Teresa Pinheiro (Hrsg.) Portugiesische Migrationen
Beiträge zur Regional- und Migrationsforschung Herausgegeben von T...
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Teresa Pinheiro (Hrsg.) Portugiesische Migrationen
Beiträge zur Regional- und Migrationsforschung Herausgegeben von Thomas Geisen
Migrationsprozesse sind eng mit den Bedingungen regionaler Kontexte verbunden. Migration und Region bilden daher einen komplexen Zusammenhang, in dem sich Fragen nach Ursachen, Formen und Auswirkungen von Migrationsprozessen mit denjenigen regionaler Mobilitätsbedingungen verschränken. Die Schriftenreihe „Beiträge zur Regional- und Migrationsforschung“ greift diese Verbindung von Migration und Region auf. Die Beiträge untersuchen die Vielschichtigkeit der regionalen Bedingungen der Entstehung von Mobilität, analysieren ihre unterschiedlichen Formen und thematisieren Kontexte und Folgen von Migrationsprozessen. Die Schriftenreihe verfolgt das Ziel, in Monografien und Sammelbänden die wechselseitige Bedeutung und Verbindung von Migrationsprozessen und regionalen Entwicklungen aufzuzeigen.
Die Bände 1 bis 8 sind beim IKO Verlag erschienen. Die Reihe wird ab 2009 im VS Verlag fortgeführt.
Teresa Pinheiro (Hrsg.)
Portugiesische Migrationen Geschichte, Repräsentation und Erinnerungskulturen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Veröffentlicht mit Unterstützung des Instituto Camões
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich / Tanja Köhler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17075-6
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis ……………………….………………………...
7
Einleitung Teresa Pinheiro Deutschland, Portugal und die europäische Migrationsgeschichte des 20. Jahrhunderts …………..………………………………………...……
9
I – Portugal: Vom Aus- zum Einwanderungsland? José Carlos Marques Die portugiesische Emigration nach dem ‚Ende der portugiesischen Emigration’ ………………………………………..….…………………..
23
Pedro Góis; José Carlos Marques Portugal – eine Semiperipherie im globalen Migrationssystem: Aus- und Einwanderung als verschränkte Phänomene …..…….…………..……….
37
II – Immigration in Portugal Maria Ioannis Baganha; Pedro Góis; José Carlos Marques Tendenzen der Einwanderung nach Portugal seit der Nelkenrevolution ...
57
João Peixoto Der Wandel der Migrationsbewegungen am Beispiel der internationalen Migrationen in Portugal …………………………………...……………..
71
Isabel Ferin Das Thema der Immigration in den portugiesischen Medien …….……...
91
III – Lusophone Immigration und Kulturen in Deutschland Cristina Berretta Soares Die portugiesische Auswanderung nach Deutschland – eine empirische Untersuchung ...…………………………………………….…...………..
107
6
Inhalt
Bodo Freund Portugiesische Restaurants und Cafés in Hamburg: Beginn eines ethnischen Gewerbes? ...…………..………………………….…………..
131
Isabel Eitzinger Transnationale Identifikation am Beispiel der Portugiesen in München – Ergebnisse einer Fallstudie …………………………………………….....
151
Teresa Pinheiro Vernetzte Identitäten: Repräsentationen portugiesischer Emigration im deutschsprachigen Internet …………………………………………….…
175
Katharina Jagemann Biographien mosambikanischer Vertragsarbeitnehmer im Spannungsfeld individueller Lebensentwürfe und politischer Geschichte ……………….
197
IV – Lusophone Repräsentationen der Migration Fernanda Silva-Brummel Repräsentationen der Emigration in der portugiesischen Literatur ….…...
215
Ana Paula Coutinho Von der portugiesischen Post-Emigration: Repräsentationen von Identität in den Filmen Entre2Rêves von Jean-Philippe Neiva und Bien Mélanger / Into the Mix von Nicolas Fonseca …………………………...
231
V – Emigration und Erinnerung Miguel Monteiro Migrationen, Erinnerungskulturen, Museen: Das ‚Museum der Emigration und der Gemeinschaften’ in Fafe …………….…………......
245
Isabel Lopes Cardoso Gegen die Musealisierung: Das Projekt ‚Sudexpress’ als lebendiges virtuelles Zentrum der portugiesischen Emigration ………...….………...
253
Zu den Autorinnen und Autoren ……………………………….……...
269
Abkürzungsverzeichnis ACIDI
Alto Comissariado para a Imigração e o Diálogo Intercultural (‚Hohes Kommissariat für Einwanderung und Interkulturellen Dialog’)
ACIME
Alto Comissariado para as Migrações e Minorias Étnicas (‚Hohes Kommissariat für Migration und Ethnische Minderheiten’)
ACSE
Agence Nationale pour la Cohésion Sociale et l’Egalité des Chances
AEMI
Association of European Migration Institutions
BDA
Bundesvereinigung der Arbeitgeber
BDIC
Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine
BFA
Bundesamt für Ausländerfragen, Schweiz
CGT
Confederação Geral do Trabalho (‚Allgemeiner Arbeiterverband’, portugiesische Gewerkschaft)
CHAIA
Centro de História da Arte e de Investigação Artística (‚Zentrum für Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft’, Universität Évora)
CPLP
Comunidade dos Países de Língua Portuguesa (‚Gemeinschaft der Portugiesischssprachigen Länder’)
DOMiD
Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V.
FASILD
Fonds d’Action Sociale Île-de-France
FCT
Fundação para a Ciência e a Tecnologia (‚Stiftung für Wissenschaft und Technologie’, Portugal)
FRELIMO
Frente de Libertação de Moçambique (‚Mosambikanische Befreiungsfront’, politische Partei in Mosambik)
IDHEC
Institut d’Hautes Études Cinématographiques
INE
Instituto Nacional de Estatística (‚Statistisches Amt Portugal’), Instituto Nacional de Estadística (‚Statistisches Amt Spanien’)
INED
Institut Nationale D’Études Démographiques
Abkürzungsverzeichnis
8 OCIC
Office Catholique International du Cinéma
OECD
Organisation for Economic Co-operation and Development
OMI
Office des Migrations Internationales
OPA
Oferta Pública de Aquisição (‚Unternehmensübernahme’)
PALOP
Países Africanos de Língua Oficial Portuguesa (‚Portugiesischsprachige Länder Afrikas’)
PIDE
Polícia Internacional e de Defesa do Estado (‚Internationale Staatsschutzpolizei’, Geheimpolizei des Estado Novo)
PS
Partido Socialista (‚Sozialistische Partei’, Portugal)
RGW
Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe
RTP
Radio Televisão Portuguesa (‚Radio und Fernsehen Portugals’, öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt Portugals)
SIC
Sociedade Independente de Comunição (‚Unabhängige Kommunikationsgesellschaft’, privater Fernsehsender in Portugal)
SEF
Serviço de Estrangeiros e Fronteiras (‚Amt für Ausländer- und Grenzangelegenheiten’)
TVI
Televisão Independente (‚Unabhängige Fernsehanstalt’, privater Fernsehsender in Portugal)
RENAMO
Resistência Nacional Moçambicana (‚Nationaler Widerstand Mosambiks’, politische Partei in Mosambik)
Einleitung: Deutschland, Portugal und die europäische Migrationsgeschichte des 20. Jahrhunderts Teresa Pinheiro
1
Armando Rodrigues de Sá als Erinnerungsort deutscher und portugiesischer Geschichte
Armando Rodrigues de Sá sitzt fast ein wenig verlegen auf seiner neuen Zündapp Sport Combinett, in der Hand hält er einen Blumenstrauß. Sein Blick verrät Unsicherheit, aber auch Stolz – denn schließlich wurde er soeben mit großem Tamtam als millionster Gastarbeiter in der Bundesrepublik Deutschland empfangen und erhielt Moped und Blumen als Geschenk. Einige Tage zuvor war er aus seinem Dorf im Norden Portugals aufgebrochen, um als Vertragsarbeiter nach Deutschland zu kommen. Als er am 11. September 1964 zusammen mit anderen portugiesischen und spanischen Immigranten am Bahnhof Köln-Deutz ankam, waren dort bereits Vertreter der Bundesvereinigung der Arbeitgeber, Journalisten und Vertreter der Stadt Köln versammelt, um in festlicher Aufmachung den Ehrengastarbeiter willkommen zu heißen. Die spanische und die portugiesische Nationalhymne rissen die Ankömmlinge zu feurigen Tänzen, zu kräftigen Zügen aus lederumhüllten Weinflaschen und zum Ruf Viva Alemania! hin […]. Die Beauftragten des BDA hatten zwischen 8 Uhr und 10.10 Uhr unter quälender Ungewissheit gelitten. Den millionsten Gastarbeiter hatten sie durch Blindtippen herausgepickt – wohl wissend, dass sich der Millionste im Transport befinden musste […]. Jedoch wurde tags zuvor bekannt, dass 24 Portugiesen an der Grenze zurückgeschickt worden waren, weil ihre Papiere nicht in Ordnung waren. „Sollte unser Favorit bei den Zurückgewiesenen sein?“, erschreckte es die BDA-Leute [...]. Um 10.10 Uhr rief dann [...] der Pressechef des BDA erleichtert: „Wir haben ihn!“ [...] (Leroff 1964: 14).
In dem hier geschilderten Ereignis spiegelt sich wie in einem Brennglas ein Teil der deutschen und der portugiesischen Migrationsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Zu einer Zeit, in der Millionen Portugiesen ihr Land aus politischen und wirtschaftlichen Gründen verließen, wurde Deutschland zu einem der Empfängerländer von Millionen Gastarbeitern, die am Aufbau der bundesdeutschen Wirtschaft mitwirkten. Seit dem ersten Anwerbevertrag, den die bundesdeutsche Regierung 1955 mit Italien abgeschlossen hatte, war bis 1964 eine volle Million Menschen in Westdeutschland eingereist, um auf der Grundlage eines befristeten Vertrags in der Industrie zu arbeiten (Herbert 2003: 202).
Teresa Pinheiro
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Die Migrationsgeschichten Deutschlands und Portugals kreuzten sich, als die Regierungen beider Länder 1964 den Vertrag zur Anwerbung portugiesischer Gastarbeiter unterzeichneten, auf dessen Rechtsgrundlage Rodrigues de Sá im selben Jahr den Bahnhof Köln-Deutz erreichte. Mit ihm sind im selben Jahr weitere 4.711 portugiesische Arbeiter nach Deutschland gekommen (Garcia et al. 1998: 69), eine Zahl, die in den folgenden Jahren stetig gestiegen ist (Portugiesische Botschaft 2004: 2). Die portugiesischen Auswanderer, die ab den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts nördlich der Pyrenäen eine neue Existenz aufbauen wollten, versuchten nicht nur der Armut, sondern auch der Diktatur des Estado Novo1 und – im Falle der männlichen Emigranten – dem Kolonialkrieg (1961-1974) zu entkommen. Die meisten gingen bekanntlich nach Frankreich; gleichwohl wurde auch die BRD mit der Unterzeichnung des Anwerbevertrags zu einem wichtigen Empfängerland portugiesischer Gastarbeiter.2 2
Deutschland als Einwanderungsland
Diese Zeiten sind heute vorbei. Die BRD empfängt ihre Zuwanderer-Jubilare nicht mehr mit Festen und Geschenken, zumal die Zahl der ansässigen Ausländer mittlerweile die 7 Millionen-Marke übersteigt (Statistisches Bundesamt 2008).3 Die politischen Akteure, deren Zuwanderungsdiskurs lange Zeit vom Beharren auf dem Konzept der ‚Gastarbeiter’ als einer Form der temporären Migration geprägt war, erkannten nach langjährigen, hitzigen Debatten schließlich im Jahre 2004 mit der Verabschiedung des ‚Zuwanderungsgesetzes’ an, dass Deutschland als ein Einwanderungsland zu betrachten sei, in dem Arbeitsmigranten eine unfeierliche Normalität darstellen. Das Zuwanderungsgesetz entsprach der seitens der Migrantenvereine vorgebrachten Forderung, die Einwanderung von vielen Millionen Gastarbeitern nach Deutschland als einen Bestandteil der deutschen Geschichte anzuerkennen und Einwanderung als einen Erinnerungsort (Nora 1992) deutscher kollektiver 1
2 3
Estado Novo (‚Neuer Staat’) war die Selbstbezeichnung der portugiesischen Diktatur von António de Oliveira Salazar und Marcello Caetano. Der Begriff wird auch heute in der historiographischen Forschung verwendet, um das Regime zu bezeichnen, das zwischen 1933 (Verabschiedung der Verfassung der Diktatur) und der Nelkenrevolution am 25. April 1974 in Portugal herrschte (Rosas 1996: 315). Zum Vergleich: 1970 lebten in Frankreich ca. 860.000 Portugiesen (Peixoto 2000: 158), in der BRD waren es ca. 20.000 (Portugiesische Botschaft 2004: 2). Das Statistische Bundesamt bezifferte 2008 die Zahl der Ausländer in Deutschland auf 7,3 Millionen und die der Menschen mit Migrationshintergrund auf 15,3 Millionen (Statistisches Bundesamt 2008).
Einleitung
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Identität (Motte/Ohlinger 2004) zu betrachten. Das Jahr 2004 schien geeignet, diese Forderungen öffentlich zu vertreten, denn seit der Ankunft des millionsten Gastarbeiters waren genau vierzig Jahre vergangen. Den Jahrestag nahm das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V. (DOMiD) zum Anlass, eine Erinnerungsveranstaltung zu organisieren, die von einer Tagung mit dem Titel „Armando Rodrigues de Sá. Der millionste Gastarbeiter, das Moped und die bundesdeutsche Einwanderungsgesellschaft. 19642004 – Von festlichen Anfängen und alltäglichen Herausforderungen“ begleitet war. Die Veranstaltung fand im September 2004 am Bahnhof Köln-Deutz statt, auf dem Ankündigungsplakat prangte das Foto der damaligen Szene mit Armando Rodrigues de Sá und seinem Moped. Dieser – und mit ihm metonymisch die gesamte Einwanderungsgesellschaft – fanden damit ihren Platz in der deutschen Erinnerungskultur.4 3
Portugal: Vom Aus- zum Einwanderungsland?
Die damaligen Zeiten sind vorbei – auch in Portugal. Die massive Auswanderung der sechziger und siebziger Jahre erreichte 1970 ihren Höhepunkt, um ab Mitte der siebziger Jahre spürbar zu sinken. Andererseits stieg die Zuwanderung ausländischer Arbeitnehmer nach Portugal kontinuierlich an, was Politik und Öffentlichkeit zur Annahme hinriss, Portugal habe den Wandel von einem Auszu einem Einwanderungsland vollzogen. Nichts erschiene logischer. Portugal hatte durch die Nelkenrevolution am 25. April 1974 mit der langen Diktatur von Oliveira Salazar und Marcello Caetano gebrochen. Die Revolution setzte auch dem Kolonialkrieg ein Ende, der dreizehn Jahre lang das Land politisch isoliert und die Bevölkerung Portugals und mehr noch der Kolonien in Armut und Gefahr für Leib und Leben gehalten hatte. Demokratisierung und Dekolonisierung ebneten den Weg aus der Isolation, und Portugal beantragte bald die Mitgliedschaft in der EWG, die durch den Beitritt am 1. Januar 1986 besiegelt wurde. Die Integration im politischen und wirtschaftlichen Europa brachte Portugal eine Phase des rapiden wirtschaftlichen Wachstums, der Modernisierung und des sozialen Wandels. Das Land nahm bald Strukturen der modernen, industrialisierten Gesellschaften Europas an, ablesbar am demographischen Wandel mit
4
Die Tatsache, dass sowohl das Moped als auch das berühmt gewordene Foto von Armando de Sá zum Bestand des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gehören, zeugt von der symbolischen Bedeutung dieses Erinnerungsortes für das kollektive Gedächtnis (Assmann 1988) in Deutschland.
Teresa Pinheiro
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der Zunahme der weiblichen Erwerbstätigkeit bei abnehmender Geburtenrate und steigender Lebenserwartung.5 Den Modernisierungstheorien zufolge käme also der Positionswechsel Portugals vom Aus- zum Einwanderungsland nicht überraschend. Nicht zuletzt hat der iberische Nachbar eine ähnliche Entwicklung durchgemacht: Auch die Spanier hatten unter einer langjährigen Diktatur im 20. Jahrhundert gelebt, auch sie waren ab den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts massenweise nach Frankreich und Deutschland ausgewandert. Mit der Demokratisierung und dem EWGBeitritt zeitgleich mit Portugal setzte auch hier ein rascher politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel ein.6 Er ging in Spanien mit einem Rückgang der Emigration einher, während die Einwanderung exponentiell hochschnellte.7 Die sozialwissenschaftliche Forschung war sich einig, dass Spanien künftig als lupenreines Einwanderungsland anzusprechen sei (Kreienbrink 2004: 72). So hielt in den politischen und wissenschaftlichen Diskursen in Portugal bald die Erwartung Einzug, dass ein solcher Wandel auch für Portugal gelte. Und tatsächlich: Die jüngsten Publikationen zum Thema zeigen, dass die portugiesische Emigration in den letzten Jahrzehnten tendenziell zurückgegangen ist; auch die Zunahme der Immigration in Portugal wird nicht in Frage gestellt. Doch die daraus gezogene Schlussfolgerung, die einen Wandel vom Aus- zum Einwanderungsland konstatiert, musste von der jüngeren Migrationsforschung korrigiert werden. Denn von einem Ende der Auswanderung kann zurzeit ebenso wenig die Rede sein wie von der nachhaltigen Konsolidierung der Einwanderung – viel zu komplex sind sowohl die Makro- als auch die Mikrofaktoren, die die Migrationen von und nach Portugal steuern. Dies zeigen die Beiträge dieses Bandes anschaulich. 4
Zu den Beiträgen des Bandes
Der vorliegende Band stellt wichtige Aspekte und Tendenzen der portugiesischen Migrationen seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts bis heute dar. Der thematische Bogen umspannt Wandel und Kontinuitäten der Migrati5 6 7
Beeindruckende Indikatoren dieses sozialen Wandels: Die Anzahl der Geburten pro Frau lag bei 3 Kindern im Jahre 1970; 2003 lag sie bereits bei 1,48 und damit genau im EU-Durchschnitt (Zahlen des Statistischen Amtes Portugal – INE). Auch für den spanischen Fall sprechen die Zahlen eine klare Sprache: 2,9 Kinder pro Frau im Jahre 1970 gegen 1,29 2003 (Zahlen des Statistischen Amts Spanien – INE). Betrug 1981 der Ausländeranteil in Spanien nur 0,52%, so lag er 2008 bereits bei 11,3% (Zahlen des INE von 2008).
Einleitung
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onsströme, ihre Kontextualisierung in Ökonomie, Politik und Geschichte, Fragen des diskursiven Umgangs mit dem Phänomen, der Repräsentation der Migranten und der Erinnerung zurückliegender Migrationen, die die portugiesische Gesellschaft im In- und Ausland prägen und beschäftigen. Damit soll zugleich eine Informationslücke geschlossen werden. Während zur Migrationssituation und -politik in Spanien (Kreienbrink 2004) oder in Italien (Borkert 2008) wissenschaftliche Publikationen in deutscher Sprache vorliegen, so ist das Beispiel Portugals in Deutschland wenig bekannt. Dabei ist gerade Portugal mit seiner kolonialhistorisch bedingten älteren Tradition der Auswanderung und seiner komplexen Verschränkung zwischen Emigration und Immigration in der Gegenwart ein besonders interessanter Fall für die Migrationsforschung. In den Beiträgen der Sektion I – Portugal: Vom Aus- zum Einwanderungsland? – hinterfragen die Autoren kritisch das oft in der portugiesischen Öffentlichkeit bemühte ‚Ende der portugiesischen Auswanderung’. José Carlos Marques zeigt in seinem Aufsatz, dass die Auswanderung aus Portugal entgegen häufig geäußerter Erwartungen gar nicht ihr Ende gefunden hat, sondern ab Mitte der achtziger Jahre wieder auflebte und sich auf neue Auswanderungsziele wie etwa die Schweiz oder die ostdeutschen Bundesländer richtete. Der Beitrag von Pedro Góis und José Carlos Marques sucht für die Komplexität der Wanderungsbewegungen von und nach Portugal Antworten im globalen Migrationssytem. Portugals gleichzeitige Teilhabe an einem historisch gewachsenen lusophonen8 Subsystem der Migration und am Nordamerikanischen bzw. am Europäischen Makro-System vermag die Beständigkeit von hybriden Migrationsformen in Portugal zu erklären, das zugleich Sender und Empfänger von Arbeitsmigranten ist. Die in Sektion II – Immigration in Portugal – versammelten Beiträge sind der jüngsten Entwicklung der Immigration nach Portugal gewidmet. Der Artikel von Maria Ioannis Baganha, Pedro Góis und José Carlos Marques skizziert die wichtigsten Phasen und Tendenzen der Einwanderung in Portugal, die – anders als üblicherweise angenommen – bereits in die Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurückreicht und überwiegend lusophoner Prägung war. Jedoch bewirkte die neue Zuwanderung aus osteuropäischen Ländern – insbesondere aus Moldawien, Russland und der Ukraine – gegen Ende der neunziger Jahre, dass Portugal nicht länger auf einen lusophonen Kontext der Immigrationen 8
Das Adjektiv ‚lusophon’ und seine substantivierte Entsprechung ‚Lusophonie’ beziehen sich auf die portugiesischsprachigen Länder. Dazu gehören: Angola, Brasilien, Guinea-Bissau, Kap Verde, Mosambik, Osttimor, Portugal und São Tomé und Príncipe. Die Lusophonie fand zum ersten Mal 1996 mit der Gründung der ‚Gemeinschaft der Portugiesischsprachigen Länder’ (Comunidade dos Países de Língua Portuguesa – CPLP) eine politisch- institutionelle Form.
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Teresa Pinheiro
beschränkt blieb, sondern sich für die internationalen Migrationsströme öffnete. João Peixoto widmet sich in seinem Beitrag diesem Wandel der Immigration nach Portugal. Er versucht, mit Hilfe von Zelinskys Theorie des Mobilitätsübergangs große Entwicklungstendenzen zu erkennen, ohne jedoch den mächtigen Einfluss der Mikrofaktoren zu vernachlässigen. Bei der politischen Behandlung des Migrationsthemas und der Integration von Migranten in der Aufnahmegesellschaft kommt der diskursiven Konstruktion große Bedeutung zu. Deshalb werden im vorliegenden Band nicht nur die Migrationsbewegungen, sondern auch die Diskurse über Migration und Migranten untersucht. Isabel Ferin analysiert in ihrem Beitrag die Behandlung der Einwanderungsthematik in den portugiesischen Medien der letzten Jahrzehnte. Die Autorin stellt bei ihrer Analyse einen Wandel der Referenten fest – von lusophonen Afrikanern in den achtziger Jahren zu Brasilianern und Osteuropäern im neuen Jahrtausend –, aber auch eine zunehmende Diversifizierung und Spezialisierung der Themen. Wenn Immigration nach wie vor ein bewährtes Repertoire für die sensationalistischen Medien und zum Füllen von Sommerlöchern vorhält, so entwickelt sich parallel dazu ein qualifizierter und spezialisierter Investigationsjournalismus, der gängige Stereotype und Vorurteile zu brechen versucht. Sektion III – Lusophone Immigration und Kulturen in Deutschland – versammelt Beiträge zur portugiesischen Einwanderung in der BRD und einen Beitrag zu mosambikanischen Vertragsarbeitern in der DDR. Auch wenn heutzutage noch immer über 100.000 Portugiesen in Deutschland leben (114.451 laut Statistischem Bundesamt 2008), ist diese Bevölkerungsgruppe in der Öffentlichkeit wie im wissenschaftlichen Diskurs wenig präsent. Cristina Berretta Soares präsentiert in ihrem Artikel Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung, die sie auf der Grundlage von Interviews mit portugiesischen Migranten in Deutschland durchgeführt hat. Dabei arbeitet sie Konzepte individueller Identität heraus, die Migranten der ersten Generation im Spannungsfeld zwischen rückkehrorientierter Auswanderung und tatsächlichem Verbleib in der BRD für sich entwickelten. Bodo Freund reflektiert in seinem Beitrag über die auffällige Konzentration von portugiesischen Restaurants und Cafés in Hamburg und findet in diesem Phänomen Ansätze eines durch Gentrifizierung mancher Viertel begünstigten ethnischen Gewerbes. Isabel Eitzinger setzt sich in ihrem Artikel mit Identitätskonzepten von im Großraum München lebenden Portugiesen auseinander. Mit Hilfe von Konzepten aus der Transnationalismus-Forschung erstellt die Autorin eine Typologie von Identitätsentwürfen und kommt zu dem Ergebnis, dass die üblichen Bezugsrahmen nationaler Identifikation unter den Befragten sich meist nicht ausschließen, sondern kombinierbar werden. Ebenfalls von Identitätskonstruktionen im Migrationskontext handelt der Beitrag von
Einleitung
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Teresa Pinheiro, der Repräsentationen kollektiver Identität auf den Internetseiten portugiesischer Vereine in Deutschland untersucht. Anders als bei individueller Identität knüpfen die Migrantenvereine an portugiesische Diskurse nationaler Identität an, um ihrer gesellschaftlichen Funktion – der Wahrung portugiesische Identität – gerecht zu werden. Der Beitrag von Katharina Jagemann befasst sich mit einem Phänomen, das bislang in der Migrationsforschung wenig beachtet wurde, nämlich der Zuwanderung von mosambikanischen Vertragsarbeitern in die DDR im Rahmen des 1979 zwischen der Volksrepublik Mosambik und dem SED-Staat abgeschlossenen Freundschaftsvertrags. Auf der Grundlage von durch die Autorin in Ostdeutschland und in Mosambik durchgeführten narrativen Interviews vergleicht Jagemann die Lebenskonzepte und Identitätsdiskurse von Mosambikanern, die nach der Friedlichen Revolution in Deutschland gebliebenen sind, mit denen der Madgermanes, der mosambikanischen Vertragsarbeiter, die in ihr Herkunftsland zurückgekehrt sind. Allen befragten Personen gemeinsam ist die Tatsache, dass die großen politischen und historischen Geschehnisse als Brüche in ihrer persönlichen Biographie wahrgenommen werden; die zurückgekehrten Mosambikaner haben jedoch aufgrund schlechter beruflicher und wirtschaftlicher Perspektiven stärkere Integrationsprobleme zu bewältigen als diejenigen, die in Deutschland geblieben sind. Sektion IV – Lusophone Repräsentationen der Migration – ist der Repräsentation der portugiesischen Auswanderung in der Kunst gewidmet. Der Beitrag von Fernanda Silva-Brummel arbeitet heraus, welchen Niederschlag das Emigrationsthema in der portugiesischen Literatur vom 16. bis ins 20. Jahrhundert gefunden hat. Dabei stellt die Autorin einen Bruch im Umgang mit dem Thema ab den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts fest. Die Emigration wird entmythisiert, indem die Gründe für die Auswanderung nicht länger verschwiegen werden und die Literatur von der Darstellung des portugiesischen Emigranten als erfolgreichen Rückkehrers Abstand nimmt. Ana Paula Coutinho befasst sich in ihrem Beitrag mit den Identitätsdarstellungen im Film. Obwohl die beiden untersuchten Filme von Nachkommen portugiesischer Auswanderer stammen und im 21. Jahrhundert gedreht wurden, ist der Umgang mit Identität denkbar verschieden: Während sich Entre2Rêves von Jean-Philippe Neiva innerhalb des klassischen nationalen Identifikationsrahmens bewegt, bricht der Film Into the Mix von Nicolas Fonseca mit der Vorstellung des kulturellen Mosaiks und ersetzt diese durch ein Modell fließender und hybrider Identitäten. Die letzte Sektion des Buches – Emigration und Erinnerung – zeigt, dass genau wie in der Bundesrepublik Deutschland auch in Portugal und in Frankreich das Thema der Migration als Erinnerungsort aktuell ist. Das 2001 gegründete Emigrationsmuseum in Fafe, das Miguel Monteiro als Gründungsmitglied
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in seinem Beitrag präsentiert, gibt ein Beispiel dafür, wie das Thema der Migration akteurorientiert aufgearbeitet und der Öffentlichkeit präsentiert werden kann. Die Verlagerung eines Teiles des Museums ins Internet ermöglicht es, ein breites Publikum zu erreichen, das überwiegend aus Portugiesen der Diaspora besteht. Auch das von Isabel Lopes Cardoso mitgegründete und -konzipierte Projekt ‚Sudexpress’, das die Autorin in ihrem Beitrag vorstellt, ist ein von Emigranten selbst produziertes und im Internet veröffentlichtes Forum zur portugiesischen Auswanderung, wobei hier der Schwerpunkt auf dem Zielland Frankreich liegt. Beide Projekte zeigen die Bemühung, die portugiesische Emigration zu einem Bestandteil der kollektiven Identität zu machen, wobei die Emigranten selbst es sind, die die Migrationsdiskurse gestalten. Dem Internet verdanken sie einen Teil ihres Erfolgs, da erst dieses Medium es möglich macht, portugiesische Emigranten weltweit zu erreichen. Hier besteht im Übrigen eine Gemeinsamkeit mit den Bestrebungen des DOMiD in Deutschland, dem Thema der Einwanderung in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen. Auch die Projekte des DOMiD werden zum großen Teil von Einwanderern gestaltet, die ihre eigene Narrative der Migrationserfahrung entwickeln; und auch sie finden im Internet große Verbreitung. Ein Beispiel hierfür ist das der iberischen Einwanderung nach Deutschland gewidmete Internetprojekt ‚Angekommen… Bahnhof Köln-Deutz. Migrantengeschichten aus 40 Jahren’ (DOMiT/Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen 2004). * Den Anstoß zu diesem Buch gab eine im Rahmen des VII. Lusitanistentages in Köln von Madalena Fonseca (Universidade do Porto) und Teresa Pinheiro (Technische Universität Chemnitz) organisierte Sektion mit dem Titel Portugal e as migrações: realidades e representações. Nach dem Treffen sind zahlreiche Beiträge hinzugekommen, die die ursprüngliche Thematik ergänzt haben und nun den Sammelband um weitere Perspektiven bereichern. Die Beiträge stammen aus in Portugal und Deutschland wirkenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlicher Verortung in den Sozial- und Humanwissenschaften, denen jedoch allen das Thema der Migration am Herzen liegt. Der Band ist somit Frucht der Zusammenarbeit eines internationalen und interdisziplinären Teams, das neben dem Thema in der portugiesischen Sprache einen gemeinsamen Nenner hatte. Der engagierte Dialog über die Fachgrenzen hinaus und die Motivation, dem deutschsprachigen Publikum die Ergebnisse ihrer Forschungen zugänglich zu machen, hat die Arbeit an diesem Buch beflügelt.
Einleitung
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Über die Autoren hinaus haben weitere Personen an der Fertigstellung dieses Buches mitgewirkt. Stefanie Kaluza, Sarah Rasche und Jörg Seidel sei besonders für die Unterstützung bei der Übersetzungs- und Redaktionsarbeit herzlich gedankt. Ein spezieller Dank geht an Robert Debusmann für die unermüdliche und kompetente Hilfe bei der ‚Arbeit am Begriff’. Gedankt sei außerdem der Herausgeber der Reihe, Dr. Thomas Geisen, für die Aufnahme des Bandes in die „Beiträge zur Regional- und Migrationsforschung“ sowie für wichtige fachliche Hinweise. Das Team ist jedoch um ein wichtiges Mitglied ärmer geworden. Maria Ioannis Baganha verstarb vor der Veröffentlichung des Bandes. Mit ihrem Tod verlieren wir eine hervorragende Wissenschaftlerin, die der Erforschung der portugiesischen Migration über Jahrzehnte entscheidende Impulse gegeben hat und in ihrem Forschungsgebiet international höchstes Ansehen genoss. Maria Ioannis Baganha war Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Internationale Migrationen an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Coimbra und Gründungsmitglied des CES – Centro de Estudos Sociais – an derselben Universität. Sie war aktives Mitglied des EU-Exzellenzzentrums IMISCOE – International Migration, Integration & Social Cohesion – und gehörte dessen Vorstand an. Mit ihrem Tod verlieren wir eine ebenso geschätzte wie liebenswerte Kollegin. 5
Bibliographie
Assmann, Jan / Hölscher, Tonio (Hrsg.) (1988): Kultur und Gedächtnis. Franfurt a.M.: Suhrkamp. Bade, Klaus J. (2000): Europa und die Migration am Ende des 20. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Baganha, Maria Ioannis (1993): „Principais Características e Tendências da Emigração Portuguesa“ in: Estruturas Sociais e Desenvolvimento. Actas do II Congresso Português de Sociologia. Lisboa: Fragmentos, 819-835. Baganha, Maria Ioannis / Carvalheiro, Luís (2002): „Uma europeização diferenciada: o sector da construção civil e obras públicas“ in: Reis, José / Baganha, Maria Ioannis (Hrsg.), A Economia em Curso. Contextos e Mobilidade. Porto: Afrontamento, 63-86. Beirão, Delfina (1999): Les portugais du Luxembourg: des familles racontent leur vie. Paris: CIEMI. Borkert, Maren (2008): Integration von Zuwanderern in Italien: Gesetzliche Grundlagen, politische Akteure und die Umsetzung integrationspolitischer Maßnahmen am Beispiel der Emilia Romagna. Wiesbaden: VS Verlag. Cassola Ribeiro, F.G. (1986): Emigração portuguesa. Algumas características dominantes dos movimentos no período de 1950 a 1984. Porto: Secretaria de Estado das Comunidades Portuguesas / Centro de Estudos. Chambers, Iain (1996): Migration, Kultur, Identität (Orig. Migration, culture, identity, 1994). Tübingen: Stauffenburg.
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Teresa Pinheiro
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Einleitung
19
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I Portugal: Vom Aus- zum Einwanderungsland?
Die portugiesische Emigration nach dem ‚Ende der portugiesischen Emigration’ José Carlos Marques
1
Einleitung
Die innereuropäische Migration wurde bekanntlich von den Folgen der Wirtschaftskrise der frühen siebziger Jahre stark beeinflusst. Im Zuge der Krise gingen die Industrieländer Westeuropas dazu über, ihre Grenzen für neue Arbeitswandernden zu schließen, die Rekrutierung weiterer ausländischer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen einzustellen und das Gastarbeitersystem, auf das bis dahin die Rekrutierung aufbaute, als überholt zu definieren. Portugals mitgrationswillige Arbeitskräfte waren besonders betroffen von dieser unerwarteten Schließung der Grenzen zu ihren bis dahin wichtigsten Zielorten (vor allem in Frankreich und in Deutschland) und vom Fehlen neuer, alternativer Arbeitsmärkte. Empirische Befunde zeigen, dass sich in den zehn Jahren nach der Wirtschaftskrise von 1973-1974 das portugiesische Migrationspotential nicht in eine reale Migration umgewandelt hat. Im Vergleich zu den 1.293.484 Menschen, die zwischen 1964 und 1974 das Land verlassen hatten, bedeuten die 294.423 Personen, die zwischen 1975 und 1985 auswanderten, einen beachtlichen Rückgang (Baganha/Marques 2001). Zu dieser quantitativen Veränderung kam noch eine bedeutungsvolle Verschiebung in der Zusammensetzung der Migrantengruppen, die nun nicht mehr überwiegend aus Arbeitsemigranten, sondern aus Familienangehörigen der vor der Krise ausgewanderten Personen bestanden. Der Rückgang der Auswanderung und die zunehmende Schwierigkeit, zuverlässige Daten über die Zahl der Emigranten zu erheben,1 machten die Emigration für Massenmedien, die politischen Klassen und die wissenschaftliche Forschung fast unmerklich. Diese Unsichtbarkeit veranlasste die portugiesische Regierung zu Beginn der neunziger Jahre dazu, das Ende der portugiesischen Auswanderung offiziell zu verkünden. Der damalige portugiesische Außenminister João de Deus Pinheiro behauptete in einem Interview mit der schweizeri1
Diese Schwierigkeiten waren insbesondere ab 1988 zu spüren, als die Erhebung von Zahlen zur portugiesischen Auswanderung aus offizieller Seite eingestellt wurde.
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José Carlos Marques
schen Zeitung Le Nouveau Quotidien vom Oktober 1991, dass Portugal den Wandel von einem Auswanderungs- zu einem Einwanderungsland vollzogen habe (Baganha/Góis 1998/1999: 249). Die Begeisterung, nunmehr der Gruppe der politisch, ökonomisch und symbolisch bedeutenden Länder der Europäischen Gemeinschaft anzugehören, ließ die Beständigkeit der Auswanderung in den Augen der politischen Elite als eine Peinlichkeit (Baganha/Marques 2001) erscheinen. Der Beitritt Portugals in die EU sollte stattdessen zur Entwicklung von Wanderungsmustern führen, die denen der entwickelten Länder ähnelten. Da Portugal nun als EU-Staat Teil eines Anziehungspols der internationalen Migration geworden war, erwartete die politische Klasse, dass das Land zum Empfänger von Migranten aus wenig entwickelten Ländern werden würde. Zu diesem Szenario gehörte auch, dass die Auswanderung, wenn nicht bereits erloschen, so doch mindestens in einem schnellen und sich weiter beschleunigenden Prozess des Niedergangs sei. Die Auswanderung portugiesischer Arbeitskräfte erschien ferner als ein theoretischer Irrtum, der nicht durch wirtschaftliche Verwerfungen zwischen Portugal und den übrigen EU-Staaten bedingt sei, sondern durch Gründe, die keine ökonomischen waren. Diese politische Neubewertung der portugiesischen Emigration wurde sogar auf die Emigranten ausgedehnt, die das Land in den vorhergehenden Jahrzehnten verlassen hatten. So wurde von offizieller Seite die Bezeichnung ‚Emigranten’ durch ‚portugiesische Gemeinschaften’ (comunidades portuguesas)2 und die Unterscheidung zwischen in Portugal lebenden Portugiesen und Emigranten durch die Unterscheidung zwischen ansässigen und nicht-ansässigen Portugiesen ersetzt (Santos 2004: 65- 69). Während sich dieser Diskurs über das Ende der portugiesischen Auswanderung unter der politischen und akademischen Elite verbreitete, wurde das Land mit einer neuen Migrationsrealität konfrontiert, die zum Bild Portugals als eines entwickelten Landes passte. Seit Mitte der achtziger Jahre ließ sich eine Zunahme der Immigration beobachten. Sie führte bei gleichzeitigem Mangel an Informationen über die Auswanderung zu einer stets wiederkehrenden Bestätigung der These, Portugal sei nun nicht mehr ein Emigrations- sondern ein Immigrationsland. Diese These erhielt sogar wissenschaftliche Legitimation durch die Publikation eines Buches im Jahr 1991 mit dem Titel ‚Einwanderungsland Portugal’ (Portugal: País de Imigração, Esteves 1991). Die Zahl der in Portugal lebenden Personen mit einem nichtportugiesischen Pass nahm in den achtziger und neunziger Jahren von 58.091 (1980) auf 190.896 (1999) zu; dies rechtfertigte die gesteigerte Aufmerksam2
Die offizielle Bezeichnung des Nationalfeiertages am 10. Juni lautet ‚Tag Portugals, Camões’ und der Portugiesischen Gemeinschaften’ (Dia de Portugal, de Camões e das Comunidades Portuguesas).
Die portugiesische Emigration
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keit, mit der die Immigration aufgenommen wurde. Auf politischer Ebene wurde die Idee, Portugal sei ein Einwanderungsland, durch den portugiesischen Staat selbst ausgenutzt, der sie in seinen Diskurs der ‚Vorstellung des Zentrums’ einbettete (Santos 1993: 49) – einen Diskurs, der das Land dank seiner Integration in die Europäische Gemeinschaft als einen wesentlichen Bestandteil des ‚Zentrums’ ansah und nicht mehr an eine randständige Position im ökonomischen Weltsystem schob. Die ‚Vorstellung des Zentrums’ wurde aber nur teilweise durch die Realität der Migrationsbewegungen gestützt. Diese war zwar von einem Anstieg der Einwanderung geprägt; jedoch nahm gleichzeitig die Auswanderung zu. 2
Die Wiederbelebung der portugiesischen Arbeitsmigration ab Mitte der achtziger Jahre
Der Rückgang wissenschaftlicher Studien zur portugiesischen Auswanderung kontrastierte mit einem deutlich verstärkten Diskurs und einer wissenschaftlichen Praxis um die Einwanderung. Wie jedoch häufig, widerspricht die Wirklichkeit auch im Falle der portugiesischen Migration den verbreiteten Diskursen. Wie Baganha und Peixoto in den neunziger Jahren zeigten (Baganha/Peixoto 1997), war die portugiesische Emigration allerdings weit davon entfernt zu verschwinden und erfuhr sogar eine durchgängig positive Entwicklung ab Mitte der achtziger Jahre. Das Aufleben der portugiesischen Emigration bedeutet aber nicht, dass sie im gleichen institutionellen Kontext wie in den sechziger und siebziger Jahren stand und dieselben Charakteristika besaß. Die klassische Behauptung von Kingsley Davis, Migrationsbewegungen reflektieren die Welt wie sie im Moment sei (Davis 1974), ist hier besonders erhellend, um die Veränderungen der Migrationen ab Mitte der achtziger Jahre im Zusammenhang zu betrachten. Das Auf-den-Plan-Treten neuer Aufnahmeländer, die Entwicklung von (scheinbar) neuen Modalitäten der Migration und die Veränderung des institutionellen und politischen Kontextes, in dem die portugiesische Auswanderung stattfand, sind die bedeutendsten Einflussfaktoren, die diese neuen Migrationsbewegungen begünstigt haben. In der folgenden Sektion möchten wir einige Daten genauer betrachten, die diese Veränderungen anschaulich machen.
José Carlos Marques
26 3
Zunahme der externen Mobilität und Entstehung neuer Migrationsziele
Die Analyse der Daten bezüglich der Einreise von Portugiesen in andere Länder zeigt, dass sich zwischen 1985 und 1990 in Portugal die grenzüberschreitenden Wanderungen intensivierten, nachdem sie zwischen Mitte der siebziger und Mitte der achtziger Jahre zurückgegangen waren: Im Durchschnitt wanderten zwischen 1985 und 1990 33.000 Personen pro Jahr aus.3 Wie in den sechziger und frühen siebziger Jahren emigrierten die Portugiesen hauptsächlich in europäische Länder. Jedoch änderte sich die relative Bedeutung der verschiedenen Aufnahmeländer. Die Schweiz, bis dahin ein marginaler Zielort für portugiesische Emigranten, ersetzte Frankreich als Haupteinwanderungsland. Zwischen 1985 und 1991 empfing die Schweiz 59%, Frankreich hingegen nur 6% der portugiesischen Emigranten, die in einen europäischen Staat auswanderten (Baganha/Peixoto 1997). Beide Befunde, die Zunahme der externen Mobilität der portugiesischen Staatsbürger und die Veränderung der relativen Position der europäischen Ankunftsländer, lassen sich durch Zahlen zu portugiesischen Einwohnern europäischer Ländern erhärten. Abbildung 1 zeigt, dass die Zahl der Portugiesen in sieben ausgewählten europäischen Staaten seit 1985 kontinuierlich zunahm. Dieses Wachstum ist nicht allein durch eine natürliche Zunahme der Zahl der Emigranten erklärbar, sondern nur als Folge neuerer Wanderungsbewegungen. Abb. 1: Im Ausland lebende Portugiesen, 1981-2006 1981 1985 1990/1 1995 2000/1 2006 1.304 1.731 3.951 6.885 6.748 12.789 Andorra1) 3) 77.000 92.991 125.100 133.726 115.028 Deutschland1) 4) 109.417 10.482 9.500 16.538 23.900 25.600 28.514 Belgien1) 24.094 23.300 33.268 37.000 42.000 100.196* Spanien1) 5) 28.069 39.100 51.500 58.450 67.790 Luxemburg2) 30.000 58.000 83.000** Großbritanien1) 16.587 30.851 85.649 134.827 134.675 173.477 Schweiz6) 189.953 142.382 271.497 409.212 459.173 580.794 Gesamt Quellen: 1) SOPEMI, verschieden Jahre; 2) Service Central de la Statistique et des Études Économiques (STATEC); 3) Ministeri de Justícia i Interior (Andorra); 4) Statistisches Bundesamt Deutschland, Foreign Population. Results of the Central Register of Foreigners, 2006; 5) National Statistics Institute Spain, Estimate of the Municipal Register at 1 January 2007 (Provisional data); 6) Bundesamt für Migration, Ausländer- und Asylstatistik, 2006/2 Anm.: * 01.01.2007; **2003 3
Diese Zahl lag allerdings wesentlich niedriger als in der Zeit der intensivsten Auswanderung des 20. Jahrhunderts: Zwischen 1965 und 1974 hatten im Durchschnitt 122.000 Personen pro Jahr das Land verlassen (Baganha 1991, 1993; Peixoto 1993; Baganha/Peixoto 1997).
Die portugiesische Emigration
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In den meisten der betrachteten Länder hat sich zwischen 1985 und 2006 die Zahl der portugiesischen Staatsangehörigen fast verdoppelt, was umso deutlicher unterstreicht, dass das Ende der portugiesischen Auswanderung eine Illusion ist. Mark Twain paraphrasierend, könnten wir sagen, dass die Chronik über das Ende der portugiesischen Abwanderung chronisch übertreibt. Zugleich nahm (in absoluten und relativen Zahlen) die portugiesische Auswanderung in Länder zu, in denen portugiesische Staatsbürger bis vor kurzem fast fehlten. Die portugiesische Auswanderung fand somit ab den achtziger Jahren alternative Ankunftsregionen zu den traditionellen Empfängerländern. Das Beispiel der Schweiz und Andorras ist für die Entstehung und Verdichtung der neuen Zielorte geradezu paradigmatisch. In beiden Fällen wandelte sich die Anwesenheit der Portugiesen innerhalb eines verhältnismäßig kurzen Zeitraums von einer numerisch irrelevanten Größe zu einer der bedeutendsten Ausländergemeinschaften, die in diesen Ländern lebt. 4
Neue Emigrationsformen
Zur oben beschriebenen, mehr oder weniger dauerhaften Langzeitauswanderung müssen wir den wichtigen temporären Migrationsstrom4 hinzufügen. Die realen Zahlen dieser auf Zeit gestellten Emigration sind schwer zu erfassen. In der Schweiz zum Beispiel lag die temporäre Einwanderung von Portugiesen während der achtziger und neunziger Jahre bei etwa 33.000 pro Jahr. Da diese Auswanderungen nicht von Dauer sind, können wir nicht davon ausgehen, dass der Gesamtauswanderungszahl eine gleiche Anzahl von Individuen entspricht. Tatsächlich wandern dieselben Menschen in aufeinander folgenden Jahren mehrfach temporär aus. Im Falle der Auswanderung in die Schweiz werden diese temporären Aufenthalte so lange wiederholt, bis die notwendigen Bedingungen zur Erlangung einer dauerhaften Aufenthaltserlaubnis erreicht werden. Die Bedeutung der temporären Auswanderung wird auch sichtbar in Migrationsbewegungen, die auf die traditionellen Aufnahmeorte der dauerhaften portugiesischen Migranten in Europa während der sechziger und siebziger Jahre ausgerichtet sind. In Frankreich stieg zum Beispiel die Zahl der temporären portugiesischen Migranten von ungefähr 3.000 im Jahr 1976 auf 14.719 im Jahr 1989 und auf 16.568 im Jahr 1991. Ein erheblicher Teil dieser temporären Migranten war später in den 15.368 dauerhaften Arbeitskräften inbegriffen, die durch das Office des Migrations Internationales (OMI) und des Institut Nationa4
‚Temporäre’ oder ‚Kurzzeitauswanderung’ bezeichnet eine Auswanderung, die von der Absicht geleitet ist, weniger als ein Jahr im Ausland zu arbeiten.
José Carlos Marques
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le D’Études Démographiques (INED) registriert wurden (Daten des OMI, zit. nach Ruivo 2001: 160-161). Diese neuen Formen der Migration koexistieren mit den klassischen Wanderungsbewegungen. Die Entwicklung von verschiedenen Formen temporärer Migrationen sowie die Vermischung dauerhafter und temporärer Bewegungen (Peixoto 1993a: 68) sind die auffälligsten Aspekte der Veränderungen in den portugiesischen grenzüberschreitenden Migrationen. Es entstehen häufig hybride Bewegungen, in denen eine dauerhafte Niederlassung durch wiederholte temporäre Migration und durch längeren Aufenthalt erreicht wird, als er in der Aufenthaltserlaubnis vorgesehen ist. 5
Die portugiesische Auswanderung in die Schweiz
Die portugiesische Emigration in die Schweiz ist paradigmatisch für die Änderungen in den Wanderungsbewegungen ab Mitte der achtziger Jahre. Zum einen beruhte sie zu Beginn auf einer neuen Wanderungsform – der saisonalen Wanderung; zum anderen wurde die Schweiz zum neuen, bald sogar zum Hauptziel der portugiesischen Emigration. Die verfügbaren Daten über die portugiesische Auswanderung in die Schweiz bestätigen, dass dieses Land während der sechziger und siebziger Jahre noch am Rande der portugiesischen innereuropäischen Wanderungsströme lag. Der erste Nachweis von in der Schweiz lebenden Portugiesen stammt aus dem Jahr 1960. In diesem Jahr wohnten 373 Portugiesen in der Schweiz, das waren weniger als 0,1% der insgesamt 495.638 dort wohnenden Ausländer. Mangels Daten über die jährliche Zuwanderung von Portugiesen in die Schweiz kann man lediglich feststellen, dass diese Zuwanderung langsam, aber kontinuierlich verlief und die Zahl der in der Schweiz wohnenden Portugiesen von 1.409 im Jahr 1964 auf 1.600 im Jahr 1966 und auf 5.996 im Jahr 1975 wuchs. Die Analyse des Wachstums der im schweizerischen Staatsgebiet lebenden portugiesischen Gemeinde ist besonders interessant, wenn man berücksichtigt, dass im Jahr 1964 die Schweizer Regierung die Einwanderungsmöglichkeiten deutlich einschränkte (Piguet 2005: 92). Die Einschränkungen richteten sich auf bestimmte Länder – hauptsächlich in Asien und Afrika, aber auch auf Griechenland, Portugal und die Türkei –, die gemäß der eidgenössischen Behörden einen größeren kulturellen Abstand zur schweizerischen Kultur und andere politische, soziale und religiöse Anschauungen aufwiesen, die die Anpassung an die schweizerischen Arbeits- und Lebensbedingungen erschwerten (Bundesamt für Industrie Gewerbe und Arbeit 1964: 173-174).
Die portugiesische Emigration
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Die jährliche Einwanderungsbilanz von Portugiesen in die Schweiz lässt sich ab 1969 statistisch dokumentieren. Den Daten des Bundesamtes für Ausländerfragen zufolge entwickelten sich die Zahlen positiv, nur in den rezessiven Perioden von 1974-1975 und 1983 sowie mit größerer Intensität ab 1994 wurde der Trend gebrochen (Abb. 2). Nach der Überwindung der wirtschaftlichen Konjunktureinbrüche, während derer die Fortzüge portugiesischer Staatsangehöriger aus der Schweiz höher waren als die Zuzüge, stieg die Emigration der Portugiesen in die Alpenrepublik wieder an – ein Trend, der bis heute anhält. Abb. 2: Entwicklung der Einwanderung von Portugiesen in die Schweiz mit Niederlassungs- und Jahresbewilligungen (1969-2006) 20000 16000 12000 8000 4000
Entradas Einreisen
2005
2003
2001
1999
1997
1995
1993
1991
1989
1987
1985
1983
1981
1979
1977
1975
1973
1971
1969
0
Saídas Ausreisen
Quelle: BFA, verschiedene Jahre
Zu diesen permanenten Zuzügen (bestehend aus Zuwanderern im Besitz einer jährlichen oder unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung) müssen die temporären Zuwanderer hinzugezählt werden. In vielen Fällen gelingt es Letzteren, unter Erfüllung der rechtlichen Voraussetzungen in einen dauerhaften Aufenthaltsstatus zu wechseln. Dies bestätigt die These, die von Baganha und Peixoto vorgebracht wurde, dass sich oft hinter der saisonalen Auswanderung die Absicht eines permanenten Aufenthalts verbirgt. Dass sie als saisonal oder temporär in der Statistik erscheint, ergebe sich lediglich aus der Anpassung an die Einwanderungsgesetzgebung des Ziellandes (Baganha/Peixoto 1997: 25).
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José Carlos Marques
Wie wir bereits an anderer Stelle vertreten haben (Marques 2006), bedarf diese These trotz ihrer grundsätzlichen Richtigkeit einer zusätzlichen Differenzierung. Denn für viele portugiesische Emigranten ist die saisonale Arbeit im Ausland eine selbst gewählte wirtschaftliche Strategie und darf entsprechend nicht als ein bloßes Mittel zur dauerhaften Niederlassung im Zielland angesehen werden. Die Bedeutung der saisonalen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in der Schweiz rechtfertigt eine genauere Betrachtung des Phänomens. Ähnlich wie die jährliche und die permanente stieg auch die saisonale Zuwanderung bis in die neunziger Jahre hinein an: Zwischen 1980 und 1983 gab es 23.700 Zuzüge pro Jahr, zwischen 1984 und 1990 waren es bereits 40.700 jährlich (Abb. 3). Da diese Art der Zuwanderung stark von Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt abhängt, hatte die wirtschaftliche Krise der neunziger Jahre direkte Auswirkungen auf die saisonale Zuwanderung portugiesischer Staatsangehöriger in die Schweiz. Bereits im Jahr 1991 ging die portugiesische Saisonzuwanderung zurück, im darauf folgenden Jahr akzentuierte sich diese Tendenz und hielt bis 1998 an. In jenem Jahr fiel die saisonale Migration von Portugiesen in die Schweiz fast auf den Wert von 1980. Ab 1999 nahm die temporäre Migration wieder zu und erreichte 2001 bereits 29.291 Zuzüge. 2002 wurde zwar die Kategorie des Zuzugs in der Statistik nicht mehr aufgeführt, doch die Beobachtung der Zahlen über die Kurzzeitaufenthalte (ein Jahr oder weniger) lässt erkennen, dass die temporären Zuzüge weiterhin hoch waren, auch wenn sie unter dem Wert von 2001 blieben. 2005 wurden 10.125 temporäre Aufenthaltsgenehmigungen ausgestellt, 2006 waren es 12.081 (Abb. 3). In der Folge dieser Zuwanderungsbewegungen wurde die portugiesische zur drittgrößten Ausländergruppe in der Schweiz, nach der italienischen und der serbischen Volksgruppe.5 Ende 2006 wohnten 173.477 Portugiesen in der Schweiz, davon waren 122.935 (70,8%) im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung. Entsprechend der Migrationsbewegungen zeigt die Zahl der Portugiesen, die in der Schweiz wohnen, eine ähnliche Entwicklung: Bis 1996 lässt sich eine deutliche Zunahme feststellen, danach nahm der Wert ab, um ab 2001 wieder ein positives Saldo aufzuweisen (Marques 2006).
5
Relativ gesehen machten die Portugiesen 2006 11,4%, die Serben 12,5% und die Italiener 19,1% der ausländischen Bevölkerung der Helvetischen Eidgenossenschaft. Diese Ranking änderte sich 2007, da Deutschland nach Italien das meist repräsentierte Herkunftsland der ausländischen Bevölkerung in der Schweiz wurde, gefolgt von Serbien und Montenegro und an vierte Stelle Portugal (Bundesamt für Statistik 2008: 7).
Die portugiesische Emigration
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Abb. 3: Zuzug von Portugiesen mit saisonalen (1980-2001) und temporären (2002-2006) Aufenthaltsgenehmigungen 60000 50000 40000 30000 20000 10000
Sazonais saisonal
2006
2004
2002
2000
1998
1996
1994
1992
1990
1988
1986
1984
1982
1980
0
Curta Duração temporär
Quelle: BFA
Abb. 4: Entwicklung der portugiesischen Bewohner in der Schweiz (19802006) 200000 180000 160000 140000 120000 100000 80000 60000 40000 20000
Quelle: BFA
2006
2004
2002
2000
1998
1996
1994
1992
1990
1988
1986
1984
1982
1980
0
José Carlos Marques
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Neuer institutioneller Kontext
Portugals Beitritt zur EU schuf auf institutioneller Ebene neue Bedingungen hinsichtlich der Freizügigkeit für portugiesische Arbeitkräfte. Ab 1992 hatte die portugiesische Bevölkerung Zugang zum europäischen Raum des freien Personenverkehrs, was auf den ersten Blick eine Zunahme der Auswanderung begünstigte. Jedoch führten die neuen Rahmenbedingungen zu einer gänzlich neuen Art von Mobilität (Ramos/Diogo 2003), die – zuweilen nur augenscheinlich – von den traditionellen Migrationsmustern abweicht. Es handelt sich um entsandte (meist männliche) Arbeitnehmer, die mit dem Beitritt Portugals zur damaligen EWG auf der Bildfläche erschienen. Nach dem Beitrittsvertrag konnte der freie Verkehr von Arbeitnehmern erst nach einer Übergangszeit vollzogen werden, die bis Januar 1992 andauerte. Der Vertrag schränkte jedoch nicht die Freiheit portugiesischer Unternehmen ein, im europäischen Raum Dienstleistungen anzubieten. So kam es, dass ab 1986 Hunderte von portugiesischen Arbeitskräften insbesondere für die Arbeit an Baustellen in Südfrankreich und im Pariser Becken entsandt wurden (Eichhorst 1998: 157). Diese Praxis dehnte sich im Laufe der neunziger Jahre auf Deutschland aus. Mit dem ‚Aufbau Ost’ war hier die Nachfrage nach Bauarbeitern in den neunziger Jahren besonders groß, was zu einer massiven Rekrutierung portugiesischer Arbeiter nach Deutschland führte. Diese Rekrutierung unterscheidet sich von den traditionellen Zuwanderungsmodalitäten, da die Arbeitermobilität von portugiesischen Unternehmen organisiert wurde. Diese waren in der Regel Dienstleister deutscher Bauunternehmen, die aus der EU-Freizügigkeit Kapital schlagen wollten.6 Ein weiterer Unterschied zum Kontext der Anwerbung von Gastarbeitern betrifft die Sozialleistungen. Die Anwerbungsverträge der fünfziger und sechziger Jahre verpflichteten den deutschen Staat, den ausländischen Arbeitskräften dieselben sozialen Leistungen zu gewähren, die auch der deutschen Bevölkerung zugute kamen. Die Rekrutierung von Arbeitnehmern in den neunziger Jahren hingegen schloss die Immigranten aus allen sozialen und teilweise aus tariflichen Regelungen der Bundesrepublik aus (Faist 1995: 42). In der Tat werden diese Menschen nicht als individuelle, sondern als kollektive Migranten gesehen, deren Einreise im Rahmen des jeweilig mit einem portugiesischen Unternehmen vereinbarten Auftrags geregelt wurde.
6
Dieses Phänomen ist in der Geschichte der portugiesischen Auswanderung nicht neu. Bereits in den achtziger Jahren wurden portugiesische Arbeitnehmer (die Zahl wurde nicht statistisch erfasst) von portugiesischen Unternehmen in Nahost-Staaten rekrutiert, die dort in der Baubranche tätig waren (Medeiros 1985: 177).
Die portugiesische Emigration
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Die genaue Zahl der Portugiesen, die im Rahmen dieser Art der Mobilität im Ausland tätig waren, lässt sich schwer beziffern, da sie nicht in die üblichen Kanäle des deutschen Arbeitsmarkts und des Gesundheitssystems Eingang fanden. Georg Wortmanns Versuch, die Daten zu rekonstruieren, ergibt die Zahl von 21.919 Portugiesen, die im Jahre 1997 nach Deutschland rekrutiert wurden. Dies entsprach 12,1% der in der BRD Erwerbstätigen, die aus anderen Staaten stammten, und 40% der aus EU-Staaten entsandten Arbeitnehmer (Wortmann 2003). Demgemäß war Portugal der EU-Staat, der die meisten Arbeitskräfte nach Deutschland entsandte. Andere Autoren kritisieren an dieser Statistik die Tatsache, dass sie nur die Personen berücksichtigt, die sich legal in Deutschland aufhielten. Sie vernachlässigt somit die nicht geringe Zahl von Portugiesen (Schätzwert: 35.000), die illegal am ‚Aufbau Ost’ mitwirkten (Gago/Vicente 2002: 212). 7
Schluss
Betrachtet man die portugiesischen Auswanderungsbewegungen seit den achtziger Jahren, die im vorliegenden Artikel beschrieben wurden, so lässt sich feststellen, dass in diesem Zeitraum traditionelle Auswanderungsmuster und neuere Formen der Mobilität koexistieren.7 Diese neue Mobilität ist zum einen das Ergebnis des rechtlichen Rahmens, der mit Portugals Beitritt zur EWG die Beziehungen zwischen Portugal und seinen europäischen Nachbarn neu regelte; zum anderen resultiert sie aus Einschränkungen in der Migrationsgesetzgebung seitens der klassischen Zielstaaten portugiesischer Auswanderung. Die Zunahme der temporären Auswanderung und ihre Vermischung mit Formen permanenter Auswanderung (Peixoto 1993a: 68) machen das sichtbarste Phänomen innerhalb der Transformation der portugiesischen Auswanderungsbewegungen aus. Es handelt sich in vielen Fällen um hybride Bewegungen, an deren Ende nach wiederholten temporären Aufenthalten ein dauerhafter Verbleib stand. Diese neuen Mobilitäten sind besonders evident im Phänomen der saisonalen Beschäftigung in der Schweiz und der Entsendung von Bauarbeitern nach Deutschland. In beiden Kontexten wechseln sich legale Beschäftigung im Rahmen von Arbeitnehmerentsendungen, illegale Tätigkeiten und sogar Selbständigkeit ab. Sie unterscheiden sich deutlich von der klassischen Auswanderung der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts und entstehen innerhalb neuer transnationaler sozialer Räume (Faist 2003: 4), die sich auf der Grundlage eines neuen europäischen Binnenmarktes entfalten. Abgesehen von diesen Fak7
Zu ähnlichen Ergebnissen kamen bereits andere Autoren, siehe etwa: Baganha 1993; Baganha/Peixoto 1997; Ramos/Diogo 2003.
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José Carlos Marques
toren institutioneller Art trug eine Reihe weiterer Motive dazu bei, dass die Auswanderung nach wie vor ein prägendes Phänomen der portugiesischen Gesellschaft ist. 1) Wie in den sechziger und siebziger Jahren ist die Auswanderung heute geprägt von der Suche nach wirtschaftlichen Perspektiven, die in Portugal fehlen. 2) Die Arbeitsmärkte der Zielländer sind stark segmentiert. Dies ist besonders deutlich im Falle der portugiesischen Auswanderung in die Schweiz. Hier wurden in einer ersten Phase die Arbeitsplätze im sekundären Sektor an italienische und spanische Immigranten vergeben; in einer zweiten Phase lösen auf den Industriearbeitsplätzen portugiesische Immigranten diese beiden Gruppen ab, die nun attraktiveren Beschäftigungen im Dienstleistungssektor nachgehen. 3) Innerhalb einiger Regionen Portugals hat sich eine „culture of migration“ (Kandel/Massey 2002: 981) entwickelt. Diese Kultur ist präsent in Regionen (insbesondere im Norden), die seit dem 19. Jahrhundert von Auswanderung geprägt sind, sodass die Option, das Land zu verlassen, um einer Tätigkeit nachzugehen, ein vertrautes Verhaltensmuster ist, das entsprechend von der Gesellschaft nicht stigmatisiert wird (Baganha/Góis 1998/1999: 231). 4) Nach wie vor existieren portugiesische Minderheiten in vielen Regionen der Welt, die eine dichte soziale Struktur entwickeln und dadurch die Emigration aus Portugal in die entsprechenden Regionen begünstigen. Sobald die Individuen einen Zugang zu solchen Netzwerken erlangen, verfügen sie über Informationen und materielle Unterstützung für ihre Auswanderungsprojekte. Solche Netzwerke beschränken ihre Wirkung nicht nur auf zwei Orte. Vielmehr schaffen sie eine Verbindung zwischen dem Herkunftsland und zahlreichen Zielen, die unter bestimmten politischen und ökonomischen Bedingungen aktiviert werden kann. Es ist dabei vermutlich von multipolaren Migrationsnetzen mit unterschiedlichen Produktivitätsgraden auszugehen, d.h. von Netzen, die Pole mit stärkeren oder schwächeren (und mal aktiven, mal inaktiven) Wanderungsbewegungen unterhalten. Gerade diese Dynamik der Migrationsnetze kann erklären, dass die im 20. Jahrhundert am häufigsten gesuchten Auswanderungsziele wie Frankreich oder Luxemburg in letzter Zeit wieder aktiviert werden und sich die Formen der Mobilität in Länder wie Spanien, England, Deutschland oder die Niederlande zunehmend diversifizieren.
Die portugiesische Emigration
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Portugal – eine Semiperipherie im globalen Migrationssystem: Aus- und Einwanderung als verschränkte Phänomene1 Pedro Góis; José Carlos Marques
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Migrationssysteme: Portugal als Semiperipherie?
Migrationsprozesse werden bekanntlich von einer Vielzahl von Makro- und Mikrostrukturen sowie von zwischen diesen beiden Ebenen liegenden Institutionen beeinflusst. Die Makrostrukturen hängen von der politischen Ökonomie der Weltmärkte, den zwischenstaatlichen Beziehungen sowie den legislativen und politischen Strukturen der Staaten ab, die Weggang, Ankunft und Bleibedauer der Migranten regeln. (Castles/Miller 1993: 23). Die Mikrostrukturen werden ihrerseits durch die Individuen selbst und die sozioökonomischen Verhältnisse bestimmt, in denen sie leben. Die vermittelnden Institutionen schließlich werden durch informelle Beziehungen von Migranten und durch Organisationen (etwa grenzübergreifend agierende Firmen oder Migrationsnetzwerke) geprägt, die die Migration fördern oder erleichtern. Soziale Netzwerke bringen die Individuen mit den herrschenden Migrationsbedingungen in Verbindung; dadurch tragen sie dazu bei, dass Verbindungen zwischen den Ländern, die einem Migrationssystem angehören, aufrechterhalten werden. Damit werden solche Netzwerke zu einer zentralen Komponente des Migrationssystems (Boyd 1989: 643, 661). Migrantennetzwerke helfen dabei, Ressourcen und Informationen zwischen sozialen Gruppen zu kanalisieren, und fördern somit weitere Migration. Daher kann man ein Migrationssystem wie folgt konzeptualisieren: [A] network of countries linked by migration interactions whose dynamics are largely shaped by the functioning of a variety of networks linking migration actors at different levels of aggregation (Kritz/Zlotnik 1992: 15).
Der systemischen Herangehensweise an den Gegenstand grenzüberschreitender Migration liegt die Annahme zugrunde, dass Migration kein schlichtes Resultat 1
Dieser Artikel entspricht einem Beitrag auf dem 7. Lusitanistentag am 7. September 2007 in Köln. Eine ähnliche Version wurde bereits bei der Konferenz „Migration and the Lusophone World“ vorgetragen, die an der Georgetown University, Washington DC, vom 17. bis zum 18. November 2006 stattfand.
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Pedro Góis / José Carlos Marques
klassischer Push- und Pull-Faktoren ist, sondern ein komplexes Ergebnis wirtschaftlicher, politischer, kultureller und historischer Beziehungen zwischen den betroffenen Räumen. Migration ist keine direkte Folge bestimmter Ursachen, sondern ein Phänomen, in dem Rückkopplungen, Wechselwirkungen und zirkuläre Effekte zur Entstehung, Profilierung und Modifikation eines spezifischen Systems beitragen. Grundlegend für diese Herangehensweise an Mobilitätsphänomene ist es, internationale Migration als eine der möglichen Beziehungen zwischen Staaten und Regionen zu sehen, die wiederum in ihrem Zusammenspiel mit anderen Typen des Transfers und Austauschs – wirtschaftlicher, institutioneller, politischer, kultureller oder sprachlicher Art – analysiert werden, die verschiedene Länder verbinden. Migrationsdynamiken sind daher größtenteils durch die Arbeit einer Anzahl von Netzwerken determiniert, die verschiedene Akteure im Migrationsprozess auf unterschiedlichen Ebenen der Aggregation verbinden (Kritz/Zlotnik, 1992). Bezüglich der internationalen Migration hat man es häufig mit ‚makro-regionalen Netzwerken’ zu tun, die eine empfangende Kernregion (ein Land oder mehrere Länder) mit mehreren Entsendeländern verbinden. Diese Makro-Regionen werden als nicht-isolierte „eigenständige Migrationssysteme“ (Zlotnik 1992) beschrieben, die untereinander kommunizieren. Da es oft zu Interaktionen und Spillover-Effekten kommt, werden die Migrationssysteme als dynamische Einheiten definiert. Die Kommunikationsprozesse sorgen zugleich dafür, dass bestimmte Länder in ein Migrationssystem integriert bzw. aus ihm ausgeschlossen werden. Deshalb und weil diese Prozesse auf verschiedenen Ebenen stattfinden, können wir von mehrschichtigen Migrationssystemen ausgehen, woraus sich verschiedene Analyseebenen ergeben, die auf Variationen innerhalb eines definierten Makrosystems hindeuten. In jüngster Zeit wurden in der Forschung fünf große Migrationssysteme kartiert, die als stabil eingeschätzt werden, obwohl sie erst in den letzten dreißig Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden sind. Jedes dieser fünf Systeme ist durch stabile Migrationsströme durch Zeit und Raum charakterisiert. Generell verlaufen die Migrationsströme parallel zu dem Strom von Gütern, Geld und Informationen, der teilweise durch die internationale Politik strukturiert wird (Massey 2003). Diese fünf Makromigrationssysteme sind: 1) das Nordamerikanische System; 2) das Westeuropäische System; 3) das Persische Golf-System; 4) das Asiatisch-Pazifische System; 5) das Systems des Südamerikanischen Südkegels. Betrachtet man die Konzeptualisierung der Makromigrationssysteme nach Douglas Massey, fällt auf, dass ein afrikanisches Migrationssystem mit seinen Süd-Süd-Migrationen, seinem charakteristischen Profil und seiner langen Geschichte fehlt. Wenn man das Afrikanische Migrationssystem (Abb. 1) mit einbezieht, wird die Welt vollkommen in Makromigrationssysteme aufgeteilt.
Portugal – eine Semiperipherie im globalen Migrationssystem
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Um aber zu einer produktiven Typologie der Migrationssysteme zu gelangen, ist es notwendig, zum einen verschiedene Ebenen der Interaktion (Makro-, Meso- und Mikroebene) zu betrachten, und zum anderen, die Verbindungen zwischen diesen Ebenen zu analysieren. Folgt man diesem Konzept, so erscheint die Weltsystem-Theorie als ein wichtiges theoretisches Instrument, das die Position verschiedener Länder in einem System zu untersuchen vermag. Die Weltsystem-Theorie teilt die Welt in zentrale, semiperiphere und periphere Ökonomien in einem sich entwickelnden globalen Marktsystem ein, in dem die wirtschaftliche Hierarchie der Staaten ein Produkt langfristiger Zyklen ist. In der Grundannahme der Weltsystem-Theorie wird der Kapitalismus als Weltwirtschaft wie folgt definiert: […] core, peripheral, and semi-peripheral productive regions integrated by market mechanisms which are in turn distorted by the stronger of the competing states, none of which is strong enough to control the entire economy (Goldfrank 2000: 178).2
Abb. 1: Die aktuellen sechs größten Migrationssysteme
Wes t ern European Sy st em
North America System
Persian Gulf System Asian Pacific System
Africa System Southern Cone of South America System
Quelle: die Autoren
2
Der Kern besteht aus den technisch fortschrittlichsten and mächtigsten Ländern. Diese verändern sich im Laufe der Zeit, so dass sich auch der Kern verschiebt. Mit Beginn des maritimen Handels in Europa war der Kern in Portugal und Spanien zu finden, gefolgt von Holland und England, und in jüngster Zeit von den USA. Die Staaten in der Peripherie sind ärmer, technisch weniger weit entwickelt und ihre Volkswirtschaften basieren auf dem Export von Rohmaterialien. Zwischen dem Kern und der Peripherie liegt die Semiperipherie. Diese besteht aus Staaten, die im Vergleich zum Kern arm sind, aber unter günstigen Bedingungen den Entwicklungsschritt hin zum Kernstatus schaffen können. Das kann erfolgen, indem das Gehaltgefälle genutzt wird, um Produktion aus Kernländern abzuziehen und dadurch wirtschaftliches Wachstum zu generieren.
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Pedro Góis / José Carlos Marques
Nach diesem Analyserahmen ist die Semiperipherie weder eine Rest-Kategorie, noch befindet sie sich in einem Durchgangszustand. Sie ist vielmehr ein eindeutiger und permanenter Bestandteil des Weltsystems. Ein semiperipherer Status impliziert sowohl eine feste Position in der Struktur internationaler Arbeitsteilung als auch einen historischen Entwicklungsprozess – eine abhängige Entwicklung, die auf externes Kapital angewiesen ist. 2
Portugal als ein semiperipheres Land im globalen Migrationssystem
Entsprechend der Weltsystem-Theorie nimmt Portugal momentan eine semiperiphere Position aufgrund seines mittleren Niveaus wirtschaftlicher Entwicklung und seiner Rolle als Verbindungsstück zwischen der Ersten und der Dritten Welt ein (Wallerstein 1974). Jahrhundertelang ist Portugal eine zwischen den peripheren Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas sowie den Kernländern Europas und Nordamerikas verortete Gesellschaft mit einem durchschnittlichen Entwicklungsniveau gewesen. Das Land spielte auch eine Mittlerrolle zwischen dem Zentrum und der Peripherie, d.h. zwischen Europa und anderen Teilen der Welt – hauptsächlich Afrika und Lateinamerika – zuerst als koloniales Großreich, heute als Teil der Region ‚Peripherie des Zentrums’ in der Europäischen Union. Die semiperiphere conditio erlaubt es Portugal, enge Beziehungen sowohl zu Afrika und Lateinamerika als auch zu den weiter entwickelten Gebieten Europas und Nordamerikas aufrechtzuerhalten.3 Die Semiperipherie hat sich als eine geeignete analytische Kategorie erwiesen, um sämtliche Phänomene der portugiesischen Gesellschaft zu untersuchen. Sie war in den 1990er Jahren sehr beliebt, wenn sie auch in den letzten Jahren von ihrem analytischen Potential eingebüßt hat (Santos 1993). Wir glauben, dass dieses Konzept zur Analyse zeitgenössischer Migration in Portugal wieder eingeführt werden sollte. Nur mittels einer systemischen Analyse, die die Position Portugals im globalen Migrationssystem berücksichtigt, ist es möglich, die spezifischen Eigenheiten dieses Landes zu verstehen, in dem seit den achtziger Jahren sowohl Immigranten im sekundären Sektor Beschäftigung finden, als auch Emigranten im gleichen Sektor Arbeit im Ausland suchen. Dieses Phänomen besteht seit zwei Jahrzehnten und zeigt keinerlei Anzeichen einer kurzfristigen Änderung. Wäre Portugal ein ‚Kernland’ gewor-
3
Für eine detaillierte Charakterisierung Portugals als semiperipherer Gesellschaft siehe Santos 1993.
Portugal – eine Semiperipherie im globalen Migrationssystem
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den, würde die Auswanderung nicht die Bedeutung haben, die sie heute noch hat.4 Wenn wir Portugals Teilhabe an verschiedenen existierenden Migrationssystemen mit seiner semiperipheren Position verbinden, kann man von der Existenz eines ‚lusophonen Migrationssystems’ sprechen. Dieses System kommuniziert in ausgeprägter Form mit drei der von Massey identifizierten Systeme – dem Nordamerikanischen, dem Westeuropäischen und dem Südamerikanischen – sowie mit dem Afrikanischen System. Das Zusammentreffen der verschiedenen Wanderungsbewegungen, erweitert um die portugiesischen, kapverdischen und brasilianischen Migrationsnetzwerke, erlaubt es, einige allen gemeinsame Charakteristika hervorzuheben: 1) die Überschneidung der Entsendeländer im lusophonen Raum; 2) die Überschneidung der Migrationsziele für Auswanderer aus den drei Ländern; 3) eine Bandbreite an Migrationszielen für nur eines oder zwei dieser Länder. Diese Merkmale lassen sich an den Abbildungen 2 bis 5 ablesen. Abb. 2: Portugal im globalen Migrationssystem (Auswählte portugiesische Wanderungsbewegungen)
Quelle: die Autoren
4
Die Vorstellung Portugals als eines semiperipheren Landes ist womöglich der Schlüssel, um die Idiosynkrasie eines Landes zu verstehen, das seit zwei Jahrzehnten Mitglied der EU ist und immer noch die theoretische Anomalie des zeitgleichen Imports und Exports von Arbeitskräften für die selben Arbeitsmarktsektoren aufrechterhält.
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Pedro Góis / José Carlos Marques
Abb. 3: Die Kapverden im globalen Migrationssystem (Ausgewählte kapverdische Wanderungsbewegungen)
Quelle: die Autoren
Abb. 4: Brasilien im globalen Migrationssystem (ausgewählte brasilianische Wanderungsbewegungen)
Quelle: die Autoren
Portugal – eine Semiperipherie im globalen Migrationssystem
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Abb 5: Portugal, Kapverden und Brasilien im globalen Migrationssystem
Quelle: die Autoren
Die Idee, es existiere ein spezifisch lusophones System, ist nicht neu. Verschiedene Autoren haben über ein autonomes lusophones Migrationssystem geschrieben. Nach Peixoto bildeten die Migrationsströme, die bis zum Ende der neunziger Jahre nach Portugal flossen, ein ‚lusophones Migrationssystem’ (Peixoto 2004: 11). Allerdings glaubt Peixoto, dass das lusophone Migrationssystem durch die Globalisierung in Zukunft an Bedeutung verlieren könnte. Zusammen mit den Folgen der Migrationspolitik sei eine Diversifizierung der Herkunft der Migrationsströme nach Portugal zu erwarten. Diese Behauptung erscheint uns vorschnell, denn das Bild ist verzerrt (zugunsten der Zielländer) und lässt die Realität jenseits der offiziellen Statistiken unbeachtet. Jorge Malheiros (2005) stellt in einem Artikel die vielfältigen regionalen Dynamiken in Portugal vor und zeigt, wie sie unterschiedliche geografische Muster ausbilden und so an verschiedenen Migrationssystemen teilhaben können. Nach Malheiros hat Portugal an drei verschiedenen MigrationsSubsystemen teil: 1) an der konsolidierten Europäisch-Amerikanischen Migrationsstruktur (die einer Verbindung des Europäischen Migrationssystems mit dem Nordamerikanischen Migrationssystem nach Massey gleichkäme); 2) an dem konsolidierten System lusophoner Einwanderung (dem lusophonen Migrationssystem); 3) an der neuen und dynamischen Verbindung zur osteuropäischen Einwanderung (einem Subsystem des Europäischen Migrationsystems). Diese drei Subsysteme koexistieren und sollten auch zusammen analysiert werden, um ein umfassendes Bild der Position Portugals im heutigen internationalen Migra-
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tionssystem zu erhalten (Malheiros 2005: 261). Bezüglich des lusophonen Migrationssystems räumt Malheiros die Existenz autonomer Subsysteme ein, die von starken ethnischen oder koethnischen Netzwerken unterstützt werden. Als Beispiel eines solchen Subsystems nennt er das System, das Mosambik mit Lissabon und in jüngster Zeit auch mit England verbindet. Die Analysen zeigen die Existenz eines gemeinsamen Migrationsraumes, des lusophonen Raumes, der in aggregierter und diachronischer Verdichtung strukturelle Merkmale eines entstehenden Migrationssystems sichtbar werden lässt. Konstituierende Merkmale dieses Systems lassen sich mit Hilfe einer Analyse der verschiedenen Interaktionen auf den verschiedenen Ebenen feststellen. Im Folgenden möchten wir zwei Beispiele vorstellen, die fraglos zwei solcher Beziehungen auf staatlicher Ebene illustrieren, nämlich regulierende und relationale Beziehungen. Das erste Beispiel bezieht sich auf Sonderregelungen der letzten 20 Jahre zur Immigration; das zweite Beispiel betrifft das Zusammenspiel der beiden Migrationsströme auf dem Arbeitsmarkt: dem Abfluss von Portugiesen nach Europa, und den Zufluss portugiesischsprachiger Migranten nach Portugal. 3
Portugiesische Immigrationspolitik und das lusophone Migrationssystem
Politisch wurde die Zuwanderung portugiesischsprachiger Migranten nach Portugal in den letzten Jahrzehnten durch verschiedene Maßnahmen privilegiert. Die gemeinsame Sprache und Geschichte sowie die Aufrechterhaltung intensiver ökonomischer, sozialer und kultureller Beziehungen zwischen ehemaligen Kolonien und der Kolonialmacht haben den portugiesischen Staat besonders in den achtziger Jahren veranlasst, Amnestien und Legalisierungen zu erlassen und Maßnahmen in die Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftsgesetze aufzunehmen, die speziell Personen aus lusophonen Ländern betrafen. Die positive Diskriminierung spezifischer Gruppen scheint die Entwicklung der Migration nach Portugal (bzw. ihre Widerspiegelung in der Statistik) gefördert und die gesetzlichen Bemühungen um Integration beflügelt zu haben. Betrachten wir die Prinzipien und Ziele, die bei der Amnestie illegaler Immigranten in den letzten 15 Jahren zur Anwendung kamen, stoßen wir auf eine bevorzugte Behandlung ebendieser Menschen aus lusophonen Ländern. In der Tat war eines der Hauptprinzipien, auf denen die beiden Legalisierungsverfahren der neunziger Jahre beruhten, die historisch begründete Sonderbehandlung für Angehörige der Staaten mit portugiesischer Amtssprache. So richteten sich beide Regularisierungsprozesse vornehmlich auf illegale Immigranten aus lusophonen Ländern,
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mit dem Hintergedanken, Kooperationen und die freundschaftlichen Beziehungen mit Brasilien und den lusophonen Ländern in Afrika weiterzuentwickeln. Die bevorzugte Behandlung lusophoner Immigranten macht sich auch in den Zahlen zur Bearbeitung von Legalisierungsanträgen bemerkbar. Die Ablehnungsrate bei Immigranten aus lusophonen Ländern betrug weniger als 1%, wohingegen die Rate für andere Immigranten zwischen 10% und 43% schwankte. Zudem war die Bearbeitungszeit der Anträge kürzer: 75% wurden innerhalb von zwei Jahren bearbeitet. Zum Vergleich: Nur 5% der Anträge von Pakistanis wurden in diesem Zeitraum bearbeitet (Pires 2003: 205). Nach einer Unterbrechung im Jahr 2001 kehrte Portugal 2003 zeitweilig zu seiner Vorzugsbehandlung von Immigranten aus lusophonen Ländern zurück. Durch die gut organisierte Lobbyarbeit der brasilianischen Minderheit wurde die Legalisierung von illegal in Portugal lebenden brasilianischen Staatsangehörigen erleichtert. Dieser Prozess war eine Folge des Bilateralen Abkommens zwischen Brasilien und Portugal über die gegenseitige Aufnahme von Staatsangehörigen, das am 11. Juli 2003 unterschrieben und mit dem Gesetz 40/2003 am 19. September umgesetzt wurde. 29.522 Brasilianer konnten sich zwischen dem 25. August und dem 8. September für den Legalisierungsprozess vorregistrieren lassen. Diese Amnestie wurde weder von den betroffenen Brasilianern noch von den Behörden als Amnestie betrachtet, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Die portugiesischen Behörden empfanden diesen Prozess als einen reziproken Mechanismus bezogen auf die vergangene und gegenwärtige Migration portugiesischer Staatsbürger nach Brasilien und als eine positive Diskriminierung, die durch die besonderen Beziehungen zwischen den beiden Staaten berechtigt erschien. Aus der Sicht der brasilianischen Migranten wiederum war die Registrierung so bürokratisch, dass es für eine große Zahl unter ihnen besser war, illegal zu bleiben. Nur 15.6095 der vorregistrierten Migranten nahmen die Gelegenheit wahr, ihren Aufenthalt legalisieren zu lassen. Unter dem Druck von Nichtregierungsorganisationen, der katholischen Kirche und linksgerichteter Parteien ging die Regierung dazu über, das zunächst nur brasilianische Migranten begünstigende Verfahren auch für Menschen anderer Herkunft zu öffnen, sofern sie die im Gesetz 6/2004 vom 26. April 2004 definierten Vorgaben erfüllten. Auch für diesen Legalisierungsprozess war eine Voranmeldung (bis November 2004) notwendig. 53.197 Personen nutzten diese Möglichkeit, von denen 37% aus einem lusophonen Land stammten. Das Verfahren war diesmal keine Amnestie für Immigranten aus lusophonen Ländern und enthielt somit auch keine positive Diskriminierung zu ihren Gunsten (Abb. 6). 5
Anzahl der Legalisierungen bis zum November 2004 (SEF).
