Springer-Lehrbuch
Kurt Fritzsche (Hrsg.) Michael Wirsching (Hrsg.)
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Mit einem Beitrag von A. Schweickhardt Mit 18 Abbildungen und 16 Tabellen
123
Prof. Dr. med. Kurt Fritzsche Prof. Dr. med. Michael Wirsching Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Hauptstraße 8 79104 Freiburg
[email protected] [email protected] Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN-10 3-540-21877-7 ISBN-13 978-3-540-21877-7 Springer Medizin Verlag Heidelberg Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag. Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2006 Printed in Germany Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Planung: Martina Siedler, Heidelberg Projektmanagement: Rose-Marie Doyon, Heidelberg Copyediting: Dr. Monika Merz, Sandhausen Umschlaggestaltung & Design: deblik Berlin SPIN 11005247 Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg Druck- und Bindearbeiten: Stürtz, Würzburg Gedruckt auf säurefreiem Papier. 15/2117 rd – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort Die Reform des Medizinstudiums hat mit der neuen Approbationsordnung (AO) »das Grundlagenwissen über die geistig-seelischen Eigenschaften des Menschen« und »die Grundkenntnisse der Einflüsse von Familie, Gesellschaft und Umwelt auf die Gesundheit… und die Bewältigung von Krankheitsfolgen« stärker ins Blickfeld gerückt (§1 Ausbildungsziel). Die Medizin basiert von ihrem Selbstverständnis her auf einer ganzheitlichen Sicht des Menschen. Durch die großen Erfolge z. B. in der Pharmakologie, Chirurgie, Gentechnologie, Anästhesie, Transplantationsmedizin und bei bildgebenden Verfahren kam es in den letzten 50 Jahren zu einer überwiegenden Befassung mit somatischen und technischen Aspekten in Diagnostik und Therapie. Ein reduktionistisches naturwissenschaftliches Menschenbild mit einer Trennung von Körper und Seele wird jedoch den komplexen Wechselwirkungen zwischen Körper, Psyche und Umwelt nicht gerecht. Bei jeder Krankheit haben somatische, psychosoziale, soziokulturelle und ökologische Aspekte Bedeutung. Bei der Interpretation von Symptomen und Befunden ist es wichtig, den Patienten, sein Krankheitskonzept, sein Umfeld und seine Geschichte zu würdigen. Die Persönlichkeit des Arztes hat entscheidenden Einfluss auf den Behandlungserfolg. Während im letzten Jahrhundert das Krankheitsspektrum mehr akute, begrenzte Krankheiten umfasste, stehen heute chronische, viele Organsysteme umfassende Krankheitsbilder im Mittelpunkt. Diese Krankheitsbilder sind nur verständlich und behandelbar, wenn sie in Bezug zur Psyche und Umwelt des Patienten gesehen, und wenn diese psychosozialen Aspekte mit einbezogen werden. Auch die Patienten erwarten in der ärztlichen Behandlung die gleichwertige Berücksichtigung ihrer psychischen und sozialen Bedürfnisse. Die neuen Erkenntnisse zu den Zusammenhängen zwischen Psyche, Gehirn, Immunsystem und Endokrinum haben wichtige Lücken in dem Verständnis der Wechselwirkungen von Körper und Seele geschlossen. Die moderne Neurobiologie zeigt, dass das, was von Sigmund Freud noch als »Mysteriöser Sprung vom Seelischen ins Körperliche« bezeichnet wurde, nachweisbare neurophysiologische Grundlagen hat. Wir können heute z. B. mit Verfahren der Bildgebung zeigen, wie psychische Störungen sich in Gehirnprozessen abbilden und wie Psychotherapie dysfunktionale neuronale Netzwerke verändert. Diese Grundlagen, Wirkungsweisen und Anwendungsformen werden in Kapitel 1 und 2 dargestellt. Jeder Arzt braucht eine hohe kommunikative Kompetenz, z.B.
VI
Vorwort
bei der Motivierung für gesundheitsförderndes Verhalten und die Fähigkeit, auch schwierige Arzt-Patienten-Interaktionen zu erkennen und angemessen zu reagieren. Die Herstellung und Nutzung einer vertrauensvollen Arzt-PatientenBeziehung ist der Dreh- und Angelpunkt einer erfolgreichen Behandlung. Der Gestaltung der Arzt-Patient-Beziehung und der ärztlichen Gesprächsführung sind Kapitel 3 und 4 gewidmet. Der Schwerpunkt des Buches (Kapitel 5–14) liegt bei der Darstellung psychischer und psychosomatischer Krankheitsbilder. Gemäß neuer AO haben wir uns an den wichtigsten und häufigsten Krankheitsbildern und Handlungsanforderungen der allgemeinen ärztlichen Tätigkeit orientiert. Außerdem werden psychosomatische Aspekte in den einzelnen klinischen Fachgebieten überblicksartig dargestellt. Nach der Darstellung der Krankheitsbilder entlang der diagnostischen Einteilung des ICD-10 haben wir dem neuen Gegenstandskatalog (GK2) folgend das Kapitel 15 »Übungsfälle« aufgenommen. Patienten kommen selten mit einem klaren Krankheitsbild zum Arzt, sondern mit vielfältigen Symptomen. Hier hat der Student die Möglichkeit, die Schritte von der Symptompräsentation über die psychosoziale Anamnese zur Diagnosestellung und Therapie sowie dem weiteren Verlauf nachzuvollziehen. Insgesamt ist das Buch als Vorbereitung für das Praktikum in Psychosomatischer Medizin und Psychotherapie, die entsprechenden Prüfungen sowie für das Staatsexamen geeignet. Unser Dank gilt den Medizinstudenten, die durch ihre kritischen Rückmeldungen zu Vorlesung und Praktikum wichtige Anregungen gegeben haben. Der Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unserer Abteilung, die seit vielen Jahren sehr engagiert im Studentenunterricht tätig sind und uns bei der Erstellung von Materialien unterstützt haben. Besonders möchten wir hierbei Herrn Dipl.-Psych. Axel Schweickhardt hervorheben. Eine unentbehrliche Hilfe bei der Erstellung des Manuskriptes und seiner Überarbeitung waren unsere Sekretärin Frau Martina Kunz, Frau Dipl. rer. nat. Ruth Pfeiffer, Frau Bozkaya und die beiden Medizinstudentinnen Anne-Katharina Zahn und Miriam Schmitt. Ganz besonders bedanken möchten wir uns bei den Mitarbeiterinnen des Verlags, Frau Martina Siedler und Frau Rose-Marie Doyon, Frau Dr. med. Monika Merz danken wir für das mit großer Präzision durchgeführte Lektorat. Freiburg, Juli 2005
Kurt Fritzsche und Michael Wirsching
VII
Biographie
Kurt Fritzsche
Michael Wirsching
1950 in Saarbrücken/Saarland geboren. Studium der Medizin, 1977 Promotion. Facharzt für Innere Medizin, Psychoanalytische Ausbildung, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. 2002 Habilitation. Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Seit 1992 Oberarzt für den psychosomatischen Konsil- und Liaisondienst am Universitätsklinikum Freiburg. Klinische und wissenschaftliche Schwerpunkte: Psychosomatische Grundversorgung, somatoforme Störungen, Psychoonkologie, ärztliche Gesprächsführung. Verheiratet, 3 Kinder
1947 in Berlin geboren. Seit 1989 Ärztlicher Direktor der Psychosomatischen Universitätsklinik Freiburg. 1978 Habilitation bei Helm Stierlin an der Universität Heidelberg über »Krankheit und Familie«, danach Professor für Klinische Psychosomatik an der Universität Giessen (Horst Eberhard Richter). Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker und Familientherapeut. Bücher zur Psychosomatik, Psychoonkologie und Paar/Familientherapie
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie:
Prüfungsschwerpunkte des Kapitels auf einen Blick
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Leitsystem: Orientierung über die Sektionen
Einleitung: thematischer Einstieg ins Kapitel
Inhaltliche Struktur: klare Gliederung durch alle Kapitel
Schlüsselbegriffe sind fett hervorgehoben Verweise im Text lenken den Blick auf Tabellen und Abbildungen
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Farbige Abbildungen veranschaulichen komplexe Sachverhalte
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Zahlreiche Fallbeispiele stellen den Bezug zur psychotherapeutischen Praxis her
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Das neue Lehrbuch ;FMMVMÊSF#FTUBOEUFJMFEFT#JOEFHFXFCFT
Navigation: Seitenzahl und Kapitelnummer für die schnelle Orientierung
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Praxistipps: Hinweise zum praktischen Vorgehen und zur Gesprächsführung
Merke: das Wichtigste auf den Punkt gebracht
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Tabelle: klare Übersicht der wichtigsten Fakten
Bewertung der Behandlungsverfahren (EBM) an jedem Kapitelende
Übungsfragen: Nach Wichtigkeit markierte Übungsfragen zur Wissensüberprüfung
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Weiterführende Literatur zum Vertiefen; vom Autor kommentiert
XI
Inhaltsverzeichnis
I Grundlagen 1
Psychosomatischen Medizin (Fritzsche) . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
1.1 1.2 1.3
Was ist psychosomatische Medizin? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychobiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was macht uns krank? Was hält uns gesund? . . . . . . . . . . . . . . .
4 12 19
2
Psychotherapie (Wirsching) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6
Was ist Psychotherapie?. . . . . . . . . . . . . Grundformen der Psychotherapie . . . . . . Allgemeine Wirkungen von Psychotherapie Neurobiologische Korrelate . . . . . . . . . . Wege zur Psychotherapie . . . . . . . . . . . Evidence Based Medicine . . . . . . . . . . .
. . . . . .
36 37 47 48 49 53
3
Die Gestaltung der Arzt-Patient-Beziehung (Fritzsche) . . . . . . .
55
3.1 3.2 3.3
Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . Patientenorientierte Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Person des Arztes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56 59 60
4
Ärztliche Gesprächsführung (Schweickhardt) . . . . . . . . . . . . .
65
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7
Arzt- und patientenzentrierte Gesprächsführung . Aktives Zuhören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gespräche strukturieren . . . . . . . . . . . . . . . . Vier Ebenen einer Nachricht . . . . . . . . . . . . . . Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitteilen der Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evidence Based Medicine . . . . . . . . . . . . . . .
66 71 77 79 82 89 90
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XII
Inhaltsverzeichnis
II Krankheitsbilder 5
Krebserkrankung (Fritzsche). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6
Psychosoziale Faktoren bei der Entstehung, dem Verlauf und der Bewältigung einer Krebserkrankung . . . . . . . Diagnose Krebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosomatische Grundversorgung . . . . . . . . . . . . Psychotherapie bei Krebs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sterbebegleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evidence Based Medicine. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
96 98 100 104 106 107
6
Koronare Herzerkrankung (Fritzsche) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5
Psychosoziale Faktoren bei Entstehung, Verlauf und Bewältigung eines Herzinfarktes . . . . . . . Diagnose Herzinfarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosomatische Grundversorgung . . . . . . . Psychotherapie nach Herzinfarkt . . . . . . . . . . Evidence Based Medicine. . . . . . . . . . . . . . .
. . . . .
110 112 113 114 115
7
Somatisierung (Fritzsche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
117
7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8
Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische Einteilung . . . . . . . . . Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeit und Verlauf . . . . . . . . . . Entstehung somatoformer Symptome Psychosomatische Grundversorgung . Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . Evidence Based Medicine . . . . . . . .
. . . . . . . .
118 119 122 122 124 124 128 130
8
Chronische Schmerzstörung (Fritzsche) . . . . . . . . . . . . . . . . .
133
8.1 8.2 8.3 8.4 8.5
Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung einer chronischen Schmerzstörung Psychosomatische Anamnese . . . . . . . . . . . . Psychosomatische Grundversorgung . . . . . . .
134 135 135 136 138
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95
XIII Inhaltsverzeichnis
8.6 8.7
Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evidence Based Medicine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
141 143
9
Angststörungen (Fritzsche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145
9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6 9.7
Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosomatische Grundversorgung und Selbstmanagement Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evidence Based Medicine. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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146 147 148 152 156 157 158
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. . . . . . .
10
Depressionen (Fritzsche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
161
10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6 10.7 10.8 10.9
Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bio-psychosoziales Modell der Entstehung einer Depression . Psychosomatische Grundversorgung und Selbstmanagement Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evidence Based Medicine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . .
163 163 166 167 170 171 173 175 177
11
Psychisches Trauma und posttraumatische Belastungsstörung (Fritzsche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
179
11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6 11.7
Diagnostische Einteilung . . . . . . . . Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeit und Verlauf . . . . . . . . . Entstehungsbedingungen . . . . . . . Psychosomatische Grundversorgung Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . Evidence Based Medicine . . . . . . .
. . . . . . .
180 181 182 182 183 184 185
12
Essstörungen (Fritzsche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
187
12.1 12.2 12.3 12.4
Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . . . Bulimia nervosa . . . . . . . . . . . . . . Adipositas und Binge-Eating-Disorder Evidence Based Medicine. . . . . . . . .
188 194 198 200
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XIV
Inhaltsverzeichnis
13
Persönlichkeitsstörungen (Wirsching) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
203
13.1 13.2 13.3 13.4 13.5 13.6 13.7 13.8
Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische Einteilung . . . . . . . . Entstehungsbedingungen . . . . . . . Psychosomatische Grundversorgung Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . . Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evidence Based Medicine. . . . . . . .
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204 205 209 209 210 211 211 212
14
Psychosomatische Medizin in speziellen Fachgebieten (Fritzsche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
213
14.1 14.2 14.3 14.4 14.5 14.6 14.7 14.8 14.9
Allgemeinmedizin und hausärztliche Innere Medizin Gynäkologie und Geburtshilfe. . . . . . . . . . . . . . . Kinder- und Jugendmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . Neurologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dermatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Orthopädie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hals-Nasen-Ohrenheilkunde. . . . . . . . . . . . . . . . Urologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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214 215 216 217 217 218 218 218 219
15
Übungsfälle – Vom Symptom zu Diagnose und Therapie (Fritzsche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
221
Somatisierung . . . . . . . . . . . . . . Angststörung . . . . . . . . . . . . . . . Depression. . . . . . . . . . . . . . . . . Krebserkrankung . . . . . . . . . . . . . Essstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . Persönlichkeitsstörung . . . . . . . . . Posttraumatische Belastungsstörung
222 231 233 235 240 243 246
15.1 15.2 15.3 15.4 15.5 15.6 15.7
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XV Inhaltsverzeichnis
Anhang A1
Fort- und Weiterbildung in Psychosomatischer Medizin und Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
251
Internationale Klassifikation psychischer Störungen nach ICD-10 Kapitel V (F) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
259
A3
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
263
A4
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
277
A2
Für Jonas und Georg
I I Grundlagen 1 Psychosomatische Medizin 2 Psychotherapie
–3
– 35
3 Gestaltung der Arzt-Patient-Beziehung 4 Ärztliche Gesprächsführung
– 65
– 55
1 1
Psychosomatische Medizin
1.1
Was ist psychosomatische Medizin?
1.1.1
Wechselwirkungen
1.1.2
Wissenschaftliche Grundlagen
1.1.3
Forschungsrichtungen
1.1.4
Psychosomatische Medizin im klinischen Alltag
1.2
Psychobiologie
1.2.1
Psyche und Immunsystem
1.2.2
Psyche und Hormonsystem
1.2.3
Psyche und Nervensystem
–4
–4 –7
–8
– 12 – 13 – 14 – 15
1.2.4
Psyche und Gene
1.2.5
Psyche und Sexualität
– 16
1.3
Was macht uns krank? Was hält uns gesund? – 19
1.3.1
Stressmodell
1.3.2
Bindungserfahrungen
– 17
– 19 – 23
1.3.3
Salutogenese
1.3.4
Gelerntes Verhalten und Denkschemata
– 25
1.3.5
Krankheitsverarbeitung (Coping)
– 27
– 26
–9
I
4
Kapitel 1 · Psychosomatische Medizin
1.1
Was ist psychosomatische Medizin?
> > Einleitung
4 Definition Psychosomatische Medizin 4 Wissenschaftliche Grundlagen 4 Psychosomatische Medizin in Praxis, Forschung und Lehre
Bei jeder Krankheit wirken körperliche, psychische und soziale Faktoren in unterschiedlicher Gewichtung zusammen. Aufgabe des Arztes ist es, neben den organischen Anteilen auch die psychosozialen Prozesse am Krankheitsgeschehen zu erkennen und zu berücksichtigen. Ob psychosoziale Belastungen vorliegen, kann der Arzt nur im Rahmen einer psychosozialen Anamnese klären.
Merke Definition Psychosomatische Medizin beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen zwischen körperlichen, seelischen und sozialen Prozessen in der Entstehung, im Verlauf und bei der Bewältigung von Krankheiten und Leidenszuständen.
1.1.1
Wechselwirkungen
Die Anschauung, dass Körper und Seele einen Zusammenhang bilden und sich wechselseitig beeinflussen hat in vielen Zeiten und in vielen Kulturen Bedeutung. Dies gilt auch für die Ursprünge der westlichen, abendländischen Medizin im antiken Griechenland. Der Begriff »Psychosomatik« wurde von Johann Christian August Heinroth (1773–1849) geschaffen. Dieser wurde 1811 in Leipzig auf die erste Professur für »Psychische Therapie« berufen. Er stellte fest: »Die Person ist mehr als der bloße Körper, auch mehr als die Seele: Sie ist der ganze Mensch.« Psychosomatische Medizin als Teil der Krankenversorgung und als wissen-
5 1.1 · Was ist psychosomatische Medizin?
1
schaftliche Disziplin existiert seit den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts. Psychosomatik bedeutet, dass Körper und Seele zwei untrennbar miteinander verbundene Aspekte des Menschen sind, die nur aus methodischen Gründen oder zum besseren Verständnis unterschieden werden. Dies bedingt keine »lineare« Kausalität in dem Sinne, dass psychische Störungen körperliche Krankheiten verursachen. Solches würde zu einem Dualismus führen, bei dem es Krankheiten mit psychischer Genese und Krankheiten mit somatischer Genese gibt.
Beispiel: Asthma bronchiale Bei einem allergisch bedingten Asthma bronchiale können psychosoziale Faktoren den Ausbruch eines Anfalls mit verursachen und umgekehrt kann die Asthma-bronchiale-Erkrankung eines Kindes Auswirkungen auf die übrige Familie haben: Ein Geschwisterkind entwickelt z. B. eine Anorexia nervosa, um ebenfalls Beachtung zu erkämpfen, die Mutter gerät durch Überforderung in eine depressive Krise.
Beispiel: Ulcus duodeni Das Ulcus duodeni wurde bis vor 20 Jahren als Folge von Stressbelastung und spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen, z. B. Passivität und Abhängigkeit, verstanden. Mit der Entdeckung des Helicobacter pylori wurde eine somatische Erklärung für die Entstehung und Chronifizierung des Ulcus duodeni und seiner Eradikation durch Antibiotika gefunden. Tatsächlich sind aber 60% der über 60-jährigen Menschen Helicobacter-pylori-positiv, von denen nur 2% ein Ulcus duodeni entwickeln. Das aus der Infektion ein Ulcus duodeni wird, kann auch psychosoziale Ursachen haben.
Beispiel: Gesichtsschmerz Eine 53-jährige Frau leidet seit 10 Jahren an Gesichtsschmerzen. Diese traten auf, nachdem ihr Sohn den schweren bei einem Unfall erlittenen Gesichtsverletzungen erlegen war. Die Trauer ist damit gegenwärtig geblieben. Von verschiedenen Ärzten wurden ihre Schmerzen als Trigeminusneuralgie, als CostenSyndrom (Mandibulargelenkssyndrom) oder als Okklusionsproblem (fehlerhafter Zahnreihenschluss) gedeutet. Bei psychosomatischer Betrachtung kommen wir zur Diagnose einer Konversionsstörung (7 Kap. 7.3.3, Somatisierung). Diese ergibt sich aus der
6
I
Kapitel 1 · Psychosomatische Medizin
Konfliktdynamik der Symptombildung: Es besteht ein enger und plausibler Zusammenhang zwischen dem Tod des Sohnes und dem Auftreten der Beschwerden, die zudem große Ähnlichkeit mit dessen Unfallverletzungen aufweisen. Die Trauer findet im Symptom ihren Ausdruck. Die Schmerzen behindern wiederum die Trauerverarbeitung. Es entsteht ein »Teufelskreis« (Adler und Hemmeler, 1992). Sechs Jahre nach der psychosomatischen Behandlung des Gesichtsschmerzes war die mittlerweile 60-jährige Patientin beschwerdefrei.
Beispiel: Koronare Herzerkrankung Angeborene und erworbene Dispositionen und Risikofaktoren, Auslöser (»Warum gerade jetzt?«), und aufrechterhaltende Faktoren beeinflussen sich gegenseitig: 4 Angeborene und erworbene Dispositionen und Risikofaktoren: Koronare Herzerkrankungen in der Familie, kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Rauchen, erhöhte Blutfette, Hypertonie. 4 Auslöser: Angst vor Arbeitsplatzverlust, Partnerschaftskonflikt mit akutem Ärger, vitale Erschöpfung. 4 Aufrecht erhaltende Faktoren: Fehlende soziale Unterstützung, Depression. Depression ist als eigenständiger Risikofaktor sowohl für die Entwicklung eines Herzinfarktes als auch für die erhöhte Mortalität nach Herzinfarkt gesichert (7 Kap. 6.1.3, Koronare Herzerkrankung).
Bio-psychosoziales Systemmodell Wie bei einem Teleskop kommen unterschiedliche Teile des Gesamtsystems deutlicher ins Blickfeld, während andere verblassen, je nachdem welcher Perspektive und welchen Methoden der Untersucher folgt (. Abb. 1.1). Dies bedeutet nicht, dass eines der Teilsysteme weniger wichtig sei als die anderen. Entscheidend sind die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Ebenen. Wie im Theater ist der Scheinwerfer zeitweise nur auf einen der Akteure gerichtet, während andere im Schatten bleiben. Zum Verständnis des Schauspiels ist jedoch wichtig, alle Personen in ihrem Zusammenwirken zu erkennen.
7 1.1 · Was ist psychosomatische Medizin?
1
. Abb. 1.1 Dimensionen des bio-psychosozialen Systems
1.1.2
Wissenschaftliche Grundlagen
Ein einheitliches Modell für die Wechselwirkungen zwischen Körper, psychischen Prozessen und Umwelt existiert nicht. Meist werden Teilaspekte beschrieben, die von unterschiedlichen Theorien aufgenommen werden. Im integrativen Modell, dem dieses Lehrbuch folgt, werden Erkenntnisse der Psychoanalyse, der Verhaltensmedizin, der Psychobiologie und der Systemtheorie zusammengeführt. Dabei geht es nicht nur um die Frage, wie Krankheiten entstehen, sondern auch wie eine erfolgreiche körperliche und psychische Anpassung an die Umwelt stattfindet und wie Gesundheit erhalten bleibt (7 Kap. 1.3, Was macht uns krank? Was hält uns gesund?). Psychosomatische Wechselwirkungen: 4 Die neurobiologische Forschung kann zeigen, wie sich seelisches Erleben und Beziehungserfahrungen in neuronalen Mustern abbilden. Emotionale Erfahrungen haben Einfluss auf die Genregulation. Mit Hilfe bildgebender Verfahren wie z. B. der Positronenemissionstomografie (PET) oder der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) kann gezeigt werden, wie Psychotherapie dysfunktionale neuronale Netzwerke verändert. 4 Die Bindungsforschung belegt die Bedeutung der frühen Erfahrungen für die körperliche und seelische Gesundheit des Menschen. Unsichere, gestörte frühe Bindungen entscheiden darüber, ob Menschen auch schwer-
8
I
Kapitel 1 · Psychosomatische Medizin
wiegenden Belastungen standhalten können (Resilienz) oder erkranken (Vulnerabilität). 4 Die Psychoneuroimmunologie kann den Einfluss von psychischen Prozessen auf Nervensystem, Immunsystem und Endokrinum nachweisen und liefert wichtige Erkenntnisse bei Autoimmunerkrankungen, Krebs und koronarer Herzerkrankung. 4 Die psychotherapeutische Wirkforschung zeigt, wie die heute zur Verfügung stehenden psychotherapeutischen Verfahren nach den Kriterien der Evidence Based Medicine (EBM) sichere und vorhersagbare Heilerfolge bei einem breiten Spektrum psychischer Erkrankungen ermöglichen.
1.1.3
Forschungsrichtungen
In der Psychosomatischen Medizin werden unterschiedliche Forschungsrichtungen eingeschlagen:
Beziehungen zwischen Körper und Psyche 4 Wechselwirkungen zwischen körperlichen Krankheiten und seelischem und sozialem Wohlbefinden, z. B. bei Krebs, KHK. 4 Einfluss internistischer und chirurgischer Behandlungsmaßnahmen auf den psychischen Gesundheitszustand (Dialyse, Bypassoperation, Transplantation).
Ursachenforschung 4 Zusammenhänge zwischen Kindheitsentwicklung und Anfälligkeit oder Widerstandskraft gegenüber körperlichen und seelischen Krankheiten. 4 Zusammenhänge zwischen Genetik, Umwelt und psychosozialen Einflussfaktoren beim Entstehen und Verlauf von Krankheiten.
Psychobiologie Zusammenhänge zwischen physiologischen, biochemischen und psychosozialen Parametern und ihren Übermittlersubstanzen (Mediatoren), z. B.: 4 Psyche und Hormonsystem 4 Psyche und Immunsystem 4 Psyche und Nervensystem
9 1.1 · Was ist psychosomatische Medizin?
1
Epidemiologie 4 Häufigkeit psychischer und psychosomatischer Störungen in der Allgemeinbevölkerung, der Primär-, Sekundär- und Tertiärversorgung. 4 Geschlechts,- alters- und kulturspezifische Unterschiede.
Versorgungsforschung 4 Bedarf, Angebot und Inanspruchnahme psychotherapeutischer Interventionen. 4 Effizienz diagnostischer und therapeutischer Verfahren bei psychischen und pyschosomatischen Störungen in ambulanter und stationärer Versorgung.
Untersuchung der Wirksamkeit psychotherapeutischer Methoden 4 4 4 4 4
Psychoanalytische (psychodynamische) Psychotherapie Kognitive Verhaltenstherapie Systemische Familientherapie Klienten-zentrierte Gesprächspsychotherapie Entspannungsverfahren (Progressive Muskelentspannung, Biofeedback, Autogenes Training, Hypnotherapie)
1.1.4
Psychosomatische Medizin im klinischen Alltag
Psychosomatische Medizin kommt im Gesundheitssystem auf drei Ebenen zum Einsatz.
Psychosomatische Grundversorgung in der Allgemeinund Facharztpraxis Ein unverzichtbarer Bestandteil der ärztlichen Aus- und Weiterbildung sind die Inhalte und Ziele der psychosomatischen Grundversorgung: 4 Das möglichst frühzeitige Erkennen psychosozialer Anteile, auch bei komplexen Krankheitsbildern (Differenzialdiagnostik). 4 Unterstützende, klärende oder begleitende Gespräche und Entspannungsverfahren (Basistherapie). 4 Indikationsstellung und Weitervermittlung zur Einleitung einer Fachpsychotherapie (Differenzialindikation).
10
I
Kapitel 1 · Psychosomatische Medizin
Alle niedergelassenen Ärzte, die Leistungen der psychosomatischen Grundversorgung (psychodiagnostisches Gespräch, psychotherapeutische Intervention, Entspannungsverfahren) als Kassenleistung erbringen wollen, brauchen eine Qualifikation, die in einem 80-stündigen Kurs erworben werden kann.
Psychosomatischer Konsil- und Liaisondienst im Krankenhaus Der Konsildienst wird auf Anfrage des zuständigen Stationsarztes tätig. Beim psychosomatischen Liaisondienst ist ein psychotherapeutisch ausgebildeter Arzt oder Psychologe Teil des somatischen Behandlungsteams. Er nimmt an den Visiten oder Teambesprechungen teil, betreut die Patienten im Rahmen der Regelversorgung und führt Fortbildungen zur Verbesserung der psychosomatischen Kompetenz des Teams durch.
Ambulante und stationäre Fachpsychotherapie Die Durchführung einer Fachpsychotherapie ist mit bestimmten Ausbildungen verbunden: 4 Zusatzbezeichnung fachgebundene Psychotherapie für Internisten, Kinderärzte, Gynäkologen, Hautärzte und andere Fachärzte (7 III Anhang). Der Arzt behandelt seine Patienten weiterhin in seinem Fachgebiet, bezieht aber in sein Denken und Handeln psychosomatische Kenntnisse und Fertigkeiten mit ein. Er integriert die psychosomatische Medizin in seine Facharzttätigkeit. 4 Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (7 III Anhang) 4 Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie 4 Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie im Kinder- und Jugendalter 4 Psychologischer Psychotherapeut Die psychosomatischen und psychotherapeutischen Tätigkeitsfelder zeigt die . Abb. 1.2. Der Übergang vom mehr somatischen zum psychotherapeutischen Behandeln ist fließend.
11 1.1 · Was ist psychosomatische Medizin?
. Abb. 1.2. Spektrum der psychosomatischen und psychotherapeutischen Versorgung
Merke Der psychosomatisch ausgebildete Arzt: 5 verfügt über eine kommunikative Kompetenz, 5 ist in der Lage Gesprächsangebote zur Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung, in Krisensituationen und zur Beratung und Information bei häufigen psychischen Störungen und Problemen anzubieten, 5 kennt die therapeutische Wirksamkeit einer guten Arzt-Patient Beziehung.
?
Übungsfragen
3 Definieren Sie »Psychosomatische Medizin«. 2 Geben Sie Beispiele für eine psychosomatische Wechselwirkung. 1 Beschreiben Sie die wissenschaftlichen Grundlagen der psychosomatischen
Medizin.
1
I
12
Kapitel 1 · Psychosomatische Medizin
1.2
Psychobiologie
4 Zusammenhänge zwischen Psyche, Immunsystem, Endokrinum und
Nervensystem
> > Einleitung Die Psychobiologie beschreibt die Zusammenhänge zwischen psychischen und körperlichen Prozessen, z. B. bei Stimmungszuständen wie Angst, Freude, Trauer, beim Sexualverhalten, beim Schmerzempfinden, bei Stressreaktionen oder bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen wie Depression und Essstörungen. Die Psychobiologie ist eine interdisziplinäre Fachrichtung, die biologische und psychologische Teildisziplinen verbindet. Dazu zählen u. a. die Evolutionsbiologie, die Verhaltensforschung, die Genetik, die Molekularbiologie, die Biochemie und die Neurobiologie.
Merke Die Psychoneuroimmunologie untersucht die Zusammenhänge zwischen Denken, Fühlen, Wahrnehmen, Verhalten und dem Nervensystem, dem endokrinen System und dem immunologischen System. Mit Hilfe der Bildung und Freisetzung von Botenstoffen werden zwischen Nervensystem, Hormonsystem und Immunsystem ständig Informationen über jeweilige Funktionszustände und damit auch über mögliche Erkrankungen ausgetauscht. Da jeder Organismus untrennbar mit seiner Umwelt verbunden ist, wird auf diese Weise auch die Wirksamkeit sozialer Einflüsse auf den Organismus erklärbar.
Beispiele für die Zusammenhänge zwischen Nervensystem, endokrinem System und Immunsystem zeigt . Abbildung 1.3.
13 1.2 · Psychobiologie
1
. Abb. 1.3 Zusammenhänge zwischen Nervensystem, Endokrinum und Immunsystem. Modifiziert nach Ehlert (2003)
1.2.1
Psyche und Immunsystem
Der Tod eines Lebenspartners, Trennungen und Scheidungen führen zu vorübergehender Vereinsamung, Depressivität und Angst, die als Stressoren das Immunsystem beeinflussen. Das Immunsystem sendet Rückmeldungen an das Nervensystem in Form von Zytokinen, z. B. Interleukin 1 (IL-1) und 6 (IL-6), Interferon oder Tumornekrosefaktor (TNF). Diese Zytokine aktivieren im Rahmen einer Infektion die HPA-Achse, um die infektionsbedingte Immunaktivierung wieder einzudämmen. Dabei entsteht das bekannte Krankheitsgefühl (sog. Sickness Behaviour) in Form von Müdigkeit, Unlust, Appetitlosigkeit und Gliederschmerzen.
14
Kapitel 1 · Psychosomatische Medizin
I
. Abb. 1.4. Stress hemmt das Immunsystem
Das Immunsystem wird vom zentralen Nervensystem gesteuert. Der Hypothalamus hat über die Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse und die Aussendung von Neurotransmittern und Neurohormonen Einfluss auf das Immunsystem. Psychosozialer Stress (7 Kap. 1.3.1, Was macht uns krank? Was hält uns gesund?) führt zu einer Reduktion der T-Lymphozyten, Herabsetzung der Aktivität von natürlichen Killerzellen, von Monozyten und Makrophagen.
1.2.2
Psyche und Hormonsystem
Regulationsprozesse im Hypothalamus und der Hypophyse steuern die Hormonfreisetzung im Körper und passen sie an die aktuelle Situation an. Psychosoziale Belastungen wirken über sensorische Neurone auf das Gehirn. Sie werden dort mit bisherigen Erfahrungen verglichen und emotional bewertet. Wird eine
15 1.2 · Psychobiologie
1
Situation als bedrohlich erlebt, so werden das neuroendokrine System und das autonome Nervensystem aktiviert, um Energieressourcen für Kampf oder Flucht bereit zu stellen. Primäre Störungen des Hormonsystems, z. B. eine Hyperthyreose gehen mit starken Angstgefühlen, Hypothyreose mit kognitiven Defiziten und depressiver Stimmung einher. Morbus Cushing (Überangebot an Glukokortikoiden) ist von Angst, depressiver Stimmung und kognitiven Störungen begleitet, während Patienten mit Morbus Addison (Nebennierenrindeninsuffizienz) unter Müdigkeit leiden. Bei einer Depression (7 Kap. 10.4 , Depressionen) kommt es zu einer Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse, zu einem Hyperkortisolismus, was das kardiovaskuläre Erkrankungsrisiko erhöht (7 Kap. 6.1.3, Koronare Herzerkrankung). Ein Mangel an Kortison und damit eine Reduktion der immunmodulierenden Effekte ist bei der Entstehung des chronischen Erschöpfungssyndroms (Chronic Fatigue Syndrome, 7 Kap. 5.2.3, Problem Fatigue) und der Fibromyalgie beteiligt.
1.2.3
Psyche und Nervensystem
Bei emotionaler Belastung wirkt das Gehirn über zwei Wege sowohl auf das Endokrinum als auch auf das Immunsystem.
Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse Der Hypothalamus setzt CRH frei, ein Neurohormon, das in der Hypophyse die Bildung von ACTH anstößt. Dies wiederum bewirkt die Freisetzung des Nebennierenrindenhormons Kortisol, welches die Bildung der Interleukine 1, 2 und 12 durch die Immunzellen hemmt. Die Beziehung zwischen Gehirn und Immunsystem ist wechselseitig: Einerseits wirken die Immunzellen mit ihren Interleukinen über den afferenten Vagus auf das Gehirn, andererseits reagiert das Gehirn auf diesen Reiz durch das Immunsystem mit einer Reaktion der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse. Durch diesen Feedback-Mechanismus kann eine überschießende Immunreaktion gezügelt, bzw. eine unerwünschte Entzündung eingedämmt oder sogar beendet werden. Versagt der Mechanismus, etwa wenn von der Nebennierenrinde zu wenig Kortisol ins Blut abgegeben wird, entfalten sich die Immunreaktionen ungebremst, sie schießen über. Deshalb werden Autoimmunerkrankungen mit Kortison behandelt.
16
I
Kapitel 1 · Psychosomatische Medizin
Vegetatives autonomes Nervensystem Viel schneller als über das Stresshormon Kortisol kann das Nervensystem über efferente Bahnen des Sympathikus und des Nervus vagus mit dem Neurotransmitter Acetylcholin die Immunzellen hemmen. Die Drosselung der Entzündungsprozesse durch den Vagus wird als cholinerger antiinflammatorischer Reflex bezeichnet. Dies erklärt, warum Hypnose, Meditation oder auch Akupunktur, die gezielt die Vagusfasern aktivieren, eine entspannende, gesundheitsfördernde Wirkung haben.
1.2.4
Psyche und Gene
Gene und Umwelt Die Regulation der Genaktivität unterliegt in weitem Umfang psychosozialen Einflüssen. Genetische Reaktionsmuster können durch Erlebnisse und Erfahrungen gebildet werden. Organismus, Umwelt und Gene bilden eine Einheit. Die Frage »Gene oder Umwelt?«, über die kaum noch gestritten wird, hat keinen Sinn: Beide beeinflussen sich gegenseitig. Psychische Gesundheit oder Krankheit sind nicht vorgegeben, sondern entwickeln sich zu einem wesentlichen Teil aus unseren zwischenmenschlichen Beziehungen und deren Einfluss auf die Regulation der Genaktivität.
Genregulation Die Regulation der Genaktivität und damit die Produktion von Proteinen ist die entscheidende Regelgröße für Herz- und Kreislaufsystem, Hormonsystem, Immunsystem und Nervensystem. Die Regulation der Genaktivität erfolgt für jedes Gen getrennt durch regulatorische Sequenzen, die dem Gen vorgeschaltet sind. Sogenannte Transkriptionsfaktoren binden an diese regulatorischen Sequenzen, wodurch die Aktivität des Gens und des nachgeschalteten Gens reguliert wird. Ob über Transkriptionsfaktoren Gene aktiviert werden, hängt somit von Signalen ab, die das Gen von außerhalb erreichen. Diese Signale können aus der Zelle selbst, aus dem Gesamtorganismus oder aus der Umwelt kommen. Auch im Gehirn unterliegt die Regulation zahlreicher Gene einem permanenten Einfluss von Signalen aus der Außenwelt, die Nervenzell-Netzwerke der Großhirnrinde modulieren. Das limbische System verbindet diese Informationen mit emotionalen und kognitiven Erfahrungen, bewertet sie und wandelt sie
17 1.2 · Psychobiologie
1
in biologische Signale um. Seelisches Erleben wird also in biologische Signale »übersetzt«, wobei im Rahmen der so angestoßenen Signalketten u. a. auch Transkriptionsfaktoren aktiviert und Gene reguliert werden. Gefahrensituationen beispielsweise verwandelt das Gehirn in spezifische biologische Signale, die Gene in den Alarmsystemen des Hirnstammes und des Hypothalamus aktivieren und so Angstreaktionen hervorrufen. Die Aktivierung sogenannter Stressgene hat Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System und das Immunsystem und kann bei fortdauerndem Stress direkte schädigende Wirkung auf Nervenzellen im Hippocampus ausüben.
1.2.5
Psyche und Sexualität
Wechselwirkung Sexualität ist biologisch verankert. Bei der sexuellen Funktions- und Erlebnisfähigkeit des Menschen greifen jedoch biologische Vorgänge und psychische Prozesse wie Phantasien, Gefühle, frühe Erinnerungen, Wünsche und Vorlieben ineinander.
Unterschiede zwischen Mann und Frau Die Vorstellungen der Sexualität bei Frauen und Männern ist unterschiedlich: Männer betrachten ihr Sexualverhalten eher als biologisch determiniert, mechanistisch und genitalorientiert. Frauen betonen mehr seelische Aspekte der Sexualität, legen Wert auf die Atmosphäre und sehen Sexualität im Zusammenhang ihrer Gesamtpersönlichkeit. Die Sexualzentren im Hypothalamus und im limbischen System werden durch Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, taktile sensible Reize, über das Erinnerungsvermögen und über Phantasien stimuliert. Beim Mann wirken vor allem Bilder sexuell erregend, bei der Frau Berührungen.
Hormone Von den Sexualhormonen haben die Androgene (Androstendion und Testosteron) den größten Einfluss. Beim Mann und bei der Frau ist ein ausreichender Androgenspiegel Voraussetzung für sexuelle Lust und sexuelle Reaktionsfähigkeit. Östrogene sind eher Libido steigernd, Gestagene eher Libido senkend, haben aber insgesamt weniger Einfluss als Androgene auf die sexuelle Lust.
18
I
Kapitel 1 · Psychosomatische Medizin
Alter Beim Mann tritt mit zunehmendem Alter eine Abnahme der sexuellen Erregbarkeit und der Erektionsstärke ein. Nach der Ejakulation erschlafft der Penis schneller und die Refraktärzeit für eine nochmalige Erektion und Ejakulation nimmt zu. Bei der Frau ändert sich im Alter die sexuelle Reaktionsfähigkeit kaum. Ältere Frauen passen sich jedoch in ihrem Sexualverhalten häufig den sexuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten ihrer Partner an.
Orgasmus Männer gelangen im Allgemeinen schneller zum Orgasmus als Frauen. Der Orgasmus dauert bei der Frau jedoch länger und die subjektiven Empfindungen sind bei ihr vielfältiger als beim Mann.
Sexualstörungen Die häufigsten Sexualstörungen sind: 4 Bei Männern: Ejaculatio praecox und Erektionsprobleme. 4 Bei Frauen: Sexuelle Unlust, Vaginismus und Orgasmusschwierigkeit.
Anamnese Sexuelle Probleme werden im Gespräch zwischen Arzt und Patient selten angesprochen. An die Möglichkeit einer sexuellen Störung oder eines unbefriedigenden Sexuallebens sollte gedacht werden: 4 Bei körperlichen Beschwerden ohne klaren Organbefund vor allem im Unterbauch- und Beckenbereich 4 Nach der Geburt von Kindern 4 Nach Operationen der Geschlechtsorgane 4 Bei länger dauernden Erkrankungen 4 Bei depressiver Symptomatik 4 Bei älteren Patienten ?
Übungsfragen
2 Geben Sie eine Definition für Psychoneuroimmunologie. 2 Auf welchen Wegen beeinflusst eine psychosoziale Belastung das Immun- und
Hormonsystem? 2 Beschreiben Sie den Einfluss psychischer Belastungen auf die Genregulation. 2 Beschreiben Sie die Unterschiede in der sexuellen Funktion- und Erlebnisfä-
higkeit zwischen Mann und Frau.
19 1.3 · Was macht uns krank? Was hält uns gesund?
1
Was macht uns krank? Was hält uns gesund?
1.3
4 Stress- und Vulnerabilitätsmodell 4 Emotionale Bindung 4 Salutogenese und Resilienz 4 Krankheitsbewältigung (Coping)
> > Einleitung Gesundheit und Krankheit bilden keine entgegengesetzten Pole, sondern bewegen sich auf einem Kontinuum. Zahlreiche Untersuchungen an repräsentativen, unausgelesenen Gruppen bestätigen, dass viele Menschen ernsthafte gesundheitliche Beeinträchtigungen haben, von denen sie nichts wissen oder unter denen sie nicht leiden, weil z. B. das betroffene Organ keine Schmerzen macht oder die Beschwerden im Alltagsleben keine Rolle spielen. Umgekehrt leidet eine große Gruppe von Menschen unter vielfältigen körperlichen Beschwerden und sucht deswegen wöchentlich einen Arzt auf, wird ambulant und stationär durchuntersucht, manchmal auch operiert, ohne dass sich eine organische Krankheit finden lässt. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand eine Krankheitsdiagnose erhält, ist umso höher, je intensiver und technisch aufwändiger er untersucht wird. Krankheit und Gesundheit hängen von einem komplexen Wechselspiel zwischen Lebensgeschichte des Patienten, seinen Bindungserfahrungen und der daraus entstehenden Stressvulnerabilität, seiner aktuellen Lebenssituation, seiner subjektiven Bewertung der Krankheitssymptome, der zur Verfügung stehenden Bewältigungsstrategien und dem Expertenbefund ab.
1.3.1
Stressmodell
Unter Stress versteht man den Zustand einer bedrohten biologischen Homöostase bzw. Allostase, der sowohl durch körperliche Schädigungen als auch durch psychosoziale Belastungen herbeigeführt werden kann. Unter Stressantwort oder Stressreaktion versteht man das Bemühen des Körpers, die biologische Homöostase bzw. Allostase durch Veränderungs- und Anpassungsprozesse auf neuronaler und endokriner Ebene sowie im Verhalten wiederherzustellen. Wenn der Stress vorüber ist, werden die Anpassungsvorgänge wieder abgeschaltet.
20
I
Kapitel 1 · Psychosomatische Medizin
Homöostase bezeichnet die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts in einem engen Rahmen, z. B. Sauerstoff im Blut, pH-Wert, Körpertemperatur. Allostase bezeichnet die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichtes innerhalb breiterer Grenzen, wie z. B. die Fähigkeit, bestimmte extreme Belastungen wie längeren Schlafentzug, Isolation, Hunger oder extreme Temperaturschwankungen zu bewältigen. Die Stressbewältigungsprogramme des Körpers sind genetisch determiniert und können durch frühkindliche traumatische Erfahrungen und Verlusterlebnisse gestört werden.
Tierexperiment Tierexperimentelle Untersuchungen an Rattenbabys zeigten, dass eine 15-tägige Trennung von der Mutter als Stressor zu einem Abfall der Katecholamine, einer verminderten Synthese von Proteinen und Nukleoproteinen, einer reduzierten Herz- und Atemaktivität, einer reduzierten Bildung und Ausschüttung von Wachstumshormonen, einer Verzögerung in der Hirnreifung, einer Beeinträchtigung des Schlafes sowie einer insgesamt erhöhten motorischen Aktivität führte. Körperkontakt und Streicheln in der ersten Zeit nach der Geburt führten bei Ratten im späteren Leben zu einer wesentlichen Dämpfung der Stressantwort. Die Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) und die Locuscoeruleus-Norepinephrin (LC-NE-Achse) sind die zentralen Säulen des Stressverarbeitungssystems (. Abb. 1.5).
Stress und Immunsystem Stress kann das Immunsystem sowohl fördern als auch unterdrücken. Kurzfristige Stresssituationen steigern die angeborene Immunantwort. Befriedigende zwischenmenschliche Beziehungen, körperliches Wohlbefinden und persönliche Wertschätzungen stärken das Immunsystem. Dauerstress wie Verlust des Arbeitsplatzes oder naher Bezugspersonen, ein Unfall mit Spätfolgen, chronischer Ärger oder eine chronische Erkrankung haben negative Effekte auf die angeborenen wie auch die erworbene Immunität.
Stress und Krankheit Es gilt inzwischen als gesichert, dass psychische Stressbelastungen den Ausbruch und den Verlauf vieler Krankheiten beeinflussen, weil sie die Immunlage verändern. Der negative Effekt von Stress auf Atemwegsinfekte wurde belegt,
21 1.3 · Was macht uns krank? Was hält uns gesund?
1
. Abb. 1.5. Stressreaktion und allostatische Überlastung. Modifiziert nach McEwen (1998)
ebenso wie der Einfluss von Stress auf Multiple Sklerose, Asthma bronchiale, rheumatoide Arthritis und Allergien. Ein Tage und Wochen anhaltender Stress führt zu anhaltender erhöhter Aktivität auf der LC-NE-Achse und der HPA-Achse und zunächst zu funktionellen und im weiteren Verlauf auch strukturellen Schädigungen im Gehirn, Herz-Kreislauf-System und im Immunsystem. Eine entscheidende Rolle dabei spielt der Hippocampus. Eine dauernde Überlastung dieser Region führt zu Dysregulation der HPA-Achse und zu kognitiven Einschränkungen. Beispiel: Pflege eines Angehörigen. Angehörige, die einen an Alzheimer er-
krankten Partner pflegen, bilden bei einer Grippeimpfung auffallend weniger Antikörper und sind noch Jahre danach krankheitsanfälliger. Interleukin 6 (IL-6) zirkuliert dabei in vielfacher Menge im Blut. IL-6 aktiviert die Hypothalamus-Hypohysen-Nebennierenrinden-Achse, Kortisol wird ausgeschüttet und das Immunsystem weiter gehemmt.
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Kapitel 1 · Psychosomatische Medizin
Beispiel: Stress und Herzstillstand. Im Volksmund heißt es, dass »das Herz
vor Schreck stehen bleibt« oder dass »es einem das Herz bricht«. Dieses Phänomen wurde in einer Studie mit 40 Patienten, die nach starker Aufregung mit infarktähnlichen Symptomen in die Klinik eingeliefert wurden, bestätigt. Die Patienten hatten plötzlich vom Tod einer nahen Person (Partner, Kind oder Freund) erfahren, sie waren auf offener Straße überfallen worden oder hatten auf einen Schlag massive finanzielle Verluste erlitten. Allen gemeinsam war das Gefühl extremer Ohnmacht und Hilflosigkeit. Die Katecholamine im Blut waren über 30-mal höher als bei Gesunden. Die kardiale Pumpfunktion war massiv eingeschränkt. Der pathophysiologische Mechanismus ist unklar. Derzeit wird dieses Bild als »Stressbedingte Kardiomyopathie« eingeordnet. Beispiel: Autoimmunerkrankungen. Wie in Kap. 1.2 dargestellt, bilden Nerven-
system, endokrines System und Immunsystem eine Einheit. Wenn ein System nicht adäquat auf einen Stressor antwortet, reagiert ein anderes System im Sinne einer Gegenregulation. Wenn beispielsweise die Kortisolausschüttung auf einen Stressor nicht mehr möglich ist, steigen kompensatorisch die Entzündungsparameter wie Zytokine an, welche normalerweise durch Kortison gehemmt werden. Die negative Konsequenz einer anhaltenden überschießenden Entzündungsantwort ist eine größere Anfälligkeit für Autoimmunerkrankungen. Beispiele für Reaktionen auf eine Unterregulierung auf der HPA-Achse sind Patienten mit Fibromyalgie, chronischem Müdigkeitssyndrom oder Patienten mit atopischer Dermatitis. Praxistipps Empfehlungen für den Umgang mit Stressbelastungen 4 Die eigenen körperlichen und seelischen Belastungsgrenzen kennen lernen und akzeptieren. 4 Chronischen Stress vermeiden. 4 Körpereigene Abwehrsysteme durch Ernährung, Sport, ausreichenden Schlaf fördern. 4 Einsatz von Entspannungsverfahren zur Beeinflussung der psychophysiologischen Stressantwort. 4 Förderung zwischenmenschlicher Beziehungen als wichtiger Schutzfaktor gegen überschießende Stressreaktionen.
23 1.3 · Was macht uns krank? Was hält uns gesund?
1.3.2
1
Bindungserfahrungen
»Das Kleinkind hat ein inhärentes Bedürfnis mit einem menschlichen Wesen in Berührung zu kommen und sich an dieses anzuklammern. Demnach gibt es ein Bedürfnis nach Objekt, unabhängig vom Bedürfnis nach Nahrung, ein Bedürfnis, das ebenso primär ist wie das Bedürfnis nach Nahrung und Wärme.« (Bowlby 1975). Das Bedürfnis nach emotionaler Bindung ist angeboren. Das Ziel ist die Herstellung emotionaler Nähe und Sicherheit, vor allem wenn das Kind sich müde, krank, unsicher oder verlassen fühlt. Für Bindungserfahrungen entscheidend sind die ersten drei Lebensjahre.
Bindungsverhalten Trifft der Säugling oder das Kleinkind auf eine Mutter oder andere Hauptbezugspersonen, die mit Mimik und Gestik feinfühlig, d. h. schnell und angemessen auf die Reaktionen des Kindes antworten, so kommt es zur Ausschüttung von Oxytocin, welche dem Säugling soziale Interaktionen und die damit verbundenen Gefühle als angenehm erleben lässt. Ein sicheres Bindungsverhalten wird auf diese Weise gefördert. Das Gehirn, vor allem die Amygdala, der Hippocampus und der präfrontale Kortex werden vor Schädigungen als Folge überschießender Glukokortikoidausschüttungen in Stresssituationen geschützt. Eine sichere Bindung trägt zu einer Erhöhung der Stressschwelle und zu einer Dämpfung der Stressantwort bei. Reagiert die Mutter dagegen zurückweisend auf die Bindungsbedürfnisse des Kindes, so resultiert ein sehr unsicher-vermeidender Bindungsstil beim Kind. Sind die mütterlichen Antworten auf die kindlichen Signale sehr widersprüchlich und wenig vorhersagbar, dann entwickelt das Kind eine sogenannte unsicher-ambivalente Bindung.
Negative Bindungserfahrung und erhöhte Stressvulnerabilität Eine Mutter, die nach der Geburt ihres Kindes eine schwere Depression erleidet, kann auf das Bindungsbedürfnis des Kindes oft nicht adäquat reagieren und sich in die Bedürfnisse ihres Kindes ausreichend einfühlen. Das Fehlen einer solchen Feinfühligkeit führt in der Folge zu Störungen bei der Entwicklung des Stressverarbeitungssystems. Die Aktivierung der HPA-Achse durch verstärkte CRH-Ausschüttung oder fehlende Hemmung führt zu Erhöhung von Kortisol und dadurch bedingten Schädigungen des Hippocampus. Kinder, die körper-
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Kapitel 1 · Psychosomatische Medizin
lich oder psychisch stark traumatisiert wurden, entwickeln eine Hyperreagibilität von HPA- und LC-NE-Achse.
Langzeitfolgen Psychosoziale Belastungen in der Kindheit können auf diesem Wege zu einer Dysfunktion des Stressverarbeitungssystems mit erhöhter Stressvulnerabilität in Konfliktsituationen führen. Zur Bewältigung der Stressbelastung werden Alkohol, Drogen, aggressives Verhalten und sozialer Rückzug eingesetzt. Die damit verbundenen Risikoverhaltensweisen wie Rauchen, Bewegungsmangel, Fehlernährung, wenig Schlaf, häufiger Partnerschafts- und Arbeitsplatzwechsel führen im Langzeitverlauf gehäuft zu körperlichen und seelischen Krankheiten. Langzeitstudien zeigten, dass die Wahrscheinlichkeit im Erwachsenenalter eine psychische oder psychosomatische Erkrankung zu entwickeln, durch das Einwirken psychosozialer Belastungen in der Kindheit um das 5- bis 20-fache erhöht wird. Je mehr ein Kind den in . Tabelle 1.1 aufgeführten Belastungsfaktoren, die mit negativen Bindungserfahrungen einhergehen, ausgesetzt ist, desto höher ist das Risiko im Erwachsenenalter psychisch oder körperlich zu erkranken. Ein einzelner Faktor erhöht die Wahrscheinlichkeit nicht. Ob ein Mensch erkrankt hängt von den Wechselwirkungen zwischen Belastungsfaktoren und Schutzfaktoren ab. Die in der . Tabelle 1.1 aufgeführten . Tabelle 1.1. Psychosoziale Schutzfaktoren und Belastungsfaktoren in der Kindheit
Psychosoziale Schutzfaktoren
Psychosoziale Belastungsfaktoren
Dauerhaft gute Beziehung zu primären Bezugspersonen
Dauerhafte emotional schlechte Beziehung zu primären Bezugspersonen
Großfamilie
Berufliche Belastung beider Eltern von klein auf
Adäquate frühkindliche Eltern-KindBindung
Dauerhafte familiäre Disharmonie/mit Gewalt
Gutes Ersatzmilieu nach Verlust der Eltern, z. B. Großmutter
Häufige Misshandlung (z. B. Prügel)/ sexueller Missbrauch
Überdurchschnittliche Intelligenz
Scheidung / Trennung der Eltern
Robustes aktives Temperament
Mutter oder Vater körperlich krank / behindert
Weibliches Geschlecht
Mutter oder Vater psychisch krank/ Suchtproblem
Soziale Förderung
Tod eines Elternteils
25 1.3 · Was macht uns krank? Was hält uns gesund?
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Schutzfaktoren können die negativen Erfahrungen in der Entwicklung eines Kindes auffangen und zur Stärkung der psychischen Widerstandskraft (Resilienz) führen. Da die neuronale Verknüpfung im Gehirn unmittelbar mit der Erziehung und Sozialisation zusammenhängt, die das Kind in den ersten 3 Lebensjahren macht, können auf diese Weise auch Defizite in der Gehirnentwicklung ausgeglichen werden.
1.3.3
Salutogenese
Der Begriff »Pathogenese« geht von der Vorstellung aus, dass Gesundheit ein Besitz ist, der verloren geht und wieder gewonnen werden kann. Gesundheit ist jedoch kein Kapital, das man aufzehren kann. Gesundheit wird in jedem Augenblick neu erzeugt. Bei der Erforschung der Gesundheitsentstehung (Salutogenese) suchte Antonovsky (1987) nach Bedingungen, die dazu führen, dass es Menschen gelingt, in schwierigen Lebenssituationen, z. B. nach dem Tod einer nahen Bezugsperson, einem Unfall oder einer psychischen Krise, körperlich und psychisch gesund zu bleiben oder wieder gesund zu werden. Durch Untersuchungen von Holocaust-Überlebenden kam Antonovsky zu der Überzeugung, dass Salutogenese von einem Sense of coherence abhängt, d. h. belastende Lebensereignisse sind verstehbar, handhabbar und haben einen Sinn. Merke Sense of coherence umfasst 4 Die Fähigkeit, auch belastende Ereignisse als verstehbar zu erleben (Comprehensibility), 4 sie beeinflussen zu können (Manageability) und 4 die Fähigkeit, solchen Belastungen Bedeutung und Sinn zu verleihen (Meaningfulness).
Den Sense of coherence hält Antonovsky für eine grundlegende lebenserhaltende Ressource, die der Mensch im Rahmen seines Lebens bei der Bewältigung von Problemen entwickelt. Ressourcenaktivierung knüpft an die positiven Eigenarten, Fähigkeiten und Motivationen des Patienten in der Gestaltung seines Lebens und seiner zwischenmenschlichen Beziehungen an. Wenn z. B. in der Anamnese frühere oder aktuelle traumatische Ereignisse berichtet
26
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Kapitel 1 · Psychosomatische Medizin
werden, kann der Arzt unmittelbar auf Ressourcen des Patienten zu sprechen kommen, die ihm in der Vergangenheit die Bewältigung solcher Ereignisse ermöglicht haben bzw. zukünftig noch ermöglichen könnten. Dabei ist die Frage nicht nur »Was hat Sie krank gemacht?«, sondern vor allem »Was fehlt Ihnen jetzt, um die schwierige Situation zu bewältigen bzw. um gesund zu werden?«
1.3.4
Gelerntes Verhalten und Denkschemata
Lernen am Modell Wenn Kinder erleben, dass sich ein Elternteil Problemen und Verpflichtungen durch Magenschmerzen oder Migräne entzieht, so können diese Erfahrungen den eigenen Umgang mit Konflikten prägen. Auch die Erfahrung, dass ein Geschwisterkind, z. B. bei frühkindlichem Asthma bronchiale oder angeborener Herzerkrankung, vermehrte Aufmerksamkeit und Zuwendung der Eltern erfährt, kann auffälliges Krankheitsverhalten verstärken. Ebenso kann aber auch eine positive Erfahrungen mit Menschen, die trotz schwerer körperlicher oder seelischer Erkrankung ihr Leben gemeistert haben, als Stimulus dienen, eigene schwierige Lebensphasen in Beruf und Privatleben auszuhalten und zu bewältigen. Beispiel: Unterdrückung von Emotionen. Durch ein familiäres Klima, in dem Gefühle und Konflikte nicht ausgedrückt werden, haben manche Patienten gelernt, Ärger, Wut, Enttäuschung und Traurigkeit nicht auszudrücken oder nicht einmal wahrzunehmen. Die Affekte gehen »nach innen«, sie aktivieren die dazugehörigen psychophysiologischen Prozesse (7 Kap. 1.2, Psychobiologie), wobei der Patient äußerlich passiv und zurückgezogen wirkt. Die psychophysiologischen Reaktionen führen jedoch zu einer Aktivierung der HypothalamusHypophysen-Nebennierenrinden-Achse mit vermehrter Kortisonausschüttung, Hemmung des Immunsystems und Aktivierung seiner Rückkopplungsprozesse zum zentralen Nervensystem. Die Unterdrückung des emotionalen Erlebens und die damit zunächst verbundene Vermeidung von Konflikten hat eine kurzfristige Entlastungsfunktion, längerfristig werden die Entstehung von Angst und Depression, körperlichen Beschwerden ohne Organbefund bis hin zu chronischen Schmerzzuständen begünstigt.
27 1.3 · Was macht uns krank? Was hält uns gesund?
1
Denkschemata Bei den Kognitionen sind neben den alltäglichen Gedanken vor allem fundamentale Überzeugungen und Grundannahmen über sich selbst und die Welt wichtig. Jeder Mensch hat bestimmte Grundüberzeugungen, so genannte Schemata. Diese Schemata haben ihren Ursprung in frühkindlichen Beziehungserfahrungen und werden später durch kulturelle und familiäre Einflüsse ebenso wie persönliche Erfahrungen weiter geformt. Gedanken und Überzeugungen sind nicht nur eine Folge des emotionalen Befindens, sondern Gedanken und Überzeugungen können selbst auch positive oder negative Emotionen auslösen. Es besteht eine hohe Interdependenz. Dies wurde in Studien zur Rolle der Kognitionen bei länger dauernder Depression gezeigt. Im Mittelpunkt der kognitiven Theorie steht die Annahme, dass die Überzeugungen des Patienten von Bedeutung für sein Verhalten, seine Emotionen und auch seine körperlichen Reaktionen sind. Die therapeutische Arbeit mit dem Patienten besteht darin, die kognitiven Muster zu evaluieren, die zu dem störenden Verhalten, den belastenden Emotionen und den damit verbundenen krankhaften körperlichen Reaktionen führen, und sie dann durch adäquatere Muster zu ersetzen (7 Kap. 2.2.2, Kognitive Verhaltenstherapie).
1.3.5
Krankheitsverarbeitung (Coping)
Merke Definition (to cope = bewältigen, meistern) Coping ist ein aktiver, nicht immer bewusster Prozess der Auseinandersetzung des Patienten mit seiner Krankheit. Er umfasst alle kognitiven, emotionalen und verhaltensorientierten Aktivitäten eines kranken Menschen, die dazu dienen, bereits bestehende oder erwartete krankheitsbedingte Anforderungen, Belastungen und Probleme zu überwinden, zu lindern oder zu tolerieren. Das Verhalten wird eingesetzt, um Gefühle der Bedrohung, der Selbstwertbeeinträchtigung und des Kontrollverlustes in Grenzen zu halten.
Der Ausgang einer Erkrankung oder Lebenskrise wird weniger durch die Art und die Schwere eines belastenden Ereignisses bestimmt, sondern dadurch, wie der Patient die Krankheit bewertet und welche Möglichkeiten der Krisenbewältigung ihm zur Verfügung stehen (7 Abb. 1.6).
28
Kapitel 1 · Psychosomatische Medizin
I
. Abb. 1.6. Subjektive Bewertung und individuelle Variabilität der Krankheitsverarbeitung in Belastungssituationen am Beispiel Krebs
Drei Hauptformen der Krankheitsverarbeitung sind zu unterscheiden: 4 Kognitive Verarbeitung: Erklärungsversuche für die Krankheit finden, Bücher, Zeitschriften, Internet benutzen, Minimalisierung von Bedrohung durch Sätze wie »Es wird schon nichts Schlimmes sein, andere haben das auch überlebt«; aber auch übertriebene Eigenbeobachtung, maximale Aufmerksamkeit für alle Symptome. 4 Affektive Verarbeitung: Stimmungen, Affekte und Emotionen von der normalen Angst- oder Trauerreaktion bis hin zu schweren psychopathologischen Zuständen wie Panikattacken, depressivem Rückzug mit Suizidalität, aggressivem Verhalten. 4 Verarbeitung auf der Verhaltensebene: Zupacken, nach vorne schauen, aktiv auf Ärzte und andere Menschen zugehen oder Kapitulation und Vermeidung, Rückzug. Auf die Krankheitsverarbeitung einflussnehmende Faktoren können sein: 4 Die Schwere der körperlichen Erkrankung und die daraus resultierende Beeinträchtigung. 4 Die Persönlichkeit des Patienten. Das eigene Leben und die darin vorkommenden Ereignisse und Belastungen werden als verstehbar, bedeutsam und bewältigbar angesehen (7 Kap. 1.3.3, Salutogenese). 4 Früher erworbene Krisenbewältigungsmuster. Erfolgreiche Bewältigung früherer lebensbedrohlicher Krankheiten erhöht, »erlernte Hilflosigkeit« (7 Kap. 10.4, Depressionen) verringert die Fähigkeit zur Stressbewältigung.
29 1.3 · Was macht uns krank? Was hält uns gesund?
