Pierre Frei Onkel Toms Hütte, Berlin
Roman
Karl Blessing Verlag
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Pierre Frei Onkel Toms Hütte, Berlin
Roman
Karl Blessing Verlag
Umschlaggestaltung: Network! München Autorentoto: Cordula Groth Titelmotiv: Mauritius
3. Auflage Copyright © by Karl Blessing Verlag GmbH München 2003 ISBN 3‐89667‐250‐9
Die Alliierten teilen im Jahr 1945 die Stadt Berlin unter sich auf, die Stadt, in der der fünfzehnjährige Ben aufwächst, nahe der U‐Bahn‐Station „Onkel Toms Hütteʺ in einem von den Amerikanern besetzten Viertel. Ben ist über das Ende des Krieges nicht begeistert, denn jetzt kehren allmählich wieder Ordnung und Disziplin ein. Besonders schmerzlich ist für ihn, dass er nun eigentlich wieder zur Schule gehen müsste, die ihn doch nur ablenkt von seinem großen Vorhaben: Er möchte sich mit allen Mitteln, die einem Jungen in den chaotischen Tagen zwischen Befreiung und Besatzung, Bombardierung und Wiederaufbau, zur Verfügung stehen, seinen ersten Anzug verdienen, um das Mädchen seiner Träume zu beeindrucken. Als er gerade im Bahnhof „Onkel Toms Hütteʺ zwischen den Gleisen Zigarettenkippen sammelt, stolpert er über eine Leiche – eine junge Frau, die brutal misshandelt und erwürgt wurde. Inspektor Dietrich, der mit dem Fall betraut wird, stellt bald fest, dass er nach einem Serientäter fahnden muss, denn in kurzer Folge werden drei weitere Opfer aufgefunden, alle weiblich, blond und blauäugig. Es zeigt sich, dass diese Frauen – eine UfA‐ Schauspielerin, eine Psychiatriekrankenschwester, eine Prostituierte und eine junge Adelige im Auswärtigen Amt – die Kriegsjahre mit viel Mut, Leidens‐ fähigkeit und Willenskraft überstanden hatten und dennoch kurz nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs elend zu Tode kamen. In ONKEL TOMS HÜTTE, BERLIN schildert Pierre Frei die Lebenswege dieser couragierten Frauen und macht die Gefühlswelt der Zeit, die Sehnsüchte, Gewissenkonflikte und bittersüßen Wendungen erfahrbar. Ein ebenso authentischer wie elegant er‐ zählter Roman, der von der ersten Seite an fesselt und bewegt.
Pierre Frei, Jahrgang 1930, wuchs auf im Viertel um den Berliner U‐Bahnhof „Onkel Toms Hütteʺ, den er als Hintergrund für diesen Roman wählte. Seine ersten Kurzgeschichten veröffentlichte er als 16‐jähriger Gymnasiast. Als freier Auslandskorrespondent berichtete der Autor später aus Rom, Kairo, New York und London, ehe er sich auf seine Farm in Wales zurückzog. Seit 1990 lebt der passionierte Reiter auf seinem Château im Südwesten Frankreichs.
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Pierre Frei
Onkel Toms Hütte, Berlin Roman
Karl Blessing Verlag
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Umwelthinweis:
Dieses Buch und sein Schutzumschlag wurden auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die Einschrumpffolie (zum Schutz vor Verschmutzung) ist aus umweltschonender recyclingfähiger PE‐Folie. Der Karl Blessing Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH. 3. Auflage Copyright © by Karl Blessing Verlag GmbH München 2003 Umschlaggestaltung: Network! Werbeagentur, München Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck und Bindung: GGP Media, Pößneck Printed in Germany ISBN 3‐89667‐250‐9 www.blessing‐verlag. de
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Für Catherine‐Hélène 5
Erstes Kapitel
D
er Junge ließ den Soldaten nicht aus den Augen. Der Ameri‐ kaner zog die letzte Lucky Strike aus der Packung und warf die leere Hülle achtlos auf die Gleise. Er zündete sich die Zigarette an und wartete, dass die von Krumme Lanke einlau‐ fende U‐Bahn hielt. Der Junge überlegte. Wenn der Ami nur die eine Station bis Oskar‐Helene‐Heim fuhr, würde er die halb gerauchte Zigarette dort nach dem Aussteigen in hohem Bogen wegschnipsen, und er konnte sie aufsammeln. Ein Dutzend Kippen dieser Länge, das Aschenende mit einer Rasierklinge sauber abgeschnitten, brachte vierzig Mark. Fuhr der Ami jedoch weiter, war die Aussicht auf Ernte trübe, weil er den begehrten Stummel am Boden des Waggons zertreten oder aus dem sommerlich offenen Fenster katapultieren würde. Die Ame‐ rikaner waren in solchen Dingen völlig unbekümmert. Ebenso unbekümmert hatte der Quartiermeister der US Army eine Quadratmeile um den U‐Bahnhof Onkel Toms Hütte mit Stacheldraht eingezäunt und für die deutschen Fahrgäste nur einen schmalen Zugang gelassen. Auch die Ladenstraßen an den beiden Längsseiten des Bahnhofs wurden »Off Limits« erklärt und zum Einkaufszentrum der ringsum in den beschlagnahmten Wohnhäusern einquartierten Soldaten. Jahrzehnte zuvor hatte ein Gastwirt sein Ausflugslokal im nahen Grunewald nach Harriet Beecher‐Stowes Rührgeschichte »Onkel Toms Hütte« benannt, ein Name, den die Berliner Ver‐ 6
kehrsgesellschaft Ende 1929 für ihre neue U‐Bahnstation über‐ nahm. Den amerikanischen Besatzern des Jahres 1945 wurde »Aankel Taam« schnell ein fester Begriff. Die U‐Bahn hielt. Der Ami stieg ein, die Zigarette im Mund‐ winkel, und lehnte sich lässig gegen eine Haltestange. Ein nach‐ folgender Fahrgast schloss die Tür. Der Beamte in der Bahnsteig‐ mitte hob die Kelle. Der Zugbegleiter ganz vorn gab mit einem Klopfen gegen die Scheibe das Zeichen an den Fahrer weiter und schwang sich in den anrollenden Wagen. Der Junge sah dem Zug nach. Er hatte sich gegen den Stummel entschieden. Sobald der mit der Kelle ihm den Rücken zukehrte, sprang er auf die Schienen und steckte die leere Zigaretten‐ packung ein. Über ihm erschien der Kopf des Kellenmannes. »Was machst du da unten?«, fragte er unwirsch. »Kippen suchen.« »Und? Welche gefunden?« Der Mann dachte an seine leere Pfeife. »Keine Kippen. Nur ᾿ne tote Frau.« Der Junge deutete gleich‐ gültig neben die Gleise. Der Fahrdienstleiter setzte sich auf die Bahnsteigkante, legte die Kelle hin und ließ sich ächzend herab. Aus einem der seitlichen Einstiege, durch die man gebückt zu den Kabeln unter dem Bahn‐ steig gelangte, ragten zwei schlanke Beine in zerrissenen hellen Nylonstrümpfen, an den Füßen braune Pumps mit weißen Blen‐ den und hohen Absätzen, wie sie zur Zeit in den USA Mode wa‐ ren. Auf dem weißen Leder waren dunkelrote Blutflecken. »Das is ᾿ne Amerikanerin. Lauf und hol die Amis.« Der Mann kletterte wieder auf den Bahnsteig und eilte in sein Kabuff. Er riss den Hörer des Streckentelefons von der Gabel und kurbelte durch. »Krumme Lanke? Hier Fahrdienstleiter Onkel Tom. Wir haben eine Tote auf Gleis Eins. Stoppen Sie die Züge aus Ihrer Richtung. Ende.« 7
Der Junge hieß Benjamin, aber alle riefen ihn Ben. Er war ein dunkelblonder Bursche von fünfzehn, an dem die Ereignisse der letzten Monate scheinbar spurlos vorübergegangen waren: die Bomben der Engländer und Amerikaner, das Chaos der letzten Kriegstage, das Wüten der Roten Armee. Er hatte das Erlebte ein‐ fach in einer Schublade im Kopf abgelegt, um neuen Eindrücken Platz zu schaffen. Neu waren Glenn Miller, Chewing Gum, Hers‐ hey᾿s Chocolate und meilenlange Autos, wobei der Buick Eight ganz vorne lag, gefolgt von De Soto, Dodge und Chevrolet. Neu waren grellbunte Schlipse und knöchelkurze enge Hosenbeine, Old Spice und Pepsi Cola. Das alles kam über Nacht: als die Rus‐ sen vereinbarungsgemäß halb Berlin räumten, und nun auch die westlichen Alliierten Einzug in die zerstörte Hauptstadt hielten. Ben stieg die breite Treppe zu den Schaltern hinauf und trollte durch die Stacheldrahtpassage hinaus in die staubige Sommer‐ hitze, die einen sofort durstig machte. Er entschied sich im Geiste für eine kalte Waldmeisterbrause. Wenn man den Bügelver‐ schluss öffnete, knallte es verheißungsvoll, und die Kohlensäure stieg rauchend wie ein Dschinn aus der Flasche. Aber es gab keine Waldmeisterbrause, nur staubige Hitze, in der ein Geruch von DDT‐Insektenpulver und Spearmint‐Kaugummi hing. Seit dem Einzug der Amis roch alles anders. Langsam schlenderte Ben zum Posten an der Einfahrt des Sperr‐ gebietes. Eile wäre ein Zeichen von Betroffenheit gewesen. »Dead woman on the U‐Bahn«, sagte er lässig. »Okay, buddy. It better be true.« Der Posten griff zum Telefon. Der Anruf kam von der Military Police. Inspektor Klaus Dietrich nahm ihn entgegen. »Ja, danke, wir kommen.« Er legte auf und rief: »Franke, den Wagen!« »Wird gerade angeheizt. Das dauert ᾿ne gute halbe Stunde.« Kriminalmeister Franke wies aus dem Fenster auf den alten Opel am Bordstein, aus dessen Heck eine Art abgesägter Badeofen ragte, 8
den ein Polizist mit Holzresten fütterte. Erst wenn diese ausreichend schwelten, würde sich das zum Antrieb des Motors nötige Holz‐ gas entwickeln. Benzin gab es für die Kriminalinspektion Berlin‐ Zehlendorf nicht. »Wir nehmen die Fahrräder«, entschied Dietrich. Er war ein großer Mann von fünfundvierzig, mit früh ergrautem Haar und in‐ folge der Hungerrationen markanten Wangenknochen. Er trug einen grauen, zu weit gewordenen Zweireiher, den einzigen An‐ zug, den Inge aus der zerstörten Wohnung am Kaiserdamm hatte retten können. Das linke Bein zog er ein wenig nach. Die Prothese scheuerte bei warmem Wetter. Man hatte sie ihm im Hilfslazarett in der Zinnowaldschule angepasst, wo er das Kriegsende überdau‐ erte. Eine Gefangenschaft blieb ihm wegen seiner Verletzung er‐ spart. Schon im Mai durfte er nach Hause. Inge und die Jungs waren ganz in der Nähe bei den Eltern in der Riemeister Straße unter‐ gekommen. Inges Vater, Dr. Bruno Hellbich, hatte die Hitlerjahre zwangspensioniert, ansonsten aber unbehelligt überstanden. Da‐ nach kehrte er auf seinen Posten als sozialdemokratischer Bezirksrat ins Zehlendorfer Rathaus zurück und konnte dem Schwiegersohn eine Stellung als Inspektor bei der Kripo besorgen. Die Krimmal‐ inspektion Zehlendorf brauchte einen kommissarischen Leiter. Dass Klaus Dietrich vor dem Krieg zweiter Mann in der Direktion der Wach‐ und Schließgesellschaft und politisch nicht vorbelastet war, machte das Fehlen des linken Unterschenkels und einer kri‐ minalistischen Ausbildung wett. Im Übrigen fand er schnell heraus, dass sein gesunder Menschenverstand völlig ausreichte, um mit Schwarzhändlern, Dieben und Einbrechern fertig zu werden. Sie erreichten den U‐Bahnhof in einer Viertelstunde. Ihre Dienstausweise bahnten ihnen einen Weg durch die anwachsende Menschenmenge. »Ach du Scheiße, mein Alter«, murmelte Ben und verdrückte sich. Ein amerikanischer Offizier stand mit einem Militärpolizisten 9
und dem Fahrdienstleiter auf den Gleisen. Sie hatten die Tote ne‐ ben die Schienen gebettet. Sie war blond und hatte ein schönes, ebenmäßiges Gesicht. Ihre blauen Augen starrten ins Nichts. Blut‐ unterlaufene Strangulierungsmale kerbten sich in den zierlichen Hals. Klaus Dietrich deutete auf ihre Nylonstrümpfe, die kaum getragenen Pumps und das helle modische Sommerkleid. »Eine Amerikanerin«, meinte er besorgt. »Wenn das ein Deutscher getan hat, gibt᾿s Ärger.« Kriminalmeister Franke kratzte sich am Kopf. »Irgendwie kommt mir ihr Gesicht bekannt vor.« Der Offizier richtete sich auf. »Which of you guys is in charge here?« »Inspektor Dietrich und Kriminalmeister Franke von der Kri‐ minalinspektion Zehlendorf«, stellte Klaus Dietrich vor. »Captain Ashburner, Military Police.« Der Amerikaner war groß und schlank, mit glattem blondem Haar. Ein hellwacher in‐ telligenter Blick traf den Deutschen. Er wies auf seinen Begleiter: »Das ist Sergeant Donovan.« Der Sergeant war untersetzt, mit kräftigen breiten Schultern und einem Bürstenhaarschnitt. Dietrich hob den linken Arm der Toten. Das Glas ihrer Uhr war zersplittert, die Zeiger standen auf 22 Uhr und 42 Minuten. »Vermutlich die Tatzeit«, stellte er fest. Er winkte den Fahrdienst‐ leiter heran. »Gestern Abend, gegen Viertel vor elf, wer hatte da Dienst?« »Ich natürlich«, sagte der Mann beleidigt. »Bis zum letzten Zug um 22 Uhr 48, und wieder ab 6 Uhr früh. Man gönnt uns ja kaum noch Nachtruhe.« »Warteten viele Fahrgäste auf den letzten Zug?« »Ein paar Amis mit ihren Mädchen, und zwei, drei Deutsche.« »War die Tote unter ihnen?« »Kann sein, kann nicht sein. Musste den Zug um 22 Uhr 34 nach Krumme Lanke abfertigen. Da sieht man sich die Fahrgäste nicht einzeln an. Nur dieser Verrückte mit Schutzbrille und Lederkappe 10
sprang mir sozusagen in die Pupille. Herr Pastor geht Rodeln, dachte ich, wenn Sie wissen, was ich meine.« »Schutzbrille und Lederkappe?« »Wie ein Motorradfahrer, würde ich sagen. Aber ganz so genau sah ich ihn nun auch wieder nicht. Die Beleuchtung der hinteren Bahnsteighälfte ist seit Wochen im Eimer.« »Er stand also im Halbdunkel.« »Als Einziger, wenn Sie mich so fragen. Die anderen Fahrgäste warteten im Hellen.« »Sahen Sie ihn einsteigen?« »Nee. Ich muss ja dem Zugbegleiter vorne das Signal zur Ab‐ fahrt geben. Tschuldigung, der 11 Uhr 10.« »Hey, Kraut, have a look.« Der MP‐Sergeant reichte Dietrich eine Umhängetasche. »Keine Amerikanerin, sondern eine von euch. Karin Rembach, fünfundzwanzig. Arbeitet in unserem Dry Clea‐ ning Shop da drüben.« Er wies durch das Trenngitter in die Laden‐ straße. »Nylons und Schuhe hat vermutlich ihr Boyfriend für sie im PX gekauft. Soldat Dennis Morgan ist beim Signal Corps in Lichterfelde stationiert.« Klaus Dietrich öffnete die Tasche. Ein Ausweis für deutsche An‐ gestellte der US Army und ein Zettel mit Namen und Kasernen‐ anschrift des Soldaten verrieten, woher die Weisheit des Sergeants stammte. »Ich würde diesen Morgan gerne vernehmen.« »Ein Kraut will einen Amerikaner verhören? Hast du immer noch nicht kapiert, wer den Krieg gewonnen hat?«, bellte der Ser‐ geant. »Ich habe vor allem kapiert, dass der Krieg vorbei ist, und dass Mord jetzt wieder bestraft wird«, entgegnete Klaus Dietrich ruhig. Einen Moment schien es, als würde der bullige Donovan auf ihn losgehen, aber sein Captain schaltete sich ein: »Ich werde Morgan befragen und Ihnen das Protokoll schicken. Sie schicken mir dafür den Obduktionsbefund. Eine Ambulanz unseres Medical Corps bringt die Tote wohin Sie wollen. Good bye, Inspektor.« 11
Der Kriminalmeister sah den Amerikanern nach. »Nicht sehr freundlich, die Herren.« »Das Vorrecht der Sieger. Franke, was halten Sie von dem Mann mit der Schutzbrille?« »Entweder ein Verrückter, wie der Fahrdienstleiter meint, oder einer, der nicht erkannt werden wollte. Herr Inspektor, warum nennen die uns Kraut?« Klaus Dietrich lachte. »Unsere transatlantischen Befreier mei‐ nen, wir Deutschen äßen nichts als Sauerkraut.« »Mit Eisbein und Erbspüree.« Die Stimme des Kriminalmeisters hatte plötzlich einen sehnsüchtigen Klang. Eine Sirene kam näher und verstummte. Zwei G.I.s mit Rotkreuz‐Armbinden trugen eine Bahre die Treppe runter. Das Leichenschauhaus in Berlin Mitte war ausgebombt und lag überdies im sowjetischen Sektor. Klaus Dietrich ließ die Tote darum ins nahe Krankenhaus »Waldfrie‐ den« bringen. Sein Freund Walter Möbius war dort Chefarzt. »Ich nehme sie mir später vor«, sagte Dr. Möbius. »Ich muss die Lebenden operieren, solange das Tageslicht reicht und anschlie‐ ßend weiter bis zur Stromsperre um neun Uhr. Wenn du unbe‐ dingt dabei sein willst – ab drei Uhr früh haben wir wieder Strom.« Ein jüngerer Mann im feinsten Vorkriegs‐Glencheck zündete sich vor dem U‐Bahnhof lässig eine extralange Pall Mall an. Ben blickte neidisch auf die dicken Kreppsohlen seiner Wildleder‐ schuhe. Er kannte ihn flüchtig. Hendrijk Claasen war Holländer und Schwarzhändler. Nur ein Schwarzhändler konnte sich so ei‐ nen scharfen Anzug leisten. Ben wollte auch einen Glencheck‐An‐ zug und Kreppsohlen. Er malte sich aus, wie er Heidi Rödel maß‐ gekleidet auf zentimeterdicken Sohlen gegenübertreten würde. Dann war Gert Schlomm in seinen lächerlichen kurzen Lederho‐ sen abgemeldet. Der Junge trottete vom Bahnhof nach Hause, froh, eine Be‐ gegnung mit seinem Vater vermieden zu haben. Papa hätte Fragen 12
gestellt. In diesem Falle, wieso Ben tote Frauen auf U‐Bahngleisen fand, statt in der Schule zu sein. Papa hatte eine leise sarkastische Art, immer haargenau den wunden Punkt zu treffen. Ben hatte nichts gegen die Schule an sich, nur gegen ihre Re‐ gelmäßigkeit. Das hinter ihm liegende Chaos hatte nicht nur Angst und Schrecken gebracht, sondern auch Abenteuer und Freiheit, und es fiel ihm schwer, sich wieder an eine festgefugte Ordnung zu gewöhnen. Er steuerte das Haus von der Rückseite an, kroch in den Ver‐ schlag am Ende des Gartens und zog die Schultasche unter ein paar leeren Kartoffelsäcken vor. Seine Großmutter jätete an der Veranda Unkraut. Den Rasen hatte sie schon vor Monaten umgegraben und Tabak angepflanzt. Der Bezirksrat war ein starker Raucher. Sie trocknete die Blätter für ihn auf dem Herd. Es stank grässlich im ganzen Haus, doch das war das kleinere Übel. Hellbich war unausstehlich, wenn sein Körper vergeblich nach Nikotin lechzte. »Bei Frau Kalkfurth gibt᾿s eine Sonderzuteilung Margarine. Ralf steht schon an. Geh und löse ihn ab. Deine Mutter kommt später. Sie ist zum Schuster. Hoffentlich kann er die Sandalen deines Bru‐ ders nochmal reparieren. Der Junge läuft inzwischen in zerlöcher‐ ten Turnschuhen rum.« »Okay.« Ben stieg die steile Treppe hinauf ins Dachzimmer, das er mit Ralf teilte. Er warf die Schultasche aufs Bett. Das leere Päck‐ chen Lucky Strike legte er zwecks späterer Verwertung zu der Ra‐ sierklinge in die Tischlade, ehe er wieder runterging. In der Küche war niemand. Er zog die linke Schublade aus dem Küchenschrank, langte in die Öffnung, schob den Riegel nach unten und drückte die verschlossene Tür von innen auf. Inge Dietrich verwahrte unten im Schrank die Brotrationen der Familie: morgens und mittags für jeden zwei trockene Scheiben. Abends gab es »warm«. Ben säbelte sich eine extradicke Scheibe ab und klemmte sie zwischen die Zähne. Er tat den Laib zurück in den Schrank, 13
machte die Tür zu und zog den Riegel hoch. Er setzte die Schub‐ lade wieder ein. Dann trabte er los, den schlangestehenden kleinen Bruder abzulösen. Unterwegs verzehrte er seine Beute mit mög‐ lichst kleinen Bissen. Das verlängerte den Genuss. Frau Kalkfurths Laden befand sich im ehemaligen Wohnzimmer eines Reihenhauses »Am Hegewinkel«. Andere der kleinen Stra‐ ßen mit den bunten Eigenheimen hießen »Hochsitzweg«, »Lapp‐ jagen« oder »Auerhahnbalz«. Ein jagdbesessener Bezirksbürger‐ meister hatte sie einst so getauft. Die ans Haus gebaute Garage diente als Lager. Früher beherbergte sie das Familienauto. Die Kalkfurths hatten eine große Fleischerei im Osten Berlins. Inzwi‐ schen war die Fleischerei längst eine Ruine und das Auto‐mobil, ein »Adler«, nur noch Erinnerung. Weil sie schon vor dem Krieg in der Branche tätig war, erhielt die Witwe Kalkfurth nach dem Zusammenbruch die kostbare Gewerbegenehmigung für ein Lebensmittelgeschäft. Ihr früherer Fleischergeselle Heinz Winkelmann stand hinter dem improvi‐ sierten Ladentisch. Sie selbst dirigierte das kleine Unternehmen vom Rollstuhl aus und klebte abends die Rationsabschnitte der Kundschaft auf große Bögen Zeitungspapier. Ein Vertreter der Zuteilungsstelle holte sie wöchentlich ab. Das Haus am Hege‐ winkel bewohnte sie alleine. Diskrete Gaben von Butter, Dauer‐ wurst und Räucherspeck an den zuständigen Sachbearbeiter beim Wohnungsamt bewahrten sie vor der Einweisung Obdachloser. Die Schlange vor dem Laden war endlos und grau. Viele der Frauen trugen alte Männerhosen und Kopftücher. Es gab keinen Friseur. Ralf stand ziemlich weit hinten. Er wischte mit einem ab‐ gebrochenen Zweig im Zickzack über den Gehsteig. Kalkfurths getigertes Kätzchen versuchte, den Zweig zu fangen. Das Spiel fand ein plötzliches Ende, als sich ein Dackel ganz am Ende der Schlange losriss und das Kätzchen attackierte. Es floh mit langen Sätzen in die Garage. Ralf packte den kläffenden Hund am Halsband und zerrte ihn 14
zu seinem Besitzer. »Können Sie nicht auf Ihren Köter aufpas‐ sen?«, rief er mit heller Stimme. »Nich frech werden, mein Junge. Lehmann, sitz.« Der Mann nahm den Dackel an die Leine. Ralf lief in die Garage, vor deren rückwärtigem Teil sich alte Ge‐ müsekisten und zerbrochenes Mobiliar zu einem undurchdring‐ lichen Wall türmten. »Mutzi, Mutzi«, lockte er. Klägliches Miauen antwortete ihm von der anderen Seite. Nirgends war ein Durch‐ kommen. Oder doch? Die verschimmelten Türen des Kleider‐ schranks vor ihm hingen schräg in ihren Angeln. Die Rückwand war geborsten. Der Junge zwängte sich durch. Die kleine Katze kau‐ erte im Halbdunkel auf einer zerschlissenen Steppdecke. »Komm, Mutzi. Der doofe Dackel is längst wieder an der Leine.« Er hob das verängstigte Tier auf. Es hatte sich so festgekrallt, dass es die Stepp‐ decke mitnahm. Der Sattel eines Motorrades kam zum Vorschein. Vorsichtig befreite der Junge das Tierchen. Er legte die Decke we‐ der an ihren Platz und kroch mit seinem Schützling ans Tageslicht. »Da biste ja endlich«, begrüßte ihn Ben vorwurfsvoll. »Wo stehst du?« »Hinter der mit dem grünen Kopftuch.« Ralf ließ die Katze frei und trollte sich. Ben stellte sich widerwillig an seinen Platz. Er hasste es, anzustehen. Er verkürzte die Wartezeit, indem er sich ausmalte, ein Mann in weißer Jacke mit dampfendem Würstchenkessel vor dem Bauch käme vorbei, wie damals im Strandbad Wannsee. Da war er noch ganz klein, und es gab keinen Krieg. Er meinte das quatschende Geräusch zu hören, mit dem der Mann den Senf aus dem Hahn auf den Pappteller drückte. Irgendwie klang es herrlich unanstän‐ dig. Seine Mutter kam gegen sechs. Meister Gritscher hatte Ralfs Sandalen zum ᾿zigsten Mal repariert. »Ein richtiger Zauberer«, sagte sie zur Nachbarin. »Geh, mach deine Hausaufgaben«, mahnte sie den Sohn. »Nimm deinen Bruder mit.« 15
»Was darf᾿s denn Schönes sein, Frau Dietrich?« Winkelmann strahlte gesund und satt über den Tresen. Er saß an der Quelle. »Hundertfunfzig Gramm Eipulver, ein Brot und die Sonderzu‐ teilung Margarine. Können Sie das Eipulver als Vorschuss auf die Ration nächste Woche anschreiben?« »Da muss ich erst die Chefin fragen. Frau Kalkfurth, kommen Sie mal?«, rief er nach hinten. Martha Kalkfurth hatte grau durchwobene dunkle Locken und ein alterslos glattes rundes Gesicht mit Doppelkinn. Sie saß schwer in ihrem Rollstuhl, den sie geschickt zwischen Säcken mit Trocken‐ kartoffeln und Kartons voller Tüten Ersatzkaffee hindurchlenkte. »Kann Frau Dietrich hundertfünfzig Gramm Eipulver anschrei‐ ben?« »Bitte, Frau Kalkfurth, es ist nur bis Montag, da gibt᾿s neue Kar‐ ten.« Martha Kalkfurth schüttelte den Kopf. »Bei mir gibt es keine Extrawurst, auch wenn Ihr Mann bei der Polizei ist.« Sie wendete den Rollstuhl und fuhr wieder nach hinten. Ben fand seinen Bruder vor der Eisdiele der Amis. Einer beugte sich zu ihm runter und gab ihm eine große Portion Ice Cream. Ralf hatte meistens Erfolg mit seiner Bettelei, weil kaum einer sei‐ nem Engelsgesicht widerstehen konnte. Sie löffelten das Vanille‐ und Schokoladeneis auf dem Heimweg mit den beigegebenen Waffeln. Das Leben war okay. Aus dem »Club 48« drangen die weichen Klänge der »Starlight Melody« und der verlockende Duft gegrillter Steaks und weckten unerfüllbare Sehnsüchte in den vorübereilenden Deutschen. Die US Engineers hatten den Bau aus Fertigteilen in drei Tagen zu‐ sammengeschraubt und in einer Woche komplett mit Küche, Cocktailbar, Tischen und Tanzfläche ausgestattet. Der Kommandant des American Sector of Berlin, ein Zwei‐ sternegeneral aus Boston, hatte den Club an die einfachen Solda‐ 16
ten und Unteroffiziere übergeben und mit seiner Frau eine Ehren‐ runde getanzt, bevor er sich erleichtert ins nahe Harnackhaus zu‐ rückzog, wo die höheren militärischen und zivilen Chargen ihre Dry Martinis tranken. Jutta Weber arbeitete in der Küche des »Fortyeight«. Die hübsche blonde Dreißigjährige schälte Kartoffeln, spülte Geschirr und schleppte die schweren Töpfe und Pfannen, in denen der Mess Sergeant Jack Panelli und seine Köche Konserven und Tief‐ gefrorenes zu herzhafter Kost ohne sonderliche Raffinesse verar‐ beiteten. Gegen elf Uhr fuhr sie nach Hause. Die Fahrradlaterne erhellte schwach ihren Heimweg durch die Argentinische Allee. Die Häu‐ ser lagen im Dunkeln. Bis drei Uhr früh war Stromsperre im Vier‐ tel. Danach kam Steglitz dran. Die zur Hälfte zerbombten Turbi‐ nen der Stadtwerke und die Kohlenknappheit zwangen zur Ratio‐ nierung der Stromversorgung. Aus der Nacht tauchte ein später Fußgänger auf. Jutta betätigte die scheppernde Klingel am Len‐ ker, aber er kam direkt auf sie zu. Sie wich aus, schrammte mit dem Vorderrad den Bordstein und verlor das Gleichgewicht. Einen Moment lag sie hilflos auf dem Pflaster. Scheinwerfer näherten sich und streiften für den Bruchteil einer Sekunde das Gesicht über ihr. Die Gläser einer großen Schutzbrille blinkten. Doch schon verschwand das Gesicht wieder in der Dunkelheit. Ein offener Jeep hielt. Der Fahrer sprang heraus. »Everything okay?« Er half ihr auf die Beine. Sie erkannte die Abzeichen eines Captains und die Armbinde der Military Police. Er war sehr groß, etwa eins neunzig, schätzte sie. »Everything okay«, versicherte sie. »I᾿m on my way home. I work at the Fortyeight.« Sie wies ihren Ausweis als deutsche Army‐ Angestellte vor, der ihr den Heimweg auch nach der Sperrstunde gestattete. In der Nähe startete ein Motorrad und entfernte sich schnell. »Ihre Lampe ist nicht sehr hell. Da kann man leicht ein Hinder‐ 17
nis übersehen.« Offenbar hatte er den Mann mit der Schutzbrille nicht bemerkt. »Ich fahre Sie nach Hause.« »Das ist wirklich nicht nötig«, wollte sie ablehnen, aber da hatte er ihr Rad schon hinten auf den Jeep geladen, und es blieb ihr nichts übrig, als einzusteigen. »Where do you want to go?« »Geradeaus, und rechts in die Onkel‐Tom‐Straße.« Er fuhr an. Sie musterte ihn von der Seite. Viel von seinem Ge‐ sicht war unter dem Helm in der Dunkelheit nicht zu sehen. »Sind Sie immer so spät dran?« Er hatte eine ruhige, männliche Stimme, die ihr Vertrauen einflößte. Ein bisschen wie Jochen, dachte sie wehmütig. »Ich habe nie vor elf Uhr Schluss. Außer mittwochs. Da komme ich schon um sieben raus.« »Sie sollten nachts sehr vorsichtig sein. Man kann nie wissen, wer sich in der Finsternis rumtreibt.« Er bog in die Onkel‐Tom‐ Straße ein. Nummer 133 war eines der zweistöckigen Wohnhäu‐ ser auf der rechten Seite, die ein farbenfreudiger Architekt in den zwanziger Jahren hatte bunt bemalen lassen. Er half ihr aus dem Fahrzeug und lud das Rad ab. »Thanks, Captain.You were a great help.« »It was a pleasure, Madam.« Er legte die Hand zum Gruß an den weißen Helm. Netter Amerikaner, dachte sie. Sie schloss die Haustür auf, ver‐ sperrte sie von innen und trug das Rad in den Keller, wo sie es mit Kette und Schloss sicherte. Leise ging sie hinauf. Nur die kleine Dynamolampe surrte, wenn sie den Hebel bewegte. Die Wohnung oben links war frei geworden, nachdem ihr Mie‐ ter, ein NS‐Ortsgruppenleiter, seine Frau und sich beim Einmarsch der Roten Armee erschossen hatte. Sie bestand aus drei Zimmern. Eines davon bewohnten die Königs mit ihrem zwölfjährigen Sohn Hans‐Joachim. Jutta hatte das Zimmer daneben. In die Kammer gegenüber hatte das Wohnungsamt den frisch aus der Gefangen‐ 18
schaft entlassenen Jürgen Brandenburg eingewiesen, einen kleinen dunkelhaarigen Endzwanziger im blauen Tuch der Luftwaffe. Die Tür zum Zimmer der Königs stand offen. »Frau Weber, kommen Sie doch rein, setzen Sie sich, es wird gerade interes‐ sant«, rief Herr König aufgekratzt. Er schenkte Kartoffelschnaps ein. »Aus der Geheimdestille meines Bruders. Der hat in Steglitz einen Schrebergarten. Mögen Sie ein Gläschen?« »Nein, danke, Herr König.« »Also wo waren wir, Herr Hauptmann?« Brandenburgs schwarze Blindenbrille spiegelte das Kerzenlicht wider. Mit schräg aufgestellten Händen demonstrierte er einen seiner zahllosen Luftkämpfe: »Der Engländer kommt von oben aus den Wolken. Ein zweimotoriger Moskito. Ein gefährlicher Bursche mit drei Bordkanonen. Ich kurve seitlich weg. Er taucht an mir vorbei, braucht einen Moment, um wieder zu steigen. Ich warte, dass er an mir vorbeiklettert und beharke seinen Bauch. Ratatata – Peng – Volltreffer. Er fliegt mir in tausend Stücken um die Ohren. Mein fünfundzwanzigster Luftsieg. Für den gab᾿s das Ritterkreuz und zwar von ›Ihm‹ persönlich.« »Bravo!« Herr König war ganz aus dem Häuschen. »Das Ritter‐ kreuz. Stellen Sie sich das mal vor, Frau Weber.« Jutta blieb kühl: »Ich stelle mir lieber vor, dass das nun alles vor‐ bei ist, und dass ›Er‹ kein Blech mehr verteilt, sondern in der Hölle schmort. Haben Sie denn immer noch nicht genug von Ihren mörderischen Trapper‐ und Indianerspielen?« Brandenburg sprang auf. »Das Blech verbitte ich mir.« »Dann reden Sie auch keines, okay? Gute Nacht allerseits.« In ihrem Zimmer zündete sie eine Kerze an und trug sie ins Bad, zum Zähneputzen. Die starke amerikanische Zahnpasta über‐ deckte den scheußlichen Chlorgeschmack des Leitungswassers. Beim Einschlafen sah sie Jochen vor sich. Er war gleich zu Beginn des Krieges gefallen. Von nebenan tönten angeregt die Stimmen der Männer. Nimmt das denn nie ein Ende?, dachte sie bitter. 19
Der Motorradfahrer war enttäuscht und ärgerlich. Tagelang hatte er sein Opfer beobachtet, ehe er es für würdig befand. Sorg‐ fältig, ja geradezu liebevoll hatte er es aus einem kleinen Kreis blonder, blauäugiger Anwärterinnen ausgewählt. Nicht jede hielt dieser Prüfung stand. Ganz nah war er ihr schon gewesen, und dann hatte der Jeep alles zunichte gemacht. Wer weiß, wie lange er nun auf eine neue Gelegenheit warten musste. Er sicherte nach allen Seiten, aber um diese Stunde hatte er nichts zu befürchten. Ungesehen brachte er die Maschine zurück in ihr Versteck, wo er auch Schutzbrille, Stulpenhandschuhe und Lederhelm verwahrte. Von da verlor sich sein Pfad in der Dunkel‐ heit. Sein Heimweg war nicht weit. Er ging gleich zu Bett, löschte das Licht und wartete geduldig auf den Traum. Der Traum war stets der gleiche: Er versank in den blauen Augen seiner Auserwählten, strich über ihr langes blondes Haar und küsste ihre schönen vollen Lippen, die sich ihm bereitwillig öffneten. Sie seufzte, als er ganz zu ihr kam. Er war ein einmaliger Liebhaber, kraftvoll und ausdauernd. Doch wenn er erwachte, war er wieder der unbeholfene Tölpel, der nicht wusste, wie er sich einem Mädchen nähern sollte. Auch mit Annie war es so gewesen. Annie, die in der Bäckerei‐ Konditorei Brumm gegenüber vom U‐Bahnhof arbeitete. Endlose Sonntagnachmittage verbrachte er im Vorgarten, wo sie bediente, bestellte ungezählte Portionen Kaffee und Kuchen und folgte mit den Augen jedem ihrer Schritte. Seine viel zu großen Trinkgelder finanzierte er aus der Kasse des elterlichen Betriebes. Sie sagte ar‐ tig: »Dankeschön, der Herr«, und knickste. Er merkte nicht, dass sie sich lustig über ihn machte. Er schenkte ihr Blumen und Schokolade und ein Paar Sei‐ denstrümpfe, aber sie lachte nur: »Was du möchtest, ist ᾿ne Num‐ mer zu groß für dich, mein Junge.« Sein rosiges Knabengesicht täuschte über sein Alter hinweg, er war schon fünfundzwanzig. 20
Der Brillantring aus dem Schmuckkasten seiner Mutter änderte die Lage. Sie steckte ihn an den Finger und sagte: »Komm morgen Abend rauf.« Sie wohnte in der Mansarde über der Konditorei. Er kam am Montag spät mit seinem Motorrad von der Arbeit. Er hatte noch den Fleischerkittel an. Sie erwartete ihn schon. Ihr nackter Körper schimmerte hell im Schein der großen Kerze neben dem Bett. Er stand mit herabhängenden Armen da, wagte nicht, sie zu berühren, wusste nicht, wo er hinschauen sollte. Sie half ihm aus dem Kittel. Irgendetwas klirrte. »Was is᾿n das?« Er zeigte ihr verlegen die Kälberkette, die er in der Tasche vergessen hatte. Mit flinken Fingern zog sie ihn aus. Als sie sein winziges Glied erblickte, prustete sie los. Dennoch bemühte sie sich redlich. Doch es half nichts, er war total verkrampft. Achselzuckend gab sie auf. »Komm wieder, wenn du erwachsen bist, mein kleiner Schlapp‐ schwanz«, spottete sie und zog sich an. Er wollte ihr nicht wehtun oder sie gar verletzen. Er wollte nur, dass sie ihm gehörte, so war es abgemacht. Er packte sie. Sie bockte und trat nach ihm wie ein Kalb vor der Schlachtbank. Er griff nach der Kette, die noch jedes widerspenstige Kalb gezähmt hatte. Ihr Widerstand ließ rasch nach. Er riss ihr den Schlüpfer runter und drang mit Macht in sie ein. Die Kerze im Leuchter ersetzte seine Männlichkeit. Ihr Röcheln nahm er als Zeichen der Lust. Ein überwältigender Höhepunkt schüttelte ihn, während er in ihr wühlte und erst von ihr abließ, als sie sich nicht mehr rührte. Niemand war Zeuge, wie er sie in den nächtlichen Vorgarten trug und an einen der Tische setzte, das Kleid hochgeschoben, dass man ihren blutverschmierten Schoß sah. Die Leute sollten wissen, dass er sie besessen hatte. Den Ring zog er ihr ab. So war es beim ersten Mal, und so war es immer wieder, wenn das Verlangen zu groß wurde, und es nur einen Weg gab, es zu be‐ friedigen: mit einer jungen, blonden, blauäugigen Frau und einer Kälberkette. 21
Es war drei Uhr früh. Im Kellergeschoss roch es nach Formalin und Verwesung. Dankbar ließ sich Klaus Dietrich von der Schwester einen Atemschutz vor Mund und Nase binden. Die Tote lag auf dem Marmortisch, eine gut gewachsene junge Frau mit schlanken Gliedern. Walter Möbius war Stabsarzt beim Afrikacorps gewesen. »Da hatten wir auch Probleme ohne Kühlung. Deine Karin muss schnellstmöglich unter die Erde.« »Meine Karin. Wie sich das anhört. Ich kenne die Tote überhaupt nicht. Aber ich möchte wissen, wie und wann sie starb.« »Vergangene Nacht, ungefähr gegen 23 Uhr. Mit einer fingerdi‐ cken Kette erwürgt. Hier, sieh dir am Hals die Eindrücke der Ket‐ tenglieder an. Aber das ist nicht alles.« Der Arzt wies auf den Schoß der jungen Frau. Ihre blonden Schamhaare waren blutverklebt. Er nahm ein Spekulum zur Hand und öfFnete sachte die Schenkel der Toten. Der Inspektor drehte sich taktvoll weg. »Diese Bestie«, sagte Möbius nach kurzer Untersuchung. »Ein scharfer Gegenstand. Ge‐ waltsam eingeführt und brutal hin und her bewegt.« »Eine Knebelkette«, überlegte der Inspektor laut. »Eine Knebel‐ kette, mit der er sie einhändig würgen konnte, während er mit der anderen Hand ... « Er stockte. »Gegen 23 Uhr? Vermutlich vor dem letzten Zug um 22 Uhr 48. Der Bahnsteig war so gut wie leer, die Beleuchtung zum Teil defekt. Der Mörder lauerte im Halb‐ dunkel. Die Würgekette erstickte ihre Schmerzensschreie. Als er mit ihr fertig war, stieß er sie auf die Gleise, sprang hinterher, zerrte den Körper außer Sicht unter den Bahnsteig, erklomm die Plattform wieder und wartete seelenruhig auf den letzten Zug. So könnte es gewesen sein.« Der Arzt legte das Spekulum in eine Schale. »Schwester Dagmar hat die Tote entkleidet. Sie hatte keinen Schlüpfer an. Weiß man irgendwas über sie?« »Kriminalmeister Franke meint, ihr Gesicht schon mal irgendwo gesehen zu haben. Genau kann er sich nicht erinnern.« 22
»Ich öffne jetzt die Leiche. Willst du zusehen?« »Nein, danke. Ich kann nicht dafür garantieren, dass ich nach rückwärts falle. Einer unserer Leute wird deinen Befund später abholen.« Dr. Möbius sah mitleidig auf die schöne Tote. »Wer sie wohl war, diese Karin Rembach?« Er setzte das Skalpell an.
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Karin
A
m schönsten waren in Weißroda die Sommersonntage. Da döste nach dem Mittagessen das ganze Dorf, und man konnte sich davonstehlen, den Feldweg entlang und dann in den hohen Roggen. Teilte man die Halme auf den ersten Metern vorsichtig, so schlossen sie sich hinter einem zum undurch‐ dringlichen Vorhang. Mitten im Kornfeld hatte der Wind eine kleine Lichtung hinterlassen. Da öffnete man die Zöpfe, dass das Haar lang auf die Schultern fiel, legte sich hin und träumte in den Himmel, und manchmal fand die Hand den Weg zur Mitte, dass es in einem schier unerträglich zu summen begann und man gar nicht aufhören konnte, so gut war das. Die siebzehnjährige Karin mochte es, wenn sie sich ganz allein gehörte; wenn ihr niemand sagte, was sie zu tun hatte, den Hüh‐ nerstall ausmisten oder das Pferd füttern. Sie war nun schon zwei Jahre bei den Werneisens auf dem Hof, seit ihre Mutter, Anna Werneisens Schwester, am schwachen Herzen gestorben war. Mit Karins Vater war sie nie verheiratet gewesen. Der war Engländer und fuhr als Steward im Liniendienst zwischen London und Ham‐ burg. Wenn er in Cuxhaven war, sprach er englisch mit seiner Tochter. Irgendwann wurde er nach Fernost versetzt. Sie hörten nie mehr von ihm. Nicht, dass die Werneisens es Karin direkt mer‐ ken ließen. Aber wenn sie mal wieder den Schweinekoben nicht richtig zugemacht oder sonst was versäumt hatte, hieß es, das Stadtkind gehöre eben nicht hierher. Sie merkte selber, dass sie 24
anders war und anders sprach: das reine Hochdeutsch des Nordens, statt der unterschwellig stets hämisch klingenden Mundart der Menschen hier am Rande Thüringens. Sie war blond und hatte lange schlanke Glieder, auch das unterschied sie von ihren stämmigen Verwandten. Als sie genug geträumt hatte, setzte sie sich auf und flocht ihre Zöpfe neu, die Enden von kleinen Lederriemen mit Druckknöpfen gehalten, statt von Schleifen, wie die der Dorfmädchen. Sie erhob sich, strich das Kleid glatt und bummelte den Feldweg zurück. Am Gasthof hing ein Plakat: »DIE DAME IN BLOND« MIT NADJA HORN UND ERIK DE WINTER Es war die Ankündigung eines Ensembles aus Berlin, das wäh‐ rend der Sommerpause in der Provinz gastierte. Karin betrachtete zum ᾿zigsten Mal das Bild der Hauptdarstellerin, einer schönen Dame mit blond gelacktem Haar und Weißfuchsstola, daneben das ihres Partners, einem traumhaft gut aussehenden Mann im Frack. Sie konnte sich gar nicht losreißen. Hans Görke wartete vor der Schmiede auf sie. Er war sauber gewaschen, nur seine schwarzen Fingernägel konnten die Arbeit am Amboss nicht verleugnen. Hans war drei Jahre älter als Karin, ein untersetzter rothaariger Bursche mit schweren Armen und großen Händen. »Wollte dich abholen.« »Na und?« Betont gleichgültig schaute sie hinauf zur Haken‐ kreuzfahne, die über der Schmiede wehte. Görke senior war Par‐ teimitglied. Sie wollte weiter, aber er hielt sie am Unterarm fest. »Wo warste denn?« »Geht dich gar nichts an.« »Geht mich doch was an, wo du mein Meechen bist.« 25
»Bild dir bloß nichts ein.« Sie befreite sich von seinem Griff, indem sie seine Finger einen nach dem anderen aufbog, was er widerstandslos geschehen ließ. Er hätte sie mühelos festhalten können. »Machen wir nächsten Sonntag nach Eckartsberga? Da ist Tanz im ›Löwen‹.« »Hab keine Lust zum Tanzen«, schnappte sie. »Gehn wir᾿n Stück?« »Muss zum Melken.« In ihrer Kammer zog sie das dünne Kleid mit dem Blumenmus‐ ter und dem weißen Kragen aus, ebenso die Sandalen und die wei‐ ßen Socken. Sie vermied es, in den Spiegel am Schrank zu sehen, weil sie den Anblick der blauen Trikotschlüpfer mit den Gummi‐ zügen an den Schenkeln ebenso hasste wie das hochgeschlossene Leibchen. Sie setzte sich auf den Bettrand, zog die bereitliegenden dicken Wollstrümpfe an und schlüpfte in den Overall aus schmut‐ zigweißem Drillich, der zu weit war und zuviele Knöpfe hatte. Anna Werneisen stand am Herd und bereitete die Mehlsuppe für den Abend, Karin sah voll Abscheu die dicken Klütern an der Oberfläche schwimmen. »Der Hans war da«, meldete ihre Tante. »Weiß ich.« Karin stieg in die Gummistiefel, die neben der Tür standen. »Den Hans, den halte dir mal. Der ist für dich der Richtige. Er will nach Kosen zu den Reitern, als Beschlagmeister. Das ist so gut wie ein Feldwebel, was den Sold angeht. Ich weiß es vom alten Riester, der hat bei der Kavallerie gedient.« Anna Werneisen war eine praktische Frau. »Er hat schwarze Ränder unter den Nägeln und riecht nach Ruß.« Karin wartete nicht ab, was die Tante darauf zu erwidern hatte, sondern ging mit schlabbernden Gummistiefeln in den Stall. Ihre Kusinen Bärbel und Gisela saßen schon an den Kühen. Karin rückte ihren Schemel rechts neben Lieses Hinterteil und stellte den Eimer drunter. Sie massierte das Euter, nahm zwei Zitzen und 26
begann: sanften Druck mit Daumen und Zeigefinger, die übrigen drei Finger nacheinander folgen lassen, fast wie beim Klavierspie‐ len, zugleich ein leichter Zug nach unten, und die Milch strullte in den leeren Eimer, mit dunklem blechernem Ton, der heller wurde, während der Eimer sich langsam füllte. Liese wandte zufrieden kauend den Kopf. Die Kusinen kicherten miteinander, es handelte sich um zwei Burschen aus Braunsroda, mit denen sie im Stroh gewesen waren. Karin trug den vollen Eimer nach draußen und leerte ihn durchs Sieb in die Milchkanne. Drinnen muhte Rosa ungeduldig. Sie war als nächste dran. Die drei Mädchen molken zweimal täglich je vier Kühe. Das Füttern und Ausmisten besorgte Vater Werneisen. Nach der Mehlsuppe saßen sie um den »Volksempfänger«, ei‐ nem schwarzen Bakelitkasten mit drei Knöpfen und stoffbespann‐ tem rundem Lautsprecher, aus dem die Stimme eines Reporters tönte, der begeistert aus Wien berichtete. Der Führer hatte Öster‐ reich heim ins Reich geholt. »Satt ist der längst nich«, prophezeite Werneisen düster. Karin hörte nicht zu. Sie blätterte in einer alten Nummer der Dame und träumte über den Hochglanzfotos schöner eleganter Menschen von der blondgelackten Nadja Horn und Erik de Win‐ ter, dem Traummann im Frack. An einem Freitagmorgen im Juli hielten ein Reisebus mit der Truppe und ein Lastwagen mit den Versatzstücken auf dem Hof des Gasthauses von Weißroda. Karin war beim Ausmisten, als Bärbel mit der Nachricht in den Hühnerstall platzte. Sie ließ die Gabel fallen. Das musste sie sehen. Aus dem Bus stiegen Darsteller, Bühnentechniker und der Re‐ gisseur Theodor Alberti, ein Herr mit Löwenmähne, Monokel und einem Scotch Terrier. Und Erik de Winter, der Filmschau‐ spieler. 27
Karin erkannte ihn sofort: das dunkle, gewellte Haar, das wei‐ che Kinn, die samtbraunen Augen. Er trug helle Flanellhosen und einen weißen Tennispullover und hatte einen Packen Zeitschriften unter dem Arm. Er lachte und winkte, wie er immer lachte und winkte, wenn Publikum in der Nähe war. Die Nachricht von der Ankunft der Künstler hatte sich noch nicht herumgesprochen, und so war Karin das einzige Publikum. Unbefangen winkte sie zurück. Erik de Winter war seltsam berührt von der schlanken Mäd‐ chenfigur im viel zu großen Overall, vom ebenmäßigen Gesicht mit den ausdrucksvollen blauen Augen. »Eine junge Schönheit«, sagte er, während er seiner Partnerin aus dem Bus half. »Deine Vorliebe fürs Ländliche ist mir neu«, bemerkte Nadja Horn spöttisch. Sie ähnelte nur sehr entfernt der blondgelackten Dame im Weißfuchs. Sie trug ein hochgeknüpftes rotes Kopftuch zum schwarzen Haar und weite Strandhosen à la Dietrich. »Trotz‐ dem, dein Geschmack ist wie gewöhnlich tadellos.« Sie ging mit langen energischen Schritten auf das überraschte Mädchen zu und reichte ihm die Hand. »Ich bin Nadja Horn.« »Sie sind ja gar nicht blond«, entfuhr es Karin. »Wir Schauspieler sind stets so, wie sich das Publikum uns wünscht. Schwarz, rot, blond, brünett. Darf ich Sie mit meinem Partner bekanntmachen? Herr Erik de Winter – Fräulein ... Wie sagten Sie gleich?« »Karin Rembach.« Karin wischte sich den Hühnerdreck aus dem Gesicht. Ein langer Blick aus samtbraunen Augen. »Freut mich sehr, Fräulein Rembach.« »Mich auch. Ich habe Sie im Film gesehen. Da spielten Sie einen Flieger.« »Der Film hieß ›Die Himmelstürmer‹.« Er sah sie unentwegt an. »Kommen Sie heute Abend? An der Kasse liegt eine Freikarte für Sie.« 28
Belustigt folgte Nadja Horn der Begegnung. Die kleine Land‐ pomeranze schien ja allerhand Eindruck auf ihn zu machen. »Be‐ suchen Sie uns doch nach der Vorstellung«, schlug sie vor. »Dann können Sie uns sagen, wie Ihnen das Stück gefallen hat. Herr de Winter und ich würden uns freuen.« »Ich werde Tante Anna fragen«, versprach sie wie ein braves kleines Mädchen und hätte sich dafür ohrfeigen können. Der Hof hatte sich mit Neugierigen gefüllt. Atemlos verfolgte das halbe Dorf, wie de Winter sich zum Kuss über Karins Hand beugte. Ihr Herz klopfte, aber sie ließ sich nichts anmerken. »Also bis heute Abend«, rief sie, dass alle es hörten, und lief beschwingt in den Hühnerstall. Später in der Küche fragte sie die Tante um Erlaubnis. »Nimm ein paar Rosen aus dem Garten mit und komm nicht zu spät nach Hause«, war Anna Werneisens einziger Kommentar. »Kann dem Kind nichts schaden, mal andere Menschen zu sehen«, rechtfertigte sie dem Gatten gegenüber ihre Entscheidung. Das Stück war eine Gesellschaftskomödie mit witzigen Dialogen, die am Großteil des Publikums spurlos vorübergingen. Karin erfasste instinktiv die feine Ironie und den Doppelsinn und genoss die elegante Garderobe der Darsteller. So wollte sie auch sein. Umso mehr schämte sie sich ihres dünnen Sommerkleides mit dem weißen Krägelchen, als sie nach der Vorstellung ihre neuen Freunde besuchte. Die beiden waren in den zwei besten Zimmern des Gasthauses untergekommen. »Kind, wie nett von Ihnen.« Nadja Horn kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Sie trug ein fließendes Hauskleid. Die blonde Perücke hatte sie abgelegt und war nun wieder schwarz. »Die schönen Rosen. Vielen Dank. Hat Ihnen das Stück gefallen?« »Ja, sehr. Besonders die Stelle, wo Verena van Bergen so tut, als hätte sie Armand eine Ewigkeit nicht gesehen, obwohl er nebenan auf sie wartet.« Karin nahm die lange Zigarettenspitze vom Tisch 29
und stellte sich mit lässig abgewinkelter Hand in Positur. »Meine Liebe, wo denken Sie hin? Armand interessiert mich soviel wie Doktor Duponts Dackel. Oder war es ein Dobermann?« Sie traf genau Nadja Horns Tonfall. »Bravo!« Erik de Winter applaudierte. Er hatte den Frack gegen ein seidenes Dressing Gown mit Halstuch vertauscht und sah hin‐ reißend aus. »Einen Schluck Sekt?« Er schenkte ein, reichte Karin das Glas. Das Zeug kribbelte in der Nase. Karin musste niesen. Sie lachte, gar nicht verlegen. »Hab sowas nämlich noch nie getrunken.« Sie nahm noch einen Schluck, diesmal ohne zu niesen. Er hob ihr sein Glas entgegen. »Ihr Dorf gefällt mir. Lauter nette Leute.« Es klang etwas gönnerhaft. Dabei weiß er nicht mal den Namen des Kaffs, dachte Nadja, und stellte die Rosen in einen Krug, eine Vase gab es nicht. »Es ist nicht mein Dorf. Ich bin aus Cuxhaven.« Nadja nippte an ihrem Glas. »Sie sind zu Besuch bei Ihren Ver‐ wandten und helfen ein bisschen auf dem Hof?« »Ich wohne und arbeite hier, seit Mutti tot ist. Aber ich gehe bald nach Berlin.« Sie glaubte es selber, als sie es sagte. Um ihre schönen vollen Lippen war ein entschlossener Zug. Aufmerksam beobachtete Nadja Horn das Mädchen, hörte das saubere Deutsch, registrierte die natürliche und zugleich selbst‐ bewusste Haltung. Das war kein Landei, da steckte mehr drin. Erik hatte das richtig erkannt. Sie erhob sich. »Kommen Sie, Kind. Erik, Darling, schenk uns nach.« Karin folgte ihr nach nebenan. Nadja schob die beiden Hälften eines großen Schrankkoffers auseinander, in dem ein Dutzend Abendkleider hing. Sie wählte eines und warf es Karin zu. »Pro‐ bieren Sie das mal.« Karin hatte sich noch nie vor einer Fremden ausgezogen. Sie ging ins Bad, doch ihre Gastgeberin folgte. Zö‐ gernd streifte sie das dünne Sommerkleid ab. »Das ist ja grässlich!«, rief Nadja beim Anblick des blauen Trikotschlüpfers entsetzt. 30
»Warten Sie.« Sie verschwand und kehrte mit einem hauchzarten Hemdhöschen und anderen traumhaften Zutaten zurück. »Na los, Kleines, du willst doch schön sein«, lockte sie. Karin überwand ihre Scheu und streifte die schreckliche Unterwäsche ab. Nadja sah eine vollendet gewachsene junge Frau mit langen schlanken Schenkeln und schön geformten Brüsten. »Setz dich da vor den Spiegel.« Sie löste Karins Zöpfe und bürstete ihr das Haar, bis es in goldenen Wellen auf die Schultern fiel. Sie zog die Augenbrauen behutsam nach und legte eine Spur Lippenstift auf, mehr brauchte das ebenmäßige junge Gesicht mit dem makellosen Teint nicht. »Steh auf.« Duftender Nebel aus Nadjas Parfümzerstäuber um‐ hüllte kühl den nackten Körper, dass die Brustspitzen sich aufrichteten. Bei Strumpfhaltern und Seidenstrümpfen, und wo es ihr sonst nötig erschien, legte Nadja mit Hand an. Es knisterte, als sie Karin das lange Kleid über Hüften und Schultern zog. Ein paar Ösen und Haken vollendeten das Werk. Alles passte, auch die sil‐ bernen Pumps mit den hohen Absätzen. Entzückt schlug Nadja die Hände zusammen. »Das hat aber lange gedauert«, beschwerte sich Erik de Winter gut gelaunt. Dann sagte er nichts mehr, so überwältigt war er von der blonden jungen Frau im engen schwarzen Abendkleid, das vorne hochgeschlossen war und einen Rückenausschnitt bis zur Taille zeigte. Ungläubig begriff Karin, dass sie ihn völlig aus der Fassung gebracht hatte. »Armand, wo bleibt der Champagner? Ich bin halb verdurstet«, kopierte sie Nadja im zweiten Akt und setzte sich wie ihr Vorbild auf eine Sessellehne, dass sich der Schlitz des Kleides bis zum Knie teilte. Erik hatte sich gefangen. »Nur wenn Sie mit mir tanzen, meine Liebe«, spielte er seine Rolle und kurbelte das Koffergrammophon an. Karin hatte ihn und Nadja auf der Bühne tanzen gesehen. Jetzt 31
