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Butler � Parker � Nr. 317 �
Curd H. Wendt �
PARKER badet � den Big Boß �
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In gemächlichem Tempo rollte Parkers hochbeiniges Monstrum Richtung Stadtmitte. Das gleichmäßige Summen des Motors ließ nicht ahnen, welche Kräfte unter der schwarzen, eckigen Haube schlummerten. Seine Herrin hatte den strahlenden Sommertag zu einem Ausflug ins Grüne genutzt. In einem gepflegten Landgasthof hatte Lady Agatha Simpson gut gespeist und noch besser getrunken. Ihre schlechte Laune hatte sich dadurch allerdings nicht gebessert. »Wenn dieser Zustand noch lange andauert, bin ich ein Nervenbündel«, klagte sie, während Parker das heimische Shepherd’s Market ansteuerte. »Darf man sich höflichst erkundigen, welchen Zustand Mylady zu meinen belieben?« ließ der Butler sich vernehmen. »Diese elende Untätigkeit natürlich!« schimpfte die Detektivin. »Seit Wochen wirkt London wie ein verschlafenes Provinznest. Keine Bank wird überfallen, niemand wird entführt…«
Die Hauptpersonen: Keith Atkins ist der nicht ganz makellose Makler, der sich von Rottweilern bewachen läßt. Harry Stokefield bringt als Mann im Hintergrund den Stein ins Rollen. Henry Craig fungiert als Eisenwarenhändler, dem die Mittagspause äußerst heilig ist. Jack Reeves gerät als vermeintlicher Spion unter Myladys Fuchtel. Lady Agatha Simpson läuft in einem Simultanverhör zu großer Form auf. Butler Parker bewahrt selbst in der Sauna seinen kühlen Kopf. »Tatsächlich könnte man zur Zeit den Eindruck gewinnen, die Aktivitäten der Unterwelt beschränkten sich auf den Diebstahl von Fahrrädern«, pflichtete Parker ihr bei. »Die Ruhe in der Stadt ist außergewöhnlich, wenn man sich diese Bemerkung erlauben darf.«
»Dabei ist es gerade für herausragende Talente immer wieder nötig, sich zu bewähren«, fuhr Lady Agatha fort und schob ein Stück von der Schokoladentorte in den Mund, die sie beim Verlassen des Gasthofs vom Büfet stibitzt hatte. »Mit anderen Worten, Mister Parker: Ich muß 3
dringend eine Aufgabe haben, die alle meine Kräfte fordert! Schon der Volksmund sagt: Wer rüstet, der rastet.« »Mylady meinen vermutlich: Wer rastet, der rostet«, korrigierte Parker vorsichtig. »Wie?« fragte die passionierte Detektivin irritiert und hätte sich fast an einem Stück Torte verschluckt. »Was rostet?« »Das Sprichwort, das Mylady zu zitieren beabsichtigten, heißt: Wer rastet, der rostet«, erklärte der Butler. »Aber das sagte ich doch, Mister Parker!« behauptete Agatha Simpson unwirsch. »Wer rüstet, der kostet! Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie mir jeden Satz nachplappern wie ein Papagei.« Ärgerlich wandte sie sich wieder der Torte zu und vertilgte auch noch das letzte Stück von ihren Fingerspitzen, bevor sie wieder zum Thema kam. »Den Ganoven hierzulande geht es einfach viel zu gut«, stellte sie fest. »Wahrscheinlich sind sie allesamt an die Riviera gefahren und machen Urlaub. Ich werde noch eine Auslandsreise antreten müssen, wenn ich keine Spinnweben ansetzen will.« »Zu dieser Befürchtung dürfte allerdings nicht der geringste Anlaß bestehen, Mylady«, meinte Parker. »In einer Millionenstadt vergehen
meist nur wenige Tage ohne Verbrechen, wenn man sich diesen Hinweis erlauben darf.« »Wenn sich wenigstens irgendein Verfolger blicken ließ«, jammerte sie unbeirrt weiter. »Dem würde ich eine ordentliche Lektion erteilen, um nicht ganz aus der Übung zu kommen.« »Meine bescheidene Wenigkeit schätzt sich überglücklich, Mylady diesbezüglich eine erfreuliche Mitteilung machen zu können«, meldete Parker in diesem Moment. »Ein dunkelblauer Morris hat soeben Myladys Spur aufgenommen.« »Das habe ich doch schon die ganze Zeit geahnt«, behauptete die ältere Dame ungeniert, und ihre mürrische Miene hellte sich prompt auf. »Mein geradezu hellseherischer Spürsinn hat mich eben noch nie im Stich gelassen. Wo und wie ich mir diese Burschen vornehme – das überlasse ich natürlich Ihnen, Mister Parker. Sie wissen ja, daß ich mich um solche Details nicht kümmere.« »Man wird – wie üblich – bemüht sein, ganz nach Myladys Wünschen zu handeln«, versicherte der Butler. Ohne eine Miene zu verziehen, trat er das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Ein Beben lief durch die Karosserie, als Parker das Zusatztriebwerk aufröhren ließ. Wie ein leichtfüßiger Hirsch spurtete das schwerfällig wirkende Gefährt, das einst als bra4
ves Taxi durch Londons Straßen gerollt war, auf und davon. Der Verfolger fiel deutlich zurück, aber er ließ sich nicht abschütteln. »Was machen Sie denn, Mister Parker?« beschwerte sich Lady Agatha schon nach wenigen Sekunden. »Ich habe Ihnen doch erklärt, daß ich diese Burschen stellen und ihnen einen Denkzettel verpassen will. Sie ignorieren ja meine Anordnungen und treten die Flucht an.« »Es war keineswegs die Absicht meiner Wenigkeit…« versuchte Parker sich zu rechtfertigen, doch die Detektivin unterbrach ihn wütend. »Schämen Sie sich, Mister Parker!« »Wie Mylady meinen«, gab der Butler in seiner höflichen Art zurück. »Solch einen Hasenfuß kann ich als Diener nicht gebrauchen«, fügte sie hinzu. »Ich wünsche, daß Sie sofort halten, damit ich die Verfolger zur Rede stellen kann. Und falls Sie Angst vor den Kerlen haben – denken Sie daran, daß ich Sie noch aus jeder Klemme gerettet habe, Mister Parker…« »Darf man Mylady darauf aufmerksam machen, daß sich in dem fraglichen Fahrzeug allem Anschein nach nur eine Person befindet?« versuchte Parker ihren Eifer zu dämpfen. Er hatte den Wagen und Fahrer längst im Rückspiegel erkannt. »Nur einer?« fragte die ältere Dame enttäuscht. »Das ist bedauer-
lich, Mister Parker, denn dadurch werden die Möglichkeiten meiner Selbstentfaltung drastisch eingeschränkt. Aber dafür werde ich mich diesem Menschen umso intensiver widmen.« In einer Parkbucht brachte der Butler sein schwarzes Gefährt abrupt zum Stehen. Mit quietschenden Bremsen stoppte der Morris unmittelbar dahinter. »Mister Rander!« Mylady wußte nicht, ob sie sich freuen oder ärgern sollte. Der sympathische Anwalt, der seit Jahren ihr ansehnliches Vermögen verwaltete und nebenher ihrer attraktiven Gesellschafterin Kathy Porter schöne Augen machte, war in ihrem Haus stets ein gerngesehener Gast. Im Augenblick aber wäre Lady Agatha der frechste Gangster willkommener gewesen. Schließlich hatte sie schon den Sitz ihrer sogenannten Hutnadel überprüft, die eher stählernen Grillspießen glichen und an der Spitze mit einem schnell wirkenden Betäubungsmittel präpariert waren. Auch Lady Simpsons Pompadour hatte sich schon auf seinen ersten Einsatz nach wochenlanger Zwangspause gefreut. Der lederne Beutel, der für ein Damenhandtäschchen etwas zu wuchtig geraten war, enthielt neben anderen Utensilien Lady Simpsons Glücksbringer: ein echtes Pferdehufeisen, das in eine dünne Lage 5
Schaumstoff gewickelt war. »Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte Mike Rander besorgt, als er Myladys frustrierte Miene bemerkte. »Ich wünsche, es wäre so«, erwiderte die Detektivin. »Aber leider ist in London alles in bester Ordnung. Niemand raubt, niemand stiehlt – wie soll man das aushalten?« »Zur Zeit ist es an der Themse wirklich verdächtig ruhig«, pflichtete der Anwalt ihr bei. »Aber ganz recht haben Sie doch nicht, Mylady. Gestohlen wird noch Fahrräder und Handtaschen vielleicht, mein lieber Junge«, spottete Agatha Simpson. »Nein, danke! Damit soll sich ruhig die Polizei befassen. Eine Detektivin meines Ranges gibt sich doch nicht mit Bagatelldelikten ab.« »Das muß auch nicht sein, entgegnete Rander. Mylady«, »Wenn Sie hören, was meinem Kollegen Stokefield passiert ist, reden Sie wahrscheinlich nicht mehr von Bagatellen.« »So?« Mylady schien mißtrauisch, aber neugierig. »Dem guten Harry haben sie am hellen Tag sämtliche Antiquitäten aus dem Haus getragen, die er in den letzten zwanzig Jahren gesammelt hat«, berichtete der Anwalt. »Allein sein Lieblingsstück, eine österreichische Barockmadonna, soll einen Wert von zehntausend Pfund gehabt haben.« »Zehntausend Pfund?« Agatha
Simpson wurde hellhörig. Das war eine Summe, die man wirklich nicht als Bagatelle abtun konnte. »Zehntausend Pfund«, bestätigte Rander. »Und die Madonna war nicht das einzige wertvolle Stück. Harry war zwar versichert, aber seine geliebten Antiquitäten wird er vermutlich nie wiedersehen.« »Es sei denn, ich würde die Ermittlungen in die Hand nehmen«, erklärte Agatha Simpson selbstbewußt. »Hätten Sie nicht Lust, nachher zum Tee zu kommen, mein lieber Junge? Dann werde ich Ihnen erklären, wie ich den Fall zu lösen gedenke.« * »Gerade habe ich Harry Stokefield angerufen und mir alles nochmal genau erzählen lassen«, berichtete Mike Rander, als er eine Stunde später am Teetisch in Myladys Salon Platz nahm. »Brokefield? Brokefield?« überlegte die Hausherrin. »Ich bin sicher, diesen Namen schon mal gehört zu haben.« »Mylady erinnern sich gewiß des bedauernswerten Kollegen von Mister Rander«, half Parker ihrem streikenden Gedächtnis auf die Sprünge. »Mister Stokefield wurde bestohlen, wenn man sich den Hinweis erlauben darf.« »Ich wünsche keine unpassenden 6
Belehrungsversuche, Mister Parker«, entrüstete sich die Hausherrin. »Mein Gedächtnis arbeitet hervorragend. Deshalb kann ich mich auch genau an Mister Jokefield erinnern. Ich weiß sogar noch, wie das Pferd hieß, das ihm gestohlen wurde.« »Pferd?« fragte Mike Rander entgeistert. »Harry Stokefield besitzt überhaupt kein Pferd!« »Richtig«, stimmte Lady Agatha zu. »Jokefield war es ja, der das Pferd gestohlen hat. Ich erinnere mich genau.« Rander warf Parker einen vielsagenden Blick zu. »Es ging um Antiquitäten«, begann er vorsichtig. »Harry Stokefield besaß eine wertvolle Sammlung von Antiquitäten aus Österreich, die ihm vor drei Tagen aus seiner Wohnung gestohlen wurde.« »Von nichts anderem rede ich die ganze Zeit«, behauptete Agatha Simpson unwirsch, und weder Rander noch Parker widersprachen. »Es handelt sich um insgesamt zweiunddreißig Stücke«, setzte der Anwalt seinen Bericht fort. »Vom Zinnbecher bis zum Tiroler Bauernschrank. Mit einem Pkw konnte das Diebesgut also nicht weggeschafft werden.« »Man kann wohl davon ausgehen, daß Ihr Kollege sofort nach der Entdeckung der Tat die Polizei informierte, Sir?« vergewisserte sich der Butler.
»Ja, natürlich«, bestätigte Rander. »Das mußte er ja schon wegen der Versicherung tun. Aber die Polizei fand lediglich heraus, daß das Sicherheitsschloß seiner Wohnungstür sauber und sanft mit einem Nachschlüssel geöffnet wurde. Ansonsten tappt Scotland Yard im dunklen und hofft, daß die gestohlenen Antiquitäten irgendwann zum Verkauf angeboten werden.« »Das sieht den einfallslosen Tölpeln ähnlich«, frohlockte Lady Agatha und ließ sich gleich von Parker noch einen Kognak einschenken. »Denen werden die Augen aufgehen, wenn ich ihnen die ganze Diebesbande auf dem silbernen Tablett serviere.« »Das hört sich fast so an, als hätten Sie die Burschen schon, Mylady«, wandte Rander ein. »Mein taktisches Konzept ist jedenfalls fertig«, erklärte die Detektivin. »Bis auf ein paar Kleinigkeiten, an denen ich heute abend noch feilen werde.« »Da wäre noch eine Frage, Sir, die meine Wenigkeit gern beantwortet hätte«, ließ der Butler sich vernehmen. »Und zwar, Parker?« »Könnte es zutreffen, Sir, daß Sie Mister Stokefield gefragt haben, ob er seine Wohnungsschlüssel gewöhnlich bei sich zu tragen pflegt?« »Er versicherte mir, daß er seinen 7
Schlüsselbund stets dabei hat«, antwortete der Anwalt. »Außer im Bett natürlich. Aber als ich noch mal nachbohrte, fielen ihm noch zwei Ausnahmen ein.« »Nachbohren hilft immer«, ließ sich Lady Agatha vernehmen. »Das ist eine Methode, die ich bei meinen Verhören stets anwende. Und wer von mir verhört wird, hat noch immer ein Geständnis abgelegt.« »Das ist eine Feststellung, Mylady, die man aus reicher Erfahrung mit allern Nachdruck unterstreichen muß«, pflichtete Parker ihr bei und wandte sich wieder an Rander. »Darf man fragen, Sir, welcher Art die Ausnahmen waren, an die Mister Stokefield sich erinnerte?« »Vor zwei Wochen mußte er zu einer Gerichtsverhandlung nach Glasgow und verbrachte eine Nacht in einem Hotel«, berichtete Rander. »Abends ging er noch in die Bar, und weil er seinen schweren Schlüsselbund nicht brauchte, ließ er ihn im Zimmer zurück. Harry behauptete allerdings, die Schlüssel hätten nach seiner Rückkehr genauso gelegen wie vorher.« »Trotzdem besteht der Verdacht, daß während seiner Abwesenheit heimlich eine Kopie angefertigt wurde«, kombinierte Agatha Simpson. »Man weiß ja, wie unzuverlässig das Hotelpersonal heutzutage ist.« »Die Möglichkeit ist durchaus
gegeben«, räumte Rander ein. »Sie besteht aber auch in einem zweiten Fall. Drei Tage vor dem Einbruch besuchte Harry einen Saunaclub im Westend. Natürlich gab er mit seiner Kleidung auch seine Schlüssel ab, bevor er ins Bad ging.« »Dann kann es nur in diesem Saunaclub gewesen sein«, schwenkte Agatha Simpson geistesgegenwärtig um. »Etablissements dieser Art haben nicht zu Unrecht einen zweifelhaften Ruf.« »Das kann man von Yussufs Saunaclub aber nicht behaupten«, entgegnete der Anwalt. »Soviel ich weiß, gibt sich dort die feine Welt ein Stelldichein – soweit sie männlichen Geschlechts ist. Neben Ärzten, Managern und Anwälten sollen sogar Mitglieder des Oberhauses zur Kundschaft zählen. Yussufs AntiStreß-Kuren sind berühmt.« »Also doch das Hotel.« Die ältere Dame war eben flexibel. »Morgen, gleich nach dem Frühstück, werden Sie mich nach Glasgow fahren, Mister Parker.« »Mylady haben zweifellos bedacht, daß die Entfernung von London nach Glasgow recht beträchtlich ist«, wandte der Butler ein. »Vielleicht sollte man doch zuerst dem Saunaclub eine kleine Visite abstatten.« »Das fände ich auch sinnvoller«, stimmte Mike Rander zu. »Falls die Nachforschungen dort nichts erge8
ben, kann man immer noch das Hotel unter die Lupe nehmen.« »Wenn ich es recht betrachte«, lenkte die Hausherrin ungewohnt nachgiebig ein, »handelt es sich bei dieser Frage um eine Detailfrage. Und dafür ist bekanntlich Mister Parker zuständig. Ich werde jetzt noch ein wenig meditieren und dann meinem Einsatzkonzept den letzten Schliff geben.« Mylady verabschiedete sich von dem Anwalt und stieg mit schweren Schritten die Treppe zu ihren privaten Gemächern hinauf. »Ich wußte gar nicht, daß Meditieren mit derartigem Lärm verbunden ist«, lachte der Anwalt, als Minuten später dröhnendes Schnarchen die solide Fachwerkkonstruktion des Hauses erzittern ließ. »Myladys Meditationsstunden pflegen stets von einer gewissen Geräuschkulisse begleitet zu sein«, erklärte Parker und räumte die leere Kognakflasche weg. »Was halten Sie denn davon, wenn wir beide morgen mittag Yussufs Saunaclub einen Besuch abstatten, Parker?« wollte der Anwalt wissen. »Das ist ein Vorschlag, den meine Wenigkeit auch zu unterbreiten dachte, Sir.« »Um eins?« »Um eins, Sir. Man wünscht noch einen angenehmen Abend, Sir.« *
Mitten im Häuser- und Straßengewirr der Millionenstadt stellte Yussufs Saunaclub eine exklusive Oase der Ruhe dar. Eine wuchtige Mauer umschloß das parkähnliche Gelände, so daß von der Straße aus nur die mächtigen Kronen 200jähriger Baumriesen zu erkennen waren. Die Flügel des schweren, schmiedeeisernen Tores standen jedoch offen. Im Schrittempo ließ Mister Josuah Parker sein schwarzes Gefährt über die mit weißem Kies bestreute Einfahrt auf das kleine Schloß zurollen, dessen strahlend weiße Fassade sich in einem marmornen Wasserbecken spiegelte. Yussufs Kunden, die vor dem Eingang parkten, mußten wirklich zu den zahlungskräftigsten Leuten der britischen Hauptstadt gehören. »Harry Stokefield hatte Recht«, kommentierte Mike Rander vom Beifahrersitz aus. »Alles macht einen durch und durch seriösen Eindruck. Auf den ersten Blick jedenfalls.« »Ob dieser Eindruck den Tatsachen entspricht, wird erst nach einem ausführlichen Gespräch mit dem Inhaber zu entscheiden sein«, bemerkte Parker, während er neben dem Anwalt die Stufen zum Eingang hinaufstieg. »Herzlich willkommen, Sir!« Der Mann, der ihnen die Tür öffnete, verneigte sich fast bis zum Boden. Er trug eine goldbestickte Seidenbluse 9
und weiße Pluderhosen. Seine nackten Füße steckten in kostbar verzierten Pantoffeln, auf seinem Kopf saß ein leuchtend roter Fez. »Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl in Yussufs Saunaclub«, erklärte er. »Mein Personal und ich werden bemüht sein, Ihnen angenehme Stunden zu bereiten.« »Demnach sind Sie der Inhaber?« erkundigte sich Rander. »Ganz recht, Sir«, gab Yussuf zurück und verbeugte sich erneut. »Seit mehr als zehn Jahren habe ich die Freude, dieses herrliche türkische Bad betreiben zu dürfen.« »Aber Sie selbst sind kein Türke?« vermutete der Anwalt. Ihm waren Yussufs blasse, sommersprossige Gesichtsfarbe, sein rötlicher Schnurrbart und die blauen Augen aufgefallen. »Geboren bin ich in Deutschland«, räumte der Mann lächelnd ein. »Aber meine Gäste wollen nun mal die perfekte Illusion. Sie brauchen das Gefühl, in eine ferne Welt entrückt zu sein, um ihren Alltagsstreß zu vergessen. Deshalb trage ich diese Kluft und deshalb nennt man mich Yussuf, obwohl die meisten Gäste wissen, daß ich eigentlich Hans Schneider heiße.« »Der Erfolg gibt Ihnen Recht, Mister Schneider«, bestätigte Rander, während er sich von Parker aus dem Mantel helfen ließ. »Mein Kollege Harry Stokefield schwärmt gera-
dezu von Ihren Anti-Streß-Kuren. Er war es auch, der mir einen Besuch bei Ihnen dringend empfahl.« »Ich hoffe, Sie werden ebenso zufrieden sein wie Mister Stokefield, Sir«, entgegnete Schneider. Er bat den Anwalt, sich in die Liste der Clubmitglieder einzutragen. Dann klatschte er in die Hände. Der Diener, der erschien, steckte ebenfalls in orientalischem Gewand. Allerdings fehlten die prunkvollen Stickereien, die seinen Chef wie einen osmanischen Großwesir erscheinen ließen. »Ali wird Sie jetzt in die Umkleideräume geleiten, Sir«, erklärte Schneider. »Ihr Butler wird vermutlich später wiederkommen, um Sie abzuholen?« »Lieber wäre es mir, wenn Mister Parker hier warten könnte«, gab Rander zurück. »Wie Sie wünschen, Sir«, antwortete Schneider. »Im Foyer sind ausreichend Sitzgelegenheiten vorhanden.« Während Rander mit dem Diener hinter einem schweren Brokatvorhang verschwand, ließ der Butler seine Blicke wandern. Von außen wirkte das Gebäude wie das Lustschlößchen eines englischen Adligen aus der Rokokozeit. Hier drinnen fühlte man sich dagegen in einen Sultanspalast aus Tausendundeiner Nacht versetzt. Die Türbögen im maurischen Stil, 10
die türkisfarbenen Wandfliesen mit den kunstvollen Ornamenten, die Friese mit den goldenen Schriftzeichen – alles schien echt und kostbar. Was Yussuf alias Hans Schneider seinen verwöhnten Gästen bot, war keine billige Kulisse. Allein der Teppich, mit dem das geräumige Foyer ausgelegt war, mußte nach Parkers Einschätzung ein Vermögen gekostet haben. »Das stammt alles noch aus dem achtzehnten Jahrhundert«, erläuterte Schneider stolz. »Der damalige Besitzer lebte viele Jahre als Gesandter des britischen Königshauses am Hof von Konstantinopel. Als er nach London zurückkehrte, brachte er nicht nur die jüngste Tochter des Sultans mit, sondern auch einen der angesehensten türkischen Baumeister der damaligen Zeit. Dieser Mann erhielt den Auftrag, das Innere des Schlößchens nach den Wünschen der jungen Frau völlig umzugestalten.« »Darf man davon ausgehen, daß Sie dieses Anwesen erwarben, um hier Ihr Gewerbe zu betreiben, Mister Schneider?« wollte Parker wissen. »Nein, nein!« Schneider hob abwehrend die Hände. »Ich bin doch kein Millionär! Ich habe Haus und Park lediglich von einer renommierten Immobilienfirma gepachtet.« Gerade wollte Parker sich nach dem Gang der Geschäfte
erkundigen, da hörte er draußen ein Auto vorfahren. »Das hört sich nach Kundschaft an«, meinte Schneider. »Entschuldigen Sie mich bitte.« Er eilte zur Tür und ließ einen etwa 50jährigen Mann ein, dessen gepflegte Erscheinung an einen erfolgreichen Arzt denken ließ. »Herzlich willkommen, Mister Wilkinson«, begrüßte Schneider den Gast. »Schön, daß Sie wieder mal den Weg in Yussufs Saunaclub gefunden haben.« »Es war aber auch dringend nötig«, erklärte der Mann, während Schneider ihm Hut, Mantel und Handschuhe abnahm. »Heute morgen habe ich mich schon wieder schwarz geärgert, Yussuf.« »Dann wird Ihnen die Entspannung in der Sauna hoffentlich doppelt guttun, Mister Wilkinson«, meinte Schneider. »Ich werde Kemal rufen, damit er sich um Sie kümmert.« »Das ist eine gute Idee, Yussuf«, bestätigte Wilkinson. »Kemal ist der beste Masseur, den Sie haben. Einfach hervorragend.« Wieder klatschte Schneider in die Hände. »Es ist wirklich nicht zu glauben, wie die Versicherungen sich heutzutage aufführen«, klagte Wilkinson, während er auf seinen Masseur wartete. »Da soll man sich nicht ärgern.« »Die Versicherungen?« fragte 11
Schneider in teilnahmsvoller Neugier. »Ich habe Ihnen doch von dem Einbruch in meinem Haus erzählt, Yussuf«, erklärte der Gast. »Inzwischen ist es ein halbes Jahr her, seit meine wertvolle Porzellansammlung gestohlen wurde. Obwohl die Einbrecher auch gleich die drei Barockvitrinen abtransportierten, in denen ich die Stücke untergebracht hatte, konnte die Polizei keine Spur finden. Und jetzt will meine Versicherung nicht mal den Schaden ersetzen.« »Wie ist denn so etwas möglich?« entrüstete sich Schneider. »Sie berufen sich darauf, daß die Sammlung angeblich nicht ausreichend gesichert war«, gab Wilkinson Auskunft. »Bei Werten dieser Größenordnung sei eine Alarmanlage unerläßlich, behauptet die Versicherung.« »Man bittet höflich um Verzeihung, aber meine Wenigkeit wurde unfreiwillig Zeuge des Gespräches«, ließ Parker sich vernehmen. »Was Sie gerade über das Verhalten Ihrer Versicherung mitteilten, Mister Wilkinson, dürfte auch meinen Herrn interessieren, falls man sich diesen Hinweis erlauben darf.« »Ich kann nur jedem empfehlen, sich eine Alarmanlage installieren zu lassen«, bestätigte Wilkinson. »Der Verlust geliebter Stücke, an die man sein Herz gehängt hat, ist schon schmerzlich genug. Aber wenn man
auch noch den Schaden zu tragen hat, wird es ausgesprochen ärgerlich.« »Mister Rander, in dessen Diensten zu stehen meine Wenigkeit die Ehre hat, nennt nämlich ebenfalls eine wertvolle Antiquitätensammlung sein eigen«, erfand der Butler und achtete dabei scharf auf Schneiders Reaktion. »Morgen und übermorgen wird Mister Rander sich in Paris aufhalten. Aber unmittelbar nach seiner Rückkehr dürfte sich der Einbau einer Alarmanlage dringend empfehlen.« »Eigentlich sollte man sein Haus in diesen unsicheren Zeiten überhaupt nicht unbewacht lassen«, meinte Schneider. »Ich nehme an, daß Sie Ihren Herrn auf der Reise begleiten werden, Mister Parker?« »Das wird sich wohl kaum vermeiden lassen, obwohl Mister Randers’ Wohnung dann völlig unbewacht ist«, gab Parker zur Antwort. »Allerdings ist kaum anzunehmen, daß es gerade in diesen zwei Tagen zu einem Einbruch kommt.« »Das wollen wir nicht hoffen«, pflichtete Wilkinson bei. Er ging hinüber zu Kemal, der an der Treppe gewartet hatte, und verließ mit ihm den Raum. Parker wandte sich in die entgegengesetzte Richtung. »Man wird einige Minuten an die frische Luft gehen, um sich die Füße zu vertreten«, erklärte er und klinkte die Ein12
gangstür auf. * Gemächlich schritt Parker über die Kieswege zwischen gepflegten Blumenrabatten und prägte sich die Einzelheiten der Umgebung ein. Als er das Schlößchen umrundete, um nach weiteren Eingängen Ausschau zu halten, wäre er an der Ecke fast mit einem jungen Mann zusammengeprallt, der es offenbar eilig hatte. Der Butler sah ihm nach, wie er schnellen Schrittes durch den Park in Richtung Straße ging. Es war Ali, der vor einer halben Stunde Mike Rander ins Bad begleitet hatte. Jetzt hatte er sein türkisches Gewand abgelegt und trug einen unauffälligen grauen Straßenanzug. Scheinbar ziellos spazierte Parker durch die Anlagen und folgte ihm in sicherem Abstand. Ali durchschritt das Tor, überquerte zügig die Straße und schwenkte dann nach links. Als Parker das Tor erreicht hatte, war der junge Mann schon verschwunden. Ohne Eile schlug der Butler die Richtung ein, die auch Ali genommen hatte. Während er von Schaufenster zu Schaufenster schritt, kam der junge Mann ihm schon wieder entgegen. Weit konnte er also nicht gewesen sein. Parker lüftete höflich seine Melone, als Ali an ihm vorüberging.