Pedro Góis / José Carlos Marques
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Abb. 6: Voranmeldung zur Legalisierung des Aufenthaltes, 2004 Staatsangehörigkeit PALOP Angola Kap Verde Guinea Bissau Mosambik São Tomé und Príncipe Brasilien Osteuropa Moldawien Rumänien Russland Ukraine China Indien Andere Gesamt Quelle: SEF
Zahl
%
5.672 3.570 2.585
10,7 6,7 4,8
1.122 6.727
2,1 12,6
2.380 5.106 890 8.328 1.834 1.589 13.394 53.197
4,5 9,6 1,7 15,6 3,4 3,0 25,2 100,0
Eine Analyse aller Amnestieprozesse (bzw. der qual tale Legalisierungsverfahren) seit den neunziger Jahren zeigt die Bedeutung dieser Maßnahmen für die Regularisierung der lusophonen Migranten im Vergleich zur Gesamtzahl der Immigranten in Portugal. Gleichgültig ob man den Anteil der lusophonen Immigranten an den Regularisierungsprozessen oder den Gesamtanteil legalisierter lusophoner Immigranten im Gesamtprozess betrachtet: Es lässt sich erkennen, dass lusophone Immigranten bei diesen Prozessen privilegiert waren. Der rechtliche Rahmen der Amnestien bzw. der Legalisierungen zeigt somit eine eindeutige Präferenz der Immigrantengruppen, die dieselbe Sprache sprechen und mit deren Herkunftsländern intensive wirtschaftliche, soziale und kulturelle Beziehungen bestehen (was im übrigen auch Voraussetzungen für ein entstehendes Migrationssystem sind).6 Die bevorzugte Behandlung von Immigranten aus lusophonen Ländern durch den Staat in drei der Legalisierungsverfahren hatte deutliche Auswirkungen auf die rechtliche Integration dieser Immigranten; gleichzeitig trug sie dazu bei, deren Präsenz in den offiziellen Statistiken sichtbar zu machen. Es bleibt offen, inwieweit der überwältigende Anteil lusophoner Immigranten am Legalisierungsverfahren auf deren Vorzugsbehandlung zurückzuführen ist, oder ob nicht einfach diese Gruppe überhaupt den größten Teil der illegalen Immigranten ausmachte; so hätten sie auch ohne positive Diskriminierung zahlreich an den Legalisierungsverfahren teilgenommen. 6
Dies gilt ebenfalls für den rechtlichen Rahmen des Erwerbs der portugiesischen Staatsangehörigkeit.
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Abb. 7: Anteil der Immigranten aus lusophonen Ländern und deren Teilnahme an den Legalisierungsprozessen 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 1992
1996
2001-03
2003
2004
Immigrants from lusophone country Einwanderer ausa lusophonen Ländern
Quelle: SEF, mehrere Jahre
Im nächsten Kapitel wird das zweite Beispiel vorgestellt, nämlich das Zusammenspiel zweier Migrationsströme auf dem Arbeitsmarkt: des Abflusses von Portugiesen nach Europa und des Zuflusses portugiesischsprachiger Migranten nach Portugal. 4
Die Migrationssystem-Theorie und die segmentierte Markttheorie
Die Betrachtung dieses zweiten Beispiels ermöglicht es zum einen, das Spiel von Komplementarität und Ersetzung bei Angebot und Nachfrage zu illustrieren, und zum anderen, die Analyse des lusophonen Migrationssystems um die Konzepte der segmentierten Markttheorie zu erweitern. Entsprechend der Theorie des dualen Arbeitsmarkts ist der Arbeitsmarkt nicht homogen, sondern segmentiert (Piore 1979). Dem Modell zufolge gibt es in den nationalen Arbeitsmärkten zwei stark ausgeprägte oder sogar dichotome Ebenen oder Segmente. In dem ersten Markt, dem primären Arbeitsmarkt, sind Vollzeitanstellungen, gute Bezahlung, gute Arbeitsbedingungen, Sozialleistungen, Aufstiegschancen und berufliche Sicherheit zu finden. In dem zweiten Markt sind die Arbeitsbedingungen prekär: Es gibt nur Teilzeit- oder Kurzzeitanstellungen, diese unterliegen Schwankungen in der Bezahlung und in den vertraglichen Klauseln, und es besteht kaum Aussicht auf Aufstieg. Es existieren also differenzierte Arbeitsmärkte, jeder von ihnen hat spezifische Eigenschaften und unterscheidet sich von den anderen Segmenten.
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Entsprechend dieser Theorien tendieren Immigranten dazu, sich am sekundären Arbeitsmarkt zu orientieren, insbesondere in zwei Modalitäten der Beschäftigung: 1) Anstellungen, die von lokalen Beschäftigten besetzte Stellen ergänzen (vor allem im Bausektor); 2) Anstellungen (zum Beispiel in häuslichen Arbeiten), die den Lebensstandard und die sozioökonomische Situation der Beschäftigten verbessern. Basierend auf der segmentierten Arbeitsmarkttheorie, die wiederum in die Makrovision der Migrationssystem-Theorie und des Weltsystems eingebettet ist, wollen wir nun die portugiesische Auswanderung in europäische Länder sowie den Migrationsstrom nach Portugal analysieren. Seit Mitte der achtziger Jahre gewinnt die portugiesische Auswanderung wieder etwas von der Bedeutung, die sie vor der Wirtschaftskrise von 19731974 innehatte. Die Erhöhung der Abwanderung entwickelte sich zeitgleich mit der Zunahme des Zustroms von Immigranten nach Portugal, was die Frage nach den Verbindungen dieser beiden Ströme aufwirft. Auf den ersten Blick scheint der Zustrom an Migranten das Resultat eines Segmentierungsprozesses des portugiesischen Arbeitsmarktes zu sein; ein weiterer Grund mag in der Öffnung des Arbeitsmarktes für ausländische Arbeitskräfte liegen. Diese auf der dualen Markttheorie nach Doeringer und Piore basierende Erklärung (Piore 1979) vermag es, viele der Eigenheiten der Einwanderung nach Portugal (die sich vorrangig auf schlecht bezahlte, unqualifizierte Arbeit mit geringem Status richtet) zu erklären. Jedoch erscheint dies auch paradox für ein Land, in dem 25% der Bevölkerung nur gering qualifiziert7 sind und dessen Arbeitskräfte ihrerseits aufgrund der Lohnunterschiede zu eben jenen Arbeitsmarktsegmenten anderer Länder wie Deutschland oder der Schweiz angezogen werden (Baganha/Carvalheiro 2002). Für den portugiesischen segmentierten Arbeitsmarkt, ebenso wie für den segmentierten Arbeitsmarkt der Zielländer portugiesischer Emigration, ist die Entwicklung sozialer Strukturen von Bedeutung, die Migration unterstützen. Diese Komponente bezieht sich auf die Eingliederung von Individuen in Migrationsnetzwerke, innerhalb derer Informationen zu Arbeitsgelegenheiten im Ausland weitergereicht werden. Diese Strukturen unterstützen die Umsetzung von Migrationsabsichten (sowohl von Immigranten die nach Portugal kommen als 7
Es scheint notwendig, die nationale Konnotation der segmentierten Markttheorie zu überwinden und sie in einen supranationalen Kontext zu setzen. Nicht die Besonderheiten der Arbeitsstellen im sekundären Arbeitsmarkt veranlassen die Staatsbürger, diese nicht mehr anzunehmen, sondern Vorteile bei der Ausübung derselben Arbeit in einem anderen nationalen Kontext ziehen die Aufmerksamkeit auf sich und schaffen den notwendigen Raum für Immigranten im portugiesischen Arbeitsmarkt. Langfristig produziert die Gegenwart von Immigranten eine signifikante Veränderung im nationalen Arbeitsmarkt (z.B. Baugewerbe) und impliziert die Transformation seiner traditionellen Rolle als integrierendem Sektor für wenig oder nicht ausgebildete Arbeiter (Baganha/Carvalheiro 2002: 32).
Portugal – eine Semiperipherie im globalen Migrationssystem
49
auch von portugiesischen Emigranten). Migrationsnetzwerke (bestehend aus Verwandten, Bekannten und Freunden) spielen eine wichtige Rolle für das Entstehen und die Aufrechterhaltung der Migrationsbewegungen. Die Entwicklung dieser Netzwerke gab den Migrationsströmen von und nach Portugal zu verschiedenen Zeiten ihre Richtung und ermöglichte ihre Konsolidierung über einen längeren Zeitraum. Zu den eben genannten Erklärungen muss man eine Bemerkung hinzufügen, die besonders in Bezug auf die portugiesischen Migrationsströme offensichtlich ist: Migration ist ein hochkomplexes Phänomen, das erst dann angemessen analysiert wird, wenn die strukturellen Faktoren und die Bedingungen der Meso- und der Mikroebene mit in Betracht gezogen werden. Der wichtigste strukturelle Faktor, der die portugiesische Auswanderung in europäische Länder und die Zuwanderung von Menschen aus lusophonen Ländern nach Portugal beeinflusst, ist der Umstand, dass die Migrationsströme an den Kreuzungspunkten zweier unabhängiger, aber strukturell miteinander verbundener Migrationssysteme aufeinander treffen: des Westeuropäischen Migrationssystems und des sich entwickelnden lusophonen Migrationssystems. Die Anleihe bei der von Niklas Luhmann entwickelten Idee einer „strukturellen Kopplung“ (Luhmann 1997: 92) verschiedener funktionaler Systeme und ihre Interpretation für unser Beispiel führt zur Erkenntnis, dass die Migrationsströme auf verschiedene Gegebenheiten reagieren, die von Migranten in den unterschiedlichen Systemen wahrgenommen werden. In Folge dessen entsteht eine ‚strukturelle Drift’ zwischen diesen Systemen, d.h. eine parallele Entwicklung beider Migrationsströme, die das Ergebnis simultaner Interaktionen untereinander ist. Durch diesen Prozess entstehen Veränderungen in einem System, die wiederum andere Systeme modifizieren können – vorausgesetzt diese sind miteinander verbunden. Daher benötigen die zwischen Ein- und Auswanderung in einigen ökonomischen Sektoren (z.B. dem Baugewerbe) bestehenden Verbindungen einen allgemeiner gehaltenen Forschungs- und Analyseansatz als den der oben vorgeschlagenen Migrationstheorie. Ausgehend von der Analyse der portugiesischen Migrationsrealität kann der Rückschluss gezogen werden, dass Portugal ausländische Arbeitskräfte aus Drittländern (strukturell aus lusophonen Ländern) erhält, die in spezifischen Wirtschaftssektoren arbeiten, während portugiesische Arbeitssuchende das Land verlassen, um in denselben Sektoren zu arbeiten. Unsere Analyse der Migrationsströme suggeriert eine enge Beziehung zwischen der Abwanderung portugiesischer Arbeitskräfte in andere europäische Länder und dem Zustrom lusophoner Arbeitnehmer nach Portugal. Letzterer scheint dem Ersteren mit nur kurzer Zeitverzögerung zu folgen. Natürlich ist der Umfang der Ströme nicht direkt miteinander zu vergleichen; aber wenn man die Beziehung zweier der größten Migrationsströme, die seit den 1980er Jahren
Pedro Góis / José Carlos Marques
50
aufgetreten sind – der portugiesischen Migration in die Schweiz und der kapverdischen Migration nach Portugal – mittels einer einfachen Regressionsanalyse miteinander vergleicht, kann man eine positive und intensive Verbindung zwischen beiden feststellen.8 Das statistische Maß suggeriert eine ‚Einbettung’ beider Migrationsströme bzw. eine gegenseitige Verzahnung9 der beiden Migrationssysteme, in denen diese Migrationsströme auftreten (Abb. 8). Abb. 8: Legale portugiesische Immigranten in der Schweiz und legale kapverdische Immigranten in Portugal 1980-2004 180000
60000
160000
50000
140000 120000
40000
100000
30000
80000 60000
20000
40000
10000
20000 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004
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Portuguese ininSwitzerland Portugiesen der Schweiz
Cape VerdiansininPortugal Portugal Kapverdier
Quelle: BFA, SEF, mehrere Jahre
5
Zusammenfassung
Die systemische Analyse der Migration von und nach Portugal ermöglicht es, einige Eigenschaften dieser Migrationsströme herauszuarbeiten. Erstens ist Portugal im globalen Migrationssystem sowohl Entsende- als auch Empfängerland. Zweitens partizipiert Portugal an mehreren der Hauptmigrationssysteme. Spätestens seit den 1960er Jahren ist Portugal Teil des Westeuropäischen Migrationssystems als ein peripheres Land, das Arbeitskräfte bereitstellt und gleichzeitig qualifizierte und hochqualifizierte Immigranten aufnimmt. In jüngs8 9
Der Pearson-Korrelationskoeffizient zwischen kapverdischen Staatsbürgern in Portugal und Portugiesen in der Schweiz (1980-2004): r=0,904. Die Verzahnung bedeutet eine spezifische Form der strukturellen Kopplung von Systemen die in gegenseitiger Ko-Evolution sich weiterentwickeln (Luhmann 1997).
Portugal – eine Semiperipherie im globalen Migrationssystem
51
ter Zeit hat es durch den massiven Zustrom aus Osteuropa Immigranten empfangen, die sich trotz hoher Qualifikationen im zweiten Marktsegment eingefunden haben. Das Land fungiert für sie sowohl als Zentrum als auch als Semiperipherie. Portugal nimmt als peripheres Entsendeland auch am Nordamerikanischen System teil. Es kann ebenso die Rolle einer Semiperipherie annehmen, wenn es die aus dem Afrikanischen System kommenden Migranten (z.B. von den Kapverden) in das Nordamerikanische System weiterleitet. Portugal steht auch mit dem System des Südamerikanischen Südkegels in Verbindung. Heute ist es Aufnahmeland, das durch seine historischen Beziehungen zu südamerikanischen Ländern eine zentrale und semiperiphere Position einnimmt. In diesem System ist Portugal sowohl das Zielland von Immigranten (z.B. aus Brasilien) als auch Durchgangsland für Immigranten in das Europäische Migrationssystem. Schließlich nimmt Portugal auch am Afrikanischen Migrationssystem teil und verbindet es mit dem Westeuropäischen Migrationssystem. Portugal fungiert in diesem System als Zentrum und als Semiperipherie, da es die Rolle eines Weiterverteilers innerhalb des europäischen Migrationssystems einnimmt. Beispiele dafür sind die Immigranten von den Kapverden, aus Angola und aus Mosambik. Das lusophone Migrationssystem formt sich durch die Teilhabe an all den zuvor genannten Systemen. Einerseits ist es heute erwiesen, dass die Migration aus den portugiesischsprachigen Ländern Afrikas oder aus Brasilien nach Portugal eine strukturelle Migration ist, verglichen mit der konjunkturellen Migration aus Osteuropa. Andererseits ergibt sich bei der Betrachtung der verschiedenen Migrationsströme, die die lusophonen Länder miteinander verbinden, dass das lusophone Migrationssystem verschiedene Zentrumsebenen verbindet, die sich unter bestimmten Umständen zweiköpfig (Portugal – Brasilien) oder – wenn Angola beginnt, eine lusophone Migration anzuziehen – sogar dreiköpfig entwickeln. Diese Zentren funktionieren als Verbindungsstücke zu weiteren Migrationssystemen. In der Mitte dieses lusophonen Migrationssystems wird die semiperiphere Rolle Portugals offensichtlich, da das Land Zentrum und Semiperipherie zugleich sein kann. Diese Idee ist nicht neu: Einige Autoren haben sich bereits Portugal wie eine rotierende Plattform vorgestellt, die sich in Richtung der Kernländer bewegt. Portugal wäre demzufolge ein Instrument für eine Migration, die in verschiedenen Phasen abläuft, um am Ende andere Ziele zu erreichen. Diese Argumentation resultiert größtenteils aus der Idee, dass Portugal eine semiperiphere Rolle im Weltsystem spielt. Portugal fungiert darin als Mittlerort zwischen Peripherien wie den PALOP-Ländern und dem Zentrum, d.h. vorrangig anderen europäische Staaten oder Nordamerika. Als strukturelle Position zeigt uns die Anwendung der Weltsystem-Theorie auf Wanderungsbewegungen, dass die großen Entwicklungstendenzen der Zukunft das kumulative
Pedro Góis / José Carlos Marques
52
Ergebnis vergangener Entwicklungen sind. Wenn wir auch Migrationsströme nicht ignorieren dürfen, die denen der letzten Jahre ähnlich sind, und die plötzliche, massive Ankunft von Immigranten spezifischer Herkunft berücksichtigen müssen, bleibt doch zu erwarten, dass bereits bestehende soziale Netzwerke weiterhin und kontinuierlich Migrationsströme aus den traditionellen Immigrationsquellen aufrechterhalten werden. Durch die Analyse der parallelen Zugehörigkeit Portugals zu verschiedenen Makrosystemen wird die Migrationsstruktur in Portugal sichtbar. Auch wird es möglich, Wanderungs-Trends von und nach Portugal herauszuarbeiten, wobei nach unserer Überzeugung die Migrationsströme der Vergangenheit unbedingt berücksichtigt werden müssen. Die Zugehörigkeit Portugals zu voneinander abgetrennten Migrationssystemen gibt dem Land eine vermittelnde Rolle. Zugleich können wir erkennen, dass die Zahl der im Ausland lebenden Portugiesen und die Zahl der in Portugal lebenden Immigranten die Ausgangsbasis für zukünftige Migration sind. Das heutige Migrationssystem schließt Netzwerke ein, aber ebenso auch die historisch gewachsenen diplomatischen Beziehungen zwischen den Staaten. All dies zusammengenommen, lässt sich prognostizieren, dass sich das lusophone Migrationssystem mit einer großen Dynamik etablieren wird.
6
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II Immigration in Portugal
Tendenzen der Einwanderung nach Portugal seit der Nelkenrevolution1 Maria Ioannis Baganha; Pedro Góis; José Carlos Marques
1
Einwanderung nach Portugal in den siebziger und achtziger Jahren
Eine sichtbare Einwanderungsbevölkerung mit einer substantiellen Zahl von Immigranten aus verschiedenen Ländern ist in Portugal ein Phänomen jüngeren Datums. In der Tat blieb die Zahl der in Portugal lebenden Einwanderer bis Mitte der siebziger Jahre unter 30.000. Die Mehrzahl waren spanische Staatsangehörige oder Portugiesen, die zuvor ausgewandert waren und dabei die Staatsangehörigkeit des Ziellandes – insbesondere Brasilien, Frankreich und Deutschland – angenommen hatten. Diese Situation änderte sich schlagartig mit der Nelkenrevolution und der darauf folgenden Unabhängigkeit der ehemaligen portugiesischen Kolonien in Afrika. Während der Dekolonisierungsphase 1974-1975 kehrte etwa eine halbe Million Portugiesen aus den Kolonien ins Mutterland zurück – dieser Teil der portugiesischen Bevölkerung wird heute als ‚Rückkehrer’ (retornados) bezeichnet. Da es notwendig wurde, die Staatsangehörigkeit der Rückkehrer zu klären, legte das Gesetz 308 – A/75 vom 24. Juni fest, dass nur die Rückkehrer, die keine afrikanische Abstammung hatten, den Anspruch auf portugiesische Staatsangehörigkeit erheben konnten.2 Die direkte Folge des Gesetzes war, dass einem erheblichen Teil der Rückkehrer und der in Portugal lebenden Angehörigen der nun jungen unabhängigen Staaten die portugiesische Staatsangehörigkeit aberkannt wurde. So etablierten sich rückwirkend die ersten zahlenmäßig bedeutenden Immigrantengemeinschaften. Durch Familiennachzug und Gründung eigener Familien nach der Einwanderung stieg die Zahl der afrikanischen Immigranten in Portugal in den darauf folgenden Jahren stetig an. 1985 lag die 1
2
Der vorliegende Artikel fasst Ergebnisse zusammen, die von den Autoren an anderer Stelle veröffentlicht wurden. Siehe: Baganha/Góis 1998/1999; Baganha/Marques 2001; Baganha/Marques/Góis 2003, 2004. Für eine ausführliche Darstellung der Immigration in Portugal siehe auch: Fonseca 2001; Malheiros 1996; Peixoto 2002; Pires 2003. Zahlreiche Ausnahmen zu diesem Gesetz wurden dennoch eingeräumt, insbesondere bei afrikanischen Bewohnern, die aufgrund einer starken Bindung zu Portugal den Wunsch äußerten, die Staatsangehörigkeit zu erlangen.
58
Maria Ioannis Baganha / Pedro Góis / José Carlos Marques
Zahl der legalen Einwanderer in Portugal bei 79.594, davon hatten 44% die Staatsangehörigkeit eines portugiesischsprachigen afrikanischen Staates.3 1986 trat Portugal der damaligen EWG bei, und es folgten Transfers von Struktur- und Kohäsionsfonds aus Brüssel nach Portugal. Diese Gelder wurden in den Jahren nach dem Beitritt hauptsächlich in den Ausbau der Verkehrsinfrastrukturen – Brücken und Autobahnen –, in den Städtebau und in öffentliche Infrastrukturen investiert. Im Bausektor bestand folglich ein anhaltender Arbeitskräftebedarf, der für Immigranten der PALOP, insbesondere aus Kap Verde, eine große Anziehungskraft ausübte. Über den Boom im Bausektor hinaus, der hauptsächlich nicht qualifizierte Arbeitskräfte ansprach, brachte der Beitritt Portugals zur EWG auch ein Wachstum des tertiären Sektors. Bank- und Immobilienwesen, Marketing und Informatik blühten in den neunziger Jahren regelrecht auf und lockten hoch qualifizierte Kräfte aus Westeuropa und Brasilien nach Portugal. Trotz dieser günstigen Konjunktur blieb jedoch die Zahl der Immigranten in Portugal bis zur Jahrtausendwende relativ gering. 1999 lebten 190.896 Ausländer legal in Portugal, weniger als 2% der Gesamtbevölkerung. Diese Charakteristika der Immigration in Portugal blieben bis in die späten neunziger Jahre im Wesentlichen unverändert. Auch die Hierarchie der Herkunftsländer veränderte sich kaum, sieht man von leichten Änderungen der Gewichtsverteilung ab. So nahm innerhalb dieser Zeitspanne die Einwanderung aus Angola (von 18% 1981 auf 8,8% 1991) und Kap Verde (von 17,1% 1981 auf 14,7% 1991) ab, wogegen die Zahl der Immigranten aus Brasilien (von 9,2% 1981 auf 12,7% 1991), Venezuela (von 5,4% 1981 auf 7,9% 1991) und Großbritannien (von 2,9% 1981 auf 5,6% 1991) zunahm. Trotz dieser leichten Veränderungen blieb die Einwanderung in Portugal bis zum Ende des 20. Jahrhunderts lusophon, d.h. die Einwanderer stammten zum größten Teil (76% 1999 und 77% 2000) aus portugiesischsprachigen Ländern (den PALOP und Brasilien). Die übrigen Ausländer verteilten sich auf über hundert Herkunftsländer, wobei keines davon eine statistisch relevante Anzahl vorwies. Daraus lässt sich also schließen, dass bis in die neunziger Jahre die Einwanderung in Portugal gering war und auf Portugals koloniale Vergangenheit, das heißt historische, kulturelle und wirtschaftlichen Beziehungen mit den lusophonen Ländern, zurückzuführen war.
3
Die portugiesischsprachigen Länder Afrikas sind unter der Abkürzung PALOP – Países Africanos de Língua Oficial Portuguesa (‚Portugiesischsprachige Länder Afrikas’) – bekannt. Dazu gehören die seit der Dekolonisierung 1974 und 1975 unabhängigen Staaten Angola, Mosambik, Guinea-Bissau, Kap Verde und São Tomé und Príncipe.
Tendenzen der Einwanderung nach Portugal
59
Abb. 1 Ausländer in Portugal mit legalem Aufenthalt (1980-2005) Jahr
Gesamt
Afrika3
1980
58.091
27.748
Nordamerika 4.821
1981
62.692
27.948
6.018
8.123
1.394
18.931
278
1982
68.153
28.903
6.855
10.481
1.663
19.924
327
1983
79.015
32.481
8.520
13.351
2.219
22.053
391
1984
89.625
37.128
9.887
15.394
2.860
23.896
460
1985
79.594
34.978
7.987
11.567
2.564
22.060
438
1986
86.982
37.829
9.047
12.629
2.958
24.040
479
1987
89.778
38.838
8.623
13.009
3.124
25.676
508
1988
94.453
40.253
8.338
14.645
3.413
27.280
524
1989
101.011
42.789
8.737
15.938
3.741
29.247
559
1990
107.767
45.255
8.993
17.376
4.154
31.410
579
1991
113.978
47.998
9.236
18.666
4.458
33.011
609
19921
122.348
52.037
9.430
19.960
4.769
34.732
621
Mittel- und Südamerika 6.403
Asien 1.153
Europa4 17.706
Andere 260
1993
136.932
55.786
10.513
21.924
5.520
37.154
696
19942
157.073
72.630
10.739
24.815
6.322
41.819
748
1995
168.316
79.231
10.853
25.867
6.730
44.867
768
1996
172.912
81.176
10.783
25.733
7.140
47.315
765
1997
175.263
81.717
10.573
25.274
7.192
49.747
760
1998
178.137
83.065
10.247
24.579
7.419
52.060
767
1999
190.896
89.516
10.171
25.818
7.871
56.731
789
2000
207.607
98.754
10.201
27.419
8.721
61.709
803
2001
223.976
107.273
10.187
28.856
9.721
67.121
818
2002
238.935
114.386
10.143
30.424
10.935
72.229
818
2003
250.905
118.632
10.124
32.474
11.571
77.053
831
2004
254.034
121.638
10.114
34.778
12.331
74.337
836
2005
274.631
124.541
10.080
37.544
12.837
88.781
849
20065
332.137
129.806
10.122
48.586
17.870
124.901
852
Quellen: 1980-1995: Estatísticas Demográficas und SEF, zit. nach Baganha 1996; 1996-2005: Estatísticas Demográficas, 1996-2006 Anm.: 1) Die Zahlen für 1992 und 1993 schwanken je nach statistischen Quellen; 2) Die Statistiken zu den Jahren 1994 und 1996 berücksichtigen die Legalisierungsverfahren von 1992-1993 und 1996; 3) Etwa 95% der afrikanischen Ausländer in Portugal stammen aus Mitgliedsländern der CPLP 4) In Europa stammten bis 2001etwa 90% der Einwanderer aus einem EU-Mitgliedstaat. Ab 2001 sinkt diese Zahl zugunsten der Einwanderung aus Osteuropa; 5) Provisorische Zahlen vom Januar 2008.
60 2
Maria Ioannis Baganha / Pedro Góis / José Carlos Marques
Diversifizierung der Einwanderung ab den neunziger Jahren
Im Laufe der neunziger Jahre kam es dennoch zu einigen erwähnenswerten Veränderungen (Abb. 1). Einerseits stieg die Quote der in Portugal lebenden Ausländer von 1% im Jahre 1990 auf über 2% im Jahre 20004 und auf etwa 3,5% im Jahre 2001 an. Andererseits änderten sich ebenfalls die Herkunft und das Profil derjenigen, die Portugal als Zielland auswählten. Portugal wurde zum ökonomischen Anziehungspol für Arbeitssuchende aus Ländern, mit denen zuvor keine historischen und kulturellen Beziehungen existierten. Die Zahlen der außerplanmäßigen Legalisierungsverfahren von 1992 und 1996 gestatten es, diese Entwicklung nachzuzeichnen (Abb. 2). Diese Legalisierungsverfahren, die unterschiedliche Ziele verfolgten,5 lassen erkennen, welche Ausländergruppen verstärkt auf dieses Regulierungsinstrument zurückgriffen. Die Abbildungen belegen, dass lusophone Einwanderer die hauptsächlich Begünstigten dieser Maßnahme waren. Im ersten Legalisierungsverfahren von 1992 entstammen vier Fünftel der bewilligten Anträge dieser Bevölkerungsgruppe, 1996 waren es immer noch drei Viertel. Dies verdankt sich zum einen der numerischen Signifikanz dieser Herkunftsländer; zum anderen jedoch ist die Überrepräsentation der lusophonen Einwanderer bei den Legalisierungen dem rechtlichen Rahmen der Legalisierung selbst geschuldet. In der Tat hatten beide Verfahren in erster Linie die Einwanderer aus Afrika im Visier, denn der Gesetzestext enthält mehrere Artikel, die eine positive Diskriminierung dieser Gruppe herstellen. So wird im Artikel 2° des Gesetzes 17/96 die Absicht explizit erwähnt, den Aufenthalt der Angehörigen portugiesischsprachiger Staaten zu legalisieren. Das Gesetz richte sich in erster Linie an die: Bürger aus portugiesischsprachigen Ländern, die vor dem 31. Dezember 1995 portugiesischen Boden betreten hatten, seitdem immer in Portugal residierten und über die minimalen ökonomischen Bedingungen verfügten, um in Portugal zu leben, insbesondere indem sie einer entgeltlichen Tätigkeit nachgehen.6 4 5
6
Zahlen aus SEF – Serviço de Estrangeiros e Fronteiras (‚Amt für Ausländer und Grenzangelegenheiten’) – „Entwicklung der ausländischen Bevölkerung in Portugal – 1980/1998“. Lisboa, 1999. Siehe auch: Baganha/Marques 2001. Die Legalisierung von 1992 sollte hauptsächlich die politische Botschaft deutlich machen, dass Portugal keine Immigranten mehr annehmen würde – eine Maßnahme, die sich aus dem gesamteuropäischen Rahmen der ‚Immigration Null’ erklärt; die Legalisierung von 1996 verfolgte hingegen das Ziel, die in Portugal lebenden Immigranten zu integrieren; schließlich orientierte sich der Legalisierungsprozess von 2001 an den Bedarf an Arbeitskräfte im Bausektor. Original: „[...] os cidadãos originários de países de língua oficial portuguesa que tenham entrado no território nacional até 31 de Dezembro de 1995 e nele tenham residido continuadamente e disponham de condições económicas mínimas para assegurarem a subsistência, designadamente pelo exercício de uma actividade profissional remunerada“. Dabei soll berücksichtigt werden, dass die Einwanderer aus portugiesischsprachigen Ländern, die bis zum 1. Juni 1986 portugiesi-
Tendenzen der Einwanderung nach Portugal
61
Für Angehörige aller anderen Länder war der Stichtag für eine automatische Legalisierung der 25. März 1995 (Baganha/Marques 2001: 28).7 Abb. 2: Außerplanmäßige Legalisierungsverfahren 1992 und 1996 Staatsangehörigkeit
1992 Zahl 28.345 12.525 6.778 6.877 757 1.408 5.346 1.352 1.397 286 227 39.166
% 72,4 32,0 17,3 17,6 1,9 3,6 13,6 3,5 3,6 0,7 0,6 100.0
1996 Zahl % 23.400 66,7 9.255 26,4 6.872 19,6 5.308 15,1 416 1,2 1.549 4,4 2.330 6,6 1.608 4,6 1.745 5,0 5411 1,5 35.082 100.0
PALOP Angola Kap Verde Guinea Bissau Mosambik São Tomé und Príncipe Brasilien China Senegal Pakistan Osteuropa Gesamt Quelle: SEF (unveröffentlichte Daten) Anm.: 1 Die Zahlen zu diesem Jahr beziehen sich lediglich auf die ungarischen, rumänischen und russischen Einwanderer.
1996 wurde das letzte Legalisierungsverfahren durchgeführt, und Portugal trat dem Schengen-Abkommen bei. Seitdem ist die Zahl der Einwanderer kontinuierlich gestiegen. Vor allem seit der Verabschiedung des Gesetzes 244/98, das die Möglichkeit schuf, illegalen Einwanderern eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, lässt sich eine stetige Zuwanderung von Personen beobachten. Das Gesetz sah vor, dass: […] in Ausnahmefällen bei nachweislichem Interesse für die Nation oder aus humanitären Gründen der Innenminister die Aufenthaltserlaubnis an ausländische Bürger erteilen darf, die die im vorliegenden Gesetz erwähnten Bedingungen nicht erfüllen.8
Nach den Zahlen des SEF lagen Ende August 2000 41.401 Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Artikel 88° des Gesetzes 244/98 vor. Da-
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sches Territorium betreten hatten, vom Beweis eines Existenzminimums befreit waren (Artikel 2° des Gesetzes 17/96). Von den Legalisierungsprozessen ausgeschlossen waren diejenigen, die zu Gefängnisstrafen von über einem Jahr verurteilt wurden, die auf Abschiebungsverfahren warteten oder die als unerwünschte Personen im Schengen-Informationssystem registriert waren (Artikel 3° des Gesetzes 17/96). Original: „[...] em casos excepcionais de reconhecido interesse nacional ou por razões humanitárias, o Ministro da Administração Interna pode conceder a autorização de residência a cidadãos estrangeiros que não preencham os requisitos exigidos no presente diploma“ (Artikel 88° des Gesetzes 244/98).
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mit stellte das SEF zugleich die Existenz von mindestens ebenso vielen illegalen Einwanderern in Portugal fest. Im Gesetzestext wurde explizit darauf Bezug genommen. Die hohe Immigrantenzahl sei, so heißt es, auf den Arbeitskräftebedarf besonders im Bausektor und auf die informelle Wirtschaft zurückzuführen: Der Arbeitskräftebedarf, der sich durch die informelle Praxis in den Sektoren potenziert hat, die besonders auf Arbeitskräfte angewiesen sind, wurde durch die Rekrutierung von illegalen Einwanderern befriedigt […]. Die informelle Wirtschaft im Bausektor stieg erheblich an. Dies ging mit einer Zunahme irregulärer Immigranten einher, die im Bausektor benötigt wurden. Im gegebenen rechtlichen Rahmen stabilisierte sich die Situation durch die irreguläre Rekrutierung im Hinblick auf den Aufenthalt, die Beschäftigung und die Integration in die Sozialversicherung.9
In der Tat erlebte der Bausektor als wichtigste Eingangstür für die ankommenden Immigranten in den neunziger Jahren ein enormes Wachstum. Die Zahl der von Bauunternehmen beantragten Genehmigungen stieg von 3.677 im Jahre 1999 auf 11.149 2000 und 18.588 2001 (ACIME/IGT/SEF 2002). Dementsprechend wuchs auch die Zahl der im Bausektor tätigen Arbeitnehmer von 361.100 1990 auf 593.500 im Jahre 2000 (Baganha/Marques 2001: 21). Die Nachfrage im Bausektor hängt bekanntlich direkt vom Entwicklungsgrad eines Landes, von der Konjunktur und von den staatlichen Investitionen ab. Das bedeutet, dass der Bausektor wesentlich stärker als andere Wirtschaftszweige auf Investitionen in anderen Branchen angewiesen ist. Es handelt sich also um eine tendenziell prozyklische Aktivität, innerhalb derer sich konjunkturbedingt Wachstums- und Rezessionsphasen abwechseln. Aufgrund dieser Abhängigkeitsverhältnisse wird der Bausektor als ein besonders aussagekräftiger Indikator einer Volkswirtschaft angesehen. In Portugal zeigte dieser Sektor zwischen 1995 und 2003 eine starke Dynamik in der Folge großer öffentlicher Projekte wie der Expo ´98 oder des Baus der Brücke Vasco da Gama sowie des Ausbaus von Verkehrsinfrastrukturen (U-Bahn-Netz in Porto; Ausbau des existierenden Netzes in Lissabon). Aber auch neue Autobahnen, neue Fußballstadien für die Europameisterschaft 2004, die allgemeine Beschleunigung der wirtschaftlichen Aktivität und die Senkung des Nominalzinses, die den Immobilienmarkt belebte – all diese Faktoren trugen ihren Teil zum Wachstum des Bausektors bei (Baganha/Góis/Marques 2004). 9
Original: „As necessidades do mercado de trabalho, potenciadas pela sua informalidade em larga escala nos sectores de mão-de-obra intensiva, iam-se satisfazendo, através do recurso à contratação de imigrantes em situação irregular. Verificou-se um crescimento assinalável da economia informal no sector da construção civil e obras públicas, fenómeno associado ao aumento do número de imigrantes necessários a este mercado, o que, no quadro jurídico existente, se estabeleceu através da contratação irregular, nos planos da estadia e permanência e da situação laboral e da segurança social“ (zit. nach: ACIME/IGT/SEF 2002).
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Abb. 3: Aufenthaltsgenehmigungen (erteilt auf der Grundlage des Gesetzesbeschlusses 4/2001 vom 10. Januar) 2001 2002 2003 Zahl % Zahl % Zahl % PALOP 15.624 12,3 6.874 14,4 1.925 21,2 Angola 4.997 3,9 2.681 5,6 855 9,4 Kap Verde 5.488 4,3 2.452 5,1 618 6,8 Guinea Bissau 3.239 2,6 866 1,8 213 2,3 Mosambik 315 0,2 117 0,2 29 0,3 São Tomé und Príncipe 1.585 1,2 758 1,6 210 2,3 Brasilien 23.713 18,7 11.559 24,3 2.648 29,1 Osteuropa 70.430 55,5 26.475 55,6 4.057 44,6 Moldawien 8.984 7,1 3.066 6,4 582 6,4 Rumänien 7.461 5,9 2.992 6,3 473 5,2 Russland 5.022 4,0 1.807 3,8 218 2,4 Ukraine 45.233 35,6 16.916 35,5 2.546 28,0 Andere 3.730 2,9 1.694 3,6 238 2,6 China 3.348 2,6 520 1,1 41 0,5 Pakistan 2.851 2,2 -29 -0,1 34 0,4 Indien 2.828 2,2 488 1,0 69 0,8 Andere 8.107 6,4 1.770 3,7 323 3,6 100,0 Gesamt 126.901 100,0 47.657 100,0 9.097 Quelle: SEF, Ausländerstatistik, 2001, 2002, 2003 (http://www.sef.pt/estatisticas.htm/) Staatsangehörigkeit
Der Bausektor beschäftigt hauptsächlich nicht qualifizierte und gering ausgebildete Arbeitskräfte und rekrutiert diese oft über informelle Kanäle. Von 1995 bis 2001 wuchs die Nachfrage nach Arbeitskräften im Bausektor im Einklang mit dem allgemeinen Wachstumstrend exponentiell. Diese verstärkte Nachfrage konnte nicht ausschließlich unter Rückgriff auf portugiesische Arbeitnehmer und Immigranten aus Afrika und Brasilien befriedigt werden. Die Branche musste zusätzlich auf Immigranten aus Osteuropa10 zurückgreifen. Insbesondere die ukrainische Bevölkerung in Portugal nahm rapide zu, sodass bei dem Legalisierungsverfahren, das aus dem Gesetz 4/2001 hervorging, die ukrainische Bevölkerung die größte Zahl der bewilligten Anträge erhielt (Abb. 3). Die rasche Zunahme der osteuropäischen Bevölkerung wird umso deutlicher, wenn
10 In unserem Zusammenhang verstehen wir unter osteuropäischen Ländern diejenigen Länder, die während des Kalten Krieges unter dem Einfluss der UdSSR standen und/oder dem Warschauer Pakt angehörten oder auch – wie im Falle Jugoslawiens – Staaten, die zwar nicht dem Warschauer Pakt angehörten oder Mitglieder der Comecon waren, in denen aber auch kommunistische Regimes herrschten. Nach dieser Definition gehören dazu folgende Staaten: Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Estland, Jugoslawien, Kroatien, Lettland, Litauen, Moldawien, Polen, Rumänien, Russland, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ukraine, Ungarn und Weißrussland.
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man berücksichtigt, dass noch in den Legalisierungsverfahren von 1992 und 1996 diese Gruppen nur marginal in Erscheinung traten. Abb. 4: Ausländische Bevölkerung in Portugal 1999 Staatsangehörigkeit
Zahl
Kap Verde Brasilien Angola
43.797 20.887 17.695
Guinea Bissau
14.140
USA S. Tomé und Príncipe
7.975 4.795
Mosambik Venezuela
4.503 3.412
China
2.733
Kanada
2.012
Gesamt Drittstaaten Gesamt EU
138.467 52.429
Gesamt
190.896
Quelle: SEF, Statistik 1999
Die auf der Grundlage des Gesetzes 4/2001 erteilten Aufenthaltsgenehmigungen gaben also den statistischen Beleg für eine Realität, die im Alltag nicht mehr ignoriert werden konnte. Von nun an wurden ukrainische, rumänische, moldawische und russische Immigranten nicht nur in jeder Ausländerstatistik ausgewiesen, sie wurden sogar zu den am stärksten vertretenen Einwanderergruppen. Allein innerhalb des Jahres 2001 wurden 126.901 Aufenthaltsgenehmigungen an bis dahin illegale Immigranten erteilt. Über die Hälfte der Genehmigungen ging an Personen aus einem osteuropäischen Land (56%), 36% davon an Ukrainer. Die Zahl der legalen Immigranten stieg entsprechend von 208.198 im Jahr 2000 auf 350.503 2001, d.h. die ausländische Bevölkerung mit Aufenthaltstitel wuchs um 68%. In der Folge änderte sich die Statistik der ausländischen Bevölkerung in Portugal erheblich, indem die Ukraine die größte Zahl der legalen Ausländer in Portugal stellte. Die Abbildungen 4 und 5, die die zehn zahlenstärksten Ausländergruppen nach Herkunftsland 1999 und 2002 wiedergeben, veranschaulichen diese Entwicklung.
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Abb. 5: Ausländische Bevölkerung1 in Portugal 2002 Staatsangehörigkeit
Zahl
Ukraine Kap Verde
62.041 60.368
Brasilien Angola
59.950 32.182
Guinea Bissau Moldawien Rumänien S. Tomé und Príncipe
23.349 12.155 10.938 9.208
China USA
8.316 8.083
Gesamt Drittstaaten Gesamt EU
347.302 66.002
Aufenthaltsgenehmigungen 2001 Aufenthaltsgenehmigungen 2002
126.901 47.657
Gesamt ausländischer Bevölkerung
238.746
Quellen: SEF, Statistik 2001 und 2002 (www.sef.pt/estatísticas.htm) Anm.: 1) Beinhaltet die Inhaber einer Aufenthaltsgenehmigung für 2001 bzw. 2002
Berücksichtigt man die Migrationsmuster der neunziger Jahre, so stellt man fest, dass dieser Wandel rasch und unerwartet kam. Er war insofern nicht vorhersehbar, als die portugiesische Regierung weder eine aktive Politik zur Anwerbung von Immigranten aus Osteuropa betrieb, noch Portugal mit Ländern aus dieser Region besondere historische oder kulturelle Beziehungen unterhielt. Hinzu kommt, dass die Zahl der osteuropäischen Einwanderer in Portugal in den neunziger Jahren sehr gering war. 1999 wohnten 2.373 Personen aus einem osteuropäischen Staat in Portugal (SEF 1999). Ihre Ursprungsländer waren obendrein sehr disparat, so dass kein Herkunftsland in dieser Zeit eine statistische Größe erreichte, die die Entwicklung von Migrationsnetzwerken begünstigt hätte. Noch im Dezember 2000 war die Zuwanderung aus Osteuropa zwar gestiegen, aber mit 2.796 Individuen immer noch sehr gering. Vergleicht man diese Statistiken mit dem Zensus von 2001, so fallen starke Diskrepanzen zu allen vertretenen Herkunftsländern auf. Dies ist ein Indiz dafür, dass sich eine osteuropäische Gemeinschaft illegal in Portugal aufhielt, die weitaus größer war, als die Statistiken es erahnen lassen.
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Einwanderung aus Osteuropa
Besonders erstaunlich bei der Betrachtung der jüngeren Immigrationsphänomene ist die Tatsache, dass die Einwanderung aus Osteuropa nach Portugal sehr intensiv und zeitlich auf zwei bis drei Jahre (2000-2002) konzentriert war, was keine Zeit für die Entstehung von Migrationsnetzwerken ließ. Eine direkte Anwerbung von portugiesischer Seite oder bilaterale Vereinbarungen zur Freizügigkeit von Arbeitskräften waren ebenfalls nicht vorhanden. Damit fehlten also in diesem Fall die üblichen Migrationsinfrastrukturen völlig. Zwar wohnten, wie bereits erwähnt, zuvor einige hunderte Immigranten aus Osteuropa in Portugal, doch stellten sie nicht die notwendige kritische Masse dar, die die Mobilisierung von mehreren Tausend Individuen in wenigen Monaten hätte unterhalten können. Es nimmt daher nicht Wunder, dass keine der damals durchgeführten Prognosen zur Entwicklung der osteuropäischen Migration in die 15 EUMitgliedsstaaten vorsah, dass Portugal zu einem beliebten Einwanderungsziel für Menschen aus dieser Region werden könnte (Fassmann/Münz 2002). Abb. 6: Einwanderer aus Osteuropa in Portugal 2000 und 2001: Quellenvergleich Staatsangehörigkeit Ukraine Moldawien Rumänien Russland
Aufenthaltserlaubnisse 2000 (SEF) (1) 163 15 369 519
Zensus 2001 (2) 10.793 2.984 2.292 2.087
Gesamt 1.066 18.156 Quellen: INE, 14. Allgemeine Volkszählung, 2001; SEF, Ausländerstatistik 2000
Differenz zw. (2) und (1) 10.630 2.969 1.923 1.568 17.090
So müssen die Erklärungen für dieses ungewöhnliche Phänomen woanders gesucht werden. Im Folgenden werden wir drei mögliche Motive ausführen, die die intensive und zeitlich beschränkte Zuwanderung aus Osteuropa nach Portugal erklären könnten, nämlich: 1) die geringe Kontrolle über Kurzzeitvisa im Vergleich zu anderen EU-Staaten; 2) die Möglichkeit, sich innerhalb des Schengen-Raums schnell und unkompliziert zu bewegen; 3) der Menschenhandel, der aus osteuropäischen Ländern unter der Tarnung ‚Reisebüro’ organisiert wurde. Diese Zusammenhänge werden in portugiesischen offiziellen Papieren keineswegs verschwiegen. So kann man etwa im ‚Bericht über das Migrationsphänomen’ (Relatório sobre o fenómeno migratório) vom März 2002 finden: Im Falle Osteuropas gibt es eine bedeutende illegale Zuwanderung nach Portugal. In den deutschen Konsulaten von Kúshmou (Moldawien), Kiev (Ukraine) und Moskau (Russland) liegen
Tendenzen der Einwanderung nach Portugal
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Tausende von Anträgen auf ein Kurzzeitvisum vor. Meistens wird Tourismus als Grund für die Ausreise angegeben, da die Beantragung über Reisebüros erfolgt, die Menschenhandel betreiben. Die Visa werden meist großzügig erteilt. Die Menschen werden dann in Reisbusse oder andere Fahrzeuge geschart […]. In Portugal angekommen, integrieren sie sich schnell in die meist informellen und illegalen Arbeitsnetzwerke. Sie bleiben in Kontakt und unter der Kontrolle der Migrationsnetzwerke, die sie zu uns gebracht haben […]. Der Grund, warum die Zahl dieser Immigranten so stark ansteigen konnte, hat mit der unkomplizierten Erteilung der Visa zu tun […], sowie damit, dass sich diese Immigranten innerhalb des Schengen-Raums sehr schnell bewegen können […]. So sind die Veränderungen in der Zusammensetzung der ausländischen Bevölkerung nicht auf eine gezielte Entscheidung der portugiesischen Regierung zurückzuführen, sondern auf die Art und Weise, wie in anderen EU-Staaten Kurzzeitvisa erteilt werden […]. Der gesamte Prozess wird von kriminellen Organisationen im Ursprungsland vorbereitet, meistens von für diesen Zweck gegründeten ‚Reisebüros’. Diese beschaffen die notwendigen Dokumente, Visa, Fahrzeuge oder Führer und legen die Routen fest, die die Arbeitswilligen zu ihren Zielen bringen […]. Am Ziel angekommen – in diesem Fall Portugal – kontrollieren die kriminellen Gruppen die Situation der Immigranten weiter. Dafür wenden sie Zwangsmaßnahmen an wie Einzug des Passes, Drohungen über die Familie oder Denunziation bei den Ämtern.11
Diese Faktoren sind zweifelsohne wichtig. Eine plötzliche und intensive Zuwanderung ist nur dann möglich, wenn organisierte Infrastrukturen vorhanden und die notwendigen Dokumente leicht zu erwerben sind. Auch die Ergebnisse von Befragungen12 bestätigen den Einfluss dieser Faktoren. Diesen zufolge
11 Original: „No caso da Europa de Leste a imigração ilegal opera de forma massiva. Nos consulados alemães de Kúshmou (Moldávia), Kiev (Ucrânia) ou Moscovo (Rússia) milhares de cidadãos desses países, com os mais diversos pretextos, nomeadamente turísticos, solicitam vistos de curta duração, por vezes, através de agências de viagem ligadas ao tráfico de pessoas, que lhe são generosamente concedidos. Transportados rapidamente em camionetas de excursão ou através de outros meios de circulação rápida […]. Dirigem-se a Portugal e integram-se nas redes de trabalho informal ou clandestino, mantendo-se ligados pelas mais diversas obrigações aos que os trouxeram até nós, alguns sob o controlo de redes de imigração clandestina A razão pela qual o seu número subiu tão significativamente prende-se com a facilidade que se verifica na concessão dos vistos de curta duração […] e pela forma célere com que imigrantes atravessam o espaço Schengen […]. É este o contexto que explica a alteração da composição qualitativa da imigração em Portugal, que resulta não de uma opção nacional, mas das políticas de concessão de vistos de curta duração de outros Estados membros da União Europeia […]. Quanto à forma de actividade dos indivíduos que constituem as organizações criminosas com origem no Leste Europeu, tudo se processa a partir da origem, onde, desde a obtenção dos meios necessários para deslocação (i.e. documentos, vistos, viaturas, guias), normalmente através de ‘agências de turismo’ criadas especificamente para o efeito, procedem ao seu controlo através de meios coercivos, passando por rotas previamente definidas até à chegada ao país de destino […]. Uma vez chegados ao país de destino – e no caso concreto, Portugal -, os grupos criminosos continuam a controlar a situação dos imigrantes, se necessário através da coacção, por meios da retenção dos respectivos passaportes e de ameaças sobre a família ou de denúncia às autoridades“ (IGT/ACIME/SEF 2002). 12 Diese Befragungen wurden vom Centro de Estudos Sociais für die Forschungsprojekte ‚Neue Migrationsströme in Portugal’ (Novos fluxos imigratórios em Portugal, 2002) und ‚Wenn die
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gaben 96% der Immigranten an, dass sie mit einem Kurzzeitvisum nach Portugal gekommen waren (30% davon mit einem einheitlichen Schengen-Visum, 66% mit einem Tourismus-Visum), das von einem nicht portugiesischen Konsulat ausgestellt worden war (57% dieser Visa wurden von einem deutschen Konsulat ausgestellt).13 Über die Hälfte der Befragten gab an, in Portugal mit Hilfe eines ‚Reisebüros’ eingereist zu sein. 86% bestätigten, dass sie mit einem Reiseoder Minibus unterwegs waren. Gezielt gefragt, ob sie Probleme mit der Mafia hätten, antworteten signifikante 16% mit Ja. Diese Faktoren sind von großer Bedeutung, und dennoch: Sie vermögen nicht, dieses Phänomen vollständig zu erklären. Sie geben etwa auf die Frage, warum diese Menschen sich entschlossen haben, nach Portugal auszuwandern, keine befriedigende Erklärung. Um diese Frage zu beantworten, müssen wir nach weiteren Faktoren suchen. Greifen wir auf das klassische Modell der Push-Pull-Faktoren zurück, so können wir in der Auflösung der Sowjetunion und dem darauf folgenden Transformationsprozess in den osteuropäischen Staaten Faktoren identifizieren, die die Auswanderung begünstigt haben. Erstens wurde es für viele Menschen überhaupt möglich, das Land zu verlassen und in anderen Staaten einer Tätigkeit nachzugehen (Satzewich 2002: 192). Zweitens wurden die Lohnunterschiede zwischen Ost- und Westeuropa allgemein bekannt. Die bereits erwähnten Befragungen osteuropäischer Immigranten in Portugal scheinen die Bedeutung dieses Faktors zu bestätigen. 65% der Befragten gaben damals an, dass sie in ihren Herkunftsländern weniger als 100 Euro im Monat verdient hatten, was deutlich weniger ist als der Mindestlohn in allen EU-Staaten.14 Drittens wurde in traditionellen Auswanderungsregionen die Praxis der Emigration wieder aktiviert. Ein Beispiel hierfür ist der Osten der Ukraine, eine Region, in der eine bereits jahrhundertealte Migrationskultur gepflegt wird und aus der 49% der Befragten stammen. Diese Faktoren erklären, warum ein Teil der osteuropäischen Bevölkerung den Entschluss zur Auswanderung gefasst hat. Warum sie Portugal als Zielland wählten, ergibt sich aus einer Reihe von Gründen. Erstens war Portugal eines der meist beworbenen Länder seitens der Menschenhandel treibenden ‚ReisebüExtreme sich berühren: Osteuropäische Immigranten in Portugal’ (Quando os extremos se tocam: Imigrantes da Europa de Leste em Portugal, 2004 und 2005) durchgeführt. 13 Es ist interessant festzustellen, dass die Zahl der von deutschen Konsulaten weltweit ausgestellten Tourismus-Visa von 1.926.705 1999 auf 2.349.724 2001 anstieg, um ab 2002 leicht auf 2.203.127 zu sinken (Auswärtiges Amt 2004). Freilich wäre es eine Überinterpretation, die osteuropäische Einwanderung in Portugal den von deutschen Konsulaten ausgestellten Visa zuzuschreiben. Dennoch sollte die zeitliche Koinzidenz zwischen der vermehrten Erstellung von Visa und der Intensivierung der osteuropäischen Zuwanderung nach Portugal nicht als bloßer Zufall abgetan werden. 14 2002 hatten Griechenland mit 473 Euro und Portugal mit 406 Euro im Monat die geringsten Mindestlöhne der EU (Zahlen vom EUROSTAT, zit. nach: Ministério das Finanças 2003).
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ros’, die ganze Pakete inklusive Reise, Dokumente und Beschäftigungsgarantie am Zielort günstig anboten. Zweitens war das Legalisierungsverfahren von 2001, das von Januar bis November durchgehend lief, ein dezidierter PullFaktor, der zu erklären vermag, warum Migranten Portugal anderen Ländern vorzogen, in denen sie Aussicht auf bessere Löhne gehabt hätten. Die Möglichkeit, in Portugal schneller zu einer Aufenthaltserlaubnis zu kommen, wurde von 13% der Befragten als entscheidender Grund angegeben, hierher auszuwandern. 4
Schluss
Portugal blickt auf eine lange Auswanderungsgeschichte zurück und besitzt eine nur kurze Erfahrung mit Einwanderung. Aus dem in diesem Artikel skizzierten Abriss der Immigration in Portugal geht hervor, dass diese zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Charakteristika aufweist. Die erste Phase der Einwanderung nach Portugal war von zwei Faktoren bestimmt. Der erste ergab sich aus der Dekolonisierung und einer entsprechenden Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes, was zur Entstehung der ersten Immigrantengemeinschaft in Portugal führte. Der zweite Faktor, der mit dem ersten eng verwoben ist, liegt im Ausbau von informellen Migrationsnetzwerken, die zum größten Teil von Personen aus den ehemaligen Kolonien unterhalten wurden, denen es gelang, während des Dekolonisiserungsprozesses nach Portugal zu gelangen. Diese Netzwerke wurden besonders in der Phase des wirtschaftlichen Wachstums in Portugal in den achtziger und neunziger Jahren aktiviert. In dieser Zeit erlebte das Land ebenfalls einen vermehrten Zuzug von Immigranten aus Brasilien, Europa und Nordamerika. Letzterer war zahlenmäßig nicht so bedeutend wie die afrikanische Einwanderung, doch spielte er auf dem qualifizierten Arbeitsmarkt eine zentrale Rolle. Die zweite Einwanderungsphase ist zwar jüngeren Datums, doch führte sie entscheidend zur Entstehung nennenswerter ausländischer Gruppen sowie zur Diversifizierung der Herkunftsländer und der soziodemographischen Merkmale der ausländischen Bevölkerung in Portugal. Diese Gruppen machen aus dem Auswanderungs- Portugal zugleich ein Einwanderungsland und integrieren es in das globale Migrationssystem mit seiner doppelten Funktion des ArbeitskräfteNachfragers und -Lieferanten. Ein großer Teil der Immigranten, die am Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts nach Portugal kommen, stammen aus osteuropäischen Ländern, mit denen Portugal kaum historische, kulturelle oder politische Beziehungen unterhält. Eine Reihe von Faktoren, die im vorliegenden Artikel untersucht wurden, trug dazu bei, dass Portugal unerwartet für diese Einwanderer attraktiv wurde.
Maria Ioannis Baganha / Pedro Góis / José Carlos Marques
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Der Wandel der Migrationsbewegungen am Beispiel der internationalen Migrationen in Portugal1 João Peixoto
1
Einleitung
In der Migrationsforschung werden die Konzepte ‚Migrationsregime’ oder ‚Mobilitätsregime’ episodisch verwendet und entbehren im Allgemeinen der theoretischen Fundierung. Diese Konzepte entstanden in Anlehnung an andere, in der Demographie eher üblichen Konzepte wie etwa ‚demographisches Regime’. Letzteres ist zwar theoretisch unscharf, doch hat ausgerechnet die Theorie des demographischen Übergangs die Grundlagen dafür geschaffen, dass die Existenz von ‚Phasen‘, ‚Etappen‘ oder in einem weiteren Sinn ‚Regimes‘ akzeptiert wird. In der Migrationsforschung zog einzig Wilbur Zelinskys Theorie des Mobilitätsübergangs (mobility transition) eine Parallele zum Konzept des ‚demographischen Übergangs’ (Zelinsky 1971). Der Autor versuchte durch ein Entwicklungsmodell zu erklären, auf welche Weise die verschiedenen menschlichen Gesellschaften von primitiven zu fortgeschritteneren Mobilitätsstadien gelangten, wobei jüngere Typologien wie ‚Zirkulation’ und ‚virtuelle Mobilität’ in das Modell integriert sind. Im vorliegenden Artikel sollen die Übergangsbedingungen der Migrationsphänomene untersucht werden. Es gilt insbesondere zu prüfen, inwieweit solche Entwicklungen einer Logik von ‚Etappen’ oder ‚Regimes’ gehorchen, oder ob sie im Gegenteil eine unregelmäßige Dynamik aufweisen, die von kurzfristig unvorhersehbaren Faktoren abhängt. Wir werden unsere Überlegungen am Beispiel Portugals darlegen, das auf den ersten Blick einen Übergang von einer Emigrations- zu einer Immigrationsphase vollzieht, bei näherer Betrachtung jedoch vielfältige Unregelmäßigkeiten in den Details aufweist. Diese Unregelmäßigkeiten zeigen, dass der Gedanke eines einfachen Übergangs nicht ganz der Realität entspricht, weshalb sich die Zuordnung von Erklärungsfaktoren als problematisch erweist. Wir werden zunächst die theoretischen Elemente 1
Dieser Text ist eine übersetzte und aktualisierte Version des Artikels „As condições de mudança das dinâmicas migratórias: o caso das migrações internacionais em Portugal“, der in der Zeitschrift Análise Social, 42 (183), 2007, S. 445-469 erschienen ist.
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beschreiben, die die Existenz von Migrations- oder Mobilitätsphasen nahe legen. Anschließend wird die portugiesische Situation – in Bezug auf Emigration wie Immigration – im Kontext der internationalen Migrationen betrachtet. Schließlich werden beide Analyseschritte auf die Frage hin fokussiert, ob es zulässig ist, von theoretischen Entwicklungslogiken zu sprechen, das heißt, ob wir den Gedanken an eine Vorhersehbarkeit von Migrationsentwicklungen akzeptieren oder ablehnen müssen. 2
Die Migrationsdynamiken und -regimes
Die Wandlungsbedingungen der Migrationsdynamiken oder, in einem engeren theoretischen Sinn, die Übergänge der ‚Migrationsregimes’, stellen eines der interessantesten Themen der gegenwärtigen demographischen Forschung dar. Eine der zentralen Fragen der Disziplin ergibt sich aus dem Kontrast zwischen der Beständigkeit der Theorien, die für die Erklärung der natürlichen Dynamiken (Geburt und Sterblichkeit)2 zur Verfügung stehen – denken wir vor allem an Beiträge zum demografischen Übergang – und der relativen Schwäche dieser Theorien, die Migrationsdynamiken zu erklären. In der Tat liefert uns die Demographie umfassende Beiträge, die die historische Entwicklung von Geburten und Sterblichkeit erklären, einschließlich den Rückgang beider Werte in jüngerer Zeit; sie sagt uns jedoch wenig über die Entwicklung der Migration. Wenn demographische Theorien imstande sind, ‚Übergangsphasen’ oder Veränderungen von ‚Regimes’ in Bezug auf die natürlichen Dynamiken vorauszusagen, sind dann analoge Konzepte im Bereich der Migrationen möglich? Wenn ja, wenn modellhafte Übergänge zwischen verschiedenen Migrationstypen existieren, könnten diese dann das Konzept von ‚Migrationsregimes’ oder sogar eines ‚Migrationsübergangs’ begründen. In der Demographie hat es verschiedene Theorien gegeben, die eine Logik des natürlichen Bevölkerungswachstums etabliert haben, darunter die Theorien des demographischen Übergangs. Alle Beiträge dieser Art haben die Existenz von ‚Regimes’, ‚Phasen’ oder ‚Etappen’ definiert. Im Gegensatz zu einigen vereinfachenden Sichtweisen argumentieren wir, dass es aufgrund abweichender Untersuchungsperspektiven, Chronologien und Erklärungen keinen Konsens über jene Konzepte und Theorien innerhalb der Demographieforschung gibt. Große Differenzen ergeben sich aus der Unvereinbarkeit zwischen der frankophonen (Landry 1982 [1934]) und der anglophonen (Thompson 1929; Notestein 1945; Coale/Hoover 1958) Version der Theorien des Übergangs. Hinzu kommt, 2
Dies trifft insbesondere dann zu, wenn wir an die verfügbaren Beiträge über den demographischen Übergang denken.
Der Wandel der Migrationsbewegungen
73
dass selbst das Konzept der ‚demographischen Regimes’ nicht immer gut in der Theorie und in den empirischen Beschreibungen platziert wird. So hat etwa das Konzept ‚Demographie des Ancien Régime’, das systematisch eine Vielzahl von Variablen mit demographischen Phänomenen in Beziehung setzt, kaum eine Entsprechung in der Gegenwart.3 Es ist ebenfalls zutreffend, dass eine detaillierte Analyse einzelner demographischer Situationen – wie etwa des ‚demographischen Übergangs’ innerhalb eines Landes oder die Fruchtbarkeitsschwankungen innerhalb eines bestimmten geographischen und historischen Kontextes – sich selten auf große Theorien wie die Theorie des Übergangs verlassen kann. Solche Situationsanalysen zwingen vielmehr dazu, nach sämtlichen Faktoren zu suchen, die aus dem jeweiligen Kontext heraus bestimmte Phänomene erklären. Einige solcher theoretischen Bemühungen wie das multiple response system sind ein Beispiel für die Notwendigkeit, Einzelfälle genauer zu messen und zu verstehen, indem Faktoren des natürlichen Bevölkerungswachstums mit weiteren Faktoren wie Heiraten und Migrationen kombiniert werden, die normalerweise nicht in der Analyse des demographischen Übergangs berücksichtigt werden (Oliveira 2003). Die Kombination von demographischer Analyse mit Beiträgen aus anderen Fächern wie etwa der Soziologie lässt die Bedeutung des Kontextes für die Erklärung der Variationen von Bevölkerungsphänomenen hervortreten. Mit anderen Worten: Übertriebene Verallgemeinerungen stoßen in der demographischen Forschung nicht immer auf Beifall. Dennoch erkennen wir, dass die Theorien zu demographischem Übergang und ähnlichen Phänomenen den Vorzug haben, ein aggregiertes und vom konkreten Fall abstrahierendes Verständnis der in der Wirklichkeit recht disparaten Phänomene zu erzeugen. Darüber hinaus zeigt die vergleichende Analyse, dass die natürlichen Dynamiken auffällige Entwicklungsparallelen in verschiedenen Ländern aufweisen. Der kontinuierliche Rückgang der Mortalitäts- und der Geburtenraten mit einhergehender Bevölkerungsalterung sind hierfür das beste Beispiel. Solche Regelmäßigkeiten machen es möglich, dass neben zahlreichen kontextbezogenen Erklärungen auch ein einheitliches Gesamtbild entsteht. Diese Regelmäßigkeiten rechtfertigen – ungeachtet der stets notwendigen Kontextannäherungen –, dass die Übergangstheorien trotz ihrer zahlreichen Kritiker ein großes Echo in der Demographieforschung finden. Der bedeutendste Versuch, die Theorie des demographischen Übergangs auf Migrationsphänomene anzuwenden, ist Zelinskys Theorie des Mobilitätsübergangs. Zelinskys Ausgangsthese lautet:
3
Für eine kritische Würdigung dieser Theorien siehe Oliveira 2003 und Bandeira 2004.
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João Peixoto
There are definite patterned regularities in the growth of personal mobility through space-time during recent history, and these regularities comprise an essential component of the modernization process (Zelinsky 1971: 221).
Dem Autor zufolge findet in allen Gesellschaften ein Mobilitätsübergang statt, der sich parallel zum wirtschaftlichen Wachstum und zum natürlichen Bevölkerungswachstum entwickelt. Im Laufe von fünf Phasen schreitet der Übergang von internationalen und internen Land-Stadt-Migrationen (Landflucht) zu einer zirkulären Migration zwischen und innerhalb urbaner Zentren und später zur Ablösung der Mobilität durch Kommunikation fort. Die fünf Phasen sind folgende: 1) vormoderne traditionelle Gesellschaft; 2) frühe Übergangsgesellschaft; 3) späte Übergangsgesellschaft; 4) fortgeschrittene moderne Gesellschaft; 5) hoch entwickelte postmoderne Gesellschaft. Mit der Entwicklung der Gesellschaften ändern sich auch die Formen räumlicher Mobilität (Zelinsky 1971: 230-231, 234ff). Freilich muss man die evolutionistische Vereinfachung dieses Modells kritisch betrachten. Zwar kann die Parallele zum demographischen Übergang einen heuristischen Ertrag bringen, doch sind die Vorstellung einer linearen Entwicklung der Migrationen sowie der ihr zugrunde liegende wirtschaftliche und technische Determinismus mindestens problematisch.4 In der Praxis können wir feststellen, dass Länder und Regionen mit einem ähnlichen Grad wirtschaftlicher Entwicklung entgegen der Annahme Zelinskys sehr unterschiedliche Migrationsmerkmale aufweisen. Bereits innerhalb der internationalen Migrationen ergeben sich Unterschiede aus der Geschichte der jeweiligen Länder und ihrer Beziehungen zu anderen Regionen, aus der Art und Weise, wie die Arbeitsmärkte reguliert werden, und aus dem gesellschaftlichen und politischen Kontext im jeweiligen Zielland. Daraus erschließt sich, dass die meisten Erklärungsmuster für Migrationsbewegungen aus kontextuellen – wirtschaftlichen, sozialen, politischen, institutionellen oder kulturellen – Faktoren resultieren. Die nationalen und sogar lokalen Spezifitäten sind derart einflussreich, dass sie die Migrationsgeschichte regelrecht konditionieren. Die Diversität der Untersuchungen zu Migrationsbewegungen spiegeln die Vielfältigkeit der Phänomene (Brettell/Hollifield 2000). Ein weiterer Kritikpunkt wider Zelinskys Theorie bezieht sich auf die Unregelmäßigkeit der Migrationsdynamiken. Untersucht man konkrete Fälle innerhalb der internationalen Migrationen, so stellt man fest, dass die Daten starke Variationen in Zahl und Profil der Migranten innerhalb kurzer Zeitspannen 4
Hinzu kommt, dass einige der Hauptthesen Zelinskys keine empirische Validität haben. Der Idee etwa, dass die internationalen Migrationen in der Gegenwart durch eine Zirkulation abgelöst werden, wurde in letzter Zeit systematisch widersprochen: Ende des 20. Jahrhunderts waren die internationalen Migrationen so intensiv wie nie zuvor (Castles/Miller 2003).
Der Wandel der Migrationsbewegungen
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zeigen. Daraus muss man schließen, dass kurzfristige Faktoren einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Migrationen ausüben. Zu solchen Faktoren gehören etwa die nationalen und supranationalen Migrationspolitiken, die Wirtschaftszyklen sowie punktuelle Ereignisse – wie etwa politische Konflikte oder Hungerkrisen –, die zur Auswanderung führen. Gerade die fehlende Linearität, die Vielfalt der Faktoren und die konjunkturell bedingten Schwankungen der Migrationsbewegungen stellen die Migrationsforschung vor große theoretische Herausforderungen. Ein übergeordnetes Problem ist die Tatsache, dass das Migrationsthema zuweilen nur oberflächlich behandelt wird. In zahlreichen demographischen Studien und Handbüchern kommt den Migrationen nur eine untergeordnete Aufmerksamkeit zu, allerdings nicht, weil ihre quantitative Bedeutung für die Bevölkerungsentwicklung unterschätzt würde, sondern weil angenommen wird, dass die theoretischen Modelle zur Analyse von Migrationsphänomenen andere seien als die der demographischen Forschung. Methodisch gesehen besteht eines der Probleme, die sich aus der Partikularität von Migrationen ergeben, in der Schwierigkeit, demographische Projektionen anzustellen. In der Tat herrscht innerhalb der Migrationsforschung kaum Konsens, wenn es darum geht, Zukunftsszenarien zu entwerfen. Oft spielen dabei politische und gesellschaftliche Faktoren eine Rolle, indem etwa die Politik bestimmten Szenarien ablehnend gegenüber steht. Nicht zu unterschätzen sind ebenfalls technische Schwierigkeiten in der Entwicklung von Prognosen. Ein wichtiger Unterschied zwischen Migrationsphänomenen und natürlichen Bevölkerungsentwicklungen besteht darin, dass Letztere in der zeitlichen Entwicklung stabiler sind, woraus sich entsprechend günstigere Bedingungen der Voraussage ergeben. So nimmt es kaum Wunder, dass Zelinskys Theorien wenig Widerhall gefunden haben. Dennoch verdienen nach wie vor seine Bemühungen, eine große Theorie zu entwickeln, sowie der Scharfsinn mancher seiner Analysen moderner Mobilitätsphänomene Anerkennung. Beispiele hierfür sind die empirische Unterfütterung zum Rückgang der Landflucht bei gleichzeitiger Intensivierung der urbanen Interaktivität sowie die neue Hypothese zu den technischen Möglichkeiten räumlich getrennter Interaktion. Ein weiterer Verdienst seiner Thesen liegt in der Feststellung, dass bei aller kontextbedingten Variation bestimmte Entwicklungsmuster sichtbar werden. Der Übergang der meisten westeuropäischen Staaten von Aus- zu Einwanderungsländern nach dem Zweiten Weltkrieg; dasselbe Entwicklungsmuster für die südwesteuropäischen Länder gegen Ende des 20. Jahrhunderts; der Rückgang der Migrationsbewegungen aus ländlichen Regionen in urbane Zentren – dies sind einige Beispiele für konvergente Entwicklungen.
João Peixoto
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Es ist also davon auszugehen, dass die Analyse von Migrationsphänomenen zwischen zwei Polen agieren muss. Einerseits ist es möglich, dass es eine strukturelle Entwicklungslogik gibt, die aber nur durch eine Langzeituntersuchung oder eine solide Theorie sichtbar gemacht werden könnte. In diese Richtung geht die Erkenntnis, dass manche demographische Muster der Herkunfts- und der Aufnahmegesellschaften (etwa Rückgang und Alterung hier versus Wachstum und Verjüngung dort) oder bestimmte Stadien der sozioökonomischen Entwicklung (etwa die Verbesserung der Lebensstandards und die Zunahme der sozialen Mobilität) mit bestimmten Migrationsrealitäten einhergehen. Andererseits steht die Migrationsforschung vor der unbeugsamen Einzigartigkeit der Migrationsfakten, die sich aus nicht verallgemeinerbaren Kontexten ergeben. Der kontextbezogene Analysepol lehnt jegliche Form der linearen Verallgemeinerung kategorisch ab. Dennoch sind auch Zwischenpositionen möglich. Die Feststellung, dass vergleichbare Merkmale zwischen Gruppen oder Ländern existieren, ermöglicht es, eine übertrieben lokale Konzeption von Migrationsphänomenen zu überwinden. Einige der jüngeren Studien zum Migrationsmodell Südeuropas (etwa King et. al. 2000) zeigen, dass es Übereinstimmungen gibt, die auf die Existenz von Querschnittslogiken der Entwicklung hindeuten – auch wenn sie jegliche Art von Linearität ablehnen. 3
Die Migrationsdynamiken in Portugal
Widmet man sich den internationalen Migrationsbewegungen in Portugal heutzutage, so stellt man eine komplexe Lage fest. Der Höhepunkt der Auswanderung im 20. Jahrhundert wurde Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre erreicht. Nach dieser Phase ist immer wieder ein starker Rückgang bis hin zum kompletten Verschwinden der Emigration vorausgesagt worden. Wenn diese Prognose sich auch nie bewahrheitet hat, so ist doch nicht zu leugnen, dass die Immigration in Portugal gegen Ende des 20. Jahrhunderts erheblich zunahm. Die Idee, dass Portugal zum Einwanderungsland geworden war, wurde zum ersten Mal 1991 in Form einer wissenschaftlichen Publikation verkündet (Esteves 1991). Bald darauf jedoch haben mehrere Studien zur Wiederaufnahme und Fortdauer von Wanderungswellen ins Ausland zwischen Mitte der achtziger und Mitte der neunziger Jahre diese einseitige Betonung der Einwanderung gedämpft (Baganha 1993; Baganha/Peixoto 1997). Dennoch konzentrieren sich sowohl die Forschung als auch die öffentliche Aufmerksamkeit bis heute auf das Phänomen der Einwanderung. Die Einwanderung beherrscht sowohl die wissenschaftlichen und politischen Diskussionen als auch das kollektive Bewusstsein.
Der Wandel der Migrationsbewegungen
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Theoretisch gesehen könnte der Übergang vom Aus- zum Einwanderungsmodell auf einen Regimeübergang, d.h. den Übergang zu einer neuen Entwicklungsphase hindeuten. Das wäre ohnehin der Fall nach dem klassischen demographischen Übergang, der in der portugiesischen Gegenwartsgesellschaft vollzogen ist (Bandeira 2004; Oliveira 2003). Dennoch zeigt das portugiesische Beispiel eine abweichende Entwicklung in Bezug auf die ‚Regimes‘ und auf die Folgen des EU-Beitritts unter Einbezug des südeuropäischen Kontextes. In all jenen Fällen weniger entwickelter Staaten brachte der Beitritt zur EU einen rapiden Rückgang der Auswanderung und eine Zunahme der Einwanderung mit sich. Beispiele hierfür bieten Italien, Griechenland und Spanien. Im portugiesischen Fall jedoch bestehen überraschenderweise die Auswanderungsbewegungen bis heute genauso fort wie in den neunziger Jahren. 3.1 Auswanderung In diesem Abschnitt möchten wir einige Elemente der jüngeren portugiesischen Auswanderung vorstellen und diskutieren. Abbildungen 1-4 zeigen die offiziellen Zahlen zur permanenten und temporären Auswanderung von 1976 bis 2003. Unter die Kategorie ‚permanente Auswanderung’ fallen Individuen, die das Land mit der Absicht verlassen haben, länger als ein Jahr im Ausland zu leben; ‚temporäre Auswanderung’ bezieht sich entsprechend auf Individuen, die die Absicht äußern, weniger als ein Jahr im Ausland zu leben. Die Unterbrechung der statistischen Darstellung zu den Jahren 1988 und 1992 ergibt sich aus dem Wechsel der Quelle, die zur Identifizierung von Emigranten herangezogen wurde. Bis 1988 hielt sich die Messung an die Zahl der erstellten Emigrantenpässe. Die Abschaffung dieser Art von Titeln im Zuge des EU-Beitritts Portugals veranlasste das portugiesische Amt für Statistik INE dazu, andere, indirektere Quantifizierungsmethoden zu entwickeln. Diese Erhebungsmethode basierte auf Befragungen auf der Grundlage von samplings, mit der Folge, dass die Fehlerquote sehr hoch war. Deshalb stellte das INE die Erhebung nach 2003 ein. Abbildungen 1 und 2 zeigen die Zahl der permanenten portugiesischen Auswanderer. Nach dem Höhepunkt der Auswanderungsbewegungen der sechziger und siebziger Jahre gehen die Zahlen kontinuierlich zurück. Diese Entwicklung wurde nur durch einen leichten Anstieg der Auswanderung in den achtziger Jahren unterbrochen, der 1992-1993 die höchsten Werte erreichte (was allerdings auch auf den neuen statistischen Verfahren beruhen könnte). 1999 erreichte die Auswanderung mit ca. 4.000 Individuen die niedrigsten Werte seit den sechziger Jahren.
João Peixoto
78 Abb. 1: Permanente und temporäre Auswanderung, 1976-2003 Jahr
Gesamt
Auswanderung permanent
temporär
permanent
%
1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
19.469 19.543 22.112 26.318 25.207 23.147 17.135 13.680 13.963 14.944 13.690 16.228 18.302
17.493 17.226 18.659 20.574 18.071 16.513 10.276 7.096 6.556 7.149 6.253 8.108 9.540
1.976 2.317 3.453 5.744 7.136 6.634 6.859 6.584 7.407 7.795 7.437 8.120 8.762
89,9 88,1 84,4 78,2 71,7 71,3 60,0 51,9 47,0 47,8 45,7 50,0 52,1
10,1 11,9 15,6 21,8 28,3 28,7 40,0 48,1 53,0 52,2 54,3 50,0 47,9
39.322 33.171 29.104 22.579 29.066 36.395 22.196 28.080 21.333 20.589 27.358 27.008
22.324 15.562 7.845 8.109 9.598 7.254 7.935 4.077 4.692 5.762 8.813 6.687
16.998 17.609 21.259 13.390 19.468 29.681 14.261 24.003 16.641 14.827 18.545 20.321
56,8 46,9 27,0 35,9 33,0 19,9 35,7 14,5 22,0 28,0 32,2 24,8
43,2 53,1 73,0 59,3 67,0 81,6 64,3 85,5 78,0 72,0 67,8 75,2
temporär
Quelle: INE Anm.: Das vom INE präsentierte Gesamtergebnis für die Jahre 1995 und 1997 entspricht nicht der Summe der einzelnen Posten.