gab sie sich einfach in seine Arme und schwebte mit ihm über den knarrenden Fußboden. Sie roch sein herbes Eau de Cologne und fühlte die Seide seines Dressing Gowns. Er spürte ihren jungen Körper und hörte auf, zu denken. Es klopfte. Regisseur Theodor Alberti steckte seinen Löwen‐ kopf durch die Tür. »Theo, kommen Sie rein. Einen Schluck Sekt?«, flötete Nadja. Das Monokel blitzte. Wohlgefällig musterte er Karin von oben bis unten. »Wen haben wir denn da? Doch nicht etwa eine bezau‐ bernde neue Kollegin?« Nadja Horn sah ihren Schützling nachdenklich an. »Vielleicht.« Ausgelassen tanzte Karin über das Kopfsteinpflaster der Dorf‐ straße nach Hause. Tante Anna hatte die Pforte im Hoftor offen‐ gelassen. Als sie nach dem Türknauf griff, schnellte eine Hand aus dem Dunkel und packte sie am Arm. »Mit dem Schauspieler haste Lust zum Tanzen«, keuchte Hans Görke. Alkoholdunst schlug ihr entgegen. »Na warte, der kommt ooch noch dran.« Er ließ sie los und entfernte sich mit schweren Schritten. In der Kammer hatte sie die Begegnung schon wieder ver‐ gessen. Sie zog ihr dünnes Kleid aus. Die Dessous darunter hatte Nadja Horn ihr geschenkt. Sie ging in den hauchzarten Nichtig‐ keiten zu Bett und dachte an Erik de Winter. Glücklich schlief sie ein. Am Sonnabend war die zweite und letzte Vorstellung. Görke hatte den Sohn unter Hausarrest gestellt, nachdem Regisseur Alberti ihm von den Drohungen gegen ein Mitglied seines Ensembles berich‐ tet und »Maßnahmen der Reichskulturkammer« in Aussicht gestellt hatte. »Dann fliegen Sie in hohem Bogen aus der Partei, mein Bes‐ ter«, hatte er übertrieben. So blieb Erik de Winter unbeschädigt, und auch die Abschieds‐ vorstellung wurde ein voller Erfolg. Karin bekam er nicht mehr zu sehen. »Anordnung von Theo«, beschied ihn Nadja. »Glaub mir, 32
es ist besser so. Wenigstens im Moment.« Er meinte, einen viel versprechenden Unterton in ihrer Stimme zu entdecken. Am Sonntagvormittag machte Nadja Horn den Werneisens ihre Aufwartung. Sie wurde in die gute Stube gebeten, wo sie auf dem Sofa Platz nehmen musste. Abwartend saßen ihr die Werneisens gegenüber. Die Schauspielerin kam gleich zur Sache: »Ich möchte Ihre Nichte nach Berlin holen. Nicht sofort, sondern im Frühjahr. Sie kann bei mir wohnen und sich um den Haushalt kümmern. Das lässt ihr genügend Zeit für die Schauspielschule. Sie bekommen von der Bühnengenossenschaft ein Leumundszeugnis zu meiner Person.« »Ach ja? Schauspielschule?« wiederholte Werneisen hämisch. »Karin gehört nicht in den Kuhstall, das wissen Sie ebenso gut wie ich. Sie hat Talent, das muss ausgebildet werden.« Instinktiv wandte die Horn sich zu Anna Werneisen. »Geben Sie ihr diese Chance.« Die Bäuerin hörte aufmerksam zu. »Nicht dass wir der Karin Steine in den Weg legen wollen. Aber was das kostet«, gab sie zu bedenken. »Kost und Logis hat sie bei mir frei. Bleibt die Frage des Schul‐ geldes.« »Sie hat etwas Geld von ihrer Mutter. Eigentlich soll das für ihre Aussteuer sein.« »Und das solin wir rausrücken?« Werneisens Augen wurden schmal. »Auch wenn Sie uns für dumme Bauern halten – so dumm sind wir nicht.« »Ein von Ihnen bestimmter Notar würde das Geld treuhän‐ derisch verwalten und nach Prüfung die jeweils erforderlichen Zahlungen für Karin vornehmen. Die Verantwortung für das Geld eines jungen Mädchens zu übernehmen — so dumm bin ich nämlich nicht, Herr Werneisen.« Der Bauer sah sie verblüfft an. »Sie sind mir eene. Lassen wir die 33
Karin gehen, Mutter?« Anna Werneisen nickte. Damit war die Sache beschlossen. Es wurden ein langer Herbst und Winter für Karin. Sie ließ nie‐ manden ihre Ungeduld merken, sondern verrichtete ihre Arbeit zuverlässiger denn je. Sogar zu Hans Görke war sie nett, wenn auch distanziert. Nadja Horn bewohnte eine Etage am Südwestkorso, wo viele Künstler ihr Quartier aufgeschlagen hatten. Karin sah vom Fens‐ ter ihres Zimmers auf den grünen Breitenbachplatz und seinen zwischen Sträuchern und Frühlingsblumen verborgenen U‐Bahn‐ eingang. Sie war nun drei Wochen in Berlin und tastete sich mit unstillbarer Neugierde in das Leben der Hauptstadt hinein. Der Treuhänder hatte ihr ein kleines Budget für Kleidung bewilligt. Einige Geschenke ihrer Gönnerin ergänzten die Garderobe. Aus dem Landei wurde rasch eine schicke junge Berlinerin. Lore Brucks Schauspielschule in der Kantstraße war bequem mit dem Autobus T zu erreichen. Nadja hatte ihren Schützling dort in die Anfängerklasse eingeschrieben. »Da machst du nichts als Atemübungen,bis dir die Puste wegbleibt«,beklagte sich Karin. »Das Gretchen spielst du noch früh genug«, tröstete Nadja sie. »Mit Erik de Winter als Faust«, träumte Karin. »Man hört so gar nichts von ihm.« »Er dreht mit Josef von Baky auf Rügen.« »Bleibt er da länger?« »Du wirst dich wohl ein bisschen gedulden müssen. Sie haben gerade erst mit den Außenaufnahmen begonnen.« Nadja zögerte unmerklich. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir reden. Du bist jung und schön. Du wirst viele Männer kennen lernen. Sie werden alle versuchen, dich ins Bett zu kriegen. Auch Erik. Ich nehme an, als Mädchen vom Lande bist du hinreichend im Bilde.« »Sie meinen, wie die Kuh zum Bullen geführt wird? Das weiß doch jedes Kind.« 34
»Aber weißt du auch den Unterschied? Die Kuh hat keine Wahl. Im Gegensatz zu dir. Wähle deinen ersten Mann aus Liebe. Vom zweiten an wähle klug.« Erst verstand Karin nicht, wie Nadja das meinte. Dann begriff sie. Ihr Innerstes lehnte sich auf. Es würde für sie nur den Einen geben. Nadja ahnte ihre Gedanken und lächelte leise. Die Anfängerklasse der Schauspielschule hatte an diesem Juni‐ morgen Fechten. Lore Brück pflegte gute Beziehungen zum Reichs‐ führer SS, und so unterwies ein Sportwart der »Leibstandarte« die angehenden Mimen. Er hieß Siegfried und war ein blonder Hüne, der das Florett erstaunlich leicht und elegant schwang. Er stand hinter Karin und führte ihre Hand. Scheinbar konzentriert folgte sie seinen Bewegungen. Dabei drückte sie den Po wie zufällig ge‐ gen seine Vorderseite. Die anderen Mädchen kicherten. Siegfried wurde rot. Es war eine ihrer kleinen Einlagen, mit denen sie den Unterricht auflockerte, zum Beispiel indem sie die Brück vollendet kopierte, bis sich alles vor Lachen bog. »Karin, man sieht, Sie haben ein ge‐ wisses komödiantisches Talent«, kommentierte die Lehrerin diese kleinen Eskapaden. »Dennoch bitte ich um etwas mehr Ernst. Auf der Bühne können Sie auch nicht dauernd herumalbern.« Lore Brück war eine glühende Nationalsozialistin. Sie hatte ihre große Zeit in den frühen zwanziger Jahren am Deutschen Theater und beim Stummfilm erlebt. Inzwischen war aus der eleganten Dame eine mütterliche Figur geworden, die ihre Zöglinge wie eine Glucke hütete. Die jungen Darsteller verehrten sie und ka‐ men mit all ihren Sorgen zu ihr. »Ich zeige Ihnen jetzt eine Terz«, kündigte der Fechtlehrer an. Niemand beachtete ihn. Lore Brück war eingetreten und mit ihr Erik de Winter. Er wurde sofort von den Schülern und Schüle‐ rinnen umringt und mit Fragen und Autogrammbitten bestürmt. Gut gelaunt wehrte er ab: »Herrschaften, ihr bringt mich ja um.« 35
Karin hielt sich im Hintergrund und wartete, bis er sie bemerkte. Er löste sich aus der Gruppe und ging auf sie zu. »Wie geht es Ihnen, Karin?«, fragte er förmlich. »Frau Brück sagt, Sie machen Fortschritte.« »Danke, es geht«, erwiderte sie hölzern. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. »Wie ich höre, Karin, ist Herr de Winter ein Freund Ihrer Fami‐ lie«, sagte die Brück. »Ich gebe Ihnen daher ausnahmsweise für den Rest des Tages frei.« »Das ist lieb von dir, Lore.« Er umarmte sie und zwinkerte Karin zu. Karin genoss die neidischen Blicke der anderen, als er sie an der Hand nahm und aus dem Ubungsraum zog. Unten wartete ein cremefarbenes »Wanderer‐Cabriolet mit offenem Verdeck. Er half ihr galant in den Wagen. Zwei Passanten erkannten ihn und blieben stehen. Er winkte ihnen lachend zu, setzte sich ans Steuer und startete. Sie führen durch die Kantstraße zur Masurenallee, am Reichs‐ rundfunk vorbei bis zum Adolf‐Hitler‐Platz und mit zunehmen‐ der Geschwindigkeit die Heerstraße bergab. Karin genoss den warmen Fahrtwind. Sie schwieg, weil er schwieg. An der Stößen‐ seebrücke bogen sie links in die Havelchaussee, die sich am Fluss entlangwand. Beim Schildhorn steuerte er das Cabriolet an den Straßenrand und hielt. Aus dem sonnenheißen Grunewald stieg harziger Kiefernduft. Auf dem Wasser blinkten weiße Segel. Über ihnen brummte das dicke kleine Reklameluftschiff von Odol. Er neigte sich zu ihr und küsste sie. Es kam für sie völlig unerwartet und war ganz anders als die unbeholfenen Küsse des Nachbarjungen damals in Cuxhaven oder die Bühnenküsse im Unterricht. Instinktiv öffnete sie die Lippen und begegnete seiner suchenden Zunge. Schauer durchliefen ihren Körper und strömten an einem Punkt zusammen. Es war wie im Kornfeld, wenn sie sich selbst berührte, nur viel schöner. 36
Er nahm ihren Kopf zwischen die Hände. Seine Stimme war warm und voller Zärtlichkeit: »Das war es, was ich dir sagen wollte.« Er fuhr langsam weiter. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. Ein unsägliches Glücksgefühl erfüllte sie. Er hatte den rechten Arm um sie gelegt und ließ den Wagen im vierten Gang rollen. Erst als die Havelchaussee hinter ihnen lag, schob er sie sachte beiseite und schaltete. »Magst du Aal grün?«, erkundigte er sich. Sie hatte keine Ahnung, was das war. Auf den Wannseeterrassen bestellte er das typisch märkische Gericht mit Petersilienkartoffeln und grüner Sauce und dazu einen Mosel. »Schmeckt gut«, lobte sie mit vollem Mund. Wie jung sie ist, dachte er. »Film — wie ist das?«, wollte sie wissen. »Die reinste Geduldsprobe. Du sitzt stundenlang im Atelier rum, bis du dran bist. Dann sagst du ein paar Worte zu deiner Partnerin, die oft gar nicht da ist, und der Regisseur lässt dich das ein Dutzend Mal wiederholen, bis er endlich zufrieden ist.« »Deine Partnerin ist oft nicht da? Ist sie krank?« Er erklärte es ihr: »Du stehst in der Szene und sprichst direkt in die Kamera, als wäre sie dein Partner. Dein Partner tut das gleiche, indem er der Kamera antwortet. Nur dass du längst beim Friseur bist oder sonst wo. Der Regisseur schneidet die beiden Einstellungen zusammen.« »Du meinst auseinander«, korrigierte sie ihn. »Zusammen. Film hat seine eigene Sprache.« Sie begriff: »Man sieht auf der Leinwand den einen sprechen und den anderen antworten, weil der Regisseur beide Einstellun‐ gen zusammengeklebt hat.« »Natürlich gibt es auch Einstellungen, in denen du das ganze Bild mit sämtlichen Darstellern siehst. Oder einen Kamera‐ schwenk von der einen Seite zur anderen, von oben nach unten, von nah nach fern oder umgekehrt. Das kommt immer aufs Dreh‐ buch an. Verstehst du᾿s so etwa?« 37
Sie überlegte. »Kann ich nochmal Aal grün haben?«, bat sie schließlich und futterte sich mit sichtlichem Appetit auch durch die zweite Portion. »Die einzelnen Aufnahmen sind also nicht be‐ sonders lang?« »Wenn᾿s hoch kommt, drehen wir ein paar Minuten hinterei‐ nander.« »Und wenn du was verpatzt, machst du᾿s einfach nochmal. Da kann doch gar nichts schief gehen.« »Du hast den Schwindel erfasst. Magst du einen Eisbecher zum Nachtisch?« Sie mochte. Es wirkte ungemein erotisch, wie sie mit ihrer rosa Zungenspitze das letzte bisschen Eis hingebungsvoll vom Löffel leckte. »Wohin fahren wir?«, fragte sie unternehmungslustig. »Wenn du willst, zu mir. Ich bringe dich aber auch gerne nach Hause.« »Zu dir«, bat sie. Um nichts in der Welt hätte sie ihr Zusammen‐ sein mit ihm jetzt schon beenden mögen. Erik de Winter wohnte in der Lietzenburger Straße, nicht weit vom Kurfürstendamm. Karin bestaunte die hellen eleganten Räu‐ me mit Bauhausmöbeln und Kunstgegenständen. Sie deutete auf das Ölbildnis einer Frau. »Die guckt ziemlich schief in die Ge‐ gend.« »Ein Pechstein«, erklärte er. »Entartete Kunst, wie man heute sagt. Der Minister meint, ich solle die Dame lieber etwas unauf‐ fälliger hängen. Er sieht mir so einiges nach.« »Du kennst einen Minister?« »Dr. Joseph Goebbels, Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda. Ein interessanter Mann. Hat viel für uns Filmleute übrig. Kommt gelegentlich vorbeischauen, wenn ihm im Amt die Decke auf den Kopf fällt. Komm, ich zeig dir den Rest der Woh‐ nung.« Die in den Marmorboden des Bades eingelassene große Kachelwan‐ ne löste Entzückensrufe bei ihr aus. »Darf ich?«, fragte sie spontan. 38
Er drehte die Hähne auf und goss eine duftende Essenz ins Was‐ ser, bevor er sie alleine ließ. Karin zog sich aus und stieg ins Be‐ cken. Wohlriechender Schaum hüllte sie ein. Übermütig drückte sie den riesigen Badeschwamm auf dem Kopf aus. »Erik«, rief sie. »Komm auch rein.« Er erschien im weißen Bademantel, ein Tablett mit Champag‐ nerflasche und ‐gläsern balancierend. Er stellte das Tablett an die Wanne und ließ den Bademantel fallen. Unbefangen sah sie zu ihm auf, musterte seine kräftige Gestalt, streckte ihm verlangend die Arme entgegen. Er kam zu ihr ins Wasser und zog sie an sich. Er spürte ihre Brüste, während er sie küsste. Ihre Hand tastete zögernd nach ihm, wurde kühner. Erregung stieg in ihm auf. »Du bist aber groß«, staunte sie unschuldig. Er füllte die Gläser. Sie trank ihres in einem Zug leer, er nahm einen Schluck. Er umfasste ihre Taille und hob sie auf den Rand des Beckens. Sie schrie vor Vergnügen, als kühler Champagner ihr Dreieck benetzte. Sachte teilte er ihre Schenkel und vergrub sein Gesicht in ihrem Schoß. Ein himmlisches Gefühl meldete sich, nahm unaufhaltsam zu, war kaum zu ertragen, bis sie zum Höhepunkt kam. Er kniete sich vor sie. »Schau hin«, befahl er. »Ich möchte, dass du alles siehst.« Behutsam drang er in sie ein, und der Anblick war so neu und so aufregend, dass sie den leisen Schmerz gar nicht merkte. Erst als er sie triefend nass vom Bad zum Bett getragen und diskret ein Häutchen übergestreift hatte, ließ auch er sich gehen. An diesem schwülen Berliner Augustnachmittag fand er eine ge‐ lehrige Schülerin. Der Abend dämmerte. Vom Olivaer Platz schwebte Rosenduft durchs offene Fenster. Eine späte Amsel flötete. Von ferne kündigte sich ein Gewitter an. Erschöpft und glücklich lagen sie neben‐ einander. Karin rollte herum, stützte das Kinn auf seine Brust. »Erik... ?« 39
»Ja, Schatz.« »Erik — ich will zum Film.« »Meine Damen, meine Damen. Wir spielen hier keine Judenschule, sondern ein preußisches Mädchenpensionat. Bitte Ruhe und Dis‐ ziplin«, rief Regisseur Conrad Jung beschwörend. Jung war ein leb‐ hafter mittelgroßer Vierziger mit grauem Haar. Er klatschte in die Hände. Die jungen Darstellerinnen in den Bänken verstummten. Der Klappenmann trat vor die Kamera und trompetete: »Pflicht und Liebe, Bild sechsundachtzig, Einstellung zwanzig, das dritte Mal!« Er ließ die Klappe sinken. Langsam rollte die Kamera auf die Schulbänke zu. Karin saß halb verdeckt in der zweiten Reihe. Wie die anderen trug sie Schürze und Flügelkleid à la 1914 und war über ihr Heft gebeugt. Sie rutschte nach links, um ins Bild zu kommen. »Halt!«, rief Jung ärgerlich. »Sie da in der zweiten Reihe.« »Ich heiße nicht ›Sie da‹, ich heiße Karin Rembach«, sagte Karin unerschrocken. »Bleiben Sie auf Ihrem Platz und schauen Sie gefälligst in Ihr Heft, Fräulein Rembach. Wir drehen nämlich schon eine halbe Minute, falls Ihnen das entgangen sein sollte.« Karin stand auf. »Er hat die Klappe nicht geschlagen. Ich dachte daher, die Kamera läuft noch nicht.« »Setzen Sie sich. Aufnahme bitte.« Karin blieb stehen. »Was ist denn jetzt noch?« Der Regisseur war sichtlich ungehalten. »Wäre es nicht besser, wenn mich die Lehrerin aufruft, und ich deute beim Aufstehen überrascht aus dem Fenster, weil Rittmeis‐ ter von Stechow gerade vorfährt ... ?« »Haben Sie das gehört? Fräulein Rembach hat die Regie über‐ nommen.« Alles lachte. »Erik, du hast mir dieses Naturtalent ein‐ gebrockt, was meinst du?« Erik de Winter hielt sich abseits. Er war zwei Einstellungen spä‐ ter dran. Er trug die Uniform eines Rittmeisters der Gelben Ula‐ nen. »Kalle hat die Klappe tatsächlich nicht geschlagen. Und was 40
Fräulein Rembachs Vorschlag betrifft, so finde ich ihn nicht schlecht. Du solltest das mal probieren, Conrad.« »Na schön. Dann lass uns Nägel mit Köpfen machen. Die Rem‐ bach steht nicht stumm auf, sondern sagt uns, was sie draußen sieht, damit wir Minderbegabten kapieren, was los ist. Vielleicht ist die Künstlerin auch gleich so gütig, ihren Text selber zu formulieren?« Sein Sarkasmus war so dick wie saure Sahne. Karin setzte sich, schaute auf ihr Heft, hob den Kopf in Richtung der außerhalb des Bildes befindlichen Lehrerin. »Ja, Fräulein von Ilmen?« Sie stand auf, streifte das Fenster mit einem Blick, sah nach vorne, begriff überrascht, wen sie gesehen hatte und wandte den Kopf erneut zum Fenster. »Fritz«, sagte sie leise, eine Spur Sehnsucht in der Stimme, und verbesserte sich sofort: »Rittmeister von Stechow.« »Gar nicht übel«, räumte Jung widerwillig ein. »Wieso nennt die Schülerin den Rittmeister beim Vornamen?« »Der Zuschauer soll ahnen, dass Ulrike in ihn verliebt ist.« »Drehen wir das mal«, entschied Conrad Jung. »›Die Rembach‹ hat er gesagt«, schwärmte Karin mittags in der Kantine. »Du hast ihn beeindruckt, obwohl er das niemals zugeben wird. Mich übrigens auch. Du warst schlicht und einfach gut.« »Ohne dich wäre ich nicht hier in Babelsberg.« Sie hob Eriks Hand an die Lippen. Ihre Zunge glitt feucht über die Innenseite, dass es ihm durch und durch ging. »Conrad schuldete mir diesen kleinen Gefallen.« Sie ließ seine Hand sinken. »Ist er ein guter Regisseur?« »Er hat als Assistent bei Fritz Lang gelernt, und sich nach dessen Abgang mit einigen Schlachtenfilmen bei der UfA einen Namen gemacht. Massenszenen sind seine Stärke. Er steht darum hoch in Gnaden. Als nächstes dreht er einen großen historischen Film über die Königin Luise.« Karin biss herzhaft in ihre Bockwurst. »Wer spielt die Königin?« 41
»Die Hielscher ist im Gespräch. Aber wahrscheinlich ist sie dem Minister nicht arisch genug.« »Wie ist er privat?« »Jung? Ein Familienmann. Fünf Kinder. Böse Zungen behaup‐ ten, er liege da mit Goebbels im Dauerrennen.« »Willst du Kinder?« »Dazu müsste man heiraten.« »Ja?«, fragte sie erwartungsvoll. »Hör zu, Schatz«, wich er aus. »Ich drehe mit Willi Forst am Rosenhügel. Wir werden uns ein paar Monate nicht sehen.« »Gleich ein paar Monate? Dann genehmige ich dir eine kleine Wiener Komparsin«, überspielte sie ihre Enttäuschung. Als sie auf dem Rückweg zur Halle am Schnitthaus vorbei‐ kamen, dröhnte Marschmusik aus den mit Rücksicht auf Tonauf‐ nahmen sonst eher schweigsamen Lautsprechern. Die deutsche Armee war in Polen einmarschiert. »Erik, bin ich arisch genug?«, fragte sie plötzlich. Er wusste, worauf sie hinauswollte. »Blonder geht᾿s nicht, schlank und groß bist du auch – und wunderschön. Aber mach dir keine Hoffnungen. Conrad Jung besetzt keine Anfängerinnen. Du bist nämlich noch längst nicht so weit. Sehen wir uns heute Abend?« Er hatte Karin eine kleine Wohnung am Hohenzollerndamm Ecke Mansfelder Straße eingerichtet. Dort besuchte er sie, so oft er konnte. Sie kochte mit viel Begeisterung, und er blieb über Nacht. Doch am schönsten waren ihre Liebesfeste in seinem Marmorbad. »Keine Zeit«, beschied sie ihn einsilbig. Bis lange nach Mitter‐ nacht lag sie wach und dachte nach. Nadja Horn sagte das gleiche wie Erik, wenn auch mit anderen Worten: »Na fein, du hast dir diese kleine Sprechrolle ergaunert. Sehr geschickt, das muss dir der Neid lassen. Aber das macht dich nicht gleich zur Schauspielerin. Geh weiter zur Schule, lerne deine 42
klassischen Rollen. Wenn du gut bist, kommt der Erfolg von selber. Falls die braunen Rumpelstilzchen inzwischen nicht alles kaputtgemacht haben.« Nadja machte kein Hehl aus ihrer Wert‐ schätzung für die Nationalsozialisten. Sie schenkte Tee nach. »Bist du glücklich mit ihm, Kind?« »Er ist der beste Mann der Welt. Nadja – wie sah die Königin Luise aus?« »Seit wann interessierst du dich für Geschichte?« »Seit Conrad Jung einen Film über sie plant.« »Nun fang nicht schon wieder damit an. Schlag dir das aus dem Kopf.« »Luise von Mecklenburg‐Strelitz, Gemahlin Friedrich Wilhelms III. von Preußen. Geboren 1776. Mutter Friedrich Wilhelms IV. und Wilhelms I. Napoleon war sehr beeindruckt von ihrer auf‐ rechten Haltung nach seinem Sieg über Preußen.« Karin hatte den Großen Brockhaus gelesen. »Sie muss sehr schön gewesen sein«, meinte sie verträumt. »Sie starb schon mit sechsunddreißig Jahren. Nicht wahr, ich wirke älter als ich bin.« »Du hast was vor?« Karin hatte sich alles genau zurechtgelegt: »Jung dreht noch drei Wochen an ›Pflicht und Liebe‹. Danach schneidet er den Film. So‐ lange fährt er nur Sonnabend‐Sonntag zu seiner Familie an den Scharmützelsee. Die Woche über bleibt er in der Stadt. Er hat ein Apartment am Lehniner Platz, gleich hinter dem ›Kabarett der Komiken. Da werde ich ihn als Luise überraschen. Nadja, helfen Sie mir?« »Du bist meschugge.« »Was kann denn schon passieren, außer dass er mich rauswirft?« Nadja Horn nahm nie Zucker zum Tee. Jetzt tat sie einen Würfel nach dem anderen in die Tasse, ohne es zu merken. Nach dem sechsten Stück brach sie in nicht enden wollendes Gelächter aus. »Das ist die verrückteste Geschichte des Jahres«, rief sie begeistert. »Wir werden Manon Arens fragen«, fügte sie etwas ruhiger hinzu. 43
Manon Arens war ein buckliges ältliches Fräulein. Sie wirkte seit Urzeiten als Kostümbildnerin am Schauspielhaus. »Eine Empire‐Robe, hellblau, mit grauem Besatz«, entschied sie und präsentierte ihren Besucherinnen das Passende mit sämtlichem Zubehör aus dem Kostümfundus. »Toi‐toi‐toi, mein Kleines«, kicherte sie und sah zur drei Köpfe größeren Karin auf. Um die historische Haartracht mit Diadem kümmerte sich Ro‐ land‐Roland, der Starcoiffeur der Komischen Oper. Er kam dazu in Nadjas Wohnung. Er war nicht eingeweiht und wünschte: »Viel Spaß beim Kostümfest.« Nadja betrachtete Karin mit kritischem Blick. »Du bist eine be‐ zaubernde junge Königin«, urteilte sie, als taxiere sie ein Renn‐ pferd. Sie legte ihrem Schützling ein langes schwarzes Abendcape um. »Karin Rembach passt nicht zu dir. Du brauchst einen ande‐ ren Namen.« »Verena van Bergen«, schlug Karin spontan vor. »Erinnern Sie sich?« »Natürlich erinnere ich mich. Gut, warum nicht Verena van Bergen? Das klingt arisch und aristokratisch. Genau was die brau‐ nen Rumpelstilzchen mögen. Toi‐toi‐toi, mein Kleines.« Ein Taxi brachte Karin zum Lehniner Platz. Conrad Jung machte die Tür auf. Er erkannte seine Besucherin nicht. »Darf ich rein‐ kommen?«, bat sie. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?« Sie klappte die Kapuze zurück und ließ das Cape fallen. Hoch aufgerichtet stand sie im hellblauen Empiregewand vor ihm. Das Diadem in ihrem Haar schimmerte im Wettstreit mit ihren Augen. »Ich bitte nicht für mich, Sire«, sagte sie mit warmer Stimme. »Ich bitte für Preußen.« Er war verblüfft, und er wusste jetzt, wer sie war: »Karin Rem‐ bach, nicht wahr?« »Von nun an Verena van Bergen.« Er musterte sie voll Bewunderung. »Gut inszeniert, Verena van 44
Bergen«, lobte er. »Trotzdem — warum soll ich Ihnen die Rolle geben?« Karin öffnete eine Spange. Das Kleid sank zu Boden. Darunter war sie nackt. »Darum«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln. »Du hast schnell gelernt. Meinen Glückwunsch zur Königin Lu‐ ise.« Erik de Winter war aus Wien gekommen, um sich zu verbeu‐ gen. Conrad Jungs »Pflicht und Liebe« hatte im Gloria‐Palast Uraufführung. »Sehen wir uns nach der Vorstellung?« »Ich fürchte nein.« Ein Instinkt warnte sie davor, sich auf der Premierenfeier mit altem und neuem Liebhaber zu zeigen. »Ich habe früh Fahrunterricht. Das Auto ist schon bestellt. Ein DKW‐ Cabriolet, schwarzgelb mit Speichenrädern. Kann᾿s noch immer nicht glauben, dass ich mir sowas leisten kann. Bitte nicht böse sein, Erik.« »Dann eben ein anderes Mal.« Er war ein guter Verlierer. Sie umarmte ihn. Ihre Lippen waren dicht an seinem Ohr. »Danke«, flüsterte sie. »Danke für alles.« »Ganz locker bitte, Fräulein Rembach. Langsam die Kupplung kommen lassen. Ja, gut so. Zugleich leichten Druck aufs Gaspedal, als wär᾿s ein rohes Ei.« Das mit dem rohen Ei klappte nicht so recht, denn der Schul‐ wagen schoss abrupt vorwärts und drohte aufs Trottoir zu geraten, weil Karin das Steuer krampfhaft fest hielt, nur leider nicht gerade‐ aus. Der Fahrlehrer korrigierte das gelassen. »So, nun den rechten Fuß vom Gaspedal und den linken wieder auf die Kupplung. Hal‐ ten Sie die Kupplung getreten. Legen Sie den zweiten Gang ein, wie wir᾿s am Trockenmodell geübt haben. Nein, nicht hinschauen. Sehen Sie nach vorn, wohin Sie fahren. Na bitte, das geht ja. Run‐ ter von der Kupplung, rauf aufs Gas. Schön geradeaus lenken. Und jetzt den dritten und letzten Gang. Kupplung, Schalten, Gas.« 45
Ein Architekt namens Speer hatte vom Brandenburger Tor bis zum Adolf‐Hitler‐Platz eine Bresche ins Häusermeer des Berliner Westens geschlagen und eine Straße angelegt, die breit genug war für Aufmärsche, Paraden und Tausende von Zuschauern. Die hatte der Fahrlehrer als Übungsstrecke gewählt. Karin umrundete die Siegessäule und nahm Kurs aufs Brandenburger Tor. Solange sie sich aufs Steuer konzentrieren konnte, ohne von Kupplung und Gangschaltung abgelenkt zu werden, ging die Sache recht gut. »Bravo«, rief ihre Mitschülerin vom Rücksitz. »Isabel Jordan«, stellte sie sich nach der Fahrstunde vor. Sie war eine schlanke dunkelblonde Frau mit grauen Augen, größer als Karin und ein paar Jahre älter. »Karin Rembach.« »Ihre erste Stunde, nicht wahr? Ich habe schon fünf hinter mir. Mein Mann besteht darauf. Er sagt, er habe es satt, mich zur Schneiderin zu fahren. In Wirklichkeit möchte er chauffiert werden, damit er auf dem Weg zum Gericht seine Akten studieren kann. Er ist Rechtsanwalt, müssen Sie wissen.« Isabel Jordan plauderte munter drauf los. »Und Sie, Fräulein Rembach?« »Ich bin Filmschauspielerin. Ich habe mir gerade mein erstes Auto bestellt.« »Gratuliere. Mein Mann hat viele von euch Filmleuten als Mandanten. Da ist er ja. Kommen Sie, wir fahren Sie nach Hause. Darling, das ist Karin Rembach. Sie ist Schauspielerin.« »Verena van Bergen, nicht wahr?« Dr. Rainer Jordan küsste Ka‐ rins Hand. »Conrad Jungs Königin Luise. Ganz Babelsberg spricht von Ihnen.« »Mein Künstlername«, erklärte Karin ihrer neuen Bekannten. »Ein richtiger Filmstar also. Wann geht᾿s denn los?« »Nächste Woche. Die Dreharbeiten dauern fast ein Jahr.« »Wenn sich die Großmächte nicht über Polen einigen, sind wir dann schon mitten im Krieg«, prophezeite Dr. Jordan. 46
»Hören Sie nicht auf ihn. Er ist von Berufs wegen Pessimist. Sie müssen bald mit uns zu Abend essen. Ich rufe Sie an.« Aus dem Rundfunkempfänger in der Garderobe tönte eine keh‐ lige Stimme im Tonfall eines Wiener Vorstadtstrizzis: »Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen.« Man schrieb Freitag, den 1. Septem‐ ber 1939. Die deutsche Wehrmacht war in Polen einmarschiert. »Na nu sind wa mittenmang die Scheiße.« Grethe Weiser drehte das Radio ab. Der Regisseur hatte der beliebten Volksschauspie‐ lerin die Rolle der Gräfin Thann zugedacht, einer Hofdame, die der jungen Königin auf gut Berlinerisch die Wahrheit sagt. Karin mochte ihre Kollegin, die auch ohne Drehbuch kein Blatt vor den Mund nahm. »Nach allem, was die Polen uns angetan haben... Irgendwann reißt eben auch Ihm der Geduldsfaden«, verteidigte Karin den Herrscher des Großdeutschen Reiches. Wie die Mehrzahl der Menschen im Lande wusste sie nichts von den SS‐Leuten in pol‐ nischen Uniformen, die auf höchsten Befehl den Reichssender . Gleiwitz nahe der Grenze überfallen hatten, letzter Vorwand für einen Krieg, der ohnehin vorgesehen war. Außerdem war sie viel zu sehr mit ihrer Rolle beschäftigt, um nachzudenken. »In ein paar Wochen ist wieder Frieden.« »Täusch dir nich, Kleene. Wenn so eener richtich uffn Jeschmack kommt, hörta nich mehr uff mitm Fressen.« Die Weiser fuhr‐ werkte energisch mit der Puderquaste, dass es staubte. »Na lassen wa det. Jetz drehn wa beede als jehorsame Reichszellerloidschaf‐ fende erst main scheenen Film. Und weeßte wat, Kleene, mit dir halt ick det leicht ᾿n paar Monate aus.« »Also das ist unsere Königin Luise.« Karin registrierte den rheini‐ schen Tonfall, den bewundernden Blick aus intelligenten braunen Augen, das glatte dunkle Haar, die hohe, etwas fliehende Stirn, das an ungezählten Frauen erprobte charmante Lächeln. Ein 47
makellos geschnittener Zweireiher und ein Hauch Russisch Juchten rundeten die Erscheinung des Gastgebers ab. Reichsmi‐ nister Dr. Joseph Goebbels war kleiner als Karin und bewegte sich trotz seines verwachsenen Fußes mit flinker Eleganz. Er schenkte eigenhändig Sekt ein. Man befand sich in kleinstem Kreise im privaten Vorführraum des Ministers. Conrad Jung hatte seine Hauptdarsteller zur Vorschau des Filmes mitgebracht. Zehn Mo‐ nate anstrengender Dreharbeiten lagen hinter ihnen. »Danke, Herr Minister.« Karin nahm ihr Glas entgegen. Wieder dieser bewundernde Blick. Ein bisschen zu abschätzend, fand sie. »Kommen Sie, liebe gnädige Frau, setzen Sie sich zu mir. Ich nehme an, Sie haben das Werk unseres Freundes Jung schon gesehen?« »Nur einzelne Szenen auf dem Schneidetisch.« »So ist es auch für Sie eine Premiere, und ich kann Ihnen Ihr Herzklopfen nachfühlen. Ich bin gespannt. Fangen wir an?« Ein Adjutant in brauner Parteiuniform gab das Zeichen. Die Wandleuchter verloschen. Auf der Leinwand erschien das UfA‐ Symbol. Der Film begann. Er war eine Mischung aus höfischem Prunk, eindrucksvollen Massenszenen und anrührenden Episoden aus dem Leben der jungen Königin. Conrad Jung und sein Ka‐ meramann hatten Karin die schlichte klassizistische Schönheit Luises gegeben. Die Szene mit Napoleon, den sie selbstlos für die Menschen ihres Landes um Milde bittet, bildete den Höhepunkt. Die Musik schwoll zum Crescendo, die Lichter flammten auf. Bange hielt Karin den Kopf gesenkt, wartete auf das Urteil, das sie erheben oder vernichten würde. Ringsum war Schweigen. Keiner wagte, etwas zu sagen, bevor der Minister sich geäußert hatte. Aus dem Augenwinkel sah sie ihren Nachbarn. Goebbels griff nach seinem Glas, drehte nachdenklich den Stiel hin und her, nahm einen kleinen Schluck, genoss sichtlich die ängstliche Span‐ nung, die er erzeugte. Schließlich wandte er sich zu ihr, hob die Hände und applau‐ 48
dierte. »Eine wunderbare künstlerische Leistung, ich gratuliere.« Alles klatschte Beifall. Karin atmete auf. »Verena van Bergen, ich verspreche Ihnen eine große Zukunft.« Er küsste ihre Hand, suchte dabei ihre Augen. Seine Aufmerk‐ samkeit war ihr unangenehm. Sie ließ sich nichts anmerken und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Danke, Herr Minister.« »Auch Ihnen, Conrad Jung, und allen anderen Beteiligten meine Hochachtung. Ein großer Film. Wir werden ihn nach dem Endsieg zur Biennale schicken. Bis dahin lassen wir ihn ruhen. Wir stehen im zweiten Kriegsjahr. Unsere Soldaten kämpfen in Frankreich. Wir können ihnen und dem deutschen Volk jetzt keinen franzö‐ sischen Sieg und eine preußische Niederlage zumuten. Sie werden mir zustimmen, das wäre Verrat.« »Jawohl – sehr richtig – wie weitblickend ... « Die Unterwürfig‐ keit nahm kein Ende. »Was meinen Sie, Frau van Bergen?« Um Goebbels Mundwinkel zuckte es spöttisch. »Melden Sie den Film nächstes Jahr für Venedig.« Beklommenes Schweigen breitete sich aus. Hatte sie gewagt, dem Mächtigen zu widersprechen? Goebbels hob ihr sein Glas entgegen. »Ihr Wohl, meine Liebe.« Er hatte sofort verstanden. In der Küche zog es. Zwei Fensterscheiben waren beim letzten Luftangriff zersplittert, die Pappe war dürftiger Ersatz. Karin mahlte Kaffee. Erik hatte ihn zusammen mit einem Paar Seiden‐ strümpfen geschickt. Er drehte in Paris. »Sahne habe ich keine. Zucker nur noch einen Würfel«, rief sie. »Im vierten Kriegsjahr kein Wunder.« Conrad Jung kam aus dem Bad. Er tupfte sich den letzten Rasierschaum vom Kinn. »Den Zucker spar dir fürs Pferd. Du spielst eine tapfere junge Gutsfrau, deren Mann an der Ostfront steht, während sie daheim mit pol‐ nischem und russischem Landarbeitergesindel fertig werden muss, 49
das die Ernte sabotiert. Die Autoren wollten dich am Ende den Heldentod sterben lassen, aber das habe ich geändert.« »Danke, Conrad, ich hasse Sterbeszenen.« »Goebbels möchte, dass du die Rolle übernimmst. Du hast damals als Luise großen Eindruck auf ihn gemacht, und deine letzten beiden Filme haben ihm auch gefallen. Er hat dich nicht vergessen.« »Ich bin gerührt.« »Ich lass dir das Drehbuch mal da. Er will es bald mit uns besprechen. Er erwartet, dass ich verhindert sein werde. Er möchte mit dir schlafen. Du fehlst ihm in seiner Sammlung.« »Soll ich empört sein oder geschmeichelt?« Karin schenkte Kaf‐ fee ein. »Kommt drauf an, was du willst.« »Und du?« Sie strich ihm ein Honigbrötchen. »Wir haben uns in letzter Zeit wenig gesehen. Ich werde von nun an mehr zu Hause sein. Lore erwartet unser Sechstes. Sie ist eine wunderbare Frau. Du brauchst mich schon längst nicht mehr. Natürlich drehen wir weiter zusammen.« Er ging ins Schlaf‐ zimmer, um sich anzukleiden. »Wie du dich entscheidest, ist deine Sache. Denk dran — Goebbels kann dich unbegrenzt fördern.« Nadja Horn war die einzige Person, der Karin vertraute. Nadja würde wissen, was richtig war. Karin parkte am Breitenbachplatz und ging die paar Schritte zum Südwestkorso. Der Explosionsdruck einer Bombe hatte die Haustür aus den Angeln gehoben. Sie stieg zur ersten Etage hinauf und läutete. Nadja war im Negligé. »Du musst schon entschuldigen, dass ich hier so einfach rein‐ platze. Ich brauche dringend deinen Rat.« Nadja hatte ihr vor einiger Zeit das ›Du‹ angeboten. »Komm rein.« Auf den elfenbeinfarbenen Schleiflackmöbeln im Salon blitzten Glassplitter. »Frieda hat noch nicht aufgeräumt«, entschuldigte sich Nadja. »Wieder ein Fenster weniger. Sogar die 50
Pappe wird knapp. Möchtest du einen Sherry?« Sie hatte immer den einen oder anderen kleinen Genuss aus Friedenstagen parat. »Nein, danke. Hör zu.« »Dein Liebhaber Conrad Jung verlässt dich nicht nur, sondern rät dir auch noch, mit wem du schlafen sollst«, fasste Nadja Horn das Gehörte trocken zusammen. »Trotzdem kein Grund, gekränkt zu sein. Vergiss nicht, warum du ursprünglich mit ihm ins Bett gegangen bist.« »Du könntest es ein bisschen taktvoller formulieren.« »Hüte dich vor Goebbels. Er ist klein, hässlich und hat von Geburt einen Klumpfuß, den er als Folge einer Kriegsverletzung ausgibt. Seinen Minderwertigkeitskomplex kompensiert er unent‐ wegt mit neuen Eroberungen. Da er auch Herr der bewegten Bilder ist, bedient er sich großzügig aus den Besetzungslisten von UfA, Terra und Tobis.« »Nadja, was soll ich tun?« »Ihm ausweichen, und zwar so, dass sein Ego keine Delle kriegt. Mein Freund Kurt Hoffmann dreht ein Lustspiel in Prag. Da bist du weit vom Schuss.« »Ein Lustspiel? Ich will kein läppisches Lustspiel, sondern eine dramatische Gegenwartsrolle.« »Als blonde germanische Gutsfrau, die mit dem Abschaum aus dem Osten ganz allein fertig werden muss und dazu ein paar von diesen Untermenschen kaltblütig abknallt?« Nadja hatte das Dreh‐buch gelesen. »Der Krieg ist verloren. Später musst du für so eine Hetzrolle Rechenschaft ablegen. Sei nicht dumm. Geh nach Prag. Ich rede mit Hoffmann.« Hinter Karin war ein Geräusch. Unwillkürlich wandte sie sich um. Erik de Winter stand in der Tür zum Schlafzimmer. Er trug ein Dressing Gown und sah aus wie in einer seiner Salonrollen. »Erik?« »Seit gestern zurück aus Paris. General von Choltitz hat die kampflose Räumung befohlen. Die schönste Stadt der Welt bleibt 51
uns erhalten. Darling, wie geht es dir?« Er zog sie an sich, gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie roch Nadjas Parfum an seiner Schul‐ ter. Mit einem Mal wusste sie, dass sie ihn immer noch liebte. »Ich wusste gar nicht, dass ihr Zwei neuerdings zusammen seid. Gratuliere.« »Neuerdings. Hast du das gehört?« Nadja lachte ihr dunkles Bühnenlachen. »Wir waren schon ein Paar, als es dich noch gar nicht gab, Kleines. Mit Unterbrechungen, gebe ich zu. Die Ab‐ wechslung kam letztlich uns beiden zugute, nicht wahr, Erik.« Es war Nadjas kleiner Triumph über die Jüngere. »Ich muss gehen. Danke für deinen Rat, Nadja. Erik, vielen Dank für dein Päckchen.« Ihr DKW wollte nicht anspringen. Vergeblich zog Karin Luft‐ klappe und Startknopf. Wie einige andere ausgesuchte »Kultur‐ schaffende« hatte auch sie den begehrten roten Winkel am Num‐ mernschild, der sie berechtigte, ein Kraftfahrzeug zu betreiben. »Na, Frolleinchen, det kleene Wunda will wohl nich«, griente ein junger Mann. Er schwang sich geschickt zwischen zwei Krük‐ ken näher. Sein linkes Bein endete knapp unterhalb der Hüfte. Er trug ein goldenes Verwundetenabzeichen an der Jacke. »Lassen᾿se mal sehen.« Er machte die Vorderhaube auf, fummelte in den Tie‐ fen des Motors und rief: »Starten᾿se mal.« Tuckernd sprang der Motor an. Karin beugte sich aus dem Fens‐ ter. »Was war los?« »Die Kraftstoffleitung war los. Hab se provisorisch festjezogen. Aba die Werkstatt muss die Mutta richtich anknallen, sonst löst᾿se sich wieda. Sagen᾿se, kenn ick Ihnen nich? Na klar, jetzt weeß ick. Sie sind Verena van Bergen. Ick habe Sie im Film jesehen.« »Nett von Ihnen, dass Sie mich erkennen. Und wie heißen Sie?« »Paul Kasischke.« »Freut mich, Herr Kasischke. Kommen Sie, steigen Sie ein. Wo‐ hin wollen Sie?« 52
»Zu Muttern. Die arbeetet bei die Kühe.« Vom Breitenbachplatz war es nicht weit zur Domäne Dahlem, dem Staatlichen Gut, das die Eingemeindung des Dorfes in die Stadt Berlin überlebt hatte. Karin ließ die Straßenbahn 40 pas‐ sieren. Dann bog sie in den Hof. Sie half ihrem Fahrgast aus dem Wagen. »Harn᾿se ᾿nen Oogenblick üba? Mutta freut sich dusslich, wenn‐ ᾿se Eene vom Film sieht.« Karin folgte ihm mit unbeholfenen Schritten. Ihre modischen Keilabsätze machten sich nicht gut auf dem Kopfsteinpflaster. Im Stall war es besser. Sechs Frauen sahen misstrauisch von ihren Kühen auf. Die elegante Erscheinung in Hut und Seidenstrümp‐ fen passte nicht hierher. »Mutta, det is Verena van Bergen. Die hat mir in ihr Auto her‐ jefahren, und nu will᾿se dir juten Tag sagen.« Unbefangen streckte Karin die Hand aus. »Guten Tag, Frau Kasischke. Ihr Sohn hat mir sehr geholfen. Mein Wagen wollte nicht anspringen.« Mutter Kasischke musterte sie von Kopf bis Fuß. »Ich habe Sie im Kino gesehen. Danke, dass Sie meinen Jungen gebracht haben. Er ist schlecht zu Fuß. Dafür hat er ein schönes goldenes Abzei‐ chen.« Ihre Bitterkeit war nicht zu überhören. »Es tut mir wirklich leid. Wenn ich irgendwie helfen kann ... « »Die schöne junge Dame vom Film kann ja mal᾿n bissken mit‐ melken«, ulkte eine der Frauen. »Mit Handschuhen«, mokierte sich eine andere. »Halten Sie mal.« Karin streifte ihre Handschuhe ab und reichte sie Mutter Kasischke. Sie zog das Kleid ungeniert bis hoch über die Knie und setzte sich breitbeinig auf den Melkschemel. Mit kräftigem Strahl strullte die Milch in den Eimer. »Mensch, die is echt eene von uns«, sagte jemand andächtig. Karin stand auf. »Wie man sich täuschen kann, nicht wahr? Guten Tag, meine Damen. Vielen Dank, Herr Kasischke.« Sie wen‐ 53
dete den Wagen und fuhr los. Was wohl aus ihm werden würde, nach dem Krieg? »Der Krieg ist verloren«, meinte sie Nadjas Stimme zu hören. Ob Nadja Recht hatte? Sollte sie lieber ein Lustspiel in Prag dre‐ hen? Andererseits lockte Conrads Angebot. Sie hatte um fünfzehn Uhr einen Termin mit dem Fotografen. Zeit genug für eine Stipp‐ visite bei Lore Brück. Eine unabhängige zweite Meinung konnte nichts schaden. »Wie nett, dass du deine alte Lehrerin besuchst.« Lore Brück war sichtlich gerührt. »Hier ist es still geworden. Unsere jugend‐ lichen Liebhaber und künftigen Charakterdarsteller stehen an der Front. Stell dir vor, Karin, der Erwin Meinke aus deiner Klasse ist inzwischen Oberstleutnant. Die Mädchen sind fast alle dienstver‐ pflichtet. Aber deine Arbeit ist genauso wichtig. Wir brauchen gerade jetzt Darsteller, die den deutschen Menschen verkörpern.« »Darum bin ich hier. Ich möchte Ihren Rat, Frau Brück. Der Minister will, dass ich eine dramatische Rolle unter Conrad Jungs Regie übernehme, eine deutsche Gutsbesitzerfrau. Nadja Horn meint, der Krieg sei verloren, und so eine Rolle könnte mir später übel angekreidet werden. Bitte sagen Sie mir Ihre ehrliche Mei‐ nung.« Lore Brück lachte ihr warmes mütterliches Lachen, mit dem sie eine ganze Schülergeneration getröstet hatte, wenn mal was dane‐ ben ging. Sie zog Karin an sich. Ihr fülliger Busen war angenehm warm. »Schlimm, schlimm«, seufzte sie. »Meine Kleine in solch einen argen Konflikt zu stürzen.« Ebenso schnell schob sie Karin wieder von sich und rief ver‐ gnügt: »Wir machen die vorletzte Flasche Rheinhessen auf und plaudern über alte Zeiten. Weißt du noch, wie du mich immer nachgemacht hast? Das waren kleine Meisterleistungen. Nur dass ich dir das nicht so deutlich sagen mochte.« Lore Brück gluckste. »Ich hatte deine Begabung schon damals erkannt.« Sie blätterten in alten Alben voller Zeitungsausschnitte aus Lore 54
Brucks Bühnentagen. Karin wies auf das Foto eines markanten Männerprofils mit Widmung: »Sieht interessant aus. Wer ist das?« »Ein gewisser Max Goldmann. Versteckte sich als Regisseur hin‐ ter dem arischen Namen Reinhardt. Verschwand irgendwann nach Amerika.« »Was meine Frage betrifft ... «, erinnerte Karin die Lehrerin zum Abschied. »Findet sich alles von selbst. Folge einfach deinem Gefühl, Kind.« Die Brück schob sie zur Tür hinaus und eilte zum Telefon. Ein stundenlanger Bombenangriff der Engländer hielt die Bewoh‐ ner des Hauses Hohenzollerndamm 25 die halbe Nacht im Keller fest. Karin schlief noch tief, als es früh um acht läutete. Draußen standen zwei Männer in langen grauen Ledermänteln und Filzhü‐ ten. »Geheime Staatspolizei.« Sie wiesen ihre Dienstmarken vor. »Frau Karin Rembach, genannt Verena van Bergen?« »Ja?« Ein seltsames Gefühl beschlich sie. Sie hatte von der Ge‐ stapo gehört, wie von einem nebelhaften Phantom. Und nun stan‐ den die Abgesandten vor ihrer Tür. »Dürfen wir hereinkommen?« »Sie sehen doch, ich bin noch nicht angezogen. Können Sie nicht später kommen? Worum geht es überhaupt?« »Eine dringende Angelegenheit. Wenn wir also bitten dürfen?« Zögernd ließ Karin die Besucher ein. »Bitte nehmen Sie Platz. Mich entschuldigen Sie für ein paar Minuten.« Sie verschwand im Bad und kleidete sich im angrenzenden Schlafzimmer rasch an. »So, nun stehe ich zur Verfügung.« »Wir müssen Sie ersuchen, mitzukommen«, sagte der Ältere der beiden förmlich. »Warum? Habe ich was verbrochen?« Sie erhielt keine Antwort. »Ich werde mich bei Reichsminister Dr. Goebbels beschweren.« »Das steht Ihnen frei. Kommen Sie bitte.« Unten wartete ein schwarzer Mercedes, der sie in die Prinz‐Albrecht‐Straße brachte. 55
Es ging über Treppen und durch blank gebohnerte Korridore. Eine hohe Flügeltür öffnete sich. Hinter einem großen Schreib‐ tisch erhob sich ein jüngerer Mann mit kurzem dunkelbraunem Haar. Er trug eine gutsitzende taubengraue Uniform mit schwar‐ zem Kragen und silbernen Spiegeln, dazu elegante Stiefel. Er kam um den Schreibtisch herum. »Verehrte Frau van Bergen, danke, dass Sie gekommen sind. Ich bin Standartenführer Hofner.« Er sprach mit bayerischem Tonfall. Er schlug die Hacken zusammen wie in einem preußischen Offizierkasino und küsste ihr die Hand. »Bitte nehmen Sie Platz, gnädige Frau.« Karin atmete auf. Das klang nicht nach einer Verhaftung. Hofner setzte sich hinter seinen Schreibtisch. »Ihr letzter Film hat mir sehr gut gefallen. Wir brauchen heitere Entspannung in diesen schweren Tagen.« Vorsichtig zog er die langstielige Rose in der schlanken Kristallvase näher zu sich. »Wir brauchen aber auch feste Zuversicht und eisernen Siegeswillen. Worte des Reichsführers, der mich heute früh anrief.« Er sog den Duft ein. »Ihm sind Äußerungen der Schauspielerin Nadja Horn über‐ bracht worden: der Krieg sei verloren. Können Sie bestätigen, dass Nadja Horn das zu Ihnen gesagt hat?« »Lore Brück«, stieß Karin unwillkürlich hervor. »Eine aufrechte Volksgenossin und gute Bekannte des Reichs‐ führers, an deren Worten es keinen Zweifel gibt. An Ihren auch nicht, Frau van Bergen, nehme ich an.« Ein gefährlich kalter Unterton lag in der Stimme des Standartenführers. Karin hatte den Kopf gesenkt und schwieg. Hofner ließ nicht locker: »Ich stelle fest, dass Frau Nadja Horn gestern in ihrer Wohnung am Breitenbachplatz wörtlich zu Ihnen gesagt hat: ›Der Krieg ist verloren.‹« »Nadja Horn hat das nicht so gemeint. Es war nur dumm daher‐ geredet. Unüberlegt und leichtfertig. Wie wir Künstler halt manchmal so sind.« Der Standartenführer reichte ihr ein amtlich aussehendes Papier. 56
»Wir haben hier das Protokoll Ihrer Zeugenaussage vorbereitet. Bitte lesen Sie es und bestätigen Sie seine Richtigkeit mit Ihrer Unterschrift.« Karin las die wenigen Schreibmaschinenzeilen. Ob‐ jektiv gesehen waren sie korrekt. »Die zuständigen Stellen werden Ihre Version vom unbesonnenen aber nicht bösartigen Verhalten der Horn anhören«, fugte Hofner unverbindlich hinzu. Karin unterschrieb. Hofner zeichnete gegen und drückte ein Dienstsie‐ gel daneben. »Bitte gedulden Sie sich ein paar Minuten.« Der Standartenführer verließ den Raum. Karin dachte an ihre Freundin und Gönnerin. Allzu schlimm konnte es ja wohl nicht werden. Die quirlige Sabine Sanders war auch mit dem Schrecken davongekommen. Die hatte sich vom Maskenbildner ein Bärtchen ankleben lassen und auf Theo Al‐ bertis Geburtstagsfeier eine Hitlerparodie hingelegt, dass sich alles bog vor Lachen. Irgendjemand zeigte sie an. Daraufhin ver‐ brachte die junge Nachwuchsschauspielerin eine unangenehme halbe Stunde auf der Polizei und erhielt einen Verweis der Reichsfilmkammer. Sicher bekam Nadja auch so einen Verweis. Es dauerte eine Ewigkeit, bis Hofner zurückkam. Er war wieder die Liebenswürdigkeit selbst. »Wir haben Sie recht abrupt auf‐ gestört. Ich bitte, das zu entschuldigen. Darf ich Sie zum Frühstück bei Borchardt einladen?« »Sehr freundlich, Herr Hofher. Leider habe ich Tonaufnahmen in Babelsberg.« Karin zwang sich zu einem Lächeln. »Ich verstehe. Berufliche Pflichten gehen vor. Meine Leute bringen Sie nach Hause.« Handkuss, Hackenklappen. Sie war ent‐ lassen. Zu Hause griff sie sofort nach dem Telefon, um Nadja von Lore Brucks Infamie zu berichten. Die Haushälterin meldete sich völlig aufgelöst. »Sie haben Frau Horn abgeholt. Wie einer Verbrecherin haben sie ihr die Hände gefesselt.« Karin begriff. Standartenführer Hofner hatte sie zurückgehalten, damit sie Nadja nicht warnen 57
konnte. »Beruhigen Sie sich, Frieda. So schlimm wird᾿s schon nicht werden.« Aber wie schlimm würde es werden? Karin holte den Wagen aus der Garage. Dr. Jordan würde wissen, was zu tun war. In der Brandenburgischen Straße arbeiteten die Bagger. »Eine englische Luftmine«, erfuhr sie. »Davon kann ᾿ne viermotorige Lancaster nur eine mitnehmen. So᾿n Ding wiegt an die vier Ton‐ nen.« Die Bombe hatte drei Häuser pulverisiert. »Von den Leuten im Keller ist nicht mal ein kleiner Finger übrig«, vertraute ihr der Polizist an, ehe er sie durch die Konstanzer Straße umleitete. Jordans Kanzlei befand sich im ersten Stock eines Herrschafts‐ hauses in der Lützowstraße, das abgesehen vom Einschlag einer Fliegerabwehrgranate, die versäumt hatte, in dreitausend Metern Höhe zu explodieren, unbeschädigt war. »Leider sind Sie nicht angemeldet, Frau van Bergen. Ich will sehen, ob ich Sie dazwischenschieben kann.« Die Sekretärin sprach leise ins Haustelefon. Sie musste eine Viertelstunde warten, bis die gepolsterte Dop‐ peltür aufging. Jordan brachte seinen Besucher hinaus. Es war Heinrich George. Karin erkannte ihren berühmten Kollegen sofort. George reichte sämtlichen Damen im Vorzimmer die Hand. Auch Karin bekam einen Händedruck ab, offenbar hielt der große Mime sie für eine der Tippsen. »Frau van Bergen, wie geht es Ihnen? Kommen Sie rein. Ich bin ein wenig unter Zeitdruck. Wie kann ich Ihnen helfen?« Karin kam direkt zur Sache: »Man hat Nadja Horn wegen einer dummen Äußerung abgeholt. Ich hätte nie gedacht, dass Lore Brück das weitergeben würde.« »Lore Brück und ihre Freundin Ida Wüst sind die übelsten De‐ nunziantinnen in der Branche«, sagte der Anwalt verächtlich. »Ich werde Nadja Horns Verteidigung übernehmen.« »Ihre Verteidigung? Kommt so ein Unsinn denn vor Gericht?« »Ich fürchte ja.« 58
»Wird sie eine Geldstrafe kriegen?« Dr. Jordan schwieg. Eine bange Ahnung stieg in Karin auf: »Ausschluss aus der Reichsfilm‐ kammer und Arbeitsverbot? Nein, das werden sie nicht wagen. Nadja ist beim Publikum sehr beliebt. Es würde Proteste hageln.« Jordan schwieg noch immer. »Doch nicht etwa Gefängnis?« »Ich werde Sie als Zeugin befragen, damit Sie Frau Horn ent‐ lasten können, Frau van Bergen. An einer Aussage unter Eid wer‐ den Sie jedoch nicht vorbeikommen.« Der Anwalt sah sie ernst an. »Ich habe wenig Hoffnung. Eine Äußerung wie diese gilt als Hochverrat.« Seine Stimme war gepresst: »Auf Hochverrat steht der Tod durch das Fallbeil.« »Sie kommen frühmorgens, zwei Wärterinnen und ein Wärter. Sie brauchen dich nicht zu wecken, weil du seit vielen Nächten wach‐ liegst. Die Frauen helfen dir in den Kittel, schieben deine Füße in die hölzernen Pantinen. Der Wärter legt dir Handschellen an. Dann schneiden sie dir das Haar ab, bis dein Nacken frei ist. Es geht über lange Gänge, vorbei an bleichen Gesichtern, die dich stumm aus den Luken ihrer Zellentüren anstarren. Sie führen dich eine Treppe hinab, öffnen eine Tür, schieben dich vor ein Pult. Der Wärter nimmt dir die Handschellen ab. Auf dem Pult stehen eine brennende Kerze und ein Kruzifix. Dahinter erkennst du den Staatsanwalt, der vom Gericht dein Leben for‐ derte und nun auch bekommen wird. Neben ihm dein Anwalt und ein Schöffe. Im Raum verteilt drei unbeteiligte Männer in schwarzen Anzügen. Links von dir ein schwarzer Vorhang von der Kellerdecke bis zum Boden. Du nimmst ihn kaum wahr. Du siehst den Staatsanwalt, der dir das Urteil noch einmal vor‐ liest, du weißt nicht, warum, du kennst es ja. Du hörst seine ab‐ schließenden Worte: ›Herr Scharfrichter, walten Sie Ihres Amtes.‹ Der schwarze Vorhang fliegt auf. Gleißendes Licht erfüllt den weißgekachelten Raum dahinter. Du siehst das Schafott. Es ist kleiner als du erwartet hast. Ein Schwarzgekleideter packt von hin‐ 59