1
4 Das Konzept der Kontrollüberzeugungen. Das eigene Verhalten hat Einfluss auf Lebensereignisse (interne Kontrolle) oder die Lebensereignisse werden vorwiegend als von außen bestimmt erlebt (externe Kontrolle). 4 Die soziale Unterstützung. Wichtig ist die vom Patienten wahrgenommene soziale Unterstützung, z. B. durch nahe Bezugspersonen, in der Arzt-Patient-Beziehung oder durch die Pflege im Krankenhaus. Bei den Strategien der Krankheitsbewältigung wird zwischen bewussten und unbewussten Strategien unterschieden: 4 Bewusste Strategien sind z. B. Informationssuche, Suche nach sozialer Unterstützung, Sinnsuche, Religiosität, Gespräche führen, Spazierengehen, Ablenkung z. B. durch Kino, Theater oder Sport, Rückzug und Resignation. 4 Unbewusste Strategien werden als Abwehrmechanismen bezeichnet und sollen das Bewusstwerden von Vorstellungen, die unvereinbar sind mit übernommenen Wert- und Verhaltensmaßstäben verhindern. Die abgewehrten Gedanken und Gefühle tauchen jedoch in Form von Träumen, Zwangsgedanken, plötzlich auftretenden Angstgefühlen und Depressionen und für Außenstehende zunächst nicht nachvollziehbaren, scheinbar inadäquaten Verhaltensweisen wieder auf. Die wichtigsten Abwehrmechanismen sind: Verleugnung. Bei diesem »Notfallmechanismus« werden die Realität der Erkrankung und die damit verbundenen Folgen partiell oder total ausgeblendet. Verleugnung ist der wichtigste Abwehrmechanismus bei lebensbedrohlichen Erkrankungen. Sie spielt vor allem zu Beginn einer Erkrankung und bei Diagnosemitteilung eine entscheidende Rolle. Die Formen der Verleugnung zeigt . Tabelle 1.2. Eine Verleugnung der Diagnose liegt z. B. bei einer Patientin mit fortgeschrittenem Zervixkarzinom vor, die sich gegenüber Ärzten und Schwestern verhält, als wisse sie nichts über ihre Krankheit, sich jedoch bestürzt zeigt über ein Ulcus duodeni, welches bei ihrem Ehemann festgestellt wurde. Eine Verleugnung der Verletzbarkeit liegt vor, wenn ein Patient, nachdem ihm die Diagnose »Krebs« mitgeteilt wurde, sagt: »Ich habe keine Angst, ich komme gut damit zurecht.« Bei jedem Patienten, der die Schwere seiner Erkrankung verleugnet, muss der behandelnde Arzt erwägen, ob dies in Anbetracht der zur Verfügung ste-
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I
Kapitel 1 · Psychosomatische Medizin
. Tabelle 1.2. Verleugnung bei lebensbedrohlicher Erkrankung
Form der Verleugnung
Beispiele
Kognitive Verleugnung der Krankheit
Verleugnung der Diagnose Verleugnung der Prognose Minimalisieren der Krankheit
Verleugnung der Auswirkungen auf die Zukunft
Verleugnung der Verletzbarkeit Unrealistische Zielsetzungen
Unrealistische Erwartungen bezüglich der Behandlung
Mangel an Vertrauen in die Behandlung Unzufriedenheit mit der Behandlung
Verleugnung der Notwendigkeit der Behandlung
Behandlungsabbruch Non-Compliance
Affektive Verleugnung
Verleugnung von Depression Verleugnung von Todesangst
henden psychischen und sozialen Ressourcen eine adäquate Reaktion ist, oder ob die Verleugnung negative Folgen mit sich bringen kann. Eine zu lang andauernde Verleugnung einer schon fortgeschrittenen Krebserkrankung kann einen notwendigen Verarbeitungsprozess und die dazugehörende Trauerarbeit behindern. Vermeidet der Arzt ein Informations- und Aufklärungsgespräch und trägt so über längere Zeit zur Aufrechterhaltung der Verleugnung bei, wird im Verlauf der Erkrankung ein Punkt erreicht, an dem die Realität der Erkrankung so übermächtig wird, dass der Verleugnungsprozess zusammenbricht und der Patient das Vertrauen in die Behandler verliert und sich abwendet. Dissoziation. Hierbei erlebt der Patient seinen Körper und sich selbst als fremd und unwirklich. Er phantasiert die Unverletzlichkeit seines Körpers und macht so eine bedrohliche, potentiell unerträgliche Situation für sich erträglicher (7 Kap. 7.3.2, Dissoziative Störungen). Regression. Rückkehr auf eine unreifere Entwicklungsstufe, z. B. sich von anderen sehr umsorgen zu lassen, Zuhause oder im Krankenhaus keine Verantwortung mehr zu übernehmen und sich so in Abhängigkeit anderer zu begeben. Projektion. Verlagern eigener Vorstellungen oder Gefühle (hier: Angst) in die Außenwelt: »Meine Frau macht sich über meinen Zustand große Sorgen. Ich bitte Sie, ihr beizustehen, denn ihre Angst belastet mich mehr als alles andere.«
31 1.3 · Was macht uns krank? Was hält uns gesund?
1
Intellektualisierung. Emotionales wird in formaler, rein kognitiver, emotionsloser Art behandelt: »Meines Wissens beträgt die Gefahr der Erkrankung der zweiten Brust nach Brustkrebs etwa 15%. Ich schlage vor, dass Sie mir sofort beide Brüste amputieren, damit ich mich als endgültig geheilt betrachten kann.« Rationalisierung und Verschiebung. Sekundäre Rechtfertigung von Ver-
haltensweisen durch Scheinmotive. Abkopplung emotionaler Reaktionen von ihren ursprünglichen Inhalten und die Verknüpfung mit anderen, weniger wichtigen Situationen oder Gegenständen: »Die Krankheit als solche macht mir keine Angst. Hingegen fürchte ich die Einnahme der Medikamente. Wenn ich gelegentlich Angst verspüre, so sind die starken Medikamente daran schuld.« Verkehrung ins Gegenteil. Angsterzeugende Impulse werden durch Entwick-
lung entgegengesetzter Gefühle abgewehrt. »Noch nie fühlte ich mich so gut, wie seitdem ich krank bin. Mein Leben ist intensiver und reicher geworden.« Einen günstigen Einfluss auf das emotionale Befinden und die Lebensqualität haben: 4 Eine aktive, problemorientierte Krankheitsverarbeitung 4 Unterstützung durch das soziale Umfeld 4 Vertrauen in die ärztliche Behandlung Als ungünstig haben sich erwiesen: 4 Resignation 4 Hilf- und Hoffnungslosigkeit 4 Sozialer Rückzug 4 Starke psychische Belastungen, z. B. Depression In einigen Studien waren Patienten mit depressiven Coping-Strategien wie sozialem Rückzug, fehlendem Kampfgeist und Fatalismus anfälliger für Krankheitsrezidive und hatten eine erhöhte Mortalität.
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Kapitel 1 · Psychosomatische Medizin
Übungsfragen
3 Was versteht man unter Stress und unter einer Stressantwort des Körpers? 2 Warum sind Bindungserfahrungen des Säuglings und Kleinkindes entscheidend
für psychische Gesundheit und späteres zwischenmenschliches Vertrauen? 2 Nennen Sie jeweils drei Schutz- und Belastungsfaktoren in der Kindheit, die zu
Gesundheit oder Krankheit im Erwachsenenalter beitragen. 2 Was versteht man unter Salutogenese? 2 Geben Sie eine Definition für Coping. 2 Geben Sie Beispiele für kognitive, affektive und verhaltensbezogene Formen
des Copings. 2 Was versteht man unter Abwehrmechanismen und nennen Sie drei Beispiele.
Literatur Bauer J (2005) Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. 3. Aufl. Pieper, München. Wie die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen Gesundheit und Krankheit beeinflusst. Sehr gutes, allgemeinverständlich geschriebenes Buch. Buddeberg K (2004) Psychosoziale Medizin. 3. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York. Umfassende Darstellung der aktuellen Erkenntnisse zu Zusammenhängen zwischen Psyche, Körper und Umwelt. Ehlert U (2003) Verhaltensmedizin. Springer, Berlin Heidelberg New York. Psychobiologische Zusammenhänge und Krankheitsbilder aus verhaltenstherapeutischer Sicht. Flipp SH, Aymanns P (2003) Bewältigungsstrategien (Coping). In v. Uexküll Th Psychosomatische Medizin, Kapitel 17. Urban & Fischer, München. Guter Überblick zum Stand der Coping-Forschung. Koch U, Weis J (1998) Krankheitsbewältigung bei Krebs und Möglichkeiten der Unterstützung. Schattauer, Stuttgart. Praxisnahe Darstellung am Beispiel Krebs. McEwen BS (1998) Protective and demaging effects of stress mediators. New Engl. Journal of Medicine 338: 171–179. Sehr gut verständlicher Artikel von bekanntem Stressforscher. Rüegg JC (2003) Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn. Neuronale Plastizität als Grundlage einer biopsychosozialen Medizin. 2. Aufl. Schattauer, Stuttgart. Psychosomatische Medizin aus Sicht eines erfahrenen Gehirnforschers. Schonecker OW (2003) Lernpsychologische Grundlagen. In v. Uexküll Th Psychosomatische Medizin, Kapitel 14. Urban & Fischer, München. Entstehung von Krankheiten auf lerntheoretischem Hintergrund. v. Uexküll Th (2003) Psychosomatische Medizin, 6. Aufl. Kap 7, 8, 9, 10. Urban & Fischer, München. Wissenschaftlich präzise Darstellung der psychobiologischen Wechselwirkungen. v. Uexküll Th (2003) Psychosomatische Medizin, 6. Aufl. Urban & Fischer, München. Klassisches umfangreiches Standardwerk zu allen Aspekten der psychosomatischen Medizin.
33 Quellenverzeichnis
1
Weiner H (1977) Psychobiology and Human Disease. Elsevier, New York. Genaue Beschreibung psychophysiologischer Wechselwirkungen. Wirsching M (2003) Psychosomatische Medizin – Konzepte, Krankheitsbilder, Therapien, 2. Aufl. Beck, München. Kurzgefasster allgemeinverständlicher Überblick.
Quellenverzeichnis . Abbildung 1.3 Ehlert U (2003) Verhaltensmedizin. Springer, Berlin Heidelberg New York . Abbildung 1.5 McEwen BS (1998) Protective and demaging effects of stress mediators. New Engl. Journal of Medicine 338: 171–179. Adler R (1992) Anamnese und Körperuntersuchung. Fischer, Stuttgart. Antonovsky A (1987) The salutogenetic perspective: toward a new view of health and illness. Advances 4: 47–55 Bowlby J (1958) Bindung. Fischer, Frankfurt a.M
2 2
Psychotherapie
2.1
Was ist Psychotherapie?
– 36
2.2
Grundformen der Psychotherapie
2.2.1
Psychoanalytisch begründete Verfahren
– 37 – 38
2.2.2
Kognitive Verhaltenstherapie
2.2.3
Systemische Paar- und Familientherapie
– 40
2.2.4
Klienten-zentrierte Gesprächspsychotherapie und andere humanistische Verfahren
2.3
Allgemeine Wirkungen von Psychotherapie – 47
2.4
Neurobiologische Korrelate
2.5
Wege zur Psychotherapie
2.5.1
Wer darf Psychotherapie ausüben?
2.5.2
Behandlungsformen
2.5.3
Anlaufstellen und Beratung
2.6
Evidence Based Medicine
– 46
– 48 – 49
– 51 – 52
– 53
– 42
– 50
36
I
Kapitel 2 · Psychotherapie
4 Definition von Psychotherapie 4 Grundformen der Psychotherapie, ihre Methoden und Indikationen 4 Allgemeine Wirkungen und Wirkfaktoren der Psychotherapie 4 Anwendungsformen
> > Einleitung Die Psychotherapie ist eine moderne Erfindung. Der Begriff taucht erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich und Holland auf. In allen Zeiten und allen Kulturen haben Menschen jedoch Mittel und Wege der Lösung psychischer Probleme gefunden, im Rahmen spiritueller, magischer oder philosophischer Systeme. Ärzte und Heiler, Priester und Schamanen oder Philosophen entwickelten die zu ihrer Zeit und Kultur passenden Vorstellungen vom richtigen und gesunden Leben und darüber, wie die körperliche oder geistige Gesundheit geschützt oder wieder hergestellt werden kann. Eine im Sinne unserer Definition (siehe unten) gültige, wissenschaftlich begründete Psychotherapie entwickelte sich erst im späten 19. Jahrhundert, beginnend mit der Hypnose. Aus dieser ging die erste umfassende und theoretisch begründete Form der Psychotherapie, die mit ihren Weiterentwicklungen bis heute wichtige Psychoanalyse Sigmund Freuds (1856–1939) hervor.
2.1
Was ist Psychotherapie?
Die einfachste Definition lautet: Psychotherapie ist die Lösung psychologischer Probleme mit psychologischen Mitteln. Eine differenziertere Beschreibung stammt in ihren Grundzügen von Strotzka (1972): Psychotherapie ist 4 ein bewusster und geplanter interaktioneller Prozess 4 zur Beeinflussung von körperlichen und seelischen Leidenszuständen, die in einem Konsens, möglichst zwischen Patient, Therapeut und Bezugsgruppe für behandlungsbedürftig gehalten werden,
37 2.2 · Grundformen der Psychotherapie
2
in Richtung auf 4 ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel, z. B. Symptomminderung oder Änderung der Persönlichkeitsstruktur, 4 die Erarbeitung neuer Verhaltensweisen und neuer Einsichten bezüglich Lebensgeschichte, gegenwärtiger Lebenssituation und der Beziehungen zu anderen Menschen, 4 die systematische Förderung der Nachentwicklung und der Erweiterung der Persönlichkeit mit Hilfe von 4 psychologischen Mitteln, also durch Kommunikation meist verbal oder auch nonverbal, 4 lehr- und lernbaren Techniken auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens. In der Regel ist dazu eine tragfähige emotionale Bindung notwendig. Als professionelle Hilfe unterscheidet sich die Psychotherapie von der Selbsthilfe, wie sie in Selbsthilfegruppen von Betroffenen seit Jahren etabliert ist. Alternative Formen professioneller psychosozialer Hilfe sind: 4 Die Ehe-, Familien- und Lebensberatung, Schwangerschaftskonflikt-Beratung, Suchtberatung. 4 Die hausärztliche psychosomatische Grundversorgung.
2.2
Grundformen der Psychotherapie
Als wissenschaftlich begründet, also evidenzbasiert, gelten heute (. Tabelle 2.1): 4 Die Psychoanalyse und die aus ihr hervorgegangene tiefenpsychologische bzw. psychodynamische Psychotherapie. 4 Die kognitive Verhaltenstherapie. 4 Die Paar- und Familientherapie bzw. systemische Psychotherapie. 4 Die klienten-zentrierte Gesprächspsychotherapie als Hauptrichtung der Humanistischen Psychotherapie.
38
I
Kapitel 2 · Psychotherapie
. Tabelle 2.1. Psychotherapeutische Verfahren (Grundorientierungen)
Verfahren
Grundansatz
Anwendungsform
Psychodynamische (tiefenpsychologische) Psychotherapie und Psychoanalyse*
Aufdeckung unbewusster Konflikte und »Nachreifung«
1x wöchentlich, 50–80 Stunden 2–4x wöchentlich im Liegen, 240–300 Stunden
Kognitive Verhaltenstherapie*
Verändern von Verhaltensund Denkschemata
1x wöchentlich, 30–50 Stunden
Systemische Paar- und Familientherapie
Änderung zwischenmenschlicher Beziehungen
Alle 2–4 Wochen, 15–20 gemeinsame Gespräche
Klienten-zentrierte Gesprächspsychotherapie
Selbsterfahrung und »inneres Wachstum«
1x wöchentlich, 50–80 Stunden
* Wird von gesetzlichen und privaten Krankenkassen erstattet
2.2.1
Psychoanalytisch begründete Verfahren
Die Psychoanalyse wurde von Sigmund Freud vor über 100 Jahren entwickelt. Im Mittelpunkt steht hier die Vorstellung, dass jederzeit nur ein geringer Teil unserer neuronalen Aktivitäten dem Bewusstsein zugänglich ist. Gleichwohl haben unbewusste psychische Prozesse einen wesentlichen Einfluss auf unser Denken, Fühlen und Handeln. Sigmund Freud führte deshalb den Begriff des dynamischen Unbewussten ein. Die neurobiologische Forschung der letzten Jahrzehnte hat diesen Befund grundlegend bestätigt, was eine erneute und anhaltende Debatte über das Ausmaß menschlicher Willensfreiheit auslöste. Der Psychoanalytiker erkennt die Wirkung unbewusster Einflüsse in den Symptombildungen, z. B. in Form irrationaler Ängste, in den Träumen, den sogenannten Fehlleistungen, also dem Versprechen oder Vergessen, und im Witz.
Freie Assoziation, Übertragung, Widerstand Mit der Methode der freien Assoziation (Alles was dem Patienten durch den Kopf geht, soll ausgesprochen werden.) wird ein Zugang zum Unbewussten gewonnen. Gedanken und Gefühle, die dem Patienten sonst verboten oder verpönt erscheinen, kommen zur Sprache. Durch die Traumdeutung, den »Königsweg zum Unbewussten«, werden verborgene Bedürfnisse und Wünsche, aber auch Ängste sichtbar.
39 2.2 · Grundformen der Psychotherapie
2
Eine weitere Methode ist die Analyse von Übertragungen bzw. Gegenübertragungen, d. h. der unbewussten Beziehungsmuster, die sich zwischen Therapeuten und Patienten einstellen, sowie die Berücksichtigung der Widerstände, welche gegen die Aufdeckung peinlicher, schuldhafter oder ängstigender Konflikte gerichtet sind.
Unbewusste Konfliktmuster Als dynamisch relevante, d. h. verhaltens- und erlebensbestimmende unbewusste Prozesse, werden vor allem diejenigen erkannt, die auf traumatischen oder konflikthaften Erfahrungen in frühen Lebensjahren beruhen. Auch hier liefert die Grundlagenforschung gute Belege. Die Entwicklungspsychologie zeigt, dass unzulängliche, d. h. instabile, unterbrochene oder widersprüchliche Bindungserfahrungen nachhaltig negative Wirkungen entfalten (7 Kap. 1.3.2). Des Weiteren zeigt die Neurobiologie, dass die Plastizität, also die Wandelbarkeit neuronaler Prozesse höchst unterschiedlich ist. Traumatische Erfahrungen in frühen Jahren bleiben lebenslang erlebens- und verhaltensbestimmend. Ängste, Verletzlichkeiten, überschießende emotionale Reaktionen und mangelndes Vertrauen in andere Menschen sind im sogenannten prozeduralen oder impliziten Gedächtnis im Hippocampus gespeichert, bewusstseinsfähige Erinnerungen im episodischen Gedächtnis. Durch Aufdeckung und Auflösung unbewusster Konflikte und durch korrigierende kompensatorische emotionale Neuerfahrung, u. a. durch Erfahrung von Vertrauen, Geborgenheit und Verständnis, werden eine Symptomminderung und eine Nachreifung möglich.
Persönlichkeitsstörungen Bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen (7 Kap. 13, Persönlichkeitsstörungen) arbeitet der Psychotherapeut mehr stützend an aktuellen Konflikten. Ziel ist, die vorhandenen psychischen Ressourcen zu stärken, um den Patienten einen besseren Umgang mit seinen destruktiven Impulsen und eine befriedigende Beziehungsgestaltung zu ermöglichen. Die Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamik wird beachtet aber nicht gedeutet.
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Kapitel 2 · Psychotherapie
Merke Psychoanalyse Im Prozess der psychoanalytischen Psychotherapie wird der Patient durch das Bewusstwerden des zuvor Unbewussten befähigt, Schritt für Schritt seine inneren Konflikte und Ängste ins Auge zu fassen, seine geheimen Phantasien gegenüber anderen Menschen zu erkennen und so auch seine persönlichkeitstypischen Wahrnehmungsverzerrungen und Fehlhaltungen zu korrigieren. Ziel der psychoanalytischen Therapie ist es, die inneren Konflikte und Ängste des Patienten zu lösen oder zumindest abzumildern, seine Defizite so weit als möglich auszugleichen und dadurch seine Gemütsverfassung zu stabilisieren und ihn zu einem lebensfroheren Menschen werden zu lassen.
2.2.2
Kognitive Verhaltenstherapie
Mit ihrer Orientierung am beobachtbaren Verhalten war die Verhaltenstherapie zunächst das Kontrastprogramm zur hermeneutischen Psychoanalyse. Angeregt vom angelsächsischen Behaviorismus, daher auch der Name Behavioral Therapy, und vom Positivismus steht die Verhaltenstherapie der am verifizierenden oder falsifizierenden Experiment ausgerichteten empirischen Psychologie nahe. Auch hier geht der Beginn der Entwicklung auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Die bis heute berühmten Tierversuche des Petersburger Physiologen Ivan Pawlow (1849–1936, Nobelpreis 1904) sind paradigmatische Beispiele einer experimentellen Konditionierung, also der Entwicklung bedingter Reflexe: Der Speichelfluss des Hundes setzt bereits beim Glockensignal ein, wenn dieses vorher mit der Fütterung gelernt wurde. Eine theoretische Fundierung finden diese Verhaltensexperimente in der Lerntheorie der amerikanischen Psychologie der 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Von einer Verhaltenstherapie wird seit den 50er-Jahren gesprochen, nachdem die Arbeitsgruppen von Skinner (Harvard) und Eysenck (London) begonnen hatten, ihre experimentell gewonnenen Erkenntnisse auf die Patientenbehandlung anzuwenden.
Systematische Desensibilisierung Am Anfang ging es um den Abbau von Ängsten durch systematische Desensibilisierung: Im Rahmen einer detaillierten Verhaltensanalyse wird zunächst
41 2.2 · Grundformen der Psychotherapie
2
eine Hierarchie der Angst auslösenden Reize erstellt. Was macht am meisten Angst, wodurch wird die Angst am häufigsten hervorgerufen? Gegen die psychischen und körperlichen Begleitsymptome der Angst werden Entspannungsmethoden eingesetzt, meist die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson. Im Wechsel von Entspannung und Vorstellung der Ängste, beginnend mit den schwächsten Reizen, wird ein stufenweiser Angstabbau erreicht. In der Praxis wird die mentale Vorstellung häufig mit einer realen Konfrontation der Angst auslösenden Situation kombiniert, in Form der sogenannten Exposition.
Operante Konditionierung Nach der Desensibilisierung ist die operante Konditionierung die nächstwichtige Methode der Verhaltenstherapie. Hier geht es um die Verhaltensmodifikation, z. B. um die Veränderung des Essverhaltens oder um den Aufbau neuer Verhaltensmuster, etwa die Entwicklung sozialer und kommunikativer Kompetenzen. Dabei wird mit positiven und negativen Verstärkungen, also mit Belohnung und Bestrafung, gearbeitet. Mit der Ausweitung der Konditionierung auf vegetative Funktionen wie Blutdruck, Hautwiderstand, Atmung, unter Zuhilfenahme sogenannter BiofeedbackApparate (7 Kap. 8.6, Chronische Schmerzstörung), werden auch körperliche Symptome behandelbar. Weitere verhaltenstherapeutische Methoden sind die Selbstbeobachtung, meist in Form von Tagebüchern, oder schriftliche Behandlungsvereinbarungen, z. B. zur Behandlung der Magersucht. In der Verhaltenstherapie geht es vor allem um die Veränderung sekundärer autonom gewordener Symptomzirkel, wie sie z. B. im »Teufelskreismodell der Angst« auch dem Patienten anschaulich gemacht werden können. (7 Kap. 9.4.4, Angststörungen).
Kognitionen Mit der sogenannten kognitiven Wende der 70er-Jahre erfuhr die Verhaltenstherapie eine wichtige Ausweitung in Richtung der Beeinflussung von Gedanken, Gefühlen und Wahrnehmungen. Nicht nur Verhaltensmuster, sondern kognitive Prozesse sollen verändert werden. Die Verbindung mit pathogenen Denkstilen wurde wegweisend durch die Arbeiten Aaron T. Becks zur Behandlung der Depression geleistet. Unter dem Oberbegriff des negativen Denkens geht es hier um die gewohnheitsmäßige Vorwegnahme des Scheiterns, um die selektive Fokussierung auf Nega-
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Kapitel 2 · Psychotherapie
tives (Das Glas ist immer halb leer, statt halb voll). Mechanismen des negativen Denkens sind die Übertreibung, das Schwarz-Weiß-Denken oder die generalisierende Ausweitung. Die Änderung dieser meist automatisch ablaufenden dysfunktionalen Denkmuster erfolgt schrittweise, durch Aufdeckung, Erklärung und Übung von alternativen Mustern: Wie könnte man noch denken oder reagieren? In der Praxis werden behaviorale und kognitive Methoden meist kombiniert, weshalb der Begriff kognitive Verhaltenstherapie heute ein Oberbegriff für eine Vielzahl kognitiver und behavioraler Techniken geworden ist. Verhaltenstherapien sind am besten empirisch untersucht und ihre Wirksamkeit wurde in zahlreichen randomisierten kontrollierten Studien nachgewiesen. Im Behandlungsalltag werden sie oft ergänzt durch psychodynamische, humanistische oder systemische Elemente. Merke Die kognitive Verhaltenstherapie fasst Erkenntnisse aus der experimentellen Psychologie zusammen. In dieser Psychotherapieform wird symptomorientiert gearbeitet. Störungen des Verhaltens, des Denkens und des Körpers werden mit speziellen Interventionen verlernt (z. B. in der Exposition), aufgebaut (z. B. über Belohnung) eingeübt (z. B. im Training) oder modifiziert und neu bewertet (z. B. in der kognitiven Umstrukturierung).
2.2.3
Systemische Paar- und Familientherapie
Hierbei handelt es sich um eine relativ neue, bahnbrechende Entwicklung der Psychotherapie, die erst seit ca. 30 Jahren zum festen Bestand zählt. Im Mittelpunkt stehen hier die Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Familie, z. B. den Ehepartnern oder den Eltern und ihren Kindern oder auch die Beziehungen über Generationen hinweg, mit allen Vermächtnissen und Traditionen, die eine Familie von anderen Gruppen unterscheiden. Mit Blick auf die wechselseitige Beeinflussung der Beteiligten spricht man hier von einem interaktionellen Ansatz in der Psychotherapie. Im Zusammenleben der Menschen entstehen durch einen Prozess der Selbstorganisation Regeln und Muster. Es entsteht ein organisiertes Ganzes, das mehr ist, als die
43 2.2 · Grundformen der Psychotherapie
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Summe seiner Teile, also ein System. Deshalb sprechen wir auch von systemischer, oder systemtheoretisch begründeter Therapie. Merke Grundregeln der systemischen Paar- und Familientherapie Allparteilichkeit. Versuchen Sie, die Sicht, die Gedanken und Gefühle eines jeden Familienmitgliedes, auch die der Außenseiter und der Sündenböcke aktiv in Erfahrung zu bringen, sich in die Position des Einzelnen hineinzuversetzen und von dieser Position sein Verhalten zu verstehen, statt sich auf neutrale Weise herauszuhalten oder gar zum Schiedsrichter machen zu lassen. Ressourcenorientierung. Versuchen Sie, auch die intakten, positiven Anteile des Familienlebens ins Blickfeld zu bringen. Versuchen Sie, in den Symptomen und Problemen den Lösungsversuch zu erkennen. Hypothesengeleitete, aktive und fragende Gesprächsführung.
Die folgenden Gesprächstechniken sind für die Paar- und Familientherapie charakteristisch.
Frageformen Üblich sind Fragen nach Abfolgen, nach Verhaltensmustern, nach Gedanken und Gefühlen, wie sie auch in der kognitiv-behavioralen Therapie üblich sind: 4 Wer macht (denkt, fühlt) was, … …wenn die anorektische Tochter nicht zum Essen erscheint, …wenn der cholerische Vater einen Wutausbruch bekommt, …wenn die depressive Mutter Suizidgedanken äußert? Gebräuchlich und nützlich sind auch Fragen nach den Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern, die sich aber oft eher indirekt, z. B. über Rangfolgen, erschließen lassen: 4 Wer macht sich am meisten, wer am wenigsten Sorgen, … …um die anorektische Tochter, …um den cholerischen Vater, …um die depressive Mutter? 4 Wer steht wem am nächsten? Wer hat den größten Abstand? 4 Wer hat in welchem Familienbereich den meisten Einfluss, wer den geringsten?
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Kapitel 2 · Psychotherapie
Nützlich sind auch hypothetische Fragen, die z. B. in die Zukunft gerichtet sind oder auch sogenannte Wunder-Fragen: 4 Wenn wir uns in 5, 7, 10 Jahren wieder hier treffen, was würden Sie mir dann mitteilen? 4 Wenn das Symptom, z. B. die Anorexie, die Wutausbrüche, die Depression durch ein Wunder plötzlich verschwänden, was würde sich dann in der Familie ändern? Woran würden Sie es merken? Entlastend sind auch positive Umdeutungen (Reframing): Der Fall Eltern stellen ihren »hyperaktiven« Sohn vor: »Er macht uns alle verrückt, es gibt nur noch Schwierigkeiten, Schule und Erzieher beklagen sich…« Im Familienerstgespräch wird das auffällige Verhalten des Sohnes positiv umschrieben, um ihn dadurch zu entlasten: »Du hast also deiner Familie geholfen hierher zu kommen, sich hier Unterstützung zu holen. Du darfst dich jetzt erst einmal ein wenig zurücklehnen und ich möchte deine Eltern fragen…«
Weniger nützlich, wenngleich die meisten Familien und Paare darauf drängen, sind Fragen nach den Ursachen: 4 Wer hat angefangen? 4 Wer hat Schuld? Daraus entspringt nur weitere Verunsicherung und Belastung.
Zirkuläre Gesprächsführung Wenn sich das Paar- oder Familiengespräch erst zugespitzt hat, gibt es eine weitere Gesprächstechnik, die nützlich ist, wieder Ruhe und Übersicht herzustellen. Wir sprechen von der zirkulären Gesprächsführung: Dabei wird in Anwesenheit aller mit dem einen über den anderen gesprochen, z. B. Fragen an die anorektische Tochter: 4 Wie helfen die Eltern einander, die Sorge erträglich zu halten?
45 2.2 · Grundformen der Psychotherapie
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oder Frage an den wütenden Vater: 4 Womit kann Ihre Frau Ihnen eine Freude machen, womit Ihre Tochter? oder Fragen an die depressive Mutter. 4 Was können Vater und Tochter am besten miteinander machen trotz aller Sorgen?
Symptom als Lösungsversuch Diese letzten Fragen zeigen noch eine weitere hilfreiche Gesprächstechnik: Wir sprechen von Ressourcenorientierung oder auch Betonung des Positiven, manchmal auch positive Umdeutung genannt. Wir wirken so der Tendenz entgegen, dass die Familien im therapeutischen Gespräch einseitig ihre schwierigen, problematischen, konflikthaften Anteile betonen. Stattdessen wird versucht, den beklagten Symptomen einen Sinn zu geben, sie verständlicher zu machen. Meistens liegt ihnen ein untauglicher, in der Folge sogar schädlicher Lösungsversuch zugrunde: Das Hungern kann so als Versuch verstanden werden, das angeschlagene Selbstbewusstsein wieder zu stärken (Stolz auf die asketische Leistung). Der Wutausbruch des Vaters kann als Ausdruck enttäuschten Bemühens gesehen werden (Ich wollte alles besser machen als meine Eltern und nun das!). Die Depression der Mutter ist auch ein Rückzug, ein Verstummen, ein Sichzurückziehen um andere nicht zu belasten. In diesem Zusammenhang geht es oft um ein neues Bewerten, also das viel zitierte »halb volle« oder »halb leere« Glas. Letztlich ist das Grundprinzip ein Akzeptieren von Unabwendbarem angesichts noch größerer Gefahren, des Verlusts, des Suizids oder der Gewalt. Akzeptieren meint nicht resignieren, sondern anerkennen, dass das was jetzt ist, das jetzt Bestmögliche ist.
Anwendung Die Paar- und Familientherapie hat ihre Hauptanwendung bei Partnerschaftskonflikten, bei Kindern und Jugendlichen als Symptomträgern oder bei anderen schweren, komplexen und lang dauernden psychischen oder körperlichen Leiden. Familientherapie kommt also immer dann zum Zuge, wenn die unmittelbare Einbeziehung des Familienumfeldes für die Problemlösung und für die Entwicklung, auch des einzelnen Patienten wichtig ist. Relativ neu, aber wirkungsvoll ist auch die indirekte Berücksichtigung der Familie, gewissermaßen die Familientherapie mit Einzelnen. Dies geschieht in
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Kapitel 2 · Psychotherapie
Form der sogenannten Familienrekonstruktion auf der Basis der Genogrammarbeit (Stammbäume) oder der Familienskulptur (»Aufstellungen«). Merke Als Grundregel gilt: Je mehr die Familie beteiligt ist, als Konfliktquelle oder als unterstützende Ressource, umso eher sollte sie einbezogen werden. Eingeladen zum gemeinsamen Gespräch werden in der Regel die Hauptbeteiligten, z. B. diejenigen, die zusammenleben.
2.2.4
Klienten-zentrierte Gesprächspsychotherapie und andere humanistische Verfahren
In den 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts kam es im Zuge des sogenannten »Psychobooms« zu einer starken Proliferation und Differenzierung. Eine bis heute als Humanistische Therapie bezeichnete Gruppe von Verfahren ist verbunden durch die Kritik am medizinischen Krankheitsmodell psychischer Störungen. Anstelle von Pathologisierung, Etikettierung und Psychiatrisierung treten persönliches Wachstum und Reifung, Selbsterfahrung und Emanzipation. Am weitesten verbreitet und auch als wissenschaftlich begründetes Verfahren anerkannt ist die Gesprächspsychotherapie, die ab Anfang der 40er-Jahre des letzten Jahrhunderts von Carl R. Rogers in den USA entwickelt wurde. Empathie (einfühlendes Verstehen), uneingeschränktes Akzeptieren und Selbstkongruenz (Echtheit) sind Grundbegriffe, die von hier ihren Eingang auch in andere Schulen gefunden haben. Die Gesprächspsychotherapie eignet sich als grundlegendes und breites Verfahren für psychische Störungen und Kontexte in Beratungsstellen, Hausarztpraxen und in der ambulanten Psychotherapie. Bei speziellen Anforderungen, z. B. im stationären Kontext, ist die Kombination mit anderen verhaltenstherapeutischen, psychodynamischen oder systemischen Methoden üblich. Eine weitere Domäne der humanistischen Therapie ist die Selbsterfahrung, meist in Gruppen und außerhalb des medizinischen Gesundheitssystems. Hier sind es vor allem die Gestalttherapie (F. Perls), das Psychodrama (J.L. Moreno), die Themenzentrierte Interaktion (TZI, nach Ruth Cohen), die Transaktions-
47 2.3 · Allgemeine Wirkungen von Psychotherapie
2
analyse (E. Berne) und die Hypnotherapie (M. Erickson). Diese letztgenannten Methoden werden zwar nicht als heilkundlich im eigentlichen Sinne anerkannt, d. h. sie verfügen über keine ausreichenden Wirknachweise. Sie haben dennoch große Anerkennung und Verbreitung gefunden. Die humanistischen Verfahren haben eine ernstzunehmende theoretische und methodische Fundierung und wachen mit ihren Fachgesellschaften über eine geregelte Qualifikation.
2.3
Allgemeine Wirkungen von Psychotherapie
Wir wissen aus der Psychotherapieforschung, dass ca. 60% der Wirkungen auf allgemeine grundlegende Einflüsse zurückgehen und nur ca. 10–20% der Wirkung spezifischen Techniken zuzuschreiben sind. 20% sind patientenspezifische Faktoren. Die in psychotherapeutischen Prozessstudien identifizierten Wirkfaktoren sind die folgenden: Hilfreich empfundene therapeutische Beziehung. Dies ist der wichtigste und wirksamste Faktor. Wenn nicht in den ersten 3–5 Sitzungen einer Therapie eine hilfreich empfundene Beziehung zustande gekommen ist, dann ist ein Gelingen der Behandlung unwahrscheinlich. Psychotherapie ist Beziehungstherapie! Erweiterte und veränderte Einsicht. Der Patient beginnt im therapeutischen Gespräch sein Leben, seine Konflikte, seine Beziehungen, seine Geschichte besser zu verstehen. Er gelangt zu Einsichten, die sein Denken, Fühlen und Verhalten ändern. Unvereinbarkeiten und widerstreitende Impulse – wir sprechen auch von Ambivalenzen – werden deutlich. Die Störanfälligkeit zwischenmenschlicher Beziehungen zeigt sich in der Partnerschaft, im Beruf, im Freundeskreis. Im Licht früherer Erfahrungen erkennen wir, wie oft aus nichtigem Anlass emotional belastende, schwerwiegende Erfahrungen wieder aufleben im Sinne einer Reaktualisierung. Selbst harmlose Auseinandersetzungen wecken dann bedrohliche Angst, Wut, Scham oder Enttäuschung. In der Therapie wird der »Familienroman« umgeschrieben. Dämonisierte Figuren der Kindheit – meist die Eltern – erscheinen im Lichte ihrer eigenen Geschichte als Kinder ihrer eigenen Eltern und gewinnen so menschlichere und verständlichere Konturen. Neue Erfahrungen. Denken und reden allein hilft nicht. Der Patient muss auch emotional bedeutsame »korrigierende« neue Erfahrungen machen. Er
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Kapitel 2 · Psychotherapie
muss sich verstanden, geborgen oder auch in Ruhe gelassen fühlen. Gerade auf konstruktive Weise gelöste Konflikte zwischen Patienten und Therapeuten haben oft eine hilfreiche weiterführende Wirkung: Wir können unterschiedlicher Meinung sein, streiten und doch wieder zusammen kommen. Wichtig ist auch, den Therapeuten als »ganzen Menschen« mit Stärken und Schwächen erleben zu können, Grautöne zuzulassen statt radikalem Schwarz-Weiß, Alles-oderNichts-Spaltungen oder Idealisierungen. Psychotherapie ist Konfliktarbeit! Realisierung und Exposition. Denken und Fühlen reicht nicht, es muss auch gehandelt werden. Bislang Vermiedenes, Auseinandersetzung oder auch Nähe muss wieder zugelassen, vielleicht sogar aktiv und gegen innere Widerstände gesucht werden. Die Umsetzung der therapeutischen Erfahrungen und Vorsätze in den Alltag ist wichtig. Psychotherapie ist immer auch Probehandeln und Experimentieren! Ressourcenaktivierung. Lernen, Neuerfahrung, Entwicklung gelingt eher,
wenn ein Mensch sich wertgeschätzt und hoffnungsvoll fühlt. Es ist kein Zufall, dass gerade Familientherapeuten der Betonung des Positiven, der Salutogenese – Was hilft anstelle von was schadet (7 Kap. 1.3.4, Was macht uns krank, was hält uns gesund) allgemein den starken und intakten Lebensbereichen, mithin den Ressourcen von Anfang an große Bedeutung gegeben haben. Denn mehr als der Einzelne ist die Familie im gemeinsamen therapeutischen Gespräch gefährdet, ihren Stolz, ihre Hoffnung und ihren Handlungsspielraum zu verlieren. Psychotherapie ist Ermutigungs- und Verständigungsarbeit!
2.4
Neurobiologische Korrelate
Die moderne neurobiologische Forschung mit ihren molekularen, genetischen und bildgebenden Methoden steht zusammen mit den Entwicklungen der Psychopharmakologie derzeit im Mittelpunkt des Interesses. Anfängliche Erwartungen, dass damit die Psychotherapie überflüssig würde, sind inzwischen widerlegt. Im Gegenteil, alle Studien zeigen das Gewicht und die Wirksamkeit psychologischer Faktoren bei der Entstehung, beim Verlauf und bei der Bewältigung aller Arten gestörter psychischer Prozesse. Viele Grundannahmen der Psychotherapie, die bislang nur theoretisch oder durch klinische Erfahrungen unterstützt wurden, bekommen jetzt ihre naturwissen-
49 2.5 · Wege zur Psychotherapie
2
schaftliche, im Laborexperiment gesicherte Erklärung, wie z. B. der Grundbegriff der Psychoanalyse: Das Unbewusste. Auch die Empathie (Einfühlung) wird durch neue Konzepte der sog. »Spiegelneurone« erklärt: Im Zuhörer (Beobachter) sind die gleichen Aktivitätsmuster erkennbar wie beim Akteur selbst. Die neuen Methoden der Bildgebung des Brain-Imaging, z. B. das funktionelle Kernspintomogramm, bieten darüber hinaus die Möglichkeit, Veränderungen neuronaler Netze oder Muster (Neuroplastizität) darzustellen. Wir erkennen, dass z.B. bei der Behandlung einer Depression, einer Angststörung, einer Zwangsstörung, einer somatoformen Störung oder einer Essstörung Veränderungen neuronaler Netze möglich sind. Dies bedeutet, dass sich im Zuge der Therapie nicht nur die Gedanken, Gefühle oder Verhaltensweisen verändern, sondern es verändern sich auch die zerebralen Erregungsmuster. Damit ist es möglich, auch im engeren naturwissenschaftlichen Sinne von einer Heilung durch Psychotherapie zu sprechen. Bei vielen anderen Patienten zeigt sich aber auch, dass frühe Erfahrungen, z. B. Bindungsstörungen oder Traumatisierungen, nur noch einer begrenzten Neuroplastizität zugänglich sind. Hier bestätigt sich das, was die klinische Erfahrung schon immer gezeigt hat: dass auch aus neurobiologischer Sicht bei solchen frühen und tiefgreifenden Störungen eher die Bildung kompensatorischer Muster als eine Heilung angestrebt wird. Statt den Patienten vorzugaukeln, dass sie ganz andere unbeschwerte, von ihren Erinnerungen befreite Menschen werden, geht es darum, mit ihnen realistische Wege des Lebens trotz und mit den frühen und nachhaltigen Beeinträchtigungen zu finden.
2.5
Wege zur Psychotherapie
Die Psychotherapie beansprucht mit der wachsenden Bedeutung der psychischen Störungen einen wachsenden Raum und einen wachsenden Anteil am Gesundheitsbudget. Zusammengefasst zeigen die Studien der letzten Jahre, dass in Allgemeinarztpraxen mindestens 30% der Patienten behandlungsbedürftige psychische Störungen aufweisen. In einer bundesweiten Untersuchung zu psychischen Störungen in der Allgemeinbevölkerung haben 13% eine Angststörung, 12% eine Depression und 11% körperliche Beschwerden ohne erklärbaren Organbefund, sogenannte somatoforme Störungen.
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Kapitel 2 · Psychotherapie
Insgesamt besteht eine erhebliche Unterversorgung psychischer Störungen, die nicht nur zur vermeidbaren Belastung, Beeinträchtigung und Leiden bei den geschätzten 12 Millionen Betroffenen führt, sondern auch unnötige wirtschaftliche Mehrkosten durch Arbeitsunfähigkeit und Fehlbehandlungen bedeutet. Aufgabe des Arztes in der psychosomatischen Grundversorgung ist daher: 4 Das Erkennen einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung. 4 Den Patienten aufzuklären und für eine psychotherapeutische Behandlung zu motivieren. 4 Dem Patienten in angemessener Zeit zu einer wirksamen Behandlung beim passenden Psychotherapeuten bzw. in einer stationären Einrichtung zu verhelfen. Der Therapieerfolg hängt wesentlich von der gelungenen Passung zwischen der Störung des Patienten, dem angebotenem Behandlungsmodell und der Persönlichkeit des Psychotherapeuten ab.
2.5.1
Wer darf Psychotherapie ausüben?
Psychotherapie ist ein gesetzlich geschützter Begriff, der an die Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde, also an eine Approbation gebunden ist (7 Tabelle 2.2). Diplompsychologen mit einer fünfjährigen Zusatzausbildung sind den ärztlichen Psychotherapeuten gleichgestellt. Für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen können auch Pädagogen oder Sozialpädagogen die Approbation erwerben.
. Tabelle 2.2. Zur Ausübung der Psychotherapie Berechtigte Ärzte
FA f. Psychosomatische Medizin und Psychotherapie FA f. Psychiatrie und Psychotherapie FA f. Psychiatrie und Psychotherapie im Kinder- und Jugendalter Zusatzbezeichnung Psychotherapie (nur innerhalb des jeweiligen Fachgebietes, z. B. Allgemeinmedizin, Innere Medizin, Gynäkologie)
DiplomPsychologen
Nach 5-jähriger Zusatzausbildung
51 2.5 · Wege zur Psychotherapie
2.5.2
2
Behandlungsformen
Bei den Behandlungsformen werden Einzeltherapie, Gruppentherapie und Paar- und Familientherapie unterschieden. Diese können im ambulanten Rahmen, teilstationär (Tagesklinik) und im stationären Rahmen stattfinden. Für Behandlungsform und -rahmen wird auch der übergeordnete Begriff Setting verwendet. Zunächst muss entschieden werden, ob die Behandlung stationär/tagesklinisch oder ambulant erfolgen soll: 4 Die stationäre oder tagesklinische Behandlung ist angezeigt bei schweren, chronischen oder komplexen Störungen. Sie bietet die Möglichkeit, verschiedene Behandlungsformen zu kombinieren, z. B. Einzel- und Gruppentherapie, psychodynamische, verhaltenstherapeutische oder familientherapeutische Verfahren. Auch ist die Behandlungsdosis, die Zahl der Therapieeinheiten pro Zeit höher als in der ambulanten Behandlung. Für eine tagesklinische Behandlung spricht die Möglichkeit der Erprobung, der Exposition im vertrauten Umfeld, in das der Patient ja täglich zurückkehrt. Einschränkend wirkt oft eine zu starke Erschöpfung, z. B. eines depressiven Patienten oder eine zu lange Anfahrtstrecke. Die stationäre oder teilstationäre Behandlung wird fortgesetzt, bis eine ambulante Behandlung möglich und aussichtsreich ist. Dies können mehrere Wochen oder gar Monate sein (Durchschnitt ca. 6–12 Wochen). 4 Eine Sonderrolle nimmt wegen oft chronischer Verläufe die psychosomatisch-psychotherapeutische stationäre Rehabilitation ein, die ähnlich gestaltet ist wie die stationäre Psychotherapie, aber meist kürzer dauert (im Mittel 3–4 Wochen) bei niedriger Therapiedichte (Dosis) und anderer sozialmedizinischer Zielsetzung, vor allem zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit. 4 Die ambulante Psychotherapie ist die weitaus häufigste Behandlungsform, meist wird sie als Einzeltherapie einmal wöchentlich über ca. 1 Jahr in 30–50 Sitzungen durchgeführt, seltener als Gruppentherapie (ca. 1 Jahr 30–50 Sitzungen). Bei schwereren Störungen sind auch Behandlungszeiten über mehrere Jahre möglich. Wie oben dargestellt, gibt es bei den derzeit von den Krankenkassen finanzierten psychoanalytisch-tiefenpsychologischen und verhaltenstherapeutischen Methoden große Überschneidungen.
I
52
Kapitel 2 · Psychotherapie
2.5.3
Anlaufstellen und Beratung
Oftmals wird es den Betroffenen oder selbst den behandelnden Hausärzten schwer fallen, eine Behandlungsentscheidung zu treffen. Dann ist fachkundiger Rat angezeigt. Solchen Rat kann jeder ärztliche oder psychologische Psychotherapeut geben. Anlaufstellen sind auch psychotherapeutische Ambulanzen an großen psychosomatischen oder psychiatrischen Universitätskliniken oder an psychologischen Universitätsinstituten. Diese Einrichtungen haben eine wesentliche Funktion bei der Differenzialdiagnose, Indikationsstellung und Weitervermittlung der Patienten. Mit gewissen Einschränkungen wird diese Funktion auch von kommunalen oder kirchlichen Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen wahrgenommen, die sich an allen größeren Orten finden. Über die zur ambulanten Versorgung zugelassenen Psychotherapeuten informieren die Krankenkassen und die Ärztekammern bzw. Psychotherapeutenkammern der Regierungsbezirke. Die Letztgenannten informieren auch über zugelassene Weiterbildungs- bzw. Ausbildungsstätten für ärztliche und psychologische Psychotherapeuten, die meist an Universitätskliniken oder in Universitätsinstituten angegliedert sind. Merke Eine einzelne Behandlungsmethode ist nicht in der Lage, der ganzen Wirklichkeit eines Patienten Rechnung zu tragen. Die Verankerung in einem Hauptverfahren (tiefenpsychologisch/psychodynamisch, verhaltenstherapeutisch, humanistisch und systemisch) und breite, übergreifende Kenntnisse und Erfahrungen in den anderen Verfahren wird empfohlen. Jenseits vom Schulenstreit sind die Leitfragen heutiger Psychotherapie: 4 Welche Patienten? 4 Mit welcher Zielsetzung? 4 Durch wen? 4 Wann? 4 In welchem Rahmen? 4 Auf welche Weise (Verfahren, Technik, Setting)? 4 Mit welchem Ergebnis? 4 In welcher Zeit? 6
53 2.6 · Evidence Based Medicine
2
Die große Mehrheit der Psychotherapeuten verbindet verschiedene Techniken und persönliche Präferenzen, angepasst an die Bedürfnisse des Patienten. Es ist eine Ablehnung zu starker Schulorientierung und eine pragmatische Antwort auf den jetzigen Stand der Forschung, die die Wirksamkeit der oben beschriebenen Verfahren belegt hat.
2.6
Evidence Based Medicine
Die Wirkungen von Psychotherapie über alle Erfolgskriterien und untersuchten Therapieformen hinweg erreichen mittlere bis hohe Effektstärken. Die Effektstärke für Psychotherapie ist damit gleich oder höher als die vieler medizinischer Behandlungsverfahren. Psychotherapie ist wirksamer als Placebo. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Therapiemethoden in Bezug auf ihre Wirksamkeit sind gering. Die erreichten Therapieerfolge sind auch noch ein bis drei Jahre nach Therapieende stabil. Je mehr Psychotherapie, desto größer die Wahrscheinlichkeit der Verbesserung. 50% der Patienten verbessern sich schon nach 10–20 Sitzungen, 75% nach 50 Sitzungen. ? Übungsfragen 2 Wie lautet die breiteste Definition von Psychotherapie? 3 Nennen Sie die vier Hauptverfahren der Psychotherapie, skizzieren Sie ihren Grundansatz. 3 Nennen Sie fünf allgemeine Wirkfaktoren der Psychotherapie. 1 Nennen Sie die zur Ausübung der Psychotherapie bei Erwachsenen berechtigten Berufsgruppen. 1 Welches sind die Anwendungsformen der Psychotherapie?
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Kapitel 2 · Psychotherapie
Literatur Bauer J (2005) Warum ich fühle, was Du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Hoffmann und Campe, Hamburg. Sehr gut verständliche Darstellung der Fähigkeit zu Empathie mit Hilfe neuer neurobiologischer Forschungsergebnisse. Grawe K (2004) Neuropsychotherapie. Hogrefe, Göttingen. Ausführliche Herleitung und Begründung der Wirksamkeit psychotherapeutischer Interventionen aus Konsistenztheorie und Neurobiologie. Kriz J (2001) Grundkonzepte der Psychotherapie. Beltz, Weinheim. Übergreifende Darstellung psychotherapeutischer Wirkungsweisen. Margraf J (2003/2005) Lehrbuch der Verhaltenstherapie, 2 Bde. Springer, Berlin Heidelberg New York. Umfassendes Standardwerk der kognitiven Verhaltenstherapie. Rudolf G (2004) Strukturbezogene Psychotherapie. Leitfaden zur psychodynamischen Therapie struktureller Störungen. Schattauer, Stuttgart. Modifikation der psychotherapeutischen Technik bei strukturell gestörten Patienten. Senf W, Broda M (2004) Praxis der Psychotherapie. Ein integratives Lehrbuch: Psychoanalyse, Verhaltenstherapie, Systemische Therapie. 3. überarb. Aufl. Thieme, Stuttgart. Entstehung und Behandlung psychischer Störungen aus Sicht der Psychoanalyse, der kognitiven Verhaltenstherapie und der systemischen Therapie. Thomä H, Kächele H (1996/1997) Lehrbuch der psychoanalytischen Therapie, 2 Bde. 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York. Band 1: Umfassende Darstellung der theoretischen Grundlagen der Psychoanalyse. Band 2: Darstellung der psychoanalytischen Behandlungstechnik anhand von Fallbeispielen. Wirsching M (1999) Psychotherapie-Grundlagen und Methoden. Beck, München. Kurzgefasstes, allgemein verständliches Taschenbuch. Wirsching M, Scheib P (2003) Paar- und Familientherapie. Springer, Berlin Heidelberg New York. Umfassendes Lehrbuch zu allen Aspekten der Paar- und Familientherapie. Wirsching M (2005) Paar- und Familientherapie. Grundlagen, Methoden und Ziele. Beck, München. Kurzgefasstes, allgemein verständliches Taschenbuch. Wöller W, Kruse J (2005) Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Basisbuch und Praxisleitfaden. 2.überarb. Aufl. Schattauer, Stuttgart. Sehr beliebtes, praxisnahes Lehrbuch zur tiefenpsychologischen/psychodynamischen Psychotherapie.
Quellenverzeichnis Strotzka, H (1972) Einführung in die Sozialpsychiatrie. Rowohlt, Reinbek
3 3
Gestaltung der Arzt-Patient-Beziehung
3.1
Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung
3.1.1
Paternalistisches Modell
3.1.2
Dienstleistungs- oder Konsumentenmodell
– 56
3.1.3
Partnerschaftliches Modell
3.2
Patientenorientierte Medizin
3.3
Person des Arztes
3.3.1
Burn-out-Syndrom
3.3.2
Was ist ein guter Arzt?
– 60 – 60 – 62
– 57
– 59
– 57
– 56
56
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Kapitel 3 · Gestaltung der Arzt-Patient-Beziehung
4 Drei Modelle der Arzt-Patient-Beziehung 4 Grundlagen einer patientenorientierten Medizin 4 Person des Arztes im diagnostischen und therapeutischen Prozess
> > Einleitung Eine vertrauensvolle, als hilfreich empfundene Beziehung zwischen Arzt und Patient ist die Grundlage jeder medizinischen Behandlung. Der Arzt kommt regelmäßig und oft als einziger mit Konflikten, Ängsten und Nöten in Kontakt, welche die Menschen aller Altersgruppen, Schichten und Nationalitäten als Folge oder Ursache körperlicher oder seelischer Leiden belasten. Die Qualität der Arzt-PatientBeziehung ist ein entscheidender Faktor für den Erfolg einer Behandlung. Sie wird im Wesentlichen bestimmt durch das Verständnis, das der Patient erfährt und das Vertrauen, das sich daraus wechselseitig entwickelt. Ärzte, die Einfühlungsvermögen mit sicherem Auftreten und verständlichen Informationen verbinden, haben bessere Therapieergebnisse im Vergleich zu eher unbeteiligt, unpersönlich, förmlich oder unklar auftretenden Medizinern.
3.1
Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung
3.1.1
Paternalistisches Modell
Das paternalistische Modell entspringt dem hippokratischen Denken. Demnach ist der Arzt Kraft seiner väterlichen Autorität in der Lage über den als unmündig erachteten Patienten hinweg zum Besten des Patienten zu entscheiden und zu handeln. Hier weiß der Arzt als medizinischer Experte, was für den Patienten richtig ist. Er missachtet die Autonomie des Patienten, aus der Überzeugung, dass dies zu dessen Wohle geschieht. Der Patient bleibt passiv. Die Arzt-Patient-Beziehung ist asymmetrisch. Der Arzt gerät in die Rolle des ›Halbgottes in Weiss‹. Der Patient wird auf seinen körperlichen Befund reduziert. Dieses Modell ist nicht mehr zeitgemäß. Der aufgeklärte und mündige Patient will keine Bevormundung. Eine Ausnahme bilden Behandlungssituatio-
57 3.1 · Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung
3
nen, in denen die Entscheidungsfähigkeit des Patienten so eingeschränkt ist, dass der Arzt in Wahrnehmung der mutmaßlichen Interessen des Patienten handeln muss (z. B. bei einem Notfall).
3.1.2
Dienstleistungs- oder Konsumentenmodell
Die ärztliche Versorgung ist eine Dienstleistung. Daraus wurde die Forderung abgeleitet, den Arzt als Dienstleister und den Patienten als Kunden zu sehen. Der Arzt ist in diesem Modell Experte, die Entscheidungskompetenz bleibt beim Patienten. Die Rolle des Arztes beschränkt sich darauf, dem Patienten die nötigen Informationen zu geben und die vom Patienten getroffenen Entscheidungen auszuführen. Da die Haftung für die Behandlung beim Arzt bleibt, sind die Regeln der ärztlichen Kunst einzuhalten. Nicht alles was der »Kunde Patient« begehrt, darf oder muss der Arzt ausführen. Das Problem dieses Modells ist, dass der Arzt den Patienten oft gegen seinen Willen mit unliebsamen, aber notwendigen Entscheidungen konfrontieren muss. Der enttäuschte, unzufriedene oder verärgerte Patient wendet sich womöglich an einen anderen Arzt, der ihm seine Wünsche erfüllt, auch wenn es dafür keine vernünftigen Gründe gibt. Viele Patienten wollen ihren Arzt nicht als technischen Experten sehen. Sie erwarten eine emotionale Anteilnahme.
3.1.3
Partnerschaftliches Modell
Das partnerschaftliche Modell geht von der kooperativen Leistung zweier gleichberechtigter Partner aus. Nur wenn beide zusammenarbeiten und sich ergänzen, kann die Behandlung zum Erfolg führen. Der Patient wird als mündiger Mensch respektiert, der seine Lebensentscheidung eigenverantwortlich trifft (Autonomieprinzip). Der Arzt ist der Experte. Seine Aufgabe ist, den Patienten so aufzuklären, dass dieser zur begründeten Entscheidung befähigt wird. Der Patient kann, darf und soll in diesem Modell eigene Fragen und Standpunkte in das Gespräch mit seinem Arzt einbringen. Beide bemühen sich gemeinsam die bestmögliche Lösung zu finden (shared decision making). Der Patient hat das Recht jede Behandlung abzulehnen, wenn er dies im vollen Bewusstsein der Konsequenzen tut. Der Arzt muss dies akzeptieren. In diesem Aushandlungsprozess sind Arzt und Patient gemeinsam für alle Entscheidun-
58
I
Kapitel 3 · Gestaltung der Arzt-Patient-Beziehung
gen verantwortlich. Dies gilt auch wenn einer oder beide sich etwas anderes vorgestellt oder für wünschenswert gehalten hätten. Der Fall Entscheidung über Zeitpunkt der Herzoperation Arzt: »Ich habe Ihnen die Ergebnisse des kardiologisch-kardiochirurgischen Kolloquiums mitgeteilt und würde nun gerne hören, welche Gedanken Sie sich zwischenzeitlich gemacht haben und ob Sie unseren Vorschlägen folgen wollen.« Patient: »Ich bin erst einmal geschockt, dass der Befund so lebensbedrohlich ist und dass ich mich sofort operieren lassen soll. Mir wäre es natürlich lieber gewesen, noch einige Monate Zeit zu haben, um bestimmte berufliche Verpflichtungen abzuschließen und außerdem ist noch ein Urlaub mit meiner Familie geplant.« Arzt: »Der Befund kommt jetzt sehr überraschend für Sie. Sie müssen sich mit der neuen Situation vertraut machen. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen noch einmal die Gründe für eine baldige Operation erklären.« Patient: »Ja, darum möchte ich Sie bitten. Ich bin im Moment noch zu überrascht, um mich zu entscheiden. Ich brauche noch Informationen.« Der Arzt erklärt ausführlich den Eingriff und dessen Risiken und Chancen. Er schließt mit den Worten: »Aus allen diesen Gründen ergibt sich die Notwendigkeit einer sofortigen Operation. Ich sehe aber auch, dass Sie zögern und noch mehr Zeit brauchen.« Patient: »Ja, ich merke, je mehr ich mich damit beschäftige, desto mehr Fragen habe ich. Auf jeden Fall möchte ich noch eine Nacht darüber schlafen und mit meiner Frau sprechen. Morgen würde ich gerne mit Ihnen über das weitere Vorgehen beraten.« Arzt: »Einverstanden. Zwar drängt die Zeit, aber ich finde es gut, dass Sie sich so mit der Entscheidung auseinander setzen. Ich denke, wir werden eine Lösung finden, die von uns Ärzten wie von Ihnen und Ihrer Familie getragen werden kann. Ich schlage Ihnen vor, dass an unserem nächsten Gespräch Ihre Frau teilnimmt.«
59 3.3 · Person des Arztes
3
Merke Die Arzt-Patient-Beziehung hat in den letzten Jahrzehnten im Zuge eines gesellschaftlichen Wandels eine Entwicklung von einer patriarchalischen zu einer partnerschaftlichen Form vollzogen. Patienten wollen umfassend über die Ursachen und die Behandlung ihrer Erkrankung informiert werden. Sie wollen aktiv am Entscheidungsprozess beteiligt werden.
3.2
Patientenorientierte Medizin
Je nachdem, ob es sich um eine Notfallsituation handelt, die rasches Eingreifen erfordert oder um eine chronische Erkrankung mit psychosozialen Belastungen, ob es sich um einen jungen, selbstverantwortlichen Patienten mit Hochschulstudium oder um einen 83-jährigen, zurückgezogenen und sprachlich unbeholfenen Patienten aus einem Schwarzwalddorf handelt, wird der Arzt sein Kommunikationsverhalten anpassen. Merke Kennzeichen einer patientenorientierten Medizin sind 4 Ein bio-psychosoziales Krankheits- und Gesundheitsverständnis. 4 Das subjektive Krankheitsverständnis des Patienten ernst nehmen. 4 Den Patienten als Experten für seine Krankheit einbeziehen und akzeptieren. 4 Gemeinsame Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen im partnerschaftlichen Modell. 4 Empathie, Echtheit und positive Wertschätzung als Grundhaltungen des Arztes dienen der optimalen Nutzung der therapeutischen Beziehung und der Verstärkung der Wirkungen des ärztlichen Handelns.
I
60
Kapitel 3 · Gestaltung der Arzt-Patient-Beziehung
3.3
Person des Arztes
Ob eine Arztkonsultation eine heilende oder schädigende Wirkung entfaltet, hängt auch mit den Stärken und Schwächen der Person des Arztes zusammen. Die Einstimmung des Arztes auf den Patienten nannte Michael Balint, ein ungarischer Psychoanalytiker, der später in England Hausärzte in psychosomatischer Medizin ausbildete, »Tuning-in«. Wenn der Arzt entdeckt, dass er seinen Patienten zuhören kann und auch das Unausgesprochene erfasst, wird er beginnen, sich selbst in derselben Weise zuzuhören und sich als diagnostisches Instrument zu begreifen. Eine solche Einstellungsänderung braucht Zeit. Sie setzt beim Arzt die Bereitschaft voraus, sich vom Patienten berühren und anregen zu lassen. Im Verlaufe dieses Prozesses sind Phasen von Unsicherheit und Gefühle von Unzulänglichkeit oder Versagen fast unvermeidlich. Balint nannte dies: »Den Mut zur eigenen Dummheit«. Die Grenzen der Einstellungsänderungen liegen in der individuellen Lebensgeschichte und der aktuellen körperlichen und seelischen Verfassung des Arztes. Die Wahrnehmung der Grenzen der Empathie ist wichtig. Dies schützt den Arzt vor Überforderung. Mit besserer Wahrnehmung seiner Grenzen lernt er die notwendige professionelle Distanz zu schaffen. Ohne eine solche Distanz ist eine angemessene emotionale Teilnahme am Erleben des Patienten nicht möglich.
3.3.1
Burn-out-Syndrom
Eine große Belastungsquelle sind für jeden Arzt schwierige Arzt-Patient-Beziehungen. In einer Befragung geben 61% der Ärzte Belastungen durch Patientenschicksale an, 83% fühlen sich durch die Erwartungshaltung der Patienten belastet und 36% haben Schwierigkeiten mit Situationen, in denen Arzt und Patient verschiedene Vorstellungen über den Krankheitsprozess und die Behandlungsmöglichkeiten haben (Gebuhr, 2002). Weitere wichtige Belastungen sind die knappe Zeit, die Hierarchie im Krankenhaus und der geringe Handlungsspielraum. Die genannten Bereiche sind durch kommunikative Fähigkeiten beeinflussbar. Ärzte mit ungenügender kommunikativer Kompetenz haben häufiger Burn-out-Symptome.
61 3.3 · Person des Arztes
3
Merke Das Burn-out-Syndrom hat folgende drei Hauptsymptome: 1. Emotionale Erschöpfung. 2. Negative oder zynische Einstellung gegenüber Vorgesetzten, Kollegen und Patienten. 3. Eine negative Einschätzung des Sinnes und der Qualität der eigenen Arbeit.
Das Burn-out-Syndrom kommt nicht plötzlich. Die Entwicklung durchläuft mehrere Phasen (. Tabelle 3.1). Die einzelnen Reaktionen sind variabel, können ganz ausbleiben, später auftreten oder auch rückläufig sein. Folgende Angebote können helfen, ein Burn-out-Syndrom zu verhindern und die Freude am ärztlichen Beruf zurück zu gewinnen: Im Studium: 4 Studentische Anamnesegruppe 4 Balintgruppe für Studenten
. Tabelle 3.1. Charakteristische Reaktionen im Verlauf von Burn-out-Prozessen (modifiziert nach Fengler, 2001)
Reaktionen im Verlauf Freundlichkeit, Idealismus Überforderung Abnehmende Freundlichkeit mit reaktiven Schuldgefühlen Verstärkte Kompensation durch vermehrtes Engagement Erfolglosigkeit Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit (»Ein Fass ohne Boden«), Erschöpfung Abneigung/Wut gegen Patienten Selbstbeschuldigungen, Zynismus Fehlzeiten, Unfälle, Dienst nach Vorschrift Wechselnde Partnerbindungen Alkohol- und Medikamentenmissbrauch Psychosomatische Reaktionen (z. B. Kopfschmerzen, Gastritis, Hochdruck, Immunschwäche mit rezidivierenden grippalen Infekten) Scheidung Plötzliche Kündigung Sozialer Abstieg Selbstmord
62
I
Kapitel 3 · Gestaltung der Arzt-Patient-Beziehung
Als Arzt: 4 Mentorenprogramme 4 Supervision durch psychotherapeutische Moderatoren 4 Balintgruppe 4 Erlernen von Methoden der Entspannung und der Körperwahrnehmung. 4 Stressmanagement. 4 Selbsterfahrung zu Beruf und Partnerschaft, Persönlichkeitsentwicklung, konstruktivem Umgang mit Aggression im ärztlichen Alltag, Umgang mit depressiven Krisen und Suizidalität.
3.3.2
Was ist ein guter Arzt?
Ein guter Arzt 4 berücksichtigt neben den somatischen Befunden auch die Lebens- und Krankheitsgeschichte, 4 weiß um die Bedeutung der Arzt-Patient-Beziehung und verfügt über die Fähigkeit zur konstruktiven Lösung schwieriger Arzt-Patient-Interaktionen, 4 verfügt über eine hohe kommunikative Kompetenz, 4 ist sich seiner emotionalen Reaktionen auf belastende Erfahrungen in der Konfrontation mit lebensbedrohlichen Krankheiten, mit Sterben und Tod bewusst und kann diese verarbeiten, 4 kann soziale Konflikte in Behandlungsteams wahrnehmen, analysieren und konstruktiv lösen, 4 ist sich der Grenzen seiner Fähigkeiten und Unvermeidbarkeit von Fehlern bewusst. Er kann Fehler eingestehen und Patienten, Angehörige und Kollegen um Verzeihung bitten, 4 nimmt seine eigenen Belastungsgrenzen wahr und sorgt rechtzeitig für körperlichen und seelischen Ausgleich. Die Kunst, ein guter Arzt zu werden und zu bleiben ist lehr- und lernbar. Jeder Student, der sich dieses Ziel setzt, wird seinen eigenen Weg finden und sich seiner eigenen Möglichkeiten und Grenzen bewusst werden. Jeder gute Arzt ist in seiner Art einmalig.
63 Literatur
? Übungsfragen: 2 Nennen Sie drei Modelle der Gestaltung einer Arzt-Patient-Beziehung. 3 Was sind die Kennzeichen einer patientorientierten Medizin? 2 Beschreiben Sie die Symptome des Burn-out-Syndroms.
