Yvonne Niekrenz Rauschhafte Vergemeinschaftungen
Erlebniswelten Herausgegeben von Winfried Gebhardt Ronald Hitzler Franz Liebl
Zur programmatischen Idee der Reihe In allen Gesellschaften (zu allen Zeit und allerorten) werden irgendwelche kulturellen Rahmenbedingungen des Erlebens vorproduziert und vororganisiert, die den Menschen außergewöhnliche Erlebnisse bzw. außeralltägliche Erlebnisqualitäten in Aussicht stellen: ritualisierte Erlebnisprogramme in bedeutungsträchtigen Erlebnisräumen zu sinngeladenen Erlebniszeiten für symbolische Erlebnisgemeinschaften. Der Eintritt in dergestalt zugleich ‚besonderte’ und sozial approbierte Erlebniswelten soll die Relevanzstrukturen der alltäglichen Wirklichkeit – zumindest partiell und in der Regel vorübergehend – aufheben, zur mentalen (Neu-)Orientierung und sozialen (Selbst-)Verortung veranlassen und dergestalt typischerweise mittelbar dazu beitragen, gesellschaftliche Vollzugs- und Verkehrsformen zu erproben oder zu bestätigen. Erlebniswelten können also sowohl der ‚Zerstreuung’ dienen als auch ‚Fluchtmöglichkeiten’ bereitstellen. Sie können aber auch ‚Visionen’ eröffnen. Und sie können ebenso ‚(Um-)Erziehung’ bezwecken. Ihre empirischen Erscheinungsweisen und Ausdrucksformen sind dementsprechend vielfältig: Sie reichen von ‚unterhaltsamen’ Medienformaten über Shopping Malls und Erlebnisparks bis zu Extremsport- und Abenteuerreise-Angeboten, von alternativen und exklusiven Lebensformen wie Kloster- und Geheimgesellschaften über Science Centers, Schützenclubs, Gesangsvereine, Jugendszenen und Hoch-, Avantgarde- und Trivialkultur-Ereignisse bis hin zu ‚Zwangserlebniswelten’ wie Gefängnisse, Pflegeheime und psychiatrische Anstalten. Die Reihe ‚Erlebniswelten’ versammelt – sowohl gegenwartsbezogene als auch historische – materiale Studien, die sich der Beschreibung und Analyse solcher ‚herausgehobener’ sozialer Konstruktionen widmen.
Winfried Gebhardt (
[email protected]) Ronald Hitzler (
[email protected]) Franz Liebl (
[email protected])
Yvonne Niekrenz
Rauschhafte Vergemeinschaftungen Eine Studie zum rheinischen Straßenkarneval
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Zugl. Dissertation Universität Rostock 2010
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Engelhardt | Cori Mackrodt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17999-5
Inhalt
Vorwort ............................................................................................................. 9 1 Einleitung ................................................................................................... 1.1 Forschungsanlass und Ziele .................................................................. 1.2 Zwei Vermutungen ................................................................................ 1.3 Forschungsstand und Ansatzpunkte ...................................................... 1.4 Gliederung der Arbeit ...........................................................................
11 11 13 16 19
2 Vergemeinschaftung .................................................................................. 2.1 ‚Gemeinschaft‘ und ‚Vergemeinschaftung‘: Begriffsgeschichte und Begriffsbestimmung ....................................... 2.2 Bedeutung der Dimensionen Raum, Zeit und Körper .......................... 2.2.1 Raum ............................................................................................ 2.2.2 Zeit ............................................................................................... 2.2.3 Körper ..........................................................................................
23
3 Rausch ........................................................................................................ 3.1 Rausch – De¿nitionen, Auslöser und Dimensionen ............................. 3.1.1 De¿nitionen – Rausch als veränderter Bewusstseinszustand ...... 3.1.2 Auslöser – pharmakologische und psychologische Techniken ... 3.1.3 Bedeutung der Dimensionen Raum, Zeit und Körper für Rauscherleben ........................................................................ 3.1.3.1 Rausch und Raum ........................................................... 3.1.3.2 Rausch und Zeit .............................................................. 3.1.3.3 Rausch und Körper .......................................................... 3.2 Der kollektive Rausch .......................................................................... 3.2.1 Rauschregeln und Rauschkonstruktionen .................................... 3.2.2 Sozialintegrative Kraft des kollektiven Rausches ....................... 3.2.3 Ambivalenter Umgang mit Rausch .............................................
43 43 43 50
4 Rauschhafte Vergemeinschaftung ............................................................ 4.1 Rauschhafte Vergemeinschaftung – Begriffsbestimmung .................... 4.2 Rauschhafte Vergemeinschaftung – Dimensionen ............................... 4.2.1 Rauschhafte Vergemeinschaftung und Raum .............................. 4.2.2 Rauschhafte Vergemeinschaftung und Zeit .................................
75 75 76 76 78
23 33 33 36 39
53 53 57 59 63 63 67 69
6 4.2.3 Rauschhafte Vergemeinschaftung und Körper ............................ 81 4.2.3.1 Gestaltung der Körper: Kostüme, Kleidercodes und Kinkerlitzchen .......................................................... 84 4.2.3.2 Gestaltung durch Körper: Stammesrituale, Schaugesten und Showtänze ........................................... 88 4.2.3.3 Die Stimme: Musik, Gesänge und Sprechweisen ........... 92 4.2.3.4 Emotionen: Ekstase, Leidenschaft und Efferveszenz ..... 94 4.3 Umgang mit Medien, Symbolen und psychoaktiven Substanzen in rauschhaften Vergemeinschaftungen .............................................. 101 4.3.1 Medien und Symbole in rauschhaften Vergemeinschaftungen ......................................... 101 4.3.2 Gesten des Genießens – rituelle Anwendung psychoaktiver Substanzen ......................................................... 104 4.3.3 Die Ambivalenz rauschhafter Vergemeinschaftungen: zwischen sozialem Kitt und Missbrauch durch totalitäre Regimes ............................................................ 107 4.4 Zusammenfassung: Rauschhafte Vergemeinschaftung als Gesellungsform der Gegenwart ..................................................... 110 5 Die Geschichte des rheinischen Karnevals ............................................ 5.1 Rauschhafte Vergemeinschaftungen in traditionalen bis modernen Gesellschaften – ein historischer Abriss des Karnevals im Rheinland ............................................................... 5.1.1 Karneval als heidnisch-christliches Fest ................................... 5.1.2 Der Karneval vom Hochmittelalter bis zur französischen Besatzung ................................................ 5.1.3 Exkurs: Der Narr als Symbol des Karnevals ............................. 5.1.4 Der Karneval unter preußischer Besatzung ............................... 5.1.5 Der Karneval im 20. Jahrhundert .............................................. 5.2 Rauschhafte Vergemeinschaftungen in der Gegenwart – der Kölner Karneval heute .................................................................. 6 Vorgehensweise der Feldstudie – Methodologie und Methoden .................................................................. 6.1 Forschungsziele, -fragen und Vermutungen ....................................... 6.2 Methodologische Grundlegungen ....................................................... 6.3 Methoden der Datenerhebung ............................................................ 6.3.1 Die teilnehmende Beobachtung – Methode und Basisstrategie .......................................................
113 113 113 115 116 117 119 120 127 127 128 130 134
7 6.3.2 Die narrativen und die Ad-hoc-Interviews – Methode und Praxis ................................................................... 6.3.3 Die Dokumentensammlung – Nicht-reaktives Material zur Kontrastierung ............................. 6.4 Bearbeitung und Auswertung der Daten ............................................. 6.4.1 Rekonstruktive Hermeneutik ..................................................... 6.4.2 Ethnogra¿sche Semantikanalyse ............................................... 6.4.3 Datentriangulation ..................................................................... 7 Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse ...... 7.1 Kategorie Raum .................................................................................. 7.1.1 Karneval und seine räumlichen Bezugspunkte .......................... 7.1.2 „Köln ist die Nummer 1“ – Verehrung der Karnevalshochburg ............................................ 7.1.3 Die Straße wird zur Bühne – Außeralltägliche Raumordnungen ............................................. 7.1.4 Sakrale Räume und profane Freuden – Die Verbindung von Heiligem und Weltlichem im Karneval .............................. 7.1.5 Mit dem Zug zum Zug – Manchmal ist der Weg das Ziel ......... 7.2 Kategorie Zeit ..................................................................................... 7.2.1 Karneval und seine zeitlichen Bezugspunkte ............................ 7.2.2 Die Programmstruktur des Außeralltäglichen ........................... 7.2.3 „Das kommt immer wieder und hört nie auf“ – Unendliche zyklische Wiederkehr und Endlichkeit des Seins ... 7.2.4 „Karneval liegt bei uns in der Familie“ – Karneval als Konstante der Biogra¿e ........................................ 7.3 Kategorie Körper ................................................................................ 7.3.1 Das Kostüm als unerlässliches Element des Karnevalesken ..... 7.3.1.1 Karneval als „Fest der Verkleidung“ ............................. 7.3.1.2 Das Kostüm als Zeichen von Zugehörigkeit und Abgrenzung ............................................................ 7.3.1.3 Das Kostüm als Zeichen des Rollenwechsels ............... 7.3.1.4 Das Kostüm als Mittel zur Kontakterleichterung ......... 7.3.1.5 Das Kostüm als Teil eines Spiels und als Zeichen der Sehnsucht nach dem Kindsein ................................ 7.3.1.6 Kostüm contra Uniform ................................................ 7.3.2 „Karneval is’n Gefühl“ – emotionale Erlebnisdimensionen im Straßenkarneval .............. 7.3.3 Tanzen, hüpfen, rummachen – außeralltägliche Körperordnungen ............................................
135 137 138 140 141 143 145 145 145 146 156 165 171 176 176 184 189 192 199 199 200 201 204 207 209 217 223 228
8 7.3.4 „Drink doch ene met, du Jeck !“ – Alkoholrausch im Karneval ....................................................... 7.4 Raum, Zeit und Körper: Rauschhafte Vergemeinschaftungen im Straßenkarneval ............................................................................. 7.4.1 Karneval und Kollektiv: „Dieses Familiending irgendwie“ ...... 7.4.2 Karneval und Individualität: Narziss im Clownskostüm ? ......... 8 Zusammenfassung – Rauschhafte Vergemeinschaftungen im Straßenkarneval ...................................................................................... 8.1 Rauschhafte Vergemeinschaftungen als Kitt für das soziale Gefüge ........................................................................ 8.2 Rauschhafte Vergemeinschaftungen als Bewältigungsstrategie ......... 8.3 Ohne Chaos keine Ordnung – Zwei KonÀiktfelder des Straßenkarnevals in der Diskussion ............ 8.4 Abschluss – Et is wie et is. Et kütt wie et kütt. Et hätt noch immer jot jejange. ...........................................................
232 238 240 245 251 255 260 265 267
9 Ausblick – Geschlechterdifferenz, Mediatisierung, Transnationalisierung ................................................. 271 Quellen .......................................................................................................... 275 Literatur ..................................................................................................... 275 Liedgut ....................................................................................................... 290
Vorwort
Aufgewachsen im karnevalsfernen Norden war mir Straßenkarneval bis zum Jahr 2007 eine fremde Welt, die ich durch die Aufgeschlossenheit, Neugierde und Großzügigkeit der Straßenjecken und Vereinsmitglieder im Rheinland facettenreich entdecken konnte. Ich bin denen unter ihnen zu Dank verpÀichtet, die mir Auskunft gaben, umfang reiches Material zur Verfügung stellten, mich in ihre Reihen aufnahmen und meine Arbeit auf vielfältige Weise unterstützten. Ohne ihre mir gewidmete Zeit und ihr entgegengebrachtes Vertrauen gäbe es dieses Buch nicht. Besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Matthias Junge (Soziologische Theorien und Theoriegeschichte) für die Freiheiten, die vertrauensvolle Unterstützung und Förderung, die ich genießen darf. Auf seine konstruktive Kritik, seine Er mutigungen und seinen fachlichen wie menschlichen Rat konnte ich in den Jahren gemeinsamer Arbeit an der Universität Rostock zu jeder Zeit zählen. Meinem Zweitgut achter Prof. Dr. Friedemann Nerdinger (Wirtschaftsund Organisationspsychologie) danke ich für seine Begeisterung für meine Arbeit. Die Kolleginnen und Kollegen am Institut für Soziologie und Demographie der Universität Rostock (insbesondere Ulrike Marz, M. A. und Clemens Langer, B. A.) waren in der Abschlussphase meiner Promotion verständnis- und rücksichtsvoll, wofür ich sehr dankbar bin. Ein persönliches Dankeschön gilt allen, die mich freundschaftlich, liebevoll und fürsorglich in intensiven Arbeitsphasen begleitet haben. Ich bin froh darüber, Freunde zu haben, die mit ihrer Zuversicht, Toleranz und Leichtigkeit mein Leben schöner machen. Besonders dankbar bin ich Dr. Juliane Stark für ein weiteres Stück gemeinsamen Weges. Der unermüdliche und unkonventionelle Beistand von Prof. Dr. Matthias D. Witte hat den Abschluss dieser Arbeit vorangetrieben, den wir beide nicht bedauern. Dass ich meine Pläne in die Tat umsetzen konnte, dass ich immer einen liebenswert-turbulenten Rückzugsort habe und dass mir die spröde, aber unverstellte mecklenburgische Sicht auf die Welt nicht verloren geht, verdanke ich meinen Eltern, meiner Schwester und meiner Großmutter. Sie sind zu meinem Glück in jeder Hinsicht besonders. Eine abschließende Bemerkung: Nicht aus Nachlässigkeit, sondern aus sprachästhetischen Gesichtspunkten werde ich mit Gender-Aspekten nicht immer korrekt umgehen. Wo es möglich ist, werde ich beide Geschlechter sprachlich erfassen; wo dies auf Komplikationen stößt, folge ich der GepÀogenheit, die dem männlichen Genus einen gewissen Vorrang einräumt. Rostock im Dezember 2010
1
Einleitung
„Les bruits de la rue, les rengaines populaires qui se déversent du bistrot, les rumeurs et les éclats de colère qui surgissent d‘un appartement aux fenêtres ouvertes, les oudeurs des marrons chauds en hiver, celles des cacahuètes ou des glaces aux beaux jours, tout cela constitue ces ‚riensǥ qui font le tout de l‘existence“ (Maffesoli 1979: 181).1
1.1
Forschungsanlass und Ziele
Im Spannungsfeld von Singularisierung und Gemeinschaft, Beständigkeit und Ver Àüchtigung, Freiheit und Zwang, Verführung und repressiver Moral zu leben, ist eine zentrale Herausforderung für das Individuum in der westlichen Welt des 21. Jahrhunderts. Einen Aspekt dieser scheinbar widersprüchlichen Welt beleuchtet die vorliegende, kultursoziologisch orientierte Arbeit „Rauschhafte Vergemeinschaftungen. Eine Studie zum rheinischen Straßenkarneval“, wenn sie rauschhafte Vergemeinschaftungen als eine Reaktion auf gesellschaftliche Verunsicherungen und Span nungsfelder analysiert. Das Thema der Studie sind jene kurzen, Àüchtigen Momente jenseits des Alltagshandelns,2 die konstitutiv für das menschliche Zusammenleben und dessen Sinnhaftigkeit sind. „Die karnevaleske Sexualität, Weinfeste, Zechereien im Bierzelt, die studentischen Gelage oder Narren feste, Versammlungen mit religiösem oder halbreligiösem Charakter, all diese Phänomene sind von den ihnen eigenen Anzüglichkeiten und Entgleisungen begleitet und bieten eine Gelegenheit, funktionelle Zuweisungen, Nützlichkeitserwägungen und Produktionszwänge zu durchkreuzen“ (Maffesoli 1986: 109).
Für Michel Maffesolis an der Gegenwart und am Alltagsleben interessierte Soziologie stehen die sozialen Praktiken und Rituale des Zusammenlebens, das Alltägliche wie Außergewöhnliche im Mittelpunkt, weil sie die Vitalität einer „Die Geräusche von der Straße, die populären Gassenhauer, die aus den Bistrots dringen, das Gemurmel und die Wutausbrüche, die aus den offenen Fenstern einer Wohnung entweichen, der Duft der heißen Kastanien im Winter, der von Erdnüssen oder Eis an schönen Tagen, das alles konstituiert diese kleinen ‚Momente des Nichts‘, welche das Gesamt unserer Existenz ausmachen“ (Übersetzung von Maffesoli 1979: 181 in: Keller 2006: 27). 2 Unter dem Begriff Alltagshandeln verstehe ich alle eingelebten, gewohnten und zweckrationalen Verhaltensweisen. 1
Y. Niekrenz, Rauschhafte Vergemeinschaftungen, DOI 10.1007/978-3-531-93086-2_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Einleitung
postmodernen Gesellschaft bedingen, die sich nach einem temporären (Neo-) Archaismus sehnt. Dionysos, der griechische Gott der Fruchtbarkeit und der Ekstase, wird bei Maffesoli zum Sinnbild für eine Form von Vergemeinschaftung, die einer Formlogik folgt, welche sich auf außeralltägliche Stimmungen und Erlebnisse beruft, wie sie z. B. auf Rockkonzerten, Fanmeilen, bei City marathons, Game Conventions und auch im Straßenkarneval erlebbar sind. Im Zentrum dieser Arbeit steht ein Gesellungsgebilde, das als rauschhafte Vergemeinschaftung zu konkretisieren ist. Rauschhafte Vergemeinschaftungen sind Sozialbeziehungen in einer alternativen Wirklichkeit, die dadurch entstehen, dass Individuen sich kontingent dafür entscheiden, sich freiwillig mit anderen zusammengehörig zu fühlen, gemeinsam die Alltagsregeln zu suspendieren und außeralltägliche Raum-, Zeit- und Körper wahr nehmungen zu erfahren. Rauschhafte Vergemeinschaftungen befriedigen unter anderem das Bedürfnis von Individuen, frei, hochgradig individualisiert und zugleich nicht allein und atomisiert zu sein. Individuen können an jenen Formen von Sozialität auf der Suche nach einer mentalen und emotionalen Heimat (vgl. Hitzler 1998: 82), auf der Suche nach Sicherheit, Fraglosigkeit und Sinn collagenartig partizipieren, kurzzeitig auf diesen Wagen im Optionen-Karussell aufspringen und ihn für die Herstellung der eigenen Biogra¿e nutzen. Im rheinischen Straßen karneval als jährlich wiederkehrendem Volksfest konstituiert sich diese Àüchtige, rauschhafte Vergemeinschaftung an kalendarisch festgelegten Tagen. Straßenkarneval ist die räumlich und zeitlich begrenzte Verkehrung alltäglicher Ordnung mit ritualisierter, kollektiver Exzessorientierung. Folgende Fragen werden auch unter Rückgriff auf das Fallbeispiel Straßen karneval untersucht: ƒ ƒ ƒ ƒ
Was sind rauschhafte Vergemeinschaftungen ? Wie entstehen rauschhafte Vergemeinschaftungen ? Wie werden sie kollektiv konstituiert und rituell, symbolisch und medial gestützt ? Welche gesamtgesellschaftliche Funktion erfüllen rauschhafte Vergemeinschaf tungen ? Wie wird Straßenkarneval sozial konstruiert und welche Regelmäßigkeiten und Randbedingungen befördern rauschhafte Vergemeinschaftungen im Narrenfest ?
Das Thema der Arbeit bewegt sich zum einen an den Grenzen zu anderen Disziplinen, wie beispielsweise Psychologie, Neurobiologie, Kulturwissenschaften und Ethnologie. Zum anderen richtet sich der Blick auf einen Bereich der Populärkultur, des Trivialen, der Spaßgesellschaft, des Bunt-Schillernden jenseits des Mainstreams der Soziologie. In Zeiten zuneh mender sozialer Ungleichheiten, beschleunigter gesamtgesellschaftlicher Entwicklungsprozesse und enormer
Zwei Vermutungen
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Herausforderungen durch den demogra¿schen Wandel geht es hier um einen vermeintlich banalen Gegenstand. Im kulturkritischen Diskurs mögen Phänomene wie rauschhafte Vergemeinschaftungen einem Bereich zugeordnet werden, der mit der Hilfsvokabel ‚Trivialkultur‘ etikettiert wird. Die dieser Bezeichnung zugrunde liegende normative Trennung zwischen Trivial- und Hochkultur macht ihre einzelnen Entscheidungen daran fest, ob etwas massenhaft vermarktet wird oder nicht. Bereits 1967 hat der französische Künstler und Philosoph Guy Debord die hinter Werbung, Klischees und Propaganda entstehende Scheinwelt kritisiert: „Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Ansammlung von Spektakeln. Alles, was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen“ (Debord 1996 [frz. Orig. 1967]: 13, Herv. i. O.). Das Spektakel bedrohe das Individuum und seine Freiheit, schreibt der an Hegel, Marx und Lukács geschulte Denker, der vor der Gesellschaft des Spektakels, in der alles zur Ware verkommt, nicht nur warnen, sondern ihr auch schaden will. „Ihre vulgarisierten Pseudofeste, Parodien des Dialogs und der Gabe, regen zwar zu einer wirtschaftlichen Mehrausgabe an, bringen aber nur die stets durch das Versprechen einer neuen Enttäuschung kompensierte Enttäuschung wieder“ (Debord 1996: 137). Kulturkritische und normative Deutungen werden in dieser Untersuchung außer Acht gelassen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist dagegen, die rauschhaften Vergemeinschaftungen als eine Reaktion, möglicherweise sogar als eine Bewältigungsstrategie der vielfältigen Anforderungen und Transformationsprozessen unterworfenen Individuen zu untersuchen. Am rheinischen Straßenkarneval als Fallbeispiel soll diese Untersuchung mit dem Blick auf Erkenntnisse der Soziologie, Anthropologie, Psychologie, Ethnologie und Phar makologie einen kultursoziologischen und empirisch fundierten Beitrag zur Erforschung des (außeralltäglichen) Zusammenlebens in der Gegenwart leisten. 1.2
Zwei Vermutungen
Um der vorliegenden Studie eine Suchrichtung zu geben, werden zwei Vermutungen formuliert, die zum einen auf der gesellschaftlichen Ebene und zum anderen auf der individuellen Ebene angesiedelt sind. Die Untersuchung ihrer Relevanz im Verlauf der Arbeit soll anhand der Analyse vorliegender Quellen sowie der Auswertung des empi rischen Materials vorgenommen werden. Dabei sind die vorläu¿gen Annahmen zugleich ein Vorentwurf des am Ende der Untersuchung stehenden theoretischen Konstrukts über die Funktion von rauschhaften Vergemeinschaftungen für Individuum und Gesellschaft.
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Einleitung Die erste Vermutung fokussiert auf die gesellschaftliche Ebene: Rauschhafte Vergemeinschaftungen bilden einen Kitt für das soziale Gefüge. Diese Àüchtigen Gesellungsformen sind eine Grundlage und Grund¿gur des sozialen Zusammenlebens in der Gegenwart.
Wodurch wird diese Annahme fundiert ? Victor Turner unterscheidet in „Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur“ (2005 [engl. Orig. 1969]) zwei Hauptmodelle menschlicher Sozialbeziehungen. Er stellt der Gesellschaft als strukturiertem, differenziertem und oftmals hierarchisch gegliedertem System von Positionen das Modell der Communitas gegenüber, das als „unstrukturierte oder rudimentär strukturierte und relativ undifferenzierte Gemeinschaft“ (Turner 2005: 96) beschreibbar ist. Ohne die Anti-Struktur der Communitas gäbe es demnach keine Struktur der Gesellschaft, weil durch die vor allem in rituell aufgeladenen Situationen vorkommenden „Gemeinschaften Gleicher“ (ebd.) die herrschenden gesellschaftlichen Struktu ren bestätigt und wieder eingegangen werden können. Turner beruft sich vor allem auf die Analyse von Stammesritualen in traditionellen, vorindustriellen Gesellschaften. Insbesondere interessieren ihn Schwellenzustände als Übergangsriten, mit denen sich auch Arnold van Gennep beschäftigt hat („Übergangsriten. Les rites de passage“, 2005 [frz. Orig. 1909]). Dennoch „wird klar, daß die kollektiven Dimensionen – Communitas und Struktur – auf allen Stufen und Ebenen der Kultur und der Gesellschaft vorhanden sind“ (Turner 2005: 111). In seinem somit auch auf gegenwärtige Gesellschaftsformen übertragbaren Modell sind rausch hafte Vergemeinschaftungen als Form der Communitas, genauer noch: als spontane Commu nitas, anzusehen. Spontane Communitates können jederzeit unvorhergesehen zwischen Menschen entstehen,3 sind reich an – meist angenehmen – Gefühlen und können „niemals adäquat in einer Strukturform zum Ausdruck gebracht werden“ (Turner 2005: 133). Turners ethnologische Arbeiten sind geprägt von einer metaphernreichen Sprache voller Beispiele und Anekdoten. Die Beschreibung seiner Beobachtungen in Bildern ist sein Versuch, die unbestimmten sozialen Sachverhalte in eine dem Phänomen angemessene Sprache zu übersetzen. Den Zusammenhang zwischen (spontaner) Communitas und Struktur vergleicht Turner mit einer Ehe: „Spontane Communitas ist Natur im Dialog mit Struktur, sie ist mit ihr verheiratet, wie eine Frau mit einem Mann verheiratet ist. Zusammen machen sie den Strom
Rauschhafte Vergemeinschaftungen sind in meinem Verständnis jedoch oftmals kalkuliert, vor allem wenn sie Aspekten der Kommerzialisierung unterworfen sind.
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Zwei Vermutungen
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des Lebens aus, die eine sorgt für Energie, die andere für Fruchtbarkeit“ (Turner 2005: 136).
Ob rauschhafte Vergemeinschaftungen das Ehebündnis mit sozialstrukturell determinierten Gesellschaften eingehen, soll als erste Vermutung überprüft werden. Dabei stehen die wechselseitigen Abhängigkeiten ebenso im Blickpunkt wie die de¿ nitorisch implementierten Probleme und kleinen Streitigkeiten jeder guten Verbindung zweier Partner. Die zweite Vermutung fokussiert auf die individuelle Ebene: Rauschhafte Vergemeinschaftungen stellen in zweifacher Hinsicht Bewältigungsstrategien dar: Zum einen sind sie als Möglichkeit zur Teilhabe an Gemeinschaft mit alter nativen Regelmäßigkeiten eine Reaktion des Individuums auf die vielfältigen Anforderungen und Transformationsprozesse in der Gegenwart. Zum anderen bieten sie eine Möglichkeit zum Umgang mit der existenziellen Tragik – also der Endlichkeit – des menschlichen Lebens. Wodurch werden diese Annahmen fundiert ? In erster Linie ist es die Soziologie Michel Maffesolis, aus der sich die vorgenannte Vermutung ableitet. Der Franzose arbeitet an einer Soziologie postmoderner gesellschaftlicher Kon¿gurationen, die durch die Formation von Àüchtigen Vergemeinschaftungsprozessen mit vergänglichen Gefühls- und Erlebensbeziehungen bestimmt sind (vgl. Keller 2006: 7).4 Auf ihn geht das Konzept des Neo-Tribalismus zurück, auf das auch Scott Lash und Zygmunt Bauman (z. B. Bauman 1995: 299 ff.) rekurrieren. In diesem Modell werden postmoderne Gesellschaften als Àießendes Hin und Her zwischen „Massen“ und Netzwerken von „Stämmen“ gedacht. In den neuen Stämmen gibt es neben dem gemeinsamen Handeln keine Ziele. Im Vordergrund stehen vielmehr gemeinsame Erlebnisse, Erfahrungen und Gefühle ohne VerpÀichtungen, d. h. die Zugehörigkeit zu den Stämmen ist Àüchtig und die gleichzeitige Teilhabe an mehreren Stämmen möglich. Das Individuum kann als Nomade zwischen den Stammes-Welten hin und her wandern, wobei die Stämme als wiederkehrende Sozialbeziehungen und als informelle, verborgene Zentralität der Macht das Weiterbestehen des sozialen Lebens sichern. Maffesoli macht in seiner Gegenwartsanalyse einen neuen Hedonismus aus, den er mit der mythologischen Figur Dionysos bebildert. In seiner Soziologie des Orgiasmus beschäftigt er sich mit der unproduktiven Verausgabung des Alltagslebens und mit der Orgie als Trägerin der postmodernen Sozialität. Die Orgie ist der Ort des Rausches, der Ekstasen Auch Ronald Hitzler (1998: 82) nennt posttraditionale Gemeinschaften als eine mögliche Lösung auf der Suche nach einer mentalen und emotionalen ‚Heimat‘ und nach Wiedervergemeinschaftung.
4
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Einleitung
und Transzendenzen der Individuen. Dabei geht es – wie auch bei rauschhaften Vergemeinschaftungen – um einen allgemeineren Mechanismus des kollektiven Berauschens. Maffesoli ¿ndet in den Alltagspraktiken – im Licht außeralltäglicher Normalität oder im „Schatten des Dionysos“ (1986) – Indizien für eine „Wiederverzauberung der Welt“ („Le Réenchantement du Monde“ 2007), die sich aus den Energien von Geselligkeitsformen speist, die als Formen unproduktiver Verausgabung den Herzschlag des Sozialen ausmachen. Im Anschluss an Nietzsche, Heidegger und Freud bezeichnet Maffesoli den Orgiasmus als den Träger des Gemeinschaftslebens (vgl. Maffesoli 1986: 106). Zugleich sieht er in ihm die Möglichkeit zur Bewältigung der existenziellen Tragik des Lebens. Das orgiastische Lebensgefühl ziele darauf, den Tod zu besänftigen, was bedeute, ihn anzuerkennen und dennoch den Lebenswillen exzessiv zu demonstrieren (vgl. ebd.: 89 ff.). Dieser Vitalismus, die verschwenderische und unproduktive Verausgabung ergibt sich aus dem Bewusstsein der Endlichkeit, der Prekarität des Lebens. Das Eingehen rauschhafter Vergemeinschaftung – so die oben genannte Vermutung – ist eine Möglichkeit, auf das Wissen um die eigene Vergänglichkeit mit kurzzeitiger, verschwenderischer Vitalität zu reagieren. 1.3
Forschungsstand und Ansatzpunkte
Der Überblick zum Forschungsstand gliedert sich in drei Themenbereiche. Zunächst stehen Arbeiten zu Formen von Vergemeinschaftung in der Gegenwart im Zentrum. Daran schließt sich eine Skizze zur sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Rausch an, um danach für die Forschungsfrage relevante Literatur zum Thema Karneval aufzuzeigen. Formen von spontanen oder rauschhaften Vergemeinschaftungen haben einen festen Platz in der massenmedialen Vermittlung, wenn etwa in Boulevardmagazinen und Online-Jour nalen über Flash Mobs, Public Viewing oder Straßenkarneval berichtet wird. Die Soziologie ¿ndet eine ganze Fülle von Etiketten für verschiedene Varianten von Kollektivität: Szenen, posttraditionale, situative, deterritoriale oder transnationale Vergemeinschaf tungen. Der Kontext der Begriffsarbeit und empirischen Fundierung dieser Sozialbeziehungen ist häu¿g der der Jugendforschung, obgleich eine Verbindung zwischen Altersphase und unverbindlichen Gesellungsformen nicht ohne Weiteres auf der Hand liegt. In der Soziologie gibt es seit den 1990er-Jahren analytische Konzepte zu diesen Gemein schaftsformen, die aktuell weiterentwickelt werden. Gerhard Schulze arbeitet 1992 in seiner „Erlebnisgesellschaft“ das Konzept der Szene als eine alltagsästhetische Orientierungsmöglichkeit für Erlebniskonsumenten sowie -anbieter heraus. Dabei ist der Fokus auf Kollek tivitätserfahrungen von
Forschungsstand und Ansatzpunkte
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Erlebnispublika im großstädtischen Raum und deren Einbettung in übergreifende Strukturen gerichtet. Dieter Baacke untersucht in seinem bereits 1987 [2007] erschienenen Buch „Jugend und Jugendkulturen“ mit sozialökologischem Blick die Jugend kulturen und -szenen am Ende des 20. Jahrhunderts. Wilfried Ferchhoff schließt an diese erziehungswissenschaftlich orientierte Arbeit an mit „Jugend an der Wende des 20. Jahrhunderts. Lebensformen und Lebensstile“ (1993), das mit „Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert. Lebensformen und Lebensstile“ (2007) seine Fortsetzung ¿ndet. Er beobachtet sehr unterschiedliche Kulturen, Gruppen, Gangs, Szenen, Tribes und Families mit vielfältigen Out¿ts, Ritualen, Musik, Sprachen und Handlungsformen. Ralf Vollbrecht (1997) betont die Abgekoppeltheit der Jugendgruppierungen von ihrem Herkunftsmilieu. Milieubezogene jugendliche Subkulturen wurden abgelöst von Freizeitszenen als wähl- und abwählbaren Formationen, in denen expressive und ästhetisierende Interaktionen bedeutsam sind. Ronald Hitzler, Thomas Bucher und Arne Niederbacher (2001) werfen einen mehr deskriptiven als analytischen Blick auf eine Auswahl von Jugendszenen. Zahlreiche Jugendforscher arbeiten derzeit mit großer Aufmerksamkeit an den Ausprägungen des inzwischen etablierten Kon zepts juveniler Szenen. Heute nimmt man zwar die heterogener werdende Altersstruktur in einzelnen Jugendszenen zur Kenntnis, löst das Sozialbeziehungskonzept Szene dennoch nicht konsequent von der Altersphase Jugend. Die zunächst analytische Beschäftigung mit unverbindlichen Gesellungsformen, die jenseits von Jugendszenen liegen und auch etablierte Alterskohorten anziehen, ¿ndet sich in Hitzlers Konzept der „posttraditionalen Gemeinschaft“ (1998). Gemeinsam mit Anne Honer und Michaela Pfadenhauer verfolgt er die hermeneutisch-wissenssoziologische Theorie und Ethnogra¿e posttraditionaler Vergemeinschaftungen weiter (2008). Auch wenn der Band eher ein Potpourri an Positionen zusammenfasst und eine klare, auch begrifÀiche Festlegung auf das Konzept posttraditionaler Gemeinschaften (noch) ausbleibt, ist er für diese Arbeit eine wichtige Quelle. In theoretischer Hinsicht bietet die französische Soziologie und Sozialphilosophie eine breite Basis. Das Collège de Sociologie schließt in den 1930er-Jahren an Émile Durkheims Überlegungen zur Religion an und beschäftigt sich mit dem Sakralen, dem Rausch und der Transzendenz. Zu diesem Kreis gehören unter anderem Georges Bataille und Roger Caillois, die in der Kultivierung dieser Grenzerfahrungen eine Möglichkeit sehen, der Atomisierung der Individuen in der Moderne entgegenzuwirken (vgl. Keller 2008: 98). Ihr Selbstverständnis ist ein linkes und gesellschaftskritisches, das die drohende Gefahr des Faschismus sieht. Seine Leistungsstärke gewinnt der Verbund unter anderem aus der Überschreitung der Grenzen zwischen Soziologie, Ethnologie und Anthropologie. Aus der Perspektive der Collégiens dienen Feste mit ihren Verausgabungen und chao-
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Einleitung
tischem Überschäumen der Erneuerung des Sozialen. Die Arbeiten des Collège de Sociologie werden im deutschsprachigen Raum zu rückhaltend rezipiert. Neben sprachlichen Hürden sind hierfür wohl auch die stark an philosophische Grundlagen anknüpfenden und damit schwer operationalisierbaren Begriffe verantwortlich. Die Traditionslinien des Collège wirken unter anderem auf Jean Baudrillard, Michel Foucault, Michel Maffesoli und Edgar Morin (vgl. dazu ausführlich Moebius 2006: 445 ff.). Maffesoli erarbeitet sein Neotribalismus-Konzept, während Morin in einer systemtheoretischen Tradition dem homo sapiens seinen homo demens gegenüberstellt, der in jedem Menschen verwurzelt ist, wodurch die Grundkonstitution jedes Individuums janusköp¿g wird. Die Forschungsarbeiten auf dem Gebiet des Rausches sind dünn gesät, wenn man das Phänomen Rausch konsequent von der Sucht trennt und somit Literatur zur Suchtforschung (z. B. Dollinger/Schmidt-Semisch 2007) ausschließt. Für eine sozialwissenschaftliche Beschäftigung sind der Sammelband „Rausch – Sucht – Lust“ von Stephan Uhlig und Monika Thiele (2002), der Band „Rausch“ von Helmuth Kiesel (1999) sowie die dreibändige Materialiensammlung zu einer Ausstellung von Gisela Völger und Karin von Welck (1982) mit dem Titel „Rausch und Realität. Drogen im Kulturvergleich“ hilfreich. Svenja Korte (2007) geht aus einer konstruktivistischen Perspektive der Frage nach, welche Konstruktionen von Rausch es bei Nutzern psychoaktiver Substanzen gibt und welche Bedeutungen, Bewertungen und Funktionen sich mit diesem Konstrukt ergeben. Daneben sind Arbeiten zu nennen, die sich unter Berücksichtigung einzelner Themenschwerpunkte dem Rausch nähern (hinsichtlich der Lebensführung etwa Kamphausen 2009, hinsichtlich des Geschlechts z. B. Jacob/Stöver 2009). Einen multidisziplinären Zugang zum Thema Rausch hat der Strafrechtler, Kriminologe und Psychologe Lorenz Böllinger (z. B. Böllinger 2002). Die erziehungswissenschaftliche und sozialpädagogische Literatur zu diesem Themenbereich ist umfangreich (vgl. etwa die zahlreichen Arbeiten von Stephan Quensel), ¿ndet wegen ihres Schwerpunkts auf Suchtprävention hier jedoch keine Berücksichtigung. Das Phänomen Karneval als jahrhundertealtes Fest wird aus einer volkskundlichen Sicht beispielsweise umfassend bearbeitet von Dietz-Rüdiger Moser (1986), Werner Mezger (1980, 1984) und Michael Matheus (1999); mit psychologischen Fragestellungen nähert sich Wolfgang Oelsner (z. B. 2004) dem Thema; die Pädagogin Helene Klauser (2007) hat sich in ihrer Dissertation speziell dem Kölner Karneval gewidmet. Daneben gibt es Arbeiten aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive (etwa Brog 2002, Frohn 2000) sowie zahlreiche im Eigenverlag erschienene Darstellungen von Karnevalsvereinen und -verbänden. Im Themenfeld von Vergemeinschaftung, Rausch und Karneval will diese Arbeit im Rahmen einer ethnogra¿sch-explorativen Studie eine empirische Fun-
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dierung zu Phänomenen der Vergemeinschaftung in der Gegenwart vornehmen. Die Vorgehensweise der Untersuchung skizziert der folgende Abschnitt. 1.4
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Um den genannten Forschungsfragen nachzugehen, betrachtet die Arbeit die einzelnen Themenblöcke unter Einbeziehung von drei Dimensionen: Raum, Zeit und Körper.5 Diese Deter minanten erscheinen deshalb relevant, weil sie soziale Interaktionen maßgeblich vorstrukturieren und sich deshalb als Kategorienschema für eine Analyse des Untersuchungsgegenstandes eignen. Der Raum wird als erste Dimension behandelt, weil er die Interaktion zwischen Individuen erst als gemeinsamen Bezugs- und Orientierungshintergrund kontextualisiert. Die materiell-räumliche Umwelt determiniert zudem über Lagerelationen die Dynamiken und Strukturen von Kommunikation. Durch seine Vorzeitigkeit ist der Raum für das Individuum immer schon mit der zeitlichen Dimension verknüpft. So wird die Zeit als zweite Dimension betrachtet, denn die Orientierung an ihr ist eine zentrale Handlungsbedingung. Die objektiv erfahrene und die subjektiv erlebte Zeit verdichten sich zum Zeitbewusstsein und werden als Faktor berücksichtigt, der Prozesse ermöglicht, strukturiert und normiert. Der Körper als dritte Dimension ist stets gestaltbares und gestaltendes Medium in sozialen Interaktionen und ein entscheidendes Medium der Subjektwerdung und der Distinktion. Die drei Betrachtungsebenen Raum, Zeit und Körper strukturieren die Arbeit und ziehen sich konstant durch die Analyse. Kapitel 2 entwickelt den Begriff Vergemeinschaftung durch den Rückgriff auf Konzepte von Gemeinschaft und Vergemeinschaftung. Hierzu werden klassische Entwürfe von Ferdinand Tönnies (1887), Georg Simmel (1908), Émile Durkheim (1912) und Max Weber (1922) aufgearbeitet und durch aktuelle Diagnosen v. a. von Zygmunt Bauman (1995), Michel Maffesoli (1996) und Ronald Hitzler (1998) ergänzt. Die drei Dimensionen Raum, Zeit und Körper werden näher bestimmt und in ihrer Bedeutung für Vergemeinschaftungen diskutiert. Ein wesentliches Element rauschhafter Vergemeinschaftungen ist der Rausch, der in Kapitel 3 unter Zuhilfenahme psychologischer, kultursoziologischer, medizinischer, psychiatrischer und psychoanalytischer Perspektiven de¿ niert wird. Weil Rausch sowohl mit pharmakologischen als auch mit psychologischen Tech5 Diese Dreiteilung erinnert an die drei Strukturformen (räumliche, zeitliche, soziale Strukturen), in die das erfahrende und handelnde Subjekt in Alfred Schütz’ Lebenswelt-Konzept in jeder Situation eingebettet ist (vgl. Schütz/Luckmann 1991 [1979]: 62 ff.). Statt der „sozialen Strukturen“ von Schütz ¿ ndet in dieser Arbeit die Körperlichkeit als Teilaspekt sozialer Struktur besondere Berücksichtung.
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niken ausgelöst werden kann, werden diese beiden rauschinduzierenden Gruppen vorgestellt. Anschließend geht es um die Bedeutung der drei Dimensionen Raum, Zeit und Körper in individuellen Rauscherfah rungen, um schließlich die Kollektivebene hinsichtlich Rauschkonstruktionen, Rausch regeln und Sozialintegration im Rausch in den Blick zu nehmen. Diese Betrachtung verdeutlicht, dass unser Kulturkreis auf ambivalente Weise mit dem Rausch umgeht. Dabei stehen auf der einen Seite ein Abstinenzgebot und die Rauschfeindlichkeit, und auf der anderen Seite ist unsere Lebensumwelt von Rauschmitteln und -ritualen geprägt. Kapitel 4 führt die Arbeitsergebnisse der beiden vorangehenden Kapitel zusammen und bestimmt den Begriff rauschhafte Vergemeinschaftung. Neben räumlichen und zeitlichen Bezügen wird hier vor allem der Körper unter Rückgriff auf ritualtheoretische Überlegungen Victor Turners, auf gesellschaftsdiagnostische Ideen Michel Maffesolis sowie auf religionssoziologische und anthropologische Arbeiten betrachtet. Dabei geht es maßgeblich um die Frage nach der MitgliederKohäsion und der Bedeutung rauschhafter Vergemeinschaftungen für Prozesse der Vergesellschaftung. Mittels theoretischer Fundierung wird ein Werkzeug zur strukturierten Analyse rauschhafter Vergemeinschaftungen vorgeschlagen. Kapitel 5 rekonstruiert die Ursprünge und Ausprägungen des historischen Festes Kar neval. Dafür werden zunächst die heidnisch-christlichen Wurzeln sowie die Entwicklung vom Mittelalter bis zur Zeit der französischen Besatzung des Rheinlands umrissen, um die Bedingungen für den Beginn des bürgerlichen Karnevals im 19. Jahrhundert zu skizzieren. Mit der Geschichte des Karnevals von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert zeigt sich auch, wie Gesellschaftsgeschichte und Karnevalsgeschichte miteinander verÀochten sind. Den Abschluss des Kapitels bildet ein Überblick über wesentliche Merkmale, Bräuche und Symbol¿guren des rheinischen Karnevals. Nach diesen theoretischen Überlegungen geht es in Kapitel 6 um die Vorgehensweise und die Methodik der Untersuchung. Hier wird ein Einblick in den Forschungsprozess gegeben sowie das Forschungsdesign dokumentiert. Dazu werden das Konzept der ethnogra¿sch-explorativen Studie, die Datenbasis, die Art des Feldzugangs, die Fallauswahl sowie die benutzten Auswertungsverfahren vorgestellt. Kapitel 7 präsentiert die Ergebnisse der empirischen Studie. Im Fokus stehen Veranstaltungen des rheinischen Straßenkarnevals der Jahre 2007 und 2008 und die dort beobachteten Phänomene rauschhafter Vergemeinschaftung. Für die Rekonstruktion der sozialen Welt ‚Straßenkarneval‘ ist zunächst die Identi¿zierung des Gesamtphänomens unter Rückgriff auf unterschiedliche im Feld vorgefundene Sichtweisen und Deutungsangebote interessant. Beobachtungen im Feld, narrative Interviews sowie eine Dokumentenanalyse geben Aufschluss darüber, wie der Raum (vor allem die Innenstadt Kölns), die Zeit (vor allem die Tage zwischen Weiber-
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fastnacht und Aschermittwoch) und die Körper (der feiernden Narren als Medien) EinÀuss nehmen auf die prozesshafte Bildung von rauschhafter Vergemeinschaftung. Kapitel 8 bündelt die empirischen Ergebnisse in Bezug auf die Ausgangsfragen und setzt sie in Beziehung zu den theoretischen Befunden. Eine Diskussion der beiden in dieser Einleitung formulierten Vermutungen schließt diesen Teil der Arbeit ab. Der Ausblick in Kapitel 9 zeigt Themenfelder auf, die sich im Verlauf der Studie als relevant für das Beziehungsgebilde rauschhafter Vergemeinschaftungen im Straßen karneval herausgestellt haben, jedoch nicht weiter verfolgt werden konnten. Eine Bearbeitung der Themen Geschlechterdifferenzen und Geschlechterordnungen im Karneval, Mediatisierung des Karnevals sowie Karneval als transnationales Ereignis könnte an anderer Stelle einen lohnenswerten Anschluss an diese Arbeit darstellen.
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Vergemeinschaftung
Das zweite Kapitel zielt zunächst darauf ab, den Begriff Vergemeinschaftung zu de¿nieren (2.1). Hierzu werden kursorisch die Begriffe Gemeinschaft, Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung bei Ferdinand Tönnies, Max Weber, Georg Simmel und Émile Durkheim bestimmt und auf ihre Eignung für die Fragestellung dieser Arbeit überprüft. Sodann werden die Entwürfe zu einer ‚posttraditionalen Gemeinschaft‘ bei Axel Honneth und Ronald Hitzler besprochen, wobei letzterer durch seinen Rückgriff auf den ‚Neotribalismus‘ eine Beschäftigung mit Michel Maffesoli und Zygmunt Bauman nahelegt. Weil Vergemeinschaftung im hier dargestellten Verständnis auf physische Kopräsenz angewiesen ist, werden in den weiteren Ausführungen die drei Dimensionen Raum, Zeit und Körper aus einer soziologischen Perspektive betrachtet (2.2). 2.1
‚Gemeinschaft‘ und ‚Vergemeinschaftung‘: Begriffsgeschichte und Begriffsbestimmung
Der Begriff ‚Gemeinschaft‘ zählt zweifellos zu den Schlüsseltermini der Soziologie. Wäh rend er aufgrund wechselnder politischer Implikationen innerhalb des deutschen Sprach raums mit sehr unterschiedlichen Konnotationen behaftet ist und in ebenso unterschiedlicher Intensität verwendet wird (vgl. Opielka 2006), fällt die Beschäftigung mit ihm derzeit vergleichsweise intensiv aus. Eine Begriffsbestimmung, auf die beständig zurückgegriffen wird, erarbeitet Ferdinand Tönnies bereits in seiner Gegenüberstellung von „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (1887). Der Begriff ‚Gemeinschaft‘ ist in seinem Verständ nis gekennzeichnet durch „reales und organisches Leben“ (Tönnies 1991: 3), wogegen die als Antagonismus konstruierte ‚Gesellschaft‘ eine „ideelle und mechanische Bildung“ (ebd.) sei. Tönnies führt die Gemeinschaft auf drei Arten von Sozialbeziehungen zurück: Mutter-Kind-, Ehepartner- und Geschwister verhältnisse. Auf diesen primären Stammverwandtschaften aufbauend expliziert er daran anschließende Beziehungen der Verwandtschaft, Verbindungen durch Nachbarschaft und durch Freundschaft. „Wo immer Menschen in organischer Weise durch ihre Willen miteinander verbunden sind und einander bejahen, da ist Gemeinschaft von der einen oder der anderen Art vorhanden“ (ebd.: 12). Somit ist Gemeinschaft nicht nur durch physisches, sondern vor allem durch psychisches, gemeinsame Interessen und Wertvorstellungen betreffendes Zusam menleben begründet. Klar beY. Niekrenz, Rauschhafte Vergemeinschaftungen, DOI 10.1007/978-3-531-93086-2_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Vergemeinschaftung
grenzte, (auch hierarchisch) strukturierte Gebilde wie Familie, Haus, Dorf oder Stadt sind Beispiele für Gemeinschaften, aus denen durch räumliche, geistige und affektuelle Nähe Solidarität erwächst. Die Mitgliedschaft zu den als lebendigen Organismen verstandenen Gemeinschaften ergibt sich durch Geburt oder biogra¿sche Umstände (z. B. Heirat) und ist zumeist weder frei wähl- noch ohne weiteres kündbar und erst recht nicht „herstellbar“. Auf letzteres verweist Tönnies’ Unterscheidung zwischen Wesens- und Kür willen. Der Gegenbegriff ‚Gesellschaft‘ zeichnet sich nicht durch dauerndes und echtes, sondern durch vorübergehendes und scheinbares Zusammenleben aus (vgl. Tönnies 1991: 4). Dieses mechanische Aggregat und Artefakt wird repräsentiert durch die Àießenden Grenzen einer Großstadt oder das Abstrakte des Weltmarktes. Verbindungen entstehen durch Tauschakte und beziehen sich somit weniger auf Personen als auf Sachen. Das künstliche und bewusst geschaffene Konstrukt Gesellschaft, in der Menschen „nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind“ (ebd.: 34), entsteht durch Marktgesetze. Tönnies’ Begriffsbestimmungen sind geprägt von einer Zeit rasanten technischen Fortschritts, der gesellschaftliche Transformationsprozesse auslöste, die mit ihrer für viele Zeitgenossen beängstigenden Rasanz das Aufkommen romantischer und nostalgischer Vorstellungen von solidarischen Dorfgemeinschaften als kontrastierende Bilder zu der als seelenlos und mechanisch empfundenen Gesellschaft in Großstädten begünstigte. Ein solches Verständnis von Gemeinschaft ist eine typische Reaktion auf die Entwicklungen und Veränderungen des 19. Jahrhunderts. Tönnies’ analytische Dichotomien sind für die De¿nition von ‚rauschhaften Vergemeinschaftungen‘ jedoch aus zwei Gründen nicht brauchbar. Zum einen lassen sich Beziehungstypologien gegenwärtig nicht so scharf differenzieren: Rauschhafte Vergemeinschaftungen umfassen gleichermaßen die Merkmale von ‚Gemeinschaft‘ und ‚Gesellschaft‘. Zum anderen ist in Tönnies’ Gemeinschaft die Zugehörigkeit nicht frei wählbar. Hilfreich für eine Begriffsbestimmung rauschhafter Vergemeinschaftung sind jedoch seine Verweise auf physische Anwesenheit und psychische Einstellung der Akteure als notwendige Charakteristika von Gemeinschaft. Wesentlich ist auch seine Feststellung, dass Gesellschaft ein soziales Gebilde ist, das sich konstruieren, bewusst erschaffen lässt und nur durch vorübergehendes und scheinbares Zusammensein der Individuen zustande kommt.6 6 An Tönnies’ Arbeit scheinbar anknüpfend gibt es in der ‚deutschen Soziologie‘ der Jahre 1933–1945 einen Boom in der Beschäftigung mit dem Schlüsselbegriff ‚Gemeinschaft‘. In ihren Auffassungen und Auslegungen differieren die Arbeiten aus dieser Zeit nicht nur wesentlich untereinander, sondern weichen zum Teil auch von der De¿ nition von Tönnies ab, wenn beispielsweise ein „Wille zur Gemeinschaft“ proklamiert wird. Vielfach sind die in der „deutschen Soziologie“ der NS-Zeit beschriebenen Formen mehr ‚Bund‘ als ‚Gemeinschaft‘ (vgl. Breuer 2002).
‚Gemeinschaft‘ und ‚Vergemeinschaftung‘
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Max Weber greift Tönnies’ Unterscheidung auf, wenn er in „Wirtschaft und Gesellschaft“ die Begriffe ‚Vergemeinschaftung‘ und ‚Vergesellschaftung‘ aufbaut. In Abgren zung zu Tönnies ist Weber nicht an den Strukturen der Sozialgebilde, sondern an der Prozesshaftigkeit sozialen Handelns interessiert. Seine Unterscheidung trifft er deshalb im Hinblick auf seine vier dominierenden Handlungstypen. „‚Vergemeinschaftung‘ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns – im Einzelfall oder im Durchschnitt oder im reinen Typus – auf subjektiv gefühlter (affek tueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht“ (Weber 1980: 21, Herv. i. O.).
Die Vergemeinschaftung geht auf Formen des a-rationalen Handelns zurück. In ihr spielen das Wir-Gefühl und die Abgrenzung gegen Dritte eine wichtige Rolle. Die Schaffung einer gefühlten Zusammengehörigkeit und der Bindung an eine Gruppe sind Voraussetzung für ihr Entstehen. Die Akteure müssen aufgrund dieser Emotion ihr Verhalten aneinander orientieren. Vergesellschaftung beruht hingegen nach Weber auf rationalen Handlungstypen, bei denen die Interessen der Beteiligten zentral sind. „‚Vergesellschaftung‘ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- und zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht. Vergesellschaftung kann typisch insbesondere (aber nicht: nur) auf rationaler Vereinbarung durch gegenseitige Zusage beruhen. Dann wird das vergesellschaf tete Handeln im Rationalitätsfall orientiert: a) wertrational an dem Glauben an die eigene Verbindlichkeit, – b) an zweckrational an der Erwartung der Loyalität des Partners“ (ebd.: 21 f., Herv. i. O.).
Klare Abgrenzungskriterien zwischen diesen beiden Erscheinungen sozialer Beziehungen formuliert Weber nicht. Vielmehr geht er davon aus, dass der Großteil der Sozialbeziehungen sowohl den Charakter von Vergemeinschaftungen als auch den Charakter von Vergesellschaf tungen tragen kann, also eine Mischung von Handlungsorientierungen vorliegt. So können auch in Familien – bei Tönnies das prototypische Beispiel für Gemeinschaft – rationale Handlungsorientierungen entscheidend sein, zum Beispiel bei der Heiratswahl. Die Familie als Sozialbeziehung trägt damit zugleich Charakterzüge von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung. Umgekehrt können auch auf rationalen Motiven gegründete Beziehungen dazu neigen, Gefühlswerte zu stiften, die über zweck- und wertrationale Motive hinausgehen.
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Vergemeinschaftung
Webers De¿nitionen sind für den Fortgang der Arbeit hilfreich, weil er die wechselseitige Verhaltensorientierung und die Schaffung einer gefühlten Bindung beschreibt, die zur Vergemeinschaftung führen. Seine Begriffsbestimmung ist an der Prozesshaftigkeit und der Orientierung sozialen Handelns ausgerichtet und zeigt, dass sehr heterogene Tatbestände zu einer Vergemeinschaftung führen können. Sowohl für Weber als auch für die im Folgenden zu entwickelnde Arbeitsde¿nition ist wichtig, dass das Verhalten in Vergemeinschaftungen durch ein Zusammengehörigkeitsgefühl aneinander orientiert wird. Ein weiterer Klassiker der Soziologie, Georg Simmel, bearbeitet ebenfalls den Begriff ‚Vergesellschaftung‘. Den Terminus ‚Vergemeinschaftung‘ bespricht er nicht systematisch, legt ihn aber in seiner Emotionssoziologie konzeptionell an. Dort, „wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten“ (1968 [1908]: 4), beginnt für Simmel Gesellschaft. Er versteht Gesellschaft als eine Summe von Wechselwirkungen und als etwas Prozesshaftes. Der Begriff, der die Dynamik dieses Sozialgebildes erfasst, ist ‚Vergesellschaftung‘, die er wie folgt de¿niert: „Die Vergesellschaftung ist also die, in unzähligen verschiedenen Arten sich verwirklichende Form, in der die Individuen auf Grund jener – sinnlichen oder idealen, momentanen oder dauernden, bewußten oder unbewußten, kausal treibenden oder teleologisch ziehenden – Interessen zu einer Einheit zusammenwachsen und innerhalb deren diese Interessen sich verwirklichen“ (Simmel 1968: 5).
Gefühle sind Grundlage des Sozialen, und emotionales Handeln übernimmt in der Gesellschaft eine integrative Funktion (vgl. Simmel 1966 [1890]). Simmel unterscheidet primäre von sekundären Gefühlen. Werden Wechselwirkungen zwischen Individuen durch Emotionen erzeugt, handelt es sich um primäre Gefühle (z. B. Liebe, Glaube, Sehnsucht, Hoffnung), die eine gestaltende Kraft auf soziale Wirklichkeit ausüben. In seinem „Fragment über die Liebe“ (Simmel 1993 [1923]) weist er darauf hin, dass „der Gegenstand der Liebe in seiner ganzen kategorischen Bedeutung nicht vor ihr da [ist], sondern erst durch sie“ (ebd.: 20). Das primäre Gefühl Liebe gibt dem Ding und dem Wesen erst die Bedeutung, die es für das Individuum hat. Auf die Fragestellung der Arbeit übertragen bedeutet dies, dass erst durch das Wir-Gefühl, durch die gespürte Zusammengehörigkeit ein gemeinschaftliches, kollektives Verhalten und schließlich eine Gemeinschaft entstehen kann. Aus der Gemeinschaft sind diejenigen ausgeschlossen, die die gemeinschaftlichen Gefühle nicht teilen. Nach vorangegangenen Wechselbeziehungen können sekundäre Gefühle entstehen (z. B. Treue, Dankbarkeit, Vertrauen), die durch solide und regelmäßige Wechselwirkungen in der Gruppe eine stabilisierende Funktion erfüllen.
‚Gemeinschaft‘ und ‚Vergemeinschaftung‘
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Neben den primären Gefühlen wirkt ein weiterer Aspekt stimulierend auf die Gruppenbildung. Die Gegnerschaft gegen einen Dritten hat eine besonders verbindende Kraft, die eine freundliche Beziehung zum Dritten in dieser Intensität nicht auslösen würde: „Es ist eine Tatsache von der größten soziologischen Bedeutung, […] daß die gemeinsame Gegnerschaft gegen einen Dritten unter allen Umständen zusammenschließend wirkt, und zwar mit sehr viel größerer Sicherheit so wirkt, als die gemeinsame freundliche Beziehung zu einem Dritten“ (Simmel 1968: 457).
Aversionen gegen Dritte wirken für Simmel in jeder Art von Gruppenbildung einheitsfördernd, weil die Unterscheidung zwischen Freund und Gegner die sozialen Beziehungen spürbar macht und die Notwendigkeit des Erhalts der Gruppe ins Bewusstsein rückt. Für die in dieser Arbeit zu entwickelnde De¿nition des Begriffs ‚Vergemeinschaftung‘ ist in Simmels klassischen Ansätzen neben der Betonung der Emotionen bei der Entstehung von Wechselwirkungen und letztlich sozialen Einheiten noch die einheitsfördernde Kraft einer Gegnerschaft gegen Dritte bedeutsam. Émile Durkheim hat sich ebenfalls mit Gemeinschaft als soziologischem Grundbegriff beschäftigt und den Fokus auf Solidarität gelegt. Er schreibt den Emotionen in der Gemeinschaft als Vorbedingung für alles Soziale und als Grundlage für gruppenkohäsive Prozesse einen konstruktiven Charakter zu. Gemeinschaftsbindungen basieren auf einer gemeinsamen Moral und bilden das Fundament für die Gesellschaft. In seinem späten Werk „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“ (frz. Orig. 1912) knüpft er die Existenz von sozialen Gemeinschaften an die Voraussetzung periodisch wiederkehrender Zustände der kollektiven Verschmelzung. Religiöse Riten halten die Gemeinschaft aufrecht und stärken das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe. Die sinnlich erfahrbare Nähe der Individuen bei den Zeremonien spielt für ihn eine entscheidende Rolle. „Es gibt keine Gesellschaft, die nicht das Bedürfnis fühlte, die Kollektivgefühle und Kollektivideen in regelmäßigen Abständen zum Leben zu erwecken und zu festigen. Diese moralische Wiederbelebung kann nur mit Hilfe von Vereinigungen, Versammlungen und Kongregationen erreicht werden, in denen die Individuen, die einander stark angenähert sind, gemeinsam ihre gemeinsamen Gefühle verstärken“ (Durkheim 1994: 571).
Das Kollektivgefühl wird auch unter Verwendung von Bildern und Zeichen erzeugt, indem diese eine Übertragungsleistung übernehmen, die Durkheim auch als Ansteckung bezeich net. Das Bild kann die Gefühle der Individuen vereinen
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und die Gefühle der Gemeinschaft repräsentieren. Durkheims religionssoziologische Studie beschreibt das kollektive Gefühl und seine Steigerung. Sie betrachtet die Religion als etwas, dessen wesentliche Funktion in der Stiftung gesellschaftlichen Zusammenhalts und gesellschaftlicher Identität liegt. In religiösen Gemeinschaften wird also durch rituelle Praktiken Grundsätzliches für die Gesellschaft geleistet. Kollektivgefühle können sich verstärken und den Einzelnen mitreißen. Durkheim verdeutlicht den Prozess der Ansteckung am Beispiel der Trauer: „Die Trauer wie die Freude erregen sich, werden stärker, wenn sie von Bewußtsein auf Bewußtsein übergreifen und drücken sich in der Folge in Form von überschwenglichen und heftigen Bewegungen aus […]. Der Einzelne wird von der Masse mitgerissen. Es entsteht eine Art Trauerpanik“ (ebd.: 536).
Eine für die vorliegende Arbeit wichtige Erkenntnis ist, dass geteilte Gefühle zu einer Gruppenkohäsion führen. Durch rituelle Praktiken verstärken sich die Gefühle der Individuen in einer Vergemeinschaftung. Auch spätere Arbeiten betonen die Bedeutung von Gefühlen für die Gemeinschaftsbildung. Randall Collins etwa vollzieht – wie Durkheim und Simmel – mit der emotionalen Zugehörigkeit die Grenzziehung zwischen Gemeinschaft und Nicht-Gemeinschaft bzw. In klusion und Exklusion (vgl. Collins 1984: 389 ff.). Er entwirft eine sozialstrukturell ausgerichtete Emotionssoziologie und zeigt, wie Emotionen soziale Situationen vorstruk turieren. In der deutschsprachigen Emotionssoziologie hat unter anderem Heinz-Günter Vester (1991) die soziale und kulturelle Kodierung von Emotionen beschrieben. Ihm geht es um die Ansteckung und Dynamik emotionaler Prozesse. Von einem systemtheoretischen Hintergrund ausgehend stellt Vester fest, dass Menschen bewusst oder unbewusst die Emotionen, die sie bei anderen Menschen sehen, mit den eigenen Gefühlen synchronisieren können. Danach ¿ndet eine Rückkoppelung mit den Interaktionspartnern statt. Nachahmung, Ansteckung und Imitation von Emotionen beruhen nicht nur auf einem Reiz-Reaktionsschema, wie der Behaviorismus behaupten würde, sondern beinhalten Prozesse der Enkodierung und Kodierung von Zeichen. Die Imitation von Emotionen in Vergemeinschaftungen setzt demnach die Kenntnis von Symbolen voraus. Zeitgenössische Ansätze, die Formen von Vergemeinschaftungen in den Blick neh men, ohne intensiven konzeptionellen Bezug zu kollektiven Emotionen herzustellen, sind zwei Beiträge zu „posttraditionalen Gemeinschaften“.7 Die 7 Daneben ist mindestens noch eine weitere Verwendungsweise des Begriffs posttraditionale Gemeinschaft zu nennen: Karin Knorr Cetina bezeichnet in ihrer Studie „Wissenskulturen“ (Knorr Cetina 2002) die kollektiven Strukturen, die unter den Beteiligten an Großexperimenten (100 bis
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Aufsätze von Axel Honneth und Ronald Hitzler bieten zwei Konzepte, die in der Bezeichnung zwar ähnlich sind, jedoch verschiedene Ausgangspunkte haben und auf jeweils unterschiedliche Phänomene zielen. Axel Honneth nennt 1993 einen Aufsatz „Posttraditionale Gemeinschaften. Ein konzeptueller Vorschlag“. Fünf Jahre später wählt Ronald Hitzler die Artikelüberschrift „Posttraditionale Vergemeinschaftung. Über neue Formen der Sozialbindung“ und geht darin auf Sozialbeziehungen ein, deren Entstehung er als Konsequenz des Modernisierungsprozesses und der damit einhergehenden Individualisierung sieht. Aus kommunitaristischer Sicht machen die kulturellen Bedingungen individueller Selbst verwirklichung eine Vergemeinschaftung von sozialen Lebenszusammenhängen not wendig (vgl. Honneth 1995 [1993]: 261). In Honneths Entwurf wird ein Gemeinschaftsbegriff vorgeschlagen, der so gefasst ist, dass er die Voraussetzung für menschliche Selbstverwirklichung enthält. Er versteht solche Formen der sozialen Beziehung als Gemeinschaft, „die durch die Orientierung an einem gemeinsam geteilten Gut gekennzeichnet sind, also durch den Bezug auf intersubjektiv als gültig angesehene Werte“ (ebd.: 262). Weil die soziale Integration einer Gemeinschaft durch die wechselseitige Wertschätzung der Mitglieder mit ihren Eigenschaften oder Fähigkeiten passiert, sind Gemeinschaften hier stets Verhältnisse von Solidarität. Diese Auffassung von Gemeinschaft ist normativen Bedingungen von innen wie von außen unterworfen. Intern ist es das Anerkennungsmuster der wechselseitigen Wertschätzung, während extern solche Gemeinschaften als moralisch vertretbar gelten, die eine individuelle Autonomie respektieren und ihre Mitglieder weder physisch noch psychisch beeinÀussen. Honneths (eher liberales) Konzept der posttraditionalen Gemeinschaft versucht die Vermittlung zwischen Liberalen und Kommunitaristen. Posttraditionale Gemeinschaften beginnen dort, wo die normative Struktur eines sozialen Gebildes durch die Möglichkeit bestimmt ist, dass jedes Mitglied so in seinen Leistungen und Fähigkeiten anerkannt wird, dass es sich selbst wertzuschätzen lernt (vgl. ebd.: 269). Zudem ist die symmetrische Wertschätzung von Bedeutung. Damit ist gemeint, dass das Individuum sich reziprok im Licht von Werten betrachtet, die die Fähigkeiten und Eigenschaften des jeweils Anderen als bedeutsam für die gemeinsame Praxis erscheinen lassen. Auf posttraditionale Gemeinschaften im Sinne von Axel Honneth mit ihrer stark normativen Grundhaltung geht diese Arbeit nicht weiter ein. Vielmehr erscheint eine Analyse des Beitrags von Ronald Hitzler 2.000 Teilnehmer) in der Hochenergiephysik (und anderen naturwissenschaftlichen Forscherverbünden) entstehen, als posttraditionale globale Gemeinschaften. Sie geht der Frage nach, wie auf individueller Ebene Vertrauen und eigene kommunikative Ordnungen entstehen. Die Orientierung am gemeinsamen Ziel vereint die Forscher und die Pluralität der Disziplinen und Interessenlagen. Diese posttraditionalen globalen Gemeinschaften produzieren Wissen, dessen Entstehungsprozess Knorr Cetina in ihrer ethnogra¿schen Arbeit darstellt.
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(1998) für das Konzept dieser Arbeit hilfreich. Hitzler bezeichnet mit ‚posttraditionalen Vergemeinschaftungen‘ einen Modus sozialer Aggregation, „der sich insbesondere dadurch auszeichnet, daß die freiwillige Einbindung des Individuums auf seiner kontingenten Entscheidung für eine temporäre Mitgliedschaft in einer – typischer weise von einer Organisations-Elite im Zusammenhang mit Pro¿tinteressen stabilisierten und perpetuierten – (vorzugsweise freizeit- und konsumorientierten) sozialen Agglomeration beruht“ (ebd.: 82, Herv. i. O.). Solche Kollektive resultieren aus der Konglomeration von kommerziell evozierten Zugehörigkeitsentscheidungen. Auf der Suche nach Verlässlichkeit, Sicherheit und Zugehörigkeit geht das Individuum Optionen zur Wiedervergemeinschaftung ein und wechselt symptomatischerweise von Gruppenorientierung zu Gruppenorientierung. Dabei entstehen eine Collage an Partizipationen und das „Spektrum von Sinn-Provinzen“ (ebd.), in dem das Individuum sich bewegt. Ziel und Interesse posttraditionaler Gemeinschaften sind lediglich die gemeinsame Handlung – andere Motivationen und Interessen werden nicht geteilt. Die Abgrenzung zur Umwelt und damit die Entstehung der Vergemeinschaftung erfolgt durch ein Wir-Bewusstsein, das in der subjektiven Perspektive des sich vergemeinschaftenden Individuums idealerweise als reziprok unterstellt wird. „[D]as Verhältnis zu einem, zu mehreren, zu vielen anderen konstituiert sich im Akt der Vergemeinschaftung und in der Fortdauer der Gemeinschaft zumindest in Abgrenzung zu einem, zu mehreren oder zu vielen ‚Dritten‘“ (ebd.: 83). Demnach resultiert die Gemeinschaft nicht aus der Solidarität, wie bei Honneth, sondern aus einer Art „‚Komplizenschaft‘ gegenüber dem bzw. den ‚Dritten‘“ (ebd., Herv. i. O.). ‚Dritte‘ können auch abstrakte Gebilde wie die Gesellschaft schlechthin sein. Das Wir-Bewusstsein bleibt eine individuelle Fiktion und könnte nur introspektiv ermittelt werden. Damit ist auch die Gemeinschaft eine Imagination und existiert nur durch den Glauben an ihre Existenz. Die Motivation des Individuums, nach Gemeinschaft zu suchen, irgendwo dazu zu gehören, resultiert aus der Erfahrung des Ausgebettetseins. Diese für das moderne Dasein symptomatische Erscheinung führt dazu, dass Menschen verschiedene Formen von Gesellung eingehen. Posttraditionale Gemeinschaften sind auf „Teilzeit“ angelegt, vororganisiert, professionell stabilisiert und bieten eine wenigstens relative Sicherheit und Fraglosigkeit. Die Mitgliedschaft ist jederzeit kündbar, weil die Gemeinschaft auf dem „Insgesamt voluntativer Akte freiwilliger Selbstbindung“ (ebd.: 84, Herv. i. O.) beruht. Daher ist auch das Sanktionsund Normierungspotenzial dieser Sozialbeziehungen deutlich begrenzt.8 Die 8 Hitzlers Aussage kann jedoch trotz einiger Formulierungsähnlichkeiten nicht mit dem Prinzip der Freiwilligkeit bei Talcott Parsons verbunden werden. Während bei Hitzler jederzeit ein Ausstieg aus der Gemeinschaft möglich ist, kann sich das Individuum bei Parsons nicht jederzeit lösen.
‚Gemeinschaft‘ und ‚Vergemeinschaftung‘
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Frage der Mitgliedschaft kann zum Beispiel nicht sanktioniert werden, sondern wird über Verführung bzw. Abschreckung der Individuen geregelt. Die emotionale Hingabe und affektuelle Zugehörigkeit der Mitglieder zu den Gemeinschaften währt nur so lange, wie sich der „Konsum“ von Gemeinschaft lohnt, womit ein wesentliches Struktur merkmal posttraditionaler Vergemeinschaftung angesprochen ist: Kommerzialisierung. Der Vergemeinschaftungsmodus posttraditionaler Gemeinschaften ist vergleichbar mit den Neotribalismus-Konzepten von Michel Maffesoli (1996 [1988]) und Zygmunt Bauman (z. B. 1995). Mit der „Rückkehr der Stämme“ (The Time of the Tribes) beschreibt Maffesoli einen weit reichenden Wandel der Gesellschaft, die nun mehr und mehr durch ein vielfach zergliedertes und sich ständig neu formierendes Netz von Stämmen gekenn zeichnet ist. ‚Stamm‘ ist dabei als Alternativbegriff zur ‚Gemeinschaft‘ zu verstehen und wird metaphorisch benutzt. Der archaisierende Begriff weist auf die Deindividualisierung im Stamm hin. Maffesolis Tribalismus bezeichnet eine Form von Sozialität, die mit ihren liberalen Partizipationsmöglichkeiten typisch für die Gegenwart ist, weil es nicht um zweckorientierte Gruppen geht, sondern um geteilte Erlebnisse, Gefühle und Affekte ohne rationale Grundlagen. Maffesoli, für den der Orgiasmus ein zentrales Strukturelement des Alltagslebens ist, führt bewusst die emotional community ein, bevor er das Konzept des Tribalismus entwirft (Maffesoli 1996: 9 ff.). Der Stamm als Gemeinschaft auf Zeit ist für ihn eine Form von auf nicht-rationalen Grundlagen beruhender ‚Sozialität‘, die er vom Begriff des ‚Sozialen‘ trennt. Die Sozialität ist die auf organischer Solidarität beruhende Strukturform der Post moderne, des Zeitalters der Massen, in dem die Personen (persona) als Rollenspieler zwischen den Stämmen hin- und hertreiben (vgl. ebd.: 76). Das Soziale hingegen ist die auf mechanischer Solidarität9 beruhende Strukturform der Moderne (vgl. ebd.: 7), in der die Individuen ohne Maskenwechsel ihre gesellschaftliche Funktion erfüllen. Maffesoli unterscheidet zwischen mechanisch und organisch, Individuum und Person, Gruppe und Stamm, um analytisch die Moderne von der Postmoderne zu trennen. Die Massenkultur der Postmoderne hat die Desintegration gefördert, wodurch ein Vitalismus der großen Menschenmassen wiederkehrt. Die emblematische Figur des Dionysos soll das Orgiastische des Alltagslebens und „eine neuerliche ‚Sakralisierung‘ von Sozialbeziehungen“ (Keller 2006: 107) kennzeichnen.
Die Unterscheidung zwischen mechanischer und organischer Solidarität trifft auch Émile Durkheim. Er bezeichnet die mechanische Solidarität als Strukturform in auf Verwandtschaftsverhältnissen beruhenden archaischen Gesellschaften. Die organische Solidarität identi¿ ziert er in arbeitsteiligen, komplex organisierten modernen Gesellschaften. 9
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Vergemeinschaftung
Für Zygmunt Bauman ist der Neotribalismus ein deutlicher Indikator der Postmoderne. Neostämme beschreibt er bildhaft als „Kristallisationen in gesättigter Lösung […], die wieder und wieder durch zufälliges Eindringen eines noch so winzigen Partikelchens oder durch leichte Störung ausgelöst werden, wobei Zeit und Ort unmöglich im voraus bestimmt werden können“ (Bauman 1995: 211). In ihrer Flüchtigkeit überdauern sie ihre Mitglieder im Gegensatz zu „klassischen“ Stämmen nicht. Bauman, der an mehreren Stellen auch auf Maffesoli verweist, versteht Neostämme als „Eruptionen von Sozialität“ (ebd.: 212). Er unterscheidet ‚Sozialität‘ und ‚Sozialisierung‘ als Modi der Strukturierung des sozialen Raumes voneinander. Beide ermöglichen auf ihre Weise Koexistenz (Mitsein) in der Vielheit, aber nur Sozialisierung ist unendlich erweiterbar und vermag Strukturen niederzuschlagen. Sozialität lässt Emotionen freien Lauf, „bringt sie zum Sieden, während Sozialisierung für ihre Tendenz zur Abkühlung, Unterdrückung und Auslöschung von Emp¿ndungen der Art moralischer Bedürfnisse bekannt ist“ (ebd.: 215.). Auf die (Stammes-)Konzepte von Maffesoli und Bauman greife ich in dieser Arbeit mehrfach zurück. Abschließend stellt sich die Frage: Welche Merkmale lassen sich nach dem skizzierten Überblick für eine die Untersuchung leitende Begriffsbestimmung von ‚Vergemeinschaftung‘10 zusammenfassen ? Vergemeinschaftung ist ein Modus von Sozialität, der zu allen Zeiten vorkam, heute vermehrt aufgesucht und eingegangen wird und aufgrund kommerzieller Angebote permanent verfügbar ist. Für das Zustandekommen von Vergemeinschaftungen ist die physische Anwesenheit, also die sinnliche Erfahrbarkeit der Kopräsenz vieler Akteure notwendig. Der Körper wird dabei (neben Symbolen und Ritualen) zu einem zentralen Medium bei der Aufführung der für Vergemeinschaftungen typischen per formativen Praktiken. Eine wechselseitige Verhaltensorientierung, häu¿g auch Imitation, kennzeichnet den Interak tionsmodus. Eine Vergemeinschaftung liegt dann vor, wenn ein Zusammengehörigkeitsgefühl bei den Gruppenmitgliedern existiert. Diese emotionale Zugehörigkeit steuert die Inklusion und Exklusion, d. h. allein das Individuum entscheidet über seine Zugehörigkeit. Geteilte Emotionen verstärken die Gruppenkohäsion ebenso wie die (konstruierte) Aversion gegenüber einem (meist abstrakten) Dritten. Dabei können Emotionen wiederum durch rituelle Praktiken verstärkt werden. Die Motivation zum Eingehen einer Vergemeinschaftung liegt einzig im Teilen von Erlebnissen und Gefühlen, manchmal auch in der gemein10 In dieser Arbeit werden die zu betrachtenden Formen von Sozialität mit ‚Vergemeinschaftung‘ statt ‚Gemeinschaft‘ gekennzeichnet, weil der erste Begriff die Dynamik, Spontaneität, Flüchtigkeit und Wechselwirkungen zwischen den Akteuren deutlicher kennzeichnet. Max Weber sah ‚Vergemeinschaftung‘ als ein Vorstadium zur Gemeinschaft, die erst dann beginnt, wenn auch die Umwelt die gefühlte Zusam mengehörigkeit der Individuen in der Vergemeinschaftung dokumentiert (vgl. Weber 1980: 22).
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samen Handlung. Der Àüchtige Charakter von Vergemeinschaftungen ergibt sich aus deren Konstitutionsbedingung: Sie existieren nur durch den Glauben an sie. Die Überlegungen zur Vergemeinschaftung unterstreichen die Notwendigkeit der physischen Anwesenheit der Akteure.11 Dem Individuum geht es um die Erfahrung des Seins (Kör per) im Hier (Raum) und Jetzt (Zeit). Alle drei Dimensionen strukturieren Vergemeinschaftungen wesentlich vor. Ihre Analyse ist daher Ausgangspunkt für eine detaillierte Auseinandersetzung mit Vergemeinschaftungen. Raum, Zeit und Körper gliedern die folgenden theoretischen Ausführungen und die empirischen Befunde dieser Arbeit. 2.2
Bedeutung der Dimensionen Raum, Zeit und Körper
2.2.1
Raum
Räume werden von sozialen Akteuren erzeugt und zugleich strukturieren sie soziale Interaktion vor. Diese in der Soziologie dominante Auffassung von Räumen folgt dem Modell, das Raum als Ergebnis von Beziehungsverhältnissen versteht. Das relationistische Konzept (Lagerelationen-Modell) steht dem absolutistischen Modell gegenüber (Container-Modell). Das Container-Modell versteht den Raum losgelöst von seinem Inhalt, sodass er auch ohne soziale Akteure existieren kann. Spätestens seit der Formulierung der Relativitätstheorie durch Albert Einstein verliert das Container-Modell auch in den Sozialwissenschaften an Bedeutung. Der Blick wird fortan vielmehr auf Lagerelationen gelenkt. Im Jahr 1903 formuliert Georg Simmel in seinem Aufsatz „Soziologie des Raumes“ die Grundqualitäten, die jeder Raum aus soziologischer Sicht hat: Ausschließlichkeit (jeder Raumteil ist einzig und wo einer ist, kann kein zweiter sein), Begrenzung (Grenzen sind soziologische Tatsachen, die sich räumlich formen), Fixierung (Orte sind ebenso ¿xiert wie die Dinge in ihm), Bestimmung sinnliVirtuelle Vergemeinschaftungen sind ein mehr und mehr beachtetes Phänomen in einer durch technisch ba sierte Medien dominierten Zeit. Diese Form von Vergemeinschaftung kommt ohne einen gemeinsamen Ort und die unmittelbare Begegnung von Körpern aus. Sebastian Deterding (2008) befasst sich mit virtuellen Communities am Beispiel von Online Rollenspielen und Sozialen Netzwerk-Seiten. Auch Andreas Hepp (2008) weist auf die Deterritorialität und Translokalität von Vergemeinschaftungen in posttraditionaler Zeit hin und nimmt ihre medienvermittelte Kommunikation in den Blick. Bereits im Jahr 2000 hat Bettina Heintz zu virtuellen Gruppen geforscht; einer der ersten, die den Begriff benutz ten, war wohl im Jahr 1993 Howard Rheingold (2000) mit seinem Buchtitel „Virtual Community“ (aktuell z. B. auch Song 2009). Die emotionale Vergemeinschaftung über Medien nimmt am Beispiel eines Papstbesuches Katrin Döveling (2005) in den Blick. Ebenso fokussiert Matthias Junge (2008) kollektive emotionale Erregungen (z. B. Tod von Lady Di), identi¿ziert die entstehenden Formen von Gemeinschaften aber nicht als wirkliche Sozialität. 11
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Vergemeinschaftung
cher Nähe oder Distanz (Personen im Raum stehen in Beziehungen zueinander, die sich durch räumliche Berührungen oder Trennungen äußern) und Bewegung (durch die Beweglichkeit der Menschen von Ort zu Ort ergeben sich Wechselwirkungen) (vgl. Simmel 1992: 222–236). Diese grundlegenden Kenn zeichen sind ein wichtiges Fundament für die soziologische Beschäftigung mit Räumen. Auf die Notwendigkeit der Unterteilung und Unterscheidung von Räumen weist Émile Durkheim hin (vgl. Durkheim 1994: 30); ähnlich formuliert dies letztlich auch Simmel in seiner Grundqualität der Begrenzung. Für Durkheim sind die Differenzierungen der Räume stets sozialen Ursprungs und erst durch diesen Prozess beschreib- und wahrnehmbar (ebenso wie die Kategorie ‚Zeit‘). Die Wahrnehmbarkeit von Räumen ist für einzelne Individuen jedoch stets eine eingeschränkte und einzuschränkende: Ein Individuum kann mit den ihm gegebenen Sinnen den Raum nie in seiner Ganzheit wahrnehmen, sondern lediglich als Raum, dessen Zentrum es ist und in dem alles auf es ausgerichtet ist (vgl. ebd.: 589). Dieser individuelle Blick in den Raum hat maßgebliche Folgen für die Interpretation individueller Handlungen – bei aller Fähigkeit zur Perspektivenübernahme. Der Raum hat immer einen auf soziale Interaktion bezogenen Aneignungs- und Handlungsbezug. Günter Dux entwirft eine evolutionistische Raumkonzeption, in der Menschen Raumvorstellungen entwickeln, weil sie Objekte in Gegenlage zu sich bringen müssen. Daraus trifft er seine Ableitungen für die Bestimmung der Lagerelationen von Akteuren und Objekten: „Erst dadurch, daß die Objekte in eine Gegenlage zum Akteur gebracht werden, bildet sich der Raum aus, und zwar in einer ganz spezi¿schen Weise: Das sich mitbildende Subjekt rückt im ‚Hier‘ seiner Position an die Grenze des Raumes, der dadurch zum Aktionsfeld seiner Tätigkeit wird. Erst aus dieser Position heraus lassen sich auch die Beziehungen der übrigen Objekte zueinander in der Einheit des Raumes bestimmen“ (Dux 1990 [1982]: 89).
Zu Objekten können neben Artefakten auch soziale Praktiken und symbolische Repräsentationen gezählt werden, die in Relation zum Individuum stehen. Räume sind nach heutiger Auffassung für Menschen immer schon angeeignete und gemachte Sozialräume, deren konstruierte Bedingungen das soziale Handeln der Akteure begrenzen und zugleich er möglichen. Damit wird der Raum als etwas Abstraktes zum Ergebnis von Handlungen, zu einem hybriden Gebilde aus dinglicher und menschlicher Materie, das ohne seinen Inhalt nicht denkbar ist. Martina Löw entwickelt in dieser Traditionslinie einen prozessualen Raumbegriff: „Um nicht zwei verschiedene Realitäten, Raum und Handeln, zu unterstellen, knüpfe ich an relativistische Raumvorstellungen an und verstehe […] Raum als eine relatio-
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nale (An)Ordnung von Körpern, welche unaufhörlich in Bewegung sind, wodurch sich die (An)Ordnung selbst ständig verändert. Das bedeutet, Raum konstituiert sich auch in der Zeit“ (Löw 2001: 131).
Raum und Zeit müssen demnach stets gemeinsam gedacht werden. Dem Raum wohnt eine soziale Ordnungs- und eine Handlungsdimension inne. Während die Ordnungsdimension auf gesellschaftliche Strukturen verweist, ist die Handlungsdimension auf den Prozess des Anordnens bezogen. Der Grundgedanke bei Löw ist, dass Individuen als soziale Akteure handeln (und dabei Räume herstellen), ihr Handeln aber von ökonomischen, rechtlichen, sozialen, kulturellen und letztlich räumlichen Strukturen abhängt. Diese Idee hängt eng mit Giddens’ strukturationstheoretischem Konzept der „Dualität von Struktur“ zusammen, das von einer Zweiheit von Struktur und Handeln spricht. Über das Medium Körper, das schon bei Bourdieu als Mittler zwischen Struktur und Handlung verstanden wird, kann Löw den Ansatz zu einer „Dualität von Raum“ ausbauen. Raum und Körper sind miteinander ver woben; während ersterer als abstrakt aufzufassen ist, weist der Körper stets eine konkret fassbare räumliche Struktur auf. Für den hier zu bestimmenden EinÀuss von Raum auf Vergemeinschaftung ist zusam menfassend festzuhalten, dass soziales Handeln immer in einem Raum statt¿ndet, der durch selbiges hergestellt und eingeteilt wird und zugleich das Handeln ermöglicht und begrenzt. Damit können ‚vorde¿nierte‘ Orte planbar zu Räumen für (vororganisierte) Vergemeinschaftungen werden. Die Beschaffenheit des Raumes betrifft u. a. die Möglichkeit der wechselseitigen Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit der Individuen im Raum; denn soziale Interaktion ¿ndet nur dann statt, wenn die Anwesenden sich nah genug sind, um sich gegenseitig wahrzunehmen bei allem, was sie tun. Die Überschaubarkeit des Raumes geht immer vom Individuum selbst aus, sodass dieser subjektiv nie vollständig zu erfassen ist. Auch die Anwesenheit und Ausrichtung Anderer unterliegt stets der Perspektive des Einzelnen.12 Räumen wohnt nicht zuletzt eine Ordnungs- und eine Handlungsdimension inne, die über das Medium Körper vermittelt werden. So wie sich soziale Interaktion stets in einem Raum konstituiert, ist sie auch durch die Zeit bestimmt, in der sie statt¿ndet.
Bei Großveranstaltungen mit einer hohen Zahl von Teilnehmenden werden die Menschenmenge und die Antwort auf die Frage „Wie viele sind wir ?“ häu¿g über Repräsentationen aus der Vogelperspektive auf Videoleinwänden sichtbar. Dieser Perspektivwechsel kann das Zusammengehörigkeitsgefühl im Einzelnen stärken und damit die Tendenzen zur Vergemeinschaftung fördern.
12
36 2.2.2
Vergemeinschaftung Zeit
Was wir unter ‚Zeit‘ verstehen, geht aus dem Zusammenleben von Menschen hervor und erscheint jenen zugleich rätselhaft und zutiefst geheimnisvoll. Die Zeit ist als ein Hilfsmittel zum Bestimmen von Abschnitten und Positionen geschaffen worden, die sonst unbestimmbar blieben (vgl. Elias 1992 [1984]: XX). Sie ist nicht konkret wahrnehmbar, aber durch ihre künstliche Messung allen Menschen auf die gleiche, standardisierte Weise gegeben. Was Menschen bisweilen als Zwang erleben, dem sie unterworfen sind, struk tu riert aus soziologischer Perspektive soziale Interaktion vor. Zeit ist ein Veränderungen unterworfenes Orientierungsmittel und Symbol (vgl. Elias 1992: XXIX f.), regelt das Miteinander von Menschen und ist eine machtvolle Determinante gesellschaftlichen Lebens. Jede Interaktion ist an eine Zeit-Raum-Konvergenz geknüpft, d. h. jede soziale Handlung ¿ndet an einem bestimmten Ort statt und ist an eine Handlungszeit gebunden (vgl. Dux 1992: 124). Zeit ist, wie Émile Durkheim formuliert, nur begreifbar, weil wir sie unter teilen und unterscheiden. Sie wird, ebenso wie der Raum, in Stücke geteilt. Die Organisation von Zeit ist kollektiv und macht Kollektivaktivitäten erst möglich (vgl. Durkheim 1994: 29). Um soziale Interaktionen zu ermöglichen und in ihnen einfachste Regeln auszubilden, sind die Handelnden gezwungen, die Zeitmomente des Handelns selbst zu entwickeln (vgl. Dux 1992: 47). Die Situation wird strukturiert durch den Abgleich des eigenen Verhaltens mit dem des Gegenübers. Eine Einordnung der unmittelbaren Erfahrungen erfolgt und mit ihr eine Organisation der Zeit. Der Referenzpunkt der entstehenden Ordnung ist das „Jetzt“ der Gegenwart, von dem sich die Einteilung in Gegenwart-Vergangenheit und Gegenwart-Zukunft ableiten lässt (vgl. ebd.: 50). Erst durch eine reÀexive Distanz zu sich selbst und seinem Handeln wird jede Handlung des Individuums konstitutionell präsentisch. Es setzt die Handlung aus sich heraus in Bewegung und ist sich im Hier und Jetzt gegeben. Über die ReÀexivität werden die Zeit als spezi¿sch menschliche Organisationsform und die Entstehung der Zeitformen Vergangenheit und Zukunft möglich (vgl. ebd. 51). Ein Zeitbewusstsein entsteht, das als Fähigkeit zu begreifen ist, Erlebnisse zu strukturieren. Der stark von der Relativitätstheorie beeinÀusste George H. Mead abstrahiert die Zeit vom Raum und den Raum von der Zeit und konzentriert sich ausschließlich auf die aktuelle Gegenwart (vgl. Mead 1969: 166), den Zeitmoment des „Jetzt“ (vgl. ebd.: 145). Durch den Kontakt mit Dingen, Gegenständen und den Widerstand des Objektes, mit dem das Individuum in Kontakt kommt, kann es Gleichzeitigkeit herstellen. Die Erfahrung der Gleichzeitigkeit ist bei Mead die Erfahrung des Widerstands des Organismus gegenüber dem Objekt. Die Zeit wird bei ihm und seiner Abstraktion eines zeitlosen Raumes und einer raumlosen Zeit
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somit lediglich durch Bewegungen gemessen (vgl. ebd.: 176). Durch Kontakt und die Orientierung am selben Zeitsystem können Individuen auch untereinander Gleichzeitigkeit erzeugen (vgl. ebd.: 80 f.). Sie ist letztlich eine Wahrnehmungsbeziehung zwischen den Individuen, die dafür physisch anwesend sein müssen.13 Bei Erving Goffman ist das Berühren der Handlungslinien relevant für eine gemeinsame Interaktion. Er ¿ndet hier den Begriff der zentrierten Interaktion (auch ‚encounter‘). Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die Aufmerksamkeit der Anwesenden aufeinander bezogen bzw. der visuelle und kognitive Aufmerksamkeitsfokus auf ein gemeinsames Zentrum gerichtet ist (vgl. Lenz 1991: 34). Goffman untersucht stets solche sozialen Konstellationen, in denen eine Kopräsenz der Akteure vorliegt. Von gemeinsamer Anwesenheit spricht er dann, wenn „die Einzelnen […] deutlich das Gefühl haben, daß sie einander nahe genug sind, um sich gegenseitig wahrzunehmen bei allem, was sie tun, einschließlich ihrer Erfahrungen der anderen, und nahe genug auch, um wahrgenommen zu werden als solche, die fühlen, daß sie wahrgenommen werden“ (Goffman 1971b: 28).
Das (methodologische) Primat dieser Untersuchung liegt beim sozialen Akteur, und somit interessiert hier auch das subjektive Zeitemp¿nden. Dieses steht im Gegensatz zur sozial objektivierten Zeiterfahrung der Umwelt, die als empirische Erkenntnis in Bezug auf das Phänomen Zeit zu begreifen ist. Solche Erkenntnisse, die in Zeiterfahrungen münden, sind gekoppelt an die kulturell vorherrschenden Zeitverständnisse. Das subjektive Zeitemp¿nden hingegen ist mit üblichen Messmethoden nicht beschreibbar, sondern nur durch die Verbalisierung der Syntheseleistung des Menschen zu erfassen, bei der er Ereignisse in eine Geschehensabfolge und in ein „früher“ oder „später“ einordnet und verknüpft (vgl. Elias 1992: 44). Das subjektive Zeitemp¿ nden stellt eine Kategorie der Psychologie dar und beschreibt vor allem die subjektive Wahrnehmung des Verstreichens der Zeit, das „innere Ticken“, das in Lebens- und Tagesabschnitten, zu bestimmten Ereignissen oder auch in den verschiedenen Jahreszeiten unterschiedlich schnell vernommen wird. Eine solche subjektorientierte Zeit analyse ist in den Sozialwissenschaften ein Randphänomen. Im Folgenden werden zwei weitere Betrachtungsweisen der Zeit berücksichtigt, die sich auf das Individuum selbst beziehen und einer phänomenologischen Tradition entstammen: die Alltagszeit (vgl. Schütz/Luckmann 1991: 87 ff.) auf der einen Seite und die Lebenszeit (vgl. ebd.: 124 ff.) auf der anderen Seite. Während Auch wenn Mead die Kategorie ‚Körper‘ bei der Differenzierung seines Handlungsbegriffs braucht, bleibt der Körper bei ihm ein Randphänomen. Hans Joas (Joas 1996 [1992]: 245 ff.) berücksichtigt diese Dimension in seiner pragmatischen Handlungstheorie ausführlicher.
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Vergemeinschaftung
die erste Perspektive die Zeit zyklisch auffasst, beschreibt das zweite Konzept die Zeit als linear (vgl. auch Dux 1992: 126). Die Alltagszeit strukturiert die Lebenswelt auf eine Weise, die eine täglich wiederkehrende Routine erzeugt. Die ‚Welt in aktueller Reichweite‘, wie Alfred Schütz sie nen nen würde, ist durch die Kontinuität der Gegenwart gekennzeichnet (vgl. Schütz/Luck mann 1991: 79). Überlegungen zu Vergangenheit und Zukunft sind in dieser Zyklik unnötig, weil die routinierten Handlungen ständig wiederkehren und alles, was erwartbar ist, schon einmal geschehen ist. Diese Art der Zeitwahrnehmung ist mit thematischen Bereichen des Lebens verbunden, etwa der im Stundenplan manifestierten Ordnung in der Schule oder der Organisation des Tagesablaufs am Arbeitsplatz. Die (zyklische) Zeitstruktur der aktuellen Reichweite hängt selbstverständlich mit der Zeitstruktur der Lebenszeit (bei Schütz: Weltzeit) zusammen. Das Zeitbewusstsein wechselt dann, wenn außergewöhnliche Ereignisse eintreten, die eine Entroutinierung erzwingen. Dabei nimmt das Individuum eine Einordnung der eigenen Lebenszeit in eine Weltzeit vor. „Die Geschichtlichkeit der Welt bedingt die Geschichtlichkeit der subjektiven Situation in der Welt“ (Schütz/Luckmann 1991: 124). Die Lebenszeit in ihrer Linearität führt von einem Anfang zu einem Ende und ist nicht nur Voraussetzung für den Gedanken des Fortschritts, sondern auch für die Ausprägung des Bewusstseins für einen Lebenslauf. Diese Erfahrung ist dem Tagesplan übergeordnet und verleiht ihm Sinn (vgl. ebd.: 125). Die Lebenszeit ist der irreversible Ablauf der Zeit und unterteilt das Leben in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie lässt sich noch weniger durch technisch messbare Zeitskalen beschreiben, sondern nimmt eine komplexe Struktur an, die eher einer Ereignislogik folgt und auch die zeitliche Planung der Biogra¿e umfasst. Am Ablauf (und zuweilen auch an der Endlich keit) der Lebenszeit orientiert das Individuum seine sinnkonstituierenden Überlegungen. Das Bewusstsein der Endlichkeit des Lebens kann als kreativer Antrieb verstanden werden, weil die Erfahrung der Endlichkeit des Lebens die Frage des „Danach“ aufwirft. Dieser Moment wird als die Geburtsstunde der Kultur aufgefasst, da mit dem Problem des Todes auch die Sinnfrage des Lebens verknüpft ist (s. u., Kap. 3.1.3.2). Wenn soziale Interaktion durch die Zeit maßgeblich determiniert wird, dann wirkt Zeit auch auf die Bedingungen für Vergemeinschaftungen ein. Vergemeinschaftungen im hier verstandenen Sinn sind zeitlich begrenzte, Àüchtige Gebilde, „deren Verbindlichkeit durch einen Blick auf die Uhr ausgelöscht werden kann“ (Prisching 2008: 35) und die fast ausschließlich in der Freizeit eingegangen und aufgesucht werden. Eine temporäre Begrenzung wird häu¿g durch die Intensivierung der gemeinschaftlichen Gefühle kompensiert. Für das Zustandekommen von Vergemeinschaftungen spielt der Faktor Zeit weiterhin eine entscheidende Rolle hinsichtlich der zeitlichen Abstimmung der Akteure untereinander: Sie müssen zum selben Zeitpunkt bereit sein, Gemeinschaftsgefühle einzugehen, und dar-
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über hinaus auch ihre Handlungslinien zur selben Zeit aneinander ausrichten, um Gleichzeitigkeit entstehen zu lassen. Zugleich bedeutet die zeitliche Determiniertheit von Vergemeinschaftungen die Kontrollierbarkeit durch die Umwelt und die Einbettung in organisatorische Strukturen. Damit werden potenziell ausschweifende, lustvolle Regelüberschreitungen und ekstatische Außeralltäglichkeiten in eine kontrollierbare Rahmung überführt. 2.2.3
Körper
Der menschliche Körper ist Medium, physisches und soziales Gebilde (vgl. Douglas 1998 [1974]) und nicht zuletzt Erkenntnisquelle (vgl. z. B. Schmitz 1985). Weil er in der soziologischen Forschung zugleich Objekt und Subjekt ist, verbindet sich mit seiner Untersuchung ein methodisches Problem. Diese Schwierigkeit wird auch als „Sprachlosigkeit“ des Körpers (vgl. Gugutzer 2004: 10) bezeichnet. Damit ist zum einen die Tatsache gemeint, dass der Wortschatz in unserem Kulturkreis wenige Differenzierungsmöglichkeiten zur Beschreibung körperlicher Phänomene zulässt. Ein weiteres Problem ist die mangelnde Distanz zum eigenen Körper und ebenso die „Notwendigkeit der Übersetzung körperlicher Phänomene in Sprache“ (ebd.). Die Soziologie des Körpers ist seit etwa 30 Jahren ein Teilgebiet der Disziplin und nimmt ihre Anfänge im angloamerikanischen Raum. Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts verbessert sich die Forschungslage auch im deutschsprachigen Gebiet stark. Dennoch ist die Frage nach einer De¿ nition von ‚Körper‘ bislang weitgehend unbeantwortet geblieben, sodass stets ein uneindeutiger und uneinheitlicher Körperbegriff benutzt wird. Robert Gugutzer (2004) bestimmt den Begriff unter Zuhilfenahme von Helmuth Plessners Anthropologie. Die Leistungsfähigkeit seiner De¿nition ergibt sich aus ihrem anthropologisch-phänomenologischen Zugang, der Plessners „Zweiheit des Körpers“ (ebd.: 146) zum Ausgangspunkt nimmt und diese Dualität um die spätere Leib-Körper-Unterscheidung von Hermann Schmitz erweitert. Plessner zufolge ist das Körperverhältnis des Menschen damit zu beschreiben, dass jener sein Leib ist und seinen Körper hat. Die untrennbare Dualität von „Leib sein“ und „Körper haben“ ist historisch veränderbar und kulturell verschieden ausgeprägt (vgl. ebd.: 147). Grundlage der Entwicklung der „Doppelrolle“ des Menschen ist Plessners Theorie der Positionalität, mit der die wechselseitige Beziehung zwischen Organismus und Umwelt untersucht werden soll. Mit der Tatsache des „Leib seins“ ist der Mensch an das Hier und Jetzt gebunden und „zentrisch positioniert“ (ebd.). Weil ich ein Leib bin, kann ich nicht gleichzeitig woanders sein. Der Leibkörper ist physisch materialisiert und ebenso wie
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Vergemeinschaftung
der Raum eine gegenüber seiner Umwelt abgeschlossene Einheit. Der Mensch ist aber auch in der Lage, die raum-zeitliche Gebundenheit hinter sich zu lassen und sich „exzentrisch“ zu seiner Umwelt zu positionieren. Seinen Körper zu haben bedeutet, seinen Körper beherrschen und kontrollieren zu lernen und zu sich selbst in Distanz zu treten. Wenn der Mensch sich selbst reÀektiert und sich beispielsweise an einen anderen Ort oder in eine andere Zeit denkt, dann hat er sich und ist nicht an das Hier und Jetzt gebunden. „Auf diese Weise bekommt die Mitte, der Kern, das Selbst oder das Subjekt des Habens bei vollkommener Bindung an den lebendigen Körper Distanz zu ihm“ (Plessner 1975: 17). Dieser von Plessner formulierte Doppelaspekt ist eine für die Soziologie fruchtbare anthropologische Deutung der Frage nach der Natur (Sein) und der Kultur (Haben) des menschlichen Körpers. Das Naturwesen Mensch ist sein Körper, aber erst durch lebenslanges Lernen eignet er sich ihn an. Die Körperaneignung ist kultur- und gesellschaftsspezi¿sch geprägt und durch Körpertechniken empirisch fassbar. Um Plessners Konzept vom ‚Leib sein‘ zu schärfen, erweitert Gugutzer seine Argumentation um die Leibphänomenologie von Hermann Schmitz. Schmitz entwirft eine philosophische Theorie des Spürens und interessiert sich insbesondere für das Selbst, also die Innenwelt des Menschen und dessen spürbare Erfahrung (vgl. Gugutzer 2004: 149). Kör pererfahrungen sind immer auch Erfahrungen des Spürens (vgl. Schmitz 2005 [1965]: 5). Der Leib ist derjenige, der spürt, der affektiv betroffen ist von der Gegenwart. Der Körper hingegen wird gespürt, womit Schmitz seine grundlegende Unterscheidung von Leib und Körper bezeichnet. Der Leib ist wesentlich durch seine räumliche Strukturiertheit charak terisiert. Das Kategorienpaar, das die räumliche Struktur des Leibes beschreibt, ist Enge bzw. Engung (Schreck, Schmerz, Angst, Angespanntheit, Hunger) und Weite bzw. Weitung (Freude, Entspannung, Wollust, wohlige Müdigkeit), zwischen denen sich jedes leibliche Be¿nden bewegt (vgl. Schmitz 2005 [1965]: 73–172). Mithilfe dieser Kategorien wird dem Körper eine räumliche Struktur gegeben, die universell vorkommt und durch diese Kulturunabhängigkeit eine besonders leistungsfähige Beschreibung bietet. Die kör perliche Emp¿ndungsfähigkeit kann dem Menschen und gerade auch dem Forscher zur Erkenntnisquelle werden. In der Interaktion kann der Andere auch auf leiblichem Wege verstanden werden, was Erkenntnisse liefert, die nicht rational, sondern körperlich-sinnlich gewonnen werden (vgl. Abraham 2002). Bei Gugutzer ist der Körper die untrennbare Einheit von Körperlichkeit und leiblich-affektiven Erfahrungen (vgl. Gugutzer 2004: 155). Die De¿ nition nimmt eine analytische Trennung von Körper und Leib vor. Leib ist immer ein lebendiger Körper und eine subjektive Tatsache, während Körper auch unbelebt und eine objektive Tatsache sein kann. Der Körper kann von anderen von außen
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wahrgenommen werden,14 während der eigene Leib nur von innen gespürt wird. In Bezug auf Raum ist körperlich das, was eine relative Örtlichkeit aufweist. Leiblich ist, was absolut örtlich und ohne räumliche Orientierung zu identi¿zieren ist. Dieses Charakteristikum ist von Belang, wenn es um die Beschreibung der Proxemik geht, also um das Raumverhalten, die räumliche Konstellation der Interaktionspartner zueinander. Hierbei sind Lage- und Abstandsbeziehungen der Körper interessant. Eigenleibliche Erfah rungen werden dabei nicht erfasst. Sie gehören als ein Spüren zu den Leibern der betroffenen Personen und werden als zu ihnen gehörig begriffen. Der Körper ist durch das Merkmal der Teilbarkeit zu beschreiben. Alles Leibliche ist hingegen unteilbar. Angst und Freude lassen sich nicht zerlegen, ein Körper hingegen schon, z. B. in Hände, Rumpf und Beine. Mittels dieser anthropologisch-phänomenologischen Grundlage wird der Körper im Folgenden handlungstheoretisch analysiert. Mit Handlungstheorien lässt sich fragen, wie der Körper Gesellschaft hervorbringt. Dabei wird der Körper zum Ausgangspunkt des Gesellschaftlichen gemacht. Mead integriert evolutionstheoretische Annahmen, die auch voraussetzen, dass Organismen sich ihrer Umwelt anpassen müssen, um zu überleben. Triebe und Impulse müssen gesellschaftlich vermittelt werden, um ein Fortexistieren zu ermöglichen. Somit hat gesellschaftliches Handeln immer auch physiologische Grundlagen. Darüber hinaus betrachtet Mead das sinnliche Wahrnehmungsvermögen als elementar, weil es ermöglicht, dass Menschen einen Bezug zu ihrer physischen Umwelt herstellen. Die Aneignung der Umwelt, der Menschen, sozialen Gruppen und Gemeinschaften in der Umgebung erfolgt über Körperkontakt und sinnliche Erfahrungen. Indem die Gemeinschaft gegenüber ihrer Umwelt emp¿ndlich ist, schafft sie sich ihre Umgebung selbst (vgl. Mead 1973 [engl. Orig. 1934]: 297 ff.). Für die symbolisch vermittelte Interaktion hat der Körper eine wesentliche Bedeutung, weil er die Grundlage für die Kommunikation mittels nonverbaler signi¿kanter Gesten ist. Nach Goffman ist der Körper integraler Bestandteil sozialen Handelns und der Herstellung von Interaktionsordnungen. Diese zeigen sich, wenn sich Menschen von Angesicht zu Angesicht, also unmittelbar begegnen. Wie Àüchtig eine Begegnung auch sein mag, die leibliche Beteiligung der Körper ist grundlegend, weil sich zuallererst Körper begegnen. Diese kommunizieren immer und ununterdrückbar auf nonverbale Weise. Um die Interaktionsordnung aufrecht zu erhalten, müssen alle Beteiligten an ihrem Körper und ihren Gefühlen arbeiten. Die Interaktion soll störungsfrei verlaufen, die Situationsde¿nition soll Gültigkeit behalten und wechselseitige Erwartungen und VerpÀichtungen müssen von jedem Akteur Dabei spielt das Auge als Teil des Körpers eine besondere Rolle, weil es in Interaktionen in der Regel zuerst das Gesicht des Gegenübers und damit dessen symbolischen Ausdruck seiner Individualität wahr nimmt.