Die temporäre Auswanderung (Abb. 1 und 3) zeigt eine entgegengesetzte Tendenz. Seit 1976 steigt deren Zahl deutlich an. Betraf die temporäre Auswanderung Ende der achtziger Jahre etwa 9.000 Individuen, so waren es 1992 ca. 20.000 und etwa 30.000 im Jahre 1997. Die starken Schwankungen in den 90er Jahren lassen sich wahrscheinlich auch auf Probleme der statistischen Erfassung zurückführen, obwohl es möglich ist, dass es Mitte der neunziger Jahre zu einer verstärkten temporären Auswanderung kam. Tatsache ist, dass die temporäre Auswanderung im Laufe der Jahrzehnte sehr lebhaft geblieben ist.
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Abb. 2: Permanente Auswanderung
25000 20000 15000 10000 5000
20 02
20 00
19 98
19 96
19 94
19 92
19 90
19 88
19 86
19 84
19 82
19 80
19 78
19 76
0
Quelle: INE
Abb. 3: Temporäre Auswanderung
02 20
00 20
98 19
96 19
94 19
92 19
19
90
88 19
86 19
84 19
82 19
80 19
78 19
19
76
35000 30000 25000 20000 15000 10000 5000 0
Quelle: INE
Abb. 4: Permanente und temporäre Auswanderung (%)
100% 80% 60%
Temp.
40%
Perm.
20%
Quelle: INE
20 02
20 00
19 98
19 96
19 94
19 92
19 90
19 88
19 86
19 84
19 82
19 80
19 78
19 76
0%
João Peixoto
80
Abb. 5: Ausländische Bevölkerung in Portugal mit legalem Status, 19752006 Aufenthalts-
Verbleib-
erlaubnis
erlaubnis kumuliert
Langzeitvisa Gesamt
verlängert
erteilt
verlängert
1975
31.983
31.983
1976
32.032
32.032
1977
35.414
35.414
1978
41.807
41.807
1979
47.189
47.189
1980
50.750
50.750
1981
54.414
54.414
1982
58.674
58.674
1983
67.484
67.484
1984
73.365
73.365
1985
79.594
79.594
1986
86.982
86.982
1987
89.778
89.778
1988
94.694
94.694
1989
101.011
101.011
1990
107.767
107.767
1991
113.978
113.978
1992
123.612
123.612
1993
136.932
136.932
1994
157.073
157.073
1995
168.316
168.316
1996
172.912
172.912
1997
175.263
175.263
1998
178.137
178.137
1999
191.143
2000
207.587
191.143 8.897
216.484 361.210
2001
223.997
126.901
10.312
2002
238.929
174.558
10.484
423.971
2003
249.995
183.655
10.755
444.405
183.833
467.111
2004
263.322
2005
274.631
93.391
16.088
46.637
430.747
2006
329.898
32.661
16.937
55.391
434.887
Quelle: INE, SEF
19.956
Der Wandel der Migrationsbewegungen
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Abb. 6: Ausländische Bevölkerung in Portugal Gráfico 4 População estrangeira
AR
AP (acum.)
AP (prorr.)
VLD (conc.)
2005
2002
1999
1996
1993
1990
1987
1984
1981
1978
1975
500000 400000 300000 200000 100000 0
VLD (prorr.)
Quelle: INE, SEF
Abbildung 4 zeigt einen Vergleich zwischen temporärer und dauerhafter Auswanderung. Der Vergleich lässt erkennen, dass die jüngere Emigration von temporärer Auswanderung geprägt ist, die heute etwa 70% der gesamten Auswanderung ausmacht. Obschon statistisch identifiziert, kann sich der Status der temporären Auswanderer ändern. Die meisten von ihnen geben an, das Land für eine kurze Zeit – normalerweise zwischen drei Monaten und einem Jahr – zu verlassen. Die Forschung sah lange Zeit in diesen Individuen potentielle dauerhafte Auswanderer, die die kurzen Aufenthalte wiederholten bis sie eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis erhielten. Neuere Studien zeigen jedoch, dass es eine echte Form der temporären Auswanderung gibt, bestehend aus Menschen, die durch kurze Verträge im Ausland ihr Einkommen zu verbessern versuchen. Die Zielländer der portugiesischen Auswanderung weichen kaum von den traditionellen Zielen ab. So waren Frankreich, die Schweiz und Deutschland mit Werten zwischen 5.000 und 10.000 pro Jahr die von portugiesischen Emigranten ab 1992 meist aufgesuchten Länder. Während die Zahlen für Frankreich und die Schweiz relativ konstant blieben, war die Auswanderung nach Deutschland bis Mitte der neunziger Jahre intensiv, um dann deutlich an Gewicht zu verlieren. Dies erklärt sich aus der Nachfrage nach Arbeitskräften für den Bausektor im Zuge des ‚Aufbau Ost’, die erst zurückging, nachdem Behörden und Gewerkschaften Einschränkungen bei der Rekrutierung ausländischer Arbeiternehmer durchgesetzt hatten (Cavalheiro 2000; Hunger 2000). Großbritannien, Spanien, die USA und Kanada zogen ebenfalls portugiesische Emigranten an, dies jedoch unregelmäßig und in geringerem Umfang.
82
João Peixoto
Die Betrachtung der Statistik erlaubt, weitere Merkmale der portugiesischen Auswanderung festzustellen. Betrachtet man etwa das Jahr 2003, so erhält man Auskunft über Herkunftsregion, Geschlecht, Alter, Familienstand und Ausbildungsniveau der Emigranten. Was die Herkunftsregion betrifft, lassen sich kaum Unterschiede zu den sechziger und siebziger Jahren feststellen. 60% der dauerhaften und 35% der temporären Auswanderer stammen aus dem Norden. Die Zahlen zu Geschlecht, Alter und Familienstand bestätigen die ökonomische Motivation der Auswanderung, denn sie zeigen, dass es hauptsächlich junge, ledige Männer sind, die das Land verlassen. 2003 waren 51,1% der dauerhaften und 84,6% der temporären Auswanderer Männer; die Altersgruppe der 15-29 Jährigen machte 41% der permanenten und 47% der temporären Auswanderer aus; bei den Ledigen waren es 48% bzw. 46%. Das Ausbildungsniveau der meisten Auswanderer beschränkt sich auf die Schulpflicht (bis neun Schuljahre). Mehr als zwei Drittel der dauerhaften und drei Viertel der temporären Auswanderer hatten keine weitere Schulbildung. Die statistische Grundlage dieser Daten ist allerdings fragil. Wie bereits erwähnt, kann die Methode der direkten Befragung, die den Daten zugrunde liegt, erhebliche Ungenauigkeiten enthalten. Die Statistiken der einschlägigen Zielländer bestätigen gleichwohl eine signifikante Zuwanderung von Portugiesen. Obwohl es sich dabei um Zahlen handelt, die mit unterschiedlichen Methoden erhoben wurden, zuweilen die temporären Bewegungen nicht registrieren und darüber hinaus nicht für alle Länder verfügbar sind, bestätigen alle dieselbe konstante Auswanderung, die auch aus den portugiesischen Zahlen spricht. Diese Kombination von statistischen Quellen wurde bereits mehrfach angewandt, um Daten zur portugiesischen Auswanderung zu gewinnen (Baganha 1993; Peixoto 1999). Alle Studien bestätigen sowohl die Beständigkeit der Auswanderungstendenz als auch die Zielländer. Eine demographische und sozioökonomische Charakterisierung der neuen Auswandererbevölkerung bedürfte gleichwohl einer intensivierten Forschung. Es gibt insgesamt nicht viele Untersuchungen zur portugiesischen Auswanderung der letzten Jahre (Baganha 2002). Vieles, was heute über portugiesische Auswanderer bekannt ist, lässt sich aus punktuellen Erwähnungen in meist nicht-wissenschaftlichen Publikationen ableiten, wie etwa aus dem Investigationsjournalismus. Aus solchen Publikationen geht hervor, dass die meisten Emigranten auf organisierten Routen ihr Zielland erreichen. Es handelt sich meist um Unternehmen, die Aufträge aus dem Zielland erhalten und dafür auf Zeit portugiesische Arbeitnehmer dorthin rekrutieren. Oft sind es Zeitarbeitsfirmen, die als Vermittler fungieren, indem sie Arbeitnehmer mit Zeitverträgen ins Zielland senden. Die erste Variante fand in den neunziger Jahren große Verbreitung, als Bauarbeiter im Infrastrukturaufbau der neuen deutschen Bundesländer Be-
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schäftigung fanden. Diese so genannten entsandten Arbeiternehmer hatten für die Unternehmen den Vorteil, dass sie nach Lohntarifen des Herkunftslandes vergütet wurden. Auch die Sozialabgaben entlasteten die deutschen Bauunternehmen und machten die portugiesischen Arbeitskräfte konkurrenzfähig. Gegen Mitte der neunziger Jahre jedoch erhöhten die deutschen Behörden und Gewerkschaften den Druck gegen diese Form der Arbeitskräfterekrutierung, die dadurch entsprechend erschwert wurde (Cavalheiro 2000; Hunger 2000). Ebenfalls nicht-wissenschaftlichen Quellen können wir entnehmen, dass diese Form der Auswanderung auch später weiterhin bestand, wobei nun nicht mehr Deutschland, sondern andere Ziele innerhalb der EU an erster Stelle standen. Dabei wird bis heute verstärkt auf Zeitarbeitsfirmen zurückgegriffen. Zeitungsmeldungen zufolge gibt es organisierte Bewegungen nach Großbritannien, Irland, Spanien, Italien und Island. Diese Arbeitskräfte finden hauptsächlich im Bausektor, aber auch in der Landwirtschaft sowie in der Stahl- und Schiffbauindustrie Beschäftigung.5 Wie im Falle der Entsendung von Arbeitnehmern nach Deutschland, sind auch in den neuen Zielländern vermehrt Fälle von Ausbeutung und Betrug bekannt geworden. Auch wenn die vertraglichen Bedingungen eingehalten werden, ist der Grad von Ausbeutung am Arbeitsplatz – etwa in Form von Überstunden und schlechten Arbeitsbedingungen – wahrscheinlich hoch. Betrugsfälle tauchen oft in Form von Nichteinhaltung der vertraglichen Vereinbarungen auf; dabei zeichnen sich illegale Firmen als Akteure aus, die mit großer Schnelligkeit von der Oberfläche verschwinden (Pereira/Vasconcelos 2007). Über die organisierten Migrationen hinaus gibt es allerdings auch eine individuelle Auswanderung. Die Emigranten gehen ins Ausland zum Arbeiten, ohne dass sie die organisierten Kanäle nutzen.6 3.2 Einwanderung Die geringe Zahl an Studien zur jüngeren Auswanderung aus Portugal kontrastiert mit der intensiven Erforschung der Einwanderung. In der Tat war die Zunahme der Immigration in Portugal sowohl im akademischen Diskurs als auch in den Medien und in der Öffentlichkeit ein beliebtes Thema (Baganha 2002; Fonseca 2005; Machado/Matias 2006; Pires 2003). Im Folgenden möchten wir auf einige Merkmale der Immigration in Portugal eingehen. 5 6
Siehe hierzu etwa die Artikel „Situações de portugueses explorados no estrangeiro estão a aumentar“ und “Resposta ao desemprego“ in der portugiesischen Tageszeitung Público vom 13.11.2003. Siehe etwa den Artikel „Portugueses emigram cada vez mais para o Reino Unido“ im Público vom 30.3.2005.
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Die Einwanderung – statistisch gesehen der Bestand der sich im Land legal aufhaltenden ausländischen Personen – ist in den letzten zwei Jahrzehnten und insbesondere in den letzten Jahren gewachsen (siehe Abb. 5-6). Stieg die Zahl der Einwanderer seit Mitte der siebziger Jahre nur langsam an, so kam es in den neunziger Jahren zu zwei Beschleunigungen der Immigration im Zuge der Legalisierungsverfahren von 1992 und 1996. Noch kräftiger stieg die Einwanderung in der Folge des Gesetzes, das die ‚Verbleiberlaubnis’ (autorização de permanência) 2001 einführte. Der neue Status – der inzwischen wieder abgeschafft wurde – gestattete nicht mehr die Erteilung bis dahin üblicher ‚Aufenthaltserlaubnisse’ (autorização de residência), sondern nurmehr von Genehmigungen mit Jahresbefristung, die an den Besitz eines Arbeitsvertrags gekoppelt war. Es war in der Praxis eine Regulierungsmaßnahme, die die temporäre Einwanderung für Arbeitszwecke förderte. Trotz dieser Einschränkung stieg die Zahl der Immigranten enorm an (siehe Abb. 5-6). Berücksichtigt man außerdem die Langzeitvisa, so sticht die Einwanderung noch mehr ins Auge. Langzeitvisa ermächtigen zum Aufenthalt zunächst für ein Jahr, wobei eine Verlängerung aufgrund von Studium, Arbeit, Familie, u.a. möglich ist. Diese Visa werden zum Teil bereits bei der Einreise erteilt, zum Teil wurden sie im Rahmen der beiden Legalisierungsverfahren von 2003 und 2004 ausgegeben. Dabei handelte sich um spezifische Verfahren, die nur für brasilianische Staatsangehörige und für Personen vorgesehen waren, die einen Nachweis über erbrachte Sozialleistungen vorlegen konnten (Fonseca 2005). Beide Legalisierungsverfahren setzten einen gültigen Arbeitsvertrag voraus. Zieht man alle zur Verfügung stehenden Daten und alle Rechtsnormen in Betracht, so muss man sagen, dass die Einwanderung in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts enorm anstieg. Lebten im Jahre 2000 noch etwa 216.000 Ausländer in Portugal, so stieg diese Zahl bis 2006 auf ca. 435.000 an. Ein leichter Rückgang nach 2004 ist auf Remigranten und Rückkehrer in der Folge der wirtschaftlichen Rezession in Portugal zurückzuführen. Die Herkunftsländer der Zuwanderer beschränkten sich bis in die neunziger Jahre auf die portugiesischsprachigen afrikanischen Länder (PALOP) und auf Brasilien. Dieses lusophone Migrationssystem veränderte sich, als Portugal ab Ende der neunziger Jahre ins internationale Migrationssystem integriert wurde. Daraus folgten die Einwanderung aus Osteuropa sowie die Intensivierung der brasilianischen Immigration.7 Versucht man die Einwanderer nach Ausbildungsniveau, Zielregionen oder Integration auf dem Arbeitsmarkt zu charakterisieren, so muss man sie differenziert nach Herkunftsland und Position im Einwanderungszyklus betrachten. War 7
Siehe für die osteuropäische Einwanderung den Artikel von Baganha/Góis/Marques im vorliegenden Band.
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für die Einwanderer aus den PALOP eine sehr niedrige Schulbildung kennzeichnend, so sind die brasilianischen und osteuropäischen Zugewanderten oft im Besitz eines Hochschulabschlusses. Während sich die afrikanische Einwanderung im Ballungsraum Lissabons und an der Algarve konzentrierte, so suchten Brasilianer und Osteuropäer andere Zielregionen. Nur die Integration in den Arbeitsmarkt blieb bei allen Gruppen konstant: Männer nahmen meist nicht qualifizierte Stellen im Bausektor an, während Frauen hauptsächlich im Handel, in der Gastronomie und in privaten Haushalten Beschäftigung fanden. 3.3 Querverbindungen Die Migrationsforschung hat sich wenig mit der Untersuchung von möglichen Verbindungen zwischen Aus- und Einwanderung im portugiesischen Fall beschäftigt, obwohl die zeitliche Koinzidenz und gemeinsame Merkmale von Einund Auswanderern (demographische Eigenschaften und Integration in den Arbeitsmarkt) eine vergleichende Betrachtung nahe legen. Es erscheint zunächst einmal lohnend, das Volumen beider Migrationsbewegungen zu vergleichen. Auch wenn die Zahlen hierfür schwanken, so können wir mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass das Migrationssaldo für Portugal positiv ist. Für die Jahre 1999 bis 2003 betrug die permanente Auswanderung etwa 4.000 bis 9.000 Individuen, die permanente Einwanderung8 stieg für denselben Zeitraum auf 11.000 bis 17.000. Das Verhältnis zwischen temporärer Aus- und Einwanderung zeigt eine negative Bilanz: 14.000 bis 24.000 Ausreisen gegen etwa 18.400 Einreisen. Zwar sollten solche temporären Bewegungen nicht in die Zählung der ausländischen Bevölkerung oder in die Rechnung des Migrationssaldos eingehen. Da jedoch die Kurzzeitmigration oft in einen permanenten Aufenthalt übergeht, sollten diese Zahlen nicht ganz unberücksichtigt bleiben. Besonders ergiebig bei der Analyse des Zusammenspiels zwischen Einund Auswanderung ist jedoch die Berücksichtigung der Arbeitsmärkte. Es sind in der Tat mehrere Arbeitsmärkte, die miteinander verschränkt sind: der portugiesische Arbeitsmarkt, der Arbeitsmarkt in den Zielländern der Auswanderer und die Arbeitsmärkte der jeweiligen Herkunftsländer. Was den portugiesischen Arbeitsmarkt angeht, muss zunächst festgehalten werden, dass die Gründe für die Auswanderung nicht gänzlich bekannt sind. Wir wissen in der Tat wenig über die Situation der Emigranten vor ihrer Entscheidung, auszureisen (Arbeit bzw. Arbeitslosigkeit), über den Sektor, in dem sie beschäftigt waren, ihren 8
Gemessen anhand der Zahl der Ausländer in Portugal, die im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sind.
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Beruf, ihre Ausbildung oder ihr Einkommen. Wir wissen nur, dass viele der Auswanderer temporär in Sektoren wie dem Bau in Ländern tätig werden, in denen die Löhne höher sind als in Portugal. In Analogie werden viele der Immigranten in Portugal – viele Afrikaner, einige Brasilianer und ein großer Teil der Osteuropäer – im Bausektor beschäftigt. Die Nachfrage nach Arbeitskräften für den Bausektor ist seit den neunziger Jahren hoch, was auch die Legalisierungsverfahren von 1992 und 1996 erklärt. Wir stellen hierbei fest, dass die These der ‚primären’ und ‚sekundären’ Arbeitsmärkte (Piore 1979) noch immer Erklärungspotential besitzt. Das Funktionieren und die Regulierungsmechanismen des portugiesischen Arbeitsmarktes, vor allem des Bausektors, scheint also die Achse zwischen Ausund Einwanderung zu sein. Wäre der Bausektor in Portugal nicht so stark auf Arbeitskräfte angewiesen, wäre er für qualifizierte Inländer attraktiv. Wäre dieser Sektor stärker reglementiert, wäre ebenfalls die Beschäftigung von Inländern intensiver. In Wirklichkeit ist der Bausektor in Portugal aber für die portugiesischen Arbeitnehmer wenig attraktiv, durchaus jedoch für Ausländer aufgrund der geringen Regulierung. Wir können also feststellen, dass die ausländische Immigration in Portugal als eine ‚Ersatzmigration’ gesehen werden kann (Baganha/Peixoto 1997). Die Betrachtung der Arbeitsmärkte in den Zielländern portugiesischer Auswanderer und in den Herkunftsländern ausländischer Arbeitnehmer in Portugal soll dieses Szenario ergänzen. Die Zielländer portugiesischer Auswanderung9 weisen immer wieder einen konjunkturbedingten Bedarf an Arbeitskräften auf. Um diesen Bedarf zu decken, bieten sie, auch teilweise unter prekären Arbeitsbedingungen, Einkommen, die für portugiesische Arbeitnehmer attraktiv sind. Für die Inländer jedoch sind diese Arbeitsplätze – aufgrund der schlechten Bedingungen und der mangelnden Regulierung – wenig interessant. Es kann gleichwohl vorkommen, dass in solchen Arbeitsbereichen qualifizierte Inländer und nicht qualifizierte Ausländer beschäftigt werden. Die Arbeitsmärkte in den Herkunftsländern der Immigranten in Portugal leiden unter hoher Arbeitslosigkeit und niedrigen Löhnen. Dies führt dazu, dass sogar hoch qualifizierte Arbeitnehmer den Weg der Auswanderung einschlagen, um in möglichst kurzer Zeit möglichst hohe Summen zu verdienen. Die Auswanderungsgründe der Osteuropäer scheinen sich also nicht wesentlich von denjenigen der auswandernden Portugiesen zu unterscheiden. Dennoch gibt es wichtige Unterschiede zwischen beiden Gruppen. Die ökonomische Situation der Portugiesen vor der Auswanderung ist tendenziell besser als die der osteuropäischen Auswanderer, was die stärkere Tendenz der Portugiesen zu temporärer 9
Es handelt sich in der Regel um europäische Länder, die über eine stärkere Wirtschaft verfügen als Portugal.
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Auswanderung zu erklären vermag. Darüber hinaus haben portugiesische Auswanderer einen günstigen Status als EU-Bürger in den europäischen Zielländern. Die osteuropäischen Auswanderer entscheiden sich für Portugal anstelle von Ländern, in denen sie besser verdienen könnten, weil hier das mit der Illegalität verbundene Risiko geringer ist. Wie sich die Auswanderung aus und die Einwanderung nach Portugal in Zukunft entwickeln werden hängt von vielen Faktoren ab. Sie werden zunächst einmal vom wirtschaftlichen Wachstum Portugals beeinflusst. Basiert das Wachstum nach wie vor auf intensiver Beschäftigung, dann wird die Einwanderung hoch bleiben. Dies dürfte insbesondere dann der Fall sein, wenn die Sektoren, die auf intensive Arbeitskraft angewiesen sind, nicht stärker reguliert werden. Das wirtschaftliche Wachstum wird ebenfalls die Entwicklung der Auswanderung beeinflussen. Ein geringes Wachstum, das zu Arbeitslosigkeit führt, kann die Auswanderung begünstigen. Weitere Faktoren werden die Entwicklung der Aus- und Einwanderungsbewegungen bestimmen. So kann etwa die geringe Geburtenrate, die seit den siebziger Jahren in Portugal festzustellen ist, eine Verringerung der Auswanderung nach sich ziehen, weil die Zahl der jungen Erwachsenen – die typische Auswanderungskohorte – geringer ist. Auch die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs in Portugal kann in Zukunft die Tendenz zur Emigration bremsen. Schließlich können politische Faktoren in den Zielländern – wie etwa Änderungen in der Ausländergesetzgebung – die portugiesische Auswanderung von außen bremsen. Was die Einwanderung angeht, so müssen wir als Erstes die Push-Faktoren in den Herkunftsländern berücksichtigen, um eine Prognose zu wagen. Demographische und sozioökonomische Spannungen führen zur Auswanderung und variieren von Land zu Land. Das Bevölkerungswachstum als Push-Faktor wird voraussichtlich nach wie vor die lusophonen Länder betreffen, wogegen die osteuropäischen Länder genauso wie die übrigen europäischen Staaten eher von einem demographischen Einbruch betroffen sind. Die sozioökonomischen Gründe sind im Gegensatz dazu von allgemeiner Gültigkeit. Die osteuropäische Einwanderung in Portugal dürfte sich aufgrund des Familiennachzugs intensivieren; in Ausnahmefällen aber könnte sie auch durch Remigration zurückgehen, wie es bereits direkt nach den ersten Zeichen einer wirtschaftlichen Rezession geschehen ist. Die Einwanderungspolitik in Portugal wird ebenfalls eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Einwanderungsquoten spielen. Fördert sie künftig die Integration, so wird sich die Einwanderung konsolidieren; wird sie im Gegenteil restriktiver, so werden die Einreisen zurückgehen und eventuell die Remigration zunehmen.
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Schluss
Der Versuch, theoretische Modelle zur demographischen Untersuchung des natürlichen Bevölkerungswachstums (Verhältnis zwischen Geburten- und Todesrate) für die Analyse von Migrationsbewegungen operationalisierbar zu machen, kann einen heuristischen Ertrag bringen. Trotz der Kritik, die den Theorien des demographischen Übergangs entgegenschlägt, haben Letztere den Vorzug, dass sie empirische Fakten innerhalb eines breiteren Entwicklungsrahmens beschreiben und erklären, der sich über die kontextabhängigen Variationen spannt. Die Anwendung der Theorie des demographischen Übergangs auf die Migration hilft uns, von ‚Phasen’, ‚Regimes’ oder sogar von ‚Übergängen’ zu sprechen. Der bisher systematischste Versuch, die theoretischen Modelle des demographischen Übergangs auf Migrationen anzuwenden, stammt von Zelinsky. Seine Theorie des Mobilitätsübergangs (Zelinsky 1971) wird dennoch in der Migrationsforschung weitgehend ignoriert. Die große räumliche und zeitliche Vielfalt der Migrationsrealitäten und deren starke Kontextabhängigkeit (Beziehungen zwischen Staaten, Wirtschaftszyklen, Migrationspolitiken, u.a.) erklärt, warum in der Migrationsforschung kontextuelle Analysen vorgezogen werden: Sie beachten stärker die Singularität der einzelnen Migrationsbewegungen und erkennen die Zufälligkeit vieler Prozesse an. Die Migration in Portugal illustriert sehr deutlich die Komplexität der Migrationsdynamiken und die Schwierigkeit, ihre Entwicklung vorauszusagen. Heutzutage lassen sich strukturelle Faktoren finden, die aus Portugal zugleich ein Aus- und ein Einwanderungsland machen. Diese Gleichzeitigkeit ist innerhalb der EU einzigartig. Es ist schwer zu sagen, ob diese Gleichzeitigkeit Ausdruck des Übergangs Portugals von einem Aus- zu einem Einwanderungsland ist. Ein Langzeitanalyse und der Vergleich mit anderen südwesteuropäischen Staaten legt diese Hypothese nahe. Es ist somit möglich, dass die Einwanderung weiter zunimmt und Portugal zu einem innerhalb der EU vertrauten Modell eines Einwanderungslandes hin tendiert. Und dennoch: Auch wenn die Immigration das dominierende Zukunftsszenario ist, so kann sich die gegenwärtige Gleichzeitigkeit von Aus- und Einwanderungsphänomenen noch lange hinziehen. Sofern bestimmte Faktoren zusammentreffen – verschlechterte Lebensbedingungen und eine restriktive Migrationspolitik in Portugal – ist sogar eine erneute Umkehrung des jetzigen Trends nicht auszuschließen.
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Das Thema der Immigration in den portugiesischen Medien Isabel Ferin
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Einleitung
Ziel des vorliegenden Artikels ist es, Bilder und Repräsentationen von Einwanderung und ethnischen Minderheiten zu analysieren, die während der letzten Jahrzehnte in Portugal die öffentliche Debatte bestimmten. Dabei sind die Jahre 1992-1993 ein wichtiger Meilenstein sowohl für die Einwanderung als auch für die Medien. Zum ersten Mal nahmen private Fernsehsender ihre Arbeit auf, was die portugiesische Medienlandschaft einschneidend veränderte.1 Zur selben Zeit, am 1. September 1993, trat das Schengener Abkommen in Kraft, das die Schaffung eines europäischen Binnenraums voranbrachte. Hinzu kommt, dass Portugal seit Beginn der neunziger Jahre eine einzigartige Phase des sozialen Umbruchs und des wirtschaftlichen Wachstums erlebte, eine Folge der mit dem Beitritt zur EWG nach Portugal fließenden Strukturfonds (Barreto 2000). Die Repräsentation von Immigration und ethnischen Minderheiten in den portugiesischen Medien durchlief – unter Berücksichtigung des europäischen und des portugiesischen Kontextes – zwischen 1992 und 2006 unterschiedliche Phasen. Wohlgemerkt sind diese Phasen theoretische Konstrukte, die es jedoch gestatten, in Fallstudien und in Darstellungen von Presse und Fernsehen die großen Trends zu erkennen. Zur Jahrtausendwende bewirkten, neben weiteren sozioökonomischen und politischen Faktoren, die zunehmende Globalisierung der Märkte und die Veränderung der demographischen Strukturen in Europa, dass sich auch die Migrationsbewegungen änderten (Baganha/Marques 2001). In Portugal entstand 2002 mit der Gründung des ‚Hohen Kommissariats für Migration und Ethnische Minderheiten’ (ACIME – Alto Comissariado para as Migrações e Minorias Étnicas)2 eine Institution, die – verstärkt ab 2005 – vor allem für die Unterstützung, die Aufnahme und die Integration von Immigranten zuständig war. Damit ist der strukturelle und institutionelle Kontext umrissen, der auch die Arbeiten über die 1 2
Es handelt sich um die Sociedade Independente de Comunicação (SIC) und die Televisão Independente (TVI). Das ACIME wurde 2007 in ‚Hohes Kommissariat für Einwanderung und Interkulturellen Dialog’ (Alto Comissariado para a Imigração e o Diálogo Intercultural – ACIDI) umbenannt.
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Repräsentationen von Immigranten und ethnischen Minderheiten in den portugiesischen Medien Anfang des 21. Jahrhunderts bestimmt hat. Diese vom ‚Observatorium für Einwanderung’ (Observatório da Imigração) des ACIME durchgeführten Studien basieren auf quantitativen und statistischen Auswertungen von Nachrichten und Berichten, die in der Presse und im Fernsehen zwischen 2002 und 2004 erschienen sind. 2
Erste Arbeiten über Medien und Immigration in Portugal
Die Ergebnisse, die im Folgenden zusammengefasst dargestellt werden, beruhen auf Studien zur Repräsentation von Immigration, die unterschiedliche Methoden verwendet haben – bibliographische und dokumentarische Recherche, Fallstudien und Diskursanalyse – und teils in Buchform, teils in Fachzeitschriften veröffentlicht wurden. Die erste Untersuchung analysierte Artikel, die in der Tageszeitung Diário de Notícias zwischen Januar 1987 und Juli 1991 sowie in der Wochenzeitung Expresso zwischen Januar 1987 und Juli 1989 veröffentlicht wurden (Esteves 1991). Insgesamt wurden zwölf von den Autoren als Milieu-Reportagen klassifizierte Artikel ausgewählt. Dabei handelte es sich um isolierte Beispiele einer Berichterstattung zum Thema Einwanderung, d.h. die Artikel waren nicht Teil eines Sonderheftes zum Thema Immigration, das in dieser Zeit – anders als in anderen EU-Staaten – kaum in der portugiesischen Öffentlichkeit präsent war. Die Autoren konstatierten, dass eine globale Darstellung fehle, die alle im Land wohnenden Ausländer einbeziehen würde (Esteves 1991: 65). Dies erklärten sie damit, dass es in Portugal kein Ausländerproblem gebe, und entsprechend auch keine politische Strategie für den Umgang mit dem Phänomen der im Land wohnenden Ausländer existiere (Esteves 1991: 65). Die Untersuchung hob die de facto synonyme Benutzung der Ausdrücke ‚Kapverdier’ (cabo-verdiano) und ‚Afrikaner’ (africano) hervor, was auf die Dominanz von Einwanderern aus den lusophonen Ländern Afrikas und insbesondere von Kapverdiern hinweist und entsprechend das Immigrationsszenario in Portugal zu jener Zeit reflektiert. Die Autoren identifizierten in den Artikeln zwei semantische Felder: die Milieus, in denen sich die Immigranten bewegten (Stadtteile, Lebensgewohnheiten, Lebensumstände, etc.), und die Gewalt. Die Studie arbeitet heraus, welche Einstellung zu den Immigranten bei den Portugiesen vorherrscht, insbesondere den impliziten Rassismus, der sich hinter der Leichtfertigkeit verbirgt, mit der Immigranten für Straftaten verantwortlich gemacht werden. Eine weitere Untersuchung, die aufgrund der gesammelten Daten als bahnbrechend bezeichnet werden kann, deckt den Zeitraum 1993-1996 ab. In diesem
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Zeitraum wurde das Schengen-Abkommen diskutiert und schließlich in Portugal und in anderen EU-Ländern umgesetzt (Ferin 1996). In dieser Phase gab es noch keine klare öffentliche Wahrnehmung des Immigrationsphänomens, damals hatten 168.316 legale Immigranten ihren Wohnsitz innerhalb der Landesgrenzen. Ausländer, vorrangig solche aus PALOP-Ländern, wurden in diesem Kontext in Presse und Fernsehen meist im Zusammenhang mit sozialen Problemfällen dargestellt. So wurde die portugiesische Bevölkerung über die prekäre Wohnsituation der Immigranten (etwa Quinta do Mocho, Camarate), über Kleinkriminalität (Jugendgangs, etc.) und über polizeiliche Übergriffe informiert. Dessen ungeachtet verwendeten die Journalisten zur Bezeichnung der Personengruppe noch nicht die soziale Kategorie ‚Immigranten’. In der Folge machten Presse und Fernsehen machen die Immigranten durch ihre journalistische Berichterstattung sichtbar und klären die Leser über europäische Strategien im Umgang mit Immigration, den Schutz der gemeinsamen Grenzen, Überwachungssysteme und gesetzliche Änderungen auf. Die Kommentarspalten, die allgemein von wenigen Meinungsmachern bestimmt werden, zeigten allmählich Interesse an dem Thema. Ihre Argumentation konzentriert sich in der Regel auf die koloniale Vergangenheit Portugals oder beruft sich auf die Notwendigkeit des Grenzschutzes, um den Anforderungen der europäischen Migrationspolitik gerecht zu werden (Ferin 1997: 435-67). 1994 machten die Medien, vor allem die privaten Fernsehsender, den als Caso Vuvu bekannt gewordenen Fall einer Angolanerin publik, die zusammen mit ihrer kleinen Tochter Benedicte nach Portugal gekommen war, um ihren Ehemann und Vater ihres Kindes zu besuchen, dabei aber festgenommen wurde (Queirós 1996: 53-111). An diesem Fall entfachte sich eine öffentliche Debatte über die durch das neue Einwanderungsgesetz bedingten Veränderungen, zugleich informierten die Medien die Öffentlichkeit über die Implikationen des Gesetzes, insbesondere im Hinblick auf die Familienzusammenführung. 1995 sorgte der Fall der Ermordung eines Portugiesen kapverdischer Herkunft3 in Lissabon durch eine Skinhead-Gruppe dafür, dass das Thema Rassismus in die Medien eingeführt wurde. Eine der berichtenden Zeitungen führte Umfragen auf der Straße durch, um herauszufinden, ob die Portugiesen rassistische Einstellungen haben (unabhängig davon führte der Fall auch zu einer Auseinandersetzung mit der Erinnerung an die koloniale Vergangenheit). Andere Zeitungen versuchten ebenso herauszufinden, wer die Skinheads waren und in welcher Verbindung sie zu anderen Gruppen im Land standen. Die Medien machten die Beerdigung des Opfers und die Reaktion seiner Familie zu einem Medienspektakel. Gleichzeitig berichteten Fernsehprogramme wie Casa Comum (RTP2) oder África Aqui (TVI) über Im3
Dieses Ereignis ging durch die Presse als Fall Bairro Alto (nach dem Ort des Geschehens) und Fall Alcino Monteiro (nach dem Namen der Opfer).
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migration, Rassismus und Diskriminierung, wobei sie Einstellungen und Darstellungen anprangerten, die an die koloniale Sichtweise erinnerten. Eine neue Phase in der Berichterstattung über Einwanderung setzte mit der offiziellen Übernahme der europäischen Immigrationspolitik ein. Diese Periode markierte den Beginn einer Tendenz der Diversifizierung der Immigration, die noch heute spürbar ist. Während die Immigration aus PALOP-Ländern andauerte, nahmen die Zugänge aus Brasilien und aus osteuropäischen Ländern zu. Das ‚Amt für Ausländer- und Grenzangelegenheiten’ (SEF – Serviço de Estrangeiros e Fronteiras) schätzte, dass bis 1998 ungefähr 178.000 illegale Einwanderer in Portugal lebten. Während somit eine große Zahl von Immigranten ohne Papiere war, sorgte die Umsetzung von staatlichen Arbeitsprogrammen für einen Arbeitskräftemangel nieder, was die Sozialistische Partei (PS – Partido Socialista) dazu veranlasste, eine Amnestie anzuregen, die den Immigranten die Möglichkeit bot, sich legal im Land zu melden. Infolge des Community Support Framework II erlebte Portugal in dieser Zeit eine Reihe großer öffentlicher Investitionen, etwa die Expo ’98, den Bau der Brücke Vasco da Gama, die Errichtung des Porto-Metro, den Autobahnbau zwischen Lissabon und der Algarve, zahlreiche Immobiliengeschäfte sowie einen Anstieg privater Bauinvestitionen, etwa für das ColomboEinkaufszentrum (Viegas/Costa 1998). Zugleich war es eine Zeit des Wachstums für die Medien: Der Medienkonsum und die Werbeeinnahmen stiegen ebenso an wie die Investitionen in die Branche. Die hochwertige Presselandschaft erneuerte ihre Produkte, während der private Fernsehsender SIC bis zum Ende des Jahres 1999 seine Führungsposition gegenüber RTP1 und TVI ausbauen konnte. Zeitgleich nahmen Mediengruppen wie Imprensa, Lusomundo und Media Capital neue Dimensionen an, gaben wirtschaftlichen Interessen den Vorrang und beschritten neue Wege hin zu stärkerer Konkurrenz und der Bildung größerer Marktakteure. Dieses Phänomen im Vorlauf des neuen Jahrtausends folgte der internationalen Tendenz, Kommunikation, Information und Telekommunikation zu zentrieren und den Wettbewerb um Zuschauer-, Hörerund Leserquoten auszuweiten (Pinto 2000). Die Berücksichtigung des wirtschaftlichen und publizistischen Kontextes in Portugal ist für das Verständnis der Immigrations- und Minderheitenproblematik wichtig, die im Nachrichtenmaterial ihren Niederschlag fand. Die Zunahme des Wettbewerbs in Verbindung mit der fortschreitenden Konzentration der Mediengruppen sorgte für eine Aufwertung der besten Sendezeiten im Fernsehen. Werbung zur besten Sendezeit ist teurer und die Werbenden haben höhere Ansprüche. Ebenso gilt, dass Zeitungen wegen ihrer Schlagzeilen und Aufmacher gekauft werden. Für Direktoren, Redakteure und Journalisten ist es verlockend, sensationalistisch zu arbeiten, um Emotionen anzusprechen, Ab-
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scheu oder Empörung hervorzurufen: Eine entsprechende Aufmachung verleitet die Öffentlichkeit dazu, eine bestimmte Fernsehsendung an zu schauen oder eine Zeitung zu kaufen. Die Presse- und Fernsehberichterstattung über Kriminalität nahm während dieser Periode stark zu, wobei besonders die ethnische Minderheit der ciganos – der in Portugal lebenden Roma, die als ‚anders’, ausländisch dargestellt wurden – ins Visier der Reporter geriet. Die Medien berichteten etwa über den Fall der ‚Roma aus Oleiros’ (Ciganos de Oleiros), über Bürgerwehren gegen Roma, über Zonen des sozialen Wohnungsbaus in Lissabon und in ganz Portugal und über Probleme von Bürgern, die Roma zu akzeptieren (CIDAC 1996-1998). Vorfälle zwischen Roma-Jugendlichen der so genannten zweiten Generation und der Polizei in Armutsvierteln Portos und Lissabons waren regelmäßig in den Nachrichten. Diese Themen erhielten große Aufmerksamkeit, da es wegen Schulferien und der parlamentarischen Sommerpause an journalistisch interessanten Themen fehlte (‚Sommerloch’). Unfälle auf Baustellen, die zum Tod von oft illegalen Immigranten führten, schafften es ebenfalls in die Schlagzeilen. Auffallend gute Artikel erschienen 1996 anlässlich des Legalisierungsverfahrens in den Zeitungen Diário de Notícias, Público und Expresso sowie in der Boulevard-Zeitung Correio da Manhã. Diese informierten über die Voraussetzungen für eine Legalisierung, die erforderlichen Dokumente, die Meldestellen und die Probleme, mit denen die Immigranten während des Verfahrens zu rechnen hatten. Neben den etablierten Nachrichtensendungen gab es alternative Fernsehprogramme, die sich des Themas annahmen, wie etwa Maria Elisa (RTP1), Esta Semana (SIC), Documentário (RTP1), Africando (TVI).4 Diese Programme, die von unterschiedlicher Qualität und Tiefe waren, bemühten sich um eine Darstellung nahe an den Realitäten und sahen dies als Dienst an der Öffentlichkeit. Jedoch beeinträchtigten die ungünstigen Sendezeiten und die Verwendung dominanter Stereotype in der Auswahl und der Darstellung des Themas die Wirkung der Sendungen beträchtlich. 3
Die Medien und Portugals Integration in globale Immigrationsnetzwerke
Zum Jahresausgang 1998 neigte sich die Konjunktur dem Ende zu, die dank der Strukturfonds im Bereich arbeitsintensiver privater und öffentlicher Projekte längere Zeit die Wirtschaft beflügelt hatte. Zeitgleich gerieten auf internationa4
Die dem Thema Immigration gewidmeten Sendungen waren: Racismo e Xenofobia, ausgestrahlt am 24. Mai 1996; Racismo em Portugal, vom 10. Dezember 1996; Imigração Clandestina. Ciganos: Vítimas ou Culpados?, 1996; Africando wurde 1997 ausgestrahlt.
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ler Ebene die ersten Firmen der new economy, basierend auf Informations- und Kommunikationstechnologien, in Schwierigkeiten, was Folgen für Gruppen mit Medienbeteiligungen hatte. Hinzu kam die Expansion des Kabelfernsehens, das dem traditionellen terrestrischen Fernsehen Zuschauer abzog. Dies beeinflusste die Wettbewerbsstrategien, führte zu Einsparungen und machte den Journalismus zu einer unsicheren Karrierewahl. Zugleich strömten tausende junger Leute mit Universitätsabschlüssen auf den Arbeitsmarkt der Kommunikations- und Informationstechnologien und provozierten damit einen verschärften Wettbewerb um Arbeitsplätze, der sich in befristeten Arbeitsverhältnissen und dem Rückzug der Firmen aus arbeitsrechtlicher und sozialer Verantwortung niederschlug. Von 1999 bis 2002 nahm die Immigration aus den PALOP-Ländern sowie aus anderen afrikanischen Ländern ab, während die Immigration aus Brasilien und Osteuropa, vornehmlich der Ukraine, besser sichtbar wurde. 2002, so schätzt das SEF, befanden sich ca. 300.000 legale Immigranten in Portugal; zum ersten Mal überstieg die neue Immigration aus Brasilien und Osteuropa diejenige aus den Kapverden. Während dieser Periode kann man vier Themenkomplexe in den Medien feststellen. Der erste Komplex richtet den Fokus auf Jugendgangs der so genannten zweiten Generation der PALOP-Immigranten. Diese dienten insbesondere im Juli 2002 als Aufmacher der Qualitätspresse und als Themenlieferant für die Fernsehnachrichten. Zweitens wurde die Immigration aus Osteuropa aus zwei Perspektiven beleuchtet: Lebensgeschichte und Mafia. Drittens wurden die Änderungen der Einwanderungsgesetze und das Legalisierungsverfahren des Jahres 2000 zum Thema. Viertens ging es um die Immigration in Europa, die in zunehmendem Maße zur demografischen Krise und den Änderungen der Arbeitsgesetze beitrug und während des EU-Gipfels in Sevilla im Juli 2002 besondere Beachtung fand. In diesen Jahren nahm das journalistische Interesse für die Themen Immigration und Minderheiten und die Spezialisierung auf diese Themen zu. Das spiegelte sich in den einschlägigen Nachrichten zu diesen Themen wider, in den benutzten statistischen Informationen sowie in der verwendeten Sprache. Gleichwohl gab es noch immer viele Artikel, die entkontextualisierte, sensationalistische Geschichten mit Archivbildern präsentierten, Zeichen eines leichtfertigen Journalismus mit Folgen für die öffentliche Wahrnehmung der dargestellten Immigrantengruppen (Ferin 2001; 2003). Im Fernsehen unterminierte der starke Wettbewerb um die Zuschauer – greifbar in der Reality-Show Big Brother die im September 2000 auf TVI das erste Mal ausgestrahlt wurde – die ethischen Prinzipien des Journalismus und gab dem Infotainment neue Entfaltungsräume. Parallel dazu erhöhte sich auch das Aufkommen so genannter ‚leichter Nachrichten’: Elemente, die die Verarbeitung von Themen wie Immig-
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ration und Minderheiten kontaminierten. Ein Beispiel für dieses Phänomen bot der Sender SIC, der einen Bericht über das Erziehungsheim, in dem eine Gruppe von Tankstellenräubern mit Migrationshintergrund einsaßen, auf exakt den Termin legte, zu dem der Konkurrenzsender TVI Big Brother ausstrahlte. Im Kontrast hierzu lassen sich auch gute Berichte hervorheben, z.B. das Programm Viagem à Ucrânia, das 2002 den ACIME-Preis erhielt. Die Wirkung solcher Sendungen blieb dennoch begrenzt, da sie nicht zur besten Sendezeit ausgestrahlt werden. 4
Eine sich ständig verändernde Realität
Ab 2002 führte die portugiesische Regierung parallel zur neuen EUImmigrationspolitik verschiedene Maßnahmen zur Legalisierung und Integration von Immigranten eingeführt. Dazu gehören Gesetzesänderungen, Unterstützungs- und Sensibilisierungsprogramme oder die Unterstützung akademischer Studien über die Immigration, besonders die Behandlung in den Medien (ACIME 2005). Als Reaktion auf die Veränderungen auf europäischer Ebene begann in Portugal eine Periode der politischen Anpassung. Zu diesem Zeitpunkt lebten rund 500.000 legale Immigranten im Land und machten ca. 10% der aktiven Bevölkerung und 5% der Gesamtbevölkerung aus. Andererseits führten wirtschaftliche Schwierigkeiten, die neuen Arbeitsgesetze und das Ende vieler großer Bauprojekte zu einem Anwachsen der Arbeitslosigkeit und zu wachsender Unsicherheit für legale und illegale Immigranten. So nahmen trotz der Verbesserungen auf sozialer Ebene die Diskriminierung und die Ausgrenzung zu, diesmal basierend auf der ethnischen Abstammung, aber auch auf der Arbeitstauglichkeit und Produktivität (Santos 2004: 3). Mediengruppen hatten zu dieser Zeit Schwierigkeiten zu überleben, da sie aufgrund der zunehmenden Diversifizierung krisenanfällig waren. Terrestrische Fernsehsender waren am schwersten betroffen und wurden in Folge dessen mehrfach umstrukturiert, um das Tagesprogramm zu optimieren. Die Fernsehnachrichten reflektierten unmittelbar diese Restriktionen, da sie sich auf so genannte leichte Nachrichten und Infotainment konzentrieren mussten. Dem gegenüber zeichnete sich die Qualitätspresse durch großes Expertenwissen über Immigrations- und Minderheitenbelange und durch ein Bewusstsein für den sozialen Auftrag der journalistischen Arbeit aus (Mesquita/Traquina 2003). Die wichtigsten Qualitätsartikel findet man in den Tageszeitungen Público und Diário de Notícias sowie im Magazin Visão. Die dort am häufigsten behandelten Unterthemen der Einwanderung sind: Immigration aus Brasilien nach Portu-
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gal, Ausgrenzung und Armut der arbeitslosen Immigranten, die neue Amnestieperiode, die Integration von Immigranten. Trotz der Qualitätsberichterstattung dominierten jedoch nach wie vor Themen wie Kriminalität (Morde, Mafia und Prostitution) und Gewalt (vorrangig in Zigeunerlagern) die Medien (Ferin 2003). Die terrestrischen Sender brachten in dieser Periode keine einzige positive Darstellung. Eine umfangreiche Analyse der Nachrichtensendungen zur besten Sendezeit, die in Zusammenarbeit mit ACIME von 2003 bis Oktober 2004 durchgeführt wurde, ergab Konstanten bezüglich Format, Inhalt und übertragener Bilder die, obwohl nicht allein auf Immigration und ethnische Minderheiten bezogen, ein überwiegend negatives Bild zeichneten. Die Bedeutung der besten Sendezeit des terrestrischen Fernsehens muss besonders hervorgehoben werden, da während der fraglichen drei Stunden die meisten Menschen fernsehen und diese Sendungen daher die größte Wirkung haben (Hartley 1999). Dies vorausgeschickt, muss erstens erwähnt werden, dass während der besten Sendezeit die Art der Berichterstattung nicht variiert. Das dominante Genre ist der Report, in dem ein Nachrichtensprecher die Nachrichten – bei gleichzeitiger Unterstützung durch einen Reporter – verliest. Hingegen begegnen wir wenigen Studiointerviews oder Debatten, diese sind eher im Vormittags-, Nachmittags- und Abendprogramm der Nachrichten anzutreffen. Ferner kommt bemerkenswert häufig Archivmaterial zum Einsatz, das oft ohne Kennzeichnung eingesetzt wird (z.B. in Berichten über die Wohnlage von PALOP-Immigranten, über Roma oder über Schlägereien in Rotlichtvierteln). Zweitens fällt es auf, dass die terrestrischen Sender fast die gleichen Informationen ausstrahlen, was zu einem Mangel an Vielfalt in der Berichterstattung führt. Gleichwohl gibt es Unterschiede in der Behandlung der Themen, etwa im Hinblick auf die Länge der Berichte, auf den Rahmen und auf die benutzten Bilder. Die wichtigsten Nachrichten zum Thema Einwanderung, die zur besten Sendezeit auf allen terrestrischen Sendern im untersuchten Zeitraum ausgestrahlt wurden, bezogen sich auf den Staatsbesuch des brasilianischen Präsidenten Lula im Juni 2003 in Portugal und auf die Unterzeichnung eines Abkommens, das die Legalisierung brasilianischer Immigranten in Portugal ermöglichte. Andere Leitnachrichten waren ein Bericht des Time-Magazins über Prostitutionsnetzwerke in Nordportugal, der unangemeldete Bau neuer Häuser am Rande Lissabons durch illegale Einwanderer und der gewaltsame Tod zweier Osteuropäer in Porto. Bezüglich der politischen Agenda zur Immigration war die Änderung des Einwanderungsrechts ein wichtiges Thema. Jedoch muss gesagt werden, dass das Publikum Nachrichten über Kriminalität und den Arbeitsmarkt mehr schätzt als solche über Integration. Berichte über Unfälle und über die Ausbeutung von Immigranten durch Arbeitgeber, die weder identifiziert wurden noch Ziel journalistischer Nachforschung wurden, sind hierfür paradigmatisch.
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Vielmehr wird der Nachrichtenwert durch das Publikumsinteresse, durch Personalisierung und Dramatisierung – Elemente des Infotainments – bestimmt. Diese Elemente sind Konstanten in der Berichterstattung besonders privater Fernsehsender, sogar wenn die Themen politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Charakter haben. 5
Breit angelegte Untersuchungen der journalistischen Berichterstattung über Immigration und ethnische Minderheiten
Die erste detaillierte Untersuchung zu diesem Thema in Portugal bezieht sich auf Daten, die 2006 erhoben wurden. Das EU-geförderte Projekt hieß Observatory against Ethnic and Sexual Discrimination. Die Studie basiert auf Daten, die im Laufe eines Jahres aus der Presse und aus dem Fernsehen erhoben wurden. Vier Tageszeitungen (Público, Diário de Notícias, A Capital und 24 Horas) und zwei Wochenzeitungen (Expresso und O Independente) sowie die Programme der drei größten terrestrischen Fernsehsender (RTP1, RTP2 und SIC) zur besten Sendezeit wurden dafür untersucht. Das Projekt wurde methodisch durch Direktiven aus Italien unterstützt, von wo aus das Projekt koordiniert wurde und wo eine gemeinsame Datenbank für alle teilnehmenden Länder geschaffen wurde. Die Ergebnisse aus Portugal belegen mit 2.613 Presseartikeln und 673 Fernsehbeiträgen eine hohe Sichtbarkeit des Berichtes über ethnische Diskriminierung. Zwischen dem 1. Januar 2001 und dem 31. März 2002 führten die Medienforscher Rui Cádima und Alexandra Figueiredo mit Unterstützung der Immigrationsbehörde und ACIME eine Studie durch, in der ca. 4.000 Beispiele aus der nationalen und der regionalen Presse untersucht wurden (Cádima/Figueiredo 2003). Die benutzte Methode war die Inhaltsanalyse unter Beachtung von thematischen Schlagwörtern und Informationen über Immigranten, Immigration und ethnischen Minderheiten. Die Autoren untersuchten 2.782 Berichte der nationalen und 1.294 Berichte der regionalen Presse, die sich mit Immigranten aus Osteuropa beschäftigten. Die Studie ergab, dass Kriminalität das häufigste Thema war (Cádima/Figueiredo 2003: 49-51). Eine weitere breit angelegte Studie bezog sich auf Daten, die aus der Presse und aus dem Fernsehen zwischen 2003 und 2004 erhoben wurden (Ferin 2004; Ferin/Santos 2006). Diese Studie konzentrierte sich auf die größten Tages- und Wochenzeitungen des Landes: Público, Diário de Notícias, Jornal de Notícias, Correio da Manhã, A Capital einerseits und 24 Horas, Expresso und O Independente andererseits. Die Analyse des Fernsehmaterials bezog sich auf Nachrichten über Immigration und ethnische Minderheiten, die während der besten Sendezeit auf den terrestrischen Sendern RTP1, RTP2, SIC und TVI ausge-
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strahlt wurden. Ein Vergleich der Daten von 2003-2004 zeigt, dass 2003 acht Zeitungen insgesamt 1.538 Artikel und 2004 1.791 Artikel über Immigration und ethnische Minderheiten veröffentlichten. Dies ist ein Zuwachs von 16,4%. Diese Art von Berichten in der Qualitätspresse, die mindestens ein Viertel der Seite beanspruchen, nahm 2004 um 29,2% zu, wohingegen in den Zeitungen minderer Qualität sich das Muster des Jahres 2003 wiederholte und Berichte von einem oder zwei Absätzen Länge insgesamt 39,5% ausmachten. Berichte über Immigration und ethnische Minderheiten erschienen üblicherweise im Gesellschaftsteil der Zeitungen (sowohl in der Qualitäts- als auch in der BoulevardPresse) und machten 51,5% der Nachrichten aus - eine Steigerung von 44,4% zum Jahr 2003. Die Wochenzeitungen bildeten hierzu eine Ausnahme, da sie den Themen größere Aufmerksamkeit schenkten und ihnen mehr Platz einräumten. Die Boulevard-Presse lancierte wiederum eine größere Zahl von Kurzmitteilungen, 24 Horas hatte daran den höchsten Anteil. Die rechtliche Stellung der Immigranten wurde 2004 in 39,1% der Berichte erwähnt, im Vergleich zu 46,9% im Jahr 2003. Die häufigsten Berichte in der Presse handelten in beiden Jahren, 2003 und 2004, von illegalen Immigranten, die insgesamt in 67,3% dieser Berichte behandelt wurden. 21,2% der Berichte zeigten eine Tendenz, die Nationalität oder ethnische Zugehörigkeit der Immigranten vereinfacht darzustellen. Interessanterweise hoben die populärsten Zeitungen einzelne Nationalitäten oder ethnische Gruppen besonders hervor: 2004 wurde den Brasilianern besondere Aufmerksamkeit zuteil (20,4%), während es 2003 die Osteuropäer waren (22,2%). Das häufigste Thema 2004 war die Kriminalität mit einem Anteil von 13,4%. Dies gilt ebenfalls für das Jahr 2003, obwohl die Häufigkeit mit 17,9% geringer war. In der Qualitätspresse jedoch war 2004 die Integration das meist behandelte Thema (12,2%), während noch im Jahr 2003 das Thema Arbeit mit 15,7% an der Spitze stand. 2004 waren öffentliche Institutionen die häufigsten Akteure der Berichte, mit SEF als Spitzenreiter, trotz eines leichten Abfalls im Vergleich zum Vorjahr. 2003 war SEF in 20,5% aller Artikel in Erscheinung getreten, 2005 nur in 15,8% aller Artikel. 2004 war die Regierung Hauptakteur in vier von fünf untersuchten Artikeln in der Qualitätspresse. 2004 traten Männer in 47,7% der Berichte in Erscheinung, im Vergleich zu 37,9% im Jahr 2003. 2003 beschäftigte sich die Qualitätspresse häufiger mit Frauen, 39,2% dieser Artikel hatten Prostitution zum Thema. Zudem ist interessant, dass 2003 die Polizei an zweiter Stelle der Hauptakteure stand, mit einem Zuwachs von ca. 5% im Jahr 2004, wohingegen Berichte mit der Regierung als Hauptakteur 12,3% ausmachten. Die Berichte in den Fernsehnachrichten der Sender RTP1, SIC und TVI nahmen im Jahr 2004 zu. SIC zeigte dem Immigrations-Thema wachsende Auf-
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merksamkeit und übernahm die Spitzenreiterrolle, die noch 2003 noch TVI innehatte. Bezüglich Ausrichtung, Programmtyp und Einbettung entsprechen die Ergebnisse für 2004 denen der Vorjahre: Nachrichten über Immigranten und Minderheiten sind selten Hauptnachrichten im Fernsehen. Stattdessen werden diese Themen eher in Straßenreportagen behandelt. Viele Berichte handeln von Bordellen (ca. 10% während des Untersuchungszeitraumes). 2004 waren die brasilianischen Immigranten weiterhin an vorderster Stelle in der Berichterstattung mit 18,5% der Berichte, im Vorjahr sogar mit 26%. Die ukrainischen Immigranten machten 2004 ca. 14% der Berichte aus und hatten damit den zweiten Platz inne. Weiterhin fällt auf, dass Berichte über Roma 2004 das Niveau aus dem Jahr 2003 nicht mehr erreichten; die Berichte über Zigeuner waren nicht weiter signifikant. Der Anteil der Berichte über kriminelle Akte blieb unverändert bei 15,5% in beiden Jahren. 2004 stieg ebenso der Anteil von Berichten über soziologische Themen in Verbindung mit Immigration wie z.B. Integrationsstrategien. Dies hatte zugleich eine Auswirkung auf die Diskussion über die Kriminalität und schlug sich in den Sprachvariablen nieder, in denen Immigranten und Minderheiten eher als Opfer denn als Aggressoren dargestellt werden. Die häufigsten Akteure in diesen Jahren waren mit einem Anteil von fast 50% aller Berichte die Immigranten selbst. Hierbei muss erwähnt werden, dass 2004 die identifizierten Akteure – Individuen, Spezialisten und Geschäftsleute – signifikante Werte erhielten, wobei der Anteil der Sicherheitskräfte von fast 50% im Jahr 2003 auf nur 19,5% im Jahr 2004 fiel. Im Fernsehen übertragene Diskussionen über diese Themen unterlagen einem klaren Wandel zwischen 2003 und 2004 und ermöglichten es, dieselben Bilder weiter zu benutzen, auch wenn sie nun anders kontextualisiert wurden. Während 2003 Berichte über Polizeieinsätze dominierten (36,2%), waren 2004 faktenorientierte Berichte die herrschende Erzählform (40,8%), gefolgt von Polizeieinsätzen (35,1%). Ähnliche Ergebnisse findet man bei negativen Darstellungen (2003: 59,4%; 2004: 52,4%). Zu diesen Ergebnissen muss man hinzufügen, dass es einen leichten Anstieg neutraler Berichte gab (2003: 23,7%; 2004: 25,7%). Neben diesen Zahlen ist eine Studie über das Bild weiblicher Immigranten zu erwähnen, das in der portugiesischen Presse vermittelt wird (SOS Racismo 2005). Die Studie, in der ausschließlich Frauen aus Immigrantengruppen oder aus ethnischen Minderheiten untersucht wurden, reduzierte das frühere Sample der ACIME-Untersuchung von 1.538 Berichten auf nunmehr 210. Das Thema weiblicher Immigration hatte bislang wenig Medienaufmerksamkeit erregt, Berichte nahmen maximal ein Viertel einer Seite in den Zeitungen ein. Auch im
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Fernsehen wurde das Thema lediglich in kurzen Beiträgen behandelt. Obwohl viele der Berichte und Artikel überregional publiziert und ausgestrahlt wurden (24,6%), stammten 40% der Beiträge entweder aus dem Norden oder aus dem ländlichen Hinterland, wodurch das Bild der Immigrant/innen im Vergleich zum existierenden statistischen Profil verzerrt wurde. Dieses Phänomen steht in Zusammenhang mit dem dominanten Thema – Prostitution, 59% der Berichte –, der Nationalität – Brasilianer/innen erscheinen in 44,1% aller Berichte, die eine ethnische Gruppe oder Nationalität erwähnen – und der rechtlichen Position, die die Medien den weiblichen Immigranten zuordnen – in fast 50% dieser Berichte handelt es sich um illegale Immigrantinnen. Die portugiesischen Nachrichtenmedien, sowohl die Presse als auch die Fernsehsender, scheinen Frauen als ‚Minderheit innerhalb der Minderheiten’ zu betrachten. Dies hat zur Folge, dass diese Berichte nicht den Lebensinhalt der Frauen widerspiegeln. Stattdessen beschränken sie sich zunehmend auf deren reproduktive, biologische und kulturelle Funktion in der Gastgesellschaft. In manchen Fällen wird weibliche Immigration eher als problematisch denn als konstitutiv behandelt (SOS Racismo 2005). 6
Fazit
Die erhobenen Daten zeigen, dass Presse und Fernsehen eine wichtige Rolle in der Konstruktion des Bildes von Immigranten und ethnischen Minderheiten spielen, und auch wie sie dies tun. Gerade dem Fernsehen als Hauptinformationsquelle in der portugiesischen Gesellschaft kommt hierbei eine große Bedeutung und Verantwortung zu. Die Behandlung der mit dem Gegenstand verbundenen Themen steht in einem engen Zusammenhang mit sozialen, politischen und wirtschaftlichen Faktoren auf dem Medienmarkt. Aus dieser Perspektive ist es nicht möglich, ein Standardmuster in der Berichterstattung zu erkennen, eher ein Standardmuster der Weiterentwicklung der Berichterstattung. Untersuchungen von Medien sind komplex und uneindeutig, da sie die Informationen analysieren, diese Informationen allerdings selbst nutzen. Dennoch lässt sich festhalten, dass sich im Untersuchungszeitraum, besonders seit 2001, sich das Maß verantwortungsvollen Verhaltens in den Medien deutlich verbessert hat. Dies zeigt sich in Sprache und Tonfall, der Auswahl der sozialen Akteure sowie deren Herkunft und rechtlicher Status, der Auswahl und Bandbreite der Quellen, der Qualität und Relevanz der statistischen Informationen einschließlich ihres Gebrauchs, dem Kontext und der Bandbreite der Themen im Hinblick auf die Interessen der Immigranten und der Aufnahmegesellschaft, dem Arrangement und der Konstruktion der Schlagzeilen, der Bildunterschriften, der Grafiken und
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der Fotos. Für das Fernsehen bleibt hingegen noch viel zu tun, besonders im Hinblick auf die Nachrichtensendungen zur besten Sendezeit. Im Jahr 2004 hat sich jedoch auch hier vieles verändert, und das lässt hoffen, dass die Verantwortlichen in den Fernsehsendern sich ihrer Verantwortung im Umgang mit dem Thema Immigration und Minderheiten bewusst sind und mehr Wert auf Umfang und Gestaltung ihrer Beiträge legen. Eine solche Sensibilisierung lässt sich auch im Gebrauch alternativer Quellen feststellen, und nicht zuletzt in der Bemühung um Inhalte und Formate, die für beide Seiten wie für die Allgemeinheit ein Gewinn sind. 7
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III Lusophone Immigration und Kulturen in Deutschland
Die portugiesische Auswanderung nach Deutschland – eine empirische Untersuchung Cristina Berretta Soares
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Einleitung
Ein sehr großer Teil der ausländischen Arbeitsmigranten, die im Zuge der staatlichen Anwerbung als ‚Gastarbeiter’ und ‚Gastarbeiterinnen’ oder Familienangehörige nach Deutschland einwanderten, lebt heute nahezu vier Jahrzehnte in der Bundesrepublik Deutschland und ist fester Bestandteil der hiesigen Bevölkerung. Die Mehrheit hat mehr Zeit ihres Lebens im Aufnahmeland verbracht, als in ihrem Heimatland und steht heute kurz vor dem altersbedingten Ruhestand oder hat diesen bereits angetreten. Mit steigender Tendenz zeichnet sich gegenwärtig ab, dass ein Großteil der ausländischen Arbeitnehmer auch den Lebensabend in der Bundesrepublik Deutschland verbringen wird und nicht, oder zumindest nicht gleich nach Austritt aus dem Erwerbsleben, in das Heimatland zurückkehrt. Der Trend zu dieser neuen, gegenwärtigen Realität, die vierzig Jahre zuvor weder für die bundesrepublikanische Regierung, noch für die einwandernden Arbeiter vorstellbar war, ist umso eindrucksvoller, wenn man sich insbesondere die Beweggründe vor Augen hält, die zum einen die Bundesrepublik Deutschland zu einer solchen Anwerbepolitik zwangen, zum anderen Menschen veranlasste, ihr Herkunftsland zu verlassen, um am deutschen Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit mitzuwirken. Beide Seiten waren von einem temporären Arbeitsaufenthalt und einer anschließenden Rückkehr ausgegangen. Aus deutscher Sicht hätte zur damaligen Zeit wohl kaum jemand daran geglaubt, dass ein Großteil der angeworbenen ‚Gast’-Arbeiter heute einen Teil der Rentner in der Bundesrepublik Deutschland ausmachen würde. Und die Arbeitsmigranten selbst, wer unter ihnen hätte zu Beginn daran gedacht, im Rentenalter noch in Deutschland zu verweilen? Faktoren wie Anwerbe- und Auswanderungsursache, Migrationsziel und Migrationsverlauf sind für die gegenwärtige Realität entscheidend und prägend, sowie für das Verständnis der aktuellen Lebenssituation älterer ausländischer Migranten unerlässlich. Jedoch muss diese migrationsspezifische Vergangenheit vor dem Hintergrund der momentan erlebten und gelebten Situation betrachtet
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werden. Um der sich abzeichnenden Wirklichkeit gerecht zu werden, bedarf es daher einer Untersuchung der sozialen Lebenslage dieser Bevölkerungsgruppe und der sich daraus ergebenden Folgewirkungen im Alter. Fest steht, dass sich sowohl für die Bundesrepublik, wie auch für ihre ausländischen Mitbürger, eine altersbedingte Situation darstellt, die neuer Konzepte und Inhalte bedarf, damit Weichen für die Zukunft gestellt werden können und ein Zusammenleben möglich ist. 2
Soziohistorische Überlegungen zur portugiesischen Migration in Deutschland
Der vorliegende Artikel konzentriert sich auf die erste Generation portugiesischer Arbeitsmigranten, die im Zeitraum von 1964 bis 1973, der Anwerbevereinbarung zwischen Portugal und Deutschland bis zum Anwerbestopp, in die Bundesrepublik einreisten und die sich durch folgende migrationsspezifische Faktoren charakterisieren lassen: lange Aufenthaltszeit in Deutschland, rückkehrorientierter Lebensstil, Bewahrung der heimatlichen, traditionellen Wertvorstellungen und sozialer Kontakt, der sich überwiegend im intranationalen Umfeld abspielt. Zur Erreichung des angestrebten Untersuchungsziels ist eine ausschließliche Literaturrezeption bei weitem nicht ausreichend. Zur portugiesischen Auswanderung nach Deutschland gibt es nur wenige Veröffentlichungen. Daher haben wir die Methode des qualitativen Interviews angewandt, bei dem die portugiesischen Migranten selbst zu Wort kommen sollten. Nur auf diese Weise kann ihre Lebenssituation und ihr Lebensweg beschrieben und interpretiert werden. Der persönliche Kontakt zu den Menschen, deren Leben den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit darstellt, war demnach unverzichtbar, um deren Bedürfnisse und Zukunftsvorstellungen in hinreichender Weise zu erschließen. Die Auswertung der Interviews stellt eine Grundlage des Beitrages dar. Den Interviews lag ein standardisierter Fragebogen zugrunde. 2.1 Merkmale ‚Rückkehr’ und ‚Nähe’ zu Migrationsbeginn Zu Zeiten florierender Wirtschaft, ein Jahrzehnt nach Ende des Zweiten Weltkrieges, als die Bundesrepublik Deutschland den Bedarf der Wirtschaft an Arbeitskräften aus einheimischer Kraft nicht zu decken vermochte, begann die Geschichte der ‚Gastarbeiter’, wie auch die der Portugiesen in Deutschland. Deutschland betrieb zu dieser Zeit eine reine Arbeitsmarktpolitik, basierend auf
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unternehmerischen und lohnpolitischen Zielen. Die Regierung leitete aufgrund des durch die Industrieunternehmen ausgeübten Drucks die Anwerbung von ‚Gastarbeitern’ zu einer Zeit ein, zu der die Entwicklung der westdeutschen Wirtschaft auch als ‚deutsches Wirtschaftswunder’ bezeichnet wurde. Dem Leitsatz des Arbeiters auf Zeit ging die Vorstellung einer rotierenden Masse von Arbeitnehmern voraus, die zurückkehren und durch neue Anwerbungen ersetzt würden. Einer Niederlassung oder gar einer endgültigen Auswanderung ausländischer Bevölkerungsgruppen sollte auf diese Weise entgegengesteuert werden (Herbert 2003). Auch die angeworbenen Gastarbeiter sahen zu Beginn der Migration ihren Arbeitsaufenthalt in der Bundesrepublik als einen provisorischen Schritt. Eine Arbeit in Deutschland war eine sich bietende Chance, die bestehenden Lebensverhältnisse zu ändern. Migration schien eine Lösung zu sein, sich aus eigener Kraft eine materielle Existenz zu verschaffen und dadurch die künftigen Lebensumstände selbst bestimmen zu können. Jedoch ist dabei zu beachten, dass sich dieses Vorhaben zumeist ausschließlich auf das Heimatland bezog. Die Wanderung war also nur Mittel, sich Wünsche in Portugal zu erfüllen. Die Migrationsentscheidung trafen die Migranten aus der Verbundenheit zur Heimat, auf der Grundlage einer baldigen Rückkehr nach Erreichen der gesetzten Ziele (Klimt 1998). Das Merkmal der Rückkehr als Bestandteil der Anwerbepolitik, wie auch als Grundlage der Migrationsentscheidung, lässt sich nur durch die geringe Distanz zwischen Herkunfts- und Aufnahmekontext erklären. Für die portugiesischen Arbeitsmigranten kommt dem hier als ‚Nähe zum Heimatland’ beschriebenen Merkmal der Arbeitsmigration, vor dem Hintergrund der Migrationsgeschichte Portugals im letzten Jahrhundert, eine weitaus übergeordnete Rolle zu. Aus portugiesischer Sicht war für das zwanzigste Jahrhundert eine hohe Auswanderungsbereitschaft der Portugiesen nach Übersee kennzeichnend. Basierend auf einer Wandertradition, die sich bis in die Kolonialzeit Portugals im sechzehnten Jahrhundert verfolgen lässt, diente insbesondere Brasilien als Migrationsziel. Die zu Beginn der fünfziger Jahre einsetzende Migrationswelle nach Europa im Zuge der westeuropäischen Wirtschaftsexpansion bedeutete den Wendepunkt der traditionellen Migrationsstruktur, die sich von einer interkontinentalen zu einer intrakontinentalen wandelte. Von diesem Standpunkt aus gesehen, beeinflusste diese ‚neue Nähe’ zum Auswanderungsziel die Entscheidung der Migranten. Dadurch ließ sich die Existenzsicherung durch regelmäßige Heimfahrten nach Portugal in die Tat umsetzen und begleiten, was zum einen die Bestätigung der getroffenen Migrationsentscheidung bedeutete, zum anderen aber auch die Bindung an die Heimat festigte. Vor dem Hintergrund einer baldigen Rückkehr blieben die heimischen Wertvorstellungen fest verankert und man
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war nicht versucht, diese über Bord zu werfen. Wohl würde man zum Migranten werden, aber nur für eine bestimmte Zeit. In diesem Sinne bewahrten die portugiesischen Arbeitsmigranten ihre vor der Wanderung gültigen Norm- und Wertvorstellungen und nahmen diese mit nach Deutschland, so dass Voraussetzungen für eine soziale Isolation im Aufnahmeland gegeben waren (DietzelPapakyriakou 1993). 2.2 Motive der Auswanderung Aufgrund der wirtschaftlich ungleichen Verhältnisse zwischen dem Zielland Deutschland und dem Entsendeland Portugal, beruhen die Push-Faktoren auf dem wirtschaftlichen Rückstand Portugals, der sich für große Teile der Bevölkerung in schlechten Lebensbedingungen niederschlug, vor allem in den ländlich peripheren Gebieten mit agrarischer Struktur und ohne Möglichkeit auf bessere Zukunftsaussichten. Push-Faktoren sind daher existentielle Notlage oder mangelnde Lebensgrundlage, Arbeitslosigkeit oder geringer Lohn. Demgegenüber wirken die ökonomischen Pull-Faktoren im Zielland (Wohlstand, Arbeitskräftebedarf, höhere Löhne), die sich dem Wandernden als mögliche Lösung zur Situation im Heimatland darbieten. Basierend auf diesen Faktoren kann eine Migration erfolgen, wobei es oftmals weiterer Faktoren bedarf, durch die eine Migration in die Tat umgesetzt wird. Diese wirken komplementär zu den bereits vorhandenen ökonomischen Push-Pull-Faktoren, können diesen jedoch auch vorausgehen oder gar erst den Wunsch zur Migration auslösen. In diesem Sinne bedarf es einer Erweiterung des Push-Pull-Modells, das in erster Linie von einer ökonomischen Motivation der Migration ausgeht. Hervorzuheben sind in diesem Kontext die strukturellen Merkmale der Arbeitsmigration selbst, die eine Voraussetzung für weitere Faktoren darstellen und somit ebenfalls auf die Entscheidung zur Auswanderung Einfluss nehmen. So können die Migrationsentscheidung eines Familienmitglieds oder die sichtbaren materiellen Errungenschaften der bereits Ausgewanderten den Anreiz geben, es auch selbst zu wagen. An die Berichte der Anderen werden eigene Wunschvorstellungen geknüpft, wodurch die eigene Migrationsbereitschaft gefördert wird. Strukturelles Merkmal ist in diesem Fall die ‚Nähe zum Heimatland’, die folglich weiterhin den direkten Kontakt zum Herkunftskontext ermöglicht. Darüber hinaus kann dieses Merkmal der Arbeitsmigration, das vor dem Hintergrund einer herkömmlichen überseeischen Wandertradition der portugiesischen Bevölkerung als eine neue ‚ideelle Nähe’ empfunden wird, die Gedan-
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kenprozesse vor der Migration beeinflussen. Doch auch die lange Migrationsgeschichte Portugals und die traditionell idealisierte Vorstellung des Reichtums im Ausland, können für die Wanderung bestimmend sein. Ausgehend von diesen Überlegungen kann das Zielland selbst den Impuls darstellen und die Auswanderung begründen. Erzählungen der bereits Ausgewanderten über das Zielland wirken auf die Wanderungsbereitschaft der Menschen in der Herkunftsregion. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt dieser Darstellungen über das Migrationsziel, mischen sich mythische Vorstellungen mit „nationalen Klischees und Erfolgsberichten der bereits Gewanderten“ (Treibel 1999: 31), so dass der Mythos der Auswanderung in die Bundesrepublik Deutschland entsteht, vergleichbar mit dem Mythos USA im Europa des 19. Jahrhunderts. Diesem Faktor kann die angestrebte Statusverbesserung nach erfolgter Rückkehr im Heimatland hinzugefügt werden. Viele versprechen sich von dem durch die Migration erreichbaren ökonomischen Nutzen auch ein höheres soziales Prestige in der Herkunftsgesellschaft. „Denn mag der Ertrag der Migration für das Aufnahmesystem auch relativ bescheiden ausfallen, im Herkunftskontext läßt er sich in höheren materiellen und sozialen Nutzen ‚konvertieren’“ (DietzelPapakyriakou 1993: 98). Vergleichsmaßstab bilden demzufolge die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Heimatland und nicht im Aufnahmeland. Daraus resultierend lässt sich feststellen, dass je größer die ökonomischen Gegensätze zwischen Portugal und der Bundesrepublik sind, umso höher der soziale Status der Migranten nach der Rückkehr ist. Ein höherer Lebensstandard, somit auch ein gewisses soziales Prestige, ließe sich in Portugal innerhalb des gleichen ökonomischen und sozialen Kontextes nicht erreichen. In Bezug auf das Push-Pull-Modell der Migration bedeutet dies, dass eine berufliche und soziale Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen in der Heimat ausschlaggebend sind. Dennoch ist der ökonomische Push-Faktor der Arbeitslosigkeit für eine Wanderung nicht zwingend, da der Entschluss zu Migration auf der Grundlage einer besseren Arbeitssituation getroffen wird, die im Zielland attraktiver erscheint. Trotz bestehender Arbeitsplätze in Portugal Ende der sechziger bis Anfang der siebziger Jahre, die sich auf den industriellen Aufschwung Portugals zurückverfolgen lassen, war die Auswanderungsbereitschaft in diesem Zeitraum sehr hoch, so dass sich hier die höchsten Wanderungsraten im Hinblick auf die gesamte Anwerbephase konstatieren lassen. Des Weiteren kann eine politisch-ideologische Motivation im Zusammenhang mit dem diktatorischen und repressiven Salazar-Regime sowie dem Kolonialkrieg (1961-1974), dem junge Männer sich durch Auswanderung zu entziehen versuchten, bei der Migrationsentscheidung der Portugiesen nicht ausge-
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schlossen werden. In vielen Fällen geht sie mit einer ökonomischen Motivation einher, so dass keine klare Linie zwischen ökonomischer oder politischer Motivationsstruktur gezogen werden kann (Peixoto 2000: 168). In demselben Maße bedarf es der Berücksichtigung individueller Faktoren, die bei einem Wanderungsentschluss eine Rolle spielen können. Besonders bei diesem Faktor verlieren ökonomische Pull- und Push-Faktoren an Gewicht oder lassen sich ausschließen, sonst ließe sich nicht begründen, „weshalb so viele Menschen, die in derselben sozioökonomischen Lage sind wie die Wanderinnen und Wanderer, selbst nicht wandern“ (Treibel 1999: 31). 2.3 Rückkehrorientierung im Migrationsverlauf Eine dauerhafte Niederlassung der Arbeitsmigranten setzte bereits während der Anwerbephase ein und war Anfang der achtziger Jahre bei einem Großteil der Migranten weitgehend abgeschlossen. Sozioökonomische Veränderungen wie wachsende Aufenthaltszeiten und sinkende Rückkehrquoten deuteten auf eine faktische Niederlassung der Gastarbeiter hin. Insbesondere der zunehmende Familiennachzug war der wichtigste Indikator für eine Verlagerung des Lebensmittelpunktes ausländischer Familien nach Deutschland. Hinzu kam eine erhöhte Bereitschaft der Arbeitsmigranten und ihrer Familien, nationalitätsspezifische Vereine zu gründen.1 Die bundesdeutsche Politik, wie auch die Arbeitsmigranten, hielten trotz sich verändernder Gegebenheiten an der Vorstellung eines provisorischen Aufenthalts und einer Rückkehr in das Heimatland weiterhin fest. Wahrnehmung und Wirklichkeit klafften auf beiden Seiten weit auseinander. Die Bundesregierung leugnete den Einwanderungsprozess der ursprünglichen ‚Gäste’ und ihrer nachgezogenen Familien. Die Migranten hinkten ihrer geplanten Rückkehr hinterher, ihr Leben in Deutschland wandelte sich zunehmend zu einem dauerhaften Provisorium. Resümierend lässt sich festhalten, dass sich aus den dargestellten Gründen, die Rückkehr, die für die Migranten die Voraussetzung darstellte, auf der sie ihre Migrationsentscheidung trafen, nicht im ursprünglich geplanten Zeitraum realisieren ließ und dadurch immer weiter verschoben wurde. Es bedarf daher einer Neudefinition des anvisierten Ziels der Rückkehr, die durch eine Verlängerung des Zeitraums erreicht werden kann, ohne die ursprünglichen Ziele aufgeben zu müssen. Demnach muss die Rückkehrorientierung im Lebenslauf der Migranten als sich dynamisch verändernde Kategorie betrachtet werden, was 1
Zu portugiesischen Vereinen in der BRD siehe der Artikel von Teresa Pinheiro in diesem Band.