Literatur Dörner, K (2003) Der gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung. Schattauer, Stuttgart. Anspruchsvolle Darstellung einer ärztlichen Haltung auf philosophischer Grundlage. Troschke, JV (2004) Die Kunst, ein guter Arzt zu werden. Huber, Bern. Anregungen zum Nachund Weiterdenken. Umfassende Darstellung der Fertigkeiten, Kenntnisse und Haltungen für die Ausübung des Arztberufes.
Quellenverzeichnis . Tabelle 3.1 Fengler, J (2001) Helfen macht müde: Zur Analyse und Bewältigung von Burnout und beruflicher Deformation. Pfeiffer, München Gebuhr, K (2002) Die vertragsärztliche Gegenwart im Lichte des Burn-out-Syndroms. Die wirtschaftliche Entwicklung und die ärztliche Selbstverwaltung in der vertragsärztlichen Meinung. Brendan-Schmittmann-Stiftung des NAV-Virchow-Bundes, Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschland, Berlin
3
4 4
Ärztliche Gesprächsführung
4.1
Arzt- und patientenzentrierte Gesprächsführung – 66
4.1.1 4.1.2
Bio-psychosoziales Modell Auftragsklärung – 70
4.2
Aktives Zuhören
4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6 4.2.7
Ausreden lassen, dem Patienten Raum geben – 72 Offene Fragen – 72 Pausen machen – 73 Ermutigung zur Weiterrede – 74 Paraphrasieren – 74 Zusammenfassen der Inhalte – 76 Spiegeln von Emotionen – 76
4.3
Gespräche strukturieren
4.4
Vier Ebenen einer Nachricht
4.5
Anamnese
4.5.1 4.5.2
4.5.5 4.5.6 4.5.7
Begrüßung – 85 Patientenzentrierte Phase der Befunderhebung – 85 Psychosoziale Anamnese – 87 Arztzentrierte Phase der Befunderhebung – 87 Körperliche Untersuchung – 88 Behandlungsplanung – 88 Abschluss – 89
4.6
Mitteilen der Befunde
4.7
Evidence Based Medicine
4.5.3 4.5.4
– 67
– 71
– 77 – 79
– 82
– 89 – 90
66
I
Kapitel 4 · Ärztliche Gesprächsführung
4 Arzt- und patientenzentrierte Gesprächsführung 4 Vier Ebenen einer Nachricht 4 Anamnesegespräch
> > Einleitung Die wichtigste diagnostische und therapeutische Handlung des Arztes ist das ärztliche Gespräch. Der Arzt führt in seinem Berufsleben bis zu 200 000 Gespräche mit Patienten und Angehörigen. In den meisten Fachgebieten entfallen ein Drittel bis zur Hälfte der Arbeitszeit eines Arztes auf Gespräche. Durch das Anamnesegespräch können 70% aller Diagnosen gestellt werden. Die Kooperation des Patienten und damit der Erfolg oder Misserfolg einer ärztlichen Behandlung hängen von der Qualität der Arzt-Patienten-Kommunikation ab.
4.1
Arzt- und patientenzentrierte Gesprächsführung
Im Mittelpunkt des ärztlichen Gesprächs steht immer der Patient. Warum also zwischen patientenzentrierter und arztzentrierter Gesprächsführung unterscheiden? Das zentrale Unterscheidungsmerkmal ist, wer die Inhalte vorgibt. In einer patientenzentrierten Gesprächsphase entscheidet der Patient welche Symptome er mitteilt oder welche Belastungen er anspricht. In einer arztzentrierten Gesprächsphase legt der Arzt die Inhalte fest, er fragt gezielt nach bestimmten Beschwerden oder gibt dem Patienten Informationen. Mit einem ausschließlich arztzentrierten Gespräch wird der Patient übergangen, ein ausschließlich patientenzentriertes Gespräch würde oft den Zeitrahmen sprengen und diagnoseoder therapierelevante Informationen auslassen (7 Tabelle 4.1). Es gehört in die Verantwortung des Arztes den Gesprächprozess zu steuern, ob also arzt- oder patientenzentriert vorgegangen wird. Natürlich haben dabei die Anliegen des Patienten und die Möglichkeiten des Arztes (z. B. Zeit!) entscheidende Bedeutung. Nur wenn beides ins Gleichgewicht gebracht wird, kann ein angemessenes und wirksames Gespräch entstehen.
67 4.1 · Arzt- und patientenzentrierte Gesprächsführung
4
. Tabelle 4.1. Techniken der arzt- und patientenzentrierten Gesprächsführung
Patientenzentriert Gesprächsführung übergeben
Arztzentriert Gesprächsführung übernehmen
4 Ausreden lassen
4 Zeitrahmen benennen
4 Offene Fragen stellen
4 Eigene Themen einbringen
4 Warten, Pausen
4 Übergänge in der Gesprächsführung ankündigen
4 Verbale und nonverbale Ermutigung zur Weiterrede
4 Unterbrechen
4 Paraphrasieren: Aufgreifen der Worte des Patienten
4 Geschlossene Fragen
4 Zusammenfassen in eigenen Worten
4 Vereinbarungen treffen
4 Spiegeln von Emotionen
4 Gesprächsende ankündigen
4.1.1
Bio-psychosoziales Modell
Gesprächsteilnehmer reden am meisten über das, was ihnen im Gespräch wichtig ist. So lautet die von Grice (1979) formulierte »Relevanzmaxime«. Diese kann nur eingehalten werden, wenn die relevanten Inhalte klar definiert und akzeptiert sind. Möchte z. B. der Patient über Persönliches reden und kann der Arzt aufgrund von Zeitdruck darauf nicht eingehen, kommt es zu Dissonanzen und Missverständnissen. Das bio-psychosoziale Modell (7 Kap. 1.1.1) hat vier Dimensionen, die unterschiedliche Bedeutung erlangen können: 4 das Somatische 4 das Intrapsychische 4 das Interpersonelle 4 das Soziokulturelle Die Aufgabe des Arztes ist es, den Gesamtüberblick zu behalten. Wichtig ist die bewusste Perspektivenwahl, und die schließt das Bewusstsein der Möglichkeiten, aber auch der Grenzen des gewählten Gesprächsfokus ein.
68
I
Kapitel 4 · Ärztliche Gesprächsführung
Somatische Dimension Im Zentrum des ärztlichen Handelns steht die somatische Dimension. Informationen zu körperlichen Beschwerden, zur Vorgeschichte und die körperliche Untersuchung zählen hierzu. Es kann sich um eine akute Verletzung handeln, z. B. um einen Armbruch, um eine chronische Erkrankung, z. B. Diabetes mellitus mit Niereninsuffizienz, um funktionelle körperliche Beschwerden ohne Organbefund oder um psychosoziale Fragen z. B. Krankschreibung, ärztliches Attest oder Sorgen um die lebensbedrohliche Erkrankung des Partners.
Intrapsychische Dimension Die intrapsychische Dimension umfasst Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen. Dies schließt die Werte, Motive, Konflikte, Erinnerungen und Wünsche des Patienten ein. Jede Erkrankung hat intrapsychische Anteile. Auf ein Untersuchungsergebnis warten zu müssen, das Aufschluss über eine schwere Krankheit gibt, stellt eine starke Belastung dar. Andererseits empfinden depressive Patienten Schmerzen stärker als Gesunde und Stress verschlechtert langfristig die Immunabwehr. Schließlich können Werthaltungen und Überzeugungen des Patienten die Compliance stark beeinflussen, etwa wenn sie aus Überzeugung keine Medikamente einnehmen. Diesen Problemen und Aufgaben kann der Arzt nur begegnen, wenn er bereit ist, den Fokus auch auf intrapsychische Entwicklungen zu richten.
Interpersonelle Dimension Die interpersonelle Dimension rückt vor allem dann in den Blick, wenn es um die Familie geht. Angehörige können im Gespräch anwesend sein oder sie wenden sich (vielleicht sogar ohne Wissen des Patienten) an den Arzt. Kein Patient ist ganz alleine und die Beziehungen zu den Menschen der Umgebung sind immer wichtig. Dies gilt ganz besonders für die vielen in Isolation, Entfremdung oder Fehde lebenden Menschen. Partner und Freunde können die Compliance sichern oder gefährden. So kann der Ehepartner z. B. an die regelmäßige Einnahme der Medikamente erinnern. Die Familie ist auch in unserer Kultur eine Quelle großartiger Unterstützung und grausamster Konflikte.
Soziokultureller Hintergrund Hier geht es um Werte, Krankheitsvorstellungen und Behandlungserwartungen. Schamgefühle, Schuldgefühle, ethische Konflikte sind an der Tagesordnung.
69 4.1 · Arzt- und patientenzentrierte Gesprächsführung
4
Mit wachsender Migration kommen Ärzte auch mit fremden Kulturen in Kontakt, deren Hauptunterschiede sie kennen sollten, um ihren Patienten gerecht zu werden.
Passung Es ist die Entscheidung eines jeden Arztes, welche der genannten Dimensionen er in sein professionelles Selbstverständnis aufnimmt. Eine gelungene Gesprächsführung bedeutet eine gute Passung zwischen den Erwartungen des Patienten und des Arztes herzustellen. Dies erfordert vom Arzt eine hohe Flexibilität und die Fähigkeit zuzuhören, da psychische oder soziale Probleme oft nur zögerlich und in verdeckter Form angesprochen werden, insbesondere wenn der Arzt noch wenig mit seinem Patienten vertraut ist. Viele Patienten deuten ihre Sorgen im ersten Kontakt nur an. Sie prüfen, worüber sie mit ihrem Arzt wirklich sprechen können und versuchen herauszufinden, worauf er selbst Wert legt. Lässt der Arzt die Andeutungen des Patienten unbeachtet, bleiben psychosoziale Themen meist ausgeklammert. Dies führt dazu, dass der Arzt und der Patient gleichermaßen unzufrieden mit dem Gesprächsverlauf sind: »Irgendetwas hat nicht gepasst.« Darunter kann das Vertrauen leiden und die Compliance wird schlechter (. Abb. 4.1).
. Abb. 4.1. Psychosomatische Kompetenz in der Gesprächsführung
70
I
Kapitel 4 · Ärztliche Gesprächsführung
Merke Patientenzentrierte Gesprächsführung bedeutet dem Patienten genügend Raum für die Darstellung seiner Anliegen zu geben. Arztzentrierte Gesprächsführung bedeutet das Erfragen von Details der Symptomatik, über Vorbehandlungen und Vorerkrankungen, aber auch das Eingehen auf die Biografie des Patienten und seiner Lebensumstände. Das Hauptziel ist eine flexible Gesprächsführung, die zwischen arztzentrierten und patientenzentrierten Phasen wechselt.
4.1.2
Auftragsklärung
Etwa 30% der Patienten einer Allgemeinarztpraxis wünschen eine rein somatische, an der Erkrankung orientierte Behandlung und möchten nicht über psychosoziale Belastungen sprechen. Dies sind vor allem Patienten mit akuten Beschwerden und relativ geringen Einschränkungen. 70% signalisieren dem Arzt jedoch mehr oder weniger deutlich, dass sie neben den körperlichen Beschwerden auch über psychosoziale Probleme sprechen möchten. Um zu klären, worüber der Patient sprechen möchte und ob dies im Rahmen der ärztlichen Konsultation zu leisten ist, sollte der Arzt sich über seinen Auftrag klar werden (7 Abb. 4.1). Der Fall Auftragsklärung Herr K. leidet seit langem unter Spannungskopfschmerzen. In letzter Zeit haben die Schmerzattacken zugenommen. Wenn die Schmerzen besonders stark sind, verschreibt ihm sein Hausarzt ein Schmerzmedikament. Da sich die Konsultationen in letzter Zeit gehäuft haben, vermutet der Arzt eine psychosomatische Beteiligung. Er möchte klären, ob der Patient einen erweiterten Behandlungsauftrag erteilt. Arzt: »Sie waren in letzter Zeit ja sehr oft bei mir wegen der Kopfschmerzen. Haben Sie sich mal Gedanken gemacht, wie das kommt?« Herr K.: »Ich weiß es nicht, aber Sie sagen ja es sind Muskelverspannungen. Vielleicht sitze ich zu viel am Bildschirm.« 6
71 4.2 · Aktives Zuhören
4
Arzt: »Mhm, Sie sitzen viel am Bildschirm?« Herr K.: »Ja, seit drei Monaten habe ich ja meinen neuen Arbeitsplatz im Innendienst. Seither muss ich oft bis spät abends arbeiten und die meiste Zeit vorm Computer.« Arzt: »Das heißt, die Bedingungen bei der Arbeit könnten die Kopfschmerzen verschlimmern?« Herr K.: Ja, es ist schon viel Stress bei der Arbeit, wobei ich auch sehr froh bin, nicht mehr im Außendienst zu sein. Also das Schlimmste ist schon das Sitzen am Computer.« Arzt: »Es kann ja auch sein, dass man sich wegen zu viel Stress, Sorgen oder Belastungen verspannt und dann Kopfschmerzen bekommt. Können Sie sich vorstellen, dass das bei Ihnen auch einen Einfluss hat?« Herr K.: »Na ja, es gibt diesen Stress bei der Arbeit, aber den hatte ich immer schon. Aber was jetzt neu hinzugekommen ist, sind die geplanten Rationalisierungen, denen 300 Arbeitsplätze zum Opfer fallen sollen. Da sitzt mir die Angst schon im Nacken.« Arzt: »Möchten Sie mir mehr darüber erzählen?« Herr K.: »Es fällt mir schwer darüber zu sprechen. Ich merke gleich, wie ich bei dem Thema anfange zu schwitzen und sich alles bei mir verkrampft. Also, ich bin als Gewerkschaftsvertreter im Betriebsrat …« Der Arzt vermutet einen psychosomatischen Zusammenhang, den der Patient zunächst nicht aufgreift, sondern die Beschwerden mit dem Sitzen am Computer erklärt. Nach einem weiteren vorsichtigen Angebot des Arztes beginnt der Patient dann über seine beruflichen Belastungen zu sprechen. Jetzt erst können sich beide über einen psychosozialen Behandlungsauftrag verständigen.
4.2
Aktives Zuhören
Aktives Zuhören ist die wichtigste Methode der patientenzentrierten Gesprächsführung. Der Arzt befindet sich in der Rolle des Zuhörers, ist aber keinesfalls passiv. Er konzentriert sich auf die Frage, welche Inhalte für den Patienten relevant sind. Aktiv ist der Arzt auch, da er dem Patienten durch Hörersignale (›mhm‹, ›ja‹) und Körperhaltung verdeutlicht, dass er ihm bei seinen Ausführun-
72
I
Kapitel 4 · Ärztliche Gesprächsführung
gen folgt. Besonders in emotionalen Situationen oder wenn der Patient von sich aus psychosoziale Belastungen anspricht, ist diese Haltung empfehlenswert. Zu den Techniken des aktiven Zuhörens gehören: 4 Ausreden lassen 4 Offene Fragen stellen 4 Pausen machen 4 Ermutigung zur Weiterrede 4 Paraphrasieren (Wiederholen) und Zusammenfassen des Gesagten 4 Spiegeln von Emotionen Häufig bekommt der Arzt in der freien Erzählung des Patienten Informationen, die er mit gezielten Fragen kaum erhalten hätte. Zudem ist diese Form der Gesprächsführung förderlich für die Entwicklung einer vertrauensvollen ArztPatient-Beziehung. Der Mehraufwand ist also gut investiert.
4.2.1
Ausreden lassen, dem Patienten Raum geben
Den Gesprächspartner ausreden zu lassen erscheint als eine Selbstverständlichkeit. Die Realität ist anders. Studien zeigen: Bereits nach 15–20 Sekunden unterbricht der Arzt den Patienten zum ersten Mal. Dabei wird dem Patienten meist mit einer offenen Einstiegsfrage (z. B. »Was führt Sie zu mir?«) signalisiert, dass er Raum zum Erzählen hat. Lässt der Arzt den Patienten ausreden, so zeigt sich, dass die Patienten das Kooperationsprinzip einhalten, sich also kurz fassen und nur relevante Dinge erzählen. Die durchschnittliche Redezeit beträgt 92 s und 78% der Patienten schließen innerhalb von 2 min ab (Langewitz, 2002). Die Ärzte wurden aufgefordert, ihre Patienten nicht zu unterbrechen. Lediglich 7 von 335 Patienten sprachen länger als 5 min. Die gegebene Information war nach Einschätzung des behandelnden Arztes jedoch so relevant, dass es sich gelohnt hatte nicht zu unterbrechen.
4.2.2
Offene Fragen
Als offene Fragen werden solche Fragen bezeichnet, die nicht nur mit Ja oder Nein beantwortet werden können.
73 4.2 · Aktives Zuhören
4
»Wie würden Sie den Schmerz beschreiben?« statt »Ist es ein stechender Schmerz?« Mit Hilfe von offenen Fragen gibt der Arzt dem Patienten Raum und signalisiert damit an seiner Sicht interessiert zu sein. Je reflektierter und verbalisierungsfähiger ein Patient ist, desto mehr kann offen gefragt werden. Fehlen dem Patienten hingegen die Worte kann es durchaus sinnvoll sein, dem Patienten über geschlossene Fragen zu helfen (Beispiel: Adjektivlisten zur Erhebung der Schmerzqualität). Nach der offenen Frage sollten keine weiteren Fragen angefügt oder Erklärungen gegeben werden, sonst verliert die Frage ihren auffordernden Charakter.
4.2.3
Pausen machen
Bei Gesprächspausen entsteht oft Verlegenheit, als wisse der Arzt nicht weiter. Dies und der häufig hohe Zeitdruck erschweren den Einsatz dieser Technik. Eine kurze Pause von etwa 3 s hat sich als ein wirksames Mittel erwiesen. In kurzen Phasen des Schweigens fallen dem Patienten Dinge ein, die er vergessen hat. Die Pause erlaubt dem Patient weiter zu sprechen, wenn es etwas zu ergänzen gibt. Es kommen dann diejenigen Inhalte zur Sprache, bei denen der Patient bislang gezögert hat. Die Pause verringert die Hemmschwelle über psychosoziale Inhalte zu reden. Während der Pause unterstreicht der Arzt durch Hörersignale (›hmm‹, ›ja‹) und durch seine Körperhaltung, dass er dem Patienten zuhört und ihm die Gelegenheit geben möchte weiter zu reden. Entgegen der Befürchtung, Pausen könnten als Inkompetenz ausgelegt werden, wirken Pausen eher entlastend. Es ist angenehm kurz nachdenken zu können. Der Arzt wirkt zugewandt, ruhig und sicher.
74
I
Kapitel 4 · Ärztliche Gesprächsführung
Der Fall Arzt: »Sie hatten vorhin kurz Belastungen bei der Arbeit angedeutet, können sie dazu noch mehr erzählen?« Patient: »Hm, ja. Es ist halt so, dass die Firma wirtschaftlich nicht so gut dasteht. Und jetzt kam noch eine große Rückrufaktion hinzu, die schnell abgewickelt werden muss um weiteren Schaden zu vermeiden. Das heißt für alle Überstunden machen, das geht schon ganz schön an die Kräfte.« Arzt: »Hmm …« (3 s Pause) Patient: »… um ehrlich zu sein, eigentlich kann ich nicht mehr. Ich komme morgens kaum noch aus dem Bett und abends kann ich nicht einschlafen. Und mit meiner Frau gibt’s auch immer öfter Streit. Dabei kann ich ihr noch nicht mal einen Vorwurf machen. Wenn ich abends nach Hause komme, bin ich oft sehr gereizt und auch sonst ist nicht viel mit mir anzufangen. Eigentlich bräuchte ich mal ´ne Woche Urlaub, aber das ist zurzeit unmöglich.«
4.2.4
Ermutigung zur Weiterrede
Nonverbale Zeichen wie leichtes Kopfnicken bei zögerlichem Sprechen ermutigen den Patienten indirekt weiter zu reden. Der Blickkontakt signalisiert Aufmerksamkeit und Interesse und ermuntert den Patienten ebenfalls sich weiter mitzuteilen. Eine zugewandte Körperhaltung unterstreicht die Präsenz des Arztes. Verbale Möglichkeiten, den Gesprächsfluss des Patienten zu fördern, sind kurze Äußerungen wie »mhm« oder »ah ja«. Der Fall Patient: »Ich musste auf die Toilette und hatte Blut im Stuhlgang.« Arzt: »Ah ja.« Patient spricht weiter: »Und da fällt mir noch ein....«
4.2.5
Paraphrasieren
Paraphrasieren bedeutet den Inhalt des Gesagten in eigenen Worten wieder zu geben. Der Arzt übernimmt die Sicht des Patienten und fokussiert mit der
75 4.2 · Aktives Zuhören
4
Paraphrase auf den Teil der Patientenaussage mit dem größten Bedeutungsgehalt. Mit Hilfe der Paraphrase lassen sich Patienten bei emotionalen oder persönlichen Themen gut begleiten. Fragen wirken hier eher störend. Ungewohnt für Ärzte ist, dass das Gespräch zunächst nicht lösungsorientiert zu sein scheint. Allerdings ergeben sich so oft neue Blickwinkel für den Patienten, die zu Lösungen führen, die ganz verblüffend sein können. Der Fall Patientin: »Könnten wir den nächsten Zyklus der Chemotherapie nicht verschieben?« Arzt: »Sie möchten gern eine längere Pause haben?« Patientin: »Ja. Wissen Sie, die Sache ist die, meine Schwester wohnt in den USA und kommt in zwei Wochen zu Besuch. Ich kann sie ja zurzeit nicht besuchen und die Medikamente machen mich so müde. Na ja, das wäre schön doof, wenn sie da ist.« Arzt: »Ah ja, Sie möchten nicht eingeschränkt sein, wenn ihre Schwester da ist?« Patientin: »Ja genau. Eigentlich möchte ich gar nicht, dass sie so sehr mitbekommt, dass ich krank bin. Ich meine, sie weiß es natürlich, aber sie soll es halt nicht so mitbekommen.« Arzt: »Mhm, Sie wollen nicht, dass ihre Schwester Sie krank erlebt.« Patientin: »Ja, ich will kein Mitleid oder sonst was von ihr. Wissen Sie, ich bin die Ältere und ich war immer eher für sie da.« Arzt: »O.K., ich verstehe, Mitleid und Hilfe wollen Sie von ihrer kleinen Schwester nicht.« Patientin: »Na ja, wenn sie ein wenig hilft ist es in Ordnung, aber kein Mitleid.« Während die erste Paraphrase noch auf die Behandlung fokussiert, geht der Arzt in den folgenden auf die Belastungen und persönlichen Hintergründe der Patientin ein. Dadurch reflektiert die Patientin die Hintergründe ihrer Ablehnung. Oft kommen die Patienten nun selbst auf neue Lösungen. Ist das nicht der Fall, so kann der Arzt helfen. Arzt: »Könnten Sie sich vorstellen ihr zu sagen, dass Sie kein Mitleid wollen?« Patientin: »Eigentlich ist es lächerlich, so stark bin ich ja wohl noch, dass ich mit dem Mitleid meiner Schwester umgehen kann, und ihr sagen kann, dass ich das nicht will.«
I
76
Kapitel 4 · Ärztliche Gesprächsführung
4.2.6
Zusammenfassen der Inhalte
Während der Arzt bei der Paraphrase nur die wichtigsten Teile der Botschaft aufgreift, bezieht sich das Zusammenfassen auf einen längeren Gesprächsabschnitt. Der Arzt gibt mit eigenen Worten wieder, was er verstanden hat. Dies führt zu einer Abstimmung (Passung) zwischen Arzt und Patient. Der Patient kann Informationen ergänzen, die er vergessen hat. Der Arzt überprüft, ob er die Angaben des Patienten verstanden hat. Der Fall Arzt: »Ich möchte noch einmal zusammenfassen, was Sie gesagt haben: Herzklopfen, Atemnot, Engegefühl in der Brust und Schwindel traten auf, nachdem Ihre Prüfung vorbei war.« Patient: »Dabei fällt mir ein, dass das Herzklopfen und der Schwindel nach dem Kaffeetrinken anfingen, als ich wieder allein war.«
Der Arzt kann die Zusammenfassung durch folgende Frage unterstreichen: »Habe ich das richtig verstanden?« Zusammenfassungen sind zudem geeignete Mittel, um auf eine neue Gesprächsphase überzuleiten oder das Ende anzukündigen, indem die wichtigsten Inhalte zusammengefasst werden.
4.2.7
Spiegeln von Emotionen
Das Spiegeln von Emotionen ist der Paraphrase sehr ähnlich. Manchmal werden Emotionen ausgesprochen, oft Körperreaktionen, z. B. Ballen der Fäuste, Abwenden des Blickes. Der Fall Patient: »Ich habe Angst, es könnte sich um einen bösartigen Tumor handeln.« Arzt: »Sie sind ängstlich und machen sich Sorgen, was bei der Untersuchung herauskommt«. Patient: »Meine Mutter ist vor drei Wochen tödlich verunglückt.« (weint) Arzt: »Sie werden sehr traurig, wenn Sie an dieses Ereignis denken.«
77 4.3 · Gespräche strukturieren
4
Der Arzt wartet zunächst, ob der Patient dem Aufgreifen seiner Emotionen zustimmt. In der Pause kann er seinen eigenen Gefühlen nachgehen. Nachdem der Arzt die Gefühle aufgegriffen hat, hat der Patient die Möglichkeit sich zu entscheiden, ob er darauf eingeht oder ob er das Thema wechselt. Nach einer intensiven emotionalen Äußerung ist es besonders wichtig, dass der Arzt nicht sofort beschwichtigt oder das Thema wechselt, sondern innehält. Dies ist eine Belastungsprobe. Für den Patienten ist es entscheidend, das Interesse und die Anteilnahme des Arztes zu spüren. Er erfährt, dass Emotionen ausgehalten werden können. Die Anteilnahme kann durch kleine Gesten, wie das Reichen eines Taschentuches unterstützt werden. Am Bett eines Schwerkranken kann der Arzt die Hand halten.
4.3
Gespräche strukturieren
Das grundlegende Instrument zur Wahrung des zeitlichen Rahmens ist die Transparenz der Gesprächsinhalte, des zeitlichen Rahmens und der Übergänge zwischen verschiedenen Gesprächsphasen. Merke 4 Informieren Sie über den Zeitrahmen des Gesprächs. 4 Informieren Sie über Ihr Anliegen. 4 Machen Sie deutlich, ob Sie ein patientenzentriertes oder arztzentriertes
Gespräch führen. 4 Zeigen Sie Übergänge zwischen patientenzentriertem und arztzentrier-
tem Gespräch an. 4 Kündigen Sie das Gesprächsende an.
Der Übergang in eine neue Gesprächsphase sollte klar hervorgehoben werden. Der Fall Die Patientin hat in der patientenzentrierten Phase der Anamnese über eine starke Belastung durch Beruf und Kinder gesprochen, vom Ehe6
78
I
Kapitel 4 · Ärztliche Gesprächsführung
mann bekommt sie wenig Unterstützung. Die Unterbauchbeschwerden stellen vor diesem Hintergrund eine sehr starke Belastung dar. Arzt: »O.K., ich verstehe, Sie sind mit ihren Kindern und ihrer Arbeit schon genug ausgelastet. Sie sind auch etwas frustriert, dass von ihrem Mann kaum Unterstützung kommt. Und nun kommen auch noch die Schmerzen dazu.« Patientin: »Ja, genau.« Arzt: »Ich möchte Ihnen nun, um Ihre Schmerzen besser einordnen zu können, einige Fragen zu ihren Beschwerden stellen. Ich gehe anhand dieses Anamnesebogens vor. Wenn Ihnen noch etwas Wichtiges einfällt, was darüber hinaus geht, haben wir anschließend Zeit, das zu klären. Sind Sie einverstanden, wenn wir die anderen Themen erstmal abschließen?« Patientin: »Ja sicher, ich möchte ja wissen, was ich habe.«
Manchmal wird der Arzt den Patienten unterbrechen müssen. Das Unterbrechen hat vier Elemente: 1. Direktes Unterbrechen: Der Arzt spricht den Patienten mit Namen an, schaut ihm in die Augen, evtl. berührt er ihn am Arm. 2. Zusammenfassung: Der Arzt signalisiert, dass er verstanden hat, dass es dem Patienten um ein anderes Thema geht, auch wenn dieses jetzt nicht weiter fortgesetzt werden kann. 3. Gesprächsziel: Der Arzt wiederholt, welches Ziel das Gespräch hat, evtl. auch die Konsequenz, wenn die Struktur nicht eingehalten wird. 4. Einverständnis holen: Zum Schluss erfragt der Arzt, ob der Patient mit diesem Vorgehen einverstanden ist. Das ermöglicht ihm, bei weiteren Unterbrechungen auf die Vereinbarung zu verweisen. Der Fall Arzt: »Frau Maier, ich höre, es ist Ihnen sehr wichtig, sehr detailliert über alle Ihre Beschwerden zu berichten. Mir wäre es aber wichtig, dass Sie mir auf meine Fragen möglichst kurz antworten, da die Zeit sonst nicht reicht, alle notwendigen Fragen zu stellen. Sind Sie damit einverstanden, dass wir so weiter machen?«
79 4.4 · Vier Ebenen einer Nachricht
4.4
4
Vier Ebenen einer Nachricht
Der Kommunikationsprozess lässt sich als Sender-Empfänger-Modell beschreiben (. Abb. 4.2). Eine Person ist in der Rolle des Senders (Sprecher), die andere in der Rolle des Empfängers (Hörer). Wie bei einem Radio kann es auch in der menschlichen Kommunikation zu Störungen kommen, die auf die Übermittlung der Signale zurückgehen. Das Benutzen einer verständlichen Sprache (Verzicht auf Fachjargon) und deutliches Sprechen legen den Grundstein für einen gelungenen Verständigungsprozess. Auf Seiten des Hörers ist es die ungeteilte Aufmerksamkeit und die Einbeziehung des nonverbalen Ausdrucks (nicht zeitgleich zuhören und Akten studieren). Zusätzlich kommen Einflüsse von außen hinzu, die die Übermittlung der Botschaft und damit das ganze Gespräch stören (Arzthelferinnen, Pflegepersonal, Kollegen, die den Raum betreten). Ein ungestörter Gesprächsrahmen ist anzustreben. Mit jeder Nachricht werden vielfältige Informationen übermittelt, die sich in vier Ebenen unterteilen lassen (Schulz von Thun, 1997, . Abb. 4.3): 1. Der Sachinhalt. Das ist die Ebene, die im ärztlichen Berufsalltag dominiert. 2. Der Beziehungsinhalt. Dieser sagt aus, was der Sprecher vom anderen denkt, und in welcher Beziehung er zu ihm steht.
. Abb. 4.2. Sender-Empfänger-Modell der Kommunikation
80
Kapitel 4 · Ärztliche Gesprächsführung
I
. Abb. 4.3. Vier Ebenen einer Nachricht. Modifiziert nach Schulz von Thun (1997)
3. Die Selbstoffenbarung. Damit gibt der Sprecher einen Hinweis darauf, wie er sich fühlt. 4. Der Appell. Der Sprecher will erreichen, dass der andere etwas tut. Sie fahren beispielsweise mit dem Auto auf eine Kreuzung mit einer Ampelanlage zu. Ihre Beifahrerin sagt: »Achtung, es wird rot.« Der Sachinhalt. Selbst die kurze Nachricht beinhaltet mehr als den Sachinhalt,
dass die Ampel von grün auf rot umgesprungen ist. Der Beziehungsinhalt. Die Aussage zum Beziehungsinhalt kann sein:
4 4 4 4
»Ich fahre besser Auto als du.« »Du bist zu blöd zum Autofahren.« »Jedes Mal übersiehst Du das Signal, und ich muss Dir das erst mitteilen.« »Du bist ein schlechter Autofahrer.«
Die Selbstoffenbarung. Die Selbstoffenbarung, die dahinter steht, könnte lauten: 4 »Ich habe Angst vor einem Unfall.« 4 »Ich bin genervt.« 4 »Ich habe es eilig. Zu blöd, dass die Ampel jetzt rot ist.« Der Appell. Der Appell könnte lauten:
4 »Pass auf!« 4 »Konzentriere Dich!« 4 »Bremse rechtzeitig!«
81 4.4 · Vier Ebenen einer Nachricht
4
. Tabelle 4.2. Möglichkeiten zur Betonung der 4 Nachrichtenebenen
Ebene
Formulierung
Sachebene
»Ich benötige noch einige Informationen von Ihnen…« »Ich informiere Sie jetzt erstmal über…«
Beziehungsebene
»Ich möchte gemeinsam mit Ihnen über die nächsten Behandlungsschritte entscheiden.«
Selbstoffenbarung
»Mir geht es so…« »Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass…«
Appell
»Ich möchte Sie bitten…« »Ich habe einige Behandlungsvorschläge, von denen ich möchte, dass Sie sie genau befolgen…«
Bestimmte Ebenen einer Nachricht können vom Sprecher betont werden. Der Arzt kann dieses Modell daher nutzen, um Klarheit im Gespräch zu schaffen (. Tabelle 4.2). Auch auf der Hörerseite kann der Arzt das Modell nutzen, um seine Wahrnehmung gezielt auf eine bestimmte Ebene der Nachricht zu lenken. Das ist besonders hilfreich, wenn das Gespräch emotional getönt ist. Da Patienten psychosoziale Inhalte meist nur vorsichtig erwähnen, ist es besonders wichtig gut zuzuhören. Der Fall Patient: »Ich konnte die letzten beiden Tage nicht zur Arbeit und würde mich gerne mal richtig auskurieren. Sie werden mich doch krankschreiben, oder?« Arzt: »Ich möchte Sie zunächst noch einmal untersuchen, aber so wie Sie es schildern, werde ich Sie diese Woche wohl krankschreiben können.« Mit dieser Antwort hört der Arzt vor allem die Sachebene. Auf der Beziehungsebene merkt er, dass der Patient ihn unter Druck setzt und erkennt daran, dass der Patient selbst unter starkem Druck steht. Seine alternative Antwort könnte daher lauten: Arzt: »Sie stehen ganz schön unter Druck.« Patient: »Ja, das ist richtig. Mir sind in letzter Zeit einige Fehler unterlaufen bei der Arbeit und ich mache mir Sorgen um meinen Arbeitsplatz, die Auf6
82
I
Kapitel 4 · Ärztliche Gesprächsführung
tragslage ist schlecht zurzeit. Da ich zudem schlecht schlafen kann, habe ich Angst noch mehr Fehler zu machen, da ist es besser ich bleibe zu Hause.« Durch den Ebenenwechsel ermöglicht der Arzt dem Patienten über seine beruflichen Belastungen zu sprechen. Es kommen Schlafstörungen zur Sprache, eine mögliche Depressivität des Patienten kann nun abgeklärt werden.
Der gekonnte Umgang mit den verschiedenen Botschaften einer Nachricht ermöglicht dem Arzt eine flexible Gesprächsführung, durch die er mehr Informationen erhält, dem Patienten besser gerecht wird und schwierige Situationen gut meistern kann. Praxistipps Gesprächsförderer 4 Ausreden lassen. 4 Ungestörter Gesprächsrahmen. 4 Deutlich sprechen. 4 Verständlich Sprechen. 4 Anpassen an das intellektuelle Niveau des Patienten. 4 Verwenden von Bildern und Grafiken. 4 Sichtbarrieren vermeiden. 4 Im Gespräch auch auf nonverbale Zeichen achten.
4.5
Anamnese
Die Anamnese ist die häufigste Gesprächsform in Krankenhaus und Praxis. In der Notfallambulanz einer Klinik ist ein anderer Ablauf gefragt als in der Hausarztpraxis. Die hier vorgestellten Phasen beziehen sich auf den Fall, dass der Arzt kaum Vorinformationen über den Patienten hat und es keinen unmittelbaren Handlungsbedarf gibt (wie etwa bei akuten Schmerzen). Die einzelnen Phasen sind in . Tabelle 4.3 dargestellt. Je nach Aufgabenstellung ist der Arzt gezwungen einzelne Phasen vorzuziehen oder ganz auszulassen und später nachzuholen.
83 4.5 · Anamnese
. Tabelle 4.3. Gesprächsphasen im Anamnesegespräch 1. Vertrauensvolle und hilfreiche Beziehung aufbauen 1.1 Begrüßung und Vorstellung 4 Blickkontakt aufnehmen 4 Begrüßung 4 Mit Namen ansprechen, Hand geben 4 Sich mit Namen vorstellen 4 Funktion erklären 1.2 Für eine ungestörte, ruhige Gesprächsatmosphäre sorgen 4 Evtl. Schild »Bitte nicht stören« 4 Wenn möglich, Mitpatienten hinaus bitten 4 Fernseher oder Radio ausschalten 4 Auf evtl. Störungen durch Piepser, Kollegen oder Pflegepersonal hinweisen 1.3 Für angenehme Gesprächsatmosphäre sorgen 4 Gespräch im Sitzen führen (Stuhl am Krankenbett) 4 Evtl. Bett hochstellen 4 Nähe/Distanz abstimmen 4 Körperhaltung des Patienten beachten 1.4 Gesprächsinhalt und Rahmen abstecken 4 Gesprächsziele verdeutlichen 4 Zeitrahmen mitteilen 2. Dem Patienten zuhören, um etwas über ihn und seine Erkrankung zu erfahren 2.1 Gespräch offen beginnen 4 Angebot »Was kann ich für Sie tun?« 4 Konsultationsanlass »Was führt Sie zu mir?« 4 Befindlichkeit »Wie geht es Ihnen im Moment?« 2.2 Erzählen fördern – Rückmeldung geben 4 Hörersignale »Hm«, »ja«, Nicken 4 Blickkontakt 4 Patient nicht unterbrechen 4 Pausen tolerieren 4 Freie Themenentfaltung zulassen 2.3 Aktiv zuhören – verbal unterstützen 4 Offen fragen »Wie kam das?« 4 Zum Weitersprechen ermutigen 4 Äußerungen wörtlich wiederholen 4 Äußerungen paraphrasieren 2.4 Verständnis sichern 4 Rückfragen »Verstehe ich richtig, dass…?« 4 Zusammenfassen 2.5 Beziehungsverhalten reflektieren 4 Wie geht der Patient auf das Gesprächsangebot ein? 4 Welches Beziehungsmodell sucht der Patient? Paternalismus, Dienstleistung, Partnerschaft?
4
84
I
Kapitel 4 · Ärztliche Gesprächsführung
. Tabelle 4.3 (Fortsetzung) 2.6. Emotionen zulassen und verstehen 4 Nonverbal (z. B. Gestik, Mimik) 4 Ansprechen »Nehme ich richtig wahr, dass…?« 4 Benennen »Das macht Sie dann traurig…« 4 Klären »Wie fühlen Sie sich dann?« 2.7. Eigene Emotionen als diagnostischer Wegweiser benutzen 4 z. B. Abneigung, Ärger 4 Langeweile, Traurigkeit, Leere 4 Behüten, schützen wollen 3.
Selbst- und Familienanamnese vervollständigen 4 Vegetative Anamnese 4 Medikamente 4 Frühere Erkrankungen, Vorbehandlungen 4 Familiäre Erkrankungen, Risikofaktoren 4 Biographie mit typischen Schwellensituationen wie Schulzeit, Pubertät, Auszug aus dem Elternhaus, Berufswahl, Heirat, Berentung 4 Aktuelle Lebenssituation, z. B. Beruf, Familie 4 Auf Lücken zurückkommen »Sie ließen bisher unerwähnt…« 3.1 Subjektive Krankheitsvorstellungen 4 Konzepte »Was stellen Sie sich selbst darunter vor?« 4 Erklärungen »Sehen Sie selbst Ursachen dafür?«
4. Detail der Beschwerden, Selbst- und Familienanamnese explorieren 4.1 Beschwerde-Dimensionen erfragen 4 Lokalisation und Ausstrahlung 4 Qualität »Welchen Charakter haben die Schmerzen, z .B. brennender oder stechender Schmerz?« 4 Intensität »Wie stark sind die Schmerzen?« (Skala 0-10) 4 Funktionsstörung/Behinderung »Wie weit sind Sie dadurch beeinträchtigt?« 4 Begleitsymptome »Haben Sie dabei auch…?« 4 Zeitliche Zusammenhänge (Zeitpunkt des Auftretens, Verlauf, z. B. periodisch, wehenartig, Dauerschmerz) 4 Begleitumstände: »In welcher Situation tritt das auf?«, »Welche Einflüsse verstärken die Beschwerden oder erleichtern sie?« 5 Zusammenfassen und weiteres Vorgehen gemeinsam abstimmen 5.1 Gespräch zusammenfassen 4 Konsultations- oder Aufnahmegrund 4 Beschwerden 4 Bisherige Diagnosen 4 Therapievereinbarungen 5.2 Erwartungen klären 4 Vorstellungen, Wünsche, Hoffnungen abklären »Was haben Sie sich vorgestellt?«, »Was könnte Ihrer Meinung nach helfen?« 4 Kontrollüberzeugungen erkunden »Was könnten Sie selbst ändern?«
85 4.5 · Anamnese
4
. Tabelle 4.3 (Fortsetzung) 5.3 Klärung offener Fragen anbieten 4 Information »Haben Sie noch Fragen?« 4 Zufriedenheit »Kommen Sie damit erstmal zurecht?« 5.4 Diagnostik/Therapieplan und Folgetermine vereinbaren 4 Präferenz für Entscheidungsmodell beachten: Paternalismus – Dienstleistung – partnerschaftliche Kooperation 4 Vorschläge und Risiken besprechen 4 Reaktionen berücksichtigen 4 Konsens anstreben 4 Untersuchungstermine vergeben 4 Nächsten Gesprächstermin festlegen 4 Eventualitäten im Notfall regeln 5.5 Patient verabschieden
4.5.1
Begrüßung
Mit der Begrüßung kommt zum Ausdruck, wie zugewandt und interessiert der Arzt am Patienten ist. Begrüßt er den Patienten mit Handschlag und Namen, schaut er ihm in die Augen, wirkt er einladend und herzlich oder versteckt er sich hinter einer Akte, dem Computerbildschirm, wirkt unnahbar oder liest den Namen von der Karteikarte ab? Für den Arzt ist es professionelle Routine, für den Patienten verbinden sich vielfältige Hoffnungen und Befürchtungen mit dem Termin. Der häufige Blutdruckanstieg beim Arzttermin (›Weißkittel-Hypertonie‹) legt davon Zeugnis ab. Ein kurzer Small Talk erleichtert den ersten Kontakt. Ein, zwei Sätze über die Familie, das Wetter, den Herweg überbrücken das Gefühl von Fremdheit. Zur Begrüßung gehört auch, dass der Arzt sich und seine Funktion kurz vorstellt.
4.5.2
Patientenzentrierte Phase der Befunderhebung
Der Patient schildert sein Anliegen. Mit der patientenzentrierten Gesprächsführung unterstützt der Arzt die Darstellung. Er sollte in dieser Phase nicht unterbrechen, es sei denn für Verständnisfragen. Diese Phase hat das Ziel, den Patienten kennen zu lernen. Der Arzt erhält Informationen zu den Beschwerden, den Lebensumständen des Patienten und
86
I
Kapitel 4 · Ärztliche Gesprächsführung
der Lebensqualität und wie diese sich bedingt durch die Erkrankung verändert hat. Schließlich kann der Arzt etwas über die persönlichen Vorstellungen der Entstehung und Aufrechterhaltung der Erkrankung erfahren, sowie über die Ressourcen des Patienten die Erkrankung zu bewältigen. Der Arzt kann beispielsweise fragen: 4 »Was glauben Sie, woher Ihre Beschwerden kommen?« 4 »Was glauben Sie, warum Sie gerade jetzt krank geworden sind?« 4 »Was sind Ihre Sorgen, Ängste, Befürchtungen in Bezug auf die Krankheit?« 4 »Haben Sie schon selber an bestimmte Behandlungsmaßnahmen gedacht?« Dadurch gelingt es eigene Vorstellungen über Diagnostik und Therapie in Einklang mit denen des Patienten zu bringen oder auch Diskrepanzen festzustellen und zu benennen. Macht der Patient in dieser Phase Andeutungen über psychosoziale Belastungen, ohne sie weiter auszuführen, ist er wahrscheinlich unsicher, ob er diese Informationen geben darf. Der Fall Arzt: »Sie haben gerade angedeutet, dass es für Ihre Kinder nicht einfach ist mit Ihrer Krankheit umzugehen. Da ich denke, dass es auch zu Ihrem Wohlbefinden gehört, wie Ihre Kinder damit fertig werden, würde es mich interessieren darüber mehr zu erfahren.« Möglicherweise ist der Patient irritiert, weil er bislang die Erfahrung gemacht hat, dass Ärzte solche Themen ausgeklammert haben. Er könnte etwa so reagieren: Patient: »Ich weiß nicht, ändern lässt sich daran wohl eh nichts.« Der Arzt kann dann erklären, warum es für ihn relevant ist und dem Patienten anheim stellen, ob er weiter reden möchte. Arzt: »Ich weiß nicht, ob wir daran etwas ändern können. Aber mir ist wichtig, dass Sie durch die Behandlung so wenig Belastungen wie möglich haben. Wenn Sie möchten, können Sie mir gerne mehr erzählen.«
87 4.5 · Anamnese
4.5.3
4
Psychosoziale Anamnese
In einer zunächst somatisch ausgerichteten Anamnese können Daten zur Lebensgeschichte, z. B. schwere Krankheiten oder Krankenhausaufenthalte in der Kindheit oder Belastungen durch Krankheit oder Tod eines Elternteils zur Sprache kommen. Diese Informationen ermöglichen dem Arzt schon erste Hypothesen über einen Zusammenhang von früheren Belastungen und aktuellen Beschwerden herzustellen. Weitere psychosoziale Themen sind: 4 Typische Schwellensituationen wie Schulzeit, Pubertät, Auszug aus dem Elternhaus, Berufswahl, Heirat, Berentung. 4 Aktuelle Lebenssituation, z. B. Beruf, Familie. 4 Veränderungen im Arbeits- und Berufsleben. 4 Formen der Krankheitsbewältigung, z. B. aktives oder depressives Coping, Verleugnung der Schwere der Symptomatik. 4 Subjektives Verständnis der Krankheitsursache. 4 Folgen, Erwartungen in Bezug auf die Behandlung und den Verlauf. 4 Emotionale Belastungen wie Ängste, depressive Symptome.
4.5.4
Arztzentrierte Phase der Befunderhebung
In der arztzentrierten Phase der Anamnese stellt der Arzt gezielt geschlossene Fragen, um möglichst schnell die Information zu erfragen, die er zur Stellung einer Diagnose noch benötigt. Die vielfach eingesetzten Anamnesebögen helfen alle notwendigen Fragen zu stellen und signalisieren dem Patienten den geänderten Gesprächsstil. Sollte ein Patient in dieser Phase noch sehr weitschweifig erzählen, ist es hilfreich die geänderte Gesprächsform dem Patienten transparent zu machen (7 Kap. 4.3, Gespräche strukturieren): Der Fall Arzt: »Mir fällt auf, dass Sie meine Fragen sehr ausführlich beantworten. Ich habe noch einige Fragen an Sie und möchte Sie bitten diese kurz und knapp zu beantworten. Wenn es dann noch etwas gibt, worüber Sie mit mir sprechen wollen, dann möchte ich mir dafür gerne Zeit nehmen, wenn wir mit dem Bogen am Ende sind. Sind Sie damit einverstanden?«
I
88
Kapitel 4 · Ärztliche Gesprächsführung
4.5.5
Körperliche Untersuchung
Auch bei der körperlichen Untersuchung laufen zwischen Arzt und Patient verbale und nonverbale Austauschprozesse ab. Das Berühren bei der körperlichen Untersuchung ist eine Körpergrenzen überschreitende, oft intime und/ oder eindringende Annäherung an einen Fremden. Zum Beispiel bei der Untersuchung des Abdomens ist das Maß an notwendiger Entspannung abhängig von der Feinfühligkeit des Untersuchers und dem Vertrauen, das der Untersuchte in der Situation entwickelt. Gefühle von Unlust, Angst, Scham oder Schmerz können beim Patienten auftauchen. Praxistipps Die Wahrnehmung und Rückmeldung körperlicher Reaktionen an den Patienten können dabei helfen, dass der Patient sich entspannt, Vertrauen gewinnt und sich vom Arzt verstanden fühlt: »Ich merke, dass sich Ihr Bauch verkrampft. Ist Ihnen die Berührung unangenehm?«.
4.5.6
Behandlungsplanung
Ziel der Behandlungsplanung ist mit dem Patienten gemeinsam eine Behandlungsstrategie zu finden, die die Umsetzbarkeit für den Patienten mit dem medizinisch Notwendigen zu möglichst großen Teilen verbindet (shared decision making). Die Erkenntnisse zur Compliance sind ernüchternd. In der hausärztlichen Praxis nehmen nur 33% der Patienten ihre Medikamente korrekt ein. Es ist also höchst relevant, ob der Patient der Behandlung überhaupt folgen kann. Der Fall Arzt: »Es gibt verschiedene Behandlungsansätze, die denkbar sind. Wenn Sie möchten, informiere ich Sie darüber und wir entscheiden anschließend gemeinsam, was für Sie das Beste ist. Wenn Sie möchten, kann ich die Entscheidung aber auch aus meiner Sicht für Sie treffen.« 6
89 4.6 · Mitteilen der Befunde
4
Die Antwort könnte lauten: Patient: »Sie sind doch der Experte, entscheiden Sie das.« Oder: Patient: »Ja, das wäre mir schon lieb, erstmal zu hören, was es für Alternativen gibt.«
4.5.7
Abschluss
Die Abschlussphase dient dem Resümee. Dazu nutzt der Arzt erneut das Mittel der Zusammenfassung, mit der die Thematik des Gesprächs und die wichtigsten Punkte aufgegriffen werden. Der Fall Arzt: »Wir haben heute über Ihre weiterhin bestehenden Beschwerden gesprochen. Wir haben vereinbart noch mal Blut abzunehmen und, wenn bei den Blutwerten nichts dagegen spricht, mit der medikamentösen Behandlung anzufangen. Sie haben auch über die Probleme mit Ihrer Frau gesprochen. Um darauf einzugehen, machen wir einen neuen Termin in den nächsten Tagen aus. Bei der Gelegenheit werden wir dann auch die Blutwerte besprechen. Gibt es noch Fragen, die wir jetzt vergessen haben?«
Der Patient bekommt auch hier die Chance Wichtiges zu ergänzen. Der Arzt entscheidet dann, ob Ergänzungen sofort oder in einem weiteren Termin geklärt werden können. Nur wenn die neue Information hoch relevant ist, die Behandlung verändert oder sehr kurz geklärt werden kann, sollte der Arzt sie sofort mit einbeziehen. Andernfalls ist es sinnvoller den Zeitplan einzuhalten und einen neuen Termin zu vereinbaren.
4.6
Mitteilen der Befunde
Das Mitteilen der Befunde ist arztzentriert, da der Arzt die Themen auswählt und das Gespräch lenkt. Häufig wird ein neuer Termin anberaumt, um die Be-
90
I
Kapitel 4 · Ärztliche Gesprächsführung
funde mitzuteilen oder sie werden, wie in Kliniken häufig, im Laufe der Untersuchungen nach und nach mitgeteilt. Die Art und der Inhalt der Informationsvermittlung orientiert sich am Patienten. Zur Veranschaulichung verwendet der Arzt Bilder oder Modelle. Die Informationsmenge berücksichtigt die Aufnahmefähigkeit des Patienten. Letzteres gilt besonders, wenn der Patient stark belastet ist, da Stress die Konzentration stark einschränkt. Bei schlechten Befunden oder ängstlichen Patienten ist damit zu rechnen, dass der Informationsbedarf des Patienten sehr gering ist. In solchen Fällen kann es auch nötig sein, aus der arztzentrierten Informationsvermittlung in eine patientenzentrierte Begleitung des Patienten zu wechseln, d. h. mehr auf seine unausgesprochenen Ängste und Sorgen einzugehen. Praxistipps Um herauszufinden, ob der Patient die Informationen richtig verstanden hat, kann der Arzt den Patienten bitten zusammenzufassen, was er verstanden hat: »Wenn Sie nachher nach Hause kommen, und Ihre Frau Sie fragt: »Was hat denn der Arzt gesagt?«, was würden Sie ihr dann erzählen?«
Merke 4 Informationen in einer Sprache vermitteln, die der des Patienten nahe
kommt. 4 Vorbestehende Modelle und Vorwissen des Patienten kennen lernen und
die Informationen mit dem vorhandenen Wissen verknüpfen. 4 Nur wenige Informationen pro Zeiteinheit vermitteln. 4 Informationen thematisch gliedern, z. B. weitere Untersuchungen, ambu-
lante Behandlung.
4.7
Evidence Based Medicine
Die patientenzentrierte Gesprächsführung ist in ihrer Wirksamkeit gut überprüft. Es zeigen sich Auswirkungen auf die Zufriedenheit der Patienten, die Compliance und das Gesundheitsbefinden. Die Erlernbarkeit einer guten Gesprächsführung ist ebenfalls nachgewiesen.
91 Quellenverzeichnis
4
? Übungsfragen 3 Was ist der Unterschied zwischen arzt- und patientenzentrierter Gesprächsführung? 2 Nennen Sie die Techniken des aktiven Zuhörens. 2 Auf welche Weise kann der Arzt ein Gespräch strukturieren? 2 Beschreiben Sie die vier Ebenen einer Nachricht. 3 Welche Schritte umfasst das Anamnesegespräch?
Literatur Ripke TH (1994) Arzt und Patient im Dialog. Thieme, Stuttgart. Klienten-zentrierte Gesprächspsychotherapie und ihre Anwendungen in der Hausarztpraxis. Schulz von Thun F (2005) Miteinander Reden. Band II: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Rowohlt, Reinbeck Schulz von Thun F (2005) Miteinander Reden. Band I: Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation. Rowohlt, Reinbeck. In beiden Bänden praxisnahe Darstellung von Kommunikationsproblemen und ihrer Verbesserung im Beruf und im Alltag. Watzlawick P (2003). Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Huber, Bern. Standardwerk. Man kann nicht nicht kommunizieren.
Quellenverzeichnis . Abbildung 4.3 Schulz von Thun (1997) Miteinander Reden. Band I: Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation. Rowohlt, Reinbeck Grice HP (1979) Logik und Konversation. In: G. Meggle (Hrsg.) Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Suhrkamp, Frankfurt Langewitz WA et al.. (2002) Spontaneous talking time at start of consultation in outpatient clinic: cohort study. British Medical Journal, 325: 682–683
II II Krankheitsbilder 5 Krebserkrankung
– 95
6 Koronare Herzerkrankung (Fritzsche) 7 Somatisierung (Fritzsche)
– 117
8 Chronische Schmerzstörung (Fritzsche) 9 Angststörungen (Fritzsche) 10 Depressionen (Fritzsche)
– 109
– 133
– 145
– 161
11 Psychisches Trauma und posttraumatische Belastungsstörung (Fritzsche) – 179 12 Essstörungen (Fritzsche)
– 187
13 Persönlichkeitsstörungen (Wirsching)
– 203
14 Psychosomatische Medizin in speziellen Fachgebieten (Fritzsche) – 213 15 Übungsfälle – Vom Symptom zu Diagnose und Therapie (Fritzsche) – 221
5 5
Krebserkrankung
5.1
Psychosoziale Faktoren bei der Entstehung, dem Verlauf und der Bewältigung einer Krebserkrankung – 96
5.2
Diagnose Krebs
5.2.1
Psychische Reaktionen nach der
– 98
Diagnosestellung 5.2.2
– 98
Krankheitsverarbeitung (Coping)
– 98
5.2.3
Problem Fatigue
5.3
Psychosomatische Grundversorgung
– 100
5.4
Psychotherapie bei Krebs
5.4.1
Ziele und Zielgruppe
5.4.2
Indikationen
5.4.3
Behandlungsstufen
5.5
Sterbebegleitung
5.6
Evidence Based Medicine
– 104
– 104
– 105 – 105
– 106 – 107
– 100
96
Kapitel 5 · Krebserkrankung
4 Psychische Reaktionen nach der Diagnose Krebs 4 Aufklärungsgespräch und ärztliche Begleitung bei Krebs 4 Psychotherapeutische Behandlungsstufen
II
> > Einleitung Bis in die 50er-Jahre überlebten nur wenige Patienten eine Krebserkrankung. Unter den Folgen der kombinierten Chemo- und Radiotherapie und differenzierter chirurgischer Verfahren sind Fragen der Lebensqualität und der emotionalen Bedürfnisse der Patienten mehr in den Mittelpunkt gerückt. Die Psychoonkologie beschäftigt sich mit dem Einfluss von psychischen und sozialen Faktoren auf Krankheitsentstehung, Krankheitsverlauf und Krankheitsbewältigung und untersucht die Wirksamkeit psychotherapeutischer Behandlungsverfahren zur Verbesserung des emotionalen Befindens und der Lebensqualität der Patienten.
5.1
Psychosoziale Faktoren bei der Entstehung, dem Verlauf und der Bewältigung einer Krebserkrankung
Soweit psychosoziale Faktoren bei der Krebsentstehung eine Rolle spielen, handelt es sich dabei um das Zusammenwirken von gesundheitsschädigendem Verhalten (Rauchen, Alkohol, Ernährung) und psychosozialen Belastungen. Überforderung, Bindungsverlust und eine daraus resultierende depressive Symptomatik führen zur Aktivierung der Hypophysen-NebennierenrindenAchse und der damit verbundenen vermehrten Ausschüttung von Kortisol. Kortisol in seiner entzündungshemmenden Funktion verringert die Genregulation von Zytokinen (Tumornekrosefaktor, Interleukin 1, 2, 6) und die Zellaktivität der T-Lymphozyten und der natürlichen Killerzellen (NK). Die Abwehrfunktion des Immunsystems bei der Entstehung und Beseitigung von Tumorzellen ist damit eingeschränkt. Schützende und schädigende Einflüsse bei der Krebsentstehung sind nicht mehr im Gleichgewicht. Krebserregende Substanzen, z. B. wie sie im Rauch von Zigaretten enthalten sind oder chemische Stoffe, eine genetische Disposition, Strahlen oder Viren können leichter ihre schädigende Wirkung entfalten. Bei Vorhandensein von krebserregenden Umwelt-
97 5.1 · Psychosoziale Faktoren
5
. Abb. 5.1. Multifaktorielle Karzinogenese. Modifiziert nach Hürney, 2003
bedingungen und psychosozialen Belastungsfaktoren steigt das Krebsrisiko (. Abb. 5.1). Für den Nachweis eines Zusammenhangs zwischen psychosozialen Belastungen und der Entstehung einer Krebserkrankung sind Studien mit sehr großen Fallzahlen über lange Zeiträume notwendig. Die bisher vorliegenden Studien lassen keine klare Schlussfolgerung in der einen oder anderen Richtung zu. Anders ist es bei den Untersuchungen zum Verlauf und der Bewältigung einer Krebserkrankung. In der Mehrzahl der Studien hatten folgende psychosoziale Belastungen einen negativen Einfluss auf die Rezidivrate und die Mortalität: Depression, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit, Unterdrückung von Gefühlen und soziale Isolation. Bewältigungsstile (Coping, 7 Kap. 5.2.2) wie eine aktive problemorientierte Auseinandersetzung mit der Erkrankung hatten im Vergleich zu Resignation und Rückzug einen positiven Einfluss auf den Krankheitsverlauf. Merke Bisher ist es nur eine Vermutung, dass psychosoziale Faktoren die Krebsentstehung beeinflussen. Es gibt aber deutliche Hinweise, dass psychosoziales Befinden und bestimmte Bewältigungsstrategien einen Einfluss auf den Krankheitsverlauf haben.
98
Kapitel 5 · Krebserkrankung
Der Fall Der 55-jährige Herr M. wird wegen therapieresistenten Hustens stationär aufgenommen. Die Anamnese ergibt, dass Herr M. seit seinem 18. Lebensjahr bis vor 5 Jahren durchschnittlich 20 Zigaretten pro Tag geraucht hat. Er ist verheiratet (zwei erwachsene Kinder), von Beruf Elektroinstallateur und arbeitet als Angestellter in einem kleinen mittelständischen Betrieb. Röntgen-Thorax und Thorax-CT zeigen eine Raumforderung, die bronchoskopische Biopsie ergibt ein kleinzelliges Bronchialkarzinom.
II
5.2
Diagnose Krebs
5.2.1
Psychische Reaktionen nach der Diagnosestellung
Vor allem in den ersten Wochen nach Diagnosemitteilung zeigen 30–50% der Patienten Symptome einer psychischen Störung. Meistens handelt es sich um eine akute Belastungsreaktion mit Angst und depressiver Symptomatik (ICD-10: F 43.0, ICD-10: F 43.2). Eine Zusammenfassung der psychischen Reaktionen, die im Laufe einer Tumorerkrankung auftreten und der Aufgaben, die sich dem Patienten stellen, zeigt . Tabelle 5.1. 5.2.2
Krankheitsverarbeitung (Coping)
Die Art der Krankheitsverarbeitung (Coping, 7 Kap. 1.3.5) hat entscheidenden Einfluss auf das emotionale Befinden und die Lebensqualität. Als günstig haben sich erwiesen: 4 Eine aktive Auseinandersetzung mit der Erkrankung (sog. Fighting spirit). 4 Sinnsuche und Spiritualität. 4 Gute zwischenmenschliche Beziehungen und soziale Unterstützung. 4 Vertrauen in die Ärzte. Ungünstige Bewältigungsformen sind: 4 Passive Hinnahme, Resignation. 4 Sozialer Rückzug und Isolation. 4 Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit.
99 5.2 · Diagnose Krebs
. Tabelle 5.1. Im Verlauf einer Krebserkrankung auftretende psychische Reaktionen und Aufgaben
Erkrankungsphase
Psychische Reaktionen
Vom Patienten zu bewältigende Aufgaben
Diagnosemitteilung
5 Schock, Angst 5 Ungläubigkeit, Verzweiflung, Depression 5 Wut
5 Akzeptieren der Diagnose, Ertragen von heftigen Emotionen 5 Entscheidungsfindung bzgl. der Behandlung 5 Unterrichtung des sozialen Umfelds
Primäre Behandlungsphase
5 Angst, Depression, Kontroll- und Autonomieverlust 5 Verlust der körperlichen Integrität 5 Einsamkeit, Verlust von Intimität und sexuellen Kontakten
5 Akzeptieren der Erkrankung und Behandlung 5 Ertragen der Behandlungsnebenwirkungen (Übelkeit, Erbrechen, Haarausfall, körperliche Erschöpfung, Fatigue) 5 Aufbau von tragfähigen Beziehungen zum Behandlungsteam 5 Wiedererlangung des psychischen und körperlichen Selbstwertgefühls
Remission
5 Erleichterung, Dankbarkeit 5 Angst vor Rezidiven und Metastasen, verstärkte Wahrnehmung des Körpers
5 Rückkehr in den Alltag, Leben mit Unsicherheit 5 Entwicklung neuer Lebensperspektiven, beruflicher Wiedereinstieg
Rezidiv
5 Schock, Angst, Depression 5 Verleugnung 5 Verlust der Hoffnung und des Vertrauens 5 Erhöhte Verletzbarkeit 5 Sinnsuche, Schuldgefühle
5 Akzeptieren der Zukunftsunsicherheit 5 Akzeptieren des Fortschreitens der Erkrankung und der Wahrscheinlichkeit des Todes 5 Anpassung der Lebensperspektive an die neue Situation
Terminales Stadium
5 Todesangst, Depression, Demoralisierung 5 Verleugnung 5 Kontrollverlust 5 Angst vor Einsamkeit 5 Zunehmende Abhängigkeit von Ärzten und Pflegeteam 5 Rückzug 5 Wut und Ärger
5 Auseinandersetzung mit dem Tod und dem eigenen Sterben, Betrauern des Verlustes 5 Akzeptieren des eigenen Todes 5 Akzeptieren des körperlichen Verfalls und der Prognose 5 Regelung der familiären und rechtlichen Angelegenheiten, Abschied nehmen von Familie und Freunden 5 Rückblick auf das eigene Leben, Auseinandersetzung mit spirituellen Themen
5
II
100
Kapitel 5 · Krebserkrankung
5.2.3
Problem Fatigue
Fatigue äußert sich in starker Müdigkeit und Erschöpfung, vermindertem Leistungsvermögen und Muskelschwäche. Betroffen sind insbesondere Patienten nach Bestrahlung oder Chemotherapie. Ca. 30–40% der Patienten leiden auch noch nach Abschluss der Behandlungsphase unter chronischer Fatigue. Auch wenn es Überschneidungen mit depressiver Symptomatik gibt, gilt Fatigue als eigenständiges Syndrom. Zugrunde liegt wahrscheinlich ein komplexes Wechselspiel zwischen Tumorerkrankung, Chemo- und Radiotherapie, Tumoranämie, weiteren Begleiterkrankungen, immunologischen Reaktionen des Immunsystems und psychischen Verarbeitungsprozessen.