»Ein schöner Tag heute, wenn man sich die Bemerkung erlauben darf«, sagte er. »Wie geschaffen für einen Spaziergang.« »Das stimmt«, bestätigte Ali und blieb kurz stehen. »Aber leider muß ich sofort wieder an die Arbeit. Ich habe nur einen Brief zur Post gebracht.« »Dann wünscht man noch einen angenehmen Arbeitstag und einen pünktlichen Feierabend«, sagte der Butler und ging weiter. Mit einem kurzen Blick in eine spiegelnde Schaufensterscheibe überzeugte er sich davon, daß Ali tatsächlich wieder die Straße überquerte und in der Toreinfahrt verschwand. Parker bog in die Seitenstraße, aus der Ali gekommen war. Ein Postamt gab es dort nicht, nicht mal einen der großen, roten Briefkästen. Dafür entdeckte der Butler ein Geschäft, das sofort seine volle Aufmerksamkeit auf sich zog. »Eisenwaren aller Art«, stand in verblassenden Buchstaben über dem Schaufenster, darunter der Name des Besitzers. Henry Craig. Noch interessanter fand der Butler freilich das Pappschild, das Henry Craig von innen an der Ladentür hatte: »Schlüssel-Schnelldienst – Reparatur und Neuanfertigung.« Mit Mühe konnte Parker einen älteren Mann ausmachen, der in einer Ecke des düsteren Ladens an einer Maschine hantierte. Ein altmo13
disches Glöckchen bimmelte heftig, als der Butler die Tür öffnete und eintrat. »Hier ist jetzt Mittagspause«, brummte Henry Craig unfreundlich. »Ich muß wohl vergessen haben, die Tür abzuschließen.« Parker ließ sich dadurch aber nicht beirren, wünschte höflich einen guten Tag und zog die Tür hinter sich zu. »Haben Sie nicht gehört?« knurrte der Mann im blauen Overall. »Hier ist geschlossen! Kommen Sie nach der Mittagspause wieder! Ab drei Uhr ist der Laden geöffnet.« »Man bittet höflich um Verzeihung«, entgegnete der Butler seelenruhig. »Meine Wenigkeit konnte leider nicht erkennen, daß Ihr Geschäft momentan geschlossen ist, Mister Craig. Zumal noch vor zwei Minuten ein Kunde Ihren Laden verlassen hat, wenn man sich diesen Hinweis erlauben darf.« Craig stutzte, erhob sich von seinem Arbeitsplatz und ließ einen Schlüsselbund, mit dem er sich gerade beschäftigt hatte, in eine Schublade fallen. »Ach, der?« meinte er mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Das war ein Bekannter, der nur etwas abgegeben hat.« Langsam kam der Ladeninhaber näher und musterte den Butler mißtrauisch. »Was wollen Sie denn überhaupt?« fragte er. »Sagten Sie nicht eben, Sie hätten
jetzt Mittagspause?« erinnerte Parker ihn. »Wie ich mir meine Arbeit einteile, ist meine Sache«, brauste Craig auf. »Und wenn ich in der Mittagspause noch einen eiligen Auftrag zu erledigen habe, geht das einzig und allein mich an. Also verschwinden Sie endlich!« Seine kleinen, schwarzen Augen funkelten zornig, als er Parker die Tür wies. Doch der Butler machte keinerlei Anstalten, den Laden zu verlassen. Wütend stürzte Craig zur Theke und griff nach einem Stück Eisenrohr, das dort lag. Dann baute er sich drohend vor dem Butler auf. »Los, raus jetzt!« brüllte er. »Das ist mein letztes Wort!« Es war tatsächlich sein letztes Wort – vorläufig jedenfalls… Ehe Craig mit dem schweren Eisenstück ausholen konnte, hüpfte der sorgfältig gerollte Regenschirm von Parkers Unterarm. Die bleigefüllte Spitze beschrieb einen Halbkreis und tippte gegen Craigs Handgelenk. Unter Jaulen ließ er das Rohr fallen. Mit wutverzerrtem Gesicht hüpfte er von einem Bein aufs andere und rieb verzweifelt die rasch anschwellende Hand. Doch im nächsten Moment besann er sich und stürzte mit geballten Fäusten auf den Butler. Im Eifer des Angriffs übersah er jedoch den Schirm, den Parker ihm gelassen 14
entgegenhielt. Wie ein schnaubender Kampfstier rannte Craig gegen die Spitze. Doch das Metall war härter als sein Brustbein. Mit einem Zischlaut knickte der Mann gleichzeitig in den Hüften und in den Knien ein. Wie eine Gummipuppe, der man plötzlich den Stöpsel gezogen hat, sank er in sich zusammen. Bevor er sich zu Parkers Füßen auf dem Boden ausstreckte, sandte er dem Butler aus blutunterlaufenen Augen noch einen haßerfüllten Blick. »Ein Geschäftsmann sollte sich im Umgang mit Kunden stets eines höflichen Tons befleißigen«, stellte Parker mißbilligend fest, doch Craig war für derlei Belehrungen im Moment nicht empfänglich. Rasch schritt der Butler zu der Maschine hinüber, an der der Ladeninhaber zuletzt gearbeitet hatte. Ein Blick in die Schublade bestätigte seinen Verdacht. Das lederne Schlüsseltäschchen, das dort lag, trug die Initialen M. R. Ohne etwas zu berühren, schloß Parker die Schublade und wandte sich zum Gehen. Craig gab schon wieder die ersten Lebenszeichen von sich, als der Butler die Tür hinter sich zuzog und auf die Straße trat. Vermutlich würde Craig Zeit genug haben, seinen eiligen Auftrag auszuführen, bevor Ali kam, um Mike Randers Schlüsselbund wieder abzuholen.
* »Mir war vom ersten Moment an klar, daß nur der Inhaber dieses Saunaclubs für die Einbrüche in Frage kam«, behauptete Mylady, nachdem sie Parkers und Randers Berichte entgegengenommen hatte. »Diese whiskytrinkenden schottischen Schafhirten sind doch zu einem intelligenten Verbrechen gar nicht fähig.« »Die bisherigen Ermittlungen lassen in der Tat vermuten, daß Mister Schneider mit den Antiquitätendiebstählen bei Mister Wilkinson und Mister Stokefield in Zusammenhang gebracht werden muß«, stimmte Parker ihr vorsichtig zu. »Nachforschungen in Glasgow dürften sich deshalb erübrigen, falls man sich diesen Hinweis erlauben darf.« »Das klingt, als seien Sie von Mister Ryders Schuld noch nicht überzeugt, Mister Parker«, stellte Agatha Simpson fest. »Ich habe ja schon immer gesagt, daß aus Ihnen nie ein brauchbarer Detektiv wird. Sie zaudern zu lange! Was Ihnen fehlt, ist das beherzte Zugreifen im rechten Moment.« »Sehr wohl, Mylady«, gab Parker höflich zur Antwort. »Man wird sich in Zukunft noch eifriger bemühen, Myladys leuchtendem Beispiel nachzueifern.« »Wenigstens sind Sie einsichtig, 15
Mister Parker«, erklärte Lady Agatha zufrieden und genehmigte sich noch einen Sherry. »Aber um ein gewisses Format zu erreichen, fehlt es Ihnen doch an der entscheidenden Begabung.« »Das ist eine Feststellung, Mylady, der meine bescheidene Wenigkeit nicht mal im Traum widersprechen würde«, entgegnete der Butler höflich mit wahrer Selbstverleugnung. »Welche Schritte gedachten Mylady als nächste zu unternehmen?« »Natürlich werde ich diesen Mann festnehmen und ihn zu einem Geständnis bewegen.« »Kann und darf man davon ausgehen, daß Mylady beabsichtigen, Mister Schneider auf frischer Tat zu stellen?« wollte Parker wissen. »Die Gelegenheit dazu dürfte sich mit einiger Wahrscheinlichkeit morgen oder übermorgen am Abend in Mister Randers Wohnung ergeben.« »Eigentlich reicht das Belastungsmaterial aus, um sofort einzuschreiten«, entgegnete die Detektivin. »Erfahrungsgemäß sind aber Verbrecher, die man in flagranti ertappt, eher bereit, ihr Gewissen durch ein umfassendes Geständnis zu erleichtern.« Genüßlich schob sie eine Handvoll der köstlichen Vanille-Kipferl in den Mund, die Parker auf der Heimfahrt in einer Konditorei erstanden hatte. »Allerdings wird niemand erwarten, daß eine Lady Simpson stun-
denlang in einer fremden Wohnung auf der Lauer liegt, um einen Einbrecher dingfest zu machen«, fuhr die Hausherrin fort. »Vielleicht sollte man den ehrenwerten Mister Pickett bitten, ein wachsames Auge auf Mister Schneider zu haben«, schlug Parker vor. »Auf diese Weise wäre es möglich, Mylady rechtzeitig vorzuwarnen.« »Manchmal gewinne ich den Eindruck, sie seien doch lernfähig, Mister Parker«, lobte die ältere Dame. »Das ist genau die Methode, die ich Ihnen auch gerade vorschlagen wollte.« »Eine glänzende Idee«, stimmte auch Rander zu. »Auf den guten Pickett kann man sich wirklich verlassen.« »Eigentlich schade, daß ich diesen Fall praktisch schon gelöst habe«, erklärte Mylady. »Das war für meine Fähigkeiten einfach zu simpel. Aber so habe ich heute abend wenigstens Zeit, mein Manuskript ein Stück voranzubringen.« Sie erhob sich und steuerte die Treppe zum Obergeschoß an. »Und bringen Sie mir noch einen Schluck zu trinken, Mister Parker!« verlangte sie. »Die Luft im Studio ist wieder so trocken.« Rander wünschte ihr noch einen angenehmen Abend mit vielen schöpferischen Einfällen, bevor er sich verabschiedete. Er hatte die Haustür noch nicht erreicht, als oben 16
der Fernseher eingeschaltet wurde. »Mylady scheint noch mit den Vorstudien beschäftigt«, kommentierte der Anwalt belustigt. »Ist sie denn in letzter Zeit mit der Niederschrift vorangekommen?« »Mylady steht kurz vor der Fertigstellung der zweiten Manuskriptseite, falls meine Wenigkeit sich nicht irrt«, gab der Butler Auskunft. Die Männer tauschten vielsagende Blicke. Natürlich wußten beide, daß Lady Agatha mit ihrem Ruhm als Detektivin seit geraumer Zeit unzufrieden war und deshalb auch nach literarischem Lorbeer trachtete. Der Kriminalroman, an dem sie seit Jahren arbeitete, sollte sofort nach Erscheinen die Bestsellerlisten in aller Welt erobern. Nur wußte niemand, wann das sein würde. »Was gibt es denn heute für ein Programm?« wollte Rander wissen. »Leider hatte meine Wenigkeit noch keine Gelegenheit, sich darüber zu informieren«, bedauerte Parker. »Mylady pflegt jedoch grundsätzlich nur Kriminalfilme zu sehen, falls man sich diesen Hinweis erlauben darf.« »Und Sie, Parker?« fragte der Anwalt. »Wie ich Sie kenne, ziehen Sie die Realität einem Fernsehfilm vor.« »So ist es, Sir«, bestätigte der Butler. »Meine Wenigkeit hatte schon daran gedacht, sich heute abend ein wenig in Mister Schneiders Saun-
aclub umzusehen.« »Hab ich’s doch geahnt«, erklärte Rander. »Falls Sie meine Hilfe brauchen, Parker…« »Man dankt von Herzen für das freundliche Angebot, Sir«, gab der Butler zurück. »Bei diesem kleinen Erkundungsgang dürfte sich eine Mithilfe jedoch erübrigen.« »Dann bis morgen, Parker.« »Man wünscht noch eine angenehme Nacht, Sir.« * Schon vor Stunden hatten die letzten Gäste Yussufs Saunaclub verlassen. Der Park hinter dem schmiedeeisernen Tor lag in tiefer Dunkelheit. Nur über dem Eingang des Schlößchens und hinter einem Fenster im Obergeschoß brannte noch Licht. Vor dem Gebäude parkte ein weißer Mercedes – vermutlich Schneiders Wagen. Die Flügel des Tores waren nur angelehnt, wie Parker beim Näherkommen feststellte. Er blickte sich kurz um. Die Straße war zu dieser späten Stunde menschenleer. Lautlos schob der Butler das Tor einen Spalt auf und glitt hindurch. Im Nu hatte die Dunkelheit seine schwarzgekleidete Gestalt verschluckt. Er mied die knirschenden Kieswege und schritt über weichen Rasen in einem Bogen zum Schlößchen. Sein Ziel war der versteckt 17
gelegene Seiteneingang, den er sich schon mittags eingeprägt hatte. Ein Dutzend Stufen führten zu der Tür hinab, die offenbar als Zugang zu den Kellerräumen diente. Niemand sah oder hörte den Butler, als er in undurchdringlicher Finsternis das bewährte Universalbesteck aus der Tasche seines schwarzen Covercoats zog. Bedächtig wählte Parker den richtigen Dorn aus und ließ ihn sanft in das Schlüsselloch gleiten. Das Schloß widerstand seinen Überredungskünsten nur wenige Sekunden. Mit leisem Klicken sprang der Riegel zurück. Der Weg war frei. Geräuschlos wie ein Schatten schob Parker sich in den Flur und schloß die Tür hinter sich. Einen Moment blieb er lauernd stehen, bevor er seine kleine, aber leistungsstarke Kugelschreiberlampe anknipste. Langsam wanderte der Lichtkegel über ein Gewirr von dicken, Rohren, großen Absperrventilen und Meßinstrumenten. Totenstill war es hier unten. Nur hin und wieder hörte man irgendwo einen Tropfen fallen. Das technische Herz von Yussufs Saunaclub hatte eine Ruhepause eingelegt. Die stählerne Feuerschutztür, die zum Erdgeschoß hinaufführte, war nicht verriegelt. Sekunden später stand der Butler im Foyer. Auch hier war kein Geräusch zu vernehmen.