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Vergemeinschaftung
berücksichtigt werden. Dazu müssen Symboliken, die an den Körper gebunden sind, entziffert und „Techniken der ImagepÀege“ (Goffman 1986 [engl. 1967]: 10) genutzt werden. Seine Dramaturgie des Alltagslebens entfaltet Goffman in „Wir alle spielen Theater“ (2004). Hier werden Akteure als Selbstdarsteller aufgefasst, zu deren Eindrucksmanagement auch immer eine kör perliche Darstellungsleistung gehört. Goffman äußert sich in seinen Ausführungen jedoch nicht zu Emotionen und zur inneren Leiberfahrung, obwohl das gespürte Eingebundensein eine entscheidende Bedeutung für soziale Interaktionen haben muss. Für die hier betrachtete Form von Vergemeinschaftungen ist die Analyse der Kategorie Körper grundlegend, denn Vergemeinschaftung wird erst über Körper und ihre symbolische Interaktion hergestellt. Über den Körper werden die Dimensionen Raum und Zeit vermittelt, und zugleich zeigt sich an dieser Kategorie das Spannungsgefüge, in dem das Individuum sich bewegt. Auf der einen Seite spürt der Akteur in der Vergemeinschaftung die räumliche Begrenztheit seines Körpers – nach Plessner ist er Leib und damit ganz an den Raum und die Zeit der Gegenwart gebunden. Auf der anderen Seite können (gerade rauschhafte) Vergemeinschaftungen dem Individuum in ekstatischen Erfahrungen das Gefühl geben, aus sich heraus oder über sich hinaus zu gehen. Dabei verschwimmen Kör pergrenzen, scheinen sich zugleich aufzulösen. In der Vergemeinschaftung – und gerade dann, wenn die Gemeinschaft Rituale aufführt, die zu massenhaft bewegten Körpern führen – ist ein Eintauchen in die Masse15 möglich. Dies kann einhergehen mit dem Verschmelzen mit anderen Körpern in der Bewegung, das bis zu einer Berührung des eigenen Leibes (nach Schmitz) mit den Leibern der anderen führen kann, wenn das Innere sehr stark nach außen gekehrt ist. Der Körper ist Initiator für Vergemeinschaftung. Als materiale Entität und in seiner Fähigkeit zu leiblich-affektiven Erfahrungen kommt ihm eine entscheidende Bedeutung für Rauscherlebnisse zu.
Der Begriff Masse wird hier wertneutral als soziologischer Terminus behandelt, der eine relativ große Anzahl von Menschen bezeichnet, die auf einem (meist engen) abgegrenzten Raum miteinander agieren.
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Rausch
Das dritte Kapitel de¿niert zunächst den Begriff Rausch aus psychologischer, kultursoziologischer, medizinischer, psychiatrischer und psychoanalytischer Perspektive (3.1.1). Anschließend werden pharmakologische und psychologische Techniken als mögliche Auslöser für Rauschzustände beschrieben (3.1.2). Der Rausch betrifft als alternative Wirklichkeitskonstruktion wesentlich die drei Dimensionen Raum, Zeit und Körper (3.1.3). Deren Bedeutung wird aus einer individuellen Perspektive ausgelotet, um dann den Blick auf die Kollektivebene zu richten (3.2). Welche sozial verhandelten Rauschregeln und Rauschkonstruktionen gibt es ? Inwieweit vermag der gemeinsam eingegangene Rausch, eine sozialintegrative Kraft zu entfalten ? Schnell wird ersichtlich, dass unser Kulturkreis mit dem Phänomen Rausch auf eine ambivalente Weise umgeht. Erklärungen für diese Ambivalenz schlägt der letzte Abschnitt vor (3.2.3). 3.1
Rausch – De¿nitionen, Auslöser und Dimensionen
3.1.1
De¿nitionen – Rausch als veränderter Bewusstseinszustand
Der Rausch als zentrales Merkmal rauschhafter Vergemeinschaftung ist ein jenseits von Rationalität liegendes Phänomen, dessen Beschreibung mit der Sprache der Wissenschaft schwierig scheint. Eine Begriffsbestimmung bedarf daher einer disziplinübergreifenden Betrachtung, die den Rausch terminologisch von der Sucht16 trennt. Psychologie und Neurobiologie bezeichnen einen Rauschzustand auch als veränderten Wachbewusstseinszustand (VWB) oder außergewöhnlichen Bewusstseinszustand (ABZ). Das Bewusstsein wird dabei als das mentale Innenleben und die subjektive Perspektive des Individuums auf die Welt gesehen (vgl. Metzinger 1994: 11). Insbesondere die Transpersonale Psychologie beschäftigt sich seit ihrer Begründung in den 1960er-Jahren mit veränderten Bewusstseinszuständen (so genannte Altered States of Consciousness – ASC), zu denen neben Die Sucht ist als Krankheitsbild erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts „entdeckt“ und de¿ niert worden. Frank Nolte beschreibt mit seinem sozialkonstruktivistischen Zugang die „Geschichte einer Idee“ (2007). Harry G. Levine (1982) zeichnet nach, wie die Alkoholsucht und ihre Ursachen erforscht wurden und stellt diese Entwicklung in den Zusammenhang mit der Geschichte des sozialen Wandels im 19. und 20. Jahrhundert in Nordamerika. 16
Y. Niekrenz, Rauschhafte Vergemeinschaftungen, DOI 10.1007/978-3-531-93086-2_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Rausch
Rausch auch Zustände wie Traum, Trance, Meditation, Hypnose und Ekstase zählen. Der gewöhnliche Wachbewusstseinszustand ist geprägt von einer Dominanz des Ichs.17 Diese Dominanz wird in veränderten Bewusstseinszuständen abgeschwächt. Es kommt zu einem Bedeutungsverlust des Ich-Bewusstseins und zu einer veränderten (gesteigerten oder abgeschwächten) zentralnervösen Erregung. Eine gesteigerte zentralnervöse Erregung kann mit Halluzinationen einhergehen, während die abgeschwächte Variante mit Entspannung verbunden sein kann. Die zehn charakteristischen, wenn auch stets in verschiedener Intensität auftretenden Merkmale von veränderten Bewusstseinszuständen lauten zusammengefasst: ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ
Veränderungen im Denken, veränderter Zeitsinn, Kontrollverlust, Veränderungen des emotionalen Ausdrucks, Veränderungen des Körpergefühls, Veränderung der sensorischen Wahrnehmung, Veränderung von Bedeutungszuschreibung oder Wichtigkeit, Gefühl von Verjüngung, Sinn für das UnbegreiÀiche und Hypersuggestibilität (vgl. Ludwig 1972: 15 ff.).
Der Rauschzustand wird aus dieser psychologischen Perspektive häu¿g als Erlebnis der Transzendenz, als ein über-sich-Hinausgehen des Ichs, als Ausbruch aus dem Alltag gesehen. Die Begriffsbestimmung erfolgt dabei weitgehend wertneutral. Während diese Forschungsrichtung innerhalb der Psychologie ohne großen EinÀuss geblieben ist, sind es eher sozial- und kulturwissenschaftliche Untersuchungen, die sich auf die Befunde der transpersonalen Psychologie beziehen. In Kulturgeschichte, Soziologie, Ethnologie und Anthropologie geht man von der Grundannahme aus, dass alle Kulturen zu allen Zeiten Rauschzustände bewusst aufgesucht haben und eingegangen sind. Es gebe ein anthropologisches (Grund-)Bedürfnis nach Rausch, das dieses Phänomen und mit ihm seine Auslöser zu etwas Universellem mache (vgl. Legnaro 1982b: 93). Dabei wird das Bedürfnis nach Bewusstseinsveränderung als anthropologische Konstante gesehen, die nicht vermeidbar, sondern triebhaft ist. Seit dem späten Mittelalter ist die westliche Welt zunehmend „rauschfeindlich“ geworden. „Die Wendung auf ein Leben innerweltlicher Rationalität, jene ‚Entzauberung der Welt‘, von der Max Weber spricht, vollzieht sich kontinuierlich in einem ‚Prozess Mit dem Ich ist die Instanz gemeint, die dem bewussten Denken des Alltags (Selbstbewusstsein) entspricht und zwischen Es und Über-Ich vermittelt.
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der Zivilisation‘ (Norbert Elias) zwischen etwa dem 14. und dem 16. Jahrhundert: Hier wird eine Rationalisierung faßbar, die sich auf den gesamten Kosmos der Welterfahrung auswirkt und deren Beginn eben auch den Beginn der ‚Neuzeit‘ bezeichnet“ (Legnaro 1982b: 108).
Aldo Legnaro beschreibt diese Wendung als einhergehend mit dem Wachsen der Bedeutung von Zeit und Geld, die nun einen kalkulatorischen Umgang erfordern und das weltliche Leben stark bestimmen. Reformation und Aufklärung verstärken mit ihrer Betonung der Vernunft die „Entzauberung“ und sind Entwicklungen, die den Prozess zu größerer Ich-Gebundenheit verstetigen. Mit der heute sehr ausgeprägten Individualisierung des Einzelnen gewinnt ein Wertekosmos an Bedeutung, der von der Angst vor einer rauschhaften Einbuße der Ich-Kontrolle geprägt ist. „Welche Bedeutung eine Kultur dem Ichbewußtsein beimißt, läßt sich ablesen an ihrer Bewertung rauschhafter und ekstatischer Erfahrungen, die eben jenes Ichbewußtsein transzendieren“ (Legnaro 1982b: 110). Der gegenwärtige Umgang moderner Gesellschaften mit Rausch und Ekstase ist ambivalent. Nicht nur, dass unterschieden wird zwischen illegalisierten und legalen Substanzen,18 es werden auch Substanzen als Medikamente eingesetzt, deren nicht ärztlich kontrollierter Konsum als Missbrauch und Drogen konsum19 bezeichnet wird. Im Umgang mit legalisierten Substanzen gelten situationsspezi¿sche Rauschnormen, die immer normativ verbunden sind mit Selbstdisziplin. Wer z. B. sein Trinkverhalten nicht kontrolliert handhaben kann und das soziale Gefüge der Alltäglichkeit gefährdet, erfährt Sanktionen. „Die rausch hafte Entlastung auf Zeit ist einem jeden zugebilligt, aber die Berechenbarkeit der Person und damit auch die Berechenbarkeit der sozialen Wirklichkeit muß gewahrt bleiben; man muß mit Rausch umgehen können“ (Legnaro 1982b: 111). Die Ablehnung von Rauschzuständen hängt mit den spezi¿schen Strukturen der Erfah rungen in außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen zusammen. Rauscherleben zeichnet sich aus durch eine Schwächung des Ich-zentrierten Bewusstseins, die Einbuße an oder Verlust der Selbstkontrolle sowie nachlassende rational-analytische Fähigkeiten zugunsten intuitiver Denkmuster (vgl. ebd.: 103). Der Rausch wird auch als eine säkulare Vorstufe zur Ekstase gesehen. Hierbei handelt es sich um einen Zustand des „Außersichseins“ (‚ek-stasis‘), Die gesetzliche Grundlage bildet hierfür das Betäubungsmittelgesetz (BtMG). Der Begriff ‚Droge‘ ist ein Etikett, das in dieser Arbeit vermieden wird. Es hat nicht nur eine negative Konnotation, es ist auch kaum oder nur unscharf zu de¿nieren. Howard S. Becker hat dieses Konstrukt mit dem Wort ‚Unkraut‘ verglichen, das für PÀanzen benutzt wird, die dort wachsen, wo sie nicht wachsen dürfen (Becker 2001). Für Botaniker ist ‚Unkraut‘ jedoch keine legitime Kategorie. Auch ‚Drogen‘ sind m. E. kein geeigneter Begriff für Substanzen in wissenschaftlichen Diskussionen, weshalb sie durch die wertneutralere Bezeichnung ‚psychoaktive Substanzen‘ zu ersetzen sind. 18
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der mit intensiven Affekten, einer Entfremdung der Umgebung, einer Bewusstseinsveränderung und Vernachlässigung des Ichs sowie mit transzendenten Erfahrungen einhergeht (vgl. ebd.: 96). Für die kultursoziologische Betrachtung von Rauschzuständen sind stets set und setting relevant, weil sie die Rauscherfahrung bedingen. Set bezeichnet die individuellen Persönlichkeitszüge, während setting die psychischen und sozialen Bedingungen im Moment der Berauschung in den Blick nimmt. Die Medizin befasst sich mit den körperlichen Auswirkungen von Rauschzuständen. Sie de¿niert Rausch als Störung und Vergiftung und pathologisiert ihn – eine Sichtweise, die gegenwärtig im Rausch-Diskurs dominant ist und sich auch in der Gesundheitspolitik widerspiegelt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt ein internationales Krank heitsverzeichnis heraus (International Classi¿cation of Diseases and Related Health Problems – ICD), das im Jahr 1992 mit der ICD-10 (vorerst) abgeschlossen wurde. Die jährlich aktualisierte ICD-10 verzeichnet in ihrem fünften Kapitel (Abschnitt F 10 bis F 19) die „psychischen und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“. Der Begriff Rausch wird hier als Intoxikation (Vergiftung)20 beschrieben. Die akute Intoxikation bzw. der akute Rausch werden de¿niert als „[e]in Zustandsbild nach Aufnahme einer psychotropen Substanz mit Störungen von Bewusstseinslage, kognitiven Fähigkeiten, Wahrnehmung, Affekt und Verhalten oder anderer psychophysiologischer Funk tionen und Reaktionen. Die Störungen stehen in einem direkten Zusammenhang mit den akuten pharma kologischen Wirkungen der Substanz und nehmen bis zur vollständigen Wiederherstellung mit der Zeit ab, ausgenommen in den Fällen, bei denen Gewebeschäden oder andere Komplikationen aufgetreten sind“ (DIMDI 2008).
Die Komplikationen, die mit einem akuten Rausch einhergehen, können über Wahrneh mungsstörungen, Delirium bis hin zum Koma reichen (vgl. ebd.). Die medizinische Sicht auf Rausch ist in den meisten Fällen verbunden mit psychoaktiven Substanzen, die dem Körper zugeführt werden. Auf psychologische Weise erzeugte Räusche sind für die medizinische Forschung eine Randerscheinung (vgl. Täschner 1982: 1430 ff.), wenngleich beide Techniken des Auslösens viele Gemeinsamkeiten haben (vgl. Dittrich 1982: 85). Die psychoaktiven Stoffe werden aus medizinischer Sicht ambivalent gesehen. Sie sind Segen und Fluch Das deutsche Wort ‚Rausch‘ ist kaum gleichzusetzen mit dem Begriff Intoxikation, der auf Vergiftungserscheinungen abzielt. Den Begriff zeichnet eine etymologische Besonderheit aus, weshalb er nur ungenau in andere indogermanische Sprachen zu übersetzen ist (z. B. engl. ‚intoxication‘). Wortgeschichtlich stammt der Begriff aus dem Mittelhochdeutschen von ‚rnjsch‘ für ‚Rauschen‘, ‚Ungestüm‘ und steht heute vor allem für ‚Trunkenheit‘ (vgl. Kluge 1999: 670). 20
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zugleich, wenn sie auf der einen Seite zur Schmerztherapie eingesetzt werden kön nen (z. B. Morphin) und für medizinische Zwecke entwickelt wurden (z. B. Heroin), auf der anderen Seite jedoch im Körper schnell eine Sucht und schwere Nebenwirkungen auslösen können. Psychiatrische De¿ nitionen fallen häu¿g ähnlich aus wie die der ICD-10 und betrachten den Rausch als „Intoxikation mit allen Anzeichen einer akuten reversiblen, kör perlich begründbaren Psychose“ (Müller-Küppers 1999: 117). Dabei wird auch die Veränderung der Verhaltensmerkmale betrachtet (Heiterkeit, Verlust persönlicher und sozialer Verant wortlich keit, Depression). Es wird von einem normabweichenden Verhalten ausgegangen, das kaum kontrollierbar ist. Der Verlust von Verantwortlichkeit kann auch als Störung der Ordnung des sozialen Gefüges aufgefasst werden. Räusche können aber auch therapeutische Funktionen haben, denn gerade in der experimentellen Psychiatrie versucht man, mit Halluzinogenen (z. B. LSD) Traumata, Schizophrenie und andere Erkrankungen zu therapieren. Insbesondere Albert Hofmann, der Er¿nder des LSD (1938), hat es hier über die Disziplin hinaus zu Berühmtheit gebracht (vgl. Hofmann 1982), wenn auch die Experimente mit der Illegalisierung der halluzinogenen Substanz in den 1960er-Jahren aufgegeben werden mussten.21 Unter ärztlicher Kontrolle erzeugte und untersuchte Rausch zustände werden in der experi mentellen Psychiatrie als Modellpsychose bezeichnet und wissenschaftlich beschrieben (vgl. Müller-Küppers 1999: 116). In den „psychedelischen Jahren“ zwischen 1960 und 197022 versuchte man, halluzinogene Substanzen der tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapie zugänglich zu machen (vgl. Leuner 1982). Dieser Ansatz, psycholytische Psychotherapie genannt, stützt sich auf die klassische Psychoanalyse und setzt psychoaktive Substanzen als Werkzeug tiefenpsychologischer Diagnostik ein. Wie ein Katalysator sollen Halluzinogene wirken und seelische Phänomene ans Licht bringen, die sonst nur schwer zugänglich wären. Auch die psychedelische Methode setzt auf den Einsatz von Halluzinogenen in der Psychotherapie. Hier werden deutlich höhere Dosen genutzt, um „kosmisch-mystische Erfahrungen“ (Gabriel 2008) zu erzeugen, die zum Beispiel bei tödlich erkrank21 Der Einsatz von LSD und anderen psychoaktiven Substanzen wurde im Rahmen der Psycholytischen Psychotherapie in einer Schweizer Studie bei Patienten mit posttraumatischen Angstzuständen ab Juli 2007 wieder getestet. Die Genehmigung der Ethikkommission der Schweiz und des Bundesamtes für Gesundheit war seit 35 Jahren die erste weltweit of¿ zielle. Wie bereits in den 1960er-Jahren machte man gute Erfah rungen mit Traumapatienten (psycholytische Methode) sowie mit tödlich erkrankten Patienten mit großer Angst vor dem Tod (psychedelische Methode) (vgl. Gabriel 2008). 22 In diesem Jahrzehnt gingen nicht nur die Hippie-Bewegung, sondern auch Forscher, Künstler und andere Intellektuelle davon aus, dass psychoaktive Substanzen bewusstseinserweiterndes Potenzial haben. Diese kaum prüfbare Annahme muss aus phänomenologischer Sicht abgelehnt werden. Vielmehr muss von bewusstseinsverändernden Wirkungen ausgegangen werden.
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ten Patienten (Terminalpatienten), die von Ängsten gepeinigt sind, einen Wandel in der Einstellung zum Tod bewirken können. Aus psychoanalytischer Perspektive lässt sich der Rausch mit dem Gefühl der Omnipotenz verknüpfen. „Im Rausch fühlt sich das Subjekt oft allmächtig und zu allem fähig. Es sind wichtige Gefühle, die mit Potenz und Lebendigkeit assoziiert werden“ (Erdheim 2002: 121). Die Tendenz zur Grenzüberschreitung gehört zum Menschsein, weshalb Rauschverhalten in der Psychoanalyse als menschlich (und triebhaft) gilt. Das Omnipotenzgefühl soll den Menschen befähigen, sich von der Realität zu distanzieren, sie zum Objekt zu machen. So erscheint die Welt veränderbar. In seiner Phantasie erschafft sich der Mensch eine Welt des Möglichen; Phantasie und Realität fallen zusammen, und der Mensch kann sich an den Umbau der Realität wagen, weil dieser möglich scheint (vgl. ebd.: 124). Im Lauf der menschlichen Sozialisation spaltet sich die Omnipotenz auf in das „vom Primärprozess geprägte magische Denken“ (ebd.: 125) und in eine Form des Determinismus. Der Glaube an die Allmächtigkeit ist ein Tanzen auf der Grenze zwischen dem Utopischen und dem Machbaren und treibt nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Künste an. Die Omnipotenz phantasie zu bearbeiten, bedarf aber des disziplinierten Schaffens und des kontinuierlichen Vorantreibens der Idee. Die psychoanalytische Sicht beschreibt menschliches Verhalten häu¿g mithilfe von Polaritäten, zwischen denen vermittelt werden muss, um ein konsistentes Ganzes erzeugen zu können. Auch zwischen dem Selbstbild und der eigenen Identitätsvorstellung ist Ver mittlung notwendig (vgl. Küchenhoff 2002: 184). Hier wird Identität – ganz im Sinne von George H. Mead – als prozesshafte Synthese aus I und me verstanden. Diese Vermittlung kann der Rausch anstoßen, denn mit ihm sucht das Individuum auch nach heterogenen Erfahrungen und neuen Erlebnispolen (vgl. ebd.: 184). Damit ist ein wesentlicher Unterschied zur Sucht benannt, die auf Entwicklung verzichtet und das Ende der Vermittlung anstrebt, so Küchen hoffs These. „Rausch und Sucht sind Gegensätze. Der Rausch kann verstanden werden als Mikroform des Festes, gleichsam als kleiner Karneval, als ein grenzüberschreitendes Erlebnis, das Identitäten und Normen auf weicht, das aber an die eingespielten Identitätsvorstellungen zurückvermittelt werden kann“ (ebd.: 193).
Die Sucht hingegen hat mit Festen nichts mehr zu tun. Um den Unterschied zwischen Rausch und Sucht noch deutlicher herauszuarbeiten, ist die Nüchternheit als Bezugspunkt nötig. Ohne Nüchternheit ist Rausch ebenso wenig wie Sucht denkbar. Die Sucht allerdings schließt eine Rückkehr in die Nüchternheit aus, während Rausch und Nüchternheit an den Rhythmus des Lebens der Menschen anknüpfen (vgl. Kamper 2002: 179). Weil sich das Individuum im Rausch auch
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als endlich erlebt, ist der Rausch der Sterblichkeit zugewandt. Die Sucht hingegen ist auf die Unsterblichkeit bezogen (vgl. ebd.: 180). Die Sucht gilt psychologisch gesehen als „[k]rankhafte Sehnsucht nach dem Rausch“ (Schmidbauer/vom Scheidt 2003: 482). Indessen ist die medizinische Sicht auf die Grenze zwischen Rausch und Sucht durch eindeutige physiologische Charakteristika beschreibbar. Während die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1957 noch zwischen Drogenabhängigkeit (drug addiction) und Drogengewöhnung (drug habituation) unterschieden hat, bestimmt sie seit 1965 die Sucht als dependence mithilfe der verschiedenen Formen der Abhängigkeit näher (Abhängigkeit vom Opiat-Typ, vom Amphetamin-Typ usw.) (vgl. ebd.: 484). Für eine Sucht (Toxikomanie) gibt die WHO vier Kriterien an: Neben (1.) einem überwältigenden Verlangen oder echten Bedürfnis, die Substanz einzunehmen, gehört (2.) die Tendenz dazu, die Dosis zu steigern. Die seelische und meist auch kör perliche Abhängigkeit von der Wirkung der Substanz führt (3.) nach unterbrochenem Konsum zu Abstinenzsymptomen. Schließlich (4.) haben Süchte auch schädliche Folgen für das Individuum und die Gesellschaft (vgl. ebd.: 613). Der Zustand des Normalen, Span nungsfreien kann sich in der Sucht nur mithilfe der Substanz einstellen. Die ICD-10 de¿niert das „Abhängigkeitssyndrom“ als „[e]ine Gruppe von Verhaltens-, kognitiven und körperlichen Phänomenen, die sich nach wiederholtem Substanzgebrauch entwickeln. Typischerweise besteht ein starker Wunsch, die Substanz ein zunehmen, Schwierigkeiten, den Konsum zu kontrollieren, und anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen. Dem Substanzgebrauch wird Vorrang vor anderen Aktivitäten und VerpÀichtungen gegeben. Es ent wickelt sich eine Toleranzerhöhung und manchmal ein körperliches Entzugssyndrom. Das Abhängig keitssyndrom kann sich auf einen einzelnen Stoff beziehen (z. B. Tabak, Alkohol oder Diazepam), auf eine Substanzgruppe (z. B. opiatähnliche Substanzen), oder auch auf ein weites Spektrum pharmakologisch unterschiedlicher Substanzen“ (DIMDI 2008).
Was ist von den genannten begrifÀichen Bestimmungen für eine soziologische Betrachtung relevant ? Da es in erster Linie um die neutrale Erfassung des Phänomens Rausch geht, werden pathologisierende De¿nitionen abgelehnt. Dass ein Rausch stets Gefahren birgt und der Wunsch nach Wiederholung einen Zwang auslösen und in eine Sucht münden kann, wird damit nicht negiert. Der Rausch ist situativ und in erster Linie eine Konstruktion, die mit den Begriffen ‚veränderter‘ und ‚außergewöhnlicher Bewusstseinszustand‘ beschrieben werden kann. Damit grenzt sich dieser Zustand als einer unter meh reren möglichen vom „normalen“ Wachbewusstsein ab. Der Rausch kann zufällig auftreten oder bewusst herbeigeführt werden und zeichnet sich aus als eine alternierende Wirklich keit, in der
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veränderte Raum-Zeit-Bezüge und Körperwahrnehmungen bestimmend sind (vgl. Kap. 3.1.3). Diese Eindrücke können sich bis zu Erfahrungen sakraler oder säkularer Transzendenz23 steigern. Die sinnliche Wahrnehmung verändert sich ebenso wie das soziale Handeln hinsichtlich Emotionskontrolle und der Orientierung an Konventionen. Aufgrund der veränderten Grenzen für Gefühlsäußerungen kann dem Rausch auch eine Ventilfunktion zukommen. Aber er ist immer auch mit einem Risiko behaftet und deshalb ein Wagnis. Das Eingehen von Rauschzuständen ist hochgradig ritualisiert (säkular oder sakral) und wird von kulturell verschiedenen Normen überformt. Die Ausgestaltung der Rituale ist auch abhängig von den Auslösern des Rausches, die im Folgenden systematisiert werden. 3.1.2
Auslöser – pharmakologische und psychologische Techniken
Rausch wird in unserem Kulturkreis meist mit Alkohol- oder allgemein „Drogen“konsum in Verbindung gebracht. Übersehen wird dabei schnell, dass nicht nur psychoaktive Substanzen, sondern auch psychologische Techniken Auslöser für außergewöhnliche Bewusstseinszustände sein können. Im „Liebes-“, „Blut-“ oder „Kaufrausch“ klingt umgangssprachlich die Tat sache an, dass außergewöhnliche Bewusstseinszustände nicht immer substanzgebunden sein müssen. Die mannigfaltigen Auslöser lassen sich systematisch in zwei Gruppen einteilen: pharmakologische und psychologische Techniken (vgl. Bodmer/Dittrich/Lamparter 1994: 45, Cousto 1998). Zu den wichtigsten pharmakologischen Auslösern gehören Halluzinogene wie z. B. LSD, die auch entheogene Substanzen genannt werden (vgl. Cousto 1998), weil sie mit ihren z. B. visuellen Phänomenen ein göttliches Gefühl im Menschen erzeugen (entheogen aus grch. ‚en‘ – „innen“; ‚theós‘ – „Gott“; ‚gen‘ – „generieren“). Als entactogene Substanzen (lat. tactus „Berührung“, „Gefühl“) werden solche Stoffe bezeichnet, die das innere Gefühl steigern (z. B. MDMA). Dissoziative Substanzen klassi¿zieren Stoffe, die das Assoziationsvermögen ausschalten (z. B. Narkosemittel Ketamin). Die psychologischen Techniken lassen sich nach der Art der Reizeinwirkung in drei Gruppen einteilen. Zu den imperturbatischen Techniken gehören jene, die Umweltreize ver ringern (z. B. sensorische Deprivation im SamadhiTank,24 Zen-Meditation, autogenes Training). Auf der anderen Seite gibt es die 23 Der Begriff ‚Transzendenz‘ soll hier begriffen werden als eine häu¿g mit mystischen Vorstellungen ein hergehende Emp¿ndung des „über sich hinaus-Gehens“ und die Erfahrung, den Bedingungen des Alltags kurzzeitig zu entrinnen (vgl. Bruns 2002: 87). 24 Der Samadhi-Tank wurde von dem durch seine Del¿ n-Forschung bekannt gewordenen Neurophysiologen John C. Lilly entwickelt. Seine Selbstversuche in diesem in körperwarmem Salzwasser
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extrastimulanten Techniken, bei denen die Umweltstimulation deutlich erhöht wird. Besonders wirksam können akustische (Trom meln oder Bass) und visuelle (Licht- und Lasereffekte) Signale ekstatische Bewusstseinstransformationen auslösen. Mit dem gleichförmigen Trommeln beim Voodoo-Kult sowie den Bässen und Lichtshows bei Techno-Partys können insbesondere ausdauernde Tänzer tiefe Rauschzustände erreichen. Eine dritte Gruppe sind die manipulativen Tech niken, die durch bewussten Verzicht auf Grundbedürfnisse auf den Körper und seine biochemischen Prozesse einwirken und häu¿g in Kombination mit anderen Techniken angewendet werden. Dazu zählen Nah rungsentzug (Fasten), Schlafentzug und Hyper ventilation (vgl. Bodmer/Dittrich/Lamparter 1994: 46). Tabelle 1
Auslöser von veränderten Bewusstseinszuständen
Pharmakologische Techniken
Psychologische Techniken
Entheogene Substanzen (generieren Gefühl von Gott in einem) z. B. Halluzinogene wie LSD
Minderung der UmwelteinÀüsse (Imperturbatische Techniken) z. B. Zen-Meditation, Samadhi-Tank
Entaktogene Substanzen (steigern das innere Gefühl) z. B. MDMA (Ecstasy)
Erhöhung der UmwelteinÀüsse (Extrastimulante Techniken) z. B. Trommeln im Voodoo-Kult, Trance durch ekstatischen Tanz
Dissoziative Substanzen (schalten das Assoziationsvermögen aus, Denkabläufe zerfallen in Einzelheiten) z. B. Narkosemittel Ketamin
Manipulative Techniken z. B. Hyperventilation, Essensentzug (Fasten), Schlafentzug
So unterschiedlich die Auslöser außergewöhnlicher Bewusstseinszustände auch sein kön nen – im Kern laufen Räusche immer nach einem identischen Muster ab. Der Psychologe Adolf Dittrich hat in Experimenten geprüft, ob sich die Hypothese vom gemeinsamen archetypischen Kern außergewöhnlicher Bewusstseinszustände aufrechterhalten lässt (vgl. ebd.: 46). Die Eindrücke der Probanden wurden nach pharmakologisch und psychologisch ausgelösten Rauschzuständen retrospektiv erfasst. Die Auswertung der Ergebnisse bestätigt die Annahme von drei Kerndimensionen außergewöhnlicher Bewusstseinszustände – Ozeanische Selbstentgrenzung, Angstvolle IchauÀösung und Visionäre Umstruk turierung (vgl. ebd.: 47).
schwebenden Isolationstank steigert er nach mehreren Jahren mit LSD-Versuchen. Seine Erfahrungen mit diesen Rausch zuständen schildert er in seinem Buch „Im Zentrum des Zyklons“ (Lilly 1976).
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Die Ozeanische Selbstentgrenzung beschreibt Erfahrungen wie das Einssein mit sich und der Welt, die Befreiung von den Beschränkungen von Raum und Zeit. Bei starker Ausprägung können hier auch mystische Erfahrungen gemacht werden. Die Angstvolle IchauÀösung beschreibt eine Erfahrung, die umgangssprachlich auch als ‚horror trip‘ oder ‚bad trip‘ bezeichnet wird. Zentrales Moment ist hier die Angst, die sich v. a. auf den Verlust zentraler Fähigkeiten wie Selbstkontrolle und Urteilsfähigkeit bezieht. Die Visionäre Umstrukturierung fasst Veränderungen der visuell-kognitiven Funktionen zusammen. Diese Dimension beschreibt Visionen und halluzinatorische Phänomene. Die drei Dimensionen können gleichzeitig oder abwechselnd auftreten. Glück und Angst, Himmel und Hölle können zugleich erfahren werden. Dittrich hat in weiteren Versuchen geprüft, inwieweit eine Prädiktion der Anteile der Dimensionen unter Veränderung des Sets (individuelle, psychische Voraussetzungen, z. B. Stimmung) und bei gleich bleibendem Setting (Umweltbedingungen, z. B. allein/ Gruppe, angenehm/unangenehm) möglich ist. Auch bei verschiedenen auslösenden Techniken sollen neun „Säulen der Prädik tion“ ein Psychosenpro¿l voraussagen lassen. Diese neun Säulen werden gebildet durch die Ausgeprägtheit von ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ
emotionaler Labilität, starrer Konventionalität, optimistischer Extraversion, geringem Ästhetikbezug, undogmatischer Religiosität, unkritisch-positivem Realitätsbezug, Desaktivität, Vorerfahrung und Setting (vgl. Dittrich/Lamparter 1994: 76 f.).
Die Prognose eines Reaktionspro¿ls auf einen Auslöser von außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen erweise sich als problemlos möglich. Ozeanische Selbstentgrenzungen würden beispielsweise eher erlebt, je mehr die Versuchspersonen eine „extravertierte Selbst- und Weltbejahung mit hoher Bewertung des Nützlichen und eine […] ausgeprägte […] Fähigkeit zu passiv-spontaner Imagination; eine Weltanschauung, in der Ästhetik eine größere Rolle spielt“ (Dittrich/ Lamparter 1994: 81), besitzen. Ein stabiler kognitiver Zustand und eine gute Stimmung sind Voraussetzungen für das Eingehen von Rauschzuständen. In der Interviewstudie von Svenja Korte formulieren die konsumierenden Inter viewten diese Bedingungen als Rauschregeln (vgl. Korte 2007: 203 f.). Die Befunde aus
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der Psychologie bestätigen auch die sozialkonstruktivistische Annahme, dass Rauschwirklichkeiten auf Konstruktionsleistungen des Individuums beruhen. Die individuelle Stimmungslage, Vorerfahrungen und Einstellung zur Substanz haben wesentlichen Ein Àuss auf Struktur und Ablauf des Rausches. 3.1.3
Bedeutung der Dimensionen Raum, Zeit und Körper für Rauscherleben
3.1.3.1 Rausch und Raum Die Betrachtung der Dimension Raum erfolgt aus zwei Richtungen. Zum einen werden die Orte kategorisiert, an denen Menschen Räusche eingehen. Zweitens wird der Frage nachgegangen, wie sich veränderte Bewusstseinzustände auf die Raumwahrnehmung auswirken können. Das Eingehen von Rauschzuständen wird fast immer als abweichendes Verhalten etiket tiert. Das Einnehmen illegalisierter Substanzen ist durch die Gesetzesgrundlage eine kriminelle Handlung und wird strafrechtlich verfolgt. Aber auch das Trinken von Alkohol als legaler Droge wird nur an bestimmten Orten, in bestimmten Situationen und in bestimmten Maßen geduldet (vgl. Kap. 3.2.1). Ebenso sind durch psychologische Techniken ausgelöste Bewusstseinszustände an gewisse räumliche Voraussetzungen und gesellschaftliche Bedingungen gebunden.25 Rausch ¿ndet öffentlich in der Regel an dafür vorgesehenen und gesellschaftlich dafür bestimmten Orten statt. Kneipen, Trinkhallen, Rummelplätze, Diskotheken, Festzelte, Festivalgelände, Coffee Shops oder Fixerstuben sind öffentliche Orte, an denen das Erreichen veränderter Bewusstseinszustände vorgesehen ist und zum Teil gefördert und geschützt wird. Fußballstadien, Volksfeste, Junggesellenabschiede usw. sind institutionalisierte Enklaven, die es erlauben, sich gehen zu lassen. Die körperlichen Exzesse in diesen Nischen symbolisieren die „kontrollierte Nichtkontrolle durch die Gesellschaft“ (Gugutzer 2004: 86). Dass die strenge räumliche Zuordnung für Rausch keineswegs immer so war, zeigen geschichtliche Rekonstruktionen. Die Industrialisierung ist längst weit fortgeschritten, als der Alkohol aus den Fabriken verbannt wird. Vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit ist Alkohol (als Wein oder Bier) ein Nahrungsmittel und mit seinem hohen Kaloriengehalt ein wichtiger Bestandteil des Speiseplans (vgl. ausführlicher Spode 1999). Daneben ist der private Bereich, vor allem die eigene Wohnung, ein Ort, der den Weg in eine andere Wirklichkeit unter bestimmten Psychologische Auslöser sind keineswegs stets legal. Heute ist z. B. das Meditieren und Praktizieren von Qigong-Übungen als Teil der religiösen Praxis der Bewegung Falun Gong in der Volksrepublik China (ebenso wie die Sekte selbst) verboten. 25
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Voraussetzungen sanktionsfrei zulässt. Diese Räume sind klar von der Öffentlichkeit abgegrenzt. Das Setting mit seinen die Sinneseindrücke betreffenden Reizen hat wesentlichen EinÀuss auf die Art, wie die alternierende Wirklichkeit im Rausch erlebt wird. Das Arrangement betrifft auch die tatsächliche Gefährlichkeit der Umgebung (Gefahr eines Unfalls, des entdeckt Werdens) und die anwesenden Personen (Anzahl, Vertrautheit). Dichter und Schriftsteller wie Novalis, Ernst Jünger, Aldous Huxley, Charles Baudelaire, Edgar Allan Poe und E. T. A. Hoffmann schildern mit besonders feinsinnigem Gespür für Sprache veränderte Bewusstseinszustände. Alternative Raumwahrnehmungen inspirieren ihre Sicht auf Welt und werden in den häu¿g retrospektiv verfassten, sprachgewaltigen Texten verarbeitet. Ihre Schriften sind motiviert durch Hoffnungen und Sehnsüchte, die ih ren Ursprung in der Zeit der Romantik haben und den Rausch häu¿g als Fluchtort suchen. „Die Realität nicht als etwas klar und unwiderruÀ ich De¿ niertes, sondern als Möglichkeit zu entdecken, als eine von vielen Möglichkeiten, die unter bestimmten Voraussetzungen jeweils nicht minder zur Wirk lichkeit taugen als die eine herkömmliche Variante – das ist das große Anliegen der Rauschautoren“ (Kupfer 2006 [1996]: 5, Herv. i. O.).
Der Pragmatist William James (1842–1910) geht offen mit seinen Selbstversuchen mit Lachgas um. Er fertigt im Rausch Notizen an, die nüchtern betrachtet befremdlich wirken, weil die Erkenntnisse aus der anderen Wirklichkeit mit rationalem Bewusstsein alles Bemerkenswerte verlieren. Seine Rauschekstasen, in denen tiefe, mystische Erkenntnisse und Offenbarungen möglich seien, beschreibt er als Zusammenfall von Dualismen zu einem Ganzen. „Lachgas und Äther […] wirken auf das mystische Bewußtsein außergewöhnlich anregend. Immer neue Tiefen der Wahrheit scheinen sich dem Inhalierer zu enthüllen. Diese Wahrheit schwindet jedoch, oder Àieht, im Moment des Erwachens; und wenn irgendwelche Worte übrig bleiben, in denen sie Ausdruck fand, erweisen sie sich als purer Unsinn“ (James 1985: 387).
Aus dieser Erfahrung zieht er den Schluss, dass das gewöhnliche Wachbewusstsein nur eine von mehreren Wirklichkeiten ist, zwischen denen nur dünne Trennwände liegen (vgl. Kupfer 2006: 38). Als charakteristisch stellt sich heraus, dass Rauscherleben mit einer Veränderung des Raum- und Zeitgefühls einhergeht. Durch die physische Materialität des Menschen sind Raum und Zeit die Dimensionen, durch die sich sein rationales Ich-Bewusstsein konstituiert. Raum und Zeit
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als Ordnungsmechanismen können im Rausch transzendieren. Fitz Hugh Ludlow beschreibt seine veränderte Raumwahrnehmung in „The Hasheesh Eater“: „Die Zeit dehnte sich aus, der Raum weitete sich. Im Haus meines Freundes stand ein bestimmter Fauteuil stets für mich bereit. Ich saß darin, kaum einen Meter von dem großen Tisch entfernt, um den sich die ganze Familie scharte. Der Abstand wurde rasch größer. Die ganze Atmosphäre schien sich auszudeh nen und verlor sich in der Unendlichkeit der Räume, die mich umgaben. Wir befanden uns in einem riesigen Saal, am einen Ende saßen meine Freunde, und am anderen ich. Decke und Wand strebten in einer gleitenden Bewegung in die Höhe, gleichsam beseelt von einem Drang zu unaufhaltsamem Wachstum“ (Ludlow 1970 zit. in Kupfer 2006: 442 f.).
Das Individuum nimmt den Raum als veränderte, als „andere Welt“ wahr. Diese alternative Raumvorstellung schließt auch Lagerelationen zu Dingen und anderen Akteuren ein – Raumgrenzen werden verschoben und gesprengt. Zur surrealen Wahrnehmung können nicht nur optische Veränderungen (oder Imaginationen), sondern auch akustische (Rauschen, Stimmen) und haptische Modi¿kationen gehören. Seltener werden olfaktorische und gustatorische Veränderungen beschrieben. Diese Raumerfahrungen können im Rausch nur schwer intersubjektiv vermittelt werden, weil sie sich selten mit der Wahrnehmung Anderer decken. Das Individuum erlebt die andere Realität auf seine eigene Weise und kann diese Erfahrung auch positiv für sich nutzen, indem die andere Welt als Rückzugsmöglichkeit offen steht. Damit ist aber keinesfalls eine eskapistische Tendenz im Rauschverhalten beschrieben. Im Gegenteil: Der Rausch wird als eine sich im Subjekt vollziehende Bejahung des Lebens gesehen. Durch Rauschdarstellungen aus der Retrospektive werden die anderen Wirklichkeiten erfahrbar und wirken vorstrukturierend auf nachfolgende Rauscherfahrungen. Auch die Wahrnehmung von Räumen beruht auf Konstruktionsleistungen. Alexander Kupfer stellt dazu fest, „daß bestimmte mit der Rauscherfahrung verknüpfte Vorstellungen und Motive […] sowohl die Erwar tungshaltung als auch die Interpretation der erfahrenen Realität des Rausches entscheidend prägten. So betritt der Drogenkonsument in seiner eigenen Rauscherfahrung kaum jemals eine terra nova, von der er zuvor keine Vorstellung haben konnte, sondern ist in seinem eigenen Erleben bereits durch eine gewisse Kenntnis der dokumentierten Erfahrungen seiner Vorgänger wie durch ein komplexes Zusammenspiel von Mythen, Werturteilen und kollektiven Sehnsüchten konditioniert“ (Kupfer 2006: 85).
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Soziales Handeln stellt Räume her.26 Am Beispiel der Techno-Szene zeigen Birgit Richard und Heinz-Hermann Krüger, wie die für Raves präparierten Räume erst durch die rhythmischen Bewegungen der tanzenden Jugendlichen entstehen und die Qualität einer virtuellen Parallelwelt erhalten. Das Besondere an der Raumaneignung und -deutung dieser vor allem in den 1990er-Jahren vielfach untersuchten und beschriebenen Jugendszene ist, dass sie sich Orte wie Tunnel, Räume unter Autobahnbrücken, Tiefgaragen und Baustellen gerade auch für illegale Partys aneignet, um in diesen unfertigen, ungemütlichen, verfallenen Räumen für eine Nacht zu feiern, um dann nomadenartig weiter zu ziehen (vgl. Richard/ Krüger 1997: 154). Sie schaffen sich ihre eigenen Räume aus Klang, LichtreÀexen und ekstatisch tanzenden Körpern. Licht, Dunkelheit, Dekoration und alles umspannende Bässe lösen die (Raum-)Grenzen auf, und nur noch die anderen anwesenden Tänzer verhindern, dass man sich im alternativen Raum-Zeit-Kontinuum verliert. Seine Orientierungsfunktion kann der Raum durch Ekstase auslösende Beleuchtungstechniken – zumindest punktuell – verlieren, wie Richard und Krüger beschreiben: „Das Stroboskop dient nicht der stimmungsvollen Raumgestaltung, sondern der Erzeugung von Ekstase und Desorientierung, der punktuellen Suspendierung von Raum- und Zeitgefühl. Die Tanzenden treten in einen körperlich-mentalen Raum ein, der sich von alltäglichen Raum- und Zeitkategorien abgelöst hat und durch Abstraktion, AuÀösung von Gegensätzen und Gegenständlichem bestimmt ist […]. Durch die Reduktion des Materiellen […] bieten diese Räume wenig statische Punkte, an denen man sich orientieren kann. Nur die anderen Tanzenden, die aber wieder im Dunkel des Raumes verschwinden, bestätigen die eigene Anwesenheit“ (Richard/ Krüger 1997: 152 f.).
Orientierung wird auch im Richtungschaos des Schwindels unmöglich. Im Rausch scheint die Welt gleichermaßen sich auszudehnen und zusammenzuschrumpfen. Das Wort Rausch als lautmalender Begriff (Onomatopoetikon) (vgl. Kluge 1999: 670) verweist auf das, was zu hören ist – ein Rauschen, das das Individuum auf sich selbst verweist (vgl. Kap. 3.1.3.3).
26 Der durch soziales Handeln ermöglichte Raum verbindet sich auch mit der Rauscherfahrung des Individuums, denn gerade Orte können in der Erinnerung mit Erlebnissen verschmelzen.
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3.1.3.2 Rausch und Zeit Die Betrachtung der Dimension Zeit erfolgt – wie die des Raums – aus zwei Richtungen. Zum einen werden die Zeiten kategorisiert, an denen Menschen Räusche eingehen. Anschließend wird der Frage nachgegangen, wie sich veränderte Bewusstseinszustände auf die Zeitwahr nehmung auswirken können. Rauscherlebnisse werden fast ausschließlich in der Freizeit aufgesucht und eingegangen. Nur ausgesprochen selten sind im Bereich des Arbeits- und Berufslebens Zeiten vorgesehen, zu denen der Rausch akzeptiert oder gar gefördert wird.27 Alle Formen von Rausch benötigen ein passendes Setting. Dazu gehört Zeit, die so umfänglich zur Verfügung stehen muss, dass auch die Rückkehr aus der alternativen Wirklichkeit in die rationale Welt in einem geschützten Umfeld statt¿nden kann. Für die Konsumenten psychoaktiver Substanzen ist der richtige Zeitpunkt ein zentraler Teil des Settings, das eine entscheidende Dimension beim Erlernen kontrollierter Konsummuster darstellt (vgl. Korte 2007: 196). Der Konsum von Substanzen wie Alkohol markiert vielerorts Zeitabschnitte (Trennung der Arbeitszeit von der Freizeit) und symbolisiert die Bedeutung von Ereignissen (z. B. Champagner zur Hochzeit). Die Wochenenden – ebenso gesetzlich festgelegte Feiertage – sind typischerweise Zeiten, über die man relativ frei verfügen kann und an denen Rauscherleben möglich ist. Gesetzliche Regelungen zu Feiertagen spielen eine wichtige Rolle für die Popularität von Festen und für deren gesellschaftliche Akzeptanz (vgl. Rüpke 2006: 90). Rauscherleben ist oft eingebunden in diese Feste, deren Kulturbedeutung darin besteht, den das Individuum umgebenden Alltag für eine begrenzte Zeit zu delegitimieren (vgl. Gebhardt 1987: 17).28 Das Fest ist die Institutionalisierung außeralltäglichen Handelns und häu¿g zyklisch angelegt, wie beispielsweise die großen Volksfeste (Oktoberfest in München) und der Karneval. Das Fest ist ein Mechanismus, in dem sich die grundsätzliche Dialektik von Alltäglichem und Außeralltäglichem verkörpert (vgl. ebd.: 53). Mit der Befreiung vom Rhythmus des Alltags ist auch eine Befreiung von dessen Zeitstruktur verbunden. Veränderte Bewusstseinszustände gehen mit einem veränderten Zeitgefühl einher. Damit wandelt sich eine grundlegende Kate27 Das Konzept des ‚Àow‘ als eine Form des außergewöhnlichen Bewusstseinszustandes wird an dieser Stelle nicht betrachtet (vgl. Csikszentmihalyi 1995). Ein Àow kann u. a. in intensiven und besonders konzentrierten Arbeitsphasen vorkommen. Dieses Aufgehen im eigenen Tun wirkt stimulierend und motivierend. Mihaly Csikszentmihalyis von Risiko- und Extremsportarten ausgehendes und für den Wirtschaftsbereich weiterentwickeltes Konzept ist aber für die hier betrachteten Formen des Rauschs nicht geeignet, weil es unmittelbar auf die Verwertbarkeit in der Arbeitswelt zielt. 28 Damit unterscheidet sich das Fest grundsätzlich von der Feier, die dem das Individuum umgebenden Alltag Sinn zuschreiben soll (vgl. Gebhardt 1987: 17).
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gorie unserer Welterfassung und der Erfassung unseres eigenen Ichs, das an die Zeit gebunden ist. Wir sehen uns selbst stets als etwas, das genau jetzt besteht und sich von dem unterscheidet, was wir einmal waren und sein werden (vgl. Kupfer 2006: 439), auch wenn sich unser Blick sehr viel häu¿ger auf die Zukunft richtet und auf das, was noch getan werden muss. Der Rausch hat seine eigene Zeit, seinen eigenen Sinn, und er hebt die rationalen Gesetze der Zeitmessung auf. „Immer wiederkehrend in Berichten über Drogenerfahrungen ist die Beobachtung der Relativität der Zeit. Wird unser Alltag strukturiert von einer physikalischen Zeit, die sich außerhalb unserer Bedürfnisse als soziale Zeit objektiviert, so spielt sich die Drogenerfahrung in ihrer eigenen Zeit – oder Zeitlosigkeit – ab“ (Legnaro 1982b: 98).
Die Zeit im Rausch wird durch die Biologie des menschlichen Körpers und nicht durch mechanische Messung der Uhren bestimmt. Die Frage nach der Zukunft stellt sich nicht, weil es im Rausch kein Ziel in der Zukunft gibt, sondern einzig das Jetzt zählt. „Erleben verwandelt sich in eine Offenbarung des Hier und Jetzt, in einen Fluß von Augenblicken, deren ineinander verschlungene Gestalt Gedanken an Zukunft, an noch nicht Gelebtes, bannt“ (ebd.: 99). Rausch bietet eine Fluchtmöglichkeit aus einer sich ständig beschleunigenden Gesellschaft (vgl. Rosa 2008), denn im Rausch gibt es keine Eile (vgl. Legnaro 1982b: 98). Im Rausch rütteln wir an der Zeit, der Grundmacht des Daseins (vgl. Jünger 2008 [1968]), indem wir ihr an Geschwindigkeit nehmen, uns treiben lassen und in entspannter Spannung in ihr verweilen. Die Zeit dehnt sich aus, ist nicht mehr messbar: „Die Zeit erhält eine unbegrenzte Elastizität und dehnt sich bis zu solchen unermeßlichen und verschwindenden Endpunkten aus, daß es lächerlich erscheint, ihr Wesen nach dem Erwachen durch Größen, die dem menschlichen Leben angemessen sind, zu beziffern. So wie man die Ausdehnung von Sternennebeln beziffert, indem man sie in Durchmessern der Erde oder des Jupiter angibt – so auch die eigentliche Zeit, die man in Träumen durchlebt in Generationen zu messen, ist lächerlich, in Jahrtausenden: lächerlich, und ebenso lächerlich auch in Äonen, denke ich, wenn Äonen konkretere Größen wären“ (de Quincey 1956 in: Kupfer 2006: 442, Herv. i. O.).
Nimmt man Henri Bergsons Philosophie der Zeit zur Hilfe, dann verlässt das Individuum im Rausch die temps, also die physikalisch messbare Zeit (t), und überlässt sich der dem Inneren zugeordneten durée (Dauer), die auf das mystisch-religiöse Weltverständnis Bergsons verweist. Die durée ist schöpferischer, freiheitlicher Natur und mit der Intuition und der Psyche verbunden. So geht das „Zeitgefühl“ im Rausch meist verloren und es reiht sich nur noch Situation
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an Situation ohne eine Bestimmbarkeit ihrer zeitlichen Ausdehnung. Aber die Entleerung von der temps ist nur vorübergehend: „[K]ein Rauschzustand läßt sich halten, er verläuft begrenzt in der Zeit“ (Gerigk 1999: 238). Eine Rückkehr in die nüchternen Raum- und Zeitstrukturen nach dem Rausch ist stets vorgesehen. Der Rausch, der das Jetzt will, ist nur auf den Augenblick gerichtet. Er will keine Dauerhaftigkeit, sondern nur einen kurzen ungebrochenen Glückszustand, in dem sich das Individuum selbst als sterblich erlebt: „Das göttliche Genießen des Menschen ist vollkommen irdisch, sterblich. Das ist der »Sinn« des Rausches mit Namen Dionysos“ (Kamper 2002: 180).29 3.1.3.3 Rausch und Körper Die Dimensionen Raum und Zeit verschmelzen in der Raum-Zeit-Bezogenheit des Kör pers. Dabei erlangt der Körper zum einen durch seine biologische Konstitution eine Bedeutung für das Rauscherleben. Hier sind die Wirkungen auf das zentrale Nervensystem des Menschen und die neurobiologisch bestimmbaren Auswirkungen auf seine Wahrnehmung und sein Wohlbe¿nden zu nennen. Zum anderen sind die phänomenologisch zu klärenden leiblich-affektiven Erfahrungen in Zuständen von Rausch und Ekstase näher zu erläutern. Ein Rauschzustand geht mit Veränderungen in der Wahrnehmung, im Bewusstsein, im Gemütszustand und im Verhalten einher. Diese Veränderung hat biochemische Wurzeln im Gehirn des Menschen. Im Gehirn geschieht permanente Signalübertragung zwischen den Nervenzellen nach folgendem Modell: Die Signal gebende Nervenzelle transportiert ihre Nachricht über einen Transmitter zur empfangenden Nervenzelle. Der Signalgeber entlässt dabei über seine Endknöpfchen Transmitter in den synaptischen Spalt zur nächsten Nerven zelle. Diese ist in ihren Dendriten mit Rezeptoren ausgestattet, zu denen die Transmitter wie Puzzleteile passen. Somit kann die empfangende Nervenzelle das Signal entschlüsseln (vgl. Effmert 2010: 26). Psychoaktive Substanzen haben eine so hohe Strukturähnlichkeit mit den Neurotransmittern, dass diese ebenfalls an die Rezeptoren andocken können und im neuronalen Netzwerk Signale auslösen, die Neurobiologen als „abnormal“ bezeichnen. Im Rausch zustand ist z. B. die Konzentration bestimmter Neurotransmitter im synaptischen Spalt stark erhöht, sodass starke Signale auf bestimmte Hirnregionen einströmen. Im Limbischen 29 Mit dieser Aussage deckt sich auch Sigmund Freuds Einbettung aller Lebensvollzüge in die grundlegende Polarität von Eros und Thanatos (vgl. Küchenhoff 2002: 184). Die Psychoanalyse interessiert sich für die Vermittlung von Polen, die auch durch Rauscherfahrungen aufgebaut werden können. Wer einen Rausch eingeht, sucht nämlich nach heterogenen Erfahrungen und neuen Erlebnissen, die ein Anstoßen von Ent wicklungen erlauben.
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Lappen bewirken die Signale Emotionen und Erinnerungen, wäh rend EinÀüsse auf den Frontallappen die Wahrnehmung verändern. Euphorie und Ekstase werden zum Beispiel durch Serotonin ausgelöst, das strukturell MDMA (Ecstasy) ähnelt (vgl. ebd.: 30). Natürliche und ebenso durch psychoaktive Substanzen ausgelöste Rauschzustände haben die gleiche Ursache im Gehirn und sie wirken – soweit der aktuelle Erkenntnisstand – alle mehr oder weniger auf das so genannte Belohnungssystem. Das Belohnungssystem bewirkt Wohlbe¿nden – vor allem durch den Neurotransmitter Dopamin, dem z. B. das Kokain strukturell ähnelt. Natürliche Stimuli des Belohnungssystems können auch Musik, Nahrung, schöne Bilder und angenehme Atmosphäre sein. Die Folge ist ein erhöhter Dopaminaustausch zwischen den Hirnarealen, der ein Wohlgefühl auslöst. Bei süchtigen Menschen ist die natürliche Dopamin-Produktion abgesenkt, sodass ein Wohlbe¿nden nur durch die Aktivierung des Belohnungssystems über die Zufuhr einer psychoaktiven Substanz erreicht werden kann (vgl. Ärzte-Zeitung 2008). Psychiatrische Untersuchungen haben die Veränderungen in der (Körper-) Wahr nehmung, der Stimmung und dem Ich-Erleben nach dem Einwirken von psychoaktiven Substanzen durch Erlebnisbeschreibungen, Ton¿lmanalysen und Leistungstests genau er fasst (vgl. Heimann 1994: 17). Substanzinduzierte Psychosen (Modellpsychosen) sollen Aufschluss darüber geben, wie echte Psychosen ablaufen und behandelt werden können. Aus diesen Untersuchungen lassen sich Aussagen über eine mögliche Struktur im Ablauf von Rauscherleben treffen. Bei der Analyse der Wirkung von Psilocybin auf den Ausdruck und das Verhalten der Testpersonen wurden im Rahmen einer Testreihe drei Phasen ermittelt. Die erste ist von einer „Wendung nach innen“ (ebd.: 18) geprägt. Die Versuchsperson wendet sich dem Gesprächspartner nicht mehr zu, sondern lehnt sich zurück und spricht mit einer geringeren Lautstärke. In der Erlebnisanalyse zeigt sich, dass die Test personen sich dann ganz den Veränderungen des Leibes zuwenden. „Die Weise, wie der Leib unmittelbar gegeben ist, wird als merkwürdig verändert, fremdartig oder oft sogar als beängstigend geschildert“ (ebd.: 19). In der zweiten Phase wird die Person von der näheren Umgebung wieder stärker in Anspruch genommen und schildert die wahrgenommenen Veränderungen der Umwelt. Illusionen und Halluzinationen dominieren hier. Sie sind vor allem optischer Natur und beziehen sich auf die nahe Umgebung der Person. In der dritten Phase scheinen die Versuchspersonen in sich versunken zu sein. Mimik und Gebärden nehmen massiv ab, der Körper sinkt in sich zusammen und die Redebereitschaft lässt stark nach. Depersonalisationsphänomene überwiegen in dieser Phase. Die Person selbst und ihre Beziehung zu der Situation sind verändert, was sich vor allem auf das Raum- und Zeiterleben auswirkt. Die Ich-Grenzen werden als Àießend beschrieben und die Grenzen zwischen Person und Situation beginnen, sich
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aufzulösen. Konzentrationstests zeigen aber, dass in dieser Phase die stärkste Konzentrationsleistung messbar ist (vgl. ebd.). Die in der Halluzinogenforschung untersuchten Auswirkungen auf Wahrnehmung, Den ken und Stimmung lassen sich insgesamt in fünf Prägnanztypen von Rauscherfahrungen einteilen (vgl. Hermle et al. 1994: 159): (a) Psychotische Phänomene (veränderte Bewusstseinszustände, paranoide Episoden, Angst-Panikreaktionen), (b) Psychodynamische Erfahrungen (Rekapitulation frühkindlicher Erinnerungen, Reminiszenzen verdrängter Erlebnisse mit kathartischer Abreaktion), (c) Ästhetische Erfahrungen (Erlebnisse gesteigerter Wahrneh mungen, wie Farbhalluzinationen, Hören von Musik, tiefes ästhetisch-emotionales Erleben), (d) Kognitive Erfahrungen (das Selbst und die Umwelt werden aus neuer Perspektive gesehen), (e) „Transzendente“ bzw. psychedelische Erfahrungen. Diese Typen sind als alternative Beschreibung zu den drei von Dittrich vorgeschlagenen Skalen zu sehen, die als Ozeanische Selbstentgrenzung, Angstvolle IchauÀösung und Visionäre Umstrukturierung oben skizziert wurden (vgl. 3.1.2). Nach Dittrichs Begriffsvorschlägen bekommt der Körper deutlicher eine räumliche Struktur. Selbstentgrenzung und IchauÀösung deuten auf eine stark veränderte Wahrnehmung der körperlichen Grenzen und der leiblichen Einheit hin. Ausgehend von Schmitz’ Philosophie des Leibes hat der Körper auch im Rausch eine räumliche Struktur, die sich zwischen den beiden Polen Enge und Weite bewegen kann. Die Enge ist ein Grundzug des absoluten Ortes des körperlichen Leibes im Ganzen. Sie ist das, was diesen absoluten Ort dazu befähigt, den Leib zusammenzuhalten (vgl. Schmitz 2005: 73). Bei Angst und Schmerz zieht sich alles zusammen, der Leib wird eng. Die Gegenspielerin der Enge ist die Weite, deren zwei Hauptarten Schwellung und privative Weitung sind, und die in unterschiedlichen Graden vorkommen kann. Das Erleben eines Sich-Weitens der Brust bei einem schönen Gedanken, die Entrückung aufgrund emotionaler Momente oder durch autogenes Training, das Versinken in einen Tagtraum können diese Weitung des Leibes auslösen. Weitung und Engung gehören dabei in einem Span nungsverhältnis zusammen, das den Rhythmus des Leibes ausmacht (vgl. ebd. 121). In einem durch psychoaktive Substanzen ausgelösten Rausch kann sich dieser Rhythmus aus Spannung und Schwellung sehr intensiv ausprägen. Die privative Weitung wird wegen ihrer für den Rausch typischen Leiberfah rungen näher beschrieben. Die privative Weitung hat etwas von der Enge des Leibes Ablösendes, Erlösendes und Entrückendes. Sie ist der Kern vieler Erlebnisse, die auch als Schweben, Fliegen oder Schwerelosigkeit beschrieben werden (vgl. ebd.: 129). Sie geht mit dem Entbinden von Angst, Schmerz und Schuldbewusstsein einher. Mit der von Dittrich (1982) beschriebenen Ozeanischen Selbstentgrenzung stimmt Schmitz’ Beschreibung eines ozeanischen Gefühls uferloser Weitung des Leibes
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überein (vgl. Schmitz 2005: 130). Die privative Weitung besitzt aber eine affektive Ambivalenz, denn der Zustand der Leibesweitung und Entrückung kann sowohl als angenehm als auch als Qual empfunden werden. Das in psychiatrischen Studien beschriebene gleichzeitige bzw. abwechselnde Auftreten von Ozeanischer Selbstentgrenzung und Angstvoller IchauÀösung entspricht dieser von Schmitz beschriebenen Ambivalenz und dem Rhythmus von Weite und Enge. Im Rausch erlebt das Individuum eine nicht-alltägliche Veränderung des Leibes, die so intensiv sein kann, dass sie sich wie eine Öffnung, Weitung oder ein Transzendieren anfühlt. Der Rausch ist eine Art der Körpermanipulation, die nicht der Perfektionierung seiner äußeren Erscheinung oder physischen Fähigkeiten dient (vgl. Schroer 2006: 288). Vielmehr werden Steuerungsbestrebungen aufgegeben: Der Mensch versucht gerade nicht, den Körper zu beherrschen, sondern ergibt sich den sich emanzipierenden körperlichen Vorgängen. Im Alltag sind Gedanken an den eigenen Körper und eine Beschäftigung mit dessen Wahrnehmung eher selten. Wenn jedoch Krankheit, körperliche Beeinträchtigungen oder eben ekstatische Körpererfahrungen eintreten, kommt sein Körper dem Individuum nah. Im Rausch erlebt das Individuum sich als Leib, wird ganz und gar Leib (vgl. Wiechens 1995: 71). Mit dieser Konzentration auf den Leib wird seine Endlichkeit bewusst, denn nicht umsonst wird die Ekstase häu¿g auch ‚der kleine Tod‘ genannt (vgl. Böllinger 2002: 65). Der Genusszustand ist ebenso endlich wie das Leben selbst. In der intensiven Erfahrung des Seins begegnet das Individuum auch dem tragischen „Sein zum Tode“ (Heidegger 1986 [1927]: 252 ff.). Es begegnet der Gewissheit, dass jedes Sein zeitlich begrenzt ist und dadurch den Zwang zur Gestaltung des Daseins erhält. Friedrich Nietzsche bezeichnet den Rausch als „ästhetischen Zustand“ und versteht ihn als „eine Mischung dieser sehr zarten Nuancen von animalischen Wohlgefühlen und Begierden“ (Nietzsche 1980: Bd. 12, 393). Nietzsche meint vor allem den geistigen Rausch, wobei der toxikologisch herbeigeführte trotzdem einbezogen werden kann (vgl. Gerigk 1999: 243). In seiner 1872 erstmalig erschienenen „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ unterscheidet Nietzsche apollinische und dionysische Grunderfahrungen, bei denen die dionysischen mit ihren AuÀösungstendenzen im Rausch dominieren. Die wahre Kunst wird aus dieser Perspektive im Rausch geboren (vgl. Caysa 2003: 100), weil sie eine Form der Metamorphose dionysischer Energien ist (vgl. Seifert 2004: 350). Mit den dionysischen Energien ist stets auch der Eros, der Sexualtrieb verbunden, der dem Menschen den Anstoß gibt, sich zu überschreiten und sich in einem größeren Ganzen zu verlieren (vgl. Maffesoli 1986: 77). Das Überwinden von Hemmschwellen und die Einbuße bzw. der Verlust von Selbstkontrolle befördern das sexualisierte Handeln des Individuums. Durch die veränderte Körperwahrnehmung wird das Individuum seines Körpers erinnert. Es erspürt ihn anders und kann im Kontakt
Der kollektive Rausch
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mit anderen Individuen seine leiblichen Grenzen und seine ungewohnte Reizund Stimulierbarkeit erproben. Aus psychoanalytischer Perspektive lässt sich konstatieren, dass sowohl Sexualität als auch Rausch (bzw. „Drogen“) von denselben Tabus erfasst werden. Unter Tabus sind Lustzustände oder Befriedigungsweisen zu verstehen, „die unbewusst triebhaft erstrebt sind“ (Böllinger 2002: 60). Darin liegt eine Ambivalenz: Berührungslust auf der einen Seite, Sühne durch die Gemeinschaft auf der anderen (vgl. dazu ausführlich Kap. 3.2.3). Die Ähnlichkeit zwischen „Drogen-“ und Sexualtabus liegt in der nur Sekunden währenden beglückenden Ekstase des Orgasmus bzw. des Rausches: „Die illegalen Drogen werden vom Sexualtabu erfasst, und zwar weil sie – zumindest in der Phantasie – mit grenzenloser Steigerung der Lust, mit wilder Ekstase, also mit Kontrollverlust verknüpft werden“ (ebd.: 61). Rausch heißt „Verschwendung“: Er geht mit dem Verschwenden körperlicher, ¿nan zieller und zeitlicher Ressourcen einher. Die Verausgabung dieser Kräfte und auch die Tendenz zur Selbstzerstörung machen das in einem rein marktökonomischen Sinne Unproduktive des Rausches aus. Georges Bataille geht 1967 auf das Prinzip der Verausgabung, des Verlustes und der Verschwendung ein und verwendet den Begriff zur Bezeich nung all dessen, was eine Gesellschaft im ÜberÀuss produziert und was den produktiven und reproduktiven Funktionen der Gesellschaft gegenübersteht (vgl. Wiechens 1995: 38 f., Illouz 2007 [2003]: 168 f.). Rauschhandeln ist stets auch mit Risiken behaftet, vor allem wenn er durch psychoaktive Substanzen herbeigeführt wird. Neben dem gesundheitlichen Risiko (Schädigung des Kör pers, Unfallgefahr) können aber auch ¿nanzielle Risiken (Beschaffungskosten) sowie ein rechtliches Risiko (Verstoß gegen Betäubungsmittelgesetz, erhöhte Neigung zu Straffälligkeit) eingegangen werden (vgl. Raithel 2004: 29). Die Gemeinschaft spielt eine wesentliche Rolle im Rausch, denn sie braucht das Individuum, um den Rausch zu erleben. Der einsame Rausch, den es ohne Frage ebenso gibt, ist ein modernes Phänomen und entspringt dem Bedürfnis, sich von seinem Umfeld zu reinigen und zu erholen (vgl. Kupfer 2006: 11 f.). Für die vorliegende Arbeit sind die kollektiven Räusche wesentlich und deshalb im nächsten Kapitel thematischer Mittelpunkt. 3.2
Der kollektive Rausch
3.2.1
Rauschregeln und Rauschkonstruktionen
Der kollektiv erlebte Rausch kann sich in verschiedenen Qualitäten ausprägen und durch verschiedene Techniken und Substanzen ausgelöst werden. Fokussiert
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man auf den Körper, so zeichnen den kollektiven Rausch ein AuÀösen des individuellen Leibes und ein Aufgehen in einem kollektiven Leib aus. Schmitz bezeichnet dies als Einleibung, die er als „Eingehen des spürbaren eigenen Leibes in übergreifende Ad hoc-Leiber oder -Quasileiber“ (Schmitz 1985: 86 f.) versteht. Wenn der innerleibliche Dialog nach außen verlagert wird, dann überschreitet das leibliche Be¿nden den eigenen Leib. „Sehr scharf zeichnet sich Einleibung in der Partyatmosphäre ab; Parties sind heute beliebte, aufgeregt-amüsante gesellige Festveranstaltungen mit tänzerischen und erotischen Akzenten“ (Schmitz 1985: 87). Wenn hier Hemmschwellen überschritten werden und die Party in Gang kommt, lösen sich ausnahmsweise zwischen menschliche Distanzen auf und werden „durch permanenten leichten Schwindel ersetzt“ (ebd.). Der Rausch ist ein Zustand, der nicht nur sozial konstruiert, sondern auch sozial vermittelt wird. Die Rauschfähigkeit gehört zum Menschsein. Sie ist dem Menschen auf natürliche Weise durch endogene Neurotransmitter gegeben und kann durch exogene Neurotransmitter künstlich erzeugt werden. Seit das künstliche Herbeiführen von Räuschen bekannt ist, gibt es auch Regeln, die das Rauschverhalten kontrollieren sollen. Die ethnologische Forschung weist z. B. nach, dass alle Kulturen, in denen Alkohol bekannt ist, auch Regeln für seinen Gebrauch vorschreiben (vgl. Schweizer 19812: 143). Am Beispiel Alkohol als in unserem Kulturkreis traditionellem und dominantem Rauschmittel lassen sich Rauschregeln und -rituale eingehender betrachten. Der Umgang mit Alkohol unterliegt historischen Veränderungsprozessen und ist auch kulturell verschieden (vgl. ausführlich dazu Spode 1999). So wandelten sich beispielsweise im Abendland zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit die Bedeutung und Bewertung des berauschenden Alkoholkonsums deutlich, was mit den gesellschaftlichen Veränderungen verbunden ist, die Norbert Elias als Prozess der Zivilisation beschreibt. Die Neuzeit zeichnet sich durch eine Rationalisierung der Lebensführung und eine starke Kontrolle von Trieb- und Gefühlsimpulsen aus, was sich auf Verhaltensweisen auswirkt und eine Rauschkontrolle tendenziell überÀüssig macht. Mit zunehmender Affektkontrolle wird die Welt „nüchterner“ und zugleich rauschfeindlicher: „Bewirkt der Rationalisierungsdruck auf die Individuen ein selbst gesteuertes, ‚zivilisiertes‘ Verhalten, so kann dies auch nicht ohne Folgen bleiben für den Konsum von Alkohol und die Bewertung von Trunken heit und Rausch als veränderten Bewußtseinszuständen“ (Legnaro 1982a: 163).
Gleichwohl bewirken diese veränderten Bewertungen keinen signi¿kanten Rückgang des Konsums von Alkohol. Dieser erhält in der Neuzeit mit ihren verstärkten Selbstzwängen und gehemmten Affekten die veränderte Funktion der Enthemmung und Befreiung von Ängsten und Spannungen. Dennoch gilt seit der Aufklä-
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rung die Maßgabe, den Rausch zu kontrollieren, weil das aufklärerische Bild vom Menschen als einem rationalen, vernünf tigen Wesen mit dem Alkoholkonsum nicht ganz konform gehen kann. Einem berauschten Akteur werden bestimmte Fähigkeiten abgesprochen – auch im Strafrecht. Hiernach kann ein Rausch z. B. Auswirkungen auf die Schuldfähigkeitsbeurteilung haben, wenn der Zustand einer Person bei Begehung einer Straftat ein Schuldausschließungsgrund ist (§20 StGB). Alkoholkonsum war und ist symbolisches und rituelles Handeln. Er markiert sozialen Status und Rang, Zeitintervalle, bedeutsame Ereignisse sowie Gruppenzugehörigkeit. Auch stabilisiert er soziale Netzwerke (vgl. Schweizer 1982: 146 ff.). Während Wein (bei den Ger manen auch Bier) einst sakralen Charakter hatte, ist er heute vor allem ein profanes Getränk. Die Status- und Prestigeunterschiede drücken sich zum Beispiel über die Sorte und die Kostspieligkeit des Getränks aus sowie über die Reihenfolge, in der getrunken oder einander zugeprostet wird. Die Trennung der Arbeitszeit von der Freizeit kann durch Alkoholkonsum ebenso markiert werden (z. B. Feierabend-Bier) wie der besondere Festcharakter eines Ereignisses (vgl. auch 3.1.3.2). Durch die Seltenheit und den Wert verzehrter Alkoholika sowie durch die Größe der Gruppe, die sich am Konsum beteiligt, wird die Höhe der Ausgaben symbolisiert, die ein Gastgeber auf sich nimmt. Zum Weihnachtsessen oder zu Hochzeiten werden beispielsweise erlesene Getränke konsumiert. Eine besonders wichtige Funktion des Alkoholkonsums liegt in der Signalisierung von Gruppenzugehörigkeit, die über die Alkoholsorte oder die Art des Trinkens verdeutlicht wird. Beispielsweise kann das ausschließliche Konsumieren einer Biersorte die Zugehörigkeit zur Peer-Group anzeigen. Ebenso kann eine bestimmte Art exzessiven oder rituell gestalteten Trinkens symbolhaft wirken (z. B. Burschenschaften). Die besondere Wein kenntnis zeichnet einen Menschen in unserem Kulturkreis als besonderen Genießer aus und macht ihn damit einer erlesenen Gruppe angehörig. Aber auch Abstinenz kann Verbindungen zu Gruppen oder Vereinigungen markieren und Gruppenidentitäten stärken (z. B. bei Anhängern der Jugendkultur Straight Edge). Alkoholkonsum stabilisiert soziale Netz werke, indem er in Konsumrituale integriert ist, die bei Familienfeiern, Verwandt schaftsbesuchen, freundschaftlichem Beisammensein und anderen Treffen aufgeführt werden, die alte Verbindungen vor dem Vergessen bewahren sollen. Die Einladung der Personen hebt diese hervor, verpÀichtet sie jedoch auch zur Gegengabe und zur Unterstützung, wenn diese nötig ist. Im Alkoholkonsum drücken sich zahlreiche Prinzipien einer Kultur aus und stabilisieren diese (vgl. Schweizer 1982: 149). Für den Gebrauch von Alkohol und anderen rauschauslösenden Substanzen gibt es Regeln, die den Umgang mit der Substanz sowie Frequenz, Set und Setting bestimmen. Jede Substanz hat dabei ihre eigenen Regeln, die den Rausch positiv gestalten und negative Begleiterscheinungen minimieren sollen. Korte arbeitet in
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ihrer Interviewstudie Regeln hinsichtlich der Dosis, Substanzkombinationen und -ausschluss, Frequenz, Set und Setting heraus (2007: 188 ff.). Diese Rahmenbedingungen werden zumeist in den konsumierenden Peer-Groups weitergegeben und sollen ein positives Rauscherleben sowie die Vermeidung von Suchtrisiken bewirken. Rauschregeln setzen einen rituellen Rahmen, der bei legalen Substanzen auch die Funktion hat, den Konsum als sozial akzeptiert und kulturell erwünscht zu gestalten. Der Gebrauch von psychoaktiven Substanzen ist Verhalten, das gelernt werden muss. Howard Becker zeigt in seiner in den 1950er-Jahren durchgeführten Studie am Beispiel des Marihuana-Rauchens, wie der Gebrauch der Substanz weitergegeben und gelernt, aber auch, wie der THC-Rausch intersubjektiv vermittelt wird. Die Novizen werden in die Technik des Rauchens eingeführt, wozu auch die Dosierung zählt: „No one I interviewed continued marihuana use for pleasure without learning a technique that supplied suf¿cient dosage for the effects of the drug to appear“ (Becker 2000: 67). Der Novize muss außerdem lernen, welche Rauschwirkungen ihn erwarten und auf den Gebrauch von Marihuana zurückzuführen sind. Becker stellt fest, dass Erstgebraucher häu¿g berichten, nicht „high“ geworden zu sein oder einen unangenehmen Geschmack erfahren zu haben. Erst wenn sie beim wiederholten Umgang mit der Substanz die Effekte dem THC zuschreiben und sie zudem als angenehm einschätzen, werden sie die Substanz weiterhin und zum Genuss gebrauchen. „In short, what was once frightening and distasteful becomes, after a taste for it is built up, pleasant, desired, and sought after. Enjoyment is introduced by the favourable de¿nition of the experience that one acquires from others. Without this, use will not continue, for marihuana will not be for the user an object he can use for pleasure“ (Becker 2000: 72).
Der Marihuana-Rausch ist ebenso konstruiert und sozial vermittelt wie andere Räusche auch und ist nicht allein biochemisch zu erklären. Die erlebte Wirklichkeit wird durch die Weitergabe der Erfahrungen anderer User vorstrukturiert und miterzeugt. Damit ist die individuelle Rauscherfahrung immer mit kollektiven Komponenten versehen und kommt niemals allein durch die Physiologie des Körpers zustande. Dass das Rauscherleben etwas Bedeutungsvolles ist, wird gelernt – durch den sozialen Kontakt zur Gruppe und auch durch Medien. Die subjektive Perspektive auf Rauscherfahrungen bietet in Erfahrungsberichten zum Beispiel die Beschreibung von einer Erweiterung des Lebens, von einem Sehen des Lichts oder dem Gefühl einer Verbundenheit mit Gott (vgl. Saunders 1998: 221 ff.). Aus solchen Berichten entstehen (vermittelte und vermittelnde) Rauschkonstruktionen: Rausch als Emotion, als Veränderung, als andere Welt, als veränderter Bewusstseinszustand, als Selbst¿ndung und als Kontrollverlust (vgl.
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Korte 2007: 131 ff.). Neben Erfahrungsberichten von Konsumenten spielen für Rauschkonstruktionen mediale Reproduktionen in den zahlreichen literarischen Texten ebenso eine Rolle wie diejenigen in der Musik oder in ¿lmischen Darstellungen von Rauscherfahrungen. Eine sozialkonstruk tivistische Auffassung impliziert auch, dass die „andere“ Wirklichkeit veränderlich, offen, Àuide und als soziokulturelles Skript dynamisch ist. Der Rausch als kollektive Erfahrung besitzt eine sozialintegrative Kraft, die einen Teil des „sozialen Kitts“ (vgl. 1. Vermutung der Arbeit) ausmacht und auf deren Zustandekom men und Wirksamkeit im Folgenden eingegangen wird. 3.2.2
Sozialintegrative Kraft des kollektiven Rausches
Zustände veränderter Wahrnehmung bieten andere Reize, außeralltägliche Körpererfah rungen und die Chance für eine kurze Auszeit von einer rationalen, funktional differenzierten Gesellschaft. Neugierde und Abenteuerlust können im Rausch befriedigt und Affekte unkontrollier ter ausgelebt werden. Dem kollektiven Rausch kommt für alle Altersgruppen eine Ventilfunk tion zu, durch die er eine sozialintegrative Kraft entfaltet. Aus psychoanalytischer Perspektive wird das aus kulturspezi¿schen Normen bestehende Über-Ich vorübergehend entlastet und Lustpotenziale werden freigesetzt (vgl. Böllinger 2002: 62). Für die gemeinschaftlich Alkohol trinkende Zechgruppe beispielsweise sind das rituelle Trinken und auch der gemeinschaftliche Rausch von mythischer Bedeutung: „Um einen mythischen Gebrauch von Alkohol handelt es sich z. B. dann, wenn man einander zu duzen anfängt, sich nur mit dem Vornamen anredet und alle Mitglieder derselben Zechgruppe sind. In einem mythischen Rausch löst man sich vom Alltag, Tabus werden gebrochen, und die Rollenanforderungen werden vergessen“ (Sulkunen 1982: 258).
Eingeleitet wird das ritualisierte Trinken nicht nur mit einem Zuprosten oder Anstoßen, sondern häu¿g auch durch begleitende Trinksprüche, Trinklieder oder Praktiken, die das Präparieren des Getränks selbst betreffen. Die Trinkrituale dienen der Orientierung und belegen die Gültigkeit von Regeln sowie die Bedeutung der Gemeinschaft in einer anderen Wirk lichkeit. „Die Hauptfunktion der Rituale besteht im Zelebrieren des Vorrangs, den das Ganze vor den Teilen hat“ (Douglas 1998 [1974]: 198). Die Gruppenmitglieder erleben sich selbst in der außeralltäglichen Erfahrung des Rausches auf eine andere Weise; aber auch die Gruppe erlangt eine veränderte Deutung. „Gemeinsame Betrunkenheit hat einen geradezu sakralen Charakter, ist ein rauschhaftes Erlebnis von Gemeinschaft“
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Rausch
(Legnaro 1982a: 157). Das gemeinsame Erlebnis als außeralltägliche Situation und psychophysische Konstruktion (vgl. Schulze 2005 [1992]: 14) stärkt die verbindenden Kräfte der Gemeinschaft – zumindest für die Dauer des Rausches. In Rauscherfahrungen werden andere Wirklichkeiten betreten, die Grenzen der Erfah rung werden überschritten. Die Relevanzsysteme des Alltagshandelns sind suspendiert (vgl. Schütz/Luckmann 1990: 169). Außeralltägliche Erfahrungen können „die Relevanzsysteme des täglichen Lebens mit oder ohne allgemeine gesellschaftliche Billigung entscheidend beeinÀussen und sogar im Alltag das pragmatische Motiv wenigstens teilweise […] in Frage stellen“ (ebd.).
Weil die alltägliche Wirklichkeit für das Überleben der Mitglieder einer Gesellschaft und für den Bestand einer Gesellschaft essenziell ist, werden die Außeralltäglichkeiten unterdrückt oder auf verharmlosende Weise vergesellschaftet, wie beispielsweise im Karneval, wo das Außergewöhnliche „auf Zeit“ zugelassen wird (vgl. auch Kap. 3.2.3). Außeralltägliches ist in Enklaven oder in kanalisierter Form in einer großen Vielfalt überall zu ¿nden und beeinÀusst die Relevanzsysteme des Alltäglichen mehr oder weniger intensiv. Im ReÀektieren der Rauscherfahrungen wird die Nüchternheit als vom Rausch verschieden – mehr noch: als ihm entgegengesetzt – erfahren. Nüchternheit und Alltäglichkeit erlangen damit eine Erweiterung ihrer Sinnzuschreibung. Das Übertreten der Grenze hin zu einer anderen Wirklichkeit lässt den Weg zurück und den Alltag selbst in einem anderen Licht erscheinen: Der Ausbruch in die Außeralltäglichkeit macht auch ein Zulassen des Alltags wieder lebbar und bewirkt eine Regeneration der Moral, die für das Bestehen von Gesellschaften lebensnotwendig ist (vgl. Durkheim 1994: 484; Gebhardt 1987: 38). Das Überschreiten der Grenze und die Abkehr vom alltäglichen Handeln ist immer auch ein Wagnis: Rausch bedeutet Risiko. Dieses Risiko geht die (Zech-)Gruppe gemeinsam ein und übersteht es kollektiv, was zu einer verbindenden Erfahrung führen kann. Die Diskussion des Begriffes Rausch jedoch bliebe unvollständig, wenn nicht auch das Ambivalente im Umgang mit Rausch und vor allem berauschenden Substanzen angeführt werden würde. Das folgende Kapitel setzt hier an und erfüllt dabei mindestens drei Funk tionen. Zum einen soll es den notwendigen Hinweis enthalten, dass das Eingehen eines Rauschzustandes einem Einlassen auf unkalkulierbare Gefahren – für sich selbst und für andere – gleichkommen kann. Wenngleich es viele Orte und Zeiten gibt, an denen der Rausch vorgesehen und als gesellschaftlich legitimiert gilt, gibt es gesetzliche und moralische Grenzen, die auf einen ambivalenten Umgang hindeuten. Deshalb soll das folgende Kapitel zeigen, inwieweit sich juristische Texte zum Rausch äußern. Anschließend
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werden Erklärungsversuche angeboten, warum mit dem Rausch so ambivalent umgegangen wird. 3.2.3
Ambivalenter Umgang mit Rausch
Während das Eingehen ei nes Rausches zahlreiche schwer bis kaum zu kalkulierende Risiken birgt, kann auch der wiederholte Rausch von sozialen und medizinischen Folgeschäden begleitet sein. Dabei sind die körperlichen Schäden substanz- und konsumabhängig und längst nicht umfassend untersucht. Der juristischen Perspektive kommt neben der medizinischen eine bedeutende Stellung bei der Legitimation für Anti-Rausch-Projekte und Abstinenzbewegungen zu. Die Gesetzgebung bildet den Rahmen für die De¿nition des legalen und illegalen Rausches sowie für die strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen im Rausch. Der Wille und die Fähigkeit zu normkonformem Verhalten können im Rausch beeinträchtigt sein und zu dem führen, was als Kriminalität bezeichnet wird. Das Strafrecht erfasst regelwidriges Verhalten, ohne den Begriff Rausch eindeutig zu de¿nieren. Es verwendet das Wort im Strafgesetzbuch in §323a für die Umschreibung des Tatbestandes des Delikts des Vollrausches. Dieser Tatbestand ist erfüllt, wenn sich der Täter „durch alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel in einen Rausch versetzt“. Ebenfalls Bestandteil des Strafgesetzbuches ist der Begriff ‚Rausch‘ als Tatbestandsmerkmal in §315a (Gefährdung des Bahn-, Schiffs- und Luftverkehrs), §315c (Gefährdung des Straßenverkehrs) und §316 (Trunkenheit im Verkehr). Berauscht ist eine Person, wenn sie in ihrem ganzen Erscheinungsbild in einem Zustand ist, der als durch den Genuss von Rauschmitteln hervorgerufen anzusehen ist. Rauschmittel sind als Substanzen zu verstehen, „die in ihren Auswirkungen denen des Alkohols vergleichbar sind“ (Dölling 1999: 151) sowie zur Beeinträchtigung des Hemmungsvermögens und der intellektuellen und motorischen Fähigkeiten führen. Dass der Alkohol hier als Referenz genannt wird, belegt einerseits die dominierende Stellung dieser Substanz in unserer Kultur. Andererseits ist Alkohol auch von allen „Drogen“ der häu¿gste „Begleiter“ von Straftaten, wie die polizeiliche Kriminalstatistik jährlich erfasst. Im Jahr 2008 haben insgesamt 274.867 Tatverdächtige ihre Tat unter AlkoholeinÀuss begangen; das entspricht 12,2 Prozent aller Tatverdächtigen (vgl. PKS 2008: 5). Bei den unter Rausch begangenen Delikten kommen insgesamt Aggressionsdelikte und Fahrlässigkeitstaten am häu¿gsten vor (vgl. Dölling 1999: 165). „Von insgesamt 159.178 aufgeklärten Fällen im Bereich der
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Rausch
Gewaltkriminalität wurden 52.381 Fälle (32,9 Prozent) unter AlkoholeinÀuss verübt (2007: 27,0 Prozent)“ (PKS 2008: 8, Herv. i. O.).30 Eine juristisch spannende Rolle kommt dem Rausch in der Rechts¿gur der actio libera in causa (geregelt in §20 StGB) zu. Wenn ein Täter aufgrund des Rauschzustandes im Zeitpunkt der unmittelbaren Tathandlung schuldunfähig ist, scheidet noch nicht ohne weiteres eine Strafbarkeit wegen des im Rausch erfüllten Tatbestandes aus – gerade dann, wenn der Rausch im Zustand der Schuldfähigkeit herbeigeführt wurde. In der actio libera in causa „kommt trotz Schuldunfähigkeit im Zeitpunkt der unmittelbaren Tathandlung eine Strafbarkeit aus dem verwirklichten Tatbestand in Betracht, wenn der Täter den die Schuldunfähigkeit begründenden Defektzustand schuldhaft herbeigeführt hat“ (Dölling 1999: 170). Damit ist das „Mut Antrinken“ des Täters, um die Hemmungen vor der geplanten Straftat zu verlieren, eine vorsätzliche actio libera in causa, deren Konsequenzen juristisch umstritten sind und uneinheitlich behandelt werden.31 Ein uneinheitlicher Umgang mit dem Rausch ist auch andernorts zu konstatieren: Einerseits besitzt das Phänomen einen enormen ökonomischen und politischen Marktwert, wird sehnsüchtig erstrebt und stellt eine kulturelle Konstante dar. Demgegenüber wird es – im Zusammenhang mit kriminellen Handlungen – strafrechtlich erfasst, erfährt in Präventionsbestrebungen eine Dämonisierung und unterliegt vielfältigen Kontrollbemühungen. Mindestens zwischen „Happy Hour“ (eine Form des dionysischen Zyklus) und „Keine Macht den Drogen !“ (ein Abstinenzgebot der Bundesregierung) spannt sich die Ambivalenz im Umgang mit Rausch auf, die sich nicht nur in Auseinandersetzungen auf gesellschaftlicher Ebene beobachten lässt. Auch individuell ist eine Beschäftigung mit dem paradoxen gesellschaftlichen Umgang mit Rausch Teil der Sozialisation, und deren verbreitetes Ergebnis ist die Einteilung in einen „guten“ (harmlosen) und „bösen“ (gefährlichen) Rausch. Diese Zuordnung unterstützt in der Bundesrepublik das Betäubungsmittelgesetz, das über die De¿nition legaler und illegalisierter Substanzen Auskunft gibt. In pädagogischen Projekten ist derzeit die Befähigung zum „kontrollierten Genuss“ populär – das Oxymoron „kontrollierter Genuss“ illustriert einmal mehr die dringend zu erklärende Janusköp¿gkeit des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Phänomen. Womit lässt sich das ambivalente Verhältnis unserer Kultur zum Rausch explizieren ? Soziologische Erklärungsversuche setzen häu¿g bei der Gefährdung 30 Bei der Tatsache, dass Alkohol als häu¿gster Begleiter von Straftaten festgestellt wird, ist zu bedenken, dass der Konsum von Alkohol von den Beamten leicht zu diagnostizieren ist. Durch seine sedierende Wirkung kann schon mit bloßem Auge Verdacht geschöpft werden, der mit den üblichen technischen Messinstrumenten leicht bestätigt werden kann. 31 Einen Überblick über die Auffassungen bieten die beiden Großkommentare – Leipziger Kommentar und Münchener Kommentar – zum Strafgesetzbuch.
Der kollektive Rausch
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gesellschaftlicher Grundwerte (z. B. Leistung und Fortschritt) an (vgl. Legnaro 1982b: 112). So lässt sich die Härte der Illegalisierung von LSD nicht erklären ohne die Bedenken der US-ameri kanischen Regierung gegenüber der HippieKultur, in der LSD ein wichtiges Element der Selbstinszenierung war. LSD-Konsum war zu jener Zeit immer auch Ausdruck des Protests gegen das herrschende Establishment und dessen Leistungsorientierung. Allem, was den Verlust der rationalen Handlungsfähig keit nach sich zieht, wird mit Misstrauen begegnet. Die Abweichung vom als „normal“ De¿nierten wird sanktioniert und etikettiert, indem dem Abweichler der Besitz der „geistigen Kräfte“ und die Handlungsfähigkeit (im Strafrecht die „Schuldfähigkeit“) abgesprochen werden, während gleichzeitig dem Bewusstsein gesellschaftlich ein hoher Stellenwert eingeräumt wird. Mary Douglas diagnostiziert „daß das Bewußtsein überall dort explizit hoch bewertet wird, wo die Sozialstruktur eine ausgeprägte Kontrolle des körperlichen Verhaltens postuliert. So gelten z. B. Trancen in Sozialsystemen mit starker Kontrolle häu¿g als ausgesprochen gefährliche Zustände“ (Douglas 1998: 113). Umgekehrt gilt, „daß die Trance […] um so eher gebilligt und begrüßt wird, je schwächer die betreffende Gesellschaft strukturiert ist“ (ebd.: 113). Was Douglas hier für Trancen feststellt, möchte ich auch auf den substanzinduzierten Rausch übertragen. Der Rausch trübt den in einem komplexen gesellschaftlichen Gefüge nötigen rationalen Geist (erhöht z. B. Unfallgefahr und Kriminalitätsneigung) und gilt daher als gefährlich. Repressive Gesellschaftsstrukturen und der Glaube an die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Werte erklären die Vorbehalte gegen das Phänomen Rausch jedoch nicht hinreichend, sondern sind nicht zuletzt Ausdruck von tiefer liegenden Zusammenhängen. Psychoanalytische Deutungen – insbesondere der Anschluss an Sigmund Freud und Jacques Lacan – erscheinen mir für die Beantwortung der hier aufgeworfenen Frage als gewinnbringend. Lacan (1996) stellt die Begriffe ‚Lust‘ und ‚Genießen‘ (jouissance) einander gegenüber – in ihnen ¿ ndet sich all die Paradoxie, die sich auch aus dem Eingehen eines Rausches ergibt. Der Terminus Lust verweist auf ein Verbot und ein Entsagen. Die Lust ist das regulierte Begehren, die eingeschränkte Begierde und beruht auf dem Lustprinzip, das Freud 1911 als Begriff einführt und dem Realitätsprinzip gegenüberstellt (vgl. Roudinesco/Plon 2004: 635). Das Verbot des Begehrten verschafft jenem erst den eigentlichen Wert – hier schließt Lacan an Freud an. Das Genießen (jouissance) hingegen steht bei Lacan für eine unmittelbare Befriedigung vor allem sexueller Bedürfnisse. Es zähle zu einer idiotischen, stumpfsinnigen Form der Befriedigung, weil es sich – als Element aus dem Bereich des Realen – jedem Sinn entziehe und sich über das (symbolische) Verbot hinwegsetze. Es ist mit dem Wiederholungszwang verbunden (vgl. Lacan 1996: 268). Die kurze, ungehemmte Befriedigung ist jedoch paradox, weil
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Rausch
das Hinwegsetzen über das Verbot alsbald keine Lust mehr verschaffen wird – es verliert seinen Reiz. Den Genuss bringt Lacan auch in Verbindung mit dem Todestrieb (vgl. Lacan 1996: 250) und damit der Destruktion (vgl. ebd.: 253). Gerade der Todestrieb und der Hang zur Selbstdestruktion sind Gründe für ein tiefes Misstrauen Freuds gegenüber einem der Zehn Gebote. Lacan führt diesen Punkt unter dem Namen „Paradox des Genießens“ ein (vgl. ebd.: 232 ff.) und expliziert dieses mit Hilfe des Schauderns Freuds gegenüber dem Gebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Dieses religiöse Gesetz erscheint Freud als unmenschlich. Sein Unbehagen ist auch für Lacan verständlich, denn dieses Zurückweichen vor dem Gebot ist dasselbe wie die Schranke vor dem Genuss. Andererseits sucht jeder Mensch nach Glück. Was uns als Paradox erscheint, verweist auf eine unbewusste Aggressivität. „Ich weiche davor zurück, meinen Nächsten wie mich selbst zu lieben, weil an diesem Horizont etwas ist, das an ich weiß nicht was für einer unerträglichen Grausamkeit partizipiert. In diesem Sinn kann die Nächstenliebe der grausamste Weg sein“ (ebd.: 235).
Der Genuss der Überschreitung (wobei Lacan hier an Bataille anknüpft) ist einerseits selbstzerstörerisch. Der Destruktionswille ist andererseits aber auch „[e]in Wille, aufs Neue wieder anzufangen“ (ebd.: 256), womit Lacan – wie Freud auch – die Sublimierung bezüglich des Todestriebes zu entfalten ansetzt (vgl. ebd.: 258). Die Sublimierung als die Aufwertung des Triebes, etwa durch Kunst oder Wissenschaft, ist die einzige akzeptierte Möglichkeit der Triebbefriedigung (vgl. ebd.: 349). Wenn der Künstler dem verbotenen Begehren eine schöne Form gibt, so sublimiert er u. a. sexuelle Triebimpulse in eine ak zeptierte Gestalt. Der Genuss in seinen sublimierten Ausprägungen ist dabei an ökonomische Voraussetzungen gebunden – das Genießen muss man sich leisten können, und das Potenzial für legitime Formen der Triebbefriedung ist sozial ungleich verteilt. Auch der Rausch und insbesondere substanzgebundene Rauschzustände haben mit Lust, Begehren und Genießen zu tun: Der Rausch wird von Tabus erfasst, die eine Einschränkung der Begierde und damit die Lust an ihm ausmachen. Die Tabus richten sich dabei vor allem gegen die „Drogen“, von denen auf der einen Seite eine Berührungslust (Trieb), auf der anderen Seite ein Berührungsverbot (Tabu) ausgeht (vgl. Freud 1986: 44). Lorenz Böllinger vertritt die These von der Verknüpfung des Rauschgifttabus mit dem biblischen Mythos vom Sündenfall (vgl. 2002: 63). Der tabuisierte Apfel ist das Symbol des Genusses, und durch seine Verbindung mit dem Sexuellen ist das Rauschgifttabu zugleich mit dem Sexualtabu verknüpft. Die Angst vor „Drogen“ ist aus psychoanalytischer Sicht auch die
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Angst vor Kontrollverlust, Aggressionsdurchbruch und Wahnsinn (vgl. Böllinger 2002: 64). Die psychoaktiven Substanzen werden zu Symbolen für Gesellschaftsgefährdung, die sich aus dem Rausch zu ergeben scheint. So stellt auch Douglas im Zusammenhang mit ihren Ritualstudien fest: „In einer wesentlich tieferliegenden Schicht wird die soziale Erfahrung des ‚aus den Fugen Geratens‘, der tiefgreifenden Unordnung in der Gesellschaft, durch extrem wirkungskräftige Symbole für ‚Unrein heit‘ und ‚Gefahr‘ zum Ausdruck gebracht“ (1998: 121). Eine Sublimierung von Rauschgenüssen kann über die Verbindung mit Luxus und Noblesse funktionieren (Weinprobe oder Champagner). Eine Aufwertung des Strebens nach Rauschgenüssen nimmt in gewisser Weise auch der Schweizer Psychoanalytiker Mario Erdheim vor, wenn er die Grenzüberschreitung im Rausch mit Omnipotenz phantasien verknüpft (siehe auch Kap. 3.1.1). Mit dem Omnipotenzglauben verbindet sich ein kreatives Poten zial. „Das Omnipotenzgefühl ebenso wie die Omnipotenzphantasie sind wichtige Faktoren dafür, dass die Welt als durch den Menschen veränderbar erscheint“ (Erdheim 2002: 124; vgl. auch Erdheim 2010). Diese Phantasie ermutigt den Menschen, Dinge zu wagen, die anderen unmöglich erscheinen.