5.3
Psychosomatische Grundversorgung
Das Informations- und Aufklärungsgespräch steht im Zentrum der psychosomatischen Grundversorgung. Über 90% aller Krebspatienten wünschen über die Erkrankung und ihre Behandlungsmöglichkeiten aufgeklärt zu werden. Wichtiger Bestandteil des Aufklärungsgesprächs ist die emotionale Unterstützung bei der Verarbeitung der Informationen. Der Fall – Fortsetzung Beim 55-jährigen Herrn M. wurde ein kleinzelliges Bronchialkarzinom festgestellt. Die behandelnde Ärztin fragt den Patienten, ob es in Ordnung sei, wenn seine Ehefrau am Gespräch teilnehmen würde und bittet nach seinem Einverständnis den Patienten zusammen mit seiner Ehefrau ins Arztzimmer, um ihnen die Befunde mitzuteilen. Herr M. hat vor 5 Jahren das Rauchen aufgegeben, weil er miterlebt hat, wie ein jüngerer Kollege und Freund »aus heiterem Himmel« an Lungenkrebs erkrankt und nach kurzer Zeit daran verstorben ist. Besonders hat ihn belastet, dass der Kollege erstickt ist. Die stationäre Aufnahme und das Warten auf den Befund machen Herrn M. große Angst, er möchte am liebsten mit niemandem reden und weglaufen, schläft sehr unruhig und wacht schweißgebadet auf. Er denkt immer 6
101 5.3 · Psychosomatische Grundversorgung
häufiger an den verstorbenen Kollegen und fragt sich, ob auch er Lungenkrebs hat und nun sterben muss. Auch Frau M. hat Angst, dass es sich um eine bösartige Erkrankung handeln könnte, lässt sich jedoch nichts anmerken, um ihren Mann nicht noch stärker zu verunsichern. Die Zeit seit der stationären Aufnahme ihres Mannes war für sie sehr anstrengend, vor allem wegen der Spannung zwischen eigener Angst und Starksein für ihren Mann. Da das Ehepaar mit dem Geld aus Herrn M.s Vollzeit- und Frau M.s Halbtagstätigkeit gerade so auskommt, fragt sich Frau M., was wird, wenn ihr Mann im Krankenhaus bleiben muss. Als die Ärztin ihrem Mann mitteilt, dass es sich um eine bösartige Geschwulst handelt, versucht sie schnell, ihre Fassung wiederzuerlangen. Sie stellt Fragen nach den Behandlungsmöglichkeiten, um Zuversicht zu bekommen und ihren Mann und sich selbst durch sachliche Informationen von der Angst abzulenken. Nach wie vor ist es ihr Ziel, ihren Mann nichts von ihrer Angst spüren zu lassen. Die Stationsärztin ist, bevor sie das Ergebnis der Biopsie gelesen hat, davon ausgegangen, dass es sich eher um eine chronische Bronchitis handeln würde. Vor dem Gespräch macht sie sich Gedanken, was genau sie Herrn M. mitteilen möchte. Am liebsten möchte sie den Befund so formulieren, dass Herr M. noch Hoffnung hat, d. h. die Möglichkeit der Radio- und Chemotherapie anbieten und ihm mitteilen, dass so die Chance besteht, Begleitsymptome wie Schmerzen und Atemnot in den Griff zu bekommen. Sie vergegenwärtigt sich auch, dass sie dem Ehepaar M. den Befund und die Behandlung in einfachen Worten erklären muss. Eine Prognose möchte sie auf keinen Fall mitteilen, da sie zum einen aus eigener Erfahrung weiß, dass diese selten zutrifft, zum andern verhindern möchte, dass dem Ehepaar M. die Hoffnung verloren geht. Im Gespräch versucht die Stationsärztin, ohne Umschweife die Befunde mitzuteilen und dabei sachlich, aber zugewandt zu bleiben. Sie versucht den ersten Schock zu dämpfen, indem sie Vertrauen in die Behandlungsmöglichkeiten aufbaut. Sie vermeidet Fremdwörter und erklärt dem Ehepaar M. insbesondere die Behandlungsmöglichkeiten und deren Wirkungsweise so genau wie möglich. Herrn M. fällt es schwer, den Ausführungen der Ärztin zu folgen. Teilweise fühlt er sich wie betäubt. Gegen Ende des Gesprächs wagt er es aber 6
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102
II
Kapitel 5 · Krebserkrankung
doch, zu fragen, ob er jetzt sterben muss. Die Ärztin ist von der Direktheit dieser Frage zunächst überrascht. Durch einfühlsames Nachfragen erfährt sie von dem qualvollen Tod des Arbeitskollegen und versteht den Hintergrund der Frage. Einfühlsam geht sie auf die Ängste des Patienten ein und versichert ihm, dass alles getan wird, um ihm zu helfen sowie Schmerzen und unnötiges Leiden zu ersparen.
Praxistipps Aufklärung eines Krebspatienten über seine Diagnose Bereiten Sie das Gespräch sorgfältig vor: Liegen alle Untersuchungsergebnisse vor? Gibt es einen Plan für die Behandlung, für Kontrolluntersuchungen oder weitere diagnostische Schritte? Was möchte ich konkret mitteilen? Womit fange ich an? 4 Besprechen Sie mit dem Patienten, ob Familienangehörige dabei sein sollen. 4 Klären Sie nach der Begrüßung, ob dem Patienten ein Gespräch jetzt körperlich und psychisch zuzumuten ist. Sorgen Sie für eine ruhige Umgebung, eine ungestörte Gesprächsatmosphäre und ein ausreichendes Zeitpolster. Bringen Sie ein Schild »Bitte nicht stören« an. Formulieren Sie Ihr Gesprächsanliegen: »Ich möchte mit Ihnen die Ergebnisse der Untersuchung besprechen«. Benennen Sie den Zeitrahmen: »Wir haben etwa eine halbe Stunde Zeit«. 4 Erfragen Sie den subjektiven Informationsstand, den Informationswunsch und die Behandlungsvorstellungen des Patienten (und der Familienangehörigen): »Was wissen Sie zu Ihrer Krankheit? Möchten Sie möglichst viel Informationen oder sind Sie eher ein Mensch, der es nicht so genau wissen will? Haben Sie sich Gedanken gemacht, wie es weitergeht?« 4 Passen Sie Ihre Informationen der Sprache des Patienten an. 4 Kleiden Sie komplexe Informationen in Bilder und knüpfen Sie an Alltagserfahrungen des Patienten an. 6
103 5.3 · Psychosomatische Grundversorgung
Lassen Sie sich durch Indifferenz und Schweigen des Patienten nicht täuschen. Bieten Sie die Möglichkeit eines weiteren klärenden Gesprächs zumindest an. Scheuen Sie sich nicht, erfahrene Kollegen oder Krankenschwestern mit einzubeziehen. 4 Tabuisieren Sie das Wort »Krebs« nicht, aber beobachten Sie die Reaktion des Patienten und passen Sie Ihre Wortwahl der Reaktion an. 4 Greifen Sie emotionale Reaktionen des Patienten und der Familienangehörigen auf: »Es ist verständlich, dass Sie das sehr bedrückt und ratlos macht.« 4 Weichen Sie bei emotional schwierigen Situationen nicht sofort auf die Sachebene (»Fakten«) aus. 4 Lassen Sie immer Hoffnung zu, auch in »hoffnungslosen« Situationen. Sichern Sie verlässliche, kompetente und bestmögliche Behandlung z. B. gegen Schmerzen zu. Vermitteln Sie dem Patienten das Gefühl, dass er nicht aufgegeben wird, wecken Sie jedoch keine falsche Hoffnung. Informieren Sie den Patienten ausführlich über Erkrankung und Therapieoptionen. Kommentieren Sie die Statistiken und betonen Sie den individuellen Krankheitsverlauf. Gliedern Sie die Informationen thematisch, z. B. »Ich erzähle Ihnen nun etwas über die Behandlungsmöglichkeiten…«. 4 Überprüfen Sie wiederholt, ob der Patient die Informationen verstanden hat. 4 Informieren Sie alle an der Behandlung Beteiligten (Ärzte, Pflegepersonal, Krankengymnasten u. a.) gleichzeitig über den Therapieplan. Berücksichtigen Sie Rückmeldungen von Seiten des Pflegepersonals und der Krankengymnasten. Akzeptieren Sie den Patienten auch, wenn er das Wissen um sein Leiden nicht wahrhaben will. Begreifen Sie Aggression als Ausdruck von Verzweiflung und Mittel zur Abwehr der Bedrohung und zur Krankheitsverarbeitung. 4 Informieren Sie, falls keine Familienangehörigen anwesend sind, Drittpersonen erst nach Rücksprache mit dem Patienten, wenn möglich gemeinsam mit dem Patienten. 6
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104
Kapitel 5 · Krebserkrankung
4 Bieten Sie ein weiterführendes Gespräch an: »Wenn Sie jetzt keine
II
Fragen mehr haben, können wir das Gespräch beenden. Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen danach noch vieles durch den Kopf geht. Wir können gern heute Abend (morgen früh) noch mal darüber sprechen«. Vereinbaren Sie einen Termin. Informieren Sie den Patienten, dass er sich im Notfall an das Pflegepersonal oder den diensthabenden Arzt wenden kann. Sprechen Sie nach dem Gespräch mit dem Patienten mit einem Kollegen über den Gesprächsverlauf und die eigenen Gefühle.
Merke Die Kunst der Informationsvermittlung besteht darin, vor dem Gespräch zu entscheiden, welche Informationen der Patient aus Sicht des Arztes unbedingt benötigt, und die Vermittlung der übrigen Informationen an dem Befinden und den Informationsbedürfnissen des Patienten auszurichten.
5.4
Psychotherapie bei Krebs
5.4.1
Ziele und Zielgruppe
Ziel ist: 4 Die Erhaltung oder Verbesserung des emotionalen Befindens, 4 der zwischenmenschlichen Beziehungen 4 und der Lebensqualität. Psychotherapeutische Unterstützung ist sinnvoll und notwendig, wenn das Ausmaß der Belastungen die Bewältigungsmöglichkeiten des Patienten übersteigt und das psychische Befinden sowie die sozialen Beziehungen längerfristig beeinträchtigt. Bei ca. 20–30% aller Krebspatienten ist dies der Fall. Für diese Patienten besteht je nach Schwere der psychosozialen Belastungen und Motivation ein in Intensität und Dauer abgestufter psychotherapeutischer Behandlungsbedarf. Zur Zielgruppe zählen auch psychisch belastete Partner, Kinder u. a. nahe stehende Bezugspersonen.
105 5.4 · Psychotherapie bei Krebs
5.4.2
5
Indikationen
Eine psychotherapeutische Behandlung durch ärztliche oder psychologische Psychotherapeuten ist indiziert bei: 4 Ängsten und depressiven Reaktionen (ICD-10: F 43.2) nach Diagnosemitteilung oder im Rahmen der Therapie. 4 Suizidalität (7 Kap. 10, Depressionen). 4 Psychovegetativen Reaktionen (ICD-10: F 45) wie verstärkte Übelkeit, Schwäche und Müdigkeit, Schlaf- und Konzentrationsstörungen (Fatigue-Syndrom). 4 Psychischen Beeinträchtigungen und Konflikten in der Partnerschaft durch chirurgische Eingriffe, z. B. nach Brustamputation bei Mammakarzinom oder bei erektiler Dysfunktion nach chirurgischem Eingriff bei Prostataoder Hodenkarzinom. 4 Vermeidung von Öffentlichkeit bei Gesichts- und Kehlkopfoperierten. 4 Persönlichkeitsstörungen (ICD-10: F 60, ICD-10: F 61, ICD-10: F 63), die durch die Krebserkrankung verstärkt wurden. 4 Schon länger bestehenden seelischen Erkrankungen, z. B. Depression (ICD-10: F 32, ICD-10: F 34), Angsterkrankung (ICD-10: F 40, ICD-10: F 41), Psychose (ICD-10: F 0.6, ICD-10: F 2)), die die traumatisierende Wirkung der Diagnosemitteilung verstärken und die Anpassung an die Krankheitssituation erschweren. 4 Körperlich nicht erklärbaren Schmerzsyndromen (ICD-10: F 45.4), die trotz symptomatischer Maßnahmen über längere Zeit bestehen. 4 Posttraumatischen Belastungsstörungen (ICD-10: F 43.1, 7 Kap 11.2.3, Posttraumatische Belastungsstörung), z. B. nach komplikationsreicher Knochenmarktransplantation.
5.4.3
Behandlungsstufen
Es werden drei Behandlungsstufen unterschieden: 4 Information und Beratung (Psychoedukation). Diese 1. Behandlungsstufe sollte jedem Patienten nach der Diagnose einer Krebserkrankung im Rahmen einer psychosomatischen Grundversorgung angeboten werden, sei es als Einzelberatung oder im Rahmen eines Gruppenprogramms. Die Information beinhaltet, dass Ängste und depressive Reaktionen häufige Reaktionen auf die Diagnose darstellen und der Stationsarzt, das Pflegepersonal
106
II
Kapitel 5 · Krebserkrankung
oder Psychotherapeuten als Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Sie erfordert keine psychotherapeutische Kompetenz und kann vom Stationsarzt übernommen werden. Viele Patienten profitieren von Selbsthilfegruppen. 4 Symptomorientierte Maßnahmen. Bei Schmerzen, Erschöpfung, Übelkeit oder Erbrechen gibt es ein breites Spektrum an Interventionsmöglichkeiten: progressive Muskelentspannung, autogenes Training, Hypnose, Tiefenatmung, Meditation, Biofeedback, passive Entspannung und Phantasiereisen (sog. geleitete Imagination oder Visualisierung). 4 Fachpsychotherapeutische Behandlung. Kognitiv-behaviorale, psychodynamische Behandlungsansätze und Gesprächspsychotherapie sowohl als Einzeltherapie oder in der Gruppe haben sich bewährt. Je nach Problem des Patienten können einzelne Elemente oder eine Kombination der Behandlungsverfahren zum Einsatz kommen. In der Praxis werden oft verschiedene Therapieansätze miteinander kombiniert. Eine psychotherapeutische Intervention ist umso erfolgreicher, je mehr sie auf die individuellen Probleme des Patienten, den Krankheitsverlauf und seine psychischen und sozialen Ressourcen abgestimmt ist. In vielen Kliniken steht ein psychiatrischer und psychosomatischer Konsil- und Liaisondienst zur Verfügung, der die fachpsychotherapeutische Behandlung übernimmt und in Kursen Ärzte und Pflegepersonal bei dem Erwerb der psychosomatischen Basiskompetenz unterstützt. Bei einer mittelschweren bis schweren Angststörung, Depression oder einer psychotischen Dekompensation unter Kortison und Chemotherapie wird eine zeitlich begrenzte psychopharmakologische Behandlung notwendig.
5.5
Sterbebegleitung
Belastende Aspekte der Kommunikation mit Tumorpatienten sind: 4 Das ärztliche Gespräch fällt schwer, wenn dem Patienten keine Therapiemöglichkeiten mehr angeboten werden können. 4 Sowohl beim Patienten als auch beim Arzt breiten sich Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit aus (Syndrom der »leeren Hände«). Dazu sagt die Krebspatientin Paula in Irvin D. Yaloms »Die Reise mit Paula«: »Warum begreifen die Ärzte nicht die Bedeutung ihrer schieren Gegenwart?
107 5.6 · Evidence Based Medicine
5
Warum können sie nicht erkennen, dass gerade der Augenblick, in dem sie sonst nichts mehr zu bieten haben, der Augenblick ist, in dem man sie am nötigsten hat?«. Hoffnung wird meistens mit einem positiven Ziel assoziiert und auf eine Erfolgsorientierung, z. B. auf die Formulierung »mit günstiger Prognose« reduziert. Es scheint so, als würde Misserfolg Hoffnung ausschließen. Hoffnung zu geben ist jedoch eine wesentliche Dimension in der Gestaltung der ArztPatient-Beziehung. Krebskranke, deren legitime Hoffnung auf Heilung und Genesung enttäuscht wird, sind nicht notwendigerweise hoffnungslos. Die Hoffnung zu überleben tritt zurück, andere Hoffnungen, z. B. auf einen friedlichen Tod, auf eine Versöhnung mit zerstrittenen Familienangehörigen, oder Wünsche, z. B. den gerade geborenen Enkel noch einmal zu sehen, gewinnen an Bedeutung. Manche Sterbende zeigen in dieser Extremsituation ein wiedergewonnenes Gleichgewicht mit großer Ruhe, Weisheit und Humor, das die Außenstehenden erstaunt. Für die Entfaltung dieser Fähigkeiten ist eine respektvolle und empathische Begleitung notwendig. Der Sterbende braucht das Gefühl, nicht allein gelassen zu werden. Dem Arzt muss klar sein, dass er bei der Sterbebegleitung eine intensive gefühlsmäßige Bindung zu dem Patienten eingeht. Frühere Erfahrungen mit sterbenden Freunden, Geschwistern oder Eltern werden reaktiviert. Für den Arzt ist es wichtig, die eigenen »Schwachstellen« und Verletzlichkeiten zu kennen. Ärzte, die sich mit Traumata und Verlusten in ihrer eigenen Lebensgeschichte auseinandergesetzt haben, sind am ehesten in der Lage, sich einzufühlen und ihre Grenzen zu erkennen. Sie können am ehesten nachvollziehen, was es bedeutet, sich auf den eigenen Tod einzustellen.
5.6
Evidence Based Medicine
Die Wirksamkeit psychoedukativer und psychotherapeutischer Behandlungsverfahren zur Verbesserung des emotionalen Befindens und der Lebensqualität ist gesichert. Auch konnte gezeigt werden, dass mit kognitiv-behavioralen Techniken und Imaginationsverfahren Schmerzzustände, sowie Übelkeit und Erbrechen als Begleitsymptomatik der Chemotherapie beeinflusst werden können. Der Einfluss der Psychotherapie auf den Krankheitsverlauf und die Überlebenszeit ist wahrscheinlich sehr gering und bisher noch nicht überzeugend nachgewiesen.
108
?
Kapitel 5 · Krebserkrankung
Übungsfragen
1 Welche Rolle spielt das Immunsystem bei der Entstehung einer Krebserkran-
II
kung? 3 Welche psychischen Symptome und Reaktionen zeigen Patienten in den ver-
1 2 2 3 2
schiedenen Erkrankungsphasen und welches sind die Aufgaben, die der Patient in diesen Phasen zu bewältigen hat? Welche Phasen kann der Patient im Verlauf der Erkrankung und ihrer Behandlung durchlaufen? Wie definieren Sie Fatigue? Welche Coping-Strategien sind mit einer höheren Lebensqualität und einem besseren emotionalen Befinden verbunden? Wie gehen Sie beim Informations- und Aufklärungsgespräch bei der Diagnose »Krebs« vor? Welche Indikationen für eine psychotherapeutische Behandlung bei Krebspatienten kennen Sie?
Literatur Kappauf H, Gallmeier WM (2004) Nach der Diagnose Krebs – Leben ist eine Alternative. Herder, Freiburg. Information und Beratung für Patienten in sehr verständlicher Form. Koch U, Weis J (2000) Krankheitsbewältigung bei Krebs und Möglichkeiten der Unterstützung. Schattauer, Stuttgart. Ausführliche wissenschaftliche Darstellung des Standes der CopingForschung bei Krebs. Kübler-Ross E (1999) Interviews mit Sterbenden. Kreuz, Zürich. Berühmtes Buch zur Enttabuisierung von Tod und Sterben. Meerwein F (1998) Einführung in die Psychoonkologie. Huber, Bern. Standardwerk auf psychoanalytischer Grundlage. Tschuschke V (2005) Psychoonkologie, Psychologische Aspekte der Entstehung und Bewältigung von Krebs. Schattauer, Stuttgart. Umfassender Überblick über wissenschaftliche Konzepte, psychotherapeutische Behandlungsansätze und ihre Wirksamkeit.
Quellenverzeichnis . Abbildung 5.1 Hürney C (2003) Psychische und soziale Faktoren in Entstehung und Verlauf maligner Erkrankungen. In: von Uexküll: Psychosomatische Medizin, 2003; 6.Auflage Urban & Fischer Verlag München, S. 1015 Yalom YD (2000) Die Reise mit Paula. Bertelsmann
6 6
Koronare Herzerkrankung
6.1
Psychosoziale Faktoren bei Entstehung, Verlauf und Bewältigung eines Herzinfarktes – 110
6.1.1
Psychische Belastungsfaktoren
6.1.2
Berufliche Belastungsfaktoren
6.1.3
Zusammenhang Depression und KHK
6.2
Diagnose Herzinfarkt
6.2.1
Psychische Reaktionen nach der Diagnosestellung (ICD-10: F 43)
– 111 – 111 – 111
– 112
– 112
6.2.2
Krankheitsverarbeitung (Coping)
– 113
6.3
Psychosomatische Grundversorgung
6.3.1
Akutphase
6.3.2
Postinfarktphase
6.4
Psychotherapie nach Herzinfarkt
6.5
Evidence Based Medicine
– 113
– 113 – 114
– 115
– 114
110
Kapitel 6 · Koronare Herzerkrankung
4 Psychosoziale Faktoren bei Entstehung und Verlauf einer koronaren
II
Herzerkrankung 4 Psychosomatische Grundversorgung nach akutem Herzinfarkt und im
Langzeitverlauf
> > Einleitung Als koronare Herzerkrankung (KHK) bezeichnet man die Minderversorgung des Herzens mit Sauerstoff aufgrund einer zunehmenden Verengung der Herzkranzarterien (Angina pectoris) bis zum vollständigen Gefäßverschluss mit Ausbildung eines Herzinfarktes. Die Folgen des Gewebeuntergangs beim Herzinfarkt sind Störungen der kardialen Pumpfunktion mit Herzinsuffizienz und Herzrhythmusstörungen und plötzlichem Herztod. Die bekannten Risikofaktoren sind Hypertonie, erhöhte Serumwerte für LDLCholesterin und Triglyceride, Diabetes mellitus, Rauchen, Übergewicht und Bewegungsmangel. Neben genetischen Faktoren hat auch psychosozialer Stress in Wechselwirkung mit somatischen Risikofaktoren einen entscheidenden Anteil bei der Entstehung und dem Verlauf der koronaren Herzerkrankung. Durch Änderung des individuellen Lebensstils, z. B. Rauchstopp, gesunde Ernährung, mehr Bewegung und weniger Stress, ließe sich das Risiko für einen Herzinfarkt um 80% verringern (Yusuf et al., 2004).
6.1
Psychosoziale Faktoren bei Entstehung, Verlauf und Bewältigung eines Herzinfarktes
Alle folgenden aufgeführten psychosozialen Belastungsfaktoren waren in mehreren Studien mit einem 2–3-fach erhöhten Risiko für eine koronare Herzerkrankung und einen Herzinfarkt verbunden.
111 6.1 · Psychosoziale Faktoren
6.1.1
6
Psychische Belastungsfaktoren
Zu den psychischen Belastungsfaktoren gehören: 4 Negative Bindungserfahrung (7 Kap. 1.3.2) 4 Selbstwertproblematik 4 Chronische Partnerschaftskonflikte 4 Feindseligkeit 4 Soziale Isolation 4 Vitale Erschöpfung 4 Depressivität
6.1.2
Berufliche Belastungsfaktoren
Berufliche Belastungsfaktoren sind: 4 Übersteigerte Verausgabungsbereitschaft mit Unterschätzung der Anforderungen und Überschätzung der eigenen Kraft mit dem Bedürfnis nach Geltung und Anerkennung. 4 Hohe berufliche Anforderungen bei gleichzeitig geringer Kontrolle und Entscheidungsspielraum über die Arbeitsaufgabe und das Ergebnis. 4 Hohe Verausgabung bei niedriger Belohnung durch Geld, Achtung, Arbeitsplatzsicherheit und Aufstiegschancen. 4 Fehlen guter Beziehungen am Arbeitsplatz.
6.1.3
Zusammenhang Depression und KHK
Depression ist ein unabhängiger Risikofaktor bei der Entwicklung einer koronaren Herzerkrankung. 25–30% der Patienten nach Herzinfarkt erfüllen die Kriterien einer depressiven Störung und haben ein erhöhtes Mortalitätsrisiko. Den Zusammenhang zwischen Depression und kardiovaskulären Erkrankungen zeigt . Tabelle 6.1. Das Zusammenwirken psychischer, sozialer und somatischer Risikofaktoren lässt sich folgendermaßen beschreiben: Traumatisierende Erlebnisse in Kindheit und Jugend führen zu starken psychischen Spannungen, die versucht werden mit erhöhtem Nikotinabusus und vermehrtem Essen zu lindern. Negative Beziehungserfahrungen und berufliche
112
II
Kapitel 6 · Koronare Herzerkrankung
. Tabelle 6.1. Zusammenhang zwischen Depression und kardiovaskulären Erkrankungen
Depression HPA-Achse1
Sympathovagale Dysregulation
Verändertes Gesundheitsverhalten
Hyperkortisolämie 4 Erhöhte Blutfette 4 Adipositas 4 Insulinresistenz 4 Diabetes mellitus
Gestörte Endothelfunktion Arrhythmien Vasokonstriktion Hypertonie
Non-Compliance z. B. Medikamente Rauchen Geringe Aktivität Ungesunde Ernährung
1
HPA = Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse
Enttäuschungen werden als Retraumatisierung erlebt und lösen Depressivität und unterdrückte Feindseligkeit aus. Das Zusammenwirken dieser somatischen und psychosozialen Risikofaktoren erhöht die Wahrscheinlichkeit an einem frühen Herztod zu sterben um das 10-fache.
6.2
Diagnose Herzinfarkt
Obwohl viele Patienten den Herzinfarkt »wie aus heiterem Himmel« erleben, hat ein Viertel der Patienten uncharakteristische Warnsignale, die jedoch meistens ignoriert werden. Dazu zählen Müdigkeit, Leistungsschwäche, Konzentrationsstörungen, Schwindel, Schlafstörungen, Angst und Krankheitsgefühl. Diese Symptome werden unter dem Begriff »vitale Erschöpfung« zusammengefasst.
6.2.1
Psychische Reaktionen nach der Diagnosestellung (ICD-10: F 43)
Bei ca. 30% der Patienten bestehen in den ersten Tagen und Wochen nach akutem Herzinfarkt Angstzustände und depressive Symptome. Auslöser dieser psychischen Reaktionen sind eine Labilisierung des Selbstwertgefühls, die Angst vor kardialen Komplikationen, Verlust der körperlichen Integrität, Arbeits-
113 6.3 · Psychosomatische Grundversorgung
6
platzverlust und Angst vor sozialem Abstieg, die Abhängigkeit von Ärzten und Pflegepersonal und die Abwehr von aggressiven Impulsen.
6.2.2
Krankheitsverarbeitung (Coping)
Verdrängung und Verleugnung der lebensbedrohlichen Diagnose hat zunächst das Ziel Angst zu mindern und die psychische Funktionsfähigkeit wieder herzustellen (7 Kap. 1.3.5, Coping). Dies hat z. B. nach der Diagnose einer Krebserkrankung in den ersten Wochen und Monaten auch einen stabilisierenden Effekt. Bei der koronaren Herzerkrankung ereignen sich aber 50% der Todesfälle in den ersten vier Stunden nach dem Infarkt. Verleugnung beim Herzinfarkt ist deshalb mit folgenden Konsequenzen verbunden: 4 Zu späte Inanspruchnahme fachärztlicher Hilfe. 4 Angina-pectoris-Symptomatik wird nicht erkannt und nicht ernst genommen. 4 Verordnete Bettruhe wird nicht eingehalten. 4 Informationen über Entstehung von Herzinfarkt und die konsequente Durchführung späterer Therapie- und Rehabilitationsmaßnahmen werden nur selektiv aufgenommen. Das durch die Verleugnung kurzfristig bessere emotionale Empfinden wird nach einem Jahr mit einer schlechteren Compliance, häufigerer Rehospitalisierung und einer erhöhten Sterblichkeitsrate erkauft.
6.3
Psychosomatische Grundversorgung
6.3.1
Akutphase
In der Akutphase befindet sich der Patient in einer Ambivalenz zwischen Bestrebungen nach Unabhängigkeit und hypochondrischen Befürchtungen. Die ängstliche Seite und der Wunsch nach Regression werden durch ein dominantes und expansives Auftreten abgewehrt, um die »Führung« nicht abgeben zu müssen.
114
Kapitel 6 · Koronare Herzerkrankung
Praxistipps Der Arzt versucht den Patienten in seiner gefühlsmäßigen Ambivalenz zu verstehen und anzunehmen, indem er ihm beide Seiten spiegelt: 4 Sie sind immer gewohnt gewesen Ihr Leben im Griff zu haben und selbst zu bestimmen. Nun sind Sie von Ärzten, Pflegekräften und Apparaten abhängig und vielleicht empfinden Sie zum ersten Mal in Ihrem Leben so etwas wie Angst und Ohnmacht. Wenn Sie möchten, können Sie mir gerne mehr über Ihre Gedanken und Gefühle mitteilen. 4 Wie ging es Ihnen denn seelisch, als Sie von der Herzkrankheit erfuhren? Ich könnte mir vorstellen und so kenne ich es auch von anderen Patienten, dass man nach so einer Diagnose erstmal ziemlich geschockt sein kann.
II
Der Arzt informiert den Patienten über die Behandlungsziele und den Behandlungsplan sowie zu Techniken der Verminderung von Unsicherheit und Angst (7 Kap. 9.4, Angststörungen). Je nach Informationsbedürfnis des Patienten wird auch über potentielle Auslöser des Herzinfarkts gesprochen: 4 Ein Infarkt kommt selten aus heiterem Himmel. Was haben Sie in letzter Zeit durchmachen müssen?
6.3.2
Postinfarktphase
Die Notwendigkeit zur Schonung und die nur langsam wieder einsetzende Belastbarkeit erleben viele Patienten als schwer zu ertragende Passivität. Ihr Leben war bisher auf Selbstbestätigung durch Leistung ausgerichtet und nicht mit einer längeren Bettruhe und Schonung vereinbar. Dadurch zeigen diese Patienten bald wieder die Tendenz, in ihre alten Lebens- und Arbeitsweisen, z. B. in Bezug auf Rauchen, Ernährung, Überstunden zurückzuverfallen.
6.4
Psychotherapie nach Herzinfarkt
Bei 20% der Patienten besteht sowohl im Akutkrankenhaus als auch in der ambulanten oder stationären Rehabilitation ein Bedarf an psychotherapeutischer Unterstützung.
115 6.5 · Evidence Based Medicine
6
Folgende Behandlungsmaßnahmen haben sich bewährt: 4 Kognitiv-behavioral ausgerichtete Trainingsprogramme zur Reduktion von Stressbelastung und Förderung gesundheitsbewusster Verhaltensweisen mit dem Ziel kardiovaskuläre Risikofaktoren zu beeinflussen. 4 Psychotherapeutische Modifikation koronar gefährdender Verhaltens- oder Persönlichkeitsmerkmale, z. B. unterdrückter Ärger, sozialer Rückzug. 4 Psychotherapeutische und psychopharmakologische Behandlung der Depressivität.
6.5
Evidence Based Medicine
Zwei Metaanalysen (Linden et al. 1996, Dusseldropp 1999) von über 30 Studien zeigen, dass kurzzeitige psychotherapeutische Interventionen bei Patienten mit koronarer Herzerkrankung die Stressbelastung reduzierten, die Herzfrequenz normalisierten, das Cholesterol senkten und das Risiko kardialer Ereignisse um das 1,8-fache und der kardialen Mortalität um das 1,7-fache verminderten. Dieser Einfluss auf Reinfarktrate und Mortalität konnte in einer neueren Studie (Berkman et al. 2003) nicht mehr nachgewiesen werden. Das kognitiv-behaviorale Therapieprogramm bewirkte jedoch in der Interventionsgruppe einen stärkeren Rückgang der Depressivität als in der Kontrollgruppe.
?
Übungsfragen
2 Welche psychosozialen Risikofaktoren sind für die Entstehung der koronaren
Herzerkrankung und die Auslösung eines Herzinfarktes gesichert? 2 Was sind die Folgen von Verdrängung und Verleugnung einer koronaren Herz-
erkrankung? 3 Was ist die Aufgabe des Hausarztes oder niedergelassenen Kardiologen bei
der Betreuung von KHK-Patienten im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung?
116
Kapitel 6 · Koronare Herzerkrankung
Literatur
II
Bardé B, Jordan J (2003) Psychodynamische Beiträge zur Ätiologie, Verlauf und Psychotherapie der koronaren Herzkrankheit. Reihe Statuskonferenz Psychokardiologie. VAS-Verlag, Frankfurt/M Hermann-Lingen C, Buss U (2002) Angst und Depressivität im Verlauf der koronaren Herzkrankheit. Reihe Statuskonferenz Psychokardiologie. VAS-Verlag, Frankfurt/M Ladwig KH et al. (2004) Das Konzept der vitalen Erschöpfung, Angst und Depression, Hilf- und Hoffnungslosigkeit vor Ausbruch der koronaren Herzerkrankung. Reihe Statuskonferenz Psychokardiologie. VAS-Verlag, Frankfurt/M Langosch W et al. (2003) Psychologische Interventionen zur KHK. Reihe Statuskonferenz Psychokardiologie. VAS-Verlag, Frankfurt/M. Die Bücher der Statuskonferenz Psychokardiologie sind eine fortlaufende Reihe zum aktuellen Stand der Zusammenhänge zwischen Psyche, Umweltfaktoren und Herzerkrankungen. Hermann-Lingen C (2000) Biopsychosoziale Faktoren in der Genese und Manifestation der koronaren Herzkrankheit. Z Psychosom Med 46: 315–330. Gut geschriebene Übersichtsarbeit über psychosoziale Faktoren bei der Entstehung und dem Verlauf der KHK.
Quellenverzeichnis Berkman LF et al. (2003) Effects of treating depression and low perceived social support on clinical events after myocardial infarction: the Enhancing Recovery in Coronary Heart Disease Patients (ENRICHD) Randomized Trial. JAMA 289:3106-16 Dusseldropp E et al. (1999) A meta-analysis of psychoeducational programs for coronary heart disease patients. Health Psychol 18: 506–519 Linden W et al. (1996) Psychosocial interventions for patients with coronary artery disease: a meta-analysis. Arch Intern Med 156: 745–752 Yusuf S et al. (2004) Effect of potentially modifiable risk factors associated with myocardial infarction in 52 countries (the INTERHEART study): case-control study. Lancet 364: 937– 952
7 7
Somatisierung
7.1
Symptome
7.2
Diagnostische Einteilung
7.2.1
Somatoforme Störungen (ICD-10: F 45)
– 118 – 119 – 119
7.2.2
Dissoziative Störungen (ICD-10: F 44)
7.2.3
Konversionsstörung (ICD-10: F 44)
– 121
7.2.4
Differenzialdiagnose
7.3
Erkennen
7.4
Häufigkeit und Verlauf
7.5
Entstehung somatoformer Symptome
7.6
Psychosomatische Grundversorgung
7.7
Psychotherapie
7.8
Evidence Based Medicine
– 121
– 121
– 122 – 122
– 128 – 130
– 124 – 124
118
Kapitel 7 · Somatisierung
4 Erkennen somatoformer Symptome und ihre diagnostische Eintei-
II
lung 4 Entstehungsmodell der Somatisierung 4 Schwierigkeiten in der Arzt-Patienten-Beziehung 4 3-Stufen-Modell der ärztlichen Grundversorgung
> > Einleitung Somatisierung ist eine Störung, bei der der Patient 1. durch körperliche Beschwerden belastet ist, für die keine hinreichenden organischen Ursachen gefunden werden; 2. überzeugt ist, dass die körperlichen Beschwerden Ausdruck einer organischen Erkrankung sind; 3. Hilfe sucht für seine Beschwerden bei primär somatisch ausgebildeten Ärzten und 4. die körperlichen Beschwerden in Zusammenhang mit aktuellen oder zurückliegenden psychischen und sozialen Belastungen stehen, die dem Patienten oft nicht bewusst sind.
7.1
Symptome
Somatoform bedeutet, dass die vorhandenen körperlichen Beschwerden somatische Krankheiten nachformen, ohne dass ein ausreichender Organbefund vorliegt. Somatoforme Symptome können jedes Organsystem betreffen. Die häufigsten Manifestationen zeigt . Tabelle 7.1. Die meisten der in . Tabelle 7.1 genannten Beschwerden werden bestimmten Diagnosen zugeordnet. Damit wird suggeriert, dass es sich um eine körperliche Erkrankung handelt. Entsprechend sind die Therapieerfolge mit Medikamenten, Operationen und anderen primär auf der somatischen Ebene ansetzenden Therapieverfahren wenig erfolgreich. . Tabelle 7.2 gibt einen Überblick über Diagnosen, wie sie sich in den verschiedensten Fachgebieten finden und bei denen meist eine Somatisierung vorliegt.
119 7.2 · Diagnostische Einteilung
7
. Tabelle 7.1. Manifestationen somatoformer Symptome
Organsystem
Häufige Symptome
Herz
Brustschmerzen, paroxysmale Tachykardien
Blutdruck
hypertone und hypotone Regulationsstörung, Synkope
Oberer Gastrointestinaltrakt
Übelkeit, Globusgefühl, Meteorismus
Unterer Gastrointestinaltrakt
Schmerzen, Diarrhoe, Obstipation
Atmung
Hyperventilation mit Parästhesien
Bewegungsapparat
Rückenschmerzen
Urogenitalsystem
Harnverhalten, Menstruationsstörungen
Nervensystem
Schwindel, Krampfanfall, Lähmungen
Allgemeinsymptome
Leistungsminderung, Schlafstörungen
7.2
Diagnostische Einteilung
7.2.1
Somatoforme Störungen (ICD-10: F 45)
Folgende Unterteilung hat sich in der Praxis bewährt: 4 Funktionsstörungen der vegetativ versorgten Organsysteme wie Herz, Magen-Darm-Trakt, Atmung und Urogenitalsystem (. Tabelle 7.1). 4 Die anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10: F 45.4, 7 Kap. 8, Chronische Schmerzstörung). 4 Als schwerste Ausprägung umfasst die so genannte Somatisierungsstörung (ICD-10: F 45.0) vielfältige, häufig wechselnde körperliche Symptome, die bereits über Jahre bestehen und mehrere Organsysteme betreffen.
120
Kapitel 7 · Somatisierung
. Tabelle 7.2. Diagnosen in verschiedenen Fachgebieten
II
Fachgebiet
Diagnosen
Allergologie
Lebensmittelallergien
Kardiologie
nicht kardialer Thoraxschmerz Mitralklappenprolaps
Zahnmedizin
Kiefergelenksbeschwerden atypischer Gesichtsschmerz
HNO
Tinnitus Schwindel Globussyndrom
Gynäkologie
Prämenstruelles Syndrom Chronische Unterleibsschmerzen
Arbeitsmedizin
Multiple Chemische Sensitivität (MCS) Chronic Fatigue Syndrome (CFS) Sick Building Syndrome¹
Orthopädie
Bandscheibenvorfall
Pneumologie
Dyspnoe Hyperventilation
Rehabilitationsmedizin
Schleudertrauma
Rheumatologie
Fibromyalgie
Militärmedizin
Golfkriegs-Syndrom²
¹ Unspezifische Symptome wie Kopfschmerzen, Übelkeit und Hautausschläge bei längerem Aufenthalt in Gebäuden ² Starke Müdigkeit, Hautausschläge, Störungen des Geruchsinns u. a. bei englischen und amerikanischen Soldaten nach Teilnahme am Golfkrieg 1990
4 Bei der hypochondrischen Störung (ICD-10: F 45.2) beschäftigen sich die Patienten in übertriebener Weise und über lange Zeit mit der Möglichkeit, an einer oder mehreren schweren und fortschreitenden körperlichen Erkrankungen zu leiden. Alltägliche Körperempfindungen werden als bedrohlich und belastend fehl interpretiert. Bei der körperdysmorphen Störung wird der Körper als vermeintlich missgestaltet interpretiert. Dies geht meist mit dem Wunsch nach kosmetischen Operationen einher.
121 7.2 · Diagnostische Einteilung
7.2.2
7
Dissoziative Störungen (ICD-10: F 44)
Dissoziation heißt wörtlich »Spaltung des Bewusstseins«. Beispiele sind Entfremdungsgefühle wie Depersonalisation und Derealisation, Gedächtnisverlust und Fluchtverhalten, Dämmerzustände und nicht epileptische Krampfanfälle. Diese Phänomene kommen häufig in Zusammenhang mit schweren psychischen Traumata, besonders nach Gewalterfahrungen und sexuellem Missbrauch vor. Die verbale Verarbeitung des Ereignisses ist nicht möglich. Das traumatische Erlebnis wird abgespalten und findet als Angst, vegetativer Spannungszustand und den oben beschriebenen Symptomen seinen Ausdruck (7 Kap. 11, Posttraumatische Belastungsstörung).
7.2.3
Konversionsstörung (ICD-10: F 44)
Konversionssymptome sind Funktionsstörungen der Willkürmotorik und des Sensoriums. Die Symptome betreffen Körperfunktionen und Körperregionen, die eine Bedeutung in der Kommunikation haben wie Arme und Beine, Augen und Gehör. Beispiele sind Lähmungen der Muskulatur mit Gangstörungen, Störungen der Sinnesempfindungen wie Gefühllosigkeit der Haut, plötzlicher Sehverlust, Taubheit und Ohnmacht. Ein verdrängter Konflikt wird in Körpersprache symbolisch ausgedrückt, um das Bewusstsein von unerträglichen Gefühlen freizuhalten.
7.2.4
Differenzialdiagnose
Somatoforme Symptome können auch Teil einer Angststörung oder einer Depression sein. Gefühle der Angst oder depressive Symptome werden nicht bewusst erlebt, sondern kommen nur auf körperlicher Ebene zum Ausdruck. Wir sprechen hier auch von Affektäquivalent. Die Überschneidungen von Somatisierung, Angst und Depression zeigt die . Abb. 7.1.
122
Kapitel 7 · Somatisierung
II
. Abb. 7.1. Überschneidungen Somatisierung, Angst und Depression
7.3
Erkennen
Hinweise für somatoforme Störungen können sein: 4 Die Symptome folgen nicht anatomischen oder physiologischen Mustern. 4 Die Schilderung der Symptome ist diffus. 4 Beschwerden werden einerseits unbewegt hingenommen, andererseits in dramatischen Bildern und inadäquaten Affekten geschildert. 4 Der Patient wirkt klagend, fordernd, anklammernd. 4 Es finden sich weitere organisch nicht ausreichend erklärbare Beschwerden. 4 Häufiger Arztwechsel. 4 Aktuelle Belastungen, z. B. im Beruf oder in der Familie.
7.4
Häufigkeit und Verlauf
Die 12-Monats-Prävalenz somatoformer Störungen in der erwachsenen Bevölkerung beträgt 12% (Wittchen und Jacobi, 2001). Bei Frauen wird deutlich häufiger eine Somatisierung diagnostiziert als bei Männern. Ca. 30% der Patienten, die einen Hausarzt aufsuchen, haben körperliche Beschwerden ohne ausreichenden Organbefund. Eine amerikanische Studie untersuchte über einen drei Jahreszeitraum für die zehn häufigsten Klagen den Anteil körperlicher Erkrankungen. Nur bei 16%
123 7.4 · Häufigkeit und Verlauf
7
. Abb. 7.2. Körperliche Beschwerden im 3-Jahres-Verlauf. Nach Kroenke, Mangelsdorff (1988)
der 1000 Patienten wurde eine organische Ursache gefunden. Bei einem großen Teil der übrigen Patienten handelte es sich wahrscheinlich um eine Somatisierung (. Abb. 7.2). Folgende Verlaufsformen werden unterschieden: 1. Kurzfristige, oft wenige Stunden oder Tage anhaltende Beschwerden, die bei jedem Menschen vorkommen und rasch wieder ohne weitere Maßnahmen abklingen. 2. Beschwerden, die Wochen und mehrere Monate andauern, häufig in Zusammenhang mit akuten Belastungen stehen, die zum Teil spontan abklingen, zum Teil aber auch einer Behandlung bedürfen, um eine Chronifizierung zu vermeiden.
124
II
Kapitel 7 · Somatisierung
3. Anhaltende Somatisierung über Monate und Jahre, teilweise mit wechselnder Symptomatik, die zu häufigen Arztbesuchen, diagnostischen und therapeutischen Eingriffen, starkem Leidensdruck, reduzierter Lebensqualität und Arbeitsunfähigkeit führt.
7.5
Entstehung somatoformer Symptome
Jeder Mensch reagiert auf psychische Belastungen mit körperlichen Symptomen, z. B. Schwitzen, Schlafstörungen, Herzklopfen, Durchfall etc. Bei somatisierenden Patienten werden die emotionalen Belastungen nicht wahrgenommen oder es besteht eine Hemmung, die Gefühle auszudrücken. Die Aufmerksamkeit richtet sich stattdessen auf die begleitenden Körpersymptome, die eine negative Bewertung und Verstärkung erfahren und nicht mehr mit dem auslösenden Gefühl in Zusammenhang gebracht werden. Das Klagen über körperliche Beschwerden ersetzt den Ausdruck unangenehmer Gefühle. In einem Teufelskreis (7 Kap. 9.4.4, Angststörungen, Teufelskreis der Angst) verstärken die körperlichen Beschwerden die Angst, die ihrerseits verstärkte körperliche Symptome bedingt (. Abb. 7.3). Zu den psychosozialen Faktoren, die eine Somatisierung begünstigen, zählen: 4 Traumatisierungen in der Kindheit. 4 negative Bindungserfahrungen (7 Kap. 1.3.2). 4 Modell-Lernen an elterlichen Vorbildern, die unter ähnlichen Beschwerden litten. 4 Neigung zu psychischer und körperlicher Überforderung. 4 geringes Selbstbewusstsein, Kränkbarkeit und Verletzbarkeit. 4 Verstärkung einer Krankenrolle durch vermehrte Aufmerksamkeit und Unterstützung des Umfeldes. 4 Entlastung von sozialen oder familiären Anforderungen und Verpflichtungen als Folge der Beschwerden.
7.6
Psychosomatische Grundversorgung
Ziel der Behandlung im Rahmen der Psychosomatischen Grundversorgung ist der Aufbau einer empathischen und vertrauensvollen Arzt-Patient-Beziehung, in der der Patient sich mit seinen Beschwerden und seiner Sicht der Erkrankung
125 7.6 · Psychosomatische Grundversorgung
7
. Abb. 7.3. Entstehungsmodell der Somatisierung. Nach Rief (2000)
ernst genommen fühlt. Nach Ausschluss einer organischen Erkrankung können so andere Erklärungsmodelle besprochen werden und, falls nötig, der Patient für eine weiterführende psychotherapeutische Behandlung motiviert werden. Zur therapeutischen Grundhaltung (7 auch Kap. 8, Chronische Schmerzstörung) gehört: 4 Ernstnehmen der körperlichen Beschwerden. 4 Verständnis für Hilflosigkeit, Enttäuschung und Ärger des Patienten. 4 Auch wenn der Arzt nicht an eine organische Ursache der Erkrankung glaubt, den Patienten wiederholt zumindest kurz körperlich untersuchen. 4 Keine vorschnelle Verknüpfung von berichteten oder vermuteten seelischen Belastungen mit den körperlichen Beschwerden. 4 Geduld, Gelassenheit und Wissen um die Begrenztheit der therapeutischen Möglichkeiten.
126
Kapitel 7 · Somatisierung
Praxistipps
II
Behandlungsziel ist Linderung der Beschwerden, keine Heilung. Eine regelmäßige Einbestellung, z. B. 14-tägig ist zu empfehlen. Für die Behandlung in der Grundversorgung hat sich folgendes 3-Stufen-Modell bewährt: 1. Stufe 1 Empathische, vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung. 2 Erfragen des subjektiven Krankheitsverständnisses: »Was, glauben Sie, hat Ihre Krankheit verursacht? Wie ernsthaft glauben Sie ist Ihre Krankheit? Von welcher Therapie würden Sie am meisten profitieren?« 3 Psychosoziale Anamnese. 4 Rückmeldung der Untersuchungsergebnisse: »Die Laboruntersuchung, Ultraschall und Computertomographie haben keine Hinweise auf eine organische Erkrankung ergeben. Ich möchte gerne noch einmal Ihren Bauch untersuchen… Im mittleren Bereich ist Ihr Bauch empfindlich, aber sonst kann ich keine Auffälligkeit finden. Aber ich kann mir vorstellen, dass Sie sehr unter Ihren Beschwerden leiden.« 2. Stufe 5 Entwicklung eines alternativen Krankheitsmodells durch Erläuterung psychophysiologischer Zusammenhänge, z. B. zwischen Angst und körperlichen Symptomen: »Bei ängstlichen Menschen schüttet der Körper mehr Adrenalin aus. Deshalb schlägt das Herz in Angstsituationen schneller.« Oder Erläuterung des Zusammenhanges zwischen depressiver Stimmung und Körpersymptomen: »Wenn Menschen Sorgen haben, bedrückt sind, kann ihr Darm sich zusammenziehen, was Bauchschmerzen verursacht.« Besonders hilfreich sind körperbezogene Redewendungen im Alltag, z. B. »Wenn das Herz flattert, was uns an die Nieren geht, was mir auf den Magen schlägt, was uns unter die Haut geht«. 6 Beeinflussung der kognitiven Verarbeitung der Beschwerden, z. B. durch Teufelskreismodell (7 Kap. 9.4.4, Angststörungen) oder Übungen zur Körperwahrnehmung. 7 Verbalisierung von belastenden Emotionen. 6
127 7.6 · Psychosomatische Grundversorgung
Praxistipps 3. Stufe 4 Zusammenhang zwischen Auftreten der körperlichen Beschwerden und Lebensgestaltung. 4 Abbau von Schon- und Vermeidungsverhalten. 4 Entwicklung von alternativen Verhaltensweisen in Beruf und Privatleben, Motivierung für eine fachpsychotherapeutische Behandlung.
Der Fall Eine 40-jährige, verheiratete Frau klagt seit einigen Monaten über Bauchschmerzen und kommt erneut in die Sprechstunde. Alle Untersuchungsbefunde waren unauffällig. A: »Was, denken Sie, ist die Ursache für Ihre Bauchschmerzen?« P: »Ich weiß, das klingt albern, aber meine Mutter hatte Gebärmutterkrebs und es fing auch mit solchen Bauchschmerzen an. Ich muss jetzt oft denken, dass mein Krebs nur noch nicht erkannt ist.« A: »Beschäftigt Sie das sehr?« P: »Ja, schon.« A: »Wenn Sie einverstanden sind, werde ich Sie jetzt auch körperlich untersuchen. (...)« A: »Sie haben beim letzten Besuch erwähnt, dass es berufliche Probleme gibt?« P: »Ja, es sollen Arbeitsplätze wegrationalisiert werden, ich mache mir große Sorgen. Manchmal muss ich sogar weinen« A: »Ich sehe, dass Sie auch im Moment angespannt und traurig sind. Körperliche Angespanntheit kann eine Muskelverkrampfung erzeugen und zu ähnlichen Beschwerden führen, wie Sie sie jetzt haben.« P: »Sie meinen, das hat mit meinen Bauchschmerzen zu tun?« A: »Ich meine, die Sorgen sind Ihnen auf den Magen geschlagen.« P: »Sie glauben, die Muskeln in meinem Bauch verkrampfen sich und verursachen meine Bauchschmerzen? Aber meine traurige Stimmung, macht die auch diese Schmerzen?« 6
7
128
Kapitel 7 · Somatisierung
Der Fall
II
A: P: A: P: A: P:
»Ja, natürlich, können Sie sich z. B. im Bett entspannen?« »Oh nein.« »Ich glaube auch das ist die Folge von den Sorgen, die Sie sich machen.« »Hmh … das könnte sein. Aber was kann ich dagegen tun?« »Wie fühlen Sie sich, wenn Sie darüber sprechen?« »Es tut gut, Ihnen meine Gefühle zu zeigen und verstanden zu werden. Ich versuche immer stark zu sein, aber eigentlich weiß ich nicht mehr weiter.« A: »Ich glaube psychotherapeutische Gespräche könnten Ihnen helfen Ihre Ängste und Sorgen um den Arbeitsplatz besser zu bewältigen und sich wieder zu entspannen.« P: »Was heißt »psychotherapeutische Gespräche« genau?« Arzt erklärt (7 Kap 2.5, Wege zur Psychotherapie). A: »…und ich schreibe Ihnen jetzt die Telefonnummer einer Psychotherapeutin auf, mit der ich zusammenarbeite. Sie können dann selbst einen Termin vereinbaren.« P: »Danke. Ich weiß nicht, ob mir das helfen wird, aber ich habe jetzt wieder etwas Hoffnung.«
7.7
Psychotherapie
Der Übergang von der Psychosomatischen Grundversorgung zur Fachpsychotherapie ist fließend. Die folgenden Therapiebausteine können auch von qualifizierten und erfahrenen Fachärzten anderer Fachrichtungen mit der Zusatzbezeichnung Psychotherapie (7 III Anhang) durchgeführt werden: Zeit nehmen. Das geduldige Anhören der oft umfangreichen Beschwerdeschilderung, der Enttäuschung über vorangegangene Behandlungsversuche und der Klagen des Patienten über das Unverständnis, das ihm bisher bei Ärzten und nahen Bezugspersonen begegnet ist, hat unmittelbare Entlastungsfunktion und therapeutische Wirksamkeit. Da den Patienten die psychische Dimension ihres Leidens nicht zugänglich ist, können sie ihre emotionale Bedürftigkeit zunächst nur über ihre körperlichen Beschwerden ausdrücken. Eine Annahme und ein
129 7.7 · Psychotherapie
7
. Tabelle 7.3. Symptomtagebuch: Beispiel eines 35-jährigen Diplomvolkswirtes mit rezidivierendem Druckgefühl und Schmerzen in der linken Brust, verbunden mit Atemnot und der Angst vor einem Herzinfarkt
Datum
Symptome Nach Schweregrad aufgeteilt¹. Situation (was Sie gerade tun, was Sie gedanklich beschäftigt)
Wie fühlten Sie sich? Nach Schweregrad aufgeteilt¹. (ängstlich, sehr angespannt, traurig, nervös, ärgerlich, froh, unruhig)
An was dachten Sie? Nach Schweregrad aufgeteilt¹.
01.09.05
Schmerzen in der Brust (8). Bei der Gartenarbeit.
Ängstlich (6).
Ich habe einen Herzinfarkt (9).
07.09.05
Kurzatmigkeit (4), Herzrasen (6). Ich liege im Bett
Ängstlich (9).
Irgend etwas stimmt nicht mit meinem Herzen (8).
¹ (Schweregrad 0–10; 0=gar nicht, 10=sehr stark, sehr ausgeprägt)
Verständnis für diese Beschwerden fördern das Selbstwertgefühl und stärken das Vertrauen in den Arzt. Symptomtagebuch. Der Einsatz eines Symptomtagebuchs dient der Wahrnehmung der Beschwerden und ihrer Fehlbewertung, wie z. B. die Angst eine ernsthafte Krankheit zu haben (. Tabelle 7.3). Die Aufzeichnung der Gedanken und Gefühle beim Auftreten der Herzbeschwerden werden besprochen und zusammen mit dem Patienten neu bewertet, z. B. »Jetzt kommen die Schmerzen in der Brust wieder und ich habe Angst, einen Herzinfarkt zu bekommen. Zwar weiß ich, dass mein Vater an einem Herzinfarkt verstorben ist und er ähnliche Symptome hatte, aber alle Untersuchungen der letzten Wochen und Monate haben gezeigt, dass mein Herz vollkommen gesund ist und ich mich voll körperlich belasten darf.« In der Folge setzt der Patient seine Gartenarbeit fort und macht die Erfahrung, dass die Beschwerden abklingen, ohne dass er sich ins Bett legt oder den Notarzt anrufen muss.
130
Kapitel 7 · Somatisierung
Entspannungsverfahren und Körperwahrnehmung. Die Kontrolle über die
II
körperlichen Symptome wird durch Entspannungsverfahren und Übungen zur Körperwahrnehmung erleichtert. Eine Indikation für eine fachpsychotherapeutische Behandlung besteht, wenn die körperliche Symptomatik Ausdruck einer mittelgradigen bis schweren Depression oder Angststörung ist. Oft finden sich in der Anamnese unbewältigte Verlusterlebnisse oder Traumatisierungen durch Gewalterfahrungen. Prognostische Faktoren für den Erfolg einer psychotherapeutischen Behandlung somatoformer Symptome sind: 4 Die körperliche Symptomatik sollte nicht länger als ein Jahr bestehen, da mit Zunahme der Symptomdauer eine Fixierung auf eine organmedizinische Behandlung und eine Gewöhnung an den Krankenstatus eingetreten ist. 4 Beim Patienten sollte eine Ahnung vorhanden oder durch die Behandlung entstanden sein, dass die Symptome mit seiner Lebenssituation zusammenhängen. Am günstigsten ist ein akuter beruflicher oder partnerschaftlicher Konflikt, der in zeitlichem Zusammenhang mit dem Auftreten der somatoformen Symptome steht und lebensgeschichtliche Vorläufer hat. 4 Der Patient fühlt sich durch die psychotherapeutischen Gespräche entlastet und ist in der Lage, die erarbeiteten therapeutischen Schritte im Alltag umzusetzen.
7.8
Evidence Based Medicine
Kognitiv-behaviorale Behandlungsverfahren sind wirksam in Bezug auf die Verbesserung des körperlichen Befindens, der Lebensqualität und einer Reduzierung der Gesundheitskosten. Beim chronischen Müdigkeitssyndrom, der Fibromyalgie und bei nicht organisch bedingten Herzbeschwerden fanden sich Besserungen auf der Symptomebene. Ein psychodynamischer Behandlungsansatz hat sich bei Patienten mit funktionellen Ober- und Unterbauchbeschwerden (Colon irritabile) als wirksam erwiesen. Die psychische Symptomatik konnte nur in einem Teil der Studien beeinflusst werden.
131 7.8 · Evidence Based Medicine
?
7
Übungsfragen
3 Nennen Sie jeweils 2 typische somatoforme Symptome des Herz-Kreislauf-
Systems, des Magen-Darm-Traktes, der Atmung und des Nervensystems. 2 Was ist eine Konversionsstörung? 1 Was versteht man unter hypochondrischer Störung? 2 Nennen Sie mindestens 5 Hinweise für das Vorliegen einer Somatisierung. 2 Wie lässt sich die Entstehung somatoformer Symptome erklären? 3 Wie sieht eine stufenweise Behandlung, z. B. im Rahmen der Hausarztpraxis
aus? 1 Was sind Indikationen für eine fachpsychotherapeutische Behandlung?
Literatur Kapfhammer HP, Gündel H (2001). Psychotherapie der Somatisierungsstörungen. Thieme, Stuttgart New York. Umfassende Darstellung der Somatisierungssyndrome in verschiedenen Fachgebieten und ihre Behandlung. Rief W, Hiller W (1992). Somatoforme Störungen. Körperliche Symptome ohne organische Ursache. Huber, Bern. Guter Überblick über Geschichte, Klassifikation und Entstehungsbedingungen somatoformer Störungen und der kognitiv-behavioralen Behandlungsansätze.
Quellenverzeichnis . Abbildung 7.2 Kroenke K, Mangelsdorff D (1988). Common symptoms in ambulatory care: incidence, evaluation, therapy and outcome. Am J Med 86:262–266 . Abbildung 7.3 Rief W (2000). Somatisierungsstörungen. In: Margraf J (Hrsg.) Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York Wittchen HU, Jacobi S (2001). Die Versorgungssituation psychischer Störungen in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 44: SpringerVerlag, Berlin Heidelberg
8 8
Chronische Schmerzstörung
8.1
Definition
– 134
8.2
Häufigkeit
– 135
8.3
Entstehung einer chronischen Schmerzstörung – 135
8.4
Psychosomatische Anamnese
8.4.1
Schmerzanamnese
8.4.2
Schmerzstärke
8.4.3
Subjektives Schmerzverständnis
8.4.4
Soziale Anamnese
8.4.5
Emotionales Befinden
8.4.6
Medikamentenanamnese
8.5
Psychosomatische Grundversorgung
8.6
Psychotherapie
8.7
Evidence Based Medicine
– 136
– 136
– 137 – 137
– 137 – 137 – 138
– 141 – 143
– 138
134
Kapitel 8 · Chronische Schmerzstörung
4 Definition
II
4 Entstehungsbedingungen 4 Durchführung einer psychosomatischen Schmerzanamnese 4 Information, Beratung und Begleitung eines chronisch Schmerzkran-
ken im Rahmen der Psychosomatischen Grundversorgung 4 Psychotherapeutische Behandlung
> > Einleitung Schmerz ist ein ubiquitäres und notwendiges Phänomen. Die Entstehung kann peripher oder zentral bedingt sein. Schmerzen stellen eine häufige Begleitsymptomatik bei verschiedenen Krankheitsbildern dar. Sie können nach erfolgten operativen Eingriffen oder vorangegangenen Traumen oder ohne erkennbare Ursache auftreten. Schmerzsyndrome sind ein häufiger Anlass, aus dem niedergelassene Neurologen und Orthopäden aufgesucht werden. Problematisch und häufig sind chronische Schmerzerkrankungen.
8.1
Definition
Kennzeichen der chronischen Schmerzstörung sind: 4 Der Schmerz hat seine Leit- und Warnfunktion verloren und selbstständigen Krankheitswert erlangt. 4 Die Verselbstständigung des Schmerzerlebens führt zu psychischen und sozialen Beeinträchtigungen. Der Schmerz wird für den Patienten zum Mittelpunkt seines Denkens und Verhaltens. 4 Die Schmerzen bestehen länger als 6 Monate. Neben Fällen, bei denen psychische Faktoren die Hauptrolle spielen (somatoforme Schmerzstörung, ICD-10: F 45.4), gibt es auch Schmerzstörungen, bei denen sowohl psychische Faktoren als auch organische Faktoren oder überwiegend organische Faktoren den Beginn, den Schweregrad, die Exazerbation oder die Aufrechterhaltung der Schmerzen bestimmen. Jeder Schmerz kann auf einem
135 8.3 · Entstehung einer chronischen Schmerzstörung
8
Kontinuum von überwiegend organisch bedingten, z. B. Tumorschmerzen bis zu somatoformen Schmerzzuständen ohne Organbefund eingeordnet werden. Differenzialdiagnostisch lassen sich fünf Subgruppen bei chronischem Schmerz unterscheiden: 4 Schmerzen im Rahmen einer organischen Erkrankung mit adäquater Krankheitsbewältigung. 4 Schmerzen im Rahmen einer organischen Erkrankung mit reaktiver Angst und Depression und dadurch Verstärkung der Schmerzen. 4 Schmerzen im Rahmen einer organischen Erkrankung bei gleichzeitiger oder bereits bestehender psychischer Störung (Komorbidität), z. B. Depression. 4 Schmerzen ohne Organbefund (somatoforme Schmerzstörung, ICD-10: F 45.4, 7 Kap. 7, Somatisierung). 4 Eine primär psychische Störung, z. B. Depression oder Angst, mit begleitenden Rückenschmerzen oder Kopfschmerzen.
8.2
Häufigkeit
6% der Bevölkerung leiden unter chronischen Schmerzen. Am häufigsten sind: 4 Kopfschmerzen (Migräne, Spannungskopfschmerz, Gesichtsschmerz), 4 Rückenschmerzen, 4 Fibromyalgie und andere myofasziale Schmerzsyndrome.
8.3
Entstehung einer chronischen Schmerzstörung
Zum Verständnis chronischer Schmerzen reicht ein lineares Schmerzverständnis des akuten Schmerzes, bei dem der Schmerz durch eine Verletzung entsteht, zum Gehirn weitergeleitet und dort wahrgenommen wird, nicht aus. Die Gate-control-Theorie geht davon aus, dass die Wahrnehmung peripherer Schmerzreize über absteigende Bahnen durch Angst, Depression oder frühere Schmerzerfahrungen verstärkt und durch Freude oder Ablenkung der Aufmerksamkeit gehemmt wird. Mit dieser Theorie lassen sich emotionale und lebensgeschichtliche Einflüsse auf die Schmerzempfindung, sowie die schmerzlindernde Wirkung von Hypnose erklären.
136
Kapitel 8 · Chronische Schmerzstörung
. Tabelle 8.1. Faktoren, die eine Chronifizierung von Schmerzen begünstigen
II
Faktoren 4 Partnerschaftskonflikte 4 Belastende Lebensereignisse in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Beschwerdebeginn 4 Angst und Depression 4 Schmerzmittelabusus 4 Schonhaltung 4 Fehlende soziale Unterstützung 4 Sekundärer Krankheitsgewinn 4 Negative Kontrollüberzeugungen und Bewältigungsstrategien 4 Berufliche Unzufriedenheit 4 Schmerzerfahrungen in der Kindheit und Jugend
Das Phänomen Phantomschmerz zeigt, dass chronifizierter Schmerz auch dann empfunden wird, wenn die schmerzauslösende Amputation vorüber ist und Schmerz nicht mehr von peripher nach zentral geleitet werden kann. Die Schmerzen haben zu einer neuroplastischen Reorganisation der Hirnrinde geführt, sind dort gespeichert und können jederzeit aktiviert werden. Auch frühkindliche Schmerzerfahrungen werden durch Lernprozesse in zentralen neuronalen Mustern gespeichert.
8.4
Psychosomatische Anamnese
Zur Gewichtung des psychosozialen Anteils bei der Schmerzentstehung sollte die biographische Anamnese um folgende Punkte ergänzt werden.
8.4.1
Schmerzanamnese
Neben Lokalisation, Intensität und Qualität der Schmerzen sollte im Rahmen der Anamneseerhebung geklärt werden: 4 Was lindert die Schmerzen? 4 Was verschlimmert die Schmerzen? 4 Wie sieht ein typischer Tag mit Schmerzen aus? 4 Wie verändern sich die Schmerzen im Laufe des Tages?
137 8.4 · Psychosomatische Anamnese
8
4 Wann sind die Schmerzen zum ersten Mal aufgetreten? 4 Welche Schmerzerfahrungen bestehen in der Familie und in der eigenen Lebensgeschichte?
8.4.2
Schmerzstärke
Schmerz ist eine subjektive Empfindung und nicht objektivierbar. Die Schmerzstärke lässt sich am besten auf einer visuellen Analogskala (VAS) von 0–10 erfassen (0 bedeutet keine Schmerzen und 10 stärkste, nicht mehr aushaltbare Schmerzen).
8.4.3
Subjektives Schmerzverständnis
Chronisch Schmerzkranke haben ihre eigenen Krankheits- und Behandlungsvorstellungen. Folgende Fragen sind nützlich: 4 »Was glauben Sie, hat Ihre Schmerzen verursacht?« 4 »Warum glauben Sie, haben die Schmerzen zu diesem Zeitpunkt begonnen?« 4 »Was lindert Ihre Schmerzen?«
8.4.4
Soziale Anamnese
Ergänzend zu den Grundlagen der bio-psychosozialen Anamneseerhebung (7 Kap. 4.5) sollte bei Schmerzpatienten die Arbeitssituation, die Wohnsituation, die Freizeitgestaltung und das Ausmaß der sozialen Unterstützung erfragt werden.
8.4.5
Emotionales Befinden
Das emotionale Befinden des Patienten sollte abgeklärt werden: 4 »Sie sagen, die Schmerzen quälen Sie? Wie fühlen Sie sich dabei?« 4 »Sie wirken sehr angespannt. Wie würden Sie Ihre Verfassung beschreiben?« Typische körperliche Symptome einer Depression (7 Kap. 10.1) und einer Angststörung (7 Kap. 9.1) können direkt erfragt werden.