ten deine Fußgelenke, zieht dir die Füße unter dem Leib weg. Ein anderer hält deine Hände auf dem Rücken fest. Der Dritte um‐ fasst deine Oberarme und den Oberkörper. So schleppen sie dich zum Tisch und schieben dich darauf vorwärts, wie einen Laib Brot in den Ofen. Du siehst in den Korb, der gleich deinen Kopf auffangen wird. Du fühlst das harte Holz des Rahmens, der sich über deinem Nacken schließt. Der Henker zieht die Schnur. Das Fallbeil fällt. Es fällt eine Ewigkeit, bis es dich endlich erlöst.« Karin hob das tränennasse Gesicht. »Ich wollte das nicht«, schluchzte sie, von Weinkrämpfen geschüttelt. »Lore Brück wollte es. Sie hatte eine alte Rechnung mit Nadja zu begleichen. Eine banale Eifersuchtsgeschichte.« Erik de Winter lag neben Karin im Gras. »Ich musste als Schöffe einmal einer Hin‐ richtung beiwohnen. Ich durfte dir das nicht ersparen. Auch wenn es nun schon bald ein Jahr her ist. Nur was man kennt, kann man verarbeiten.« Goebbels hatte neben Durchhaltefilmen leichte Kost zur Ablen‐ kung der Bevölkerung verfügt. Regisseur Theodor Alberti drehte mit ihnen eine heitere Liebesgeschichte: »Spiel im Lenz«. Der war‐ me sonnige Frühling dieses Jahres 1945 war für die Außenaufnah‐ men am Fluss ideal. Der Geschützdonner aus dem Osten war in den letzten Tagen näher gekommen. Seit gestern zogen Kolonnen deutscher Sol‐ daten über die nahe Landstraße, ausgemergelte Gestalten, in der vagen Hoffnung, die westlichen Linien jenseits der Elbe zu errei‐ chen und sich lieber dort gefangen nehmen zu lassen, statt den Bolschewisten in die Hände zu fallen. »Geh rüber zur Maske und lass dich renovieren.« Erik half ihr auf, riss sie aber sofort wieder zu Boden. Ein russischer Tiefflieger strich mit singendem Motor über sie hinweg. Seine Maschinen‐ gewehre tackten. Ringsum spritzte das Erdreich auf. Danach war es still. Eine Lerche sang hoch im Himmel gegen den Geschütz‐ donner an. 60
»Also bitte, Herrschaften«, rief der Regisseur vom Ufer herauf. »Macht schon, Kinder, die Badeszene.« »Ohne mich,Theo«, tönte der Aufnahmeleiter von der Böschung. »Was ist los, Erwin?« Der Aufnahmeleiter wies zum anderen Ufer. »Nischt Besonde‐ res. Nur ᾿n russischer Panzer mit Kurs auf den jroßdeutschen Film. Addios amigos, ick mach ᾿ne Fliege.« Er zog die Schieber‐ mütze fest auf den Kopf und verschwand jenseits des Abhangs. Jetzt hörte man das Dröhnen eines Diesels und das Rasseln von Ketten. Ein T34 schob sich drüben träge ins Bild. »Los, da runter.« Erik rollte die Böschung hinab und hechtete ins Schilf. Karin umklammerte ihre Umhängetasche und folgte ihm. Zum Glück trug sie Hosen, Pulli und feste Schuhe, weil dem Bad im Fluss laut Drehbuch eine Wanderszene voranging. Sie landete neben ihm. Nacheinander wateten sie durch den knietiefen Schlamm. Hinter der nächsten Flussbiegung stiegen sie an Land. Erik deutete auf einen Heuschober. »Da trocknen wir uns ein bisschen, bevor wir losmarschieren. Ich habe eine Tante in Nauen. Bei der können wir beide abwarten, bis die stolzen Sieger sich ausgetobt haben.« »Nein, Erik, es ist besser, wir trennen uns.« Sie umarmte ihn fest. »Nach dem Krieg um halb fünf.« Karin hatte Berlin auf Schleichwegen vor den Russen erreicht und die letzten Kriegstage mit den anderen Hausbewohnern im Keller verbracht. Als draußen die Schüsse endgültig verstummten, griff sie nach ihrem Handkoffer. »Halt, wo wollen Sie hin?«,schnauzte Herr Krapp. Er war Parteimitglied und Luftschutzwart und von seiner wichtigen Stellung durchdrungen. »Rauf in meine Wohnung, den Endsieg feiern«, erwiderte sie sarkastisch. »Bleiben Sie besser hier, Frau van Bergen«, warnte Zahnarzt Dr. Seidel. 61
»Ich habe mich lange genug versteckt.« Entschlossen öffnete Karin die Kellertür. »Keiner verlässt den Schutzraum ohne meine Genehmigung«, bellte Herr Krapp. »Halten Sie Ihr Großmaul, Krapp, und nehmen Sie lieber den Helm ab«, riet Seidel. »Unsere Befreier könnten Ihren Kopf‐ schmuck missverstehen.« Sie stieg die Treppen zum zweiten Stock hinauf. Abgesehen von einigen Splitterschäden war ihre Wohnung unversehrt. Sie ging in die Küche. Durch einen Spalt des mit Brettern vernagelten Fens‐ ters konnte sie hinunter auf den Hohenzollerndamm sehen. Auf der Straße hielten mongolisch aussehende Truppen mit Planwagen und Panjepferden. Johlend stießen die Soldaten eine nackte junge Frau hin und her, um sie schließlich in einen der Wagen zu zerren. Einer nach dem anderen kletterte unter die Plane. Mindestens zwanzig Mann standen Schlange. Die Schreie des Opfers drangen bis zu Karin herauf. Dann war es nur noch ein Wimmern, das bald verstummte. Du bist die Nächste, dachte sie, und alles in ihr sträubte sich gegen diesen schrecklichen Gedanken. Sie entsann sich der verchromten Pistole, Requisit in einem ihrer Filme, die Conrad Jung ihr zur Premiere als Andenken überreicht hatte, mit vollem Magazin. »Falls ein böser Mann kommt«, hatte er gescherzt. Sie holte die kleine Waffe aus ihrem Versteck und schob sie in die Tasche ihres Trainingsanzuges. Sie würde min‐ destens einen Angreifer erledigen, bevor sie Schluss machte. Ein verdreckter Jeep bremste scharf. Der Offizier neben dem Fahrer stand auf und schrie einen Befehl. Die Asiaten gehorchten widerwillig. Sie kletterten auf ihre Wagen und knallten mit den Peitschen. Langsam zogen die zottigen Panjepferde an. Aus einem der Planwagen warfen sie die geschändete Frau aufs Pflaster. Sie blieb mit verrenkten Gliedern liegen. Ihr Schoß war nur noch blu‐ tiger Brei. Der Offizier sprang aus dem Jeep, zog seine Pistole und 62
bedeutete den beiden Soldaten auf dem Rücksitz, ihm zu folgen. Geduckt lief er zur Haustür und verschwand aus Karins Blickfeld. Der Fahrer stieg aus. Er richtete seine Maschinenpistole auf das leblose nackte Stück Mensch. Das Opfer bäumte sich unter Wucht der Salve auf und fiel in sich zusammen. Karin hörte, wie sie die Apartments durchsuchten. Zunächst im Parterre, dann im ersten Stock. Sämtliche Wohnungen mussten bei einem Luftangriff offenbleiben, um die Brandbekämpfung zu erleichtern. So gab es für die Eindringlinge kein Hindernis. Hoch aufgerichtet erwartete sie die drei Russen in ihrer Woh‐ nungstür, hielt dabei die kleine Waffe in der Tasche umklammert. Unwillkürlich riss der Offizier seine Pistole hoch. Auch gut, dachte Karin achselzuckend. Die Soldaten drängten an ihr vorbei. Gleich darauf erschienen sie wieder. Der eine meldete etwas mit gutturalen Lauten; offen‐ bar, dass sonst niemand in der Wohnung war. Der Offizier steckte seine Waffe ins Futteral. Ein knapper Befehl. Die Soldaten zogen ab. Karin musterte ihr Gegenüber. Er war groß und schlank, mit grauen Augen und energischem Kinn. Er trug eine Ordens‐ schnalle am staubigen Uniformkittel und breite Schulterstücke. Er zog die Wohnungstür hinter sich zu und nahm den Helm ab. Zum Vorschein kam ein gut geformter Kopf mit drahtigem blondem Haar. Er holte ein Etui aus der Brusttasche. »Mögen Sie eine Zigarette?« Sie rauchte nicht, aber es schien ihr nicht ratsam, abzulehnen. »Ja, danke.« Sie nahm eine. Er gab ihr Feuer. »Die ersten Tage werden die schlimmsten sein«, sagte er entschuldigend. »Danach wird sich alles langsam beruhigen.« »Sie sprechen ja Deutsch«, rief sie überrascht und hustete. Erst jetzt wurde ihr das fließende Hochdeutsch bewusst. »Sie sind wohl keine geübte Raucherin?« Er lachte. »Wir Balten 63
sprechen viele Sprachen. Die reinste Selbstverteidigung. Ich bin Major Maxim Petrowitsch Berkow.« »Karin Rembach.« »Nazi?« »Schauspielerin. Nicht in der Partei, wenn Sie das meinen.« »Wir mögen Kunst und Künstler. Warten Sie einen Moment? Ich habe Brot, Wurst und Wodka im Wagen. Schließen Sie hinter mir zu.« Als er zurückkam, trug sie ein leichtes ungebügeltes Sommer‐ kleid, das viel besser zu diesem warmen Maitag passte als der Trainingsanzug. Seine Blicke durchdrangen den dünnen Stoff. Mit einer unerwarteten schnellen Bewegung riss er sie an sich und zog ihr Kleid hoch. Dann hielt er die kleine Pistole in der Hand. Karin hatte sie in den Gummizug ihres Schlüpfers gesteckt. »Ich denke, es ist besser so.« Er strich ihr Kleid glatt. »Nasdrowje.« Er reichte ihr die Wodkaflasche. Sie trank nur wenig. Stattdessen hielt sie sich an Dauerwurst und Kommissbrot. Sie hatte seit Tagen nichts Richtiges gegessen. »Du bleibst bei mir«, sagte er plötzlich. »Du gefällst mir.« Sein Entschluss traf sich mit ihren Wünschen. Sie brauchte einen Beschützer. Dieser hier machte einen zivilisierten Eindruck. Karin war Realistin. Er hätte sie mit Gewalt nehmen und dann seinen Soldaten überlassen können. Die Frage war also nicht, ob sie ihn wollte, sondern ob sie ihn lange genug halten konnte, bis das Ärgste vorbei war. »Komm her, Maxim Petrowitsch.« Ihre Stimme versprach ihm, was er erwartete. Es war eine vernünftige Verabredung, von der das ganze Haus profitierte, auch wenn einige Frauen die Nase rümpften. Der Major war Dolmetscher des soeben zum Stadtkommandanten er‐ nannten Generals Bersarin. Er stellte einen Tankwagen mit Trink‐ wasser vor das Eckhaus und zwei Posten. Er brachte Lebensmittel, die Karin mit den anderen Bewohnern teilte, und ließ in ihrer 64
Wohnung Fensterglas einsetzen. Er war ein ebenso leiden‐schaft‐ licher wie rücksichtsvoller Liebhaber. Am 1. Juli 1945 zogen die westlichen Alliierten in Berlin ein. Es gab wieder Wasser aus der Leitung, wenn auch stark verchlort, die Verkehrsmittel funktionierten einigermaßen, und die Theater spielten mehr und besser, denn in den vergangenen zwölf Jahren. Das Haus Hohenzollerndamm Ecke Mansfelder Straße gehörte nun zu Westberlin. Maxim Petrowitsch Berkow kam nicht mehr. Die Schiedskammer für Bühnen‐ und Filmschaffende tagte in ei‐ nem Klassenzimmer. Der Vorsitzende war ein alter Kommunist, den die Russen aus dem KZ befreit hatten. Er bemühte sich um Objektivität und ließ Karin ausreden. »Es stimmt, dass ich drei Filme mit Conrad Jung gemacht habe. ›Königin Luise‹ wurde von Goebbels unterdrückt, ›Mittsommer‐ nacht‹ war eine Liebesgeschichte nach einer skandinavischen No‐ velle und ›Elmsfeuer‹ die Tragödie einer Seemannsfrau im vori‐ gen Jahrhundert. Die Arbeit mit Jung war für mich sehr wichtig. Er ist ein bedeutender Regisseur.« »Bezeichnend, dass die Beschuldigte den Macher des Hetzfilms ›Der Ewige Jude‹ einen bedeutenden Regisseur nennt«, rief die Bei‐sitzerin zur Linken, eine füllige Fünfzigerin, die Karin ihre Ju‐ gend und Schönheit übel nahm. »Haben Sie an diesem Film mitgewirkt?«, schaltete der Vorsit‐ zende sich ein. »Nein. Da drehte ich ein Lustspiel in Prag, und anschließend eine harmlose Liebesgeschichte bei der U£A, mit Erik de Winter, Regie Theodor Alberti. Die Russen unterbrachen unsere Außen‐ aufnahmen im Havelland.« »Danke für Ihre lückenlose Aufzählung.« Der Vorsitzende wandte sich an alle: »Die berufliche Meinung der Beschuldigten über den Regisseur Conrad Jung und die Tatsache, dass dieser einen antisemitischen Film hergestellt hat, darf unseren Spruch 65
nicht beeinflussen.« Er blätterte in den Papieren, bevor er fortfuhr: »Frau Rembach, wir kommen jetzt zu einer sehr ernsten Beschul‐ digung.« Karin senkte den Kopf. Sie sprach mit unterdrückter Stimme: »Meine Gönnerin und Freundin Nadja Horn, der ich alles ver‐ danke, und die ich leichtfertig und unüberlegt vernichtet habe.« Sie sah auf: »Es geschah nicht vorsätzlich, Herr Vorsitzender, aber es wird mich ein Leben lang verfolgen.« »Nicht vorsätzlich? Das ist eine glatte Lüge«, protestierte die Beisitzerin. »Das Protokoll Ihrer Zeugenaussage vor Gericht, mit der Sie Nadja Horn damals dem Henker auslieferten, liegt uns vor.« »Der heutige Bescheid der Staatsanwaltschaft aber auch«, kon‐ terte Dr. Jordan. Karin hatte ihn um Beistand gebeten. »Demnach wurde das Verfahren gegen Frau Karin Rembach, genannt Verena van Bergen, vor wenigen Tagen eingestellt. Ich selber habe sei‐ nerzeit aus dem Munde der Schauspiellehrerin Lore Brück gehört, dass sie es war, die Verena van Bergens unbedachte private Wiedergabe einer Äußerung Nadja Horns, der Krieg sei verloren, an die Gestapo weiterleitete. Nicht Verena van Bergen hat Nadja Horn denunziert, sondern Lore Brück. Leider können wir sie dafür nicht mehr zur Rechenschaft ziehen. Sie kam bei einem Bombenangriff ums Leben.« »Es geht hier nicht um die strafrechtliche, sondern um die menschliche Seite dieser Angelegenheit. Die Beschuldigte hat von ihren guten Beziehungen zum Naziregime profitiert und zumin‐ dest fahrlässig den Tod einer Kollegin herbeigeführt«, beharrte die Beisitzerin. »Möchten Sie noch etwas dazu sagen, Frau van Bergen?« Karin schüttelte den Kopf. Das Ganze war ihr zuwider. »Drei Jahre Berufsverbot«, lautete der Spruch der Kammer nach kurzer Beratung. »Und wovon lebe ich inzwischen?«, fragte sie herausfordernd. 66
»Melden Sie sich auf dem Arbeitsamt«, beschied man sie gleich‐ gültig. Dort hatte man nichts für sie. Ein hilfreicher Sachbearbeiter wusste: »Falls Sie ein bisschen Englisch können – die Amis suchen Arbeitskräfte.« Ihr Vater hatte Englisch mit ihr gesprochen, bevor er nach Fernost verschwand. Das war nun schon zwölf Jahre her. Ein bisschen da‐ von war hängengeblieben. »I want work«, klang recht ordentlich. Auf dem Schreibtisch vor ihr stand ein Namensschild: CURTIS S. CHALFORD. Der Mann hinter dem Schreibtisch war ein freund‐ licher Vierziger mit dünner werdendem blondem Haar, einem runden rosigen Gesicht und wasserblauen Augen. Mr. Chalford war Leiter des German‐American Employment Office in Lichter‐ felde. Washington hatte Stellen im besetzten Deutschland ausgeschrie‐ ben. Überall in den Vereinigten Staaten bewarben sich Leute, die keinen Job hatten oder sich zu verbessern hofften, Abenteuerlus‐ tige, Neugierige, viele Emigranten. Es war nicht immer die Crème de la Crème, die da ohne lange Prüfung ins geschlagene Germany geschickt wurde. Alle wurden in Uniform gesteckt. Sie war dunkler als eine OfEziersuniform der US Army aber vom gleichen Schnitt. Auf dem linken Oberarm prangte ein Dreieck mit der In‐ schrift: US CIVILIAN. Mr. Chalford war offenbar einer von der besseren Sorte. »Well, Fraulein Rembak, let᾿s see what we can do for you.« Er öffnete einen Aktendeckel und wendete langsam die Seiten. »Housekee‐ per bei Major Kelly? Kellnerin im Harnack‐House? Putzfrau im Telefunken Building?« Er hatte einen dicken amerikanischen Ak‐ zent. »Alles schon vergeben.« Neugierig betrachtete Karin den kleinen Obelisk aus schwarzem Marmor, um den sich eine Girlande aus Stacheldraht wand. »Ein echter Barlach«, erklärte Mr. Chalford stolz, als er ihr Interesse be‐ 67
merkte. »Galt bei Ihnen bis vor kurzem als ›Entartete Kunst‹. Hat die Hitlerjahre in einem Taubenschlag überstanden. Konnte das Stück für ein paar Kartons Chesterfield erwerben. Zu Ihnen, Frau‐ lein Rembak. Ich glaube, ich habe was für Sie. Unsere chemische Reinigung in Aankel Taam sucht Leute. Sergeant Chang lernt Sie an. Hundertzwanzig Mark die Woche, Army‐Verpflegung, pro Monat ein halbes CARE‐Paket. Mädchen, die lächeln, kriegen von der Kundschaft auch schon mal ein paar Zigaretten geschenkt. Okay?« Sie brauchte nicht lange zu überlegen. Army‐Verpflegung und die begehrten Lebensmittel aus einem CARE‐Paket gaben den Ausschlag. Mr. Chalford nickte zufrieden. »Gehen Sie jetzt zum Fotografen und zur Untersuchung. We don᾿t want Tuberculosis or Veneral Diseases.« Sergeant Chang war ein freundlicher Chinese aus San Francisco, der Karin vergeblich in die Geheimnisse einiger Dutzend Fläsch‐ chen einzuweihen versuchte, mit deren Inhalt man Obst‐, Wein‐, Gras‐, Fett‐ und andere Flecken behandelte, bevor man das jewei‐ lige Kleidungsstück in die große chemische Reinigungsmaschine steckte. Karin brachte die Tinkturen hoffnungslos durcheinander. Sergeant Chang beschäftigte sie fortan in der Annahme und Aus‐ gabe. Mr. Chalford hatte richtig vorausgesagt: Ein Lächeln brachte ihr oft Schokolade oder Zigaretten von der Kundschaft. Einige wollten sich mit ihr verabreden. Karin schob ihren American Boy‐ friend vor. Ein junger Soldat vom Signal Corps kam ihr dazu ge‐ rade recht. Dennis Morgan war ein harmloser Junge aus Connec‐ ticut. Er lud sie in den Club 48 ein und schenkte ihr Nylons und Schuhe aus dem PX. Kleider hatte sie genug. Ihre Garderobe hatte das Chaos überstanden. Sie war nett zu Dennis, mehr nicht. Er war zufrieden, von den Kameraden um sein schönes German Fraulein beneidet zu werden. Weniger angenehm war Otto Ziesel, der deutsche Fahrer vom 68
Motor‐Pool, der mit einem Army‐Lastwagen die Müllabfuhr be‐ sorgte und die großen Abfalltonnen hinter den Läden leerte. Er trug schwarz eingefärbte G.I.‐Klamotten und war ein Widerling. »Amiflittchen« nannte er Karin und ihre Kolleginnen. »Lieber ᾿nen kräftijen Ami, alsn deutschen Schlappschwanz wie dich.« Karins Kollegin Gerti Krüger war nie um eine Antwort ver‐ legen. Sie hatte sich einen baumlangen schwarzen Sergeant der Transport Division geangelt. »Die Fotze gehört euch ausgebrannt«, zischte Ziesel hasserfüllt. An einem Dienstagmorgen im August rief Sergeant Chang Ka‐ rin nach hinten. Der Posten vom Haupttor war am Telefon. Da sei ein German, der sie unbedingt sprechen wolle. »Five minutes, no more«, entließ Chang seine Untergebene. Vor dem Tor wartete Erik de Winter. Er war schmaler gewor‐ den und trug einen schäbigen Anzug. Sein jungenhaftes Lachen hatte er nicht verloren. »Erik!« Sie lief weinend auf ihn zu. Dann lagen sie sich in den Armen. »Du lebst.« Mehr brachte sie nicht heraus. »Von den Russen entlassen.« Sie hatten ihn bei der Tante in Nauen aufgestöbert und vorübergehend in ein Lager gesteckt. »Das alte Fräulein in deiner Wohnung sagte mir, wo ich dich finde.« »Fräulein Bahr. Das Wohnungsamt hat sie bei mir eingewiesen. Zwei Zimmer seien für eine Person zu viel. Und du?« Eriks Wohnung in der Lietzenburger Straße war zerstört. »Ein Volltreffer kurz vorToreschluss. Ich bin bei Freunden am Fasanen‐ platz untergekommen. Dein Fräulein Bahr sagt, du hast Berufs‐ verbot?« »Erzähle ich dir später. Der Sergeant hat mir nur fünf Minuten bewilligt.« »Hör zu, mein Engel. Der alte Produktionschef der UfA ist wieder da. Die Nazis hatten ihn verjagt. Jetzt ist Erich Pommer als allmächtiger US‐Filmoffizier zurückgekehrt. Wir kennen uns gut. 69
Er hat mich heute zum Abendessen eingeladen. Ich rede mit ihm. Ich bin sicher, er wird dein Verbot aufheben lassen, wenn ich mich für dich verbürge.« »Erik, das wäre wunderbar.« »Komm morgen nach Feierabend, dann weiß ich mehr.« Er schrieb ihr seine neue Adresse auf. »Bis morgen Abend.« Sie umarmte ihn stürmisch. Der Militärgouverneur wurde erwartet. Die Gala‐Uniformen der Armyband mussten gereinigt werden. Sergeant Chang hatte Spät‐ schicht befohlen. Karin half, die Kleidungsstücke zu sortieren. Dabei dachte sie an Erik. Der saß jetzt mit seinem Bekannten beim Dinner. Morgen würde sie wissen, ob er was für sie tun konnte. Sie hatte es satt, die Klamotten der Amerikaner zu reinigen. Film — das war ihre Welt. In Babelsberg arbeiteten sie wieder. Die UfA hieß jetzt DEFA. Und in einer ehemaligen Giftgasfabrik in Spandau drehte ein Mann aus Polen seine erste Produktion. Zur Finanzierung hatte er wer weiß woher einen Koffer voll Dollars mitgebracht. Kurz vor der letzten U‐Bahn war sie auf dem Bahnsteig. Am beleuchteten Ende standen ein paar G.I.s mit ihren Mädchen. Die übrige Plattform lag im Dunkel. Hinter dem um diese Stunde längst geschlossenen Zeitungskiosk tauchte eine Gestalt auf. Karin erschrak. Warum trägt er Motorradkappe und Schutz‐ brille?, dachte sie erstaunt. Klirrend legte sich eine Kette um ihren Hals. Sie wollte schreien, aber die Kette schnürte ihr die Kehle zu. Wie ein Stück Vieh zog der Angreifer sie hinter den Kiosk. Sie ruderte hilflos mit den Armen. Ein kaum vernehmbares Röcheln drang aus ihrer Kehle. Gierige Finger zogen das Kleid hoch, zerrten den Schlüpfer herunter. Glühender Schmerz zerriss ihren Schoß. Ihr Peiniger keuchte erregt. Dankbar fühlte sie, dass die Ohnmacht kam. Ich hasse Sterbeszenen, war ihr letzter Ge‐ danke. 70
ZWEITES KAPITEL
I
nge Dietrich teilte das Frühstück aus: jedem zwei dünne Schei‐ ben Graubrot. Dazu gab es bräunlich schillernden Ersatzkaffee aus gerösteten Kastanien und darin einen halben Löffel Milch‐ pulver, das sich nicht auflösen wollte und in kleinen Klumpen obenauf schwamm. »Komisch, ich dachte, es wäre mehr«, wunderte sie sich, während sie das Brot schnitt. »Das haben Rationen so an sich«, meinte ihr Mann gleichmütig. »Na ihr Bengels kriegt wenigstens Schulspeisung.« »Dauernd Bohnensuppe«, maulte Ralf. »Neulich war bei mir ein richtiges Stück Speck mit Schwarte drin«, schwärmte Ben, froh, dass seine Mutter nicht auf dem Thema Brot bestand. »Habt ihr eure Mappen gepackt?« »Klar. Komm.« Ben zog seinen Bruder vom Stuhl hoch. Er hatte beschlossen, heute ausnahmsweise mal wieder zur Schule zu ge‐ hen. Mittwochs war Turnen, Zeichnen und Erdkunde. Das ließ erfreulich wenig Zeit für Latein und Mathe. Vor allem aber war in der sechsten Stunde Religion. Da wollte er Pfarrer Steffen an‐ hauen. Er brauchte dringend ein Neues Testament. Captain John Ashburner legte das Papier aus der Hand und lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück. Vor dem Fenster in der Garystraße wuschen zwei Halbwüchsige ein paar Jeeps der Mili‐ tary Police. Sergeant Donovan hatte eine praktische Methode ent‐ 71
wickelt, Wagenwäscher zu rekrutieren. Er buchtete einfach ein paar Jungen wegen Herumlungern ein. »Damit diese verdammten Hitleryouths was Vernünftiges zu tun kriegen«, verkündete er, sehr mit sich zufrieden. Betroffen fuhr der Captain mit seiner Lektüre fort. Dieser deut‐ sche Inspektor hatte sein Versprechen gehalten und ihm nicht nur den Obduktionsbefund geschickt, sondern auch gleich eine Über‐ setzung. Keine besonders erbauliche Lektüre. Er dachte an daheim, wo sowas Scheußliches nicht vorkam, höchstens ein sauberer Totschlag, weil einer eifersüchtig war oder besoffen, und auch das nur selten. Sie hatten ihn in Rockdale, Illinois, gerade zum vierten Mal zum Sheriff gewählt, als er einrücken musste. Aber er hoffte, bald wieder zu Hause zu sein. Nicht, weil er Sehn‐ sucht nach Ethel hatte; die war mit dem Fanclub des örtlichen Baseballteams voll ausgelastet. Er liebte es vielmehr, im County nach dem Rechten zu sehen, unterwegs mit den Leuten zu reden und rasch in Bill᾿s Bar auf einen Kaffee vorbeizuschauen. Donovans Jeep bremste kreischend vor der Tür. Der Sergeant war ein abrupter Fahrer, was daher rühren mochte, dass er auf seiner Ranch in Arizona mehr mit Zügeln und Hackamore han‐ tierte. Er stieg aus und bedeutete seinem Mitfahrer mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen. »Morgan, Sir«, meldete er Augenblicke später. »Lesen Sie das, Sergeant.« Ashburner reichte Donovan den Ob‐ duktionsbefund. Donovan las mit grimmiger Miene. Ashburner wandte sich zu dem jungen Soldaten: »Soldat Dennis Morgan, Army Signal Corps, das stimmt doch?« »Jawohl, Sir.« »Sie kennen ein German Fraulein namens Karin Rembach?« »Jawohl, Sir. Karin arbeitet im Dry Cleaning Shop in Onkel Tom.« »Ihr Girlfriend?« »Ja, Sir.« Der junge Soldat verharrte weiter in Habachtstellung. 72
»Kommen Sie, mein Junge, setzen Sie sich. Wissen Sie, warum Sie hier sind?« »Nein, Sir.« Morgan nahm nervös Platz. »Wann haben Sie Karin zum letzten Mal gesehen?« »Vor vier Tagen. Wir waren im Kino.« »Seht ihr euch bald wieder?« Dennis Morgan zögerte unmerklich. »Morgen, hoffe ich, Sir.« Der Captain bemerkte das winzige Zögern. War es die Unsicher‐ heit des Soldaten einem Vorgesetzten gegenüber? Oder wusste er, dass Karin Rembach tot war? Das wäre ein starkes Verdachts‐ moment. Weder Stars and Stripes noch der Soldatensender AFN hatten den Mord gemeldet. Die Medien der US Army interes‐ sierten sich nicht für abgemurkste Deutsche. Dass Morgan deut‐ sche Zeitungen las, war unwahrscheinlich. Sergeant Donovan schaltete sich ein: »Sie ist sehr hübsch, deine Karin, nicht wahr?« »Ja, sehr, Sergeant.« Donovan schlug einen vertraulichen Ton an: »Ist sie gut im Bett, Dennis?« Der junge Soldat wurde rot. »Ich weiß nicht, Sergeant, ich meine: ja, ich glaube schon.« »Wieso weißt du das nicht?«, hakte Donovan nach. »Ich wollte sagen, ich weiß nicht, was Sie mit ›gut im Bett‹ mei‐ nen, Sergeant.« »Weil du gar nicht mit ihr schläfst. Wir wissen das von ihrer Kollegin Gerti. Weil sie dich nicht ranlässt. Trotz deiner Einladun‐ gen und Geschenke. Weil du deswegen enttäuscht bist und wü‐ tend. Weil du Angst hast, dass es rauskommen könnte. Ein Wort von ihr würde dich vor den anderen lächerlich machen, stimmt᾿s?« »Ich weiß nicht, Sergeant.« »Stimmt᾿s?«, brüllte Donovan. Dennis Morgan senkte den Kopf. »Wir sind gute Freunde«, sagte er leise. »Captain, was hat das zu bedeuten? Warum bin ich hier?« 73
Sergeant Donovan packte ihn bei den Schultern. »Weil deine Karin tot ist.« »Tot? Karin ist nicht tot. Wir sind nämlich morgen verabredet, wissen Sie, um sieben, beim Posten am Haupttor in Onkel Tom.« Morgan sprach hastig, als wollte er sich selbst überzeugen. Donovan schüttelte ihn heftig hin und her. »Sie ist tot. Und weißt du, warum? Weil sie einer viehisch umgebracht hat. Wer, Morgan? Wer hat Karin umgebracht?« Der junge Soldat weinte lautlos. »Genug, Sergeant«, mahnte Ashburner. »Das wäre alles, Morgan«, sagte er mild. Der G.I. sprang auf und erstarrte zur Habachtstellung. Er grüßte mit tränenüber‐ strömtem Gesicht, machte eine stramme Kehrtwendung und trat ab. Nachdenklich lehnte John Ashburner sich wieder zurück. »Er schien ehrlich erschüttert.« »Oder er spielt uns kaltblütig eine Rolle vor«, gab Donovan zu bedenken. »Sie meinen, er hat sie umgebracht?« »Schon möglich, Sir. Ich habe sein Alibi überprüft. Morgan hatte am Dienstag von 21 bis 3 Uhr Wachdienst in den McNair Bar‐ racks. Alleine, am hinteren Gatter des Motor‐Pools. Er hätte sich leicht ein Fahrzeug ausleihen können und wäre rechtzeitig zur Wachablösung wieder da gewesen.« »Die Frage ist, ob er es wirklich getan hat. Und warum?« »Ich sehe das so, Sir: Sie lässt ihn nicht an sich ran. Erst ist er ent‐ täuscht, dann packt ihn die Wut und schließlich wird Hass draus. Wenn er sie nicht haben kann, soll sie auch kein anderer besitzen.« »Ihre Hausmacherpsychologie in allen Ehren, Mike. Trotzdem — der Junge ist wahrscheinlich so unschuldig wie Sie und ich.« »Das mag wohl sein, Captain. Und überhaupt, ein Fraulein mehr oder weniger, was spielt das schon für eine Rolle? Rum‐ schlafen tun die doch alle, nicht nur mit unseren Boys. Warum soll es kein German gewesen sein?« »Warum nicht?«, pflichtete Ashburner ihm bei. »Setzen Sie ein 74
kurzes Protokoll auf, aus dem Morgans Alibi hervorgeht, und schicken Sie es diesem deutschen Inspektor. Damit ist die Ange‐ legenheit für uns erledigt. Soll sich die German Police damit rumärgern.« »Wird gemacht, Sir.« Der Captain erhob sich. »Ich weiß nicht, wann ich zurück sein werde. Sie schmeißen hier inzwischen den Laden.« Er wandte sich zum Gehen. »Sir.« Sergeant Donovan wies auf den weißen Helm und das Halfter mit der schweren Magnum am Kleiderständer, aber Ash‐ burner schüttelte den Kopf und nahm stattdessen sein Käppi. Ben traf Heidi Rödel, als er von der U‐Bahn kam. Heidi war sech‐ zehn. Sie trug Sandalen mit selbstgezimmerten Keilabsätzen und eine Bluse, die ihr Vater aus dem Fallschirm eines abgeschossenen Engländers geschneidert hatte. Ihre Brüste zeichneten sich unter der Seide ab. Irgendwie fand Ben den Anblick ganz gut. Noch bes‐ ser wäre es gewesen, mal anzufassen, aber Anfassen war vermutlich nicht drin. Obwohl man bei Mädchen nie wusste, was drin war. Sie warf das dunkelbraune Haar mit einer kurzen Kopfbewe‐ gung zurück. »In der Bruckstraße haben die Amis einen Club für deutsche Jugendliche aufgemacht. Da kannst du basteln, malen und diskutieren, und Schokoladenriegel gibt᾿s auch.« Irgendjemand in Washington hatte verfügt, dass man die frohe Botschaft von Freiheit und Demokratie besonders unter der nazi‐ verderbten Jugend des besiegten Germany verbreiten möge. Und da die United States Army bereits vor Ort war und sie die Ameri‐ kanisierung der gelehrigen Deutschen mit Chewing Gum, Pul‐ verkaffee und Bing Crosby erfolgreich eingeleitet hatte, obwohl ersterer französischen, zweiter schweizer und letzterer irischen Ursprungs war, fiel ihr die Aufgabe zu, die Sache zu organisieren. Beschlagnahmte Villen in bester Lage gab es zuhauf. Spiele, Werkzeug, Musikinstrumente und was die Youngsters sonst noch 75
anlocken konnte – als bestausgestattete Firma der Welt hatte die US Army alles im Überfluss. So entstanden die »German Youth Activities«, kurz »Tschi Wai Eh« genannt, und eine Waffen‐ gattung wetteiferte mit der anderen, den besten GYA‐Club auf die Beine zu stellen. »Wollen wir zusammen hingehen?«, ergriff Ben die günstige Gelegenheit. »Bin schon mit Gert Schlomm verabredet. Der hat im Club ᾿ne Theatergruppe gegründet, und ich kriege die Hauptrolle.« Gegen eine Hauptrolle hatte Ben nichts zu setzen, jedenfalls nicht, ehe er diesen Lederhosenknaben mit ᾿nem Maßanzug in Glencheck übertrumpfen konnte. »Ich komm vielleicht mal vorbei«, leitete er seinen Rückzug ein. »Obwohl ich sehr be‐ schäftigt bin.« Pfarrer Steffen hatte tatsächlich ein Neues Testament rausgerückt, genau die Dünndruckausgabe, die Ben für sein Vorhaben brauchte. Zufrieden stieg er die schmale Treppe ins Dachzimmer rauf. Ralf hatte eine Stunde früher Schluss und war zu seinem Freund Hajo König in die Onkel‐Tom‐Straße gegangen. Die Luft war also rein. Ben nahm die Rasierklinge und das leere Päckchen Lucky Strike aus der Tischlade. Die Amis rissen gewöhnlich nur ein Stück der silbernen Folie auf, um an ihre Zigaretten zu gelangen. Die äußere Hülle und die Banderole blieben dabei unversehrt. So auch in diesem Fall. Mit dem stumpfen Rücken seines Taschenmessers hebelte er vorsichtig den Boden der Packung an der Klebestelle auf und zog das Silberpapier heraus, ohne seine Form zu verän‐ dern. Umgedreht steckte er es wieder in die Hülle und schob es bis zur Banderole hoch. Vorsichtig legte er das an der Oberseite nun wieder jungfräu‐ liche Päckchen auf den Tisch. Er schlug das Neue Testament auf und schnitt bei Lukas mit der Rasierklinge Rechtecke von der Größe der Zigarettenpackung aus dem Papier, nicht mehr als zehn Blatt auf einmal. 76
Nun galt es, das Päckchen bis zur richtigen Stärke und Elasti‐ zität zu füllen, die Längskanten um die scheinbar darin enthalte‐ nen Zigaretten zu runden und es mit etwas Klebstoff unauffällig zu verschließen. Zufrieden wog Ben sein gelungenes Werk in der Hand. Als sein Bruder die Treppen heraufpolterte, steckte er es ein. Ralf war zwei Jahre jünger als Ben. Er hatte zwar ein Engelsge‐ sicht, aber das täuschte. »Morgen Nachmittag wolln wir rauf zur Schonung an der Krummen Lanke. Kommste mit?« »Wozu?«, erkundigte sich Ben vorsichtig. »Hajo kennt da ᾿ne Kuhle, wo sie vögeln.« Ben beschloss, die Weiterverwertung des Zigarettenpäckchens auf übermorgen zu verschieben. »Okay«, sagte er großzügig. Jutta Weber rieb Dutzende von Kalbsschnitzeln mit Knoblauch ein, pfefferte, salzte und puderte sie mit Mehl, ehe sie jedes in ge‐ schlagenes Ei tauchte und in Semmelbröseln wälzte. »With garlic, that᾿s a good idea«, lobte Mess Sergeant Jack Pa‐ nelli und warf die panierten Schnitzel ins heiße Öl, dass es heftig zischte. »Ein echtes Wiener Schnitzel muss in Schweineschmalz ausge‐ backen werden«, belehrte sie den Küchenchef. »Damit mir Major Davidson seine Thora um die Ohren haut?« Major Davidson war der Garnisonsrabbi. Es gab viele Soldaten jü‐ dischen Glaubens hier. Jack Panelli griente. »Mir als gutem Katho‐ liken können Sie nach Küchenschluss gerne eins auf Wiener Art zubereiten. War ᾿ne geniale Idee von mir, Sie vom Abwasch an den Herd zu versetzen. Habe ich Ihnen eigentlich schon gesagt, dass Sie eine verdammt gute Köchin sind?« »Vielen Dank fürs Kompliment, Jack. Meine Eltern haben in Köpenick eine Kneipe. Früher gab᾿s da solide Hausmannskost. Ich habe Mutter oft in der Küche geholfen.« Jutta setzte ihre Arbeit fort. Zum Mittagessen drängten sich im Club 48 die Soldaten. Gegen halb zwei war die letzte Bestel‐ 77
lung durch. Es folgten der Abwasch und die Vorbereitungen für das Dinner, welche den ganzen Nachmittag füllten. Unwillkürlich sah sie zur Uhr. Aber die hing seit Anfang Mai am Arm eines pok‐ kennarbigen kleinen Russen, der sie nur deshalb nicht vergewal‐ tigt hatte, weil er keine Erektion zustande brachte. Sergeant Panelli bemerkte ihren Blick. »It᾿s five o᾿clock.« »Five o᾿clock ... « Diana Gerold pflegte das zu rufen, damit Jutta den Tee bereitete, einen Ceylon Orange Pekoe, den es im letzten Kriegsjahr längst nicht mehr gab. Sie bekam ab und zu welchen von einer Bekannten in der Schweizer Gesandtschaft. Dann saßen sie im Hinterzimmer der Buchhandlung in der Ladenstraße, hör‐ ten die U‐Bahn ein‐ und ausfahren, und Frau Gerold sprach über Neuerscheinungen, die sie gerade las. Es wurden immer weniger. Manchmal dachte Jutta an Jochen, und daran, dass er tot war. Jochen ... Ein wehmütiges Gefühl beschlich sie, wich aber rasch geschäftiger Entschlossenheit. Sie würde ihn zu sich holen. Heute war ihr freier Abend. Das passte gut. Gegen sieben Uhr zog sie den weißen Kittel aus und schlüpfte in die fadenscheinige Jacke, die früher zu einem eleganten Schnei‐ derkostüm gehört hatte. Jetzt ergänzte sie das dünne Sommer‐ kleid, dessen helles Blau ihre schlanken braunen Beine gut zur Geltung brachte. Sie radelte die paar Minuten nach Onkel Toms Hütte und wies dem Posten am Schlagbaum ihren Ausweis vor. Als deutsche Angestellte der US Army hatte sie Zutritt zum Sperrgebiet. Eine große Immobilienfirma hatte Anfang der dreißiger Jahre ein Rechteck zweistöckiger Wohnhäuser aus Gussbeton rings um den U‐Bahnhof hochgezogen. Die Schlieffenstraße war eine der beiden Längsseiten. Offenbar fand man sie für den Feldmarschall des Kaisers zu schmal, und so benannte man sie um, nach einem weitgehend unbekannten General namens Wilski. Unten rechts in der Wilskistraße Nummer 47 hatten Jochen und sie ihre Zweizim‐ merwohnung. Inzwischen war der ganze Block beschlagnahmt. 78
Neben dem Klingelknopfstand noch ihr Name: WEBER. Sie läu‐ tete. Der automatische Offner summte. Ein großer schlaksiger Amerikaner in Shorts und T‐Shirt erschien oben in der Woh‐ nungstür. »Hey, it᾿s you«, rief er erfreut. »I᾿m John Ashburner, re‐ member me?« Ohne martialischen Helm und Waffe sah er viel besser aus als bei ihrer ersten nächtlichen Begegnung. »Natürlich erinnere ich mich, Captain. Ich heiße Jutta Weber.« »Sie wollen mich besuchen?« »Ich wusste nicht, dass Sie hier leben. Früher war das unsere Wohnung.« »Sorry, nicht meine Schuld. Ich hoffe, Sie sind woanders gut untergekommen?« »Das Wohnungsamt hat mir ein kleines Zimmer in der Onkel‐ Tom‐Straße zugewiesen.« »Und was kann ich für Sie tun?« »Ich möchte das Bild meines Mannes mit seinen Schülern. Falls es noch da ist, würde ich es gerne mitnehmen.« »Kommen Sie rein.« Das Bild hing links neben der Balkontür, eine Gruppenauf‐ nahme vor dem Kaiser‐Wilhelm‐Turm im Grunewald. »Klassen‐ ausflug 1939. Sein letzter.« »Er war Lehrer?« »Ja. Da in der Mitte, das war er. Er ist in Polen geblieben. Und das war Didi, einer seiner Schüler.« Sie wollte etwas hinzufügen, unterließ es aber. Ashburner nahm das Foto von der Wand. »Ich habe kein Ver‐ fügungsrecht über beschlagnahmtes Gut, aber ich bin sicher, der Quartiermeister hat nichts dagegen. Zigarette?« »Nein danke, ich rauche nicht.« »Mögen Sie trotzdem ein paar Päckchen?« »Warum?«, fragte sie abweisend. »Because you are a young and pretty woman.« Er verbarg seine Bewunderung nicht. 79
»Ich sagte doch, ich rauche nicht. Und als Bezahlung für erhoffte Liebesdienste sind ein paar Päckchen zu wenig.« »Seien Sie nicht albern. Dass ich Sie nett finde, bedeutet nicht, dass ich vorhabe, über Sie herzufallen. Ich dachte, wir könnten uns einfach ein bisschen unterhalten. Wie war᾿s mit einem Kaffee?« Jutta zögerte. »Das Haus hat sechs Wohnungen. Um diese Zeit sind die meisten zu Hause. Sie könnten also leicht um Hilfe rufen oder aus dem Fenster springen. Wir sind hier nämlich im Parterre, erinnern Sie sich?« Sie lachte, weil er das alles so ernst hervorbrachte. »Also gut, einen Kaffee. Und entschuldigen Sie meine Reaktion. Es ist heut‐ zutage nicht leicht, mit uns überempfindlichen, vor Selbstmitleid zerfließenden Deutschen umzugehen. Worüber möchten Sie sich mit mir unterhalten?« »Über Sie und Ihr Leben. Ich weiß so gut wie nichts von den Deutschen.« Während er in der Küche Wasser kochte, schaute Jutta sich um. Der Esstisch war noch da, und Jochens Sessel am Fenster. Das Übrige war aus anderswo beschlagnahmtem Gut zusammenge‐ würfelt. Das Bild auf der Anrichte zeigte einen jüngeren John Ash‐burner und eine durchschnittlich hübsche junge Frau. »Das ist Ethel. Wir sind zehn Jahre verheiratet.« Der Captain stellte ein Tablett mit Heißwasserkocher, Tassen und einer Dose Kondensmilch auf den Tisch. Auf einem Teller lagen braune Por‐ tionsheftchen Nescafe aus Zinnfolie. »Nehmen Sie zwei, dann wird er stärker«, riet er, aber Jutta war mit einem zufrieden. Die Kondensmilch war dick und süß, sodass sich Zucker erübrigte. Es knallte trocken, als ihr Gastgeber eine olivfarbene Rationsdose Kekse Aufriss. »Haben Sie einen Beruf?« »Ich bin Buchhändlerin. Und Sie? Waren Sie schon immer Poli‐ zist?« »Ja. Aber ich wollte viel lieber ein kleines Lokal aufmachen.« Er 80
hatte plötzlich einen verträumten Blick. »Rotkarierte Decken und Kerzen in Weinflaschen auf den Tischen. Wissen Sie, dass ich das Kochbuch meiner Breslauer Ururgroßmutter geerbt habe? Wenn man die Rezepte ein bisschen abwandeln würde, wären die heute eine Sensation. Richtig schön altmodisch, sowas mögen die Leute.« »Und was wurde daraus?« »Nichts. Ethel war dagegen. Andere Leute zu bedienen, fand sie unter ihrer Würde.« »Das tut mir leid, Captain.« »Einfach John. Wir Amerikaner sind gern per Vornamen.« »Okay, also John — und bitte Jutta.« Er nahm einen Schluck Kaffee und stellte die Tasse ab. »Jutta, wie war das, als dieser Hitler kam?« »Wir mussten eine Menge Bücher aussortieren. Die meisten Leute merkten das nicht, weil sie keine lasen. Ansonsten ging der Alltag weiter.« Sie hatte keine Lust, ihm die vergangenen Jahre auseinander zu setzen. Er hätte ohnehin nichts verstanden. »Und dann kam der Krieg.« »Die Nazis haben ihn angefangen.« »Kann schon sein.« »Wie waren sie, die Nazis?« »Vatis Bruder war PG.« »PG?« Ashburner verstand nicht. »Parteigenosse. Onkel Rudi war bestimmt kein Menschenfres‐ ser. Viele waren in der NSDAP. Ganz normale Leute. Mein Mann wollte in die Partei eintreten. Er hoffte auf schnellere Beförderung im Schuldienst.« »Was war mit diesen Lagern?« »Falls das ein Verhör sein soll, fragen Sie doch bitte auch, wie uns eure Bomben gefallen haben. Wenn es oben wie ein näher‐ kommender Möbelwagen rumpelte, wusstest du, dass eine ziem‐ lich genau über dir war. Wenn das Rumpeln abbrach, konntest du nur noch beten, dass sie bei den Nachbarn einschlägt.« 81
»Muss schlimm gewesen sein«, lenkte er ein. »Noch einen Kaf‐ fee? Oder mögen Sie lieber einen Whiskey?« »Weder noch. Warum interessieren Sie sich eigentlich für uns Deutsche?« »Weil Sie eine sind. Weil Sie ganz anders sind als unsere Frauen zu Hause.« Ein zärtliches Gefühl beschlich sie, das sie vergeblich zu unterdrücken suchte. Er stand auf, als fürchtete er, zu viel gesagt zu haben. »Wohin soll ich Sie fahren?« »Ich bin per Rad unterwegs und hab᾿s nicht weit. Vielen Dank für den Kaffee. Sehen wir uns wieder? Mittwochabend habe ich frei.« Er mochte es, dass sie ihn so direkt fragte. »Um sieben beim Pos‐ ten am Tor?«, schlug er vor. »Okay, John.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Auf der Normaluhr an der U‐Bahn war es kurz vor elf. Jutta überlegte, ob sie direkt nach Hause fahren sollte, entschloss sich aber, noch rasch bei den Schmidts vorbeizuschauen. Herr Schmidt war gewöhnlich bis nach Mitternacht auf. Er war Drogist und hatte bei Kriegsbeginn eine Kiste voller Duftwässer im Keller ver‐ graben, die er jetzt nach und nach abgab. Sechs hungrige Kinder wollten gefüttert werden. Jutta hatte Jack Panelli eine Halbpfund‐ dose Bohnenkaffee abgeschwatzt. Das tat dem Sergeant nicht weh, und sie bekam dafür eine Flasche echtes Eau de Cologne. Die Schmidts wohnten jenseits des Sperrbezirks. Es nieselte ein wenig. Jutta schob ihr Rad am hohen Zaun entlang, hinter dem es Tag und Nacht Strom gab und Menschen mit satten Gesichtern, wo die jungen Frauen des Women Army Corps hohe Pumps und heile Strümpfe trugen und auf der Straße rauchten. Sie dachte an den schlaksigen John Ashburner und darüber nach, ob er ihr gut genug gefiel, dass sie mit ihm schlafen würde, kam aber zu keinem Entschluss. In der Nähe startete ein Motorrad. Sie wich aus, als es mit auf‐ 82
flammendem Scheinwerfer ganz dicht an ihr vorbeiknatterte. Kopfschüttelnd ging sie weiter. An einem Pfosten lehnte eine Rolle Stacheldraht, die wohl beim Zaunbau übrig geblieben war. Jutta schrie auf. Ein wachsbleiches Frauengesicht starrte sie aus weit aufgerissenen toten Augen durch die Drahtwindungen an. Abends gab es »warm«: dehydrierte Kartoffelstäbchen aus US‐ Beständen, die man zwei Tage lang einweichen musste, um sie kochbar zu machen. Mit einer Schwitze aus etwas Mehl und selbstgezogenen Zwiebeln ähnelte das Gericht entfernt einer Kar‐ toffelsuppe. Die Familie saß um den Tisch und löffelte schweigend. Dr. Bruno Hellbich klopfte ärgerlich auf den Tellerrand. »Die Nachbarn ziehen richtige Kartoffeln. Möhren haben sie auch eigene. Und grüne Salatköpfe. Da nehmt euch mal ein Beispiel dran.« »Papa, sei bitte nicht ungerecht. Jedes Fleckchen Erde geht für deinen Tabak drauf«, erinnerte Inge Dietrich ihren Vater. »Ich soll wohl lieber auf den Schwarzmarkt gehen, das letzte bisschen Silber verhökern für ein paar Amizigaretten«, empörte sich der Bezirksrat. »Du könntest weniger rauchen«, bemerkte sein Schwiegersohn sachlich. Einen Moment schien es, als würde es einen der mehr lächer‐ lichen als gefürchteten Hellbich᾿schen Wutausbrüche geben, aber seine Tochter schaltete sich ein: »Frau Zeidler war auch bei Kalk‐ furth, nach Margarine anstehen. Sie bewahrt ihre Brotmarken im Küchentisch auf, sagt sie. Wie sie neulich die Lade aufzieht, ist von den Brotmarken nur noch ein Häufchen winziger Schnipsel übrig. Eine Maus hatte sich drüber gemacht. Die Monatsration für die ganze Familie war weg. Viel Hoffnung hatte sie nicht, aber sie sammelte die Bescherung in einen Umschlag und ließ sich beim Leiter der Kartenstelle melden. Der lachte sich kaputt und gab ihr 83
anstandslos Ersatzmarken, mit der Begründung, sowas dächte sich bestimmt keiner aus.« Es war keine besonders komische Geschichte, aber sie besänf‐ tigte ihren Vater. »Ein vernünftiger Mann«, sagte er beifällig und zündete eine Kerze an, als die Stromsperre einsetzte. »Die ist hart wie Granit, diese Frau Kalkfurth.« Seine Tochter berichtete von ihrem Versuch, das Eipulver anzuschreiben. »Sie ist verbittert. Aber das muss man ihr nachsehen. Keine sehr glückliche Familie, diese Kalkfurths. Im Jahr ᾿29 kauften sie das Haus Am Hegewinkel. Das war feiner als der Prenzlauer Berg. Da war nämlich ihre Fleischerei. Ihre Würstchenbuden hatten sie überall in der Stadt. ›Kalkfurther Würstchen‹, die kannte damals jeder. Tja, der Erfolg brachte ihnen nicht viel Gutes. Ein Ochse trat Adalbert Kalkfurth beim Schlachten in den Bauch und zerfetzte ihm die Därme. Der erste Geselle führte die Fleischerei weiter. Kurt, der Sohn, half ihm. Er sollte den Betrieb eines Tages über‐ nehmen. Ein kräftiger Bursche mit Babygesicht. Knatterte dau‐ ernd auf seinem Motorrad durch die Gegend. Meldete sich frei‐ willig zu den Kradfahrern und blieb gleich zu Anfang im Polen‐ feldzug auf der Strecke. Martha Kalkfurth erlitt einen Schlag‐ anfall, als die Nachricht kam. Seither sitzt sie im Rollstuhl. Gibt᾿s noch Kartoffelsuppe?« »Eine halbe Kelle für jeden.« Inge Dietrich verteilte mit konzen‐ trierter Miene den Rest. Sie war sechsunddreißig und hatte ein paar Silberfäden im vollen braunen Haar, Erinnerungen an unge‐ zählte Nächte, in denen sie, die Söhne an sich gepresst, im Keller auf das tiefe Brummen der Flugzeuge und die fallenden Bomben gelauscht hatte. Ihr Gesicht schimmerte weich im Kerzenlicht. Wie schön sie ist, dachte Klaus zärtlich. Sie lächelte leise, als wüsste sie genau, was er dachte. Der Bezirksrat hatte aufgegessen. Er drehte sich aus dem grün getrockneten Tabak eine Zigarette und war rücksichtsvoll genug, 84
sie im Garten zu rauchen. »Eine herrlich warme Nacht«, rief er. »Kommt doch raus.« »Wir gehen nach oben«, rief seine Tochter. »Gute Nacht, Vater. Ben, Ralf, helft Oma abräumen und bleibt nicht zu lange auf. Klaus, kommst du?« Er nahm die Dynamolampe, die zur Ausrüstung eines jeden Haushaltes gehörte, und leuchtete ihnen die Treppe hinauf. Schweigend zogen sie sich aus. Die Nacht war trotz Nieselregen hell genug, dass er sie sehen konnte: ihre mittelgroße Gestalt mit den immer noch festen Brüsten und der schlanken Taille über den weiblich gerundeten Hüften. Er setzte sich auf die Bettkante, löste die Prothese und stellte sie mitsamt Strumpf und Schuh beiseite. Sie kniete sich vor ihn und umfing ihn mit warmen Lippen. Dann sanken sie aufs Lager, und es wurde eine ruhige, befriedigende Begegnung. Das Telefon meldete sich gedämpft mitten in der Nacht. Klaus Dietrich hatte Pappe zwischen Glocke und Schlegel geklemmt, damit es Inge nicht weckte. Kriminalmeister Franke war am Apparat: »Wieder ein Mord, Herr Inspektor. Diesmal direkt am Sperrzaun der Amis.« Dietrich sprach mit unterdrückter Stimme: »Wo genau?« »Ganz hinten, wo früher der Wochenmarkt war. Ich erwarte Sie dort. Ende.« Er zog sich leise an, aber die Prothese entglitt ihm und polterte zu Boden. »Was ist los, Schatz?«, fragte Inge verschlafen. »Was Dienstliches.« Er holte das Rad von der Veranda und fuhr los. Der direkte Weg durchs Sperrgebiet war ihm verwehrt, und so machte er einen Umweg über die Waltraudbrücke durch den Fischtalpark. Ein Käuzchen schuhute zwischen den Tannen. Vom Teich quakte eine frühe Ente. Im Osten schimmerte eine erste Ahnung des kommenden Tages hinter den Bäumen. Es war un‐ endlich still und friedlich. 85
Franke hatte die Scheinwerfer des Holzgasopels auf eine Stelle am Sperrzaun gerichtet. Etwas abseits stand ein Jeep der Military Police, an dem mit verschränkten Armen der Sergeant Donovan lehnte. Der Inspektor stellte das Rad ab und nickte ihm zu, aber Donovan ignorierte das. Franke wies schweigend auf den Zaun. Im ersten Augenblick sah Dietrich nur eine Rolle Stacheldraht. Dann erkannte er die grausigen Einzelheiten. »Eine gewisse Jutta Weber hat die Tote entdeckt«, berichtete der Kriminalmeister. »Sie fuhr mit dem Rad zum Revier nach Zehlen‐ dorf‐Mitte, um es zu melden. Ich habe sie für heute Nachmittag zu uns bestellt.« Klaus Dietrich betrachtete das von blonden Strähnen umrahmte bleiche Gesicht. Erloschene blaue Augen starrten ihn durch die Drahtwindungen an. »Was wissen wir?«, fragte er, ohne sich um‐ zuwenden. »Dass sie Helga Lohmann heißt, flinfunddreißig Jahre alt ist und bei den Amis arbeitet. Ihre Einkaufstasche mit Ausweis und vier Dosen Corned Beef lag hier am Zaun.« »Spuren?« »Vielleicht der Fetzen da?« Franke deutete auf ein Stück Stoff im Stacheldraht. Dietrich nahm den Streifen Textil und hielt ihn prüfend ins Licht. »Olivgrünes Gabardine. Das könnte vom Trenchcoat eines Amerikaners stammen.« Eine Hand langte in den Scheinwerferkegel und zog ihm den Stoff aus den Fingern. »Beschlagnahmt«, sagte Sergeant Donovan auf Deutsch. Er hatte das Wort offenbar schon oft benutzt, so flie‐ ßend kam es ihm über die Lippen. »But we need the evidence — wir brauchen das als Beweis‐ stück«, protestierte Dietrich. »Shut up, you goddam Kraut!«, bellte Donovan und legte die Hand drohend an den Knauf seiner Magnum, bevor er sich in sei‐ nen Jeep schwang und mit kreischenden Reifen davonjagte. 86
»Was machen wir mit ihr?«, fragte Franke etwas ratlos. Dietrich wies auf den Gepäckträger am Wagendach. »Wenn wir sie da oben gut festzurren, bringen wir sie unbeschädigt ins Wald‐ frieden.« »Der Dame kann᾿s egal sein«, brummte Franke gleichmütig und packte mit an. Dr. Möbius setzte die Drahtzange an. »Mit schönem Gruß vom Hausmeister. Der Alte war ganz schön sauer, als Schwester Dagmar ihn wegen des Werkzeugs weckte.« Es war vier Uhr früh. Die Klinik hatte seit einer halben Stunde wieder Strom. »Völlig normale Chirurgenarbeit«, meinte der Arzt sarkastisch und begann, den Stacheldraht zu durchtrennen. Er bog eine Windung nach der anderen auseinander, bis die Tote frei vor ihnen lag. Sie trug ein einfaches graues Kleid mit weißem Kragen. Ihre Strümpfe waren zerrissen. Gemeinsam mit der Schwester ent‐ kleidete er sie. Die Beamten warteten im Hintergrund. Der Krimi‐ nalmeister bewegte sich unbehaglich von einem Bein aufs andere. Offenbar setzten ihm trotz Atemschutz der Formalin‐ und Verwesungsgeruch hier im Keller zu. »Kein Schlüpfer, genau wie bei der ersten«, stellte Dr. Möbius nüchtern fest. »Kommen Sie doch näher.« Nur Dietrich folgte der Aufforderung. Die Tote war gut gewachsen, mit vollen Brüsten und Schwan‐ gerschaftsstreifen am Bauch. »Am Hals wieder die Würgemale einer Kette«, fuhr Möbius fort. »Blutspuren im Schamhaar und an den Oberschenkeln. Der Mörder hat auch dieses Opfer mit einem scharfen Gegenstand gequält«, fügte er nach kurzer Unter‐ suchung hinzu. »Weiß man, wer die Frau ist?« »Helga Lohmann, fünfunddreißig Jahre. Arbeitet beim Ameri‐ kaner. Mehr haben wir noch nicht. Wann trat der Tod ein?« »Vorbehaltlich einer Autopsie würde ich sagen vor zwei bis drei Stunden.« Der Inspektor rechnete: »Also zwischen 22 und 23 Uhr. Da reg‐ 87
nete es noch. Das würde den Trenchcoat erklären. Franke, was meinen Sie?« Er erhielt keine Antwort, weil sein Nachbar mit grünem Gesicht zu Boden gegangen war.