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bedeutet, dass die Migranten unterschiedlich starke rückkehrorientierte Phasen im Verlauf der Migration durchleben (Dietzel-Papakyriakou 1993). Darüber hinaus muss unterschieden werden zwischen Realzielen, also Zielen, die der Erwartung entsprechen, und Idealzielen, die einer Aspiration entsprechen, so dass weit in der Zukunft liegende Zielsetzungen kurzfristigen Zielen untergeordnet werden. Bezogen auf das Gesamtziel der Rückkehr bedeutet dies, dass sich zu Beginn der Migration die Rückkehr für die Migranten als ein Realziel darstellte, das sich durch die Verlängerung des Aufenthalts aber in ein Idealziel wandelte. Für den Migrationsverlauf lässt sich daher schlussfolgern, dass die untergeordneten Realziele zugleich Voraussetzungen zum Erreichen des Idealziels der Rückkehr darstellen. 2.4 Zurückkehren oder Bleiben? Den Migranten stellte sich dadurch die Möglichkeit einer Rückkehr nur noch im Rentenalter, die für sie als das Idealziel ihres Migrationsentwurfes einen weiteren Verbleib in Deutschland legitimierte, auf das sie ihr Leben ausrichteten. Die Rückkehr im Rentenalter versprach eine größere Befriedigung und war für die Migranten real umsetzbar und kein illusorischer Gedanke. Während des jahrzehntelangen Aufenthalts, den sie entgegen ihrer Erwartungen in Deutschland verbrachten, kam der Rückkehrabsicht im Lebensentwurf eine übergeordnete Rolle zu, indem sie eine psychisch stabilisierende Ressource darstellte und als „Entlastungs- und Bewältigungsmechanismus im Alltag“ (Dietzel-Papakyriakou 1993: 115) fungierte. Das Offenhalten der Rückkehroption diente also zur Überbrückung der Differenz zwischen den eigenen Wünschen und dem Erreichten. Das Leben im Heimatland nach der Rente wurde angestrebt, verbunden mit der Erwartung erst dann ein erfülltes Leben genießen zu können, für das sich die vielen entbehrungsreichen Jahre auszahlen würden. Entgegen der Lebensplanung der Migranten werden diese Erwartungen im Alter immer unwahrscheinlicher, da zunehmend andere Gründe an Bedeutung gewinnen, die für einen Verbleib in Deutschland sprechen, auf den diese sich jedoch nicht ausreichend vorbereitet haben. Heute empfinden sie die Rückkehr nach und nach als „Rückkehrillusion“ (Zoll 1997: 107) und stellen fest, im Leben an etwas geglaubt zu haben, was womöglich nicht eintreten wird. Der Bundesrepublik Deutschland für immer den Rücken zu kehren, wird heute vielfach als unmöglich empfunden. Immerhin haben die meisten Migranten mehr Zeit ihres Lebens in Deutschland verbracht, als im Heimatland. Die Realität hat sie heute eingeholt: Nun erleben sie ihr Alter in einem Land, in dem sie eine Auf-
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enthalt ursprünglich lediglich in Hinblick auf ein bestimmtes Ziel hin beziehungsweise für einen bestimmten Zweck ausgerichtet hatten. Eine endgültige Entscheidung nach dem Austritt aus dem Erwerbsleben können daher die wenigsten treffen. Der überwiegende Teil älterer Migranten wird zu ‚Pendlern’ zwischen Heimatland und Aufnahmeland, zwischen einem Leben ‚dort’ und einem Leben ‚hier’ und bewahrt somit die jahrzehntelange Lebensform bei, die nicht unmittelbar, dann jedoch spätestens im Pflegefall oder aus altersbedingten, gesundheitlichen oder finanziellen Gründen einer endgültigen Rückkehr- oder Verbleibentscheidung bedarf. Die portugiesischen Migranten stehen gegenwärtig vor der Entscheidung: ‚hier oder dort?’ (cá ou lá?) und schwanken zwischen der Loyalität gegenüber dem Heimatland und dem Einleben in die Aufnahmegesellschaft. Faktoren wie die in Deutschland integrierten Kinder, medizinische Versorgung und Entfremdung vom Heimatland lassen weiterhin eine endgültige Rückkehr in weite Ferne schwinden. Ein Altern in Deutschland widerspricht all dem, wofür man vieles geopfert hat. Die Frage, wieso nun trotz langjähriger Planung die Rückkehr nicht eintritt, kann sich negativ auf das Selbstwertgefühl und das Selbstbild auswirken. 2.5 Altern in der Fremde? Unter dem Titel ‚Altern in der Fremde’ sind in den letzten Jahren eine Reihe von Studien veröffentlicht worden, die auf die spezifische minoritäre Lage älterer Migranten aufmerksam machen (Dietzel-Papakyriakou 1993). Dabei stellt sich für den Fall portugiesischer Immigranten in der BRD die Frage, was genau ‚fremd’ bedeutet. Ist damit ausschließlich ihre soziale Integration in die deutsche Gesellschaft gemeint oder gar ihr subjektives Verständnis von Integration? Zur Klärung dieser Frage muss definiert werden, was unter sozialer Integration verstanden wird. Im Folgenden bezieht sich die Dimension der sozialen Integration vor dem Hintergrund der Rückkehr- und Verbleibfrage im Alter sowohl auf die Einbindung in deutsche Gesellschaftsstrukturen, als auch in ethnieeigene soziale Gefüge, die als „ethnische Kolonien“ (Heckmann 1981: 231) bezeichnet werden. Die migrationsspezifische Ausgangssituation der Gastarbeiterwanderung, die sowohl von deutscher, als auch von Seiten der Arbeitsmigranten als provisorisches Phänomen erachtet wurde, muss dabei immer im Hinterkopf behalten werden, da sie eine Eingliederung der Arbeitsmigranten von Beginn an erschwert hat. Eine langfristige Integrationspolitik hätte, insbesondere dann, als sie notwendig war, den Kontakt und den Bezug der Arbeitsmigranten zur Auf-
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nahmegesellschaft schaffen, beziehungsweise verstärken und Gefühle des Misstrauens von Seiten der Migranten beseitigen können. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Ausländerpolitik durch die von ihr lange Zeit angebotenen Alternativen – Rückkehr oder Integration – die Fronten zwischen beiden Gesellschaften verhärtet hat, zumal der Begriff der ‚Integration’ als eine von den Einwanderern zu erbringende Leistung und den Rückzug der ausländischen Bevölkerung in ethnieeigene Gesellschaftskreise entsprechend als eine Fehlleistung interpretiert wurde. Dieser Ansatzpunkt würde jedoch nur von der Annahme ausgehen, dass die Migranten darin bestrebt waren, von vorneherein nach interethnischen Möglichkeiten zu suchen (Dietzel-Papakyriakou 1993). Zu Beginn der Migration lag ein pluralistisches Modell von Integration zugrunde, das ein Mindestmaß an Interaktion sowohl von Seiten der Minderheit als auch von Seiten der Mehrheit erforderte (Bingemer/Meistermann-Seeger/Neubert 1972). Von diesem Standpunkt aus ist die ethnische Kolonienbildung eine logische Konsequenz des Migrationsentwurfes der rückkehrorientierten Migranten, die sich maßgeblich an der Bildung der ethnieeigenen Systeme beteiligt haben. Die Kolonie ist der dritte, zentrale Konstitutionspunkt des Einwandererbewusstseins, das gesellschaftliche Bewusstsein des Einwanderers ist also im Grunde sogar, paraphrasierend, das Bewusstsein dreier Gesellschaften (Heckmann 1981). Studien, die sich mit der Lage älterer Migranten befassen, weisen dabei auf die Bedeutung der ethnischen Systeme in Form von kulturellen Vereinen, religiösen Gemeinden oder informellen sozialen Treffpunkten hin, da (falls sie die einzige soziale Ressource für den Arbeitsmigranten darstellt) diese für den älteren Migranten eine wichtige soziale Ressource darstellen, wenn sich durch den Austritt aus dem Erwerbsleben der Kontakt zu Personen und Institutionen der Aufnahmegesellschaft minimiert. In diesem Zusammenhang wird auch auf ein Wiederaufleben der Ethnizität eingegangen, das durch eine verstärkte Rückbesinnung auf Vergangenes im Alter ausgelöst wird, in denen dann ethnischkulturelle Traditionen, Orientierungsmuster und Verhaltensweisen, die während der Primärsozialisation geprägt wurden, reaktiviert werden (Zoll 1997). Die ethnischen Kolonien spielen dabei eine entscheidende Rolle, da sie die soziale Isolation älterer Migranten auffangen können und zu einem positiven Selbstbewusstsein beitragen. 2.6 Altern in der fremden Heimat? Kann man angesichts des jahrzehntelangen Aufenthalts bei den Migranten noch von ihrem Heimatland sprechen? „Erscheint es nicht zunehmend angemessener von ihrem Herkunftsland auszugehen?“ (Schädel 2002: 93). In der Tat nimmt
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der Entfremdungsprozess bezüglich der Heimat im Kontext der Rückkehrfrage im Alter eine entscheidende Rolle ein. Prägend für die ausländischen Arbeitsmigranten der ersten Generation ist deren starke Verbundenheit zum Heimatland, die sie während des gesamten Migrationsverlaufs beibehalten haben. Auch hier begründet sich dies im Charakter der Migration selbst, nämlich der Absicht, sich nur kurzzeitig von Familie und Verwandten, sowie Freunden zu trennen. Das Merkmal der Rückkehr war, wie dargestellt, integraler Bestandteil ihrer Migrationsentscheidung, die auf dem Merkmal der Nähe basierte und sich von dem Migrationstypus der überseeischen Migration unterschied. Jedoch hat sich ihre Migration als eine Trennung fürs Leben entpuppt, sodass für die Migranten der Abschied von einigen ihrer Familienmitglieder für immer war. Einige konnten den Kontakt zur bestehenden Familie aufrechterhalten, doch nicht allen ist dies gelungen. Die jahrzehntelange Trennung hat ihre Spuren hinterlassen, so dass sich ein familiärer Entfremdungsprozess abzeichnet. Nicht selten ist der Fall, dass in der Migration das anvisierte zukünftige Leben in der Heimat idealisiert und die Erfüllung vieler Wünsche projiziert wurden. Ganz entscheidend ist dabei, dass aufgrund des Merkmals der Nähe zum Heimatland die Rückkehrorientierung, als auch der Kontakt zum Heimatkontext aufrechterhalten werden konnte. Der alljährliche Urlaub bestand darin, sich im Heimatland um die materiellen Güter zu kümmern, die Familie zu besuchen, die pflegebedürftigen Eltern zu sich zu nehmen, eine Aufgabe die das Jahr über in den meisten Fällen die anderen Familienangehörigen stellvertretend auf sich nahmen. Urlaub war insofern möglich, alsbald alle Angelegenheiten erledigt waren. Daher ist es nicht verwunderlich, dass ein Großteil der Migranten der ersten Generation keine Reisen in andere Länder, oder gar im Heimatland selbst unternommen hat. Heute scheint sich das Blatt für einige Migranten gewendet zu haben. Die Gesellschaft, in der man aufgewachsen ist, kommt einem fremd vor, herrschende Norm- und Wertvorstellungen können nicht nachvollzogen werden. Die Situation scheint paradox: Zum einen haben die Migranten ihr Leben darauf ausgerichtet, ins Heimatland zurückzukehren, zum anderen scheint dies ihnen gegenwärtig aufgrund der ihnen fremden portugiesischen Gesellschaft nur schwer möglich. Muss man von einer Reintegration in die heimatliche Gesellschaft ausgehen? Fühlen sich die Migranten in ihrem eigenen Land zunehmend fremd, oder werden sie als Fremde behandelt?
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Zur gegenwärtigen sozialen Lage der befragten portugiesischen Migranten in der empirischen Untersuchung in Deutschland und Portugal
3.1 Familiäre und infrastrukturbedingte Verbleibgründe Im Verlauf der Migration war die Zukunftssicherung der Kinder eine der Ursachen, die einen weiteren Verbleib in Deutschland legitimierten. Zu Beginn stand der schulische und berufliche Werdegang im Vordergrund. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer wurde die Integration der Kinder in die deutsche Gesellschaft zum Wendepunkt im Leben der Portugiesen der ersten Generation, von welchem an diese sich nach und nach bewusst wurden, dass eine Rückkehr ihrer in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Kinder nach Portugal nicht mehr möglich war. Gerade heute sind es auch die Kinder, die ihren Eltern die Rückkehr nach und nach als Illusion erscheinen lassen: Mir ist es nie in den Sinn gekommen, so lange hier zu bleiben! Es ist alles eine Illusion. Wir dachten, wir würden alle zurückkehren. Wir kamen alle mit diesem Gedanken [...] Wer Kinder hat, geht nie ganz (Frau L. M.).2
Es ist gerade die Migrationserfahrung, die eine eventuelle Trennung von den Kindern im Zuge einer Rückkehr erschwert. Die befragten Migranten, die sich selbst von ihren Eltern trennen mussten, erlebten diese Erfahrung als sehr schmerzlich, zumal sie psychisch nicht darauf vorbereitet waren. Sie waren als junge Arbeitsmigranten auf sich gestellt und hatten in Deutschland keinen familiären Rückhalt, der ihnen in manchen Situationen eine Stütze hätte sein können. Auch konnten sie ihren Kindern kein Leben in der Großfamilie bieten, wie sie es selbst erlebt hatten. Der familiäre Kontakt mit der erweiterten Verwandtschaft war nur im begrenzten Zeitraum der Ferienaufenthalte möglich. Eine Rückkehr der älteren Migranten in das Heimatland würde bedeuten, dass sie selbst an die Stelle ihrer Eltern treten würden und ihren Kindern nicht beiseite stehen könnten. Für die Enkelkinder würden sie selbst die Großeltern im Heimatland werden, mit denen nur ein begrenzter Kontakt möglich wäre. Durch den jahrzehntelangen Aufenthalt fühlen sich die Migranten von der Familie in Portugal oftmals entfremdet. Diese These bestätigt sich in dem Sinne, dass trotz der regelmäßigen Aufenthalte, der Kontakt zur Familie als sporadisch
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Original: „Eu nunca me lembrei de estar cá tanto tempo! É tudo uma ilusão. Pensávamos que regressávamos todos. Todos vínhamos com essa ideia [...] Quem tem filhos nunca vai de todo“.
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erlebt wird, was zu einem familiären Entfremdungsprozess führte. Den Migranten bleibt heute nur noch der Rückhalt ihrer Kinder in Deutschland: Mit der Verwandtschaft [in Portugal] habe ich gute Beziehungen, aber die Jahre bringen eine gewisse Trennung mit sich. Es ist nicht, dass ich sie nicht mag, aber eine gewisse Entfernung besteht schon. Nach ein paar Tagen ist für die alles, wie wären wir gar nicht da. Jeder geht seinem Leben nach (Frau M. B.).3
Im Verlauf der Migration war der feste Arbeitsplatz und die geringe Aussicht, sich in Portugal wieder in den Arbeitsprozess eingliedern zu können, für die Entscheidung ausschlaggebend, in Deutschland zu bleiben. Im Alter gewinnt das soziale System in Deutschland zunehmend an Bedeutung, zumal der schlechte Gesundheitszustand der befragten Portugiesen sie von einer guten medizinischen Versorgung abhängig macht. Die portugiesische Sozialstruktur wird als unzureichend und defizitär empfunden, so dass den älteren Migranten keine ausreichende Versorgung im Alter geboten werden kann. Den höheren Standard im deutschen Gesundheitswesen wollen beziehungsweise können sie nicht mehr aufgeben: Ich werde meinen Wohnsitz hier behalten. Dort wartet man drei Monate auf einen Arzttermin, man muss selbst für Röntgen aufkommen, alles gegen Geld. Ich fange nicht erst an, [das Gesundheitssystem in Portugal] mit dem von Deutschland zu vergleichen. Meine einzige Angst ist, dass ich in Portugal krank werde! (Herr J. N.)4
Während sich manche Portugiesen im Laufe der Migration an die Regeln des deutschen Gesellschaftssystems gewöhnt und dieses wie selbstverständlich zu ihrem Maßstab erklärt haben,5 werden die Verhaltensnormen der portugiesischen Gesellschaft, im Vergleich zu den in Deutschland gültigen, vielfach als negativ und falsch bewertet. Sie fühlen sich oftmals benachteiligt, empfinden Unterschiede als ungleiche Behandlung. Insbesondere die nach ihrem Verständnis empfundene Unfreundlichkeit und Unfähigkeit der portugiesischen Staatsbediensteten, das Nicht-Funktionieren der öffentlichen Institutionen, wie auch die in Portugal üblichen langen Wartezeiten führen zu einer abwertenden Haltung. Erstaunlich war, dass fünf Migranten das Nicht-Einhalten des Diskretionsabstandes in Banken als ‚respektlos’ von Seiten der Portugiesen in Portugal 3 4 5
Original: „Com a família tenho um bom contacto, mas os anos obrigam-nos a uma pequena separação. Não que não goste dos de lá, mas há um certo afastamento. Depois dos primeiros dias, é como se não lá estivéssemos. Cada um faz a sua vida“. Original: „Eu vou ficar com a minha residência cá. Lá as consultas demoram três meses, as radiografias têm que se pagar, tudo só a poder de dinheiro. Eu nem quero comparar com o de Alemanha, só tenho medo de cair numa doença lá em Portugal!“. „In dreißig Jahren Deutschland habe ich gelernt, sozialer zu sein und, um ehrlich zu sein, sogar toleranter“ (Original: „Eu em trinta anos de Alemanha aprendi a ser mais social e para te dizer tudo, até mais tolerante“, Herr A. Ca.).
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empfanden. Dadurch, dass sie die in Deutschland geltenden Regeln des öffentlichen Auftretens als richtig empfinden, werten sie diese in Portugal als untolerables Verhalten. In Deutschland erfuhren sie gleichberechtigte Behandlung, während sie in Portugal hingegen einen gewissen Status benötigen, um ein Ziel zu erreichen: Wenn ich mit dem Mercedes fahre, ist das gleich was anderes. Aber so funktioniert es dort. In den Banken oder in den öffentlichen Ämtern sind die Leute sehr arrogant und informieren einen nicht. Ich stelle oft fest, dass nur eine Minderheit die Fähigkeit hat, im öffentlichen Dienst tätig zu sein (Herr A. R.).6
3.2 „Soziale Rückkehr- und Verbleibgründe in Deutschland?“ Die sozialen Netzwerke der Migranten bezogen sich in der Anfangszeit in erster Linie auf die familiären Kontakte, wie auch auf die ethnieeigenen Kreise: kultureller Verein, portugiesisches Kulturzentrum, portugiesischer Gottesdienst, portugiesischer Freundeskreis. Der Kontakt zur deutschen Gesellschaft war begrenzt, wobei sich dieser in den meisten Fällen durch die Heirat der Kinder mit Deutschen ergeben hat.7 Dennoch fühlen sich die Portugiesen in Deutschland „wohl“ und leben gerne in ihrer „zweiten Heimat“, wie sie selbst Deutschland bezeichnen: Ich sehe mich schon als ein ‚Luso-Schwob’. Sindelfingen ist meine zweite Heimat, die Heimat, die mich aufgenommen hat. Wenn ich versuche, eine Bilanz zu ziehen, würde ich sagen, mir gefällt mein Ursprungsland, dort habe ich meine Wurzeln, meine Verwandtschaft – nicht viele, aber die habe ich noch. Dort bin ich geboren. Aber hier habe ich ein neues Leben angefangen, ich habe hier meine Kinder aufgezogen und begonnen, mein Leben aufzubauen. Hier habe ich auch Wurzeln (Herr A. F.).8 Ich kann nicht endgültig nach Portugal zurückkehren, es ist schon zu viel Zeit vergangen. Ich lebe schon länger in Deutschland als ich in Portugal gelebt habe, dort waren es 24 Jahre und hier schon 29. Manchmal glaube ich es selbst kaum, aber so ist es (Frau R. S.).9 6 7 8
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Original: „Levo o Mercedes, já são logo outros falares. Mas lá funciona assim. Nos bancos, nas repartições públicas as pessoas são muito arrogantes e não são nada informativas. Muitos casos que eu verifico, só uma minoria têm capacidade para serem funcionários públicos“. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass lediglich bei zwei der befragten Migranten die verheirateten Kinder nicht mit Portugiesinnen oder Portugiesen die Ehe geschlossen hatten. Original: „Já me considero um ‚Luso-Schwob’. Sindelfingen é a minha segunda terra, a terra que me acolheu. Se eu fizer um balanço, gosto da minha terra natal, lá tenho as minhas raízes, a minha família, pouca, mas ainda tenho. Foi lá onde nasci. Mas aqui comecei outra vida, criei aqui os filhos, comecei a formar a minha vida. Aqui também já tenho raízes“. Original: „Não posso ir de todo para Portugal, já passou tempo a mais. Tenho mais anos de Alemanha que em Portugal, foram vinte e quatro na minha terra e aqui já vinte e nove. Muitas vezes custa acreditar, mas é verdade“.
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Mir wird dort langweilig, es ist, als wäre es nicht mehr mein Zuhause, ich weiß nicht genau. Ich muss immer irgendeine Beschäftigung finden […]. Was soll ich schon dort?! Die Kuckucke singen hören? Ich habe nicht mehr diesen Drang, dorthin zu gehen. Frage: Und Ihr Mann, gefällt es ihm besser dort oder hier? Er geht oft hin, oft sogar für sechs Monate und fühlt sich wohl dort. Wenn ich nicht wäre, würde er nur ab und zu hierher kommen, um Dinge zu erledigen. Es ist ein kleines Umfeld dort, die Leute kennen sich alle. Er hat mehr Freiheiten, hat das Haus, den Garten, wo er seine Zeit vertreibt. Der Fehler war, dass wir nicht hier investiert haben (Frau R. Fa.).10
An den Aussagen wird deutlich, dass insbesondere Frauen es vorziehen, in Deutschland zu bleiben. Durch die Migration und ihre Berufstätigkeit haben sie eine gewisse Selbständigkeit erlangt, die ihnen größere Handlungsfreiheiten ermöglichte. Auch die infrastrukturellen Möglichkeiten, die ihnen eine Stadt bietet, möchten sie nicht für ihr peripher gelegenes Heimatdorf eintauschen, in dem sie einer ständigen Beobachtung der Dorfbewohner ausgesetzt sind. In portugiesischen Dörfern ist es heute noch so, dass die Männer abends außer Haus gehen und sich in der Dorfkneipe mit Freunden treffen. Sie haben sich dadurch soziale Kontakte erhalten können, bei denen die Frauen eher Gefahr laufen, den Anschluss an das gesellschaftliche Leben im Dorf zu verlieren, da sie sich, abgesehen von Verhaltensnormen während ihrer Urlaubsaufenthalte, um die häuslichen Tätigkeiten und oftmals um die Eltern im Alter kümmerten. Wie bereits beschrieben gab es weniger Kontakt zu deutschen Gesellschafts- oder Kulturangeboten als zu Einzelpersonen insbesondere im familiären Bereich. Ein sehr häufig genannter Grund, der indirekt zum Wohlbefinden in der deutschen Gesellschaft beiträgt, war jedoch der Wandel, den die Migranten hinsichtlich der deutschen Bevölkerung betonten: Heutzutage gefällt mir Deutschland sehr, ich finde die deutsche Kultur besser. Es gibt eine Sache, die ich an den Deutschen bewundere. Wenn einer in Portugal etwas von dir will, dann heißt es ‚kannst du mir dies oder jenes machen?’. Ein Deutscher sagt immer ‚bitte machen sie mir was’. Und hier bin ich eine simple Putzfrau (Frau I. V.). Ich fühle mich wohl in Deutschland, hier ist alles so schön grün. Deutschland hat sich verändert. Sindelfingen ist offener geworden, es gibt mehr Leben auf den Straßen, im Sommer wird 10 Original: „Eu aborrece-me estar lá, parece que já não é a minha casa, não sei como é. Tenho que ter qualquer coisa para fazer [...]. O que é que vou fazer para lá?! Ouvir cantar os cucos? Já não tenho essa coisa para ir para lá“. Frage: „E o seu marido, gosta mais de lá ou de cá?“ „Ele, vai para lá, está lá seis meses e sente-se lá bem. Se não fosse por mim, vinha cá só de vez em quando para tratar dos assuntos. É um meio pequeno e as pessoas lá conhecem-se uma às outras. Ele lá tem mais liberdade, tem a casa, o quintal onde se distrai. Um grande mal foi não ter investido também aqui alguma coisa“.
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gefeiert, sie führen das Leben mehr wie im Süden […]. Die Deutschen sind anders als früher, heute sind sie viel offener. Nur wir haben immer noch dieses Minderwertigkeitsgefühl. Aber ich habe heutzutage mehr Vertrauen, man gewöhnt sich an den Umgang mit den Menschen (Frau L. Fe.).11
Diese Veränderung steht für die Migranten immer in direkter Bedeutung zu der in den achtziger Jahren restriktiv verfolgten Ausländerpolitik, die sich sehr negativ in den Köpfen der Migranten verfestigt hat. Aufgrund des sich abzeichnenden Verbleibs in Deutschland, bereuen sie, nicht auch hier investiert zu haben. Viele bereuten nicht nur, nicht in Deutschland investiert zu haben, sondern auch, sich nicht der deutschen Sprache oder einer beruflichen Weiterbildung gewidmet zu haben. Die Migranten haben ihre Positionen als ungelernte Arbeiter beibehalten, in vielen Fällen und trotz angeeigneter Qualifikation hatten sie mangels schulischer Qualifikation keinerlei Chance sich auf dem Arbeitsmarkt durchzusetzen. Warum bin ich nicht in die Schule gegangen, um Deutsch zu lernen? Das sind Fehler, die man so macht. Ich bereue es sehr, dass ich die Zeit nicht genutzt habe. Ich verstehe, was mir ein Deutscher sagt, aber das ist weit von dem entfernt, was für eine Ausbildung notwendig ist (Herr J. N.).12
Die Sprache wurde von den befragten Portugiesen sehr unterschiedlich beherrscht. Es kann nicht gesagt werden, ob Männer oder Frauen über bessere Sprachkenntnisse verfügen, doch zeichnete sich ab, dass Frauen oftmals ein auf höherem Niveau angesiedeltes Deutsch sprechen, die Männer eher über ein ‚Arbeiterdeutsch’13 verfügten, was sich darauf zurückführen lässt, dass Frauen durch ihre Nebentätigkeit bei oft wohlsituierten deutschen Familien Kontakt hatten, wo ihnen, wie sie mir berichteten, die deutsche Sprache beigebracht wurde. Auch Frau C. G. bereut, sich nicht weitergebildet zu haben:
11 Original: „Hoje adoro viver na Alemanha, acho a cultura alemã melhor. Há uma coisa que admiro nos alemães. Em Portugal quando querem alguma coisa é só ‚podes me fazer isto’, ‚podes me fazer aquilo’. Um alemão diz sempre ‚bitte machen sie mir was’. E de mais, aqui sou uma putsvrao“; „Sinto-me bem na Alemanha, aqui é tudo tão verdinho. Alemanha mudou, Sindelfingen está mais aberto, há mais vida nas ruas, festas no verão, fazem mais uma vida como no sul [...]. Os alemães estão diferentes, hoje são muito mais abertos. A gente é que ainda têm o complexo. Eu hoje já estou mais à vontade, uma pessoa habitua-se a lidar com as pessoas“. 12 Original: „Porque é que não fui para a escola para aprender alemão? São asneiras que a gente faz. Estou muito arrependido de não ter aproveito o tempo. Eu compreendo um alemão, mas ao nível de estudo nem queiras comparar uma coisa para outra“. 13 Bei den befragten Personen oftmals im schwäbischen Dialekt.
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Aber ich bereue so sehr, dass ich das Angebot eines Arztes nicht angenommen habe, in seiner Praxis zu arbeiten. Dabei hat mir die Frau, bei der ich putzte, das Deutsche beigebracht. Ich war so dumm! (Frau C. G.).14
Wie aus der Aussage von Frau L. Fe. im Zusammenhang mit dem Bezug zur deutschen Gesellschaft hervorgeht, waren die fehlenden Deutschkenntnisse, wie auch das Gefühl zur unteren Schicht zu gehören, Faktoren, die den Kontakt zu Deutschen verhinderten. Die meisten Portugiesen hatten selbstverständlich auch negative Erfahrungen mit Deutschen gemacht, doch ist ihr Bild von den Deutschen überwiegend positiv. Ganz im Gegenteil fühlten sich insbesondere die Frauen sehr gut behandelt, ihrer Meinung nach viel besser, als in Portugal. Der durch die mangelnden Deutschkenntnisse von den Migranten empfundene Minderwertigkeitskomplex gegenüber den Deutschen verhinderte zudem eine weitergehende Integration, sodass sie sich unter den eigenen Landsleuten freier fühlten. Sie konnten sich in der Muttersprache verständigen, teilten die gleiche migrationsspezifische Situation, fühlten sich nicht minderwertig. Allesamt waren sie portugiesische Gastarbeiterfamilien. Die Kontakte in der ‚ethnischen Kolonie’ wirkten sich positiv auf den Menschen und sein Selbstbewusstsein aus. In ihr konnten sie ihre Kultur und Tradition ausleben, diese ihren Kindern vermitteln, Freunde treffen, als Mitglied aktiv an gesellschaftlichen Ereignissen teilhaben, dadurch gesellschaftliche Positionen anstreben, die neben einem Arbeitsleben sehr wichtig sind. Unter den Menschen entstanden Freundschaften, die ihnen die Unterstützung gaben, die sie in der Migration durch die Trennung der Familie vermissten. Der Kontakt hier entsteht durch den Umgang, den wir hier miteinander haben und uns beschäftigt hält. Es sind gute Kontakte, so vergessen wir unsere Kultur nicht. Es gibt Kontakte, die vergisst man nicht, sie sind schon sehr alt (Frau M. Co.). Die Freunde aus Deutschland haben die damaligen Freunde aus Portugal ersetzt, sie machen ein Umfeld aus, das wir in Portugal nicht mehr haben. Die Hilfe, die wir hier erhalten ist sehr wichtig (Herr M. Co.).15
Für die befragten Portugiesen war und ist die ‚ethnische Kolonie’ oftmals das einzige soziale Netzwerk über das sie verfügen, was insbesondere mit dem Aus14 Original: „Mas estou tão arrependida de não ter aceitado uma chance que me deu um médico a trabalhar na ‘Praxis’ dele. Já a mulher onde eu limpava me ensinava a falar o alemão. Fui tão parvinha!“. 15 Original: „Contacto aqui é o convívio que temos para nos distrair um pouco. São contactos bons, para que a nossa cultura não seja esquecida. Há contactos que nunca esquecem, vêm de muito tempo“; „Os amigos de Alemanha substituíram os amigos lá, constituem um círculo que não temos em Portugal. Em determinados tempos a ajuda que recebemos aqui é muito importante“.
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tritt aus dem Erwerbsleben zunehmend an Bedeutung gewinnt. Einige Migranten klagten über eine zunehmende gesellschaftliche Isolation im Alter. Durch das Heranwachsen der Kinder nahm in einigen Fällen auch ihre Teilhabe an der innerethnischen Gruppe ab. Der portugiesische muttersprachliche Unterricht, der Religionsunterricht, die Folkloretanzgruppe, die durch den Verein angebotenen Freizeitmöglichkeiten für Kinder, waren im Verlauf der Migration ausschlaggebend für ihre aktive Teilnahme an der dafür notwendigen Organisation. Für die älteren Menschen ist in diesem Rahmen das Freizeitangebot mangelhaft. 3.3 Soziale Rückkehr- und Verbleibgründe in Portugal? Das nächste Untersuchungsfeld befasst sich mit der Sicht und den erlebten Erfahrungen der Migranten in Bezug auf die portugiesische Gesellschaft in Portugal, insbesondere im Hinblick auf Auswirkungen auf die Rückkehrfrage im Alter. Die ökonomische Situation im Herkunftsland war für die portugiesischen Migranten eine der Ursachen, die eine Rückkehr verhinderten. Heute scheinen jedoch die gesellschaftlichen Umstände zu überwiegen, da sich die Migranten zunehmend von der heimatlichen Gesellschaft entfremdet und ausgegrenzt fühlen. Wie bei den familiären und infrastrukturbedingten Verbleibmotiven festgestellt wurde, ist das Heimatland immer Vergleichsmaßstab für die eigene Lebenssituation, was im Folgenden an einigen Stellen sehr deutlich wird. Die portugiesischen Migranten, wie oben gesehen, fühlen sich in Deutschland wohl, sodass für die meisten, neben den weiteren Faktoren, eine Rückkehr im Alter zunehmend unwahrscheinlicher wird. Ihr Gefühl, das sie Portugal gegenüber hegen, lässt sich mit dem Wort saudade beschreiben. Es beschreibt die Sehnsucht nach dem Land in dem man geboren ist und seine Kindheit und Jugend verbracht hat. Zwar mögen sie Deutschland, doch das Gefühl, das man zur Heimat hat, prägt das Bewusstsein und das Leben der Menschen. Saudade nach der Heimat, bedeutet auch die Sehnsucht und das Verlangen nach Bräuchen und Sitten, nach dem Land, in dem man auf den Straßen die eigene Sprache hört. Mit der Heimat ist man tief verwurzelt, eine völlige Aufgabe wäre undenkbar. Auch wenn sie nicht für immer zurückgehen wollen, so möchten sie dort sterben, wie einige von sich aus sagten. Saudade und sich in Deutschland wohl fühlen, lassen die Migranten zwischen zwei Ländern auch gefühlsmäßig pendeln. Mir gefällt es, hier in Deutschland zu Leben. Es gibt nicht so viel Klatsch wir in Portugal, diese Gewohnheit, ständig über andere zu reden. Naja, in dieser Hinsicht lebe ich hier gelassen. Klar, wenn ich dort bin, dann teile ich auch solche Momente mit meinen Leuten. Das sind
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Gewohnheiten, die man nie vergisst, und manchmal helfen sie einmal, mit der saudade fertig zu werden (Herr A.C.).16
Nach solch langer Abwesenheit von Portugal, jedoch mit dem lebenslangen Ziel zurückzukehren, ist die Frage, wie die Migranten heute die portugiesische Gesellschaft und die Lebensart der Portugiesen erleben, von besonderem Interesse. Wie sehen sie sich und ihr Leben im Vergleich zu dem der Portugiesen in Portugal beziehungsweise wie glauben sie, werden sie von den ‚Zurückgebliebenen’ gesehen? Frage: Ihrer Meinung nach, wie leben die Portugiesen [in Portugal], im Vergleich mit dem Leben, dass Sie hier in Deutschland führen? Ich stelle fest, dass die Arbeiter – das sind diejenigen, mit denen ich mehr Kontakt habe, ein entspanntes Leben führen. Sie haben eine oder zwei Stunden für die Mittagspause, was ihnen Zeit gibt, den traditionsreichen Espresso zu trinken. Ein großer Teil, vielleicht die meisten von ihnen wissen gar nicht, was es bedeutet, in Schichten zu arbeiten. Aber andererseits, und das wundert mich sehr, klagen sie die ganze Zeit, dass das Leben so schwierig ist. Manchmal meckern sie über alles und alle. Mein Leben hier in Deutschland ist ganz anders. Ich arbeite von Montag bis Freitag in Schichten und trinke meinen Espresso zu Hause […]. Ich sage Ihnen noch was: Wenn jemand nach Deutschland gekommen ist, um hier zu arbeiten, wie ich es getan habe, und diese Gewohnheiten nicht aufgegeben hat, dann hat es sich für ihn nicht gelohnt, so lange vom Herkunftsland weit weg zu sein (Herr C. B.). 17
Die Migranten beurteilen das Leben der Portugiesen in Portugal im Gegensatz zu ihrem eigenen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen als gelassener und leichtlebiger. Sie klassifizieren ihr eigenes Leben als arbeitsreich. Das ist auf ihren Migrationsentwurf zurückzuführen, dem das Bewusstsein zugrunde liegt, nach Deutschland gewandert zu sein, um sich eine finanzielle Existenzsicherung für die Zukunft aufzubauen, ein Lebenskonzept, das sie, wie auch in der folgenden
16 Original: „Gosto de viver aqui na Alemanha, não há aqueles mexericos que lá em Portugal são hábitos falar deste e daquele. Enfim, nesse campo eu aqui vivo sossegado. Claro, que quando lá estou por vezes compartilho momentos desses com a minha gente. São costumes que nunca esquecem e por vezes até matam saudades“. 17 Original: „Frage: A seu ver, que vida fazem os portugueses comparando com a que o Senhor faz aqui na Alemanha?“ „Eu vejo que a classe operária que é aquela com quem mantenho mais contacto, fazem uma vida despreocupada. Têm uma a duas horas para o almoço que lhes permite ir beber a tradicional bica. Uma grande parte, talvez a maioria, não sabem o que é trabalhar de turnos. Mas, há uma coisa que eu admiro, estão sempre lamentando e dizendo que a vida está má. Por vezes dizendo mal de tudo e de todos. Eu aqui na Alemanha faço uma vida muito diferente. Trabalho de segunda a sexta em turnos, bebo a minha biquinha em casa [...]. E até lhe digo outra coisa: quem tenha vindo trabalhar aqui para a Alemanha como eu vim e não tenha posto de parte esses costumes ou hábitos, então não teria compensado assim muito estar tão longe do país“.
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Aussage von Herrn S. P. deutlich wird, ihr Leben lang beibehalten und zugleich als Legitimation ihrer Migrationsentscheidung fungierte. Mit nur einem Gehalt könnte ich das Leben, das ich hier führe, nicht führen. Es gibt manche, die haben weder dort noch hier ein Heim. Nur wenn man ein strenges Leben führt und Überstunden macht, schafft man das. Ich habe mein Leben lang ein Opfer erbracht. Um zu leben, wie in Portugal, braucht man das Land nicht zu verlassen. Ich habe meine materielle Sicherheit mit meinen eigenen Händen aufgebaut. Wenn ich nicht auf gewisse Dinge verzichten würde, hätte ich nicht das, was ich habe; noch mehr: Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, um mir meine Zeit in Cafés zu vertreiben (Herr S.P.).18
Die Lebensbedingungen für die portugiesische Bevölkerung in der Heimat haben sich nach der Auffassung der Migranten entscheidend verbessert und sind in keinerlei Weise mit denen vor ihrer Migration zu vergleichen. Jedoch klassifizieren sie den Lebensstandard und, wie bereits aufgeführt, auch das Sozialsystem im Vergleich zu dem in Deutschland vorherrschenden als unzureichend. Die Verhaltensweisen der Portugiesen hinsichtlich des Lebensniveaus in Portugal können sie aufgrund der Durchschnittsgehälter der portugiesischen Arbeiter nicht begreifen. Ein großer Teil der portugiesischen Bevölkerung lebt auf Kredit, sowohl in Bezug auf Immobilien, wie auch in Bezug auf Konsumartikel wie Auto, Kühlschrank, Urlaub. Für die Migranten, die eine Existenz auf Basis materieller Sicherheit anstrebten, entspricht dieser Lebenswandel nicht ihren Vorstellungen. Das bewirkt in ihnen ein gewisses Gefühl von Stolz, da sie im Gegensatz zu den Arbeitern in Portugal ihr Hab und Gut auf schuldenfreier Basis besitzen und aus eigener Kraft erbaut haben, was zu einer positiven ökonomischen Migrationsbilanz führt. 3.4 Migrationsbilanz Die Fragen nach der Migrationsbilanz bezogen sich auf den ökonomischen Aspekt, basierend auf den Aussagen der Migranten, es bereut zu haben, nicht in Deutschland investiert zu haben. Unter Investitionen fallen das Eigenheim, unbebaute Grundstücke oder Mietwohnungen. Die Gewichtung fällt bei den Migranten unterschiedlich aus. Doch kann festgehalten werden, dass diejenigen 18 Original: „A vida que eu tenho não se conseguia só com um ordenado. Há outros que não têm casa lá nem cá, só quando se faz uma vida rigorosa, tempos extraordinários é que se consegue. Eu fiz uma vida de sacrifício. Para fazer uma vida como em Portugal não se abandona o país. Eu criei a minha segurança material por minhas próprias mãos. Se eu não fizesse uma vida que me privasse de certas coisas, não tinha o que tenho; e demais eu não vim para Alemanha para andar nos cafés“.
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unter den Befragten, die über Besitz verfügen, diesen nur im Heimatland haben. Auf andere Gesichtspunkte hinsichtlich der Migrationsbilanz einzugehen, erachtete ich als zu sehr in die Privatsphäre dringend. Im Folgenden wird die Aussage von Herrn A. F. aufgeführt. Mit seiner Aussage decken sich die Äußerungen der anderen Befragten inhaltlich weitestgehend. Frage: Haben Sie bereut, dass Sie in Portugal investiert haben? Naja, wirklich bereut habe ich es nicht, denn jetzt habe ich etwas auf der hohen Kante, was mir eine gewisse Gelassenheit gibt, falls mir etwas zustoßen sollte […]. Andererseits merke ich jetzt einige Nachteile. Es wäre gut gewesen, wenn ich hier in Deutschland einen Teil meiner Ersparnisse investiert hätte. Aber vor einigen Jahren war alles ganz anders, sogar was Informationen angeht, zumindest in unserer portugiesischen Gemeinschaft. Es gibt einen anderen Nachteil, der mit Sorge bereitet: Was ist, wenn meine Kinder es nicht schaffen, all das zu halten, was ich mir erarbeitet habe […]? Aber es war keine schlechte Entscheidung, in Portugal investiert zu haben, schließlich gibt es auch viele Deutsche, die in Portugal ein Haus kaufen.19
Angesichts der Tendenz, auch im Alter in Deutschland zu bleiben, bereuten viele Portugiesen weniger ihre Investitionen im Heimatland, sondern vielmehr, wie bereits beschrieben wurde, nicht auch in Deutschland einen Teil ihrer Ersparnisse angelegt zu haben. Hält man sich vor Augen unter welchen Wohnverhältnissen sie in Deutschland leben und wie sie in Portugal leben würden, erscheint die Lage widersprüchlich. Die ökonomische Migrationsbilanz wurde von den Befragten eher als negativ erachtet. Auch in Bezug auf die Folgegeneration fällt das Urteil eher negativ aus, da sich die Kinder der Migranten aufgrund des meist fehlenden Bezugs zu Portugal meist nicht in der Lage sahen, sich dort selbst im Umgang mit Behörden, Banken und sonstigen Institutionen zu behaupten.
19 Original: „Frage: Está arrependido de ter investido lá em Portugal?“ „Bem, arrependido, arrependido não estou, porque investi lá e já tenho um pé de meia que me garante uma certa tranquilidade, em caso que me surja algum problema [...]. Embora agora vá notando certos contras. Se tivesse investido aqui na Alemanha alguma parte das minhas economias, teria sido bom. Mas há uns anos atrás era tudo muito diferente, até em informação pelo menos na nossa comunidade portuguesa. Há outro contra, que me dá também uma certa preocupação, é se um dia os meus filhos irão conseguir manter e orientar tudo aquilo que eu construí. (...) mas não fiz mal em ter investido em Portugal as minhas economias, até que há muitos alemães que estão a comprar casa em Portugal“.
Die portugiesische Auswanderung
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Schlusswort
Das Pendeln zwischen Heimat und Aufnahmeland ist für die ehemaligen portugiesischen Gastarbeiter der Ausdruck ihres Empfindens und ihrer Mentalität und spiegelt zumindest teilweise die innere Zerrissenheit wider. Schließlich ist Deutschland für die Migranten im Laufe der Jahrzehnte zur zweiten Heimat geworden, sie fühlen sich hier wohl und sind mit bestimmten Lebensweisen vertraut. Hier haben nicht nur sie Wurzeln geschlagen, sondern auch ihre Kinder. Sie projizieren ihre Zukunft auf die ihrer Kinder, von denen sie sich nicht trennen wollen. Hinzu kommt das soziale System, das für die älteren Migranten mit zunehmendem Alter und angesichts ihrer meist schlechten gesundheitlichen Verfassung an Bedeutung gewinnt. Der eigentliche Konflikt ihrer spezifischen Migrationssituation ergibt sich zum einen aus den Folgewirkungen des Pendelns zwischen zwei ‚Heimatländern’ und, so paradox es angesichts ihres Migrationsentwurfes auch scheinen mag, aus heutiger Sicht dann, wenn sie aus altersbedingten oder auch finanziellen Gründen eine Entscheidung für eine der beiden Optionen treffen müssen. Dabei steht die Überlegung im Vordergrund, was passiert, wenn sie einer altersgerechten Betreuung oder gar der Pflege bedürfen? Die Antwort hierauf kann nur Zurückkehren oder Bleiben heißen. Selbst wenn sich die zweite Generation im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihrer Eltern annehmen wird, bleiben die vielen sozialen Probleme der Integration weiterhin offen oder werden gar erst verstärkt wahrgenommen. Falls die bereits angedeutete Tendenz eines möglichen verlängerten Verbleibens fortbestehen sollte, verfügen die älteren Migranten weiterhin nicht über die notwendigen sozialen Ressourcen für ein erstrebenswertes Alter und geraten zunehmend in einen familiären Rückzug oder die gesellschaftliche Isolation. Diese migrationsspezifische Situation wirkt sich deutlich negativ aus. Wie sich aus der Darstellung ihrer gegenwärtigen Situation ergibt, ist die Gefahr einer gesellschaftlichen Isolation bereits heute schon absehbar. In deutsche Gesellschaftsstrukturen sind die meisten nur teilweise integriert. Ihre ethnische Kolonie, die bis heute für die meisten das einzige gesellschaftliche Netzwerk darstellt, bezieht sich mehr auf den kulturellen Bereich und bietet keine altersgerechten Freizeitmöglichkeiten. Daher stellt sich die Frage ob nicht im Hinblick auf die mögliche Zukunft in der Gegenwart integrationsspezifische Maßnahmen angestrebt werden sollten – und nicht erst dann, wenn die Probleme sichtbar und fühlbar werden? Gemeint ist hiermit nicht nur die deutsche Politik, sondern auch die Ausländerbeiräte, die deutschen sozialen Institutionen, die Altenpflegeheime und die einzelnen ausländischen Vereine, sowie auch die zweite Generation selbst, die gemeinsam die Integration der ersten Generation fördern sollten.
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Es konnte festgestellt werden, dass ältere portugiesische Migranten, vor allem diejenigen, die bereits in Rente sind, außerhalb der eigenen Familie und des meist portugiesischen Freundeskreises, über sehr eingeschränkte soziale Kontakt- und Freizeitmöglichkeiten verfügen. Wo sollen sie nach ihrem Verständnis hin? Sie kennen keinen Sportverein, Seniorentreff oder kreative Aktivitäten, weil es nicht ihrem Migrationsentwurf entsprach. Viele Migranten, insbesondere die Männer, halten sich länger in Portugal auf, da sie dort gegenwärtig ein Beschäftigungsfeld haben, doch kommen sie zurück nach Deutschland, da sich hier ihre Familie befindet. Wenn dann mit zunehmendem Alter das Pendeln nicht mehr möglich ist, und sie im Alter mehr Unterstützung bedürfen, die von deutscher Seite angebotenen Möglichkeiten aber nicht kennen beziehungsweise wahrnehmen können, und auch niemand von Seiten der Migrantengesellschaft hilf, kommen die Migranten, wie mir die befragten Personen sagten, zum Schluss, dass ihnen nur die endgültige Rückkehr übrig bleibe. Die meisten können sich das heute bereits nicht vorstellen, nicht nur aufgrund der genannten Verbleibgründe, sondern auch aufgrund des Entfremdungsprozesses gegenüber der portugiesischen Gesellschaft und ihres Gefühls der Ausgrenzung. Ohne die Kinder und angesichts dieser erlebten Erfahrungen, stellt sich auch hier wieder die Frage: Können sie überhaupt noch zurück? Reintegrationsmaßnahmen von Seiten der portugiesischen Regierung werden zwar offenkundig angestrebt, doch gehen diese nicht weit über einen gesetzlichen Rahmen hinaus. Die Meisten werden sich dann alleine fühlen, erneut das Gefühl erleben, von der eigenen Familie getrennt zu sein und dann doch die Position der eigenen Eltern einnehmen. 5
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Portugiesische Restaurants und Cafés in Hamburg: Beginn eines ethnischen Gewerbes? Bodo Freund
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Einleitung
Ein Tourist, der Hamburg besucht, hat gute Chancen, auf portugiesische Restaurants oder Cafés zu stoßen. Nahe den Landungsbrücken, dem Start- und Endpunkt der Hafenrundfahrten, und besonders nahe an den anschließenden Überseebrücken, wo die Reisebusse parken, findet man eine auffällige Konzentration portugiesischer Gaststätten (Abb. 1). Vielen Hamburgern ist die Gegend als ‚Portugiesenviertel’ bekannt, ein Dreieck zwischen der Uferstraße als Basislinie, der hoch gelegenen S-Bahn-Trasse im Westen und dem großen Verlagsgebäude von Gruner + Jahr im Osten. Man könnte meinen, portugiesische Gastronomie könne in der großen Hansestadt nichts Besonderes sein, denn Hamburg wies Ende 2006 unter den deutschen Großstädten mit fast 8.900 die höchste Zahl an Portugiesen auf. Nicht nur diese absolute Zahl, auch die relative Konzentration ist hoch. Die Hansestadt beherbergt nämlich nicht einmal zwei Prozent der Bevölkerung Deutschlands, aber acht Prozent der hierzulande lebenden Portugiesen. Andererseits darf nicht verkannt werden, dass die portugiesische Gemeinde auch hier eine winzige Minderheit bildet, denn sie stellte Ende 2006 nur 0,5 Promille der Bevölkerung und auch nur 3,5 Prozent der Nichtdeutschen dieser Metropole von 1.75 Millionen Einwohnern. Bei einem Vergleich mit anderen deutschen Großstädten wird als Besonderheit der Hamburger Portugiesen ihre starke Präsenz im Gaststättengewerbe erkennbar. Eine Liste, die im Juni 2007 von Luís Carvalho und Peter Koj für die Mitglieder der Portugiesisch-Hanseatischen Gesellschaft erstellt wurde, enthält 74 Cafés und Feinbäckereien (pastelarias), 39 Restaurants, sieben Vereinslokale mit Essgelegenheiten und neun Nahrungsmittelgeschäfte (mercearias), die meist auch Platz für einen Stehkaffee oder einen Imbiss bieten. Das ergibt 129 Einrichtungen mit Konsumangebot, wofür es im Durchschnitt nicht einmal 70 portugiesische Gäste gibt. Ganz offensichtlich wäre das keine Basis zum Erreichen einer Rentabilitätsschwelle; es muss sich also um ein ethnisches Gewerbe handeln, dessen Kundschaft überwiegend aus Deutschen besteht.
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Abb. 1: Portugiesisch essen und trinken in Hamburg, 2005
Quelle: Liste der portugiesisch-hanseatischen Gesellschaft erstellt von Luís Carvalho und Peter Koj, Juni 2005.
Portugiesische Restaurants und Cafés in Hamburg
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Ethnische Restaurants in Deutschland
Auf die soziale Bedeutung der Konsumformen haben Soziologen wie Georg Simmel, Max Weber und Thorstein Veblen zwar schon früh hingewiesen, aber die Ausbreitung fremdländischer Gaststätten im westlichen Europa seit den sechziger Jahren hat Sozialwissenschaftler erst mit deutlicher Verzögerung zu Untersuchungen angeregt. Bei einigen Autoren sind vorrangig die zugewanderten Anbieter im Blickfeld (Stavrinoudi 1991, 1992; Pichler 1992), anderen geht es mehr um das Sozialverhalten der Konsumenten (Cook/Crang 1996; Bell/Valentine 1997). Dabei wird das Essen außer Haus vor allem in seiner symbolischen Bedeutung für eine soziale und kulturelle Positionierung thematisiert. Wichtiger als die Häufigkeit erscheint für ‚Essen als Ereignis’ die Örtlichkeit (Warde/Martens 2000). In Deutschland waren Südeuropäer die Ersten, die Restaurants mit ausländischer Küche eröffneten, in deutlichem Unterschied zu England, wo Chinesen und Inder die Pioniere waren. Vorläufer waren hierzulande schon in den frühen fünfziger Jahren die Eiscafés, die bis heute weit überwiegend von Italienern geführt werden. Bald folgte die Pizzeria, etwas später das ‚klassische’ italienische Restaurant, in dem komplette bis opulente Mahlzeiten serviert werden. Es dauerte nicht lange, da konnten Deutsche auch andere ethnische Küchen genießen, die sich jeweils durch typische Elemente auszeichnen: Paellas und Tortillas für spanische Restaurants; für die griechischen Tavernen dagegen eher Lamm, Paprika, Zwiebeln, Schafskäse und Retsina-Wein. Anderen Wein, aber sonst Ähnliches und zusätzlich noch Weißkrautsalat, Fleischbällchen und Spieße bieten die einst als jugoslawisch, heute ganz überwiegend als kroatisch firmierenden Gaststätten. Die Türken, die seit langem die bei weitem größte Minorität bilden, hatten keine bemerkenswerten Erfolge mit Speisen, die sich wenig von denen Südosteuropas unterscheiden. Sie entfalteten ihre Aktivitäten eher mit Döner in einfachen Schnellgaststätten und im Straßenverkauf (Caglar 1995). In der großen Gruppe der ethnischen Gaststätten, die Erinnerungen an die Länder des klassischen Mediterran-Tourismus aufkommen lassen, blieben die portugiesischen Restaurants fast bedeutungslos. Ganz im Gegensatz zu Portugal, wo Restaurants mit ausländischer Küche noch eine kleine Minderheit sind, bilden sie in Deutschland die Mehrheit. Das ergab eine landesweite Auswertung der Eintragungen in den GelbeSeiten Online durch Armbruster, Koppa und Püschel im Jahr 2004 (Armbruster/Koppa/Püschel 2004). Dasselbe gilt für alle westlichen Bundesländer und Berlin, aber – noch – nicht für die östlichen. Mit weitem Abstand führend sind Italiener mit mehr als dreimal so vielen Eintragungen wie für griechische Lokale, auf die in knappem Abstand schon
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chinesische Gaststätten folgen. Die Gastronomiebetriebe dieser beiden Länder sind aber wiederum dreimal so zahlreich wie solche mit türkischer oder spanischer Küche. Darauf folgen Angebote thailändischer und indischer Spezialitäten. Portugiesische Restaurants stehen erst an 15. Stelle unter den Ländern oder genauer formuliert sogar erst an 18. Position, denn die zahlreichen Sammelbezeichnungen für ‚internationale, asiatische, balkanische’ Spezialitäten müssen auch berücksichtigt werden. Bei vergleichbarer Einwohnerzahl der Mutterländer wurden in den Gelben Seiten 1.380 griechische, aber nur 79 portugiesische Restaurants gefunden. Dieses disparate Verhältnis von 17 zu 1 sollte Anstoß zu Überlegungen für mögliche Gründe geben. Die Untersuchung von 74 Städten im Westen und 22 in den neuen Bundesländern durch Armbruster, Koppa und Püschel ergab, dass italienische und griechische Gastwirte sich überall niedergelassen haben, türkische und spanische in über 80 Prozent der westlichen und rund einem Drittel der östlichen Städte vorgedrungen sind. Dagegen waren portugiesische Restaurants nur in 35 Prozent der westlichen Städte zu finden und im Osten überhaupt nicht. Demnach haben Portugiesen auch gar nicht auf den seit 1990 erweiterten Absatzmarkt reagiert, ganz im Gegensatz zu den Chinesen, die dort schon fast so stark vertreten sind wie in Westdeutschland (68 / 76 Prozent). Die ausländische Küche erreicht den höchsten Anteil an der lokalen Gastronomie in den großen Städten Frankfurt (82,7%), Köln (78,1%), Hamburg (70,4%), Hannover (73,4%) und München (70,4%); mit absteigenden Werten zwischen 65 und 55% folgen Berlin, Stuttgart, Düsseldorf und Bremen. Mehrere Faktoren dürften zu den unterschiedlichen Quoten beigetragen haben; nämlich der lokale Anteil der Bevölkerung ausländischer Herkunft, die Prägung der Konsumgewohnheiten deutscher Gäste durch jahrzehntelange Reiseerfahrung und Wohlstand und der Anteil der Stadtbesucher und Übernachtungsgäste an der örtlichen Bevölkerung Die Hamburger Gastronomie hat nicht nur eine stark ausländische Prägung, es gibt auch einen relativ hohen Anteil an Restaurants, die mit außereuropäischer oder vage ‚internationaler’ Küche werben. Eine kleine Besonderheit unter den fast 1.900 im Telefonbuch eingetragenen Gaststätten sind die 31 portugiesischen Lokale, die hier zahlenmäßig nur wenig hinter den spanischen zurücktreten und etwas stärker vertreten sind als die türkischen und ex-jugoslawischen. 3
Gastronomie als wichtigster Zweig für portugiesische Selbständige
Für ehemalige Gastarbeiter, aber auch für andere Immigranten, bietet das Gaststättengewerbe aus vielen Gründen den einfachsten Weg zur beruflichen Selbständigkeit. Eine Liste des Verbandes Portugiesischer Unternehmer in Deutsch-
Portugiesische Restaurants und Cafés in Hamburg
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land, die letztmals 2003 erstellt wurde und somit nur die 983 damaligen Mitglieder aufführt, enthält Angaben für 215 Restaurants und 85 Cafés, also 300 gastgewerbliche Betriebe insgesamt. Es folgen 129 Einzel- und Großhändler für Nahrungsgüter, die auch Gastwirten als Bezugsquelle dienen können, darauf folgen Unternehmen in den Bereichen Bau- und Ausbaugewerbe (77), Reisebüros (46), Friseursalons und Kosmetikstudios (34), Betriebe für Reparatur und Verkauf von Automobilen (28), Reinigungsgewerbe (25), Physiotherapie (20) und vieles sonst. Der Bereich der selbständigen Akademiker und Künstler, vornehmlich vertreten durch Ärzte (25), Künstler, Designer und Architekten (20), Unternehmens- und Finanzberater (9), Rechtsanwälte und Psychologen (je 7), ist sehr klein, auch wenn hier ein hoher Organisationsgrad anzunehmen ist. Diese Personen dürften allenfalls als zweite Generation etwas mit der einstigen Anwerbung von Arbeitern zu tun haben. Die portugiesischen Gaststätten sind stark, die Cafés sogar sehr stark in Hamburg konzentriert. Bei den Restaurants folgt mit weitem Abstand Berlin, danach kommen Großstädte mit jeweils nur wenigen Lokalen. 4
Die Standortstruktur in Hamburg
Als Besonderheit des portugiesischen Gaststättengewerbes in Hamburg erscheint vorerst seine Konzentration in einem kleinen südlichen Bezirk, der so genannten Neustadt, was eine historische Bezeichnung für einen Teil der Innenstadt ist (Abb.1). Zugleich handelt es sich um einen Bereich hoher Sichtbarkeit nahe den stark von Touristen frequentierten Anlegestellen. Das aber ist nur der erste Eindruck, denn es gibt Verdichtungen in weiteren Vierteln der ausgedehnten Hansestadt. Besonders deutlich wird dies in Harburg im Süden der Stadt. Weit ab von der nördlich der Elbe gelegenen City und von dieser durch ausgedehnte Hafen- und Industrieanlagen getrennt, liegt dort das Zentrum der erst 1937 eingemeindeten ehemaligen Kreisstadt. Eine weitere Verdichtung gibt es im Schanzenviertel im Norden des Stadtteils Sankt Pauli, eine kleinere in St. Georg und eine eher lineare Anordnung in Ottensen. Während im zentralen Geschäftsbezirk mit den höchsten Ladenmieten der Stadt fast keine portugiesische Restaurants und Cafés zu finden sind, erkennt man eine Streuung hauptsächlich in den nahen Bereichen des nordwestlichen Quadranten. Auf der Karte ist zudem erkennbar, dass es keine Koinzidenz von Restaurants und Cafés gibt. Erstere liegen geballt im zentrumsnahen ‚Portugiesenviertel’, Cafés und pastelarias streuen eher über die Quartiere mit starker oder sogar dominierender Wohnfunktion. Es gibt auch keine Übereinstimmung mit den Standorten portugiesischer Vereine und Clubs. Diese befinden sich in den Vier-
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teln mit hohem Anteil portugiesischer Bevölkerung, die zugleich allerdings nicht viele ethnische Restaurants, Cafés und Nahungsmittelgeschäfte aufweisen müssen. Fast alle der acht Vereinslokale liegen in unattraktiven Gegenden mit vielen Gewerbegebieten und starkem Verkehr. Auffällig ist außerdem, dass die besonders teuren, zentrumsnahen Wohngebiete beiderseits der großen Wasserfläche der Außenalster zwar gute ausländische, aber keine portugiesischen Restaurants haben, weder Rotherbaum und Harvestehude im Westen noch Hohenfelde und – bis auf eines – Uhlenhorst im Osten. Die höchste Dichte findet man im kleinen Dreieck des ‚portugiesischen Viertels’. Auf den Linienschiffen des städtischen Nahverkehrs wird auf einem Bildschirm Reklame für eines der Restaurants gemacht, das dann auch gleich an der Uferstraße zu sehen ist. Die Achse des Restaurant-Bezirkes bildet die Ditmar-Koel-Staße, in der sechs portugiesische Restaurants und vier Cafés aufgereiht sind; in den umgebenden Straßen befinden sich noch acht bzw. fünf weitere. Bezeichnenderweise gibt es in diesem Areal weder einen portugiesischen Verein noch einen portugiesischen Laden. ‚Schanzenviertel’ ist der übliche Ausdruck für ein Gebiet, das im Norden von Sankt Pauli liegt, und zwar ganz klar von der Reeperbahn mit den Sex- und Amüsierbetrieben getrennt. Dort gibt es zwölf Cafés, aber nur zwei Restaurants und zwei Geschäfte für portugiesische Lebensmittel. Die meisten Betriebe befinden sich in der Straße namens Schulterblatt, in der Schanzenstraße und der Weidenallee. Es ist ungefähr eine lineare Anordnung erkennbar zwischen den SBahn-Stationen im Norden und Süden der Station Sternschanze. In Altona, einer ebenfalls 1937 eingemeindeten Großstadt mit dem Stadtteil Ottensen, gibt es nochmals 12 Cafés, zwei Restaurants und zwei mercearias, welche jedoch weiter gestreut sind als im Schanzenviertel. Hier zeichnet sich in der Bahrenfelder Straße, zumindest ansatzweise, ebenfalls eine lineare Anordnung ab. Kleinere Verdichtungen findet man noch in Sankt Georg mit der Langen Reihe als Achse, etwas weiter südlich – aber durch verkehrsreiche Straßen und S-Bahn getrennt – bei der Station Berliner Tor, und nördlich der Außenalster im Stadtteil Winterhude. 5
Hypothesen zu den Standortfaktoren
Befragungen von Inhabern, Gästen und Kunden konnten leider nicht durchgeführt werden; auch Beobachtungen vor Ort blieben spärlich. Deshalb basieren die Erklärungsansätze auf Interpretationen von amtlichen Statistiken und Aussagen der Literatur zur Stadtgeographie und Stadtsoziologie (Statistisches Lan-
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desamt der Freien und Hansestadt Hamburg 1992; Blasius/Dangschat 1990, Friedrichs/Kecskes 1996). Das durch Restaurants geprägte ‚Portugiesenviertel’ liegt zwar innerhalb der Neustadt, einem Stadtteil mit hoher Konzentration an Portugiesen. Da es jedoch an portugiesischen Vereinen und Geschäften als Indikatoren einer ethnisch begründeten lokalen Nachfrage fehlt, kann die Wohnbevölkerung nicht als Grund für die vielen gastgewerblichen Betriebe angesehen werden. Der stärkste und entscheidende Faktor dürfte der Tourismus sein. Hamburg ist der bei weitem wichtigste deutsche und – nach Rotterdam – der zweitgrößte Hafen Europas. Im Unterbewusstsein der Touristen ist ein Seehafen aufs engste mit dem Meer verbunden, auch wenn er hier tatsächlich rund 100 km oberhalb der Mündung der Elbe in die Nordsee liegt. Keine Speise erscheint Besuchern einer Hafenstadt ‚logischer’ als ein Fischgericht, insbesondere wenn die einschlägigen Restaurants ganz nahe an den zentralen Stellen für Hafenrundfahrten liegen. In geringer Distanz zum abgebildeten Restaurantbezirk befinden sich auch viele Hotels mit insgesamt hoher Kapazität. Ein weiterer Faktor könnte sein, dass eine in den achtziger Jahren einsetzende Gentrifizierung durch die 1985 angekündigte und 1990 vollzogene Ansiedlung des Verlagshauses von Gruner + Jahr mit rund 2.500 Mitarbeitern einen erheblichen Schub bekommen hat. Denn in der kurzen Zeit von 1987 bis 1991 war eine deutliche bauliche und soziale Aufwertung der südlichen Neustadt zu verzeichnen. Allerdings wird bis zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt nicht von einer Verdichtung an Restaurants berichtet (Herrmann 1996). Nicht zuletzt dürften Hamburger mit einer Vorliebe für Fischgerichte als Gäste wichtig sein, denn die Stelle ist bekannt und mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar. Der Schluss liegt nahe, dass die Restaurants hier nicht – oder jedenfalls nicht mehr – funktionale Begleiterscheinungen der Migration sind, sondern ein Phänomen postmodernen Konsums, bei dem das Fremde statt des traditionell Ortsüblichen, die Ausnahme statt des Standardisierten zwecks Distinktion gesucht wird. Das ‚Schanzenviertel’ liegt westlich des ehemaligen großen Schlachthofes, dessen Gebäude teilweise für kulturelle und soziale Zwecke umgewidmet wurden. Hier wie auch in allen anderen beschriebenen Gebieten gibt es einen hohen Anteil von alten Geschossbauten mit eher kleinen Wohnungen, sowohl bezogen auf die Zimmerzahl als auch auf die Fläche. Bei der letzten Gebäudezählung 1987 wurden nicht selten noch Mängel in den Sanitäreinrichtungen festgestellt. Die Dichte sowohl von Arbeitsplätzen als auch von Einwohnern war hoch, wobei unter diesen Arbeiter und Zugewanderte einen hohen Anteil ausmachten. Seit den späten achtziger Jahren wurde das Gebiet um die Rote Flora durch Demonstrationen und Hausbesetzungen als Zentrum einer ‚Chaoten-Szene’
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überregional bekannt. Um die Jahrtausendwende hatten sich allerdings auch Werbe- und Internetagenturen sowie eine bekannte Plattenfirma angesiedelt, was Impulse zur Entwicklung zu einem schicken Viertel mit gediegenen Elementen gab. Jedoch ist das Wohngebiet noch immer für eine Bevölkerung mit links-alternativen Einstellungen bekannt, was eine hedonistische Lebensführung nicht ausschließt. Es erscheint möglich, dass ältere Teile dieser Gesellschaft noch nostalgische Erinnerungen an das revolutionäre Portugal der siebziger Jahre pflegen und deshalb gerne ein portugiesisches Lokal aufsuchen. Über das ‚Schanzenviertel’ nach Nordwesten hinaus in den sich anschließenden Gebieten von Eimsbüttel und Hoheluft, die durch einen hohen Anteil ‚neuer Haushaltstypen’ (Alleinlebende, Paare, Wohngemeinschaften) gekennzeichnet sind, findet man verstreut noch portugiesische Feinbäckereien. Westlich von St. Pauli folgt die Altstadt von Altona und weiter westlich schließt sich der Stadtteil Ottensen an, wo ebenfalls Gewerbebauten für kulturelle Zwecke umgewidmet wurden (Fabrik, Werkstatt 3). Ein langer, begrünter Platz, eine große Bahnstation und Gleisanlagen bilden einen deutlichen Trennstreifen. Der Gebäudebestand der beiden Gebiete ist durchschnittlich besser als in St. Pauli mit dem Schanzenfeld, es gibt etwas mehr Angestellte und Beamte, der Bildungsstand ist etwas höher, der Anteil an Ausländern oder die Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist überdurchschnittlich. Auch hier ist Gentrifizierung festzustellen, denn Studenten, junge Erwerbstätige, Personen mit intellektuellen oder künstlerischen Berufen schätzen das multikulturelle Ambiente – in Ottensen mehr noch als in Altona. In Altona deuten zwei Nahrungsmittelgeschäfte und ein Verein auf Nachfrage durch Portugiesen; außerdem gibt es fünf Cafés. In Ottensen ist es – vielleicht bezeichnenderweise – anders: kein Verein, nur eine mercearia, dafür aber zwei Restaurants und gar neun Cafés. In entgegengesetzter Richtung, also östlich des zentralen Geschäftsbezirkes, liegt das kleine Viertel St. Georg, von der City klar durch Hauptbahnhof und Bahnanlagen getrennt. Zum großen See der Außenalster hin befinden sich luxuriöse und voluminöse alte Bürobauten, im Süden jedoch ist das Quartier durch verkehrsreiche und wenig geschätzte Straßen begrenzt. Die Gebäude- und Sozialstruktur weichen nicht sehr von denen der zuvor beschriebenen Gebiete ab. Hinzu kommen allerdings einige Merkmale, die in bahnhofsnahen Quartieren hierzulande oft festzustellen sind: hohe Fluktuationsrate, hoher Anteil außereuropäischer Migranten, Drogenkonsumenten und Prostituierte. Schon vor zwanzig Jahren waren auch hier Anzeichen für Gentrifizierung zu erkennen: Die Wohnfläche pro Person, die Mietpreise und der Anteil der Bevölkerung mit Universitätsabschluss lagen über dem Hamburger Durchschnitt. Die kommerziellen Einrichtungen in der Stadtteilgeschäftsstraße ‚Lange Reihe’ zeigen ebenfalls deutlich, dass neue Elemente in das Quartier eingedrungen sind, das inzwi-
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schen eine äußerst heterogene Bevölkerung aufweist. Unter zahlreichen Gaststätten mit vielerlei fremdländischen Spezialitäten sind vier portugiesische Cafés und zwei Restaurants Teile eines gewissen Exotismus, der auch in vielen Varianten des geschäftlichen Angebots festzustellen ist. Abb. 2: Portugiesen in Hamburg (Absolutwerte)
Quelle: Statistikamt Nord, Hamburg, Daten von 31.12.2004. Entwurf des Verfassers.
Obwohl das Schanzenviertel, Ottensen und St. Georg deutlich voneinander getrennt liegen, haben sie doch einiges gemein. In diese Quartiere mit einem Wohnungsbestand von unterdurchschnittlicher Qualität, in dem einst überwiegend Arbeiter wohnten, sind junge Erwachsene mit überdurchschnittlichem Bildungsstand gezogen. Ein Teil blieb nach dem Eintritt ins Berufsleben dort wohnen und erlangte relativen Wohlstand. Andere hatten schon die Ausbildung
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abgeschlossen und fühlten sich vom Ambiente angezogen. Der Anteil der Personen nahm zu, die höhere konsumtive und intensivere kulturelle Ansprüche stellten, so dass sich durch entsprechende Nachfrage ihr Umfeld veränderte. Ein wesentlicher Teil des Kaufinteresses zielt auf Fremdländisches, seien es Nahrungs- und Genussmittel, Musik, Artikel der Heimdekoration, Reisen und vor allem eine vielfältige Gastronomie mit exotischen Elementen. Es ist sicher kein Zufall, dass Hamburg in Deutschland das erste Terrain für Studien zur Gentrifizierung war (Dangschat/Friedrichs 1988). Zumindest das ‚Portugiesenviertel’ und das Schanzenviertel haben die weitere Gemeinsamkeit, dass sich durch – inzwischen klar abgegrenzte – Bereiche für sommerliche Außengastronomie eine Bühne bietet, die eine soziale Positionierung durch die Wahl des ‚richtigen’ Ortes ermöglicht. Eine andere Struktur hat Winterhude, das sich nordöstlich der Außenalster erstreckt und noch relativ zentrumsnah liegt. Es ist kein Viertel des Luxus, aber doch deutlich besser als die bisher dargestellten. Die Wohnungen haben zwar nicht besonders viele Zimmer, aber die Wohnfläche pro Person ist relativ groß. Überdurchschnittlich sind auch die Sozialindikatoren Bildungsabschluss und Anteil der Angestellten. Unter allen näher beschriebenen Stadtteilen ist es der Einzige, in dem der Bildungsgrad über und die Arbeitslosigkeit unter dem Hamburger Durchschnitt liegen. Ein großer Teil der Haushalte besteht nur aus einer Person, es gibt viele berufstätige Frauen, wenig Kinder und wenig Ausländer. Die Zahl portugiesischer Einrichtungen ist gering; außer sechs Cafés gibt es noch ein Restaurant und ein Lebensmittelgeschäft. Südlich der City liegen entlang der S-Bahn-Linie 3 eine Reihe von Stadtteilen mit sowohl absolut als auch relativ hoher Zahl an Portugiesen, nämlich Veddel, Wilhelmsburg, Harburg, Wilsdorf und Heimfeld. Aus Abbildung 2 ist zu erkennen, dass die absoluten Zahlen der Portugiesen hoch sind; in Abbildung 3 wird mit den Lokalisationskoeffizienten zusätzlich angezeigt, dass der portugiesische Bevölkerungsanteil zumeist mehr als dreimal so hoch ist wie der Hamburger Durchschnitt. Das ganze Gebiet ist gekennzeichnet durch ausgedehnte Hafenareale, diverse Industrien und viel Eisenbahn- und Lastwagenverkehr. Veddel, das Extrembeispiel eines isolierten Viertels zwischen Hafenanlagen, Bahntrassen und Schnellstraßen, weist keinerlei portugiesische Einrichtungen auf. Das wesentlich größere Wilhelmsburg hat jeweils zwei portugiesische Vereine, Gaststätten und Cafés in einem wenig attraktiven Umfeld zwischen Schnellstraße im Osten, Hafen- und Industriegebieten an den übrigen Seiten. Hierhin wird es deutsche Gäste kaum ziehen, die Nachfrage dürfte von der portugiesischen Wohnbevölkerung kommen. Zelinsky machte schon 1985 die Unterscheidung zwischen Gaststätten, die zwar Ethnizität zeigen, deren Nützlichkeit aber vorrangig im Angebot von Nahrung und Raum für Sozialkontakte
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besteht, und Restaurants, die durch ethnische Stilisierung einen grenzüberschreitenden Transfer von Kultur bewerkstelligen um damit die autochthone Bevölkerung locken (Zelinsky 1985: 54). Harburg hat noch immer den Charakter einer eigenständigen Stadt mit rund 200.000 Einwohnern. Recht zentral gibt es drei portugiesische Vereine, sechs Restaurants und zwei Cafés. Da außerhalb der zentral gelegenen Neustadt Cafés normalerweise weitaus häufiger sind als Restaurants, scheint hier in einem starken Subzentrum eine besondere Struktur vorzuliegen, die durch eine starke Nachfrage portugiesischer Wohnbevölkerung bedingt ist, welche ihren Unterhalt in den vielen Industriebetrieben erwirbt. Alle Viertel mit bemerkenswerter Dichte an portugiesischen Cafés und Restaurants haben auch einen überdurchschnittlichen Anteil portugiesischer Bevölkerung. Aber ein Umkehrschluss ist nicht statthaft, denn es gibt Quartiere mit relativ vielen Portugiesen, wo ein entsprechender Effekt nicht vorhanden ist, wie schon für Veddel festgestellt. Es fällt auf, dass es sich dabei allerdings eher um zentrumsfern gelegene Wohngebiete handelt wie Horn und Billstadt im Osten sowie Bahrenfeld und Lurup im Westen. Abbildung 1 deckt nicht das gesamte Hamburger Stadtgebiet ab, weil dies auch nicht nötig ist. Beispielsweise folgen westlich von Ottensen bis Blankenese die ‚Elbvororte’ an den südexponierten Hängen und auf der Höhe über der Elbe, Wohngebiete mit hohen Anteilen von Villen und Eigentumswohnungen und einer Bevölkerung mit besten Sozialindikatoren. Dort ist keinerlei portugiesisches Gastgewerbe zu finden, obwohl in der Bevölkerung wohlhabende Portugal-Liebhaber sein dürften. Möglicherweise kommt ein Teil der Gäste in Ottensen auch aus diesem Gebiet. Außerhalb des Blattspiegels liegen auch die ‚guten’ Wohngebiete im äußersten Nordosten (Alstertal, Walddörfer) und Südosten (Vier- und Marschlande), wo ebenfalls kein portugiesisches Gaststättengewerbe zu finden ist. Außer einem überdurchschnittlichen Anteil an Portugiesen an der Wohnbevölkerung gibt es also zusätzliche Bedingungen für die Existenzfähigkeit des ethnischen Gaststättengewerbes. Dazu zählen relative Zentrumsnähe, erhöhte lokale Arbeitsplatzdichte, soziokulturelle Besonderheiten des deutschen Gästepotenzials im nahen Einzugsgebiet oder aber intensiver Verkehr von Städtetouristen. Quartiere, in denen zwar viele Portugiesen wohnen, zugleich aber Ausländer insgesamt einen besonders hohen Bevölkerungsteil (Rothenburgsort, Wilhelmsburg) oder gar die Mehrheit bilden – wie in Veddel und Billbrook – bieten nur geringe Chancen für gute ethnische Gaststätten, allenfalls für Billiganbieter. Denn es fehlt an deutschen Gästen, und Mitglieder anderer Nationalitäten – ganz besonders Türken – frequentieren fast ausschließlich ihre eigenen Einrich-
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tungen. Es mangelt dort allerdings nicht nur an Marktlücken, sondern auch an Chancen der Akkulturation, um den Geschmack der Mehrheitsgesellschaft zu treffen. Abb. 3: Portugiesen in Hamburg (Lokalisationskoeffizient)
Quelle: Statistikamt Nord, Hamburg, Daten von 31.12.2004. Berechnung des Verfassers.