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Rauschhafte Vergemeinschaftung
Das vierte Kapitel definiert den Begriff ‚rauschhafte Vergemeinschaftung‘, um an schließend diese Form von Sozialität im Kontext von Raum, Zeit und Körper zu beleuchten. Auf der Dimension Körper liegt dabei besonderes Gewicht. Unter Rückgriff auf ritualtheoretische Überlegungen von Victor Turner, auf gesellschaftsdiagnostische Ideen Michel Maffesolis, auf Émile Durkheims Religionssoziologie und auf anthropologische Arbeiten (unter anderem Helmuth Plessners) werden rauschhafte Vergemeinschaftungen hinsichtlich ihrer Beziehungsqualität und ihrer sozialintegrativen Kraft untersucht. Die theoretischen ReÀexionen fundieren einerseits die beiden Vermutungen und schlagen andererseits ein allgemeines Werkzeug zur Analyse rauschhafter Vergemeinschaftungen vor. 4.1
Rauschhafte Vergemeinschaftung – Begriffsbestimmung
Der im Mittelpunkt dieser Arbeit stehende Modus von Sozialbeziehungen soll mit dem Begriff ‚rauschhafte Vergemeinschaftung‘ konkretisiert werden, weil sich in ihm die Strukturelemente von Vergemeinschaftung (vgl. Kap. 2.1) und die Charakteristika des Rauschhaften (vgl. 3.1.1) vereinen. Diese diffuse, Àüchtige und außeralltägliche Variante von Sozialität wird wie folgt de¿niert: Rauschhafte Vergemeinschaftungen sind ritualisierte und auf Freiwilligkeit beruhende Gesellungsformen, die (1) körperliche Kopräsenz mit (thematisch) fokussierten Interaktionen, (2) ein Zusammengehörigkeitsgefühl bei den Gruppenmitgliedern im Sinne einer durch das Individuum bestimmten emotionalen Zugehörigkeit, (3) eine deutliche Veränderung des sozialen Handelns in Bezug auf Emotionskontrolle und Konventionen sowie (4) eine kurzzeitig veränder te Wahrnehmung hinsichtlich Raum-Zeit-Bezügen und/oder Körpererfahrungen voraussetzen. Der Körper wird zum wesentlichen Medium und Element der für rauschhafte Vergemeinschaftungen typischen performativen Praktiken, indem er durch wechselseitige Verhaltensorientierung Teil von Interaktionsritualen wird und indem geteilte, partiell überschäu mende Emotionen sowie die gemeinsame Erfahrung der Berauschung die Gruppenkohäsion verstärken. Veränderte sinnliche WahrY. Niekrenz, Rauschhafte Vergemeinschaftungen, DOI 10.1007/978-3-531-93086-2_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Rauschhafte Vergemeinschaftung
nehmung sowie rituelle Praktiken können Emotionen (insbesondere das Zugehörigkeitsgefühl) ebenso intensivieren wie die (konstruierte) Aversion gegenüber einem (meist abstrakten) Dritten. Nicht nur die Grenzen in eine andere Wirklichkeit werden überschritten, sondern auch soziale Normen können kurzzeitig außer Kraft gesetzt sein. Rauschhafte Vergemeinschaftungen sind als situative Sozialbeziehungen auf ein enges Zeitfenster begrenzt und werden bestimmt durch pharmakologisch und/oder psychologisch herbeigeführte Rauschzustände. Rauschhafte Vergemeinschaf tungen resultieren aus dem Wunsch, außeralltägliche Erlebnisse und intensive Gefühle miteinander zu teilen, und bestehen nur durch den Glauben an ihre Existenz. Die vier Hauptmerkmale der einführenden Begriffsbestimmung bedürfen der genaueren Betrachtung mithilfe einer Fokussierung auf die drei Dimensionen Raum, Zeit und Körper, die als Triade die elementaren Bedingungen für das Zustandekommen rauschhafter Vergemeinschaftungen ausmachen. Der Körper ist dabei das zentrale Element, das in seiner Materialität der rauschhaften Vergemeinschaftung Ausdruck verleiht. 4.2
Rauschhafte Vergemeinschaftung – Dimensionen
4.2.1
Rauschhafte Vergemeinschaftung und Raum
Die Orte, an denen Menschen sich rauschhaft vergemeinschaften, sind in der Regel öffentliche Räume, die frei zugänglich sind bzw. durch das Entrichten einer Eintrittsgebühr von den Zahlungsbereiten und -fähigen okkupiert werden können. Zum Teil sind die Lokationen auch nur einer ausgewählten Gruppe bekannt (z. B. Szenemitglieder und -kundige) oder werden über semiöffentliche Kanäle bekannt gegeben (z. B. Internet-Foren). Die Anlässe müssen stets den Charakter des ausgelassen Festlichen tragen, also Sinn aufheben und nicht Sinn zuschreiben. Ihnen sind viele Eigenschaften des Events gemein: Sie sind planmäßig erzeugte Ereignisse, deren Ziel das Erreichen einzigartiger Erlebnisse, die Durchbrechung der Routinen des Alltags und das Entstehen eines die Teilnehmer umfassenden WirGefühls ist (vgl. Hitzler 2008: 63; vgl. Gebhardt 2000: 19 ff.). Die Fest plätze sind in der Regel für den vorübergehenden Ausbruch aus der Welt des Alltäglichen vorgesehen und entsprechend präpariert – durch Absperrungen, Getränkestände, Dekorationen, Musikanlagen etc. Charakteristisch ist die besondere Eignung hinsichtlich eines rauschhaften Erlebens: Mittels technisch-apparativer Reizquellen, einer durch räumliche Begrenzung erzeugten unmittelbaren Nähe zu anderen Menschen und der deutlichen Markierung als Ort des Außergewöhnlichen werden profan-transzendente Erlebnisse evoziert, die sich mit Anderen teilen lassen. Der
Rauschhafte Vergemeinschaftung – Dimensionen
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Raum wird vorübergehend zum Bestandteil einer anderen Wirklichkeit, nimmt eine andere Qualität an und verliert zugleich ein Stück seiner Verlässlichkeit als Orientierungsrahmen. Wenngleich der Raum für rauschhafte Vergemeinschaftungen über diverse Markierungen begrenzt werden kann, wird er nicht als Container gedacht. Raumgrenzen werden durch die Individuen selbst hergestellt. Sie verlaufen zwischen denen, die der Klangteppich einfängt, die wummernde Bässe im Brustkorb spüren, die sich dem treibenden Rhythmus gemeinsamer Bewegungen hingeben, die von der Lichtanlage illuminiert oder vom Kunst nebel eingehüllt sind und denen, die durch all das nicht erfasst sind. Diese Erfasstheit ist sowohl relational als auch emotional zu verstehen. Der Raum wird erobert, (um-)gestaltet und zur Partyzone erklärt. Was eben noch ParkÀäche oder Acker, Hauptverkehrsstraße oder Schlendermeile war, wird vorübergehend verwandelt in eine Parallelwelt des Außergewöhnlichen. Die Raumgren zen der rauschhaften Vergemeinschaftungen verlaufen dabei dynamisch und nicht zwingend entlang der Absperrungen, Bordsteine oder Hallenwände. Jene der Orientierung dienenden Markierungen enthalten die Hinweise auf eine Legitimierung der Ausnahme und relativieren zugleich den subversiven Charakter des „beschränkten Chaos“. Bei Interaktionen mit efferveszentem Charakter verschmelzen Zeit, Raum und Individuum, und auch die Geschichtlichkeit eines Ortes verbindet sich während der Begeg nungen mit vielen Anderen mit der individuellen Geschichte – „time crystallized in space“ (Maffesoli 1996: 123). Durch diese Umschreibung präzisiert Maffesoli den Begriff „Proxemik“, der auf die Verbindungen der Gemeinschaft mit Zeit und Raum verweist. Dabei spielt die körperliche Nähe eine entscheidende Rolle. Die räumliche Begrenzung des Platzes erzeugt eine unmittelbare Nähe zu vielen Körpern: Jeder sieht sich selbst in Relation zu einer unübersichtlichen Zahl von Anderen, die auch da(bei) sind. Ein bedeutsamer Katalysator für die „Einleibung“ – das AuÀösen des individuellen Leibes bei gleichzeitigem Aufgehen in einem kollektiven Körper (vgl. Schmitz 1985: 86 f.) – ist die unmittelbare Nähe zu Anderen. Die Zugehörigkeit, das Ausprägen eines Wir-Gefühls und der Glaube an die Existenz einer Gemeinschaft sind an das Vor-Ort-Sein und das In-die-Masse-Tauchen gebunden. Im Rausch verändert sich die Wahrnehmung des Raumes: Physikalische Gesetzmäßigkeiten scheinen außer Kraft gesetzt, die Lage-Relationen zu den anderen Individuen sind rational nicht mehr zu fassen, verschwimmen ebenso wie der Raum selbst und die Orientierung in ihm. Das gewohnte Raumgefühl ist vorübergehend suspendiert. Das heißt, das übliche Gefühl für Ähnlichkeiten, das aus einer Regelmäßigkeit in der Abfolge von Phänomenen entsteht (vgl. Durkheim 1994: 589), verliert sich. In rauschhaften Vergemeinschaftungen wird die veränderte individuelle Wahrneh mung im Kollektiv aufgefangen und erlebt, und der gemeinsame Rausch in der (M)Enge
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Rauschhafte Vergemeinschaftung
erzeugt dabei eine besondere Intimität und emotionale Bindung. Durch die starke Annäherung werden die gemeinsamen Gefühle intensiviert (vgl. ebd.: 571). Je größer die Fremdheit unter den Beteiligten ist, desto schneller schwinden Peinlichkeitsschwellen (vgl. Gebhardt 2008: 209), desto eher sind Grenzen hinsichtlich sozialer Konventionen aufgelöst oder übertreten. Enge kann Nähe erzeugen. Die an den Orten der rauschhaften Vergemeinschaftung zur Verfügung gestellten und konsumierten Impulsmedien sind typischerweise Musik, Alkohol und Tabak, die als Stimulanzien des Rausches, der Ekstasen, der Orgie gelten können, auf die Max Weber bereits in seiner Religionssoziologie im Zusammenhang mit sakralen Erfahrungen verweist (vgl. Weber 1980: 246; vgl. Keller 2008: 97 f.). Der Musik kommt eine besondere Bedeutung bei der Raumkonstruktion zu: Ihre Schallwellen formen die Ausdehnung des betreffenden Raumes mit, locken, bieten Orientierung, ermöglichen und begrenzen Interaktion. Zugleich ist der Klang ein Àüchtiges Medium und deutet damit auch auf die Verfasstheit der rauschhaften Vergemeinschaftung. Ein transportables Inventar in Form von Bierzelten, Biertischen, Bierbänken, Bierwagen, Absperrgittern, Aufstellern, Planen, Miettoilet ten usw. gestaltet und dominiert den Festbereich und verweist ebenso auf den Charakter des Vorübergehenden. Nichts ist hier auf Dauer angelegt. 4.2.2
Rauschhafte Vergemeinschaftung und Zeit
Eine grundlegende Bedingung der Möglichkeit rauschhafter Vergemeinschaftungen ist neben dem gemeinsamen Raum auch die Zeit. Gleichzeitigkeit wird – Mead zufolge – hergestellt durch physische Anwesenheit und die Orientierung am selben Zeitsystem (vgl. Mead 1969: 80 f., vgl. Kap. 2.2.2). Die Kategorie Zeit gibt uns Orientierung in der Dauer und ist die der Menge gemeinsame, die soziale Zeit (vgl. Durkheim 1994: 29). Rauschhafte Vergemeinschaftungen ¿nden aus der Perspektive der Alltagszeit (vgl. Schütz/Luckmann 1991: 87 ff.), also der zyklischen Zeitauffassung, vor allem in der Freizeit statt. Die Freizeit ist ein Abschnitt der Freiheit von vielfältigen institutionellen VerpÀichtungen und geregelten (Fabrik-, Schul- und Büro-)Zeiten. Zugleich bedeutet die Freizeit auch eine Freiheit zum Betreten anderer symbolischer Welten der Unterhaltung und zur Transzendierung sozialstruktureller Grenzen. Das Ludische und Experimentelle werden hier vordergründig (vgl. Turner 1995: 55). Die lineare Auffassung in der Betrachtungsweise der Zeit als Lebenszeit ist dennoch für diese Überlegungen gegenüber der zyklischen Sichtweise relevanter, weil im ekstatischen Erleben gerade die Kontinuierlichkeit des täglich Wiederkehrenden aufgebrochen wird. Aufgrund außergewöhnlicher Ereignisse kann also das Zeitbewusstsein wechseln. Dann gibt es keine Routinen, sondern eine
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Perspektivenänderung hin zur Weltzeit wird angestoßen (vgl. Schütz/Luckmann 1991: 124). Dieses außergewöhnliche Zeitgefühl ist linear und verweist auch auf die Endlichkeit des Lebens und auf den Imperativ, den Moment, das Hier und Jetzt zu genießen. Das von Michel Maffesoli beschriebene orgiastische Lebensgefühl, das sich in Festen, Belustigungen und auch im Spiel zeigen kann, zielt auf den Tod und impliziert die Angst vor der vergehenden Zeit. „In der Ritualisierung des Festes geben Tod und Leben ihre Doppelwertigkeit und Komplementarität zu erkennen“ (Maffesoli 1986: 88) und entfalten die Dialektik von Ordnung und Chaos. Wenn auch das Individuum sterben muss, so lebt das Ganze weiter, denn der Rhythmus der Zeit lässt das Fest zyklisch wiederkehren und erzeugt so eine beruhigende Ordnung. „Diese Dialektik kann man […] auch im Karneval entdecken. Auch hier, wo sich der Lebenswillen des Volkes aufspeichert, wird das endlose Spiel von Leben und Tod wiederholt“ (Maffesoli 1986: 89). Martin Heidegger hat auf die Tragik des „Seins zum Tode“ hingewiesen und den alltäglichen Umgang mit der Tatsache, dass „man stirbt“ beschrieben (vgl. Heidegger 1986 [1927]: 252 ff.). Dass der Mensch stirbt, dass sein eigenes Leben endet, wird ihm nur in wenigen Momenten bewusst – und in diesen wird sein Leben exzessiv. Die Orgie sei, so Maffesoli, der kollektiv gelebte Tod (Maffesoli 1986: 97).32 Die Vergangenheit ist in der Orgie für die Zeit ihrer Dauer negiert, aufgehoben oder beseitigt, die Zukunft aber hat noch nicht begonnen (vgl. Turner 1995: 69). Diese Vereinfachung wird erreicht, indem alles für die Situation Irrelevante ausgeschlossen wird. Die herrschenden Bedingungen sind auch dadurch simpli¿ziert, dass sich die Anzahl an Verhaltensnormen ver ringert oder zumindest Standards als weniger komplex erscheinen. Die rauschhafte Vergemeinschaftung ist zeitlich begrenzt, das heißt, diese Form der Sozialbeziehung ist endlich, und sie neigt deshalb zu einer Intensivierung des (Er-)Lebens der Gegenwart: „Die temporale Begrenzung wird durch Intensivierung kompensiert“ (Prisching 2008: 38). Durch pharmakologisch oder psychologisch ausgelöste Räusche kann die ausschließliche Konzentration auf das Situationsrelevante unterstützt werden. Die Aufmerksamkeit wird auf ein begrenztes Reizfeld gebündelt, wodurch die Sinneseindrücke verstärkt oder verändert erscheinen. Die rauschhafte Vergemeinschaftung geht mit einer Befreiung vom Rhythmus des Alltags einher, wodurch ein individuelles Zeitbewusstsein dominiert, das ohne die Gesetze der Zeit messung auskommt. Im außergewöhnlichen Bewusstseinszustand bestimmt die individuelle Biologie des Körpers die Zeitwahrneh32 Maffesoli weist auch darauf hin, dass der Tod auf mystische Weise eng verbunden ist mit der Sexualität, weil „dem Orgasmus und der Ekstase ein Gefühl der Ewigkeit innewohnen. Und wenn der Sexualakt ein ‚kleiner Tod‘ ist, dann gilt das für das Individuum; einer Ganzheit (einem Paar, einer Gruppe) gegenüber aber bedeutet er eine Bereicherung des Lebens, ihr verhilft er zum Entstehen“ (Maffesoli 1986: 91).
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mung – dies ist ein verbindendes Element zwischen den Mitgliedern der Àuiden Gesellungsform. Sie sind vereint im Jetzt und auch in dem tragischen Wissen, dass alles endlich ist: die ekstatische Ausgelassenheit, das gerade empfundene Wir ebenso wie das Leben selbst. Die empfundene Verbundenheit im Wir drückt sich nicht nur als Emotion, sondern oftmals auch als deutlich sichtbares, an einem außergewöhnlichen Normengefüge orientiertes soziales Handeln aus, das an die anderen Teilzeit-Mitglieder gerichtet ist. Ist die Zeit des Außeralltäglichen abgelaufen, so ist die Rückkehr in das gewöhnliche Zeit- und Normengefüge zwingend. Nichtkonformität wird dort wieder sanktioniert (vgl. ebd.: 49); von der Vergemeinschaftung bleibt nichts mehr übrig als vage, aber euphorische Eindrücke und manchmal der üble Nachgeschmack eines „Katzenjammers“. „Menschen, die sich noch vor Stunden – auch physisch – sehr nahe waren, begegnen sich nun wieder distanziert als Fremde. Zurück bleibt die Erin nerung an eingroßartiges [sic !] Gemeinschaftserlebnis, von dem man noch den Enkelkindern erzählen kann“ (Gebhardt 2008: 204). Das intensive Erlebnis von Gemeinschaft kann als Erinnerung auch später noch abgerufen werden. Es hat sich in das kollektive Gedächtnis (vgl. Halbwachs 2006 [1992]) der einzelnen Kurzzeitmitglieder einer rauschhaften Vergemeinschaftung gefräst und kann durch das Transzendieren der Jetzt-Zeit wieder wachgerufen werden. Ein Rausch erzeugendes oder verstärkendes Element kann die Gleichzeitigkeit sein: Dabei ist vor allem das synchrone Aufführen von Ritualen und performativen Praktiken gemeint. Durch gleichzeitig massenhaft bewegte Körper – und dabei reicht gemeinsames Applaudieren – wird die Kraft der Vergemeinschaftung, deren Außeralltäglichkeit sowie die Besonderheit der Möglichkeit, dass sich so viele „Gleichgesinnte“ von der elektrisierten Atmosphäre tragen lassen, spürbar. In einer Gegenwart, die asynchrone Kommunikation mehr und mehr ermöglicht, werden Synchronismus voraussetzende Begegnungen (encounters, vgl. Goffman 1961) und Face-to-Face-Interaktionen unwahrscheinlicher und können daher von einer Aura des Besonderen umgeben sein. Die Bedeutung der Dimension Zeit für rauschhafte Vergemeinschaftungen bringt auch die Frage nach der Geschichtlichkeit dieses Phänomens auf den Plan. Rauschhafte Vergemeinschaftungen stellen kein neues Phänomen dar, werden aber durch eine umfassende kommerzielle Angebotsstruktur in Form von „Events“ permanent, massenhaft und immer ausdifferenzierter geplant und verfügbar gemacht (vgl. Knoblauch 2000: 49). Der Karneval beispielsweise hat eine Tradition, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Heute bietet er – eingebunden in ein System aus Kommerz, Politik, Medien, Vereinsstrukturen und Unterhaltung – mit seinen alljährlich statt¿ndenden großen Festumzügen zyklisch wiederkehrend Gelegenheiten für rauschhafte Vergemeinschaftungen.
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Bedingt durch den theoretischen Rückgriff auf Victor Turner, der sich wiederum der „Übergangsriten“ (rites de passage) von Arnold van Gennep bedient, müssen rauschhafte Vergemeinschaftungen unter Berücksichtigung der Zeit schließlich auch als Phase verstanden werden. Sie sind Phasen, die in und außerhalb der weltlichen Sozialstruktur ablaufen und von Turner als „Schwellenphasen“ (Turner 2005 [engl. 1969]: 96) bezeichnet werden. Die Communitas als eines der beiden Hauptmodelle von Sozialbeziehungen ist unstrukturiert und steht in einer dialektischen Beziehung zur Struktur. Jedes Individuum, so Turner, werde im Laufe seines Lebens abwechselnd mit Struktur und Communitas, Zuständen und Übergängen konfrontiert (vgl. Turner 2005: 97). Somit gibt die Abfolge von Alltäglichkeit und Außeralltäglichkeit, Ordnung und Chaos, Struktur und Anti-Struktur auch dem individuellen Lebenslauf seinen Rhythmus. Aber auch gesamtgesellschaftlich rhythmisieren rauschhafte Vergemeinschaf tungen, indem sie zyklisch wiederkehren. „Für eine soziologische Analyse scheint mir das Wichtigste zu sein, daß das orgiastische Lebensgefühl aufgrund seiner zyklischen Zeitvorstellung die Initiation (d. h. die Sozialisierung) ermöglicht und elementare Geselligkeit festigt“ (Maffesoli 1986: 123 f.). Der zeitliche Rhythmus von Destruktion und Ordnung verweist auf die Bedeutung rauschhafter Vergemeinschaftung für Prozesse der Vergesellschaftung. 4.2.3
Rauschhafte Vergemeinschaftung und Körper
Um den Konnex zwischen rauschhafter Vergemeinschaftung und Körper aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive anschlussfähig zu erklären, werden Erkenntnisse der Disziplinen Physiologie und Psychologie vermittelnd integriert. Dabei geht es sowohl um den physischen als auch den kommunizierenden, um den gestalteten und den gestaltenden Körper. In der rauschhaften Vergemeinschaftung spürt der Akteur seinen Körper auf eine ungewohnte Weise. Sinnes- und Körperwahrnehmungen sind in der alternierenden Wirklichkeit verändert. Das Individuum ist Plessner folgend ganz Leib und an die Gegenwart gebunden. Es kann die räumliche Begrenzung des eigenen Körpers durch Berührungen mit Anderen spüren und zugleich – innerhalb von Transzendenzerfahrungen – über sich hinausgehen und Körpergrenzen verschwimmen sehen. Die Kopräsenz anderer Akteure kann besonders in gemeinsamen, fokussierten und synchronen Bewegungen zu einem sinnbildlichen Verschmelzen mit den Anderen führen. In dieser wechselseitigen Bezogenheit der Körper aufeinander werden Sozialität und Interaktionsordnungen durch Bewegung hergestellt (vgl. Meuser 2006). „Die Gleichgerichtetheit der Bewegungen und der mit ihnen verknüpften Gedanken und Gefühle schafft dann eine vorüber-
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gehende Verein heitlichung der individuellen Perspektiven: eine soziale Einheit in Zeit und Raum“ (Alkemeyer 2006: 280). Es bildet sich eine leiblich-dialogische Einheit, die ohne Reaktionszeit koagiert (vgl. Schmitz 1985: 86). Dieses Erlebnis kann auch Motiv für das Aufsuchen der Fest-Orte sein: „Die Beteiligten wollen auch die Masse am Leib spüren“ (Gebhardt 2000: 47). Es geht also um zweierlei: zum einen um das Spüren der eigenen körperlichen Verfasstheit und zum anderen um das Spüren der Menge, die die ekstatische Körpererfahrung erst ermöglicht. Die „gezielte Selbsterfahrung der Gemeinschaft“ (ebd.: 48) ist wesentlicher Teil der rausch haften Vergemeinschaftung. Allerdings können die Akteure im gemeinsamen Handlungsvollzug nicht auf alltägliche körperliche Routinen zurückgreifen: Die andere Wirklich keitskonstruktion drückt sich auch in außeralltäglichen Körperpraktiken aus (vgl. Kap. 4.2.3.2). Hermann Schmitz geht es in seiner Phänomenologie der Leiblichkeit vor allem um eigenleibliche Erfahrungen, nicht um Körper-Objekt-Beziehungen. Die lebensweltlichen Erfahrungen des Individuums drücken sich in seinem Spüren aus. Das heißt aber nicht, dass Gefühle als Privatsache begriffen werden müssen. Vielmehr können Regungen wie Angst oder Freude als Atmosphären kollektiv vorkommen (vgl. Schmitz 1985: 76 f.). In seinem Gegensatzpaar von Enge und Weite fasst Schmitz alle leiblichen Gefühle zusam men. Die Weitung überwiegt etwa dann, „wenn es uns weit ums Herz wird, in tiefer Entspannung, bei Freude, die hüpfen läßt, in Stimmungen schwerelosen Schwebens, beim Einschlafen, beim Dösen in der Sonne, in der Wollust und wohligen Müdigkeit“ (ebd.: 82). Die Weitung und auch die Einleibung sind die Grundmodi der rauschhaften Vergemeinschaftung. In der Einleibung überschreitet das leibliche Be¿nden den eigenen Leib. Es bilden sich übergreifende Ad-hoc-Leiber, die in ausgelassenen, geselligen, gemeinsamen Atmosphären typischerweise und wechselseitig vorkommen. Die Anderen sind am eigenen Leib spürbar und hinterlassen Eindrücke von mehr oder weniger starker Intensität und Dauer. Die somatische Erfahrung in der rauschhaften Vergemeinschaftung kommt ohne Sprache aus und ist dennoch eine kulturell überformte Art des ‚Berührtwerdens‘ (vgl. Alkemeyer 2006: 278). Besonders für das Fremdverstehen besitzt der Körper einen wichtigen Stellenwert: Der Akteur versteht den Körper des Anderen als Ausdrucksfeld für dessen Erlebnisse (vgl. Meuser 2006: 99). Somit werden die Körper zu einer wichtigen Quelle von Erkenntnis und zu einer Basis für Interaktion. Mithilfe seines körperlich-sinnlichen Sensoriums tritt der Mensch in leibliche Interaktion mit anderen (vgl. Abraham 2002: 184 ff.), sodass ein Verstehen des Anderen auch auf leiblichem Weg ermöglicht wird. Das ist gerade dann von entscheidender Bedeutung, wenn Sprache als Mittel der Verständigung ausscheiden muss. Rauschhafte Vergemeinschaftungen ¿nden zumeist in Begleitung eines durch Musik und Stimmengewirr erzeugten Geräuschpegels statt, der das Reden unmöglich oder
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sehr beschwerlich macht. Der Körper wird dann auch zum Ausdrucksmittel für nonverbale Zeichen und fordert einen Kom munikationsmodus heraus, der grundsätzlich an Körper gebunden ist. Für die Handlungen in der rauschhaften Vergemeinschaftung ist häu¿g der Verlust der Intentionalität zu konstatieren, sodass sie als passive Intentionalität zu bezeichnen sind. Damit sind Handlungsweisen gemeint, „in denen der Körper intentional freigesetzt, losgelassen, nicht kontrolliert werden soll“ (Joas 1996 [1992]: 248). Der Verlust der Intentionalität bedeutet keine grundsätzliche Einbuße rationaler Handlungsfähigkeit, sondern das Phänomen, dass der Körper andere Intentionen verrät als gern mitgeteilt worden wären (vgl. ebd.). Das Konzept des situativen Verlusts der Intentionalität liegt auch Helmuth Plessners „Lachen und Weinen“ zugrunde, denn hier geht die Herrschaft über den Körper plötzlich verloren (vgl. Plessner 1970: 31). Ein solcher Kontrollverlust ist auch für den Rausch typisch; allerdings begreift Plessner diese Form der Unbeherrschtheit als eine „Zerstörung“ der Einheit zwischen der Person und dem körperlichen Geschehen.33 Der Mensch wird im Zustand des Rausches von seiner physischen Existenz geschüttelt, sie überwältigt ihn und macht mit ihm, was sie will. Dieser Verlust der Beherrschung bringt die Leib-Seele-Einheit durcheinander – ebenso wie beim Lachen und Weinen. „Geöffnetheit, Unvermitteltheit, Eruptivität charakterisieren das Lachen […]. Der Lachende ist zur Welt geöffnet. Im Bewußtsein seiner Abgehobenheit und Entbundenheit, das sich häu¿g mit einem Gefühl der Überlegenheit verbinden kann, sucht sich der Mensch mit anderen eins zu wissen. Volle Entfaltung des Lachens gedeiht nur in Gemeinschaft mit Mitlachenden“ (Plessner 1970: 157).
Die Suche nach der Gemeinschaft im Lachen ist damit zu begründen, dass der Anlass des Lachens durch andere bestätigt werden muss und dadurch an Kraft gewinnt. Eruptive Ausdrucksformen sind aufgrund veränderter Reiz- und Sinneserfahrungen typisch für Rauschzustände und entfalten eine vergemeinschaftende Kraft in der Menschengruppe. Im Folgenden wird der Körper als Basiskategorie rauschhafter Vergemeinschaftungen näher betrachtet. Dabei wird (1) der durch Symbolik gestaltete Körper ebenso wie (2) der in Ritualen gestaltende Körper unter die Lupe genommen. Da dem Gesang in der rausch haften Vergemeinschaftung eine besondere Be33 Im Lachen und Weinen „emanzipiert“ sich der Körper lediglich von der Person (vgl. Plessner 1970: 43). Plessner geht dabei von der Doppelrolle des Menschen aus, die er als Trennung von Körper und Person begreift und durch die der Mensch immer zugleich Leib ist und diesen Leib als seinen Körper hat (vgl. ebd.).
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deutung für die Interaktionen zukommt, wird (3) die Stimme als gestaltendes Medium von Liedern und Sprechweisen gesondert verhandelt. (4) Die Emotionen sind sowohl dem gestalteten als auch dem gestaltenden Körper zuzuordnen und sind in ihrer besonderen Intensität wesentliche Bedingung für rauschhafte Vergemeinschaftungen. 4.2.3.1 Gestaltung der Körper: Kostüme, Kleidercodes und Kinkerlitzchen Dem Körper als Objekt ist in der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung eine große Auf merksamkeit zuteil geworden.34 Er wird als kulturell geformt und als Zeichenträger betrachtet, der Auskunft über das Individuum und seine sozialen Zugehörigkeiten und Abgrenzungen gibt. Die Bekleidung des Körpers als dessen zweite Haut ist wesentliches Ausdrucksmittel und komplexes Kommunikationsmedium. Der Schutz des Körpers vor Witterung und anderen UmwelteinÀüssen ist dabei sekundär geworden. Vielmehr soll Kleidung den Körper schmücken und ihm Ausdruck verleihen. Mode ist „ein universales kulturelles Gestaltungsprinzip, das nicht nur den Körper des Menschen im ganzen, sondern auch seine sämtlichen Äußerungsweisen zu ergreifen und umzugestalten vermag“ (König 1971: 25). Die Kleidung eines Individuums ist immer auch ein Hinweis auf seine soziale Rolle und fungiert daher als ein wichtiger Wirkfaktor bei der Etablierung und Stabilisierung seiner Identität (vgl. Fischer-Lichte 1998 [1983]: 122). Die Garderobe wird zum Medium, deren Symbolik „durch die sprachlich und schriftlich formulierte vestimentäre Semantik konstituiert“ (Bohn 2000: 120) wird. Die Anlässe für rauschhafte Vergemeinschaftungen fordern bisweilen eine „Kostümierung“ heraus oder verlangen zumindest eine deutliche Entbindung von Kleidernormen, wie sie zum Beispiel im Berufsalltag als gültig feststehen. Damit wird die Aufhebung des Alltags auch durch Kleidung symbolisiert. Um die Funktionen der Verkleidung konkretisieren zu können, werden zunächst die symbolischen Funktionen von Kleidung genauer beschrieben. Kleidung denotiert die soziale Kategorie Geschlecht. In fast allen Kulturen ist die Kleidung für Männer und Frauen streng unterschiedlich ausgebildet, wenn auch die Unterschiede kulturell je verschieden festgelegt werden. Damit wird deutlich, dass die geschlechtsspezi¿sche Kleidung nicht auf biologisch gegebene Unterschiede zurückzuführen ist, sondern auf kulturell bedingte. In gewisser Weise produziert Kleidung die beiden sozialen Kategorien ‚Mann‘ und ‚Frau‘ erst, und 34 Insbesondere die Jugendsoziologie bearbeitet dieses Thema intensiv; etwa in Szenebeschreibungen (Hitzler/Bucher/Niederbacher 2005) oder mit thematischer Fokussierung auf Jugend und Mode (Baacke et al. 1988; Baacke 2007 [1993]; Gaugele 2003; König 2007 u. a. m.)
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sie werden „von bloß für ‚natürlich‘ gehaltenen Gegebenheiten zu scharf unterschiedenen sozialen Kategorien“ (Bohn 2000: 114). Das Alter ist eine weitere Kategorie, auf die Kleidung verweist. In den meisten Kulturen wird nicht nur zwischen Kleidungsstücken für Kinder und Erwachsene unterschieden, sondern auch Personen hohen Alters können auf eine besondere Kleidung zurückgreifen. „Diese kann sich von der der übrigen Erwachsenen lediglich durch ein spezi¿sches Zubehör unterscheiden oder durch die Reservierung besonderer Farbtöne […], Materialien und Schnittformen“ (Fischer-Lichte 1998: 123). Aufgrund der kulturellen Kleidungsdifferenzen lässt sich auch die regionale Zugehörigkeit, zum Teil auch die Nationalität anhand der Garderobe ausmachen. Wir erkennen den Eskimo, den Beduinen und das Schwarzwald mädchen anhand bestimmter vestimentärer Besonderheiten. Die religiöse Zugehörigkeit kann sich auch anhand der Bekleidung ausdrücken: Die Kutte des christlichen Mönchs unterscheidet sich deutlich von der gelben Kutte des buddhistischen Mönchs. Entscheidend ist auch die Symbolisierung der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht, Klasse oder Kaste durch die Kleidung. Wäh rend in unserer Kultur heute keine strengen Kleiderordnungen mehr gelten, die das Tragen bestimmter Farben, die Breite von Spitzenbordüren am Saum des Gewandes und das Vorrecht auf bestimmte Trachten abhängig von der Standeszugehörigkeit machen (vgl. Weber 1980: 537), ist dennoch der soziale Status (das Prestige) häu¿g anhand bestimmter, oft sehr subtiler Kleidungsmerkmale ablesbar. Kleider schaffen Ordnung und zeigen an, welche soziale Position ein Individuum im sozialen Raum einnimmt (vgl. König 2007). Distanz und Exklusivität werden auch nach der Überholtheit von Trachten im engen Sinn doch noch deutlich über Kleidung hergestellt. Eine nach wie vor sehr verbreitete Funktion von Kleidung besteht in der Kennzeichnung von Berufen. Uniformen, Berufs- und Arbeitskleidung erlauben eine treffsichere Identi¿zierung der Berufe der jeweiligen Träger. Schließlich ist auch die Denotation von Anlass und Situation durch Kleidung gegeben. Begräbnisse erfordern eine andere Bekleidung als Hochzeiten, ein Bewerbungsgespräch ein anderes Out¿t als ein Rendezvous, der Besuch im Schwimmbad erzwingt eine andere Montur als der Besuch in der Kirche. In unserer alltäglichen Interaktion können Kleidersymbole Interpretationshilfen bieten und die Situationsde¿nition mitbestimmen. Damit entscheiden sie über unsere Erwartungen an das Handeln, werden also zur Handlungsgrundlage und können, wenn sie korrekt entschlüsselt werden, zum Gelingen der Kom munikation beitragen (vgl. Niekrenz 2007: 258). Die Verkleidung mittels eines Konstüms ist eine Möglichkeit, mit der Kleidersprache und den durch Kleidung zugeschriebenen Bedeutungen zu spielen. Nur weil im Alltag Kleider regeln existieren, kann die Verkleidung dagegen überhaupt verstoßen. Als die ord nenden Pole der Kleidersprache (wenn Kleidung als Zeichensystem verstanden wird) sind die überlieferten Regeln des Kleidungsverhal-
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tens auf der einen Seite und die „rauschhafte Befreiung“ (Hoff mann 1985: 19) von den Normen auf der anderen Seite zu nennen. An Karneval sind die vestimentären Regeln vorübergehend außer Kraft gesetzt, was eine Entlastung vom alltäglichen Kleiderzwang bedeutet. Was als „Kostüm“ gilt und was als „Bekleidung“ bezeichnet wird, ist von der kulturellen Interpretation abhängig. So ist ein Kimono in Japan ein Teil der Tracht, in Europa kann er jedoch als Kostüm gelten. Die psychedelisch gemusterte Schlaghose aus den 1970er-Jahren kann heute als Kostümierung dienen, während sie in ihrer Entstehungszeit als modern und alltagstauglich galt. Kostüme ermöglichen, die Kleidung des anderen Geschlechts zu tragen und auszuprobieren, wie sich Frauenkleider für einen Mann und wie sich Männerkleider für eine Frau anfühlen. Sie setzen Altersnormen außer Kraft und erlauben Erwachsenen das Tragen von (überdimensionalen) Strampelanzügen bzw. jungen Menschen das Tragen von Kleidung, die konventionell für ältere Personen vorgesehen ist. Das Tragen von Trachten aus einem fremden Herkunftsgebiet ist ebenso denkbar wie religiöse Kleidung, die nicht zum alltäglichen Kleidungsrepertoire einer Person zählt. Statushöhere oder -niedrigere Kluft wird ebenso möglich wie das Ausprobieren von Kleidung, die einem der eigenen Alltagspraxis ganz fernen Beruf zugeordnet ist. Auch das Kostüm von Popkünstlern und Prominenten kann den Einzelnen zum „Star“ auf Zeit machen. Das Fremde kann dem Anlass entsprechend durch ein Kostüm vorübergehend und sanktionsfrei ausprobiert und angeeignet werden. Bei der Betrachtung von Kostümen spielt neben der semiotischen Frage nach den Dingen, mit denen das Individuum sich verkleidet und für wen diese Dinge ein Zeichen sind, noch die Frage nach der Semantik der vorgeführten Kleidungsstücke eine Rolle. Welche Botschaft könnte das Kostüm haben ? Hier geht es um die Deutung der Selbstdarstellung der Person. Die Kostümrollen, egal ob Clown, Indianer, Teddybär, Haremsdame, Hexe oder Catwoman, lassen sich analytisch und auch unter psychologischen Aspekten, vier Kategorien zuordnen. In seiner Clusteranalyse arbeitet Hans-Joachim Hoffmann (1985: 78 ff.) folgende Kostümgruppen heraus: Männlichkeit und Weiblichkeit, Macht und Unterordnung, Dominanz und Hingabe, Tarnung und Zurschaustellung. Mit Männlichkeit werden beispielsweise die Kostüme Indianer, Matrose oder Tarzan assoziiert; mit Weiblichkeit die Kostüme Bardame, Katze, oder Dompteuse. Zum überwiegenden Teil bevorzugen Männer männliche und Frauen weibliche Kostümrollen, was Hoffmann als Folge der geltenden Normen, als bewusstes Vorführen der eigenen (idealisierten) Geschlechtsrolle bzw. als Abwehr von Missverständnissen (z. B. als narzisstisch, homosexuell oder infantil zu gelten) interpretiert (vgl. ebd.: 79 f.). Die Kostümgruppe „Macht“ stellt uniformierte Überlegenheit zur Schau, etwa in der Form des Husaren, des Napoleon oder des Prinzen, während die Gruppe „Unterordnung“ etwa Rollen wie die Geisha
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oder die Frau im Dirndl zusammenfasst. Der Pol der „Dominanz“ wird etwa im Kostüm des Teufels, der Hexe oder auch der Dompteuse ausgelebt. Das Kostüm ist dabei nicht auf die Inszenierung von Macht aus, sondern auf die Interaktion, nämlich das Einfangen eines persönlichen Opfers, das sich unterwerfen lässt (vgl. ebd.: 84). An der Spitze des Pols „Hingabe“ stehen solche, die artig und brav wirken und ihren Träger in Samt und Spitze zum spielerischen Gebrauch bereitstellen, wie etwa die Puppe, der Page oder das Rotkäppchen. Eine der wichtigsten Kategorien ist die der „Tarnung“, weil sie die deutlichste Verabschiedung von den Alltagsrollen ermöglicht. Verstecken kann man sich und seine Identität hinter Mönch- oder Nonnen-, Hexenkostümen und anderen, möglichst viel verhüllenden Maskeraden. Die Dimension der „Zurschaustellung“ rückt den Maskenträger und seinen Hang zur Spontaneität und Loslösung von Zwängen in den Mittelpunkt. Die Figur des Harlekins bringt diese Tendenz besonders deutlich zum Ausdruck. Die Verhüllung durch ein Kostüm bedeutet oftmals zugleich die Enthüllung von versteckten Wünschen. Aus psychologischer Sicht bedeutet das Verstecken hinter Masken häu¿g auch eine Preisgabe von verborgenen Bereichen des Selbst (vgl. Ebeling 1984: 91). Nicht nur der Karneval ist mit der Kostümierung eng verbunden. Fußballgroßveranstaltungen sind Ereignisse, deren Außeralltäglichkeit mit dem Tragen von Vereins- oder Verbands-Devotionalien verdeutlicht wird. Die Besucher von Rockfestivals kennzeichnet (neben Band-T-Shirts) ein fest um das Handgelenk gezurrtes Bändchen – die Eintrittskarte zum Festivalgelände und zugleich die für die Dauer eines Wochenendes gültige Verbindung zwischen den Teilnehmern einer Rausch- und Wir-Gefühle evozierenden Veranstaltung. Die Emblematik der Kleidung spricht ihre eigene Sprache und wird mit ihren unterschiedlichen Ornamenten und Ausdrucksgestalten zum „Zement, der die Akteure zusammenhält“ (Soeffner 1992: 113). Die – mehr oder weniger – kostümierten Festbegeisterten spielen für eine begrenzte Zeit eine Rolle – die Rolle des Narren, Fußballverrückten oder Rockmusikfans, die beim Essen, Trinken, Tanzen und Jubeln hin und wieder über die Stränge schlagen, mit einer kostümartigen Kleidung sich selbst nicht so ernst nehmen und ungehemmter mit den Anderen interagieren. Die außeralltägliche Kleidung erleichtert die Kontaktaufnahme, sie enthemmt, weil der Träger fernab seiner Alltagsrolle auch nicht alltäglich handeln will. Sie wirkt überdies als verbindendes Element und integriert die Teilzeitmitglieder. Somit kön nen auch winzige Elemente der Kleidung und Accessoires (z. B. Armbänder, Buttons, Schlüsselanhänger) ein Wir-Gefühl erzeugen, weil sie Zugehörigkeit symbolisieren und dabei zugleich integrativ und distinktiv wirken. Auch diese kleinen, manchmal versteckten „Kinkerlitzchen“ sind Hinweise und symbolhafte Beiträge
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zur Vergemeinschaftung, die Gruppenkohäsion verstärken und Distanzen zwischen den Menschen tendenziell auÀösen (vgl. Bachtin 1969: 48). Das Verkleiden ist ein Spiel mit Masken, das in Roger Caillois’ Kategorie der mimicry gehört. Caillois klassi¿ziert Spiele in die vier Gruppen agôn (Wettstreit), alea (Zufalls-/Glücksspiele), mimicry (Maskenspiele) und ilinx (Spiele, bei denen die Teilnehmer Rauschgefühle erleben) (vgl. Caillois 1964: 21 ff.). Die zeitlich begrenzte mimicry ist eine Flucht aus der alltäglichen Welt, ihr Ausgangspunkt ist die Selbstverwandlung. Während der rauschhaf ten Vergemeinschaftung wird die mimicry häu¿g mit dem ilinx gepaart, sodass ein besonderes Spielpaar entsteht. Die Kombination von Maske und Rausch ist vor allem in einfachen Kulturen verbreitet, die Caillois als „Gesellschaften des Tohuwabohu“ (1964: 96) bezeichnet. Die Funktion des Maskenspiels auf der einen Seite liegt darin, „die Gesellschaft aufs neue zu stärken, zu verjüngen und wiederherzustellen“ (ebd.: 97). Die Verstellung kann zur Besessenheit und zum Zustand des ilinx führen. Der Rausch und seine verschwenderische Freigebigkeit verstärken damit auf der anderen Seite das Band des kollektiven Daseins (vgl. ebd.: 99). „Er erscheint als letzte Grundlage einer im übrigen wenig gefestigten Gesellschaft“ (ebd.). Das enthemmende Kostüm und der Rausch integrieren die Jecken nicht nur in die feiernde Gemeinschaft, sondern auch in ein gesellschaftliches Gesamtgefüge (vgl. Niekrenz 2010). „Kostüme und Kinkerlitzchen“ sind spielerische Elemente und unzweifelhaft auch als Teil von performativen Praktiken und als Requisiten zu verstehen, die in ritualisierte Handlungen eingebunden sind. Auf Rituale, mit deren Hilfe die Akteure Situationen gestalten, wird im Folgenden eingegangen. 4.2.3.2 Gestaltung durch Körper: Stammesrituale, Schaugesten und Showtänze In sozialen Interaktionen fungiert unser Körper für uns selbst und für andere als sichtbarer Interpret und Interpretiertes (vgl. Soeffner 1992: 104). Er ist zugleich Objekt und Subjekt, Material und Zeichen der Kommunikation. Kommunikation soll durch die Hilfsmittel Sprache, Gesten und Zeichen helfen, die Distanz zwischen den Individuen zu überwinden. Auch kollektive Verhaltensformen wie Rituale haben diese Funktion und sollen darüber hinaus die gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktion bestätigen, zugleich sichern und formen sie deren Figur (vgl. ebd.: 105). „Rituale sind mimetische Wieder-Holungen der Vergangenheit, sie modi¿zierende Inszenierungen für die Gegenwart, die zu Ausgangspunkten für zukünftige Handlungen werden. In der Aufführung von Ritualen wird Vergangenes in die Gegenwart transformiert und verdichtet“ (Wulf 2005: 106). Im Ritual begegnen sich Körper, Raum und Zeit, um Sozialität sinnlich erfahrbar zu machen.
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Im Alltag werden Interaktionsrituale (z. B. Händeschütteln) zumeist unbewusst genutzt. Ins Bewusstsein geraten sie vor allem dann, wenn es bei außeralltäglichen Ereignissen zur massenhaften und umständlich inszenierten Aufführung derselben kommt. Goffmans Untersuchung der Interaktionsrituale stellt direkte Interaktionen als Grundelemente des menschlichen, situationsgebundenen Verhaltens in den Mittelpunkt (vgl. Goffman 1971a). Gesten, Haltungen, sprachliche Äußerungen spielen für die Analyse ebenso eine Rolle wie Blicke, Mimik und Gestik. Werden Interaktionsrituale gebraucht, so werden damit Möglichkeitsräume für das Entstehen temporärer Interaktionsgemeinschaften geschaffen (vgl. Soeffner 1992: 107). Rauschhafte Vergemeinschaftungen sind ritualisierte Gesellungsfor men, die den Körper des Akteurs umfassend in ihre Aufführungspraxen einbeziehen. Die Vergemeinschaf tung wird dabei wesentlich durch den performativen Charakter von Ritualen erzeugt. „Genau die Gleichartigkeit d[er] Bewegungen gibt der Gruppe ihr Selbstgefühl und ruft es folglich hervor“ (Durkheim 1994: 316). Rituale sind dabei keinesfalls Teil eines komplexen Symbolsystems mit strikten Rollen- und Situationsdifferenzierungen, sondern werden eher diffus benutzt, spontan und ohne Interesse an ritueller Differenzierung oder magischem Gehalt aufgeführt (vgl. Douglas 1998: 112 f.). Sie müssen mühelos nachzuvollziehen sein, sodass sich die Anwesenden in der gemeinsamen Handlung vergemeinschaften können. „Einander nur vorübergehend zu gemeinsamem Handeln und/oder Erleben vereinigende Individuen verleihen hierdurch ihrer Àüchtigen Gemeinsamkeit den Anschein einer relativ stabilen Gemeinschaft“ (Soeff ner 1992: 115). Außeralltägliche Körperpraktiken stellen das Individuum zugleich vor die Aufgabe des Ausgleichs zwischen dem Körper-Sein und Körper-Haben (vgl. Plessner 1970: 46). Die Rituale sind noch nicht „in Fleisch und Blut übergegangen“ und stellen eine Herausforderung für Balance oder Koordination dar. Die körperliche Situation ist dem Individuum gegenständlich und zuständlich bewusst – es erfährt sich als Ding und in einem Ding – und damit wird der Instrumentalcharakter des physischen Daseins als gegeben hingenommen (vgl. ebd.: 47). Außeralltägliche Elemente des Ausdrucks- und Darstellungsrepertoires sind Verhaltensweisen, mit denen die Individuen das als subjektiv erlebte Innere kollektiv nach außen kehren. Die Berührung des eigenen Leibes mit denen der Anderen wird so möglich. Die durch Rituale unterstützte Emp¿ndungsdemonstration soll einerseits die Einzigartigkeit des Einzelnen unterstreichen, während andererseits das Ritual als Ordnungs- und Gestaltungsmuster aus den vielen Einzelnen eine homogene Menge macht. Das Gemeinschaftserlebnis wird vor allem dann intensiviert, wenn Bewegungs- und Haltungstypiken den Kör per umfänglich einbeziehen. Autoren wie Elias Canetti haben auf die vergemeinschaftende Wirkung gemeinsamer Bewegungen hingewiesen (vgl. Canetti 1980: 29 ff.). Dabei ist das
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Wechselspiel zwischen Individualität und Kollektivierung durch die Vereinheitlichung der individuellen Perspektiven beschreibbar, wie es etwa Georg Simmel am Beispiel der Essgebärden während einer gemeinsamen Mahlzeit konkretisiert. Zeit und Raum spielen in seiner „Soziologie der Mahlzeit“ für die Regelmäßigkeit der kollektiv geteilten Speisen eine entscheidende Rolle, weil sie die Voraussetzung für das Entstehen der sozialen Ein heit bilden (vgl. Simmel 1910). Die kollektiven Repräsentationen im Medium der Kör perlichkeit sind im Falle der (zyklisch) wiederholten Aufführung leicht wiedererkennbar und können Gruppenidentität herstellen und bestätigen (vgl. Schmidt 2002: 96). So haben Szenen, tribes und (Sub-) Kulturen ihre jeweils eigenen und unverkennbaren performativen Praktiken. Mit „keeping together in time“ beschreibt der amerikanische Historiker William H. McNeill das Phänomen der Gemeinschaftsbildung durch gemeinsame Bewegung am Beispiel von Marschieren, Tanz und Drill. Das „Takt halten“ und „in der Zeit bleiben“ erzeugt unabhängig vom Anlass ein intensives Wohlgefühl, das in seiner rauschhaften Euphorie ansteckt und alle Beteiligten zu vereinen vermag (vgl. McNeill 1995). Diese Vereinigung ist unmittelbar, sinnlich, an Körper gebunden und wird von McNeill als „Muscular bonding“ bezeichnet. Mit diesem Wortspiel ist auf eine Doppeldeutigkeit verwiesen, wenn es zum einen auf die Anspannung von Muskeln hinweist und zugleich auf das Andeuten einer Verbindung zwischen den Einzelnen durch Muskelspiele und Muskelstränge abzielt. Beim gemeinsamen Aufführen von Ritualen werden durch Prozesse mimetischer Anähnelung die Körper in der Bewegung miteinander verbunden. Die Gemeinschaftlichkeit wird sinnlich erfahrbar. Der individuelle Körper dehnt sich aus, sprengt seine Grenzen und wird Teil eines kollektiven Körpers. „Die Suche nach einer Erweiterung und Ausdehnung des eigenen Körpers bis hin zu ekstatischer Selbstentgrenzung zeichnet besonders die zahlreichen Szenen heutiger Pop- und Sportkultur aus. In atmosphärischen Szenarien aus Räumen, Tönen, optischen Eindrücken und physischer Nähe ist der Körper hier das entscheidende Medium des Erlebens, des Ausdrucks, des Handelns und des Austauschs; er ist Empfänger und Erzeuger von Erregung“ (Alkemeyer 2002: 38).
Dabei ist die Fähigkeit des Körpers, auf Stimuli zu reagieren und seine Aufmerksamkeit auf Reizquellen zu richten, um sich erregen zu lassen, eine Voraussetzung für das Erleben von Lust, Ekstase und Thrill. Durch Symbole und Rituale verleiht die Gemeinschaft einer eher abstrakten und distanzierten Gegenwart eine greifbare Wirklichkeit (vgl. ebd.: 30). Eine Trennung zwischen Akteur und Zuschauer entfällt, denn die aktive Beteiligung der Körper macht jeden zum Akteur, der sich dem Ritual gemäß bewegt und bewegen lässt. Ein Engagement der Menschen in Ritualen erfolgt auch, um einen emotions-mobilisierenden Prozess in Gang zu
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setzen (vgl. Kap. 4.2.3.4) und die Orientierung an einer sich solidarisierenden Gemeinschaft zu stärken (vgl. Döveling 2005: 160). Der Körper und die unmittelbare physische Nähe erfahren in der Gemeinschaft eine Aufwertung, während im Gegensatz dazu die Alltagswelt von Abstraktions- und Distanzierungsprozessen gekennzeichnet ist (vor allem in der Arbeitswelt). Die Oralität rückt in einer literalen Welt in den Blickpunkt: Noch im durch Mündlichkeit dominierten Mittelalter waren Schaugesten entscheidende, öffentlich sichtbare Bekanntmachungen von zum Teil rechtsgültigem Charakter, bis die Schriftkultur mit ihrer Beurkundungsund Aufzeichnungspraxis jene Schaugesten ablöste. In den durch Performativität gekennzeichneten rauschhaften Vergemeinschaftungen werden Rituale, Schaugesten und Mimesis revitalisiert. Die Aneignung der Rituale passiert mimetisch, d. h. sie werden wie alles soziale Handeln durch das Herstellen einer Beziehung zu anderen Menschen und deren Handeln gelernt (vgl. Wulf 2005: 8). Dadurch erlangen sie eine sinnliche Komponente und sind vor allem in rauschhaften Vergemeinschaftungen an Wahrnehmung gebunden. Die symbolisch kodierten Bewegungen des Körpers müssen für rauschhafte Vergemeinschaf tungen einfach, schnell lernbar sein und ohne verbalsprachliche Erklärung auskommen. Rituale haben auch eine ordnende Funktion: Sie stehen für Ekstase und Zucht, Ordnung und Chaos gleichermaßen, wie sich mit Turners Konzept von ‚Struktur‘ und ‚Anti-Struktur‘ (1969) skizzieren lässt. Rituale haben eine entscheidende Bedeutung für das Wechselspiel zwischen rauschhaften Vergemeinschaftungen und gesellschaftlicher Ordnung und lassen sich als gemeinschaftsstiftende Handlungen begreifen, die einen Prozess des Bruchs, der Krise, der Lösung und der Reintegration durchlaufen (vgl. Krieger/Belliger 2008: 13). Vergemeinschaftende und meist von Ritualen begleitete Handlungen laufen nach dem Schema Struktur/Anti-Struktur/Struktur ab, wobei gerade die Anti-Struktur (Communitas) mit ihrer Unbestimmtheit die entscheidende Phase ist. In der Communitas lösen sich gegebene soziale Strukturen auf und das Potenzial zur Entwicklung für Individuum und Gesellschaft wird freigesetzt. Sie ist gekennzeichnet durch einen Zustand intensiver emotionaler Verschmelzung unter den Angehörigen der Gruppe (vgl. Illouz 2007 [2003]: 176). In dem Prozess, in dem die Gegensätze von Oben und Unten, Struktur und Communitas, Homogenität und Differenzierung einander konstituieren, fängt das Ritual die Kraft des Chaos auf (vgl. Turner 2005: 97). Rituelle Prozesse sind nicht nur als „sozialer Klebstoff“ zu begreifen, sondern haben auch konÀiktlösende Potenz (vgl. Bräunlein 2006: 93). Die Communitas ist für Turner ein existenzielles soziales Phänomen jeder Gesellschaft. Auch wenn Turner nicht ausführlich auf den Körper eingeht, spielen für Struktur und Communitas stets auch die kulturell vorgeformten, erlernten Techniken der Körperkontrolle eine entscheidende Rolle. Die Körper sind Zeichenund Symbolträger und kön nen immer auch als Abbild der Gesellschaft aufgefasst
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werden. Bei der Körperkontrolle handelt es sich stets auch um einen Ausdruck der sozialen Kontrolle, sodass das Aufgeben der Körperkontrolle in Ritualen der Communitas soziale Kontrolle abschwächt (vgl. Douglas 1998: 106). Viele Rituale – insbesondere Tänze – sind begleitet durch Sprechweisen oder Liedgesänge. Ein Synchronismus wird also nicht nur bei der gemeinsamen Kör perbewegung (keeping together in time) erzeugt, sondern auch durch den gemeinsamen Einsatz der Stimme im Gleichklang. Die Stimme als eine der wichtigsten Ausdrucksmöglich keiten des Menschen und als sinnlich fassbare Verbindung zwischen Akteuren ist daher im Folgenden detaillierter zu betrachten. 4.2.3.3 Die Stimme: Musik, Gesänge und Sprechweisen Die Stimme ist ein taktil nicht fassbarer Teil sowie eine fundamentale Äußerungsmöglich keit des Menschen und zugleich unverwechselbar und einzigartig dem Individuum zuzuordnen. Sie ist dabei nicht nur eine akustische Entität, sondern auch ein Teil des Leiblichen, der in die Kommunikation eingebracht wird. Die Stimme und damit die Möglichkeit zu sprechen, ver vollständigt die Anatomie des menschlichen Körpers (vgl. Plessner 1970: 16). „Die menschliche Stimme ist der Kulminationspunkt einer Vereinigung von Körper, Sprache und Musik“ (Bayerl 2002: 202, Herv. i. O.). Sie ist „das ideale Medium der Entfaltung von innen nach außen, graduierbar nach Stärke, Höhe und emotionaler Stimmungs- und Umstimmungskraft, modellierbar und artikulierbar als gesungener wie als gesprochener Laut, als ‚Träger‘ musikalischer und sprachlicher Mitteilung“ (Plessner 1970: 57).
Damit wird auch deutlich, dass sie bei allen Verweisen auf die Natürlichkeit des Leibes immer etwas sozial Konstituiertes ist: Sie ist durch Kommunikationserfahrungen strukturiert und geformt und wird als soziales Produkt erfahrbar. Die menschliche Stimme und die Oralität rücken in rauschhaften Vergemeinschaftungen in den Blickpunkt, während in der sonst literal geprägten Welt durch den Sehsinn wahrnehmbare Symboliken dominieren (vgl. Kap. 4.2.3.2). Die Stimme ist zentrales Medium für Gesänge, Sprechhandlungen und Sprechweisen, die in rauschhaften Vergemeinschaftungen eine häu¿g genutzte Form der Inszenierung von Kollektivität sind.
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Das Sprechen und die Sprechweisen begleiten in performativen Akten häu¿g das kör perlich bewegte Tun.35 Damit wird nicht nur die Mimesis von Ritualen unterstützt, deren Muster dadurch einprägsamer sind, sondern das Individuum ist doppelt auf seinen Körper verwiesen. In der Bewegung und in den begleitenden, auf die Bewegung abgestimmten vokalen Gesten wird der gesamte Körper in die Situation eingebracht. Diese Gesten haben in der Alltagsrealität meist keine spezi¿sche Entsprechung. Der karnevalistische Ausruf „Alaaf“ beispielsweise wird stets begleitet mit einem seitlichen in die Luft Schwingen des rechten Armes aller Beteiligten. Nicht nur musikalische Unterstützung, sondern auch das dreifache Ausrufen des regional typischen „Schlachtrufes“ involviert körperliche Bewegung und Stimme gleich zeitig in die Situation und sichert die mimetische Reproduzierbarkeit des Rituals. Das Verhältnis zwischen Bewegung und Sprechen in performativen Akten ist ein wechselseitiges: Die Bewegung strukturiert das Sprechen vor, und das Sprechen gibt der Bewegung ihren Takt. Ein von Ethnologen und Volkskundlern detailliert beschriebenes, wenn auch aus der Alltagswelt stammendes Beispiel für auf Bewegung abgestimmte Sprechweisen sind Reime, die in handwerklichen oder allgemein körperbezogenen Berufen die Handgriffe begleitet haben. Aber auch Lieder und Gesänge wurden (und werden) zur Unterstützung der Arbeit benutzt. Exemplarisch wird auf das „Pansenklopperlied“ verwiesen, das den Quartiersleuten in der Hamburger Speicherstadt das Abzählen erleichterte. Pansenklopper nannte man jene Quartiersleute (ein Beruf, der heute fast in Vergessenheit geraten ist), die mit den ungereinigten, stinkenden Tierhäuten zu tun hatten und die Häute und Felle sortierten und zu Stapeln packten. Um immer jeweils 25 Häute zu bündeln und sich dabei nicht zu verzählen, stimmten sie den „Tell-Gesang“ an, den Zähl-Gesang, der als Adaption auf die Melodie von „Üb immer Treu und Redlichkeit“ gesungen wurde. Fast jede der 25 Zeilen enthielt einen (niederdeutschen) Verweis auf die jeweilige Zahl, der entsprechend gepackt wurde (vgl. Fischer/Griem 1988: 30). Auch jenseits der Arbeits- und Alltagswelt geht Gesang mit Bewegung einher: in Tänzen, Reigen und anderen ritualisierten Bewegungsabläufen. Rausch hafte Vergemeinschaftungen weisen die Gelegenheitsstrukturen für diese Art des Agierens auf, in der Leib und Individuum auf sich selbst ebenso stark wie auf andere Anwesende bezogen sind (Muscular bonding). Soziologische Untersuchungen zum Singen und seiner Bedeutung für Sozialität gibt es beispielsweise in Form von Studien zum Arbeiterlied (vgl. Adamek 1987) und auch ver mehrt zu Fußballfangesängen und deren Anteil an der Stiftung sozialer und regionaler Identität (z. B. Bradley 1998). Das gemeinsame SinPerformative Äußerungen wurden auch im Rahmen der Sprechakttheorie (nach Searle) beschrieben und als illokutionäre Akte bezeichnet (z. B. „Ich taufe dich auf den Namen …“).
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gen, darin ist sich die soziologische ebenso wie die pädagogische Literatur einig, fördert das Wir-Gefühl unter den Akteuren und kann zur Identi¿kation mit der Gruppe beitragen. „Das gemeinsame Singen in der Gruppe ist auf einzigartige Weise ein gleichzeitiger Ausdruck von vielen Personen“ (Adamek 1987: 115). Es wird gemeinsam etwas produziert, das Àüchtig ist und das die Beteiligten niemals so hören können wie außen stehende Zuhörer, weil beim Singen stets ihre eigene Stimme sich dem Gesamt produkt vordrängt. Der Laut kehrt zum Ohr zurück und mit ihm im Gleichklang die Laute der Anderen. Obwohl der Mensch aus anthropologischer Perspektive zu den Laut produzierenden Wesen gehört und seine Erfahrung der Welt sich (auch) aus auditiven Wahrnehmungen speist, steht das Hören in der wissenschaftlichen Beschäftigung stets hinter dem Sehsinn. Dabei ist dem Hören eine Besonderheit gegeben, die auch für vergemeinschaftende Gruppenerfahrungen bedeutsam ist. Töne dringen ein – ob nah oder weit entfernt. Plessner bezeichnet die Eindringlichkeit als ein Strukturmerkmal des akustischen Modus. Damit ist auch darauf verwiesen, dass das menschliche Ohr sich nicht selbst schließen kann (wie etwa das Auge) (vgl. Plessner 1970: 210). In der Vergemeinschaftung kommen also Laute – in der Regel auch bei rauschhaft veränderter Wahrnehmung – stets beim Individuum an. Musik und erregte Sinnlichkeit hängen eng zusammen, und gerade die Akustik verleiht der Sozialität Ausdruck und prägt Kommunikation (vgl. Maffesoli 1986: 79). Das Singen bedeutet ein intensives Einbringen des Körpers und ermöglicht eine Steigerung von kollektiven Gefühlen beim Singen in der Gruppe. Als Ausdruck von Emotionalität kann dem Singen eine entscheidende Funktion beim Zugang zu menschlichen Gefühlslagen zukommen. Es könnten sich durch eine Interpretation des Gesangs Aussagen treffen lassen über die emotionale Be¿ndlichkeit des Sängers. Dass aus medienanthropologischer Sicht dem Singen stets auch eine potenzielle Stimulation und BeeinÀussung von Stimmungslagen (mood management) zukommt, muss dabei berücksichtigt werden. Die Musikpsychologie kann belegen, dass durch Musik das körpereigene Belohnungssystem stimuliert wird, dass durch das Singen positive Emotionalität, Wohlgestimmtheit und Glück erreicht und daher Serotonin, Noradrenalin und Beta-Endorphin vermehrt ausgeschüttet werden (vgl. Vanecek/Biegl/Gerngroß 2006) – kurz: dass Singen glücklich macht. Den Emotionen und ihrer Rolle für rauschhafte Vergemeinschaftungen geht das folgende Kapitel nach. 4.2.3.4 Emotionen: Ekstase, Leidenschaft und Efferveszenz Emotionen bestimmen grundlegend soziales Handeln. Dennoch hat sich eine Soziologie der Emotionen erst Mitte der 1980er-Jahre mit der Gründung der
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International Society for Research on Emotions institutionalisiert (vgl. Flam 2002: 9). In Deutschland ist die Beschäftigung mit einer Soziologie der Emotionen im Vergleich zu den USA und Großbritannien noch zurückhaltend, obwohl deutschsprachige Klassiker wie Georg Simmel (1907) und Max Weber Grundlagen geschaffen haben. Für Max Weber ist die gefühlte Zusammengehörigkeit das entscheidende Merkmal von Vergemeinschaftungen, die „auf jeder Art von affektueller oder emotionaler […] Grundlage ruhen“ (1980: 22) kann. In rauschhaften Vergemeinschaftungen ist die In- und Exklusion der Mitglieder lediglich über Emotionen geregelt. Für Georg Simmel kann erst durch die Liebe, aber auch durch den Glauben und die Hingabe an die Gemeinschaft ein kollektives Verhalten entstehen (vgl. 1993). Die soziale Welt insgesamt und die Wechselwirkungen zwischen den Mitgliedern werden für ihn erst durch Emotionen möglich und durch emotionale Konnotationen strukturiert. Émile Durkheim bereitet in seinen religionssoziologischen Betrachtungen eine Soziologie der Emotionen vor, die auch für die Überlegungen zu rauschhaften Vergemeinschaftungen hilfreich ist. Wenngleich Durkheims Analysen auf den Untersuchungen australischer Ureinwohner beruhen, lassen sich seine Beobachtungen bei den Feiern und Zeremonien der Klanmitglieder m. E. auch auf rauschhafte Vergemeinschaftungen über tragen. Durkheim beschreibt deren typische Rituale, in die Musik und rhythmisches Schlagen von Stöcken und Bumerangs einbezogen sind. Die bedeutendsten Feste der Ureinwoh ner dauern mehrere Tage und können sich bis in orgiastische Szenen steigern, in denen die gewöhnliche Ordnung und Moral außer Kraft gesetzt ist und Tabus übertreten werden (vgl. 1994: 298). Der Entbindung von Moral folgen zeitlich befristete ekstatische Zustände, die existenzielle Bedeutung für das soziale Leben haben. „Zweifellos liegt es in der Natur der moralischen Kräfte, den menschlichen Geist nur dann berühren zu können, wenn sie ihn außer sich bringen, wenn sie ihn in einen Zustand versetzen, den man Ekstase nennen kann [d. h. ek = aus; stasis = das Stehen; Entrückung; Verzückung]; daraus folgt aber noch nicht, daß sie auf Einbildung beruhen. Im Gegenteil. Die geistige Erregung, die sie hervorrufen, bezeugt ihre Wirklichkeit. Das ist nur ein weiterer Beweis, daß ein intensives soziales Leben auf den Organismus genauso wie auf das individuelle Bewußtsein eine Art Gewalt ausübt, die deren normalen Ablauf stört. Sie kann daher nur kurze Zeit dauern“ (Durkheim 1994: 311, Herv. i. O).
Durkheim geht es in seiner Untersuchung der Formen des religiösen Lebens aber nicht um individuelles Rauscherleben, sondern um die Bedeutung der efferveszenten Zustände für die Gemeinschaft. Die kollektiv herbeigeführten und erlebten Rauschzustände bestätigen die Wir-Gefühle und Gruppenbindungen. Ihnen
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entstammen Kollektivideen und (religiöse) Symbole, die bindende Kraft für die Gemeinschaft besitzen. Diese bindende Kraft wird von Durkheim als Kollektivbewusstsein bezeichnet, das sich auf Bilder, Szenen und Zeichen bezieht. Sie übernehmen Stützfunktionen, können selbst Gefühle auslösen und auch für die Gemeinschaft stehen (z. B. Wappen, Totemzeichen). „Auf das Bild werden die Gefühle ¿xiert, denn es ist das einzige konkrete Objekt, an das sie sich knüpfen könnten. Das Bild erinnert an sie und hält sie wach […]. Durch das Bild werden die erlebten Gefühle ständig wachgehalten und belebt. Es ist, als ob sie das Bild direkt einÀößen würde […]. Aus ihm scheinen also die geheimnisvollen Kräfte zu Àießen, mit denen sich die Menschen in Beziehung fühlen“ (ebd.).
Aus dieser Perspektive „gibt es vielleicht keine kollektiven Vorstellungen, die in diesem Sinn nicht Rauschzustände wären“ (ebd.). Das Kollektivgefühl steigert sich im Rausch und wird zwischen den Gruppenmitgliedern übertragen. Dieses Phänomen, das Durkheim am Beispiel der Freude und der Trauer beschreibt, bezeichnet er als „Ansteckung“, die er keineswegs als Nachahmung, sondern als in religiösen VerpÀichtungen verankert begreift. Die Wirkung der Zeremonien auf die Gemeinschaft ist die Regeneration der Moral: „Sie [die Beteiligten – Y. N.] nehmen den Eindruck des Wohlbehagens mit […]. Es wird ihnen bewußt, daß die Zeremonie ihnen guttut; und tatsächlich wird hiermit ihre Moral gestärkt“ (ebd.: 484). Die Kraft der Gruppenkohäsion resultiert für Durkheim aus den geteilten Gefühlen, die für die Mitglieder eine emotionale Grati¿ kation bedeuten und ein Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit verstärken (vgl. Döveling 2005: 136). Susan Shott sieht aus der Perspektive des Symbolischen Interaktionismus die Gefühle der Individuen stets als soziale Konstruktion: „Within the limits set by social norms and internal stimuli, individuals construct their emotions“ (Shott 1979: 1323). Selbst die für kollektive Ausbrüche typischen affektiven Handlungen sieht sie als sozial überformt: Der Ausdruck der Gefühle wird durch Regeln bestimmt. Affektive Kollektivität beruht auf Empathie und der Fähigkeit zur Rollenübernahme (im Sinne George Herbert Meads). Empathie als „the arousal in oneself of the emotion one observes in another or the emotion one would feel in another’s situation“ (ebd.: 1328) verbindet die emotionalen Zustände der Menschen miteinander. Eine freudige Erregtheit geht auf die Gruppenmitglieder über, weil diese sich durch den Prozess des role taking anstecken lassen. Heinz-Günter Vester favorisiert eine Integration psychologischer, soziologischer, biologischer und kommunikationswissenschaftlicher Komponenten in einem biopsychosozialen Paradigma, um das emotionale Geschehen zu erklären (vgl. 1991: 19 ff.). In dieser Perspektive wird deutlich, dass Emotionen im-
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mer Natur und Kultur zugleich sind. Dies zu berücksichtigen, ist für Vester, der seiner Analyse einen systemtheoretischen und stresstheoretischen Rahmen gibt, grundlegend für ein umfassendes Verständnis von Emotionen. Um Emotionen im gesellschaftlichen Kontext zu begreifen, geht er u. a. auf das Phänomen der „Ansteckung“ bzw. „Imitation“ ein. Er wertet es auf, indem er es nicht als einfache Reiz-Reaktion begreift, sondern als Prozess, der Vorgänge der – zumeist unbewussten – Encodierung und Decodierung von Zeichen impliziert (vgl. ebd.: 189). Damit setzt die Ansteckung ein Verständnis von Symbolen und Verhaltensmodellen sowie Identi¿kationsprozesse voraus. Vester bewegt sich mit diesen Überlegungen auf der Schwelle zwischen individuellem und kollektivem Verhalten und sieht eine Verbindung zwischen beiden, denn die Dynamik kollektiven Verhaltens kann sich erst entwickeln, wenn mehrere Individuen am Kommunikationsprozess teilhaben und sich anstecken lassen. Zu Recht kritisiert der Soziologe, dass die Untersuchungen zu kollektiven Emotionen zu häu¿g am Beispiel negativer Emotionen (Furcht, Panik, Schrecken, Wut und Hass) orientiert sind. Sie pathologisieren (den deutlich darauf angelegten Begriff) „Ansteckung“ und rücken die in kollektiven Situationen gesteigerte Emotionalität häu¿g in den Bereich des Hysterischen (vgl. ebd.: 190). Auch die Fälle für kollektives Verhalten, die (in der Regel) mit positiven Emotionen verbunden sind (z. B. Rockkonzerte, Straßenkarneval, Fußballspiele), „ver mitteln dem außenstehenden Beobachter oft den Eindruck, als handle es sich hier um einen Tanz auf dem Vulkan“ (ebd.: 190), bei dem die positiven Gefühle potenziell explosiv in ihr Gegenteil umschlagen können. Für die Gefährlichkeit von Kollektiven mit intensiver Emotionalität gibt es in der Geschichte zahlreiche Beispiele, auf die hingewiesen werden muss. In rauschhaften Vergemeinschaftungen dominieren die positiven Gefühle der Freude, die sich bis in ekstatische Ausgelassenheit und Efferveszenz steigern können. Das Gefühl der Freude lässt sich de¿nieren „als das emotionale Resultat einer subjektiv gelungenen Auseinandersetzung des Systems (Organismus, Person) mit seiner Umwelt“ (ebd.: 176). Intensive emotionale Situationen, die bis zur Efferveszenz reichen können, bedürfen eines ausdrücklichen Einbringens des Körpers: Ihm wird die Fortsetzung der Kommunikation überlassen. Durch eine Weitergabe nonverbaler Zeichen erfolgt die emotionale Ansteckung, welche darauf beruht, dass der „Angesteckte“ sich mit dem „Ansteckenden“ identi¿ziert. Dabei ist zu bedenken, wer wessen Verhalten imitiert; denn die Prozesse der Ansteckung sind nur scheinbar egalitär (vgl. ebd.: 195). Die Statushöheren können aufgrund ihres Ressourcenzugriffs in einer Gemeinschaft beispielsweise mehr emotionale Energie mobilisieren als die Statusniedrigeren (vgl. Döveling 2005: 158).
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Heinz-Günter Vester verweist mit seinen Analysen nicht nur auf die kollektive Seite der Emotionen, sondern zugleich auch auf die individuelle Dimension efferveszenter Ereignisse. Um den kollektiven Rauschzustand auch als etwas zu verstehen, das mit und an dem Individuum etwas bewirkt, das in der Summe den kollektiven Rausch erst ausmachen kann, wird erneut an die Anthropologie Helmuth Plessners angeschlossen. Er stellt in seiner Studie zum „Lachen und Weinen“ fest, dass nur der Mensch im Vollsinn über die Fähigkeit verfügt zu lachen und zu weinen (vgl. Plessner 1970: 31). Der Mensch lacht und weint nur dann, wenn er nicht mehr auf andere Weise mit den Situationen umgehen kann. „Wer lacht oder weint, verliert in einem bestimmten Sinne die Beherrschung, und mit der sachlichen Verarbeitung der Situation ist es fürs erste zu Ende“ (ebd.). Das Individuum wird übermannt und ergriffen von seinen Gefühlen, die eruptiv aus ihm herausbrechen. Alle Routinen sind suspendiert. Anstelle einer reÀektierten Antwort mittels Sprache oder anderen sozialen Handelns erfolgt ein völliges sich Überlassen an den Körper. Der Mensch lässt sich Fallen ins Lachen oder Weinen und wird von diesen Ausdrucksgebärden geschüttelt. Er verliert die Beherrschung und ist zu einer Steuerung des Körpers nicht mehr fähig. Lachen und Weinen als Grenzreaktionen ermöglichen einen anderen Blick auf das Verhältnis des Menschen zu seinem Leib, denn in diesem Geschehen emanzipieren sich die körperlichen Vorgänge von der Person. Für rauschhafte Vergemeinschaftungen sind ein vorübergehender Verlust der Beherrschung sowie eine Unkontrolliertheit des Körpers symptomatisch. Zustände froher Ausgelassenheit und irritierter Sinne zwingen den Teilhabenden leicht das Lachen ab. Das Lachen dient zum einen der Entladung, zum anderen zeigt sich der Körper darin als eigenwillig. Die ekstatische Ausgelassenheit in der rauschhaften Vergemeinschaftung und das Lachen besitzen strukturelle Ähnlichkeiten. In rauschhaften Zuständen kommt es zum Verlust der Steuerung des Körpers, zum Überfallen werden durch Gefühle und zum Übertragen der Aufgabe des Ausdrucks und der Kommunikation an den Körper. Eine emotionale Ergriffenheit führt auch dazu, Grenzen zu überschreiten und anderen (fremden) Menschen auf eine im Alltag tabuisierte Art näher zu kommen, wenn nur noch Minimaldistanzen zwischen den Körpern existieren. Mit dem Eindringen in den „Intimraum“ geht eine Umorientierung der Sinne einher, die das Riechen, Tasten und Schmecken wichtiger als die Fernsinne Auge und Ohr werden lassen. Körperliche Nähe macht die Menschen einander auf eine weitere Art erfahrbar. Das taktile Spüren des anderen Leibes am eigenen, das Fühlen der Wärme und der Präsenz ist eine ambivalente Erfahrung: Die sinnlich gebundene Erfahrung des oder der anderen ist ein Kitzel, der zugleich abstößt und anzieht. Die OberÀächlichkeit und Undeutlichkeit des Spürens weckt auf der einen Seite das Bedürfnis nach größerer Prägnanz und auf der anderen Seite den Wunsch, den Reiz zu beseitigen.
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Das Wahrnehmen der Wärme des anderen Körpers erinnert zugleich an die eigene Wärme und an die eigene leibliche Verfasstheit, die umfassend eingebracht und preisgegeben wird. Durch das wechselseitige Spüren von Wärme und zuweilen auch von Schweißsekretion entsteht eine außeralltägliche Intimität. Die offenbare Infor mation über intime, sehr persönliche Details des eigenen Körpers gibt der Kommunikation eine andere (erotische bis sexuelle) Qualität. Schwellen werden übertreten und Zustände von Euphorie und Ekstase können eingegangen werden. Katharina Inhetveens Studie zur Bedeutung von Körper und Gewalt bei Vergemeinschaf tungsprozessen während Hardcore-Konzerten zeigt die besondere Bedeutung von Körpern und deren ruppigen, „gewalttätigen“ Begegnungen im violent dancing. Diese Art des Körperkontakts ist von den Mitgliedern der Szene intendiert und wird als umfassendes Gefühl beschrieben, das durchaus blaue Flecken hinterlässt (vgl. Inhetveen 2004: 48 ff.). Die Autorin zeigt, dass Gewalt auch als Mittel der subkulturellen Integration verstanden werden kann und nicht zwingend destruktiv sein muss. Auch in rauschhaften Vergemeinschaftungen sind Verhaltensweisen möglich, die in der Regel als abweichend und negativ de¿niert werden. Für die Teilnehmenden allerdings kann dieses Verhalten in der Ekstase emotionale Grati¿ kationen bieten, die sie zu einer bedingungslos positiven Bewertung dieser Begegnungen und zu dem Wunsch nach Wiederholung veranlasst. Je intensiver die Emotionen bei einem Erlebnis erfahren werden – so die allgemeine Ansicht von Hirnforschern –, desto stärker bleibt der Moment in Erinnerung. Die Erinnerung an das „Wir“ ist individuell, doch zugleich schreibt sie sich ein als kollektive Erinnerung, als Geschichte auf einem mikroskopischen Level („history from below“) (Maffesoli 1996: 123). Die rauschhafte Vergemeinschaftung wird ein Stück Lebensgeschichte und verbindet Individuum und Gemeinschaft – „a ‚we‘ is formed that allows each of us to see ‚beyond the ephemeral and extravagant individual life‘; that allows us to feel ‚like the spirit of the house, the family, the city‘“ (ebd.). Für Michel Maffesoli drückt sich in rauschhaften Momenten kollektiver Erregung das elementare Gemeinschaftsleben aus. Diese Gesellungsmomente sind das Fundament und eine Grund¿gur des sozialen Zusammenhalts in der Postmoderne. Maffesolis Menschenbild schließt u. a. an die Ideen von Edgar Morin an, der auf die Doppelgesichtigkeit des Menschen als homo sapiens und homo demens verweist. „Man kann die Lust, die sapiens nicht nur im Orgasmus, sondern in allen Bereichen sucht, nicht auf den Zustand der Befriedigung, nicht auf die Realisierung eines Verlangens, die Beseitigung einer Spannung verkürzen. Er sucht – über das bloße Vergnügen hinaus – diese Lust in Erregungszuständen, die sein gesamtes Wesen erfassen und sogar die Grenze der Katalepsie und der Epilepsie erreichen. In den
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Rauschhafte Vergemeinschaftung archaischen wie den geschichtlichen Gesellschaften werden mit Hilfe von Kräutern und/oder Likören, durch den Tanz und/oder den Ritus, durch das Profane und/oder das Heilige Zustände der Trunkenheit, des Paroxysmus, der Ekstase angestrebt, in denen sich zuweilen die extreme Unordnung des Spasmus und der Konvulsion mit der vollkommensten Ordnung eines vollständigen Einswerdens mit den anderen, der Gemeinschaft, dem Weltall zu verbinden scheint […]. Diese außergewöhnlichen, gefährdeten, ungewissen, unsicheren und doch wesentlichen Zustände werden von sapiens als seine höchsten, vollendeten Zustände erlebt. Sehr selten ist – wie etwa bei Georges Bataille oder Roger Caillois – gesehen worden, daß das ‚Verzehrende‘, der Taumel, der Exzeß in der Wissenschaft vom Menschen eine zentrale Stellung beanspruchen dürfen […]. Doch man kann sich keine Fundamentalanthropologie vorstellen, die nicht dem Fest, dem Tanz, dem Lachen, den Konvulsionen, den Tränen, der Lust, dem Rausch, der Ekstase ihren Platz einräumte […]. Diese Maßlosigkeit äußert sich auch in Wut, Mord und Zerstörung […]. Sehr viel stärker als seine Vorläufer neigt der homo sapiens zum Exzeß; unter seiner Herrschaft ¿nden Träumerei, Erotik, Affektivität und Gewaltsamkeit keine Grenzen mehr“ (Morin 1974: 129 ff. Herv. i. O.).
Dieses Motiv ist nicht nur für das Collège de Sociologie, das sich im Anschluss an Durk heim 1937 gründete, paradigmatisch. Auch Maffesoli sieht sich einer dem wissenschaftlichen Rationalismus zuweilen entgegenstehenden Beschäftigung mit den mystischen und existen ziellen Energien des Daseins, mit dem Rauschhaften und der Überschreitung verbunden (vgl. Keller 2006: 48). In einer postmodernen Zeit, in der das Gebot des Individualismus aus Sicht von linken, gesellschaftskritischen Intellektuellen den gemeinschaftlichen Zusammenhalt gefährdende Züge entfaltet, wird die Figur des Dionysos zum Symbol für unproduktive Verausgabung, Wahnsinn und kollektive Ekstase. Dionysos steht Prometheus, dem planenden, kalkulierenden und vorausdenkenden Gott des Handwerks entgegen. Das Collège will das „Sakrale“ untersuchen, also jene „außerordentlichen Bereiche des Wahnsinns, der Perversion, Sexualität, Anomalität, der Gewalt, der vitalen Energien oder […] das Außer-sich-Sein des Subjekts“ (Moebius 2006: 136). Diese Bereiche sind für das Imaginieren, Systematisieren und Er¿nden der sozialen Beziehungen der Individuen elementar. Die Grundtendenz in Maffesolis Denken deutet eine nicht übersehbare Nähe zum Collège an, und er untersucht weitab vom Mainstream der Soziologie die Orgie als eine Sozialform, die einen (allgemein unterschätzten) Anteil an gesellschaftlicher Strukturbildung hat. Als Gegentrend zum Individualismus sieht er das Hin- und Hertreiben der Individuen zwischen den Neo-Stämmen, die er als eine Art „emotional community“ (Maffesoli 1996: 9) begreift. Das Emotionale bewegt sich dabei zwischen den beiden Polen ‚Dauerhaftigkeit‘ und ‚Instabilität‘. In der Gegenwart ent wickelt
Umgang mit Medien, Symbolen und psychoaktiven Substanzen
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sich in der als Ersatz für die Atomisierung des Individuums bezeichneten kollektiven Sensibilität eine „Aura der aisthesis“. Diese beinhaltet „varying proportions of elements related to the communal drive, mystical propensity or an ecological perspective“ (ebd.: 13) und löst die Periode der „Aura des Fortschritts“ des 19. Jahrhunderts ab.36 Die aisthesis ist das gemeinsame Emp¿nden als Konsens der Gruppe, die einer „Logik der Fusion“ folgt. „Diese ‚Logik der Fusion‘, der deindividualisierenden, zugespitzten Verbindung, prägt – so Maffesoli – den Stil der nach modernen Sozialbeziehungen“ (Keller 2006: 115). Die aisthesis als ästhetische Erfahrung ist gebunden an die Proxemik, die in symbolischen Nahbeziehungen erfahren wird. Sie ist der Zusammenhalt innerhalb des Stammes, der durch ritualisierten, hedonistischen Kult und dabei geteilte Emp¿ ndungen und Erfahrungen konstituiert wird (vgl. Keller 2008: 91). Wenngleich Maffesoli auf Emotionen und ekstatische Gefühle nicht im Detail eingeht, sind es doch gerade sie, die das Entstehen der Neo-Stämme erst ermöglichen und als Kitt für das gesellschaftliche Gefüge funktionieren. Die geteilten Emotionen machen den Stamm in seiner Flüchtigkeit einerseits, in seiner Potenz und individuellen wie gesellschaftlichen Bedeutung andererseits aus. Für das Konzept der rauschhaften Vergemeinschaftung gilt selbiges – kollektive Emotionen sind konstituierend, integrierend, sind Grati¿ kation und Motivation für die Akteure. 4.3
Umgang mit Medien, Symbolen und psychoaktiven Substanzen in rauschhaften Vergemeinschaftungen
4.3.1
Medien und Symbole in rauschhaften Vergemeinschaftungen
Für rauschhafte Vergemeinschaftungen sind auch solche Medien und Symbole relevant, die nicht direkt mit dem Körper verbunden sind. Symbole bringen de¿nitionsgemäß den Sinn einer Situation oder eines Interaktionszusammenhangs auf ein Zeichen: „Symbole stehen für den Sinn jener Dinge oder Objekte, die einen solchen Sinn haben; es handelt sich bei ihnen um Teile der Erfahrung, die andere Teile der Erfahrung aufzeigen oder repräsentieren, die gegenwärtig oder in der gegebenen Situation nicht
Die Aura des 18. Jahrhunderts war für Maffesoli – ganz im Zeichen der Aufklärung begriffen – eine „Aura des Politischen“, die ganz im Gegensatz zur „Aura des Theologischen“ im Mittelalter stand (vgl. Maffesoli 1996: 13).
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Rauschhafte Vergemeinschaftung direkt vorhanden, aber alle in der Situation präsent sind (oder unmittelbar erfahren werden)“ (Mead 1973 [engl. Orig. 1934]: 162 f., Fußnote 29).
Das Symbol kann auch für die Gemeinschaft an sich stehen (vgl. Kap. 4.2.3.4) und die Gefühle für sie wachrufen, die Beziehungen in ihr stärken und sie selbst rekonstituieren. Das zentrale Symbol der von Maffesoli beschriebenen Neo-Stämme ist das postmoderne „Stammestotem“. Dieses Totem kann ein Kult-Objekt, eine Ikone der Popkultur, eine mystische Erfahrung an sich, ein spezieller Ort usw. sein. Maffesoli (vgl. 1986: 105) geht es weniger um die „Form“ (diesen Begriff übernimmt er von Georg Simmel) eines Totems, sondern um seine mystische Kraft, die das Gemeinschaftsleben bestimmt und verfugt. Dabei ist zwischen Kollektiv- und Individualtotem zu unterscheiden: Das Kollektivtotem ist Zeichen des sozialen Zwanges und begrenzend; das Individualtotem wird in einem bewussten Akt gewählt und symbolisiert Freiheit. Beide funktionieren komplementär und entfalten in einem Hin und Her ihre Kräfte. Der Totemismus fußt auf einer nicht-personalen Kraft und bezeichnet „ein System von einander widerstreitenden Beziehungen, in dem sich die Natur und die Gesellschaft zu einem plastischen, wandelbaren Ensemble zusammenschließen“ (ebd.: 105). In der rauschhaften Vergemeinschaftung werden Widersprüche vermittelt – sie ist der Ort der Verschmelzung und „prototypische Integrationsform einander widerstreitender Elemente“ (ebd.: 104). Moderne Massenmedien haben für die Stämme und ihre Formierung sowie Vernetzung eine grundlegende Bedeutung. „Indeed, ‚cable TV‘, computer bulletin boards (for amusement, erotic or functional purposes) may create a communicational matrix in which groups with various goals will appear, gain strength and die“ (Maffesoli 1996: 139). Abgestimmt auf die individuelle Interessenlage des Individuums lässt sich beispielsweise über das Internet eine Vielzahl an Vergemeinschaftungsmöglichkeiten ¿nden. Rauschhafte Vergemeinschaftungen – wie ich sie in dieser Arbeit verstehe – bedürfen dabei stets eines gemeinsamen Ortes und einer gemeinsamen Zeit. Somit kann das Internet lediglich als virtueller Raum für Planung und Organisation gemeinsamer Treffen fungieren, nicht als Medium für rauschhafte Vergemeinschaftung selbst. Dennoch sind Vergemeinschaftungen über Massenmedien möglich und werden auch sozial- sowie medienwissenschaftlich beschrieben. An Ereignissen wie dem Tod von Lady Di, dem 11. September 2001, der Tsunami-Katastrophe in Thailand oder dem Tod des Pop-Idols Michael Jackson nehmen, vermittelt durch Fernsehen oder Internet, Menschen auf der gesamten Welt teil. Die Welt wird für kurze Zeit vereint zu einem „globalen Dorf“ (McLuhan), das sich im Mitgefühl einigt und eint. Geteilte Emotionen führen zu einem Erleben von Kollektivität und Sozialität, das vorübergehend Identi¿kationsmöglichkeit für das Individuum bietet (vgl. Junge 2008; vgl.
Umgang mit Medien, Symbolen und psychoaktiven Substanzen
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Morgner 2009). Diese Form der emotionalen Vergemeinschaftung ist mit dem Begriff der rauschhaften Vergemeinschaftung nicht erfasst, denn die sinnliche Dimension Körper, die körperliche Kopräsenz und die Veränderung der Wahrnehmung spielen für emotionale Vergemeinschaftungen keine charakteristische Rolle. Stjepan Meštroviü diagnostiziert seiner sich durch Massenmedien konstituierenden „postemotionalen Gesellschaft“ gar die Unfähigkeit zur Empathie; echte Involviertheit sei der bereits von Simmel beschriebenen Blasiertheit, echte Gefühle seien synthetischen Quasi-Emotionen gewichen (vgl. 1997: XI). Emotionen seien im Postemotionalismus mechanisiert, werden manipuliert und könnten nicht mehr als Fassaden sein, in denen sich Politik und andere Ereignisse in der westlichen Welt verpackt ¿nden. Obwohl Emotionen notwendig sind, um Wissen in Handeln zu überführen, wurde diese Verbindung in der postemotionalen Gesellschaft gekappt: „Action assumes a connection between the emotions and intellect, and that connection has been severed in postemotional societies“ (ebd.: XI). Meštroviüs postemotionale Gesellschaft ist gekennzeichnet von Manipulation und Zynismus, deren Katalysatoren die Massenmedien sind. Von rauschhaften, überschäumenden und ekstatischen Gefühlen ist in seinem Konzept nichts mehr zu ¿nden. Sie sind geordnet und werden durch die Kanäle auf der OberÀäche in systematische Bahnen gelenkt. „Thus, postemotionalism is a system designed to avoid emotional disorder; to prevent loose ends in emotional exchanges; to civilize ‚wild‘ arenas of emotional life; and, in general, to order the emotions so that the social world hums as smoothly as a well-maintained machine“ (ebd.: 150).
Im Kontrast zu Durkheim postuliert Meštroviü nicht nur, dass nun alles Heilige profan geworden ist, sondern auch dass das Kollektivbewusstsein nicht länger existiert, sondern fragmentierte Gruppenidentitäten an seine Stelle getreten sind. Diese Gegenwartsdiagnose unterscheidet sich grundsätzlich von Durkheims auf den Beobachtungen australischer Ureinwohner beruhendem Entwurf und damit vom hier im Mittelpunkt stehenden Konzept der rauschhaften Vergemeinschaftung. Nach meiner Erkenntnis ist es vor allem die mediale Vermittlung, die Emotionen zu Quasiemotionen degeneriert und die Blasiertheit und den Mangel an „echtem“ Mitgefühl unter den Individuen vorantreibt. Die Abwesenheit des Körpers, der Mangel an sinnlichen Eindrücken und das Fehlen der Wahrnehmungsveränderung (Rausch) sind mögliche Gründe, warum globale oder auch lediglich nationale Medienereignisse in postemotionalen Gesellschaften keine emotionale Berührtheit erzeugen können. Das Übertreten der „Schwelle“ wird nicht durch mediale Berichterstattung ausgelöst, sondern erst durch eigenleibliche Er fahrung synchron und vor Ort angestoßen. Als Schwellenritual kann dabei
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Rauschhafte Vergemeinschaftung
auch das gemeinsame Eingehen eines Rausches gesehen werden, wie der folgende Abschnitt zeigt. 4.3.2
Gesten des Genießens – rituelle Anwendung psychoaktiver Substanzen
Rauschhafte Vergemeinschaftungen gehen häu¿g einher mit pharmakologisch induzierten veränderten Bewusstseinszuständen. Im westlichen Kulturkreis ist Alkohol das dominante Mittel zur Rauscherzeugung; und so nennt Maffesoli sein in Deutschland am stärksten wirkendes Buch nicht nur „Der Schatten des Dionysos“, sondern überschreibt dessen fünftes Kapitel mit „Bündnisse, die Bacchus stiftet“.37 Dem Wein misst er eine nicht zu unterschätzende anthropologische Funktion bei, die unter anderem in seiner Bindungskraft für die Gemeinschaft besteht. „Auf außergewöhnlichen Wegen führt der Wein zu einem Zustand ohne Festlegungen; und das geht meistens zugunsten der Vereinigung, nicht der Trennung“ (1986: 136). Weil der Alkohol auf eine „Icherweiterung“ weise, seien die Götter, die mit ihm verbunden sind, zugleich die Götter der Liebe und Fruchtbarkeit (vgl. ebd.). Die durch den Alkohol herbeigeführte Trunkenheit verbindet auch Maffesoli eng mit der Initiation – einerseits als kosmische (Ichaufgabe), andererseits als erotische Initiation (kollektive Aggregation). Maffesoli stellt einen deutlichen Bezug zu Durkheim her, wenn er auf das „Kollektivbewusstsein“ und dessen Wurzeln eingeht. Kollektivvorstellungen haben nämlich immer zu tun mit einer Art psychischer Überreizung, „die irgendwie mit dem Delirium verwandt ist“ (Durkheim 1994: 310). Damit wird das individuelle Bewusstsein aufgesprengt, und die Ekstase (das Außersichkommen) überführt die individuellen Aggressionen in die Dynamik des Gemeinschaftslebens (vgl. Maffesoli 1986: 142 f.). Durkheim geht in diesem Zusammenhang auch auf die „rituelle Verwendung von berauschenden Getränken“ (Durkheim 1994: 310) ein, mit der eine Besessenheit erzeugt werde, die zum „Sehen“ befähige. Obgleich Durkheim die damit einhergehende Unbestimmtheit etwas vorwurfsvoll beschreibt, stellt er dennoch die Zweck mäßigkeit des Rausches heraus: „Wenn man also sagen kann, daß die Religion nicht ohne ein bestimmtes Delirium auskommt, dann muß man hinzufügen, daß dieses Delirium, wenn es die Gründe hat, die wir ihm zugeschrieben haben, wohl begründet ist“ (ebd., Herv. i. O.). Den sakralen Charakter des Rausches, den Durkheim und Maffesoli beschreiben, unterstützen zum einen die Rituale, die den Konsum gestalten, zum anderen tut dies die Verehrung der alkoholischen Getränke. Diese Verehrung zeigt sich zum Beispiel in der Bedeutung des Weines, dessen Anbau und Keltern als Kunst bezeichnet wird und der in Dionysos einen 37
Bacchus ist der lateinische Name des Dionysos.
Umgang mit Medien, Symbolen und psychoaktiven Substanzen
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eigenen Gott hat. In Deutschland wird auch dem häu¿g als „Nationalgetränk“ bezeichneten Bier eine besondere Wertschätzung zuteil, die sich in dem Stolz auf das deutsche Reinheitsgebot wie auch in einer einÀussreichen Lobbyarbeit der deutschen Bierbrauer z. B. gegen die Pläne der ehemaligen Drogenbeauftragten der Bundesrepublik ausdrückt (vgl. Blasberg/Pletter 2009). Vielleicht deutet auch die Polysemie des Wortes Spiritus eine Sakralisierung von Alkoholika an, denn der lateinische Begriff spiritus (‚Hauch‘) benennt neben ‚Geist‘ und ‚Seele‘ auch den gewerblich hergestellten Branntwein oder Weingeist. „In der Sprache der Alchimisten wurde mit diesem Begriff die ‚wesenhafte Flüssigkeit von Körpern‘ bezeichnet, die sie durch Destillation gewannen“ (Kluge 1999: 780, Begriff Spiritus). Das Wort Geist kann u. a. ein überirdisches Wesen meinen und hat seine Wurzeln im Indogermanischen Wort für ‚außer sich sein‘ (vgl. ebd. 308, Begriff Geist). Eine typische und weit verbreitete Geste, die das Trinken einleitet und vor dem ersten Schluck an das oder die Gegenüber gerichtet wird, ist das Zuprosten. Es handelt sich hierbei um eine (von der ikonischen Geste zu unterscheidende) symbolische Geste, denn es bedarf über die Mimesis der Geste hinaus eines kulturspezi¿schen Wissens und gestischen Vor verständnisses (vgl. Gebauer/Wulf 1998: 90). Das Zuprosten hat einen kollektiven Charakter und ist als Ausdrucksform des Beginnens zu verstehen, die genau den Funktionsgesetzen des menschlichen Austauschs folgt. Als ordnende Form der Interaktion konstituiert es die Zechgruppe, indem es eine integrierende und zugleich ausgrenzende Funk tion hat: Die einbezogenen Mitglieder werden inkludiert, die von der Geste nicht erfassten sind ausgeschlossen. Eine entscheidende Funktion kann das Zuprosten als Geste der Kontaktaufnahme entfalten, denn es verpÀichtet das Gegenüber zu einer Reaktion. Als Geste des Anfangs ist es mit einem Risiko verbunden – wird die zu strukturierende Situation erfolgreich fortgesetzt oder nicht ? Die Anfangssequenz einer Kontaktaufnahme erzwingt die Frage, ob es sich um einen „Freund“ oder um einen „Gegner“ handelt bzw. neutraler: ob sich „Fremdheit“ in „Vertrautheit“ transfor mieren lässt. Für rauschhafte Vergemeinschaftungen existiert dabei in der Regel ein hohes Kontextvertrauen. Der Rausch senkt Hemmschwellen, sodass für Kontaktaufnahmen weniger Mut aufgebracht werden muss. Die Geste des Zuprostens ist oft in komplexere Trinkrituale und Trinkspiele integriert, deren Funktion nicht nur darin besteht, das Trinken zu organisieren. Trinkrituale und Trinkspiele haben eine soziale Ordnungsfunktion – sie sollen den Rausch begrenzen und zugleich ermöglichen. Aus der Perspektive des Rausches und der Rauscherzeugung wurde darauf in Kapitel 3.2.1 und 3.2.2 eingegangen. Rituale sind dabei entscheidend für die Herstellung, Stärkung oder Erneuerung sozialer Beziehungen. „Sie stellen eine Verbindung zwischen lebendigen kulturellen Traditionen und den sozialen Subjekten her und setzen sie in Szene“ (Gebauer/
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Rauschhafte Vergemeinschaftung
Wulf 1998: 139). Für die Gemeinschaft haben sie nach innen die Funktion der Schaffung von Identität und Solidarität, nach außen bieten sie Wiedererkennbarkeit. Durch Trinkrituale sollen das menschliche Triebverhalten und das Verlangen nach Ausbruch berechen- und steuerbar gemacht und Aggression sublimiert werden. Trink rituale verstehe ich auch als kulturelle Aufführungen, die symbolische Inhalte in bestimmten Formen und Verhaltensweisen organisieren und in denen sich die rauschhafte Vergemeinschaftung selbst inszeniert. Jenseits jeder Nützlichkeitserwägung kommen Trinkrituale und Trinkspiele zur Anwendung – das macht den Charakter jedes Spiels aus. Das Spiel ist unproduktiv und bewirkt im mer Momente des Andersseins und des Ausstiegs aus der Alltagswelt. Aus Caillois’ Klassi¿zierung des Spiels möchte ich die Gruppe alea (Zufalls-/Glücksspiele) herausgreifen, weil sie die Grundlage einer ganzen Reihe von Trinkspielen bietet (vgl. 1964: 21 ff.). Alea heißt auf Latein ‚Würfel‘ und untersteht allein dem Zufall und dem Schicksal. Der Spieler verhält sich hier passiv – seine Intelligenz, seine Geschicklichkeit und seine Muskelkraft haben keinen EinÀuss auf das Spiel und dessen Ausgang (vgl. ebd.: 24). Alea verlangt vom Spieler, dass er sich dem Schicksal unterwerfen muss. Würfelspiele und „Kopf oder Zahl“ sind typische Beispiele und werden in Kneipen unter dem Wetteinsatz des „Runden-Zahlens“ oder des Hinunterstürzens von Hochprozentigem häu¿g gespielt. Wenn die Zechgruppe geschlechtsheterogen ist, ist die Betonung des geschlechtlichen Unterschieds häu¿g in die Spiele einbezogen, und die Spiele sind durchtränkt von zotiger Sexualmetaphorik, die insbesondere die Erotik der weiblichen Spieler betont. Wenn Caillois feststellt, dass Spiele Triebkräfte disziplinieren, dann zeigt sich gerade beim Trinkspiel, dass jene häu¿g korrumpiert werden. Durch die psychoaktive Wirkung des Alkohols werden Regeln schnell vernachlässigt, und es geht bald nicht mehr um den Ausgleich zwischen Einsatz und Gewinn. Sowohl das Ritual als auch das Gemeinschaftsleben an sich sind stets ambivalent – sie umfassen immer KonÀikt und Integration, Begierde und Feindseligkeit (vgl. Gebauer/Wulf 1998: 139; vgl. Maffesoli 1986: 140). Trinkrituale sind gewissermaßen ein Aufruf, gegen den eigenen Körper zu handeln, ein Aufruf zur Initiation, die eine Integration ermöglicht. Es geht darum, den eigenen Körper für eine begrenzte Zeit auf das Maß des Kollektivs zu erweitern. „Den eigenen über den kollektiven Körper zu vergessen, ist auch eine Art, den endlosen Kreis von Erzeugung und Zerstörung zu wiederholen“ (Maffesoli 1986: 140). Georges Bataille38 konstatiert „ein grundlegendes, periodisch auftretendes Bedürfnis der Menschen nach gewaltsamen Erfahrungen der (eigenen wie fremden) AuÀösung und Zerstörung“ (Wiechens 1995: 58). Durch das Verbot von Gewalt entstehen 38
Bataille gehört ebenso wie der oben erwähnte Caillois zu den Gründern des Collège de Sociologie.