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Helga
D
as Haus stand am Rande des Onkel‐Tom‐Viertels, in der So‐ phie‐Charlotte‐Straße, sechs geräumige Wohnungen, verteilt auf Parterre und zwei obere Etagen. Helga Lohmann hatte es von den Eltern geerbt. Sie wurden im Skiurlaub von einer Lawine begraben. Die Lohmanns wohnten unten rechts. Dort war auch Reinhold Lohmanns Steuerberatungsbüro. Im Keller hatte er für seinen SA‐Sturm einen Kleinkaliber‐Schießstand eingerichtet. Ein‐ mal die Woche knallte es abends durchs Haus, dessen Bewohner für die braunbehemdeten, nicht mehr ganz schlanken Fami‐ lienväter belustigtes Verständnis zeigten. »Ihr Mann macht sich da wohl nichts draus?«, fragte Helga an diesem Mittwochabend im Flur die hübsche schwarzhaarige Frau Salomon aus dem zweiten Stock und erfuhr, dass Leo Salomon ein guter Schütze war, der mit seinem inzwischen verstorbenen Vater oft auf die Jagd gegangen war, und dass er sich um Auf‐ nahme in die Schützenriege der Braunhemden beworben hatte. »Nicht wahr, mit dem Schießgewehr spielen unsere großen Jungs alle gerne«, meinte Helga vergnügt. »Sie haben ihn abgelehnt«, vertraute Frau Salomon der Haus‐ besitzerin an. »Wir sind nämlich Juden.« »So ᾿n Quatsch«, entschied Helga. »Sie gehen beide genau wie wir Ostern und Weihnachten zur Kirche und spenden fürs Win‐ terhilfswerk des Führers. Ich rede mit meinem Mann.« 89
»Das sind nette Leute und pünktliche Mietzahler. Und ein Anfän‐ ger ist Herr Salomon auch nicht, wo er mit seinem Vater doch oft zur Jagd war«, sprach Helga ihren Mann beim Abendessen an. Reinhard Lohmann belegte sein Butterbrot sorgfältig mit drei Scheiben Fleischwurst. Er war ein kräftiger Mann von sechsund‐ dreißig, mit lichtem Haar und Leberflecken auf den Unterarmen. Er hatte die zehn Jahre jüngere Krankenschwester 1930 geheiratet. Bis dahin arbeitete Helga Rinke auf der Kinderstation der Charité. Sie war von einem jungen Arzt dort schwanger. Lohmann wusste das. Aber ihr Hausbesitz und die damit verbundenen Mietein‐ nahmen verhießen Sicherheit. Er selber war als Steuerberater nicht sonderlich erfolgreich. »Das mit Salomon geht nicht.« Er legte eine vierte Scheibe Wurst aufs Brot, die dort eigentlich keinen Platz mehr hatte und deshalb über den Rand hing. »Warum nicht? Einen guten Schützen mehr könntet ihr für den nächsten Gebietswettkampf dringend brauchen, das hast du selbst gesagt.« »Gesagt — gesagt«, plapperte Karlchen und patschte mit dem Löffel in seinen Griesbrei, den seine Mutter mit Ornamenten aus einem Kännchen Himbeersyrup verziert hatte. Karlchen war sechs. Er war nach der Heirat der Lohmanns zur Welt gekommen. Reinhard Lohmann hatte ihn ohne zu zögern als Sohn angenommen. Das war, bevor der Säugling Symptome von Mongolismus entwickelte: einen kurzen runden Kopf, schräge Augen, kleine, plumpe, tief angesetzte Ohren, eine flache Nasen‐ wurzel, eine dicke Zunge. Lohmann vermied es fortan, sich mit dem Jungen in der Öffentlichkeit zu zeigen. Für Helga war ihr Sohn das normalste Kind unter der Sonne. Taktlose Bemerkungen oder Anstarren ignorierte sie. In ihrer klei‐ nen Welt zwischen U‐Bahnhof und Riemeister Eck geschah dies ohnehin kaum, weil man sich längst an den Anblick des Kindes gewöhnt hatte und die junge blonde Mutter mochte. 90
»Also, warum nicht?«, wiederholte Helga und wischte ein paar Griesbreispritzer vom Wachstuch neben Karlchens Teller. »Iss an‐ ständig«, mahnte sie den Sohn. »Ich hab᾿s ja versucht, Salomon bei uns reinzubringen«, ver‐ teidigte sich Lohmann. »Von oben gab᾿s ᾿ne Rückfrage, ob ich verrückt geworden sei, einen Itzig in unsere Reihen schleusen zu wollen.« »Er heißt nicht Itzig, sondern Leo und ist ein hochanstän‐ diger Volksgenosse. Du solltest mit deinem Schulfreund Olbrich reden.« Günther Olbrich und Reinhard Lohmann hatten sich beide im letzten Jahr des Großen Krieges vom Gymnasium weg freiwillig gemeldet. Sie kamen nicht mehr an die Front, sondern wurden bald wieder nach Hause geschickt, um ihr Abitur nachzuholen. Olbrich wurde Anwalt und juristischer Berater der NSDAP. Die Parteiführung ernannte ihn nach Hitlers Regierungsantritt zum Chef der Rechtsabteilung in der Berliner Gauleitung. Er hatte her‐ vorragende Beziehungen nach oben und war einmal sogar zu Gast auf dem Obersalzberg. Lohmann war gleich nach dem Wahlsieg der Nazis in deren Partei eingetreten, weil er sich berufliche Vorteile erhofft hatte, die jedoch ausblieben. Er brachte es mit Hilfe seines Freundes zum stellvertretenden Sturmführer »in diesem komischen Kriegerver‐ ein«, wie Helga die SA nannte, und das war eine brotlose Karriere. »Günther hat uns zwei Karten für die Olympischen Spiele spen‐ diert«, lenkte er ab. »Wir könnten Sonnabend den Wagen rausho‐ len.« Helga hatte den »Brennabor« mit dem Haus von den Eltern geerbt. Sie setzte sich nur ans Steuer, wenn Reinhard sie drängte. Er selbst konnte nicht fahren. Helga strahlte. »Wir nehmen ein Picknick mit. Karlchen bleibt bei den Salomons. Nicht wahr, Karlchen, du magst die kleine Ruth.« »Kleine Ruth«, echote der Junge. Seine Augen glitzerten. 91
Sonnabendfrüh führen sie hinaus zum Reichssportfeld. Das herr‐ liche Wetter trug zur festlichen Stimmung bei. Die Menschen waren vergnügt und unbeschwert. Einige Hakenkreuzfahnen flat‐ terten im Sommerwind, doch die Fahnen der Gastländer überwo‐ gen, und das Bild wurde nicht von braunen Uniformen bestimmt, sondern von den eleganten Berlinerinnen. Das neuerbaute Olympiastadion stellte ein eindrucksvolles Stück Architektur dar. »Das zeigt der Welt mal so richtig, was wir können«, schwärmte Helga und richtete Großmutters Opern‐ glas auf die Regierungstribüne. Sie sah den gut gelaunten Führer in weißer Uniformjacke und einen lebhaft gestikulierenden Gö‐ ring, dessen rundes Gesicht in der Sonne glänzte. Den Stellvertre‐ ter Hess erkannte sie an seinen dichten Augenbrauen. Die übrigen Größen waren ihr fremd. Sie schaute hinab in die Arena. »Dieser Amerikaner Jesse Owens sieht wirklich fabelhaft aus. So schön braun. Peng. Los geht᾿s. Mann, rennt der schnell. Ja, ja, jaa! Erster!!« Begeistert sprang sie auf. »Wenn die unsere Kolonien nicht geraubt hätten, wäre jetzt ein deutscher Neger Sieger«, brummte Lohmann sauer. Helga öffnete den Picknickkorb. »Willst du ᾿ne Wurststulle und ein Bier? Die Flaschen sind noch ziemlich kalt, ich hab sie gleich im Keller in die Morgenpost gewickelt.« »Kriegen wir auch ein Bier?« Es war Günther Olbrich. »Das ist Ulla Seitz«, machte er bekannt. Die junge Frau mit dem dunklen Bubikopf an seiner Seite grüßte zurückhaltend. »Haben wir viel versäumt?« »Den 100‐Meterlauf«, meldete Lohmann und teilte das Bier aus. »Ihr seid spät dran.« »Ich konnte nicht eher«, erklärte sein Freund. »Allerletzte Anprobe beim Schneider. In der Staatsoper ist heute Abend Frack‐ zwang. Die Reichsregierung gibt einen Empfang anlässlich der Spiele. Stellt euch vor, der König von Bulgarien und der italieni‐ sche Kronprinz kommen.« 92
»Welche Farbe hat Ihr Abendkleid?«, fragte Helga neugierig, was ihr einen bösen Blick eintrug und die spitze Antwort: »Ich bin nicht eingeladen.« »Du hättest ruhig ein bisschen taktvoller sein können«, rügte ihr Mann sie zu Hause. »Ulla Seitz ist Olbrichs Sekretärin und Geliebte.« Sie saßen am Volksempfänger und hörten die letzten Ergebnisse der Wettkämpfe. Helga hatte ihren Sohn oben bei den Salomons abgeholt. Er stand an sie geschmiegt und lauschte mit offenem Mund den Worten aus dem Bakelitkasten, die er nicht verstand. Ab und zu gluckste er zufrieden. Automatisch wischte sie ihm den Speichel von den Lippen. Lohmann machte sich mit dem Bleistift Notizen. »Wenn᾿s so weiter geht, holen wir uns mehr Gold als die Amerikaner.« Karl‐ chen löste sich von der Mutter, um seinem Vater auf den Schoß zu klettern. Lohmann schob ihn weg. »Zeit zum Schlafengehen«, sagte er barsch. »Wenn du ihn nur lieben könntest«, seufzte Helga später im Bett. Am 10. Mai 1940 marschierten deutsche Truppen in Holland, Bel‐ gien und Luxemburg ein, wurde Winston Churchill neuer briti‐ scher Premierminister, schickten die deutschen Ordnungskräfte im besetzten Polen die ersten Häftlinge in ein neues Lager namens Auschwitz. Der Krieg war neun Monate alt, und Karlchen hatte seinen zehnten Geburtstag. Vormittags gingen Mutter und Sohn in die Ladenstraße am U‐Bahnhof Onkel Toms Hütte. Helgas Ziel war Frau Gerolds Bücherladen. Sie kam gelegentlich, um sich ein Buch zu lei‐ hen. »Ich glaube, ich hab was für Sie. Sie mögen doch historische Ro‐ mane?« Die Assistentin der Buchhändlerin zog einen dicken Schinken aus dem Regal. »Hier bitte: ›Der Arzt der Königin‹. Die Geschichte des Doktor Johannes Angelus Weiß, Leibarzt der 93
Königin Christine von Preußen, der Gemahlin Friedrichs des Großen. Sehr spannend, mit viel Liebe.« »Ja, das nehme ich. Danke.« Helga lachte verlegen. »Nun ken‐ nen wir uns schon viele Jahre, und ich weiß nicht mal, wie Sie heißen.« »Jutta Weber. Frau Lohmann, nicht wahr? Ihr Name steht in der Kartei. Ich gebe Ihnen das Buch drei Wochen ohne Aufschlag, weil᾿s so dick ist. Und was möchtest du lesen?« Jutta Weber strich dem Jungen über den unförmigen Kopf. Sie kannte ihn schon im Kinderwagen und hatte sich längst an seinen Anblick gewöhnt. »Karlchen hat heute Geburtstag. Da darf er sich was aussuchen.« »Herzlichen Glückwunsch, Karlchen.« Karlchen klemmte sich die »Drei kleinen Schweine« von Walt Disney unter den Arm. Am Nachmittag wurde gefeiert. Helga brühte Kaffee auf. Für Karlchen gab᾿s Milchkakao. Sie zündete die zehn Kerzen rings um den Napfkuchen an. Karlchen pustete sie begeistert aus. »Noch‐ mal«, verlangte er. Helga machte ihm die Freude. »Jetzt wird geschossen.« Reinhard Lohmann hatte dem Sohn ein einfaches Luftgewehr gekauft. Das nahmen sie mit in den Keller. Karlchen kreischte vor Vergnügen und handhabte die Waffe nach kurzer Anweisung unerwartet geschickt. Seit er die Sonderschule besuchte, machte er ein paar Fortschritte. Die bleiernen Projek‐ tile hatten die Form winziger Sanduhren. Sie klackten trocken, wenn sie in den blechernen Kugelfänger schlugen. Lohmann nahm das Gewehr und traf sofort ins Zentrum. Karlchen schaffte immer‐ hin eine Acht. Zwischen Vater und Sohn herrschte ein stilles Ein‐ verständnis wie nie zuvor. »Raufkommen, ihr Zwei!« Helga wartete schon ungeduldig. »Und nun Mamas Geschenk.« Sie zog Karlchen ins Schlafzimmer. Zehn Minuten drauf erschienen sie wieder, Karlchen in schwar‐ zen kurzen Hosen und Braunhemd, mit Koppel, Schulterriemen und Halstuch. Es war die den Pfadfindern nachempfundene Uni‐ 94
form der zehn‐ bis vierzehnjährigen »Pimpfe«. Der Junge sah gro‐ tesk aus. Lohmann war zunächst sprachlos. Dann rang er sich ein gequäl‐ tes »unmöglich« ab. »Was ist unmöglich?«, fragte Helga herausfordernd. »Mit zehn treten sie alle ins Deutsche Jungvolk ein. Unser Sohn wird mit‐ machen – wie die anderen.« »Mitmachen«, verkündete Karlchen eifrig und schnitt Grimas‐ sen, weil er seine Gesichtsmuskeln nicht beherrschte. »Pimpfe«, setzte er hinzu. »Denk an seinen Zustand«, versuchte Lohmann es noch einmal. »Der Junge ist kerngesund und kräftig. Komm, Karlchen, wir pusten nochmal die Kerzen aus. Und Montag melden wir dich beim Jungvolk an.« Lohmann verschwand schweigend in seinem Büro. Als Helga ihre Schwester anrufen wollte, hörte sie seine Stimme am anderen Apparat: »...als Pimpf verkleidet, stell dir das mal vor. Das kleine Ungeheuer macht uns zum Gespött der Leute.« »Das geht natürlich nicht«, pflichtete sein Schulfreund Günther Olbrich ihm bei. »Wir werden eine Lösung finden, mach dir keine Sorgen.« Leise legte sie auf. Und er wird doch ein Pimpf, dachte sie trot‐ zig. Am Sonnabend besuchte Helga Lohmann ihre Schwester, die im neunten Monat war. Sie blieb über Nacht und war am Sonntag‐ nachmittag zurück. Reinhard erwartete sie, und mit ihm Günther Olbrich. »Herr Dr. Olbrich, das ist aber nett. Ich mache uns gleich Kaffee. Mögen Sie ein Stück Geburtstagskuchen? Wo ist Karlchen?« »Darüber wollen wir mit Ihnen reden.« Olbrich räusperte sich. »Frau Helga, Ihr Mann hat sich freiwillig zum Offzierslehrgang gemeldet. Nach dem Abschluss wird er als Leutnant an die Front 95
gehen. Er hat darum entschieden, dass Karlchen in der Anstalt besser aufgehoben ist als in einem Zuhause ohne Vater.« »Leutnant Lohmann, das ist ja fabelhaft«, freute sich Helga. »Schneidig wirst du aussehen in Offiziersuniform. Um mich und den Jungen macht euch keine Sorgen.« Dann dämmerte es ihr. »Ihr habt doch nicht ... Karlchen ist doch nicht ...?« »Er ist seit gestern in der Anstalt. Glaub mir, es ist das Beste«, murmelte Lohmann. »In was für einer Anstalt? Ich hole ihn sofort zurück.« »Ohne Einwilligung des Vaters ist das nicht möglich«, schaltete Olbrich sich ein. »Und der hat angesichts der medizinischen Tat‐ sachen eine vernünftige Entscheidung getroffen.« »Er ist nicht sein Vater!« Sie schrie es heraus. »Er ist ein Wasch‐ lappen und ein Versager, der von mir durchgefüttert wird. Zeig deinem Freund die Bücher, Reinhard, zeig ihm das bisschen, was du verdienst. Entscheidung? Was für eine Entscheidung? Seit wann triffst du Entscheidungen?« Lohmann stand auf. »Wir müssen jetzt gehen. Günther fährt mich nach Döberitz. Nach dem Lehrgang komme ich auf Kurz‐ urlaub. Dann reden wir in Ruhe.« Er nahm seinen Handkoffer. Er hatte das alles genau geplant und entzog sich jeder Auseinander‐ setzung durch die Flucht. »Du Feigling!«, schrie sie ihm nach. »Wo ist mein Sohn?« Es hallte durchs ganze Treppenhaus, bis ihre Stimme kleiner wurde, und sie schließlich nur noch trostlos wimmerte. Am Montag holten sie die Salomons ab, mit einem offenen Last‐ wagen, auf dessen Ladefläche sich bereits an die zwanzig Leute drängten. Herr Salomon hatte die Arme schützend um Frau und Kind gelegt. Er trug das Eiserne Kreuz Erster Klasse am Jackett. Sein Gesicht war versteinert. Frau Salomon hatte die Augen ge‐ senkt, als schämte sie sich. Die kleine Ruth winkte. Helga winkte teilnahmslos zurück. Noch vor wenigen Tagen hätte sie laut gegen 96
dieses Unrecht protestiert, und dass sie dem Führer deswegen schreiben würde. Jetzt kreisten ihre Gedanken einzig um den Sohn, den sie ihr genommen hatten. Sie setzte sich wieder an den Tisch und wählte die nächste Nummer aus dem Telefonbuch. Eine unbeteiligte Frauenstimme meldete sich und sagte nach kurzem Zuhören, was Helga an die‐ sem Morgen schon ein Dutzend Mal gehört hatte: dass der zehn‐ jährige Karl Lohmann hier unbekannt sei. »So kommen wir nicht weiter«, murmelte sie und suchte die Nummer des Amtsgerichtes heraus. Man verwies sie an das Vor‐ mundschaftsgericht. Dort hörte man ihr geduldig zu und verband sie mit dem zuständigen Richter. Der äußerte sich zurückhaltend: »Wenn der Vater des Kindes eine höhere Parteiinstanz eingeschal‐ tet und diese mit seinem Einverständnis entschieden hat, ersetzt das nach unseren neuen Richtlinien den gerichtlichen Verbringungs‐ und Einweisungsbeschluss.« »Und ich als Mutter habe gar nichts zu sagen?« »Am besten sprechen Sie mit Ihrem Gatten, Frau Lohmann. Versuchen Sie, ihn umzustimmen. Vor allem kann er Ihnen sagen, wo sich Ihr Sohn befindet, damit Sie ihn wenigstens sehen kön‐ nen.« Das war᾿s. Sie würde mit Reinhard sprechen. Ohne seinen Freund Olbrich würde er sofort umfallen. Eine Stunde später saß sie in der S‐Bahn nach Döberitz. Dort fragte sie sich zum Offi‐ zierslehrgang durch. »Eine Frau Helga Lohmann«, meldete der Posten am Lagertor durchs Telefon. »Will den Lehrgangsteilnehmer Reinhard Loh‐ mann sprechen.« Zwischen den Baracken machten drillichgekleidete Soldaten zum Gebrüll eines Unteroffiziers sinnlose Übungen. War Reinhard unter ihnen? Sie konnte die Gesichter nicht erkennen. Ein junger Offizier eilte herbei. »Leutnant Hartlieb. Bitte kommen Sie. Oberst Marquardt ist in seinem Dienstzimmer.« 97
Der Oberst war ein grauhaariger Fünfziger. »So schnell haben wir Sie gar nicht erwartet, Frau Lohmann.« »Sie haben mich erwartet?« Helga verstand nicht. »Hat unser Kradmelder Sie denn nicht erreicht?« Einen Moment schien der Oberst verwirrt. »Na, ist egal. Mein Beileid, gnädige Frau. Ein bedauerlicher Unfall, und das gleich am ersten Lehr‐ gangstag.« Ein Laufkrepierer hatte dem Offiziersanwärter Reinhard Loh‐ mann beim Übungsschießen den halben Schädel weggerissen. »Man hat uns zu Ausbildungszwecken erbeutete polnische Ka‐ rabiner zugeteilt. Minderwertiges Zeug. Wäre ein guter Offizier geworden, Ihr Mann. Kriegt natürlich ein militärisches Begräbnis. Nochmals mein Beileid. Wenn ich sonst was für Sie tun kann ... ?« Helga schüttelte stumm den Kopf. Erleichtert brachte der Oberst sie hinaus. Auf der Heimfahrt saß sie allein ganz hinten in der S‐Bahn. Sie wähnte Reinhards Gesicht vor sich, lachend und jung, so wie sie ihn kennen gelernt hatte. Doch Trauer wollte sich nicht einstellen. Nun kann er mir nicht mehr sagen, wo Karlchen ist, war ihr ein‐ ziger Gedanke. Einer konnte es ihr sagen. Helga Lohmann hoffte, ihn auf Rein‐ hards Beerdigung zu treffen. Der Schulfreund zog es vor, einen großen Kranz zu schicken und ein Kondolenzschreiben auf hand‐ geschöpftem Bütten. Er habe dienstlich bei der Parteileitung in München zu tun, entschuldigte er sich auf einem beiliegenden Zettel. Am Tag seiner Rückkehr machte sie sich gleich zu ihm auf den Weg. NS‐Rechtsleiter Dr. Günther Olbrich saß in der Berliner Gau‐ leitung in der Hermann‐Göring‐Straße. Helga meldete sich beim Pförtner und wurde in den ersten Stock in ein mit bequemen Pols‐ termöbeln ausgestattetes Wartezimmer dirigiert. Als nach einer halben Stunde endlich die Tür von nebenan ge‐ 98
öffnet wurde, sprang sie erwartungsvoll auf. Es war Olbrichs Sekretärin. Sie war schmaler geworden und hatte einen harten Zug um den Mund. Sie ist nicht mehr seine Geliebte, schoss es Helga durch den Kopf. »Fräulein Seitz, nicht wahr? Helga Lohmann, Sie erinnern sich, wir trafen uns bei den Olympischen Spielen. Du lieber Himmel, das ist nun bald fünf Jahre her. Wie geht es Ihnen?« Die Sekretärin blieb kühl. »Mein Beileid. Dr. Olbrich hat ja wohl schon kondoliert. Er lässt sich entschuldigen. Er ist im Augenblick unabkömmlich.« »Das macht nichts. Ich kann warten.« »Wie sie wünschen.« Ein abweisender Blick. Ulla Seitz ver‐ schwand nach nebenan. Endloses Warten. Gedankenspiele. Etwa, ob der Bauer auf dem Ölbild hinter ihr mit der rechten Hand säte und mit dem linken Fuß vortrat. Sie wandte sich um. Er säte gar nicht, sondern führte die Sense durchs Korn. Bilderraten. Sie spielte das oft mit Karl‐ chen. Der alte Hausarzt Dr. Weiland hatte ihr dazu geraten: »Eine gute Gedächtnisübung für den Jungen.« Sie sah Karlchen vor sich, wie er die Hände vor die Augen legte und den »Mann mit dem Goldhelm« über der Anrichte riet. »Der hat ᾿n grünen Hut auf mit ᾿ner Feder, und auf der sitzt ein Sper‐ ling, und der hat im Schnabel eine Schokolade.« »Wirklich?«, pflegte sie erstaunt zu fragen. Sein Kichern nahm dann kein Ende, weil er sie so schön angeführt hatte. Unwill‐ kürlich musste sie lächeln. Doch die Wirklichkeit überkam sie wieder wie ein kalter Schauer. Sie hatten ihr Karlchen weggenom‐ men. Ihre Uhr zeigte fünf. War sie eingedöst? Hatte Dr. Olbrich inzwischen nach ihr gerufen? Zögernd drückte sie die Klinke nach nebenan. Ulla Seitz zog sich vor dem Spiegel die Lippen nach. »Wir haben Büroschluss.« »Dr. Olbrich?« 99
»Ist schon weg. Er hatte einen sehr anstrengenden Tag. Kommen Sie morgen wieder.« Sie war am nächsten Morgen kurz vor neun da und passte ihn am Eingang ab. Er blieb kurz stehen. »Frau Helga, was für ein schrecklicher Unfall. Es tut mir wirklich leid.« »Bitte sagen Sie mir, wo mein Sohn ist.« »Ich bin in Eile. Der Gauleiter erwartet mich. Lassen Sie sich von meiner Sekretärin einen Termin geben.« Er sprang in den Pater‐ noster. Sie ging langsam die Treppen hinauf. Ulla Seitz goss gerade Tee auf. »Mögen Sie einen?« »Nein, danke. Ich soll mir von Ihnen einen Termin geben lassen. Ich brauche keinen Termin. Dr. Olbrich soll Ihnen bitte sagen, wohin sie meinen Sohn gebracht haben, und Sie sagen es mir. Ich muss zu ihm. Er ist so hilflos ohne mich.« »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen helfen kann.« Wieder war Kälte in ihrer Stimme, wie gestern. Helga hatte den Kopf gesenkt. Sie sprach leise: »Da wächst es in dir, bis du beglückt die ersten Tritte im Bauch spürst. Du kannst es gar nicht erwarten, dass es endlich rauskommt. Endlich ist es da. Dein Kind. Das schönste Kind der Welt, auch wenn es nicht so ist wie die anderen. Du liebst dein Kind, du tust alles und noch mehr. Es braucht dich ebenso, wie du es brauchst, aber sie nehmen es dir weg.« Sie hob den Kopf, suchte die Augen der Sekretärin. »Sie wissen ja nicht, was es bedeutet, wenn plötzlich alles leer ist.« Ulla Seitz wich ihr nicht aus. »Leer«, wiederholte sie bitter. »Alles leer.« Sie schwieg einen Moment, bevor sie fortfuhr: »Er hat mich zur Abtreibung gezwungen. Eine schwangere Sekretärin sei mit seiner Stellung nicht vereinbar, das müsste ich verstehen. Oh ja, ich verstand. Ich verstand vor allem, dass er eine Jüngere wollte. Sie ist achtzehn und arbeitet in der Fernsprechzentrale. Ein hübsches, ahnungsloses Ding. Dafür behalte ich meine Vertrauensstellung, mit 100
gutem Gehalt und Pensionsanspruch. Ihr Sohn ist in der Heilstätte Klein Moorbach. Das ist eine geschlossene Anstalt mit einer Ab‐ teilung für Kinder, die nicht ins heutige Bild passen. Seien Sie vor‐ sichtig. Als Mutter, die ihr Kind wiederhaben will, erreichen Sie da nichts. Ein unbedachter Schritt, und Sie sehen Ihren Jungen nie wieder.« »Danke.« Helga griff nach ihrer Hand. Ulla Seitz wich aus. Sie sprach betont laut: »Herr Dr. Olbrich ist sehr beschäftigt. Bitte be‐ mühen Sie sich nicht mehr hierher. Sie können ihm ja schreiben.« Olbrich war gekommen. Klein Moorbach war ein abgelegener Weiler am Rande des Spree‐ waldes. Helga hatte den alten Drahtesel im Zug mitgenommen. Sie radelte über Straßen dritter Ordnung. Hellgrüne Birken, Lerchen im blauen Himmel, blühende Wiesen – und auf dem Feldweg ein Traktor, der geräuschvoll seinen Dieselgestank verbreitete. Sie nahm diese Frühlingsidylle nicht wahr. Sie befand sich auf Erkun‐ dungsfahrt. Zur Tarnung hatte sie Staffelei und Malzeug mitge‐ nommen. Sie war eine mittelmäßige Begabung mit Wasserfarben. Sie kehrte im Dorfkrug von Klein Moorbach ein. Im Rund‐ funkempfänger kündigten Fanfaren eine Sondermeldung an: Frankreich hatte kapituliert. Die Männer an den Tischen hoben die Köpfe. »Denn ist ja wohl bald Schluss mit dem Janzen«, sagte einer. Aus der Küche drang der Geruch von frisch in Butter gedüns‐ tetem Gemüse und gebratenem Fleisch. »Falscher Hase«, klärte die rundliche Wirtin den fremden Gast auf. »Das kostet Sie fünfzig Gramm Fleischmarken.« »Du meinst Brotmarken, nicht wahr Frieda?«, rief ein Landar‐ beiter von der Theke. Die Männer lachten. Helga lachte mit. »Ihr müsst ja die verflixten Papierschnipsel nicht abrechnen«, gab die Wirtin gemütlich zurück. »Gemüse und Kartoffelbrei krie‐ gen Sie bei mir ohne Marken. Ein Bier dazu?« 101
»Nein danke. Eine Selters«, bat Helga. »Auf Urlaub?« »Mein freier Tag. Ich will ein bisschen Landschaft malen. Gibt᾿s hier einen besonders hübschen Flecken?« »Den Moorbach am Waldrand«, erfuhr sie von einem der Bau‐ ern am Nachbartisch. »Nur ist es da zur Zeit nicht sicher. Aus der Klapsmühle ist ein Irrer ausgebrochen.« »Klapsmühle?« »Nervenheilstätte Klein Moorbach nennt sich das. Da kommt man leichter rein als raus. Heutzutage erklären sie dich schon für verrückt, wenn du schielst. Dieser Kerl ist allerdings wirklich ᾿ne gefährliche Nummer.« Die Tür wurde aufgestoßen. Ein schnauzbärtiger Wachtmeister in grüner Polizeiuniform stapfte herein. »Na, Erwin, habt ihr ihn?«, fragte jemand. Der Wachtmeister nahm den Tschako ab und setzte sich. »Einer vom Einsatzkommando hat ihn erwischt. Er wollte mit ᾿nem Kahn türmen. Kopfschuss auf hundert Meter. Wenn sie dem gleich die Rübe abgehackt hätten, wäre uns dieser Aufwand erspart geblieben. Stattdessen stecken sie so einen in die Gummizelle. Soll ein Dutzend Knaben missbraucht und abge‐murkst haben.« Helga war entsetzt. »In der Anstalt sind doch auch Kinder.« Der Wachtmeister warf ihr einen misstrauischen Blick zu. »Wo‐ her wissen Sie das?« Helga fing sich sofort. »Ich meine, es wäre unverantwortlich, so eine Bestie mit Kindern zusammenzulegen. Höchste Zeit, dass die Partei eingreift.« »Frieda, ein Bierchen«, rief der Wachtmeister laut. Mit der Partei mochte er nichts zu tun haben. Nach dem Essen machte Helga sich auf den Weg. Das Rad ließ sie beim Dorfkrug stehen. Es hätte ihr ohnehin wenig genützt. Die urwaldartige Landschaft war von Wasseradern duchzogen. Aber irgendwo führte immer ein Baumstamm oder ein Steg hinü‐ 102
ber. Nach einem halben Kilometer gelangte sie zu einer manns‐ hohen Mauer. Sie bahnte sich einen Weg daran entlang zur Ein‐ fahrt. Das Schild am Gittertor verkündete:
HEILSTÄTTE KLEIN MOORBACH RASSENHYGIENISCHE FORSCHUNGSSTELLE Im Hintergrund ragten drohend die Zinnen eines hässlichen wil‐ helminischen Baus empor. Die Anstalt war ursprünglich der Landsitz einer niederen Adelsfamilie gewesen. Ein Mann mit Schirmmütze kam aus dem Pförtnerhaus, einen Schäferhund an der Leine und begann seine Runde. Der Kies des Vorplatzes knirschte unter seinen Stiefeln. Helga schloss die Augen und richtete ihre Gedanken fest auf das gelbe Backsteingebäude. Mama ist hier, Karlchen, dachte sie. Sie spürte seine Wärme, wie immer, wenn er sich schutzsuchend an sie klammerte. Er war ein guter Junge und gar nicht schwierig. Aber er war doppelt so hilflos wie seine Altersgenossen und des‐ halb um ein Vielfaches verwundbarer. Sie stellte ihre Staffelei unter einem Baum auf. So hatte sie den Moorbach vor sich. »Mama holt dich raus«, sagte sie entschlos‐ sen. Daheim vergrub sie sich in Reinhards einstigem Büro und begann einen erbitterten Kampf mit den Behörden. Sie führte Telefonate, die meist in irgendeinem Vorzimmer endeten. Sie schickte Ein‐ schreiben, mit einem Gutachten vom alten Hausarzt Dr. Weiland über Karlchens harmlosen Zustand: »... ist häusliche Pflege durch die Mutter völlig ausreichend. Ein Anstaltsaufenthalt ist nicht er‐ forderlich ... « Einige ihrer Eingaben und Beschwerden wurden nach Wochen immerhin bestätigt. Der Bescheid war jedesmal negativ: »... teilen wir Ihnen daher mit... nicht zuständig... haben wir Ihr Schrei‐ 103
ben... weisen wir Sie darauf hin... Ihrer Beschwerde nicht statt‐ geben ... Mit deutschem Gruß, gez. ...« So verging ein Monat nach dem anderen. Neue Kriegsschau‐ plätze taten sich auf. Die deutsche Armee marschierte von Sieg zu Sieg. Helga nahm es nicht zur Kenntnis. In schlaflosen Nächten zergrübelte sie sich das Gehirn. Wo ein Wille ist, da ist ein Weg, hämmerte es beharrlich in ihrem Kopf. Doch zu Karlchen schien es keinen Weg zu geben. Sie verließ die Wohnung nur für die nötigsten Besorgungen. Die meiste Zeit saß sie apathisch da und wartete vergeblich auf Post und auf Anrufe, die ausblieben. »So geht das nicht weiter«, schimpfte ihre Schwester Monika bei einem ihrer seltenen Besuche. »Dieses Nichtstun passt einfach nicht zu dir.« »Was soll ich denn machen?«, gab Helga mutlos zurück. »Vor allem nicht rumsitzen wie ᾿ne alte Frau. Tu endlich was.« An einem Montag raffte Helga Lohmann sich auf und fuhr zu ihrem alten Arbeitsplatz in der Louisenstraße. Sie hatte sich zu ei‐ nem Gespräch bei der Oberin angemeldet. Der rote Ziegelbau der berühmten Klinik, die Preußens König Friedrich Wilhelm I. im Jahre 1727 auf den Namen »Charité« getauft und zur kostenlosen Behandlung der Armen freigegeben hatte, leuchtete heiter in der Sonne. Drinnen ging es weniger heiter zu. Junge Männer in gestreiften Bademänteln bevölkerten den Flur. Einbeinige auf Krücken, Bein‐ lose im Rollstuhl, ein blonder Riese mit verbranntem Gesicht und bandagierten Stümpfen statt Händen — menschlicher Abfall sieg‐ reicher Schlachten. Ein Geschwader weißer Kittel wehte vorüber. »Eugen«, rief sie unwillkürlich. Der große Grauhaarige an der Spitze blieb stehen. »Helga.« »Die Visite, Herr Professor«, mahnte jemand. »Ich komme gleich.« Er ergriff ihre Hand. »Um zwölf in mei‐ 104
nem Büro in der Neurochirurgie. Ich freue mich riesig.« Das Lä‐ cheln im sonnengebräunten Gesicht strahlte wie früher. Das Gespräch mit der Oberin war kurz und positiv: »Wir brau‐ chen Pflegepersonal an allen Ecken und Enden. Eine Woche Auf‐ frischungskurs, und ich kann Sie als Vollschwester einsetzen. Ob als Kinderschwester, kann ich nicht versprechen. Sind Sie trotz‐ dem einverstanden?« »Ja, Frau Oberin, sehr sogar.« »Gut, gehen Sie runter ins Personalbüro, die machen den Papierkram. Ich kündige Sie dort an.« »Bitte in einer halben Stunde. Ich will vorher rasch einen Be‐ kannten auf der Neurochirurgischen besuchen.« Helga wurde von einer älteren Sekretärin empfangen. »Der Herr Professor erwartet Sie.« Professor Dr. Eugen Klemm war Chef der Neurochirurgischen Klinik in der Charité. »Helga... « Er nahm sie einfach in die Arme. »Du, ich freue mich riesig. Wieviele Jahre ist es her? Nein, sag᾿s nicht, es macht mich noch älter. Im Gegensatz zu dir. Du hast dich überhaupt nicht verändert.« »Oller Schmeichler.« Wärme durchzog sie und eine ungestillte Sehnsucht. Sie löste sich von ihm. »Du bist jetzt ein großer Mann, nicht wahr? Und privat? Verheiratet? Kinder?« »Seit acht Jahren verheiratet, eine siebenjährige Tochter, einen fünfjährigen Sohn. Und du?« »Zehn Jahre verheiratet, seit einem Jahr verwitwet, einen Sohn. Unseren Sohn, Eugen.« Er brauchte einige Sekunden, bis er begriff. »Warum hast du mir das nicht gesagt? Es hätte alles geändert.« »Wir hatten ein paar verliebte Wochen miteinander. Mehr war nie geplant. Aufstrebender Assistenzarzt und kleine Lernschwester, das wäre nicht gutgegangen. Du wärst heute nicht, wo du bist. Im Übrigen erkannte mein Mann das Kind schon vor der Geburt an. Eigenes Geld hatte ich auch. Ich brauchte also keine Hilfe.« 105
»So einfach war das?« Eine Spur Enttäuschung klang in seinen Worten mit. »Nein, Eugen, einfach war es nicht. Karlchen ist inzwischen elf. Ein lieber Junge.« Sie zögerte. Dann brach es aus ihr heraus. »Sie haben ihn mir weggenommen. Er ist mongoloid. Er passt nicht ins heutige Bild. Er ist in Klein Moorbach. Er wird dort zugrunde ge‐ hen ohne mich. Eugen, hilf uns.« Ihre Eröffnung ging ihm sichtlich nahe. Dennoch blieb er ruhig und sachlich. »Klein Moorbach ist eine geschlossene Anstalt. Ihr Chef Dr. Ralf Urban ist ein hervorragender Psychiater und Ner‐ venarzt. Ein Fachmann für schwere geistige Störungen.« »Karlchen ist nicht verrückt«, stieß sie heftig hervor. »Er ist nur ein wenig langsamer in seiner Entwicklung.« »Ich weiß«, beruhigte er sie. »Nur, gewisse Stellen sehen das an‐ ders. Klein Moorbach ist der Rassenhygienischen Forschungs‐ stelle angegliedert.« »Was bedeutet das?« »Das möchte ich nicht näher erklären. Hör zu, Helga, ich kenne Urban. Ich werde ihn bitten, dich als Schwester in der Kinderab‐ teilung unterzubringen. Irgendwas Plausibles wird mir dazu schon einfallen. Du benützt deinen Mädchennamen. Es darf unter keinen Umständen herauskommen, dass du Karlchens Mutter bist.« »Wie stellst du dir das vor? Er wird auf mich zustürmen und ›Mama‹ rufen.« »Das musst du irgendwie verhindern, da kann ich dir nicht hel‐ fen.« »Und weiter?« »Du bist eine gute Schwester und verstehst es, mit Kindern umzugehen. Mach dich unentbehrlich. Bleib in Klein Moorbach, bleib bei unserem Sohn. Wie lange, weiß ich nicht. Ein, zwei Jahre? Irgendwann wird der braune Spuk vergehen.« »Eugen, so darfst du nicht reden. Natürlich geschehen Dinge, die nicht recht sind, wie das mit den Salomons. Der Führer weiß 106
eben nicht alles. Aber letztlich wird er die Dinge zum Guten wen‐ den.« »Glaubst du das wirklich?«, fragte er mitleidig. Eine Nachlässigkeit der Personalabteilung kam Helga zugute. »Heil Hitler«, begrüßte sie der Mann in der Registratur. Er trug ein Parteiabzeichen. »Die Oberin hat durchgerufen. Wollen mal sehen. Sie sind 1929 ausgeschieden? Da müssten wir Ihre Akte eigentlich haben. Na, was sage ich: Schwester Helga Rinke aus Zehlendorf, stimmt᾿s? Einen Ariernachweis können wir uns wohl sparen, so blond und deutsch wie Sie aussehen. Hat sich was ver‐ ändert bei Ihnen? Name, Adresse?« Helga verneinte und konnte sich zwei Tage später einen Lichtbildausweis der Klinik auf ihren alten Namen abholen. Die Anforderung aus Klein Moorbach dauerte etwas länger. Eu‐ gen Klemm musste seinem Kollegen Urban erst eine Geschichte auftischen: »Eine hervorragende Kinderschwester, diese Helga Rinke. Wäre für Klein Moorbach bestimmt eine willkommene Hilfe. Sie ist sehr hübsch und recht jung. Wir kennen uns ein wenig privat, wenn Sie wissen, was ich meine. Dummerweise leitet sie daraus Besitzansprüche her. Möchte nicht, dass meine Frau davon in Mitleidenschaft gezogen wird. Wäre dankbar für Ihre Hilfe, Herr Urban, Sie verstehen.« Urban verstand. An einem grauen Novemberdienstag stand Helga vor dem schmiedeeisernen Tor der Anstalt von Klein Moorbach. Aus dem Pförtnerhaus bellte der Schäferhund. Der Mann mit Schirmmütze erschien. »Schwester Helga Rinke. Ich werde erwartet.« »Haben Sie einen Ausweis?« Sie zeigte den Lichtbildausweis der Charité und wurde ein‐ gelassen. Mit hässlichem Kreischen schloss sich das Tor hinter ihr. Kies knirschte unter ihren Schritten, während sie sich dem gelben Backsteinbau mit den vergitterten Fenstern näherte. 107
»Sie haben an der Charité Erfahrung mit Kindern gemacht?« Dr. Ralf Urban war ein eleganter Mittvierziger, der seinen maßge‐ schneiderten weißen Kittel hochgeschlossen wie einen Offiziers‐ rock trug. »Ja, Herr Chefarzt. Geheimrat Sauerbruch gab besonders post‐ operative Kinder gerne in meine Obhut.« »Generalarzt Sauerbruch«, berichtigte er sie. »Ein wunderbarer Chef.« »Mein Kollege Klemm schätzt Sie sehr, Schwester Helga. Wie Sie wissen, sind unsere kleinen Patienten keine normalen, son‐ dern psychisch und physisch geschädigte Kinder.« Urban drückte einen Klingelknopf. »Schwester Doris verlässt uns heute. Sie zeigt Ihnen Ihr Zimmer und bringt Sie auf Ihre Station.« »Ist die Frage erlaubt, warum Schwester Doris ausscheidet?« Die Eintretende hatte ihre Frage gehört. »Weil ich mich in ein Lazarett an die Front gemeldet habe. Unsere tapferen Jungs da draußen brauchen mich mehr als diese wertlosen Kreaturen hier.« Schwester Doris war eine kräftige junge Frau mit nussbraunen Zöpfen, die sie unter der Haube um den Kopf gewunden hatte. An der Bluse trug sie das Reichssportabzeichen. »Weisen Sie Schwester Helga ein und geben Sie ihr den Schlüs‐ sel«, befahl Dr. Urban. »Jawohl, Herr Chefarzt.« Doris nahm Helga beim Arm. »Eine Bitte noch, Herr Chefarzt.« »Ja?« Abwägend musterte Urban die junge Frau. Helga hatte überlegt, wie sie Karlchens freudige Begrüßung ohne Zeugen hinter sich bringen konnte. »Ich möchte meinen neuen Schützlingen das erste Mal alleine gegenübertreten, um von Anfang an meine Autorität zu etablieren.« »Was meinen Sie, Schwester Doris?« »Keine schlechte Idee, Herr Chefarzt. Dann kann Schwester Helga den kleinen Bestien gleich mal zeigen, wer das Kommando hat.« 108
»Also gut.« Urban vertiefte sich in irgendwelche Papiere. Schwester Doris marschierte voraus, über den Kies des Vorplat‐ zes zum Seitenflügel, wo die Quartiere des Pflegepersonals lagen. Das Zimmer im ersten Stock war hell und freundlich, mit kleinem Bad und Aussicht auf den herbstlichen Park. Helga stellte den Koffer ab. »Lernschwester Evi hat das Zimmer neben Ihnen«, klärte Doris sie auf. »Ein williges junges Ding, aber nicht sein Typ.« Sie genoss ihre Worte sichtlich. »Das wären Sie schon eher. Urban hat zuweilen kleine Wünsche. Falls Sie meinen Rat wollen, stellen Sie sich nicht zickig an. Er kann Ihnen mühelos Schwierigkeiten machen.« »Praktische Erfahrung?«, konnte Helga sich nicht verkneifen. »Ich bin nicht sein Fall. Ich bringe Sie zur Kinderstation. Hier, Ihr Schlüssel, er passt im ganzen Haus. Sie müssen ihn immer an der Kette tragen und jede Tür hinter sich sofort verschließen. Wir haben hier sehr gefährliche Insassen. Vergessen Sie das nie. Und was Ihre Patienten betrifft — am besten halten Sie die kleinen Scheusale ruhiggestellt.« Helga hörte nicht hin. Karlchen, dachte sie, Karlchen, gleich ist Mama bei dir. Eine Stahltür trennte den Wohnflügel vom Hauptgebäude. Schwester Doris schloss sie auf. Sie betraten einen Korridor. Män‐ ner in schmutziggrauer Anstaltskleidung schlurften langsam vorüber, ohne jegliches Verstehen in den fahlen Gesichtern. Zwei kräftige Wärter schleppten einen lauthals schreienden Patienten in Zwangsjacke vorbei. Helga zwang sich, ihre Betroffenheit nicht zu zeigen. Am Ende des Korridors führte eine Gittertür ins Treppenhaus. »Die Kinderstation ist einen Stock höher. Ich lasse Sie nun alleine.« Doris sperrte das Gitter hinter ihr zu. Mit klopfendem Herzen stieg Helga die Stufen empor. Oben kam sie wieder an eine Gittertür und dahinter in einen langen Flur. Kinderstimmen wiesen ihr den Weg. 109
Eine weiße Tür mit vergittertem Fenster. Sie schob den Schlüssel ins Schloss und öffnete. Gestank schlug ihr entgegen. »Mein Gott«, stieß sie tonlos hervor. In zwei Reihen militärisch ausgerich‐ teter Betten lagen Kinder unterschiedlichen Alters, die Hände und Füße mit Mullbinden an ihre Bettstellen gefesselt. Sie zählte zwanzig Jungen und Mädchen in verschiedenen Stadien von Dementia Infanti‐lis. Einige wirkten kindlich und fast normal, andere zeigten deutliche Symptome, darunter ein erschreckender Wasserkopf. Alle hatten Bettpfannen untergeschoben und lagen in ihrem eigenen Kot. »Am besten halten Sie die kleinen Scheusale ruhiggestellt«,meinte sie Doris᾿ Stimme zu hören. Sie fand ihren Sohn im hintersten Bett. Seine einst lustigen Augen waren glanzlos, sein Gesicht aufgedunsen. Er erkannte sie nicht. Sie band ihn los und half ihm auf. »Karlchen«, murmelte sie und küsste sein leeres Antlitz. »Jetzt wird alles gut, Karlchen.« Sie drückte ihn fest an sich. In ihrer Umarmung lagen ein Jahr Ver‐ zweiflung und Kampf. Er ließ es apathisch geschehen. Neben ihr weinte es leise. Das Mädchen im Nachbarbett mochte zwölf oder dreizehn sein. Es war auf seltsame Art hübsch und schien auf den ersten Blick normal. Helga band es los. Es verkroch sich mit angezogenen Knien unter der schmuddeligen Bettdecke. »Du musst keine Angst haben, ich tu dir nichts. Sagst du mir, wie du heißt?« »Lisa«, tönte es schwach unter der Decke. »Ausgezeichnet, Lisa. Und ich bin Schwester Helga. Hört ihr, Kinder?«, rief sie laut. »Ich bin Schwester Helga, aber ihr könnt mich alle Mama nennen. Alle miteinander: Ma‐ma.« »Ma‐ma, ma‐ma«, tönte es durcheinander, bis sich die Stimmen zum Chor vereinten: »Ma‐ma!!« »Mama, Mama«, lallte Karlchen plötzlich mit dicker Zunge und streckte ihr die Hände entgegen. Er hatte sie erkannt. Sie zog den Sohn an sich, wollte ihn gar nicht mehr loslassen, ließ ihren Trä‐ nen freien Lauf. 110
Sie fasste sich. »Lisa, gibt᾿s hier Bad und Toiletten?« Das Mäd‐ chen kletterte aus dem Bett. Es wies auf eine Tür im Hintergrund. Ein blitzend sauberes, weißgekacheltes Bad mit großer Wanne und mehreren Duschen tat sich auf. Im Nachbarraum waren ein WC und ein großer Ausguss. »Wird wohl nicht oft benutzt?« Lisa schüttelte den Kopf. »Schwester Doris hat᾿s verboten.« »Das werden wir ändern.« Helga drehte eine der Duschen auf. Es gab Heißwasser im Überfluss. »Zieh dich aus, geh unter die Dusche, wasch dich.« Lisa gehorchte freudig. Ihre hübsche kleine Figur zeigte schon weibliche Ansätze. Nur bei genauem Hinsehen bemerkte man die Symptome ihrer offenbar leichteren Störung. Im großen Wandschrank war Bettwäsche gestapelt und saubere Anstaltskleidung. Strahlend zog Lisa sich an. Karlchen war der Nächste. Helga seifte ihn ab, jede ihrer Be‐ wegungen ein Ausdruck unendlicher Zärtlichkeit. Sie rubbelte ihn trocken, half ihm in Pyjama und Hausmantel, kämmte sein feuch‐ tes Haar. »Das werden wir nachher schneiden«, entschied sie. »Geh und zieh dein Bett ab. Lisa, du hilfst ihm. Wir beziehen alle Betten frisch. Und nun das nächste Kind.« Helga war dabei, die Fesseln eines etwa sechsjährigen Jungen zu lösen, dem die fortgeschrittene Demenz im Gesicht stand. Lisa legte ihr die Hand auf den Arm. »Nicht«, sagte sie leise. »Hans wird ganz wild und tut sich weh.« Sie wusch den Kleinen im Bett und bezog es neu, ohne die weichen Fesseln zu lösen. Sie hatte Übung mit bettlägerigen Pa‐ tienten. »Gibt᾿s noch wen, der besser nicht aufstehen sollte?« Lisa verneinte. Eine Stunde später waren alle Kinder und ihre Betten sauber und der Schlafraum gelüftet. Blanke Bettpfannen stapelten sich unter dem Ausguss im WC. »Wir sind alt genug, aufs Klo zu gehen«, verkündete Helga fröhlich. Immer wieder streiften ihre zärtlichen Blicke den Sohn. Er war größer geworden und erwachsener, und dennoch wirkte er wie ein kleines Kind. Sie wusste, dass er nie über das geistige Alter eines Sechsjährigen hinauskommen und im Höchstfall etwa zwanzig 111
Jahre alt werden würde. Hausarzt Dr. Weiland hatte ihr das bald nach der Geburt ruhig auseinander gesetzt, und sie hatte es in me‐ dizinischen Fachbüchern bestätigt gefunden. Unbeholfen schmiegte er sich an sie. »Mama, Mama ...« Alle Kinder drängten sich an sie. »Mama ... Mama ... «, tönten ihre klei‐ nen Stimmen durcheinander. Schlüssel klirrten. Es war Schwester Doris, und mit ihr ein Mann im weißen Kittel. »Zu Anfang meint man, dass man hier alles bes‐ sermachen kann. Aber glauben Sie mir, das sind und bleiben kleine Monster.« »Die Sie in ihrem eigenen Dreck ersticken lassen.« Schwester Doris hob desinteressiert die Schultern. »Machen Sie, was Sie wollen. Meine Zeit hier ist vorbei. Das ist Herr Götze, unser Stationspfleger.« Helga schüttelte kräftig seine Hand. »Freut mich, Herr Götze.« Sie sah zur Uhr. Es war Mittag. »Wo essen die Kinder?« »Wir füttern sie in ihren Betten. Da können sie nur sich selbst bekleckern«, erklärte Doris gleichgültig. »Vielleicht möchten Sie lieber in den Essraum?«, schlug Götze vor, was ihm einen giftigen Blick von Doris eintrug. »Möchte ich, Herr Götze«, erwiderte Helga vergnügt. »Außer‐ dem können Sie mir bestimmt sagen, ob᾿s hier einen Dorfkrug gibt. Wir wollen meinen Einstand begießen.« »Klar, beim Bredewitz in Groß Moorbach. Ich sage den anderen Bescheid. Und wenn Sie sonst Hilfe brauchen, ich bin immer da. Nicht wahr, Lisa?« Die Kleine hatte sich in eine Ecke gekauert und antwortete nicht. An ihrem zweiten Sonnabend hatte Helga ab Mittag frei. Sie brach‐ te ein paar Sachen in die Wäscherei und machte sich mit dem Staubsauger über ihr Zimmer her. Gegen fünf Uhr war sie fertig. Sie zog die gefütterten Stiefel an und den dicken Lodenmantel. Die kalte Novemberluft im Park klärte den Kopf. Es gab viel nach‐ 112
zudenken: über ihre neue Stellung und die damit verbundene Verantwortung für ihre kleinen Schützlinge; über Karlchen und sich selbst. Wie lange würde sie hier mit ihm ausharren müssen? »Irgendwann wird der braune Spuk vergehen«, glaubte sie Eu‐ gens Stimme zu hören. Sie sehnte diesen Tag herbei und fühlte sich zugleich als Verräterin, weil sie damit den Führer fort‐ wünschte, der dann wohl nach Braunau in Pension gehen musste. Hinter wuchernden Rhododendren stolperte sie fast in eine frisch ausgehobene Grube. Sie erinnerte sich: Die Küchenschwes‐ ter Meta hatte davon gesprochen, dass die Abfallbeseitigung Schwierigkeiten machte. Dem Müllwagen wurde nicht genug Treibstoff zugeteilt. »Da verbuddeln wir unseren Dreck eben al‐ leene.« Schwester Meta war aus Sachsen. Sie ging bis zur kleinen Gitterpforte in der Parkmauer, die ver‐ sperrt war. Draußen plätscherte ein schilfgesäumter Wasserarm, der sich im dichten Wald verlor. Ein paar Enten fielen ein und ruder‐ ten quakend zum Ufer. Es wurde rasch dunkel. Sie machte sich auf den Rückweg zum Haus. Die Wärme ihres Zimmers hüllte sie wohlig ein. Sie zog das Kleid über den Kopf und schlüpfte in den Hausmantel. Sie wollte gerade die Stiefel abstreifen, als es klopfte. »Ja bitte?«, rief sie verwundert. Es war Dr. Urban. Sie hatte ihn irgendwann erwartet und sich widerwillig darauf eingestellt, mit ihm zu schlafen. Ein abgewie‐ sener und darum in seiner Eitelkeit verletzter Chef konnte für sie und Karlchen gefährlich werden. Es gibt Schlimmeres, dachte sie achselzuckend. Er hatte Blumen und Sekt mitgebracht. »M.ein persönlicher Ein‐ stand.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Chefarzt. Sie müssen meinen Aufzug entschuldigen. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen... « »Ich bitte Sie«, wehrte er ab. Unentwegt sah er auf ihre Stiefel. »Sie haben sich gut eingelebt und Ihre Station vorbildlich im Griff. 113
Mein Kompliment, Schwester Helga.« Er ließ die Stiefel nicht aus den Augen. Sie erinnerte sich an Schwester Doris᾿Worte. Und da dämmerte ihr, dass sie vielleicht gar nicht mit ihm zu schlafen brauchte. »Ge‐ hen Sie, holen Sie Sektgläser«, befahl sie. Er brachte zwei Kelche. »Keine Kelche, sondern Schalen«, wies sie ihn zurecht. Ohne Widerspruch ging er ein zweites Mal, kehrte aber mit lee‐ ren Händen zurück. »Ich konnte keine Schalen finden«, entschul‐ digte er sich. Um völlig sicher zu gehen, trieb sie die Sache auf die Spitze: »Weil Sie nicht richtig nachgesehen haben. Gehen Sie sofort noch‐ mal.« Jeder andere hätte sich das ärgerlich verbeten. Er gehorchte beflissen. Sie war so gut wie sicher: Er gehörte zu den Männern, die nur Befriedigung fanden, wenn sie sich einer Frau unterwer‐ fen konnten. Sie hatte das im Schwesternseminar beim Thema Se‐ xualität gelernt. »Diesmal will ich es durchgehen lassen«, sagte sie streng, als er wieder ohne Sektschalen erschien. »Machen Sie die Flasche auf, und setzen Sie sich.« Sie richtete es so ein, dass ihr Hausmantel et‐ was auseinander glitt und über dem Stiefel ein Knie freigab. Er sah es begierig. Allmählich kam eine Unterhaltung in Gang. Er erzählte von Frau und Tochter, die in Berlin wohnten. »Gertraud verträgt die Atmosphäre hier nicht, und Gisela geht aufs Luisenstift in Dahlem. Ich bin allein in der Villa.« Helga hatte das einstige Wohnhaus des Gutsverwalters im Park gesehen. Es war so scheußlich wie das ehemalige Herrschaftsgebäude. »Würden Sie mich dort gelegentlich besuchen?« Es klang fast flehend. »Wir werden sehen«, beschied sie ihn kühl. »Darf ich Ihre Stiefel berühren?«, bat er sie zum Abschied. Ihre Ahnung hatte sie nicht getrogen. »Beim nächsten Mal.« Es bereitete ihr seltsame Genugtuung, ihn hinzuhalten. 114
»Kuckuck, Kuckuck!« Karlchen hatte sich hinter einer dicken Eiche versteckt. Die übrigen Kinder suchten ihn. Der Anstaltspark hallte wider von ihrem Lachen und Rufen. Karlchen wechselte von seinem Versteck hinüber zu den Brombeerbüschen. »Kuckuck!« Der kleine Hans entdeckte ihn zuerst. Er schnaufte erregt, befreite sich von Helgas Hand und stürmte auf Karlchen los. Er umklam‐ merte ihn und krähte vergnügt. Noch vor zwei Wochen hätte sie es nicht gewagt, ihn ein zweites Mal aus dem Bett zu lassen, nach‐ dem er sie beim ersten Versuch mit den Fäusten attackiert und seinen Schädel gegen die Wand gerammt hatte. Ihr heiteres Ge‐ schichtenerzählen inmitten aller Schützlinge beschäftigte ihn so, dass er es gar nicht merkte, wie sie ihn losband. Auch als er sich seiner Freiheit bewusst wurde, hörte er ruhig zu. Für den schwer gestörten Jungen, der bisher im besten Falle Nichtbeachtung kannte, meist aber Fesseln und Strafe, tat sich ein neues Leben auf. Die anderen halfen, indem sie ihn in ihre Spiele einbezogen. Besonders Lisa hatte einen beruhigenden Einfluss auf ihn. Sie brachte ihn dazu, mitzusingen, als Helga mit den anderen tage‐ lang geduldig übte, bis »Hänschen klein« durch die Kinderstation tönte. Helga war stolz auf diesen und manch anderen kleinen Erfolg und glücklich mit den Kindern. Dass sie Karlchen ein wenig bevorzugte, merkte niemand, weil sich kein Mensch um sie und ihre Station kümmerte. Sie war praktisch Herrin in ihrem eigenen Reich. Dr. Urban ließ sie gewähren. Ab und zu fragte er durchs Haustelefon nach, ob auf der Kinderstation alles in Ordnung sei. Sie besuchte ihn gele‐ gentlich in der Villa und gab sich widerwillig in Worten und Gesten als strenge Herrin. Der Pfleger Götze war keine große Hilfe. Er verbrachte die meiste Zeit in der früheren Remise, wo Helga ihr Fahrrad unter‐ gestellt hatte. Dort bastelte er an einem grünen Laster herum. »Im Auftrag vom Chef«, erklärte er wichtigtuerisch. An diesem Morgen lag er wie so oft unter dem Fahrzeug, einem 115
Opel Blitz, und hantierte mit dem Schraubschlüssel. Die Kinder schauten neugierig zu. Der kleine Hans war aufgeregt, weil er ihm eine Zange reichen durfte. Das Wandtelefon schrillte. Götze rappelte sich auf. »Jawoll, Herr Chefarzt, ich bin voll dran. Der Flansch am Auspuff muss erneu‐ ert werden, morgen kriege ich Ersatz. Ich bringe das Fahrzeug gleich nach vorne.« Er hing ein und angelte sich den Zündschlüs‐ sel vom Nagel neben dem Telefon. Helga klatschte in die Hände. »Kommt Kinder, wir besuchen Vater Zastrow.« Sie nahm den kleinen Hans auf den Arm und führte die Gruppe an. Die Kinder sangen »Hänschen klein«. Sie zogen quer durch den Park zum Pförtnerhaus. Zastrow hatte das schmiedeeiserne Tor geöffnet. »Großes Auto!«, rief Karlchen aufgeregt. Ein offener »Horch« rollte an ihnen vorbei, im Fond zwei Offiziere mit viel Silber an den schwarzen Kragen, die sich smart vom hellgrauen Tuch ihrer Umformen abhoben. Der Pförtner schloss das Tor wieder. »Besuch für den Chef«, brummte er. »Hab so᾿n dummes Gefühl, dass da nischt Gutes hin‐ tersteckt.« Helga kraulte die Schäferhündin Jule, die sich als harmlose ältere Dame entpuppt hatte. »Ja? Warum?«, hakte sie nach. »Weil diese Totenkopfheinis nie was Gutes bringen. Das sind doch alles Verbrecher.« »Sind Sie verrückt, Zastrow? Solch dummes Gerede kann Sie den Kopf kosten.« Der Portier griente: »Nicht, wenn Sie᾿s nicht weitersagen, Schwester Helga. Ihre Sorge um mein wertes Haupt bestätigt mir im Übrigen, dass Sie auch nicht so recht von der Lupenreinheit unserer großdeutschen Geschäftsleitung überzeugt sind.« Helga ging nicht darauf ein. »Und Sie haben wirklich keine Ahnung, was los ist?« »Es heißt, dass ein paar Patienten verlegt werden sollen. Wohin, weiß nur der Chef. Na, ich krieg᾿s schon raus.« 116
Die Kinder wurden unruhig. Karlchen zerrte an ihrem Mantel. Der kleine Hans zappelte auf ihrem Arm. Es war Zeit zum Mittag‐ essen. »Mahlzeit, Vater Zastrow.« Helga führte die Kinder zurück zum Haus. Auf dem Kies des Vorplatzes stand der grüne Opel Blitz, daneben der Chefarzt und die zwei uniformierten Besucher. Aufmerksam folgten sie gestenreichen Erläuterungen Götzes. Dr. Urban winkte den Kindern zu. Die Kinder winkten begeistert zurück. Helga begegnete dem grünen Opel Blitz zwei Wochen drauf wie‐ der, als sie ihren freien Nachmittag hatte. Da wartete er hinter dem Hauptgebäude am Wirtschaftseingang. Der Oberwärter Grabbe und zwei Gehilfen hoben ein Dutzend Patienten in den Laderaum. Es waren schwere Fälle, meist ältere Frauen und Männer, und kein schöner Anblick. Der Pfleger Götze überprüfte derweil etwas au‐ ßen am Fahrzeug. Er verriegelte die hintere Tür und kletterte ins Fahrerhaus. Jaulend fuhr der Laster an. »Wohin werden die Patien‐ ten verlegt?«, erkundigte sich Helga beim Oberwärter. »Da müssen Sie schon den Chef fragen.« Grabbe wies mit dem Kopf nach oben. Dr. Urban schaute vom Fenster seines Arbeits‐ zimmers dem davonfahrenden Laster nach. Sie machte sich auf ihren gewohnten Spaziergang durch den Park. Sie überlegte, ob sie ihm abends befehlen sollte, barfuß durch den Schnee zu laufen und ihre Handschuhe zu holen. Sie würde die Lederhandschuhe langsam überstreifen, und er würde fasziniert zusehen. Immer wieder bat er sie, wirklich streng mit ihm zu verfahren. Sie ignorierte seine sehnsüchtigen Blicke nach der Hundepeitsche auf dem Kaminsims, was ihn noch mehr erregte. Stattdessen befahl sie ihm, den Abend vor ihr auf den Knien zu verbringen, oder sie demütigte ihn mit ein paar gezielten Worten. Sie hasste dieses Spiel, doch sie hatte begriffen, dass es ihr Macht über ihn verlieh. Macht, die sie dazu benützte, Vorteile für die Kinder zu erlangen. Auf diese Weise bekam sie Spielsachen, Lese‐ 117
bücher und Malzeug, und die Küche erhielt Anweisung, öfter Süßspeisen und Kuchen auf die Kinderstation zu schicken. Für sich selbst verlangte Helga nichts. In »normalen« Momenten erwies er sich als interessanter Ge‐ sprächspartner. Es war bei einer dieser Gelegenheiten, dass sie das Thema Mongolismus anschnitt: »Nehmen Sie beispielsweise Karlchen. Der Junge ist zwölf und recht selbstständig. Er wäre in der Obhut seiner Eltern gut aufgehoben, und wir hätten Platz für einen dringenderen Fall.« »Kinder wie er gehören nicht in eine gesunde Volksgemein‐ schaft«, wies er sie zurecht. Motorengeräusch riss sie aus ihren Gedanken. Seit sie ihren Spaziergang begonnen hatte, mochte eine gute halbe Stunde ver‐ gangen sein. Der grüne Laster näherte sich aus der Tiefe des Parks und nahm Kurs auf die Mauer. Neugierig bahnte sie sich einen Weg durchs Unterholz. Das Fahrzeug setzte rückwärts an die Grube, in die sie vor zwei Wochen fast hineingestolpert war. Der Pfleger Götze stieg gemächlich aus, erklomm den hinteren Tritt und spähte durchs Guckloch. Er entriegelte die Tür und kletterte wieder ins Fahrerhaus. Der Motor heulte, hob den Laderaum an. Die beiden Türhälften klappten auf. Menschliche Leiber mit aufgerissenen Mündern und verrenkten Gliedern rutschten von der schrägen Ebene in die Grube. Helgas Entsetzensschreie gingen im Motorenlärm unter. Der Laderaum senkte sich wieder. Götze sprang aus der Kabine. Er spuckte in die Hände und ergriff eine Schaufel. Erdklumpen polterten dumpf auf die Toten. Später konnte sie sich nicht erin‐ nern, wie sie es zum Haus zurückgeschafft hatte. Noch zweimal musste Helga mitansehen, wie die Wärter hilflose Patienten in den grünen Opel Blitz pferchten. Inzwischen wusste sie, dass die giftigen Auspuffgase des Motors durch einen Schlauch direkt in den abgedichteten Laderaum strömten, während Götze 118
seine im Todeskampf zuckende Fracht eine halbe Stunde durch die Gegend fuhr, ehe er sie ins Massengrab kippte. »Das läuft wie geschmiert, Herr Chefarzt«, hörte sie ihn nach einer dieser Fahrten am Telefon in der Remise. Ohnmächtige Wut überkam sie, angesichts ihrer Hilflosigkeit. Sie war Mitwisserin eines unbeschreiblichen Verbrechens und konnte nichts dagegen tun. Oder doch? Vielleicht, wenn sie das Ungeheuerliche dem Führer meldete? Nur, wie sollte sie ihn erreichen? Durfte sie sich überhaupt so exponieren? Wenn die Täter von ihrem Vorhaben erfuhren und ihr etwas zustieß, war Karlchen verloren. An einem Morgen kurz vor Weihnachten konnte sie einer Entscheidung nicht länger ausweichen. Sie erklärte Karlchen ge‐ rade eine einfache Rechenaufgabe. Lisa bürstete dem kleinen Hans das Haar. Ihre anderen Schützlinge waren mit Malen beschäftigt. Eine bunte Ferkelei. Überall leuchteten Farbkleckse. Alle waren begeistert bei der Sache. Helga fühlte sich glücklich im Trubel dieser geschlossenen kleinen Welt und verdrängte, was draußen geschah. Die junge Lernschwester Evi stürmte herein. Helga hatte sie ins Lager geschickt, um einige Paar Wollstrümpfe für die Kinder zu holen. Evi war ganz aufgeregt: »Wir kriegen keine neuen Sachen mehr, sagt der Lagerverwalter. Die Kinderstation wird gleich im neuen Jahr verlegt.« Vor Helgas Augen drehte sich alles. Evi schwatzte unbekümmert: »Wissen Sie, wohin, Schwester Helga? Hartheim, das wäre schön. Das soll eine moderne offene Anstalt für leichtere Fälle sein. Wir beide gehen bestimmt mit?« Unter Aufbietung all ihrer Willenskraft gelang es Helga, ruhig und heiter zu erscheinen. »Keine Ahnung, Evi. Das erfahren wir schon noch. Gehen Sie mit den Kindern zum Mittagessen. Ich muss was erledigen.« Sie zog den Lodenmantel an. Draußen war es nasskalt. Der Schnee war geschmolzen. Sie verließ das Gebäude und machte einen Umweg durch den Park, um ungesehen zum Pförtnerhaus 119
zu gelangen. Vater Zastrow saß mit Jule am bullernden Kanonen‐ ofen. »Schwester Helga, was ist los? Sie sind ja völlig verstört.« Sie setzte alles auf eine Karte: »Sie wollen die Kinder umbrin‐ gen.« Der alte Mann nickte: »In Götzes Gaswagen, wie die anderen. Sie nennen das Beseitigung lebensunwerten Lebens‹, diese Mas‐ senmörder. Allen voran Urban. Er ist Mitglied der Rassenhygieni‐ schen Forschungsstelle. Eine SS‐Einrichtung ›zur Reinhaltung der germanischen Art‹.« »Man muss das sofort dem Führer melden.« Zastrows bellendes Lachen wich einem Hustenanfall. »Dem Führer?«, krächzte er, als sich der Husten gelegt hatte. »Der kriegt die Vollzugsmeldungen seiner Henker druckfrisch auf den Schreibtisch.« »Er weiß davon?« »Er hat zu diesem Wahnsinn den Grundstein gelegt. Man kann᾿s in seinem Buch ›Mein Kampf‹ nachlesen. Die Ausführung über‐lässt er anderen.« Helga kam auf das Nächstliegende zurück: »Vater Zastrow, ich muss hier weg, nur – ich bin nicht alleine. Bitte helfen Sie uns.« »Uns?« »Karlchen und mir.« Sie erklärte ihm hastig das Nötigste. Zastrow überlegte: »Kennst du das Fließ draußen vor der klei‐ nen Pforte?« »Ja?« »Heilig Abend, da feiern sie.« Er gab ihr einen großen eisernen Schlüssel. »Der Extraschlüssel, von dem weiß keiner was. Das Schloss wird geölt sein. Verdrückt euch so gegen sieben Uhr. Wenn ihr draußen seid, gib ein Lichtzeichen. Mato wird ein Streichholz anreißen, damit ihr wisst, wo der Kahn liegt. Mato ist mein Jüngster. Er bringt euch in Sicherheit.« 120
