaltlich verändert werden. 46 47 48 49
50
EuGH, Rs 25/70, Köster, Slg 1970, 1161 Rn 6. EuGH, Rs C-240/90, Deutschland/Kommission, Slg 1992, I-5383 Rn 37. EuGH, Rs 25/70, Köster, Slg 1970, 1161 Rn 6. Vgl auch EuGH, Rs C-66/04, Vereinigtes Königreich/Europäisches Parlament und Rat, Slg 2005, I-10533 Rn 48; und Rs C-303/94, Europäisches Parlament/Rat, Slg 1996, I-2943 Rn 23. So auch Europäische Kommission, Mitteilung vom 9.12.2009 an das Europäische Parlament und den Rat: Umsetzung von Art 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, KOM(2009) 673 endg, 3.
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Zum anderen können delegierte Rechtsakte auch zur „Ergänzung“ von Basisrechtsakten erlassen werden. Der Begriff der „Ergänzung“ in Art 290 AEUV ist unklar und im Hinblick auf eine genaue Abgrenzung der Geltungsbereiche von Art 290 und 291 AEUV problematisch. Der Wortlaut von Art 290 AEUV lässt offen, ob mit dem Begriff „Ergänzung“ nur eine Ergänzung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des Basisrechtsakts oder jede Ergänzung des Basisrechtsakts gemeint ist. Versteht man den Begriff „Ergänzung“ im erstgenannten Sinn, können dem Basisrechtsakt – sowohl im verfügenden Teil als auch in seinen Anhängen – bestimmte nicht wesentliche Vorschriften hinzugefügt werden. Der Basisrechtsakt wird damit inhaltlich verändert. Versteht man den Begriff „Ergänzung“ aber im zweitgenannten Sinn, könnte der Basisrechtsakt darüber hinaus auch um Vorschriften oder andere Elemente wie beispielsweise Formulare ergänzt werden, welche den Basisrechtsakt inhaltlich nicht verändern. Gegen die zweitgenannte Auffassung spricht der Regelungszweck von Art 290 AEUV. Die Kommission soll ermächtigt werden können, Gesetzgebungsakte durch eine Ergänzung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften oder durch eine Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften inhaltlich zu verändern. Die Kommission übt im Fall der Ermächtigung eine Zuständigkeit aus, die grundsätzlich dem Gesetzgeber vorbehalten ist; sie verfügt über ein – vom Unionsgesetzgeber eingeräumtes – politisches Ermessen. Hingegen sind Ergänzungen des Basisrechtsakts, mit denen keine nicht wesentlichen Vorschriften hinzugefügt werden und die daher keine inhaltliche Veränderung desselben bewirken, meines Erachtens als Durchführungsmaßnahmen im Sinne von Art 291 AEUV zu qualifizieren. Hier übt die Kommission keine vom Gesetzgeber delegierte, sondern vielmehr eine eigene, eine vollziehende Zuständigkeit aus. Gemäß Art 290 AEUV kann der Gesetzgeber die Kommission nur ermächtigen, Rechtsakte mit allgemeiner Geltung zur Ergänzung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften oder zur Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des Basisrechtsakts zu erlassen, welche den Basisrechtsakt in der vom Gesetzgeber angenommenen Fassung inhaltlich verändern.51 51
Siehe auch Gregor Schusterschitz, Rechtsakte und Rechtsetzungsverfahren, in Hummer / Obwexer (Hg), Der Vertrag von Lissabon (2009) 209 (229 f).
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Der Unionsgesetzgeber wird im jeweiligen Basisrechtsakt Ziel, Inhalt, Geltungsbereich, Dauer und Bedingungen der Ermächtigung der Kommission nicht nur ausdrücklich, sondern auch in eindeutiger Weise festzulegen haben. Dies kann meines Erachtens eine große Herausforderung für den Unionsgesetzgesetzgeber darstellen, insbesondere in komplexen Regelungsbereichen.52 Auch für eine effektive und effiziente Ausübung der Kontrollrechte und die Setzung von Kontrollmaßnahmen durch das Europäische Parlament und den Rat oder durch den Rat bedarf es einer exakten Festsetzung der diesbezüglichen Bedingungen. Die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofes zum Grad der Bestimmtheit von Ermächtigungen ist nicht eindeutig. Einerseits hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass „der Rat die Grenzen der … übertragenen Befugnisse deutlich anzugeben hat“ und dass die übertragenen Befugnisse „hinreichend umschrieben“ werden müssen.53 Andererseits hat er aber auch entschieden, dass eine allgemein gefasste Ermächtigung ausreicht, „ohne daß er [der Rat] die Hauptbestandteile der übertragenen Befugnisse genau festlegen müsste, und daß zu diesem Zweck eine allgemein gefasste Bestimmung eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage abgibt“.54 Gemäß Art 1 UAbs 1 letzter Satz KomitologieBeschluss55 sind „die Hauptbestandteile der … übertragenen Befugnisse“ im Basisrechtsakt anzugeben. In Art 290 AEUV werden nunmehr primärrechtlich die Anforderungen an Ermächtigungen in Basisrechtsakten geregelt. „Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer“ der Ermächtigung sowie die Bedingungen, unter denen die Ermächtigung der Kommission erfolgt, müssen im jeweiligen Basisrechtsakt nunmehr „ausdrücklich“ – und auch eindeutig – festgelegt 52
53 54 55
So auch Paul Craig, The Role of the European Parliament under the Lisbon Treaty, in Griller / Ziller (eds), The Lisbon Treaty (2008) 109 (116 f). EuGH, Rs 291/86, Central-Import Münster, Slg 1988, 3679 Rn 13. EuGH, Rs C-240/90, Deutschland/Kommission, Slg 1992, I-5383 Rn 41. Beschluss 1999/468/EG des Rates vom 28.6.1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse, ABl 1999 L 184/23, in der Fassung des Beschlusses 2006/512/EG des Rates vom 17.7.2006 zur Änderung des Beschlusses 1999/468/EG zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse, ABl 2006 L 200/11.
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werden. Nach Auffassung der Kommission muss die Ermächtigung „klar, präzise und genau begründet sein“; der Unionsgesetzgeber habe festzulegen, „welche Ziele durch den Erlass delegierter Rechtsakte zu erreichen sind und welche Grenzen diese Rechtsakte nicht überschreiten dürfen“.56 Der Gerichtshof wird daher meines Erachtens Ermächtigungen dann für nichtig zu erklären haben, wenn diese nicht hinreichend bestimmt oder bestimmbar sind. Dies wird insbesondere dann der Fall sein, wenn das der Kommission im Rahmen der Ermächtigung eingeräumte politische Ermessen nicht hinreichend eingrenzbar ist. Gemäß Art 290 Abs 2 AEUV sind die Bedingungen, unter welchen die Ermächtigung der Kommission erfolgt, im Basisrechtsakt ausdrücklich festzulegen. Dabei bestehen „folgende“ Möglichkeiten: Das Europäische Parlament oder der Rat kann beschließen, die Ermächtigung zu widerrufen (lit a). Der delegierte Rechtsakt kann nur in Kraft treten, wenn das Europäische Parlament oder der Rat innerhalb der im Basisrechtsakt festgelegten Frist keine Einwände erhebt (lit b). Es stellt sich nun die Frage, ob die in Art 290 Abs 2 AEUV enthaltene Aufzählung der Kontrollrechte nun als eine taxative oder demonstrative Aufzählung anzusehen ist. Das Europäische Parlament geht davon aus, dass „die beiden in Artikel 290 Absatz 2 AEUV genannten Möglichkeiten, Einwand und Widerruf, rein beispielhaften Charakter haben und andere Möglichkeiten der Kontrolle einer Befugnisübertragung denkbar sind, wie eine ausdrückliche Zustimmung des Parlaments und des Rates zu jedem delegierten Rechtsakt oder eine Möglichkeit, einzelne bereits in Kraft getretene delegierte Rechtsakte nachträglich aufzuheben“ und dass „die beiden in Artikel 290 Absatz 2 AEUV genannten Beispiele möglicher Bedingungen, unter denen die Übertragung erfolgt, nämlich die des Einwands und des Widerrufs, als die gebräuchlichsten Möglichkeiten der Kontrolle der Ausübung übertragener Befugnisse durch die Kommission angesehen werden können“.57 Dieser Ansicht ist meines Erachtens nicht zu folgen. Auch wenn die Be 56
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Europäische Kommission, Mitteilung vom 9.12.2009 an das Europäische Parlament und den Rat: Umsetzung von Art 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, KOM(2009) 673 endg, 5. Europäisches Parlament, Entschließung vom 5.5.2010 zur legislativen Befugnisübertragung, P7_TA(2010)0127 Rn 2 f.
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dingungen der Ermächtigung ausdrücklich festzulegen sind, bestehen dabei nach Art 290 Abs 2 AEUV nur „folgende Möglichkeiten“, nämlich das Widerrufsrecht und/oder das Einspruchsrecht.58 Der Wortlaut lässt keine Auslegung in Richtung demonstrativer Aufzählung zu. Dies gilt auch für andere Sprachfassungen. Für diese Auslegung spricht auch die Entstehungsgeschichte von Art 290 AEUV.59 Im Hinblick auf die Kontrollrechte ist noch bemerkenswert, dass bei Gesetzgebungsakten, die im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren angenommen worden sind, das Europäische Parlament und der Rat diese unabhängig von einander ausüben können. Im Fall des Widerrufsrechts bedeutet dies, dass ein Teil des Gesetzgebers ohne Mitwirkung des anderen Teils bzw ein anderer Gesetzgeber als der, welcher den Gesetzgebungsakt erlassen hat, diesen abändern kann. Da primärrechtlich festgelegt, ist dies aus dogmatischer Sicht nicht zu beanstanden. Diskutiert werden kann aber, ob das rechtspolitisch betrachtet sinnvoll ist. Art 290 AEUV sieht keine Expertenausschüsse zur Unterstützung der Kommission bei der Vorbereitung delegierter Rechtsakte und ihrer Kontrolle vor.60 Der Kommission steht daher der fachliche Input seitens der nationalen Experten nicht mehr zur Verfügung. Dass diesen wiederum die Möglichkeit genommen wird, Maßnahmenentwürfe zu beeinflussen, kann auch zu Problemen im Hinblick auf die Akzeptanz delegierter Rechtsakte führen. Dass die Kommission weiterhin ein Interesse an einer systematischen Konsultation von nationalen – und im Hinblick auf die Kontrollrechte des Europäischen Parlaments von diesem namhaft gemach 58
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60
So auch Europäische Kommission, Mitteilung vom 9.12.2009 an das Europäische Parlament und den Rat: Umsetzung von Art 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, KOM(2009) 673 endg, 8; Bruno de Witte, Legal Instruments and Law-Making in the Lisbon Treaty, in Griller / Ziller (eds), The Lisbon Treaty (2008) 79 (99); und Rudolf Streinz / Christoph Ohler / Christoph Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU3 (2010) 97. Vgl Dougan, The Treaty of Lisbon 2007 (Fn 45) 649. Vgl Art I-36 Vertrag über eine Verfassung für Europa, ABl 2004 C 310/1; und Europäischer Konvent, Schlussbericht der Gruppe IX „Vereinfachung“ vom 29.11.2002, Dok CONV 424/2, 10 f. Vgl Paolo Ponzano, Executive and Delegated Acts: The Situation after the Lisbon Treaty, in Griller / Ziller (eds), The Lisbon Treaty (2008) 135 (136).
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ten – Experten und an einem regelmäßigen Dialog mit diesen Experten haben muss und hat, wie sie bereits erklärt hat,61 ist ebenso nachvollziehbar wie die Reaktionen des Europäischen Parlaments62 und des Rates,63 die diesem Anliegen der Kommission große Bedeutung beimessen und eine unverzügliche Umsetzung einfordern. B. Durchführungsrechtsakte Verlangen verbindliche Rechtsakte der Europäischen Union „einheitliche Bedingungen für die Durchführung“, können mit diesen Rechtsakten gem Art 291 Abs 2 AEUV der Kommission Durchführungsbefugnisse übertragen werden. Eine Übertragung von Durchführungsbefugnissen an den Rat stellt hingegen die Ausnahme dar. Zur Kontrolle der Kommission durch die Mitgliedstaaten sind nach Art 290 Abs 3 AEUV im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Verordnungen allgemeine Regeln und Grundsätze festzulegen. Ausgehend davon, dass sich Art 291 Abs 2 AEUV auf „die Durchführung der verbindlichen Rechtsakte“ der Europäischen Union bezieht, ist davon auszugehen, dass nicht nur in einem Gesetzgebungsverfahren angenommene Gesetzgebungsakte, sondern auch in einem Rechtsetzungsverfahren erlassene Rechtsakte in den Anwendungsbereich von Art 290 Abs 2-4 AEUV fallen. Ob auch delegierte Rechtsakte im Sinne von Art 290 AEUV als „verbindliche Rechtsakte“ nach Art 291 Abs 2 AEUV anzusehen sind, ist fraglich, wird aber meines Erachtens zu bejahen sein. Dafür spricht zum einen der Wortlaut von Art 291 Abs 2 AEUV, der eine Qualifikation von delegierten Rechtsakten im Sinne von Art 290 AEUV als „verbindliche Rechtsakte“ nach Art 291 Abs 2 AEUV nicht aus-
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Europäische Kommission, Mitteilung vom 9.12.2009 an das Europäische Parlament und den Rat: Umsetzung von Art 290 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, KOM(2009) 673 endg, 7. Europäisches Parlament, Entschließung vom 5.5.2010 zur legislativen Befugnisübertragung, P7_TA(2010)0127 Rn 11. Rat der Europäischen Union, Dok 17.477/09 vom 11.12.2009, Anlage I.
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schließt, zum anderen die Entstehungsgeschichte von Art 291 AEUV.64 Dem Rat kommen, abgesehen von den in Art 24 und 26 EUV vorgesehenen Fällen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, Durchführungsbefugnisse gemäß Art 291 Abs 2 AEUV nur „in entsprechend begründeten Sonderfällen“ zu. Zur Klärung der Frage, ob ein derartiger Sonderfall vorliegt, wird auf die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Rechtslage vor dem 1. Dezember 2009 – Art 202 letzter Spiegelstrich EGV – zurückzugreifen sein. Dieser zufolge hat der Rat „entsprechend der Natur und dem Inhalt des umzusetzenden oder zu ändernden Basisrechtsakts eine ordnungsgemäße Begründung [zu] geben …, dass es im System des Vertrages, wenn auf Gemeinschaftsebene Maßnahmen zur Durchführung eines Basisrechtsakts zu treffen sind, Aufgabe der Kommission ist, diese Befugnis auszuüben“.65 Da der Rat „sich schließlich nur in spezifischen Fällen vorbehalten [könne], Durchführungsbefugnisse selbst auszuüben“, sei diese Entscheidung „ausführlich zu begründen“.66 Ausgehend vom Wortlaut des Art 290 Abs 2 AEUV „in entsprechend begründeten Sonderfällen“ spricht meines Erachtens nichts dagegen, die vom Gerichtshof in seiner bisherigen Rechtsprechung formulierten Anforderungen für die Übertragung von Durchführungsbefugnissen auf den Rat auf Art 290 AEUV zu übertragen. Die Kommission kann zur Erlassung von Durchführungsmaßnahmen ermächtigt werden, wenn ein Bedürfnis nach einheitlichen Durchführungsbedingungen besteht. Im Fall einer Verordnung als Basisrechtsakt kann diese selbst in detaillierter Weise Bestimmungen betreffend ihre Durchführung vorsehen. Ein Bedürfnis im Sinne von Art 291 Abs 2 AEUV wird zum einen anzunehmen sein, wenn sich zeigt, dass wegen der Unterschiede des bei der Durchführung anzuwendenden nationalen Rechts eine einheitliche bzw gleichförmige Durchführung in allen Mitgliedstaaten nicht sichergestellt
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Vgl Europäischer Konvent, Schlussbericht der Gruppe IX „Vereinfachung“ vom 29.11.2002, Dok CONV 424/2, 11. Siehe dazu auch Craig, The Role of the European Parliament under the Lisbon Treaty (Fn 52) 122. EuGH, Rs C-257/01, Kommission/Rat, Slg 2005, I-345 Rn 51. EuGH, Rs 16/88, Kommission/Rat, Slg 1989, 3457 Rn 10.
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ist.67 Zum anderen dann, wenn das bei der Durchführung anzuwendende nationale Recht eine effektive und effiziente Durchführung des Unionsrechts einschränkt. Bei der Umsetzung und Durchführung einer Richtlinie kommt den Mitgliedstaaten Ermessen zu. Im Hinblick auf dieses Ermessen wird ein Bedürfnis nach einheitlichen Durchführungsbedingungen wohl nur für bestimmte Aspekte der in der Richtlinie geregelten Materie angenommen werden können. Andernfalls stellt sich die Frage, ob die Richtlinie in diesem Fall überhaupt ein geeignetes Regelungsinstrument darstellt.68 Einerseits wird das Europäische Parlament durch Art 291 AEUV gestärkt. Die Verordnungen zur Festlegung von allgemeinen Regeln und Grundsätzen für die Kontrolle der Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission (KomitologieVerordnung) sind nun im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zu erlassen. Andererseits sind seine bisherigen Kontrollrechte im Regelungsverfahren mit Kontrolle gemäß Art 5a Komitologie-Beschluss nicht mit Art 291 AEUV vereinbar.69 Dieser beruft ausdrücklich nur die Mitgliedstaaten zur Kontrolle der Kommission. Dass das Parlament nicht ganz auf seinen Einfluss verzichten will, zeigt der Entwurf für einen Bericht von MEP Szájer70 zum Vorschlag der Kommission zur neuen Komitologie-Verordnung.71 So soll die Kommission verpflichtet werden, Maßnahmenentwürfe dem Europäischen Parlament nicht nur zugänglich zu machen, son 67 68 69
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Vgl Craig, The Role of the European Parliament under the Lisbon Treaty (Fn 52) 120 f. Craig, The Role of the European Parliament under the Lisbon Treaty (Fn 52) 121 f. Siehe auch Dougan, The Treaty of Lisbon 2007 (Fn 45) 650 f; Craig, The Role of the European Parliament under the Lisbon Treaty (Fn 52) 109, 123; und Ponzano, Executive and Delegated Acts (Fn 60) 139 f. Europäisches Parlament, Entwurf eines Berichts vom 20.5.2010, Berichterstatter MEP Szájer, PR441.207v02-00; und Änderungsanträge 13-32, PE442.936v01-00. Europäische Kommission, Vorschlag vom 9.3.2010 für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren, KOM(2010) 83 endg. Vgl dazu Rat der Europäischen Union, Dok 17.477/09 vom 11.12.2009 Anlage II.
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dern auch aktiv zu übermitteln. Das Europäische Parlament soll – wie bisher nach Art 8 Komitologie-Beschluss – berechtigt sein, zu erklären, dass der Entwurf für den Durchführungsrechtsakt die im Basisrechtsakt vorgesehenen Durchführungsbefugnisse überschreitet. Die Kommission hat in diesem Fall die Maßnahmenentwürfe zu prüfen und das Europäische Parlament über ihr weiteres Vorgehen zu informieren. Ausgehend davon, dass Art 291 AEUV keine Rolle für das Europäische Parlament bei der Kontrolle der Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission vorsieht, kann eine derartige Erklärung die Kommission meines Erachtens in keiner Weise verpflichten. IV. Abschließende Bemerkungen Mit der Neugestaltung der Gesetzgebungs- und Rechtsetzungsverfahren in der Europäischen Union durch den Vertrag von Lissabon, insbesondere durch die Einführung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens mit seinem gegenüber dem bisherigen Verfahren der Mitentscheidung deutlich ausgeweiteten Anwendungsbereich, sind zwar einige Auslöser für Organstreitverfahren betreffend die Wahl der Rechtsgrundlage entfallen, es ergeben sich aber gleichzeitig neue Fragen, beispielsweise nach der Kombinierbarkeit von Rechtgrundlagen, von denen eine ein Gesetzgebungsverfahren, die andere ein Rechtsetzungsverfahren vorsieht. Die Neugestaltung der Gesetzgebungs- und Rechtsetzungsverfahren durch die Vertragsparteien deutet auch darauf hin, dass diese eine Adoption der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Verbindung von Rechtsgrundlagen, die unterschiedliche Rechtsetzungsverfahren vorsehen, also bei denen die Abstimmungserfordernisse im Rat und/oder die Form der Mitwirkung des Europäischen Parlaments divergieren, ablehnen. Ob sich der Gerichtshof davon beeindrucken lässt, bleibt abzuwarten. Jedenfalls liegt es nun in verstärktem Ausmaß am Rat und an den im Rat vertretenen Mitgliedstaaten, ihre von den Vertragsparteien mit dem Vertrag von Lissabon neu definierten Mitwirkungsrechte im Gesetzgebungs- und Rechtsetzungsverfahren gegenüber einem erstarkten Europäischen Parlament – auch und vor allem vor dem Gerichtshof – zu wahren. Was die delegierte und die Durchführungsrechtsetzung sowie die genaue Abgrenzung ihrer Anwendungsbereiche betrifft, wird erst die Praxis der beteiligten Rechtsetzungsorgane und ein allfälliges Einschreiten des Gerichtshofes in den nächsten Jahren zur genauen Klärung aller damit zusammenhängenden Fragen beitragen.
Maria Berger1
Die Ausgestaltung der Neuerungen im Rechtsschutzsystem I. Einleitung II. Änderungen bei Bezeichnung, Organisation und Zuständigkeiten A. Bezeichnungen B. Organisation C. Zuständigkeiten 1. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik 2. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR) 3. Nichtigkeitsklage 4. Vorabentscheidungsverfahren 5. Vertragsverletzungsverfahren und Untätigkeitsklage III. Mehr Rechtsschutz durch Art 47 GRC IV. Verbesserter Rechtsschutz durch den Beitritt zur EMRK
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I. Einleitung Diese Tagung beschäftigt sich mit vielen Fragen, die im Reformprozess der letzten Jahre einen zentralen Platz eingenommen und auch einen prominenten Niederschlag im Lissabonner Vertrag gefunden haben. Für das Rechtsschutzsystem der Union gilt dies nicht, hier wurde offensichtlich von Beginn an kein besonderer Reformbedarf gesehen. So enthielt das dem Verfassungskonvent zu Grunde liegende sog Mandat von Laeken keine einzige Frage, die auf den Rechtsschutz Bezug nahm. Im Verfassungskonvent kam man aber doch an diesen Fragen nicht ganz vorbei, im Rahmen der Beratungen zur Charta und zum Beitritt zur EMRK2 wurden na1 2
Die geäußerten Meinungen sind ausschließlich der Autorin zuzurechnen und nicht dem EuGH. http://european-convention.eu.int, WG II.
T. Eilmansberger et al. (eds.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon © Springer-Verlag Wien 2011
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türlich auch die Verfahren zur Durchsetzung der neuen Rechte mitberaten. In einer ursprünglich nicht vorgesehenen kleinen ad-hoc Arbeitsgruppe wurden dann auch spezielle Fragen zur Europäischen Gerichtsbarkeit und des Zugangs zu ihr bearbeitet. Ich selbst gehörte als Vertreterin des Europäischen Parlaments dieser Arbeitsgruppe an, deren Ergebnisse zwar bescheiden waren, sie haben aber wahrscheinlich genau deshalb in den Lissabonner Vertrag Eingang gefunden. II. Änderungen bei Bezeichnung, Organisation und Zuständigkeiten A. Bezeichnungen Als logische Konsequenz des Aufgehens der Europäischen Gemeinschaft in der Europäischen Union (Art 1 EUV) sieht Art 13 EUV die neue Bezeichnung Gerichtshof der Europäischen Union vor. Im Unterschied zu den anderen Institutionen, die den generellen Beinamen „europäisch“ führen, hätte dieses Prinzip beim Gerichtshof zu wenig Unterscheidbarkeit zum EGMR selbst bei der förmlichen Bezeichnung zur Folge gehabt. Der Gerichtshof der Europäischen Union umfasst den Gerichtshof, das Gericht und die Fachgerichte (Art 19 EUV). Damit ist nun eine deutlichere Gliederung und Unterscheidung zwischen dem Gesamtgebilde und dem Gerichtshof als Teil dieses Gesamtgebildes gegeben. Eine gewisse Ratlosigkeit im Hinblick auf eine passende Neubenennung des GEI war von Anfang an gegeben, klar war nur, dass der falsche Hinweis auf eine nur erste Instanz entfallen sollte, ein sonstiger schmückender Beinamen konnte insbesondere für die deutsche Sprachfassung nicht gefunden werden. Der EuGH hat dann für sich entschieden, sich in Zukunft „Gerichtshof der Europäischen Union“ zu nennen und das Gericht „Gericht der Europäischen Union“. B. Organisation Die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union wurde mit nur geringfügigen Änderungen übergeleitet und findet sich weiterhin im Protokoll Nummer 3 zum AEUV. Mit Ausnahme ihres Titel I (Organisation) und ihres Art 64 (Sprachenregime) – die nun auch für die Fachgerichte explizit gelten (Art 257 AEUV) – unterliegt die Satzung dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, dh dem Europäischen Parlament kommt das Recht der Mitentscheidung und nicht mehr nur das der Stellungnahme zu (Art 281 AEUV). Das
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ordentliche Gesetzgebungsverfahren findet nun auch auf die Einsetzung der dem Gericht beigeordneten Fachgerichte Anwendung. Unverändert bleibt das Recht des Gerichtshofs der Europäischen Union, einen Antrag auf Einrichtung eines zusätzlichen Fachgerichts und auf Änderung der Satzung zu stellen. Diese Anträge unterliegen nun aber auch dem neuen Verfahren nach dem Protokoll Nummer 2 zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und des Verhältnismäßigkeitsprinzips. An den bestehenden Bestimmungen zur Zusammensetzung des Gerichtshofs und des Gerichts ändert der Vertrag von Lissabon nichts Entscheidendes. Mögliche Änderungen wurden in der Konventsarbeitsgruppe zwar diskutiert, fanden aber keine Mehrheit. Das trifft vor allem auf die Frage einer Reduzierung der Anzahl der Richter am Gerichtshof zu, die ebenso wie die Reduktion der Anzahl der Mitglieder der Kommission und des Parlaments angesichts der zu erwartenden Erweiterung behandelt werden musste. Hier war sich die Arbeitsgruppe weitgehend einig, dass das bisherige Prinzip – ein Mitgliedstaat, ein Richter (EuGH) bzw mindestens ein Richter (EuG) – beibehalten werden sollte. Diese im Vergleich zu den anderen Institutionen abweichenden Überlegungen waren weniger mit der Gleichheit der mitgliedstaatlichen Rechte begründet, sondern mit der Hoffnung, dass eine durch die Erweiterung deutlich erhöhte Anzahl der Richter und einem nur verzögert eintretenden Fallanstieg es dem Gerichtshof erlauben sollten, die durchschnittliche Verfahrensdauer zu verringern. Diese Hoffnung ist durchaus aufgegangen.3 Die langjährige Forderung, zur Stärkung der Unabhängigkeit der Richter das Mandat von sechs Jahren erneuerbar auf neun oder zwölf Jahre ohne oder mit beschränkter Weiterbestellungsmöglichkeit zu ändern, wurde in der Konventsarbeitsgruppe zwar ausführlich diskutiert, keine der Alternativen konnte aber eine Mehrheit finden.4 In einer Erklärung der Regierungskonferenz (Nr 38) zum Art 252 AEUV wurde festgehalten, dass – im Falle eines entsprechenden Antrags des EuGH – der Rat der Erhöhung der Anzahl der Generalanwälte um drei auf dann insgesamt elf zustimmen wird. 3
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So ist zB die durchschnittliche Verfahrensdauer bei Vorabentscheidungsverfahren von 23,5 Monaten im Jahr 2004 auf 16,8 Monate im Jahre 2008 gesunken, Jahresbericht 2008, http://curia.europa.eu. Siehe Antrag Duff, Berger ua für ein Mandat von 9 Jahren, Konvent Circle I WD 18.
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Von diesen drei zusätzlichen fiele Polen ein ständiger zu. Zur Vorbereitung eines allfälligen diesbezüglichen Antrags des EuGH werden derzeit statistische Erhebungen zum Bedarf nach zusätzlichen Generalanwälten geführt. Unter dem Eindruck einer insbesondere im Europäischen Parlament umstrittenen Richterbestellung wurden in der Konventsarbeitsgruppe mehrere Ideen diskutiert, das mehr oder minder uneingeschränkte Nominierungsrecht der Mitgliedstaaten stärker zu objektivieren. Anhörungen im EP analog zu denen der designierten Kommissare wurden ebenso debattiert wie die Einrichtung eines sog Filtermechanismus. Davon übrig geblieben ist der nun durch Art 255 AEUV vorgesehene Ausschuss, der vor dem Beschluss der Mitgliedstaaten die Eignung der nominierten Richter überprüfen soll. Der Ausschuss soll aus sieben Persönlichkeiten bestehen, die aus dem Kreis ehemaliger Mitglieder des Gerichtshofes oder des Gerichts, der höchsten einzelstaatlichen Gerichte oder aus Juristen von anerkannt hervorragender Fähigkeit auszuwählen sind. Das Vorschlagsrecht für eines der Mitglieder kommt dem EP zu. Die Mitglieder und die Verfahrensregeln werden vom Präsidenten des EuGH vorgeschlagen und vom Rat beschlossen. Dieser Ausschuss hat sich mittlerweile unter dem Vorsitz von Jean Marc Sauvé (Präsident des franz. Conseil d’état) konstituiert. Aus dem Vertrag selbst ist ersichtlich, dass in Zukunft die Richter und Generalanwälte am EuGH sowie die Richter am EuG durch diesen Filter müssen – und wie aus der Ratsentscheidung ersichtlich – auch dann, wenn Richter und Generalanwälte in ihrer bestehenden Funktion wiederbestellt werden sollen bzw im Fall einer „passage“ zB vom EuG an den EuGH. Dazu gibt es nicht ganz zu unrecht kritische Stimmen, da es hier zu einer externen Bewertung der bisherigen rechtsprechenden Tätigkeiten eines Richters kommen kann und seine Unabhängigkeit damit beeinträchtigt werden könnte. Zur Debatte stand auch die Einführung zusätzlicher, über den Vertrag hinausgehender Ernennungsvoraussetzungen, wie zB die besonders gute Kenntnis des Unionsrechts und der französischen Sprache. Dazu ist es aber nicht gekommen. Der Ausschuss hat bereits in mehreren Fällen seine Stellungnahme abzugeben gehabt, wobei diese in zwei Fällen negativ ausgegangen ist. Wie darauf die nominierenden Mitgliedstaaten reagiert haben, war zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Manuskripts noch nicht bekannt.
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C. Zuständigkeiten 1. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bleibt die gerichtliche Kontrolle weiterhin grundsätzlich ausgeschlossen (Art 24 EUV, Art 275 AEUV). Die Tragweite dieser Ausnahme relativiert und verschärft sich gleichzeitig dadurch, dass auch der Erlass von Gesetzgebungsakten ausgeschlossen ist. Die in fast allen Fällen weiterhin erforderliche Einstimmigkeit vermag dies nicht wirklich zu sanieren. Der Verfassungsvertrag sah auf Vorschlag des Konvents noch eine Vollzuständigkeit des EuGH vor (Art I-40 und III-365). Als Ausnahme von der Nichtzuständigkeit bleibt die Unberührtheitsklausel (Art 40 EUV) bestehen, deren Relevanz nicht zu unterschätzen ist, da in den angesprochenen Kompetenzartikeln eine Vielzahl von außen- und sicherheitspolitischen Aspekten enthalten sind. Damit kommt hier dem EuGH eine gewisse „Kompetenz-Kompetenz“ zu, von der er zuletzt in der Rechtssache C-91/055 Gebrauch gemacht hat und einen Beschluss des Rates im Rahmen der GASP für nichtig erklärt hat. Eine weitere formell neue Ausnahme von der Nichtzuständigkeit ist nun im Art 275 AEUV enthalten, nämlich für den ebenfalls praktisch relevanten Fall der Überwachung der Rechtmäßigkeit von restriktiven Maßnahmen gegenüber natürlichen und juristischen Personen, die der Rat auf der Grundlage von Art 215 AEUV beschlossen hat. 2. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR) Für den Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts konnte sich die im Verfassungsvertrag vorgesehene Vollzuständigkeit des EuGH bis in den Vertrag von Lissabon retten, jedoch um den Preis einer fünfjährigen Übergangsfrist für den Teilbereich polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Art 10 Abs 1 Protokoll Nummer 36). Hier bleiben die vor Inkrafttreten des Vertrages bestehenden Beschränkungen in der Zuständigkeit des Gerichtshofs (Art 35 EUV alt) und der Kommission aufrecht. Wird allerdings während der Übergangsfrist ein unter dem alten Titel VI angenommener Rechtsakt geändert, unterliegt dieser dann der vollen Zuständigkeit des EuGH. Dafür bzw für die Zeit nach Ablauf der Übergangsfrist besteht dann als einzige spezielle Einschränkung die des Art 276 AEUV, der dem Art 35 Abs 5 alt 5
EuGH, Rs C-91/05, Kommission/Rat, Slg 2008, I-3651.
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entspricht und es dem EuGH untersagt, die Gültigkeit oder Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen der Polizei oder anderer Strafverfolgungsbehörden eines Mitgliedstaats oder der Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit zu überprüfen. Erhalten bleibt für den gesamten RFSR auch der allgemeine Zuständigkeitsvorbehalt zu Gunsten der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit (Art 72 AEUV). Insgesamt beginnt mit Ablauf der Übergangsfrist hier ein neues Kapitel auch für den EuGH und eine im Wachstum begriffene Materie fällt unter den Vorrang des Unionsrechts und die volle Zuständigkeit des EuGH. Hinzuweisen ist auch auf die Anwendbarkeit der Lückenschlussklausel des Art 352 AEUV (mit Ausnahmen für die Harmonisierung), sämtlicher Querschnittsklauseln und der allgemeinen Regelungen zum Datenschutz (Art 16 AEUV) sowie auf den Wegfall von Sonderrechtsakten (zB Rahmenbeschluss, Übereinkommen) und deren Beschränkungen der unmittelbaren Anwendbarkeit (Art 34 EUV alt). Versatzstücke der alten Denkweise finden sich aber zB weiterhin in den neuen Art 82-84 EUV zur justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, die die Rechtsformenwahl auf die Richtlinie einschränken bzw jegliche Harmonisierung der Rechtsvorschriften ausschließen. Der größte unmittelbare Zugewinn an Zuständigkeiten des EuGH entsteht durch den Wegfall des Art 68 EGV. Damit können Vorabentscheidungen ohne Einschränkung auf höchstinstanzliche Gerichte verlangt werden, wovon im betroffenen Sektor Visa, Asyl, Immigration und andere mit dem freien Personenverkehr verbundene Bereiche (Titel IV) durchaus Gebrauch gemacht werden dürfte. Da in der Schlussphase der Verhandlungen zum Amsterdamer Vertrag die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen etwas unsystematisch in diesem Titel IV gelandet ist, galten dafür besonders unangebracht auch die Einschränkungen des Art 68 EGV, deren Motiv es eigentlich nur war, den EuGH vor Überlastung durch Asylfälle zu schützen. Die Ausnahmen für Großbritannien, Irland und Dänemark bleiben nicht nur aufrecht, sondern werden sogar für die erst genannten Staaten um die justizielle und polizeiliche Zusammenarbeit erweitert.6
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Protokolle Nr 19 bis Nr 22 zum EUV und zum AEUV.
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3. Nichtigkeitsklage Einige literarische Debatten löste die neue Fassung der Nichtigkeitsklage in Art 263 AEUV aus. Durchgehend begrüßt7 wird die primärrechtliche Klarstellung, dass der Nichtigkeitsklage nun nicht nur Gesetzgebungsakte sowie verbindliche Handlungen des Rates, der Kommission und der Europäischen Zentralbank generell, Handlungen des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates mit Rechtswirkungen gegenüber Dritten unterliegen, sondern solche Handlungen auch dann, wenn sie von anderen „Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union“ stammen. Damit wird der rasant gewachsenen Anzahl von Agenturen Rechnung getragen und auch den nun im Vertrag direkt verankerten Einrichtungen Eurojust und Europol (Art 86 und 88 AEUV). Mehr Interesse in der Literatur hat bisher aber die neue Textierung der Individualklage gefunden, erhofft man sich doch hier eine Antwort auf die langjährige und engagierte Debatte zu der aus der Sicht vieler zu restriktiven Rechtsprechung des Gerichtshofs.8 Die Hoffnung entzündet sich vor allem an der Tatsache, dass für die individuelle Anfechtung von „Rechtsakten mit Verordnungscharakter, die keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen“ nur mehr die unmittelbare Wirkung gegeben sein muss und das bisherige zusätzliche Kriterium der auch individuellen Betroffenheit für diese Akte nicht mehr erforderlich ist. Nachdem im Unterschied zur Terminologie des Verfassungsvertrages im Vertrag von Lissabon die „Verordnung“ neben der Richtlinie wieder das zentrale Instrument der Gesetzgebung darstellt, legt eine wörtliche Auslegung – Verordnungen sind wohl eine Subgruppe aller Rechtsakte mit Verordnungscharakter – einen Sinn nahe, der die Individualklage jedenfalls gegen Verordnungen durch den Wegfall des Kri7 8
Meinhard Schröder, Neuerungen im Rechtsschutz der Europäischen Union durch den Vertrag von Lissabon, DöV 2009/2, 63. Siehe zB das Urteil in der Rs C-50/00 P, Union de Pequeños Agricultores, Slg 2002, I-6677 und die Anmerkungen von Jürgen Schwarze, Der Individualrechtsschutz gegen Rechtsnormen im europäischen Gemeinschaftsrecht, in Brenner / Huber / Möstl (Hg), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel, Festschrift für Peter Badura (2004) 1167; Anthony Arnull, Private Applicants and the Action for Annulment since Codorniu, CMLR 38, 2001, 7; Floris de Witte, The European Judiciary after Lisbon, Maastricht Journal of European and Comparative Law 15 (1) 2008, 43.
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teriums der individuellen Betroffenheit deutlich ausweitet und erleichtert. Eine historische und systematische Auslegung kommt aber zu einem anderen Ergebnis. Der wortgleiche Text im Verfassungsvertrag (Art III-365) bezog sich explizit auf Verordnungen als Akte der delegierten Gesetzgebung und der Durchführung. Die Verordnung als Akt der Gesetzgebung war im Verfassungsvertrag durch das „Gesetz“ ersetzt (Art I-32, 33, 35, 36). Diese terminologischen Änderungen wurden auch bei der redaktionellen Überarbeitung der in den Verfassungsvertrag übernommenen „alten“ Vertragsteile berücksichtigt, zB ist im ersten Satz des Art III-365 ausdrücklich von Gesetzen und Rahmengesetzen die Rede. Eine erleichterte Individualklage gegen Akte der europäischen Gesetzgebung, insbesondere bei Verletzung der Grundrechte, war zwar von einigen Konventmitgliedern (auch von mir)9 gefordert worden, dies konnte sich aber nicht durchsetzen. Der Arbeitskreis des Konvents zur Gerichtsbarkeit konnte sich nur auf die folgende, mehrdeutige Formulierung verständigen und das auch nicht einstimmig: „Jede natürliche oder juristische Person kann … gegen sie ergangene Rechtsakte oder Rechtsakte, die sie unmittelbar und individuell betreffen, sowie gegen Rechtsakte (allgemeiner Geltung/ohne Gesetzgebungscharakter), die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsbestimmungen enthalten, Klage erheben“.10 Die im Verfassungsvertrag verwendete Formulierung „Akte mit Verordnungscharakter“ (bzw actes réglementaires in der französischen Fassung und regulatory acts in der englischen Fassung) wird als sprachliche Neufassung von „Rechtsakten mit allgemeiner Geltung ohne Gesetzgebungscharakter“ anzusehen sein. Ob nun mit der wortgleichen Übernahme des Texts durch die nachfolgende Regierungskonferenz tatsächlich die Erleichterung der Individualklage gegen legislative Verordnungen intendiert war und somit etwas zugelassen werden sollte, was noch im Konvent verhindert oder nur sehr eingeschränkt zugelassen wurde, darf bezweifelt werden. Es dürfte bei der redaktionellen Entstaatlichung11 unter anderem durch die Rückschreibung von Gesetz und Rahmengesetz auf Verordnung und Richtlinie dieser paradoxe Effekt entstanden sein. In diese Richtung 9 10 11
Siehe CONV 189/02 und CONV 487/1/03 REV 1. CONV 636/03, 7. Peter-Christian Müller-Graff, Der Vertrag von Lissabon auf der Systemspur des Europäischen Primärrechts, Integration 2008, 123 (134) spricht von „etatistischer Entanalogisierung“.
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führt auch eine systematische Auslegung. Nähme man aus dem einleitenden Satz, der die Rechtsprechung des EuGH wiedergibt, die legislativen Verordnungen heraus, dann reduzierte er sich auf Entscheidungen und den wenig wahrscheinlichen Fall von direkter und individueller Betroffenheit von Richtlinien und Beschlüssen. Diese Sichtweise wird auch durch die Erläuterungen zu Art 47 GRC bestätigt.12 Welche der möglichen Interpretationen letztendlich zur Anwendung kommt, wird der EuGH zu entscheiden haben. Darüber hinaus wird bis auf weiteres der Zugang zum Unionsrichter wesentlich davon abhängen, dass die Mitgliedstaaten dem im Art 19 Abs 1 UAbs 2 EUV erstmals primärrechtlich verankerten Gebot, „die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen“, auch tatsächlich nachkommen. Hier scheint aber weniger die Existenz dieser Rechtsbehelfe ein Problem zu sein, sondern die unterschiedliche Vorlagefreudigkeit der nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten.13 Ergänzend zu Art 19 Abs 1 UAbs 2 EUV ist Art 47 GRC zu verstehen, der für sämtliche durch das Unionsrecht garantierten Rechte einen wirksamen Rechtsbehelf bei einem Gericht verlangt. Neu in Zusammenhang mit der Nichtigkeitsklage ist auch das Klagerecht des Ausschusses der Regionen „zur Wahrung (seiner) Rechte“ (Art 263 Abs 3 AEUV) und nach dem Subsidiaritätsprotokoll gegen Gesetzgebungsakte, zu denen er das Recht der Stellungnahme hatte. Dieses Protokoll sieht auch die Klagemöglichkeit nationaler Parlamente vor, wobei die Mitgliedstaaten unter anderem festzulegen haben, wie sie bei Zwei-Kammersystemen vorgehen werden. Die Klage muss vom Mitgliedstaat im Namen des Parlaments übermittelt werden. Eine Einschränkung des weiten Anwendungsbereiches der Nichtigkeitsklage – „Handlungen des Rates …, des Europäischen Rates mit Rechtswirkung gegenüber Dritten …“ – ergibt sich aus Art 269 AEUV. Rechtsakte, die der Rat oder der Europäische Rat 12 13
ABl 2007 C 303, 17. So weisen die beiden Gründungsmitglieder Frankreich und Niederlande eine fast gleiche Gesamtanzahl von Ersuchen um Vorabentscheidung auf (1952-2009: 779 bzw 738). Aus den 1995 beigetretenen Ländern kamen von österreichischen Gerichten bis Dezember 2009 345 Ersuchen, aus Schweden 80 und aus Finnland 59. Aus den 2004 beigetretenen Staaten liegen bisher 65 Anfragen aus Ungarn vor aber nur 23 aus Polen oder 1 aus Slowenien.
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gemäß Art 7 EUV gegen einen Mitgliedstaat wegen schwerwiegender Verletzung der Werte der Union ergreift, dürfen vom EuGH nur im Hinblick auf die Einhaltung der in diesem Artikel vorgesehenen Verfahrensbestimmungen überprüft werden. Klageberechtigt ist nur der betroffene Mitgliedstaat, der seine Klage innerhalb eines Monats einbringen muss. Auch der EuGH hat nur ein Monat für seine Entscheidung. 4. Vorabentscheidungsverfahren Markante Änderungen ergeben sich wie oben dargestellt aus dem Wegfall bisher bestehender Beschränkungen im Bereich des RFSR. Konsequenterweise wird das bisher in der Satzung des EuGH verankerte Eilverfahren in Fällen, in denen eine Person in Haft ist, im Art 267 AEUV primärrechtlich verankert. 5. Vertragsverletzungsverfahren und Untätigkeitsklage Im neuen Art 260 AEUV wird das bisherige Verfahren nach Art 228 EUV zur Zahlung eines Pauschalbetrags oder eines Zwangsgeldes beschleunigt. Im Falle einer Nichtnotifizierung von zur Umsetzung einer Richtlinie erforderlichen Maßnahmen steht der Kommission in Zukunft ein nur einstufiges Verfahren beim Gerichtshof zur Verfügung. Angesichts der institutionellen Neuordnung der Union ist die Untätigkeitsklage (Art 265 AEUV) nun auch gegen den Europäischen Rat und die Europäische Zentralbank sowie gegen sonstige Stellen und Einrichtungen der Union (Agenturen, Eurojust und Europol) möglich. III. Mehr Rechtsschutz durch Art 47 GRC Der neue Art 47 GRC übernimmt weitgehend die Erfordernisse des Art 13 EMRK, geht aber insofern darüber hinaus, als er nicht nur von einer „nationalen Instanz“ spricht, sondern ausdrücklich von einem „Gericht“. Auch die Erläuterungen betonen diesen Unterschied und verweisen auf einen schon bisher in der Rechtsprechung des EuGH anerkannten allgemeinen Grundsatz des Rechts auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf bei Grundrechtsverletzungen. Nachdem die Erläuterungen dies nicht als direkten Zugang zu einem Gemeinschaftsgericht bzw als Ausweitung der Individualklage über den oben beschriebenen Status hinaus verstanden wissen wollten, bleibt die Erfüllungslast bei den Mitgliedstaaten. Wenn bei jeder
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behaupteten Verletzung von „durch das Recht der Union garantierten Rechten und Freiheiten“ im Bereich der Durchführung von Unionsrecht ausdrücklich ein Gericht anrufbar sein muss, so ist zu überprüfen, ob dies für Österreich auch jenseits zivil- und strafrechtlicher Verfahren der Fall ist.14 Art 47 Abs 2 fordert von einem Gericht, dass es unabhängig und unparteiisch ist, zuvor durch Gesetz eingerichtet wurde, ein faires Verfahren zur Anwendung kommt und dass öffentlich und in angemessener Frist verhandelt wird. Aus der Rechtsprechung zur EMRK ist hier mit zu übernehmen, dass auch die Kompetenz zu einer vollen Sach- und Rechtsprüfung gegeben ist. Für die ordentliche Gerichtsbarkeit entsteht dadurch kein Änderungsbedarf. Unproblematisch sind auch jene Fälle in der Verwaltung, deren letzte administrative Instanz ein UVS ist, da diese die Gerichtserfordernisse des Art 47 GRC erfüllen. Soweit aber im administrativen Instanzenzug kein „Gericht“ mit voller Kognitionsbefugnis vorgesehen ist, müssten hier der VwGH und der VfGH einspringen. Der VwGH könnte die vollständige Überprüfung und die Wahrung der Öffentlichkeit durch eine weite Auslegung seiner Verfahrensvorschriften sicherstellen, womit aber nicht alle Probleme beseitigt wären.15 Der VfGH müsste auch von dem ihm im Art 19 VfGG eingeräumten Ermessen Gebrauch machen, um in diesen Fällen jedenfalls eine mündliche Verhandlung durchzuführen. Da es sich bei den Rechten aus der GRC aber um keine verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte handelt, wird der VfGH hier zur vollständigen Überprüfung einer Beschwerde diese an den VwGH abtreten müssen. In eklatanten Fällen könnte er aber die GRC unter Rückgriff auf das Willkürverbot zur Anwendung bringen. Auch Art 133 Z 4 B-VG Behörden müssten dann nicht nur in Art 6 EMRK-Fällen, sondern auch solchen nach Art 47 GRC mündliche Verhandlungen durchführen. IV. Verbesserter Rechtsschutz durch den Beitritt zur EMRK Art 6 EUV sieht nun eine Selbstverpflichtung zum Beitritt der Union zur EMRK vor. Damit ist eine der Voraussetzungen – nämlich eine Rechtsgrundlage – für diesen langjährig diskutierten 14
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Christian Ranacher / Markus Frischhut, Handbuch Anwendung des EU-Rechts (2009) 428 mwN; Alexander Klingenbrunner / Julia Lemonia Raptis, Die Justiziabilität der Grundrechte-Charta nach dem Reformvertrag von Lissabon, JRP 16, 2008, 139 (144). Siehe EuGH, Rs C-136/03, Dörr und Ünal, Slg 2005 I – 4759.
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Schritt geschaffen. Auch die zweite – nämlich die Rechtspersönlichkeit der Union – wurde mit dem Lissabonner Vertrag auf den Weg gebracht. Das Stockholmer Programm16 fordert die Kommission besonders dringlich auf, ein Mandat für die dafür notwendigen Verhandlungen vorzulegen. Dieses Mandat wurde nun vom Rat der Justiz- und Innenminister beschlossen.17 Auf Seite der EMRK ist man ebenfalls für diesen ungewöhnlichen Beitritt vorbereitet; das Protokoll Nummer 14 – das nun nicht nur den Beitritt von Staaten vorsieht, sondern auch den der Union – ist mit 1. Juni in Kraft getreten. Für die Verhandlungen der Union enthalten sowohl der Art 6 EUV als auch das Protokoll 8 verschiedenste Auflagen. Zu diesen zählen unter anderem die Nichtänderung der Kompetenzen der Union und der Zuständigkeiten ihrer Institutionen und die Wahrung der spezifischen Charakteristika der Union und ihres Rechts. Für das Inkrafttreten des Beitrittsvertrages der Union bedarf es unionsseitig der Einstimmigkeit im Rat, der Zustimmung des Europäischen Parlaments und der Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten. EMRK-seitig braucht es ebenfalls die Ratifizierung durch alle EMRK-Signatarstaaten. Wenn auch rechtlich nicht unbedingt zwingend, ist es politisch aber jedenfalls geboten, dass die Union nicht nur der EMRK beitreten, sondern sich auch ihrem Rechtsschutzsystem unterwerfen wird. Dies bedeutet, dass sowohl das Primärrecht als auch das gesamte Sekundärrecht der Union durch eine Individualklage oder auch eine Staatenbeschwerde eines Drittstaates in das Fadenkreuz des EGMR geraten könnte. Diese erstmalige richterliche Überprüfbarkeit auch des Primärrechts bildet einen durchaus revolutionären Schritt, der auch nicht so hypothetisch ist als dies von vielen Mitgliedstaaten gesehen wird. Die Kolleginnen und Kollegen am EGMR werden – sobald sie dazu Gelegenheit bekommen – gerne aufmerksam die individuellen Rechtsschutzmöglichkeiten im Unionsrecht und das Verfahren und die Zuständigkeiten der Kommission in wettbewerbsrechtlichen Verfahren im Lichte ihrer bisherigen Judikatur zu Art 6 und 13 EMRK prüfen. Die Unterwerfung der Union unter eine externe Kontrolle wurde vom EuGH in seinem Gutachten 1/91 für grundsätzlich zulässig erklärt, und
16 17
Europäischer Rat, ABl 2010 C 115/01. Zum Zeitpunkt dieses Vortrages war der Verfasserin dieses Mandat noch nicht zugänglich.
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tatsächlich ist die Union schon jetzt zB im Rahmen der WTO solchen externen Gerichtsbarkeiten unterworfen. Auch wenn es keine weitgehenden Sonderregelungen für die Union geben wird können, so sind doch in einigen Bereichen Spezialregelungen wünschenswert bzw im Sinn der oben genannten primärrechtlichen Auflagen auch geboten. Ein Bereich betrifft das Verhältnis von unionsinternen Rechtsbehelfen und denen der EMRK im Lichte der Zulässigkeitsbedingung des Art 35 Abs 1 EMRK „Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe“. Bei den direkten Klagen, die das Unionsrecht kennt, ist das klar und es ist auch bestehende Rechtsprechung des EGMR, dass eine Individualbeschwerde beim EGMR erst dann zulässig ist, wenn kein unionsinternes Rechtsmittel zB gegen eine Entscheidung der Kommission mehr zulässig ist. Anders ist die Lage beim Vorabentscheidungsverfahren. Hier kann der Kläger im Ausgangsverfahren die Vorlage an den EuGH nur anregen, die Gerichte müssen dieser Anregung nicht folgen oder legen wie manche Höchstgerichte trotz Vorlagepflicht nicht dem EuGH vor. Dieses Verhalten der Gerichte wird man nicht dem Kläger negativ anlasten können, man wird von ihm zur Erfüllung der Zulässigkeitserfordernisse nur den Nachweis der Anregung der Vorlage an den EuGH fordern können. Dies sollte auch deshalb in den Art 35 Abs 1 EMRK eingefügt werden, um zu verhindern, dass das unionsinterne Vorlageverfahren als wichtigstes Instrument zur einheitlichen Auslegung des Unionsrechts umgangen werden kann und dem Rechtsuchenden eine Art forum shopping offen steht. Diese eben beschriebene Fallkonstellation macht deutlich, dass der EGMR mit Individualklagen konfrontiert sein wird, im Zuge deren Vorverfahren der EuGH keine Gelegenheit hatte, einen EURechtsakt EMRK-konform auszulegen oder ihn aufzuheben, also keine Chance für eine unionsinterne „Sanierung“ gegeben war. Hier setzt nun die Forderung ein, dass in solchen Fällen vor einem Urteil des EGMR der EuGH (bzw die Union) noch diese Chance bekommen sollte, durch eine Vorlage des EGMR an den EuGH, entweder ex officio oder auf Antrag der Kommission. Ein Vorlageverfahren in der Gegenrichtung – nämlich vom EuGH an den EGMR – in allen Fällen, in denen der EuGH unter anderem unter Berufung auf die EMRK angerufen wird, scheint hingegen eher nachteilig zu sein. Eine gewisse Notwendigkeit wird vor allem im Hinblick auf die Vermeidung von Rechtsprechungsdivergenzen gesehen. Diese Gefahr besteht sicherlich, auch wenn
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durch die enge institutionelle Kooperation von EuGH und EGMR versucht wird, eine solche zu vermeiden. Denkbar ist zB eine Konstellation, in der der EuGH die EMRK in einem Punkt auszulegen hat und anzuwenden hat, zu dem es noch keine Rechtsprechung des EGMR gibt oder zB die Wahrung der spezifischen Charakteristika der Union oder die zusätzlichen Rechte der eigenen GRC ein Abweichen von der EGMR Judikatur erfordern. Dieses Risiko rechtfertigt meiner Ansicht nach allerdings nicht, die Verfahren, vor allem die Vorabentscheidungsverfahren, durch ein weiteres Vorlageverfahren an den EGMR zu verlängern. Jene Verfahren vor nationalen Gerichten, die letztlich zu einer Vorlage an den EuGH führen, haben bis zu diesem Augenblick meist schon eine gewisse Verfahrensdauer hinter sich. Am EuGH brauchen wir derzeit im Durchschnitt ca 17 Monate zur Beantwortung der uns vom nationalen Richter gestellten Fragen, dann ist im nationalen Verfahren zumindest noch eine nationale Instanz am Wort. Wenn sich hier noch ein Verfahren vor dem chronisch überlasteten EGMR dazwischen schiebt, dann ist nicht nur der Instanzenzug endgültig erschöpft. Man könnte es durchaus dabei belassen, dass der EuGH dem nationalen Gericht seine Auslegung auch von EMRK bezogenen Fragen gibt und dann das nationale Verfahren abgeschlossen wird. Sollte dann der Rechtsuchende immer noch nicht zufrieden gestellt sein, dann steht ihm immer noch der Weg nach Straßburg offen. Diese ausschließliche Letztzuständigkeit des EGMR hätte auch den Vorteil, dass dann zB auch die Verletzung von EMRKRechten, die nach Abschluss des Vorlageverfahrens an den EuGH passiert sind, gemeinsam mit allenfalls anderen Vorwürfen überprüft werden können. Für den EuGH besteht damit weiterhin das Risiko, indirekt vom EGMR korrigiert zu werden, diesem Risiko sind aber auch alle nationalen Höchstgerichte ausgesetzt, die ebenfalls keine Möglichkeit haben, sich durch ein Vorlageverfahren an den EGMR abzusichern. Hinweisen möchte ich auch noch darauf, dass mit dem Beitritt der Union zur EMRK der EGMR verpflichtet ist, alle Signatare gleich zu behandeln und die Sonderstellung, die der EGMR der unionsinternen Rechtsprechung zB in seinen Urteilen in den Fällen Bosphorus18 und Matthews19 eingeräumt hat, damit ein Ende hat. In 18 19
Bosphorus Airways/Irland, Nr 45036/98, CEDH 2005-VI. Nr 24833/94, CEDH 1999-I.
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diesen Fällen hat der EGMR die Rechtsschutzmöglichkeiten in der Union als gleichwertig anerkannt und nicht noch einmal in der gleichen Sache entschieden bzw eine eigene Zuständigkeit nur angenommen, weil keine EuGH-Zuständigkeit (atypischer EURechtsakt) gegeben war. Neben den oben angesprochenen wünschenswerten und/oder notwendigen Änderungen, die durch den EMRK-Beitrittsvertrag der Union in die EMRK einzufügen sind, sind auch materiell-rechtliche Adaptierungen notwendig, insbesondere bei jenen Begriffen, die auf die Staatlichkeit der Signatare zugeschnitten sind und die an die Gegebenheiten der Union anzupassen sind: „nationale Sicherheit“, „nationale Instanz“, „wirtschaftliches Wohl des Landes“, „Gesetz“, staatliche „Genehmigung“ etc. Ebenfalls zu klären ist, wer als Verteidiger der Union bzw ihres Rechts auftritt. Richtet sich die Klage ausschließlich gegen ein Unionsorgan, wird es die Kommission allein sein. Richtet sich die Klage gegen einen Mitgliedstaat wegen EMRK-widriger Umsetzung eines Unionsaktes und ist es unklar, ob die EMRK-Widrigkeit dem Unionsakt zuzurechnen ist oder einer EMRK-widrigen Nutzung des autonomen Gestaltungsspielraums eines Mitgliedstaates,20 dann wird der Mitgliedstaat unterstützt von der Kommission zur Verteidigung ausrücken müssen. Sollte in Folge des EGMR-Urteils dann ein Handlungsbedarf auftreten, ist dem nach der geltenden Kompetenzverteilung Rechnung zu tragen, wobei es auch hier sein kann, dass der betroffene Mitgliedstaat zunächst einmal in Vorlage gehen muss. Zu klären ist auch die Vorgangsweise bei der Staatenbeschwerde. Die Union wird sich wohl der Staatenbeschwerde von Drittstaaten unterwerfen müssen, ob sie eine solche auch selbst einbringen kann und nach welchem internen Verfahren ist noch fraglich. Das Mandat für die Beitrittsverhandlungen sieht dem Vernehmen nach nun vor, dass die Union einen eigenen ständigen Richter am EGMR stellen soll. Einige Mitgliedstaaten wollten für die Union nur einen ad hoc Richter, so wie dies auf der anderen Verhandlungsseite angeblich auch von Russland gesehen wird. Den Befürchtungen, dass die 27 EGMR Richter aus den EU-Mitglied20
In der Regel wird auch ein eindeutiger Akt der Umsetzung von EURecht primär dem Mitgliedstaat zuzurechnen sein; siehe zu den verschiedenen Anknüpfungsmöglichkeiten sowie zur Gesamtproblematik Sebastian Winkler, Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention (2000) 51.