Umgang mit Medien, Symbolen und psychoaktiven Substanzen
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Diskontinuität und Differenz (die sich in der Arbeitswelt, aber auch auf intersubjektiver Ebene ¿nden), die sich als Erfahrung von Einsamkeit, Isolation und Entfremdung äußern. „Für Bataille besitzen die Menschen daher ein grundlegendes Interesse daran, diese durch Verbote eingeschränkte, diskontinuierliche Welt der Arbeit und der Vernunft durch Erfahrungen von Überschreitungen dieser Verbote […] zu unterbrechen“ (ebd.: 59). Verschwendung, Überschreitung und unproduktive Verausgabung sind Phänomene, die Bataille besonders interessieren und die er als Kategorie in seine allgemeine Ökonomie mit aufnimmt. Wachstum und Verausgabung sind die Kategorien seiner Ökonomie und je nachdem, wie die Gesellschaften mit den Verschwendungen oder überschüssigen Energien umgehen, können sie voneinander unterschieden werden (vgl. Moebius 2006: 336). Den Ausschluss der unproduktiven Verausgabung aus rationalistischen und auf Gewinnmaximierung programmierten Gesellschaftstheorien kritisiert Bataille, weil sich Gesellschaften nicht vollständig auf die Prozesse der Produktion reduzieren ließen. Vielmehr sei für ein Verständnis von Gesellschaftsformen auch die Berücksichtigung von Luxus, Trauerzeremonien, Spielen, Theater, Künsten, sexuellen Begehrenspraktiken usw. nötig (vgl. ebd.). Verluste und Verausgabungen sind immer ebenso wie Rationalität Bestandteile von ökonomischen Prozessen, weshalb der Franzose nach einem „Modell des Ausgleichs zwischen Ak kumulation und Verschwendung“ strebt (ebd.: 339). Eine Balance zwischen Energieanhäufung und Energieverschwendung gebe Gesellschaften eine relative Stabilität. In rauschhaften Vergemeinschaftungen agieren die Individuen als „Extremkonsumenten“ – sie verschwenden nicht nur ihre ¿nanziellen Ressourcen, sondern zeigen im exzessiven Feiern, Tanzen und Konsumieren auch ein gesundheitliches Risikoverhalten. Ihre Handlungsweise ist aus ökonomischer Sicht irrational und jenseits aller Nützlich keitsprinzipien; dennoch spielt sie, wie Bataille ausführt, eine bedeutende Rolle für die Gesellschaft und die Ökonomie. Eine Ambivalenz zeigt sich nicht nur in der Verfasstheit von Ritual und Gemeinschaftsleben, sondern auch im Umgang mit rauschhaften Vergemeinschaftungen, zu dem im Folgenden einige Anmerkungen gemacht werden. 4.3.3
Die Ambivalenz rauschhafter Vergemeinschaftungen: zwischen sozialem Kitt und Missbrauch durch totalitäre Regimes
Die vorangegangenen Kapitel machen deutlich, dass der Begriff Rausch bezogen auf Vergemeinschaftungen nicht in einer polysemischen Vielfalt zu verstehen ist. Peer groups im Kaufrausch, Künstler im Schaffensrauch und Porschefahrer im Geschwindigkeitsrauch sind zweifelsfrei nicht gemeint. Das vorgeschlagene analytische Konzept soll sich abgren zen von populärwissenschaftlichen Diskussio-
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Rauschhafte Vergemeinschaftung
nen, um zum einen durch die phänomenologische Betrachtung und systematische Analyse rauschhaften Vergemeinschaftungen genauer auf die Spur zu kommen, zum anderen um der Gefahr zu entgehen, propagandistische Diskurse zu befeuern. Rauschhafte Vergemeinschaftungen könnten nämlich durchaus ambivalent gesehen werden, denn immerhin sind massenhafte Rauschzustände auch Konzept von politischen Regimes (gewesen). Feste schließen das Überschreiten von Grenzen stets mit ein – doch werden diese Verstöße verschieden gewertet: „Wo andere im Akt der Grenzüberschreitungen die soziale Ordnung gefährdet sehen, spricht Maffesoli ihr wie die Collègiens – und übrigens ganz ähnlich wie der Ethnologe Victor Turner […] – eine emanzipatorische Funktion zu“ (Moebius 2006: 453 f.). Dabei bleibt aber die Tatsache der Manipulierbarkeit von berauschten Massen verschleiert, denn gerade die emotional hoch aufgeladene Stimmung in Zusammenkünften vieler Menschen kann auch ihr zerstörerisches Gesicht zeigen. Insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betreiben verschiedene politische Systeme mithilfe von Emotionalisierung Politik, z. B. durch politische Feiern, in deren Rahmen positive Gefühle „produziert“ werden, die auf das dafür verantwortliche politische Regime übertragen werden. Vor allem totalitäre Systeme setzen auf diese Praxis. Gebhardt (1987) arbeitet heraus, dass politische Feiern im Unterschied zum Fest stehen, weil diese Form eine Bestätigung der Ordnung darstellt. Die Feier im Nationalsozialismus beispielsweise nimmt zwar auch rauschhafte Züge an, wie zahlreiche Filmaufnahmen und insbesondere Zeitzeugenberichte darlegen, doch ist die nationalsozialistische Feier stets von einem Zwangscharakter begleitet, denn es „stellen sich auch die nationalsozialistischen Feiern als ein planvoll eingerichtetes System von öffentlichen, Individual- und Gemeinschaftsfeiern dar, die von staatlichen und Parteiorganen im Namen einer Ideologie oktroyiert werden. Dadurch erweist sich auch ihr Zwangscharakter, den ein sorgfältig durchorganisierter Parteiapparat und ein ausgeklügeltes Überwachungssystem, die verhindern sollen, daß sich Menschen den staatlich verordneten Feierlichkeiten entziehen, noch unterstreichen“ (Gebhardt 1987: 149).
Die erzwungene Teilnahme am befohlenen Rausch ist zwar mit dem Konzept der rausch haften Vergemeinschaftung nicht eingeschlossen, dennoch beruht die ambivalente Einstellung gegenüber dem Phänomen auch auf Ängsten vor dem gefährlichen Mob, den Goebbels und Hitler zu instrumentalisieren wussten. Christoph Kühberger beschreibt die Stimulierung von Sinneseindrücken im Rahmen politischer Feiern während des Dritten Reiches. Fackeln, Flaggen und Banner boten, gepaart mit der auf Effekte zielenden Architektur des Nationalsozialismus überwältigende optische Reize, die durch rhythmische Musik und emotionalisie-
Umgang mit Medien, Symbolen und psychoaktiven Substanzen
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rende Reden zu ReizüberÀutungen führten und damit psychoaktiv wirksam werden konnten. Insbesondere durch die Umgebung, also durch die Orte, an denen die Feiern stattfanden, wurden rauschartige Zustände erzeugt (vgl. Kühberger 2003: 179 ff.; vgl. auch Kühberger 2010). Auch aus einem anderen Grund werden Gesellungsformen wie rauschhafte Vergemeinschaftungen kritisch gesehen. Wenngleich mit diesem Konzept von Sozialität keine Renaissance von Gemeinschaft beschworen sein soll, werden neue Formen von „Bindungen“ aus traditionaler Perspektive häu¿g mit traditionellen Bindungen verglichen. Unweigerlich kommt man zu der Diagnose einer „Bindungslosigkeit“. Dabei werden gerade vormoderne Beziehungsstrukturen oft idealisiert (vgl. Sander 1998: 183) und die Wörter Familie und Nachbarschaft werden zu „sentimentalisierten Schlagwörtern“ (vgl. Mitscherlich 1965: 26). Diese romantisierende Rückschau verschleiert, dass zum einen Familienbindungen heute aufgrund diffuser Rollenbilder zum Teil deutlich intensiver sind und sein können – etwa die intensive Bindung zwischen Vätern und deren Kinder. Zum anderen wird häu¿g außer acht gelassen, dass Nachbarschaftsbeziehungen nur dort eingegangen werden, wo man darauf angewiesen ist (vgl. ebd.). Uwe Sander entgegnet in seiner Analyse der allgemeinen Gegenwartsdiagnose von der Beziehungslosigkeit, dass vielmehr „moderne Gesellschafen mit einer neuen Qualität sozialer bzw. kommunikativer Beziehungen ausgezeichnet zu sein [scheinen], die gleichzeitig die unabdingbare Unpersönlichkeit von Massengesellschaften und den in der Moderne entstandenen Hang nach Individualität und emotional hoch aufgeladenen Sozialbeziehungen bewältigen können“ (Sander 1998: 185, Herv. i. O.).
Die „Bindung der Unverbindlichkeit“ (Sander 1998) entfaltet ihre Kraft gerade durch Distanz, die im historischen Verlauf in den Großstädten und Ballungszentren ihren Ursprung nimmt. Diese Distanz, die häu¿g auch als Anonymität beschrieben wird, ermöglicht aber auf der anderen Seite einen hohen Grad an Intimität, denn sie lässt sich im Bedarfsfall schnell auf den Modus „Nähe“ umstellen. „Die tendenzielle Distanz als ‚normalisierte‘ Ausgangsstellung für Sozialbeziehungen auch im Nahbereich der Familie ermöglicht eben nicht nur Beziehungslosigkeit und gegenseitiges Desinteresse, sondern auch große soziale Nähe, emotionale Offenheit usw.“ (ebd.: 186). Auch die rauschhaften Vergemeinschaf tungen sind Gesellungen, die sich durch einen hohen Grad an Unverbindlichkeit auszeichnen. Gerade diese Unverbindlichkeit und Anonymität zwischen den Mitgliedern machen Intimität, Efferveszenz und rauschhafte Verausgabung in den raum-zeitlich engen Grenzen möglich. Ihre als integrierendes Ventil wirkende Exzessivität ist an den Grad der Unverbindlichkeit gekoppelt.
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Rauschhafte Vergemeinschaftung
Auch Guy Debords Kultur- und Gesellschaftskritik in „Die Gesellschaft des Spektakels“ (1996) könnte als Angriff gegen rauschhafte Vergemeinschaftungen gelesen werden. Debord verfolgt vor allem eine streng marxistische Linie und Moderne-Kritik und warnt vor Herrschaftssystemen, die sich des Spektakels bedienen und es zu ihrem Kapital machen. Unter der Gesellschaft des Spektakels versteht er „die Selbstherrschaft der zu einem Status unverantwortlicher Souveränität gelangten Warenwirtschaft und die Gesamtheit der neuen Regierungstechniken, die mit dieser Herrschaft einhergehen“ (ebd.: 194). Rauschhafte Vergemeinschaftungen zeichnen sich durch Freigebigkeit und Verschwendung von (auch ¿nan ziellen) Ressourcen aus. Insofern nehmen sie durch vororganisierte Gelegenheitsstrukturen auch einen Warencharakter an, was der radikale Kritiker des Kapitalismus geißeln würde. Zwar setzen diese Formen von Sozialität für kurze Zeit die Ordnung außer Kraft (um anschließend Ordnung wieder zulassen zu können). Ohne die Dynamik rauschhafter Vergemeinschaftungen unterschätzen zu wollen, sind sie zu einem „Umsturz“ im Sinne des Revolutionärs Debords aber wohl nicht in der Lage. Rauschhafte Vergemeinschaftungen lassen sich aufgrund einer Vielzahl von Charak teristika kritisieren. Weder um eine Verteidigung noch um eine Kritik geht es in dieser Arbeit, sondern vielmehr um die Beobachtung und Beschreibung des Phänomens sowie um die Erklärung seiner Funktionen für das Individuum und für das gesamtgesellschaftliche Gefüge. Im empirischen Teil (Kap. 7) wird diese Analyse am Beispiel des rheinischen Straßen karnevals fortgesetzt. 4.4
Zusammenfassung: Rauschhafte Vergemeinschaftung als Gesellungsform der Gegenwart
Rauschhafte Vergemeinschaftungen als ritualisierte und auf Freiwilligkeit beruhende Gesellungen der Gegenwart sind auf einen außeralltäglichen Umgang mit den Dimensionen Raum, Zeit und Körper angewiesen. Der Raum wird außeralltäglich gestaltet und vorübergehend zu einem Bestandteil einer anderen Wirklichkeit, die auch durch eine veränderte Wahrnehmung konstituiert ist. Er verliert seine Bedeutung als verlässlicher Orientierungsrahmen und ist – bedingt durch die Menge an kopräsenten Akteuren – durch Enge gekennzeichnet. Dem Alltagsrhythmus enthoben, wird die Zeit linear und nicht mehr zyklisch wahrgenommen, das heißt, eine Erinnerung an den Ablauf der Lebenszeit, ein memento mori wird wachgerufen. Die Gegenwart des Moments, das Sein im Hier und Jetzt werden spürbar. Die Aufführung von Ritualen ist an der Gleichzeitigkeit orientiert, durch die eine massenhafte Erfahrung von Selbstwirksamkeit möglich ist, die sich ins Rausch hafte steigern kann. Als wesentlicher Kom munikator
Zusammenfassung
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fungiert in der rauschhaften Vergemeinschaftung der Körper. Er wirkt gestaltend und wird gestaltet, trägt die Kennzeichen des Außeralltäglichen und des gemeinsamen thematischen Fokus. Außeralltägliche Kör perpraktiken sowie eine eingeschränkte Körperkontrolle sind charakteristisch für die rauschhaften Situationen. Das Zusammengehörigkeitsgefühl wird durch gemeinsam aufgeführte, ordnende Rituale, Musik und Gesang, ansteckende, überschwängliche Gefühle und geteilte Symbole erzeugt. Rauschhafte Vergemeinschaftungen sind durchaus ambivalent zu sehen – sie tragen ein Potenzial von Kräften in sich, die missbräuchlich erzeugt und benutzt werden können.
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Die Geschichte des rheinischen Karnevals
Das fünfte Kapitel hat zum Ziel, das Fallbeispiel Karneval im Rheinland als historisches Fest in seinen Ursprüngen und Ausprägungen zu rekonstruieren. Dafür werden die heidnisch-christlichen Wurzeln, die Entwicklung vom Mittelalter bis zur französischen Besatzungszeit des Rheinlands, der Beginn des bürgerlichen Karnevals im 19. Jahrhundert und seine wechselvolle Geschichte im 20. Jahrhundert nachgezeichnet (5.1). Die Rekonstruktion zeigt, dass sich in der Karnevalsgeschichte nicht unwesentlich Gesellschaftsgeschichte widerspiegelt. Ein Einblick in zentrale Merkmale, Bräuche und Symbol¿guren des heutigen Karnevals schließt dieses Kapitel ab (5.2). 5.1
Rauschhafte Vergemeinschaftungen in traditionalen bis modernen Gesellschaften – ein historischer Abriss des Karnevals im Rheinland
Der Karneval ist nur eines von vielen möglichen empirischen Beispielen für rauschhafte Vergemeinschaftungen in Geschichte und Gegenwart. Hinter dem aufgeregten Spektakel und den bunt schillernden Eindrücken während der „fünften Jahreszeit“ verbergen sich häu¿g unbeachtet kulturelle wie soziale Wurzeln und historische Hintergründe. Damit der Karneval zeitdiagnostisch angemessen erfasst werden kann, ist die Kenntnis seiner Geschichte zentral. Dabei ist es jedoch unmöglich, eine einheitliche und universale Anthropologie des Karnevals zu schreiben. Das Phänomen gestaltet sich so facettenreich und tritt in lokal jeweils divergierenden Formen auf, dass zum einen eine Begrenzung auf das Rheinland vorgenommen werden muss. Zum anderen können im Rahmen dieses Kapitels nur grobe Wegmarken der Festkultur sowie der heute noch wirksamen Traditionen rekonstruiert werden. Auf detaillierte Überblicke und historische Darstellungen verweisen die Quellenangaben. 5.1.1
Karneval als heidnisch-christliches Fest
Karneval als internationales Fest ist eng verbunden mit dem Katholizismus. Einige Lehr meinungen verorten die Ursprünge dieses Festes in der Antike bei den Saturnalien. Andere Deutungen lassen es auf heidnischen Wurzeln fußen und Y. Niekrenz, Rauschhafte Vergemeinschaftungen, DOI 10.1007/978-3-531-93086-2_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Die Geschichte des rheinischen Karnevals
verstehen germanische und römische Frühlingsfeste zum Jahresende bzw. -anfang als dessen Herkunft.39 Historisch eindeutig abgesichert ist die Erklärung, Karneval sei ein christliches Kalenderfest. Er geht der vorösterlichen Fastenzeit unmittelbar voraus und vereint katholische wie heidnische Elemente. Das niederdeutsche Wort ‚Fastelovend‘ bedeutet nichts anderes als ‚der Abend vor der Fastenzeit‘ und benennt damit ein Schwellenfest, einen Übergangsritus. Frühestens im 13. Jahrhundert ist das Vorfastenfest als letzte Gelegenheit zum Feiern, Essen, Trinken und Tanzen vor den stillen Tagen belegt (vgl. Schwedt 1999: 63). Die Fastenzeit kenn zeichnet das Verbot von Fleisch und tierischen Produkten wie Eier, Schmalz, Sahne, Butter, aber auch den Verzicht auf Alkohol und Sexualität, Tanzen und Singen. Das reichliche, fette Essen und ausschweifende Trinken vor Aschermittwoch verbraucht die Nah rungsvorräte und verhindert daher deren Verderben. Eine gewisse Ähnlichkeit besteht zwischen der Fastnachtszeit und dem Martinstag mit seinem traditionellen Gänseessen. Um die Gänse nicht durch den kargen Winter bringen zu müssen, werden sie am elften Tag im elften Monat geschlachtet. Nicht umsonst wird der Martinstag auch als kleiner Fastnachtstermin aufgefasst (vgl. Moser 1986: 26), gilt doch die Elf als Narrenzahl und haben die üppigen Tafeln am 11.11. ihre Entsprechung in den fetten Tagen vor Aschermittwoch. Während das Heidentum die Furchtlosigkeit vor dem Tod40 durch den ewigen Wechselgang der Natur begründet und mit den Frühlingsfesten symbolisiert, nutzt das Christentum die Metapher der Kreuzigung und Auferstehung Jesu und ersetzt die heidnischen Vorstellungen durch die harmonische Einheit von Fastnacht, Aschermittwoch, Fastenzeit und Ostern. Trotz der Einbindung in den christlichen Kalender stößt das wilde Treiben in der Fastnacht nicht immer auf das Wohlwollen der Kirche. Die Ablehnung richtet sich einerseits auf die Ausschweifungen, andererseits auf viele heidnische Bräuche, die Teil der Gelage sind.41 Diese Bräuche bedienen „das imaginäre Begehren, in einem temporären Ausnahmezustand den Alltag zu vergessen, unkonventionellen Verhaltens- und Interaktionsnormen zu folgen, eine ‚un menschliche Gestalt‘ anzunehmen und (umgangssprachlich) maskiert-anonym ‚die Sau rauszulassen‘“ (Klauser 2007: 46). Nach Verbotsversuchen integriert die Kirche dieses Brauchtum schließlich in den Osterfestkreis und toleriert es unter Verweis auf die bevorstehende vorösterliche Enthaltsamkeit.
Eine historische Rekonstruktion der germanischen und römischen Vorformen sowie der heidnischen Feste gibt Klauser 2007: 23 ff. In mittelalterlicher Zeit sind der Tod und die Angst vor ihm fester Bestandteil des alltäglichen Lebens. 41 Bis ins hohe Mittelalter bezeichnet der Klerus das Fastnachtsvergnügen des Volkes abwertend als ‚Bacchanalia‘ (vgl. Klauser 2007: 45). 39
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Der rheinische Karneval in der Vergangenheit 5.1.2
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Der Karneval vom Hochmittelalter bis zur französischen Besatzung
Im Hochmittelalter wird die Fastnacht als Brauch aus dem ländlichen Raum zu einem Teil städtischer Festkultur. Die Geschichte des Karnevals ist von nun an eng verbunden mit der Entwicklung der Stadtkultur, wie das Beispiel Köln zeigt. Als sich ab Mitte des 12. Jahrhunderts wohlhabende KauÀeute und Händler zunehmend als neue Oberschicht und Repräsentanten des Bürgertums etablieren, verliert die Kirche, in deren fester Hand Köln im Hoch mittelalter gewesen ist, zunehmend ihren EinÀuss auf die Geschicke der Stadt. Zugleich entwickeln sich ein bürgerliches Selbstbewusstsein und eine Selbstständigkeit, die sich auch in einem zunehmenden EinÀuss auf die Stadtverwaltung ausdrücken. Die Stadt Köln erreicht im 14. Jahrhundert aufgrund ihrer umfassenden Handelsbeziehungen allmählich den Höhepunkt ihrer europäischen Geltung. Die frühesten schriftlich überlieferten Zeugnisse einer kölschen Fastnachtsfeier stammen aus dem Jahr 1341 (vgl. Klauser 2007: 80). Die Aufzeichnungen aus dieser Zeit und aus den Folgejahren beziehen sich immer wieder auf Bestim mungen und Verbote zur Fastnacht (z. B. Vermummungsverbot aus Angst vor Missbrauch der Maske). Die Quellen deuten nicht darauf hin, dass es ein einheitliches „Gremium“ gibt, das die Gesamtorganisation der Veranstaltung über nimmt. Vielmehr sind es die vielen Gaffeln und Zünfte, die das Fest und seine Durchführung lenken (vgl. ebd.: 89). Auch nach der Reformation hält man in Köln an der Fastnacht fest, selbst wenn die Reformierten mit der Begründung, das Fasten sei doch aufgehoben, vielfach Unterdrückungsversuche unternehmen. Die Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken machen sich in der Fast nacht bemerkbar – die Menschen feiern nach dem Autoritätsverlust der katholischen Kirche ausgelassener denn je (vgl. Brog 2002: 17). Zusätzlicher Spott wird ihr zuteil, indem sich Mönchsund Nonnengewänder als Kostüme großer Beliebtheit erfreuen. Dem Verkleiden kommt stets eine entscheidende Bedeutung zu: „Das Maskieren [ist] ein alle Generationen und Stände umfassendes Fastnachtselement“ (Klauser 2007: 109). Immer wieder aber werden aus Angst vor Gewaltverbrechen oder vor Zusammenrottungen im Schutz der Maske Verbotsversuche unternommen. Im Falle der geistlichen Kutten spricht man gesonderte Einschrän kungen aus, z. B. 1601 in Köln, als „auf das Gebot Gottes die Mummerey verbot[en]“ (Brog 2002: 17) wird. Viele Erlasse folgen und zeigen nur immer wieder, wie wenig sich die Rheinländer daran halten. Ein entscheidender Einschnitt für die Fastnacht im gesamten Rheinland ist die Besetzung durch die französischen Revolutionstruppen. Sie verändert das Rheinland und den Karneval tiefgreifend. Am 6. Oktober 1794 werden die Stadtschlüssel von Köln friedlich an die Fran zosen übergeben. Mit 12.000 Mann rücken die Revolutionstruppen an (vgl. Brog 2002: 34). Die freie Reichsstadt zählt
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Die Geschichte des rheinischen Karnevals
gerade 40.000 Einwohner, sodass die neuen Machthaber einen bis dahin unbekannten EinÀuss ausüben und ein ebenso ungewohntes Bild innerhalb der Stadt abgeben. Eine Herausforderung wird die erste Karnevalszeit: Den Ausnahmezustand am Rhein wollen die misstrauischen Franzosen gänzlich verhindern und erlassen entsprechende Verbote. Dass die Kölner sich ihren Karneval nicht nehmen lassen und hinter verschlossenen Türen in den eigenen vier Wänden sehr wohl feiern, ist anzunehmen. Darauf lassen auch in den Folgejahren wiederholt ausgesprochene Verbote und darauf folgende Lockerungen der Erlasse schließen (vgl. Brog 2002: 36). Bald führt man die Lustbarkeitsabgaben ein – eine Art Vergnügungssteuer, die an das neu gegründete „Wohlthätigkeitsbureau“ abzuführen und für die Armenfürsorge bestimmt ist (vgl. ebd.: 40). Die Maskenbälle werden so gewissermaßen zu Bene¿zveranstaltungen, wenn auch die Veranstalter am kräftigsten an ihnen verdienen. Als im Jahr 1801 der Friede von Lunéville geschlossen wird und die Rheinländer zu Franzosen werden, gehören die Straßen wieder ganz den Jecken. Auch der Bellegeck, die Kölner Symbol¿gur des Narren, ist wieder erlaubt. Mit Glöckchen behängt und von Geigern begleitet darf er wie in früheren Jahren in der Karnevalszeit wieder seine Runden drehen. Seine Wiederbelebung steht für die Rückkehr des Straßenkarnevals (vgl. ebd.: 44). Bald ¿nden auch die Franzosen Gefallen am Karneval, denn Napoleon erkennt den wirtschaftlichen Wert des Maskierens. Sein Innenminister erlässt am 8. Juni 1806 ein Maskenballmonopol, das mit der Reformierung der Theater zur Verbesserung deren Wirtschaftlichkeit einhergeht. Solange das Maskenballmonopol jährlich verlängert wird, haben die Theater das alleinige Recht, Maskenbälle zu organisieren. Die Wirte der Städte leiden dementsprechend, und langjährige Streitigkeiten entstehen. Nach zwanzigjähriger Präsenz verlassen die französischen Truppen ein nachhaltig verändertes Rheinland: Die Franzosen brachten mit einem modernen Verwaltungs- und Rechtssystem einen Modernisierungsschub in die vormals feudalen Strukturen. Dennoch: Die Freude über den Abzug der Franzosen ist bei den Rheinländern groß. Sie währt jedoch nur bis zum Einzug der Preußen. 5.1.3
Exkurs: Der Narr als Symbol des Karnevals
Die Geschichte der Narrenidee reicht bis ins Mittelalter zurück. Der Narr, der noch heute Sinnbild des Karnevals ist, steht außerhalb der sozialen Ordnung und am Rand der Gesellschaft. In hochmittelalterlichen Bildquellen kommt er stets ausgerechnet im Kontext der Höfe mit ihren streng geordneten und nach Vollkommen heit strebenden Lebensformen vor. Ab dem 12. Jahrhundert wird der Narr immer häu¿ger Gegenstand der bildenden Kunst. Einmal wird er mit Kindern verglichen, weil er sein ganzes Leben lang kindisch sein wird. Ein anderes
Der rheinische Karneval in der Vergangenheit
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Mal wird er mit Krüppeln dargestellt, was auf seinen geistigen „Defekt“ anspielen soll (vgl. Mezger 1984: 4 f.). Um sein soziales Außenseitertum deutlich zu machen, ¿ndet man den Narren auch gleichgesetzt mit dem diabolisierten Juden oder mit dem Nichtchristen (letzteren etwa in Sebastian Brants „Narrenschiff“ von 1494). Immer wieder ist der Narr mit Spiegeln abgebildet. Spiegel gelten als Symbole für die Abgewandtheit von Gott und für die Liebe zu sich selbst. Die narzisstische Narren¿gur ist nicht fähig zur Nächstenliebe und ein großer Tor, auf dessen Dummheit die Schellen an seiner Kleidung verweisen.42 Nicht nur die Verbindung des Narren mit Gottesferne ist häu¿g zu ¿ nden, sondern spätestens seit der Mitte des 15. Jahrhunderts auch die Verbindung zwischen Narrheit und Tod. Die Narrengestalt verkörpert wie kaum eine andere den memento mori-Gedanken. Narr und Tod stehen an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert gleichbedeutend für Vanitas. Zwischen dem TeuÀischen und dem Tod stehend, zeigt der Narr, woher die Narrheit rührt und wohin sie führt (vgl. Mezger 1984: 14). Häu¿g übt er mit hintergründigem Witz und versteckter Weisheit aber auch politische Kritik oder er parodiert kirchliche Riten, was wegen seiner Außenseiterstellung zumeist nicht sanktioniert wird. Victor Turner vermutet (unter Rückgriff auf Max Gluckmann), dass die Narren in dem politischen System, in dem man die herrschende Elite kaum kritisieren kann, als Sprachrohr des verletzten Moralemp¿ndens fungieren (vgl. Turner 2005: 108). Spätestens seit dem 15. Jahrhundert gelten als Narren „alle diejenigen, die aufgrund deutlich abweichender Verhaltensformen – bedingt durch geistige Defekte, durch körperliche Anomalien, insbesondere aber durch Gleichgültigkeit gegenüber dem christlichen Glauben – dem herrschenden Normensystem nicht entspr[e]chen“ (Mezger 1984: 9). 5.1.4
Der Karneval unter preußischer Besatzung
Im Jahr 1815 wird das Rheinland zur preußischen Provinz, was zunächst auf den Karneval keine großen Auswirkungen hat. Wenige Jahre später entsteht die Form des Karnevals, die wir noch heute kennen: Mit einem großen Umzug an Rosenmontag43 nimmt der organisierte, „bürgerliche Karneval“ seinen Ursprung in Köln (vgl. Schwedt 1999: 64). Die Geburtsstunde des Rosenmontagszugs ist der 10. Februar 1823. Auch aus ¿nanziellen Interessen will man durch diese Bemühungen die Oberschicht wieder für den Karneval gewinnen, denn die reicheren Leitmotivisch wird in der Narrenliteratur des Spätmittelalters, etwa bei Sebastian Brant oder Thomas Mur ner, die Schelle mit Dummheiten, leeren Phrasen oder Wortgeklingel gleichgesetzt (vgl. Mezger 1984: 20 f.). 43 Der Begriff ‚Rosenmontag‘ fand ab 1831 Verwendung. Vorher sprach man vom Fastnachtsmontag (vgl. Schmidt 2001: 57). 42
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Die Geschichte des rheinischen Karnevals
Bürger haben sich – angewidert von den niederen Schichten – mehr und mehr zum Feiern in Privathäuser zurückgezogen. Der reformierte bürgerliche Karneval wird prächtig, kostspielig und für die Oberschicht kommod ausgestattet. Die Armen jedoch pro¿tieren entgegen den vollmundigen Versprechungen der Reformer wenig von den Fastnachtsveranstaltungen. Die Zahlungsmoral für die Armenabgabe ist schlecht, sodass der Stadtrat 1834 die Bestimmungen zu den Lustbarkeitsabgaben verschärft (vgl. Brog 2002: 70). Während die Wohlhabenden ihre Fastnacht in kostbar und romantisch geschmückten Sälen feiern, tummeln sich die untersten Schichten der Stadtbevölkerung auf den Straßen. Nach und nach löst sich jedoch das Privileg der Oberschicht auf den organisierten Karneval auf, und die Karnevalsgesellschaft zählt immer mehr Mitglieder aus der Mittelschicht (z. B. Handwerker). Bald werden weitere Gesellschaften in Köln und im gesamten Rheinland gegründet.44 Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird der Rosenmontagszug in Köln zu einer Touristenattraktion, die mehr und mehr Reisende anzieht. Damit entwickelt sich der Karneval zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor der Region – und ist es noch heute.45 Doch welchen EinÀuss haben die ungeliebten Preußen auf den Karneval, der in diesen Jahren so aufblüht ? Vor allem die Zensur macht den Dichtern und Liedschreibern zu schaffen, denn jede Art von Meinungsäußerung ist ihnen verboten. Auch deren of¿zielle Abschaffung im Anschluss an die Revolution des Jahres 1848 bedeutet für die Karnevalisten nicht unbedingt Meinungsfreiheit. „Preußische Strenge und rheinische Ausgelassenheit vertr[a]gen sich schlecht in diesen Jahren“ (Brog 2002: 137). Die Jecken werden zuneh mend politischer und nutzen den Karneval als Ventil für ihren Unmut. Ziel des Spotts ist auch die preußische Steif heit, die aber zugleich EinÀuss auf die Organisation der Karnevalsgesellschaften hat. Aus ungeordneten Gruppen werden vielfach Korps mit Kommandanten, Präsidenten und Spieß. Während sich einige Vereine mehr und mehr mit dem preußischen Militarismus identi¿zieren, zelebrieren andere weiterhin ihre PersiÀage auf alles Militärische, die in der Zeit der Unterdrückung durch Napoleon aus Abneigung gegen das Soldatische entstanden war.
Auf die Geschichte des organisierten Karnevals in den Städten Aachen, Düsseldorf und Köln zwischen den Jahren 1813–1914 geht Christina Frohn in ihrer Dissertation ein (Frohn 2000). In der Session 2006/07 wurde in Deutschland beispielsweise Maskerade (Kostüme, Hüte, Schminksets, Perücken usw.) im Wert von 300 Millionen Euro verkauft. Das waren 10 Millionen Euro mehr als in der Vorjahressession (vgl. IWD 2008: 1). In der Session 2008/2009 machte man trotz der Wirtschaftskrise mit Kostümen und Accessoires 290 Millionen Euro Umsatz (vgl. IWD 2010: 8). 44
45
Der rheinische Karneval in der Vergangenheit 5.1.5
119
Der Karneval im 20. Jahrhundert
Das 20. Jahrhundert bedeutet eine wechselvolle Zeit für den Karneval. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs wird die Fastnacht ausgesetzt. Auch nach Kriegsende kehrt die jecke Zeit nicht unmittelbar zurück, denn die Besatzer sind streng mit ihren Ausgangssperren, mit der Zensur und der Einschränkung der Versammlungsfreiheit. Karneval ¿ndet – abgesehen von den üblichen Überschreitungen des Verbots – wieder nur in geschlossenen Gesellschaften statt. Kleine Vereine, Tanzdielen und Bars werden daher zahlreich ins Leben gerufen (vgl. Brog 2002: 209). Nach vereintem Aufbäumen der Organisatoren und der Bevölkerung in den Karnevalshochburgen ist im Jahr 1925 die karnevalsfreie Zeit zu Ende. Trotz Geldknappheit werden vielerorts wieder Bälle, Sitzungen und Umzüge gefeiert. Mit dem Beginn der Naziherrschaft verändert sich der Karneval grundlegend. Die Rolle der Jecken im Dritten Reich wird erst zögerlich und mit einer Verspätung von gut 50 Jahren aufgearbeitet, sodass sich nur in wenigen historischen Rekonstruktionen Infor mationen zum „gleichgeschalteten Karneval“ ¿nden. Eine Fernsehdokumentation des WDR („Heil Hitler und Alaaf !“; 04.01.2008) zeigt, wie und mit wie wenig Widerstand sich die nationalsozialistischen Machthaber Zugriff auf den Karneval verschaffen können. Die Nazi-Organisation „Kraft durch Freude“ organisiert nicht nur Fahrten zum Rosenmontagszug in Köln. Auch die NSDAP nähert sich den Jecken durch organisatorische Unterstützung an. Seit 1934 gehört der Antisemitismus zur Propaganda des Rosenmontagszugs, und im Jahr der Reichspogromnacht (1938) wird die Karnevalssession auf den Scherben der Synagogen eröffnet. Nicht nur organisatorisch, sondern auch inhaltlich erlangen die Nationalsozialisten EinÀuss auf den Karneval. Unter der Naziherrschaft werden besonders die heidnischen und germanischen Spuren in der Fastnacht hervorgehoben. Der Karneval wird als Frühlingsfest gefeiert, wäh rend man die christliche Beziehung zum Karneval leugnet. Im Sinne der Förderung und Aufwertung des Brauchtums werden karnevalistische Traditionen vielfach im völkischen Sinne instrumentalisiert und umgedeutet (vgl. Brog 2002: 228). Im Kampf gegen Homosexualität können Männer in Frauenkleidern nicht geduldet werden: Das Funkemariechen ist von nun an eine Frau, ebenso die Jungfrau im Dreigestirn. Während das Funkemariechen bis heute eine junge Tänzerin ist, stößt die Idee einer weiblichen Jungfrau im Dreigestirn bei den Karnevalisten auf Widerstand. Daher kehrt man nach dem Ende der Naziherrschaft wieder zur alten Variante zurück, wonach Prinz, Bauer und Jungfrau durch Männer repräsentiert werden. In den 1950er-Jahren erholt sich der Karneval vom Zweiten Weltkrieg. Es entwickelt sich allmählich die Form des Karnevals, die ich im Folgenden am Beispiel von Köln als „heutigen Karneval“ beschreibe.
120 5.2
Die Geschichte des rheinischen Karnevals Rauschhafte Vergemeinschaftungen in der Gegenwart – der Kölner Karneval heute46
Etwa 2,5 Millionen Jecken sind in den 4.800 Karnevalsvereinen in Deutschland organisiert und sorgen gemeinsam mit den unzähligen unorganisierten Narren in den Karnevalshochburgen von Weiberfastnacht bis Aschermittwoch für einen bundesweiten Umsatz von 3 bis 5 Milliarden Euro (vgl. IWD 2007). Köln ist mit seinen rund 480 Vereinen die Karnevalshochburg (vgl. Klauser 2007: 157). Nicht zuletzt aus diesem Grund bildet Köln einen Schwerpunkt der vorliegenden ethnogra¿schen Studie. Auch die Größe des Rosen montagszuges macht Köln mit schätzungsweise 1,2 Millionen Besuchern, 100 Wagen und mehr als 10.000 Teilnehmern im Zug zur „Hauptstadt des Karnevals“ (vgl. IWD 2007). Die Karnevalsgesellschaften im Rheinland sind die Organisatoren des Sitzungskarnevals,47 der Vereinssitzungen, Herrenfrühschoppen, Damensitzungen, Prunksitzungen, Galasitzungen, Kostümsitzungen, alternativen Sitzungen und auch des Rosen montagszugs.48 Karneval ist ein Emotionsventil, „das nicht nur ‚lustige Ausgelassenheit‘ und ‚allgemei nes Fröhlichsein‘ zulässt, sondern auch emotionale Offenheit für Besinnlichkeit, Wehmut und Traurigkeit fördert“ (Klauser 2007: 159). Er ist Anlass zum kollektiven Feiern, zur Verkeh rung des Alltäglichen und zur Vergemeinschaftung. Die Bedeutung des Karnevals als großes Fest vor der Fastenzeit hat mit der Säkularisierung erheblich nachgelassen. Der Zyklus von Hedonismus und Askese tritt heute zwar noch auf, aber in abgeschwächter und subtilerer Form. Jahr für Jahr aktualisiert der Karneval den memento mori-Gedanken – das Wissen um die Vergänglichkeit des Lebens und die Begegnung mit dem unweigerlich tragischen „Sein zum Tode“ (Heidegger). Todesmasken, Teufels- und Sensenmannkostüme symbolisieren die Vergänglichkeit und sind fest im Fastnachtsbrauch verankert (vgl. ausführlich dazu Moser 1986: 313 ff.). Dieser Verweis auf die Endlichkeit des Lebens ist als Appell an den Genuss zu verstehen. Im Tod als anthropologischer Konstante des Lebens lösen sich die Persönlich keitsgrenzen
46 Der Schwerpunkt der Deskription liegt auf dem Kölner Karneval, weil sich an ihm alle Regionen orientieren, in denen die Feldforschung stattfand. 47 Die Sitzungen sollen ursprünglich die demokratischen Grundformen nachahmen, die sich im 19. Jahrhundert auszuprägen beginnen – mit Sitzungsleitung, Protokollführung, Debattenbeiträgen, Abstimmungen, Demonstrationen und Fraktionsbildungen. Die PersiÀage ist bis heute geblieben und befriedigt vor allem das Bedürfnis der Besucher nach öffentlichem Parkett und Unterhaltung. 48 Viele im Eigenverlag erschienene Publikationen (Jubiläumsbände, Sessionshefte usw.) arbeiten nicht nur die Vereinsgeschichten auf, sondern geben auch Auskunft über Vereinstätigkeiten (z. B. VKAG 2006), sind jedoch über den Buchhandel oder Bibliotheken nicht zu beziehen und werden nicht systematisch und zentral archiviert.
Der rheinische Karneval in der Gegenwart
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auf. Damit hat der Tod strukturelle Ähnlichkeit mit dem Entgrenzungsphänomen der Ekstase („aus sich heraustreten“). Im Folgenden werden der Rosenmontagszug, die Weiberfastnacht, das Kölner Dreigestirn, der Schlachtruf ‚Alaaf‘ und die Karnevalsmusik als eine Auswahl an Elementen des Straßenkarnevals skizziert: Der Rosenmontagszug49 durch die Kölner Innenstadt ist mit seinem ca. 6,5 km langen Zugweg der alljährliche Höhepunkt des Karnevals in der Rheinmetropole. Während des Um zugs, der immer am Montag vor Aschermittwoch statt¿ ndet und von den Kölnern nur „d’r Zoch“ genannt wird, bringen die Zugteilnehmer das klassische Wurfmaterial unter die Leute. Die Feiernden und Zuschauer am Straßenrand feuern die Werfenden lauthals an. „Kamelle“50 und „Strüssjer“51 sind die beiden Vokabeln, die selbst die vielen Karnevalstouristen schnell beherrschen. Die bunten Prunk- und PersiÀagewagen schlängeln sich durch die Straßen – begleitet von Musik, Gesang, Lachen und „Kölle Alaaf“-Rufen und mehr als einer Million Zuschauern am Wegrand. Die Mottowagen mit ihren satirischen Spitzen können als kleine Momentaufnahmen der gesellschaftlichen und politischen Situation gesehen werden, die durch mediale Abbildung auch als Gegenwartsdiagnosen im kulturellen Archiv Eingang ¿nden. Die Innenstadt von Köln wird für diesen Umzug sorgsam präpariert, indem nicht nur mobile Toiletten, Absperrzäune und Getränkewagen aufgebaut werden. Auch die Schaufenster werden an einigen Straßenecken mit Sperrholzplatten abgedeckt und andere bunt dekoriert. Man baut Tribünen auf, von denen aus der Zug bestaunt werden kann, und Polizei und Sicherheitspersonal postieren sich. Souvenirstände, Imbisswagen und Partybühnen transformieren die alltäglichen räumlichen Bedingungen der Innenstadt in eine Bühne des Außeralltäglichen. In diesem veränderten Setting feiern die vielen Jecken das Fest der Verkehrung nicht nur während des Zugs, denn nach dem Umzug geht es in den unzähligen Kneipen, Festzelten oder auf den Straßen von Köln weiter. Vorbereitet werden das Motto und das Konzept des Rosenmontagszugs von einem Komitee, das die Veranstaltung auch ¿nanziell absichert, mit den Behörden zusammenarbeitet und die organisatorische Umsetzung verant wortet. Die Finanzierung des Zuges sichert der so genannte Zuggroschen, an dem Sponsoren den größten Anteil haben. Aber auch der Festabzeichenverkauf, der Beitrag Neben dem Rosenmontagszug gibt es die Schull- und Veddelszöch, die am Karnevalssonntag und Karnevalsdienstag durch die Kölner Stadtteile und Vororte ziehen. Sie werden nicht durch ein organisierendes Komitee veranstaltet, sondern sind eher ein durch Spontaneität und Kreativität gekennzeichnetes Familien- und Nachbarschaftsfest. 50 Kamelle ist heute ein Sammelbegriff für Schokolade, Bonbons, Kaugummi, Pralinen, Kekse und andere Süßigkeiten, die tonnenweise von den Festwagen geworfen werden. 51 Strüssje ist die Kölsche Bezeichnung für einen kleinen gebundenen Blumenstrauß, der meist aus einer Tulpe, Nelke oder Rose mit etwas PÀanzengrün besteht. 49
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Die Geschichte des rheinischen Karnevals
der mitziehenden Gesellschaften sowie die Sammlungen bei Karnevalsveranstaltungen tragen zum Zuggroschen bei. Die Weiberfastnacht am Donnerstag vor Rosenmontag ist der Auftakt zum Ausnahmezustand. Das alte, ursprünglich unorganisierte Frauenfest knüpft an die frühere heidnische Bedeutung des Karnevals an. An diesem Tag eröffnet der Oberbürgermeister der Stadt Köln gemeinsam mit dem Kölner Dreigestirn auf dem Alter Markt of¿ ziell den Straßen karneval vor vielen kostümierten Kölnern und Besuchern. Anschließend strömen die Jecken in die Kneipen und lassen mit Tanzen, Singen, Schunkeln und Kölschtrinken die Banalität des Alltags hinter sich. Ausnahmezustand in Köln bedeutet, dass die Stadtver waltung nicht mehr arbeitet und die Geschäfte spätestens ab Mittag geschlossen sind. Die Angestellten kommen morgens verkleidet ins Büro oder Geschäft, und in den Schulen wird „Brauchtum“ unter richtet. Die ethnologische Forschung hebt häu¿g den hohen Grad an Unorganisiertheit von Weiberfastnacht hervor (vgl. Klauser 2007: 230) und stellt sie dem organisierten „Männer-Karneval“ gegenüber. Allerdings gilt dieser Gegensatz heute nicht mehr allumfassend, denn die Eröffnung um 11.11 Uhr übernimmt das Dreigestirn gemeinsam mit dem Oberbürger meister (insgesamt 4 Männer) und die Unorganisiertheit wurde längst in eine of¿zielle Geregeltheit überführt. Die Rahmung der Weiberfastnacht ist an vielen Stellen männlich dominiert. Was heute für Weiberfastnacht typisch ist, ist zum einen das Bützen:52 Es gilt die Regel, viel zu bützen und gebützt zu werden von möglichst nicht „eigenen“ Männern. Zum anderen ist der Brauch des Krawattenabschneidens zum Herrschaftsgestus der Frauen geworden. Die Krawatte gilt als Symbol der Macht und der männlichen Autorität und wird in psychologischen Deutungen zuweilen als Phallus-Symbol gesehen. Wie die Erklärungen bestimmter Traditionen auch aussehen mögen, den Frauen gehört an Weiberfastnacht das Regiment. Allerdings darf man diesen ‚Frauentag‘ nicht überschwänglich als emanzipatorisch deuten, denn der Ausbruch der Frauen aus einem normierten Korsett und die Verkehrung von Machtverhältnissen sind zeitlich eng befristet und eingebettet in ritualisierte Formen, die eines männlichen Gegenübers bedürfen. Die Weiberfastnacht könnte auch als Bestätigung der herrschenden Geschlechter ungleichheit gesehen werden, die sich als Ausdruck der Gleichberechtigung tarnt.53 52 Beim Bützen verteilen traditionell Frauen als Zeichen des Frohsinns Küsschen an ihre männlichen Gegenüber. Ob das Bützje auf die Wange oder auf den Mund zielt, ist abhängig von der Situation und vom Gegenüber. Die Kussrichtung kann aber auch umgekehrt bzw. synchron von beiden aus erfolgen. Bützjer werden auch häu¿g gleichgeschlechtlich unter Frauen, deutlich seltener unter Männern verschenkt. 53 Mit dem ersten Rosenmontagszug im Jahr 1823 wurden Frauen aus dem Karneval ausgeschlossen. Bis zum Jahr 1979 durften sie of¿ziell nicht aktiv am Rosenmontagszug teilnehmen (zur Rolle der Frauen im Karneval vgl. ausführlich Brog 2002: 139 ff.).
Der rheinische Karneval in der Gegenwart
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Das Kölner Dreigestirn ist eine der wichtigsten Symbol¿guren im Kölner Karneval. Das Dreigestirn (oder im Umland alternativ das Prinzenpaar) ist die Personi¿ zierung des reformierten, bürgerlichen Karnevals. Seine Geschichte hängt eng mit der des ‚Helden Karneval‘ zusammen, der 1823 eingeführt wurde. Heute ist der ‚Held Karneval‘ ein ‚Prinz Karneval‘ und hat zwei Begleiter: den ‚Kölner Bauer‘ und die ‚Kölner Jungfrau‘, die den edlen Charakter des Karnevals unterstreichen sollen. Die unzertrennliche Einheit aus Prinz, Bauer und Jungfrau gibt es seit 1883. Die Proklamation, bei der das Regiment über die Stadt für die Zeit bis Aschermittwoch symbolisch und in einer feierlichen Zeremonie an den Prinzen übergeben wird, wurde unter der nationalsozialistischen Herrschaft 1936 eingeführt. Das Dreigestirn wird jedes Jahr von anderen Männern dargestellt. Deren Person tritt zwar hinter den jeweiligen Figuren zurück, aber die Männer übernehmen damit eine ausgesprochen prestigeträchtige Rolle. Das „Trifolium“ erfüllt folgende symbolischen Funktionen (vgl. Klauser 2007: 205): ƒ ƒ ƒ
Seine Totalität54 der Prinz regiert das Narrenvolk und untersagt den Untertanen Griesgram und Freudlosigkeit. Seine Deftigkeit der Bauer gilt als treuer und tapferer Beschützer der Stadt und ihrer Einwohner. Ihre Lieblichkeit die Jungfrau symbolisiert die historische Seele der Stadt, die sich keinem fremden Machtwillen unterwirft, und verkörpert das Selbstbewusstsein der Kölner.
Im Rosenmontagszug bildet das Dreigestirn jedes Jahr den krönenden Abschluss in seinen prunkvollen, von der Ehrengarde begleiteten Wagen. Dabei ziehen erst Bauer und Jungfrau vorüber, dann folgt der Prinz in einem eigenen Wagen. Der Schlachtruf ‚Alaaf‘ ist der typisch kölsche karnevalistische Ausruf. Er ist vor allem im dreifachen ‚Kölle Alaaf‘ in der Karnevalszeit das Symbol festlich karnevalistischer Stimmung und zu unzähligen Gelegenheiten gebräuchlich. In der Aufführungspraxis wird zuerst ausgerufen, auf wen sich das Alaaf bezieht (z. B. Kölle, Karneval, Dreigestirn), um danach gemeinsam und mit einem formlos seitlich in die Luft schwingenden rechten Arm das Alaaf zu rufen. Diese Wort- und Bewegungskombination wiederholt sich dreimal. Der Ursprung des Wortes Alaaf konnte bislang nicht rekonstruiert werden, sodass alle Erklärungen nur Mutmaßungen sind. Fest steht aber, dass Alaaf in seiner Entstehung mit Köln verbunden ist („Köln Alaaf“) (vgl. Klauser 2007: 209 ff.). Entscheidend für die vorliegende Untersuchung ist weniger der Wortursprung als vielmehr die Funktion des Alaaf. Das Wort kommt einer Lobpreisung gleich und drückt das Wohlwollen 54
Oftmals wird anstelle von ‚Totalität‘ der parodierende Begriff ‚Tollität‘ benutzt.
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Die Geschichte des rheinischen Karnevals
aus, das die Beteiligten für die und in der Situation emp¿nden. Das gemeinschaftliche Rufen, die vielen Stimmen und viele gleichzeitig bewegte Arme verstärken das für den Karneval so charakteristische Wir-Gefühl. Die unmittelbare Nähe zu anderen Körpern wird physisch besonders intensiv wahrgenommen, wenn die unzähligen Jecken sich gemeinsam, gleichförmig und rhythmisch bewegen. Die rhythmische Bewegung beim Alaaf-Ruf kann vergemeinschaftende Wirkung haben und ist eine performative Praktik, durch die eine – zumindest situative – Gemeinschaft sinnlich spürbar wird (vgl. Niekrenz 2010). Die Karnevalsmusik ist ein essenzielles Element des Karnevals und trägt zum Gemeinschaftsgefühl bei (vgl. Kap. 4.2.3.3). Die Liedsammlung zum Karneval hat ein unübersichtliches Ausmaß angenommen.55 Dennoch gibt es dominierende Themen in den meist humor vollen oder satirischen Texten – Wein, Liebe und Gesang. Diese drei traditionsgemäßen Themen tauchen in verschiedenen Formen immer wieder auf. Ein wesentlicher Teil der eingängigen Karnevalslieder ist der Refrain, der von allen mitgesungen werden kann und viele Male wiederholt wird. Dem gemeinsamen Singen kommt eine besondere und Gemeinschaft stiftende Wirkung zu, denn es ist „ansteckend“ und fördert einen friedlichen, familiären Umgang miteinander. Textsicher zu werden, ist selbst für den Nicht-Kölner eine leichte Übung durch das stetige Wiederholen der immer gleichen Schlager und ihrer Refrains. Viele Lieder enthalten Nonsens-Texte oder lautmalende Elemente, wie z. B. ballaballa, sumsumsum und tätärätätä. Diese „Textstellen“ sind noch aus Kindertagen bekannt und lassen einen kurzen, regressiven „AusÀug“ in diese unbeschwerten Tage zu. Zudem ist die Parodierung – eine bekannte Melodie wird mit einem neuen Text gesungen – ein beliebtes Stilmittel beim Neuschöpfen von Karnevalsliedern. Mitsingen und auch Schunkeln bedürfen kaum einer Übungszeit. Das gemeinsame Einander-Wiegen im Takt der Melodie bringt die Körper der Feiernden einander nah. Das Schunkeln ist heute selbstverständlicher Begleiter fast jedes Liedes und jeder Taktart. In der gemeinsamen Bewegung der sich gegenseitig Unterhakenden wird das eigene Verantwortungsgefühl abgegeben und dem Takt der Menge unterworfen. Zugleich haben diese Erlebnisse etwas Berauschendes, weil die leibliche Begrenzung sich in der gemeinsamen Bewegung aufzulösen scheint (ek-stasis). Die Karnevalslieder sind Träger des Lokalpatriotismus, indem nicht nur Städtenamen auftauchen (Köln), sondern auch geogra¿sche (Rhein) oder kulturelle Besonderheiten (Dom) in den Texten vorkommen. Ein nicht nur im Karneval präsentes, mittlerweile international bekanntes Köln-Lied ist „Viva Colonia“, das bei vielen Gelegenheiten gesunEs gibt unzählige Lieder in Mundart und Hochsprache. Lokal begrenzte Lieder sind von den überregional bekannten Schlagern zu unterscheiden, die meist auch außerhalb der Karnevalszeit gespielt werden. 55
Der rheinische Karneval in der Gegenwart
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gen wird (vgl. Kap. 7.1.2). Das eingängige, keine Gesangskünste erfordernde Lied wurde auch zur inof¿ziellen Hymne des XX. Weltjugendtages 2005 in Köln (vgl. Forschungskonsortium WJT 2007: 52 f.). Nicht nur mit diesem Schlager, sondern auch mit Verkleidungen erhielt der Weltjugendtag karnevaleske Elemente, die in aller Regelmäßigkeit auch bei anderen Großveranstaltungen auftauchen (z. B. Fußballwelt- und -europameisterschaften). Karnevaleske Symbolik wird ebenso bei street parties und street parades (Christopher Street Day, Love Parade) immer wieder genutzt. Die (Groß-)Events sind Gelegenheiten, im (groß-)städtischen Raum und auf der Straße bestimmte Lebensstile und Szenen mit Masken und Musik zu inszenieren (vgl. Braun 2002: 9). Die Individuen, die diese Symbole und Medien verwenden, können sich mit hoher Wahrscheinlichkeit einer Gemeinschaft zugehörig emp¿nden. Eine Vergemeinschaftung mit temporärem, oftmals rauschhaf tem Charakter kann entstehen, die durch ein Mischungsverhältnis von Disziplinierung und Ausgelassenheit gekennzeichnet ist und sich selbst reguliert. Das vorliegende Kapitel zeigt an einigen Beispielen, wie karnevalistische Traditionen über die Zeit dynamisch benutzt, adaptiert und konvertiert werden. Sie sind als Prozess oder als Ereignis zu begreifen; ihre Symbole, Rituale usw. müssen immer in zeitlicher Abfolge und im Zusammenhang mit anderen Ereignissen untersucht werden. Wer sich empirisch mit dem Karneval beschäftigt, leistet immer auch gesellschaftsdiagnostische Arbeit. In seiner sozialhistorischen Schrift über die Lachkultur des 16. Jahrhunderts konstatiert Norbert Schindler: „Von Karneval reden, heißt über die Gesellschaft reden, die sich da einen Augenblick lang selbst inszeniert unter der Prämisse, daß alles auch ganz anders sein könnte“ (Schindler 1992: 121 f. zit. in Braun 2002: 9). Die für viele typische Elemente der Fast nacht und des Karnevals schwierig zu rekonstruierende Geschichte ist nicht von Belang für das Feiern. Es geht beim Karnevalfeiern nicht um das Wissen über historische Ursprünge und Zusammenhänge, sondern um den „Spaß an der Freud“, also um die Lust an einer irrationalen Alternative zum Alltag. Doch nicht nur die Herkunft von Traditionen und Ritualen ist häu¿g unbekannt, sondern auch deren Zwecke und Ziele, sodass viele Handlungen auch als Ausdruck und Erfüllung unbewusster Zwecke und Ziele gesehen werden können (vgl. Turner 1995: 20). Für die empirische Untersuchung ritueller Handlungen ist diese Feststellung wichtig, denn die Erklärung ritueller Praktiken wird sich nicht in der Beobachtung und Befragung erschließen. Ihre ursächliche Funktion wird erst durch hermeneutische Rekonstruktion und Analyse sichtbar werden können. Das folgende Kapitel beschreibt die Vorgehensweise und die Methodik der ethnogra¿sch-explorativen Studie.
6
Vorgehensweise der Feldstudie – Methodologie und Methoden
Das sechste Kapitel gibt einen Einblick in den Forschungsprozess und dokumentiert das Untersuchungsdesign der empirischen Studie. Dazu erfolgen zunächst Ausführungen zum methodologischen und methodischen Rahmenkonzept. Die empirische Basis wird ebenso vorgestellt wie der Feldzugang und die Fallauswahl. Abschließend werden die Auswertungsverfahren dieser Studie beschrieben. 6.1
Forschungsziele, -fragen und Vermutungen
Neben der theoretischen Analyse rauschhafter Vergemeinschaftungen geht es in dieser Arbeit um die empirische Auseinandersetzung mit dem Fallbeispiel Straßenkarneval. Während der theoretisch orientierte Teil die Befunde klassischer Literaturstudien strukturiert, konkretisiert der ethnogra¿sch-explorative Zugang das Forschungsinteresse hinsichtlich der Randbedingungen und Regelmäßigkeiten rauschhafter Vergemeinschaftungen in der rheinischen Fast nacht. Die empirische Studie hat das Ziel, die alternative Wirklichkeit des Straßenkarnevals zu beschreiben und als Gelegenheit für rauschhaftes Vergemeinschaften zu identi¿zieren. Den Hintergrund für die Analyse bilden die Kategorien Raum, Zeit und Körper. Folgende Forschungsfragen bilden den Ausgangpunkt: Wie sieht die soziale Welt des Karnevals aus der Sicht der Beteiligten aus ? Welche allgemeinen Randbedingungen und individuellen Handlungsvollzüge evozieren die Konstruktion einer alternativen Wirklichkeit ? Wie werden rauschhafte Sozialitäten im Straßenkarneval medial (über Körperpraktiken, Musik, Requisiten usw.) konstituiert ? Der empirisch orientierte Teil hat die Aufgabe, die im Vorfeld formulierten Vermutungen zu überprüfen. Auf der Grundlage der erhobenen Daten ist zu evaluieren, inwieweit die folgenden Vermutungen zutreffen:
Y. Niekrenz, Rauschhafte Vergemeinschaftungen, DOI 10.1007/978-3-531-93086-2_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Vorgehensweise der Feldstudie – Methodologie und Methoden Rauschhafte Vergemeinschaftungen bilden einen Kitt für das soziale Gefüge. Diese Àüchtigen Gesellungsformen sind eine Grundlage und Grund¿gur des sozialen Zusam menlebens in der Gegenwart. Rauschhafte Vergemeinschaftungen fungieren in zweifacher Hinsicht als Bewältigungsstrategien: Zum einen sind sie als Gelegenheit zur Teilhabe an Gemeinschaft mit alternativen Regelmäßigkeiten eine Reaktion des Individuums auf die vielfältigen Anforderungen und Transformationsprozesse in der Gegenwart. Zum anderen bieten sie eine Möglichkeit zum Umgang mit der existenziellen Tragik – also der Endlichkeit – des menschlichen Lebens.
Mit diesem Forschungsvorhaben ist eine methodologische Perspektive verbunden, aus der sich die Anlage der Untersuchung ableitet. Das Verstehen der kulturellen Praxis Straßen karneval erfordert einen genuin qualitativen Ansatz. Eine explorative Haltung sowie das Ziel des Beschreibens und nachvollziehenden Verstehens prägten die Feldphasen im Februar und März 2007, November 2007 sowie im Januar und Februar 2008. 6.2
Methodologische Grundlegungen
Diese Studie steht methodologisch in der Tradition der Ethnogra¿e und richtet ihren Fokus auf einen Ausschnitt der Lebenswelt von Menschen, die feierfreudig am Karnevalsgeschehen partizipieren. Sie verortet sich im interpretativen Paradigma (vgl. Keller 2009), das neben dem Sozialkonstruktivismus auch die Ethnomethodologie, den Symbolischen Interaktionismus sowie dessen Wurzeln in der Chicago School umfasst. Deren geteilte Grundannahme ist, dass Menschen Dingen gegenüber auf der Grundlage der Bedeutung handeln, die diese Dinge für sie besitzen. Diese Bedeutung wird in einem interpretativen Prozess mit anderen Akteuren erzeugt und kann abgeändert, variiert und ebenso stabilisiert werden. Um die Konstruktion von Bedeutung (und damit Wirklichkeit) rekonstruieren zu können, bedarf es einer subjektorientierten Sicht auf die Handelnden. Weil es sich beim rheinischen Straßenkarneval um ein für mich unbekanntes soziales Phänomen handelte, war die ethnogra¿sche Perspektive mit ihren Techniken zur Erforschung solcher ‚fremden Welten‘ gut geeignet. Die Chicago School legt zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Grundlagen für eine Tradition der soziologischen Ethnogra¿e, der es nicht um die Erforschung ferner Kulturen geht, sondern um die Untersuchung des Lebens in der eigenen Stadt, dem eigenen Kulturkreis. Denn damals wie heute gibt es gesellschaftliche Teilbereiche, die unbekannt, fremd und unverständlich sind und viele eigene Wirklichkeiten mit spezi¿schen Relevanzstrukturen ausbilden. In modernen, sozial differenzierten Gesellschaften
Methodologische Grundlegungen
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„ist die Lebenswelt des Menschen nicht mehr nur differenziert in die universalen Konstanten von einem Alltag und allerlei angrenzenden Subsinnwelten (wie Traum, Phantasie, Theorie), sondern die alltägliche Lebenswelt selber ist kompartmentalisiert in nicht mehr sinnhaft zusammenhängende Teil-Orientierungen, in Enklaven und Sinnprovinzen“ (Hitzler/Honer 1986: 6).
Jede dieser Teilorientierungen ist auf das erlebende Subjekt hin geordnet und damit für den Forscher zunächst unzugänglich. Wie kann es dennoch gelingen, die Welt mit den Augen eines Anderen zu sehen und den subjektiv gemeinten Sinn seines Erlebens zu rekonstruieren ? Mit einer ethnogra¿schen Sicht als Basisdisposition wendet sich der Forscher systematisch dem Anderen, dem Fremden zu. Die Bedeutung des Prinzips der ethnogra¿schen Sicht beschreibt Fritz Schütze wie folgt: „Die ethnographische Sicht ist eine metatheoretische und metamethodische Haltung, die eine verfremdende Perspektive auf die zu erkundenden Phänomene impliziert. Sie muß sowohl Tendenzen zur Einvernahme (Nostri¿zierung) als auch solche zur verdinglichenden Fremdmachung abwehren. Die ethnographische Sichtweise kann durch alle Verfahrensweisen der interpretativ-qualitativen Sozialforschung realisiert werden. Abgesehen von einem grundlegenden Schauplatz- und Situationsbezug, der der teilneh menden Beobachtung eine besondere Prominenz gibt, hat sie keine speziellen Fachmethoden. Sie weist aber besondere epistemische Erkenntnisprinzipien auf, wie das der methodischen Fremdheitshaltung oder das der pragmatischen Brechung von Wissens- und Symbolgehalten“ (Schütze 1994: 190).
Demnach dient die reÀexive (Fremdheits-)Haltung ganz grundsätzlich dazu, das Andere als anders wahrnehmen zu können, es zu erforschen und nicht zu unterwerfen. Bei diesem ‚fremden Blick‘ geht es nicht darum, sein eigenes Wissen zu vergessen, sondern es zu relativieren und interpretativ zu berücksichtigen (vgl. Honer 1993: 37). Die empirische Welt hat einen „eigensinnigen Charakter“ (Blumer 1981: 104), der durch sorgfältige und gewissenhafte Forschung bestimmt werden muss. Eine intensive Teilnahme und befristete „Mitgliedschaft“ im Feld sind die Voraussetzung und der Weg, Sicherheit darüber zu erlangen, ob die Prämissen, Konzeptionen und Interpretationen gültig sind (vgl. Blumer 1981: 114). Die Feldphasen in dieser Untersuchung beruhen auf der Einstellung der künstlichen Fremdheit und gehen davon aus, dass die Lebenswelten der Straßenkarnevalisten zu meinen eigenen lebensweltlichen Bezügen different sind. Eine solche Perspektive ermöglicht mir als ‚Entdeckerin des Unbekannten‘, die Welt des Straßenkarnevals sensibel zu beobachten und seine Settings zu beschreiben. Grundvoraussetzung für die Feldphasen war mein Einlassen auf das Geschehen
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Vorgehensweise der Feldstudie – Methodologie und Methoden
vor Ort, um eine Kenntnis des Feldes zu erlangen, die es zulässt, die beobachteten und mitgeteilten Daten nicht nur festhalten, sondern anschließend auch deuten zu können. Die beiden im Vorfeld formulierten Vermutungen beziehen sich auf mein übergeordnetes Forschungsthema und werden auf das kon krete Beispiel Straßenkarneval angewendet. Die Vermutungen sind für die Suchrichtung und die Anlage der Arbeit in ihrer Gesamtheit wichtig, beengen aber nicht die Sichtweise im Feld selbst. 6.3
Methoden der Datenerhebung
Zum Kern des Methodenspektrums einer explorativ-ethnogra¿schen Studie gehören in der Regel teilnehmende Beobachtungen, verschiedene Formen qualitativer Interviews, Gruppendiskussionen und nicht-reaktives Material aus dem Feld. Auf folgende Methoden stützt sich diese Studie: ƒ
ƒ ƒ
teilnehmende Beobachtung von Festumzügen, Karnevalsfeiern und von (ausgelassenen) Zusammenkünften auf öffentlichen Plätzen während des Straßenkarnevals 2007 und 2008 sowie am 11.11.2007, die teilnehmende Beobachtung zweier Veranstaltungen im Sitzungskarneval, 10 narrative Interviews und 8 Ad-hoc-Interviews, zahlreiche informelle Gespräche mit feiernden Straßenjecken sowie Mitgliedern von Karnevalsgesellschaften, Sammlung von Sessionsheften, Lokalzeitungen, Material aus dem Stadtarchiv, von Einsatzberichten der Polizei sowie Karnevalsschlagertexten.
Die methodenplurale Zugangsweise ist der Absicht geschuldet, das heterogene Forschungsfeld so zu erschließen, dass die Perspektive der sozialen Akteure zum Tragen kommt. Zudem gilt die Datentriangulation als Möglichkeit, die Perspektiven auf den Forschungsgegenstand anzureichern. Da alle Daten ausschließlich von mir erhoben wurden, hatte ich zwar zu jedem Zeit punkt der Untersuchung genauen Einblick in den Stand der Recherche, zugleich war aber der Nachteil des Zeit- und Personalmangels zu kompensieren. Bevor die einzelnen Methoden detailliert beschrieben werden, sollen zwei grundlegende Fragen zur Feldarbeit und deren Lösungen genannt werden: (1) Wie komme ich ins Feld und (2) wie orientiere ich mich dort ? Der Feldzugang (1) ist beim Straßenkarneval verhältnismäßig einfach, weil es sich um ein öffentliches, zyklisch wiederkehrendes Kalenderfest handelt, zu dem u. a. in den Karnevalshochburgen große Festumzüge veranstaltet werden. Um aber genauere Einblicke und Erkennt nisse zum „Gefühl Karneval“ und dem „Da-
Methoden der Datenerhebung
131
hinter“ zu gewinnen, kontaktierte ich schriftlich die über das Internet recherchierten Vorsitzenden zweier Karnevalsvereine, die sich durch ihre Mitgliederzahl, ihr Gründungsdatum sowie ihren Vereinssitz (Dorf und Stadt) deutlich unterschieden. Darauf folgten freundliche Einladungen zu Umzügen, Fest veranstaltungen und der Kontakt zu weiteren Experten. Über den in Vereinen „organisierten Karneval“ konnte ich mir das notwendige Wissen zu Struktur, Geschichte, Tradition und Bedeutung des Karnevals im Rheinland aneignen. Die Erfahrung, dass dieses Fest erst durch das unermüdliche und ehrenamtliche Engagement von Vereinsmitgliedern für den feiernden Jecken am Straßenrand zum Erlebnis werden kann, prägte vor allem die ersten Tage der Feldphase und bestärkte mich in dem Vorhaben, Interviews mit Vereinsmitgliedern zu führen. Obwohl es mir darum ging, das ausschweifende Feiern der Besucher ohne Uniform zu untersuchen, sind die Vereinsmitglieder als Teil des komplexen Gebildes zu berücksichtigen und reichern die Perspektiven und die Kontrastierungen an. Den Zugang zu den Straßenjecken fand ich auf der Straße bei den Umzügen, in Cafés und Festzelten. Stets näherte ich mich dem Feld per Bahn, wobei sich gerade die Zugfahrten als gewinnbringende Möglichkeiten der Beobachtung erwiesen. Sie waren die Orte, an denen man auf engem Raum eintauchen konnte in das Feld von schrill kostümierten, singenden Jecken, die Prosecco-Flaschen reihum gingen ließen – in elektrisierter Vorfreude auf etwas, das ich noch nicht zu beschreiben wusste. Am Bahnhof angekommen, platzten die Regionalzüge auf und entließen ihre lärmenden Fahrgäste mitsamt Boller wagen, Instrumenten und Bierkästen auf die Bahnsteige. Ich brauchte mich nur dem Strom anzuschließen, der mit seinem Sog die Ankommenden wieder bündelte und ihnen den Weg wies – nicht zu einem Ort, sondern zu einem Gefühl, wie ich später erfahren sollte. Zum Erheben von Daten muss sich der Forscher selbst, „seinen eigenen Körper, seine eigene Persönlichkeit und seine eigene soziale Situation den unvorhersehbaren EinÀüssen“ (Goffman 1996 [1974]: 263) aussetzen. Nach dieser Prämisse habe ich die Erhebungsphase gestaltet und das Feld facettenreich erlebt – ob im eisig-kalten und regnerischen Rosen montagszug, beim berührenden und harmonischen Zusammentreffen von Jung und Alt in Tanz- und Bierzelten; ob als uniformierte „Regimentstochter“ im Karnevalszug, beim Interview auf Wohnzimmersofas oder bei der Arbeit in dunklen Stadtarchiven. Die Fallauswahl (2) erfolgte nach der Strategie des „theoretischen Samplings“ (Glaser/Strauss 1967). „Theoretical sampling is the process of data collection for generating theory whereby the analyst jointly collects, codes, and analyzes his data and decides what data to collect next and where to ¿nd them“ (Glaser/Strauss 1967: 45). Die Kontrolle über den Prozess der Datenerhebung gelingt durch die Kontrastierung geeigneter Vergleichsgruppen. Durch diesen Prozess können nicht nur mögliche Lücken im Datenmaterial aufgedeckt werden, sondern es wird auch
132
Vorgehensweise der Feldstudie – Methodologie und Methoden
die Entscheidung darüber erleichtert, wann die Datenbasis als „gesättigt“ gilt und keine neuen Erhebungen mehr nötig sind. Das ist dann der Fall, wenn sich die Beispiele und die Kategorien wiederholen und „sich nichts Neues mehr ergibt“ (Flick 2006: 104). Meine Auswahlentscheidungen im Rahmen dieser Studie betrafen einerseits die Ebene der zu vergleichenden Gruppen; andererseits differenzierte ich nach Orten, Medien bzw. Personen und ihren Eigenschaften selbst (s. Tabelle 2). Bei einzelnen Merkmalen der Personen (vor allem soziodemogra¿sche) war eine explizite Kontrastierung nicht möglich, sodass hiernach nicht systematisch variiert wurde. Vor allem bei den Interviews mit den Mitgliedern der Karnevalsvereine zeigt sich eine deutliche Dominanz des männlichen Geschlechts, was mit der Überrepräsentanz der Männer vor allem in den verantwor tungsvollen Positionen der Vereine zusammenhängt. Tabelle 2
Kontrastierung und Fallauswahl
Kategorie Methode
Ausprägung
Festumzüge teilnehmende Beobachtungen
Größe, Perspektive ƒ Köln Rosenmontagszug (2×) ƒ Mönchengladbach Fastnachtsdienstagszug ƒ E. [Kleinstadt] (Rosenmontagszug) ƒ G. [Dorf] Festumzug im Zug selbst als „Regimentstochter“
Feste im Straßenraum teilnehmende Beobachtungen
Größe ƒ Köln (11.11.2007) ƒ E. [Kleinstadt] Weiberfastnacht ƒ L. [Dorf] Beginn des Straßenkarnevals
Sitzungskarneval teilnehmende Beobachtungen
Größe ƒ Köln (Theater) ƒ L. [Dorf] (Mehrzweckhalle)
Sessionshefte, Lokalzeitungen, Wochen-/Anzeigenblätter kursorische Inhaltsanalyse
Neben den verfügbaren Sessionsheften zweier Vereine unterschiedlicher Größe und verschiedenen Alters die Berichterstattung über die „tollen Tage“ in der „Rheinischen Post“ sowie den verfügbaren Wochen- und Anzeigenblättern
Karnevalslieder und -schlager kursorische Inhaltsanalyse
Bekanntheitsgrad ƒ regionaltypische Lieder ƒ bundesweit populäre Hits
Stadtarchiv kursorische Inhaltsanalyse historischer Quellen
exemplarisch in einer Kleinstadt
Akteure Interviews
Alter, Geschlecht, Art der Teilhabe, Intensität der Teilhabe, Umfang der Karnevalserfahrung siehe Tabelle 3
Methoden der Datenerhebung
133
Narrative Interviews führte ich sowohl mit Vereinsmitgliedern als auch mit Karnevalisten „vom Straßenrand“ durch. Den größten Kontrast zu den Vereinsmitgliedern, die Karneval seit ihrer Kindheit kennen, bietet das Interview mit Rolf und Sarah (alle Namen wurden anony misiert), die aus dem karnevalsfernen Norden Deutschlands zugezogen sind. Auch die Perspektiven bieten Kontrastfolien: Die Polizisten (Norman und Anton) und die Jour nalistin (Anita) haben je ihre professionelle Sicht auf das Geschehen im Straßenkarneval. Die Vereinsmitglieder als Organisatoren und Entertainer und frühere Straßenjecken stehen für die Sicht einer organisierenden, aber auch feiernden Gruppe. Tabelle 3
Narrative Interviews
Name
Alter
Aktivitäten
Katharina (T9)
21
Vereinsmitglied, aber nicht aktiv, mit Karneval aufgewachsen, jedes Jahr beim Rosenmontagszug dabei
Hubert (T10)
32
Aktiv im Verein, mit Karneval aufgewachsen, karnevalistischer Tanz
Rolf (T11/1) und Sarah (T11/2)
30 und 26
Aus Norddeutschland zugezogen, zum ersten Mal beim Rosenmontagszug in Köln, Erfahrungen mit Veilchendienstag in M’gladbach und Weiberfastnacht in Aachen
Anita (T12)
Anfang 30
Aktiv im Verein, mit Karneval aufgewachsen, Journalistin, berichtet über Karneval und Vereinsaktivitäten in Lokalzeitung
Norman (T13/1) und Anton (T13/2)
Ende 40 und Anfang 50
Polizisten in niederrheinischer Kleinstadt, begleiten Rosenmontagszug und sorgen für Sicherheit
Heinz (T14)
69
Elferratsmitglied, Redenschreiber in Verein 1, mit Karneval verwachsen
Philipp (T15)
Ende 40
Nicht im Verein, aber mit Motto und z. T. Fußgruppe beteiligt, Bürgermeister einer niederrheinischen Stadt
Paul (T16)
Mitte 50
Geschäftsführer von Verein 2, mit Karneval aufgewachsen
Sören (T17/1) und Manfred (T17/2)
Mitte 30 und Ende 40
Vorsitzender und Stellvertreter von Verein 1, mit Karneval aufgewachsen
Alf (T18)
39
Elferratsmitglied von Verein 1, mit Karneval aufgewachsen
134
Vorgehensweise der Feldstudie – Methodologie und Methoden
Tabelle 4
Ad-hoc-Interviews im Straßenkarneval Rosenmontag 2008
Interview-Nr.
Geschlecht
Alter/Bildungssstand
Ort des Interviews/Kostüm
T1
weiblich
31/mittlere Reife, Berufsausbildung, Angestellte
ca. 11 Uhr, Kölner Innenstadt, McDonalds-Filiale, Kostüm: Cowgirl (Western-Stil)
T2
weiblich
20/Abiturientin, plant Studium
ca. 10.30 Uhr, Köln Hauptbahnhof, Kostüm: mädchenhaft verspielt
T3
männlich
ca. 21/keine Angaben
Nähe Domplatte Köln, Kostüm: Pirat
T4/1
weiblich
19/Gymnasiastin
T4/2
weiblich
19/Gymnasiastin
Fußgängerzone Köln, Kostüm: Accessoires im Leoparden-Look Kostüm: „Piratenbraut“
T5/1
männlich
23/Lehramtsstudent
T5/2
männlich
23/Lehramtsstudent
früher Nachmittag, Zugweg Kölner Innenstadt, Kostüm: Löwe Kostüm: Sheriff
T6
männlich
22/dual (Studium und Ausbildung)
Mittagszeit, zwischen Domplatte und Zugweg, Kostüm: Rasta-Kappe
T7
weiblich
23/Fachabitur, Berufsausbildung
früher Nachmittag, kleine Seitenstraße am Zugweg, Kostüm: Fee
T8
männlich
ca. 23/keine Angaben
früher Nachmittag, Seitenstraße am Zugweg, Kostüm: amerikanischer Cop
6.3.1
Die teilnehmende Beobachtung – Methode und Basisstrategie
Als klassische und zentrale Methode der ethnogra¿schen Forschung gilt die teilnehmende Beobachtung. Die persönliche Teilnahme des Wissenschaftlers an den verschiedenen kulturellen Praktiken ist eine unerlässliche Quelle für das Verständnis der zu untersuchenden Lebenswelt. Dabei ist das explorative Vorgehen kennzeichnend und erforderlich, um lokales Wissen herauszuarbeiten, das nicht sprachlich verfügbar ist, weil es in Routinen aufgeht. Als Beobachter erhält man Zugang zu jenem Teil der Lebenswelt und des Wissens, der von den Interviewpartnern nicht expliziert wird, weil er womöglich als alltäglich, unbedeutend und nicht mitteilenswürdig erscheint oder weil es sich tatsächlich um einen ‚blinden Fleck‘ handelt, über den jeder verfügt, aber über den sich bekanntlich nicht sprechen lässt. Die Daten der Beobachtung können somit die Daten, die aus den Interviews gewonnen werden, sinnvoll ergänzen und ‚kritisieren‘, da „der Vollzug von Aktivitäten durchaus andere Qualitäten aufweisen kann als das Reden über diesen Vollzug“ (Honer 1993: 58, Herv. i. O.). Die Teilnehmerperspektive ermöglicht die Erfahrung der emotionalen Dimension des Feldes – ein Teilaspekt, der gerade für
Methoden der Datenerhebung
135
meine Fragestellungen von erheblicher Bedeutung ist. Emotionen sind immer Teil von Sinn- und Wirklichkeitskonstruktionen und struk turieren Erfahrungen. In einem hermeneutischen Prozess werden die eigene Haltung und das eigene Wissen in der Felderfahrung reÀektiert, um in einer interpretativen Rekonstruktion verarbeitet zu werden. Die Beobachtungen im Feld tragen auch maßgeblich zum Vertrauen in die eigenen Interpretationen bei und können sie ökologisch validieren (vgl. Lamnek 2005: 150 ff.). Die Beobachtung erfolgt mit einem fremden Blick auf das vermeintlich Vertraute (vgl. Amann/Hirschauer 1997: 12) und hat zu Beginn der Forschung die Funktion der Erschließung des Felds: Man verschafft sich einen Überblick, ermittelt mögliche Kontaktpersonen und Interviewpartner und strukturiert das weitere Vorgehen. Mein Zugang gestaltete sich zunächst unstrukturiert, möglichst breit und Àexibel. Alles aufnehmend, was mir wichtig erschien, legte ich auch in der zweiten Feldphase kein standardisiertes Beobachtungsmuster zugrunde. Dennoch setzte bei besserer Kenntnis des Feldes eine zunehmende Fokussierung ein. In den meisten Fällen beobachtete ich zwangsläu¿g verdeckt, denn bei den großen Umzügen und Festen können die vielen Teilnehmer des Interaktionszusam men hangs nicht über eine Beobachtung aufgeklärt werden. Dem Prinzip der Offenlegung der Forscherrolle entsprach ich aber dann, wenn ich auf Nachfragen zu meiner Person auch den Zweck meines Aufenthalts preisgab. Meine EinÀussnahme auf das Geschehen im Feld schätze ich als äußerst gering ein, da meine Kostümierung, die Kenntnis von Ritualen und Orten einen glaubwürdigen Bezug meinerseits zum Feld herstellten. Die Beobachtungen wurden in Protokollen schriftlich festgehalten, gesammelt und thematisch systematisiert, um sie anschließend interpretativ verwerten zu können. 6.3.2
Die narrativen und die Ad-hoc-Interviews – Methode und Praxis
Das qualitative Interview weist eine große Bandbreite an Möglichkeiten zur Durchführung auf, wovon in dieser Studie zwei Typen zum Einsatz kamen: einerseits zehn narrative Interviews, zu denen ich mich mit den Gesprächspartnern an einem von ihnen vorgeschlagenen Ort verabredete; andererseits acht kurze Ad-hoc-Interviews, die im Getümmel der Fest umzüge spontan zustande kamen. Die narrativen Interviews sind für die Befragten ungewohnte Kommunikationsformen, die zwar dem Alltagsgespräch gleichen sollen, aber dennoch ihre asymmetrische Grundform nicht verlieren können; denn die Gesprächspartner wissen, dass das Gesagte als Material in einem anderen Kontext benutzt und verwertet wird. Das Interview ist zumeist dadurch motiviert, dass der Interviewer erkennbar versucht, etwas über den Anderen oder durch den Anderen zu einem
136
Vorgehensweise der Feldstudie – Methodologie und Methoden
bestimmten Thema in Erfahrung zu bringen. Der Befragte wird als ‚Experte‘ seines Alltags gesehen und geschätzt, indem die Gesprächsführung weitgehend bei ihm bleibt. Nur so kann sein Relevanzsystem zur Geltung kommen. Die Durchführung der Interviews erfolgte für diese Studie eher explorativ, offen und nicht standardisiert. Dreimal habe ich zwei Personen zugleich interviewt, weil diese es vorgeschlagen und gewünscht hatten. Auch von meiner Seite stand dem nichts entgegen, denn „[m]an erfährt von miteinander diskutierenden Mitgliedern einer Gruppe manchmal mehr als durch einen einzelnen“ (Girtler 2001: 116). Weil es in der Befragung und der Auswertung dieser drei Interviews jedoch nicht um die Gruppendynamik und die Diskussion unter den Teilnehmern ging, tragen die Interviews nicht die Merkmale einer Gruppendiskussion (vgl. Flick 2006: 170). Trotz aller Offenheit in den Gesprächssituationen orientierte sich der Ablauf an drei Frageschritten (vgl. Schütze 1984). 1. Erzählgenerierender Stimulus Zum Einstieg in das Interview wurde der Gesprächspartner gebeten, sich zu der Frage zu äußern, welche Bedeutung der Karneval für sein eigenes Leben hat. Durch diesen offenen Einstieg war klar, dass nicht ein Fragenkatalog abgearbeitet werden würde, sondern relevante Ereignisse und inhaltliche Aspekte sowie deren Bezug zum Alltag von Interesse waren. 2. Immanente Nachfragen Die immanenten Nachfragen sollten die Explikation angesprochener Themen anregen, um Unklarheiten, Vagheiten oder Widersprüche zu klären. Zudem wurde zur SelbstreÀexion ermuntert, um etwas über die persönlichen und sozialen Bezugsrahmen der Befragten zu erfahren. Besonders wichtig waren mir auch Schilderungen von Gefühlen bei bestimmten Erlebnissen und Motivationen für einzelne Handlungen. 3. Verständnisgenerierende, exmanente Nachfragen Diese Phase ist durch Fragen gekennzeichnet, die von außen – also unter Relevanzsetzung des Forschers – an den Gesprächspartner herangetragen werden. Hier wurden subjektive Theorien und abstrakte Zusammenhänge erfragt („Was glaubst du, warum unsere Gesellschaft so etwas wie Karneval braucht ?“). Es wurden zum Teil auch Bilanzierungen erbeten oder auch durch eine erste Rekapitulation des Gesagten das Verständnis kontrolliert. Die Prämissen bei der Durchführung waren (1.) Freiwilligkeit – die Interviewten waren alle ohne Entschädigung oder Zusicherung von Vorteilen zum Gespräch motiviert; (2.) strikte Einhaltung des Datenschutzes – Namen von Personen, Insti-
Methoden der Datenerhebung
137
tutionen und von kleinen Orten wurden anonymisiert; (3.) Wahl von Zeitpunkt und Ort durch den Interviewten – alle Gesprächspartner sollten Zeit und Ort für das Treffen selbst bestimmen, sodass die Interviews in Privatwohnungen, Cafés, Restaurants und Amtsgebäuden zu verschiedenen Tageszeiten durchgeführt wurden. Alle Interviews wurden – nach Einverständnis der Gesprächspartner – auf Tonband aufgezeichnet. Die Interviews gestalteten sich schnell als ungezwungene Gespräche, sodass ich mich auch auf ungeplante Zweiergruppen einließ, um die Entspanntheit der Atmosphäre nicht zu gefährden. Es kam vor, dass zum Interview unerwartet zwei Personen erschienen oder dass sich eine weitere Person im Laufe des Inter views einschaltete.56 In meinen Gesprächen brachte ich hin und wieder auch Feldwissen ein, das ich von anderen Kontaktpersonen erfahren hatte, „um mich selbst auch als jemand zu geben, der über diese Kultur schon einiges weiß und daher auch mitreden kann“ (Girtler 2001: 115). Die Phase der Datenerhebung mittels Interviews und Gespräche war abgeschlossen, nachdem sich deutlich eine Sättigung hinsichtlich der besprochenen Themen einstellte. 6.3.3
Die Dokumentensammlung – Nicht-reaktives Material zur Kontrastierung
Um die Daten aus der Beobachtung und den Interviews kontrastieren zu können, wurde nicht-reaktives Material verschiedener Ausprägung herangezogen. Bei den Dokumenten handelt es sich um Zeitungsartikel aus der lokalen Presse, die während der „tollen Tage“ erschienen sind, Material aus dem Stadtarchiv zur Historie der Rosenmontagszüge, Sessionshefte zweier Karnevalsvereine sowie Liedtexte regional und überregional bekannter Karnevalslieder. Ich trug Texte zusammen, die nicht für die geplante Studie entstanden sind (wie etwa Interview transkripte), sondern für einen anderen Leserkreis im Zusam men hang des Berichterstattens (Zeitung), Regelns (Gesetzestexte), Verwaltens (Mitgliederlisten) usw. Dabei können neben Texten auch Bilder erfasst werden. Eine Stichprobenziehung habe ich für diese Sammlung nicht explizit vorgenommen, sondern vielmehr alles zusammengetragen, was mir als Beobachterin im Feld in die Hände ¿el bzw. großzügig übereignet wurde (z. B. eine Sammlung von Sessionsheften). Als systematisch gesammelt lässt sich das Corpus an Lokalzeitungen (Rheinische Post) und Anzeigenblättern bezeich nen, die aus der Zeit des Straßenkarnevals für die Region E. vollständig vorliegen.
Diese Zweierkombinationen werte ich als Interviews, die eine Chance eröffnen, Einblicke in geteilte Wahr nehmungsmuster zu erhalten.
56
138
Vorgehensweise der Feldstudie – Methodologie und Methoden
Um den Erkenntniswert des Materials zu beurteilen, müssen nach Philipp Mayring folgende Punkte berücksichtigt werden (vgl. Mayring 2008: 47): ƒ ƒ
Entstehungssituation: Von wem und unter welchen Bedingungen wurde das Material produziert ? Formale Charakteristika des Materials: In welcher Form liegt das Material vor ?
Um auch die Karnevalsschlager als Medien berücksichtigen zu können, habe ich zum einen die für die beforschten Regionen typischen Lieder notiert. Oftmals hat jeder Verein „sein“ eigenes Lied, das regions- und vereinstypische Besonderheiten thematisiert. Zum anderen habe ich die in den beiden Jahren überregional bekannten Karnevalshits in die Sammlung aufgenommen, die meist auch typische Après-Ski-Hits geworden sind und wegen ihres Spaß-Faktors und der oftmals im Discofox leicht tanzbaren Melodie auf Volks- und Schlagerfesten gespielt werden. In erster Linie interessieren mich die Texte der Lieder; musikwissenschaftliche Aspekte können nur peripher eine Rolle spielen. 6.4
Bearbeitung und Auswertung der Daten
Um das Interviewmaterial der Analyse unterziehen zu können, muss es von der elektronisch gespeicherten mündlichen Form ins schriftlich Fixierte überführt werden. Alle Inter views wurden von mir vollständig und mit der Wiedergabe aller gesprochenen Wörter, Notierungen von Redestockungen, Pausen, Rezeptionssignalen des Zuhörens („mhm“, „ja“), dialektalen Besonderheiten, Tonfall- und Lautstärkeänderungen, Betonungen, Lachen, Färbung des Sprechens (skeptisch, ironisch etc.) transkribiert. Gerade die spezi¿schen Mit tel mündlicher Rede zur semantischen Unterlegung von Aussagen sind wichtig für das her meneutisch-interpretative Sinnverständnis und müssen erhalten bleiben. Sie zeigen das Verhältnis von Ausdruck und Ausgedrücktem an und können daher entscheidende Infor mationen enthalten. Die ver wendeten Transkriptionsregeln (s. S. 139) orientieren sich an Kallmeyer/Schütze (1977: 263). Die Namen von Personen und von Orten wurden (soweit notwendig) anonymisiert. Auf die Transkription folgt die Auswertung des nun als Text vorliegenden Materials. Hierbei geht es nicht nur um das Verstehen und Beschreiben des subjektiv gemeinten Sinns des Gesagten. Vielmehr soll durch einen hermeneutischen Zugang die Rekonstruktion der intersubjektiven Bedeutung von Handlungen ermöglicht werden. Die Textbedeutung wird inter pretativ erschlossen. Der Zugriff des Menschen auf die Welt erfolgt immer in einem sich alltäglich vollziehenden
Bearbeitung und Auswertung der Daten
139
Deutungsprozess, der deshalb auch wissenschaftlich rekonstruier- und methodisierbar ist (vgl. Soeffner 2004: 88). Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass sprachliche Texte (mündliche und schriftliche) immer nur einen spezi¿schen Teilbereich von Wirklichkeit konstituieren (können) und nicht die Wirklich keit in ihrer Gesamtheit (vgl. ebd.: 93). Der Interviewtext wird als ein Protokoll von Handlungen, als „eine feststehende Sequenz von Aktion und Reaktion“ (ebd.: 79) begriffen. Deshalb ist bei der Interpretation ein schritt weises Vorgehen in Sequenzen vorgesehen, denn nur so können die Einzeläußerungen in ihrem Kontext verstanden werden. Um möglichst viele Sichtweisen auf die Texte zu bündeln, habe ich die Interviewtranskripte im Juli und August 2009 mit einer Gruppe von Studierenden und Promovenden der Universität Rostock sowie mit befreundeten Kollegen durchgearbeitet. Die hierbei entstandene Sammlung von Lesarten bildet eine wichtige Grundlage meiner Interpretationen. Transkriptionsregeln: (sagte er) (.) (lachend) (laut) (leise) (ironisch) (Àüstern)
, (4) mhm Ja=ja Viell(= ja =) doch Außergewöhnliche Sprechweisen:
unsichere Transkription unverständliche Äußerung Charakterisierung von nicht sprachlichen Vorgängen bzw. Sprechweisen, Tonfall. Die Charakterisierung steht vor der entsprechenden Stelle und gilt bis zum Äußerungsende, zu einer neuen Charakterisierung oder bis zum +. kurzes Absetzen innerhalb einer Äußerung Dauer der Pause in Sekunden Rezeptionssignal, zweigipÀig schneller Anschluss Abbruch kurze Zwischenbemerkung des jeweils anderen Gesprächsteilnehmers besondere Betonung (ironisch) (Àüstern) (lachen) (laut) (leise) Zeichensetzung erfolgt nach Sprechweise
Es gibt vielfältige Verfahren der interpretativen Textanalyse, die Hans-Georg Soeff ner unter dem Dach der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik versammelt. Zu ihnen zählen beispielsweise die objektive Hermeneutik nach Ulrich Oevermann (vgl. Oevermann 1990), die an der Sprechstruktur interessierte Narrationsanalyse von Fritz Schütze (vgl. 1982, 1983) und auch die rekonstruktive Hermeneutik, wie sie vor allem von Hans-Georg Soeffner (vgl. 1982, 2004) entwickelt wurde. Diese Interpretationsverfahren haben sich forschungspraktisch
140
Vorgehensweise der Feldstudie – Methodologie und Methoden
vielfach wechselseitig durchdrungen und bereichert – entscheidet man sich für eine, bedeutet das nicht die Ablehnung einer anderen. Die Entscheidung für eine Methode wird unter Berücksichtigung des Materials sowie der Forschungsfragen getroffen. Demnach entsprechen meinen Interessen am ehesten zwei Methoden: die rekonstruktive Hermeneutik und die ethnogra¿sche Semantikanalyse. 6.4.1
Rekonstruktive Hermeneutik
Die rekonstruktive Hermeneutik „beruht auf der Prämisse, daß Menschen versuchen, ihrem Handeln einen einheitlichen Sinn zu geben, weil sie grundsätzlich bestrebt sind, mit sich selber eins zu sein, weil sie ihre Sichtweisen als Teil ihrer selbst betrachten“ (Honer 1993: 107 Herv. i. O.). Um diese „Sinnstiftung“ zu rekonstruieren, nimmt sie als Grundeinstellung eine Art künstlicher Dummheit an (vgl. Hitzler 2001b), bei der das alltägliche, schnelle Deuten verlangsamt wird und dem Deutungsprozess reÀexive Schwellen eingebaut werden. So soll über einen methodisch kontrollierten Prozess zu tiefer liegenden Sinn- und Bedeutungsschichten des Gesagten vorgedrungen werden. Denn das subjektive Wissen des je Anderen ist dem Forschenden nicht direkt und niemals gänzlich zugänglich, und es liegt schon gar nicht auf der TextoberÀäche. Eine rekonstruktive Hermeneutik arbeitet sich von Fall zu Fall und versucht, am Konkreten das Allgemeine zu analysieren. Bei der Darstellung der Ergebnisse im Rahmen dieser Arbeit geht es aber nicht um den Einzelfall, sondern um das Gesamtphänomen Straßenkarneval und um die Darlegung der in ihm relevanten Themen und Sinnstrukturen. Der Einzelfall wird exemplarisch vorgeführt, um am Konkreten das Abstrakte zu zeigen. Die Analyse wird auf der Grundlage der Texthermeneutik begonnen. Dabei gibt es neben dem Inhaltsaspekt noch vier weitere Aufmerksamkeitsebenen: Interaktion (Merk male der Kommunikation zwischen Interviewer und Interviewtem), Semantik (Merkmale der sprachlich-begrifÀichen Formen und Felder, Lexik), Syntax (Merkmale der grammatischen und syntaktischen Formulierungen) und Erzähl¿guren (wiederkehrende, in sich geschlossene Figuren, wie etwas erzählt wird) (vgl. Kruse 2007: 87). Bei einer sequenzanalytischen Vorgehensweise wird Abschnitt für Abschnitt, manchmal auch Zeile für Zeile, vorgegangen, um die sprachlichen und kommunikativen Besonderheiten im Text umfassend zu beschreiben. Nach der Deskription werden für die einzelnen Passagen Lesarten vorgeschlagen. Wenn sich diese Lesarten nicht fortsetzen, werden sie fallengelassen. Wenn sie jedoch erneut und konsistent auftauchen, handelt es sich um zentrale Motive, die herausgearbeitet werden können. Die Sammlung der zentralen Motive kann die Grundlage der folgenden Interpretation bieten. Mit steigender Texter-
Bearbeitung und Auswertung der Daten
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fahrung ergeben sich Analyseheuristiken und Interpretationsleitpfade, anhand deren z. B. der Sinn des Textes rekonstruiert werden kann. Analyseheuristiken können z. B. kulturelle Sinnstiftungsmuster, Topoi und Plots sowie Eigentheorien oder Positionierungen sein (vgl. ausführlicher dazu Lucius-Hoene/Deppermann 2002: 55 ff.). Mit diesen heuristischen Konstrukten (Kategorien) lassen sich unter Umständen neue relevante Analysedimensionen identi¿zieren. Die vorläu¿gen Ergebnisse werden strukturiert, verdichtet und gesichert, indem die zentralen Motive und Deutungsmuster zusammengefasst, kategorisiert und hierarchisiert werden. In einem Exzerpt werden die zentralen Ergebnisse gesammelt. Der letzte Analyseschritt abstrahiert vom Einzelfall auf den Gesamtzusammenhang, d. h. die analysierten Fälle werden in einen theoretischen, empirischen und diskursiven Zusammenhang mit meinen theoretischen Vorannahmen gesetzt. Das gesammelte, nicht-reaktive Material wird mithilfe der von Mayring (2008) vorgeschlagenen qualitativen Inhaltsanalyse kursorisch untersucht. Die qualitative Inhaltsanalyse ist ebenfalls eine hermeneutische Methode, bei der auf deskriptive Weise die Merkmale der Mitteilungen der Texte zusammengefasst werden. Bei dem systematischen und regelgeleiteten Verfahren werden stringente Codes gebildet, mit denen ein Text systematisch, d. h. zeilenweise „durchkämmt“ wird. Im Anschluss an die Revision der Kategorien (Codes) nach dem ersten Teil des Materials erfolgen ein endgültiger Materialdurchgang und die Interpretation. Die Vorteile der Inhaltsanalyse fasst Werner Früh in sechs Punkten zusammen. Die Methode erlaubt Aussagen über Kommunikatoren und Rezipienten, die nicht bzw. nicht mehr erreichbar sind (1). Zudem ist der Forscher nicht auf die Kooperation von Personen im Feld angewiesen (2). Die Ressource ‚Zeit‘ spielt eine untergeordnete Rolle, da man nicht an bestimmte Termine zur Datenerhebung gebunden ist (3). Durch die Untersuchung wird das Untersuchungsobjekt nicht verändert (4), und die Untersuchung ist beliebig reproduzierbar oder am selben Gegenstand wiederholbar (5). Schließlich sind auch die Kosten zu berücksichtigen, die hier meist geringer sind als bei anderen Datenerhebungsmethoden (6) (vgl. Früh 1991: 39). 6.4.2
Ethnogra¿sche Semantikanalyse
Die ethnogra¿sche Semantikanalyse spielt vor allem für die Auswertung des in den Beobachtungen gewonnenen Materials eine wichtige Rolle. Der auch als ethnoscience bezeichnete Ansatz wurde in Deutschland bisher nur punktuell benutzt (z. B. Knoblauch 1991; Honer 1993; Maeder 2002; Niederbacher 2004). Er stammt aus der amerikanischen Kulturanthropologie, zu deren frühen prominenten Vertretern Charles O. Frake zählt, und wird heute unter der kognitiven
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Vorgehensweise der Feldstudie – Methodologie und Methoden
Anthropologie verortet (vgl. Maeder 2002: 2). Bei der ethnogra¿schen Semantik geht es „darum herauszu¿nden, welches eigentlich die ‚Dinge‘ im Wissen jener Leute sind, die untersucht werden“ (Maeder 2007: 683). Mit „Dingen“ wird – wie im Symbolischen Interaktionismus auch – alles eingeschlossen, was sich durch Sprache bezeichnen lässt. Die Mitgliedschaft in einer Kultur ist abhängig vom fraglosen und situativ kompetenten Symbolgebrauch im Austausch mit anderen. „Und wie sozial handelnde Mitglieder durch diesen Symbolgebrauch ihre Erfahrungen als geordnete Kategoriensysteme konstituieren und kom munikativ konstruieren [sic !] bildet dann den Untersuchungsgegenstand der ethnographischen Semantik auf einer theoretischen Ebene“ (Maeder 2007: 683). Es geht also um die Elemente und auch um die Gesamtheit kulturell je gültiger sozialer Wissensvorräte, von denen das Wissen der einzelnen Beteiligten abgeleitet ist (vgl. Honer 1993: 105). Im Zentrum dieser Analyse stehen stets Wörter, nicht ganze Texte, was auf ihre Herkunft aus der Linguistik hindeutet. Dabei geht es aber nicht um die De¿nition von Begriffen, sondern um die Quali¿kation von Dingen und Ereignissen mithilfe des Wortes und um den Kontext des beobachtbaren Gebrauchs. In Anlehnung an James P. Spradley (Spradley 1980) schlägt Maeder (2002: 7) eine Vorgehensweise in vier Schritten vor: Domänenanalyse, Komponentenanalyse, taxonomische Analyse, Analyse kultureller Themen. Es geht darum, „erste Quali¿zierungen zu inventarisieren, ihre Nachbarschaften zu bestimmen und nach zentralen Redundanzen, nach wiederkehrenden Figuren, zu organisieren“ (Maeder 2002: 7). Ein konnotatives Lexikon verzeichnet in tabellarischer Form die gebildeten Rubriken: Dinge, Personen, Orte und Ereignisse/Handlungen. In einem zweiten Schritt werden zentrale semantische Relationen aufgestellt, die zwischen den Elementen des Lexikons auf¿ndbar sind. Dabei werden Domänen gebildet, d. h. symbolische Kategorien, die andere Kategorien einschließen. In der darauf folgenden Komponentenanalyse müssen die Attribute aufgefunden werden, welche die Einheit von Relationen typisieren. Das Ziel ist, die feinen Unterschiede zwischen Kategorien und Domänen aufzudecken. Im abschließenden Schritt wird anhand des erzeugten Datenkorpus nach übergeordneten Ord nungsprinzipien und möglichen Deutungsschemata innerhalb der erforschten Kultur gesucht. Dabei geht es auch darum, ein mögliches kulturelles Thema zu identi¿zieren, das in mehreren Domänen einer Kultur auftauchen könnte. Der Begriff des kulturellen Themas wird folgendermaßen verstanden: „For purposes of ethnographic research I will de¿ne cultural theme as any cognitive principle, tacit or implicit, recurrent in a number of domains and serving as a relationship among subsets of cultural meaning […]. Themes are assertions that have a high degree of generality“ (Spradley 1979: 186, zit. in: Maeder 2002: 8).