Der Pfleger Götze spielte den Weihnachtsmann. Er verteilte Zu‐ ckersterne und Lebkuchen. Viele Kinder hatten Angst vor seinem weißen Bart. Andere futterten gleichmütig. An der hölzernen Jul‐ pyramide brannten die Kerzen. Der Chefarzt persönlich hatte die‐ ses Stück pseudogermanischen Brauchtums aufgestellt, bevor er zu seiner Familie nach Berlin aufgebrochen war. Helga hätte schreien können vor Wut und Empörung über den Zynismus dieser Mörder. Schwester Evi hatte den kleinen Hans auf den Schoß genommen und sang »Stille Nacht«. Ihr junges Gesicht nahm einen gläubigen, kindlichen Ausdruck an. Karlchen betrachtete sie mit erwa‐ chendem pubertärem Interesse. Helga sah unauffällig zur Uhr. Es war Zeit. Sie schnüffelte, rümpfte die Nase und holte ihren Sohn näher zu sich ran. »Uuh, Karlchen, ein großer Junge wie du und nun so ein Malheur.« Karlchen protestierte: »Hab nicht in die Hose geschissen.« »Das werden wir gleich sehen. Evi, wir gehen, uns frisch‐ machen. Es wird ein Weilchen dauern.« Die Lernschwester hob die Hände und stimmte »O Tannenbaum« an. Helga nahm ihren Sohn beim Arm. Flur und Treppenhaus wa‐ ren leer. Von unten hörte man Stimmengewirr. Das Personal fei‐ erte in der Halle zusammen mit den Insassen, die zum Feiern in der Lage waren. In ihrem Zimmer zog sie dem Jungen Woll‐ strümpfe, Socken, Trainingsanzug und einen dicken Pulli an, dazu Gummistiefel und Pudelmütze, die sie nach und nach aus dem Lager entwendet hatte. »Hab nicht in die Hose gemacht«, beharrte Karlchen. »Nein, hast du nicht«, beruhigte sie ihn. »Hör mal gut zu. Mama und du gehen hier weg. Du musst leise sein, damit niemand was merkt. Du brauchst keine Angst zu haben. Mama ist ja bei dir.« »Hab nicht geschissen und Angst hab ich auch nicht«, verkün‐ dete Karlchen. Sie schlüpfte in Stiefel und Lodenmantel und band ein Kopf‐ 121
tuch um. Die kleine Taschenlampe steckte sie ein. Ihre paar Sachen waren im Koffer verstaut, um den sie einen Lederriemen geschnallt hatte. Den schulterte sie und ergriff Karlchens Hand. Leise gingen sie die Treppe hinunter. Vorsichtig öffnete Helga die Haustür — und zuckte sofort wieder zurück. Vor ihnen stand der Oberwärter Grabbe, eine Schnapsflasche in der Hand. Alkoholdunst schlug ihnen entgegen. Helga zwang sich zu einem Lächeln. »Frohes Fest, Herr Grabbe«, wünschte sie heiter. »Frohes Fest«, echote Karlchen, »Gleichfalls«, erwiderte Grabbe mit schwerer Zunge und tät‐ schelte Karlchen den Kopf. Es schneite. Der Wind trieb ihnen die großen nassen Flocken ins Gesicht. Helga mied den beleuchteten Vorplatz. Sie gingen den Weg zur Remise und weiter zwischen den Büschen bis zur Gitterpforte in der Mauer. Das Schloss war gut geölt, wie Vater Zastrow versprochen hatte. »Mama, mir ist kalt«, sagte Karlchen laut. Erschrocken legte sie ihm die Hand vor den Mund. Sie hielt die Taschenlampe in Richtung Wasser, knipste sie an und aus und war‐ tete herzklopfend auf eine Antwort. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Was, wenn Zastrows Sohn nicht kam? Zurück in die Anstalt konnten sie nicht. Blieb nur die Flucht ins Ungewisse. Wenn sie misslang, würde sie Karlchen ihr Kopftuch um den Hals legen, als bände sie eine Blutung ab. Es würde nicht länger als zwanzig Sekunden dauern. Dann würde sie ihm folgen. Ein Streichholz flammte auf und erhellte ein Gesicht. Durch das Schneetreiben erkannte sie undeutlich einen Kahn im Schilf. Sie nahm den Sohn auf den Rücken. Er war schwer und drückte sie bis über die Knie in den eisigen Modder. Es war eine Qual, die Füße Schritt für Schritt aus der saugenden Umklammerung zu he‐ ben. Kräftige Arme hievten sie ins Boot. »Unter die Plane«, befahl ihr Retter. 122
Wie lange die Fahrt dauerte, wusste sie nicht. Es schien ihr eine Ewigkeit, die sie frierend unter der Persenning lag, den vor Kälte zitternden Sohn im Arm. Sie hörte das monotone Hin und Her des Ruders. Als der Kahn nach rechts schwankte, lugte sie hinaus. Das Schneetreiben hatte aufgehört. Die Nacht war hell genug, dass man ein paar Meter weit sehen konnte. Ihr Fährmann stakte den Kahn mit dem Ruder auf eine bestimmte Stelle in der scheinbar undurchdringlichen Schilfwand am Ufer zu. Das Schilf teilte sich. Grauweiden neigten sich tief herab. Ihre Zweige peitschten die Plane.Treibholz schrammte mit dumpfem Geräusch die Bordwand entlang. Sie glitten in einen schmalen Wasserarm. Erlen reckten ihre Äste gespenstisch in den Himmel. Noch eine Viertelstunde verstrich, bis der Bug gegen einen Steg stieß. Ihr Retter machte fest und half ihnen aus dem Kahn. Sie stie‐ gen eine Böschung hinan. Über ihnen ragte schwarz ein Haus auf. Ringsum war es unwirtlich nass und kalt. Karlchen klammerte sich schutzsuchend an seine Mutter. Mein Gott, wohin sind wir geraten, dachte Helga verzweifelt. Die Haustür wurde geöffnet. Licht strömte ihnen golden ent‐ gegen. Drinnen war es warm und gemütlich. Der Duft von Brat‐ äpfeln und Zimt lag in der Luft. Ein Weihnachtsbaum mit bren‐ nenden Kerzen erhellte die Stube. Fünf Personen umringten die Neuankömmlinge. Die Frauen trugen kunstvoll gefertigte Flügel‐ hauben und fein bestickte Schultertücher zur festlichen Tracht. Der Mann hatte einen blauen Kittel mit weißem Muster an. Er hatte dunkles Haar mit grauen Fäden und eine gesunde Gesichts‐ farbe. Er trat vor und sprach feierlich: »Witamy Was wutsobnje w Blotojskem.« Helga war ratlos. Ihr Gastgeber wiederholte auf Deutsch: »Herz‐ lich willkommen im Spreewald. Ich heiße Fryco Hejdus. Das ist meine Frau Wanda. Das sind meine Töchter Marja, Slawa und Breda. Zastrows Sohn Mato kennt ihr ja schon.« Ihr Fährmann Mato entpuppte sich als ein hübscher Mann von 123
zwanzig mit nussbraunem Haar, der Helga bewundernd anschaute. Sie reichte ihm die Hand. »Danke, Mato. Dank Ihnen allen. Karl‐ chen, bedanke dich.« Karlchen gab allen folgsam die Hand. Die Mädchen kicherten und küssten ihn auf die Stirn. Sie mochten zwi‐ schen vierzehn und achtzehn sein. Helga war überrascht, wie un‐ befangen sie den Jungen in ihre Mitte nahmen, obwohl sie ver‐ mutlich noch nie einen Mongoloiden gesehen hatten. In der Kammer nebenan gab Frau Wanda ihnen trockene Sachen. Vor dem Weihnachtsbaum erwartete sie gleich darauf ein großer dampfender Kessel Punsch zum Aufwärmen. Der Hausherr schenkte ihn mit einer Holzkelle in hölzerne Becher. All das geschah so freundlich und selbstverständlich, als seien sie alte Bekannte. Helga war besorgt: »Und wenn man uns sucht?« Hejdus winkte ab. »Nicht am Heiligen Abend. Schon gar nicht bei diesem Sauwetter. Morgen reden wir in Ruhe.« Es gab gebackenen Karpfen mit Salzkartoffeln und grüner Spreewälder Sauce, dazu in Dill eingemachte Gurken. Karlchen aß manierlich und mit sichtlichem Behagen. Die Mädchen bemut‐ terten ihn. Lange hatte Helga sich nicht so entspannt und zu Hause gefühlt, wie am Tisch dieser Fremden, die fließend Deutsch sprachen, aber gelegentlich ins Sorbische zurückfielen. Dass der junge Mato nur Augen für sie hatte, belustigte sie und schmeichelte ihr zugleich. Wanda Hejdus hatte ihnen das Bett in der Kammer bereitet. Eng umschlungen schliefen Mutter und Sohn ein. Ein strahlend sonniger Weihnachtstag stieg aus dem Nebel. Die Familie Hejdus war schon am Frühstückstisch versammelt, als Helga und Karlchen erschienen. Es gab Napfkuchen und Milch‐ kakao für die Jugend und echten Bohnenkaffee für die Erwachse‐ nen. Den Kaffee hatte Wanda Hejdus in Lubnjow für zwei Schock Eier eingetauscht. »Dass man sowas nötig hat«, schimpfte Hejdus. »Dieser ver‐ dammte Krieg.« 124
»Unsinn«, widersprach seine Frau. »Die Großeltern und Ur‐ großeltern haben getauscht, ob Krieg war oder Frieden. Geld war im Spreewald immer schon knapp.« Nach dem Frühstück gingen sie hinaus. Das in der vergangenen Nacht so abweisende Haus lag einladend in der Sonne. In einigem Abstand dahinter stand eine reetgedeckte Hütte. »Da wohnt der Zastrow mit seinem Sohn«, klärte Hejdus sie auf. »Wir bewirt‐ schaften die Kaupe gemeinsam. Kaupe – so nennen wir die von der Spree aufgeschwemmte Sandinsel, die unsere Vorfahren schon vor dreihundert Jahren besiedelten und urbar machten«, belehrte er den Gast voll Stolz. »Wir bauen Gurken, Zwiebeln, Meerrettich und Buchweizen an, und natürlich Kartoffeln. Unser Fischfang ist ein wesentlicher Beitrag zum Endsieg, sagt der Ortsgruppenleiter und lässt sich die fettesten Karpfen einpacken.« »Dafür übersieht er es, wenn wir mal wieder vergessen haben, zu Führers Geburtstag die Fahne der Bewegung zu hissen«, fügte seine Frau mit mildem Spott hinzu. Mato winkte lachend zu ihnen herauf. Er saß im Kahn und an‐ gelte. Karlchen lief zu ihm hinunter. Mato half ihm ins Boot. »Eigentlich müsste er an der Ostfront sein«, brummte Hejdus. »Aber er will nicht für ein System kämpfen, das uns als Menschen zweiter Klasse einstuft. Wir Sorben sind Slawen und gehören nicht zur germanischen Herrenrasse.« »Wenn ihn nun jemand sieht? Ein gesunder junger Mann, und nicht in Uniform ... ?« »Dann geht es ihm wie dem jungen Lenik. Der war schon in der Schule ein aufsässiger Bursche. Er zerriss seinen Gestellungs‐ befehl vor dem Rathaus in Lübben und erklärte, er hätte was besseres zu tun, als für diesen Verrückten in den Krieg zu ziehen. Die SA holte ihn nachts aus dem Bett. Wir fanden ihn am Morgen. Er stak in einem Gurkenfaß, mit dem Kopf in der Salzlake.« Hejdus᾿ Älteste schluchzte auf. »Sie waren versprochen, Marja und er«, sagte ihre Mutter traurig. 125
Eine Ente quakte aufgeregt in einiger Entfernung. »Kommen Sie ins Haus, schnell.« Hejdus nahm Helga beim Arm. Mato kam mit Karlchen vom Steg. In der Küche hob der Hausherr eine Falltür. Helga blickte in einen Schacht. Einen Meter tiefer spiegelte sich ihr Gesicht im Wasser. Ein paar Sprossen führten hinab. Hejdus zog an einer Kette. Es rauschte und gurgelte. Das Wasser floss ab und gab eine Luke frei, die mit vier großen Flügelschrauben ge‐ sichert war. Mato ließ sich hinunter, löste die Schrauben und hob die Luke an. »Los, da runter, der Junge und Sie«, befahl Hejdus. Helga half Karlchen in den Schacht und stieg ihm nach. Mato nahm Mutter und Sohn in Empfang. Durch die Luke ging es über eine Leiter weiter abwärts, in einen etwa drei mal drei Meter großen mannshohen Raum. Mato zündete die Ölfunzel auf dem Tisch an. Helga erkannte im trüben Licht Schemel und Pritschen. Hejdus verschraubte derweil die Luke über ihren Köpfen. Man hörte Wasser rauschen. »Das steigt einen halben Meter hoch«, er‐ klärte Mato zufrieden. »Keine Angst, der Einstieg ist gut versie‐ gelt. Mit Frauenhaar ausgestopfte Fahrradschläuche sind die beste Dichtung, die᾿s gibt. So ähnlich verschließen sie sogar U‐Boot‐Lu‐ ken.« Der junge Mann wies auf eine Öffnung in halber Höhe: »Das Belüftungsrohr. Es endet draußen in einem Baumstumpf. Essen und Trinken haben wir genug. Solange wir leise sind, entdeckt uns hier keiner.« »Woher wisst ihr, wenn jemand kommt?« Mato erklärte es ihr: »Sie haben es gestern in der Dunkelheit nicht sehen können. An der Mündung zum Kanal steht ein alter Hochsitz für die Entenjagd. Da hält dauernd einer von uns Aus‐ schau. Wenn sich jemand nähert, quakt er auf dem Lockholz wie eine Krickente. Das gibt uns gute zehn Minuten zum Verschwin‐ den.« Ein Motor wurde hörbar. Er summte böse wie eine Hor‐ nisse. Mato hob warnend die Hand: »Barsig.« Helga zog Karlchen fest an sich, bereit, sein Gesicht in ihren Schoß zu drücken, um jeden Laut zu unterbinden. Der Junge sah 126
sie aus seinen schmalen Mongolenäuglein schlau an und legte ihr den Finger an die Lippen. Er hatte verstanden. Tödliche Angst kroch in ihr empor, legte sich wie eisige Finger um ihren Hals. Das Motorengeräusch verstummte. Stimmen dran‐ gen undeutlich herab. Schweiß rann ihr in den Nacken. Sie rang nach Luft. Mato rückte seinen Schemel unter die Öffnung des Be‐ lüftungsrohrs und bedeutete ihr, hinaufzusteigen. Die kühle Luft war wie eine Erlösung. Sie atmete ein paar Mal tief durch. Oben sprang der Motor an und entfernte sich rasch. Minuten‐ langes quälendes Warten folgte. Worauf, wusste sie nicht. Endlich floss das Wasser gurgelnd ab. Die Luke wurde geöffnet. Hejdus᾿ Kopf wurde sichtbar. »In Ordnung, ihr könnt raufkommen.« Die Mädchen nahmen Karlchen mit hinaus ins Freie, Verstecken zu spielen. Helga setzte sich an den Tisch zu den anderen. Sie zit‐ terte. Ein Wachholdergeist half ihr, sich zu beruhigen. »Wer ist Barsig?« »Der Oberwachtmeister vom Revier in Lubnjow, ein ganz Scharfer. Der taucht mit seinem Außenborder überall unerwartet auf. Er hoffte wohl, dass wir heute am Weihnachtstag nicht mit ihm rechneten. Vergangene Ostern hat er auf diese Weise die Siwalniks beim Schwarzschlachten überrascht. Jetzt sitzen sie alle in Cottbus ein.« Hejdus presste die Hände zusammen, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Wenn᾿s nicht schlimme Folgen für alle haben würde, hätten wir ihn und ein paar andere längst erledigt.« »Gibt es denn viele von der Sorte?« »Othmar, der Postbote, ist ein strammer Nazi. Und Kaunitz, der Ortsgruppenleiter. Der hat den alten Wicaz unters Fallbeil ge‐ bracht. Wegen Abhören von Feindsendern.« Nachmittags kam Vater Zastrow. Er hatte zwei Tage frei. »Man fahndet nach Ihnen und dem Jungen«, meldete er. »Der Chefarzt hat die Gestapo verständigt. Die reinste Vorwärtsverteidigung, wenn Sie mich fragen. Sie glauben, die Spur führe nach Berlin.« »Na bitte«, sagte sein Sohn zufrieden. »Im Spreewald sucht Sie 127
kein Mensch.« Er nahm ihre Hand und streichelte sie unbeholfen. »Sie müssen keine Angst haben.« »Urban ist also zurück«, stellte Helga fest. Sie bemühte sich, sachlich zu bleiben. Ihre bange Stimme verriet sie. »Was ist mit den Kindern?« Zastrow senkte die Stimme. »Sie werden am vierten Januar um fünfzehn Uhr verladen.« »Ich muss nach Klein Moorbach«, entschied Helga. »Wer bringt mich?« »Ich bestimmt nicht«, rief Mato heftig. »Ich hab von der einen Himmelfahrtstour genug.« »Alleine finden Sie den Weg nicht. Was wollen Sie da über‐ haupt?«, fragte Hejdus abweisend. »Sehen, was geschieht. Zeugin sein, für den Tag der Abrech‐ nung.« »Wenn man Sie fasst, schafft man Sie in die Gestapo‐Leitstelle Cottbus. Dort bringt man Sie früher oder später zum Reden, und wir sind alle verloren. Die warten doch nur auf einen Vorwand, um unseren ganzen Volksstamm ins Lager zu stecken, wie sie das mit den Zigeunern gemacht haben.« Frau Wanda mischte sich schlichtend ein: »Bleiben Sie hier, Helga. Ihr Karlchen braucht Sie. Bald ist der ganze Spuk vorbei. Dann können Sie gehen, wohin es Sie zieht.« Zastrow war optimistisch: »Seit die Amerikaner mitmischen, ist das zum Glück ᾿ne reine Zeitfrage.« »Sie haben Recht. Wie dumm von mir. Ich bin Ihnen allen dankbar, dass Karlchen und ich hier sein dürfen«, besänftigte Helga ihre Gastgeber. Insgeheim blieb sie bei ihrem Entschluss. Die Mädchen spielten mit Karlchen auf dem Steg. Sie bemutterten ihn von allen Seiten. Hejdus reparierte Reusen in der Winter‐ sonne. Frau Wanda war in der Küche. Helga schlenderte hinüber zur Zastrow᾿sehen Hütte. 128
Mato saß am Fenster und übte auf seiner Ziehharmonika. Sein Vater war gestern ins Pförtnerhaus zurückgekehrt. Helga trat hin‐ ter den jungen Mann und strich ihm über den Kopf. »Geben Sie sich keine Mühe, ich fahre Sie nicht.« Sie begann sachte, seinen Nacken zu massieren. »Und überhaupt, was wollen Sie in der Klapsmühle?« Ihre Hände streiften die Gurte der Har‐ monika von seinen Schultern. Ihre Handflächen kreisten auf seiner Brust. Sie spürte durch das Hemd, wie die Spitzen hart wurden. Er stellte das Instrument auf den Tisch. »Hejdus bringt mich um, wenn ich Sie fahre.« »Hejdus braucht᾿s nicht zu wissen.« Sie zog ihn hoch und drehte ihn an den Schultern herum. Ihre Lippen berührten zart seinen Mund, während sie sprach: »Nicht wahr, du fährst mich.« Sie drängte sich an ihn. Eigentlich ganz reizvoll, diesen hübschen Jun‐ gen zu verfuhren, dachte sie, von der eigenen Frivolität überrascht. Sie küsste ihn. Ihre Zunge stieß vor wie eine kleine angriffslus‐ tige Schlange. Ihr Schoß rieb sich an seinem. Sie spürte, wie seine Männlichkeit wuchs. Sie zwang ihn sanft zum Bett. Sie fielen in die karierten Kissen. Es wurde eine heiße Begegnung, nachdem er die erste Scheu überwunden hatte. Sie gelangte dreimal zum Höhepunkt, bevor er mit einem Aufschrei explodierte. Danach lagen sie ruhig beiei‐ nander. »Und das alles für eine Kahnpartie?« Er lachte übermütig. »Wie weit ist es von der Anstalt zum nächsten größeren Ort?« »Nach Lubnjow, also Lübbenau, das sind von Klein Moorbach zehn Kilometer. Wenn du᾿s genau wissen willst, zeig ich᾿s dir nach‐ her auf der Karte.« Er wollte sie an sich ziehen. Sie schob ihn zu‐ rück. Er holte die Karte aus der Tischlade und entfaltete sie auf dem Bett. »Na schön, du willst kurz in die Klapsmühle, der Him‐ mel weiß, warum. Aber warum nach Lübbenau?« »Wer keine Fragen stellt und tut, was ich will, der wird belohnt«, raunte sie ihm ins Ohr. Dann umfingen ihre warmen Lippen sein Glied. 129
Hejdus fingerte am Volksempfänger. Er schaltete ihn nur zu den Mittagsnachrichten ein, um die unförmige Batterie zu schonen. Die elektrische Überlandleitung endete in Lübbenau. Die Fan‐ faren siegreicher Sondermeldungen blieben schon seit längerer Zeit aus. Stattdessen berichtete der Sprecher vom heldenhaften Kampf um Stalingrad und von Frontbegradigungen Rommels in Nordafrika, was der geübte Zuhörer als den Anfang vom Ende entzifferte. Karlchen saß über einem Bilderbuch mit den Mädchen am Tisch. Frau Wanda stand am Herd. Helga mochte sich gar nicht von dem friedlichen Bild trennen. Sie ging hinaus, angeb‐ lich, um nach der Wäsche auf der Leine zu sehen. Mato wartete im Kahn. Lautlos glitten sie durch das mittägliche Fließ. Es war unge‐ wöhnlich warm für diese Jahreszeit. Der dumpfe Schrei einer verfrühten Rohrdommel tönte über das Wasser. Draußen auf dem Kanal begegneten sie ein paar Kähnen. Außer einem knappen Kopfneigen wurden keine Grüße ausgetauscht. In diesen Unge‐ wissen Zeiten blieb man lieber für sich. Kurz vor fünfzehn Uhr waren sie im Schilf an der Parkmauer. Zastrows Extraschlüssel verschaffte ihr Einlass durch die kleine Pforte. Im Schütze der Rhododendren gelangte sie ungesehen zur Anstalt. Der grüne Opel Blitz wartete wieder am Wirtschaftseingang. Götze lehnte gelangweilt am Kühler und rauchte. Drei Wärter lungerten in der Nähe herum. Kinderstimmen erklangen: »Häns‐ chen klein ging allein in die weite Welt hinein ... « Schwester Evi erschien, und nach ihr in Zweierreihen die Kinder. Sie hielten sich an den Händen und sangen: »... Stock und Hut stehn ihm gut ... « Die Wärter hoben eines nach dem anderen in den Laster, »... ist ganz wohlgemut.« Helga dachte an die vielen Stunden, in denen sie ihnen das Lied beigebracht hatte. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie zwang sich, tatenlos zuzusehen. Wenn sie eingriff, würde man sie fest‐ nehmen und alles aus ihr herauspressen. Dann würde auch Karl‐ 130
chen sterben und Mato und viele mehr, und die Sorben würden im Lager verenden. »Und die Mutter weinet sehr ... « Schwester Evi sang mit. Sie wollte zu ihren Schützlingen in den Laster steigen. Der Oberwär‐ ter Grabbe hielt sie zurück. Götze trat seine Zigarette aus und knallte die beiden Türhälften zu. »... hat sie doch kein Hänschen mehr ... « drangen die kleinen Stimmen gedämpft aus dem Lade‐ raum. Götze schloss die Verriegelung, kletterte ins Fahrerhaus und startete den Motor. Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. An einem Fenster im ersten Stock sah Helga Dr. Urbans unbe‐ wegte Züge. Du Bestie!, schrie es in ihr. Du Kindermörder! Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Sie kehrte zum Kahn zurück. Mato war überrascht: »Das ging aber schnell. Und jetzt nichts wie weg.« »Wir bleiben, bis es dunkel wird. Ich habe noch was zu erle‐ digen.« Sie kroch unter die Plane und fiel in einen ohnmachtähn‐ lichen Schlaf. Im Traum hörte sie Kinderstimmen singen: »Häns‐ chen klein ... « Als sie erwachte, war es Nacht. Sie schlug die Plane beiseite. »Warte bis ich zurück bin.« »Das ist doch Wahnsinn«, protestierte Mato. »Wenn sie dich er‐ wischen, sind wir alle dran. Komm, sei vernünftig, wir fahren.« Ihr war überhaupt nicht danach zumute. Dennoch legte sie den Arm um ihn. »Sei ein lieber Junge«, hauchte sie ihm ins Ohr. »Zu Hause wird es wieder ganz schön.« Schneeregen trieb ihr ins Gesicht, während sie sich durchs Unterholz zur Remise kämpfte. Sie machte Licht. Man konnte die Remise von der Anstalt nicht einsehen. Der grüne Opel Blitz stand an seinem Platz. Ihr Fahrrad lehnte daneben. Sie griff zum Wandtelefon und wählte Urbans Hausanschluss. Er meldete sich ungehalten: »Ja, was ist denn?« Sie schlüpfte in die verhasste Rolle. »Sie wissen, wer spricht.« Er war überrascht: »Schwester Helga?« »Ich wünsche Sie zu sehen. In der Remise.« 131
»In der Remise?« »Müssen Sie alles wiederholen? Kommen Sie sofort. Bringen Sie die Peitsche mit.« »Die Peitsche, jawohl.« Seine Stimme klang unterwürfig und begierig zugleich. Sie knöpfte den Lodenmantel auf, bis Rock und Stiefel sicht‐ bar wurden. Als er kam, stand sie breitbeinig hinten am Laster. »Die Peitsche«, verlangte sie kalt. Er gab sie ihr mit hündischem Blick. Sie wies mit dem Knauf zum Fahrrad: »Laden Sie das auf und steigen Sie ein.« Er gehorchte. »Ziehen Sie sich aus.« Er tat es sichtlich erregt. »Runter auf alle Viere, das Gesicht nach vorn«, befahl sie. Sein Gesäß war groß und flach. Sein Geschlecht pen‐ delte rot und hässlich zwischen den Schenkeln. Sie klatschte mit der Peitsche an ihre Stiefel, sodass er ängstlich zusammenzuckte. Dann schlug sie die Tür zu und schloss die Verriegelung. Die Zündschlüssel hingen wie gewohnt am Nagel neben dem Tele‐ fon. Die Gänge waren ähnlich wie bei ihrem »Brennabor«. Sie zog den Startknopf. Nach einigen weinerlichen Umdrehungen sprang der Motor an. Sie legte den ersten Gang ein, gab etwas Gas und ließ die Kupplung kommen. Der Laster ruckte an. Es krachte, als sie in den zweiten Gang wechselte. Es war lange her, dass sie zum letzten Mal ein Auto gefahren hatte. Durch die schmalen Schlitze der luftschutzmäßig abgeblendeten Scheinwerfer drang gerade genug Licht, dass sie den Weg zum Tor fand. Sie hielt und hupte ungeduldig. Zastrow kam verschlafen aus dem Pförtnerhaus, die Schäfer‐ hündin Jule kurz an der Leine. Er machte das Tor auf, ohne hinzu‐ sehen. »Verbrecherpack«, murmelte er. Sie hatte sich die Karte eingeprägt. Vom Tor führte eine Zufahrt zur Straße. Rechts ging es nach Lübbenau. Der Schneeregen hatte aufgehört. Trotzdem fuhr sie langsam. Ihr Gesicht war wie verstei‐ nert. Sie wusste, dass der Motor mit jeder Umdrehung seine töd‐ 132
lichen Abgase in den Frachtraum schickte. Urban würde husten, würgen und schließlich röcheln. Krämpfe würden ihn schütteln, bis er in konvulsivischen Zuckungen qualvoll verendete. Sie emp‐ fand Genugtuung bei diesem Gedanken. Für die zehn Kilometer brauchte sie über eine halbe Stunde. Sie wollte sichergehen. Sie hielt auf dem nächtlich verlassenen Rathausplatz, stellte den Motor ab und sprang aus dem Fahrer‐ haus. Sie zog den Riegel beiseite. Urbans nackter Körper sackte ihr entgegen. Er hatte sich im Todeskampf in die Tür verkrallt. Sein Oberkörper hing über die Kante der Ladefläche. Sie zerrte das Fahrrad herunter und legte die vorbereitete Nachricht neben den Toten: SO ERMORDEN SIE IN KLEIN MOORBACH »LEBENSUNWERTES LEBEN«. 18 KINDER UND 34 ERWACHSENE MUSSTEN BISHER STERBEN. Sie brauchte fünfzehn Minuten für den Rückweg. An der Park‐ mauer schulterte sie das Rad. Im Schein ihrer Taschenlampe bahnte sie sich einen Weg bis zur kleinen Pforte. Sie schloss auf und schob das Rad hindurch. In der Remise lehnte sie es an die Wand. »Alles erledigt?«, fragte Mato, als sie zu ihm in den Kahn stieg. »Alles erledigt.« Erschöpft kroch sie unter die Plane. Aus Berlin rückte eine Sonderkommission der Gestapo an. Ihre Ermittlungen blieben ohne Ergebnis. Helga hatte die Buchstaben der Nachricht aus dem Spreewaldboten geschnipselt und aneinander geklebt. Das Blatt Papier hatte sie aus einem neuen Schulheft der Hejdus‐Mädchen gerissen, das man überall zu kaufen bekam. Das Heft verbrannte sie. Während ihrer nächtlichen Aktion hatte sie Handschuhe getragen. Überdies wurde sie bereits seit Wochen ver‐ 133
misst und deswegen nicht in Zusammenhang mit den neuesten Ereignissen gebracht. »Die Leute sind außer sich«, meldete Hejdus, der in der Stadt gewesen war. »Sie haben den Gaswagen zertrümmert. Wer der Fahrer war, ist nicht bekannt.« Er sah Helga prüfend an. »Na, wir wissen von nichts.« Spezialeinheiten der Polizei und SS durchkämmten in den nächsten Tagen zu Fuß und in Motorkähnen das gesamte Waldgebiet. Ihre Suchhunde konnten wegen des vielen Wassers keine Spur aufnehmen. Helga, Karlchen, Mato und zwei weitere Wehrflüchtige verbrachten viele Stunden im Versteck unter dem Haus. Endlich wurden die Suchtrupps abgezogen. Der Spreewald hatte seine Schützlinge nicht verraten. Er gab sie auch in den kommenden Monaten nicht preis. Wäh‐ rend die Bomberpulks der Alliierten über sie hinweg gen Berlin zogen, setzten die Leute auf der Kaupe ihr einfaches Leben fort. Ein herrlicher Frühling entschädigte die Menschen für den letzten Kriegswinter. Der März war sonnig und warm, und der April prahlte mit sommerlicher Hitze. Immer seiter fr mussten Helga, Mato und Karlchen ins Versteck unter dem us. Im gar nicht mehr so großen Großdeutschen Reich hatte man jetzt andere Probleme, als die Sorben zu bespitzeln. Helga und Mato waren auf den Hochsitz an der Mündung des Fließ geklettert, nicht als Wache, sondern zu einer ihrer heim‐ lichen Begegnungen. Mato saß zurückgelehnt auf der schmalen Bank. Helga hockte auf ihm und ritt sie beide einem befriedi‐ genden Höhepunkt entgegen. Sie liebten sich, wenn die Gele‐ genheit sich ergab, Mato mit der staunenden Hingabe des jungen Mannes, Helga mit viel Spaß an der Sache. Sie war fünfunddrei‐ ßig, und diese körperlichen Begegnungen taten ihr wohl. Die Be‐ wohner der Kaupe wussten um die Beziehung und billigten sie stillschweigend. Sie saßen alle in der Sonne, als die zwei zurückkamen. Ein Dop‐ 134
peldecker mit rotem Stern an den Tragflächen flog über sie hin‐ weg. Er schnurrte wie eine Nähmaschine. Die Mädchen winkten hinauf. Der Pilot winkte zurück. »Na bitte. Bald haben wir᾿s hin‐ ter uns«, meinte Zastrow, der seinen Pförtnerposten aufgegeben hatte. »Fragt sich, ob die neuen Herren besser sein werden als die alten«, fügte er skeptisch hinzu. Die neuen Herren kamen an einem Sonntag. Helga war beim Schwimmen. Sie liebte diese Momente im kühlen Wasser, wenn sie sich schwerelos fühlte und frei. Der Krieg war trotz des näher‐ kommenden Geschützdonners etwas Unwirkliches geblieben, das sie nicht berührte. Nun wurde er mit einem Schlag Wirklichkeit. Ein flacher motorgetriebener Ponton glitt über das Fließ und legte an. Sechs junge Rotarmisten sprangen an Land, die Maschinenpis‐ tolen im Anschlag. Einer von ihnen hatte ein pockennarbiges Mongolengesicht. Mit ein paar Zügen erreichte Helga das Ufer. Die Soldaten starrten sie an. Sie hatten noch nie eine Frau im Ba‐ deanzug gesehen. Einer rief etwas und feuerte eine Salve in den blauen Himmel. Die anderen gröhlten. Zwei von ihnen packten Helga. Sie wehrte sich stumm. Sie wusste, dass sie keine Chance hatte. »Mama, Mama!« Karlchen stürmte heran. Er war inzwischen ein kräftiger Bengel von fast fünfzehn Jahren und furchtlos in seiner Einfalt. Wie ein Berserker ging er auf die Eindringlinge los, stieß sie beiseite, stellte sich schützend vor die Mutter. »Karlchen, nicht, sie werden schießen«, flehte sie. Ihr Sohn stand wie festgewachsen. Einer der Sechs rief erstaunt etwas. Er nahm den Pockennarbigen beim Arm und zog ihn neben Karlchen. Alle sahen es: Der Mongole und der Mongoloide ähnelten sich wie Brüder. Sie schauten einander verblüfft an. Der Soldat umarmte Karlchen und schlug ihm auf den Rücken. Die anderen lachten und klatschten Beifall. Helga lief ungehindert ins Haus. 135
Hejdus hatte sich neben dem Herd aufgebaut, seine vier Frauen hinter sich. Er hielt eine Schrotflinte im Arm. »Eher bringen wir uns alle um«, knurrte er. Helga zog rasch etwas über. »Wo bleibt eure Spreewälder Gast‐ freundschaft?«, rief sie und lief wieder hinaus. Die Soldaten schwatzten und lachten mit Karlchen. Karlchen hing sich bei Helga ein. »Mama«, erklärte er seinen neuen Freunden. »Meine Mama.« Einer verstand: »Matka.« Er deutete auf Mutter und dann auf den Sohn: »Sin.« Frau Wanda und die drei Mädchen hatten Hauben und Schul‐ tertücher angelegt und trugen Tabletts mit Wasser, Brot und Salz. Sie knicksten, nicht unterwürfig, sondern mit einem Lächeln des Willkommens. Die Soldaten verstanden die Geste der Gastfreund‐ schaft und nahmen dankend vom Dargebotenen. Die beiden Zas‐ trows kamen zögernd aus ihrer Hütte. Hejdus gesellte sich hinzu, nachdem er die Schrotflinte versteckt hatte. Dann gab es richtig zu Essen und zu Trinken: Grützwurst, Plinze und Hirsekohl, dazu saure Milch. Man lachte und redete durcheinander. Erfreut entdeckten Sorben und Russen Gemeinsa‐ mes in ihren slawischen Sprachen. Vater Zastrow fasste es vorsichtig in Worte: »Leute, ich glaube der Krieg ist vorbei.« Nie zuvor hatte Helga ihren Sohn so glücklich gesehen. Er sprang aufgeregt umher und füllte den Gästen unentwegt Teller und Becher. Später tanzten sie zu Matos Ziehharmonika. Karlchen stolperte unbeholfen mit Breda herum, er konnte gar nicht genug kriegen. Mitten im Tanz brach er zusammen. Helga war sofort bei ihm. Er lag schwer atmend am Boden, die Augen geschlossen, der Puls kaum spürbar. Die Männer trugen ihn ins Haus. Helga entkleidete ihn, frot‐ tierte ihn mit Wacholdergeist, deckte ihn warm zu. Sie setzte sich ans Bett und hielt seine Hände. Sie wusste, es war das Ende. Sein wie bei allen Mongoloiden unterentwickeltes Herz hatte fast fünf‐ 136
zehn Jahre durchgehalten. Er öffnete die Augen. »Mama«, sagte er mit schwerer Zunge. »Du stirbst in Freiheit, mein Sohn«, flüsterte sie, »das ist mein Geschenk.« Draußen starteten die Soldaten den Ponton und legten ab. Das Motorengeräusch verebbte. In der Kammer wurde es still. Karl‐ chen atmete nicht mehr. Sie begruben Karlchen hinter dem Haus. Die Mädchen weinten. Helga hatte keine Tränen. Die Gewissheit, ihre Aufgabe erfüllt zu haben, gab ihr Trost. Sie hatte ihn vom ersten bis zum letzten Augenblick behütet und beschützt, hatte um ihn gekämpft und ihn verteidigt, hatte ihm gute und glückliche Tage beschert. Nun, da es vollbracht war, hielt sie nichts mehr im Spreewald. Auf dem Dach eines Güterzuges kehrte sie von Cottbus nach Berlin zurück. Das Haus in der Sophie‐Charlotte‐Straße war unversehrt und quoll über von Ausgebombten. Helga wurde solange beim Woh‐ nungsamt vorstellig, bis man ihr endlich ein Zimmer im eigenen Haus bewilligte. Einstweilen wohnte sie bei ihrer Schwester in Tempelhof. Monikas kleine Tochter Erika war fünf. »Sie hat ihren Vater zuletzt ᾿42 gesehen und kann sich nicht an ihn erinnern. Man sagt, es wird Jahre dauern, bis die Russen ihre Gefangenen entlassen. Die junge Frau Pillau von nebenan will nicht solange warten. Sie holt sich ab und zu einen Studenten ins Bett. Muss eigentlich ganz gut sein, mit ᾿nem jungen Mann. Was meinst du?« Helga erzählte ihr von den Stunden mit Mato. »Ein lieber Junge. Er will mich unbedingt besuchen. Hoffentlich kommt ein Spree‐ wälder Mädel dazwischen. Mir steht wirklich nicht der Sinn da‐ nach. Ich muss mein Leben ordnen und mir Arbeit suchen.« »Warum gehst du nicht wieder in deinen Beruf? Kinderschwes‐ tern werden immer gebraucht«, ermunterte Monika sie. An einem der nächsten Tage fuhr Helga zur Charité, die jetzt im sowjetisch besetzten Sektor lag. Die Westalliierten waren vor ein 137
paar Tagen in Berlin eingerückt und hatten ihre Teile der Haupt‐ stadt in Besitz genommen. Sichtbare Demarkationslinien zwischen West und Ost gab es keine, außer einigen hässlichen großen Schil‐ dern an den Durchgangsstraßen: SIE VERLASSEN DEN BRITI‐ SCHEN – FRANZÖSISCHEN – AMERIKANISCHEN – SEKTOR VON BERLIN. Die Berliner scherte das wenig. Sie führen kreuz und
quer durch ihre Stadt oder nach außerhalb, meistens, um etwas Essbares zu ergattern oder um nach ausgebombten Freunden und Verwandten zu suchen. »Bei uns wieder anfangen wolln᾿se? Prima. Gehn᾿se gleich in die Personalabteilung«, beschied sie eine freundliche Frau am Empfang. »Rinke, Helga?« Der Mann in der Registratur war der gleiche wie bei ihrem letzten Besuch. Nur das Parteiabzeichen hatte er ab‐ gelegt. Er zog eine Karteikarte hervor. »Schwester auf der Kinder‐ station bis 1929. Neueinstellung 1941.« Er stutzte. »Moment bitte.« Er verschwand nach nebenan. Sie hörte, wie er telefonierte: »... sie ließ sich nach Klein Moorbach versetzen, in diese Euthanasie‐ Anstalt ... ist es meine Pflicht als Antifaschist ... « Mehr konnte sie nicht verstehen. Mehr brauchte sie nicht zu verstehen. Leise ver‐ ließ sie das Büro. Nichts wie weg hier! Die westlichen Zeitungen hatten davon berichtet. Überall in der Sowjetischen Besatzungs‐ zone fahndete das NKWD nach vermeintlichen Naziverbrechern und warf sie in die Lager, welche es von den echten übernommen hatte. »Die machen sich nicht die Mühe, die Tatsachen zu prüfen«, erklärte sie ihrer Schwester. »Na, zum Glück kennen sie mich als Helga Rinke und nicht als Helga Lohmann. Trotzdem kriegt mich keiner mehr in den Osten.« »Geh zu einer Zeitung und erzähle deine Geschichte«, schlug Monika vor. Doch davon wollte Helga nichts wissen: »Das macht die Kinder von Klein Moorbach nicht wieder lebendig.« 138
»Was willst du tun?« »Mich hier bei uns nach was umsehen.« Die junge Frau Pillau von nebenan kam ihr zur Hilfe: »Ver‐ suchen Sie᾿s bei den Amis, Frau Lohmann. Die suchen deutsche Kräfte fur alles Mögliche. Schulenglisch genügt. Meine Schwä‐ gerin hat einen Job in der Kantine von Telefunken ergattert. Da hat sich die US‐Nachrichtentruppe eingenistet. Ich frag Marina gleich morgen, wo man sich bewirbt.« »Beim German‐American Employment Office in Lichterfelde«, erfuhr Helga und bekam dazu gleich die Adresse in der Fincken‐ steinallee. »Fragen Sie nach Mister Chalford.« Mister Chalford war Leiter des Büros. »How good is your Eng‐ lish, Fraulein Lomän?« »Frau Lohmann. Mein Mann ist gefallen.« Das war nah genug an der Wahrheit. Der Laufkrepierer in Döberitz war wohl doch ein wenig zu banal. »Can you please say this in English, Frau Lomän?« »My man is dead in the war.« Es war ein wenig holprig, aber es genügte Mister Chalford offenbar. »Have you got a profession?« Sie war überrascht, wie gut sie ihn verstand. »I am a sister for children.« »A children᾿s nurse, ausgezeichnet. Verstehen Sie außerdem was vom Haushalt? Können Sie kochen?« »Ich denke schon.« »Ich glaube, ich habe was für Sie. Colonel Tucker und seine Familie suchen einen Housekeeper.« Chalford spielte mit einem Bleistift, während er sprach. Sein Deutsch war unbeholfen, mit di‐ ckem amerikanischem Akzent: »Mrs. Tucker braucht jemanden, der sich besonders um die beiden Boys kümmert. Das Haus ist in Dahlem. Im Dol. Komischer Straßenname, finden Sie nicht? Wenn Sie dem Colonel und seiner Misses gefallen, haben Sie den Job.« Helga musterte ihn interessiert. So nah war sie noch keinem Ame‐ 139
rikaner gekommen. Chalford war ein freundlicher Dreißiger mit dünner werdendem blondem Haar, einem runden rosigen Gesicht und wasserblauen Augen. Er schien ein netter Mensch zu sein. Als Mann ließ er sie kalt. »Erst müssen Sie natürlich zum Medical«, klärte er sie auf. »Wir nehmen nur kerngesunde Leute. Und dann machen wir ein Foto für unsere Angestelltenkartei. Wo wohnen Sie?« Helga gab ihm ihre Adresse in der Sophie‐ Charlotte‐Straße. Das Wohnungsamt hatte ihr endlich das Zimmer im eigenen Haus zugewiesen. Chalford legte den Bleistift aus der Hand. »Good luck, Frau Lomän.« Er zwinkerte ihr auf‐ munternd zu und vertiefte sich in ein Aktenstück. Der Autobus der Linie T war wegen Treibstoffmangel noch nicht wieder in Betrieb. Die Amerikaner hatten ihre eigene Linie ein‐ gerichtet, die in olivfarbenen Bussen kostenlos G.I.s, US Civilians, deutsche Army‐Angestellte mit »Bus Pass« und einige clevere Ber‐ liner Jungs beförderte, die sich dem meist unbedarften deutschen Fahrer gummikauend und mit grellem Schlips als Amis ausgaben. Helga brauchte eine Viertelstunde, vorbei an der nach dem neuen Präsidenten benannten »Truman Hall«, die den kürzlich eingerichteten »Post Exchange« beherbergte, wie die Marketende‐ rei der US Army traditionell hieß. Im »PX« konnte man als Ame‐ rikaner kaufen, wovon die Deutschen nicht einmal mehr zu träu‐ men vermochten, weil sie vergessen hatten, dass es das alles gab. Die Engineers hatten vor diesem unerreichbaren Paradies einen Fertigrasen ausgerollt und ausgewachsene Bäume eingesetzt, die für die ersten Monate von Gerüsten gestützt wurden. Die Berliner zersägten unterdessen nachts die letzten Grunewaldkiefern, als Brennholz für den kommenden Winter. »Im Dol« war eine ruhige Dahlemer Villenstraße, die vom einst gediegenen Wohlstand ihrer Bewohner zeugte. Das Haus war von der Straße nicht zu sehen, weil es weit hinten auf dem Grundstück lag. Sein rechtmäßiger Besitzer, ein menschenscheuer Biochemi‐ 140
ker, hatte dort für das braune Regime tödliche Bakterienkulturen gezüchtet. Er setzte seine Arbeit inzwischen in einem Labor bei Moskau fort. In der Einfahrt parkte ein blauer Studebaker. Ein Mann in schwarz eingefärbter Amiuniform harkte den Rasen zwischen den Birken. Er unterbrach seine Arbeit, als er Helga wahrnahm. »Ja?« »Ich bin Frau Lohmann. Colonel und Mrs. Tucker erwarten mich. Es geht um den Posten des Housekeepers.« Er betrachtete Helga abschätzend. »Den Job kriegst du nie«, sagte er mit hämischer Vertraulichkeit. »Tucker mag sie jung.« »Behalten Sie Ihre Meinung für sich. Und das ›Du‹ sparen Sie sich bitte für Ihresgleichen«, gab Helga ärgerlich zurück. »Auch gut. Schau᾿n Sie mal da drüben durchs Küchenfenster.« Tucker stand in voller Uniform am Küchentisch zwischen den nackten Schenkeln eines auf der Kante sitzenden Mädchens. Das Mädchen stieß kurze rhythmische Schluchzer aus. »Don᾿t go away«, keuchte er, als er Helga bemerkte. Offenbar genoss er die Sache vor Publikum doppelt. Er verstaute sein Glied in der Hose. »I suppose, you are the housekeeper. Come in.« Das Mädchen rutschte vom Tisch und knöpfte die Kittelschürze zu. »That᾿s Rosie the housemaid«, machte Tucker bekannt. »Myra and the boys have gone shopping. They᾿ll soon be back. I᾿m off to the office. Rosie, show her around the house.« Rosie war siebzehn, eine kleine Brünette mit hellwachen brau‐ nen Augen. »Was soll ich machen?«, entschuldigte sie sich. »Wenn er mich feuert, muss ich zurück in die Zone auf den Acker. Was werden Sie tun, falls er frech wird?« »Mich feuern lassen. Weiß Mrs. Tucker davon?« »Die sieht weg. Dafür lässt er sie in Ruhe trinken.« »Wer ist dieser Kerl im Garten?« »Klatt. Gärtner und manchmal Chauffeur. Klaut wie ein Rabe. 141
Bringt dem Colonel neue Mädchen. Schleimt sich bei Mrs.Tucker ein.« Draußen wurde es laut. Zwei kleine Bengels in Baseballkluft stürmten herein. Eine jüngere Frau mit Zigarette im Mund folgte. Klatt trug die Einkäufe in die Küche. »I᾿m Myra Tucker. I suppose it᾿s about the job as housekeeper.« »Helga Lohmann«, stellte Helga sich vor. »Okay, come on, Helga, wir gehen in die Study. Rosie, kümmere dich um die Zwillinge.« Mrs.Tucker ging voraus. Die »Study« war das getäfelte Arbeitszimmer des einstigen Hausherrn. »Einen Drink?« »Nein, danke, Madam.« »For heaven᾿s sake, nennen Sie mich Myra.« Mrs.Tucker angelte eine Flasche Gin vom Cocktailwagen und goss daraus reichlich in einen großen Cognacschwenker. »Dry Vermouth«, erklärte sie und sprühte aus einem Zerstäuber etwas davon ins Glas. Sie nahm einen langen Schluck. »Die Oliven habe ich aufgegeben. Man kriegt sie im PX nicht ohne Steine. Ich mag sie mit Anchovis gefüllt. Mögen Sie Oliven, Helga?« »Ich weiß nicht. Ich habe noch nie welche gegessen.« »Wirklich nicht? Na macht nichts. Okay, Sie sind wegen des Jobs gekommen. Kein Problem. Wenn Sie kochen können und mit den Boys fertig werden, haben Sie ihn.« Mrs.Tucker leerte ihr Glas und füllte nach. Den Zerstäuber vergaß sie. Sie lachte kurz auf. »Für den Colonel sind Sie gottlob zu alt. Haben Sie Familie?« »Mein Mann ist schon länger tot. Mein Sohn starb im Mai.« »Das tut mir sehr, sehr leid.« Myra Tucker sah sie aus schwim‐ menden Augen an. Man ahnte, dass sich hinter der Ginflasche eine mitfühlende, weil selber tief verwundete Frau verbarg. »Fangen Sie gleich morgen an. Das gibt Ihnen und Rosie zwei Tage für die Vorbereitungen. Wir haben am Sonnabend eine Party. Okay?« »Okay.« Einem Instinkt folgend, nahm Helga ihrer neuen Ar‐ beitgeberin vorsichtig das Glas weg. »Das brauchen Sie nicht mehr, 142
Myra. Jetzt haben Sie ja mich.« Sie ergriff ihre Hand. Die Ameri‐ kanerin versteifte sich. Nach ein paar Sekunden war sie nur noch ein schutzsuchendes Kind in Helgas Armen. Colonel Harold Miles Tucker war Berufssoldat. Er kommandierte ein Battaillon der Air Borne Division und hatte sich mit seinen Fallschirmjägern von der Normandie bis zur Elbe durchgekämpft. Der Dienst in Berlin war sein erster friedlicher Posten. Man hatte ihn dem US‐Stadtkommandanten als Adjutanten beigeordnet. Auf dessen Weisung ließ er Myra und die Zwillinge nach‐ kommen. Der General verlangte von seinen Untergebenen ein Familienleben zum Vorzeigen, besonders den Deutschen gegen‐ über. Das gehörte zur vom State Department verordneten »demo‐ kratischen Umerziehung« der Besiegten. Seit Aufhebung des Fraternisationsverbotes waren Kontakte mit ihnen erwünscht. Helga erfuhr das von Klatt, der den kurzgeschorenen Haudegen und Mädchenjäger Tucker bewunderte. Sie hatte mit Rosie kalte Platten, Salate, Obst‐ und Dessert‐ schalen vorbereitet, unbekannte Genüsse, fast alle aus Dosen. Karlchen würde staunen, dachte sie unwillkürlich. Ein wehmü‐ tiger Schmerz durchzog sie. Gegen acht trafen die ersten Gäste ein. Tucker und Frau be‐ grüßten sie an der Haustür, kräftige, gesunde Army‐ und Air Force Offiziere. Ihre Frauen waren auf stereotype Weise hübsch und stießen krächzende Entzückensschreie aus, wenn sie eine lange verloren geglaubte Freundin erblickten, die sie zuletzt nachmittags beim Hairdresser gesehen hatten. US‐Zivilangestellte in ihren von den Militärs belächelten Schein‐Uniformen baten lärmend um Whisky. Einige ausgewählte Deutsche waren geladen. Der Stadtkommandant General Henry C. Abbot kam im schlich‐ ten dunklen Anzug, ein schlanker Graukopf mit wettergegerbtem Gesicht. Mrs. Abbot war ein silberlockiger Großmuttertyp. Sie fragte nach den Tucker‐Zwillingen, die schon im Bett lagen. Der 143
General war Westpoint‐Zögling, aus alter Bostoner Familie. Er war begeisterter Yachtsman und verwickelte den Zehlendorfer Bürgermeister in ein Gespräch über das Segeln auf dem Wannsee, das er zusammen mit ein paar britischen Offizieren wiederbelebt hatte. Dr. Struwe hörte höflich zu. Er hatte andere Sorgen. Helga servierte am Buffet. »Für mich etwas Virginia Ham und Eiermayonnaise«, bat jemand. Mister Chalfords rundes rosiges Gesicht glänzte wohlwollend. »Wie ich sehe, finden Sie sich hier schon gut zurecht, Frau Lomän.« »Ja, Sir. Und vielen Dank, dass Sie mir die Stellung besorgt haben.« »Das ist mein Job, Frau Lomän.« Chalford balancierte seinen Teller quer durchs Gedränge. Er hatte offenbar einen Bekannten entdeckt. Ihr Blick blieb an einem Gast hängen. »Eugen!«, rief sie über‐ rascht. Er hörte sie nicht. Erst als sie dicht hinter ihm seinen Namen wiederholte, drehte er sich um. »Helga, wie schön«, sagte er und weckte damit eine beängs‐ tigende Vielfalt von Gefühlen. Prof. Dr. Eugen Klemm war abgemagert. Kragen und Anzug waren ihm zu weit geworden. Sein Gesicht schimmerte hager und grau wie das Tausender hungriger Berliner. »Hast du schon was gegessen?« Es war das erste, was ihr einfiel. Er schüttelte den Kopf. »Wer᾿s am nötigsten hat, hält sich am meisten zurück. Eine Frage der Selbstachtung, nehme ich an.« »Warte.« Sie eilte zum Büfett und kehrte mit einem vollen Teller zurück. »Klatt bringt dir ein Bier.« »Immer noch die fürsorgliche junge Lernschwester? Ich erinnere mich an einen Nachtdienst auf der Station. Da brachtest du mir im Morgengrauen eine kräftige Bouillon, damit ich nicht umkippe.« Wärme lag in seiner Stimme. Längst vergessen geglaubte Zuneigung brach wie eine Woge über sie herein. »Entschuldige, Eugen.« Sie ging hinüber zur Gastgeberin, die im 144
Begriff war, ihren Orangensaft mit Gin aufzufüllen. »Mrs. Abbot hat sich sehr nett nach Ihren Zwillingen erkundigt. Sie sollten sich ein wenig um sie kümmern, Myra. Und denken Sie immer dran — das Zeug brauchen Sie nicht.« Sie nahm ihr die Flasche aus der Hand und gab sie Klatt. Sie bot ringsum Schinkenröllchen an, zu‐ erst dem Stadtkommandanten und Mister Chalford, die sich ange‐ regt unterhielten, danach einer Gruppe jüngerer Offiziere auf der Terrasse. Als sie sich nach Eugen Klemm umdrehte, war er ver‐ schwunden. Gegen zehn verabschiedeten sich die letzten Gäste. »Mrs.Tucker war den ganzen Abend nüchtern. Wie haben Sie das gemacht, Helga?« In der Stimme des Colonels lag widerwillige Anerken‐ nung. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Sir.« Tucker winkte Rosie, die ihm achselzuckend in die Study folgte. Myra Tucker giggelte wie ein kleines Mädchen. »Das hat ihn verwirrt, nicht wahr? Das werden wir jetzt öfter machen. Thank you, Helga, you were a great help. Den Abwasch machen Sie mor‐ gen. Im Wintergarten wartet jemand auf Sie. Bieten Sie ihm an, was Sie wollen und lassen Sie sich nicht stören. Ich gehe zu Bett. Good night.« »Good night, Myra.« Eugen Klemm saß in einem der Korbstühle zwischen den Topf‐ pflanzen. Er wirkte ein wenig verloren. Sie war froh, dass er geblieben war. Sie setzte sich zu ihm. »Wie bist du ausgerechnet auf diese Party geraten?« »Ich arbeite als Assistent im Military Hospital und durfte dem Kommandeur der Tempelhof Air Base eine Warze wegmachen. Da hat man mich wohl als gesellschaftlich annehmbar eingestuft und einer Einladung für würdig befunden.« Helga schüttelte den Kopf. »Du als Assistenzarzt? Wissen die denn nicht, wer du bist?« 145
»Was spielt das schon für eine Rolle. Erzähl, wie ist es dir ergan‐ gen? Was machst du hier?« »Ich bin Housekeeper und Kindermädchen bei den Tuckers.« »Und davor?« »Flucht aus Klein Moorbach. Die Einzelheiten erzähle ich dir ein anderes Mal. Bis Kriegsende konnten Karlchen und ich uns im Spreewald verstecken.« Sie senkte den Kopf. »Jetzt ist er tot.« Er nickte abwesend. »Renate und die Kinder auch. Sie liegen unter unserem Haus in der Blütenstraße begraben. Ein Volltreffer. Ich habe mich notdürftig im Gartenhäuschen eingerichtet.« Er tat ein paar Schritte, ehe er fortfuhr: »Ich hab hier fast eine Stunde ge‐ sessen und nachgedacht. Ich möchte dir einen Vorschlag machen.« »Was für einen Vorschlag, Eugen?« »Ich will weg, Helga. Einen neuen Anfang machen. Ich bin sechzig, da schaffe ich das noch. Mein alter Lehrer Professor Levi ist achtzig und operiert nicht mehr. Er hat mir ein Angebot ge‐ macht. Ich kann als Neurochirurg zu ihm an die Klinik nach Phil‐ adelphia kommen. Er will mir und meiner Frau die Auswanderung ermöglichen.« »Dir und deiner Frau? Sagtest du nicht...?« »Weg von hier, Helga, stell dir das mal vor. Ein neuer Anfang in einem neuen Land. Kein Hunger, keine drückende Vergangen‐ heit, keine traurigen Erinnerungen. Dafür eine helle Zukunft. Ich nehme es als Wink des Schicksals, dass wir uns heute getroffen haben. Ich mag nämlich nicht alleine gehen. Wir könnten in zwei Wochen heiraten. Als gute Freunde – später vielleicht als richtiges Ehepaar, wenn du willst.« Sie brachte kein Wort heraus. Er legte verständnisvoll die Hand auf ihren Arm. »Überleg es dir. Komm morgen Abend mit deiner Antwort zu mir. Ich muss jetzt gehen. Ich habe Nachtdienst. Sie schicken einen Jeep.« Er beugte sich zu ihr herab und küsste sie auf die Schläfe. »Gute Nacht, Helga.« Der Jeep mit ihm war längst davongefahren. Aus der Study tönte 146
Rosies Quietschen. Helga nahm es nicht wahr. Wie eine Schlaf‐ wandlerin holte sie ihre Tasche aus der Küche und verließ das Haus. Ein leichter Regen fiel. Sie nahm den gewohnten Weg nach Hause: durch die Kronprinzenallee, die sie vor wenigen Tagen nach dem US‐Militärgouverneur Clay benannt hatten, eine pein‐ liche Anbiederung der Deutschen; weiter die Argentinische Allee entlang und schließlich links herum, an U‐Bahnhof und Kirche vorbei. Sie atmete aufgeregt wie ein Kind. Der Atlantik war mit einem Mal ein Tümpel. Amerika lag plötzlich greifbar nahe. Im gleichen Moment begriff sie, dass es ebenso gut Madagaskar sein konnte oder die Lüneburger Heide, solange sie mit Eugen zusammen sein durfte. Ihre Liebe zu ihm war all die Jahre nie erloschen. Der Stacheldrahtzaun des Sperrbezirks war in diesem Abschnitt nicht beleuchtet. Helga sah die Gestalt erst, als sie mit erhobenen Armen vor ihr stand. Eine Schutzbrille schimmerte im Dunkeln. Metall klirrte. Eine Kette legte sich kalt um ihren Hals, schnürte ihr die Kehle zu. Ihre Hände griffen ins Leere. Sie röchelte. Gie‐ rige Finger führen unter ihr Kleid, rissen den Schlüpfer herunter. Etwas Hartes wühlte sich scharf in ihren Unterleib. Ein un‐ säglicher brennender Schmerz zerriss ihren Schoß. Sie hörte das Keuchen des Angreifers. »Karlchen ... Eugen ... helft mir!«, wollte sie schreien, aber die Kette zerschnitt ihren Atem. Dann wusste sie nichts mehr. 147
DRITTES KAPITEL
I
nspektor Dietrich hatte vormittags einen Termin beim Polizei‐ präsidenten am Alexanderplatz. Kriminalmeister Franke vernahm inzwischen die Zeugin Gerti Krüger, eine resche Berlinerin: »Die Rembach war zusammen mit Ihnen in der chemischen Reinigung der Amerikaner beschäftigt?« »Die Karin, klar, Herr Kommissar. Wissen᾿se, wer die wirklich war?« Die Zeugin machte eine dramatische Pause. »Sie sprach nich drüber, aba ick wusste es auch so. ›Du, ick weeß bescheid‹, sagte ich zu ihr. ›Du bist Verena van Bergen.‹ Sie sagte traurig: ›Das war einmal.‹ So ᾿ne nette Frau. Janich einjebildet.« »Natürlich.« Franke schlug sich an die Stirn. »Verena van Ber‐ gen, die Filmschauspielerin. Dass ich da nicht gleich drauf gekom‐ men bin. Ich wusste, ich kenne ihr Gesicht.« »Und nu isse tot. Wenn ick det Schwein krieje ... « Gerti verbiss sich die Tränen. »Haben Sie einen Verdacht?« »Ick will ja nich zu viel jesagt haben, aba der Ziesel ist schon ᾿ne jemeine Nummer.« Franke horchte auf: »Wer ist Ziesel?« »Otto Ziesel, der Müllfahrer der Amis. Zweemal die Woche kommt der, die Abfälle einsammeln. Hat ᾿nen krankhaften Hass auf alle Meechen, die mit᾿n Ami jehn. ›Die Fotze jehört euch aus‐ jebrannt‹, hat er zu Karin und mir jesagt, Sie müssen schon ent‐ schuldijen, Herr Kommissar.« 148
Franke machte sich Notizen. »Danke, Fräulein Krüger. Wir wer‐ den Sie zu einer offiziellen Protokollaufnahme vorladen, sobald der Chef da ist.« Gerti Krüger holte eine alte Filmzeitschrift aus der Einkaufsta‐ sche und legte sie auf den Tisch. »Die hab ick Ihnen mitjebracht, da isse drin. Mahlzeit, Herr Kommissar.« Die Brüder kamen um ein Uhr von der Schule und setzten sich erwartungsvoll an den Tisch. Sie mussten sich gedulden, weil ihr Vater erst um zwei vom Präsidium zurück war. »Die reinste Welt‐ reise«, berichtete Klaus Dietrich. »Ab Potsdamer Platz sind Schä‐ den an den Gleisen. Ein Pferdefuhrwerk hat mich zum Alex mit‐ genommen. Der Polizeipräsident hatte doch glatt die Stirn, mich wegen meiner Verspätung zu rügen. Dabei fährt der Herr Auto‐ mobil mit russischer Benzinzuteilung. Und dann beschwerte er sich auch noch, unsere Ermittlungen gingen zu schleppend.« Das Mittagessen ließ ihn den beruflichen Ärger vergessen. Es gab richtige Klöße in einer echten Fleischbrühe. Inge Dietrich hatte seinen pelzgefütterten Uniformmantel bei der Frau eines russischen Offiziers in Eberswalde gegen einen Zentner Weizen‐ mehl und ein Stück zähes Rindfleisch eingetauscht. Klaus Dietrich mochte den Mantel nicht mehr sehen. Er erinnerte ihn zu sehr an das, was hinter ihm lag. Wie Inge den Zentnersack von der Rus‐ sensiedlung zur Bahn und von dort auf dem Dach des Güterzuges nach Berlin geschafft hatte, blieb ihr Geheimnis. Sie hatte zwei Pfund Mehl für die Klöße abgezweigt und das Übrige zu Frau Molch in den Eschershauser Weg gebracht. Die handelte mit allem, was es nicht gab. Man einigte sich auf ein Paar Schuhe und ein Kilo Wolle. Ralf konnte schließlich nicht in San‐ dalen durch den Schnee des kommenden Winters stapfen. Oma würde zwei Pullover für die Jungs stricken. »Mit einem Hauch Muskat und gerösteten Speckwürfeln, so kannten wir das früher«, schwärmte der Bezirksrat. 149
»Muskat, was ist das?« Ralf bekam keine Antwort, weil sein Großvater eine langatmige Schilderung der gestrigen Bezirksversammlung gab. Man hatte beschlossen, Spruchkammern zur Aburteilung von Nazis einzu‐ richten. »Das sind wir unserem Ansehen in der Welt schuldig.« »Welchem Ansehen?« Klaus Dietrich ließ die Frage im Raum stehen. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen, weil er völlig über‐ müdet war. Auch die Hitze setzte ihm zu. Das Thermometer im Schatten der Veranda zeigte achtundzwanzig Grad. Er gab seiner Frau einen flüchtigen Kuss aufs Haar und schob das Rad durch den Vorgarten auf die Straße. Auch Ben und Ralf trabten los. Hajo König wartete am nahen Waldrand, ein kleiner sommersprossiger Bengel, der mit Ralf in eine Klasse ging. Sie liefen durch den von Schwarzfallern kahlge‐ schlagenen Forst zur Krummen Lanke hinunter. Der See lag still in der Sonne. Eine Familie Wasserhühner zog silberne Furchen. An einer Stelle, wo der Herbstregen im Laufe der Jahrzehnte eine kleine sandige Bucht aus dem Ufer gewaschen hatte, zogen sie Hemd und Hose aus. Drunter hatten sie ihre Badehosen an. Ben wollte gleich ins Wasser. »Erst mal rauf in die Schonung«, drängte Hajo. Sie pirschten durch die Schonung oberhalb des Sees, die von einem Wildzaun umgeben war. Die jungen Bäumchen des künf‐ tigen Mischwaldes waren für Holzdiebe unergiebig und darum unversehrt. Mit Brombeeren, Brennnesseln und anderem Unkraut verwoben sie sich zu dichtem Gestrüpp. Das vom Krieg dezi‐ mierte Forstamt hatte keine Leute zum Säubern. Eine Lichtung tat sich auf. Die Jungen duckten sich. In der Kuhle vor ihnen hockte eine nackte junge Frau mit weit zurückgeworfenem Kopf und gespreizten Schenkeln. Sie bewegte ihre Hüften und stöhnte laut. Das hohe Gras verbarg den unter ihr Liegenden. Gebannt starrten die jugendlichen Voyeure auf ihre wippenden Brüste. Ben dachte an Heidi Rödel. Hajo fingerte sich vorn an der 150
Badehose. Die junge Frau schrie und sank über ihren unsichtbaren Liebhaber. Sie warteten gespannt, aber sonst geschah nichts. Nach einer Weile erhob sich das Paar. Der Mann war ziemlich alt, min‐ destens vierzig, schätzte Ben. Sein erschlaffendes Glied glänzte nass in der Sonne. Die junge Frau setzte sich an einen Busch und pinkelte. Leise zogen sie ab. »Sonst liegt die Frau immer unten«, wusste Hajo von früheren Beobachtungen. Ralf feixte. »Heidi Rödel — liegt die auch immer unten? Oder macht ihr es gar nicht?« »Klar machen wir᾿s, und zwar nicht zu knapp«, versicherte Ben lässig und lenkte vorsichtshalber vom Thema ab: »Wer zuerst im Wasser ist!« Sie rannten runter zum Ufer. Ralf und Hajo stürmten ins Was‐ ser. Ben folgte gemächlich, um nicht außer Atem zu kommen. Er watete bis zu den Schultern hinein. Zehnmal atmete er tief durch, um das Blut mit Sauerstoff anzureichern, das hatte er im Neuen Universum gelesen. Er tauchte unter und schob sich mit langen, gegen den Auftrieb gerichteten Schwimmbewegungen vorwärts. Er beabsichtigte, seinen Streckenrekord zu verbessern. Er hielt die Augen geöffnet. Im moorigen Wasser konnte man kaum einen halben Meter weit sehen. Er erinnerte sich mit gemischten Ge‐ fühlen an den Riesenwels, der angeblich irgendwo in der Tiefe lauerte. Sie hatten beim Fischhändler Ehlers in der Ladenstraße vor einigen Jahren ein Exemplar ausgestellt, das war über einen Meter lang, mit Bartfingern wie Regenwürmer und scharfen Zähnen. Er zögerte das Auftauchen noch ein paar Sekunden hinaus, ob‐ wohl es ihm fast die Brust sprengte. Als er es nicht länger aushielt, schoss er mit zwei mächtigen Zügen schräg an die Oberfläche, was zusätzlich einen Meter brachte, und schnappte gierig nach Luft. Die Gesichter am Ufer waren helle kleine Flecken. Erstaunt begriff er, dass er weit über die Seehälfte hinaus getaucht war, mindestens sechzig Meter. 151
»Und wir glaubten schon, du bist abgesoffen«, meinte sein Bru‐ der. In seiner Stimme schwang Bewunderung mit. »Reine Frage der Atemtechnik«, belehrte ihn Ben. Das Paar aus der Schonung stand knietief im Wasser. Die junge Frau gefiel Ben im schwarzen Badeanzug viel besser als ohne. Der Mann trug eine dreieckige Badehose, die an der Seite geschnürt war. Er flüsterte ihr was ins Ohr. Die junge Frau lachte. Den Rückweg nahmen sie durch das Riemeister Fenn, um Kaulquappen zu fangen. »Mann, das glaubste nicht«, rief Ralf be‐ geistert und wies auf die schwankende Grasinsel vor ihnen. Im Schilfgras stak moosüberzogen eine Brandbombe. Der mo‐ rastige Boden des verlandeten Wasserarms hatte ihren Aufschlag abgefedert und die Zündung verhindert. Ein Lancaster Bomber der Royal Air Force hatte vor zwei oder drei Jahren nach einem Angriff aufs Stadtzentrum seine Restlast über dem Grunewald ab‐ geladen. Das meiste war im Fenn versunken. Diese Bombe hatte den Krieg an der Oberfläche überdauert. Ben zog den Fund ganz ans Tageslicht und balancierte damit von der wabbeligen Grasinsel auf festen Boden. Die Bombe hatte die Form eines sechseckigen Stabes von ungefähr sechs Zenti‐ metern Durchmesser und einem halben Meter Länge. Sie war aus Thermit, das so schwer wog wie Eisen. Ihr oberer Teil bestand aus einer leichten Aluminiumhülle, die als Leitwerk diente. Ben knickte sie ab. Zum Vorschein kam ein dünnes kleines Blech‐ kreuz, das den Kopf des Zündstiftes hielt. Das Kreuz sollte sich durch die Wucht des Aufschlags nach oben verbiegen und den Stift freigeben, sodass er in die Zündmasse schlug. Es war eine simple Konstruktion, die häufig versagte. Im Krieg hatte Ben öfter mal so einen Blindgänger im Sand hinter der Rodelbahn gezündet, einfach aus Spaß am Feuerwerk. Unter den bewundernden Blicken seiner beiden Zuschauer setzte er die Klinge des Taschenmessers an und bog die vier Schen‐ kel des Blechkreuzes hoch. Dann schlug er den Stab senkrecht auf 152