II
138
Kapitel 8 · Chronische Schmerzstörung
8.4.6
Medikamentenanamnese
Fast alle Patienten mit einer chronischen Schmerzstörung nehmen Analgetika ein. Ein Missbrauch oder die Abhängigkeit von diesen Medikamenten kann die Qualität und Intensität der Schmerzen, z. B. beim medikamenteninduzierten Schmerz durch Analgetika wesentlich beeinflussen. Merke Folgende Kriterien sprechen für ein Schmerzsyndrom, mit überwiegend psychischen Ursachen 4 Fehlende Abhängigkeit der Schmerzen von der Willkürmotorik. 4 Fehlen schmerzverstärkender bzw. schmerzlindernder Faktoren. 4 Fehlen schmerzfreier Intervalle. 4 Vage Lokalisation. 4 Inadäquate Affekte, z. B. demonstrativ theatralisch oder völlig affektindifferent.
8.5
Psychosomatische Grundversorgung
Erfolge in der Behandlung einer chronischen Schmerzstörung werden im Rahmen eines Gesamtbehandlungskonzeptes in Kooperation des Hausarztes mit einem Schmerztherapeuten und anderen Fachärzten erzielt. Praxistipps Bei der Behandlung einer chronischen Schmerzstörung muss beachtet werden 4 Schmerz bleibt immer ein subjektives Phänomen. Für die Entwicklung eines tragfähigen Arbeitsbündnisses und die Erfahrung einer hilfreichen Beziehung ist es wichtig, dass der Arzt das subjektive Schmerzerleben des Patienten versteht und ernst nimmt. 4 Viele Patienten kommunizieren psychosoziale Belastungen in Form von Schmerzen (7 Kap. 7, Somatisierung). Ursächlich hierfür sind oft Vernachlässigung und Gewalterfahrungen in der Kindheit. Es braucht 6
139 8.5 · Psychosomatische Grundversorgung
4
4
4 4
4
4 4
4
lange Zeit, um auch die seelischen Schmerzen zu spüren und auszudrücken. Der Arzt sollte sich Zeit für die Erklärung psychosomatischer Zusammenhänge nehmen. Zufallsbefunde und Normvarianten dürfen dem Patienten nicht vorschnell als relevant vermittelt werden. Die Erklärung der diagnostischen Befunde hilft bei der Entwicklung eines gemeinsamen Krankheitsverständnisses. Vor der Durchführung invasiver diagnostischer Maßnahmen ist größte Zurückhaltung geboten. Bei Auftreten von neuen Schmerzen sollte die Diagnostik gezielt durchgeführt werden und nur dann, wenn therapeutische Konsequenzen folgen. Körperliche Untersuchungen können in begrenztem Umfang jederzeit durchgeführt werden. Eine Trennung von somatischen und psychosozialen Aspekten fördert die Chronifizierung. Die Vereinbarung regelmäßiger Vorstellung in der Sprechstunde, z. B. alle 2–4 Wochen ist beziehungsfördernd und symptomlindernd. Sie dient dazu, dass der Patient nicht Symptome entwickeln oder verstärkt darstellen muss, um einen Arztkontakt zu begründen. Neben dem Gespräch über die körperlichen Einschränkungen und seelischen Belastungen durch die Schmerzen steht in jedem ärztlichen Gespräch die Rückbesinnung auf vergangene und aktuelle positive Einstellungen und Fertigkeiten im Mittelpunkt (Ressourcenaktivierung). Einbeziehung von wichtigen Bezugspersonen wie Partnern oder Familienangehörigen. Eine Schmerztherapie braucht Zeit. Die bei den begrenzten Behandlungserfolgen auftretenden Gefühle von Insuffizienz, Ärger, Ungeduld und Unzufriedenheit bei Arzt und Patient sind Themen für eine Balintgruppe. Interdisziplinäre Schmerzkonferenzen von Niedergelassenen und Klinikärzten dienen der Koordinierung der Behandlung und bieten die Möglichkeit des Kennenlernens unterschiedlicher Behandlungsansätze.
8
140
Kapitel 8 · Chronische Schmerzstörung
II
. Abb. 8.1. Psychosomatische Kooperation im Rahmen der interdisziplinären Schmerzkonferenz am Universitätsklinikum
Der Fall 42-jährige Patientin mit Morbus Sudeck Die Patientin hatte sich im Rahmen eines Skiunfalls eine Fraktur des linken distalen Radius zugezogen. Sie wurde ambulant operativ versorgt. Nach Gipsentfernung sechs Wochen später entwickelte sich eine sog. sympathische Reflexdystrophie (M. Sudeck). Die Patientin war zum Zeitpunkt der Fraktur in einem psychisch sehr labilen Zustand: In einem für sie sehr belastenden Scheidungsprozess wurde ihr das Sorgerecht für die 15-jährige Tochter zugesprochen. In diesem Rahmen entwickelte sie eine Angststörung und depressive Symptome, die mit häufiger Krankschreibung verbunden waren. Ängste um Verlust des Arbeitsplatzes kamen hinzu. Insgesamt fühlte sich die Patientin sehr hilflos und hoffnungslos. Aufgrund dieses komplexen psychosomatischen Krankheitsbildes kam ein multimodaler Therapieansatz zur Anwendung: 6
141 8.6 · Psychotherapie
8
4 Physiotherapie, manuelle Therapie, Sport. 4 Medikamentöse Therapie gegen neuropathische Schmerzen (Carbamazepin). 4 Antidepressivum (Amitriptylin). 4 Operative Versorgung durch Orthopädie. 4 Plexusblockade zur schmerzfreien Bewegung durch Anästhesie. 4 Psychotherapeutische Unterstützung zur Verbesserung des Selbstwertgefühls, Unterstützung des Trauerprozesses um die gescheiterte Ehe und Stärkung ihrer Position am Arbeitsplatz. Nach einem halben Jahr zeigten sich erste Zeichen einer langsamen Besserung der Schmerzen und Zunahme der Bewegungsfreiheit. Die gesamte Behandlung dauerte fast zwei Jahre und führte zu einer deutlichen psychischen Stabilisierung. Vorsichtig öffnete sich die Patientin einer neuen Partnerschaft. Eine leichte schmerzhafte Bewegungseinschränkung im linken Handgelenk mit einschießendem Hitzegefühl blieb bestehen.
8.6
Psychotherapie
Eine Überweisung an Fachpsychotherapeuten sollte nur nach ausführlicher Vorbereitung des Patienten und in Absprache zwischen dem Hausarzt und dem Psychotherapeuten erfolgen. Ansonsten fühlt sich der Patient oft abgeschoben und der Psychotherapeut hat keinen klaren Behandlungsauftrag. Das psychotherapeutische Verfahren sollte sich nach den Erfordernissen des Patienten richten. Bewährt hat sich eine Kombination aus bewältigungsorientierten Elementen der kognitiven Verhaltenstherapie und der psychodynamischen Therapie unter Einbeziehung von Bezugspersonen. Beim Biofeedback erfolgt eine apparative Rückmeldung von Körperfunktionen, die normalerweise nicht der bewussten Wahrnehmung oder Kontrolle zugänglich sind, z. B. Herzfrequenz, Blutdruck, Hauttemperatur, Atemfrequenz, Gehirnstromwellen, Muskelanspannung. Dadurch ist z. B. im Rahmen von Entspannungsübungen eine bewusste Wahrnehmung und Veränderung der Schmerzintensität möglich.
142
Kapitel 8 · Chronische Schmerzstörung
. Tabelle 8.2. Zusammenstellung verschiedener Behandlungsverfahren aus dem Bereich der psychosomatischen Medizin und ihre dazugehörigen Zielbereiche
II
Regulations- Behandlungsziele system
Methode
Vegetativ
Dämpfung schmerzfördernder physiologisch-vegetativer Hyperaktivierung und Beeinflussung des subjektiven Kontrollbewusstseins
Entspannungsverfahren 4 Progressive Muskelrelaxation 4 Autogenes Training 4 Atemtherapie
Kognitiv
Steuerung der Schmerzwahrnehmung
Aufmerksamkeitslenkung 4 Ablenkung 4 Imagination 4 Suggestion (Hypnose)
Veränderung schmerz- und stressrelevanter Kognitionen 4 Eigene Kompetenz 4 Krankheitsvorstellungen 4 Aktivierung, Abbau von Schonverhalten
Kognitive Verhaltenstherapie
Anleitung zur Selbstbeobachtung, um den Zusammenhang von Kognitionen, Emotionen, Verhalten und Schmerz erfahrbar zu machen
Schmerztagebuch
Reduzierung von Angst und Depression
4 Kognitive Verhaltenstherapie 4 psychodynamische Behandlungsverfahren 4 Psychopharmaka, z. B Amitryptilin 25–50 mg
Affektiv
Verbesserung der Affektwahrnehmung und -integration Sozial
Abbau von Verstärkung des Schmerzverhaltens durch die soziale Umwelt
Angehörigenberatung
Klärung psychosozialer Konflikte Verbesserung der zwischenmenschlichen Kommunikation am Arbeitsplatz, in der Partnerschaft, in der Familie
Paar- und Familiengespräche Soziotherapie
Arzt-Patient-Beziehung
Balintgruppe, Supervision
Arbeitsversuch
143 8.7 · Evidence Based Medicine
8
Merke Psychotherapeutische Behandlungsverfahren bei chronischen Schmerzen sind: 4 Entspannungsverfahren 4 Hypnose 4 Biofeedfack 4 Kognitive Verhaltenstherapie 4 Schmerzbewältigungsgruppen 4 Psychodynamische Psychotherapie 4 Paar- und Familiengespräch
8.7
Evidence Based Medicine
Entspannungsverfahren, Hypnotherapie und kognitive Verhaltenstherapie sind wirksame Verfahren zur Reduzierung chronischer Schmerzen. Bei somatoformen Schmerzen haben sich sowohl kognitiv-behaviorale Verfahren als auch psychodynamische Behandlungsverfahren zur Reduktion der Schmerzen und zur Behandlung der begleitenden oder zugrunde liegenden psychischen Störungen, z. B. Angst oder Depression als wirksam erwiesen. Der analgetische Effekt von trizyklischen Antidepressiva ist überzeugend nachgewiesen. ?
Übungsfragen
2 Nennen Sie mindestens 3 Kriterien für eine chronische Schmerzstörung. 1 Was beschreibt die Gate-Control-Theorie? 3 Welche Elemente gehören zu einer psychosomatischen Schmerzanamnese? 2 Welche Kriterien sprechen für ein Schmerzsyndrom mit überwiegend psychi-
schen Faktoren? 3 Wie sieht ein Behandlungsplan einer chronischen Schmerzstörung im Rahmen
der Psychosomatischen Grundversorgung aus? 2 Welche psychotherapeutischen Behandlungsverfahren gibt es zur Behand-
lung chronischer Schmerzzustände?
Literatur Egle UT et al. (2002) Handbuch chronischer Schmerz. Schattauer, Stuttgart. Nachschlagewerk zu allen Aspekten einer modernen Schmerztherapie.
9 9
Angststörungen
9.1
Symptome
9.2
Entstehungsbedingungen
9.3
Diagnostische Einteilung
9.3.1
Panikstörung (Angstattacken) (ICD-10: F 41.0)
9.3.2
Phobien (ICD -10: F 40)
9.3.3
Generalisierte Angststörung (ICD-10: F 41.1)
9.3.4
Herzphobie (ICD-10: F 45.3) und hypochondrische
– 146
Störung (ICD-10: F 45.2)
– 147 – 148 – 148
– 148 – 151
– 152
9.4
Psychosomatische Grundversorgung und Selbstmanagement – 152
9.4.1
Gestaltung der Arzt-Patient-Interaktion
9.4.2
Autonomie stärken
– 152
– 153
9.4.3
Abbau des Vermeidungsverhaltens
9.4.4
Kognitive Bewältigung – Teufelskreis der Angst
– 154
9.5
Psychopharmaka
9.6
Psychotherapie
9.7
Evidence Based Medicine
– 156 – 157 – 158
– 155
146
Kapitel 9 · Angststörungen
4 Erkennen einer Angststörung bei körperlichen Beschwerden 4 Unterscheidung der verschiedenen Angststörungen 4 Grundprinzipien der Behandlung
II
> > Einleitung Angst gehört zu den grundlegenden menschlichen Erfahrungen. Erscheinungsformen der Angst begleiten alle psychischen und körperlichen Krankheitsbilder in offener oder verdeckter Form. Die Fähigkeit Angst zu empfinden ist ein biologisches Reaktionsmuster. Sie sichert das Überleben, ähnlich wie die Fähigkeit Schmerzen zu empfinden. Keine Angst zu haben, kann ebenso problematisch sein wie zuviel Angst zu haben.
9.1
Symptome
Angststörungen gehören mit einer 12-Monate-Prävalenz von 15% zu den häufigsten psychischen Störungen. Agoraphobien sind die größte Untergruppe. Angst äußert sich in: 4 Körperlichen Symptomen (. Tabelle 9.1) 4 Gedanken wie »Ich muss sterben.« 4 Gefühlen, z. B. Verzweiflung, Hilflosigkeit, Engegefühl 4 Verhalten wie Flucht, Hilfe suchen Bei vielen Patienten mit Angststörung verbirgt sich Angst hinter körperlichen Symptomen, die als Affektäquivalente an die Stelle bewusst wahrgenommener Angst treten. . Tabelle 9.1 zeigt eine Übersicht körperlicher Symptome der Angst, geordnet nach Organsystemen.
147 9.2 · Entstehungsbedingungen
9
. Tabelle 9.1. Körperliche Symptome der Angst
Organsystem
Symptome
Herz
4 Unregelmäßiges, rasches oder verstärktes Herzklopfen bis Herzrasen 4 linksthorakales Druckgefühl
Gefäßsystem
4 Erröten im Gesicht bzw. Blässe auch an den Extremitäten 4 Bluthochdruck
Muskulatur
4 Zittern 4 Lähmungsgefühl 4 Kribbelgefühl und Taubheit
Atmungstrakt
4 Hyperventilation 4 Gefühl von Enge und Atemnot
Magen-Darm-Trakt
4 Kloßgefühl im Hals (Globus) 4 Erbrechen, Magenschmerzen, Durchfall
Vegetatives Nervensystem
4 Schwitzen 4 Harndrang
Zentrales Nervensystem
4 Schwindel und Ohnmachtsgefühle 4 Kopfschmerzen 4 Depersonalisation und Derealisation
9.2
Entstehungsbedingungen
Folgende drei Faktoren des bio-psychosozialen Modells spielen in unterschiedlicher Gewichtung bei jedem Patienten mit einer Angststörung eine Rolle: 4 Neurobiologische Veränderungen. Die Prädisposition zur Panikstörung wird durch eine Mutation im Erbfaktor für Serotonintransporter und durch einen Mangel an Gamma-Aminobuttersäure (GABA)-Rezeptoren verursacht, wobei die Panikstörung nur dann manifest wird, wenn psychosoziale Belastungen, z. B. traumatische Kindheitserfahrungen dazu kommen. Angeborene und erworbene erhöhte neurophysiologische Erregbarkeit, die mit Angstgefühlen einhergeht, werden in Amygdala und Hippocampus gespeichert. Dieses emotionale Gedächtnis ist langfristig angelegt, kann in bestimmten Situationen aktiviert, aber auch über steuernde Impulse aus dem präfrontalen Kortex, z. B. durch psychotherapeutische und psychopharmakologische Maßnahmen gehemmt werden.
148
II
Kapitel 9 · Angststörungen
4 Psychosoziale Disposition. Die Angstbewältigung gehört zu den Entwicklungsaufgaben, die jedem Menschen in verschiedenen Lebensphasen gestellt werden. Eine wenig empathische und Schutz bietende Erziehung ebenso wie dauerhafte Überfürsorglichkeit beeinträchtigen die Bildung von angemessenen Bewältigungsmechanismen. Angstauslöser sind Schwellensituationen wie Pubertät, Beendigung der Schulzeit, Weggang vom Elternhaus, Heirat, Ablösung der Kinder, Beendigung des Berufslebens, Tod naher Bezugspersonen. Eine sichere Bindung (7 Kap. 1.3.2, Bindungserfahrung) ist ein guter Schutz gegen die Entwicklung einer Angststörung. 4 Belastende Lebensereignisse und Krankheit. Dies sind Veränderungen der gewohnten Lebensumstände, z. B. Umzug in eine andere Stadt oder ein anderes Land, der tatsächliche oder drohende Verlust eines nahe stehenden Menschen, einer beruflichen Position oder der Heimat. Todesängste treten bei Erstickungsgefühlen im akuten Asthma-bronchiale-Anfall oder bei Angina pectoris auf. Angststörungen neigen zu Chronifizierung. Spontanheilungen sind selten. 9.3
Diagnostische Einteilung
9.3.1
Panikstörung (Angstattacken) (ICD-10: F 41.0)
Die wesentlichsten Kennzeichen sind: 4 Wiederkehrende Phasen intensiver akuter Angst, die sich nicht auf eine bestimmte Situation beziehen. 4 Vegetative Begleitsymptomatik wie Herzklopfen, Brustschmerzen, Erstickungsgefühle, Schwindel, Schwitzen, Zittern. 4 Intensive Gefühle der Bedrohung bis hin zu Ängsten zu sterben oder verrückt zu werden, Entfremdungsgefühle. 4 Spontanes Auftreten, Dauer wenige Minuten bis zu einer Stunde. 4 Im angstfreien Intervall Angst vor der Angst. 9.3.2
Phobien (ICD -10: F 40)
Der Begriff Phobie kommt aus dem Griechischen und bedeutet Angst und Schrecken, aber auch Flucht.
149 9.3 · Diagnostische Einteilung
9
Im Gegensatz zu den diffusen Angststörungen wie Panikattacken und generalisierte Angststörung sind diese Ängste an auslösende Reize und Situationen gebunden, welche in der Folge vermieden werden. Das Vermeidungsverhalten ist allen Angststörungen gemeinsam und führt kurzfristig zur Spannungsreduktion, mittelfristig aber zu weiterem Rückzug und Zunahme der Angst. Die Phobien werden eingeteilt in Agoraphobie, soziale Phobie und spezifische isolierte Phobien.
Agoraphobie (ICD-10: F 40.0) Die Agoraphobie ist bestimmt durch: 4 Ängste vor offenen Plätzen, vor Menschenmengen z. B. in Kaufhäusern, Kinos, Restaurants, öffentlichen Verkehrsmitteln. 4 Vermeidung der Angst auslösenden Situation. 4 Angstreduzierung durch vertraute Personen oder mitgeführte Medikamente, Riechsubstanzen oder Telefonnummern von Ärzten. Der Fall Agoraphobie Eine 41-jährige Patientin entwickelt nach einem akuten Infekt der oberen Luftwege Sehstörungen und einen ungerichteten Schwindel. Kurz zuvor hatte sie eine neue Stelle in einem Großraumbüro mit zwölf Mitarbeitern angetreten. Sie wird längere Zeit krankgeschrieben, sodass der Versuch, sich am neuen Arbeitsplatz als Anwaltssekretärin einzuarbeiten, scheitert. Wenige Monate zuvor hat sie ihren langjährigen Arbeitsplatz verloren, weil ihr Chef sein Büro aufgab. In der Folge zieht sie sich weiter zurück, verlässt seltener das Haus und traut sich nicht mehr zu, Auto zu fahren, nachdem sie beim Einparken in die Garage einen leichten Blechschaden verursacht hat. Da sie auf dem Land lebt, ist ihre Mobilität stark eingeschränkt. Es folgen zahlreiche fachärztliche Untersuchungen und stationäre Aufnahmen, um eine organische Krankheitsursache auszuschließen. Antidepressive Medikamente akzeptiert sie nicht. Erst eine zweimonatige stationäre psychosomatische Behandlung und eine anschließende ambulante Gruppenpsychotherapie bewirken, dass sie halbtags wieder arbeiten kann und ihr Alltagsleben ohne größere Einschränkungen bewältigt.
150
Kapitel 9 · Angststörungen
Soziale Phobie (ICD-10: F 40.1)
II
Die soziale Phobie äußert sich typischerweise durch: 4 Unangemessene Furcht und Vermeidung von Situationen, in denen die Patienten mit anderen Menschen zu tun haben und dadurch einer möglichen Bewertung ausgesetzt sind. 4 Angst zu versagen, sich lächerlich zu machen oder durch ungeschicktes Verhalten gedemütigt zu werden. 4 Angst vor spezifischen Situationen, z. B. Essen oder Sprechen in der Öffentlichkeit oder die Verabredung mit einer wenig vertrauten Person. 4 Beschwerden in Form von Erröten, Händezittern, Übelkeit oder Drang zum Wasserlassen. Der Fall Soziale Phobie Ein 25-jähriger Medizinstudent bekommt immer mehr Probleme, in der Gesellschaft anderer, wie z. B. in der Mensa zu essen. Er hat das Gefühl keinen Bissen mehr schlucken zu können oder leidet unter einem heftigen fast unwiderstehlichen Würgereiz. In der Folge vermeidet er solche Situationen, was dazu führt, dass er häufig allein ist, sich ganz auf sein Studium konzentriert, aber zeitweise unruhig wird, sodass das Essproblem auch zu Hause, allerdings in abgeschwächter Form, auftritt. Es zeigt sich, dass er sich anderen Menschen gegenüber auch früher schon unsicher fühlte, der Meinung war, er sei zu dick, schwitze zu stark und würde deshalb andere durch seine Anwesenheit beeinträchtigen. Obwohl er fast 750 km von seinem Heimatort entfernt studiert, hält er einen sehr engen Kontakt zu seiner Familie. Er wird z. B. von seinem Vater häufig um Rat gefragt. Dieser ist ganz besonders stolz auf ihn, weil er in der ganzen Familie der Erste ist, der ein Studium absolviert. Das Problem des Patienten ist ein Ablösungskonflikt vom Elternhaus. Sein Autonomiebedürfnis zeigt sich nur indirekt: Als er die Nachricht bekommt, nach seinem Examen im nächsten Jahr zu einem Forschungsprojekt in die USA gehen zu können, kann er eine vollständige Mahlzeit in einem McDonald-Restaurant ohne Probleme einnehmen. Seine Symptomatik ist in dieser Situation ganz verschwunden.
151 9.3 · Diagnostische Einteilung
Spezifische Phobie (ICD-10: F 40.2) Hierbei beschränkt sich die Angst auf die Nähe bestimmter Tiere (Schlangen, Spinnen), Höhen, Donner, Dunkelheit, Fliegen, den Anblick von Blut und ein ganzes Spektrum von Gegenständen und Situationen. Das Ausmaß der Beeinträchtigung hängt davon ab, wie sehr die phobische Situation oder das phobische Objekt vermieden werden kann.
9.3.3
Generalisierte Angststörung (ICD-10: F 41.1)
Zur generalisierten Angststörung gehören: 4 Ängstliche Persönlichkeit mit chronisch ängstlicher Anspannung. 4 Sorgen, Befürchtungen und Grübelei über Situationen im Arbeitsleben, der Partnerschaft und in der Welt. 4 Psychische und körperliche Begleitsymptome wie bei der Panikstörung. 4 Häufig begleitende depressive Symptome (7 Kap. 10.1, Depressionen).
Der Fall Generalisierte Angststörung Ein 38-jähriger Patient reagiert auf eine für ihn völlig überraschende Veränderung am Arbeitsplatz, als sein bisheriger Chef in den Ruhestand geht, mit heftigsten Ängsten, körperlichen Beschwerden und tiefer hilfloser Verzweiflung. Er fühlt sich unfähig, diesen Gefühlen etwas entgegenzusetzen, erlebt sich passiv, ausgeliefert wie in rasender Fahrt auf einen Abgrund zu. Nur eine intensive psychiatrisch-psychotherapeutische Unterstützung vermag ihm wieder mehr Stabilität zu verleihen. Es stellt sich heraus, dass er seit der Kindheit an heftigen Krankheitsängsten, permanenter Selbstunsicherheit, Selbstzweifeln und erheblichen Entscheidungsproblemen gelitten hat, die immer nur kurzfristig von besseren Phasen größerer Stabilität unterbrochen waren.
9
152
Kapitel 9 · Angststörungen
9.3.4
Herzphobie (ICD-10: F 45.3) und hypochondrische Störung (ICD-10: F 45.2)
II Während bei anderen Angststörungen die Angst im Vordergrund steht und von körperlicher Symptomatik begleitet wird, stehen bei der Herzphobie linksthorakales Druckgefühl, Herzklopfen, Schwitzen, Atemnot und die Befürchtung am Herztod zu sterben im Vordergrund. Bei dieser umschriebenen Phobie ist das Objekt der Angst nicht mehr ein Teil der Außenwelt, z. B. ein Tunnel oder eine Höhe, sondern ein Teil des eigenen Körpers. Die Symptomatik entspricht oft Angina-pectoris-Beschwerden, wird aber demonstrativ vorgetragen. Herzphobiker habe kein erhöhtes Risiko einen Herzinfarkt zu erleiden. Trotz wiederholter Untersuchungen und unauffälliger Befunde bleibt der Patient überzeugt, an einer schweren Erkrankung zu leiden. Andere Beispiele sind die HIV- oder Aids-Phobie und die Krebsphobie, wobei die Angst sich hier auf Krankheiten und nicht auf Symptome richtet. Die hypochondrische Störung wird in Kapitel 7.3.2 beschrieben. Merke Formen der Angststörung Phobien: Angst vor Menschenansammlungen, Plätzen, sozialen Situationen, Höhenangst. Panikstörung: Plötzlich unerwartetes Auftreten, kein eindeutiger Auslöser. Generalisierte Angst: Oft monatelang andauernde diffuse Ängste, Sorgen, Befürchtungen, Schlafstörungen, vielfältige körperliche Symptome. Hypochondrie: Angst vor Krankheit.
9.4
Psychosomatische Grundversorgung und Selbstmanagement
9.4.1
Gestaltung der Arzt-Patient-Interaktion
Patienten mit Angststörungen sind auf der Suche nach Menschen, die ihnen Schutz und Sicherheit geben. Sie sind freundlich, angepasst und froh, einen Arzt gefunden zu haben, bei dem sie sich aufgehoben fühlen und der sie gut behandelt. Gleichzeitig neigen sie aber auch zur Anklammerung und brauchen
153 9.4 · Psychosomatische Grundversorgung
9
den Arzt als Person, die ihnen Sicherheit gibt, ohne auf dessen Interessen Rücksicht zu nehmen. Wichtig ist die Vermeidung von Überfürsorglichkeit, ohne den Patienten im Stich zu lassen oder ihn zu überfordern. Der Arzt hält den Kontaktwunsch und das Bedürfnis nach Sicherheit des Patienten aus, lässt sich aber durch die vielfältigen Klagen nicht beunruhigen. Auf diese Weise vermittelt er gleichzeitig Konstanz und Sicherheit. Merke Gefahren bei der Behandlung von Angststörungen und Lösungsmöglichkeiten 4 Zu starke Identifizierung mit dem Patienten – Freundliche Strukturierung und Distanzierung. 4 Arzt bekommt selber Angst und ist überbeschützend – Autonomie des Patienten fördern. 4 Therapeutischer Aktivismus und häufiger Wechsel der Behandlungsstrategien – Kleine Schritte. 4 Idealisierung des Arztes durch den Patienten – Förderung der Autonomie und Abbau des Vermeidensverhaltens.
9.4.2
Autonomie stärken
Die Eigenverantwortlichkeit und Eigenkompetenz des Patienten sollte bewahrt, geschützt und gefördert werden. Der Arzt versucht gemeinsam mit dem Patienten herauszufinden, was er sich trotz seiner Beschwerden und Einschränkungen zutraut und welche Empfehlungen und Ratschläge er umsetzen kann. Veränderungen geschehen in kleinen Schritten. Rückschläge sind zu erwarten, wenn zu große Schritte zu einer Überforderung führen.
154
Kapitel 9 · Angststörungen
Praxistipps
II
Kleine Schritte Wenn ein Patient an Höhenangst leidet und bereits beim Anblick eines Aussichtsturmes feuchte Hände bekommt, sollte er nicht gleich versuchen, einen solchen zu besteigen. Er besucht einen Aussichtsturm und lässt sich Zeit, das Gebäude anzuschauen. Nach einigen Besuchen sollte der Anblick des Turmes vertraut sein und keine Angst mehr hervorrufen. Nun kann er sich überwinden und das erste Stockwerk besteigen. Dort angekommen sollte er versuchen, in sich zu horchen und zu spüren, wie das Gefühl der Angst langsam abnimmt. Hierbei kann es hilfreich sein, einem Begleiter die Gedanken und Empfindungen zu erzählen oder diese aufzuschreiben. Bei den folgenden Besuchen dürfte das Besteigen des ersten Stockwerkes bereits wesentlich leichter fallen. Nach einiger Zeit ist dann auch der Aufstieg zur Spitze kein Problem mehr (systematische Desensibilisierung).
9.4.3
Abbau des Vermeidungsverhaltens
Wenn der Patient verstanden hat, dass er durch sein Vermeidungsverhalten die Angst aufrechterhält und sogar steigert, kann er sich den Angst erregenden Situationen bewusst und gezielt aussetzen. Praxistipps Neue positive Erfahrung machen Ein Patient mit einer sozialen Phobie kann eine neue positive Erfahrung machen, wenn er in vertrauter Umgebung mit dem Rückhalt von Freunden einem neuen Bekannten vorgestellt wird, ihm bei der Begegnung mit einem bis dahin Unbekannten nichts Schlimmes widerfährt und er wahrnimmt, dass er die Situation durchstehen kann.
Abbau von Angstphantasien Wer Angst in der Dunkelheit hat, sollte sich nicht überlegen, dass er überfallen oder entführt werden könnte. Hilfreicher ist es, die Umgebung genau zu beobachten und festzustellen, dass die befürchtete Katastrophe nicht eingetreten ist.
155 9.4 · Psychosomatische Grundversorgung
9.4.4
9
Kognitive Bewältigung – Teufelskreis der Angst
Die Entstehung und Aufrechterhaltung einer Angststörung lässt sich für den Patienten am besten anhand eines »Teufelskreises« erklären: Einige Menschen neigen zu besonders starken vegetativen Reaktionen oder nehmen körperliche Veränderungen intensiv wahr. Angstauslösende Situationen lösen körperliche Reaktionen aus und diese Körperprozesse verstärken wiederum die Angst (Konditionierung). Diese körperlichen Reaktionen können dann in anderen Situationen, die ursprünglich nicht mit Angst verbunden waren, ebenfalls Angst auslösen (Generalisierung). Selbst die Vorstellung und Erwartung von Angstzustän-
. Abb 9.1. Teufelskreis der Angst. Nach Margraf u. Schneider (1990)
156
II
Kapitel 9 · Angststörungen
den kann zu Angstgefühlen führen (Erwartungsangst, Angst-vor-der-Angst). Im Rahmen des Teufelskreises kann sich dieser Prozess immer mehr verstärken, sodass der Patient sich dem Geschehen ohnmächtig ausgeliefert fühlt. Praxistipps Durchbrechen des Teufelskreises Der Patient erlebt Atemnot und Herzklopfen als Bedrohung und denkt: »Ich muss sterben«. Die körperliche Reaktion wird mit diesem Gedanken gekoppelt (Konditionierung). In der Folge löst jedes Herzklopfen Angst aus (Generalisierung) und Aktivitäten, die Herzklopfen verursachen werden vermieden. Gedanken an das Herzklopfen lösen ebenso Angst aus und Angst-vor-der-Angst kann sich einstellen (Erwartungsangst). Der Patient wird angeleitet, die Fehlinterpretation seiner körperlichen Symptome aufzugeben. Dazu wird er mit Situationen konfrontiert (Exposition), die Angst auslösen, z. B. Herzklopfen und Atemnot durch Kniebeugen, auf der Stelle laufen, Seilspringen, Saunabesuch. Die Angst stellt sich ein, wird wahrgenommen, führt aber nicht zu dem befürchteten Tod. Stattdessen gewöhnt sich der Patient an die Angst (Habituation). Durch häufige und gezielte Konfrontation mit den angstauslösenden Symptomen verlernt der Patient, dass Herzklopfen mit Todesangst verbunden ist (Kognitive Umstrukturierung). Vergleiche auch das Symptomtagebuch des Patienten mit Herzbeschwerden in Kapitel 7, Somatisierung, . Tabelle 7.3.
9.5
Psychopharmaka
Patienten mit Angststörungen sind häufig gegenüber einer Behandlung mit Medikamenten skeptisch eingestellt und befürchten Nebenwirkungen oder eine Abhängigkeitsentwicklung. Daher ist es wichtig, die Wirkung und Nebenwirkungen des Medikamentes mit dem Patienten zu besprechen und seine subjektiven Empfindungen ernst zu nehmen.
Benzodiazepine Bei akuter Angst und Panik helfen Benzodiazepin-Präparate am schnellsten. Die Dosis beträgt 0,5–1 mg Lorazepam oder Alprazolam. Benzodiazepine
157 9.6 · Psychotherapie
9
dürfen nur kontrolliert und kurzfristig eingesetzt werden, um einer Abhängigkeit und Suchtentwicklung vorzubeugen.
Phytopharmaka Bei allgemeiner Ängstlichkeit und gesteigerter Angstbereitschaft können zunächst pflanzliche Präparate mit mittelfristiger Wirkung eingesetzt werden, wie Hopfen oder Baldrian.
Antidepressiva Bei schwerer Angststörung kommen Antidepressiva zum Einsatz. Es werden entweder trizyklische Antidepressiva wie Imipramin (50–150 mg/Tag) oder neuere vom SSRI-Typ wie Fluoxetin, Citalopram und Paroxetin (20–50 mg/ Tag) verwendet.
9.6
Psychotherapie
Kognitive Verhaltenstherapie Die spezifischen Verfahren werden einzeln oder in Kombination je nach Form der Angststörung eingesetzt: 4 Exposition und Konfrontation mit Angst auslösenden Reizen 4 Systematische Desensibilisierung 4 Angstbewältigungstraining 4 Erkennen von auslösenden und aufrecht erhaltenden Faktoren der Angst 4 Kognitive Neubewertung der körperlichen und psychischen Symptome, der Angst und des Verhaltens 4 Training sozialer Kompetenzen 4 Entspannungsverfahren 4 Ressourcenaktivierung
Tiefenpsychologische (psychodynamische) Psychotherapie Nach psychoanalytischem Verständnis liegt der Angstkrankheit ein unbewusster innerer Konflikt zugrunde, der auf frühere Beziehungserfahrungen zurückzuführen ist. Beispielsweise gibt es eine Angst des Kindes, verlassen zu werden, wenn es heftige Gefühle von Ärger, Wut und Enttäuschung gegen Vater oder Mutter richtet, weil diese sich abwenden oder fortgehen. Es entsteht für das kleine Kind
158
II
Kapitel 9 · Angststörungen
eine traumatische Situation, die von Hilflosigkeit und gleichzeitiger Überschwemmung mit heftigen unkontrollierbaren Affekten gekennzeichnet ist. In der therapeutischen Beziehung besteht die Möglichkeit, diese Dynamik neu zu erleben. Die wesentliche Änderung im Vergleich zu früheren Erfahrungen ist, dass dem Patienten die mit der Angst verbundenen vielfältigen widersprüchlichen, hauptsächlich negativen Gefühle bewusst werden. Sie können nun geäußert werden ohne dass er dafür bestraft oder zurück gewiesen wird, wie er es unbewusst erwartet und befürchtet. Ziel der Therapie ist nicht die komplette Beseitigung von Angst, sondern die Möglichkeit, in Selbstreflexion und emotionaler Auseinandersetzung mit angstmachenden Situationen, vor allem in der Arzt-Patient-Beziehung neue Bewältigungsfähigkeiten zu schaffen und damit inneres Wachstum zu fördern.
Kombination von Verfahren Idealerweise werden im ambulanten und stationären Setting die übenden Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie mit Konflikt bearbeitenden tiefenpsychologischen Verfahren im Sinne einer Therapieschulen übergreifenden und störungszentrierten bzw. lösungsorientierten Vorgehensweise kombiniert.
9.7
Evidence Based Medicine
Aktive Therapieelemente wie Angstexpositionstraining haben sich vor allem bei Phobien und Panikattacken als sehr wirksam erwiesen. Bei der generalisierten Angststörung sind neben Entspannungstechniken sowohl aus der Psychoanalyse abgeleitete tiefenpsychologische Verfahren als auch die kognitive Verhaltenstherapie in ihrer Wirksamkeit gesichert. Die Effekte sind bis zu zwei Jahre stabil. Daten zu längeren Katamneseintervallen (≥5 Jahre) liegen bisher noch nicht vor.
159 Quellenverzeichnis
?
9
Übungsfragen
1 Erklären Sie die Wechselwirkung zwischen neurobiologischen und psycho-
sozialen Faktoren bei der Entstehung einer Angststörung. 2 Nennen Sie mindestens 5 körperliche Symptome einer Angststörung. 2 Was sind die typischen Symptome einer Panikstörung? 2 Was ist der Unterschied zwischen einer Phobie und einer generalisierten
Angststörung? 3 Nennen Sie drei Behandlungselemente der Psychosomatischen Grundversor-
gung. 1 Welche Medikamente sind zur Behandlung einer Angststörung geeignet?
Literatur Ermann M (2004) Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Kapitel Angststörungen. Kohlhammer, S. 200–215. Verstehen und Behandeln von Angststörungen auf psychoanalytischer Grundlage. Margraf J (2000) Lehrbuch der Verhaltenstherapie Bd 2. Kapitel Paniksyndrom und Agoraphobie, spezifische Phobien, Sozialphobie, generalisiertes Angstsyndrom. Springer, Berlin Heidelberg New York, S. 1–108. Kognitive Verhaltenstherapie der verschiedenen Formen von Angststörungen.
Quellenverzeichnis . Abbildung 9.1 Margraf J, Schneider S (1990) Panik-Angstanfälle und ihre Behandlung. Springer, Berlin Heidelberg New York
10 10 Depressionen 10.1 Symptome 10.2
– 163
Diagnostische Einteilung
– 163
10.2.1 Depressive Episode (ICD-10: F 32) 10.2.2 Dysthymia (ICD-10: F 34.1) 10.2.3 Differenzialdiagnose
10.3 Häufigkeit
– 164
– 164
– 165
– 166
10.4 Bio-psychosoziales Modell der Entstehung einer Depression – 167 10.5 Psychosomatische Grundversorgung und Selbstmanagement – 170 10.6 Psychotherapie
– 171
10.7 Psychopharmaka 10.8 Suizidalität
– 173
– 175
10.9 Evidence Based Medicine
– 177
162
II
Kapitel 10 · Depressionen
4 Symptomatik der Depression 4 Formen der Depression 4 Behandlung der Depression im Rahmen der Psychosomatischen Grundversorgung 4 Abklärung von Suizidalität
> > Einleitung Das Krankheitsbild Depression muss von Traurigkeit oder Trauer abgegrenzt werden. Traurigkeit oder Trauer ist ein normales Gefühl wie Zorn, Freude oder Angst und gehört zu den Grundemotionen des Menschen. Die Fähigkeit zur Traurigkeit ist in uns biologisch angelegt. Gefühle von Traurigkeit sind in der Regel vorübergehend. Traurigkeit oder Trauer ist oft Folge des Verlusts einer nahen Bezugsperson. Die dabei auftretenden Gefühle von Niedergeschlagenheit, Selbstzweifel, Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit finden sich auch bei einer Depression, haben jedoch nicht die gleiche Intensität, vor allem ist der Verlust des Selbstwertgefühls nicht so hoch.
Merke Im Vergleich zur Depression lässt sich Traurigkeit oft durch positive, angenehme Tätigkeiten und Ereignisse unterbrechen. Trauer ist etwas Vorübergehendes mit zuversichtlicher Zukunftsperspektive und auch der erhaltenen Fähigkeit, Hilfe und Unterstützung zu suchen. Trauerarbeit braucht Zeit. Durch eine missglückte und blockierte Trauerarbeit wird die Entwicklung einer Depression oder körperlicher Beschwerden ohne Organbefund (Somatisierung) begünstigt.
163 10.2 · Diagnostische Einteilung
10.1
10
Symptome
Depressive Symptome äußern sich auf verschiedenen Ebenen: 4 Verhalten. Die Körperhaltung ist kraftlos, gebeugt, die Bewegungen sind verlangsamt. Der Gesichtsausdruck ist traurig, teilweise maskenhaft und wie versteinert. Die Sprache ist leise, langsam und monoton. Es besteht eine Aktivitätsverminderung mit eingeschränktem Bewegungsradius. 4 Gefühle. Der Patient fühlt sich niedergeschlagen, traurig, hoffnungslos, hilflos, einsam, ängstlich. Seine Stimmung gegenüber anderen ist feindselig, er ist innerlich getrieben, von der Umwelt abgeschnitten, Schuldgefühle treten auf. 4 Körper. Beklagt werden körperliche Schwäche, Antriebslosigkeit, Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit, Wetterfühligkeit, erhöhte Schmerzempfindlichkeit, Libidoverlust, multiple vegetative Beschwerden wie Kopfdruck, Magenbeschwerden, Verdauungsstörungen. 4 Gedanken. Die Gedankenwelt wird bestimmt durch eine negative Einstellung gegenüber sich selbst und der Zukunft, Pessimismus, permanente Selbstkritik, Selbstunsicherheit, Konzentrationsprobleme, Gedächtnisstörungen, Katastrophisieren, Ideen der Ausweglosigkeit und Zwecklosigkeit des eigenen Lebens, Suizidgedanken, Erwartung von Strafen, Wahnvorstellungen, z. B. Verarmungswahn, zwanghaft hohes Anspruchsniveau an sich selbst. Es gibt Patienten, bei denen sich die depressive Stimmung hauptsächlich in Form von körperlichen Beschwerden darstellt (7 Kap. 7, Somatisierung).
10.2
Diagnostische Einteilung
Merke Hauptsymptome 4 Gedrückte, depressive Stimmung 4 Interesselosigkeit und/oder Freudlosigkeit, auch bei sonst angenehmen Ereignissen 4 Antriebsmangel, erhöhte Ermüdbarkeit 6
164
Kapitel 10 · Depressionen
Zusatzsymptome
II
4 4 4 4 4 4 4
Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven Suizidgedanken/-handlungen Schlafstörungen Verminderter Appetit/Appetitsteigerung
In den internationalen Klassifizierungssystemen werden depressive Störungen innerhalb der diagnostischen Kategorie der »affektiven Störungen« beschrieben. Die häufigsten affektiven Störungen sind die manische Episode (ICD-10: F 30), die bipolare affektive Störung (ICD-10: F 31), die depressive Episode (ICD10: F 32) und die Dysthymia (ICD-10: F 34.1). Die manische Episode und die bipolare affektive Störung sind in den Lehrbüchern der Psychiatrie beschrieben. Das Vorhandensein weiterer psychischer Störungen (z. B. Sucht, Angststörungen, Essstörungen) ist ein Risikofaktor in Bezug auf eine Chronifizierung der Depression und für Suizidalität.
10.2.1 Depressive Episode (ICD-10: F 32)
Die Einschlusskriterien für eine depressive Episode sind erfüllt, wenn während mindestens 2 Wochen mehrere der oben genannten Symptome vorliegen. Unterschieden wird zwischen der leichten, mittelgradigen und schweren depressiven Episode: 4 Leicht: Zwei Hauptsymptome und zwei Zusatzsymptome. 4 Mittelgradig: Zwei Hauptsymptome und 3–4 Zusatzsymptome. 4 Schwer: Drei Hauptsymptome und ≥4 Zusatzsymptome. 10.2.2 Dysthymia (ICD-10: F 34.1)
Diese Störung wurde früher als neurotische Depression bezeichnet. Kennzeichen sind:
165 10.2 · Diagnostische Einteilung
10
4 Die langdauernde depressive Verstimmung, die aber nicht so ausgeprägt ist, dass die Kriterien für eine depressive Episode erfüllt sind. 4 Beginn im frühen Erwachsenenalter. Dauer mehrere Jahre, manchmal lebenslang. 4 Typische Symptome: Müdigkeit, Schlafstörungen, schnelle Erschöpfbarkeit, Grübeln, Klagsamkeit, Gefühl der Unzulänglichkeit. Der Unterschied im Verlauf zwischen einer rezidivierenden depressiven Störung und einer Dysthymia zeigt . Abb. 10.1. Depressionsverläufe
freies Intervall
länger
. Abb. 10.1. Depressionsverläufe
10.2.3 Differenzialdiagnose
Depressive Symptome finden sich auch als Reaktion auf schwere psychosoziale Belastungen bzw. Lebensereignisse. Es werden kurze depressive Reaktionen, die nicht länger als einen Monat dauern, und längere depressive Reaktionen, die aber nicht länger als zwei Jahre dauern, unterschieden (ICD-10: F 43). Weitere Einzelheiten finden sich in Kap. 5, Krebserkrankung, Kap. 6, Koronare Herzerkrankung und Kap. 11, Posttraumatische Belastungsstörung.
II
166
Kapitel 10 · Depressionen
10.3
Häufigkeit
In einer bundesweiten Untersuchung der Allgemeinbevölkerung betrug die 12-Monats-Prävalanz für eine depressive Episode 8,3%, für eine Dysthymia 4,5% und für eine bipolare Störung 0,8%. Etwa die Hälfte aller Patienten, die erstmalig an einer Depression erkrankt sind, erleidet in den folgenden Jahren eine weitere depressive Episode. Nach zweimaliger Erkrankung liegt die Wahrscheinlichkeit ein weiteres Mal zu erkranken bei 70%, nach der dritten Episode bei 90%. Der Fall Die 37-jährige Ärztin, Frau W., stellt sich durch Vermittlung des Hausarztes in der Psychosomatischen Ambulanz vor. Sie habe seit 3 Wochen Übelkeit und Bauchschmerzen. Eine Gastroskopie habe lediglich eine leichte Antrumgastritis ergeben. Seit 2 Wochen spüre sie auch eine abgrundtiefe Traurigkeit und Einsamkeit. Sie wisse nicht, was mit ihr los sei. Hinzu kämen Versagensängste in ihrem Beruf als Anästhesistin in einem Schwerpunktkrankenhaus, Ein- und Durchschlafstörungen, Früherwachen und zeitweise auch Herzrasen. Sie habe keinen Appetit mehr und habe sich von ihren Kolleginnen und Kollegen zurückgezogen. Sie könne sich das alles nicht erklären, sie wisse nicht was mit ihr los sei. Dabei habe sie sich doch so viel vorgenommen. Der Umzug von der Kleinstadt in die Großstadt, die neue Stelle, Möglichkeiten zum beruflichen Aufstieg, ein Wunsch nach einer neuen Partnerschaft nach mehreren Enttäuschungen in der Vergangenheit. Nichts von dem habe sie erreicht. Sie sei enttäuscht von sich selbst. Andere würden sagen, sie solle ihre Ansprüche runterschrauben. Sie könne das aber nicht. Sie wache oft frühmorgens auf und dann kommen diese ganzen Gedanken: »Wie schaffe ich das alles? Ich funktioniere nicht mehr richtig. Mein Körper reagiert nicht mehr adäquat. Wenn ich ein Magengeschwür hätte, dann könnte ich ja die Übelkeit und die Bauchschmerzen verstehen. Irgend etwas mit mir stimmt nicht.«
167 10.4 · Bio-psychosoziales Modell der Entstehung
10
. Abb. 10.2. Ätiologie der Depression
10.4
Bio-psychosoziales Modell der Entstehung einer Depression
Gemäß dem bio-psychosozialen Modell treffen bei der Entstehung und Manifestation einer Depression mehrere Faktoren zusammen, die je nach Individuum unterschiedlich gewichtet sind (. Abb. 10.2).
Genetische Disposition Depressionen kommen familiär gehäuft vor. Wenn beide Eltern erkrankt waren, ist das Erkrankungsrisiko der Kinder ca. 50%.
Neurochemische und neuroendokrinologische Korrelate Die Serotonintheorie geht davon aus, dass ein niedriger Serotoninspiegel die neuralen Aktivitäten anderer neurochemischer Systeme stark verändert und zu Manie oder Depression führt. Die antidepressive Wirkung der trizyklischen und tetrazyklischen Antidepressiva und der MAO-Hemmer werden auf eine Erhöhung der Verfügbarkeit von Serotonin und Noradrenalin im synaptischen Spalt zurückgeführt. Die Depression ist ein starker Stressor. Er führt zur Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse mit der Folge einer übermäßigen Kortisolproduktion (7 Kap. 1.2.2, Stress und Depression).
168
Kapitel 10 · Depressionen
Kognitionen
II
Kognitionen sind alle mentalen Prozesse, die mit Wahrnehmung, Vorstellung, Gedächtnis, Lernen, Denken und Urteilen zusammenhängen. Kognitionen können Gefühle und Stimmungen hervorrufen. Depressive haben eine pessimistische Sichtweise von sich selbst, der Welt und der Zukunft (negative Triade), sie haben durch negative Lebenserfahrungen negative Überzeugungen und Handlungsmuster (Schemata) erworben, die in belastenden Situationen zu kognitiven Verzerrungen, z. B. willkürliche Schlussfolgerungen, selektive Wahrnehmung, führen. Beispielhaft wird das Konzept der erlernten Hilflosigkeit erwähnt: In der Biographie finden sich wiederholt unkontrollierbare traumatische Erlebnisse, die diese Patienten passiv hinnehmen mussten ohne mögliche Vermeidungs- und Bewältigungsreaktionen zu entwickeln. Die erlernte Hilflosigkeit führt zu der Erwartung, dass auch spätere negative Erfahrungen nicht zu kontrollieren sind. Sie bewirkt, dass tatsächlich vorhandene Einflussmöglichkeiten nicht genutzt werden und mit einem depressiven Rückzug beantwortet werden. Dazu kommt, dass der Betroffene die Ursache für das Scheitern stets bei sich selbst sucht.
Psychosoziale Belastungen Vor dem erstmaligen Auftreten einer Depression finden sich fast immer typische Belastungssituationen: Interpersonelle Konflikte, Ansehensverluste oder Kränkungen, drohende oder tatsächlich vollzogene Trennungen oder der Tod eines nahe stehenden Menschen. Gemeinsames Merkmal dieser Ereignisse ist die Bedrohung oder der Verlust zwischenmenschlicher Bindungen. Menschen, die in den ersten Lebensjahren überdurchschnittlich häufig von Trennungserfahrungen oder schweren Gefährdungen ihrer maßgeblich beschützenden Beziehungen betroffen waren, haben eine dauerhafte, bis ins Erwachsenenalter reichende Sensibilisierung ihrer biologischen Stressantwort auf Konflikte, Trennungen oder Verluste. Diese Menschen haben ein erhöhtes Depressionsrisiko: Kritische psychosoziale Belastungen führen zu einer stärkeren und länger anhaltenden Alarmierung ihres Stresssystems (7 Kap. 1.2.4, Genetik).
Psychodynamik Aus Angst vor erneuten Trennungen und Verlusten haben diese Menschen ein hohes Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein entwickelt und verlangen sich selbst große Leistungen ab, um andere zufrieden zu stellen. Sie hoffen auf diese
169 10.4 · Bio-psychosoziales Modell der Entstehung
10
Weise vom anderen gebraucht zu werden und ihr Liebesdefizit auszugleichen. Gleichzeitig dient dieses Verhalten der Aufrechterhaltung ihres Selbstwertgefühls. Eigene Bedürfnisse, Ärger, Wut und Enttäuschung werden zunächst abgewehrt und dann durch Selbstvorwürfe, Selbstanklagen und Selbstmordversuche gegen die eigene Person gerichtet.
Kommunikative Funktion Neben dem Hilfsappell, den Depressive an die Mitmenschen aussenden, hat die Depression auch den evolutionsbiologischen Sinn und Zweck, den Patienten zum Rückzug aus seinem Alltag zu zwingen und ihm damit die Möglichkeit zu geben, sich aus bisherigen überfordernden und für ihn unerfreulichen Verhältnissen und Konstellationen zu verabschieden und evtl. einen Neubeginn zu wagen. Der Fall (Fortsetzung) Psychosoziale Anamnese Die Patientin sei in der Schulzeit häufig krank gewesen. Die Mutter habe sich, als die Patientin 5 Jahre alt war, in einen anderen Mann verliebt und sich scheiden lassen. Zum Stiefvater habe sie eine gute Beziehung. Der Wechsel von der Schule an die Universität sei ihr schwer gefallen. In der Schule gab es persönliche Beziehungen zu den Lehrern und sie sei immer unter den fünf Besten gewesen. Die Anonymität der Universität habe ihr zu schaffen gemacht. Die Partnerschaften seien wenig befriedigend gewesen, es sei viel gestritten worden und sie habe viel gelitten. Im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit habe sie sich oft überfordert und von den Patientenschicksalen überwältigt gefühlt. Schon damals seien Schlafstörungen und Verdauungsprobleme sowie Ängste aufgetreten. Ihren eigentlichen Berufswunsch Internistin mit Schwerpunkt Kardiologie musste sie wegen chronischer Überforderung aufgeben. Nach dem Abschluss der Weiterbildung in Anästhesie habe sie zunächst in einem kleinen Krankenhaus gearbeitet. Durch den Umzug in die große Stadt sei es zwischen ihr und ihrem damaligen Freund zu Spannungen und schließlich zur Trennung gekommen. Sie habe versucht, die damit verbundenen Gefühle von Versagen, Wertlosigkeit und Enttäuschung durch vermehrtes Engagement bei ihrer ärztlichen Tätigkeit auszugleichen. Zuletzt habe sie sich aber nicht mehr gegenüber den Belastungen durch die Patienten und den Anforderungen durch den Abteilungsleiter abgrenzen können. Sie habe sich nur noch ausgenutzt gefühlt.
170
Kapitel 10 · Depressionen
Merke
II
Depressionen sind die dritthäufigste Form von psychischen Störungen in der Bevölkerung und die zweithäufigste Störung in der Allgemeinarztpraxis. Nach der WHO wird davon ausgegangen, dass 2020 die Depression nach den HerzKreislauf-Erkrankungen das zweithäufigste Krankheitsbild überhaupt ist. Die depressive Episode verläuft zumeist phasenhaft. Die Dysthymia ist chronisch, verläuft aber milder. Über die Hälfte der Depressionen bleiben unerkannt und unbehandelt. Ca. 50% werden erkannt, ca. 30% werden behandelt, davon ca. 6% stationär.
10.5
Psychosomatische Grundversorgung und Selbstmanagement
Die Behandlung einer Depression setzt entsprechend den oben geschilderten Entstehungsbedingungen an vier Punkten an: 4 Die Beeinflussung dysfunktionaler Denk- und Verhaltensmuster. 4 Die Verbesserung des Selbstwertgefühls. 4 Der Abbau von inneren und äußeren Anforderungen. 4 Die Herstellung eines körperlichen Gleichgewichts, z. B. Behandlung der Schlafstörung, Sport. 4 Die Beeinflussung des Neurotransmitterstoffwechsels durch Psychopharmaka.
Arzt-Patient-Beziehung Depressive Menschen sind in ihrer Selbstachtung und ihrem Selbstwertgefühl so sehr geschwächt und verletzt, dass sie auf jede Störung einer zwischenmenschlichen Beziehung reagieren. Aufgabe des Arztes ist es in erster Linie, den Patienten geduldig anzuhören und die Klagen anzunehmen, ohne ihn vorschnell aufzumuntern. Ungeduld, Ermahnungen und kurzsichtige Ratschläge führen nur dazu, dass der Patient sich unverstanden fühlt. Er wird in seiner depressiv verzerrten Sicht seiner selbst und der Welt bestätigt.
171 10.6 · Psychotherapie
10
Informationen zum Selbstmanagement Eine ausführliche und genaue Vermittlung zur Entstehung und Behandlung der Depression ist notwendig, um das für den Patienten zumeist unverständliche Geschehen (7 Der Fall) besser begreifbar zu machen. Praxistipps Information, die der Arzt an depressive Patienten weitergeben kann 4 Antriebsmangel, Energielosigkeit, rasche Erschöpfbarkeit, Interesseund Freudlosigkeit, Schuldgefühle, Ängste, Gefühle von Unfähigkeit, Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme, Schlafstörungen, Körperbeschwerden und sozialer Rückzug sind Beispiele für die vielfältigen Äußerungsformen einer Depression. 4 Falls Sie an einer Depression leiden, dann sind Sie kein Einzelfall: Ca. 10% der Bevölkerung machen im Leben irgendwann eine behandlungsbedürftige Depression durch. 4 Auch wenn Sie hoffnungslos sind, eine Depression kann man erfolgreich behandeln: Die Heilungschance durch eine medikamentöse Behandlung oder Psychotherapie sind bei konsequenter Behandlung gut. 4 Vermeiden Sie längeren Rückzug mit exzessivem Grübeln. Planen Sie ablenkende Aktivitäten. Vermeiden Sie Vormittagsschlaf. Versuchen Sie einen geregelten Tagesablauf einzuhalten. 4 Prüfen Sie, ob Sie allgemeine Regeln zur Verminderung von Belastungen einhalten: Ausreichende Zeit für Entspannung und Abwechslung, Pausenplanung, sportlicher Ausgleich, nicht zuviel Belastendes gleichzeitig (Umzug, Arbeitsplatzwechsel usw.), gesunde Ernährung. 4 Prüfen Sie, ob es bevor Sie depressiv wurden, wesentliche Änderungen in Ihrem Leben gab (beruflich, privat), Verluste, Versagenserlebnisse, zwischenmenschliche Konflikte, Überforderungen, Unterforderungen, Wohnort- oder Stellenwechsel.
10.6
Psychotherapie
Die Psychotherapie ist die wichtigste Säule in der Behandlung der Depression, da insbesondere beim erstmaligen Auftreten einer Depression damit das Risiko weiterer depressiver Phasen vermindert werden kann (. Abb. 10.3.)
172
Kapitel 10 · Depressionen
II
. Abb. 10.3. Integratives Behandlungsmodell zur Depression
Kognitive Verhaltenstherapie Die Kognitive Verhaltenstherapie hat folgende Ziele: 4 Förderung angenehmer Aktivitäten, z. B. Genusstraining. 4 Förderung der trotz Depression vorhandenen aktiven Anteile und Kompetenzen des Patienten. 4 Aufbau sozialer Kompetenzen zur Veränderung ungünstiger Interaktionsund Kommunikationsstile, z. B. in Form von Rollenspielen. 4 Kognitive Umstrukturierung zum Erkennen, Überprüfen und Korrigieren negativer und verzerrter Selbst- und Fremdwahrnehmungen. 4 Erkennen von auslösenden und aufrecht erhaltenden Faktoren der Depression.
173 10.7 · Psychopharmaka
10
4 Aufbau von Bewältigungs- und Problemlösefertigkeiten für zukünftige Krisen, z. B. Erkennen des eigenen Leistungsanspruchs und daraus folgende mögliche Selbstüberforderung.
Tiefenpsychologische (psychodynamische) Psychotherapie Die Psychoanalyse geht davon aus, dass die Auslösesituation für die Depression als eine Verdichtung von aktuellen und vergangenen Konfliktkonstellationen zu sehen ist. Die bisher zur Verfügung stehenden Lösungsfähigkeiten und Ressourcen angesichts eines Verlusterlebnisses haben sich erschöpft. Daraus resultiert Hilflosigkeit und Ohnmacht. Aufgrund einer Abhängigkeitsproblematik (7 Kap. 10.4, Psychodynamik) werden aggressive Auseinandersetzungen vermieden und Wut und Ärger gegen die eigene Person im Sinne einer Selbstentwertung gerichtet. Hauptziel ist daher die Bearbeitung der Selbstwertproblematik durch Stärkung autonomer Ziele des Patienten. Ein weiteres Ziel ist, den Patienten von seinen hohen Ansprüchen und Idealvorstellungen von sich selbst und anderen zu entlasten.
Interpersonelle Therapie (IPT) IPT ist eine strukturierte Therapie und umfasst in der Regel 16 Sitzungen. Der Behandlungsfokus liegt auf dem Zusammenhang zwischen Depression und aktuellen interpersonellen Konflikten, z. B. Trennung von vertrauten Personen, nicht stattgefundene Trauerarbeit, Verlust einer gewohnten sozialen Rolle oder Vereinsamung.
10.7
Psychopharmaka
Bei leichten und mittelschweren depressiven Störungen kann eine medikamentöse Behandlung als Ergänzung zur psychotherapeutischen Behandlung erfolgen. Allerdings zeigte sich, dass eine psychotherapeutische Behandlung bei Erstmanifestation das Risiko einer späteren zweiten Depression senkt, während eine rein medikamentöse Behandlung der ersten Depression das Risiko, später erneut an einer Depression zu erkranken, eher erhöht. Bei schweren Verlaufsformen (7 Kap. 10.2.1, Klassifikation) ist eine antidepressive Psychopharmakabehandlung in Kombination mit Psychotherapie unbedingt indiziert. Dabei ist zu beachten und dem Patienten auch gleich mit-
174
II
Kapitel 10 · Depressionen
zuteilen, dass bei allen Antidepressiva eine Latenz von mindestens 2 Wochen bis zum Wirkungseintritt besteht, dass die Nebenwirkungen hingegen sofort eintreten. Die Medikation sollte ca. 6–9 Monate fortgeführt werden. Im Fall von rezidivierenden Depressionen ist eine Langzeitrezidivprophylaxe indiziert. Die Antidepressiva lassen sich unter klinisch-praktischen Gesichtspunkten je nach Wirkkomponenten in drei Gruppen einteilen und bestimmten Hauptindikationen zuordnen. 4 Sedierende Antidepressiva. Das sind vor allem tri- und tetrazyklische Substanzen wie z. B. Amitriptylin oder Mirtazepin, ein neues, noradrenerges und spezifisch serotonerges Antidepressivum. 4 Antriebsneutrale Antidepressiva, z. B. Imipramin. 4 Antriebssteigernde Antidepressiva wie die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Die Verordnung von Psychopharmaka setzt eine vertrauensvolle Arzt-PatientBeziehung voraus, auch um die Medikamenten-Compliance zu unterstützen. Gerade in schwierigen Behandlungsabschnitten wie z. B. zu Beginn, wenn die gewünschte antidepressive Wirkung noch nicht deutlich ist, aber dennoch auftretende Nebenwirkungen das Befinden beeinträchtigen, ist es entscheidend, dass sich der Patient ernstgenommen fühlt, z. B. wenn er über empfindliche Nebenwirkungen klagt. Der Arzt sollte diese Nebenwirkungen nicht bagatellisieren, wenn sie etwa nicht in das typische Nebenwirkungsspektrum passen. Merke Die Wirksamkeit einer medikamentösen antidepressiven Therapie ist besonders gut in der Akutphase dokumentiert. Im Langzeitverlauf ist Psychotherapie der medikamentösen Behandlung überlegen. Antidepressiva helfen bei 70–80% der depressiven Patienten. Die durchschnittliche Wirklatenz von 14 Tagen ist zu beachten. Antidepressiva beeinflussen zentrale Transmittersubstanzen, vor allem Serotonin, Noradrenalin und Dopamin. Neuere Antidepressiva überzeugen in ihrer Wirksamkeit, sind gut verträglich und werden von der Mehrzahl der Patienten akzeptiert.
175 10.8 · Suizidalität
10.8
10
Suizidalität
Viele Menschen haben im Laufe ihres Lebens schon Suizidphantasien gehabt. Diese Phantasien entspringen dem Drang nach eiliger Wandlung und der Sehnsucht, nicht mehr aushalten, abwarten, umwandeln zu müssen, sondern Erlösung und Ruhe, jenseits von Kränkungen und Verlusten finden zu können. Ein anderes Ziel kann aber auch Rache sein, durch den eigenen Tod einen Anderen zu bestrafen, der der Urheber der Kränkung gewesen ist. Weitere Motive für den Suizid können das Bedürfnis nach Buße für eine wirkliche oder vermeintliche Schuld sein oder die Sehnsucht nach Wiedervereinigung mit einem verlorenen Liebesobjekt, z. B. einem gestorbenen Partner. Zur Orientierung wie gefährdet der Patient für eine Suizidhandlung ist, dient folgender Fragenkatalog. Je eindeutiger die Fragen beantwortet werden, desto höher ist die Suizidgefahr. Merke Fragenkatalog zur Abschätzung der Suizidalität 4 Haben Sie in letzter Zeit daran denken müssen, sich das Leben zu nehmen? 4 Häufig? 4 Haben Sie auch daran denken müssen, ohne es zu wollen? Haben sich Selbstmordgedanken aufgedrängt? Konnten Sie diese Gedanken beiseite schieben? 4 Haben Sie konkrete Ideen oder Pläne, wie Sie es machen würden? 4 Haben Sie Vorbereitungen getroffen? 4 Haben Sie bereits einen Abschiedsbrief geschrieben? 4 Gibt es irgendetwas, was Sie im Leben hält? 4 Haben Sie schon zu jemandem über Ihre Selbstmordabsicht gesprochen? 4 Haben Sie einmal einen Selbstmordversuch unternommen? 4 Hat sich in Ihrer Familie oder in Ihrem Freundes- oder Bekanntenkreis schon jemand das Leben genommen?
176
Kapitel 10 · Depressionen
Praxistipps
II
Hinweise für den Umgang mit Suizidgefährdeten 4 Wer von Selbstmord redet, muss als selbstmordgefährdet angesehen werden. 4 Wenn uns jemand mit gramerfülltem und versteinertem Gesicht, mit gebeugter Haltung und verlangsamter Psychomotorik versichert, es gehe ihm gut, dann sollten wir daran denken, dass hinter dieser Aussage geheime Suizidabsichten stehen. 4 Liegt eine Depression vor, fragen Sie den Kranken ohne viel Umschweife, ob er schon einmal daran gedacht hat, sich das Leben zu nehmen. Der Patient fühlt sich dadurch eher erleichtert. 4 Wer hat durch was den Patienten gekränkt? An wen richten sich die Suizidphantasien? 4 Entscheidend wichtig ist die seelische Bindung an eine zuverlässige Person z. B. den Hausarzt. Fragen Sie den Patienten, ob er versprechen kann, bis zum nächsten vereinbarten Termin sich nichts anzutun. Es wird den Patienten auf jeden Fall erleichtern, wenn Sie ihm versichern können, dass er Sie oder Ihren Kollegen rund um die Uhr anrufen kann, wenn die Suizidgedanken wieder zunehmen. 4 Wenn ein Patient Zeit und Ort für seinen geplanten Suizid angibt, z. B. »Ich werde mich am Dienstag an einem Baum erhängen«, dann ist eine Klinikeinweisung dringend erforderlich. 4 Grundsätzlich gilt: Wenn Sie sich überfordert fühlen, überweisen Sie den Patienten an einen Psychiater oder Psychotherapeuten oder an die Ambulanz einer Psychiatrischen Klinik.
Merke Zur Abklärung der Depression gehört auch die Frage nach Suizidgedanken. Je selbstverständlicher sie gestellt wird, umso entlastender wird sie vom Patienten empfunden. Jede Suizidankündigung sollte ernst genommen werden.