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Portugiesen im Wettbewerb der Südeuropäer
In keiner deutschen Großstadt, auch nicht im doppelt so großen Berlin, gibt es eine ähnlich große Zahl an portugiesischen Restaurants und vor allem auch Cafés wie in Hamburg, von innerstädtischen Konzentrationen oder gar einem eigenen Restaurantviertel ganz zu schweigen. Was mögen die Gründe dafür
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sein, dass portugiesische Gastronomie nicht landesweit eine Expansion wie die italienische, griechische und chinesische aufweist? Ein erster Erklärungsansatz könnte sein, dass portugiesische Speisen nicht dem Geschmack der Deutschen entsprechen. Das ist wenig wahrscheinlich angesichts der Feststellung, dass kulinarische Spezialitäten sowohl aus anderen Ländern Südeuropas als auch aus weitaus ferneren Kulturen stärker vertreten sind (Türkei, Thailand, Indien, Japan, Mexiko). Für die heutige Position im Wettbewerb der gastronomischen Globalisierung müssen rechtliche und organisatorische Bedingungen in zeitgeschichtlicher Perspektive beachtet werden. Dazu eignet sich ein Vergleich mit Spezialitätenrestaurants, die die Küche anderer südeuropäischer Länder repräsentieren. Für die italienischen Gastwirte dürften Verkäufer von Speiseeis Vorläufer gewesen sein, die schon im Kaiserreich bis nach Hamburg vorgedrungen waren (Pichler 1992: 16; Jacini 1915: 128) und auch sofort nach der Währungsreform 1948 wieder in deutschen Städten ‚Eissalons’ eröffneten. Bis in die 1930er Jahre waren italienische Migranten in speziellen Berufsgruppen in Deutschland aktiv gewesen, so dass eine wenig beachtete Zuwanderungsgeschichte eigentlich nicht lange unterbrochen war. Mit dem ersten Anwerbevertrag 1955 kamen wieder italienische Gastarbeiter, denen in der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsunion der Übergang in die Selbständigkeit frei stand. Zugleich war Italien nach dem Krieg das erste und wichtigste Ziel für die Auslandsreisen der Deutschen, die dort am frühesten eine andere Esskultur kennen und schätzen lernten. Nicht erst seit Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist bekannt, dass Genüsse mit Erinnerungen verbunden sind (dazu auch Lupton 1994). Es ist kein Wunder, wenn versucht wird mit einer ‚typischen’ Speise nochmals ein Stück Urlaub zu erleben. Hinzu kommt die verbreitete Vorstellung, dass der Italiener gleichsam von Natur aus eine kulinarische Kapazität sei. Spätestens seit Ende der 1960er Jahre kam es in Westdeutschland zu einer schnellen Verbreitung italienischer Gaststätten bis in ländliche Gemeinden. Dabei hat die erste Konjunkturkrise 1966/67 manche arbeitslos gewordene Gastarbeiter dazu bewogen, die Selbständigkeit zu wagen. Das italienische Angebot blieb attraktiv, weil es preisgünstig war: Nicht nur können Pizza und Pasta auch ohne oder mit wenig Zutaten an Fleisch und Fisch schmackhaft serviert werden. Für Restaurants höherer Qualität war es Italienern auch möglich, Arbeitskräfte mit weitaus niedrigeren Vergütungsansprüchen zu mobilisieren als es deutsche Gastwirte vermochten. Denn neben Familienmitgliedern und Bekannten konnten sie zu vorteilhaften Konditionen Kräfte aus dem Heimatland einstellen. Dieses Personal akzeptierte ungünstige Bedingungen, um nach einigen Monaten oder wenigen Jahren mit Sprachkenntnis und Deutschland-Erfahrung zurückzukehren, da dies nämlich einen beruflichen Aufstieg im italienischen Tourismusgewerbe erleich-
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terte. Als diese Rekrutierungen seit den 1980er Jahren unter den Bedingungen harten Preiswettbewerbs nicht mehr gut funktionierten, stellten italienische Gastwirte andere Ausländer ein (Pichler 1992: 23), zumal ab dieser Zeit Asylbewerber zuströmten, die damals eigentlich keiner Erwerbstätigkeit nachgehen durften. Andere Inhaber gaben ihre Pizzeria an Ausländer mit niedrigeren Einkommensansprüchen ab, so dass viele davon inzwischen von Türken, Libanesen oder Palästinensern geführt werden. Mit den Portugiesen eher vergleichbar als die Italiener erscheinen die Griechen, und zwar wegen der etwa gleich großen Bevölkerungszahl des Herkunftslandes und dessen späteren Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahr 1981. Allerdings hatte Griechenland früher (1960) als Portugal (1964) einen Anwerbevertrag für Gastarbeiter geschlossen, und im Jahr des Anwerbestopps 1973 lebten 390.000 Hellenen, aber nicht einmal 120.000 Portugiesen in Deutschland. Das ist wichtig für die Existenzfähigkeit von Lokalen, da deren Gäste anfangs fast alle der eigenen Nationalität angehörten. Wenn die Größe der anwesenden Minorität allerdings der allein entscheidende Faktor wäre, dann müssten weitaus mehr türkische Restaurants bestehen, lebten doch in der alten Bundesrepublik damals schon gut 910.000 Türken. Kulturelle und politische Faktoren haben den Übergang von Griechen in die Selbständigkeit erleichtert. In deutlichem Unterschied zu den Türken waren unter griechischen Gastarbeitern von Anfang an etwa gleich viele Frauen wie Männer, ganz offensichtlich eine bessere Voraussetzung für die Gründung von Familienunternehmen. Ein wenig bekannter, aber nicht zu unterschätzender Faktor war auch die starke Präsenz griechischer Studenten. Unter diesen war es üblich, in den ersten griechischen Gaststätten zu jobben, sich zu beteiligen oder selbst einen Betrieb zu eröffnen, zumal die wirtschaftliche Selbständigkeit als Gastwirt mit Aussicht auf schnellen Wohlstand nicht als soziale Deklassierung gesehen wird (Stavrinoudi 1991: 10, 18; 1992: 15, 30). Griechen, die während der Diktatur 1967-1973 als politische Flüchtlinge anerkannt wurden, erhielten die Erlaubnis zur Betriebsgründung, die für andere Ausländer aus damaligen Nicht-EWG-Staaten erst mit der unbeschränkten Aufenthaltsgenehmigung gewährt wurde, also nach fünf bis acht Jahren. Im Vorgriff auf die Mitgliedschaft in der Wirtschaftsunion ab Anfang 1981 wurde allen Griechen schon im Jahr zuvor das Recht auf selbständige Berufstätigkeit zuerkannt. Ein Teil der Studenten ist auch nach dem Examen in Deutschland geblieben, so dass bilinguale Rechts- und Steuerberater die Gründung und Führung griechischer Restaurants erleichterten. Es gab also hierzulande kulturelles Kapital und nützliche Netzwerke, was Portugiesen eher in Frankreich vorfinden dürften. Die Größe einer ausländischen Gemeinschaft mit speziellen Konsumgewohnheiten ist für viele ethnische Gewerbe unter drei Gesichtspunkten wichtig:
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Die Mitglieder bilden die Kundenbasis für einen Betrieb, außerdem ein flexibles Arbeitskräftepotenzial, und drittens sind innerhalb einer großen community Privatkredite und Beteiligungen leichter zu erhalten. Das ist für das Gaststättengewerbe von größter Bedeutung, da inländische Banken gegenüber dieser Branche generell restriktiv entscheiden, ganz besonders aber gegenüber Anfragen von Ausländern. Gibt es für eine größere Zahl ethnischer Nahrungsmittelgeschäfte schon spezialisierte Importeure und Großhändler, so kommen diese – neben Brauereien und Automatenaufstellern – als Kreditgeber in Frage (Stavrinoudi 1991: 20; 1992: 24). Obwohl in den Gelben Seiten etwa fünfmal so viele türkische Restaurants wie portugiesische verzeichnet sind, bleibt dies eine geringe Quote, ist doch die türkische community mindestens fünfzehnmahl so groß wie die portugiesische. Man kann dies als besonders geringe ‚Leistung’ ansehen, wenn man berücksichtigt, dass die türkische Küche der griechischen recht ähnlich ist. Entscheidend dürfte die kulturelle Distanz sein: Für deutsche Gäste ist eine Mahlzeit in einem guten Restaurant nicht vorstellbar, wenn dort keinerlei alkoholische Getränke verfügbar sind, von einem breiten Angebot ganz abgesehen. Gebildete Deutsche hegen wegen der antiken Kultur auch Bewunderung für Griechenland und haben das Land deshalb auch eher besucht als die Türkei. Wenn sie zur Erinnerung ein griechisches Restaurant aufsuchen, ist ihnen nicht bekannt, dass die meisten Hellenen hierzulande aus kleinbäuerlich-ärmlichen Verhältnissen der nördlichen Landesteile stammen und wenig kulturelles Kapital mitbringen. Viele türkische Lokale werden ganz offensichtlich nur von Männern frequentiert. Auch ohne den Vermerk ‚Zutritt nur für Vereinsmitglieder’ machen sie auf die übrige Bevölkerung, vor allem natürlich Frauen, einen ausschließenden Eindruck. Diese Markierung kultureller Distanz dürfte indirekt auch der Wertschätzung der türkischen Küche abträglich sein. Der Verkauf von Döner verdeutlicht für Deutsche wie für Türken den ausgebliebenen sozialen Aufstieg (Caglar 1995). Aus diesen Vergleichen lässt sich der Schluss ziehen, dass die Verbreitung portugiesischer Restaurants durch mehrere Faktoren erschwert wurde. Der Anwerbevertrag von 1964 wurde relativ spät und zudem kurz vor der ersten Nachkriegs-Rezession 1967-1968 unterzeichnet. Die Zeit wirklich intensiven Zustroms reichte nur von 1969 bis 1973. Es folgten teils Rückwanderung, teils Familienzusammenführung, 1983-1984 nochmals Remigration durch Nutzung von Rückkehrhilfen für damalige Nicht-EG-Bürger (Freund 2007: 113). Portugiesen blieben hierzulande somit immer eine kleine Gemeinde. Erst 1986 erreichten sie die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft, also deutlich später als Italiener und Griechen. Sie hatten also für die Gründung einer selbständigen Existenz bis dahin größere Schwierigkeiten zu bewältigen. Deshalb
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gab es fast nur bei lokaler Verdichtung das Potenzial einer ethnisch tragfähigen Kundschaft, was für den Start in die Selbständigkeit nötig ist. Der Nachweis einer besonderen Qualifikation (Meisterbrief) ist für die Führung eines Restaurants nicht erforderlich, es reicht ein IHK-Kurs. Sogar mit sehr niedrigem Schulabschluss kann man Gastwirt sein, wie eine Studie zu Italienern zeigte (Pichler 1992: 23). Allerdings erweist sich kulturelles Kapital wie bei den Griechen als deutlicher Vorteil, ebenso wie gute Netzwerke nach chinesischem Muster. Für das portugiesische Gaststättengewerbe wie für das aller ehemaligen Gastarbeiterländer ist eine starke Fluktuation kennzeichnend. Das hat viele Gründe wie beispielsweise geringes Eigenkapital, falsche Markteinschätzung, Streit zwischen den Beteiligten oder ‚transnationales’ Leben mit Investitionen im Herkunftsland. 7
Perspektiven und Chancen der portugiesischen Gastronomie
Seit dem zweiten Höchststand portugiesischer Bevölkerung in Deutschland im Jahre 2000 mit 134.000 Einwohnern ist bis Ende 2007 eine ständige Abnahme auf knapp 115.000 zu verzeichnen. Die verbleibenden Menschen mit portugiesischer Staatsbürgerschaft werden mit zunehmender Verweildauer und durch Generationswechsel soziokulturell und in den Konsumgewohnheiten der autochthonen Bevölkerung immer ähnlicher. Damit schwindet das Interesse am Besuch ethnischer Vereinsgaststätten und einfacher portugiesischer Restaurants, die als Treffpunkt und Informationsstelle dienen und wo durch convívio mit Landsleuten, eher deftige als verfeinerte Speisen sowie tasca-Atmosphäre ein wenig solidarisches Heimatgefühl erzeugt wird. Derartige Betriebe mit karger Ausstattung, Spielautomaten, ständig laufendem Fernseher und gar kaltem Neonlicht sind ungeeignet, deutsche Gäste als neue Kunden anzuziehen und werden deshalb nicht mehr lange rentabel geführt werden können. Wie das italienische Beispiel zeigt, können europäische Spezialitätenrestaurants nicht über den Preiswettbewerb gegenüber asiatischen und orientalischen Konkurrenten bestehen. Ein Aufrücken in die gehobene Klasse erscheint also erforderlich. Wichtig dafür ist ein qualifizierter Koch aus dem Ursprungsland, auch um die intensivierte Nachfrage nach ‚authentischen’ Speisen zu befriedigen, wie fragwürdig die landläufigen Vorstellungen dazu auch sein mögen (Cook/Crang 1996; Soyez 2004). Wichtig sind jedoch ebenfalls Erfahrungen aus deutschen Gaststätten mit portugiesischer oder mediterraner Küche, um kulinarische Modifikationen gemäß den Präferenzen der Gäste vorzunehmen und beispielsweise nicht – wie in Portugal – Reis und Kartoffeln zu kombinieren.
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Nicht zuletzt ermöglicht dies auch, Kontakte zu Lieferanten und potenziellen Geldgebern zu knüpfen (Stavrinoudi 1991: 22). Die meisten Zutaten portugiesischer Gerichte können problemlos von den zahlreichen Großhändlern für mediterrane Produkte bezogen werden. Für das spezifisch Portugiesische, nämlich landestypische alkoholische Getränke, manche Fertiggerichte und vor allem vielerlei Fischarten, ist eine gute Organisation des Importes und der deutschlandweiten Distribution nötig. Große Defizite bestehen offenbar noch in der Werbung. Wenn im portugiesischen Unternehmerverband 215 Gastwirte Mitglieder sind und es tatsächlich noch mehr gibt, im Internet unter GoYellow.de Anfang 2008 aber nur 33 portugiesische Restaurants (gegenüber 7.470 italienischen Gaststätten und Pizzerias) aufgeführt sind, deutet dies auf ein unzureichendes Bemühen hin. Die portugiesische Küche ist hervorragend, hat aber gleichwohl für eine Kommerzialisierung in Deutschland einige Nachteile. Anders als bei Pizza und Pasta, bei ostasiatischen und türkischen Gerichten ist es kaum möglich, durch Kombination verschiedener Zutaten schnell und preiswert zahlreiche Variationen anzubieten. Es fehlt auch das Image, also ein von ganz wenigen Elementen beherrschtes Vorstellungsbild. Das ist einerseits dadurch bedingt, dass es eine große Vielfalt gibt, andererseits dadurch, dass Deutsche viele Spezialitäten auch während eines Portugal-Urlaubs nicht kennen lernen. Landestypisches wird Pauschaltouristen kaum geboten, Individualreisende werden es nach den Speisekarten sehr selten bestellen, weil auch Übersetzungen ins Englische oder Französische unbekannte Wörter enthalten. Das reichhaltige Angebot an Fischen und Meeresfrüchten kann kaum mit konkreten Vorstellungen verbunden werden. Gerade diese typischen Grundlagen der portugiesischen Küche sind schon im Einstandspreis teuer, ganz besonders in Gegenden mit geringen Liefermengen wie Deutschland. Folglich können entsprechende Gerichte nicht preisgünstig angeboten werden. Das ist ein Nachteil, weil die meisten Deutschen noch immer nicht bereit sind, viel für Restaurantbesuche auszugeben. Hier zeigt sich trotz allen Wohlstands ein kultureller Unterschied zu west- und südeuropäischen Ländern, in denen Kulinarisches und demonstrativer Konsum einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert einnehmen. Andererseits sind die möglichen Stärken der portugiesischen Gastronomie unverkennbar, vor allem die Vielfalt an Fischspezialitäten und Gerichten mit Meeresfrüchten. In Deutschland besteht in dieser Richtung kaum Tradition, und auch unter Liebhabern besteht wegen des Geruches wenig Neigung zur Zubereitung in der eigenen Wohnung. Folglich eröffnet sich hier eine Marktlücke für spezialisierte Restaurants, die durch das seltene Angebot von seafood eine Aura der Exklusivität gewinnen können.
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Kaum bekannt ist hierzulande auch die Vielfalt im Bereich der alkoholischen Getränke. Mit Portugal verbindet sich sogleich der Gedanke an Portwein, wovon den Gästen stets ein Gläschen spendiert werden sollte, wie es Italiener zur Kundenbindung mit Amaretto oder Grappa zu tun pflegen, Kroaten mit Slibowitz, Griechen mit Ouzo oder Samos. Die übrigen portugiesischen Likörweine (Madeira und Moscatel de Setúbal / Favaios), die hochwertigen Rot- und Weißweine, prickelnd frischer Vinho Verde und die Schaumweine sind hierzulande nahezu unbekannt, ganz anders als der (e)spumante aus Spanien oder Italien. Wo sollten sich die guten portugiesischen Restaurants befinden? In Frage kommen vor allem die größten Städte und die kaufkraftstarken Umlandgemeinden der Metropolen. Vorteilhaft wären Standorte in den Restaurantstraßen wie der Frankfurter ‚Fressgass’ und der Calwer Straße in Stuttgart, oder zentrumsnahe Mischgebiete mit einkommensstarker Arbeits- und Wohnbevölkerung und natürlich Stadtteile mit Gentrifikation. Sehr geeignet wären aus psychologischen Gründen auch Standorte in Uferlagen jeglicher Art – an Flüssen, Seen oder Teichen. Wichtig sind die äußere Präsentation und innere Gestaltung. Viele ethnische Restaurants haben eine emblematische Inneneinrichtung, man denke nur an die Drachen und Löwen der Chinesen, die Säulen und Statuetten der Griechen. Solche schon fast standardisierten Typisierungen gibt es bei den Portugiesen selten, sie dürften auch für die gehobene Gastronomie nicht mehr angemessen sein. Das enthebt aber nicht der Pflicht, eine stilvolle Innengestaltung vorzunehmen, die landestypische Zitate enthält. Die Ausstattung mit Kachelbildern, beispielsweise mit Szenen vom Meer und aus dem Portweingebiet, ist eine erhebliche, vermutlich jedoch richtige Investition. In vielen Restaurants für europäische und lateinamerikanische Spezialitäten werden auch nicht landestypische Gerichte angeboten und starke Konzessionen an den Geschmack (oder die Geschmacklosigkeit) der deutschen Gäste gemacht. Dafür kann man die euphemistischen Ausdrücke ‚Hybridisierung’ und ‚Glokalisierung’ (als Kreuzung von Globalisierung und Lokalisierung) benutzen (Soyez 2004). Außerdem arbeiten in ethnischen Spezialitätenrestaurants seit den 1980er Jahren nicht selten Bedienstete, die aus anderen als den angegebenen Ländern stammen (Pichler: 23; Stavrinoudi 1991: 18; 1992: 41), so auch in den Betrieben des Hamburger ‚Portugiesenviertels’. Insbesondere bei der Bedienung ist dies zu vermeiden, da den kenntnisreichen und teilweise sprachkundigen Gästen dies sofort als Mangel an Authentizität unangenehm auffiele. Leichter als eine Ausbreitung der Restaurants wäre vermutlich eine Expansion von pastelarias, wie das Hamburger Beispiel zeigt. In deutschen Städten ist seit Jahrzehnten ein Rückgang von Cafés und Konditoreien in den zentralen
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Geschäftsbereichen zu verzeichnen. Andererseits besteht ein Wunsch nach Gastlichkeit, wodurch sich an Stellen moderater Mietzinsen Chancen eröffnen dürften. Eine Expansion portugiesischer Restaurants und pastelarias hätte durchaus auch Vorteile für die portugiesische Volkswirtschaft. Es gäbe nämlich zusätzliche Exportmöglichkeiten sowohl für die gastgewerblichen Betriebe als auch für den Einzelhandel. Letztendlich ist eine attraktive Gastronomie auch ein nicht zu unterschätzender Werbefaktor für den Tourismus. 8
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Transnationale Identifikation am Beispiel der Portugiesen in München – Ergebnisse einer Fallstudie Isabel Eitzinger
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Einleitung
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage nach Identifikationsstrategien im Kontext transnationaler Migration innerhalb der Europäischen Union. Dies wird auf Basis einer qualitativen Befragung von Portugiesen in München exemplarisch untersucht. Ziel ist es zu überprüfen, inwieweit die auf theoretischer Ebene diagnostizierte Ent- bzw. Neukopplung zwischen nationaler Identifikation und nationaler Zugehörigkeit ihre Entsprechung auf der personalen Ebene der Migranten findet.1 Seit dem Beitritt Portugals zur Europäischen Union im Jahr 1986 sind die Migrationsprozesse zwischen Portugal und Deutschland politisch in den Rahmen der Europäischen Union eingebettet. Sie sind so in eine ‚transnationale’ Gesellschaft und ein ‚transstaatliches’ Mehrebenensystem eingebunden. Migration innerhalb Europas kann damit immer weniger als unidirektionaler, einmaliger Übergang von dem Herkunfts- in das Ankunftsland (Emigration versus Immigration) begriffen werden. Neue Formen der Migration erweisen sich mehr und mehr als transnationale Wanderungsprozesse, die zwischen bestimmten Nationalstaaten als dauerhafter Bestandteil des Lebenslaufes der Migranten stattfinden und so nicht nur einen temporären Übergang darstellen. Diese transnationale Migration wird durch den institutionellen und rechtlichen Rahmen der Europäischen Union verstärkt. Wichtige Vorraussetzungen hierfür sind die Sicherheit des rechtlichen Aufenthaltsstatus und die Reziprozität bestimmter Sozialleistungen (z.B. Rentenansprüche). Die Portugiesen bzw. Deutsch-Portugiesen, die in München leben, stellen eine besonders interessante Untersuchungsgruppe jenseits der traditionellen Gastarbeiterforschung dar: Die zeitliche Entwicklung der portugiesischen Mig1
Die hier dargestellten Resultate zur transnationalen Identifikation beruhen im wesentlichen auf den Ergebnissen der Fallstudie Nationalität und Staatsbürgerschaft – Eine Fallstudie am Beispiel der Portugiesen in München, die 2004 im Rahmen meiner Diplomarbeit durchgeführt wurde. Diese wurde an der Ludwig-Maximilians-Universität München angefertigt und von Herrn Prof. Dr. Beck und Prof. Levy Ph.D. betreut.
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ration umfasst den Wandel vom ‚Gastarbeiter’ zum ‚europäischen Mitbürger’ (Klimt 2000). Da die erste Einwanderungsphase in die Zeit der Anwerbeverträge Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts fällt, wird die portugiesische Einwanderung überwiegend als Gastarbeitermigration charakterisiert. Die neuere Einwanderungsgeschichte ist hingegen von dem zunehmenden europäischen Integrationsprozess geprägt. Die Tatsache, dass die portugiesische Minderheit nicht im Zentrum des öffentlichen Interesses steht und somit nicht Zielscheibe parteipolitischer Interessen geworden ist, lässt den Blick auf unterschiedliche Einwanderungsmotive unversperrt. Die Portugiesen erscheinen daher als besonders geeignete Untersuchungsgruppe, um die Thematik der transnationalen Migration und entsprechenden Identifikationsmöglichkeiten zu erforschen. In ihrer alltäglichen Lebenspraxis stellen sie eine grenzüberschreitende Verbindung der Sozialräume her. So werden sie auch in ihrer nationalen Identifikation mit verschiedenen Mustern konfrontiert. Im Folgenden möchte ich zunächst die allgemein postulierten Transformationsprozesse auf theoretischer Ebene betrachten und insbesondere die Konzepte des Nationalstaates und der Identifikation näher erläutern. Im Anschluss daran werde ich die Ergebnisse meiner qualitativen empirischen Studie hinsichtlich transnationaler Identifikation vorstellen. 2
Transformation der Konzeption ‚Nationalstaat’
Auf welchen Prämissen beruht die Vorstellung einer mit dem Nationalstaat kongruenten Gesellschaft? Der soziologische Diskurs schließt hier an ein Denkmuster aus der Physik und der Philosophie an, in dem ‚Raum’ seit der Antike modellhaft als Behälter vorgestellt wird: Die Übertragung der Vorstellung vom Behälterraum in die Sozialwissenschaften hat zu der fatalen Annahme geführt, dass soziale mit politischen und ökonomischen Räumen zusammenfallen und an den jeweiligen territorialen Grenzen der Staaten enden (Schroer 2003: 327).
In den Gesellschaftswissenschaften entspricht dieses absolute Raumverständnis – der ‚Behälterraum’ – dem Nationalstaat. Überspitzt formuliert finden hier die geographischen Ebenen ‚lokal, regional und national’ ihre Entsprechung in den gesellschaftlichen Strukturen ’Nachbarschaft, Familie, Stamm, Gemeinschaft und nationale Gemeinschaft’. Dies hat zur Folge, dass Gesellschaft – als der Bezugspunkt sozialwissenschaftlicher Forschung – mit dem Konzept des Nationalstaates gleichgesetzt wird. Auf Ebene der Wissenschaften ist damit ein methodologischer Nationalismus (Beck 2004: 39ff.) entstanden: Datenmaterial, geschichtliche Analysen
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und theoretische Ausführungen entstehen so hauptsächlich aus einer nationalen Perspektive heraus. Daraus folgt der Dualismus national-international, der auf dem Vorhandensein mehrerer Gesellschaften, sprich Nationalstaaten, beruht (Beck 2004: 44-46). Geschichtlich betrachtet fand die Aufgliederung des europäischen Raumes in Nationalstaaten im Rahmen des Westfälischen Friedens 1648 statt. So etablierte sich der Nationalstaat als die vorherrschende Organisationsform des ‚modernen’ Europas. Mit dem Begriff des Nationalstaates ist zugleich ein bestimmtes Verhältnis zwischen den Konzepten ‚Staat’, ‚Territorium’ und ‚Nation’ verknüpft. Die Entwicklung des modernen Staates leitet sich aus der griechischen Polis ab. Es bildete sich eine Kongruenz zwischen dem Souveränitätsanspruch des Staates und einem klar abgrenzbarem Staatsgebiet heraus. Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt werden in der klassischen Staatslehre als die entscheidenden Kriterien der Staatenbildung verstanden. Ihnen ist gemeinsam, dass sie von einer gedachten Exklusivität leben. Dies bedeutet für den Staatsbürger eine eindeutige, alternativlose, dauerhafte und exklusive Zuordnung hinsichtlich seiner Staatsbürgerschaft (Schroer 2003: 331; Brubaker 2000: 73ff). Basis für diese ‚dauerhafte’ Mitgliedschaft ist eine allen Staatsbürgern gemeinsame kollektive Identifikation mit der Nation. Der Begriff ‚Nation’ selbst gehört zu dem gegenwärtig populärsten und zu einem in der politischen Diskussion vielschichtig verwendeten Terminus. Wie der Eintrag in Wahrigs Wörterbuch der deutschen Sprache verdeutlicht, zielt die Definition von Nation auf das Konzept des Nationalstaates ab: Nation [...] nach Abstammung, Sprache, Sitte, kultureller und politischer Entwicklung zusammengehörige, innerhalb der gleichen Staatsgrenzen lebende politische Gemeinschaft; (< lat. natio, [...] ‚das Geborenwerden; Geschlecht, Volksstamm, Volk’) (Wahrig-Burfeind 2002: 622).
Des Weiteren wird in der allgemeinen Nationalismusforschung diskutiert, ob die Entstehung von Nationen eher an ursprüngliche oder an konstruierte Charakteristika2 gebunden ist. Zudem wird die Frage nach der Bedeutung von ‚Nation’ dadurch erschwert, dass zwei analytisch trennbare Begriffe im allgemeinen Sprachgebrauch verknüpft werden: Nation als ethnos, d.h. als Klassifizierung einer gemeinsamen Herkunft durch Abstammung, oder als demos, d.h. als Bezeichnung für die mit politischen Rechten ausgestattete Bevölkerungsgruppe (Francis 1965: 87). Dreh- und Angelpunkt für die Vermischung beider Prinzipien ist der Gedanke des politischen Nationalstaates, der als Quelle seiner Souveränität die Idee einer Nation voraussetzt. Deshalb wird im Nationalstaat die 2
Anderson (1998) betont in seinem Buch Die Erfindung der Nation den konstruktivistischen Charakter der Nationenbildung.
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Deckungsgleichheit zwischen Staat und Nation gefordert. Zwischen ethnos und demos jedoch muss kein notwendiger Zusammenhang bestehen: Die Verwirklichung des demokratischen Prinzips setzt zwar das Vorhandensein eines Demos als legitimen Träger des politischen Willens voraus, verlangt aber durchaus nicht dessen ethnische Homogenität (Francis 1965: 77).
Vergegenwärtigt man sich die technologischen Entwicklungen seit dem Beginn der Industrialisierung im Bereich des Personen- und Warenverkehrs sowie der Kommunikation, so verwundert es kaum, wenn in der sozialwissenschaftlichen Debatte zunehmend von einer „Weltgesellschaft“ (Luhmann 1997: 145f), einem „modernen Weltsystem als kapitalistische Weltwirtschaft“ (Wallerstein 2003: 365), einer „Globalität“ (Albrow 1998: 141ff.) oder einer „Weltrisikogesellschaft“ (Beck 1997: 73-80) die Rede ist. Allerdings soll hier das Konzept der Globalisierung nicht verwendet werden, da es sich bei den deutschportugiesischen Migrationsbewegungen lediglich um innereuropäische Wanderungsprozesse handelt. Deshalb soll im Folgenden von ‚Denationalisierungsprozessen’ gesprochen werden, d.h. von der: Verschiebung der Grenzen von verdichteten sozialen Handlungszusammenhängen über die Grenzen von nationalen Gesellschaften hinaus, ohne gleich global sein zu müssen (Zürn 1998: 73).
Dies entspricht einer neuartigen Verflechtung der Handlungs- und Sozialräume zwischen (in der bisherigen Perspektive noch immer getrennt gedachten) Nationalstaaten. Diese gesellschaftliche Denationalisierung kann nach Zürn als Vorraussetzung für die Herausbildung politischer Räume oder Identitäten über den nationalstaatlichen Rahmen hinaus gesehen werden. Denationalisierung lässt so die oben beschriebene Vorstellung des ‚absoluten Raumes’, in dem gesellschaftliche und geographische Räume kongruent gedacht werden, hinter sich. Diese Erkenntnis ist grundlegend für den neuen Forschungsrahmen des ‚Transnationalismus’. Forschungsziel ist dabei das Erfassen sozialer Phänomene jenseits des geographischen Raumes des Nationalstaates. Diese Frage nach der Erfassung transnationaler Räume leitet zu der Untersuchung von Migrationsströmen über. Insbesondere die Migrationsprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkten ein Hinterfragen der nationalen Homogenität eines ‚Raumes’ und führen zu der Frage nach sich überlappenden, netzwerkartigen, nicht mehr eindeutig fassbaren Mitgliedschaften. Die Entstehung der Europäischen Union umgibt diese Migrationsprozesse bzw. bettet diese geradezu in einen besonderen institutionellen und gesellschaftlichen Rahmen ein: „Die EU scheint sich einfa-
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chen und eindeutigen Zuordnungen stets zu entziehen, das ‚Weder-Noch’ scheint geradezu ihr Charakteristikum zu sein“ (Beck/Grande 2004: 397). Der ‚Transmigrant’ bildet in seiner alltäglichen Lebenspraxis, d.h. in kommunikativen Verflechtungen und Arbeitszusammenhängen, stabile grenzüberschreitende Räume aus. Diese manifestieren sich an mehreren lokalen Räumen und werden als qualitativ neue ‚soziale’ Räume sichtbar. In einer aktiven Verknüpfungsleistung fügt der ‚Transmigrant’ verschiedene ‚Gesellschaften’ zu einem sozialen ‚Raum’ über nationale Grenzen hinweg zusammen. Die soziologisch relevante Institutionalisierung dieser transnationalen Räume basiert auf den sozialen Alltagspraktiken, Symbolsystemen und Artefakten: Transmigranten entwickeln und unterhalten vielfältige, grenzüberschreitende Beziehungen im familiären, ökonomischen, sozialen, organisatorischen, religiösen und politischen Bereich. Transmigranten handeln, entscheiden, sorgen und identifizieren sich in Netzwerken, die sie an zwei oder mehr Gesellschaften gleichzeitig binden (Glick Schiller et al. 1997: 81).
In diesem Kontext ist die Frage der Identität neu zu stellen und zu definieren. 3
Transformation der Konzeption ‚Identifikation’
Identitätsfindung ist, vereinfacht ausgedrückt, die Suche nach einer Antwort auf die Fragen ‚Wer bin ich?’ und ‚Wer sind die Anderen?’. Der Identitätsbildungsprozess als gesellschaftliche Konstruktion beinhaltet die Ausbildung eines Selbstbildes „in Verbindung mit ihrem Gegenteil der ‚Andersheit’“ (Therborn 2000: 237). Als ‚sozialer’ Ort, an dem sich dieser Prozess vollzieht, kann jede soziale Institution oder jeder gesellschaftliche Akteur gelten. Die Diskurse der mächtigsten sozialen Institutionen besitzen eine große gesellschaftliche Bedeutung. Daher kann davon ausgegangen werden, dass der Staat als Machtzentrum in der Moderne, eine bedeutsame Prägekraft auf das Individuum besitzt. Ausgangspunkt für eine nationale Identitätsstiftung ist das Prinzip des ‚EntwederOder’, das auf einer ‚stilisierten’ Gleichheit im Inneren und Distinktion nach Außen beruht (Beck 2004: 42ff). Würde man dieser Logik folgen, so würde ein inhärenter Zusammenhang zwischen der Identität des Individuums und der nationalen Gesellschaft bestehen. Dieser müsste kongruent sein, um eine stabile Integrationsleistung der Gesellschaft zu erreichen. Dies entspricht in der traditionellen Perspektive der nationalen Identifikation. Die Bindung an ein nationales Kollektiv kann sowohl über kognitive oder affektive Mechanismen als auch über staatliche oder nicht-staatliche Merkmale erfolgen (Honolka/Götz 1998: 319). Als staatliche Aspekte der Identifikation können Staatsangehörigkeit, Rechtsprechung oder Verfassung relevant werden.
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Als nicht-staatliche Merkmale können Landschaft, Sprache, Kultur, gemeinsame Herkunft oder Persönlichkeits- bzw. Sozialcharaktere, die die Angehörigen des Kollektivs zumindest tendenziell auszeichnen sollen, gelten. An dieser Stelle ist es sinnvoll, darauf zu verweisen, dass diese Gemeinsamkeiten nicht tatsächlich vorhanden sein müssen, um identitätsstiftend wirksam zu werden. Der Glaube an die Gemeinsamkeit ist entscheidend. Die Pluralisierung der Lebenswelten, Individualisierungsprozesse und die oben angeführten Transformationen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene führen zu einer Veränderung ehemals geschlossener Identitätsangebote (z.B. nationale Identifikation). Aus der Sicht der postkolonialen Theorie entstehen Grenzbereiche, in denen Identität nicht mehr nur eindeutig, sondern mehrdeutig ist. Dies wird durch Konzepte wie „Hybridität“ (Bhabha 1997: 97-122) und „Mélange“ (Pieterse 1998: 87-124) reflektiert. Identität wird nunmehr zu einem Prozess, wobei der Begriff „Patchwork-Identität“ (Keupp 1999: 266) die Eigenleistung des Individuums widerspiegelt, die bei einer Identitätskonstruktion notwendig wird, um die einzelnen Teilidentitäten zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen. Auf welchen Prämissen beruht nun eine transnationale Identifikation? Im Gegensatz zu einer rein nationalen Identifikation basiert sie auf dem Prinzip, dass aus verschiedenen nationalen Kontexten Symbole, kulturelle Praktiken und auch affektive Besetzungen übernommen werden und zu einer neuen Einheit geformt werden. In diesem Sinne kann nach Beck-Gernsheim von neuen Identifikationsmustern gesprochen werden. „Diese Menschen beanspruchen eine Identität, die beides zugleich ist, nicht eines auf Kosten und unter Ausschluss des anderen“ (Beck-Gernsheim 1999: 16). Dieses Muster kann sowohl für Migranten als auch für Personen mit Migrationshintergrund (z.B. binationaler Herkunft) relevant sein. Entscheidend ist, dass hier ein neuer Identifikationsmechanismus benannt werden kann, der sich einer exklusiven, klar abgrenzbaren Einordnung in Kategorien der Mitgliedschaft entzieht. Wendet man diese soziologischen Reflexionen auf das konkrete Beispiel der in München lebenden Portugiesen an, so lässt sich fragen, inwieweit sich die diagnostizierten Veränderungen nationalstaatlicher Konzeptionen in den subjektiven Konstruktionen der Interviewpartner widerspiegeln oder ob im Sinne eines traditionell nationalstaatlichen Verständnisses eine Einheit zwischen nationaler Zugehörigkeit und nationaler Identität postuliert wird. Wie konstruieren die Interviewpartner ihren Platz als Mitglieder mehrerer nationaler Kontexte im Rahmen der Europäischen Union?
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Empirische Herangehensweise
Die Untersuchungsgruppe – die Portugiesen in München – scheint auf den ersten Blick eine klar eingrenzbare Gruppe darzustellen. Folgt man den Basisprämissen des bereits erwähnten methodologischen Nationalismus, so sind Portugiesen all jene, die die portugiesische Staatsangehörigkeit besitzen, da nationale Zugehörigkeit und Staatangehörigkeit als sich überschneidende soziale Kategorien gedacht werden. Im Gegensatz dazu war hier die Selbstbezeichnung der Interviewten als Portugiesen oder Deutsch-Portugiesen für die Auswahl der Untersuchungspersonen relevant: Voraussetzung war ein Leben in mehreren nationalen Kontexten unabhängig von der Staatsangehörigkeit. Das schließt zum einen Personen mit deutsch-portugiesischer Herkunft, zum anderen nach Deutschland eingewanderte Portugiesen der 1., 2. und 3. Generation ein. Auch wenn hier eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Generationen vorgenommen wird, so wird der Logik etwaiger Generationsmodelle nicht weiter gefolgt. Zum einen, da diese universalistischen Modelle die Besonderheit der jeweiligen Migrationserfahrung außer Acht lassen (Heckmann 1992: 172); zum anderen da durch diese Etikettierung, insbesondere der 2. Generation, ein zwangsläufiges in-between zwischen distinktiven ‚Kulturen’ axiomatisch begründet wird (Soysal 2002: 122). Vielmehr hat sich bei meiner Studie gezeigt, dass sich nationale Identifikation mit zunehmendem Alter stabilisiert. Dieser Prozess kann als Lebenszykluseffekt, anders ausgedrückt als Alterseffekt, charakterisiert werden. Ebenfalls wichtige Voraussetzungen dieser Studie waren der Kontakt der befragten Personen zu beiden Ländern sowie Netzwerke, die sie in ihrem Alltag aufrechterhalten und so in ihrer Lebensführung einen transnationalen sozialen Raum schaffen. Transnationalismus ist hier als graduelle Erscheinungsform zu begreifen, die sich sowohl einer negativen Bewertung ‚des dazwischen’ oder der Entwurzelung, als auch einer enthusiastischen Wertung des besseren Kosmopoliten entzieht. Dem Prinzip des theoretischen sampling folgend, wurden bei der Untersuchung unterschiedliche Formen der nationalen Mitgliedschaft, eine Differenzierung nach Einwanderergeneration (1., 2. und 3. Generation), nach sozioökonomischem Status (unterschiedlicher Bildungsstand und berufliche Tätigkeiten), nach Geschlecht und eine Altersspanne von 17-64 Jahren berücksichtigt. Dieses breite Spektrum an Migrationshintergründen und biographischen Prozessen gewährleistete eine differenzierte Betrachtung (trans-) nationaler Identifikationsformen auf subjektiver Ebene. Methodisch betrachtet wurden in dieser qualitativen Studie Elemente des narrativen und problemzentrierten Interviews miteinander verbunden. Die Interviews selbst wurden in einem Zeitraum von
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zwei Monaten (August/September 2003) mit einer Dauer von jeweils circa 2 ½ Stunden in München durchgeführt. Die Auswertungsmethode basierte auf der Anwendung einer vergleichenden Analyse und orientierte sich an der systematischen, induktiven Kategorienbildung der Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967). Die Portugiesen in München weisen bezüglich ihrer Organisation einige für die bundesdeutsche Ebene recht untypische Aspekte auf. Eine Selbstorganisation in Form von Vereinen, portugiesischen Zentren oder ‚Portugiesische Häuser’ (Casas Portuguesas) gibt es nicht. Die portugiesische katholische Mission kann als eine Form eines portugiesischen Vereines gelten, allerdings wird sie wenig frequentiert. Insgesamt gilt es hier festzuhalten, dass die Portugiesen in Deutschland eine relativ unorganisierte Gruppe darstellen. Dennoch gibt es informelle Kontakte untereinander, und gerade Personen aus ähnlichen Generationen kennen einander. Ein flächendeckendes Netzwerk gibt es allerdings nicht. Derzeit leben 131.435 Portugiesen in Deutschland, davon 9.224 in Bayern. In München, das nie Hauptziel der portugiesischen Migranten war, wohnen 1.749 Portugiesen (Statistisches Bundesamt 2002). Die folgende Darstellung soll Einblicke in die subjektive Wahrnehmung der befragten Personen gewähren. So kann, im Kontrast der Fälle zueinander, die personale Konstruktion (trans)nationaler Identifikation betrachtet werden. 5
Transnationale Lebensführung und transnationale Identitätskonstruktion
5.1 Transnationale Lebensführung In der Diskussion um nationale Identifikation wird bei der theoretischen Konzeption meist eine entscheidende Ebene ausgeblendet: die Praxis der Lebensführung (Voß 1995: 40). Das Konzept betont neben den üblicherweise thematisierten Mechanismen sozialer Integration (z.B. dem Rechtssystem) auch die Lebensführung, d.h. die Alltagsorganisation der Gesellschaftsmitglieder. In der folgenden Analyse wird diese Forschungsperspektive explizit miteinbezogen. Auch die Zugehörigkeit zu einer Nation wird zunächst auf der Ebene der Alltagspraxis hergestellt und ist erst auf zweiter Ebene eine Folge rechtlich bzw. staatlich hergestellter Rahmenbedingungen. Dies steht in enger Verbindung zu den theoretischen Ausführungen des Transnationalismus, dessen Basisprämissen Lebenspraxis, Symbolssysteme und Artefakte umfassen.
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Bei den untersuchten Personen lässt sich auf verschiedenen Ebenen und mit jeweils unterschiedlicher Intensität eine transnationale Lebensführung feststellen. Familiäre Netzwerke und Kontakte nach Portugal bilden für alle Generationen die Grundlage. Besonders für die 1. Generation stellt die familiäre Ebene einen bedeutenden Bezugspunkt dar. Außerfamiliäre freundschaftliche Netzwerke in Portugal verfestigen eine transnationale Lebensführung über die Generationen hinweg. Bei binationalen Ehen bzw. Partnerschaften vertieft sich durch wechselseitige Familienbesuche und gegenseitige Aneignung kultureller Praktiken die gelebte Transnationalität für beide Partner. Sobald das kulturelle Kapital (z.B. Sprachkenntnisse) als ökonomische Ressource genutzt werden kann, führt dies zu einer stärker institutionalisierten und eher formellen transnationalen Lebensführung auf professioneller Ebene in beiden nationalen Kontexten. Die Rolle informeller transnationaler Netzwerke muss differenziert betrachtet werden. Netzwerkstrukturen innerhalb Deutschlands werden insbesondere für Migranten der 1. Generation relevant. Sie dienen dem Informationsaustausch, dem gemeinsamen Fortführen der ‚Herkunftskultur’ (etwa durch Pflege einer gemeinsamen Sprache) und der Möglichkeit der bikulturellen Erziehung der Kinder. Aufgrund einer unterschiedlichen sozio-kulturellen Organisation der Mehrheits- und Minderheitskultur wandeln sich diese oftmals zu ‚zwiespältigen’ Institutionen für die zweite Generation. Das Herkunftsmilieu der Portugiesen, die überwiegend ländlichen Strukturen und bildungsfernen Schichten entstammen, unterscheidet sich von den meist städtischen, bildungsnahen Strukturen des Gastlandes Deutschland. So gewinnen für die Personen der 2. Generation und für die Interviewten binationaler Herkunft die grenzüberschreitenden Netzwerkstrukturen (nach Portugal) an Bedeutung. Für sie mündet eine transnationale Lebensführung als Pendelbewegung zwischen Portugal und Deutschland in einer starken transnationalen Identifikation. Insgesamt kann festgestellt werden, dass eine gleichwertig empfundene kulturelle Verankerung und die Dichte bzw. der Grad der Institutionalisierung der Netzwerkstrukturen die Herausbildung und Stärke (trans)nationaler Identifikation beeinflussen. Dies bestätigt die These, dass eine transnationale Identifikation in der Lebensführung verankert ist. Was bedeutet nun transnationale Identifikation und welche Dimensionen waren bei ihrer Herausbildung bei den interviewten Personen relevant? 5.2 Transnationale Identifikation Transnationale Identifikation stellt eine Möglichkeit der Identifikation jenseits der Kategorien ‚Nation’ oder ‚Postnation’ dar. Hier steht das Zusammenfügen
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verschiedener nationaler Kontexte im Vordergrund. Nationale Identifizierungsformen behalten so teilweise ihre Bestimmungsfunktion. Kennzeichnend ist, dass sich transnationale Identifikation einer exklusiven und klar abgrenzbaren Einordnung in Kategorien der Mitgliedschaft entzieht. Bei der Analyse des Befragungsmaterials wurde deutlich, dass Dimensionen, die argumentativ für eine Identifikation im kollektiven Bezugrahmen relevant werden, wie gemeinsam geteilte Sprache, kulturelle Sozialisation oder das Leben kultureller Praktiken ‚selbstdienlich’ zur Beschreibung der Identifikation herangezogen werden. Diese Aspekte stellen narrative plots dar, da sie von den Interviewten in ihrer Erzählung als Argumentationsbausteine individuell integriert werden. Diese konstatierte, unterschiedliche Interpretation ist möglich, da nationale Identifikation auf verschiedenen Ebenen hergestellt werden kann. Die Interviewpartner können so verschiedene Aspekte nationaler Zugehörigkeit unterschiedlich gewichten; ob nun Sprachkenntnisse, Essgewohnheiten oder Freundeskreis thematisiert und als wichtig angesehen werden, hängt im Wesentlichen von der gewählten Lebensführung ab. Sobald eine Balance zwischen deutschen und portugiesischen Elementen wahrgenommen und so die Verankerung in beiden nationalen Kontexten als gleichwertig empfunden wird, wird die Möglichkeit einer transnationalen Identifikation, die die nationalen Identifikationen deutsch und portugiesisch miteinander verbindet, erhöht. Dahingegen führt ein gefühltes Ungleichgewicht zwischen den jeweiligen nationalen Kontexten zugeordneten Dimensionen meist zu der Betonung einer nationalen Zugehörigkeit mit gleichzeitiger Akzentuierung des europäischen Bezugrahmens. Die nähere Betrachtung der Selbstbeschreibungen als Migranten seitens der interviewten Personen zeigt, dass Identifikation einen aktiven Prozess darstellt, der sich mit zunehmendem Alter stabilisiert. Der Aspekt, der meines Erachtens für einen Lebenszykluseffekt spricht, ist die Entscheidung eines beruflichen und familiären Lebensmittelpunkts, die die Interviewpartner ungefähr mit 30 Jahren bewusst treffen. Retrospektiv berichten die Befragten, dass sich als konfliktreich empfundene Zugehörigkeitsgefühle zu diesem Zeitpunkt aussöhnen. Neben der soeben beschriebenen Selbstwahrnehmung als Migrant ist die Rolle von Fremdzuschreibungen bei der Identitätskonstruktion bemerkenswert. Diese können von direkter, offener Diskriminierung bis zu indirekten Fremdzuschreibungen, sowohl im positiven wie im negativen Sinne, reichen. Diese Zuschreibungen als ‚Fremde’ bzw. als ‚Nicht-Deutsche’ oder ‚Nicht-Portugiesen’ führen im Alltag zu einer verstärkten Wahrnehmung der transnationalen Identifikation. Hier wird aber auch die lebensweltliche Bedeutung von Staatsangehörigkeit sichtbar. Bei der Klarstellung der sozialen Position im nationalen Raum, die im Umgang mit Fremdzuschreibungen relevant wird, spielt der Besitz und
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Nicht-Besitz des Passes eine Schlüsselrolle. So wird Staatsangehörigkeit als ‚öffentliche Anerkennung’ bei Fremdzuschreibungen im Alltag relevant. Bei der Analyse des Materials wurde weiterhin deutlich, dass sich für die interviewten Personen die Bedeutung von Kategorien, die eine eindeutige Mitgliedschaft erfordern, relativieren. So ist insgesamt ein Zögern bei der Antwort auf die Frage nach ‚Heimat’ festzustellen, da dies eine eindeutige Zuordnung erfordert. So wird die Exklusivität einer Heimat seitens der Migranten zunehmend hinterfragt. Dies wird besonders deutlich, wenn von den Interviewpartnern eine eigene Definition von Heimat erbeten wird. Genannt werden Faktoren wie persönliches Umfeld, Freundeskreis und Familie – unabhängig von Nationalität. So wird mit Heimat, losgelöst von einem bestimmten Ort, meist der Aspekt des ‚Wohlfühlens’ verbunden. Parallel dazu wird von den Befragten ‚Nation’ vermehrt als Exklusionsmedium betrachtet, das mittels Grenzziehungen Personen nicht nur ein- sondern auch ausschließt. Hier wird deutlich, wie sehr insbesondere ein Verständnis der Nation als ethnos mit Ausgrenzung und vor allem politischem Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen verbunden wird. So unterscheiden die befragten Migranten zwischen der Zugehörigkeit zum deutschen Volk und der deutschen Bevölkerung. Die kulturelle Integration wird als unabdingbare Vorraussetzung für den Erwerb des Status eines Deutschen gesehen. Anknüpfungspunkte sehen die Interviewten in Sprache, Übernahme deutscher Werte (wie Pünktlichkeit, Professionalität und Toleranz) und/oder deutscher Alltags- und Hochkultur. Bei explizitem Nachfragen, warum denn der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nicht in Betracht gezogen werde, wird Bezug auf die Definition einer Nation als ethnos genommen: Ein ‚wirklicher’ Deutscher oder Portugiese sei man eben durch seine Herkunft. Klimt beschreibt dies folgendermaßen: „ideologically ‘German’ remains an impermeable category defined by descent“ (Klimt 2000: 276). Dieser Aspekt der ‚Unfreiwilligkeit’ der Herkunft, die den Bezug zu einem Land auf einer sehr persönlichen, aber auch zwangsläufigen Ebene darstellt, wird von den Interviewpartnern zwar betont, aber in seiner Ausschließlichkeit zunehmend hinterfragt. So wird bei einer transnationalen Identifikation konsequenterweise ein exklusives Verständnis von Nation abgelehnt und eine Möglichkeit einer Mehrfachnationalität thematisiert, in der die jeweiligen Nationalitäten über verschiedene Mechanismen vermittelt werden: Herkunft einerseits – Alltag des Lebensmittelpunktes andererseits. Das Prinzip der Exklusivität der nationalen Zugehörigkeit verliert seine Prägekraft und im Interviewmaterial ist eine Tendenz in Richtung multiple loyality zu verzeichnen. In diesem Sinne kann auch von einer Entwicklung in Richtung einer abnehmenden, sinnstiftenden oder auch in letzter
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Konsequenz vereinheitlichenden Funktion des Konzepts ‚Nation’ gesprochen werden. Die Europäische Union stellt bezeichnenderweise für die interviewten Personen einen wirtschaftlich und politisch wichtigen neuen Rahmen dar, der mit dem Zuwachs an Rechten für die Bürger der EU-Mitgliedsstaaten einhergeht. Trotz der in den Vordergrund gerückten EU-Politik bleiben die kulturellen Identifikationsmuster allerdings überwiegend auf der nationalen Ebene erhalten. Dies kann im Kontrast zu dem Verständnis einer europäischen Identifikation gesehen werden, die vielmehr über staatliche Merkmale definiert wird. Eine europäische Identität unter Rekurs auf spezielle kulturelle Werte (z.B. Christentum) wird von den Interviewpartnern nicht explizit angeführt. Die emotionale Verbundenheit zu Europa kann als ambivalent bezeichnet werden. So fällt auf, dass lediglich die Personen, die bereits längere Zeit außerhalb Europas (dazu zählen Afrika oder Südamerika) gelebt haben, auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb Europas konstatieren. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass eine europäische Identifikation nationale Identifikationen umwölbt, ohne diese aufzulösen. Wie kann man nun transnationale Identifikation differenziert beschreiben? 5.3 Typen der transnationalen Identifikation Die aus der Studie gewonnen ‚(Ideal)Typen’ transnationaler Identifikation bilden mögliche Strategien im Umgang mit einer gefühlten und gelebten Transnationalität. Die Theorie des Transnationalismus bietet in Verbindung mit dem Konzept der Lebensführung wertvolle Anknüpfungspunkte für eine Betrachtungsweise kollektiver Identifikationen, die über einen nationalstaatlichen Bezugsrahmen hinsausreichen. Ein Schwachpunkt bei den theoretischen Ausführungen des Transnationalismus ist die fehlende Ausdifferenzierung bezüglich gradueller Formen der Identifikation. Die Befragung hat gezeigt, dass die Auseinandersetzung mit den nationalen Zugehörigkeiten deutsch und portugiesisch, die jede für sich einen exklusiven Stellenwert beanspruchen, zu erkennbaren, typischen und unterschiedlichen Reaktionen im Umgang mit Transnationalität führt. Diese möchte ich nun näher erläutern:
5.3.1 Der ‚Ausländer’ Eine spezielle, bei den befragten Personen jedoch insgesamt eher untergeordnete Strategie im Umgang mit der gelebten Transnationalität, stellt das Selbstkon-
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zept des ‚Ausländers’ dar. Dreh- und Angelpunkt für die Identitätsbildung ist hier ein Netzwerk von Personen gemischter oder ausländischer Herkunft, die sich – obwohl in Deutschland aufgewachsen und deutschsprachig – über die Kategorie ‚Ausländer’ wahrnehmen. Sie haben trotz guter Deutschkenntnisse kein Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland entwickelt, sondern gründen ihre nationale Zugehörigkeit auf Pass und Herkunft. Es gibt auch hier [in München] nicht so viele Deutsche. Die kommen hier irgendwie aus allen Ländern, aber nicht aus Deutschland. […]. Ich hab vielleicht drei Freunde die Deutsche sind. […] Ich bin froh, wenn sie denken, dass ich keine Deutsche bin […]. Ich hab [im Ausland] gesagt, ich bin Portugiesin, aber ich leb in Deutschland.3
In der Selbstbeschreibung wird trotz überwiegend deutscher Sozialisation ‚portugiesisch’ als nationale Zugehörigkeit gewählt. Bewusst wird das Ablegen der portugiesischen Staatsangehörigkeit abgelehnt, was hier das Selbstverständnis ‚nicht-deutsch’ widerspiegelt. Verstärkt wird dies durch das Gefühl, mit einer (möglichen) Aufgabe der bisherigen portugiesischen Zugehörigkeit nicht eine vollwertige Aufnahme in eine andere nationale (deutsche) Gesellschaft zu erlangen. Die Selbstbeschreibung als ‚Ausländer’ wird allerdings weder durch eine Zweisprachigkeit oder eine starke kulturelle portugiesische Prägung noch durch (überwiegend) soziale Kontakte zu Portugiesen gestützt. Als Indikator dient bei dem Typus des ‚Ausländers’ die Wechselwirkung zwischen sozialen Netzwerkstrukturen, Lebensführung und (trans)nationaler Identifikation. Im Sinne eines ‚Ich habe keine wirklichen deutschen Freunde, also bin ich nicht deutsch’ wird aufgrund des ausländisch geprägten Umfeldes auf die nationale Identifikation zurückgeschlossen. Der Besitz des portugiesischen Passes bzw. einer anderen Staatsangehörigkeit wird selbstdienlich in die Selbstbeschreibung eingebaut. So wird die nationale Identifikation als ‚Ausländer’ konstruiert. 5.3.2 Der ‚Portugiese in mir’ Der ‚Portugiese in mir’ verlagert bestimmte ‚typische’ Nationaleigenschaften in den ‚inneren’ Seelenhaushalt. Charakteristisch ist hier eine Selbstwahrnehmung, die einerseits der deutschen Zugehörigkeit eine stärkere kulturelle Verankerung einräumt und andererseits die portugiesische Seite ‚lediglich’ als Persönlichkeitsmerkmal integriert. So tauchen Aspekte eines portugiesischen Lebensstils in der eigenen Selbstbeschreibung auf. 3
Alle Zitate der Befragten sind aus meiner Diplomarbeit entnommen (Eitzinger 2004).
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Und schon allein aufgrund dessen, dass [sic] der Vorname portugiesisch ist und die Tatsache, dass sowohl der portugiesische als auch der deutsche Name im Nachnamen auftauchen, war es immer klar, dass diese beiden Länder in mir sind.
Insbesondere wird der portugiesisch-deutsche Doppelname als Ausdruck einer zweifachen Zugehörigkeit gedeutet. Fremdzuschreibungen als ‚Nicht-Deutsche’, die sich auf Aussehen und Verhaltensweisen beziehen, können in diesem Zusammenhang die empfundene, ‚innere’ Transnationalität verstärken. Diese indirekten Formen der Zuschreibungen als ‚Fremde’ beziehen sich meist auf das Aussehen (dunkle Haare, gebräunte Haut) oder auch auf vermeintlich südländische Eigenschaften der Personen. Das kann sich auf leicht anzüglich sexuelle Bemerkungen oder auch emotionale Verhaltenszuschreibungen beziehen. Diese subtilen Formen der Fremdzuschreibungen als ‚Nicht-Deutsche’ führen bei den befragten Personen in ihrem Alltag zu einer verstärkten Wahrnehmung ihrer transnationalen Identifikation: […] allein schon so Sätze, wie, wenn jetzt wieder eine Reaktion kommt, die vielleicht südländisch oder fremd ist, dann kommt eben: der Portugiese. Da ist die Grenze wirklich sehr dünn zur Verletzung. […]. Manchmal ist es scherzhaft und manchmal es ist so, dass man fühlt, dass das, was man sagt, gar nicht so für voll genommen wird. Ja, ja…du der Portugiese. […]. Da wird einem dieses Fremdsein wieder so…so bewusst. […]. Da hat man dann das Gefühl: man wird auf seine Herkunft reduziert.
Für Außenstehende scheint die Einordnung von Personen, die nicht dem Muster der einheitlichen Herkunft oder dem eindeutigen Bezug zu einem kulturellen Kontext entsprechen, schwierig zu sein. Trotz einer bewussten Reflexion über diese Fremdzuschreibungen spiegeln sie sich in der transnationalen Selbstwahrnehmung wider und werden (un)bewusst Teil der eigenen Identität. Die gewählte Lebensführung zeigt sich in losen portugiesischen Netzwerkstrukturen in Deutschland und lediglich familiären Netzwerken in Portugal. Die Kategorien ‚Heimat’ und ‚Nationalität’ verlieren allerdings ihre Aussagekraft und werden in ihrer Exklusivität entkräftet. Das ist schwer zu sagen, aber Heimat ist einfach der Ort, an dem ich mich wohl fühle. Der kann für mich sehr schnell zur Heimat werden. Und natürlich ist das jetzt mit Deutschland und Portugal speziell, weil da die Familie herkommt. Insofern, aber inwieweit das alles wirklich Heimat ist, das weiß ich nicht.
Indikatoren, die argumentativ für diese Form der Identitätskonstruktion benutzt werden, sind Defizite, die zweite kulturelle Zugehörigkeit als Ressource oder als gleichwertiges Standbein zu nutzen. Transnationale Identifikation kann hier als ‚psychische Transnationalität’ bezeichnet werden.
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5.3.3 Der ‚Zwiespältige’ Als eine weitere Strategie ist das Offenhalten nationaler Identifikation zu nennen. Dabei werden die nationalen Zugehörigkeiten deutsch und portugiesisch auf verschiedenen Ebenen verhandelt. Auch wenn die Entscheidung für einen Lebensmittelpunkt in Deutschland getroffen worden ist, so geht damit keine eindeutige, klar abgrenzbare Entscheidung für eine rein deutsche Identifikation einher. Identität bleibt so als ‚Rätsel’ bestehen. In der Lebensführung werden noch verschiedene Modelle ausprobiert und es wird sichtbar, dass hier die Verbindung der nationalen Kontexte brüchiger als bei anderen Typen der transnationalen Identifikation ist. Insbesondere retrospektiv wird die Identifikationsfindung als konfliktreich, die Selbstempfindung lange Zeit als ‚zerrissen’ oder als ein ‚Weder-Noch’ beschrieben. Meine Zugehörigkeit ist eigentlich nicht portugiesisch. Sie ist eigentlich deutsch. Aber ich fühle mich jetzt nicht wirklich deutsch. Denn ich bin nicht deutsch. Das weiß ich auch. […] Aber ich selber, wenn ich auch den deutschen Pass holen würde – unabhängig davon, ob ich den portugiesischen abgebe oder nicht – ich würde nie sagen: Ich bin deutsch! Ich bin es nicht. Ich bin reinrassig portugiesisch. Aber vom Gefühl her, bin ich einfach was dazwischen. […] Aber ich bin eben auch keine richtige Portugiesin, weil ich mich nicht so benehme.
In dieser Selbstbeschreibung wird sichtbar wie aus Herkunft (portugiesisch) und Verhalten (deutsch) ein Gefühl des ‚Dazwischen’ entsteht. Hier wird die ‚Eindeutigkeitsfalle’ nationaler Konstruktionen deutlich: der Rückgriff auf das Konzept der Nationalität lässt die Teilidentitäten als gegensätzlich und unvereinbar erscheinen. Als Indikator für diesen Typus dient der Faktor, dass Heimat als der Ort, an dem man sich wohl fühlt, jenseits der Kategorien der nationalen Mitgliedschaft, verhandelt wird. Dies ist nicht als ‚Entwurzelung’, im Sinne von Heimatlosigkeit, zu verstehen. Vielmehr lassen die nach eindeutiger Zuordnung verlangenden nationalen Zugehörigkeiten einen Zwiespalt entstehen, den die Betroffenen versuchen, jenseits der Kategorien nationaler Mitgliedschaft aufzulösen. Transnationale Identifikation wird hier in der Selbstwahrnehmung als ‚zwiespältig’ thematisiert. 5.3.4 Der ‚Brückenmensch’ Der ‚Brückenmensch’ sieht in seiner doppelten kulturellen Verwurzelung die Chance einer Vermittlung verschiedener nationaler Kontexte. Die hier gewählte Lebensführung beinhaltet die aktive Vermittlung portugiesischer kultureller Werte (wie Sprache, Erziehung) innerhalb des deutschen Kontexts. Angestrebt
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wird ein kulturelles Ineinanderfließen. Das Thema dieser ‚Transnationalität’ ist die Parität beider nationaler Konstruktionen, so dass der exklusive Anspruch einer nationalen Konstruktion an Bedeutung verliert. Ich bin natürlich schon länger hier [in Deutschland] als ich in Portugal war. Trotzdem, es kann nichts die Kindheit und Jugendzeit wettmachen. […] Trotzdem würde ich sagen, dass ich mich als zweisprachiger Mensch und auch als doppelt sehe – Zwei ist da mehr als die Sprache, sondern die Kultur, die Art und Weise zu leben und zu denken.
Hier kommt es zu einer permanenten Verhandlung zwischen nationalen Identifikationen, die einerseits durch die Sozialisation in der Kindheit und Jugendzeit, andererseits durch den (gegenwärtigen) Lebensmittelpunkt und Alltag geprägt sind. Indikatoren für diese Form der Identitätskonstruktion sind gleichermaßen starke Netzwerke in Deutschland und Portugal, Zweisprachigkeit als Ausdruck binationaler Identifikation und ein Verständnis nationaler Zugehörigkeit, das einen exklusiven Charakter entbehrt. Transnationale Identifikation wird hier als eine Brücke zwischen den kulturellen Kontexten Deutschland – Portugal gewertet, ohne eine der beiden nationalen Identifikationen aufzugeben. 5.3.5 Der ‚Europäer’ Der ‚Europäer’ löst die gegensätzlichen Zugehörigkeiten mit dem Hinweis auf einen europäischen Gesamtzusammenhang auf. Der Status des ‚europäischen Mitbürgers’ verschiebt die Ebene der politischen bzw. staatlichen Identifikation auf die Europäische Union, wobei die Ebene der kulturellen Zugehörigkeit an die Nationalität(en) gebunden bleibt. Dies gilt überraschenderweise sowohl für Migranten der 1. und 2. Generation als auch für binationale (qua Herkunft) Deutsch-Portugiesen. Ich fühle mich portugiesisch, bin in Portugal geboren und gerade jetzt, da wir eine Union haben […] Was ist heute Vaterland in der EU? Es gibt keine französische, es gibt keine deutsche Armee, es gibt keine portugiesische: Es gibt eine EU Armee!!! […]. Es wäre mein Wunsch! Keine Grenzen, sondern Provinzen!
Im Rahmen einer Lebensführung, die Deutschland und Portugal umfasst, bietet der politische, transstaatliche Rahmen der EU eine mögliche zusätzliche Identifikation. Hier wird deutlich, dass eine (trans)nationale Identifikation von einer europäischen Identifikation flankiert und teilweise umwölbt wird. Es fällt auf, dass diejenigen Personen, die bereits ein Zusammengehörigkeitsgefühl inner-
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halb der EU konstatieren, auch diejenigen sind, die längere Zeit außerhalb der EU gelebt haben. Es gibt schon Leute, die ihre Identität gleichschalten mit Nationalität, die sich schon irgendwie sagen: ich bin Deutscher oder ich bin Portugiese. Und das dann auch bestätigt haben möchten, auf dem Papier [Und bei dir ist das?] Ich bin Europäerin. Und ob ich Belgisch, Französisch bin oder… finde ich für mich jetzt nicht so wichtig. Ich hätte am liebsten nur einen europäischen Pass. Dass man sagt, ich bin Europäerin. Punkt.
Aus dem Interviewmaterial gewonnene Indikatoren für den Typus des ‚Europäers’ sind: Auflösung des Dilemmas, dass beide nationale Zugehörigkeiten ‚deutsch’ und ‚portugiesisch’ Exklusivität für sich beanspruchen, mit der Verbindung zum Bezugsrahmen Europa. Das Prinzip der Grenzziehung an und für sich wird abgelehnt. In politischer Hinsicht steht die Selbstwahrnehmung als „Europäer“ im Vordergrund. Ob dies auch für Personen ohne Migrationshintergrund der Fall ist, gilt es in weiteren Studien zu untersuchen. 5.3.6 Der ‚Mischling’ Der ‚Mischling’ entzieht sich einer klar abgrenzbaren Kategorie der nationalen Mitgliedschaft und lehnt eine eindeutige Trennung nach nationalen Zugehörigkeiten im Alltag ab. Die hier gewählte Lebensführung verbindet eine gleichwertige Zugehörigkeit zu Deutschland und Portugal. Seine transnationale Identifikation geht allerdings über die Gruppe der ‚Deutsch-Portugiesen’ hinaus und zieht eine Verbindung zu einer ‚multikulturellen Gemeinschaft der Mischlinge’. Allerdings verliert auch hier Nationalität ihren exklusiven Charakter. Ich kann in beiden Ländern zurechtkommen. Und ich werde egal, wo ich lebe, weder das eine noch das andere ablegen. Es gibt auch keinen Grund dazu. […] Das habe ich irgendwann mal festgestellt. Ich komme mit Deutschen zurecht, ich komme mit Portugiesen zurecht, ich habe deutsche und portugiesische Freunde, aber meine besten Freunde sind immer die geworden, die auch selber Mischlinge sind. Muss nicht unbedingt Deutsch-Portugiese sein.
Aus der Zugehörigkeit zu zwei nationalen Kontexten wird insgesamt eine positive Bilanz gezogen, so dass bewusst eine Flexibilität im Umgang mit unterschiedlichen nationalen Kontexten gelebt wird. Indikatoren, die argumentativ für diese Form der Identitätskonstruktion gebraucht werden, sind: Zweisprachigkeit, der Besitz beider Pässe und eine grenzüberschreitende Lebensführung. Die soziale Anerkennung dieses Lebensstils und das Verfügbarmachen beider kultureller Zugehörigkeiten als berufliche Ressource verfestigen diese Selbstwahrnehmung. Transnationale Identifikation schließt hier nicht nur Personen mit gemischter Herkunft, sondern auch zwei-
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sprachige Personen mit ein und geht über den rein deutsch-portugiesischen Rahmen hinaus. Folgende Abbildung soll diese soeben ausgeführten graduellen Formen der transnationalen Identifikation verdeutlichen. Abb. 1: Typen transnationaler Lebensführung und Identifikation
Der Mischling
Der Europäer
Der Brückenmensch
Der Portugiese in mir Der Ausländer
Der Zwiespältige
Portugal
Deutschland
Quelle: Die Autorin
Der ‚Mischling’, der sich teilweise über nationaler und europäischer Zugehörigkeit schwebend der globalen Gruppe der ‚Mischlinge’ zugehörig fühlt, sieht sich in beiden nationalen Kontexten Deutschland und Portugal gleichwertig verwurzelt. Der ‚Europäer’ hat eine politische Verbindung auf höherer, europäischer Ebene hergestellt und so die ‚gegensätzlichen’, nationalstaatlichen Zugehörigkeiten mit dem Hinweis auf einen europäischen Gesamtzusammenhang aufgelöst. Der ‚Brückenmensch’ hat in seiner Identifikation und seiner Lebensführung eine kulturelle Brücke zwischen Portugal und Deutschland geschlagen.
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Seine transnationale Identifikation geht aber nicht über die Länder Portugal und Deutschland hinaus. Bei dem ‚Zwiespältigen’ wird hingegen das ‚Dazwischensein’ teilweise als Konflikt empfunden. Die Überbrückung der Gegensätze ist nur bedingt gelungen und gelegentlich tut sich ein ‚Zwiespalt’ auf. Der ‚Ausländer’ besitzt kein Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland und nicht einmal ein Gefühl der Verbundenheit mit diesem Land. Er bleibt außerhalb bzw. auf der anderen Seite stehen. Er fühlt sich jedoch nicht nur seiner portugiesischen Herkunft verbunden, sondern der Gruppe der Ausländer insgesamt. Der ‚Portugiese in mir’ lebt nach außen hin eine Existenz als ‚Deutscher’ und hat die Verbindung zu Portugal vor allem noch als psychisches Empfinden eines ‚Portugiesen in mir’ bewahrt. Diesen Idealtypen ist gemeinsam, dass sie in den europäischen Gesamtzusammenhang eingebettet sind und gerade durch ihn verstärkt werden, da dieser eine Abschwächung der Exklusivität der einzelnen Nationalitäten möglich macht. 6
(Trans)nationale Identifikation innerhalb Europas
In der traditionellen Migrationsforschung wird von der Ausschließlichkeit einer Nationalität ausgegangen: Man ist entweder Deutscher oder Portugiese. Außerdem wandere man nur in eine Richtung: nämlich von einem Land in ein anderes. Gesellschaftliche, nationale, und rechtliche Zugehörigkeit werden in dieser Perspektive als eine ‚kongruente’ Einheit gesehen. Folglich kann der durch Migration entstehende Dualismus zweier gelebter nationaler Zugehörigkeiten im Rahmen einer herkömmlichen Lebensführung nur durch die Wahl einer Nationalität aufgelöst werden. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen jedoch, dass eine transnationale Lebensführung von allen Generationen als selbstverständlich erachtet wird und auch gelebt wird. Die befragten Migranten leben in Deutschland und pflegen gleichzeitig Netzwerke, die sie mit dem ‚portugiesischen’ und ‚deutschen’ sozialen Raum verbinden. Diese Mehrfachzugehörigkeit zu den beiden nationalen Räumen spiegelt sich in neuartigen Identifikationsstrategien wider: Die idealtypischen Formen der ‚Mischling’, der ‚Brückenmensch’, der ‚Portugiese in mir’, der ‚Zwiespältige’, der ‚Ausländer’ und der ‚Europäer’, bilden eine mögliche Differenzierung des ‚Transmigranten’. Hier wird deutlich, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, wie mit den nach Eindeutigkeit verlangenden nationalen Zugehörigkeiten deutsch und portugiesisch umgegangen werden kann. Die Idealtypen, die im unteren Teil der Abbildung angesiedelt sind (der ‚Ausländer’, der ‚Portugiese in mir’ und der ‚Zwiespältige’) verbleiben eher in den traditio-
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nellen Begriffen des ‚Entweder-Oder’ verhaftet, denn sie empfinden stärker als die anderen Typen ‚die Qual der Wahl’. Die drei Typen, die oberhalb der Brücke platziert sind, verdeutlichen explizit, was eine transnationale Identifikation jenseits des ‚Entweder-Oder’ der Nationalität(en) beinhalten kann. Während der ‚Mischling’ und der ‚Brückenmensch’ die Nationalitäten deutsch und portugiesisch in einem gleichwertigen ‚Sowohl-als-auch’ auflösen, ergänzt der ‚Europäer’ seine nationale(n) Zugehörigkeit(en) mit dem Hinweis auf Europa. Alle diese ‚idealtypischen’ Differenzierungen einer transnationalen Identifikation sind als graduelle Abstufungen zu verstehen, die dem Befragten nicht notwendigerweise bewusst sind und sowohl konfliktreich als auch harmonisch ablaufen können. Insgesamt hat sich die Forschungsperspektive des ‚Transnationalismus’ hier als fruchtbarer Ansatz für die Untersuchung erwiesen, um transnationale Identifikation, die zwar über einen Nationalstaat hinausgeht aber weiterhin auf den unterschiedlichen Nationalitäten gründet, zu analysieren. Wichtig ist, dass die hier herausgearbeiteten Identifikationsstrategien in den besonderen Kontext der EU einzubetten sind. Dieser bildet einen Sonderfall für die Analyse transnationaler Räume, Lebensführungen und Identifikationen. Neben einer Transformation nationaler Identifikation, begründet in der jeweils individuellen Migrationserfahrung, kommt hier eine Veränderung der Konzeptionen ‚Staat’ und ‚Nation’ hinzu, die unter anderem auf die transstaatliche und transnationale (gesellschaftliche) Verflechtung innerhalb der EU zurückzuführen ist. Da die EU als Rahmen für Sinn- und Handlungszusammenhänge prägend wirkt, wird die Wahrnehmung der nationalen Zugehörigkeit in bestimmten Fragen entschärft. Insbesondere für Transmigranten tritt die Problematik der eindeutigen Zuordnung zu einer nationalen Identität in den Hintergrund. Auffallend ist, dass die befragten Personen meist explizit ihre besondere Situation als ‚Migranten’ im Allgemeinen wahrnehmen. So bewerten sie die europäische Vision positiv für Migranten, da Europa eine Perspektive für alle sei. Allerdings wird aber noch kein Zusammengehörigkeitsgefühl eines Europas wahrgenommen. Demgemäß fungieren die nationalen Grenzen weiterhin als symbolische Barrieren, obwohl die Entgrenzung auf bürokratischen und rechtlichen Ebenen im Rahmen Europas insgesamt als wichtiger Schritt wahrgenommen wird. So wird die politische Identifikation zunehmend von der nationalstaatlichen auf die europäische Ebene verlagert. Die nationale Identifikation, im Sinne einer kulturellen Identifikation, bleibt jedoch auf der Ebene der Nationalstaaten erhalten. Eine Transformation des Konzepts ‚Nation’ ist in seiner staatlichen und kulturellen Konnotation zu bemerken. Eine europäische transnationale Demokratie (Kleger 1997: 326ff.) wird die sich abzeichnenden Entkopplungstendenzen von Staatlichkeit und nationaler Identifikation berücksichtigen müssen. Insgesamt betrachtet führt der besondere Kontext der Europäischen Union
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zu einer Abschwächung der Exklusivität nationaler Zugehörigkeit. Dies wird pointiert in der Aussage eines Interviewpartners deutlich: Früher habe ich gesagt, ich bin halb Deutscher und halb Portugiese, heute sage ich, ich bin ganzer Deutscher und ganzer Portugiese. Und sowieso, bin jetzt Europäer.
Diese Befunde werden durch die Langzeitstudie von Andrea Klimt (2000) bestätigt. Klimt zeichnet die Entwicklung einer transnationalen Identifikation der portugiesischen Migranten in Hamburg nach, die durch becoming European gekennzeichnet wird, da sich die Bedeutung der nationalen Räume durch die Mitgliedschaften Deutschlands und Portugals in der Europäischen Union verändert. The increasing reality of ‚Europe’ has mitigated the rigid divide between staying in Germany and returning to Portugal and reduced the pressure to definitely decide between national spaces. Staying and returning are no longer such irreversible or mutually exclusive decisions and it was becoming more possible for migrants to organize their lives more fluidly across national spaces and integrate the multiple localities of their identities and communities. (…) As it is becoming increasingly commonplace for ‚Europeans’ to live on one national space while ‚belonging’ to another, the Portuguese can remain in Germany without calling their commitment to being Portuguese into question (Klimt 2000: 272).
Hier wird deutlich, dass sich die Zugehörigkeiten zu Deutschland und Portugal nicht gegenseitig ausschließen, sondern gleichzeitig gelebt werden können. Die Ergebnisse der von mir durchgeführten Befragung im Jahr 2003 machen komplementär zu Klimts Studie sichtbar, dass nationale Identifikation zumindest für europäische Migranten nicht mehr exklusiv gedacht werden kann. Oder wie es Beck und Grande formulieren: Je diffuser das ‚europäische Wir’ wird, desto unklarer werden auch die ‚kulturell Anderen’; die Bejahung der Differenz wird selbst zum Motor und zum Bestimmungsgrund des kosmopolitischen Sowohl-als-auch Europa (Beck/Grande 2004: 411).
Transnationale Identifikation geht im europäischen Kontext über ein reines ‚Zusammenfügen’ der Identifikation aus verschiedenen nationalen Kontexten hinaus. Vielmehr bedeutet dies hier, eine Transformation der Bedeutung nationaler Identifikation an sich: nämlich den Verlust der Eindeutigkeit und des exklusiven Stellenwertes nationaler Identifikation. Die Frage, die sich nun für die Sozialwissenschaften stellt, ist, ob bei einer zunehmenden europäischen Integration und innereuropäischen Migration eine neue europäische Forschungsebene erforderlich ist, die der besonderen Realität Europas jenseits der traditionellen Theorien gerecht werden kann. Ob soziale Phänomene (wie z.B. soziale Ungleichheit) im europäischen Kontext noch mit
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den traditionellen Begriffen erfasst werden können und inwieweit sich europäische Transnationalisierungsprozesse qualitativ von ähnlichen Prozessen der Denationalisierung abgrenzen, gilt es in weiteren Studien systematisch zu untersuchen. 7
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Vernetzte Identitäten: Repräsentationen portugiesischer Emigration im deutschsprachigen Internet Teresa Pinheiro
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Einleitung
Vereine sind klassische Formen der Organisation von Immigranten. Sie dienen dem Austausch und der Vernetzung von Menschen, die sowohl Ursprungs- als auch Aufenthaltsland und entsprechend ähnliche Bedürfnisse verbinden. Letztere reichen von pragmatischen Informationen, die ihnen das Leben im Gastland erleichtern, über die Kontakte, die vor sozialer Isolation bewahren, bis hin zur Wahrung ihrer Identitäten durch die Identifikation mit einer Gemeinschaft. Auch die portugiesischen Emigranten, die insbesondere ab der Schließung des Anwerbevertrags zwischen Deutschland und Portugal 1964 die Bundesrepublik aufsuchten, fanden solche Möglichkeiten der Vernetzung vor bzw. schufen sie, indem sie selbst Vereine gründeten. Eine Neuigkeit dieses Jahrtausends stellt hingegen die Vertretung solcher Vereine im Internet dar. In der Tat nutzen seit der Ausbreitung des Internets einige portugiesische Vereine mit Sitz in der BRD die Möglichkeit, Informationen für ihre Mitglieder und für das breite und heterogene Internetpublikum zu veröffentlichen. Der vorliegende Beitrag handelt von Konstruktionen kollektiver Identität auf den offiziellen Internetseiten portugiesischer Migrantenvereine. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach den Identifikationsinstanzen: Greifen die Vereine mit ihren jeweiligen Internauftritten auf die klassischen Möglichkeiten der Identifikation mit der Nation zurück oder nutzen sie das Medium Internet, um andere – trans-, multi- oder postnationale – kollektive Identitäten zu inszenieren? In einem ersten Schritt werde ich die theoretisch-methodologischen Prämissen der diesem Beitrag vorliegenden Untersuchung und das ausgewählte Korpus darstellen. Hier gilt es, insbesondere die Spezifität des Internets als Kommunikationsmedium und seinen Einfluss auf Entwürfe kollektiver Identität herauszuarbeiten. Die Eignung einer diskursanalytischen Herangehensweise für das Medium Internet wird ebenfalls diskutiert. Anschließend werde ich die Ergebnisse der Untersuchung im Hinblick auf die präsentierten Fragen diskutieren.
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Theoretisch-methodologische Überlegungen
2.1 Kollektive Identitäten im Internet Die Publikation von Benedict Andersons Imagined Communities (Anderson 2006) im Jahre 1983 löste eine epistemologische Wende im Umgang mit nationalen Identitäten aus. Nation betrachtet Anderson, die Grundsätze des Sozialkonstruktivismus teilend, nicht als eine natürliche Entität mit einer ihren Mitgliedern voraus bestehenden Existenz, sondern als eine soziale Konstruktion, die in Kommunikationsprozessen durch die Mitglieder einer Gesellschaft erzeugt wird. Seitdem sind zahlreiche Studien zu Diskursen kollektiver (insbesondere nationaler und regionaler) Identität erschienen, die den Konstruktcharakter solcher Entwürfe betonen und jegliche Ontologie ablehnen, die über diejenige des Diskurses selbst hinausgehen. Parallel dazu sind seit dem Aufkommen des Internets als verbreitetes Medium des Informationsaustausches ebenfalls zahlreiche Studien erschienen, die die Erzeugung und den Umgang mit Wissen im Internet anvisieren, vor allem im Vergleich zu Printmedien. Die meisten Autoren und Autorinnen sind sich darin einig, dass die Demokratisierung des Wissens, die mit dem Medium des Internets einhergeht, die Verbreitung vielfältiger und heterogenerer Formen der Selbstdarstellung sowohl von Subjekten als auch von Gemeinschaften begünstigt. Sherry Turkle etwa sieht in den kommunikativen Bedingungen des Internets den Entstehungskontext von „multiplen Identitäten“ (Turkle 1998: 425). In den Prozessen der Selbstbildung und -inszenierung weichen herkömmliche nationale Grenzen transnationalen oder sogar postnationalen und entterritorialisierten Identitätsentwürfen. Howard Rheingold reflektiert das Konzept der vorgestellten Gemeinschaften, das Anderson für die Analyse von NationalismusDiskursen einführte, im Zusammenhang mit der Konstruktion kollektiver Identitäten im Internet. Die virtual communities weisen ähnliche Merkmale und Funktionen wie Andersons Nationen auf. Doch anders als diese überschreiten die virtuellen Gemeinschaften die Grenzen des nationalen Staates und entwerfen eine Art virtueller Ethnizität (Rheingold 1993: 64). Internetgemeinschaften definieren sich demzufolge nicht durch nationale Zugehörigkeit, sondern dadurch, dass sie den entterritorialisierten Raum des weltweiten Netzes teilen. Doch solche Feststellungen lassen sich schwer auf die Gesamtheit des im Internet produzierten Wissens verallgemeinern. Kann das Genre Chat aufgrund der gewährten Anonymität ihrer Benutzer und Benutzerinnen potentiell für die Entstehung heterogener, multipler oder postnationaler Identitätsentwürfe ein Forum bieten, so muss etwa im Bereich offizieller Internetseiten von Organisa-
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tionen dieses Potential relativiert werden, verfolgen doch solche Seiten das Ziel, eine homogene und deutlich konturierte corporate identity zu inszenieren (Pollach 2003: 18). Die Erwartung einer Entnationalisierung bleibt jedoch auch bei der Analyse solcher Seiten bestehen. Irene Pollach macht in ihrer Untersuchung von corporate web sites darauf aufmerksam, dass Unternehmen oder Organisationen die Kommunikation auf ihren jeweiligen offiziellen Internetseiten einem amorphen und vielfältigen Publikum anpassen müssen. Zu dieser Anpassung gehört ebenfalls die Relativierung nationaler Identitätsbildungen (Pollach 2003: 217). Bezieht man diese Überlegungen auf die Internetseiten portugiesischer Emigrantenvereine, lässt sich vermuten, dass sich die Konstruktionen kollektiver Identität weniger an den Instanzen der Nation orientieren und stattdessen neue Formen der Identifizierung ihrer Gemeinschaft bilden. Denn gerade die direkte oder indirekte (etwa vermittelt durch die Vorfahren) Emigrationserfahrung begünstigt das Brechen nationaler Identifikationsmuster. Wie Isabel Eitzinger in ihrer Studie zu Nationalität und Staatsbürgerschaft am Beispiel von portugiesischen ImmigrantInnen in München feststellt: „Mehrfachstaatsbürgerschaft stellt so eine Form des Ausdrucks transnationaler Identifikationen dar. Nationale Identifikationen verlieren ihren exklusiven Charakter […]“ (Eitzinger 2004: 125).1 Die Mitglieder der Emigrantenvereine haben sehr unterschiedliche Biographien. Dazu zählen Emigranten der ersten Generation, die in Portugal geboren wurden und die Emigrationserfahrung gemacht haben. Diese Erfahrung haben potentielle Mitglieder der zweiten und dritten Generation nicht gemacht, denn sie wurden als Kinder portugiesischer Emigranten in Deutschland geboren und sozialisiert. Andere potentielle Mitglieder wanderten erst im SchengenZeitalter nach Deutschland aus, davon einige mit Deutschkenntnissen und akademischer Ausbildung. Zu solchen Vereinen können auch Kinder aus bi- oder multinationalen Ehen oder deutsche Portugal-Freunde gehören. Entsprechend dieser Heterogenität und der in den erwähnten Studien diagnostizierten Demokratisierung und Diversifizierung des Internetwissens wäre es zu erwarten, dass die Heterogenität auf den Homepages der portugiesischen Vereine zum Ausdruck käme, etwa als multiple2 oder postnationale Identitäten (EuropäerIn, BürgerIn der Welt, KosmopolitIn, usw.). Andererseits mag sich dies mit der Zielsetzung offizieller Internetseiten widersprechen, eine deutlich konturierte Identität der vorgestellten Gemeinschaft zu kommunizieren, was zum Rückgriff auf bestehende Bezüge klarer Zuordnungen – etwa die Nation – verleiten könnte. Dem Ausbalancieren dieser unterschiedlichen Einflussfaktoren in den Identi1 2
Siehe auch hierzu den Beitrag von Isabel Eitzinger in diesem Band. Das identifikatorische Phänomen, das Anne-Bitt Gerecke „Bindestrichidentitäten“ nennt (Gerecke 2000: 22ff).