Der schwache Lichtschein, der durch die gläserne Eingangstür fiel, tauchte elegante Sitzmöbel und exotische Grünpflanzen in gespenstische Dämmerung. Josuah Parker schaltete seine Lampe aus. Schon vormittags hatte er sich die Treppe gemerkt, die ins Obergeschoß führte. Lautlos stieg er Stufe um Stufe höher. In dem Flur, der oben nach rechts abzweigte, brannte ein trübes Notlicht. Schnell hatte der Butler die Tür gefunden, hinter der offenbar Schneiders Büro lag. Er legte ein Ohr an die Holztäfelung und horchte, aber außer dem Rascheln von Papier war nichts zu hören. Als Parker durch das Schlüsselloch spähte, sah er Schneider am Schreibtisch sitzen. Um ihn herum stapelten sich Akten und Geschäftsbücher. Jetzt hatte der Saunapächter Pluderhosen und Seidenbluse gegen einen dunkelgrauen Anzug getauscht. Schneider schien in seine Geschäftsbücher vertieft. Ab und zu schrieb er etwas, dann kaute er an seinem Füllfederhalter und blickte zur Decke, als ob von dort Hilfe zu erwarten wäre. Doch plötzlich unterbrach er seine Arbeit, stand auf und ging zum Fenster. Auch Parker hatte gehört, daß unten ein Auto vorgefahren war. »Verdammt«, knurrte Schneider. »Der hat mir gerade noch gefehlt!« 18
Mit drei Schritten war der Butler an der nebenan liegenden Zimmertür und drückte geräuschlos die Klinke nieder. Zum Glück war die Tür unverschlossen. Parker verschwand in dem unbeleuchteten Raum, als Schneider gerade auf den Flur trat, um seinen offenbar unwillkommenen Gast hereinzulassen. Nach einer Weile vernahm der Butler Stimmen aus dem Foyer. Es hatte nicht den Anschein, als wollte Schneider seinen Besucher heraufführen. Die Gelegenheit zu einem Blick ins Büro war günstig. Sekunden später ließ Parker die Blicke über den Schreibtisch wandern. Die Papiere, an denen Schneider gearbeitet hatte, waren wirklich Geschäftsbücher – Abrechnungen über Wasser, Heizöl und Desinfektionsmittel, die keinen Hinweis auf eine illegale Tätigkeit enthielten. Auch in den Regalen, die mit Ordnern vollgestellt waren, fand sich nichts, was Parkers Interesse zu fesseln vermochte. Vorsichtig zog der Butler die oberste linke Schreibtisch-Schublade auf. Was er darin entdeckte, beanspruchte sofort seine Aufmerksamkeit. Die braune Packpapiertüte, die auf einem Stapel von Prospekten lag, enthielt einen Schlüsselbund. Sechs blitzblanke, offenbar nagelneue Schlüssel waren auf einen kleinen Metallring aufgereiht. Ein Zettel mit
Mike Randers Adresse hing daran. Parker ließ die Schlüssel wieder in die Tüte gleiten und inspizierte die Schublade genauer. Versteckt unter den Prospekten fand sich eine weitere Tüte, die ebenfalls einen Schlüsselbund enthielt. »Mister Donald Lexington, 232 Kensington High Street«, stand auf dem kleinen Zettel. Gerade wollte der Butler noch den Stahlschrank an der linken Wand unter die Lupe nehmen, da drang ein kaum hörbares Geräusch an sein Ohr. Schneider kam zurück… Große Möbelstücke oder Vorhänge, hinter denen Parker sich hätte verstecken können, gab es nicht. So drückte er sich neben der Tür an die Wand und wartete. Der Mann, der offensichtlich in Eile war, stieß die Tür auf, ohne den Butler dahinter zu bemerken, zog die oberste linke Schublade auf, nahm das braune Päckchen wieder und schloß in seiner Hast nicht mal die Tür. Parker folgte ihm vorsichtig. Schon von der Treppe aus sah er, daß Schneider mit seinem unbekannten Besucher draußen vor der Eingangstür stand. Unbemerkt durchschritt der Butler das Foyer und erreichte wenig später wieder den Heizungskeller. Er trat nach draußen, schloß lautlos die Tür und stieg lauschend die Stufen hinauf. Im Schutz der Dun19
kelheit blickte Parker um eine Ecke des Gebäudes. Im Lichtschein auf der kleinen Freitreppe am Eingang standen die beiden Männer. Das Päckchen mit den Schlüsseln hielt jetzt der Besucher in der Hand. Der Mann war mindestens einen Kopf größer als Schneider. Er drehte Parker den Rücken zu, so daß sein Gesicht nicht zu erkennen war. Der Butler registrierte jedoch, daß der Unbekannte ausgesprochen elegant gekleidet war. »Und daß Sie mir keine Mätzchen machen, Schneider«, hörte man den Mann mit scharfer Stimme sagen. »Ich würde Ihnen ohnehin auf die Schliche kommen. Daß ich ausgesprochen ungemütlich werden kann, wenn man mich zu hintergehen versucht, muß ich wahrscheinlich nicht noch mal betonen.« »Ehrenwort, Chef«, gelobte Schneider unterwürfig. »Es waren nicht mehr. Schließlich kommt ja nicht jeden Tag ein neues Mitglied. Was sollte ich auch mit den Schlüsseln anfangen?« »Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie in Wirklichkeit sind!« herrschte der Unbekannte den Saunapächter an. »Sie wissen genau, daß die Schlüssel zusammen mit den entsprechenden Adressen Gold wert sind.« »Natürlich weiß ich das, Chef«, räumte Schneider ein. »Trotzdem
würde ich nie auf die Idee kommen, auf eigene Rechnung Kasse zu machen.« »Das würde ich Ihnen auch nicht raten«, drohte der andere. »Es sei denn, Sie legen Wert darauf, meinen Rottweilern zum Fraß vorgeworfen zu werden. Die lieben Tierchen sind manchmal ganz wild auf Frischfleisch.« Entsetzt hob Schneider die Hände. »Auf keinen Fall, Chef!« rief er. »Lieber eine Kugel in den Kopf, als diesen blutrünstigen Bestien ausgeliefert zu sein…« »Sie wollen doch nicht etwa meine braven Hündchen beleidigen, Schneider?« meinte der Unbekannte spöttisch. »Das hören die sensiblen Kreaturen gar nicht gern. Haben Sie bemerkt, wie unruhig Arco geworden ist? Wahrscheinlich hat er gehört, daß Sie ihn als blutrünstig beschimpft haben. Sie sollten sich bei ihm entschuldigen, Schneider!« Rasch ging der Fremde zu seinem silbergrauen Bentley und öffnete die Beifahrertür. In derselben Sekunde stürzte eine zähnefletschende Bestie ins Freie und schoß sofort mit drohendem Knurren auf Schneider los. Leichenblaß stand der Saunapächter mit dem Rücken zur Wand und wagte nicht, sich zu bewegen. Doch der Hund schnupperte nur kurz an seinen Schuhen. Dann hielt er witternd die Nase in den Nachtwind. Im nächsten Moment galop20
pierte er kläffend auf die Gebäudeecke zu, hinter der Parker im Schatten stand. Der »Chef« pfiff hinter seinem Hund her, doch Arco hörte nicht. Mit einem Riesensatz wollte er dem Butler an die Kehle springen. Josuah Parker wich keinen Schritt von der Stelle und hielt ihm den Universal-Regenschirm wie einen Degen entgegen. Tief schob sich die bleigefüllte Spitze in den aufgerissenen Rachen der vor Wut schäumenden Bestie. Augenblicklich ging das drohende Bellen in hilflose Gurgellaute über. Mitten in der Luft brach Arco den Sprung ab und landete mit dumpfem Klatschen vor Parkers Füßen. Verzweifelt versuchte das Tier, die Spitze herauszuwürgen oder den Schirm zu zerbeißen. Währenddessen zog der Butler ein Sprayfläschchen aus der Tasche. Es enthielt Tränengas, wie es auch Briefträger benutzen, um sich vor beißwütigen Vierbeinern zu schützen. Kurz zielte Parker auf die gefletschten Zähne des Rottweilers und drückte auf den Knopf. Jaulend sprang Arco hoch, ließ die Schirmspitze los und trabte wimmernd zu seinem Besitzer zurück. Doch dort wartete neues Ungemach auf ihn. Wütend trat der Fremde nach dem Hund. »Verdammter Köter!« fluchte er. »Ich werde dir zeigen, was es heißt, ungehorsam zu
sein…« Schneider stand noch immer mit dem Rücken zur Wand und musterte argwöhnisch den Hund. »Warum hat das Tier denn so gejault da hinten in der Dunkelheit?« fragte er schüchtern. »Weiß ich nicht«, gab der Unbekannte mürrisch zurück. »Vielleicht hat er sich mit einer Katze angelegt. Die Viecher sind einfach zu flink für einen Hund.« Er ging zu seinem Wagen, warf das Schlüsselpäckchen auf den Rücksitz und scheuchte den Rottweiler hinein. »Und denken Sie daran, Schneider«, warnte er, »ich lasse mich nicht austricksen. Falls Sie in Zukunft nicht wieder mehr Schlüssel liefern, muß ich sowieso noch ein ernstes Wort mit Ihnen reden. In den letzten Wochen war ich gar nicht mit Ihnen zufrieden, Schneider.« »Ich werde mich anstrengen, Chef«, versprach der Pächter. »Aber ich kann auch keine neuen Gäste herzaubern.« »Wie Sie das machen, ist Ihre Sache«, erklärte der Fremde kurz angebunden. Dann ließ er Schneider stehen, stieg in seinen Wagen und fuhr davon. * »Mister Parker!« Myladys Stimme
verkündete Unheil. »Würden Sie mir
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bitte erklären, was das ist?« Angewidert deutete sie mit der Rechten auf ein fein ziseliertes Glasschälchen, das der Butler inmitten des opulenten Frühstücks in Lady Simpsons Salon plaziert hatte. »Wollen Sie mich etwa vergiften?« Agatha Simpson hielt sich mit der Linken die Nase zu. »Wie das riecht! Das ist ja Vogelfutter.« »Aber Mylady wünschten ausdrücklich…« begann Parker, doch sie fiel ihm sofort ins Wort. »Behaupten Sie jetzt auch noch, ich hätte mir dieses ekelhafte Körnerzeug gewünscht?« grollte sie. »Legen Mylady Wert darauf, daß meine Wenigkeit sich zurückzieht?« erkundigte sich der Butler höflich, aber seine Herrin entrüstete sich noch mehr. »Das bin ich von Ihnen nicht gewohnt, Mister Parker. Sich einfach davonstehlen und die Arbeit liegen lassen… Erst sorgen Sie bitte dafür, daß ich ein Frühstück bekomme, das den Namen auch verdient.« »Selbstverständlich, wie Mylady wünschen«, antwortete Mister Parker in seiner devoten Art. Er nahm das Schälchen mit dem BircherMüsli an sich und brachte es aus dem Gesichtskreis seiner Herrin. »Man wird sofort in der Küche etwas vorbereiten, erklärte er und schritt davon.« Parker hatte sich gleich gedacht, daß Mylady das nicht wörtlich
gemeint hatte, als sie den Wunsch äußerte, künftig ihre Ernährung auf gesunde Kost umzustellen. Kathy Porter hatte ihr unlängst an einem gemütlich verplauderten Nachmittag diesen Floh ins Ohr gesetzt. Da die Detektivin trotz ihrer mehr als 60 Jahre durchaus eitel sein konnte, hatte sie Kathys dezente Hinweise und ernährungswissenschaftliche Erläuterungen geradezu begeistert aufgenommen. Parker hatte sich von Myladys attraktiver Gesellschafterin genauere Informationen eingeholt, bevor er sich das Original Bircher-Rezept in einem angesehenen Reformhaus aus frischen Zutaten zusammenstellen ließ. Seine Skepsis war bei diesem Einkauf eher noch stärker geworden. Haferflocken, Haselnüsse und Rosinen – für derlei rustikale Lebensmittel hatte Mylady noch nie eine Spur von Interesse gezeigt. Deshalb hatte der Butler zusätzlich zu dem Müslischälchen alles aufgebaut, was Londoner exklusive Feinkostläden zu bieten hatten. Während er in der Küche für Nachschub sorgte, konnte Mylady also schon etwas gegen ihren ärgsten Hunger tun. Die Vorspeise, die aus Avocados mit Roquefortcreme, einer geeisten Melone mit Geflügelsalat sowie Weinbergschnecken bestand, hatte sie sich bereits einverleibt, als Parker 22
mit dem ersten Zusatztablett voller Köstlichkeiten aus der Küche zurückkehrte. Anschließend machte sie sich über eine Portion Garnelen in PernodRahm her, probierte ausgiebig vom frischen Norwegerlachs mit Tartarensoße und nahm dann die Kalbsfilets mit Walnußsahne in Angriff. Allmählich hellten sich ihre Züge wieder auf. Als Parker dann noch von dem feinen alten Sherry aus der kostbar geschliffenen Glaskaraffe einschenkte, schien das Schlimmste vorüber. Das Dessert, das Parker vor einer reichhaltigen Käseauswahl servierte, ließ Lady Agatha vollends vergessen, daß sie ihrem Butler vor einer Viertelstunde fast kündigen wollte. »Das bestätigt ganz eindeutig die Theorie, die ich von Anfang an vertreten habe«, stellte die Detektivin rundum zufrieden fest, nachdem Parker ausführlich von seiner nächtlichen Erkundung bei Yussuf alias Hansi Schneider berichtet hatte. »Mein unfehlbarer Spürsinn sagte mir sofort, daß dieser Fall noch eine zweite, viel größere Dimension hat, Mister Parker.« »Damit spielen Mylady vermutlich auf die Tatsache an, daß Mister Schneider einen Auftraggeber hat, dem er die Kopien von den Schlüsseln seiner Kunden abliefern muß«, vergewisserte sich der Butler. »Aus Ihren Worten ersehe ich, daß
es Ihnen doch am nötigen Blick für die großen Zusammenhänge fehlt, Mister Parker«, tadelte die ältere Dame. »Aber ich werde Ihnen das nachsehen. Schließlich verfügen Sie nicht über meine Anlagen: das unfehlbare Gedächtnis und die messerscharfe Intelligenz.« »Dem würde meine bescheidene Wenigkeit nie zu widersprechen wagen, Mylady«, versicherte Parker wahrheitsgemäß und verneigte sich höflich. »Sehen Sie denn nicht, daß dieser Unbekannte mit der Terrier…« »Verzeihung, Mylady, es handelte sich um einen Rottweiler, falls man sich diesen Hinweis erlauben darf.« »Unterbrechen Sie mich doch nicht ständig, Mister Parker!« reagierte die Detektivin ungehalten. »Ich weiß genau, was ich sage! Außerdem ist es völlig gleichgültig, ob dieser Mann einen Schäferhund oder einen Pekinesen mit sich führte.« »Wie Mylady meinen«, entgegnete Parker gelassen. »Im Ernstfall dürfte allerdings ein Pekinese weniger Schwierigkeiten machen als ein Schäferhund.« »Sehen Sie denn nicht, Mister Parker«, setzte die resolute Dame zum zweiten Mal an, »daß dieser Unbekannte nur der Abgesandte einer geheimen Organisation ist? Eine Detektivin meines Formats spürt das sofort!« »Darf man sich in aller Beschei23
denheit erkundigen, welche Art von Organisation Mylady zu meinen geruhen?« »Eine Spionageorganisation natürlich«, entgegnete die Hausherrin zu Parkers Verblüffung. »Dieser Unbekannte gehört dem raffiniert getarnten Spionagering einer östlichen Macht an. Da besteht für mich überhaupt kein Zweifel mehr, Mister Parker.« »Tatsachen, die eine solche Hypothese stürzen könnten, vermochte meine Wenigkeit bisher nicht zu erkennen«, wandte der Butler ein. »Das liegt an Ihrem beschränkten Blickfeld, Mister Parker!« behauptete Agatha Simpson. »Ich sage Ihnen, daß dieser Mann mit dem Dackel ein eingeschleuster Agent ist, der nach einer besonders raffinierten Methode vorgeht.« »Darf man höflichst darauf hinweisen, daß Spione sich nur in den seltensten Fällen dem Diebstahl von Antiquitäten widmen?« entgegnete der Butler. Doch so schnell war Mylady nicht zu überzeugen. »Das ist ja gerade das Raffinierte an der Methode«, erklärte sie. »Dieser Agentenring hat die Aufgabe, das Privatleben einflußreicher Persönlichkeiten auszuspionieren – vermutlich, um sie später zu erpressen. Und um ihre schmutzige Arbeit zu tarnen, begehen sie die Antiquitätendiebstähle.« Parker überlegte, ob seine Herrin
wirklich an diese abenteuerliche Theorie glaubte, aber offenbar war es so. »Ist das nicht raffiniert?« fuhr sie fort. »Jeder denkt, es handelt sich um ganz normale Einbrecher, und in Wirklichkeit sind es Agenten einer fremden Macht, die ein Sicherheitsrisiko für Großbritannien darstellen. Nur gut, daß ich als einzige diese Burschen durchschaut habe.« Parker kam an der Peinlichkeit einer Stellungnahme nur deshalb vorbei, weil im rechten Moment die Haustürglocke anschlug. »Eine böse Vorahnung sagt mir, daß das nur McWarden sein kann«, behauptete die Detektivin. »Wenigstens hat er diesmal gewartet, bis ich mit meinem bescheidenen Frühstück fertig bin. Ich kann es nicht ertragen, wenn dieser Mensch mir mit gierigen Blicken förmlich die Häppchen vom Teller zieht…« »Myladys Vorahnung entspricht exakt den Tatsachen«, meldete Parker, der einen Blick aus dem Fenster geworfen hatte. »Es handelt sich tatsächlich um Mister McWarden.« »Dann lassen Sie ihn herein, Mister Parker«, ordnete die Hausherrin an. Seit sie einem gefährlichen Spionagering auf der Spur zu sein glaubte, hatte sich ihre Laune beträchtlich gebessert. Sie genoß das Leben derart, daß sie selbst McWardens Gesellschaft vertragen zu können glaubte. 24
»Aber schließen Sie vorher den Sherry weg, Mister Parker«, verlangte sie, ehe der Butler zur Tür ging. Chief-Superintendent McWarden war eine imposante Erscheinung. Er war etwa Mitte Fünfzig und litt – weithin sichtbar – an zu hohem Blutdruck. Wenn er in Rage geriet, was ihm häufig unterlief, nahm sein Gesicht innerhalb von Sekunden die Farbe einer reifen Tomate an. Seine hervorquellenden Augen verliehen ihm dann das Aussehen einer gereizten Bulldogge. Mylady hatte ihn durch ihre unverschämten Sticheleien schon oft bis aufs Blut gepeinigt. Dennoch kam er von Zeit zu Zeit gern in ihr Haus. Das hatte nicht nur mit dem erlesenen Sherry zu tun, der sowieso meistens weggeschlossen wurde, wenn der Yard-Gewaltige vor der Tür stand. Nein, Chief-Superintendent McWarden, der es bei Scotland Yard zum Leiter einer wichtigen Abteilung gebracht hatte, die sich der Bekämpfung des organisierten Verbrechens widmete – dieser erfolgreiche Kriminalist hatte sich in Myladys Haus schon manchen guten Rat geholt, wenn polizeiliche Ermittlungsmethoden nicht mehr weiterhalfen. Obwohl er auf Amateurdetektive eigentlich herabsah, mußte er neidvoll eingestehen, daß ihm das skurrile Pärchen mit seinen unkon-
ventionellen Methoden oft genug eine Nasenlänge oder mehr voraus war. Heute betrat er mit einem Blumenstrauß den Raum und verneigte sich tief vor der Gastgeberin. »Ist das nicht ein wunderschöner Tag, mein lieber McWarden?« flötete Lady Agatha in der lieblichsten Tonlage, die ihr zu Geböte stand. »Wirklich wunderschön, Mylady!« bestätigte McWarden, ebenso gut gelaunt, und beugte sich über Lady Simpsons muskulöse Faust, die sie ihm zum Handkuß bot. »Das Wetter ist wirklich herrlich in letzter Zeit: Viel zu schade zum Verreisen.« »Sie wollen verreisen, Mister McWarden?« erkundigte sich die Detektivin neugierig. »Ist es eine Dienstreise?« »Gott sei Dank nicht«, rief der aus. »Ich Chief-Superintendent werde die allgemeine Ruhe in der Unterwelt nutzen, um endlich ein paar Tage Urlaub zu machen. Heute abend fliege ich nach Mallorca.« »Sprachen Sie von allgemeiner Ruhe in der Unterwelt?« fragte Mylady lauernd. »Heißt das, daß Sie im Moment keine wichtigen Fälle zu bearbeiten haben?« »Das heißt es, Mylady. Die Verbrecher scheinen Ferien zu machen«, meinte McWarden lauernd. »Hoffentlich treffe ich sie nicht alle auf Mallorca…« »Alle bestimmt nicht«, erwiderte 25
die Detektivin, um den Mann vom Yard neugierig zu machen. »Bis auf ein paar Fahrraddiebe vielleicht«, meinte ihr Gegenüber. »Oder haben Sie doch einen Verbrecher aufgespürt, den es zu jagen gilt?« »Wie kommen Sie denn darauf, Mister McWarden?« rief Lady Agatha. »Ich sterbe vor Langeweile…« »Den Eindruck habe ich gar nicht«, entgegnete der Chief-Superintendent. »Sie wirken ausgesprochen gut gelaunt, Mylady. So kenne ich Sie eigentlich nur, wenn Sie wieder einer brisanten Sache auf der Spur sind.« »Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß ich auch übel gelaunt sein kann«, entrüstete sich die Hausherrin. »Meine Erfolge als Detektivin wären undenkbar, wenn ich nicht ein so ruhiges und ausgeglichenes Wesen besäße.« McWarden schluckte und konnte ein Grinsen nur schwer zurückhalten. »Selbstverständlich lag es mir völlig fern, Ihnen zu nahe zu treten, Mylady«, versicherte er höflich. »Das kann man von einem Gentleman schließlich auch erwarten«, entgegnete die Hausherrin kühl. »Im übrigen wünsche ich Ihnen erholsame Ferien, Mister McWarden. Es war wirklich nett, daß Sie vorher mal hereingeschaut haben.« McWarden schien durch den plötzlichen Stimmungsumschwung
leicht irritiert, ließ sich aber nichts anmerken, sondern erhob sich, als ob er ohnehin gerade aufbrechen wollte. »Vielleicht werden Sie mir über Ihre neuesten Ermittlungen berichten, wenn ich aus dem Urlaub zurück bin, Mylady«, meinte er und ließ sich von Parker Hut und Handschuhe bringen. »Darauf können Sie sich verlassen, Mister McWarden!« prophezeite die resolute Dame. * Agatha Simpson frohlockte, nachdem Parker den Gast hinausbegleitet hatte und zurück war. »Haben Sie bemerkt, wie er mich aushorchen wollte? Aber da muß diese Schnüffelnase schon etwas früher aufstehen! So schnell kommt man einer Lady Simpson nicht auf die Schliche…« Auf einen Wink Myladys holte der Butler den Sherry wieder aus dem Schrank und schenkte ein. »Welche Schritte habe ich als nächste geplant, Mister Parker?« erkundigte sie sich. »Mylady haben angeordnet, Mister Hans Schneider und seinen Auftraggeber zu beschatten«, gab Parker Auskunft. »Meine Wenigkeit hatte bereits heute morgen Gelegenheit, den ehrenwerten Mister Pickett telefonisch um eine solche Gefälligkeit zu bitten.« »Vor allem darf er diesen Unbe26
kannten mit dem Hund nicht aus den Augen lassen«, fügte die Detektivin hinzu. »Dieser Mann stellt das Werkzeug dar, mit dem ich den Agentenring aufbrechen werde.« Der Butler zog es vor, seiner Herrin nicht zu widersprechen. Sie hatte es schon oft genug geschafft, offensichtliche Tatsachen zu leugnen. Wie konnte er da hoffen, sie durch Argumente zu überzeugen! »Darf man davon ausgehen, daß Mylady unverzüglich informiert zur werden wünschen, sobald Mister Pickett irgendwelche Nachrichten übermittelt?« erkundigte er sich. »Der Einbruch bei Mister Rander dürfte mit einiger Sicherheit heute abend zu erwarten sein.« »Natürlich will ich informiert werden, Mister Parker«, erklärte Agatha Simpson. »Aber nicht über jede Kleinigkeit! Wenn es wirklich soweit ist, werde ich entschlossen zugreifen. Zunächst werde ich mich aber noch eine Stunde zur Meditation zurückziehen.« Ächzend wuchtete sie ihre wogende Leibesfülle aus dem Sofa, wobei der Butler unauffällig assistierte. »Und bringen Sie mir bitte noch ein Glas Sherry auf mein Zimmer, Mister Parker«, ordnete sie an. Der Butler tat, wie ihm geheißen, obwohl Agatha Simpsons Schritte schon etwas unsicher wirkten, als sie zur Treppe ging, die ins Obergeschoß führte.