einen Stein. Ein Plopp. Aus den Löchern um den Zünder schossen zischend Funken. Ben hob die Bombe wie eine Fackel empor. »Kinderkram.« Er schleuderte sie in hohem Bogen davon. Hajo lief hinterher. »Lass liegen«, warnte Ben. Aber der Kleine ergriff das am oberen Ende inzwischen weißbrennende Ding und hielt es mit ausgestrecktem Arm in die Höhe. »Wie ᾿ne Wunderkerze«, schrie er begeistert. »Wirf das weg«, rief Ben. Die Detonation erfolgte völlig unerwartet. Hajo hatte plötzlich ein schwarzes Gesicht und starrte fassungslos auf seine Hand, die eben noch den brennenen Stab umklammert hatte. Doch da war kein Stab mehr und auch keine Hand. Der in die verbesserte Ver‐ sion eingeschraubte Sprengsatz sollte die Leute bei Löscharbeiten davon abschrecken, die Bombe aus dem Fenster zu werfen. Jetzt hatte sie dem Jungen die Hand abgerissen. Mit verdrehten Augen ging Hajo zu Boden. »Ach du Scheiße.« Ben löste den Gürtel von der Hose. »Wir müssen ihn abbinden, sonst verblutet er.« Sachgerecht legte er dem Bewusstlosen einen Knebel an. Er hatte beim Jungvolk Erste Hilfe gelernt. Franke begrüßte den Inspektor nach der Mittagspause aufgeregt im Büro: »Ich wusste gleich, dass ich sie kenne. Hier, bitte.« Der Kriminalmeister schlug die Filmzeitschrift auf. Klaus Dietrich sah das Bild einer schönen jungen Blondine an der Seite eines gut aus‐ sehenden Mannes. »Erik de Winter und Verena van Bergen — das neue deutsche Filmpaar«, verkündete die Unterschrift. Dietrich war überrascht: »Die Tote von der U‐Bahn.« »Sie war ziemlich bekannt.« »Mir nicht. Vor dem Krieg bin ich nicht oft ins Kino gegangen, und ins Frontlichtspiel kam ich nie. Wir waren meistens fünfzig Kilometer weiter vorne.« Dietrich hatte bei den Panzern gedient. »Erst Karin Rembach, und nun diese Helga Lohmann. Beide 153
hübsch und jung«, zählte Franke auf. »Beide blond mit blauen Augen. Beide auf die gleiche bestialische Weise umgebracht... « »... beide bei den Amis angestellt«, ergänzte Klaus Dietrich, »und beide nach der Sperrstunde ermordet. Was sagt uns das, Franke?« »Dass der Täter ein Amerikaner ist, oder ein bei der US Army beschäftigter Deutscher, der die Sperrstunde überschreiten darf. Die Zeugin Krüger verdächtigt einen deutschen Müllfahrer der Amis.« Franke berichtete kurz. »Versuchen Sie, etwas über diesen Ziesel herauszufinden«, befahl Dietrich. »Es kann natürlich auch jemand ohne Genehmi‐ gung sein, der im Schütze des allgemeinen Ausgangsverbots killt«, fügte er hinzu. Kriminalassistent Vollmer steckte den Kopf zur Tür herein. »Eine Jutta Weber«, meldete er. Die Besucherin wirkte blass und mitgenommen. Klaus Dietrich reichte ihr die Hand. »Ich bin Inspektor Dietrich. Herrn Franke kennen Sie ja schon. Bitte, Frau Weber, nehmen Sie Platz.« Er rückte der Besucherin einen Stuhl zurecht. »Ich habe einige Fragen. Es dauert nicht lange.« »Moment. Erst mal Name, Anschrift, Geburtsdatum und Per‐ sonenstand.« Jutta gab die gewünschte Auskunft. Kriminalmeis‐ ter Franke attackierte die vorsintflutliche »Erika« im Einfingersuch‐ system. »Onkel‐Tom‐Straße 133«, wiederholte er. »Sie wohnen da alleine?« »Ich teile die Wohnung mit einer Familie König und einem Herrn Brandenburg. Ein Heimkehrer.« »Sie fanden die Tote gestern Nacht gegen dreiundzwanzig Uhr am Zaun der amerikanischen Enklave, das stimmt doch?«, verge‐ wisserte sich Dietrich. »Ja. Ich war unterwegs zu Bekannten.« »Nach der Sperrstunde?« Franke blickte misstrauisch auf. »Ich arbeite bei den Amerikanern und habe einen Ausweis.« 154
»Genau wie die zwei ermordeten Frauen«, entfuhr es dem Kri‐ minalmeister. Jutta war entsetzt: »Zwei Frauen?« »Leider ja. Sie sollten sehr vorsichtig sein, wenn Sie spät alleine unterwegs sind. Aber keine Sorge, wir werden ihn bald fassen. Sie können uns dabei helfen. Nach unseren Berechnungen müssen Sie die Tote ziemlich kurz nach der Tat entdeckt haben. Ist Ihnen irgendwas aufgefallen? Haben Sie jemanden gesehen?« »Nein, das heißt, doch, einen Motorradfahrer. Er tauchte wie aus dem Nichts auf und fuhr ganz dicht an mir vorbei.« »Trug er Lederkappe und Schutzbrille?« Klaus Dietrich wartete gespannt. »Ich weiß nicht. Sein Scheinwerfer blendete mich.« »Blen‐de‐te mich«, hämmerte Franke in die Maschine. »Welche Richtung nahm er?« »Richtung Onkel Tom. Ich ging weiter. Und da stand sie. Es war schrecklich. Dieses bleiche Gesicht in der Rolle Stacheldraht. Erst erkannte ich sie nicht. Dann wusste ich, wer sie war.« Der Inspektor war überrascht. »Sie kannten die Tote?« Juttas Augen füllten sich mit Tränen. »Ich arbeitete früher in Frau Gerolds Buchhandlung in der Ladenstraße. Helga Lohmann war Kundin. Sie kam seit Jahren mit ihrem kleinen Sohn in unsere Leihbücherei.« Sie weinte lautlos. Klaus Dietrich ließ ihr Zeit. Sie ist genauso hübsch jung, blond und blauäugig wie die beiden toten Frauen, durchfuhr es ihn. Der Gedanke erschreckte ihn. Sie hatte sich etwas beruhigt. »Eine Schutzbrille mit großen Gläsern?« »Sie sagten doch gerade, dass der Scheinwerfer des Kraftrades Sie blendete«, warf Franke ärgerlich ein. Er hatte so seine Erfahrungen mit Zeugen. »Das war vor ein paar Tagen, als ich spät von der Arbeit nach Hause fuhr. Ein Fußgänger. Ich wollte ihm ausweichen und stürzte 155
mit dem Fahrrad. Als er sich über mich beugte, sah ich die Schutz‐ brille. Dann war er verschwunden. Gleich darauf startete in der Nähe ein Motorrad.« »Können Sie sich erinnern, wann das war?« »Am letzten Mittwoch, gegen dreiundzwanzig Uhr.« »Nicht so schnell«, stöhnte der mit der Tastatur kämpfende Franke. »Bitte lesen und unterschreiben«, forderte der Inspektor die Zeugin auf. »Ihre Adresse haben wir, falls es weitere Fragen geben sollte. Ich danke Ihnen, Frau Weber. Bitte nehmen Sie es sich nicht allzu sehr zu Herzen.« Er begleitete sie hinaus. »Ein Serienmörder mit Motorrad«, brachte Franke es auf einen Nenner. »Bei Kriegsbeginn mussten wir unsere Kraftwagen und Motorräder abliefern. Kein Mensch hat heutzutage eine Maschine. Vom Treibstoff ganz zu schweigen. Der Täter kann also nur ein Ami sein.« »Warum kein französischer oder englischer Besatzer?«, wandte sein Chef ein. »Oder der Holländer aus meiner Nachbarschaft? Hendrijk Claasen, ein kräftiger blonder Typ. Fährt alle vierzehn Tage mit seinem Motorrad nach Nijmegen zum Einkaufen und kommt mit der schönsten Schwarzmarktware zurück. Hat trotz seiner Schlaraffengüter kein Glück bei den Frauen. Sagt jedenfalls die Meine. Ist Ihnen das verdächtig genug? Wie wäre es anderer‐ seits mit einem Russen, der nachts per Motorrad in den Westen wechselt und hier seine Untaten begeht? Nee, Franke, der Täter muss nicht unbedingt ein Amerikaner sein. Und überhaupt, wer sagt uns, dass Mörder und Motorradfahrer identisch sind? Die Be‐ obachtungen des Fahrdienstleiters und der Weber können ebenso gut auf Zufällen beruhen.« »Bisschen viel Zufälle«, brummte der Kriminalmeister. In der »Flora«‐Bar in Schöneberg war an diesem Nachmittag die Hölle los. Eine Gruppe dienstfreier G.I.s vom Signal Corps hatte 156
sich dort zum Bier eingefunden und alberte mit den Mädchen rum. Die »Flora« war das Stammlokal einiger ebenfalls dienst‐ freier G.I.s von der Transport Division, welche ältere Rechte auf die Fräuleins anmeldeten. Dummerweise waren die Nachrichten‐ truppler weiß und die Truck Driver schwarz. Beim Eintreffen der Military Police war Schwarz eindeutig im Vorteil, was Sergeant Donovan schleunigst ausglich, indem er den Knüppel bevorzugt auf wollige Negerschädel sausen ließ. »Ladet die verdammten Nigger auf«, befahl er seinen Männern, als eini‐ germaßen Ruhe herrschte. »Und ein paar Weiße dazu.« »Besonders den da, Sergeant«, sagte ein baumlanger Schwarzer. Er wies auf einen weißen Corporal. »Ach, wirklich? Wer befiehlt hier?« Donovan hob bedrohlich den Knüppel. Der Schwarze rollte die Hemdsärmel runter. Er hatte drei Winkel mehr als Donovan. Der ließ den Knüppel sinken. »Master Sergeant Roberts«, stellte der Schwarze sich vor. »Wir haben uns alle mit den Fäusten geprügelt. Nur der Corporal hat das Messer gezogen. Einer von uns wurde verletzt. Also was ist, Sergeant?« Donovan kochte. Doch ihm blieb keine Wahl. »Das Messer, Corporal«, forderte er den Weißen auf und steckte es ein. »Sie fah‐ ren mit mir. Der verletzte Nigger auch.« Der Master Sergeant blieb ruhig. »Schwarzer Mann, Farbiger, wenn Sie wollen auch Neger. Nigger verbitten wir uns. Besonders von einem wie Ihnen.« Donovans Faust krampfte sich um den Griff seiner Magnum. Sergeant Roberts zog gemächlich seine Uniformjacke an. Sie war mit den höchsten Kriegsauszeichnungen der Vereinigten Staaten bestückt. Wütend klemmte sich Donovan hinters Steuer und gab Gas. Er fuhr den Blessierten zum Army Hospital Unter den Eichen. Zum Glück war die Stichwunde nicht lebensgefährlich. Der Mannschaftswagen mit den Arrestanten wartete bereits vor der MP‐Station. »Schicken Sie die Kampfhähne zu ihren Einhei‐ 157
ten«, befahl Captain Ashburner. »Ihre Vorgesetzten sollen das Strafmaß bestimmen. Der Corporal bleibt hier und – wird dem Provost Marshal überstellt.« Der schwarze Master Sergeant salutierte stramm. »Ihr Sergeant hat das Messer als Beweisstück an sich genommen, Sir. Vielleicht wollen Sie es sicherstellen.« »Danke, Master Sergeant. Das Messer auf meinen Schreibtisch, Donovan.« Zögernd rückte Donovan das Messer heraus. »Lassen Sie den Corporal laufen, Sir«, bat er, sowie sie alleine waren. »Ich sorge dafür, dass er eine gehörige Urlaubssperre aufgebrummt kriegt.« »Der Provost Marshal wird über eine Anklage befinden. Das wäre alles, Sergeant.« »Jawohl, Sir.« Man merkte deutlich, dass Donovan die Entschei‐ dung seines Vorgesetzten missbilligte. »Bringen Sie uns zwei Kaffee, Mike, und setzen Sie sich.« »Sofort, Captain.« Donovan schenkte aus der Thermoskanne zwei Tassen ein. »Mike, hören Sie, ich habe weiter über diese Frauenmorde nach‐ gedacht. Der Verdacht, dass ein Amerikaner der Täter ist, lässt sich nach – wie vor nicht ausschließen. Was meinen Sie?« »Dass es doch nur um zwei German Whores geht. Und dafür soll einer unserer tapferen Boys büßen?« »Erinnern Sie sich an die Worte des deutschen Inspektors: dass der Krieg vorüber ist, und dass Mord jetzt wieder bestraft wird, gleich, wer ihn begangen hat, Amerikaner oder Deutscher.« »Wir hatten da einen Fall 1944, auf dem Vormarsch durchs Rheinland. Einer unserer Jungs spielte ein bisschen zu hart mit einem German Girl. Vergewaltigung und Mord nannte es der Pro‐ vost Marshal. Dabei hatte die verdammte kleine Nutte die Beine von alleine breit gemacht. Na, und dass der G.I. ihr im Eifer des Gefechts versehentlich die Kehle zudrückte, konnte man ihm doch nun wirklich nicht vorwerfen. Anyway, wir verpassten ihm diskret 158
eine harmlose Fleischwunde und schickten ihn als Verwundeten nach hinten. Das gab unserem Colonel Zeit, seine Versetzung an den pazifischen Kriegsschauplatz zu arrangieren. Eine praktische Lösung, finden Sie nicht, Captain?« »Darf ich Ihnen eine Gegenfrage stellen, Mike? Was würden Sie tun, wenn die zwei ermordeten Frauen zu unserem Women Army Corps gehörten und der Mörder ein Deutscher wäre?« »Shoot the bastard«, erwiderte Donovan erstaunt. Der Sprechfunk meldete sich: »Patrol Three, Miller. Wir haben in Quadrat achtzehn einen Russki geschnappt. Er will uns weis‐ machen, er suche nach einem Mann namens Kless oder so ähnlich. Joe und mir kommt die Geschichte komisch vor, Captain. Was machen wir mit dem Knaben?« »Gar nichts, Miller, wenn Ihnen das Viermächteabkommen hei‐ lig ist.« Ashburner jagte mit dem Jeep los. Verwicklungen mit den sowjetischen Verbündeten waren das letzte, was er brauchte. Der Streifenwagen stand an der Wannseebrücke quer vor einem offe‐ nen weißen Sportzweisitzer von BMW, an dem groß und schlank ein russischer Offizier lehnte. Die Mütze hatte er abgenommen, sodass man sein drahtiges blondes Haar sah. Er rauchte eine Zi‐ garette mit langem Pappmundstück und schaute amüsiert auf Corporal Miller und den Fahrer Joe, die in einigem Abstand warteten, die Hände in der Nähe ihrer Pistolenhalfter. Ashburner grüßte förmlich. »Captain Ashburner, United States Army Military Police.« »Major Berkow vom Stab des Stadtkommandanten General‐ oberst Bersarin. Freut mich außerordentlich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Captain Ashburner.« Der Russe sprach ein elegantes Eng‐ lisch, gegen das Ashburners amerikanischer Akzent plump wirkte. Der Captain ließ sämtliche Vereinbarungen und Verordnungen vor seinem geistigen Auge passieren. Danach hatten Angehörige der vier alliierten Streitkräfte in Berlin jederzeit ungehinderten Zugang zu den Besatzungssektoren der anderen, sofern sie Uni‐ 159
form trugen. »Ich hoffe, meine Männer haben Sie korrekt behan‐ delt, Major Berkow. Sie suchen einen gewissen Kless?« »Nicht Kless, sondern Kleist. Ihre Leute haben mich da wohl nicht ganz verstanden. Er hat hier irgendwo Selbstmord began‐ gen, und ich suche sein Grab.« »Ein Selbstmörder namens Kleist. Das ist Sache der German Po‐ lice. Ich werde meinen Diensthabenden über Funk anweisen, sich sofort mit den Deutschen in Verbindung zu setzen. Die können je‐ manden schicken, der Ihnen bei der Suche hilft. Kannten Sie ihn?« »Wen?« Berkow verstand nicht gleich. Langsam dämmerte es ihm: »Heinrich von Kleist? Nein. Er beging zusammen mit seiner Freundin Henriette Vogel im November 1811 hier am Kleinen Wannsee Selbstmord. Ein deutscher Dichter aus altem preu‐ ßischem Adelsgeschlecht.« »Da haben Sie mich aber ganz schön erwischt, Major«, murmelte Ashburner verlegen. »Unsinn, Captain. Ich weiß das zufällig, weil ich ein bisschen deutsche Literatur studiert habe«, entschuldigte sich Berkow. Ashburner winkte einen alten Mann herbei, der ihnen die Treppe zeigte, die zum Ufer hinunterführte. »Ich mag besonders seinen ›Zerbrochenen Krug‹ und den ›Prinzen von Homburg‹.« Berkow machte ein paar Fotos vom Grabmal. »Fabelhafter Wagen.« Ashburner wies auf den BMW, als sie wieder oben auf der Straße waren. »Den habe ich unter Strohballen auf einem Gut entdeckt. Ich nehme ihn als Kriegsbeute mit nach Hause. Das Vorrecht des Sie‐ gers. Haben Sie Lust auf eine Probefahrt, Captain?« Der Major öffnete einladend die ausgeschnittene Wagentür. »Das Angebot lasse ich mir nicht entgehen. Corporal Miller, setzen Sie Ihre Patrouille fort. Joe bringt meinen Jeep zur Station.« Ashburner stieg ein. Er wies auf die kleine goldene Plakette mit den Buchstaben M.G. am Instrumentenbord: »Die Initialen des Vorbesitzers?« 160
»Schon möglich.« Berkow wendete den Sportwagen und gab Gas. Ashburner genoss die rasante Beschleunigung. Sie hatten beide ihre Mützen abgenommen und ließen sich den warmen Fahrtwind um die Köpfe wehen. Unwillkürlich sahen sie einander an und mussten lachen wie kleine Jungen. Es war ein strahlender Spätsommertag. Die Häuser in den westlichen Vororten waren so gut wie unbeschädigt. Kinder spielten in den Vorgärten. Nur einige verschalte Fenster und ein paar Splittereinschläge im Fahr‐ damm erinnerten noch an den Krieg. »Muss früher ein gutes Leben hier gewesen sein«, rief Ashbur‐ ner. »Geben Sie den Nemzis ein paar Jahre, und es geht ihnen besser als je zuvor«, rief Berkow zurück. Das Bild änderte sich, je weiter sie stadteinwärts führen. Schutt und Ruinen säumten die Straße. Überall wurde aufgeräumt. Überall lag Kalk‐ und Ziegelstaub in der Luft. Die Menschen schienen bedrückter und mitgenommener als draußen vor der Stadt. Der Russe hielt an einer Ecke. »Ich heiße Maxim Petrowitsch. Und Sie?« »John.« »Allright, John, wo darf ich Sie hinbringen?« »Nach Onkel Tom. Ich zeige Ihnen den Weg. Ich würde Sie gerne auf einen Drink einladen, Maxim Petrowitsch, aber ich bin verabredet. Vielleicht ein anderes Mal?« »Ja, gerne.« Der Major wendete und brachte den Captain in halsbrecherischem Tempo nach Onkel Tom. Jutta wartete schon an der Einfahrt zum Sperrbezirk. »Was für eine hübsche Frau. Gratuliere, John«, sagte Berkow lächelnd. Ashburner stieg aus. Sein neuer Freund preschte davon. Jutta kam ihm entgegen. »Hallo, John. Warum haben Sie diesen Traummann weggeschickt? Der könnte einem sogar ohne Sport‐ 161
wagen gefährlich werden.« Es machte ihr Spaß, ihn ein wenig auf‐ zuziehen. Er nahm ihre Worte ernst. »Major Berkow?. Ich lade ihn ein, wenn Sie ihn kennen lernen wollen.« Sie hakte sich bei ihm unter. »Will ich gar nicht. Ich bin nämlich mit Ihnen verabredet, erinnern Sie sich? Und einen Mordshunger habe ich auch.« »Ich habe ein bisschen was eingekauft.« John Ashburner war froh, auf sicheres Gebiet zu steuern. Am Posten vorbei betraten sie das Sperrgebiet. Jutta wies auf die hohe Umfriedung. »Schrecklich, dieser Zaun. Wenn ich an die arme Frau im Stacheldraht denke ... « »Muss ein Schock für Sie gewesen sein.« Sie nickte stumm. Er fühlte, dass sie nicht darüber sprechen wollte. Den Tisch im Wohnraum hatte er schon am Morgen gedeckt. In der Mitte stand eine Vase Rosen. Er hatte den Gärtner am Har‐ nackhaus mit einem Päckchen Zigaretten dafür bestochen, dass der eines der Beete plünderte. »Wie schön«, freute sie sich. »Rosen habe ich zuletzt bei der Hochzeit meiner Schwester gesehen. Dann wurden überall nur noch Kartoffeln und Gemüse angebaut. Sogar auf den öffentlichen Plätzen.« »Ich möchte, dass Sie sie mitnehmen.« »Danke, John, das ist sehr nett von Ihnen.« »Ich dachte, wir kochen zusammen.« Er reichte ihr eine Schürze und band auch eine um. Auf ihrer war das Bild eines weißen Kaninchens mit Kochmütze. Seine zeigte die Karikatur einer Bull‐ dogge mit Kochlöffel in der Schnauze. Sie fand beides ziemlich albern. Der US‐Quartermaster hatte Kühlschränke in die beschlag‐ nahmten Wohnungen stellen lassen. Ashburner nahm eine Flasche Weißwein heraus und füllte zwei Gläser. »Prost. So heißt das doch bei Ihnen?« »Prost, John.« Sie nahm einen Schluck. Es war eine Ewigkeit her, 162
dass sie Wein getrunken hatte. Im Club 48 spendierte Sergeant Panelli höchstens mal ein Bier. »Was gibt es denn Feines?« »Krabbencocktails, Steaks mit süßem Mais, dazu einen roten Chianti. Hinterher Ice Cream. Okay?« »Wonderful. Was tue ich?« »Sie öffnen bitte die Dose Krabben und das Glas Mayonnaise.« »Ach was, wenn Sie Eier, Öl, Zitrone und Senf haben, machen wir die Mayonnaise selber.« Ihr Schneebesen hing noch an seinem alten Platz im Küchen‐ schrank. Die gewünschten Zutaten gab es auch. Sie tat ein Eigelb in eine Schüssel, vermengte es mit Pfeffer, Salz, ein paar Tropfen Zitrone und etwas Senf und fügte eine Prise Zucker hinzu. Aufmerksam schaute er ihr zu. Es war nur ein Vorwand, sie unent wegt anzusehen. Sie beugte sich über ihre Arbeit und pustete eine widerspenstige Locke aus der Stirn. Der Anblick hatte etwas Rüh‐ rendes. Die Furche ihres anmutig geneigten Nackens weckte in ihm Gefühle, die er nicht einzuordnen wusste. Ihre junge Figur im dünnen Kleid ließ sie schutzlos und zugleich begehrenswert er‐ scheinen. Ethel lief zu Hause in Lockenwicklern rum und ging höchstens in die Küche, um sich eine Coke aus dem Kühlschrank zu holen. Dazwischen lagen Welten. Langsam träufelte Jutta das Öl in die Schüssel und schlug den Schneebesen locker aus dem Handgelenk. »Öl und Eigelb müssen Zimmertemperatur haben, das ist das ganze Geheimnis«, dozierte sie. Vor seinen Augen entstand eine herrlich dicke gelbe Mayon‐ naise, in die sie nun die Krabben mischte. Das Ganze füllte sie auf Salatblättern in Schalen. Er erhitzte die Maiskörner aus der Dose mit etwas Butter und stellte sie beiseite. Die gerippte gusseiserne Grillpfanne hatte er mit den Schürzen eigens für diesen Abend im PX gekauft. »Sie muss sehr heiß sein, damit die Steaks nicht garen, sondern grillen. Hier, bitte, der Test.« Er spritzte etwas Wasser in die Pfanne, das sofort verpuffte. »Achtung.jetzt!« Es zischte, als er die Steaks hineinlegte. 163
Er war ernst und konzentriert bei der Sache, wie ein kleiner Junge mit seiner elektrischen Eisenbahn. Sie wehrte sich nicht gegen das zärtliche Gefühl, das in ihr aufkeimte. »Eine Viertel‐ minute auf jeder Seite, um die Poren zu versiegeln. Nochmal links und rechts zwei bis vier Minuten, je nach Stärke. Wenn kleine Blutströpfchen austreten, sind sie ›au point‹, wie der Franzose sagt.« Er war sichtlich stolz auf seine Kenntnisse. »Bravo, John. Einmalig, wie Sie das machen.« Sie hatte eine Tube Anchovispaste entdeckt und mischte sie mit Butter. »Die streichen wir auf die Steaks.« »Wir arbeiten ganz gut zusammen, finden Sie nicht?« Es war eine unbeholfene Liebeserklärung und darum umso schöner. Er entkorkte den Chianti und stellte die Flasche auf den Tisch. Sie band die Schürze ab. Sie fühlte seine Blicke durch das dünne Kleid, nicht aufdringlich, sondern bewundernd. Hoffentlich findet er meine Hüften nicht zu breit, schoss es ihr durch den Kopf. Er schob ihr den Stuhl zurecht. Sie genoss diese chevalereske Geste und dankte ihm mit einem kleinen Lächeln. »Erzählen Sie mir von zu Hause«, bat sie beim Essen. »Ich weiß so gut wie nichts von Amerika.« »Ich auch nicht. Ich kenne Rockdale, Illinois. Das ist ungefähr da, wo der Missouri in den Mississippi fließt. Viertausend Ein‐ wohner, zwei Kirchen, an der Hauptstraße Bill᾿s Bar. Und die Po‐ lizeistation. Ringsum grüne Hügel, Weideland. Ich bin auf unserer Farm großgeworden. Die führt mein Bruder Jim. Ich bin Polizeichef. Ein friedlicher Job. Im County passiert nicht viel.« »Ihre Frau?« Er lachte resigniert. »Da passiert auch nicht viel. Kinder haben wir keine. Ethel fand die Idee einer Schwangerschaft abstoßend.« »Jochen wollte erst einen Volkswagen und dann einen Sohn. Er versäumte beides. Ein polnischer Scharfschütze hat ihn erwischt. Ausgerechnet auf der Latrine. Nicht mal einen Heldentod gönn‐ ten sie ihm.« 164
»Ich war nicht im Krieg. Sie zogen mich hinterher ein. Sie brau‐ chen Polizisten, um für Ordnung zu sorgen. Wenn nicht mehr gekämpft wird, kommen die Boys schnell auf dumme Gedanken.« Er schenkte Wein nach. »Wissen Sie, dass ich mir das schon immer gewünscht habe, einfach so zu reden, worüber ist gar nicht wichtig. Hauptsache, der andere hört zu.« »Rotkarierte Tischdecken und Kerzen in Weinflaschen, nicht wahr, so soll es aussehen, Ihr kleines deutsches Lokal.« »Das haben Sie sich gemerkt?« »Klar. Die Idee gefällt mir.« »Mögen Sie einen Cognac?«, fragte er nach dem Essen. »Nein, vielen Dank, John. Der würde mich nach all dem Wein umhauen.« Sie trat dicht vor ihn und hob ihm das Gesicht ent‐ gegen. Er zögerte, ehe er sie in die Arme nahm und küsste. Er hatte fast vergessen, wie sowas geht. Er fühlte ihren warmen weichen Körper und nahm ihren Duft in sich auf. Es schien ihm eine köstliche Ewigkeit, wie sie so standen. Sie löste sich sachte von ihm. »Nicht wahr, wir haben viel Zeit«, sagte sie leise. Es war ein Versprechen. Beschwingt brachte er sie im Jeep heim und wartete, bis sie im Haus verschwunden war. Die Tür zum Zimmer der Königs stand offen. Trotz der späten Stunde saßen sie mit Brandenburg beim Schnaps. Jutta blieb ste‐ hen. »Wie geht es Ihrem Jungen?«, erkundigte sie sich. »Morgen machen sie die Nachoperation. Sie wollen die Haut über den Stumpf ziehen.« Die hübsche Frau König wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Nu, nu, Ilse. Bald kriegt er ᾿ne nagelneue Hand mit allen Schi‐ kanen. Der Chefarzt sagt, die Amerikaner hätten sagenhafte Fort‐ schritte auf dem Gebiet gemacht.« »Ich wünsche ihm eine schnelle Genesung. Gute Nacht.« Brandenburg folgte ihr in die Küche. Er war leicht angetrun‐ ken. »Wieder im Jeep gekommen? Wie steht denn der Kurs? Ein 165
Päckchen Zigaretten pro Nummer?« Sie traf seine Wange auch im Dunkeln. Es klatschte laut. Seine Brille fiel zu Boden. Er bückte sich und suchte mit den Händen den Teppich ab. Als sie die Kerze anzündete, hatte er die Brille schon wieder aufgesetzt. »Alle Achtung, Sie zielen gut.« Sie beachtete ihn nicht weiter, sondern füllte eine Vase mit Wasser für die Rosen. Im Bett machte sie sich Vorwürfe. Er war nicht nüchtern, und ein hilfloser Blinder. Sie hätte ihn nicht schlagen sollen. Später hörte sie Lustschreie aus seiner Kammer. Frau Königs Kummer um den Sohn hielt sich offenbar in Grenzen. Morgens auf dem Weg ins Bad traf sie Herrn König. »Sie dürfen den Herrn Hauptmann nicht so aufregen«, sagte er vorwurfsvoll. »Bedenken Sie, was der Mann durchgemacht hat.« 166
VIERTES KAPITEL
B
en und Ralf hielten beim Frühstück die Köpfe gesenkt. Doch das erwartete Jüngste Gericht blieb aus. Ihr Vater traf sie mit seiner Ruhe viel tiefer. »Schuld seid ihr alle Drei«, stellte Klaus Dietrich sachlich fest. »Aber Hajo muss allein dafür büßen. Sein ganzes Leben lang. Wenn ihr die Geschichte längst vergessen habt, läuft er immer noch mit einer Hand rum. Denkt mal darüber nach. Und nun ab in die Schule.« Erleichtert stürmten die Jungen durch die Veranda hinaus. »Kommst du nicht?«, fragte Ralf. Ben schüttelte stumm den Kopf. Er vergrub seine Schultasche im Verschlag unter den leeren Kar‐ toffelsäcken. Für Latein, Englisch und Erdkunde war auch morgen Zeit. Heute stand der Potsdamer Platz auf dem Programm. »Du solltest Ben ein bisschen in Mathe helfen. Er kommt mit den Logarithmen nicht klar«, bat Inge ihren Mann. »Sobald ich Zeit habe«, versprach Klaus Dietrich und warf einen Blick auf seinen Schwiegervater, der verknurrt am Frühstückstisch saß. »Dieser grässliche Ersatzkaffee kommt einem bei den Ohren raus«, schimpfte Dr. Hellbich. Aber nicht das war der Grund seiner Missstimmung, sondern die gestrige Sitzung des Berliner Partei‐ vorstandes. »Die erwägen allen Ernstes, ehemalige Kommunisten in unsere SPD aufzunehmen. Das seien auch Antifaschisten. Mord‐ brenner sind das, genauso schlimm wie die Nazis, habe ich gesagt und mit Erfolg dagegen gestimmt. Zum Glück sind meine Freunde 167
und ich in der Mehrzahl. Fragt sich, wie lange noch. Man müsse das pragmatisch sehen, sagte so eine junge Rotznase. Das Kerlchen kennt weder die Sozialdemokratie vor ᾿33, noch war er im Untergrund wie unsereins.« »Du warst nie im Untergrund«, berichtigte Klaus Dietrich ihn. »Sie haben dich vorzeitig pensioniert, komplett mit Eigenheim und Rosenbeeten, das ist alles.« Inge gab ihrem Mann unauffällig Zeichen, es nicht auf die Spitze zu treiben. Der Blutdruck ihres Vaters machte ihr Sorgen. Hellbich explodierte nicht, sondern ging zum Gegenangriff über: »Was macht deine Arbeit? Keine Fortschritte, was? Oder hast du diesen Frauenmörder inzwischen gefasst? Na, mach dir nichts draus. Dein Kollege vor dem Krieg war auch nicht erfolgreicher.« Dietrich horchte auf. »Was war vor dem Krieg?« Hellbich nahm angewidert einen weiteren Schluck vom braunen Gebräu. »Im Jahre ᾿36 war das. Die Olympischen Spiele hatten gerade begonnen. Ich sehe sie noch vor mir. Annie, jung, hübsch, blond, blaue Augen. Bedienung in der Bäckerei‐Konditorei Brumm, gegenüber vom U‐Bahnhof. Da holte ich unsere Früh‐ stücksschrippen. Man fand sie morgens tot im Vorgarten. Merk‐ würdig, dass die Zeitungen nichts darüber brachten. Auch sonst hielt man die Sache auf kleiner Flamme. Zufällig kannte ich einen Beamten vom Polizeirevier. Von dem erfuhr ich die Details. Unbeschreiblich, was der Mörder ihr antat, bevor er sie erwürgte.« Wie elektrisiert schnellte Klaus Dietrich hoch und sank mit einem Schmerzensschrei zu Boden. »Die verdammte Prothese«, stöhnte er. Inge half ihm auf. »Leg dich hin. Wir nehmen das Ding ab.« »Keine Zeit. Ich muss sofort in die Inspektion.« Aber seine Frau beharrte auf einer Viertelstunde Ruhe, bis sich die Nerven im Stumpf etwas beruhigt hatten. Dann radelte Dietrich los. 168
»Franke, wir brauchen Einzelheiten.« Dietrich löste die Fahrrad‐ klammern von den Hosenbeinen und legte sie in die mittlere Schublade des Schreibtischs. »Hatte der damalige Täter ein Mo‐ torrad? Wie quälte er sein Opfer? Womit wurde dieses Mädchen Annie erwürgt?« Der Kriminalmeister zog bedauernd die Schultern hoch. »Da kann ich leider nicht dienen, Herr Inspektor. Vor dem Krieg war ich bei der Schutzpolizei in Schöneberg. Vielleicht weiß auf dem Revier jemand was.« »Fahren wir doch mal hin.« Der Opel war angeheizt. Die Gänge krachten und das Getriebe jaulte, aber Franke brachte das Fahrzeug ohne Zwischenfälle von der Kriminalinspektion zum zehn Fahrminuten entfernten Poli‐ zeirevier. Die meisten Fenster dort waren mit Pappe vernagelt, standen jedoch der sommerlichen Temperaturen wegen weit offen. Das Pflaster vor dem Haus war aufgerissen und zu einem schmalen Kartoffelacker umgegraben. Zwei Polizisten mit grauen hungrigen Gesichtern stiegen über die Pflanzen, um ihren nachmittäglichen Streifengang anzutreten. Ihre grünen Uniformen hatten sie auf Befehl der Kommandantur schwarz eingefärbt, was einen hässlichen dunklen Schmutzton er‐ gab, besonders am Stofïbezug der Tschakos. Am Koppel trugen sie einen Holzknüppel. Das Lederfutteral mit der Parabellum 0.8 hatten sie abliefern müssen. »Ach nee, die Herren Kriminaler«, begrüßte der Diensthabende, ein alter Hauptwachtmeister, die Besucher. »Was können wir je‐ wöhnlichen Pflastertreter denn für Sie tun?« »Uns sagen, wo die Vorkriegsakten liegen. Falls nicht je‐ mand seine Füße dran gewärmt hat«, ging Franke auf seinen Ton ein. »Is allet da, Herrschaften. Wir verlieren zwar jelegentlich ᾿nen Krieg. Akten verlieren wir nie. Herr Ewald bringt Sie runter.« Herr Ewald war ein Männchen mit Sperlingsgesicht und Är‐ 169
melschonern. »Was Interessantes?«, fragte er hoffnungsvoll, wäh‐ rend sie die Kellerstufen hinabstiegen. »Wie man᾿s nimmt«, brummte Franke und blickte angeekelt auf den überschwemmten Kellerboden. Im stinkenden Wasser trieben ein paar tote Ratten. Man hatte Planken auf Backsteinen von Re‐ gal zu Regal gelegt. »Die Abflüsse sind total zerstört. Ein russischer Granatwerfer am letzten Tag«, entschuldigte sich Ewald. »Was suchen Sie?« »Alles über einen Frauenmord von 1936. Soviel wir wissen un‐ aufgeklärt. Man fand das Opfer erwürgt im Vorgarten der Kon‐ ditorei Brumm gegenüber vom U‐Bahnhof Onkel Tom«, gab Die‐ trich bekannt. Ewald verschwand zwischen den Regalen. Die Planken ächzten, Wasser schwappte mit hässlichem Schlürfen in einem verstopften Gully hin und her. Betrübt kam Ewald nach einigen Minuten zum Vorschein. »Kein Frauenmord, aufgeklärt oder nicht. Nur ein Totschlag. Der Täter war geständig. Ich habe auch die Jahre 1935 und ᾿37 durchgesehen, aber nichts gefunden.« »Es war im August ᾿36, während der Olympischen Spiele. Mein Schwiegervater erinnert sich genau. Er kannte das Opfer flüchtig, eine junge Bedienung«, beharrte Dietrich. »Oder sind die Unterlagen verloren gegangen?«, warf Franke ein. »Hier geht nichts verloren«, belehrte ihn Ewald. »Sehen Sie nochmal nach«, bat Dietrich geduldig. »Es ist wichtig.« Herr Ewald tauchte wieder zwischen die Regale. Diesmal hörte man schnalzende Laute und halblaute Selbstgespräche. Eine Vier‐ telstunde verstrich, ehe sein Sperlingsgesicht erschien. »Vorhin hatte ich alphabetisch gesucht. Ohne Ergebnis, ich sagte es ja schon. Jetzt habe ich die fortlaufenden Aktenzeichen geprüft, und zwar für das ganze Jahr ᾿36. Das beginnt mit dem Protokoll 36/I/ I/III B, also Jahr, Monat, laufende Nummer. Die römische Drei am Ende steht für Diebstahl. Das ›B‹ ist die Untergruppe Taschen‐ diebstahl.« 170
»Und was steht für Mord?«, unterbrach ihn Franke. »I A. Aber wie gesagt hatten wir 1936 in Zehlendorf nur einen Totschlag, also ›I B‹. Allerdings gibt es im August eine Lücke. Die Akte mit der laufenden Nummer 122 fehlt. Das ist besonders merkwürdig, weil anstelle einer entliehenen Akte gewöhnlich eine Karteikarte mit Namen und Abteilung des Ausleihenden hinterlegt wurde. Die ist nicht vorhanden.« »Können Sie das Datum dieser Akte feststellen?« Erneut balancierte Ewald über die Planken zu den Regalen. Diesmal war er gleich wieder da. »Die Akten davor und danach wurden am dritten beziehungsweise siebten August angelegt, falls Ihnen das weiterhilft.« Inspektor und Kriminalmeister waren froh, dem Gestank über die Treppe nach oben zu entkommen. Dietrich wandte sich zum Diensthabenden: »Hauptwachtmeister, wie lange sind Sie schon auf dem Revier?« »Seit ᾿38, Herr Inspektor. Davor war ich in Pankow.« »Trotzdem können Sie uns möglicherweise helfen. Ein Frauen‐ mord in Onkel Tom 1936. Wer hätte da wohl die Ermittlungen ge‐ leitet?« »Wilhelm Schlüter. Der war ab 1935 Leiter der Zehlendorfer Kripo, zuletzt als Oberkommissar. Im Krieg war er Kommandeur einer Einsatzgruppe der Sicherheitspolizei in der Ukraine.« »Sie wissen nicht zufällig, was aus ihm wurde?« »Klar weiß ick det, Herr Inspektor. Der sitzt im Zuchthaus Brandenburg. Verantwortlich für Massenerschießungen in Kiew. Es heißt, dass die Russen ihn als Zeugen für andere Greueltaten benötigen. Sonst hätten sie ihm längst ᾿nen Genickschuss verasst.« »Im Zuchthaus Brandenburg? Franke, wir werden uns um eine Sprecherlaubnis bemühen.« »Beim NKWD?« Der Kriminalmeister sah seinen Vorgesetzten mitleidig an. 171
Am Schalter in Onkel Tom löste Ben für zwanzig Pfennige eine Fahrkarte. Auf dem Bahnsteig erinnerte nichts mehr an die Tote der vergangenen Woche. Fahrgäste warteten gleichmütig auf den Zug. Er stieg in den hintersten Wagen und setzte sich ins leere Abteil des Zugbegleiters links neben der Fahrerkabine. Auf der Rückfahrt würde das der Kopf des Zuges und entsprechend be‐ mannt sein. Die Schienen glänzten in der Nachmittagssonne. Hier draußen in den Vororten war die U‐Bahnstrecke unter freiem Himmel in den märkischen Sand gekerbt. Ben dachte an das, was sein Vater über Hajo und seine Hand gesagt hatte und schwor sich, die Sache nicht zu vergessen. Der gute Vorsatz reichte zwei Stationen bis Thielplatz. In Dahlem Dorf lag die abgerissene Hand bereits in einer seiner Schubladen. Ben hatte im Kopf viele solcher Schubladen: für die Schule, die er so sporadisch wie möglich besuchte; fur Gert Schlomm, der ihm das Onanieren beigebracht hatte, ehe er sich für Heidi Rödel interessierte; für Heidis Busen, von dem er träumte, um mit steifem Glied zu erwachen; für den neuen amerikanischen Jugendclub, wo᾿s bestimmt was zu holen gab; für den Glencheck‐Anzug, mit dem er Heidi zu erobern be‐ absichtigte. Der Zweireiher begleitete Ben in seine Träume; glatt, aus wei‐ chem Tuch, vollendet geschneidert, mit scharfen Bügelfalten und breiten, etwas abfallenden Schultern. Am schönsten waren die Re‐ vers, die er mit geschlossenen Augen nachzeichnen konnte, ele‐ gant ansteigend, in sachtem Bogen der Brustwölbung folgend, dabei den Kragen in harmonischem Winkel ergänzend. Nach sorgfältigem Abwägen des Für und Wider hatte er sich für einen Schließknopf in Taillenhöhe entschieden und für vier Knöpfe an den Ärmeln. Auch die samtbraunen Wildlederschuhe mit dicken Kreppsohlen standen unverrückbar fest. Ab Podbielskiallee trug die Untergrundbahn ihren Namen zu Recht und donnerte durch den Gleistunnel. Gelangweilt betrach‐ tete Ben die Reklamen im Wagen, die er seit frühester Kindheit 172
kannte: die livrierten Teppichträger des Hauses Lefèvre; den Jäger aus Kurpfalz, der des Reimes wegen Bullrich Salz nahm; die grü‐ nen Flaschen von Staatlich Fachingen. Kurz vor der Station Nürn‐ berger Straße drang plötzlich Sonnenlicht in die Wagen. Eine Bombe hatte ein Loch in die Tunneldecke gerissen. Zwischen den Ruinen um den Potsdamer Platz drängten sich die Menschen. Täglich fand hier Berlins größter Schwarzmarkt statt. Es gab nichts, was nicht getauscht und verhökert wurde. Goldene Eheringe, Nerzmäntel, echtes Meißen fanden für Nylons, Kaffee, Schokolade neue Besitzer. Amerikanische Zigaretten, in Kartons zu zehn Päckchen, »Stangen« genannt, wurden für Tausende gehandelt. Eine Leica kostete fünfundzwanzig Stangen. Einzelpackungen brachten mehr, wusste Ben. Bevorzugte Wäh‐ rung war die Alliierte Mark, Banknoten, welche die Besatzungs‐ mächte für ihre Truppen ausgegeben hatten, die aber bald ihren Weg in den allgemeinen Umlauf fanden. Die alte deutsche Reichs‐ mark war kaum das Papier wert. Ben ließ sich Zeit. Es galt, den richtigen Abnehmer zu finden. Zum Beispiel den Mann in der fleckigen Uniformjacke. Ben ta‐ xierte ihn: frisch aus der Gefangenschaft, kannte darum die gängi‐ gen Tricks noch nicht. Er ging dicht an ihm vorbei und murmelte: »Amizigaretten?« An einer geborstenen Laterne blieb er stehen und wartete. Der Mann folgte ihm. »Hast du welche?« »Lucky Strike. Dreihundert Emm.« Ben zeigte ihm das Päckchen in der hohlen Hand. Der Mann griff danach. Ben hielt es fest. »Erst das Geld«, forderte er. »Allimark.« Der Mann packte Bens Handgelenk und zog das Päckchen an die Nase. Er schnupperte kurz und ließ Bens Hand fallen. »Peli‐ kan‐Kleber. Den Mandelgeruch kriegst du nicht so leicht weg. Lass dir nicht die Hucke vollhauen, mein Junge.« Ben verdrückte sich. Das nächste Mal würde er UHU nehmen, das Azeton verflüchtigte sich sofort. 173
»Haste Amis?«, fragte ein junges Mädchen. Es trug trotz der Wärme eine russische Steppjacke über dem dünnen Sommerkleid und weiße Socken an den nackten Beinen. Es war höchstens vierzehn, aber sein blasses Gesicht unter dem roten Haar spiegelte die Erfahrung von Jahrhunderten wider. Ben zeigte das Päckchen vor. »Da drüben.« Das Mädchen lief voraus, in eine Ruine. Ben folgte, war aber auf der Hut, für den Fall, dass dort der Freund lauerte. Im Hof der Ruine wuchs Unkraut. Eine Ratte verschwand eilig zwischen Schuttbrocken. Das Mädchen blieb stehen, drehte sich um und zog das Kleid hoch. Sein kleines Dreieck leuchtete rot in der Sonne. »Willst du ficken? Oder soll ich dir einen lutschen? Für vier Amis kriegst du zehn Minuten.« Ben schüttelte stumm den Kopf. Vor der Ruine des Kaufhauses Wertheim wartete eine magere Frau im abgeschabten, einstmals eleganten Schneiderkostüm, etwas Rouge auf den knöchernen Wangen. Sie verschlang das vorgezeigte Päckchen mit gierigen Blicken. »Dreihundertfünfzig Allimark«, begann er die Verhandlungen. »Zu teuer«, lehnte sie ab. »Dreihundert.« Sie öffnete die Handtasche, holte ein paar Scheine heraus und hielt sie ihm mit nikotingelben Fingern hin. »Ich gebe Ihnen zwei‐ hundertfünfzig.« Sie sprach gepflegtes Hochdeutsch und war sichtlich angeekelt. »Zweihundertfünfzig, okay.« Ben nahm das Geld, gab ihr das Päckchen und verdrückte sich. An der Treppe zur U‐Bahn sah er sich um. Die Frau hatte das Päckchen aufgerissen. Sein Inhalt flatterte zu Boden. Enttäuscht nahm sie eines der Papierschnitzel auf und las die Worte des Neuen Testaments. Sie lachte lautlos. Ihr Lachen ging in trockenen Husten über. Ben hatte auf dem Dachboden der Großeltern ein altes Herren‐ journal gefunden und darin einen Gentleman mit englischem 174
Schnurrbart und markantem Kinn in einem tadellosen Glencheck‐ Zweireiher. Er verwahrte die Abbildung in seinem Versteck hinter einem Dachbalken, zusammen mit einem schwarzen Wachstuch‐ heft, in dem er über den Erlös der nachempfundenen Packungen Chesterfield, Lucky Strike und Philip Morris buchführte. Das Geld brachte er immer gleich zu Schneidermeister Rödel in den Ithweg. Die zweihundertfünfzig Mark von heute waren ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Arbiter Elegantiarum. Leider konnte er sich nicht zu oft auf dem Potsdamer Platz blicken lassen, das verlangsamte die Teilzahlungen. Beim derzeitigen Stand der Dinge waren Schuhe und Anzug nicht unter fünfzehntausend Mark zu haben, und so sann Ben unentwegt auf andere Einnahmequellen. Vielleicht ließ sich mit Mister Brubaker was machen. Der war Amerikaner und schon deswegen nach Bens Überzeugung ziem‐ lich bekloppt. Ben kannte ihn, seit er dem hoffnungslos Verirrten einmal den Weg zum Harnack Haus gezeigt hatte. Clarence P. Bru‐ baker war das, was sie zu Hause einen »nice guy« nannten. Er war keine große Geistesleuchte. Aber seinem Vater gehörte der Hacken‐ sack Herald, welcher die Demokraten unterstützte, also auch den neuen Präsidenten Harry S. Truman, mit dem der Zeitungsboss gelegentlich vierhändig das Pianoforte schlug. Brubaker senior hatte seine Verbindungen spielen lassen, damit dem Sohn und Erben der lebensgefährliche Waffendienst erspart blieb. Stattdessen wurde Clarence Kriegsberichterstatter, was sich verwegener anhörte, als es war. Daddy sorgte nämlich dafür, dass sein Spross dem alliierten Hauptquartier zugeordnet wurde, wel‐ ches, wie die meisten Hauptquartiere der jüngeren Militärge‐ schichte, ganz weit hinten lag, damit die Generäle beim Kriegfüh‐ ren nicht vom Krieg gestört wurden. Mit den amerikanischen Besatzungstruppen gelangte Clarence P. Brubaker nach Berlin, sozusagen als Berichterstatter von der Nachkriegsfront. Ein Vetter mütterlicherseits saß irgendwo ziem‐ lich weit oben im Military Government. Auf dessen Wink teilte 175
man Brubaker eine beschlagnahmte Villa hinter dem US‐Haupt‐ quartier und damit außerhalb des Sperrbezirks zu. Objekte dieser Qualität waren für gewöhnlich höheren Chargen mit Familie vor‐ behalten. Das Haus war gediegen eingerichtet und gehörte einst einem Dr. Isaak, der den Damen der Berliner Gesellschaft diskret aus ge‐ wissen Schwierigkeiten half und dafür saftige Rechnungen stellte. Ein »arischer« Kollege namens Krüger sorgte bei Anbruch der Hitlerzeit für Isaaks Abtransport in ein Lager und übernahm Villa und Praxis für einen Pappenstiel. Er stellte den Frauen hoher Nazifunktionäre nicht minder fette Rechnungen, bis er schließlich aufflog. Auch er hatte den Damen abgetrieben. Beide Doktoren trafen sich in Buchenwald wieder. Beide über‐ lebten und wurden von amerikanischen Truppen befreit. Isaak emigrierte nach Palästina und wurde dort als aktives Mitglied der Untergrundbewegung Hagannah von den Engländern gehängt. Krüger erhielt als Naziopfer eine beträchtliche Entschädigung und wurde ein angesehenes Mitglied der christlichen Partei des Dr. Adenauer. Weder Ben noch Mister Brubaker wussten von diesen ver‐ schlungenen Schicksalswegen, sie wären ihnen auch ziemlich wurst gewesen. Ben wollte seinen Anzug. Brubaker wollte Nazis. »Nazis«, sagte Brubaker. »Ich will Nazis. Kennst du welche?« »Wozu?«, erkundigte Ben sich vorsichtig. »Ich verrate keinen. Ich will nur eine Story aus erster Hand. Ich zahle gut.« »Wie gut?«, forschte Ben und nuckelte an einer der Cokes, die er sich aus dem Kühlschrank seines Gastgebers geangelt hatte. Brubaker antwortete nicht, weil jemand an die Küchentür klopfte. Er machte auf. »Hello Curt, come on in.« Ben musterte den Eintretenden interessiert. Noch ein Ameri‐ kaner, bei dem möglicherweise was zu holen war. Man musste das natürlich erst mal prüfen. Der Mann hatte dünnes blondes Haar, 176
ein rundes rosiges Gesicht und wasserblaue Augen. Seine Uniform wies ihn als »US Civilian« aus. »This is Ben«, stellte Brubaker vor. »Ben, say hello to Mister Chalford.« »Hi.« Ben nuckelte hingebungsvoll weiter. Curtis Chalford wohnte in der Villa nebenan. »Could I borrow some coffee? I was too late for the PX.« »Sure. Would you like a drink, Curt?«, bot Brubaker höflich an. »No thanks, Clarence. Good bye, my boy.« Chalford zog mit ein paar Briefchen Nescafe ab. »Willst du auch einen Kaffee?« Ben schüttelte den Kopf. Er war mit seiner Coke vollauf zufrieden. »Ich mach dir ein Sandwich.« Mister Brubaker war nicht sehr gescheit aber ein herzensguter Mensch. »Okay«, gestattete Ben großzügig. »Also, was zahlen Sie?« »Ein paar Kartons Zigaretten für einen echten Nazi, der was zu erzählen weiß.« »Allright, ich höre mich um«, versprach Ben. Er überlegte krampfhaft, wie er in dieser beschissenen Zeit einen Nazi auftun könnte, wo doch jeder Wert darauflegte, keiner gewesen zu sein. Der kleine Hajo König kam ihm zu Hilfe. Sie hatten ihn in‐ zwischen aus der Klinik entlassen. Der rechte Armstumpf lag weiß bandagiert in der Halsschlinge. Sein größter Kummer war, dass er nicht zum Schwimmen durfte. Die Wunde war noch nicht genügend verheilt. »Aber zur Schule schicken sie mich«, meinte er vorwurfsvoll. Hajo hatte vor seinem Unfall zu Hause auf dem Hängeboden eine Entdeckung gemacht: »Einen Ehrendolch mit Adler und Ha‐ kenkreuz, ᾿ne braune Uniform und ᾿ne Menge anderes Zeug.« Uniform und Zubehör waren der Nachlass des selbstentleibten NS‐Ortsgruppenleiters Tietge. Ben schaltete mit Lichtgeschwindigkeit. Den wertvollen Fund musste er haben. »Das ist streng verboten«, belehrte er den Jün‐ 177
geren. »Wenn sie den Kram bei euch finden, fliegt ihr alle in den Knast.« Er ließ das Damoklesschwert ein Weilchen kreisen, bevor er großzügig anbot: »Für zehn Amikippen lasse ich alles ver‐ schwinden.« »Und wenn sie dich erwischen?« »Du weißt doch, mein Alter ist bei der Kripo.« An einem Septembersonntag führen die Eltern König auf Verwandtenbesuch. Jutta Weber arbeitete wie gewöhnlich im Club. Herr Brandenburg war auch nicht da. Die Gelegenheit schien einmalig günstig. »Hab erst sechse zusammen«, entschul‐ digte Hajo die Kippen auf der flachen Hand. »Den Rest kriste nächste Woche.« Ben steckte die Stummel achtlos in die Hosentasche. »Warte bei euch auf mich.« Er lief eilig nach Hause und holte einen leeren Kartoffelsack aus dem Verschlag hinten im Garten. Hajo ließ ihn ein. »Da oben.« Er deutete auf den Einstieg über der Tür zum Bad. Sie trugen den Küchentisch in den Flur und stellten einen Stuhl drauf. Ben kletterte hoch und schob sich bäuchlings in den Hängeboden. »Mann‐oh‐Mann«, stöhnte er leise, als er die tausendjährigen Schätze erblickte. »Kannste den Sack aufhalten?«, fragte er laut. Hajo schaffte das mit Zähnen und unversehrter Linker. Stück für Stück fielen Dolch, Uniformteile, Abzeichen, Mütze und ein Par‐ teibuch mit niedriger Mitgliedsnummer in den Kartoffelsack. »Das bringt mindestens zwei Jahre Knast«, prophezeite Ben düster. »Schaff das Zeug bloß weg«, flehte der Kleine. »Die restlichen Kippen kriegst du nächste Woche. Ganz bestimmt, ich schwör᾿s.« Ben versteckte den Sack mit der Beute im Gartenverschlag. Zuvor entnahm er ihm ein rundes Hakenkreuzabzeichen mit gol‐ denem Rand. Das trug er zu Mister Brubaker, der über einer Story brütete. »Das gehört ᾿nem Nazi. Er will᾿s für ᾿ne Stange Amis abgeben, weil er᾿s zur Zeit nicht tragen kann, sagt er.« 178
Brubaker nahm einen Karton Camels aus dem Schrank. »Wo ist der Mann? Kann ich ihn sprechen?« »Der will niemanden sehen, der hat Angst, dass sie ihn einbuch‐ ten, wo er doch die rechte Hand vom Führer war.« »Hitlers rechte Hand?« Clarence P. Brubaker war entzückt. »Oder die linke, so genau weiß ich das nicht«, erklärte Ben treu‐ herzig. »Sag ihm, ich bin bereit, mich überall mit ihm heimlich zu tref‐ fen. Kein Mensch wird davon erfahren.« »Mal sehen, was ich tun kann«, versprach Ben, steckte den Kar‐ ton Camels unters Hemd und zog los. Er hatte es plötzlich sehr eilig. Brubaker klappte derweil die Remington Portable auf und begann mit verklärtem Gesicht, seine Story in die Maschine zu hämmern: »Hitlers rechte Hand im Berliner Untergrund ...« Die Leute zu Hause würden sich den Hackensack Herald aus den Hän‐ den reißen, und die Kollegen von den anderen Zeitungen würden vor Neid erblassen. Aber das war nur der Anfang des Pfades, der unweigerlich zum Pulitzer Preis führte. Daddy würde stolz auf ihn sein. Unterwegs fiel Ben das Märchen vom Goldesel ein. Das Tier nahm zusehends die Züge Clarence P. Brubakers an. Captain Ashburner bremste scharf vor dem Reihenhaus in der Riemeister Straße und sortierte seine langen Beine aus dem Jeep. Er ging durch den Vorgarten und drückte vergeblich den Klingel‐ knopf, es war mal wieder Stromsperre. Er pochte gegen die Tür. Inge Dietrich öffnete. »John Ashburner«, stellte er sich vor. »Ich kenne Ihren Namen. Ich bin Inge Dietrich.« »How do you do, Madam? Ist der Inspektor da?« »Er ist gerade nach Hause gekommen. Bitte kommen Sie doch herein, Mister Ashburner.« 179
»Danke, Madam.« Der Captain nahm die Mütze ab und klemmte sie vorschriftsmäßig unter den linken Arm. »Mein Mann ist auf der Veranda. Gehen Sie einfach durchs Wohnzimmer. « Klaus Dietrich trug Shorts und Polohemd. Er ruhte entspannt im Liegestuhl. Die lästige Prothese hatte er abgenommen und das Bein hochgelegt. Überrascht sah er von seiner Zeitung auf. »Cap‐ tain Ashburner?« Ashburner warf einen betroffenen Blick auf den amputierten Unterschenkel. »Das wusste ich nicht.« »Ignorieren Sie es einfach, ich tu᾿s auch.« Der Inspektor zog sich geschickt am Tisch hoch. »Ich war bei Ihnen in der Inspektion. Sie waren schon weg. Ich entschuldige mich dafür, Sie zu Hause zu stören. Aber das ist auch das einzige, wofür ich mich entschuldige.« »Was ist los, Captain?« »Ein Anruf vom Büro des Stadtkommandanten ist los«, gab Ashburner wütend zurück. »Warum ich Sie daran hindere, Private Dennis Morgan zu vernehmen und Ihnen überdies ein Beweisstück vorenthalte.« »Tun Sie das nicht?« Ashburner zog den Fetzen olivgrünen Stoff aus der Tasche und gab ihn dem Inpektor. »Ich habe das Gewebe untersuchen lassen. Es stammt eindeutig von einem Officer᾿s Trenchcoat. Diese Män‐ tel werden allerdings auch auf dem schwarzen Markt gehandelt. Der Träger kann also ebenso gut ein Deutscher sein. Den Soldaten Morgan können Sie jederzeit bei mir im Office vernehmen. Sind Sie jetzt zufrieden?« »Erst wenn wir den Mörder gefasst haben. Es tut mir leid, dass ich mich an die Kommandantur wenden musste. Ihr Sergeant Donovan blockte alle unsere Bemühungen um Klärung ab, und Sie waren nicht erreichbar. Captain, der Fall nimmt möglicherweise eine unerwartete Wendung. Ich brauche eine Besuchserlaubnis 180
für das Zuchthaus Brandenburg. Das NKWD hält dort den frühe‐ ren Kriminaloberkommissar Wilhelm Schlüter wegen Massenhin‐ richtungen in Polen gefangen. Ich möchte ihn zu einem Frauen‐ mord in Berlin vor dem Krieg befragen. Es gibt da vielleicht Parallelen.« Ashburner machte sich ein paar Notizen. Inge Dietrich gesellte sich zu ihnen. »Sie sind herzlich willkommen, unser Essen mit uns zu teilen, Mister Ashburner.« »Kartoffelsuppe à la Onkel Tom«, sagte Dr. Hellbich, der hinter ihr auftauchte, sarkastisch. »Dazu reibt man ein paar rohe Kar‐ toffeln in kochendes Wasser und schmeckt mit Salz und, wenn verfügbar, etwas Gewürz ab. Eine garantiert völlig neue kulinarische Erfahrung für unseren Gast aus Übersee. Hätten Sie wohl eine Zigarette?« Dietrich war peinlich berührt. »Mein Schwiegervater — Captain Ashburner«, machte er bekannt. »Angenehm. Bedaure, Sir, ich rauche nicht. Danke für die Einladung, Madam, aber ich bin bereits zum Dinner verabre‐ det.« Ashburner wandte sich zu Dietrich: »Mit einem Bekannten von der sowjetischen Kommandantur, der uns vielleicht helfen kann.« »Ich bringe Sie hinaus.« Dietrich hüpfte auf einem Bein zur Tür, es schien ihn überhaupt nicht zu genieren. Ashburner blieb einen Moment im Wohnzimmer stehen und betrachtete das gerahmte Foto auf der Anrichte. Es zeigte einen lachenden Klaus Dietrich mit den Schulterstücken eines Obersten. Das Ritterkreuz mit Eichenlaub hob sich schimmernd von der schwarzen Uniform der Panzertruppe ab. »Und das wusste ich auch nicht«, sagte Ashburner beeindruckt und schwang sich in seinen Jeep. Er holte rasch die Protokolle und Fotos der beiden Mordfälle aus dem Büro und verstaute sie im Fahrzeug. Major Berkow hatte ihn 181
überraschend angerufen: »Kennen Sie die ›Möwe‹ in der Luisen‐ straße? Durchs Brandenburger Tor, links in die Neue Wilhem‐ straße und über die Spree.« »Kenne ich nicht, werde ich aber finden«, versprach Ashburner. »Sagen wir um acht?« »Um acht.« Ashburner war erfreut, dass Berkow sich gemeldet hatte. Er mochte diesen kultivierten Russen, der so ganz anders war, als er sich die roten Verbündeten bisher vorgestellt hatte. Von Onkel Tom fuhr er durch den Grunewald nach Halensee zum Kurfürstendamm, der zum britischen Sektor gehörte. Der abge‐ brochene Turm der Kaiser‐Wilhelm‐Gedächtniskirche ragte bizarr in den Himmel. Auch auf der Tauentzienstraße gab es nichts als Schutt und Ruinen. Überall wurde aufgeräumt. Frauen mit grauen Gesichtern unter grauen Kopftüchern klopften Mörtelreste von Ziegeln. Ältere Männer reichten sie von Hand zu Hand und luden sie auf Pferdefuhrwerke oder Lastwagen mit Holzgasantrieb. Er‐staunlich, was diese halbverhungerten Deutschen schafften. Er dachte an den Inspektor und seine Familie. Ihr Leben war sicher verdammt hart. Andererseits – hatten sie und die anderen Deutschen sich das nicht selber zuzuschreiben? Wer hatte diesen verrückten Krieg denn begonnen und verloren? Oder waren die Dietrichs nur Opfer? Wäre es ihm und Ethel und all den anderen in Rockdale nicht genauso ergangen, wenn dieser Hitler den Krieg gewonnen hätte? Der Gedanke, Ethel am Herd rohe Kartoffeln in kochendes Wasser reiben zu sehen, belustigte ihn. Er beschloss, ihr das gelegentlich zu erzählen, um ihre Reaktion zu erleben. Er bremste scharf vor einem von Unkraut überwucherten Granat‐ trichter mitten auf der Fahrbahn und wich ihm aus. Er fuhr an der Hochbahn entlang und dann links Richtung Potsdamer Platz, wo der sowjetisch besetzte Teil der Stadt begann, vorbei am Gewimmel des Schwarzmarktes, bis zur Ruine des deutschen Reichstags, was wohl so eine Art Parlament gewesen sein mochte, und durchs Brandenburger Tor, über dem eine rote 182
Fahne mit Hammer und Sichel wehte. Kalkbrocken knirschten unter den Reifen, als er in der Luisenstraße hielt. Der Berliner Künstlerklub war im einstigen Stadtpalais der Fürs‐ ten Bülow untergebracht. Sowjetische KulturofSziere hatten ihn nach Tschechows »Möwe« benannt, die den Vorhang des Moskauer Künstlertheaters zierte. Doch Berlins Künstler kamen weniger wegen der Kultur und mehr, weil es dank der kunstfreundlichen Russen dort reichlich zu essen gab, ohne dass ein missmutiger Ober an Lebensmittelkarten herumschnipselte. Maxim Petrowitsch Berkow erwartete seinen Gast an einem halb hinter Topfpflanzen verborgenen Tisch. »Guten Abend, John. Wie geht es Ihnen?« »Nach Dienstschluss immer ausgezeichnet.« »Und Ihrer schönen Freundin?« Ashburner griente. »Ich weiß nicht, wer mehr Eindruck auf sie gemacht hat – der weiße BMW oder sein Fahrer.« »Ich hole Madame gerne zu einer Spazierfahrt ab.« »Lieber nicht. Die glorreiche Rote Armee hat genug Siege er‐ rungen. Maxim Petrowitsch, können wir offen reden?« Der Major griff in das Lorbeerbäumchen hinter sich und zog nach einigem Tasten ein kleines Mikrofon zwischen den Blättern hervor. Er riss den feinen Zuleitungsdraht mit einem Ruck ab. »Ein loser Kontakt. So eine Schlamperei«, war sein trockener Kommentar. Der Ober brachte die Karte. Berkow bestellte eine Flasche Krimsekt. »Jawoll, Herr Major.« Der Ober schlug die Hacken zu‐ sammen. »Er hat noch nicht richtig umgelernt«, bemerkte Berkow amü‐ siert. »Ansonsten sind die Deutschen sehr anpassungsfähig. Nehmen Sie zum Beispiel die ›Russischen Eier‹. Sie haben diese pikante kleine Vorspeise in ›Sowjetische Eier‹ umbenannt. Übrigens sehr zu empfehlen. Wie wäre es danach mit Rehrücken? Ein Beitrag meines Chefs zum Berliner Kulturschaffen. Generaloberst Bersarin 183
donnert nicht nur begeistert auf seiner erbeuteten Harley‐Davidson durch die Stadt, er geht auch in Görings einstigem Revier auf die Pirsch. Wann Schonzeit ist, bestimmt er. Erinnern Sie sich an unsere erste Begegnung?« »Sie suchten das Grab dieses Kleist.« »Ich habe inzwischen nachgelesen. Sie war nicht seine Geliebte. Henriette war ein schwärmerisches Mädchen, das mit dem Dich‐ ter einen Selbstmordpakt einging.« Ashburner war froh, dass der Ober Sekt und Vorspeise brachte. So brauchte er zu diesem ihm unverständlichen Thema nichts bei‐ zusteuern. »Was ist Ihr Sport?«, lenkte er vorsichtshalber ab. »Auf der Frunse‐Militärakademie spielten wir Tennis. Marschall Tuchatschewski wollte aus seinen jungen Offizieren Gentlemen nach westlichem Vorbild machen. Stalin ließ ihn hinrichten. Ein unersetzlicher Verlust für die Rote Armee.« »Sie sind sehr direkt, Maxim Petrowitsch.« »Das Mikrofon der Genossen vom Kommissariat ist zur Zeit außer Betrieb.« »Was für ein Kommissariat?« »Das Narodnyj Kommissariat Wnutrennych Del, Ihnen ver‐ mutlich besser bekannt als NKWD.« »Was mich zu meinem Anliegen bringt. Ich brauche Ihre Hilfe. Mein deutscher Kollege Inspektor Dietrich untersucht zwei Frau‐ enmorde. Er will sie mit einem ähnlichen Mordfall vor dem Krieg vergleichen und dazu den einstigen Kriminalbeamten und jetzigen Häftling Wilhelm Schlüter im Zuchthaus Brandenburg befragen. Dazu braucht er eine Besuchserlaubnis des NKWD.« »Zwei Morde?« »An zwei hübschen, jungen, blonden Frauen.« Ashburner reichte ihm die Untersuchungsberichte und die Fotos der Toten. Berkow erkannte Karin sofort. Seine Züge versteinerten sich. »Stimmt was nicht?«, fragte John Ashburner wie aus weiter Ferne. 184
»Nein, nein, es ist nichts.« Er verbarg das Gesicht hinter dem Protokoll, aber er las es nicht. Er dachte an die wenigen leiden‐ schaftlichen Wochen mit ihr, hörte ihre warme Stimme: »Komm her, Maxim Petrowitsch.« Er spürte ihren weichen Körper, nahm ihren herben Geruch wahr. Er hätte am liebsten aufgeschrien, doch er sagte nur: »Ich glaube, ich kann Ihrem deutschen Kollegen hel‐ fen. Ich spiele Schach mit Oberst Nekrasow vom NKWD. Ich werde den Oberst gewinnen lassen, das wird ihn günstig stimmen.« Master Sergeant Washington Roberts wartete hinter den Läden, zu denen von der Wilskistraße eine schmale Zufahrt für Liefer‐ wagen hinunterführte. Hier standen auch die großen Zinktonnen, deren Deckel nicht mehr schlossen, so voll waren sie mit Abfällen aus den beschlagnahmten Läden und Wohnungen. Angebrochene Tafeln Schokolade, halbleere Dosen Baked Beans, Luncheon Meat oder Kondensmilch – die Amerikaner warfen Reste weg, von denen eine hungrige Familie tagelang gezehrt hätte. Alles wan‐ derte auf die amerikanische Müllkippe und wurde auf Anordnung des obersten Militärarztes mit Ätzkalk überschüttet, bevor Bull‐ dozer es unterpflügten. Nicht einmal die Ratten gruben danach. Gerti Krüger winkte ihrem dunkelbraunen Freund aus der Hin‐ tertür zu. Er winkte mit breitem Grinsen zurück. Sie würden im »Fortyeight« essen und tanzen und später bei ihr zu Hause Liebe machen. Ihre Wirtin drückte für ein Päckchen Lucky Strikes beide Augen zu. Gerti freute sich auf den Feierabend. Den würde sie sich auch nicht vom Müllfahrer Ziesel verderben lassen. Ziesel kam kurz vor Ladenschluss, um die leeren Glasballons der chemischen Reinigung abzuholen. Sergeant Chang hatte sie in einer Reihe aufgestellt. »Mach mal᾿n bisschen dalli, hier is jetz Ende der Stange.« »Die Dame kann᾿s wohl nicht abwarten, das Rohr von ihrem schwarzen Hengst reinzukriegen«, höhnte Ziesel. 185
»Mein Waschi hat ᾿ner Frau wenigstens was zu bieten. Im Jegen‐ satz zu dir schlapper Nudel. Na du krist doch nich mal den klee‐ nen Finger hoch.« »Wenn wir erst wieder das Sagen haben, dann bist du Amiflitt‐ chen die erste, die wir kahlscheren.« Gerti lachte laut. »Du bist sojar für᾿n Friseur zu doof. Kümmere dich lieber um deine Mülltonnen. Die laufen schon über.« »Besatzermöse«, murmelte Ziesel im Hinausgehen. »Good eve‐ ning, Sergeant«, grüßte er draußen beflissen. Washington Roberts sah zu, wie Ziesel einige leere Tonnen vom Truck hob und die vollen zu den anderen hinaufwuchtete. Die Augen des Sergeanten weiteten sich. Unter dem Deckel einer Tonne hing eine schmale weiße Hand hervor.