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tätsdiskursen der Internetauftritte portugiesischer Vereine in Deutschland wird in der Analyse des Korpus besondere Aufmerksamkeit geschenkt. 2.2 Die Methode: Diskursanalyse eines Internetkorpus Für die folgende Analyse der Internetauftritte portugiesischer Vereine in Deutschland gehe ich mit Meier-Schuergraf von der Auffassung von imageorientierten Websites3 als Formen der Kommunikation im Internet aus, die: […] der Imagepflege bzw. Selbstdarstellung einer Institution, Partei, Organisation, Gruppe oder von einzelnen Personen [dienen]. Sie weisen direkte Beteiligung an unterschiedlichen Diskursen auf. Ein Image wird explizit durch programmatische Äußerungen und implizit durch die Perspektivität der Diskursbeiträge deutlich (Meier-Schuergraf 2006: 13).
Um die Konstruktionen kollektiver Identität auf diesen Seiten zu untersuchen, erscheint eine semiotische Analyse sowohl von Text als auch von der graphischen Gestaltung angebracht. Der für das Internet produzierte Text teilt mit dem gedruckten Text viele Eigenschaften. Beides sind verbale Zeichenfolgen. Ihre sprachliche Gestaltung lässt sich analysieren und unter Berücksichtigung ihrer Entstehung in einem bestimmten kommunikativen Kontext und ihrer Bezüge zu anderen diskursiven Formationen deuten. Beim Online- wie auch beim gedruckten Text lässt sich von beinahe unendlichen diskursiven Strängen sprechen, die die Grenzen eines als Einheit konzipierten Korpus (ein Buch, ein Artikel, eine Homepage, usw.) überschreiten und Bezüge zu anderen Texten herstellen. Doch aus einigen wichtigen Unterschieden zum gedruckten Text ergeben sich verschiedene notwendige methodologische Einschränkungen im Umgang mit webbasierten Texten. Da meistens weder die Datierung der erstmaligen Veröffentlichung, noch die danach vorgenommenen Änderungen und Aktualisierungen eines bestimmten Textes im Internet ermittelt werden können, lässt sich der Internetdiskurs nicht auf einen Wandel hin untersuchen. Die Analyse von Internetkorpora lässt nur aktualitätsbezogene Fragestellungen zu: Was wird heute zu einem bestimmten Thema gesagt – muss also die Frage nach Internetdiskursen lauten. Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus der Abwesenheit einer Autorfunktion bei einem großen Teil des im Internet veröffentlichten Diskurses. Die Autorfunktion eines gedruckten Textes ermöglicht es, Rückschlüsse auf den Kontext ihrer Erscheinung – den Ort des Schreibens im Foucaultschen Sinne (Foucault 1969: 73) – zu 3
Die Bezeichnung ‚Homepages’, ‚offizielle Internetseiten’ und ‚Websites’ werden hier mit ‚imageorientierten Websites’ synonym verwendet.
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ziehen. Bei den hier zu untersuchenden Websites der portugiesischen Vereine hat nur die zweite Einschränkung Folgen.4 Der hier untersuchte Diskurs lässt sich im Kontext der portugiesischen Freizeit- und Kulturvereine interpretieren, was bestimmte institutionelle Zwänge mit sich bringt. Da jedoch der Text potentiell von verschiedenen Autoren produziert wird, die nicht kenntlich gemacht werden, ist eine weitere institutionsinterne Differenzierung des ‚Orts des Schreibens’ nicht möglich. Dennoch ist anzunehmen, dass die offiziellen Rubriken5 von Mitgliedern gestaltet werden und ihre Inhalte innerhalb der Gruppe konsensfähig sind. Wenn man sich mit dem Medium Internet befasst, so darf man nicht die Rolle der ikonographischen Kommunikation unterschätzen. In der Tat werden textlich vermittelte Inhalte auf Internetseiten beinahe ausnahmslos mit Bildern, Graphiken, Diagrammen, usw. unterstützt. Da die Inhalte auf den Internetseiten der portugiesischen Verbände ebenfalls durch graphische Gestaltung vermittelt werden, sollen auch visuelle, nichtverbale Elemente in die Analyse einbezogen werden. Die Bedeutung der visuellen Kommunikation im multimedialen Zeitalter wurde in den letzten Jahren von der kultur- und medienwissenschaftlichen Forschung anerkannt, die in den theoretischen Überlegungen eines pictural oder iconic turns ihren Niederschlag findet. Die Beschäftigung mit dem Bild unterscheidet sich nun von einer herkömmlichen kunstwissenschaftlichen Betrachtung, indem zum einen das potentielle Untersuchungskorpus über Kunstobjekte hinaus alle Formen der kulturell erzeugten visuellen Artefakte integriert. Zum anderen beschäftigt sich die kultur- und medienwissenschaftliche Forschung nach dem iconic turn nicht in erster Linie mit dem ästhetischen, sondern vor allem mit dem symbolischen Wert, der dem Bild zukommt. Genauso wie die Aussage muss auch das Bild entsprechend in seinem kommunikativen Entstehungszusammenhang betrachtet werden (Bachmann-Medick 2006: 334-335). Da graphische Darstellungen in mediendiskursiven Zusammenhängen entstehen und genauso wie textbasierte Diskurse intertextuelle bzw. intermediale Bezüge herstellen, lassen sie sich diskursanalytisch deuten (Meier 2005: 123). Erst unter Berücksichtigung der Bezüge zu anderen Bildern oder Texten und damit allge4
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Das Problem der Datierung bietet insofern keine methodologischen Schwierigkeiten, da die Untersuchung nach aktuellen Identitätsentwürfen fragt. Unabhängig davon, wann die dort veröffentlichten Diskurse zum ersten Mal ins Netz gestellt wurden, gehe ich von der Intentionalität und in der Folge Aktualität der Diskurse aus. Sollten die heute abrufbaren Texte nicht die Intention der Verbände widerspiegeln, so bliebe ihnen frei, diese zu verändern oder ‚aus dem Netz zu ziehen’. Aufgrund der potentiellen Veränderbarkeit des Online-Wissens bezieht sich die Analyse auf den Ist-Zustand vom 26. Februar 2008. Offiziell sind im Grunde alle Rubriken mit Ausnahme der Chats und Foren, die öffentlich zugänglich sind und an denen sich entsprechend auch Nicht-Mitglieder beteiligen und nichtkonsensfähige Meinungen äußern können. Ein Beispiel wird im Schlusskapitel dieses Beitrags besprochen.
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mein zu öffentlichen Diskursen erhält ein Bild seine Sinnhaftigkeit. Zu den nichtverbalen piktographischen Zeichen gehören neben Bildern auch das, was Stefan Meier „semiotische Subsysteme“ (Meier 2005: 124) nennt. Dazu gehören Farb- und Formgebung, Layout und Typographie, denn auch sie sind Mittel, die im Dienste kommunikativer Ziele eingesetzt werden. 2.3 Das Korpus: Portugiesische Vereine in Deutschland Wie in anderen Ländern ist der portugiesische Assoziativismus in Zusammenhang mit Auswanderung auch in Deutschland sehr verbreitet. Laut Angaben der portugiesischen Botschaft in Berlin gibt es 196 portugiesische Verbände in Deutschland. Davon sind 17 katholische Missionen, 39 Folklorevereine und 140 Freizeit- und Kulturvereine (Portugiesische Botschaft in Berlin 2008).6 Letztere beherbergen oft Folkloregruppen und Fußballmannschaften, haben jedoch von der Zielsetzung und den Aktivitäten her den Anspruch von mehreren Facetten umfassenden Kultureinrichtungen. Die Verteilung der portugiesischen Freizeit- und Kulturvereine im bundesdeutschen Gebiet entspricht dem Wohnort der hier lebenden Portugiesen mit einer stärkeren Konzentration in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Hessen.7 Die Städte mit der größten Dichte an portugiesischen Vereinen (mit mehr als zehn Vereinen pro Stadt) – Arnsberg, Köln, Düsseldorf und Münster – befinden sich im bevölkerungsreichsten Bundesland der BRD, NordrheinWestfalen. Es handelt sich bei diesen Vereinen meist um kleine Gemeinschaften von weniger als 100 Mitgliedern, die über nur geringe finanzielle Mittel verfügen. Dies lässt das Internet als ein angebrachtes Medium für diese Gemeinschaften erscheinen, um mit wenigen Ressourcen eine Präsenz in der Öffentlichkeit zu garantieren. Von den insgesamt 140 von der portugiesischen Botschaft verzeichneten Freizeit- und Kulturvereinen besitzen 25 eine Internetseite. Davon sind zehn ausschließlich Folklorevereine8 und fünf unterhalten lediglich eine 6 7
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Meist unter der Bezeichnung associação / centro / clube (recreativa(o), cultural). Die Verbreitung der portugiesischen Bevölkerung im gesamtdeutschen Gebiet zeigt die Tendenz, die auch die weiteren Einwanderergruppen teilen, zur Konzentration in westdeutschen industriellen Zentren. Dementsprechend sind Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Hessen und Hamburg die Bundesländer, in denen die meisten portugiesischen Immigranten leben. Siehe hierzu Freund 2007: 110ff. Folklorevereine eignen sich nicht für die in diesem Artikel erörterten Fragen nach Konstruktionen kollektiver Identitäten und die Bedeutung des Mediums Internet für die Dekonstruktion nationaler Identitäten, weil die Gemeinschaften, die sie repräsentieren sich meist an regionale Bezüge im Ursprungsland und weniger an den Bezugsrahmen der Nation orientieren.
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Willkommensseite ohne weiteren Inhalt.9 Schließt man beide Gruppen von der Analyse aus, entsteht ein Korpus von 10 portugiesischen Freizeit- und Kulturvereinen, die sich für die Analyse von Identitätsdiskursen eignen. Es handelt sich um folgende Vereine: Centro Português de Osnabrück (Osnabrück, Niedersachsen);10 Associação Portuguesa de Gütersloh (Gütersloh, NRW);11 Associação Portuguesa Cultural de Hagen (Hagen, NRW);12 Associação Portuguesa Sanjorgense (Düsseldorf, NRW);13 Centro Português Unidos a Gelsenkirchen (Gelsenkirchen, NRW);14 Associação Lusitânia de Bonn (Bonn, NRW);15 Centro Operário Português (Offenbach, Hessen);16 Centro Português de Cultura e Recreio de Dürnau (Dürnau, BadenWürttemberg);17 9) Clube Operário Português (Groß-Umstadt, Hessen);18 10) Centro Português de Singen (Singen, Baden-Württemberg).19 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8)
2.4 Der Kontext Diese Vereine sind zwischen 1966 und 1978 und damit im Kontext einer der wichtigsten Phasen der Migrationsgeschichten Portugals und Deutschlands entstanden. Die wirtschaftliche Stagnation, der Ausbruch des Kolonialkriegs und die andauernde Rechtsdiktatur des Estado Novo zwangen ab den sechziger Jahren Millionen von Portugiesen in europäische Länder nördlich der Pyrenäen, vor allem nach Frankreich, Luxemburg und in die Schweiz. Allein zwischen 1961 und 1973 verließen 1,4 Millionen Portugiesen ihr Land (Didczuneit 2004: 4). Deutschland kam für die Emigranten vor allem mit der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und Portugal im Jahre 1964 als 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
Dies deutet darauf hin, dass vielen Vereinen weniger die Motivation und Offenheit für das Medium fehlen als die technischen bzw. finanziellen Ressourcen, um die Seiten zu unterhalten. Zitierkürzel: Osnabrück 2008. Zitierkürzel: Gütersloh 2008. Zitierkürzel: Hagen 2008. Zitierkürzel: Sanjorgense 2008. Zitierkürzel: Gelsenkirchen 2008. Zitierkürzel: Bonn 2008. Zitierkürzel: Offenbach 2008. Zitierkürzel: Dürnau 2008. Zitierkürzel: Groß-Umstadt 2008. Zitierkürzel: Singen 2008.
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Zielland in Frage. Seitdem lassen sich vier Phasen der portugiesischen Migration nach Deutschland erkennen. Von 1964 bis zum 1973 von der BRDRegierung als Reaktion auf die Ölkrise verhängten Anwerbestopp lässt sich eine intensive Zuwanderung portugiesischer ArbeitnehmerInnen nach Deutschland verzeichnen. Das Statistische Bundesamt notierte am Ende des Jahrzehnts eine Zunahme von ca. 116.000 portugiesischen Einwanderern. Motiviert vor allem durch den Anwerbestopp, die Nelkenrevolution und die Aussicht des EWGBeitritts Portugals gab es zwischen 1974 und 1985 70.000 mehr Rückkehrer als Portugiesen, die nach Deutschland emigrierten. Von 1986 bis 1996 lässt sich erneut eine Zunahme der portugiesischen Auswanderung nach Deutschland feststellen. Die Wiedervereinigung und der damit einhergehende Aufbau der Infrastrukturen in Ostdeutschland sowie die Personenfreizügigkeit, die ab 1993 die Arbeitsemigration von Portugal in andere EU-Staaten vereinfachte, können als Hauptfaktoren für diese Zunahme gesehen werden. Mit dem Rückgang des ‚Aufbau-Ost’ ging ebenfalls die portugiesische Auswanderung nach Deutschland zurück, die ab 1997 eine negative Bilanz verzeichnet. Im Jahre 2002 standen ca. 7.500 Einzüge in die BRD ca. 11.000 Auszügen gegenüber (Portugiesische Botschaft in Berlin 2004: 3). Die Gesamtzahl der in Deutschland lebenden Portugiesen belief sich im Jahre 2002 auf 131.435, 2007 reduzierte sich die Zahl auf 114.552 (Statistisches Bundesamt 2008).20 So wie Deutschland eines unter mehreren potentiellen Zielländern der portugiesischen Emigration war, so waren portugiesische Immigranten auch eine unter mehreren nationalen Gruppen, die das Land als Gastarbeiter aufnahm. Der erste Anwerbevertrag mit Staaten aus Südeuropa wurde mit Italien 1955 abgeschlossen, weitere Abkommen folgten in den darauf folgenden Jahren mit Griechenland, der Türkei, Marokko, Spanien, Tunesien und Jugoslawien. Allein zwischen dem ersten Anwerbevertrag und dem Anwerbestopp sind ca. 3,5 Millionen Menschen in Deutschland angereist und gestalteten es unbewusst zu einem Einwanderungsland (Herbert 2001: 198). Mit dieser neuen Identität konnte sich die Politik erst im symbolträchtigen Jahr 2004 anfreunden. Etwa ein halbes Jahrhundert nach dem ersten Anwerbevertrag bekannte sich Deutschland zur Einwanderung, was durch die Verabschiedung des so genannten Zuwanderungsgesetzes21 und die vielen Ausstellungen zum Ausdruck kam, die an die 50-jährige Geschichte der Einwanderung in die BRD erinnerten. Damit änderten sich ebenfalls die Migrationsdiskurse:
20 Zur portugiesischen Auswanderung nach Deutschland im 20. Jahrhundert siehe auch die Beiträge von Marques und Góis/Marques im vorliegenden Band. 21 Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern vom 30. Juli 2004.
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Begriffe wie ‚Gastarbeiter’ wichen im Laufe der Jahrzehnte der ‚inter’- und ‚multikulturellen Gesellschaft’ und der ‚Integration’. Auch die gegenwärtige Wahrnehmung portugiesischer Emigration unterscheidet sich von derjenigen der sechziger bis achtziger Jahre. Die europäische Integration begünstigte die Fremd- und Selbstdarstellung von Emigranten als mobile EU-Bürger, im Ursprungsland wird in der Politik und den Medien zuweilen die portugiesische Emigration als ein vergangenes Phänomen dargestellt.22 Anders als die portugiesischen Freizeit- und Kulturvereine selbst stellen ihre Internetauftritte ein Phänomen jüngeren Datums dar. Auch wenn die Vereine meist auf eine jahrzehntelange Geschichte zurückblicken können, sind die auf diesen Seiten produzierten Diskurse meist nicht älter als zehn Jahre. Damit können sie potentiell sowohl an ältere als auch an aktuelle Migrationsdiskurse anknüpfen. Weil die Vereine einen Bezug zu Portugal herstellen und im deutschen Kontext entstanden sind, können die auf ihren Internetseiten formulierten Identitäten sich sowohl auf portugiesische als auch auf deutsche Migrationsdiskurse beziehen. Da diese verfügbaren Repertoires die Formulierung einer kollektiven Identität mitgestalten können, werden sie in der folgenden Analyse berücksichtigt. 3
Konstruktion kollektiver Identität auf den offiziellen Seiten portugiesischer Emigrantenvereine
Um den Identitätsdiskursen auf den Internetseiten der zehn ausgewählten Vereine auf die Spur zu kommen, richtete sich die Analyse nach den Elementen, die zur Entstehung eines Bewusstseins der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft beitragen und auch Diskursen nationaler Identität zugeschrieben werden (Anderson 2006; Hobsbawm 2005). Dazu gehört etwa der Name des Vereins. Anders als das Individuum, das selten einen Einfluss auf seinen Eigennamen üben kann, ist der Name eines Vereins das Ergebnis eines Konsenses erzeugenden Kommunikationsprozesses. Im offiziellen Namen kommt die gemeinsame Gruppenidentität in verdichteter Form zum Ausdruck. Wichtig ist ebenfalls die Rückbesinnung auf eine gemeinsame Geschichte, die in ihren Mitgliedern das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu stärken vermag. Anderson betont die Anstrengung der Nationsdiskurse, den Ursprung einer gemeinsamen Geschichte in einer möglichst weit zurückreichenden – oft sogar mythischen – Vergangenheit zu suchen. Diese Bemühung um Antiquität ist bei den hier untersuchten Verei22 Siehe den Beitrag von José Carlos Marques in diesem Band.
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nen ebenfalls festzustellen, wobei die zeitlichen Dimensionen andere sind als die der Nationen. Die Aktualisierung des gemeinsamen Gedächtnisrepertoires durch Feierlichkeiten, Feiertage, Jubiläen, usw. tragen bei der Nation wie in den Vereinen zur Konsolidierung einer gemeinsamen Identität bei. Die ikonographische Darstellung auf den Internetseiten der Vereine ermöglicht, Symbole der eigenen Identität zu verbreiten, wie dies bei den nationalen Symbolen wie der Flagge oder der Hymne der Fall ist. Schließlich sind auch direkte Aussagen zur eigenen Identität – vor allem in der auf den meisten der hier untersuchten Internetseiten vorhandenen Rubrik ‚Wir über uns’ – für die Analyse von Bedeutung. Die Ergebnisse der Analyse werden im Folgenden in zwei Teilen präsentiert. Zunächst werde ich darlegen, mit welchen Mitteln eine kollektive Identität konstruiert wird. Anschließend werden solche Selbstdarstellungen auf vier mögliche Identifikationsrahmen hin geprüft: Ursprungsland-Wohnort; Portugal; Deutschland; post- bzw. transnationale Identitäten. 3.1 Vorgestellte Gemeinschaften Die hier untersuchten portugiesischen Freizeit- und Kulturvereine sind im doppelten Sinne vorgestellte Gemeinschaften. Sie sind es zum einen, indem sie sich im öffentlichen Raum des Internet vorstellen. Zum anderen sind sie, indem sie sich präsentieren, vorgestellte Gemeinschaften im Sinne Andersons, d.h. als eine Gruppe von Menschen, die eine Idee dessen haben, was sie verbindet. Ihre Gemeinschaft ist eine konsensfähige Idee, die durch Kommunikationsprozesse ihrer Mitglieder entsteht. Der auf ihren Internetseiten produzierte Diskurs dient der Herstellung einer eigenen kollektiven Identität – einer corporate identity. Fast alle Vereine präsentieren die eigene Geschichte auf ihren Internetseiten. Dabei wird dem Gründungsmoment besondere Aufmerksamkeit gewidmet, der meist sogar auf den Tag, zuweilen sogar auf die Uhrzeit (Bonn 2008) genau datiert wird. Zwar können die Vereine nicht auf eine so lange Geschichte zurückblicken wie die Nationen, doch mit diesen teilen sie die Bemühung um Antiquität. Die Associação Portuguesa Sanjorgense etwa erzeugt die Antiquität durch die Rhetorik des narrativen Genres. Die Geschichte des Vereins beginnt im Kapitel Gründung mit dem Satz: „Weit zurück liegen die Tage, an denen die Portugiesen sich im Freien trafen […].“23 Die ungenauen Zeitangaben lassen den Moment der Gründung im Nebel der Geschichte entstehen, zu einer Zeit in der die Gemeinschaft ohne Bodenhaftung im Freien schwebte. Die Bodenhaftung, die für die Nation durch ein umrissenes Territorium gewährleistet wird, 23 Original: „Longe vão os dias em que os portugueses se juntavam ao ar livre [...]“ (Sanjorgense 2008).
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erhält in den Vereinsgeschichten Konkretheit durch den Vereinssitz, dem fast alle Chroniken ein langes Kapitel widmen (Bonn 2008; Sanjorgense 2008; Groß-Umstadt 2008). Bilder der Einweihung des Vereinsgebäudes oder der heutigen Einrichtung werden auf beinahe allen Seiten gezeigt, bei drei Internetauftritten erscheinen sie sogar auf der ersten Seite (Osnabrück 2008; Sanjorgense 2008; Singen 2008). Der Gründungstag wird oft – ähnlich dem Nationsdiskurs (Dubois 1991: 31ff.) – mit Geburtsmetaphern beschrieben, so etwa die Sanjorgense: „So wurde die künftige A.P.S. e.V. am 13. Mai 1978 geboren.“24 Der Gründungstag der Vereine wird gefeiert wie ein Nationalfeiertag, worüber auf den Internetseiten berichtet wird. Insbesondere Runde Jubiläen werden gefeiert. Auch die Symbole teilen die Vereine in ihrer Selbstdarstellung mit der Nation. Viele besitzen eine eigene Flagge. Ein Verein hat sogar eine eigene Hymne (Singen 2008). Durch diese Elemente tragen die Internetauftritte in hohem Maße zur Konsolidierung eines kollektiven Selbstverständnisses bei, indem sie die Produktion und Veröffentlichung eines Identitätsdiskurses ermöglichen, die beim kostspieligen Druckmedium erschwert bliebe. Da diese Seiten sowohl den Vereinsmitgliedern als auch einem breiten und unbekannten Publikum zugänglich sind, erfüllt der Diskurs eine ähnliche Funktion wie Nationsdiskurse: Sie festigen einerseits bei den Mitgliedern das Bewusstsein der Gruppenzugehörigkeit und kommunizieren andererseits ihre eigene Identität nach Außen. Die Vereine bedienen sich zwar Elementen, die sie mit den Nationen in ihren Selbstdarstellungen teilen, doch kommunizieren sie auf ihren Seiten ihre eigene Identität als Verein und nicht etwa als Region, Nation oder supranationales Gefüge. Darin unterscheiden sie sich kaum von weiteren Organisationen und vor allem Vereinen,25 die ihre corporate identity in imageorientierten Websites vertreten. Da sich jedoch diese Vereine durch den Bezug zu Portugal als Herkunftsland und zu Deutschland als Wohnort definieren und diese Bezüge in ihren Selbstdarstellungen herstellen, wird im Folgenden die Bedeutung der Bezüge zu unterschiedlichen Kollektiven bei der Konstruktion einer Vereinsidentität diskutiert.
24 Original: „Assim nascia a futura A.P.S. e.V. o [sic] dia 13 de Maio 1978“ (Sanjorgense 2008). 25 Eine Studie zu Kleingärtnervereinen im Internet, die ich an anderer Stelle veröffentlichte, legte ähnliche Ergebnisse zu den dort untersuchten Diskursen kollektiver Identität dar (Pinheiro 2008b).
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3.2 Identifikationsrahmen 3.2.1 Herkunftsland – Wohnort Die Analyse der Vereinsnamen lässt eine Konstante bei fast allen der hier untersuchten Internetseiten feststellen. Fast alle Vereine suchen durch die Namensbildung eine Identität, die sich zwischen dem Herkunftsland und dem Wohnort verankert, in dem der Verein seinen Sitz hat: Associação Portuguesa Cultural de Hagen; Associação Portuguesa de Gütersloh; Centro Português de Cultura e Recreio de Dürnau; Centro Português de Osnabrück; Centro Português de Singen; Lusitania de Bonn. Einer der Vereine betont sogar diese Verbindung zwischen Ursprungsland und Wohnort in seinem Titel durch das Adjektiv „vereint“ (unidos): Centro Português Unidos a Gelsenkirchen. Nur drei der zehn untersuchten Vereine verzichten auf diese Verbindung. Es handelt sich um die Centro Operário Português und Clube Operário Português, die dem Wohnort die soziale Gruppe der Arbeiter als Identifikationsrahmen vorziehen, und um die Associação Portuguesa Sanjorgense, die auf den Ursprungsort São Jorge da Beira den Schwerpunkt legt. Letztere bezieht jedoch den Wohnort in die graphische Gestaltung mit ein, indem der Name des Vereins links vom portugiesischen und rechts vom Düsseldorfer Wappen flankiert wird (Sanjorgense 2008). Auch bei der Bezeichnung ihrer Mitglieder rekurrieren die Vereine auf diese gewollte Symbiose, wenn sie sich mit Syntagmata wie „die Gemeinschaft von Singen“ (a colectividade de Singen) (Singen 2008) oder „die Portugiesen von Umstadt“ (os Portugueses de Umstadt) (Groß-Umstadt 2008) auf sie beziehen. Die graphische Darstellung unterstützt diese Verbindung zwischen Ursprungsland und Wohnort. Auf allen Seiten bemüht die graphische Darstellung die Symbole der portugiesischen Nation.26 Doch im selbem Atemzug erscheinen auf sechs (Gelsenkrichen 2008; Groß-Umstadt 2008; Gütersloh 2008; Osnabrück 2008; Sanjorgense 2008; Singen 2008) der zehn Internetseiten die Wappen der Städte, in denen die Vereine zu Hause sind. Bei vier dieser sechs Vereine findet dieser doppelte Bezug sogar in Form einer symbolischen Vereinigung im Vereinswappen seinen Niederschlag (Abb. 1-2). Diese Verbindung ist meist leicht asymmetrisch. Das attributive Adjektiv português stellt den Bezug zum Ursprungsland her. Die Stadt erfüllt grammatikalisch die Funktion einer Apposition. Die Gruppenidentifikation bezieht sich somit an erster Stelle auf Portugal als Ursprungsland, erst an zweiter Stelle auf 26 Siehe hierzu das Unterkapitel Herkunftsland in diesem Beitrag.
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die Stadt. Die Vereinsnamen führen zu Prozessen der Ein- und Abgrenzung und der Binnendifferenzierung. Das Adjektiv português führt zur Inklusion in die Wir-Gemeinschaft der Portugiesen im Ursprungsland aber auch im Ausland und zur Abgrenzung gegenüber der deutschen Wir-Gemeinschaft. Der Verweis auf die Stadt schafft eine Binnendifferenzierung ihrer Mitglieder von der weiteren portugiesischen Gemeinschaft und zugleich die Zugehörigkeit zur Stadtgemeinschaft. Bei zwei der untersuchten Vereine ist der Bezug zum Herkunftsland und zum Wohnort in der Bezeichnung der Mitglieder sogar gleichbedeutend. Eine Symmetrie ist in beiden Fällen bei der gleichen grammatikalischen Funktion der identifikatorischen Bezüge gegeben. Dies ist auf der Seite des Clube Operário Português durch die Bezeichnung „Umstädter Portugiesen“ (Groß-Umstadt 2008) und des Centro Português de Singen durch die Bezeichnung „LusoSingalenses“ (Singen 2008) zu finden.27 Die Darstellung der Vereine auf der ersten Seite und in den Rubriken ‚Wir über uns’ und ‚Geschichte’ zeugt ebenfalls von dieser Symbiose zwischen der Wahrung einer portugiesischen Identität und der Integration in die lokale Kultur. Die Associação Portuguesa de Gütersloh erwähnt beide Aspekte auf der ersten Seite: Die Mission unseres Vereins ist es, durch die existierende portugiesische Gemeinde die portugiesische Kultur zu bewahren […]. Mit der Möglichkeit, in Kontakt mit Portugiesen zu treten, bekommen wir ein Gefühl für unsere Heimat […]. Unsere Mitglieder haben unterschiedliche Staatsangehörigkeiten. Alle, die Interesse zeigen, sind willkommen.28
Der Clube Operário Português betont, dass „[...] seit Jahren Interessierte mit anderen [nicht-portugiesischen] Staatangehörigkeiten sich als Mitglieder im Klub eintragen lassen [dürfen]“ (Groß-Umstadt 2008). Die Symbiose zwischen einer portugiesischen Herkunft und der Stadt des Wohnsitzes wird auf beinahe allen Internetseiten positiv als eine Leistung der aktiven Teilnahme der Portugiesen bewertet. Der Clube Português de Singen betont, dass die Portugiesen „[...] für die (multikulturelle) Bereicherung der aufnehmenden Gesellschaft
27 Mit der Rückkehr vieler portugiesischer Emigranten nach Portugal ab Mitte der siebziger Jahre funktioniert diese Art der Identifizierung auch im umgekehrten Verhältnis. Ende 2007 etwa organisierten (Ex-)Mitglieder des Clube Português de Singen in Portugal das „1. Treffen der Luso-Singener“, währenddessen sich ehemalige Mitglieder des Singener Klubs, die inzwischen nach Portugal zurückgekehrt waren, nach mehreren Jahrzehnten in der Nähe von Lissabon wieder trafen (Singen 2008). 28 Original: „A missão da nossa Associação é manter a cultura portuguesa através da comunidade portuguesa existente [...]. Com a possibilidade de entrar em contacto com portugueses e a cultura portuguesa, recebemos um sentimento da nossa terra [...]. Os nossos sócios têm várias nacionalidades. Todos os que mostram interesse são bem-vindos” (Gütersloh 2008).
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beigetragen haben und somit nicht bloße Arbeitkräfte waren.“29 Auf der Seite des Clube Operário Português ist das Zitat des Oberbürgermeisters von GroßUmstadt zu lesen: Die Umstädter Portugiesen haben sich hier selbst integriert, sozial, kulturell und politisch engagiert und sind so ein selbstverständlicher Teil der Umstädter Bevölkerung geworden, ohne ihre Herkunft und Identität aufzugeben. Ein starker Motor sind sie für die Partnerschaft mit Santo Tirso, ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil von Groß-Umstadt inner- und außerhalb der Gemarkungsgrenzen. Immer wieder haben portugiesische Gruppen die Stadt nach außen vertreten und damit für sich selbst und für die Kommune deutlich gemacht, daß sie Umstädter sind. Darauf dürfen wir alle stolz sein (Groß-Umstadt 2008).
Die Begrifflichkeit, mit der diese Vereinigung formuliert wird, schöpft aus dem semantischen Feld der Identifizierung und Verwurzelung – „Umständer Portugiesen“, „integriert“, „selbstverständlicher Teil“, „daß sie Umstädter sind“. Ein Wortschatz aus dem semantischen Feld der Kraft – „stark“, „Motor“ –, vor allem aber der Aktivmodus – „integrieren sich selbst“ anstatt der üblicheren Passiv: „sind integriert“ – lassen diese Integration nicht als passiv bemühte Unauffälligkeit seitens der Portugiesen oder Duldung seitens der Stadt interpretieren, sondern als aktive Leistung der portugiesischen Stadtbewohner. Das Adjektiv „stolz“ wird seiner privilegierten Stätte des nationalistischen Diskurses entnommen und auf die Integration der Portugiesen in die Stadt bezogen. Abb. 1-2: Graphische Symbiosen zwischen Herkunftsland und Wohnort
Quelle: Gütersloh 2008; Gelsenkirchen 2008
3.2.2 Herkunftsland Der Bezug zum Herkunftsland ist auf diesen Seiten allgegenwärtig. Auf vielen überwiegen die Farben rot-gelb-grün, die Nationalflagge wird wiederholt und mit Variationen in der Bildbearbeitung dargestellt, auch die portugiesischen Wappen erscheinen auf den meisten Internetseiten.30 Neben den nationalen 29 Original: „[...] contribuindo para o enriquecimento (multicultural) da sociedade de acolhimento, deixando assim de ser uma mera força de trabalho“ (Singen 2008). 30 Siehe insbesondere: Dürnau 2008; Offenbach 2008; Gelsenkirchen 2008; Groß-Umstadt 2008; Gütersloh 2008; Osnabrück 2008; Singen 2008.
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Symbolen stellen die Seiten einen Bezug zum Herkunftsland her, indem sie Bilder enthalten, die Erinnerungsorte der portugiesischen Geschichte transportieren.31 Die portugiesischen Entdeckungen bilden einen der wichtigsten portugiesischen Erinnerungsorte, die heute noch eine bedeutende Funktion in der Stabilisierung einer nationalen Identität zumindest im offiziellen Diskurs in Portugal innehat (Pinheiro 2008a). Allein graphisch verweisen vier der untersuchten Seiten auf die Entdeckungen. Das Denkmal der Entdeckungen (Padrão dos Descobrimentos), die Karavelle und die Navigationskarte von Sebastião Lopes (1558) mit der darin enthaltenen Windrose und die Lilienblüte der AvisDynastie sind dabei beliebte Motive, die auch im portugiesischen Nationaldiskurs vorzufinden sind (Abb. 3-4). Abb. 3-4: Die Entdeckungen als Erinnerungsort in der graphischen Darstellung
Quelle: Bonn 2008; Dürnau 2008
Auch wenn die Bezugnahme auf Symbole portugiesischer Nationalidentität durch Bilder als Erstes auffällt, so wird dieser Bezug auch im Text hergestellt. Die Geschichten der Vereine werden oft mit der portugiesischen Migrationsgeschichte verbunden, die portugiesischen Feiertage werden auch hier gefeiert (Dürnau 2008; Bonn 2008; Gelsenkirchen 2008). Im verbalen Diskurs überwiegt eine emotionale Bezugnahme zu Portugal, die kulturelle Aspekte, wie etwa Essen, Traditionen oder Lieder anspricht. Zuweilen wird diese Bezugnahme aber auch durch einen patriotischen Diskurs zum Ausdruck gebracht. Der Grünauer Verein legte den Gründungstag auf einen portugiesischen Nationalfeiertag (Grünau 2008), der Hagener Verein veröffentlicht das Motto „Diesseits der Grenze ohne das Vaterland zu vergessen“32 auf der ersten Seite. Auf den Seiten des Centro Português de Singen ist der patriotische Diskurs – anders als beim weiteren Korpus – deutlich präsent. Der Verein unterhält eine Rubrik mit dem Titel „Der gute Portugiese“ (O bom português). Darin befindet sich der Beitrag „Portugiesisch sein ist cool…“ (Ser 31 Erinnerungsort (lieux de mémoire) wird hier mit Pierre Nora als Themen der Geschichte einer Nation verstanden, in denen sich ihre kollektive Identität kristallisiert (Nora 1984-1992). 32 Original: „Aquém fronteiras sem esquecer a Pátria“ (Hagen 2008).
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português é fixe…), in dem der Autor an die jüngeren Generationen durch die Bemühung von Motiven wie die „glorreiche Vergangenheit“ (O passado glorioso, Singen 2008) für mehr Patriotismus appelliert. In derselben Rubrik erscheinen komplementär zu diesem Appell die Musik und der Text der portugiesischen Hymne.33 Auf den Seiten dieser Rubrik, die ganz in den Farben rot, gelb und grün (inklusive die Schrift) gestaltet werden, erscheint die portugiesische Flagge siebenmal und begleitet verbale patriotische Bekennungen wie „Portugiese sein heißt, das Vaterland zu lieben. Deswegen bin ich dem Vaterland meines Herzens treu. Es lebe Portugal!“34 Text und Bild transportieren im Emigrationskontext Teile des pädagogischen Patriotismus-Diskurses des Estado Novo, die kaum der Intention gerecht werden können, die jüngeren Generationen zu erreichen (Rosas 1992: 511). Abb. 5: Patriotischer Diskurs in Text und Ikonographie
Quelle: Singen 2008
33 Letzterer erscheint sogar zusätzlich als laufender Text (Singen 2008). 34 Original: „Ser Português é ter amor á [sic] Pátria, por isso serei sempre fiel á [sic] minha Pátria do meu coração. Viva Portugal“ (Singen 2008).
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Der Centro Operário Português wiederum wirft ein kritisches Licht auf das Bezugsland Portugal und bildet darin ebenfalls im untersuchten Korpus eine Ausnahme. Abgesehen davon, dass hier weder ein patriotischer Diskurs noch das Bemühen von Nationalsymbolen Portugals festzustellen sind, wird die Geschichte des Vereins zwar vor allem im Kontext der deutschen Einwanderungsgeschichte präsentiert, doch wird die Entstehung des Klubs 1969 als Folge des Estado Novo gedeutet. Im Kontrast dazu erschiene den portugiesischen Emigranten die Demokratie in Deutschland als ein Paradies (Groß-Umstadt 2008). 3.2.3 Deutschland Eine potentielle Identifizierung mit Deutschland ist auf den untersuchten Seiten nicht zu erkennen, auch nicht im Sinne einer doppelten, binationalen Identität. Die Lexeme ‚deutsch’ und ‚Deutschland’ erfüllen keine identitätsstiftende Funktion, vor allem im Vergleich zu den Toponymen des Wohnorts und mit ‚portugiesisch’ und ‚Portugal’. Der Clube Operário Português knüpft seine Geschichte – die als eine Emigrationsgeschichte aufgefasst wird – an die Geschichte der Einwanderung in der BRD im 20. Jahrhundert. Die Einwanderungspolitik Deutschlands, vor allem ab dem Anwerbestopp des Jahres 1973, sowie das ausländerfeindliche Ambiente werden scharf kritisiert und der Beitrag der (auch portugiesischen) Immigranten für den Aufbau der BRD hervorgehoben (Groß-Umstadt 2008). Wenn am Ende der Darstellung der Vereinsgeschichte von erfolgreicher Integration der Portugiesen die Rede ist, dann ist hier nicht die Rede von Deutschland, sondern von Groß-Umstadt und dabei wird vor allem das Engagement der portugiesischen Migranten hervorgehoben. Ohne kritischen Duktus stellt der Centro Português de Cultura e Recreio de Dürnau ebenfalls die eigene Entstehungsgeschichte im Kontext der Suche nach Arbeitskräften im Deutschland der sechziger Jahre dar (Dürnau 2008). 3.2.4 Post- oder transnationale Identitäten Von post-, trans- oder gar übernationalen Identitätsentwürfen kann im untersuchten Korpus nicht die Rede sein. In den meisten Vereinen wird eine gemeinsame portugiesische Identität als selbstverständlich vorausgesetzt und damit auch ein Bezug zur nationalen Ebene gewährt. Als Zielsetzung geben die meisten Vereine die Wahrung der portugiesischen Identität an. Eine BindestrichIdentität auf nationaler Ebene – portugiesisch-deutsch –, die bei individuellen
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Entwürfen im Migrationskontext oft zum Ausdruck kommt,35 ist im Gesamtkorpus nicht festzustellen. Auch die Definition einer gemeinsamen Identität durch eine jenseits von nationaler Zugehörigkeit geteilten conditio migratoria ist auf den untersuchten Seiten rar. Das Lexem ‚Emigrant’ wird vor allem dann verwendet, wenn die Geschichte des Vereins erzählt wird. Auch wenn es die heutigen Mitglieder bezeichnet, so wird es meist durch das Attribut ‚português’ ergänzt. Entsprechend knüpfen die Selbstdarstellungen nicht an Diskurse der ‚Identitätskrise’ an. Das Motiv eines Identitätskonflikts des sich zwischen den Kulturen befindlichen Subjekts, das sich oft in der portugiesischen Migrantenliteratur vor allem der zweiten Generation finden lässt (Pinheiro 2005: 151ff.), ist im vorliegenden Korpus nicht vorhanden. Auch eine Entwurzelung aus der portugiesischen Kultur und eine nicht vollzogene Verwurzelung im Wohnort, sind in den meisten der untersuchten Internetseiten nicht festzustellen. Symptomatisch für die Symbiose zwischen portugiesischer Herkunftskultur und lokaler Lebenskultur ist der Satz „Die Wurzeln sind erhalten geblieben und schlagen hier in Groß-Umstadt wieder aus“, der auf den Seiten des Clube Operário Português zu lesen ist (Groß-Umstadt 2008). Dieser Satz kehrt die in der Migrantenliteratur oft bemühte Metapher der Entwurzelung durch die Behauptung um, dass die Wurzeln auf neue Erden ausschlagen. 4
Schluss
Am 12. Februar 2008 ereignete sich auf der Internetseite der Lusitânia Bonn ein Vorfall, der für die Identitätsdiskurse der portugiesischen Kulturvereine symptomatisch ist. An jenem Tag meldete sich ein Gast im Forum (d.h. auf den nicht-offiziellen Seiten des Vereins), um in einer aggressiven und beleidigenden Begrifflichkeit zu kritisieren, dass der Verein seinen Internetauftritt überwiegend auf Deutsch unterhielt. „Wie ist es möglich“ fragt der Gast, dass die Internetseite eines portugiesischen Vereins im Ausland, der eigentlich die portugiesischen Ideen und vor allem die Sprache des Vaterlands, mit 99% ihrer Informationen auf Deutsch erscheint?36
Dieser Vorwurf berührte die Sprache als ein identitätsstiftendes Element par excellence und löste unter den Mitgliedern eine energische Debatte um kollekti35 Siehe etwa den Beitrag von Isabel Eitzinger in diesem Band. 36 Original: „Como e que possivel que uma pagina de uma associacao Portuguesa no estrangeiro que supostamente deveria defender os ideais Portugueses e acima de tudo a lingua Patria aparece com 99% da sua informacao em Alemao? [sic]” (Bonn 2008).
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ve Identität aus. Nach diesem Eintrag meldeten sich mehrere Mitglieder auf Deutsch und auf Portugiesisch, indem sie den Einwand kritisierten und den Webmaster in Schutz nahmen. Zwar – räumen die meisten Meldungen ein – wäre eine zweisprachige Seite noch besser als eine einsprachige, doch da dies aus zeitlichen Gründen nicht zu gewährleisten sei, sei für den Internetauftritt des Vereins das Deutsche dem Portugiesischen vorzuziehen. Einerseits sei das Deutsche die Umgangs- und Arbeitssprache der meisten Mitglieder; andererseits sei die Lusitânia-Seite eine der meist besuchten Seiten portugiesischer Vereine in Deutschland, was – lässt sich das darin implizierte Argument interpretieren – auf ihre Veröffentlichung in deutscher Sprache zurückzuführen ist. Auffällig ist, dass viele Mitglieder den Einwand zur Sprache mit dem Argument herunterspielen, dass es nur wichtig sei, dass der Verein eine Website besitze, gleichgültig in welcher Sprache. Der angeprangerte Webmaster setzte der Debatte ein Ende, indem er eine Stellungnahme auf der ersten und damit der offiziellen Seite veröffentlichte. Der Verein, so die Stellungnahme, pflege seinen Internetauftritt auf Deutsch, um dem deutschen Publikum einen Zugang zu seinen Aktivitäten zu ermöglichen. Eine Internetseite auf Portugiesisch sei das Zeichen von Abkoppelung und mangelnder Integrationsbereitschaft. Es gehe um „[…] den Respekt für das Volk in diesem Land.“37 Diese Episode ist symptomatisch für das Selbstverständnis, das auf den Websites der portugiesischen Freizeit- und Kulturvereine in Deutschland gepflegt wird. Bei aller Heterogenität, die dem Kontext der jeweiligen Institution geschuldet ist, so konstruieren alle Vereine eine kollektive Identität, die auf der nationalen Identität des Herkunftslandes und zugleich auf der aktiven Zugehörigkeit zur lokalen Gemeinschaft aufbaut. Aus der Debatte geht der Verein gestärkt heraus: in seiner kollektiven Identität und in der Gewissheit, dass dieser doppelte Bezug nur durch die Pflege (auch) der deutschen als Darstellungs- und Kommunikationssprache möglich ist. Dieses Verständnis der eigenen kollektiven Identität kommt am deutlichsten in den (deutschen) Worten eines der Mitglieder zum Ausdruck, das sich an der Debatte im Forum beteiligte: „Wir sind Portugiesen bleiben Portugiesen leben aber in Deutschland und wir sind nicht Nationalistig [sic] veranlagt!“ (Bonn 2008).
37 Original: „[…] respeito para [sic] o povo deste país“ (Bonn 2008).
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Bibliographie
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Biographien mosambikanischer Vertragsarbeitnehmer im Spannungsfeld individueller Lebensentwürfe und politischer Geschichte Katharina Jagemann
Ich arbeitete in Dresden und liebte Königsberger Klopse. - Zitat eines Madgermanen in Mosambik
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Einleitung
Während eines Aufenthaltes in Mosambik wurde ich von einem Mosambikaner auf Deutsch angesprochen, was mich verwunderte. Er erzählte, er sei Madgermane,1 ein früherer Vertragsarbeiter aus der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Ich begann mich für die Gruppe der zurückgekehrten Mosambikaner zu interessieren. Wer waren diese Menschen? Warum entschieden sie sich, in die DDR zu gehen? Welche politischen Abkommen bestanden damals zwischen den sozialistischen Ländern der DDR und der Volksrepublik (VR) Mosambik? Großes Interesse weckte in mir die Frage nach der gegenwärtigen Situation und den sozialen Positionen der Menschen, die sich seinerzeit für ein Arbeitsleben in der DDR entschieden. Wie hat sich ihre damalige Entscheidung auf ihr heutiges Leben ausgewirkt? Wie viele der ehemaligen Vertragsarbeitnehmer leben noch in Deutschland? Mit welchen Zielen und Ambitionen ist die Mehrheit der Vertragsarbeitnehmer nach Mosambik zurückgekehrt? Welches Spannungsverhältnis besteht zwischen dem damaligen politischen Kontext und den individuellen Lebensentwürfen der Vertragsarbeitnehmer?
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Die mosambikanische Regierung führte den Begriff Madgermanes für die Rückkehrer aus der DDR ein. Das Bantu-Wort beinhaltet die Worte ma (‚viele’) und germanes (‚Deutsche’). Der Begriff Madgermanes war negativ konnotiert, denn die Regierung bezeichnete damit vor allem diejenigen unter den Rückkehrern, die mittels Rebellion und Aufstände ihre ausstehenden Rechte einforderten.
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Im Rahmen einer Magisterarbeit2 beschäftigte ich mich daraufhin mit dieser Thematik und stellte folgende Forschungsfrage in den Mittelpunkt der Betrachtungen: In welchem Ausmaß haben objektive Entscheidungen der Regierungen Einfluss auf einzelne Biographien ausgeübt? Wie sich während der Forschung herausstellte, beeinflussten politische Maßnahmen die subjektiven Entscheidungen der Mosambikaner. Zuerst wirkten die politischen Strukturen der beiden Regierungen bezüglich des Regierungsabkommens noch vor der Ausreise auf das Verhalten der Vertragsarbeiter. Daraufhin folgten erneute Brüche während des Falls der Mauer und später mit dem Leben in Deutschland bzw. im Heimatland. Für die empirische Magisterarbeit wurden personifizierte Fragebögen von Rückkehrern in Mosambik und narrative Interviews von in Deutschland gebliebenen Mosambikanern evaluiert. Allerdings muss von Verallgemeinerungen in der Analyse abgesehen werden, da nur eine geringe Anzahl von Personen befragt wurde. Diese Arbeit erhebt somit keinen Anspruch auf Repräsentativität, sondern stellt lediglich ein Thema vor, das in der Literatur bislang wenig Beachtung fand. Die Ergebnisse, die anhand der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet wurden, werden nach einer kontextualisierenden Schilderung der politischen und sozioökonomischen Situation der Länder und der Vertragsarbeitnehmer dargestellt. Anschließend werden die Lebensentwürfe der in Deutschland gebliebenen Mosambikaner sowie derjenigen, die sich nach der Wende für die Rückkehr nach Mosambik entschieden.
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Die Geschichte des Freundschaftsvertrages zwischen der ehemaligen DDR und VR Mosambik
Seit dem 16. Jahrhundert war Mosambik Teil des portugiesischen Kolonialreichs und konnte sich erst 1975 nach lange währenden Widerstandskämpfen vom Mutterland lösen. Zwischen 1976 und 1994 wurde das Land von einem Bürgerkrieg erschüttert, in dem die von Südafrika und dem damaligen Rhodesien gestützte Oppositionsbewegung RENAMO3 gegen die nationale marxistisch-leninistische Partei FRELIMO4 aufbegehrte. Während die FRELIMO die Industrien verstaatlichte und landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften 2 3 4
Die Magisterarbeit unter dem Titel Biografien von mosambikanischen Vertragsarbeitnehmern im Spannungsfeld individueller Lebensentwürfe und politischer Geschichte – Eine empirische Analyse wurde im August 2007 an der Technischen Universität Chemnitz eingereicht. RENAMO – Resistência Nacional Moçambicana (‚Nationaler Widerstand Mosambiks’). FRELIMO – Frente de Libertação de Moçambique (‚Befreiungsfront Mosambiks’).
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gründete, verlor das Land mit dem Krieg seine wirtschaftlichen Ressourcen. Heute ist Mosambik mit seiner 1990 ratifizierten Verfassung ein unabhängiger, souveräner und demokratischer Staat. Die zentralistische Regierung, wie sie bis 1990 bestand, löste sich auf. Die Regierungen der Volksrepublik Mosambik und der DDR pflegten seit den 1960er Jahren intensive Beziehungen (Döring 1999: 156-158). Anfänglich unterstütze die DDR beispielsweise den Bürgerkrieg in Mosambik. Damit versuchte man die sozialistische Partei FRELIMO zu stärken. Darüber hinaus äußerte sich die Zusammenarbeit in Form von Auslandseinsätzen und Projektdurchführungen von DDR-Bürgern in Mosambik. Auf Grundlage der mosambikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1974 entstanden Fachkräfteprogramme in der DDR, die die Einreise von mosambikanischen Vertragsarbeitnehmern ermöglichten (Döring 1999: 230). Beide Länder beschlossen 1979 mit dem Freundschaftsvertrag, dass mosambikanische Werktätige für eine festgesetzte Dauer in die DDR aufgenommen und ausgebildet werden sollten.5 Das Abkommen regelte die Rechte und Pflichten beider Seiten während und nach der Vertragszeit. Schließlich sollten die ausgebildeten jungen Arbeiter später im Heimatland in Fabriken und staatlichen Organisationen als Facharbeiter eingesetzt werden.6 Zwischen 1980 und 1990 wurden über 20.000 Vertragsarbeitnehmer in den ehemaligen Bezirken der DDR-Regierung zum Studium, zum Arbeitseinsatz oder zur Fortbildung, hauptsächlich in der Textilbranche und im Maschinenbau, eingesetzt (Döring 1999: 156-158). Die Dauer des Aufenthaltes der Vertragsarbeitnehmer war auf vier Jahre begrenzt, eine Verlängerung um weitere vier Jahre war jedoch möglich (Sextro 1996: 41). Die politischen Regierungsabkommen der DDR und Mosambik boten den Vertragsarbeitnehmern explizit die Chance, Studiums- und Ausbildungsangebote annehmen zu können, die ihnen in Mosambik verwehrt geblieben wären. Gründe dafür lagen in der Armut des Landes, die durch die Zerstörungen im Zuge der Widerstandsbewegungen gegen 5
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Die DDR schloss mit Staaten, die Mitglieder des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) waren, Arbeitskräfteabkommen für eine Dauer von 3-5 Jahren ab (Weber/Reppel 2005: 131; Sextro 1996: 19). Zu diesen Ländern zählen Bulgarien, ýSFR, Rumänien, Ungarn, Albanien, Mongolei, Kuba und Vietnam. Dieser Rat gründete sich 1949 mit dem Ziel der Zusammenarbeit und Integration sozialistischer Staaten (Sextro 1996: 19). Die DDR profitierte von diesem Abkommen. In dem Zeitraum zwischen der Gründung der DDR 1949 bis zum Bau der Mauer 1961 haben über 3,4 Millionen Menschen das Land verlassen und zogen in die BRD. Diese Abwanderung führte zu einem Arbeitskräftemangel in der DDR, da hauptsächlich junge und beruflich qualifizierte Menschen das Land verlassen hatten. Darüber hinaus war das Qualifikationsniveau der DDR-Bürger bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts gestiegen, so dass bestimmte Arbeiten keine Abnehmer mehr fanden. Auch erhoffte sich die DDR-Regierung von der Ausbildung, Facharbeiterressourcen für zukünftige Großbetriebe in Mosambik zu sichern (Sextro 1996, 20f.; Döring 1999: 233-235).
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den Kolonialismus und den anhaltenden Bürgerkrieg verursacht wurden. Außerdem waren Bildungsangebote mangelhaft organisiert und gleichzeitig mit hohen Kosten verbunden. Diejenigen Mosambikaner, die an dem Regierungsabkommen von 1974 teilnahmen, brachen ihr Leben in Mosambik vorerst ab. Die Unterstützung der Familienangehörigen im Heimatland, die eigene Weiterbildung und der Erkenntniserwerb standen während dieser Zeit im Vordergrund (Marburger 1993: 27ff). Getrübt wurden die Aussichten auf ein erfolgreiches Leben in der DDR jedoch durch die Tatsache, dass es nur selten Studiumsmöglichkeiten gab. Während bis Mitte der achtziger Jahre noch Ausbildungen angeboten wurden, so mussten Mosambikaner später Fließbandarbeiten übernehmen. Ständige Wechsel in verschiedene Arbeitsbereiche und strikte Reglementierungen im privaten Leben erschwerten die Verwirklichung individueller Vorstellungen (Schönmeier 1993: 100ff.; Sextro 1996: 41ff). Zudem waren Möglichkeiten, eigene Entscheidungen zu fällen oder Handlungsspielräume wahrzunehmen, nur sehr begrenzt gegeben.7 Für viele Mosambikaner bedeutete dieser Aufenthalt die erstmalige Trennung von ihrer Familie. Die Familien in Mosambik sahen in dem Aufenthalt des Sohnes oder der Tochter in der DDR eine Hilfestellung für die Sicherung des eigenen Überlebens, da ihnen die Kinder Nahrungsmittel zukommen ließen, Waren schickten und Geld überwiesen. Mosambik befand sich zur Zeit des Abkommens 1979 in einer schweren ökonomischen Krise. Damit reisten die Arbeiter zwar mit Freude, aber unter dem Druck einer positiven Leistungserbringung aus und stellten später eigene Wünsche und unerfüllte Ziele in der DDR in den Hintergrund (Marburger 1993: 27). Die deutsche Bevölkerung und die mosambikanischen Vertragsarbeitnehmer waren kaum aufeinander vorbereitet, was hauptsächlich auf die mangelnde Information zurückzuführen ist. Außerdem beschönigten die DDR-Medien die 7
Die Lebenswelt der Vertragsarbeitnehmer in der DDR war streng reglementiert. Sie lebten in betriebseigenen Wohnheimen, getrennt von deutschen Wohnheimbewohnern. Alle Lebensbereiche waren gekennzeichnet von Verordnungen. Die Wohnfläche betrug fünf Quadratmeter als Minimum, sie lebten in Mehrbettzimmern, nach Geschlechtern streng getrennt. Besucher durften ohne vorherige Anmeldung nicht eingeladen werden und nur für eine bestimmte Zeit die Wohnheime betreten, um die ‚Ordnung und Sicherheit’ nicht zu gefährden. Bei Schwangerschaften forderte die DDR die mosambikanischen Frauen auf, mit sofortiger Wirkung in ihr Heimatland zurückzukehren. Sie verloren ihre Arbeit und mussten im Heimatland mit Ächtungen rechnen, da sie das Familienziel, nämlich die Existenzsicherung nicht erreicht hatten. Sehr oft wurden Schwangerschaftsabbrüche unter lebensbedrohlichen Umständen selbst herbeigeführt. Wiederum nur in Ausnahmesituationen konnten Frauen ihre Kinder behalten und einen sechswöchigen Urlaub in Anspruch nehmen, sie besaßen allerdings keinen Anspruch auf Mutterschaftsurlaub (Marburger 1993: 28; Sextro 1996: 36).
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Aufenthalte, tabuisierten Probleme und hielten Informationen unter Verschluss (Sextro 1996: 38). Die DDR stellte sich immer als sozialistisches Bruderland dar, welches im Rahmen der internationalen Solidarität handelt und prangerte die inhumane Behandlung von Ausländern in den kapitalistischen Staaten an (Sextro 1996: 39). Weiterhin wurden keine Daten öffentlich gemacht, die die Situation der Mosambikaner realistisch und wahrheitsgetreu dargestellt hätten (Marburger 1993: 30ff). Die Ausreisenden wurden sehr unterschiedlich auf das Leben in der DDR vorbereitet. Gab es Anfang der achtziger Jahre noch Vorbereitungsseminare, Sprachkurse und Integrationsmaßnahmen, so wurden die Angebote immer weniger bis sie schließlich Ende der achtziger Jahre völlig eingestellt wurden. Die Beziehungen zum Partnerland Mosambik verloren ab Mitte der 1980er Jahre an Intensität, da sich beide Länder politisch auseinander entwickelten. Während die DDR ihrem sozialistischen Ideal treu blieb, richtete sich das Regierungsprogramm in Mosambik verstärkt auf die Ziele der westlichen Geberländer aus, um Finanzierungen zum wirtschaftlichen Aufbau entgegen zu nehmen. Damit entfernte sich das afrikanische Land in Bezug auf die staatlichen – weniger sozialistisch ausgerichteten – Programme zunehmend vom Bruderland DDR. Trotz dieser Krise in der Beziehung warb die deutsche Republik auch weiterhin um Tausende von Mosambikanern zum Arbeitseinsatz aufgrund des in der DDR vorhandenen Arbeitskräftemangels durch Abwanderung der Arbeiter in westliche Nachbarländer. Weiterhin sagte Mosambik zu, ein Rückkehrprogramm auszuarbeiten, um die erworbenen Fähigkeiten der Rückkehrer im eigenen Land nutzen zu können (Sextro 1996: 34-36). Mit der politischen Wende 1989 wurden die Beziehungen zueinander eingestellt. Diese überraschende und neue Situation in der Weltpolitik führte allgemein zu Umbruchszuständen. Auf der deutschen Seite brach die Planwirtschaft zusammen und zahlreiche Betriebe meldeten sich insolvent. Nahezu alle zu dieser Zeit beschäftigten 20.000 mosambikanischen Vertragsarbeiter verloren ihre Arbeit. In den Betrieben verloren sie als Ausländer oftmals noch vor den deutschen Mitarbeitern ihre Arbeitsstelle. Auch von Seiten Mosambiks konnten die Vertragsarbeiter kaum Unterstützung erwarten. Das Land führte sein versprochenes Rückkehrprogramm nicht durch. Vordergründig fehlte die finanzielle Umsetzung, aber auch die entstandene Kluft zwischen den Interessen der DDR-Regierung und den sozialistisch ausgebildeten Vertragsarbeitern einerseits und der kapitalistischen Neuformatierung Mosambiks andererseits spielte eine entscheidende Rolle. (Marburger 1993: 29, 34-36; Sextro 1996: 57f). Die nun wiedervereinte Bundesrepublik Deutschland (BRD) zog die Rückführung der Mosambikaner in ihr Heimatland mit einer Aufwandsentschädigung von damals 3.000 DM in Betracht. 18.000 Menschen nahmen das Geldangebot der deut-
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schen Regierung mit der Absicht an, sich eine soziale Existenz aufbauen zu können. Diese Rückkehrbewegung überforderte jedoch innerhalb kurzer Zeit die mosambikanische Regierung (Marburger 1993: 33; Schönmeier 1991: 99f). Die Vertragsarbeiter lebten in dem Glauben durch das Rückkehrprogramm eine Arbeitsstelle zu finden, mussten bei ihrer Ankunft in Mosambik jedoch feststellen, dass keine Betriebe vorhanden waren und eine erhoffte Wiedereingliederung nicht stattfand. Nur wenige Arbeiter, die die deutsche Sprache gut beherrschten, bekamen eine Anstellung in deutschen Organisationen, die hauptsächlich in der Entwicklungshilfe aktiv waren (Schönmeier 1993: 118). Neben der Abwesenheit eines effektiven Rückkehrprogramms wurde die Rückkehr auch dadurch erschwert, dass die vertragliche Verpflichtung gegenüber den Vertragsarbeitnehmern, 60 Prozent der in der DDR einbehaltenden Löhne an die Arbeiter bei einer Rückkehr auszuzahlen (Sextro 1996: 235), nicht eingehalten wurde. Die deutsche Regierung transferierte zwar, wie im Regierungsabkommen von 1974 vertraglich geregelt, die ausstehenden Löhne während der Vertragsarbeiterzeit direkt an Mosambik, um den Rückkehrern ein Startkapital zur Verfügung zu stellen. Diese Lohnausgleichszahlungen wurden den ehemaligen Arbeitern jedoch nie oder nicht in voller Höhe erstattet (Sextro 1996: 235), da Mosambik die erhaltenen Gelder für Schuldenabbau gegenüber der DDR verwendete. Ungefähr 2.000 Mosambikaner lehnten nach der politischen Wende das Geldangebot von 3.000 DM ab und bauten sich im wiedervereinigten Deutschland ein eigenständiges Leben auf. Es bildeten sich vermehrt bikulturelle feste Beziehungen zwischen Deutschen und Mosambikanern heraus, teilweise wurden Kinder geboren. Da Eheschließungen zu DDR-Zeiten nicht möglich waren, versuchten die Paare in den Jahren 1989 und 1990 vermehrt die Ausstellung von Ehefähigkeitszeugnissen (Sextro 1996: 100-110) zu erwirken. Für die Mosambikaner war die Heirat mit einem deutschen Partner eine besondere Möglichkeit, über das Vertragsende hinaus noch in Deutschland bleiben zu können. Mit dem Fall der Mauer waren die Mosambikaner plötzlich auf sich allein gestellt. In der DDR waren sie den strengen Reglementierungen ausgesetzt gewesen und hatten nun Schwierigkeiten, sich im Alltag des vereinten Deutschland selbständig zu behaupten. Die Mosambikaner bekamen schnell zu spüren, dass sie mit dem Ausspruch ‚Wir sind ein Volk’, der zum Slogan der Bürger des neuen Deutschlands wurde, nicht gemeint waren. Im beruflichen und privaten Umfeld erlebten sie Sanktionen. Arbeitskollegen, Freunde und Nachbarn entwickelten sich zu Konkurrenten, im schlimmsten Fall zu Feinden. Heute, zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung, haben sich die in Deutschland gebliebenen Mosambikaner eine soziale Existenz aufbauen können. Manche konnten diese konsolidieren, andere erleben nach wie vor ständige
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Arbeitsplatzwechsel und Unsicherheiten. Einige traten in den neunziger Jahren nachträglich den Heimweg nach Mosambik an, da sie mit dem politischen Wechsel, der Umbruchsituation und der neuen sozialen Situation nicht zurechtkamen. Diejenigen, die in der Bundesrepublik blieben, gründeten Familien und richteten sich ein (Marburger 1993: 37).
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Lebensentwürfe mosambikanischer Vertragsarbeiter
Die im Folgenden vorzustellenden Ergebnisse beruhen auf einer empirischen Auswertung von Aussagen ehemaliger mosambikanischer Vertragsarbeiter. Das Material besteht aus vier narrativen Interviews mit in Deutschland lebenden ehemaligen Vertragsarbeitern und zwölf Fragebögen, die von Mosambikaner ausgefüllt wurden, die zurückgekehrt sind. Der methodische Unterschied – Interviews versus Fragebögen – spiegelt sich auch in der Analyse wider. Während die Interviewten zu ihrer gesamten Lebensgeschichte befragt wurden, hatten die Fragebogenteilnehmer nur die Möglichkeit über die Zeit nach ihrer Rückkehr zu berichten. In der Analyse8 des Materials hat sich gezeigt, dass alle Untersuchungsteilnehmer vermehrt Brüche in ihren individuellen und familiären Lebensformen wahrnehmen. Die politische Geschichte ist insofern mit den Biographien verknüpft, als die Lebensläufe mindestens durch drei Ereignisse einer Neuordnung unterworfen waren. Die Einreise nach Deutschland, der Aufenthalt in der DDR und die politische Wende bzw. die Rückkehr nach Mosambik sind als äußere Ereignisse zu betrachten, die – neben individuellen und frei getroffenen Entscheidungen – zwangsläufig zu Veränderungen in den Lebensläufen führen mussten. Die Befragten problematisieren die jeweiligen Identitätsentwürfe und die Destabilisierung der eigenen Identität während der Phase der Ankunft in Deutschland und der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Alle Befragten waren aufgrund des politisch organisierten Abkommens und der politischen Wende abhängig und nahmen sich selbst insofern wahr, als dass sie sich verstärkt mit sich selbst und ihren biographischen Lebensentwürfen auseinander setzten.
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Es soll an dieser Stelle erwähnt werden, dass in der Analyse von einer Verallgemeinerung und einem Vergleich zwischen den beiden Analysegruppen abgesehen wird. Vier narrative Interviews und zwölf biographische Fragebögen können nicht als repräsentativ gelten. Dennoch ist es möglich, die Frage nach den Auswirkungen von politisch-historischen Großereignissen und ihren Einfluss auf subjektive Biographien aufzuzeigen.
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3.1 Lebensentwürfe der in Deutschland gebliebenen Mosambikaner Alle vier Interviewten wurden aufgefordert, ihre Lebensgeschichte zu erzählen.9 Durch ihre Ausführungen und mit Hilfe von Kategorisierungen auf der methodischen Grundlage der Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967) wurde das folgende Analysekonzept erstellt, auf dessen Hauptkategorien in den folgenden Unterkapiteln eingegangen wird: 1) Hintergründe der Migration; 2) Das Leben in der DDR; 3) Der Fall der Mauer und die Wendezeit; 4) Gestaltung individueller Lebensentwürfe in der BRD. Es ist davon auszugehen, dass die aus der Analyse hervorgegangenen Erlebnisse auch für die Rückkehrer nach Mosambik (die Fragebogenteilnehmer) zutreffen. 3.1.1 Hintergründe der Migration Während zwei der Befragten als Motive für ihre Migration Arbeit und Bildung nannten und damit die Hoffnung auf Verbesserungen des Lebensstandards verknüpften, konnte diese Annahme an die beiden anderen Gesprächspartner nicht herangetragen werden, da hier weder finanzielle noch materielle Schwierigkeiten vorlagen. Somit konnte nicht immer von einer Arbeitsmigration als Hintergrund der Ausreise ausgegangen werden. Die Interviewten wurden in Schulen (in allen Distrikten von Mosambik) oder durch behördliche Bekanntmachungen auf den Arbeitsaufenthalt in der DDR aufmerksam. Anfang der achtziger Jahre wurden in den Schulen die fleißigsten Schüler ausgewählt. Die Bewerbungen waren zahlreich, und die Bewerbungsverfahren dauerten entsprechend lang. Später reichten Beziehungen zu Ministerien oder Bestechungsgelder. Wie in der Magisterarbeit weiter ausgeführt, sind die Migrationshintergründe der befragten Personen so vielfältig wie die lebensgeschichtlichen Erzählungen (Jagemann 2007). Trotz allem gibt es in allen Geschichten die gemeinsame (Ereignis-)Verkettung der Ausreise in die DDR unter dem Regierungsabkommen und der Vertragsarbeit. 3.1.2 Das Leben in der DDR Die Ankunft in der DDR bedeutete für alle Befragten einen Bruch in der Biographie, aber auch eine Diskrepanz zwischen der Erwartungshaltung und der 9
Interviewt wurden zwei Männer und zwei Frauen im Alter zwischen 43 und 47 Jahren. Sie wohnten zum Befragungszeitpunkt in Sachsen und Thüringen. Die Interviewsprache war deutsch, die Länge der Interviews variierte zwischen 90 und 230 Minuten.
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Realität. Es war für sie der Beginn einer neuen biographischen Phase, die unterschiedlich intensiv verarbeitet wurde. Manche führten die Integrationsschwierigkeiten auf das Wetter, andere auf die Lebensbedingungen zurück. Viele wollten das Land wieder verlassen, haben wenige Wochen später die neue Situation jedoch akzeptieren müssen, da eine Rückkehr außer Frage stand. Die deutschen Vorbereitungskurse waren unterschiedlich: Es gab reine Sprachkurse oder kulturelle Integrationskurse mit späterer Spracherziehung. Ab Mitte der achtziger Jahre stellte die DDR nur noch Hilfsarbeiter ein, Studienund Ausbildungsplätze entfielen, Vorbereitungskurse wurden gestrichen. Alle vier Befragten haben keine Studienplätze bekommen, obwohl es ihnen vertraglich zugesichert wurde. Drei von ihnen wurden in den Bereichen Textil und Maschinenbau ausgebildet. Nur eine Person bekam nach der Ausbildung im Betrieb die Chance zu studieren. Zwei von ihnen machten eine Zusatzausbildung nach der ersten Vertragsverlängerung. Ein von den vier Teilnehmern arbeitete während der ganzen Zeit als ungelernte Arbeitskraft am Fließband. Da die Vertragsinhalte realitätsfern waren, war das Regierungsabkommen für alle Interviewten enttäuschend. Aber sie haben den Mut aufgebracht und sich erneut motiviert, weiterzumachen, sich zu integrieren und ihre Fähigkeiten so weit wie möglich auszubauen. Schließlich bedeutete der Aufenthalt, trotz aller Schwierigkeiten und Vertragsveränderungen, eine Lösung ihrer existentiellen Probleme. 3.1.3 Der Fall der Mauer und die Wendezeit Mit dem Fall der Mauer 1989 mussten Entscheidungen kurzfristig getroffen werden. Das ehemalige Regierungsabkommen sah eine Rückkehr vor. Mit dem Fall der Mauer war der Vertrag jedoch nicht mehr gültig, die Vertragsarbeiterzeit war damit offiziell beendet. Alle Teilnehmer mussten sich nach der politischen Wende in den Betrieben mit Diskriminierungen auseinandersetzen. Drei von ihnen verloren sogar ihren Arbeitsplatz. Diese Übergangszeit wurde als schwierig empfunden, da sich die bekannten sozialen Strukturen des Lebens in der DDR vollständig veränderten. Neue Schwierigkeiten taten sich in der Behördenkommunikation und Suche nach einem neuen Arbeitsplatz auf. Kirchen und Gewerkschaften halfen ihnen, sich in dem Wirrwarr der bürokratischen Notwendigkeiten zurechtzufinden. Ihre bisherigen Biographien hatten sich seit der Ankunft bezüglich der Familienverhältnisse verändert. Nun hatten alle einen festen Partner, zwei der Befragten hatten sogar schon Kinder. Besonders die familiäre Situation beeinflusste ihre Entscheidungen, in Deutschland zu bleiben, maßgeblich.
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Die Wendezeit war die erste Aussicht auf ein selbstbestimmtes Leben, die jedoch mit ernsthaften persönlichen Notlagen verbunden war. Ihre vorherige soziale Zugehörigkeit zum ‚Vertragsarbeiter’ wurde durch die Suche nach individuellen Lebensformen und Zielen abgelöst. Die Übergangsregierung hatte Schwierigkeiten, die Vertragsarbeiter mit einem Aufenthaltsstatus zu versehen. Die Gruppe der ‚Werksvertragsarbeiter’, so die offizielle Bezeichnung der DDR, gab es in der BRD nicht. Die in Deutschland gebliebenen Mosambikaner bekamen befristete Aufenthaltsbestätigungen, später unbefristete oder auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Das Leben in der Wendezeit ist gekennzeichnet durch eine kurzfristige, negative Verlaufskurve im Sinne einer Neukonstruktion aller vier Biographien aufgrund aufkommender Unsicherheiten und Zukunftsängste. 3.1.4 Gestaltung individueller Lebensentwürfe in der BRD Die Chance der freien Entfaltung offenbart sich durch verschiedene Aktivitäten der Befragten. Nach den anfänglichen Schwierigkeiten konnten alle Interviewpartner ihre Interessen und Aufgabengebiete konkretisieren und sich entsprechend in der Bundesrepublik behaupten. In diesem Abschnitt ging es um Selbstverwirklichung, die durch Arbeit und soziale Beschäftigung erreicht werden kann. Außerdem spielen ihre Beziehung zur Familie und ihre individuellen Neukonzeptionen von Biographie nach dem Fall der Mauer eine Rolle. Die vier Befragten hatten die Wendezeit als unruhig erlebt und sich orientierungslos gefühlt. Durch Unterstützung von deutschen Familien, Vereinen und Gewerkschaften konnten sie sich jedoch organisieren. Alle vier Befragten haben sich nach der deutschen Wiedervereinigung einem neuen Beruf zugewandt und konnten sich in diesem erfolgreich etablieren.10 Auch die Vereinstätigkeit spielt bei allen eine große Rolle. Während eine Teilnehmerin es vorzog, ihren Mann in seinen Vereinsaufgaben zu unterstützen, sind drei Befragte selbständige Vereinsgründer und darin aktiv ehrenamtlich tätig. Die Selbstverwirklichung im Beruf und in der Vereinsarbeit gibt allen Interviewpartnern ein positives Selbstbild und führt zu Selbständigkeit im privaten und gesellschaftlichen Leben. Ihre Vereinsarbeit ist sozial verankert und richtet sich an Menschen an, die die Privilegien von Wohlstand, Geld oder Gesundheit nicht erleben. Den Interviewpart-
10 Was keinesfalls als repräsentativ für die in der BRD verbliebenen Vertragsarbeiter gesehen werden soll. In der Tat schlugen viele der Mosambikaner, die im vereinten Deutschland blieben, eine diskontinuierliche Entwicklung ein, wurden arbeitslos, erlebten Abbrüche und Neuanfänge oder wechselten oft die Berufe.
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nern ermöglicht diese Tätigkeit, ihre Talente zu entfalten und sich somit eine soziale Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft aufzubauen. Drei von vier befragten Mosambikanern lebten nach der Wende in einer bikulturellen Ehe mit einem deutschen Partner, ließen sich aber in den neunziger Jahren wieder scheiden. Durch diese Trennung gestalteten sie ihre Freizeit noch aktiver. Sie treten trotz ihrer in Deutschland fehlgeschlagenen Ehe selbstbewusst auf. Allen Teilnehmern war es wichtig, sich ihre Träume zu erfüllen. Erfolgsindikatoren sind für sie die Möglichkeit, ihre Familie in Mosambik zu unterstützen, sich selbst etwas leisten zu können, ihren Kindern die Schulbildung zu ermöglichen und in einem intakten Gesundheitssystem zu leben. Dennoch erlebten sie durch die familiären Trennungen persönliche Rückschläge. 3.1.5 Fazit Die Befragten nehmen sich als aktiv und positiv wahr und haben den Mut, sich weiterzuentwickeln. In Bezug auf die Forschungsfrage sind sie von den Auswirkungen der Politik geprägt, da sie eigene Veränderungswünsche thematisieren und sich besonders durch die Geschichte genügend Kraft und Ausdauer angeeignet haben, neue Wege einzuschlagen. Die individuelle Vergangenheit der Teilnehmer spiegelt sich besonders in der intensiven Suche nach Anerkennung wider. Dabei spielt die Fremdwahrnehmung ihrer Peson eine wichtige Rolle. Sie wollen nicht als ‚faule Ausländer’ oder ‚Bittsteller’ angesehen werden. Die Lebensläufe sind heute – eben durch die Stationen der Unsicherheiten in der Vergangenheit – in Bezug auf den gesellschaftlichen Bereich, die Arbeit, die psychische und physische Integrationsleistung stabil. Brüche haben alle Teilnehmer erfahren, jedoch daraus Kraft für Entscheidungen und Weiterentwicklung gezogen. Sie erlangten ihre autonome Lebensgestaltung durch die Möglichkeit, sich in das soziale Netzwerk zu integrieren. Das eröffnete immer wieder die Chance zu selbstständigen neuen Handlungen. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass die hier dargestellten Aspekte und Lebensläufe nicht für alle in Deutschland lebenden Mosambikaner gelten. Ob es sich im Fall der interviewten Personen um die Mehrheit oder um die Ausnahme der in Deutschland lebenden Mosambikaner handelt, ist schwer einschätzbar. 3.2 Lebensentwürfe der Madgermanes Im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes in Mosambik war es für mich möglich, jeden Mittwoch Madgermanes auf der ‚Zentrale der Madgermanes’ (Base
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Central de Madgermanes) in der Hauptstadt Maputo zu treffen.11 Regelmäßig kamen hier mindestens 300 Menschen zusammen, die durch Demonstrationen oder aufständische Märsche gegen die Regierung auf ihre Situation aufmerksam machten. Nach langen Vorgesprächen wurden in der vierten Woche 50 Fragebögen an die Madgermanes verteilt. Leider fiel die Rücklaufquote geringer als erwartet aus. Bis zum Ende des Forschungsaufenthaltes wurden lediglich zwölf ausgefüllte Bögen zurückgeschickt. Für die Auswertung der Fragebögen wurde folgendes Analyseraster erstellt, nach dem die Kategorisierungen aufgebaut wurden: 1) Sozioökonomische Schwierigkeiten; 2) Soziale und kulturelle Integrationsschwierigkeiten; 3) Schwierigkeiten in der eigenen Familiengründung. 3.2.1 Sozioökonomische Schwierigkeiten Viele der befragten Rückkehrer waren länger als vier Jahre in Deutschland, drei Teilnehmer verlängerten ihren Aufenthalt sogar auf bis zu zehn Jahre. Die meisten unter ihnen kehrten nach Mosambik zurück und waren dort arbeitslos. Von Betrieben und staatlichen Organisationen wurden sie nicht eingestellt. Dies hatte mehrere Gründe. Einerseits fehlten Arbeitsplätze und die finanziellen Mittel, andererseits passten die sozialistisch erlernten Einstellungen der Rückkehrer nicht mehr in das verwestlichte Profil der Regierung, so dass sie auf verstärkte Ablehnung innerhalb der Gesellschaft und des Staates stießen. Fachkräfterückkehrprogramme standen nur für circa 200 bis 300 Menschen zur Verfügung. Aufgrund der hohen Kosten, der fehlenden Umsetzung der erworbenen Fähigkeiten in Mosambik sowie der schwierigen Erfassung der Rückkehrer wurde das Programm nach nur zwei Jahren 1992 eingestellt.12 11 Madgermanes organisieren sich unterschiedlich, um ihre Rechte auf Lohnausgleichszahlungen einzufordern. Momentan gibt es fünf Gruppierungen von Rückkehrern in der Hauptstadt, die sich in einem Spektrum von radikalen und weniger radikalen Zügen bewegen. Die Base Central de Madgermanes ist in den Händen der größten und radikalsten Gruppe (ungefähr 300 bis 600 Mitglieder), die durch Aufstände, Demonstrationen (oder die Besetzung der deutschen Botschaft 2004) auf sich aufmerksam machen. Daneben existieren noch christliche und autonome Gruppen, die sich allerdings von dem Base Central abgrenzen. 12 Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat 1990 im Auftrag der Bundesregierung eine Studie zur Prüfung der Möglichkeiten eines Fachkräfteprogramms (FKP) Mosambik aufstellen lassen (Schönmeier 1991). In diese Studie wurden 1.335 Mosambikaner, die noch 1990 in der DDR in den Betrieben waren und kurz vor ihrer Ausreise standen, einbezogen. In dieser Studie wurden ehemalige Vertragsarbeitnehmer in der DDR und deren Fähigkeiten, Fertigkeiten und Qualifikationen ermittelt, um diese dann in Mosambik gezielt in bestimmten Betrieben einzusetzen. Es sollte ein Mittel sein, die berufliche Reintegration zu erleichtern. Sie sollten gefördert werden, um selbständig, im Staatsdienst oder in privaten Unternehmen zu arbeiten. (Sextro 1996: 155).