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staaten und der Unionsrichter eine zu einschüchternde Übermacht darstellten oder der Eindruck des Richtens in eigener Sache entstehen könnte, ist entgegenzuhalten, dass sich selbst Regierungsvertreter der Mitgliedstaaten – wie wir das am EuGH täglich erleben – nicht automatisch als Anwälte der Union verstehen. Um so eher kann von unabhängigen Richtern erwartet werden, dass sie einen kritischen Blick auch auf das Unionsrecht haben.
Peter-Christian Müller-Graff
Realisierung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts I. Konzeptionelle Funktion des RFSR in der Gesamtsystematik des Primärrechts der Union A. Normativer Inhalt 1. Die Grundnorm des EUV 2. Primärrechtliche inhaltliche Aussagen B. Normativer Selbststand der Funktion? 1. Normkategoriale Schwäche 2. Territoriale Unvollständigkeit 3. Strukturelle Grenzen 4. Konzeptionelle Unvollständigkeit C. Eignung zur Verwirklichung der Leitziele der Union? 1. Beitrag zur Verwirklichung der Leitzieltrias des Art 3 Abs 1 EUV 2. Beitrag zum Zusammenhalt der Union II. Die Realisierungsagenda A. Grundlage: Supranationaler Kompetenzaufwuchs 1. Verbandszuständigkeit in Strafsachen 2. Komplettierung der Supranationalisierung des Handlungsinstrumentariums 3. Inhaltliche Erweiterung und/oder Präzisierung und Ausrichtung der Agenda B. Realisierungsagenda 2010 bis 2015 1. Zugangspolitiken 2. Kriminalitätsbekämpfung 3. Ziviljustizielle Zusammenarbeit 4. Allgemeine Gesamtrechtsordnungspolitik III. Rechtliche Realisierungsprobleme A. Kompetenzgrenzen: Auslegung begrenzter Einzelermächtigungen
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T. Eilmansberger et al. (eds.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon © Springer-Verlag Wien 2011
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Peter-Christian Müller-Graff
1. Rolle des EuGH 2. Aufgaben nationaler Gerichte? B. Kompetenzausübungsgrenzen 1. Materiellrechtliche Dimension 2. Verfahrensrechtliche Dimension C. Entscheidungsmodalitäten 1. Allgemeine Weichenstellungen 2. Notbremseverfahren IV. Zusammenfassung
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Die Realisierung des primärrechtlich so genannten „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (RFSR) – als Subthema des übergreifenden Konferenzthemas der Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon – nimmt Bezug auf die vielleicht wichtigsten materiellrechtlichen Neuerungen des Reformvertrags. Sie sind zuvörderst darin erkennbar, dass das Ziel dieses sicheren unionalen Freizügigkeitsraums nunmehr normlokativ zum ersten operativen Verwirklichungsweg der überwölbenden Leitziele der Union aufgestiegen ist. Es ist damit noch vor den operativen Zielweg des Binnenmarktes gerückt, um den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern. Denn unmittelbar nach dieser Zieltrias in Art 3 Abs 1 EUV bestimmt Abs 2: „Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem – in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität – der freie Personenverkehr gewährleistet ist.“ Die plakative Voranstellung dieses operativen Ziels – in einer Grundnorm des Primärrechts sprachästhetisch seltsam kleinteilig formuliert – mag freilich eher dem Versuch einer captatio benevolentiae der Unionsbürger, also dem demonstrativen Aufweis der Sinnfälligkeit der Union für alle Unionsbürger (nicht nur für Marktteilnehmer), geschuldet sein als einem durchdachten Konzept des Zusammenhalts der Union. Begleitet wird diese Hervorhebung von einem schon im Verfassungsvertrag (EVV) sich ankündigenden1 markanten Aufwuchs der euro1
Vgl Art III-257 bis Art III-277 EVV; dazu Peter-Christian MüllerGraff, Verfassungsvertragliche Neuerungen und Rekonstruktion des „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, in Hummer /
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päischen Verbandskompetenzen für den RFSR, der mit deren programmatischer Ausrichtung und Tiefenstrukturuierung verbunden ist. Die neuen Bestimmungen zielen insgesamt idealtypisch auf eine anspruchsvolle Verdichtung der rechtlichen Vernetzung des transnationalen europäischen Gemeinwesens. Nachfolgend wird daher in einer Dreiteilung vorgegangen: zunächst ist nach der konzeptionellen Funktion und dem Inhalt des RFSR (terminolgisch verkürzt: des Freizügigkeitsraums) in der Gesamtsystematik des unionalen Primärrechts zu fragen, weil das Primärrecht die Orientierung der sekundärrechtlichen Realisierung steuert (I.), sodann ist die jüngste Realisierungsagenda zu beleuchten (II.) und schließlich nach grundlegenden Realisierungsproblemen zu fragen (III.). I. Konzeptionelle Funktion des RFSR in der Gesamtsystematik des Primärrechts der Union Fragt man mithin zuallererst nach der konzeptionellen Funktion des RFSR in der Gesamtsystematik des Primärrechts der Union, so stellen sich als Ausgangspunkt drei Teilfragen: diejenige nach dem normativen Inhalt (A.), diejenige nach dem normativen Selbststand (B.) und diejenige nach der Eignung zur Verwirklichung der Leitziele der Union (C.). A. Normativer Inhalt Der normative Inhalt des RFSR ist nicht aus sich selbst verständlich. Der Freiheitsraum ist eine von den Mitgliedstaaten geschaffene normative Zielkategorie. Sein Inhalt erschließt sich zuallererst aus dem Wortlaut, seine Funktion zusätzlich aus Herkunft, Systematik und Zweck. Die primärrechtlichen Inhaltswegweiser des Wortlauts sind nach dem Scheitern des großen kohärenten Kodifikationsangebots des Verfassungsvertrags lokativ zweigeteilt in EUVertrag (EUV) und Arbeitsweisenvertrag (AEUV). 1. Die Grundnorm des EUV Soweit die oben zitierte einschlägige Grundnorm des EUV spricht, wirkt sie als verschlungenes Konglomerat von Sammelstücken, doch lassen sich ihr gleichwohl drei Aussagen zum Inhalt entnehmen. Obwexer (Hg), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa (2007) 284; als Materialien Klemens H. Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag (2005) 372.
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Erstens geht es im Kern um die Gewährleistung des freien Personenverkehrs der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger. Man könnte diese Gewährleistung bei schlichter grammatikalischer Auslegung vielleicht auch nur als ein hervorgehobenes, aber nicht abschließendes erläuterndes Teilelement des angestrebten Raumes verstehen. Indes spricht dagegen, dass sie in einem den Freiheitsraum substantiell qualifizierenden Relativsatz enthalten ist. Zweitens wird dieser unionale Freizügigkeitsraum mit der Abwesenheit von Binnengrenzen verbunden. Letzteres alliteriert die klassische Definition des Binnenmarktes als „Raum ohne Binnengrenzen“, die sich nunmehr in Art 26 Abs 2 AEUV findet und als Raum ohne Binnengrenzkontrollen und ohne sonstige ungerechtfertigte Beschränkungen des Freiverkehrs von Produktionsfaktoren und Produkten zu verstehen ist. Daraus erklärt sich drittens die Verbindung des Freizügigkeitsraums mit den einschränkenden Gedanken der Sicherheit und des Rechts und die konkretisierende Parynthese „in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen ...“ Letztere signalisiert bereits eine Schwerpunktsetzung der Agenda flankierender Maßnahmen. So bedarf der Wegfall von Personenkontrollen an den Binnengrenzen der Kompensation durch koordinierte Bekämpfung der Freizügigkeit von Kriminalität, die sich im Rahmen des unionalen Wertes der Rechtsstaatlichkeit zu vollziehen hat (Art 2 EUV). Und darüberhinaus wird für die Gewährleistung der Personenfreizügigkeit eine Strukturparallele zur flankierenden Sicherung des Freiverkehrs von Waren im Inneren durch Gemeinsamen Zolltarif und Gemeinsame Handelspolitik nach außen sichtbar. Auch der Freiverkehr von Personen im Inneren bedarf einer Gemeinsamen Zugangspolitik nach außen, mithin eines gemeinsamen Regelwerks der Kontrolle an den Außengrenzen und der Asyl- und Einwanderungspolitik. Auch diese ist an den unionalen Wert der Rechtsstaatlichkeit gebunden (Art 2 EUV).
2. Primärrechtliche inhaltliche Aussagen Die primärrechtlichen inhaltlichen Aussagen zum RFSR sind nicht auf Art 3 Abs 2 EUV beschränkt. Der AEUV ergänzt mit weiteren 23 Artikeln, den Art 67 bis Art 89 AEUV, und bringt mit seiner normgenetischen Gleichrangigkeit (Art 1 Abs 3 EUV, Art 1 Abs 2 AEUV) Unklarheiten in den zunächst einigermaßen klar erschei-
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nenden Ansatz des Art 3 Abs 2 EUV. Dies hat vor allem zwei Gründe. a. Erstens enthält Art 67 Abs 1 AEUV eine von Art 3 Abs 2 EUV abweichende Formulierung des RFSR. Er bestimmt: „Die Union bildet einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem die Grundrechte und die verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden.“ Dies beinhaltet zunächst eine anreichernde Akzentsetzung auf den Rechtsgehalt des Raums: Achtung der Grundrechte und Achtung der Verschiedenheit der Rechtsordnungen und Rechtstraditionen. Versucht man eine Harmonisierung dieser Aussage mit Art 3 Abs 2 EUV, lässt sich dies dadurch vornehmen, dass die rechtliche Einhegung des Freizügigkeitsraums mit dem doppelten und tendenziell zueinander spannungsgeladenen Achtungsgebot aufgeladen wird: zum einen mit der gemeinsamen Ausrichtung auf die Grundrechte – wohl vor allem im Sinne der Grundrechtecharta, vielleicht auch der Grundrechte-Rechtsprechung des EuGH, teilweise auch des Unionswertes der Wahrung der Menschenrechte im Sinne des Art 2 EUV –; zum anderen aber auch mit der allseitigen Toleranz für die Eigenheiten mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen. b. Lassen sich insoweit EUV und AEUV konzeptionell abgleichen, so gelingt dies nicht vollständig mit der gesamten Ausfaltung des RFSR in den Art 67 bis Art 89 AEUV. Zwar bleiben die Zugangspolitiken auf der konzeptionellen Grundspur: so Art 67 Abs 2 AEUV und die Ausfaltung in die Politik im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung (Art 77 bis Art 80 AEUV). Gleiches gilt auch für die Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität: Art 67 Abs 3 AEUV und die Ausfächerung in die justitizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Art 82 bis Art 86 AEUV) sowie in die polizeiliche Zusammenarbeit (Art 87 bis Art 89 AEUV). Auch die Einbeziehung der Verhütung und Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im lokativen Schlepptau der Bekämpfung von Kriminalität (Art 67 Abs 3 AEUV) kann man noch der Gewährleistung des freien Personenverkehrs zuordnen. Indes bricht die konzeptionelle Verbindung ab, soweit der AEUV, wie schon bisher der EG-Vertrag, auch die zivil-
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justizielle Zusammenarbeit einbezieht.2 Denn Art 67 Abs 4 AEUV besagt: „Die Union erleichtert den Zugang zum Recht, insbesondere durch den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen in Zivilsachen.“ Und Art 81 AEUV führt diesen Ansatz in die Tiefe und Breite des internationalen Privat- und Zivilverfahrensrechts, des materiellen Zivilverfahrensrechts und sogar der alternativen Methoden für die Beilegung von Streitigkeiten und die Förderung der Weiterbildung von Richtern und Justizbediensteten. Hier verschwimmt der Bezug zur Gewährleistung des freien Personenverkehrs. Vielmehr tritt der Gedanke eines allgemeinen europäischen Justizraums auf. B. Normativer Selbststand der Funktion? Vor diesem etwas ausfransenden Hintergrund von Inhalt und Funktion stellt sich als weitere Grundfrage diejenige nach dem normativen Selbststand der Funktion des RFSR. Diese Frage betrifft nicht die Selbstverständlichkeit, dass der Freizügigkeitssraum nicht als Selbstzweck definiert ist, sondern ihm eine dienende Funktion für die übergreifende Leitzieltrias der Union zukommt (dessen Eignung noch anzusprechen sein wird). Auch geht es nicht so sehr darum, ob die heterogen wirkende Sammlung der Einzelteile sich zu einem geschlossenen Konzept verdichten lässt. Dies ist zumindest mit dem Gedanken des staatsähnlich befriedeten und rechtsgesicherten Freizügigkeitsraums von Personen möglich, wiewohl hierzu schwerlich, wie aufgezeigt, auch die ziviljustizielle Zusammenarbeit passt. Mit der Frage nach dem Selbststand geht es jedoch darum, ob die den Freizügigkeitsraum in seiner primärrechtlichen Ausgestaltung kennzeichenden Einzelbereiche diesen normativ überhaupt hinreichend selbständig gewährleisten können; oder anders ge2
Vgl zum konzeptionellen Problem der Einbeziehung in den RFSR Peter-Christian Müller-Graff, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Der primärrechtliche Rahmen, in Müller-Graff (Hg), Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (2005) 11 (17 f); im Verfassungsvertrag ders, Die ziviljustizielle Zusammenarbeit im „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ im System des Europäischen Verfassungsvertrags, in Mansel / Pfeiffer / Kohler / Kronke / Hausmann (Hg), FS Jayme (2004) 1323.
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wandt: ob das Versprechen des Art 3 Abs 2 EUV, normativ betrachtet, zu vollmundig ist. Hier treten mehrere Schwächen auf. 1. Normkategoriale Schwäche Eine erste Schwäche ist normkategorial. Die spezifischen primärrechtlichen Vorschriften des RFSR (Art 3 Abs 2 EUV, Art 67 bis Art 89 AEUV) enthalten anders als das alliterierte Binnenmarktrecht oder Art 21 Abs 1 AEUV im Recht der Unionsbürgerschaft keine einzige unmittelbar anwendbare Norm, auf die sich ein Einzelner berufen könnte. Die primärrechtlichen Bestimmungen sind durchweg bloße Programm- und Ermächtigungsnormen. Ob und wie sie genutzt werden, steht in der politischen Diskretion der Organe der Union und der über den Rat im Rahmen der jeweiligen Entscheidungsmodi beteiligten Mitgliedstaaten, damit in Deutschland teilweise auch des Bundestags und Bundesrats3 und im Rahmen des Subsidiaritätsprotokolls4 auch der nationalen Parlamente. Der RFSR bleibt damit in seinem primärrechtlichen Gewährleistungsgehalt deutlich hinter dem Binnenmarkt zurück. 2. Territoriale Unvollständigkeit Die zweite Schwäche ist territorial. Die spezifischen primärrechtlichen Vorschriften verpflichten anders als die Binnenmarktbestimmungen nicht alle Mitgliedstaaten. Britannien, Irland und Dänemark sind für die Fortentwicklung des RFSR keine derartige Obligation eingegangen.5 Sie können unter den jeweils maßgeblichen Bestimmungen einscheren, müssen aber nicht. 3. Strukturelle Grenzen Die dritte Schwäche ist strukturell. Wird konzeptionell die Parallele zum befriedeten staatlichen Freizügigkeitsraum gezogen, so wird zugleich die Schwäche des Versprechens deutlich, dass die Union dies ihren Bürgerinnen und Bürgern aus eigener Kraft bieten kann. Denn die Enstehung der modernen Staatlichkeit in Gestalt des sicheren Freiheitsraums ging mit der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols einher. Die Union hat zwar ihr zugeordnete
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Vgl im Einzelnen, soweit einschlägig, BVerfGE 123, 267 Tz 411ff. Siehe auch Martin Nettesheim nachstehend auf S 467. Art 6 und Art 7 Protokoll Nr 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Vgl namentlich Protokolle Nr 21 und Nr 22.
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Hoheitsrechte, aber keine eigenen Mittel zur physischen Durchsetzung ihrer Maßnahmen gegen Widerstrebende, in diesem Sinne also keine Gewalt. Sie ist insoweit letztlich auf die faktische Loyalität der Mitgliedstaaten angewiesen. Zu dieser sind sie zwar unionsrechtlich verpflichtet (Art 4 Abs 3 EUV), doch ist eine Verpflichtung nicht die Garantie ihrer Verwirklichung. 4. Konzeptionelle Unvollständigkeit Die vierte Schwäche ist unverändert konzeptionell. Denn normevolutiv betrachtet ist der Gedanke des RFSR nicht als selbständiges Vorhaben entstanden, sondern als ein Annexprojekt zum Binnenmarktkonzept.6 Letzteres war die Intensivierung der – schon auf 1957/1958 zurückgehenden – Marktintegration durch die Einheitliche Europäische Akte.7 Zur Daueraufgabe des Binnenmarktziels8 zählt gerade auch die Beseitigung aller – vom seinerzeitigen Weißbuch zur Verwirklichung des Binnenmarktes so genannten materiellen Schranken,9 maW der Abwesenheit von Binnengrenzkontrollen von staatsgrenzenüberquerenden Waren und Personen. Folgerichtig stellten sich daher die Fragen nach der geeigneten Kompensation des Kontrollwegfalls im Hinblick auf grenzüberschreitende Kriminalität und den Zugang von Drittstaatern. Die – integrationstheoretisch neofunktionale – Antwort in Form gemeinsamer Politiken in diesen Fragen wurde zunächst von den Schengen-
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Vgl dazu zB Peter-Christian Müller-Graff, Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, in Müller-Graff (Hg), Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres – Funktion, Ausgestaltung und Entwicklungsoptionen des dritten Pfeilers der Europäischen Union (1996) 11 (20 ff); Daniel Thym, Europäische Einwanderungspolitik: Grundlagen, Gegenstand und Grenzen, in Hofmann / Löhr (Hg), Europäisches Flüchtlings- und Einwanderungsrecht (2008) 183 (187 ff). Vgl Peter-Christian Müller-Graff, Die Rechtsangleichung zur Verwirklichung des Binnenmarktes, EuR 1989, 107 (125 f); ders, Binnenmarktziel und Rechtsodnung – Binnenmarktrecht (1989) 8 ff. Vgl Armin Hatje (Hg), Das Binnenmarktrecht als Daueraufgabe, EuR Beiheft 1/2002. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Vollendung des Binnenmarktes. Weißbuch der Kommission an den Europäischen Rat, Juni 1985.
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Staaten initiiert,10 sodann zur dritten Säule des Unionsvertrags von Maastricht erhoben11 und schließlich mit dem Begriff des säulenüberspannenden RFSR durch den Amsterdamer Reformvertrag versehen.12 Die Amsterdamer Übersiedlung der Zugangspolitiken aus der dritten in die erste Säule erfolgte daher normlokativ konsequent unmittelbar hinter den Marktgrundfreiheiten (Art 61 ff EGV). Auch der Vertrag von Lissabon hat diese Reihung – entgegen derjenigen zwischen RFSR und Binnenmarkt in Art 3 EUV – beibehalten (Art 67 ff AEUV). Bis zur Lissabonner Reform kam dieser marktintegrative Bezug auch mehrfach ausdrücklich in den maßgeblichen EGV-Vorschriften des RFSR zum Ausdruck (namentlich in Art 61 und Art 65 EGV). Nach der neuen Rechtslage scheint dem RFSR nunmehr konzeptionelle Selbständigkeit verliehen. Indes ist fraglich, ob dies angesichts der aufgezeigten Schwächen ein vitaler Ansatz ist. Theoretisch schlüssig wie das Binnenmarktkonzept aus dem Gedanken des komparativen Kostenvorteils lässt es sich nicht erklären. Rechtskategorial gewinnt der RFSR die Grundlage primärrechtlicher unmittelbar anwendbarer und territorial grundsätzlich allunionaler Freizügigkeit erst in rekonstruktiver Verbindung mit den Freizügigkeitsrechten der binnenmarktlichen Gewährleistungen (Art 34 ff, 45 ff, 49 ff, 56 ff, 63 ff AEUV),13 der Unionsbürgerschaft (Art 21, 22 AEUV) und der – teils doppelnden – Grundrechtecharta (Art 15 Abs 2 GRCh mit Einschränkungen für Britan-
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Hans Claudius Taschner, Schengen (1997) 22 ff (33 ff). Vgl dazu Müller-Graff, Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (Fn 6) 11; ders, Die Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres – Verbindungen und Spannungen zwischen dem dritten Pfeiler der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft, in Due / Lutter / Schwarze (Hg), FS Everling (1995) 925. Vgl dazu Peter-Christian Müller-Graff, Institutionelle und materielle Reformen in der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, in Hummer (Hg), Die Europäische Union nach dem Vertrag von Amsterdam (1998) 259; ders, Justiz und Inneres nach Amsterdam – Die Neuerungen in erster und dritter Säule, Integration 1997, 271. Vgl Müller-Graff, Verfassungsvertragliche Neuerungen (Fn 1).
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nien und Polen).14 Eine vergleichbare Sicherung des freien innerunionalen Personenverkehrs für Drittstaater besteht nicht: nicht über die speziell freizügigkeitsgewährenden Marktgrundfreiheiten, da diese an der Unionsbürgerschaft ansetzen (mit der streitigen Ausnahme bei der passiven Dienstleistungsfreiheit)15 und auch nicht über Art 15 Abs 3 GRCh, weil diese Norm den arbeitsberechtigten Drittstaatern eine Gleichstellung zu den Unionsbürgern nur hinsichtlich der „Arbeitsbedingungen“ gewährleistet. C. Eignung zur Verwirklichung der Leitziele der Union? Die dritte und letzte Grundfrage zur Funktion des RFSR in der primärrechtlichen Gesamtsystematik betrifft dessen Eignung zur Verwirklichung der Leitziele der Union im Vergleich zur Eignung des Binnenmarkts. 1. Beitrag zur Verwirklichung der Leitzieltrias des Art 3 Abs 1 EUV Misst man diese Frage an der abstrakten Leitzieltrias der Förderung des Friedens, der Werte und des Wohlergehens in Art 3 Abs 1 EUV, müssen die Antworten naturgemäß ebenso abstrakt bleiben. a. Es ist durchaus vorstellbar, dass der Frieden zwischen den Mitgliedstaaten auch durch einen sicheren Freizügigkeitsraum infolge der Selbstverständlichkeit grenzüberschreitender Bewegungen und Begegnungen gefördert wird. Andererseits ist indes zweifelhaft, ob dies ein vergleichbares Gewicht zur pazifizierenden Funktion der binnenmarktlichen Wirtschaftsverflechtung zu entfalten und das Auflammen von Aversionen bei Krisen innerhalb der Währungsunion zu dämpfen vermag. b. Es ist auch denkbar, dass eine Vielzahl ungehinderter transnationaler Bewegungen und Verhaltensbeobachtungen auch die zivilgesellschaftliche Verankerung der Werte der Union festigt. Ob oder inwieweit ein derartiger interindividueller Austausch auf dieser Ebene und in verbindlicherer Weise als bei den binnenmarktlichen Kontaktnahmen allerdings stattfindet, ist spekulativ.
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Protokoll Nr 30 über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich. Zum Problem Peter-Christian Müller-Graff, Art 49 EGV, in Streinz (Hg), EUV/EGV. Kommentar (2003) Rn 54 mwN.
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Schließlich mag das Wohlergehen der Völker durch den allgemeinen freien Personenverkehr am greifbarsten im Terrain des Tourismus gefördert werden, doch ist dies nur ein Ausschnitt der ökonomische Dimension des binnenmarktlichen Austausches.
2. Beitrag zum Zusammenhalt der Union Unklar bleibt der Beitrag des RFSR zu dem Ziel, das implizit in der Unionsgründung gemäß Art 1 EUV enthalten ist: nämlich dem Ziel des Zusammenhalts der Mitgliedstaaten.16 Hier dürfte der wechselseitige Nutzen von Binnenmarkt, Kohäsionspolitik, Struktur-, Sozial- und Agrarfonds eine weitaus stärkere Haftkraft entfalten. Und dies gilt auch für den Nutzen aus dem gemeinsamen Auftreten im Verhältnis zu Drittstaaten und die Funktionsfähigkeit einer rechtlich vernünftig reformierten und betriebenen Währungsunion.17 Zusammengefasst erweist sich daher die Lissabonner Heraushebung des RFSR zum ersten operativen Verwirklichungsweg der Leitziele der Union deutlich stärker ambitiös-visionär als gesichert. II. Die Realisierungsagenda Wendet man sich auf dieser Grundlage der Realisierungsagenda zu, so ist vorweg festzuhalten, dass der RFSR kein normatives Novum 16
17
Zu den Elementen des Zusammenhalts vgl Kai-Olaf Lang / Julia Lieb, Eigeninteressen der Mitgliedstaaten, in Müller-Graff (Hg), Der Zusammenhalt Europas – In Vielfalt geeint (2009) 9; André Schmidt, Binnenmarkt, in Müller-Graff (Hg), Der Zusammenhalt Europas – In Vielfalt geeint (2009) 23; Wim Kösters / Tobias Zimmermann, Währungsunion, in Müller-Graff (Hg), Der Zusammenhalt Europas – In Vielfalt geeint (2009) 43; Christoph Schönberger, Unionsbürgerschaft, in Müller-Graff (Hg), Der Zusammenhalt Europas – In Vielfalt geeint (2009) 55; Ellen Bos, Gemeinsame Werte, in Müller-Graff (Hg), Der Zusammenhalt Europas – In Vielfalt geeint (2009) 73; Bettina Thalmaier, Gemeinsame Ziele und Werte, in Müller-Graff (Hg), Der Zusammenhalt Europas – In Vielfalt geeint (2009) 93; Matthias Rossi, Gemeinschaftsrecht und Gerichtsbarkeit, in MüllerGraff (Hg), Der Zusammenhalt Europas – In Vielfalt geeint (2009) 107; Kay Möller, Außendimension, in Müller-Graff (Hg), Der Zusammenhalt Europas – In Vielfalt geeint (2009) 125. Zu den Gefährdungen der derzeitigen Konstruktion schon vor der Krise des Jahres 2010 zB Koesters / Zimmermann, Währungsunion (Fn 16) 43 ff.
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darstellt: weder konzeptionell noch in seiner Verwirklichung. In seinen Einzelteilen sind seit seiner terminologischen Kreation durch den Reformvertrag von Amsterdam, aber auch schon in seinen diversen Vorläufern seit dem Vertrag von Maastricht, viele Einzelprojekte angestoßen und verwirklicht worden.18 Die am 20. April 2010 von der Kommission in Ausführung des Stockholmer Programms des Europäischen Rates vom 10./11. Dezember 200919 vorgelegte 73seitige Realisierungsagenda,20 die allerdings über den Kernbereich des RFSR hinausgeht, knüpft daher an einem bereits erreichten Verwirklichungsstand an, der durch den Lissabonner Reformvertrag wegen des Kompetenzaufwuchses im RFSR neue Impulse erhalten wird (A.). Dies lässt sich auf der Grundlage der bisher entwickelten Dreigliederung der Politikbereiche zur Verwirklichung des Freiheitsraums, also von Zugangspolitiken, Kriminalitätsbekämpfung und ziviljustitielle Verknüpfung skizzieren, die nunmehr um die Komponente allgemeiner Rechtsordnungspolitik zu ergänzen ist. Die überwölbende Frage ist allerdings, ob das Primärrecht eine hinreichende Orientierung gibt (B.). A. Grundlage: Supranationaler Kompetenzaufwuchs Zuallererst ist ersichtlich, dass der Vertrag von Lissabon für das Ziel eines RFSR die supranationalen Kompetenzen deutlich erweitert hat. Von Bedeutung sind vor allem drei Neuerungen. 1. Verbandszuständigkeit in Strafsachen Erstens ist nunmehr auch die justizielle und polizeiliche Zusammenarbeit in Strafsachen der Verbandszuständigkeit des rechtsper-
18
19 20
Speziell zur Entwicklung der Zugangspolitiken vgl die jährlichen Berichte Peter-Christian Müller-Graff / Friedemann Kainer, in Weidenfeld / Wessels (Hg), Jahrbuch der Europäischen Integration (2009) 125; zu denen der zivil- und strafjustiziellen Zusammenarbeit die Darstellung in den laufend ajourierten Neuauflagen von Werner Weidenfeld / Wolfgang Wessels (Hg), Europa von A bis Z11 (2009) 392. Ratsdokument 17024/09. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts für die Bürger Europas. Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer Programms, KOM (2010) 171 endg vom 20.4.2010, 73.
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sönlichen europäischen Zurechnungssubjekts zugeordnet. Dies folgt aus der Verschmelzung von EU und EG in einen einzigen Verband mit Rechtspersönlichkeit (Art 47 EUV) im Wege der Rechtsnachfolge der EU zur EG (Art 1 Abs 3 Satz 3 EUV).21 2. Komplettierung der Supranationalisierung des Handlungsinstrumentariums Zweitens ist damit zugleich auch dieser Teilbereich des RFSR dem supranationalen, in den Europäischen Gemeinschaften entwickelten und nun der Union zustehenden Instrumentarium zugänglich, also insbesondere dem Erlass von Verordnungen und Richtlinien (Art 288 Abs 2 und 3 AEUV). Die rechtskategorial abgespaltene dritte Säule der Union hat sich in Konsequenz der neofunktionalen Logik der Marktintegration erledigt und die vormalige Aufteilung des RFSR in einen supranationalen und intergouvernementalen Teil ist überwunden. Allerdings gelten die Rahmenbeschlüsse und Beschlüsse auf der Grundlage des (ex-)Art 34 Abs 2 lit b und c EUV bis zur Überführung ihres Regelungsgehalts in Handlungsformen des Art 288 AEUV fort.22 3. Inhaltliche Erweiterung und/oder Präzisierung und Ausrichtung der Agenda Drittens ist der gesamte Bereich des RFSR primärrechtlich von einer inhaltlichen Erweiterung und/oder Präzisierung und programmatischen Ausrichtung der Agenda gekennzeichnet. a. Am deutlichsten ist dies im Bereich der strafjustiziellen Zusammenarbeit mit dem zusätzlichen Aufweis neuer Projektlinien23 (namentlich: Mindestvorschriften im Strafverfahrensrecht zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension – Art 82 Abs 2 AEUV –, in der Festlegung von Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität mit 21 22 23
Siehe dazu Charlotte Beaucillon/Friedrich Erlbacher vorstehend auf S 101. Siehe dazu Walter Obwexer vorstehend auf S 47. Vgl dazu im Einzelnen Peter-Christian Müller-Graff, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Lissabonner Reform, EuR Beiheft 1/2009, 105 (116 ff).
372
b.
c.
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grenzüberschreitender Dimension – Art 83 Abs 1 AEUV mit Benennung derartiger Kriminalitätsbereiche –; Förderung der Kriminalprävention – Art 84 AEUV –; Aufgabenstrukturierung für Eurojust – Art 85 AEUV –; Ermächtigung zur Einsetzung einer von Eurojust ausgehenden Europäischen Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union – Art 86 AEUV). Hier erfolgt vor allem im Gleichklang zur ziviljustiellen Zusammenarbeit (Art 81 Abs 1 AEUV) eine neue programmatische Ausrichtung auf den höchst anspruchsvollen und die Realität findamental fordernden Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen (Art 82 Abs 1 AEUV). Dies spannt allerdings einen hohen Vertrauenshorizont in die Gleichwertigkeit gelebter Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten und stellt große Anforderungen an die Entwicklung der justiziellen Kapazität in einzelnen Mitgliedstaaten. In der polizeilichen Zusammenarbeit in Strafsachen finden sich nur vereinzelte thematische Erweiterungen, darunter namentlich die Festlegung der Bedingungen und Grenzen mitgliedstaatlicher Justiz- und Polizeibehörden, im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats in Verbindung und Absprache mit dessen Behörden tätig werden zu dürfen (Art 89 AEUV). Bei den Zugangspolitiken24 sind neben vereinzelte Kompetenzerweiterungen Stichworte der programmatischen Ausrichtung gesetzt, darunter unter anderem: Binnengrenzkontrolllosigkeit im Schutz kontrollierter Außengrenzen (Art 77 Abs 1 AEUV), angemessene Schutzgewährung international schutzbedürftiger Drittstaater (Art 78 AEUV), wirksame Steuerung der Migrationsströme (Art 79 Abs 1 AEUV). Ein Kompezenzaufwuchs ergibt sich aus dem Wegfall der bisherigen Voraussetzung der marktintegrativen Erforderlichkeit des Art 61 lit a EGV. In der ziviljustitiellen Zusammenarbeit25 ist die programmatische Primärausrichtung auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher und außergerichtlicher EntscheiMüller-Graff, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Fn 23) 114 f. Dazu Müller-Graff, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Fn 23) 116.
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dungen hervorgehoben (Art 81 Abs 1 AEUV). Zugleich ist auch hier die Voraussetzung der marktintegrativen Erforderlichkeit des (ex-)Art 65 EGV („soweit ... für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes erforderlich“) weggefallen, allerdings als hervorgehobener Beispielfall („insbesondere wenn...“) fortgeführt. B. Realisierungsagenda 2010 bis 2015 Im Acquisvergleich offenbart die umfängliche Kommunikation der Kommission vom 20. April 2010 zum RFSR (mit dem handelsartigen Titel: „delivering an area of freedom ...“)26 ein Breitbandspektrum von Vorhaben für den Zeitraum von 2010 bis 2015. Die Projektsammlung ist konzeptionell wenig stringent und umfasst ausufernd und undiszipliniert auch Themen wie Grundrechtepolitik, unionsbürgerliche Freizügigkeit und Schutz in Drittstaaten, Demokratieteilhabe, Unterstützung wirtschaftlicher Tätigkeit, Katastrophenbewältigung und den Dialog mit der Zivilgesellschaft. Einleuchtend ist hingegen die Einbeziehung der Außendimension des RFSR insbesondere wegen der die Binnenfreizügigkeit flankierenden Zugangspolitiken (hierbei die Verbreitung der Werte der Union in der Welt; die Außenbeziehungen zum westlichen Balkan, zu Russland, der Türkei, den USA, Afrika, China, Indien, Brasilien, Afghanistan, Pakistan, Irak, Bangladesch; die Östliche Partnerschaft und die Mittelmeerunion). Konzentriert man sich demgegenüber auf die klassische thematische Dreiteilung der Politikbereiche des RFSR und die Gesamtrechtsordnung, ergibt sich folgendes Bild: 1. Zugangspolitiken Bei den Zugangspolitiken ist das Visarecht bereits in allen wesentlichen Punkten europäisiert.27 Stichworte im Visarecht: Liste der Staaten, deren Angehörige visapflichtig sind; Ausstellung, Aussehen und Wirkungen der Visa. Das Asylrecht ist teilweise europäisiert. Stichworte sind: Zuständigkeit für Asylverfahren; Voraus26 27
Fn 20. Vgl dazu die Einzelnachweise in den Jahresberichten im Jahrbuch der Europäischen Integration, Müller-Graff / Kainer (Fn 18) sowie umfänglich den FIDE-Sammelband mit Länderberichten von Imelda Higgins (ed), Migration and Asylum Law and Policy in the European Union (2004).
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setzungen des Asylanspruchs; Asylverfahren; Mindeststandards der Aufnahmebedingungen. Im Einwanderungsrecht gibt es europäisierte Teilbereiche. Stichworte: die Abwehr der illegalen Einwanderung; die Zusammenarbeit der Außengrenzkontrollbehörden; Bedingungen der Erteilung langfristiger Aufenthaltsgenehmigungen und der dadurch vermittelten Rechte; die faire Behandlung legal eingereister Drittstaater. Die Kommissionsagenda konzentriert sich hierbei insbesondere auf eine vielgliedrige Verbesserung und Erweiterung28 des Aquis (zB Frontex; Eurosur; Schengener Grenz-Kodex; EinreiseAusreise-System, Außengrenzkontrollen; Schengen Information System II; Agentur für große IT-Systeme; Visaerleichterungsabkommen; Visainformationssystem; Verbesserung des Asylrechts; Lastenverteilung; Außendimension des Asylregimes; Bekämpfung illegaler Einwanderung; faire Behandlung und Integration legaler Einwanderer). Sie schreitet angesichts zahlreicher, teils ambivalent ausdeutbarer Vorhaben aber wohl auch fort zur Konkretisierung der positiven Voraussetzungen der legalen Einwanderung, in der bislang wegen der Arbeitsmärkte die größten Richtungsunterschiede der Mitgliedstaaten bestehen.29 Wird die Position Europas in der Welt auch durch die demographische Dimension definiert, ist angesichts der demographischen Entwicklung damit zu rechnen, dass sich die Union hier vorsichtig der Einwanderung qualifizierter Personen stärker öffnen wird (so namentlich durch die Verbindung zur 2020-Strategie). 2. Kriminalitätsbekämpfung In der Kriminalitätsbekämpfung beruht der Acquis bislang auf Rahmenbeschlüssen und Beschlüssen der seinerzeitigen intergouvernementalen dritten Säule,30 die nunmehr in supranationales Recht zu 28 29
30
Mitteilung der Kommission (Fn 20) 47 ff, 49 ff, 51 ff, 53 ff, 56 ff. Vgl dazu auch die Beiträge von Thym, Europäische Einwanderungspolitik (Fn 6) 183, und Marcel Kau, Perspektiven und Probleme europäischer Einwanderungspolitik, in Hofmann / Löhr (Hg), Europäisches Flüchtlings- und Einwanderungsrecht (2008) 205; siehe auch Peter-Christian Müller-Graff, Europäische Zuwanderungspolitik – Chancen und Risiken in europarechtlicher Dimension, in Karollus / Stadlmeier / Fischer (Hg), FS Köck (2009) 237 (248 f). (Ex-)Art 29 ff, 34 Abs 2 EUV; vgl dazu den FIDE-Sammelband von Anthony Moore (ed), Police and Judicial Co-operation in the Euro-
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überführen sind. In der strafjustiziellen Zusammenarbeit geht es hierbei zum einen um die Kooperation der Strafverfolgungsbehörden und um Entscheidungsanerkennung (Stichworte: Europäisches Justitielles Netz; Eurojust; Haftbefehl; Auslieferung), zum anderen um Fragen des materiellen Strafrechts (Stichworte: organisierte Kriminalität, Terrorismus, Menschenhandel). Die Kommissionsagenda fokussiert sich auf eine umfängliche Nutzung der neuen Kompetenzen mit einer abundanten Vielzahl von Vorhaben.31 Stichworte: Auswertung und Förderung der gegenseitigen Anerkennung strafrechts- oder ordnungswidrigkeitenrelevanter Entscheidungen (Einzugsentscheidungen; Haftbefehl; Bußgeldverhängung); Beweisrecht in Strafsachen; Eurojust-Stärkung; Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft; Zollvergehen; Verbesserung des Justiziellen Netwerks in Strafsachen; die internationale Präsenz der EU im Strafrechtsfragen; die sicherheitspolitische Nutzung von Passagierdaten; allgemeiner Daten- und Informationsaustausch; die Stärkung von Europol; Akkreditierung forensischer Labore; Kriminalitätsverhütung; Bekämpfung schwerer und organisierter Kriminalität; Menschenhandel; sexuelle Ausbeutung; Cyber-Kriminalität; Wirtschaftskriminalität (zB im Bereich des geistigen Eigentums; Geldwäsche; Geldfälschung; Finanztransaktionen); Drogenhandel; Terrorrismus. 3. Ziviljustizielle Zusammenarbeit In der ziviljustiziellen Zusammenarbeit ist der supranationale Bestand auf Grund seiner binnenmarktintegrativen Nähe bekanntlich längst beachtlich.32 Breitflächige Bedeutung für die Alltagspraxis haben erlangt: namentlich die vier zentralen Verordnungen Brüssel I (Gerichtsstand und Vollstreckung in Zivil- und Handelssachen),
31 32
pean Union (2004). Mitteilung der Kommission (Fn 20) 15 f, 19 f, 22, 23, 29, 32 ff, 34 ff, 38 ff, 40 ff, 42 ff. Vgl im Einzelnen namentlich zB die Beiträge zum Zivilverfahrensrecht in: Martin Gebauer / Thomas Wiedmann (Hg), Zivilrecht unter europäischem Einfluss (2005) 1061; Gerald Mäsch, Zivilprozeßrecht, in Langenbucher (Hg), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts2 (2008) 420; Burkhard Hess, Europäisches Zivilprozessrecht (2009); Miklòs Kengyel / Victória Harsági (Hg), Der Einfluss des Europäischen Zivilverfahresrechts auf die nationalen Rechtsordnungen (2010).
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Brüssel II (Gerichtsstand und Vollstreckung in Ehesachen und elterlicher Verantwortung), Rom I (IPR für vertragliche Schuldverhältnisse), Rom II (Gerichtsstand für außervertragliche Schuldverhältnisse); daneben aber auch Verfahrensregelungen zu Unterhaltssachen, geringfügigen Forderungen, der Vollstreckung unbestrittener Forderungen und grenzüberschreitender Insolvenzen; ferner Regelungen zur Zustellung von Schriftstücken, Beweiserhebung, Prozesskostenhilfe und Mediation. Die Kommissionsagenda nimmt etwas eklektisch weitere Maßnahmen ins Visier:33 unter anderem die Reform einzelner Rechtsakte (Brüssel I; Brüssel II; Zustellungsrecht; Beweisrecht; Insolvenzverfahren; eventuell Prozesskostenhilfe); die IPR-Regeln für Scheidungssachen (Rom III), für Erbrecht, Güterrecht und Gesellschaftsrecht; Testamentshinterlegung und Erbschein; gegenseitige Anerkennung standesamtlicher Dokumente; Mindeststandards im Zivilprozess; Konsistenz europäischer Vorgaben für den Zivilprozess; die Pfändung von Bankkonten; Transparenz von Schuldnervermögen; Erleichterung des Justizzugangs; Verjährungsrecht bei Straßenverkehrsunfällen; internationale Präsenz der EU im Zivilrecht (zB Erweiterung des Lugano-Übereinkommens; Beitritt zum Haager Prorogations-Übereinkommen; Beitritt zu UNIDROIT). Die Agenda umfasst allerdings höchst erstaunlich im Kontext des RFSR und zum verfahrensrechtlichen Charakter der ziviljustiziellen Zusammenarbeit nicht passfähig auch die Erarbeitung eines Kompendiums über den materiellrechtlichen Acquis des europäischen Verbraucherschutzrechts, die Verbraucherschutzrichtlinie, das Pauschalreisenrecht, das Recht unlauterer Geschäftspraktiken der Unternehmen gegenüber Verbrauchern, das Recht der irreführenden und vergleichenden Werbung und der Preisauszeichnung sowie die Annahme eines Gemeinsamen Referenzrahmens im Vertragsrecht. Auf materilles Zivilrecht ist allerdings die Ermächtigungsgrundlage des Art 81 AEUV nicht zugeschnitten. 4. Allgemeine Gesamtrechtsordnungspolitik Schließlich bringt Art 67 Abs 1 AEUV nunmehr auch das doppelte Achtungsgebot für Grundrechte und für die Verschiedenheit mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen und Rechtstraditionen und damit die Gesamtrechtsordnungen in den Blick. Hierbei erwachsen zwei Aktions- und mögliche Problemfelder. 33
Mitteilung der Kommission (Fn 20) 20 ff, 24 ff, 28 ff.
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a.
b.
34 35 36
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Erstens konzentriert sich die Kommissionsagenda etwas asymmetrisch auf eine so genannte Grundrechtepolitik, deren Konturen allerdings in Einzelmaßnahmen verschwimmen. Neben dem Beitritt der Union zur EMRK34 sind im Fünfjahresprogramm enthalten35 – in Stichworten –: eine Kommunikation zur Grundrechtepolitik; ein mehrjähriges Rahmenprogramm der Grundrechte-Agentur für die Zusammenarbeit in Strafsachen; Jahresberichte über die Grundrechte-Charta; Aktionen zur Aufklärung und Verfolgung von Genoziden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen; Datenschutz; Maßnahmen gegen Rassismus und Xenophobie; Schutz der Kinder; Schutz verletzbarer Gruppen (Roma, Frauen, verletzbare Erwachsene); Schutz von Kriminalitätsopfern; Schutz von Beschuldigten und Angeklagten; Regeln zur Untersuchungshaft. Vorkehrungen in den genannten Bereichen sind zweifelsohne einsichtig. Ob dies gerade durch die Union – und auf welcher Rechtsgrundlage – zu erfolgen hat, ist es schon weniger. Und bei Ausweitung jenseits bestimmter Kernbereiche kann eine proaktive Grundrechtepolitik in ein Dilemma geraten. Sie steht in der latenten Gefahr, Abwehrrechte gegen hoheitliches Handeln breitflächig hoheitlich präzeptorisch und bevormundend in Schutzpflichten zu verwandeln. Dies gilt insbesondere für das schillernde Phänomen der Grundrechteagentur. Denn wer Freiheiten hoheitlich inhaltlich definiert, hebt sie im Grundsatz widersinnig auf. Das Ausklinken Britanniens und Polens aus der Anwendbarkeit der Grundrechte-Charta auf nationale Maßnahmen36 aus kompetenzieller Sorge vor einem Harmonisierungssog deutet auch auf eine Sorge, dass unter dem Deckmantel des abstrakten Grundrechtsarguments Maßnahmen ergriffen werden, die Freiheiten anderer sozialgestaltend einschränken. Zum zweiten bezieht sich das Achtungsgebot der Verschiedenheit ausdrücklich zwar nur auf den Freizügigkeitsraum des RFSR. Es hat jedoch das Potenzial, darüber hinaus zum politischen Argument gegenüber Angleichungsprojekten aller Art Siehe dazu Eckhard Pache vorstehend auf S 121. Mitteilung der Kommission (Fn 20) 11 ff. Art 1 Protokoll Nr 30 (Fn 14).
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der Union zu werden, seien sie verbindlich in Form von Angleichungsmaßnahmen, seien sie verlockend in Gestalt des goldenen Zügels von Dürrenmatts alter Dame, seien sie samtpfotig wie die offene Methode der Koordination. III. Rechtliche Realisierungsprobleme Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Bedingungen der Realisierung des von der Kommission aufgelegten Programms aus rechtlicher Sicht, so kommen insbesondere drei Problemfelder in den Blick: die Kompetenzgrenzen (A.), die Kompetenzausübungsgrenzen (B.) und die Entscheidungsgrenzen im Rat (C.). A. Kompetenzgrenzen: Auslegung begrenzter Einzelermächtigungen Die Kompetenzgrenzen bestimmen sich nach Wortlaut, System und Zweck, mithin durch Auslegung der jeweiligen begrenzten Einzelermächtigung (Art 5 Abs 2 EUV). 1. Rolle des EuGH Angesichts der ganz überwiegend unbestimmten Rechtsbegriffe sind hier Auslegungskontroversen möglich, die letztlich vom EuGH zu entscheiden sind, soweit ihn entsprechende Fragen erreichen. In konsequenter Folge zur nunmehrigen kompletten Supranationalisierung des RFSR ist auch die frühere verschiedenspurige Ausprägung der europäischen Jurisdiktion überwunden und grundsätzlich den allgemeinen Regeln der Unionsgerichtsbarkeit unterstellt. Ausnahmen betreffen – abgesehen von den Übergangsbestimmungen (Art 10 des Protokolls Nr 36) und Sonderregeln für Britannien – Maßnahmen der mitgliedstaatlichen Strafverfolgungsbehörden oder im Bereich der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit (Art 276 AEUV). 2. Aufgaben nationaler Gerichte? Dem EuGH vorauseilend hat auf mitgliedstaatlicher Ebene bereits das Bundesverfassungsgericht seinem Verständnis zur Auslegung der Bestimmungen im Bereich der straf- und ziviljustiziellen Zusammenarbeit Ausdruck gegeben.37 Auch diese Auslegung zählt zu den Gründen, derentwegen („nach Maßgabe der Gründe“) es das Zustimmungsgesetz zum Reformvertrag als grundgesetzkonform
37
BVerfGE 123, 267 Tz 355 ff, 367 ff.
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erklärt hat.38 Ein Abweichen davon durch den EuGH könnte für Deutschland das vom Bundesverfassungsgericht aufgezeigte justizielle Räderwerk in Bewegung setzen, nämlich die Feststellung des Ausbrechens eines unionalen Rechtsaktes aus dem ratifizierten Integrationsprogramm durch das Bundesverfassungsgericht und die Erklärung von dessen Nichtanwendbarkeit in Deutschland.39 Allerdings kommt mitgliedstaatlichen Gerichten kein Letztentscheidungsrecht über die Auslegung unionsrechtlicher begrenzter Einzelermächtigungen und die Gültigkeit unionaler Rechtsakte zu. Vielmehr sind sie bei derartigen Zweifeln wegen der Prinzipien der Rechtsgemeinschaft und der Gewaltenteilung nach Art 267 Abs 3 AEUV oder im Rahmen der Foto-Frost-Rechtsprechung40 des EuGH zur Vorlage an diesen verpflichtet.41 Die vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene Grundlinie in der Strafrechtspflege ist die mehrfache Betonung der gebotenen engen Auslegung.42 Das Lissabon-Urteil bezeichnet die Strafrechtspflege in ihrem Kernbestand bildhaft und überzeugend als „besonders sensiblen“ Akt der Selbstbestimmung des „demokratischen Primärraums“ über das „rechtsethische Minimum“ einer Gesellschaft zur Sicherung wichtiger Rechtsgüter gegen unerträgliches Sozialverhalten.43 Daraus folgert es, dass die neuen unionalen Befugnisse „strikt – keinesfalls extensiv“ auszuüben sind.44 Es fordert allerdings darüber hinaus eine jeweils „besondere Rechtfertigung“ der Nutzung der Zuständigkeit. Politisch sehr weit greift freilich die Aussage, dass ein solches „besonderes“ Erfordernis der gemeinsamen Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität „nicht bereits dann (vor)liegt, wenn die Organe einen entsprechenden politischen Willen gebildet haben“.45 An den Zügel genommen wird auch die so genannte strafrechtliche Annexzustän38 39 40 41
42 43 44 45
BVerfGE 123, 267 Tz 273. BVerfGE 123, 267 Tz 241 EuGH, Rs 314/86, Foto-Frost, Slg 1987, 4199. Vgl dazu Peter-Christian Müller-Graff, Das Karlsruher LissabonUrteil: Bedingungen, Grenzen, Orakel und integrative Optionen, Integration 2009, 331 (356 f). BVerfGE 123, 267, Tz 358, 360 f. BVerfGE 123, 267 Tz 355, 358. BVerfGE 123, 267 Tz 358, 360. BVerfGE 123, 267 Tz 359.
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digkeit, die „an sich“ unvereinbar mit dem Grundgesetz und nur 46 wegen ihrer engen Auslegbarkeit hinnehmbar sei. Das Urteil stellt hohe Hürden für deren Nutzung auf. Es benennt als Voraussetzungen die Unerlässlichkeit der Normangleichung sowie die „nachweisbare“ Feststellung eines „tatsächlich“ bestehenden „gravierenden Vollzugsdefizits“ und dessen Beseitigbarkeit „allein durch eine Strafdrohung“.47 Es versieht auch die Nutzung der Ermächtigungen mit einem unions- und verfassungsrechtlichen Caveat, die den Erlass von Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer transnationaler Kriminalität und die Ausweitung „je nach Entwicklung der Kriminalität“ vorsehen.48 Schließlich betont es zudem, dass auch europäische Akte den Anforderungen des strafrechtlichen Schuldprinzips zu genügen haben.49 Zugleich entzieht das Urteil in der Auslegung der ziviljustiziellen Zusammenarbeit, gewissermaßen in vorsorglicher Auslegungsempfehlung, einige Bereiche der unionalen Kompetenz:50 die Organisation des Gerichtswesens, dessen Personal- und Finanzausstattung, die grundgesetzliche Garantie des effektiven Rechtsschutzes einschließlich des rechtsstaatlichen Justizgewährungsanspruchs gegen sekundärrechtliche Verwässerungen mittels nicht justizieller Vorverfahren sowie das materielle Familienrecht. B. Kompetenzausübungsgrenzen Ein zweites Feld von Realisierungsproblemen stellt sich in Gestalt der Kompetenzausübungsgrenzen, mithin des Verhältnismäßigkeitsprinzips und vor allem des Subsidiaritätsprinzips, dessen Überprüfung eine materiellrechtliche und eine verfahrensrechtliche Dimension aufweist. 1. Materiellrechtliche Dimension Die materiellrechtliche Dimension dieser Grenze ist in Art 5 Abs 3 EUV enthalten, die im Wesentlichen derjenigen des ex-Art 5 Abs 2 EGV entspricht, allerdings hinsichtlich des Prüfungsprogramms 46 47 48 49 50
BVerfGE 123, 267 Tz 361 f „nur deshalb verfassungskonform“. BVerfGE 123, 267 Tz 362. BVerfGE 123, 267 Tz 363. BVerfGE 123, 267 Tz 367 ff. BVerfGE 123, 267 Tz 368.
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verschärft worden ist. Dieses bezieht nunmehr das Erfordernis der nicht ausreichenden Verwirklichung ausdrücklich auf die verschiedenen mitgliedstaatlichen Hoheitsebenen (zentral, regional, lokal) und fordert jetzt auch einen eigenen Nachweis der besseren Verwirklichung auf europäischer Ebene. Das Subsidiaritätsprinzip ist jedenfalls vertragspositiv in vollem Umfang auf Maßnahmen des RFSR anwendbar, da dieser von Art 4 Abs 2 lit j AEUV ausdrücklich der geteilten Zuständigkeit zugeordnet wird. Vergleichbare Abgrenzungsschwierigkeiten zur ausschließlichen Zuständigkeit wie im Bereich des Binnenmarktes zwischen Art 4 Abs 2 lit a AEUV und Art 3 Abs 1 lit b AEUV könnten sich allenfalls für die ziviljustizielle Zusammenarbeit im Falle des Rekurses auf das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes ergeben. Die Schwierigkeiten der judikativen Überprüfung der Begriffe 51 „nicht ausreichende“ und „bessere“ Verwirklichung sind bekannt. Hier besteht ein weiter Beurteilungsspielraum der politischen Organe der Union. Er findet seine Grenzen im Willkürverbot, aber mE auch in der Schlüssigkeit der Begründung, die nach Art 296 Abs 2 AEUV für Rechtsakte zwingend vorgesehen ist. Ist die Begründung für den Gerichtshof nicht nachvollziehbar, ist der Rechtsakt wegen Vertragsverletzung für nichtig zu erklären (Art 263 Abs 2, 264 AEUV) oder als ungültig zu behandeln (Art 267 Abs 1 lit b AEUV) oder unangewendet zu lassen (Art 277 AEUV). 2. Verfahrensrechtliche Dimension Infolge der Abschirmung des politischen Beurteilungsspielraums bringt der Vertrag von Lissabon nunmehr folgerichtig nationale politische Entscheidungsträger als Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprüfer ins Spiel, die nicht schon über den Rat beteiligt sind, nämlich die nationalen Parlamente. Die Regeln finden sich im Einzelnen in Art 6 und Art 7 Protokoll Nr 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit, ohne 51
Vgl zB Dieter Grimm, Effektivität und Effektivierung des Subsidiaritätsprinzips, KritV 1994, 6; Roland Bieber, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in Evers (Hg), Chancen des Föderalismus in Deutschland und Europa (1994) 161; Manfred Zuleeg, Art 5 EG, in von der Groeben / Schwarze (Hg), EUV/EGV. Kommentar6 (2003) Rn 41; Peter-Christian Müller-Graff, Binnenmarktauftrag und Subsidiaritätsprinzip? ZHR 159 (1995), 34 (56 f).
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diese hier vertiefen zu können. In ihrer Quintessenz beinhalten sie die Möglichkeit, dass der Entwurf eines Gesetzgebungsaktes speziell im Bereich des Strafrechts und der Verwaltungszusammenarbeit bei begründeter Beanstandung wegen Verletzung des Subsidiaritätsprinzips durch mindestens ein Viertel der nationalen Parlamente von der Kommission überprüft werden muss, ansonsten bedarf es mindestens eines Drittels (Art 7 Abs 2) und generell im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren mindestens der einfachen Mehrheit (Art 7 Abs 3). C. Entscheidungsmodalitäten Schließlich hängt die Wahrscheinlichkeit der Realisierung der Agenda auch von den Entscheidungsmodalitäten ab, die je nach Ermächtigungsgrundlage für das Europäische Parlament und den Rat 52 in filigran aufgefächerter Differenzierung gelten. 1. Allgemeine Weichenstellungen Maßgeblich sind hierbei zunächst die allgemeinen primärrechtlichen Weichenstellungen: also namentlich, ob es sich um ein ordentliches oder um ein besonderes Gesetzgebungsverfahren handelt und ob der Rat mit qualifizierter Mehrheit oder nur einstimmig entscheiden kann. Einstimmigkeitserfordernisse im Rat bestehen in einer beträchtlichen Zahl von Fällen: so insbesondere bei der Erleichterung der unionsbürgerlichen Freizügigkeit durch entsprechende Dokumente (Art 77 Abs 3 Satz 2 AEUV), bei Maßnahmen im Familienrecht mit grentüberschreitendem Bezug (Art 81 Abs 2 UAbs 1 Satz 2 AEUV), bei Überleitungsbeschlüssen (Passarelle) für Aspekte des internationalen Familienrechts in das ordentliche Gesetzgebungsverfahren (Art 81 Abs 3 UAbs 2 Satz 2 AEUV), bei der Einbeziehung zusätzlicher spezieller strafverfahrensrechtlicher Aspekte in die Agenda der strafjustiziellen Zusammenarbeit (Art 82 Abs 2 UAbs 2 lit d AEUV), bei der Einbeziehung zusätzlicher Kriminalitätsbereiche in die Ermächtigung zur Festlegung von Mindestvorschriften für Straftaten und Strafen (Art 83 Abs 1 UAbs 3 Satz 2 AEUV), bei der Einsetzung einer Europäischen Staatsanwaltschaft (Art 86 Abs 1 Satz 2 AEUV), bei Maßnahmen der operativen polizeilichen Zusammenarbeit (Art 87 Abs 3 UAbs 1 Satz 2 AEUV) und bei der staatenübergreifenden behördlichen 52
Dazu im Einzelnen Müller-Graff, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Fn 23) 120 ff.
Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
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Tätigkeit (Art 89 Satz 2 AEUV). 2. Notbremseverfahren Eine Besonderheit gilt im Bereich der strafjustiziellen Zusammenarbeit. Angesichts des elementaren Stellenwerts der staatlichen Strafrechtspflege hat der Vertrag von Lissabon hier den Übergang zur Supranationalität mit der Einführung eines Notbremseverfahrens verknüpft. Mittels dieses Verfahrens kann der Europäische Rat mit dem Casus befasst werden. Dies betrifft sachgegenständlich vier Gruppen: den Erlass von Richtlinien zur Festlegung von Mindestvorschriften zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und zur Erleichterung der polizeilichen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension (Art 82 Abs 2 und 3 AEUV), den Erlass von Richtlinien zur Festlegung von Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension (Art 83 Abs 1 und 3 AEUV) oder im Gebiet von Harmonisierungsmaßnahmen (Art 83 Abs 2 und 3 AEUV) sowie die Einsetzung einer Europäischen Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union durch Verordnung (Art 86 Abs 1 AEUV). In den ersten drei Fällen kann der Europäische Rat aktiviert werden, wenn ein Mitglied des Rates der Auffassung ist, dass grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berührt werden, im letzten Fall auf Antrag einer Gruppe von mindestens 9 Mitgliedstaaten (derzeit 1/3). Kommt es dazu, wird das Verfahren ausgesetzt. Überdies unterliegt der deutsche Vertreter in dem vom Lissabon-Urteil bezeichneten Umfang dem Gesetzvorbehalt aus dem verfassungsrechtlichen Gebot der Integrationsverantwortung.53 Abhängig vom Ergebnis der Erörterung im Europäischen Rat, in dem der deutsche Vertreter wiederum den Anforderungen der verfassungsrechtlichen Integrationsverantwortung unterliegt, kommt es im Falle dessen Einvernehmens zur Beendigung der Aussetzung des Verfahrens im Rat, im Falle fehlenden Einvernehmens
53
Im Einzelnen BVerfGE 123, 267 Tz 418, 419.
384
Peter-Christian Müller-Graff
indes zur vertragspositivierten Erleichterung zur Verstärkten Zusammenarbeit von mindestens neun Mitgliedstaaten. Auf diese Weise kann eine hoch angesetzte Ambition der Kommission letztendlich zu einer differenzierten Integration unter dem Dach der Union führen. IV. Zusammenfassung Insgesamt zeigt sich für die Realisierungspersektive des durch Lissabon emporgehobenen RFSR ein rechtlich ambivalentes Bild. Konzeptionell unscharf gegründet gewinnt der RFSR durch die Lissabonner Reform eine bemerkenswerte primärrechtliche Stärkung. Zugleich wachsen damit die sekundärrechtlichen Realisierungsprobleme. Er bleibt damit ein letztlich unklares unionales Versprechen, dessen konkrete Ausfüllung und Einlösung weniger von der anspruchsvollen Agenda der Kommission abhängt als von dem tatsächlichen Realisierungswillen der Mitgliedstaaten und deren verfassungsrechtlichen und faktischen Möglichkeiten sowie von der Akzeptanz ihrer Völker. Diese Erdung ist auch erforderlich für eine solide Verwurzelung und Ausgestaltung des sicheren Freizügigkeitsraums der Europäischen Union.
Elfriede Regelsberger
Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU nach Lissabon – Dynamik durch Flexibilisierung? I. Lissabon – Auf der vergeblichen Suche nach Dynamik jenseits der institutionellen Neuerungen
387
A. Reichweite und Verpflichtungscharakter – Übernahme bestehender Praxis
388
B.
Beschlussverfahren – Festhalten am Prinzip der Einstimmigkeit
II. Die neue GSVP – variable Formen der Zusammenarbeit und ihr Dynamisierungspotenzial
390 393
A. Eigenes Kapitel im Primärrecht
394
B.
Flexibilisierungsansätze
398
1. Verstärkte Zusammenarbeit
399
2. Ständige Strukturierte Zusammenarbeit
399
3. Coalitions of the Willing
402
III. Fazit
403
Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zum 1. Dezember 2009 endete die bisher längste Reformdebatte der EU, in der die Frage der außenpolitischen Handlungsfähigkeit der Union eine zentrale Rolle spielte. Sie begann mit dem Europäischen Rat von Laeken 2001, wo die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder sehr anspruchsvoll die Vision einer EU als einer „Macht“ in den internationalen Beziehungen entwarfen. Sie nahm, wenn auch bescheidener, Gestalt an in den Beratungen des Europäischen Konvents, und wurde schließlich im Rahmen der Regierungskonferenz weiter konkretisiert und 2004 als Teil des Verfassungsvertrags als neues konstitutionelles Angebot verankert.1 Bis zu dessen Wirksam1
Elfriede Regelsberger, Mehr Sichtbarkeit, Kohärenz und Effizienz für die GASP. Chancen und Risiken im neuen Verfassungsvertrag, in Jopp / Matl (Hg), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa (2005) 323 (323 ff).
T. Eilmansberger et al. (eds.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon © Springer-Verlag Wien 2011
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Elfriede Regelsberger
werden dauerte es allerdings weitere fünf Jahre, in denen sich für manchen erst die Reichweite der neuen Bestimmungen und deren Konfliktpotenzial offenbarte, umso mehr, je präziser die Vertragsformulierungen durch weitere Beschlüsse ausformuliert werden mussten. Die Verhandlungen über die Ausgestaltung des Europäischen Auswärtigen Dienstes legen hierüber beredt Zeugnis ab.2 Wie in der Vergangenheit3 verfolgte man mit der jüngsten Reformdebatte vier Kernanliegen: die Sichtbarkeit der GASP deutlicher machen, mehr personelle Kontinuität schaffen, die Wirksamkeit der GASP-Maßnahmen und deren Kohärenz mit anderen Bereichen des auswärtigen Handelns der EU erhöhen. Diese Anstrengungen waren keineswegs neu. Aber ihre Dringlichkeit war größer geworden und sie erforderten etwas qualitativ Neues – nicht zuletzt durch das Auseinanderfallen der EU in der Irakkrise 2003, durch die mit der Erweiterung von 2005/2007 auf 25/27 Mitglieder einhergehenden Heterogenität außenpolitischer Grundauffassungen zu zentralen Fragen (wie etwa den Beziehungen EU–Russland) und durch die „mit Lichtgeschwindigkeit“4 ab 2003 komplexer werdende Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP).5 Der Vertrag von Lissabon trägt diesen Anforderungen insofern Rechnung als er das bisher gültige Regelwerk zum außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Profil der EU in eine qualitativ neue Stufe überführt. Zwar bleibt das jetzt beschrittene „Plateau“6 2
3
4 5
6
Julia Lieb / Martin Kremer, Der Aufbau des Europäischen Auswärtigen Dienstes: Stand und Perspektiven, Integration 3/2010, 195 (199). Siehe auch Gregor Schusterschitz vorstehend auf S 269. Ausführlich hierzu ua Elfriede Regelsberger / Dieter Kugelmann, Art 11-28 EUV, in Streinz (Hg), EUV/EGV (2003) vor Art 11 EUV Rn 1-16. So die vom früheren Hohen Vertreter für die GASP, Javier Solana, gern benutzte Charakterisierung der Dynamik in der ESVP ab 2003. Hierzu grundsätzlich Mathias Jopp / Sammi Sandawi, Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in Weidenfeld / Wessels (Hg), Jahrbuch der Europäischen Integration 2009 (2010) 241 (248); Jolyon Howorth, Security and Defence Policy in the European Union (2007). So die in der Literatur häufig vorgenommene Einteilung der Entwicklungsstufen der GASP und ihres Vorläufers, der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ). Ausführlicher Elfriede Regelsberger, Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
387
erneut unterhalb der Schwelle supranationaler, dh vergemeinschafteter, Strukturen angesiedelt; zugleich dokumentiert dieses aber das fortbestehende Interesse aller EU-Mitgliedstaaten an einem kollektiven Management zu wesentlichen Fragen der internationalen Politik, dessen Funktionstüchtigkeit durch die neuen Vertragsbestimmungen verbessert werden soll. Als „konstitutioneller Architekt“7 übernahm der Europäische Rat einerseits in wesentlichen Teilen die Substanz des aus den Beratungen im Europäischen Konvent und der Regierungskonferenz hervorgegangenen Verfassungsvertrags von 2004. Andererseits erfuhren die früheren Vorschläge durch die Gipfeltreffen des Jahres 2007 noch einige Veränderungen, zu deren prominentesten jene über den ursprünglichen „Außenminister“ und künftigen „Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik“ gehören. Ob es sich dabei lediglich um kosmetische Anpassungen handelt oder die neue Namensgebung doch qualitative und zulasten des neuen Hohen Vertreters gehende Verschiebungen im institutionellen Gefüge der GASP impliziert, wird abschließend erst der Praxistest erweisen. Immerhin lassen die ebenfalls von der Regierungskonferenz neu hinzugefügten Erklärungen zum Verhältnis von GASP und nationaler Außenpolitik, die den Bedenken einiger EU-Regierungen, insbesondere der polnischen, tschechischen und britischen, Rechnung tragen, auch in der GASP jegliche Anklänge an eine europäische Staatlichkeit und nationale Souveränitätsverzichte zu verhindern, das ursprüngliche konstitutionelle Angebot in einem neuen und Spielraum wie Dynamik der GASP möglicherweise einengenden Licht erscheinen. I. Lissabon – Auf der vergeblichen Suche nach Dynamik jenseits der institutionellen Neuerungen Die für die GASP qualitativ bedeutsamsten Neuerungen des Vertrags von Lissabon setzen dort an, wo die Schwächen der bisherigen institutionellen Vorkehrungen besonders offensichtlich waren. Das betrifft insbesondere die Abkehr von dem für Kontinuität und Sicht-
7
(GASP) (2004); Elfriede Regelsberger / Wolfgang Wessels, The evolution of the Common Foreign and Security Policy. A case for an imperfect ratched fusion, in Verdun / Croci (eds), Institutional and Policy-making Challenges to the European Union in the Wake of Eastern Enlargement (2005) 91. Wolfgang Wessels, Das politische System der Europäischen Union (2007) 171.
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Elfriede Regelsberger
barkeit der GASP abträglichen System der sechsmonatigen Rotation im Vorsitz des Rates „Auswärtige Angelegenheiten“ zu Gunsten eines einzigen Sprechers und Vorsitzenden in der Person des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik (Art 18 und 27 EUV) und einem ihn unterstützenden Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD). Zu Recht wird daher diesem Themenkomplex gegenwärtig die größte Aufmerksamkeit in der wissenschaftlichen und politischen Debatte zuteil.8 A. Reichweite und Verpflichtungscharakter – Übernahme bestehender Praxis Angelehnt an den bereits im Nizza-Vertrag formulierten, in der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) 2003 bestätigten und in deren Folgebericht 20089 wiederholten Gestaltungsanspruch einer globalen Macht erneuern die EU-27 an mehreren Stellen (Art 3 Abs 5 und Art 21 EUV) des Lissabonner Vertrages ihr Bekenntnis zu Frieden, internationaler Sicherheit und dem Schutz der Menschenrechte. Formal neu, faktisch aber eine Bestätigung gängiger GASPPraxis und ein „Relikt“ aus der Zeit des Zerfalls der Europäer im Irakkrieg 2003, ist die explizite Verpflichtung „zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts“, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Vereinten Nationen. Darüber hinaus bekräftigt die EU – wie bereits in der ESS und im Verfassungsvertrag – ihre Präferenz für multilaterale Lösungsansätze wie interregionale Partnerschaften, wo sie auf ihr eigenes Integrationsmodell als „Exportschlager“ setzt.10
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Siehe hierzu Gregor Schusterschitz vorstehend auf S 269. Elfriede Regelsberger / Dieter Kugelmann, Art 23-46 EUV, in Streinz (Hg), EUV/AEUV2 (2010) Art 27 EUV. Ratsdokument S 407/08. Hierzu sowie zu der vom Hohen Vertreter für die GASP konzipierten und vom Europäischen Rat im Dezember 2003 verabschiedeten Sicherheitsstrategie: A secure Europe in a better world. European Security Strategy, Dezember 2003; vgl Franco Algieri / Arnold Kammel, Neuer Wein in alten Schläuchen: Der Bericht zur Umsetzung der Europäischen Sicherheitsstrategie, Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik 2009. Nicole Alecu de Flers / Elfriede Regelsberger, The EU and Interregional Cooperation, in Hill / Smith (Hg), International Relations and the European Union (2005) 317 (317).
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
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Stärker als der Nizza-Vertrag und wiederum als Reaktion auf externe Herausforderungen der vergangenen Jahre nimmt der Text von Lissabon die Sicherheit der Union und ihrer Mitglieder sowie die hierfür erforderlichen Maßnahmen stärker ins Visier. Ausgelöst durch die Terroranschläge des 11. September 2001, die unter anderem in jenen von Madrid und London auf EU-Boden 2005 ihre Fortsetzung fanden, erklärt Art 43 Abs 1 EUV die Bekämpfung des internationalen Terrorismus zum ausdrücklichen Ziel einer nunmehr „Gemeinsamen“ Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Auch der faktisch neue Verweis auf gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen als Teil der Petersberg-Aufgaben (Art 43 Abs 1 EUV) bestätigt gängige ESVP-Praxis. Wie bereits im Nizza-Vertrag (Art 11 Abs 2 EUV aF) wird der globale außenpolitische Handlungsanspruch der EU-27 mit bekannten Postulaten zu gegenseitiger politischer Solidarität und dem Verzicht auf unilaterales Vorgehen, das die Wirksamkeit gemeinsamer Schritte beeinträchtigt und das Gewicht der EU als „kohärente Kraft in den internationalen Beziehungen“ beschädigt, verknüpft (Art 24 Abs 3 EUV). Nahezu wortgleich bekunden die Regierungen erneut ihren Willen zu konvergentem Handeln und weiten insofern ihre Konsultationspflicht über den Rat hinaus auch auf die Ebene der Staats- und Regierungschefs aus (Art 32 EUV). Möglicherweise ist dies ein Reflex auf die bisherige GASP-Praxis, wo – maßgeblich ausgelöst durch das Wachstum in der GASP-Infrastruktur und die „Brüsselisierung“ wichtiger GASP-Akteure – ein hohes Maß an Konzertierung im europäischen Rahmen stattfindet,11 während der Sozialisationsgrad auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs noch als entwicklungsbedürftig erscheint. Ob sich Politiker tatsächlich an diese an sich weitreichende Konsultationspflicht gebunden fühlen werden, bleibt abzuwarten. (Traditionelle) Alleingänge französischer Präsidenten – etwa in der Frage einer Mittelmeerunion 2008, bei der Befreiung bulgarischer Krankenschwestern aus libyscher Haft 2007 oder im Nahostkonflikt 2009 – signalisieren jedenfalls ebenso Lernbedarf wie die unabgestimmten Solidaritätsbekun11
Ana Juncos / Karolina Pomorska, Playing the Brussels Game: Strategic Socialisation in the CFSP Council Working Groups, European Integration Online Papers Vol 10, 2006; Simon Duke / Sophie Vanhoonacker, Administrative Governance in the CFSP: Development and Practice, European Foreign Affairs Review 11/2006, 163.
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Elfriede Regelsberger
dungen einiger Repräsentanten junger EU-Mitgliedstaaten im Rahmen der Georgienkrise 2008.12 Unangetastet bleibt auch nach Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags die überragende Rolle des Rates, dh der Regierungen, über die Einhaltung der GASP-Regeln zu wachen (Art 24 Abs 3 EUV). Sie reklamieren auch weiterhin für sich „das Sagen“ hierüber und die Art und Weise, ob und wie Kritik am Fehlverhalten eines Partners geübt und dieses – wenn überhaupt – (politisch) sanktioniert wird. Immerhin wird die Verantwortung für die Einhaltung der Grundsätze „Sorge zu tragen“, nunmehr auf den Hohen Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik ausgedehnt (Art 24 Abs 3 EUV). Ob es sich dabei um ein tatsächliches Kontrollinstrument des Ratsvorsitzes handelt und dieses auch so zum Einsatz kommt, bleibt abzuwarten. Die erst in der Regierungskonferenz 2007 nachträglich eingefügte Charakterisierung der GASP als einem Bereich mit „besonderen Bestimmungen und Verfahren“ (Art 24 Abs 1 EUV), in dem die Rolle von Kommission und Europäischem Parlament ausdrücklich als begrenzt beschrieben werden und die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs verneint wird, unterstreichen ausdrücklich den bisherigen intergouvernementalen Zuschnitt der GASP. B. Beschlussverfahren – Festhalten am Prinzip der Einstimmigkeit Sieht man von den im Nizza-Vertrag erstmals eingeführten und im Lissabon-Vertrag – zumindest auf dem Papier – auf sämtliche GASP-Themen erweiterten Bestimmungen zur verstärkten Zusammenarbeit (Art 20 EUV und Art 326–334 AEUV) ab, so klafft nirgendwo eine größere Lücke zwischen konstitutionellem Angebot und GASP-Praxis als bei dem Beschlussverfahren. Seit jeher dominiert das Einstimmigkeitsprinzip die Entscheidungsfindung in der GASP und jegliche Vorstöße einer Abkehr hiervon hin zu dynamischeren Ansätzen lösten heftige Kontroversen aus. Dem maßgeblich von der britischen Position beeinflussten Kreis von Protagonisten des Konsenserfordernisses steht zwar eine über die Jahre zahlenmäßig gewachsene Gruppe gegenüber, die vor dem Hintergrund eines ständig größeren Teilnehmerkreises und zugunsten beschleunigter Entscheidungsabläufe Mehrheitsbeschlüs12
Elfriede Regelsberger, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, in Weidenfeld / Wessels (Hg), Jahrbuch der Europäischen Integration 2009 (2010) 249 (252).
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se akzeptieren würde. Doch bereits in den Anfängen der Reformdebatte im Europäischen Konvent und dann in der Irakkrise 2003 zeichnete sich ab, dass allenfalls eine marginale Abkehr vom Grundprinzip der Einstimmigkeit realistisch erschien. So überrascht es nicht, dass der Vertrag von Lissabon dieses Leitmotiv an mehreren Stellen (unter anderem Art 31 Abs 1 und Art 42 Abs 4 EUV) hervorhebt und es dadurch nochmals besonders akzentuiert wird, dass in den Verhandlungen 2007 dem Drängen der Skeptiker und Souveränitätsverfechter nachgegeben und in Art 24 Abs 1 EUV nachträglich ein neuerlicher Verweis auf das Konsensprinzip eingefügt wurde. Dem bisher gültigen Ansatz folgend lässt Art 31 EUV daher nur für ganz spezifische GASP-Felder qualifizierte Mehrheitsentscheidungen zu, wobei weiterhin eine generelle Vetoposition im Falle von „wesentlichen“ Gründen der nationalen Politik aufrechterhalten wird. In diesem Fall kann der Rat bekanntermaßen die Angelegenheit mit qualifizierter Mehrheit an den Europäischen Rat verweisen, wenn vorherige Vermittlungsbemühungen des Hohen Vertreters als Vorsitzendem des Rats „Auswärtige Angelegenheiten“ ohne Erfolg geblieben sind. Mehrheitsentscheidungen sind auch künftig für Beschlüsse über Aktionen und Standpunkte vorgesehen, sofern diese auf entsprechenden Leitlinien des Europäischen Rates über die strategischen Interessen und Ziele der Union beruhen. Ferner können sie für Durchführungsbeschlüsse bereits bestehender Aktionen und Standpunkte genutzt werden sowie für die Ernennung von Sonderbeauftragten. Hingegen bedürfen die üblicherweise in Form von Beschlüssen über Aktionen – den bisherigen Gemeinsamen Aktionen – erlassenen Entscheidungen über Missionen des Krisenmanagements, das heißt auch solche zivilen Charakters (Art 42 Abs 4 EUV), der Zustimmung aller Mitgliedstaaten. Bei Beschlüssen des Rates mit militärischen und verteidigungspolitischen Bezügen sowie jenen des Europäischen Rates gilt ohnehin das Einstimmigkeitsprinzip (Art 15 Abs 4 EUV).13 Angesichts des faktischen Festhaltens an einstimmigen GASPBeschlüssen gleich welcher Reichweite, dürften die wenigen Öff13
Abweichend hiervon kann der Hohe Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik (Art 18 Abs 1 EUV) mit qualifizierter Mehrheit ernannt werden, faktisch wird jedoch – wie bei der ersten Amtsinhaberin, Catherine Ashton – eine konsensuale Entscheidung bevorzugt.
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Elfriede Regelsberger
nungsklauseln des Lissabon-Vertrags kaum oder keine praktische Relevanz und Dynamik entfalten. Dies betrifft die neu eingeführte Passerelle-Klausel, wonach es dem Europäischen Rat obliegt, die Anwendungsfelder für Mehrheitsentscheidungen in der GASP, mit Ausnahme jener im militärischen und verteidigungspolitischen Bereich, auszudehnen (Art 31 Abs 3 und 4 EUV). Allerdings bedarf es hierzu einer ausdrücklichen Zustimmung des Europäischen Parlaments (Art 48 Abs 7 EUV) sowie des Einverständnisses der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten.14 Ein ähnliches „Schicksal“ wie der Brückenklausel könnte auch Art 31 Abs 2 EUV widerfahren, wonach der Rat auf der Basis eines Vorschlags des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik mit qualifizierter Mehrheit über eine Aktion oder einen Standpunkt der Union entscheiden kann, wenn dieser Vorschlag des Hohen Vertreters „auf spezielles Ersuchen des Europäischen Rates“ zurückgeht. Hiermit wurde ein im Europäischen Konvent bereits unterstützter Vorschlag aufgenommen, Mehrheitsentscheidungen in der GASP in Analogie zur Funktionsweise des Gemeinschaftsbereiches dann zu ermöglichen, wenn sie auf einer Initiative des Hohen Vertreters beruhen. Dieser an sich logische Ansatz wurde aber später im Vorgriff auf Widerstände der Mitgliedstaaten dahingehend immunisiert, dass dem Vorschlag des Hohen Vertreters ein einstimmiges Ersuchen des Europäischen Rates vorausgehen muss, das seinerseits bereits den Handlungsrahmen für weitere Maßnahmen genau vorgibt. Entsprechend der nach heftigen Kontroversen erst in der Regierungskonferenz 2007 erzielten Einigung über den Zeitplan für die Einführung und die Modalitäten einer doppelten Mehrheit kennt der Vertrag von Lissabon für die Mehrheitsbeschlüsse in der GASP zwei Varianten: Im Regelfall gilt ab 1. November 2014 das Erfordernis einer Mehrheit von 72 Prozent der Mitgliedstaaten, die zugleich 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren müssen (Art 238 Abs 2 AEUV). Diese höhere Schwelle ist auch – wie im Fall der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit – einzuhalten, wenn nicht 14
Vgl Protokoll (Nr 1) über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union, wonach ein individuelles Einspruchsrecht binnen sechs Monaten nach Übermittlung eines entsprechenden Vorhabens des Europäischen Rates besteht. Zu den besonderen nationalen Vorgaben vgl Stefan Griller nachstehend auf S 441 und Martin Nettesheim nachstehend auf S 467.
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alle Mitgliedstaaten an der Beschlussfassung teilnehmen (Art 238 Abs 3b AEUV). Lediglich im Fall einer Beauftragung des Hohen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik durch den Europäischen Rat (Art 31 Abs 2 EUV) sowie bei den im Vertrag ausdrücklich genannten Fällen, wo der Hohe Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik über ein Vorschlagsrecht verfügt, erlaubt der Vertrag von Lissabon die in Art 16 EUV und Art 238 Abs 3a AEUV definierte niedrigere Schwelle von 55 Prozent der Mitgliedstaaten, die sich aus mindestens 15 Ländern zusammensetzen und 65 Prozent der Bevölkerung ausmachen muss. Zu dieser kleinen Kategorie gehören – wenn auch wohl nur formal – die Installation des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) nach Art 27 Abs 3 EUV, die Einrichtung eines „Anschubfonds“, der – finanziert aus Haushaltsmitteln der EU-Staaten – eine schnellere Vorbereitung von EU-Einsätzen mit militärischem Charakter sicherstellen soll (Art 41 Abs 3 EUV) und die Ernennung von Sonderbeauftragten (Art 33 EUV).15 II. Die neue GSVP – variable Formen der Zusammenarbeit und ihr Dynamisierungspotenzial Die Entwicklung einer sicherheits- und verteidigungspolitischen Identität der EU gehört bekanntermaßen zu den langwierigsten und umstrittensten Integrationsprojekten.16 Die Abfassung entsprechender Vertragsbestimmungen im Rahmen der bisherigen Reformdebatten erwies sich als höchst kontrovers und langwierig. In der Sache blieben die Formulierungen häufig vage, damit aber zugleich interpretationsoffen und entwicklungsfähig. So überrascht es auch nicht, dass weitere Details einer gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), so der erst mit dem Europäischen Rat von Köln (Juni 1999) in die Debatte eingeführte Begriff, unterhalb der Vertragsschwelle, in Form politischer Grundsatzbeschlüsse des Europäischen Rates, definiert und – entsprechend ihrer Tauglichkeit in der GASP-Praxis – fortentwickelt wurden. 15
16
Zu deren Rolle einschlägig Giovanni Grevi, Pioneering foreign policy. The EU Special Representatives, Chaillot Paper Nr 106 (2007); Cornelius Adebahr, Learning and Change in European Foreign Policy. The Case of the EU Special Representatives (2009). Mathias Jopp, Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in Weidenfeld / Wessels (Hg), Europa von A-Z. Taschenbuch der europäischen Integration11 (2009) 174.
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Elfriede Regelsberger
Ein verändertes internationales Umfeld und ein stärkeres Bedürfnis der Mitgliedstaaten nach einer auch sicherheits- und verteidigungspolitisch noch handlungsfähigeren EU sowie der tatsächliche Erfolg der ESVP und insbesondere der Krisenmanagementoperationen ab 200317 hatten zur Folge, dass die ESVP mit dem Vertrag von Lissabon eine deutliche Aufwertung erfuhr. A. Eigenes Kapitel im Primärrecht Erstmals erhält die nunmehr „Gemeinsame“ – und nicht mehr wie bisher „Europäische“ – Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP)18 einen eigenen Abschnitt im Primärrecht, ohne allerdings ihren Charakter als weiterhin intergouvernementale Form der Zusammenarbeit aufzugeben, was insbesondere am ausdrücklichen Festhalten des Konsensprinzips für diesen Abschnitt im EU-Vertrag deutlich wird. Die im Verfassungsvertrag ursprünglich getrennten Teile zu den Grundsätzen der GSVP und zu ihren ausdifferenzierten Verfahren wurden nach dessen Scheitern in Art 42 bis Art 46 EUV zusammengefasst, wodurch sich einige Überlappungen und Wiederholungen erklären lassen. Art 42 Abs 2 EUV wiederholt die aus Art 17 EUV aF bekannte Option einer gemeinsamen Verteidigung. Die jetzt neu benutzte Form des Präsens – die GSVP „führt“ zu einer gemeinsamen Verteidigung, sobald der Europäische Rat dies einstimmig beschließt – vermittelt den Eindruck einer größeren Bestimmtheit im Vergleich zur alten Formulierung, die sich des Konjunktivs bediente. Diese wird allerdings durch die ansonsten wortgleiche, jedoch nunmehr im Futur stehende Formulierung in Art 24 Abs 1 EUV wieder abgemildert – ein weiterer Beleg für die nachträgliche Zusammenmischung und Überlappung von Passagen des ursprünglichen Verfassungsvertrags. Für die GSVP-Praxis dürfte die Dimension einer gemeinsamen, dh von allen Mitgliedstaaten getragenen, Verteidigung insbesondere im Sinne integrierter europäischer Streitkräfte angesichts 17
18
Siehe die ausführlichere Darstellung bei Muriel Asseburg / Ronja Kempin (Hg), Die EU als strategischer Akteur in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik? Eine systematische Bestandsaufnahme von ESVP-Missionen und -Operationen, SWP-Studie Dezember 2009, 32. Analog zur GASP meint „gemeinsam“ hier ebenfalls nicht vergemeinschaftet.
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der unterschiedlichen nationalen Konzepte und Verständnisse allerdings ohne Belang bleiben. Sie wird ohnehin durch die im nachfolgenden Abschnitt (Art 42 Abs 2 UAbs 2 EUV) vom Nizza-Vertrag übernommene Bestimmung begrenzt, wonach die Reichweite der GSVP dort endet, wo die Grundausrichtung nationaler Verteidigungspolitiken berührt wird, sei es in Form der militärischen Verpflichtungen von EU-Ländern im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in der NATO oder im Falle der Paktungebundenheit bzw Neutralität von EU-Mitgliedern (Irland, Finnland, Malta, Österreich, Schweden, Zypern).19 Inwieweit man sich dem Ziel einer europäischen Verteidigung schon nähert oder von ihm noch entfernt ist wird im Einzelfall im Kreis der EU-27 ebenfalls unterschiedlich interpretiert. Integrierte Streitkräfte und der Aufbau einer europäischen Kommandostruktur dürften – nicht zuletzt nach den Erfahrungen der beiden jüngsten Referenden in Irland zum Lissabonner Vertrag – als mögliche Bestandteile einer solchen Entwicklung eher in weite Ferne gerückt sein. Der Europäische Rat hat im Kontext der Irlanddebatte die Bildung einer europäischen Armee ausdrücklich verneint.20 Die neue GSVP zeichnet sich ferner aus durch eine im Lissabon-Vertrag erstmals verankerte Beistandsverpflichtung für alle EU-Länder (Art 42 Abs 7 EUV). Diese ist das Ergebnis hochgradig kontroverser Debatten, die sich bis auf die Verhandlungen zum Vertrag von Amsterdam zurück führen lassen.21 Dort wie auch später im Rahmen des Europäischen Konvents („engere Zusammenarbeit“ im Verfassungsvertrag) ging es um Modelle einer flexibleren, dh nicht alle EU-Staaten umfassende Kooperation in der Verteidigungspolitik einschließlich einer Verpflichtung zu gegenseitigem militärischem Beistand nach dem Vorbild der Artikel VKlausel im WEU-Vertrag. Ein solcher Ansatz stieß erwartungsge19
20 21
Ausführlicher Sebastian Graf Kielmansegg, Die verteidigungspolitischen Kompetenzen der Europäischen Union, EuR 2/2006, 182 (182). Vgl auch die entsprechenden Verweise in den Erklärungen Nr 13 und Nr 14 zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die der Schlussakte des Vertrags von Lissabon beigefügt sind. Siehe hierzu Rudolf Streinz vorstehend auf S 23. Udo Diedrichs / Matthias Jopp, Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU nach dem Verfassungsvertrag: Innovationen, Experimente, Impulse, in Jopp / Matl (Hg), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa (2005) 343 (360).
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Elfriede Regelsberger
mäß bei den Neutralen und Ungebundenen wie den Atlantikern auf Widerstand, wenngleich dieser unterschiedlich motiviert war. Großbritanniens traditionelle Sorge gegenüber einer Verschärfung der transatlantischen Spannungen und eine Aushöhlung der Nato durch eine zu eigenständige GASP/GSVP wurde nach der EU-Osterweiterung von den neuen Mitgliedstaaten nachhaltig geteilt. Dort war man zwar bereit, die nunmehr eingeführte generelle Bündnisverpflichtung zu akzeptieren; zugleich bestand man jedoch darauf, im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Territorium eines der EULänder, den Vorrang der kollektiven Verteidigung im Rahmen der Atlantischen Allianz für deren Mitglieder festzuschreiben (Art 42 Abs 7 UAbs 2 EUV). Ferner wurde die Formulierung des früheren Verfassungsvertrags, wonach die Vertragsstaaten im Falle eines bewaffneten Angriffs dem betroffenen Staat alle Mittel zur Verfügung stellen „müssen“, zum einen dahingehend abgemildert, dass die Partner ihre Hilfe dem Angegriffenen nunmehr nur noch „schulden“; zum anderen entfiel die im WEU-Vertrag explizit genannte „militärische“ Hilfe zugunsten einer allgemeineren Formel – „alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“ –, mit der es den Regierungen selbst überlassen bleibt, deren Auswahl und Gebrauch zu bestimmen.22 Um den Sorgen der paktungebundenen EU-Staaten entgegenzutreten, mit der neuen GSVP könnten diesen formale Sicherheitsgarantien auferlegt werden, enthält Art 42 Abs 7 EUV mit der Wiederholung des in Art 42 Abs 2 EUV formulierten Vorbehalts das Recht eines Opt-Out bezüglich der Beistandsklausel.
22
Franco Algieri / Thomas Bauer, Die Festschreibung mitgliedstaatlicher Macht: GASP und ESVP im Vertragswerk von Lissabon, in Weidenfeld (Hg), Lissabon in der Analyse – der Reformvertrag der Europäischen Union (2008) 125 (150 f); Roland Bieber / Astrid Epiney / Marcel Haag, Die Europäische Union. Europarecht und Politik8 (2009) § 35 Rn 11 sprechen allgemein davon, dass der Beistand „nicht notwendigerweise“ mit militärischen Mitteln erfolgen muss. Im Falle Deutschlands steht jeder Einsatz von Streitkräften im Ausland unter dem konstitutiven Parlamentsvorbehalt, den das BVerfG in seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag bestätigt hat. Siehe hierzu Rudolf Streinz / Christoph Ohler / Christoph Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU3 (2010) 147.
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
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Formen der Zusammenarbeit in GASP und GSVP (gemäß VvL) (Teil 1/2) Bezeichnung
Verstärkte Zusammenarbeit
rechtliche Grundlage Themenbereich
20 EUV; 326–334 AEUV GASP, ESVP
Mitgliedschaft = Einleitung + Beschlussfassung
offen für alle MS; Feststellen der Notwendigkeit einer Verstärkten Z durch Rat; Mindestzahl: 9 MS; einstimmiger Ratsbeschluss nach Stellungnahme HV + Komm + an EP z Unterrichtung; Beschlüsse binden nur die beteiligten MS; Beschlussfassung folgt den allg Regeln für GASP/ ESVP= Einstimmigkeit Mitteilung an Rat, Kommission + HV; Rat der bereits teilnehmenden MS bestätigt einstimmig nach Anhörung des HV
Aufnahme weiterer MS
Rolle der nicht beteiligten MS
können an Beratungen teilnehmen
Ständige Strukturierte Zusammenarbeit 42,6 +46 EUV; Protokoll Nr 10 besondere militärische Fähigkeiten
Beistandsverpflichtung 42, 7 EUV
bewaffneter Angriff auf Hoheitsgebiet eines MS. Andere MS „schulden alle in ihrer Macht stehende Hilfe u Unterstützung“ Mitteilung an Rat u individuell entHV auf Basis Proto- sprechend koll (dh Erfüllen spez nationaler milit Kriterien und sicherheits- u Voraussetzungen); verteidigungsbinnen 3 Monaten politischer Beschluss Rat über Verpflichtungen Anzahl nach Anhörung HV (qualif Mehrheit Art 238, 2); weitere Beschlussfassung d Teilnehmer an Ständiger Strukturierter Z = einstimmig.
Mitteilung d potent MS an Rat u HV + Beschluss d Rates (QM Art 238, 3a d bereits teilnehmenden MS nach Anhörung HV. Gleiches gilt für Ausschluss bei Nicht(mehr)-Erfüllung d Kriterien können an Beratunkeine gen teilnehmen
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Elfriede Regelsberger
Formen der Zusammenarbeit in GASP und GSVP (gemäß VvL) (Teil 2/2) Bezeichnung
Durchführung von zivilen u Solidaritätsklausel militärischen EU-Missionen 42, 5 + 44 EUV 222 AEUV rechtliche Erklärung zur Solidarität Grundlage gegen Terrorismus (ER, Brüssel, 25.3.2004) zivile u militärische EU„Unterstützung“ auf Themenbereich KrisenmanagementErsuchen bei Terroranschlag operationen, inkl Beauf MS, Naturkatastrophe kämpfung d Terrorismus oder vom Menschen verursachte Katastrophe ER nimmt regelmäßig Mitgliedschaft = einstimmiger Beschluss des Rates Bedrohungsanalyse vor; Einleitung + weitere Modalitäten regelt Beschlussfassung Beschluss d Rates auf gemeinsamen Vorschlag v HV u Kommission; Unterrichtung d EP keine ausdrückliche ReAufnahme weigelung im Vertrag (Beterer MS fassung des Rates falls bei Durchführung schwerwiegende Konsequenzen auftreten) Unterrichtung d Rats; auch auf Rolle der nicht Antrag v MS, die nicht beteiligten MS teilnehmen © 2010 Regelsberger Institut für Europäische Politik
B. Flexibilisierungsansätze Um den Wert der im Lissabon-Vertrag erstmals auch für die GSVP verankerten Flexibilisierungsmodelle zu verstehen, ist es hilfreich, einen Blick zurück auf die Reformdebatten von „Amsterdam“ und „Nizza“ zu werfen. Vor dem Hintergrund divergierender verteidigungspolitischer Interessen im Kreis der EU-Länder und der EUErweiterung reifte bereits damals – und insbesondere in französischen und deutschen Regierungskreisen – die Erkenntnis, dass bei einzelnen GASP-Vorhaben nicht immer alle Mitglieder in gleicher Weise beteiligt sein müssen. Dies kam zwar den „Sonderwegen“ einiger EU-Länder prinzipiell entgegen, schürte zugleich aber insbesondere bei den Regierungen der kleinen Mitgliedstaaten den Verdacht, von wichtigen Vorhaben ausgeschlossen und mit der
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Herausbildung eines „Direktoriums“ der „Großen“ konfrontiert zu werden. 1. Verstärkte Zusammenarbeit Das Ergebnis dieser Angst vor einer Zweiklassengesellschaft in der GASP führte in den überaus kontroversen Schlussverhandlungen über den Vertrag von Nizza dazu, dass die an sich positive Ursprungsidee in ihr Gegenteil verkehrt wurde: die zunächst für sicherheits- und verteidigungspolitische Themen konzipierte „engere Zusammenarbeit“ fand sich im Vertragstext (Art 27 a-e EUV aF) als eine Flexibilisierung wieder, die ESVP-Themen explizit hiervon ausnahm und die Anwendungsfelder für andere Fragen der GASP so definierte, dass die Bestimmungen nie angewandt wurden.23 Die darauffolgende Reformdebatte bestätigte die bekannten Divergenzen. Zwar erstreckt sich die verstärkte Zusammenarbeit mit Lissabon (Art 20 EUV) nunmehr auf alle Bereiche der GASP und GSVP. Sie gilt jedoch weiterhin als ein „last resort“ Ansatz, wenn das angestrebte Ziel nicht im Rahmen der herkömmlichen Verfahren innerhalb eines „vertretbaren“ Zeitraums erreicht werden kann. Voraussetzung ist ferner die Mitwirkung von mindestens neun Mitgliedstaaten. Der Umstand, dass eine verstärkte Zusammenarbeit weiterhin nur mit einem einstimmigen Ratsbeschluss eingeleitet werden kann (Art 329 Abs 2 AEUV), ist den traditionellen Skeptikern einer Flexibilisierung geschuldet, womit es diesem Modell auch künftig an Attraktivität fehlt.24 Da der Ausgang der damaligen Reformdebatte bis zum Schluss der Vertragsverhandlungen unklar blieb, ersannen die Befürworter neuer Ansätze daher bereits frühzeitig Ausweichmodelle. 2. Ständige Strukturierte Zusammenarbeit Das auffälligste Flexibilisierungsmodell wird mit dem Begriff der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ) in den Vertrag von Lissabon eingeführt. Seine Befürworter wollen darin den „Königsweg“25 ausmachen, den Zwang zur Einstimmigkeit in einer GSVP23 24 25
Regelsberger / Kugelmann (Fn 3) Art 27 a-e EUV. So auch Ana E. Juncos, The Implementation of the Lisbon Treaty, CFSP Forum 6/2009, 12 (16). Diedrichs / Jopp, Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik (Fn 21) 351.
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27 durch die Bildung von Kleingruppen bei deren gleichzeitiger Einbettung in das EU-Gefüge zu lockern. Unter integrationspolitischen Vorzeichen ist die SSZ insofern durchaus als ein Erfolg zu bezeichnen. Ihre Verfahren zeugen allerdings von hoher Komplexität,26 ihre Priorität auf der aktuellen GASP-Agenda scheint niedrig und ihr Praxistest steht noch aus. Die in Art 42 Abs 6 EUV eingeführte und in dem einschlägigen Protokoll27 genauer definierte SSZ setzt, einem deutsch-britisch-französischen Vorschlag folgend, auf eine „inklusive“ Form von Flexibilität ohne unüberwindbare Eintrittskriterien.28 Sie richtet sich an jene EU-Länder, die aufgrund besonderer militärischer Fähigkeiten und ihrer Bereitschaft, diese gemeinsam zu steigern, willlens und in der Lage sind, die anspruchsvollsten GSVP-Operationen zu übernehmen. Das Protokoll über die SSV unternimmt den Versuch, diese Zugangskriterien zu präzisieren, allerdings mit begrenztem Erfolg, und gibt insofern Anlass zu diversen Interpretationen.29 Demnach soll jeder Teilnehmerstaat seine Verteidigungsfähigkeiten dadurch „intensiver“ entwickeln, dass er seine nationalen Beiträge ausbaut und sich „gegebenenfalls“ an multinationalen Streitkräften beteiligt, an den „wichtigsten“ europäischen Ausrüstungsprogrammen mitwirkt und an der EDA30 teilnimmt.31 Das zweite Kriterium verlangt von dem teilnehmenden Staat, dass er bis spätestens 2010 in der Lage ist, ein – nicht näher definiertes – Kontingent für einen Gefechtsverband (Battlegroup) bereit zu stellen, über Mittel für Transport und Logistik verfügt und sich in einem Zeitraum von 5 bis 30 Tagen an GSVP-Mission beteiligen kann.32 Diese eher allgemein gehaltenen Forderungen ohne weitere 26 27
28
29 30 31 32
Siehe Übersicht in diesem Beitrag. Protokoll über die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit nach Artikel 42 des Vertrags über die Europäische Union (Nr 10), ABl 2008 C 115/275. Sven Biscop, Permanent Structured Cooperation and the Future of the ESDP: Transformation and Integration, European Foreign Affairs Review 13/2008, 431 (433); Diedrichs / Jopp, Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik (Fn 21) 352. Christian Mölling, Ständige Strukturierte Zusammenarbeit in der EU-Sicherheitspolitik, SWP-Aktuell 13, 2010, 2. EDA-Mitglieder sind alle EU-Länder außer Dänemark. Art 1 Protokoll (Nr 10) über die SSZ. Art 2 Protokoll (Nr 10) über die SSZ.
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Qualitätsstandards ermöglichen auch den kleineren EU-Ländern eine Teilnahme, indem sie ihre „Nischenfähigkeiten“ einsetzen können.33 Dies geschieht auch bereits im Rahmen der Gefechtsverbände, wo 25 EU-Staaten (Dänemark und Malta nehmen nicht teil) in unterschiedlichen Kompositionen und mit unterschiedlichsten Beiträgen an den seit 2007 einsatzbereiten, wenngleich noch nicht eingesetzten, Battlegroups mitwirken.34 Expertenmeinungen folgend35 bietet die SSZ eine Vielfalt von Einzelprojekten in fünf im Protokoll genauer definierten Tätigkeitsfeldern und ist insofern als ein „window of opportunity“ zu verstehen, mit dem die militärischen Fähigkeitslücken gezielt abgebaut werden und so der GSVP zu mehr Effizienz verhelfen könnten. Defizitäre nationale Verteidigungshaushalte und die begrenzte Konkurrenzfähigkeit nationaler Rüstungsgüter auf dem Weltmarkt könnten als Triebkraft für mehr vereinte europäische Anstrengungen wirken. Ob das für die SSZ vorgesehene und aufwändige Verfahren hierfür taugt, bleibt allerdings abzuwarten. Art 46 EUV zufolge ist der Rat (Auswärtige Angelegenheiten) – und nicht wie in früheren Überlegungen ein gesondertes SSZ-Gremium – die zentrale Entscheidungsinstanz, die sowohl über die Begründung einer SSZ und deren Teilnehmerkreis bzw dessen Ausweitung durch „Nachrücker“ befindet (Art 46 Abs 2 und 3 EUV) als auch über die Aussetzung einer Mitgliedschaft entscheidet, falls der betreffende Staat die in Art 42 Abs 6 EUV und im Protokoll zur SSZ genannten Zulassungskriterien nicht mehr erfüllt (Art 46 Abs 4 EUV).
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Mölling, Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Fn 29) 3. So stellt Zypern etwa eine medizinische Versorgungseinheit oder Litauen Fähigkeiten zur Wasseraufbereitung. Details und Bereitschaftsplan bei Volker Heise, Zehn Jahre Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Entwicklung, Stand und Probleme, SWP-Studie S 25 (2009) und Claudia Major / Christian Mölling, EU-Battlegroups. Bilanz und Optionen zur Weiterentwicklung europäischer Krisenreaktionskräfte, SWP-Studie 22 (2010) 35. Zu dem von einigen Mitgliedstaaten gewünschten flexibleren Einsatz der Battlegroups siehe auch Council conclusions on the European Security and Defence Policy vom 17.11.2009 Dok 15649/09. So Biscop, Permanent Structured Cooperation (Fn 28) 447; Diedrichs / Jopp, Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik (Fn 21) 354.
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In allen drei genannten Fällen entscheidet der Rat mit qualifizierter Mehrheit und nicht mit der in den Reformverhandlungen zeitweise geforderten Einstimmigkeit. Dabei ist allerdings zu beachten, dass für die Einleitung einer SSZ (Art 46 Abs 2 EUV) die für die wenigen GASP-Anwendungsfelder ohnehin typische, höhere Schwelle gem Art 238 Abs 2 EUV36 gilt. Hingegen verweist Art 42 Abs 3 UAbs 3 EUV im Falle von Neueintritten bei bereits bestehenden SSZ sowie Art 42 Abs 4 UAbs 3 EUV im Falle der Aussetzung einer Mitgliedschaft auf die Anwendung der niedrigeren Schwelle37 bei Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit gemäß Art 238 Abs 3 Buchstabe a AEUV. Eine weitere Differenzierung wird dahingehend vorgenommen, dass die Neugründung einer SSZ von allen Mitgliedern des Rates zu beschließen ist, während über einen späteren Beitritt oder Austritt nur die an der SSZ teilnehmenden Länder entscheiden, wobei im Falle des Ausschlusses der betroffene Staat ebenfalls nicht stimmberechtigt ist (Art 42 Abs 4 EUV). Für alle sonstigen Entscheidungen im Rahmen einer bestehenden SSZ ist Einstimmigkeit erforderlich, die sich allerdings nur auf diejenigen Mitglieder im Rat bezieht, die an dieser Form der SSZ teilnehmen (Art 42 Abs 6 EUV). Die anderen Mitglieder des Rates haben lediglich einen Beobachterstatus. Anders als in der GASP generell ist die Rolle des Hohen Vertreters in der SSZ sehr begrenzt. Er übernimmt zum einen die Rolle eines Mit-Empfängers (neben dem Rat) im Falle eines Eintrittsbegehrens eines EU-Landes in eine bestehende SSZ (Art 42 Abs 3 EUV) und im Falle einer Neuinstallation einer SSZ (Art 42 Abs 2 EUV). In beiden Fällen besitzt er darüber hinaus ein Anhörungsrecht gegenüber dem Rat. Im Falle der Aussetzung einer Mitgliedschaft sieht der EU-Vertrag für den Hohen Vertreter keine Funktion vor. Gleiches gilt für die Europäische Kommission. 3. Coalitions of the Willing Bei genauer Lektüre des Lissabon-Vertrags stößt man in Art 42 Abs 5 und Art 44 EUV auf eine weitere Form der Flexibilisierung in der GSVP. Diese ist weniger innovativ und weniger spektakulär als etwa die SSZ und bestätigt eine bereits seit Jahren existierende Praxis bei Krisenmanagement-Operationen. Sie ist Ausdruck der 36 37
72 % der Mitglieder und 65 % der Bevölkerung der Union. 55 % der Mitglieder und 65 % der Bevölkerung der Union.
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Tatsache, dass einerseits alle Mitgliedstaaten einen konkreten GSVP-Einsatz befürworten, andererseits aber nicht alle Mitglieder des Rates sich an der Implementation eines solchen Beschlusses aus unterschiedlichen Motiven heraus beteiligen können oder wollen. Basierend auf dem Konsens aller über die Notwendigkeit eines Einsatzes wird eine Gruppe von „Willigen und Fähigen“ mit der Ausführung der Mission beauftragt. Deren Einzelheiten treffen die teilnehmenden Staaten zwar untereinander und in Absprache mit dem Hohen Vertreter. Sie sind jedoch verpflichtet, dem Rat aus eigenen Stücken oder auf Anfrage anderer Mitglieder des Rates, dh auch solcher, die nicht an der Mission selbst teilnehmen, über deren Verlauf Bericht zu erstatten. Sofern der Verlauf einer Operation oder die Umstände vor Ort Änderungen des Mandats erforderlich machen, bedarf es hierzu gemäß Art 44 Abs 2 EUV einer weiteren einstimmigen Entscheidung des Rates und nicht nur der Kerngruppe. Ein Blick auf die seit 2003 knapp 30 ESVP/GSVP-Missionen38 bestätigt, dass die variable Teilnahme gängige Praxis ist. So wird etwa die seit 2005 tätige Mission zur Sicherung des Grenzübergangs Rafah zwischen Gaza und Ägypten vor Ort nur von 8 der 27 EU-Länder bestritten. Weniger als die Hälfte (12) der EU-Mitgliedstaaten beteiligen sich an dem Militäreinsatz am Horn von Afrika zur Bewältigung der Piraterie, der als einer der erfolgreichsten ESVP/GSVP-Operationen gilt und durch seinen Charakter als Marineeinsatz die jüngste Ausdifferenzierung des europäischen Krisenmanagements signalisiert. An der bisher wohl schwierigsten und umfangreichsten EU-Mission, im Kosovo, nehmen 26 EUStaaten teil, interessanterweise auch aus dem Kreis jener fünf Länder, die das Kosovo noch nicht völkerrechtlich anerkannt haben.39 III. Fazit Für eine abschließende Bewertung, ob sich aus der Flexibilisierung der GSVP-Bestimmungen eine besondere Dynamik in der GASP entfalten kann, ist es nach noch nicht einmal einem Jahr nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon noch zu früh. Deren inte38
39
Für Details zu den einzelnen Missionen siehe die Homepage des Rates der EU. Für eine umfassende Bewertung: Asseburg / Kempin, Die EU als strategischer Akteur in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik? (Fn 17). Griechenland, Rumänien, Slowakei, Spanien, Zypern.
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grationspolitische Bedeutung ist unbestritten und wird mit der Aufnahme eines eigens der GSVP gewidmeten Kapitels nochmals deutlich. Diese Hervorhebung ist allerdings im Gesamtkontext der neuen GASP-Vertragsartikel zu sehen. Sie wird insofern wieder relativiert, als die Bestimmungen über den Hohen Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik seither eine viel größere praktische Relevanz und Dynamik für das GASP-Geschehen erlangt haben. Gleiches gilt im Verhältnis zu anderen, im Vertrag nur mit dürren Worten bedachten neuen Akteuren wie dem Europäischen Auswärtigen Dienst, dessen Ausgestaltung einen wesentlichen Teil der Beratungen auf EU-Ebene im Jahr 2010 ausmachte. Ein Blick auf die aktuelle GASP-Agenda und gestützt auf die Bewertung von Insidern führt zu dem Schluss, dass das Tagesgeschehen der GSVP nicht wesentlich von „Lissabon“ geprägt wird. Vielmehr gelten die GSVP-Operationen als die wirkliche Herausforderung. Sie produzieren die eigentliche Dynamik in zweifacher Hinsicht: Das internationale Umfeld zwingt die GSVP zu ständigem Wachstum und einer Ausdifferenzierung ihrer Instrumente. Die gegenwärtig laufenden 15 Missionen40 sind in Größe, Dauer und Inhalt des Mandats so unterschiedlich wie die Krisen, zu deren Lösung sie beitragen sollen. Dabei ist ferner festzustellen, dass die konzeptionell zunächst vorgenommene Unterscheidung in zivile oder (primär) militärische Operationen in der Praxis mehr und mehr vermischt wird und eine Verlagerung stattgefunden hat.41 So sind aktuell lediglich zwei rein militärischer Natur (Atalanta und in Bosnien-Herzegowina), drei verfolgen kombiniert zivil-militärische Aufgaben (Sicherheitssektor Reform Kongo; Guinea-Bissau; Training für Sicherheitskräfte in Somalia) während der überwiegende Teil, dh zwei Drittel, ziviler Art – wenngleich wiederum sehr unterschiedlicher Ausrichtung – sind. Aus dem stetig steigenden Bedarf an konkreten Maßnahmen ergeben sich eine Vielzahl praktischer Fragen, etwa jene nach der Verfügbarkeit geeigneter militärischer und/oder ziviler Fähigkeiten sowie deren Finanzierung. Aktuell geht es unter anderem um die Rolle von Gendarmerieeinheiten von EU-Ländern in Krisengebieten, die im Einzelfall als besser geeignet 40 41
13 weitere Missionen wurden bereits beendet. Marco Overhaus, Zivil-militärisches Zusammenwirken in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Operative Erfahrungen, Defizite, Entwicklungsmöglichkeiten, SWP-Studie S 10 (2010).
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erscheinen als das Militär oder die Polizei oder um die Frage, wie der Mangel an Polizeikräften für GSVP-Einsätze behoben werden kann, der unter anderem daraus resultiert, dass diese ja in den EULändern bereits Dienst tun und für den Auslandseinsatz abgezogen werden müssen. Hierbei könnten auf nationaler Ebene vermeintliche oder tatsächliche Sicherheitslücken entstehen, die einzelne Regierungen davon abhalten könnten, eigene Kontingente bereit zu stellen oder – wie etwa im Falle Deutschlands – schwierige Verhandlungen mit den Bundesländern führen zu müssen. Defizite bestehen ferner bei der Bereitstellung einer ausreichenden Zahl von Richtern und Staatsanwälten für GSVP-Einsätze und – last but not least – bei der finanziellen Ausstattung der Missionen. Zwar ist in den vergangenen Jahren ein deutlicher Zuwachs des GASP-Budgets zu verzeichnen;42 doch die Manövrierfähigkeit bei unvorhergesehenen Krisen bleibt eingeschränkt, wenn etwa die Hälfte dieser Mittel bereits für eine einzige Maßnahme, EULEX Kosovo, reserviert ist. Ein Rückgriff auf nationale Haushalte erweist sich angesichts leerer öffentlicher Kassen als schwierig, zumal diese ohnehin bereits durch die militärischen GSVP-Operationen belastet werden, die nicht aus dem Unionshaushalt finanziert werden dürfen.43 Die extern bedingte Dynamik der ESVP/GSVP seit 2003 blieb nicht ohne Folgen für die innere Verfasstheit der GASP. Die Expansion der Krisenmanagement-Operationen hatte eine nicht notwendigerweise konsistente „Verfeinerung“ der Brüsseler Strukturen zur Folge. Die militärische Dimension in Form des EU-Militärausschusses und insbesondere des Militärstabs im Generalsekretariat des Rates musste in das Gefüge „integriert“ und in Beziehung zu anderen zentralen Akteuren – wie dem Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee (PSK)44 – gesetzt werden. Die zunehmende Verknüpfung von zivilen und militärischen Aspekten erzwang eine quasi permanente Reorganisation bestehender und die Schaffung
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Für 2001 standen im EU-Haushalt 30 Mio € zur Verfügung, im Jahr 2010 sind es beachtliche 250 Mio €. Art 41 Abs 2 EUV, wonach ferner noch ein besonderer Anschubfonds aus nationalen Mitteln kreiert werden soll. Simon Duke, The linchpin COPS: Assessing the workings and institutional relations of the Political and Security Committee, EIPA Working Paper 2005.
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neuer Verwaltungseinheiten im Generalsekretariat des Rates,45 deren augenfälligste und aktuellste mit den Kürzeln CPCC (Civilian Planning and Conduct Capability) und CMPD (Crisis Management and Planning Directorate) umschrieben werden.46 Der Mehrwert dieser Strukturanpassungen wird sich wohl erst richtig entfalten können, wenn diese Eingang in den neuen Europäischen Auswärtigen Dienst unter der Ägide der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik gefunden haben – den eigentlich dynamischen Elementen der GASP nach Lissabon!
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Ausführlich Nadja Klein, European Agents out of Control? Delegation and Agency in the Civil-Military Crisis Management of the European Union 1999-2008 (2010), Hylke Dijkstra, The Council Secretariat’s Role in the Common Foreign and Security Policy, European Foreign Affairs Review 13/2008, 149. Carmen Gebhard, The Crisis Management and Planning Directorate: Recalibrating ESDP Planning and Conduct Capabilities, CFSP Forum 4/2009, 8 (8).
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Die Umsetzung der Gemeinsamen Handelspolitik nach dem Vertrag von Lissabon I. Überblick A. Zuständigkeitsverschiebungen B. Funktionsverschiebungen II. Autonome Gesetzgebung und Abschluss völkerrechtlicher Verträge A. Handelspolitische Gesetzgebung 1. Horizontale Abgrenzung zu anderen Zuständigkeiten der Union 2. Delegation und Durchführung 3. Verbot von Einzelfallmaßnahmen? B. Abschluss völkerrechtlicher Abkommen C. Zuständigkeitsschranke des Art 207 Abs 6 EUV 1. Schranke der Verbandskompetenz 2. Schranke der Harmonisierungsverbote III. Zuständigkeitserweiterungen: Direktinvestitionen A. Begriff der ausländischen Direktinvestitionen B. Einbeziehung von Portfolioinvestitionen? C. Umfang der handelspolitischen Zuständigkeit bei Direktinvestitionen IV. Ausschließliche Zuständigkeit in der GHP A. Ausschließliche Kompetenz bei Direktinvestitionen 1. Auflösung des Kompetenzkonflikts 2. Ermächtigung B. Eingreifen von Bestandsschutz bei bestehenden Verträgen V. Schluss
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T. Eilmansberger et al. (eds.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon © Springer-Verlag Wien 2011
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I. Überblick Die Gemeinsame Handelspolitik (GHP) der Europäischen Union hat durch den Vertrag von Lissabon eine deutliche kompetentielle Ausweitung erfahren. Die Reform der Vertragsbestimmungen ist nicht nur Ausdruck des Willens, die Europäische Union als eigenständigen Akteur der internationalen Beziehungen zu stärken, sondern ihr in weiten Teilen des internationalen Wirtschaftsrechts auch eine Rolle als „einheitlicher Ansprechpartner“ zuzuweisen. Damit trägt das Unionsrecht dem Umstand Rechnung, dass die EU – selbst ohne den Güteraustausch zwischen den Mitgliedstaaten im Binnenmarkt – zur größten globalen Handelsmacht beim Verkehr mit Waren und Dienstleistungen herangewachsen ist.1 Auch bei ausländischen Direktinvestitionen zählt die EU zu den weltweit größten Exporteuren. Vor dem Hintergrund dieser wirtschaftlichen Stärke und der intensiven Verflechtung in die Weltwirtschaft zielt der AEUV auf einen ehrgeizigen Ausbau der GHP. Ob die damit verbundene Arrondierung der Zuständigkeiten und die Aufwertung der Rolle der Union rechtlich geglückt sind, steht auf einem anderen Blatt. Verschiedene Einschränkungen, insbesondere aus Art 207 Abs 6 AEUV, relativieren bei näherer Betrachtung die Grundtendenz der Reform. A. Zuständigkeitsverschiebungen Art 207 Abs 1 AEUV bewirkt – wie bereits vorhergehende Reformen – sowohl im Verhältnis zwischen Union und Mitgliedstaaten als auch unionsintern eine erhebliche Zuständigkeitsverschiebung zugunsten der GHP. Die Anfänge dieser Entwicklung, die das Verbandsgefüge und die Binnenstellung der Handelspolitik im System des Vertrags betreffen, reichen weit in die Vergangenheit zurück. Bildete die GHP ihrem ursprünglichen Zweck nach die Außendimension der Zollunion mit einem klaren Fokus auf den Warenverkehr, so brachten sich verändernde handelspolitische Bedürfnisse und die internationale Praxis rasch eine Ausweitung des instru1
Zahlen nach WTO, International Trade Statistics 2009, http://www. wto.org/english/res_e/statis_e/its2009_e/its2009_e.pdf.