Die schwarze Packardlimousine fuhr mit Blaulicht die »Eichen« hinunter, am Steuer ein Corporal des Women Army Corps. Der US‐Stadtkommandant hatte es eilig. Er saß mit kantigem Gesicht im Fond und versuchte, die Nachricht, die ihn vor einer Viertel‐ stunde erreicht hatte, zu verdauen. Der Posten an der Einfahrt zum Army Hospital salutierte. Die Limousine hielt am Hauptgebäude. Ein Captain des US Medical Corps erwartete den General. »Ich darf vorausgehen, Sir.« »Bitte, Doktor.« General Henry C. Abbot folgte dem Arzt eine schmale Treppe hinunter. Das gleißende Licht der Leuchtröhren im Leichenkeller traf sie. Um einen Obduktionstisch im Hintergrund scharten sich meh‐ rere Uniformierte. Colonel Tucker löste sich aus der Gruppe. »Ich hoffe, es war richtig, Sie zu verständigen, Sir.« »Reden Sie keinen Unsinn.« »Das ist Captain John Ashburner von der Military Police, Sir«, stellte Tucker vor. Ashburner grüßte. Abbot reichte ihm die Hand. Tucker wies auf den Leiter des German‐American Employment Office: »Mr. Chalford kennen Sie ja.« 186
Der General nickte. »Hallo, Curtis.« Curtis S. Chalford strich sich verlegen über das dünne blonde Haar. Sein rosiges Gesicht mit den wasserblauen Augen war be‐ kümmert. Er wusste offenbar nicht recht, was er sagen sollte. Er räusperte sich. »Man rief mich, weil man in dieser Kürze nur fest‐ stellen konnte, dass es sich um eine deutsche Army‐Angestellte handelte. Ich wusste natürlich sofort, wer sie war. Es tut mir sehr leid, General.« Der Stadtkommandant beugte sich über die Marmorplatte. Alle schwiegen. Man hatte die Tote bis zum Kinn mit einem weißen Tuch bedeckt. Ihre ebenmäßigen, von blondem Haar umrahmten Züge wirkten ruhig und ernst. Captain Ashburner durchbrach das Schweigen: »General Abbot, ich muss Sie förmlich fragen: Kannten Sie diese weibliche Person?« Henry C. Abbot neigte stumm den Kopf. Es war Bestätigung und letzter Gruß zugleich.
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Henriette
»D
etta!« Flirrendes Sonnenlicht dringt durch die Zweige der alten Bäume und legt sich wie eine Tarnkappe über das blonde Haar des Mädchens im Gras. »Deetta!« Das Mädchen taucht noch tiefer zwischen die hohen Halme. »Zeit zum Ankleiden, Detta!« Ankleiden? Wozu? Schottenbluse und Jodhpurs genügen doch. »Detta!!« Die Stimme ist gefährlich nah. Das Mädchen greift einen Tannenzapfen vom Vorjahr und schleudert ihn im hohen Bogen in die Büsche. Das Geräusch wird Adelheid in die falsche Richtung lenken. Detta hat keine Lust, sich anzukleiden. Anklei‐ den, das bedeutet ein Bad, was ja noch angeht. Aber dann folgt unweigerlich das Bürsten der Haare, schnell und scharf, und das alberne Rüschenkleid, in dem sie aussieht wie eine Zwölfjährige, dabei ist sie doch schon vierzehn. Oder wenigstens fast. Und überhaupt, wozu der ganze Rummel? Nur weil Besuch kommt aus Potsdam? »Hoher Besuch«, wie sich Adelheid aus‐ drückt und vornehm die Lippen spitzt. Vorsichtig lugt Detta über die Halme. Das Fräulein hat ihr den Rücken zugekehrt. Günstige Gelegenheit, mit drei Sprüngen zwischen den Rhododendren zu verschwinden und zum Stall zu laufen. Wenn sie Henry schnell genug sattelt, ist sie längst davon, ehe Adelheid erscheint. Zu dumm, Adelheid steht schon an der Boxe und tätschelt Henry. Da ist kein Vorbeikommen. Oder doch? Hans‐Georg taucht plötzlich auf, verwickelt das Fräulein in ein Gespräch, zieht 188
es weg vom Stall. Der Bruder ist sechzehn, sein glatter dunkler Scheitel lässt ihn älter wirken. Wie gut er aussieht. Er dreht sich kurz um, grient mit Verschwörerblick, zieht Adelheid ein Stück‐ chen weiter. Leise öffnet Detta die Boxe. Keine Zeit zum Satteln. Henry rasch das Trensenhalfter übergestreift und rauf auf den nackten Pferderücken. In der Türe den Kopf eingezogen, draußen die Fersen rein und los im Galopp. Nein, nicht den Kiesweg lang, da geht Hans‐Georg mit Adelheid, sondern geradeaus zwischen den Bäumen durch. Das Gatter am Ende des Parks ist für Henry ein Kinderspiel, sie haben es dutzendmal gesprungen, aber ohne Sattel verliert man leicht den Halt, besonders wenn Henry statt zu springen die Bremse einlegt. Detta segelt solo über die Stangen, rollt den Auf‐ prall ab und sitzt verblüfft auf der Weide. Henry wendet auf der Hinterhand und trabt geschäftig nach Hause. »Biest«, zischt sie ihm nach und macht sich etwas benommen mit einem Dreiangel am linken Oberschenkel auf den langen Rückweg. Hinter dem Haus haben sie eine rot gestreifte Markise errichtet. Da wimmelt es von Leuten. Detta will sich vorbeidrücken, aber Bensing hat sie erspäht. Bensing, nicht wie gewöhnlich in Hemds‐ ärmeln und Schürze, sondern in dunkelblauer Livree mit Gold‐ knöpfen, holt Luft, drückt die Brust raus und trompetet: »Henriette Sophie Charlotte, Freiin von Aichborn.« Vater ist plötzlich an ihrer Seite. Während Bensing den nächsten Gast ansagt, schiebt er sie durch die Menge, einem schlanken Herrn in Tweed entgegen. »Kaiserliche Hoheit, darf ich Ihnen meine Tochter Henriette vorstellen?« Detta macht einen halben Hofknicks. Adelheid hat das mit ihr geübt und sie bei der Gelegenheit belehrt, dass ein ganzer Hof‐ knicks einzig dem Kaiser gebührt, der Kronprinz kriegt nur einen halben, auch wenn er eigentlich kein Kronprinz mehr ist und der Kaiser kein Kaiser, im zehnten Jahr der Weimarer Republik. »Mein lieber Aichborn, was für eine prächtige junge Dame.« 189
Ein prüfender Blick auf das Stück festen Mädchenschenkel im Dreiangel, Kaiserliche Hoheit mag sie jung. »Ein kleiner Reitunfall, Kaiserliche Hoheit wollen bitte entschul‐ digen.« Mutter dirigiert Detta aus der Gefahrenzone. »Du bleibst eine Woche auf deinem Zimmer«, sagt sie streng. »Hans‐Georg wird dir das Essen bringen.« »Ja, Mutter.« Die Vierzehnjährige lächelt in sich hinein. Die Strafe ist halb so schlimm. Hans‐Georg darf zu ihr. Der Gong ruft zum Frühstück. Es gibt bacon and eggs, kidneys, grilled sausages, tomatoes and toast. Heute ist »Englischer Mor‐ gen« auf Schloss Aichborn. Miss Imogen Thistlethwaite, die Gou‐ vernante aus Somerset, setzt die zwei jüngeren Geschwister an den Tisch. »Fritz, sit still. Viktoria, put your hands on your lap and straighten your back.« »Ah, Bratwürstchen«, freut sich der Freiherr. »Speak English, darling«, mahnt ihn seine Frau. »Haferbrei, den kann keiner von euch auf Englisch«, fordert Hans‐Georg die Runde heraus. Verliebt schaut Detta auf den gro‐ ßen Bruder. Fabelhaft sieht er aus. Der Fahnenjunker ist auf Ur‐ laub zu Hause. Nun, da Deutschland wieder eine richtige Armee hat, nicht so ein lächerliches Hundertausend‐Mann‐Heer von der Entente Gnaden, liegt eine festgefügte Karriere vor ihm. Natürlich wird er ins Traditionsregiment der Aichborns eintreten, »Reiter 9« in Potsdam, das der Volksmund »von Neun« nennt, wegen seiner vielen Blaublütigen. »Porridge«, kommt blitzschnell Dettas Antwort. Die Zwanzig‐ jährige spricht seit ihrem sechsten Jahr fließend Englisch. »What are you going to do this morning?«, erkundigt sich der Vater. »I want to show the girls how to shoot«, kündigt Hans‐Georg an. »The girls«, das sind Detta und der schwarze Bubikopf in Ho‐ 190
senrock und zwei Knöpfe zu weit geöffneter Hemdbluse, der gäh‐ nend die Treppen herunterkommt. »Und das zu nachtschlafender Zeit«, beschwert sich Miriam und wirft Hans‐Georg einen Blick zu, der Detta gar nicht gefällt. Miriam Goldberg ist todchic und Erbin des Bankhauses Goldberg & Cie. Sie ist gestern in ihrem sensationellen weißen BMW Sportcabriolet eingetroffen. Hans‐ Georg hat sie zum Wochenende nach Aichborn eingeladen. »Ei‐ gentlich sollte ich ja in Biarritz sein. Großvater hat die Villa der Braganzas gemietet. Er verhandelt dort mit den Portugiesen. Er hat vor, die Bank nach Lissabon zu verlegen, und die Familie soll mit. Total meschugge, was soll ich in Lissabon? Wo doch die Berliner Saison rasant auf uns zukommt. Lilian Harvey gibt eine phänomenale Cocktailparty auf der Pfaueninsel, und die Bülows planen im Adlon einen Ball. Und das alles soll man wegen diesem neuen Reichskanzler versäumen? Der Mensch kann ja nicht mal richtig Deutsch. Sexappeal hat er auch keinen«, lässt sie nonchalant Berlin We We᾿s neuestes Modewort fallen und nippt an ihrem Tee. Wieder ein Blick zu Hans‐Georg, den dieser lächelnd erwidert. Was er bloß findet an dieser Schlange, faucht Detta in sich hinein. »Let᾿s go shooting«, sagt sie laut, obwohl sie sich aus der Ballerei überhaupt nichts macht. Aber sie würde mit dem Bruder ebenso gut Angeln, Unkrautjäten, Rad fahren oder Schmetterlinge fangen, wenn sie nur mit ihm zusammen sein darf. Bensing hockt hinter der Mauer der Gärtnerei und legt eine Tontaube in die Schleuder. »Pull!« ruft Detta mit heller Stimme. Die kleine Scheibe steigt in den blauen Augusthimmel. Detta hebt die Flinte und drückt ab. Ein lauter Knall. Ihr Ziel fällt unbeschä‐ digt in die nahe Wiese. Der Schrot rieselt als feiner Bleiregen aufs Gewächshaus. »Schitt.« Detta lässt enttäuscht die Flinte sinken. »Jetzt du, Miriam.« Hans‐Georg stellt sich hinter sie. Miriam drängt sich an ihn. Wie ᾿ne Katze an den Kater, denkt Detta ver‐ ächtlich und verfolgt mit Genugtuung Miriams Schuss ins Leere. Ungeduldig reißt sie ihr die Flinte aus der Hand. 191
»Du musst den Kolben gut in die Schulter ziehen, Detta«, sagt der Bruder und sieht verliebt Miriam an. »Schau gerade über den Lauf. Folge der Scheibe, schwenke durch sie durch, geh ein Stück vor, drück in der Bewegung ab. Bensing, sind Sie so weit?« Bensing ist so weit. Detta wartet angespannt. »Pull!« Ein Schwung, ein Knall, die Tonscheibe zerstäubt zur weißen Wolke. Gleich nochmal. »Pull!« Schwung, Knall, getroffen. Nun hat sie den Bogen raus. Der Bruder strahlt. Miriam schmollt kokett: »Komm, Géorgie, lass doch das olle Schießen.« »Géorgie«, wie sich das anhört. Detta lädt neu, wirft Miriam die Flinte zu. »Mach᾿s lieber nach.« Miriam weicht erschrocken zu‐ rück. Die Waffe fällt zu Boden. Hans‐Georg hebt sie auf. »Bensing, Pull!« Er schießt eine Doublette. Detta versucht es, aber sie trifft nur eine der beiden fliegenden Scheiben. »Nach dem ersten Schuss setzt du die Flinte ab. Dann legst du neu an«, instruiert sie der Bruder. Fabelhaft, wie er das alles weiß. Naja, schließlich ist er Soldat. »Pull!« Sie trifft beide Tontauben. Hans‐Georg ist zufrieden mit ihr. Vom Haus tönt der Gong zum Mittagessen. »Wie war᾿s?«, erkundigt sich der Freiherr. »Langweilig.« Miriam tut sich einen winzigen Hühnerflügel auf und eine halbe Stange Sellerie. Detta langt kräftig zu. »Detta ist ᾿ne echte Begabung«, lobt Hans‐Georg. »Maria Inocencia trifft übermorgen ein«, kündigt die Mutter an. »Ich bitte mir aus, dass jeder, der kann, Spanisch mit ihr spricht, selbst wenn es vielleicht nicht so fließend geht wie das Englische.« Maria Inocencia ist eine Cousine aus Madrid. »Ob sie wohl schießt?«, überlegt Detta laut auf Spanisch: »Me pregunto si Maria Inocencia es buena tiradora.« »No seas tonta. Una mujer espafiola no tocaria nunca una arma«, belehrt ihre Mutter sie in elegantem Kastilisch. »Eine Spanierin rührt keine Waffe an.« Die Freifrau ist eine geborene Alvarez de Toledo. 192
Nach dem Essen wird weitergeschossen, und zwar mit Gewehr und Zielfernrohr. Hans‐Georg hat die Scheibe an den Kuhställen aufgestellt, der Misthaufen dahinter dient als Kugelfang. »Anlegen, zielen, ausatmen, langsam durchziehen, ungefähr so, als drückst du einen Schwamm aus, sonst verreißt du.« Detta folgt den Anweisungen des Bruders und visiert mit dem Fadenkreuz das Zentrum an. Langsam zieht sie durch. Der Rückstoß tut weh. Eine Drei. Kein guter Anfang. Als sie endlich die Zwölf trifft, schmerzt die Schulter höllisch, aber sie lässt sich᾿s nicht anmerken, schon wegen Miriam, die gelangweilt zuschaut. »Bravo, Detta.« Hans‐Georg ist richtig stolz auf seine Schwester. »Im Herbst gehen wir zusammen auf die Jagd.« Detta strahlt. »Reiten wir nachher aus? Miriam kann Senator haben, der macht keine Zicken.« »Ein anderes Mal, Kleines«, wehrt Miriam ab. »Géorgie, kommst du?« Die beiden verschwinden im Park. Die können es wohl nicht abwarten, denkt Detta giftig. Motorengeräusch lässt sie aufhorchen. Ein Flugzeug hüpft dicht über die Bäume und fällt wie ein Habicht auf dem Rasen hinter dem Haus ein. Eine tollkühne Landung. Der Pilot klettert aus der offenen Maschine und kommt auf Detta zu. Er streift Kappe und Brille ab. Ein braun gebranntes Männergesicht lacht sie an. »Thomas Glaser«, stellt er sich vor. »Und Sie sind Hans‐Georgs Schwester Detta, stimmt᾿s?« Detta hat plötzlich Herzklopfen und im Bauch ein Kribbeln, das eigentlich ganz angenehm ist. »Wo steckt er denn, der Herr Bruder?« »Irgendwo im Park mit seiner Flamme.« Komisch, der Gedanke an Miriam löst mit einem Mal keine zwiespältigen Gefühle mehr in ihr aus. »Kommen Sie überall mit dem Flieger zu Besuch?« Er grient. »Nicht auf dem Kurfürstendamm. Da ist die Ober‐ leitung der Elektrischen im Weg. Sind Sie schon mal geflogen?« »Nein, noch nie.« »Morgen drehen wir eine Runde.« Er fragt nicht, ob sie will, 193
dieser unvergleichliche Mann, er entscheidet einfach. Der Ge‐ danke, ein wenig ängstlich an ihn geschmiegt durch die Lüfte zu schweben, ist zwar nicht realistisch, weil die zwei offenen Sitze in der Klemm 25 hintereinander angeordnet sind, aber schön ist er doch und lässt sogar die Hoffiiung auf einen Ausritt mit Hans‐ Georg verblassen. Zum Abend hat sich alles umgezogen. Der Freiherr bevorzugt zum Smoking die steife Hemdbrust mit Flügelkragen. Hans‐ Georg sieht phantastisch aus in seiner weißen Uniformjacke, aber Detta hat nur Augen für ihren Flieger. Der erscheint Hilfe suchend oben auf der Treppe. »Kann mir bitte wer die Schleife binden?« »Kommen Sie runter, Herr Glaser, ich mach Ihnen das«, ruft Detta eifrig. »Wenn Sie mich nochmal Herr Glaser nennen, sage ich Hen‐ riette zu Ihnen«, droht er lächelnd. »Für meine Freunde bin ich Tom.« Die Harsteins vom Nachbargut sind gekommen, Pfarrer Wun‐ sig vom örtlichen Kirchspiel nebst Gemahlin, der Tierarzt mit sei‐ ner Frau. Und ein Herr Fanselow. Fanselow ist Kreisbauernführer. »Eine Art Beauftragter seiner Partei für die Landwirtschaft«, ver‐ mutet der Freiherr. »Er könnte uns bei der Finanzierung der neuen Deckstation helfen. Die ist für alle gedacht. Das wäre doch ein schöner Beitrag zum nationalen oder in diesem Falle lokalen Sozialismus.« Der Freiherr ist durchaus willens, mit der Zeit zu gehen. In Stiefeln zum Abendessen? Detta findet diesen Fanselow reichlich unsympathisch. Wie sich herausstellt, war der Mann Schuhverkäufer bei Leiser in Berlin. Den lukrativen ländlichen Funktionärsposten hat die Partei ihm als »verdientem altem Kämpfer« zugeschanzt. Von Ackerbau und Viehzucht hat er keinen blassen Schimmer. Dafür wirft er mit Schlagworten wie »Blut und Boden«, »Reichsnähr‐ 194
stand« und »eherne Pflugscharen« um sich. Detta findet das ziem‐ lich albern. »Haben Sie die Pläne für unsere Deckstation schon gesehen?«, steuert der Vater direkt aufs Thema zu. »Ein Projekt, das allen Hö‐ fen in der Gegend zugute kommen soll. Mit Unterstützung Ihrer Partei ließe es sich bestimmt doppelt so schnell verwirklichen.« Fanselow winkt ab. »Später, Herr Baron. Erst gilt es, das neue Deutschland von jüdischen Blutsaugern und Schmarotzern zu be‐ freien. Nehmen Sie unseren Landkreis. Zwei jüdische Ärzte, ein jüdischer Dentist, ein jüdischer Notar. Und der Architekt Ihrer ge‐ planten Deckstation heißt Grünspan. Die müssen alle weg.« »Unsere Freundin hier muss also weg? Oder haben Sie bei der Vorstellung kommoderweise überhört, dass Fräulein Miriam mit Familiennamen Goldberg heißt?«, fragt Hans‐Georg scharf. Bensing trägt eine Schüssel Krebse auf. »Wir wollen doch den letzten Monat ohne ›r‹ nicht ungenutzt verstreichen lassen«, lenkt die Freifrau lächelnd ab. »Darf ich bitten, Herr Pfarrer?« Wunsig sagt laut und klar das Tischgebet. Alle außer Fanselow senken die Köpfe. »Sie als Lokalsozialist glauben wohl nicht an Gott?«, fragt Detta herausfordernd. »Nationalsozialist«, verbessert Fanselow sie und verkündet großspurig: »Ich glaube an die deutsche Scholle.« »Meine letzten Freitag hatte ᾿ne Menge Gräten«, meint Detta harmlos, was ihr einen belustigten Blick des Fliegers einträgt und einen irritierten des Reichsnährständlers, der darauf wartet, dass sich zuerst jemand anderes Krebse auftut. Er hat noch nie welche gegessen, schießt es ihr durch den Kopf. »Mögen Sie Krebse, Herr Fanselow?« Detta schiebt ihren Teller beiseite und entfaltet geschäftig die Serviette vor sich auf dem Tisch. Mit der Linken hält sie den Suppenlöffel. Mit der Rechten piekt sie einem Krebs ihre Gabel in die Weichteile. Fanselow piekt auch. Umständlich transferiert sie das Schalentier aus der Schüssel auf den Löffel. Fanselow folgt ihrem Beispiel. Nun legt sie die Ga‐ 195
bel aus der Hand und nimmt den Krebs mit der Servierzange vom Löffel. Dann lässt sie ihn aus Brusthöhe auf die Serviette plump‐ sen. »Bitte, Herr Fanselow.« Höflich reicht sie ihm die Servierzange. Die anderen sehen der Vorstellung gebannt zu. Miriam feixt ver‐ stohlen. Sorgsam faltet Detta alle vier Ecken der Serviette über den Krebs und schlägt ein paarmal mit der Faust drauf. Fanselow macht es ihr eifrig nach. Detta zieht die Zipfel auseinander. »Köstlich«, murmelt sie. Fanselow öffnet seine Serviette und betrachtet etwas skeptisch den zermatschten Krebs. Dann beginnt er, mit der Gabel in den Trümmern zu stochern. Detta befördert ihr Vernichtungswerk von der Serviette in den für Schalenreste bereitgestellten Topf, holt sich mit der Zange ein paar frische Krebse auf den Teller und nimmt einen nach dem an‐ deren gekonnt mit den Fingern auseinander. »Schmeckt᾿s?«, fragt sie ihren Nachbarn mit süßem Lächeln. »Das war sehr unanständig«, rügt die Mutter sie nach dem Din‐ ner, als sich die Herren auf Cognac und Havannas in die Biblio‐ thek zurückgezogen haben. »Der Mann ist ein Prolet und ein Antisemitist«, verhaspelt Detta sich. »Er ist Antisemit, das trifft zu«, verbessert die Mutter sie. »Weiß der Himmel, was er und seinesgleichen uns bescheren werden. Trotzdem ist er unser Gast.« Miriam hat ein paar Platten aus Berlin mitgebracht. Jack Hylton und sein Orchester. »Die spielen auf dem Dachgarten des ›Eden‹. Fabelhaft, sage ich euch.« »Negermusik«, murrt Fanselow. »Sowas Artfremdes gehört ver‐ boten.« Miriam tanzt ausgelassen mit Hans‐Georg. Sie kennt die neues‐ ten Shimmy‐Schritte. Detta ist überhaupt nicht mehr eifersüchtig. Sie hat ja jetzt ihren Flieger. Mit dem probiert sie übermütig die wilden Verrenkungen. Doch richtig schön wird es, als sie beim 196
langsamen Foxtrott in seinen Armen liegt. Noch nie war sie einem Mann so nah. Außer Hans‐Georg, aber das ist natürlich was ganz anderes. »Mittwoch, 1. Aug. ᾿34: Fabelhafter Flieger landet bei uns. Er ist ein Freund von Hans‐Georg und heißt Thomas Glaser, aber ich darf ihn Tom nennen. Abends ein paar Gäste. Ein Herr Fanselow weiß nicht, wie man Krebse isst. Wenn er nett gewesen wäre, hätte ich ihm ja diskret gezeigt, wie man᾿s macht. Aber dieser biestige Mensch redete schlecht über Herrn Grünspan, und dass alle Juden weg müssen. Das galt wohl auch für Miriam. Hans‐Georg wies ihn kräftig zurecht. Ich blamiere ihn beim Krebsessen. Strafe muss sein.« »Donnerstag, 2. Aug. ᾿34: Ich leihe mir Vatis Autokappe und seine Uhubrille. Alles hat sich auf dem Rasen hinter dem Haus versammelt. Die Gutsarbeiter mit ihren Familien bestaunen die Flugmaschine. Tom zeigt Hans‐Georg, wie man den Propeller an‐ wirft. Ich klettere auf den linken Flügel und zwänge mich in den vorderen Sitz. Tom nimmt hinter mir Platz. Hoffentlich kann er da genug sehen. Der Motor blafft ein paarmal müde. Aber dann besinnt er sich und springt an. Wir holpern über den Rasen, die Bäume kommen unangenehm schnell näher. Sekundenlang hab ich ein komisches Gefühl im Bauch. Dann sind die Wipfel unter uns. Wir fliegen!!! Aichborn wird schnell kleiner. Die Leute winken. Ich drehe mich um. Tom lacht mir zu. Das Leben ist herrlich. Der Motor heult auf. Die Erde ist plötzlich über mir. Mein Magen auch. ›Loo‐ ping‹ heißt das, erfahre ich später. Uff, Magen und Erde sind wieder an ihren angestammten Plät‐ zen. Ich atme tief durch. Nach einer Viertelstunde geht᾿s wie im Fahrstuhl abwärts. Tom fängt sein Flugzeug kurz über dem Boden und setzt es sicher auf den Rasen. Alle klatschen Beifall. Ich steige aus und will elegant vom Flügel springen, aber meine Knie sind butterweich. Zum Glück fängt mich Hans‐Georg auf. 197
Nachmittags ein weiteres Abenteuer. Miriam lässt mich ans Steuer ihres fabelhaften Automobils. Jeschke hat mir schon vor ein paar Jahren das Traktorfahren beigebracht. Kein großer Un‐ terschied, nur ist der Roadster bedeutend schneller und hat gute Bremsen, was sich nützlich zeigt, als ein Heuwagen unerwartet die Landstraße kreuzt. Hier rechnet eben kein Mensch mit rasanten weißen Sportautos, höchstens mit Dr. Kluges ollem Opel.« Die Tagebucheintragung lag ein Jahr zurück, doch Detta las weiter, wie schon so oft: »Ob ich denn nie nach Berlin komme, fragt mich Thomas. Ich weiß, warum. Er kann nicht mehr ohne mich leben. Nach dem Tee fliegt er los. Ich verkrieche mich in meinem Zimmer. Ich fühle mich wie eine Witwe. Oder noch schlimmer. Reichspräsident Hindenburg ist heute gestorben. Vati sagt, ohne ihn wird dieser Hitler den wilden Mann spielen. Mir ist das egal. Politik interessiert mich nicht. Ich will nur eines — nach Berlin, zu Tom! Aichborn ist ja recht nett, aber außer Landleben findet hier nichts statt. Vati sagt, Berlin komme überhaupt nicht in Frage. Mutter möchte, dass ich warte, bis ich volljährig bin. Ein ganzes Jahr. Wie soll ich das bloß aushalten, ohne Thomas ... « Detta klappte das Tagebuch zu und schob es in ihre Umhänge‐ tasche. Die Koffer waren gepackt. Bensing wartete unten mit dem Maybach, um sie zur Bahn zu fahren. Liselotte, die Tochter des Gutsverwalters, würde die Pferde täglich bewegen. Damit war Detta die größte Sorge genommen. Sie würde zunächst bei Miriam wohnen. Hans‐Georg hatte das eingefädelt. Berlin, ich komme!, dachte sie und meinte Tom Gla‐ ser. Sie konnte es kaum erwarten, ihn endlich wieder zu sehen. Sie hatte ihm öfter geschrieben, aber er hatte nicht geantwortet. Er war wohl kein großer Briefeschreiber. Außerdem machte er gerade sein Examen als Verkehrspilot. Das nahm ihn natürlich voll in An‐ spruch. Flugkapitän Glaser klang gar nicht schlecht, fand sie und 198
malte sich seine freudige Überraschung aus, wenn sie unerwartet vor ihm stehen würde. Sie hatte ihm nichts von ihrer Ankunft ge‐ sagt. Miriam Goldberg wohnte im neuen Westend der Metropole. Der Bankerbin gehörte die obere Etage eines modernen Hauses in der Gumbinner Allee. Viele Straßen hier hatten ostpreußische Namen. Vor Dettas staunenden Augen öffneten sich weite Glastüren auf eine große Dachterrasse mit Schwimmbecken, selbst für das mon‐ däne Berlin des Jahres 1935 ein ungewöhnlicher Luxus. »Du kannst hier ohne alles schwimmen, keiner schaut zu«, versicherte ihre Gastgeberin. Detta wurde rot, an sowas hätte sie nie zu denken gewagt. »Komm, ich zeige dir dein Quartier.« Das »Quartier« war ein moderner kleiner Salon mit angrenzendem Schlafraum und schwarzgekacheltem Bad. Detta musste unwillkürlich an Zink‐ wanne und bullernden Badeofen in Aichborn denken. Miriam deutete auf Dettas bescheidenen Koffer: »Viel Anzuzie‐ hen scheinst du ja nicht mitgebracht zu haben. Na macht nichts. Wir trinken ein Glas Champagner und fahren zu Horn. Die haben die schickste Kledage.« »Schönen Dank. Soviel Geld hab ich nicht. Mutter sagt, ich soll zu Brenninkmeyer gehen, wenn ich was brauche.« »Bei Horn brauchen wir kein Geld. Die schicken die Rech‐ nungen an Herrn Schott. Das ist Großvaters Prokurist. Der me‐ ckert zwar dauernd, dass ich zu viel ausgebe, aber er hat strikte Anweisung, alles zu erledigen, und zwar bis Toreschluss.« Miriam verschwand. Detta sah sich schon in einem eleganten Kleid. Tom würde staunen, wie sich das Mädchen vom vorigen Jahr gemausert hatte. Sie konnte es kaum erwarten. »Was heißt bis Toreschluss?«, rief sie durch die offene Küchen‐ tür. »Großvater verlegt die Bank nun endgültig nach Portugal. Die Familie ist schon abgereist. Ich folge bald nach. Ein Herr vom Wirt‐ 199
schaftsministerium übernimmt meine Wohnung. Und dann Ade Horn, Braun und all die anderen himmlischen Modesalons. Weiß der Himmel, was für Läden die in Lissabon haben.« Ein lautes Plopp. Miriam tauchte mit einer geöffneten Flasche »Taittinger« und zwei Gläsern auf. Detta wies auf ein Foto im Silberrahmen. Es zeigte den Leutnant Hans‐Georg von Aichborn zu Pferd. »Ausgerechnet jetzt hat er in Trakehnen zu tun«, beklagte sie sich. »Nächste Woche ist er zurück«, tröstete Miriam sie. »Hans‐Georg und du — seht ihr euch oft?« Miriam schenkte ein. »Prost, Kleines. Seit er mich unbedingt heiraten will, etwas seltener.« »Ja willst du ihn denn nicht?« »Der Regimentsadjutant hat mich neulich besucht. Ein Major Graf von Stuckwitz. Dein Bruder müsste seinen Abschied neh‐ men, wenn er mich heiratet, erklärte er mir ohne Umschweife.« »So ein Unsinn«, meinte Detta kopfschüttelnd. »Der kleine Prinz Ratibor hat ein Fräulein Schulz geheiratet. Seine Kameraden bil‐ deten vor der Kirche mit gezogenen Degen das Spalier. Standes‐ dünkel, das ist doch was von gestern.« Sie nahm einen Schluck. Der Champagner kitzelte in der Nase. Miriam lächelte fein. »Ein Fräulein Schulz ist eben neuerdings akzeptabler als ein Fräulein Goldberg.« »Wieso? Du bist schön, reich, gebildet und todchic und stichst mühelos jede aus, nicht nur auf dem Regimentsball.« »Danke fürs Kompliment. Juden sind bei der neuen deutschen Wehrmacht auch als Ehefrauen unerwünscht. Sei nicht schockiert, Kleines, Géorgie und ich haben viel Spaß im Bett. Er verwechselt das mit Liebe und glaubt, unsere Liaison vor dem Altar legiti‐ mieren zu müssen. Er würde sich am Tejo nach Potsdam und ›von Neun‹ sehnen und letztlich mir die Schuld dafür geben. Außer‐ dem habe ich noch lange nicht vor, Mutter und Hausfrau zu spie‐ len. Prost.« Miriam leerte ihr Glas in einem Zug. »Komm, wir 200
plündern Horn«, rief sie scheinbar unbekümmert. Aber Detta fühlte, wie tief verletzt sie war. Sie jagten im offenen BMW die Heerstraße Richtung Stadt hinauf. Eine lange Kolonne von Lastwagen kam ihnen entgegen. »Baumaterial fürs Olympiastadion«, erklärte Miriam. »Die Spiele nächstes Jahr sollen alles bisher Dagewesene in den Schatten stel‐ len. Géorgie und sein Kamerad Stubbendorf trainieren schon auf Deibelkommraus mit ihren Pferden, um sich für die Military vor‐ zubereiten.« Bei Horn herrschte gedämpfter Betrieb. Zurückhaltende ele‐ gante Damen ließen sich die neuesten Modelle zeigen. Junge Ver‐ käuferinnen eilten lautlos hin und her. Die Directrice empfahl einer dicken Kundin ein locker fallendes Ensemble: »Paris zeigt in dieser Saison fließende Linien.« »Das schlabbert einem ja um die Figur«, beschwerte die sich. »Ich zeige Ihnen gerne etwas eng Anliegendes. Wenn Sie mich bitte einen Moment entschuldigen wollen, gnädige Frau.« Lä‐ chelnd ging die Directrice auf die beiden jungen Besucherinnen zu. »Fräulein Goldberg, wie freundlich von Ihnen, uns zu beeh‐ ren.« »Frau Mohr, meine Freundin Henriette von Aichborn braucht dringend was anzuziehen.« »Aber gewiss doch, meine Damen. Woran hat das gnädige Fräu‐ lein denn gedacht?« »Was Schickes für den Nachmittag, das auch abends geht«, platzte Detta heraus. Sie wollte gewappnet sein, falls ihr Flieger sie zum Souper einladen sollte. »Nicht wahr, man findet nicht immer die nötige Zeit zum Um‐ kleiden«, sagte Frau Mohr verständnisvoll. »Wo bleibt mein Kleid?« Die dicke Kundin schoss giftige Blicke auf Miriam. »Unerhört, einen wegen so einer Judenschickse war‐ ten zu lassen.« »Hast du das gehört?« Detta war empört. 201
Die Directrice hob unmerklich die Schultern und sagte leise: »Ein neuer Typ Kundin. Der Herr Gemahl ist irgendein hohes Tier bei der Partei.« »Ich verstehe ja Ihre Ungeduld, werte Volksgenossin«, gab Miriam zuckersüß zurück. »Aber vermutlich hat das Lehrmäd‐ chen Mühe, Ihre erstaunliche Übergröße zu finden.« Frau Mohr trennte die Parteien diskret: »Vielleicht wollen die Damen sich in den kleinen Salon bemühen. Giselle hat die Figur des gnädigen Fräuleins und wird Ihnen eine Auswahl zeigen.« »Warum hast du ihr nicht eine geknallt?«, fragte Detta wütend. »Verdient hätte sie es.« »Auf keinen Fall provozieren lassen, hat Großvater uns einge‐ trichtert. Ah, Giselle, da sind Sie ja. Nein, keine gelben Punkte für meine Freundin. Zeigen Sie uns was Einfarbiges. Wann siehst du deinen Flieger?« »Wenn wir hier fertig sind. Er weiß nicht, dass ich komme. Ich will ihn überraschen. Hoffentlich ist er zu Hause.« »Wäre es nicht besser, du kündigst dich an?« »Wozu?« Miriam antwortete nicht, sondern rief: »Ja, das blaue Seidene ist haargenau richtig. Giselle, helfen Sie Fräulein von Aichborn mal rein.« Hut, Handtasche und Schuhe komplettierten das Bild der ele‐ ganten jungen Dame. Beschwingt verließen die beiden das Mo‐ denhaus, nachdem Miriam rasch einen Ozelot probiert hatte. »Nicht gut für Herrn Schotts Blutdruck und zu warm für Lissa‐ bon«, entschied sie. »Wo wohnt dein Flieger?« Detta zog ihr kleines Notizbuch zu Rate. »In der Nestorstraße. Bitte setz mich nicht direkt vor der Tür ab.« »Die Überraschung, ich weiß.« Miriam gab Gas, den Kurfürs‐ tendamm hinunter bis zur Ecke Nestorstraße. »Bring ihn heute Abend mit. Wir feiern Abschied.« »Abschied? Wovon?« 202
Miriam machte eine ärgerliche Handbewegung, die den ganzen Kurfürstendamm mit seinen eleganten Fußgängern und luxuriö‐ sen Geschäften umfasste. »Viel Glück mit deinem Flieger, mein Kleines.« Der Wagen röhrte davon. Detta betrat das Haus. Während der Lift sie hinauftrug, prüfte sie im Spiegel, ob die Strumpfnähte gerade saßen, strich das neue Kleid glatt und gab dem Hut einen kleinen Stups zur Seite. Hm, gar nicht so übel. Aber was, wenn er nicht zu Hause war? Er war, und er sah noch besser aus als vor einem Jahr. Was für ein Mann!, jubelte sie innerlich. Er brauchte einen Augenblick,bis er sie erkannte. »Detta, wie nett. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie in Berlin sind. Bitte kommen Sie herein. Richtig erwachsen sind Sie geworden.« Er zog die Tür hinter ihr zu. Der Wohnraum war modern möbliert. An den Wänden hingen Fotografien von Flugzeugen. Über der Küchentür pendelte ein Propeller. »Setzen Sie sich doch. Ulli kommt nachher. Sie wird sich freuen.« »Ulli?« Eine furchtbare Ahnung beschlich sie. »Ulrike Spielhagen. Sie ist die rechte Hand vom Lufthansadirek‐ tor, meinem neuen Chef. Wir heiraten nächste Woche. Ich mache uns einen Tee.« Detta war wie gelähmt. »Sie müssen zu unserer Hochzeit kom‐ men«, hörte sie ihn aus der Küche. »Mögen Sie Leibnitzkekse zum Tee? Was anderes habe ich leider nicht. Ich bin nämlich kaum zu Hause. Unser Chefpilot weist mich zur Zeit auf der JU 52 ein. Das ist eine Dreimotorige. Ich werde zunächst als zweiter Mann die Strecke nach Tromsö fliegen.« Er brachte ein Tablett mit Kanne und Tassen. ›»Will you be mother?‹, wie die Engländer sagen?« Sie schenkte ein. Ihr Inneres war zu Eis gefroren. Sie konnte nicht denken, war unfähig zu reagieren, stand apathisch neben sich selbst und hörte unbeteiligt, wie Fräulein Henriette von Aichborn unver‐ 203
bindlich Konversation machte: »Lapsang Souchong, mein Lieblingstee. Wunderbar, dieses Raucharoma.« »Wie geht es Ihren Eltern?« »Danke, ausgezeichnet. Sie haben Mutter den Vorsitz der Land‐ frauenschaft angetragen, aber dazu müsste sie in die Partei eintre‐ ten, und das mag sie nicht. Vater ist vollauf mit der heuen Deck‐ station beschäftigt.« »Haben Sie Lust, mit uns zu essen? Bei ›Schlichter‹ gibt es frische Muscheln.« »Vielen Dank, aber ich bin schon vergeben. Ich fürchte, ich muss gehen. Bitte grüßen Sie unbekannterweise Ihre Verlobte. Meinen Glückwunsch für Sie beide.« Wie gehetzt lief sie zum nahen Kurfürstendamm. Erst dort löste sich ihre innere Erstarrung. »Taxi! Taxi!!« Sie schrie es so laut, dass die Leute sich erstaunt nach ihr umdrehten. Eine Kraftdroschke hielt. »Wo brennt᾿s denn, Frolleinchen?«, fragte der schnauzbärtige Fahrer gemütlich. »Zur Gumbinner Allee.« Sie ließ sich in den Rücksitz fallen und schloss die Augen. Aus. Alles war aus.Tom Glaser liebte sie nicht. Während die Droschke durch den dichten nachmittäglichen Verkehr ratterte, wollte sie nur eines: sterben. Hoffentlich fanden sich bei Miriam ein paar Schlaftabletten. Oder sollte sie die Kordel ihres Morgenmantels zur Schlinge knüpfen? Ebenso gut konnte sie natürlich die Tür des Wagens aufstoßen und sich vor die nächste Elektrische stürzen. Auch ein Sprung vom Funkturm, an dem sie gerade vorbeifuhren, war eine Mög‐ lichkeit. Die Pulsadern aufschneiden war eine andere, am besten in der Badewanne, wegen der fünfeinhalb Liter Blut, die der menschliche Körper enthielt, sie hatte das irgendwo gelesen. Sie rückte im Innenspiegel den Hut zurecht. Eigentlich gefiel er ihr doch nicht so besonders. Sie würde ihn morgen zurückbringen und einen anderen wählen, vielleicht den kleinen Roten mit Schleier, oder die schwarze Kappe mit der silbernen Feder. Als sie in die Gumbinner Allee einbogen, lag ein strohgeflochtener Flo‐ 204
rentiner vorne, wegen des mysteriösen Schattens, den sein weiter Rand gab. Wenn sie langsam den Kopf hob und einen rätselhaften Blick zum Nachbartisch warf, würde diese Ulrike an Toms Seite bestimmt fragen, wer die geheimnisvolle Frau da drüben sei. Detta malte sich die Szene in allen Einzelheiten aus und entschied, dass daran gemessen jeder noch so dramatische Tod einen Schönheitsfehler hatte. Man konnte die Reaktion der Leute nicht genießen. Miriam paddelte nackt im Wasser, eine Flasche Champagner am Beckenrand. Sie winkte. »Nimm dir ein Glas und komm rein.« Detta streifte ihre Sachen ab. Bis vor einer Stunde hätte sie sich nie und nimmer unbekleidet gezeigt. Sie sprang hinein, goss das Glas voll, leerte es in einem Schluck und ließ ein weiteres folgen. »Er hat eine andere«, stellte ihre Freundin trocken fest. »Was hast du erwartet? Berlin ist voller schöner Mädchen und dein Flieger ein begehrenswertes Stück Mann. Zum Glück gibt es mehr solcher Exemplare, wie du heute Abend leicht feststellen kannst. Ich sagte ja schon, ich habe ein paar Leute eingeladen. Meine sehr spezielle Abschiedsvorstellung.« Ein seltsam entschlossener Zug war um ihren Mund. Detta war im Begriff, ihr Glas ein drittes Mal zu fül‐ len, aber Miriam nahm es ihr aus der Hand. »Das genügt. Geh und ruh dich aus, damit du nachher frisch bist. Nimm meinen Bademantel, ich nehme das Frotteetuch.« Die Tür zur Gästetoilette stand offen. Ein Klempner in blauem Overall installierte ein neues WC‐Becken. Offenbar missdeutete er Dettas Auftauchen. »Noch fünf Minuten, denn dürfen se wieda, wenn᾿se müssen«, tröstete er sie. Auf dem Bett, im kühlen Dämmerlicht ihres Zimmers, schluchzte sie leise. Sie dachte an ihre erste Begegnung mit Tho‐ mas Glaser: seine verwegene Landung in Aichborn, der Tanz mit ihm nach dem Dinner, der Flug am nächsten Morgen in seiner offenen Maschine. Sie hörte auf zu weinen, als sie erstaunt begriff, dass er ihr mit keinem Wort und mit keiner Geste Grund zu 205
irgendwelchen Hoffnungen gegeben hatte. Sie hatte sich das alles eingebildet. Gegen sieben Uhr brachte ein Lieferwagen von Kempinski kalte Platten und ein paar Dutzend Flaschen Champagner, die in einer Zinkwanne auf Eisblöcken gekühlt wurden, Miriams amerika‐ nischer Frigidaire war nicht groß genug. Detta dachte an den Eis‐ keller in Aichborn. Im Winter sägten die Leute dicke Scheiben aus dem gefrorenen Teich. In Stroh verpackt überdauerten sie im Keller viele Monate und kühlten die Getränke zum alljährlichen Sommerfest. Vater bestand auf Fortsetzung dieser uralten Tradi‐ tion. »Erwartest du viele Leute?« »Alle, die mir Goodbye sagen wollen. Aber eigentlich bin ich viel mehr drauf gespannt, wer nicht kommt.« »Musst du wirklich fort?« Miriam lachte bitter. »Aber nein doch, Kleines. Wir gehen voll‐ kommen freiwillig. Komm, such dir was langes Enges mit tiefem Rücken aus dem Kleiderschrank. Dein neues Seidenes ist wohl doch eher fur den Nachmittag.« Um acht kamen die ersten Gäste. Miriam machte Detta mit ihnen bekannt: »Hella und Gottfried Siebert. Wir spielen ge‐ mischtes Doppel im Rot‐Weiß, wenn sich jemand Tollkühnes an meine Seite wagt.« »Freut mich.« Detta reichte dem jungen Paar die Hand. »Gottfried ist jetzt Programmchef bei Radio Berlin«, erklärte Miriam ihrer Freundin. »Sendeleiter beim Reichsrundfunk«, verbesserte Siebert sie. »Es hat sich so einiges geändert.« »Das Pausenzeichen ist geblieben. ›Üb᾿ immer Treu und Red‐ lichkeit, nicht wahr?«, erwiderte Miriam mit unüberhörbarem Spott. »Mach dich ruhig lustig. Du hältst die neue Zeit nicht auf.« 206
»Die neue Zeit uns auch nicht. Die Familie ist schon abgereist. Ich folge in wenigen Stunden.« »Wer sich zu uns bekennt, hat nichts zu befürchten«, sagte Hella Siebert überzeugt. Detta musterte das Paar neugierig. Beide Sieberts gaben sich betont gesund und sportlich. Beide waren Ende zwanzig. Beide trugen das Parteiabzeichen. Beide sahen herausfordernd um sich, als müssten sie sich unentwegt verteidigen. Dabei wirkten sie sonst völlig normal. Sie verstand das nicht. »Hallo, Rolf.« Miriam winkte einem rundlichen Dreißiger zu. »Rolf Lamprecht ist Bauchaufschneider«, stellte sie vor. »Er hat mir die kleinste Narbe der Welt versprochen, falls er mir mal den Blinddarm rausnehmen muss. Rolf, Darling, ich dachte, du bringst die Froweins mit?« »Paul und Marianne lassen sich entschuldigen. Heuschnupfen.« »Die Ärmsten. Billie, Fritz, gebt Pfötchen. Das ist meine Freun‐ din Henriette von Aichborn, aber ihr könnt Detta zu ihr sagen. Sybille und Friedrich von Coberg sind ein echtes Prinzenpaar, musst du wissen.« »Einzig um die Kundschaft zu beeindrucken. Wir haben eine kleine Kunsthandlung in Charlottenburg«, entschuldigte sich Prinz Coberg. »Ah, Madame et Monsieur Montfort, quel plaisir. C᾿est ma amie Mademoiselle von Aichborn. Elle reste chez moi. Detta, die Mont‐ forts importieren die besten Weine aus der Bourgogne.« »Nicht einfach, bei den neuen Devisenbeschränkungen«, begann Monsieur Montfort in makellosem Deutsch. »Deutsche, trinkt deutschen Wein«, rief ein flotter junger Mann dazwischen und hob die Hand feixend zum Hitlergruß. »Egon, benimm dich«, mahnte Miriam. »Detta, das ist Egon Jeschke, rasender BZ‐Reporter. Schreibt noch frecher als er quas‐ selt. Tout Berlin genießt seine Geschichten.« Egon Jeschke verzog das Gesicht. »Mit Ausnahme des neuen 207
Reichspressechefs Dr. Otto Dietrich. Ich habe in einem Artikel gefragt, ob er so schöne Beine hat wie seine berühmte Nichte in Hollywood. Ich möge künftig solche jüdischen Scherze unterlas‐ sen, wurde mir ausgerichtet. Ich glaube, ich wechsle vorsichtshal‐ ber in die Sportredaktion. Da ist Humor per se nicht gefragt.« Neue Gäste trafen ein, von Miriam lebhaft begrüßt und reichlich mit Champagner versorgt. Detta schlenderte umher, beobachtete die Leute, fing Gesprächsfetzen auf. »Dieser Hitler hätte nicht Reichskanzler, sondern Verkehrsminister werden sollen. Er in‐ teressiert sich hauptsächlich für den Bau von Autobahnen.« Der Sprecher hatte dunkles Haar und schmale Künstlerhände und stand im Gespräch mit den Cobergs. Detta trat hinzu. »Das ist Detta von Aichborn«, machte der Prinz bekannt. »Und das ist Dr. Felix Gerhard.« »Arzt?« »Dr. phil., Komponist. Ich schreibe Filmmusik für die UfA.« »Solange sie ihn lassen«, warf Friedrich von Coberg ein. »Weiß der Kuckuck, was diese Nazis gegen unsere jüdischen Freunde haben. Theater, Film, Kabarett, wie soll das ohne Reinhardt, Hol‐ länder, Spolianski, Lang, Weill und wie sie alle heißen weiterge‐ hen?« Dr. Gerhard lächelte fein. »Der letzte Jude in unserer Familie hieß Schmuel Gelbfisz und war mein Großvater. Er trug Kaftan und Schläfenlocken. Die Kosaken des Zaren erschlugen ihn. Da‐ rauf floh mein Vater mit uns nach Posen, ins Deutsche Kaiserreich. Er ließ die ganze Familie taufen. Seither heißen wir Gerhard. Mein Vater brachte es im Krieg bis zum Hauptmann bei der Artillerie und wurde mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Ich habe in Breslau studiert und in Berlin promoviert. Ich bin guter Deutscher, guter Steuerzahler und guter Freund der Schauspielerin Emmy Sonnemann, die mit dem Preußischen Ministerpräsidenten Göring verlobt ist. General Göring nimmt am Kulturleben regen Anteil. Emmy will mich vorstellen.« 208
Dr. Gerhard machte eine Pause und fugte vorsichtig hinzu: »Im Übrigen wird auch anderswo Filmmusik gebraucht. Ich habe mei‐ nem Freund Lubitsch nach Amerika geschrieben. Für alle Fälle.« »Detta, Schatz, du musst unbedingt David Floyd‐Orr kennen lernen.« Miriam hatte einen schlaksigen jüngeren Mann im Schlepptau. »David, this is Detta von Aichborn.« »How do you do, Mr. Floyd‐Orr?« Detta reichte ihm die Hand. »David is something at the British Embassy«, verriet Miriam, be‐ vor sie weitersegelte. »How do you do, Miss von Aichborn? I am the Third Secretary, to be precise. Which leaves me with a lot of time to explore this marvellous town.« Der Engländer hatte widerspenstiges rostrotes Haar und ein paar Sommersprossen unter den grüngrauen Augen. Er war lässig elegant und für das Berlin von 1935 ungewöhnlich gekleidet, mit hellgrauen Flanellhosen und einem zweireihigen Blazer, dessen Schließknopf einen leichten Zug in der Taille verursachte. Ein deutscher Schneider hätte das erbar‐ mungslos ausgebügelt. »Perhaps you could show me around?«, schlug er vor und sah sie bewundernd an. »Recht gerne. Allerdings kenne ich Berlin vermutlich bedeutend schlechter als Sie. Ich komme direkt vom Land.« »A country girl, how wonderful.« »Landei wäre wohl zutreffender.« »Würden Sie morgen mit mir lunchen?« »Nein, Mr. Floyd‐Orr, das ist mir zu plötzlich. Ich kenne Sie ja gar nicht.« »Wenn Sie meine Einladung ausschlagen, werden Sie mich auch nicht kennen lernen. Was schade für Sie wäre.« »Eingebildet sind Sie wohl gar nicht?« »Nicht die Spur. Jedoch überzeugt von meinen inneren Werten, die bei einem Lunch in bezaubernder Gesellschaft gewöhnlich vorteilhaft sichtbar werden. Also, wie wär᾿s?« »Es bleibt beim Nein – für diesmal.« 209
»Und das nächste Mal?« Miriam unterbrach ihr Geplänkel: »Herr Karch, welche Ehre!« Sie eilte einem Herrn entgegen, an dessen dunklem Anzug ein kleines silbernes Abzeichen funkelte. »Kommen Sie, ich mache Sie bekannt. Fangen wir gleich mit meiner Freundin hier an: Minis‐ terialdirektor Aribert Karch — Baronesse Henriette von Aichborn.« Leises Hackenklappen, ein feuchter Handkuss, währenddessen Detta auf einen streichholzkurzen Scheitel blickte, und, nachdem der Mann sich aufgerichtet hatte, in ein Paar graue Augen hinter randlosen Brillengläsern. Miriam nickte ihnen zu und verschwand. Der Engländer hatte sich verdrückt. Ohjeh, ich hab ihn vergrault, dachte Detta. Sie deutete auf die zwei kleinen silbernen Blitze an Karchs Revers: »Sind Sie bei den Elektrizitätswerken?« »Ich gehöre zum Freundeskreis des Reichsfuhrers SS«, belehrte er sie mit wichtiger Miene. »Ein Kreis von Freunden, wie hübsch. Da unternehmen Sie be‐ stimmt ᾿ne Menge miteinander. Machen Sie Ausflüge? Oder gehen Sie zusammen ins Kino?« Karch rang vergeblich nach Worten. Detta erlöste ihn: »So genau will ich᾿s gar nicht wissen. Kommen Sie, Herr Karch, wir holen uns was zu trinken. Mögen Sie Cham‐ pagner? Der geräucherte Rheinlachs soll ausgezeichnet sein.« »Nach Ihnen, Baronesse.« Karch folgte ihr zum Buffet. Er deu‐ tete auf einen blendend aussehenden jüngeren Mann im hellen Anzug. »Ist das nicht Erik de Winter, der Filmschauspieler?« »Kann schon sein. Bei Miriam trifft sich Gott und die Welt.« »Aber zum Glück überwiegen nicht die Goldbergs und ihresglei‐ chen, sondern deutsche Menschen wie Sie und ich, Baronesse.« Karch schob ein Lachsröllchen in den Mund und tupfte sich die Lippen mit einem blütenweißen Schnupftuch, das er aus der Brusttasche gezogen hatte und nach Benutzung in den linken Ärmel stopfte. All das geschah mit etwas zu betonter Nonchalance, ebenso, wie er den Fuß des Champagnerglases zwischen Daumen und Zeigefinger balancierte, statt es am Stiel zu halten. 210
»Es wäre mir eine große Freude, Sie in einigen Wochen hier wieder begrüßen zu dürfen.« »Jetzt weiß ich. Sie sind vom Wirtschaftsministerium und über‐ nehmen Miriams Wohnung.« »Ich gebe zur Einweihung einen Empfang.« Karch räusperte sich. »Ausschließlich für deutsche Gäste. Ich habe ein Streichquar‐ tett mit deutscher Musik vorgesehen, dazu deutschen Sekt und ein paar ausgewählte Happen.« »Deutschen Kaviar zum Beispiel«, konnte Detta sich nicht ver‐ kneifen, was ihr einen misstrauischen Blick des Ministerialdirek‐ tors eintrug. Sie schaute besorgt hinüber zu Miriam, die ein Glas Champagner nach dem anderen hinuntergoss. Hella Siebert kam ganz aufgelöst von der Toilette und redete er‐ regt auf ihren Mann ein, warum, war nicht zu erkennen. Miriam stieg schwankend auf einen Stuhl. »Meine lieben Freunde!«, rief sie laut. Alle sahen zu ihr auf. »Ich möchte mich von euch ver‐ abschieden, liebe Freunde. Ich fahre nämlich in einer Stunde. Wir hatten eine schöne Zeit miteinander. Bei einigen von euch muss ich mich besonders bedanken. Zum Beispiel bei den Sieberts. Gottlieb und Hella, vielen Dank, dass ihr neuerdings so eifrig meinen Ausschluss aus dem Rot‐Weiß betreibt, weil eine wie ich im Club nicht mehr tragbar sei. Ohne mich hätte man euch kleine Parvenus damals nie aufgenommen.« Gottlieb Siebert lief rot an. Seine Frau schluchzte auf. Miriam wurde mit jedem Wort nüchterner. »Vielen Dank auch an Paul und Marianne Frowein, die heute Abend leider nicht bei uns sind. Die Ärmsten haben Heuschnupfen. Um diese Jahreszeit erstaunlich, was? Als sie meine Fürsprache bei Großvater wegen eines Darlehens fürs Eigenheim brauchten, konnten sie mich gar nicht oft genug besuchen.« »Lass gut sein, Miriam«, warnte Rolf Lamprecht. »Noch nicht. Erst muss ich mich noch bei Herrn Aribert Karch bedanken. Ein erstaunlicher Mensch, dieser Herr Karch. In einem 211
Jahr vom kleinen Nebbich in der Registratur des Wirtschaftsmi‐ nisteriums zum Ministerialdirektor dortselbst, das mache ihm einer nach. Unappetitliche Fettaugen wie er schwimmen neuerdings oben auf der braunen Brühe.« Karch wurde bleich. »Er hat die Ab‐ reise der Goldbergs umsichtig arrangiert, der Herr Ministerial‐ direktor. Und so großzügig. Stellt euch vor, die Familie darf ein Zehntel ihres Besitzes mitnehmen. Die restlichen neunzig Prozent kassieren die braunen Emporkömmlinge. Der Herr Ministerial‐ direktor nennt das Ausreisesteuer. Sonst würde man die Familie in Schutzhaft nehmen. Natürlich nur, um Parasiten wie uns vor dem gerechten Zorn des deutschen Volkes zu bewahren. Nicht, dass er persönlich was gegen uns hätte. Aber es ist halt eine günstige Gelegenheit, sich meine Wohnung für einen Pappenstiel unter den Nagel zu reißen, nicht wahr, Herr Karch?« Sie schmetterte ihm ihr Glas vor die Füße. Karch stürmte wutentbrannt hinaus. Miriam sprang vom Stuhl. »Hört zu«, rief sie lachend. »Ein Wort an alle, die noch nicht auf der Gästetoilette waren. Es stimmt, Gottlieb, deine Frau hat richtig gesehen, ich habe das WC zum Abschied künstlerisch ausgestalten lassen. Ein begabter Porzellan‐ maler hat das Porträt des Führers lebensecht im Klobecken ver‐ ewigt, damit alle, denen danach ist, auf ihn scheißen können. Ein Vergnügen, das ich mir vor meiner Abreise unbedingt gönnen werde.« Ungläubiges Schweigen, verhaltenes Lachen, entrüstetes Zischen. Die Palette der Reaktionen war mannigfaltig. Monsieur Montfort unterdrückte mühsam ein Schmunzeln. Dr. Gerhard sah mit unbewegtem Gesicht zu Boden. Egon Jeschke griente und murmelte: »Miriam, Mädel, du bist ᾿ne Wolke.« Miriam nahm ihm das Glas aus der Hand. »Prost, Egon, mein Freund. Prost, alle meine wahren Freunde!« Sie leerte es in einem Zug. »Und ihr anderen, ihr miesen kleinen falschen Fuffziger, die ihr euch jahrelang bei mir durchgeschlaucht habt, mit dem schö‐ nen Gefühl, dazu zu gehören — zur Hölle mit euch!« 212
David Floyd‐Orr stand als einziger am Buffet und wählte scheinbar konzentriert einige Delikatessen, die er behutsam auf seinen Teller hob. »Als Diplomat kann er nicht Partei ergreifen, sondern muss Zurückhaltung üben«, sagte Friedrich von Coberg. Er nahm sie unauffällig beiseite. »Karch hat mit der Gestapo telefoniert. Unsere Freundin muss sofort weg.« Miriam wollte sich gerade ein neues Glas Champagner ein‐ gießen, aber Detta schob sie ins Schlafzimmer. »Schnell, zieh dich um. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Karch hat die Gestapo alar‐ miert.« Miriam stieg ohne Hast aus ihrem Cocktailkleid, als hätte sie Dettas Worte nicht gehört. Im seidenen Hemdhöschen öffnete sie den Kleiderschrank, der die ganze Wand einnahm, und musterte kritisch seinen Inhalt. »Vielleicht das grüne Tweedkostüm aus Schottland? Das Reiseensemble von Coco Chanel wäre auch hübsch, was meinst du? Oder lieber das hellgraue Flanellkleid mit dem schwarzen Turban? Der passt gut zum weißen Auto, nicht wahr?« »Gib her.« Detta nahm den Turban, setzte ihn auf und stopfte ihr blondes Haar darunter. »Der steht dir ausgezeichnet, den schenk ich dir. Ich nehme den sportlichen Filz von Madame Schiaparelli.« »Du gehst in mein Zimmer, nimmst meinen Regenmantel und die Baskenmütze und verhältst dich ruhig«, befahl Detta. Draußen kreischten Reifen. »Hoffentlich kann der Prinz sie lange genug aufhalten. Ich komm mal nach Lissabon, dich besuchen. Adieu, Miriam.« Die Garagentür flog auf. Der offene weiße BMW heulte im ersten Gang die Rampe zur Straße empor und zog rasant an der schwarzen Limousine vorbei. Der Mann am Steuer folgte ihm mit verblüfften Blicken. Dann drückte er heftig auf die Hupe. Drei Le‐ dermäntel stürmten aus dem Haus und warfen sich in den Wagen. 213