* Es war später Abend, als Pickett sich von einer Telefonzelle meldete. Der Eigentumsumverteiler, wie er sich scherzhaft nannte, war früher mal König der Londoner Taschendiebe gewesen. Seit Parker ihm in einer unverschuldeten Notlage das Leben gerettet hatte, war er jedoch auf die Seite des Gesetzes übergewechselt. Auch nach Jahren kannte Picketts Dankbarkeit keine Grenzen. Er war jedesmal glücklich, wenn er dem Butler eine Gefälligkeit erweisen konnte. Und seine nach wie vor guten Beziehungen zur Unterwelt der Millionenstadt hatten sich schon oft außerordentlich nützlich erwiesen. »Das Ganze ist mir wirklich peinlich, Mister Parker«, begann Horace Pickett seinen Bericht. »Aber wir werden die Panne bestimmt wieder ausgleichen.« »Muß man davon ausgehen, daß Mister Schneider sich der Beobachtung durch Ihre Leute entziehen konnte, Mister Pickett?« wollte der Butler wissen. »Er hat sich der Beobachtung nicht selbst entzogen«, gab Horace Pickett Auskunft. »Wenn man so will, ist er der Beobachtung entzogen worden. Aber Tatsache ist, daß ich Ihnen nicht sagen kann, wo Mister Schnei27
der sich im Moment aufhält, Mister Parker.« »Darf man Ihre Äußerungen so verstehen, daß Mister Schneider gewaltsam entführt wurde?« erkundigte sich Parker. »So sah es aus«, bestätigte Pickett. »Aber vielleicht sollte ich Ihnen erst mal berichten, was sich bis dahin zugetragen hat.« »Das ist ein Vorschlag, den meine Wenigkeit nur nachdrücklich unterstützen kann«, meinte der Butler. »Wir haben Schneider beschattet, sobald er seinen Club verließ«, erzählte der Eigentumsumverteiler. »Das war gegen sieben Uhr. Dann fuhr er mit seinem Wagen zu einem Restaurant in Soho und saß dort fast zwei Stunden beim Essen. Anschließend fuhr er nach Kensington.« »Trifft die Vermutung zu, daß Mister Schneider allein war?« wollte Parker wissen. »Er saß allein in seinem Wagen und speiste auch allein zu Abend«, gab Pickett Auskunft. »Vermutlich wurde Mister Schneider aber zu dieser Zeit schon doppelt beschattet und zwar nicht nur von uns!« »Ihnen war bis dahin aber noch nicht bekannt, daß auch die späteren Entführer schon Mister Schneiders Fährte folgten?« vergewisserte sich der Butler. »Die Burschen müssen absolut professionell gearbeitet haben«, erklärte Pickett. »Sie fielen uns erst
auf, als sie Schneider in ihren Wagen zerrten. Aber dafür haben sie offenbar auch meine Leute nicht entdeckt.« »Meiner Wenigkeit ist hinlänglich bekannt, daß Sie, Mister Pickett, Ihr Handwerk durchaus verstehen«, meinte der Butler. »Das gilt ebenso für Ihre Mitarbeiter, wenn man sich diese Bemerkung erlauben darf.« »Schönen Dank für das Kompliment, Mister Parker«, gab Pickett zurück. »Das ändert leider nichts an der Tatsache, daß wir in diesem Fall das Nachsehen hatten. Schneider stellte seinen Wagen vor dem Postamt an der Ecke Earl’s Court Road ab und ging dann zu Fuß bis zum Haus Kensington High Street Nr. 232.« »Dabei dürfte es sich um die Wohnung eines gewissen Mister Donald Lexington handeln, falls meine Wenigkeit sich nicht täuscht«, warf Parker ein. »Stimmt genau, Mister Parker«, bestätigte Pickett. »Das haben wir anschließend auch festgestellt. Im Haus war alles dunkel. Vermutlich sind die Eigentümer verreist. Ich konnte genau erkennen, daß Schneider in Abständen mehrmals auf den Klingelknopf drückte. Erst als niemand öffnete, zog er einen Schlüsselbund aus der Tasche, schloß auf und verschwand im Haus.« »Und Sie konnten bedauerlicherweise nicht feststellen, welcher 28
Tätigkeit Mister Schneider im Haus Mister Lexingtons nachging«, mutmaßte Parker. »Allein dürfte er kaum in der Lage gewesen sein, antike Möbel oder ähnliches Diebesgut abzutransportieren.« »Vermutlich war der Mann auf Schmuck oder andere Wertgegenstände aus, die man unauffällig in der Manteltasche wegtragen kann«, gab der Eigentumsumverteiler zur Antwort. »Anscheinend wurde er auch fündig, denn an der Stelle, wo er überfallen und entführt wurde, fanden wir später ein wertvolles Collier mit Perlen und Diamanten, das ihm wahrscheinlich im Handgemenge aus der Tasche gerutscht war.« »Diese Beobachtungen legen den Verdacht nahe, daß Mister Schneider seinem Auftraggeber ins Handwerk pfuschen wollte und dabei auf frischer Tat ertappt wurde«, meinte der Butler. »Eine ähnliche Vermutung hatte ich auch schon«, bestätigte Pickett. »Schneider blieb ungefähr eine Viertelstunde im Haus, ohne Licht anzuknipsen. Dann kam er wieder heraus, warf die Schlüssel in einen Papierkorb und machte sich auf den Weg zu seinem Wagen.« »Und auf diesem Weg, so muß man wohl vermuten, wurde Mister Schneider von den Helfern seines bisher unbekannten Auftraggebers tatsächlich angegriffen?«
»Er war vielleicht hundert Schritte entfernt, als plötzlich zwei Männer aus einer dunklen Toreinfahrt eilten und ihn unterhakten«, setzte Pickett seinen Bericht fort. »Schneider wehrte sich zuerst und wollte flüchten. Aber ein Mann stieß ihm die Faust so brutal in die Magengrube, daß er sofort zusammensackte. Anschließend schleiften sie ihn in einen dunkelgrünen Volvo, der am Straßenrand parkte, und fuhren davon. Leider verloren wir den Wagen aus den Augen, ehe meine Leute die Verfolgung aufnehmen konnten. Aber immerhin habe ich das Kennzeichen notiert. Der Halter wird sich morgen früh ohne Schwierigkeiten ermitteln lassen.« »Diesen Versuch sollte man unternehmen«, pflichtete der Butler bei. »Obwohl nicht auszuschließen sein dürfte, daß das Kennzeichen gefälscht ist. Hatten Sie übrigens Erfolg bei der Suche nach dem Eigentümer des silbergrauen Bentley, falls man sich diese Frage erlauben darf.« »Ein alter Freund mit guten Beziehungen zur Stadtverwaltung hat in der Kartei nachgesehen«, gab Pickett Auskunft. »Das Fahrzeug ist ein Firmenwagen, zugelassen auf eine große Immobilien-Gesellschaft, die Atkins Ltd. Bisher konnte ich allerdings noch nicht klären, welcher Mitarbeiter der Firma das Fahrzeug gewöhnlich benutzt. Doch das wird 29
sich morgen nachholen lassen.« »Dann darf man sicher davon ausgehen, daß Sie telefonisch Mitteilung machen, sobald Sie im Besitz der entsprechenden Informationen sind, Mister Pickett?« vergewisserte sich der Butler. »Selbstverständlich, Mister Parker«, versprach der Eigentumsumverteiler. »Nach der Panne, die mir heute abend unterlaufen ist, werde ich mir morgen doppelt Mühe geben.« * Josuah Parker hatte kaum den Hörer aufgelegt, als das Telefon erneut klingelte. »Na endlich«, tönte Mike Randers Stimme aus dem Hörer. »Seit einer halben Stunde versuche ich ständig, bei Ihnen anzurufen. Und immer war besetzt. Gerade wollte ich schon die Störstelle informieren.« »Man bittet höflich um Verzeihung, Sir«, antwortete der Butler. »Der ehrenwerte Mister Pickett war so freundlich, von Mister Schneiders Entführung zu berichten.« »Schneider – entführt?« Mike Rander war hörbar verblüfft. »Weiß man denn, von wem?« »Mit letzter Sicherheit noch nicht, Sir«, gab Parker Auskunft. »Alles deutet jedoch darauf hin, daß Mister Schneider seinem Auftraggeber Konkurrenz machen wollte und
dabei nicht vorsichtig genug zu Werke ging.« »Das sind ja Nachrichten«, meinte der Anwalt. »Aber was ich eben erlebt habe, wird Sie auch interessieren, Parker.« »Darf man die Vermutung äußern, Sir, daß Ihre Wohnung von Einbrechern heimgesucht wurde?« »Ganz so schlimm war es nicht«, meinte Rander. »Zum Glück war es nur einer. Wir stießen direkt vor meiner Wohnungstür zusammen, als er raus wollte, und ich rein.« »Darf man fragen, ob es Ihnen gelungen ist, den Eindringling zu überwältigen, Sir?« wollte Parker wissen. »Ich hatte keine große Mühe, mir das zierliche Kerlchen zu schnappen«, berichtete der Anwalt. »Der Mann war derart überrascht, als er mich sah, daß ihm die Schlüssel aus der Hand fielen.« »Der Einbrecher dürfte in dem Glauben gehandelt haben, Sie wären nach Paris gereist, Sir«, meinte der Butler. »Vermutlich hat Mister Schneider die falsche Information, die meine Wenigkeit im Saunaclub ausstreute, an den Mann weitergegeben.« »Davon ist wohl auszugehen«, pflichtete der Anwalt ihm bei. »Allerdings ist es mir bisher nicht gelungen, auch nur ein Wort aus dem Kerl herauszubringen. Er schweigt eisern.« 30
»Das dürfte sich bei Myladys Verhörmethoden grundlegend ändern, falls man sich diesen Hinweis erlauben darf«, vermutete Parker. »Das denke ich auch«, meinte der Anwalt. »Allerdings wird es schwerfallen, ihm ein strafbares Delikt nachzuweisen. Wenn man davon absieht, daß er unbefugt in eine fremde Wohnung eingedrungen ist.« »Darf man diese Äußerung dahingehend interpretieren, daß Ihnen erfreulicherweise nichts entwendet wurde, Sir?« wollte der Butler wissen. »Es fehlt absolut nichts«, versicherte Rander. »Soweit ich sehen konnte, hatte der Mann auch keine Vorbereitungen getroffen, um etwas abzutransportieren. Ich habe ihn natürlich durchsucht, aber ohne Erfolg.« »Demnach könnte es sich um eine Art Kundschafter gehandelt haben, Sir«, meinte Parker. »Daran habe ich auch gedacht«, gab der Anwalt zur Antwort. »Der Mann hat ja nicht mal Kathys goldene Halskette mitgenommen, die gut sichtbar am Spiegelschränkchen im Bad hing. Aber was sollte er denn für ein Interesse haben, in meiner Wohnung herumzuschnüffeln? Bei mir gibt es doch nichts auszukundschaften.« »Mylady wird das vermutlich ganz anders sehen«, entgegnete der Butler und machte Rander mit der
Spionage-Theorie bekannt, die die Detektivin sich in den Kopf gesetzt hatte. »Wenn man diese These wirklich ernstnimmt, würde sich der Besuch des Einbrechers hervorragend einfügen«, räumte der Anwalt ein. »Aber vielleicht findet sich eine näherliegende Erklärung, wenn der Mann erst mal gründlich in die Mangel genommen wird.« »Man wird Mylady unverzüglich wecken und von der Ergreifung des Einbrechers in Kenntnis setzen«, versprach Parker. »Dann wäre nur noch zu entscheiden, wo die, Vernehmung stattfinden soll.« »Am besten in Myladys Haus«, schlug Rander vor. »Meine Wohnung ist dazu nicht geeignet. Wahrscheinlich würden sich die Nachbarn beschweren, denn bei Myladys Vernehmungen geht es ja immer recht lebhaft zu.« »Das ist eine Feststellung, Sir, die meine bescheidene Wenigkeit mit allem Nachdruck unterstreichen möchte«, stimmte Parker ihm zu. »Wären Sie denn willens und in der Lage, Sir, den Einbrecher hierher zu befördern? Oder sollte man dabei lieber behilflich sein?« »Kein Problem, Parker«, meinte der Anwalt. »Ich werde mit dem Burschen allein fertig. Bis Sie Mylady geweckt haben, bin ich wahrscheinlich schon da.«
31
* Da Lady Agatha sich bei ihrer Meditation offenbar allzu intensiv in die Geheimnisse der Sherry-Karaffe versenkt hatte, mußte Parker einige Mühe anwenden, um seine Herrin nach Randers Anruf wachzukriegen. Die Nachricht von Schneiders Entführung und der Festnahme des Einbrechers brachte sie dann aber doch schnell auf die Beine. »Der Herr Einbrecher sieht der Begegnung mit Mylady offenbar in einem Gefühl der Vorfreude entgegen«, meldete Parker, als er zusammen mit Mike Rander aus dem Souterrain zurückkehrte. »Man war so frei, ihm eines der Gästezimmer zur Verfügung zu stellen.« Der Raum, in dem Myladys unfreiwilliger Besuch sein Verhör erwartete, lag unter den Wohngeschossen. Dort unten konnte man noch die wuchtigen Grundmauern einer mittelalterlichen Abtei bewundern, auf denen Mylady ihren repräsentativen Wohnsitz hatte errichten lassen. Die Gästezimmer waren mit allem erdenklichen Komfort ausgestattet, denn Myladys Besuchern sollte es natürlich während ihres Aufenthaltes an nichts fehlen. Gefüllte Kühlschränke gehörten ebenso zur Ausstattung der unterirdischen Räume wie Farbfernseher, bequeme Polstermöbel und luxuriöse Betten. Nur Fenster gab es nicht, natürlich
auch kein Telefon. Darüber hinaus hatte Parker komplizierte Sicherheitsschlösser in die schweren Stahltüren eingebaut. Schließlich legte Mylady größten Wert darauf, selbst zu bestimmen, wann ihre Gäste wieder abreisen durften. »Vorfreude?« fragte die Detektivin hintergründig. »Die wird ihm schon vergehen!« »Diese Äußerung, Mylady, kann meine Wenigkeit nicht deutlich genug unterstreichen, wenn man es mal so ausdrücken darf«, ließ der Butler sich vernehmen. »Der arme Kerl scheint keine Ahnung zu haben, was ihm bevorsteht«, meinte auch Mike Rander. »Er scheint Sie, Mylady, für eine mildtätige alte Dame zu halten, die ihn bestimmt freiläßt.« »Mildtätigkeit ist eine ausgesprochen edle Tugend, mein lieber Junge«, erklärte die Hausherrin. Daß sie diese Tugend aber ausschließlich an anderen Leuten schätzte, behielt sie für sich. Parker und Rander wußten es ohnehin. »Wenn dieser Mensch mich für mildtätig hält, so ist dagegen ja nichts einzuwenden«, fuhr sie fort und leerte das Kognakglas in einem Zug, um ihren Kreislauf in Schwung zu bringen. »Aber ›alte Dame‹ ist wirklich eine Beleidigung, und die wird er mir büßen.« Mit energischer Gebärde wickelte sie die ledernen Riemen des Pompa32
dours um das muskulöse Gelenk der rechten Hand. Ihre wilde Entschlossenheit in diesem Moment wirkte fast so eindrucksvoll wie die Vielzahl ihrer Pfunde, die schon mancher fabrikneuen Personenwaage den Garaus gemacht hatten. »Ich bin bereit zum Verhör«, verkündete die Detektivin mit Stentorstimme. »Schreiten Sie voran, Mister Parker, und öffnen Sie die Tür, damit ich dieses hochverdächtige Subjekt vernehmen und überführen kann.« »Ich hoffe, damit kommen Sie allein zurecht, Mylady«, sagte Mike Rander. »Ich habe morgen früh eine wichtige Verhandlung vor mir und muß noch ein paar Stunden schlafen.« »Junge Leute wie Sie sind eben nichts gewöhnt«, urteilte Lady Agatha. »Aber gehen Sie nur schlafen, wenn Sie den Schlaf brauchen. Natürlich komme ich allein zurecht. Oder haben Sie schon mal erlebt, daß ich hilflos gewesen wäre?« Mike Rander blieb die Antwort schuldig. Er wünschte Mylady eine erfolgreiche Vernehmung und verabschiedete sich. Parker spähte durch den Türspion, bevor er das Zimmer aufschloß, in dem er den ertappten Einbrecher untergebracht hatte. Der Mann hockte still in einem Sessel in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes.
Die Hände, die mit Parkers Handschellen aus speziell gehärtetem Stahl gefesselt waren, hatte er auf die Knie gelegt. Er hielt den Kopf gesenkt und starrte trübsinnig das Muster des ausgewählten afghanischen Teppichs an. Als der Butler die Tür öffnete und Mylady eintreten ließ, blickte der kleine Mann ihnen erwartungsvoll entgegen. Der Einbrecher, der Mike Randers Wohnung durchstöbert hatte, ohne etwas mitzunehmen, war offenbar nur wenig jünger als Lady Agatha. Parker schätzte ihn auf Ende Fünfzig. Er hatte ein faltenreiches Gesicht mit hellen, aufmerksamen Augen. Das graue Haar stand in wilden Büscheln nach allen Seiten von seinem Kopf ab. Der Mann besaß die Figur eines Jockeys: Zierlich gebaut und kaum größer als einsfünfzig. Die schlanken, gepflegt wirkenden Hände paßten zu einem intelligenten Gesicht. Agatha Simpson maß die schmächtige Gestalt mit mißbilligendem Blick. Dann ging sie energisch auf den Mann zu und baute sich in der Pose einer zürnenden Walküre vor ihm auf. »Eine Dame!« rief der verschüchtert wirkende Mann aus, ließ sich aus dem Sessel rutschen und fiel vor der Hausherrin auf die Knie. »Und eine bedeutende Detektivin dazu! Das kann nur meine Rettung sein… 33
Sie werden sofort feststellen, daß ich unschuldig bin.« »Unschuldig?« grollte die Detektivin und blickte spöttisch auf das Häufchen Elend zu ihren Füßen. »Ich bin gekommen, um Ihr Geständnis entgegenzunehmen!« »Geständnis?« fragte das Männchen ängstlich. »Was für ein Geständnis?« »Daß Sie im Auftrag einer feindseligen Macht das Privatleben ehrbarer Londoner Bürger ausspionieren«, schmetterte Mylady ihm entgegen. »Ich? Ein Spion einer feindseligen Macht?« »Alle Ausflüchte werden Ihnen nicht helfen. So wahr ich Agatha Simpson heiße: Ich werde diesen Raum nicht verlassen, ehe Sie ein umfassendes Geständnis abgelegt und alle Ihre Hintermänner und Auftraggeber genannt haben.« Vor lauter Verblüffung bekam der Mann den Mund nicht mehr zu. »Das muß ein Mißverständnis sein, Mylady«, beteuerte er. »Nie würde ich als Spion für eine ausländische Regierung arbeiten… Dazu bin ich ein viel zu glühender Verehrer unserer königlichen Majestät.« »Dann erwarte ich jetzt eine plausible Erklärung von Ihnen, was Sie in Mister Randers Wohnung zu suchen hatten«, forderte Agatha Simpson in strengem Ton. »Aber versuchen Sie nicht, mir Lügen aufzutischen. So etwas durchschaue ich
sofort.« Der Mann erhob sich vom Boden, so gut es mit den gefesselten Händen ging, und ließ sich wieder in den Sessel fallen. »Halt!« unterbrach Mylady ihn, ehe er überhaupt ein Wort sagen konnte. »Erst die Personalien!« »Was für Personalien?« »Ihre natürlich!« herrschte die Detektivin ihn an. »Ihren Namen will ich wissen! Einschließlich aller Deck- und Tarnnamen!« »Mein Name ist Jack Reeves«, behauptete ihr Gegenüber. »Dr. Jack Reeves, falls Sie es genau wissen wollen. Als Kind wurde ich oft Dotty -Pünktchen – genannt. Andere Deck- oder Tarnnamen habe ich nie gehabt.« »Wer nicht hören will, muß fühlen«, erklärte Mylady und holte blitzartig zu einer ihrer berüchtigten Ohrfeigen aus. »Ich habe Sie doch ausdrücklich davor gewarnt, mir Lügen aufzutischen.« Ehe Reeves sich ducken oder die gefesselten Hände zur Abwehr hochreißen konnte, legte sich Myladys muskulöse Linke auf seine Kinnlade. Während sein Kopf haltlos von einer Seite auf die andere pendelte, sackte der Mann im Sessel zusammen. Aus glasigen Augen sah er Mylady entsetzt an. Jammernd hielt er seine schmerzende Wange und betastete vorsichtig die roten Striemen, die 34
Lady Agathas Finger hinterlassen hatten. »Ich will jetzt endlich hören, wer Ihr Auftraggeber ist«, näherte sich die Detektivin dem Gipfelpunkt der Empörung. »Und kommen Sie mir nicht wieder mit Ausflüchten, sonst muß ich eine deutlichere Sprache sprechen!« »Der Himmel bewahre mich davor«, stammelte Reeves, der gerade sein Gebiß auf Vollzähligkeit überprüfte. »Ich erzähle Ihnen, was Sie wollen.« »Das hört sich schon besser an«, stellte Lady Agatha zufrieden fest. »Inzwischen scheint bei Ihnen die Einsicht gewachsen zu sein. Also noch mal: Wer sind Ihre Auftraggeber? Wer hat Sie nach Großbritannien eingeschleust?« »Eingeschleust?« gab Reeves zurück. »Ich bin in London geboren, Mylady!« »Das tut überhaupt nichts zur Sache«, überging Agatha Simpson seinen Einwand. »Aber Sie gestehen jedenfalls, daß Sie im Auftrag einer fremden Macht spioniert haben?« Reeves wußte nicht, was er antworten sollte. Widersprach er der resoluten Dame, war neues Unheil zu befürchten. Andererseits wollte er den Vorwurf der Spionage wirklich nicht auf sich sitzen lassen. »Ich warte«, drohte die Detektivin, und ihre Stimme klang wie das ferne Rollen eines Gewitters.