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Allgemein herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit. Heute leben viele der zurückgekehrten Frauen in der einkommenssicheren Prostitution oder verkaufen Gemüse auf den Straßen. Männer verdienen sich ihr Geld als Sicherheitskräfte vor Hotels oder Banken oder sie wanderten nach Südafrika aus, um dort beispielsweise in alten Goldminen zu arbeiten. 3.2.2 Soziale und kulturelle Integrationsschwierigkeiten Über die Rückkehr der Arbeiter nach Mosambik freuten sich besonders Familienangehörige im Heimatland. Die Kinder haben eine Ausbildung genossen und der Geldbetrag von 3.000 DM diente der Unterstützung, auch um das Ansehen in der Gemeinschaft aufrecht zu erhalten. Dieses Geld war jedoch schnell aufgebraucht.13 An eine langfristige Unterstützung der Familie und Verwandten war aufgrund fehlender Chancen und Möglichkeiten kaum zu denken. Schnell entstand eine Abhängigkeit gegenüber den Familienangehörigen. Auch taten sich Sprachschwierigkeiten auf. Ausdruck und Sinn, sowie einige Worte und Begriffe mussten neu erlernt werden. Die Teilnehmer erlebten für vier Jahre einen strikten, direkten Umgang mit der deutschen Sprache, die sich auch in ihren Verhaltensweisen ausdrückte. Die durch die Sozialisation in der DDR angeeigneten Direktheit, Ordnung und Pünktlichkeit haben in Mosambik zu Irritationen bei Familie und Freunden geführt. Das neue Selbstverständnis der Madgermanes war mit den traditionellen Vorstellungen der Gemeinschaft nur schwer in Einklang zu bringen und wurde häufig mit fehlendem Respekt gleichgesetzt. Auch die Konformität und Normbefolgung als Respektbekundung konnte von Seiten der Rückkehrer nicht mehr gewährleistet werden. Handlungen und Denkweisen, die mosambikanische Vorfahren festlegten, müssen traditionell jedoch befolgt werden. Die Rückkehrer hatten somit Schwierigkeiten, ihre in Deutschland erworbenen Fähigkeiten, ihre veränderte Identität, ihre Verhaltensweisen mit der mosambikanischen Normbefolgung in Einklang zu bringen. Auch das führte im Verlauf der Zeit 13 Die Rückkehrer haben Familie und Verwandte finanziell unterstützt, sowie sich selbst Häuser und Fortbewegungsmittel gekauft. Nelson Penedo zeigt in seinem Entwurf der fünf traditionellen Ordnungsvorstellungen auf, was für Menschen aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara, somit Mosambik eingeschlossen, von Wert ist und eine Institutionalisierung der modernen demokratischen Ordnung erschwert. Diese Werte beziehen sich auf eine traditionelle Vorstellung von Machtausübung, Gemeinschaftsstruktur und Gesellschaft sowie Politik. Neben der Vorstellung des zyklischen Zeitverständnis, des personengebundenen Wissens, der Konformität und der Exklusivität hebt der Autor das Prinzip der relativen Gleichheit hervor, nach dem sich die Verteilung von Ressourcen regelt (Penedo 2005).
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zum Verlust von Ansehen und Status und zu größerer Abhängigkeit. Somit kam es zu Identitätsverzerrungen und persönlicher Abwertung der eigenen Identität. 3.2.3 Schwierigkeiten der eigenen Familiengründung In Bezug auf die Familienverhältnisse zeigte sich, dass keiner der Teilnehmer verheiratet ist. Warum die Mehrheit der Rückkehrer keine Beziehungen haben, kann nur vermutet werden. Oft fehlen ihnen die finanziellen Mittel. Sie sind weiterhin von ihren Familien abhängig und haben in der Öffentlichkeit ihr Ansehen durch ihren Aufenthalt in der DDR verloren. Sie werden als Unruhestifter und ewig Rebellierende beschimpft. Hier wird erneut die negative Konnotation des Begriffes der Madgermanes deutlich. Da Männer und Frauen in Mosambik von eher traditionellen Rollenverständnissen geprägt sind, ist es für die Rückkehrerinnen schwierig das traditionelle Bild und die daran geknüpften Erwartungen mit der gewonnen Selbständigkeit in subjektiven Lebensbereichen zu verbinden. Auch das aufständische, rebellierende Verhalten im Zuge ihrer Demonstrationen gegen die Maßnahmen der Regierung kann abschreckend auf potentielle Kandidaten wirken. Für die männlichen Rückkehrer ist es besonders im Hinblick auf finanzielle Aspekte, schwierig eine Partnerin zu finden. Auch hier kann das traditionelle Rollenverständnis oftmals nicht erfüllt werden, da die Rückkehrer beispielsweise die Mitgift für die Familie der Braut nicht aufbringen können. 3.2.4 Fazit Das (Wieder-)Zurechtfinden mit den Normen und Werten innerhalb der eigenen Kultur und den traditionellen Orientierungsmustern stellte sich als zunehmendproblematisch dar, besonders im Zusammenhang mit subjektiver Unzufriedenheit und dem Verlust von sozialem Ansehen. Durch den Aufenthalt in der DDR eigneten sich die Interviewpartner neue Werte an, die nach der Rückkehr mit den traditionellen Abläufen kollidierte. Heute sind viele der Rückkehrer frustriert und ohnmächtig gegenüber dem eigenen Leben. Anstatt sich vorwärts zu bewegen, eigenständig neue Berufsrichtungen, weiterführende Schulen oder Fortbildungen zu besuchen, warteten sie ab und hofften auf das Eingreifen ihrer Regierung. In diesem Sinne kann nicht von Integration gesprochen werden. Die Rückkehrer nehmen nicht aktiv an gesellschaftlichen Prozessen teil. Dimensionen der sozialen Ungleichheit sind in diesem Fall fehlende Arbeit, anfängliche Begeisterung und spätere Diskriminierung innerhalb der Gemeinschaft. Diese soziale
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Ungleichheit führte weiterhin zu Ausgrenzung und damit dem Gefühl der Fremdheit im Heimatland. Aufgrund der fehlenden Mittel und der Nichtbewerkstelligung der angetragenen Aufgaben und Verantwortungsbereiche entwickelten sich viele Rückkehrer zu einem Subjekt des Mitleids: Sie fühlten sich vom Leben ausgeschlossen. Dieser Schock, der sich anfänglich als Rückkehrschock darstellte, hält bis heute an und führt zu schwerwiegenderen Anpassungsproblemen, als die damalige eigentliche Migration in die DDR ihnen an Bereitschaft zur Umstellung abverlangte. Diese Ereignisverkettungen, die als Resultate aus politischen Entscheidungen der beiden Länder DDR und Volksrepublik Mosambik zu verstehen sind, spiegeln sich bei den Befragten als Negativspiralen im Leben wider. Bei allen Rückkehrern zeigt sich eine deutliche Disparität zwischen der lebensweltlichen Vorstellung und der Realität bei der Rückkehr nach Mosambik. Die politisch-historischen Entscheidungen konstruierten negative Verlaufskurven der einzelnen Befragten. Ihre Identitäten haben sich nach der Rückkehr destabilisiert, sie problematisieren ihre Biographien, ihre Wunschbilder stimmen mit ihrem realen Selbst nicht mehr überein. 4
Zusammenfassung
Die Analyse macht deutlich, dass die in Deutschland gebliebenen Mosambikaner, am Beispiel der Befragten, vermehrt ihre Ziele erfüllen konnten, die sogar weit über die damals bei der Einreise gesteckten Ziele nach Deutschland hinausreichen. Ihre Erwartungen und Hoffnungen, die sie vor der Ausreise in die DDR hegten, ließen sich nach der politischen Wende in der BRD realisieren. Für die Rückkehrer nach Mosambik werden sich auch in Zukunft nur schwerlich Verbesserungen der individuellen Situationen ergeben, da anzunehmen ist, dass die Regierung ihre oben dargestellten Einstellungen nicht ändern wird. Jedoch schaffen es die Madgermanes durch regelmäßige Demonstrationen ihre Lebensgeschichte vermehrt der – inzwischen auch internationalen – Öffentlichkeit zugänglich und verständlich zu machen, um die Farce des Regierungsabkommens in Mosambik aufzuzeigen. Auch die in Deutschland gebliebenen Mosambikaner sind bemüht, ihre Situation durch Vereinstätigkeiten sowie Mitarbeit in Wohlfahrtsverbänden oder auf Tagungen publik zu machen. Die Geschichte der Vertragsarbeitnehmer scheint noch nicht gänzlich in Vergessenheit zu geraten zu sein, jedoch sinkt im Verlauf der Zeit und nunmehr zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands das Interesse der Öffentlichkeit an dieser Thematik immer mehr.
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Bibliographie
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IV Lusophone Repräsentationen der Migration
Repräsentationen der Emigration in der portugiesischen Literatur Fernanda Silva-Brummel
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Einleitung
Seit Beginn der Expansion nach Übersee im 15. Jahrhundert ist die Emigration eine feste Konstante im wirtschaftlichen und sozialen Leben Portugals. Über die Jahrhunderte hinweg entwickelte das portugiesische Volk die Strategie, die Lösung für seine unzureichenden Lebensbedingungen ‚in der Ferne’ zu suchen. In seiner Vorstellungswelt wurde diese Strategie Normalität, ein ‚portugiesisches Schicksal’ oder genauer, das Schicksal bestimmter sozialer Schichten in Portugal.1 Hierin finden sich die historischen Wurzeln eines Wunschbildes, das die existentiellen Entbehrungen kompensiert: Fern vom Vaterland ist es leichter und erfolgversprechender um den wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg zu kämpfen. Vor allen anderen Ausdrucksformen der Kunst hat die portugiesische Literatur von Anfang an dieses Phänomen verarbeitet. In einer langen ersten Phase, die bis ins 20. Jahrhundert reicht, beschäftigt sich seine literarische Darstellung vor allem mit der Figur des Emigranten als reicher Heimkehrer. Dabei werden sowohl seine Erlebnisse in der Diaspora wie auch die Gründe der Emigration völlig vernachlässigt. In einer zweiten Phase, die Anfang des 20. Jahrhunderts einsetzt, entwickelt sich hingegen das Thema der Emigration in der portugiesischen Literatur in seiner ganzen Breite, ohne also die Probleme auszusparen, die zur Auswanderung geführt haben, oder die schlechten Bedingungen im Zielland, unter denen die Emigranten lebten. Beide Phasen möchte ich im vorliegenden Artikel anhand von ausgewählten Beispielen charakterisieren.
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Die volkstümliche portugiesische Dichtung ist eines der besten Zeugnisse der großen sozialen Bedeutung, die der Emigration in der nationalen Vorstellungswelt beigemessen worden ist. Ein Beispiel ist der folgende Vierzeiler: „Sie sagen, dass Sie mich nicht wollen, / Dass ich kein Geld habe; / Ich habe meinen Vater in Brasilien, / Ich bin die Tochter eines ‚Brasilianers’“. Original: „Você diz que não me quere, / Que eu não tenho dinheiro; / Tenho o meu pai no Brasil, / Sou filha de um brasileiro“ (zit. nach Cortesão 1942: 155). Alle Übersetzungen von der Verfasserin.
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Fernanda Silva-Brummel
Die Emigration in der portugiesischen Literatur von der Expansion bis zum 19. Jahrhundert
Während des 16. und 17. Jahrhunderts bezieht sich Emigration auf Kolonisation im Rahmen der Expansion nach Übersee. Wie Joel Serrão in seiner klassischen Studie über die portugiesische Emigration feststellt, wird in dieser Epoche offiziell nicht von Emigranten gesprochen. Es gibt den Siedler, verstanden als Träger und Vertreter der Christianisierung und der europäischen Zivilisation in ‚barbarischen’ Regionen. Er wird als Teil eines nationalen, heroischen Unternehmens betrachtet und nicht als Individuum (Serrão 1972: 55). Um die portugiesische Migration jener Zeit zu verstehen und so ihre offizielle Darstellung korrigieren zu können, muss man auf satirische und moralkritische literarische Texte des portugiesischen Expansionismus zurückgreifen. Ich beziehe mich konkret auf Auto da Índia von Gil Vicente, einige Briefe von Sá de Miranda, Passagen der Peregrinação von Fernão Mendes Pinto, auf O Soldado prático von Diogo do Couto sowie auch auf einige Predigten des Jesuitenpaters António Vieira. Die genannten Autoren zeichnen vom Migranten jener Epoche noch ein sehr vages Bild. Aber in der Satire und moralischen Kritik seines Verhaltens, sowohl im Orient als auch in Brasilien, erscheinen schon die Topoi, die ihn später charakterisieren werden: Er wandert aus, um schnell und oft mittels skrupelloser Methoden reich zu werden, und nicht, um zu zivilisieren. Nach seiner Rückkehr ist der gewonnene und prahlerisch zur Schau gestellte Reichtum der Beweis seines Erfolges und der Schlüssel, der ihm die Tür zu sozialem Aufstieg öffnet. Erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts, als die Auswanderung ein individuelles Lebensprojekt wurde, und ehemalige Emigranten, die wohlhabend aus Brasilien zurückgekehrt sind, eine Konstante in der portugiesischen Gesellschaft geworden sind, erscheint der Emigrant erstmalig als literarische Figur. Das bedeutet jedoch noch nicht, dass bereits eine Literatur der Emigration entstanden ist. Durch die Feder der Dichter der Aufklärung, besonders von Filinto Elísio, wird der Emigrant als Karikatur dargestellt. Der ‚Bergman’ (mineiro) des 18. Jahrhunderts hat noch keinen Namen, kein Gesicht, aber wie seine Vorläufer kommt er aus niedrigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen. Er ist nicht sehr intelligent, wandert aus, um reich zu werden, erreicht sein Ziel ohne große Skrupel, kehrt in seine Heimat als erfolgreicher Mann zurück und erkauft sich dort seinen sozialen Aufstieg. Filinto Elísio ist in seiner Charakterisierung des ‚Brasilianers’ (brasileiro) vernichtend. In seinem Gedicht „Conto“ hebt er besonders die Habgier als Motiv der Auswanderung hervor: „Ein gewisser Maurer
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verließ Samardã / Gierig nach Gold, auf der Suche nach Reichtum“.2 Er unterstreicht die Lächerlichkeit seines sozialen Aufstiegs und lässt ihn enttäuscht aus Paris zurückkehren: […] da, eilig stellt er sich vor / In der französischen Hauptstadt [...] / Kehrt zornig zurück / In sein Samardã. [...] – Sie loben diese Leute / Mit guten Manieren? [...] / Keinen hab ich gesehen, weder adlig noch Plebejer, / Der, im Vorbeigehen, mich mit dem Hut grüßte.3
Es ist diese Karikatur, die Camilo Castelo Branco im 19. Jahrhundert perfektionierte. Über die vom mineiro geerbten Charakteristika hinaus hat der brasileiro von Camilo nun eine entsprechende physische Erscheinung. Camilo gibt ihm ein apoplektisches Gesicht und einen dicken Bauch, verformt von Gefräßigkeit, die seiner Gier nach Gold und Macht entsprechen. Er gibt ihm ein Paar Hände, an denen der Glanz der Diamanten nur schwer die Zeichen harter Arbeit verbirgt, ein Paar Plattfüße, breit und voller Hühneraugen, an denen seine pöbelhafte Herkunft klebt. Über diese hässliche physische Erscheinung hinaus wird der brasileiro von Camilo auch durch seine lächerliche Art, sich zu kleiden, und durch die Manieren eines grobschlächtigen Neureichen charakterisiert. Zwar lernen wir in den Werken von Mendes Leal und Trindade Coelho aus den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts gelegentlich auch einen anderen heimgekehrten Emigranten kennen.4 Es bleibt aber die Figur des brasileiro, die bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts vor allem in der Erzählliteratur vorherrscht. Einerseits war die literarische Darstellung des brasileiro als Karikatur die Strategie, mit der die rückwärtsgewandte portugiesische Gesellschaft jener Epoche den unverschämten Parvenü strafte, der mit seiner Dynamik und seinem Geld, von dem die Gesellschaft letztendlich auch lebte,5 schnell in die höchsten 2 3 4 5
Original: „Saíu da Samardã certo pedreiro / Faminto de ouro, em busca de fortuna“ (Elísio 1941: 238-239). Original: „Ei-lo azoado se apresenta / Na capital francesa [...] / Volta enfadado / À sua Samardã. [...] / – Gabam tal gente / De polida? [...] / Não vi um só, nem grande, nem plebeu, / Que, ao passar, me corteje co chapéu“ (Elísio 1941: 238-239). Beide Autoren interessieren sich für die Figur des brasileiro nur zum Zweck der Satire eines städtischen, parasitären Kleinbürgertums, dürstend nach dem Reichtum, den der zurückkehrende Emigrant mitbringt. Eça de Queirós beschreibt die Gesellschaft dieser Epoche meisterlich mit folgenden Worten: „Nun, der ‚brasileiro’ ist weder schön, noch geistreich, weder elegant, noch außergewöhnlich – er ist ein Arbeiter. Und Du, Portugiese, [...] Du bist ein Schmarotzer! [...] Du lachst über den ‚brasileiro’ – aber versuchst, auf Kosten des ‚brasileiro’ zu leben. Wenn Du den ‚brasileiro’ kommen siehst [...] brichst Du in Spott aus. Wenn er aber von dort nie zurückgekommen wäre mit seinem schönen Geld, würdest Du vor Hunger sterben!“. Original: „Ora o brasileiro não é formoso, nem espirituoso, nem elegante, nem extraordinário – é um trabalhador. E tu, português, [...] és um mandrião! [...] ris do brasileiro – mas procuras viver à custa do brasileiro. Quando vês o brasileiro chegar [...] estalas em pilhérias. E se ele nunca de lá [do Brasil] voltasse com o seu bom dinheiro, morrerias de fome!“ (Queirós 1965: 92).
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sozialen und wirtschaftlichen und damit auch politischen Schichten aufstieg. Andererseits war diese Karikatur aber das Symbol der Emigration, wie sie in der portugiesischen Gesellschaft seit dem 16. Jahrhundert vorherrschte: Emigration als die erträumte Möglichkeit, einer Realität ohne Perspektiven zu entfliehen. Die portugiesische Literatur hat somit sehr lange dazu beigetragen, ein trügerisches Bild der Emigration zu bewahren. Die literarische Figur des brasileiro erzeugt weiterhin Erwartungen, die sich für den portugiesischen Auswanderer Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts nirgendwo in der Welt mehr erfüllten, nicht einmal mehr im unabhängigen Brasilien. 3
Das Erlebnis der Diaspora in der portugiesischen Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts
Eine echte Emigrationsliteratur, die nicht nur die menschlichen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme thematisierte, die Ursache dieses Phänomens waren, sondern auch seine Figuren humanisierte – diese entsteht erst in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit der ersten Ausgabe des Romans Emigrantes von Ferreira de Castro im Jahr 1929. Wie im 19. Jahrhundert ist es vor allem die Erzählliteratur, die sich nun diesem jahrhundertealten Phänomen widmet. Aber ihre literarische Darstellung erfolgt jetzt aus der Perspektive des Emigranten. Die Diegese konzentriert sich nicht mehr ausschließlich auf seine Rückkehr nach Portugal. Sie befasst sich vor allem mit den Erlebnissen des Emigranten in der Diaspora. Um im Rahmen dieses Beitrages den Wandel analysieren zu können, den diese neue Perspektive in der literarischen Darstellung der Emigration markiert, musste ich mich in der Auswahl auf die Autoren beschränken, die mir besonders repräsentativ erscheinen. Das wichtigste Kriterium war, dass die Werke in Portugiesisch geschrieben und in Portugal für ein portugiesisches Publikum veröffentlicht worden sind. Deshalb besteht das Korpus dieses Artikels vor allem aus folgenden Werken von: 1) drei Autoren, die selbst die Diaspora kennengelernt haben: José Ferreira de Castro, José Rodrigues Miguéis und Miguel Torga; 2) einem Autor, der noch immer außerhalb Portugals lebt: Onésimo Teotónio de Almeida; 3) einer Autorin, die, obwohl sie selbst die Emigration nie persönlich erlebt hat, sich sehr tiefschürfend dieser Problematik gewidmet hat: Olga Gonçalves. Nur zwei dieser Autoren – Ferreira de Castro und Miguel Torga – setzen sich literarisch mit der Rückkehr auseinander, behandeln aber auch detailliert die sozioökonomischen Probleme, die den Emigranten zur Auswanderung veranlassen. Rodrigues Miguéis und Olga Gonçalves behandeln diese Bedingungen
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hingegen nur am Rande, und von Onésimo Teotónio de Almeida werden sie überhaupt nicht erwähnt. Ulrich Schoen analysiert in einer Studie von 1999 Probleme, die beim Aufeinandertreffen der Kulturen in der Diaspora entstehen. Dabei unterscheidet er vier Arten von Reaktionen eines Emigranten, der, geprägt durch die Werte der Herkunftskultur mit der Gesellschaft seines Gastlandes konfrontiert wird: 1) Er verfügt über eine unabhängige Persönlichkeit und lässt sich weder von seiner Ursprungskultur, noch von der Gastgesellschaft vereinnahmen. Der Emigrant nutzt von beiden die Aspekte, die er als besonders vorteilhaft betrachtet und entwickelt in einem Prozess der Synthese ein neues Ich. Er verwandelt sich so in das, was Schoen als ein ‚neues Produkt’ bezeichnet; 2) Der Emigrant identifiziert sich aus freiem Willen mit der Gesellschaft, die ihn aufnimmt. Er lässt sich völlig von ihrer Kultur assimilieren, weil er sie als derjenigen, die er mitgebracht hat, als überlegen betrachtet; 3) Der Emigrant lehnt die Gastgesellschaft ab oder wird von ihr zurückgewiesen und flüchtet sich in ein Ghetto, in dem er nach den kulturellen Werten seines Herkunftslandes lebt; 4) Im Kontakt mit der Kultur seines Gastlandes gelingt es dem Emigranten, sich völlig in diese einzugliedern, ohne jedoch die Kultur seiner früheren Heimat zu verleugnen. Es gelingt ihm, völlig integriert in der einen wie in der anderen Kultur zu leben. Er verwandelt sich somit in ein ‚bi-kulturelles Ich’ nach der Definition von Schoen (Schoen 1999: 213-225). Das aufgezeigte Paradigma ist für meinen Versuch einer Klassifizierung der verschiedenen Darstellungen von Emigrationserlebnissen in der portugiesischen Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts sehr hilfreich. Jedoch erscheint der Emigrant in der portugiesischen Literatur nie als ‚bi-kulturelles Ich’. 3.1 Eine neue Identität In den beiden ersten Bänden seiner Autobiographie in Romanform A criação do mundo erzählt uns Miguel Torga sein eigenes Emigrationserlebnis.6 Im Augen6
Die Thematisierung der Erlebnisse in der Diaspora umfasst nicht den ganzen Band II von A criação do mundo. Sie endet in dem Moment, in dem der junge Torga schließlich die Universität besucht und sein erstes Buch veröffentlicht.
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blick seiner Abreise nach Brasilien ist der autodiegetische Erzähler Miguel, obwohl noch ein Kind von zwölf Jahren, sicher, dass diese Entscheidung die einzige Möglichkeit ist, den Konflikt, der seine junge Existenz bestimmt, zu lösen. Sich seiner eigenen Fähigkeiten bewusst, strebt er einerseits nach Unabhängigkeit, nach intellektueller Verwirklichung fern der überaus beengten Horizonte der Umgebung, in der er geboren wurde. Andererseits weiß er auch, dass er wegen der dort herrschenden sozioökonomischen Bedingungen immer „Diener der anderen“ (Torga 1969: 63) bleiben wird, wenn er seine Heimat nicht verlässt. Der Junge wandert aus, weil er sich in vollem Bewusstsein weigert, das traditionelle Schicksal der sozialen Klasse, der er angehört, zu akzeptieren. Er erwartet von der Emigration keine märchenhaften Reichtümer, sondern nur die nötige wirtschaftliche Grundlage, um nach seiner Rückkehr seine Ziele im Leben verwirklichen zu können. Unmittelbar nach der Ankunft in Rio de Janeiro nimmt ihn sein Onkel, auf dessen Fazenda der junge Emigrant arbeiten wird, mit in ein Bekleidungsgeschäft. Dort wird er seiner ganzen Kleidung entledigt, die er aus Portugal mitgebracht hat, und von Kopf bis Fuß gemäß den klimatischen Bedingungen Brasiliens eingekleidet. Diese Szene bildet im chronologischen Plan der Diegese einen wichtigen Einschnitt. Sie hat vor allem auch einen hohen symbolischen Wert: Sie steht für einen radikalen Bruch mit der bäuerlichen und archaischen Kultur, die ihn aus seinem Dorf in Trás-os-Montes begleitet hat, wo das Individuum dazu erzogen wird zu gehorchen – Gehorsam den Reicheren und Mächtigeren, den Gebildeteren und Älteren der Familie, den Traditionen gegenüber gemäß dem zyklischen Rhythmus der Natur. „Nichts von dem, was ich in Agarez gelernt habe, war mir dort von Nutzen“ (Torga 1969: 115), wie Miguel erkennt. Von diesem Augenblick an wird der Onkel, der in der Diegese die Rolle eines wahren Tutors wahrnimmt, versuchen, aus dem Jungen einen Mann zu machen. Das heißt, einen Fazendeiro. Der Junge unterwirft sich den ihm auferlegten Paradigmen aus dem Bewusstsein heraus, sich so zu einem neuen Ich zu entwickeln. Er lernt, die härtesten landwirtschaftlichen Arbeiten zu übernehmen, aber auch die Arbeiten der Fazenda zu führen. Er übernimmt die Verantwortung für die finanzielle Leitung des Besitzes und ergreift mit großer Freude die Chance, seine gymnasiale Schulbildung in der nächstgelegenen Stadt aufzunehmen. Denn dies bedeutet für ihn den so sehr ersehnten Zugang zur Kultur. In der Stadt erfährt er auch den Wert der Freundschaft und der Liebe. Das Erlebnis der Emigration ist für Miguel ein Prozess der Reifung und der Persönlichkeitsentwicklung. Während dieses Prozesses nimmt er nur die Erfahrungen in sich auf, die es ihm ermöglichen, ein Ich zu entwickeln. Dieses Ich soll eigenständig sein und überzeugt von den Zielen, die er noch erreichen will –
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Universitätsbildung und literarisches Schaffen. Zweifellos ein deutlich anderes Ich als das, mit dem er vor Jahren in Rio angekommen ist, aber auch verschieden von dem, was sein Onkel für ihn im Sinne hatte, nämlich seinen Erben. Das Leben in den Jahren der Diaspora macht aus ihm in der Terminologie von Schoen ‚ein neues Produkt’. Das heißt, er entwickelt dort die charakterliche Reife, um sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Deshalb schlägt der junge Mann das Erbe der Fazenda aus: „Ich würde meinem Weg folgen auf der Suche nach anderen Schätzen“ (Torga 1969: 202). An diesem Punkt der Diegese endet die Rolle Brasiliens bei der Erschaffung der neuen Identität des jungen Emigranten. Diese Suche nach anderen Schätzen wird sich im Heimatland konkretisieren. Die Rückkehr wird jedoch die Reife und Kohärenz von Miguel auf die Probe stellen. Um der Verwirklichung seiner Ziele treu zu bleiben, muss er schließlich endgültig mit seiner Familie und seinem Geburtsort brechen, die ihn wie einen Fremden behandeln: „Niemand hatte den Mut, es mir klar zu sagen. Aber meine Anwesenheit war dort zu viel“ (Torga 1970: 35). Von diesem Augenblick an wird Coimbra sein neues Ziel. 3.2 Ein Fuß in jedem Vaterland Im Gegensatz zum jungen Emigranten in A criação do mundo, der die kulturellen Wurzeln seiner Herkunft kappt und mit dem, was er in der Diaspora erlernt, aus sich ein ‚neues Produkt’ macht, erleben die vielfältigen autodiegetischen Erzähler, die implizit mit Olga Gonçalves in Este Verão o emigrante là-bas in einem Dialog stehen, die Emigration in Frankreich als ein dauerndes Schwanken zwischen zwei Vaterländern.7 Alle versichern, dass sie nicht abgereist sind auf der Suche nach dem mythischen ‚Pfennigbaum’, sondern nach Würde, verstanden als Recht auf Arbeit, auf Wohnung und Erziehung für die Kinder, also nach allem, was sie als ‚besser leben’ bezeichnen: „In Frankreich, ich lebe schon lange in Frankreich, hier hatte ich nicht genug zum Leben“.8 Aber sie alle wissen auch, dass sie sich mit den Arbeiten zufrieden geben müssen, die die Franzosen nicht übernehmen wollen, dass sie mit der Sprachbarriere leben müssen und damit, nicht akzeptiert zu 7
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Olga Gonçalves verfasste einen weiteren Roman über die Emigration – A floresta em Bremerhaven. Meine Wahl fiel auf Este Verão, weil hier die Emigranten, denen die Schriftstellerin Stimme verleiht, noch in der Diaspora leben. Anders als die Protagonisten in A floresta, die schon nach Portugal zurückgekehrt sind, sprechen diese von Erlebnissen, die noch Teil ihrer Gegenwart sind. Original: „Na França, vivo há muito na França, aqui não me governava“ (Gonçalves 1978: 43).
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werden von der Gesellschaft, die sie aufgenommen hat. In der Diaspora verstehen sie jedoch, dass die französische Gesellschaft ihnen trotz aller negativen Aspekte mehr gibt als Geld, mit dem sie die materiellen Symbole ihres wirtschaftlichen Aufstiegs erwerben können: Gute Kleidung, ein durchschnittliches Apartment, vielleicht ein Auto. Sie erkennen, dass sie als Arbeiter und Bürger, wenn auch zweiter Klasse, Rechte haben. Sie lernen, sich zu informieren, zu solidarisieren, nachzudenken über ihre eigenen Lebensverhältnisse und diese mit Freunden und Arbeitskollegen zu diskutieren: Dass sich treffen, um über Politik zu reden, [...] diese Frau flieht vor der Politik wie der Teufel vor dem Weihwasser. Als wenn ein Mann nicht auch Interesse haben kann an dem, was passiert! Dort im Heimatland war das etwas anderes [...] aber man kommt hierher und hört die anderen, sieht, dass man Kraft hat. [...] hab keine Angst, niemand wird mich verhaften. [...] Ach was! Dies hier ist eine andere Welt.9
Deshalb bleiben sie und verschieben die Rückkehr immer wieder auf später, denn, wie einer der Emigranten feststellt, „[…] wir kehren nicht zurück, bevor wir nicht genug zusammen haben, um nicht von den anderen erniedrigt zu werden, die sich für etwas Besseres halten als wir“.10 Ein Bruch mit ihrem Geburtsland, mit der Kultur ihrer Herkunft, findet während des Lebens dieser Emigranten in der Diaspora nicht statt. Sie genießen die materiellen und sozialen Vorteile ihres täglichen Lebens in einer Gesellschaft, die vielleicht auch nur geringfügig gerechter ist. Aber sie verändern nicht ihren Wertekanon, den sie aus ihrem Heimatland, das sie jedes Jahr besuchen, mitgebracht haben. Trotz eines langen Aufenthaltes in Frankreich und der Zufriedenheit, die die in Portugal gewonnene Demokratie ihnen bringt, bleiben in ihrem Familienleben ihre patriarchalischen Verhaltensweisen unantastbar: Für die Tochter da unten weiß ich nicht, ob es gut ist. Die Französinnen erlauben sich alles, aber nach dem, was ich höre, scheint es, dass mit der Demokratie in Portugal die Frauen sich Freiheiten nehmen. [...] Was mich betrifft, habe ich mich über die Revolution gefreut, ich hoffe, dass sie der Unterdrückung und der Sklaverei ein Ende gesetzt hat, aber das mit den Frauen, dass das Huhn zur gleichen Zeit wie der Hahn kräht, das ist überhaupt nichts für einen Mann wie mich! [...] Daheim bestimme ich, und sie folgt. Zufrieden, warum nicht? Warum sollte sie nicht zufrieden sein, wenn sie meinem Willen folgt?11 9
Original: „Que se juntam a falar de política, [...] esta mulher foge da política como o diabo foge da cruz. Como se um homem não possa também ter interesse no que se passa! Lá na terra era outra coisa [...] mas a pessoa chega aqui e ouve os outros, vê que tem força. [...] não tenhas medo que ninguém me leva preso. [...] Ora, ora, ora!, isto aqui é outro mundo“ (Gonçalves 1978: 100). 10 Original: „[...] não voltamos sem se juntar o suficiente pra não sermos humilhados pelos outros, os que se julgam mais do que nós“ (Gonçalves 1978: 136-137). 11 Original: „Para a filha, lá em baixo, já não sei se é bom. As francesas não se guardam de nada, mas ao que oiço, com a democracia, parece que em Portugal a mulher está a tomar liberdade.
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Die jedes Jahr wieder erneuerte Beziehung zur Gemeinschaft, in der sie geboren wurden, und die Hoffnung auf eine Rückkehr bewirken, dass sie die Diaspora als ein permanentes Schwanken erleben – ein Schwanken zwischen dem Heimatland, das ihnen ihre kulturelle Identität gegeben hat, und dem Zielland, das ihnen „[…] das Recht auf Menschenwürde und einen Anspruch auf Zivilisation“12 gewährt hat. Die Sprache, die sie sprechen, und die die Autorin als „NichtHeimatsprache“ (Gonçalves 1978: 62) bezeichnet, drückt dieses Schwanken sehr genau aus: Na usina vim remplaçar uma preta da Martinica que nessa ocasion ficou malada. Foi uma outra portuguesa que arranjou a trabalhar nesta plaça. O meu marido e o meu filho trabalham no bâtiment. O meu filho já está casado, habita em Boulogne (Gonçalves 1978: 152, Hervorhebungen im Original).13
Die Semantik ist neu, denn sie drückt all das aus, was Frankreich, das zweite Vaterland, ihnen gibt. Die Syntax, in der die grundlegende grammatikalische Struktur sehr präsent ist, enthüllt die ursprünglichen Wurzeln, die noch immer sehr fest im Heimatland verankert sind. Aber es ist auch diese starke Gegenwart der portugiesischen Syntax, die letztendlich aus ihnen Wesen macht, die an der Schwelle einer bi-kulturellen Existenz stehen geblieben sind. 3.3 Die Übernahme einer neuen Identität In den Erzählungen „Natal branco“ und „O Cosme de Riba-Douro“ aus dem Band Gente da terceira classe zeichnet Rodrigues Miguéis das Profil eines in der portugiesischen Literatur sehr seltenen Emigranten (Miguéis 1971). Gemeint ist ein Emigrant, der die Überlegenheit der Kultur der Gastgesellschaft anerkennt, diese bedingungslos übernimmt und so eine neue Identität annimmt. [...] Eu, por mim, gostei da revolução, espero que tivesse acabado o poder e os escravos, mas essa da mulher, essa da galinha cantar ao mesmo tempo do galo, não é coisa para um homem como eu! [...] Lá em casa quem resolve sou eu, e ela segue. Contente, porque não? Porque não havia de estar contente, se segue a minha vontade?“ (Gonçalves 1978: 175). 12 Original: „[...] o direito à dignidade humana e à exigência da civilização“ (Gonçalves 1978: 112). 13 Ich habe das Zitat bewusst im portugiesischen Original belassen, weil es in der Übersetzung seine Wirkung verliert. Zum Verständnis der Inhalte folgt dennoch eine approximative Übersetzung: „In der Fabrik habe ich eine Schwarze aus Martinique vertreten, die zu dieser Zeit krank geworden war. Es war eine andere Portugiesin, der es gelang, diese Stelle für mich zu finden. Mein Mann und mein Sohn arbeiten auch auf dem Bau. Mein Sohn ist schon verheiratet, er wohnt in Boulogne“.
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Ausgehend von der detaillierten Schilderung von Schlüsselsituationen in der Lebensweise von Tony und Cosme, den beiden Protagonisten, in den Vereinigten Staaten unterstreicht der homodiegetische Erzähler die perfekte Assimilierung der beiden in der amerikanischen Kultur. Beide haben sich schon vor langer Zeit für das zweite Vaterland entschieden. Tony benutzt in „Natal branco“ den englischen Diminutiv seines Vornamens António, und nicht die portugiesische Entsprechung ‚Tó’ oder ‚Toino’. Beide leben und reagieren wie amerikanische Bürger: Sie sind nicht reich, aber führen ein geordnetes Leben ohne wirtschaftliche Sorgen – ganz nach dem vorherrschenden gesellschaftlichen Muster. Sie leben in einem gemütlichen Apartment, eingerichtet mit guten, modernen Möbeln, die in erster Hand gekauft worden sind: Der Ölofen, aerodynamisch, mit blauer Flamme und ohne Geruch, erhitzt die Luft bis zum Ersticken. Bequeme Möbel, glänzender, geölter Fußboden, Teppiche und Kissen [...]. Alles glänzt vor Sauberkeit. Tony erklärt mir, dass fast alles neu ist, nur das Radio ist zehn Jahre alt, und sie denken sogar daran, ein neues auf Raten zu kaufen.14
Berücksichtig man die Bedeutung, die Weihnachten als religiöses und familiäres Fest für die emigrierte portugiesische Bevölkerung hat, ist das Weihnachtsfest in der Wohnung von Tony, zu dem der Erzähler eingeladen wird, beispielhaft für dessen neue Identität. Im Wohnzimmer ist keine Krippe aufgebaut – es erhebt sich ein Weihnachtsbaum. Das Festessen ist nicht das traditionelle Nachtmahl nach der Mitternachtsmesse am 24. Dezember mit ebenfalls traditionellen Delikatessen. Bei Tony feiert man den 25. Dezember mit Musik und Tanz sowie einem opulenten Essen am späten Nachmittag, wo das gebratene Schweinefilet – und nicht der Truthahn – einen Ehrenplatz hat: Wenn man den Ofen öffnet, und aus ihm kommt mit der Würde einer bischöflichen Zeremonie ein phantastisches gebratenes Schweinefilet [...] kann ich nicht den freudigen und bewegten Ausruf zurückhalten: – Gesegnet sei der Überfluss derjenigen, die arbeiten, für immer und ewig!15
Tony und Cosme sind selbstbewusste Bürger, engagiert in der Gesellschaft, die sie aufgenommen hat. Sie kennen die Gesetze, ihre Rechte und Pflichten. Sie lesen Zeitung und sind immer gut informiert über das, was in der Welt ge14 Original: „O fogão a petróleo, aerodinâmico, chama azul sem cheiro, aquece o ar até à sufocação. Móveis confortáveis, oleado reluzente no soalho, tapetes e almofadas [...]. Tudo brilha de asseio. Tony explica-me que é quase tudo novo, só o rádio tem dez anos, até pensam em comprar outro a prestações“ (Miguéis 1971: 56). 15 Original: „E quando se abre o forno e sai lá de dentro, com a majestade duma cerimónia episcopal, um formidável lombo de porco assado [...] não posso conter a exclamação risonha e comovida: – Abençoada seja a fartura dos que trabalham, para todo o sempre!“ (Miguéis 1971: 64).
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schieht. Sie sprechen ein Englisch, das besser ist, als allgemein üblich. Und ihr Portugiesisch „[…] bewahrt lediglich einen starken Geschmack aus dem Gebirge. Sie sind integrierte Portugiesen“.16 Aber den besten Beweis für eine perfekte Integration im adoptierten Vaterland liefert Cosme. Die historische Zeit der Diegese, deren Protagonist er ist, ist der Augenblick, in dem sich die Vereinigten Staaten entschließen, in den Zweiten Weltkrieg einzutreten. Wie viele andere junge Amerikaner jener Zeit meldet sich Cosme sofort zum Militärdienst. Als ein Opfer der portugiesischen Gesellschaft während der Diktatur des Estado Novo meldet sich Cosme freiwillig, Amerika und die ganze Welt gegen die Gefahr des Faschismus zu verteidigen. Seine Überzeugung einer patriotischen und demokratischen Mission ist wahrlich revolutionär: Der Faschismus hatte für ihn eine klare Bedeutung: Er war der Triumph derjenigen, die ihn in Hunger, Unwissenheit und Elend gehalten hatten, und nicht nur ihn, sondern unzählige Millionen auf der ganzen Welt. [...] Ich habe mehr Schweiß vergossen [...] auf den Straßen, Brücken und in den Häfen des Staates New York als die Millionen, die hier geboren sind! [...] und dies sind Wurzeln, die genauso stark sind wie die der Geburt [...] Auch ich will zurückkehren [...] aber weder zu Hunger, noch zu Demütigung: Um zu kämpfen mit einer Waffe in den Händen! Um dabei zu helfen, die zu stürzen, die uns herunterdrücken wollen auf Hunger, Unwissenheit und Unterwerfung [...] Nach einiger Zeit hat mir ein gemeinsamer Freund mitgeteilt, dass Cosme sich als Freiwilliger habe rekrutieren lassen, um nach Übersee zu gehen.17
Wie bei dem jungen Emigranten in A criação do mundo von Miguel Torga bedeutet die Diaspora auch für Tony und Cosme die Befreiung aus einem sozialen Schicksal, das sie mit der Geburt geerbt haben. Der wirtschaftliche und soziale Aufstieg sowie die berufliche, intellektuelle und kulturelle Weiterentwicklung sind der Weg, dieses Ziel zu erreichen. Oder wie Cosme es formuliert: „Das Geld und die Dinge, die man damit kauft, sollten nur dazu dienen, uns zu erheben, uns Würde zu geben“.18 Aber zwischen dem Protagonisten von Torga und denen von Rodrigues Miguéis gibt es einen grundlegenden Unterschied. In der brasilianischen Dias16 Original: „[…] guarda um forte sabor serrano. São portugueses integrados“ (Miguéis 1971: 58). 17 Original: „O fascismo tinha para ele uma clara significação: era o triunfo daqueles que o tinham mantido na fome, na ignorância e na miséria, e não só a ele, como a incontáveis milhões no mundo inteiro. [...] Tenho derramado mais suor [...] nessas estradas e pontes e portos do NovaYork-Estado do que milhões dos que cá nasceram! [...] e isto são raízes tão fortes como as de nascença [...]. Também eu quero voltar [...] mas não para a fome nem para a humilhação: para me bater com uma arma nas unhas! Para ajudar a derrubar os que nos querem reduzir à fome, à ignorância e à sujeição [...]. Corrido algum tempo, um amigo comum anunciou-me que o Cosme assentara praça como voluntário [...] e ia partir para além-mar“ (Miguéis 1971: 87, 93, 9494). 18 Original: „O dinheiro e as coisas que ele compra só deviam servir para nos elevar, para nos dar dignidade“ (Miguéis 1971: 83).
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pora wählt der Emigrant von Torga die Erfahrungen aus, die er in der Auseinandersetzung mit der Kultur der Gesellschaft macht, die ihn aufnimmt, um eine neue Identität zu schaffen. Als der Prozess der Herausbildung seines neuen Ichs abgeschlossen ist, verlässt er Brasilien. Tony und Cosme hingegen entscheiden sich, die sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen der Aufnahmegesellschaft bedingungslos anzunehmen, indem sie zu ‚integrierten Portugiesen’ werden. 3.4 Die Diaspora als Entfremdung Als Manuel da Bouça, der Protagonist des Romans Emigrantes von Ferreira de Castro, auszuwandern beschließt, plant er seine Zukunft gemäß dem jahrhundertealten Mythos der Emigration, der in seiner Heimatregion Minho, noch sehr lebendig ist. Er ist der typische Bauer aus dem Norden Anfang des 20. Jahrhunderts, Analphabet und ohne irgendeine berufliche Qualifikation, unfähig, außerhalb seiner beengten, archaischen Welt zu leben, fest gebunden an die Scholle. Die Realität, in der er lebt, aber vor allem auch die, auf die er in Brasilien treffen wird, sind ihm völlig gleichgültig. Für ihn zählt einzig und allein sein Traum, der beinahe einer Obsession gleicht: Schnell reich werden dort in der fernen mythischen Welt des ‚Pfennigbaums’, um nach seiner Rückkehr mehr Land in seinem Dorf kaufen zu können. Brasilien ist für ihn ein nebulöses Versprechen, wo die Vorsehung ihm dabei helfen wird, seinen Traum zu erfüllen. Wie, davon hat er selbst keine Vorstellung. Manuel da Bouça gehorcht so einem Schicksal, das über Jahrhunderte das Leben vieler Generationen bestimmt hat: Magisches Wort, Brasilien übte dort eine unsterbliche Verführung aus und seine Beschwörung war Motiv für wunderbare Visionen [...] und befreites Leben. Diese Idee wohnte in der Brust jedes Mannes und bohrte sich ohne Unterlass in das Fühlen selbst derjenigen, die sich am meisten an die Scholle klammerten. Sie kam schon von den Urgroßeltern und von noch früher; etwas, was man erbte und vererbte, was man wie ein beunruhigendes Gewicht durch das ganze Leben schleppte. Alle Generationen wurden schon mit dieser Sehnsucht geboren, die bedrückend wurde, wenn sie sich nicht erfüllte.19
Indem er diesen von einem Trugbild verblendeten Emigranten mit der brasilianischen Wirklichkeit konfrontiert, wo Arbeiter wie er nur die Möglichkeit ha19 Original: „Palavra mágica, o Brasil exercia ali um perene sortilégio e só a sua evocação era motivo de visões esplendorosas [...] e de vidas liberadas. Aquela ideia residia dentro do peito de cada homem e era gorgulho implacável até nos sentimentos dos mais agarrrados ao terrunho. Vinha já dos bisavós, de mais longe ainda; coisa que se herdava e legava, arrastando-se pela vida fora como um peso inquietante. Todas as gerações nasciam já com aquela aspiração, que se fazia incómoda quando não se realizava“ (Castro 1978: 32-33).
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ben, auf einer Kaffeeplantage zum Beispiel die Arbeitskraft der kürzlich befreiten Sklaven zu ersetzen, verfolgt Ferreira de Castro zwei Ziele: Einerseits will er zur Entmystifizierung eines jahrhundertealten Verständnisses von Emigration beitragen. Andererseits möchte er zeigen, wie ein Mensch, gefangen in einem trügerischen Traum, sich entfremdet und das eigene Leben zerstört. Tatsächlich (er)lebt Manuel da Bouça die Diaspora als Flucht, Flucht aus der physischen und menschlichen Umgebung, die ihn einschließt, und wo er immer nur Ähnlichkeiten mit seinem Dorf auf der anderen Seite des Atlantiks sucht. Aber auch eine Flucht vor den realen Bedingungen des Lebens, die er dort vorfindet. Sei es als Landarbeiter auf der Kaffeeplantage, sei es später als Lastenträger in São Paulo. Er kann nicht akzeptieren, dass sein Analphabetismus, seine fehlende berufliche Qualifikation und die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der Gastgesellschaft, auf die er getroffen ist, ihm niemals erlauben werden, schnell das Vermögen zu gewinnen, das er sich in Portugal erträumt hat. Unfähig, ein realistisches Verhältnis zu seiner Situation zu entwickeln, und nach jedem gescheiterten Versuch, seine wirtschaftliche Situation zu verbessern, flüchtet sich der Protagonist in Emigrantes immer wieder in seinen Traum, in dieses innere Ghetto, in dem das Vertrauen auf die großzügige Vorsehung lebendig bleibt: „Lange fühlte er den Reichtum voraus, er wusste nicht durch welche Arbeit, aber er spürte sie als eine zukünftige Gewissheit – eine schicksalhafte, unvermeidliche Gewissheit“.20 Gelähmt durch einen atavistischen Fatalismus ist Manuel da Bouça ein entfremdeter Mensch, dem es nicht einmal nach der Rückkehr in sein Dorf gelingt, sich in der Gemeinschaft seiner Herkunft zu reintegrieren. Ohne den Mut, sein Scheitern zu bekennen, ist er dazu verdammt, von Neuem auszuwandern – um weiter seinem Traum hinterherzulaufen. Der größte Teil der verschiedenen Kurzerzählungen der Sammlung (Sapa)teia americana von Onésimo Teotónio de Almeida thematisiert eine andere Art der Entfremdung durch das Leben in der Diaspora. Die Erzählung „Trilogia breve“ (Almeida 1983: 73-78) schildert davon am markantesten die Emigrationserfahrung der Azoreaner, die sich in den Vereinigten Staaten, vor allem in Rhode Island, niedergelassen haben. Ausgehend von drei paradigmatischen Momenten im Leben von Chico Ávila hebt der heterodiegetische Erzähler das irreale Verhältnis hervor, in dem auch der Protagonist zu der Gemeinschaft steht, in der er lebt. Diese Einstellung hat allerdings nicht die gleichen tragischen Konsequenzen wie bei Manuel de Bouça in Emigrantes. Chico Ávila flüchtet sich nicht in einen Traum. In seiner Ablehnung der kulturellen Werte seiner Gastgesellschaft flüchtet er sich in sein azoreanisches Dorf, das er mit in 20 Original: „Demorava-se a pressentir a prosperidade, não sabia bem através de que trabalho, mas a pressenti-la como uma certeza futura – uma certeza fatal, inevitável“ (Castro 1978: 189).
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die Vereinigten Staaten gebracht und wie einen, in der Zeit stehengebliebenen Fremdkörper in die amerikanische Gesellschaft eingepflanzt hat. In diesem Ghetto setzt er sein Leben in Übereinstimmung mit seinen traditionellen archaisch-patriarchalischen Verhaltensweisen fort. Am Anfang lässt der Erzähler den Protagonisten detailliert sein sehr bescheidenes Apartment beschreiben: O tanamentozinho é pequenino: o meu quartinho e outro pela metade, a freijoeirazinha é da casa. Velhinha. Mobília não se precisa, porque toda a vida me habituei a comer na cozinha. Tenho as minhas continhas feitas e as economiazinhas dão-me para viver. O peculiozinho mais a reformazinha (Almeida 1983: 73-74, Hervorhebungen von mir).21
Der ständige Gebrauch des Diminutivs steht hier nicht nur für die azoreanische Mundart. Er ist vor allem auch Ausdruck einer Art zu leben, eingezwängt in die Enge des räumlichen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmens. Aber er bedeutet auch, dass dieser Emigrant sich nicht für die Diaspora entschieden hat, um ein Recht auf Zivilisation zu bekommen, wie wir es bei Rodrigues Miguéis oder Olga Gonçalves gesehen haben. Von dem Fortschritt, den er in den Vereinigten Staaten gefunden hat, lässt er nur das in sein Ghetto, was unbedingt für sein tägliches Leben notwendig ist.22 Entscheidend ist, dass die ‚kleinen Ersparnisse’ ausreichen, um auf seine Insel zurückkehren zu können. In diesem Ghetto lebt Chico Ávila weiter nach kulturellen und religiösen Werten, die er von den Azoren mitgebracht hat. Damit die Isolation fast perfekt ist, hat er nicht einmal ein Fernsehgerät in der Wohnung. Chico Ávila lebt somit in dem, was der Erzähler ironisch die „zehnte Insel der Azoren“ (Almeida 1983: 75) nennt. Als er sich jedoch entschließt, seinem Geburtsland einen Besuch abzustatten – dies ist der zweite Teil der Erzählung – kehrt er früher als vorgesehen nach Amerika zurück, weil er seine Heimat nicht wiedererkannt hat. Auf seiner Insel Terceira war das Leben während der Zeit, in der er in den Vereinigten Staaten gewesen war, nicht stehen geblieben. Unfähig, die unvermeidliche Entwicklung des Lebens zu akzeptieren, kehrt Chico Ávila überstürzt nach Amerika zurück. Nicht um sich jetzt zu integrieren und ein offenes Verhältnis zu den kulturellen,
21 Ich habe das Zitat bewusst im portugiesischen Original belassen, weil es in der Übersetzung seine Wirkung verliert. Zum Verständnis der Inhalte folgt dennoch eine approximative Übersetzung: „Das Apartmentchen ist klein: Mein Zimmerchen und das andere zur Hälfte, das Kühlschränkchen gehört zur Wohnung. Ältlich. Möbel sind nicht nötig, denn ich bin mein ganzes Leben gewöhnt, in der Küche zu essen. Ich habe meine kleinen Ausgaben geregelt, und meine kleinen Ersparnisse reichen mir zum Leben. Die kleine Ersparnis, darüber hinaus die kleine Rente“ (Almeida 1983: 73-74). 22 In dem Zitat wird die „Zivilisation“ symbolisiert durch „tanamentozinho“ und „freijoeirazinha“, Verfälschungen von ‚tenment’ (eine Art Apartment) und ‚refrigerator’ (Kühlschrank).
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moralischen und wirtschaftlichen Werten seines zweiten Vaterlandes zu entwickeln. Er kehrt zurück in die Zuflucht seines Ghettos: Ich brauche die Inseln nicht. Die gibt es auch hier. Der Espírito Santo, der Senhor da Pedra, die Senhora dos Anjos [...]. Die massa sovada [...]. Auch die malassadas […]. Mein Portugal ist hier. Das, was sie jetzt dort haben, das ist nicht das, in dem ich aufgewachsen bin!23
Chico Ávila erfährt in der Diaspora schließlich eine doppelte Entfremdung: Einerseits die Entfremdung von seinem Heimatland, weil es nicht mehr dem entspricht, was er in der Erinnerung behalten hat; andererseits die Entfremdung von der amerikanischen Gesellschaft, wo er isoliert auf der zehnten Insel des azoreanischen Archipels lebt. 4
Resümee
Vier verschiedene Arten des Emigrationserlebnisses, wie sie in der portugiesischen Literatur des 20. Jahrhunderts behandelt werden, habe ich hier zu skizzieren versucht. Es sind nicht die einzigen Umgangsformen mit Migration, die in der Literatur ihren Niederschlag finden. Die anderen sind aber nicht repräsentativ, um in diesem Beitrag behandelt zu werden (Silva-Brummel 1987). In der Analyse der oben genannten Texte habe ich dargelegt, dass sich das Bild des Emigranten und der Diaspora vor allem in der portugiesischen Erzählliteratur seit den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts grundlegend gewandelt hat. Es wurde ein Bruch vollzogen mit der Sicht, die über viele Generationen die Vorstellungswelt der Portugiesen geprägt hat. Die neue Art, dieses Thema zu behandeln, bedeutet ohne Zweifel die Entmystifizierung des jahrhunderte alten Trugbildes der Emigration und die Humanisierung der Figur des Emigranten. In allen Fällen ist er, ob erfolgreich oder gescheitert, ob bewusst oder unbewusst, immer der Mensch, der sich von den sozioökonomischen Bedingungen zu befreien sucht, die er mit der Geburt geerbt hat.
23 Espírito Santo, Senhor da Pedra, Senhora dos Anjos sind religiöse Feiertage. Massa sovada ist ein typischer Kuchen aus den Azoren aus Mehl, Milch, Zucker und zu Ostern mit gekochten Eiern gefüllt, die oben sichtbar sind. Ebenso typisch sind malassadas, ein gekneteter Teig, der in Öl frittiert und mit Zucker bedeckt serviert wird. Original: „Não preciso das ilhas! Estas há-as cá. O Espírito Santo, o Senhor da Pedra, a Senhora dos Anjos [...]. A massa sovada [...]. As malassadas também [...]. O meu Portugal é aqui. Aquele que eles lá têm agora, não é o em que eu me criei!“ (Almeida 1983: 76).
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Bibliographie
Almeida, Onésimo Teotónio de (1983): (Sapa)teia americana. Lisboa: Vega. Castro, José Ferreira de (1978): Emigrantes. Lisboa: Guimarães Editores. Cortesão, Jaime (1942): O que o povo canta em Portugal. Rio de Janeiro: ohne Verlag. Elísio, Filinto (1941): Poesias. Selecção, prefácio e notas de Pereira Tavares. Lisboa: ohne Verlag. Gonçalves, Olga (1978): Este Verão o emigrante là-bas. Lisboa: Moraes Editores. Miguéis, José Rodrigues (1971): Gente da terceira classe. Lisboa: Estúdios Cor. Queirós, José Maria Eça de (1965): As farpas, Bd. II. Porto: Lello e Irmão. Schoen, Ulrich (1999): „Bi-identität – Heimat in zwei Kulturen“ in: Interkulturalität. Grundprobleme der Kulturbegegnung. Mainz: Johannes Gutenberg-Universität, 213-225. Serrão, Joel (1972): A emigração portuguesa. Lisboa: Livros Horizonte. Silva-Brummel, Fernanda (1987): Emigration und Emigranten in der portugiesichen Literatur. Frankfurt a.M.: Haag / Herchen. Torga, Miguel (1970): A criação do mundo, Bd. I. Coimbra: Autorenverlag. ---- (1969): A criação do mundo, Bd. II. Coimbra: Autorenverlag.
Von der portugiesischen Post-Emigration: Repräsentationen von Identität in den Filmen Entre2Rêves von Jean-Philippe Neiva und Bien Mélanger / Into the Mix von Nicolas Fonseca1 Ana Paula Coutinho
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Einleitung
Nachdem zwischen Mitte der fünfziger bis in die siebziger Jahre die größte portugiesische Auswanderungswelle des 20. Jahrhunderts stattgefunden hat, ergreifen nun gegenwärtig die Nachkommen dieser Auswanderer öffentlich das Wort. Sie vertreten dabei eine eigene Weltanschauung innerhalb der Gesellschaften, deren Teil sie sind. Dass solche Repräsentationen mit Hilfe von technologischen und künstlerischen Mitteln verarbeitet werden, die über den verbalen Diskurs und das Papier als Medium hinausgehen, ist ebenfalls eine Gegebenheit, die mit der Entwicklung der künstlerischen Möglichkeiten der letzten Jahrzehnte übereinstimmt. Wäre nicht die Komplexität der menschlichen Ressourcen und der technischen Mittel, die von Regie, Produktion und Verbreitung des Films abverlangt werden, würde die ‚Siebente Kunst’ – auch unter Berücksichtigung ihrer Bedeutung in der Gegenwartskultur – sicherlich mehr Erzähler oder Schöpfer von Bildern und Vorstellungswelten um die Emigration und Post-Emigration scharen,2 um sich zu jenen Filmemachern zu gesellen, die sich im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts dieser Thematik auf die verschiedensten Weisen genähert haben, von Charles Chaplin und Abdellatif Kechiche, über Elia Kazan, Christian 1
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Diese Untersuchung ist Teil des Projekts ‚Interidentitäten’ (Interidentidades) am Instituto de Literatura Comparada Margarida Losa, einem durch die Fundação para a Ciência e a Tecnologia im Rahmen des laufenden Programms Ciência, Tecnologia e Inovação finanzierten Institut für Forschung und Entwicklung, das seinen Sitz an der Philosophischen Fakultät der Universität Porto hat. Die Bezeichnung ‚Post-Emigration’ für den Film gibt eine Tendenz wieder, die auch in der Literatur festzustellen ist (King / Connell / White 1995). Sie weist dieselbe Ambivalenz von anderen ‚Posts’ (Post-Kolonialismus, Post-Modernismus, Post-Feminismus) auf, die für gegenwärtige kritische Realitäten und Perspektiven verwendet werden: Es handelt sich um ein Präfix, das weder einen vollständigen Bruch noch einen einfachen chronologischen Ablauf bedeutet, sondern ein spannungsgeladenes Verhältnis zwischen der Emigration, ihren Konsequenzen und soziokulturellen Repräsentationen, die oftmals biunivokal sind.
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de Chalonge, Francis Ford Coppola, Mehdi Charef, Stephen Frears, Mathieu Kassovitz, Gregory Nava, Gerardo Herrero, João Canijo oder Tommy Lee Jones, unter unzähligen anderen. Es wird sich wohl kaum um einen Zufall handeln, dass der so genannte Autorendokumentarfilm – um diesen von soziologischen, journalistischen oder Fernseharbeiten zu unterscheiden – innerhalb der kinematographischen Gattungen in jüngster Zeit eine große Verbreitung verbucht hat, sowohl in Bezug auf die Produktion wie auch auf die kritische Anerkennung. Als der Dokumentarfilm auf die digitale Technologie traf, erwies er sich als eine weitaus zugänglichere Möglichkeit (auf allen Ebenen, insbesondere jedoch ökonomischfinanziell) für (nicht nur) junge Filmemacher, denn dieses Genre kommt ohne ausdrücklich hierfür gebaute Bühnenbilder, ohne professionelle Schauspieler und selbst ohne die Verpflichtung eines vordefinierten Drehbuchs aus. Ausgestattet mit größerer Freiheit und Autonomie nähert sich die Arbeit des Regisseurs eines Dokumentarfilms mehr der eines Schriftstellers oder bildenden Künstlers an und wird dadurch zu einer sichtbaren und viel versprechenden Manifestation innerhalb der gegenwärtigen künstlerischen Produktion, die grundsätzlich städtisch und kosmopolitisch ausgerichtet ist (Ribeiro 2004: 73-75). Hinsichtlich der Thematik der Post-Emigration und ihrer Repräsentation stellt der Dokumentarfilm einen Kompromiss zwischen der Sichtbarkeit einer soziokulturellen Realität, die nicht mehr ignoriert oder verschwiegen werden kann, und der Arbeit ihrer Darstellung oder bildlichen Wiederherstellung mittels des Blicks des Regisseur dar, der meist im Referenzuniversum involviert ist. So sind die Dokumentarfilme mit Migrationsthematik, die von Regisseuren mit Migrationshintergrund stammen, für den Film das, was die autobiographischen Erzählungen für aufkommende Literaturen waren (und in einigen Fällen immer noch sind): Sie fassen die ersten Äußerungen eines Prozesses künstlerischer Subjektivierung zusammen. Solche Äußerungen entstammen einer Welt familiärer Erfahrungen, die, wenn sie nicht direkt sind, zumindest dem Regisseur selbst nahe stehen. Die Dokumentarfilme, die mich hier beschäftigen, Entre2Rêves (2005) und Bien Mélanger (2006),3 stammen von zwei jungen Filmschaffenden portugiesischer Herkunft, nämlich Jean-Philippe Neiva und Nicolas Fonseca. Beide Filme weisen die Besonderheit auf, ungefähr zur selben Zeit gedreht worden zu sein, wenn auch in – wörtlich – meilenweiter Entfernung: einer in Frankreich und der andere auf der anderen Seite vom Atlantik, in Kanada. Ich versuche, die Art und Weise herauszuarbeiten, wie jeder der beiden Regisseure mittels bewegter Bil3
In Übereinstimmung mit der Zweisprachigkeit Kanadas hat der Film zwei Versionen: eine in französischer Sprache und eine in englischer Sprache. Für die Analyse habe ich die englische Version verwendet – Into the Mix.
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der (Deleuze 1983) die Identitätsfragen der Personen erfasste und darstellte, deren biografische Umstände sie dazu brachten, auf eine besonders einschneidende Art die Heterogenität oder gar die Grenzsituation in territorialer, sozialer, sprachlicher und kultureller Hinsicht zu erleben. Es ist zu bemerken, dass beide Filme von einem persönlichen Standpunkt ausgehen, der gleich zu Beginn mittels einer Erzählung in Offstimme eingenommen wird. Diese stimmt, wenn nicht mit der Person des Regisseurs selbst, so zumindest mit dessen Blickwinkel überein. Es handelt sich um eine Erzählstrategie, die den beiden Filmen einen autobiographischen Charakter verleiht, der einerseits als Garantie für Authentizität neben anderen realen und wahren Elementen gilt, andererseits aber die narrative Dimension der Identität des Autors als Individuum wie auch als Regisseur vorstellt. 2
Entre2Rêves
Im Film Entre2Rêves wird den ersten Szenen des Films, die von der Erzählerstimme begleitet werden, ein Zitat von Arouna Lipschitz vorangestellt, einer Autorin von psychoanalytischen und esoterischen Essays über zwischenmenschliche Beziehungen. Der Inhalt scheint den Plot des Films einzuleiten, der sich an der Wiederherstellung des Friedens, an Vernachlässigung und an der Trauerarbeit eines ‚Vaters’, der hier für die eigene Herkunft steht, orientiert: Pour la joie de vivre, je devais absolument faire la paix avec mon père. Pour cela il fallait d’abord le quitter. C’était le premier pas d’une réconciliation Avec lui, avec l’exil et avec moi-même.
Der Film beginnt mit einem Ereignis, das sich durch seine Bilder selbst erklärt: der Fernsehübertragung eines Fußballspiels mit der portugiesischen Nationalmannschaft während der Europameisterschaft 2004 und der Euphorie der portugiesischen Gemeinschaft, die den Sieg inmitten der Champs-Élysées feierten. Der Erzähler/Regisseur empfindet Neugier für diese normalerweise so zurückhaltende Gemeinschaft, zu der seine Eltern gehören und deren Auswanderungsgeschichte er zugegebenermaßen nicht kennt. Daraufhin hebt sich eine Person heraus (von der später klar wird, dass es sich um den Regisseur/Hauptdarsteller selbst handelt), die in die der Menschenmenge einer geschäftigen Stadt entgegengesetzte Richtung geht, während man von der Offstimme hört: „Il était temps pour moi d’aller à la rencontre de mon histoire et de partir. Direction: Portugal“.
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Nachdem das Projekt der Ortsveränderung angekündigt wurde, wird noch vor der Verabschiedungsszene vom elterlichen Haus in Frankreich den Eltern das Wort erteilt, die ausdrücklich als solche identifiziert werden und deren Rolle (insbesondere des Vaters) es sein wird, nach und nach die Gründe zu erzählen, die sie zur Auswanderung bewogen haben: die Überraschungen der illegalen Abreise nach Frankreich inmitten der sechziger Jahre, die ersten Zeiten in einem fremden Land, in einer fremden Sprache und in einer fremden Kultur; die allmähliche Integration – alles Erfahrungen, die die Mehrzahl der portugiesischen Emigranten teilt, insbesondere in jener Epoche, weshalb die persönliche Geschichte sich mit der kollektiven Geschichte kreuzt. In Bezug auf die Grundstruktur nimmt der Film von Jean-Philippe Neiva die typische Dynamik eines road movie auf, das an eine Art von Initiationsreise auf der Suche nach Identität angepasst ist, die bei denjenigen oft vorhanden ist, die ihre familiären, territorialen oder kulturellen Wurzeln (wieder)finden wollen (wie dies, zum Beispiel, im Film von Manoel de Oliveira – Viagem ao Princípio do Mundo der Fall ist). Im Falle von Entre2Rêves jedoch geht das Schema der darstellerischen Dynamik in eine abwechselnde Montage zweier Bewegungen in genau entgegengesetzte Richtungen auseinander. Auf der einen Seite steht die verbale Erzählung des Vaters über seine damalige Reise nach Frankreich, zu der folgende Erlebnisberichte hinzukommen: die der Mutter; einer anderen portugiesischen Emigrantin; eines Franzosen, der Angestellter der Grenzstation von Hendaye gewesen war; eines portugiesischen Verlegers, der seinen Wohnsitz in Paris hat. Die Erzählstruktur wird noch von den Berichten zweier französischer Erwachsener portugiesischer Abstammung flankiert, wobei einer in Frankreich lebt, eine andere in Portugal. Diese sind die sukzessiven Stimmen, die zusammen und in Verbindung mit Fotographien und Bildern der Zeit oder mit FlashEinblendungen verschiedener Landschaften, zu einer personalisierten Geschichte der portugiesischen Emigration in Frankreich beitragen.4 Auf der anderen Seite stehen die Etappen der einsamen Autoreise, die der Regisseur in Richtung Portugal unternimmt. Die Erlebnisberichte, Bilder und Szenen des Films fügen sich ohne große Überraschungen in das kollektive Gedächtnis (in Portugal wie in Frankreich) der portugiesischen Emigranten ein, die sich durch ein klar definiertes Vorhaben kennzeichnen, die materiellen Lebensbedingungen zu verbessern und das Gefühl der Zugehörigkeit zu Portugal durch die Sprache, die gemeinschaftlichen Riten, die Folklore, die religiösen Feierlichkeiten oder den Fußball aufrechtzu4
So wie dies José Vieira in seinen Filmen Gente do Salto (2005) und A Fotografia Rasgada (2001) oder (aus einer anderen Perspektive) Pierre Primetens in seinem Atelier de Criação Audiovisual mit Selbstbildnissen junger Nachkommen der portugiesischen Migration in Immigation portugaise en France. Mémoire des Lieux (2006) gemacht haben.
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erhalten. Selbst- und Fremdbilder kommen hier zusammen und geben eine Migrantengemeinschaft wieder, die nach Frankreich auf der Suche nach dem Eldorado aufgebrochen war, die Wirtschaftspyramide Stufe um Stufe empor klettern musste und hinreichend integriert ist; eine Gemeinschaft, die zugleich in kultureller Hinsicht – mehr als zwischen Herkunft- und Gastkultur geteilt – weiterhin sehr an einigen volkstümlichen Bezugspunkten ihrer Herkunft hängt oder gar gefesselt ist. Die Repräsentation von Identität verläuft bei den jüngeren Protagonisten des Dokumentarfilms auf eine ganz andere Weise. Diese sind in Frankreich geboren und nehmen sich als Franzosen wahr, auch wenn sie erklären, stolz auf ihre portugiesischen Wurzeln zu sein. Im Falle der jungen Sekretärin, die nach Portugal ging, um dort zu Leben, macht ihr Zeugnis eine andauernde Diskrepanz zwischen Ort und fremder Anerkennung erkennbar: „petite portugaise“ in Frankreich, Französin oder, aufgrund des Akzents, Brasilianerin in Portugal, wenngleich sie selbst zugibt, eng – und dies unterstreicht sie – mit den ‚Menschen’ in Frankreich verbunden zu sein, wobei hierdurch eine eigenartige Variante der Identifizierung oder des Zugehörigkeitsgefühls aufkommt, die als postnational oder sogar postterritorial greifbar wird. Von der Reise, die der Regisseur selbst nach Portugal unternimmt, zeigt der Film vor allem Bilder des Straßenwegs, der in einer symbolischen Wiedergabe der langen Entfernung sich über verschiedene Momente des Tags und der Nacht hinweg zieht. Hinzu kommen Bilder der Überquerung von Naturlandschaften, von bukolischen Straßen und Wegen, wie Diabilder, die auf subtile Art kommen und gehen, alles in einer visuellen und auditiven Umgebung, die für Momente wie ein Rausch aus Träumen wirkt. Speziell in Portugal finden wir wenige Szenen. Einige wenige Ausnahmen sind die Ankunft in Cabo Espichel mit dem Hauptdarsteller/Regisseur, der in den Horizont schaut, der Empfang der Eltern im Familienhaus in Portugal, die Ernte auf der Apfelbaumwiese mit dem Vater, das finale (Wieder)treffen der drei beim Spaziergang am Strand. Vergleicht man den Kinofilm mit der DVD-Ausgabe, so stellt man fest, dass für den Kinofilm einige Nachtszenen von Lissabon und die Wiedergabe eines weiteren Aufenthalts auf dem Land herausgeschnitten wurden. Dieser Effekt der Produktion offenbart etwas Symptomatisches: Aus einer angekündigten Reise der Entdeckung oder der Versöhnung mit der portugiesischen Herkunft, bleibt nicht viel mehr übrig, als ein symbolischer Effekt der Durchquerung des Raums in Richtung des Horizonts, des Meeres und des Landes (port. terra) – in der tellurischsten Bedeutung des Begriffs als ‚Erde’ oder ‚Boden’ –, seiner Eltern. Im Gegenzug drängt sich die polyphone Rekonstruktion der Geschichte einer anderen Durchquerung auf, die in entgegengesetzte Richtung auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen und nach Freiheit geht. Hier angekommen, er-
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scheint mir der Text nicht sehr plausibel, der auf der Rückseite der DVD-Hülle auf eine Versöhnung der beiden Träume in der Vorstellungswelt der jungen Nachkommen der Emigration hindeutet, ist doch der Traum, den die portugiesischen Emigranten in der Vergangenheit mit Frankreich verbanden, nicht der ihrer Nachkommen, noch kann sich deren Traum von Portugal jemals mit dem der Emigranten selbst decken. Es handelt sich um Vorstellungswelten, die teilbar oder – genauer – austauschbar sind, wie der Rest des Films herausarbeitet, wobei sie stets in gegenläufige Richtungen und Bedeutungen vorgestellt werden, die lediglich in dem Maß zu einer Versöhnung neigen, in dem sie als getrennt erkannt werden (daher also die verbundenen Bedeutungen von Versöhnung und Vernachlässigung, auf die der Ausschnitt am Anfang des Films hinweist). Daher scheint es mir vor allem die zwischenräumliche Natur zu sein, die die Grundstruktur des Films ausmacht und im Titel Entre2Rêves suggeriert wird. Im gleichen Atemzug suggeriert der Titel ebenfalls, dass es in diesem Dokumentarfilm trotz des realistischen Charakters von Text und Bild um die (Wieder)Herstellung der vorgestellten Identitäten derjenigen Personen geht, die sich als Emigranten oder deren Nachkommen zwischen zwei Welten sehen, die real und vorgestellt sind. 3
Bien Mélanger
Auf der anderen Seite lässt der Dokumentarfilm Bien Mélanger des LusoKanadiers Nicolas Fonseca von Anfang an deutlich die Absicht erkennen, sich von der Weltsicht der Eltern und der Immigrantengemeinschaft zu distanzieren. Als reichten die Bilder und Töne nicht aus, mit denen der Film beginnt, hört man in Offstimme den Erzähler in der ersten Person wie jemand sprechen, der eine Grundsatzerklärung macht, wobei er sich zum ersten und einzigen Mal der portugiesischen Sprache bedient: „Ich bin nicht wirklich derselbe, das ist eine andere Art, die Welt zu sehen, zu verstehen, was um mich herum geschieht, es sind andere Geschichten“.5 Tatsächlich stellt sein Film eine ganz andere Geschichte dar, nicht mehr die einer Initiationsreise zu den portugiesischen Ursprüngen, sondern die Geschichte vieler Reisen und langer Wege eines kosmopolitischen Touristen, der in Montreal (der Stadt, wo der Erzähler/Regisseur inmitten von unterschiedlichen Sprachen und Kulturen geboren und aufgewachsen ist) lebt und filmt, genauso wie er nach London, Paris, Venedig und Kalifornien reisen kann, um dort zu filmen. 5
Original: „Não sou bem o mesmo, é outra maneira de ver o mundo, de perceber o que se passa à volta de mim, são outras histórias“.
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Die Ikonographie der Eröffnungsbilder verweist auf die Welt des Tourismus, d.h. auf die Entdeckungsreisen unterschiedlicher Realitäten, zu denen man keine Beziehung hat oder aufbaut, abgesehen vom Genuss oder vom Verbrauch vorübergehender Erfahrungen. Dementsprechend haben wir es mit einer anderen Beziehung zu Räumen zu tun, als dies in Entre2Rêves der Fall ist. In Bien Mélanger wird der Raum verallgemeinert, was Auswirkungen auf Repräsentationen jeder Art des ‚Auf-der-Welt-seins’ hat. Dies veranlasst eine der Beteiligten des Films dazu, die aktuelle Situation des menschlichen Lebens wie folgt zusammenzufassen: „We are all tourists“. Über die vielen Szenen von Ortsveränderungen, vom Schießen von Bildern, von Übergangsräumen, die als ‚Nicht-Orte’ (Augé 1992) bezeichnet werden (Flughäfen, Bahnhöfe, Häfen), integriert (oder schafft) Nicolas Fonseca in den Film Effekte von Amateurvideos von Touristen. Mit diesem Bild gibt er sich selbst als Regisseur zu erkennen. Trotz der autobiographischen Angabe in der Einleitung, in der das Subjekt der Erzählung/Regieführung sich vorstellt als jemanden, der in einem durch ethnische und sprachliche Vielfalt gekennzeichneten soziokulturellen Umfeld geboren und aufgewachsen ist, kommt die Verbindung zur portugiesischen Auswanderung und zu ihren Identitätsrepräsentationen lediglich als ein Element unter vielen anderen hervor, unter denen die komplexe Frage nach der Identität reflektiert, vorgestellt und wiedergegeben wird. Die Auswahl der interviewten Personen ist für diese Identitätssuche des modernen Subjekts symptomatisch, beginnend mit der ersten Aussage. Diese stammt vom Anthony Giddens, einem der einflussreichsten Soziologen, die über die Folgen der Modernität und der Globalisierung auf der Ebene der personellen und sozialen Identität reflektieren. Giddens stellt die wichtigsten Folgen einer zunehmend wechselseitig abhängigen und beschleunigten Welt vor, die mehrfache Aufeinandertreffen und Kreuzungen potenziert (Giddens 1990; 1991). Von Anfang an wird klar, dass der Regisseur versucht hat, seine visuelle Reflexion über die hybriden Identitäten in der heutigen Gesellschaft zu erweitern und zu begründen, wobei er sich weder auf das Universum der Migrantengemeinschaften, noch auf die Stellungnahmen seiner Darsteller beschränkt hat. Im Film sind verschiedene Beiträge eingeschoben, von der durchdachten Reflexion bis hin zur bloßen Stellungnahmen. Allen gemeinsam ist jedoch die Tatsache, dass sie weitgehend von Stereotypen gelöst sind, die mit den Immigrantengemeinschaften verbunden werden.6 Statt Bauarbeiter, Putzfrauen oder Unternehmer sehen und hören wir Schriftsteller, Museumskuratoren, Lehrer, eine 6
Dies ist eine bewusste Einstellung des Regisseurs, wie aus dem kurzen Interview hervorgeht, das auf der Homepage Satúrnia hervorgeht, die vom portugiesischen Einwanderer in Kanada, Manuel Carvalho, betrieben wird (Ramos 2008).
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Künstlerin des Cirque du Soleil sowie einige Jugendliche portugiesischer Herkunft und ohne identifizierten Beruf, mit Ausnahme einer jungen Frau, die dabei gefilmt wird, wie sie Kindern Portugiesisch beibringt. Der Beitrag dieser jungen Lehrerin ist im Übrigen sehr interessant, insofern als es sich um eine der wenigen Stimmen handelt, die einen Standpunkt der Identifizierung mit der portugiesischen Gemeinschaft von Montreal einnimmt. Auch wenn sie anerkennt, dass es Unterschiede zwischen ihrem Bewusstsein und ihrer Erfahrung der Ursprungskultur und der ihrer Eltern oder vorheriger Generationen gibt, unterstreicht sie bewusst, dass sie versucht, „den größten Nutzen aus den zwei Welten zu ziehen“, in denen sie sich bewegt. Im Gegensatz dazu geht die Stellungnahme von Neil Bissoondath – einem kanadischen Schriftsteller karibischer Herkunft (Trinidad), der mit Selling Illusions: The Cult of Multiculturalism in Canada (Bissoondath 1994) in den neunziger Jahren zu einem der bekanntesten Kritiker der multikulturellen Politik in Kanada wurde – in die Richtung der Ablehnung einer erzwungenen Identifizierung mit den Herkünften, d.h. gegen den sozialen und politischen Zwang einer ethnischen Zugehörigkeit. Ausgehend von seiner eigenen Erfahrung als Schriftsteller, hält Bissoondath es für kontraproduktiv und einschränkend, von einem Verfasser und allgemein von einem Immigranten zu verlangen, dass sie die Treue zu einer bestimmten (kulturellen) Identität halten, die sich, da sie der Wandlung unterworfen ist, notwendigerweise ab der Emigration selbst verändert. Im Grunde kritisiert Neil Bissoondath die statische Vision des ‚kulturellen Mosaiks’ Kanadas, die ein Einkapseln in verdinglichten und monolithischen kollektiven Identitäten voraussetzt. Dieser Standpunkt wird durch den Beitrag von Patrícia Lamarre bestätigt, einer Professorin der Universität von Montreal, die sich ebenfalls vom Konzept der sprachlichen oder kulturellen Gemeinschaften distanziert: Einerseits sei es schwierig zu definieren, was eine solche Gemeinschaft sein sollte; andererseits gebe es unzählige Grenzfälle, die sich nicht auf eine starre Begrenzung reduzieren lassen. Ein weiterer interviewter Schriftsteller, Pico Iyer, verteidigt auf der Basis einer langen Lebenserfahrung in verschiedenen Bereichen ebenfalls den Gedanken einer transitorischen Identität außerhalb jeder Kategorisierung. Es ist offensichtlich, dass sich Nicolas Fonseca bemüht hat, in seinem kinematographischen Projekt sowohl Bilder als auch Reflexionen (das heißt, mentale Bilder) über die zeitgenössische künstlerische Produktion einzufügen, indem er hierfür neben den erwähnten Schriftstellern Museumskuratoren mit einer besonders kosmopolitischen Erfahrung interviewte. Im Fall der französischen Kuratorin Marie-Laure Bernadac handelt es sich um eine der Kommissarinnen der Ausstellung Africa Remix (ausgestellt im Centre Pompidou und im Museé du Quai Branly im Jahr 2005). Ihre Stellungnahme über die künstlerischen
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Möglichkeiten von Hybridautoren und über die künstlerische Distanzierung von der Herkunftskultur wird begleitet von einigen Bildern der Ausstellung. Ähnliches geschieht mit der Stellungnahme des Kommissars des Museums von Venedig, Francesco Bonami, der im Übrigen die Gelegenheit nutzte, um eine offene Verherrlichung der städtischen Kulturen vorzunehmen, weil diese in ihrem Experimentalismus und ihrer Flüchtigkeit der Mediatisierung noch entgehen, die heutzutage alle Erfahrungen, Reisen und ‚Entdeckungen’ – ja sogar die Kunst selbst – beeinflusst. In einem Zeit-Raum-Gefüge wie demjenigen der zeitgenössischen Gesellschaften und insbesondere der großen Städte oder Metropolen, in denen alles fragmentiert und in ständiger Bewegung scheint (und die Kamera von Nicolas Fonseca gibt genau diese bewegliche, instabile, dezentrierte Vielseitigkeit bisweilen mit einem vagen Verständnis der Realität wieder), ist es nicht einfach, auf einige Ankerelemente zu verzichten (man neigt sogar zur Suche), selbst wenn man nicht genau weiß, was Identitätsausdrücke wie ‚libanesisch’ oder ‚wahrhaft portugiesisch sein’ bedeuten. Der Regisseur verbirgt Reaktionen wie etwa die des Interviewten libanesischer Herkunft nicht, als dieser feststellt, dass es schwierig sei, sich nicht an irgendeiner Sache festzuhalten und ‚Weltbürger’ zu sein oder wie Rosa, die junge kanadische Mutter portugiesischer Herkunft, die sich auf die ‚Kulturschocks’ inmitten der Gefühls- oder Familienbeziehungen bezieht und die auch der Meinung ist, dass den jungen Generationen, die Nachkommen von Emigranten sind, die Rolle von Vermittlern zwischen den verschiedenen Lebensweisen und Kulturen zusteht. 4
Schlussbetrachtung
Zu der bereits erwähnten geographischen Trennung zwischen diesen beiden Filmen kommt noch eine andere Art von Distanz, die mit dem Unterschied in der kinematographischen Darstellung der (persönlichen und kollektiven) Identitätsfragen in Konfrontation mit den Realitäten der Übersiedlung und der Heterogenität zu tun hat. Trotz der Individualität des künstlerischen Projekts jedes einzelnen Regisseurs, glaube ich, dass für diesen Unterschied die Tatsache nicht gänzlich außer Acht gelassen werden sollte, dass jeder von ihnen sich in einen sozialen, politischen und kulturellen Kontext einfügt und dass jeder auf unterschiedliche Weise mit Phänomenen wie der Emigration und der kulturellen Mannigfaltigkeit umgegangen ist. Die Pioniergeschichte des Multikulturalismus in Kanada als politische Antwort auf die Anerkennung des kulturellen Pluralismus des Landes ist mit mehr als drei Jahrzehnten bereits relativ alt. Nach einer ersten Phase in den
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siebziger Jahren, die von der Anerkennung und der kulturellen Bewahrung der im Land vertretenen ethnischen Gemeinschaften geprägt war, folgte in den achtziger Jahren der Übergang zur Gleichheitspolitik als Gegengift der unterscheidenden Wirkungen des ‚vertikalen Mosaiks’. Ab Mitte der neunziger Jahre wurde nicht mehr so sehr auf das ethnokulturelle Erbe bestanden, als vielmehr auf die Notwendigkeit, gemeinsame Werte zu finden, die soziale Integration und Zusammenhalt in einer Nation zementieren (Houle 1999). Diese Entwicklung, die oftmals auf vereinfachende Weise als eine Kritik tout court am Multikulturalismus verstanden wird, scheint im Film des luso-kanadischen Regisseurs genau in dem Maß durch, wie er sich von einer in sich geschlossenen gemeinschaftlichen Vorstellungswelt lossagt und das Konzept der Identitätsfluktuation erforscht und somit den Übergang eines ‚Mosaikmodells’ (mit begrenztem und spezifischem Nebeneinander) zu einem ‚fließenden Modell’ (mit ständigen Durchdringungen untereinander) festhält (Joppke/Lukes 1999). Im Gegensatz dazu haben wir es im Film des Luso-Franzosen JeanPhilippe Neiva mit dem Impuls der Anerkennung und der Bestätigung, auch auf kultureller Ebene, einer ‚unsichtbaren’ Gemeinschaft zu tun, nicht nur weil die Mehrheit ihrer Mitglieder versucht hat, im Land und in der Kultur des Immigrationslands unerkannt zu bleiben, sondern auch und insbesondere weil die Assimilationspolitik in Frankreich stets im Namen eines ebenso universellen wie abstrakten Prinzips von Einigkeit dazu neigt, die Unterschiede nicht anzuerkennen oder zu unterschätzen. Nach diesem kinematographischen ‚Essay’ im spekulativen und hybriden Sinn des Worts bleibt uns eine Frage, die die nun deutlichere Erwartung des Zuschauers/Empfängers betrifft: Bis zu welchem Punkt hatte ein jeder dieser Filme die Funktion einer Anrufung und gleichzeitig die eines ‚Requiems’ der ethnischen und familiären Herkunft der entsprechenden Regisseure? Auf welche andere Weise, mit welchen anderen Perspektiven werden sie künftig die hybride Natur der Identität (die eigene und/oder von anderen) kinematographisch als Manifestation des ‚In-Bewegung-seins’ wiedergeben? Hierzu scheint es passend, den berühmten Sinnspruch von Lavoisier in die Erinnerung zu rufen: In der Natur wird nichts geschaffen, nichts geht verloren, alles verwandelt sich. 5
Bibliographie
Augé, Marc (1992): Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité. Paris: Le Seuil. Bissoondath, Neil (1994): Selling Illusions: The Cult of Multiculturalism in Canada. Toronto: Penguin. Deleuze, Gilles (1983): Cinéma I: L'image-mouvement. Paris: Editions de Minuit.