Bearbeitung und Auswertung der Daten
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Weil die ethnogra¿sche Semantikanalyse ihren Fokus auf Wortrelationen und nicht auf ganze Texte richtet, ist sie sehr gut geeignet für die Verarbeitung großer Textmengen, besonders für die systematische Aufarbeitung nicht-standardisiert erhobenen empirischen Materials (vgl. Niederbacher 2004: 65). Die hermeneutische Auslegung ersetzt dieses Verfahren zwar nicht, bereitet die semantische Analyse des Materials aber in geeigneter Weise vor. 6.4.3
Datentriangulation
Die vorliegende Studie stützt sich auf drei Datensorten: Beobachtungsprotokolle, narrative und Ad-hoc-Interviews sowie Dokumente. Damit stellt sich die Frage: Welche Beziehungen und Verbindungen bestehen zwischen den verschiedenen Materialarten ? Der Einsatz unterschiedlicher Datenerhebungsmethoden folgt vor allem einem Begründungszusam men hang: Datentriangulation wird als eine Möglichkeit angesehen, um die Perspektiven auf den Forschungsgegenstand anzureichern. Uwe Flick (1992, 1998) hat diesen Ansatz als systematische Perspektiven-Triangulation ausgearbeitet und in die Methodendiskussion um angemessene Kriterien für die Geltungsbegründung und Verallgemeinerung qualitativer Daten eingebracht. Dabei sol len möglichst verschiedene Datensorten für eine differenzierte Untersuchung genutzt werden. In dieser Untersuchung wurden verschiedene Datensorten benutzt, um komplementäre Perspektiven auf den Forschungsgegenstand zu eröffnen. Durch die teilnehmende Beobachtung konnte ich mir einerseits das Feld erschließen, andererseits ließ sich das implizite Wissen der Handelnden herausarbeiten, das nicht sprachlich verfügbar ist, weil es im Modus des Fraglos-Selbstverständlichen gespeichert ist. Somit konnte die Beobachtung im Feld wichtiges Kontextwissen verfügbar und manche Äußerungen in den Interviews erst verstehbar machen. Das durch die Interviews gewonnene Datenmaterial sollte den Zugang zu Bedeutungszuweisungen und ReÀexionsprozessen der Interviewpartner ermöglichen. Dabei ging es um ihre Selbstdeutungen und Weltkonstruktionen, genauer: um die Motivation, am Karnevalsgeschehen teilzunehmen und möglicherweise die prozesshafte Bildung von rausch haf ten Vergemeinschaftungen zu evozieren und mitzuerleben. Insbesondere die Schilderung von Erlebnissen und Gefühlen hilft, elementare Deutungsmuster und Sinnkonstruktionen aufzudecken. Die Dokumentenanalyse dient zur Unterstützung der Rekonstruktion des Feldes aus der Sicht anderer Akteure, z. B. Journalisten. Da die Dokumente auch Fotos und Bilder enthalten, sind sie ein wichtiger Zusatz zu den Protokoll- und Interviewtexten. Sie speichern Ergänzungen, Präzisierungen und Erklärungen. Manchmal irritieren sie auch und provozieren damit ReÀexion, zum Teil auch Korrekturen bei einseitigen Deutungen.
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Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse
Im siebten Kapitel wird das empirische Material analysiert. Der Schwerpunkt liegt auf dem nicht-organisierten Karneval, der auf den Straßen, in den Kneipen und jenseits institutionell verplanter Ordnung statt¿ndet. In der Darstellung und Analyse geht es mir um die Identi¿zierung des Gesamtphänomens Straßenkarneval. Nicht anhand von Einzelfallanalysen, sondern durch das Aufzeigen verschiedener Perspektiven beteiligter Akteure zeichnet dieses Kapitel ein vielschichtiges Bild des rheinischen Karnevals. Wie es die Anlage dieser Arbeit nahelegt, ist auch die Darstellung der Analyse des Materials nach den grundlegenden Kategorien menschlichen Beisammenseins strukturiert – Raum, Zeit und Körper. 7.1
Kategorie Raum
7.1.1
Karneval und seine räumlichen Bezugspunkte
Das Karnevalfeiern hat eindeutige räumliche Bezugspunkte und ist an bestimmte Orte gebunden. Die Gegenden, in denen die Menschen Karneval, Fasching oder Fastnacht besonders intensiv feiern, werden als Karnevalshochburgen bezeichnet, ganz gleich, ob es sich um Städte, Regionen oder Gemeinden handelt. Aus historischen Gründen ist Köln die bedeutendste Karnevalshochburg im Rheinland. In dieser Stadt wurde im Jahr 1823 der Rosenmontagszug erfunden und der dortige gilt heute deutschlandweit als längster Umzug mit den meisten Besuchern. Für die Rheinmetropole ist Karneval ein bedeutendes Aushängeschild und ein Tourismusmagnet, der in vielen Wirtschaftszweigen auf vielfältige Weise für Umsatz sorgt. Von Köln geht in der Zeit des Karnevals eine besondere Anziehungskraft aus, der sich in- und ausländische Touristen ebenso wenig entziehen können wie die Bewohner der umliegenden kleineren Orte. Damit gehört der Karneval auch zu den Planungsfaktoren für die Stadt- und Regionalentwicklung und ist relevant für das Stadtmarketing. Zugleich ist er ein wichtiges Element zur Konstruktion einer regionalen Kultur. Auf die kulturelle Identität der Stadt Köln scheint sich das Karnevaleske auf intensivere oder zumindest öffentlich wirksamere Weise als anderswo auszuwirken. Das Fest hat viel mit Heimat zu tun, denn es verbindet ein Ereignis unwiderruÀich mit einem Ort und zugleich verknüpft es durch seine Y. Niekrenz, Rauschhafte Vergemeinschaftungen, DOI 10.1007/978-3-531-93086-2_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse
zyklische Struktur die Gegenwart mit der Vergangenheit. „Im Karneval darf der Weltbürger noch einmal die Wärme des heimatlichen Nestes genießen […]. Wir dürfen die Welt vereinfacht sehen, dürfen noch einmal den überschaubaren, kindlichen Horizont für den Kosmos halten“ (Oelsner 2004: 90 f.). Karneval erfüllt eine Sehnsucht nach heimatlichen Gefühlen, die sich an spezi¿sch benennbaren Orten, sehr häu¿g an Gebäuden und manchmal an persönlichen Beziehungen festmachen lassen, sonst aber unspezi¿sch bleiben. 7.1.2
„Köln ist die Nummer 1“ – Verehrung der Karnevalshochburg
Mit der Stadt Köln verbinden sich intensive, fast heimatliche Emotionen, auch wenn sie von Besuchern zum Ausdruck gebracht werden, die an ganz anderen Orten in Deutschland leben. Diese Gefühle stehen in einem direkten Verhältnis zum Karneval, wie die folgende Sequenz eines Interviews am Rosenmontag 2008 zeigt. Die Interviewpartnerin antwortet hier auf die Frage, warum sie in Köln sei: „Weil ich Karneval total liebe und weil ich auch Köln total liebe“ (T1: 12). Die Liebe zum Karneval wird hier mit der Liebe zur Stadt Köln in einem Satz genannt. Ihre Beziehung zu den beiden „Geliebten“ ist intensiv und umfänglich, dies drückt die Steigerung durch das Wort „total“ aus. Es entsteht also eine Dreiecksbeziehung, die im Fall der Interviewten dadurch ergänzt wird, dass sie zwei Jahre zuvor beim Karneval Feiern eine Freundschaft geschlossen hat. „[I]ch hab auch an Karneval Freunde kennengelernt, also Leute kennengelernt, vor zwei Jahren und (= Ja. =) ist ’ne super gute Freundschaft draus entstanden“ (T1: 24 ff.). Die Freundschaft wirkt verstärkend auf die Liebe zu Köln, denn die Freunde sind Kölner, die sie auch außerhalb der Karnevalssaison besucht. Menschliche Beziehungen, die an einen Ort geknüpft sind, kön nen – wie Alexander Mitscherlich betont – einen Ort zur Heimat machen (vgl. Mitscherlich 1965: 124). Heimatliche Gefühle sind verbunden mit der lebendigen Unabgeschlossenheit mit menschlicher Beziehungen, also einer offenen Anteilnahme am Leben (vgl. ebd. 125 f.) und weniger mit einer durch Geburt festgeschriebenen Zuordnung. Sie können durchaus auch für mehr als nur einen Ort empfunden werden und haben, wie die folgende Inter viewsequenz zeigt, etwas mit Identi¿ kation zu tun. Es sind Entscheidungen, die getroffen werden. „T10: Ja, isch hab da in so ’nem schlauen Buch, dat heißt ‚Ganz unter uns‘, steht ’n Spruch drin: Kölner werden ist ein Willensakt. Also man muss nicht in Köln geboren sein, um sich als Kölner zu fühlen. Man muss sich halt nur mit dem Janzen da identi¿zieren, ne.
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I: Ja. Das heißt, das ist ’ne Entscheidung die im Kopf statt¿ndet ? (= Ja. =) Also ich will jetzt Kölner sein, also Kölsche Mädsche. OK. (lacht) T10: Geht schnell“ (T10: 194 ff.).
Der Interviewte zitiert den Satz „Kölner werden ist ein Willensakt“ aus einem Buch und bietet einen Interpretationsvorschlag an. Es kommt, wie er sagt, nicht darauf an, in Köln geboren zu sein, um sich als Kölner zu fühlen, sondern darauf, sich „mit dem Janzen da“ zu identi¿zieren. Dieser Satz wird von dem Interviewten nicht in Frage gestellt, sondern als Regel weitergegeben und interpretiert. Als die Interviewerin diesen Vorschlag in einer performativen Sprechweise nachzuvollziehen scheint, bestätigt der Interviewte die gelungene Umsetzung mit „Geht schnell“. Um sich als der Stadt zugehörig zu fühlen, ist lediglich eine Identi¿kation notwendig, wobei unklar bleibt, womit man sich identi¿zieren muss. So diffus die Aussage „mit dem Janzen da“ sein mag, erleichtert diese Ungenauigkeit gerade den individuellen Aneignungsprozess, indem die Deutung offen bleibt und individuell interpretiert werden kann. Der Interviewte scheint diese Regel selbst verin nerlicht zu haben und sich als Kölner zu fühlen. Denn obwohl er nicht in der Rheinmetropole lebt, macht er zu Beginn des Interviews deutlich, er sei ein halber Kölner, ohne dies zu spezi¿zieren: „dadurch, dass ich ja so’n halber Kölner bin“ (T10: 77). Dieser Willensakt und die Entscheidung für eine besondere Beziehung ¿nden sich ähnlich in der bereits zitierten Sequenz „Weil ich Karneval total liebe und weil ich auch Köln total liebe“ (T1: 12). Karneval und Köln werden hier personi¿ziert und überaus positiv konnotiert. Bei beiden Objekten muss die Beziehung nicht durch Gegenliebe bestätigt werden, sodass die einseitigen positiven Gefühle der Kölnbesucherin ausreichen, um das Bedürfnis nach fragloser Zugehörigkeit zu befriedigen. Die stolzen und heimatlichen Gefühle für Köln verspüren auch Nicht-Kölner – insbesondere dann, wenn sie selbst Kar neval feiern. Hubert, ein Mitglied der Karnevalsgesellschaft einer niederrheinischen Kleinstadt, berichtet von dem Stolz auf die Stadt Köln, der insbesondere mit dem Karneval zu tun hat. Köln wird in der folgenden Sequenz als Geburtsort des Karnevals hervorgehoben. „Also ich sach mal, man geht da ja, auch wenn man nich Kölner is, geht man ja doch mit ’nem bestimmten Stolz an diese Stadt ran. Also, sach mal gerade als Karnevalist is dat natürlich die Stadt, wo eigentlich der Karneval, sach ma mal, jeboren wurde, ne. […] dat is natürlich viel Verbundenheit, also man ¿ndet dat einfach schön da, mit de Dom, de Rhein. Die Menschen da sind ja in der Regel, se sind manchmal etwas raubeinig, aber eigentlich alle immer sehr herzlich“ (T10: 132 ff.).
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Dabei verweist Hubert auf den Geburtsort des bürgerlichen, organisierten Karnevals, der für ihn als Karnevalisten, wie er sich aufgrund seiner Vereinsmitgliedschaft selbst bezeich net, eine besondere Rolle spielt. Er erwähnt nicht, dass es den unorganisierten Karneval auch schon lange vor dem ersten Kölner Rosenmontagszug gab. Der Rosenmontagszug und der bürgerliche Karneval sind somit für ihn zentrale Elemente des Festes. In dieser Sequenz dominiert das Inde¿nitpronomen „man“, mit dem Hubert eine kollektive Agency wählt und somit ein in seinen Augen allgemeines Deutungsmuster präsentiert: „man ¿ndet dat einfach schön da“. Für Hubert ist es selbstverständlich, dass man als Karnevalist einen „bestimmten Stolz“, „viel Verbundenheit“ mit Köln verspürt und die Regel gilt, dass man es dort „einfach schön“ ¿ndet. Er hebt den Dom und den Rhein als städtische Wahrzeichen hervor, die das Schöne ebenso ausmachen, wie auch die Menschen mit ihren Eigenarten. Hier schränkt er seine Regel mit dem Abtönungspartikel „eigentlich“ ein („aber eigentlich alle immer sehr herzlich“) und stellt ihm „immer“ und die Steigerung „sehr“ gegenüber. Mit dieser For mulierung verweist Hubert auf die Ambivalenz, die sich aus Raubeinigkeit und Herzlichkeit ergibt. Auch er formuliert eine Beziehung zu Köln („viel Verbundenheit“), allerdings ver weist er dabei auf einen kollektiven Referenz rahmen. Die Beziehung bedarf daher keiner näheren Erläuterung. Später präsentiert Hubert eigene Emp¿ndungen im Rahmen eines allgemeinen Deutungsmusters. „T10: [I]ck steig in Köln aus und fühl mich da einfach, dat is immer so, hach. I: Aus’m Zug meinste jetzt ? Oder. T10: Ja, wenn ich immer so am Hauptbahnhof da rauskomm-“ (T10: 142 ff.).
Hubert erzählt, wie er seine Ankunft bei einem Besuch in Köln emp¿ ndet. Sprachlich gelingt es ihm aber nicht, seine Gefühle zu fassen. Mit „hach“ umschreibt er ein zufriedenes, vielleicht sogar glückseliges Gefühl, das sich immer dann einstellt, wenn er aus dem Hauptbahnhofsgebäude heraustritt und weiß, dass er (in Köln) angekommen ist. Im Beobachtungsprotokoll von Rosenmontag 2008 ¿ndet sich eine Beschreibung dieser Situation des Ankom mens in Köln mit dem Verlassen des Bahnhofsgebäudes und dem Betreten des Vorplatzes, bei dem sich linker Hand der Dom erhebt: „Ich trete aus dem Bahnhofsgebäude heraus in das grau verregnete Köln. Da steht er, grau und mächtig mit seinen beiden Spitzen. Er türmt sich auf und lässt alles um sich herum klein wirken“ (Protokoll 04.02.2008).
Das Kölner Wahrzeichen ist beeindruckender Fixpunkt, an dessen Fuße sich gerade an Rosen montag viele Jecken tummeln. Anerkennend wird im Protokoll
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seine Größe und Mächtigkeit betont. Die Lage des Kölner Doms direkt neben dem Bahnhof macht ihn zu einem wichtigen Anhalts- und Orientierungspunkt für die Gäste der Stadt, von denen viele mit dem Zug an reisen. Auch Hubert formuliert die Strategie, sich an den beiden Turmspitzen des Domes zu orientieren: „Also selbst wenn man sich nich in Köln auskennt, muss man nur gucken, wo is die, wo sind die komischen beiden Spitzen (= Ja, genau. =) und wenn man dann so in die Richtung geht, hat man wieder seine Orientierung“ (T10: 181 ff.).
Fast als Regel präsentiert Hubert dieses Vorgehen, denn das unbestimmte „man“ ist aus gram matischer Sicht das Subjekt in dieser Sequenz. Er bezieht diese Vorgehensweise der Orientierung nicht auf sich, sondern auf diejenigen, die sich in Köln nicht auskennen, und formuliert sie wie einen Tipp oder ein Verfahren von allgemeiner Gültigkeit: „Man orientiere sich an den Spitzen des Kölner Doms !“. An diesem Beispiel wird deutlich, wie dem Raum stets eine Ordnungs- und Handlungsdimension innewohnt. Das große Kirchengebäude ist als Wahrzeichen und Orientierungspunkt ein Objekt, durch das soziale Akteure ihren Raum ordnen und zugleich herstellen. An ihm richten sie ihre Handlungen aus und konstruieren Raum, indem sie ihn als Bezugspunkt nutzen. Der Dom ist mit seinen beeindruckenden Ausmaßen, seiner langen Bauzeit und aufwendigen Gestaltung ein Ort, der viel dazu beiträgt, dass Köln als besonderer Anziehungspunkt und als eng verbunden mit dem Karneval und einer karnevalistischen Lebensfreude gilt. Als katholisches Kirchengebäude wohnt ihm eine spirituelle Dimension inne, die durch seine Größe unterstützt wird, scheinen sich doch hier Himmel und Erde zu berühren. Der Dom steht für Beständigkeit und Tradition und hat nicht nur einen hohen Symbolwert, sondern gibt Köln auch sein unverwechselbares Panorama. Obwohl die ethnogra¿sche Studie als weitere Orte Mönchengladbach sowie kontrastierend eine Kleinstadt und zwei Dörfer einbezogen hat, wurde ausschließlich die Stadt Köln so glühend verehrt. Dabei beziehen sich wiederkehrende Motive zur herausgehobenen Stellung Kölns zum einen auf die Größe des Rosenmontagszugs, zum anderen auf eine besonders friedliche und familiäre Stimmung sowie auf eine multikulturelle Durchmischung und wechselseitige Toleranz. Auf die Frage „Warum seid ihr hier ?“, antwortet ein junger, männlicher Feiernder Rosenmontag 2008: „Weil wir Spaß haben möchten und weil Köln so super ist, weil Köln die Hauptstadt ist vom Karneval“ (T5: 17 f.). Er schreibt Köln den Status der „Hauptstadt des Karnevals“ zu und deklariert seine Spaß- und Erlebnisorientierung als Motiv seiner Karnevalspartizipation. Als Erlebnisort eignet sich in seinen Augen Köln, weil Köln „so super ist“ und als Karnevalshauptstadt ein besonderes Erlebnispotenzial bietet. Zwar scheint das dreimalige nennen der Kausalkonjunktion „weil“ gleich drei verschiedene Gründe für das Feiern in Köln
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zu liefern, doch handelt es sich hier um aufeinander bezogene Aussagen, die den Spaß- und Erlebnisfaktor von Köln unterstreichen. Auf die Nachfrage, ob es keine Alternative zu Köln gibt, versichert derselbe: „Nee, Köln ist die Hauptstadt. Köln ist Nummer 1, ja. (= OK. =) Auch der längste Karnevalszug der Welt. Ja“ (T5: 28 f.). Keine Stadt außer Köln kommt für den Rosenmontag 2008 infrage, weil Köln sich die Spitzenposition im Kampf um das größte Erlebnisangebot gesichert hat. Nochmals wird Köln fast formelhaft und ohne Zögern der Status einer Hauptstadt zugeschrieben. Um die Sonderstellung auch empirisch zu fundieren, wird die Länge des Karnevalszugs hervorgehoben. Auch mit dem wie ein Slogan ausgerufenen „Köln ist Nummer 1“ wird die Position der Stadt als Karnevalskönigin (re-)produziert. Ein anderer, im Verein einer Kleinstadt organisierter Karnevalist bezeichnet den Karneval in Köln als herausgehobenes Ereignis, als das Event eines jeden Jahres. „Das ist das Event des Jahres in Köln. (= Ja. =) Und da ist einfach, das halt wie das Oktoberfest in München, ist in Köln der Karneval. Da kommen sehr, sehr viele von außerhalb, fahren da auch hin. Weil das ist irgendwie was“ (T18: 584 ff.).
Der Karneval in Köln wird hier mit dem Münchener Oktoberfest verglichen. Die Ähn lichkeit ergibt sich aus dem Eventcharakter und der Tatsache, dass beide Volksfeste eine große Zahl von Besuchern anlockt. Was aber genau das Besondere ist, wird zunächst nicht benannt, vielleicht weil es nicht näher beschrieben werden kann als mit „das ist irgendwie was“. Der Vergleich mit dem anderem Volksfest in der Landeshauptstadt Bayerns stellt zum einen ein Konkurrenzverhältnis her – wer hat das größte und schönste Event ? Zum anderen erfährt der Karneval eine Gleichsetzung mit dem Oktoberfest – Karneval ist auch nichts anderes als Oktoberfest. Nach dieser Abwertung – es ist doch alles eins – wird aber sogleich die besondere Stellung des Events Karneval hervorgehoben, der in Alfs Augen zu Recht viele Touristen anlockt. Im weiteren Gespräch unterstreicht er die besonders offene und herzliche Stimmung in Köln, die den typischen rheinischen Karneval ausmacht. „T18: In Köln stehst du keine Minute alleine in der Kneipe. Wenn du da alleine stehst, da brauchst du keine Minute, da hast du einen ganzen Pulk von Menschen. Da bist du sofort dabei. Du gehörst dazu. I: Das ist dann nur an Karneval so ? T18: Ne, in Köln ist das das ganze Jahr so. (lacht) In Düsseldorf passiert sowat nich. Da stehst du noch nach zwei Stunden alleine an der Theke. (lacht) Das ist der Unterschied. Da feiern sie wieder anders Karneval. Die sind halt sehr, zu politisch motiviert dann. Und aber das ist einfach so. Und deshalb ist Köln halt wirklich diese
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Attraktion. Man kann es wirklich vergleichen mit dem Oktoberfest in München. Da kommen sehr, sehr viele hin. Da gibt’s viele ausländische Besucher, die kommen nach Köln, um den Karneval zu erleben“ (T18: 594 ff.).
Die Sequenz zeigt, dass der Vergleich mit München vor allem aus der Vielzahl an Besuchern resultiert. Köln wird als Attraktion, als Magnet beschrieben, der die Menschen anzieht, weil dort auf eine offene und integrative Art Karneval gefeiert wird. Hier scheint auch die alte Feindschaft zwischen Düsseldorf und Köln auf, die mehrere Jahrhunderte zurückreicht und in Kämpfen um politischen EinÀuss und wirtschaftlichen Wohlstand gründet. Noch heute wird im Karneval dieses Konkurrenz- und Neidverhältnis thematisiert. Alf präferiert den Karneval in Köln, wo niemand lange allein bleibt und die Theke Vergemeinschaftungen evoziert. Die Kölner Jecken verbindet auch die Gegnerschaft gegen einen Dritten – Düsseldorf und seine Karnevalisten, gegen die man Aversionen pÀegt. Durch die alte und jedes Jahr neu inszenierte Fehde wird soziale Karnevalswirklichkeit konstruiert. Der Rhein als geogra¿sche Grenze zwischen Köln und Düsseldorf wird als räumliche Grenzlinie damit sozial konstruiert und bestätigt. In Alfs Verständnis sind die Düsseldorfer „zu politisch motiviert“. Diese negative Wer tung wird als Selbst verständlichkeit präsentiert „das ist einfach so“. Köln ist so, und Düsseldorf ist anders. Eine andere typische Regel für den Kölner Karneval, ist „Jeck loss Jeck elans“ (auch: „Jeck, lohß Jegge lahns“). Der kölsche Spruch ist ein Bekenntnis zu Toleranz, Nachsicht und Anerkennung von Unterschieden. „Heißt übersetzt: Jeck lass Jeck vorbei, huh, heißt also, dat man sich den Toleranzspielraum och mal gegenseitig zugestehen sollte, weil jeder Jeck is anders, hm. (= Ja. =) Dat spricht’r aus“ (T10: 250 ff.).
Hubert präsentiert hier nicht nur ein sprachlich-rhetorisches Mittel, nutzt also nicht nur die Redewendung, um seine Ausführungen zu schmücken und zu fundieren, sondern er analysiert diese Redeweise, indem er sie als Verhaltensregel auslegt. Der genannte Spruch hat für ihn reale Konsequenzen, denn er führt weiter aus: „Darum Köln war ja och schon immer so’ne Stadt, die äh, sehr multikulti war (= Hm. =), huh, man sacht ja och nich umsonst, Köln is dat Italien des Nordens, och so vom Temperament her“ (T10: 252 ff.).
Die Toleranz und Akzeptanz sich und den anderen Jecken gegenüber gibt Köln das Flair einer bunten, multikulturellen Stadt. Das Kausaladverb „darum“ er-
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Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse
zeugt eine direkte Kausalbeziehung zu der Redeweise und gesteht ihr einen Sinngehalt zu, der sie zu einem Strukturmuster des Handelns erhebt. „Jeck loss Jeck elans“ hat beobachtbare Konsequenzen im städtischen Zusammenleben. Es geht in Huberts Narration nicht nur darum, die Regeln des Karnevals zu präsentieren, sondern auch seine realen Auswirkungen auf das Alltagsleben der Menschen in der Stadt aufzuzeigen. Das Temperament des hier personi ¿zierten Kölns wird durch das kulturell tradierte Schema „Jeck loss Jeck elans“ beeinÀusst oder anders gewendet: Das Deutungsschema ist eine metaphorische Vorstrukturierung (vgl. Lakoff/Johnson 2003), die dazu führt, dass Köln als besonders tolerant wahrgenommen wird. So konstruiert die Redewendung Wirklichkeit. Die besonders friedliche Atmosphäre beim Feiern in Köln unterstreicht eine weitere Interviewpartnerin. Sie hebt das Gemeinschaftserlebnis hervor, bei dem sie sich als Teil eines großen Ganzen fühlt. Dieses außeralltägliche Erlebnis ist für die Hessin kölnspezi¿sch. „T1: [I]ch glaub, das erlebst du auch nur hier. I: Nur in Köln ! ? T1: Ja, nur in Köln, das ist einfach so dieses, ähm, ja dieses Familiending irgendwie, ja auch wenn hier viele Touris sind, aber, hier feierst du halt einfach zusammen und, ähm, wo ich herkomme, da sind halt dann schon öfters auch mal Schlägereien und sowas und das kenn ich halt von Köln so gar nich“ (T1: 33 ff.).
Der Kölner Karneval evoziert Sozialbeziehungen, die zwar Àüchtig sind, aber dennoch als „Familiending“ bezeichnet werden. Diese Verschmelzungsmetapher deutet auf einen Intensitäts- und Intimitätsgrad hin, der den Einzelnen mit der (Àüchtigen) Gemeinschaft, dem Ort und der Zeit vereint. Die oben genannte Passage verweist darauf, dass Köln weniger konÀikthaft ist als die Heimatstadt der Interviewten. Das besonders Friedliche ist etwas, was sie als kölntypisch herausstreicht und unmittelbar mit dem Begriff Familie verbindet: „aber einfach dieses friedlische, also Familie so in dem Sinn, friedlich“ (T1: 46 f.). In Köln erlebt sie ein harmonisches, friedliches und gewaltfreies miteinander Feiern, das zu einem besonderen Zusammenhalt und einer familiären Atmosphäre führt. Daher fährt sie zum Feiern nach Köln und bleibt nicht in ihrer Heimatregion, in der sie ebenfalls Karneval feiern könnte. In dieser Passage wird eine Grundstimmung skizziert, die sich mit dem Toleranzpostulat deckt. Die Interviewte fundiert ihre Einschätzung mit einem Vergleich zu ihrer Heimatregion, wo es „öfters auch mal Schlägereien“ gibt, und verstärkt damit die Gültigkeit ihres Arguments. Sie zeigt nämlich, dass sie nicht lediglich Floskeln oder allgemeine Deutungsmuster formuliert, sondern die Gültigkeit dieser Schemata empirisch – nämlich mittels eines Vergleichs – belegen kann. Köln hat für sie eine absolute Ausnahmestellung.
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Das Erlebnis ‚Kölner Karneval‘ hebt sich nicht nur von den Alltagserfahrungen ab, sondern auch von den Festerlebnissen der hessischen Heimat: „Köln ist halt, also für mich, für uns Hessen (lacht), ist halt was ganz anderes und ich denke, so geht’s halt vielen, die extra für den Karneval hier herkommen, ja“ (T1: 150 ff.). Die Interviewte formuliert eine für „uns Hessen“ gültige Regel und vergleicht dabei nicht nur den hessischen Karneval mit dem kölnischen, sondern stellt auch das hessische Temperament dem rheinländischen gegenüber. Die Anziehungskraft von Köln unterstreicht sie erneut, indem sie betont, dass sie (und viele andere) unter hohem Ressourceneinsatz extra für den Karneval anreist, um das Besondere zu erleben. Im weiteren Verlauf zieht dieselbe Gesprächspartnerin einen weiteren Vergleich zwischen Köln und ihrer hessischen Heimatstadt, der die Art und Weise des Feierns in den Blick nimmt. Das Berichten über das „Hier“ im Vergleich zum „Dort“ legitimiert einmal mehr sowohl ihre starke Liebe zu Köln („weil ich auch Köln total liebe“ – T1: 12) und weist sie als Kennerin der Stadt und ihrer GepÀogenheiten aus. Gleichzeitig wird Köln in seiner Sonderstellung bestätigt. Dabei hebt sie zum einen das besonders ausgelassene Feiern hervor (hüpfen, springen, mitgrölen) und attestiert Köln eine besondere Toleranz, aber auch die Nor malität des Ausnahmezustands an Karneval unterstreicht sie. In Köln „ist das normal“, dass extreme und außeralltägliche Verhaltensweisen beim Feiern zu beobachten sind, weil es jeder macht. „Ausnahmezustand, ähm, nicht nur, nicht nur wegen dem Alkohol, sondern auch einfach halt so um das Feiern, also was weiß ich, wenn wir jetzt (.) Disco oder irgendwas gehst, wo vielleicht auch Karnevalsmusik gespielt wird. Bei uns ist das so, kann man halt mit Köln nisch vergleischen, und dann extrem halt da rumhüpfst und springst und mitgrölst, wenn man denkt (.), eh, was ist das denn. Ich mein, was weiß ich, wenn du hier ins Klein Köln gehst, dann macht das jeder, da ist das normal, ja“ (T1: 143 ff.).
Sie präsentiert mit dem Kneipennamen „Klein Köln“ Ortskundigkeit und formuliert für das Lokal als allgemein gültig, dass dort jeder rumhüpft, springt und mitgrölt. Hier wird der Ausnahmezustand zur Normalität, und so können sich die Gäste ungeniert an der neuen Verhaltensordnung orientieren. Für die Interviewpartnerin öffnet der Karneval in Köln einen Raum für besonders intensive und harmonische Festereignisse, die für sie Höhepunkte darstellen, die sie jenseits ihres Heimatortes erleben kann. Mit deutlich weniger Begeisterung fällt die Eindrucksschilderung von Rolf und Sarah aus. Zum ersten Mal besuchen sie 2007 den Rosenmontagszug in der Metropole am Rhein. Sie sind mit der Motivation nach Köln gereist, „[u]m zu
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sehen, wie der Zuch, wie so der Zuch in Köln is. Um einfach mal das Gefühl da zu haben“ (T11/1: 16 f.). Sie wollten nicht nur den Zug sehen, sondern auch etwas erleben („das Gefühl da […] haben“). Rolf formuliert, dass er unter Gefühl so etwas wie Stimmung versteht: „-wie dat da is, wie die Stimmung da is. Aber, war nich wirklich so schön, wie jehofft“ (T11/1: 21 f.). Sofort bilan ziert er seine Enttäuschung, denn ein besonderes Gefühl hat er in Köln nicht erleben können. Seine Hoffnungen erfüllten sich nicht, und es war „nich wirklich so schön“. Rolf hatte erwartet, „[d]ass die Stimmung so is wie hier [in der Kleinstadt]“ (T11/1: 26). Er präsentiert als Referenzpunkt seinen Wohnort, der ebenfalls alljährlich einen Rosen montagszug veranstaltet und feiert. Sein Gütekriterium für den Vergleich ist die Stimmung als diffuses, nicht genauer benanntes Gefühl. „T11/1: Stimmung heißt, dass die Leute mitgegangen sind, alsoT11/2: Dass die Leute auf’m Wagen auchT11/1: -die Leute auf den Wagen auch mit den Leuten, die am Rand standen, gefeiert haben. T11/2: Animiert haben, sagen wir mal so (= T11/1: Ja. =) das haben die ja in Köln ja nich gemacht“ (T11: 36 ff.).
Die erlebnisorientierte Sarah wünscht sich, von den vorbeiziehenden Zugteilnehmern animiert zu werden. Ihre Erwartung an den Rosenmontagszug ist eine direkte Aufforderung zum Feiern. Das, was beide als Stimmung bezeichnen, entsteht maßgeblich durch Enter tainment. In dieser Sequenz wechseln sie sich nach kurzen Redebeiträgen ab, unterbrechen einander sogar. Dies deutet auf eine gemeinsame Enttäuschung und auf den Versuch, diese einerseits auszudrücken und andererseits gemeinsam Ursachenforschung zu betreiben. Könnte man zunächst vermuten, dass die beiden Neulinge Berichte glühender Köln-Verehrer über den Rosenmontagszug zur Grundlage ihres Vergleichs machen, so läuft diese Annahme ins Leere. Sie sind nicht enttäuscht, weil überschwängliche Schilderungen nicht mit ihren Erlebnissen korrespondieren, sondern es ist der Wohnort, der auch hier als Maßstab dient – nur schneidet diesmal Köln schlechter ab. Karneval ermuntert die Feiernden, sich zu ihrer Liebe zu einer Stadt oder Region zu bekennen. Die Dominanz der Mundart und die Karnevalslieder mit starkem Lokalkolorit bieten Gelegenheit, die Heimat zu verherrlichen (vgl. Oelsner 2004: 92). Dabei ist nicht relevant, ob der Einzelne tatsächlich in dem Ort zu Hause ist oder sich nur vorübergehend zugehörig fühlt. Ein über die Grenzen des Rheinlands hinaus bekanntes Lied ist „Viva Colonia“ von der Band ‚De Höhner‘, das auch außerhalb der Session zu unzähligen Gelegenheiten angestimmt wird. Das dominierende Thema ist die Aufforderung zum Genuss im Hier und Jetzt, weil das Leben endlich ist. Ein Hoch auf den Hedonismus durchzieht die vier
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Strophen ebenso wie die Lobpreisung Kölns. Der Refrain wird in diesem beliebten Schlager fünf Mal gesungen, sodass es häu¿g schon beim ersten Hören des Liedes gelingt, hier mit einzustimmen. Da simmer dabei ! Dat es prima ! VIVA COLONIA ! Wir lieben das Leben, die Liebe und die Lust wir glauben an den lieben Gott und han auch immer Durst.
„Viva Colonia“ wird zumeist besonders laut oder lauthals mitgesungen – auch weil es sich mit den beiden Lauten ‚a‘ am Ende gut dazu eignet. Der Vokal ‚a‘ wird stimmhaft mit freiem Luftstrom und weit geöffnetem Mund gebildet. Bei keinem anderen Laut ist der Mund so weit offen. „Viva Colonia“ – Köln lebe hoch ! Diese Hymne preist die Stadt am Rhein, und zugleich verehrt sie das Leben, die Liebe und die Lust. Trotz aller hedonistischer Lebenseinstellung in der zweiten Zeile formuliert der Refrain schließlich ein Glaubensbekenntnis an Gott. Hier geht es vermutlich weniger um religiöse Verehrung, sondern eher um einen lebensweltlichen Hintergrund, der mit Spiritualität zu tun haben kann (aber nicht muss) und eher privat und subjektiv sinngebend ist. Konterkariert und ironisiert wird dieses Credo mit dem Geständnis, immer Durst zu haben, das heißt also, den weltlichen Sinnesfreuden (trotzdem) zugeneigt zu sein. Im Wort „simmer“ (‚sind wir‘) sowie im zweimaligen Nennen des Personalpronomens „wir“ kommt eine starke Kollektivorientierung zum Ausdruck. Fasst man das gemeinsame Singen als sprachliche Äußerung auf, konstruiert das „Wir“ ein Kollektiv, zu dem sich die Einzelnen als zugehörig positionieren. Das Bekenntnis zum Glauben an Gott geht einher mit dem Bekenntnis des Glaubens an die Gemeinschaft, bei der aus den vielen singenden Einzelnen ein „Wir“ wird. Die Wir-Rhetorik kommt in vielen Karnevalsschlagern vor und hat zum Ziel, den Zusammenhalt der singenden Gruppe zu stärken. Schon für Martin Luther gehörten das Singen und Sagen zusammen, weshalb er das deutsche Kirchenlied anstelle des lateinischen in den Gottesdienst brachte. Das Singen sollte daher auch in einer ethnogra¿schen Feldforschung als Sprechakt verstanden werden (vgl. auch Kap. 4.2.3.3). Das Lied „Viva Colonia“ ist eines von unzähligen möglichen Beispielen, das sich anführen lässt, wenn es um die Rekonstruktion des lokalen Identitätsmanagements von Köln geht. Köln ist eine Stadt, die als touristischer Magnet Besucher aus der ganzen Welt anlockt. Nicht zuletzt Events wie Karneval sorgen dafür, dass Köln eine einzigartige lokale Identität ausprägen konnte. Mit dem alljährlichen Ereignis gelingt die Balance zwischen Lokalismus und Kosmopolitismus, zwischen Identität und Weltoffenheit, zwischen Verwurzelung und Weltbürgertum (vgl. Prisching 2009: 8).
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Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse Die Straße wird zur Bühne – Außeralltägliche Raumordnungen
Im rheinischen Karneval wird der Straßenraum zur Bühne. Straßenkarneval ¿ndet nämlich nicht an eigens dafür vorgesehenen Orten und auf eingezäunten Geländen jenseits urbaner Verkehrs- und Kommunikationsströme statt, wie es auf Vergnügungs- und Freizeitparks zutrifft, sondern er hat seinen Platz mitten im Zentrum der Stadt. Diese Tatsache symbolisiert nicht nur seine enge Verbundenheit mit lokaler Identität; auf diese Weise kann der Karneval auch den Ausnahmezustand und die Verkehrung der Herrschaftsverhältnisse inszenieren. Das Raum- und Sozialgefüge der Stadt wird durch die agierenden Individuen grundlegend verändert und als etwas dem Alltag Entgegenstehendes konstituiert. Ist die närrische Zeit vor über, wird deutlich sichtbar die alltägliche Ordnung wiederhergestellt. Die Welt des Außergewöhnlichen hat keine Chance, sich räumlich auf Dauer zu manifestieren, sondern ihr wird von Beginn an der Status des vorübergehend Geduldeten zugeschrieben. Der städtische Außenraum bleibt auch in der närrischen Zeit ein öffentlicher Ort, d. h. die Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem besteht fort. Diese Behauptung belegen die immer wiederkehrenden Formulierungen des „raus Gehens“, wie etwa bei Katharina: „Der Donnerstagabend halt (= Ja. =) wo ich rausgeh“ (T9: 18). Den Abend an Weiberfastnacht benennt sie als festen Termin, an dem sie die heimischen vier Wände verlässt, um Karneval zu feiern. Das sorgsam vorbereitete Ausgehen ist ein Eintreten in einen öffentlichen Raum. Dabei ist Öffentliches nicht per se an bestimmte Räume gebunden, sondern kann in intimen Räumen von Privatheit ebenso statt¿nden wie im städtischen Außenraum. Öffentliches benennt ein soziales Handeln, das für die Augen anderer Gesellschaftsmitglieder bestimmt ist und sich auf ein gemeinsames Zusammenleben bezieht. Es geht über die Privatangelegenheiten des Einzelnen hinaus und verweist auf die Sichtbarkeit der (Inszenierung der) eigenen Person für eine unbestimmte Zahl von Anderen. Als öffentliches Handeln ist solches Handeln zu denken, das den Verhaltensregeln der öffentlichen Ordnung entspricht, die Erving Goff man beschreibt. Die Grundregeln der öffentlichen Ordnung betreffen zunächst die persönliche Sicherheit (z. B. andere Menschen nicht tätlich angreifen) und dann vor allem die „Kom munikations-Verkehrsordnung“ (Goffman 1971b: 35), die Verhaltensregeln umfasst, die Goffman als „situationelle Anstandsformen“ (ebd.) bezeichnet. Wenn der Titel dieses Abschnitts den Begriff ‚Bühne‘ enthält, dann wird dieser Begriff ganz im goffmanschen Sinne verstanden: Wir alle stehen auf einer Bühne und interagieren als Darsteller. Eine Trennung in Publikum und BühnenAkteure gibt es im Karneval nicht, denn hier sind alle gleichermaßen Darsteller.
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„Karneval ist ein Schauspiel ohne Rampe, ohne Polarisierung der Teilnehmer in Akteure und Zuschauer. Im Karneval sind alle Teilnehmer aktiv, ist jedermann handelnde Person. Dem Karneval wird nicht zugeschaut, streng genommen wird er aber auch nicht vorgespielt. Der Karneval wird gelebt – nach besonderen Gesetzen und solange diese Gesetze in Kraft bleiben“ (Bachtin 1969: 48).
Die Alltagsregeln und Anstandsformen gelten im Karneval nicht: Frauen übernehmen das Regiment, Kinder sammeln die Bonbons von der Straße, Menschen bützen einander kreuz und quer, Männer verkleiden sich als Jungfrauen und der Müll türmt sich auf den Straßen. Verglichen mit dem Alltag sieht die Stadt völlig verändert aus: „es war alles voll, die ganzen Plätze, da wo wir langgegangen sind. Es war’n nur Leute, es war alles voll. (= Hm. =) Also du bist- […] auf dem Müll spazier’n gegangen, quasi (= Ja. =) (schmunzelt) weil das so voll war“ (T11/1: 516 ff.). Zu der Veränderung trägt maßgeblich die Zahl der anwesenden Feiernden als handelnde und Raum konstituierende Subjekte bei. Sie und ihre Hinterlassenschaften sorgen unter anderem für eine außeralltägliche Raumordnung – überall ¿nden sich Spuren des Festes. Karneval folgt besonderen Gesetzen. Zu diesen Kommunikations-Verkehrsordnungen gehören viele als Kommunikations-Verkehrsregeln zu verstehende Rituale wie beispielsweise die KostümpÀicht (vgl. Kap. 7.3.1.1). Karneval ist voll von Ritualen, in deren Rahmen es drunter und drüber gehen darf und auch sollte, an die sich aber insgesamt genau gehalten werden muss. Karneval belebt und pÀegt Traditionen. „Es gilt der Satz: Was man schon immer gemacht hat, hat seine Richtigkeit, und es darf kein Jota davon abgewichen werden“ (Zirfas 2004: 47). So ist der Karneval eingebettet in eine genaue zeitliche Programmstruktur (vgl. Kap. 7.2.2), die Beginn und Ende der närrischen Zeit und ihrer vielen Höhepunkte festlegt. Aber auch räumliche Ordnungen bestimmen den Ablauf des Straßen karnevals. Die räumlichen Repräsentationen zu Karneval symbolisieren herrschende Ordnungsvorstellungen: Sie markieren mittels fantasievoller und üppiger Dekorationen nicht nur den Ausnahmezustand, sondern fördern auch eine Trennung zwischen Zentrum und Peripherie, denn die Stadtzentren, in denen der Zugweg verläuft, sind in Bedeutungszuschreibung und -auÀadung hervorgehoben. Die Weiberfastnacht wird in Köln beispielsweise traditionell vom Bürger meister der Stadt und dem Dreigestirn auf dem Alter Markt eröffnet, „wo früher die Marktfrauen den Weiberkarneval ausriefen“ (Klauser 2007: 230). An der Eroberung der öffentlichen Plätze können alle teilhaben. „Hauptarena der karnevalistischen Handlungen und Vorgänge war der öffentliche Platz nebst den an ihn angrenzenden Straßen. Freilich ging der Karneval auch in die Häuser hinein, er war im Grunde nur in der Zeit, nicht im Raum beschränkt […].
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Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse Jedoch seine Hauptarena konnte nur der Platz sein, denn der Karneval ist ein das ganze Volk ergreifendes und universelles Phänomen […]. Der Platz war das Symbol der Allgegenwart des Volkes“ (Bachtin 1969: 56).
Begreift man den städtischen Marktplatz als ein Symbol des Bürgertums, so ist der im Kar neval zur Bühne von Narretei und antiautoritärem AuÀehnen umfunktionierte Handelsplatz auch der Ort, wo der Bürger öffentlich zum Jecken wird. Diese vorübergehende Metamorphose ist der Wechsel von Verantwortungsbewusstheit und Selbstdisziplin hin zur Nar renfreiheit und Völlerei, der für alle sichtbar vollzogen wird. Neben dem Alter Markt ist die Domplatte in Köln ein wichtiger Treff- und Anlaufpunkt für Jecken. Direkt neben dem Hauptbahnhof und am Fuße des Doms gelegen ist die Domplatte ein großer, freier Platz, der im Alltag Touristen, Pantomimenkünstlern, Straßenmalern und Stadtbummlern Flanier meile und Bühne ist. Im Karneval jedoch wird er zu einem wimmelnden Durcheinander von bunt kostümierten Narren. Die Feiernden besetzen hier förmlich diesen Ort, eignen ihn sich an und machen ihn damit zu einem Raum. Die körperliche Erscheinung der Narren und deren körperliche Praktiken unterscheiden sich grundlegend von der alltäglichen Nutzung des Platzes und geben dem Raum mit vielen bunten Farbtupfern das Flair des Außergewöhnlichen (vgl. Kap. 7.3.3). Und doch sind einige in Alltagskleidung dabei, wie folgender Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll von Weiberfastnacht in Köln zeigt. Diese Wenigen können aber als marginalisiert gedeutet werden und sind durch ihre gewöhnliche Nutzung des Raumes als Touristen auffallend anders. „Auf dem Bahnsteig in Köln weit mehr als einhundert Jecken, die auf die Treppen zusteuern, um den Weg zur Domplatte einzuschlagen. Der Bahnhof ist fest in den Händen der Jecken. Nur einzelne Reisende sind ohne Kostüm. Der Strom reißt mit, der Weg ist gebahnt durch singende und trinkende Feierlustige. Die Altersgruppen sind bunt durchmischt. Die jüngsten dürften 15 bis 16 Jahre alt sein. Die älteren, die mit dem Zug anreisen, sind um 50 Jahre alt. Immer wieder die gleiche Melodie mit laut gegröltem Text: „Viva Colonia“. Im Bahnhofsgebäude haben zahlreiche Geschäfte geschlossen, die Souvenirstände mit der Karnevalsausrüstung machen aber ihre Geschäfte. Die Bahnhofstür spuckt die Jecken aus, die sich kaum beeindruckt zeigen von dem mächtigen und viel besungenen Kölner Dom, der vor ihnen wartet. Die Treppen hoch zur Domplatte strömt alles. Ich wundere mich über einen einzeln stehenden Mann, der den Dom fotogra¿ert. Es ist wohl ein Pater, seine genaue Funktion kann ich nicht erkennen. Er trägt schwarze Kutte, Kopfbedeckung. Es ist kein Kostüm, sondern seine Amtskleidung. Zwischen den vielen Männern, die sich als Mönche verkleidet haben und grölend über die Domplatte ziehen, ist er erst auf den zweiten Blick als ‚echter‘ Würdenträger zu identi¿zieren. Auch einige Touristen
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wirken fremd unter den vielen buntgekleideten Menschen. Sie zeigen sich amüsiert, beobachten das Treiben und halten einige Szenen mit der Fotokamera fest“ (Protokoll 31.01.2008).
Das lokale Brauchtum scheint die Touristen in Köln zunächst weniger zu interessieren als die Architektur der Rhein-Stadt. Sie nehmen den Raum auf eine völlig andere Weise wahr als die feiernden Narren: neugierig, mit der Lust auf Vergnügen und angenehme Erfahrungen (vgl. Bauman 1995: 359), aber ohne großes Engagement. Sie konstruieren ihre eigene Bedeutung der Situation und bewegen sich durch den Raum, in dem die anderen feiern. Weder die Raumdeutungen der Jecken noch deren Ausgelassenheit berühren die Touristen. Die Domplatte ist wohl nicht der Gipfel städtischer Architektur, aber sie ist ein Ort, der einer großen Zahl von Menschen Platz bietet. Für Demonstrationen und Kundgebungen ist sie ebenso geeignet wie für die Inszenierung des närrischen Ausnahmezustands. Zum Höhepunkt des Straßenkarnevals, dem Rosenmontagszug, starten von hier aus viele Gruppen von Feiernden mit Handwagen voller Getränke, weil die Domplatte in verkehrsgünstiger Lage zwischen Bahnhof und Zugweg liegt. Die Festlegung des Zugwegs erfolgt durch die Zugleitung, die eines von vielen wichtigen organisatorischen Gremien ist. Denn auch wenn sich der Straßen karneval gerade durch Elemente des Unorganisierten und Spontanen auszeichnet, „passiert“ er nicht einfach so. Ihm gehen monatelange Planung und Vorbereitungen voraus, die die Kölner Innenstadt in ein scheinbares Chaos stürzen. Nicht nur Kooperationen und Vereinbarungen mit Verwaltung, Polizei, Bahn, öffentlichem Nahverkehr, Karnevalsgesellschaften, Medienvertretern und vielen Anderen sind nötig, sondern auch die sichtbare Umgestaltung des Raumes. Zur Dekoration des Außeralltäglichen gehören alljährlich die geschmückten Schaufenster und die Souvenirstände am Straßen rand, genauso wie die mit Sperrholz vernagelten großen Scheiben entlang des Zugwegs (vgl. Protokoll 04.02.2008). Diese Sicherheitsmaßnah men werden insbesondere in den Kurven und in räumlich beengten Bereichen vorgenommen. Aus den weit geöffneten Fenstern der angrenzenden Häuser quellen Schaulustige und Feiernde. Kaum ein Balkon bleibt ungenutzt. In sehr vielen Häusern der Hauptgeschäftsstraßen ¿nden kleine, private Partys mit einem exklusiven Blick auf den Rosenmontagsumzug statt, die die Balkone zu beliebten Tribünenplätzen und zur Mini-TanzÀäche für aufmerksamkeitshungrige Narren machen. Die Installation von Schmuck und Dekoration folgt alljährlich demselben Rhyth mus und der organisierten Dynamik wie beispielsweise die Weihnachtsvorbereitungen: Ladenbesitzer, Privatleute, Kommunen, Vereine, Ehrenamtliche, Schulen usw. nehmen die Gestaltung der (Innen-)Städte, Straßen und Plätze in die Hand, um das Lokaltypische zu inszenieren und den Ort jahreszeitlich passend mit Requisiten zu versehen. Die „Möblierung“ des
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Raumes mit Miet-WCs, Miet-Tribünen, Bierwagen, Souvenirständen, mobilen Bühnen und Absperrzäunen wird von der Veranstalterseite organisiert. Diese Art der Gestaltung ist eine Aneignung des Raumes durch die Organisatoren des Karnevals und ver weist darauf, dass die Innenstadt für das jecke Treiben planvoll präpariert worden ist. Sie organisiert die Zugänglichkeit für die Feiernden und deren Bedürfnisse – zu schauen, zu trinken, Andenken zu kaufen und (legal) zu urinieren. Ziel aller organisatorischen Bemühungen ist das allen Bestimmungen gerecht werdende Ausstatten der Innenstadt für den Straßenkarneval und das Erreichen einer möglichst hohen „Kundenzufriedenheit“, denn Karneval ist immer auch ein gutes Geschäft. Eine klar sichtbare Struktur erhält der Straßenkarneval beim Rosenmontagszug. Der Zugweg ist die Hauptschlagader im närrischen Wirrwarr. Wo sich der Lindwurm als Attraktion entlangschlängelt, ist das Zentrum des Rosenmontagsfestes. Hier ¿ nden sich Jecken aus ganz Köln und aus den verschiedenen Teilen Deutschlands und der Welt vereint am Straßenrand. Wenn „d’r Zoch kütt“, beginnt der Spaß: „Am Straßenrand haben sich die Jecken aufgebaut, um Kamelle zu fangen und den Umzug zu bewundern. Zu den Klängen der Trommler- oder Fanfarenkorps schunkeln und klatschen sie. Einige singen auch mit. Sie rufen „Kamelle“ oder „Strüßjer“ und winken, um die Menschen im Zug zu großzügigem Werfen zu bewegen“ (Protokoll 04.02.2008).
Obgleich die Protokolle überwiegend Beobachtungen abbilden, bei denen die Jecken friedlich und gleichberechtigt miteinander feiern und Konkurrenz und Wettbewerb nicht spürbar werden, gibt es eine Stelle, die hinsichtlich der Raumgestaltung relevant ist und eine Über- und Unterordnung von Jecken thematisiert. Am Karnevalssamstag in Aachen höre ich einen Dialog zwischen zwei CaféAngestellten mit: „Ich sitze in einem Café und beobachte das Treiben draußen. Zwei Angestellte des Cafés unterhalten sich. ‚Siehst du die Tribüne da ? Die vermieten die Plätze‘. Sie meint die mobile Tribüne, die vor dem Rathaus aufgebaut wurde. ‚Aha. Wozu ?‘ ‚Kannst du mieten und dir von da aus den Zug angucken. Ohne Spaß‘. ‚Echt Jetzt ?‘ ‚Ja, furchtbar, ne ? !‘ ‚Ganz schön dekadent !‘ Ja, dekadent ist schon das richtige Wort‘“ (Protokoll 02.02.2008).
Der Aufbau von Tribünen für zahlende Gäste scheint in Aachen noch nicht gängige Praxis zu sein. Sonst hätte nicht die eine der beiden Frauen in dem Café gegenüber dem Rathaus ungläubig nach der Funktion der reservierbaren Plätze
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gefragt. Die Tribüne und ihr Zweck werden sogleich als „furchtbar“ abgewertet. Furchtbar vielleicht, weil Karneval kaum sitzend gefeiert werden kann. Das Wort ‚dekadent‘ wird zur passenden Beschreibung dieser offenbar neuen Idee erkoren. Es scheint wohl auch deshalb passend, weil hier die eigentliche Idee des Straßenkarnevals pervertiert wird, nämlich das Hinaustreten des Karnevals aus den Festsälen auf die Straße und zum Volk, das gerade keine Eintrittskarten zum Feiern lösen muss. Dafür zu bezahlen, den Zug sehen zu dürfen, entspricht nicht den üblichen Vorstellungen von Straßenkarneval. Zugleich erzeugt dieses Vorgehen eine neue Raumstruktur, bei der die Straßenjecken von zahlenden „VIP-Jecken“ auch räumlich getrennt werden. Die immer gängiger werdenden Tribünen untergraben zunehmend die Idee der Statusnivellierung im Straßenkarneval. Der Karnevals-Neuling Rolf thematisiert eine räumliche Strukturierung in präponierte Jecken, die vorn stehen und somit einen Wettbewerbsvorteil beim Kamelle-Fangen haben, und Jecken, die weiter hinten stehen und vom Geschehen am Zugweg weniger beobachten und (auch im Wortsinn) mitnehmen. „In Köln gings eigentlich, eigentlich nur um de Kamelle. Wer die meiste Kamelle kriecht (schmunzelt), (= Hm. =) hab ich so dat Jefühl jehabt. Und wer da janz vorne steht, kriegt de meisten Kamelle und wer hinten steht, der nich. So. (.) Und hier [in seinem kleinstädtischen Wohnort] is, hier geht’s eigentlich eher darum, ja, die, die Stimmung des, des Umzugs, also dieses, diese Karnevalsstimmung den Leuten näher zu bringen und das, das mit den Leuten zu teilen, diese Stimmung“ (T11/1: 52 ff.).
Rolf spricht im Kontext dieser Interviewpassage auch das Gedränge am Zugweg in Köln an und hebt es als störend hervor. „[E]in kämpfendes Gefühl“ (T11/1: 12) erlebt er dort. Die Platzierung vorn bedeutet eine bessere Ausgangsposition beim Kamelle-Wettkampf. Die Platzierung hinten ist mit Nachteilen verbunden. Insgesamt spürt er in Köln keine Kar nevalsstimmung, während ihm dies in seinem kleinstädtischen Wohnort sehr wohl gelingt. In seiner Heimatstadt trifft er Menschen, mit denen er die Karnevalsstimmung teilen kann bzw. die ihm das Gefühl Karneval erst näher bringen. Das erfolgreiche Kamelle-Fangen steht dort eher im Hintergrund. Rolf stellt hier das Teilen dem Wegraffen gegenüber und hebt seine Vorliebe für geteilte Stimmungen heraus. In der Kleinstadt ist aufgrund des geringeren Besucherandrangs eine Raumordnung in „vorn“ und „hinten“ gar nicht möglich. Dort steht man immer „in der ersten Reihe“. Neben der Strukturierung in vorn und hinten berichtet Rolf von einer weiteren Ordnung, die ein Oben und ein Unten vorsieht. Beim Rosenmontagszug gibt es für ihn ein oben „auf’m Wagen“ und ein unten beim „Fußvolk“:
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Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse „Also versuchen, die Leute da so die, die auf’m Wagen sind, mit den Leuten unten, dem Fußvolk quasi, zu feiern. Hier hinten [in der Kleinstadt] haste ja gesehen, es wird, (.), also wenn wa früher da gewesen wär’n, hätten wa wahrscheinlich och wieder Bier und so’n Kram allet (= Hm. =) jekriecht. Wird, ja man geht halt viel mehr darauf ein, dass die, dass die am Rand auch mehr Spaß haben an dem Umzug“ (T11/1: 57 ff.).
Die Mitglieder der Karnevalsgesellschaften auf ihren großen Wagenaufbauten sind gegenüber den Straßenjecken deutlich erhöht angeordnet. Eine Raumstruktur des Oben und Unten wird sichtbar. Rolf verbindet mit dem Privileg, auf dem Wagen mitzufahren, aber auch eine PÀicht, nämlich das Animieren und Beschenken der Straßenjecken und das gemeinsame Feiern. In Köln haben die Vereinsmitglieder auf den Wagen Rolfs Erwartung nicht erfüllt. „Da [in Köln] fährt halt nur der Zuch durch die Stadt, die ham ihr’n Spaß auf’m Wagen, aber in der Gruppe, die dazwischen lang geht und ja, weil die Andern da nebenbei Kamelle brüllen schmeißen ’se halt immer noch wat mit rin. (= Hm. =) So hab ich das Jefühl – und hier is halt, tja, da gehn, wie gesacht, da gehn die Leute vom, vom Wagen halt richtig auf die Leute drumrum ein“ (T11/1: 134 ff.).
In Köln springt der Funke nicht bis zu Rolf über – die anderen auf den Wagen und in den Fußgruppen haben Spaß in ihrer räumlichen Isoliertheit. Er schaut vom Rand aus zu. Das Kamellewerfen bezeichnet er pejorativ als ‚schmeißen‘ und das Rufen nach „Kamelle“ und „Strüßjer“ als ‚brüllen‘. Er grenzt das Erlebnis in Köln auch sprachlich als negativ von den positiven Erfahrungen in seinem Wohnort ab, wo die Leute oben vom Wagen auf die Leute unten „richtig“ eingehen. Die Wortwahl „richtig“ kann als mehrdeutig gelesen werden und zum einen auf die Intensität der Interaktion zwischen Wagen- und Straßenjecken verweisen. Zum anderen kann „richtig“ auch auf die korrekte und in Rolfs Augen regelgerechte Art der sozialen Interaktion im Straßenkarneval deuten. Die Karnevalsstimmung bleibt für Rolf nur abstrakt, wenn er nicht in direkten Kontakt mit den Teilnehmenden auf dem Wagen treten kann. Um sich aktiv zu beteiligen, braucht er die Animation und die Vorfüh rung der mimetisch nachzuahmenden Rituale. Rituale als „symbolisch durchgeformte Routinen der Grenz überschreitung“ (Soeffner 1992: 107, Herv. i. O.) sind wichtig für Vergemeinschaftungsprozesse im Karneval. Rolf benötigt die Anleitung durch Andere, um in Stimmung zu kom men und dabei zu sein. Der Gebrauch von Interaktionsritualen etabliert „den Möglichkeitshorizont für den Aufbau temporärer Interaktionsgemeinschaften, indem von allen Beteiligten ein eher impliziter und anonymisierter Ordnungszusam menhang für soziales Handeln aufrechterhalten wird“ (ebd.). Erst in der Kleinstadt wird Rolf
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durch Aufforderung und Animation zum „Beteiligten“ und kann seinen Beitrag für die Konstituierung einer temporären Interaktionsgemeinschaft leisten. Diese Teilhabe macht in seinem Erleben einen entscheidenden Qualitätsunterschied zwischen Köln und Kleinstadt aus. Ein junger, männlicher Straßenjeck in Köln zeichnet ein anderes Bild des Zusam mengehörigkeitsgefühls an Rosenmontag. Er berichtet von einer Verschmelzung der sonst voneinander als getrennt betrachteten Stadtteile. Egal, aus welchem Viertel jemand kommt, an Karneval sind alle Jecken gleich und feiern gemeinsam. „Ja, sonst danach ist es immer so Viertel-mäßig, ja. Forstheim, Zentrum, Porz und so’n Scheiß, ja, is immer getrennt, ja aber, Karneval, alle Jecken zusammen“ (T5/2: 65 ff.).
Jenseits des Ausnahmezustands („danach“) nimmt er Köln „Viertel-mäßig“ wahr. Er erlebt den Ort als einen in Stadtteile getrennten Raum. Er zählt exemplarisch Stadtteile auf und schließt diese Addition mit „und so’n Scheiß“ ab. Die sicher auch auf Jugendsprache deutende Äußerung könnte einerseits äquivalent für „und so weiter“ stehen. Andererseits bildet diese abwertende Aussage einen Gegensatz zum folgenden positiv gezeichneten Bild vom Karneval. Die Opposition wird auch durch das „ja aber“ markiert. Die Trennung in Viertel wird mit dem Wort „Scheiß“ verknüpft, während das Zusammensein aller Jecken als positiv und zugleich als Ausnahme bezeichnet wird. Karneval erzeugt einen Zustand der Unterschiedslosigkeit, bei dem es ganz gleich ist, woher der Einzelne kommt. Das Jeck-Sein ist auch ein Gefühl der kollektiven Identität. An Karneval sind alle Kölner (und auch alle „Imis“)57 gleich. Für das Erzeugen dieser Unterschiedslosigkeit haben wiederum die Rituale eine entscheidende Funktion. Das Kostümieren, das gemeinsame Singen, Tanzen und Feiern sind choreogra¿erte Symbole der sozialen Einheit. Das Zusammenkommen und das Gefühl der Zusammengehörigkeit sind auch für Philipp, den Bürgermeister einer Kleinstadt, wichtig, und zwar aus politischen Gründen. Die kommunale Neugliederung des Ortes vor drei Jahrzehnten hat nicht nur einen Ort neu entstehen lassen, sondern auch die räumlichen Bezugspunkte der neu geordneten Gemeinden auf administrativer, aber auch auf der Ebene lokaler Identi¿kation verändert. Aus neun vormals selbstständigen Ämtern wurde eines (vgl. T15: 109 f.). Der Karneval bringt diese Dorfgemeinschaften im Karnevalszug der Stadt zusammen. 57 „Imi“ ist die kölsche Abkürzung für Immigrierter, worunter alle Personen zusammengefasst werden, die nicht in Köln geboren worden sind.
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Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse „So, und diese verbindenden Elemente, wenn sie jetzt sehen, in diesem Karnevalszug treten die ja auch noch als […], als einzelne Ortschaften auf, aus diesen alten regionalen Verbünden (= Ja. =), schon eine Identität da, wir kommen aus dem Dorf, aber wir feiern mit unserer neuen Stadt [Name der Stadt]. Insofern muss man sagen, diese Festveranstaltungen und dieses zusammen feiern hat auch ’n Stück dazu beigetragen, dass aus diesen vielen, also diesen 9 Ämtern das Gebilde Stadt [Name der Stadt] gewachsen sind. Insofern war das nicht unwichtig in der Vergangenheit“ (T15: 110 ff.).
Philipp schreibt dem gemeinsamen Feiern eine zentrale Funktion für das Entstehen einer lokalen Identität der neu geordneten Stadt zu. Die Identi¿kation der umliegenden Dörfer mit dem vor einer Generation geschaffenen Ort ist wichtig für die Akzeptanz der kom munalen Neugliederung und für die Entstehung einer Identi¿kation mit dem Ort, für ein Engagement in der Stadt und ihrem Vereinsleben sowie für ein Verschmelzen der neun Ämter zu einem „Gebilde Stadt“. Dabei ist der Rosen montagszug, in dem sich die einzel nen Ortschaften präsentieren, ein Symbol für die Einheit, indem sie gemeinschaftlich und in einem Zug das Engagement für Karneval und für die Region zur Schau stellen. Karneval hat hier eine wichtige lokale Integrations- und Identi¿kationsfunktion – er hält den Ort nicht nur zusammen, sondern er führt ihn erst zusammen. Die Überlegungen zu außeralltäglichen Raumordnungen resümierend, kann festgehalten werden, dass die spektakulären Höhepunkte, wie etwa die Rosenmontagszüge, stets im Stadtzentrum statt¿nden.58 Das Zentrum wird zur Bühne und zieht die Jecken der Umgebung an, sodass sich für kurze Zeit auch die gewohnten innerstädtischen Raumordnungen verändern: Hier kommen alle zusammen – aus den sozial schwächeren Stadtteilen, aus den nobleren Vororten, den Studenten- oder Familienvierteln und den Dörfern. Außeralltägliche Raumordnungen rücken das Zentrum in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und nivellieren (zumindest oberÀächlich) die Herkunft der Jecken. Sie stehen sinnbildlich für Ein heit und Eintracht und erzeugen andere als die üblichen Raumnutzungen und -strukturen; so etwa ein Vorn und Hinten als Unterschiede im Abstand zum Zugweg oder ein Oben und Unten als Unterschiede zwischen Teilnehmern im Zug und Jecken am Straßen rand. Das folgende Kapitel betrachtet Kirchenbauten als Im Unterschied zum Rosenmontagszug gibt es die Schull- und Veedelszöch, die durch die Stadtteile und Vororte von Köln ziehen und deutlich unorganisierter und spontaner von Bürgern und Anwohnern mitgestaltet werden. Dabei handelt es sich um Schulzüge, an denen viele von Kölns Schulen beteiligt sind, und um Stadtteil- und Quartierszüge, die von Nachbarschaftsvereinen, Stammtischen und Interessengemeinschaften organisiert werden. Sie sind in Altersstruktur, Motivation und Ausrichtung des karnevalistischen Treibens vielfältig ausdifferenziert, bejahen aber insgesamt das Motto ‚Zurück zu den Quellen, zur Einfach heit, zur PersiÀage‘ und stehen für Überraschungseffekte, Originalität, Improvisation und unbeschwerte Fröhlichkeit. 58
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besondere Bestandteile städtischer Architektur im Hinblick auf eine Begegnung von Sakralem mit dem scheinbar säkularen Karneval. 7.1.4
Sakrale Räume und profane Freuden – Die Verbindung von Heiligem und Weltlichem im Karneval
Karneval als katholisches Vorfastenfest ist eng mit dem Sakralen verbunden. Das Fest ist die Zeit des Genusses der weltlichen Freuden angesichts der nahenden Askese in der Spanne von Aschermittwoch bis Ostern. Dabei ist für einen großen Teil der kirchenfernen Jecken die Verknüpfung des Karnevals mit dem Katholizismus weniger relevant – sie fasten nicht und sind auch keine regelmäßigen Kirchgänger. Die Religion spielt für sie kaum eine Rolle, wohl aber Religiosität, die sich augenfällig in Ritualen des Karnevals zeigt. Dies zumindest manifestiert sich in ihrem Handeln und in der ritualisierten Form des Festes Karneval, wie ich im Folgenden zeige. Im Rahmen eines Gottesdienstes verdichten sich Heiliges und Profanes59 räumlich und begegnen einander in einem Kirchengebäude. Am Tulpensonntag des Jahres 2008 war ich (teilnehmende) Beobachterin60 der „Fastelovends-Mess“ in einer Kleinstadt. Mein erster katholischer Gottesdienst begann um 10 Uhr morgens in einem vollen, mit Luftballons und Luftschlangen geschmückten Gotteshaus mit bunt kostümierten Kirchgängern und unifor mierten Aktiven der örtlichen Karnevalsgesellschaft. Um den Ablauf des Karnevals-Got tesdienstes detailliert zu schildern, zitiere ich eine längere Passage des Protokolls vom 03.02.2008. „Ich ¿nde keinen Sitzplatz mehr und stehe im Kirchenschiff hinten rechts vom Altar aus gesehen. In den Reihen sitzen Bienen, Elfen und Clowns. Die Männer behalten ihre „jecken Kappen“ auf dem Kopf. Es werden die nächsten Veranstaltungen der Gemeinde bekannt gegeben. Dann sagt der Pfarrer, dass bereits die Aktiven draußen vor der Tür stehen – ich hatte bei der Ankunft an der Kirche bereits gesehen, dass sie Aufstellung genommen hatten. Der Pfarrer fragt: „Wolle mer se reinlasse ?“
59 Die analytische Trennung zwischen Heiligem und Profanen, Sakralem und Säkularem ist gegenwärtig nicht aufrecht zu erhalten. Diesen Befund nimmt u. a. Hubert Knoblauch (2009) genauer unter die Lupe. 60 Völlig unvertraut mit dem Ablauf katholischer Messen, konnte ich an den gemeinsamen Gebeten nicht teil nehmen. Allerdings war ich gegenüber den anderen Gottesdienstbesuchern so verhaltenskonform, dass ich nicht als „reine“ Beobachterin des Settings anwesend war. Ich passte mich dem Verhaltensmodus einer Großzahl der Besucher so weit an, dass ich als Teilnehmerin des Gottesdienstes verstanden werden konnte.
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Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse Sehr viele rufen „Ja !“. Begleitet vom Fanfarenkorps der Funkengarde marschiert die Gesellschaft ein. Sie spielen die Melodie von „Mer lasse de Dom in Kölle“ […]. Sie marschieren durch den Mittelgang in Richtung Altar und nehmen in erhöhter Position rechts neben dem Altar Platz. Das Prinzenpaar nimmt neben Prinzenführer auf einer Bank ein Stück links hinter dem Taufstein Platz. Der Pfarrer begrüßt alle mit einem „Guten Morgen“. Die Messe beginnt mit einem Lied, das begleitet wird von Musikern, die im Kirchenschiff ihre Instrumente aufgebaut haben. Es wird die Hymne der städtischen Karnevalisten gesungen […]. Es wird eine Fürbitte […] gesprochen. Ein Textblatt für die zu singenden Lieder liegt aus. Das nächste Lied im Plan ist „Die Hände zum Himmel“ (zum Gloria). Es wird wiederum instrumentell begleitet. Die Kirchgänger klatschen tatsächlich mit, einige recken sogar an der entsprechenden Textstelle die Hände zum Himmel. In der Predigt soll es heute um die Freude gehen und um den Spaß an der Freude, so kündigt es der Pfarrer an. Er fängt an mit der Frage, woher die Freude denn komme und will von philosophischen Erklärungen anfangen, als ein als Clown kostümierter Mann mit einer Alu-Trittleiter auftaucht und soviel Lärm verbreitet, dass der Pfarrer immer wieder unterbrechen muss. Ein kurzes „Palaver“ zwischen den beiden macht deutlich, dass es sich um einen Teil der Aufführung handeln muss. Der Clown klettert im Mittelgang auf die Trittleiter mit einer Laterne in der Hand und schaut sich suchend um. Der Pfarrer geht zu ihm und fragt, ob er denn helfen könne. „Isch such wat“, sagt der Clown. „Ja wenn isch denn wüsste wat se sochen, denn künnt isch ihne och helfe,“ antwortet der Pfarrer. Der Clown suche nach der Freude, er habe schon überall geschaut, denn die Freude könnte ja überall stecken. Er stellt sich vor mit dem Namen Augustin – eine Anspielung auf Augustinus. Jetzt nimmt die Messe die Form einer Karnevalssitzung an. Es wird etwas zur Aufführung gebracht. Beide, Pfarrer und Narr, gehen zum Altarbereich zurück. Dort steht eine Truhe, die die Aufmerksamkeit des Clowns erregt. Er sucht darin und ¿ndet ein rotes Plüsch herz, das er gern behalten möchte. Der Pfarrer fragt ein Kind, was der Augustin denn da gefunden habe. „Ein Herz“, antwortet ein Kind. Es wird gefragt, was das denn zu bedeuten habe. Ein anderes Kind scheint es zu wissen und antwortet. „Dass die Freude im Herzen ist“. Lobende Worte vom Pfarrer und die Aussage, dass man die Freude im Herzen mit anderen teilen solle, so wie es die vielen Karnevalisten in der Stadt tun würden – nicht nur zur Karnevalszeit, sondern das ganze Jahr über. In der Kiste entdeckt Augustin nun noch weitere Herzen, die an einem Band hängen. Sie werden als Orden, die der Pfarrer selbst gebastelt hat, an das Prinzenpaar verliehen. „Hab Freude im Herzen !“ steht auf einem selbst gestalteten Schild, das an einem rot lackierten Blechherz hängt. Auch die Prinzessin verleiht dem Pfarrer einen Prinzenorden […]. Die nächsten Lieder sind „Stolze Römer“, „Drenk doch ejne met“ (zur Gabenbereitung), ein Kirchenlied zum Sanctus „Alles, was dich preisen kann …“, „Echte Fründe stonn zesamme“ (zum Agnus Dei), [ein lokaltypisches Lied folgt] und zum Schluss „Mer
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bruche kejner“ […]. Der Pfarrer erklärt allen, die damit nicht zurecht kämen, dass man solche karnevalistischen Lieder zur Eucharistie-Feier sänge, dass er sich die Texte genau angeschaut habe und erstaunt gewesen sein, wie viel Christliches darin stecke. Die Kollekte geht herum. Die Gesellschaft marschiert aus. Die Mariechen der Funkengarde werden vor den Tänzern hochgehoben, sodass man unter ihre kurzen Röckchen schauen kann“ (Protokoll 03.02.2008).
Die Fastelovends-Messe lockt eine große Zahl von Besuchern an. Es kommen wesentlich mehr Menschen, als die Kirche in ihren Bankreihen fassen kann. Mit der Melodie des Liedes „Mer lasse de Dom in Kölle“, einem Karnevalsschlager der Band „Bläck Fööss“, wird der Kirchenraum durch die Aktiven betreten. Die Versammlung der Gemeinde ¿ndet dabei mit dem Einzug der Vereinsmitglieder einen Abschluss und wird zugleich mit dem Karnevalesken verbunden. Mit den bunten Uniformen und üppigen Kopfbedeckungen eig nen sich die Ak tiven den heiligen Raum mit ihrer körperlichen Präsenz an. Der Karneval erhält seinen Platz sowohl in dem Kirchgebäude als auch im Gottesdienst. Die Melodie von „Mer lasse de Dom in Kölle“ thematisiert deutlich das Gotteshaus, das – ob in Köln oder anderswo – stets verbunden ist mit einem Ort und mit einer lokalen Identität. Außeralltäglichkeit äußert sich durch das bunt geschmückte Kirchengebäude ebenso wie durch ungewöhnliche Musik und Kirchgangskleidung. Die Männer behalten ihre Kopf bedeckungen an, weil sie als Teil des Kostüms auch ein Teil der Aufführung „Fastelovends-Mess“ sind. Die Rahmung des Gottesdienstes folgt dem üblichen Ablauf einer katholischen Messe mit dem Einzug und dem Gloria als Eröffnung der Feier. Als die Predigt beginnt, wird der Pfarrer (planmäßig) unterbrochen und ein Kirchenspiel mit August und dem Pfarrer als Hauptdarstellern beginnt. Hieran werden die Gottesdienstbesucher ebenso beteiligt wie bei der Gabenbereitung, beim Sanctus-Ruf und beim Agnus Dei. Die Eucharistiefeier ist wesentlich von der aktiven Beteiligung der Besucher und Gläubigen abhängig. Erst so wird das Gefühl der Feierlichkeit erzeugt und geteilt. Der Kirchenraum als heiliger Raum wird begrenzt durch die dicken Kirchenmauern, die zugleich die (ursprüngliche) Grenze zwischen Heiligem und Profanem ziehen. Durkheim (1994) stellt fest, dass das Ziehen einer räumlichen und zeitlichen Grenzmarke zwischen allem Heiligen und allem Profanen das Bestimmungsmerkmal religiösen Lebens ist. Die Produktion dieser Grenze hat die Funktion eines Verneinungssymbols, durch das alles dasjenige die profane Welt negiert, was durch die Grenze eingeschlossen ist. Sie zeigt an: Hier ist die gewöhnliche Welt zu Ende und heiliger Boden wird betreten. Damit aus profanen Orten heilige Räume werden, sind Zeichen nötig, die als göttlich gedeutet werden können und die sich als Zeichen offenbaren bzw. herbeigeführt werden (vgl. Eliade 1984: 28). Eliade weist darauf hin, dass heilige Räume durch ihre nach oben hin offen gestaltete Archi-
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tektur eine Verbindung zwischen Himmel und Erde herstellen, die profane Welt transzendieren und eine wichtige Orientierungsfunktion für die Menschen erfüllen (vgl. ebd.: 27). Mit dem Begriff Orientierungsfunktion ist durchaus auf eine Mehrdeutigkeit verwiesen: Kirchtür me, Minarette und kunstvoll erbaute Kuppeln sind durch ihre gute Sichtbarkeit zum einen Richtungsanzeiger bei der Navigation im Raum, aber auch Symbole für die Relevanz des Glaubens in einem Ort und für die Institutionalisierung von Religionen. Im beobachteten Gottesdienst wird der Kirchturm des Ortes in der Danksagung mit einem lokaltypischen Lied besungen, womit auf seine Bedeutung für den Ort und für dessen Einwohner verwiesen wird. Im ritualisierten Kirchenspiel berühren sich die außergewöhnliche Welt des Religiösen und die außergewöhnliche Welt des Spiels, denn beide folgen identischen Praktiken räumlicher (und zeitlicher) Grenzziehungen (vgl. Huizinga 2004). Das zur Aufführung gebrachte Spiel in der Karnevals-Messe thematisiert die Freude, die im Herzen steckt und die geteilt werden kann. Der Karneval ist ein Anlass, die Freude und das Lachen in der Gemeinschaft zu zelebrieren. Dies nimmt diese Messe auf. Im Beobachtungsprotokoll wird bereits eine Parallele zwischen Narrenund Kirchenspiel angesprochen („Jetzt nimmt die Messe die Form einer Karnevalssitzung an“). Tatsächlich stellen beide Spielweisen ritualisierte Aufführungen dar, die voller Spiritualität sind und ähnlichen Regelmäßigkeiten folgen. In dem angeführten Beispiel werden Elemente des Karnevals integriert: so etwa die Karnevalsschlager, die rheinische Mundart, die Komik und der Narr „August“. Einen Vergleich zwischen den Karnevalsliedern und dem christlichen Liedgut nimmt der Pfarrer selbst vor, indem er die christlichen Elemente in den karnevalistischen Texten hervorhebt, sodass man diese beruhigt zur Eucharistie-Feier singen könne. Der Vergleich zwischen Karneval und Christentum ist gängige Praxis. So hat etwa der Mainzer Bischof Paul Leopold Haffner im 19. Jahrhundert angemerkt: „Ich halte den Karneval für eine höchst christliche und wahrhaft katholische Institution und würde fast eine Ketzerei darin sehen, wenn man ihn abschaffen wollte“ (Haffner zit. in: Oelsner/Rudolph 1987: 171). Diese Parallele wird womöglich von jenen Jecken, die mit der Kirche wenig vertraut oder bekennend atheistisch sind, nicht gesehen. Eliade stellt jedoch fest, dass jene auch Ritualismen durchführen, die viel mit (christlicher) Mythologie zu tun haben: „Der moderne Mensch, der sich als areligiös emp¿ndet und bezeichnet, verfügt noch über eine ganze verkappte Mythologie und viele verwitterte Ritualismen. So haben, wie schon erwähnt, die Neujahrsvergnügungen oder Hauseinweihungen, obwohl sie verweltlicht sind, immer noch die Struktur eines Erneuerungsrituals. Dasselbe gilt für die Feste und Vergnügungen bei einer Hochzeit oder bei der Geburt eines Kindes, beim Antritt einer neuen Arbeitsstelle oder bei einer Beförderung usw.“ (Eliade 1984: 176 f.).
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Karneval kann als säkulare Liturgie aufgefasst und gefeiert werden, denn er hat formale Ähnlichkeit mit dem Gottesdienst und funktionale Ähnlichkeit mit Religionen. Folgt man Franz-Xaver Kaufmann, dann haben Religionen in vormodernen Gesellschaften insgesamt sechs Funktionen: Identitätsstiftung (Problem der Affektbindung oder Angstbewältigung), Handlungsführung (Problem der Handlungsführung im Außeralltäglichen), Kontingenzbewältigung (Problem der Verarbeitung von Kontingenzerfahrungen), Sozialintegration (Problem der Legitimation von Gemeinschaftsbildung und sozialer Integration), Kosmisierung (Problem der Kosmisierung von Welt, der Begründung eines Deutungshorizonts aus ein heitlichen Prinzipien, der die Möglichkeit von Sinnlosigkeit und Chaos ausschließt) und Weltdistanzierung (Problem der Distanzierung von gegebenen Sozialverhältnissen, die Er möglichung von Widerstand und Protest gegen einen als ungerecht oder unmoralisch erfahrenen Gesellschaftszustand) (vgl. Kaufmann 1989: 84 f.). Für Kaufmann gibt es in der Gegenwart jedoch keine Instanz, die alle diese Funktionen für eine Vielzahl von Menschen auf eine plausible Weise zugleich erfüllen kann. Durch Differenzierungsprozesse können heute verschiedene Institutionen einzelne Funktionen übernehmen. Beispielsweise kann die Identitätsstiftung, zu der ein Umgang mit Ängsten gehört, einerseits durch das Gebet und andererseits durch eine Psychotherapie bewältigt werden. Religion hat daher in unserer Gegenwartsgesellschaft einen diffusen Charakter angenommen (vgl. ebd.: 87; vgl. auch Knoblauch 2009). Inwiefern ist Karneval ein Funktionsäquivalent für Religionen ? Das im Allgemeinen säkulare Phänomen Karneval erfüllt die sechs von Kaufmann angeführten Funktionen von Religionen, wenn auch nicht alle zugleich und für alle Jecken gleichermaßen. Karneval als Gesamtkonzept folgt einer Idee, die identitätsstiftend (1) sein kann. Er verbindet als historisches Fest die Gegenwart mit der Vergangenheit (und somit die Generationen) und versam melt Gleichgesinnte. Ebenso bietet er Hilfen bei der Überwindung von Ängsten. Seine Lebensbejahung, sein hedonistisches Leitmotiv, seine Aufforderung, das Hier und Jetzt zu genießen, ist eine Strategie, mit der Endlichkeit des menschlichen Lebens umzugehen (vgl. Kap. 7.2.3). Die Handlungsführung (2) wird im Karneval (wie auch bei den Religionen) durch das Ritual organisiert, das zu Formen rauschhafter Vergemeinschaftung führen kann (vgl. Kap. 4.2.3.2). Die Kontingenzbewältigung (3) wird im Karneval durch eine Orientierung am Hier und Jetzt und durch die lebenspraktische Orientierung angestoßen. In der Gemeinschaft, die stark betont wird („Echte Fründe stonn zesamme“),61 können individuelle Kontingenzerfahrungen verarbeitet werden, denn Kontingenz betrifft alle Jecken. Diese starke Kollek tivorientierung ist es auch, die eine Sozialintegration (4) be61
Gesungen zum Agnus Dei im beobachteten Gottesdienst.
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wirken kann. Der Karneval im Rheinland erzeugt Formen von Vergemeinschaftungen und bietet für Menschen mit gleicher Gesinnung und Einstellung zum Karneval vorübergehend die Möglich keit der Partizipation. Über gemeinsame Tänze, geselliges Singen und das den Status nivellierende Kostüm kann jeder, der mitmacht, am Wir-Gefühl teilhaben und das Alleinsein überwinden („Und dann die Hände zum Himmel, kommt lasst uns fröhlich sein. Wir klatschen zusammen und keiner ist allein“).62 Die Kosmisierung (5) im Karneval kann mit dem Erzeugen eines Deutungshorizonts verbunden sein, denn die Teilhabe an diesem Fest erzeugt durchaus Orientierungen wie auch Sehnsüchte und Erwartungen. Der hohe Aufwand, den Jecken zum Teil auf sich nehmen, um z. B. ein ausgefallenes Kostüm zu tragen oder um eine Reise nach Köln zu organisieren, erzeugt neue Deutungsmuster bzw. resultiert aus ihnen. Die Welt des Irrationalen stellt Sinndeutungsfolien zur Verfügung und erzeugt eine (alternative) Ordnung im – manchmal als sinnlos erfahrenen – Alltag. Die Weltdistanzierung (6) ¿ndet im Karneval durch die Ablehnung von Statusunterschieden und die Betonung des Gleichheitsgrundsatzes statt, wie etwa in dem im Tulpensonntagsgottesdienst gesungenen Karnevalslied „Stolzer Römer“,63 in dem es heißt „Ich bin Grieche, Türke, Jude, Moslem und Buddhist / mir all, mir sin nur Minsche, vür’m Herrjott simmer jlich“. An der Theke treffen sich an Karneval die verschiedenen Nationen, Religionen, Berufsstände, ohne dass verschiedene Sozialverhältnisse thematisiert werden (müssen).64 Durch seine politische Komponente enthält der Karneval auch Möglich keiten zum Protest und zur Distanzierung von den gegebenen Gesellschaftsbedingungen. Zudem realisiert er durch seine Verkehrung des Alltags stets eine Abgrenzung von den „normalen“ Bedingungen der Welt. Gesungen zum Gloria im beobachteten Gottesdienst. „Ich wor ne stulze Römer, kom met Cäsars Legion. / Un ich ben ne Franzus, kom met Napoleon. / Ich ben Buur, Schringer, Fescher, Bettler un / Edelmann, Sänger un Gaukler, su feng alles aan. // Su simmer all hehin jekumme / mir spreche hück all dieselve Sprooch, / mir han dodurch su vill jewunne, / mir sinn wie mir sinn, mir Jecke am Rhing, / dat es jet, wo m’r stulz drop sinn. // Ich ben us Palermo, braat Spajettis för üch met. / Un ich, ich wor ne Pimock, hück laach ich mit üch met. / Ich bin Grieche, Türke, Jude, Moslem und Buddhist / mir all, mir sin nur Minsche, vür’m Herrjott simmer jlich.// De ganze Welt, su süht et us, es bei uns he ze Besök. / Minsche us alle Länder stonn met uns hück an d’r Theek. / M’r jläuw, m’r es en Ankara, Tokio oder Madrid / doch se schwaade all wie mir un söke he ihr Jlöck“ (Liedtext aus dem Gesangsblatt des Gottesdienstes übernommen). 64 Dieses Toleranzgebot im Karneval hat seine Ausnahmen, von denen die furchtbarsten in die Zeit des Nationalsozialismus fallen. Der gleichgeschaltete Karneval im Dritten Reich sollte nicht nur die kirchlich-christlichen Ursprünge leugnen, sondern er trug auch antisemitische Züge. Im Jahr 1938 fanden die Feierlichkeiten zum 11.11. auf den Scherben und Trümmern des in der Reichskristallnacht zerstörten jüdischen Eigentums statt. Im ersten Rosenmontagszug des Dritten Reichs im Jahr 1934 zog auch ein Wagen durch die Straßen Kölns, „auf dem zu lesen war: ‚Die Letzten ziehen ab.‘ Als orthodoxe Juden verkleidete Männer spielten auf die erzwungene Vertreibung und Auswanderung Kölner Juden an. ‚Mir mache nur e kleines AusÀügche nach Lichtenstein und Jaffa.‘ Dieser Wagen war das erste Beispiel für den Antisemitismus im Karneval; weitere folgten“ (Brog 2002: 227). 62
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Karneval hat auf funktionaler Ebene eine (zumeist unbewusste) religiöse Dimension. Religiöses dringt zunehmend in viele als säkular geltende Bereiche vor (vgl. Dumke 2001: 82). So werden in einer mehr und mehr entzauberten und rationalisierten Welt Reservate für Sakrales, Mystisches und Irrationales geschaffen, oft ohne dass dies von den Beteiligten als Verbindung zum Religiösen eingeordnet wird. „Aber zumindest analytisch gesehen sind Ritual und Gemeinschaftsbildung die zentralen Transformationsfaktoren, die das Religiöse aus dem herkömmlicherweise separierten ‚sakralen‘ Bereich heute in den als ‚säkularisiert‘ (miß-)verstandenen Alltag über tragen“ (ebd.). 7.1.5
Mit dem Zug zum Zug – Manchmal ist der Weg das Ziel
Meine Feldphasen organisierte ich stets mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Dabei war die Bahn nicht nur die logistisch naheliegende Lösung meiner Mobilitätsfragen, sondern sie erschien mir auch als hervorragende Möglichkeit, dem Feld nah zu kommen. Indem ich mit den Einwohnern in Regionalbahnen durch die Landschaft fahre, komme ich nicht nur mit der Gegend in Kontakt, sondern auch mit den Menschen, die in ihr wohnen. So hält es auch Roland Girtler: „Grundsätzlich sollte man als Forscher eine gesunde Distanz zum Auto haben. Es ist wohl besser, mit der Bahn oder mit einem normalen Linienbus in die Gegend zu reisen, in der man forschen will“ (2001: 25). Insbesondere zu den Hochtagen des Straßenkarnevals, also am 11.11., an Weiberfastnacht und an Rosenmontag, erweisen sich meine Zugfahrten als ergiebige Beobachtungszeiträume. Der Zug ist der Ort, an dem eine große Zahl von Jecken räumlich verdichtet auf ein Ziel hinfährt und an dem sich Wir-Gefühle intensivieren. Auf der morgendlichen Fahrt nach Köln zu Weiberfastnacht und am Rosenmontag ist eine Verkehrung der Interaktionsregeln in öffentlichen Verkehrsmitteln zu beobachten. In öffentlichen Verkehrsmitteln gelten Verhaltensregeln, die zum Teil schriftlich in den Beförderungsbedingungen der Verkehrsunternehmen ¿xiert sind. Viele von ihnen werden auch als Interaktionsregeln des Alltags (vgl. Goffman 1986) situativ erzeugt und bestätigt. Dabei gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen Verkehrsmitteln – im ICE gelten teilweise andere Umgangsformen als im Stadtbus. Für die von mir bevorzugten Regionalzüge können im Allgemeinen folgende Umgangsformen genannt werden: Ein- und Ausstieg freihalten; Fahrgäste erst aus-, dann einsteigen lassen; niemanden belästigen (Musik, Telefonate, laute Gespräche); Personen einen Sitzplatz anbieten, wenn diese ihn notwendiger brauchen; nicht rauchen; Sitze nicht für schweres Gepäck und als Fußablage benutzen; auch beim Essen und Trinken Rücksicht auf Andere nehmen. Diese Umgangsformen wurden genannt um aufzuzeigen, dass sie im Zeitraum des Straßenkar-
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nevals teilweise vollständig verkehrt werden. In meinem Beobachtungsprotokoll von Weiberfast nacht 2008 ist die etwa eine Stunde dauernde Zugfahrt von einer Kleinstadt nach Köln beschrieben. „Mit dem Zug mache ich mich auf – eine gute Stunde Fahrt wartet auf mich. Auf dem Bahnhof in der Provinzstadt, von der aus ich starte, einige verkleidete Jecken mit demselben Ziel. Je näher ich dem Ziel komme, desto mehr verkleidete Partygänger tummeln sich in der Bahn. Es wird Bier getrunken. Die Gruppen sind beieinander, tauschen sich aber auch mit anderen aus, darüber, wo es hingeht, wann der Zug in Köln einrollen wird usw. Eine Gruppe zündet sich Zigaretten an und missachtet damit das Rauchverbot in den Zügen. Einer der jungen Männer versucht, ein Fenster zu öffnen, um den Rauch abziehen zu lassen. Es gelingt ihm nicht, weil die Fenster abgeschlossen sind. Niemand ermahnt die Gruppe. Es sind Jungen und Mädchen, zwischen 16 und 18 Jahre alt. Bald tut es ihnen eine andere Gruppe gleich. Sie sitzen in meiner Nähe. Mir gegenüber zwei Frauen, die nicht zusammengehören. HöÀiche Gleichgültigkeit. Erst als eine Rauchschwade zu uns herüberwabert und uns ins Gesicht drückt, versuchen wir gleichzeitig, durch leichtes Wedeln und unauffälliges Pusten den Rauch zu zerstreuen. Wir lächeln uns kurz zu, empören uns aber nicht. Es ist Ausnahmezustand. Da erlaubt man eben auch diese Ausnahme“ (Protokoll 31.01.2008).
Interaktionsregeln für Regionalbahnen werden situativ erzeugt und aufrechterhalten bzw. abgeändert. An Weiberfastnacht ist das erzeugte Set von Regeln ein anderes als das alltägliche. Wenn sich im Protokoll die Formulierung ¿ndet „verkleidete Partygänger tummeln sich in der Bahn“, dann verweist das Wort „tummeln“ darauf, dass sich das Verhalten dieser Fahrgäste von einem „normalen“ Donnerstagmorgen unterscheidet. Normalerweise tummelt man sich nicht, sondern legt seinen Weg zurück, sich schon längst auf etwas anderes, das Kommende, konzentrierend. Man ist nicht im Hier, sondern längst im Dort. Die Fahrt ist not wendig und erfüllt ebenso wie der Raum einen Zweck. Auf diesen Zweck wird das Handlungsmuster des Individuums abgestimmt. Der übliche Verhaltensmodus in öffentlichen Verkehrsmitteln ist der höÀichen Gleichgültigkeit (vgl. Goffman 1971b: 84) verpÀichtet und darauf bedacht, den persönlichen Raum des Gegenübers als zentrales Gut zu sehen. Die höÀiche Gleichgültigkeit beachtet und würdigt hinreichend die Anwesenheit des Anderen, indem man zu verstehen gibt, man habe ihn gesehen. Im folgenden Augenblick nimmt man die Aufmerksamkeit aber schon wieder zurück „um zu dokumentieren, er stelle keinesfalls ein Ziel besonderer Neugier oder spezieller Absichten dar“ (ebd.: 85). Mit diesem interpersonellen Ritual wird beständig der soziale Verkehr zwischen den Menschen geregelt. Es gilt auch noch zwischen den beiden Damen, die mir im
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Zug gegenüber sitzen und sich nicht kennen, sowie für mich. Als Beobachtende arbeite ich beständig daran, die ethnogra¿sche Neugier hinter einer scheinbaren Gleichgültigkeit bzw. einem nur gewöhnlichen Interesse zu verbergen, um nicht aufzufallen. Die Kostümierung der Fahrgäste verrät deren Ziel: Sie werden an der Endstation Köln Hauptbahnhof aussteigen, um den Beginn des Straßenkarnevals zu feiern. Diese vestimentär kommunizierte Tatsache wird als Gesprächsanlass genommen bzw. als Gesprächsbereitschaft aufgefasst. Die Interaktion ist durch den Termin und die Kostümierung mit dem Rahmen „Karneval“ versehen (vgl. Goffman 1980). Die beobachteten Gespräche der bis dahin unbekannten Gruppen folgen nicht der üblichen Maßgabe höÀicher Gleichgültigkeit. Es sind Gespräche zwischen Menschen mit einem gemeinsamen Fokus – Karneval in Köln wird zum Thema gemacht und zum Anlass genommen. Ein deutlicher Verstoß gegen eine sogar schriftlich ¿ xierte Norm ist das Rauchen im Zug, das eine Gruppe mit dem Anzünden von Zigaretten beginnt. Seit dem 1. September 2007 gilt in allen Zügen der Deutschen Bahn ein striktes Rauchverbot, das hier von einer Gruppe von Personen missachtet wird. Dieser Verstoß geschieht kaum aus Unkenntnis, sondern ist symbolisches Handeln, das sich zum einen auf eine sichtbar gemachte Haltung zu dem Verbot bezieht, zum anderen aber auch mit dem besonderen Tag verbunden ist. Die Kostüme, das geschwätzige Miteinander, die kribbelnde Vorfreude, das Biertrinken, das demonstrative Rauchen – all das ist dem Ausnahmezustand geschuldet. Niemand im Zug empört sich über das regelwidrige Verhalten, weil es als Ausnahme geduldet wird, auch dann noch, als sich eine weitere Gruppe dem Rauchen anschließt. Goffman weist darauf hin, dass wir Brüche und Umgehungen von Interaktionsregeln dann bereitwilliger entschuldigen, wenn es sich um Betrunkene oder auch um Kostümierte handelt (vgl. 1971b: 137). Ein Mann aus der Gruppe der Rauchenden versucht – wenn auch vergeblich –, das Fenster zu öffnen, um etwas gegen den durch den Waggon wabernden Qualm zu tun. Vielleicht kann dies als Zeichen von Rücksichtnahme gedeutet werden. „Jeck loss Jeck elans“ gilt auch hier als Verhaltenskodex. Es bestehen die alternativen Regeln des Kar nevals, die hier von den Beteiligten als situative Interaktionsregeln erzeugt werden und deren Gültigkeit sich am Grad der Einhaltung bzw. der Sanktion bei Nicht-Einhaltung messen lässt. Vier Tage später, am Rosenmontag 2008, hält das Beobachtungsprotokoll die Eindrücke einer weiteren Bahnfahrt nach Köln fest. Diesmal ist die Zahl der Mitreisenden deutlich höher, sodass die Jecken sehr nah beieinander stehen. Die Stimmung ist so ausgelassen, dass bereits die Zugfahrt zur Party wird. „Ich nähere mich der Karnevalsstadt wieder mit dem Zug. Auf jedem Bahnhof steigen mehr kostümierte Jecken zu. Sie sind fröhlich und auch ein bisschen gespannt. Ein paar Mal wird „Viva Colonia“ angestimmt. Ab R. ist der Regionalexpress voll
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Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse mit kostümierten Jecken. Bier- und Sekt Àaschen machen die Runde. Neben mir reicht mir jemand eine Prosecco-Flasche, schiebt auffordernd die Augenbrauen hoch und lächelt als ich die Flasche ansetze und trinke. Ich lächle auch und gebe die Flasche an den nächsten weiter. Viele Gruppen reisen zusammen. Einige packen ihre Proviantpakete aus, um zu frühstücken. Selbst gemachte Frikadellen machen die Runde und werden auch bis dahin Unbekannten angeboten. Im Zug ist kaum noch Platz. Als mir meine Handschuhe herunterfallen, habe ich Mühe, mich nach ihnen zu bücken. Eine Gruppe junger Männer hat Musikinstrumente dabei. Eine Trommel kann ich erkennen, eine Posaune, eine Tuba und ein Akkordeon. Sie beginnen zu spielen. Auf diesem engen Raum erreicht der Klang keine Fülle, aber er ist tief im Bauch zu spüren. Es ist laut, die jecken Fahrgäste singen den Text zu den bekannten Karnevalsliedern. „Mer lasse de Dom in Kölle“ und „Viva Colonia“ singen und grölen viele. Andere klatschen, so wie ich auch, im Takt mit. Ich sehe in unzählige lachende Gesichter auf dieser außergewöhnlichen Zugfahrt. Dieser Zug steckt voller rheinischer Lebensfreude, muss ich denken. Neben mir steht ein Mann, der in dem Lärm sein Handy an das Ohr hält. Er spricht mit einem Akzent, der nicht aus der Gegend hier kommt. Sein Gespräch beginnt mit „Du glaubst nicht, wo ich bin“. Und weiter: „Ich bin gerade im Zug, auf’m Weg nach Köln. Hör mal, was hier los ist, das glaubst du nicht. Wir sind hier voll am Feiern.“ Er brüllt fast. „Hab ich noch nich erlebt.“ Ein Gespräch kann er nicht entwickeln, weil er seinen Gesprächspartner nicht zu verstehen scheint. Seine Botschaft scheint aber übermittelt worden zu sein, und er legt auf. Wir sind fast da. Am Hauptbahnhof strömt alles aus den Abteilen“ (Protokoll 04.02.2008).