»Also – ich habe wirklich spioniert«, räumte Reeves ein. »Aber mir ging es weder um militärische noch um wirtschaftliche Geheimnisse.« »Sondern?« Lady Agatha wurde ungeduldig. Der Pompadour an ihrem rechten Handgelenk wippte nervös. »Um Briefmarken«, behauptete Reeves und blickte ängstlich zu Mylady auf. »Sie wollen doch nicht behaupten, daß Sie in Mister Randers Wohnung nach Briefmarken gesucht haben«, erklärte die ältere Dame. »Das ist doch einfach lächerlich! Briefmarken gibt es in jedem Postamt zu kaufen.« »Das weiß ich auch, Mylady«, entgegnete Reeves. »Aber ich wollte ja keine neuen Briefmarken. Ich bin in die Wohnung eingebrochen, weil ich hoffte, dort eine wertvolle Sammlung zu finden.« »Und was hätten Sie getan, wenn Mister Rander tatsächlich eine solche Sammlung besessen hätte?« Reeves setzte die Miene des reuigen Sünders auf. »Ich fürchte, ich hätte sie gestohlen«, bekannte er mit leiser Stimme. »Natürlich gehört sich das nicht. Ich weiß, Mylady. Aber leider bin ich kein reicher Mann, der sich einfach kaufen kann, was das Herz begehrt.« »Es ging Ihnen also nicht darum, Mister Randers Privatleben auszuspionieren, um ihn später erpressen zu können?« vergewisserte sich die 35
Detektivin. »Auf keinen Fall, Mylady«, versicherte Reeves. »Ich kenne den Mann ja nicht mal. Es war purer Zufall, daß ich in seine Wohnung geriet.« »Demnach war es auch ein Zufall, daß sich die Schlüssel zu Mister Randers Wohnung in Ihrem Besitz befanden, Mister Reeves?« schaltete Parker sich plötzlich ein. Jack Reeves, der den Butler bisher kaum wahrgenommen hatte, zuckte unter dieser Frage sichtbar zusammen. »Die – die Schlüssel?« stotterte er. »Die steckten im Schloß, als ich ins Haus kam. Vermutlich hat Mister Rander vergessen, sie abzuziehen, als er wegging.« »Dem dürfte schon die Tatsache widersprechen, daß Mister Rander seinen Schlüsselbund bei sich führte, falls man sich diesen Hinweis erlauben darf«, hielt Parker ihm vor. »Sind Sie da wirklich sicher?« versuchte Reeves auszuweichen. »Für meine Wenigkeit besteht nicht der geringste Anlaß, an Mister Randers Aussagen zu zweifeln«, stellte Parker klar. »Dagegen dürfte mit hinreichender Sicherheit feststehen, daß es sich bei den Schlüsseln, mit denen Sie in Mister Randers Wohnung eindrangen, um Imitationen handelte.« »Imitationen?« Reeves spielte den Ahnungslosen. »Um Imitationen, die in der Eisenwarenhandlung von Mister Henry
Craig angefertigt wurden, falls man sich nicht gründlich täuscht.« »Ich kenne keinen Henry Craig«, entgegnete Reeves. »Dann darf man vermutlich davon ausgehen, daß Sie Mister Hans Schneider genauso wenig kennen?« erkundigte sich der Butler. »Schneider?« fragte sein Gegenüber, und es klang wirklich ahnungslos. »Was für ein Schneider? Ich kenne keinen Mann, der so heißt. Dem Namen nach könnte es ein Deutscher sein, oder?« »Man sollte nicht ausschließen, daß Mister Schneider Ihnen unter einem anderen Namen bekannt ist«, meinte Parker. »Deshalb wird meine Wenigkeit sich erlauben, die Frage in abgewandelter Form zu stellen, Mister Reeves: Wer hat Ihnen die Schlüssel ausgehändigt und Ihnen den Auftrag erteilt, in Mister Randers Wohnung einzudringen?« Reeves zögerte einen Moment. »Mein Chef natürlich«, sagte er. »Ihr Chef, sagten Sie?« Mylady war plötzlich wieder ganz bei der Sache. Der Pompadour geriet in bedrohliche Schwingung. Reeves nickte. Mehr gelang ihm vorerst nicht. Leises Pfeifen dicht neben seinem linken Ohr war das letzte, was er wahrnahm. Das Geräusch wurde von den ledernen Riemen verursacht, die den ledernen Beutel mit der gußeisernen Verzierung auf sei36
nem Flug in der vorberechneten Bahn hielten. Das Geräusch, das der Beutel selbst bei seiner Landung auf Reeves Hinterkopf von sich gab, war wesentlich dumpfer und kaum zu hören. Dafür war die Wirkung um so nachhaltiger. Ungläubig blickte der kleine Mann in die Runde, als wäre ihm soeben ein Geist erschienen. Dann wackelte er einige Male mit dem Kopf und unternahm einen vergeblichen Versuch, sich aus dem Sessel zu erheben. Er verdrehte die Augen und schnappte nach Luft. Schließlich ließ er sich in die behaglichen Polster sinken. Sein Atem, der eben noch in hastigen Stößen gegangen war, wurde entspannt und ruhig. Sein schmerzverzerrtes Gesicht glättete sich. »Das war wohl das letzte Mal, daß der Kerl mich belogen hat«, empörte sich Agatha Simpson. »Erst erzählt er mir, er sei ein armer Mann, der eine Münzsammlung stehlen wollte…« »Eine Briefmarkensammlung, falls man sich den Hinweis erlauben darf«, korrigierte Parker in seiner höflichen Art, doch Mylady empfand auch das noch als unangebracht. »Sie sollten es sich endlich abgewöhnen, mich ständig zu verbessern, Mister Parker«, grollte sie. »Ich weiß genau, daß ich Briefmarkensammlung gesagt habe. Sie müssen
sich verhört haben!« »Nie würde meine Wenigkeit es wagen, Myladys Feststellungen zu widersprechen«, erklärte der Butler wahrheitsgemäß und verneigte sich tief. »Das würde Ihnen auch nicht bekommen, Mister Parker«, erwiderte die resolute Dame. »Immerhin wäre es noch verständlich gewesen, wenn Mister Steves hinter einer Münzsammlung hergewesen wäre. Geld gehört zu den ganz wenigen Dingen, die es wert sind, gesammelt zu werden. Aber alte Briefmarken? Benutzte womöglich? Pfui, so etwas Unhygienisches…« Sie ließ sich einen Kognak einschenken. Parker hatte vorsichtshalber die Flasche mitgenommen. »Wo war ich stehengeblieben, Mister Parker?« »Mylady geruhten festzustellen, daß Mister Reeves es wohl nicht mehr wagen werde, Mylady zu belügen«, gab Parker Auskunft. »Ich mußte ihn einfach in seine Schranken weisen«, erklärte die Detektivin. »Erst erzählt er mir, daß er eine Münzsammlung stehlen wollte, weil er sich angeblich keine leisten kann. Dann entlocke ich ihm mit ausgefeilter Vernehmungsmethode das Geständnis, daß er doch im Dienst eines geheimen Auftraggebers tätig ist. Der Mann ist ein Spion! Daran habe ich keinen Moment gezweifelt, Mister Parker.« 37
»Mister Reeves hatte bisher noch keine Gelegenheit, die Identität seines Auftraggebers preiszugeben, falls es erlaubt ist, Mylady auf diesen Umstand hinzuweisen«, ließ der Butler sich vernehmen. »Wenn Mister Reeves nicht so überaus sensibel auf Myladys Vorhaltungen reagiert hätte, könnte man ihm jetzt die entsprechenden Fragen stellen.« »Warum denn diese Eile, Mister Parker?« entgegnete Agatha Simpson. »Ich hatte ohnehin vor, eine kleine Pause einzulegen, bis der Beschuldigte wieder vernehmungsfähig ist.« »Ganz wie Mylady wünschen«, sagte der Butler. »Gedenken Mylady, die Pause hier unten in Mister Reeves Gegenwart zu verbringen?« »Ich werde in den Salon gehen und dort noch eine Kleinigkeit zu mir nehmen«, beschied seine Herrin ihn. »Nachtarbeit ist bekanntlich besonders kräftezehrend und muß daher durch erhöhte Kalorienzufuhr ausgeglichen werden.« »Man wird sich selbstverständlich bemühen, Mylady in kürzester Frist ein Nachtmahl zu servieren, das Genuß und Stärkung verbindet«, versprach der Butler. Dann geleitete er seine Herrin aus dem Zimmer und schloß sorgfältig ab. *
Als Agatha Simpson – ausgiebig gestärkt und in glänzender Laune – zur Fortsetzung des Verhörs das Gastzimmer betrat, war Jack Reeves gerade wieder in die Realität zurückgekehrt. »Mein Kopf«, jammerte er und rieb sich das mächtige Horn, das zwischen den Haarbüscheln am Hinterkopf herausragte. »O mein armer Kopf… Was ist denn nur mit meinem Kopf passiert?« »Nun hören Sie schon mit dem Jammern auf, junger Mann«, herrschte die Detektivin ihn an. »Was soll mit Ihrem Kopf passiert sein? Leider mußte ich Ihnen eine Lektion erteilen. Was Ihnen im Moment vielleicht noch gewisse Beschwerden verursacht, sind nur die Nachwirkungen dieser wohlmeinenden Belehrung.« »Eine wohlmeinende Belehrung soll das gewesen sein?« beklagte sich Reeves. »Für mich war das schon eher Mißhandlung wehrloser Gefangener, wenn nicht Mordversuch!« »Solange Sie Gast in meinem Hause sind, bestimme ich, was unter einer wohlmeinenden Belehrung zu verstehen ist«, stellte Mylady unmißverständlich klar. »Also kommen wir zur Sache, Mister Steves: Wer sind Ihre Auftraggeber?« »Sie werden doch nicht annehmen, daß ich meinen Chef verpfeife«, entgegnete das Männchen. »Da müßte ich ja lebensmüde sein, Mylady.« 38
»Falls Sie sich weiterhin derart widerspenstig aufführen, kann ich für Ihre Unversehrtheit nicht mehr garantieren«, prophezeite Mylady. »Wenn Sie vor Ihrem sogenannten Chef mehr Respekt haben als vor mir, war meine Sprache wohl immer noch nicht deutlich genug.« »Ich habe Ihre Sprache sehr gut verstanden, Mylady«, beteuerte Reeves und hob abwehrend die gefesselten Hände vors Gesicht. »Aber daß ich meinen Chef nicht verpfeifen kann, müssen Sie einfach verstehen. Ich kann nicht!« »Was heißt das: Ich kann nicht«, wiederholte Agatha Simpson spöttisch. »Sie haben wohl Angst?« »Ja«, flüsterte Reeves. »Panische Angst, Mylady! Wenn ich nur daran denke, schnürt es mir die Kehle zu.« »Pah!« entgegnete die Detektivin. »Angst! Wovor denn überhaupt? Sie vergessen, daß ich Ihren Auftraggeber längst hinter Schloß und Riegel gebracht habe, ehe er Ihnen etwas anhaben konnte.« »Eigentlich ist es weniger mein Chef selbst…«, begann Reeves. »… als seine blutrünstigen Rottweiler«, ergänzte Parker. Jack Reeves wurde leichenblaß. Seine Hände begannen zu zittern. Kalte Schweißperlen standen auf seiner Stirn. »Sie wissen also schon alles?« stammelte er fassungslos. »Dann war das ganze sogenannte Verhör
nichts als ein Katz- und Mausspiel?« »… in dem Ihnen, Mister Reeves, bedauerlicherweise die Rolle der Maus zufiel«, stellte der Butler fest. »Allerdings gibt es noch ein paar kleine Details, die Mylady und meine Wenigkeit gern von Ihnen erfahren würden.« Reeves signalisierte seine Zustimmung durch stummes Nicken. »Ist Ihnen möglicherweise bekannt, welcher Art von Geschäften Ihr Auftraggeber nachgeht?« wollte Parker wissen. »Abgesehen davon, daß er Sie mit kopierten Schlüsseln und den entsprechenden Anschriften ausstattet?« »Keith Atkins ist Inhaber einer großen Immobilienfirma«, gab Reeves bereitwillig Auskunft. »Ihm gehören viele Häuser in der Stadt. Den Handel mit Antiquitäten betreibt er nur nebenher.« »Darf man davon ausgehen, daß Mister Atkins sich die Antiquitäten, mit denen er handelt, auf illegalem Weg beschafft?« fragte der Butler weiter. »Deshalb hat er mich ja angeworben«, erklärte Reeves. »Geht man recht in der Annahme, daß der eigentliche Diebstahl der Antiquitäten nicht Ihre Aufgabe ist, Mister Reeves?« bohrte Parker tiefer. »Können Sie sich vorstellen, daß ich eine Barockvitrine drei Treppen runter ins Auto schleppe?« entgegnete der schmächtige Mann. »Nein, 39
Keith hat mich bei allen Einbrüchen, die er organisierte, immer nur als Kundschafter vorgeschickt. Ich mußte ihm sagen, ob es in der betreffenden Wohnung überhaupt Stücke gab, die das Abholen lohnten.« »Das klingt, als habe Mister Atkins seine Operationen überaus sorgfältig geplant«, kommentierte der Butler. »Das hat er allerdings«, bestätigte Reeves. »Deshalb ist es ja auch so lange gutgegangen. Keith erhielt von mir genaue Angaben und sorgte dann dafür, daß die Sachen in einer Blitzaktion abgeholt wurden. Einmal habe ich miterlebt, wie er zehn Leute mit zwei Lastwagen schickte, die eine mit kostbaren Antikmöbeln vollgestopfte Sechs-Zimmer-Wohnung innerhalb von fünf Minuten leerräumten.« »Und die Schlüssel, die ihnen den ungehinderten Zugang zu den betreffenden Wohnungen ermöglichten, wurden Ihnen im Einzelfall von Mister Atkins übergeben?« vergewisserte sich Parker. »Meistens holte ich die zugeklebten Päckchen mit den Schlüsseln bei seiner Sekretärin ab«, berichtete Reeves. »Woher er die Schlüssel bekam, hat er mir nie erzählt. Und ich habe auch nicht gefragt.« »Könnte es zutreffen, daß die Schlüssel von Mister Schneider stammen?« wollte der Butler wissen. Aber Reeves zuckte mit den Schul-
tern. »Von einem Mann namens Schneider haben Sie vorhin schon mal gesprochen«, erinnerte er sich. »Aber ich bin ziemlich sicher, daß ich niemand kenne, der so heißt.« »Möglicherweise ist Ihnen aber zu Ohren gekommen, daß Ihr Auftraggeber, Mister Atkins, neben Wohnund Geschäftshäusern auch ein ehemaliges Schloß sein eigen nennt. Das Gebäude ist als Saunaclub im türkischen Stil eingerichtet.« »Davon habe ich gehört«, räumte sein Gegenüber ein. »Aber dort gewesen bin ich noch nie. Moment mal… Jetzt wird mir klar, worauf Sie hinauswollen. Sie vermuten, daß Keith die Schlüssel aus der Sauna bezieht?« »Für diesen Verdacht gibt es in der Tat einige schwerwiegende Anhaltspunkte«, bestätigte Parker. »Gar nicht so dumm«, erklärte Reeves. »Die Leute geben ihre Kleider ab und merken gar nicht, daß in der Zwischenzeit ihre Schlüssel kopiert werden. Irgendwann wird dann bei ihnen eingebrochen, ohne daß sie das mit dem Saunabesuch in Zusammenhang bringen. So könnte es wirklich gewesen sein. Und was hat dieser Schneider damit zu tun?« »Mister Schneider, der bisweilen auch in türkischem Ornat auftritt und sich dann Yussuf nennt, ist der Pächter der Sauna«, erläuterte Parker. »Aber falls Sie es nicht als Indis40
kretion auslegen, möchte meine Wenigkeit doch noch eine weitere Frage stellen.« »Ich werde versuchen, sie Ihnen zu beantworten, Mister Parker«, versprach Reeves und warf einen Seitenblick auf schüchternen Mylady, die vor Minuten in einem Sessel Platz genommen hatte und sanft entschlummert war. »Was bewog Mister Atkins dazu, als Kundschafter zu Sie engagieren?« »Er suchte einen Fachmann, und ich lief ihm zur rechten Zeit über den Weg«, gab Reeves Auskunft. »Darf man aus dieser Äußerung schließen, daß Sie sich als Fachmann für Antiquitäten betrachten?« »Ich habe Kunstgeschichte und Architektur in Paris, Berlin und London studiert«, erzählte der Mann. »Später war ich dann als Kunsterzieher an einem renommierten College für höhere Töchter in Cambridge tätig.« »Nach den bescheidenen Informationen, die meiner Wenigkeit zu Gebote stehen, dürfte eine solche Position doch ausreichend dotiert sein«, wandte der Butler ein. »Ihren Lebensunterhalt hätten Sie vermutlich auch bestreiten können, ohne auf illegale Einkünfte zurückzugreifen.« »Natürlich«, bestätigte Reeves. »Ich hatte auch eine glänzende Karriere vor mir. Aber dann kam etwas
dazwischen: eins der Mädchen verdrehte mir den Kopf, ich verliebte mich bis über beide Ohren, und schon war der Skandal da.« »Vermutlich mußten Sie das College verlassen?« erkundigte sich Parker. »Ich wurde gefeuert und kehrte wieder nach London zurück«, erzählte der einstige Kunstpädagoge. »Auf der Suche nach einer Wohnung lernte ich Keith Atkins kennen. Er hatte damals gerade erst angefangen und empfing Wohnungssuchende noch persönlich in seinem kleinen Büro.« »Sie verfügen über eine hervorragende Ausbildung, falls man sich diesen Hinweis erlauben darf, Mister Reeves«, wandte der Butler ein. »Wäre es deshalb nicht möglich gewesen, eine andere Stellung zu finden?« »Vielleicht schon«, meinte sein Gesprächspartner. »Damals war ich aber viel zu durcheinander. Ich hätte überhaupt keine geregelte Arbeit aufnehmen können.« Er unterbrach sich und sah Parker mit einem Blick an, in dem sich Furcht und Hoffnung mischten. »Heute wäre das anders«, erklärte er. »Einmal habe ich auch versucht, wieder eine seriöse Tätigkeit zu finden, aber Keith setzte mich unter Druck. Er zwang mich zuzusehen, wie drei dieser Bestien über einen Mann herfielen«, berichtete Reeves 41
mit zitternder Stimme. »Der arme Kerl hatte versucht, einen barocken Goldbecher, der aus einem Einbruch stammte, auf eigene Rechnung zu versilbern.« »Man muß Ihre Äußerung so interpretieren, Mister Reeves, daß dieser Mann von den Hunden getötet wurde?« erkundigte sich Parker. »Nein, Keith rief die Tiere im letzten Moment zurück«, antwortete sein Gegenüber. »Aber es war so schon schrecklich genug. Wenn Sie die Bestien kennen, Mister Parker, werden Sie meine Angst verstehen.« »Um so mehr Grund hätten Sie, sich jetzt endlich von Ihrem Auftraggeber zu trennen«, meinte der Butler. »Falls meine Wenigkeit sich nicht gründlich täuscht, dürfte die Verhaftung von Mister Atkins nur noch eine Frage der Zeit sein.« »Das mag ja stimmen«, räumte Reeves ein. »Aber welcher seriöse Arbeitgeber würde mich denn einstellen? Abgesehen davon, daß jetzt einige Jahre Gefängnis auf mich warten.« »Jeder Richter müßte Ihnen mildernde Umstände zubilligen, falls Sie ein gewisses Entgegenkommen zeigen«, meinte der Butler. »Was für ein Entgegenkommen?« »Sie könnten einen Beitrag leisten, der die Verhaftung und Überführung Mister Atkins’ erleichtern würde«, antwortete Parker. Außerdem wäre es mit Ihrer Hilfe möglich,
auch»einen großen Teil seiner Helfershelfer hinter Schloß und Riegel zu bringen, falls man sich diesen Hinweis erlauben darf.« »Und was soll ich tun?« fragte Reeves ängstlich. »Verlangen Sie nur nicht, daß ich zu Keith gehe!« »Ein Telefongespräch würde schon ausreichen, falls meine Wenigkeit sich nicht täuscht«, sagte Parker. Er brauchte nur wenige Minuten, um Reeves seinen Plan auseinanderzusetzen. »Ich will es versuchen«, versprach der reuige Einbrecher. »Gleich morgen früh, Mister Parker?« »Morgen früh, Mister Reeves. Man wünscht noch eine angenehme Nachtruhe.« Vorsichtig versuchte der Butler, seine schlummernde Herrin zu wecken, was ihm auch nach einigen vergeblichen Versuchen gelang. »Hauptsache, er hat gestanden«, murmelte Lady Agatha schlaftrunken. Dann steuerte sie mit unsicheren Schritten ihre privaten Gemächer im Obergeschoß an. * »Der ehrenwerte Mister Pickett war so freundlich, einige Daten aus der Kartei der Straßenverkehrsbehörde zu übermitteln«, meldete Parker, als er vom Telefon aus der Diele zurückkehrte. »Richtig, darum hatte ich Mister 42
Pickett ja gebeten«, behauptete Agatha Simpson und löffelte die Kristallschale mit dem Hummercocktail leer. »Und was hat er herausgefunden?« »Der silbergraue Bentley gehört dem Inhaber der Firma Atkins Immobilien Ltd. Mister Keith Atkins, persönlich«, gab Parker Auskunft, und häufte seiner Herrin einige von den zarten Hasenfilets in knuspriger Blätterteighülle auf den Teller. »Bei dem dunkelgrünen Volvo, in dem Mister Schneider entführt wurde, handelt es sich ebenfalls um ein Fahrzeug der Atkins Ltd. das allerdings von verschiedenen Angestellten im Wechsel benutzt wird.« »Da hat der gute Mister Pickett ja wieder außerordentlich wertvolle Informationen beschafft«, lobte Lady Simpson aufs Geratewohl, obwohl sie mit Parkers Angaben nicht das geringste anzufangen wußte. Den Namen Schneider hatte sie schon mal irgendwo gehört. Da war sie ganz sicher. Aber wer war dieser Keith Atkins? »Mister Picketts Hilfsbereitschaft ist in der Tat vorbildlich, falls man sich diese Bemerkung erlauben darf«, erklärte Josuah Parker. »Im Grund hätten Mylady dieser Hilfe aber gar nicht bedurft.« »Natürlich nicht«, stimmte die ältere Dame spontan zu. Erst anschließend dachte sie nach.
»Warum nicht, Mister Parker?« »Nach den ausführlichen Einlassungen von Mister Reeves dürfte die Frage nach dem Eigentümer der beiden Fahrzeuge keine wesentliche Rolle mehr spielen«, antwortete der Butler und brachte seine Herrin damit in neue Verlegenheit. »Wer war denn nun dieser Leaves, oder wie der Kerl hieß?« »Mylady erinnern sich zweifellos an den Einbrecher aus Mister Randers Wohnung«, versuchte der Butler zu helfen, als er ihre Unsicherheit bemerkte. Und schon dämmerte ihr etwas. »Selbstverständlich erinnere ich mich, Mister Parker«, gab Agatha Simpson mit vollem Mund zurück. »Dieser Steves hat heute nacht ein Geständnis abgelegt. Ich sagte ja schon: Dem raffiniert geknüpften Netz meiner Vernehmungstaktik entgeht niemand.« »Falls Mylady gestatten, würde meine bescheidene Wenigkeit sich dieser Feststellung vollinhaltlich anschließen«, erklärte der Butler. »Ich erinnere mich zwar noch genau an jede Einzelheit«, fuhr die Detektivin fort und schob noch eine Portion getrüffelte Gänseleberpastete nach. »Ich möchte jedoch darum bitten, die wichtigsten Ergebnisse der Vernehmung noch mal knapp zusammenzufassen, Mister Parker. Ich möchte wissen, ob Sie auch alles verstanden haben.« 43
»Ganz wie Mylady wünschen«, versicherte der Butler mit höflicher Verbeugung. Dann gab er noch mal Reeves’ Aussagen wider und berichtete auch über den Teil der Vernehmung, den Agatha Simpson lediglich mit Schnarchtönen untermalt hatte. Zum Schluß erläuterte er die Vereinbarung, die er mit dem ertappten Einbrecher getroffen hatte. »Wenigstens haben Sie gut zugehört, Mister Parker«, lobte die Detektivin. »Auf diese Weise lernen Sie mit der Zeit doch noch etwas von mir.« Offenbar war sie der Überzeugung, alles selbst miterlebt zu haben, was der Butler ihr berichtete. »Meine Konzeption ist einfach genial«, stellte sie selbstzufrieden fest. »Diesen Leaves einsetzen, um seinen Auftraggeber in die Falle zu locken, darauf wäre McWarden nie im Leben gekommen! Voller Dankbarkeit wird er mir zu Füßen liegen, wenn ich ihm diesen ganzen Spionagering auf dem silbernen Tablett serviere.« Bescheidenheit und Erkenntnis in die eigenen Fähigkeiten waren nun mal nicht Myladys hervorstechendste Eigenschaften. »Hat er denn diesen Redskins schon angerufen?« wollte die Detektivin wissen. »Mylady meinen vermutlich Mister Atkins, den Inhaber der gleichnamigen Immobilienfirma«, korrigierte der Butler.