177 Literatur
10.9
10
Evidence Based Medicine
Bei leichten bis mittelschweren Depressionen sind psychodynamische Kurzzeittherapie und kognitive Verhaltenstherapie vergleichbar wirksam. Leichte bis mittelschwere Depressionen werden durch Psychotherapie wirksamer reduziert als durch eine antidepressive Medikation. Die Interpersonelle Therapie (IPT) weist einen mit Antidepressiva vergleichbaren Effekt in der Akutbehandlung auf. ?
Übungsaufgaben
3 Nennen Sie Symptome einer Depression auf der Ebene der Gedanken, der
Gefühle, des Körpers und des Verhaltens. 3 Nennen Sie die diagnostischen Kriterien einer depressiven Episode und einer
Dysthymia nach ICD-10. 1 Beschreiben Sie die Wechselwirkung der verschiedenen Erklärungsmodelle bei
der Entstehung einer Depression. 3 Beschreiben Sie die Behandlung der Depression im Rahmen der Psychosoma-
tischen Grundversorgung. 2 Beschreiben Sie die psychotherapeutischen Behandlungsverfahren und deren
Unterschiede. 3 Welche Fragen sind zur Abklärung einer Suizidgefährdung notwendig?
Literatur Hautzinger M (2000) Depression. In: Margraf J (Hrsg) Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Bd 2. Springer, Berlin Heidelberg New York. Gute übersichtliche Darstellung der kognitiv-behavioralen Behandlungsverfahren. Rudolf G (2005) Der depressive Grundkonflikt und seine Verarbeitungen. Krankheitsbilder in Folge des depressiven Grundkonflikts. In Rudolf G (Hrsg) Psychotherapeutische Medizin und Psychosomatik. Thieme, Stuttgart. Entstehung und Behandlung aus psychoanalytischer Sicht.
11 11 Psychisches Trauma und posttraumatische Belastungsstörung 11.1 Diagnostische Einteilung
– 180
11.2.1 Akute Belastungsreaktion (ICD-10: F 43.0) 11.2.2 Anpassungsstörung (ICD-10: F 43.2)
– 180
– 181
11.2.3 Posttraumatische Belastungsstörung-PTBS (engl.: Posttraumatic Stress Disorder-PTSD) (ICD-10: F 43.1)
11.2 Symptome
– 181
– 181
11.3 Häufigkeit und Verlauf
– 182
11.4 Entstehungsbedingungen
– 182
11.5 Psychosomatische Grundversorgung 11.5.1 Akute Krisensituation und akute PTBS
– 183
– 183
11.5.2 Verzögerte posttraumatische Belastungsstörung
11.6 Psychotherapie
– 184
11.7 Evidence Based Medicine
– 185
– 183
180
II
Kapitel 11 · Psychisches Trauma und posttraumatische Belastungsstörung
4 Symptome und diagnostische Einteilung der posttraumatischen Belastungsstörung 4 Psychosomatische Grundversorgung in akuten Krisensituationen und bei Spätfolgen einer Traumatisierung
> > Einleitung Ein psychisches Trauma wird definiert als Folge eines kurzzeitigen oder länger dauernden belastenden Ereignisses, das außerhalb der üblichen menschlichen Erfahrung liegt und das für jeden belastend wäre. Beispiele sind Naturkatastrophen, Kampfhandlungen, Verkehrsunfälle, Diagnose einer unheilbaren Krankheit, Aufenthalt auf Intensivstation, Terrorismus, Vergewaltigung und Gewaltverbrechen. Wichtigstes Kennzeichen ist die starke Diskrepanz zwischen äußerer Bedrohung und den zur Verfügung stehenden Bewältigungskompetenzen. Das Gefühl ausgeliefert zu sein, Hilflosigkeit, Angst und Schrecken sind häufige psychische Reaktionen und führen zu einer dauerhaften Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses.
11.1
Diagnostische Einteilung
Folgende drei psychische Störungsbilder können als Folge von schweren Belastungen und Traumen auftreten:
11.2.1 Akute Belastungsreaktion (ICD-10: F 43.0)
Dabei handelt es sich um eine vorübergehende Störung bei einem psychisch sonst stabilen Menschen nach einer außergewöhnlichen körperlichen und/oder seelischen Belastung, die innerhalb von vier Wochen nach dem Trauma wieder abklingt. Die Symptomatik besteht aus einer Schreckreaktion, dem Gefühl der Abwesenheit, Betäubung und Desorientiertheit, sowie aus Überaktivität und vegetativer Erregtheit. Es handelt sich um adäquate seelische und körperliche Reaktionsweisen nach schweren Belastungen.
181 11.2 · Symptome
11
11.2.2 Anpassungsstörung (ICD-10: F 43.2)
Die psychischen Reaktionen, meistens in Form von depressiven oder ängstlichen Symptomen, können mehrere Monate bis zu einem halben Jahr dauern. Es gibt Patienten, die sich aktiv mit dem Trauma und den damit verbundenen psychischen und körperlichen Symptomen auseinander setzen, andere die versuchen sich mit Alkohol oder Tranquilizern zu betäuben.
11.2.3 Posttraumatische Belastungsstörung-PTBS
(engl.: Posttraumatic Stress Disorder-PTSD) (ICD-10: F 43.1) Die psychische Symptomatik setzt nach Wochen bis sechs Monaten (akute PTBS) oder erst nach sechs Monaten und später (verzögerte PTBS) nach dem traumatischen Ereignis ein. Die Symptome dauern länger als einen Monat. Der Betroffene ist psychisch und sozial beeinträchtigt.
11.2
Symptome
Merke Symptomgruppen der posttraumatischen Belastungsstörung 4 Wiedererleben des Traumas. Häufig sich zwanghaft aufdrängende Bilder z. B. Alpträume, Flashbacks oder andere Sinneseindrücke wie Geräusche und starkes Geruchsempfinden, die unmittelbar dem auslösenden Ereignis (Unfall, Überfall, usw.) entspringen und nur schwer der willentlichen Kontrolle des Betroffenen zugänglich sind (Intrusionssymptomatik). 4 Übererregbarkeit (Hyperarousal). Starke Schreckhaftigkeit, Durchschlafstörungen, Konzentrationsschwäche und insgesamt deutlich reduzierte körperliche und seelische Belastbarkeit. 4 Vermeidungsverhalten. Vermeidung von Orten und Situationen, die gedanklich und emotional mit dem traumatischen Erleben in Beziehung stehen, Abflachung der Gefühle.
182
II
Kapitel 11 · Psychisches Trauma und posttraumatische Belastungsstörung
Zu den Langzeitfolgen der posttraumatischen Belastungsstörung gehören: 4 Andauernde Persönlichkeitsveränderungen wie Feindseligkeit, Misstrauen, Rückzug, chronische Leere und Entfremdungsgefühle. 4 Muskel- oder Gelenkschmerzen durch Dauerverspannung der Tiefenstruktur der Muskulatur als Folge der im Körpergedächtnis gespeicherten, unterbrochenen, quasi eingefrorenen Kampf- oder Fluchtreaktionen in der Akutphase der Traumatisierung. 4 Unterbauchschmerzen nach Geschlechtsverkehr als Folge sexueller Traumatisierung.
11.3
Häufigkeit und Verlauf
Die posttraumatische Belastungsstörung tritt am häufigsten auf: 4 Nach Vergewaltigung und schweren Gewaltverbrechen. 4 Bei Soldaten im Kriegseinsatz und bei Kriegs- und politischer Gefangenschaft, z. B. 30% der kämpfenden Soldaten in Vietnam entwickelten eine PTBS. 4 Nach Verkehrsunfällen. Die Lebenszeitprävalenz liegt bei 5–10% in einem Verhältnis Frauen : Männern von 2:1. Es besteht eine Tendenz zur Chronifizierung.
11.4
Entstehungsbedingungen
Im Gegensatz zu einer Konfliktverarbeitung im Rahmen einer neurotischen Symptombildung kommt es beim Trauma zu einer Überforderung und Einschränkung der intrapsychischen Verarbeitung und Bewältigung. Das Erlebte kann nicht mehr kommuniziert werden, es wird nicht mehr gefühlt und oft auch nicht mehr erinnert. Das Trauma bleibt eine isolierte, abgekapselte, psychisch nicht verarbeitete Erfahrung, die im impliziten Gedächtnis gespeichert wird und durch bestimmte Trigger jederzeit wieder ausgelöst werden kann (7 Kap. 7.3.2, Dissoziative Störungen).
183 11.5 · Psychosomatische Grundversorgung
11.5
11
Psychosomatische Grundversorgung
11.5.1 Akute Krisensituation und akute PTBS
Das wichtigste in einer akuten Krisensituation ist die Schaffung eines sicheren Ortes, wo die Erregung des Patienten abklingen kann und er wieder zu sich findet. Insbesondere bei zeitlicher Nähe zu dem Ereignis besteht die verstärkte Gefahr der Retraumatisierung durch flashbackartiges Wiedererleben der traumatischen Situation mit der Folge einer erneuten psychischen Destabilisierung. Ein direktes oder wiederholtes Nachfragen in Bezug auf die traumatische Situation ist deswegen zu vermeiden, um die bereits eingetretene Stabilisierung nicht zu gefährden. Die Akutphase oder auch Schockphase genannt dauert bis maximal eine Woche. Die folgenden Wochen sind von dem Versuch gekennzeichnet, wieder möglichst normal zu leben und das Trauma als extremes Erlebnis zu verarbeiten und zu integrieren. Dazu gibt es in Verbindung mit Atemübungen und Entspannungsverfahren verschiedene kognitive Techniken zur Entwicklung von hilfreichen Gedanken und Vorstellungsbildern, die sowohl kurz- als auch langfristig die Selbstregulation und Selbstheilungskräfte des Körpers aktivieren (Fischer, 2000). In dieser Phase, die noch als Einwirkungsphase bezeichnet wird, können eine ganze Reihe von psychischen Symptomen, hauptsächlich Angst und Vermeidung, aber mit zunehmender Dauerbelastung auch depressive Symptome auftreten. Diese Phase kann mehrere Monate bis zu einem halben Jahr dauern. Danach verblassen langsam die Erinnerungen an das Trauma und die Symptome klingen ab (Erholungsphase). Bei ca. einem Drittel aller Patienten muss jedoch mit einer Chronifizierung gerechnet werden. Eine fachpsychotherapeutische und psychopharmakologische Behandlung ist notwendig, wenn in den ersten Tagen und Wochen nach dem akuten Ereignis eine relative Beruhigung ausbleibt und der Zustand der Übererregung und erhöhten Vigilanz und die begleitenden psychovegetativen Reaktionen fortbestehen.
11.5.2 Verzögerte posttraumatische Belastungsstörung
Bei Patienten, die wegen unspezifischer Symptome wie Schlafstörungen, Tachykardie, Schwitzen, Anspannung, Reizbarkeit, depressive Stimmungslage,
184
II
Kapitel 11 · Psychisches Trauma und posttraumatische Belastungsstörung
aber auch Alkohol- und Drogenabusus den Arzt aufsuchen und über zwischenmenschliche und berufliche Konflikte berichten, ist immer an die Möglichkeit einer PTBS zu denken. Vor allem, wenn die psychische Reaktion auf ein akutes Ereignis, z. B. leichter Unfall, Tod eines entfernten Angehörigen scheinbar inadäquat erscheint, sollte immer vorsichtig (Gefahr der Retraumatisierung) nach einem Unfall oder sonstigen Gewalteinwirkungen in der Vorgeschichte gefragt werden. Anhand der Schilderung des Patienten kann der Arzt dann entscheiden in welcher Phase (Akutphase, Einwirkungsphase oder Chronifizierungsphase) sich der Patient befindet. Anhand der Anamnese und der aktuellen Symptomatik kann er die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung stellen und dadurch rechtzeitig eine wichtige Weichenstellung in Richtung einer gezielten psychotherapeutischen Behandlung einleiten.
11.6
Psychotherapie
Für die Psychotherapie kann als Faustregel gelten: Je früher sie nach dem traumatischen Vorfall in Angriff genommen wird, desto kürzer dauert sie. Je länger der Vorfall zeitlich zurückliegt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Trauma bereits verfestigt hat. Mittlerweile sind traumaspezifische psychodynamische und verhaltenstherapeutische Behandlungsverfahren entwickelt worden: Mit Hilfe der so genannten Mehrdimensionalen Psychodynamischen Traumatherapie (MPTT) werden innerhalb von 10 Sitzungen Opfer von krimineller Gewalt und von Unfällen behandelt. Ähnlich erfolgreich sind auch kurzzeitige verhaltenstherapeutische Behandlungsprogramme. Bei länger zurückliegenden Traumen und Extremtraumatisierung (Krieg, Folter) oder wenn z. B. schwere und wiederholte Traumatisierungen in der Kindheit aufgearbeitet werden müssen (Beziehungstraumata), ist mit einer mehrjährigen Therapie, meist in Kombination mit einer stationären psychotherapeutischen Behandlung zu rechnen. Die Exposition mit der traumatischen Erinnerung erfolgt in der EMDR-Behandlung (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) durch die bilaterale Stimulation beider Hirnhälften in Form von akustischer oder taktiler Stimulation. Die Behandlung orientiert sich an den acht Schritten des EMDRProtokolls mit dem Ziel der gegenwärtigen Belastungsreduktion. Dabei werden
185 Quellenverzeichnis
11
mit dem Trauma assoziierte negative Kognitionen, z. B. »Ich bin schuld!« sowie Emotionen, Bilder und körperliche Missempfindungen aktualisiert, und während der bilateralen Stimulation, meist über geführte Augenbewegungen, unter Anleitung des Therapeuten durchgearbeitet. Sobald der emotionale Druck der Erinnerungen abnimmt, werden diese positiv und neu bewertet, z. B. »Ich habe überlebt!« und durch Stimulation verstärkt. In einer Abschlusssitzung werden Verhaltensmaßnahmen für den Notfall vereinbart.
11.7
Evidence Based Medicine
Die Wirksamkeit von EMDR und kognitiver Verhaltenstherapie ist gesichert. ?
Übungsfragen
2 Durch was ist ein psychisches Trauma gekennzeichnet? 3 Welche 3 Hauptsymptomgruppen finden sich bei der posttraumatischen Be-
lastungsstörung? 2 Beschreiben Sie das ärztlich-therapeutische Vorgehen in einer akuten Krisen-
situation. 2 Woran erkennt der Arzt eine verzögerte PTBS?
Literatur Fischer G, Riedesser P (2003) Lehrbuch der Psychotraumatologie. Ernst Reinhardt, UTB. Umfassende Darstellung aller Aspekte des Erkennens und Behandelns einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Hofmann A (2005) EMDR in der Therapie Posttraumatischer Belastungssyndrome. Thieme, Stuttgart. Gute Übersicht zur EMDR-Behandlung.
Quellenverzeichnis Fischer G (2000) Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie, MPTT. Asanger, Heidelberg
12 12 Essstörungen 12.1 Anorexia nervosa (ICD-10: F 50.0) 12.1.1 Symptome
– 188
– 188
12.1.2 Diagnostische Einteilung 12.1.3 Häufigkeit und Verlauf
– 190
– 190
12.1.4 Entstehungsbedingungen der Anorexia nervosa 12.1.5 Erkennen
12.1.6 Psychosomatische Grundversorgung 12.1.7 Psychotherapie
– 192
– 193
12.2 Bulimia nervosa (ICD-10: F 50.2) 12.2.1 Symptome
– 194
– 194
12.2.2 Häufigkeit und Verlauf
– 196
12.2.3 Entstehungsbedingungen der Bulimia nervosa 12.2.4 Erkennen
– 191
– 191
– 196
– 196
12.2.5 Psychosomatische Grundversorgung 12.2.6 Psychotherapie
– 196
– 197
12.3 Adipositas (ICD-10: E 66.0) und Binge-EatingDisorder (BED, ICD-10: F 50.9) – 198 12.3.1 Symptome und diagnostische Einteilung 12.3.2 Häufigkeit und Verlauf
– 198
– 198
12.3.3 Entstehungsbedingungen von Adipositas und BingeEating-Disorder
– 199
12.3.4 Psychosomatische Grundversorgung 12.3.5 Psychotherapie
– 200
12.4 Evidence Based Medicine
– 200
– 199
188
II
Kapitel 12 · Essstörungen
4 Erkennen einer Anorexia nervosa und Bulimia nervosa 4 Information und Beratung von Patienten und Familie über Entstehung und Behandlungsmöglichkeiten 4 Information, Beratung und ärztliche Begleitung von Patienten mit Adipositas und Binge-Eating-Disorder
> > Einleitung Ess- und Trinkverhalten sind im Wesentlichen das Ergebnis von Erziehungs- und Umwelteinflüssen. Essstörungen nehmen in den letzten Jahrzehnten ständig an Häufigkeit zu. Die Festlegung des Normalgewichts erfolgte früher nach Broca: Körpergröße in cm-100 ergibt das Normalgewicht, -10% bei Männern und -15% bei Frauen ergibt das Idealgewicht. Diese Gewichtseinteilung wurde abgelöst durch den Quetelet-Index (QI), der auch als »Body-mass-Index« (BMI) bezeichnet wird.
Merke Körpergewicht (kg) Body-mass-Index (BMI) = 0002 Körpergröße (m)2 75 Beispiel: BMI= 012 = 24 (1,79)
12.1
Anorexia nervosa (ICD-10: F 50.0)
12.1.1 Symptome
Zu den Symptomen der Anorexia nervosa zählen: 4 Gewichtsabnahme von mindestens 15% unter Idealgewicht oder BMI kleiner oder gleich 17,5. Meist liegt die Gewichtsabnahme deutlich unterhalb dieses Wertes bis zur Kachexie.
189 12.1 · Anorexia nervosa (ICD-10: F 50.0)
12
4 Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch Vermeidung von Speisen, selbstinduziertem Erbrechen, selbstinduziertem Abführen, übertriebener körperlicher Aktivität und/oder Gebrauch von Appetitzüglern und Diuretika. 4 Trotz deutlichem Untergewicht wird der eigene Körper als zu dick erlebt, besonders einzelne Körperpartien wie Bauch, Gesäß und Oberschenkel werden als besonders dick empfunden (Körperschemastörung). 4 Motorische Überaktivität mit ausgedehnten sportlichen Trainingsprogrammen trotz Schwäche und Müdigkeit. 4 Verleugnung des Hungers, stattdessen demonstrative Unabhängigkeit von körperlichen Bedürfnissen. 4 Fehlendes seelisches und körperliches Krankheitsbewusstsein. 4 Endokrine Störung auf der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse: Amenorrhö bei Frauen, Libido- und Potenzverlust bei Männern, Wachstumshormon und Kortisol erhöht, Gonadotropin erniedrigt, Störungen des Schilddrüsenhormonmetabolismus und der Insulinsekretion. Als Folgezustände entwickeln sich: 4 In der Pubertät Entwicklungsstörung mit primärer oder sekundärer Amenorrhö, fehlender Brustentwicklung und Wachstumsstopp. 4 Erniedrigter Grundumsatz, erniedrigte Körpertemperatur, Haut und Haare werden trocken und brüchig, Auftreten von Lanugobehaarung, Akrozyanose, Hypokaliämie durch Erbrechen und Abführmittel, chronische Obstipation. 4 Peripher betonte Polyneuropathie als Folge des Vitamin-B-Mangels. 4 Karies durch Magensäure nach dem Erbrechen und dem anschließenden Zähneputzen bei aufgeweichtem Zahnschmelz. 4 Osteoporose infolge endokrinologischer und Elektrolytstoffwechselstörungen. 4 Depressive Verstimmungen. 4 Soziale Isolation.
190
Kapitel 12 · Essstörungen
12.1.2 Diagnostische Einteilung
II
Unterschieden werden: 4 Anorexia nervosa ohne aktive Maßnahmen zur Gewichtsabnahme, sondern ausschließlich Hungern oder exzessives Sporttreiben, sog. restriktive Anorexie (ICD-10: F 50.00). 4 Anorexia nervosa mit aktiven Maßnahmen zur Gewichtsabnahme wie Erbrechen nach regelrechten Fressanfällen, Missbrauch von Abführmitteln, Diuretika, Appetitzüglern, sog. bulimische oder aktive Anorexie (ICD-10: F 50.01). Differenzialdiagnostisch abgegrenzt wird: 4 Anorektische Reaktion (ICD-10: F 50.8) als vorübergehende zeitlich begrenzte Essstörung im Rahmen von Belastungssituationen. 4 Erbrechen bei anderen psychischen Störungen (ICD-10: F 50.5, 7 z. B. Kap. 7, Somatisierung).
12.1.3 Häufigkeit und Verlauf
1% Prozent der Frauen zwischen 15 und 35 Jahren erkranken. Beginn ist meistens während der Adoleszenz. Das Verhältnis Frauen zu Männern beträgt 12:1. Die Anorexia nervosa findet sich in allen westlichen Ländern, gehäuft in sozial höheren Schichten. Die Prognose des Spontanverlaufs ist schlecht. Eine Heilung innerhalb der ersten 2 Jahre ist selten. Ein Drittel der Patienten bleibt chronisch anorektisch, ein weiteres Drittel entwickelt eine zusätzliche psychische Erkrankung. Bei nur einem Drittel der Patienten kommt es zu einer Normalisierung des Essverhaltens, einer Gewichtszunahme und einem Rückgang der psychischen Symptomatik. Die Mortalität beträgt bis zu 15%. Eine schlechte Prognose findet sich bei Kombination der Anorexie mit Laxantienabusus, vorangegangener Adipositas, Suchtmittelabusus, Persönlichkeitsstörung, Zwangsstörung und schlechter sozialer und beruflicher Anpassung.
191 12.1 · Anorexia nervosa (ICD-10: F 50.0)
12
12.1.4 Entstehungsbedingungen der Anorexia nervosa
Es handelt sich um ein komplexes Zusammenspiel folgender Faktoren, die im Einzelfall mit unterschiedlicher Gewichtung zur Entstehung beitragen: 4 Abwehr von weiblicher Identität und Sexualität. 4 Der Kampf um Autonomie. Hungern als Versuch, sich als eigenständiges Subjekt zu definieren. Die Selbstkontrolle ist das Gefühl der Vollkommenheit und ist mit Glücksgefühlen verbunden. Jedes therapeutische Angebot wird als Bedrohung dieses Zustandes erlebt. 4 Abwehr von Abhängigkeitswünschen. Es besteht ein starker Wunsch nach nahen und engen Beziehungen, die aber Angst auslösen. Beherrschung des Hungers bedeutet das Erlebnis, sich abgrenzen zu können. 4 Verzerrung der Körperwahrnehmung, z. B. die Wahrnehmung des eigenen Körpers im Spiegel im Sinne von »zu dick«. 4 Bei Hungern am Anfang Ausschüttung von Endorphinen, dadurch euphorische Gefühle. 4 Familiäre Situation. Neigung zur Harmonisierung und Konfliktvermeidung bei Spannungen in der Familie. 4 Hoher Leistungsanspruch. 4 Gewalterfahrungen und sexuelle Traumatisierung vor Ausbruch der Erkrankung. 4 Genetische Faktoren. 12.1.5 Erkennen
Patienten mit Anorexia nervosa sind oft hin- und hergerissen, einerseits zwischen dem Wunsch sich anzuvertrauen um Hilfe zu bekommen und andererseits ihren Schamgefühlen und der Angst vor Veränderung. Die Symptomatik kann als ein Lösungsversuch für innere Konflikte verstanden werden. Deshalb teilt sich die Patientin oft nicht direkt mit, sondern »testet«, ob der Arzt der eher vagen Schilderung der Beschwerden nachgeht.
192
Kapitel 12 · Essstörungen
Merke
II
Aufmerksamkeitssignale für eine Anorexia nervosa 4 Beschäftigung mit dem Gewicht in Form von ausgeprägtem Interesse an Diäten, oft dramatisch herabgesetztes subjektives Wunschgewicht, deshalb gezielte Exploration notwendig, krankhafte Furcht vor dem Dickwerden. 4 Phasenweise deutlich ausgeprägte Gewichtsschwankungen. 4 Zyklusstörungen. 4 Hypokaliämie, (Brady-)Arrhythmie, geschwollene Speicheldrüsen, schorfiger Hand- und Fingerrücken, je nach Technik des Erbrechens. 4 BMI unter 17,5. 4 Missverhältnis zwischen Körpergewicht und Aktivitätsniveau. 4 Nur angedeutete, vage psychische Beschwerden.
12.1.6 Psychosomatische Grundversorgung
Aufgaben des Hausarztes oder primär behandelnden Arztes sind: 4 Erkennen und Aufklären über körperliche und psychische Beeinträchtigungen und Folgen einer Anorexie. 4 Aufklärung über die Grundzüge der psychotherapeutischen Diagnostik und Therapie. 4 Lebensbedrohung und Gefahr der Chronifizierung deutlich machen. 4 Einholen eines Behandlungsauftrags von der Patientin und der Familie. Behandlungsprobleme entstehen in der Regel wegen: 4 Ambivalenter Behandlungsmotivation. Der Druck zur Behandlung kommt eher von Angehörigen, von der Schule, vom Arbeitsplatz oder von anderen ärztlichen Behandlern, weniger von der Patientin selbst. Vordergründig passt sich die Patientin bis zur Unterwerfung unter ärztlich-therapeutische Ratschläge an, insgeheim boykottiert sie die therapeutischen Bemühungen durch Lügen und Manipulation. Hintergrund ist der verzweifelte Kampf um Autonomie, Anerkennung und Selbstwert bei gleichzeitig kaum eingestandenen Abhängigkeitswünschen. Vorschlag für eine Intervention bei ambivalenter Behandlungsmotivation: »Ein Teil in Ihnen wünscht eine Veränderung, ein anderer Teil möchte am
193 12.1 · Anorexia nervosa (ICD-10: F 50.0)
12
Hungern und an Ihrem niedrigen Gewicht festhalten. Wie stark würden Sie prozentual beide Anteile einschätzen? Wären Sie bereit, mir für den 20% Anteil, der eine Veränderung wünscht, einen Behandlungsauftrag zu erteilen?« 4 »Friss oder stirb« – Haltung des Arztes. Die Patienten lösen in ihrer Verzweiflung im Rahmen ihrer eher destruktiven Lösungsversuche im Umgang mit Essen, Körper, Schönheitsideal und Geschlechtsrolle beim Arzt einen Aktionismus aus, der zu rigiden Verträgen und Regeln und zu einem Überbetonen des gestörten Essverhaltens führt. Meistens endet diese Konfrontation in einem unproduktiven Clinch, der nur das wiederholt, was die Patientin schon aus ihrer Familie bis zum Überdruss kennt. Die andere Seite sind Ohnmachtsgefühle und Resignation beim Arzt, die zur Vernachlässigung der lebensbedrohlichen Symptomatik führen. Von der Patientin wird das so verstanden, dass der Arzt die Symptome stillschweigend toleriert. Vordergründig erscheint es wie ein Triumph der Patientin, dass sie ihre Behandler täuschen und manipulieren kann. In der Folge verliert sie jedoch die letzte Hoffnung, auf ein Gegenüber, das sie konfrontiert und für sie erlebbar wird und ihr dadurch Reifungsschritte und Verhaltensänderungen ermöglicht. 4 Spaltung. Die Spaltung in gute, empathische Behandler und harte und strenge Behandler stellt sich in allen Behandlungssystemen ein, vor allem wenn die Patienten parallel bei unterschiedlichen stationären Einrichtungen, Praxen oder Beratungsstellen auftauchen, womöglich ohne dass die Behandler voneinander wissen. Die Spaltungsprozesse im Behandlersystem sind meistens ein Abbild der Dynamik, die sich auch innerhalb der Familie der Patientin abspielt. Den verschiedenen Behandlern muss klar werden, dass sie stellvertretend für die Patientin die widersprüchlichen Anteile in ihr austragen. Ziel ist eine Integration dieser verschiedenen Anteile. Dies ist am besten innerhalb eines stationären Behandlungskonzeptes möglich ist. Gegenüber der Familie sollte der Hausarzt eine warmherzige, wohlwollende, aber gleichzeitig neutrale Position zwischen Überfürsorge und Ablehnung einnehmen.
12.1.7 Psychotherapie
Die Behandlung sollte bei einem BMI von 15 und niedriger immer stationär oder teilstationär in einer spezialisierten Einrichtung erfolgen. Nach Erreichen
194
II
Kapitel 12 · Essstörungen
eines Mindestgewichtes oder Basisgewichtes (BMI um 18) ist eine anschließende längere ambulante Psychotherapie unbedingt notwendig. Nicht selten sind wiederholte stationäre Aufnahmen erforderlich.
Behandlungskonzept Verhaltenstherapeutische Ansätze mit dem Ziel der Normalisierung des Essverhaltens im Sinne einer vermehrten Selbstkontrolle durch: 4 Vertrag mit Festlegung einer regelmäßigen Gewichtszunahme bis Erreichen des Basisgewichts 4 Führen eines Esstagebuchs 4 Aufklärung über normale Essensmengen und Essstruktur Nach Symptomreduktion zunehmend Einzel- und Gruppentherapie zur Bearbeitung der zugrunde liegenden Konflikte mit dem Ziel: 4 Stärkung des Selbstwertgefühls 4 Entwicklung von Problemlösungsstrategien 4 Selbstsicherheitstraining im sozialen Verhalten 4 Verbesserung der Wahrnehmung von Affekten und Konflikten
Therapieangebote Zu den geeigneten Therapieangeboten zählen: 4 Einzel- und Gruppentherapie 4 Essgruppe 4 Mal- und Gestaltungstherapie 4 Musik- und Körpertherapie 4 Familiengespräche 4 Arbeitsversuche, begleitet durch die Sozialarbeiterin
12.2 12.2.1
Bulimia nervosa (ICD-10: F 50.2) Symptome
Zu den Symptomen der Bulimia nervosa (ICD-10: F 50.2) zählen: 4 Andauernde Beschäftigung mit dem Essen und unwiderstehliche Gier nach Lebensmitteln. Bei Essattacken werden Nahrungsmittel in sehr großer Menge in sehr kurzer Zeit konsumiert (»Fressanfall«).
195 12.2 · Bulimia nervosa (ICD-10: F 50.2)
12
4 Der befürchteten Gewichtszunahme wird durch selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, Appetitzüglern, Schilddrüsenpräparaten oder Diuretika und zeitweiligen Hungerperioden entgegengesteuert. 4 Es besteht eine krankhafte Furcht dick zu werden. Das Wunschgewicht ist sehr niedrig, evtl. findet sich eine Anorexia nervosa in der Vorgeschichte. 4 Häufig Normgewicht, da immer ein Teil der zugeführten Nahrung nicht erbrochen wird. 4 Ausgeprägte Tendenz, die Störung zu verheimlichen. 4 Amenorrhö in knapp 50% der überwiegend normalgewichtigen Patienten. Zu den Folgezuständen gehören: 4 Elektrolytstörungen, hauptsächlich Hypokaliämie, die zu Herzrhythmusstörungen und plötzlichem Herzstillstand sowie chronischen irreversiblen Nierenschäden mit Dialysefolge führen können. 4 Zahnschädigung durch Magensäure. 4 Chronische Entzündung und Schwellung der Parotisdrüse, sogenanntes »Hamstergesicht«. 4 Reizung der Ösophagusschleimhaut, Sodbrennen bis hin zu Ulzerationen und Kardiainsuffizienz. 4 Schuld- und Schamgefühle. Der Fall Zitat einer 23-jährigen Patientin »Ich denke nur noch ans Essen und die übrige Welt ist völlig ausgeschaltet. Alle Selbstzweifel, Traurigkeit und Wut sind verschwunden. Ich stopfe dann alles mit Genuss in mich hinein, was sonst verboten ist. Es ist wie ein Rausch. Wenn ich mich voll fühle, bekomme ich plötzlich Angst, zuzunehmen. Nach dem Kotzen fühle ich mich dann befreit und leer, bekomme aber auch riesige Schuldgefühle und ekle mich so sehr vor mir selber. Ich habe panische Angst, dass jemand mitbekommt, wie abstoßend ich eigentlich bin und nehme mir dann vor: Morgen wird alles anders.«
196
Kapitel 12 · Essstörungen
12.2.2 Häufigkeit und Verlauf
II
Die Prävalenzrate bei 20–40-jährigen Frauen beträgt 3%. Zwischen Beginn der Erkrankung und Diagnose liegen oft viele Jahre, da die Patientinnen wegen starker Scham- und Schuldgefühle ihre Symptome verheimlichen. Einzelfälle von Bulimie finden sich bei Leistungssportlern. Die Prognose ist günstiger als bei Anorexia nervosa. In 25% der Fälle ist eine Heilung nach 2–3 Jahren stationärer und ambulanter Behandlung möglich.
12.2.3 Entstehungsbedingungen der Bulimia nervosa
Folgende Faktoren spielen bei der Entstehung einer Bulimia nervosa eine Rolle: 4 Selbstunsicherheit, Gefühle der inneren Leere und Sinnlosigkeit werden nach außen hinter einer starken unabhängigen Fassade verborgen. 4 Hoher Leistungsanspruch. 4 Nach Enttäuschung, z. B. in einer Partnerschaft dient die Symptomatik der Ess- und Brechanfälle der Neutralisierung starker innerer Spannungen mit aggressiven Impulsen. 4 Bei einem Teil der Patienten kommen als Ausdruck des Verlustes der Impulskontrolle selbstverletzende Handlungen in Form von Schneiden in Unterarme und Oberschenkel vor. 4 Komorbidität mit Persönlichkeitsstörungen (7 Kap. 13, Persönlichkeitsstörungen).
12.2.4 Erkennen
Es gelten die gleichen Aufmerksamkeitssignale wie für die Anorexia nervosa beschrieben (7 Kap 12.1.5).
12.2.5 Psychosomatische Grundversorgung
Hauptziel ist wie bei der Anorexia nervosa die Aufklärung über das Krankheitsbild, die Grundzüge der Behandlung und die Motivierung für eine Fachpsychotherapie. Die Probleme die sich dabei ergeben, sind ähnlich wie bei Anorexia
12
197 12.2 · Bulimia nervosa (ICD-10: F 50.2)
nervosa (7 Kap. 12.1.6). Eine Untergruppe der Patienten stabilisiert sich in Selbsthilfegruppen.
12.2.6 Psychotherapie
Eine ambulante, störungsspezifische Kurztherapie ist in vielen Fällen ausreichend. Für Patientinnen mit Medikamentenmissbrauch, Suizidalität oder zugrunde liegenden Persönlichkeitsstörungen ist oft eine stationäre psychotherapeutische Behandlung und anschließende ambulante Weiterbehandlung sinnvoll. Das Behandlungskonzept umfasst ähnlich wie bei der Anorexia nervosa verhaltenstherapeutische Ansätze zur Modifikation des Essverhaltens im Sinne einer vermehrten Selbstkontrolle (. Tabelle 12.1, Esstagebuch), Stärkung des
. Tabelle 12.1. Esstagebuch
Zeit von–bis
Speisen und Getränke
Essanfall
Brechanfall
Gedanken und Gefühle VORHER
Gedanken und Gefühle NACHHER
Morgens
4–8 Scheiben Brot mit viel Nutella, Wurst, Käse, Marmelade, 4 Becher Kaffee
Ja
Ja
Aufstehen mit dem Drang zu fressen, schlechte Laune, innere Unruhe
Besseres Gefühl, Gefühl der Leere, Agression, Frust, Müdigkeit
Mittags
3 Seelen 1 Fleischkäsweckle 1 l Milch
Ja
Ja
Mein Chef hat mich bloßgestellt Unruhe, Drang/Zwang zum Fressen
Erleichterung, Frust, Leere, Sicherheit, Aggression
Abends
1 Ring Fleischwurst, 500 g Nudeln, 3 Eier, ½ Glas Nutella, 500 g Brot, 250 g Butter, 200 g Käse, 1 Tüte Chips, 1 Tüte Gummibärchen 2 l Wasser, 3 Becher Brühe
Ja
Ja
Starke innere Unruhe, Wut, starker Aktivitätsdrang, Müdigkeit, Zwang zum Großeinkauf mit wenig Geld
Selbstvorwürfe, Erleichterung, innere Unruhe, Nervosität, Frust
198
II
Kapitel 12 · Essstörungen
Selbstwertgefühls, Entwicklung von Problemlösungsstrategien und Selbstsicherheitstraining im sozialen Verhalten. Die Patienten lernen, Gefühle der Leere auszuhalten und in Konflikten Traurigkeit und Wut verbal ohne Ess-Brech-Anfall auszudrücken. Ergänzend zur Psychotherapie gilt die psychopharmakologische Behandlung mit selektiven Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRI) z. B. Fluoxetin vor allem bei ausgeprägter depressiver Symptomatik und bei Impulskontrollverlust als wirksam.
12.3
Adipositas (ICD-10: E 66.0) und Binge-Eating-Disorder (BED, ICD-10: F 50.9)
12.3.1 Symptome und diagnostische Einteilung Eine Adipositas (ICD-10: E 66.0) liegt vor, wenn das Idealgewicht um 30% (BMI >30) überschritten wird. Die Binge-Eating-Disorder (BED, engl. to binge = schlingen, ICD-10: F 50.9) wird gekennzeichnet durch: 4 Essanfälle mit Kontrollverlust. 4 Essen in großer Menge in begrenzter Zeit, ohne Hunger, meist alleine, mit Schamgefühl. 4 Essanfälle an mindestens zwei Tagen der Woche über 6 Monate. 12.3.2 Häufigkeit und Verlauf
17% der Bevölkerung haben starkes Übergewicht mit einem BMI >30. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. In unteren sozialen Schichten gehäuftes Vorkommen. Langzeitstudien belegen den Zusammenhang zwischen kindlichem Übergewicht und Adipositas im Erwachsenenalter. 10% der Patienten mit Übergewicht haben eine Binge-Eating-Disorder. Folgezustände des Übergewichts sind: 4 Arteriosklerose, Fettstoffwechselstörungen, Diabetes mellitus, Hypertonus. 4 Leistenbruch, Varikosis, Hämorrhoiden, Arthrosen und degenerative Erkrankungen der Wirbelsäule. 4 Verminderte Leistungsfähigkeit und 12-fach höhere Mortalität als Normalgewichtige.
199 12.3 · Adipositas (ICD-10: E 66.0)
12
12.3.3 Entstehungsbedingungen von Adipositas
und Binge-Eating-Disorder Zu den Faktoren, die Adipositas oder Binge-Eating-Disorder bedingen gehören: 4 Die familiäre Häufung spricht einerseits für eine genetische Komponente, andererseits aber auch für eine emotionale Reifungsstörung in Familien, bei denen Nähe und Gefühle über das Essverhalten reguliert werden. 4 Unlustgefühle wie Kränkung, Ärger, Angst, Depression oder unspezifische Erregungszustände werden durch Essen bewältigt. 4 Psychische Komorbidität bei Binge-Eating-Disorder: Depression, Angst, Persönlichkeitsstörungen. Nur bei 5% der Patienten sind endokrine Störungen verantwortlich.
12.3.4 Psychosomatische Grundversorgung
Zur Gestaltung einer tragfähigen, hilfreichen Arzt-Patient-Beziehung sollte der Arzt: 4 Den Patienten mit Übergewicht ernst nehmen und die Selbstwahrnehmung des Patienten (»Ich verstehe nicht, warum ich zunehme, ich esse doch gar nichts«) nicht als bewusste Täuschung ansehen. 4 Seine Gegenübertragungsgefühle von Ärger, Ablehnung, Verachtung kontrollieren, weil der Patient dies wahrnimmt und in seinem Selbstwertgefühl weiter geschwächt wird. 4 Enttäuschungen vorbeugen. Zum Behandlungkonzept gehören: 4 Kleine, kontinuierliche Schritte, statt »Alles oder Nichts«. z. B. 5% Gewichtsreduktion pro Jahr. Rückfälle müssen als selbstverständlich akzeptiert werden. 4 Langfristige unterstützende Begleitung wichtig. 4 Eine langfristig erfolgreiche Adipositas-Behandlung gelingt nur in 5% der Fälle. Behandlungselemente können sein: 4 Bewegungstherapie, Sport 4 Diätberatung
200
II
Kapitel 12 · Essstörungen
4 Kochgruppe 4 Bei BMI >40 evtl. Anwendung von operativen Verfahren zur Reduzierung des Magenvolumens, sog. Gastric banding. 4 Selbsthilfegruppen, sog. Overeaters Anonymous (OA), die ähnlich organisiert sind wie die Anonymen Alkoholiker. 4 Medikamente wie Sibutramin, Orlistat. 12.3.5 Psychotherapie
Folgende Behandlungsansätze finden Anwendung: 4 Kognitiv-behaviorale Gruppentherapie zur Beeinflussung des Essverhaltens, Kontrolle der Reize, die dem Essen vorausgehen, verbesserte Selbstbeobachtung, Selbstbewertung und Selbstverstärkung, um dem Patienten Kontrolle über sein Verhalten und Gewicht zu ermöglichen. Integration von Partner und Familie. 4 Bearbeitung belastender Konflikte, insbesondere Enttäuschungen und Kränkungen, die häufig Verlangen nach Essen auslösen.
12.4
Evidence Based Medicine
Die Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren (verhaltenstherapeutisch, psychodynamisch, Familientherapie) für Anorexia nervosa und Bulimia nervosa im Rahmen stationärer oder ambulanter Behandlung ist gesichert. Bei Adipositas und BED sind kognitiv-behaviorale Psychotherapie und chirurgische Verfahren begrenzt wirksam.
?
Übungsfragen
3 Nennen Sie mindestens 5 Symptome der Anorexia nervosa. 1 Mit welchen psychischen und körperlichen Folgezuständen bei länger andau-
ernder Anorexia nervosa ist zu rechnen? 2 Welche Faktoren können bei der Entstehung einer Anorexia nervosa zusam-
menwirken? 2 Welche Probleme können bei Motivierung für eine Behandlung oder während
der Behandlung auftreten?
201 Literatur
12
3 Beschreiben Sie mindestens 3 Symptome einer Bulimia nervosa. 2 Geben Sie Beispiele für Entstehungsbedingungen einer Bulimia nervosa. 2 Beschreiben Sie Inhalte eines psychotherapeutischen Behandlungskonzeptes
bei Bulimia nervosa. 1 Wie ist eine Binge-Eating-Disorder definiert? 2 Beschreiben Sie Behandlungselemente von Adipositas und Binge-Eating-Dis-
order im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung und in der Fachpsychotherapie.
Literatur Herzog W et al. (2004) Essstörungen – Therapieführer und psychodynamische Behandlungskonzepte. 2. Aufl. Schattauer, Stuttgart. Gut lesbare, detaillierte Darstellung der Entstehung und Behandlung auf psychodynamischer Grundlage. Jacobi C, Paul T (1991) Bulimia und Anorexia nervosa. Ursachen und Therapie. Springer, Berlin Heidelberg New York. Schulenübergreifende Darstellung der Behandlungskonzepte. Schmidt U, Traesure J (2001) Die Bulimie besiegen – Ein Selbsthilfe-Programm. Beltz, Weinheim. Allgemeinverständliches Buch für Betroffene und Angehörige.
13 13 Persönlichkeitsstörungen 13.1 Symptome
– 204
13.1.1 Starre des Denkens
– 204
13.1.2 Gestörte Gefühlsregulation
– 204
13.1.3 Problematische zwischenmenschliche Beziehungen
– 205
13.2 Diagnostische Einteilung
– 205
13.2.1 Borderline-Störung (ICD-10: F 60.31)
– 206
13.2.2 Ängstlich, vermeidende (ICD-10: F 60.6) und abhängige (ICD-10: F 60.7) Persönlichkeitsstörung
– 207
13.2.3 Paranoide (ICD-10: F 60.0), schizoide (ICD-10: F 60.1) und narzisstische (ICD-10: F 60.80) Persönlichkeitsstörung
– 207
13.3 Entstehungsbedingungen
– 209
13.4 Psychosomatische Grundversorgung 13.5 Psychotherapie 13.6 Psychopharmaka 13.7 Prognose
– 210 – 211
– 211
13.8 Evidence Based Medicine
– 212
– 209
204
II
Kapitel 13 · Persönlichkeitsstörungen
4 4 4 4
Definition Leitsymptome bei Persönlichkeitsstörungen Formen der Persönlichkeitsstörungen Aufgaben der Psychosomatischen Grundversorgung
> > Einleitung Störungen der Persönlichkeit sind tief greifende und oft schon in der Jugend beginnende, viele Lebensanteile überschattende Beeinträchtigungen wesentlicher psychischer Funktionen. Sie betreffen alle Bereiche des Denkens, des Erlebens, des Verhaltens und der Beziehungen zu anderen Menschen. Von der Psychose unterscheidet sie vor allem der intakte Realitätsbezug. Fließend ist der Übergang zu eigentümlichen Menschen, die als Sonderlinge, Exzentriker, Kreative oder Hochbegabte auffallen. Die Lebenszeitprävalenz beträgt 5%.
13.1
Symptome
13.1.1 Starre des Denkens
Vorgefasste und unverrückbare Meinungen beherrschen die Gedanken. Die Betroffenen sind keinen vernünftigen Argumenten zugänglich. Charakteristisch sind Spaltungen, wie ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken, entweder oder, Gut oder Böse, Alles oder Nichts. Sie schwanken zwischen der Bereitschaft, andere Menschen und Lebensmöglichkeiten stark zu idealisieren oder aufs Schärfste zu entwerten. Es besteht eine Unfähigkeit zur Ambivalenz, zum Zwiespalt. Grautöne werden nicht zugelassen.
13.1.2 Gestörte Gefühlsregulation
Die Patienten kämpfen mit stärksten Gefühlen der Wut, der Verzweiflung, der Enttäuschung, aber auch der Angst, der Scham, der Schuld, die sie kaum beherrschen oder auf angemessene Weise zum Ausdruck bringen können. Ausgelöst
205 13.2 · Diagnostische Einteilung
13
werden diese Gefühle oft aus nichtigem Anlass. Ein Stirnrunzeln oder eine harmlose Bemerkung des Gesprächspartners, ein verpasster Zug oder Warten in der Schlange kann Emotionen auslösen, die gegenüber dem Anlass inadäquat erscheinen. Es handelt sich dabei um so genannte Reaktualisierungen früherer mental abgespeicherter, unbewältigter schmerzlicher Erfahrungen. Die Patienten erleben die Gefühle gleich stark wie in früheren Lebenssituationen, wenngleich es nur Auslöser waren, die das Reaktionsmuster aktiviert haben. Neurobiologisch betrachtet, handelt es sich um Vorgänge die im prozeduralen Gedächtnis gespeichert sind, welches sich durch Unmittelbarkeit, geringe Steuerbarkeit und ein Gefühl der Aktualität auszeichnet. Es ist, als wäre das Unglück gerade wieder geschehen. Um psychisch überleben zu können, bilden die Patienten Gegenreaktionen. Sie erstarren oder sie spalten das Gefühl vom körperlichen Vorgang ab, d. h. sie empfinden nur die vegetativen Begleiterscheinungen der Angst und der Wut. Diese Formen der Gefühlsbewältigung sind unzulänglich und laufen Gefahr, in steter Folge zu versagen, sodass der Patient schutzlos seinen massiven Affekten ausgeliefert ist.
13.1.3 Problematische zwischenmenschliche Beziehungen
Der Kontakt zu anderen Menschen ist aufs Stärkste beeinträchtigt. Dies betrifft sowohl die engere Familie und Partner als auch Freunde, Berufskollegen und zufällig begegneten Menschen. Wir sprechen von Bindungsstörungen (7 Kap. 1.3.2), um dem Mangel an Empathie, an Dauerhaftigkeit und Zuverlässigkeit Rechnung zu tragen. Der Wechsel von Abkapselung oder Anklammern, von Idealisierung und Entwertung und der manipulative Umgang mit anderen Menschen lassen die Persönlichkeitsstörung nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für dessen Umfeld zu einer Qual werden.
13.2
Diagnostische Einteilung
Für den Alltagsgebrauch, vor allem in der psychosomatischen Grundversorgung, empfiehlt es sich, die Vielzahl der phänomenologisch unterscheidbaren Persönlichkeitsstörungen in drei große Gruppen zu ordnen.
206
Kapitel 13 · Persönlichkeitsstörungen
13.2.1 Borderline-Störung (ICD-10: F 60.31)
II
Diese ist die häufigste Persönlichkeitsstörung. Im Vordergrund steht hier die emotionale Instabilität. Der Selbstwert ist außerordentlich schwankend, Beziehungen sind brüchig. Hauptsache man ist nicht allein. Verzweiflung und Wut, Suizidalität oder Selbstverletzung werden oft als Regulativ eingesetzt, um starke emotionale Spannungen abzubauen. Der Fall Bei der 25-jährigen Elisabeth fallen dem Hausarzt sowohl frische als auch teilweise vernarbte Schnittverletzungen an beiden Unterarmen und den Oberschenkeln auf. Verlegen und abweisend reagiert sie auf sein Nachfragen. Ja, sie würde sich schneiden. Das mache sie schon lange. Das helfe ihr Stress abzubauen. Wie es denn sonst ausschaue in ihrem Leben? Nichts Besonderes. Mit dem Studium der Soziologie und Philosophie komme sie nicht zurecht, wisse aber nicht, was sie sonst machen solle. Einen Partner habe sie nicht. Sie habe noch vom letzten die Nase voll. Manchmal gehe sie mit jemandem mit, oder nehme jemanden mit nach Hause, dann fühle sie sich mies. Wie es mit zu Hause stehe? Was solle schon sein? Der Vater sei gegangen, als sie keine drei Monate alt war. Der hatte wohl eine andere, mehr weiß sie nicht. Die Mutter sei ständig überfordert gewesen mit der Situation, schwer depressiv, immer wieder in Kliniken, voller düsterer Prophezeiungen. Als Kind habe sie sich sehr verantwortlich und überfordert gefühlt, die Mutter am Leben zu erhalten. Manchmal packe sie die kalte Wut und Verzweiflung, dann wolle sie gar nicht mehr. Zweimal habe sie schon versucht, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen. Das nächste Mal würde es bestimmt klappen.
207 13.2 · Diagnostische Einteilung
13.2.2
13
Ängstlich, vermeidende (ICD-10: F 60.6) und abhängige (ICD-10: F 60.7) Persönlichkeitsstörung
Kennzeichen sind Überempfindlichkeit und ständige Besorgtheit, den eigenen oder fremden Erwartungen und Ansprüchen nicht zu genügen. Das Selbstwertgefühl ist stark herabgesetzt. Alle Arten von Anstrengungen, Herausforderungen und Beziehungen zu anderen Menschen werden ängstlich vermieden. Manchmal findet sich die Fixierung auf einen oder wenige Menschen, die stark idealisiert werden. Der Fall Eine Mutter spricht den Hausarzt an: Irgendwas stimme mit ihrer Tochter Monika nicht. Sie sei jetzt 19, würde kaum aus dem Haus gehen, die Schule habe sie abgebrochen. Auch verschiedene Versuche eine Lehre zu beginnen seien erfolglos geblieben. Sie schlafe viel, höre Musik, manchmal raffe sie sich auf zum Handarbeiten. Das sei doch kein Leben. Wenn man sie anspreche, oder nicht tue was sie wolle, würde sie pampig, aufbrausend. Neulich habe der Vater versucht eine Frist zu setzen: wenn sie nicht jobbe, flöge sie raus. Da sei die Hölle los gewesen, das sei doch auch keine Lösung. Was solle man tun? Still und zurückgezogen, schüchtern sei sie schon immer gewesen, auch im Kindergarten. Der ältere Bruder und die jüngere Schwester seien ganz anders. Sie mache sich Sorgen. Wenn sie und der Vater einmal nicht mehr für Monika da wären, käme sie mit Sicherheit nicht mehr im Leben zurecht.
13.2.3 Paranoide (ICD-10: F 60.0), schizoide (ICD-10: F 60.1) und
narzisstische (ICD-10: F 60.80) Persönlichkeitsstörung Dieser Mensch ist geprägt von seinem Misstrauen. Immer wird bei jedem Schlechtes vermutet. Das eigene Selbstgefühl ist auf grandiose Weise überhöht. Er besitzt keinerlei Empathie und eine Unempfindlichkeit für die Bedürfnisse anderer Menschen. Diese Patienten sind außerordentlich kränkbar und nachtragend. Mit einem Elefantengedächtnis wird noch nach Jahren Rache geübt.
208
II
Kapitel 13 · Persönlichkeitsstörungen
Dazu kommt starke Eifersucht und die Angst missachtet, zurückgestellt oder betrogen zu werden. In der schizoiden Variante kommt es auch zu ausgesprochen scheuem Rückzug und Distanzierung von anderen Menschen, ein Einzelgängerdasein. Häufiger ist aber die fast manische Selbstüberschätzung. Bewunderung, Erfolg, Beifall machen süchtig. Solche Menschen wirken anspruchsvoll, ausbeuterisch, neiderfüllt und arrogant. Wenn dazu noch eine hohe Intelligenz und Eloquenz kommt, finden wir diese Persönlichkeitsgestörten in höchst erfolgreichen Positionen in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Der Fall Die Arzthelferin kommt ins Sprechzimmer: »Herr Walter will nicht mehr warten, was soll ich tun?« » Sagen Sie ihm in fünf Minuten.« Bleich vor Wut, gespannt und schmallippig, bricht es aus Herrn Walter hervor: »Ich warte über eine halbe Stunde.« »Es tut mir leid, ein unvorhergesehener Zwischenfall, hat die Helferin Ihnen das nicht gesagt?« »Das interessiert mich nicht. Wenn ich meinen Laden so schleifen ließe, was meinen Sie was da los wäre.« »Was führt Sie zu mir?« »Wie schön, dass ich endlich mein Anliegen vortragen darf«, heißt es sarkastisch. »Also, Stress auf allen Ebenen, die Firma will mich loswerden, ich werde gemobbt, ich sei gesundheitlich nicht mehr den Anforderungen gewachsen. Das müssen Sie mir bescheinigen, dass ich topfit bin. Ich lasse mich doch nicht verarschen. Mein Anwalt wird Sie anrufen, was in dem Attest zu stehen hat. Geht das in Ordnung?« »Dazu muss ich Sie erst untersuchen und brauche noch einige Angaben von Ihnen.« »Ich habe doch gesagt, ich bin topfit, reicht das nicht? Glauben Sie mir etwa nicht? Geht das hier schon wieder los?« »Beruhigen Sie sich doch. Schließlich soll ich Ihnen helfen, aber da müssen Sie schon mitziehen.« »Also, das mach ich nicht mehr mit, so was tu ich mir nicht an, das hab ich mir gleich gedacht, wie das hier läuft.« Spricht’s und verlässt Türen knallend die Praxis.
209 13.4 · Psychosomatische Grundversorgung
13.3
13
Entstehungsbedingungen
Bei der Entstehung der Persönlichkeitsstörungen kommt es zu einem Zusammenwirken von: 4 Ererbter neurophysiologischer Verletzbarkeit 4 Frühen körperlichen Beeinträchtigungen, z. B. hirnorganischen Störungen 4 Frühen und nachhaltigen Bindungsstörungen (7 Kap. 1.3.2) 4 Psychischen Traumatisierungen (7 Kap. 11, Posttraumatische Belastungsstörung) Die so erworbenen kognitiven, emotionalen und interpersonellen Defizite müssen ausgeglichen werden. Daraus ergeben sich Kompensationsmechanismen, wie Rückzug, Isolation, Gefühlsabspaltung, Unterwerfung oder der Versuch, die Welt zu beherrschen. Als Zeichen misslungener Kompensation entwickeln sich weitere psychische Störungen wie Depressionen, somatoforme Störungen (z. B. chronische Schmerzerkrankung) oder Essstörungen (z. B. Bulimie).
13.4
Psychosomatische Grundversorgung
Die Hauptaufgaben sind: 4 Beherrschung der eigenen emotionalen Impulse wie Ärger, Wut und Empörung gegen den Patienten. 4 Gefühle der Hilflosigkeit, der Hoffnungslosigkeit und des Mitleids bei sich selbst wahrnehmen und respektieren, statt sie zu überspielen. 4 Den Patienten mit seiner Lebensgeschichte verstehen. 4 Den Blick auch auf die kreativen, intakten Bereiche richten. 4 Klare Absprachen und Verlässlichkeit. Die Grenzen dieses theoretischen Konzeptes sind klar erkennbar. Von den drei oben genannten Beispielen bieten allenfalls die ersten beiden die Möglichkeit zum weiterführenden Kontakt, wogegen das dritte Beispiel durch den für diese Störung charakteristischen Beziehungsabbruch von vorneherein scheitert. Ein erfolgreiches Management zeigt Fall Nr. 9 (7 Kap. 15, Fallberichte – Vom Symptom zur Diagnose und Therapie).
II
210
Kapitel 13 · Persönlichkeitsstörungen
13.5
Psychotherapie
Die Behandlung von Persönlichkeitsstörungen ist aufwändig und langwierig. Sie ist dem Erfahrenen vorbehalten und erfordert die Berücksichtigung verschiedener Komponenten (multimodale Behandlung). Oft werden ambulante und (teil)stationäre Maßnahmen kombiniert (Intervallbehandlung).
Verlässliche Beziehungen auf der Basis klarer Vereinbarungen Die Herstellung einer zuverlässigen, vom Patienten als hilfreich und vertrauenswürdig empfundenen therapeutischen Beziehung ist der Dreh- und Angelpunkt. Es braucht klare Vereinbarungen über realistische, in einem überschaubaren Zeitraum erreichbare Ziele. Bei den Rahmenvereinbarungen ist dem Suizidrisiko und den sonstigen autodestruktiven Verhaltensweisen vorrangig Bedeutung zu geben. Hier haben sich schriftliche Vereinbarungen mit klaren Konsequenzen, z. B. Einweisen in eine psychiatrische Klinik, bewährt.
Konkrete Aufgaben bearbeiten Im verhaltenstherapeutischen Behandlungsteil werden Denk- und Verhaltensweisen auf die Probe gestellt. Welches ist das störendste Verhaltensmuster? Welche Denkmuster blockieren alles Weitere? Wie können die quälendsten Gefühle beherrschbar gemacht werden? Hier ist Übung, genaueste Problemanalyse, Protokollierung auf der Grundlage von Behandlungstagebüchern angezeigt.
Reaktualisierungen aufdecken Wenn der Patient seine eigene Verletzbarkeit erkennt, zugleich aber auch merkt, dass er etwas tun kann, den Gefühlsstörungen nicht hilflos ausgesetzt ist, ist viel gewonnen. Der Patient lernt verstehen, dass immer wieder die alten dramatischen Muster aktualisiert werden. Er lernt verstehen, dass es sich hier aber um Erinnerungen handelt, dass »ein alter Film« abläuft, dass, bildhaft gesprochen, »ein inneres Kind« sich zu Wort meldet, das auf diese Weise seine verletzten emotionalen Bedürfnisse ausdrückt und das pfleglich behandelt werden will.
Einbeziehung des Umfeldes Dies geschieht entweder durch direktes Hinzuziehen von Partnern und Familienangehörigen oder, wenn diese nicht zur Verfügung stehen, im Rahmen einer Familienrekonstruktionsarbeit (7 Kap. 2.2.3, Familientherapie).
211 13.7 · Prognose
13
Langzeitperspektive Die Behandlung von Persönlichkeitsstörungen braucht Zeit. Dies muss nicht eine sehr hohe Zahl von Sitzungen bedingen. Wichtig ist die Lebensstrecke, die begleitet wird. Oft wird in Episoden gearbeitet, z. B. können immer wieder stationäre oder tagesklinische Behandlungsintervalle eingeschaltet werden, in denen die Behandlung intensiviert und durch Hinzunahme weiterer Therapiemaßnahmen (Kunsttherapie, Musiktherapie, Körpertherapie) verbreitert und wirksamer gemacht wird. Solche geplante (teil)stationäre Intervallbehandlung hat große Vorzüge gegenüber dem Festhalten am ambulanten Setting bis es zur großen Krise kommt und die stationäre Einweisung unumgänglich geworden ist.
13.6
Psychopharmaka
Zur Behandlung der Angstsymptomatik, der depressiven Symptome und der gestörten Stressregulation in Krisensituationen werden atypische Neuroleptika und selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) eingesetzt. Gesicherte Ergebnisse zur Wirksamkeit der Psychopharmakabehandlung fehlen noch.
13.7
Prognose
Wir finden Persönlichkeitsstörungen an allen Orten der Gesellschaft. In Randgruppen, als gescheiterte, vielfach belastete Nischenexistenzen, bis hin in höchsten Machtpositionen von Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft. Ca. ein Drittel der Betroffenen schaffen es trotz starker psychischer Beeinträchtigungen auf bewundernswerte Weise durch eigene Anstrengung und therapeutische Hilfe ihr Leben zu meistern. Dazu gehört das Wissen um die eigene Verletzlichkeit, ebenso wie die Erfahrung, dass durch kompensatorische konstruktive Mechanismen ein Ausgleich geschaffen werden kann. Dies mit dem Patienten und seinen Angehörigen zu besprechen ist ehrlicher und wirksamer als ihm vollständige »Heilung« in Aussicht zu stellen, was unweigerlich in Enttäuschung und letztlich Resignation mündet.
II
212
Kapitel 13 · Persönlichkeitsstörungen
13.8
Evidence Based Medicine
Die Wirksamkeit von Psychotherapie ist vor allem bei Borderline-Störung und bei ängstlich-vermeidender Persönlichkeitsstörung gesichert. Am besten untersucht ist die dialektisch behaviorale Therapie (DBT) bei Borderline-Störungen, aber auch modifizierte psychodynamische Behandlungsansätze erwiesen sich als erfolgreich. ?
Übungsfragen
3 Was sind die wesentlichen Kennzeichen einer Persönlichkeitsstörung? 2 Was ist charakteristisch für eine Borderline-Störung? 2 Welches sind die Hauptaufgaben der ärztlichen Begleitung in der Psychosoma-
tischen Grundversorgung?
Literatur Fiedler P (2000) Integrative Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen. Horgrefe, Göttingen. Schulenübergreifende, umfassende wissenschaftliche Darstellung der verschiedenen Persönlichkeitsstörungen. Kernberg OF (2000) Schwere Persönlichkeitsstörungen. Theorie, Diagnose, Behandlungsstrategien, 5. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart. Sehr präzise ausgearbeitete Entstehungsbedingungen von Persönlichkeitsstörungen und Probleme der Behandlung auf psychoanalytischer Grundlage.
14 14 Psychosomatische Medizin in speziellen Fachgebieten 14.1 Allgemeinmedizin und hausärztliche Innere Medizin – 214 14.2 Gynäkologie und Geburtshilfe 14.3 Kinder- und Jugendmedizin 14.4 Neurologie
– 217 – 218
14.7 Hals-Nasen-Ohrenheilkunde 14.8 Urologie 14.9 Chirurgie
– 216
– 217
14.5 Dermatologie 14.6 Orthopädie
– 215
– 218 – 219
– 218
214
Kapitel 14 · Psychosomatische Medizin in speziellen Fachgebieten
> > Einleitung
II
Die hohe Zahl von mindestens 30% behandlungsbedürftigen psychischen und psychosomatischen Erkrankungen in der ambulanten und stationären medizinischen Versorgung führte zur Einführung der psychosomatischen Grundversorgung und der Zusatzbezeichnung Psychotherapie für Ärzte aller Fachgebiete.
Die psychosomatische Grundversorgung umfasst folgende Aufgaben: 4 Die frühzeitige differenzialdiagnostische Abklärung psychischer und psychosomatischer Beschwerden. Welchen Anteil haben psychosoziale Belastungen und Probleme am Krankheitsbild? 4 Aufklärung, Beratung und Unterstützung durch therapeutische Gespräche und Entspannungsverfahren. 4 Motivierung und Weitervermittlung in eine ambulante oder stationäre psychotherapeutische Behandlung. Nach der Weiterbildungsordnung müssen in allen klinischen Fachgebieten eingehende Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten in der psychosomatischen Grundversorgung erworben werden. Darüber hinaus hat jeder Facharzt die Möglichkeit eine Zusatzbezeichnung Psychotherapie zu erwerben (7 III Anhang). Der Allgemeinarzt, Internist oder Gynäkologe bleibt weiterhin in seinem Fach tätig, setzt jedoch einen psychotherapeutischen Schwerpunkt. Vor allem Patienten, die Angst vor einer psychischen Stigmatisierung haben und denen der Schritt in die ambulante Fachpsychotherapie schwer fällt, werden davon profitieren, dass sie von ihrem Hausarzt oder Facharzt auch psychosomatisch betreut werden können.
14.1
Allgemeinmedizin und hausärztliche Innere Medizin
In der hausärztlichen Medizin hat die psychosomatische Grundversorgung die größte Bedeutung. Die Beratung und Unterstützung umfasst folgende Problemfelder: 4 Reaktion auf schwere Belastungen (Verlust, Trauma, schwere körperliche Krankheit).
215 14.2 · Gynäkologie und Geburtshilfe
14
4 Familienprobleme (Partnerschaft, Erziehung, Pflege älterer Menschen). 4 Berufsprobleme (Stress, Erschöpfung, drohender oder tatsächlicher Verlust des Arbeitsplatzes). 4 Probleme im sozialen Umfeld (z. B. Isolierung und Rückzug vor allem bei älteren und allein stehenden Menschen, belastende Wohnsituation). 4 Psychosomatische Prävention bei Stress, gesundheitsschädigendem Verhalten oder untauglichen Bewältigungsstrategien. Die häufigsten Krankheitsbilder, bei denen eine psychosomatische Diagnostik und psychotherapeutische Mitbehandlung notwendig wird, sind: 4 Funktionelle Herz-Kreislaufstörungen (7 Kap. 7, Somatisierung) 4 Hypertonie 4 Angina pectoris und Herzinfarkt (7 Kap. 6, Koronare Herzerkrankung) 4 Funktionelle Störungen des oberen und unteren Gastrointestinaltraktes, wie funktionelle Dyspepsie, Colon irritabile, chronische Bauchschmerzen (7 Kap. 7, Somatisierung) 4 Magen- und Duodenalulzera 4 Colitis ulcerosa und Morbus Crohn 4 Diabetes mellitus 4 Rheumatoide Arthritis 4 Chronische Schmerzzustände wie Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Fibromyalgie (7 Kap. 8, Chronische Schmerzstörung) 4 Essstörungen (7 Kap. 12, Essstörungen) 4 Krebserkrankungen (7 Kap. 5, Krebserkrankung) 4 Allgemeinsymptome wie Schwindel, Juckreiz, Übelkeit und Erbrechen, Schlafstörungen, chronische Müdigkeit und Erschöpfung.