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mentellen Verständnisses von Handelspolitik mit sich.2 Vor allem die Verhandlungen zur Gründung der WTO, an der auch die EG teilnahm, dynamisierten maßgeblich das außenwirtschaftliche Denken.3 Handelspolitik wird spätestens seit dem Beitritt zur WTO als Querschnittsmaterie verstanden, die Bezüge zu zahlreichen anderen Rechtsbereichen wie der Umweltpolitik, Arbeitsmarkt- oder der Sozialpolitik aufweist.4 Zugleich bildete die handelspolitische Kompetenz der damaligen EG die Grundlage für eine Institutionalisierung der Außenwirtschaftsbeziehungen, insbesondere im Rahmen der WTO. Die institutionelle Seite in Gestalt von Abstimmungsprozessen in den WTO-Gremien und des Streitbeilegungsverfahrens vor dem Dispute Settlement Body verstärkte wiederum die dynamische Betrachtung von Handelspolitik als Materie zur Bewältigung wirtschaftlicher und sozialer Zielkonflikte. Im innergemeinschaftlichen Kontext trat sie bereits vor Gründung der WTO neben die Entwicklungshilfepolitik und die Assoziierungspolitik. Häufig war und ist sie in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik, beispielsweise bei Wirtschaftssanktionen,5 eingebettet. Dieser Entwicklung hin zur thematischen Breite und Funktionalität der Außenwirtschaftsordnung zog indes der europarechtliche Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung deutliche Zuständig2
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Siehe EuGH, Gutachten 1/75, Lokale Kosten, Slg 1975, 1355 (1362); Gutachten 1/78, Internationales Naturkautschuk-Übereinkommen, Slg 1979, 2871, Rn 44 f. Siehe zu dieser dynamischen Wirkung Martin Nettesheim / Johann Ludwig Duvigneau, Art 133 EGV, in Streinz (Hg), EUV/EGV. Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (2003) Rn 6; vgl auch Stefan Griller / Marcus Klamert, Außenwirtschaftsrecht der EU, in Holoubek / Potacs (Hg), Handbuch des Öffentlichen Wirtschaftsrechts2, Band 2 (2007) 1099 (1106). Christoph Herrmann, Die EG-Außenkompetenzen im Schnittbereich zwischen internationaler Umwelt- und Handelspolitik, NVwZ 2002, 1168 (1168). Bart Kerremans / Jan Orbie, The social dimension of European Union trade policy, European Foreign Affairs Review 2009, 629 (629). Angedeutet auch bei BVerfGE 123, 267, 419 – Lissabon. Hierfür bildet Art 215 AEUV die lex specialis.
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keitsgrenzen, die auch der EuGH stets betonte.6 Der Grund hierfür dürfte in zwei Ursachen zu sehen sein: Einmal in der seit dem Vertrag von Maastricht immer stärkeren Ausdifferenzierung der Zuständigkeitsbereiche auf primärrechtlicher Ebene und zweitens in dem Versuch der Rechtsprechung, die Binnenrechtslage und die Außenzuständigkeiten möglichst parallel zu halten. Der Gedanke der Parallelität führte zwar zur Schaffung der impliziten Kompetenzen7 und damit zu einer Ausweitung des Kompetenzfeldes im Außenbereich. Gleichzeitig wirkt dieses Prinzip aber auch kompetenzbegrenzend, da bei der Auslegung der Außenzuständigkeiten die Binnenrechtslage schon aus Gründen der Einheit und Widerspruchsfreiheit des Primärrechts mitberücksichtigt werden muss. Handelspolitisch mag dies unbefriedigend erscheinen, und in der Reaktion auf diese Rechtsprechung kam es durch die Verträge von Amsterdam und Nizza zu Vertragsänderungen, um speziell den Dienstleistungshandel in allen vom GATS vorgesehenen Erbringungsformen8 und die Handelsaspekte des geistigen Eigentums in die gemeinschaftliche Zuständigkeit einzubinden. Im Unterschied zur sonstigen ausschließlichen Zuständigkeit galt für diese Bereiche aber nur eine konkurrierende Zuständigkeit der Gemeinschaft, vgl Art 133 Abs 5 UAbs 4 EGV.9 Für die politisch sensiblen Kultur-, Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen beließ es der Vertrag von Nizza zudem bei einer zwingend angeordneten, gemischten Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten.10 6
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EuGH, Gutachten 1/94, WTO, Slg 1994, I-5267, Rn 45 ff zu Dienstleistungen, Rn 56 ff zum TRIPS; Gutachten 2/00, Cartegena Protokoll, Slg 2001, I-9713, Rn 37 ff zur Abgrenzung gegenüber der Umweltpolitik. Zur Kritik hieran siehe Till Müller-Ibold, Vorbem Art 206-207 AEUV in Lenz / Borchardt (Hg), EU-Verträge. Kommentar5 (2010) Rn 10. Grundlegend EuGH, Rs 22/70, Kommission/Rat (AETR), Slg 1971, 263, Rn 16. Heute umgesetzt durch Art 216 Abs 1 AEUV. Bestätigt durch EuGH, Gutachten 1/08, noch nicht in Slg veröffentlicht, Rn 119. So auch BVerfGE 123, 267, 417 – Lissabon. Bestätigt durch EuGH, Gutachten 1/08, noch nicht in Slg veröffentlicht, Rn 150. Kritisch zur vertraglichen Regelung Christoph Herrmann, Vom misslungenen Versuch der Neufassung der gemein-
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Der Vertrag von Lissabon beseitigt nun die in diesem Bereich bestehenden Sonderrechte der Mitgliedstaaten und löst mögliche außenhandelspolitische Spannungslagen aufgrund der früheren Kompetenzverflechtungen auf. Damit zielt der Vertrag darauf, die Zuständigkeit für WTO-Angelegenheiten (praktisch) ausschließlich der Union zuzuweisen.11 In geteilter Zuständigkeit verbleibt allein die Materie der Verkehrspolitik gemäß Art 207 Abs 5 AEUV.12 Zudem erweitert der Vertrag die Unionszuständigkeit um den Bereich der ausländischen Direktinvestitionen und folgt damit der bislang bewährten Logik, die Kompetenzausstattung parallel zu den außenhandelspolitischen Bedürfnissen zu erweitern.13 Gerade der Bereich der Direktinvestitionen ist aber wiederum ein Beispiel dafür, dass es sich hierbei nicht um rein handelspolitische Belange mit dem Ziel handelt, europäischen Unternehmen den Marktzutritt in dritten Ländern zu erleichtern oder ihnen bestimmte Mindestgarantien zugute kommen zu lassen. Vielmehr gelten gerade Direktinvestitionen als wichtiges Instrument in der Entwicklungshilfepolitik, die einen
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samen Handelspolitik durch den Vertrag von Nizza, EuZW 2001, 269 (269); Horst Günter Krenzler / Christian Pitschas, Fortschritt oder Stagnation? Die gemeinsame Handelspolitik nach Nizza, EuR 2001, 422 (422). Horst G. Krenzler / Christian Pitschas, Die Gemeinsame Handelspolitik im Verfassungsvertrag – ein Schritt in die richtige Richtung, in Herrmann / Krenzler / Streinz (Hg), Die Außenwirtschaftspolitik der Europäischen Union nach dem Verfassungsvertrag (2006) 11 (40); Peter-Christian Müller-Graff, The Common Commercial Policy enhanced by the Reform Treaty of Lisbon, in Dashwood / Maresceau (Hg), Law and Practice of EU External Relations (2008) 188 (192). Siehe identisch zur Rechtslage unter dem Vertrag von Nizza EuGH, Gutachten 1/08, noch nicht in Slg veröffentlicht, Rdrn 152 ff. Christian Tietje, Die Gemeinsame Handelspolitik der EU im System des Welthandelsrechts, in Pache / Schorkopf (Hg), Die Europäische Union nach Lissabon (2009) 33 (49). Zum Versuch, die Zuständigkeit für Direktinvestitionen bereits im Vertrag von Nizza aufzunehmen, siehe Krenzler / Pitschas, Fortschritt oder Stagnation? (Fn 10) 444.
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Beitrag zum längerfristigen Aufbau sich entwickelnder Volkswirtschaften leisten sollen.14 B. Funktionsverschiebungen Der Blick auf die Systematik der Verträge offenbart freilich, dass die GHP insgesamt in einem völlig neuen Funktionsgefüge steht. Zwar bekräftigt der AEUV zunächst noch den inhaltlichen Zusammenhang der Handelspolitik mit der Zollunion15 und honoriert damit die völkerrechtlichen Anforderungen des Welthandelsrechts.16 Erstmals wird die GHP aber explizit in die allgemeinen Bestimmungen über das auswärtige Handeln der Union integriert.17 Regelungstechnisch geschieht dies durch eine mehrfache Absicherung. Zunächst verweist die Eingangsbestimmung über das „Auswärtige Handeln der Union“, der Art 205 AEUV, auf die außenpolitischen Grundsätze und Ziele nach Art 21 Abs 1 und 2 EUV. Diese Bindung wird dann zweimal wechselseitig bekräftigt, einmal durch Art 21 Abs 3 EUV, zweitens für die GHP durch Art 207 Abs 1 Satz 2 EUV. Die allgemeinen Grundsätze und Ziele des auswärtigen Handelns bilden damit das Scharnier zwischen der Gemein14 15 16
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Siehe zB UNCTAD, Key Terms and Concepts in IIAs: A Glossary, http://www.unctad.org/en/docs/iteiit20042_en.pdf (2004) 37. Art 206 AEUV. Siehe zur notwendigen Verbindung von „Zölle(n) und Handelsvorschriften“ für die Anerkennung einer Zollunion nach Art XXIV: 8 lit a) i) und ii) GATT 1947 Christoph Herrmann, § 13. Regionale Integration, in Herrmann / Weiß / Ohler, Welthandelsrecht2 (2007) 264, Rn 614. Vgl Marc Bungenberg, Going Global? Common Commercial Policy after Lisbon, in Herrmann / Terhechte (Hg), European Yearbook of International Economic Law (2010) 123 (127 f); Jean-Michel Grave, The Impact of the Lisbon Treaty on Customs Matters: A Legal Assessment, Global Trade and Customs Journal 2010, 95 (96, 99 f); Rudolf Streinz / Christoph Ohler / Christoph Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU3 (2010) 149 f; Tietje, Die Gemeinsame Handelspolitik der EU (Fn 13) 55. Ausführliche Würdigung durch Angelos Dimopoulos, The Effects of the Lisbon Treaty on the Principles and Objectives of the Common Commercial Policy, European Foreign Affairs Review 2010, 153 (161 ff).
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samen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die nach wie vor intergouvernementalen Regeln gehorcht, und den supranationalen Bereichen des auswärtigen Handelns. Unmittelbare rechtliche Folge dieser Integration von GHP und allgemeiner Außenpolitik ist es, dass die Union in allen Bereichen ihres auswärtigen Handelns, also auch im Rahmen der GHP verpflichtet ist, ihren eigenen Grundwerten „weltweit zu stärkerer Geltung [zu] verhelfen“.18 Der hohe Anspruch, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie global zu verwirklichen, kann in rechtlicher Hinsicht nur eine einseitige Verpflichtung der Union sein und steht unter dem Vorbehalt des gegenüber anderen Staaten und Organisationen realpolitisch Durchsetzbaren. Bereits aus diesem Grund, aber auch wegen des Charakters des Art 21 EUV als allgemeine Leitlinie, ist die Bindung an die Grundwerte im Rahmen der GHP nur eingeschränkt justiziabel.19 Art 21 EUV illustriert dennoch ein neues Funktionsverständnis der GHP, deren Folgen für die praktische Politik noch nicht abschätzbar sind.20 Jüngere Handelspräferenzabkommen, die die Einhaltung von Demokratie und Menschenrechten zur Bedingung machen, weisen aber bereits in diese Richtung. Insofern erscheint es auch in einem neuen Licht, dass Art 206 AEUV, der die eigentlichen handelspolitischen Ziele beschreibt, nicht mehr die handelspolitische Liberalisierung, sondern die „harmonische Entwicklung des Welthandels“ an erster Stelle nennt.21
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Art 21 Abs 1 Satz 1 EUV. Wie hier Dimopoulos, The Effects of the Lisbon Treaty on the Principles and Objectives of the Common Commercial Policy (Fn 17) 165. Aus der Rechtsprechung vgl EuGH, Rs C-268/94, Portugal/Rat, Slg 1996, I-6177, Rn 23 („berücksichtigen“). Siehe zu ersten Ansätzen Fabienne Bossuyt, The social dimension of the new generation of EU FTA with Asia and Latin America: ambitious continuation for the sake of policy coherence, European Foreign Affairs Review 2009, 703 (703); vgl auch Marc Bungenberg, Außenbeziehungen und Außenhandelspolitik, EuR Beiheft 1-2009, 195 (212 ff). Zu diesen Akzentverschiebungen siehe Dimopoulos, The Effects of the Lisbon Treaty on the Principles and Objectives of the Common Commercial Policy (Fn 17) 159 f.
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II. Autonome Gesetzgebung und Abschluss völkerrechtlicher Verträge Die Änderungen durch den Vertrag von Lissabon betreffen nicht nur die Stellung der GHP im System des Vertrags. Sie führen verfahrensrechtlich zu einer klaren Aufspaltung zwischen dem Erlass autonomen Rechts in Art 207 Abs 2 AEUV einerseits, dem Abschluss völkerrechtlicher Verträge gemäß Art 207 Abs 3 bis 5 AEUV andererseits. In beiden Fällen wertet der AEUV die Stellung des Europäischen Parlaments deutlich auf.22 Die verfahrensrechtliche Trennung bringt zudem eine wünschenswerte Trennschärfe zwischen Gesetzgebung und Vertragsschluss mit sich und führt beide Formen von Rechtsetzungsverfahren in eine weitgehende Übereinstimmung mit den allgemeinen Vertragsregeln, nämlich Art 289 Abs 1 AEUV einerseits, Art 218 AEUV andererseits. A. Handelspolitische Gesetzgebung Art 207 Abs 2 AEUV bekräftigt zunächst den auch nach alter Rechtslage geltenden Befund, dass die Union auf der Grundlage der handelspolitischen Kompetenz autonomes Recht setzen kann.23 Die gesamte Spannweite der Themen des Art 207 Abs 1 AEUV, wie beispielsweise die Zollgesetzgebung, aber auch die handelspolitischen Schutzmaßnahmen, fällt hierunter.24 Nunmehr sieht der Vertrag ausdrücklich vor, dass Europäisches Parlament und Rat durch Verordnungen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren die Maßnahmen erlassen, mit denen der Rahmen für die Umsetzung 22 23
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Bungenberg, Going Global? (Fn 17) 129 f; Streinz / Ohler / Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU (Fn 17) 152 f. Michael J. Hahn, Art 133 EGV, in Calliess / Ruffert (Hg), EUV/ EGV. Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta. Kommentar3 (2007) Rn 47; Müller-Ibold, Art 207 AEUV (Fn 6) Rn 8; Jürgen Schwarze, Europäisches Wirtschaftsrecht (2007) Rn 351; Christoph Vedder / Stefan Lorenzmeier, Art 133 EGV, in Grabitz / Hilf (Hg), Das Recht der Europäischen Union (2008) Rn 108. Christoph Herrmann, Die Zukunft der mitgliedstaatlichen Investitionsschutzpolitik nach dem Vertrag von Lissabon, EuZW 2010, 207 (209).
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der gemeinsamen Handelspolitik bestimmt wird. Nach altem Recht25 erließ allein der Rat auf Vorschlag der Kommission unbestimmte Rechtsakte, in der Praxis typischerweise Verordnungen, ohne das Parlament in irgendeiner Weise befassen zu müssen.26 1. Horizontale Abgrenzung zu anderen Zuständigkeiten der Union Die bereits in der Vergangenheit schwierige Frage nach der horizontalen Abgrenzung zwischen den Zuständigkeitsbereichen der Union löst auch das neue Recht nicht auf. Die von Rat und Kommission vertretenen, gegensätzlichen Positionen zur zielorientierten bzw instrumentellen Natur der handelspolitischen Gesetzgebung haben sich in ihrer Reinform nicht durchsetzen können.27 Stattdessen verfolgt der EuGH eine Rechtsprechungslinie, die auch bei der GHP auf die allgemeinen, für alle unionsinternen Zuständigkeitskonflikte geltenden Abgrenzungskriterien Bezug nimmt.28 Den Ausgangspunkt bildet die Analyse, worin der Gegenstand und das Ziel einer sekundärrechtlichen Regelung zu sehen sind, die der EuGH allein als objektive und gerichtlich nachprüfbare Umstände anerkennt.29 Bei einer ausschließlich oder zumindest hauptsächlich handelspolitischen Zielsetzung bzw Regelungsmaterie („Schwerpunkt“) wäre allein Art 207 AEUV heranzuziehen.30 Sofern ein Rechtsakt dagegen handelspolitische und andere Aspekte gleichermaßen betrifft, diese untrennbar miteinander verbunden sind und keine Zielsetzung nebensächlich ist, kann der Rechtsakt ausnahms-
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Art 133 Abs 2 und 4 EGV. Statt vieler Nettesheim / Duvigneau, Art 133 EGV (Fn 3) Rn 26. Vgl Müller-Ibold, Vorbem Art 206-207 AEUV (Fn 6), Rn 8; Vedder / Lorenzmeier, Art 133 EGV (Fn 23) Rn 48 ff. Dimopoulos, The Effects of the Lisbon Treaty on the Principles and Objectives of the Common Commercial Policy (Fn 17) 157 f. Zu dieser Anforderung siehe EuGH, Rs C-300/89, Kommission/Rat (Titandioxid), Slg 1991, I-2867 Rn 10. Vgl EuGH, Rs C-300/89, Kommission/Rat (Titandioxid), Slg 1991, I2867 Rn 17; verb Rs C-164/97 und C-165/97, EP/Rat, Slg 1999, I1139, Rn 12, 14; Rs C-155/07, Parlament/Rat, Slg 2008, I-8103, Rn 35.
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weise auf beide Rechtsgrundlagen gestützt werden.31 Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn ein Rechtsakt eine umweltpolitische Zielsetzung explizit mit einem handelspolitischen Instrumentarium durchsetzen will.32 Auch die Zuständigkeit über die Verwaltungszusammenarbeit der Zollbehörden (Art 33 AEUV)33 und die Zuständigkeit aus der GHP fallen häufig ineinander. Eine doppelte Rechtsgrundlage ist nach der Rechtsprechung allerdings dann ausgeschlossen, wenn sich die jeweiligen Gesetzgebungsverfahren nicht miteinander vereinbaren lassen oder wenn die Verbindung die Rechte des Parlaments beeinträchtigen würde.34 Das ist nach bisheriger Rechtsprechung nur der Fall, wenn die Abstimmungsregeln im Rat voneinander abweichen.35 Weichen dagegen die Mitwirkungsrechte des Parlaments aufgrund der verschiedenen Kompetenztitel voneinander ab, so schadet dies nicht, da dann das Gesetzgebungsverfahren Anwendung findet, das zugunsten des EP die weiterreichenden Beteiligungsrechte vorsieht,36 im Falle des Art 207 Abs 2 AEUV mithin das ordentliche Gesetzgebungsverfahren. Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung sind Kompetenzkonflikte in Hinblick auf folgende Bereiche absehbar, in denen der Rat abweichend von Art 207 Abs 2 AEUV einstimmig beschließen muss: Beschäftigungsbedingungen für Drittstaatsangehörige nach Art 153 Abs 1 lit g) AEUV und spezifische Umweltschutzregelun31 32
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Vgl EuGH, verb Rs C-164/97 und C-165/97, EP/Rat, Slg 1999, I1139, Rn 14; Rs C-155/07, Parlament/Rat, Slg 2008, I-8103, Rn 36. Zu Fällen einer notwendig doppelten Kompetenzgrundlage unter Einbeziehung von Art 133 EGV siehe EuGH, Rs C-94/03, Kommission/ Rat, Slg 2006, I-1, Rn 42 ff; Rs C-178/03, Kommission/Parlament und Rat, Slg 2006, I-107, Rn 44 ff. Art 33 AEUV begründet im Unterschied zu Art 207 AEUV freilich nur eine geteilte Zuständigkeit der Union, siehe Grave, The Impact of the Lisbon Treaty on Customs Matters (Fn 17) 106. Vgl EuGH, Rs C-94/03, Kommission/Rat, Slg 2006, I-1, Rn 52. Vgl EuGH, Rs C-300/89, Kommission/Rat (Titandioxid), Slg 1991, I2867, Rn 19. Vgl EuGH, Rs C-94/03, Kommission/Rat, Slg 2006, I-1, Rn 54; Rs C-155/07, Parlament/Rat, Slg 2008, I-8103, Rn 77 ff.
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gen nach Art 192 Abs 2 AEUV. Unklar ist überdies, wie insoweit Art 31 AEUV eingeordnet werden muss, wonach die Sätze des Gemeinsamen Zolltarifs verfahrensrechtlich allein vom Rat auf Vorschlag der Kommission beschlossen werden. Hier lässt sich vertreten, da nach Art 31 AEUV das EP überhaupt nicht an der Rechtsetzung beteiligt ist, dass auch das ordentliche Gesetzgebungsverfahren des Art 207 Abs 2 AEUV nicht ergänzend herangezogen werden könnte, um die Beteiligung des EP „aufzubessern“. In der Konsequenz bedarf es künftig zweier separater Rechtsakte, einmal nach Art 31 zu den Zollsätzen, im Übrigen nach Art 207 Abs 2 AEUV zu den sonstigen Zollregelungen.37 Unter den Bedingungen des Lissabonner Vertrags dürften solche Differenzierungen auch auf die strafprozessuale und die materielle strafrechtliche Gesetzgebung nach Art 82 und 83 AEUV zu übertragen sein. Die spezifischen verfahrensrechtlichen Sicherungen in diesen Bereichen, insbesondere das Vetorecht eines Mitgliedstaats im Rat und die Befassung des Europäischen Rats („Notbremseverfahren“), lassen sich nur dann aktivieren, wenn ein Rechtsakt tatsächlich auf diese Spezialkompetenz gestützt wird. Strafrechtliche und strafprozessuale Fragen fallen damit klar nicht nur aus dem Spektrum des Art 207 AEUV heraus,38 sondern dürfen auch nicht in einem einheitlichen Rechtsakt geregelt werden, der sich neben Art 82 und 83 AEUV auch auf Art 207 AEUV stützt. Besonders problematisch dürfte weiterhin die Abgrenzung zur GASP sein,39 da Art 40 EUV wie im früheren Recht zu einer Scheidung zwischen den originär supranationalen Kompetenzen und der intergouvernementalen Zuständigkeitsausübung auf Grundlage der GASP führt.40 Solche Abgrenzungsschwierigkeiten bestehen insbesondere im Bereich des Handels mit konventionellen Waffen.41 Die 37 38 39 40 41
Grave, The Impact of the Lisbon Treaty on Customs Matters (Fn 17) 107. Im Ergebnis ebenso Grave, The Impact of the Lisbon Treaty on Customs Matters (Fn 17) 104 f. Siehe Müller-Ibold, Vorbem. Art 206-207 AEUV (Fn 6), Rn 7. Hierzu ausführlich Griller / Klamert, Außenwirtschaftsrecht der EU (Fn 3) 1111 ff. Siehe zB Beschluss 2010/336/GASP des Rates vom 14.6.2010 zu
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Rechtsprechung des EuGH neigt hier dazu, die supranationalen Zuständigkeiten zulasten der GASP extensiv auszulegen, um so einerseits die Mitwirkungsrechte des Parlaments, andererseits aber auch die eigenen justiziellen Kontrollbefugnisse auf der Grundlage von Art 263 AEUV zu stärken.42 Methodisch verlässt sich der EuGH auch hier auf die Argumentationsfigur des Regelungsschwerpunkts bzw des Hauptzwecks der Maßnahme, um das erforderliche Abgrenzungskriterium zu gewinnen.43 Anders als bei Zuständigkeitskonflikten, die sich insgesamt im supranationalen Bereich bewegen, scheidet eine doppelte Kompetenzgrundlage aus GASP und AEUV allerdings aus, wenn die streitige Maßnahme mehrere, jeweils gleichwertige Ziele verfolgt, die aber den verschiedenen Bereichen zuzuordnen sind.44 Der Grund für diese Unvereinbarkeit liegt in den strukturell verschiedenen Entscheidungsverfahren und Handlungsformen dieser Kompetenzbereiche. An diesem Befund ändert sich auch durch den Lissabonner Vertrag nichts. Mithin müsste in einer solchen Konstellation der Rechtsakt thematisch so aufgespaltet werden, dass eine Zuordnung zur GASP einerseits, dem AEUV andererseits möglich wird. Im Ergebnis bedarf es dann zweier sich ergänzender Rechtsakte. Wo die inhaltliche Trennung nicht möglich ist, müssen zwei identische Rechtsakte jeweils auf den verschiedenen Rechtsgrundlagen erlassen werden. 2. Delegation und Durchführung Art 207 Abs 2 AEUV stellt indes nur die Rechtsgrundlage für Verordnungen dar, „mit denen der Rahmen für die Umsetzung der gemeinsamen Handelspolitik bestimmt wird“. Das spiegelt die bisherige Gesetzgebungspraxis wider, wonach die handelspolitischen Verordnungen typischerweise durch Maßnahmen im Einzelfall kon-
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EU-Maßnahmen zur Unterstützung des Vertrags über den Waffenhandel im Rahmen der Europäischen Sicherheitsstrategie, ABl 2010 L 152/14. Siehe EuGH, Rs C-91/05, Kommission/Rat, Slg 2008, I-3651, Rn 56 ff zur Abgrenzung zwischen GASP und der Zuständigkeit für Entwicklungszusammenarbeit. EuGH, Rs C-91/05, Kommission/Rat, Slg 2008, I-3651, Rn 71 ff. EuGH, Rs C-91/05, Kommission/Rat, Slg 2008, I-3651, Rn 76.
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kretisierungsbedürftig sind, sei es durch weitere Verordnungen des Rates oder Verordnungen bzw Beschlüsse der Kommission oder Durchführungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten. Aus dem vertraglichen Wortlaut „Rahmen für die Umsetzung der gemeinsamen Handelspolitik“ resultieren indes zwei Fragen: Erstens, in welchem Verhältnis steht Art 207 Abs 2 AEUV zu den Vorschriften über die delegierte Rechtsetzung und die Durchführungsrechtsetzung? Zweitens, dürfen die Verordnungen gemäß Art 207 Abs 2 AEUV lediglich „Rahmen“-Verordnungen bilden, mithin keine Einzelfallmaßnahmen regeln?45 Art 207 Abs 2 AEUV muss systematisch stimmig und damit möglichst widerspruchsfrei zu anderen Vertragsbestimmungen ausgelegt werden. Daher kommen die Vorschriften zur Delegation bzw zur Übertragung von Durchführungsbefugnissen gemäß Art 290 und Art 291 Abs 2 AEUV grundsätzlich neben Art 207 Abs 2 AEUV zur Anwendung. Fraglich ist jedoch, ob auf dieser Grundlage entweder nur eine delegierte Rechtsetzung oder nur eine Durchführungsrechtsetzung möglich ist oder ob beide Rechtsetzungsverfahren nebeneinander berufen werden können. Die delegierte Rechtsetzung nach Art 290 AEUV ist nur auf der Grundlage eines Gesetzgebungsaktes möglich, der bei Verordnungen gemäß Art 207 Abs 2 AEUV stets vorliegt (Art 289 Abs 3 AEUV). Nach Art 291 Abs 2 AEUV ist eine Durchführungsrechtsetzung in den Fällen zulässig, in denen ein „verbindlicher Rechtsakt“ als Basisrechtsakt vorliegt, wozu auch Verordnungen zählen. Die damit gebotene Abgrenzung zwischen Art 290 und Art 291 Abs 3 AEUV hat praktische Folgen, denn bei der delegierten Rechtsetzung darf nur die Kommission Empfängerin der Delegation sein, während bei der Durchführungsrechtsetzung sowohl Rat („in entsprechend begründeten Sonderfällen“) als auch Kommission ermächtigt werden können. Nach der vertraglichen Konzeption überschneiden sich die Anwendungsbereiche der beiden Vorschriften nicht. Hierfür spricht, dass nach Art 290 AEUV die delegierte Gesetzgebung al-
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Siehe Streinz / Ohler / Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU (Fn 17) 152; in diesem Sinne auch Waldemar Hummer, Art III-315 EVV, in Vedder / Heintschel von Heinegg (Hg), Europäischer Verfassungsvertrag (2007) Rn 13.
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lein auf die Ergänzung oder Änderung nicht-wesentlicher Teile eines Gesetzgebungsaktes zielt. Dagegen bildet der Gegenstand des Art 291 Abs 2 AEUV ganz allgemein die Durchführung von „verbindlichen Rechtsakten“, wozu alle Handlungsformen nach Art 288 Abs 2 bis 4 AEUV zählen.46 Der unionsrechtliche Terminus der Durchführung ist denkbar weit zu verstehen47 und umfasst den Verwaltungsvollzug im Einzelfall ebenso wie den Erlass abstrakt-genereller Vorschriften im Verfahren der Komitologie, wie aus Art 291 Abs 3 AEUV folgt.48 Es besteht im Übrigen kein Zweifel, dass auch Gesetzgebungsakte im Sinne des Art 289 Abs 3 AEUV durchgeführt werden können. Somit kann im Rahmen handelspolitischer Gesetzgebung nach Art 207 Abs 2 AEUV wahlweise delegiert oder zur Durchführungsrechtsetzung ermächtigt werden. Von welcher Alternative der Unionsgesetzgeber Gebrauch machen will, muss er dann allerdings zweifelsfrei und eindeutig im Basisrechtsakt zum Ausdruck bringen. Für die Abgrenzung wird es darauf ankommen, ob der Basisrechtsakt geändert oder ergänzt werden soll, dh eine gleichrangige Regelung geschaffen werden soll, so dass allein Art 290 AEUV einschlägig wäre. Im Falle von „Änderungen“ eines Basisrechtsakts lässt sich das Kriterium regelmäßig noch bestimmen. Schwieriger dürfte es dagegen sein, „Ergänzungen“ des Basisrechtsakts von der „Durchführung“ des Basisrechtsakts abzugrenzen. Theoretisch sollte das relevante Kriterium sein, ob die Regelung des Basisrechtsakts bereits systematisch vollständig und somit bestenfalls konkretisierungsbedürftig ist, da dann nur eine Durchführung in Betracht kommt. Erweist sich das Regelungsprogramm des Basisrechtsakts nach dem Willen des Gesetz-
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Ebenso Matthias Ruffert, Art I-36–Art I-37 EVV, in Calliess / Ruffert (Hg), Verfassung der Europäischen Union (2006) Rn 2; Streinz / Ohler / Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU (Fn 17) 98. Siehe auch Thomas Kröll vorstehend auf S 313. Vgl Christoph Möllers, Durchführung des Gemeinschaftsrechts, EuR 2002, 483 (489 f); Manfred Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, 2846 (2849). Ebenso Ruffert, Art I-36–Art I-37 EVV (Fn 46) Rn 22. Zu den Voraussetzungen und Grenzen der Komitologie siehe EuGH, Rs C403/05, Parlament/Kommission, Slg 2007, I-9045, Rn 49 ff.
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gebers als bewusst unvollständig, kommt nur eine Ergänzung im Verfahren des Art 290 AEUV in Betracht. Zudem schafft die in Art 207 Abs 2 AEUV vorgesehene Beschränkung des Unionsgesetzgebers, nur den „Rahmen für die Umsetzung der gemeinsamen Handelspolitik“ zu bestimmen, eine grundsätzliche Pflicht, eine Ermächtigung für eine delegierte Rechtsetzung bzw eine Durchführungsrechtsetzung vorzusehen. Damit weicht Art 207 Abs 2 AEUV von Art 290 und Art 291 Abs 2 AEUV ab, nach deren Wortlaut („kann“) diese Entscheidung im Ermessen des Unionsgesetzgebers steht. Im Ergebnis bedeutet die Anwendbarkeit des Art 291 Abs 2 AEUV zudem, dass das bisherige System der Rechtsetzung im Bereich der handelspolitischen Schutzmaßnahmen aufrecht erhalten werden kann. Die Anti-Dumping-Verordnung und die Anti-Subventions-Verordnung bilden reine Rahmenregelungen, die durch Verordnungen des Rates durchgeführt werden,49 was unter der Voraussetzung eines „entsprechend begründeten Sonderfalls“ zulässig bleibt. 3. Verbot von Einzelfallmaßnahmen? Vor diesem Hintergrund ist auch die Frage nach einem möglichen Verbot von Einzelfallverordnungen zu sehen. Der Wortlaut des Art 207 Abs 2 AEUV spricht nur davon, dass die Gesetzgebungsorgane den „Rahmen für die Umsetzung der gemeinsamen Handelspolitik“ schaffen, nicht aber, dass jede Verordnung nur Rahmenregelungen enthalten dürfe. Die grundsätzliche Umsetzungsbedürftigkeit der Verordnungen in der GHP schließt zwar Einzelfallmaßnahmen des Unionsgesetzgebers aus, die nicht mehr durchführungsbedürftig und damit selbst-vollziehend sind. Jedoch bedürfen beispielsweise auch handelspolitische Sanktionen der EU regelmäßig des verwaltungsmäßigen Vollzugs durch die Zollbehörden der Mitgliedstaaten. Vor diesem Hintergrund muss es aus sachlichen Gründen im Einzelfall möglich sein, auch „Maßnahmenverordnungen“ für Einzelfälle zu erlassen, sofern sie sich ihrerseits in den allgemeinen gesetzlichen Rahmen der gemeinsamen Handelspolitik einfügen und noch auf eine verwaltungsmäßige Durchführung angelegt sind. 49
Art 9 Abs 4 iVm Art 14 VO (EG) Nr 1225/2009, ABl 2009 L 343/51; Art 15 iVm Art 24 VO (EG) Nr 597/2009, ABl 2009 L 188/93.
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B. Abschluss völkerrechtlicher Abkommen Beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge der Union bestimmt ebenfalls Art 207 Abs 1 AEUV den Umfang der handelspolitischen Kompetenz. Soweit diese nicht hinreicht, muss die Zuständigkeit über die implizite Zuständigkeit nach Art 216 Abs 1 AEUV begründet werden. Die horizontale Abgrenzung zwischen den Zuständigkeitsbereichen erfolgt aufgrund der Rechtsprechung des EuGH wie bei der autonomen Gesetzgebung nach den Kriterien von Regelungsziel und Regelungsschwerpunkt des Vertrages.50 Daher bedürfen insbesondere die Abgrenzungen zur außenpolitischen Zuständigkeit der Union im Rahmen der GASP wegen Art 37 und Art 40 EUV weiterhin sorgfältiger Einzelfallanalyse. In verfahrensrechtlicher Hinsicht bilden die Art 207 Abs 3 und 4 AEUV die Grundlage für den Abschluss der handelspolitischen Verträge der Union mit Drittländern und Internationalen Organisationen. Die wesentliche Änderung zum Nizzaer Recht liegt darin, dass nunmehr grundsätzlich das allgemeine Vertragsschlussverfahren nach Art 218 AEUV zur Anwendung berufen wird. Es sieht in den fünf Fallgruppen des Art 218 Abs 6 lit a) die Zustimmung, in allen anderen Fällen (Art 218 Abs 6 lit b) AEUV) die Anhörung des Europäischen Parlaments vor. Die Parlamentarisierung des Zustimmungsverfahrens führt zu einer verstärkten Kontrolle der Kommission, verbessert die demokratische Legitimation der Rechtswirkungen der völkerrechtlichen Verträge im Unionsrecht (Art 216 Abs 2 EUV) und bildet damit eine konkrete Umsetzung des unionsrechtlichen Demokratieprinzips gemäß Art 10 EUV.51 Zudem sorgt gerade das Zustimmungserfordernis nach Art 218 Abs 6 lit a) v) AEUV für einen Schutz des Parlaments vor den Ingerenzwirkungen völkerrechtlicher Verträge auf sein Gesetzgebungsrecht. Für die GHP bedeutet diese Regelung, dass völkerrechtliche Übereinkommen auf diesem Feld stets der Zustimmung des Parlaments bedürfen, da nach Art 207 Abs 2 AEUV die autonome Gesetzgebung dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren unter50
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EuGH, Gutachten 2/00, Cartegena Protokoll, Slg 2001, I-9713, Rn 23. Allgemein siehe auch Griller / Klamert, Außenwirtschaftsrecht der EU (Fn 3) 1111. Siehe dazu Hubert Isak vorstehend auf S 143.
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liegt.52 Allerdings reicht die Zustimmungsbedürftigkeit nur soweit, als auch Art 207 Abs 2 AEUV – sozusagen spiegelbildlich – anwendbar ist. Das führt auf die Frage zurück, was genau unter dem „Rahmen für die Umsetzung der Gemeinsamen Handelspolitik“ zu verstehen ist.53 Verschiedene Abweichungen zum allgemeinen Vertragsschlussverfahren sind im Rahmen der GHP auf der Grundlage von Art 207 Abs 3 und 4 AEUV möglich. So legt der Rat bei der Erteilung des Verhandlungsmandats der Kommission keinen Verhandlungsführer fest, sondern ermächtigt allein die Kommission.54 Die Verhandlungen werden durch einen Sonderausschuss des Rates (das „Trade Policy Committee“) überwacht, an den die Kommission, ebenso wie an das Parlament, regelmäßig berichtet. Das Abstimmungsverfahren im Rat beruht auf der qualifizierten Mehrheit, worin sich Art 218 Abs 8 AEUV und Art 207 Abs 4 UAbs 1 und 2 AEUV decken. Der Rat muss im Rahmen der GHP aber einstimmig entscheiden, wenn bestimmte Dienstleistungsabkommen entweder die kulturelle oder sprachliche Vielfalt beeinträchtigen können oder die Organisation des Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssektors ernsthaft stören und die Gewährleistungsverantwortlichkeit der Mitgliedstaaten beeinträchtigen können (Art 207 Abs 4 UAbs 3 AEUV).55 52
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BVerfGE 123, 267, 419 – Lissabon; Grave, The Impact of the Lisbon Treaty on Customs Matters (Fn 17) 108; Hummer, Art III-315 EVV (Fn 45) Rn 17; Kathrin Osteneck, Art 133 EGV, in Schwarze (Hg), EU-Kommentar2 (2009) Rn 44; Streinz / Ohler / Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU (Fn 17) 154. Siehe Markus Krajewski, Das institutionelle Gleichgewicht in den auswärtigen Beziehungen, in Herrmann / Krenzler / Streinz (Hg), Die Außenwirtschaftspolitik der Europäischen Union nach dem Verfassungsvertrag (2006) 63 (71 f). Für eine weite Anwendung des Zustimmungserfordernisses Streinz / Ohler / Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU (Fn 17) 154. Art 207 Abs 3 UAbs 2 AEUV. In Fällen, in denen der zu verhandelnde Vertrag „ausschließlich oder überwiegend“ außenpolitischen Charakter aufweist, wäre allerdings Art 218 Abs 3 AEUV vorrangig. Zur Anwendbarkeit auch auf Korrespondenzdienstleistungen siehe Streinz / Ohler / Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform
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C. Die Zuständigkeitsschranke des Art 207 Abs 6 EUV Eine wichtige Neuregelung ergibt sich zudem aus Art 207 Abs 6 AEUV, der lautet: „Die Ausübung der durch diesen Artikel übertragenen Zuständigkeiten im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik hat keine Auswirkungen auf die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten und führt nicht zu einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, soweit eine solche Harmonisierung in den Verträgen ausgeschlossen wird.“ 1. Schranke der Verbandskompetenz Die Neuregelung betont, wenn auch in der Sache deklaratorisch, dass Art 207 Abs 1 AEUV nicht am Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung rüttelt.56 Art 207 AEUV bildet daher sowohl für Gesetzgebung als auch Vertragsschluss nur insoweit die Rechtsgrundlage, als es sich um eine handelspolitische Angelegenheit handelt. Damit ist auch der Weg eröffnet, dass handelspolitische Verträge, die nach ihrem Regelungsziel oder Regelungsgegenstande Materien außerhalb der Unionszuständigkeit berühren, als gemischte Abkommen geschlossen werden müssen.57 Die damit verbundenen verfahrensrechtlichen Erschwernisse und handelspolitischen Effizienzverluste sind unbestreitbar,58 rechtlich aber vor dem Hintergrund der beschränkten Ermächtigung des Art 207 Abs 1 AEUV nicht überwindbar. Typische Fälle gemischter Abkommen dürften künftig dann anzunehmen sein, wenn die handelspolitischen Verträge wesentliche Regeln zum gerichtlichen Rechtsschutz oder zur Verwaltungsorganisation bzw dem Verwaltungsverfahren enthalten. Sobald derartige Regelungen nicht mehr als bloßer Annex handelspolitischer Fragen, sondern als einer von
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der EU (Fn 17) 155. Frederic van den Berghe, The EC’s Common Commercial Policy Revisited, Global Trade and Customs Journal 2009, 275 (278 f); Hummer, Art III-315 EVV (Fn 45) Rz 33. Bungenberg, Außenbeziehungen und Außenhandelspolitik (Fn 20) 204 f; Bungenberg, Going Global? (Fn 17) 132 f.; Müller-Ibold, Vorbem Art 206-207 AEUV (Fn 6) Rn 13. Siehe Griller / Klamert, Außenwirtschaftsrecht der EU (Fn 3) 1121.
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mehreren Regelungsschwerpunkten zu qualifizieren sind, besteht keine, nach heutigem Rechtsstand nicht einmal implizite, Zuständigkeit der Union. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang zB Art 41 ff TRIPS oder die vertraglichen Regelungen zum Schutz der nationalen Zahlungsbilanzen (Art XII GATT, Art XII GATS) jedenfalls für die Mitgliedstaaten, die nicht der Eurozone angehören. Auf dieser Grundlage ist auch die Rechtfertigung für die (strittige) Frage nach dem Fortbestand der Mitgliedschaft der EU-Mitgliedstaaten in der WTO zu beantworten.59 Als Spezialmaterie stellt sich dagegen die internationale Verwaltungszusammenarbeit im Zollbereich dar, für die intern die Zuständigkeit aus Art 33 AEUV und Art 207 Abs 2 AEUV folgt. Beim Vertragsschluss lassen sich zumindest annexartige Fragen über Art 207 AEUV regeln.60 2. Schranke der Harmonisierungsverbote Art 207 Abs 6 AEUV regelt zudem die Frage, was zuständigkeitshalber in den Bereichen gelten soll, für die die Union keine materielle Harmonisierungskompetenz besitzt, wie zB bei der Bildungspolitik,61 der Kulturpolitik,62 der Gesundheitspolitik63 oder beim Tourismus.64 Soweit Art 207 Abs 2 AEUV als Grundlage für die Ausübung der internen, handelspolitischen Gesetzgebungszuständigkeit herangezogen wird, darf der Unionsgesetzgeber jedenfalls keine Regelungen erlassen, die als Harmonisierung in den betroffenen Bereichen zu werten wären. Wie ist aber die Rechtslage beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge? Ein explizites Vertragsschlussverbot, wie im alten Recht,65 findet sich nicht mehr. 59
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Hierzu vgl BVerfGE 123, 267, 418 f – Lissabon; Streinz / Ohler / Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU (Fn 17) 151 f; Bungenberg, Außenbeziehungen und Außenhandelspolitik (Fn 20) 205 f; Bungenberg, Going Global? (Fn 17) 133 f. Grave, The Impact of the Lisbon Treaty on Customs Matters (Fn 17) 101. Art 165 Abs 4, Art 166 Abs 4 AEUV. Art 167 Abs 5 AEUV. Art 168 Abs 5 AEUV. Art 195 Abs 2 AEUV. Art 133 Abs 6 UAbs 1 EGV: „Ein Abkommen kann vom Rat nicht
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Bringt die Neufassung damit implizit zum Ausdruck, dass die Union auch in Bereichen, für die sie keine Harmonisierungskompetenz besitzt, gleichwohl eine (ausschließliche) Vertragsschlusszuständigkeit innehaben kann? Die Frage kann sich freilich nur in den Bereichen stellen, bei denen Gegenstand und Ziel der vertraglichen Regelungen sich noch unter Art 207 Abs 1 AEUV fassen lassen. Wäre die Frage mit „ja“ zu beantworten, hätte dies folgende rechtliche Konsequenzen: Nach außen gegenüber anderen Vertragsparteien schließt allein die Union auch in diesen Bereichen die handelspolitischen Verträge ab, eine Beteiligung der Mitgliedstaaten im Sinne einer geteilten Zuständigkeit ist nicht mehr vorgesehen. Die geschlossenen Verträge binden die Organe und die Mitgliedstaaten nach Art 216 Abs 2 AEUV. Für die Umsetzung der völkerrechtlichen Verpflichtung führt die Trennung zwischen Gesetzgebungskompetenz und Vertragsschlusskompetenz allerdings zu einer Spaltung der Zuständigkeiten:66 Der Union ist die Umsetzung kompetentiell nicht gestattet, aufgrund der Bindungswirkung des Vertrages sowie des Grundsatzes der Unionstreue sind die Mitgliedstaaten aber verpflichtet, die vertragliche Regelung durchzuführen. Die Gefahr dieser These besteht darin, dass die Union völkerrechtliche Verträge schließt, die sich inhaltlich als Harmonisierung darstellen oder eine Harmonisierung ermöglichen, für die sie im Binnenbereich aber keine Zuständigkeit besitzt. Hiergegen bestünde, wollte man der Ausgangsthese folgen, lediglich ein verfahrensrechtlicher Schutz aufgrund von Art 207 Abs 4 UAbs 3 AEUV, der für den Abschluss bestimmter Abkommen im Rat Einstimmigkeit verlangt. Die verfahrensrechtliche Bremse greift bei einigen Materien, die einem Harmonisierungsverbot unterliegen, nicht aber beispielsweise bei Tourismus67 oder
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geschlossen werden, wenn es Bestimmungen enthält, die die internen Zuständigkeiten der Gemeinschaft überschreiten würden, insbesondere dadurch, dass sie eine Harmonisierung der Rechts- oder Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten in einem Bereich zur Folge hätten, in dem dieser Vertrag eine solche Harmonisierung ausschließt.“ So explizit Herrmann, Die Zukunft der mitgliedstaatlichen Investitionsschutzpolitik nach dem Vertrag von Lissabon (Fn 24) 209 f. Art 195 AEUV.
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Verwaltungszusammenarbeit.68 Entschärfen lässt sich die Problematik dadurch, dass die Union zwar zuständig ist, handelspolitische Verträge auch in solchen Bereichen zu schließen, für die sie intern keine Harmonisierungszuständigkeit besitzt. Der Gegenstand bzw Inhalt dieser Verträge wäre aber strikt begrenzt, denn die völkerrechtlichen Regelungen dürften sich in der Sache weder als Harmonisierung darstellen noch, zB über die Schaffung institutioneller Strukturen mit Rechtsetzungsbefugnis,69 eine Harmonisierung ermöglichen. Diese Lösung verwirklichte auch den Zweck des Art 207 Abs 6 AEUV, der in einem Umgehungsverbot zum Schutz der Mitgliedstaaten bestehen soll.70 Sie hätte aber zur Folge, dass die durch den Reformvertrag weitgehend beseitigten, geteilten Zuständigkeiten wieder aufleben würden, soweit ein völkerrechtlicher Vertrag als Harmonisierungsmaßnahme in den genannten Bereichen zu werten wäre.71 In der Sache führt aber nur diese Interpretation zur Parallelisierung von Binnen- und Außenkompetenz.72 III. Zuständigkeitserweiterungen: Direktinvestitionen Materiell-rechtlich erweitert der Vertrag von Lissabon die handelspolitische Zuständigkeit zunächst um die Bereiche kulturelle, audiovisuelle, Bildungs- und Sozialdienstleistungen, die nach altem Recht einer gemischten Zuständigkeit unterlagen.73 Für diese Bereiche gilt aber ungeachtet der nunmehr ausschließlichen Zuständigkeit die oben beschriebene Schranke des materiellen Harmonisierungsverbots. Hier wird es künftig darauf ankommen, im Einzel68 69
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Art 197 AEUV. Zu nennen wäre das Beispiel des Art VI:4 GATS, so auch Hummer, Art III-315 EVV (Fn 45) Rn 36. Ferner sieht Art VII:1 GATS die Möglichkeit von Harmonisierungen vor. Grave, The Impact of the Lisbon Treaty on Customs Matters (Fn 17) 100. Hummer, Art III-315 EVV (Fn 45) Rn 37. Vgl Grave, The Impact of the Lisbon Treaty on Customs Matters (Fn 17) 100 f. Art 133 Abs 6 UAbs 2 EGV.
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fall den „Verbotsbereich“ einer Harmonisierung von den nach Art 207 Abs 1 AEUV umfassten Kompetenzen abzugrenzen. Für wesentlich mehr Zündstoff könnte allerdings die neue Zuständigkeit im Bereich der ausländischen Direktinvestitionen sorgen.74 A. Begriff der ausländischen Direktinvestitionen Der Begriff der Direktinvestition wird in den Verträgen nicht weiter definiert. Er taucht allerdings im Zusammenhang mit den Vorschriften über den Kapitalverkehr mit dritten Ländern (Art 64 AEUV) wieder auf und liegt systematisch auch den Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit (Art 49 AEUV) zugrunde. Im Recht der Kapitalverkehrsfreiheit gilt nach der Rechtsprechung des EuGH als Direktinvestition eine Form der dauerhaften Beteiligung an einem Unternehmen durch Besitz von Aktien (oder anderen gesellschaftsrechtlichen Berechtigungen), die die Möglichkeit verschafft, sich tatsächlich (oder effektiv) an der Verwaltung dieser Gesellschaft oder deren Kontrolle zu beteiligen.75 Grundlage dieser Rechtsprechung bildet die sogenannte Nomenklatur zur Kapitalverkehrs-Richtlinie 88/361/EWG,76 die in ständiger Rechtsprechung vom EuGH als Auslegungsgesichtspunkt herangezogen wird. Derartige Kapitalverkehrsvorgänge stehen allerdings nicht nur im Zusammenhang mit der Kapitalverkehrsfreiheit, sondern auch der Niederlassungsfreiheit, die parallel anwendbar ist. Der EuGH geht davon aus, dass dann ein Niederlassungsvorgang gegeben ist, wenn ein Anteilseigner eine Beteiligung an einer Gesellschaft hält, die es ihm ermöglicht, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen dieser Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen.77 Mitunter ist in diesem Zusammenhang
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So die wohl überwiegende Einschätzung, siehe statt vieler Tietje, Die Gemeinsame Handelspolitik der EU (Fn 13) 48. EuGH, verb Rs C-282/04 und C-283/04, Kommission/Niederlande, Slg 2006, I-9141, Rn 19; Rs C-326/07, Kommission/Italien, Slg 2009, I-2291, Rn 35. ABl 1988 L 178/11. EuGH, Rs C-112/05, Kommission/Bundesrepublik Deutschland („VW“), Slg 2007, I-8995, Rn 13 mwN.
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auch von Kontrollbeteiligungen die Rede.78 Im Schrifttum und in einzelnen Entscheidungen des EuGH tauchen indes Zweifel auf, ob Direktinvestitionen aufgrund der Kapitalverkehrsfreiheit und unternehmerische Beteiligungen im Sinne der Niederlassungsfreiheit identisch sind oder voneinander unterschieden werden müssen.79 Direktinvestitionen sollen, so das Argument, bereits dann vorliegen, wenn gesellschaftsrechtlich eine Sperrminorität besteht, während der bestimmende Einfluss erst ab einer Beteiligung von 50 % plus eins der Stimmrechte erreicht werden kann.80 Verkompliziert wird die Lage dadurch, dass es im Recht der Mitgliedstaaten keine einheitlichen Regeln gibt, ab wann eine Beteiligung an einem Unternehmen zumindest eine Sperrminorität gewährt.81 Im Ergebnis würde jedoch der sachliche Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit zu eng und vor allem rein formal interpretiert werden, wollte man nur Mehrheitsbeteiligungen an einem Unternehmen hierunter fassen. Auch bloße Kontrollbeteiligungen im Sinne von Sperrminoritäten gewähren unternehmerischen Einfluss und fallen damit unter die Niederlassungsfreiheit. Zugleich stellen sie im Sinne der Kapitalverkehrs-Richtlinie Direktinvestitionen dar. Das begriffliche Gegenstück hierzu bilden Portfolioinvestitionen. Sie haben der Erwerb von Wertpapieren auf dem Kapitalmarkt zum Gegenstand, wobei der Erwerb allein in der Absicht einer Geldanlage erfolgt, ohne auf die Verwaltung und Kontrolle des Unternehmens Einfluss nehmen zu wollen.82 78 79
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EuGH, Rs C-201/05, Test Claimants in the CFC and Dividend Group Litigation, Slg 2008, I-2875, Rn 47. In diesem Sinne könnte die Rs C-326/07, Kommission/Italien, Slg 2009, I-2291, Rn 33 ff zu verstehen sein. Zweifelnd auch Tietje, Die Gemeinsame Handelspolitik der EU (Fn 13) 52. So zB Thomas Voland, Rechtsschutz gegen Maßnahmen der Investitionskontrolle im Außenwirtschaftsrecht, EuZW 2010, 132 (135). Dies scheint auch der EuGH anzuerkennen, wenn er formuliert, dass sich die Möglichkeit der unternehmerischen Verwaltung bzw Kontrolle nach „nationalen aktienrechtlichen Vorschriften oder aus anderen Gründen“ bestimmt, Rs C-112/05, Kommission/Deutschland, Slg 2007, I-8995, Rn 18. EuGH, verb Rs C-282/04 und C-283/04, Kommission/Niederlande, Slg 2006, I-9141, Rn 19.
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Ein ähnlicher Befund ergibt sich aus der Staatenpraxis bei bilateralen Investitionsschutzverträgen (BITs). Nach allgemeinem Verständnis handelt es sich bei Direktinvestitionen um längerfristige Beteiligungen, die unternehmerischen Einfluss gewähren und mit geschäftlichen Risiken sowie (grundsätzlich) einem regulären Ertrag verbunden sind.83 Auch der IWF84 und die OECD85 verwenden ähnliche Definitionen, wobei als Minimum eine Beteiligungshöhe von 10 % angenommen wird.86 Im internationalen Investitionsschutzrecht reicht der Begriff der Investition aber weiter.87 Spiegelbildlich zum unternehmerischen Charakter der Direktinvestitionen erfasst er ferner Portfolioinvestitionen, grenzt sie aber anhand des Merkmals „fehlender unternehmerischer Einfluss“ von den Direktinvestitionen ab. B. Einbeziehung von Portfolioinvestitionen? Im Schrifttum wurde bereits diskutiert, ob die neue Zuständigkeit für Direktinvestitionen extensiv in dem Sinne verstanden werden 83 84
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Rudolf Dolzer / Christoph Schreuer, Principles of International Investment Law (2008) 60. IMF, Balance of Payment Manual5 (1993) http://www.imf.org/ external/np/sta/di/index.htm, Rz 359: „Direct investment is the category of international investment that reflects the objective of a resident entity in one economy obtaining a lasting interest in an enterprise resident in another country. The lasting interest implies the existence of a long-term relationship between the direct investor and the enterprise and a significant degree of influence by the investor on the management of the enterprise.” OECD, OECD Benchmark Definition of Foreign Direct Investment3 (1996) http://www.oecd.org/dataoecd/10/16/2090148.pdf, Rz 5: „Foreign direct investment reflects the objective of obtaining a lasting interest by a resident entity in one economy (‘‘direct investor’’) in an entity resident in an economy other than that of the investor (‘‘direct investment enterprise’’). The lasting interest implies the existence of a long-term relationship between the direct investor and the enterprise and a significant degree of influence on the management of the enterprise.” UNCTAD, Key Terms and Concepts in IIAs (Fn 14) 98. Siehe nur Bungenberg, Going Global? (Fn 17) 143.
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muss, dass sie auch die Portfolioinvestitionen umfasst.88 Hintergrund dieser Überlegung ist, dass es ansonsten zu einer Divergenz zwischen dem weiteren Anwendungsbereich der bilateralen Investitionsschutzverträge und der enger gefassten Zuständigkeit der Union käme. Sollte diese Divergenz nicht zu bereinigen sein, wäre die Konsequenz, dass künftig die Union und die Mitgliedstaaten in geteilter Zuständigkeit Investitionsschutzverträge abschließen müssten. Bei wortlautgetreuer Auslegung des Vertrags ist diese Konsequenz unvermeidlich, denn Art 207 Abs 1 AEUV erstreckt sich nicht auf weitere Investitionsformen. Auch besteht kein Anlass zu der Annahme, dass den vertragsschließenden Parteien des Lissabonner Vertrags der Unterschied zwischen ausländischen Direktinvestitionen und Portfolioinvestitionen unbekannt war, da die globale Praxis und juristische Terminologie hier eindeutig sind. Die handelspolitische Zuständigkeit für Portfolioinvestitionen verbleibt daher nach dem Grundsatz des Art 4 Abs 1 EUV bei den Mitgliedstaaten.89 Zumindest in Teilen lässt sich eine implizite Zuständigkeit der Union für den Abschluss von Investitionsschutzverträgen aber nach den Kriterien von Art 216 Abs 1 AEUV begründen.90 Aufgrund von Art 15 RL 2004/39 über Märkte für Finanzinstrumente91 besteht eine sekundärrechtliche Ermächtigung, Verträge mit dritten Ländern über die Zulassung von Wertpapierfirmen abzuschließen, womit zumindest indirekt der internationale Handel mit Wertpapieren und anderen Finanzinstrumenten abgedeckt wird. Für alle anderen Konstellationen müssten Investitionsschutzver-
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Vgl Herrmann, Die Zukunft der mitgliedstaatlichen Investitionsschutzpolitik nach dem Vertrag von Lissabon (Fn 24) 208 f; Tietje, Die Gemeinsame Handelspolitik der EU (Fn 13) 51; Bungenberg, Going Global? (Fn 17) 144 f. Ebenso Tietje, Die Gemeinsame Handelspolitik der EU (Fn 13) 51; Bungenberg, Going Global? (Fn 17) 146 f.; Müller-Ibold, Vorbem Art 206-207 AEUV (Fn 6) Rn 19. In diese Richtung argumentiert auch Till Müller-Ibold, Handelsaspekte geistigen Eigentums sowie Investitionen, in Herrmann / Krenzler / Streinz (Hg), Die Außenwirtschaftspolitik der Europäischen Union nach dem Verfassungsvertrag (2006) 117 (130). ABl 2004 L 145/1.