Durch die zunehmende Zahl von Reisenden wird der persönliche Raum der Einzelnen immer enger. „Ab R. ist der Regionalexpress voll mit kostümierten Jecken“, und der Kör perkontakt zwischen ihnen wird notwendigerweise intensiver. Der Zug als Raum wird vollständig und durch viele Individuen angeeignet, die eine körperliche Kopräsenz vieler Anderer am eigenen Leib spüren. Die Distanz zwischen ihnen schwindet auch deshalb, weil die Situation durch „gegenseitige Offenheit“ (Goffman 1971b: 128) gekennzeichnet ist. Diese Offenheit wird durch das gemeinsame Ziel und die offensichtliche Begeisterung für Karneval befördert. „Eine wichtige Basis für wechselseitige Zugänglichkeit liegt in dem Element des Informellen und der Solidarität. Beides scheint zu herrschen zwischen Menschen, die einander erkennen können als zur gleichen besonderen Gruppe gehörig“ (ebd.). Um sich als einer Gruppe zugehörig zu erkennen, muss man sich zunächst – dies erfordert der Rahmen – kenntlich machen, d. h. „man hat sich innerhalb eines bestimmten zeitlichen Rahmens öffentlich als Mitglied einer transitorischen, gewissermaßen zeitlich begrenzten Gemeinschaft darzustellen“ (Soeffner 1992: 115). Die kostümierten Reisenden erkennen sich als Jecken mit
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dem Ziel Köln. Der informelle Rahmen und das Gefühl gegenseitiger Verbundenheit sind wichtige Elemente für das Entstehen eines Wir-Gefühls. Die enge räumliche Begrenzung macht es ohnehin nötig, sich miteinander zu arrangieren. Als dann auch Bier- und SektÀaschen herumgereicht werden, aus denen einander bis dahin Fremde trinken, wird ein Trinkritus aufgeführt, der eine Vergemeinschaftung zur Folge hat. Ein Wir-Gefühl ist durch diese Zeremonie auch räumlich zu verorten, denn die Flasche beschreibt den Kreis derjenigen, die in die Gemeinsamkeit aufgenommen sind. Das Herumreichen der Prosecco-Flasche ist ein leicht verständliches und in vielen Kontexten verwendetes Ritual. Es sind „gerade der unabhängige und unpersönliche Charakter sowie die leichte Transportierbarkeit des Rituals, die es jedermann erlauben, es zu ‚benutzen‘ und sich damit in gemeinsamer Handlung mit allen anderen Anwesenden zu vereinen“ (ebd.). Indem von derselben Flasche getrunken wird, lassen sich die Einzelnen auf ein intimes Handeln ein, das einerseits übliche Verhaltensregeln und Auffassungen von Hygiene verletzt, andererseits auch eine erotische Komponente besitzt, wenn der Flaschenhals mit der Öffnung an den Mund geführt wird. Vor allem aber ist das Teilen des Proseccos ein Zeichen für Wohlwollen und Friedfertigkeit (ebenso wie das Teilen des Essens), das einer relativ Àüchtigen Gemeinsamkeit den Anschein von Vertrautheit und Stabilität verleiht. Die Flasche wird dabei zum Symbol dieser Àüchtigen sozialen Beziehung, das auch eine sakrale Komponente enthält. Dass sie weitergereicht wird, kann als Ausdruck der Emp¿ndungen der Einzelnen für die Gemeinschaft gedeutet werden. Eine weitere, für die Untersuchung relevante Situation ist das gemeinsame Musizieren und Singen in der Bahn. Für mich als Beobachterin beginnt die kleine Kapelle ganz unvermittelt zu spielen. Mit einer enormen Lautstärke stimmen sie bekannte Melodien von Karnevalsliedern an. Das vorher a capella gesungene „Viva Colonia“ wird wieder aufgegriffen und nun mit einer Wucht gespielt, die tief im eigenen Körper zu spüren ist. Viele stimmen ein und singen mit, andere klatschen im Takt in die Hände. Sie alle sind vereint durch die Hymne und das dazugehörige Ritual. Die Zugfahrt wird zum Erlebnis und zur Erfahrung von Gemeinschaft. „Das Zusammenspiel von Rhythmus, strophischer Form der Gesänge, Invarianz und Wiederholung der Rituale verleihen der Flüchtigkeit und zeitlichen Begrenztheit der Gemeinschaft den Anschein nicht nur von Dauer, sondern auch von Wiederholbarkeit“ (Soeffner 1992: 116 f.). Das Außergewöhnliche der Situation wird beim gemeinsamen Singen und Musizieren bewusst gemacht, denn gerade die außeralltäglichen Rituale führen uns den zeremoniellen Charakter derselben vor Augen. Die lachenden Gesichter, singenden Kehlen, das gemeinsame Klatschen, Trinken und Essen können als eine Form kollektiver Efferveszenz gedeutet werden, die gerade durch die strikte Abgetrenntheit nach außen (durch die Zugwände) und die Erfahrung des gemeinsamen sich Annäherns
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an Köln verstärkt wird. Die kollektive Erregung führt zu einer Gruppensolidarität und zu emotionsgeladenem Handeln. Dabei wird der Wagen des Regionalexpresses zur Bühne für alle Jecken – er wird umgedeutet zu einem „Karnevalszug“ und dabei als Raum zur Repräsentation des Karnevals genutzt. Die Musikkapelle bildet ein Zentrum der Aufmerksamkeit und dominiert alle übrigen Interaktionen, solange sie Musik spielt. Die Außergewöhnlichkeit der Situation wird auch von dem Mann subjektiv wahrgenom men, der über sein Mobiltelefon darüber berichten möchte. Weil die Situation sich von seiner Alltagswelt stark unterscheidet, unterstellt er der Person, die er anruft, sie glaube nicht, wo er gerade sei. Erst recht nicht glaube sie, was sich dort abspiele. Für den Mann ist dieser Erlebnishöhepunkt so überraschend, dass er sogleich von ihm erzählen möchte. Er formuliert in seinem Telefonat ein Wir („Wir sind hier voll am Feiern“), mit dem er sich auf eine Gemeinschaft bezieht, zu der er sich zählt. Das Wir grenzt zugleich die angerufene Person aus. Darauf deutet auch das Wort ‚hier‘ hin, das einen räumlichen Bezug herstellt. Das Wir im Zug feiert und grenzt sich nach außen hin ab, selbst wenn telefonisch die Außenwelt kontaktiert wird. Das Außergewöhnliche dieser Bahnfahrt löst sich auf, als am Hauptbahnhof in Köln alle Fahrgäste aus den Abteilen strömen und auf das Vergnügen auf Kölns Straßen zusteuern. Auffallend ist am Ende des Ausschnitts, dass auch ich als Beobachterin von einem Wir spreche – kurz bevor es sich auÀöst („Wir sind fast da“). Auch in mir hat sich offenbar das Zusammengehörigkeitsgefühl geregt. Diese aggregierte Form sozialer Interaktion hat auch mich als Beobachterin beeindruckt. Eine solch starke Verdichtung eines Wir-Gefühls im rhei nischen Karneval habe ich nur auf Zugfahrten erlebt. Keine Karnevalsfete, kein Rosenmontagszug und keine Kneipen-Atmosphäre konnte mit dem Unterwegs-Sein und der dabei erlebten besonderen Form von Zusam mengehörigkeits-Emp¿nden mithalten. Auf der ethnogra¿schen Suche nach rauschhafter Vergemeinschaftung war in diesem Fall der Weg bereits das Ziel. 7.2
Kategorie Zeit
7.2.1
Karneval und seine zeitlichen Bezugspunkte
Über die lange und weit zurückreichende Geschichte des Karnevals wissen sowohl aktive Karnevalsmitglieder als auch Straßenjecken in der Regel kaum etwas. Die interviewten Vereinsmitglieder haben allenfalls Kenntnis über die eigene Vereinsgeschichte, aber über die historischen Zusammenhänge sind sie spärlich informiert (vgl. T18: 182 ff.). Bedeutung und Symbolik des ‚Kölner Dreigestirn‘
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ist nicht selbstverständlicher Bestandteil des Wissensvorrats von Straßenjecken (vgl. T8: 8 ff.), und über die Wurzeln des Karnevals existieren oft nur vage Vermutungen: „[D]as einzige, was ich halt über Karneval halt weiß, ist, ähm, dass Karneval, ähm, wahrscheinlich ’ne alte heidnische Tradition is, halt auch zum, halt um Gewitter (.) zu vertreiben“ (T2: 28 ff.). Ähnliche Befunde liefern die Umfragen von Klauser im Jahr 2002 zum Kölner Karneval: Viele Karnevalisten seien sich weder der Herkunft noch der Bedeutung des kulturellen Volksfestes Karneval und seiner Symbol¿guren bewusst (vgl. 2007: 396). Das historische Wissen besitzt allerdings weder für Vereinsmitglieder noch für die Feiernden auf den Straßen Relevanz. Im Mittelpunkt steht eher ihr Bedürfnis, das Hier und Jetzt zu genießen und miteinander zu feiern. Den Straßenkarneval begreife ich als einen Zeitraum, der das Austreten aus alltäglich-gleichförmigen Temporalstrukturen erlaubt. Der rheinische Karneval hat als Kalenderfest klare zeitliche Bezugspunkte, die durch ihre Abhängigkeit vom Osterfest leicht für jedes beliebige Jahr zu berechnen sind. Diese Tatsache macht die Partizipation am Straßenkarneval von langer Hand planbar. Für Karnevalsfans wie Katharina ist das Organisieren von Urlaubsfahr ten nur jenseits der Zeit zwischen Weiberfastnacht und Rosenmontag denkbar, denn „mich würd auch im Leben niemals jemand über Karneval in Urlaub schicken können“ (T9: 150 f.).65 Viele feiernde Jecken nehmen auch über die Karnevalstage ihren Urlaub, um, frei von beruÀichen VerpÀichtungen, ausschweifend feiern zu können: „Viele opfern ihren Urlaub dafür. (= Ja. =) Die opfern richtig Urlaub dafür. Gibt also genug Leute, die haben jetzt diese und nächste Woche frei. Und die opfern zwei Wochen Urlaub“ (T18: 543 ff.). Um Karneval feiern zu können, muss freie Zeit zur Verfügung stehen, denn Karneval ist (für die Jecken) Freizeitgestaltung und auch eine Zeit der Verschwendung des Arbeitsertrags. Alf benutzt in der oben aufgezeigten Sequenz dreimal das Wort „opfern“, womit ein Hinweis darauf gegeben ist, dass Urlaub und Freizeit für ihn wertvolle Ressourcen sind, die für den Karneval bereitgestellt werden. Hierbei bezieht er sich vor allem auf die in den Vereinen Engagierten, die für ihre Auftritte mit den Garden und für das gemeinsame Feiern des Karnevals Urlaubstage nehmen. Sie opfern Zeit für ihr Engagement im Karneval „aus Spaß an der Freude“ (T18: 174) – wie Alf immer wieder betont. Dabei 65 Die sogenannten KarnevalsÀüchtlinge hingegen planen ihren Urlaub so, dass sie über die Karnevalstage nicht im Rheinland anwesend sind („es gibt viele Leute, die hauen ab, die sind Karneval nicht da“ – T18: 58 f.). Alf schätzt ihre Zahl auf 10 Prozent (vgl. T18: 63). Die Distinktion, die hier erfolgt, wird über Mobilität organisiert: Liebhaber des Karnevals reisen extra an, Karnevalsgegner oder -muffel jedoch suchen das Weite. Der Ort wird also für beide Pole der Einstellungen als Kategorie benutzt, mit der sich der Grad der Zuneigung kommunizieren lässt. Der Kölner Raum ist während der Karnevalstage von Jecken in jeder Hinsicht besetzt. Daher formuliert eine Gesprächspartnerin auch die Empfehlung: „viele, die mögen keinen Karneval und dann sollte man auch besser nicht hier sein“ (T4/1: 93 f.). Integration und Exklusion funktionieren hier also auch über den Raum.
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investieren sie nicht nur Zeit, sondern auch Geld („Ich sag mal, die investieren ja sehr, sehr viel Zeit. Ja auch. Und Geld“ – T18: 472). Auf einem öffentlichen Platz und meist um 11 Uhr 11 wird der Straßenkarneval zu Weiberfastnacht (auch: Altweiber, in Aachen: Fettdonnerstag) eröffnet. Mithilfe von für Weiberfastnacht typischen Riten kann von der gewöhnlichen zeitlichen Dauer in die Zeit des Außeralltäglichen gewechselt werden (vgl. Eliade 1984: 63). Den Höhepunkt des Straßen karnevals bildet der darauf folgende Montag mit dem Rosenmontagszug. Viele kleinere Orte und Dörfer veranstalten wegen der Konkurrenz zu den größeren Städten und aus organisatorischen Gründen (das Prinzenpaar und die befreundeten Gesellschaften aus der Umgebung haben eine Vielzahl von Terminen zu erfüllen) ihren großen Umzug auch am Wochenende (Karnevalssamstag, Tulpensonntag) oder am Faschingsdienstag (Veilchendienstag; z. B. in Mönchengladbach). Der Kalender trennt haargenau die Zeit des Straßenkarnevals von der übrigen Zeit des Jahres. Diese Terminfestlegung bewirkt die Unterscheidung von Alltag und Außeralltäglichem und hilft nicht nur Lexika bei der De¿nition des Begriffes Karneval. Vielmehr verwenden auch Interviewpartner zeitliche Bezugspunkte, um „ihren“ Karneval zu erklären. Katharina eröffnet zum Beispiel unser Gespräch mit einem Verweis auf die kalendarisch festgelegten Zeitpunkte. „Also Karneval is, ja, Weiberfastnacht halt […] größtenteils is bei mir halt nur der Donnerstagabend halt (= Ja. =) wo ich rausgeh und montags zum Rosenmontagszug mit“ (T9: 13 ff.).
Für die Interviewte besteht Karneval zunächst aus zwei zentralen Terminen – Weiberfastnacht und Rosenmontag –, an denen sie „größtenteils“ direkt partizipiert. Weil die Termine einer Aufforderung gleichkommen, das Fest auszurichten und vorzubereiten, ist Katharina schon lange Zeit vorher damit beschäftigt, ihre Kostüme zusammen mit Familienmitgliedern zu nähen (vgl. Kap. 7.3.1.5). Karneval strukturiert auch die Alltagszeit unmittelbar vor dem Fest. An gemeinsamen Bastelabenden werden die Präsentationen auf der Karnevalsbühne geschäf tig geplant. Ebenso hält es Philipp, der an den fünf oder sechs Wochenenden vor Karneval mit einer Gruppe von Freunden am Karnevalswagen baut (vgl. Kap. 7.3.1.5). Die Vorbereitung ist seit 20 Jahren fester Bestandteil seiner Biogra¿e – „also fest eingeplant, seit 20 Jahren mache ich das mit dieser Gruppe“ (T15: 50 f.). Die gemeinsame Zeit vor Karneval gehört für Philipp ebenso zu dem Fest wie der gemeinsame Ausklang des Rosenmontagszugs: „Das sind, ähm, absolut Dinge, die sich dann so, so, so eingespielt haben, ähm, nach – jetzt haben wir den Rosenmontagszug gemacht, dann im Anschluss an den Rosen-
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montagszug treffen wir uns dann nochmal in [Dorf] im Feuerwehrgerätehaus (.) mit allen (= Ja. =) nochmal und feiern dann auch an ’nem Abend nochmal so als Ausklang (= Ja. =). Das halten (.) wir halt so in [Dorf]“ (T15: 66 ff.).
Für Philipp ist auch noch kurze Zeit nach dem Festhöhepunkt das Feiern einer gelungenen Session „als Ausklang“ von Bedeutung. Dies sind feste Termine, „die sich dann so, so, so eingespielt haben“ mit der Zeit. Die gemeinsamen Vor- und Nachbereitungstreffen bestätigen und bestärken die Gruppe in ihrer Gemeinschaft. Ein gemeinsamer Erfolg der Karnevalssession ist auch ein Nachtzug,66 der unter Beteiligung von Philipps Gruppe organisiert wurde. „Da sind wir also mit Karnevalswagen, 20 Stück aus unserm Ort und den Nachbarorten […] freitags abends und sie waren beleuchtet (= Ja. =) durch die Gegend gezogen (= Schön =) und hatten in dem Ort von 1.600 Einwohnern 4.000 Besucher“ (T15: 70 ff.).
Philipp hebt hervor, dass der Nachtzug in einem kleinen Dorf sehr viele Besucher angelockt hat. Dieses Highlight ist ein Ereignishöhepunkt, den er mit seiner Gruppe vorbereitet, erlebt und anschließend feiert. Dass der Nachtzug ein ganz persönliches Highlight für ihn ist, macht die unmittelbar folgende Sequenz deutlich. „Is auch Karneval. (= Ja. =) (.) Also es is einfach, ’n bisschen was so an rheinischer Lebensfreude hier, einfach feiern, zusammensein, in Gesellschaft zu feiern, ist einfach – gehört dazu. Karneval ist einfach so dieses Highlight erleben“ (T15: 77 ff.).
Karneval bietet vor und nach den „tollen Tagen“ Gelegenheiten zum Zusammensein. Die Vorfreude und das Erinnern bestimmen die Zeit um das Fest. Besonders bei den in Vereinen organisierten Jecken ist das Thema Karneval weit über den Zeitraum des Straßen karnevals hinaus präsent. Die in den Tanzgruppen engagierten Vereinsmitglieder trainieren das ganze Jahr über und intensivieren ihr Training vor anstehenden Wettkämpfen und Karnevalssitzungen (vgl. auch T10: 67 ff.). Heinz, langjähriges, längst nicht mehr berufstätiges Vereinsmitglied, spricht über sein ganzjähriges Engagement.
66 Der Nachtzug ist ein Karnevalszug, der im Dunkeln statt¿ ndet und wegen seiner beleuchteten Wagen und der manchmal in der Dunkelheit etwas gruselig wirkenden Kostüme seinen besonderen Reiz entfaltet.
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Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse „I: Also dann geht ja Karneval auch’s ganze Jahr irgendwie, ne ? (= Ja, natürlich. =) Wenn Sie sozusagen (= Ja. =) auch außerhalb der Session noch Unternehmungen machen. T14: Ja, wenn Sie zum Beispiel, äh, unsere Tanzgruppe nehmen (= Ja. =), Funkengarde, Prinzengarde, die fangen ja jetzt praktisch wieder an mit ihren, ähm, neuen Tänzen (= Ja. =), äh, zum Einspielen. Dann kommt die Urlaubszeit, dann is Pause und dann geht dat weiter. (= Hm. =) Die trainieren praktisch dat ganze Jahr. (= Hm. =) Und wir treffen uns auch immer, jeden Mittwoch, äh, immer in einer anderen [Stadt-] Kneipe, damit die auch mal wat von uns haben (= Ja. =) (schmunzeln) und, äh, ja, da wird über Karneval geredet“ (T14: 85 ff.).
Heinz ist Elferratsmitglied und trifft sich mit seiner Gruppierung jeden Mittwoch zum Stammtisch. Karneval nimmt eine so bedeutsame Stellung in Heinz’ Leben ein, dass für ihn das ganze Jahr über Karneval ist. Der Höhepunkt der Session ist kein herausgehobenes Ereignis in seinem Jahresverlauf, sondern ein Element, das durch Vor- und Nachbereitungen fest mit seinem Alltag verbunden ist. Eine Trennung zwischen Alltag und Außeralltäglichkeit trifft für ihn nicht zu. Sein Ehrenamt im Verein ist eine alltägliche Arbeit, die in der fünften Jahreszeit intensiviert wird. Karneval ist fester Bestandteil seiner Freizeitgestaltung. Heinz ist eingebunden in die Organisationsstrukturen des Karnevals und sichert mit seinem Engagement den alljährlich wiederkehrenden Taumel der Narren am Nieder rhein. Das Vereinswesen spielt die entscheidende Rolle zur Sicherung der Organisation und zur PÀege des Brauchtums Karneval. Der in einer Karnevalsgesellschaft stark engagierte Hubert erlebt im Gegensatz zu Heinz die Hoch-Zeit des Karnevals als Höhepunkt in seinem Jahresverlauf. In der Sitzungszeit, die vom Jahreswechsel und bis Weiberfastnacht ihrem Gipfelpunkt zusteuert, sind die Vereinsmitglieder in den Garden fast jedes Wochenende zu Terminen unterwegs. Die fünfte Jahreszeit ist eine Zeit, die sie in großen Gruppen und in Gemeinschaft mit vielen anderen Engagierten verbringen. Nach Karneval setzt daher häu¿g eine Art Katerstimmung ein, die Aktiven fallen in ein „Loch“. „[M]an muss natürlich auch den nötigen Gemeinschaftssinn mitbringen, weil man meist immer mit vielen Menschen unterwegs is. Das is auch dat Problem nach Karneval, man fällt immer in so’n Loch rein. (= Uhum. =) Man is ja jedes Wochenende mit, ich sach jetz mal seiner Garde mit vierzig, fünfzig Leuten unterwegs, ja man sieht sich jedes Wochenende, hat ’n Haufen Spaß und nach Karneval is dat irgendwie so, ja, wat machst’n jetz heute ? So ich kann jetzt schon sagen, nächsten Samstag fahr’n wa bestimmt wieda (lacht) mit zehn Mann nach [Dorf, mit einer Disko] (= Hm. =), weil wa sonst nich wissen, wat wa (.) anfangen sollen, na, zu Hause vor
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de Flimmerkiste, ja, doof, bringt ja nix, na, also man muss schon wieder mit seinen Leuten zusammen sein“ (T10: 11 ff.).
Die Karnevalszeit ist für Hubert eine Zeit in der Gemeinschaft mit vierzig bis fünfzig Vereinsmitgliedern. Jedes Wochenende sieht man sich und hat Spaß miteinander. Hubert kon notiert die Karnevalszeit positiv, während er die unmittelbare Zeit danach wie ein Loch emp¿ndet, in dem ihm die Gemeinschaft fehlt. Die Zeit muss plötzlich wieder anders ausgefüllt werden, denn der straffe Terminplan der Karnevalssession hat keine Gültigkeit mehr. Die Langeweile („wat machst’n jetz heute ?“) und die Einsamkeit („also man muss schon wieder mit seinen Leuten zusammen sein“) sollen durch einen gemeinsamen AusÀug in die Dorfdisko kompensiert werden. Huberts Katerstimmung und das „Loch“ in der Nach-Karnevalszeit deuten zugleich auf eine „Rauschstimmung“ während der Session. Die Karnevalszeit unterscheidet sich als Festzeit durch ihre Reversibilität von der Zeit des Alltags. In fester Periodik sichert der Karneval die Möglichkeit zu, aus der „gewöhnlichen“ Zeitdauer herauszutreten (vgl. Eliade 1984: 63), Zeit auf irrationale Weise zu verwenden (sie zu verschwenden) und dem Augenblick, dem Hier und Jetzt zu huldigen. Die Karnevalszeit ist nur in ihrer Beziehung zur Alltagszeit zu begreifen. Sie dient dazu, den Alltag individuell und kollektiv zu bewältigen, indem sie ihn aufhebt (vgl. Gebhardt 1987: 53). Winfried Gebhardt de¿niert das Fest, als das der Karneval für einen großen Teil der Jecken zu begreifen ist, wie folgt: „Fest soll uns nun eine Form der Vergemeinschaftung heißen, in der affektuelles Handeln institutionalisiert und folglich die alltägliche Wirklichkeit auf Zeit aufgehoben ist“ (ebd.). Das Fest ist stets zeitlich begrenzt. Es legitimiert die vorübergehende Überschreitung, die Unordnung und das Entrücken, die eine Nähe zum Ekstatischen erlauben. Sie entsprechen vielleicht nicht immer dem Extrem ekstatischen Handelns, das wir uns vorstellen mögen, aber sie tragen ein Moment des „Sich-treiben-Lassens“ (Goffman 1971b: 163) in sich, das nicht sanktioniert wird. Gebhardt nennt Beispiele für diese Verhaltensweisen. „Ausgelassenheit, ein Moment des Überdrehtseins, vorlaute und freche Bemerkungen, das nicht genaue Abwiegen des Wortes im Gespräch, ansonsten unerlaubte körperliche Nähe und Berührung, die sich ja noch auf heutigen Festen beobachten lassen, tragen alle – wenigstens im Ansatz – den Charakter des Ekstatischen“ (Gebhardt 1987: 55).
Nach dem Fest ist eine Rückkehr zur alltäglichen Ordnung erforderlich. Insofern bestätigt das Kar nevalsfest auch die Alltagsnormen und deren Zeitstrukturen und verdeutlicht, dass der Alltag eine außeralltägliche Grundlage hat (vgl. ebd.: 34).
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Warum diese Unterbrechungen der Alltagsroutine durch Ereignisse wie Karneval notwendig sind, erklärt Zygmunt Bauman unter Rückgriff auf Michail Bachtin. „Der Karneval und ähnliche Feste sind, wie Michail Bachtin feststellte, Unterbrechungen der alltäglichen Routine, kurze berauschende Intervalle zwischen den alltäglichen Raten des Einerleis, eine Pause, in der die weltliche Wertehierarchie zeitweilig umgekehrt wird, die unangenehmsten Aspekte der Realität für kurze Zeit aufgehoben und Handlungen, die im ‚normalen‘ Leben schandbar und verboten sind, ostentativ und mit Genuß ausgeübt werden. Waren es beim Karneval alten Stils die im täglichen Leben verwehrten individuellen Freiheiten, die ekstatisch ausgekostet wurden, geht es jetzt darum, die Last und Qual der Individualität hinter sich zu lassen, Teil eines ‚größeren Ganzen‘ zu sein und sich dessen Regeln freudig zu unterwerfen, während man in der Masse verschwindet. Die Funktion (und verführerische Macht) solcher Feste in der Flüchtigen Moderne liegt in der momentanen Wiederbelebung einer rauschhaften, wie in Trance oder im Koma erlebten Gemeinschaft“ (Bauman 2007: 159).
Bauman bezieht Bachtins Überlegungen zu Formen eines längst vergangenen Karnevals auf die Gegenwart. In der „Àüchtigen Moderne“ sind die Ausschweifungen des Karnevals eine situative Revitalisierung traditionaler Vorstellungen von Gemeinschaft. Als rausch hafte AusÀüge in eine alternative Wirklichkeit bieten sie kurze Erholung vom Zwang der Individualität (vgl. Kap. 7.3.4). Karneval ist für einen großen Teil der Jecken als Fest zu verstehen, was aber impliziert, dass dies nicht für alle gleichermaßen gilt. Für stark engagierte und zeitlich involvierte Mitglieder von Karnevalsgesellschaften ist Karneval eine Feier. Die Feier unterscheidet sich vom Fest, indem die eine auf die Vergesellschaftung zielt, das andere auf die Vergemeinschaftung. Die Feier ist „eine Form der Vergesellschaftung […], in der wert rationales Handeln institutionalisiert ist, und folglich alltägliche Wirklichkeit in ihrer Bedeutung für den einzelnen und die Gesamtheit der Feiernden bewußt gemacht wird“ (Gebhardt 1987: 63). Die Feier hebt den Alltag nicht auf, sondern sie macht ihn bewusst, indem sie den Beteiligten ihren Platz im Leben zeigt, ihnen Herkunft, Bedeutung, Aufgabe und Zukunft von Individuum, Gruppe und Institution vor Augen führt. Der Feier liegt eine Idee zugrunde, die durch sie aktualisiert wird. Für das Vereinsmitglied Heinz entspricht die Karnevalsfeier auch einer Bestätigung seiner Werte, denn sie lässt Traditionen lebendig werden und stabilisiert seine Position im Verein und seine Rolle im kleinstädtischen Gefüge. Der fast 70-Jährige ist seit 1980 aktives Vereinsmitglied und sehr stark engagiert.
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„Und, äh, wir haben immer sehr, sehr viel für den Verein getan, ne. Ob dat jetzt Wagenbau is oder ob dat Plakate rundbringen is oder wie gesagt, die Festzeitschriften machen […]. Aber dat machen wir ja auch mit Freude“ (T14: 38 ff.).
Als Redenschreiber gestaltet er aktiv die Karnevalssitzungen bzw. Aufführungen wie die Prinzenproklamationen. Gemeinschaft und Freude an Mitgestaltung stehen für ihn im Vordergrund. Er ist mit der Vereinsgeschichte und der Geschichte der Stadt verwachsen („ich meine, ich hab den Karneval ja noch erlebt, ähm, so als junger Mann, da kannte praktisch in [der Stadt] jeder jeden“ – T14: 205 f.) und berichtet lebendig und anekdotenreich aus der Vergangenheit (zum Beispiel ein typischer Beginn einer Anekdote: „Äh, et soll zum Beispiel passiert sein, äh, dat erzählt man sich, oder erzählte man sich damals, dass, äh, einer […]“ – T14: 501 f.). Karneval ist fester Bestandteil seiner Biogra¿e und verbindet seine Lebensgeschichte mit Wertorientierungen wie Gemeinschaftssinn, ehrenamtlichem Engagement und Frohsinn. Karneval verbindet auch seine Gegenwart mit seiner Vergangenheit und mit der Zukunft, denn im organisierten Karneval gilt mutatis mutandis Sepp Herbergers Fußballweisheit: Nach der Session ist vor der Session. Bei wöchentlichen Stammtischen mit Vereinskameraden werden Evaluationen der vergangenen Session vorgenommen, um die Zukunftsplanung angehen zu können. „Ja, jetzt ham’ wir natürlich einigen, äh, Gesprächsstoff, äh, über die äh, letzte Session, wat alles schief jelaufen is und so weiter, wat man vielleicht verbessern könnte und, äh […] wat gut gelaufen is, dat, äh, wird auch erwähnt, aber meistens, äh, wird ja doch nur, ähm, dat gesehen, wat also, sehr, sehr schlecht war (= Ja. =). Und, äh, natürlich, dat is auch ’n bisschen Vereinsmeierei dabei“ (T14: 97 ff.).
Heinz hebt hervor, dass in erster Linie die Missgeschicke ausgewertet werden, die in den Sessionen passiert sind. In den Gesprächen geht es auch um persönliche Sympathien, Antipathien und um Machtverhältnisse innerhalb des Vereins („Vereinsmeierei“). Die in den komplexen Vereinsstrukturen verteilten Aufgaben müssen gewissenhaft erledigt werden, damit das Gesamtvorhaben gelingen kann. „So gesehen is Karneval ’n ganz ernstes Geschehen“ (T14: 200). Heinz’ Beziehung zum Karneval ist damit eine ganz andere: Er ist Teil des institutionalisierten Karnevals und erlebt diesen als Aufgabe, die das Ziel hat, eine gelungene Veranstaltung zu organisieren. Die Befriedigung, die ihm diese fest in seinen Alltag integrier te Aufgabe verschafft, ist seine Grati¿ kation. Um eine Delegitimation seiner Alltagsdeutungen geht es ihm nicht. Heinz sorgt dafür, dass der Straßenkarneval mit seinen Eröffnungs- und Abschlussveranstaltungen einen Rahmen und eine Programmstruktur erhält. Denn trotz aller Spontaneität und scheinbarer
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Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse
Unordnung folgt der Karneval doch einer Struktur, deren zeitlichem Aspekt das folgende Kapitel nachgeht. 7.2.2
Die Programmstruktur des Außeralltäglichen
Der Karneval ¿ndet zeitlich und räumlich ¿xiert statt. Die Legitimierung einer großen Party inmitten der Stadt am hellen Tag, durch die das öffentliche (Alltags-) Leben stillsteht, ist nur durch die feste zeitliche Rahmung möglich. Der Beginn des Straßenkarnevals an einem Don nerstag führt zu eingeschränkten Öffnungszeiten von Geschäften, Behörden und öffentlichen Einrichtungen. Die Schülerinnen und Schüler sind spätestens ab elf Uhr elf nicht mehr auf ihren Stühlen und im Klassenraum zu halten, und in den wenigen geöffneten Geschäften ist das Verkaufspersonal häu¿g phantasievoll kostümiert. Während der sechs „heißen“ Tage – von Weiberfastnacht bis Veilchendienstag – herrscht am Rhein der Ausnahmezustand. Die Außeralltäglichkeit des Karnevals folgt einer zeitlichen Struk tur, welche die scheinbare Unordnung ordnet. Gerahmt werden die sechs tollen Tage durch die Phasen der Vorbereitung (Kostüme nähen, Wagen bauen, Anreise und Partys planen und vorbereiten) und der Nachbereitung (mediale Aufbereitung, eigene Fotos, Erinnerungen und ReÀexion). Das Feiern des Straßenkarnevals ist lokal sehr unterschiedlich – jedes Dorf, ja jede Kneipe pÀegt ihre eigenen Traditionen. Dennoch schlägt Abbildung 1 eine Übersicht zur allgemeinen Programmstruktur des Außeralltäglichen vor. Abbildung 1
Die Programmstruktur des Außeralltäglichen
Vorbereiten Straßenkarneval
Weiberfastnacht – Eröffnung, Straßen und Plätze werden zum Festort Karnevalsfreitag – örtlich: Eröffnung des Straßenkarnevals, Nachtzug, Kneipen Karnevalssamstag – Karnevalsfeiern in den Orten, Festzelte, Kneipen, Diskos Tulpensonntag – örtlich Karnevalszüge, vor allem auf Dörfern Rosenmontag – Höhepunkt, große Rosenmontagszüge, lange Partys im Anschluss Veilchendienstag – Veilchendienstagszug Mönchengladbach, Nubbelverbrennung Aschermittwoch – Fischessen, Aschekreuz, Beginn der Fastenzeit Nachbereiten und Erinnern
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Die dem Fest vorangehende Vorbereitungsphase ist für die aus Hessen kommende Anja vor allem wegen der Anreiseplanung wichtig. Aber auch der Festtag selbst – hier der Rosen montag – hat eine Struktur. Der Beginn des gemeinsamen Feierns liegt „normaler weise“ bei elf Uhr. Diese „jecke“ Zeit setzt für viele Veranstaltungen den Anfangspunkt und versammelt die Feiernden auf den Straßen und Plätzen. Dann fällt der Startschuss, der die Feiernden in den Karnevalstrubel entlässt. Das Ende der gemeinsamen Party ist dagegen grundsätzlich variabel und wird spontan bestimmt. „wir feiern eigentlisch normalerweise fangen wir immer schon ein bisschen früher an, so um 11 oder so dann schon und dann so je nachdem wie ¿t wir halt sind. Also am 11.11., keine Ahnung, da war ich schon um halb 9 konnte ich halt nicht mehr, da war ich (= Auch hier ? =) war ich auch hier in Köln, genau, und dann, ähm, ja da konnte ich halt irgendwie nicht mehr, war ich fertig, hatte Kopfschmerzen, aber manchmal ist es auch schon so, dass, dass du dann bis um 12, 1 feierst“ (T1: 87 ff.).
Körperliche Ressourcen begrenzen das Karnevalsfest. Anjas Party endet am 11.11. um 20.30 Uhr, weil sie physisch zu erschöpft ist. Das Ende nach neuneinhalb Stunden sei ungewöhnlich früh. Die Interviewte feiert sonst länger und bis tief in die Nacht hinein. Die lange Partydauer von 13 oder 14 Stunden muss aber nicht eingehalten werden, „[w]eil ich denk immer, was weiß ich, wenn man bis um 8 oder bis um 10 feiert, dann ist ja auch OK. (= Ja. =) Weil, ähm, ich bin jetzt 31 und keine 20 mehr und irgendwann ist dann halt auch mal gut, ja (lacht)“ (T1: 93 ff.). Während Anja den Beginn der Party relativ genau benen nen kann, fallen die Angaben zu ihrem Ende unbestimmter aus („bis um 12, 1“, „um 8 oder bis um 10“). Das Ende hängt von der körperlichen Fitness ab („je nachdem wie ¿t wir halt sind“), die mit zunehmendem Alter nachlässt. Der Karneval kehrt zwar zyklisch wieder, aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Jecken von Jahr zu Jahr älter werden und die körperlichen Belastungen des Feierns eindringlicher spüren. Wenn Anja formuliert, dass sie das Feiern mit 31 Jahren anders verträgt als mit 20, verweist sie auf eine ausgeprägte Karnevalssozialisation. Die Interviewte präsentiert zwei Regeln: Erstens hängt die Länge der Party vom körperlichen Be¿nden ab, zweitens werden alle Menschen älter und verlieren an Widerstandsfähigkeit und Durchhaltevermögen beim Feiern (Vanitas-Gedanke). Bereits am Tag nach der Party kehrt Anja in ihre hessische Heimat zurück („ich fahr ja morgen auch schon wieder Richtung Hessen“ T1: 103). Die langfristig geplante Rückreise markiert das Ende ihres Karnevals 2008 und die für das Vergemeinschaf tungserlebnis notwendige Trias von Raum, Zeit und Körper. Katharinas Erzählung fokussiert insbesondere die Planungs- und Vorbereitungsphase. Für sie ist die Vorarbeit für Weiberfastnacht mit den Familienmitglie-
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dern und Freunden ein wichtiger Teil des Karnevals an sich. Das „Planen vorher, das Schminken und, und einfach das Fertigmachen und alles einfach. (= Ja. =) So, komplettes Programm“ (T9: 71 f.) gehören zum Ablaufplan des Karnevals. Dabei geht es um das kreative Gestalten des eigenen Kostüms, aber auch um das Gestalten der Feststruktur gemeinsam mit der Familie. Katharina präsentiert ihr Kostüm am Donnerstagabend zum ersten Mal öffentlich. Ihr Festhöhepunkt ist die Kostümproklamierung. „Wir waren […] halt in ’ner Gruppe von so 20, 25 Leuten […] gestern Abend war bei uns halt Kostümproklamierung und das ist Masken- und Möhneball (.) (= Hm. =), da gehen alle vollmaskiert hin, dann werden die einzelnen Gruppen danach auch prämiert […] bis zur Demaskierung“ (T9: 114 ff.).
Der Masken- und Möhneball67 folgt einem zeitlichen Programm, welches der Veranstalter festlegt und gestaltet. Katharinas Gruppe macht sich am Abend im Kostüm und voll maskiert auf den Weg zum Ball.68 Die Veranstaltung ist nicht nur ein Tanzvergnügen, sondern sie enthält auch mit der Prämierung des schönsten Kostüms einen Wettbewerbsgedanken. Nach der Demaskierung um Mitternacht ist endgültig klar, welche Person sich tatsächlich hinter einem Kostüm verbirgt. Um den Maskenball und die Demaskierung ranken sich wegen dieses Überraschungseffektes und der Spannung, die sich mit dem Maskenspiel verbindet, viele Geschichten und Anekdoten. „Äh, et soll zum Beispiel passiert sein […], dass, äh, einer mit so ’ner, äh, Alten, die er da nun kennengelernt hat, äh, äh, nach draußen jegangen is und wollte dann ’n bisschen handgreiÀich werden und dann hat die (lacht), hat die ihre Maske abgenommen und den vermöbelt, da war dat die eigene Mutter. (lachen)“ (T14: 501 ff.).
Heinz erzählt von einem traditionellen Altweiber-Fest, bei dem sich die Frauen als alte Weiber verkleiden, daher benutzt er den Ausdruck „so, ’ner, äh, Alten“. In seinem Schwank üben die Handelnden Gewalt aus und erleiden sie zugleich. Die Frau erlebt einen (gegen das Inzesttabu verstoßenden) sexuellen Übergriff, gegen den sie sich wehrt, indem sie den Mann „vermöbelt“. Weil die Maskierung die Identität der Frau verschleiert, erkennt der liebestolle junge Mann seine eigene Mutter nicht. Die Geschichte skizziert eines der größeren Missgeschicke, die 67 Als Möhnen werden im rheinischen Karneval die närrischen Weiber bezeichnet, die vor allem zur Weiber fastnacht (als alte Weiber) kostümiert ihr Unwesen treiben. 68 Die Vollmaskierung bedeutet, dass auch das Gesicht mit einer Maske bedeckt ist, wie es der Altweiber-Brauch will.
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durch das (Masken-)Spiel mit den Identitäten geschehen können, und stellt eine vielfach variable Grundstruktur von Karnevalskuriosa dar. Zugleich verweist sie auf das Ödipus-Drama der griechischen Mythologie. Solche Erzählungen sind Bestandteil der Phase des Nachbereitens und Erinnerns, denn sie werden immer wieder und auch außerhalb der Straßenkarnevalszeit zum Besten und von Generation zu Generation weitergegeben. Für Heinz ist die Präsentation dieser Geschichte eine Möglichkeit, die humorige Seite der Weiberfastnacht hervorzuheben und darauf zu deuten, was im Karneval alles erlebbar ist. Er erzählt keine eigene oder selbst bezeugte Anekdote, drückt aber mit ihrer Hilfe seine Karnevalserfahrung aus und erweckt den Anschein, als könnte er unzählige solcher Vorkommnisse aus dem Nähkästchen holen. Der fast 70-Jährige ist „als vierzehnjähriger zum ersten Mal in de Bütt gegangen“ (T14: 26) und engagiert sich kreativ für den örtlichen Karnevalsverein, indem er beispielsweise die Regierungserklärungen der Prinzen „verwirklicht und in die Verse […] setzt“ (T14: 273). Er lässt daher keinen Zweifel an der Möglichkeit aufkom men, tatsächlich mit unzähligen, auch selbst erlebten Geschichten aufwarten zu können. Eine archivierbare Nachbereitung und professionelle Art des Erinnerns wird u. a. medial realisiert – durch die lokale Berichterstattung in der Tagespresse. Anita ist Journalistin und selbst aktiv im Karnevalsverein als Mitglied der Musikkapelle. In der Lokalzeitung, bei der sie angestellt ist, ist sie zuständig für die Berichte über den Karneval der Umgebung. Diese themenbezogenen Artikel haben eine große Bedeutung für die Lokalzeitung und „es würde ’n großes Problem sein, wenn sie den Fehler machen würde (= Hm. =) den Karneval komplett aus der Berichterstattung rausziehen würde. Eben weil der hier so ’ne verdammt große Rolle spielt“ (T12: 141 ff.). Die Karnevalszeit prägt die Themenstruktur der Zeitung im Vorfeld und während der Karnevalstage, „[w]eil die, ähm, weil die Zeit es halt gebietet, ne. (= Hm. =) Weil die Zeit es uns im Grunde genommen vorschreibt. Äh, der Karneval steht dann vor der Tür. Also man kann an und für sich sagen, äh, ab dem ersten Januarwochenende (= Ja. =) haben wir eigentlich Karneval jede Woche aktuell im Blatt“ (T12: 156 ff.). Der Zeitpunkt garantiert, dass Karneval in der Zeitung thematisch aufgegriffen wird, denn Karneval betrifft die Region und die Menschen, die in ihr leben. Der Jah resablauf und seine Rhythmen bestimmen insofern auch die Programmstruktur der Tageszeitung – zu Weihnachten wird über Weihnachten geschrieben, an Ostern über Ostern und zu Karneval eben über Karneval. Anita sieht sich selbst als besonders geeignet, für das Thema Karneval zu recherchieren, denn „durch meine lebenslange Bindung eigentlich, hab’ ich da natürlich ’n anderen Blick drauf“ (T12: 582 f.). So einen engen persönlichen Bezug der Journalisten gibt es in ihrer Redaktion nicht häu¿g, „da bin ich schon die einzige und ich versuche da auch schon, äh, das fortzusetzen, was unser verstorbener Kollege halt, äh damals über Jahrzehnte hinweg
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eben begleitet hat“ (T12: 584 ff.). Anita füllt eine Lücke, die der Tod eines älteren Kollegen hinterlassen hat, der „dieses Thema auch mit’m gewissen Herzblut angegangen“ (T12: 566) ist. Durch ihr privates Engagement im Karneval und durch ihre enge Verbindung seit Kindesbeinen gelinge ihr ein authentisches Berichten in guter Textqualität: „Und, äh, dann werden die, die Texte auch entsprechend, weil man einfach auch rausliest, dass eben der Autor da den gewissen Bezug dazu hat“ (T12: 567). Die Zeitungsberichte haben in erster Linie einen Bezug zum organisierten Karneval – es geht um die Vereine, deren Veranstaltungen und Aktionen. Anita de¿niert ihre Rolle vor allem als Berichterstatterin von Veranstaltungen der Vereine, die den Karneval institutionell stabilisieren, „also wir stützen uns ja meistens denn auf Vereine (= Ja. =), Institutionen“ (T12: 373 f.). Das bedeutet, dass vordergründig über Menschen in ihrer öffentlichen sozialen Rolle „oder sonst wie ’ne of¿zielle Funktion“ (T12: 377) berichtet wird. Die Recherche zu Karnevalsveranstaltungen beinhaltet deren Besuch, in dessen Verlauf bereits die Text produktion beginnt, denn „man muss schon versuchen, äh, während der Veranstaltung, während man da sitzt […] seine Ideen zu entwickeln“ (T12: 263 f.). Der Text selbst beginnt in der Regel mit einem Aufhänger, „halt mit der Besonderheit der Veranstaltung“ (T12: 269). Als besonderes Highlight wird zumeist die originellste Idee des Abends und deren Umsetzung identi¿ziert, „[d]as, was wir halt dann für besonders emp¿nden“ (T12: 269 f.). Die Zeitungsberichte ermöglichen die Nacherzählung, Bewertung und ReÀexion der Veranstaltungen, aber auch deren Archivierbarkeit und ihren Eingang ins gesellschaftliche Gedächtnis. Das Erinnern an das vergangene Karnevalsfest ist auch ohne mediale Aufund Nachbereitung eine bedeutsame individuelle und kollektive Leistung. Mit dem Erinnern treten die Jecken in ein Stadium der SelbstreÀexion, und ihre Welt in aktueller Reichweite wird transzendiert (vgl. Schütz/Luckmann 2003: 81 f.). Wenn die Party längst vorbei ist, lässt sich doch ein Stück davon zurückholen und man kann „den Erinnerungen frönen“ (T3: 60). Die Motivation für eine Partizipation im Hier und Jetzt des Karnevalsgeschehens ist unter anderem schon auf die Zukunft ausgerichtet. Man nimmt auch deshalb am Karneval teil, weil man weiß, „man hat sich dann immer was zu erzählen im Nachhinein“ (T2: 67 f.). Es besteht die Möglichkeit, den Karneval in Anschlusskommunikationen aufzugreifen. Karnevalsfeste gehen ins kollektive Gedächtnis ein, ja der Karneval selbst ist Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses. Nach Maurice Halbwachs, der sich mit den sozialen Bedingungen des Gedächt nisses beschäftigt hat (2006), ist das Gedächtnis eines Menschen stets sozial fundiert. Das kollektive Gedächtnis, das die Erinnerungen und ihre Anhaltspunkte organisiert, ist ein konstitutives Element von Gesellschaften und deren Teilen. Alljährlich wird durch die zyklische Wiederkehr des Karnevals auch die Erinnerung an das letzte Jahr reproduziert.
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Damit wird nicht nur das Ereignis durch die Erinnerung stabilisiert, sondern es werden auch der Zusammenhalt der sozialen Gruppe und deren Kontinuität in der Zukunft garantiert (vgl. Ayaß 2001: 204). Durch das individuelle Gedächtnis, das ohne kollektives Gedächtnis nicht denkbar ist, erhält die eigene, individuelle Biogra¿e eine Kontur. Die (Karnevals-)Erinnerungen werden Jahr für Jahr wachgerufen und neue Erlebnisse gehen in das individuelle wie kollektive Gedächtnis ein. Karneval ist ein jährlich wiederkehrendes Ereignis, das auf Endlichkeit und Unendlichkeit gleichermaßen verweist. 7.2.3
„Das kommt immer wieder und hört nie auf“ – Unendliche zyklische Wiederkehr und Endlichkeit des Seins
Karneval als Festbrauch ist ein Abschnitt im alltäglichen ZeitÀuss, der darauf abzielt, das Gewöhnliche des Alltags zu erweitern (vgl. Muri 2004: 215) oder zu verkehren. Auf welche Weise dieser Zeitabschnitt individuell wahrgenommen wird, ist sehr verschieden, denn „jeder Jeck ist anders“. Einige sind „halt auch der totale Karnevalsmensch“ (T1: 128 f.), andere wiederum „mögen keinen Karneval, und dann sollte man auch besser nicht hier sein“ (T4/1: 93 f.). Zwischen diesen beiden Polen gibt es eine Vielzahl von Vorlieben und Partizipationsmustern. Das eigene Erleben ist immer ein zentraler Aspekt von Wirklichkeitsemp¿ndungen. Der Karneval bietet mit seinen Narrenspielen und rituellen Handlungen die Möglichkeit zum Erleben geschlossener Sinngebiete (vgl. Schütz/Luckmann 2003: 56) mit spezi¿schen Arten kognitiver Zuwendung und Einstellungen. Auch das Zeitemp¿ nden ist individuell verschieden, worauf Schütz hinweist, indem er die lebensweltliche Zeit als eine Überschneidung der subjektiven Zeit, der inneren Dauer, der biologischen Zeit, der Weltzeit und der sozialen Zeit beschreibt (vgl. ebd.: 84). Unsere Alltagswelt wird von der sozialen Zeit (Standardzeit) geprägt. Der Kalender ordnet den Jahresverlauf und legt auch die zyklische Wiederkehr von Festen und Bräuchen fest. Der Jahresverlauf ist von Heterogenität geprägt, denn es gibt zahlreiche Ereignisse und Zeiträume, die sich abheben von der rationalen Welt des Alltags. Der Zeit des Außeralltäglichen mit ihren charismatischen Kräften (Weber 1980: 245) kommt eine wichtige Orientierungsfunktion zu. Das Handeln im Außeralltäglichen zeichnet sich durch seine Seltenheit gegenüber dem Alltagshandeln, durch sein unstetes Wesen, seine Wirtschaftsfremdheit und die Momente von Zorn und Hingabe aus. Nur als Gelegenheitserscheinung ist die Ekstase dem Laien zugänglich und stellt einen „gegenüber den Bedürfnissen des Alltagslebens notwendig nur gelegentlichen Rausch“ (Weber 1980: 246) dar. Alltag und Außeralltäglichkeit sind nicht als zwei entgegengesetzte Pole zu verstehen, sondern als dialektisch miteinander verwobene Wirklichkeitsbereiche, ohne
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die der Mensch nicht leben kann. Dabei ist auch das Karnevalsfest einem Prozess der Veralltäglichung unterworfen – die Etablierung von Zeremonien, Ritualen und festen Handlungsabläufen, ja die Institutionalisierung des Festes schwächt einerseits sein Charisma, andererseits sichert dies sein Überdauern. Ohne Karneval, „[da] würd mir echt was fehlen. Also ’s gibt für mich so’n paar Sachen, wo ich sach, das muss einfach sein, da gehört für mich Karneval auf jeden Fall dazu“ (T9: 154 ff.). Es gibt ein Bedürfnis, das die jährliche Wiederkehr einerseits weckt und andererseits befriedigt. Die Momente des Außeralltäglichen verleihen dem Alltag erst seinen Sinn, denn während der Alltag das „physische“ Überleben sichert, sorgt die Welt des Außeralltäglichen für das „metaphysische“ Überleben (vgl. Muri 2004: 206). Die zeitliche Begrenzung des Karnevals ist auch ein Bild für die Begrenzung des Seins, des menschlichen Lebens auf der Erde. Der Vanitas-Gedanke ist eng mit dem Karneval verknüpft und ¿ndet in der Gestalt des Narren seine deutlichste Symbolisierung (vgl. Kap. 5.1.3). Die enge Verknüpfung zwischen Karneval und Tod ist auch Philipp bewusst, der die zeitliche Begrenzung des Prinzseins mit dem Gedanken an die Endlichkeit allen Handelns auf der Welt verbindet. „Wenn ich irgendwo Prinz bin, dann bin ich’s bis Aschermittwoch. […] das ist letztendlich auch ’n Zeichen dafür, dass alles, was wir so – also Menschen auf dieser Erde – tun, vergänglich ist. Und das spiegelt sich auch im Karneval wider (= Hm. =). Das ist die Zeit für Karneval und wenn Karneval vorbei ist, dann ist’s Zeit für was anderes“ (T15: 475 ff.).
Philipp spricht lediglich von der Vergänglichkeit des Tuns und nicht des Lebens, dennoch ist seine Aussage als memento mori zu deuten, denn das Ende unseres Handelns auf der Welt geht mit unserem Tod einher. Seine Sichtweise spricht für eine intensive und reÀektierte Auseinandersetzung mit dem Karneval sowie dessen Ursprung und Bedeutung. Das Wissen um die eigene Sterblichkeit hat seine symbolischen Entsprechungen im Karneval und ¿ndet sich als Motiv u. a. in zahlreichen Karnevalsschlagern. Die populäre Kölner Band ‚De Höhner‘ besingt in ihrem Song „Wenn nicht jetzt, wann dann ?“ das Hier und Jetzt als Raum und Zeit für Selbstverwirklichung und Glücksstreben. Im Refrain heißt es: „Wenn nicht jetzt, wann dann. / Wenn nicht hier, sag mir wo und wann. / Wenn nicht du, wer sonst. / Es wird Zeit, nimm dein Glück selbst in die Hand“. Der rhythmisch und textlich eingängige Song enthält den Vanitas-Gedanken und fordert auf, die Zeit zu nutzen, die uns zur Verfügung steht. In einem Lied einer anderen Band wird der Gedanke an die eigene Sterblichkeit noch deutlicher textlich verarbeitet. Die Gruppe „Brings“ singt auf Kölsch den populären und seit Jahren präsenten Schlager „Su lang mer noch am Lääve sin“. Der Song appelliert an den Genuss des
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Lebens und beschwört die Bedeutungslosigkeit des Morgen. Verstöße gegen das Moralemp¿nden und ein schlechtes Gewissen könnten dabei in Kauf genommen werden. Su lang mer noch am Lääve sin
So lange wir noch am Leben sind
Mer sin wirklich offe, mer schwaade nit drömröm, uns Hätze schlage allsamp im Rhythmus vun ner Tromm. Mer drieße jet op Morje, denn hück do han mer Lauf, e schläch Jewisse un Sorje, dat nemme mer in Kauf.
Wir sind wirklich offen, wir schwadronieren nicht drumrum, unsere Herzen schlagen allesamt im Rhythmus einer Trommel. Wir scheißen was auf morgen denn heute haben wir einen Lauf ein schlechtes Gewissen und Sorgen, das nehmen wir in Kauf.
(Refrain) Su lang mer noch am lääve sin, am laache, kriesche, danze sin, su lang mer noch am lääve sin […]
(Refrain) So lange wir noch am Leben sind am lachen, weinen, tanzen sind so lang wir noch am Leben sind. […] (Übersetzung: Y. N.)
Viele weitere Karnevalslieder ließen sich anführen, die den Tod besingen. Sie alle dokumentieren eine historische Verbundenheit zwischen dem Tod und dem Karneval. Der christliche Kalender belegt die Zusammengehörigkeit vom Tod Jesu am Kreuz, Ostern und dem Vorfastenfest. Die Verbrennung des „Nubbel“ (Strohpuppe) in der Nacht zum Ascher mittwoch zeigt viele Ähnlichkeiten zu Beerdigungsritualen und spielt auf den Endpunkt des Lebens an. Am Aschermittwoch wird dem gläubigen Jecken das Aschenkreuz auf die Stirn gespendet – mit den Worten „Bedenke Mensch, dass du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst“ (Genesis 3,19). Es leitet nach dem maßlosen Genießen in der Karnevalszeit die Zeit des Fastens und der Buße ein und ermahnt, an den eigenen Tod zu denken. „In der Ritualisierung des Festes geben Tod und Leben ihre Doppelwertigkeit und Komplementarität zu erkennen“ (Maffesoli 1986: 88), denn gerade weil die Lebenszeit begrenzt ist, will sie mit befriedigenden Ereignissen gefüllt werden. Zugleich trägt die Thematisierung des Todes auch zur Entlastungsfunktion des Karnevals bei. Er bietet die Möglichkeit, „gegenüber lebensbedrohlichen Tatsachen schon mal die kindlich-naive Position der Weltbetrachtung einnehmen zu dürfen“ (Oelsner/Rudolph 1987: 164).
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Mit dem Gedenken des eigenen Todes ist das Bewusstsein verknüpft, dass die Welt danach weiter bestehen bleibt. „Ich werde älter, also weiß ich, daß ich sterben werde, und ich weiß, daß die Welt fortdauern wird“ (Schütz/Luckmann 2003: 83). Und mit der fortbestehenden Welt werden sich auch die ewig wiederkehrenden Ereignisse und Feste wiederholen, die „an die zyklische Wiederkehr des Gleichen“ (Maffesoli 1986: 15) erin nern. Die Zyklik des Karnevals wird in einem Interview deutlich mit der „Fortdauer der Welt“ (Schütz) verbunden: „T4/2: dat kommt jedes Jahr wieder (= T4/1: Ja. =) Und hört nie auf“ (83 f.). Mit absoluter Sicherheit prognostizieren die beiden 19-Jährigen den ewigen Fortbestand des Karnevals und seine jährliche Wiederkehr.69 Die jungen Jecken sind sich darin einig, dass die Zeit ab Aschermittwoch mit Wehmut und Melancholie gefüllt ist („Schon traurig dann.“ – T4/1: 88). Die Erinnerungen an das Fest aber bleiben („Dat sind die Erinnerungen“ – T4/2: 83) ebenso wie die Gewissheit, dass sie im kommenden Jahr wieder Karneval feiern. 7.2.4
„Karneval liegt bei uns in der Familie“ – Karneval als Konstante der Biogra¿e
Die jährliche Wiederholung des Karnevals stellt mit vielen anderen zyklisch wiederkehrenden kollektiven und individuellen Festen und Feiern eine strukturierende Ordnung des Jahresverlaufs her. Dabei ist der Karneval eine Konstante zahlreicher Biogra¿en von Menschen im Rheinland. An Katharinas Erzählung werde ich exemplarisch zeigen, wie sehr Karneval sich als ¿xer Punkt durch eine Biogra¿e zieht. Karneval gehört so fest in das Leben der 21-Jährigen, dass sie ihre Lebensgeschichte als eine Karnevalsgeschichte präsentiert. Der Karneval ist Katharina nicht nur in die Wiege gelegt worden, sondern sie wurde sogar ‚da quasi reingeboren‘: „Ich glaub meine Mama hat sogar, als sie schwanger war mit mir (.) noch getanzt […]. Und deshalb bin ich da quasi (lacht) reingeboren“ (T9: 33 f.). Katharina hebt das Engagement ihrer Mutter mit ‚sogar‘ und ‚noch‘ als ungewöhnlich für deren „Zustand“ hervor. Schon pränatal setzt Katharinas Karnevalssozialisation ein, und ihre Geburt erfolgt in ein karnevalistisch geprägtes Lebensumfeld. Mit der (nicht ganz vollständigen) Passivkonstruktion „bin ich da quasi […] reingeboren [worden]“ wird deutlich, dass die Handlungskontrolle nicht bei Katharina als erzählender Person liegt, sondern übergeordnete Kräfte, nämlich die Familie und die Mutter als Familienmitglied, die alleinige Handlungs- und Wirkmächtigkeit bei diesem Vorgang besitzen. Die 69 Dieser Gedanke spiegelt sich auch im PÀichtbewusstsein vieler Karnevalisten wider, das Brauchtum Kar neval an die nachfolgende Generation weiterzugeben (vgl. z. B. T14: 377 ff.).
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Interviewte präsentiert sich hier also nicht als Agens, als Handelnde, sondern als fremdbestimmt. Dieses Motiv der fehlenden Handlungsmächtigkeit wiederholt sich, als Katharina erzählt, dass sie eine unterbrechungsfreie Karnevalsbiogra¿e vorzuweisen hat: „Also ich bin noch 21, aber geh jetzt am Montag ’s zweiundzwanzigste Mal im Zug mit. (= Ja. =) Das heißt, ich bin schon mitgegangen, da wurde ich noch mit’m Kinderwagen geschoben“ (T9: 30 ff.). Nachdem Katharina in den Karneval ‚reingeboren‘ ist, wird sie im Kinderwagen im Rosenmontagszug mitgenommen. Schon in ihrer frühen Kindheit verbindet sich damit der Karneval mit ihrer Biogra¿e, wenn Katharina dies auch damals noch nicht selbst entschieden hat. Die Wirkmächtigkeit liegt zu jener Zeit noch bei ihrer Familie, nicht bei ihr. Katharina zeigt hier vor dem Hintergrund der kollektiven Eingebundenheit in eine karnevalsbegeisterte Familie eine anonyme bzw. passive Agency. Das Motiv der kollektiven Eingebundenheit heißt aber keinesfalls, dass Katharinas Leben durch andere Menschen, insbesondere ihre Familie, determiniert ist, denn sie markiert sich in ihrer Erzählung auch deutlich als handelndes Ich, das genau weiß, was es mag und was nicht. Ihre lückenlose Teilnahme am Rosenmontagszug macht Katharina so stolz, dass sie gegen Ende des Gesprächs noch einmal ihre Rechnung vornimmt: „Ich bin 21 und gehe jetzt das zweiundzwanzigste Mal am Montag im Zug mit. (lachen) Das heißt, das erste Mal im Kinder wagen (.), da war ich grad ’n halbes Jahr alt dann“ (T9: 250 ff.). Fast wortgleich wiederholt sie ihre Formulierungen vom Gesprächsbeginn, als die Interviewerin zum Ende nach den soziodemogra¿schen Daten – also auch nach dem Alter – fragt. Die 22. Zugteilnahme ist ihr so wichtig, dass sie ihre Erzählung damit rahmt, Karneval als selbstverständliches familiäres Handlungsmuster zu präsentieren. Karneval zieht sich wie ein roter Faden durch Katharinas Biogra¿e, den familiären Festkalender und den lebensweltlichen familiären Nahraum. Der Beginn ihres Lebens ist zugleich der Beginn ihrer Karnevalsgeschichte. Katharina erzählt ihre Familiengeschichte und ihre eigene Biogra¿e als selbstverständlich mit dem Karneval verknüpft. Die traditionelle Verbundenheit mit dem Brauchtum und das karnevalistische Engagement werden von Generation zu Generation weitergegeben, als würde das Prinzip der „Vererbung“ hier greifen: „Also, Karneval liegt bei uns, glaub ich, in der Familie“ (T9: 32). Das Außeralltägliche des Karnevals ist für Katharina ein alljährlicher Bestandteil des Aufwachsens und ein Stück lebensweltlicher Normalität. „Also wirklich in die Wiege gelegt. Ja. (= Schön. Ja. =) Deshalb kann ich nur de¿nitiv mir nix anderes vorstellen als Karneval zu feiern“ (T9: 258 ff.). Die Erzählerin kennt und akzeptiert zum Karnevalfeiern keine Alternative, denn zu ihrem Jahresverlauf gehört dieser Höhepunkt fest dazu, „mich würd auch im Leben niemals jemand über Karneval in Urlaub schicken können“ (T9: 150 f.). Allein die Vorstellung: „Geht gar nich. Auf keinen Fall“ (T9: 155). Es gibt keine Umstände, die sie jetzt und
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in Zukunft abhalten werden, „da könnte ich ’ne Erkältung haben und würd noch mitgehen“ (T9: 170 f.). Ein größeres Opfer und größeren Einsatz körperlicher Ressourcen bringt ihr Cousin, „der wurde jetzt gerade erst frisch operiert un is halt gestern auch da mit, mit Gips und Schiene und allem sowas“ (T9: 168 f.). Katharina präsentiert das Beispiel ihres Cousins, der als Familienmitglied ebenso karnevalsbegeistert ist (das liegt ja in der Familie) und trotz stark beeinträchtigender Krankheit an Weiberfastnacht dabei ist. Die Interviewte führt nicht nur ihre identitäre Verortung im Karneval als zentrales Motiv vor, sondern sie begründet ihr Engagement auch. Sie führt nämlich ein Stück Familiengeschichte fort. „Ich glaub, nach meiner Geburt hat Mama dann aufgehört mit Tanzen und dann hab ich aber auch direkt angefangen. Also ich konnt gerade gut laufen, da stand ich schon auf der Bühne“ (T9: 256 ff.). Die lückenlose Fortführung der Kar nevalsgeschichte der Mutter und die eigene unterbrechungsfreie Karnevalsbiogra¿e stehen dafür, dass der Beginn von Katharinas Leben auch den Beginn ihrer Karnevalsgeschichte markiert; ja sogar während der Schwangerschaft ihrer Mutter wurde sie bereits karnevalistisch geprägt. Die Alternativlosigkeit zur Karnevalsteilnahme ist damit zu erklären, dass für Katharina der Karneval einen Rahmen des Aufwachsens darstellt: „Für mich gehört, für mich gehörts einfach dazu, weil ich’s nich anders kenn“ (T9: 148 f.). Das primäre Sozialisationsumfeld ist karnevalistisch geprägt, sodass für die zum Interviewzeitpunkt 21-Jährige der Karneval noch immer als Fest der Familie gilt. Sie feiert „in ’ner Gruppe, die nich unbedingt zu meinem normalen Freundeskreis gehört“ (T9: 132 f.). Sie distanziert sich während des Straßenkarnevals von ihrer Peer-Group („meinen eigentlichen Freunden“ – T9: 137), um sich der deutlich älteren, familiennahen „Truppe von meiner Mutter“ (T9: 136) anzuschließen. Eine jugendaltersspezi¿sche Distanzierung von der Er wachsenenwelt und eine Zuwendung zu Gleichaltrigen ¿nden bei Katharina zur Karnevalszeit nicht statt. Vielmehr deutet sie Karneval konsequent als Familienfest, bei dem sie in der Gruppe und für Andere eine Aufgabe übernimmt und als Enter tainerin die Leute unterhält („da saßen wir halt dran, da haben wir echt für gearbeitet und die Leute ¿nden das dann toll“ – T9: 45 f.). Nicht ihre Gleichaltrigengruppe hat an Karneval Bedeutung für sie, sondern die familialen Sozialbeziehungen, von denen sie insbesondere die zu weiblichen Familienmitgliedern (Mutter und Tante) hervorhebt. Die Produktion eines die Beziehung zu den Gruppenmitgliedern stärkenden Produkts im Vorfeld der Festlichkeiten ist für Katharina von besonderer Bedeutung. Der Prozess des Vorbereitens der Kostüme, „dass wa uns einmal die Woche, mittlerweile sogar zwei, dreimal die Woche getroffen haben, halt wirklich zum Nähen“ (T9: 69 f.) stabilisiert und stärkt alljährlich die familialen und freundschaftlichen Beziehungen einerseits durch die gemeinsam verbrachte und kreativ genutzte Zeit. Andererseits ist es der Stolz auf das zusammen Erreichte
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und auf die Anerkennung durch andere. Ihr hohes zeitliches, ressourcenintensives und lebenslanges Engagement im Karneval lässt sie ein positives Bild dieses Brauchtums zeichnen, das sich abhebt von einem missbräuchlichen Zu- und einem halbherzigen Umgang mit dem Fest. Die Jecken teilt Katharina grob in zwei verschiedene Motivationstypen, nämlich „einmal die Leute, die einfach nur Spaß am Feiern haben oder einfach die, die Karneval nur darin sehen, äh, einfach, OK, Karneval is’n Grund zum Saufen“ (T9: 58 ff.). Zur ersten Gruppe zählt sie sich selbst, denn ihr „geht’s da eigentlich schon mehr so um Spaß haben“ (T9: 61 f.). Die relativierende Abtönungspartikel „eigentlich“ benutzt die Erzählerin, um die erste Gruppe nicht als völlig abstinent zu kennzeichnen. „Klar, getrunken wird auch“ (T9: 61), aber dieser Konsum ist eingebunden in einen rituellen Rahmen und zerstört nicht die engagierte, fast schon professionalisierte Umgangsweise mit dem Fest und seinen Vorbereitungen. Alkohol ist ein nicht zwingend notwendiger Begleiter, und das Feiern „muss jetzt nicht unbedingt mit Alkohol sein (.) ich hab gestern auch getrunken, ich werde auch Montag wieder trinken, aber man muss nicht unbedingt. (= Ja. =) Denke mal, das geht auch so. Bei mir zumindest. Bei vielen anderen wahrscheinlich nich. Hm ja, is doch so !“ (T9: 76 ff.). Ihr Feiern in einem familiären Rahmen geht mit einem limitierten und kontrollierten Umgang mit Alkohol einher. Während andere saufen, pÀegt Katharina zu trinken, könnte aber auch darauf verzichten. Sie bezeichnet ihr Konsummuster als normal und unproblematisch, während sie andere Verhaltensweisen (Karneval als Grund zum Saufen) problematisiert. Der Beginn der Passage weist einen Ich-Bezug auf, der plötzlich zum „man“ wechselt, womit auf ihre kollektive Eingebundenheit verwiesen sein könnte. Mit dieser deutlichen Abgrenzung von einem problematischen Alkoholkonsum (bei vielen geht es nicht ohne), passt sie sich an die elterlichen Vorgaben an und präsentiert deren limitierende Regeln als ihre eigenen (bei mir geht es auch ohne). Diese Überanpassung zeigt sich auch in der Diskursivierung der „Karnevalssäufer“, die wahrscheinlich zwanghaft trinken müssen. Fast axiomatisch bekräftigt sie ihre Typologisierung in Nor male und Delinquente, die ja wirklich ohne Alkohol nicht feiern können („is doch so“), und empört sich darüber. Keinen Ausbruch, kein AuÀehnen gegen die familiären Vorgaben, sondern ein Fortführen der Familiengeschichte im karnevalistischen Rahmen hat Katharina zu ihrer Aufgabe erklärt. Karneval ist ein entscheidender Teil ihres Identitätskonzepts, denn er sorgt für eine Kontinuität in ihrem Leben, er stabilisiert ihre gewachsenen und verwandtschaftlichen Beziehungen, in die sie fest eingebunden ist. Er befriedigt ihr Bedürfnis nach Anerkennung und Aufmerksamkeit für mühevoll angefertigte Kostüme sowie nach Gemeinschaftserfahrungen. Neben Katharinas biogra¿sche Erzählung wird kontrastierend Alfs Karnevalsgeschichte gestellt. Der zum Interviewzeitpunkt 39-jährige, selbstständige, in einer Kleinstadt lebende Familienvater ist zwar aktives Mitglied in der städ-
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tischen Karnevalsgesellschaft, besitzt jedoch keine unterbrechungsfreie Karnevalsbiogra¿e. Seine Erzählung baut Alf chronologisch auf und beginnt in seiner Kindheit. „Also, ich war eigentlich schon als Kind immer sehr aktiv im Karneval, weil es einfach dazugehörte. Ich bin auf dem Dorf großgeworden […]. Und ja das war einfach so, das ging im Kindergarten schon los. Da feierte man schon Karneval. Das war einfach normal. Das war irgendwie, das machte Spaß“ (T18: 6 ff.).
Die Sequenz setzt mit einem Ich-Bezug ein, als Alf über seine Karnevalsaktivität in seiner Kindheit berichtet. Die Tatsache des Aufwachsens in einem ländlichen Umfeld rahmt Alf mit generalisierenden Regeln des Aufwachsens („weil es einfach dazugehörte“, „das war einfach so“), zu dem auch die aktive Karnevalspartizipation gehört. Deren Beginn setzt Alf in der Kindergartenzeit an („das ging im Kindergarten schon los“) und wechselt zum unspezi¿schen „man“ („feierte man“), womit auf seine kollektive Eingebundenheit verwiesen ist. Die Wirkmächtigkeit liegt nicht bei dem Kind Alf, sondern beim Kindergarten, der auf institutioneller Ebene seine Kindheit alltagsstrukturierend rahmt. Dass Alf und die anderen Kinder Karneval feiern, „war einfach normal“ und wird von ihm nicht problematisiert. Den Beginn seiner Karnevalsbiogra¿e beschreibt er damit als normal und als Ergebnis seiner Anpassung an die Bedingungen des Aufwachsens. Seine Eltern werden weder in dieser Sequenz noch im weiteren Verlauf des Interviews genannt. Anstelle der eigenen Familie scheinen bei Alf vielmehr die institutionellen Rahmen sein Karnevalsengagement zu stabilisieren. Nach dem Kindergarten folgt die Grundschule – „im Kindergarten wird gefeiert, überall wird einfach gefeiert. Hier in der Grundschule, die verkleiden sich“ (T18: 19 f.) – und auch dort kann „man“ sich nicht entziehen („überall wird einfach gefeiert“). Die Kindheitserinnerungen schildert Alf als positiv, denn ihm hat das Feiern gefallen. Karneval gehört zu seiner „nor malen“ Kindheit einfach dazu, denn „da wird man einfach reingeboren“ (T18: 18) am Nieder rhein. Alfs Karnevalsbiogra¿e wird unterbrochen, als er wegen seiner Internatszeit ein „paar Jahre in der Eifel […] wohnt“ (T18: 31 f.), wo er lediglich am Sitzungskarneval teilnimmt. Die räumliche Trennung isoliert ihn auch vom niederrheinischen Straßenkarneval. Nach seiner Rückkehr in die Heimat setzt sich sein Engagement wiederum in institutioneller Rahmung fort, denn Alf hat „dann im Reitverein viel zu tun gehabt“ (T18: 38 f.). Der Reit verein präsentiert sich, wie andere Vereine der Region auch, jährlich im Rosenmontagszug mit einem eigenen Wagen. „Man baut nen Wagen zusammen. Ja, man lässt zusammen was entstehen. Man überlegt sich, was machen wir. Dann tun sich 20, 30 zusammen und sagen, was machen wir. Und dann geht es dann los“ (T18: 43 ff.). Wiederum ist es die
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kollektive Eingebundenheit in eine größere Gruppe von karnevalsaf¿nen Reitvereinsmitgliedern, die Alf hervorhebt und mit der er sein Engagement begründend Àankiert. Die identitäre Verortung in der niederrheinischen Kleinstadt führt für Alf zwangsläu¿g zu einer Karnevalspartizipation, denn „das liegt hier in der Natur der Sache“ (T18: 56). Damit normalisiert Alf seinen Werdegang, ordnet ihn in den „natürlichen Lauf der Dinge“ ein und konstruiert die lebensweltliche Realität als eine mit dem Karneval eng verknüpfte. Sowohl durch Bildungsinstitutionen als auch durch sein Engagement im Reitverein wird der Kar neval zu einem saisonal zentralen Thema seiner Biogra¿e. Gemeinsam mit Anderen werden Projekte realisiert und Karneval gefeiert, „dat gehört einfach dazu“ (T18: 57 f.). Damit ist das wesentliche Motiv des Interviews genannt: Alf konstruiert seine Karnevalsbiogra¿e als rheinische Normalbiogra¿e. Die Schilderung seiner Karnevalsvergangenheit über die ersten 34 Jahre erscheint grob und macht große zeitliche Sprünge. Er nennt nur die wesentlichsten institutionellen Stationen. Die Verbalisierung fällt parataktisch, oft elliptisch, manchmal asyndetisch und alles in allem sprachökonomisch aus. Als lohne es sich nicht, detaillierter darüber zu berichten, werden immer wieder die Einschübe von normativen Regeln „das war einfach so“ oder „war einfach normal“ wiederholt. Damit rekurriert der Erzähler auf einen kollektiv geteilten Erfahrungsraum, der nicht genauer versprachlicht werden muss. Die kollektive Geordnetheit des lebensweltlichen Alltags steht hier im Vordergrund und wird nicht hinter fragt („So ist das“ – T18: 110). Umso auffälliger ist die detaillierte Narration darüber, wie er vor fünf Jahren „[d]irekt ins Herz der Karnevalsgesellschaft“ (T18: 110 f.) gekommen ist. Er entwickelt einen Erzählplan und leitet die Rückblende ein: „Und zwar war das so“ (T18: 112). Eine detaillierte Schilderung der Umstände erfolgt, deren chronologische Abfolge mit dem wiederholten „und dann“ gekennzeichnet wird. Die ausführliche Beschreibung markiert die besondere Relevanz der Ereignisse in dieser Zeit für Alf. Wiederum ist Alf nicht auf Eigeninitiative in den Verein bzw. in den Elferrat als eine seiner wichtigsten Gruppierungen eingetreten, sondern er wird von diesem Gremium aufgenommen. „Dann kamen die vom Elferrat. Kam ich in den Kontakt mit dem Elferrat. Und irgendwann haben die dann mal gefragt, ob ich nicht Lust hätte, einzutreten. Beim Elferrat ist das ja so, da kann man nicht sagen, ich möchte jetzt in den Elferrat, sondern im Elferrat, da wird man reingewählt. Da ist der Vorstand und sagt, ich kenn da jemanden, der ist gut drauf, der wird auch was organisiert kriegen“ (T18: 121 ff.).
Alf hebt den Aufnahmevorgang als Auszeichnung hervor. Es ist eben gerade nicht normal, in den Elferrat berufen zu werden, sondern eine „von Natur aus“ positive karnevalistische Grundeinstellung, organisatorisches Talent und ein gewisses ¿-
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nanzielles Potenzial sind notwendige Bedingungen, um in die engere Auswahl zu gelangen. „Ja, und äh ja, dann bin ich halt im Elferrat, bin ich halt reingewählt worden“ (T18: 128 f.), zeigt wiederum, dass die Handlungsmächtigkeit bei diesem für ihn wichtigen Lebensereignis nicht bei dem passiven Alf liegt, sondern dass die Handlungskontrolle von Anderen ausgeht. Als Alf über sein Engagement im Elferrat berichtet, wird seine Kollektivorientierung durch das aktive „wir“ deutlich. „Wenn es mal eng wird, dann unterstützen wir einfach. […] zum Beispiel machen wir auch Kassendienst. Wir helfen auch beim Biwak“ (T18: 150). Er bewegt sich in der seine lebensweltliche Orientierung stabilisierenden Gemeinschaft und engagiert sich „aus Spaß an der Freude“ (T18: 174). Genauer kann er sein ¿nanziell und zeitlich aufwendiges Hobby zunächst nicht begründen. „Das ist so. Das macht man oder man macht es nicht. Da gibt es kein ‚Warum‘. Da denkt man gar nicht drüber nach“ (T18: 178 f.) – nochmals wird hier sichtbar, dass Alfs Partizipation nicht auf einem aktiven Entschluss beruht. Das Inde¿nit pronomen „man“ verweist auf die kollektive Eingebundenheit und die durch äußere Rahmenbedingungen bestimmte Geordnetheit seines Lebens. „Das ist einfach so. Ich weiß auch nicht warum“ (T18: 717). Entweder man erfüllt den vorgesehenen Plan einer Karnevalsbiogra¿e oder eben nicht. Was gibt es darüber schon nachzudenken ? Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird implizit jedoch deutlich, dass sich mit Alfs ranghoher Mitgliedschaft im Verein ein Kindheitstraum erfüllt hat. „Es ist ja auch für viele Leute ja auch ein Traum, mal dabei zu sein. Auf so einem Wagen mitzufahren. Da hat halt nicht jeder die Möglichkeit“ (T18: 860 ff.). „Aber haben wir als Kinder auch, haben wir doch auch immer gedacht (= Hm. =), auf so ’nem Wagen stehen (= Hm. =). Das is doch ganz wat besonderes, ne“ (T18: 881 ff.).
Aus Alfs Vereinsengagement ergibt sich die Möglichkeit, auf dem Karnevalswagen mitzufah ren. Dieses Highlight am Rosenmontag präsentiert er als Traum vieler Leute. Er rekurriert wiederum auf einen kollektiv geteilten Erfahrungsraum. Auch als er seine Kindheitserinnerungen einbringt, gibt er die kollektive Agency nicht auf („wir als Kinder“). Als Alf seinen Stolz auf die erreichte Position und den verwirklichten Traum von „uns Kindern“ ausdrückt, ist dies ebenso nicht primär sein Stolz, sondern „man is auch selber ’n bisschen stolz, wenn man da oben mit (= Ja. =)-, mit agieren (.) kann, das ist einfach so“ (T18: 907 f.). Die gemeinschaftliche Eingebundenheit, die Stabilität und Ordnung in seinem Leben, die Selbst verständlichkeit seines Handelns können als Grund motiv in Alfs Karnevalsbiogra¿e und als zentrales Motiv des Interviews gedeutet werden. Seine als niederrheinische Normalbiogra¿e präsentierte Karnevalsbiogra¿e stellt die Kollektivität in den Vordergrund, was nicht bedeuten muss, dass Alf dahinter als
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Individuum verblasst. Karneval ist für ihn ein in Gemeinschaft erlebtes Projekt, das ein ‚Wir‘ in den Mittelpunkt rückt und ihn selbst zu einem Rädchen im großen „Getriebe Karneval“ macht. Katharina und Alf repräsentieren Biogra¿en, in denen Karneval als lebenslange Konstante Stabilität und lebensweltliche Ordnung herstellt. Während bei Katharina die Karnevalssituation vom familiären Rahmen ausgeht, sind es bei Alf die Institutionen Kindergarten, Grundschule und Verein, die seine Partizipation bedingen und forcieren. Für beide ist die kollektive Eingebundenheit wichtig. Katharina ist fest in die stabilen Familienbeziehungen integriert und schreibt die Karnevalsgeschichte der Mutter fort. Alf benötigt die soziale Gruppe, mit der er das Projekt Karneval zelebriert. Beide normalisieren die Tatsache ihres Engagements und konstruieren sie als selbstverständlichen Teil der rheinischen Lebensart. 7.3
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Rauschhafte Vergemeinschaftungen kommen nur durch das Subjekt als leiblich handelndes zustande. Die Menschen sind dabei wesentlich auf mimetische, performative und rituelle Prozesse angewiesen, die diese Form von Sozialität konstituieren. Das Kostüm als Gestaltungselement des Körpers entfaltet in karnevalesken, rauschhaften Vergemeinschaftungen seine herausgehobene Bedeutung (7.3.1). Daneben erweisen sich die emotionale Betroffenheit des sozialen Akteurs (7.3.2), außeralltägliche Bewegungspraktiken (7.3.3) und die durch Alkohol herbeigeführte Veränderung der Körperkontrolle (7.3.4) als besonders relevante Körperthematiken im Straßenkarneval. 7.3.1
Das Kostüm als unerlässliches Element des Karnevalesken
Karneval ist im Jahresverlauf keineswegs der einzige Anlass zur Kostümierung, aber gerade für dieses Fest ist die Maskerade ein unerlässliches Element. Mit dem Begriff Kostüm bezeichne ich all jene Kleidungsstücke und Accessoires, die deutlich gegen die alltäglichen, für das Individuum gültigen Kleidungsnormen verstoßen. Diese Kleidungsstücke entsprechen nicht den mit den Alltagsrollen des Individuums verknüpften Erwartungen und zeigen somit deutlich einen Wechsel hin zu einer außeralltäglichen Rolle an. Dabei ist unwesentlich, ob das Gesicht durch eine Maske verdeckt ist oder nicht. Im Rheinland ist an Karneval die partielle Verkleidung typisch, die das Erscheinungsbild des Jecken ver fremdet, aber sein Gesicht meist nicht bedeckt. In Süddeutschland hingegen dominiert die
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Voll maskierung, sodass die Identität der Person hinter dem Narrenkostüm verschleiert bleibt. Die Verkleidung ist eine Sonderform der Bekleidung, die immer praktische (Schutz vor Kälte, Hitze und Nässe) wie auch symbolische Funktionen hat. Ver- und Bekleidung kom men einer Sprache gleich, der komplexe Zeichenzusammenhänge zugrunde liegen und über die wir kommunizieren können (vgl. Kap. 4.2.3.1). 7.3.1.1 Karneval als „Fest der Verkleidung“ Karneval ist ein sozialer Anlass, der ein Kostüm fast zwingend erfordert: „Karneval is’ doch eigentlich […]’n Fest der Verkleidung. Kostüme gehör’n da einfach dazu“ (T11/1: 278 f.). Diese Formulierung lässt sich fast wortgleich in weiteren Interviews ¿nden: „Verkleidet sein gehört schon dazu, das ist ja Karneval“ (T8: 58). Die formelhafte Einhelligkeit bezüglich der unbedingten Verbindung von Karneval und Kostüm wird hier als (Verhaltens-)Regel wiedergegeben, an die sich die Interviewten allesamt halten. Auch wenn der Grad der Verkleidung und die Ausgefallenheit des Kostüms variieren, wird die Differenz zur Alltagskleidung grundsätzlich deutlich. Die „Narrenkappe“ ist ikonogra¿scher Inbegriff und unverzichtbares Attribut des Karnevals. Sie markiert die Sphäre des Außergewöhnlichen. Mit dem Kostüm wird der thematische Fokus „Karneval“ ausgedrückt: Wer eine Verkleidung trägt, der ist Karneval. Das heißt, er ist bereit zum Feiern mit vielen Gleichgesinnten, zum Spaß („an d’r Freud“) haben und zum Eingehen der zahlreichen damit verbundenen rituellen Praktiken. Das Kostüm ist an den närrischen Tagen so omnipräsent, dass eine Interviewpartnerin zu der Schätzung kommt: „ich mein, zu 99 % sind die Leute ja auch verkleidet“ (T1: 65). Diese überschlägige Bewertung ist wahrscheinlich übertrieben, deutet aber darauf hin, dass die Interviewte subjektiv die Feiernden fast ausschließlich als kostümiert erlebt bzw. nur diejenigen bewusst wahrnimmt, die verkleidet sind. Es ist für sie selbstverständlich, dass die Menschen zu diesem Fest in Verkleidungen stecken. Kostüme schaffen einen anderen Raum, eine alter nierende Realität. Mit der Kostümierung wechselt der Erlebnis- und Erkenntnisstil der Individuen (Schütz/Luckmann 2003: 57 ff.). Mit Karnevalsverkleidungen ist ein umsatzkräftiger Wirtschaftszweig verbunden. Seit dem Mittelalter ist die Fastnacht eine wichtige Einnahmequelle für Gastronomen, Musikanten, Schneider und das Lebensmittelgewerbe (vgl. Schicht 2006: 207). Heute werden in Deutschland jährlich allein Kostüme, Perücken und Schminke im Wert von mehreren hundert Millionen Euro verkauft (vgl. Kap. 5.2). Hinzu kommen die vielen weiteren Güter und Dienstleistungen des Narrenbedarfs – Wurfmaterial, Friseurbesuche, Material für den Wagenbau, Getränke, Lebensmittel, Karten für
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Veranstaltungen usw. Karnevalskostüme lassen sich selbst an Rosen montag noch an Verkaufsständen am Straßenrand spontan erstehen. Mit Perücken, Tröten und Verkleidungen warten die Àiegenden Händler an ihren Verkaufstischen im Kölner Bahnhofsgebäude, auf der Domplatte und entlang der Straße auf unausgerüstete Besucher der Stadt. Ein als Pirat verkleideter Interviewpartner bringt es auf den Punkt: „Verkleidung ist PÀicht“ (T3: 49). 7.3.1.2 Das Kostüm als Zeichen von Zugehörigkeit und Abgrenzung Warum ist das Kostüm an Karneval so unverzichtbar ? Einerseits markiert es die Sphäre des Außergewöhnlichen, andererseits zeigt es Zugehörigkeit an. Durch das Kostüm signalisiert das Individuum, dass es zum Feiern bereit ist und in die temporäre Gemeinschaft der Feiernden inkludiert werden möchte. „Ja, man […] signalisiert ja dadurch, dass man ’n Kostüm anhat, dass man bereit ist, mitzufeiern. (=Hm.=) Ne. Also ich denk mal, wenn man in, in Zivilklamotten, in normalen Klamotten da rumsteht, dann grenzt, will man sich abgrenzen von diesem feiernden Haufen. (=Hm=). Also ich denke mal, signalisiert man och den anderen Leuten. Und wenn man mit Kostüm dabei is, dann will man mit dabei sein, mitmachen. Weil’s einfach lustich is dann. Also, man will sich dann halt nich mehr abgrenzen, sondern direkt dabei sein“ (T11/1: 395 ff.).
Das Kostüm reguliert die Karnevalspartizipation und Integration in den „feiernden Haufen“. Es drückt die vorübergehende Mitgliedschaft in der „Gesinnungsgemeinschaft“ aus, deren thematischer Fokus „Karneval“ ist. Der Grundsatz der All-Inklusivität ist im Karneval vor allem durch die Verkleidung aktiv – wer verkleidet ist, der gehört dazu. Das Kostüm stellt eine Objektivierung dar, die durch Kommunikation produziert und die von den Subjekten gekannt wird. Durch das Kostüm als Element der populären Kultur kann in modernen Gesellschaften Gemeinsamkeit auf eine entkontextualisierte und anonymisierte Weise produziert werden (vgl. Knoblauch 2008: 84 f.). Das Medium Verkleidung überbrückt Unterschiede und macht die durch äußere Merkmale ausgedrückte Verschiedenheit der Menschen für einen kurzen Zeitraum fast unsichtbar. Durch die emblematische Markierung und performative Inszenierung, die am gleichen Ort und zur gleichen Zeit organisiert wird, weisen die Akteure in der Situation Gemeinsamkeiten auf. Die Tendenz zur Vergemeinschaftung wird dadurch verstärkt, dass nicht nur kommunikative Codes und Formen geteilt werden, sondern auch die Vorstellung darüber, wie die Gemeinschaft aussehen soll, der man angehört (vgl. Kap. 7.4.1).
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Die Wahl des Kostüms wird manchmal auch innerhalb einer Gruppe von Freunden getroffen und kollektiv abgestimmt. Häu¿g werden Gruppenmottos festgelegt. Katharina berichtet, dass ihre Gruppe jedes Jahr ein anderes Motto wählt – im Jahr 2007 sind alle Mitglieder als McDonalds-Tüten verkleidet, das Jahr davor als Clown (T9: 225 ff.). Die identische Kostümierung erhöht die Wirkung der aufwendig vorbereiteten Verkleidung und erregt ein durchaus erwünschtes Aufsehen. Kostümierung ist hier auch als Perfor mance zu verstehen und nicht nur als persönlicher Ausbruch aus Alltagsregeln. Gleichzeitig verstärkt das Gruppenmotto einerseits die Integration der Mitglieder in die Gemeinschaft, andererseits die Abgrenzung nach außen zu den anders Kostümierten. Der Interviewte in der oben aufgezeigten Passage konstruiert eine Differenz zwischen Kostüm und „normalen Klamotten“. Als Gegenteil von Verkleidungen nennt er die „Zivilklamotten“. Diese stehen dem Kostüm gegenüber und unterliegen der freien Entscheidung des Subjekts und keinen vorgeschriebenen Regeln. Das Kostüm kommt an Karneval einer Uniform gleich, denn – wie oben dargelegt – an Karneval ist Verkleidung PÀicht. Rolf antizipiert in der Interviewpassage, dass ein Verzicht auf die Verkleidung den Verzicht auf Zugehörigkeit bedeutet. „Zivilklamotten“ stehen für eine bewusste Abgrenzung von den kostümierten Jecken. Die Abgrenzung kann auch als Ausgrenzung erlebt werden. „Weil, wenn man nicht verkleidet ist, kommt man sich auch irgendwie komisch vor“ (T4/1: 75 f.). Ein Verzicht auf das Kostüm hat ein unangenehmes Gefühl zur Folge. Auch die Qualität und der Grad der Verkleidung spielt eine Rolle für das gute Gefühl und den Spaß am Feiern: „Also ich kam ja letztes Jahr, da hatte ich nur Hörner an, und da kam ich mir blöd vor, weil’s zu wenig war“ (T5/1: 79 f.). Nur Hörner reichen nicht aus, um sich zugehörig zu fühlen, denn sie zeigen die Außeralltäglichkeit nicht ausreichend an und verfremden in einem zu geringen Ausmaß. Der Interviewte kommt sich „blöd vor“, weil er nicht anders genug ist und ihm somit seine Eintrittskarte in die andere Wirklichkeit fehlt. Ohne oder mit inadäquatem Kostüm ist es dann eben nicht „lustich“, weil man sich exkludiert fühlt – zum Teil auch, weil negative Sanktionen folgen: „So wird man auch ’n bisschen angeguckt, wenn man nicht verkleidet ist“ (T8: 56 f.). Die Ausgrenzung der Unkostümierten wird also auch von den anderen Feiernden vollzogen, wenn ein Interviewpartner von „komische[n] Typen“ (T5/2: 68) spricht, die er nicht als zugehörig akzeptiert. „Ja, die Typen, die immer alle hier ankommen, ja, kommen nicht verkleidet an und tun als ob sie wären, weißte“ (T5/2: 74 f.). Der Inter viewpartner setzt Engagement für den Karneval und die Investition in ein Kostüm voraus. Um seine Akzeptanz zu gewinnen, muss ein Kostüm her – im besten Fall mehr als nur Hörner. Auch wenn die „komischen Typen“ bei den ritualisierten Praktiken des Feierns mitmachen, bleibt es nur ein „So-tun-als-ob“ und wird nicht als aufrichtige Darstellung akzeptiert (vgl. Goffman 2004).
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Zwar wird in anderen Interviews auch betont, dass ein Kostüm nicht unbedingt nötig sei: „ich denke, auch ohne Kostüm hast du hier (.) Spaß“ (T1: 66). Jedoch stammen solche Feststellungen stets von Menschen, die ich verkleidet antreffe. Sarah (T11/2) schildert im Gespräch mit ihrem Freund Rolf (T11/1) und der Interviewerin ihre Erfahrungen als Kar nevalsnovizin. Aufgrund ihrer Ausgrenzungserfahrungen als Nicht-Kostümierte im vorangegangenen Jahr fasst sie den Entschluss, im kommenden Jahr ein Kostüm vorzubereiten. Ihr Vorhaben steht für die Entscheidung, aktiv am Karneval und am Feiern in der Gruppe teilzuhaben. „T11/2: Ja und letztes Jahr, ’n dann war ich ja hier in [Name der Kleinstadt] mit und da hab ich gesacht, da will ich unbedingt für nächs, für nä-, für die nächste Karnevalssaison ein Kostüm haben. Weil irgendwie gehört das dazu, wenn du da (= Hm. =) nix anhast … T11/1: Da biste außen vor eigentlich. Da fühlt man sich auch gar nich so dazugehörig, ohne Kostüm“ (T11: 312 ff.).
Jahr für Jahr wird Karneval für Sarah als Zugezogene im Rheinland wichtiger. Ihre Karnevalssozialisation beschleunigt sie selbst, indem sie sich aktiv für ein Kostüm entscheidet. Das Kostüm kommt in ihrem Fall einer Initiation gleich, sodass sie mit der Präsentation ihrer ersten, selbst geschneiderten Verkleidung zugehörig ist und sich zugehörig fühlen kann. Das Kostüm wirkt integrativ und evoziert Wir-Gefühle: „Also ich glaub, man muss sich schon verkleiden, aber ich glaub, man wird auch so akzeptiert. Aber es ist immer besser, sich zu verkleiden, als nicht, weil-, weil, wenn man z. B. nach Köln fährt […] und wenn man andere Leute sieht, dann hat man dieses wir-gehören-zusammen-Gefühl“ (T2: 48 ff.).
Das Zusammentreffen mit anderen, fremden Kostümierten erzeugt im Subjekt ein Zugehörigkeitsgefühl. Zwar schwächt die Interviewte die Dringlichkeit des Kostüms ab, als bessere Variante sieht sie die Verkleidung dennoch. Nicht nur das Zusammengehörigkeitsgefühl wird gestärkt, sondern zugleich grenzt die Verkleidung von Nicht-Kostümierten ab bzw. kann sogar in Form einer Gegnerschaft gegen diese das Zusammengehörigkeitsgefühl der Jecken untereinander noch verstärken. Das Kostüm ist für die Jecken deshalb so wichtig, weil das Präsentieren eines alternativen Selbsts nur dann funktioniert, wenn die Anderen auch verkleidet sind. Das Kostüm verlangt die Gemeinschaft: „Wenn da alle ’n Kostüm ham, is das schon allo so richtich ansteckend in der Menschenmasse“ (T11/2: 571 f.).
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7.3.1.3 Das Kostüm als Zeichen des Rollenwechsels Die Alltagsnormen entsprechende Bekleidung informiert die an der Interaktion Beteiligten recht schnell darüber, welche Rolle ihr Träger spielen will und weckt Erwartungen an dessen zukünftiges Verhalten. Ist das Individuum hingegen kostümiert und verstößt somit gegen Bekleidungsregeln des Alltags, weist sein Kostüm auf seine Alternativ-Rolle hin und fungiert als Wirkfaktor im Prozess der Etablierung einer Identität der Rollen¿gur. Der Kostümträger handelt folglich genau genommen nicht als er selber, sondern im Namen desjenigen, den die Maske darstellt: „Ähm, sich in andere, einfach ’ne andere Person zu sein, man schlüpft in ein Kostüm rein und man ist dann das Kostüm sozusagen. Man ist das, was man darstellt“ (T4/2: 99 ff.). Man ist für die begrenzte Zeit des Spiels das Kostüm – nicht mehr und nicht weniger. Wer in ein Kostüm schlüpft, zeigt an, dass er nicht mehr als derjenige auftritt, als der er sozial anerkannt ist, sondern als Rollen¿gur, denn die symbolischen Verweise und Funktionen von Kleidung auf Geschlecht, Alter, regionale und religiöse Zugehörigkeit, Status, Beruf und Anlass sind delegitimiert. Das Kostüm ermöglicht, dass Männer Frauenkleidung tragen, dass ein Apotheker in Schornsteinfegerkleidung steckt, dass eine junge Frau sich als alte Hexe zurechtmacht. Die zentrale Funktion des Kostüms liegt im zeitlich begrenzten Rollenwechsel und in der Statusumkehrung – „damit man anders dasteht, als man sonst normalerweise durch die Gegend laufen würde“ (T11/1: 281 f.). Philipp, der Bürgermeister der von mir untersuchten Kleinstadt, unterscheidet zwischen der Rolle des Bürgermeisters und der des normalen Bürgers, die er im Fastnachtskostüm spielt. Zwar ist er den Mitfeiernden als Bürgermeister bekannt, doch bezeichnet er seinen Auftritt auf der Karnevalsbühne als privat. Er beschreibt sich „einmal also als ganz normaler Bürger und einmal als Bürgermeister, sind bei mir zwei Paar Schuhe“ (T15: 16 f.). Diese Trennung verweist auf den Statuswechsel bzw. Statusverzicht, den er durch die Kostümierung vollzieht. Dennoch wird in der niederrheinischen Stadt auch an Karneval Politik gemacht, denn zumindest zeigt die Verbundenheit mit dem Volksfest auch eine Verbundenheit mit den Traditionen der Stadt an, was für die Rolle des Bürgermeisters und dessen Akzeptanz nicht schädlich sein dürfte. Für eine gewisse Zeit entkommt man mit dem „Recht der Narrenkappe“ seinen Alltagsrollenerwartungen, den damit verbundenen PÀichten, Zwängen und möglicherweise Repressionen. Das Ritual der Statusumkehrung hat das spielerische Agieren in einer Gegenwelt zur Folge. Dieses Spiel ruft eine entlastende Erfahrung hervor, denn die Rolle des Narren ist eine der wenigen, aus der man jederzeit wieder aussteigen kann.
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„Die Rolle des Fasnachters ist nicht eine unter anderen Rollen, sondern eine, die sich prinzipiell von allen anderen Rollen unterscheidet […]. In der Fasnachtsrolle steckt die Tendenz, alle anderen Rollen in Frage zu stellen, den Zwang, der mit jeder Rolle verbunden ist, überhaupt zu verneinen“ (Bausinger 1980: 21).
Spätestens am Aschermittwoch hat die Rolle des Fasnachters ein Ende, aber auch vorher ist ein Abbruch jederzeit möglich, sodass die PÀichten und Rollen des Alltags wieder relevant werden können. „Wenn ich irgendwo Prinz bin, dann bin ich’s bis Aschermittwoch. Und wenn ich’s nich will, dann bin ich’s einfach nich mehr, dann bin ich (= Ja. =) der normale Mensch, der hier so lebt“ (T15: 475 ff.). Das Entlastende am Kostüm liegt einerseits im Ablegen aller Rollen, andererseits in der jederzeit möglichen Rückkehr von der Kostümrolle zu den Alltagsrollen. Der Kostümierte, der sein Gesicht vielleicht sogar hinter einer Maske verbirgt, kann seine Umwelt an der Nase herumführen, sie verunsichern, weil sein „wahres Gesicht“ verborgen bleibt. Für kurze Zeit ist „Ich“ ein Anderer, und Platz für Sehnsüchte und widersprüchliche Gefühle ist vorhanden. Der Karneval etabliert für die Jecken ein zweites Leben außerhalb des Normalen: „Kostüm an, und du bist’n anderer Mensch“ (T11/2: 284). Was als (Masken-)Spiel deklariert wird, unterliegt nicht den Wenn-Dann-Folgen der Realität. Es erlaubt eine Begegnung mit der Wirklichkeit in einem „zweiten Leben“, ohne sich vor ihr verantworten zu müssen, solange die Spielregeln und Rituale des Maskenspiels eingehalten werden. „T11/1: Ja, man muss nich sein, wie man sonst is. (= Ja. =) Also man is jemand anders dann. Ne, man kann, ja, völlig aus sich rausgehen eigentlich, ohne dass das zu irgendwelchen Konsequenzen führt. T11/2: ’s is so’n freieres Gefühl“ (T11: 366 ff.).
Die Interviewten erleben den Karneval im Kostüm als Befreiung, die ohne sanktionierende Konsequenzen bleibt. Der Andere, der man dann ist, darf sich in der karnevalesken Rah mung ungezwungen benehmen. Auch Hubert präsentiert die in populärwissenschaftlichen und jour nalistischen Texten zum Karneval häu¿g genannte Funktion der Psychohygiene: „Man kann also dat, was also so die janze Zeit aufjestaut war, mal’n bisschen rauslassen […]. Wat man sich sonst nich trauen würde, ja […]. Einmal alles auskehren“ (T10: 315 f.). Dafür spielt das Kostüm eine wichtige Rolle. Die Entlastung vom Schamgefühl und das Zulassen von Verhaltensweisen, die im Alltag die Peinlichkeitsgrenze berühren oder übertreten, sieht Hubert als „reinigend“ an. Wie auch immer geartete Triebwünsche, die sonst aufgeschoben wurden, kön nen im Straßenkarneval „’n bisschen“ erfüllt werden. Karneval erleichtert damit vom Druck des Alltags und ermöglicht als außeralltäg-
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liches Ereignis mit außeralltäglichen Regeln eine Befreiung von „Aufgestautem“.70 Die Rückkehr in den Alltag ist danach möglich, nötig und geplant. Das Kostüm verweist auf die Kontingenz des Alltags. Karneval als Ausnahmezustand ist auch ein Kontingenzverstärker, weil er vor Augen führt, dass und wie das Leben auch ganz anders sein könnte. Rolf berichtet von einer Beobachtung im Kölner Karnevalstrubel, die als Ereignishöhepunkt heraussticht. Die Erzählung ist fröhlich, gestenreich und deutet an, dass ihm in diesem Moment der von der Verkehrung ausgehende Zauber sichtbar demonstriert wird. „(Lachen) Als ich auf dich gewartet hab, an der Toilette hinter’m Bahnhof, da kam so’n, so’n Schrank von ’nem Mann raus, also zu dem musste ich da so hoch gucken (schmunzelt), komplett, komplett in so blauem Plüsch […] Babyblau ! […] So’n, so’n Hüne, könnte als Wikinger gehen, weißte, und dann so mit Schnuller und Babyblau. […] Da is so dieses krasseste Beispiel, so, man is nich mehr man selbst, man is’n kleiner Junge (= Hm. =), man is’n Baby“ (T11/1: 413 ff.).
Hier wird Rolfs Irritation deutlich, aber auch die Erkenntnis, dass an Karneval Erwachsene wieder zu Kindern werden (können). Das Kostüm hat wesentlichen EinÀuss auf die Stim mung der Jecken: „man is halt einfach anders gelaunt als an den andern, als wenn man so normal rausgeht“ (T9: 229 f.). Die Verkleidung ist ein wichtiges Element bei der Erfüllung des Wunsches nach Ausgelassenheit und guter Laune. Zur Gestimmtheit an Karneval gehören aber nicht nur die Freude und das Lachen, sondern auch ein melancholisches, sentimentales Moment (vgl. Oelsner 2004: 27). Daher zeigen Darstellungen des Clowns immer beides: den breiten und lachenden Mund und die Träne, die sich die Wange entlang schlängelt. Die Ambivalenz der Figur des Narren hängt maßgeblich damit zusammen, dass sie wie keine andere den memento mori-Gedanken verkörpert (vgl. Kap. 5.1.3). Das Kostüm bewegt aber nicht nur das Gemüt des Narren, sondern es steht zudem in Relation zu den gestischen und proxemischen Zeichen seines Trägers. „Denn sowohl die Art der Gestik als auch die Art der Bewegung durch den Raum ist vom jeweiligen Kostüm abhängig. Dabei ist zwischen Bewegungen zu unterscheiden, die vom Kostüm aufgenötigt, und denjenigen, die vom Kostüm nahegelegt werden. Ein hautenges Kleid und Stöckelschuhe erlauben z. B. keine weitausgreifenden Schritte, Schnürkorsett und Krinoline nur gemessene, aufrechte Bewegungen. 70 Für Freud ist dieses Reinigen ein Gefühl des Glücks: „Was man im strengsten Sinne Glück heißt, entspringt der eher plötzlichen Befriedigung aufgestauter Bedürfnisse und ist seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich“ (Freud 1974 [1930]: 208).