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Giddens, Anthony (1991): Modernity and Self-Identity. Stanford: Stanford University Press. ---- (1990): The Consequences of Modernity. Stanford: Stanford University Press. Houle, François (1999): „Citoyenneté, espace public et multiculturalisme: la politique canadienne de multiculturalisme“ in: Sociologie et Sociétés, XXXI (2), 101-123. Joppke, C. / Lukes, S. (Hrsg.) (1999): Multicultural questions. Oxford: Oxford University Press. King, Russell / Connell, John / White, Paul (Hrsg.) (1995): Writing Across Worlds – Literature and Migration. London / New York: Routledge. Ramos, Hélder (2008): „Tudo à Mistura: A Identidade Segundo Nicolas Fonseca“ in: Satúrnia. URL: http://manuelcarvalho.8m.com/helder22.html, Zugriff am 23.4.2008. Ribeiro, António Pinto (2004): Abrigos. Lisboa: Cotovia.
V Emigration und Erinnerung
Migrationen, Erinnerungskulturen, Museen: Das ‚Museum der Emigration und der Gemeinschaften‘1 in Fafe Miguel Monteiro
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Wer sind wir?
Das ‚Museum der Emigration und der Gemeinschaften’ ist eine am 12. Juli 2001 gegründete Plattform für Information und Dynamisierung von Forschungsaktivitäten, die als vorrangige Zielgruppe Migranten, deren Nachkommen und deren Vereinigungen anspricht. Ziel ist die Erforschung der portugiesischen Emigration von ihren Anfängen bis in die Gegenwart. Bei der Erforschung und Aufarbeitung der Inhalte für das Publikum gilt ein besonderes Augenmerk der Emigration nach Brasilien im 19. Jahrhundert (bis etwa 1920) und der Emigration in europäische Länder während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bereits die Tatsache, dass die geographische Mobilität ein strukturelles Phänomen der portugiesischen Gesellschaft darstellt (Godinho 1978), rechtfertigt die Existenz eines Emigrationsmuseums. Abgesehen von der kolonialen Migration zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert sind in der Zeit von 1855 bis 1914 1.296.268 Portugiesen ausgewandert. Allein die kleine nordportugiesische Stadt Fafe zählte zwischen 1834 und 1926 8.722 Auswanderer. 1970 sind rund 135.000 Portugiesen nach Frankreich emigriert, die Portugiesen waren in jenem Jahrzehnt mit geschätzten 860.000 Personen die stärkste ausländische Gemeinschaft in Frankreich. Im Jahr 2000 lebten 4.806.353 Portugiesen auf allen fünf Kontinenten. Neben dieser historischen Emigration findet auch die in jüngster Zeit zunehmende Immigration in Portugal ihren Niederschlag in der Museumsarbeit (Monteiro 2000). Das Museum versucht, die Spuren, die die portugiesische Emigration sowohl in Portugal als auch in den Zielländern hinterlassen hat, sichtbar zu machen. Dabei spielen der Kulturkontakt und die Prozesse sozialer Transformation eine zentrale Rolle.
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Museu da Emigração e das Comunidades.
Miguel Monteiro
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Das Museumskonzept
Das ‚Museum der Emigration und der Gemeinschaften’ stellt das Phänomen der Migrationen und ihre Repräsentationen in zwei Achsen dar: Auswanderung und Rückkehr. Die wissenschaftliche Aufarbeitung kann für die Dokumentation auf öffentliche und private Archive zurückgreifen, die Unterlagen zur portugiesischen Migration besitzen. Insbesondere Stadt- und Distriktarchive, aber auch Staatsarchive werden dafür genutzt. Die Daten werden in einer Datenbank zur Identifizierung der über alle Welt verstreuten portugiesischen Emigranten erfasst. Auf diese Weise kann die Rekonstruktion von Lebensgeschichten in ihrem gesamten Prozess vollzogen und der Beitrag der Auswanderer zur Transformation des Auswanderungs- bzw. des Rückkehrorts in verschiedenen Bereichen untersucht werden. Neben diesen Beständen gelangen durch Schenkungen oder Leihgaben von Emigranten oder ihrer Nachkommen Dokumente und Gegenstände ins Museum und werden dort archiviert und in die Arbeit einbezogen. 2.1 Das Emigrationsmuseum als physischer Ort Der Prozess der Musealisierung dieser historischen und sozialen Erinnerung fand einen Höhepunkt in der Schaffung eines museologischen Raums in Fafe. Zu ihm gehören das Archiv, das Museum, verschiedene Museumssammlungen und die historischen Standorte in Fafe und seinem Umland. Hier können die Forschung vorangetrieben und Erkenntnisse kommuniziert werden. Die Rolle der Emigranten in den Zielräumen wie an den Rückkehrorten wird aus verschiedenen Perspektiven und in unterschiedlichen Bereichen in den Blick genommen; Architektur, Industrie, Handel, Journalismus, Vereinswesen, Kunst sowie weitere Formen des Kulturtransfers (Espagne/Werner 1988) zwischen Portugal und den Auswanderungszielen stehen dabei im Mittelpunkt. Der physische Hauptort des Museums in Fafe – die Casa Museu – ist als Interpretationszentrum konzipiert. Die ausgestellten Exponate in den verschiedenen Räumen tragen dazu bei, die Migrationsgeschichte – Herkunft, Reise und Migrantionsalltag – zu rekonstruieren. Die Casa Museu befindet sich in einem historischen Gebäude, das selbst Teil der Geschichte der portugiesischen Emigration ist. Es handelt sich um ein so genanntes ‚Brasilianerhaus’ (casa de brasileiro) – eines der vielen Herrschaftshäuser, die aus Brasilien zurückgekehrte portugiesische Emigranten in ihren Herkunftsorten errichten ließen.2 Das Gebäude hat seine ursprüngliche Außen- und Innenarchitektur beibehalten, auch 2
Zum sozialen Typus des ‚Brasilianers’ und seiner Behandlung in der portugiesischen Literatur siehe auch den Beitrag von Fernanda Silva-Brummel in diesem Band.
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die Innendekoration und das Mobiliar sind die eines typischen ‚Brasilianerhauses’. All diese Elemente des Hauses tragen zum Verständnis der soziokulturellen Einbettung der ‚Brasilianer’ nach ihrer Rückkehr am Herkunftsort bei. Die ‚Museumssammlungen’ (Núcleos Museológicos) und ‚historischen Standorte’ (Sítios Históricos) werden zum Teil in einem ‚Raum der Erinnerung’ beschrieben, sind aber auch als physische Räume vorhanden, die besichtigt werden können. In diesen Räumen und Plätzen sind dokumentarische und museologische Bestände der portugiesischen Emigration zu finden. Im Fall von Fafe zeigen die Sammlungen materielle Manifestationen der Emigration nach Brasilien und der Rückkehr, die als Referenzpunkte für den Aufbau der museologischen Räume dienen. Dazu gehören etwa ein Wasserkraftwerk, ein Krankenhaus, Fabriken, ein öffentlicher Spazierweg, ein ‚Brasilianerhaus’ – allesamt Bauten, deren Entstehung sich der Rückkehr der ‚Brasilianer’ verdankt. Im Historischen Archiv (Arquivo Histórico) werden Dokumente und Gegenstände aufbewahrt, die von den Emigranten stammen oder verwendet wurden. Das können Briefe, Tagebücher, Fotografien oder weitere persönliche Gegenstände sein. Sogar Rekonstruktionen von Landschaften und Städten, die mit der Migration verbunden sind, werden hier archiviert. Allen gesammelten und archivierten Dokumenten kommt dabei eine Bedeutung zu: die Schiffspassagen; die Register der ausgestellten Reisepässe, der Aus- oder der Einreisen im jeweils anderen Land; die Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen; kollektive Verträge mit ausländischen Arbeitskräften; Volksbefragungen – all dies sind wertvolle Bestandteile des Emigrationsmuseums. Das Museum umfasst zusätzlich einen Dienstleistungsbereich, zu dem die Planung und Durchführung von Aktivitäten und die Veröffentlichungen gehören. Darunter fallen ebenfalls die Abstammungsforschung, die Information über die Herkunft, das Herstellen von Kontakten zu anderen Wissenszentren, die Sammlung und dokumentarische Organisation und die Durchführung von Ausstellungen. Damit das Museum in ein Forschungsnetz eingebunden ist, sind wir stets bemüht, Kontakte zu nationalen und internationalen Forschungszentren sowie direkt zu Forschern aufzubauen, die sich mit der portugiesischen Migration beschäftigen. Die Association of European Migration Institutions (AEMI) ist eines der wichtigsten Netzwerke, denen das Museum angehört. Schließlich ist noch das Forschungszentrum (Centro de Investigação) zu erwähnen. Es besteht aus Forschern, die sich in ihren Arbeiten auf den Bereich der Migration konzentrieren. Die von Experten und Universitätsprofessoren geleiteten Projekte stellen die Hauptachse der wissenschaftlichen Produktion und einen der Hauptzwecke des Migrationsmuseums dar.
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2.2 Das Emigrationsmuseum als Internetportal Das Museum präsentiert sich daneben auch als Web-Museum.3 Die Möglichkeit, durch digitale Medien große Datenmengen zu verarbeiten und diese im Internet zugänglich zu machen, hat das Museum bewogen, eine ständige Ausstellung im Internet zu veröffentlichen. Der virtuelle Teil des Museums gliedert sich in sechs Themenräume, die im Folgenden beschrieben werden. Im ‚Raum der Erinnerung’ (Sala da Memória) werden die materiellen und symbolischen Manifestationen der Emigration in den Zielgebieten sichtbar gemacht: in der Architektur sowie in wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aktivitäten im städtischen und ländlichen öffentlichen Raum. Der ‚Raum der Diaspora’ (Sala da Diáspora) besteht aus einer Datenbank, die – zur leichteren Identifizierung mit den auf der Welt verteilten Gemeinschaften portugiesischen Ursprungs – durch geographische Achsen organisiert ist: Europa, Nordamerika, Afrika, Asien, Ozeanien, Brasilien und andere Länder Südamerikas. Die Datenbank enthält demographische Statistiken, die zum Verständnis der Emigrationsbewegungen beitragen, sowie (Auto)Biographien ausgewanderter Personen. Somit vereint dieser ‚Raum’ Makro- und Mikroelemente, deren Zusammenführung neue Erkenntnisse verspricht. Im ‚Raum der Vorfahren’ (Sala da Ascendência) werden dokumentarische Quellen und Informationen über Familien sowie Aspekte der Lebensgeschichte eines jeden Familienmitglieds aufbewahrt. Dieses Material ermöglicht es, Genealogien zu entwerfen und somit ganze Familiengeschichten in die Migrationsgeschichte einzuflechten. Der ‚Raum der Gemeinschaften’ (Sala das Comunidades) ist den Vereinigungen der nach Brasilien, Europa, Nordamerika, Afrika, in spanischsprachige Länder Lateinamerikas und nach Asien ausgewanderten Portugiesen gewidmet. Hier kann man die Geschichte des portugiesischen Vereinswesens im Migrationskontext kennen lernen. Besondere Aufmerksamkeit wird der Funktion der Migrantenvereine, ihrer Einbettung im Zielland und der Verbindung zu den Herkunftsgebieten geschenkt. Der ‚Raum der Lusophonie’ (Sala da Lusofonia) ist dem Leben und Werk von Personen gewidmet, die auf dem Gebiet der portugiesischen Sprache arbeiten und diese fördern. Hier werden die wichtigsten Formen kultureller Manifestationen von der Zeit Rio de Janeiros als Hauptstadt des Königreichs bis zur Gegenwart erkennbar. Im ‚Raum des Wissens’ (Sala do Conhecimento) werden wissenschaftliche Arbeiten aus den verschiedensten Bereichen vorgestellt. Neben einer Reihe von 3
Abrufbar unter: www.museu-emigrantes.org.
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thematischen Abhandlungen über die Kolonisierung und die Emigration sind hier Dokumente, Autoren und wissenschaftliche Institutionen zusammengestellt und werden somit öffentlich zugänglich gemacht. 3
Funktionen des Emigrationsmuseums
Die Hauptaufgaben des Emigrationsmuseums bestehen zum einen in der wissenschaftlichen Erforschung der Auswanderungs- und Rückkehrbewegungen der portugiesischen Bevölkerung und zum anderen in der pädagogischen Aufbereitung der wissenschaftlichen Erkenntnisse für ein breites und heterogenes Publikum (Rocha-Trindade 2002). Im Folgenden möchte ich beide Aufgaben näher beschreiben. 3.1 Historische Erinnerung Viele Migranten haben ihre persönlichen Geschichten an ihre Enkel und Urenkel weitergegeben. Das Projekt ‚Historische Erinnerung’ (Memória Histórica) versucht nun, die Familiengeschichten zu rekonstruieren. Dazu zählen die Lebenswege nicht nur der Auswanderer, sondern auch der zurückgebliebenen Familienangehörigen. Die Erforschung der Familiengeschichten ermöglicht es, in die kulturelle Erinnerung vorzudringen und so Konflikte, Spannungen sowie das Verhältnis zwischen öffentlichem Raum und den sozialen Verhaltensmustern offen zu legen. Auf einem virtuellen Rundgang in den Museumssammlungen kann dies nachvollzogen werden. In Zukunft wird das Museum einen wichtigen Beitrag zum Kenntnisstand der lusophonen Migrationen und Kulturen leisten. Ermöglicht wird dies insbesondere durch die Nutzung neuer Kommunikationswege und –mittel, den Rückgriff auf lokale Sammlungen und den Ausbau der Aufnahmemöglichkeit für Nachlässe unter Berücksichtigung der thematischen und geografischen Heterogenität. Zugleich wird für das Projekt ein dokumentarischer Fundus organisiert, der aus handschriftlichen Dokumenten, Drucksachen, Bildmaterial und Kartenmaterial besteht. Schließlich kann das Museum auf öffentliche Dokumente zugreifen, insbesondere solche aus der Stadtverwaltung und anderen kommunalen Organen. Die Zeitschriften, Zeitungen, Almanache und Jahrbücher werden auf ihre mögliche Verwendung bewertet. Im Rahmen des Projekts sollen all diese Quellen berücksichtigt werden, zumal die Kenntnis
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[…] des täglichen Lebens der Menschen, die vor 50 oder 100 Jahre lebten, nicht nur durch die offiziellen Berichte, Zeitungsnachrichten oder Statistikdaten belegt ist, sondern auch durch kleine Besonderheiten, die uns heute kaum bedeutsam erscheinen und die wir normalerweise zu vernachlässigen geneigt sind: Die Fotografien und Postkarten geben Landschaften und Menschen wieder. Wir versuchen in den alten Bildern die Änderungen im Stadtbild wahrzunehmen, die verschwundenen oder veränderten Gebäude, die Beleuchtung und die öffentlichen Verkehrsmittel, die Kleidung und die Frisuren, die Körperhaltungen. Zusammengefasst wird hier die visuelle Erinnerung über viele Epochen des Lebens einer Gemeinschaft erhalten.4
Neben den öffentlichen sind die privaten Bestände der Emigranten und ihrer Familien von großem Wert. In ihnen befinden sich zahlreiche private Unterlagen, insbesondere Geschäfts- und Privatkorrespondenz. Diese Dokumente schaffen einen Zugang zur Familienerinnerung und zu unsichtbaren Verschränkungen der Lebenswege der Emigranten und ihrer Nachkommen. 3.2 Kommunikative Erinnerung Das Museum erweitert seine Ansätze und Methoden durch den Rückgriff auf heutige Kommunikationstechnologien, insbesondere auf digitale Medien zur Aufbewahrung von Daten und zur Vermittlung der Inhalte. Diese Medien werden methodisch für die bibliographische, dokumentarische und experimentelle Recherche sowohl qualitativ als auch quantitativ eingesetzt. Der Zugriff auf elektronische Datenbanken ist insofern bedeutsam, als er ermöglicht, Quellen und Wissensbestände miteinander zu kombinieren. Dabei spielt die Technik nicht bloß die Rolle eines Hilfsmittels. Mitunter bestimmt sie die methodische Herangehensweise, die Erklärungsmuster und die Darstellungsform der wissenschaftlichen Arbeit. Sie eröffnet innerhalb der Sozialwissenschaften neue Möglichkeiten der Bewältigung großer Datenmengen und trägt dadurch zu einer ergiebigen Kombination von quantitativen und qualitativen Analysen bei. Hierzu zählen die computergestützte Inhaltsanalyse und die Dokumentenanalyse. Die Inhaltsanalyse, die eine Vielzahl von Analysetechniken umfasst, erlaubt die Formalisierung von Inhaltskategorien und -unterkategorien. Dem Universum in seiner Bedeutungsvielfalt wird ein systematischer, kohärenter und 4
Original: „[...] da vida quotidiana das pessoas que viveram há 50 ou 100 anos não é apenas testemunhada pelos relatos oficiais, notícias de jornais ou dados estatísticos, mas também por pequenas espécies, hoje para nós de importância ínfima e que normalmente todos desprezamos: As fotografias e postais retractam paisagens e pessoas. Procuramos nas imagens antigas, acompanhar as alterações urbanísticas, os edifícios desaparecidos ou transformados, a iluminação e os transportes públicos, o vestuário e os penteados, as poses, enfim a memória visual de muitas épocas da vida de uma comunidade está aí conservada“ (Nunes 1989).
Migrationen, Erinnerungskulturen, Museen
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einfach teilbarer Sinn verliehen, indem es in das organisierende technische System des Computers eingepasst wird. Die Inhaltsanalyse als eine Technik der Textanalyse ermöglicht es, Kategorien zu erstellen und zu hierarchisieren, somit das Wissen zu systematisieren und es zur Vermittlung an ein heterogenes Publikum aufzubereiten. Methodisch gesehen bewegt sich die Inhaltsanalyse zwischen instrumenteller und darstellender Funktion. Die Anwendung der computergestützten Inhaltsanalyse impliziert die systematische, quantitative Beschreibung der Inhalte, die im untersuchten Korpus enthalten sind, mit dem Ziel, die Inhalte zu interpretieren. Verbindet man also die Inhaltsanalyse mit quantitativen Techniken, so befreit sich die Untersuchung vom rein deskriptiven Charakter und wird um eine quantitative Dimension bereichert. Jede Kategorie gruppiert Untersuchungseinheiten aufgrund von gemeinsamen Eigenschaften. Kriterien für die Kategorisierung können semantischer, syntaktischer, lexikaler oder argumentativer Natur sein. Die Gründung der ‚Räume’ der internetgestützten Darstellung des Museums basiert auf dieser inhaltsanalytischen Kategorisierung des Materials. Bei den qualitativen Inhalten wurde den Merkmalen von Aussagefragmenten besondere Aufmerksamkeit geschenkt, wohingegen die quantitativen Inhalte nach ihrer Streuung und Häufigkeit untersucht werden, um Modelle mit Verallgemeinerungspotential entwerfen zu können. Neben der Inhalts- ist ebenfalls die Dokumentenanalyse für die museale Arbeit von Belang. Diese ermöglicht den methodisch kontrollierten Übergang vom Dokument als Primärquelle zu einer Sekundärquelle, die als Produkt der ersten gilt (Prior 2003). Die Indexierung des Materials gestattet die Klassifizierung durch Schlüsselwörter, die durch eine Auswahl nach Begriffen oder Gedanken geordnet werden. Da es sich bei dem Museum um ein kommunikatives System handelt, bringen Sozialwissenschaften, Museologie, Web-Museologie und Museographie vielschichtige und einander ergänzende Methoden ein, um die Atmosphäre und die Orte der Emigration zu rekonstruieren und so dem virtuellen Besucher historisches Wissen bereit zu stellen. Bei der Aufbereitung des Materials ist es wichtig, die Perspektive der unterschiedlichen Sozialwissenschaften und zugleich die der Besucher der Web-Plattform zu berücksichtigen. Dabei soll ein Prozess der autonomen Lektüre ausgelöst werden, in dem Wissensbestände und Ansichten in einem multiperspektivischen Gewebe verbunden werden, sodass alle Akteure direkt und aktiv am Erkenntnisprozess teilnehmen und Wissensbestände neu verbunden werden können. Das Web-Museum versucht, die vielfältigen Dimensionen der Migrationsphänomene und ihrer materiellen Manifestationen zu umfassen, weshalb wir um die Akquise von größtmöglichen Beständen bemüht sind, die bei Privatleuten, Behörden und Ministerien, bei der Polizei, in der
Miguel Monteiro
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Verwaltung und an anderen Orten verstreut liegen. Im Web-Museum befinden sich Datenbestände von individuellen Emigranten mit ihren Biographien und Memoiren und von ganzen Emigrantenfamilien. Dabei kann auf Systeme der automatischen Erstellung von Genealogien zugegriffen werden, ebenso auf Ansichten von Landschaften sowohl des Herkunfts- als auch des Zielortes. Soziale Erfahrungen und kulturelle Manifestationen treten im Web-Museum neben künstlerischen und wissenschaftlichen Produktionen und Dokumenten in Erscheinung. Auch Sammlungen von alten Postkarten, Fotographien und Filmen bis hin zum Nachlass eines Radiosenders werden im Web-Museum augestellt. Als zusätzlicher Bestandteil des Museums wird zurzeit die Einrichtung einer Bibliothek der Migrationen angedacht, deren Bestand sich auf das Thema der Migration im Allgemeinen und auf die portugiesische Emigration im Besonderen beziehen soll. Darüber hinaus haben wir mit der Digitalisierung von Dokumenten begonnen. Die Digitalisierung ist besonders für die Aufbewahrung und für die Erstellung von Datenbanken sinnvoll. Die Datenbank der Migrationen soll für künftige Generationen zugänglich sein. Die Digitalisierung von für jede Epoche repräsentativen Exponaten ermöglicht ihre Visualisierung im virtuellen Raum und die Rekonstruktion der geographischen, epochalen und sozialen Atmosphären unterschiedlicher Migrationskontexte (Rocha-Trindade 2002). 4
Bibliographie
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Gegen die Musealisierung: Das Projekt ‚Sudexpress’ als lebendiges virtuelles Zentrum der portugiesischen Emigration Isabel Lopes Cardoso
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Einleitung, oder: unser Wunsch ist es, die Migration zu zerknittern Wir sind hier, um mit der Migration zu spielen. Nicht mit jener, die andere lobpreisen. Sondern mit unserer Emigration / Immigration, mit der, die aus uns Emigranten / Immigranten macht. Dass andere vorhaben, auf dem Thema zu wissenschaftlichen und herrschaftlichen Zwecken herumzureiten, bringt uns wenig. Unser Wunsch ist es, die Emigration / Immigration zu zerknittern, in ihr die ganzen Dimensionen des Lebens unterzubringen. Und wie viele sind dies? Wenn das Leben unendliche Dimensionen hat?
Der mosambikanische Schriftsteller Mia Couto möge uns das Plagiat und die Verfremdung der Zeilen verzeihen, mit denen er seine Fragen einleitet, die er an die portugiesische Sprache stellt.1 Es schien uns allerdings, dass seine Worte bezüglich der Neuerfindung des Portugiesischen einige der Gedanken treffend wiedergeben, die uns, Mitglieder der Initiative Mémoire Vive / Memória Viva dazu gebracht haben, dem Projekt ‚Sudexpress’2 Leben zu verleihen. Unser Ziel ist es, den Diskurs über die portugiesische Emigration / Immigration neu zu erfinden. Dabei soll das Recht auf einen eigenen Diskurs und die Freude, unsere eigenen Repräsentationen zu schaffen, verteidigt werden. Für diesen Zweck wurde die Internetseite ‚Sudexpress’ geschaffen. ‚Sudexpress’ versteht sich als Gegenströmung zu den herrschenden Migrationsdiskursen. Der Emigration / Immigration die Farben zurückzugeben, die durch Vorurteile weggenommen wurden, und unsere Irritationen gegenüber 1
2
Original: „Venho brincar aqui no Português, a língua. Não aquela que outros embandeiram. Mas a língua nossa, essa que dá gosto a gente namorar e que nos faz a nós, moçambicanos, ficarmos mais Moçambique. Que outros pretendam cavalgar o assunto para fins de cadeira e poleiro pouco me acarreta. A língua que eu quero é essa que perde função e se torna carícia. O que me apronta é o simples gosto da palavra, o mesmo que a asa sente aquando o voo. Meu desejo é desalisar a linguagem, colocando nela as quantas dimensões da Vida. E quantas são? Se a Vida tem é idimensões?“ (Couto 1997). Abrufbar unter: http://www.sudexpress.org.
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Gemeinplätzen vorzubringen, die dazu neigen, sie zu ersticken – dieses Ziel bewegt die Mitglieder der Vereinigung Mémoire Vive / Memória Viva und stand am Anfang des ‚Sudexpress’. 2
Entstehung des Projekts
Die Vereinigung Mémoire Vive / Memória Viva ist im Jahr 2003 aus der Initiative des Regisseurs José Vieira entstanden, der 2001 den Film A fotografia rasgada: Crónica de uma emigração clandestina gedreht hat. Dies ist der einzige Film, der sich in den mehr als dreißig Jahren nach dem mythischen O Salto3 (1967) von Christian de Chalonge direkt mit der portugiesischen Auswanderung der sechziger und siebziger Jahre beschäftigt. Indem er den allgemeinen Aufbruch der (legalen und illegalen) Emigration von hunderttausenden von Menschen als eine mit den Füßen vorgenommene Volksabstimmung gegen die Diktatur von Salazar bezeichnet, gibt Vieira den Protagonisten dieser Geschichte die Menschenwürde zurück, wie dies schon zuvor von Alfredo Margarido (1999) in einem ausgezeichneten Artikel über die bidonvilles in Frankreich geschehen war: O Salto war ein unauffälliger und leiser Aufstand […], [die] Ablehnung der Entscheidungen des politisch-administrativen Apparats […], es war eine politische Initiative, wenn auch ohne niedergeschriebenes Programm und ohne theoretisches Konzept.4
Die Bedeutung von Vieiras Film liegt in der Tatsache, dass dies der erste Film über „den Sprung“ ist, der ‚von innen’ gedreht wurde. Als Sohn von Emigranten aus der Beira Alta, die in den sechziger Jahren nach Frankreich gekommen sind, lässt sich der Regisseur von der Geschichte seines Vaters inspirieren, der im Jahr 1963 im salto nach Frankreich gekommen ist, sowie von den Geschichten über den salto, die er als Kind im bidonville von Massy gehört hat, wo die Familie fünf Jahre lang wohnte. Mit diesem Film zirkuliert zum ersten Mal in Frankreich in bewegten Bildern eine Version der Geschichte, die hunderttausende von Menschen mit Vieira teilen. Das Schaffen einer eigenen Version diesesr Geschichte, die oft abgewertet oder auch mystifiziert wird, und ihr Einschreiben in die nationalen Geschichten Portugals und Frankreichs stellt einen Akt der Be3 4
Das Substantiv o salto – der Sprung [über die Grenze] – hat sich zunächst unter Emigranten, später in den allgemeinen Sprachgebrauch etabliert, um die illegale Auswanderung von Portugal nach Frankreich in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu bezeichnen. Original: „O salto foi uma insurreição discreta e silenciosa [...], [a] rejeição das decisões do aparelho político-administrativo [...], uma iniciativa política, embora sem programa escrito e sem projecto teórico [...]“ (Margarido 1999).
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freiung und Emanzipation der Emigration von den herrschenden Diskursen dar – einen Akt der Aneignung der eigenen Geschichte seitens der Emigranten. Im Gegensatz zum Film von Christian Chalonge, der nach der kritischen Einschätzung von Manuel Madeira5 die zeitgenössischen Positionen der Kommunistischen Partei Frankreichs in Hinblick auf die migratorischen Phänomene wiedergibt (Madeira 1999: 27), nimmt A Fotografia rasgada eine Archäologie der Erinnerung vor. Aus ihr gehen die tieferen Beweggründe hervor, die jenen massiven, beinahe einzigartigen Exodus verursachten und die Menschen dazu bewegten, ein Land zu verlassen, das von einer Diktatur beherrscht, in einem ‚unzeitgemäßen’ Kolonialkrieg festgefahren war und in dem lediglich 70.000 der sieben Millionen Portugiesen ohne Entbehrungen lebten (Beauvoir 1963). Wenn also der erste Film des damals jungen Chalonge ein parteilicher Film mit programmatischem und ideologischem Inhalt war, ist das Werk Vieiras ein Film des Erwachsenseins, der gleichzeitig von der Lebenserfahrung des Regisseurs und von der historischen, soziologischen und politischen Reflexion über die gemeinsame Geschichte profitiert, deren Auswirkungen heute noch zu spüren sind. Im Verlauf seiner Reisen durch Frankreich im Zusammenhang mit der Werbung für Fotografia rasgada, hatte José Vieira die Möglichkeit, an zahlreichen Diskussionen teilzunehmen, die die Vorführung des Films begleiteten. Dort stellte er zwei Dinge fest: erstens, dass das Bild das Wort befreit hat – dank des Films konnten viele Portugiesen erstmals über diesen schmerzhaften, traumatischen Abschnitt ihres Lebens sprechen, über das Verlassen ihres Heimatlandes und die ersten Jahre ihres Lebens in Frankreich; zweitens, dass ein Platz gefehlt hat, an dem das existierende Material über diesen Exodus und seine Konsequenzen gesammelt, verarbeitet, überliefert und diskutiert wird. Es fehlte ein Forum, das insbesondere den Kindern der Protagonisten ermöglicht, Quellen und Informationen bzw. Antworten auf ihre Fragen zu finden, auf die so oft ihre Eltern schweigen. So wurde die Idee eines virtuellen Zentrums zur Sammlung und Weitergabe von Erinnerung und Geschichte der portugiesischen Migration geboren. Mit akustischen und visuellen Elementen sollte es die Erinnerung der Geschehnisse wachrufen und weitergeben, aber auch kontextualisieren. Abgesehen davon sollte das Zentrum – der migratorischen Mobilität verpflichtet – überregional und für jede interessierte Person von jedem Punkt des Planeten aus zugänglich 5
Manuel Madeira hat den hervorragenden Film Chronique d’immigrés (1980) gedreht, der in seiner Art einzigartig ist, weil es sich um ein Werk handelt, das gemeinsam mit der Vereinigung Portugal Novo von Colombes kollektiv gedreht wurde. In einem städtischen Industriegebiet in der Nähe von Paris gründeten etwa hundert portugiesische Gastarbeiter eine Vereinigung, deren Ziel es war, sich öffentlich Gehör zu verschaffen.
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sein. Dementsprechend wurde es bald klar: Das Zentrum musste ein Internetportal sein. Ein Portal dieser Art, dessen Zweck es ist, das gesammelte Material in Zusammenarbeit aller – insbesondere aber der Internetnutzer – zusammen zu führen, zu verbreiten und zu diskutieren, benötigt mindestens einen Koordinator. Zugleich reicht dies nicht aus, wenn auf die Dynamik und den Austausch von verschiedenen Erfahrungen und Meinungen gesetzt wird, die das Entstehen eines vielschichtigen Inhalts ermöglichen sollen, wie dies das migratorische Phänomen selbst ist. Das Vorhaben musste notwendigerweise von einer Gruppe von Personen ausgehen, weshalb José Vieira die Gründung einer Vereinigung vorschlug, die das Projekt durchführen und ihm Leben und Bestand sichern sollte. Unter den Personen, die zur Durchführung dieses kollektiven Projekts angesprochen wurden, zählten Exilanten, Emigranten und Kinder von Emigranten, darunter Portugiesen, Franzosen, einige mit doppelter Staatsangehörigkeit, Kinder von Portugiesen, von Franzosen oder von binationalen Paaren (portugiesisch-französisch, portugiesisch-deutsch, portugiesisch-holländisch) und Kinder spanischer Widerstandkämpfer. Ob Kommunalbeamte, Lehrer, Produzenten, Regisseure, Forscher, Historiker, Geographen, Anthropologen, Soziologen – alle haben eine Verbindung zur portugiesischen Emigration, sei es aufgrund ihrer eigenen Lebenserfahrung, sei es in familiärer, gefühlsmäßiger oder professioneller Sicht. So entstand die Vereinigung Mémoire Vive / Memória Viva (2003). Das Kollektiv hat zwölf Gründungsmitglieder, deren Alter zum Gründungszeitpunkt zwischen vierzig und sechzig Jahren lag.6 Bis zur Eröffnung des virtuellen Zentrums im Jahre 2006 folgten drei Jahre des lebhaften Austauschs und der intensiven Arbeit. Das Drehbuch des ursprünglichen Projekts, so wie sich dies José Vieira vorgestellt hatte, wurde finanziell unterstützt von der Fundação Calouste Gulbenkian. Nach seiner Annahme und Aneignung durch das Kollektiv erhielt ‚Sudexpress’ eine erste Unterstützung durch die Stadtverwaltung von Paris (wo sich der Sitz der Vereinigung befindet), danach die regelmäßige Unterstützung von zwei staatlichen französischen Organisationen, des Fonds d’Action Sociale Île-de-France (FASILD) und der Agence Nationale pour la Cohésion Sociale et l’Egalité des Chances (ACSE). Diese finanzielle Unterstützung war für die professionelle Gestaltung des Internetportals und für die Etablierung des ‚Sudexpress’ unabdingbar.
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Mit Ausnahme einer Soziologin, die um die 30 Jahre alt war.
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Portugiesische Migration wie wir sie gerne hätten
[…] tout le faire de la nourriture étant dans la composition, en composant vos prises, vous faites vous-mêmes ce que vous mangez; le mets n’est plus un plat réifié, dont la préparation est, chez nous, pudiquement éloignée dans le temps et dans l’espace (repas élaborés à l’avance derrière la cloison d’une cuisine, pièce secrète où tout est permis, pourvu que le produit n’en sorte que composé, orné, embaumé, fardé). D’où le caractère vivant […] de cette nourriture […]. (Barthes 1970: 24)
Es mag überraschen, dass wir für unsere Überlegungen über und wider die ‚Glättung’ der Emigration / Immigration auf Roland Barthes und die von ihm vorgenommene semiologische Lesart zurückgreifen. Aber es ist Barthes Ablehnung der westlichen Semiokratie, die auch die Mémoire Vive / Memória Viva bewegt, vor allem was die geltende ‚Stereotypokratie’ über die Emigration / Immigration anbelangt. Was uns am Werk des strukturalistischen Semiologen interessiert, ist das Konzept des Paradigmenbruchs als Mittel der Flucht vor dem, was wir in Bezug auf die Emigration / Immigration als ‚Imperialismus der vorherrschenden Diskurse’ bezeichnen könnten. Es fehlte ein Ort, wo die Emigranten / Immigranten / Exilanten ihre eigene Version der Geschichte und Erinnerung entwerfen konnten. Nicht aus Opposition gegenüber der vorherrschenden Diskurse – dies käme einer ähnlichen Verbreitung einer einzigen Wahrheit gleich –, sondern als Angebot, einen anderen Blick auf dieses Phänomen zu werfen. Die Mémoire Vive / Memória Viva möchte nicht, dass die Emigration / Immigration weiterhin eine versachlichte Speise bleibt, die hinter einer geschlossenen Tür von wissenschaftlichen, politischen und mediatischen Demiurgen weit weg von den Tischgästen gekocht wird. Vielmehr streben wir an, dass die Migration Leben und Sichtbarkeit aus erster Hand – von Emigranten, Immigranten oder Exilanten – erhält. Die Migration soll außerdem als eine Speise in ständiger Zubereitung angesehen werden, ein als solcher angenommener erfinderischer Prozess von Andeutungen und Ambiguitäten, von Ortsveränderungen und von Rückwegen, von Dezentralisierung, von ständigen Zusammenschlüssen und Trennungen, die die Entdeckung neuer Sinnhorizonte erlauben und dazu beitragen, die Erörterung des Andersseins aus ihrem Reduktionismus zu führen.
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Vorherrschende Diskurse: die unerträgliche Leichtigkeit des Unsichtbarseins in Frankreich und die Schwierigkeit in Portugal sichtbar zu sein
In den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts haben die Soziologen Abdelmalek Sayad und Albano Cordeiro, die in Frankreich zur algerischen und zur portugiesischen Migration forschten, darauf hingewiesen, dass die vorherrschenden Diskurse (wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche) in Bezug auf die Migration beinahe immer das Produkt einer Problematisierung seien, die dem Gegenstand von außen aufgezwungen wurde. Beide Autoren bezweifelten die Neutralität und die Unabhängigkeit der Sozial- und Humanwissenschaften gegenüber der Politik – eine Erkenntnis, die besondere Schärfe erhält, wenn es um das Thema der Emigration / Immigration geht. Das bedeutet, dass die soziale (und dementsprechend politische) Behandlung, die den Migranten zuteil wird, zugleich deren wissenschaftliche Behandlung definiert, wobei Letztere in der Regel von der ersten abhängt. So werden wissenschaftliche Diskurse produziert, die versuchen, die Emigration / Immigration und ihre Auswirkungen zu beherrschen und sie aseptisch zu behandeln, da sie den nationalen Zusammenhalt in Frage stellen. 4.1 Unsichtbarkeit in Frankreich Die koloniale Frage gibt in Frankreich seit den zwanziger Jahren den Rahmen für die Einwanderungspolitik allgemein und für die Behandlung der portugiesischen Immigration in den 1960er Jahren im besonderen (Viet 2004; Weil 1991). Dies ist eine Realität, die schon den Soziologen Albano Cordeiro dazu geführt hat, die These vom ‚maghrebinischen Blitzableiter’ zu entwickeln (Cordeiro 1989a). Ihm zufolge wurde im Verlauf der sechziger Jahre der massive Exodus der Portugiesen durch einen anderen massiven Exodus verborgen, den der Algerier. Durch dieses Prisma betrachtet, wird die so häufig erwähnte Unsichtbarkeit der Portugiesen durch die starke maghrebinische Präsenz im Land erklärt, wobei Letztere in der kollektiven französischen Vorstellungswelt als problematisch erscheint, zumal sie mit der Kolonialgeschichte Frankreichs und dem algerischen Unabhängigkeitskrieg (1954-1962) verbunden ist. Mit anderen Worten machte die ‚exzessive’ Sichtbarkeit (mit negativen Konnotationen) der Maghrebiner (vor allem der Algerier) die Portugiesen unsichtbar. Gegenüber dem negativen Bild des (algerischen) Maghrebiners, wurden die Portugiesen schließlich zum Symbol der guten – integrierten, arbeitsamen, ehrlichen, unauffälligen – Immigranten, die ohne Klagen die vorgefundenen Arbeits- und Wohnbedingun-
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gen akzeptieren und lediglich daran interessiert seien, Geld zu verdienen, um nach Hause zurückzukehren und dort ein Haus zu bauen; Menschen, die sehr familienverbunden seien und sich nicht mit anderen Bevölkerungsgruppen vermengten. Solche Stereotype halten sich bis heute, auch wenn sich eine allmähliche Veränderung des Portugiesenbildes in Frankreich abzeichnet. Cordeiro unterstreicht darüber hinaus die Rolle der Eliten (in diesem Fall der Wissenschaftler) und der öffentlichen Institutionenin der Auswirkung negativer Maghrebiner-Stereotype auf das Bild des angeblich integrierten Portugiesen: La demande et l’intérêt des chercheurs et des étudiants sur l’immigration, et aussi la demande des institutions publiques qui financent la recherche publique, sont centrées sur les populations “qui-posent-problème”, autrement dit, celles qui présentent un caractère de dangerosité sociale, ou encore celles qui, pour des raisons historiques, sont perçues comme menaçantes pour l’identité nationale et pour lesquelles une connaissance de plus en plus poussée peut donner l’illusion de circonscrire cette même menace (Cordeiro 1997: 6).
Daraus erschließt sich, dass die ‚guten’ Immigranten diejenigen sind, die keine ‚Probleme’ verursachen und sich in die Strukturen des herrschenden Systems einfügen: „Les Portugais sont très discrets, ils vivent entre eux, sont très bien intégrés“ (Cordeiro 1997: 6). Die Vorstellung, die in der französischen Gesellschaft von portugiesischen Immigranten vorherrscht, entspricht im Grunde dem Ideal des kleinen und armen, aber rechtschaffenen Volkes, mit dem Salazar die portugiesische Gesellschaft geknebelt hat (Braga 1971). Mit dieser Vorstellung waren die Emigranten aufgewachsen, sie brachten sie mit, als sie in Frankreich ankamen; aus ihr folgten auch Angst und Misstrauen vor allem gegenüber den Behörden. So war es schließlich beinahe selbstverständlich seitens der portugiesischen Emigranten, sich für eine defensive Strategie der ‚Unsichtbarkeit’ als Mittel des Überlebens und des Widerstands in einer feindlichen Umgebung zu entscheiden. Wie man sieht, war dies der französischen Gesellschaft sehr willkommen. Die ‚Unsichtbarkeit’ der Portugiesen in Frankreich beruht also in Teilen auf deren eigener Strategie der Unsichtbarmachung. Diese Strategie bestand darin, im Zielland möglichst unbemerkt zu bleiben, um weder von den französischen noch von den portugiesischen Behörden bedrängt zu werden - zu einer Zeit, als insbesondere wegen des Kolonialkriegs die illegale Emigration exponentiell anstieg. Ein Großteil der portugiesischstämmigen Jugendlichen nahm diese Verhaltensweisen der Eltern an. Dazu stellte die Soziologin Marie-Claude Muñoz fest, dass die Unsichtbarkeit für sie einerseits eine Strategie war, die eigene Identität
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und Integrität zu bewahren, andererseits aber auch Schutz vor zunehmender Intoleranz und Ausländerfeindlichkeit bot (Muñoz 1999). Ein Beleg, dass diese Unsichtbarkeit oder das (absichtliche oder versehentliche) Vergessen der portugiesischen Immigration in Frankreich noch heute besteht, ist der Brief einer Leserin des Télérama,7 der der Zeitschrift am 13. Dezember 2006 zugesandt wurde und symptomatisch die Überschrift „Sans bruit“ trägt. Dieser Brief kommentiert eine Ausstellung über das berüchtigte Wellblechviertel von Nanterre, der westlichen Peripherie von Paris, wo ca. 10.000 Immigranten und andere ‚vergessene’ Bevölkerungsschichten lebten: Il y a quelques mois, le père de mon gendre s’est rendu à l’université de Nanterre pour montrer à sa femme et à son fils une exposition de photos sur le bidonville de Nanterre. Portugais, il y a vécu de 1960 à 1963, alors que sa famille était restée au Portugal. Les photos exposées ne concernaient que la partie du bidonville occupée par les Maghrébins. Ce monsieur a été déçu, évidemment, car il pensait retrouver là ses souvenirs, des visages connus, une partie de sa jeunesse. Cette déception m’a touchée, de même que me surprend l’absence de documentaires relatifs à l’immigration portugaise, à toutes ces personnes qui se sont intégrées sans bruit à la société française (Télérama 2006).
Vergessen, Unwissen – alles geschieht, als ob ein Bildschirm zwischen den in Frankreich lebenden Portugiesen und der französischen Gesellschaft existieren würde, wie die Vereinigung Mémoire Vive / Memória Viva in Reaktion auf den Brief der Leserin des Télérama bemerkte: Votre question relance la réflexion sur le leitmotiv de l’intégration “sans bruit” ou de “l’invisibilité” des immigrés portugais alors qu’ils sont omniprésents dans la société française et on peut s’interroger sur ce qui fait écran.
In Frankreich verhindert das Paradigma der unsichtbaren, aber integrierten Portugiesen bislang eine ernsthafte historische und vorurteilsfreie Reflexion über ihre Rolle in der französischen Gesellschaft. Die jüngere französische Geschichtsschreibung begann erst vor kaum mehr als zehn Jahren damit, sich der Geschichte der portugiesischen Immigration zu widmen. Dabei sei auch erwähnt, dass die portugiesische Immigration in Handbüchern zur Geschichte der Einwanderung in Frankreich nur einen verschwindend kleinen Teil einnimmt, was der Allgegenwart der Portugiesen auf dem französischen Staatsgebiet völlig widerspricht. Der (unbewusste) Ethnozentrismus derjenigen, die aus dem Blickwinkel der Aufnahme-Gesellschaft lediglich das immigratorische Phänomen ab dem Moment hinterfragen, in dem die Immigranten ‚Probleme machen’, ohne die Ursachen für die Zuwanderung und die Folgen für die Menschen zu reflektieren, 7
Wochenzeitschrift für Fernsehen, Kunst und Kultur.
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wurde von A. Sayad in den siebziger Jahren aufgedeckt. Lange bevor die Immigration Eingang in die politische Debatte fand, zerriss Sayad im Jahr 1975 den Schleier der Illusionen, indem er den betäubenden Mythos des importierten Arbeiters widerlegte, der, wenn er erst einmal seine Ersparnisse zusammengebracht hat, in seine Heimat zurückkehren werde, um einem anderen Arbeiter Platz zu machen. Denn die Immigranten, die weder Staatsbürger noch Ausländer sind und sich auf einer Grenze zwischen sozialem Sein und Nicht-Sein befinden, bringen in Verlegenheit (Sayad 2006). So gesehen sind Immigranten notwendigerweise Menschen, die Probleme juristischer, administrativer, sozialer und kultureller Art bereiten, denen begegnet werden muss. Die wissenschaftliche Forschung, die damit verbunden ist, gibt diese Realität wie folgt wieder: Immigration und Sozialversicherung, Immigration und Arbeit oder Immigration und Arbeitslosigkeit, Immigration und religiöse Praktiken, Immigration und Wohnverhältnisse, Immigration und Ausbildung, Immigration und Schulwesen, und so fort: Cet appariement entre un groupe social et une série de problèmes sociaux constitue l’indice le plus manifeste que la problématique de la recherche, telle qu’elle est commanditée et menée, est en conformité et en continuité directe avec la perception sociale qu’on a de l’immigration et de l’immigré (Sayad 2006: 53).
Ein Beispiel aus jüngerer Zeit gibt das 2005 vom französischen Verlag La Documentation française herausgegebene Heft mit dem Titel „Les immigrés dans la société française“ (Richard 2005), an dem Spezialisten für Migrationsfragen, insbesondere Historiker, teilgenommen haben und in dem nicht ein einziger Text über die portugiesische Immigration enthalten ist, noch nicht einmal in dem Kapitel, das der Pluralität und Diversität der Immigranten gewidmet ist! So mag das Heft zur Sammlung Problèmes politiques et sociaux gehören, in Bezug auf die portugiesische Immigration scheint es nach wie vor einfach keine Probleme zu geben. Diese Art und Weise, die Thematik der portugiesischen Immigration in Frankreich zu behandeln, ist nicht nur wenig hilfreich, um die in der französischen Gesellschaft herrschenden Vorstellungen von den Immigranten zu ändern , sie festigt zugleich Vorstellungen, die die Immigranten von sich selbst haben. In der Tat haben die Portugiesen das Bild des guten Emigranten assimiliert, der keine Schwierigkeiten macht. Den portugiesischen Immigranten, die im Gegensatz zu den Algeriern die Sprache nicht beherrschten, die französische Kultur und die Winkelzüge ihrer Verwaltung nicht kannten und die zur selben Zeit den portugiesische Staatsapparat und die (in Frankreich tätigen) Agenten der portu-
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giesischen Geheimpolizei PIDE8 fürchteten, blieb nichts anderes übrig als zwischen zwei Feuern gefangen ihre eigenen Lösungen zu finden, um ihr Überleben zu sichern. In Frankreich wählten sie den Weg der Unsichtbarkeit und bemühten sich, übersehen zu werden, um der gewalten Entwurzelung besser widerstehen zu können, die mit dem kurzfristigen, massiven Aufbruch drohte. Betrachtungen wie die von Gérald Bloncourt sind selten. Dieser Fotograf aus Haiti versuchte zu verstehen, woher diese Personen kamen, die es auf sich genommen hatten, unter härtesten Bedingungen außerhalb ihrer Heimat zu leben. So machte sich Bloncourt so auf die Suche nach den Emigranten, die sich hinter den Immigranten verbergen. Seine Fotografien übernehmen die Arbeit, die in Frankreich noch zu tun ist und in der es darum geht, die Geschichte und die Vergangenheit von mehr als einer Million Portugiesen, die in dem Land leben, aus dem Dunkel zu heben. Die Fotografien von Bloncourt enthüllen in ihrer mächtigen Schönheit die elenden Lebens- und Arbeitsbedingungen, denen die Portugiesen während der ersten Jahre ihres Aufenthalts in Frankreich unterworfen waren. Es handelt sich um eine Erinnerung, die nur schwer durch die betroffenen Personen selbst weiterzugeben ist; sowohl Frankreich als auch Portugal ziehen es vor, diese Dinge nach wie vor zu verbergen (Cardoso 2008a). So hat die Ausstellung des Fotografen, deren erste Version im Jahr 2007 auf der Homepage vom Sudexpress das Licht erblickte und die 2008 im Centro Cultural de Belém in Lissabon präsentiert wurde, eine einzigartige Bedeutung zu einer Zeit, in der die Emigranten / Immigranten selbst die Notwendigkeit empfinden, die Erinnerung an diese Erlebnisse an ihre Kinder weiterzugeben, wie dies der oben zitierte Lesebrief an Télérama bezeugt. 4.2 Sichtbarkeit in Portugal Wir sind neugierig zu erfahren, wie die Fotoausstellung von Gérald Bloncourt in Portugal angenommen wurde, die beinahe ein Jahr nach der ersten und bislang einzigen Ausstellung über die portugiesische Emigration vom Museum des Präsidiums der Republik zunächst in Setúbal (2007) und dann in Lissabon (2007-2008) stattfand und sich gegenwärtig in Fafe befindet.9
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In ihrem Roman Este verão o emigrante là-bas (1978), gibt Olga Gonçalves perfekt die unkomfortable Situation wieder, in der sich die Portugiesen befinden und vergegenwärtigt ihre Ängste sowohl in Bezug auf die Behörden wie auch in Bezug auf die französische und portugiesische Verwaltung. Siehe hierzu den Beitrag von Fernanda Silva-Brummel in diesem Band. Es handelt sich um die Ausstellung Terra Longe, Terra Perto – Traços da Emigração Portuguesa.
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In einem Land, in dem die Eliten dazu neigen, die Wunde der Emigration nicht berühren zu wollen, werden offensichtlich durch dieselben Eliten viele Stereotype über dieses strukturierende Merkmal der portugiesischen Gesellschaft (Godinho 1978) in Umlauf gebracht. Jedoch haben nicht nur die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Eliten Portugals Schwierigkeiten mit dem Thema der Emigration , auch die in Frankreich lebenden portugiesischen Eliten haben Probleme mit der Immigration. Letztere sind stets bemüht, Portugal im Kreise der Einwanderungsländer zu sehen, oder mit anderen Worten, Portugal aus der Peripherie herauszunehmen und ins Zentrum zu platzieren, um bei den wirtschaftlich und kulturell dominanten Ländern der Europäischen Union anerkannt zu sein.10 Noch heute hört man oftmals die Beschwerde, dass die Emigration das Bild Portugals im Ausland beschädigt habe. Was Frankreich betrifft, ist dieses (reale oder eingebildete) Anerkennungsdefizit, unter dem die portugiesischen Eliten leiden, nicht neu. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts empörte sich Aquilino Ribeiro darüber, dass in den Köpfen der politischen und kulturellen Führer Portugals Frankreich die Rolle einer ‚Grundschullehrerin’ spiele (Cardoso 2006). Der Maler Amadeo de Souza Cardoso, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Paris lebte, äußerte einen ähnlichen Gedanken in Bezug auf die portugiesischen Maler, die er in der Stadt (wenn auch selten) aufsuchte: Sie verweilten in einer rückständigen Routine. Ein halbes Jahrhundert später haben nun die portugiesischen Eliten einen Sündenbock namens ‚Emigrant’ für ihr eigenes Unbehagen gefunden. Dies geschicht in einem Kontext, in dem Portugal nach wie vor ein Auswanderungsland ist, wie dies die Zahlen des Statistischen Amtes Portugals für das Jahr 2006 bezeugen11 und die durch den Internationalen Bericht der OECD zur Migrationen von 2007 bestätigt und bekräftigt wurden, und dies obwohl die Bewegung Portugals von der Peripherie ins Zentrum teilweise vollzogen ist, da hunderttausende von Immigranten, die heute in Portugal leben, das Land in das so sehr herbeigesehnte Einwanderungsland verwandelt haben. So überrascht es kaum, dass das Bild des Emigranten in Portugal wenig positive Merkmale aufweist. In Lissabon sind weiterhin Gemeinplätze über die maisons der Emigranten wohlfeil, über ihre Sprech- und Redensweisen, ihre Art sich zu kleiden oder sich in Gesellschaft zu verhalten. Dies ist eine durch die Studie von Albertino Gonçalves empirisch bestätigte Erfahrung. Der Autor schließt dort: 10 Zum diesem Phänomen, das der portugiesische Soziologe Boaventura de Sousa Santos mit dem Begriff der ‚Vorstellung des Zentrums’ beschreibt, siehe auch den Beitrag von José Carlos Marques in diesem Band. 11 30.000 Emigranten pro Jahr, 100.000 laut der Katholischen Kirche und der Gewerkschaften (Zahlen des Instituto Nacional de Estatística für 2006).
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Neben den Indexierungen und den Anekdoten schweben eine ganze Reihe von Annahmen und negativen Urteilen über der Figur des Emigranten, seinen Gewohnheiten und Eigenarten. […] Die Beobachtung und die Interviews erlaubten uns, festzustellen, wie sehr sich einige Bewohner durch die Anwesenheit, das Verhalten und die Aspirationen der Emigranten herabgesetzt, gestört, provoziert und sogar bedroht fühlten. […] Die Praktiken und Strategien der Herabwürdigung der Emigranten unterscheiden sich zudem von Klasse zu Klasse in Bezug auf deren Logik, Inhalt, Form und Reichweite, wobei sich die Diplomierten von den Selbstständigen und den Arbeitern abheben. […] Während die Selbstständigen und die Arbeiter Emigranten herabsetzen, um sich anzunähern, also eine exzessive Entfernung zu vermeiden, tun es die Diplomierten, um einer inakzeptablen Annäherung entgegenzusteuern.12
Ausgehend von dem von Pierre Bourdieu aufgestellten Prinzip ‚wer klassifiziert, klassifiziert sich’ (Bourdieu 1979), griff Gonçalves auf eine Klassifizierung des portugiesischen Emigranten durch die Bewohner zurück und gewann damit eine wichtigen Einblick in den symbolischen Kampf der sozialen Klassifizierung, die die portugiesische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit umfasst. Die Studie bestätigt, dass die klassifikatorischen Praktiken der Bewohner in Bezug auf die Emigranten vor allem für die Haltungen der Bewohner selbst und darüber hinaus für die portugiesische Gesellschaft aufschlussreich sind,, weniger für die Emigranten, die Gegenstand dieser Klassifizierungen sind. Hier finden wir Elemente, die die Beständigkeit gewisser Stereotype zu erklären vermögen. Wenn somit der portugiesische Emigrant bzw. Immigrant in Frankreich in der französischen Vorstellungswelt synonym für Unauffälligkeit und Unsichtbarkeit ist, ist der Platz, den er in der nationalen Vorstellungswelt in Portugal einnimmt, derjenige einer übergroßen Sichtbarkeit. Sie ist das Ergebnis eines hyperbolischen Effekts, der auf der Massenrückkehr während der Sommermonate beruht sowie auf der Bauweise von Häusern, die der Emigrant in eben diesen Ferien errichtet. Vor allem geht es jedoch um den subversiven Charakter, den die Emigration für einen Teil der Bewohner hat. Er erklärt die Dauerhaftigkeit der Stereotype und ihren nur langsamen Wandel gegenüber einer Realität, die sich ihrerseits als mobil und in ständiger Verwandlung präsentiert (die Charakteristiken der Emigration haben sich während der letzten Jahrzehnte ziemlich 12 Original: „A par das indexações e das anedotas, toda uma série de suposições e de julgamentos negativos gravita em redor da figura do emigrante, das suas práticas e propriedades [...]. A observação e as entrevistas permitiram-nos averiguar o quanto alguns residentes se podem sentir diminuídos, perturbados, provocados e até ameaçados pela presença, comportamento e aspirações dos emigrantes [...]. As práticas e estratégias de rebaixamento dos emigrantes também diferem de classe para classe quanto à lógica, conteúdo, forma e alcance, com os diplomados a destacar-se dos independentes e dos operários [...] Enquanto que os independentes e os operários rebaixam para aproximar, para impedir um afastamento excessivo, os diplomados fazem-no para distanciar, para contrariar uma aproximação inaceitável“ (Gonçalves 1996: 166-172).
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verändert, im Gegensatz zu ihrer Wahrnehmung in Portugal). Da sie sich in einem extrem hierarchischen Land wie Portugal in der Erhaltung ihrer Privilegien bedroht fühlen, neigen die Mittelschichten des Landes dazu, eine Art von kulturellem Monopol schützen zu wollen, sei dieses illusorisch oder real. Seit einigen Jahren entstehen neue Formen, mit der ‚Wunde’ umzugehen, die mit den von Albertino Gonçalves analysierten Herabwürdigungsstrategien koexistieren. Dies ist ein neues Phänomen, das volle Aufmerksamkeit verdient und noch nicht Gegenstand einer substanziellen Untersuchung war. Im Folgenden beschränken wir uns deshalb auf einige gesammelte Eindrücke, Fakten und Anekdoten, um diese Tendenz aufzuspüren. Das Leitmotiv der ‚Guten Integration’ (intégration réussie) der Portugiesen in Frankreich findet nunmehr sein Pendant in Portugal: Hier spricht man gegenwärtig von der ‚erfolgreichen Emigration’. Anlässlich der Eröffnung im Februar 2008 der erwähnten Ausstellung von Gérald Bloncourt ‚Für ein besseres Leben’ (Por uma vida melhor) pries der Vorstandschef einer großen portugiesischen Bank die portugiesische als eine gelungene Emigration. Er sprach von einer wissenschaftlich bewiesenen Tatsache, da eine kürzlich in Paris veröffentlichte Studie über die portugiesischen Pförtnerinnen feststellte, dass alle Kinder dieser Pförtnerinnen in Paris entweder Ärzte, Tänzer oder Anwälte geworden seien – so die euphorischen Worte des Bankiers. Allerdings ist das Buch, um das es geht, eine komparative Studie von Philippe Bonnin e Roselyne de Villanova (2006), in der die Verfasser Pförtnerinnen aus verschiedenen europäischen Ländern interviewen, insbesondere aus Frankreich (die Studie schließt Portugal nicht mit ein), um festzustellen, dass deutliche Unterschiede in der jeweiligen Art bestehen, einen Beruf auszuüben. In der Bezugnahme auf die Studie lässt sich vor allem der Wunsch erkennen, eine wissenschaftliche Sicherheit für einen Diskurs zu finden, der die alte ‚Wunde’ zu einem Zeitpunkt linderte und verschönerte, da sich das Land mit einer Zunahme der Emigration konfrontiert sah. Was aus dem Munde des Bankiers noch humorvoll übergangen werden kann, erlangt einen gewissen Ernst, wenn es von Wissenschaftlern im Rahmen eines wissenschaftlichen Kolloquiums geäußert wird, wie dies im Januar 2008 an der Universität von Clermont-Ferrand geschehen ist. Beim Gespräch über Repräsentationen der Migration äußerten portugiesische Wissenschaftler die Auffassung, dass die aus Brasilien Zurückgekehrten erfolgreiche Emigranten gewesen seien und die ‚Brasilianerhäuser’13 dies bezeugen können; da es viele Häuser von Brasilianern gebe, gebe es folglich auch viele erfolgreiche Rückkehrer. Diese Annahme findet eine wissenschaftliche Fundierung insbesondere in 13 Zum Phänomen der ‚Brasilianer’ siehe auch die Beiträge von Fernanda Silva-Brummel und Miguel Monteiro in diesem Band.
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den Studien von Miguel Monteiro, die sehr genau die unterschiedlichen Phasen und Realitäten der portugiesischen Emigration nach Brasilien aufzeichnen, und zwar im konkreten und spezifischen Fall von Fafe. Was allerdings den wichtigsten Aspekt der Arbeit von Monteiro ausmacht – die Notwendigkeit der vertieften Erforschung der Emigrationsgeschichte auf der Grundlage lokaler Studien – wurde auf dem Kolloquium in Clermont-Ferrand vollständig unkenntlich gemacht. Wo Monteiro zeigt, dass während eines guten Teils des 19. Jahrhunderts die Emigration der Einwohner von Fafe nach Brasilien hauptsächlich den ohnehin begüterten Familien zuzurechnen war, lässt sich nicht verallgemeinern, dass jegliche Emigration nach Brasilien ein Erfolg war. Eine solche ‚Wahrheit’ sollte auf die Emigration allgemein ausgeweitet werden. Die Erinnerung von Emigranten selbst hat nichts mit den Diskursen zu tun, die von den Eliten in Umlauf gebracht werden – das ist letztlich der Grund, weshalb der Verein Mémoire Vive / Memória Viva gegründet wurde. Wenn wir beispielsweise auf die persönliche und berufliche Erfahrung des Regisseurs José Vieira zurückgreifen, erscheint Brasilien in der Erinnerung der portugiesischen Familien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als ein Land, das die Emigranten verschluckt, ohne sie zurückzugeben. Als sich sein Vater entschied, auszuwandern und Brasilien als Ziel erwog, wo einer seiner Brüder lebte, widersetzte sich seine Mutter: Ein anderer Bruder des Vaters war dort verschwunden, eine seiner Schwestern war kurz nach ihrer Ankunft gestorben. Für die Mutter von José Vieira war Brasilien das Synonym für Gefahr. Eine Erinnerung und eine Geschichte, die sie mit unzähligen Emigrantenfamilien teilte, wie Vieira im Verlauf seiner Filmarbeiten feststellte. Unter den anderen Formen, die Emigration zu verschönern, sind die oben erwähnte vom Museum des Präsidiums der Republik durchgeführte Ausstellung zu nennen, sowie der Wunsch, stets die von Portugiesen abstammenden – lusodescendentes – Künstler nur unter der Bedingung zu fördern, dass jene diese Etikettierung akzeptieren. Mit dem Gebrauch des Begriffs luso-descendente versuchen die portugiesischen Eliten, das Thema der Emigration zu veredeln. Mit den Nachkommen der Emigranten geschieht das, was der große mosambikanische Dichter José Craveirinha an sich selbst feststellte: Ich kam zum ersten Mal am 28. Mai 1922 zur Welt. [...] Zum zweiten Mal kam ich zur Welt, als man mich entdecken ließ, dass ich Mulatte war. Danach kam ich weiter zur Welt, entsprechend den Umständen, die mir von anderen auferlegt wurden.14
14 Original: „Nasci a primeira vez em 28 de Maio de 1922 [...]. Nasci a segunda vez quando me fizeram descobrir que era mulato. A seguir fui nascendo à medida das circunstâncias impostas pelos outros“ (Craveirinha 1977).
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Schlussbetrachtung, oder: Der einzige Weg, seine Geschichte zu verteidigen ist der, eine Geschichte zu erzählen, die anders ist als die, die sie uns erzählten
Mit der Schaffung des ‚Sudexpress’ beabsichtigen wir, eine dauerhafte reflexive Dynamik zu den Fragen in Gang zu setzen, die mit der portugiesischen Emigration verbunden sind. Wir wollen diese Dynamik in einen Bewegungsraum zwischen Vergangenheit und Gegenwart einschreiben und versuchen auf diese Art, die institutionalisierten Diskurse anzugreifen, die von den Gesellschaften in Umlauf gebracht werden, in denen sich die Geschichte der portugiesischen Emigranten abspielt. Ziel ist, die vorherrschenden Diskurse, die von den Eliten getragen werden, ins Wanken zu bringen. Als übernationaler Raum möchte der ‚Sudexpress’ zur politisch bewussten Dekonstruktion dieser Diskurse beitragen, um Multiperspektivität und den Austausch von Erfahrungen, Blickwinkeln, Meinungen, Fragen und Selbstdefinitionen zu fördern, damit diese in den kommenden Generationen einen Widerhall finden. Es gilt, einen Raum zu schaffen, der die Informationen über diese Emigration / Immigration zusammenführt und dabei auch der Informationsproduktion der Emigranten / Immigranten selbst und ihrer Nachkommen eine höhere Sichtbarkeit gibt. Die Verankerung des Projekts im Medium Internet soll die portugiesische Migrationserfahrung in einen internationalen diskursiven Ort einschreiben, um die portugiesische Emigration / Immigration zu entghettoisieren und von den herrschenden Diskursen zu befreien. Dies geschieht zu einem Zeitpunkt, da in Portugal der Gedanke eines (nationalen) Museums der Emigration wieder auflebt, ohne dass dieses Projekt Gegenstand einer landesweiten demokratischen Diskussion wäre, zu der an erster Stelle die Emigranten selbst beizutragen hätten, aber auch die Einwohner der Dörfer und Städte, die mit der Realität der Migrationen konfrontiert sind. Der ‚Sudexpress’ strebt die Schaffung eines Ortes an, in dem ein unendliches Gespräch über Emigration und deren unzählige Auswirkungen stattfindet: [...] cette nourriture – c’est là son originalité – lie dans un seul temps, le temps de sa fabrication et celui de sa consommation; le sukiyaki, plat interminable à faire, à consommer et, si l’on peut dire, à “converser”, non par difficulté technique mais parce qu’il est dans sa nature de s’épuiser au fur et à mesure qu’on le cuit, et par conséquent de se répéter, le sukiyaki n’a de marque que son départ (ce plateau plein d’aliments que l’on apporte); “parti”, il n’y a plus de moments ou de lieux distinctifs: il devient décentré, comme un texte ininterrompu (Barthes 1970 : 37).
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Bibliographie
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Zu den Autorinnen und Autoren
Maria Ioannis Baganha (1950-2009), Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt auf Internationalen Migrationen an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Coimbra. Ph.D. in Geschichte, Promotion in Soziologie. Gründungsmitglied des CES – Centro de Estudos Sociais. Vorstandsmitglied des EU-Exzellenzzentrums IMISCOE – International Migration, Integration & Social Cohesion. Zahlreiche Mitgliedschaften in internationalen Forschungszentren, mehrere Gastprofessuren in Portugal und im Ausland und drittmittelfinanzierte Forschungsprojekte. Forschungsschwerpunkte: Portugiesische Auswanderung, Immigration in Portugal, wirtschaftliche Integration der Einwanderer, Internationale Migrationen, Einwanderungspolitik. Einige Publikationen zum Thema: (2007): „The Industry of Migration: the Portuguese Case“ in: Berggren, Erik et. al., Irregular Migration, Informal Labour and Community: A Challenge for Europe. Maastricht: Shaker, 95-103; (2006): „International Migration and its Regulation“ in: Penninx, Rinnus et al (Hrsg.), The Dynamics of International Migration and Settlement in Europe – A State of the Art. Amsterdam: Amsterdam University Press, 19-40; (2006, mit Constança Urbano Rodrigues): „Portugal: Acquisition and Loss of Nationality“ in: Bauböck, Rainer et al. (Hrsg.), Acquisition and Loss of Nationality. Amesterdam: Amesterdam University Press, 435-476; (2006, mit José Carlos Marques und Pedro Góis): „Trajectórias Migratórias: os imigrantes de Leste Europeu“ in: Silva, Manuel Carlos (Hrsg.), Nação e Estado: Entre o Global e o Local. Porto: Edições Afrontamento, 281-299; (2004, mit Maria Lucinda Fonseca, Hrsg.), New Waves. Migration from Eastern to Southern Europe. Lisboa: Luso-American Foundation; (2002, mit João Ferrão und Jorge Malheiros, Hrsg.): Os Movimentos Migratórios Externos e a sua Incidência no Mercado de Trabalho em Portugal. Lisboa: Observatório do Emprego e Formação Profissional; (2002, mit Luís Carvalheiro): „Uma europeização diferenciada: o sector da construção civil e obras públicas“ in: Reis, José / Baganha, Maria Ioannis (Hrsg.), A Economia em Curso. Contextos e Mobilidade. Porto: Afrontamento, 63-86; (2001): „A cada Sul o seu Norte: dinâmicas migratórias em Portugal“ in: Santos, Boaventura de S. (Hrsg.), Globalização: Fatalidade ou Utopia? Porto: Afrontamento, 135-159; (2001, mit José Reis), A economia em curso: contextos e mobilidades. Porto: Afrontamento; (2001, mit José Carlos Marques): Imigração e política. O caso português. Lisboa: Fundação Luso-Americana; (2000): Is an Ethclass Emerging in Europe? The Portuguese Case. Lisboa: FLAD; (1998/1999, mit Pedro Góis):
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Zu den Autorinnen und Autoren
„Migrações internacionais em Portugal: o que sabemos e para onde vamos“ in: Revista Crítica de Ciências Sociais, 52/53, 229-280; (1998, Hrsg.): Immigration in Southern Europe. Oeiras: Celta; (1998, mit João Peixoto): „Trends in the 90's: the Portuguese migratory experience“ in: Baganha, Maria Ioannis (Hrsg.), Immigration in Southern Europe. Oeiras: Celta, 15-40; (1993): „Principais Características e Tendências da Emigração Portuguesa“ in: Estruturas Sociais e Desenvolvimento. Actas do II Congresso Português de Sociologia. Lisboa: Fragmentos, 819-835; (1993, mit Miriam Pereira, Maria Beatriz Niza da Silva Maria José Maranhão): Emigração – Imigração em Portugal. Lisboa: Fragmentos; (1991): „Uma Imagem desfocada: a emigração portuguesa e as fontes portuguesas sobre emigração“ in: Roel, António E., Emigración española y portuguesa a America. Alicante: Instituto de Cultura Juan-Albert, 161-175; (1990): Portuguese Emigration to the United States, 1820-1930. New York / London: Garland Publishing Inc. Isabel Lopes Cardoso, Dr. Phil. Gründungsmitglied von Mémoire Vive / Memória Viva. Studiumabschluss in Geschichte, M.A. in Kunstgeschichte, Promotion in Kunstgeschichte, Mitglied des Exzellenzzentrums CHAIA – Centro de História da Arte e de Investigação Artística de Évora. Forschungsschwerpunkte: Diskurse und Repräsentationen der portugiesischen Ein- und Auswanderung, Architektur ohne Architekt, Kunst und Peripherie, Kunst und Identität. Einige Publikationen zum Thema: (2008a): „Mostrar aquilo que não queremos ver nem saber“ in Gérald Bloncourt. Por uma vida melhor. Lisboa : Centro Cultural de Belém; (2008b): „Captores de memória“ in Aurore de Sousa e António Coelho. Almada: Casa da Cerca. Ana Paula Coutinho, Professorin für Literaturwissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Universität Porto, Promotion in Vergleichender Literaturwissenschaft, Mitglied des Instituts Margarida Losa für Vergleichende Literaturwissenschaft. Forschungsschwerpunkte: Portugiesische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Migration, Exil, Interkulturalität. Einige Publikationen zum Thema: (2007): „Derivações no feminino da diáspora portuguesa no século XX“ in: Deriva; (2006): „Contextos migratórios e Educação Intercultural“ in: Bizarro, Rosa (Hrsg.), A Escola e a Diversidade Cultural. Multiculturalismo, Interculturalismo e Educação. Porto: Areal. Isabel Eitzinger, Dipl.-Soz., gegenwärtig Project Developer im Bereich Marktforschung bei dem Informations- und Medienunternehmen Nielsen (BASES), 2005 das Studium der Soziologie mit Schwerpunkt auf Soziologie sozialer Ungleichheit, Kultursoziologie, Bildungssoziologie sowie Wirtschaftssoziologie mit einer Arbeit zum Thema „Nationalität und Staatsbürgerschaft am Beispiel
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der Portugiesen in München“ bei Prof. Dr. Ulrich Beck und Prof. Daniel Levy an der Ludwig-Maximilians-Universität abgeschlossen. Isabel Ferin, Professorin für Medienkommunikation an der Philosophischen Fakultät der Universität Coimbra. Forschungsschwerpunkte: Medien, Fernsehen, Migrationsdiskurse in den Medien. Einige Publikationen zum Thema: (2003a): „Imagens da Imigração em Portugal, Media e Jornalismo“ in: Media & Jornalismo, 2 (2); (2003b): „Imigração e racismo:dez anos nos media“ in: Biblioteca Online de Ciências da Comunicação. (1997): „Nós e os outros nos artigos de opinião na imprensa portuguesa“ in: Revue Lusotopie, 435-467. Bodo Freund, Professor em. für Geographie an der Humboldt-Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Stadtgeographie, Migration, Portugal. Einige Publikationen zum Thema: (2002): „The Frankfurt Rhine-Main Region“ in: Salet, Willem / Thornley, Andy / Kreukels, Anton (Hrsg.), Metropolitan Governance and Spatial Planning. Comparative Case Studies of European CityRegions. London: Routledge, 125-144; (2002): „Die City – Entwicklung und Trends“ in: Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5. Heidelberg / Berlin: Bildung und Kultur, 136-139; (2002): Hessen. Perthes Länderprofile. Gotha / Stuttgart: Klett-Perthes. Pedro Góis, MA, Dozent an der Universität Porto, Forschungsmitglied des Exzellenzzentrums für Sozialforschung der Universität Coimbra (CES). Forschungsschwerpunkte: Migrationssoziologie, Kunstsoziologie, Kapverdische Immigranten in Portugal. Einige Veröffentlichungen zum Thema: (2008): A imigração cabo-verdiana em Portugal. Lisboa: ACIDI, IP; (2007): Bibliografia sobre a Imigração em Portugal. Coimbra: CES; (2007): Práticas transnacionais dos imigrantes cabo-verdianos em Portugal e dos emigrantes portugueses na Suíça: para além dos conceitos. Coimbra: CES. Katharina Jagemann, MA, Sozialarbeiterin bei der Diakonie Köln, 2007 Studiumabschluss in Interkultureller Kommunikation an der Technischen Universität Chemnitz mit einer Arbeit zum Thema „Mosambikanische Vertragsarbeiter in Deutschland“. José Carlos Marques, Professor für Sozialwissenschaften an der Fachhochschule für Pädagogik und Sozialwissenschaften Leiria, Forschungsmitglied des Forschungszentrum Identität und Diversität (CIID) und des Exzellenzzentrums für Sozialforschung (CES) der Universität Coimbra. Forschungsschwerpunkte: Internationale Migration, Migrationspolitik, portugiesische Migrationsbewegungen, Integration. Einige Publikationen zum Thema: (2008): Os Portugueses na Suíça. Migrantes Europeus. Lisboa: ICS; (2007): Estudo Prospectivo Sobre
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Zu den Autorinnen und Autoren
Imigrantes Qualificados em Portugal. Lisboa: OI / ACIDI; (2006): Os Imigrantes e a Sociedade Portuguesa. Imagens Recíprocas. Lisboa: OI / ACIDI. Miguel Monteiro, MA, Dozent in der Pädagogischen Hochschule Fafe, Studium der Geschichte an den Universitäten Porto und Minho. Abschluss mit einer Masterarbeit über internationale Mobilität Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Gründer und Direktor des Museu da Emigração e das Comunidades (www.museu-emigrantes.org) in Fafe. Mitglied in sämtlichen nationalen und internationalen Forschungszentren. Einige Publikationen zum Thema: (2004a): Fafe dos “Brasileiros” (1860-1930). Perspectiva histórica e patrimonial. Fafe: ohne Verlag; (2004b): „Emigração para o Brasil (1834-1926): os números e a autobiografia – sair, viver e regressar na primeira pessoa“ in: Coimbra, Artur F. (Hrsg.), Actas das Quintas Jornadas de História Local. Fafe: Câmara Municipal de Fafe. João Peixoto, Professor für Soziologie an der Technischen Universität Lissabon. Forschungsschwerpunkte: Einwanderung nach und Auswanderung aus Portugal, Demographie, Internationale Migrationen, Organisationssoziologie. Einige Publikationen zum Thema: (2004a): „As teorias explicativas das Migrações: Teorias Micro e Macrosociológicas“ in: SOCIUS Workingpapers, 11, 1-36; (2004b): „País de emigração ou país de imigração? Mudança e continuidade no regime migratório em Portugal“ in: SOCIUS Workingpapers, 2; (2004c): „Highly skilled migration in Portugal. An overview“ in: SOCIUS Workingpapers, 3; (1999): A mobilidade internacional dos Quadros – Migrações Internacionais. Oeiras: Celta. Teresa Pinheiro, Juniorprofessorin für Kulturellen und Sozialen Wandel an der Technischen Universität Chemnitz. Forschungsschwerpunkte: Diskurse nationaler Identität, Migration, Erinnerungskulturen. Einige Publikationen zum Thema: (2007a): „Eine neue Migrantenliteratur? Zur Überwindung des interkulturellen Dilemmas in den Gedichten einer deutschsprachigen portugiesischen Autorin“ in: Henry Thorau (Hrsg.), Heimat in der Fremde. Berlin: tranvía / Walter Frey, 148-159; (2007b): „¿Paraíso ibérico en tiempos de guerra? Visiones de España y Portugal en Cuadros de un viaje por España y Portugal de Willy Andreas y La noche de Lisboa de Erich Maria Remarque“ in: Itinerários, 6, 235-254. Fernanda Silva-Brummel, Dr. Phil., akademische Mitarbeiterin an der Universität Mainz, Promotion mit der Dissertation „Das Thema der Emigration in der portugiesischen Literatur“. Forschungsschwerpunkte: Portugiesische Literatur, Migration. Einige Publikationen zum Thema: (2007a): „Emigração no feminino“ in: Henry Thorau (Hrsg.), Heimat in der Fremde. Berlin: tranvía / Walter Frey, 134-147; (2007b): „Literatur der portugiesischen Minderheit“ in: Chielli-
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no, Carmine (Hrsg.), Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart: Metzler; (1987): „E todos todos se vão“. Emigration und Emigranten in der portugiesischen Literatur. Frankfurt a.M.: Haag und Herchen. Cristina Berretta Soares, Diplom-Übersetzerin, Abschluss am Fachbereich Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes GutenbergUniversität Mainz in Germersheim. Lebt mit ihrer Familie in Sindelfingen.