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träge jedoch als gemischte Abkommen in geteilter Zuständigkeit von Union und Mitgliedstaaten abgeschlossen werden.92 C. Umfang der handelspolitischen Zuständigkeit bei Direktinvestitionen Schließlich bedarf es der Klärung der Frage, in welchem Umfang die Union für die typischen Regelungsinhalte von Investitionsschutzverträgen zuständig ist.93 Hierzu rechnen Aspekte des Marktzugangs, der Schutz der getätigten Investition in Hinblick auf die Standards Meistbegünstigung, Inländerbehandlung, Fair-and-Equitable-Treatment sowie Full-Protection and-Security. Ausführliche Regelungen finden sich zudem zum Enteignungsschutz. Alle Schutzstandards sind aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrades thematisch weit und erstrecken sich potentiell auf die gesamte Rechtsordnung eines Mitgliedstaats. Sie regeln damit neben zweifelsohne handelspolitischen Aspekten94 auch Fragen, für die die Union intern keine Binnenzuständigkeit hat. Deutlich sichtbar wird dies unter anderem beim Standard von Full-Protection-and-Security, der in erster Linie durch polizeirechtliche Gewährleistungen verwirklicht werden kann, für die nach Art 4 Abs 2 Satz 2 EUV und Art 72 AEUV ausschließlich die Mitgliedstaaten zuständig sind. Auch die Regelung der Voraussetzungen von Enteignungen fallen wegen Art 345 AEUV nicht in die Zuständigkeit der Union.95 92
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BVerfGE 123, 267, 421 – Lissabon; Tietje, Die Gemeinsame Handelspolitik der EU (Fn 13) 52. Ähnlich van den Berghe, The EC’s Common Commercial Policy Revisited (Fn 56) 278 unter Berufung auf Art 207 Abs 6 AEUV; Bungenberg, Außenbeziehungen und Außenhandelspolitik (Fn 20) 205 f; zweifelnd Herrmann, Die Zukunft der mitgliedstaatlichen Investitionsschutzpolitik nach dem Vertrag von Lissabon (Fn 24) 209. Herrmann, Die Zukunft der mitgliedstaatlichen Investitionsschutzpolitik nach dem Vertrag von Lissabon (Fn 24) 210 f; für eine enge, handelsbezogene Interpretation Osteneck, Art 133 EGV (Fn 52) Rz 42. Die „Behandlungsstandards“ sollen nach Tietje, Die Gemeinsame Handelspolitik der EU (Fn 13) 50 unter Art 207 AEUV fallen. Tietje, Die Gemeinsame Handelspolitik der EU (Fn 13) 50; aA Bungenberg, Going Global? (Fn 17) 144; Herrmann, Die Zukunft der
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IV. Ausschließliche Zuständigkeit in der GHP Die in Art 207 Abs 1 AEUV ausdrücklich genannten Sachmaterien fallen aufgrund der Anordnung des Art 3 Abs 1 lit e) AEUV in die ausschließliche Kompetenz der Union. Die vertragliche Regelung bestätigt freilich nur, was ohnehin aufgrund der Rechtsprechung des EuGH bereits seit Jahrzehnten als europarechtlicher Rechtsstand anerkannt war.96 Die ausschließliche Zuständigkeit erstreckt sich dabei sowohl auf das Recht zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge als auch den Erlass autonomen Rechts im Wege des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens. Ergänzt wird Art 207 Abs 1 AEUV durch implizite Vertragsschließungskompetenzen zum Schutz bestehenden oder noch zu erlassenden Sekundärrechts,97 soweit die Kriterien des Art 216 Abs 1 AEUV eingreifen. Ihrer rechtlichen Qualität nach handelt es sich bei der impliziten Zuständigkeit ebenfalls um eine ausschließliche Berechtigung (Art 3 Abs 2 AEUV). Rechtsfolge der ausschließlichen Zuständigkeit ist zunächst die Zuweisung der Rechtsetzungsbefugnis allein an die Union, womit ein Verbot an die Mitgliedstaaten einhergeht, selbst völkerrechtliche Verträge zu schließen bzw autonom gesetzgeberisch tätig zu werden.98 Bereits bestehendes mitgliedstaatliches Recht oder solches, das entgegen der Kompetenzordnung erlassen wird, ist nicht nichtig, aber unanwendbar.99 So eindeutig diese Regeln auf den ersten Blick erscheinen, so sehr wecken sie bei näherem Hinsehen Zweifel. Diese beziehen sich auf folgende Fragen: Die ausschließliche Zuständigkeit der
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mitgliedstaatlichen Investitionsschutzpolitik nach dem Vertrag von Lissabon (Fn 24) 211. EuGH, Gutachten 1/75, Lokale Kosten, Slg 1975, 1355, Rn 32. Hierzu siehe Christoph Vedder, Die Außenbeziehungen der EU, EuR Beiheft 3-2007, 57 (61 f). EuGH, Rs 174/84, Bulk Oil, Slg 1986, 559, Rn 30; Christoph Schäfer, Die Ermächtigung von Mitgliedstaaten bei ausschließlicher Gemeinschaftszuständigkeit: Regelwidrigkeit in der Kompetenzordnung?, EuR 2008, 721 (722). Rudolf Streinz, Art 5 EGV, in Streinz (Hg), EUV/EGV. Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (2003) Rn 18.
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Union im Bereich der Direktinvestitionen hätte zB zur Folge, dass wesentliche Teile des reformierten deutschen AWG und der AVO nicht zur Anwendung kämen. Eine sekundärrechtliche Ersatzvorschrift besteht aber nicht, so dass die Unanwendbarkeit kompetenzwidrigen inländischen Rechts zu erheblichen Regelungslücken führen könnte, zumal in Bereichen, in denen starke, staatliche Ordnungsinteressen bestehen. A. Ausschließliche Kompetenz bei Direktinvestitionen Nach dem eindeutigen Wortlaut des Art 3 Abs 1 lit e) AEUV umfasst die ausschließliche Zuständigkeit der Union den gesamten Bereich der gemeinsamen Handelspolitik und damit nach Art 207 Abs 1 AEUV auch Gesetzgebung und Vertragsschluss über Fragen, die ausländische Direktinvestitionen betreffen.100 Allerdings regelt Art 64 Abs 2 und 3 AEUV eine inhaltlich verwandte Zuständigkeit, nämlich die Kompetenz für Gesetzgebungsmaßnahmen im Bereich des Kapitalverkehrs mit dritten Ländern „im Zusammenhang mit Direktinvestitionen“. Diese Zuständigkeit nach Art 64 AEUV wurde bislang nicht als ausschließliche, sondern als geteilte (konkurrierende) Zuständigkeit verstanden,101 was auch dadurch bestätigt wird, dass sie nicht im Kompetenzkatalog des Art 3 Abs 1 AEUV aufgeführt wird. Da eine Regelungsmaterie nicht zugleich Gegenstand einer ausschließlichen und einer geteilten Zuständigkeit sein 100 Herrmann, Die Zukunft der mitgliedstaatlichen Investitionsschutzpolitik nach dem Vertrag von Lissabon (Fn 24) 209. 101 Adrian Glaesner, Art 57 EGV, in Schwarze (Hg), EU-Kommentar2 (2009), Rn 6; Wolfgang Kiemel, Art 57 EGV, in von der Groeben / Schwarze (Hg), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft3, Band 2 (2006) Rn 18; Christoph Ohler, Europäische Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit (2002) Rn 17; Georg Ress / Jörg Ukrow, Art 57 EGV, in Grabitz / Hilf (Hg), Das Recht der Europäischen Union (2008) Rn 19; Thomas Schürmann, Art 64 AEUV, in Lenz / Borchardt (Hg), EU-Verträge. Kommentar5 (2010) Rn 5. Differenzierend nach Liberalisierungs- und Beschränkungsmaßnahmen Jürgen Bröhmer, Art 57 EGV, in Calliess / Ruffert (Hg), EUV/EGV. Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta. Kommentar3 (2007) Rn 7 f.
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kann, stellt sich die Frage, welcher Zuständigkeitskategorie sie zugeordnet werden muss. 1. Auflösung des Kompetenzkonflikts Für die Antwort auf diese Frage bedarf es verschiedener Differenzierungen. Der Abschluss völkerrechtlicher Verträge unterfällt definitiv nicht Art 64 AEUV, so dass sich die Zuordnungsfrage nur für den Bereich der autonomen Rechtsetzung stellt. Hier kommen als Lösung folgende Möglichkeiten in Betracht. Erstens: Art 207 Abs 1 AEUV verdrängt als jüngere Vorschrift den älteren Art 64 AEUV. Dagegen spricht aber, dass alle Vorschriften durch den Vertrag von Lissabon, auch Art 64 AEUV, überarbeitet wurden, zumindest um die Frage des anwendbaren Gesetzgebungsverfahrens zu regeln. Zweitens: Art 64 und 207 AEUV werden nach ihrem sachlichen Zuständigkeitsbereich abgegrenzt. Hierfür finden sich in den beiden Vorschriften freilich keine überzeugenden Abgrenzungskriterien, da nicht ersichtlich ist, worin der Unterschied zwischen Maßnahmen „im Zusammenhang mit Direktinvestitionen mit dritten Ländern“ und „ausländischen Direktinvestitionen“ liegen soll. Speziell dieser Befund weist darauf hin, dass es sich bei der Überschneidung von Art 64 und Art 207 Abs 1 AEUV um ein redaktionelles Versehen handelt, das aber auf herkömmlichem, interpretativen Wege nur wenig überzeugend aufgelöst werden kann. Denkbar wäre insoweit die Variante einer geltungserhaltenden Reduktion des Art 207 Abs 1 AEUV in dem Sinne, dass er bei ausländischen Direktinvestitionen nur eine konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit begründet. Eine solche Möglichkeit wurde allgemein für die autonome Rechtsetzung während der Rechtslage unter dem Vertrag von Nizza postuliert.102 Mit dem Wortlaut des Art 3 Abs 1 AEUV ist dieser Lösungsweg aber nach Lissabonner Recht kaum zu vereinbaren. 2. Ermächtigung Alternativ hierzu ließe sich formulieren, dass Art 207 AEUV umfassend für Gesetzgebung und Vertragsschluss gilt, um ein Aus102 So Nettesheim / Duvigneau, Art 133 EGV (Fn 3) Rz 26. Vgl auch Schäfer, Die Ermächtigung von Mitgliedstaaten bei ausschließlicher Gemeinschaftszuständigkeit (Fn 98) 733.
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einanderfallen zwischen Innen- und Außenrecht zu verhindern, und somit Art 64 AEUV für den Bereich der ausländischen Direktinvestitionen verdrängt. Die Folgen dieser These sind einschneidend. Für ein Tätigwerden der Mitgliedstaaten bzw die Aufrechterhaltung bestehenden, aber kompetenzwidrigen Rechts bedürfte es dann nach Art 2 Abs 1 AEUV, der ein auch im früheren Recht geltendes Prinzip aufgreift,103 einer Ermächtigung der Mitgliedstaaten durch die Union.104 Anhaltspunkt für ein dringendes Bedürfnis nach dieser Rückermächtigung wäre dann allein schon die Existenz des Art 64 AEUV. Ungeklärt ist im Lissabonner Recht indes, nach welchem Verfahren eine solche Ermächtigung erfolgt. Art 2 Abs 1 AEUV spricht nur von der Union, die die Ermächtigung erteilt, nennt aber nicht die hierfür zuständigen Organe und das Entscheidungsverfahren. Zwei Alternativen kommen in Betracht: Möglich wäre es zum einen, die Ermächtigung explizit durch eine sekundärrechtliche Maßnahme im Verfahren des jeweiligen Kompetenztitels, im Falles des Art 207 Abs 2 AEUV also im Wege des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens, auszusprechen.105 Alternativ käme eine stillschweigende Ermächtigung auf der Grundlage der Theorie von den „Mitgliedstaaten als Sachwalter des Gemeinschaftsinteresses“ in Betracht.106 Hier genügte eine Zustimmung der Kommission, sollte sich der Rat als handlungsunfähig erweisen107 103 Hierzu bereits EuGH, Rs 41/76, Donckerwolcke, Slg 1976, 1921; Rs 174/84, Bulk Oil, Slg 1986, 559, Rn 31. 104 Vgl Herrmann, Die Zukunft der mitgliedstaatlichen Investitionsschutzpolitik nach dem Vertrag von Lissabon (Fn 24) 211 in Hinblick auf die BITs der Mitgliedstaaten. 105 Auf einer entsprechenden Konstellation beruht EuGH, Rs 174/84, Bulk Oil, Slg 1986, 559, Rn 32 ff. So nun auch der Verordnungsvorschlag der Kommission, KOM(2010) 344 endg. Diese Variante fordert ausdrücklich Herrmann, Die Zukunft der mitgliedstaatlichen Investitionsschutzpolitik nach dem Vertrag von Lissabon (Fn 24) 211 ein. Als Alternative behandelt diese Form der Ermächtigung Schäfer, Die Ermächtigung von Mitgliedstaaten bei ausschließlicher Gemeinschaftszuständigkeit (Fn 98) 726. 106 Siehe EuGH, Rs 804/79, Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg 1981, 1045, Rn 22 ff; Streinz, Art 5 EGV (Fn 99) Rz 17. 107 Siehe Schäfer, Die Ermächtigung von Mitgliedstaaten bei ausschließ-
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bzw sollten Rat und Parlament keine Grundlage für eine gesetzgeberische Einigung im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren finden. Im Ergebnis kommen hier also verschiedene Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung bestehenden nationalen Rechts in Betracht. Die Wege, auf denen dieses Ziel erreicht werden kann, unterscheiden sich aber erheblich, womit ein massives Risiko für die Rechtsanwendung verbunden ist. Der zweifelsohne einfachste Weg wäre es, wenn sich die Mitgliedstaaten vorläufig von der Kommission die Zustimmung aussprechen ließen, dass die Kompetenzfrage der weiteren Anwendung ihres Außenwirtschaftsrechts nicht entgegensteht. B. Eingreifen von Bestandsschutz bei bestehenden Verträgen Wiederum die Thematik der ausländischen Direktinvestitionen hat die Frage ausgelöst, wie mit den bestehen völkerrechtlichen Investitionsschutzverträgen der Mitgliedstaaten zu verfahren ist. Die Mitgliedstaaten kamen in Hinblick auf diese Verträge bereits im Jahr 2009 unter Druck, als der EuGH auf die Klage der Kommission hin entschied, dass das Fehlen von Kündigungsregeln in diesen Verträgen, die die Anwendung künftig zu erlassenden Sekundärrechts der Union ermöglichten, ein Verstoß gegen Art 307 Abs 2 EGV sei.108 Über diese Problematik hinaus stellt sich die Frage, welche Wirkungen der Übergang der ausschließlichen Zuständigkeit für ausländische Direktinvestitionen auf Geltung und Anwendung dieser Verträge hat. Zunächst ist festzuhalten, dass die neue Zuständigkeit nach Art 207 Abs 1 AEUV die BITs der Mitgliedstaaten nur in Hinblick auf Direktinvestitionen, nicht aber in Hinblick auf sonstige Investitionsformen berührt, die von diesen Verträgen ebenfalls geschützt werden. Im Übrigen ging das BVerfG in der Lissabon-Entscheidung prononciert davon aus, dass Art 351 AEUV, der dem al
licher Gemeinschaftszuständigkeit (Fn 98) 726. 108 EuGH, Rs C-205/06, Kommission/Österreich, Slg 2009, I-1301, Rn 34 ff; Rs C-249/06, Kommission/Schweden, Slg 2009, I-1335, Rn 35 ff; Rs C-118/07, Kommission/Finnland, Urteil vom 19.11. 2009, noch nicht in Slg veröffentlicht, Rn 28 ff.
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ten Art 307 EGV entspricht, zumindest entsprechend anzuwenden sei.109 In völkerrechtlicher Hinsicht gilt zunächst zwischen dem Mitgliedstaat und dem Drittland der Grundsatz „pacta sunt servanda.“ Die Kompetenzverschiebung aufgrund des Vertrags von Lissabon kann kaum als Anwendungsfall des Art 46 WVRK gesehen werden, da sich die Zuständigkeitsfrage nicht aus dem innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten, sondern aus dem AEUV ergibt. Zudem erfasst Art 46 WVRK nicht den nachträglichen Wegfall einer Zuständigkeit, da er sich nach seinem Wortlaut nur auf den Zeitpunkt der Zustimmung zum völkerrechtlichen Vertrag bezieht. Allgemeine Vertrauensschutzerwägungen bestätigen dieses Ergebnis. In europarechtlicher Hinsicht dispensiert Art 351 Abs 1 AEUV von der Beachtung des Unionsrechts allerdings nur für völkerrechtliche Verträge, die vor dem Beitritt zur Gemeinschaft bzw der Union abgeschlossen wurden. Das Problem nachträglicher Zuständigkeitsübertragungen spiegelt sich dagegen nicht im Wortlaut der Vorschrift. Viel spricht dafür, dass hier eine weitere der zahlreichen redaktionellen Schwächen des Lissabonner Vertragswerks zutage tritt. In der Sache ist kein Grund ersichtlich, die spätere Zuständigkeitserweiterung anders zu behandeln als die erstmalige Übertragung von Zuständigkeiten bzw den Beitritt zur Union.110 Funktionsfähigkeit der völkerrechtlichen Beziehungen und der Vertrauensschutz dritter Staaten bzw der durch ein BIT geschützten Investoren wären empfindlich gestört, wenn europarechtlich die Anwendung der BITs im Bereich von Direktinvestitionen unzulässig sein sollte. Die entsprechende Anwendung von Art 351 Abs 1 AEUV erscheint vor diesem Hintergrund fast zwingend, einer Ermächtigung für bestehende Verträge nach Art 2 Abs 1 AEUV bedarf es daher nicht.111 Lediglich unter dem Gesichtspunkt der
109 BVerfGE 123, 267, 421 f – Lissabon. 110 Tietje, Die Gemeinsame Handelspolitik der EU (Fn 13) 53 mwN. 111 AA Herrmann, Die Zukunft der mitgliedstaatlichen Investitionsschutzpolitik nach dem Vertrag von Lissabon (Fn 24) 211; Tietje, Die Gemeinsame Handelspolitik der EU (Fn 13) 53.
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Rechtssicherheit kann eine solche „Genehmigung“ überzeugen,112 während sie hingegen für Verlängerungen der Vertragslaufzeit und allgemein die inhaltliche Änderung dieser Verträge zwingend geboten ist.113 Wie ist unter diesen Voraussetzungen eine wirksame Durchführung der Kompetenz aus Art 207 Abs 1 AEUV zu sichern, die es der Union erlaubt, in eigenem Namen Verträge über den Schutz von Direktinvestitionen abzuschließen? Richtungsweisend ist hier die Rechtsprechung des EuGH zu Art 307 Abs 2 EGV, der dem Art 351 Abs 2 AEUV entspricht. Der in diesen Urteilen zum Ausdruck kommende Rechtsgedanke lässt sich auf die vorliegende Problematik übertragen. Hiernach wäre von den Mitgliedstaaten zu verlangen, unverzüglich mit ihren Vertragsparteien über Kündigungsklauseln zu verhandeln, die eine Auflösung der BITs für den Fall ermöglichen, dass die Union von ihrer eigenen Außenkompetenz Gebrauch machen will.114 Im Kern bleibt dieses Verfahren dennoch unbefriedigend: Eine Verpflichtung zur Schaffung von Kündigungsregeln besteht nur für Direktinvestitionen, nicht aber für die übrigen Teile des BITs. Hier ist fraglich, ob eine solche Teilkündigung überhaupt rechtlich möglich, wirtschaftspolitisch zudem sinnvoll ist. Wiederum zeigt sich, dass gravierende Rechtsfragen durch den Reformvertrag aufgeworfen werden, die sich in der Praxis aber kaum befriedigend umsetzen lassen werden. VI. Schluss Die durch den Lissabonner Vertrag gewollte Stärkung der GHP wird im Bereich des Rechts der WTO zweifelsohne Früchte tragen und dort zu einer Verbesserung der Stellung der Union führen. Mit massiven, rechtlichen Problemen dürfte aber dann zu rechnen sein, wenn handelspolitische Verträge sich als Harmonisierungsmaßnahme in Bereichen darstellen, für die die Union intern kein Harmonisierungsrecht genießt. Hier dürften die an sich verbannten gemischten Abkommen wieder aufleben. Erhebliche Umsetzungsprobleme 112 Zu diesem Gedanken siehe Tietje, Die Gemeinsame Handelspolitik der EU (Fn 13) 54. 113 Müller-Ibold, Vorbem Art 206-207 AEUV (Fn 6) Rn 19. 114 So auch Herrmann, Die Zukunft der mitgliedstaatlichen Investitionsschutzpolitik nach dem Vertrag von Lissabon (Fn 24) 211.
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werden auch aus der neuen Zuständigkeit für ausländische Direktinvestitionen resultieren. Die neue Kompetenz ist zum einen zu eng geschnitten, um der Union die ausschließliche Zuständigkeit für den Abschluss von Investitionsschutzverträgen zu übertragen. Sie ist zum anderen nicht mit Übergangsregeln versehen worden, die die Anwendung bestehenden nationalen Außenwirtschaftsrechts und der geltenden BITs sichern, solange die Union von ihrer Zuständigkeit keinen Gebrauch macht. Zwar lassen sich jeweils juristische Rettungskonstruktionen und Überleitungsregeln entwickeln, diese bleiben aber strukturell nur beschränkt leistungsfähig.
Stefan Griller
Ausgestaltung der Mitwirkung des Parlaments in Österreich I. II. III. IV. V.
Vorbemerkung und Themeneingrenzung Demokratie und Europäische Union Der neue Art 50 B-VG Vereinfachte Vertragsänderungsverfahren Die sogenannten Passerelles A. Europarechtlicher Rahmen B. Einordnung ins B-VG 1. Opting-out als Staatsvertrag? 2. Der neue Art 23i B-VG VI. Die Subsidiaritätsrüge VII. Die Subsidiaritätsklage VIII. Schlussbemerkung
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I. Vorbemerkung und Themeneingrenzung Der Vertrag von Lissabon zur Änderung des EU Vertrags und des Vertrags zur Gründung der EG samt Protokollen, Anhängen zur Schlussakte der Regierungskonferenz sowie Erklärungen („Reformvertrag“) wurde am 30. November 2009, also einen Tag vor seinem Inkrafttreten, in Teil III des österreichischen Bundesgesetzblatts unter der Nummer 132 veröffentlicht. Er war auf der Grundlage des Anfang 2008 geänderten Art 50 B-VG über den Abschluss von Staatsverträgen vom Parlament genehmigt und dann vom Bundespräsidenten ratifiziert worden. Die Analyse der österreichischen Verfassungsentwicklung beginne ich (III.) mit einigen Bemerkungen zu diesem veränderten Art 50 B-VG, nicht um mich genauer mit der Genehmigung des Vertrags von Lissabon und den damit verbundenen Streitigkeiten1
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Zur Kontroverse über die These einer durch den Vertrag von Lissabon bewirkten Gesamtänderung der österreichischen Bundesverfassung und die daraus abgeleitete Pflicht, eine Volksabstimmung abzuhalten, siehe die zusammenfassende Darstellung samt Nachweisen in
T. Eilmansberger et al. (eds.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon © Springer-Verlag Wien 2011
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auseinanderzusetzen – denn es geht hier um die Umsetzung des Vertrages und nicht um seinen Abschluss –, sondern weil diese Veränderungen, wie zu zeigen sein wird, auch für die Umsetzung von erheblicher Bedeutung sind. Im Anschluss daran will ich mich auf drei besonders strittige Fragen konzentrieren, die Neuerungen durch den Vertrag von Lissabon betreffen: das verfassungsrechtliche Regime für vereinfachte Vertragsänderungen (IV.) und -ergänzungen (V.), die Subsidiaritätsrüge (VI.) und die Subsidiaritätsklage (VII.). Hingegen bleibt die parlamentarische Mitwirkung an der Erzeugung von „normalem“ Sekundärrecht wie Verordnungen und Richtlinien hier – von der Subsidiaritätsrüge abgesehen – unerörtert; der Vertrag von Lissabon hat diesbezüglich keine wesentlichen Neuerungen gebracht. Auch andere Bestimmungen des Vertrags von Lissabon enthalten verfassungsrechtliche Herausforderungen, so etwa die Ausweitung der im Unionsvertrag vorgesehenen Missionen zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit. Diese – neutralitätsrechtlich besonders kontroversen – Regelungen, die ausdrücklich auch Kampfeinsätze erlauben, können nunmehr auch zur Bekämpfung des Terrorismus herangezogen werden (insb Art 43 EUV). Auch dieser Umstand legte die Anpassung des Teils B. des Ersten Hauptstücks des B-VG nahe, wie sie inzwischen durch die Lissabon-Begleitnovelle2 stattgefunden hat. Die nicht zuletzt vor dem Hintergrund der fehlenden Verfassungsmehrheit der Regierungsparteien im österreichischen Parlament verschiedentlich geführte Debatte, ob die Umsetzung des Vertrags von Lissabon vielleicht gar keine verfassungsändernden Maßnahmen in Österreich erfordere, ist durch diese Verfassungsnovelle weit gehend obsolet und soll nicht vertieft werden. Nicht nur die bisher erwähnten Primärrechtsänderungen, sondern auch einige terminologische Neuerungen wie die teilweise Umbenen-
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den Erläuterungen der Regierungsvorlage zum Vertrag: 417 BlgNR 23. GP, 43 ff. Bundesverfassungsgesetz, mit dem zur Durchführung des Vertrags von Lissabon das Bundes-Verfassungsgesetz und das Bundesverfassungsgesetz, mit dem besondere Bestimmungen für die Neuermittlung der Verteilung von nach der Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments 2009 zu vergebenden Mandaten durch die Bundeswahlbehörde erlassen werden, geändert werden (LissabonBegleitnovelle), BGBl I 57/2010.
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nung der europäischen Gerichte und der jetzt ausdrücklich so benannten Europäischen Kommission, legten aus Gründen der Klarheit eine Anpassung der Verfassung nahe. Freilich, streng verfassungsdogmatisch gesehen wären vermutlich auch nach der alten Rechtslage de lege lata so gut wie überall (europarechtskonforme) Lösungen möglich gewesen, wenn auch teilweise mit erheblichem Interpretationsaufwand. Ob diese Lösungen immer auch sachgerecht gewesen wären, sei hier dahingestellt. II. Demokratie und Europäische Union Die für die folgenden Ausführungen zentralen – hier allerdings nicht näher analysierten, sondern bloß als Prämissen kurz referierten – Bestimmungen des Vertrags von Lissabon über die veränderten Befugnisse der nationalen Parlamente sind nicht zuletzt deshalb von besonderer Brisanz, weil das deutsche Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 30. Juni 20093 das deutsche Begleitgesetz zur Genehmigung des Vertrags von Lissabon – das so genannte Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union – mit der Begründung für verfassungswidrig erklärt hat, die Beteiligungsrechte des deutschen Parlaments seien – insbesondere auch für die hier untersuchten Themen der vereinfachten Vertragsänderung und den so genannten Passerelles – nicht in dem von Verfassungs wegen erforderlichen Umfang ausgestaltet worden. Eine Analyse dieses Urteils wird hier nicht ausgebreitet. Die Begründung für diese Auslassung ist die These, dass die Überlegungen des Gerichtshofs auf die österreichische Verfassungsrechtslage nicht (unbesehen) übertragbar sind. Dabei wird keineswegs verkannt, dass es sich bei den Mitwirkungsbefugnissen der nationalen Parlamente an der Entstehung von abgeleitetem Unionsrecht – und zwar gleichgültig, ob es sich dabei im Ergebnis um Primärrecht oder Sekundärrecht handelt – um die tatsächliche oder vermeintliche Kompensation für den „Verlust“ von Hoheitsrechten handelt, welche durch die Übertragung auf die EU nunmehr durch EU-Organe statt durch nationale Parlamente ausgeübt werden. Daher geht es um nicht weniger als um die Be-
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BVerfG, 2 BvE 2/08. In diesem Beitrag wird keine umfassende Analyse dieses Urteils unternommen; Siehe auch Martin Nettesheim nachstehend auf S 467 mit weiteren Nachweisen.
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wahrung demokratischer Grundsätze in der EU. Ob eine solche Kompensation durch die Einbindung der nationalen Parlamente in die Entscheidungsprozesse auf der europäischen Ebene in ausreichendem, das heißt den traditionellen oder durch den Beitritt zur EU modifizierten Verfassungsstandards der Demokratie genügendem Ausmaß gelingen kann, ist4 eine der umstrittensten Fragen der Europäischen Integration.5 Alternativ wird hauptsächlich vertreten, dass der Verlust an demokratischen Gestaltungsbefugnissen auf der nationalen Ebene nur durch eine Ausweitung der demokratischen Mechanismen in den Institutionen der EU selbst begegnet werden kann,6 wozu der Vertrag von Lissabon namentlich durch die Ausweitung der Mitentscheidungsbefugnisse des Europäischen Parlaments beiträgt. Gerade gegen diese Entwicklung hat das BVerfG in seinem Lissabon-Urteil allerdings Schranken entwickelt, weil bei vollen „Demokratisierung“ der EU angeblich die Entstehung eines neuen Souveräns auf europäischer Ebene und damit das Ende der Staatsqualität Deutschlands drohe, was mit dem Grundgesetz unvereinbar sei. Zum Unterbleiben einer genaueren Auseinandersetzung mit diesen Argumenten sei an dieser Stelle bloß auf Folgendes hingewiesen: es ist zu Recht moniert worden, dass die konkreten normativen Verfassungsgrundlagen der Überlegungen des Bundesverfassungsgerichts im Urteil vom Juni 2009 nur zum Teil ausdrücklich ausgewiesen sind.7 Soweit dies hinsichtlich der Mitwirkungspflichten des Parlaments der Fall ist, handelt es sich um Art 23 GG, der vor allem die Anforderung eines Gesetzes für die Übertragung von
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Es sei hinzugefügt: unabhängig davon, ob man zusätzlich, wie das BVerfG, auch noch „integrationsfeste Verfassungsschranken“ bezüglich bestimmter Tätigkeitsfelder postuliert. Jedenfalls in diesem Punkt grundsätzlich in Übereinstimmung mit den Gedankengängen des BVerfG etwa Klaus Gärditz / Christian Hillgruber, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen Zum Lissabon-Urteil des BVerfG, JZ 2009, 872 (insb 876). Es sei offen gelegt, dass ich der letzteren Auffassung zuneige: Stefan Griller, Die Europäische Union. Ein staatsrechtliches Monstrum?, in Schuppert / Pernice / Haltern (Hg), Europawissenschaft, BadenBaden (2005) 201 (255 ff mwN). Matthias Jestaedt, Warum in die Ferne schweifen, wenn der Maßstab liegt so nah? Verfassungshandwerkliche Anfragen an das LissabonUrteil des BVerfG, Der Staat 2009, 497 ff.
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Hoheitsrechten aufstellt. Diese Bestimmung wird vom Gericht auch auf vereinfachte Vertragsänderungen und besonders weites Ermessen der Unionsorgane einschließende Rechtsetzungsermächtigungen angewendet. Art 23 GG ist jedoch nicht direkt auf Österreich übertragbar: Art 9 Abs 2 B-VG scheidet aus, einschlägig ist vielmehr Artikel 50 B-VG in der neuen Fassung, auf den zurückzukommen ist. Eine annähernd „parallele“ Überlegung wie jene des BVerfG könnte darin bestehen, die seinerzeitige Gesamtänderung des demokratischen Grundprinzips der österreichischen Bundesverfassung als bedingte Zustimmung derart zu verstehen, dass bestimmte „wichtige“ Rechte von der EU nur nach vorhergehender Zustimmung des österreichischen Parlaments ausgeübt werden dürften. Eine derartige Rechtsfolge ist dem BVG über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union8 allerdings schwerlich zu entnehmen, weder auf dieser Abstraktionsebene noch pauschal für zukünftige weitere oder eventuell auch nur für besonders „wichtige“ Übertragungen von Hoheitsrechten. Solche würden allenfalls eine neuerliche Gesamtänderung erfordern. Deren „Vermeidung“ durch den Einbau von parlamentarischen Beteiligungsrechten, wie sie hier in Rede stehen, ist zwar nicht gänzlich auszuschließen. Derartige Rechte sind allerdings weder expressis verbis noch erschließbar eine Bedingung im BeitrittsBVG, und sind es im Übrigen auch nicht für die Übertragung weiterer Rechte auf der Grundlage des neuen Art 50 B-VG. Es wäre auch nicht einfach zu erklären – mindestens auf dem Boden der österreichischen Verfassungsordnung – inwiefern die Beteiligung des österreichischen Parlaments etwa beim Transfer einer Materie von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit etwas am Kern des Demokratieproblems ändern könnte. Dieses liegt hier in der „Gefahr“ der Marginalisierung Österreichs in den EU-Organen, wenn dort mit Mehrheit entschieden werden kann. Eine Beteiligung an der Inanspruchnahme der vertraglich vorgesehenen Übertragungsermächtigung ändert daran nichts. Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, die positive österreichische Verfassungslage genauer in den Blick zu nehmen, statt durchaus zweifelhafte Parallelen zu Deutschland zu bemühen.
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BGBl 744/1994.
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III. Der neue Art 50 B-VG Durch die erwähnte Neufassung des Artikels 50 B-VG war eine generelle Rechtsgrundlage für Änderungen der vertraglichen Grundlagen der EU geschaffen worden. Solche Änderungen dürfen nunmehr mit Genehmigung des Nationalrates und Zustimmung des Bundesrats abgeschlossen werden, wofür jeweils eine qualifizierte Mehrheit erforderlich ist, nämlich 50 % Präsenz- und 2/3 Konsensquorum. In der Sache ist das also eine Verfassungsmehrheit, wobei aber die allfällige inhaltlich verfassungsändernde Qualität solcher Verträge solange keine Rolle spielt, als keine Gesamtänderung der Bundesverfassung zur Debatte steht. Wie erwähnt war genau dieser Umstand beim Abschluss des Vertrags von Lissabon strittig, worauf ich aber im Folgenden nicht speziell sondern nur en passant eingehe, weil ich mich auf die Umsetzung des Vertrages konzentriere. Die Prämisse meiner Ausführungen will ich aber offen legen: Sie lautet, dass der Vertrag von Lissabon trotz weit reichender Veränderungen des EU-Primärrechts keine neuerliche Gesamtänderung der österreichischen Bundesverfassung – nämlich neuerlich bezogen auf jene aus Anlass des Beitritts zur EU – bewirkt und daher zu Recht auf der skizzierten Grundlage behandelt wurde.9 Hervorheben möchte ich allerdings dreierlei, was für die weiteren Ausführungen wichtig ist: Erstens erübrigt die skizzierte Veränderung von Art 50 B-VG die bisherige Praxis, die bei den Verträgen von Amsterdam, Nizza, dem gescheiterten Verfassungsvertrag, und auch den Beitrittsverträgen geübt wurde, jeweils spezielle Verfassungsgesetze zu erlassen, auf deren Grundlage dann
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So wie angedeutet die ganz herrschende Auffassung; statt aller nur Andreas Kumin, Vertragsänderungsverfahren und Austrittsklausel, in Hummer / Obwexer (Hg), Der Vertrag von Lissabon (2009) 301 (311 ff); Theo Öhlinger, Übernahme des Vertrages von Lissabon in die österreichische Rechtsordnung, ebendort 411 (417 ff); vgl ferner oben Fn 1. Etwas anders als die überwiegende Diskussion bin ich der Auffassung, dass weder die hier zur Debatte stehenden Befugnisse zur vereinfachten Vertragsänderung noch die (vom Verfassungsvertrag nicht in den Vertrag von Lissabon übernommene) ausdrückliche Vorrangregel die kritischen „Knackpunkte“ sind, sondern die weitreichenden zusätzlichen Kompetenzübertragungen in der Gemeinsamen Handelspolitik und im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.
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die Genehmigung und der Abschluss erfolgt sind. Nunmehr gibt es eine generelle Bestimmung, auf die man sich stützen kann. Zweitens spricht die Streichung des alten Abs 3 von Art 50 BVG im Lichte der Erläuterungen zur Regierungsvorlage eine deutliche Sprache: diese Bestimmung hatte auf Art 44 verwiesen und diesen für sinngemäß anwendbar erklärt und ferner die ausdrückliche Bezeichnungspflicht für verfassungsändernde Staatsverträge hervorgehoben. Der Entfall diese Bestimmung erzeugt nunmehr insofern ein sehr „beredtes Schweigen“ des Verfassungsgesetzgebers, als dadurch – wie in den Erläuterungen ausdrücklich hervorgehoben wird – Staatsverträge nicht mehr verfassungsändernd genehmigt werden können. „Es soll in Hinkunft somit nicht mehr möglich sein, Verfassungsrecht durch einen Staatsvertrag zu ändern oder zu ergänzen“.10 Unberührt bleiben soll, so liest man weiter, die Möglichkeit, staatsvertragliche Bestimmungen durch eine bundesverfassungsgesetzliche Bestimmung in Verfassungsrang zu heben. Unberührt soll auch der Verfassungsrang jener Staatsvertragsbestimmungen bleiben, die nicht durch dieses Erste Bundesverfassungsrechtsbereinigungsgesetz aufgehoben beziehungsweise ihres Verfassungsrangs entkleidet wurden, wie etwa der Verfassungsrang der EMRK. Entgegen manchen Stimmen in der Diskussion dürfte mit dieser Regelung auch die alte Streitfrage geklärt sein, ob Gesamtänderungen durch Staatsverträge überhaupt möglich sind und wenn ja, welches Verfahren auf eine solche Verfassungsänderung angewendet werden müsste. Nach der geänderten Rechtslage sind Gesamtänderungen durch Staatsvertrag unzulässig und müssten durch ein zuvor erlassenes gesamtänderndes Bundesverfassungsgesetz vorbereitet werden. Freilich, besonders glücklich ist die Verfassungsänderung nicht formuliert. Die Genehmigungspflicht für EU-Primärrechtsänderungen ist in der Neufassung „unbeschadet des Art. 44 Abs. 3“, also der Bestimmung über Gesamtänderungen, angeordnet. Nun
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314 BlgNR 23. GP, 10. Vgl auch Georg Lienbacher, Ausgewählte Rechtsfragen der Anwendung des Vertrages von Lissabon in Österreich, in Hummer / Obwexer (Hg), Der Vertrag von Lissabon (2009) 427; Philipp Lindermuth, Das Recht der Staatsverträge nach der Verfassungsbereinigung. Eine verfassungsrechtliche Analyse der Neuregelung des Artikels 50 B-VG durch die Novelle BGBl I 2/2008, ZÖR 2009, 299 (308); Öhlinger (Fn 9) 411 ff.
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könnte man meinen, und dies wurde wie schon angedeutet auch vertreten, dies würde es ausnahmsweise doch erlauben, Gesamtänderungen durch Staatsverträge, die einer Volksabstimmung zu unterziehen wären, vorzunehmen, nämlich soweit solche Gesamtänderungen durch EU-Primärrechtsänderungen bewirkt werden. Das lässt sich aber angesichts der deutlichen Sprache der Materialien und der sogleich angebotenen, vom Text ebenfalls getragenen alternativen Auslegung nicht gut begründen.11 Diese Alternative besteht nämlich darin, dass EU-Primärrechtsänderungen, die gleichzeitig inhaltlich betrachtet so genannte einfache Verfassungsänderungen bewirken, die Genehmigung gemäß Art 50 B-VG nicht ausschließen. Anders gesagt: EU-Primärrechtsänderungen können nach wie vor, ohne ausdrücklich als verfassungsändernd bezeichnet zu werden, gleichzeitig Verfassungsänderungen bewirken. Das war schon beim EU-Beitritt und bei allen nachfolgenden Primärrechtsänderungen der Fall. Insofern unterscheidet sich das verfassungsrechtliche Regime für solche Primärrechtsänderungen – man muss sagen: nach wie vor – von jenem für andere Staatsverträge. Die Materialien betonen auch, dass die Neufassung des Artikels 50 BVG hinsichtlich des EU-Rechts diesen Sonderverfassungsbestimmungen nachgebildet wurde.12 Im Übrigen ergibt sich dies wohl auch daraus, dass Art 23e B-VG (sowohl in der alten als auch der neuen Fassung) ausdrücklich von der Möglichkeit verfassungsändernder Vorhaben in der EU ausgeht. Wenn dies – mit der herrschenden Auffassung13 – auch in Aussicht genommene Vertragsänderungen und -ergänzungen sind, wäre schlecht erklärbar, warum solchen Vorhaben zugestimmt werden darf, ohne zuvor ausdrücklich die Verfassung zu ändern. Dafür, dass dies erforderlich wäre, fehlt jeder Anhaltspunkt. All dies spricht für das hier vertretene Ergebnis. Hingegen dürfen, um das nochmals hervorzuheben, auch EU-Primärrechtsänderungen keine Gesamtänderungen bewirken, beziehungsweise bedarf es zuvor eines gesamtändernden Bundes-
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Zur Diskussion auch Lienbacher, Rechtsfragen (Fn 10) 427 f, der diese Deutung im Ergebnis wie hier verwirft, allerdings mit einer meines Erachtens nicht überzeugenden Berufung auf den Text der Novelle. 314 BlgNR 23. GP, 8. ZB Theo Öhlinger, Art 23d B-VG, in Korinek / Holoubek (Hg), Österreichisches Bundesverfassungsrecht. Textsammlung und Kommentar (1999) Rz 8.
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verfassungsgesetzes. „(U)nbeschadet des Art. 44 Abs. 3“ heißt also hauptsächlich: unbeschadet der Notwendigkeit, im Falle von Gesamtänderungen zuvor ein gesamtänderndes Gesetz zu erlassen, während Teiländerungen durch EU-Primärrecht gestattet sind, das aber nur mit Verfassungsmehrheit zustande kommen kann.14 Drittens schließlich kann die ebenfalls neu geschaffene Bestimmung in Art 50 Abs 2 Z 1 B-VG, wonach in Staatsverträgen vorgesehene vereinfachte Änderungsverfahren nicht genehmigungsbedürftig sind, nach der klaren Regelung des Verfassungsgesetzgebers – und entgegen vielen Behauptungen im Verfahren zur Genehmigung des Vertrags von Lissabon – auf Primärrechtsänderungen der EU nicht angewendet werden.15 Die Unanwendbarkeit ist derart deutlich normiert, dass auch eine analoge Anwendung ausscheidet. Für unser Thema ist das sehr wichtig. IV. Vereinfachte Vertragsänderungsverfahren Gemäß Art 48 Abs 6 EUV16 kann der Europäische Rat einen einstimmigen Beschluss zur Änderung von Bestimmungen des Dritten Teils des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) erlassen. Vereinfacht ausgedrückt sind das die materiellen Regelungen des Europarechts, nach dem Vertragstext „die internen Politiken und Maßnahmen der Union“, also über den Binnenmarkt und die spezifischen Politiken. Dieser Beschluss bedarf der Zustimmung der Mitgliedstaaten „im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften“, und er darf nicht zu einer Ausdehnung der der Union im Rahmen der Verträge übertragenen Zuständigkeiten führen. Diese Regelungen ergänzen jene über das
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Hingegen dürfte „unbeschadet“ nicht den Schluss erlauben, fakultative Volksabstimmungen über teiländerndes EU-Primärrecht – also etwa den Vertrag von Lissabon – seien zulässig. Denn die gesamte Regelung des Art 44 Abs 3 zielt auf Gesetzgebungsverfahren gemäß Art 42 B-VG, nicht auf die Genehmigung von EU-Primärrecht; dafür gilt die Sonderbestimmung in Art 50 B-VG. Freilich bedeutet dies im Ergebnis, dass Teiländerungen der Verfassung durch EU-Primärrecht Volksabstimmungen entzogen sind, soweit diese Teiländerung nicht durch Verfassungsgesetz vorbereitet wird. Für Teiländerungen durch andere völkerrechtliche Verträge gilt dies hingegen nicht, weil und soweit sie durch Verfassungsgesetze vorbereitet werden müssen. So auch Öhlinger (Fn 9) 416. Ausführlicher etwa Kumin (Fn 9) 305 ff.
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so genannte „ordentlichen Änderungsverfahren“ (Art 48 Abs 2-6 EUV), dessen zentrale Bestandteile nach wie vor die Festlegung eines Textes im Rahmen einer Regierungskonferenz (allenfalls nach vorherigen Beratungen in einem Konvent) und die nachfolgende Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten sind; hierfür sind auch keine inhaltlichen Grenzen formuliert. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hatte gefordert, eine vereinfachte Vertragsänderung dürfe nur auf der Grundlage eines besonderen Zustimmungsgesetzes wirksam werden.17 In Österreich stellt sich die Rechtslage im Detail anders, im Ergebnis jedoch durchaus ähnlich dar. Trotz der in Art 48 EUV enthaltenen Determinierung wird man in dem Vorgang nicht eine Durchführung, sondern eine Änderung des Vertrags erblicken müssen. Vom ordentlichen Vertragsänderungsverfahren unterscheidet sie sich insbesondere durch das Fehlen eines traditionellen Vorverfahrens, also einer Regierungskonferenz, in welcher (österreichische) Regierungsmitglieder den Text signieren, der dann dem Genehmigungsverfahren zu unterziehen ist. An die Stelle dieses Vorgangs tritt der Beschluss des Europäischen Rates. Die entscheidende Frage ist also, ob ein solcher Vorgang noch unter die verfassungsrechtliche Rechtssatzform des Staatsvertrages eingeordnet werden kann, wie sie in dem nunmehr abgeänderten Art 50 B-VG geregelt ist. Diese Frage ist klar zu bejahen.18 Die Abweichung im Vorverfahren ist keineswegs singulär und auch nicht von solchem Gewicht, dass man von analoger Anwendung reden müsste. Im Ergebnis muss eine solche Vertragsänderung somit als Staatsvertrag behandelt werden, durch welchen die vertraglichen Grundlagen der EU geändert werden. Dafür spricht im Übrigen auch ein systematisches Argument: mit der B-VG Novelle 2008, durch welche Art 50 B-VG geändert wurde, wurde auch Artikel 23f B-VG modifiziert. Diese, durch die Lissabon-Begleitnovelle neuerlich geänderte Bestimmung bezog sich auf die in Art 17 EUV alte Fassung enthaltene Regelung, wonach der Europäische Rat die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik beschließen könnte, und ein solcher Beschluss von den Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften anzunehmen wäre. Art 23f B-VG sah früher für einen
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BVerfG, 2 BvE vom 30.6.2009, Rz 412. So auch Öhlinger (Fn 9) 416 f.
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solchen Fall die sinngemäße Anwendung der Bestimmungen über die Erlassung von Verfassungsgesetzen vor, nämlich durch einen Verweis auf Art 44 Abs 1 und 2 B-VG. Durch die Novelle des Jahres 2008 wurde dieser Verweis durch einen solchen auf den neuen Art 50 Abs 4 geändert. Es kommen also seither die Genehmigungserfordernisse für Primärrechtsänderungen sinngemäß zur Anwendung. Die entsprechenden allfälligen Beschlüsse des Europäischen Rates sind also wie völkerrechtliche Verträge zur Änderung der Gründungsverträge zu behandeln, also, worauf es hier ankommt, wie Verträge. Und dies im vollen Bewusstsein, dass es dabei um verfassungsändernde Inhalte geht. Dieser systematische Kontext spricht stark dafür, dass auch vereinfachte Änderungsverfahren gemäß Art 48 Abs 6 EUV einer derartigen Genehmigung bedürfen, bevor sie vom Bundespräsidenten ratifiziert werden und in Kraft treten können. Durch die Lissabon-Begleitnovelle wird dieses systematische Argument bestätigt: der Verweis auf Art 50 Abs 4 B-VG im Zusammenhang mit der Einführung einer gemeinsamen Verteidigung bleibt unverändert, nur findet er sich nun in Art 23j Abs 1 letzter Satz B-VG.19 Ergänzt wird dies nunmehr durch die Klarstellung, dass die Einführung neuer Kategorien von Eigenmitteln (Art 23i Abs 3 B-VG), vor allem aber grundsätzlich alle Beschlüsse des Europäischen Rates oder des Rates, die erst nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften in Kraft treten, gemäß Art 50 Abs 4 B-VG zu behandeln sind. Also: eine Primärrechtsänderung oder -ergänzung, die durch den Europäischen Rat (oder den Rat) beschlossen wird und der nachfolgenden Genehmigung der Mitgliedstaaten gemäß ihren Verfassungen bedarf, ist ein Staatsvertrag im Sinne des Art 50 Abs 1 Z 2 B-VG, und daher dem Genehmigungsverfahren gem Abs 4 zu unterziehen.
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Auch diesbezüglich geht es naturgemäß um Befugnisse des österreichischen Parlaments. Dennoch wird darauf nur insoweit eingegangen, als es im systematischen Kontext zur Interpretation der neuen Bestimmungen des Vertrags von Lissabon erforderlich ist, die in Österreich zu implementieren waren. Die „alten“ europarechtlichen Regelungen, die eine Beteiligung des österreichischen Parlaments schon bisher erlaubt haben und nicht wesentlich geändert wurden, bleiben hier ausgeklammert.
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V. Die sogenannten Passerelles A. Europarechtlicher Rahmen Gemäß Art 48 Abs 7 EUV – der so genannten Brückenklausel oder Passerelle I – kann der Europäische Rat einstimmig und mit Zustimmung des Europäischen Parlaments einen Beschluss erlassen, durch den für eine bislang der Einstimmigkeit im Rat unterliegende Angelegenheit (wie etwa die Harmonisierung der direkten Steuern) die qualifizierte Mehrheit eröffnet wird. Für Angelegenheiten mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen ist das allerdings ausgeschlossen. In ähnlicher Weise kann – gemäß der so genannten Passerelle II – eine Angelegenheit vom besonderen Gesetzgebungsverfahren ins ordentliche Gesetzgebungsverfahren transferiert werden, was in der Folge ebenfalls insbesondere die Anwendung der qualifizierten Mehrheit im Rat erlaubt. Es gibt auch andere Bestimmungen im neuen EUV, die im Ergebnis Gleiches anordnen, etwa für die Harmonisierung des Familienrechts mit grenzüberschreitendem Bezug.20 Allerdings steht die Befugnis hier dem Rat und nicht dem Europäischen Rat zu. Jede derartige Initiative des (Europäischen) Rates wird den nationalen Parlamenten übermittelt. Wird dieser Vorschlag innerhalb von sechs Monaten nach der Übermittlung von einem nationalen Parlament abgelehnt, so wird der Beschluss nicht erlassen. Wird die Initiative nicht abgelehnt, so kann der Europäische Rat den Beschluss erlassen. Die Verträge kennen auch sog „kleine Passerelles“: das sind Ermächtigungen, gleichartige oder ähnliche Veränderungen durch Beschluss des Rates herbeizuführen, ohne jedoch den nationalen Parlamenten ein Widerspruchsrecht einzuräumen. Dies gilt etwa für die Transferierung einiger heikler umweltpolitischer Rechtsetzungsbefugnisse von einem besonderen Gesetzgebungsverfahren mit der Anforderung einstimmiger Beschlussfassung im Rat ins ordentliche Gesetzgebungsverfahren.21 Ähnliches gilt für einige heikle sozialpolitische Befugnisse22 oder für die Einführung der
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Art 81 Abs 3 AEUV. Art 192 Abs 2 AEUV. Art 153 Abs 2 letzter Satz AEUV.
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qualifizierten Mehrheit für Ratsbeschlüsse in der GASP.23 Außerdem finden sich auch andere „Änderungsbeschlüsse“, etwa die Ermächtigung des Europäischen Rates, die Beibehaltung der Regel: „ein Kommissar für jeden Mitgliedstaat“ zu beschließen;24 oder die Ablösung des Protokolls über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit.25 Das Fehlen eines „Vetorechts“ (Opt-out) der nationalen Parlamente in den zuletzt genannten Fällen ist nicht leicht einzusehen. Am geringeren Gewicht der Veränderungen kann es kaum liegen, einmal ganz abgesehen von der Relativität einer solchen Einschätzung. Freilich mag in manchen Fällen die Einordnung als „Änderung“ überzogen und jene als Durchführung einer bereits erlaubten, also im Vertrag vorweg genommenen Erlaubnis näher liegen: etwa bei der Möglichkeit, durch einstimmigen Ratsbeschluss von der Regel abzuweichen, dass GASP-Ausgaben, die nicht zulasten des Unionshaushalts sondern zulasten der Mitgliedstaaten gehen, grundsätzlich nach dem Bruttosozialprodukt-Schlüssel zu tragen sind.26 Jedenfalls ist nicht zu bestreiten, dass es sich bei diesen sog „kleinen Passerelles“ um Beschlussbefugnisse der EU-Organe handelt, dass also insoweit Rechtsetzungsbefugnisse bereits übertragen wurden. Eine allfällige Vertragsqualität dieser Vorgänge nach österreichischem Verfassungsrecht – und damit die Anwendung von Art 50 B-VG – kommt insoweit von vornherein nicht in Betracht. Damit ist noch nicht entschieden, ob der veränderte Text im Ergebnis nicht trotzdem – gleichsam im Wege einer rechtlichem Fiktion – wie ein Vertrag, nämlich gleich wie das sonst vertraglich zustande gekommen Primärecht, zu behandeln ist. Worauf es hier ankommt ist die Grenze zwischen Vertrag und Beschluss: in den zuletzt genannten Fällen ist sie „klar“ überschritten, für die „großen“ Passerelles (mit Widerspruchsrecht der nationalen Parlaments) könnte dies bezweifelt werden.
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Art 31 Abs 3 EUV. Art 17 Abs 5 EUV. Die Charakterisierung im Text ist eine Vereinfachung mit Blick auf die Lösung der „irischen Blockade“, also der politischen Zusage im Europäischen Rat, eine solche Beibehaltung zu beschließen, was ua den Weg für den positiven Ausgang des zweiten irischen Referendums geebnet hat. Art 126 Abs 14 AEUV. Art 41 Abs 2 EUV.
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B. Einordnung ins B-VG 1. Opting-out als Staatsvertrag? Der beschriebene Vorgang ist im Gegensatz zum Verfahren gemäß Art 48 Abs 6 EUV deutlich weiter von einem traditionellen völkerrechtlichen Vertrag entfernt. Während dieser nur im Fall der Zustimmung, also durch Ratifikation, verbindlich wird, muss hier zur Vermeidung der Verbindlichkeit eine Art Einspruch erhoben werden. Es ist dies eine so genannte Opting-out-Regelung, wie sie in zahlreichen internationalen Organisationen vorkommt, nicht zuletzt auch für Vertragsänderungen.27 Diesbezüglich hat das deutsche Bundesverfassungsgericht die Auffassung vertreten, das Schweigen von Bundestag und Bundesrat reiche wegen der Bedeutung der Angelegenheiten nicht aus, die politische Verantwortung gegenüber dem Bürger wahrzunehmen. Ein Ablehnungsrecht sei kein ausreichendes Äquivalent zum Ratifikationsvorbehalt. Deshalb sei es erforderlich, dass der deutsche Regierungsvertreter im Europäischen Rat oder im Rat dem Beschlussvorschlag nur dann zustimmen dürfe, wenn er dazu zuvor vom Bundestag oder vom Bundesrat ermächtigt wurde.28 Hier ist die Rechtslage in Österreich gravierend anders und kein Grund in Sicht, warum sie, nämlich von Verfassungs wegen wie in Deutschland, geändert werden müsste. Denn es handelt sich
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Henry Schermers / Niels Blokker, International Institutional Law4 (2003) §§ 1288 ff. BVerfG, 2 BvE vom 30.6.2009, Rz 414. Das gelte auch für weitere, spezielle Brückenklauseln, in denen der Vertrag parlamentarische Ablehnungsrechte nicht vorsehe, wie etwa im Bereich der Sozialpolitik (Art 153 Abs 2 AEUV) – so in Rz 416. Gleiches verlangt das Bundesverfassungsgericht auch in den von ihm so genannten „Notbremseverfahren“, in denen der Vertreter eines Mitgliedstaats eine besonders sensible Angelegenheit aus dem Rat in den Europäischen Rat bringen kann, in dem dann – unter der Anforderung der Einstimmigkeit – diese Blockade beendet und das Beschlussfassungsverfahren wieder in Gang gebracht werden kann. Andernfalls wird die in Aussicht genommene Maßnahme nicht erlassen. Dies gilt etwa für sensible, die nationalen Systeme der sozialen Sicherheit betreffende Maßnahmen im Bereich der Freizügigkeit (Art 48 AEUV), und für Mindestvorschriften für die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Urteile in Strafsachen (Art 82 Abs 2 und Abs 3, sowie Art 83 Abs 1-3 AEUV).
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bei solchen Beschlüssen beziehungsweise entsprechenden Entwürfen um „Vorhaben“ im Rahmen der EU gemäß Art 23d und e B-VG (alt und neu). Daher kann der Bundeskanzler als Vertreter im Europäischen Rat durch einen Beschluss des Nationalrates und allenfalls auch des Bundesrates gebunden werden. Es besteht aber keine Verfassungspflicht für die Gesetzgebungsorgane, einen solchen Beschluss zu erlassen. Andererseits sind die hier in Rede stehenden Beschlüsse verfassungsändernd im Sinne des Art 23e Abs 3 B-VG (alt und neu), so dass eine absolute Bindung an einen Beschluss des Nationalrats besteht. Der durch die Lissabon-Begleitnovelle in Art 23e B-VG eingefügte Abs 2 ändert daran nichts. Es ist im Begutachtungsverfahren zum seinerzeitigen Initiativantrag vom Februar 201029 zutreffend festgestellt worden,30 dass der neue Absatz keinen Mehrwert enthält und überflüssig ist. Sodann stellte sich bis zur Lissabon-Begleitnovelle die Frage, ob beziehungsweise inwieweit ein solcher Opting-out-Vorgang unter die Rechtssatzform des Staatsvertrages fiel, ob also die einschlägigen Bestimmungen, insbesondere Art 50 B-VG auch hier hätte angewendet werden können? Die überwiegende Meinung dürfte dies verneinen.31 Auch wenn die Frage angesichts der Lissabon-Begleitnovelle weitgehend obsolet ist,32 soll ihr ua zur Ein-
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Damals Abs 1a des Antrags 978/A XXIV. GP, eingebracht am 24.2.2010 von den Abgeordneten Cap, Kopf, Prammer et al, betreffend die Lissabon-Begleitnovelle. Stellungnahme des Bundeskanzleramt-Verfassungsdienstes, GZ BKA-601.999/0006-V/1/2010 vom 31.3.2010, 2. Vgl vor allem Kumin (Fn 9) 313 f sowie Öhlinger (Fn 9) 417 – letzterer schreibt zwar, es handle sich nicht um Verträge gem Art 50 Abs 1 Z 1 B-VG, meint aber, wie aus dem Kontext deutlich wird, offenbar Z 2, also (auch) Verträge zur Änderung der Vertragsgrundlagen der EU. Bedeutsam bleibt das Thema aber möglichweise für die Frage, welche Rechtsatzform zukünftige, durch Inanspruchnahme der Passerelles zustande gekommene Vertragsänderungen (in Österreich) haben: wären das völkerrechtliche Verträge oder Beschlüsse? Die Nähe zur Vertragsnatur – und die daraus oben im Text abgeleitete Anwendbarkeit des Art 50 B-VG bis zur Begleitnovelle – legt die Konsequenz nahe, dass es sich ebenfalls wieder um Verträge handeln würde. Das könnte weitere Konsequenzen für die derogatorische Kraft und manche Rechtsschutzfragen haben.