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Dagegen wird ein Kleid im Empire-Stil durchaus große Schritte und schnelle Bewegungen in gebeugter Haltung zulassen; die von diesem Kleid bedeutete soziale Rolle jedoch wird einen derartigen Gestus nicht als angemessene Bewegungsform erscheinen lassen“ (Fischer-Lichte 1998: 130).
Der Rollenwechsel ermöglicht, dass das Subjekt sich und seinen Körper anders bewegt und erlebt, ebenso wie es seine Umwelt anders wahrnimmt. In der anderen Rolle kann es der Welt anders begegnen, sich anders in ihr bewegen. Eine Wahrnehmungsveränderung des Raumes und des eigenen Körpers ist maßgebliches Kennzeichen des Rauschhaften, das sich hier realisiert. 7.3.1.4 Das Kostüm als Mittel zur Kontakterleichterung Schon unser Alltagswissen über den Karneval schließt die Regel ein, dass anlässlich dieses Festes gebützt, geÀirtet und miteinander getanzt wird. Das Knüpfen von (meist Àüchtigen) Kontakten gehört zum Feiern des Fastnachtsfestes dazu. Als Spielwiese in einer alternierenden Wirklichkeit kann hier die eigene Wirkung auf den Anderen ungehemmt ausgelotet und ausprobiert werden. Das Kostüm spielt dabei eine wesentliche Rolle, denn es dient der Kontakterleichterung. Es enthemmt, weil der Träger fernab seiner Alltagsrolle auch nicht alltäglich handeln möchte. Es wirkt überdies wie ein verbindendes Element, denn es ist das Bekenntnis zum Frohsinn und drückt die Bereitschaft zum Mitmachen aus. „Aber man kommt auch durch die Kostüme in, wird in viele Gespräche verwickelt. Also […] dass man Kontakt sucht“ (T11/2: 377 f.), berichtet Sarah, die auf ihr Kostüm und auf Teile davon angesprochen wird. Aber auch sie selbst geht auf andere Kostümierte zu und spricht sie auf ihre kreativen Ideen an: „Ja, oder wenn man jetz, oder – nee, ich hab ja auch andere Leute angequatscht und hab gesacht, das Kostüm is toll oder irgendwas Ausgefallenes. Man kommt ja dann doch eher dadurch ins Gespräch und lernt (= Hm. =) Leute kennen als wenn man jetzt normal-“ (T11/2: 384 ff.).
Die Anerkennung des Kostüms und der gelungenen Präsentation des anderen (und seines alternativen Ichs) wird offen ausgesprochen und zum Teil ungeniert neugierig angeschaut und sogar angefasst. Man kommt über das Kostüm ins Gespräch. Es ist nicht nur ein Versteck für das alltägliche Selbst, sondern auch ein Türöffner und Medium der Kontaktaufnahme. „Also kontaktfreudiger sind die Leute auf jeden Fall am Karneval, das auf jeden Fall“ (T9: 94 f.). Karneval befriedigt – zumindest ersatzweise und vorüber-
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gehend – das Bedürf nis nach Nähe und Zugehörigkeit. Damit ist oft auch der Körperkontakt eingeschlossen, der beim Bützen, Schunkeln und Tanzen eingegangen wird, denn „auch der Körperkontakt bei manchen Personen wird dann, äh, bedürftiger, sage ich mal“ (T9: 104 f.). Das Kostüm nivelliert Unterschiede, und seine Präsentation eröffnet eine Interaktion von Gleichen. Für Bachtin ist dieser zwischenmenschliche Kontakt eine von vier zentralen Kategorien des Karnevals und des karnevalistischen Weltemp¿ndens: „Jegliche Distanz zwischen den Menschen wird aufgehoben. An ihre Stelle tritt eine besondere Karnevals-Kategorie: der freie intim-familiäre, zwischenmenschliche Kontakt […]. Die Menschen, sonst durch die unüberwindbaren Schranken der Hierarchie getrennt, kommen auf dem öffentlichen Karnevalsplatz in familiäre Berührung miteinander“ (Bachtin 1969: 48).
Der Körperkontakt verstärkt die Tendenz zur Vergemeinschaftung. Karneval ist somatische Erfahrung. Unmittelbar sinnliches Erleben, das Gepackt-Werden von einer Szenerie, das Berührt-Werden und das Teilen dieses Erlebens mit Anderen steht im Vordergrund. Die geteilten Erlebnisse werden als Zugehörigkeit interpretiert. Diese Erfahrung nennt Bachtin „Familiarisierung“ (1969: 49) und führt sie vor allem auf das Verschwinden von Statusschranken zurück. „Der Karneval bildet in einer konkret-sinnlichen, in einem Mischbereich von Realität und Spiel erlebten Form einen neuen Modus der Beziehung von Mensch zu Mensch aus, der sich den allmächtigen sozial hierarchischen Beziehungen des gewöhnlichen Lebens entgegensetzt“ (Bachtin 1969: 48).
Ein weiteres Phänomen ist für das Erleben in einem Gemeinschaft stiftenden Erlebnisraum relevant. Das Kostüm hebt die Grenze zwischen Bühne und Publikum tendenziell auf, sodass alle Subjekte zu Akteuren und Teil eines interaktiven Events werden. Eine Polarisierung zwischen Zuschauern und Akteuren auf der Bühne fehlt, sodass Karneval gemeinschaftlich und ohne Distanzen gefeiert wird. Dies gilt vor allem dann, wenn er selbstorganisiert statt¿ndet und die Identi¿kation mit der Aufführung groß ist: „Wir haben ein Dorf, da gibts kein Karnevalsverein, wo ich wohne (= Ja. =), dann macht das so ’ne Dorfgemeinschaft und die Dorfgemeinschaft ist nichts anderes wie’n Zusammenschluss von Feuerwehr, Handballverein (= Ja. =), Kaninchenzuchtverein, die ’ne Dorfgemeinschaft als Vereinsgemeinschaft gebildet hat (= Ja. =), sind noch’n paar andere Vereine dabei, und die sagen einfach, wir machen ’n Karnevalszug“ (T15: 140 ff.).
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Karneval ist demnach ein Anlass, verschiedene Interessengruppen und Vereine in Kontakt zu bringen, die einen Karnevalszug organisieren, um gemeinschaftlich zu feiern. Gerade in klei neren Dorfgemeinschaften ist eine Distanz zwischen den Zugteilnehmern und dem Publikum kaum denkbar, da ein hoher Grad an persönlicher Bekanntschaft und damit eine zumindest indirekte Involviertheit in den Karnevalszug gegeben ist. 7.3.1.5 Das Kostüm als Teil eines Spiels und als Zeichen der Sehnsucht nach dem Kindsein Das Tragen einer Verkleidung ist ein ‚Maskenspiel‘ und das Kostüm ein spielerisches Element. Das Spiel mit der Rollenidentität jenseits der Alltagswelt ist eine Simulation, die Goffman als So-Tun-als-ob bezeichnet (vgl. 1980: 60). Das So-Tun-als-ob, zu dem auch das Spiel zählt, ist eine Rahmen-Modulation. Mit Modulation oder Moduln meint Goffman „eine Handlung, die für die Beteiligten eine offene Nachahmung oder Ausführung einer weniger transformierten Handlung ist, wobei man weiß, daß es zu keinerlei praktischen Folgen kommt. Der ‚Grund‘ für solche Phantasien ist angeblich die unmittelbar daraus Àießende Befriedigung. Es handelt sich um einen ‚Zeitvertrieb‘ oder eine ‚Unterhaltung‘“ (Goffman 1980: 60).
Die Kostümierung sucht stets das Gegenüber, denn sie soll für den Anderen Varianten des Selbst aufführen. Gleichzeitig wird im Kostüm des Anderen nach Deutungen gesucht: „Was stellt er dar ?“ Kostüme brauchen die Gruppe, denn erst in der Interaktion kann sich das Spiel mit der Maske entwickeln. Dies formuliert Katharina, die ihren Spaß am Kostümieren immer wieder betont und deutlich macht, dass diese Gruppe auch ganz klein sein kann: „Also wenn irgendwo ’ne Veranstaltung is, wo irgendwie, keine Ahnung, nur zwei Leute im Kostüm hinkommen würden, würde ich auch. Alleine würde ich nirgendwo im Kostüm hingehen, aber wenn da jetzt irgendwie nur zwei Leute sind, bin ich auf jeden Fall im Kostüm dabei“ (T9: 240 ff.).
Erst die Gruppe von Kostümierten zeigt durch ihre Art der Interaktion an, dass es sich um ein Maskenspiel, um eine Aufführung handelt, der ein Rollenwechsel vorausgegangen ist. Das Spiel ist eine freie Betätigung, an der man ohne Zwang teilnimmt. Es ist eine abgetrennte Beschäftigung, „die sich innerhalb genauer und im voraus festgelegter Grenzen von Raum und Zeit vollzieht“ (Caillois 1964
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[frz. 1958]: 16). Es ist darüber hinaus eine ungewisse Tätigkeit, weil ihr Ende offen ist, und zudem ist sie unproduktiv. Spiel erschafft keine Güter oder neuen Produkte. Es folgt Regeln, die nur für den Augenblick des Spiels gelten, wie etwa die nötige Kostümierung (vgl. ebd.). Schließlich ist es eine ¿ktive Betätigung, „die von einem spezi ¿schen Bewußtsein einer zweiten Wirklichkeit oder einer in bezug auf das gewöhnliche Leben freien Unwirklichkeit begleitet wird“ (ebd.). Damit ist auch das Rauschhafte angesprochen, das sich beim Spielen einstellen kann, wenn die Spieler das Gefühl für die Zeit vergessen und entrückt sind in die alternierende (Un-)Wirklichkeit des Spiels. Das Verkleiden ist ein Spiel mit Masken, das in Caillois’ Kategorie der mimicry gehört (vgl. 1964: 21 ff.). Die zeitlich begrenzte mimicry ist eine Flucht aus der alltäglichen Welt, deren Ausgangspunkt die Selbstverwandlung ist. In seiner Studie „Spaß am Spiel“ (1961) fokussiert Goffman die Frage, wie sich in Begegnungen Euphorie entwickelt. „Der gesunde Menschenverstand sagt uns, daß Spiele Spaß machen, wenn der Ausgang oder der Lohn bis zum Ende des Spiels ungewiß bleiben“ (Goff man 1973: 75). Gaming-Begegnungen, werden ausgewählt und arrangiert, um euphorische Interaktion zu gewährleisten. Goffman sieht sie, ebenso wie Caillois, als (durch Membranen) abgetrennt von anderen (alltäglichen) Begegnungen. Je leichter die Transfor mationsregeln sind, desto leichter ist es, das Spiel aufzunehmen und Euphorie zu erzeugen. Für Karneval ist dieser einfache Zugang gegeben, denn „du bist (.) halt überall gleich aufgenommen und jeder (= Ja. =) ist freundlich zu dir und du feierst halt einfach miteinander“ (T1: 48 f.). Gerade für das Maskenspiel gilt, dass zudem ausreichend „symbolische Distanz“ (Goffman 1973: 82) sichergestellt sein muss. Die Gruppe erzeugt diese Distanz und kontrolliert, dass die Gefühle innerhalb des Spiels von den Gefühlen außerhalb des Spiels getrennt sind. Das Maskenspiel ist als Aufführung zu verstehen, die die Umwelt stets mit einbezieht. Ohne eine alltägliche, nicht-verkleidete Welt mit ihren Rollenanforderungen wäre das Maskenspiel nicht denkbar. Das Maskenspiel an Karneval ist als Teil der Geselligkeit zu sehen, die Intimität und Gleichheit mit denen erzeugt, mit denen man „spielt“. Das impliziert die Statuseinebnung, also „ein Nivellieren aller Anwesenden nach unten und oben hin“ (ebd.: 87). Im Kölner Karneval drückt sich die Statusnivellierung besonders im bunten Lumpenkostüm aus, das typisch ist für den Karneval am Rhein (vgl. Ebeling 1984: 88). Eine Interviewpartnerin bestätigt im Gespräch die Irrelevanz von Unterschieden im Karneval und unterstreicht dabei auch einen auf Nivellierung abzielenden Verhaltensmodus der Feiernden. Zugleich weist sie auf die Irrelevanz von Altersunterschieden hin:
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„I: Also da feiert sozusagen der Bauarbeiter neben dem Oberarzt. T1: Rischtig, rischtig, weil, irgendwie sind se da alle gleich. Und is auch keiner irgendwie hochnäsiger als der andere, oder, ähm, ja auch jung und alt feiern halt zusammen“ (T1: 159 ff.).
Das Spielerische an Karneval lässt nicht nur das Alter der Feiernden unwichtiger werden, sondern erinnert zugleich an die Lebensphase Kindheit. In Masken- und Rollenspielen werden ganz zentrale Entwicklungsaufgaben bewältigt (vgl. Mead 1973: 189 ff.). Kostüme befriedigen die Sehnsucht nach der Kindheit. Das Narrentum im Karneval ist eine zeitlich begrenzte Möglichkeit, wieder ein bisschen Kind zu sein. Aus kulturhistorischer Perspek tive können Narren und Kinder als Bedeutungseinheit gesehen werden, denn der Narr wird vor allem in Bildzeugnissen des Spätmittelalters häu¿g mit Kindern (aber auch mit Krüppeln und Juden) abgebildet. Die gemeinsame Darstellung mit Kindern deutet darauf hin, dass der Narr sein ganzes Leben lang kindisch sein wird (vgl. Kap. 5.1.3). Die Fastnachts-Narren werfen sich in allerlei Spiel, klatschen entrückt im Takt der Musik in die Hände – wie in der Kindheit beim „Backe, backe Kuchen“-Spiel. Auf Kom mando beteiligen sich die Jecken an kindlichen Tanzspielen, bei denen die Arme wie Flügel gewedelt, der Po wie der einer Ente gewackelt und die Hände zum Himmel gereckt werden (vgl. Oelsner 2004: 81 f.). Der Rückfall in infantile Verhaltensweisen betrifft das Kollektiv, in das sich der Einzelne zurückziehen, ja dem er sich unterordnen kann und will. Die aufgeführten Rituale sind anspruchslos und schlicht – ebenso wie die vielen laut malenden Wörter in den bekannten Karnevalssongs. Allerorts tönt es „tralalalala“ und „schalala“, „olé“, „he-ho“ und „uh-ah“. „Hömma Mamma samma somma ma na Afrika ?“ ist eine Textzeile des Liedes „Sansibar“ (De Höhner), das zu den Klassikern des rheinischen Karnevals zählt. Es fördert wie auch „Noch ens Kind sin“ (De Höhner) und „Ich mööch su jän widder Kind sin“ (Bläck Fööss) die Regression und stillt die Sehnsucht nach einer einfachen Weltordnung. Das Imitieren kindlicher Verhaltensweisen ist öffentlich erlaubt und ermöglicht eine Rückeroberung eines Stücks der längst vergangenen Kindheit. Der Rückfall in kindliche Verhaltensweisen hat trotz des Normbruchs keine realen Konsequenzen und seinen festen Platz in der närrischen Zeit. Mit diesem „Urlaub vom Erwachsensein“ (Oelsner 2004: 85) ist auch die Ventil-Funktion des Karnevals angesprochen (vgl. Freud 1974 [1930]: 208). Sarah (T11/2) bringt das kindliche Benehmen auf den Punkt. Kostüme und ihre Accessoires laden geradezu zum Spielen ein: „Ja, man spielt ja auch mit den Gegenständen des Kostüms (lacht). Man is ja dann auch mit dem Kostüm zum Beispiel, wenn man ja jetz in die – Pistole oder Messer hat oder irgendwie so in der Hinsicht mal mit de Gegenstände- […] (lacht) Ich meine
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Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse in dem Sin- -ne, dass man sich dann ja doch (1) ’n bisschen anders benimmt als sonst (lacht laut). Wie ’n Kind“ (T11/2: 404 ff.).
Sarah benutzt das Inde¿nitpronomen ‚man‘, und drückt mit dieser sprachlich-syntaktischen Besonderheit die kollektive Eingebundenheit ihres Handelns aus. In der Wahl des Agens spiegelt sich Sarahs Handlungs- und Wirkmächtigkeit wider, d. h. sie konstruiert ihre Handlungsmöglichkeiten im Hinblick auf das Ereignis und drückt aus, auf welche Weise sie sich als handelnde Person und Inhaberin von Kontrollmöglichkeiten erlebt (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2002). Ihre Wortwahl drückt aus, dass die Entscheidungsinitiative für den Rückfall in kindliche Verhaltensweisen und für das Spielen mit dem Kostüm nicht in vollem Umfang bei ihr liegt. Die kollektive Agency als Motiv steht für eine Dominanz des Kollektivs: Sarah kann gar nicht anders als mit dem Kostüm zu spielen, sich anders zu benehmen als sonst und wie ein Kind zu handeln. Sie deutet auch an, dass ‚man‘ sich mit dem Kostüm und der Kostümrolle spielerisch auseinandersetzt: „Man is ja dann auch mit dem Kostüm [beschäftigt]“. Das Kostüm, das zunächst dazu dient, sich selbst fremd zu machen, wird auf eine spielerische und performative Weise angeeignet und erlebt. Die Kostümrolle zielt auf ein Kleidererlebnis und auf die aus ihm abgeleiteten Erwartungen (vgl. Hoffmann 1985: 75). Die spielerische Beschäftigung mit den Accessoires zielt auf ein Einfühlen in die neue, unbekannte Rolle und auf das Erleben des Neuen und Unbekannten in der alternativen Darstellung eines Selbst. Sarah benimmt sich „’n bisschen anders“ als sonst und wendet sich damit von ihrem Alltagshandeln ab. In dieser Interviewsequenz lacht Sarah insgesamt dreimal; das Lachen begleitet die Erzählung und steigert sich in der Lautstärke. Aus einer reÀektierenden Perspektive wird sich Sarah hier der Außeralltäglichkeit der Situation bewusst. In der Rekonstruktion ihres Handelns wird ihr – zurück in der Alltagswelt – der Kontrast zwischen dem Handeln in der Phantasiewelt des Karnevals und dem Handeln im Alltag klar. Aus der Distanz lacht sie über ihr Benehmen, das sie als „’n bisschen anders“ und „Wie ’n Kind“ bezeichnet. Auch Rolfs Erzählung von dem Mann mit der Wikinger-Statur im hellblauen Strampelanzug-Kostüm zeigt den Rollenwechsel hin zum Kindsein an: „So’n, so’n Hüne, könnte als Wikinger gehen, weißte, und dann so mit Schnuller und Babyblau […]. Da is so dieses krasseste Beispiel, so, man is nich mehr man selbst, man is’n kleiner Junge (= Hm. =), man is’n Baby“ (T11/1: 417 ff.).
Der Interviewte hebt die Größe des Mannes hervor und ist irritiert von der überraschenden Kostümwahl. In dieser Passage ist die Erzählung detailgenau und eindrücklich. Von der Beschreibung des Mannes wechselt Rolf zum Inde¿ nitpronomen „man“, als folge auf das Extrem-Beispiel die Formulierung einer all-
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gemeinen Regel. Die kollektive Agency („man is“) deutet darauf hin, dass der Einzelne, aber vielleicht auch Rolf, den übergeordneten Mächten des Kostüms unterworfen ist. Das Kostüm steuert das Verhalten der Jecken an Karneval – da wird der Hüne zum Baby und Rolf zum kleinen Jungen. Zum Maskenspiel gehört auch das Präparieren des Kostüms – so wie Kinder viel Zeit darauf verwenden, Puppen anzukleiden und herzurichten. Die Vorbereitung der Verkleidung ist ein wesentlicher Bestandteil und macht Karneval zu einem kreativen, gemeinschaftlichen Tun. Das gemeinsame Nähen und Basteln ist notwendig, um den Übertritt in die Sinnprovinz Karneval zu organisieren und als spielerische Tätigkeit aufzufassen. Es zielt auf ein Produkt, das außerhalb des Karnevals keine Bedeutung hat. Für eine rational am Alltag orientierte Auffassung hat das Basteln keinen Wert an sich: Es ist zweckfrei (vgl. Huizinga 2004). Katharina macht deutlich, wie sehr das Nähen zum Karneval und zur Attraktivität dieses Festes gehört: „Also was halt für mich jetzt, was mir besonders gefällt, ist halt, wir nähen halt vorher die ganze Zeit lang und dann schon allein halt einfach das Kostüm dann nachher zu zeigen“ (T9: 38 f.).
Das Vorbereiten und die Vorfreude auf die Präsentation des Kostüms sind eng mit den gemeinsamen Treffen verbunden, die sich häufen, je näher der Termin Altweiber rückt. Die Treffen steigern zugleich die Vorfreude, sind aber nicht als Arbeit mit den negativen Konnotationen von Anstrengung und Mühe verbunden. „Es – bei uns is es halt wirklich, das wa uns einmal die Woche, mittlerweile sogar zwei, dreimal die Woche getroffen haben, halt wirklich zum Nähen. (= Ja. =) Das ist halt – entweder das Planen vorher, das Schminken und, und einfach das Fertigmachen und alles einfach“ (T9: 69 ff.).
Hier zeigt sich auch, dass Karneval sich durch die gut organisierte Vorbereitungszeit auf deutlich mehr als nur sechs Tage erstreckt. Der Weg bis zur Präsentation des Kostüms gehört dazu, weil er Vergemeinschaftung generiert, die durch das Erzeugen eines gemeinsamen Produkts anschaulich dokumentiert wird. Die Arbeit an einem ausgefallenen Kostüm strukturiert insofern die Alltagszeit vor dem Fest. Karneval gestaltet sich für Katharina auch als Aufgabe – sie sieht sich als Entertainerin, die ein schönes Kostüm vor den anderen Jecken präsentiert, um ihnen Spaß zu bereiten. Ihre Grati¿kation ist die Bewunderung der Anderen, die sich zum Beispiel darin ausdrückt, dass die Gruppe zum Foto-Motiv wird.
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Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse „[M]eine Mutter ’n meine Tante […] wurden total erstaunt die ganze Zeit angeguckt und ich glaub alle die, also es ging keiner von ihnen am Stück, wo keiner […] gesagt hat: ich muss mal kurz ’n Photo machen. (= Uhum. =) Und schon allein das, wenn man halt weiß, OK, da saßen wir halt dran, da haben wir echt für gearbeitet und die Leute ¿nden das dann toll. Schon allein das ist dann schön“ (T9: 40 ff.).
Auf die Aufmerksamkeit für ihr Kosüm hat sie hingearbeitet. Die Inszenierung und Präsentation löst auch deshalb Bewunderung aus, weil an Karneval der zivilisierte Blick abgelegt werden darf: Alle Jecken sind Teil einer Aufführung und dürfen daher unverhohlen und ungeniert angeschaut werden. Das einander Ansprechen, Anschauen und Fotogra¿eren ist auch in den Protokollen beschrieben. Die Notizen von Altweiber 2008 in Köln halten fest: „Einige der Entgegenkommenden sprechen andere Gruppen auf ihre Kostüme an. Sie sind einander fremd, aber ¿nden sofort ein Thema. Es gibt keine Hemmungen und Peinlichkeiten. Mit der Handykamera werden Fotos voneinander gemacht. Eine Erinnerung an Altweiber 2008, ein Festhalten des Moments. Mädchengruppen ziehen vorüber. Sie tragen teilweise sehr kurze Röcke, die viel von den in hautfarbene Strumpfhosen verpackten Beinen sehen lassen. Unverblümt schauen Männer und Jungen auf die Reize und die überpointierte Weiblichkeit. Es ist kein heimlicher Blick aus den Augenwinkeln, sondern sie kosten direkt von dem Reiz, der sich ihnen darbietet. Sie kichern und lachen“ (Protokoll 31.01.2008).
Wer sich kostümiert, richtet sein Handeln darauf aus, angeschaut und angesprochen zu werden. Das Kostüm stellt die Rätselfrage ‚wer bin ich ?‘ an alle, denen es präsentiert wird. Der Kostümierte wartet nahezu auf eine Reaktion oder Antwort als Anerkennung für die Mühe. Die Vorbereitung und Mitgestaltung von Karneval ist wesentlich für die Identi¿kation mit dem Fest. Philipp ¿ndet die Formel „Karneval leben“, um damit eine authentische Auseinandersetzung und Identi¿ kation mit Karneval und der Region zu beschreiben. Dazu gehören die gemeinsamen Vorbereitungen als Aktivitäten, die das Zusammenleben in der kleinen Gemeinde stärken und zugleich wiederkehrend seit zwei Jahrzehnten die eigene Biogra¿e und den Karneval in dem Dorf mitformen. Region, Fest und Identität sind ineinander verwoben. Die gemeinsamen Vorbereitungstreffen am Wochenende sorgen auch dafür, dass das Projekt Karnevalszug die Identi¿zierung mit dem Fest, dem Ort und der Gruppe stärkt. Karneval ist ein fester Bestandteil der Freizeitgestaltung, der Region und des eigenen Lebens.
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„[W]enn man hier ist (= Hm. =), glaub ich, muss man Karneval leben und erleben. So, und viele leben Karneval auch, indem sie alles mitmachen. Und so sehe ich mich […]. I: Was heißt denn ‚alles mitmachen‘ ? […] was heißt Karneval leben ? T15: Also, da in dem Dorf, wo ich bin, mit der Feuerwehr, wir treffen uns so 5, 6 Wochenenden vor Kar neval immer (= Ja. =), also fest eingeplant, seit 20 Jahren mache ich das mit dieser Gruppe […], dann wird immer samstags von 13 bis abends um 18, 19, 20 Uhr am Karnevalswagen gebastelt (= Ja. =), gemalt, zusammengebaut (= Hm. =), Kostüme ausgesucht, genäht, zusammen (= Ja. =) ’n bisschen lustig unterhalten“ (T15: 42).
Philipp verweist auf ein langjähriges ehrenamtliches Engagement bei der Freiwilligen Feuer wehr, die sich in der Dorfgemeinschaft auch am Karnevalsumzug beteiligt. Er erlebt die Entscheidung, in seinem Heimatort zu leben, zugleich als eine Entscheidung für den Karneval. Der Agens-Wechsel in dieser Passage (‚man‘, ‚sie‘, ‚ich‘) deutet darauf hin, dass sich die Repräsentation der eigenen Wirkmächtigkeit verändert. Während das Inde¿nit pronomen ‚man‘ die kollektive Eingebundenheit in die GepÀogenheiten an dem Ort ausdrückt („wenn man hier ist“), steht das Personalpronomen ‚sie‘ für viele, die eine bewusste Entscheidung für eine Beteiligung und ein Mitmachen treffen („indem sie alles mitmachen“). Schließlich steht das ‚ich‘ für eine Verortung des Befragten als ein Individuum, das die Handlungsinitiative ergreift und mitgestaltet („Und so sehe ich mich“). Im zweiten Teil der zitierten Passage ändert sich das Agens erneut. Von einem ‚Wir‘ ist nun die Rede („wir treffen uns“), was auf eine Eingebundenheit in eine kollektive Struktur hindeutet. Die folgende Erzählung belegt, wie fest die vorbereitenden Treffen Bestandteil von Philipps (Karnevals-)Biogra¿e sind. An den fünf oder sechs Wochenenden vor Rosen montag trifft sich Philipp immer am Samstag um 13 Uhr mit „dieser Gruppe“ und arbeitet bis in die Abendstunden am Karnevalswagen und den Kostümen. Hier wird eine symbolische Ordnung präsentiert, an der sich Philipp in seiner Karnevals-Biogra¿e orientiert und die seine Aktivitäten vor Ort und in der Zeit um Karneval strukturiert. Durch die Vorbereitung des Festes wächst auch die Bedeutung, die Karneval subjektiv beigemessen wird. Die Karnevalsnovizen Rolf und Sarah haben im Jahr des Interviews erst mals ihr Kostüm selbst genäht und damit ihre Karnevalssozialisation erheblich vorangetrieben. „T11/2: Also ich hab jetz mehr Spaß am Karneval, wenn man sich dazu Gedanken macht zum Kostüm. Hat man irgendwieT11/1: Man freut sich halt auch drauf, das, das zur Schau zu tragen. Man macht ja hier nich, macht sich ja nich umsonst diesen Aufwand und macht und näht und tut und dann, um dann rumzulaufen wie jeder andere“ (T11: 563 ff.).
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Die Präsentation und Selbstinszenierung in der Kostümrolle sind für Rolf und Sarah wichtig. Mit dem selbst entworfenen Kostüm entgehen die beiden nicht nur den kom merziellen Angeboten von Kostümhandel und -verleih, sondern sichern sich auch eine ganz individuelle Note am Fastelovend.71 Das hohe Engagement von Rolf und Sarah soll ihre neuen Rollen als Jecken vorbereiten und ihre Identi¿kation mit Karneval und den Traditionen an dem Ort stärken, der (noch) nicht ihre Heimat ist. „Also ich hab jetz mehr Spaß“ deutet eine Identi¿kation mit der neuen Heimat an und zeigt durch das Personalpronomen ‚ich‘ zugleich einen Bezug zum eigenen Ich und seinem erhöhten Einsatz. In der noch kurzen KarnevalsBiogra¿e von Rolf und Sarah ist die Präsentation des ersten eigenen Kostüms ein Ereignishöhepunkt, auf den sich beide freuen und mit dem ihre Eingebundenheit in die strukturellen Gegebenheiten des Umfelds gestiegen ist. Beide reÀektieren die Steigerung ihrer Karnevalspartizipation und unterstreichen dabei die zentrale Rolle des eigenen Kostüms. „T11/2: Man freut sich ja in dem Sinne jetz endlich sein Kostüm zu präsentierenT11/1: Man macht sich, man macht sich’n Kopp, als was man geht, ob man als ganze Gruppe so geht und (= Hm. =) den ganzen Kram. Also dass man datT11/2: Da hätte ich mir früher nie Gedanken drüber gemacht, weil für mich is des, jedes Jahr wird das eigentlich für mich wichtiger. T11/1: (.) (= Bei dir auch ? =) Ja. Also es macht ja einfach Spaß, also die ersten Jahre, da haben wir, ich glaub, die ersten zwei Jahre haben wir gesacht, oh, lass so’n Scheiß.“ (T11: 300 ff.)
Während die beiden Norddeutschen in ihren ersten beiden Jahren im Rheinland keinen Bezug zum Karneval ¿nden, ihn eher abwerten („so’n Scheiß“), macht er jetzt „einfach Spaß“ und „[m]an freut sich […] sein Kostüm zu präsentieren“. Rolf und Sarah legen auf die Individualität ihres Kostüms großen Wert und wollen nicht „rum[…]laufen wie jeder andere“, sondern sich in ihrem Kostüm inszenieren und zugleich in eine andere Rolle schlüpfen. Ein Abstimmen mit der Gruppe steht dabei ihrem Wunsch nach Individualität offenbar nicht im Weg. Sie thematisieren als Gegenentwurf zum selbst geschneiderten Kostüm die Garde-Uniformen der Karnevalsvereine, von denen sie sich abgrenzen wollen (vgl. Kap. 7.3.1.6). Die Uniform ist die Karnevalskleidung im organisierten, bürgerlichen Karneval. Sie war ursprünglich als PersiÀage der französischen bzw. preußischen Besatzungstruppen gedacht und müsste daher als Kostüm verstanden werden. Zu diskutieren ist die Frage, wie Uniformen heute verstanden werden – als Kostüm oder (Vereins-)Uniform ? 71
Fastelovend – der kölsche Begriff für Karneval.
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7.3.1.6 Kostüm contra Uniform Die Uniform ist ein strengen Normen unterliegendes Identi¿kationsmerkmal der Karnevalsgesellschaften. Die Vereine formulieren verbindliche Vorschriften zur kollektiven Kostümierung und treten bei of¿ziellen Veranstaltungen einheitlich uniformiert auf. Vor dem Hintergrund ihrer Entstehung zu Beginn des 19. Jahrhunderts sind Uniformen als Parodie auf das strenge Militär zu deuten (vgl. Brog 2002: 182 f.). Von Verein zu Verein haben sie verschiedene Vorbilder. Die Roten Funken der Stadt Köln („Kölsche Funke rut-wieß vun 1823 e. V.“) sehen sich beispielsweise als Nachfolger der ehemaligen Kölner Stadtsoldaten, während andere Vereine das strenge preußische Militär als Vorbild sehen oder die französischen Besatzer persiÀieren. Die Uniformen waren im Lauf der Geschichte in Abhängigkeit von Selbst verständnis und Ausprägung des Vereins einem erheblichen Wandel ausgesetzt (vgl. Leifeld/Boden 2006: 46). Heute ist das Motiv für das Tragen der Uniform zumeist die Abgrenzung zu anderen Gesellschaften und die Symbolisierung der Zugehörigkeit zur eigenen Garde und zum Heimatort. Über geschichtliches Wissen zu den Unifor men verfügen die Vereinsmitglieder aber nicht grundsätzlich und selbstverständlich. Die PersiÀage verliert damit als Deutungsmuster an Relevanz. Uniformen sind eine gleichförmige Kleidung für bestimmte, abgegrenzte Gruppen von Menschen. Die Karnevalsuniformen sind in Ausstattung und Gestaltung streng reglementiert. Auch mit dem Tragen der Uniform sind Vorschriften verbunden. Fehlverhalten in Uniform wird rigide sanktioniert, weil es auf die gesamte Gruppe zurückfällt und nicht nur dem Ein zelnen angelastet wird. Während die Uniform einerseits die Funktion eines Kostüms erfüllt, unterliegt das Handeln in ihr zugleich starken Zwängen. Der Rollenwechsel und die Befreiung von Alltagsnormen können daher nur eine untergeordnete Rolle spielen. Wie ist also die Uniform der Karnevalsgesellschaften zu interpretieren ? Als Kostüm oder Uniform ? Die Uniform hat eine Identität stiftende Wirkung für den Verein, denn Aufnahme und Mitgliedschaft sind mit der Erlaubnis verbunden, die Uniform zu tragen. Die detailgenaue Ausstattung der Uniformen ist in den Vereinsstatuten festgeschrieben, um die Unver wechselbarkeit zu sichern. Die Uniform symbolisiert die Geschichte des Vereins, aber auch die Tradition der BrauchtumspÀege vor Ort. Mit ihr wird auf eine längst vergangene Geschichte der Stadt hingedeutet, historische Ereignisse werden parodiert. Insofern könnte die Uniform als kollektive Kostümierung verstanden werden. Die Benennung „Kostüm“ liegt aufgrund des Verweises auf den historischen Kontext und des kollektiven Rollentauschs nahe (vgl. Leifeld/Boden: 2006: 57). Mit der Uniform verbinden sich romantische Heimat- und Kollektiv-Gefühle. Durch die Betonung eines gleichförmigen Ensembles,
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strenge Vereinshierarchien, aus dem Militärischen übernommene Funktionsbezeichnungen (Kommandant, Spieß, Marketender usw.), die vielen unterschiedlichen Abzeichen, aber auch Veranstaltungen wie das Biwak wird deutlich auf die militärische Uniformierung hingewiesen. Der Zwang zum einheitlichen Auftritt und die strengen Sanktionen im Falle eines Fehlverhaltens sind Kriterien, die es nahelegen, die Vereinskleidung als Uniform zu bezeichnen. Der zentrale Aspekt des Individuellen spielt im Vereinsleben keine große Rolle, ist aber als typisch für das Kostüm anzusehen. Insofern kann die Entscheidung zwischen Uniform und Kostüm aus analytischer Sicht hier nicht eindeutig getroffen werden. Rolf und Sarah fällen ein eindeutiges Urteil: Für sie ist die Uniform kein Kostüm. Sie sind in ihrem Bericht über den Kölner Rosenmontagszug enttäuscht über die Vielzahl unifor mierter Zugteilnehmer. Sie präferieren kreative Kostüme und phantasievoll verkleidete Gruppen. „Also hier, und auch in, in [G. Dorf] gestern, die sind ja wirklich schön mit Kostüm jegang’n. (= Hm. =) In Köln, die sind ja zum Großteil […] ’n paar, ’n paar war’n auch mit Kostüm, aber ’n Großteil is mit Uniform jegang’n. Fand ich. Das war -“ (T11/1: 174 ff.).
Die bunten Uniformen sind für die beiden langweilig und nicht zum Motto der Karnevalswagen passend. Sie legen Wert auf eine stimmige Performance. „Ja, dis sah gut aus, aber viel mehr Gruppen waren nich verkleidet. Also die meisten sind dann wirklich in ihrer Garde-Uniform da lang. Ich meine, ja, is halt die Frage, muss ich mir – also soll ich mich zu dem passend zum Motto wie der Wagen is anziehen ? Oder reicht das, wenn der Wagen dat Motto hat ? Aber eigentlich ¿nd ich’s so besser, wenn man sich direkt so einkleidet“ (T11/1: 219 ff.).
Durch die Uniform tritt die Individualität hinter der Kollektivität zurück. Rolf und Sarah, die sich ihre Kostüme selbst geschneidert haben, sprechen sich gegen Uniformen aus. Eine kreative Verkleidung gehört für die beiden zwingend zum Karneval: „Gerade das macht doch den Karneval doch aus. Und nich die Garde-Uniform“ (T11/1: 239 f.). Der Garde-Uniform fehlen die Originalität und das Individuelle. Dabei ist ihnen der historische Entstehungshintergrund durchaus bewusst, wenn auch die historische Rekonstruktion etwas misslingt. „Die Garde-Uniform bin ich der Meinung, das is nur, quasi, ’n Überbleibsel, ja, n Überbleibsel würd ich sag’n, ähm, von, von der Abgrenzung der damaligen Organisatoren der Karnevalsveranstaltungen. Denn die Organisatoren, die ham sich, denke ich mal, früher durch die Uniform mehr oder weniger halt abgegrenzt vom Volk.
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(= Hm. =) Damit man auch herausstach. So und jetz, ja, die wol- und jetz stechen alle nur noch hinau- heraus und ’s sind ja auch wirklich jetz riesige Gruppen. Ich denk mal, früher war’n das wesentlich kleinere Gruppen. Da war das eher so die Oberschicht der Dörfer oder Städte oder so. (= Hm. =) Da war’n dat so vielleicht zwanzig Leute die so rumjelaufen sind. Da war man was damit. Heute laufen da zweihundert durch die, durch [Name der Kleinstadt] in blau-weiß“ (T11/1: 240 ff.).
Karnevalsgesellschaften stehen für den of¿ziellen und organisierten Karneval, der vom Straßenkarneval zu unterscheiden ist. Der Karneval der Straße zeichnet sich durch weitaus mehr Möglichkeiten der individuellen Selbstentfaltung aus. Genau diese Möglichkeiten schätzen die beiden Karnevalsnovizen. Rolf bezeichnet die Uniform der Traditionsvereine abwer tend als „Überbleibsel“. Die Funktion der Uniform ist für ihn Abgrenzung und Her vorhebung. Weil aber die Mitgliederzahl der Vereine und damit die Anzahl der Unifor mierten bis heute stark angestiegen ist, gingen die Möglichkeit der Abgrenzung und die Exklusivität der Uniform in Rolfs Augen verloren, denn „’s sind ja auch wirklich jetz riesige Gruppen“. Auf der einen Seite ist die Ablehnung der Hierarchisierung durch Uniformen, auf der anderen Seite sind Langeweile und fehlende Individualität genannt, die von uniformer Kleidung ausgehen. Dem uniformierten, bürgerlichen Karneval war der unorganisierte, oft ausschweifende Straßenkarneval der unteren sozialen Schichten zuweilen ein Dorn im Auge. Auf meine Nachfrage hin konkretisiert Rolf, dass auch heute noch das Motiv der Abgrenzung von den Straßenjecken präsent ist, auch wenn das wegen der Dominanz der Uniformen nicht mehr ganz aufgeht. Für Sarah wirken Uniformen langweilig und steif. „I: (lacht) Glaubst du, dass das mit so Hierarchie auch so ’n bisschen zu tun hat ? Also dass man denkt, so, dann is man wer, wenn man ’ne Uniform anhat ? T11/1: Genau. (= Und die unten stehen- =) Genau. Man möchte sich da ’n bisschen abgrenzen. (= Uhum. =) So war das früher, und heute, heute is et so, isset auch so, aber, it sind halt viel zu viele die halt so rumlaufen. (= Hm. =) ’s halt nich mehr so das Besondere, denke ich. Für die, die es anhaben, ja, aber nich mehr für den Rest, ne. T11/2: Ich sag mal, es is schon langweilig, wenn alle da nur die Karnevalsvereine da in Uniform. T11/1: Ja, das ¿nde ich langweilig, das isT11/2: Weil ’ne Uniform wirkt immer steif“ (T11: 260 ff.).
Langeweile und fehlende Kreativität stehen ebenso für die Uniform wie Unfreiheit und Beschränkung. In steifen Uniformen kann keine Stimmung aufkommen. Rolf und Sarah haben ein traditionelles Bild von Uniform, in dem diese Kraft und das Ansehen einer Gruppe sowie das Prestige der eingenommenen Gruppenposi-
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tion verleiht. Rolf versucht, sich in die Unifor mierten hineinzuversetzen und stellt fest, dass für sie die Uniform etwas Besonderes sein muss. Die psychologische Perspektive auf den in Uniform Verkleideten sieht ihn vor allem als jemanden, der die Macht genießt, die eine militärische Montur ausstrahlt. „Der so Maskierte kann sich wie ein spielendes Kind der Macht erfreuen. Er imponiert und herrscht. Die Uniform tut das ihre, die Illusion zu nähren: die gespornt klirrenden Stiefel, der geschnürte und geschnallte Uniformrock, der rasselnde Säbel, die Selbsterhöhung durch die hohe Pelzmütze, alles umgeben von dem Geruch nach Leder. So fühlt er sich in seiner Kostümierung bereits mächtig genug“ (Hoffmann 1985: 82).
Für Philipp strahlt die Uniformität der Karnevalsgesellschaften Förmlichkeit aus. Er unterscheidet den of¿ziellen vom Straßenkarneval: „Es gibt so so so für mich so’n of¿ziellen Karneval (= Hm. =), ein etwas förmlicher Karneval, und den richtigen Jeckenkarneval“ (T15: 32 f.). Philipp ist in seiner Funktion als Bürgermeister mit beiden Formen des Kar nevals vertraut, da die Sitzungen der Vereine (Galasitzung, Herrensitzung usw.) zu seinen of¿ziellen Terminen zählen. Als „richtigen Jeckenkarneval“ bezeichnet er aber den wenig förmlichen und individuellen Vorlieben unterliegenden, selbst organisierten Straßen karneval, an dem er als Bürger und Einwohner seines Dorfes teilnimmt. Für den of¿ziellen Kar neval ¿ndet er zunächst kein Wort („so so so für mich so’n“), was entweder auf eine Distanzierung zu dem Phänomen oder auf eine selten notwendige Benennung hindeutet. Für Philipp besteht der Karneval also aus den zwei Formen: formell und informell. „Und dann gibts also den Karneval der Gesellschaften, der auch diesen ursprünglichen Teil (.) des Karnevals hat, aber das sind auch die, die rennen dann eben in diesen Uniformen rum, das is ja nichts-, Kar neval ist ja nichts anderes wie ’ne PersiÀage auf diese Obrigkeitsgeschichte aus preußischer Zeit so’n bisschen noch her (= Ja. =), die diesen Karneval auch pÀegen, der etwas formeller ist, der auch dann mit Gardetänzen und alles zu tun hat – is auch, is ’ne andere Facette des Karnevals, ähm, und wo’s dann auch sehr oft um formelle Dinge geht wie so Ehrungen und so […], das ist schon der etwas formellere Karneval. Und man muss das einfach bewusst trennen, das eine ist der Sitzungskarneval, der Galakarneval und der Straßenkarneval“ (T15: 144 ff.).
Die historische Einbettung der Karnevalsgesellschaften gelingt Philipp ebenso wie die Rekonstruktion der Aufgaben und Betätigungsfelder der Vereine. Auch wenn er eine neutrale Darstellung versucht, ist eine Distanzierung zum formellen
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Karneval zu spüren. Wenn er sagt „die rennen dann eben in diesen Uniformen rum“, dann wählt er „die“, „rennen […] rum“ und „diesen Uniformen“, um eine Abgrenzung seiner Person zu diesem Teil des Karnevals zu verdeutlichen. Als Bürgermeister kennt er den of¿ziellen Teil des Karnevals, tritt dort aber nie in Karnevalsuniform auf, sondern in seiner Rolle als Bürgermeister und damit in einen Anzug gekleidet. Er erfüllt diese zeitaufwendige Aufgabe gern: „also 18 Karnevalssitzungen habe ich gemacht, aber ich mach das auch gern“ (T15: 35 f.). Diese VerpÀichtung gehört zu seinem Beruf, der eine hohe Identi¿kation mit dem Ort und mit dem Karneval voraussetzt. Die Trennung zwischen Sitzungs- und Straßenkarneval kommt in Philipps Fall der Trennung zwischen der Rolle als Bürgermeister und als „ganz normaler Bürger“ (T15: 16) gleich. Der „richtige Jeckenkarneval“ ist der Teil, den Philipp „richtig“ feiert („und wir feiern also richtig, die Jecken in unserem Dorf“ T15: 30) und kein Repräsentationstermin. In der Session 2006/07 ergab sich in der Feldphase die Gelegenheit, an einem Karnevalszug in Uniform teilzunehmen und somit als vorübergehendes Mitglied der Prinzengarde aus der Mitte des Zuges heraus mich selbst, die Gardemitglieder und die Zuschauer zu beobachten. Dieser Perspektivwechsel erweitert die Fremddeutungen von Sarah, Rolf und Philipp über das Tragen von Uniformen um meine „von innen heraus“. In der Uniform einer Regimentstochter konnte ich an einem Umzug am Kar nevalssamstag teilnehmen. Ich erlebte, wie es sich anfühlt, in Uniform und im Gleichschritt winkend einen kalten Februartag im Straßenkarneval zu verbringen. Das ungewohnte Tragen der Uniform wurde auch zum Gegenstand des Beobachtungsprotokolls: „Stiefel, Rock, Uniformjacke und Hut fühlen sich fremd an und verändern die Körperhaltung zu einem aufrechten, die Schulterblätter zusammenführenden Straffen. Der Hut mit der riesigen Feder lässt mich größer erscheinen und macht die Verkleidung perfekt, denn ich trage im Alltag nie einen Hut“ (Protokoll 17.02.2007).
Die Uniform emp¿nde ich eher als Verkleidung, denn die blau-weiße Uniformjacke, der Rock mit den goldenen Litzen, die goldenen Knöpfe und weißen Rüschenaufsätze, der Hut und blaue Stiefel sind so weit von meiner Alltagskleidung entfernt, dass ich mich in diesem Aufzug fremd fühle. Mir fällt sogleich auf, wie die Kleidung meinen Körper zu gestalten vermag, denn die steife Uniformjacke zwingt zum Anschwellen der Brust und Zusammenziehen der Schulterblätter. Der Stolz, den Uniformen oft ausstrahlen, liegt also auch in der Handwerkskunst des Schneiders begründet. Zu dem veränderten Körpergefühl und dem Gefühl der Fremdheit kommt die Unsicherheit, ob ich die Performance in Uniform fehlerfrei bewältigen kann und ob ich als Teil des Ensembles zu einer gelungenen Darstellung werde beitragen können. Erst in der Begegnung mit den anderen
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Zugteilneh mern und den Handlungsanweisungen gebenden Regimentstöchtern wirkt die leuchtende Uniform als verbindendes Element und erzeugt auch positive Gefühle. Die Kleidung macht deutlich, an wen ich mich halten muss und zu wem ich gehöre. Sie nimmt mir damit einen Großteil der Unsicherheit, die sich aus der fremden Situation ergibt. Die Uniform ist VerpÀichtung und Schutz zugleich. Sie verpÀichtet zu einem fehlerfreien Benehmen und schützt davor, im Trubel verloren zu gehen. Perspektivenwechsel und Uniform verändern meine Beobachtung der Zugteilnehmer und der Feiernden am Straßenrand. Das Tragen der Karnevalsuniform löst eine neue Art des reÀektierenden Befragens der eigenen Rolle und Emotionen aus: „Die Feiernden am Straßenrand scheinen stolz auf den Besuch des Prinzenpaares und die stattliche Begleitung zu sein. Für sie ist es wohl etwas Besonderes, eine so farbenfrohe Aufführung auf ihrer Dorfstraße mitten im Februar zu erleben. Das Rufen nach Kamelle und der Schlachtruf, die vielen lachenden Gesichter, die klatschenden Hände, die aufgeregten Kinder – alles das fühlt sich aus dieser Beobachtungsperspektive anders an. Bin ich selbst ein bisschen stolz ? Wenn dem so ist, dann vielleicht, weil ich glaube, die Feiernden am Straßenrand sind es wegen des prunkvollen Aufzugs der vielen Gardisten, von denen sie viele persönlich kennen. Die leuchtenden Uniformen, die wippenden Federn an den Hüten, die klappernden Karnevalsorden und die vor Freude und Kälte geröteten Wangen ergeben ein außeralltägliches, fröhliches Bild. Karneval ist ein Teil von denen, die hier leben und feiern. Der Umzug durch das Dorf ist einer ihrer Höhepunkte dieser Karnevalssession“ (Protokoll 17.02.2007).
In der Rolle der Regimentstochter emp¿nde ich mich als ein Teil der Aufführung und als jemand, der dazu beiträgt, dem Dorf und seinen Bewohnern einen schönen Umzug und einen gelungenen Höhepunkt der Karnevalssession zu bescheren. Im Vergleich zu meiner Teil nahme am Karnevalsgeschehen im Jeckenkostüm habe ich hier eine konkrete Aufgabe zu erfüllen, die mich mehr in den Karneval involviert und auch etwas von der Relevanz des lokalen Bezugs und der heimatlichen Gefühle spüren lässt. Karneval hat eine große Bedeutung für die regionale und oft auch personale Identität, denn er ist ein Fest, das sich die hier lebenden Menschen selbst geben.
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„Karneval is’n Gefühl“ – emotionale Erlebnisdimensionen im Straßenkarneval
„[W]at is Karneval ? Isch würde eher sagen, Karneval is’n Gefühl“ (T10: 6), mit diesem Satz präsentiert Hubert Karneval als ein alle Sinnes- und Gefühlseindrücke betreffendes Fest. Er hebt dessen Erlebnisintensität hervor, und nicht seine zeitlichen, organisatorischen oder räumlichen Rahmenbedingungen. „Karneval, das muss man erleben“ (T10: 11), das kann man nicht beschreiben. Er erzeugt einen Zustand erhöhter Bewusstseinsspannung und hebt sich als Erlebnis vom alltäglichen Bewusstseinsstrom ab (vgl. Schütz/Luckmann 2003: 622). Das Erlebnis zeichnet sich durch seine Unmittelbarkeit, seine Betonung des Seins im Hier und Jetzt aus. In dem mit Karneval verbundenen Gefühlspotpourri dominieren die positiven Gefühle der Freude und der Ausgelassenheit; „die Stimmung ist super, die Leute sind alle total gut drauf“ (T7: 21 f.). Die gute Laune äußert sich körperlich sichtbar in Gefühlsausdrücken. Der Körper wird eingebracht und bildet die emotionalen Zustände ab: Ihm wird im Karnevalstrubel die Kommunikation überlassen. Durch eine Weitergabe nonverbaler Zeichen erfolgt die emotionale Ansteckung, welche darauf beruht, dass der „Angesteckte“ sich mit dem „Ansteckenden“ identi¿ziert. Eine positive und „gute Stimmung“ (T6: 15) wird kollektiv hergestellt, jeder „ist freundlich zu dir und du feierst halt einfach miteinander“ (T1: 48 f.) und dann „is das schon allo so richtich ansteckend in der Menschenmasse“ (T11/2: 571 f.). Die Interviewten nennen immer wieder den unspezi¿schen Begriff ‚Stimmung‘, um eine gelöste und angenehme Atmosphäre und deren subjektive Wahrnehmung zu beschreiben. „Gute Stimmung heißt, ähm (2), ja, nette Leute, viele Leute, gut gelaunt, alkoholisiert, das volle Programm“ (T6: 19 f.). Genauer wird die De¿nition nicht, weil die gute Stimmung den Jecken als fraglosselbst verständlich erscheint und deren Bedingungen und Charakteristika weder verbalisiert werden müssen noch können. Wenn es „das volle Programm“ gibt, dann bietet Karneval das, wonach sie suchen. Es ist „’n Gefühl, ja es ist halt einfach nur Spaß“ (T1: 130), der sich während der Party einstellt und ein integraler Bestandteil des Lebensentwurfs und des Lebensgefühls der Jecken ist. Karneval als Erlebnis spricht sie ganzheitlich und „authentisch“ an und entspricht ihrem Bedürfnis nach „Party“ und angenehmer Atmosphäre. „Die festliche Gestimmtheit ist die des freien Schwebens, der Alltag ist von einem abgefallen, man bewegt sich in einem zweckfreien Raum, man lebt“ (Gebhardt 1987: 56). Gerade seine fehlende Zweckgerichtetheit macht den karnevalesken Erlebnisraum zu einer Wirklichkeit mit einem freien und experimentellen Charakter. Wenn „die Leute […] alle total gut drauf [sind]“ (T7: 22), dominiert die Form des affektuellen Handelns. Zum festlichen Charakter gehört neben dem im o. g. Interviewausschnitt angesprochenen Alkohol auch die Musik. Sie hat EinÀuss darauf, „wie die Leute
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drauf sind, die Musik“ (T7: 27), weil sich mit ihr mood management betreiben lässt. Musik berührt die affektive Ebene auf vielfältige Weise. Sie kann Entspannungs-, aber auch Arousal-Funktionen erfüllen. Ganz gleich, ob nun als bewusst wahrgenommene Unterhaltungs- und Stimmungsmusik oder aber als Hintergrundmusik, Musik verstärkt oder kompensiert Stim mungen der Jecken. Musik ist einer von vielen Stützpfeilern der symbolischen Sinnwelt Karneval. Karnevalsschlager und -lieder sind ein wichtiges Identi¿kationsmedium für diese Sinnwelt, und ihr Gebrauch reproduziert Karnevalswirklichkeit. Das euphorische Gefühl der Freude wird in den Gesprächen häu¿g mit „Spaß haben“ verbunden: „Alle wollen einfach nur Spaß haben und wollen dann halt (= Hm. =) Kar neval feiern“ (T9: 200). Spaß und Feiern sind Erlebnisorientierungen, denen im Karneval als einem Teil der Freizeitgestaltung nachgegangen wird. Das Gefühl der Freude dominiert und ¿ndet seinen Ausdruck im Lachen. Bachtin stellt fest, dass sich der Universalismus des Lachens am konsequentesten in den brauchtümlichen Formen des Karnevals äußere. Mit kleinen Scherzen und Parodien werde auf eine ganze und einige „Welt des Komischen“ (Bachtin 1969: 32) verwiesen. Das eng mit dem Materiell-Leiblichen verbundene Lachen hat in Bachtins kulturgeschichtlicher Beschreibung des Mittelalters seinen Platz im Fest und ist verbunden mit der Freiheit (der Narrenkappe). Die Freiheit des Lachens beschränkt sich auf die Festtage und verschmilzt „mit der festlichen Atmosphäre, sie g[eht] mit der Genehmigung des Fleisches, des Specks und des geschlechtlichen Lebens einher“ (ebd.: 33). Der Rahmen des Lachens ist im Mittelalter die legalisierte Schutzform, in der die Welt aus ihren alltäglichen Bahnen treten darf, und bietet vorübergehend Befreiung von Repression und Zensur. In der philosophischen Anthropologie Plessners ist der Mensch das einzige Wesen, das über die Äußerungsformen Lachen und Weinen verfügt (vgl. Plessner 1970: 31; vgl. Kap. 4.2.3.4). Im Lachen gewinnt der heitere Anlass die Überhand und muss sich eruptiv entladen. Das Individuum wird dabei übermannt von der Willkür vegetativer Prozesse. Das Lachen ist die Umsetzung einer emotionalen Emp¿ndung in einen in erster Linie im Gesicht ablesbaren körperlichen Vorgang. Über den lachenden Gesichtsausdruck kann das Gefühl der Heiterkeit und der Freude ansteckend wirken (vgl. Durkheim 1994: 536) und die Gruppe bzw. die situative Gemeinschaft gestärkt werden. Ansteckend wirkt ebenso das Gefühl der Traurigkeit, das im Weinen seinen deutlichsten Ausdruck ¿ndet. Auch diese Gefühlsdimension hat ihren Platz im Kar neval. Dieser ist nicht nur laut, ist nicht nur Lachen und krachende Stimmungsmusik, sondern auch Ruhe, Besinnlichkeit, ja Melancholie. Die Ambivalenz der Gefühle steht für Ausgelassenheit und Sentimentalität gleichermaßen (vgl. Protokoll 17.02.07). Sentimentalität resultiert aus der Bewusstheit der Endlichkeit des Festes. „So ein Tag, so wunderschön wie heute. So ein Tag, der dürfte nie vergeh’n“ besingt
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die Begrenztheit aller Lust und das memento mori. „So jung kommen wir nicht wieder zusammen“, durch zieht viele Aufrufe zum Trinken und Tanzen. Dieser Appell zum Leben und Genießen in der Gegenwart spricht den Aschermittwoch und die Vergänglichkeit allen menschlichen Seins an. Sentimentalität ¿ndet im Karneval ungewöhnlich öffentlich, unter den Augen vieler Anderer und mit ihnen gemeinsam ihren Platz. Das Thematisieren von Begrenztheit selbst schützt möglicher weise auch davor, dass Karneval sich abnutzt (vgl. Oelsner 2004: 29): Weil man sich von ihm verabschiedet, kann man ihn neu beginnen lassen. Ein anderes mit Emotionen und Irrationalität assoziiertes Thema fehlt bislang: von Wut, Hass und Angst begleitete Gewalt. Euphorie und Ausgelassenheit können umschlagen in zerstörerische Aggression, die sich öffentlich entlädt. Auch wenn Karneval die alltägliche Ordnung verkehrt, werden bestimmte Normverstöße nicht geduldet. Dazu gehören gewalttätige Auseinandersetzungen und Vandalismus, also körperliche und Sachschäden hervorrufende Aggressionshandlungen. Destruktives, aggressives Verhalten, in dem sich das „Unzivilisierte“ seinen Weg zu bahnen scheint, wird als Erschütterung der sozialen Ordnung wahrgenommen und gilt auch im Karneval als illegitim. Sowohl in den Beobachtungsprotokollen als auch in den Transkripten aller Interviews lässt sich eine ablehnende Haltung gegenüber Gewalt ausmachen, die sich unter anderem in einem Reden über deren Abwesenheit ausdrückt. Indem die Interviewten das friedliche, einträchtige Feiern und die Abwesenheit von Aggression positiv hervorheben, lehnen sie Gewalt im Karneval ab. Köln als Hochburg sei besonders gewaltfrei und friedliebend. Eine 31-jährige Frau aus Hessen erzählt: „Wo ich herkomme, da sind halt dann schon öfters auch mal Schlägereien und sowas und das kenn ich halt von Köln so gar nich“ (T1: 40 f.). Sie sieht Schlägereien als eine Form von illegitimer Gewalt, die sie ablehnt und die nicht zu ihrer Vorstellung und Dramaturgie von Karneval gehört. Sie entzieht sich der negativen Erfahrung im Heimatort durch einen Ortswechsel. Von Köln ist sie Rohheit und Aggression nicht gewohnt, dort erlebt sie „einfach dieses Friedlische“ (T1: 46 f.). Den Diskurs um Schlägereien und gewalttätige Auseinandersetzungen rekonstruiere ich im Folgenden unter Rückgriff auf das Gespräch mit den beiden Polizisten Norman und Anton. Die Polizei wirkt als eine für Sicherheit und Ordnung sorgende Instanz bei Events von außen auf das Geschehen. Die Polizisten haben eine distanzierte Perspektive auf die außeralltägliche Wirklichkeit Karneval. Das Thema Gewalt wird bei ihnen zunächst – dem aktuellen öffentlichen Diskurs entsprechend (vgl. z. B. Spiegel 2010) – als großes Problem identi¿ziert, das im Zusammenhang mit „den Jugendlichen“ steht. Im weiteren Verlauf des Gesprächs zeigt sich jedoch, dass die Karnevalstage in ihrem Einsatzgebiet unproblematisch und unauffällig sind.
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Für Norman, der als Polizist seit 1983 das Karnevalsgeschehen begleitet, geht Gewalt vor allem von Jugendlichen aus. Mehr noch, er problematisiert nicht nur Gewalt, sondern sieht Jugendliche als Problem. „Problem oder Problemgruppen sind in der Regel die Jugendlichen, Heranwachsenden, die also, äh, wahrscheinlich sonst wenich trinken und dann über die Stränge schlagen und dann kommt es zu Auseinandersetzungen und Schlägereien […]. Äh, dat sind die Heranwachsenden, die uns die Probleme machen“ (T13/2: 87 ff.).
Bei der Identi¿kation von Jugendlichen als Problemgruppe reproduziert Norman den öffentlichen, unermüdlich präsenten Diskurs „Jugend als Problem“, der so alt ist wie das Nachdenken von Erwachsenden über die nachfolgende Generation. „Für viele ist Jugend in erster Linie die Gruppe, die – den Erwachsenen – Probleme macht, die der Gesellschaft zur Last fällt“ (Bruder/Schurian 1988: 203 zit. in Griese 2007: 132). Diese Problemsicht betrifft viele Bereiche, u. a. Gewalt und Alkoholkonsum. Eine in der Regel erwachsene Perspektive auf Jugend identi¿ziert das als Problem, was aus jugendlicher Sicht vielleicht als „Spaß haben“ und „feiern“ bezeichnet wird. Das Konzept „Jugend als Problem“ orientiert sich über wiegend am Konzept der (Des-)Integration, in dem Jugend für die Gesellschaft zum Problem wird (makrotheoretisch) oder die Gesellschaft die Integration des einzelnen Jugendlichen gefährdet (mikrotheoretisch) (vgl. Griese 2007: 138). In beiden Perspektiven sind Jugendliche noch in der Entwicklung, müssen hineinwachsen in die Gesellschaft, müssen etwas werden, was sie noch nicht sind. Norman bestimmt diese Zeit des Werdens als negativ, weil sie mit Grenzüberschreitungen (zu viel trinken, Schlägereien) verbunden ist. Als Ursache für „Auseinandersetzungen und Schlägereien“ benennt er einerseits die psychoaktive, enthemmende Wirkung von Alkohol, auf der anderen Seite das Alter, als bestünde zwischen Gewalt und der Lebensphase Jugend ein direkter Zusammenhang. Das „Sicherheitsrisiko“ ist für ihn eindeutig benannt; es „sind die Heranwachsenden, die uns die Probleme machen“ und auf die von staatlicher Seite aus repressiv reagiert werden muss. Die polizeiliche Intervention betrifft Anton und Norman direkt, und darüber geben sie Auskunft. Anton berichtet von den Einsatzzahlen zur Weiberfastnacht im Jahr 2007, wo sich die Polizeipräsenz auf die Orte konzentriert, an denen Jugendliche sich treffen. Auf einem Marktplatz der Stadt haben sich an diesem Februartag „etwa 500 Jugendliche“ (T13/1: 199 f.) versammelt und „da dieses Gelage veranstaltet“ (T13/1: 200 f.). Von 10 bis 19.30 Uhr sind Polizisten im Einsatz und beobachten das Geschehen aus einiger Entfer nung und greifen bei Bedarf ein. In der Rückschau rechnet Anton vor:
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„Ähm, det is insgesamt zu zehn Einsätzen gekommen in der Zeit und davon waren acht Einsätze Körper verletzungen, Schlägereien oder Randalierer (= Ja. =) und zwei Mal hilÀose Personen. Also dat war eigentlich nich übertrieben viel (= T13/2: Nee. =), ganz normal“ (T13/1: 204 ff.).
Der vorher von Norman als Abweichung und Problem präsentierte Konnex ‚Jugend und Gewalt‘ wird von Anton hier angesichts der Zahlen relativiert, ja normalisiert. In der Kleinstadt-Realität ist kein Grund zur Besorgnis gegeben, es ist nicht „übertrieben viel“ passiert. Vielmehr gestaltet sich insgesamt alles „ganz normal“; es gibt „keine einzige Ingewahrsamnahme“ (T13/2: 214). Die Verletzungen sind nicht schwerwiegend, „[b]lutende Nase, aufgeplatzte Lippe, […] blaues Auge, dat isset dann“ (T13/2: 780), „also nichts Weltbewegendes“ (T13/1: 789). Norman bilanziert und zieht einen Vergleich mit der Vergangenheit: „so ruhich wie dies Jahr, mein ich, äh, war’s eigentlich noch nie“ (T13/2: 217 f.). Noch nie zuvor, so Normans Einschätzung, war der Verlauf des Straßenkarnevals so deliktfrei. Hier wird nicht nur dem Diskurs vom Anfang des Gesprächs jede Grundlage entzogen, sondern er wird auch fast vom Kopf auf die Füße gestellt, als es um das Einsatzgeschehen am Rosenmontag geht: „Rosenmontag war erstaunlich ruhich dies Jahr“ (T13/2: 325). „Da ham wir gar nix“ (T13/1: 323). Angesichts der Tatsache, dass zum Höhepunkt des Straßenkarnevals so viele Menschen unterwegs sind, ist es „erstaunlich“, wie wenig passiert. Hier wird die Abwesenheit von Gewalt als eine Abweichung von der Normalität präsentiert. Im Vergleich mit der Vergangenheit ist die Gegenwart nach der Präsentation der Zahlen weniger problembelastet; „dat war alles schon, äh, vor Jahren schlimmer, muss ich sagen, so vom Einsatzaufkommen her und auch von der Arbeit her“ (T13/1: 675 f.). Das von den Jugendlichen ausgehende Problem be¿ndet sich faktisch im Rückgang. Die Wirklichkeitskonstruktion von Norman geht aber dennoch vom ‚Problemfall Jugend‘ aus, verbindet alle Vorfälle mit einer Altersgruppe und repräsentiert nach wie vor den gängigen Diskurs. Gewalttätige Auseinandersetzungen im Straßenkarneval berühren auch das Thema ‚außeralltägliche Körperordnungen‘, die im Folgenden betrachtet werden. Schlägereien als „rauschhafte Körperpraktiken“ werden in dieser Beschreibung jedoch nicht vorkommen, da meine Feldphasen hierzu kein empirisches Datenmaterial hervorgebracht haben. Lediglich eine Festnahme durch die Polizei – also eine legitimierte Gewaltanwendung – ist Teil der Beobachtung (vgl. Protokoll 19.02.2007). Das Thema Gewalt erscheint auf der Grundlage der empirischen Daten in der Praxis des Karnevalfeierns als marginal.
228 7.3.3
Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse Tanzen, hüpfen, rummachen – außeralltägliche Körperordnungen
Die Aufführungspraxen von Bewegung im Straßenkarneval weisen eine dominante Kollektivorientierung auf und sind daher weniger individuell als vielmehr kollektiv zu betrachten. Die Zeit des Straßenkarnevals bringt außeralltägliche Bewegungs- und Haltungstypiken sowie spezielle, symbolisch codierte Bewegungsabfolgen hervor, die auf Gemeinschaft angewiesen sind und zugleich Gemeinschaft erzeugen. Dass man sich „’n bisschen anders benimmt als sonst“ (T11/2: 411), setzt voraus, dass viele Andere sich ebenfalls alternativer Verhaltensweisen bedienen. Diese Bewegungs- und Verhaltensorientierung am Anderen beruht auf dem mimetischen Erfassen, einer Grundlage der menschlichen Subjektwerdung (vgl. Wulf 2005: 21 ff.). In den Interaktionen zeigt sich der Körper als sichtbarer Akteur, als Medium und Material (vgl. Soeffner 1992: 104) und ist auf die durch ihn proxemisch hergestellten Regelmäßigkeiten hin zu untersuchen. Der Straßenkarneval erzeugt situativ alternative Interaktionsordnungen, die nach Goffman immer auch Bewegungsordnungen sind. Von den Interviewsequenzen ausgehend, in denen außeralltägliche Körperordnungen präsentiert werden, lässt sich abstrahierend die Lebenswelt des Straßenkarnevalisten auf Bewegung hin rekonstruieren. Eine typische, synchronisierte, kollektive Bewegung im Karneval ist das Schunkeln. Bei dieser Bewegungsart wird unmittelbare körperliche Nähe zu den benachbarten Untergehakten erzeugt. Dieser enge Körperkontakt wird (zwangsläu¿g) auch mit Fremden eingegangen und zugelassen. Wer ausgelassen feiert, der hat „gar kein Problem irgendwie auf, auf die Leute zuzugehen oder […] mit denen zu feiern und zu schunkeln“ (T1: 61 ff.). Der Interviewausschnitt präsentiert eine Reihenfolge in den Interaktionsweisen: 1. Kontakt herstellen, 2. aufeinander bezogen feiern, 3. miteinander schunkeln. Diese Steigerung der Kontaktintensität folgt einer Regelmäßigkeit und geht einher mit der schrittweisen Ver ringerung von Distanz. Die proxemischen Ordnungen des Alltags verschieben sich. Rhythmische Bewegung, das Berühren und berührt Werden sind nun „normales“ Bewegungsrepertoire und selbstverständliche Körpererfahrung der Straßenkarnevalisten. Eine Inter viewpartnerin berichtet, wie außeralltägliche Körperpraktiken in Köln zur Regel werden. Wenn du „dann extrem halt da rumhüpfst und springst und mitgrölst, wenn man denkt (.), eh, was ist das denn. Ich mein, was weiß ich, wenn du hier ins Klein Köln gehst, dann macht das jeder, da ist das normal, ja“ (T1: 147 ff.). Das intensive Hüpfen, Springen und lauthals Mitsingen ist eine erwünschte Erfahrung des eigenen Körpers. Diese dynamischen Effekte im Karnevalsgeschehen werden gezielt aufgesucht – beispielsweise in der genannten Kneipe „Klein Köln“. Auch wenn ‚man‘ denken mag „was ist das denn“, also seine Überraschung oder Skepsis äußern könnte über diese ungewöhnliche Art des Miteinanders, so ist dies
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gerade Teil der karnevalesken Wirklichkeitskonstruktion. Sie stellt ‚Normalität‘ dadurch her, dass viele Menschen sich an diesen auf Kollektivität angelegten Bewegungen beteiligen. In Gerhard Schulzes Differenzierung zwischen Hochkultur-, Trivial- und Spannungsschema zeichnet sich das Trivialschema, dem der Karneval zuzuordnen ist, durch eine starke Körperorientierung aus. Bedingt durch die gleichförmige Rhythmik seiner musikalischen Formen lädt das Trivialschema geradezu zur Bewegung ein. Ohne aufwendige Choreogra¿e darf sich der Körper im Karneval regen, kann schunkeln, stampfen, bützen, klatschen, zuprosten. Der Körper „darf sich bewegen, ohne sich anstrengen zu müssen, darf laut sein, essen und trinken, berühren und berührt werden. Er darf sich bemerkbar machen“ (Schulze 2005 [1992]: 151). In der kollektiven, synchronisierten Bewegung wird die unmittelbare Nähe zum benachbarten Körper besonders intensiv wahrgenommen. Die gemeinsamen Bewegungen im gleichen Rhythmus, z. B. bei den zahlreichen Ritualen wie Kamelle fangen, Bewegungen zu Schlachtrufen, Choreogra¿en zu Karnevalsschlagern, können vergemeinschaftende Wirkung haben (vgl. Alkemeyer 2002: 33). Sie sind perfor mative Praktiken, durch die Gemeinschaft sinnlich spürbar wird. Das eigene Verant wor tungsgefühl wird abgegeben und dem Takt der Menge unterworfen. Die eigenen personalen Grenzen werden in der Mimesis der Gesten eines anderen Menschen überschritten – zumindest im Hinblick auf dessen Darstellungs- und Ausdrucksweise. „Über die mimetische Perzeption der Geste wird der spezi¿sche Charakter des körperlichen Selbstausdrucks eines anderen Menschen erfasst. In der Anähnlichung an die Gesten eines Anderen werden seine Körperlichkeit und seine Gefühlswelt erfahren“ (Wulf 2005: 43, Herv. i. O.). Eine vielfach gemeinschaftlich aufgeführte Geste ist der dreifach seitlich in die Luft schwingende Arm zum typisch kölschen, karnevalistischen Ausruf „Alaaf“. Das gemeinschaftliche Rufen und die Bewegung bringen die Menge in den gleichen Takt. Das ‚Alaaf‘ ist ein Symbol des Kölner Karnevals und leicht zu imitieren. Er öffnet dadurch den Zugang zu einer interaktiv erfahrenen Gemeinschaft von Jecken und steht für deren Gleichgestimmtheit. Zugleich kann es durch die Abgrenzung von „Helau-Regionen“ Gruppenidentität festigen. Zum Karneval gehört das Tanzen, das als eine Form der Bewegung (häu¿g) zu zweit und synchron im Takt der oftmals sehr repetitiven Musik die Vergnügungswelt mit konstruiert.72 Tanzen ist eine Kulturtechnik, die nicht rationalen Nützlichkeitserwägungen folgt, sondern das leibliche Erleben betont. 72 Zum Karneval gehört selbstverständlich auch der karnevalistische Tanz der Garden in den Karnevalsvereinen. Der karnevalistische Tanz hat Aufführungscharakter und ist als Show-Element angelegt. Er ist wichtiges Symbol des Karnevals und Mittel der Selbstinszenierung der Vereine und Vereinsmitglieder. Er zielt jedoch nicht auf die aktive Beteiligung der Zuschauer. Sie sind lediglich zum Mitklatschen, nicht zum Mittanzen angehalten. Im Untersuchungskontext ‚rauschhafte
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Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse
Es ist „Struktur gewordene Materialisierung ästhetischer Codes“ (Villa 2006 [1999]: 299) und eine geschlechtsrelevante Interaktion, denn zumeist sind die Tanzpaare verschiedengeschlechtlich. Im auf die Geschlechtsrollen verteilten Führen (durch den Mann) und Geführt-werden (der Frau) reproduziert sich patriarchale Ordnung und traditionelle Geschlechtsstilisierung. Der Paartanz ist ein am Tanzpartner und an der Musik ausgerichteter, koordinierter Bewegungsablauf mit Rollendifferenzierung (vgl. Diaz-Bone 2009: 359). Als eine leicht erlernbare Tanzform mit Anleihen aus verschiedenen Stilen dominiert im Karneval der Disco Fox, der auf die meisten Stim mungslieder im Karneval tanzbar ist. Disco Fox lässt unbeschwertes, ausgelassenes Tanzen sowie die Kommunikation zwischen den Tanzpartnern zu und kann mit seinen Drehungen je nach Geschwindigkeit leichten Schwindel73 auslösen. Es geht hierbei nicht um eine perfekte Aufführung, nicht um eine Präsentation von harmonischem Tanz mit aufwendiger Choreogra¿e, sondern um die Betonung eines lustvollen, unbekümmerten und spaßorientierten Zusammenseins. Tanzen ist verbunden mit Körperlich keit, Genuss und Lust und stellt eine legitimierte und domestizierte Form des Umgangs mit dem eigenen Trieb dar. Der Körper ist im Tanz Medium der Kommunikation, der Selbsterfahrung und Selbstpräsentation. Er wird zur Schau gestellt und wird im Karneval auch in groteske, komische bis lächerliche Situationen gebracht, ohne dass sich an ihm Zeichen der Scham ablesen ließen. Das Mit-Tun in der Gruppe entlastet vom Scham- und Verantwortungsgefühl: „Ausnahmezustand, und das ist einfach, man kann einfach rumgrölen und ohne sich zu schämen oder aufzufallen oder so, ja“ (T1: 133 f.). Scham ist ein soziales, ein normatives Gefühl und ist eng verbunden mit dem Emp¿nden, gegen eine Norm verstoßen zu haben. Weil sich im Straßen karneval Normen verschieben, sind viele Verhaltensweisen gerade nicht von einem belastenden, isolierenden Schamgefühl gefolgt. Es ist ‚einfach‘, sich im Straßen karneval normgerecht zu verhalten; es ist ‚einfach‘, weil die Aufdringlichkeit des eigenen Körpers im Zustand der Freude, des Überschwangs, des Rausches fraglos zugelassen werden kann. Es ist „Ausnah mezustand“, das heißt, man gesteht sich und anderen eine Ausnahme, eine Abweichung vom Regelwerk zu. Damit gehen oft auch sexualisierte Bewegungen und eindeutige Kontakt versuche einher, denn „kontaktfreudiger sind die Leute auf jeden Fall am Karneval“ (T9: 94 f.). Charmante Annäherungen, aber auch Anzüglich keiten und Grenzüberschreitungen gehören dazu, denn „manche Leute [sind] zu kontaktfreudig […], sage ich mal“ Vergemeinschaftungen‘ wird dem karnevalistischen Tanz daher keine detaillierte Aufmerksamkeit geschenkt. 73 Durch das Drehen um die eigene Achse ausgelöster Schwindel ist eine direkte BeeinÀussung der Wahr nehmung und schon in Kindertagen eine beliebte Form des kurzzeitigen Rausches.
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(T9: 101 ff.). Die Betonung des Körpers, die körperliche Nähe beim Feiern, das Überwinden von Peinlich keitsgrenzen und das Eindringen in soziale Intimzonen des Anderen bedingen die sexualisier te Seite des Karnevals. Das Bützen ist ein ritualisierter Eintritt von Frauen in männliche Intimzonen („da wird man auch schon mal von ’n paar Frauen angefallen und jebützt, ne“ – T13/2: 528 f.). Die kurzen Uniform röckchen der Funkemariechen, die einen Blick auf die Beine und Rüschenhöschen der Tänzerinnen zulassen, können sexuelle Begierden wecken. Karneval und Sexualität hängen auch wegen der das Geschlecht betonenden oder verändernden Kostüme zusammen. Zwei 23-jährige männliche Straßenjecken benennen freimütig ihre Motivation zum Feiern im Rosenmontagszug: „wir wollen rummachen“ (T5/2: 20). Die karnevaleske Spielwiese bietet vielfältige Möglichkeiten des Erprobens sexualisierter Interaktion mit einem Gegenüber, aber auch Gelegenheiten des Erforschens eigener Körpererfahrungen und -darstellungen (vgl. T11/2: 542 f.). Das „Rummachen“ erfasst die ganze Bandbreite sexualisierter Kontaktoptionen von Küssen, innigen Umarmungen über intime Berüh rungen bis hin zum Geschlechtsverkehr. Damit lassen die beiden jungen Männer offen, was sie darunter verstehen, und zugleich verringert sich durch ihre unkronkrete Erwar tungshaltung der Erfolgsdruck. Straßenkarneval lässt ein unverhohleneres Thematisieren von Sexualität zu, die im Alltag einer eigenen, rigide abgeschlossenen und tabuisierten Wirklichkeit zugeordnet ist. Durch die Kostümierung, durch außeralltägliche Bewegungen und Wirkungen von z. B. Alkohol wird dem Körper eine erhöhte Aufmerksamkeit zuteil. Er wird (explizit) wahrgenommen, inszeniert und stimuliert. Dabei ist Karneval jedoch keinesfalls als Welt zu verstehen, in der ansonsten tabuisierte und von der Öffentlichkeit ausgegrenzte Ausdrucksformen von Sexualität vorübergehend zugelassen werden können. Vielmehr ¿ ndet im Karneval eine karnevaleske Inszenierung von Sexualität statt, die nicht für Befriedigung von Trieben steht, sondern für deren Disziplinierung. Es ist allenfalls die Befriedigung des Bedürfnisses nach Selbstdarstellung und Anerkennung der eigenen physischen Attraktivität, indem die sonst üblichen Formen der Sexualität überzeichnet und übertrieben werden. Diese öffentliche Darstellung ¿ndet besonders häu¿g in Form von erotischen Karnevalskostümen (z. B. Domina) oder mittels Überbetonung der sexuellen Komponente bestimmter Kostümrollen statt (z. B. beim Männlichkeit betonenden Cowboy, der die Plastikpistole deutlich als Phallussymbol interpretiert). Aber auch Trinkrituale, Tänze und Choreogra¿en, karnevaleske Spiele, Gruppenfotos in enger Umarmung, Selbstberührungen (z. B. des Busens) und Berührungen anderer (z. B. des Gesäßes) inszenieren neben vielen anderen Praktiken das schamlos Triebhafte, das Sexuelle in der Welt des Karnevals. Weil die Karnevalswirklichkeit für Maßlosigkeit und Genuss beim Essen,
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Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse
Trinken, Tanzen, Flir ten und „Rummachen“ steht, wird (Pseudo-)Sexuelles als Inszenierungspraxis aufgenom men. Dabei geht es aber (wie beim Essen, Trinken und Tanzen auch) nicht um ein auf Andere bezogenes Handeln, sondern um den Selbstgenuss. Es geht beim Flirten und „Rummachen“ um die Steigerung des Selbstwertgefühls und um inszenierte Selbstbezüglichkeit. Für die sexuelle Appetenz und ein erhöhtes Erregungsniveau spielt die enthem mende Wirkung des Genusses von mittleren Mengen Alkohol (bzw. Ethanol) eine wichtige Rolle, der im Folgenden nachgegangen wird. 7.3.4
„Drink doch ene met, du Jeck !“ – Alkoholrausch im Karneval74
Alkoholische Getränke75 haben seit jeher ihren festen Platz im Karneval und sind dort die wichtigsten pharmakologischen Substanzen zur Erzeugung eines Rauschzustands. Das traditionelle Getränk für Karneval im Rheinland ist das Kölsch, das, gefolgt von Altbier und branntweinhaltigen Getränken, an den jecken Tagen favorisiert wird. Kölsch ist ein helles, ge¿ltertes, obergäriges und regionaltypisches Bier, das als regionale Spezialität von der EU geschützt ist. Karneval gilt allgemein als legitimer Ort und legitime Zeit für einen durch alkoholische Getränke ausgelösten Rausch.76 Um die Rauscherfahrungen als sozial akzeptiert und kulturell erwünscht zu gestalten, werden sie in einen rituellen Rahmen integriert. Dazu gehört die Wahl der Getränkesorte (oft Kölsch) ebenso wie das gemeinschaftliche Trinken, das den ganzen Tag über legitim ist, nicht erst in den Abendstunden. Das gemeinsame Trin ken ist auch ein Element des Eintritts in eine andere, eine karnevaleske Wirklichkeit und fungiert als eine Art Übergangritus. In der außeralltäglichen Welt entfaltet der Alkohol seine my thische Dimension. Man beginnt, einander zu duzen, sich nur mit Vornamen anzureden, sich vom Alltag und dessen Rollenanforderungen zu lösen (vgl. Sulkunen 19812: 258). Etwas berauscht zu sein, ist Teil der guten Stimmung, wie ein Straßenjeck knapp und 74 Neben der psychoaktiven Substanz Alkohol sind auch psychologische Techniken der Rauscherzeugung im Karneval relevant. Musik und (Schwindel erregender) Tanz sind die prominentesten Möglichkeiten zur BeeinÀussung der Wahrnehmung. Aber auch Erschöpfung und Kälte können an einem langen Februartag im Straßenkarneval die Sinneswahrnehmung beeinÀussen. Auch das Kostüm, welches eine veränderte Kör perwahrnehmung bewirken kann, fördert das Rauschhafte im Karneval. Rausch als eine alternative Wirklichkeitskonstruktion wird im Karneval durch weit mehr konstituiert als nur durch Alkohol. Da sich im Interviewmaterial aber explizite Thematisierungen zu Alkohol und dessen Anwendung ¿nden, liegt der Schwerpunkt dieses Kapitels auf dieser im Karneval so prominenten, psychoaktiven Substanz. 75 Alkoholische Getränke bzw. Alkoholika sind solche Getränke, die Äthylalkohol (Ethanol) enthalten. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Name Alkohol verwendet, der erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Umgangssprache einging (vgl. Spode 1999: 25). 76 Dies gilt – wie gezeigt werden wird – allerdings für Jugendliche nur eingeschränkt.
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deutlich zusam menfasst: „nette Leute, viele Leute, gut gelaunt, alkoholisiert, das volle Programm“ (T6: 19 f.). Eingeleitet wird das ritualisierte Trinken nicht nur mit einem Zuprosten oder Anstoßen, sondern häu¿g auch durch begleitende Trinksprüche, Trinklieder oder Praktiken, die das Präparieren oder Genießen des Getränks selbst betreffen. In ein Trinkritual werde ich an Weiberfastnacht 2007 um die Mittagszeit von Philipp eingeführt. Philipp trägt ein Alien-Kostüm mit leuchtend roter Perücke und neongrünem Overall. Gemeinsam mit vielen anderen Jecken und Vereinsmitgliedern stehen wir bei sonnigem Wetter auf dem Vorplatz einer Bank. Bis dahin haben wir noch kein Wort miteinander gewechselt und reiben dennoch plötzlich unsere Wangen aneinander. „Ich werde an die Seite des Bürgermeisters geschoben. Der holt einen ‚Kurzen‘ heraus, einen Himbeerlikör in einer herzförmigen Flasche mit zwei Flaschenhälsen. Ich muss mir den kleinen Schraubdeckel auf die Nase setzen, er tut das gleiche bei sich, und wir trinken beide zugleich aus der Flasche, jeder aus seinem Flaschenhals“ (Protokoll 15.02.2007).
Dieses Trinkritual ist ein Spiel mit der Lächerlichkeit, mit der symbolischen Vereinigung zweier Menschen, mit Intimität und sexuellen Anspielungen. Es bringt mich in Kontakt mit Philipp, der sofort geduzt werden möchte und sich später für ein Interview anbietet. Es demonstriert meine Kontaktfreude und nimmt mich auf in die Gruppe der Jecken. Als Interaktions- und Orientierungsregeln sind (Trink-)Rituale für mich als Neuling hilfreiche Hinweise im Feld. Das Ritual hat stets ordnende Funktion und folgt, „auch wenn es noch so maßlos oder übersteigert geschieht, doch einer strengen Regel, die selbst dann Beachtung verlangt, wenn sie wenig einleuchtend oder im Verhältnis zur bestehenden Ordnung völlig unsinnig zu sein scheint“ (Maffesoli 1986: 107 f.). Das gemeinsame Trinken von mir und Philipp wird kommentiert von einer Karnevalsprinzessin, die mir erklärt, dass das eine Ehre sei, „das macht der nicht bei jedem“ (Protokoll 15.02.2007). Es werden also auch (alter native) hierarchische Ordnungen rituell produziert. Trinkrituale sind eng verknüpft mit Motiven und Funktionen des Alkoholkonsums, zu denen die Erleichterung von Kontakten, das Symbolisieren von Distinktion und Integration zählen; z. B. die Distinktion von Nicht-Jecken sowie die Integration in die eigene (Zech-)Gruppe. Das rituelle Trinken stiftet Sinn: Das Zuprosten und Begießen eines Anlasses verleiht dem Fest in gewisser Weise seine Würde und hat eine rituelle Gemeinschaftsbildung zur Folge. In der Praxis des „Rundengebens“ in Kneipen und Festzelten wird dies besonders deutlich. Diese auf Reziprozität beruhende Gewohnheit wird oft begleitet von Trinksprüchen. Als im Februar 2008 auf einer Karnevalssamstagsparty im Festzelt allen Mitgliedern
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Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse
einer Gruppe ein Getränk spendiert wird, heben alle lauthals an, prosten sich zu und rufen: „‚Auf den größten, den schlausten, den erotischsten …‘. Der Name folgt und dann wird die Runde mit dem dreifachen, regionaltypischen Karnevalsschlachtruf eröffnet“ (Protokoll 02.02.2008). Mit diesem immer aufs Neue wiederholten Spruch wird eine gemeinsame Sphäre geschaffen. Dem Zerfallen der Gruppe in partielle Gesprächskreise und kleinere Untergruppen wird vorgebeugt, indem alle in die rituelle Zeremonie integriert und durch das erhaltene Getränk der Gruppe verpÀichtet werden. Die Gruppe rückt die hervorgebrachte Gemeinschaftlichkeit ins Zentrum und inszeniert sich lautstark selbst, um von anderen als Gemeinschaft wahrgenommen zu werden. Die vergemeinschaftende Wirkung des kollektiven Trinkens entfaltet sich auch im gemeinsam eingegangenen Rausch, wenn die berauschende Wirkung des Alkohols gemeinsam erlebt wird. Das Ausgeben eines Getränks unter einander Unbekannten ist ein wirksames Mittel der Kontakterleichterung und -aufnahme. Das Anstoßen mit dem Bier-, Wein- oder Schnapsglas ist in gewisser Weise die erste körperliche Kontaktaufnahme. Katharina berichtet, wie Alkohol – eingebunden in einen rituellen Rahmen – zum sozialen Schmier mittel wird, wenn sie und ihre Familie „halt da mal hingehen und den Leuten, was weeß ich, ’n Schnäpschen halt geben oder so (= Ja. =) oder meine Mutter, die geht halt immer mit ’ner FeldÀasche dann zu den einzelnen Leuten und lässt die mal eben trinken“ (T9: 186 ff.). Dieser freigebige Umgang mit alkoholischen Getränken und anderen Genussmitteln ist ein Element, das zur Erzeugung der freundlichen, harmonischen Stimmung beiträgt. In den dargestellten Materialauszügen enthält das Trinken Elemente des ilinx, des Spielerischen (vgl. Caillois 1964: 21 ff.). Das Zuprosten ist eine symbolische Geste des Beginnens und setzt den Anfang – den Anfang eines neuen (Trink-)Spiels, eines neuen Gesprächs, eines neuen Kontakts. Mithilfe dieser Geste lässt sich Fremdheit in Vertrautheit transformieren und eine Gemeinschaftlichkeit ausdrücken, die manchmal erst aus ihr resultiert. Das Zuprosten hat vergemeinschaftende Wirkung und ist gewissermaßen symbolischer Ausdruck einer rauschhaften Vergemeinschaftung. Alkoholische Getränke im Straßenkarneval sind selbstverständliches Element zur Erzeugung einer anderen Wirklichkeit. Bier-, SektÀasche oder kleine Schnäpschen gehören beinahe zur Grundausstattung des Straßenjecken. Einige Gruppen ziehen ihre Vorräte in einem kleinen Bollerwagen hinter sich her, andere haben Rucksäcke dabei. Das gemeinsame Berauschen ist also geplant, vorbereitet und geschieht in voller Absicht. Das gezielte Versetzen in einen anderen Bewusstseinszustand kann als multidimensionales Risikoverhalten eingeschätzt werden und betrifft gesundheitliche, ¿nanzielle und zum Teil rechtliche Risiken. Der riskante Konsum von Alkohol wird in den Interviews häu¿g thematisiert. Oft unvermittelt und ohne dass Nachfragen dieses Phänomen angesprochen
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hätten, wird der sensible Gegenstand problematisiert. Die Interviewten kategorisieren einen richtigen, maßvollen Umgang mit Alkohol einerseits und das falsche, missbräuchliche „Saufen“ andererseits. Karneval wird ganz selbstverständlich als Fest in Verbindung mit Alkohol gebracht („natürlich wird im Karneval viel Alkohol getrunken“ – T18: 1105). Immer wieder wird aber klargestellt, dass man nicht unbedingt (maßlos) trinken muss („man muss nicht unbedingt betrunken sein“ – T8: 50 f.). Erst recht nicht sind es die Erzählenden selbst, die Alkohol zum Feiern bräuchten. Für Katharina gibt es einige, die meinen „Karneval is’n Grund zum Saufen. (= Ja. =) Also, (3) is für mich eigentlich weniger. Klar, getrunken wird auch, ähm, ja, aber – also mir geht’s da eigentlich schon mehr so um Spaß haben“ (T9: 60 ff.). Sie verteidigt ihr positives Bild von einem harmonischen Karneval, das getrübt würde durch Menschen, deren primäres Motiv für das Karnevalfeiern das Saufen sei. Sie selbst trinkt auch („ich hab gestern auch getrunken, ich werde auch Montag wieder trinken, aber man muss nicht unbedingt“ – T9: 77 f.), aber nicht zwanghaft, denn bei ihr steht der Spaß am Karneval im Vordergrund. Ähnlich argumentiert Alf: „[I]ch sag ganz ehrlich, ich trink auch manchmal einen über’n Durst im Alkohol (= Ja. =), aber wenn-, es gibt dann, äh, äh, Leute, die vergessen dann wirklich sämtliche, äh, Hemmschwellen, sämtliche Grenzen. Und dat ¿nde ich, dat gehört nicht dazu. Die benehmen sich dann daneben (= Hm. =), machen dies, machen jenes. Dat is irgendwie-, dat hat nix mit Karneval zu tun“ (T18: 1105).
Alf gibt „ganz ehrlich“ zu, dass er hin und wieder exzessiver trinkt, allerdings ohne die Idee des Karnevals zu verraten, wie es andere Leute täten. Das abweichende Verhalten, das der enthemmenden Wirkung des Alkohols zugeschrieben wird, verurteilt Alf ebenso wie das hemmungslose Trinken selbst. Die Grund¿gur dieser Argumentation,77 die sich häu¿g im Interviewmaterial ¿ ndet, ist immer gleich. Die Befragten präsentieren sich selbst als echten, seriösen Karnevalisten, der bestimmten Prinzipien folgt.78 Gleichzeitig grenzen sie sich ab von solchen Menschen, die Karneval als Anlass zum Rauschtrinken missbrauchen 77 In der Psychoanalyse kennt man den Vorgang der Projektion, der von Sigmund Freud begrifÀich eingeführt wurde. „Es handelt sich […] darum, etwas nach außen zu werfen, was in sich selbst zu erkennen oder selbst zu sein man sich weigert“ (Laplanche/Pontalis 1973: 406). Die eigenen inneren Reize und Triebe werden anderen zugeschrieben und verurteilt. So kann das Subjekt vor den Reizen Àiehen und sich schützen. Die Zuschreibung, Andere hätten sich und ihren Alkoholkonsum nicht im Griff, kann als typischer Projek tionsvorgang verstanden werden: In den Anderen wird das erkannt, was man an sich selbst fürchtet. 78 In den Karnevalsvereinen wird die Einhaltung der Prinzipien von anderen Vereinsmitgliedern überwacht und der Übertritt von „Hemmschwellen“ sanktioniert, jedenfalls solange die Uniform des Vereins (als Zeichen der Kollektividentität) getragen wird.
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Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse
und unangenehm aus dem Rahmen fallen würden. Das seien keine Karnevalisten, denn das „hat nix mit Karneval zu tun“. Dieses Konstrukt erinnert an ein Phänomen aus der Medienwirkungsforschung, auf das in den 1980er-Jahren erstmals hingewiesen wurde, den „Third Person“-Effekt. Er besagt, dass Menschen im allgemeinen davon ausgehen, dass die anderen (third persons) durch Medien stärker beeinÀusst werden als sie selbst (vgl. Bonfadelli 2004: 190 f.). Auch die Ausführungen der Gesprächspartner zeigen beim Thema Alkohol im Karneval einen „Third Person“-Effekt, indem die Anderen (Dritten) als diejenigen beschrieben werden, die weder ihren Alkoholkonsum noch dessen Auswirkungen auf den Affekthaushalt kontrollieren können. Höhere Bildung, hohes Involvement und große soziale Distanz zu der Gruppe, die als third person benannt wird, beeinÀusst die Stärke des „Third Person“-Effekts positiv (vgl. ebd.). Sofern in den Interviews eine Gruppe als third person konkretisiert wird, ist es stets die hinsichtlich des Alters häu¿g sozial entfernte Gruppe der Jugendlichen. Was diskursiv für aggressives und gewalttätiges Verhalten zutrifft, gilt auch für das Trinken von Alkohol: Jugendliche praktizierten einen problematischen Umgang mit Alkohol und verursachten damit ein Problem. „Ähm, natürlich wird, wird’n Bier getrunken, mal so’n, hier so’n Schnäpschen getrunken (= Hm. =), ähm, klar, aber, ähm, das, was die Jugendlichen- ich meine, dat is ja mittlerweile ’n ernsthaftes Problem geworden, mal ab vom Karneval jetzt, ne der Alkoholismus (= Ja. =) unter den Jugendlichen. Ähm, ich seh das als großes Problem an (= Hm. =), weil dadurch der Ursprung des Karnevals kaputt gemacht wird. (= Ja. =) Und weil dadurch den Leuten suggeriert wird, Karneval ist gleich Betrinken bis zum Umfallen“ (T12: 783 ff.).
Anita räumt gleich zu Beginn der Passage ein, dass der Alkoholrausch ein allgegenwärtiger Bestandteil des Karnevals ist, verharmlost diese allgemeine Feststellung aber mit der Nennung einer geringen Anzahl an üblichen alkoholischen Getränken und dem Diminutiv (Schnäpschen). Das große Problem seien die Jugendlichen, womit sie den medialen Diskurs vom Rauschtrinken unter Jugendlichen reproduziert und den exzessiven Umgang mit Alkohol in dieser Altersgruppe problematisiert. Mit der Nennung des Terminus Alkoholismus dramatisiert sie ihre Darstellung zusätzlich. Alkoholismus ist ein Krankheitsbild, bei dem von einer Abhängigkeit ausgegangen werden muss,79 von der nur ein sehr kleiner Prozentsatz von Jugendlichen betroffen ist. Die Übertreibung und die Rede von einem krankhaften Konsum nutzt Anita argumentativ, um eine Kausalbeziehung zwi79 Rausch und Sucht sind zwei grundsätzlich voneinander zu unterscheidende Phänomene (vgl. Kap. 3.1.1). Eine Trennung dieser beiden Begriffe unternimmt Anita nicht.
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schen dem „Problem Jugend“ und „Karneval als Problem“ zu konstruieren. Durch das Fehlverhalten von Jugendlichen könnte auch der Karneval als problematisch und kritikwürdig angesehen werden. Sie fürchtet, dass exzessives Trinken im Karneval und vor allem dessen normativ gefärbte mediale Abbildung ein „falsches“ Bild vom Karneval „suggerieren“ könnten. In Anitas Wirklichkeitskonstruktion hat Karneval keinesfalls etwas mit Maßlosigkeit und Exzess („Betrinken bis zum Umfallen“) zu tun. Ihr Bild vom Karneval ist vielmehr ein durch das Vereinsleben geordnetes und organisiertes Feiern, über das sie in ihrer Tätigkeit als Jour nalistin vor allem aus der Sicht des bürgerlichen, organisierten Karnevals berichtet. Eine ähnliche Problemsicht auf Jugendliche und deren Alkoholkonsum hat Anton, der als Polizist aggressive Auseinandersetzungen aufgrund der enthemmenden Wirkung von Alkohol fürchtet. „Und Alkohol enthemmt, wie der Norman schon sachte. (= Ja. =) Das sind also, teilweise sind dat Jugendliche, die trinken dann vielleicht dat erste Mal oder, oder über alle Maßen Alkohol“ (T13/1: 94 ff.). Aufgrund ihrer Unerfahrenheit mit Alkohol können Jugendliche, so Antons Argumentation, nicht mit Alkohol und dessen enthem mender Wirkung umgehen. Der Interviewte beschreibt den jugendkulturellen Ritus der Selbstinitiation, der im allerersten Konsum von Alkohol besteht und anlässlich des Karnevals tatsächlich häu¿g praktiziert wird. Anton präsentiert exzessiven Alkoholkonsum als ein selbstverständliches Ritual von ‚all den Jugendlichen‘. Am Altweiberdonnerstag „treffen sich all die Jugendlichen, äh, nach der Schule oder aber, wenn se Schule schwänzen oder wat […] und da wird natürlich uff Teufel komm raus gesoffen“ (T13/1: 101). Neben der gesteigerten Aggressivität trinkender Jugendlicher nennt Anton hier das Schulschwänzen als Regelverstoß. Er konstruiert damit ein komplexes GeÀecht von abweichendem Verhalten, in dem die „Problemgruppe Jugendlicher“ sich bewegt. In der AuÀistung seiner Zahlen auf der Grundlage des Einsatzberichtes vom Altweiberdonnerstag 2007 ist es zu zwei Einsätzen aufgrund von „hilÀosen Personen“ gekommen (vgl. T13/1: 205 f.), also „eigentlich nich übertrieben viel“ (T13/1: 206). Die dadurch abgebildete Realität scheint demnach nicht ganz zu seiner (offenbar übertriebenen) Darstellung von Jugendlichen als „Komasäufer“ zu passen („Die trinken ihre Pullen leer und die fallen dann hin.“ – T13/1: 152 f.). In rechtlicher Hinsicht ist der Umgang mit Alkohol im Jugendalter zwar eindeutig geregelt, denn das Jugendschutzgesetz (JuSchG) bestimmt in § 9 die Altersgrenzen für Abgabe und Verzehr alkoholischer Getränke. Die Realität zeigt jedoch, dass die durch öffentliche Berauschung praktizierte Selbstinitiation häu¿g vor dem 16. Geburtstag statt ¿ ndet. Weil Karneval ein willkommener Anlass für den ersten Alkoholgenuss ist, weisen Ordnungsamt, Polizei sowie nicht-behördliche Arbeitgruppen alljährlich zur Karnevalszeit mit verschiedenen Kampagnen auf den Jugendschutz hin (z. B. „Keine Kurzen für Kurze“ in Köln
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Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse
und Bonn). In diesen Initiativen manifestiert sich das ambivalente Verhältnis zum Rausch im Kar neval. In der von alkoholischen Getränken und Maßlosigkeit geprägten Lebenswelt Karneval werden Bemühungen angestellt, eine junge und zu schützende Gruppe von Jecken von Rauscherfahrungen auszuschließen. Damit spricht man ihnen die Fähigkeit zu einem kompetenten Umgang mit Alkohol ab und hindert sie daran, einen solchen zu erlernen. In der Selbstinitiation demonstriert der Jugendliche die Ablösung von der elterlichen Fürsorge und der Kontrolle über sein physisches und psychisches Wohlbe¿nden und gleichzeitig seine Eigenständigkeit und Autonomie (vgl. Ganguin/Niekrenz 2010: 12). Er entzieht sich damit der Aufsicht und Überwachung durch Erwachsene und dekonstruiert deren Machtposition. An Bedeutung gewinnt gleichzeitig die Peer-Group, deren Beziehungsstrukturen sich auch durch gemeinsame Räusche konstituieren bzw. stabilisieren. 7.4
Raum, Zeit und Körper: Rauschhafte Vergemeinschaftungen im Straßenkarneval
Die Analyse des empirischen Materials zeigt, dass eine Fülle von sozialen Beziehungen für das Erlebnis Karneval relevant sind. Soziale Interaktionen verschiedenen Typs lassen ein soziales Netzwerk von Beziehungen entstehen, deren Qualität sich etwa von sehr intensiv, wie den Familienbindungen, bis loser, wie Verbindungen zu Vereinsmitgliedern, aufspannt. In der schematischen Abbildung 2 (A) sind die Netzwerke Familie, Freunde/Bekannte, Kollegen/Geschäftspartner, Vereinsfreunde aus z. B. Sport- oder Schützenverein, Nachbarn und Karnevalsverein aufgezählt. Solche Beziehungszusammenhänge können wiederum durch die einzelnen Mitglieder mit anderen Sozialgebilden im Zusammenhang stehen und ein Netz aus auf realem Kontakt und persönlicher Bekanntschaft beruhenden Beziehungen entstehen lassen. Die Abbildung (A) veranschaulicht ein mögliches GeÀecht von Beziehungen, die eine Gemein schaft generieren könnten. Diese Beziehungen stabilisieren und ermöglichen das jährliche Ereignis Karneval. Rauschhafte Vergemeinschaftungen jedoch benennen eine andere Kategorie von Beziehungen (B). Sie bezeichnen ein übergeordnetes, imaginäres Gebilde, das gewachsene soziale Beziehungen einschließt und sie erweitert zu einem auf der Idee Karneval beruhenden Zusammenhang. Es umschließt wie eine Seifenblase Familie, Freunde, Kollegen, Vereinsmitglieder, Nachbarn und vor allem auch Fremde, die sonst in keinem Zusammenhang mit den Netzwerken stehen. So Àüchtig wie die Seifenblase, so sehr der Welt des Spiels, der Fröhlichkeit, der Irrationalität zugewandt ist auch die rauschhafte Vergemeinschaftung. Sie platzt, sobald ihre Mitglieder den Glauben an sie verlieren. Für die Zeit ihrer Dauer
Raum, Zeit und Körper
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schürt sie Begeisterung, ein Gefühl der Leichtigkeit, Freiheit, Unbekümmertheit, Friedlichkeit und auch Geborgenheit. Abbildung 2
(A) Formen von Gemeinschaft und Netz sozialer Beziehungen im Straßenkarneval, (B) Rauschhafte Vergemeinschaftung als übergeordneter, imaginärer und erweiternder Beziehungszusammenhang
Nur wenn Raum, Zeit und Körper zusammenfallen, also körperliche Kopräsenz gegeben ist, sind rauschhafte Vergemeinschaftungen möglich. Daher wird die empirische Betrachtung damit abschließen, die drei Kategorien zu vereinen und die raum-zeitliche Verdichtung von Sozialbeziehungen in den Blick zu nehmen, die rauschhafte Vergemeinschaftung genannt wird. Die bislang beschriebenen Medien und Praktiken sind augenfällig auch Katalysatoren für Vergemeinschaftungen. Die offene, friedliche Atmosphäre; Rituale, die symbolisch durchgeformt und tausendfach aufgeführt werden; das Kostüm, das deutlich ein gemeinsames Interesse sowie Zugehörigkeit markiert; das kollektive Trinken bis hin zum gemeinsamen Rausch; die geteilten Erlebnisse und Gefühle, bei einer guten ‚Party‘ dabei zu sein und die unmit telbare körperliche Nähe zu Anderen – anhand dieser Elemente des Gesamt phänomens Karneval lässt sich auf eine vergemeinschaftende Wirkung hinweisen. Kollektivität in verschiedenen Ausprägungen wird aber auch in den Narrationen über Karneval deutlich. Diese Sequenzen werden im Folgenden einer systematischen Analyse unterzogen.