»Natürlich meine ich den, Mister Parker!« gab die ältere Dame unwirsch zurück. »Sie müssen besser zuhören, wenn ich mit Ihnen spreche. Vielleicht wären Sie dann endlich auch in der Lage, sich diesen Namen zu merken.« »Mister Reeves hält sich momentan noch im Gastzimmer auf«, ging der Butler weiteren Streitereien aus dem Weg. »Meine Wenigkeit wollte zunächst Myladys Erlaubnis zu dem Anruf einholen.« »Was heißt hier Erlaubnis einholen?« fragte Agatha Simpson mürrisch. »Sie müßten sich doch eigentlich erinnern, Mister Parker, daß ich diesen Anruf bereits heute nacht ausdrücklich angeordnet habe.« »Selbstverständlich wird meine Wenigkeit sich beeilen, Mister Reeves unverzüglich ans Telefon zu rufen«, versicherte Parker und begab sich ins Untergeschoß. Jack Reeves warf einen scheuen Seitenblick auf die frühstückende Dame, als der Butler ihn auf direktem Weg zum Telefon in der Diele führte. »Mister Reeves möge verzeihen«, sagte Parker. Er hielt ihm eine frische Zwiebelhälfte unter die Nase und preßte sie mit Daumen und Zeigefinger zusammen, daß der Saft spritzte. »Dieses völlig unschädliche Naturmittel wird Ihre Stimme so klingen lassen, als wären Sie von einem starken Schnupfen befallen. 44
Um so leichter werden Sie Mister Atkins davon überzeugen können, daß Sie wirklich mit einer schweren Erkältung das Bett hüten müssen.« Der beißende Zwiebelsaft wirkte rasch. Als Reeves wenig später zum Telefonhörer griff, tränken seine Augen. Die Lider waren geschwollen. Was seine unermüdlich triefende Nase von sich gab, fing er mit einem großen, karierten Taschentuch auf. »Hallo, Miß Mulligan! Hier ist Jack Reeves. Kann ich den Chef sprechen?« Seine Stimme klang wirklich erkältet, und offenbar fiel das Atkins Sekretärin auf. »Ja, verdammt! Ich habe mir die Grippe eingefangen«, antwortete er und schneuzte sich lautstark. »Hallo, Keith!« hörte Parker ihn Sekunden später sagen. »Wie geht’s?« Eine Pause trat ein. »Dann geht’s dir jedenfalls besser als mir«, erwiderte Reeves gleich darauf. »Mich hat eine schreckliche Grippe erwischt. Ich kann unmöglich heute abend mitkommen. Dabei wäre es doch so günstig gewesen, weil dieser Rander erst morgen aus Paris zurückkommt.« Reeves hörte zu, während Atkins sprach. »Am einfachsten wäre, du schickst deine Leute bei mir vorbei, ehe sie zu der Wohnung fahren«, sagte er nach einer Weile. »Sie sollen unten
nur dreimal klingeln, dann werfe ich das Päckchen mit den Schlüsseln aus dem Fenster.« Keith Atkins schien mit dieser Regelung einverstanden. Offenbar schöpfte er keinen Verdacht. »Aber du solltest mindestens sechs Leute schicken«, sagte Reeves kurz darauf. »Es lohnt sich! Die ganze Wohnung steht voll mit herrlichen französischen Rokokomöbeln. Sag deinen Leuten, sie sollen alles mitnehmen, was sie in den Möbelwagen reinkriegen.« Ein breites Grinsen lief über sein Gesicht, während Atkins wieder sprach. »Ja danke, Chef«, sagte er schließlich und hustete noch mal tüchtig. »Ich lege mich jetzt gleich wieder ins Bett.« Erwartungsvoll blickte er den Butler an, während der Hörer in die Gabel fiel. »Ich bin sicher, Keith hat nichts gemerkt«, meinte er erleichtert. »Meine Stimme klang ziemlich ruhig, glaube ich. Aber innen drin habe ich gebibbert wie Espenlaub.« »Man wird nicht umhin kommen, Ihnen ein gewisses schauspielerisches Talent zuzusprechen, Mister Reeves«, lobte der Butler. »Allerdings blieb meiner Wenigkeit auch nicht verborgen, daß Ihre Hände während des Telefonats mit Mister Atkins deutlich zitterten, falls man sich diesen etwas indiskreten Hinweis erlauben darf.« 45
Nur widerstrebend ließ sich der Kunsthistoriker Dr. Jack Reeves von Butler Parker zu Lady Simpson geleiten, die inzwischen ihr Frühstück beendet hatte. »Mister Parker, bitte bringen Sie meinen Gast wieder in sein Zimmer«, ordnete die Hausherrin mit eisiger Stimme an. »Ich muß Sie hoffentlich nicht darauf aufmerksam machen, daß nach wie vor Fluchtgefahr besteht?« »Meine bescheidene Wenigkeit neigt allerdings dazu, diese Gefahr geringer einzuschätzen«, gab Parker in höflichem Ton zurück. »Mylady gedachten ohnehin, Mister Reeves auf freien Fuß zu setzen, falls man sich nicht gründlich irrt.« »Wie bitte, Mister Parker?« empörte sich Lady Agatha. »Das soll ich angeordnet haben?« »Mister Reeves’ Freilassung dürfte sich als unumgänglich erweisen, da niemand sonst die Schlüssel an Mister Atkins’ Gehilfen übergeben kann«, erklärte Parker seelenruhig. »Nur wenn Mister Atkins und seine Bediensteten keinerlei Verdacht schöpfen, wird es möglich sein, Myladys genialen Plan zu vollenden.« »Da haben Sie ausnahmsweise mal recht, Mister Parker«, antwortete Agatha Simpson geschmeichelt. »Dennoch kann ich mich nicht erinnern, etwas derartiges angeordnet zu haben.«
»Wenn ich heute abend nicht zu Hause bin, werden Keiths Leute garantiert Verdacht schöpfen«, meinte auch Reeves. Doch er hätte sich besser nicht eingemischt. »Sie haben hier nur zu reden, wenn Sie gefragt sind, junger Mann«, sagte die Detektivin. »Andernfalls sähe ich mich gezwungen, Ihnen eine weitere Lektion in gutem Benehmen zu erteilen.« »Mein Bedarf an solchen Lektionen ist mehr als gedeckt, Mylady«, beteuerte Reeves und zog instinktiv den Kopf ein. »Leider läßt es sich wirklich nicht vermeiden, daß Sie mein gastliches Dach verlassen, um sich heute abend in Ihrer Wohnung aufzuhalten«, erklärte Lady Agatha. »Aber natürlich werde ich mitkommen, um etwaige Fluchtversuche im Keim zu ersticken.« »Verzeihung, Mylady«, ließ Parker sich da vernehmen. »Hatten Mylady nicht die Absicht, den Einsatz in Mister Randers Wohnung persönlich zu leiten?« »Manchmal stellen Sie wirklich ausgesprochen naive Fragen, Mister Parker«, tadelte die ältere Dame. »Wer sollte für die Einsatzleitung denn sonst in Frage kommen, wenn nicht ich? Diese Aufgabe erfordert ebensoviel Genialität wie Routine. Und beides ist bei mir besonders ausgeprägt, das wissen Sie ja!« »Dennoch dürfte es auch für 46
Mylady eine gewisse Schwierigkeit darstellen, an zwei Orten gleichzeitig zu sein«, gab Parker zu bedenken. »Wie meinen Sie das, Mister Parker?« wollte Agatha Simpson wissen. »Natürlich kann ich nicht an zwei Orten gleichzeitig sein. Das ist eine Fähigkeit, die nicht mal ich beherrsche.« »Meine Wenigkeit wollte lediglich darauf hinweisen, daß Mylady wohl kaum den Einsatz in und vor Mister Randers Wohnung leiten und zugleich Mister Reeves bewachen können«, erklärte der Butler geduldig. »Tatsache ist, daß ich den Einsatz leiten und alle Spione festnehmen werde«, stellte Lady Agatha fest. »Daß ich Mister Steves bewachen will, habe ich nie gesagt.« Jack Reeves wunderte sich, Josuah Parker längst nicht mehr. »Falls ich doch etwas sagen dürfte, ohne gefragt zu sein«, begann der zierliche Kunsthistoriker schüchtern und sah Lady Agatha ängstlich an, »müßte ich Sie darauf hinweisen, daß es immer noch ein schwieriges Problem zu lösen gibt.« »Mir scheint es zwar völlig ausgeschlossen, daß ich ein Problem übersehen habe, aber ich will Ihnen ausnahmsweise das Wort erteilen, junger Mann«, erklärte die Hausherrin huldvoll. »Wo glauben Sie, ein Problem zu sehen?«
»In Mister Randers Möbeln«, gab Reeves zur Antwort. »Mister Randers Wohnung ist zwar sehr geschmackvoll, aber betont modern eingerichtet. Das fällt Keiths Leuten natürlich sofort auf, wenn sie die Sachen raustragen wollen.« »Das soll ein Problem sein?« wischte Agatha Simpson den Einwand vom Tisch. »Ich werde die Burschen gleich auf der Straße festnehmen. Dann bekommen sie Randers Möbel gar nicht erst zu Gesicht.« »Mylady haben vermutlich bedacht, daß eine vorzeitige Festnahme der Herren ebenfalls Probleme aufwerfen könnte«, wandte der Butler ein. »Eine Diebstahlsabsicht dürfte in einem solchen Fall nur schwer nachzuweisen sein.« »Das weiß ich natürlich auch, Mister Parker«, grollte die ältere Dame. »Belehrungen habe ich nicht nötig.« »Und wie wollen Sie dann der Schwierigkeit mit den Möbeln aus dem Weg gehen?« fragte Reeves. »Eine Lady Simpson geht grundsätzlich keiner Schwierigkeit aus dem Weg, junger Mann«, belehrte sie ihn. »Abgesehen davon ist Ihr sogenanntes Problem eine Lappalie. Um solche Details kümmert sich Mister Parker. Ich’ kann mich damit nicht belasten.« Solcherart war für sie das Problem aus der Welt geschafft. Nicht dagegen für Josuah Parker. Sobald er 47
Reeves zum Grippe-Spiel entlassen hatte, rief er Mike Rander an. * »Halt, Mister Parker!« forderte Lady Agatha lautstark. »Halten Sie sofort!« Gehorsam trat der Butler auf die Bremse, zog sein hochbeiniges Monstrum nach links und brachte es am Straßenrand abrupt zum Stehen. »Sie müssen sofort umkehren«, verlangte die Detektivin. »Ich habe meinen Glücksbringer vergessen.« »Könnte möglicherweise die Vermutung zutreffen, daß der Glücksbringer sich an seinem gewohnten Platz in Myladys Pompadour befindet?« erkundigte sich Parker vorsichtshalber. Sie hatten nicht viel Zeit zu verlieren. Eben hatte Jack Reeves sich am Telefon gemeldet und mitgeteilt, Atkins’ Leute hätten die Schlüssel abgeholt. Die Strecke von Lady Agathas Wohnsitz zu Mike Randers Wohnung war zwar kürzer als der Weg von Reeves’ Stadtrand-Appartement aus, den die sechs Männer im Möbelwagen zurückzulegen hatten. Dennoch konnte es sehr knapp werden, wenn Mylady wirklich noch mal umkehren mußte. »Natürlich ist er in meinem Pompadour, falls ihn niemand herausgenommen hat«, grollte Parkers Herrin im Fond des Wagens. »Aber der
Pompadour muß noch zu Hause liegen.« »Darf man Mylady höflichst darauf aufmerksam machen, daß sich der genannte Pompadour an Myladys Handgelenk befindet«, meldete der Butler nach einem kurzen Blick in den Rückspiegel. Ungläubig blickte Agatha Simpson an sich herab. Tatsächlich, da hing der wohlgefüllte Lederbeutel und wippte in freudiger Erwartung. »Tatsächlich… da ist er!« rief sie aus und streichelte zärtlich die Stickerei aus gußeisernen Perlen. »Sonst trage ich ihn immer an der anderen Hand. Deshalb habe ich ihn nicht bemerkt.« Parker dachte scharf nach, aber er konnte sich nicht erinnern, den Pompadour jemals an Myladys anderem Handgelenk gesehen zu haben. Während er in mäßigem Tempo durch die nächtlichen Straßen fuhr, hielt der Butler nach Mike Rander Ausschau. Mit ihm hatte er einen Treffpunkt vereinbart, der es erlaubte, Randers Wohnungstür im Auge zu behalten, ohne selbst gesehen zu werden. Es hatte Parker einige Mühe gekostet, den Anwalt am Telefon von der Notwendigkeit zu überzeugen, im Eiltempo seine komplette Wohnungseinrichtung zu tauschen. Aber Rander hatte schließlich eingesehen, daß es nicht anders ging. Als er zwei Stunden später wieder 48
bei Mylady anrief, hatte er mit 13 Möbelhandlungen telefoniert. Aber schließlich hatte er doch ein Geschäft gefunden, das gegen entsprechende Bezahlung zu der ungewöhnlichen Aktion bereit war. Plötzlich blitzte in der Dunkelheit eine Taschenlampe auf. Das war das vereinbarte Zeichen. Parker nahm den Fuß vom Gas und ließ sein hochbeiniges Monstrum in die Einfahrt rollen, aus der das Lichtsignal gekommen war. »Hallo, Parker«, begrüßte ihn der Anwalt. »Ich liege schon eine Stunde hier auf der Lauer, aber bisher haben die Burschen sich noch nicht blicken lassen.« »Der Möbelwagen dürfte in sechs bis sieben Minuten hier eintreffen, falls man sich nicht gründlich irrt«, antwortete der Butler. »Darf man sich erkundigen, ob der Tausch des Mobiliars erfolgreich abgeschlossen werden konnte, Sir?« »Es sind zwar keine echten Stilmöbel, aber gute Nachbildungen«, gab Rander Auskunft. »Ich mußte einige Überredungskünste aufwenden, weil alle Möbelhändler irgendwie mißtrauisch reagierten und mit der Sache nichts zu tun haben wollten. Schließlich habe ich behauptet, ich wollte eine ungewöhnliche Party feiern… im altertümlichen Rahmen. Das half. Ich habe noch eine ausreichende Versicherung abgeschlossen, und innerhalb einer Stunde war
meine Wohnung nicht mehr wiederzuerkennen.« Josuah Parker hatte seinen Wagen verlassen, während Mylady es vorzog, in den behaglichen Polstern sitzenzubleiben. Sie verließ sich darauf, daß der Butler sie über alle wichtigen Begebenheiten informieren würde. Schweigend standen die beiden Männer im Schutz der Dunkelheit unter einem Torbogen und sahen auf die nächtlich leere Straße vor Randers Haus. »Da kommt ein Auto«, sagte der Anwalt plötzlich und deutete nach links. »Ob sie das sind?« »Nach den Begrenzungsleuchten zu urteilen, dürfte es sich ohne Zweifel um einen Möbelwagen oder einen ähnlich großen Lastkraftwagen handeln«, meldete Parker, dessen scharfe Nachtvogelaugen noch zuverlässiger waren als die des jüngeren Mike Rander. »Vermutlich muß man davon ausgehen, daß die Herren die höchstzulässige Geschwindigkeit in unverantwortlicher Weise überschritten haben. Andernfalls könnten sie noch nicht hier sein.« * Sie waren es wirklich. Und sie waren auch wirklich zu schnell gefahren. Deshalb hatten Atkins’ Männer auch keinen Grund, sich zu 49
beschweren, als ihr Fahrzeug kurz vor Randers Wohnung von einem Streifenwagen der Polizei gestoppt wurde. »Man kann nur hoffen, daß beide Seiten die Nerven behalten, falls man sich die Bemerkung erlauben darf«, flüsterte Parker. Mike Rander nickte wortlos. Ihm stockte der Atem. »Glauben Sie, daß das ein Zufall ist?« fragte er nach einer Weile. »Sofern es überhaupt Zufälle im Leben gibt, sollte man davon ausgehen, daß das Zusammentreffen von Atkins’ Leuten mit den Beamten der Verkehrspolizei rein zufällig ist«, meinte der Butler. »Allerdings muß man einschränkend feststellen, daß die Herren vermutlich durch ihre Fahrweise den Zufall heraufbeschworen haben.« Zum Glück behielt der Mann am Steuer wirklich die Nerven. Parker und Rander sahen, wie er sich aus dem Fenster lehnte und mit den Beamten sprach. Nach kurzer Diskussion, die aber wegen der Entfernung nicht zu verstehen war, griff der Mann hinter sich und reichte danach eine Banknote nach draußen. Ein Beamter füllte einen Zettel aus und gab ihn dem Fahrer. Mike Rander atmete erleichtert auf, als die Polizisten wieder in ihr Fahrzeug stiegen, wendeten und davonfuhren. »Wenn die Burschen jetzt auch noch die Nerven haben,
planmäßig meine Wohnung auszuräumen, müssen es wirklich hartgesottene Profis sein«, meinte er. »Bei der Sorgfalt, die Mister Atkins auf die Planung seiner Antiquitätendiebstähle verwendet, sollte man eigentlich annehmen, daß er bei der Auswahl seines Personals kritische Maßstäbe anlegt«, meinte der Butler. »Die Kerle haben tatsächlich Nerven wie Drahtseile«, staunte Mike Rander. Der Möbelwagen hatte sich ruckelnd wieder in Bewegung gesetzt und hielt direkt vor seiner Haustür. Dann ging alles unglaublich schnell. Fünf Männer in dunkelblauen Overalls tauchten im Hausflur unter, ein sechster machte sich an den großen Flügeltüren des Laderaumes zu schaffen. Der Einsatz, den Mylady später ganz anders schildern würde, begann mit einem Kopfnicken des Butlers. Auf dieses stumme Kommando hin schlichen die Männer lautlos über den Asphalt. Der Möbelpacker, der unter leisem Fluchen an einem rostigen und verbogenen Splint zerrte, merkte nichts. Erst als Butler Parker ihm mit der Spitze seines altväterlich gebundenen Regenschirmes ganz leicht auf die Schulter tippte, fuhr er erschreckt herum. »Darf man dem Herrn vielleicht behilflich sein?« erkundigte sich Parker in seiner stets höflichen Art. 50
Doch der Mann wußte das freundliche Angebot nicht im mindesten zu würdigen. »Verschwinden Sie!« knurrte er. »Ich komme schon allein klar.« »Der äußere Anschein spricht allerdings dagegen, falls man sich diese Bemerkung erlauben darf«, wandte der Butler ein. Doch sein ruhiges, höfliches Auftreten reizte den Mann nur noch mehr. »Verdammt nochmal! Abhauen!« fauchte er. »Und die da auch!« Er deutete mit dem ausgestreckten Arm zur anderen Straßenseite hinüber, wo mit energischem Schritt Lady Agatha nahte. Die martialischen Hutnadeln wippten bedrohlich. Der Pompadour war in gefährliche Schwingungen geraten. »Ist das eine Art, in der man eine Dame begrüßt?« tönte ihr sonorer Bariton schon von weitem. Unter drohendem Grunzen marschierte sie schnurstracks auf den Möbelpacker zu. Doch der Mann wartete nicht ab, bis das wogende Unheil ihn überrannte. Blitzschnell wich er einen Schritt zur Seite und hatte in der nächsten Sekunde eine zierliche, aber durchaus echt wirkende Pistole in der Hand. Um Butler Parker auszuschalten, hätte er allerdings noch etwas schneller sein müssen. Wie ein übermütiger Kobold hüpfte der Universal-Regenschirm schwarze
von seinem Platz, berührte kurz die Erde und beschrieb dann mit kaum hörbarem Pfeifen einen exakten Halbkreis. Als die bleigefüllte Spitze des Schirmes das Handgelenk des Möbelpackers berührte, hatte er die Waffe noch nicht mal entsichert. Mit mühsam unterdrücktem Jaulen riß der Mann das schmerzende Handgelenk in die Höhe und ließ dabei die Waffe los. In hohem Bogen flog die Pistole zur Seite und landete vor Mike Randers Füßen. Sofort bückte sich der Anwalt, um die Waffe aufzuheben. Doch der Möbelpacker hatte noch nicht aufgegeben. Obwohl das Ziehen und Pochen in seiner rasch schwellenden Hand ihm fast die Sinne raubte, stürzte er sich mit einem verzweifelten Hechtsprung in Randers Richtung. Aber auch diesmal war Parker schneller. Dicht über dem Asphalt glitt der bleigefütterte Bambusgriff des altväterlich gebundenen Regenschirmes durch die Nachtluft. Ehe der Mann sich vom Boden abstoßen konnte, fühlte er, wie sich etwas um seine Fußgelenke legte – wie eine würgende Schlange. Statt zu springen, kippte der Möbelpacker wie ein Brett nach vorn. Er war wenigstens geistesgegenwärtig genug, sich im Fallen auf die Seite zu werfen. Doch die Pistole befand sich schon in Mike Randers 51
Hand. »Verdammte Brut!« knurrte der Mann und versuchte, sich aufzurappeln. Über einen Versuch kam er dabei allerdings nicht hinaus. »Könnte es zutreffen, Mister Parker, daß dieser ungehobelte Mensch mich soeben beleidigt hat?« erkundigte sich die Detektivin. »Niemand vermag den Tatbestand präziser in Worte fassen, als Mylady es eben getan haben«, gab der Butler ihr recht. Agatha Simpson wartete diese Bestätigung jedoch nicht ab. In dem Moment, als der schon reichlich angeschlagen wirkende Möbelpacker sich aufrichtete und auf schwankenden Beinen zu stehen versuchte, schickte Mylady ihren Glücksbringer auf die Reise. Der Mann begriff erst gar nicht, wie ihm geschah, als sich das Perlenmuster unter unangenehmem Stechen in die Kopfhaut einprägte. Völlig entgeistert sah er die Detektivin aus blutunterlaufenen Augen an. Fassungslos griff er mit der noch intakten Hand nach der hufeisenförmigen Schwellung am Hinterkopf, die den Landepunkt des Glücksbringers markierte. Die instinktive Bewegung war für die Standfestigkeit des Mannes allerdings nicht gerade von Vorteil. Das Schwanken verstärkte sich. Er legte ein paar mißglückte Stepschritte und anschließend sich selbst auf den
Asphalt. Gelassen zog Parker ein Sprayfläschchen aus der Tasche und sorgte mit kurzem Knopfdruck dafür, daß der Atem des Mannes gleichmäßiger und seine Träume tiefer wurden. Mit Randers Hilfe rollte er den Bewußtlosen unter den Möbelwagen, wo er nicht ins Auge fiel. Dann entfernten die Männer gemeinsam den klemmenden Splint und öffneten die Tür des Laderaumes. Zum Glück gab es eine ausklappbare Leiter, die einen ungewöhnlich stabilen Eindruck machte. Sonst wäre es unmöglich gewesen, Lady Agathas beängstigende Fülle auf die Ladefläche hochzuhieven, die immerhin in Brusthöhe lag. Parker und Rander brächten den Kraftakt zustande und geleiteten Mylady zu einem Stapel Wolldecken, der im Innern des Laderaumes lag. »Nach dieser geradezu unmenschlichen körperlichen Anstrengung habe ich mir eine kleine Verschnaufpause verdient«, erklärte Agatha Simpson und ließ sich mit wohligem Seufzer nieder. Die Männer fragten sich, welche Anstrengung die Detektivin wohl gemeint haben könnte. Das Besteigen der Ladefläche konnte es eigentlich nicht sein. Da hatte sie sich von Parker und Rander förmlich tragen lassen. Freilich hatte sie dabei 52
geschnauft und gestöhnt, als hätte sie ein Klavier gestemmt. * Mehr als eine kleine Verschnaufpause war Mylady allerdings nicht vergönnt. Schon wurden Schritte und Ächzen auf dem Bürgersteig hörbar. Als der Butler vorsichtig um die Ecke spähte, sah er einen fünftürigen Eichenschrank unter leichtem Schwanken auf sich zuschweben. Die drei Männer, die das Ungetüm auf ihren breiten Schultern trugen, waren unter dem wuchtigen Möbelstück kaum zu erkennen. »Verdammter Klotz!« fluchte der vorderste Träger, als er seine Ecke des reich verzierten Monstrums vorsichtig auf der Kante der Ladefläche abstellte. »Auch unter extremen Bedingungen sollte man sich eines gepflegten befleißigen«, Umgangstones bemerkte Parker mißbilligend. Überrascht blickte der Mann hoch und sah nur noch die bleigefüllte Spitze des Universal-Regenschirmes, die auf ihn zuglitt und ihm an die Stirn tippte. Dann sah er nichts mehr. Hilflos ruderte er mit den Armen und wirkte dabei wie jemand, der sich im dichten Londoner Nebel verirrt hatte und nach irgendeinem Anhaltspunkt tastete.