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schätzung der eingetretenen Veränderungen dennoch nachgegangen werden. Zu Art 50 B-VG (alt) habe ich die Anwendbarkeit auf Optingout-Beschlüsse zwischenstaatlicher Einrichtungen bejaht, hauptsächlich aus Gründen der Gewaltentrennung.33 Andernfalls wäre es nämlich entgegen den sonst für Verträge geltenden Bestimmungen des B-VG möglich, dass die Exekutive über ihre Mitgliedschaft in der zwischenstaatlichen Einrichtung über eine Veränderung entscheidet, die normalerweise dem Parlament vorbehalten ist, weil Gegenstände der Gesetzgebung betroffen sind – und dies, obwohl die völkerrechtliche (hier: europarechtliche) Ermächtigung durchaus den Spielraum lässt, die Entscheidung des Parlaments einzuholen.34 Das gleiche Argument galt wohl für den abgeänderten Art 50 B-VG. Deshalb wären Änderungsbeschlüsse des Europäischen Rates bis zum Ablauf der Sechsmonatsfrist dem Parlament vorzulegen und wie ein Vertrag, durch den die Grundlagen der EU verändert werden, gemäß Art 50 zu behandeln gewesen. Auch wenn es sich bei den Texten einstweilen um Initiativen handelt, besteht doch kein Gestaltungsspielraum mehr. Der nachfolgende Beschluss auf EU-Ebene könnte zwar unterbleiben, das ist aber nicht wesentlich anders als das denkbare Unterbleiben von Ratifikationsakten bei Staatsverträgen, die ebenfalls das Inkrafttreten verhindern. Eine allfällige Ablehnung wäre dem Europäischen Rat mitzuteilen gewesen. Nach Ablauf der Frist wäre das Genehmigungsverfahren allerdings gegenstandslos und daher einzustellen gewesen. Darin zeigt sich der Doppelcharakter des Vorgangs (Vertragstext, der sich zu einem Beschluss wandelt), der auch zu einer analogen Anwendung zwingt.
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Stefan Griller, Die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen (1989) 58 ff. Das ist bei „echten“ Beschlussbefugnissen definitiv anders, weshalb dafür Art 9 Abs 2 B-VG geschaffen wurde. Diese Bestimmung setzt einen neben Staatsverträge tretenden anderen Rechtsquellentyp, den „Beschluss“ einer zwischenstaatlichen Einrichtung, voraus bzw anerkennt oder kreiert ihn im Rahmen der österreichischen Rechtsordnung. Auch wenn Art 9 Abs 2 B-VG auf „EU-Beschlüsse“ nicht angewendet werden kann, sind diese systematischen Zusammenhänge doch auch für die Einordnung von „Passerellebeschlüssen“ bedeutsam.
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Auf ein Spezifikum ist in diesem Zusammenhang hinzuweisen: die hier vertretene Auffassung führt dazu, dass zur Annahme der Änderung eine qualifizierte Mehrheit erforderlich gewesen wäre. Wäre diese verfehlt worden, wäre die Initiative abgelehnt gewesen. Das hätte gleichzeitig bedeutet, dass das Scheitern einer Zweidrittelmehrheit als negatives Ergebnis hätte qualifiziert und als solches den Organen der EU kommuniziert werden müssen. Dies hätte eine jedenfalls außergewöhnliche Interpretation insb des Art 50 BVG einerseits und andererseits, in dessen Licht, der Abstimmungsergebnisse erfordert. Eine Besonderheit des Verfahrens lässt ergänzende Zweifel an der soeben gegebenen Deutung aufkommen: gemäß Art 48 Abs 7 EUV kommt der Änderungsbeschluss des Rates nicht schon dann endgültig zu Stande, wenn innerhalb der Sechsmonatsfrist ein Widerspruch ausbleibt, sondern erst, wenn danach – offenbar nochmals – ein Beschluss des Europäischen Rates folgt. Das rückt das Ablehnungsrecht der Parlamente näher zur Ablehnung eines Vorhabens als zur Ablehnung eines andernfalls verbindlichen Beschlusses, und damit noch etwas weiter weg von einem völkerrechtlichen Vertrag.35 Sieht man das so hätte die „Ablehnung“ durch das Parlament gemäß Art 23e B-VG (alt) beziehungsweise § 31 d GOG-NR erfolgen können. Die (analoge) Anwendung von Art 50 B-VG wäre dann nicht in Betracht gekommen. Gegen diese Interpretation spricht allerdings, dass es bei dem Recht, welches Art 48 Abs 7 EU-Vertrag den Parlamenten einräumt, nicht um eine Bindung der nationalen Vertreter im Europäischen Rat, sondern um ein Recht der Parlamente gegenüber dem Rat geht. Die Möglichkeit, den österreichischen Vertreter zu binden, schließt aus dieser Perspektive die Anwendung des Art 50 BVG nicht aus.
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So vor allem Kumin (Fn 9) 313 f: zum Zeitpunkt der Befassung der nationalen Parlamente liege noch kein Organbeschluss vor, der gem Art 50 zur Genehmigung vorgelegt werden könne. Freilich, wie bereits angedeutet: zu dem Zeitpunkt muss die Initiative bereits beschlossen sein, das Unterbleiben des neuerlichen Beschlusses nach Ablauf der 6 Monate wirkt nicht viel anders als das Ausbleiben einer Ratifikation. In der Tat wird auch ein Widerspruch nationaler Parlamente (das Ausbleiben der „Ratifikation“) der Hauptgrund wenn nicht der einzige Grund sein, dass der Europäische Rat oder der Rat das Vorhaben aufgibt.
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Als Alternative zur hier vertretenen Auffassung wäre wohl am ehesten bis zur Lissabon-Begleitnovelle das Fehlen eines parlamentarischen Widerspruchsrechts zu konstatieren. Die hier vertretene, soeben skizzierte Auffassung ist demgegenüber meines Erachtens hauptsächlich wegen des schon erwähnten Gewaltentrennungsarguments vorzuziehen. Das Fehlen einer parlamentarischen Entscheidung hätte diese wichtige Angelegenheit allein in die Hände der Verwaltung gelegt, was mit dem verfassungsrechtlichen System des Umgangs mit verfassungsrelevanten Völkerrechtsnormen nicht in Einklang zu bringen wäre. Dies schon gar nicht, wenn man die in Rede stehenden Veränderungen, also vor allem die Ersetzung der Einstimmigkeit durch qualifizierte Mehrheit im Rat als verfassungsrelevant qualifiziert, wofür einiges spricht. 2. Der neue Art 23i B-VG Die soeben skizzierte Rechtslage wurde durch das Lissabon-Begleitgesetz erheblich verändert. Die soeben erörterte analoge Anwendung des Art 50 B-VG kommt auf der neuen Grundlage nicht mehr in Betracht. Es liegt nunmehr eine lex specialis vor. Die Zweifel über die Rechtsaktsqualtität der so zustande gekommenen Veränderungen – Vertrag oder Beschluss – sind damit zwar nicht ausgeräumt. Aber selbst wenn man, wofür einiges spricht, solchen Veränderungen des Primärrechts nach ihrem Zustandekommen wiederum die Qualität eines Vertrages zumisst, würde es sich bei der bundesverfassungsrechtlichen Anknüpfung um die Schaffung einer speziellen Vertragskategorie handeln: im Erzeugungsverfahren ein Beschluss, im Ergebnis ein Vertrag. Art 23i B-VG sieht nunmehr ein zweistufiges Verfahren vor: einerseits darf das österreichische Mitglied im Europäischen Rat einer Änderungsinitiative nur zustimmen, wenn sowohl Nationalals auch Bundesrat mit qualifizierter Mehrheit zugestimmt haben (Abs 1). Andererseits kann – nämlich offenkundig im Anschluss an einen derartigen Beschluss des Europäischen Rates – „der Nationalrat mit Zustimmung des Bundesrates diese Initiative oder diesen Vorschlag“ innerhalb der unionsrechtlich vorgesehenen Fristen ablehnen (Abs 2). Die Regelung ist in mehrfacher Hinsicht missglückt; man könnte meinen, dass bei ihrer Schaffung der skizzierte Opting-outMechanismus missverstanden wurde. 1. Zunächst wurde ein „verfassungsrechtlicher Overkill“ geschaffen. Ein Änderungsvorhaben gem Art 48 Abs 7 EUV unterliegt
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3.
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nämlich, so würde man prima vista meinen, gemäß ausdrücklicher Anordnung auch dem ebenfalls neuen Art 23e Abs 2 BVG, und damit auch dessen Absätzen 2 und 3. Art 23i B-VG macht aber nunmehr inkonsequenter Weise Art 23e Abs 3 und 4 im Wesentlichen unanwendbar und verwandelt damit die verfassungsrechtliche Möglichkeit, den österreichischen Vertreter im Europäischen Rat zu binden (und zwar mit einfacher Mehrheit durch National- oder Bundesrat!), in ein Zustimmungserfordernis: ohne Zustimmung von National- und Bundesrat – und zwar nun mit qualifizierter Mehrheit – darf im Europäischen Rat nicht zugestimmt werden. Das ist wohl die „österreichische Antwort“ auf das LissabonUrteil des Bundesverfassungsgerichts. Eine verfassungsrechtliche, etwa aus den Grundprinzipien fließende Verpflichtung für eine derartige Neuregelung kann in Österreich allerdings mit Sicherheit nicht hergeleitet werden. Verfassungspolitisch ist die Regelung auch deshalb mehr als zweifelhaft, weil das Parlament nach einem allfälligen Beschluss des Europäischen Rates ohnedies noch Gelegenheit zum Widerspruch hat. Das nachfolgende Ablehnungsrecht ist allerdings ebenfalls inkonsequent ausgestaltet: es schafft die Möglichkeit, einen zuvor mit qualifizierter Mehrheit akzeptierten Änderungsvorschlag nunmehr mit einfacher Mehrheit abzulehnen. Warum dies so sein soll, bleibt dunkel. Gleichzeitig wird der Mechanismus des Opting-out-Verfahrens, so muss man argwöhnen, gründlich missverstanden: Während bei einem Zustimmungsrecht wie etwa gemäß Art 50 Abs 4 B-VG die Anforderung „mit Genehmigung des Nationalrates und mit Zustimmung des Bundesrates“ bedeutet, dass jede der beiden Kammern die Änderung verhindern kann, führt die Übernahme dieser Formulierung in eine Opting-out-Regelung nunmehr dazu, dass Nationalrat und Bundesrat dies nur gemeinsam bewirken können. Man kann dies gleichsam als „Ausgleich“ zur einfachen Mehrheit betrachten. Die dahinter stehende Logik – sollte es eine geben – ist nicht leicht nachvollziehbar und wird in den Erläuterungen auch nicht offen gelegt. Immerhin könnte es auf diese Weise etwa dazu kommen, dass der Bundesrat eine wünschenswerte Veränderung der Entscheidungsvorgänge auf einem in die Kompetenz des Bundes fallenden Gebiet verhindert (und dies, obwohl er zuvor bereits mit qualifizierter Mehrheit zugestimmt hat).
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Wenn schon, dann wäre es sinnvoll gewesen, das Widerspruchsrecht jeder der beiden Kammern einzuräumen. Die Inkonsequenz, dass mit einfacher Mehrheit abgelehnt werden kann, was zuvor mit qualifizierter Mehrheit akzeptiert wurde, wäre allerdings auch dadurch nicht bereinigt. 4. Gänzlich inkonsequent ist ferner, dass die neuen Art 23i Abs 3 und 4 sowie Art 23j Abs 1 letzter Satz B-VG für die Genehmigung anderer, nämlich hauptsächlich vertragsergänzender Beschlüsse wie etwa die Einführung einer gemeinsamen Verteidigung, die sinngemäße Anordnung des Art 50 Abs 4 B-VG und damit eine Verfassungsmehrheit verlangen. Die Regelung ist also gründlich missglückt. Sie ist ein Fremdkörper im systematischen Kontext von ordentlichem Vertragsänderungsverfahren und Vertragsergänzungen durch Beschlüsse des Europäischen Rates, und erscheint sowohl deshalb als auch wegen der aufgezeigten Inkonsistenzen als sanierungsbedürftig. Sachlicher Anknüpfungspunkt für die Neuregelung hätte im systematischen Kontext der Umstand sein müssen, dass es sich hier um ein vereinfachtes Vertragsänderungsverfahren handelt, also die in Rede stehenden Beschlüsse des Europäischen Rates am Ende des Verfahrens Primärrecht werden, welches wie ein Vertrag zu behandeln ist. Daher liegt in der Tat die Übertragung des in Art 50 Abs 4 B-VG vorgesehenen Mechanismus, also das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit sowohl im Nationalrat als auch im Bundesrat nahe.36 Dem würde am ehesten eine Regelung entsprechen, welche die Befassung der beiden Kammern mit dem Beschluss des Europäischen Rates vorsieht und anordnet, dass ein solcher Beschluss als abgelehnt gilt, wenn ihm nicht innerhalb von sechs Monaten sowohl vom Nationalrat als auch vom Bundesrat mit qualifizierter Mehrheit zugestimmt wurde. Im systematischen Kontext – etwa und insbesondere zum Verfahren „ordentlicher“ Vertragsänderungen gem Art 48 EUV – könnte sodann Art 23i Abs 1 B-VG ersatzlos entfallen. Es bliebe dann die Bindungsmöglichkeit gemäß Art 23e B-VG, und zwar mit einfacher Mehrheit. Dieser Mechanismus: Bindung des Vertreters mit einfacher Mehrheit, Zustimmung zum Ergebnis mit qualifizierter Mehrheit, erschiene durchaus sachgerecht. Dann wäre auch der
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Wie schon erwähnt war dies bis zur Lissabon-Begleitnovelle auch das gewichtigste Argument für die analoge Anwendung der Bestimmung innerhalb der Sechsmonatsfrist.
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Gleichklang mit dem Genehmigungserfordernis für vertragsergänzende Beschlüsse wie der Einführung einer gemeinsamen Verteidigung, gewahrt. Die Neuregelung hingegen knüpft an diese Zusammenhänge nur in Art 23i Abs 2 B-VG an, also bezüglich der Bindung des österreichischen Vertreters im Europäischen Rat vor dessen erster Initiative. Diese Bindung kann aber nicht jede der Kammern allein, sondern nur beide gemeinsam bewirken. Auch insofern wird die ratio des Art 50 Abs 4, aber auch des Art 23e Abs 3 und 4 B-VG verfehlt. Gleichzeitig scheint der nachfolgenden Ablehnungsmöglichkeit mit einfacher Mehrheit (in beiden Kammern) kein besonders Gewicht zugemessen zu werden, etwa nach dem Motto: was zuvor mit qualifizierter Mehrheit akzeptiert wurde wird doch nun nicht mit einfacher Mehrheit zu Fall gebracht werden. Rechtsdogmatisch nachvollziehbar ist dies nicht. VI. Die Subsidiaritätsrüge Durch das Protokoll Nummer 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit wird die Rolle der nationalen Parlamente bei der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips aufgewertet, eine immer wieder hervorgehobene und überwiegend gelobte Neuerung des Vertrags von Lissabon.37 Entwürfe von Gesetzgebungsakten sind den nationalen Parlamenten vorzulegen, deren begründete Stellungnahmen dazu sind zu berücksichtigen. Jedes nationale Parlament hat gemäß Art 7 des erwähnten Protokolls „zwei Stimmen, die entsprechend dem einzelstaatlichen parlamentarischen System verteilt werden. In einem Zweikammersystem hat jede der beiden Kammern eine Stimme.“ Erreicht die Anzahl begründeter Einwände gegen die Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip – nach der ersten Variante, dem so genannten System der gelben Karte –, ein Drittel der Gesamtzahl der den nationalen Parlamenten zugewiesenen Stimmen, so muss der Entwurf überprüft werden. Nach Abschluss der Überprüfung kann der Autor des Entwurfs, also hauptsächlich die Kommission, begründet an dem Entwurf festhalten, ihn ändern oder ihn zurückziehen. Die zweite Variante – auch fälschlich als System der roten Karte bezeichnet – gilt für den Fall solcher Einwände im Rahmen
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Statt vieler dazu Lienbacher (Fn 9) 440 ff mwN.
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des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens, nämlich sofern die Gegenstimmen die einfache Mehrheit erreichen, und nach einer Überprüfung und allfälligen Bekräftigung des Vorschlags durch die Kommission. In einem solchen Fall ist der Gesetzgeber (das Europäische Parlament und der Rat) zu befassen und kann das Verfahren mit einer Mehrheit von 55 % der Mitglieder des Rates oder mit Stimmenmehrheit im Europäischen Parlament beenden; die Initiative ist damit gescheitert. Irreführend ist die Bezeichnung (rote Karte) deshalb, weil auch hier die Blockademacht nicht den nationalen Parlamenten, sondern dem Gesetzgeber auf der EU-Ebene zusteht. Verfassungsrechtlich stellt(e) sich die Frage, ob diese Regelungen ergänzungsbedürftig sind. Dazu ist festzuhalten, dass dem Protokoll Nummer 2 hinreichend deutlich zu entnehmen ist, dass Nationalrat und Bundesrat jeweils eine Stimme haben. Insofern erscheint insbesondere Artikel 6 des Subsidiaritätsprotokolls unmittelbar anwendbar.38 Art 23g B-VG in der Fassung der Lissabon-Begleitnovelle greift diese Regelung auf und bestimmt, dass der Nationalrat und der Bundesrat – und zwar, wie sich aus den Erläuterungen deutlich und konsequenterweise ergibt, beide unabhängig voneinander – zu einem Entwurf eines EU-Gesetzgebungsakts in einer begründeten Stellungnahme darlegen können, warum dieser nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar sei. Beide Kammern können vom zuständigen Bundesminister eine Äußerung zur Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip verlangen, die im Regelfall innerhalb von zwei Wochen vorzulegen ist.39 Der Bundesrat hat darüber hinaus alle Landtage unverzüglich zu
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So auch Lienbacher (Fn 9) 441. Diese, im Begutachtungsverfahren zu Recht kritisierte Regelung ist zum einen wegen der knappen Frist höchst problematisch. Bei ausführlicher Benützung in der Praxis entstünde daraus eine enorme Zusatzbelastung für die Ministerien. Zum anderen kommt in der Regelung wohl das Misstrauen des Parlaments gegenüber den eigenen Analysekapazitäten zum Ausdruck. Derartigen Mängel müsste durch eine Verbesserung der personellen Unterstützung im Parlament, aber nicht durch eine Auslagerung dieser genuin parlamentarischen Aufgabe an die Verwaltung begegnet werden, welche die Ausweitung der Rechte der Parlamente durch den Vertrag von Lissabon ad absurdum führt.
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unterrichten und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, wobei er dann in seiner eigenen Stellungnahme jene der Landtage „zu erwägen“ und letzteren darüber zu berichten hat. Nähere Bestimmungen über die Befugnisse von National- und Bundesrat – nicht nur, aber auch über die Subsidiaritätsrüge – sind in den jeweiligen Geschäftsordnungen zu treffen (Art 23k B-VG). Unter anderem für die hier in Rede stehende Rüge kann dabei bezüglich des Nationalrates die prinzipielle Zuständigkeit des Hauptausschusses auf einen ständigen Unterausschuss, bezüglich des Bundesrates die Zuständigkeit des Plenums auf einen Ausschuss übertragen werden. Spezifische Ausführungsbestimmungen in der Geschäftsordnung des Nationalrates im Anschluss an die Lissabon-Begleitnovelle fehlen bislang. Allerdings findet sich – was bis zu einer solchen Neuregelung bedeutsam sein könnte – zum Beispiel in § 31 c GOG-NR die folgende Regelung: Vorhaben der Europäischen Union … sowie alle von Organen der Europäischen Union den nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten der Europäischen Union direkt zugeleiteten Dokumente zu Vorhaben im Rahmen der Europäischen Union sind Gegenstand der Verhandlung des Hauptausschusses. Er kann – jedenfalls soweit es sich um Stellungnahmen an österreichische Regierungsmitglieder geht – die Angelegenheit aber auch an den Ständigen Unterausschuss in Angelegenheiten der Europäischen Union übertragen. Die Regelungen des Gesetzes sind allesamt auf Stellungnahmen zugeschnitten, mit denen das Verhalten österreichischer Regierungsmitglieder im Rat oder im Europäischen Rat gesteuert werden soll. Dennoch kann in Anbetracht der zitierten Bestimmung nicht zweifelhaft sein, dass die Befassung mit der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips ebenfalls Gegenstand der Beratung und Beschlussfassung im Hauptausschuss beziehungsweise in seinem ständigen Unterausschuss sein kann. Meines Erachtens ist es durchaus vertretbar, die Bestimmungen analog anzuwenden und allfällige Subsidiaritätsrügen den Organen auf der europäischen Ebene zu übermitteln. Einen entsprechenden Beschluss könnte der Ausschuss auf § 31 d GOG-NR stützen, der weites Ermessen einräumt, wem solche Beschlüsse zu übermitteln sind. Ähnliches gilt für den Bundes-
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rat nach der kürzlich neugeschaffenen Regelung des § 13c seiner Geschäftsordnung.40 Wer diese Interpretation ablehnt wird bezüglich des Nationalrats wohl zum Ergebnis kommen müssen, dass bis zu einer Neuregelung dessen Plenum mit einer allfälligen Subsidiaritätsrüge zu befassen ist und entsprechende Beschlüsse fassen könnte. Das wäre weniger sachgerecht, aber ebenfalls möglich. VII. Die Subsidiaritätsklage Der Gerichtshof der Europäischen Union ist gemäß Art 8 des Protokolls Nummer 2 für Klagen wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsakts gegen das Subsidiaritätsprinzip zuständig.41 Solche Klagen können nach der Bestimmung dieses Protokolls nicht nur von jedem Mitgliedstaat erhoben werden, sondern auch „entsprechend der jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnung von einem Mitgliedstaat im Namen seines nationalen Parlaments oder einer Kammer dieses Parlaments übermittelt werden“.42 Art 23h B-VG in der Fassung der Lissabon-Begleitnovelle bestimmt dazu, dass Nationalrat und Bundesrat beschließen können, gegen einen Gesetzgebungsakt im Rahmen der Europäischen Union beim Gerichtshof der EU Klage wegen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip zu erheben. Das Bundeskanzleramt hat diese Klage
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41 42
BGBl I 27/2010. Demnach kann eine begründete Stellungnahme durch den EU-Ausschuss beschlossen werden, die vom Präsidenten der Europäischen Kommission zu übermitteln ist. In der zunächst verlautbarten Fassung war vom „Subsidiärprüfungsverfahren“ die Rede, was durch Kundmachung des Bundeskanzlers (BGBl I 41/ 2010) zu „Subsidiaritätsprüfungsverfahren“ korrigiert wurde. Statt vieler auch hiezu Lienbacher (Fn 9) 442 ff. Strittig war und ist, ob das Protokoll Nummer 2 ein derartiges Recht der nationalen Parlamente aus sich heraus verbürgt oder (mindestens) gebietet, es im nationalen Recht zu schaffen, oder es die Kreation einer neuen Anfechtungsbefugnis durch die Mitgliedstaaten bloß ermöglicht. Systematische Gesichtspunkte, nämlich das zweifelsfrei bestehende Recht auf eine Subsidiaritätsrüge, dessen Effizienz die Möglichkeit der Klageerhebung wesentlich erhöht, sprechen im Einklang mit den Interpretationsgrundsätzen des EuGH für ein Recht der nationalen Parlamente, und zwar bei Bestehen von zwei Kammern in Österreich für jede dieser Kammern.
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im Namen der jeweiligen Kammer an den Gerichtshof zu übermitteln. In Art 23k B-VG fehlt das Recht der Klagserhebung bei der Aufzählung jener Angelegenheiten, welche im Nationalrat grundsätzlich dem Hauptausschuss obliegen und einem Unterausschuss übertragen werden können, beziehungsweise im Bundesrat ebenfalls an einen Ausschuss übertragen werden können. Daher müsste eine Klage jeweils vom Plenum beschlossen werden. Die Neuregelung lässt einige Fragen offen, so insbesondere, ob die Vertretung der Klage vor dem EuGH durch Vertreter des Nationalrats oder des Bundesrates erfolgen könnte, oder ob die allgemeine Regelung nach dem Bundesministeriengesetz greift, wonach die Vertretung durch das Bundeskanzleramt zu erfolgen hätte.43 Die Übermittlung der Klage durch das Bundeskanzleramt beantwortet diese Frage nicht, auch wenn im Initiativantrag die Verbindung zwischen diesen beiden Regelungen hergestellt wird.44 Vertretbar erscheint auch die gegenteilige Auffassung, dass es sich hier nämlich nicht um einen Recht der Mitgliedstaaten, sondern um ein „neues“, unmittelbar anwendbares Recht der einzelnen (Kammern der) mitgliedstaatlichen Parlamente handelt. Im Sinne der Satzung des Gerichtshofs45 könnte dann die Vertretung entweder durch einen „speziellen“ Bevollmächtigten – der auch ein Bediensteter des Parlaments sein könnte – oder durch einen Anwalt erfolgen. Eine Meinungsverschiedenheit wurde im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens hingegen entschieden: Hinsichtlich des Bundesrates gab es im erwähnten Initiativantrag die Einschränkung, dass er nur dann Klage erheben darf, wenn durch den europäischen Gesetzgebungsakt die Zuständigkeit der Länder eingeschränkt wäre. Das musste wohl kumulativ gelesen werden, so dass also eine Klage nur zulässig gewesen wäre, wenn das Subsidiaritätsprinzip verletzt und gleichzeitig die Zuständigkeit der Länder beschränkt worden wäre. Das war zwar im Ansatz nicht unplausibel, in der Konsequenz aber durchaus problematisch. Denn wer hätte diese zweite Grenze kontrollieren sollen? Der Bundeskanzler, der die
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Teil 2 Abschnitt A Z 5 Anlage 2 Bundesministeriengesetz 1986 idgF. IA, 978/A 24. GP vom 24. 2. 2010, S 15, damals zu Art 23h des Entwurfs. Siehe Art 19 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, ABl C/2008 115/210.
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Klage unverzüglich an den EuGH übermitteln soll, wäre dafür kaum infrage gekommen und war dafür auch nicht vorgesehen. Der EuGH kann die Grenze nicht kontrollieren. Es hätte sich somit im Ergebnis wohl um eine lex imperfecta gehandelt. In der letztlich Gesetz gewordenen Fassung hat sich hingegen der insofern einfachere „Gegenantrag“ des Bundesrates46 zum Initiativantrag im Nationalrates durchgesetzt, so dass nunmehr die Bedingung der Beschränkung der Länderzuständigkeit fehlt. Somit ist der Bundesrat ohne jede Einschränkung auf allfällige Länderkompetenzen gleich wie der Nationalrat zur Anfechtung befugt. VIII. Schlussbemerkung Die Lissabon-Begleitnovelle ist insbesondere hinsichtlich der nunmehr getroffenen Mitwirkungsrechte des Parlaments bei der Inanspruchnahme der Brückenklauseln systemwidrig und unzweckmäßig. Sie sollte überprüft und verändert werden. Insgesamt gilt: der Vertrag von Lissabon bleibt auch nach seinem Inkrafttreten und Implementierung eine verfassungsrechtliche, aber auch eine verfassungspolitische Herausforderung, auch hinsichtlich der Mitwirkung des Parlaments.
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691 BlgNR, 24. GP.
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Die gesetzgebenden Organe der Bundesrepublik Deutschland im Integrationsprozess I. Die Rolle der Mitgliedstaaten in der Europäischen Föderation A. Legitimationsstiftung in der EU als System kommunizierender Röhren? B. Die Gegenposition des BVerfG in der LissabonEntscheidung 1. Die Idee einer Integrationsverantwortung der Mitgliedstaaten 2. Die Unterbelichtung der föderalen Dimension II. Die gesetzliche Ausgestaltung parlamentarischer Mitwirkung A. Mitwirkungsrechte bei der Vertragsänderung 1. Vorgaben des BVerfG 2. Umsetzung im IntVG a. Vertragsgsänderungsverfahren b. Brückenklauseln c. Besondere Ablehnungsrechte bei Brückenklauseln d. Kompetenzerweiterung 3. Bewertung B. Integrationsverantwortung und Kompetenzwahrnehmung 1. Vorgaben des BVerfG 2. Umsetzung im IntVG a. Notbremsemechanismus b. Flexibilitätsklausel c. Subsidiaritätsrüge 3. Regelungen im EUZBBG und im EUZBLG 4. Bewertung C. Informations- und Unterrichtungspflichten III. Ausblick
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T. Eilmansberger et al. (eds.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon © Springer-Verlag Wien 2011
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Die Diskussion, die in der Bundesrepublik Deutschland über die Mitwirkung der gesetzgebenden Organe im Prozess der europäischen Einigung geführt wird, reicht in die achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts zurück. Sie setzte in dem Moment ein, in dem deutlich wurde, dass sich die Europäische Integration aufgrund der Tiefe, Dichte und Qualität supranationaler Steuerung nicht mehr in der überkommenen Formensprache parlamentarischer Begleitung auswärtiger Politik legitimieren ließ.1 Die Lissabon-Entscheidung des BVerfG vom 30. Juni 2009 hat dieser Diskussion nicht nur neuen Anstoß verliehen, sondern ihr auch eine neue Richtung gegeben. I. Die Rolle der Mitgliedstaaten in der europäischen Föderation Den Hintergrund dieser Diskussion bildet das Bemühen um hinreichende demokratische Absicherung und Rückbindung europäischer Hoheitsgewalt. Bis heute hat man sich allerdings nicht auf ein hinreichend konkretes Modell demokratischer Legitimität einigen können, das in einverständlicher Weise als Maßstab dienen könnte.2 Dies hat zur Folge, dass die normativen Erwartungen über den Platz eines nationalen Parlaments im Integrationsprozess erheblich auseinanderfallen. Insbesondere in der Frage, in welchem Umfang bürgerschaftlicher Input, Verfahrensbeteiligung und Kontrolle erforderlich sind, gehen die Auffassungen weit auseinander. Wer den Wert repräsentativen Regierens betont, wird hier die Anforderungen eher niedrig halten. A. Legitimationsstiftung in der EU als System kommunizierender Röhren? Selbst mit Blick auf Input, Verfahrensbeteiligung und Kontrolle sind erhebliche Auffassungsunterschiede nachweisbar. Bekanntlich wird die Diskussion vor allem von zwei Positionen geprägt: Überwiegend geht man davon aus, dass die demokratische Rückbindung der EU-Hoheitsgewalt nur dann gelingen kann, wenn eine hinreichend effektive begleitende parlamentarische Kontrolle der Entscheidungen, die die nationalen Gubernativorgane auf europäischer
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Siehe im Einzelnen Thomas Oppermann / Claus Dieter Classen / Martin Nettesheim, Europarecht4 (2009) § 16. Hierzu etwa Martin Nettesheim, Developing a Theory of Democracy for the European Union, Berkeley Journal of International Law 23, 2005, 358.
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Ebene treffen, vorliegt. Der Zustimmungsakt des Gesetzgebers zum Primärrecht allein reicht danach nicht aus, um hinreichende demokratische Legitimität zu stiften, ebenso wenig wie die Möglichkeit, eine Regierung im Falle politischen Vertrauensentzugs abzuberufen. In dem Umfang, in dem sich auf EU-Ebene Mechanismen unmittelbarer demokratischer Rückbindung entwickeln, kann danach allerdings die vermittelte Legitimationsstiftung über die nationalen Institutionen zurücktreten. Beide Legitimationsstränge werden insofern als „kommunizierende Röhren“ angesehen, die in Abhängigkeit voneinander stehen. Diese Position hat ihre bekannteste Formulierung in der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts3 gefunden. B. Die Gegenposition des BVerfG in der Lissabon-Entscheidung Eine andere Position ist jüngst vom Bundesverfassungsgericht in der Lissabon-Entscheidung4 formuliert worden. Die demokratietheoretischen Überlegungen werden dort in einen etatistisch-strukturorientierten Gedankengang eingebettet. Das BVerfG erblickt im Verbund von EU und Mitgliedstaaten eine Form der Kooperation souveräner Nationalstaaten. Es formuliert diesen Gedanken nicht lediglich als Beschreibung des gegenwärtigen Integrationsstands, sondern auch als normatives Postulat. Bekanntlich ist über die Frage, ob sich dieses Postulat aus dem Grundgesetz „ableiten“ lässt, ein heftiger Streit entbrannt. Jedenfalls liegt es in der Konsequenz der Sichtweise des BVerfG, dass die Last der Legitimation europäischer Hoheitsgewalt ausschließlich (oder doch jedenfalls beinahe ausschließlich) den mitgliedstaatlichen Stellen überantwortet ist. Dem Europäischen Parlament kommt kein eigenständiger Legitimationswert zu; dies darf schon deshalb nicht sein, weil eine Politisierung des Entscheidungsprozesses auf EU-Ebene eine Schwächung des mitgliedstaatlichen politischen Raums bedeuten würde. Aus dieser Perspektive führt das BVerfG einerseits einen Angriff auf das Europäische Parlament; andererseits ruft es die „Integrationsverantwortung“ der nationalen Stellen – und dort vor allem des Gesetzgebers und des Parlaments – in Erinnerung. Die Konsequenzen dieser Sichtweise werden dann im Urteil ausbuchstabiert. Die Sichtweise des BVerfG ist statisch; sie lässt eine schrittweise Entlassung der nationalen Stellen aus ihrer Verantwortung – 3 4
BVerfGE 89, 155. BVerfGE 123, 267.
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diesseits einer europäischen Staatswerdung – nicht zu. Die Idee der Staatlichkeit bildet im Denken des BVerfG den entscheidenden Angelpunkt: Solange die Bundesrepublik Staat bleibt, muss die Legitimationsschöpfung auch in der EU wesentlich über sie laufen; mit einer Europäischen Staatswerdung ist dann ein Modell unmittelbarer Legitimation der EU zu verwirklichen. 1. D i e I d e e e i n e r I n t e g r a t i o n s v e r a n t w o r t u n g der Mitgliedstaaten Das BVerfG charakterisiert die Europäische Union in seiner Lissabon-Entscheidung als „Vertragsunion souveräner Staaten“.5 In den Institutionen der Union kooperieren souveräne Staaten, ohne dabei ihre Identität in Frage zu stellen. Der „befriedete Raum und die darin gewährleistete Ordnung“,6 der das Wesensmerkmal souveräner Staatlichkeit ausmache, dürfe im Prozess der europäischen Integration nicht angegriffen werden. Mehr als einen „politischen Sekundärraum“7 kann der politische Prozess der EU danach nicht bilden.8 Das BVerfG begreift seine Konzeption des Verhältnisses von Staat und EU als verfassungsrechtlich ausschließlich und zwingend. Über diesen Anspruch, der im Text des Grundgesetzes nicht belegt wird, wird bekanntlich gestritten.9 Es ist jedenfalls konsequent, 5
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BVerfGE NJW 2009, 2267 Rn 249. Besprechung etwa von Claus Dieter Classen, Legitime Stärkung des Bundestages oder verfassungsrechtliches Prokrustesbett?, JZ 2009, 881; Christian Hillgruber / Klaus Ferdinand Gärditz, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen – zum Lissabon-Urteil des BVerfG, JZ 2009, 872; Eckhard Pache, Das Ende der europäischen Integration? Das Urteil des BVerfG zum Vertrag von Lissabon, zur Zukunft Europas und der Demokratie, EuGRZ 2009, 285; Frank Schorkopf, Die Europäische Union im Lot – Karlsruhes Rechtsspruch zum Vertrag von Lissabon, EuZW 2009, 718; Jörg Philipp Terhechte, Dynamik, Souveränität und Integration – playing up the rules as we go along? Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des BVerfG, EuZW 2009, 724. BVerfG (Fn 4) Rn 224. Schorkopf, Die Europäische Union im Lot (Fn 5) 718 („Die EU ist … als solcher nur ein politischer Sekundärraum“). Es ist nicht unzweifelhaft, ob das Integrationsmodell des BVerfG die Rede vom „föderalen Verbund“ (Rn 368) überhaupt noch zulässt. Kritisch etwa Christian Tomuschat, The Ruling of the German Constitutional Court on the Treaty of Lisbon, GermanLJ 2009, 1259;
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wenn das BVerfG die beiden Implikationen seiner Konzeption in der Folge ausbuchstabiert. Einerseits ergibt sich die Notwendigkeit, den „befriedeten Raum“ vor unstatthaften unionalen Eingriffen zu schützen (Ultra vires-Kontrolle, Identitätskontrolle10). Auf der anderen Seite muss es darum gehen, die Idee demokratischer Selbstregierung auch im europäischen Außenverfassungsrecht zur Geltung zu bringen. Das Modell des BVerfG verlangt allerdings nicht, sicherzustellen, dass die europäische Hoheitsgewalt über demokratische Mechanismen auf die europäischen Bürger rückgebunden wird.11 Eine derartige Fragestellung wäre danach schon im Ansatz fehlgeleitet. Es geht vielmehr darum, die verfassungsstaatlichen Mechanismen demokratischer Selbstregierung, wie sie mit Blick auf die Entscheidungsfindung im souveränen Staat bestehen, nunmehr auch im europäischen Sekundärraum zu emulieren.12 Die Öffnung souveräner Staatlichkeit für die Akte einer überstaatlichen Gewalt erscheint nur dann erträglich, wenn es sich dabei nicht ledi-
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Daniel Halberstam / Christoph Möllers, The German Constitutional Court Says ‚Ja Zu Deutschland!’, GermanLJ 2009, 1241; Editorial, Karlsruhe has spoken: „Yes“ to the Lisbon Treaty, but …, CMLR 46, 2009, 1023; Ernst-Wolfgang Böckenförde, SZ vom 7.7.2009, 1; Norbert Röttgen, FAZ vom 10.8.2009, 4; Joschka Fischer, Die Zeit vom 9.7.2009 Nr 29; Martin Nettesheim, FAZ vom 27.8.2009, 8; ders, Ein Individualrecht auf Staatlichkeit? Die Lissabon-Entscheidung des BVerfG, NJW 2009, 2867; Andreas Fischer-Lescano, Bundesverfassungsgericht: Zurück zum Nationalstaat, Blatt für deutsche und internationale Politik 2009, 15. Zustimmend etwa Schorkopf, Die Europäische Union im Lot (Fn 5) 718; Christian Hillgruber, FAZ vom 27.8.2009, 8; tendenziell auch Paul Kirchhof, FAZ vom 19.9. 2009, 8. Hierzu BVerfG (Fn 4) Rn 241; Heiko Sauer, Kompetenz- und Identitätskontrolle von Europarecht nach dem Lissabon-Urteil – ein neues Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht?, ZRP 2009, 195. Hierzu Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (Fn 1) § 16 mwN; Anne Peters, European Democracy after the 2003 Convention, CMLR 41, 2004, 37; Arthur Benz, Politikwissenschaftliche Diskurse über demokratisches Regieren im europäischen Mehrebenensystem, in Bauer / Huber / Sommermann (Hg), Demokratie in Europa (2005) 253. Zu Recht obliegt diese Verantwortung der Bundesrepublik als ganzes (BVerfG (Fn 1) Rn 265).
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glich um eine Aussetzung und Unterwerfung handelt, sondern wenn sich auch diese Akte als Realisation der Idee der demokratischen Selbstbestimmung des deutschen Volkes begreifen lassen.13 Das Konzept der Integrationsverantwortung14 zielt darauf ab, die Spannungslage aufzulösen, die zwischen dem verfassungsrechtlichen15 Anliegen einer Teilnahme an überstaatlichen Integrationsprozessen (und der damit einhergehenden Unterwerfung unter die Entscheidungen verbandsfremder Organe) und dem Anliegen der Sicherung einer freien Selbstbestimmung der Mitglieder des jeweiligen Verbands besteht. Die Integrationsverantwortung steht der Übertragung von Hoheitsrechten nicht entgegen. Sie impliziert aber, dass die Organe jenes Verbands, dessen Gestaltungsfreiheit von der überstaatlichen Entscheidungstätigkeit eingeschränkt wird, sich in einer demokratischen Grundsätzen genügenden Weise an der Wahrnehmung der überstaatlichen Gewalt beteiligen müssen (Kompensationsgedanke).16 Eine hinreichende demokratische Rückbindung der europäischen Hoheitsgewalt verlangt danach, dass die demokratisch verantwortlichen Staatsorgane die Entscheidungstätigkeit europäischer Organe kontinuierlich so begleiten, dass sie sich nicht als Fremdgesetzgebung darstellt. Der Tendenz zur Entparlamentarisierung von Entscheidungsprozessen, die sich gegenwärtig in so vielen Bereichen staatlicher und überstaatlicher Tätigkeit bemerkbar macht, wird jedenfalls für den Bereich der europäischen Integration entgegengewirkt. Im Maastricht-Urteil17 ging das BVerfG noch davon aus, dass den Anforderungen des Grundgesetzes schon dadurch genüge getan werden kann, dass das „Integrationsprogramm“ im Primärrecht mit hinreichender Bestimmtheit festgelegt wird. In der Lissabon-Entscheidung taucht die Vorstellung, dass sich der Integrationsprozess dadurch hinreichend steuern und demokratisch verantworten lasse, indem in den Vertragsbestimmungen ein „Integrationsprogramm“
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BVerfG (Fn 4) Rn 229. BVerfG (Fn 4) Rn 236 ff, 245. Vgl schon BVerfGE 118, 244 (258): „dauerhafte Verantwortung“. BVerfG (Fn 4) Rn 225. Im Zentrum steht dabei nach der Konzeption des GG der Bundestag; BVerfG (Fn 4) Rn 415 („allgemeine Integrationsverantwortung des Deutschen Bundestages“). BVerfGE 89, 155.
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festgelegt werde, nur noch am Rande auf. Die notwendige Unbestimmtheit von Kompetenzgrundlagen, verbunden mit der im Integrationsprozess zu beobachtenden Dynamik politischer Entscheidungsfindung, lässt die Annahme wenig plausibel erscheinen, dem Ziel hinreichender demokratischer Kontrolle könne durch antizipierende Zustimmung entsprochen werden. Dem BVerfG zufolge verlangt das Gebot der kontinuierlichen Begleitung der Entscheidungstätigkeit europäischer Organe mehr, als dass europäische Kompetenzen durch Vertragsgesetz begründet werden. Ebenso wenig ist es generell ausreichend, dass durch die EU-rechtlich gewährte Mitwirkung deutscher Vertreter im Europäischen Rat und im Rat eine Einwirkungsmöglichkeit gegeben ist. Diese Form demokratischer Kontrolle gewährleistet ein hinreichendes Legitimationsniveau nur im Normalfall europäischer Entscheidungsfindung. In Fällen, die jenseits dieser Normalität liegen, bedarf es einer begleitenden Zustimmung, Überwachung und Kontrolle durch die vom BVerfG insoweit mit einer besonderen demokratischen Dignität ausgestatteten gesetzgebenden Organe. 2. Die Unterbelichtung der föderalen Dimension Dem Integrationsmodell des BVerfG zufolge liegt der politische Primärraum, in dem sich die demokratische Gestaltung vollzieht, im Staat. Die Überantwortung politischer Entscheidungen auf Außenstehende ist zulässig, wenn die Integrität dieses Raums gewahrt bleibt – jedenfalls dadurch, dass die Kompetenz-Kompetenz nicht berührt wird, nur hinreichend bestimmte Kompetenzen begründet und deren Wahrnehmung in hinreichender effektiver Weise begleitet wird. Wenn die Wurzel des Konzepts der Integrationsverantwortung in der Idee der Sicherung demokratischer Selbstregierung liegt, dann hat es auch eine föderale Dimension. Integrationsverantwortung ist dann als Konzept zu begreifen, das den Organen von Bund und Ländern Verantwortlichkeiten zuweist. Die Emulation der Idee der Selbstregierung in das europäische Außenverfassungsrecht muss an den jeweiligen Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern anknüpfen. Während die Verantwortung für die Fortschreibung des Primärrechts beim Bund angesiedelt werden kann, sind danach Bund und Länder für die Begleitung des politischen Prozesses auf EU-Ebene im Rahmen ihrer jeweiligen Gesetzgebungskompetenzen verantwortlich. Die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung im jeweiligen Verband obliegt dort, wo es um den Schutz von Gesetzgebungszu-
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ständigkeiten geht, den Parlamenten. In Fällen, in denen es zu einer Berührung von Landesgesetzgebungszuständigkeiten kommt, nimmt die Idee der Integrationsverantwortung auch die Landesparlamente in die Verantwortung.18 Sachbereiche europäischer Rechtssetzung, die die Regelungsfreiheit der Länder besonders berühren, wie etwa die Einwirkungen bestimmter EU-Politiken auf die Daseinsvorsorge durch Land und Kommunen, müssen danach von Seiten der Landtage politisch begleitet werden. Auch diese föderale Dimension der Idee der Integrationsverantwortung buchstabiert das BVerfG aber nicht aus.19 Vielmehr bewegt es sich im Paradigma von Art 23 GG, der die Zuständigkeit auch im Europaaußenverfassungsrecht beim Bund konzentriert.20 Auch die neue Begleitgesetzgebung verortet die Mitwirkungsbefugnis im europäischen Außenverfassungsrecht ausschließlich auf der Ebene des Bundes. Verfassungspositivistisch ist dieses Vorgehen konsequent. Verfassungstheoretisch lässt sich das Anliegen, demokratische Selbstregierung auch im Integrationsprozess zur Geltung zu bringen, so aber nur unvollkommen realisieren. Denn die Befugnisse, die Art 23 GG und die Begleitgesetzgebung dem Bundesrat einräumen, kompensieren den Verlust an demokratischer Selbstbestimmtheit bekanntlich nicht. Nicht nur ist der Bundesrat ein Organ des Bundes: Die Länder werden in diesem institutionellen Zusammenhang selbst dort, wo der Bundesrat Mitspracherechte hat, mediatisiert und majorisiert. Die Möglichkeit, im Rahmen eines Bundesorgans mitzuwirken, kompensiert den Verlust demokratisch verantworteter eigenständiger Entscheidungsgewalt nur unzureichend.21 Zudem trifft der Bundesrat seine Entscheidungen in einem institutionellen Zusammenhang, der ihn in Konkurrenz zum Bundestag stellt (vgl Art 23 Abs 2 Satz 1 GG). Diese Konkurrenz besteht auch in Bereichen, in denen es um Angelegenheiten der Länder geht (Art 23 Abs 3 GG und Art 23 Abs 4, 5 GG). Zweifel an 18 19
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Dies wird etwa auch von der Konferenz der Präsidenten der Landtage gefordert. Vgl zur Rolle der Länder auch Oliver Sauer, Können die Länder aus Art. 23 II, IV ff. GG eigene Beteiligungsrechte ableiten?, NVwZ 2008, 52. Dies gilt ungeachtet der Regel des Art 23 Abs 6 GG. Die „Bündelung“ der Stimmen der Länder in einem Organ des Bundes ist, wie immer wieder festgestellt worden ist, kein Ersatz für eigene Entscheidungskompetenzen.
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der Strukturadäquanz einer über den Bundesrat vermittelten Wahrnehmung der Integrationsverantwortung bestehen auch deshalb, weil das Grundgesetz den Bundesrat nicht als „Vertretung“ des Landes auf Bundesebene konzipiert, sondern als Gremium, in dem Mitglieder der Regierungen der Länder zusammenwirken. Die parlamentarische Dimension der Integrationsverantwortung, die dem Bundesverfassungsgericht in der Lissabon-Entscheidung so wichtig war, kommt hier nur unzureichend zum Tragen. Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass sich eine Entparlamentarisierung dadurch einstellt, dass der Landesgesetzgeber im Prozess der europäischen Integration Einbußen seiner Handlungsfreiheit erleidet und diese durch Mitwirkungsrechte der Regierung im Bundesrat kompensiert werden sollen. Ein Verband, der im Zuge der europäischen Einigung Einbußen demokratisch verantworteter Selbstbestimmung erleidet, löst die sich in dieser Situation ergebene Integrationsverantwortung dadurch ein, dass er durch Mitwirkung am europäischen Entscheidungsprozess eine Kompensation sucht. Den Ländern ermöglicht es die Mitwirkung, die ihnen Art 50 GG gewährt, nur unvollkommen, diesem verfassungsnormativem Gebot nachzukommen. In den Regelungen des Grundgesetzes über die Mitwirkung der Länder in EU-Angelegenheiten spiegeln sich die normativen Erwartungen, die im demokratietheoretischen Konzept der Integrationsverantwortung angelegt sind, bislang nicht hinreichend wieder. Die Bestimmungen sind zu Zeiten und unter Umständen entworfen worden, in denen die – nunmehr vom Bundesverfassungsgericht in der LissabonEntscheidung formulierten – Anforderungen an die Integrationsverantwortung von Bund und Ländern noch nicht präsent waren. Die normativen Vorgaben, die das BVerfG in dieser Entscheidung mit dem Begriff der Integrationsverantwortung zusammenfasst, sind zwar nicht so stark, dass sie zu einer Überwindung des in Art 23 GG angelegten Modells der alleinigen Außenzuständigkeit des Bundes führen könnten, sie zwingen aber zu einem Nachdenken darüber, ob nicht auch in der grundlegenden Zuordnung von Zuständigkeiten in Angelegenheiten der europäischen Integration Änderungsbedarf besteht. Es würde das demokratietheoretische Grundanliegen des Konzepts der Integrationsverantwortung fördern, wenn die Außenzuständigkeit in Angelegenheiten der Europäischen Union („Integrationsgewalt“) als kondominiale Gewalt von Bund und Ländern begriffen würde. Europapolitik muss heute
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als verlängerte Innenpolitik begriffen werden; sie wirkt sich in ähnlicher Weise auf Zuständigkeiten des Bunds und der Länder aus. II. Die gesetzliche Ausgestaltung parlamentarischer Mitwirkung Die Bedeutung der Lissabon-Entscheidung des BVerfG beschränkt sich nicht auf die Theorieebene. Sie hatte unmittelbare rechtspraktische Folgen. Zwischen dem vom BVerfG entwickelten normativen Konzept und einer politischen Praxis, die auf das im MaastrichtVertrag entwickelte Konzept einer zweispurigen Legitimation der EU über staatliche Organe und das europäische Parlament setzte, musste es zu Spannungen kommen. Das BVerfG erklärte denn auch das Begleitgesetz zum Lissabon-Vertrag22 – anders als das Zustimmungsgesetz23 – für verfassungswidrig. Dem Bundesgesetzgeber gelang es in einem Kraftakt, über die Sommerpause Gesetze zu erlassen, in dem die Forderungen des BVerfG aufgegriffen und umgesetzt werden.24 Die Gesetze lassen den Zeitdruck, der im Gesetzgebungsverfahren herrschte, teilweise erahnen. Eine weitergehende, über die konkreten Forderungen des BVerfG hinausgehende Neuordnung des europäischen Außenverfassungsrechts versuchte man gar nicht erst. Die verfassungsrechtliche Tragweite, die dem Konzept der Integrationsverantwortung zukommt, hat bislang ihre volle Entfaltung auf gesetzlicher Ebene noch nicht gefunden. Der Rechtsrahmen, in dem sich die innerstaatliche Begleitung des Integrationsprozesses abspielt, setzt sich aus drei Teilelementen zusammen. Sie gestalten die Vorgaben des seinerseits modifizierten Art 23 GG aus. Im Zentrum der Regelungen steht nunmehr das sog „Integrationsverantwortungsgesetz“ (IntVG).25 Den deutschen Verfassungsorganen obliegt danach eine dauerhafte Integrationsverant22
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Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestags und des Bundesrats in Angelegenheiten der EU (AusweitG), BT-Dr 16/8489. Gesetz vom 8.10.2008 zum Vertrag von Lissabon vom 13.12.2007, BGBl II 2008, 1038. Siehe Jörg-Uwe Hahn, Die Mitwirkungsrechte von Bundestag und Bundesrat in EU-Angelegenheiten nach dem neuen Integrationsverantwortungsgesetz, EuZW 2009, 758. Gesetz vom 22.9.2009 BGBl I S 3022.
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wortung, die darauf gerichtet ist, bei der Übertragung von Hoheitsrechten und bei der Ausgestaltung der europäischen Entscheidungsverfahren dafür Sorge zu tragen, dass in einer Gesamtbetrachtung sowohl das politische System der Bundesrepublik Deutschland als auch das der Europäischen Union demokratischen Grundsätzen im Sinne des Art 20 Abs 1 und 2 in Verbindung mit Art 79 Abs 3 GG entspricht. Im „Lissabon-Umsetzungsgesetz“26 ist es zu einer ersten Änderung des IntVG gekommen, in deren Rahmen die Subsidiaritätsklage für den Bundestag eingeführt und dem Bundesrat ein gleiches Recht eingeräumt worden ist.27 Im Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBBG) werden die Einzelheiten der Mitwirkung des Bundestages ausformuliert.28 Die Bundesregierung hat den Bundestag danach frühzeitig, fortlaufend und in der Regel schriftlich über alle Vorhaben im Rahmen der Europäischen Union zu unterrichten. In einem dritten Gesetz wird die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBLG) geregelt.29 Hier findet sich in der Anlage die Bund-Länder-Vereinbarung (BLV30), die die Einzelheiten der Zusammenarbeit ausformt. Zu Recht sind weitergehende Forderungen, etwa nach Einführung von Volksentscheiden, der Einführung neuer Verfahrensarten vor dem BVerfG zur Durchsetzung der „Verfassungsidentität“ oder zur völkerrechtlichen Absicherung der verfassungsgerichtlichen
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Gesetz vom 1.9.2009, BGBl I S 3822. Dieses Gesetz konnte erst in Kraft treten, nachdem der Vertrag von Lissabon und das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art 23, 45 und 93) vom 8.10.2009, BGBl I S 1926, in Kraft getreten sind. Gesetz vom 12.3.1993, BGBl I S 311, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.9.2009, BGBl I S 3026. Gesetz vom 12.3.1993, BGBl I S 313, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.9.2009, BGBl I S 3031. Vereinbarung vom 12.6.2008 (BAnz Nr 111 vom 25.7.2008, S 2717). Sie sollte an die Stelle der Vereinbarung vom 29.10.1993 (BAnz Nr 226 vom 2.12.1993, S 10425) idF der Vereinbarung vom 8.6.1998 (BAnz Nr 123 vom 8.7.1998, S 9433) treten (hierzu Michael Borchmann, Neue Bund-Länder-Vereinbarung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union, EuZW 1994, 172).
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Rechtsprechung in einem Vorbehalt, im politischen Prozess nicht aufgenommen worden. A. Mitwirkungsrechte bei der Vertragsänderung 1. V o r g a b e n d e s B V e r f G Mit dem Legitimationsmodell, auf dem die Lissabon-Entscheidung beruht, wäre eine (schleichende) Abwanderung der „KompetenzKompetenz“ auf europäische Ebene unvereinbar. Das Gericht betont, dass die Verfügungsgewalt über die konstitutionellen Grundlagen der EU in den Händen der Mitgliedstaaten bleiben müsse. Dies entspricht Art 23 Abs 1 GG. Das BVerfG hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass die Integrationsverantwortung für die primärrechtlichen Grundlagen nicht nur dann greife, wenn es zu einer förmlichen Änderung des Textes der Verträge kommt. Die Integrationsverantwortung greife immer dann, wenn „unter grundsätzlicher Fortgeltung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung eine Veränderung des Vertragsrechts ohne Ratifikationsverfahren herbeigeführt werden kann“ (Leitsatz).31 2. U m s e t z u n g i m I n t V G § 1 Abs 1 IntVG statuiert die Verantwortung der Verfassungsorgane in grundsätzlicher Weise. Das neue Gesetz bemüht sich weitgehend um die Nachzeichnung der verfassungsgerichtlichen bezeichneten Vorgaben, geht aber in Einzelfällen – insbesondere mit Blick auf die Befugnisse des Bundesrates – darüber auch hinaus. a. Vertragsänderungsverfahren Die § 2 und 3 IntVG befassen sich mit Fällen der semi-autonomen Vertragsänderung. Das IntVG differenziert hierbei zwischen dem sog vereinfachten und den besonderen Vertragsänderungsverfahren. Im vereinfachten Vertragsänderungsverfahrens nach Art 48 Abs 6 EUV (nF) kann der Europäische Rat durch Beschluss Bestimmungen des Dritten Teils des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (Art 26-197 AEUV) ändern. Ein solcher Beschluss bedarf der Einstimmigkeit im Europäischen Rat sowie der
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Dementsprechend nimmt das Gericht keine Pflicht zur gesetzgeberischen Begleitung von Vertragsänderungen an, wenn und soweit „spezielle Brückenklauseln sich auf Sachbereiche beschränken, die durch den Vertrag von Lissabon bereits hinreichend bestimmt sind.“ (BVerfG (Fn 4) Leitsatz 2b); vgl auch Rn 320).