14.2
Gynäkologie und Geburtshilfe
Das Gesundheitsverhalten von Frauen ist anders als das von Männern. Frauen sind eher bereit und interessiert auch emotionale Aspekte ihrer Erkrankung zu berücksichtigen. Sie stellen höhere Ansprüche an eine vertrauensvolle und unterstützende Arzt-Patient-Beziehung. Deshalb hat die gynäkologische Psychosomatik die längste Tradition. Schon seit Jahrzehnten haben Gynäkologen die Schulung der psychosozialen Kompetenz in ihre Facharztweiterbildung aufgenommen.
216
II
Kapitel 14 · Psychosomatische Medizin in speziellen Fachgebieten
In der gynäkologischen Psychosomatik geht es v. a. um die folgenden Krankheiten und Probleme: 4 Somatoforme Störungen, z. B. chronischer Unterbauchschmerz. 4 Fluor genitalis, Pruritus vulvae. 4 Blutungs- und Zyklusstörungen. 4 Sexualstörungen, z. B. Libidoverlust oder Schmerzen. 4 Unerfüllter Kinderwunsch. 4 Schwangerschaft und Geburt. Hier sind es vor allem ungewollte Schwangerschaft, Hyperemesis, vorzeitige Wehen und drohender Abort, postnatale Depression und die Bewältigung von frühem Kindstod.
14.3
Kinder- und Jugendmedizin
In den verschiedenen Lebensaltersstufen stehen unterschiedliche Problematiken im Vordergrund. Fast immer ist es notwendig auch die Eltern mit einzubeziehen (7 Kap. 2.2.3, Systemische Paar- und Familientherapie). Säuglinge und Kleinkinder: 4 Schreibabys, 4 Störungen der Nahrungsaufnahme, 4 Schlafstörungen. Schulkinder: 4 Enuresis, 4 Hyperkinetisches Syndrom (ADHS), 4 Angst und Depression, 4 Somatoforme Störungen, z. B. Kopf- und Bauchschmerzen. Jugendliche: 4 Angst und Depression, 4 Essstörungen, 4 Schul- und Erziehungsprobleme, 4 Drogen- und Alkoholmissbrauch. In der pädiatrischen Onkologie hat die psychosoziale Betreuung eine lange Tradition.
217 14.5 · Dermatologie
14.4
14
Neurologie
Zwischen der Neurologie und der psychosomatischen Medizin bestehen seit über 100 Jahren enge Verbindungen. Bei einer Vielzahl neurologischer Symptome wie Schwindel, Schmerzen, Lähmungen, Parästhesien, Anfällen lassen sich oft keine hinreichenden somatischen Erklärungen finden. Die wichtigsten Krankheitsbilder mit psychosomatischem Anteil sind: 4 Spannungskopfschmerz und Migräne. 4 Rückenschmerzen, atypischer Gesichtsschmerz, Fibromyalgie. 4 Nichtepileptische Anfälle, dissoziative Krampfanfälle (ICD-10: F 44.5). 4 Torticollis spasmodicus (Schiefhals). Aber auch bei schweren oft chronisch verlaufenden und beeinträchtigenden Erkrankungen ist psychosomatisches Denken angezeigt, um der Bewältigung und dem Verlauf des Leidens gerecht zu werden, z. B. bei Multiple Sklerose, Gehirntumor, Apoplex, M. Parkinson, M. Alzheimer.
14.5
Dermatologie
Die Haut gilt als »Spiegel der Seele«. Die Haut ist auch Ausdrucks- und Darstellungsorgan für die innere Verfassung eines Menschen: Man errötet vor Scham, erblasst vor Schreck, schwitzt vor Angst. Man kann aus der Haut fahren, aber auch mit heiler Haut davon kommen. Beim Gruseln bekommt man Gänsehaut. Und die Dinge, mit denen man nicht fertig wird, gehen einem unter die Haut. Die wichtigsten Hauterkrankungen, bei denen psychosoziale Faktoren eine entscheidende Rolle spielen, sind: 4 Pruritus, 4 Urticaria, Neurodermitis (atopisches Ekzem), 4 Haarausfall (Alopezie), 4 Hyperhidrosis, 4 artifizielle Erkrankungen. Unter letzterem versteht man ein selbst schädigendes Verhalten durch heimliches Zufügen von Schnittwunden, Verätzungen oder Verbrennungen. Sie dienen einer Entlastung von inneren Spannungszuständen, sind aber auch ein Aufmerksamkeitssignal für therapeutische Hilfe.
218
II
Kapitel 14 · Psychosomatische Medizin in speziellen Fachgebieten
Für das Maligne Melanom gilt das Gleiche wie für andere Tumorerkrankungen: die Bewältigung und der Verlauf können psychosomatisch mitbestimmt sein.
14.6
Orthopädie
Bei mindestens der Hälfte aller Patienten in orthopädischen Praxen sind bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Beschwerden psychosomatische Zusammenhänge nachweisbar. Die häufigsten Krankheitsbilder sind: 4 Rückenschmerzen und andere somatoforme Schmerzstörungen (7 Kap. 8, Chronische Schmerzstörung). 4 Morbus Sudeck (sympathische Reflexdystrophie, 7 Fallbeispiel in Kap. 8.5, Chronische Schmerzstörung).
14.7
Hals-Nasen-Ohrenheilkunde
Ähnlich wie bei der Haut werden in umgangssprachlichen Redewendungen die Zusammenhänge von seelischem Befinden mit Sprechen und Hören ausgedrückt. »Mir verschlägt es die Sprache. Mir ist Hören und Sehen vergangen. Er stellt sich taub. Den kann ich nicht riechen«. Die wichtigsten Krankheitsbilder und Symptome mit psychosomatischen Aspekten sind: 4 Schwindel 4 Hörsturz 4 M. Menière 4 Tinnitus 4 funktionelle Aphonie und Dysphonie 4 Globusgefühl
14.8
Urologie
Die häufigsten psychosomatischen Beschwerden sind somatoforme autonome Funktionsstörungen des urogenitalen Systems (ICD-10: F 45.34, 7 Kap. 7, Somatisierung).
219 14.9 · Chirurgie
14
Affekte wie Angst, Enttäuschung und Wut führen zu schmerzhafter muskulärer Verspannung in der Unterbauch-Becken-Region und auf diese Weise zu Körperbeschwerden im Urogenitalbereich. Sie äußern sich als Druckgefühl oder Brennen im Damm, ziehende Beschwerden in den Leisten, vermehrtem Harndrang oder auch erschwertes oder verlangsamtes Wasserlassen, Nachträufeln, Brennen in der Harnröhre, Druckgefühl oder Brennen über dem Schambein, Spannungsgefühl im Kreuzbeinbereich. Krankheitsbilder mit psychosomatischer Mitbeteiligung: 4 Erektile Dysfunktion 4 Reizblasensymptomatik 4 chronisch rezidivierende Urethrozystitis 4 Blasenentleerungsstörung 4 Harninkontinenz
14.9
Chirurgie
Obwohl die Chirurgie als ein technisch-operatives Fach gilt, gibt es viele psychosomatische Aspekte von der speziellen Arzt-Patient-Beziehung bis zu den Belastungen für Arzt und Patient in der palliativen Chirurgie fortgeschrittener Krebserkrankungen. Psychosomatische Aspekte in der Chirurgie: 4 Artifizielle Störungen (7 Kap. 14.5, Dermatologie). 4 Unfallchirurgie, z. B. posttraumatische Belastungsstörung (7 Kap. 11). 4 Probleme der Krankheitsverarbeitung bei lebensbedrohlichen Erkrankungen wie Krebs und Koronarer Herzerkrankung. 4 Psychosoziale Probleme vor und nach Herz-, Nieren- und Lebertransplantationen. 4 Chirurgische intensivmedizinische Behandlung. ?
Übungsfragen
3 Welche Aufgaben hat die Psychosomatische Grundversorgung? 2 Nennen Sie die wichtigsten Krankheitsbilder mit psychosomatischen Aspekten
in der Gynäkologie, Kinder- und Jugendmedizin, Neurologie, Dermatologie, Orthopädie, Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Urologie und Chirurgie.
220
Kapitel 14 · Psychosomatische Medizin in speziellen Fachgebieten
Literatur
II
Ahrens S et al. (1997) Psychosomatik in der Neurologie. Schattauer, Stuttgart. Von Kopf- und Rückenschmerzen über nichtepileptische Anfälle bis zur Multiplen Sklerose werden alle wichtigen neurologischen Krankheitsbilder aus psychosomatischer Sicht abgehandelt. Bürgin D (1993) Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter. Fischer, Stuttgart. Überblick über die Entwicklungsphasen von Kindern und Jugendlichen und die dabei auftretenden psychischen und psychosomatischen Störungen auf psychoanalytischer Grundlage. Ehlert U (2003) Verhaltensmedizin. Springer, Berlin Heidelberg New York. Psychophysiologische Zusammenhänge bei wichtigen körperlichen Krankheiten und ihre Behandlung durch kognitiv-behaviorale Therapieverfahren. Fritzsche K et al. (2003) Psychosomatische Grundversorgung. Springer, Berlin Heidelberg New York. Praxisnahe Darstellung von Erkennen und Behandlung psychischer und psychosomatischer Störungen und Probleme. Hontschik B, v. Uexküll Th (1999) Psychosomatik in der Chirurgie. Integrierte Chirurgie–Theorie und Therapie. Schattauer, Stuttgart. Von der Appendizitis bis zur Transplantationsmedizin, erste umfassende Darstellung psychosomatischer Aspekte der Chirurgie. Neises M, Dietz S (2000) Psychosomatische Grundversorgung in der Frauenheilkunde. Thieme, Stuttgart. Wichtige Orientierungshilfe bei psychosomatischen Problemen in der Gynäkologie und Geburtshilfe.
15 15 Übungsfälle – Vom Symptom zu Diagnose und Therapie 10 Übungsfälle zu häufigen Symptomen und Konsultationsanlässen in der allgemeinen ärztlichen Tätigkeit.
15.1 Somatisierung
– 222
4 Fall 1: Herzbeschwerden 4 Fall 2: Magenschmerzen 4 Fall 3: Rückenschmerzen
15.2 Angststörung
– 231
4 Fall 4: Flugangst
15.3 Depression
– 233
4 Fall 5: Antriebsarmut
15.4 Krebserkrankung
– 235
4 Fall 6: Aufklärungsgespräch 4 Fall 7: Selbstwertverlust und depressive Reaktion
15.5 Essstörung
– 240
4 Fall 8: Gewichtsabnahme und Erbrechen
15.6 Persönlichkeitsstörung
– 243
4 Fall 9: Der aggressive Patient
15.7 Posttraumatische Belastungsstörung
– 246
4 Fall 10: Schlafstörung Anmerkungen: Die meisten Fallbeispiele stammen aus dem Buch von Peter Helmich und Kerstin Richter (2003) 50 Rollenspiele als Kommunikationstraining für das Arzt-Patienten-Gespräch. Verlag für Akademische Schriften, Frankfurt. Sie wurden mit Erlaubnis der Autoren umgeschrieben und erweitert.
222
Kapitel 15 · Übungsfälle – Vom Symptom zu Diagnose und Therapie
15.1
Somatisierung
ä
Fall 1: Herzbeschwerden
Fallbericht Die 28-jährige Patientin Frau P. hat seit Weihnachten vor drei Jahren »Herzanfälle«, verbunden mit Atemnot und linksthorakalem Druckgefühl. Mehrere EKGs, ein Belastungs-EKG, ein Langzeit-EKG, 2-fache kardiologische mehrtägige stationäre Untersuchungen sowie häufige ambulante klinische Untersuchungen ergaben bisher keine pathologischen Befunde. Ein jährlich durchgeführter Laborstatus zeigte normale Werte. Die Patientin beharrt immer wieder auf einer »Herzerkrankung«, die »leider« von den Ärzten nicht gefunden, das heißt nicht erkannt wird. Im Sonntagsdienst musste wieder ein Arzt nachts kommen, der ihr eine Spritze gab. Außerdem empfahl er, »Alles noch einmal gründlich untersuchen zu lassen.« Die Patientin kommt am Montag, 8.00 Uhr erneut in die Praxis. Bei der körperlichen Untersuchung zeigen sich keine auffälligen Befunde. Blutdruck 110/80 mm Hg, Puls 88/min, EKG unauffällig. Spontan äußert die Patientin: »Der Notarzt hätte mir ja wohl kaum gesagt, dass ich mich nochmals gründlich untersuchen lassen soll, wenn da nichts wäre!« »Ich spüre doch, dass da mit meinem Herzen was nicht stimmt. Wollen Sie etwa behaupten, ich bilde mir das nur ein? Sie hätten mal sehen sollen, wie schlecht es mir gestern ging.« »Ich jogge ja kaum noch, aus Angst, ich krieg gleich einen Herzanfall. Und Sie nehmen das hier so auf die leichte Schulter. Ich möchte auf jeden Fall ein EKG wegen gestern Nacht!« Zur aktuellen Situation vor Auftreten der Herzbeschwerden berichtet die Patientin: »Am Samstagabend hatte ich Streit mit meinem Freund, der seit 2 Jahren bei mir wohnt. Ich sei eine hysterische Kuh, hat er geschrieen, es reiche ihm. Er ist abgehauen und wohnt jetzt bei seinen Eltern.«
223 Fall 1: Herzbeschwerden
15
? Leitfragen 7 Welches diagnostische Vorgehen ist angebracht? 7 Warum ist die kurze orientierende körperliche Untersuchung notwendig? 7 Warum könnte der Streit mit dem Freund eine Auslösesituation für die Herzbeschwerden darstellen? 7 Was war vor 3 Jahren, als die Patientin den ersten Herzanfall hatte? 7 Warum ist es wichtig, die Lebensgeschichte zu thematisieren und zurückliegende Erfahrungen mit der Gegenwart zu verknüpfen? 7 Warum erleben Patienten körperbezogene Symptome, wenn sie seelische Belastungen haben? 7 Wie unterscheiden Sie eine Angina-pectoris-Symptomatik bei koronarer Herzerkrankung von einer herzphobischen Symptomatik? 7 Wie sollte der Arzt die Arzt-Patienten-Interaktion gestalten?
Psychosoziale Anamnese Der Vater der Patientin ist verschwunden, als er erfahren hatte, dass ihre Mutter schwanger war. Ihren Vater kennt sie nicht. Die Mutter musste nach der Geburt, um Geld zu verdienen, ganztags in der Fabrik arbeiten und hatte keine Zeit für die Tochter. Die Patientin ist bei ihren Großeltern aufgewachsen. Beide Großeltern hatten sie sehr liebevoll behandelt und gefördert. Entgegen dem Willen der Mutter – die Patientin sollte Geld verdienen – haben die Großeltern sie auf die Realschule geschickt. Auf diese Weise konnte sie Buchhalterin in einem Möbelhaus werden. Der Großvater ist vor 10 Jahren gestorben. Die Großmutter vor 3 Jahren. Die Großmutter war damals 78 Jahre alt, immer gesund. An einem Freitagabend hatte die Patientin den Hausarzt gerufen, weil sich die Großmutter so schlapp und schlecht fühlte. Der Hausarzt sagte, das sei das Alter und ist wieder weggegangen. Am Samstag wurde es schlimmer und die Patientin rief den Notarzt. Der veranlasste die sofortige Einweisung ins Krankenhaus wegen Verdacht auf Herzinfarkt. Die Großmutter ist am Sonntag im Krankenhaus verstorben. Bei der Beerdigung der Großmutter hat die Patientin ihren ersten »Herzanfall« erlitten.
224
Kapitel 15 · Übungsfälle – Vom Symptom zu Diagnose und Therapie
Falldiskussion Es besteht ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen dem plötzlichen Herztod der Großmutter vor 3 Jahren, dem Streit mit dem Freund am vergangenen Wochenende und dem Auftreten der Herzbeschwerden. Bei abwesendem Vater und abwesender Mutter konnte die Patientin in ihren ersten Lebensjahren keine sicheren Bindungserfahrungen machen (7 Kap. 1.3.2), die ihr Sicherheit und Kontrolle von Ängsten ermöglichten. Eine positive persönliche und berufliche Entwicklung war dennoch mit Hilfe der Großeltern möglich. Als nach dem Tod des Großvaters auch die Großmutter plötzlich verstarb, traten unkontrollierbare Verlustängste auf, die über eine psychovegetative Aktivierung des Herz-Kreislauf-Systems zu Herzbeschwerden führten. Der Streit mit dem Freund und dessen Auszug aus der gemeinsamen Wohnung war eine Reaktualisierung dieser vorangegangenen Verlusterfahrung. Bei den Beschwerden der Patientin handelt es sich um körperliche Äquivalente einer Angststörung (7 Kap. 9.1, körperliche Symptome der Angststörung). Die körperlichen Beschwerden treten als Affektäquivalente anstelle der sehr schmerzhaften Verlustängste. Körperliche Symptome entwickeln sich in psychosozialen Konfliktsituationen, wenn die psychische Verarbeitung in Form von psychischen Symptomen wie Angst, Zwangsgedanken und -handlungen oder depressiver Symptomatik nicht mehr möglich ist. Über psychophysiologische Verbindungen (7 Kap. 1.2, Psychobiologie) wird der Körper in Alarmbereitschaft versetzt und reagiert mit Herzbeschwerden. Die Wahl des Symptoms hängt mit dem Tod der Großmutter durch Herzinfarkt zusammen und drückt noch einmal die enge Verbindung mit ihr und den unverarbeiteten Verlust aus. Da die Patientin in ihren emotionalen Grundbedürfnissen nach Bindung und Sicherheit früh verletzt wurde, ist es wichtig, dass der Arzt mit ihr eine stabile und zuverlässige therapeutische Beziehung aufbaut, in der die Patientin sich mit ihren Ängsten und Sorgen ernst genommen fühlt (7 Kap. 7.7., Somatisierung). Eine koronare Herzerkrankung mit Angina pectoris ist aufgrund des Alters der Patientin, den unauffälligen Vorbefunden und der typischen Auslösesituation eher unwahrscheinlich. Zur Abgrenzung zwischen primär organischen Schmerzen und Schmerzen nicht organischen Ursprungs 7 Kap. 8.4, Chronische Schmerzstörung.
225 Fall 1: Herzbeschwerden
15
! Diagnose
Somatoforme autonome Funktionsstörung des Herzens (Herzphobie) auf dem Hintergrund eines aktuellen Partnerschaftskonfliktes und unbewältigten Verlusterlebnissen in der Vergangenheit (ICD-10: F 45.30).
Therapie und Verlauf Es fanden drei Gespräche à 20 Minuten im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung statt. Diese umfassten die Erhebung einer vollständigen psychosozialen Anamnese, die gemeinsame Entwicklung eines alternativen Krankheitsverständnisses zur Erklärung der Beschwerden, Aufarbeitung von Zusammenhängen zwischen dem Weggang des Freundes und dem Auftreten der Herzbeschwerden auf dem Hintergrund der Lebensgeschichte und Motivierung für eine ambulante Fachpsychotherapie. Je akuter die Symptomatik, desto höher der Leidensdruck und die Einsicht in psychosoziale Zusammenhänge, desto besser die Prognose. In diesem Fall hat eine ambulante Psychotherapie zur Verbesserung des Selbstwertgefühls und zur Kontrolle der Ängste vor Verlassenwerden geführt. Herzbeschwerden in psychosozialen Belastungssituationen treten weiter auf, aber ohne dass die Patientin panikartig den Hausarzt oder eine Notfallpraxis aufsuchen muss.
226
Kapitel 15 · Übungsfälle – Vom Symptom zu Diagnose und Therapie
ä
Fall 2: Magenschmerzen
Fallbericht Die 22-jährige Patientin Frau K., die als Fließbandarbeiterin in einer Schuhfabrik tätig ist, kommt wegen Magenschmerzen in die Praxis. Der Hausarzt kennt sie schon als Kind. In den letzten sechs Jahren hatte sie jedoch nur einen Praxiskontakt wegen einer fieberhaften Erkältung. Die Routineuntersuchungen sind ohne pathologischen Befund.
Psychosoziale Anamnese Die Patientin arbeitet seit zweieinhalb Jahren in einer Schuhfabrik. Seit drei Monaten verpackt sie Schuhe in Kartons. Die Eltern sind seit zehn Jahren geschieden. Die Patientin lebt bei ihrer Mutter, die sich über das Alleinleben andauernd mit Schnaps hinweghilft. Die Wohnung wird von der Patientin als klein und hässlich beschrieben. Die Mutter verfügt nur über eine geringe Rente. »In der Schule hatte ich gute Zeugnisse, aber ich durfte nicht auf das Gymnasium. Mein Vater sagte immer: Die höhere Schule ist nichts für unser Kind.« Die Beziehung zu ihrem Freund schildert die Patientin folgendermaßen: »Mein Freund geht immer zum Skat und zum Fußball und danach oft in die Kneipe. Wenn er zu Hause ist, sieht er meistens Krimis im Fernsehen an. Dann trinkt er immer Bier dabei. Sonst hat er keine Interessen. Ich möchte mal Tanzen gehen mit ihm, aber dazu hat er keine Lust.«
? Leitfragen 7 Wie würden Sie den seelischen Zustand der Patientin beschreiben? 7 Welche psychosomatischen Zusammenhänge gibt es zwischen der Lebenssituation und den Magenschmerzen? 7 Welche möglichen Gefühle lösen die Problemschilderungen beim Arzt aus? 7 Ist es sinnvoll ein gemeinsames Gespräch mit dem Freund anzubieten?
227 Fall 2: Magenschmerzen
15
Falldiskussion Die Patientin hat eine sehr unbefriedigende Lebenssituation und allen Grund zur »Wut im Bauch« und zum »Sauersein«. Diese Wut wird jedoch kaum gespürt, sondern »runtergeschluckt« und drückt sich in Magenschmerzen aus. Die deprimierende und unbefriedigende Lebenssituation und die scheinbare Aussichtslosigkeit kann beim Behandler Unsicherheit und Hilflosigkeit auslösen. Es ist wichtig, diese Gefühle zu spüren, auszuhalten und sich nicht davon anstecken zu lassen. Auch wenn die Patientin zunächst nur über ihre Magenschmerzen klagt, erfragt der Arzt geduldig die psychosoziale Situation der Patientin. Aus der schwierigen Beziehungssituation mit ihrem Freund ergibt sich die Indikation für ein Paargespräch.
! Diagnose Autonome somatoforme Funktionsstörung des oberen Gastrointestinaltraktes (ICD-10: F 45.31) auf dem Hintergrund chronifizierter psychosozialer Belastungen.
Therapie und Verlauf Nachdem der Patientin die psychosomatischen Zusammenhänge in einer verständlichen Sprache vermittelt wurden, fanden weitere klärende und stützende Gespräche im Rahmen der Hausarztpraxis statt. Ziele waren die Entwicklung von alternativen Verhaltensweisen gegenüber der Mutter und dem Freund, ein gemeinsames Gespräch mit dem Freund, um auch dessen Sichtweise kennen zu lernen, und die Motivierung für eine ambulante Psychotherapie. Der Freund lehnte ein gemeinsames Gespräch ab. Bis zum Katamnesezeitpunkt schaffte die Patientin es nicht, sich von ihm zu trennen. Sie konnte sich jedoch besser von ihm und ihrer Mutter distanzieren und entwickelte Ansätze zu mehr Eigenständigkeit im Rahmen eines eigenen Freundeskreises. Eine ambulante Psychotherapie lehnte sie ab.
228
Kapitel 15 · Übungsfälle – Vom Symptom zu Diagnose und Therapie
ä
Fall 3: Rückenschmerzen
Fallbericht Die 40-jährige, verheiratete, kinderlose Patientin Frau B. leidet seit fünf Jahren in zunehmendem Maße unter Rückenschmerzen im LWS-Bereich. Die Schmerzen steigerten sich im Laufe der Jahre, sodass die Patientin wiederholt krank geschrieben werden musste. Die Behandlung erfolgte ausschließlich über den Hausarzt und mehrere Orthopäden in Form von Spritzen und physikalischer Therapie. In den letzten Jahren entwickelte die Patientin einen Analgetikaabusus, Schlafstörungen und eine depressive Symptomatik und war wiederholt für mehrere Wochen krank geschrieben. Im Computertomogramm zeigten sich leichte degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, die jedoch nicht mit der Lokalisation der Beschwerden korrespondierten. Auf Initiative des Hausarztes stellte sich die Patientin im universitären Schmerzzentrum vor, wo auch eine psychosomatische Diagnostik erfolgte.
? Leitfragen 7 Welche Angaben aus der psychosozialen Anamnese sind wichtig zur diagnostischen Klassifizierung des Schmerzes? 7 Warum war die bisherige fünfjährige orthopädische Behandlung inadäquat? 7 Wie sind die Schlafstörungen und die depressive Symptomatik zu erklären? 7 Welche Differenzialdiagnosen kommen in Frage? 7 Gibt es Hinweise auf einen sekundären Krankheitsgewinn? 7 Gab es eine Auslösesituation? 7 Falls indiziert, wie könnte die Patientin zu einer Psychotherapie motiviert werden?
Psychosoziale Anamnese Die Eltern der Patientin trennten sich, als die Patientin zwölf Jahre alt war. Sie wuchs bei der Mutter auf, wurde aber sehr streng beaufsichtigt und hatte wenig Freunde und Freundinnen. In der Schule zeigte sie gute Leistungen. Die Mutter lehnte jedoch den Vorschlag des Lehrers und ihren eigenen Wunsch ab, auf das Gymnasium zu wechseln. Sie absolvierte eine Lehre als Bankkauffrau und machte anschließend einen raschen Aufstieg zur Abteilungsleiterin. Vor fünf Jahren war sie Zeugin eines versuchten Banküberfalls, einer Situation in der sie
229 Fall 3: Rückenschmerzen
15
sich hilflos und ohnmächtig fühlte. Von einem der Täter erhielt sie einen Schlag in den Rücken, war kurzzeitig mit anderen Angestellten in einem engen Raum eingesperrt. Über diese Erlebnisse hatte sie noch mit keinem Arzt gesprochen. Bei zwei weiteren Terminen mit der Psychotherapeutin des Schmerzzentrums kamen weitere Konfliktbereiche zur Sprache: Die Kinderlosigkeit und ihre sexuelle Unlust im Rahmen der depressiven Symptomatik hatten immer wieder zu schweren Ehekrisen geführt. Auch bestanden finanzielle Probleme.
Falldiskussion Die Angaben aus der psychosozialen Anamnese erlauben eine starke psychosoziale Komponente bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Rückenschmerzen anzunehmen. Dazu gehört die erhöhte Stressvulnerabilität (7 Kap. 1.3.1) durch negative Kindheitserfahrungen wie Scheidung der Eltern, Einsamkeit und das unverarbeitete psychische Trauma durch den Banküberfall, der eine typische Auslösesituation für somatoforme Beschwerden darstellt. Die bisherige Behandlung hat mit somatischen Mitteln versucht ein psychisches Problem zu behandeln, was nicht erfolgreich sein konnte. Die Rückenschmerzen waren für die Patientin die einzige Möglichkeit ihre bisher kaum bewusste Angst und Wut im Rahmen des Banküberfalles auszudrücken. Schmerzmittelabusus, Schlafstörungen und depressive Symptomatik sind typische Folgezustände bei chronischen Schmerzen und weisen auf einen zunehmenden psychophysischen Erschöpfungszustand der Patientin hin. Die Rückenschmerzen hatten aber im Laufe der Zeit auch eine beziehungsregulierende Funktion gegenüber Nähewünschen des Ehemannes und gegenüber ungeliebten gesellschaftlichen Verpflichtungen in ihrer Position als Abteilungsleiterin. Durch die vertrauensvolle und warmherzige Atmosphäre bei der Psychotherapeutin des Schmerzzentrums gelang es der Patientin schon in den ersten beiden Gesprächen ihre Stärken und psychosozialen Belastungen mitzuteilen. Diese positiven Erfahrungen sind wichtige Prädiktoren für eine Psychotherapiemotivation. Differenzialdiagnostisch ist auch an eine verzögerte posttraumatische Belastungsstörung zu denken, wobei nicht alle Kriterien erfüllt sind (7 Kap. 11, Posttraumatische Belastungsstörungen und Fall 10).
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Kapitel 15 · Übungsfälle – Vom Symptom zu Diagnose und Therapie
! Diagnose Anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10: F 40.4). Leichte depressive Episode mit somatischen Symptomen (ICD-10: F 32.01). Analgetikaabusus auf dem Hintergrund chronifizierter psychosozialer Belastungen (ICD-10: Y 57). Differenzialdiagnose: Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1).
Therapie und Verlauf Nach einem weiteren Gespräch in der Schmerzambulanz war die Patientin zu einer ambulanten Psychotherapie motiviert. In dieser therapeutischen Beziehung erfuhr sie das erste Mal die Wertschätzung und Anerkennung, die sie in ihrem Elternhaus und in ihrer Ehe schmerzlich vermisste bzw. die sie glaubte nur durch Leistung zu erreichen. Im geschützten therapeutischen Rahmen konnte sie zum ersten Mal in den fünf Jahren ihre heftigen Ängste, ihre Hilflosigkeit und ihre Wut ausdrücken und auch auf schmerzliche Weise von ihrem unerfüllten Kinderwunsch Abschied nehmen. Nach 40 Sitzungen ambulanter Psychotherapie waren die Rückenschmerzen bis auf ein gelegentliches Ziehen ohne sonstige medikamentöse oder physikalische Behandlung abgeklungen, ebenso die Schlafstörungen und die depressive Symptomatik. Die Patientin war mit sich und ihrer Partnerschaft wesentlich zufriedener. Eine Katamnese nach drei Jahren ergab, dass sie nur sehr selten noch unter Rückenschmerzen leidet, und insgesamt nur fünf Tage wegen eines grippalen Infektes krank geschrieben war.
231 Fall 4: Flugangst
15.2
Angststörung
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Fall 4: Flugangst
15
Fallbericht Der 58-jährige Patient Herr L., leitender Angestellter bei einer großen Elektronikfirma, klagt über Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und Kopfdruck. Die Beschwerden bestehen seit acht Tagen. Routineuntersuchungen sind ohne pathologische Befunde.
Psychosoziale Anamnese Die Abteilung der Firma, in der der Patient arbeitet, wurde vor kurzem an die Japaner verkauft. »Vor acht Tagen erhielt ich die Nachricht, dass ich vor dem Vorstand in Japan einen Bericht in englischer Sprache über die Entwicklungsabteilung halten soll. Einerseits habe ich mich gefreut, weil wir viele verkaufsfähige Innovationen haben. Andererseits habe ich panische Angst vor dem Fliegen. Ich bin noch nie geflogen. Bisher konnte ich das immer vermeiden.« Auf Nachfragen des Arztes: »Mein Vater war Pilot im 2. Weltkrieg und ist abgestürzt. Damals war ich zwei Jahre alt. Meine Mutter hat nie darüber geredet. Die weinte immer bei dem Thema«.
? Leitfragen 7 Warum handelt es sich bei den beklagten Beschwerden wahrscheinlich um psychosomatische Beschwerden ohne Organbefund? 7 Wie hat der Patient bisher sein Problem der Flugangst gelöst? 7 Wie hängen Gegenwart und Vergangenheit des Patienten in der Fallgeschichte zusammen? 7 Was bedeutet es für einen Jungen ohne Vater auf zu wachsen? 7 Wie ist die Reaktion der Mutter zu verstehen? Welche Auswirkungen hatte sie auf den Patienten? 7 Handelt es sich um eine Panikattacke, eine Phobie oder eine generalisierte Angststörung? 7 Besteht eine Indikation für eine psychopharmakologische Behandlung? 7 Was könnte Ziel des hausärztlichen Gespräches sein? 7 Besteht eine Indikation zur Fachpsychotherapie?
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Kapitel 15 · Übungsfälle – Vom Symptom zu Diagnose und Therapie
Falldiskussion Es besteht ein klarer Zusammenhang zwischen dem Auftreten der beklagten Beschwerden und einer psychosozialen Stresssituation. Dennoch ist es differenzialdiagnostisch wichtig, ernsthafte organische Erkrankungen auszuschließen. Die Angststörung wird im Hintergrund der Lebensgeschichte verstehbar: Der Patient wurde 1942 als erstes und einziges Kind seiner Eltern, die ein Jahr vorher geheiratet hatten, geboren. Er wuchs mit überwiegend weiblichen Bezugspersonen auf. Eine Erziehungsperson für die Ausbildung einer sicheren männlichen Identität fehlte. Später orientierte er sich an Lehrern und männlichen Vorgesetzten. Ein Gespräch über seine vaterlose Kindheit und Jugend fand bisher noch nie statt. Von der Mutter lernte er, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema sehr schmerzhaft sein kann und dass es besser ist, nicht darüber zu sprechen. Schon in der Schulzeit und im Studium hatte er mäßig ausgeprägte Ängste vor Höhen und vor Tunnels. Diese Ängste, ebenso wie das Problem der Flugangst hat der Patient bisher durch Vermeidung gelöst.
! Diagnose Spezifische Phobie (ICD-10: F 40.2) auf dem Hintergrund einer bisher nicht statt gefundenen Trauer um den Verlust des Vaters.
Therapie und Verlauf Es fanden zwei 50-minütige Gespräche in der Praxis des Hausarztes mit der Zusatzbezeichnung Psychotherapie (7 Anhang III) statt. Dabei wurde dem Patient der Zusammenhang zwischen seiner Flugangst und dem tödliche Absturz des Vaters im 2. Weltkrieg bewusst. Er konnte, verbunden mit heftigem Weinen, zum ersten Mal über seine Gefühle als Kind und Jugendlicher vaterlos gewesen zu sein sprechen. Nach diesen Gesprächen fühlte sich der Patient sehr entlastet und traute sich die lange Flugreise nach Japan zu. Eine Überweisung in eine fachpsychotherapeutische Behandlung war nicht notwendig. Zur symptomatischen Behandlung der Flugangst wurde ein Benzodiazepin-Präparat verschrieben, das der Patient während des Fluges in seiner Tasche trug, aber nicht brauchte.
233 Fall 5: Antriebsarmut
15.3
Depression
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Fall 5: Antriebsarmut
15
Fallbericht Die 22-jährige Medizinstudentin Frau D. kommt wegen Lust-, Interesselosigkeit und Antriebsarmut zum Hausarzt. Die klinische Untersuchung ergibt keine Auffälligkeiten. Blutdruck 100/80 mm Hg, Puls 84 Schläge pro Minute. Labor: Normalbefund. Spontan äußert die Patientin: »Ich fühle mich nicht mehr wohl in meiner Haut. Ich habe das Gefühl, ich kann überhaupt nichts. Im Studium fühle ich mich überfordert.« »Männer interessieren sich nicht für mich.« »Oft fühle ich mich müde, lustlos und habe keine Energie. Besonders morgens kann ich mich zu nichts aufraffen. Meistens habe ich keinen Appetit.« »Nachts schlafe ich sehr schlecht. Ich schlafe zwar ein, wache jedoch ständig auf und bin ab 5 Uhr morgens wach.« »Ich habe keine Lust zu gar nichts. Die meiste Zeit hänge ich auf meinem Bett herum.«
Psychosoziale Anamnese Die Eltern sind seit fünf Jahren geschieden. Die Patientin lebt bei ihrer Mutter.
? Leitfragen 7 Wie unterscheidet sich eine Depression von einer Traurigkeit? 7 Gab es Auslöser für die Verschlechterung des psychischen und körperlichen Befindens? 7 Besteht Suizidgefahr? Welche Fragen sind zur Klärung notwendig? 7 Besteht eine Indikation zur psychotherapeutischen Behandlung? 7 Ist eine antidepressive medikamentöse Therapie indiziert? 7 Wie gelingt es die Patientin für eine Behandlung der Depression zu gewinnen?
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Kapitel 15 · Übungsfälle – Vom Symptom zu Diagnose und Therapie
Falldiskussion Zum Unterschied zwischen einer depressiven Störung und einer normalen Traurigkeit 7 Kap. 10, Depressionen, Einleitung. Unter 10.6 finden sich die Fragen, die zur Klärung von Suizidalität notwendig sind. In diesem Fall waren Suizidgedanken vorhanden, sie waren jedoch noch nicht von konkreten Plänen zur Umsetzung begleitet. Die Patientin konnte sich vor allem im 1. Gespräch davon distanzieren und glaubhaft versichern, dass sie sich bis zur Vorstellung bei der Psychotherapeutin nichts antue. Die Scheidung der Eltern und die vorausgegangenen Streitigkeiten hatten die Patientin verunsichert und in ihr ein Gefühl der Wertlosigkeit ausgelöst. Durch gute Leistungen in der Schule und einem Abitur mit 1,4 konnte sie dieses geschwächte Selbstwertgefühl kompensieren. Negative Erfahrungen in zwei Partnerschaften und das nach ihrer Meinung schlechte Abschneiden im Physikum haben die tief sitzenden Selbstwertzweifel wieder aktiviert. Es besteht eine Indikation für eine kombinierte Behandlung aus Antidepressiva und Psychotherapie.
! Diagnose Mittelgradige depressive Episode mit somatischen Symptomen (ICD-10: F 32.11).
Therapie und Verlauf In diesem Fall war die Patientin aufgrund ihres starken Leistungsdruckes schnell für eine medikamentöse antidepressive Therapie mit Mirtazepin und eine Überweisung in eine ambulante Fachpsychotherapie einverstanden. Unter dem sedierenden Einfluss des Antidepressivums trat rasch eine Verbesserung der Schlafstörungen ein. Nach ca. 3 Wochen nahm die Antriebsarmut und Energielosigkeit ab und Appetit und Gewicht zu. Die psychotherapeutische Bearbeitung der aktuellen Auslöser und der dahinter liegenden negativen Einstellungen zu sich selbst und der Umwelt führten im Laufe eines halben Jahres zu einem verbesserten Selbstwertgefühl. Sie nahm zuvor abgebrochene Kontakte zu einer langjährigen Freundin wieder auf und begann einen 1-jährigen Studienaufenthalt in Frankreich zu planen.
235 Fall 6: Aufklärungsgespräch
15.4
Krebserkrankung
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Fall 6: Aufklärungsgespräch
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Fallbericht Der 48-jährige LKW-Fahrer Herr C., bei dem schon seit Jahren ein »Raucherhusten« besteht, hustet seit zwei Monaten verstärkt und hat dabei auch mehrmals blutiges Sputum beobachtet. Er raucht täglich 40–60 Zigaretten. Seit einem halben Jahr hat er 10 kg abgenommen. Er wiegt jetzt 85 kg bei 180 cm. RöntgenThorax, Ultraschall des Abdomens und das Thorax-CT zeigen ein in die Leber metastasiertes inoperables Bronchialkarzinom des linken Lungenflügels. Der Patient kommt »zur Besprechung der Befunde«. Spontan äußert er: »Die vielen Untersuchungen haben mir zunehmend Angst gemacht. Vor vier Monaten, als ich Blut gespuckt habe, wusste ich: jetzt hast du Krebs!« »Aber ich habe mir und meiner Frau immer Mut gemacht: Ist doch nichts. Aber das Dünnerwerden hat mir immer Angst gemacht! Aber ich kann doch jetzt Chemo kriegen, nicht wahr Herr Doktor? Und wenn Sie mir das Rauchen verbieten, höre ich sofort damit auf.« »Wie lange darf ich noch meinen Brummi fahren? Werde ich lange krank geschrieben sein?« »Ist das mit dem Gewichtsverlust schlimm? Soll ich mehr essen?« »Warum kann ich nicht operiert werden?«
? Leitfragen 7 Welche Abwehrmechanismen zur Bewältigung der Befundmitteilungen setzt der Patient ein? 7 Wie viel Aufklärung über seine Prognose verträgt der Patient? 7 Wenn der Arzt zum Patienten sagt: »Das mit dem Rauchen können Sie machen wie Sie wollen!«, wie könnte der Patient das verstehen? 7 Wie könnte der Arzt adäquat auf die anderen Fragen des Patienten antworten? 7 Wie könnte der Arzt den Patienten über die begrenzten therapeutischen Möglichkeiten der Chemotherapie informieren?
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Kapitel 15 · Übungsfälle – Vom Symptom zu Diagnose und Therapie
Falldiskussion Der Patient hat seine Diagnose wohl schon seit längerem geahnt. Er schwankt zwischen Wahrhabenwollen, der Krankheit ins Auge sehen, sich Mut machen und Verleugnung und Resignation. Der Arzt akzeptiert diese scheinbar widersprüchlichen Bewältigungsstrategien als die individuelle Antwort des Patienten auf eine lebensbedrohliche Erkrankung. Der Kommentar zum Rauchen könnte vom Patienten als Resignation des Arztes verstanden werden, etwa in dem Sinne: »Machen Sie was Sie wollen, es gibt sowieso keine Rettung mehr für Sie.« Der Arzt könnte wahrheitsgemäß die Fragen des Patienten beantworten, dabei aber auch immer auf seine emotionalen Reaktionen eingehen. Dabei sollte er aber nur Informationen über Behandlung und Prognose vermitteln, die vom Patienten auch gewünscht werden (7 Kap. 5.3, Krebserkrankung, Aufklärungsgespräch). Umgekehrt sollte er nach Wünschen des Patienten fragen, und sie bei der Behandlung berücksichtigen. Wichtig ist, ausführlich auf Fragen der Schmerzbehandlung einzugehen, da die Patienten oft Bilder von einem schmerzhaften qualvollen Tod vor Augen haben.
! Diagnose Probleme der Krankheitsverarbeitung bei inoperablem, metastasiertem Bronchialkarzinomen mit geplanter palliativer Behandlung.
Therapie und Verlauf Die Chemotherapie musste nach zwei Monaten wegen starker Nebenwirkungen wie Übelkeit und Erbrechen, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust und schlechtem Allgemeinzustand des Patienten abgebrochen werden. Der Patient ist ein halbes Jahr später im Kreis seiner Familie verstorben. Während dieser Zeit wurde er engmaschig von seinem Hausarzt besucht.
237 Fall 7: Selbstwertverlust und depressive Reaktion
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Fall 7: Selbstwertverlust und depressive Reaktion
Fallbericht Bei der 45 Jahre alten Patientin ist fünf Monate zuvor wegen eines kirschkerngroßen malignen Tumors in der rechten Brust eine Ablatio mammae durchgeführt worden. Die Lymphknoten waren nicht befallen. Die Patientin hatte eine Bestrahlung und Chemotherapie abgelehnt, deshalb erfolgte eine Radikaloperation. Sie kommt jetzt zur Nachuntersuchung und zum Gespräch in die Praxis. Spontan äußert sie: »Ich habe das Gefühl, dass alle auf meine Brust starren. Das macht mich unheimlich unsicher.« »Ich fand meine Brust immer sehr gut und bin auch immer oben ohne an den Strand gegangenen. Jetzt mag ich mich selber nicht mehr im Spiegel ansehen.« »Angezogen kann man das ja noch kaschieren, aber was ist, wenn ich mit meinem Mann intim werde? Mein Mann kann mich so nicht mehr lieben. Seit der Operation läuft zwischen uns nichts mehr im Bett. Ich mag nicht mehr mit ihm schmusen, ich muss ja doch immer an meine Brust denken. Wenn wir ausgehen, habe ich das Gefühl, er starrt nur anderen Frauen nach. Ich bin für ihn bestimmt nicht mehr eine richtige Frau. Er sagt, er liebt mich, aber das kann ich ihm nicht glauben.« »Warum muss mir das passieren, ich bin doch immer regelmäßig zur Vorsorgeuntersuchung gegangen.« »Ich habe das Gefühl, dass mein Leben jetzt vorbei ist. Ich bin so hohl und kraftlos. So einen Schlag verkrafte ich nicht.«
Psychosoziale Anamnese Die Patientin ist von Beruf Arzthelferin, verheiratet und hat zwei größere Kinder im Alter von 15 und 17 Jahren. Ihr Mann ist Steuerberater. Die Kinder und ihr Mann wissen um die Erkrankung. Die Patientin beschreibt ihre Ehe als bisher »unauffällig harmonisch«. Die Patientin legt großen Wert auf ein gepflegtes Aussehen.
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Kapitel 15 · Übungsfälle – Vom Symptom zu Diagnose und Therapie
? Leitfragen 7 Was ist das Hauptproblem der Patientin? 7 Ist die psychische Reaktion adäquat oder liegt schon eine psychische Störung vor? 7 Ist die Patientin »verstümmelt« oder hat man ihr eine kranke Brust entfernt, damit sie mit einer Brust noch eine lohnende Lebenszeit vor sich hat? 7 Was gibt es an Positivem in ihrem Leben? 7 Wie wird der Ehemann in einem Paargespräch reagieren? 7 In wie weit sind Tod und Sterben für die Patientin ein Thema?
Falldiskussion Die Patientin trauert um ihre verlorene Brust und hat das Gefühl von ihrem Mann nicht mehr geliebt zu werden. Sie fühlt sich hässlich und nie mehr begehrenswert. Die Kränkung und Verletzung durch den Verlust der Brust bewegt die Patientin stärker als die mit dem Eingriff verbundene gute Prognose und längere Lebenserwartung. Die Patientin beschreibt eine leichte depressive Symptomatik: »Ich bin so hohl und kraftlos«. Weitere Symptome einer Depression sollten aktiv erfragt werden. Es handelt sich aber sicher nicht um eine depressive Episode, sondern um eine Belastungsreaktion, die die Kriterien einer psychischen Störung nach ICD-10 erfüllt. Hinzu kommen partnerschaftliche Probleme, sodass diese Krankheitsverarbeitung insgesamt nicht als adäquat zu bewerten ist. Die Patientin hat bis zur Krebserkrankung ein zufriedenes und erfülltes Leben geführt. Ihre Lebenserfahrung in der Bewältigung von Krisen und die bisherige gute Unterstützung durch den Ehemann sind wichtige Ressourcen. Auch ist davon auszugehen, dass der Ehemann ihre negative Sicht auf die Beziehung nicht teilt. Tod und Sterben werden nicht direkt angesprochen, sondern eher angedeutet: »Ich habe das Gefühl, dass mein Leben jetzt vorbei ist«. Diese Aussage ist eher im Rahmen der depressiven Symptomatik zu verstehen. Auch bei Andeutungen ist es sinnvoll nachzufragen, inwieweit das Thema Tod durch die Erkrankung die Patientin beschäftigt. Ziel des Gespräches ist es, zunächst die subjektive Wirklichkeit der Patientin zu verstehen und ihre Trauer um den Verlust der Brust zu akzeptieren: »Das muss im Moment ganz schrecklich für Sie sein. Sie haben das Gefühl, nur mit zwei Brüsten sind Sie eine vollwertige Frau. Und Sie haben Recht, es gibt Männer,
239 Fall 7: Selbstwertverlust und depressive Reaktion
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die lehnen eine Frau mit nur einer Brust ab. Aber es gibt auch viele Männer, die ihre Frau genauso lieben wie vorher.«
! Diagnose Depressive Reaktion im Rahmen der Krankheitsverarbeitung nach Ablatio mammae (ICD-10: F 43.21).
Therapie und Verlauf In 2 Gesprächen stärkte der Hausarzt das Selbstwertgefühl der Patientin durch Aufmerksamkeitslenkung auf ihr bisher erfolgreiches Leben und ihr Selbstbewusstsein als Frau. Er versuchte das Paar zu einer gemeinsamen Therapie in einer Beratungsstelle für Ehe- und Lebensfragen zu motivieren. Nach anfänglichem Zögern war die Patientin bereit, mit ihrem Ehemann eine Beratungsstelle aufzusuchen. Schon nach drei Gesprächen kam es zu einer Wiederannährung zwischen den beiden Partnern. Die Patientin traute sich mehr und mehr, sich nackt zu zeigen, und fand nach zwei Monaten wieder Interesse an sexuellem Kontakt.
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Kapitel 15 · Übungsfälle – Vom Symptom zu Diagnose und Therapie
15.5
Essstörung
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Fall 8: Gewichtsabnahme und Erbrechen
Fallbericht Die 20-jährige Medizinstudentin Frau E. kommt in Begleitung ihrer Mutter zum Hausarzt. Sie habe innerhalb eines Jahres von 58 kg auf 42 kg abgenommen. Körpergröße 168 cm. Wegen starker Verstopfung nehme sie Abführmittel. Bei der körperlichen Untersuchung zeigt sich ein leicht kachektischer Ernährungszustand. Blutdruck 100/70 mm Hg, Puls 64 Schläge pro Minute. Hypokaliämie, Schilddrüsenparameter erniedrigt. Sekundäre Amenorrhö. Spontan äußert die Patientin, nachdem sie mit dem Hausarzt alleine ist: »Ich habe ein Problem mit dem Essen. Mir fällt es schwer, etwas zu essen. Ich habe dann Angst nicht mehr aufhören zu können.« »Nach dem Essen muss ich erbrechen. Anfangs habe ich mir den Finger in den Hals gesteckt, jetzt geht es ohne.«
? Leitfragen 7 Was könnte der Auslöser für die Essstörung gewesen sein? 7 Welche weiteren psychosozialen Informationen sind für die Diagnosestellung wichtig? 7 Hat es eine Bedeutung, dass die Patientin in Begleitung ihrer Mutter kommt? 7 Wie gehen Sie bei der Information und Beratung der Essstörung vor? 7 Gibt es eine Indikation für eine stationäre Behandlung?
Psychosoziale Anamnese Die Essstörung sei nach dem Abitur aufgetreten. Sie sei aus der Kleinstadt, wo sie aufgewachsen war zum Studium in die Universitätsstadt umgezogen. Sie habe das Gefühl, dass sie dieser Schritt überfordert habe. Mit der neu gewonnenen Freiheit könne sie nichts anfangen. Sie habe auch Probleme gehabt,
241 Fall 8: Gewichtsabnahme und Erbrechen
15
Leute kennen zu lernen. Schon in der Grundschule habe sie Magenschmerzen vorgetäuscht, um Aufmerksamkeit zu erreichen. Insgesamt sei sie immer ein schüchterner und zurückhaltender Mensch gewesen. Der Vater sei Leiter der örtlichen Sparkasse, die Mutter Grundschullehrerin. Der Vater sei sehr ehrgeizig, betreibe auch Leistungssport und erwarte von ihr auch gute Leistungen. In der Schule habe sie auch immer zu den Besten gehört. Das Studium mache ihr jedoch Mühe, da sie in Gedanken immer mit sich selbst und dem Essen beschäftigt sei.
Falldiskussion Ausgelöst wurde die Essstörung durch die Aufnahme des Medizinstudiums und der damit verbundenen Ablösung aus dem Elternhaus. Zu den Eltern besteht eine ambivalente Bindung: Einerseits findet sie sich stark kontrolliert und leistungsmäßig unter Druck gesetzt, andererseits konnte sie mit ihrer neu gewonnenen Freiheit in der Universitätsstadt wenig anfangen und sehnt sich nach der Sicherheit zu Hause. Es bestehen Ängste in Bezug auf Beziehungen zu anderen Menschen, insbesondere eine starke Selbstunsicherheit in Bezug auf ihre Frauenrolle und ihre Sexualität.
! Diagnose Anorexia nervosa mit selbst induziertem Erbrechen (aktive Form) auf dem Hintergrund eines Ablösungskonfliktes vom Elternhaus (ICD-10: F 50.01).
Therapie und Verlauf Der Hausarzt informiert die Patientin und ihre Mutter über das Vorliegen einer unbedingt behandlungsbedürftigen Magersucht. Während die Mutter auf Behandlung drängt, ist die Patientin noch unentschlossen, da sie sich nicht als so krank empfindet. Nach einem weiteren Gespräch alleine mit der Patientin, in dem sie die oben geschilderten Einblicke in ihre innere Lebenswelt gibt, ist sie zu einer ambulanten Psychotherapie bereit. Nach zwei Monaten zweimal wöchentlicher Einzeltherapie hat sich die Symptomatik jedoch nicht wesentlich gebessert, sodass auf Drängen der behandelnden Psychotherapeutin eine stationäre Aufnahme in einer psychosomatischen
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Kapitel 15 · Übungsfälle – Vom Symptom zu Diagnose und Therapie
Klinik erfolgt. Nach einer viermonatigen stationären Behandlung mit einem kombinierten Therapieprogramm (7 Kap. 12.1.7, Anorexia nervosa) hatte sie ihr Basisgewicht von 51 kg erreicht und konnte in eine weiterführende ambulante Psychotherapie entlassen werden. In einem Nachgespräch zwei Jahre später berichtet sie, dass sie ihr Gewicht um 50 kg halten konnte. Sie habe erfolgreich das Physikum absolviert und sei jetzt im ersten klinischen Semester. Seit einem Jahr habe sie eine freundschaftliche Beziehung zu einem ein Jahr jüngeren Mann, jedoch ohne Sexualität. Mit dem Essen beschäftige sie sich nicht mehr so ausführlich, sie habe Wichtigeres zu tun.
243 Fall 9: Der aggressive Patient
15.6
Persönlichkeitsstörung
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Fall 9: Der aggressive Patient
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Fallbericht Ein 25-jähriger Mann, Herr W. kommt wegen einer Verletzung auf der Innenseite des Daumenendgliedes zum Hausarzt. Der Patient ist dem Hausarzt nicht bekannt. Er hat keinen Termin vorher vereinbart. Der Sprechstundenhilfe sagt er, er sei ein Notfall und könne nicht lange »rumsitzen«. Der Patient hat eine Glatze, Ringe in den Ohren, in der Nase und an mehreren Fingern rechts und links. Er trägt eine schwarze Lederbekleidung und schwarze Stiefel. Schon auf einen halben Meter Abstand ist eine deutliche Alkoholfahne wahrnehmbar. An der Innenseite des Daumenendgliedes sieht man eine kleine, blutig verschmierte Einstichstelle. Es entwickelt sich folgender Arzt-Patient-Dialog: Arzt: »Wie ist das passiert?« Patient: »Wir haben da so ’ne Bude abgerissen, und da hat so ’nen Blödmann mir ein Brett mit Nagel so blöd angereicht, dass ich da rein fassen musste.« Auf die Frage nach einer Tetanusimpfung: »Weiß ich doch nicht, ich bin gesund und so Scheiß-Impfungen sind mir scheißegal. Sie sind doch Arzt, da werden ’Se wohl wissen, was Sie verdammt noch mal zu tun haben.« Etwas später: »Passen ’Se bloß auf, dass das mit der Scheiß-Spritze nicht so weh tut!«
Psychosoziale Anamnese »Ich bin vaterlos aufgewachsen. Als ich zwei Jahre alt war, ist er abgehauen. Meine Mutter hatte immer wieder neue Freunde, die mich nur lästig fanden. Ein Schwein hat mich sogar geschlagen. Dem möchte ich heute noch mal begegnen und die Knochen brechen!«
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Kapitel 15 · Übungsfälle – Vom Symptom zu Diagnose und Therapie
? Leitfragen 7 Was sind Ihre eigenen Gefühle bei der Schilderung dieser Arzt-Patient-Begegnung? 7 Wie gehe ich mit einem unsympathischen Patienten um? 7 Wie gehe ich mit meinen eigenen Aggressionen um? 7 Hat ein Arzt ein Recht auf eigene negative Gefühle? 7 Wie kann sich der Hausarzt bei einer solchen Lebensgeschichte angemessen gegenüber dem Patienten verhalten? 7 Welche Vorurteile löst der Patient aus? 7 Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Lebensgeschichte des Patienten und seinem Auftreten in der Arztpraxis?
Falldiskussion Jeder Patient löst unterschiedliche Gedanken, Gefühle und Handlungsimpulse aus. Das ist die menschliche Seite jeder Arzt-Patient-Beziehung. Auch ein Arzt kann nicht einfach negative Gefühle wie Aggressionen, Wut und Angst beiseite schieben. Der erste Schritt ist die eigenen negativen Gefühle, in diesem Fall vor allem aggressive oder auch ängstliche, wahr zu nehmen. Darüber hinaus sollte der Arzt Bescheid wissen, wo seine eigenen Schwachpunkte, z. B. Ärger, Angst, Hilflosigkeit bei welchen Patienten liegen, und in einem zweiten Schritt bei diesen Patienten auf eine innere Distanz gehen. Symbolisch könnte dies durch eine blinkende rote Warnlampe bei Auftreten dieser negativen Gefühle ausgedrückt werden. Die rote Warnlampe signalisiert, dass ich als Arzt meine negativen Gefühle bewusst wahr nehme und mich innerlich ein Stück davon distanziere. Dadurch werde ich freier und offener, ohne Vorurteile auf den Patienten zu zu gehen. Dann sind verständnisvolle Fragen möglich wie: »Was hat Sie so zornig in Ihrem Leben gemacht? Ich merke, Sie sind immer in einer Angriffsposition. Wogegen müssen Sie sich wehren?« Im Gespräch mit dem Patienten wird dann klar, dass er schon sehr früh dysfunktionale Verhaltensmuster in Konfliktsituationen entwickelt hat und diese Muster auch in der Arztpraxis ablaufen.
245 Fall 9: Der aggressive Patient
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! Diagnose Verdacht auf emotional instabile Persönlichkeit (ICD-10: F 60.3).
Therapie und Verlauf Der Arzt ließ sich von dem äußerlich aggressiven und fordernden Auftreten des Patienten nicht irritieren. Er neutralisierte seinen spontan aufsteigenden Ärger und den Impuls, den Patienten gleich wieder rauszuschmeißen. Damit hätte er nur das dysfunktionale Beziehungsmuster des Patienten bedient und sich genau so verhalten wie die Freunde seiner Mutter. Stattdessen versorgte er freundlich und auf väterliche Weise seine Verletzung, was zunächst den Patienten irritierte. Nach dem die »Scheiß-Spritze« nicht so weh tat wie befürchtet, konnte der Patient seine aggressive Haltung ablegen und mehr über seine Lebenssituation erzählen. Er verabschiedete sich vom »Doc« mit einem Händedruck und war sichtlich bewegt von der neu gemachten Erfahrung einer Beziehungsgestaltung.
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Kapitel 15 · Übungsfälle – Vom Symptom zu Diagnose und Therapie
15.7
Posttraumatische Belastungsstörung
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Fall 10: Schlafstörung
Fallbericht Der 32-jährige kurdische Patient Herr P. lebt seit 2 Jahren in Deutschland. Ein Antrag auf Asyl ist gestellt. In den letzten drei Monaten war er zweimal wegen Einschlaf- und Durchschlafstörungen in der Praxis. Daneben hat er über zunehmende Rückenschmerzen geklagt. Die körperliche Untersuchung, das Routinelabor, EKG und das Röntgen der Wirbelsäule waren unauffällig. Wegen Verdacht auf eine depressive Symptomatik erfolgte die medikamentöse Behandlung mit einem Antidepressivum. Jetzt kommt der Patient erneut in die Sprechstunde. Er berichtet, dass die Schlafstörungen zunehmen und die Rückenschmerzen nicht besser werden. Dem Arzt fällt auf, dass er bisher wegen der schlechten Deutschkenntnisse des Patienten keine psychosoziale Anamnese erhoben hat. Er bietet dem Patienten an mit einem Onkel des Patienten, der seit über 10 Jahren in Deutschland lebt und über genügend Sprachkenntnisse verfügt, wieder zu kommen.
Psychosoziale Anamnese Der Patient lebte in einer anatolischen Kleinstadt und hatte Kontakte zur verbotenen kurdischen Partei PKK. Vor über 2 Jahren seien eines nachts Soldaten in sein Haus eingedrungen, haben ihn und andere Mitglieder der Familie mitgenommen. In den folgenden 2 Wochen im Gefängnis sei er wiederholter körperlicher und seelischer Folter ausgesetzt gewesen. Er sei ständig geschlagen worden, wiederholt mit dem Kopf nach unten und mit den Füssen an der Decke aufgehängt worden und es habe einmal eine Scheinhinrichtung gegeben. Ständig habe das Licht gebrannt und er habe kaum schlafen können. Nach 14 Tagen sei er aus der Haft entlassen worden, mit der Auflage, sich jeden Tag bei der Polizei zu melden. Er habe dann die erste Möglichkeit zur Flucht zu Verwandten in Deutschland ergriffen. Der Patient berichtet stockend und mit langen Unterbrechungen. Er beginnt zu zittern und er hat Schweißausbrüche, sein Herz klopft stark und der Puls steigt auf über 120 Schläge pro Min. Er berichtet weiter, dass er sich seit einem halben Jahr von anderen Menschen zurückgezogen habe. Besondere
247 Fall 10: Schlafstörungen
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Angst habe er mit anderen Mensch im engen Raum zu sein. Zeitweise fühle er sich völlig gelähmt und nicht in der Lage irgendetwas zu tun. Er möchte schreien, aber es gelingt nicht. Fast jede Nacht hat er Alpträume in denen er Szenen der Folterungen in verzerrter Form wieder erlebt. Der Onkel berichtet, dass der Patient seit über einem Jahr häufig gereizt und aufbrausend sei. Der Patient bestätigt das und berichtet von einer grenzenlosen Wut, in der er am liebsten alles zerstören würde.
? Leitfragen 7 Könnte es sein, dass der Patient die Symptome vortäuscht, damit sein Antrag auf politisches Asyl in Deutschland positiv entschieden wird? 7 Welche Vorurteile lösen solche Patienten aus? 7 Sind die Schilderungen des Patienten glaubhaft? 7 Warum tritt die Symptomatik erst nach einer Latenzzeit auf? 7 Was sind die weiteren Behandlungsschritte?
Falldiskussion Die Schilderungen des Patienten erschienen dem Hausarzt sehr glaubhaft. Der Patient kam zunächst wegen seinen Schlafstörungen, später wegen seinen Rückenschmerzen in die Sprechstunde. Er hat nie von sich aus um ein ärztliches Attest wegen seines Asylverfahrens gebeten. In dem ersten längeren Gespräch war er zunächst eher misstrauisch und erlebte manche Fragen des Arztes als quälend. Der Arzt selbst musste sich sehr bemühen, das Gespräch so zu gestalten, dass es nicht zu einer Retraumatisierung führte. Offensichtlich hatte der Patient große Teile seiner Erlebnisse verdrängt. Nach seiner Flucht in die BRD hatte er zunächst keine Möglichkeiten über die Foltererfahrungen zu sprechen, zudem waren die erlittenen Demütigungen auch sehr mit Scham besetzt. Eine frühzeitige Behandlung der psychischen Traumatisierung hätte wahrscheinlich eine Chronifizierung vermieden.
! Diagnose Verzögerte posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1).
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Kapitel 15 · Übungsfälle – Vom Symptom zu Diagnose und Therapie
Therapie und Verlauf Der Patient wurde an eine psychotherapeutische Beratungsstelle für Ausländer vermittelt und nahm dort an einer spezifischen Traumatherapie teil (7 Kap. 11, Posttraumatische Belastungsstörung). Nach einem halben Jahr ließen die Symptome langsam nach und er konnte wieder mehr am sozialen Leben teilnehmen. Zwischenzeitlich wurde auch sein Asylantrag positiv beschieden.
Anhang A1
Fort- und Weiterbildung in Psychosomatischer Medizin und Psychotherapie – 251
A2
Internationale Klassifikation psychischer Störungen nach ICD-10 Kapitel V (F) – 259
A3
Glossar
– 263
A1 A1 Fort- und Weiterbildung in Psychosomatischer Medizin und Psychotherapie 1.1
Psychosomatische Grundversorgung
1.2
Fachgebundene Zusatzbezeichnung Psychotherapie – 252
1.2.1
Grundorientierung tiefenpsychologische/ psychodynamische Psychotherapie
– 252
– 253
1.2.2
Grundorientierung Verhaltenstherapie
– 253
1.3
Zusatzbezeichnung Psychoanalyse
1.4.
Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie – 255
– 254
252
A · Anhang
Im Mai 2003 wurde vom 106. Deutschen Ärztetag die neue Muster-Weiterbildungsordnung verabschiedet. Zu den allgemeinen Bestimmungen der Weiterbildung gehören Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten in 4 der ärztlichen Gesprächsführung einschließlich der Beratung von Angehörigen, 4 den psychosomatischen Grundlagen, 4 den psychosozialen, umweltbedingten und interkulturellen Einflüssen auf die Gesundheit.
1.1
Psychosomatische Grundversorgung
Die Psychosomatische Grundversorgung wird Pflichtkurs für den neu eingeführten Facharzt »Innere Medizin und Allgemeinmedizin« (Hausarzt) und für den Facharzt »Frauenheilkunde und Geburtshilfe«. Der Kurs umfasst 50 Stunden Theorie und Interventionstechniken und 30 Stunden Balint-Gruppe. Die Qualifikation in Psychosomatischer Grundversorgung kann von allen Fächern als Fortbildung freiwillig erworben werden. Sie berechtigt dann in der ambulanten Versorgung zur Abrechnung bestimmter Ziffern der Psychotherapierichtlinien. Eine curriculare Fortbildung gibt es auch für Sexualmedizin und suchtmedizinische Grundversorgung.
1.2
Fachgebundene Zusatzbezeichnung Psychotherapie
Die Zusatz-Weiterbildung fachgebundene Psychotherapie umfasst in Ergänzung einer Facharztkompetenz, z. B. Allgemeinmedizin, Frauenheilkunde und Geburtshilfe oder Kinderheilkunde, die Vorbeugung, Erkennung und psychotherapeutische indikationsbezogene Behandlung von Erkrankungen des jeweiligen Gebietes, die durch psychosoziale Faktoren und Belastungsreaktionen mitbedingt sind. Die Weiterbildung erfolgt entweder in der Grundorientierung tiefenpsychologisch/psychodynamisch fundierte Psychotherapie oder in Verhaltenstherapie.
253 A1 · Fort- und Weiterbildung
A1
1.2.1 Grundorientierung tiefenpsychologische/
psychodynamische Psychotherapie Theoretische Weiterbildung 100 Stunden in Entwicklungspsychologie und Persönlichkeitslehre, Psychopharmakologie, allgemeine und spezielle Neurosenlehre, Tiefenpsychologie, Lernpsychologie, Psychodynamik der Familie und Gruppe, Psychopathologie, Grundlagen der psychiatrischen und psychosomatischen Krankheitsbilder, Einführung in die Technik der Erstuntersuchung, psychodiagnostische Testverfahren. Indikation und Methodik der psychotherapeutischen Verfahren. 16 Doppelstunden autogenes Training oder progressive Muskelentspannung oder Hypnose. 20 Doppelstunden Balint-Gruppenarbeit.