240 7.4.1
Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse Karneval und Kollektiv: „Dieses Familiending irgendwie“
Karneval evoziert unterschiedliche Formen und Zuschnitte von Gemeinschaft. Diese Vielfalt spiegelt sich auch in dem Potpourri an Sozialbeziehungen wider, die die Inter viewten benen nen: die Beziehungen zur Herkunftsfamilie, zum Freundeskreis, zu Kollegen, zur Dorfgemeinschaft, zu den Mitgliedern der (Karnevals-)Vereine und auch zur „Karnevalsfamilie“ als imaginierter Gemeinschaft – oder eben Vergemeinschaftung (vgl. Abb. 2). Beziehungsformen können sich in verschiedenen Qualitäten ausprägen und werden im Inter viewmaterial mit „toll ¿nden“, „mögen“, „lieben“ usw. abgestuft.80 Die Beziehungserfah rung in rauschhaf ten Vergemeinschaftungen ist durch Vorwissen aus anderen Sozialbindungen mitbestimmt. Daher wird die Àüchtige, imaginäre Gemeinschaft mit Metaphern aus dem Herkunftsbereich dieser Beziehungsformen beschrieben. Mit den Gleichnissen „Familie“ und „Freunde“ werden Vergemeinschaftungserfahrungen am häu¿gsten versprachlicht, um das gefühlsmäßige Nahverhältnis zu den anderen, bis dahin unbekannten Feiernden und das intensive Wir-Gefühl auszudrücken. Formulierungen wie „das ist einfach so dieses, ähm, ja dieses Familiending irgendwie“ (T1: 38) deuten an, dass das sprachliche Repertoire nicht hinreicht, um die Erlebnisqualität von diesem „Familiending irgendwie“ zu beschreiben. So nutzt die Erzählerin den Begriff „Familie“ und das mit ihm verbundene Wissen, um zu bezeichnen, was ich Vergemeinschaftung nenne. Während das Denotat Familie ursprünglich eine engere Verwandtschaftsgruppe mit langfristigen, festen Bindungen bezeichnet, wird es hier übertragen auf das unverbindliche miteinander Feiern, das Koexistieren ohne Abhängigkeiten und mit (wenn überhaupt) nur Àüchtiger Aufmerksamkeit für die Anderen (Nebensein; vgl. Bauman 1997: 85). Die unübersichtliche Menge an Feiernden, die sich in ihren bunten Kostümen tummeln, die klatschen, mitsingen, ihren Emotionen freien Lauf lassen und die durch Karneval markierte Zusammenkunft genießen, wird mit der Verschmelzungsmetapher Familie sinnbildlich zur „kleinsten Zelle der Gesellschaft“ vereinigt. Das Große wird zum Kleinen und Vertrauten. Familie impliziert emotionale Bindungen an Andere wie Liebe, Sympathie, Mitgefühl und Fürsorge, die hier mittels metaphorischer Verwendung auf die Àüchtige Vergemeinschaftung (Zielbereich) übertragen werden. Dieser Sachverhalt wird beschrieben, indem er als etwas Anderes geschildert wird. Nicht um eine Übertreibung, sondern um eine Übertragung handelt es sich. Für die Bestehensdauer der Karnevalsfamilie verspürt die Interviewte als deren Mitglied intensive empathische Verbindungen zu den Anderen, ein Wir-Gefühl und die selbstverständliche Zugehörigkeit zu der 80 Dabei richten sich die Formulierungen keineswegs nur auf andere Subjekte, sondern auch auf Orte (z. B. Köln) oder abstrakte Dinge (z. B. Karneval).
Raum, Zeit und Körper
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von ihr selbst bestimmten und konstruierten Gruppe. Sie ist verschmolzen mit den Anderen, die den thematischen Fokus Karneval mit ihr teilen. Diesen Vorgang des freien, intim-familiären, zwischenmenschlichen Kontakts hat Bachtin Familiarisierung genannt (vgl. 1969: 48), womit er die familiäre Berührung der sonst – durch welche Schranken auch immer – voneinander getrennten Menschen bezeichnet. Die Verschmelzungsmetapher deutet auch die Ausdehnung des Körpers an, ein Übergehen vom einen in den anderen, vom Verschmelzen und Entstehen einer „Blutsbande“ durch ein Àüchtiges, aber intensives Gefühl im eigenen Körper. So zielgerichtet und geordnet, wie die Karnevalsfamilie in dieser Beschreibung zu sein scheint, ist sie keineswegs. Sehr unterschiedliche Motivlagen („gehn halt och zehn verschiedene Leute mit mindestens acht verschiedenen Zielen da hin“ – T11/1: 114 f.), diffuse Pläne zum Ablauf des Tages und spontane Aktionen bestimmen das außeralltägliche Ereig nis. Diese Unordentlichkeit und Außeralltäglichkeit wird auch auf die Vergemeinschaftung projiziert. Auch deshalb kann sie im Alltag keinen Platz haben. Das Kostüm und eine expressive Ausgelassenheit sind zentrale Ausdrucksformen der Ad-hoc-Gemeinschaft, „dann hat man dieses wir-gehören-zusammen-Gefühl“ (T2: 51 f.). Die subjektiv gefühlte affektuelle Zusammengehörigkeit (vgl. Weber 1980: 21) als Grundvoraussetzung für Vergemeinschaftungen wird hier mit einem frei gebildeten Kompositum („wir-gehören-zusammen-Gefühl“) beschrieben. Vergemeinschaftung als eine Form von Sozialität lässt Emotionen freien Lauf und bringt sie zum sieden (vgl. Bauman 1995: 215). Während das Individuum im Alltag „eingekörpert“ ist, ist die Außeralltäglichkeit eine Gelegenheit, Teil eines größeren Ganzen zu werden, sich zu entgrenzen, über sich hinaus und aufzugehen in dem alles tragenden Gefühl. Dieses Gefühl, die emotionale AuÀadung der Atmosphäre, ist mit außeralltäglichen Ereignissen verbunden und dementsprechend selten verfügbar. Die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland wird als ein Beispiel hervorgehoben, mit dem sich das Gefühl im Straßenkarneval vergleichen ließe: „Dieses Gefühl, das ist fast genauso wie damals bei der WM, (= Ja. =) also dass man dieses, dieses Gemeinschaftsgefühl hat“ (T2: 37 ff.). Erneut gelingt es einer Erzählenden nicht, die Außeralltäglichkeit und das damit verbundene (Bindungs-)Gefühl konkret zu benennen. Ein Vergleich wird herangezogen (A ist wie B), um das Unaussprechliche greifbar zu machen. Das emotionalisierte Kollektiv im Straßenkarneval sei wie die erregte Gemeinschaft beim public viewing im Fußballrausch des Jahres 2006 (vgl. Junge 2008).81 Vor allem die Emotionen werden immer wieder angesprochen und in 81 Vergleiche zwischen Karneval und WM tauchen in den populären Massenmedien regelmäßig auf. Anlässlich des 20. Weltjugendtags in Köln wurde bspw. im RTL „Nachtjournal“ vom 18.08.2005 ein
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Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse
Beziehung gesetzt zur entstandenen Gemeinschaft sowie zum Anlass: „Karneval allein schon gibt’s Gemeinschaftsgefühle“ (T5/1: 35). Damit ist auch die zeitliche Begrenztheit des Wir-Gefühls benannt. Die Feiernden im Kölner Straßenraum bilden „’ne große Familie, ja, also zumindest in den Tagen“ (T6: 30 f.). Die große Familie erhält von Anfang an den Status des Vorübergehenden und Flüchtigen. Eine dauerhafte, stabile Bindung sucht und erwartet im Straßen karneval niemand. Es geht um das vorübergehende, nebeneinander und manchmal miteinander Spaß haben, um die „Folgenlosigkeit von Interaktion, die Möglichkeit, Maske zu bleiben und nicht Antlitz zu werden“ (Junge 2007: 89). Der Karneval markiert die Zusammenkunft und ist Anlass zur Vergemeinschaftung: „Karneval is ’n WirGefühl da“ (T5/1: 52). Er mobilisiert die Jecken, sich zum Rosenmontag in der Kölner Innenstadt einzu¿nden und damit eine hohe Menschendichte auf den Straßen zu erzeugen. Ein Straßenjeck bringt diesen Sachverhalt in vier Worten auf den Punkt: „Karneval, alle Jecken zusammen“ (T5/2: 66 f.). Karneval braucht die Menge, damit das gemeinsame Spaß haben funktionieren und die Familie vorübergehend Gestalt annehmen kann. „Diese Gemeinschaft existiert sozusagen nur durch den und im Glauben an ihre Existenz; sie besitzt nur Autorität, weil und solange ihr Autorität zugestanden wird“ (Hitzler 2001a: 19). Der Straßenjeck entscheidet sich also für die Zugehörigkeit zur Vergemeinschaftung und für eine vorübergehende emotionale Bindung an das Jeck-Sein mit Anderen. Der dominierende Modus des Zusammenseins ist nach der Kategorisierung von Bauman das Nebensein, das dem Interesse des Ausbleibens von Konsequenzen der Interaktion folgt (vgl. Bauman 1997: 85; Junge 2007: 89). Das Nebensein ist frag mentarisch und episodisch und kommt ohne ein echtes Interesse an der Individualität desjenigen hinter der Maske aus. Wenn aus dem Zusammensein in Raum und Zeit „bestimmte Entitäten durch wechselnde Aufmerksamkeit herausgepickt und zu Personen gemacht [werden] – das heißt, zu Partnern einer Begegnung“ (Bauman 1997: 86), dann wird aus dem Nebensein ein Mitsein. Diese Entitäten sind dann Gegenstand der Auf merksamkeit, allerdings nur, solange das vorliegende gemeinsame Thema aktuell ist, etwa bei einem kurzen Schwatz, einem kleinen Tanz oder einem folgenlos geliehenen Feuerzeug. „Mitsein bedeutet ein Zusammentreffen unvollständiger Wesen, de¿zienter Wesen; in einem solchen Treffen spielt Hervorhebung eine ebenso entscheidende Rolle wie
Vergleich zwischen Karneval, Fußball-WM und Weltjugendtag gezogen: „Es ist wie eine WM und Karneval zusammen, von tiefer Religiosität und Demut ist wenig zu spüren. Die Jugendlichen feiern sich und ihren Papst wie einen Pop-Star mit der Pulle in der Hand“ (zit. in: Hepp/Krönert 2009: 122). Zu karnevalistischen Elementen beim Weltjugendtag in Köln und zur Karnevalisierung des Ereignisses vgl. Forschungskonsortium WJT 2007: 52 f.
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Verbergung; Engagement muß von Desinteresse komplementiert werden, der Einsatz einiger Mittel muß mit der Rücknahme anderer zusammengehen“ (ebd.). „Ja, meistens ist das schon so, dass man die Leute, die man so trifft, die sieht man dann ja sowieso nie wieder (= Ja. =) im Grunde genommen, ja, und, ähm, gut, ich fahr ja morgen auch schon wieder Richtung Hessen und dann, ne, die Leute, die man vielleicht jetzt heute kennenlernt, das ist ja dann eh“ (T1: 101 ff.).
Nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich ist das karnevalistische Neben- und Mitsein bestimmt. Mit einem Ortswechsel nach Ende des Rosenmontagsspektakels, also der Heimreise am Fastnachtsdienstag, zerfällt auch die Karnevalsfamilie. Die Àüchtigen, losen Kontakte zu den Leuten, auf die „man“ beim Feiern trifft, verlieren sich wieder, sobald die Rückkehr in die Heimat bzw. in den Alltag vollzogen ist. Der Ort – in diesem Fall Köln – ist entscheidend, wegen seiner besonderen Anziehungskraft (vgl. Kap. 7.1.2), wegen seiner historisch gewachsenen Beziehung zum Karneval und wegen der betonten Offenheit der dort lebenden Menschen. „Köln ist auch, eigentlich ¿nd ich, das ist ’ne familiäre Großstadt“ (T4/1: 44). Diese romantisierende Sicht auf Köln verwendet ein Oxymoron, um die Besonderheit des Ortes zu beschreiben: die Anonymität der Großstadt einerseits und die intime, vertrauliche, warme Art des Umgangs miteinander. Köln und insbesondere dessen Wahrzeichen, der Dom, könnten ein postmodernes Stammestotem (vgl. Maffesoli 1996) darstellen. Ein Stammestotem in der Gegenwart können Ikonen der Popmusik, ein Kultobjekt, ein mystischer Ort, eine orgiastische Erfahrung usw. sein (vgl. Keller 2006: 107). Im Karneval kommt Vieles als Totem infrage. Für einige mag es ein Ort sein (Dom mit Domplatte, eine Kneipe oder der Alter Markt), für andere das Dreigestirn oder die Roten Funken, für wieder andere der oft verehrte „Spiritus“, der heilige Geist mit hochprozentiger Wirkung, der einer rauschhaften Vergemeinschaftung so oft Leben einhaucht. Die Stadt Köln jedenfalls scheint das Bedürfnis nach unverbindlichen, offenen und freundlichen Beziehungen befriedigen zu können. Die Karnevalstouristen konstruieren diese Grundstimmung entscheidend mit. Ihre von vornherein als zeitlich begrenzt geplante Anwesenheit lässt konditionell einen intensiven Einsatz beim Feiern zu. Sie sind als Gäste der Stadt auch räumlich ihrer Alltagsstrukturen enthoben. Daher sind Anfangs- und Abschlussrituale (z. B. Hoppeditzerwachen und Nubbelverbrennung) für sie von geringerer Bedeutung. Den Abschluss ihres Festes bildet oft ihre Abreise und nicht das traditionelle Abschlussritual, wie bei dem aus Bochum angereisten Straßenjecken: „ich bin normalerweise auch nur am Montag hier, und Aschermittwoch […] stellt für mich irgendwie nix dar, so weil ich immer nur montags hier bin“ (T6: 46 ff.). Sein Ziel, die „netten Leute und die gute Stimmung“ (T6: 16) zu genießen, mit ihnen gemeinsam zu feiern, ist
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Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse
seine Motivation für die Anreise. Die rauschhafte Vergemeinschaftung mit den netten, gut gelaunten und alkoholisierten Anderen (vgl. T6: 19 f.) ist seine Grati¿kation, sein Indikator für eine gelungene Party, von der er wieder verschwindet, wenn sie sich dem Ende zuneigt. Um nicht den Eindruck zu erwecken, gleichgültig gegenüber Beziehungen zu anderen Menschen oder gar vereinzelt und isoliert zu sein, betonen die Interviewten häu¿g, dass die Kontakte zu den mitfeiernden Freunden selbstverständlich über die jecke Zeit hinaus von Bestand sind. Die Freundschaften und Beziehungen zur Familie im klassischen und eigentlichen Wortsinne sind Bestandteil der Alltagswelt und existieren unabhängig von Karneval weiter. Diese versichernden Ergänzungen deuten darauf hin, dass die alltäglichen Beziehungsformen für die Selbstpräsentation der Erzählenden von Bedeutung sind. Sie präsentieren sich als Individuen mit Erfahrungen in verschiedenen Beziehungsqualitäten, von denen jede Form ihre eigene Funktion hat. Die Vergemeinschaftung in vorübergehenden, rauschhaften Formen von Sozialität ist eine das Emotionale, Spontane und jederzeit Kündbare betonende Variante, die aufgesucht und mitkonstituiert wird. Damit wird das Bedürfnis nach Ungeordnetheit, Körper- und Gefühlsbetontheit, Rausch und nach der Erfahrung von Einheit befriedigt. Die Bezogenheit auf das Kollektiv zeigt sich nicht immer in konkreten Äußerungen und spezi¿schen Nennungen, sondern ist zum Teil versteckt, z. B. in der konsequenten Erzählung in der Wir- oder Man-Form. Die kollektive oder anonyme Agency weist auf eine kollektive Eingebundenheit, auf einen gemeinsam geteilten Erfahrungsraum hin. Die Erzählenden stellen nicht sich, ihre Erlebnisse und persönlichen Deutungen in den Vordergrund, sondern präsentieren sich als Teil eines größeren Ganzen, indem sie ihre eigenen Erlebnisse in Bezug auf kollektive Erlebnisse beschreiben (z. B. „man feiert“, „wir machen mit“). Damit entstehen Konstruktionen, die sich weniger an Individuellem als vielmehr an Kollektivem orientieren. Mit der oft passiven Verhaltensorientierung („wird getrunken“) demonstrieren die Erzählenden ihre Eingebundenheit in kollektive Strukturen, nach denen auch ihr Handlungskonzept konstruiert ist. Die gegenseitige Verhaltensorientierung, mimetische Prozesse und kollektiv aufgeführte Rituale verstärken die Gemeinschaftsbildung. Zentral ist aber auch die integrierende und Status nivellierende Wirkung des Kostüms (vgl. Kap. 7.3.1.3), denn das Ziel des Karnevals ist es, eine – zumindest imaginär – homogenisierte Gemeinschaft zu schaffen. An Karneval sind alle jeck („Mir sin jeck“). Dieser vereinheitlichenden Redensart kön nen im Zweifelsfall alle Jecken im Rheinland beipÀichten. Unter der – wie auch immer gearteten Narrenkappe – sind alle Jecken gleich. Diese Regel verstärkt die Zusam mengehörigkeitsgefühle und deren imaginäre Verdichtungen, die auch durch symbolische und imaginäre Interaktion der „Karnevals-
Raum, Zeit und Körper
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familie“ hergestellt wurden. Neben „Mir sin alle jeck“ gilt jedoch auch „Jeder Jeck ist anders“. Die rauschhafte Vergemeinschaftung als imaginäre Beziehungswirklichkeit kennt sowohl Integrations- als auch Distinktionsbestreben und verweist auf eine Ambivalenz, die es nötig macht, die Frage nach Differen zierungs- und Individualisierungsbemühungen zu diskutieren. 7.4.2
Karneval und Individualität: Narziss im Clownskostüm ?
Der Straßenkarneval ermöglicht es, einen spezi¿schen Aspekt der Identität zu entfalten. Als Fest der Verkleidung fordert er die Jecken dazu auf, ihre individuelle Kompetenz im Anders-Sein und eine andere als die alltägliche Seite von sich zu zeigen und zu inszenieren. Der Straßenkarneval bietet sich an als Bühne für die Inszenierung eines (alternativen) Selbst. Goffman (2004) entwickelt in seinem dramaturgischen Ansatz das Bühnenmodell, das davon ausgeht, dass alle Handlungen mit Regieanweisungen für die Handelnden selbst sowie für Andere ausgestattet sind. Alle Rahmenhandlungen sind für ein Publikum bestimmt und verfolgen das Ziel, ein möglichst gutes Bild abzugeben (impression management). Die Rolle des Straßenjecken erfordert eine Kenntnis des kollektiv geteilten Wissens darüber, welche Details und Elemente eines Symbolsystems als karnevalesk gelten. Die Verkleidung muss eindeutig als eine solche erkennbar sein. Der Straßenkarneval als Rahmen erzeugt einen Handlungsraum, der dem des Spiels ähnelt. Ein zentrales Element dieses Spielraums ist die Kategorie mimikry, das Maskenspiel (vgl. Caillois 1964), bei dem es einerseits um das Nachspielen eines Vorbildes geht bzw. darum, sich so darzustellen wie man nicht ist. Andererseits hat die mimikry auch einen Adressatenbezug, weswegen das Verhalten darauf ausgerichtet ist, bei einem Betrachter, der sich auf die Illusion einlassen muss, einen bestimmten Eindruck zu vermitteln. Demnach ist die „Unordnung“ eine ständig zu erbringende Leistung. Weil der Straßenkarneval besondere und intensive Ausdrucksweisen zulässt, nennt Bachtin in seinem Modell die Exzentrizität als eine Kategorie des karnevalistischen Weltemp¿ ndens. Das Spielerische des Karnevals hervorhebend, weist er auf das Verschwinden von hierarchischen Determinanten hin, wodurch sich die Expressivität der Jecken ändert und ändern darf. „Benehmen, Geste und Wort lösen sich aus der Gewalt einer jeden hierarchischen Stellung […], von der sie außerhalb des Karnevals voll und ganz bestimmt wurden. Sie werden exzentrisch und deplaziert vom Standpunkt der Logik des gewöhnlichen Lebens“ (Bachtin 1969: 48). Karneval ist ein Anlass zur exzentrischen Darstellung, der mitunter eine aufwendige Vorbereitung vorausgeht. Katharina bereitet mühevoll den Auftritt vor, auf den sie sich bereits im Vorfeld freut („was mir besonders ge-
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fällt, ist halt, wir nähen halt vorher die ganze zeitlang und dann schon allein halt einfach das Kostüm dann nachher zu zeigen-“ – T9: 38 ff.). Für die Vorbereitung und individuelle Anstrengung wird Anerkennung erwartet, die sich für Katharina etwa als „total erstaunt die ganze Zeit angeguckt [werden]“ (T9: 42), als bewundernde Kommentare oder in Form der an sie herangetragenen Bitte, „mal kurz ’n Photo machen“ (T9: 44) zu dürfen, ausdrückt. Die Freude am Karneval besteht auch für Rolf und Sarah unter anderem darin, das Kostüm öffentlich zu präsentieren („Man freut sich ja in dem Sinne jetz endlich sein Kostüm zu präsentieren“ – T11/2: 300) und sich dabei als kreativ und individualistisch zu zeigen („Man macht […]sich ja nich umsonst diesen Aufwand […], um dann rumzulaufen wie jeder andere“ – T11/1: 566 ff.). Dabei geht es auch um das Motiv der Präsentation auf einer öffentlichen Bühne („Man freut sich halt auch drauf, das, das zur Schau zu tragen“ T11/1: 566). Die Inszenierung des alternativen Selbst verfolgt durchaus den Zweck des Enter tain ments: „das macht man auch […] für sich zum Feiern, aber auch zur Unterhaltung für die Anderen“ (T15: 331 f.). Damit ist die „gute Feierlaune“ (T3: 39) angesprochen, zu der das Kostüm gehört, aber auch die Offenheit Fremden gegenüber, „wenn irgendwer auf dich zukommt, so ‚hallo, Kölle Alaaf‘ und so“ (T7: 34 f.). Alle diese Darstellungen und Handlungen sind performativ und konstituieren eine außeralltägliche Welt. Der Narr ist eine Bühnen¿gur, die die Show braucht und den Beifall sucht. In der bis ins Mittelalter zurückreichenden Narrenidee wird dieses Sinnbild des Karnevals als eine Figur konstruiert, der das Bedürfnis nach Bewunderung und eine narzisstische Neigung zu eigen ist, für die der Handspiegel als Attribut des Narren steht (vgl. Kap. 5.1.3). Bei aller Ausrichtung am Kollektiv geht es den Jecken im Karneval stets auch um eine wahr nehmbare Individualität und das Durchsetzen der eigenen Einzigartigkeit. „Das Individuum macht also, was die anderen machen, um anders zu sein“ (Esposito 2004: 13). Dieser Wunsch nach Andersartigkeit drückt sich auch in der Vielfalt an Kostümen, Masken, organisierten Veranstaltungen, Orten zum Feiern usw. aus. Karneval als Fest für die Menge ist ein ausdifferenziertes Ereignis, das sich durch Dezentralisierung und ein gewisses Maß an Anarchisierung auszeichnet. Anarchie und Chaos sind gängige Beschreibungen, die sich aus der Unendlichkeit der Zahl an Beobachtungsmöglichkeiten und Wirklichkeitsentwürfen ergeben. Wenn „jeder Jeck anders“ ist, dann besitzt auch jeder seine individuelle Perspektive auf den Karneval. Toleranz ist gefordert, denn Karneval ist zwar eine große Party, die sich aber in viele kleine Partys in der Party ausdifferenziert. Das Individuum kann sich entscheiden, auf welche es gehen will, mit welcher Gruppe es feiert. Die Abgrenzung der Gruppen untereinander erfolgt meist durch Rituale, mit deren Hilfe man sich vergewissert, wer zur Gruppe gehört. Die Ambivalenz von Vergemeinschaftung und Individualität, von Einigkeit und Vielfalt ist eine Konstante des posttraditionalen Karnevals.
Raum, Zeit und Körper
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Im Jecksein als episodischer Rolle und Lebenseinstellung wird auch der Tod thematisiert (vgl. Kap. 7.2.3). Die eigene Zeitgebundenheit und das drohende Ende jedes menschlichen Lebens ist eine beständige Erfahrung, die damit einhergeht, nichts gegen dieses Gesetz tun zu können und um diese Ohnmacht zu wissen. „Das ist der Grund, weshalb Mensch zu sein auch bedeutet, Angst zu emp¿nden“ (Bauman 1997: 171, Herv. i. O.). Karneval bietet eine Möglich keit der individuellen Verarbeitung der kollektiven Angst vor dem Tod an. Er besänftigt ihn durch seinen orgiastischen Übermut, der auf die rituelle Integration des Todes zielt. Spaß an veränderten Wahrnehmungszuständen, Lust auf körperliche Erregung oder – wie es die Jecken immer wieder formulieren – der „Spaß an der Freude“ (z. B. T18: 174; T10: 454 ff.) werden im Straßenkarneval gemeinschaftlich zelebriert. ‚Spaß‘ als oberste Maxime treibt an zur Suche nach Lustgewinn. Er gilt als einer der zentralen Treiber von Gesellschaften in der Spätmoderne (vgl. Liebl 2001: 312). Wenn an kalten Februartagen die Stadt als „ein ideales Revier für die Sucher von Lustgefühlen“ (Bauman 1997: 217) erscheint, dann geht es um Lust und Schmerz gleichermaßen, als sei das eine ohne das andere nicht zu haben. Das Eintauchen ins Gedränge, das Essen und Trinken auf der Straße, das Anstehen vor wenig komfortablen Miettoiletten, das Flanieren neben dem Abfall auf der Straße („Also du bist […] auf dem Müll spazier’n gegangen, quasi“ – T11/1: 517 f.) sowie das Ertragen von Kälte und ungemütlichen Witterungsverhältnissen sind abwegige, manchmal unangenehme, aber bewusst in Kauf genommene Dinge. Sie werden oft umgedeutet zur Quelle von Spaß, als beruhe Spaß auf einem dialektischen Verhältnis von Lust und Unlust, von Begehren und Ablehnung, von Genuss und Ekel. Spaß und Genuss sind nicht zuletzt Mittel der Distinktion und Selbststilisierung. Der Erlebniskonsum und vor allem die Erlebnisfähigkeit sind symbolische For men der Abgrenzung. Der Lüste- oder Gefühlesammler ist für Bauman die Rolle, die das Individuum in der Postmoderne ausfüllt (vgl. 1997: 180). Bauman sieht den Gefühlesammler nicht nur von der Angst vor dem Tod angetrieben, sondern vor allem von der Angst vor Unzulänglichkeit (vgl. ebd.: 186). Er sieht seinen Körper als Privateigentum, der den Verlockungen der Konsumgesellschaft ausgesetzt wird und konsumiert. „Der postmoderne Körper ist vor allem ein Empfänger von Emp¿ndungen, er trinkt und verdaut Erfahrungen; die Fähigkeit, stimuliert zu werden, macht ihn zu einem Werkzeug der Lust“ (ebd.: 188, Herv. i. O.). Aber in jedem erlebten Gefühl schwingt die Angst der Unzulänglichkeit mit, also die Furcht davor, dass das Gefühl noch tiefer sein könnte und daher nicht tief genug ist. Die lebendige Emp¿ndung und Ekstase ist dazu verurteilt, hinter dem Ideal zurückzubleiben (vgl. ebd.: 190). Letztlich ist jedes Erlebnis eine subjektive Emp¿ndung, über die sich schwer intersubjektiv skalierbar austauschen lässt.
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Straßenkarneval als soziale Lebenswelt – empirische Ergebnisse
Eine mögliche Quelle des Lustgewinns sieht Bauman in der gegenseitigen Fremdheit, die das Stadtleben zur Verfügung stellt. „Lustgewinn wird genau aus der gegenseitigen Fremdheit gezogen, das heißt, aus dem Fehlen von Verantwortung und aus der Gewissheit, daß, was immer zwischen Fremden geschehen mag, es ihnen keine dauerhaften VerpÀichtungen auferlegt“ (ebd. 214 f.). Daher geht von der Rheinmetropole Köln eine so starke Anziehungskraft für das Individuum in der Gegenwart aus. Köln bietet ausreichend Fremdheit und Berüh rungen mit Fremden im Straßenkarneval, „ohne dass das zu irgendwelchen Konsequenzen führt“ (T11/1: 367 f.). Die „familiäre Großstadt“ (T4/1: 44) bietet die Möglichkeit, Lust und VerpÀichtung voneinander zu trennen, sodass eine postmoderne Version der Adiaphorisierung82 entsteht. Der Subjekttypus, der diesem Lebensstil folgt, ist der Flaneur, der ohne Ziel und Richtung durch die Welt spaziert und sein Leben als Aneinanderreihung von Episoden lebt (vgl. Junge 2006: 97). In seinen sozialen Beziehungen wird das Gegenüber nur in Ausschnitten wahrgenommen. Der Flaneur pÀegt, hinzusehen ohne zu sehen, und bleibt daher lediglich an der OberÀäche. Die vielen Straßenkarnevalstouristen schätzen an Köln die familiäre OberÀächlichkeit, also die Möglichkeit, mit vielen gleichgesinnten Fremden in Kontakt zu kommen, von denen sie einen Ausschnitt wahr nehmen, und die sie lediglich in ihrer Rolle als Jecken berühren. Danach spazieren sie weiter, die Reize des nächsten abschöpfend und Lüste sammelnd.83 Die Gewissheit, das Interesse an dieser Art des Feierns mit vielen anderen zu teilen, kann den Genuss bis ins rauschhaft Überschäumende steigern. Eine rauschhafte Vergemeinschaftung von Individuen, die unaufhörlich auf Erlebnissuche sind und den Anderen als Quelle von Gefühlen sehen, ist durch eine vorübergehend gemeinsam hergestellte und geteilte symbolische Welt, eine Einheit in der Vielfalt gekennzeichnet. Das Gemeinschaftsgefühl und die Imagi nation einer Karnevalsfamilie vermitteln die Pole von Individualität und Gemeinschaft, die im Straßenkarneval in ein ambivalentes Wechselbad geraten. Die metaphorische Verwendung des Begriffs ‚Familie‘ und das Gebot zu Offenheit und Toleranz wirken mit bei der Erzeugung eines Mythos von Gemeinschaft, der die Erlebnisdimensionen Sicherheit, heimatliche Gefühle und soziale Bindungen bietet. Die Betonung von Individualität und kreativer Selbst verwirklichung im Karneval soll dem Verdacht der Deindividualisierung 82 Mit Adiaphorisierung bezeichnet Bauman den Vorgang moralischer Neutralisierung. Sie „setzt immer dann ein, wenn eine Beziehung weniger als die ganze Person einbezieht, wenn ein ausgewählter Aspekt das Objekt der Beziehung darstellt – sei es eine ‚passende‘, ‚nützliche‘ oder ‚interessante‘ Facette des Anderen; denn nur eine Beziehung in ihrer Fülle, zwischen räumlich und zeitlich ganzen Ichs, kann ‚moralisch‘ sein, das heißt, die Frage der Verantwortung für den Anderen umfassen“ (1997: 217). 83 Trotz dieser Suche nach individueller Lust kann es im Rausch tendenziell zu einer Ich-AuÀösung bzw. zu einer Ich-Aufgabe kommen (vgl. auch Maffesoli 1986: 136). Zum Lüstesammeln gehört auch die Erfahrung der Selbsttranszendenz und des Aufgehens in der sich vergemeinschaftenden Menge.
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und des Ich-Verlusts durch eine ekstatische Unterwerfung unter das „Gebot der Menge“ entgegenwirken. Der Straßenkarneval verbindet damit ein scheinbares Paradox von individualistischer Selbstverwirklichung auf der einen und Vergemeinschaftung auf der anderen Seite.
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Zusammenfassung – Rauschhafte Vergemeinschaftungen im Straßenkarneval
Das achte Kapitel bündelt die Ergebnisse der ethnogra¿schen Studie in Bezug auf die Forschungsfragen und setzt sie in Beziehung zu den theoretischen Vorüberlegungen. Die Diskussion der beiden in der Einleitung formulierten Vermutungen spannt den Bogen zwischen individueller und gesellschaftlicher Ebene. Das Fazit erörtert die Bedeutung rauschhafter Vergemeinschaftungen für Vergesellschaftung. Der empirische Teil der Arbeit ist als Fallstudie angelegt, die rauschhaften Vergemeinschaftungen im Karneval auf den Grund geht. Die Analyse des empirischen Materials bildet den Straßenkarneval in der Weise ab, in der er sich mir in den explorativen Feldphasen zeigte. Sie nimmt die Beobachtungen, die Erzählungen der Interviewpartner und die im Feld gesammelten Dokumente zur Grundlage, um ein Bild des Straßenkarnevals zu zeich nen. Karneval scheint ein Beispiel zu sein, das uns vertraut ist aus zahlreichen Erzählungen, eigenen Erlebnissen und den Berichterstattungen der Massenmedien. In ihm scheint sich die Trivialität und Banalität von Volksfesten und BrauchtumspÀege zu spiegeln, die sich selbst-verständlich erfassen lässt. Die Analyse des Materials zeigt jedoch die Komplexität des Gegenstands und die Vielfalt an Deutungsmöglichkeiten auf. Um Karneval als Teil der eigenen Kultur zu verstehen, muss man sich ihm wie ein fremder Forscher bzw. forschender Fremder nähern, jede ethnozentrische Deutungsfolie beiseite legen und Soziologie im Sinne einer interpretativen Erfahrungswissenschaft betreiben (vgl. Honer 1993: 214). Dann zeigt sich Karneval als eine Kultur, die empirisch nur über subjektives Bewusstsein zu erfassen ist. Diese Perspektive und deren Rekonstruktion nimmt das Subjekt als handlungsmächtig ernst, um die Straßenkarnevalskultur in ihrem „Eigensinn“ (ebd.: 213) darzustellen. Der Straßenkarneval ist ein eher ungewöhnliches Beispiel für eine Fallstudie zu Vergemeinschaftungsformen in der Gegenwart, denn der empirische Schwerpunkt von Untersuchungen zu Formen posttraditionaler Vergemeinschaftung (vgl. Hitzler/Honer/Pfadenhauer 2008) liegt bislang vor allem auf (Jugend-)Szenen, also einem Beziehungszusammenhang, der sich typischerweise dadurch konstituiert, dass (zumeist jugendliche) Individuen sich aufgrund kontingenter Entscheidungen für eine zeitweilige Mitgliedschaft freiwillig in die Szene einbinden. Y. Niekrenz, Rauschhafte Vergemeinschaftungen, DOI 10.1007/978-3-531-93086-2_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Zusammenfassung
Der Straßenkarneval bietet jedoch generationenübergreifend sowie räumlich und zeitlich streng gerahmt die Gelegenheit zu vorübergehender Vergemeinschaftung. Eine Wiederholung dieses konstitutiven Aktes von Vergemeinschaftung lässt sich ausschließlich innerhalb des zeitlichen, räumlichen und rituellen Rahmens realisieren. Zur Stabilisierung des rituellen Rahmens tragen maßgeblich die lokalen Vereine mit ihren gefestigten, hierarchischen und institutionalisierten Strukturen bei. Diese festen Sozialbeziehungen werden ebenso durch Karneval evoziert wie die Àüchtigen, rauschhaften Vergemeinschaftungen. Die vorliegenden empirischen Ergebnisse werden entlang der beiden Gesichtspunkte (1) des Rauschhaften und (2) des Gesellungsgebildes Vergemeinschaftung zusammengefasst: 1. Das Rauschhafte hat seinen festen Ort – es ist lokalisierbar im öffentlichen Raum, auf Plätzen, in Kneipen und Festzelten. Diese Orte werden in der Zeit des Straßenkarnevals verändert (wahrgenommen) und (verändert) angeeignet. Die alternative Raumgestaltung und -ordnung hat von vornherein den Status des Vorübergehenden, denn das Rauschhafte hat einen klar abgegrenzten zeitlichen Rahmen, der den kollektiven Rausch (am hellen Tag, mitten in der Woche) gestattet, ja zum Teil sogar fordert. Alkohol hat in der Karnevalszeit seinen festen Platz und gehört ganz selbstverständlich zur Ausrüstung des Straßenjecken. Der Konsum berauschender Substanzen ist aber Bestandteil gemeinschaftlicher Rituale. Rausch wird auch durch psychologische Techniken evoziert, z. B. durch die schrillen und bunten Kostüme sowie durch den Rollenwechsel, die veränderte Selbst- und Körperwahrnehmung, außeralltägliche Bewegungspraktiken, die zum Teil betont sexualisier ten Handlungen und die Befreiung von Alltagsnormen. Die Er innerung an die Endlichkeit des eigenen Lebens ist in den Karneval fest eingebunden und fördert gerade deshalb Hedonismus, Rauschhaftigkeit und Exzessivität. Im Karneval zeigt sich aber auch die ambivalente Seite im Umgang mit dem Rausch. So ist der Konsum von Alkohol nicht allen Altersgruppen uneingeschränkt erlaubt. Der kompetente Umgang mit Alkohol wird Jugendlichen ebenso abgesprochen wie die „richtigen“ Motive für den Konsum. „Falsches“ Trinken wird abgelehnt und mit aggressivem Verhalten, gewalttätigen Auseinandersetzungen und Zudringlichkeiten verknüpft. 2. Die Vergemeinschaftung und das dafür nötige Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Mitgliedern wird in den Karnevalsregionen befördert durch einen Verhaltensmodus der „gegenseitige[n] Offenheit“ (Goffman 1971b: 128). Die Identi¿kation mit dem thematischen Fokus Karneval wird vor allem durch das Kostüm zum Ausdruck gebracht. Das Kostüm ist als wesentliches Element des Karnevalesken zu verstehen. Es markiert Zugehörigkeit, stabilisiert ein distinktives Wir-Bewusstsein, erleichtert die Kontaktaufnahme zu unbekannten Anderen und entlastet vom Scham- und Verantwortungsgefühl, weil das „Ich“ vorüber-
Zusammenfassung
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gehend ein „anderes“ ist. Für die sozialen Interaktionen innerhalb der Vergemeinschaftung spielen Rituale eine zentrale Rolle. Die durch die Vereine und ein institutionell gepÀegtes Brauchtum stabilisierten Traditionen lassen alljährlich Rituale zur Aufführung kommen, die durch ihre Körperbetonung, Gleichförmigkeit und ihren kollektiven Charakter Vergemeinschaftungen verstärken. Karnevaleske Traditionen, Zeremonien und Rituale sind zum Teil an Orte gebunden (z. B. an die sakrale Aura des Kirchengebäudes). Aber auch Rituale, die nicht unmittelbar mit dem Straßenkarneval verknüpft sind, übernehmen für das Entstehen eines Wir-Gefühls eine wichtige Funktion. Rituale konstituieren und verstärken die Gruppenidentität durch ihre Wiederholbarkeit und stellen zugleich einen ordnenden Rahmen dar. Im Straßenkarneval zeigt sich, dass das Gesellungsgebilde Kar neval auch eine ambivalente Seite besitzt. Dafür steht zunächst das Streben nach einer Vielfalt in der Einheit, also die Distinktionsbemühungen einzelner Gruppen untereinander und die kreativen, die Individualität unterstreichenden Kostüme, die scheinbar einer Einheit und Vergemeinschaftung von Feiernden zuwiderlaufen. Dafür stehen aber auch das jeweils individuelle Streben nach Lustgewinn, die Freude an der Inszenierung des eigenen, alternativen Selbst und die für die (Selbst-)Stilisierung notwendige Suche nach (zumindest oberÀächlicher) Aufmerksamkeit von Anderen. Abbildung 3 fasst schematisch die wesentlichen Ergebnisse des empirischen Teils dieser Arbeit zusammen. Abbildung 3
Rahmenbedingungen und Regelmäßigkeiten in Prozessen rauschhafter Vergemeinschaftung im Straßenkarneval
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Rauschhafte Vergemeinschaftungen im Straßenkarneval sind zeitlich, räumlich und rituell gerahmt. Das Kalenderfest Karneval ist mit der zeitlichen Dimension eng verknüpft, sodass die Orientierung an ihr eine zentrale Handlungsbedingung darstellt. Innerhalb des zeitlichen Rahmens sind Rauschzustände und Vergemeinschaftungen legitim. Ebenso stellt der Raum eine wichtige Klammer dar, denn der Straßenkarneval ist lokal gebunden. Die Region Rheinland kontextualisiert die Interaktion zwischen Individuen erst als gemeinsamen Bezugs- und Orientierungshintergrund. Insbesondere mit der Stadt Köln verbinden sich Emotionen, Mythen und Anziehungskräfte, die rauschhafte Vergemeinschaftungen verstärken. Der rituelle Rahmen erzeugt Euphorie und fängt zugleich die Kraft des Chaos auf. So bietet sich der Straßen karneval mit seinen Ritualen als ein Freizeitvergnügen an, an dem man teilhaben kann, aber nicht muss. Die rituellen Handlungen können zu rauschhaften Vergemeinschaftungen führen, die auf Offenheit, Freiheit und Statusnivellierung der im Hier und Jetzt Handelnden Wert legen. Die Rituale evozieren gemeinschaftliche Handlungen der Individuen und stärken damit die Gruppe nach innen und außen. Nach innen stärken sie über das Wiedererleben gemeinsamer vergangener Momente84 und die Ausrichtung auf die Gemeinschaft, das Wir-Gefühl und die Gruppenidentität. Nach außen schaffen sie über die Autorität der Traditionen Differenz und Anerkennung dieser Differenz. Mit dem rituellen Rahmen ist der Körper verbunden, aber ebenso Raum und Zeit. Das Ritual macht Sozialität sinnlich erfahrbar, vor allem dann, wenn es Bewegungs- und Haltungstypiken vieler Körper möglichst umfänglich einbezieht. Die individuelle Körperkontrolle als Ausdruck der sozialen Kontrolle wird in rauschhaften Vergemeinschaftungen zum Teil aufgegeben. Damit entspricht diese Körpererfahrung im Straßenkarneval den Erfordernissen der sozialen Erfahrung. Der rituelle Rahmen umfasst Tänze, Gesänge, Kostüme, Gesten, das ritualisierte Berauschen uvm. Er ist in der Lage, die Wahrnehmung wie auch die Handlungen der Beteiligten zu beeinÀussen, indem er die emotionalen Emp¿ndungen steigert. Wie sich diese Erfahrung auf gesellschaftlicher und individueller Ebene manifestieren kann, wird im Folgenden diskutiert.
84 Die gemeinsam vergangenen Momente können einerseits viele miteinander erlebte und rituell begleitete Straßenkarnevalsepisoden sein. Andererseits können aber auch gerade erst gemeinsam aufgeführte Trinksprüche in geselliger Runde ein wichtiges Gemeinschaft stiftendes Moment sein. Die ständig wiederholten Trinklieder, Sprüche und Segenswünsche haben hier eine ähnliche Funktion wie religiöse Mantras, die die Teilnehmer des kollektiven Rituals ihres Alltagsbewusstseins entheben und in eine andere Art von Bewusst seinszustand versetzen – wie eine Art Litanei (vgl. Veiz 2009: 249).
Rauschhafte Vergemeinschaftungen als Kitt für das soziale Gefüge 8.1
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Rauschhafte Vergemeinschaftungen als Kitt für das soziale Gefüge
Straßenkarneval lässt einen Zustand der Ausgelassenheit zu, den die Interviewten als ‚Ausnahmezustand‘ bezeichnen. Damit sind unter anderem die außeralltäglichen Gestaltungen der Innenstädte, die durch das Kostüm bedingten Rollenwechsel und veränderten Selbstwahr nehmungen, die ungehemmtere Kontaktaufnahme, die außergewöhnlichen Bewegungspraktiken, das laute Mitsingen und sorglose Tanzen angesprochen. Im ‚Ausnah mezustand‘ werden alltägliche Konventionen und Regeln suspendiert, und eine alternative Ordnung tritt in Kraft, die von den Feiernden bis Aschermittwoch aufrechterhalten wird. Für viele Bewohner der Karnevalshochburgen, aber auch für viele jährliche Besucher des jecken Treibens ist die Teilnahme an dem Kalenderfest etwas, was sie sich unter keinen Umständen nehmen lassen würden. Karneval ist fester Bestandteil vieler Biogra¿en und zugleich untrennbar mit dem Rheinland verbunden. Straßenkarneval bedeutet, „die Sau raus lassen“ (T3: 44), also kör perliche Genüsse und körperliche Äußerungen exzessiv und expressiv ausleben zu können. Die kollektive Verletzung der öffentlichen Ordnung und die Delegitimierung von Alltagsregeln stellt eine deutliche Irritation des alltäglichen sozialen Gefüges dar und kann daher als Krise oder Bewährungsprobe für das Zusammenleben gesehen werden. Meine in der Einleitung formulierte und hier zu diskutierende Vermutung ist dieser Sichtweise jedoch entgegengesetzt: Rauschhafte Vergemeinschaftungen bilden einen Kitt für das soziale Gefüge. Diese Àüchtigen Gesellungsformen sind eine Grundlage und Grund¿gur des sozialen Zusammenlebens in der Gegenwart. Die Vermutung spannt den Bogen zur gesellschaftlichen Ebene und wirft die Frage nach der Bedeutung von Àüchtigen, rauschhaften Vergemeinschaftungen im Rahmen eines auf Brauchtum beruhenden Volksfestes für die gesamtgesellschaftliche Ordnung auf. Der Straßenkarneval inszeniert das Chaos: „Karneval ist eine spielerische Gefährdung der rationalen Ordnung, die reglementierte Störung des öffentlichen Lebens. Sein subversives, anarchisches Potenzial erinnert stets an die mögliche Katastrophe“ (Hoinle 2003: 7). In der Inszenierung dieses Chaos ¿ nden Menschen einen veränderten Zugang zu sich und zu Anderen, woraufhin sich Àüchtige, aber für die Zeit ihres Bestehens intensive Sozialbeziehungen ergeben. Ich verstehe den Straßenkarneval als eine Inszenierung des „sozialen Dramas“ (Turner 1995). Straßenkarneval ist eine Darstellungsgattung, die das soziale Drama öffentlich zur Anschauung bringt und vor allem dem Zweck der Vergnügung dient. Es geht beim Kar neval um ein (ernstes) Spiel ohne ernste Folgen und um eine kulturelle Darstellung, die das Leben selbst zu entfalten und zu erklären vermag (vgl. Turner 1995: 17). Den Begriff des sozialen Dramas benutzt Turner für Situationen der Erregung, der gewittrigen Entladungen und der Unordnung der Gemeinschaft. Es
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entspricht der ursprünglichen, alle Zeiten überdauernden Form der Auseinandersetzung, die heute in domestizierter Form und mit verändertem Symbolgebrauch vorkommt (vgl. ebd.: 14). Soziale Dramen laufen in vier Hauptphasen ab: Bruch, Krise, Bewältigung und positiver oder negativer Ausgang. Die erste Phase stellt einen Verstoß gegen soziale Normen dar. Oft wird dabei eine symbolische Handlung aufgeführt, die den Blick auf den Bruch lenkt. Es folgt die Krise mit Parteinahmen für die eine oder die andere Seite, mit Beschimpfungen und manchmal auch mit gewalttätigen Auseinandersetzungen (vgl. ebd.: 172). Die Kritiker dieser Krise versuchen, die geltende Norm wiederherzustellen und setzen Bewältigungsmechanismen in Gang. Die Krise gilt als beendet, wenn die alte oder eine neue Ordnung (wieder-)hergestellt ist. Jedes soziale Drama offenbart tieferliegende Strukturen des gesellschaftlichen Gefüges und bestätigt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung und zugleich die Wichtigkeit der Ordnung. Im Karneval als Inszenierung eines sozialen Dramas markiert die symbolische politische Machtübernahme durch den Karnevalsprinzen bzw. das Dreigestirn im Rathaus den Bruch. Die Krise ist die jecke Zeit des Straßen karnevals, in der das Scherzen, das Absurde und die politischen Spitzen ihren Platz haben. Sie wird durch den Ablauf der karnevalistischen Uhr, aber auch durch Karnevalskritiker (insbesondere negative mediale Berichterstattung) bewältigt. Ab Aschermittwoch tritt die „alte Ordnung“ wieder in Kraft. Karneval stellt – ganz im Sinne Turners – ein liminoides Ritual dar, das jenseits religiöser Praktiken85 spielerisch (ludisch) und unterhaltend ist. Die Teilnahme ist freiwillig. Das Gesetz der Freiwilligkeit stellt einen Bezug zur Freiheit des Menschen, zu seiner Selbstbeherrschung ebenso wie zu seiner Selbsttranszendierung her (vgl. Turner 1995: 56). Damit ist der Wille zum Feiern und Spaß haben ebenso angesprochen wie der Wunsch, ein Anderer zu sein und sich dem Trubel der Menge zu überlassen. Das Liminoide besitzt den Charakter einer Ware, eines Produktes, das man auswählt und für das man bezahlt. Der Straßenkarneval ist ein Auslöser für Communitas, also für rauschhafte Vergemeinschaftung. Communitas wird am besten in spontanen Schwellensituationen und zwischen Personen mit gleichem Status realisiert. Straßenkarneval fördert mit seinen Kostümen die Statusgleichheit und hat die Tendenz, inklusiv zu sein, denn dazuzugehören ist im Kar neval ohne aufwendiges Aufnahmeritual möglich. Es bedarf lediglich eines vorübergehend jecken Selbstverständnisses und dessen Darstellung. Straßenkarneval als Mußegattung in nachindustrieller Zeit steht als vergnügliche bis rauschhafte Art der Freizeitgestaltung zwischen 85 Für die posttribale Zeit sieht Turner keine Notwendigkeit mehr, zwischen sakralen und säkularen Phänomenen zu unterscheiden. Vielmehr sieht er – ebenso wie bei den Kategorien ‚ernst‘ und ‚spielerisch‘ – eine Durchmischung beider Bereiche (vgl. auch Knoblauch 2009).
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den durch Rationalität und Ernst gekennzeichneten Bereichen von Arbeit und PÀicht. Die englische Vokabel ‚entertain‘, die auch im Deutschen in verschiedenen For men Fuß gefasst hat, stammt vom altfranzösischen ‚entretenir‘, was soviel wie ‚auseinander-, getrennthalten‘ bedeutet, also „einen liminalen oder liminoiden Raum für Auffüh rungen schaffen“ (Turner 1995: 62). Communitas ist für Turner „die Befreiung der kog nitiven, affektiven, volitionalen, kreativen usw. Fähigkeiten des Menschen von den normativen Zwängen“ (ebd.: 68). Es geht dabei um „die transformierende Erfahrung, die bis in die Tiefe des Seins jedes Einzelnen vordringt und dort etwas grundlegend Gemeinsames ¿ndet“ (Turner 2005: 134). Dieses bis ins Ekstatische steigerbare Erlebnis in der spontanen Communitas ist das Ziel vieler Jecken im Straßenkarneval. Es geht um Unmittelbarkeit, Spontaneität, das Hier und Jetzt, die eigene Lust und den eigenen Spaß am und mit Anderen. Die Befreiung vom Alltag lässt den Ausnahmezustand, außeralltägliche Verhaltens- und Interaktionsweisen vorübergehend zu. Für den liminoiden Straßenkarneval gilt ein Nebensein (vgl. Bauman 1997: 85), also ein fragmentarisches und episodisches Wahrnehmen (der Maske) des Anderen ohne Interesse an der Person als Ganzem. Im Straßenkarneval spielen die Jecken ihre Rollen, nehmen einander in diesen Rollen wahr und bringen den Zustand der Krise zur Aufführung. Es kommt zum Durcheinander des Rausches und der Communitas, das sie am eigenen Leib erfahren. Der Gebrauch von Alkohol ist wichtiges Element und Stützpfeiler für die rauschhafte Vergemeinschaftung. Turner diagnostiziert der Communitas eine „Fluß“-Qualität (1995: 92) im Sinne Csikszentmihalyis,86 denn es komme zum Erleben des Verschmelzens von Handeln und Bewusstsein, zum Bündeln der Aufmerksamkeit auf ein begrenztes Reizfeld und zum (Über-)Ich-Verlust (vgl. ebd.: 89 f.). Die Communitas hat für Turner eine entscheidende Funktion für die (Sozial-)Struktur. Struktur besitzt einen rechtlich-politischen Charakter, der auf Stabilität hin angelegt ist. Struktur und Antistruktur stehen für Turner in einem dialektischen Verhältnis, „da die Unmittelbarkeit der Communitas dem Strukturzustand weicht, während in den Übergangsriten die Menschen, von der Struktur befreit, Communitas erfahren, nur um, durch diese Erfahrung revitalisiert, zur Struktur zurückzukehren“ (Turner 2005: 126). Um dauerhaft gesellschaftliche Stabilität zu erreichen, muss eine Gesellschaft diese Dialektik zulassen.87 Sie stellt den Kitt für das soziale Gefüge in traditionaler wie in posttraditionaler Zeit dar. 86 Diese Effekte habe ich unter dem Aspekt des Rauschhaften verhandelt, ohne auf Csikszentmihalyis Entwurf zurückzugreifen, weil dieser stark auf die produktive Nutzung des Rausches im Arbeitsumfeld abzielt. Mir geht es um die Zeitspanne der Freizeit und des scheinbar Irrationalen und Unproduktiven, das dennoch mittelbar auf das Rationale einzuwirken vermag. 87 Wie sehr der Karneval ordnungsstiftend wirkt und Stabilität herstellt, demonstrieren die zahlreichen Karnevalsvereine, die das Narrenfest seit dem 19. Jahrhundert in großen Teilen domestizieren
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Der Gott Dionysos88 ist bezeichnenderweise nicht nur Gott des Weines, der Ekstase und des Tanzes, sondern auch der Tragödie, sodass ihm zu Ehren in Athen die Dionysien, also Theaterfestspiele mit ausschweifendem Charakter, abgehalten worden sind. Insofern verbindet sich in der Figur dieses griechischen Gottes die Macht des Rausches mit der kathartischen Kraft des Theaters, auf die Turner rekurriert. Maffesoli vertritt die These, „daß das Orgiastische […] die Gemeinschaft strukturiert und regeneriert“ (Maffesoli 1986: 11). Er sieht in der Orgie die Wurzel des Sozialen, das in einer Zeit der Atomisierung der Individuen immer mehr verloren zu gehen scheint. Die konfusionelle Ordnung der Vergemeinschaftung hat die Aufgabe zu betonen, dass das Kollektive über dem Individuellen Vorrang hat. Insofern entfalten die Unordnung und das Chaos eine fruchtbare Seite, denn das Durchkreuzen von Ordnungsbemühen hat die Folge, „das gelockerte soziale GeÀecht auf lange Sicht zu straffen, und es wird im Gegenzug zu dessen Bürgen all das zu Bewußtsein gebracht, was die Besonderheit und die Charaktereigenschaften einer Gemeinschaft ausmacht“ (ebd.: 111, Herv. i. O.). Die rauschhafte Vergemeinschaftung führt demnach vor Augen, dass jede Gemeinschaft auf einer Basissolidarität beruht und revitalisiert dieses Gefühl. Im Straßen karneval wird diese Erfahrung als friedliche und familiäre Stimmung beschrieben. Der Zustand der Erregung lässt sich aber nicht lange halten – die Vergemeinschaftung hat eine von Grund auf zerbrechliche Struktur und sinkt nach gewisser Zeit zusammen. Sie kehrt jedoch wieder, denn das orgiastische Lebensgefühl folgt einer zyklischen Zeitstruktur. In diesem Rhythmus trägt auch der Straßenkarneval zur post modernen Vergesellschaftung bei, die wesentlich eine Àüchtige Vergemeinschaftung ist. Auch Turner zufolge kann die Vergemeinschaftung die Geburtsstunde von Struktur sein, denn Communitaserfahrung wird zur Communitaserinnerung, sodass Communitas schon bald versucht, sich zu reproduzieren. Dabei entwickelt sie selbst eine Sozialstruktur, in der anfänglich freie und innovative Beziehungen zwischen Individuen in normgeleitete Beziehungen zwischen sozialen Personen umgeleitet werden (vgl. Turner 1995: 73). Dies zeigt sich am Beispiel des Straßenkarnevals, der eine raum-zeitliche und rituelle Struktur angenommen hat, die Communitaserfahrungen Jahr für Jahr wieder ermöglichen soll. Somit entsteht und damals wie heute für eine bürgerliche Mitte attraktiv machen. Sie institutionalisieren den Karneval und sind aus der Antistruktur entstandene Struktur. 88 Maffesolis Buch „L’ombre de Dionysos“ erscheint 1982 in Paris. Im selben Jahr veröffentlicht Turner sein Buch „From Ritual to Theatre. The Human Seriousness of Play“ in New York, wo er die bereits 1969 in „The Ritual Process, Structure and Anti-Structure“ formulierte These der Dialektik von Alltag und Außeralltäglichkeit im Bereich des sozialen und des Bühnen-Dramas weiterverfolgt. Maffesoli stellt trotz der Ähnlichkeit in der Argumentation in seiner „Soziologie des Orgiasmus“ keinen expliziten Bezug zu dem Ethnologen Turner her.
Rauschhafte Vergemeinschaftungen als Kitt für das soziale Gefüge
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aus spontaner Communitas die normative Communitas, die sich im Kar neval in der Gestalt des im 19. Jahrhundert entstandenen Vereinswesens manifestiert. Auch heute noch ist der Vereinsbeitritt häu¿g Folge einer durch die Erfahrung rauschhafter Vergemeinschaftung entfachten Begeisterung für den Karneval. Der strukturelle Vereinsrahmen stabilisiert mit hohem zeitlichem und ökonomischem Aufwand die Möglichkeit von rauschhaften Vergemeinschaftungen. Es braucht also organisierte Strukturen, um Antistrukturen zu erzeugen: „It takes an awful lot of order ‚a sweet disorder,‘ a great deal of structuring to create a sacred play space and time for antistructure“ (Turner 1967: 83). Straßenkarneval ist in eine theatrale, dramatische Struktur überführt worden, sodass er wohlorganisiert jedes Jahr zur Aufführung kommt. Die Beteiligten spielen ihre Rollen als Jecken und erleben bei dieser Aufführung Communitas. Die rauschhafte Vergemeinschaftung ermöglicht ihnen die Rückkehr in ihre Alltagsrollen und führt mit ihrem Durcheinander und ihrer Unordnung die Notwendigkeit von Alltagsstrukturen vor Augen. Insofern ist Karneval eine Bewältigungsstrategie von KonÀikten. Turner vermutet „daß alle kulturellen Darstellungsgattungen – von den Stammesritualen bis hin zu den Sondersendungen des Fernsehens – potentiell in der dritten Phase des allgemeinen sozialen Dramas […], der Phase der Bewältigungsprozesse gegenwärtig sind“ (1995: 171, Herv. i. O.). Wenn man im Karneval über ganz bestimmte Themen lacht, die auf genau diese Weise bearbeitet werden, spiegelt sich dort das KonÀiktpotenzial einer Gesellschaft. Vergemeinschaftungserfahrungen – ganz gleich ob innerhalb des sozialen Dramas, innerhalb dessen Aufführung oder in der Durchmischung beider Formen – haben Lerneffekte, denn in ihnen werden nicht nur KonÀiktfelder berührt, sondern beispielsweise auch die Vorteile kooperativen Verhaltens anschaulich. Auf der makrostrukturellen Ebene hat dies ebenso wie auf der individuellen Ebene Auswirkungen, denn soziale Dramen „geben uns Probleme zur Lösung auf […] und provozieren uns zu neuen, sinnreichen kulturellen Formulierungen unserer Conditio humana und gelegentlich zu Versuchen, sie zu verbessern, ja zu verschönern“ (ebd.: 176). Gewiss aber – das zeigt auch der historische Rückblick (vgl. Kap. 5.1) – wird der Straßenkarneval nicht immer in diesem Licht gesehen. Der Karneval im Rheinland wurde von französischen wie preußischen Besatzern mit Argwohn beobachtet. Auch die Nationalsozialisten bemühten sich, dieses Fest schnell gleichzuschalten, weil sie sich durchaus seiner Sprengkraft bewusst waren. „[D]er Karneval ist ein Moment allgemeiner Erregung (effer vescence) und kann jederzeit in das umschlagen (oder, wie manche sagen, zu dem degenerieren), was er ritualisiert spielt“ (Maffesoli 1986: 89). Die Revolte und der Aufruhr, die der Karneval auf die zur Bühne umgestalteten Straßen und Plätze bringt, schwingen immer mit.
260 8.2
Zusammenfassung Rauschhafte Vergemeinschaftungen als Bewältigungsstrategie
Rauschhafte Vergemeinschaftungen können helfen, durch rasante gesellschaftliche Transfor mationsprozesse entstandene KonÀiktlagen und durch die eigene Sterblichkeit bedingte Kränkungen zu bewältigen. Die zweite, hier zu diskutierende Vermutung fokussiert vor diesem Hintergrund zwei Bereiche: Zum einen sind rauschhafte Vergemeinschaftungen als Möglichkeit zur Teilhabe an Gemeinschaft mit alternativen Regelmäßigkeiten eine Reaktion des Individuums auf die vielfältigen Anforderungen und Transformationsprozesse in der Gegenwart. Zum anderen bieten sie eine Möglichkeit zum Umgang mit der existenziellen Tragik – also der Endlichkeit – des menschlichen Lebens. Die Vermutung spricht zunächst eine Gegenwartsdiagnose an, die von einem gesellschaftlichen Wandel mit vielerlei Herausforderungen für das Individuum ausgeht. Hervorzuheben sind bei diesen Ent wicklungen insbesondere Individualisierungsprozesse, in deren Zug das Individuum nicht nur zentraler Bezugspunkt für sich selbst, sondern auch für die Gesellschaft wird. Es muss mit den Konsequenzen der Freisetzung aus historisch vorgegebenen Sozialbindungen im Sinne traditionaler Herrschaftsund Versorgungszusammenhänge umgehen und die damit verbundenen Chancen, aber auch Risiken umsetzen und verarbeiten (vgl. Beck 1986: 206). Gleichzeitig haben traditionale Gewissheiten im Hinblick auf Handlungswissen, leitende Normen, aber auch auf den Glauben ihre Gültigkeit verloren. Mit der Aufklärung rückt das Individuum in den Fokus und wird heute im Mainstream des politischen wie wissenschaftlichen Verständnisses als Gestalter der sozialen Realität angesehen. Es wird „zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen“ (ebd.: 209) und hat dabei die Freiheit und zugleich den Zwang, diese Wirklichkeit zu gestalten. In einer rationalisierten, entzauberten Welt dominiert das Bild eines autonomen Individuums,89 das für sein Handeln und dessen Konsequenzen selbst verantwortlich ist, obgleich sich im Zuge der Globalisierung mehr und mehr zeigt, wie der Einzelne auch von Entscheidungen Anderer betroffen sein kann. Die Atomisierungsprozesse forcieren wiederum Reintegrationsbemühungen und die Suche nach Sicherheit und Halt. Das Individuum begibt sich in neue Arten der sozialen Einbindung, die aber auch kontrollierend und einschränkend wirken (vgl. ebd.: 206). So entsteht ein Spannungsfeld zwischen Singularisierung und Gemeinschaft, zwischen einem Ich und einem Wir, zwischen Freiheit und Sicherheit. Diesen KonÀikt muss das Individuum aushalten, muss zwischen den Polen
89 Michel Maffesoli geht sogar von einer Separation des Individuums von der Gemeinschaft aus, die politisch forciert ist: „The state as an expression par excellence of the political order protects the individual from the community“ (Maffesoli 1996: 64, Herv. i. O.).
Rauschhafte Vergemeinschaftungen als Bewältigungsstrategie
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des Spannungsfeldes vermitteln, muss die daraus resultierenden Ambivalenzen bewältigen. Eine mögliche Bewältigungsstrategie ist die vorübergehende Ich-Aufgabe, der Verlust der aktiven Handlungskontrolle und das Eingehen intensiver Nähe zu Anderen. Rausch hafte Vergemeinschaftungen bieten die Möglichkeit einer kurzen Auszeit von den Anforderungen alltäglicher Strukturen. Der soziale Akteur entzieht sich dem rationalistischen Fortschrittsstreben und lässt sich auf (eher irrationale) Erlebnis- und Stimmungsformen ein, die im Straßen karneval, auf Rockkonzerten, in Fußballstadien usw. zu Vergemeinschaftungen führen. Die Alltagswelt ist für den Akteur durch Individuation und Separation gekennzeichnet, während „the empathetic period is marked by the lack of differentiation, the ‚loss‘ in a collective subject“ (Maffesoli 1996: 11). Maffesolis Neo-Stämme zeichnen sich durch hedonistische Momente, Mobilisierung von Gemeinschaftserfahrungen und kollektive Erregungen aus. „The accent is then on that which unites, rather than that which separates“ (ebd.: 10). Diese Vereinigungen gehen einher mit der „transcendence of the individual“ (ebd.: 67), also mit Prozessen der Deindividualisierung, die sich im empirischen Material etwa darin zeigen, dass sich im Straßenkarneval die Sehnsucht nach der Konsequenzenlosigkeit des eigenen Handelns erfüllt – zumindest innerhalb des rituellen Rahmens und bestimmter Grenzen. Das Mitglied des Neo-Stammes wird nicht als Individuum, sondern als Rollenspieler erfasst. „The costume changes as the person, according to personal tastes […], takes his or her place each day in the various games of the theatrum mundi“ (Maffesoli 1996: 76, Herv. i. O.). Rauschhafte Vergemeinschaftungen heben sich als spezi¿sche Formen von Sozialität vom Bereich des Sozialen ab, in welchem das Individuum Funktionen innehat, die unmittelbar mit ihm und seiner Individualität verbunden sind. Im Karneval ist ein Spiel mit Masken (mimikry) möglich; zugleich betont Uniformierung mithilfe von Kostümen und Accessoires die Homogenität der Gemeinschaft. Bei Maffesoli ¿ndet sich das als Metapher gemeinte Konzept der „Maske“, die dem Individuum erlaubt, temporär an Gruppenprozessen teilzunehmen. Unter Masken sind aber nicht nur Karnevalskostüme zu verstehen, sondern eine ganze Bandbreite von Gestaltungsmöglichkeiten des Körpers; „an original tattoo, the recycling of retro fashions or even the conformity of the ‚preppy‘ style. In all of these examples, it subordinates the person to this secret society which is the chosen af¿nity group“ (Maffesoli 1996: 91). Masken ermöglichen den Mitgliedern eine gewisse Verborgenheit und eine Verschwiegenheit (secrecy),90 die die Kontaktaufnahme 90 „Sometimes secrecy can be the way to establish contact with the other within the con¿ nes of a limited group; at the same time it conditions the attitude of the group towards whatever external force there may be“ (Maffesoli 1996: 92).
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Zusammenfassung
zu Anderen erleichtern und zugleich als Grundeinstellung der Gemeinschaft jene vor externen Bedrohungen schützen kann. Diese Hypothese der underground centrality (ebd.: 92) zeigt die secrecy als zentrales Kennzeichen von Sozialität auf und steht im Gegensatz zu Richard Sennetts Diagnose der „Tyrannei der Intimität“ (Sennett 1983 [engl. 1977]). Die Verschwiegenheit erlaubt es, im Beisammensein mit der Gewissheit einer geschützten Atmosphäre zu agieren – „ohne sich zu schämen“ (T1: 133 f.). Der Verschwiegenheit kommt der Status einer Regel zu, die nicht nur die Mitglieder zu Gleichen unter Gleichen macht, sondern auch den sozialen Klebstoff der Gruppe darstellt (vgl. Maffesoli 1996: 93). Die Verkleidung wird zum Erkennungszeichen und zum Auf nahmekriterium des Stammes und zugleich zu einem Versprechen an den „feiernden Haufen“ (T11/1: 398). Sie genügt, um Gefühle der Zusam mengehörigkeit auszulösen. Diese Ober Àächlichkeit zeichnet rauschhafte Vergemeinschaftungen aus und ist unerlässlich, um gemeinsam zu emp¿nden. Das gemeinsame Emp¿nden ist auf körperliche Kopräsenz angewiesen. Insofern betont das Aufsuchen rauschhafter Vergemeinschaftungen die drei Kategorien Raum, Zeit und Kör per. Der gemeinsame Ort, die Nähe zu Anderen vermag erst die Verbindung herzustellen. Die gemeinsame Zeit und deren Flüchtigkeit intensivieren die Emp¿ ndungen für die Gemeinschaft. Und die Körper, deren außeralltägliche Bewegungen und Berüh rungen erinnern an die unausweichliche Materialität des Seins. Die sinnliche Erfahrbarkeit von Raum und Zeit hat in der Alltagswelt an Relevanz eingebüßt. Räume lassen sich mittels moderner technisch-apparativer Medien mühelos überwinden. Die Beschleunigung von Zeitwahrnehmung und Temporalstrukturen hat zu einer Entzeitlichung der Zeit selbst geführt (vgl. Rosa 2008). Und die physische Präsenz ist für Kommunikation nicht mehr unbedingt notwendig. Nicht einmal als physische Entität für die Produktion in vielen Bereichen der Arbeitswelt hat der Körper noch eine große Bedeutung im Vergleich zur Tech nik, die mit wachsender Leistungsfähigkeit mehr und mehr menschliche Muskelkraft ersetzt. Demgegenüber (oder gerade deswegen) ist der Köper mehr denn je zum Werkzeug und Material von Selbstdarstellung und Inszenierungspraktiken geworden (vgl. Villa 2007: 23). Individualisierungsprozesse betreffen nämlich nicht nur die Gestaltung des eigenen Lebens, sondern auch des eigenen Körpers, sodass mit dem body turn (vgl. Gugutzer 2006) in der Soziologie das Phänomen Körper zum Gegenstand einer vielgestaltigen Forschung geworden ist. In der Betonung der sinnlichen Wahrnehmung in der rauschhaften Vergemeinschaf tung geht es u. a. um eine Ästhetisierung der Existenz. Der Raum wird in der rauschhaften Vergemeinschaftung zu einer relevanten Größe, die sich gerade dadurch aufdrängt, dass Rauschzustände zu veränderten Raumwahrnehmungen führen können. Er verbindet sich in der Erinnerung mit den Gefühlen
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an die Gemeinschaft, erlangt so an Bedeutung in der eigenen Biogra¿e und wird manchmal anschließend beinahe kultisch verehrt (z. B. beim „Mythos Köln“). Die Zeit hat für die rauschhafte Vergemeinschaftung im Straßenkarneval besonders im Hinblick auf Vergänglichkeit eine Bedeutung. Der Rausch hat stets nur eine punktuelle, eine Àüchtige Qualität. Insofern rücken der Moment, das Jetzt, und das Genießen des Augenblicks in den Mittelpunkt. Nicht das Denken an die Zukunft, das die Alltagszeit zumeist bestimmt, ist relevant, sondern die Gegenwart. Diese gegenwärtige Zeit wird im Rausch verändert wahrgenommen, scheint sich auszudehnen, verliert an Bedeutung. Es ist irrelevant, ob die Party schon sechs, acht, vierzehn oder mehr Stunden dauert – der Rausch kennt keine Eile. Die Aufgabe der Uhr als Zeitmesser übernimmt der Körper, dessen Ermüdung irgendwann das Ende des rauschhaften Festes anzeigt. Der raum-zeitlich gebundene Körper wird in vielerlei Hinsicht in die rauschhafte Vergemeinschaftung eingebracht. Er ist gestaltendes und gestaltetes Medium, und die Kontrolle über ihn wird zumindest partiell aufgegeben. Im Straßenkarneval ist das Erleben eines körperlich-sinnlichen Zustands von besonderer Intensität möglich – die reine Präsenz als ästhetische Erfahrung, die im Gegensatz zur Alltagserfahrung steht. In diesen Momenten wird sich das Individuum selbst ein wenig fremd – auch das Kostüm als deutliche Manipulation des alltäglichen Erscheinungsbildes trägt zur Ver fremdung bei. Möglicherweise kommt das Subjekt sich durch solche Erfahrungen auch selbst ein wenig näher, sodass das alternative Selbst zur Identi¿kationsarbeit beiträgt. Im Straßenkarneval ist das Erlebnis von „Massenbildung“ eine zentrale Dimension von Gemeinschaftserfahrung. In den Regionalbahnen, Bahnhöfen, Kneipen und Festzelten, auf den Plätzen und am Straßenrand wird deutlich, was Karneval und viele Einzelne auf die Beine zu stellen vermögen. Die bunten Kostüme, die Wagen, die schunkelnden und tanzenden Gruppen lassen die Erfahrung der Selbstermächtigung zu. Diese Erfahrung ist nicht nur eine quantitative im Hinblick auf die Anzahl der begeisterten Jecken, sondern auch eine qualitative im Hinblick auf die Eindrücke und die Bewertungen der Teilnahme an diesem Erlebnis. Das Erlebnis Karneval kommt keineswegs überraschend, sondern kann aufgrund von Vorerfahrungen, Erzählungen oder Medienberichten antizipiert werden. Insofern ist die Suche nach irrationalen Erlebniszuständen das Ergebnis einer rationalen Entscheidung zur Teilnahme. Es geht darum, Spaß zu haben und zu feiern und ist somit erlebnisrationales Handeln im Sinne Gerhard Schulzes (1992). Der Straßenkarneval befriedigt mit seiner zyklischen Wiederkehr auch das Bedürfnis nach Traditionen, die ihre Gültigkeit längst verloren haben. In posttraditionaler Zeit scheint es eine Sehnsucht nach Traditionen zu geben, die mit deren ursprünglicher Funktion zusammen hängt. Als Orientierungshilfen de¿nieren sie in vormodernen Gesellschaften Werte, sorgen für Kontinuität und bieten Hand-
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lungsmuster an. Ihnen kommt eine Generationen verbindende Kraft zu, die sie emotional und kulturell entfalten. In einer entzauberten Welt ist ein Ersatz für sie schwierig, in Vobrubas Augen sogar undenkbar (vgl. Vobruba 1986: 243). Das Bedürfnis nach Tradition aber ist tief in den Individuen ver wurzelt (vgl. Gross 1992: 64). Traditionen entstehen nicht, weil wir uns nach Ordnung und Kohärenz im gesellschaftlichen Leben sehnen, sondern weil sie ein psychologisches Begehren nach Traditionen befriedigen, das schon seit vielen Generationen besteht. Was paradox klingt, ist eigentlich das Ergebnis eines Trugschlusses: Über lange Zeit haben Traditionen Bedürfnisse befriedigt, sodass sie für die eigentliche Quelle dieses Begehrens gehalten wurden. Sie erfüllen das Verlangen nach bestimmten Grundbedürfnissen wie Sicherheit, Kontinuität und Verwurzelung, die in eine Sehnsucht nach Traditionen übersetzt werden, die per se nicht existieren kann. Traditionen sind nur die Medien, nur Hülsen für eine Botschaft, die heute nicht mehr glaubhaft übermittelt wird, weil sie größtenteils nicht mehr existiert. Ersatz gibt es nicht. Trotzdem bleibt die Sehnsucht – die Sehnsucht nach Gemeinschaft, Verbundenheit und Vertrauen. Es sind traditionale Sehnsüchte in einer posttraditionalen Zeit (vgl. Vobruba 1986: 221). Wir leben, wie Anthony Giddens es formuliert, in einer posttraditionalen Gesellschaft, und er bezieht das ‚Wir‘ nicht nur auf den Westen, sondern auf die gesamte Welt, die sich vor allem durch den EinÀuss elektronischer Medien in einer Phase offensichtlicher Übergänge be¿ndet. „Die Geschichte der Moderne besteht zum großen Teil aus der Rekonstruktion der Traditionen, die sie auÀöst“ (Giddens 1993: 445, Herv. i. O.). Wir leben also nicht in einer traditionslosen Gesellschaft, sondern in einer Gesellschaft, die mit Traditionen anders umgeht. Jene werden zum Teil entleert, revitalisiert und problematisiert in dem Versuch, mithilfe dieses Mediums die Vergangenheit in der Gegenwart zu rekonstruieren. Tradition und Moder ne schließen sich nicht aus, sondern benutzen sich wechselseitig (vgl. dazu Niekrenz 2008). Durch ihren Wiederholungscharakter bedeuten Traditionen auch Kontrolle über die Zeit, die ebenso kennzeichnend für sie ist wie die bindende Kraft, die durch ihren normativen oder moralischen Gehalt und die emotionale Besetzung entsteht. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass mittels Tradition nicht nur Erinnerungen geweckt werden, sondern die Vergangenheit und die damit verbundenen Gefühle bis zu einem bestimmten Grad wiedererlebt werden können. Traditionen und Rituale bieten die Chance zur Stabilisierung und Bewahrung des eingeschlagenen Lebenskonzepts, weil sie das Gefühl geben, „das Richtige“ zu tun. „Tradition ist Wiederholung und nimmt eine Art von Wahrheit an, die im Gegensatz zu ‚rationaler Überprüfung‘ steht“ (Giddens 1993: 453). Der Genuss des Lebens ist ein konstitutives Thema des Karnevals – und eng gekoppelt mit dem memento mori. Dem Vergnügen im Hier und Jetzt geht die
Ohne Chaos keine Ordnung
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bittere Erfahrung der Endlichkeit allen Seins voraus. Der dem Karneval immanente Vanitas-Gedanke und dessen rituelle Repräsentationen zielen auf eine Möglichkeit des Umgangs mit der eigenen Endlichkeit. Die Angst vor der vergehenden Zeit wird in den Karneval integriert, um so die Dialektik von Sterben und Werden zu integrieren. Der Umgang mit dem tragischen Sein zum Tode wird im Karneval durch eine ausschweifende Lebensbejahung organisiert. „Dort wo der Tod drängt, wird das Leben exzessiv“ (Maffesoli 1986: 91). Man begegnet dem Wissen um das Sterben mit Vitalität und bejaht damit sowohl das eigene Leben als auch das Dasein insgesamt. Diese Nähe von Leben und Tod lässt Leidenschaft entstehen und befeuert sie.91 Für die Leidenschaft gibt es kein Morgen. Sie geht einher mit der demonstrativen Verausgabung und Verschwendung von Ressourcen, was ein Streifen und Spielen der Katastrophe in einer Gesellschaft darstellt, die sich strikt von wirtschaftlichen Gesichtspunkten leiten lässt. Das Chaos des Festes, das Durcheinander des Straßen karnevals ist fester Bestandteil der bestehenden Ordnung und wird als deren Bestätigung regelmäßig aufgeführt. „Indem man die Verhöh nung der Ordnung ¿ngiert, erneuert man sie“ (ebd.: 97). Der Straßenkarneval ist auf die Maßlosigkeit hin angelegt, weil er vor dem Hintergrund seiner historischen Ursprünge auf das Maßhalten vorbereiten sollte. Ohne Rausch kann es die Nüchternheit nicht geben, ohne Chaos keine Ordnung. 8.3
Ohne Chaos keine Ordnung – Zwei KonÀiktfelder des Straßenkarnevals in der Diskussion
Die temporäre, rauschhafte Vergemeinschaftung im Straßenkarneval befriedigt individuelle Bedürfnisse nach Erregung, gefühlter Zugehörigkeit, alternativer Selbstdarstellung und rauschhaften Zuständen. Im Straßenkarneval ist neben der Lust am gesteigerten Gefühlserleben auch die Freude an der beruhigenden Vergewisserung der Gemeinsamkeit im Hinblick auf Traditionen und Bräuche anziehend. Dabei stellt der Straßenkarneval nur eines unter vielen Angeboten zur Vergemeinschaftung dar, aus denen die Individuen wählen können. Wie No91 Maffesoli nennt hier die Nähe von Eros und Thanatos (1986: 92), auf die bereits Sigmund Freud 1920 in „Jenseits des Lustprinzips“ einging. Er stellte den Todes- (Thanatos) dem Lebenstrieb gegenüber und konstruierte einen neuen Triebdualismus. Mit dem Zusammen- und Gegeneinanderwirken dieser beiden Triebe versuchte er, die Vielfältigkeit des psychischen Lebens zu erklären. Sein Ansatz geht davon aus, dass der Lebenstrieb (Eros) die Verlängerung des Lebens anstrebt und sich daher mit Objekten verbindet, wogegen der Todestrieb (Thanatos) sich nach einem früheren Stadium im Leben sehnt, einem spannungslosen, fast leblosen Zustand, der nach keinen Beziehungen zu Objekten strebt. „Es handelt sich hier um eine globale Konzeption des psychischen Lebens, dessen Funktionieren durch eine Pendelbewegung rhythmisiert werde, in der Triebkräften [sic !] alternieren, die entweder zum Tode […] oder zur Lebensfortsetzung drängen“ (Roudinesco/Plon 2004: 499).
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maden wandern sie zwischen den „Stammeskulturen“ hin und her, mit denen sie sich mittels Masken identi¿zieren können (vgl. Maffesoli 1996: 91). Sie geben sich einer Vielzahl von überindividuellen, kollektiven sozialen Figurationen hin und erzeugen durch die Imagination von Gemeinschaft das, was Maffesoli als puissance bezeich net (vgl. ebd.: 31 ff.). Diese Kraft des Vitalismus steckt in der Lebensbejahung, die sich in den Stämmen als orgiastisches Lebensgefühl äußert. Die kollektive Erregung (effer vescence) ist ein Grundbestandteil jeder gesellschaftlichen Strukturbildung. Kollektiver Rausch trägt dazu bei, dass sich Menschen ein abstraktes Gebilde wie Gesellschaft überhaupt vorstellen können. Die Mitglieder bedürfen des Imaginären, um Gesellschaft konstruieren und sich auf die Beziehungen berufen zu können, die sie zu ihr haben. Hervorzuheben ist, dass rauschhafte Vergemeinschaftungen nicht grundsätzlich friedlich sind, sondern vielmehr durchzogen von Spannungen, Gegensätzlichkeiten und KonÀikten. Karneval institutionalisiert affektuelles Handeln, das in positiv wie negativ konnotierte Richtungen ausschlagen kann, und vereint darüber hinaus eine Vielzahl an Ambivalenzen, Kon Àiktfeldern und subversiven Strategien gegen die zentralen Werte der rationalen Welt. Zwei dieser spannungsgeladenen Themen habe ich bereits in der Analyse des empirischen Materials aufgegriffen: Gewalt (Kap. 7.3.2) und Alkohol (Kap. 7.3.4). An beiden Beispielen offenbart sich, wie sehr mediale Berichte zur Konstruktion dieser Problemfelder beitragen. Der Drogen- und Suchtbericht 2009 zeigt, dass der Anteil der Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren, die 2008 regelmäßig Alkohol getrunken haben, auf 17,4 % gesunken ist (2007: 21,6 %). Ebenso ist das binge drinking,92 das so genannte Komasaufen im Jahr 2008 im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen (vgl. Bätzing 2009). Der leichte Rückgang im Trinkverhalten spiegelt sich aber nicht in der medialen Berichterstattung wider. Dort hat der Themen konnex Jugend und Alkohol noch immer Konjunktur und wird insbesondere anlässlich großer Volksfeste (z. B. Karneval, Oktoberfest, Weihnachtsmärkte) mit dem Etikett „Jugend im Vollrausch“ verhandelt. Für das Thema Karneval und Gewalt fällt die Argumentation ähnlich aus: In den Inter views zeigte sich auf der einen Seite die Problematisierung zunehmender Gewalt im Kar neval und auf der anderen Seite eine deutliche Abnahme des polizeilichen Einsatzaufkommens in der Session 2007/08 im Vergleich zu den Vorjahren (vgl. Kap. 7.3.2). Hier wird der mediale Diskurs von wachsender Gewalt zitiert, die von Jugendlichen ausgeht, ohne ihn mit der messbaren Realität im Straßenkarneval abzugleichen. Gewalt in ihren verschiedenen Formen durchzieht alle sozialen Erscheinungen. Maffesoli betrachtet Gewalt einerseits als zerstö92 Binge drinking ist das exzessive Trinken von fünf oder mehr alkoholischen Getränken hintereinander mit dem erklärten Ziel, betrunken zu werden.
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rendes oder unterdrückendes Phänomen, andererseits stiftet sie Verbindungen und schafft Neues – wie beispielsweise bei der Gründung moderner Nationen (vgl. Keller 2006: 80). Die totalitär institutionalisierte Gewalt steht in seinem Entwurf der anomischen Gewalt in Vergemeinschaftungsformen gegenüber, wobei gerade die Gewalt in sozialen Kollektiven abgewertet und verfemt wird. Auf die anomische Gewalt richten sich die Kontrollbemühungen und Sicherheitsvorkehrungen des politisch-administrativen Apparates, sodass die Kraft des Devianten produktiv gewendet wird – ein Stab von Exper ten übernimmt Sicherungsfunktionen, um Normeinhaltung zu überwachen (vgl. ebd.: 81). Maffesoli meint demgegenüber mit Foucault, dass das Augenmerk eher auf die Gewalt gerichtet werden muss, die von Institutionen ausgeht (vgl. Keller 2004: 369). Dabei muss auch die Rolle der massenmedialen Berichterstattung näher betrachtet werden, denn sie befeuert alljährlich die Diskussion um KonÀiktfelder im Karneval. Alkohol und Gewalt sind bewährte Themen, auf die in verschiedenen Formaten in „keimfreier“, redaktioneller Arbeit auf die „schmutzige“ Seite des Karnevals aufmerksam gemacht wird. In der Session 2009/10 wurde sogar vor der Ansteckung mit der so genannten Schweinegrippe im Kar neval gewarnt (z. B. beim Bützen) (vgl. Schröder 2009). In der medialen Inszenierung von Themen wie Rausch, Gewalt und Krankheit im Zusammenhang mit Karneval lässt sich eine mediale Abwertung des Karnevals als Erlebniswelt erkennen. Darin könnte eine Strategie liegen, die kollektive Überschreitung von sozialen Normen (ob symbolisch oder real) als Akt zivilen Ungehorsams zu diffamieren und sie so zu regulieren. Somit käme den Medien eine wichtige Rolle bei der Inszenierung des sozialen Dramas zu. Sie wären ein Instrument der Krisenbewältigung, das gegen den Normbruch vorgeht, und damit tief in der dritten Phase, der Bewältigungsphase des sozialen Dramas verankert. 8.4
Abschluss – Et is wie et is. Et kütt wie et kütt. Et hätt noch immer jot jejange.
Diese Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, rauschhafte Vergemeinschaftungen als Element im Straßenkarneval zu untersuchen. Dazu erfolgte zunächst eine ReÀexion von Theorieansätzen, um ‚rauschhafte Vergemeinschaftungen‘ als BegrifÀich keit zu fundieren. Im empirischen Teil wurde der Straßenkarneval als Gesamtphänomen abgebildet, um rauschhaften Vergemeinschaftungen als einer Erscheinungsweise in diesem Untersuchungsfeld auf die Spur zu kommen (vgl. Kap. 7.4). Die Arbeit hat die Absicht darzulegen, dass Karneval mehr ist als eine vergnügliche Zäsur im Jahresablauf und dass rauschhafte Vergemeinschaftungen mehr sind als Möglichkeiten zur Zerstreuung und zu einem Àüchtigen Gemeinschaftserlebnis. Die Diskussion der beiden Vermutungen zeigt, dass auf der
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Grundlage der vorgenommenen theoretischen und empirischen ReÀexionen beide Hypothesen bestätigt werden können. Rauschhafte Vergemeinschaftungen stellen als eine Grundlage und Grund¿gur des sozialen Zusammenlebens in posttraditionaler Zeit einen Kitt für das soziale Gefüge dar. Sie können auf Individualebene als Bewältigungsstrategie gesehen werden. Die episodenhafte Mitgliedschaft ist eine Reaktion des Individuums auf die Transformationsprozesse in der Gegenwart und auf die dauerhafte Konfrontation mit Ambivalenz. Dazu zählt auch die Möglichkeit, in rauschhaften Vergemeinschaftungen im Straßenkarneval einen Umgang mit der Tragik der Endlichkeit allen Seins zu ¿nden. Möglicherweise hinterlässt die Darstellung von rauschhaften Vergemeinschaftungen im Straßenkarneval an manchen Stellen einen unscharfen, ambiguen Eindruck, was daran liegen kann, dass das Erzeugen von Unschärfe, Ambiguität, aber auch Ambivalenz kennzeichnend für diese Form von Sozialität ist. Rauschhafte Vergemeinschaftungen im Straßenkarneval erzeugen Ambivalenzen und bewältigen sie gleichermaßen. Ambivalenz als „die gleichzeitige Gegebenheit zweier gegensätzlich bewerteter Erlebnisorientierungen oder Handlungsorientierungen auf der individuellen oder der institutionellen Ebene“ (Junge 2000: 233) existiert im Straßenkarneval zum Beispiel im Themenfeld von Flüchtigkeit und Stabilisierung, Rauschstreben und Rauschfeindlichkeit, Vielfalt und Uniformität, Lebenstrieb (Eros) und Todestrieb (Thanatos), Individualität und Gemeinschaftserlebnis, Selbsttranszendierung und Identitätssuche, Unordnung und Ordnung. Ambivalenz begleitet die individuellen Handlungsorientierungen des Straßenjecken und gehört zur Vergesellschaftung (vgl. ebd.: 39). Der soziologisch interessante Gesichtspunkt ist, wie Ambivalenz individuell bewältigt wird. Der Straßenkarneval mit seinen Möglichkeiten zur rauschhaften Vergemeinschaftung ist ein Beispiel für die individualisierte Form der Ambivalenzbewältigung (vgl. auch Kap. 8.2). Die inneren Antriebskräfte der Akteure, sich mit der Ambivalenz auseinanderzusetzen, sind als Handlungsmotive der Ambivalenzbewältigung zu sehen. Die rauschhafte Vergemeinschaftung als zur Verfügung stehendes Gemeinschaftskonzept ist ein Arrangement, das auf dauerhafte Lösung des Ambivalenzproblems zielt, und stellt damit eine Leitidee der Vergesellschaftung dar (vgl. Junge 2000: 242). In ihr realisiert sich eine privatisierte Ambivalenzbewältigung, die sich entweder bemüht, Ambivalenz zu exkludieren und zu beherrschen, oder aber sie zu inkludieren und sich dadurch neue Möglichkeitsräume zu erschließen (vgl. ebd. 243). Beide Formen der Ambivalenzbewältigung erzeugen Ordnungen und bestimmen so den Prozess der Vergesellschaftung. Rauschhafte Vergemeinschaftungen – ganz gleich ob im Straßen karneval, im Fußballstadion oder beim Rockfestival – sind damit gegenwärtig ein breites und wichtiges Forschungsfeld für die Soziologie.
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Ambivalenzbewältigung im Kölner Straßenkarneval schlägt sich auch in der Kölner Lebens- und Redensart nieder. Die ersten drei Artikel des Kölner Grundgesetzes ermahnen dazu, den Gegebenheiten der Gegenwart ins Auge zu sehen (Art. 1) und vor der Zukunft keine Angst zu haben (Art. 2), weil die Vergangenheit lehrt, sich mutig und zuversichtlich allen Herausforderungen zu stellen (Art. 3). Der Kölner drückt diese kollektive Regel, die bei der individuellen Lebensbewältigung helfen soll, so aus: „Et is wie et is“ (1); „Et kütt wie et kütt (2) und „Et hätt noch immer jot jejange“ (3).
9
Ausblick – Geschlechterdifferenz, Mediatisierung, Transnationalisierung
Diese Arbeit schlägt vor, die Deskription von Vergemeinschaftungsformen entlang der drei Dimensionen Raum, Zeit und Körper zu organisieren. Dahinter steckt die Idee, relativ ungeordnete, fragmentarische Formen von Sozialität für eine geordnete Analyse zu erschließen. Am Beispiel des Straßenkarnevals zeigt sich eine Eignung dieser Kategorienbildung. Zukünf tig wird zu prüfen sein, ob das Fokussieren der Kategorien Raum, Zeit und Körper in der theoretischen und empirischen Bearbeitung anderer Formen von Vergemeinschaftung zur Systematisierung der Deskription und zu einer aufschlussreichen Analyse beitragen kann. Diese Arbeit zeigt auch, dass im Prozess des Forschens neben den intendierten Erkenntnissen neue Fragen entstehen. Es offenbaren sich Themenfelder, die für das Verstehen und Skizzieren eines Gesamtbildes von rauschhaften Vergemeinschaftungen im Karneval von Relevanz wären, aber im Rahmen dieser Analyse nicht verfolgt werden konnten. Drei Aspekte werde ich exemplarisch hervorheben, deren Bearbeitung in zukünftigen Forschungsvorhaben als lohnend erscheint. 1.
Die Inszenierung von Geschlechterdifferenz und die Konstruktion von Geschlechterordnungen im rheinischen Karneval
Männer und Frauen inszenieren ihre Geschlechtszugehörigkeit u. a. durch Körperund Kleidungspraktiken. Der Karneval bietet mit seinem Setting der Verkleidung und des Regelverstoßes die Möglichkeit, auf spielerische (vielleicht auch subversive) Art mit der Geschlechterthematik umzugehen. Neben dem Kleidungsverhalten ist auch das in dieser Arbeit angesprochene Trinkverhalten als eine Handlungspraxis zur sozialen Positionierung genauer zu betrachten, denn das Trinkverhalten ist eine Darstellungsressource zur Inszenierung der Geschlechter. Starkes Trinken beispielsweise gilt noch immer als Teil männlicher Identitätskonstruktion (vgl. Barsch 2007: 223; siehe auch Vogt 2007). Insofern sollte der Umgang mit Rauschmitteln vor dem Hintergrund von Gender-Aspekten diskutiert werden. Wäh rend der Straßenkarneval ein Aktionsfeld von Männern und Frauen gleichermaßen zu sein scheint, zeigt sich nach meiner Felderfahrung im Vereinswesen ein ganz anderes Bild. Im Hinblick auf den organisierten Karneval ist Geschlecht eine brisante Kategorie sozialer Ungleichheit, denn die Karnevalsvereine im Rheinland sind fest in Männerhand. Unter dem Deckmantel des Brauchtums Y. Niekrenz, Rauschhafte Vergemeinschaftungen, DOI 10.1007/978-3-531-93086-2_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Ausblick
spiegeln die Vereinsstrukturen patriarchale Ordnungen wider, in die Frauen nur vereinzelt und nach zähem Bemühen einzudringen vermögen.93 Insofern wären sowohl für den Straßen- als auch für den organisierten Karneval die Fragen zu stellen: Wie werden im Karneval Geschlechterdifferenzen inszeniert ? Wie werden Geschlechterordnungen durch Körperinszenierungen konstruiert ? Welche Bedeutungen haben karnevaleske Praktiken für die Geschlechtsidentität und für die Subversion bzw. Stabilisierung von Geschlechtskategorien ? 2.
Die Mediatisierung des Karnevals. Mediale Repräsentation rauschhafter Vergemeinschaf tung
Die Rosenmontagszüge in den Karnevalshochburgen sind Großereignisse, die heute ohne moderne Medien kaum vorstellbar sind. Als Höhepunkte der „fünften Jahreszeit“ haben sie in allen Massenmedien ihren Platz und erreichen z. B. durch Fernsehübertragungen94 eine große Öffentlichkeit. Nicht nur die Prunkwagen und der Verlauf des Zuges werden thematisiert, sondern auch das Gemeinschaftserleben wird durch die Berichterstattung inszeniert und bewertet. Durch zunehmende Mediatisierung wird das Mega-Event Karneval zum Medien-Event. Dabei entstehen Mediendiskurse, die das Populäre repräsentieren und die ausgelassenen Feiern in Gemeinschaft, die KonÀiktfelder und kommerziellen Aspekte abbilden. Medienereignisse folgen einer typischen Verlaufskurve (Vor-, Haupt- und Nachphase; vgl. Forschungskonsortium WJT 2007: 136 ff.), wobei der Höhepunkt eine kurze Phase darstellt, aber zugleich viele verschiedene Medienorgane einbezieht. Um den Kar neval als Teil der Populärkultur vermarkten zu können, muss er hinsichtlich einer bestimmten Auswahl an Themen inszeniert werden. Das Hervorheben bestimmter Personen als „Markensymbole“ ist beispielsweise eine beliebte Strategie, aber auch die regelmäßig wiederkehrende Präsentation städtebaulicher Symbole (etwa der Kölner Dom als ‚global icon‘) und der typischen Erlebnisdimensionen im Straßenkarneval (schunkeln, bützen, tan zen usw.). Solche spezi¿schen Inszenierungsmuster und Kommunikationsformen systematisch zu untersuchen, könnte einen Beitrag dazu leisten, die Bedeutung des Straßenkarnevals als Medienereignis zu erfassen – auch hinsichtlich der Entstehung imaginärer Gemeinschaften. Untersuchungsleitende Fragestellungen könnten lauten: Welche Inszenierungsmuster und Repräsentationsformen zeigen sich bei der Mediatisierung der Rosenmontagszüge ? Wie konkretisiert die Repräsentation 93 Im Jahr 1999 wird die Gründung der ersten Kölner Karnevalsgesellschaft gefeiert, die ausschließlich Frauen aufnimmt (Colombina Colonia e. V. – 1. Kölsche Damen KG). Ob sich durch geschlechtliche Separation die Integration der Frauen in den bürgerlich-organisierten Karneval beschleunigen lässt, wird sich zeigen. 94 Im Jahr 1953 wurde erstmals der Kölner Rosenmontagszug live im Fernsehen übertragen.
Ausblick
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des Rosenmontagszugs das Erlebnis rauschhafter Vergemeinschaftungen ? Inwieweit verweist die Präsentation bestimmter KonÀiktfelder im Zusammenhang mit rauschhaften Vergemeinschaftungen auf die Rolle der Medienberichterstattung als KonÀiktvermittlerin und als Ordnung herstellende Macht ? 3.
Karneval als transnationales Ereignis ? – Grenzüberschreitende Kommunikation und Wissensbildung durch lokales Brauchtum
Die Mediatisierung des Karnevals führt zu einem dritten möglichen Forschungsfeld: Ich habe den Karneval im Rheinland als eine regional akzentuierte Veranstaltung untersucht. Karneval ist aber ein Event, das international gefeiert wird und sich zu einer pluri-lokal verorteten Mega-Party entwickelt hat. Der „Feldaufenthalt“ im Rheinland offenbarte, dass enge Beziehungen zwischen dem organisierten Karneval am Niederrhein und den Vereinen in Belgien und den Niederlanden existieren. Als katholisches Vorfastenfest ist der Kar neval aber auch in anderen Ländern der Welt zu Hause. Die prominentesten Orte sind Rio de Janeiro, Venedig und New Orleans. Medienberichterstattungen und mediale Verbreitungen über den Karneval als internationales Fest könnten aus einem plurilokalen Fest ein transnationales Ereignis machen. Zwischen den verschiedenen Karnevals-Territorien könnten einerseits VerÀechtungsbeziehungen entstehen, die etwa soziale Praktiken, Symbolsysteme und Artefakte (wie z. B. die Narrenkappe) betreffen. Andererseits neigen lokale Kulturen aber auch dazu, Grenzen zu ziehen, die andere Systeme (z. B. Wirtschaft) ignorieren. Gleichzeitig erlauben Kultur praktiken eine besondere Art der Kommunikation, mit der sich neue Kommunikationsräume erschließen lassen. Um den Karneval in diesem Kontext zu untersuchen, ist zunächst zu prüfen, ob Karneval ein transnationales Ereignis ist. Daran anschließende Fragen könnten lauten: Inwieweit befördert Karneval als Brauchtum zwischen Globalität und Lokalität die grenzüberschreitende Kommunikation und Wissensbildung ? Welche transnationalen Vernetzungen gibt es im Karneval in historischer und kommunikativer Hinsicht ? Ist Karneval ein Beispiel für die Bildung entterritorialisierter sozialer Räume ?
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