Sein Mund formte Worte, die nicht mal er selbst zu verstehen schien, während die Füße artige Tanzschritte ausführten. Völlig überraschend entschloß sich der Mann jedoch, seine nächtliche Freiluftvorstellung abzubrechen. Mit beiden Händen fuhr er sich an die Gurgel, japste nach Luft und knickte in den Knien ein. Einen Moment schwankte er noch hin und her und griff nach einem Halt, den es nicht gab, er bettete sich dann endgültig auf den kühlen Asphalt. Seinen Kollegen, die noch immer den wuchtigen Schrank auf den Schultern hatten, war die kurze Darbietung offenbar entgangen. »Warum hilfst du denn nicht?« brummte der zweite Mann unwillig. »Wenn du nicht schiebst, kriegen wir das Monstrum nie rein…« Als niemand antwortete, legte er sich noch mal mächtig ins Zeug und schaffte es tatsächlich, den Schrank bis zur Hälfte auf die Ladefläche zu schieben. Er trat einen Schritt zur Seite und erhob sich stöhnend aus seiner gebeugten Haltung. Gerade wollte er dem dritten Träger zu Hilfe eilen, der nun allein das zentnerschwere Ungetüm stützen und vor dem Zurückkippen bewahren mußte. Doch dazu kam er nicht mehr. »Man bittet höflich um Verzeihung«, sagte der Butler. »Aber der kleine Schmerz ist leider unvermeid53
lich.« Verdutzt drehte der Mann sich um und blickte zu Parker auf. Er wollte sich noch ducken, als die Schirmspitze auf ihn zuschwebte. Doch seine Reflexe waren nicht schnell genug. Zwei Schritte taumelte er rückwärts, als das Blei gegen seine Stirn klopfte. Anschließend stolperte er wieder vorwärts und krallte sich mit beiden Händen an der Kante der Ladefläche fest. Schaum stand vor seinem Mund, doch die Flüche, die er dem Butler entgegenschleudern wollte, gingen in einer unverständlichen Folge von gurgelnden Lauten unter. Haltlos begannen seine Augen hin- und herzurollen. Sekunden später versagten seine Hände den Dienst. Der Mann ging zuerst in die Knie und streckte sich dann bäuchlings unter dem Möbelwagen. »Ich übernehme den dritten«, kündigte Rander an und sprang von der Ladefläche. Es war ein Glück, daß Parkers Wachsamkeit auch in diesem Moment nicht nachließ. Anscheinend hatte der dritte Mann trotz seiner unbequemen Haltung unter dem Schrank doch mitbekommen, daß seinen Kollegen etwas Schlimmes passiert war. Josuah Parker registrierte sofort, wie der Möbelpacker das Gewicht des
Schrankes auf seinen Schultern verlagerte, um mit der rechten Hand in die Hosentasche greifen zu können. Ehe der Mann jedoch seinen Revolver gezogen hatte, traf der Butler Anstalten, möglicherweise gefährliche Absichten nachhaltig zu durchkreuzen. Ohne die gewohnt würdevolle Haltung aufzugeben, zog Parker mit raschem Griff den schwarzen Bowler vom Kopf und ließ ihn wie eine Frisbyscheibe davongleiten. Ein Aufschrei ertönte unter dem Schrank, als die stählerne Krempe der vielseitig bewährten Kopfbedeckung die rechte Hand des Mannes streifte. Im selben Moment verlor der Möbelpacker das Gleichgewicht, ließ den Schrank fahren und rettete sich mit einem Sprung zur Seite. Mike Rander konnte nicht mehr verhindern, daß das eichene Ungetüm zurückkippte und unter Splittern und Bersten auf die Fahrbahn polterte. Dafür schnappte er sich Möbelpacker Nummer 3 und beförderte ihn mit einem präzisen linken Haken ins Reich der Träume. Durch den Absturz des Schrankes war auch Lady Agatha auf die Ereignisse aufmerksam geworden, die sich am Heck des Möbelwagens abspielten. Auch Möbelpacker Nummer 5 und 6, die sich noch im Haus befanden, mußten etwas gehört haben. Parker und Rander hatten sich 54
kaum rechts und links der Haustür aufgestellt, als sie im Treppenhaus eilige Schritte vernahmen. »Man bittet höflich um Verzeihung«, sagte der Butler und stellte sein Bein in den Weg, als der erste Mann ins Freie stürmte, um nach der Ursache des Gepolters zu sehen. Die Bauchlandung, die der eilige Möbelpacker absolvierte, war formvollendet. Mit gestreckten Armen und Beinen rutschte er über die Betonplatten des Gehweges. Seinem Kollegen, der ihm auf dem Fuß folgte, erging es nicht besser. Er stolperte über seinen Vordermann, prallte mit dem Kopf gegen eine Ecke des Eichenschrankes und war zunächst benommen. Deshalb entging es ihm, daß Mylady ihn schon erwartete. Sie stand am Rand der Ladefläche und sah schadenfroh zu, wie der Möbelpacker zu ihren Füßen hin- und hertaumelte. Er griff mit der Hand an die Stirn und betastete die schmerzhafte Schwellung, die von der unsanften Begegnung mit dem soliden Eichenschrank herrührte. Doch schon wurde seine Aufmerksamkeit durch einen anderen, viel heftigeren Schmerz gefangengenommen, der von seinem Hinterkopf ausging. Agatha Simpsons Glücksbringer brachte ihm zwar kein Glück, dafür aber die vorläufige Entlastung von allen Pflichten. Wortlos sackte der
Mann in sich zusammen. Die Unruhe und hektische Betriebsamkeit, die er noch eben gezeigt hatte, waren wie weggeblasen. Bäuchlings streckte er sich unter Myladys mißbilligenden Blicken auf dem Asphalt. Dennoch hielt die Detektivin es für angebracht, den Mann gründlicher zu behandeln. Wohlgemut zog sie einen der stählernen Spieße aus ihrem sogenannten Hut und trat vorsichtig einen Schritt näher an den Rand der Ladefläche. Zwischen Daumen und Zeigefinger faßte sie das Ende des blanken Stahls und ließ die Spitze pendeln, bis sie genau auf den verlängerten Rücken des Mannes zeigte. Selig lächelnd wie ein satter Säugling ließ Sie die überdimensionale Nadel fallen. Der Möbelpacker zuckte nur leicht zusammen, als die Spitze das Tuch seines Hosenbodens durchdrang und in seinem Sitzfleisch steckenblieb. Dann streckte er sich noch etwas bequemer aus. Sein Atem wurde ruhig und gleichmäßig. Das Betäubungsmittel, mit dem Parker die nadelscharfe Spitze präpariert hatte, wirkte sekundenschnell. Dafür war die Dosis so knapp bemessen, daß die Wirkung schon nach einer Stunde verflog, ohne unangenehme Nachwirkungen zu hinterlassen. Als Agatha Simpson angestrengt 55
in die Tiefe spähte, um den Erfolg ihrer Aktion zu kontrollieren, entdeckte sie unverhofft auch noch den mittleren Schrankträger. Zwar ragten nur seine Beine und sein Gesäß unter dem Möbelwagen hervor, aber das war ja für Myladys Zweck völlig ausreichend. Der Mann gab schon wieder schwache Lebenszeichen von sich. Deshalb ließ die Detektivin ihre zweite sogenannte Hutnadel nicht einfach fallen, sondern setzte sie – wie einen Jagdspeer – als Wurfgeschoß ein. Da die Distanz kaum zwei Meter betrug, war ihre Zielsicherheit auch bei dieser Technik noch durchaus hinreichend. Ihr Opfer fuhr reflexartig hoch, als es den stechenden Schmerz im Gesäß verspürte. Dabei schlug der Mann unsanft mit dem Kopf unter das Fahrgestell des Lastwagens und streckte sich prompt wieder auf den Boden. Eine Weile noch wippte der Pfeil in seinem Hosenboden, dann regte sich nichts mehr. Jedenfalls nicht in Lady Agathas Reichweite. Dafür bekamen Parker und Rander noch mal Arbeit. Möbelpacker Nummer 5 hatte sich inzwischen von seiner schmerzhaften Rutschpartie über den Gehweg erholt. Einige Sekunden war er wie bewußtlos liegengeblieben. Dann aber sprang er unvermutet auf. In seiner Hand blitzte ein Wurfmesser.
Und schon wirbelte die todbringende Stahlklinge durch die Luft. Reaktionsschnell wichen Butler Parker und Anwalt Mike Rander zur Seite. Zitternd blieb das Messer im hölzernen Türrahmen stecken. Aber da hatte der Mann bereits ein weiteres Wurfmesser in der Hand. Wieder durchschnitt der Stahl mit flirrendem Geräusch die Luft. Diesmal hielt der Butler seinen bewährten Universal-Regenschirm in die Flugbahn des Geschosses. Klirrend prallte die Klinge gegen den bleigefütterten Bambusgriff und entpuppte sich als gefährlicher Querschläger. Zwei Handbreit neben dem Werfer blieb das Messer in der Rückwand des Schrankes stecken. Einen Moment schien der Mann zu überlegen, ob er die Waffe herausziehen und noch mal einsetzen sollte. Doch dann nahm er Fahrt auf und raste die Straße hinab, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Gelassen faßte der Butler seinen Universal-Regenschirm wieder am Griff, entriegelte einen winzigen Sicherungsknopf und klappte die Spitze des Schirmes nach unten. Rander wunderte sich nicht über diese Handgriffe. Ihm war längst bekannt, daß der Schaft des Schirmes hohl war wie ein Gewehrlauf. In dieser metallenen Hülse lag ein kleiner, gefiederter Pfeil, wie ihn die Indianer des Amazonas-Gebietes 56
aus ihren Blasrohren abschießen. Ein wesentlicher Unterschied bestand jedoch darin, daß Parker seinen Pfeil nicht durch plötzlich ausgestoßene Atemluft, sondern mit Hilfe straff gespannter Gummistränge auf die Reise schickte. Überdies hatte er die Pfeilspitze nicht mit dem tödlichen Curare behandelt, sondern mit dem verhältnismäßig harmlosen Betäubungsmittel, das auch Lady Agathas Hutnadeln zu überraschender Wirkung verhalf. Parker zielte nur kurz auf den davonlaufenden Mann. Dann ließ er seinen Pfeil schwirren. Der Flüchtende sprang mit beiden Füßen gleichzeitig in die Luft, als die Spitze sich durch seinen Hosenboden bohrte. Doch das war die letzte energische Bewegung, die er an diesem Abend vollbrachte. Wie eine Primaballerina, die für den »Sterbenden Schwan« übt, drehte er eine Pirouette, knickte dabei in den Knien ein und näherte sich in spiralenförmigen Bewegungen langsam dem Boden. Kniend verbeugte er sich in Parkers Richtung, bevor er sich behaglich ausstreckte und jedes Interesse an seiner Umwelt verlor.
verstreut liegenden Möbelpacker einzusammeln und auf die Ladefläche zu befördern. Schließlich wuchteten sie auch noch den ramponierten Eichenschrank in den Möbelwagen und wollten schon die Türen schließen. Doch als der Butler noch mal durchzählte, waren es nur fünf Männer, die sich in unruhigen Träumen auf den Wolldecken wälzten. »Verdammt! Wo steckt der sechste?« fragte Mike Rander, nachdem auch er die wie Kraut und Rüben durcheinanderliegenden Möbelpacker gezählt hatte. Mit einer Taschenlampe leuchtete der Anwalt in alle Ecken und sah auch unter dem Lastwagen nach. Schließlich öffnete er noch die Türen des Schrankes, aber der Mann blieb verschwunden. »Man wollte davon ausgehen, daß es dem Herrn gelungen ist, unbemerkt das Weite zu suchen«, meinte der Butler. »In diesem Fall wäre damit zu rechnen, daß Mister Atkins kurzfristig eine neue Mannschaft schickt.« »Das fehlt uns gerade noch«, meinte Rander. »Dann aber nichts wie weg hier, ehe die Verstärkung eintrifft.« »Exakt diesen Vorschlag wollte meine Wenigkeit soeben auch unterbreiten«, pflichtete Parker ihm bei. * »Wahrscheinlich wäre es sinnvoll, Josuah Parker und Mike Rander
vor möglichen Auseinandersetzunbrauchten einige Minuten, um die
gen die Gefangenen in sicheren 57
Gewahrsam zu bringen.« Mylady wäre zwar lieber am Ort des Geschehens geblieben, um Atkins im offenen Kampf zu stellen, doch Parker konnte sie schließlich mit dem Hinweis zur Mitfahrt bewegen, daß der »Chef« wohl kaum persönlich auftauchen werde, um seine Männer zu befreien. Rander nahm am Steuer des Möbelwagens Platz. Kurz darauf setzte sich das schwere Gefährt in Bewegung. Parkers hochbeiniges Monstrum folgte in geringem Abstand. »Eigentlich entspricht es ja nicht meiner Art, Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen«, erklärte Lady Agatha im Fond und schien ungehalten. »Sie gönnen mir aber auch nicht die kleinste Freude, Mister Parker. Nachdem ich schon sechs Männer überwältigt habe, werde ich mit dem Rest auch noch fertig…« »Nichts liegt meiner Wenigkeit ferner, als Myladys Feststellungen anzuzweifeln«, versicherte der Butler. »Um einer Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen, dürfte es auch bereits zu spät sein, falls man sich diesen Hinweis erlauben darf.« »Was wollen Sie damit sagen, Mister Parker?« erkundigte sich die ältere Dame. »Soll das heißen, daß ich verfolgt werde.« »Mylady haben bereits ausgesprochen, was meine Wenigkeit mitzuteilen gedachte«, bestätigte Parker.
»Also doch!« stellte Agatha Simpson befriedigt fest und wickelte die ledernen Riemen ihres Pompadour straffer ums Handgelenk. »Das habe ich sofort geahnt. Wo werde ich die Burschen stellen, Mister Parker? Ich hoffe, Sie haben sich über die Details bereits Gedanken gemacht.« »Man wird bemüht sein, Myladys Wünschen in vollem Umfang gerecht zu werden«, versicherte Parker und sah wieder in den Rückspiegel. Inzwischen waren die Lichter der schweren Limousine rasch nähergekommen. Parker mußte die Augen bis auf einen kleinen Spalt schließen, denn der Verfolger fuhr mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Im nächsten Moment hatte der schwarze Mercedes Parkers hochbeiniges Gefährt überholt und zog an dem vorausfahrenden Möbelwagen vorbei. »So eine Unverschämtheit!« kommentierte Lady Agatha wütend. »Der Kerl fährt ja einfach an mir vorbei! Mister Parker, nehmen Sie die Verfolgung auf!« »Das Interesse der Herren dürfte in erster Linie dem Möbelwagen gelten, falls meine bescheidene Wenigkeit sich nicht gründlich täuscht«, meinte der Butler und gab seinem hochbeinigen Monstrum die Sporen. Die bullige Rennmaschine röhrte auf, als der Butler ausscherte und nun ebenfalls den Möbelwagen überholte. 58
Mittlerweile war der mit fünf Männern besetzte Mercedes wieder eingeschert und hatte sich dicht vor den Möbelwagen gesetzt. Die Bremslichter leuchteten auf. Mike Rander hatte keine andere Wahl, als den Fuß vom Gas zu nehmen. Doch ehe der Möbelwagen stand, hatte sich Parkers hochbeiniges Monstrum schon vor den Mercedes gesetzt. Scharf ging der Butler auf die Bremse. Ein wenig zu scharf für den Mercedesfahrer… Vermutlich war der Mann abgelenkt, weil er über den Rückspiegel den Möbelwagen im Blick behalten mußte. Jedenfalls krachte es heftig, als der Mercedes gegen Parkers stahlgepanzertes Monstrum prallte. Sekundenbruchteile später erfolgte ein zweiter Knall. Und schon wieder war der Mercedes ein paar Zentimeter kürzer. Diesmal hatte Mike Rander dafür gesorgt, indem er bei Tempo 20 den Fuß von der Bremse nahm und den Möbelwagen einfach ausrollen ließ. »Das ist es also, was man unter Knautschzone versteht«, stellte Lady Agatha fest. Schadenfroh grinsend blickte sie durch das Rückfenster auf die demolierte Nobelkarosse. Alle vier Kotflügel einschließlich Kühlerhaube und Kofferraumdeckel waren von Wellenmustern überzogen, die an Waschbretter erinnerten. Den Insassen hatten die zur Sicher-
heit eingeplanten Knautschzonen aber auch nicht helfen können. Der doppelte Anprall hatte die Limousine so mitgenommen, daß alle Türen klemmten. Während Parker rasch sein Fahrzeug verließ, sah er die fünf Männer mit verzweifelter Kraftanstrengung an den Türgriffen rütteln. Ehe die Mercedes-Insassen auf die Idee kamen, ihre Fenster herunterzukurbeln, war der Butler schon an der Kühlerhaube. Das kugelschreiberähnliche Plastikröhrchen, das er in der schwarz behandschuhten Hand hielt, knackte leise, als er die beiden Hälften gegeneinander verdrehte. Dann ließ er seinen Gruß an Atkins Leute durch die Lüftungsschlitze vor der Windschutzscheibe rutschen. Ein Frischluftgebläse gehört normalerweise zu den Dingen, die eine Autofahrt angenehmer machen. In diesem Fall traf es sich jedoch ausgesprochen unglücklich für die Mercedes-Insassen, daß sie das Gebläse eingeschaltet hatten, um in dem vollbesetzten Wagen für bessere Luft zu sorgen. In Sekunden verteilte der Ventilator das beizende Gas, das aus dem Plastikröhrchen strömte, im ganzen Innenraum. Augenblicklich hörten die Männer auf, an den Türen zu rütteln und hielten sich Mund und Nase zu. Diese Schutzmaßnahme war jedoch vergeblich, wie das 59
fürchterliche Husten zeigte, das jetzt begann. »Einer ungehinderten Weiterfahrt zu Myladys Wohnsitz dürfte nichts mehr im Weg stehen, wenn man sich diesen Hinweis erlauben darf, Sir«, meldete Parker, der zu Mike Rander ans Fahrerfenster des Möbelwagens getreten war. »Vor Tagesanbruch werden die Herren wohl kaum aus ihren Träumen erwachen.« * Agatha Simpson hatte darauf bestanden, alle fünf Festgenommenen in einem Simultan-Verhör in die Mangel zu nehmen. Deshalb hatten Parker und Rander die bewußtlosen Möbelpacker gleich nach der Ankunft in Shepherd’s Market nacheinander ins Gästezimmer getragen, das auch Jack Reeves als Unterkunft gedient hatte. Inzwischen war das Quintett wieder einigermaßen zu sich gekommen. Allerdings machten die Männer einen etwas verkaterten Eindruck, als sie in Reih und Glied an der Zimmerwand standen und Mylady aus leicht verschleierten Augen ansahen. Josuah Parker hatte alle fünf mit Handschellen aneinander gefesselt, um etwaige Widerstandsversuche zu erschweren. Deshalb sahen sie aus wie Kinder, die sich zu einem Reigenspiel an den Händen gefaßt
haben. Die Detektivin stand da wie ein Feldwebel vor seiner Kompanie und musterte ihre Gefangenen mit strengen Blicken. »Ich beginne jetzt mit dem Verhör«, verkündete sie. »Und ich will nichts als die reine Wahrheit hören… Lügen lasse ich nicht durchgehen. So etwas merke ich sofort, und dann kann ich ausgesprochen unangenehm werden.« »Was denn für ein Verhör? Was soll der Unsinn? Aufhören mit dem Quatsch«, riefen die Männer durcheinander. Doch als Agatha Simpson mit Stentorstimme »Ruhe!« brüllte, kehrte augenblicklich Stille ein. »Mister Parker, tragen Sie den Herren jetzt bitte meine erste Frage vor«, wünschte die Detektivin. »Ich habe Ihnen ja detaillierte Anweisung erteilt.« Der Butler konnte sich nicht erinnern, daß Mylady ihn angewiesen hätte, den Männern eine konkrete Frage zu stellen. Wahrscheinlich war ihr nur gerade wieder eingefallen, worum es in diesem Gruppenverhör eigentlich ging. Aber das war Parker nur recht. »Mylady wünscht von den Herren nähere Einzelheiten über den derzeitigen Aufenthaltsort eines gewissen Mister Hans Schneider zu erfahren«, teilte der Butler mit. »Schneider?« fragte einer der Män60
ner. »Kennen wir nicht. Oder hat einer von euch schon mal den Namen Schneider gehört?« »Nein, nie gehört«, antworteten die anderen im Chor. »Bei Mister Schneider handelt es sich um den Pächter eines renommierten Saunaclubs, dessen Besitzer Mister Keith Atkins ist«, wurde Parker deutlicher. »Mylady liegen zuverlässige Informationen darüber vor, daß der genannte Mister Schneider von Mister Atkins’ Leuten entführt wurde und an einem unbekannten Ort gefangengehalten wird.« »Wir kennen keinen Schneider, und wir lassen uns auch nichts anhängen, was mit diesem Kerl zu tun hat«, tönte es ihm entgegen. »Sagen Sie den Leuten, Mister Parker, daß ich dieses Verhör erst beenden werde, wenn meine Frage umfassend beantwortet ist«, wies die Hausherrn ihren Butler an. Doch Parker kam nicht dazu, die Drohung zu übermitteln. Das war auch gar nicht nötig, denn Mylady hatte wahrlich laut genug geredet. »Und die alte Spinatwachtel soll sich wegscheren!« schimpfte einer der Männer. »Die sieht ja aus…« Hier brach er seinen Satz unvermittelt ab, denn in diesem Augenblick hatte Myladys Linke seine Wange erreicht. Die Kinnlade verschob sich, so daß der Mann ohnehin zu einer deutlichen Aussprache
nicht mehr fähig war. Es fiel ihm aber auch gar nichts mehr ein, was er sagen wollte. Seine Augen füllten sich mit Tränen, während seine Wange in Sekunden rot anlief und schwoll. Haltlos pendelte sein Kopf hin und her. Wären seine Kollegen nicht gewesen, die rechts und links an ihn gekettet waren, wäre er mit einer Pirouette zu Boden gegangen. So konnte er sich, schwankend und nach Luft japsend, gerade noch auf den Beinen halten. »Ich hoffe, das hat auch Ihren Kollegen ausreichend deutlich gemacht, daß eine Lady Simpson sich nicht beleidigen läßt«, verkündete die ältere Dame. »Sollten mir weitere Ungehörigkeiten zu Ohren kommen, kann ich auch eine deutlichere Sprache sprechen.« »Das ist eine Feststellung, die meine bescheidene Wenigkeit nur mit allem Nachdruck unterstreichen kann«, pflichtete der Butler ihr bei. »Vielleicht wäre es nach dieser praktischen Demonstration angebracht, die vorhin gestellte Frage zu wiederholen.« Schweigend starrten die fünf Männer auf ihre Schuhspitzen, als gäbe es dort etwas ungeheuer Interessantes zu entdecken. »Meine Zeit ist knapp bemessen«, drängte Lady Agatha. »Wenn ich nicht sofort eine Antwort erhalte, werde ich meine Verhörmethoden 61
verschärfen.« Immer noch standen die Männer mit gesenkten Köpfen und sagten kein Wort. »Ich zähle jetzt bis drei«, drohte die Detektivin. »Eins… zwei…« »Halt!« rief der Mann, der mit Myladys verschärften Verhörmethoden erste Bekanntschaft gemacht hatte. »Schneider ist…« Auch diesmal brachte er seinen Satz nicht zu Ende. Allerdings war es nicht Lady Agathas muskulöse Linke, die ihn unterbrach. Wie eine Horde prügelnder Schuljungen fielen seine Kollegen über ihn her. Offenbar hielten sie den Zeitpunkt für eine Aussage noch nicht für gekommen. Bei dem Versuch, ihren gesprächsbereiten Kumpan zu disziplinieren, wurden die Möbelpacker jedoch von den Handschellen erheblich behindert. Obwohl alle sich redlich Mühe gaben, gelang es keinem, auch nur einen einzigen gezielten Hieb zu plazieren. Dazu hätte es einer Abstimmung mit dem angeketteten Nachbarn bedurft. Doch auf solche Feinheiten achtete niemand im allgemeinen Gewühl. Parker und Rander genossen das Schauspiel. Sie hätten dem Knäuel aus menschlichen Leibern, das unter Stöhnen und Fluchen über den Boden rollte, noch eine Weile zusehen können. Mylady sorgte jedoch mit der ihr eigenen Gründlichkeit
für Ruhe und Ordnung. Unablässig kreiste ihr Pompadour. Jeder Kopf, der aus dem Gewühl zu ihren Füßen auftauchte, machte prompt mit dem Glücksbringer im ledernen Beutel Bekanntschaft. Eine Minute später lagen die Männer in friedlichem Schlummer. Nur der Unglücksrabe, der ganz unten gelegen hatte und deshalb von Myladys Glücksbringer verschont worden war, japste jämmerlich nach Luft. Ehe Parker eingreifen konnte, schickte Agatha Simpson auch ihn ins Reich der Träume. »Und von wem können wir jetzt erfahren, wo Schneider versteckt gehalten wird?« fragte Mike Rander in die plötzliche Stille. »Diese Kerle hier hätten mir doch nur Lügen aufgetischt«, versuchte Lady Agatha ihren unbedachten Einsatz herunterzuspielen. »Da gibt es mit Sicherheit andere Möglichkeiten. Ich gehe davon aus, daß Mister Parker sich über diese Details Gedanken gemacht hat.« »Halt!« rief Rander. »Jack Reeves! Wir könnten ihn doch anrufen… Vielleicht hat er wenigstens eine Vermutung, wo Schneider stecken könnte.« »Ihr Vorschlag, Sir, verdient es, unverzüglich in die Tat umgesetzt, zu werden, falls man sich diese Anmerkung erlauben darf«, stimmte Parker zu. Doch als er nach fünf Minuten 62
vom Telefon zurückkehrte, gab es betretene Gesichter. »Mister Reeves meldet sich nicht«, berichtete der Butler. »Das dürfte dafür sprechen, daß er sich nicht in seiner Wohnung aufhält.« »Reeves wird doch nicht etwa ausgegangen sein?« meinte der Anwalt. »Das wäre ziemlich leichtsinnig von ihm, wenn er Atkins erzählt hat, er liege mit einer Grippe im Bett.« »Inzwischen dürfte Mister Atkins über Informationen verfügen, die ihn ohnehin an Mister Reeves Erkrankung zweifeln lassen müssen«, wandte Parker ein. »Sie meinen, daß Reeves möglicherweise auch…« »… in Mister Atkins Auftrag entführt wurde, Sir. Das war es, was meine Wenigkeit anzudeuten versuchte.« »Wenn er überhaupt noch am Leben ist«, entgegnete Rander. »Diese Frage dürfte auch im Hinblick auf Mister Schneider im Moment nicht zu beantworten sein«, stimmte der Butler ihm zu. Mylady schien die Lust an weiteren Ermittlungen erst mal verloren zu haben. Ihr wurde die Sache zu kompliziert. »Ich werde mich jetzt eine Stunde zur Meditation zurückziehen und anschließend noch mal mein taktisches Konzept überdenken«, erklärte sie und ließ die Männer stehen. Minuten später drang ihr herzhaftes
Schnarchen bis in die Kellerräume. Wortlos machten Parker und Rander sich an die Arbeit. Mit vereinten Kräften zerrten sie den Möbelpacker mit der geschwollenen Backe unter dem Haufen von Leibern hervor. Der Butler holte einen Eisbeutel und Riechsalz, der Anwalt traktierte den Mann mit wohldosierten Ohrfeigen, bis er verwirrt die Augen aufschlug. »Ist sie weg?« flüsterte er ängstlich. »Ja«, beruhigte Rander ihn. »Sie brauchen jetzt keine Angst zu haben. Aber Sie müssen uns unbedingt verraten, wo Atkins Mister Schneider und Mister Reeves versteckt hält.« »Reeves auch?« fragte der Mann mit schwacher Stimme. »Die Anzeichen sprechen in der Tat dafür, daß Mister Reeves das Schicksal von Mister Schneider teilt, falls man sich diesen Hinweis erlauben darf«, gab Parker Auskunft. »O, mein Kopf«, stöhnte der Mann. »Ich weiß es zwar nicht genau, aber eigentlich kommt nur Atkins’ Landhaus bei Whitchurch in Frage. Da hat er auch seine Rottweiler.« »Man dankt in aller Form für diese außerordentlich hilfreiche Auskunft«, sagte Parker, bevor er mit dem Anwalt das Zimmer verließ und die stählerne Tür sorgfältig verschloß.