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Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften. § 2 IntVG verlangt hier ein Gesetz nach Art 23 Abs 1 GG. Die Frage, ob es einer qualifizierten Mehrheit nach Art 23 Abs 1 Satz 3 iVm Art 79 Abs 2 GG bedarf, wird dabei offen gelassen.32 Angesichts der materiellen Bedeutung, die die semi-autonome Vertragsänderung für den Integrationsverbund hat, ist diese Frage grundsätzlich zu bejahen. Einer gesetzlichen Mitwirkung bedarf es auch in Fällen, in denen der Vertrag von Lissabon33 für spezifische Bereiche eine vereinfachte Vertragsänderung vorsieht. Das IntVG spricht von sog besonderen Vertragsänderungsverfahren.34 § 3 IntVG verlangt auch hier ein Gesetz nach Art 23 Abs 1 GG. Für den Fall des Art 42 Abs 2 UAbs 1 EUV (Beschluss des Rates zur Einführung einer gemeinsamen Verteidigung) schreibt § 3 Abs 3 IntVG ein über die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts hinausgehendes und komplexes35 zweistufiges innerstaatliches Verfahren vor. Zunächst bedarf der europäische Beschlussvorschlag auf deutscher Ebene eines positiven Beschlusses des Bundestages. Nach anschließendem erfolgreichem Beschluss auf europäischer Ebene erfolgt sodann die Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland durch ein Gesetz nach Art 23 Abs 1 GG. b. Brückenklauseln Eine autonome Vertragsänderung lassen sog Brückenklauseln zu. Art 48 Abs 7 EUV enthält die sog allgemeine Brückenklausel, im Rahmen deren der Europäische Rat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments bei Beschlüssen von der Voraussetzung der Einstimmigkeit zum Mehrheitsprinzip übergehen (UAbs 1) oder vom besonderen zum allgemeinen Gesetzgebungsverfahren wech-
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Hierzu BVerfG (Fn 4) Rn 312 aE, 412. Allg etwa Rudolf Streinz, Art. 23-Art. 25, in Sachs (Hg), Grundgesetz5 (2009) Rn 64 ff. Überblick bei Rudolf Streinz / Christoph Ohler / Christoph Herrmann, Der Vertrag von Lissabon3 (2010). Art 42 Abs 2 UAbs 1 EUV, Art 25 Abs 2 AEUV, Art 218 Abs 8 UAbs 2 Satz 2 AEUV, Art 223 Abs 1 UAbs 2 AEUV, Art 262 AEUV, Art 311 Abs 3 AEUV. Vgl Armin von Bogdandy, Stellungnahme zur gemeinsamen öffentlichen Anhörung der EU-Ausschüsse von Bundestag und Bundesrat, 26./27.8.2009, Ausschuss für die Angelegenheiten des Europäischen Union, A-Drs Nr 16(21)914, 9
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seln (UAbs 2) kann. Nach Ansicht des BVerfG darf der deutsche Vertreter im Europäischen Rat hier nur zustimmen oder sich enthalten,36 nachdem Bundestag und Bundesrat ein Gesetz gem Art 23 Abs 1 GG erlassen haben (Ermächtigungsvorbehalt).37 Diese Vorgaben werden in § 4 Abs 1 IntVG umgesetzt. Auch hier kommt Art 23 Abs 1 Satz 3 GG zur Anwendung.38 Die Mitwirkung der Verfassungsorgane im Falle sog Besonderer Brückenklauseln, also solcher Brückenklauseln, die sich nur auf einen bestimmten Sachbereich beziehen, sind in § 4 Abs 2 sowie in den §§ 5 und 6 IntVG geregelt. Im Falle der besonderen Brückenklausel in Art 81 Abs 3 Unterabs 2 AEUV (Maßnahmen im Familienrecht mit grenzüberschreitendem Bezug) verlangt § 4 Abs 2 IntVG – dem Bundesverfassungsgericht folgend39 – ein Gesetz gem Art 23 Abs 1 GG. Im Falle anderer Brückenklauseln40 genügt nach den §§ 5 und 6 IntVG bereits ein positiver Beschluss des Bundestages.41 Gegebenfalls ist nach den § 5 Abs 242 und 6 Abs 2 iVm Art 5 Abs 2 IntVG zusätzlich noch ein Beschluss des Bundesrates notwendig, wenn sich der Brücken-Beschlussvorschlag in einem Sachgebiet bewegt, in dem den Ländern eine Gesetzgebungszuständigkeit zusteht (§ 5 Abs Nr 1-3 IntVG), oder ein entsprechendes Bundesgesetz der Zustimmung des Bundesrats bedürfte (§ 5 Abs Nr 4 IntVG). Eine Mitwirkung ist damit nicht nur im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeit der Länder gefordert, sondern auch in Bereichen, in denen die Länder nach Art 72 Abs 2 GG zuständig wären, und im Bereich der Gesetzgebung nach Art 72 III, 84 I GG. Die Mitwirkungsbefugnis kommt schon dann zum Tragen, wenn eine Zuständigkeit der Länder am Rand berührt ist. Die 36
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Stimmenthaltung steht gem Art 235 Abs 1 UAbs 3 AEUV dem Zustandekommen von Beschlüssen im Europäischen Rat, zu denen Einstimmigkeit erforderlich ist, nicht entgegen. BVerfG (Fn 4) Rn 319, 414, 419. Vgl aber BVerfG (Fn 4) Rn 319, 414 (Bezugnahme auf Art 23 Abs 1 Satz 2 GG). BVerfG (Fn 4) Rn 319, 414. Art 31 Abs 3 EGV, Art 312 Abs 2 UAbs 2 AEUV, Art 153 Abs 2 UAbs 4 AEUV, Art 192 Abs 2 UAbs 2 AEUV, Art 333 Abs 1 und 2 AEUV. Vgl auch BVerfG (Fn 4) Rn 320, 416. Anwendungsfälle des § 5 Abs 1 iVm 2 IntVG sind nicht ersichtlich.
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Reichweite dieser Mitwirkungsbefugnisse ist scharf kritisiert worden.43 Im Hinblick auf Art 23 Abs 4 GG besteht allerdings Anlass zu Zweifeln, ob nicht sogar eine umfangreichere Beteiligung erforderlich wäre. Immerhin erstreckt sich das Mitwirkungsrecht des Bundesrats (Art 50 GG) nicht nur auf zustimmungspflichtige Gesetze, sondern kommt in jedem Fall der Bundesgesetzgebung zum Tragen.44 Bundestag und gegebenenfalls auch Bundesrat entscheiden auch im Falle von Brückenklauseln innerhalb der Frist nach § 1 Abs 2 IntVG. Sanktioniert ist diese Frist allerdings nicht; Untätigkeit kann nicht als Zustimmung gedeutet werden. c. Besondere Ablehnungsrechte bei Brückenklauseln Im Hinblick auf Art 48 Abs 7 EUV und Art 81 Abs 3 UAbs 2 AEUV räumt das EU-Recht den nationalen Parlamenten die Befugnis ein, eine gesetzgeberische Initiative auf europäischer Ebene durch Beschluss zu stoppen. Unionsrechtskonform versteht das IntVG den Begriff „nationale Parlamente“ im verfassungsrechtlichen Sinn.45 Für europäische gesetzgeberische Initiativen, die schwerpunktmäßig der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes unterfallen würden, liegt die Befugnis für die Ausübung des Vetorechts beim Bundestag (§ 10 Abs 1 Nr 1 IntVG). Für die anderen Zuständigkeiten sind Bundestag und Bundesrat mit jeweils einem eigenständigen Vetorecht nach § 10 Abs 1 Nr 2 IntVG ausgestattet worden. Hier wird der föderale Gedanke in besonderer Weise betont; die Regelung geht über § 5 Abs 2, 9 Abs 2 IntVG hinaus.46 Eine Abhängigkeit des Votums des Bundesrates von jenem des Bundestages besteht nunmehr nicht mehr.47 Man wird davon ausgehen müssen, dass in einem Fall, in dem eine Billigung nach § 4 IntVG erfolgt ist, eine nachfolgende Ablehnung nach § 10 IntVG
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Kritisch von Bogdandy, Stellungnahme (Fn 35) 12-14. So auch Hahn, Die Mitwirkungsrechte (Fn 24) 762. Vgl Art 8 iVm Art 6 des Protokolls Nr 1 über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union. Es kommt nicht darauf an, ob Länderbefugnisse „im Schwerpunkt“ berührt werden. Das Weisungsrecht greift auch in Fällen, in denen die Länder innerstaatlich nach Art 72 Abs 1 GG an der Gesetzgebung gehindert wären. Hierzu BVerfG (Fn 4) Rn 415.
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ausgeschlossen ist.48 In der politischen Praxis wird allerdings regelmäßig die Entscheidung nach § 10 IntVG jener nach § 4 IntVG vorgelagert sein: In diesem Fall kann die Nichtinanspruchnahme von § 10 IntVG nicht die Entscheidung nach § 4 IntVG präjudizieren. Die Zweckmäßigkeit des doppelten Mitwirkungserfordernisses ist umstritten. d. Kompetenzerweiterung An einzelnen Stellen sieht der Vertrag vor, dass der Kompetenzgehalt einer Vorschrift autonom ausgedehnt werden kann. Art 83 Abs 1 UAbs 3 AEUV ermöglicht die Erweiterung der Befugnis zum Erlass europäischer Straftatbestände. Das BVerfG sieht hierin eine dynamische Blankettermächtigung, die in der Sache eine Erweiterung der geschriebenen Kompetenzen der EU ermöglicht,49 und verlangt die Zustimmung des Gesetzgebers. Eine entsprechende Ausdehnung der Befugnisse ermöglicht Art 86 Abs 4 AEUV für die Europäische Staatsanwaltschaft, ohne dass hier vom BVerfG eine Zustimmungserfordernis verlangt würde. In beiden Fällen verlangt § 7 Abs 1 IntVG nunmehr die Mitwirkung.50 Ohne dass dies vom BVerfG verlangt worden wäre, ist in den abschließenden Beratungen zum IntVG in § 7 Abs 1 Satz 2 auch ein Zustimmungserfordernis des Gesetzgebers für zukünftige Änderungen der Satzung der Europäischen Investitionsbank, die als Protokoll im Rang des Primärrechts steht, vorgesehen worden. Demgegenüber hat man – nicht ganz widerspruchsfrei – die Kompetenzerweiterung nach Art 82 Abs 2 UAbs 2 lit d) AEUV nicht erfasst.51 3. Bewertung Dem Gesetzgeber ist es gelungen, die Grundanliegen des BVerfG im IntVG buchstabengetreu umzusetzen. Inzwischen regen sich allerdings Zweifel, wie groß die praktische Bedeutung des Bemühens um den Schutz der staatlichen Kompetenz-Kompetenz ist. Man hört 48 49 50
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Von Bogdandy, Stellungnahme (Fn 35) 11. BVerfG (Fn 4) Rn 363, 419. Die Kompetenzwahrnehmung nach Art 82 Abs 2 UAbs 2 lit d) AEUV (Strafverfahrensrecht) soll demgegenüber ohne Mitwirkung erfolgen können. Demgegenüber begründet Art 81 Abs 3 UAbs 1 AEUV (besonderes Gesetzgebungsverfahren im Familienrecht mit grenzüberschreitendem Bezug) keine Kompetenzerweiterung (vgl BVerfG (Fn 4) Rn 369), sondern ist verfahrensrechtliche Spezialvorschrift.
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den Vorwurf, das BVerfG habe den Gesetzgeber zur symbolischen Gesetzgebung veranlasst. In der Tat haben die im Nizza-Vertrag enthaltenen Befugnisse zur autonomen Vertragsänderung bislang keine praktische Bedeutung gehabt. Und auch der Lissabon-Vertrag sieht prozedurale Anforderungen vor, die es nicht immer wahrscheinlich erscheinen lassen, dass es zu einem mühelosen Gebrauch derartiger Klauseln kommen könnte. Gleichwohl ist das Bestehen des BVerfG darauf, dass die Verfügungsgewalt über die konstitutionellen Grundlagen der EU in den Händen der Staaten bleibt, konsequent und richtig. Zu begrüßen ist auch, dass einem leichtfertigen Umgang mit den freiheitsrelevanten Befugnissen im Strafrechtsbereich ein Riegel vorgeschoben wurde. Die Betonung des föderalen Elements ist im Lichte eines Modells der Integrationsverantwortung, das den Gesamtstaat im Blick hat,52 konsequent. B. Integrationsverantwortung und Kompetenzwahrnehmung 1. Vorgaben des BVerfG Eine Beeinträchtigung der im staatlichen „politischen Primärraum“ angesiedelten Entscheidungsgewalt ist nicht nur darin zu sehen, dass der EU die Befugnis zur Erweiterung ihrer Kompetenzen überantwortet wird. Sie kann auch eintreten, wenn der EU inhaltliche Befugnisse überantwortet werden, deren Wahrnehmung sich nicht in hinreichend konkreter Weise auf den Willen staatlicher Organe zurückführen lässt. Eine Aushöhlung staatlicher Selbstbestimmung ist zu befürchten, wenn der EU Befugnisse überantwortet werden, die in ihrer sachlichen Breite oder in ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit kein vorgezeichnetes „Integrationsprogramm“ erkennen lassen. Das BVerfG greift diesen Gedanken auf, verfolgt ihn aber nicht systematisch. Die Integrationsverantwortung, die bei der Ausübung der EU-Kompetenzen zum Tragen kommt, wird im Lissabon-Urteil zwar grundsätzlich herausgestellt. Kompetenzübertragungen mit Blankett-Charakter seien unzulässig. In Fällen, in denen Kompetenznormen der EU „noch in einer Weise ausgelegt werden können, die die nationale Integrationsverantwortung wahrt, [seien] jedenfalls geeignete innerstaatliche Sicherungen zur effektiven Wahrneh-
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Hierzu Martin Nettesheim, Die Integrationsverantwortung der Länder, Gutachten für den Präsidenten des Landtages des Landes BadenWürttemberg von 2.8.2009.
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mung dieser Verantwortung zu treffen“.53 Mit Blick auf „Grenzfälle des noch verfassungsrechtlich Zulässigen“, so hebt das Gericht ausdrücklich hervor, „müsse der deutsche Gesetzgeber mit seinen die Zustimmung begleitenden Gesetzen wirksame Vorkehrungen dafür treffen, dass die Integrationsverantwortung der Gesetzgebungsorgane sich hinreichend entfalten kann“.54 Gleiches gilt für die Fälle, in denen sich Brückenklauseln auf inhaltlich konkret bestimmte Sachbereiche beziehen (Leitsatz 2b). Eine Entfaltung der Implikationen dieser Aussage erfolgt dann aber nicht. Vielmehr beschränkt sich das Gericht darauf, einzelne Bereiche zu benennen, in denen eine Beeinträchtigung der Idee der Selbstregierung des im Staat organisierten Volkes drohen soll. Die Bedeutung der Sachmaterie soll es etwa rechtfertigen, dass eine besondere Mitwirkung im Bereich der europäischen Strafrechtspolitik gefordert ist: Die konkretisierende Ausfüllung der Ermächtigungen nach Art 82 Abs 2 sowie Art 83 Abs 1 und Abs 2 AEUV nähere sich der „Bedeutung einer Vertragsänderung“ an.55 Demgegenüber soll es die Weite der Kompetenzbestimmung rechtfertigen, bei der Wahrnehmung der Flexibilitätsklausel (Art 352 AEUV) eine Verantwortung des Bundestages einzufordern. Argumentativ unschlüssig ist es, wenn das BVerfG hierbei immer wieder den Rückgriff auf die Figur der Vertragsänderung wählt.56 2. Umsetzung im IntVG Auch der Gesetzgeber des IntVG verzichtet darauf, die Implikationen der Integrationsverantwortung normativ auszubuchstabieren. Vielmehr orientiert er sich eng an den beiden vom BVerfG bezeichneten konkreten Problemfällen. Jenseits dessen sollen Bundestag und Bundesrat zwar über Mechanismen der Information und Unterrichtung in die Lage versetzt werden, sich in den Integrationsprozess einzuschalten. Ob und wie sie dies tun, bleibt nach den Bestimmungen des IntVG aber ihnen überlassen. Die Zurückhaltung ist so groß, dass selbst der vom BVerfG zur Geltung gebrachte wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt bei Beschlüssen 53 54 55 56
BVerfG (Fn 4) Rn 239. BVerfG (Fn 4) Rn 239. BVerfG (Fn 4) Rn 365. BVerfG (Fn 4) Rn 328 (es gehe bei Art 352 AEUV um eine substanzielle Änderung der Vertragsgrundlagen). Anders noch BVerfGE 89, 155 (210).
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nach Art 42, 43 EUV57 nicht erwähnt wird. a. Notbremsemechanismus Der Vertrag von Lissabon gibt zu erkennen, dass er zwei Bereiche für politisch so sensibel ansieht, dass besondere Schutzvorkehrungen gerechtfertigt sind. Der sog Notbremsemechanismus erlaubt es den Mitgliedern des Rates, bestimmte Entwürfe zu Gesetzgebungsakten auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit (Art 48 Abs 2 AEUV) und des Strafrechts (Art 82 Abs 3 UAbs 1 Satz 1, Art 83 Abs 3 UAbs 1 Satz 1 AEUV) dem Europäischen Rat vorzulegen, wenn ein Mitglied des Rates der Ansicht ist, dass grundlegende Aspekte seines Systems der sozialen Sicherung oder Strafrechtsordnung berührt werden.58 Nach § 9 IntVG unterliegt der deutsche Vertreter im Rat bei der Entscheidung über die Ausübung der Notbremsekompetenz den Weisungen des Bundestages. Soweit im Schwerpunkt Gebiete nach § 5 Abs 2 IntVG erfasst sind, kann auch der Bundesrat eine Weisung erteilen.59 Verfassungsrechtliche Bedenken, einen Vertreter der Bundesregierung an einen Beschluss des Bundesrates zu binden, sind im Ergebnis nicht durchschlagend.60 Die Begrenzung auf eine „schwerpunktmäßige“ Berührung wird zu politischen Abgrenzungsstreitigkeiten führen. Der Bundesregierung bleibt es im Übrigen unbenommen, auch ohne Weisung des Bundestages oder des Bundesrates die Befassung des Europäischen Rates zu beantragen. In dieser Situation können Bundestag und Bundesrat durch Stellungnahmen gem Art 23 Abs 3 oder 5 GG Einfluss auf das Verhalten des deutschen Vertreters im Europäischen Rat nehmen. b. Flexibilitätsklausel Art 352 AEUV ermöglicht es der Europäischen Union, auch in Bereichen zu handeln, in denen ihr eine spezifische Kompetenz nicht zugewiesen ist (Flexibilitätsklausel). Diese Befugnis – vor allem den Ländern seit langem ein Dorn im Auge – ist im Lissabon-Vertrag nochmals ausgeweitet worden. § 8 IntVG schreibt nunmehr vor, dass der deutsche Vertreter im Rat seine Zustimmung bzw Ent-
57 58 59 60
BVerfG (Fn 4) Rn 388. Vgl BVerfG (Fn 4) Rn 358, 365, 400, 418. Ohne ersichtlichen Grund bleibt § 9 Abs 2 hinter Art 5 Abs 2 IntVG zurück. Wenig überzeugend allerdings BVerfG (Fn 4) Rn 418.
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haltung61 zu einem entsprechenden Rechtsetzungsvorschlag der Kommission solange nicht erklären darf, solange die verfassungsrechtlich gebotenen Voraussetzungen im Sinne von Art 23 Abs 1 GG fehlen. Dies gilt auch dann, wenn es sich um einen Akt handelt, der sich ohne Zweifel im Rahmen des EU-Kompetenzbestands bewegt. § 8 IntVG lässt offen, inwieweit es sich dabei um ein Gesetz im Sinne von Satz 3 handelt muss.62 Regelmäßig wird hier keine Übertragung von Hoheitsgewalt im Sinne von Satz 3 erfolgen. c. Subsidiaritätsrüge Einer gesetzlichen Regelung bedurfte schließlich die Erhebung der in Art 6 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit vorgesehenen Subsidiaritätsrüge, die den nationalen Parlamente die Möglichkeit der Herbeiführung einer Überprüfung der Einhaltung des in Art 5 EUV niedergelegten Subsidiaritätsprinzips verleiht. § 12 IntVG (nF) sieht vor, dass der Bundestag auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder verpflichtet ist, eine Antrag gem Art 8 des Protokolls zu stellen. Das Gebot des BVerfG, dass dieser Antrag sich auch auf die Frage der Kompetenzkonformität erstrecken können muss,63 wird nicht ausdrücklich aufgenommen. Dem Bundesrat bleibt es überlassen, in seiner Geschäftsordnung zu regeln, wie ein Beschluss über die Stellung eines Antrags getroffen wird. Im Übrigen liegt nach § 11 Abs 1 IntVG die nähere Ausgestaltung des Beschlussverfahrens für die Subsidiaritätsrüge in der Geschäftsordnungsgewalt von Bundestag und Bundesrat. Der zweckgerechte Gebrauch insbesondere des Frühwarnsystems setzt eine Koordination des Verhaltens der mitgliedstaatlichen Parlamente voraus (vgl Art 12 lit f) EUV). Nur durch koordinierende Abstimmung kann geklärt werden, ob die notwendige Zahl von Einwendungen erreicht werden kann. Der Bundestag wird sich dabei der elektronischen Plattform IPEX (Interparliamentary EU Information Exchange) bedienen. Die Plattform IPEX ermöglicht einen Informationsaustausch zwischen den Parlamenten der Mitgliedstaaten in EU-Angelegenheiten vor. Sie ist in der Folge einer Empfehlung der Konferenz der Präsidenten der Parlamente im Jahr 61 62 63
Vgl Art 238 Abs 4 AEUV. BVerfG (Fn 4) Rn 328 BVerfG (Fn 4) Rn 305.
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2000 begründet worden. Bislang sind die sich aus dem Subsidiaritätsprotokoll ergebenden Fragen aber noch nicht gelöst worden. Es wird der Behandlung auf der Konferenz der Parlamentspräsidenten oder im Rahmen der Konferenz der Europaausschüsse (COSAC) bedürfen. 3. Regelungen im EUZBBG und im EUZBLG Auch im EUZBBG und im EUZBLG wird dem Problem, inwieweit sich eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Mitwirkung ergibt, keine Aufmerksamkeit geschenkt. So überantwortet das EUZBBG die Entscheidung, wie mit den umfangreichen Informationen umgegangen werden soll, der freien Entscheidung des Bundestages. Die vom BVerfG angesprochenen Mitwirkungspflichten64 werden – jenseits der vom BVerfG selbst vorgenommenen Folgerungen – nicht weiter konkretisiert. Hier besteht eine gesetzgeberische Lücke. Demgegenüber ist es mit der Idee der Integrationsverantwortung grundsätzlich zu vereinbaren, wenn eine strikte Bindung an die Stellungnahme des Bundestages weiterhin nicht vorgesehen ist (§ 9, 10 EUZBBG).65 § 9 EUZBBG ist im Lichte von Art 23 Abs 3 GG verfassungskonform auszulegen; eine Bindungswirkung kann das Parlament damit (auch mit Blick auf Abs 4 Satz 4) nicht erzielen. Auch dass die Machtbalance zwischen Bundestag und Bundesrat weiterhin nicht ganz ausgewogen ist, ist unbedenklich.66 Nach Art 9 Abs 4 EUZBBG ist für den Fall, dass die Position des Bundestages im Rat nicht durchsetzbar ist, ein besonderes Verfahren einzuhalten.67 Ebenso wenig befasst sich das EUZBLG mit der Frage, inwieweit der Bundesrat in Wahrnehmung seiner Integrationsverantwortung zu einer Befassung, Beratung und Beschlussfassung in Angelegenheiten der EU verpflichtet ist. 4. Bewertung Die Lissabon-Entscheidung des BVerfG spricht das Problem der 64 65 66
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BVerfG (Fn 4) Rn 239. Anders ein Gesetzesentwurf der Fraktion DIE LINKE zur Änderung des Grundgesetzes (BT-Drs 16/13928). Kritisch Udo di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes – Positivierung vollzogenen Verfassungswandels oder Verfassungsneuschöpfung?, Der Staat 1993, 208 f. Ein Abgleich mit Art 23 Abs 3 GG ist allerdings unterblieben.
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Emulation demokratischer Selbstentscheidung mit Blick auf die EU-Kompetenzwahrnehmung zwar an, verzichtet aber auf eine Konkretisierung. Das BVerfG schöpft die normativen Implikationen des Konzepts der Integrationsverantwortung nicht aus. Ungeklärt bleibt vor allem, in welcher Kombination die Faktoren Kompetenzbreite, inhaltlicher (Un-)Bestimmtheit, politische Sensibilität und praktische Bedeutung der Kompetenz zusammen kommen müssen, um eine Mitwirkungspflicht auszulösen. Zwar macht das Gericht deutlich, dass die Breite einer Kompetenz allein schon ausreichen kann, die Integrationsverantwortung auszulösen, selbst wenn es sich um eine praktisch wenig bedeutsame Kompetenz handelt (Art 352 AEUV). Besonders politische Materien können, wie die Ausführungen zum Strafrecht belegen, jedenfalls dann, wenn schon das Vertragsrecht ein besonderes Schutzverfahren vorsieht, eine Mitwirkung verlangen. Andere Fallkonstellationen werden aber nicht beleuchtet. Dabei liegt die Frage auf der Hand, ob nicht eine vergleichsweise unbestimmte und inhaltlich enorm wichtige Befugnis wie die neue Energiekompetenz (Art 194 AEUV) eine begleitende Mitwirkung des Bundestages viel eher erforderte als der vergleichsweise unwichtige Art 352 AEUV. Gleiches gilt für Entscheidungen im Beitrittsprozess.68 Die Distanz zwischen den am Verfassungsrecht geschulten Richtern in Karlsruhe und dem politischen Geschehen in Brüssel mag zu groß sein, als dass hier ein wertender Zugriff auf das Wesentliche immer leicht wäre. Und das Modell der Integrationsverantwortung ist offen genug, um dem BVerfG jederzeit die Möglichkeit zur Nachbesserung und zur Formulierung weitergehender Folgerungen zu ermöglichen. Gleichwohl wiegt das Defizit der Entscheidung nicht leicht. Der Gesetzgeber hat sich noch nicht einmal darum bemüht, den vom BVerfG angesprochenen, aber eben nicht ausbuchstabierten Anforderungen an die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung einen recht-
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Die Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen oder die Schließung von Verhandlungskapiteln im Rahmen laufender Beitrittsverhandlungen weisen eine erhebliche politische Bedeutung auf. Immerhin können derartige Entscheidungen eine politische Dynamik auslösen, die durch die Rechte des Gesetzgebers im Verfahren über die Ratifikation eines Beitrittsvertrags nur noch mit Mühe (oder politisch auch gar nicht mehr) aufgefangen werden können. Vgl aber § 10 EUZBBG, § 5 EUZBLG iVm Anlage zu § 9, VIII: Bloße Berücksichtigung der Stellungnahmen des Bundesrats.
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lichen Rahmen zu verleihen. Der Gesetzgeber ist seiner Aufgabe, auszuformulieren, was aus Sicht der Verfassungsordnung zur Sicherung einer hinreichenden Begleitung des Integrationsprozesses zu fordern ist, nur unzureichend nachgekommen. Rechtspolitisch bedenklich ist vor allem, dass die „Integrationsverantwortung“ der gesetzgebenden Organe in anderen Bereichen vom BVerfG nicht thematisiert und vom Bundesgesetzgeber nicht ausgestaltet wird. Nur für den Notbremsemechanismus (Art 48 Abs 2, Art 82 Abs 3 UAbs 1 Satz 1, Art 83 Abs 3 UAbs 1 Satz 1 AEUV) sieht § 9 IntVG ein Weisungsrecht der gesetzgebenden Organe vor. Im Übrigen bleibt dieser wichtige Bereich rechtlich unstrukturiert. Zwar sehen die Bestimmungen der Europagesetzgebung ausführliche Unterrichtungspflichten vor (vgl auch Art 12 EUV); es bleibt allerdings den einzelnen Organen überlassen, wie sie mit ihrer Verantwortung für eine Begleitung der Integration umgehen. Nach der gegenwärtigen Gesetzeslage besteht kein rechtlicher Zwang, sich mit – auch problematischen Vorhaben – überhaupt zu befassen. Dabei sticht die Notwendigkeit, sich dieser Frage zu stellen, quasi ins Auge. Die bisherige Erfahrung zeigt, dass eine kontinuierliche, konstruktive und effektive parlamentarische Kontrolle der Geschehnisse in Brüssel ungeachtet aller institutionellen, informationellen und prozeduralen Vorkehrungen bislang nicht erfolgt. Der „Europaausschuss“ ist den Erwartungen, die man bei seiner Einsetzung gehegt hatte, nicht gerecht geworden. Dies gilt, wie jüngere Studien belegen, sowohl für den Bereich der Primärrechtsänderung als auch für die alltägliche Arbeit im Sekundärrechtsbereich. Auch die anderen Ausschüsse und das Plenum vermögen es nicht, in erforderlichem Umfang das Brüsseler Geschehen konstruktiv und proaktiv zu begleiten. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Es ist nicht Desinteresse, das die Mitglieder der gesetzgebenden Organe von einer Befassung mit europäischen Themen abhält. Sie sind vielmehr übermäßig mit „nationalen Themen“ befasst, unterliegen Anreizstrukturen, die eine Beschäftigung mit EU-Vorhaben nicht belohnen, und sind teilweise auch einfach überfordert. Die Unterrichtungspflichten, die § 13 IntVG (nF) in Umsetzung von Art 23 Abs 2 Satz 2 GG vorsieht, werden hieran nur begrenzt etwas ändern können. Es sind aber nicht nur strukturelle Gründe, die dazu führen, dass in den gesetzgebenden Institutionen das Interesse an einer Begleitung europäischer Politik eher gering ist. Europapolitik wird in
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der Bundesrepublik nicht als konfrontative Politik betrieben. Vielmehr verfolgen die im Bundestag vertretenen Parteien traditionell ein Bild europäischer Politik, das von einer einheitlichen Vision und einem auf Konsens bedachten Ansatz getragen wird. Grundlegende und scharfe Konflikte um europapolitische Grundsatzentscheidungen lassen sich weder auf der Ebene des Primärrechts beobachten: So bestanden etwa in der Diskussion um den europäischen Verfassungsvertrag keine sichtbaren Unterschiede zwischen CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen. Noch begreifen die Bundestagsparteien europäische Politik als Hebel, mit dem sie sich gegeneinander profilieren können: Dies belegt etwa die Begleitung der gegenwärtigen Schuldenkrise. Nur die sozialistische Linke (PDS/Linkspartei) bringt inzwischen Positionen ein, die diese Gegebenheiten zu erschüttern drohen. Bislang ist aber jenseits eher geringfügiger Repositionierungen nicht erkennbar, dass sich unter den „älteren“ Bundestagsparteien Gräben auftun könnten. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass auch von anderen Informations-, Unterrichtungs- und Kommunikationsinstrumenten nur geringer Gebrauch gemacht wird. So spielt etwa die Vertretung in Brüssel, die der Bundestag – in Reaktion auf entsprechende Schritte der meisten anderen nationalen Parlamente – am 12. Mai 2005 eingesetzt hat, um die Entwicklung im EP und anderen europäischen Institutionen verfolgen zu können, in der Berliner parlamentarischen Arbeit keine hervorgehobene Rolle. Auch von der Möglichkeit, interparlamentarische Kontakte zu knüpfen und zu pflegen, wird nur vorsichtig Gebrauch gemacht. Zwar ist es seit der 11. Wahlperiode des Bundestages rechtlich möglich, dass Mitglieder des Europäischen Parlaments an der Arbeit der europapolitischen Ausschüsse des Bundestages teilnehmen (§ 93b Abs 8 GO-BT). Danach können die deutsche MdEP zu den Sitzungen des Europaausschusses Zutritt erhalten. Die mitwirkungsberechtigten MdEP werden vom Präsidenten des BT auf Vorschlag der Fraktionen, aus deren Parteien deutsche Mitglieder in das EP gewählt worden sind, berufen. Die Berufung erfolgt bis zur Neuwahl des Europäischen Parlaments, längstens bis zum Ende der Wahlperiode des Bundestages. Die mitwirkungsberechtigten Mitglieder des Europäischen Parlaments können in den Sitzungen des Europaausschusses anregen, bestimmte Verhandlungsgegenstände zu beraten, sie können Auskünfte erteilen und Stellung nehmen. Ein Stimmrecht haben sie nicht. Von diesen Möglichkeiten wird allerdings nur eher selten Gebrauch gemacht. Dies liegt nicht zuletzt an Terminkollisionen, ist
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aber auch auf Kapazitäts- und Organisationsprobleme zurückzuführen. Die vorstehenden Beobachtungen geben Anlass zu Zweifeln, ob sich das dem Lissabon-Vertrag beigefügte neue „Parlamentsprotokoll“ wirklich etwas ändern wird. Art 10 PP sieht vor, dass eine „Konferenz der Europa-Ausschüsse“ der Parlamente jeden ihr zweckmäßig erscheinenden Beitrag dem EP, dem Rat und der Kommission zur Kenntnis bringen kann. Dies ist allerdings nicht mehr als eine deklaratorische Bestimmung. Die Aufgabe der Konferenz der Europaausschüsse wird darin gesehen, den Austausch von Informationen und bewährten Praktiken zwischen den nationalen Parlamenten und dem EP, einschließlich ihrer Fachausschüsse zu fördern (Art 10 Satz 2 PP). Zudem kann sie interparlamentarische Konferenzen zu Einzelthemen organisieren, insbesondere zur Erörterung von Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, einschließlich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (Art 10 Satz 3 PP). Bekanntlich ist das Parlamentsprotokoll gegenüber der Fassung, die dem Amsterdam-Vertrag beigefügt worden war, gestrafft und verkürzt worden. Um eine Aufgaben- und Funktionsbeschneidung handelt es sich hierbei sicher nicht; eine Bedeutungserweiterung dürfte mit der Kürzung aber ebenso wenig einher gehen. Die Rolle, die „COSAC“ in Brüssel spielt, wird nicht nur dadurch geschwächt, dass die Funktionen und Interessen der hier vereinigten Parlamente im jeweiligen nationalen Kontext sehr unterschiedlich sind. Auch über die Rolle von „COSAC“ selbst besteht unter den Mitgliedstaaten keinesfalls Einigkeit. Der Gesetzgeber der neuen Begleitgesetzgebung hat sich – nicht zuletzt aus Zeitgründen – nicht darum bemüht, den vom BVerfG angesprochenen, aber eben nicht ausbuchstabierten Anforderungen an die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung einen rechtlichen Rahmen zu verleihen. Die Frage, wie die Ausübung von EU-Hoheitsgewalt über die Mitwirkung mitgliedstaatlicher Organe so mitbestimmt, kontrolliert und demokratisch rückgebunden wird, dass den Anforderungen des Demokratieprinzips entsprochen wird, ist damit noch nicht abschließend beantwortet. Die verfassungstheoretische Tiefendimension des Konzepts der Integrationsverantwortung wird weder vom BVerfG noch vom Bundesgesetzgeber bislang erschlossen.
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C. Informations- und Unterrichtungspflichten Die Informations- und Unterrichtungspflichten, die zur Wahrnehmung der Integrationsverantwortung erforderlich sind, werden nunmehr auf drei Ebenen ausgestaltet. Art 23 Abs 2 Satz 2 GG statuiert eine Unterrichtungspflicht der Bundesregierung gegenüber dem Bundestag und dem Bundesrat grundsätzlich. § 13 IntVG (nF) konkretisiert diese Vorgabe. Im Falle der allgemeinen Brückenklausel nach Art 48 Abs 7 EUV und der besonderen Brückenklausel nach Art 81 Abs 3 Satz 2 AEUV69 werden in § 13 Abs 2 IntVG (nF) bereits ab dem Moment der Vorbereitung einer Initiative Informationspflichten statuiert. Dies soll eine angemessene Befassung des Bundestages und des Bundesrates zur Wahrnehmung ihrer Integrationsverantwortung sicherstellen. § 13 Abs 3 IntVG (nF) bestimmt, welchen Inhalt die erstellende Erläuterungen im Hinblick auf europäische Initiativen, Vorschläge und Beschlüsse haben muss, und legt eine Frist fest. Die Erläuterungen müssen unter anderem eine umfassende Darstellung der Folgen für die vertraglichen Grundlagen der EU sowie eine Bewertung der integrationspolitischen Notwenigkeit und Auswirkungen enthalten. Abs 4 ermöglicht Veränderungen der Frist. Abs 5 regelt die Unterrichtungspflicht der Bundesregierung in Bezug auf den sogenannten Notbremsemechanismus nach § 9 IntVG, Abs 6 betrifft die Unterrichtungspflicht zur Subsidiaritätsrüge. § 1 Abs 2 soll die Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes widerspiegeln, in dem es den Verfassungsorganen aufgibt, notwendige Beschlüsse nach dem IntVG nicht zeitlich über Gebühr zu verzögern. Allerdings werden keine konkreten Fristen vorgegeben, die einen Missbrauch effektiv ausschließen würden. Das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBBG) gestaltet die Informations- und Unterrichtungspflichten gegenüber dem Bundestag weiter aus. Im Lissabon-Urteil verlangte das Bundesverfassungsgericht, dass die geltende Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union (BBV)70 wegen ihrer nicht eindeutigen Rechtsnatur 69
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Die Informationspflicht hinsichtlich der Vorbereitung von Initiativen auf der Basis von Art 81 Abs 3 Satz 2 AEUV wurde erst nach der Expertenanhörung in das IntVG eingefügt. Vereinbarung vom 28.9.2006, BGBl I S 2177.
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und ihrem Inhalt überprüft werden müsse. Die Regelungen der BBV werden nunmehr in neuer Systematik in das EUZBBG überführt. In das Gesetz sind die bisherigen praktischen Erfahrungen eingeflossen, wie sie in zwei Monitoring-Berichten der Bundestagsverwaltung dargestellt worden sind. Die Unterrichtungspflichten zur GASP und zur GSVP haben besondere Berücksichtigung gefunden. Kernelemente der neuen Regelung sind die gegenüber der BBV ausgeweitete Definition und Verwendung des Vorhabenbegriffs71 (§ 3 EUZBBG) als Ausgangs- und Bezugspunkt für die Informationspflicht der Bundesregierung, die Neufassung der Grundsätze der Unterrichtung und der Übersendung von Dokumenten und Berichtspflichten (§§ 4 und 5 EUZBBG), die Betonung der Bedeutung der politischen Frühwarnung über aktuelle politische Entwicklungen der Europäischen Union und entsprechend geplante Vorhaben (§ 4 Abs 3 und § 5 Abs 1 Nr 3 Buchstabe e) EUZBBG), eine umfassende Unterrichtung des Bundestages bis hinunter zu Sitzungen der Arbeitsgruppen des Rates (§ 5 Abs 1 Nr 3 Buchstabe a EUZBBG), die Umsetzung von mehreren, nach Inkrafttreten der BBV zwischen Bundestag und Bundesregierung getroffenen Absprachen (zB § 5 Abs 3 EUZBBG72), die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für die allgemeine73 und förmliche74 Zuleitung einschließlich Zuleitungsschreiben für europäische Dokumente (§ 6 EUZBBG), die Integration der ausführlichen Unterrichtung im Zusammenhang mit dem Verfahren der Subsidiaritätsrüge im sog Berichtsbogen75 sowie in der sog Umfassenden Bewertung76 (§ 7 71
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Nach § 4 EUZBBG unterrichtet die Bundesregierung den Bundestag umfassend, zum frühestmöglichen Zeitpunkt, fortlaufend und in der Regel schriftlich über alle „Vorhaben“. Der Begriff der Vorhaben wird in § 3 definiert. Er erfasst nicht die Rechtsetzungstätigkeit, die sich „unterhalb“ der förmlichen Gesetzgebung bewegt. Übermittlung von vorbereitenden Papieren – einschließlich sog nonpapers – der Europäischen Kommission und des Rates. Die allgemeine Zuleitung nach § 6 Abs 2 EUZBBG umfasst alle bei der Bundesregierung eingehenden Ratsdokumente. Die förmliche Zuleitung nach § 6 Abs 1 EUZBBG betrifft alle Vorhaben im Sinne von § 3 EUZBBG. Nach förmlicher Zuleitung eines Vorhabens übermittelt die Bundesregierung einen Bericht (Berichtsbogen), der insbesondere die Bewertung des Vorhabens hinsichtlich seiner Vereinbarkeit mit den
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EUZBBG), eine Regelung zur Unterrichtung im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (§ 8 EUZBBG) sowie eine Regelung des Verfahrens bei Abgabe von Stellungnahmen des Bundestages (§§ 9 und 10 EUZBBG). Das in § 4 Abs 5 EUZBBG enthaltene Verzichtsrecht ist mit dem Konzept der Integrationsverantwortung allerdings unvereinbar. Die Regelung weiterer Einzelheiten bleibt auch in Zukunft einer Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung vorbehalten (§ 12 EUZBBG). Ungeklärt bleibt, wie der Bundestag die so erzeugte Informationsflut bewältigen und eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Begleitung des Integration leisten will. Eine entsprechende Unterrichtung sieht das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBLG) zugunsten des Bundesrates vor. Die Einführung des IntVG und die Novellierung des EUZBBG aufgrund des Lissabon-Urteils des Bundesverfassungsgerichts wurden zum Anlass genommen, im Wesentlichen die Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Länder über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union (BLV) in Gesetzesform zu überführen und in das EUZBLG zu integrieren. Auch wenn die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht unmittelbar diesen Auftrag enthielten,77 soll gerade im sensiblen Bereich der Mitwirkung des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union die vorhandene gesetzliche Grundlage um die konkreten Elemente der Bund-Länder Vereinbarung ergänzt werden. Die Regelungen der BLV, die nur redaktionelle Änderungen erfahren, werden in ihrer dem Vertrag von Lissabon angepassten Fassung als Anlage zu § 9 in das EUZBLG integriert und werden dadurch Teil des Gesetzes – gesetzgebungstechnisch nicht gerade glücklich, im Lichte des Zeitdrucks in jenem kurzen Sommer
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Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit enthält. Zu Vorschlägen für Gesetzgebungsakte der Europäischen Union übermittelt die Bundesregierung eine sog Umfassende Bewertung. Jene enthält neben Angaben zur Zuständigkeit der Europäischen Union zum Erlass des vorgeschlagenen Gesetzgebungsakts und zu dessen Vereinbarkeit mit den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit Aussagen zu Regelungsinhalt, Alternativen, Kosten, Verwaltungsaufwand und Umsetzung. Hierzu BVerfG (Fn 4) Rn 410.
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2009 aber verständlich. III. Ausblick Die Rolle der gesetzgebenden Organe im Integrationsprozess ist durch die Lissabon-Entscheidung des BVerfG ins Licht gerückt worden. Bundestag und Bundesrat hatten und haben sich nie als Organe begriffen, die sich in die von der Regierung vorangetriebene und verantwortete Europapolitik in aktivistischer oder gar konfrontativer Weise einmischen wollten. Sie begriffen sich eher als wohlwollende Beobachter, die diesem wichtigen Feld zwar nicht gänzlich den Rücken kehren wollten, hier aber nicht ihre primäre politische Aufgabe sahen. Das BVerfG hat dieses Verständnis mit seinem Konzept der Integrationsverantwortung in Zweifel gezogen. Für den Bereich des Primärrechts hat es die Wahrnehmung der Verantwortlichkeit seitens der gesetzgebenden Organe energisch eingefordert. Mit dem IntVG hat der deutsche Gesetzgeber hieraus die Schlussfolgerungen gezogen. Inzwischen ist davon die Rede, dass es sich hierbei um „Sonntagsgesetzgebung“ handle. Dies lässt einen rechten Sinn für die Bedeutung der Frage nach der Ansiedelung der Kompetenz-Kompetenz in der Föderation von EU und Mitgliedstaaten vermissen. Die Bedeutung dieser Frage wird zukünftig weiter wachsen; hier hat das BVerfG zukünftigen Vertragsänderungen klare Grenzen gezogen. Demgegenüber sind die Anforderungen, die für die Begleitung der täglichen Brüsseler Politik gelten, bislang vom BVerfG – abgesehen von Art 352 AEUV und dem Notbremsemechanismus – noch nicht formuliert worden. Hier sind die gesetzgebenden Organe gefordert – sie befinden sich bei der Bewältigung der Aufgabe, den politischen Prozess in Brüssel zeitnah und effizient zu begleiten, in der Vorhand. Es ist bislang nicht abzusehen, ob es dem Bundestag und dem Bundesrat gelingen wird, sich auf diese Herausforderung einzustellen. Es ist schon jetzt absehbar, dass gegebenenfalls das BVerfG wieder einschreiten wird.
Sonja Puntscher Riekmann
Europas Verfassung nach Lissabon. Europäische Politik in der Finanz- und Wirtschaftskrise zwischen Pragmatismus und Legitimation Die Toten begraben, für die Lebenden sorgen. Marquês de Pombal nach dem Erdbeben von Lissabon, 1755 I. Einleitung: Kein Ende der europäischen Verfassungsdebatte A. Verfassungsgrundlagen einer europäischen Wirtschaftsregierung B. Koordinierung und gegenseitige Überwachung der Mitgliedstaaten: Die beste aller Welten? C. Aufwertung der Eurogruppe D. Die Europäische Zentralbank als Organ der Union: Gefahr für die Unabhängigkeit? II. Die Finanz- und Wirtschaftskrise als Mutter aller Dinge III. Schlussfolgerungen: Pragmatische Krisenbewältigung und offene Legitimationsfragen
497 503 507 513 515 518 532
I. Einleitung: Kein Ende der europäischen Verfassungsdebatte Das lange europäische Verfassungsjahrzehnt wurde mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 für beendet erklärt. Die Vision einer europäischen Verfassung hatte in einen Vertrag gemündet, der zwar den Großteil der Änderungen des im französischen und niederländischen Referendum abgelehnten Verfassungsvertrags enthält, aber nicht mehr so heißen durfte.1 Für alle Probleme des Ratifikationsprozesses fand man einen Schul-
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Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, 21./ 22.6.2007, Annex I, 15: „The constitutional concept, which consisted in repealing all existing Treaties and replacing them by a single text called ‘Constitution’, is abandoned.“
T. Eilmansberger et al. (eds.), Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon © Springer-Verlag Wien 2011
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digen: den Begriff Verfassung.2 Die Schuldbeweise sind zwar so dünn wie die Evidenz groß ist, dass auch der Vertrag von Lissabon die Verfassungsgrundlage der Union darstellt,3 aber die Regierungen konnten der Versuchung einer einfachen Erklärung nicht widerstehen. Da tat es auch nichts zur Sache, dass Irland den Vertrag von Lissabon in der Volksabstimmung von 2008 ablehnte, obwohl der Verfassungsbegriff längst getilgt war, und ihn dann wie im Falle des Vertrags von Nizza nach Zugeständnissen im Oktober 2009 doch annahm. Und vergessen waren die Eurobarometer-Umfragen rund um den Konvent, die eine kontinuierliche Zweidrittelmehrheit von Verfassungsbefürwortern feststellten.4 Doch die Debatte, ob die Verträge eine Verfassung seien oder nicht, ist eine Scheindebatte, und man beendete sie dezisionistisch in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom Juni 2007, auf dass endlich Ruhe einkehren würde. Von Ruhe kann aber keine Rede sein. Der Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 und die Griechenlandkrise 2010 verlangen nach Entscheidungen, für die der neue Vertrag nur eingeschränkt taugt. Nun stellt sich die Frage, ob die Union in guter Verfassung ist,5 mit neuer Vehemenz. Diese Formulierung verweist
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Vgl Rudolf Streinz / Christoph Ohler / Christoph Herrman, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU. Einführung mit Synopse3 (2010) 24 ff. Vgl Stefan Griller, Is this a Constitution?, in Griller / Ziller (eds), The Treaty of Lisbon. EU Constitutionalism without a Constitutional Treaty? (2008) 50: „..., yes, the Union has a Constitution, and in a double sense: First in the sense that every international organisation has a constitution. Second and more important in the sense that the current Treaties already fulfil the functions traditionally ascribed to constitutions of states both in a ‚thin’ positivist understanding but also in a ‚thick’ understanding reflecting the achievements of European Enlightenment.“ Vgl auch Ernst-Ulrich Petersmann, Constitutional Finality of European Integration, in Griller / Ziller (2008) 338 f. Vgl zum Beispiel Standard Eurobarometer 66 (2006). Vgl Streinz / Ohler / Herrmann, Der Vertrag von Lissabon (Fn 2) 10; und Jean Paul Jacqué, Der Vertrag von Lissabon – neues Gleichgewicht oder institutionelles Sammelsurium?, Integration 2/2010, 103 f: „Anstelle einer umfassenden Neuordnung der institutionellen Struktur bewirkt der Vertrag von Lissabon nur eine Anzahl an Anpassungen, bei denen sich zu Recht die Frage stellt, ob sie ausreichen
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nicht nur auf einen Verfassungstext, sondern auf die Tatsache, dass dessen Geist Ausdruck eines Willens der Akteure, der Eliten und der Bürger sein muss, damit ein Gemeinwesen in guter Verfassung ist. Eine Verfassung kann nicht nur Kompetenzen und Funktionen spezifizieren, sie muss integrative Wirkung entfalten, um „der Europäischen Gemeinschaft über situationsbedingte Erfolge und Misserfolge hinaus innere und äußere Beständigkeit zu sichern“, wie Max Imboden schon 1963 zur Begründung seines Verfassungsentwurfes schrieb.6 Die Liquiditätsprobleme, ja möglichen Insolvenzgefahren Griechenlands7 und die Verstrickung einer Reihe von europäischen Banken haben das im Vertrag von Lissabon viel strapazierte Wort von der europäischen Solidarität auf eine harte Probe gestellt und zum Bruch des „no bail-out“-Tabus geführt. Das in der Folge mühsam verhandelte und nach allgemeiner Auffassung gefährlich spät verabschiedete Finanzpaket von zunächst 110 und schließlich von 750 Milliarden Euro ruht auf einer prekären Interpretation des Artikel 122 Abs 2 AEUV und steht in krassem Widerspruch zu Art 125 AEUV, der „bail-out“-Maßnahmen explizit verbietet. Ausgerechnet in den Fragen des wirtschafts- und finanzpolitischen Regierens hatte man sich im Konvent und in den Regierungskonferenzen
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werden, um der Union neues Leben einzuhauchen, beziehungsweise ihr erlauben werden, auf die Herausforderungen einer Union der 27 Mitgliedstaaten in einer globalisierten Welt zu reagieren.“ Zitiert nach Streinz / Ohler / Herrmann, Der Vertrag von Lissabon (Fn 2) 5. Welfens betont zwar das Liquiditätsrisiko Griechenlands, bestreitet aber ein Insolvenzproblem, nachdem der Staat seit Mitte der 1990er Jahre, als seine Zinsausgaben 11 % des BIP erreicht hatten, diese bis 2009 auf 6 % reduzieren konnte. Siehe Paul J. J. Welfens, Von der Griechenlandkrise zum Zerfall der Eurozone?, Integration 3/2010, 266. Anders Wolfgang Münchau, A Greek bail-out at last but no real solution, Financial Times, 18.4.2010, oder Do not fall for talk of European solvency, Financial Times, 5.9.2010. Zu dieser Problematik siehe auch Sebastian Dullien / Daniela Schwarzer, Umgang mit Staatsbankrotten in der Eurozone. Stabilisierungsfonds, Insolvenzrecht für Staaten und Eurobonds, SWP-Studie, Berlin, Juli 2010, 8 f. Die Autoren behaupten, dass die Griechenlandkredite nur im Falle von Liquiditätsproblemen gegeben werden dürfen, während sie bei Insolvenz nicht zu verantworten wären.
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mit sterilen und schließlich ergebnislosen Debatten aufgehalten.8 Dies rächt sich heute. Spätestens im Jahre 2010 ist das Thema einer europäischen Wirtschaftsregierung mit neuer Wucht auf die Tagesordnung zurückgekehrt, doch wer mit welchen Kompetenzen und vor allem mit welcher Legitimation wirtschaftspolitisch regieren darf, ist auch nach Jahren der Diskussionen höchst umstritten. Das im SapirBericht von 2004 gezeichnete Bild der Konfusion und Spannungen9 wird wohl auch deshalb andauern, weil die unterschiedlichen Sichtweisen der Mitgliedstaaten zur Frage der europäischen Wirtschaftsverfassung trotz scheinbar eindeutiger Bekenntnisse in den vertraglichen Zielbestimmungen im Konkreten divergieren.10 Dominiert hat bisher das Konzept der Koordinierung, aber auch was dieses „Regieren“ im weitgehend intergouvernementalen Modus konkret bedeutet, blieb im Einzelnen unklar. Daher die beständige Klage sogar der Regierungen selbst über die Schwächen der LissabonStrategie und die beständigen Appelle, Akkordierungen in den Mitgliedstaaten auch umzusetzen. Dieses Kapitel konzentriert sich auf die Potentiale des Vertrags von Lissabon für das Handeln der Union in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen, zum einen weil diese den Kern der Integration berühren, und zum anderen, weil die 2008 ausgebrochene Krise der Finanzmärkte nach Lösungen und zukunftsweisenden Strategien verlangt, die auch die Frage nach dem angemessenen Verhältnis von supranationalen und intergouvernementalen Entscheidungsmodi und deren Legitimation aufwerfen.
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Jean-Victor Louis, Economic Policy under the Lisbon Treaty, in Griller / Ziller (eds), The Treaty of Lisbon. EU Constitutionalism without a Constitutional Treaty? (2008) 292: „... the Convention and the IGC 2003/2004 seemed to have wasted too much time in expressing a minimalist view of the role of the Union in this matter, not to mention the sterile discussions within the Hänsch Group on objectives of monetary policy and the independence of the ECB.“ (siehe CONV 76/02, 30.5.2002). Vgl André Sapir et al, An Agenda for a Growing Europe: making the EU economic system deliver (2004). Vgl Iain Begg, Economic governance in an enlarged euro area, Economic Papers 311/March 2008, http://ec.europa.eu/economy_finan ce/publications.
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Dieser Text entsteht vor den Ergebnissen der vom Präsidenten des Europäischen Rates einberufenen Task Force zur Behandlung der Problematik, doch Einigkeit scheint darüber zu bestehen, dass die nationalen Regierungen, zumindest jene der Eurozone, ihre jährlichen Haushaltspläne vor deren Behandlung in den Parlamenten dem Europäischen Rat und der Kommission zur Prüfung der Einhaltung europäischer Defizit- und Schuldenregelungen, aber auch Strukturreformen vorlegen müssen.11 Darüber hinaus debattiert die Task Force zur Zeit die höchst kontroverse Frage von Sanktionen bei Verletzung der Regeln des Stabilitätspaktes.12 Das Kapitel entsteht mitten in den Verhandlungen von Vorhaben der Union zur Regulierung der Finanz- und Versicherungsmärkte im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren. Die am 2. September 2010 zwischen dem Europäischen Parlament, Rat und Kommission paktierten Überwachungsbehörden sehen jene Mischung aus supranationaler und nationaler Machtausübung vor, die europäisches Regieren im Wesentlichen als „Regieren von Regierungen“ ausweist.13 Dieses Regieren wirft besondere Legitimitationsfragen auf. Die Kommission hat Pläne des Regierens im Binnenmarkt vorgestellt, die zwar eine relativ klare Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten vorsehen, aber doch Maßnahmen im Auge haben, die weitere Vertiefungen unvermeidlich machen. Auch der von Kommissionspräsident José Barroso in Auftrag gegebene Monti-Bericht zur Vollendung des Binnenmarktes thematisiert nicht nur neue Regulierungserfordernisse, er sieht in der Verordnung und nicht in der Richtlinie das ideale Umsetzungsinstrument, wodurch die Spielräume der Mitgliedstaaten empfindlich eingeschränkt werden sollen. Der Vertrag von Lissabon hat wie schon zuvor der Verfassungsvertrag zwei Probleme nicht gelöst. Erstens die Kompetenzfrage in Sachen Wirtschaftsregierung: Wer soll regieren? Die Kommission, der Europäische Rat, der Rat, die EZB oder die Mitgliedstaaten im Rahmen der Offenen Methode der Koordinierung? Die ersten Anläufe zur Erarbeitung von Strategien gegenüber der Fi-
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European Council, Communiqué from Herman Van Rompuy, President of the European Council, following the meeting of the Task force on economic governance, Brussels, 12.7.2010 (PCE 161/10) Agence Europe 10210, 9/9/2010, 1 ff. Agence Europe 10205 2/9/2010, 5.
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nanz- und Wirtschaftskrise beschwören die Gefahr des Regierens der zu vielen Hände und damit neuen Koordinierungsbedarf herauf.14 Das zweite ungelöste Problem betrifft die damit eng verbundene Legitimationsfrage: Die Finanzpakete und Stabilitätsmechanismen auf der Grundlage einer intergouvernementalen Vereinbarung und unter Einschluss des IWF wurden zwar durch die nationalen Parlamente sanktioniert, aber sie sind Ausdruck einer Politik des fait accompli, die der Qualität einer europäischen Demokratie Abbruch tut.15 Intergouvernementale Politik verdammt das Europäische Parlament zur Rolle des Zaungastes und lässt den nationalen Parlamenten kaum Spielräume. Wie für Maßnahmen im „Ausnahmezustand“ einer Finanzkrise demokratische Legitimität zu gewinnen ist, kann nicht nur durch einen Pragmatismus à la Pombal beantwortet werden. Denn während eine Erdbebenkatastrophe tatsächlich nur die Devise „Die Toten begraben, die Lebenden versorgen“ zulässt und theologische Erörterungen über die Schuldfrage ins Reich des Absurden verweist, sind Maßnahmen zur Eindämmung von Finanzkrisen ökonomisch und politisch umstritten und ihre mittelfristigen Wirkungen schwer kalkulierbar. Damit steht die Frage im Raum, wer im Falle des Scheiterns dafür Verantwortung übernimmt. 16 Europäisches Regieren im Wirtschafts- und Finanzbereich ist „management of interdependence“, denn alle Entscheidungen einer Regierung haben unausweichlich Auswirkungen auf andere Mitgliedstaaten, ja auf den globalen Kontext. Deshalb, so die These dieses Artikels, wird die Koordinierung der Mitgliedstaaten unter Wahrung der nationalen Souveränität als Prinzip nicht ausreichen.
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Siehe Peter Ehrlich, Hier spricht die Zentrale, Financial Times Deutschland, 30.7.2010. Ehrlich ist der Überzeugung, dass „während die Länder noch streiten, bereiten die Brüsseler Beamten schon die Machtübernahme vor“, und meint damit vor allem die DG Ecfin der Kommission, deren Mitarbeiter von 650 auf 700 Beamte erweitert werden sollen. Giandomenico Majone, The European Union and the Global Financial Crisis: The Failure of Supranational Governance. Lecture in the series „Fifty Years of Change in the International System”, organised by the Center for International Studies of El Colegio de México, 26-27.5.2010. Vgl Daniela Schwarzer, Governance-Dynamik in der Eurozone, Aus Politik und Zeitgeschichte 18/2010.
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Dies ist wohl auch die Einsicht, die zur Erarbeitung neuer europäischer Strategien geführt hat. Das Projekt eines „Europäischen Semesters“ muss aber die Frage beantworten, wie europäische Vorprüfungen von Budgetplänen durch Kommission und Rat mit der Souveränität der nationalen Parlamente in der Budget- und Fiskalpolitik in Einklang zu bringen sind. Umgekehrt ist es aus demokratiepolitischer Sicht notwendig, dass die nationalen Gesetzgeber sich ex ante mit europäischer Politik befassen und zwar nicht nur als Wahrer des Subsidiaritätssiegels, sondern als Akteure positiver Integration. Diese Neudefinition der nationalen Parlamente stößt jedoch an eine Reihe struktureller Grenzen, die in vielen nationalen Parlamenten nicht gelöst sind, ja oft nicht einmal diskutiert werden.17 Dagegen scheint die gestärkte Rolle des Europäischen Parlaments, das mit Lissabon im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zum wahren Ko-Gesetzgeber geworden ist, die aussichtsreichere Strategie, Legitimitätsfragen einer europäischen Wirtschaftsregierung zu klären. Auch die Kontrolle der Kommission kann nur das Europäische Parlament gewährleisten. Doch unbestritten ist, dass die gewachsene Macht des Parlaments nicht mit dessen Anerkennung durch die europäischen Bürger korreliert, obgleich diese den nationalen Parlamenten noch weniger Vertrauen entgegenbringen. In welcher Weise die neue Möglichkeit zur direktdemokratischen Partizipation durch die Bürgerinitiative (Art 11 Abs 4 EUV) genutzt wird, kann erst in Zukunft beurteilt werden. A. Verfassungsgrundlagen einer europäischen Wirtschaftsregierung Unter den Zielen der Europäischen Union figurieren in Art 3 Abs 3 EUV die „Errichtung eines Binnenmarktes“, ein „ausgewogenes Wirtschaftswachstum“ und – dies ist neu – „die Preisstabilität“. Die Union zielt auf eine „wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und die Verbesserung der Umweltqualität“. Darüber hinaus fördert sie „den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt“, bekämpft „soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen“, verfolgt „soziale Gerechtigkeit“ und „den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die
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Sonja Puntscher Riekmann, Constitutionalism and Representation: Parliamentarism in the Treaty of Lisbon, in Dobner / McLaughlin (eds), The Twilight of Constitutionalism (2010) 137.