Diagnostik 10 dokumentierte und supervidierte Erstuntersuchungen.
Behandlung 15 Doppelstunden Fallseminar. 120 Stunden tiefenpsychologische/psychodynamische supervidierte Psychotherapie, davon 3 abgeschlossene Fälle.
Selbsterfahrung 75 Stunden Einzelselbsterfahrung oder 50 Doppelstunden Gruppen-Selbsterfahrung.
1.2.2 Grundorientierung Verhaltenstherapie
Theoretische Weiterbildung 100 Stunden in psychologischen Grundlagen des Verhaltens und des abweichenden Verhaltens, allgemeine und spezielle Neurosenlehre, Lern- und sozialpsychologische Entwicklungsmodelle, tiefenpsychologische Entwicklungs- und Persönlichkeitsmodelle, systemische Familien- und Gruppenkonzepte, allgemeine und spezielle Psychopathologie und Grundlagen der psychiatrischen Krankheitsbilder, Motivations-, Verhaltens-, Funktions- und Bedingungsanalysen als Grundlagen für Erstinterview, Therapieplanung und -durchführung,
254
A · Anhang
Verhaltensdiagnostik einschließlich psychodiagnostischer Testverfahren. 10 Doppelstunden Entspannungsverfahren (autogenes Training, JacobsonTraining). Indikation und Methodik der psychotherapeutischen Verfahren.
Behandlung 120 Stunden supervidierte Verhaltenstherapie, davon 3 abgeschlossene Fälle.
Selbsterfahrung 50 Stunden Einzel- bzw. Gruppenselbsterfahrung.
1.3
Zusatzbezeichnung Psychoanalyse
Definition Die Zusatzweiterbildung Psychoanalyse umfasst in Ergänzung zu einer Facharztkompetenz die Erkennung und psychoanalytische Behandlung von Krankheiten und Störungen, denen unbewusste seelische Konflikte zugrunde liegen einschließlich der Anwendung in der Prävention und Rehabilitation sowie zum Verständnis unbewusster Prozesse in der Arzt- Patienten-Beziehung.
Weiterbildungsziel Ziel der Zusatz-Weiterbildung ist die Erlangung der fachlichen Kompetenz in Psychoanalyse nach Ableistung der vorgeschriebenen Weiterbildungszeiten und Weiterbildungsinhalte sowie der Weiterbildungskurse.
Voraussetzung zum Erwerb der Bezeichnung Facharztanerkennung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Psychiatrie und Psychotherapie oder Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.
Weiterbildungsinhalt Die Weiterbildung erfolgt kontinuierlich und besteht aus den drei aufeinander bezogenen Teilen Lehranalyse, Vermittlung theoretischer Kenntnisse sowie Untersuchung und Behandlung. Lehranalyse: 250 Einzelstunden in mindestens 3 Einzelstunden pro Woche, während der gesamten Weiterbildung.
255 A1 · Fort- und Weiterbildung
A1
Theoretische Weiterbildung 240 Stunden in Seminarform einschließlich Fallseminare. Epidemiologie, Psychodiagnostik (Testpsychologie). Entwicklungspsychologie, Traumlehre, allgemeine und spezielle Krankheitslehre einschließlich psychiatrischer und psychosomatischer Krankheitsbilder, Untersuchungs- und Behandlungstechnik, Diagnostik einschließlich differenzialdiagnostischer Erwägungen zur Abgrenzung von Psychosen, Neurosen und körperlich begründeten psychischen Störungen. Indikationsstellung und prognostische Gesichtspunkte verschiedener Behandlungsverfahren einschließlich präventive und rehabilitative Aspekte. Kulturtheorie und analytische Sozialpsychologie.
Untersuchung und Behandlung 20 supervidierte und dokumentierte psychoanalytische Untersuchungen mit nachfolgenden Sitzungen zur Beratung oder zur Einleitung der Behandlung. Kontinuierliche Teilnahme an einem kasuistischen Seminar zur Behandlungstechnik. 600 dokumentierte psychoanalytische Behandlungsstunden, darunter 2 Behandlungen von mindestens 250 Stunden, supervidiert nach jeder vierten Sitzung. Regelmäßige Teilnahme an einem begleitenden Fallseminar.
1.4
Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Definition Das Gebiet Psychosomatische Medizin und Psychotherapie umfasst die Erkennung, psychotherapeutische Behandlung, Prävention und Rehabilitation von Krankheiten und Leidenszuständen, an deren Verursachung psychosoziale und psychosomatische Faktoren einschließlich dadurch bedingte körperlich-seelischer Wechselwirkungen maßgeblich beteiligt sind.
Weiterbildungsziel Ziel der Weiterbildung im Gebiet Psychosomatische Medizin und Psychotherapie ist die Erlangung der Facharztkompetenz nach Ableistung der vorgeschriebenen Weiterbildungszeiten und Weiterbildungsinhalte.
256
A · Anhang
Weiterbildungszeit 60 Monate bei einem Weiterbildungsbefugten an einer Weiterbildungsstätte gemäß §5 Abs. 1 Satz 1 davon 4 12 Monate in Psychiatrie und Psychotherapie, davon können 6 Monate Kinder –und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie angerechnet werden. 4 12 Monate im Gebiet der Innere Medizin und Allgemeinmedizin, davon können 6 Monate in den Gebieten der unmittelbaren Patientenversorgung angerechnet werden. 4 können bis zu 24 Monate im ambulanten Bereich abgeleistet werden.
Weiterbildungsinhalt Erwerb von Kenntnissen, Erfahrungen und Fertigkeiten in der Prävention, Erkennung, psychotherapeutischer Behandlung und Rehabilitation psychosomatischer Erkrankungen und Störungen einschließlich Familienberatung, Sucht- und Suizidprophylaxe, der praktischen Anwendung von wissenschaftlich anerkannten Psychotherapieverfahren, der Indikationsstellung zu sozialtherapeutischen Maßnahmen, der Erkennung und Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter, den Grundlagen der Erkennung und Behandlung innerer Erkrankungen, die einer psychosomatischen Behandlung bedürfen, der psychiatrischen Anamnese und Befunderhebung, der gebietsbezogenen Arzneimitteltherapie unter besonderer Berücksichtigung der Risiken des Arzneimittelmissbrauchs, der Erkennung und psychotherapeutischen Behandlung von psychogenen Schmerzsyndromen, den Grundlagen in der Verhaltenstherapie und psychodynamisch/tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. 16 Doppelstunden autogenes Training und progressive Muskelentspannung oder Hypnose. 10 Fälle Durchführung supportiver und psychoedukativer Therapien bei somatisch Kranken. 10 Kriseninterventionen unter Supervisionen. 35 Doppelstunden Balint-Gruppenarbeit bzw. interaktionsbezogene Fallarbeit. 20 Fälle psychosomatisch-psychotherapeutische Konsiliar- und Liaisonarbeit.
Theorievermittlung 240 Stunden in psychodynamischer Theorie (Konfliktlehre, Ich-Psychologie, Objektbeziehungstheorie, Selbstpsychologie), Entwicklungspsychologie, Psychotraumatologie, Bindungstheorie,
257 A1 · Fort- und Weiterbildung
A1
allgemeiner und spezieller Psychopathologie, psychiatrischer Nosologie, allgemeiner und spezieller Neurosen und Persönlichkeitslehre und Psychosomatik, theoretischen Grundlagen in der Sozial- und Lernpsychologie sowie allgemeiner und spezieller Verhaltenslehre zu Pathogenese und Verlauf, psychodiagnostischen Testverfahren und Verhaltensdiagnostik, Dynamik der Paarbeziehungen, der Familie und der Gruppe einschließlich systemische Theorien, theoretischen Grundlagen der psychoanalytisch begründeten und verhaltenstherapeutischen Psychotherapiemethoden, Konzepten der Bewältigung von somatischen Erkrankungen sowie Technik der psychoedukativen Verfahren, Prävention, Rehabilitation, Krisenintervention, Suizid- und Suchtprophylaxe, Organisationspsychologie und Familienberatung.
Diagnostik Die Weiterbildungsinhalte werden kontinuierlich an einer anerkannten Weiterbildungseinrichtung oder im Weiterbildungsverbund erworben. 100 dokumentierte und supervidierte Untersuchungen (psychosomatische Anamnese einschließlich standarisierter Erfassung von Befunden, analytisches Erstinterview, tiefenpsychologisch-biographische Anamnese, Verhaltensanalyse, strukturierte Interviews und Testdiagnostik).
Behandlung 1500 Stunden Behandlungen und Supervision nach jeder vierten Stunde (Einzel- und Gruppentherapie einschließlich traumaorientierter Psychotherapie, Paartherapie einschließlich Sexualtherapie sowie Familientherapie) bei mindestens 40 Patienten aus dem gesamten Krankheitsspektrum des Gebietes mit besonderer Gewichtung der psychosomatischen Symptomatik unter Einschluss der Anleitung zur Bewältigung somatischer und psychosomatischer Erkrankungen und Techniken der Psychoedukation. Von den 1500 Behandlungsstunden sind wahlweise in einer der beiden Grundorientierungen abzuleisten 4 in den psychodynamischen/tiefenpsychologischen Behandlungsverfahren
258
A · Anhang
6 Einzeltherapien über 50–120 Stunden pro Behandlungsfall 6 Einzeltherapien über 25–50 Stunden pro Behandlungsfall 4 Kurzzeittherapien über 5–25 Stunden pro Behandlungsfall 2 Paartherapien über mindestens 10 Stunden 2 Familientherapien über 5–25 Stunden 100 Sitzungen Gruppenpsychotherapien mit 6–9 Patienten oder 4 in verhaltenstherapeutischen Verfahren 10 Langzeittherapien mit 50 Stunden 10 Kurzzeitverhaltenstherapien mit insgesamt 200 Stunden 4 Paar- oder Familientherapien 6 Gruppentherapien (differente Gruppen wie indikative Gruppen oder Problemlösungsgruppe), davon ein Drittel auch als Co-Therapie. Selbsterfahrung in der gewählten Grundorientierung wahlweise 4 150 Stunden psychodynamische/tiefenpsychologische oder psychoanalytische Einzelselbsterfahrung und 70 Doppelstunden Gruppenselbsterfahrung oder 4 70 Doppelstunden verhaltenstherapeutische Selbsterfahrung einzeln oder in der Gruppe. Die Weiterbildungsinhalte werden kontinuierlich an einer anerkannten Weiterbildungseinrichtung oder im Weiterbildungsverbund erworben. Weitere Informationen zur Fort- und Weiterbildung sind bei den Landesärztekammern der Bundesländer erhältlich. Informationen über den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und den Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und – psychotherapie finden sich in den Lehrbüchern der Psychiatrie.
A2 A2 Internationale Klassifikation psychischer Störungen nach ICD-10 Kapitel V (F) herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisation
260
A · Anhang
Diese Übersicht ist gegenüber dem Original aus Gründen der Übersichtlichkeit gekürzt. F3 F 30 F 31 F 32
F 33 F 34
F4 F 40
F 41
F 42 F 43
F 44
Affektive Störungen manische Episode bipolare affektive Störung depressive Episode F 32.0 leichte depressive Episode F 32.1 mittelgradige depressive Episode F 32.2 schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome F 32.3 schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen rezidivierende depressive Störungen anhaltende affektive Störungen F 34.1 Dysthymia Neurotische-, Belastungs- und somatoforme Störungen phobische Störung F 40.0 Agoraphobie F 40.1 soziale Phobien F 40.2 spezifische (isolierte) Phobien sonstige Angststörungen F 41.0 Panikstörung (episodisch paroxysmale Angst) F 41.1 generalisierte Angststörung F 41.2 Angst und depressive Störung, gemischt Zwangsstörung Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen F 43.0 akute Belastungsreaktion F 43.1 posttraumatische Belastungsstörung F 43.2 Anpassungsstörungen F 43.20 kurze depressive Reaktion F 43.21 verlängerte depressive Reaktion F 43.22 Angst und depressive Reaktion, gemischt dissoziative Störungen (Konversionsstörungen) F 44.0 dissoziative Amnesie F 44.1 dissoziative Fugue F 44.2 dissoziativer Stupor
261 A2 · Internationale Klassifikation
F 45
F 48
F5 F 50
F 51 F 52 F 54 F 55 F6 F 60
A2
F 44.3 Trance und Besessenheitszustände F 44.4 dissoziative Bewegungsstörungen F 44.5 dissoziative Krampfanfälle F 44.6 dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen somatoforme Störungen F 45.0 Somatisierungsstörung F 45.1 undifferenzierte Somatisierungsstörung F 45.2 hypochondrische Störung F 45.3 somatoforme autonome Funktionsstörung F 45.30 Herz- und Kreislaufsystem F 45.31 oberes Verdauungssystem F 45.32 unteres Verdauungssystem F 45.33 Atmungssystem F 45.34 Urogenitalsystem F 45.4 anhaltende somatoforme Schmerzstörung sonstige neurotische Störungen F 48.0 Neurasthenie F 48.1 Depersonalisations-, Derealisationssyndrom Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen und Faktoren Essstörungen F 50.0 Anorexia nervosa F 50.2 Bulimia nervosa F 50.4 Essattacken bei sonstigen psychischen Störungen F 50.5 Erbrechen bei psychischen Störungen F 50.8 sonstige Essstörungen nichtorganische Schlafstörungen sexuelle Funktionsstörungen, nicht bedingt durch eine organische Störung oder Krankheit psychische Faktoren und Verhaltenseinflüsse bei anderorts klassifizierten Krankheiten Missbrauch von nicht abhängigkeitserzeugenden Substanzen Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen Persönlichkeitsstörungen F 60.0 paranoide
262
A · Anhang
F 60.1 schizoide F 60.2 dissoziale F 60.3 emotional instabile F 60.30 impulsiver Typ F 60.31 Borderline-Typ F 60.4 histrionische F 60.5 anankastische F 60.6 ängstliche (vermeidende) F 60.7 abhängige F 60.8 sonstige (narzisstische)
A3 A3
Glossar
264
A · Anhang
A Abwehrmechanismen Vorgänge, mit denen Unlustgefühle wie z. B. Angst gemildert oder vermieden werden. Diese Vorgänge laufen unbewusst ab. Beispiele sind: Verdrängung, Verlagerung eigener Vorstellungen und Wünsche in die Außenwelt z. B. in andere Menschen (Projektion), logische Erklärung einer Handlung oder eines Gefühls, damit das eigene Motiv nicht erkannt wird (Rationalisierung), Ersetzung einer Vorstellung durch eine andere (Verschiebung), Ungeschehenmachen, Verleugnung. Affekte Kurz andauernde, stark ausgeprägte Emotionen, meist von psycho-
vegetativen Körperreaktionen begleitet. Ambivalenz Gleichzeitige Anwesenheit einander entgegengesetzter Bestrebungen, Haltungen und Gefühle. Anamnesegruppe, studentische Anamnesegruppen sind freiwillige Gruppen, in denen Medizin- und Psychologiestudenten das ärztliche Gespräch und den Umgang mit Patienten erlernen können. Die Gruppen sind selbst organisiert und werden von Tutoren geleitet. Attribution Häufig im Zusammenhang mit dem Begriff »Kausalattribution« verwendet. Damit ist eine Ursachenzuschreibung gemeint, also die Frage welche subjektiven Theorien der Patient hinsichtlich seiner Krankheitsentstehung und -aufrechterhaltung hat. Zum Beispiel hat ein somatisierender Patient mit Oberbauchschmerzen trotz offensichtlicher psychosozialer Konflikte die Überzeugung, dass seine Beschwerden durch eine noch nicht erkannte Durchblutungsstörung verursacht sind.
B Balint-Gruppe Eine Balint-Gruppe setzt sich aus 8-12 Teilnehmern zusammen.
Der Gruppenleiter ist Psychotherapeut. Ein Teilnehmer beschreibt die Begegnung mit einem Patienten und die daraus entstandene Problematik. Nach dem Bericht geben die Teilnehmer ihre bei der Schilderung des Falles aufgetretenen Gedanken, Gefühle, Phantasien und auch Körperwahrnehmungen wieder. Hieraus entsteht ein komplexes Bild der Arzt-Patient-Beziehung. Schwierige Interaktionsmuster werden deutlich, sodass sich neben diagnostischen Einsich-
265 A3 · Glossar
A3
ten auch konkrete neue Ideen für eine veränderte Gestaltung der Arzt-PatientBeziehung entwickeln lassen. Der referierende Teilnehmer bekommt Anregungen für eine neue Sichtweise. Die Balint-Gruppe bietet den Teilnehmern einerseits ein Stück Selbsterfahrung, andererseits einen erweiterten Blick auf den Patienten und seine Krankheit. Biofeedback Apparative Rückmeldung von Körperfunktionen, die normalerweise nicht der bewussten Wahrnehmung oder Kontrolle zugänglich sind, z. B. Herzfrequenz, Blutdruck, Hauttemperatur, Atemfrequenz, Gehirnstromwellen. Dadurch ist z. B. im Rahmen von Entspannungsübungen eine bewusste Wahrnehmung und Änderung möglich. Bio-psychosoziales Modell Bio-psychosoziale Modelle sind Ordnungssche-
mata für das hochkomplexe Wechselspiel zwischen Zellen, Geweben, Organen, Organsystemen und dem Organismus sowie den ständigen psychischen und sozialen Einflüssen und Gefahren, denen der Organismus ausgesetzt ist. Ausgehend von den Konzepten der Systemtheorie (siehe dort) wird ein hierarchisch gegliedertes Schema des Gesamtorganismus postuliert, das aus unterschiedlichen Subsystemebenen besteht, im Sinne verschiedener Integrationsebenen, zwischen denen ständige Aufwärts- und Abwärtseffekte im Sinne eines komplexen Zeichenaustausches erfolgt. Jede Subsystemebene bzw. Integrationsebene besitzt ihre eigenen Zeichensysteme, sodass die Verbindungen zwischen den Ebenen als Übersetzungsprozesse im Sinne von Bedeutungskopplungen bzw. Konditionierungen erfolgen, die sich nur aufgrund der individuellen Biografie verstehen lassen. Burn-Out-Syndrom Bezeichnet einen Zustand des Ausgebranntseins, vor allem bei Menschen in sozialen Berufen. Die Betroffenen reagieren resigniert, hoffnungslos, hilflos, zeigen keine Begeisterung mehr für die Arbeit und keine Lebensfreude. Sie neigen zu einer Reihe von psychosomatischen Beschwerden wie Kopf- und Rückenschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden und chronischer Müdigkeit.
C Coping Unter Coping versteht man einen aktiven Prozess der Auseinandersetzung des Patienten mit seiner Krankheit. Er umfasst alle kognitiven Aktivitäten
266
A · Anhang
und Verhaltensmaßnahmen, um die körperliche und psychische Integrität zu wahren, geschädigte Funktionen wiederherzustellen und möglichst weitgehend jede irreversible Behinderung zu kompensieren. Es ist ein Selbstschutz, um Gefühle der Bedrohung und der Selbstwertbeeinträchtigung unter Kontrolle und in akzeptablen Grenzen zu halten. Der Ausgang einer Erkrankung oder einer Lebenskrise wird mitbestimmt durch die Bewältigungsmöglichkeiten (Coping-Mechanismen), die einem Menschen in einer bestimmten Situation zur Verfügung stehen. Es gibt empirische Hinweise, dass bestimmte CopingMechanismen positive oder negative Einflüsse auf den Krankheitsverlauf haben.
D DSM-IV (Diagnostic and statistical manual of mental disorder) International anerkanntes Handbuch zur Beschreibung und Diagnose psychischer Störungen. Herausgegeben von der American Psychiatric Association. Dysfunktionale Kognitionen Kognitionen, die die psychische und körperliche Gesundheit bzw. das Wohlbefinden beeinträchtigen. Denkstörungen finden sich vor allem bei Depressionen, Schizophrenien und hirnorganischen Erkrankungen.
E Episodisches Gedächtnis Das episodische Gedächtnis ist für viele unserer Er-
innerungen an Lebensereignisse zuständig, der erste Schultag, der erste Kuss. Empathie Erkennen und Verstehen der Gedanken und Gefühle anderer. Die
Fähigkeit, sich zumindest partiell in einen anderen Menschen hinein zu versetzen oder einzufühlen. Evidenzbasierte Medizin (Evidence Based Medicine, EBM) Unter evidenzbasierter Medizin (EBM) oder evidenzbasierter Praxis im engeren Sinne versteht man eine Vorgehensweise des medizinischen Handelns individuelle Patienten auf der Basis der besten zur Verfügung stehenden Daten zu versorgen. Diese Technik umfasst die systematische Suche nach der relevanten Evidenz in der medizinischen Literatur für ein konkretes klinisches Problem, die kritische
267 A3 · Glossar
A3
Beurteilung der Validität der Evidenz nach klinisch-epidemiologischen Gesichtspunkten; die Bewertung der Größe des beobachteten Effekts sowie die konkrete Anwendung dieser Evidenz auf den einzelnen Patienten mit Hilfe der klinischen Erfahrung und der Vorstellungen des Patienten.
F Feedback Rückmeldung über Verhalten oder sprachliche Äußerungen in be-
schreibender, nicht wertender Art und Weise, die dem Patienten oder Teilnehmer einer Gruppe die Möglichkeit einer Verhaltenskorrektur offen lässt.
G Gegenübertragung Das Verhalten des Patienten erzeugt beim Arzt eine Ge-
genreaktion. Es handelt sich dabei um dem Arzt zunächst nicht verständliche Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen auf das Übertragungsangebot des Patienten, z. B. für ihn zu sorgen, ihn zu bewundern oder ihn zurückzuweisen. Diese Reaktionen haben wiederum ihre Wurzeln in unbewussten Konflikten des Arztes. Genogramm Die grafische Darstellung einer über mehrere Generationen rei-
chenden Familienkonstellation. Sie zeigt die Position in der Geschwisterreihe, welche die Eltern in ihren eigenen Herkunftsfamilien hatten, sowie die, welche der Index-Patient in seiner Familie einnimmt. Todesfälle, Krankheiten, Symptome aber auch soziale Daten wie Beruf usw. lassen sich jeweils übersichtlich einordnen und ermöglichen insgesamt einen guten Überblick über das familiäre System als Voraussetzung für die Bildung familiendynamischer Hypothesen.
I ICD-10 (International Classification of Diseases) Internationale Klassifikation der Krankheiten, herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Implizites Gedächtnis Die dem Menschen selbst nicht bewusste Erinnerung.
Sie beeinflusst unser tägliches Verhalten und unsere emotionalen Reaktionen. Empfindungen gegenüber Wörtern oder Bildern existieren auf emotionaler
268
A · Anhang
Ebene unabhängig von einer Erinnerung im konventionellen Sinne. Gefühle können vollständig auf implizierter Erinnerung basieren. Weitgehend identisch mit dem Unbewussten (siehe dort). Informed Consent Zustimmung des Patienten nach ausführlicher Aufklärung
über die Therapie und die zu erwartenden Nebenwirkungen. Interaktion Im interpersonellen Kontext Bezeichnung für ein gemeinsa-
mes oder gegenseitig beeinflussendes Verhalten im Sinne einer Wechselwirkung.
K Kognition Alle mentalen Prozesse, die mit Wahrnehmen, Vorstellen, Gedächt-
nis, Lernen, Denken und Urteilen zusammenhängen. Kognitive Umstruktierung Neubewertung (siehe auch Reattribution). Liegen
einer Angststörung verzerrte Wahrnehmungen und Interpretationen zugrunde, kann versucht werden, dies durch geeignete Übungen zu korrigieren. Gedanklich werden alternative Erklärungen, Sichtweise und Schlussfolgerungen für ein Problem gesucht. Angstpatienten mit Neigung zum Katastrophisieren lernen eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Folgen der befürchteten »Katastrophe«. Themen für eine kognitive Umstrukturierung können sein: 4 Die Fehlinterpretationen von körperlichen Symptomen, z. B. bei Somatisierung; 4 die falsche Interpretation von Verhaltensweisen anderer (»Die lachen über mich.«), z. B. bei der sozialen Phobie; 4 Einstellungen wie »Nur wenn ich für andere da bin, mich unentbehrlich mache, werde ich geliebt« bei Menschen mit depressiver Symptomatik. Konditionierung Lernprinzip der klassischen Verhaltenslehre: Verknüpfung von Reiz und Reaktion (klassische Konditionierung) oder von Reaktion und Konsequenz (operante Konditionierung) Konflikt In einem Menschen stehen sich grundsätzlich nicht miteinander verträgliche Forderungen gegenüber. Grund für die Ausbildung neurotischer Verhaltensweisen ist ein Konflikt zwischen einem starken Wunsch libidinöser oder
269 A3 · Glossar
A3
aggressiver Art und der Abwehr des Wunsches aus Angst vor Bestrafung oder Unvereinbarkeit mit dem eigenen Wertesystem. Konversion Ein psychischer Konflikt wird in ein körperliches Symptom »konvertiert«. Das Symptom hat dabei symbolischen Charakter und stellt auf unbewusste Weise einen Teil des inneren Konfliktes dar.
P Passung Der Mensch konstruiert sich aus seiner Umgebung, die zu seinen Bedürfnissen und Verhaltensmöglichkeiten passende Umwelt. Diese Konstruktion einer passenden subjektiven Umwelt ist die Voraussetzung für körperliche, seelische und soziale Gesundheit und Wohlbefinden. Passungsstörung und Passungsverlust Durch Veränderung des menschli-
chen Organismus, z. B. durch Krankheit, oder Veränderung oder Zerstörung der Umwelt geht die Passung verloren. Es entstehen körperliche und/oder seelische Symptome als Folge einer ungenügenden Befriedigung emotionaler Grundbedürfnisse. Ziel der ärztlichen Behandlung ist die Wiederherstellung einer Passung zwischen dem Patienten mit seinem widersprüchlichen inneren Konflikten und seiner Umwelt. Beispielhaft geschieht dies in einer verständnisvollen empathischen Arzt-Patient-Beziehung. Prozedurales Gedächtnis Das prozedurale Gedächtnis ist für die Speicherung
unserer Fähigkeiten wie Fahrradfahren, Schwimmen, Autofahren oder anderer Bewegungsabläufe zuständig. Psychoanalyse Die Psychoanalyse ist eine von Sigmund Freud begründete Disziplin, in der man zwei Ebenen unterscheiden kann: 1. Eine Methode zur Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum dem Bewusstsein zugänglich sind. Die Methode besteht vor allem darin, die unbewusste Bedeutung von Sprechen, Handlungen, Träumen, Fantasien, psychischen und körperlichen Symptomen herauszustellen. 2. Eine psychotherapeutische Behandlungsmethode, die auf die Untersuchung unbewusster seelischer Anteile begründet ist. Sie ist gekennzeichnet durch die Deutung des Widerstandes gegen die Bewusstwerdung verdrängter schmerzhafter Konflikte, die Deutung der Übertragung und Gegenübertra-
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A · Anhang
gung in der Therapeut-Patient-Beziehung und der Deutung unbewusster Fantasien, wie sie sich zum Beispiel im Traum zeigen. »Die Arbeit, durch welche wir dem Kranken das verdrängte Seelische in ihm zum Bewusstsein bringen, haben wir Psychoanalyse genannt« (Sigmund Freud). Psychobiologie Psychobiologie ist eine eigenständige, interdisziplinäre Forschungsrichtung, die das Zusammenspiel von Gehirn und Verhalten untersucht, z. B. die biologischen Grundlagen von emotionalen Stimmungen wie Aggressivität, Angst, Freude oder Trauer, die Grundlagen der Lernfähigkeit, des Sexualverhaltens, des Schmerzempfindens, der Stressreaktionen und auch die Zusammenhänge zwischen psychischen und körperlichen Prozessen bei psychischen Erkrankungen. Sie wird verstanden als eine Synthese von Neurobiologie, Physiologie, Verhaltensbiologie, Evolutionsforschung, Genetik, Molekularbiologie, Psychologie und Ethnologie. Berührungspunkte bestehen zur Kybernetik, zur Kognitionsforschung und zur Philosophie. Psychodynamische Psychotherapie Im anglo-amerikanischen Sprachraum
werden die Therapieformen, die auf der Psychoanalyse und ihren Weiterentwicklungen gründen, als psychodynamische Psychotherapie bezeichnet. Wie in der Psychoanalyse (siehe dort) bestehen die Behandlungsprinzipien in einer Bearbeitung lebensgeschichtlich begründeter unbewusster Konflikte und krankheitswertiger psychischer Störungen in einer therapeutischen Beziehung unter besonderer Berücksichtigung von Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand. Dabei wird je nach Verfahren stärker im Hier und Jetzt (Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, siehe dort) oder im Dort und Damals gearbeitet. Die Stundeninhalte sind je nach Verfahren strukturierter, z. B Fokussierung auf ein Thema bei begrenzter Stundenzahl oder unstrukturierter, z. B. freie Assoziation. Je nach Problemstellung und Strukturniveau des Patienten setzt der Therapeut eine stärkere aktive oder eher zurückhaltende Interventionstechnik ein. Psychoedukation Strukturierte Informationsvermittlung zum Abbau problematischen Verhaltens, Besserung der Compliance und der Symptomreduktion. Zum Beispiel sollten alle Patienten mit der Diagnose einer Tumorerkrankung über psychosoziale Belastungen und entsprechende Behandlungsangebote informiert werden. Erklärung von Zusammenhängen zwischen psychischen Belastungen und körperlichen Reaktionen erhöhen die Psychotherapiemotivation
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von somatisierenden Patienten. Patienten mit einem Herzinfarkt profitieren von Information und Beratung über Abbau von somatischen und psychosozialen Risikofaktoren. Psychophysiologie Zusammenhänge zwischen physiologischen Prozessen und dem Verhalten, Befinden, der Wahrnehmung und den Emotionen, z. B. bewirkt Angst eine erhöhte Sympathikusaktivität und einen Blutdruckanstieg. Damit verbunden tritt subjektiv Herzrasen, Druck in der Brust, Schwindel und Atemnot auf, was wiederum die Angst verstärkt. Psychotherapie Krankenbehandlung mit psychologischen Mitteln, im We-
sentlichen durch Gespräche, mit dem Ziel der Verminderung von Störungen und der positiven Beeinflussung der Erlebens und Verhaltens. Psychotherapeut Experte in der berufsmäßigen Ausübung von Psychotherapie. Grundberufe sind die Medizin (ärztlicher Psychotherapeut), Psychologie (psychologischer Psychotherapeut) und je nach Staat und Spezialisierung andere Grundberufe (Pädagogen, Theologen usw.).
R Reattribution Die subjektive Sicht eines Patienten über die Entstehung seiner Beschwerden kann förderlich oder hemmend für den Behandlungsprozess sein. Es ist sinnvoll, eine langsame und vorsichtige Modifikation von subjektiven Krankheitsvorstellungen, z. B. von einer somatischen Attribution, zu einer mehr psychosozialen Attribution anzubieten. Reframing Reframing bedeutet wörtlich umdeuten, etwas in einen anderen Rahmen stellen. Es ist die Fähigkeit, ein Verhalten oder eine Situation aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Dadurch werden festgefahrene Positionen um neue Sichtweisen ergänzt. Die Bedeutung einer Handlung oder eines psychischen und körperlichen Symptoms wird flexibel gesehen, Wahlmöglichkeiten nehmen zu und rigide Einstellungen zu einem Problem lösen sich zugunsten einer konstruktiven Haltung auf. Ressourcenaktivierung Ressourcenaktivierung wird als primäres Wirkprinzip
der Psychotherapie verstanden. Sowohl theoretisch als auch empirisch finden
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A · Anhang
sich gute Begründungen dafür, dass der Erfolg einer Psychotherapie vor allem davon abhängt, inwieweit es gelingt, die vom Patient mitgebrachten Ressourcen für die therapeutischen Zwecke zu aktivieren. Die Passung zwischen Patient und therapeutischem Vorgehen sollte sich mehr an den Ressourcen als an den Problemen eines Patienten orientieren. Ressourcenaktivierung bedeutet auch die vom Patienten mitgebrachten Eigenarten eher als Ressourcen, denn als Probleme für die Therapie zu betrachten.
S Salutogenese Im Gegensatz zur Pathogenese (Krankheitsentstehung) bezieht sich die Salutogenese (Gesunderhaltung) auf jene Bedingungen, die dazu führen das Menschen trotz vielfacher Schädigungs-/ und Störfaktoren, denen sie ausgesetzt sind, gesund bleiben können. Zentral für das Salutogenesekonzept ist ein »Sense of Coherence« d. h. das Verstehen eines sinnvollen Zusammenhanges der Lebens und Erlebniswelt. Dieser »Sense of Coherence« ist seinerseits von der Fähigkeit bzw. Überzeugung abhängig, dass 1. äußere und innere Reize strukturiert vorhersagbar und erklärbar sind (Comprehensiblity), 2. Ressourcen für die Bewältigung der hierfür gestellten Anforderungen verfügbar sind (Manageability), 3. diese Anforderungen eine sinnvolle Herausforderung (Meaningfullness) darstellen.
Unter der Voraussetzung, dass ein Betroffener trotz enormer Belastungen und Schädigungen einen sinnvollen Zusammenhang in seinem Leben durch Vorhersagbarkeit der Einwirkungen, durch Mobilisierung von Bewältigungsstrategien und durch das Erleben einer sinnvollen Herausforderung herstellen kann, hat er große Chancen, schwere und schwerste Schädigungen physikalisch/chemischer, biologischer, psychischer und sozialer Herkunft einigermaßen gesund zu überstehen. Schemata, Schematheorie Die Interaktion eines Individuums mit seiner Um-
welt wird durch bestimmte neuronale Erregungsmuster und damit verbundene psychische Prozesse aufgrund bestimmter Vorerfahrungen als neurobiologisch verankert angesehen. Schemata können eine Wahrnehmungsbereitschaft zu bestimmten Denk- und Handlungsmustern oder eine Bereitschaft zu einem
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A3
bestimmten emotionalen Verhalten beinhalten. Nach der Schematheorie ist das Verhalten eines Menschen durch ein komplexes Netzwerk von seelischen, verbalen, emotionalen und motorischen Komponenten gesteuert. Selbstmanagement Der Patient lernt sein Verhalten im Sinne eigener Ziele
selbst zu steuern. Wut, Ärger, Aggressionen werden zunächst wahrgenommen und durch Übungen in zwischenmenschlichen Beziehungen in nicht kränkender und destruktiver Weise ausgedrückt. In Konfliktsituationen lernt er Spannungen auszuhalten und sich zu behaupten. Spiegelneurone Jede Wahrnehmung eines Vorgangs, der bei einem anderen
Menschen abläuft, kann im Gehirn des Beobachters sogenannte Spiegelneurone aktivieren. Mit Methoden wie der funktionellen Kernspintomographie lassen sich diese Spiegelphänomene nachweisen: Menschen, welche die Handlungen anderer beobachten, aktivieren Netzwerke ihrer eigenen Handlungsneurone. Bei ihnen tritt die Resonanz genau in jenen Zellnetzen auf, die auch dann feuern würden, wenn die jeweilige Versuchsperson die entsprechende Handlung selbst ausführen würde. Strukturniveau Gegenwärtiger Entwicklungsstand der Psyche, der sich in der
Art der Ich-Funktionen, z. B. der Abwehr darstellt. Supervision Unterstützung und Hilfestellung in der Diagnostik und Therapie durch einen unabhängigen Fachmann. Systematische Desensibilisierung Therapeutisches Verfahren, bei dem Angst-
patienten sich unter Entspannung zunehmend stärker angstauslösende Reize vorstellen. Durch Kombination der angstauslösenden Reize mit einer Reaktion, die mit Angst unvereinbar ist, z. B. Entspannung, sollen die Angstreaktionen systematisch abgebaut werden. Die angstauslösenden Situationen werden in einer Angsthierarchie nach zunehmender subjektiver Bedrohlichkeit angeordnet. Diese Hierarchie wird dann Schritt für Schritt in aufsteigender Reihenfolge in der Vorstellung vorgegeben, während der Patient sich gleichzeitig entspannt. Systemische Perspektive Gegenstände und Vorgänge werden als Teil eines Ganzen verstanden und sind aufeinander bezogen. Der Beobachter entscheidet,
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A · Anhang
was er als System betrachten und wo er dessen Grenzen sehen will. Die Systemtheorie beschreibt Beziehungen zwischen denen an einer Handlung beteiligten Protagonisten oder Phänomenen. Systeme sind keine statischen Gebilde, sondern Erzeugnisse eines Beobachters, die sich mit seiner Blickrichtung ändern. Systemtheorie Systemtheorie ist ein interdisziplinäres Erkenntnismodell, in dem Systeme zur Beschreibung und Erklärung unterschiedlicher komplexer Phänomene herangezogen werden. Um Vorhersagen über das Verhalten dieser Systeme treffen zu können, werden Strukturen und Funktionen analysiert, wobei die Funktionsweise durch Regelkreisschemata beschrieben wird. In die Systemtheorie fließen Erkenntnisse aus Informatik, Physik, Biologie, Logik, Mathematik, Neurophysiologie, Ethnologie, Soziologie, Symbiotik und Philosophie ein.
T Tiefenpsychologische Psychotherapie Anwendungsform der psychoanalytischen Therapie, die sozialrechtlich als Kassenleistung von analytischer Psychotherapie unterschieden wird. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie unterscheidet sich in Dauer und Frequenz (maximal 100 Stunden, 1–2-mal wöchentlich) von analytischer Psychotherapie (maximal 300 Stunden, bis zu 4-mal wöchentlich). Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie fokussiert auf aktuelle Probleme, oft stützend ohne vertiefte Durcharbeitung aller Persönlichkeitsanteile. Übertragung und Gegenübertragung werden beachtet, aber nur gedeutet, wenn sie den Behandlungsprozess stören.
U Übertragung Die Projektion alter früherer Erfahrungen auf eine Person, der man in der Gegenwart begegnet, z. B. auch in einer psychoanalytischen Behandlung. Dabei kommt es zu Verknüpfungen zwischen den Erfahrungen der Vergangenheit mit den Erlebnissen im Hier und Jetzt, die therapeutisch genutzt werden. Während die Phänomene den Betroffenen bewusst sind, bleiben die Bedeutungen, z. B. was sie in der Übertragung wiederholen, unbewusst. Unbewusste, das Alle psychischen Inhalte, die zunächst nicht dem Bewusst-
sein zugänglich sind. Zum Beispiel werden verdrängte Gedanken, Gefühle und
275 A3 · Glossar
A3
Handlungen im Traum oder in Fehlleistungen sichtbar und können dadurch für den therapeutischen Prozess genutzt werden.
V Verhaltensmedizin Bereich der Medizin, der sich mit der systematischen Anwendung verhaltenspsychologischer Prinzipien in der Medizin befasst. Verhaltenstherapie Methoden und Techniken der experimentellen Lernpsychologie zur Behandlung seelischer und Verhaltensstörungen. Vigilanz Lateinisch vigilantia: Wachheit, Schlauheit. Vigilanz bezeichnet ver-
schiedene Aspekte: 1. Die durchschnittliche Erregungshöhe des zentralen Nervensystems, die sich als quantitative Stufen einer Vigilanzreihe zuordnen lassen und die zwei Pole hat: Auf der einen Seite höchste Erregung, z. B. beim Schreck und auf der anderen Seite traumloser Tiefschlaf. Zwischenstadien sind Entspannung, Dösen, Leichtschlaf mit der räumlich-zeitlichen Orientierung und Traumaktivität. 2. Vigilanz beschreibt aber auch die Fähigkeit des Organismus auf zufällige, schwellennahe, selten auftretende Ereignisse kritisch zu reagieren. Die Vigilanzbestimmung in diesem Sinne geschieht durch Registrierung der Reaktionszeiten und Beobachtungsfehler im Rahmen von Tätigkeiten, die eine andauernde Aufmerksamkeit erfordern.
W Widerstand Das Erkennen von verdrängten Gedanken, Gefühlen und Erlebnissen erregt oft Ängste, Schuld- und Schamgefühle, die mit den Ursprungserfahrungen eines Menschen zusammenhängen. Der Aufdeckung dieser Erfahrungen wird eine unbewusste Abwehrhaltung, der Widerstand, entgegengesetzt.
277
Sachverzeichnis A Ablösungskonflikt 150 Abwehrmechanismen 29–31, 264 Acetylcholin 16 ACTH 15 Adipositas 198–200 – Bewegungstherapie 199 – Definition 198 – Diät 199 – Entstehung 199 – Folgezustände 198 – Häufigkeit 198 – psychosomatische Grundversorgung 199 – Psychotherapie 200 Affektäquivalent 121, 146, 224 Aggression 243–245 Agoraphobie 146, 149 Aids-Phobie 152 Aktivismus, therapeutischer 153 akute Belastungsreaktion 7 Belastungsreaktion, akute Akzeptieren 45 Alkoholmissbrauch 216 Allostase 20 Allparteilichkeit 43 Alopezie 217 Ambivalenz 264 – Unfähigkeit zur 204 Ambulanz, psychotherapeutische 52 Amenorrhö 189 Amitryptilin 142
Anamnese 82–89 – Abschluss 89 – Aggressivität 243 – Angststörungen 231 – Antriebslosigkeit 233 – Begrüßung 85 – depressive Reaktion 237, 238 – Erbrechen 240, 241 – Gesprächsphasen 83–85 – Herzbeschwerden 223 – Magenschmerzen 226 – Medikamenteneinnahme 138 – psychosomatische 136 – psychosoziale 87, 169 – Rückenschmerzen 228, 229 – Schlafstörungen 246 – Schmerz 136, 137 – soziale 137 Androgene 17 Androstendion 17 Angina pectoris 110, 148, 215 Angst – Abbau 40 – Exposition 156 – vor der Angst 156 Angstattacke 7 Panikstörung Angstphantasie 154 Angststörungen 145–158, 231, 232 – Entstehung 147, 148 – generalisierte 151 – Konditionierung 155, 156 – Psychopharmaka 156, 157 – psychosomatische Grundversorgung 152–156
A
278
A · Anhang
Angststörungen – Psychotherapie 157, 158 – Symptome 146 anorektische Reaktion 190 Anorexia nervosa 188–193, 241 – Differenzialdiagnose 190 – Einteilung 190 – Entstehung 191 – Erkennen 191, 192 – Folgezustände 189 – Häufigkeit 190 – Prognose 190 – psychosomatische Grundversorgung 192 – Psychotherapie 193, 194 – Symptome 188, 189, 192 Anorexie – aktive 190 – bulimische 190 – restriktive 190 Anpassungsstörungen 181 Antidepressiva 174 – Angststörungen 157 – antriebsneutrale 174 – antriebssteigernde 174 – Compliance 174 – sedierende 174 – tetrazyklische 167 – trizyklische 167 – – Angststörungen 157 – – chronische Schmerzstörung 143 Antriebslosigkeit 163, 233 Aphonie, funktionelle 218 Apoplex 217 Appell 80, 81 Appetitlosigkeit 164 Appetitzügler-Missbrauch 190
Arthritis, rheumatoide 215 Arzneimittelmissbrauch 256 Arzt – Anforderungen 62 – Persönlichkeit 60 Arzt-Patient-Beziehung 56–59, 152, 153, 199 – Dienstleistungsmodell 57 – partnerschaftliche 57 – paternalistische 56 Assoziation, freie 38 Asthma bronchiale 3, 148 Atemnot 123 Atemtherapie, chronische Schmerzstörung 142 Aufklärungsgespräch, Krebserkrankung 235, 236 Aufmerksamkeit, verminderte 164 Aufmerksamkeitslenkung 142 Auftragsklärung 70, 71 Ausreden lassen 72 autogenes Training – chronische Schmerzstörung 142 – Weiterbildung 253, 256 Autoimmunerkrankungen 15, 22 Autonomie, Stärkung 153 Autonomieprinzip 57
B Balintgruppe 139, 142, 252, 256, 264 Bandscheibenvorfall 120 Bauchschmerzen 123, 166, 215, 216 Befinden, emotionales 137
279 A4 · Sachverzeichnis
Befunderhebung – arztzentrierte Phase 87, 88 – patientenzentrierte Phase 85, 86 Befundmitteilung 89, 90 Behandlungsplanung 88 Belastungsfaktoren – psychosoziale 24, 110, 111, 124 Belastungsreaktion, akute 180 Belastungsstörung, posttraumatische 105, 181, 246–248 – Entstehung 182, 183 – Häufigkeit 182 – Langzeitfolgen 182 – Psychotherapie 184, 185 – Symptome 181 – verzögerte 183, 184 Benzodiazepine, Angststörungen 156 Bewegungstherapie, Adipositas 199 Beziehung, therapeutische 47 Bindung – emotionale 23, 36 – sichere 23, 148 – unsichere 23 Bindungserfahrung 23, 24, 39 Bindungsforschung 7 Bindungsstörungen 205 Bindungsverhalten 23 Bindungsverlust 168 Binge-Eating-Disorder 198–200 Biofeedback 41, 141, 265 Blasenentleerungsstörung 219 Bluthochdruck 147, 215 BMI 188, 192 – über 30 198 – über 40 200 – unter 15 193 Body-mass-Index 7 BMI
Borderline-Störung 206 Brustschmerzen 119, 123, 148 Bulimia nervosa 194–197 – Entstehung 196 – Häufigkeit 196 – psychosomatische Grundversorgung 196, 197 – Psychotherapie 197, 198 – Schuldgefühl 195 – Symptome 194, 195 Burn-out-Syndrom 60, 61, 265
C Chronic Fatigue Syndrom 120 Colitis ulcerosa 215 Colon irritabile 215 Coping 27–31, 265, 266 – Definition 27 – koronare Herzerkrankung 113 – Krebserkrankung 98, 99 Costen-Syndrom 5 CRH 15
D Denken – negatives 41 – starres 204 Denkschema 27 Depersonalisation 121 Depression 6, 15, 161–177 – bei Anorexia nervosa 189
A–D
280
A · Anhang
Depression – Differenzialdiagnose 165 – Entstehung 167–169 – genetische Disposition 167 – Häufigkeit 166 – Klassifikation 163–165 – koronare Herzerkrankung 111, 112 – neurotische 164 – Psychodynamik 168 – Psychopharmaka 173 – psychosomatische Grundversorgung 170, 171 – Psychotherapie 171–173 – Selbstmanagement 171 – Serotonintheorie 167 – Symptome 163, 164 – Verlauf 165 depressive Episode 164 depressive Reaktion 165, 237, 238 depressiver Rückzug 168 Derealisation 121 Desensibilisierung, systematische 40, 154, 273 Diabetes mellitus 215 Diarrhö 119 Diät, Adipositas 199 Diplompsychologe 50 Dissoziation 30 dissoziative Störung 121 Diuretikamissbrauch 190 Drogenmissbrauch 216 Duodenalulkus 215 Dysfunktion, erektile 219 Dyspepsie, funktionelle 215 Dysphonie 218 Dyspnoe 120 Dysthymie 164
E Eheberatungsstelle 52 Eigenverantwortlichkeit 57, 153 Einsamkeit 166 Einsicht, veränderte 47 Einzeltherapie 51 Ekzem, atopisches 217 EMDR-Behandlung 184 Emotion – Spiegeln 76, 77 – Unterdrückung 26 – Verbalisierung 126 Empathie 266 Endorphinausschüttung, Hungern 191 Entfremdungsgefühl 121, 148 Entspannungsverfahren 130, 142, 143 Entwicklungspsychologie 255, 256 Enuresis 216 Epidemiologie 9, 255 Episode – depressive 164 – manische 164 Erbrechen 240, 241 – selbst induziertes 241 Ermüdbarkeit, erhöhte 163 Erschöpfung 112, 123 Erschöpfungssyndrom, chronisches 15 Erstickungsgefühl 148 Erwartungsangst 156 Essgruppe 194 Essstörungen 187–200, 215, 216 – Einteilung 261
281 A4 · Sachverzeichnis
Esstagebuch 197 Essverhalten, Normalisierung 194 Evidence Based Medicine 8 – Definition 266 – patientenzentrierte Gesprächsführung 90 – Psychotherapie 53 – – bei Angststörungen 158 – – bei Depressionen 177 – – bei Essstörungen 200 – – bei koronare Herzerkrankung 115 – – bei Krebserkrankungen 107 – – bei Persönlichkeitsstörungen 212 – – bei posttraumatischer Belastungsstörung 185 – – bei Schmerzstörungen 143 – – bei somatoforme Störungen 130 Exposition 41, 48 – Angstsituation 156
F Facharzt – für Psychiatrie und Psychotherapie 10, 50, 258 – für Psychiatrie und Psychotherapie im Kinder- und Jugendalter 10, 50, 258 – für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 10, 50, 255, 256 Fachpsychotherapie 10 Familienaufstellung 46 Familienberatungsstelle 52
D–G
Familienskulptur 46 Familientherapie 37, 42–45, 51, 210 Fatigue 100 Feinfühligkeit 23 Fettsucht 7 Adipositas Fibromyalgie 120, 135, 215, 217 Fluchtverhalten 15, 121 Fluor genitalis 216 Forschung, neurobiologische 7 Frage, offene 72, 73 Fressanfall 194, 198 Freudlosigkeit 163 Funktionsstörungen 119, 120
G Gamma-Aminobuttersäure (GABA)-Rezeptor 147 Gate-control-Theorie 135 Gedächtnis – episodisches 39, 266 – implizites 39, 267 – prozedurales 39, 205, 269 Gedächtnisverlust 121 Gefahrensituation 17 Gefühlsregulation, gestörte 204 Gegenreaktion 205 Gegenübertragung 39, 267 Genogramm 46, 267 Genregulation 16 Gesichtsschmerz 5 – atypischer 120, 217 Gesprächsführung – arztzentrierte 66, 67 – Ebenenwechsel 82
282
A · Anhang
Gesprächsführung – Ermutigung zur Weiterrede 74 – Erwartungen des Arztes 69 – Erwartungen des Patienten 69 – flexible 70 – Informationsvermittlung 104 – Pause 73 – patientenzentrierte 66, 67 – psychosomatische Kompetenz 69 – somatoforme Störungen 126 – soziokultureller Hintergrund 68 – Strukturieren 77, 78 – Unterbrechen 78 – Ziel 78 – zirkuläre 44 – Zusammenfassung 76, 78 Gesprächspsychotherapie 46, 106 – klientenzentrierte 37, 46, 47 Gestagene 17 Gestaltungstherapie, Anorexia nervosa 194 Gesundheitsentstehung 25 Gewichtsreduktion 199 Gewichtsverlust 189 Globusgefühl 119, 120, 147, 218 Golfkriegs-Syndrom 120 Grundversorgung, psychosomatische 9, 50 – Adipositas 199 – Angststörungen 152–156 – Anorexia nervosa 192 – Aufgaben 214 – Bulimia nervosa 196, 197 – chronische Schmerzstörung 138 – Depression 170, 171 – Fortbildung 252 – koronare Herzerkrankung 113, 114
– Krebserkrankung 100 – Persönlichkeitsstörungen 209 – somatoforme Störungen 124, 125 Gruppentherapie 51, 194
H Haarausfall 217 Hamstergesicht 195 Harndrang 150 Harninkontinenz 219 Herzbeschwerden 222 Herzerkrankung, koronare 7 koronare Herzerkrankung Herzinfarkt 112, 113, 215 Herzinfarkt – psychische Reaktionen nach Diagnosestellung 112, 113 – Psychotherapie 114, 115 Herzklopfen 148 Herzphobie 152 Herzstillstand 22 Hilflosigkeit, erlernte 168 HIV-Phobie 152 Hoffnung 107 Höhenangst 151, 154 Homöostase, Definition 20 Hormonsystem 14, 15 Hörsturz 218 Hyperarousal 181 Hyperemesis 216 Hyperhidrosis 217 hyperkinetisches Syndrom 216 Hypertonie 7 Bluthochdruck Hyperventilation 119, 120, 147
283 A4 · Sachverzeichnis
Hypnose 36, 47, 142, 143 – Weiterbildung 253, 256 hypochondrische Störung 120, 152 Hypokaliämie – bei Anorexia nervosa 192 – bei Bulimia nervosa 195 Hypophyse 14, 15 Hypophysen-NebennierenrindenAchse 20, 21 Hypothalamus 14, 15, 17 Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse 15 Hypothalamus-Hypophysen-GonadenAchse 189
I ICD-10-Klassifikation 259–262 Imagination 142 Immunsystem 13, 14, 15 Immunsystem, Stress 14, 22 Impulskontrolle, Verlust 196 Inkontinenz 219 Instabilität, emotionale 206 Intellektualisierung 31 Interaktion, themenzentrierte 46 Interesselosigkeit 163 Interferon 13 Interleukin 13, 15 Interpersonelle Therapie (IPT), Depression 173 Intrusionsymptomatik 181
G–K
J Juckreiz 215
K Kachexie 188 Kampf 15 Karies, bei Anorexia nervosa 189 Karzinogenese 96, 97 Katamnese 227, 230 KHK 7 koronare Herzerkrankung Kiefergelenksbeschwerden 120 Killerzellen, natürliche 14 Kinderwunsch, unerfüllter 216 Kognition 27, 41, 168, 268 Kommunikation 79 – 7 a. Gesprächsführung – Sender-Empfänger-Modell 79 Konditionierung 268 – Angst 155, 156 – operante 41 Konfliktmuster, unbewusstes 39 Konsildienst, psychosomatischer 10 Kontrollüberzeugung 29 Konversionsstörung 5, 4, 121 Konzentration, verminderte 164 Kopfschmerzen 123, 135, 215, 216 koronare Herzerkrankung 6, 109–115, 215 – Akutphase 113 – Depression 111, 112 – Krankheitsverarbeitung 113 – Postinfarktphase 114
284
A · Anhang
koronare Herzerkrankung – psychosoziale Belastungsfaktoren 110, 111 – Risikofaktoren 110 körperdysmorphe Störung 120 Körperschemastörung 189 Körpertherapie – Anorexia nervosa 194 – Persönlichkeitsstörungen 211 Körperwahrnehmung 130 – verzerrte 191 Kortisol 16, 167 Krampfanfall 119 Krankheitsverarbeitung 27–31 – 7 a. Coping – Abwehrmechanismen 29–31 – affektive 28 – Definition 27 – Formen 28 – kognitive 28 – koronare Herzerkrankung 113 – soziale Unterstützung 29 – auf der Verhaltensebene 28 Krebsentstehung 96, 97 Krebserkrankung 95–107, 215 – Aufklärung des Patienten 102, 103, 235, 236 – Bewältigung 97, 98, 99 – Krankheitsverarbeitung 98, 99 – psychische Reaktion nach Diagnosestellung 98, 99 – psychosoziale Faktoren 96, 97 – Psychotherapie 104–106 – Verlauf 97 Krisenbewältigungsmuster 28 Krisenintervention 256, 257 Krisensituation, akute 183
Kunsttherapie, Persönlichkeitsstörungen 211
L Labilität, emotionale 206 Lebensberatungsstelle 52 Lebensmittelallergie 120 Leistungsanspruch, hoher 191, 196 Lernpsychologie 257 Liaisondienst, psychosomatischer 10 Libido 17 Libidoverlust 216 limbisches System 17
M Magenschmerzen 226, 227 Magenulkus 215 Makrophagen 14 Maltherapie, Anorexia nervosa 194 Mandibulargelenkssyndrom 5 manische Episode 164 MAO-Hemmer 167 Medikamentenabhängigkeit 138 Medikamentenanamnese 138 Medizin, patientenorientierte 59 Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie (MPTT) 184 Melanom, malignes 218 Menstruationsstörungen 119 Meteorismus 119 Migräne 217
285 A4 · Sachverzeichnis
Misstrauen 207 Mitralklappenprolaps 120 Modell – bio-psychosoziales 6, 7, 67, 68, 265 – integratives 6, 7 Modelllernen 26 Monozyten 14 Morbus – Alzheimer 217 – Crohn 215 – Menière 218 – Parkinson 217 – Sudeck 218 multiple chemische Sensitivität 120 multiple Sklerose 217 Musiktherapie – Anorexia nervosa 194 – Persönlichkeitsstörungen 211 Muskelentspannung, progressive 142 – Weiterbildung 253, 256
N Nachricht – Appell 80, 81 – Beziehungsinhalt 79, 80, 81 – Sachinhalt 79, 80 – Selbstoffenbarung 80, 81 Nervensystem – vegetatives autonomes 16 – – Angststörungen 147 – zentrales 14, 15 – – Angststörungen 147 Neurobiologie 48, 49
Neurodermitis 217 Neurohormone 15 Neuroplastizität 49 Neurotransmitterstoffwechsel 170 Noradrenalin 167 Nosologie, psychiatrische 257
O Obstipation 119 Orgasmus 18 Osteoporose, bei Anorexia nervosa 189 Östrogene 17
P Paartherapie 37, 42–45, 51 Panikstörung 147, 148 Paraphrasieren 74, 75 Persönlichkeitsstörungen 39, 203–212 – abhängige 207 – ängstlich-vermeidende 207 – Einteilung 205–208, 261, 262 – Entstehung 209 – Langzeitperspektive 211 – narzisstische 208 – paranoide 207, 208 – Prognose 211 – psychosomatische Grundversorgung 209 – Psychotherapie 105, 210
K–P
286
A · Anhang
Persönlichkeitsstörungen – schizoide 208 – Symptome 204, 205 Pflichtbewusstsein 168 Phantomschmerz 136 Phobie 148–151 – soziale 150 – spezifische 151 Phytopharmaka, Angststörungen 157 Plastizität 39, 49 Polyneuropathie 189 Postinfarktphase 114 posttraumatische Belastungsstörung 7 Belastungsstörung, posttraumatische prämenstruelles Syndrom 120 progressive Muskelrelaxation 142 – Weiterbildung 253, 256 Projektion 30 Pruritus 217 – vulvae 216 psychisches Trauma 7 Trauma, psychisches Psychoanalyse 36, 37, 40, 269 – Weiterbildung 254, 255 Psychobiologie 8, 12–18, 270 Psychodiagnostik 255 Psychodrama 46 Psychoedukation 105, 106, 256, 257, 270 Psychoneuroimmunologie 8, 12 Psychopathologie 257 Psychopharmaka – Angststörungen 156, 157 – Depression 170, 173 – Persönlichkeitsstörungen 211 Psychophysiologie 271
Psychose 204 psychosomatische Grundversorgung 9, 50 – Adipositas 199 – Angststörungen 152–156 – Anorexia nervosa 192 – Aufgaben 214 – Bulimia nervosa 196, 197 – chronische Schmerzstörung 138 – Depression 170, 171 – Fortbildung 252 – koronare Herzerkrankung 113, 114 – Krebserkrankung 100 – Persönlichkeitsstörungen 209 – somatoforme Störungen 124, 125 Psychosomatische Medizin – Definition 4 – Facharzt für 255, 256 – im klinischen Alltag 9–11 – in der Allgemeinmedizin 214, 215 – in der Chirurgie 219 – in der Dermatologie 217 – in der Gynäkologie 215 – in der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde 218 – in der Kinder- und Jugendmedizin 216 – in der Neurologie 216 – in der Orthopädie 218 – in der Urologie 219 – Weiterbildung 255, 256 – wissenschaftliche Grundlagen 7 Psychosomatischer Konsildienst 10 Psychosomatischer Liaisondienst 10 Psychotherapeut – ärztlicher 50 – psychologischer 10, 50
287 A4 · Sachverzeichnis
Psychotherapie 36–53 – Adipositas 200 – ambulante 10, 51 – Angststörungen 157, 158 – Anorexia nervosa 193, 194, 200 – Behandlungsformen 51 – Behandlungsstufen 105, 106 – Berechtigte 50 – Bulimia nervosa 197, 198, 200 – chronische Schmerzstörung 141, 142 – Definition 36, 271 – Depression 171–173, 177 – Grundformen 346, 37 – nach Herzinfarkt 114, 115 – Indikationen 105 – kognitiv-behaviorale 106, 115, 200 – koronare Herzerkrankung 115 – Krebserkrankung 104–107 – Persönlichkeitsstörungen 210, 212 – posttraumatische Belastungsstörung 184, 185 – psychodynamische 37, 106, 142, 157 – – Definition 270 – – Depression 173 – – Fortbildung 252, 253 – – Weiterbildung 257 – Schmerzstörungen 143 – somatoforme Störungen 128, 130 – stationäre 10, 51 – systemische 37 – tagesklinische 51 – therapeutische Beziehung 47 – Wirksamkeit 9, 53 – Ziel 104 – Zusatzbezeichnung 10, 50, 252, 253
P–S
R Rationalisierung 31 Reaktion – anorektische 190 – depressive 165, 237, 238 Reaktualisierung 47, 205, 210, 224 Realisierung 48 Reattribution 271 Reflexdystrophie, sympathische 218 Reframing 271 Regression 30 Regulationsstörung 119 Rehabilitation, psychosomatischpsychotherapeutische 51 Reizblase 219 Relevanzmaxime 67 Resilienz 8, 25 Ressourcenaktivierung 25, 48, 139, 271, 272 Ressourcenorientierung 45 Retraumatisierung 112, 183 rheumatoide Arthritis 215 Rückenschmerzen 119, 123, 135, 215, 217, 218, 228, 229 Rückzug, depressiver 168
S Salutogenese 25, 48, 272 Schematheorie 272 Schiefhals 217
288
A · Anhang
Schlafstörungen 119, 123, 215, 246–248 – bei Depression 164 – Säuglinge 216 Schlangenangst 151 Schleudertrauma 120 Schmerz, seelischer 139 Schmerzanamnese 136 Schmerzkonferenz, interdisziplinäre 139, 140 Schmerzstärke 137 Schmerzstörung 119 – chronische 133–143 – – Definition 134 – – Entstehung 135, 136 – – Klassifikation 135 – – Psychotherapie 141, 142 – somatoforme 134, 135 Schmerzsyndrom – myofasziales 135 – Psychotherapie 105 Schmerztagebuch 142 Schmerzverständnis, subjektives 137 Schutzfaktoren, psychosoziale 24 Schwindel 119, 123, 215, 218 Selbsterfahrung 46, 253, 258 Selbstkontrolle 191 Selbstmanagement 273 Selbstoffenbarung 80, 81 Selbstüberschätzung, manische 208 Selbstverletzung 196, 210, 217 Selbstvertrauen, mangelndes 164 Selbstwertverlust 164, 237 Sensorium, Funktionsstörungen 121 Serotonin 167 Serotonintransporter 147
Serotoninwiederaufnahmehemmer – Angststörungen 157 – Depression 174 Sexualhormone 17 Sexualität 17, 18 – Alter 18 – geschlechtesspezifische Unterschiede 17 Sexualstörungen 18, 216 Sick-Building-Syndrom 120 Sickness behaviour 13 Small Talk 85 Somatisierung 117–130, 215 – Definition 118 – Herzbeschwerden 222 – Manifestationen 118, 119 Somatisierungsstörung 119 somatoforme Störungen 119, 120 – Differenzialdiagnose 121 – Entstehung 124, 125 – Häufigkeit 122 – Psychotherapie 128–130 – Verlauf 123 Sozialpsychologie 255 Spannungskopfschmerz 217 Spiegelneuron 49, 273 SSRI – Angststörungen 157 – Depression 174 Sterbebegleitung 106, 107 Störungen – hypochondrische 120, 152 – körperdysmorphe 120 – affektive 164, 260 – dissoziative 121 – neurotische 260 – somatoforme 119, 120
289 A4 · Sachverzeichnis
– – Differenzialdiagnose 121 – – Einteilung 260 – – Entstehung 124, 125 – – Häufigkeit 122 – – Psychotherapie 128–130 – – Verlauf 123 Stress 16, 19–22 – Definition 19 – Krankheit 20 Stressmodell 19, 20 Stressreaktion 21 Stressverarbeitungssystem 20, 21 Stressvulnerabilität 229 Suchtprophylaxe 257 Suggestion 142 Suizidalität 105, 164, 175, 176, 210 – Abschätzung 175 – Prophylaxe 257 Symptomtagebuch 129 Syndrom – hyperkinetisches 216 – prämenstruelles 120 Synkope 119
T Tachykardie, paroxysmale 119 Testosteron 17 therapeutische Grundhaltung 125 Therapie, interpersonelle 173 Tiefenpsychologie 274 – Weiterbildung 257 Tinnitus 120, 218 T-Lymphozyten 14 Todesangst 148
S–U
Torticollis spasmodicus 217 Transaktionsanalyse 46, 47 Transkriptionsfaktoren 16 Trauer 6, 162 Trauma – Akutphase 183 – Einwirkungsphase 183 – Erholungsphase 183 – psychisches 167, 168, 179–185, 214 – Schockphase 183 – Wiedererleben 181 Traumatherapie, mehrdimensionale psychodynamische 184 Traumlehre 255 Traurigkeit 162, 166 Trigeminusneuralgie 5 Tumornekrosefaktor 13 Tumorschmerz 135
U Übelkeit 166, 215 Überaktivität, motorische 189 Übererregbarkeit 181 Überforderung, chronische 169 Überfürsorglichkeit 153 Übergewicht 198–200 Übertragung 39, 274 Ulcus duodeni 5 Umstrukturierung, kognitive 156, 268 Unbewusstes, dynamisches 38 Unterbauchschmerzen 216 Unterstützung, soziale 29
290
A · Anhang
Untersuchung – körperliche 88 – Wahrnehmung körperlicher Reaktionen 88 Urethrozystitis, chronischrezidivierende 219 Ursachenforschung 8 Urticaria 217
W Wechselwirkungen, psychosomatische 4, 7, 8 Willkürmotorik, Funktionsstörungen 121 Wirkforschung, psychotherapeutische 8 Wunderfragen 44
V Verantwortungsbewusstsein 168 Verhaltensauffälligkeiten, Einteilung 261 Verhaltensdiagnostik 257 Verhaltenslehre 257 Verhaltensmedizin 275 Verhaltensmodifikation 41 Verhaltensmuster 43 – kompensatorisches 49 Verhaltensstörungen, Einteilung 261, 262 Verhaltenstherapie – Definition 275 – kognitive 37, 40–42, 142, 157, 172 – Weiterbildung 253, 254, 258 Verkehrung 31 Verleugnung 29, 30 Vermeidungsverhalten, Abbau 154 Vermeidungsverhaltung 181 Versagensangst 166 Verschiebung 31 Versorgungsforschung 9 Vigilanz 275 Vulnerabilität 8
Z zentrales Nervensystem 14 Zuhören, aktives 71–77 Zusatzbezeichnung – Psychoanalyse 254, 255 – Psychotherapie 10, 50, 252, 253 Zyklusstörungen 216 Zytokine 13, 22