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* In Basingstoke verließ Parker die Autobahn, durchfuhr die schlafende Stadt und nahm die Landstraße in Richtung Whitchurch. Noch lag tiefe Nacht über dem Land. Aber die Morgendämmerung würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Meile um Meile fraßen sich die grellen Lichtbündel der Scheinwerfer durch die Dunkelheit. Nur einmal mußte der Butler abblenden, weil ihnen ein Fahrzeug entgegenkam. »Jetzt müßte gleich die Abzweigung kommen«, kündigte Rander an, der auf dem Beifahrersitz saß. Im selben Moment bremste Josuah Parker sein Monstrum so sanft wie möglich. Das mußte der Feldweg sein, den der von Agatha Simpson geohrfeigte Möbelpacker beschrieben hatte. Gleich hinter dem Wäldchen, das im ersten Morgengrauen nur schwach zu erkennen war, mußte das Haus liegen. »Mister Atkins dürfte seinen Landsitz soeben verlassen haben und sich auf der Rückfahrt nach London befinden«, meinte der Butler und deutete auf die Reifenspuren, die sich deutlich in dem schlammigen Weg abzeichneten. Auf dem Asphalt setzten sich die Spuren als lehmige Streifen fort, die sich aber schon nach ein paar
Metern wieder verloren. Offenbar war das Fahrzeug aus dem Feldweg herausgekommen und in die Richtung weitergefahren, aus der Parker und Rander gerade kamen. »Ob das der Wagen war, der uns unterwegs begegnet ist?« mutmaßte der Anwalt. »Davon dürfte mit einiger Wahrscheinlichkeit auszugehen sein, Sir«, pflichtete der Butler ihm bei. »Dennoch sollte man auf jeden Fall das Haus einer näheren Überprüfung unterziehen, um festzustellen, ob Mister Schneider und Mister Reeves dort festgehalten werden. Die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Mister Atkins dürfte sich auch später noch ergeben.« Am Beginn des kleinen Waldstücks stellte Parker sein hochbeiniges Monstrum so zwischen dichten Holunderbüschen ab, daß es vom Weg aus nicht zu entdecken war. Dann legten die Männer das letzte Stück zu Fuß zurück. Schon nach hundert Schritten öffnete sich der Wald wieder, und vor ihnen lag das Landhaus des Mister Keith Atkins. In der Morgendämmerung waren die Umrisse des Gebäudes nur als düstere Schatten zu erkennen. Ein hoher Maschendrahtzaun, der zusätzlich mit Stacheldraht bewehrt war, umschloß das Anwesen. Offenbar handelte es sich um ein ehemaliges Farmhaus mit entsprechenden 64
Nebengebäuden, das Atkins für seine Zwecke hatte umbauen lassen. Unter den letzten Bäumen blieben die Männer stehen und spähten hinüber. Falls sich irgendwelche Bewohner – freiwillig oder unfreiwillig – im Haus aufhielten, schienen sie zu schlafen. Doch plötzlich zerriß wütendes Gebell die morgendliche Stille. Ein Rottweiler schlug an, dann ein zweiter und gleich darauf ein dritter. Drohend hallte ihr böses Gekläffe durch das im Morgennebel liegende Tal. Gleich darauf erschien ein Mann in der Haustür. Er hielt eine doppelläufige Flinte in der Hand und blickte nach allen Seiten, ohne jedoch Parker und Rander zu bemerken. Dann ging er unschlüssig zum Hundezwinger, der an die linke Ecke des Wohnhauses angebaut war. »Ruhe, verdammte Mistviecher!« brüllte er. Doch die Hunde taten ihm den Gefallen nicht, kläfften nur noch wütender und sprangen gegen das Gittereisen ihres Käfigs. Unwillig schüttelte der Mann den Kopf und wollte wieder ins Haus zurückkehren, doch es gelang ihm nicht mehr, den Vorsatz auszuführen. Inzwischen hatte Parker seine Gabelschleuder aus der Tasche gezogen und eine hartgebrannte Tonmurmel in die Lederschlaufe gelegt.
Ruhig und konzentriert spannte er die starken Gummistränge. Lautlos flog die Kugel durch die Nebelschwaden, glitt knapp über die Stacheldrahtkrone des Zauns und beendete ihre Reise genau am Kopf des Mannes, der eben die Türklinke in die Hand genommen hatte. Mitten in der Bewegung blieb er wie angewurzelt stehen, als wäre ihm etwas Wichtiges eingefallen. Er ließ sein Gewehr fallen, schwankte nach links, dann nach rechts und plumpste schließlich im Rückwärtstaumel auf die Ruhebank, die neben der Haustür aufgestellt war. Dort blieb er sitzen, als genieße er die Morgenstimmung in Feld und Wald. Josuah Parker und Mike Rander warteten noch eine Weile, ehe sie ihr Versteck am Waldrand verließen. Als sie sicher sein konnten, daß kein zweiter Wächter im Haus war, gingen sie rasch hinüber und begaben sich zum Hundezwinger. Die wütenden Vierbeiner geiferten noch immer wie rasend. Seelenruhig trat der Butler an das Eisengitter und zog eine Sprayflasche aus der Tasche seines schwarzen Covercoats. Gelassen drückte er auf den Knopf, während die Tiere von innen gegen das Gitter sprangen und nach Parkers Hand zu schnappen versuchten. Die Wirkung trat augenblicklich ein. Als wären sie die bravsten Schoßhündchen der Welt, legten 65
sich die schwarzgelben Bestien dem Butler zu Füßen. Genüßlich leckten sich die Tiere das Maul, bevor sie unter sanftem Knurren entschlummerten. Erst jetzt entdeckten Parker und Rander die hölzerne Kiste in der Mitte des Zwingers. Sie war aus Latten genagelt und wirkte wie eine zu groß geratene Kartoffelkiste. In diesem hölzernen Käfig hockten zwei verängstigte Männer, die den Moment ihrer Rettung noch weit entfernt glaubten. In Sekunden hatte Parker mit seinem Universalbesteck die Zwingertür geöffnet. Gemeinsam mit dem Anwalt brach er den Lattenverschlag auf, in dem Atkins Gefangene wohl Todesängste ausgestanden hatten. Die Arbeit war schnell getan, denn die Hunde hatten ein Teil der Latten schon fast durchnagt. »Das war Rettung in letzter Minute«, atmete Jack Reeves auf, als er aus der Kiste kletterte. »Bis zum Frühstück hätte unser Käfig den Biestern nicht mehr standgehalten.« Schneider wurde rot bis über die Ohren, als er Parker und Rander die Hand hinstreckte und sich für seine Befreiung bedankte. »Wie kann ich das nur wieder gutmachen?« fragte er. »Fürs erste wäre meine Wenigkeit dankbar, wenn Sie sich bereitfänden, einen Beitrag zur Ergreifung von Mister Keith Atkins zu leisten, Mis-
ter Schneider«, sagte Parker. »Man kann wohl davon ausgehen, daß Sie nähere Informationen darüber besitzen, wo Ihr Chef sich gewöhnlich zu bestimmten Tageszeiten aufzuhalten pflegt.« »Atkins ist nicht mehr mein Chef«, entgegnete Schneider. »Gemocht habe ich ihn nie. Aber seit ich diese Höllenqualen hier ausgestanden habe, weiß ich erst, was für ein Schwein dieser Kerl ist. Ich hasse ihn! Vor einer halben Stunde war er noch hier und erkundigte sich ironisch nach unserem Befinden, bevor er wieder abfuhr.« »Dann dürfte die Hoffnung berechtigt sein, daß Sie Ihr Wissen über Mister Atkins preisgeben«, meinte Parker, und Schneider nickte. »Atkins ist ein Mann mit festen Gewohnheiten«, begann er, während sie zu Parkers Fahrzeug zurückgingen. »Er will alles planen und läßt sich nur ungern davon abbringen.« »Diese Eigenschaft des genannten Herrn ist meiner Wenigkeit durchaus geläufig, falls man sich diesen Hinweis erlauben darf«, warf der Butler ein. »Jeden Tag beginnt er morgens um sechs mit einem Fitneßtraining«, fuhr Schneider fort. »Das besteht hauptsächlich darin, daß er in den Saunaclub kommt und einige Runden im großen Schwimmbecken dreht. Um diese Zeit sind ja noch 66
keine Gäste da.« »Moment mal«, unterbrach Rander ihn. »Sagten Sie sechs Uhr? Jetzt ist es ja gleich halb fünf. Meinen Sie wirklich, daß er auch heute zum Schwimmen in die Sauna geht? Nach allem, was sich in den letzten Tagen ereignet hat?« »Auf sein morgendliches Bad hat Atkins noch nie verzichtet«, behauptete Schneider. »Und er war immer in turbulente Geschichten verwickelt, solange ich ihn kenne. Sie können mir schon glauben: Er ist ein Mann, dem feste Gewohnheiten über alles gehen.« »Die Fahrt nach London dürfte in der zur Verfügung stehenden Zeit durchaus zu schaffen sein«, schätzte Parker. »Der Gedanke, Mister Atkins’ Schwimmkünste kennenzulernen, hat etwas durchaus Reizvolles, falls man sich diese Anmerkung erlauben darf.« * Schneider kannte ein kleines Tor im rückwärtigen Teil der Mauer, so daß die vier Männer den Park nicht durch die Haupteinfahrt betreten mußten. Es war genau zwei Minuten nach sechs Uhr, als Parker mit seinem Universalbesteck den Weg zum Heizungskeller öffnete. Im selben Moment hörten sie oben Atkins’ Bentley vorfahren. Schneider zog es vor, die Nachhut
zu bilden, obwohl er sich am besten im Haus auskannte. Aber Parker fand den Weg auch ohne seine Hilfe. Schon hatten sie die Treppe erreicht, die zum Foyer führte. Auf den ersten Stufen blieben die Männer stehen und lauschten angestrengt. Von der Eingangstür hörte man Stimmen. »Atkins spricht mit Ali«, kommentierte Schneider flüsternd. »Wahrscheinlich hat er den Jungen inzwischen zu meinem Nachfolger gemacht.« Kurz darauf wurde es wieder still. »Anscheinend sind sie jetzt ins Bad gegangen«, meinte Schneider. »Dann sollte man nicht länger hier unten verweilen«, erklärte Parker und stieg die Treppe hinauf. Die anderen drei folgten ihm auf Zehenspitzen. Im Foyer brannte nur die Notbeleuchtung. Von Atkins und Ali war keine Spur zu entdecken. Dennoch registrierte der Butler ein ungewisses Gefühl in der Magengrube, das auf eine drohende Gefahr hinzudeuten schien. »Hände hoch!« sagte eine eisige Stimme hinter ihnen. »Und keine falsche Bewegung, wenn ich bitten darf!« Langsam hoben die vier Männer die Hände über den Kopf und drehten sich in die Richtung, aus der der Befehl gekommen war. 67
»O, Mister Parker!« sagte Atkins, ohne seinen großkalibrigen Trommelrevolver sinken zu lassen. »Zu dieser frühen Morgenstunde habe ich zwar noch nicht mit Ihnen gerechnet, aber seien Sie mir willkommen! Der brave Ali, mein neuer Pächter, sah zufällig aus dem Fenster, als Sie über den Rasen schlichen. So konnte er mir Ihren Besuch wenigstens ankündigen, als Sie schon im Haus waren. Daß Sie irgendwann kommen würden, war mir ohnehin klar.« Mit spöttischen Blicken musterte er das Quartett, das mit erhobenen Händen vor ihm stand. Ali, ebenfalls mit einer Waffe im Anschlag, sah seinen Chef bewundernd von der Seite an. »Darf man fragen, woraus Sie geschlossen haben, daß meine Wenigkeit Ihnen einen Besuch abstatten würde, Mister Atkins?« erkundigte sich der Butler höflich. »Der brave Jack wurde plötzlich sehr gesprächig, als ich ihm meine sanftmütigen Hunde zeigte«, erklärte Atkins. Er musterte Reeves mit abschätzendem Blick und spuckte in seine Richtung. »Feiglinge, die sich mal auf die eine, mal auf die andere Seite schlagen, kann ich nicht leiden…« »Aussagen, die ein Mensch unter Folterbedingungen machte, sollte man ihm nicht vorwerfen, falls meine Wenigkeit sich diese Bemer-
kung erlauben darf«, wandte der Butler ein. Jack Reeves schwieg. »Übrigens muß ich Ihnen ein Kompliment machen, Mister Parker«, wechselte Atkins das Thema. »Daß Sie Schneider und Reeves so schnell gefunden und aus dem Zwinger geholt haben, spricht für Ihre Intelligenz. Wenn ich Sie nicht für absolut gesetzestreu halten würde, würde ich Ihnen ein lukratives Angebot machen.« »Meine Wenigkeit sähe keinen Grund, den Dienst im Haus Lady Simpsons zu quittieren«, entgegnete Parker kühl und distanziert. »Das habe ich mir gedacht«, erklärte Keith Atkins. »Sie werden es mir aber nicht abschlagen können, wenn ich Sie jetzt statt dessen zu einem kleinen Schwitzbad in meine Sauna einlade. Die anderen Herren dürfen Sie natürlich begleiten.« Was sich wie ein Scherz anhörte, entpuppte sich als tödlicher Ernst. Mit entsicherten Waffen trieben Ali und Atkins die vier Männer vor sich her und zwangen sie, in die Schwitzkabine einzutreten. Ein Schwall stechend heißer Luft drang ihnen entgegen, als sie den dämmrigen, holzverkleideten Raum betraten. Dann fiel die Tür ins Schloß, und sie hörten, wie Ali den Riegel mit einem schweren Vorhängeschloß sicherte. »Wenn die uns hier eine Stunde braten, ist alles vorbei«, meinte 68
Schneider und warf einen schnellen Blick auf das Thermometer. Es zeigte knapp 90 Grad. »Verdammte Hitze!« stöhnte Rander und begann sich auszuziehen. »Neulich habe ich das angenehmer empfunden… Wenn man nur den verdammten Ofen abstellen könnte, aber der Schalter scheint draußen zu sein.« »Der Schalter muß aus Sicherheitsgründen immer draußen sein«, erklärte Schneider. »Die einzige Möglichkeit wäre, den Ofen abzuklemmen. Aber das ist eine Arbeit für Lebensmüde, solange die Kabel unter Starkstrom stehen.« Ratlos lagerten sich Mike Rander, Jack Reeves und Hans Schneider auf dem Boden der Kabine, um wenigstens dem Hitzestau unter der Decke zu entgehen. Nur Butler Parker behielt seine aufrechte Haltung. Er setzte nicht mal seinen Bowler ab, obwohl erste Schweißperlen über seine glatte Stirn rannen. Ruhig zog er sein Universalbesteck aus der Tasche und hantierte an der Rückseite des elektrischen Saunaofens. »Vorsicht!« warnte Schneider, aber Parker ließ sich in seiner konzentrierten Arbeit nicht stören. Gespannt sahen die Männer zu, bis er sein Werkzeug wieder in die Innentasche seines schwarzen Covercoats gleiten ließ. »In Kürze dürften die Temperatu-
ren in diesem Raum wieder erträglicher werden«, bemerkte er lakonisch. »Und wie kommen wir hier heraus?« wollte Reeves wissen. »Selbst wenn es Atkins nicht gelingt, uns zu braten, dürfte irgendwann der Sauerstoff knapp werden.« Vorsichtig sah Parker durch das kleine, eckige Glasfenster in der Tür nach draußen. Atkins und sein neuer Pächter waren verschwunden. »Falls Mister Atkins’ Gewohnheiten wirklich so unumstößlich sind, wie Mister Schneider sie geschildert hat, dürfte er sich jetzt im Bad befinden«, meinte Parker. »Darauf können Sie sich verlassen«, behauptete Schneider und sah auf seine Uhr. »In fünf Minuten zieht er sich an und fährt in sein Büro.« »Muß man davon ausgehen, daß sich das Schwimmbecken in unmittelbarer Nähe befindet?« wollte der Butler wissen. »Nein, es liegt im anderen Flügel des Gebäudes«, gab Schneider Auskunft. »Und wenn wir hier noch so laut schreien – es hört uns keiner.« »Dann dürfte auch ein leises Sägegeräusch Mister Atkins bei seinem morgendlichen Bad nicht stören«, meinte Parker und hatte schon wieder sein Universalbesteck in der Hand. Minuten später hatte er ein Loch in die Tür gesägt, das als Ausstieg genügte. 69
Als Parker sich lautlos von den Umkleidekabinen her dem Schwimmbecken näherte, hatte Keith Atkins sein morgendliches Bad beendet und war bereits angezogen. Er stand mit seinem neuen Pächter, der nun Schneiders Sultangewänder samt Fez trug, am Beckenrand. »Du kannst sie ruhig zwei Stunden schmoren lassen, damit wir sicher sind«, sagte er zu Ali. »Die ersten Gäste kommen ja nicht vor zehn Uhr. Ich werde dir rechtzeitig Leute schicken, die die Mumien aus dem Haus schaffen.« »Das dürfte sich erübrigen, falls meine bescheidene Wenigkeit die Situation richtig einschätzt«, sagte Parker und trat aus seinem Versteck. Fassungslos starrten Ali und Atkins ihn an. Der Chef reagierte zwar schneller als sein Befehlsempfänger, doch nicht schnell genug für Butler Parker. Ehe Atkins mit der Hand in die Jacke fassen konnte, senkte sich die bleigefüllte Spitze des UniversalRegenschirmes gegen seine Brust und klopfte nachdrücklich an die Rippen. Mit einem gequälten Aufschrei verlor Atkins das Gleichgewicht, ruderte verzweifelt mit den Armen in der Luft and landete unter beträchtlichem Platschen und Spritzen im Wasser. Empört über das Mißgeschick, das
seinen Herrn ereilt hatte, griff auch Ali zur Waffe. Doch im selben Moment rutschte ein gewaltiger Palmentopf auf ihn zu, den Parker mit kräftigem Fußtritt in Bewegung gesetzt hatte. Instinktiv suchte Ali unter den Blättern des Tropenbaumes Halt. Doch der schwere Topf, mit beträchtlichem Tempo über den Marmorboden schliddernd, war nicht mehr aufzuhalten. Mit gellendem Schrei stürzte Ali samt Palme und Blumentopf ins Wasser. In ihren nassen Kleidern waren weder Ali noch Atkins besonders gute Schwimmer. Sie schienen fast erleichtert, als Rander und Schneider ihnen aus dem Wasser halfen. Bevor sie den Beckenrand erklimmen konnten, legte der Butler ihnen jedoch vorsichtshalber Handschellen an. »Außerordentlich bedauerlich, daß die Herren keine Kleider zum Wechseln haben«, stellte Josuah Parker in gespieltem Mitleid fest. »Man zieht sich allzu leicht eine Erkältung zu, wenn man in nassen Kleidern stundenlang beim Verhör in den schlecht geheizten Büros von Scotland Yard sitzt.« * »Die Leistungen wahrhaft genialer Menschen werden immer erst von der Nachwelt gebührend gewürdigt, 70
Mister Parker«, erklärte Lady Agatha, als sie zwei Tage später beim Frühstück im Salon saß. »Das ist die Tragik, unter der auch mein Wirken als Detektivin steht.« Eben hatte der Butler ihr vorgelesen, was die Morgenzeitungen in großer Aufmachung über die Festnahme des Immobilienmaklers Keith Atlcins berichteten. Der Polizei wäre ein sensationeller Fang gelungen, hieß es dort. In den weiteren Vernehmungen habe sich nämlich herausgestellt, daß Atkins nicht nur Einbrüche organisiert habe, sondern darüber hinaus auch in betrügerische Grundstücksgeschäfte verwickelt gewesen sei, deren Ausmaß man noch gar nicht abschätzen könne. Der Beitrag, den Butler Parker und seine Herrin zur Ergreifung des Mannes geleistet hatten, wurde jedoch in keinem der Blätter auch nur mit einer Silbe erwähnt. »Wenn erst mein Roman abgeschlossen ist«, fuhr die Detektivin fort, »werde ich den ersten Band meiner Memoiren herausgeben und alles richtigstellen, was die Zeitungsschreiber an Lügen verbreitet haben. Da werden manch einem die Augen aufgehen, wenn er erfährt, wie es wirklich war… Vor allem dem guten McWarden, der jetzt am Strand liegt und wieder mal keine Ahnung hat.« »Dieser Feststellung würde meine
bescheidene Wenigkeit sich nur allzu gern anschließen, falls Mylady gestatten«, ließ Josuah Parker sich vernehmen und legte seiner Herrin noch ein halbes Dutzend von den geräucherten Fasanenbrüstchen vor, die sie über alles schätzte. »Was Mylady McWarden angeht, so dürfte er im Moment wirklich ahnungslos sein, soweit meine Wenigkeit sich nicht täuscht.« Er begab sich in die Diele und kehrte mit einer bunten Ansichtskarte zurück, die der Briefträger kurz zuvor in den Kasten geworfen hatte. »Mister McWarden erlaubt sich, Mylady herzliche Urlaubsgrüße aus dem sonnigen Spanien zu übermitteln«, teilte er mit und legte die Karte auf den Tisch. »Sonst hat er nichts geschrieben, Mister Parker?« erkundigte sich die Hausherrin, und ihre Stimme klang leicht enttäuscht. Im Grund mochte sie McWarden ja, auch wenn sie das nie eingestanden hätte. »Die Mitteilung ist nur kurz, wenn man sich diesen Hinweis erlauben darf«, gab der Butler Auskunft. »Mister McWarden schreibt lediglich, daß er die Ruhe genießt und Mylady Erfolg bei den Ermittlungen wünscht.« »Damit kommt er ein bißchen spät, der gute McWarden«, stellte Agatha Simpson, die Überlegende mimend, fest. »Aber das paßt zu ihm… Der Schnellste war er ja noch nie!« 71
»Mit dieser Äußerung haben Mylady zweifellos den Nagel auf den Kopf getroffen, wie der Volksmund in seiner anschaulichen Art zu sagen pflegt«, pflichtete Parker ihr bei. »Was wäre McWarden denn ohne mich!« trumpfte die Detektivin auf. »Wenn ich ihm nicht ständig die Kastanien aus dem Feuer holen würde, hätte ihn der Innenminister längst von seinem Posten abberufen.
Auch in diesem Fall wäre ja einiges ganz anders verlaufen, Mister Parker, wenn ich die Ermittlungen nicht an mich gezogen hätte.« »Nichts liegt meiner Wenigkeit ferner, als diese Feststellung anzuzweifeln, Mylady«, versicherte der Butler wahrheitsgemäß. Dann begab er sich zum Schrank und holte die geschliffene Kristallkaraffe mit Agatha Simpsons feinstem Sherry.
ENDE
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