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Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“. Gemäß Abs 4 errichtet die Union „eine Wirtschafts- und Währungsunion, deren Währung der Euro ist“. Dass die Zielsetzung, „den Wettbewerb im Binnenmarkt vor Verfälschungen“ zu schützen, wie noch in Art 3 Abs 1 lit g) EGV postuliert, nun in das umständlich formulierte Protokoll Nr 27 gewandert ist, wurde viel kritisiert, von manchen sogar als Absage an die tradierte Wettbewerbspolitik gewertet.18 Da jedoch die Vorschriften über das wettbewerbswidrige Verhalten von Unternehmen (Art 101 ff AEUV) und das grundsätzliche Beihilfenverbot (Art 107 ff AEUV) unangetastet bleiben, ist ein Abgehen von der vergangenen Ausrichtung nicht zu erwarten. Jedenfalls sind die genannten Ziele Spezifikationen des Gesamtzieles der Union, neben dem Frieden und den europäischen Werten auch „das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern“ (Art 3 Abs 1 AEUV). Mit dem Vertrag von Lissabon werden die Völker, die im Verfassungsvertrag in Art I-1 durch die Bürger als neuer Legitimationsquelle neben den Staaten verdrängt worden waren, als Begriff und Objekt des Handelns wieder betont. Doch schon für den Verfassungsvertrag galt, dass die Gemeinwohlperspektive nicht nur eine gesamteuropäische, sondern auch eine mitgliedstaatliche ist, während die Kunst des europäischen Regierens im Schlagen einer Brücke zwischen den beiden Ebenen besteht. Dieser Brückenschlag erfolgt durch die Loyalitäts- und Solidaritätsgebote, die aber notwendigerweise in einem Spannungsverhältnis zum Subsidiaritätsgebot stehen, während im Allgemeinen der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art 5 Abs 1 EUV) gilt. „Die Verwirklichung des Gemeinwohls im Staaten- und Verfassungsverbund wird damit zwangsläufig zu einem Kompetenzproblem“ und „die bisherige Tätigkeitskombination aus Supranationalität und Intergouvernementalität fortgeführt“.19 Und dies zeigt sich in der mit der
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Kritisch Klaus Bünger, Wirtschaft, Währung und Finanzen, in Marchetti / Demesmay (Hg), Der Vertrag von Lissabon. Analyse und Bewertung (2010) 94. Bünger sieht überhaupt einen „Verlust an ordnungspolitischer Konsistenz des EU-Verfassungssystems“ (98) nicht nur durch die Verschiebung der Wettbewerbsklausel in die zitierte Erklärung, sondern vor allem auch durch die neue generelle Sozialklausel (Art 9 AEUV) und durch den Bedeutungswandel des Begriffes der sozialen Marktwirtschaft in Richtung wohlfahrtsstaatlicher Intervention (99). Christian Calliess, Art I-1 EVV, in Calliess / Ruffert (Hg), Verfas-
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Finanzkrise neu entflammten Debatte um Sein oder Nicht-Sein einer europäischen Wirtschaftsregierung besonders anschaulich, die der Präsident des Europäischen Rates Van Rompuy für sich und sein Organ entscheiden will: „Like me, the members of the European Council believe that the European Council must act as an economic government because it is the only body with the necessary political energy to take courageous and difficult decisions.“20 In Wahrheit kennen die Verträge der Union keine mit klaren Kompetenzen ausgestattete europäische Wirtschaftsregierung, wohl aber die Verpflichtung zur Koordinierung der nationalen Wirtschaftpolitiken (Art 119 ff AEUV) und Modi des Regierens auf der Grundlage von Übereinkünften, die in unterschiedlichem Ausmaß rechtlich bindend sind. Wirtschaftspolitisches Regieren oszilliert also zwischen hard und soft law. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist primärrechtlich in der Erklärung 30 zu Artikel 126 AEUV festgehalten, in der sich die Regierungskonferenz zu seinen Bestimmungen „als Rahmen für die Koordinierung der Haushaltspolitik in den Mitgliedstaaten“ bekennt. Realisiert wird er durch drei Verordnungen des Rates,21 die klare Grenzen für Budgetdefizite und Staatsschulden vorschreiben und die Überwachung ihrer Einhaltung an primär- und sekundärrechtliche Verfahren knüpfen. Dass die Konferenz in der Erklärung 30 bekräftigt, dass das System am besten dadurch gewährleistet wird, „dass die Verpflichtungen tatsächlich eingehalten werden“, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Die gesamte Erklärung liest sich wie ein Appell an die Mitgliedstaaten, sich doch an die eigenen Abmachungen zu halten. Man kann Jean-Victor Louis zustimmen, wenn er behauptet, hier würde der Geist des Stabilitäts- und Wachstumspaktes mehr beschworen, als dass er den Vertrag durchdringe.22 Doch zeugen diese Beschwörungsformeln und unterschiedlichen Textsorten eben von
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sung der Europäischen Union (2006) Rn 46. Zitiert in Agence Europe 10206, 3.9.2010, 1. Dies ist die Übersetzung einer französischen Rede Van Rompuys, in der er explizit von „gouvernement économique“ spricht, während er im Englischen den Begriff „economic governance“ verwendet. Letzterer wird ins Deutsche mit „Regieren“ übersetzt und meint jenes Ensemble von mehr oder weniger verbindlichen Entscheidungsregeln in den Netzwerken des europäischen Mehrebenensystems. Verordnungen des Rates von 7.7.1997 mit Novellierungen aus 2005. Louis, Economic Policy under the Lisbon Treaty (Fn 8) 289 f.
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jenem Spannungsfeld zwischen Supranationalität und Intergouvernmentalität, aber auch von den ideologischen Differenzen nationaler Regierungen in wirtschaftspolitischen Fragen und ihrem Interesse, nationale Spielräume offen zu halten. Die in Art 121 AEUV erwähnten Grundzüge der Wirtschaftspolitik werden wiederum in einer Empfehlung des Europäischen Rates ausgestaltet,23 während die Lissabon-Strategie in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates 2000 (und 2005) festgehalten ist. Die Umsetzung der Lissabon-Strategie beruht auf der Offenen Methode der Koordinierung, deren Effizienz höchst unterschiedlich beurteilt wird. Schwankt die Literatur zwischen Kritik und positiver Beurteilung, so beklagen die Mitgliedstaaten in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates immer wieder die geringen Fortschritte in der Umsetzung der intergouvernementalen Vereinbarungen und fordern größeres Engagement. Das gilt auch für die Erklärung 30, in der „die Konferenz ... ihr Bekenntnis zu den Zielen der Lissabonner Strategie: Schaffung von Arbeitsplätzen, Strukturreformen und sozialer Zusammenhalt“ erneuert. Die Kommission hat nun nach zehn Jahren Lissabon-Strategie im Jahre 2010 deren Evaluierung vorgenommen und schließlich eine eigene namens Europa 202024 vorgelegt, in der Ziele, Schritte und Verantwortlichkeiten der verschiedenen Handlungsebenen klarer definiert werden. Mit der Umsetzung der neuen Strategie wurde in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 17. Juni 2010 die Kommission und eine Arbeitsgruppe betraut, die „diese Leitlinien weiterentwickeln und für die Praxis anwendbar machen“ sollen. Ein Abschlussbericht wird für den Oktober 2010 erwartet.25 Auch hier betonen die Mitgliedstaaten: „Wir sind uns völlig darin einig, dass es dringend erforderlich ist, die Koordinierung unserer Wirtschaftspolitiken zu verstärken.“26
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Zuletzt geändert 2010. European Commission, Communication from the Commission Europe 2020. A strategy for smart, sustainable and inclusive growth, Brussels 3.3.2010 KOM(2010) 2020 endg. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, Tagung vom 17.6.2010 (EUCO 13/10, CO EUR 9, CONCL 2), 5. Ebenda, 1.
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B. Koordinierung und gegenseitige Überwachung der Mitgliedstaaten: Die beste aller Welten? Die mit der Griechenlandkrise offen zu Tage getretenen Probleme der Nicht-Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes haben zu einem Mea Culpa der EU Institutionen geführt, wobei die Europäische Kommission klar von den Schwächen der Union als Ergebnis von vergangenen Fehlern spricht: „The functioning of the Economic and Monetary Union has been under particular stress, due to earlier failures to comply with the underlying rules and principles. The existing surveillance procedures have not been comprehensive enough“.27 Dies verweist einmal mehr darauf, dass die gegenseitige Überwachung in hohem Maße vom Willen der Regierungen abhängig ist, sich auch tatsächlich gegenseitig zu kontrollieren. Auch wenn alle Regierungsakteure um die Realität Griechenlands wussten, so sind ihre neuen Bekenntnisse zur Notwendigkeit strengerer Überwachung mehr den katastrophalen Reaktionen der Finanzmärkte als eigenem Realismus geschuldet. Sind also Koordinierung und gegenseitige Überwachung tatsächlich die besten Methoden? Auch wenn man angesichts der bisherigen Erfahrungen dazu neigt, dies zu verneinen, bleiben sie jedenfalls – von einigen Veränderungen abgesehen – die Schlüsselbegriffe des Vertrags von Lissabon zur europäischen Wirtschaftspolitik. Art 119-121 AEUV wiederholen sie bis zur Redundanz: „Die Tätigkeit der Mitgliedstaaten und der Union im Sinne des Artikels 3 der Vertrags über die Europäische Union umfasst nach Maßgabe der Verträge die Einführung einer Wirtschaftspolitik, die auf einer engen Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, dem Binnenmarkt und der Festlegung gemeinsamer Ziele beruht und dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist“ (Art 119 Abs 1 AEUV). Und Art 121 Abs 1 AEUV lautet: „Die Mitgliedstaaten betrachten ihre Wirtschaftspolitik als eine Angelegenheit von gemeinsamen Interesse und koordinieren sie im Rat nach Maßgabe des Artikels 120.“ Diese Artikel sind ebenso wenig neu wie die folgenden Bestimmungen zur Erarbeitung und Verabschiedung der Gründzüge der
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European Commission, Communication from the European Commission to the European Parliament, the European Council, the Council, the European Central Bank, the Economic and Social Committee and the Committee of Regions, Reinforcing economic policy coordination, Brussels 12.5.2010 KOM(2010) 250 endg, 2.
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Wirtschaftspolitik und zur multilateralen Überwachung. Neu ist dagegen die Möglichkeit der Kommission bei Verfehlen der Grundzüge oder Gefährdung des ordnungsgemäßen Funktionierens der Wirtschafts- und Währungsunion durch die Wirtschaftspolitik eines Mitgliedstaates, an diesen direkt eine Verwarnung zu richten. Und neu ist, dass der Rat seine Empfehlung wie auch deren Veröffentlichung ohne Berücksichtigung der Stimme des betreffenden Mitgliedstaates beschließt (Art 121 Abs 4 AEUV). Nicht zuletzt, können nun die Einzelheiten des Verfahrens der multilateralen Überwachung im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Verordnungen des Europäischen Parlaments und des Rates festgelegt werden (Art 121 Abs 6 AEUV). Dies trägt dem Verlangen des Europäischen Parlaments nach Beteiligung an der Wirtschaftspolitik der Union Rechnung.28 Die Vertragsbestimmungen zur Wirtschafts- und Währungspolitik stehen also in einer Kontinuität mit der Vergangenheit und bieten nur kleine doch möglicherweise wichtige Anpassungen, um aus dem Circulus vitiosus der selbstreferentiellen und von diplomatischen Rücksichten geprägten Ratsdiskurse auszubrechen und in Hinkunft Fehlentscheidungen zu vermeiden. Obwohl Art 121 Abs 3 AEUV unverändert bleibt und damit keine neuen Handhaben zur Überprüfung der Richtigkeit von mitgliedstaatlichen Angaben an die Kommission bietet, enthalten die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 17. Juni 2010 Verschärfungen der Vorschriften für die Haushaltsdisziplin, die explizit die „Sicherstellung der Qualität der statistischen Daten“ und die „vollständige Unabhängigkeit der Statistikämter bei der Bereitstellung der Daten“ erwähnen.29 Auch die Empfehlung des Rates zu den Grundzügen für die Wirtschaftspolitik vom 7. Juli 2010 beginnt mit einer Kritik am Mangel einer klaren Prioritätensetzung der vorangegangenen Vereinbarungen zur Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik und sieht darin den Grund für ihre verfehlte Wirkung auf die nationale Poli-
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Agence Europe, 29.6.2010. In einer Presseaussendung argumentieren die EP-Präsidenten vor allem mit der Notwendigkeit der Transparenz. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, 17.6. 2010, 5.
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tik.30 Die Empfehlung knüpft an die Kommissionsstrategie Europa 2020 Für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum31 an, die sie als Grundlage für das Tätigwerden der Mitgliedstaaten definiert und diese aufruft, alle Anstrengungen zu unternehmen, um die nationalen Ziele zu erreichen und Wachstumshindernisse zu beseitigen.32 Die darauf aufbauenden Grundzüge „give precise guidance to the Member States on defining their national reform programmes and implementing reforms, reflecting interdependence and are in line with the Stability and Growth Pact. The guidelines will form the basis for any country-specific recommendations that the Council may address to the Member States, or in the case of the broad economic guidelines on economic policies, for policy warnings that the Commission may issue in case of insufficient follow-up to the respective country-specific recommendations.“33 Die sechs Leitlinien enthalten keine grundsätzlich neuen Aspekte: Die erste zur Absicherung der Qualität und Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen sieht erwartungsgemäß die Sanierung der Haushalte nach der Krise vor und damit strukturelle Reformen bei den Ausgaben für das Gesundheits- und Pensionswesen. Darin empfiehlt der Rat die Setzung von Prioritäten zugunsten von produktivitätssteigernden Ausgaben im Bereich Bildung, Forschung und Entwicklung, und modernisierenden Infrastrukturmaßnahmen. Die zweite Leitlinie zielt auf die Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte durch Maßnahmen im Bereich der Steuerpolitik, Lohnentwicklung, Finanzdienstleistungen und der Arbeitsmarktpolitik. Die Empfehlung zur moderaten Lohnpolitik ist problematisch, würde sie doch einen Eingriff in die Autonomie der Tarifpartner darstellen. Empfohlen wird aber auch, wohl an die Adresse Deutschlands, die interne Nachfrage durch den Abbau von Bilanzüberschüssen zu stimulieren. Der letzte Punkt wird in der dritten Leitlinie zum Abbau von Ungleichgewichten in der Eurozone noch
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European Commission, Recommendation for a Council Recommendation on broad guidelines for the economic policies of the Member States and of the Union, Brussels 7.7.2010 (11646/10), 3. Europäische Kommission, Mitteilung Europa 2020. Für ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum, Brüssel 3.3.2010, KOM (2010) 2020 endg. European Commission, Recommendation for a Council Recommendation on broad guidelines, 4 (Übersetzung SPR). Ebda, 8.
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einmal angesprochen, wobei die Notwendigkeit, institutionelle Barrieren gegen flexible Anpassungen von Preisen und Löhnen an Marktbedingungen aufzuheben, betont wird. Dies verlangt nach Eingriffen in die nationale Sozialpolitik, die weitgehend in der Kompetenz der Mitgliedstaaten bleibt und nach Art 153 Abs 2 lit a) AEUV jegliche Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften ausschließt. In der Diskrepanz zwischen wirtschaftspolitischen Zielsetzungen auf europäischer Ebene und sozialpolitisch relevanten Konsequenzen auf nationaler Ebene liegt denn auch das größte Konfliktpotential der Zukunft. Die vierte Leitlinie wiederholt das jahrelange Bekenntnis zur Unterstützung von Forschung und Entwicklung durch Stärkung des Wissensdreiecks und der Potentiale der digitalen Ökonomie, wobei für Investitionen noch einmal die bis 2020 öffentlich und privat zu erbringende Summe von 3 % des BIP bekräftigt wird. Die fünfte Leitlinie ist der Verbesserung von Ressourceneffizienz, der Reduktion von Gashaus-Emissionen um 20 % bis 2020 und dem vermehrten Einsatz von erneuerbaren Energiequellen gewidmet. Und die sechste Leitlinie dem Funktionieren des Binnenmarktes im Namen einer Verbesserung der Bedingungen für Unternehmen und Konsumenten. Der letzte Punkt wird auch von der Akzeptanz des am 9. Mai 2010 vorgelegten Berichts Eine neue Strategie für den Binnenmarkt im Dienste der Wirtschaft und Gesellschaft in Europa von Mario Monti an den Kommissionspräsidenten Barroso abhängen. Der Bericht beginnt nicht nur mit einer generellen Feststellung über die Integrations- und Marktmüdigkeit der Europäer, die eine rigorose Wiederaufnahme und Vollendung des Binnenmarktprojektes schwierig machen, er artikuliert auch Skepsis über das Durchsetzungssystem des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, das aus inhärenten Gründen auf die Zusammenarbeit der Regierungen aufbaut und schließt: „Es hat sich nicht nur in der Krise, als ein gewisser Spielraum aus makroökonomischen Erwägungen durchaus berechtigt gewesen sein mochte, nicht so bewährt, sondern auch schon vorher in den „guten“ Jahren“.34 So wird nun vieles davon abhängen, ob der Binnenmarkt und seine vollständige Umsetzung weiterhin das große Ziel der Mitgliedstaaten bleiben. Angesichts
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Mario Monti, Eine neue Strategie für den Binnenmarkt. Im Dienste der Wirtschaft und Gesellschaft in Europa. Bericht an den Präsidenten der Europäischen Kommission, 9.5.2010.
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einer sich fragmentierenden Parteienlandschaft in den meisten Mitgliedstaaten, die Vision und Interesse auch der traditionellen Großparteien für weitere Vertiefungen der Union schwinden lassen, setzt Monti auf die Notwendigkeit eines neuen Konsenses, ansonsten könnte „der Binnenmarkt ... das erste Opfer dieses sich herausbildenden politischen Szenarios werden, wenn er als ‚blinder Aggressor’ traditioneller lokaler Werte gesehen wird.“35 Daher ist ein Kompromiss im Spannungsfeld zwischen Marktintegration und sozialen Zielsetzungen zu suchen, 36 aber auch einer zwischen den verschiedenen Ökonomien bzw Gruppen von Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen Traditionen. 37 So sehr Monti die Notwendigkeit der offenen Diskussion über die „Asymmetrien zwischen der Marktintegration auf supranationaler Ebene und der sozialen Sicherung auf nationaler Ebene“38 betont, so sehr bleibt er bei den Vorschlägen den traditionellen Politikinstrumenten verhaftet: entweder der besseren Koordinierung der mitgliedstaatlichen Regierungen (vor allem im Bereich des Steuerwettwerbs) oder den Durchgriffsrechten der Kommission. Im Verweis auf die „Wunde“, die von den EuGH-Urteilen zu Viking Line, Laval, Rüffert und Kommission vs Luxemburg aufgerissen wurde,39 betont Monti das Wissen vieler Politiker, „dass eine Klärung dieser Fragen nicht etwaigen künftigen Rechtsstreitigkeiten vor dem EuGH oder nationalen Gerichten überlassen bleiben sollte. Hier müssen die politischen Kräfte eine Lösung anstreben, die dem Vertragsziel der ‚sozialen Marktwirtschaft’ gerecht wird.“40 In diesem Zusammenhang spricht Monti den Sozialpartnern eine besondere Rolle zu, wie sie nun in Art 152 AEUV primärrechtlich verankert ist: „Die Union anerkennt und fördert die Rolle der Sozialpartner auf Ebene der Union unter Berücksichtigung der Unterschiedlichkeit der nationalen Systeme. Sie fördert den sozialen Dialog und achtet dabei auf die Autonomie der Sozialpartner. Der Dreigliedrige Sozialgipfel für Wachstum und Beschäftigung trägt zum sozialen Dialog bei.“ Damit ist aber wiederum die Frage
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Ebenda, 28. Ebenda, 30. Ebenda, 32. Ebenda, 80 und passim. Ebenda, 80. Ebenda, 81.
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der Koordinierung der Sozialpartner – und der Überschreitung der nationalen Systeme – aufgeworfen. Die damit verbundenen Schwierigkeiten werden ebenso groß sein, wie die Koordinierung der Regierungen und jene der nationalen Parlamente in der wirksamen Subsidiaritätskontrolle.41 Schon in der Konventsarbeitsgruppe „Soziales“ waren die Differenzen zwischen den sozialpartnerschaftlichen Kulturen der Mitgliedstaaten ein Hindernis für ein produktives Ergebnis. Vor allem den Gewerkschaften scheint die Entwicklung einer europäischen Perspektive besonders schwerzufallen. Koordinierung ist nicht die beste aller Welten, aber wohl die Realität, mit der auch nach dem Vertrag von Lissabon zu rechnen ist. Das Schaffen von Strukturen, die den Dialog zwischen den Sozialpartnern, den Parteien und den Parlamenten ermöglichen, wird die eigentliche demokratiepolitische Herausforderung der nächsten Jahre. Allen europäischen Institutionen wird eine Führungsrolle zukommen, die auch von den Bürgern erwartet wird. Zumindest kann man die Ergebnisse aus Eurobarometerumfragen, denen zufolge die Bürger den europäischen größeres Vertrauen als den nationalen entgegenbringen, in diese Richtung deuten.42 Dass in den jüngsten Umfragen 86 % der europäischen Bürger der EU 27 die Notwendigkeit einer besseren Koordination der Mitgliedstaaten in finanz- und wirtschaftspolitischen Angelegenheiten bejahen,43 ist wohl als Auftrag an die nationalen Akteure zu lesen. Doch wird die Qualität der europäischen Politik wesentlich davon abhängen, ob sie mehr ist als der kleinste gemeinsame Nenner nationaler Interessen. Europäische Kommission und Europäisches Parlament sind daher gefordert, das institutionelle Gleichgewicht mit Rat und Europäischem Rat herzustellen. Die Kommission hat in den letzten Monaten mit der Strategie Europa 2020 und dem Monti-Bericht versucht, die Themenhoheit zurückzugewinnen. Ob dies schon Ausdruck einer Umkehr ihrer Tendenz zur „Intergouvernementalisierung“44 ist, wird die Zukunft weisen. Intergouvernementalisierung meint hier die vorauseilende Berücksichtigung aller nationalen Interessen, denen der Fokus auf ein Gemeinschaftsin-
41 42 43 44
Siehe Puntscher Riekmann, Constitutionalism and Representation (Fn 17). Eurobarometer 73/2010, 24. Ebenda, 31. Man beachte jedoch wichtige nationale Differenzen. Vgl Jacqué, Der Vertrag von Lissabon (Fn 5) 109.
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teresse jenseits des kleinstmöglichen Nenners geopfert wird. Monti empfiehlt mit Blick auf die Vertiefung des Binnenmarktes eher die Rücknahme eines Kommissionsvorschlages als ein unzufriedenstellendes Ergebnis zu akzeptieren,45 oder gegebenenfalls das sog „28. Regime“ in Form eines EU-weiten Rechtsrahmens als Alternative zu nationalen Gesetzen zu verwenden.46 Bemerkenswert ist jedenfalls, dass die Legitimitätsfrage in diesem Bericht nur eine indirekte Rolle spielt. Zwar spricht Monti von der Notwendigkeit, den Konsens der Mitgliedstaaten, der Sozialpartner und zivilgesellschaftlicher Organisationen herzustellen, während das Europäische oder die nationalen Parlamente als direkt gewählte Organe der Repräsentation kaum ins Spiel kommen. Und dies trotz der verstärkten Rolle, die der Vertrag von Lissabon gerade den Parlamenten zuspricht.47 C. Aufwertung der Eurogruppe In der Währungspolitik ist die Union von differenzierter Integration geprägt. Während die Regulative des Binnenmarktes und die Koordination der Wirtschaftspolitik alle 27 Mitgliedstaaten betreffen, ist die Währungsunion auf 16 beschränkt. Dabei war sie von Anfang an als „supreme stage of economic integration, as the Delors report called it, conditioning the evolution of sectoral policies, such as fiscal, social, employment and trade policies“,48 anvisiert. Doch die ersten Schritte zu einer Währungsunion beginnen mit dem Werner-Plan von 1969 in der alten Gemeinschaft der sechs, und als man noch weit entfernt war von den Diskussionen über optimale Währungsräume und den großen sozio-ökonomischen Differenzen der EU 27. Doch obwohl in absehbarer Zeit nicht mit dem Beitritt aller Mitgliedstaaten der Union zur Eurozone zu rechnen ist – entweder weil sie dies nicht wollen wie Großbritannien oder Dänemark oder weil sie die Bedingungen eines Beitritts nicht erfüllen wie eine Reihe osteuropäischer Staaten –, postuliert der Vertrag von Lissabon in Art 3 Abs 4 EUV: „Die Union errichtet eine Wirtschafts- und Währungsunion, deren Währung der Euro ist.“ Die Währungsunion gehört damit zu den Allgemeinen Bestimmungen des Vertrags und ist bemerkenswerterweise an jener Stelle einge-
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Vgl Monti, Eine neue Strategie für den Binnenmarkt (Fn 34) 124. Ebenda, 111. Siehe dazu die Schlussfolgerungen dieses Beitrags. Louis, Economic Policy under the Lisbon Treaty (Fn 8) 287.
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fügt, an der im Verfassungsvertrag die Symbole standen. Damit bleiben die Grundhaltung der Mitgliedstaaten, dass das Opt-Out aus der Währungsunion ein vorübergehendes Stadium der Integration ist, und die Vision von der gemeinsamen Währung als höchstem Integrationsstadium aufrecht. Einstweilen trägt der Vertrag der Differenzierung durch Regelungen Rechnung, die eine Aufwertung der Eurogruppe inkludieren. In Kapitel 4 des Titel VIII AEUV sind die besonderen Bestimmungen für jene Mitgliedstaaten verankert, deren Währung der Euro ist. Sie ermöglichen eine verstärkte Zusammenarbeit, wobei die Mitglieder der Eurogruppe das Protokoll zum Defizitverfahren nicht verändern dürfen. Ihre Zusammenarbeit, die auf eine „immer engere Koordinierung der Wirtschaftspolitik“ abzielt, beruht auf eigenen Gründzügen für die Wirtschaftspolitik, doch müssen diese mit jenen für alle Mitgliedstaaten vereinbar sein. Das Stimmrecht bleibt den Mitgliedern der Eurogruppe vorbehalten. (Art 136 Abs 1 und 2 AEUV). Dass die Nicht-Angehörigen an den Diskussionen der Eurogruppe teilhaben können, wird im Vertrag nicht erwähnt und ist politisch umstritten.49 Art 137 AEUV und das Protokoll Nr 14 formalisieren die Existenz der Eurogruppe, wobei das Protokoll „die Bestimmungen für einen verstärkten Dialog“ der Euromitglieder vorsieht, „bis der Euro zur Währung aller Mitglieder geworden ist.“ Formalisiert werden in Art 1 des Protokolls auch die informellen Ministersitzungen der Euro-Mitglieder unter Teilnahme der Kommission, zu denen auch die Europäische Zentralbank eingeladen werden kann. Doch konstituieren diese Ministertreffen keinen ECOFIN der Eurozone, wie Frankreich und die Kommission schon im Konvent verlangt hatten. Sieht man einmal von der Paradoxie einer Formalisierung des Informellen ab, so stellt sich in diesem Zusammenhang die demokratiepolitische Frage nach Transparenz und Verantwortlichkeit. In dieser Hinsicht ist die Berichterstattung des Präsidenten der Eurogruppe vor dem Ausschuss des Europäischen Parlaments jedenfalls als Fortschritt zu betrachten.50 Artikel 2 des Protokolls regelt die Wahl eines Präsidenten: Die Mitglieder wählen eine Präsidentschaft auf zweieinhalb Jahre und schaffen damit Führungsstabilität, aber keine eigene Infrastruktur. Denn die Eurogruppe erhält kein eigenes Sekretariat, die Sitzungen werden von der Kommission und den Vertretern der Finanzminister
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Ebenda, 290. Ebenda, 295.
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vorbereitet. Mit Art 138 AEUV wird schließlich die wichtige Frage der internationalen Repräsentanz des Euro neu und klarer geregelt, wobei der Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung der Europäischen Zentralbank einen gemeinsamen in internationalen Organisationen einzunehmenden Standpunkt beschließt (Art 138 Abs 1 AEUV). Die einheitliche Vertretung ist dagegen nur als Kann-Bestimmung formuliert (Abs 2). Trotz aller Rufe nach globaler Leadership51 der Eurogruppe vor allem während der Finanzund Wirtschaftskrise, stellt diese Bestimmung wohl das erreichbare Maximum dar. Zum G20 Gipfel fahren damit weiterhin die Inhaber der rotierenden ECOFIN-Präsidentschaft und der Präsident der Europäischen Zentralbank. Inwiefern eine allfällige britische, dänische oder tschechische Ratspräsidentschaft auch Interessen der Eurogruppe mit vertritt, wird im Einzelnen zu untersuchen sein. D. Die Europäische Zentralbank als Organ der Union: Gefahr für die Unabhängigkeit? Die Debatte um die Einrichtung der Europäischen Zentralbank im Zuge der stufenweisen Realisierung der gemeinsamen Währung war von den Begriffen Unabhängigkeit und Garantie der Preisstabilität geprägt. Da der Verzicht auf die D-Mark zu den größten Opfern Deutschlands auf dem Wege zur „immer engeren Union“ gehörte, führte kein Weg am Modell der deutschen Bundesbank vorbei. Doch ist diese Geschichte nicht nur als deutscher Oktroi zu erzählen, sondern auch als eine von gleichlautenden Präferenzen etwa französischen und italienischer Zentralbanker, die seit geraumer Zeit und mit wechselnden Erfolgen um ihre Freiheit von politischen Interventionen kämpften.52 Die Unabhängigkeit im Verfolg
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Vgl die Beiträge in André Sapir (ed), Fragmented Power: Europe and the Global Economy (2007); zur Rolle Europas in der Reform des IWF: Domenico Lombardi / Jim O’Neill, How Europe can shape the Fund, Financial Times, 9.4.2008. Kenneth Dyson / Kevin Featherstone, The Road to Maastricht. Negotiating Economic and Monetary Union (1999) 210 ff. „This negotiation was an important opportunity for de Larosière to pursue his prime strategy of aligning Banque de France alongside the Bundesbank and the Dutch central bank”. (Ebenda, 211) Zur Banca d’Italia, dem erfolgreichen Kampf um ihre Unabhängigkeit und der Funktionalisierung der Regierungskonferenz für Problemlösungen „which we were not able to tackle via the normal channels of government and parliament“, wie der ehemalige Zentralbankpräsident und die
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von Preisstabilität wurde denn auch zum Wesensmerkmal der EZB. Sie ist im Vertrag von Maastricht nicht als Organ der Gemeinschaft, sondern als mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattete (Art 107 Abs 2 EGV) Einrichtung in Art 8 EGV verankert. Dieser Sonderstatus wurde nicht nur befürwortet sondern auch kritisiert, zumal in der Literatur Interpretationen auftauchten, die sie als Organisation neben der EG begriff.53 Die Frage, „Whom is the European Central Bank the Central Bank of?“,54 wurde jedenfalls im Vertrag von Lissabon eindeutig beantwortet. Trotz Versuche der Abwehr in ihren Stellungnahmen zum Verfassungsprozess,55 ist die EZB nun ein Organ der Union (Art 13 Abs 1 EUV). Dabei bleibt ihre für das Abschließen von Bankgeschäften notwendige Rechtspersönlichkeit ebenso unangetastet wie ihre Unabhängigkeit in der Ausübung ihrer Befugnisse und in der Verwaltung ihrer Mittel (Art 282 Abs 3 AEUV). Die Konstruktion der EZB und ihre Stellung im institutionellen Gesamtgefüge zeugen aber zugleich von Ambivalenzen, die der Vertrag von Lissabon nicht geklärt hat. Und dazu gehört das Verhältnis von EZB und dem Europäischen Zentralbankensystem, von EZB und Eurogruppe und nicht zuletzt jenes zu den internationalen Bankensystemen. Zunächst ist die Zentralbank des Euro nicht die EZB sondern vielmehr das Eurosystem, das aus EZB und nationalen Zentralbanken besteht. Beide sind für die Währungs- und Geldpolitik zuständig.56 Doch wenn wir Antonio Sáinz de Vicuna folgen, dann ist ein Spezialstatus von Zentralbanken keine Ausnahme der EZB, sondern die Normalität, die auch mit den zahlreichen internationalen Vernetzungen von Zentralbanken zusammenhängen. Dennoch betont auch er die Merkwürdigkeit, dass das Recht, an EZB-Ratssitzungen teilzunehmen, nicht dem Präsidenten der Eurogruppe, sondern dem rotierenden ECOFIN-Präsidenten
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WWU verhandelnde Finanzminister Guido Carli schreibt, siehe ebenda, 452 ff. Vgl Streinz / Ohler / Herrmann, Der Vertrag von Lissabon (Fn 2) 84; und Martin Selmayr / Chiara Zilioli, The Constitutional Status of the European Central Bank, CMLR 44, 2007, 355 ff. Ramon Torrent, Whom is the European Central Bank the Central Bank of? Reaction to Zilioli/Selmayr, CMLR 36, 1999, 1229. Antonio Sáinz de Vicuna, The Status of the ECB, in Griller / Ziller (ed), The Treaty of Lisbon (2008) 302. Ebenda.
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zukommt. Auch dass der Titel VIII über Wirtschafts- und Währungspolitik auf das Europäische Zentralbankensystem und nicht explizit auf das Eurosystem verweist, wird kritisiert. Während man dies noch als Zeichen des prinzipiellen Bekenntnisses zu einer in Zukunft alle EU-Mitgliedstaaten umfassenden Währungsunion werten könnte, spricht viel für die Kritik an der Ausklammerung der EZB aus möglichen Verfahren zum Austritt eines Mitgliedes aus dem Euro.57 Dagegen ist die Klage Sáinz de Vicunas über den Mangel von angemessenen finanzpolitisch relevanten Überwachungssystemen mit den gerade geschaffenen Aufsichtsbehörden fürs Erste hinfällig, auch wenn über deren reales Funktionieren erst im Laufe der nächsten Jahre sinnvolle Aussagen getroffen werden können.58 Dass diese Behörden nicht schon das Ergebnis der vergangenen Verfassungsdiskussionen zum Thema „Economic Governance“ waren, sondern erst unter dem Druck der Finanz- und Wirtschaftskrise entstanden, mag von mangelndem Weitblick der Verfassungsreformer zeugen. Es ist aber auch ein Beleg für die These, dass die meisten großen Sprünge in der europäischen Integration in Krisen ihren stärksten Motor hatten. Seit ihrer Gründung wird die EZB vom Ruf nach mehr Transparenz begleitet. Dies führte dazu, dass sie sich im Laufe der Jahre um Offenheit gegenüber den EU-Organen über die in ihrem Statut verankerte Berichtspflicht (Art 15) hinaus bemühte. Die EZB diskutiert regelmäßig nicht nur mit der Kommission im Rahmen der sogenannten Lamfalussy-Auschüsse, sondern auch mit dem Rat, dem Europäischen Rat und mit dem Währungsausschuss des EP über ihre geldpolitischen Strategien, obgleich sie dem Wunsch der Abgeordneten nach einer Offenlegung ihrer Entscheidungskriterien nur eingeschränkt nachkommt. Generieren die hochkomplexen Fragen europäischer und internationaler Finanzpolitik quasi automatisch eine Tendenz zu technokratischen Entscheidungsmodi, so hat die Finanzkrise gezeigt, dass jene enormen Finanzpakte zur Rettung von Systembanken (oder solchen, die man dafür hielt) und illiquiden Staaten, die dann wiederum große Sparpakete zur Folge haben, nicht ohne einen Minimalkonsens der Bürger zu realisieren sind. Dass die deutsche Bundeskanzlerin für ihre Entscheidung zur Rettung Griechenlands auf die Wahl in Nordrhein-Westfalen Rücksicht nahm, ist nur ein Beweis für diesen Satz. Die koordinierte
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Ebenda, 306. Siehe auch Pkt II. nachstehend auf S 518.
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Rückholung der Geldmengen aus den Finanzmärkten zur Vermeidung von Inflation und neuen Blasen wird jedenfalls zu schmerzhaften Einschnitten führen, die alle nationalen Regierungen dem Druck der Rechtfertigung gegenüber ihrer Wählerschaft aussetzen werden. II. Die Finanz- und Wirtschaftskrise als Mutter aller Dinge Was die Verfassung der Union ausschließen wollte, ist nun geschehen: die Mitgliedstaaten der Eurogruppe haben einen Defizitsünder durch Bereitstellung eines Finanzpaketes gerettet. Sie gründen ihr Vorgehen auf Art 122 Abs 2 AEUV, demzufolge der Rat auf Vorschlag der Kommission einem Mitgliedstaat unter bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Union gewähren kann, wenn der betreffende Mitgliedstaat „aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht“ ist. Artikel 125 Abs 1 AEUV postuliert aber, dass weder die Union noch ein Mitgliedstaat für die Verbindlichkeiten eines Mitgliedstaates eintritt. Hier stellt sich zunächst die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Artikel. Stehen sie in offenem Widerspruch zueinander? Aber dann: Das Erdbeben auf den Finanzmärkten ist, wie wir wissen, nicht ohne das Zutun Griechenlands ausgelöst worden, noch kam es unerwartet. Ist also die Begründung mit den „außergewöhnlichen Ereignissen“, die sich der Kontrolle eines Mitgliedstaates entziehen, wirklich haltbar? Hier liegt Konfliktstoff für die Politik und möglicherweise auch die Gerichte. Aber das 440Mrd-Paket wurde zusätzlich und auf Drängen Deutschlands auf ein intergouvernementales Abkommen gestützt, während zum Gesamtpaket von 750 Mrd Euro auch der IWF einen Beitrag leistet, womit auch ihm die Kontrolle über die Einhaltung der Bedingungen des Rettungsschirmes zukommt. Angela Merkels Insistenz auf die intergouvernementale Lösung hat viel mit der nationalen Debatte um die Frage, warum die sparsamen Deutschen für den sozialpolitischen „Luxus“ der Griechen aufkommen sollen, zu tun. Bemerkenswert ist auch, dass Deutschland mitten in der Krise eine Verfassungsänderung vornahm, die neue Schuldenobergrenzen definierte (Artikel 115 GG).59 Und schließlich ist die deutsche Bundesregie-
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http://www.bundesregierung.de/Content/DE/__Anlagen/2010/201006-07-eckpunkte-kabinett,property=publicationFile.pdf
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rung von Verfassungsklagen gegen den bail-out bedroht. Dass Karlsruhe den Antrag auf einstweilige Anordnung zur Verhinderung des Euro-Rettungsschirms abgelehnt hat,60 verschafft der Regierung eine Atempause. Jedoch zeugt dieser Antrag – wie auch die Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung der Verträge von Maastricht und Lissabon – von Misstrauen gegenüber dem Einigungsprozess,61 das man nicht nur in politischen Debatten artikuliert, sondern durch gerichtliche Autorität zu klären versucht. Und in der Tat ist das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes mit seinen Ausführungen zur nationalstaatlichen Souveränität als Teil des Demokratieprinzips und den daraus entstehenden Schranken der Integration ein Dokument, das in seiner Tragweite noch gar nicht ultimativ eingeschätzt werden kann.62 Ob der 30. Juni 2009 wirklich als schwarzer Tag in Europas Geschichte eingehen wird, wie Alfred Grosser schrieb,63 wird davon abhängen, wie Deutschlands Gesetzgeber und Bundesregierung einen verfas-
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Beschluss vom 9.6.2010 – 2 BvR 1099/10. Während Karlsruhe die Klagen zuließ und in seinen Urteilen jeweils auch in der Sache argumentierte, lehnte der österreichische Verfassungsgerichtshof die Zulässigkeit der Lissabon-Klage von FPÖ-Abgeordneten mit der Begründung ab, dass diese nicht in ihren unmittelbaren Rechten verletzt würden. (Presseinformation des VfGH vom 16.6.2010 und Entscheidung SV 1/10.) Das tschechische Verfassungsgericht hatte schon am 3.11.2009, also nach dem irischen Ja, auf der Grundlage der Petition einer Gruppe von Senatoren judiziert, dass der Vertrag von Lissabon und seine Ratifikation verfassungskonform sind (http://www.usoud.cz/clanek/ 726, PL.US 29/09 Lisbon Treaty II.). Eine Würdigung des Karlsruher-Urteils kann hier nicht unternommen werden. Siehe dazu Peter-Christian Müller-Graff, Das Karlsruher Lissabon-Urteil: Bedingungen, Grenzen, Orakel und integrative Optionen, Integration 4/2009, 331; Peter Becker / Andreas Maurer, Deutsche Integrationsbremsen. Folgen und Gefahren des Karlsruher Urteils für Deutschland und die EU, SWP-Aktuell 41, Berlin Juli 2009; Daniel Thym, In the name of sovereign statehood: A critical introduction to the Lisbon judgement of the German Constitutional Court, CMLR 46, 2009, 1795. Siehe auch Martin Nettesheim vorstehend auf S 467. Alfred Grosser, The federal Constitutional Court’s Lisbon Case: Germany’s “Sonderweg” – An Outsider’s Perspective, German Law Journal 8/2009, 1263.
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sungsrechtlich offenen Souveränitätsbegriff zu konzipieren vermögen, der das europäische „pooling and sharing of sovereignty“64 ermöglicht. Denn das europäische Einigungsprojekt setzt ja gerade die Rücknahme des „Souveränitätsstachels“ voraus.65 Jedenfalls hing das Finanzpaket vom 9. Mai 2010 vor allem von der deutschen Bundeskanzlerin ab, die erst nach einem Anruf von Barroso, in dem er sie um nichts Geringeres als die Rettung des Euro bat, zugestimmt haben soll.66 Mit dem Ankauf von Staatsanleihen ist aber auch die EZB über Ihren Schatten gesprungen, hatte doch noch ein Jahr zuvor das Direktoriumsmitglied Jürgen Stark verkündet, ein solcher Ankauf „would amount to the monetisation of government debts – a sure road towards inflation over the medium term, with adverse effects on our independence and credibility.“67 Diese Entscheidung war außerdem ohne Diskussion im EZB-Rat gefallen, wie der EZBPräsident Jean-Claude Trichet der Presse mitteilte.68 Während die Rettung des Euro und damit die Stabilisierung der Finanzmärkte
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Vgl Robert O Keohane / Stanley Hoffmann (eds), The New European Community: Decisionmaking and Institutional Change (1991); und Tanja A. Börzel, European Governance. Governing with or without the State? in Dobner / McLoughlin (eds), The Twilight of Constitutionalism? (2010) 73-88. Thym plädiert für eine versöhnliche Lesart des Urteils und zieht den Schluss, dass seine eigentliche Intention in der Eröffnung einer Debatte für die künftige Evolution des europäischen Rechts liege. Jedoch behauptet auch er: „In marked contrast to the European selfperception of ‚ever closer union‘, the Court establishes constitutional limits for further integration, which may only be overcome, once the constituent power decides to abandon national sovereignty and establish federal statehood“ (Thym, In the name of sovereign statehood (Fn 62) 1821). Damit affirmiert Karlsruhe aber ein Denken, das sich ausschließlich in den Kategorien einer Souveränitätsdefinition des 19. Jahrhunderts bewegt, und begibt sich einer Diskussion, die über die Staatswerdung als einzige Entwicklungsoption der Union hinausführt. So kolportiert in Tony Barber, Danger Zone, Financial Times, 17.5. 2010: „I’m asking you to save the Euro.“ Ebenda. Ebenda.
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fürs erste gelungen sein dürfte,69 überwiegt bei manchen Ökonomen doch die Skepsis, sowohl in Hinblick auf die mittelfristigen inflationären Wirkungen dieser Maßnahmen als auch in Hinblick auf die Unabhängigkeit der EZB, die sich damit in die Hände der Regierungen begeben habe. Denn der Erfolg dieser Ausnahmeschritte hängt vom Reformwillen der Regierungen vor allem in den hoch verschuldeten Staaten ab. Obwohl die Verschuldungen nicht in allen Problemstaaten dieselbe Ursache haben,70 ist es dennoch richtig zu behaupten, dass der Euro im ersten Jahrzehnt wachstumsschwachen Staaten die Aufnahme billiger Kredite ermöglichte und ihre Reformbereitschaft unterminierte. Damit wurden die ökonomischen Divergenzen und die unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit fortgeschrieben, was sich durch die makroökonomischen Ungleichgewichte zwischen Staaten mit Zahlungsbilanzüberschüssen und jenen mit Defiziten verschärfte. „What these trends hint at is that the Euro area is not (yet?) becoming more optimal than it was ten years ago as a currency area.”71 Wie diese Disbalance zu korrigieren sei, ist Stoff für künftige Auseinandersetzungen. Dominique Strauss-Kahn, Direktor des IWF und möglicher Herausforderer von Nicolas Sarkozy bei den nächsten französischen Präsidentschaftswahlen, lässt mit seiner Forderung nach Transferleistungen zwischen den Mitgliedstaaten der Eurozone aufhorchen72 und wird damit kaum auf einhellige Befürwortung, schon gar nicht auf jene der deutschen Regierung, stoßen. Bundeskanzlerin Angela Merkel spielt vielmehr mit der Idee härterer Sanktionen gegen Defizitsünder, die eine Suspendierung der Stimmrechte in der Ressourcenverteilung der Kohäsions- und Agrarfonds, aber auch den Rauswurf aus der Eurozone nicht ausschließen.73 Doch abgesehen von der
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Vgl Dullien / Schwarzer, Umgang mit Staatsbankrotten in der Eurozone (Fn 7) 23. André Schmidt, Die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 – die erste Bewährungsprobe für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, Integration 4/09, 388. Schmidt hatte schon vor den griechischen Problemen die positive Rolle der EZB mit ihren liquiditätszuführenden Maßnahmen betont (395). Vgl Schwarzer, Governance-Dynamik in der Eurozone (Fn 16) 6. Begg, Economic governance in an enlarged euro area (Fn 10) 2. Barber, Danger Zone (Fn 66). Ebenda; siehe auch Dullien / Schwarzer, Umgang mit Staatsbankrotten in der Eurozone (Fn 7) 26 f, und Hans-Werner Sinn, Neuer Pakt für Europa, Wirtschaftswoche, 12.4.2010, 43.
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fragwürdigen ökonomischen Rationalität der Ausschlussidee,74 sie ist ohne Vertragsänderung unmöglich.75 Ohne Vertragsänderung konnte jedenfalls im September 2010 das Paket zur Finanzaufsicht verabschiedet werden: die Entscheidung zur Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Funktionsweise des Europäischen Ausschusses für Systemrisiken auf die Europäische Zentralbank (ESRB), die Verordnung zur Einrichtung einer Europäischen Bankaufsichtsbehörde (EBA), die Verordnung einer Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA), sowie die Verordnung zur Einrichtung einer Europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde (ESMA).76 Die Verordnungen stützen sich auf Art 114 AEUV (ex-Art 95 EGV) zur Angleichung der Rechtsvorschriften: „Das Europäische Parlament und der Rat erlassen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses die Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben.“ Die Entscheidung dagegen stützt sich auf Art 127 Abs 6 AEUV. Die Überwachungsbehörden sollen von einer Reihe weiterer Initiativen begleitet werden: Schutz der Spareinlagen bis zu 100.000 Euro, Verbot missbräuchlicher ungedeckter Leerverkäufe, Lösung des Problems der KreditausfallSwaps und Derivate, Besteuerung von Finanzaktivitäten, Maßnahmen zu den Ratingagenturen, Leitlinien zur Bankenabwicklung und zum Krisenmanagement. So kündigte der Kommissionspräsident in seiner ersten Rede zur Lage der Union vor dem Europäischen Par-
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Dullien und Schwarzer etwa argumentieren, dass „feste Regeln für einen Rauswurf aus der Eurozone oder die Möglichkeit, nach Ermessen aus der Eurozone auszuschließen, sich selbst erfüllende Finanzkrisen wahrscheinlicher machen würde.“ (Ebenda, 27) Agence Europe, 10210, 8.9.2010, berichtet, dass in der ersten Septembersitzung der Task Force Bestimmungen, die Vertragsänderungen zur Folge haben würden, zurückgestellt wurden. Der Fokus liege jetzt auf der Operationalisierung des „Europäischen Semesters.“ Council of the European Union, Council approves compromise with Parliament on financial supervision, 13209 PRESSE 231, Brüssel 7.9.2010. Darin wird angekündigt, dass das Parlament am 20.9.2010 in erster Lesung die Verordnungen annehmen wird, während der Rat sie danach ohne weitere Diskussion formal verabschieden wird.
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lament am 7. September 2010 an: „Unser Ziel ist es, den Finanzsektor bis Ende 2011 grundlegend zu reformieren.“ 77 Zugleich lässt der EU-Kommissar Lewandowski mit Vorschlägen für eine EUSteuer aufhorchen und berührt damit eines der umstrittensten Themen in der Union.78 Im Schatten dieser Debatten ist eine Initiative aller skandinavischen und baltischen Staaten und Islands allerdings besonders bemerkenswert. Ihre Finanzminister, Zentralbanken und Aufsichtsbehörden haben Ende August 2010 ein rechtlich nicht bindendes Abkommen zur Prävention und dem Management von Finanzkrisen geschlossen. Es ist das erste transnationale Stabilitätsabkommen dieser Art in der Union, das auch eine Kostenverteilung im Falle staatlicher Interventionen in den Finanzmarkt mit einschließt.79 Diese Gemeinschaft nordischer Nicht-Mitglieder des Euro realisiert also jene Idee, die Strauss-Kahn für die gesamte Eurozone vorgetragen hat. Während in der Eurogruppe ein solches „burden sharing“ nach wie vor Anathema ist, zeugt dieses Abkommen von Solidarität, aber um den Preis weiterer innereuropäischer Differenzierung. III. Schlussfolgerungen: Pragmatische Krisenbewältigung und offene Legitimationsfragen Die Union hat die Unkenrufe über den Zerfall der Eurozone und das Ende des Euro Lügen gestraft. „Obwohl die Währungsunion über kein erprobtes Instrumentarium zum Krisenmanagement verfügt, zeigte sie ein großes Maß an institutioneller Flexibilität und politischer Anpassungsfähigkeit“.80 Ob die gesetzten Maßnahmen hinreichend robust sind, um neuen Herausforderungen standzuhalten, wird die Zukunft zeigen.81 Die Aufsichtsbehörden sind in
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Präsident der Europäischen Kommission, Rede zur Lage der Union 2010, http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=SPE ECH/10/411&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage =enSpeech/10/411. Agence Europe, 10199, 24.8.2010. Agence Europe, 10201, 26.8.2010. Schwarzer, Governance-Dynamik in der Eurozone (Fn 16) 4. Siehe Iain Begg, Regulation and Supervision of Financial Intermediaries in the EU: The Aftermath of the Financial Crisis, JCMS 47, 2009, 1107: „In all probability what results will not be pretty but will
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ihrer Mixtur aus supranationalen und nationalen Überwachungsmechanismen so konstruiert, dass ein erheblicher Aufwand an Kommunikation zwischen den Ebenen die Folge sein wird. Im Falle weiterer Krisen wird es wie immer um die Frage der Definitionshoheit über neue Maßnahmen gehen. Jede weitere Delegation von Macht an die supranationale Ebene, die manche Autoren für das Gebot der Stunde halten,82 verschärft die Frage nach der Legitimation einer stärkeren Zentralisierung und den Grenzen der Integration.83 Majone argumentiert mit Hayek, dass Integration in einer so heterogenen Gemeinschaft wie der Europäischen Union inhärente Grenzen habe. Verschärft würde das Problem dadurch, dass es sich bei diesem Einigungsprojekt zudem um Elitenherrschaft in modernen Massendemokratien handelt.84 Das Spannungsverhältnis zwischen Vertiefung und Demokratie bleibt also weiterhin die zentrale Frage der Union, auch wenn der Vertrag von Lissabon in der Demokratiefrage einen qualitativen Sprung sowohl durch die Aufwertung der repräsentativen Demokratie – man spricht sogar von einem Vertrag der Parlamente85 – als auch durch die Einführung der Bürgerinitiative gemacht hat. Während die Fähigkeiten der nationalen Parlamente, ihren neuen Rechten gerecht zu werden, noch mit Skepsis betrachtet werden müssen, ist das Avancement des EP zum wirklichen Ko-Gesetzgeber eine zentrale demokratiepolitische Errungenschaft, die sich auch in den jüngsten Verhandlungen zur Einrichtung der Finanzaufsichtsbehörden gezeigt hat. „Where power is acquired and exercised according to justifiable rules, and with the evidence of consent, we call it rightful or
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be enough to deal with the worst failings of the old regime.“ (ebenda, 1125). Ebenda, 1125 f. John D. Donahue / Mark A. Pollack, Centralization and Its Discontents: The Rhythms of Federalism in the United States and the European Union, in Nicolaidis / Howse (eds), The Federal Vision. Legitimacy and Levels of Governance in the United States and the European Union (2001) 73. Majone, The European Union and the Global Financial Crisis (Fn 15) 23. Elmar Brok / Martin Selmayr, Der „Vertrag der Parlamente“ als Gefahr für die Demokratie? Zu den offensichtlich unbegründeten Verfassungsklagen gegen den Vertrag von Lissabon, Integration 3/2008, 217.
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legitimate.“86 Nun sind die Regeln für die europäische Machtausübung Ergebnis mitgliedstaatlicher Verhandlungen und Ratifikationsprozesse und in Verträgen festgelegt, doch der Konsens der Bürger bleibt prekär. Vor allem die Mischformen von europäischem und nationalem Handeln sind oft intransparent oder jedenfalls für die Bürger schwer durchschaubar, man denke nur an den hier behandelten Euro-Rettungsschirm. Der alte „permissive Konsens“ ist längst einem „einschränkenden Dissens“ gewichen.87 Darin offenbart sich jenes Muster der Pendelschläge zwischen Toleranz und Intoleranz, die Donahue und Pollack für Zentralisierungsprozesse unter demokratischen Bedingungen thematisiert haben: „the rhythm of federalism will be most pronounced where democratic influence is stronger, and more muted where courts, independent authorities, or unelected officials dominate the disposition of the issue. … the rhythm tends to slow down and cycles to lengthen as a polity matures; first-order ambiguities are settled, and a degree of institutional inertia dampens the effect of discontent with both centralization and decentralization.”88 Die “heimliche Integration” durch bürokratische Verwaltungsverfahren,89 integrationsfreundliche EuGH-Urteile und Entscheidungen im Interstitium von supranationalen und intergouvernementalen Machtpolen stellt den Kern des europäischen Legitimationsproblems dar. Weder konnte der Vertrag von Lissabon alle Ambiguitäten ausräumen, noch ist die Einheit so weit gediehen, dass die Pendelschläge zwischen Konsens und Dissens sich in absehbarer Zukunft verlangsamen werden. Die Verfassungsgeschichte der Union bleibt offen.
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David Beetham, The Legitimation of Power (1991) 3. Liesbet Hooghe / Gary Marks, A postfuncionalist Theory of European Integration: From Permissive Konsensus to Constraining Dissensus, British Journal of Political Science, 39/2008, 1. Donahue / Pollack, Centralisation and Its Discontents (Fn 83) 117. Maurizio Bach, Eine leise Revolution durch Verwaltungsverfahren: Bürokratische Organisationsprozesse in der Europäischen Gemeinschaft, Zeitschrift für Soziologie 21, 1991, 16.
Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes Charlotte Beaucillon, Europäisches Hochschulinstitut Florenz. Kontakt:
[email protected]. Maria Berger, Richterin am Europäischen Gerichtshof. Kontakt:
[email protected]. Friedrich Erlbacher, Juristischer Dienst der Europäischen Kommission. Kontakt:
[email protected]. Gerda Falkner, Direktorin des Instituts für europäische Integrationsforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien; Vizepräsidentin von ECSA Austria. Kontakt:
[email protected]. Stefan Griller, Institut für Verfassungs- und Verwaltungsrecht am Fachbereich für Öffentliches Recht der Paris Lodron-Universität Salzburg; Präsident von ECSA Austria. Kontakt:
[email protected]. Hubert Isak, Institut für Europarecht der Karl Franzens- Universität Graz. Mitglied des Vorstands von ECSA Austria. Kontakt:
[email protected]. Thomas Kröll, Institut für Österreichisches und Europäisches Öffentliches Recht der Wirtschaftsuniversität Wien. Kontakt:
[email protected]. Andreas J. Kumin, Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten, Abteilung I.4 (Europarecht). Kontakt:
[email protected]. Peter-Christian Müller-Graff, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht, Europarecht und Rechtsvergleichung der Ruprecht Karls-Universität Heidelberg. Kontakt:
[email protected]. Martin Nettesheim, Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht und Völkerrecht der Eberhard Karls-Universität Tübingen. Kontakt:
[email protected].
Autor/inn/enverzeichnis
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Walter Obwexer; Institut für Europarecht und Völkerrecht der Leopold Franzens-Universität Innsbruck; Mitglied des Vorstands von ECSA Austria. Kontakt:
[email protected]. Christoph Ohler, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht Völkerrecht und Internationales Wirtschaftsrecht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Kontakt:
[email protected]. Eckard Pache, Lehrstuhl für Staatsrecht, Völkerrecht, Internationales Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsverwaltungsrecht an der Julius Maximilians-Universität Würzburg. Kontakt:
[email protected]. Christa Peutl, Bundeskanzleramt Wien, Sektion IV (Koordination). Kontakt:
[email protected]. Sonja Puntscher Riekmann, Fachbereich Politikwissenschaft und Soziologie der Paris Lodron-Universität Salzburg; Mitglied des Vorstands von ECSA Austria. Kontakt:
[email protected]. Elfriede Regelsberger, Institut für Europäische Politik, Berlin. Kontakt via http://www.iep-berlin.de/205.html. Berhard Schima, Juristischer Dienst der Europäischen Kommission. Kontakt:
[email protected]. Gregor Schusterschitz, Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten, Abteilung I.2 (Völkerrecht). Kontakt:
[email protected]. Rudolf Streinz, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht am Institut für Politik und Öffentliches Recht der Ludwig Maximilians-Universität München. Kontakt:
[email protected]. Evelyn Waldherr, Juristischer Dienst des Europäischen Parlaments. Kontakt:
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