»Los, ihr nach«, keuchte einer von ihnen. Der Sportwagen schlingerte weit vor ihnen um die Ecke und bog in die Heerstraße. »Die fährt wie der Teufel«, schimpfte der Fahrer. Detta schob den Turban aus der Stirn, als er ihr über die Augen zu rutschen drohte. Tollkühn trat sie das Gaspedal durch. Der Wagen machte einen Satz vorwärts und flog die Straße hinunter, sie hatte keine Ahnung, wohin, außer dass es stadtauswärts ging. Ein Schild: »Frankfurt/Oder 130 Km« klärte sie auf. Die Land‐ straße verlief schnurgerade. Der Mercedes im Rückspiegel war kleiner geworden. Lassen wir ihn ein Stück ran, feixte sie. Wo sich der Fahrer doch solche Mühe gibt. Die schwarze Limousine hinter ihr wuchs, bis sie für Dettas Geschmack groß genug war. Sie gab Gas, die Verfolger schrumpften wieder. Sie wiederholte das Spiel einige Male. Es begann ihr Spaß zu machen. Eine Bahnschranke senkte sich unerwartet ins Bild. Detta trat mit aller Kraft auf die Bremse. Der BMW hielt Zentimeter vor der Schranke, während der Warschau‐Express vorbeidonnerte. Gleich darauf umringten vier Ledermäntel den Wagen. Detta strahlte sie an: »Puh, das ist ja gerade nochmal gutgegangen.« »Gestapo«, blaffte der Anführer. »Angenehm, Herr Gestapo.« Sie streckte ihm die Hand entge‐ gen. »Ich bin Detta von Aichborn.« »Machen Sie keine Witze. Geheime Staatspolizei. Können Sie sich ausweisen?« »Zufällig habe ich meinen Reisepass dabei. Ich will nämlich nach Polen. Stippvisite bei den Potockys. Der Fürst ist mein Patenonkel.« Sie zog den schwarzen Turban vom Kopf, dass ihr blondes Haar sichtbar wurde. »Freiin von Aichborn, Henriette Sophie Charlotte«, las einer laut aus dem Pass vor. »Ist das Ihr Kraftfahrzeug?« »Das Auto hat mir eine Freundin geliehen. Sie nimmt lieber den Zug nach Wien. Die Papiere sind im Handschuhfach. Wollen Sie sehen?« 214
»Los, zurück nach Berlin. Vielleicht erwischen wir sie noch am Bahnhof«, rief der Anfuhrer. Die schwarze Limousine wendete und verschwand in einer Staubwolke. Detta sah hinterher. »Janz schön anjeführt, Leute«, sagte sie zufrieden und strich über die kleine goldene Plakette mit Miriams Initialen M.G. am Instrumentenbord. Der Anruf aus Kopenhagen kam am Nachmittag. Es war Miriam, frisch und munter, als wäre nichts geschehen. »Hallo, Kleines, ich bin gut angekommen.« »Mein Gott, Miriam, bin ich froh.« »War ᾿ne prima Idee von dir, die Meute per Automobil abzu‐ lenken und Richtung Wien zu hetzen. Mein Pass ist in Ordnung, so gab᾿s an der Grenze nach Dänemark keine Probleme.« »Versprich mir, dass du dich da ein paar Tage ausruhst. Kopen‐ hagen soll sehr schön sein.« »Sehr schön und sehr spießig. Ich vermisse Berlin jetzt schon. Ich nehme das nächste Schiff nach England und fliege von Lon‐ don nach Paris. Hör zu, Schatz. Ich möchte, dass du den Wagen behältst. Bring ihn irgendwo sicher unter. Ich schreibe an euren Familiennotar. Dr. Rossitter wird die Schenkungsurkunde ausfer‐ tigen. Viel Spaß am Volant. Und fahr nicht gleich gegen den nächsten Baum. Bleib in meiner Wohnung, solange man dich lässt. Ich melde mich in ein paar Wochen aus Lissabon. Tschüs.« Detta blieb nicht in Miriams Wohnung. Es wäre ihr wie Verrat vorgekommen. Sie brachte den Roadster in das Garagenhaus an der Kantstraße und mietete sich in der Pension Wolke in der Windscheidstraße ein. Den ganzen nächsten Tag und die folgende Nacht blieb sie auf ihrem Zimmer. Nach all den Ereignissen mochte sie niemanden sehen. Am Sonntag fühlte sie sich besser. »Sie Ärmste müssen ja halb verhungert sein«, begrüßte Frau Wolke sie am Mittagstisch. Detta lernte die paar Dauergäste ken‐ nen: den vornehm zurückhaltenden Herrn Köhler, Kanzleivor‐ 215
stand eines nahen Anwalts, der sich mit Monokel aristokratisches Flair zu geben mühte; die freundliche Vera Vogel, Sekretärin eines Versicherungsdirektors; das ältliche Fräulein Dr. Burmester, Stu‐ dienrätin am Französischen Gymnasium. Und Marlene Kaschke, eine gutgewachsene junge Blonde mit langen Beinen und etwas zu viel Décolleté, die auf Detta einen merkwürdig gehetzten Ein‐ druck machte. Sie sei auf Stellungssuche, sagte sie. Albert Wolke war im Gas vor Ypern erblindet und saß am Radio, aus dem Marschmusik dröhnte, unterbrochen von begeis‐ terten Kurzmeldungen: Deutsche Truppen waren ins Saarland ein‐ gezogen. »Die Saar ist wieder deutsch!«, triumphierte der Sprecher. »Als neechstes is det Rheinland dran und denn det Elsass. Diesa Hitler kricht den Schlund doch nich voll jenuch. Und keener tritt ihm uff die Latschen«, murrte Wolke. »Als ob᾿se uns letztes Mal noch nich jenügend auf die Finger jekloppt hätten.« Niemand war an seinen Bemerkungen interessiert. »Kommen Sie doch mit ins Kino«, schlug Marlene Kaschke vor. »Ich will mich im UfA‐Palast als Platzanweiserin vorstellen und mir gleich den neuen Film mit Willy Fritsch ansehen.« »Sehr nett von Ihnen, aber ich erwarte Besuch«, lehnte Detta ab. Sie hatte Hans‐Georg eine Postkarte mit ihrer Adresse geschrie‐ ben: ob er sie Sonntag besuchen würde. Sie zog sich in ihr Zimmer zurück und durchblätterte die Berliner Illustrirte, doch die Bild‐ reportagen aus aller Welt konnten sie nicht fesseln. Sie musste immerfort an Tom Glasers lachendes Männergesicht denken, und daran, dass er ihr nie mehr so nah sein würde wie damals beim Slowfox in Aichborn. Da wirst du eine Weile dran zu knabbern haben, dachte sie in ihrer nüchternen preußischen Art. Frau Wolke erschien gegen vier. »Herrenbesuch für Sie«, ver‐ kündete sie eine Spur missbilligend. »Ein junger Mensch in Uni‐ form. Die Tür bleibt offen, bitte ich mir aus.« Hans‐Georg stürmte strahlend herein. »Detta, endlich.« »Sie umarmte ihn und gab ihm einen kräftigen Kuss auf die 216
Wange. »Mein Bruder, Leutnant Hans‐Georg von Aichborn, Frau Wolke, meine Wirtin«, machte sie bekannt. Frau Wolke zerschmolz unter seinem Handkuss. »Natürlich können Sie die Tür zumachen, in diesem Fall. Ich bringe Ihnen gleich Kaffee und Selbstgebackenen.« Sie entschwebte. »Komm, setz dich. Wie war᾿s in Trakehnen?« »Stubbendorf und ich haben viel versprechenden Nachwuchs probiert. Eine vierjährige Fuchsstute gefällt mir besonders. Gänge hat die ... « Aufgekratzt berichtete er vom ostpreußischen Gestüts‐ betrieb und von Ausflügen in die Umgebung, aber Detta sah den gequälten Ausdruck in seinen Augen. »Du vermisst sie sehr, nicht wahr?« »Mehr als alles in der Welt«, brach es aus ihm heraus. »Detta, was soll ich tun?« Es tat weh, aber sie zwang sich, einen harschen Ton anzuschla‐ gen: »Du hast nur Soldat gelernt. Du kannst kein Wort Portu‐ giesisch. Was willst du also in Lissabon? Deiner Frau auf der Tasche liegen, als Prinzgemahl mit nichts als ᾿nem kleinen ›von‹ und ein bisschen guten Manieren?« Er versuchte ein Lächeln. »Du sprichst richtig erwachsen, kleine Schwester.« »Ich bin in den letzten Tagen erwachsen geworden, weil ich begriffen habe, dass Kleinmädchenträume nichts mit der Wirk‐ lichkeit zu tun haben. Die Wirklichkeit ist, dass Tom Glaser nächste Woche heiratet. Ich dumme Gans hatte mich da in was verrannt. Die Wirklichkeit, das sind fette Kundinnen bei Horn, die dich ungestraft beleidigen dürfen und gierige Ministerial‐ direktoren, die das neue Regime hochgeschwemmt hat.« Sie berich‐ tete dem Bruder von ihren Erlebnissen und schloss: »Phantastisch, wie Miriam es ihnen zum Abschied gegeben hat.« »Ich werde auf sie warten. In der Regierung gibt es genug vernünftige Köpfe, die den paar Extremen in die Zügel fallen wer‐ den. Der Reichskanzler kann kein Interesse daran haben, die halbe 217
Welt gegen sich aufzubringen, gerade jetzt, wo er die Befreiung Deutschlands vom Versailler Vertrag so gut wie vollendet hat. Du wirst sehen, Miriam und ihre Familie kehren bald unbehelligt zu‐ rück.« Er glaubt wirklich dran, dachte Detta erstaunt. Frau Wolke brachte Kaffee und Marmorkuchen. »Ein herrlicher Tag«, versuchte sie eine Unterhaltung in Gang zu bringen, aber die Geschwister reagierten ebenso höflich wie einsilbig, sodass sie rasch den Rückzug antrat. »Was wirst du tun?«, wollte Hans‐Georg wissen. »Zu Thomas Glasers Hochzeit gehen. Als Rosskur, sozusagen. Außerdem Wohnung und Arbeit suchen. Ich hab mit Vater telefo‐ niert. Er kennt jemanden im Auswärtigen Amt. Ich soll mich da vorstellen. Und was meine Freizeit betrifft — nach Potsdam ist es nicht weit. Ich komme so oft du willst.« »Stubbendorf leiht dir bestimmt gerne ein Pferd. Dann können wir zusammen ausreiten.« Sie zog seine Hand an ihre Wange. »Du bleibst doch mein liebs‐ ter Mann«, sagte sie zärtlich. Der Jemand im Auswärtigen Amt war ein Bundesbruder des Frei‐ herrn und überdies Reichsminister des Äußeren. Herr von Neu‐ rath hatte eine freundliche väterliche Art, aber wenig Zeit. »Eine junge Dame mehr bei uns im AA kann gewiss nicht schaden. Sie sind perfekt im Englischen und sehr gut im Spanischen, höre ich. Da können Sie Arvid von Troll in der Westeuropaabteilung zur Hand gehen. Mein Personalreferent erledigt die Formalitäten. Sie müssen bald zum Essen zu uns kommen. Meine Frau wird sich freuen.« Eine ältere Sekretärin nahm Detta reserviert in Augenschein und bedeutete ihr, dass Herr von Troll zur Zeit in Genf sei. »Sie können sich nächste Woche bei ihm vorstellen. Obwohl wir eigentlich komplett sind«, fugte sie spitz hinzu. 218
»Wunderbar, das lässt mir Zeit zur Wohnungssuche«, entgeg‐ nete Detta fröhlich. Sie war entschlossen, allem eine gute Seite abzugewinnen. Auf der Wilhelmstraße winkte ein Mann von der anderen Seite. Es war David Floyd‐Orr. Er warf sich todesverachtend in den Ver‐ kehr und ruderte mit schlaksigen Bewegungen über den Fahr‐ damm. Sein rostroter Schopf leuchtete in der Sonne. »Miss von Aichborn, how nice to see you.« »Likewise, Mr. Floyd‐Orr. Sind Sie in diplomatischen Geschäf‐ ten unterwegs?« »In Schuhgeschäften, um ehrlich zu sein. Ich suche ein Paar weiße Segeltuchschuhe, bei meiner Größe eine schiere Unmög‐ lichkeit.« Detta lenkte den Blick auf seine Füße. »Bensing geht alle zwei Jahre zu Wertheim. Öfter kommt er nämlich nicht nach Berlin.« »Bensing?« »Er kümmert sich zu Hause um alles. Butler sagt man wohl bei Ihnen. Er hat eine geradezu polizeiwidrige Schuhnummer.« Sie schlug die Hand vor den Mund. »Verzeihen Sie bitte, das war taktlos.« Er lachte. »Also, wo ist dieser Schuhladen?« »Sie sind länger in der Stadt als ich und kennen Wertheim nicht?« »Zum Glück, wie ich meine, denn nun bin ich auf Ihre Hilfe angewiesen, und ein hilfloser Mann hat gewöhnlich halb gewon‐ nen, sagt mein Freund Jack, der sich auskennt mit den Frauen, immerhin ist er schon zum dritten Mal verheiratet.« »Puh, ein Blaubart.« »Nein, ein Amerikaner.« Vor dem Kaufhaus Wertheim am Potsdamer Platz standen SA‐ Männer mit Umhängeschildern: »Deutsche, kauft nicht beim Juden!« Doch kein Mensch scherte sich darum, die großen Dreh‐ türen waren dauernd in Bewegung. Die Berliner ließen sich so leicht nichts vorschreiben. 219
Drinnen sahen Detta und der Engländer staunend empor zur Glaskuppel, unter der an Stahlseilen ein Flugzeug hing. »Das gehörte früher einem berühmten Flieger namens Udet«, klärte Detta ihren Schützling auf und fragte einen Verkäufer nach der Schuhabteilung. Dort fanden sie im Handumdrehen die passende Größe. »Nehmen wir einen Kaffee?«, schlug er vor. »Ja, gerne.« Sie führen hinauf in die Erfrischungsabteilung, wo es angenehm nach Schokolade und Schlagsahne roch und adrette Bedienungen in Spitzenhäubchen servierten. »Sie segeln also«, stellte sie fest. »Wegen der Schuhe? Nein. Mein Kollege Nigel Hawksworth wurde überraschend nach Schanghai versetzt und überließ mir leihweise sein Motorboot. Es liegt an der Stößenseebrücke und hat vorn zwei Kojen. Wenn Sie eine Freundin mitbringen, können Sie meine Einladung zum Weekend auf dem Wasser in allen Ehren annehmen. Ich mag frische Nachtluft und schlafe sowieso an Deck.« Detta gab sich zurückhaltend: »Ich werde Marion fragen, ob sie Lust hat, mitzukommen. Kann ich Sie telefonisch erreichen, Mr. Floyd‐Orr?« Er gab ihr seine Karte. »Wenn Sie sich dazu durchringen könn‐ ten, David wäre bedeutend kürzer.« »Detta auch.« Er brachte sie zur U‐Bahn. Sie nahm den Zug bis zum Kaiser‐ damm. Von da war es nicht weit zur Pension Wolke. Ihr Herz hüpfte bei dem Gedanken an ein Wochenende auf dem Wasser. Das Problem war nur – sie kannte keine Marion. Detta hatte ihre derzeitige Adresse nach Hause gemeldet, wo No‐ tar Dr. Theodor Rossitter sie erhielt und sie brieflich in sein Büro Unter den Linden bat. Sie kannte ihn von frühester Kindheit an. Er kam jedes Jahr zur Jagd nach Aichborn. Sie fuhr mit dem Bus zum Brandenburger Tor. An der Neuen 220
Wache zog gerade mit Trommeln und Pfeifen die Wachablösung auf. Ein Hauptmann zu Pferd nahm die Meldung des Zugführers, eines schneidigen jungen Leutnants, entgegen. Detta mischte sich unter die Schaulustigen, die das farbenfrohe Spektakel verfolgten. »Det is doch janz wat anderes als die jeschniegelten SS‐Heinis vor der Reichskanzlei«, kommentierte jemand. »Nu lass᾿n doch man, den Adolf. Vorm Adlon haben᾿se ooch ihre eijenen Türsteher«, sagte sein Nachbar. Detta ging die »Linden« hinunter, am Café Kranzler vorbei. Das Notariat war in einem alten Haus unweit der Friedrichstraße. Es wirkte verstaubt aber gediegen. Man betreute hier seit über zweihundert Jahren Preußens Landadel. »Fräulein Henriette«, begrüßte Dr. Rossitter sie in seiner alt‐ väterlichen, stets etwas steifen Art. »Ich habe im Auftrag von Fräulein Miriam Goldberg die Schenkung eines motorisierten Fahrzeuges an Sie vorbereitet. Sie unterzeichnen bitte hier unten. Mein Kanzleivorsteher sorgt für Eintragung und Papiere auf Ihren Namen.« »Danke, Herr Dr. Rossitter.« Er lächelte wehmütig. »Ich wünschte, Sie würden mich Onkel Theo nennen, wie früher.« »Danke, Onkel Theo.« »Da ist der zweite Grund, warum ich Sie zu mir bat. Ihr Vater hat mir geschrieben. Er wünscht, dass Sie von nun an eigenmäch‐ tig über Ihr großmütterliches Erbe verfügen. Sie seien volljährig und alt genug, mit Geld umzugehen.« »Ist es schrecklich viel?«, fragte sie bange. »Sie bekommen eine genaue Aufstellung. In der Hauptsache sind es Papiere und Liegenschaften, welche das Bankhaus Ihrer Familie für Sie verwaltet. Außerdem steht ein Sparkassenkonto zu Ihrer beliebigen Verfügung. Ewald wird Ihnen den Kontoausweis geben. Damit können Sie in allen Filialen Geld abheben oder Überweisungen vornehmen. Ich denke beispielsweise an Ihr neues 221
Auto, das einige Unkosten verursachen wird, nicht zu vergessen die Miete, da Sie doch gewiss bald eine eigene Wohnung beziehen wollen.« »Das Auswärtige Amt hat mich eingestellt. Da kriege ich ein richtiges Gehalt«, sagte Detta stolz. »Gratuliere. Eine angemessene Stellung für eine junge Dame.« Dr. Rossitter brachte sie hinaus. »Wenn Sie Rat oder Hilfe brau‐ chen, ich bin jederzeit für Sie da. Vergessen Sie nicht, Berlin ist wie jede Großstadt ein gefährliches Pflaster.« »Vielen Dank, Onkel Theo, ich gebe schon auf mich Acht.« Beschwingt lief Detta die Treppen hinunter und betrat gleich nebenan die Buchhandlung, um einen Stadtplan zu kaufen. Dann holte sie den weißen Roadster aus dem Garagenhaus. Sie konnte es gar nicht erwarten, die Hauptstadt am Volant zu erobern. Bewundernde und neidische Blicke folgten der blonden jungen Frau im offenen Sportwagen. Frauen am Steuer waren im Berlin des Jahres 1935 fast so selten wie der schnittige BMW 319. »Wolln᾿se ᾿ne Extraeinladung, Frollein?«, erkundigte sich der Schupo, der an der Kaiser‐Wilhelm‐Gedächtniskirche den Ver‐ kehr regelte, als Detta beim zweiten Handwechsel noch immer an der Kreuzung stand, weil ihr plötzlich Marlene Kaschke einfiel. Die war haargenau der richtige Anstandswauwau fürs Wochen‐ ende mit dem sommersprossigen Engländer. Sie lächelte entschul‐ digend zum Schutzmann auf und gab Gas. Am Dienstag traf Detta ihren neuen Vorgesetzten. Arvid von Troll hatte den Nachtexpress aus Genf genommen. Er war Mitte dreißig, mit schmalem gutgeformtem Schädel und einem Schmiss auf der linken Wange, der, wie Detta erfuhr, nicht vom Paukboden, sondern von einem Motorradunfall stammte. Der Diplomat war begeisterter Cross Country Fahrer. »Treiben Sie Sport, Fräulein von Aichborn?« »Nur, wenn Sie Reiten als Sport bezeichnen. Jeden Tag ein Dut‐ 222
zend Pferde bewegen, ist kein reines Vergnügen. Die Tochter unse‐ res Verwalters macht das jetzt. Dauernd ungezäumt auf der Weide, da gewöhnen die lieben Tierchen sich nämlich schnell Unarten an.« Aber Herr von Troll war nicht wirklich interessiert. »Wir sind dabei, den Englandbesuch des Chefs vorzubereiten. Der amtliche Teil ist klar. Bleibt die Einladung zum Weekend nach Chequers, dem Landsitz des Premierministers. Überlegen Sie sich bitte ein hübsches Gastgeschenk für den Hausherrn und Mrs. Macdonald.« »Bis wann brauchen Sie meine Vorschläge?« »Bis vorgestern.« Troll wandte sich dem Stapel Akten auf seinem Schreibtisch zu. Die Sekretärin Frau Wilhelmi brachte Detta in ihr kleines Büro auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs. Schreibtisch, Stuhl und Aktenschrank waren das ganze Mobiliar. Zwei Stockwerke tiefer lag der Hof mit geparkten Dienstfahrzeugen. Die Sekretärin wies auf eine elektrische Glocke über der Tür: »Wenn die läutet, sofort zu Herrn von Troll. Papier und Bleistifte sind da im Schrank.« Sie wollte gehen. Detta hielt sie auf: »Ich brauche die neueste Ausgabe von ›Who is Who‹, den ›Großen Muret‐Sanders‹, eine Schreibmaschine und vor allem ein Telefon. Nachschlagewerke und Schreibmaschine bitte sofort, das Telefon bis zum Nachmit‐ tag.« »Unten im Haus ist eine Telefonzelle.« Detta überhörte die Kampfansage. Sie deutete auf die Dose an der Scheuerleiste: »Ein Anschluss ist ja vorhanden. Der Hausmeis‐ ter soll den Apparat nach der Mittagspause aufstellen. Das gibt ihm Zeit genug, die Zentrale zu verständigen. Schreibmaschinen‐ tisch und Stuhl kann er gleich mitbringen, ich möchte meinen Schreibtisch für die Arbeit freihalten.« Die Sekretärin setzte zum Widerspruch an, aber Detta ließ sie nicht zu Wort kommen, son‐ dern sagte kühl: »Das ist für den Moment alles. Danke, Frau Wil‐ helmi.« Die Sekretärin senkte den Blick. Detta hatte gewonnen. 223
Nachmittags prangte eine »Olympia« auf dem prompt am Fens‐ ter aufgestellten Schreibmaschinentischchen, Kohle‐ und Durch‐ schlagpapier lagen griffbereit daneben, die Lexika standen im Ak‐ tenschrank, und die Schnur des Telefons kräuselte sich zur An‐ schlussdose. Detta griff zum Hörer. Die Hausvermittlung meldete sich sofort. »Hier Apparat 124. Bitte verbinden Sie mich mit Aich‐ born in der Uckermark. Die Nummer ist Wrietzow Null Drei.« Sie legte auf. Ein paar Minuten später läutete ihr Apparat. Bensing meldete sich am anderen Ende. »Fräulein Detta?«, rief er aufgeregt, als er ihre Stimme erkannte. »Wie geht es Ihnen?« »Danke, ausgezeichnet. Hören Sie, dies ist ein Dienstgespräch. Wir müssen uns darum kurz fassen. Bitte gehen Sie auf mein Zim‐ mer. Ich habe mein rotes Adressbuch vergessen. Holen Sie es ans Telefon. Ich brauche eine Nummer. Ich lege jetzt auf. Ich rufe Sie gleich wieder an.« Fünf Minuten drauf hatte sie die gewünschte Nummer. Eifrig machte sie sich an die Arbeit. Um sechs war Büroschluss. Detta nahm die U‐Bahn nach Hause. Den BMW hatte sie im Garagenhaus gelassen. Es erschien ihr unpassend, als kleine Anfängerin vor dem Auswärtigen Amt mit dem Sportwagen aufzukreuzen. In der Pension Wolke herrschte nach dem Essen die übliche abendliche Langeweile. Herr Köhler studierte mit blitzendem Monokel Gothas Adelskalender, Vera Vogel las in der Dame, Fräulein Dr. Burmester korrigierte mit rotem Stift eine Klassen‐arbeit. Mar‐ lene Kaschke ließ sich nicht sehen. Detta klopfte an ihre Zimmertür. Die junge Frau lag im Hausmantel auf dem Bett und lackierte ihre Zehennägel, Detta hatte soetwas noch nie gesehen. Sie kam gleich zur Sache: »Haben Sie Sonnabend‐Sonntag schon was vor?« Marlene Kaschke hatte nicht und war hellauf begeistert: »Mit ᾿nem Motorboot auf der Havel? Klar mache ich mit. Wo ich mir doch gerade einen fabelhaften himmelblauen ›Bleyle‹ gekauft habe.« Das sei, erfuhr die ahnungslose Detta, ein Badeanzug vom neuesten 224
Schnitt, mit angesetztem Röckchen und tiefem Rücken. »Den gibt᾿s in allen Farben bei Leineweber. Sie sollten sich einen kaufen«, riet Marlene Kaschke und hatte nichts dagegen, ein Wochenende lang Marion zu heißen und eine uralte Freundin zu sein. »I shall be delighted to meet your friend Marion«, sagte David Floyd‐Orr erfreut am Telefon. »Sonnabend um neun an der Stö‐ ßenseebrücke. Gehen Sie einfach die Treppe zu den Bootsstegen hinunter, Sie können mich gar nicht verfehlen.« Detta hing ein. Sie hatte keine Ahnung, wie sie die Verabredung einhalten sollte. Im AA wurde sonnabends bis dreizehn Uhr gear‐ beitet. Gleich um acht Uhr ging Detta zu ihrem Chef. Arvid von Troll war damit beschäftigt, den Inhalt eines abgeschabten Akten‐ koffers auf den Schreibtisch zu schichten. »Der war schon beim Geheimrat Holstein in Betrieb. Was für Geschenke schlagen Sie vor?« »Für Mrs. Macdonald empfehle ich eine klassische Vase aus der Staatlichen Porzellanmanufaktur. Für den Premierminister käme ein Netsuke in Frage.« »Ein was bitte?« »Das sind daumengroße japanische Figürchen in mannigfaltigen Formen, oft aus exotischem Holz geschnitzt. Die Japaner be‐ nützten sie schon im fünfzehnten Jahrhundert als Knebel, um damit den Tabaksbeutel am Gürtel zu befestigen.« »Premierminister Macdonald wird froh sein, dass er nun endlich seinen Tabaksbeutel aufhängen kann«, meinte Arvid von Troll sarkastisch. »Was soll dieser Unfug, Fräulein von Aichborn?« »Kein Unfug, Herr von Troll«, entgegnete Detta ruhig. »Ram‐ say Macdonald ist ein Liebhaber japanischer Kunst. Seine Holz‐ schnittsammlung ist berühmt.« »Warum dann einen japanischen Däumling?« »Ein Netsuke liegt freundlich in der Hand und vermittelt ein 225
positives Gefühl, wenn man es betastet. Sein exotisches Holz ver‐ strömt einen eigentümlich anregenden Duft.« »Und Sie meinen, der solchermaßen Beschenkte wird das Ding begeistert befingern und beriechen?« »Der Premierminister ʺwird wegen fortschreitender Erblindung seine Holzschnitte bald nicht mehr sehen können. Tast‐ und Ge‐ ruchssinn bleiben ihm erhalten. Er wird übrigens in Kürze zurücktreten.« »Erblinden? Zurücktreten? Was faseln Sie da?« »Um ein wirklich persönliches Gastgeschenk vorzuschlagen, musste ich wissen, was für ein Mensch Mr. Macdonald ist.« »Und da haben Sie beim Frühstück den Kaffeesatz zu Rate ge‐ zogen.« »I wo, ich habe einfach mit dem Botschafter in London tele‐ foniert.« »Sie haben ohne Genehmigung unseren Botschafter angeru‐ fen?«, fragte Troll fassungslos. »Ja sind Sie denn wahnsinnig?« »Nicht unseren Botschafter, sondern Onkel Juan. Der Bruder meiner Mutter ist spanischer Botschafter am Hofe von St. James«, beruhigte Detta ihn. »Er ist für gewöhnlich gut informiert.« Arvid von Troll räusperte sich. »Ich muss mich wegen meines To‐ nes entschuldigen, Fräulein von Aichborn. Wir werden Ihren Ge‐ schenkvorschlägen folgen.« Er zögerte eine Sekunde. »Onkel Juan weiß nicht zufällig, wer Ramsay Macdonalds Nachfolger wird?« »Danach habe ich ihn auch gefragt«, gab Detta bereitwillig Aus‐ kunft. »Stanley Baldwin, sagt er.« »Herr von Neurath wird beeindruckt sein«, prophezeite Troll sichtlich zufrieden. »Zum Lohn dürfen Sie sich was wünschen.« »Kann ich Sonnabend freihaben?« »Können Sie«, genehmigte Herr von Troll großzügig. Am Sonnabend stand sie früh auf, um die Basttasche mit Wasch‐ beutel, Handtuch, neuem Bleyle und der Agfa Box zu packen. 226
Dazu Bluse, bunter Wickelrock, passende Shorts und Sandalen. Detta war gerüstet. Um halb acht pochte sie an Marlene Kaschkes Tür. »Da können Sie lange klopfen, Fräulein von Aichborn«, beschied Frau Wolke sie. »Die hat gestern ein Bekannter abgeholt. Sogar ihre Miete hat er gezahlt. Wollen Sie zum Frühstück ein Ei?« Detta antwortete nicht, weil sie krampfhaft nach der Lösung des Problems suchte, das sich da so unerwartet auftat. Aber ohne An‐ standswauwau gab es keine Lösung. Ade, Weekend auf dem Wasser, dachte sie wütend. Man war keineswegs prüde zu Hause in Aichborn. Detta hatte schon als Sechsjährige mit dem Stallmeister Stuten zum Hengst geführt, und die Mutter hatte ihr am Beispiel Linas, dem von einem längst weitergewanderten Saisonarbeiter schwangeren Küchenmädchen, erklärt, dass man auch unverheiratet in Umstände kommen könnte, was indes nicht wünschenswert sei, ein Kind brauche den Vater und die Frau den Ehemann. Auf die Reihenfolge käme es an, und da sei es klüger, den Mann vor dem Altar dingfest zu machen, ehe man Vergnügen mit ihm habe. Denn ein Vergnügen sei es, setzte die Freifrau ihre Aufklärung fröhlich fort, und mit dem Gatten hätte man dieses öfter und länger, wo sei denn Linas Saisonarbeiter heute? Das leuchtete der praktischen Detta ein, nur über das Vergnügen hätte sie gerne mehr gewusst. Bei nächster Gelegenheit befragte sie Lina, die ihr flüsternd beschrieb, wie das ging und warum es so schön war. Fortan betrachtete Detta die Burschen im Dorf aus einem völlig neuen Blickwinkel, und das Vergnügen schlich sich in ihre sehnsuchtsvollen Träume. Damit diese eben solche blieben, gab die Mutter ihr Adelheid als Chaperon bei, wenn Bensing sie zur Tanz‐ stunde in die Kreisstadt fuhr, oder einer der jungen Herren von den benachbarten Gütern sie zum Sommerball begleitete. Detta fand das ganz in Ordnung. Es war keine Frage der Moral sondern 227
eine Frage der Etikette. Bekanntlich aß man Fisch ja auch nicht mit dem Messer. Obwohl volljährig und ohne Aufsicht in der Weltstadt Berlin, wo alles erlaubt war, solange es Spaß machte, wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, an dieser Etikette zu rütteln. Das war nun mit einem Schlag anders. Dann eben Fisch mit dem Messer, dachte sie verwegen und holte den BMW aus der Kantgarage. Sie parkte den Wagen an der Brücke und sprang übermütig die unzähligen in den steilen Abhang gekerbten Stufen hinunter. David Floyd‐Orrs rostroter Schopf leuchtete ihr schon von weitem entgegen. Er trug ein weißes Polohemd, dazu makellose weiße Leinenhosen, um die er statt Gürtel eine Krawatte in den Schul‐ farben von Winchester geknotet hatte. »Good morning, Detta. How nice of you to come.« »Hello David, thank you for asking me.« Damit war der eng‐ lischen Höflichkeit Genüge getan. »Meine Freundin Marion lässt sich entschuldigen, eine Unpässlichkeit.« Sie sah auf den Stößen‐ see, der eigentlich kein See war, sondern eine von alten Bäumen gesäumte Bucht. Stege ragten von allen Seiten wie hölzerne Finger ins Wasser. Segelschiffe, Motorboote und Ruderkähne wiegten sich an ihren Plätzen. »Wirklich schön hier.« »In der guten Jahreszeit wohne ich praktisch hier draußen. Da entlang, bitte.« Sie gingen über sonnenwarme Planken bis zu einem Motorboot, an dessen Heck in blanken Buchstaben der Name BERTIE prangte. Der Union Jack darüber hob sich ange‐ nehm von den Hakenkreuzfahnen der anderen Schiffe ab. David half ihr an Bord. Alles hier war Messing und Mahagoni. »Da gibt᾿s aber ᾿ne Menge zu putzen«, meinte die praktische Detta. »Certainly not this weekend. Hier geht᾿s runter.« Drei Stufen führten hinab in die Kabine, welche sich bis zum Bug erstreckte. Die Bänke an den beiden Längsseiten konnten zu bequemen Lie‐ gen verbreitert werden. Ein Wandschrank barg die winzige Kom‐ 228
büse mit Spirituskocher. David wies auf die verzinkte Kühltruhe: »Wir warten noch auf den Mann mit der Stange Eis, damit die Getränke kalt bleiben, dann kann᾿s losgehen. Ich dachte, wir fahren über Potsdam bis Brandenburg und morgen ein Stück weiter ins Havelland. Abends sind wir wieder hier, es ist Ihnen doch recht?« Detta war᾿s recht. Der leichte Geruch von moorigem Wasser, Öl und Benzin, das sanfte Wiegen der Wellen, das Plärren eines Koffergrammophons auf dem Nachbarboot, alles war neu und faszinierend. Der Eismann lieferte seine Fracht polternd unter Deck und wünschte ein schönes Wochenende. David löste die Taue und stieß vom Steg ab. Blubbernd startete der Motor und trieb das Boot gemächlich unter der Stößenseebrücke hindurch auf die sich vor ihnen öffnende Havel. Detta entdeckte in der Kabine eine weiße Schirmmütze mit Anker, die sie verwegen aufs linke Ohr schob. Den Wickelrock hatte sie abgelegt und saß nun mit angezogenen Knien in Shorts auf dem Kajütendeck. Sie schaute über die silbrig glitzernde Was‐ serfläche, auf der weiße Segel blinkten und schlanke Paddler ihre Furchen zogen, gelegentlich von der Heckwelle eines Motorboo‐ tes angehoben. Sie fühlte sich frei und ungezwungen, wie sonst höchstens im Sattel. Allmählich nahmen sie Fahrt auf. David stand mit konzentrier‐ ter Miene am Ruder, als lenke er Bertie hart an einer Klippe ent‐ lang. Es dauerte ein Weilchen, bis Detta begriff, dass er krampfhaft bemüht war, ihre nackten Beine zu übersehen, was ihm zu ihrer Belustigung nicht recht gelang. »Wenn Sie bitte das Ruder übernehmen würden, dann könnte ich mich um unsere Drinks kümmern. Einfach geradeaus halten. Falls ein Eisberg auftaucht, bitte ausweichen.« Sie musste lachen, weil er das mit total ernstem Gesicht vortrug. Der letzte Mann, der sie zum Lachen gebracht hatte, war Tom Glaser gewesen, damals in Aichborn, wie lange war das her. Ein 229
winziger Schmerz machte sich bemerkbar und verwehte. David verschwand unter Deck und brachte nach einigen Minuten hohe beschlagene Gläser, in denen das Eis klirrte. »Ich hoffe, Sie mögen Pimm᾿s Cup Number One?« »Wenn Sie mir sagen, was das ist?« »Das wusste ursprünglich nur Mr. James Pimm, Apotheker in London um 1840, der dieses Getränk auf Ginbasis zur Anregung seiner Kundschaft erfand. Die Kräuter und Gewürzzugaben sind heute Geheimnis seiner Erben. Die Limonade zum Auffüllen hat Lady Phipps gemacht, die Gattin unseres Botschafters Sir Eric, in der Hoffnung, damit besonders die jüngeren Mitglieder der Mission vom Teufel Alkohol fernzuhalten. Gurkenstreifen sowie je eine Scheibe Zitrone und Orange sind meine persönliche Zu‐ gabe.« »Schmeckt gut«, entschied sie. »Trotzdem bleibt᾿s wohl besser bei diesem einen Glas, der Sonne und besagtem Teufel wegen.« Detta kicherte. »Habe ich etwas Komisches gesagt?« »Nein. Es ist ... « Sie versuchte sich zu beherrschen, doch dann platzte sie heraus: »Bei Ihnen braucht man wirklich keinen Cha‐ peron.« David wurde rot – umso mehr, als Detta gleich darauf im himmelblauen Bleyle an Deck erschien. Sie passierten den Wannsee. Potsdam zog vorüber und Geltow. In einer Bucht bei Werder warfen sie Anker. Detta trat hochauf‐ gerichtet zum Bug. Sie war sich ihrer Figur bewusst wie nie zuvor. Hoffentlich findet er meine Schenkel nicht zu dünn, dachte sie be‐ sorgt. Daheim, beim Schwimmen in der Aich mit den Jungen und Mädchen aus dem Dorf wäre ihr sowas nie in den Sinn gekom‐ men. Vorsichtshalber entzog sie sich seinen Blicken mit einem schnellen Sprung ins Wasser. David sprang hinterher. Sie tauchte. Ein Stück weiter kam sie hoch. Er schwamm ihr mit langen Zügen nach. Sie versank erneut, um unerwartet hinter ihm aufzutau‐ 230
chen. Sie wiederholte das einige Male. Es machte ihr Spaß, ihn ein bisschen zu necken. Sie tauchte unter dem Boot durch und ver‐ harrte dicht an der Bordwand. »Detta? Detta!« Seine Rufe wurden dringender. Sie dachte an Tom Glaser. Ob er sich auch gesorgt hätte? »Also hier stecken Sie.« Ein Paar kräftiger Arme umfing sie. Eine Sekunde lang spürte sie seinen festen Körper. »Und ich dachte schon... « Verlegen ließ er sie los. »Da haben Sie mich aber schön angeführt.« »Ich? Wieso?«, spielte sie die Unschuldige und zog sich an der Bordkante hoch. Sie legte sich auf Deck in die Sonne. Sie döste vor sich hin und träumte von Thomas Glaser. Er hielt ihre Hand. Sie erwiderte unwillkürlich seinen sachten Druck. Aber es war Davids Hand, die er ihr hastig entzog, als sie die Augen öffnete. Wie schüchtern er ist, dachte sie entzückt. Thomas Glasers Hochzeit war eine reine Fliegerangelegenheit. Das Brautpaar lief nach der Trauung durch einen Triumphbogen gekreuzter Propeller, und ein Kollege des frisch gebackenen Flug‐ kapitäns sauste mit dem Doppeldecker im Tiefflug über den Turm der Alten Dahlemer Dorfkirche des Pastors Niemöller, die zu er‐ wartende Ordnungsstrafe hatte der Lufthansadirektor großzügig im Voraus gespendet. Die Braut Ulrike Spielhagen, oder jetzt viel‐ mehr Ulrike Glaser, war eine freundliche Brünette von fünfund‐ zwanzig. »Gut gewählt, Tom«, sagte Detta betont burschikos. »Nett, dass Sie das sagen«, bedankte sich Glaser. »Auf gute Freundschaft«, prostete ihr Ulli bei Tisch zu. »Auf gute Freundschaft.« Detta nahm sich zusammen. Niemand ahnte, was in ihr vorging. Außer Hans‐Georg, der sie einfach zu gut kannte. »Es sollte halt nicht sein, aber deiner kommt auch noch, du musst nur dran glauben«, tröstete er sie. Das war haargenau der Tränenauslöser, den sie nicht brauchen konnte. »Entschuldige mich bei allen«, stieß sie hervor. Sie startete den BMW, legte krachend den ersten Gang ein und 231
fuhr abrupt an. Sie nahm beim Einbiegen in den Kurfürstendamm einem Bus die Vorfahrt und warf am S‐Bahnhof Haiensee fast einen Radfahrer um. Sie merkte das alles nicht. Sie saß nicht am Steuer ihres Roadsters, sondern in Tom Glasers Maschine. Der Luftstrom zerrte an ihrem Haar, als er die Klemm zum Looping hochzog. Ihr Magen revoltierte. Ein schreckliches Würgegefühl überkam sie. Sie bremste kreischend und übergab sich am Bordstein. Zum Glück war niemand in der Nähe und der Verkehr um diese abendliche Stunde dünn. Gegenüber war ein kleines Familienlokal. Sie bestellte einen Kaffee und eilte auf die Toilette. Kräftiges Gurgeln befreite den Mund vom beißenden Geschmack der Magensäure. Sie tauchte das Gesicht ins kalte Wasser. Zum Glück hing ein frisches Hand‐ tuch neben dem Becken. »Contenance, ma petite«, meinte sie die Stimme der Mutter zu hören. Das war damals, als die zwölfjährige Detta eine Dressurprüfung beim ländlichen Reitturnier verpatzte und Henry heulend in den Stall führte. Sie strich das Haar zurecht und das Kleid glatt, den Hut hatte sie unterwegs verloren. Als sie den Gastraum betrat, war sie nach außen wieder die kühle preußische Aristokratin, freundlich aber reserviert, mit unnachahmlicher Haltung. Innerlich konstatierte sie trocken: War wohl nichts mit deiner Rosskur, mein Kind. Das braucht stärkere Medizin. Entschlossen setzte sie sich ans Steuer und gab Gas. Es dämmerte schon, als sie die unzähligen Stufen von der Stößenseebrücke zu den Stegen hinablief. Aus BERTIES Kajüte leuchtete das warme Licht einer Petroleumlampe. David Floyd‐ Orr lag lang ausgestreckt auf der rechten Polsterbank und las, eine altertümliche Halbmondbrille auf der Nase. Er hob den Kopf. »Ah, hallo«, sagte er ohne ein Zeichen der Überraschung. »Selber hallo.« Detta überlegte krampfhaft, wie man als total un‐ erfahrenes Mädchen zwecks Rosskur einen Mann verführte, ohne sich zu blamieren. 232
Sie erwachte vom Schrei eines Wasserhuhns. Durch die Bullaugen drang das diffuse Licht des frühen Morgens. Der Schläfer neben ihr lag auf der Seite, die Hände unter der Wange gefaltet und schnarchte leise. Also das war der Mann, den sie sich nie und nim‐ mer als Liebhaber vorgestellt hätte, ein schlaksiger achtundzwan‐ zigjähriger Engländer mit rostrotem Haar und Sommersprossen. Aber bekanntlich kam es erstens immer anders und zweitens als man denkt, wie Bensing zu sagen pflegte, und alles in allem war es eigentlich recht gut gewesen. Sie hatten viel gelacht, besonders als David ihr gestand, dass er bisher eine einzige diesbezügliche Erfahrung gemacht habe, mit Ruth, seiner Nanny, als er sechzehn war. Englische Kindermäd‐ chen, erfuhr Detta, seien eine Institution und begleiteten ihren Schützling zwar offiziell nur bis zum Schulalter, blieben aber meist in der Familie, nicht selten, um den Heranwachsenden praktisch aufzuklären und später als Nanny dessen Nachwuchs zu betreuen, wobei eine Wiederholung besagter Unterweisung nicht ausgeschlossen war. Sie unterdrückte ein Lachen, als sie an sein ernstes, konzentrier‐ tes Gesicht dachte, mit dem er sich an die ebenso natürliche wie schwierige Aufgabe des Eindringens machte, schwierig deshalb, weil er weniger von Leidenschaft und mehr von der Besorgnis, ihr wehzutun, gelenkt wurde. Es war schließlich sie, die sich ihm entgegenstemmte und ihn ganz in sich aufnahm, wobei der Schmerz sich in Grenzen hielt und bald einem verheißungsvollen Kribbeln wich, das zwar nicht zum Höhepunkt führte, wohl aber zu einer Ahnung des Vergnügens, von dem die Mutter seinerzeit gesprochen hatte, und wovon das Küchenmädchen Lina kichernd schwärmte. Leise erhob sie sich und stieg die zwei Stufen an Deck. Mor‐ gennebel lag über den schlafenden Booten ringsum. Lautlos ließ sie sich ins Wasser gleiten, das ihren nackten Leib kühl umspülte. Sie schwamm weit hinaus, tauchte die letzten Meter zum Boot und 233
zog sich an der Bordwand hoch. David hielt ihr mit abgewandtem Gesicht das Badetuch hin. Sie wickelte sich hinein. »Guten Mor‐ gen, Darling.« Sie gab ihm einen nassen Kuss. Er war die Zurückhaltung selbst. »I hope you slept well? Break‐ fast is almost ready.« Er kletterte nach unten. Es duftete nach frischem Kaffee und Spiegeleiern. »Der Frühstücksspeck ist von Hefter. Dänischen Bacon hatten sie leider keinen«, entschuldigte er sich steif. »Ich dachte, wir machen nachher eine kleine Rund‐ fahrt zum Tegeler See. Der Seepavillon dort serviert einen guten Lunch, sagte mir Nigel Hawksworth vor seiner Abreise. Der Ärmste muss sich jetzt mit chinesischer Küche quälen. Obwohl es in Schanghai eine Reihe hervorragender europäischer Restaurants geben soll.« Er sprach zum Spirituskocher gewandt und so hastig, als fürchtete er, sie könnte ihn unterbrechen. »Mögen Sie — magst du vorweg einen Orangensaft?« Sie ließ das Badetuch fallen. »David, schau mich an.« Er drehte sich um. »Du redest zu viel, Darling«, sagte sie mit einem gurren‐ den dunklen Unterton, der ihr selbst neu war. Er schluckte heftig, wie sein auf und ab hüpfender Adamsapfel verriet. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Dabei führte sie seine Hand zu ihrem Schoß. Es wurde eine für sie beide unvergessliche Begegnung. Staunend wie Kinder erkundeten sie ihre Körper und gaben sich dem wunderbaren Spiel hin. Fortan sollte der Geruch ange‐ brannten Frühstückspecks bei Detta unweigerlich die Erinnerung an ihren ersten köstlichen Orgasmus auslösen. »You must forgive my foolish behaviour«, entschuldigte er sich fur sein tolpatschiges Benehmen von vorhin. »We English are per‐ manently embarrassed«, was sich mit ›peinlich berührt‹ oder ›ver‐ legen‹ eher mangelhaft übersetzen ließ. Beim Nachtisch im Seepavillon machte er sein ernstes kon‐ zentriertes Gesicht. »Würdest du mich heiraten?«, fragte er über der Roten Grütze mit Vanillesauce. 234
»Ich weiß nicht«, sagte sie wahrheitsgemäß. »Aber ich werde darüber nachdenken.« Frau von Aichborn war zu den Olympischen Spielen nach Berlin gekommen. Sie hatte vor Jahresfrist angeboten, die Frauen der spanischen Mannschaft zu betreuen, aber es gab kein spanisches Team, auf der iberischen Halbinsel tobte der Bürgerkrieg. Der Leutnant Hans‐Georg von Aichborn hatte sich für die Military nicht qualifizieren können. Mutter und Tochter trösteten den Sohn und Bruder über seine Enttäuschung hinweg. »Mit der Legion Condor nach Spanien darf ich auch nicht«, klagte er. »Mein Kommandeur hat es verboten. Preußische Offiziere seien keine Söldner.« »Recht hat er«, rief Detta impulsiv. »Wie leicht könnte dir da was zustoßen. Ich darf gar nicht daran denken«, fügte sie leise hinzu und sah zärtlich auf den Bruder. »Und überhaupt, was geht uns dieser Krieg schon an?« »Mehr als du glaubst«, sagte die Freifrau ernst. Im Übrigen beobachtete sie aufmerksam ihre Tochter und fasste das Ergebnis in die lakonische Frage: »Wann stellst du ihn uns vor?« Detta war überrascht. »Woher weißt du?« Die Freifrau lächelte. »Ich bin deine Mutter.« »Sobald er aus England zurück ist«, versprach Detta. »Hat er einen Namen?« »David Floyd‐Orr. Er ist dritter Sekretär an der britischen Bot‐ schaft.« Sie waren bald ein Jahr zusammen und sahen sich fast täglich bei ihm in der Tiergartenstraße oder in Dettas kleiner Wohnung am Steubenplatz, die sie im Januar bezogen hatte. Sie hatte ihren Schwärm für Tom Glaser ohne Nachwehen überwunden. Sie liebte David, seine trockene englische Art, sein gelegentliches »embarassment« und seine schlaksige jungenhafte Erscheinung, die über seine neunundzwanzig Jahre hinwegtäuschte. 235
Gemeinsam entdeckten sie Berlin. Sie zischten ein Helles an der »Plumpe«, wie die Einheimischen den Gesundbrunnen nannten, sie besuchten die Museumsinsel, sie bestaunten das alljährliche Feuerwerk »Treptow in Flammen« und tranken einen klebrigen Zitronenlikör bei »Goldelse«, die als blondes Kind Zille Mo‐ dell gestanden hatte. Nur auf den Funkturm, dem »langen Lu‐ latsch« der Berliner, ließ David sich nicht locken. »Mir wird schon schwindlig, wenn ich auf einen Küchenhocker steige«, gestand er. »Er ist der Erbe des achten Earls of Bexford und damit Viscount Floyd‐Orr«, schrieb die Freifrau ihrer Tochter, sie hatte in »De‐ brett᾿s Peerage« nachgeschlagen. »Davon hat er mir nie was gesagt«, antwortete Detta. »Er will, dass ich ihn einfach nehme, wie er ist.« »Lade ihn nach Aichborn ein«, schrieb die Mutter. »Wenn er den Schock einer Begegnung mit unserer Familie übersteht, wird er vermutlich sogar dir gewachsen sein.« Im Sommer ᾿38 war Detta Gast in Bexford Hall und eroberte Davids Eltern und Geschwister im Sturm. »A Prussian wife with an impeccable background«, schwärmte Lord Bexford. »Was Bes‐ seres kann dir gar nicht passieren, mein Junge.« Auf der House Party zu Dettas Ehren äußerte der Earl Bewun‐ derung: »Großartig diese Deutschen. Besonders ihr Reichskanzler. Wie der Mann Ordnung schafft, fabelhaft.« Die anderen Gäste, alles Angehörige des Establishments, zeigten sich von Herrn Hit‐ ler ebenfalls stark beeindruckt. Einzig die Duchess of Newcastle meldete Bedenken an: »Der Mann ist nicht verheiratet. Außerdem soll er ein grässliches Deutsch sprechen. Sagt jedenfalls Queen Mary, die ihn im Radio gehört hat.« In Berlin hatte eine Wachablösung stattgefunden. Arvid von Troll stellte Detta dem neuen Herrn des Auswärtigen Amtes vor. Joachim von Ribbentrop war bisher Botschafter in London ge‐ wesen. »Rheinischer Kleinadel«, bemerkte ihre Sekretärin gering‐ 236
schätzig hinter vorgehaltener Hand. Detta lachte: »Frau Wilhelmi, Sie sind ein Snob.« »Er sieht gut aus und hat gute Manieren«, berichtete Detta beim Abendessen. »Wir haben ein bisschen über Pferde geplaudert. Er war Husarenoffizier.« Es gab Kartoffelsalat mit Buletten, die sie vom Fleischer fertig kaufte und einfach in die Pfanne tat, eine große Köchin war sie nicht. David hatte einen Syphon helles Böt‐ zowbier aus der Kneipe an der Ecke geholt. »Mein Chef, Sir Nevile Henderson, hält ihn für einen Parvenu«, meinte er achselzuckend. »Could I please have some more pota‐ tato salad?« Er mochte deftige Berliner Kost. Detta tat ihm auf. »Herr von Troll meint, wir sollten uns endlich auf ein Hochzeitsdatum einigen.« Gespannt wartete sie auf seine Reaktion. »Warum?«, foppte er sie ein bisschen. »Hofft Herr von Troll auf eine Einladung?« »Er hat mir erklärt, dass ich als Angestellte des Auswärtigen Amtes um Genehmigung nachsuchen muss, wenn ich einen Ausländer heiraten will. Das könnte etwas dauern.« David nickte. »Bei uns sieht man das ähnlich. Immerhin bin ich Diplomat Seiner Britannischen Majestät und möchte eine Deut‐ sche heiraten.« »Dein King ist so deutsch wie ich. Ich bin sicher, er hat nichts dagegen.« Aber Detta musste warten. »Das Foreign Office will erst Klarheit über Großbritanniens künftige Beziehungen zum Deutschen Reich, bevor es unserer Verbindung zustimmt«, erklärte David ihr geduldig. Die gewöhnlich so nüchterne Detta war zu verliebt, um sich zu fragen, was ihre Eheschließung mit der Weltpolitik zu tun hatte, von der sie im Übrigen nur sehr gelegentlich Kenntnis nahm, wie beispielsweise im März ᾿39. »Ja dürfen wir das denn?«, rief sie erstaunt, als deutsche Truppen in Prag einmarschierten. 237
»Diese Frage haben wir der deutschen Reichsregierung auch gestellt, und zwar in einer Protestnote«, erläuterte ihr David. »Und?« »Euer Botschafter hat die Note einfach nicht entgegengenom‐ men, genau wie sein Kollege in Paris.« Eine Woche darauf, bei der Besetzung des Memellandes durch die deutsche Wehrmacht, wurden nicht einmal mehr Proteste sei‐ tens der Westmächte laut. Die geschockte litauische Regierung gab das Gebiet widerspruchslos auf. Es wurde in die Provinz Ost‐ preußen eingegliedert. »Die Memel war und ist deutsch«, kommentierte Leutnant Hans‐Georg von Aichborn das reibungslose Manöver, an dem sein Regiment teilgenommen hatte. »Jetzt holen wir uns West‐ preußen von den Polen und das Elsass von Frankreich zurück«, fügte er forsch hinzu. »Dann können wir den Schandvertrag von Versailles als erledigt verbuchen.« »Wenn᾿s nur ohne Blutvergießen abgeht«, sorgte sich Detta. »An uns trauen die sich nicht ran.« Angriffslust war in den Augen des Bruders. Aber vermutlich hatte er Recht. Die Westmächte hat‐ ten ihren Biss längst verloren, und wer um alles in der Welt konnte ernsthaft daran interessiert sein, den ersten Schuss abzugeben? David war davon nicht so überzeugt. »Ich fürchte, wir treiben unaufhaltsam einem Krieg entgegen«, sagte er, als London und Paris Garantieerklärungen für Polen abgaben. »Dann stehen wir beide auf verschiedenen Seiten«, sagte Detta besorgt. »Nur bis zur Kapitulation«, erwiderte David leichthin. »Danach heiratest du den Sieger.« »Sei nicht so arrogant«, fuhr sie ihn an. Beleidigt verließ er die Wohnung. Am nächsten Morgen schickte er Blumen und versuchte mehr‐ mals, sie zu erreichen. Aber der Stolz der Aichborns überwog. Eine Woche lang war sie für ihn nicht zu sprechen. Als sie am Mittwoch 238
seine Wohnung anrief, um Frieden zu schließen, meldete sich niemand. »Mr. Floyd‐Orr wurde kurzfristig nach London geru‐ fen«, erfuhr sie donnerstagfrüh in der britischen Botschaft, wo Aufbruchsstimmung herrschte. Am Freitag, dem 1. September, marschierten deutsche Truppen in Polen ein. Zwei Tage später erklärten Großbritannien und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg. An diesem Sonntag herrschte im Auswärtigen Amt Hochbetrieb. Gerüchte schwirrten durch die Korridore. »Der Führer hat dem Herzog von Windsor die Rückkehr auf den englischen Thron angeboten. Eduard VIII. schließt dann so‐ fort mit uns Frieden und sorgt für die Rückgabe unserer Kolo‐ nien«, wusste die Sekretärin Frau Wilhelmi. »Und Frau Göring nimmt den Tee mit Queen Wallis«, ergänz‐ te Arvid von Troll die absurde Geschichte. Doch nicht einmal das konnte Detta aufheitern. Blass und in sich gekehrt verrichtete sie ihre Arbeit. Sie dachte an David. Würde sie ihn je wieder se‐ hen? Die viermotorige Focke‐Wulf zog in sechstausend Metern Höhe ruhig ihre Bahn. Detta blickte aus dem Fenster auf die schneebe‐ deckten Gipfel der Pyrenäen. Sie waren vor einigen Stunden in Berlin‐Tempelhof gestartet und würden Barcelona um zwanzig Uhr erreichen. Der Krieg war ein Jahr alt, Frankreich war besiegt, es ging an allen Fronten mit Sondermeldungsfanfaren voran. Der Oberleutnant Hans‐Georg von Aichborn stand mit seinem Re‐ giment in Saumur und ritt auf den Rappen der französischen Ka‐ vallerieschule Dressurübungen. »Ein Fronteinsatz wäre mir lieber, aber es wird ja hier nirgendwo geschossen, ausgenommen die Knallerei von ein paar französischen Partisanen, wenn die nicht gerade ihren Pastis trinken«, schrieb er zu Dettas Erleichte‐ rung. »Weihnachten sind wir wieder zu Hause«, schloss er opti‐ mistisch. 239
Ihr Chef im AA war da anderer Meinung. »Wir müssen uns auf eine längere Auseinandersetzung einrichten und dürfen dabei unsere neutralen Freunde nicht vernachlässigen, wer weiß, wann und wozu wir sie brauchen«, erklärte ihr Arvid von Troll. »Sie sprechen hervorragend Spanisch und haben mütterlicherseits dort Familie. Wir möchten, dass Sie als Vizekonsul an unsere Vertretung nach Barcelona gehen. Generalkonsul Dr. Keßler erwartet Sie be‐ reits.« Weg von Berlin und den Erinnerungen an die wunderschöne Zeit mit David. Ein anderes Land, eine andere Sprache, neue Freunde, vielleicht half das, die Vergangenheit zu bewältigen. Detta sagte zu. Sie wurden über den Bergen von Turbulenzen geschüttelt und sackten ein paarmal durch, sodass sich einige Gesichter grün färb‐ ten. Detta merkte nichts davon. Sie stellte sich vor, in Davids Ar‐ men zu liegen. Ein wohliges Gefühl durchzog sie und verdrängte die Gedanken an die Wirklichkeit: dass dieser unsinnige Krieg sie auseinander gerissen hatte, weiß der Himmel für wie lange; dass David nun ihr »Feind« war, welch absurder Gedanke. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie schreckte hoch. »Willkommen an Bord.« Es war Thomas Glaser. »Tom, wie beruhigend, dass Sie uns fliegen.« »Im Augenblick tut das mein Erster Offizier. Detta, wie geht es Ihnen?« »Ausgezeichnet. Ich sehe erwartungsvoll meiner neuen Stellung in Barcelona entgegen. Die Uniform steht Ihnen gut, Herr Flug‐ kapitän. Was macht Ulli?« »Sie ist mit den Zwillingen beschäftigt und mit unserem Haus in Mahlow« »Und Sie fliegen derweil in der Gegend herum?« »Infolge der Weltlage leider sehr begrenzt. Viele Ziele sind uns verwehrt. Die Amerikaner zum Beispiel verweigern der Lufthansa mit fadenscheiniger Begründung jede Landeerlaubnis.« 240
»Sie wollten nach Amerika fliegen?«, fragte Detta ungläubig. »Wir sind geflogen, ohne zu landen, einfach um es den Yankees mal richtig zu zeigen«, sagte er stolz. »Nonstop Berlin – New York — Berlin. 13000 Kilometer in 44 Stunden und 31 Minuten. Die haben nicht schlecht gestaunt. Ihre Panamerican Air Line schafft᾿s mit Rückenwind gerade zu den Azoren. Entschuldigen Sie mich bitte, ich muss nach vorn. Essen wir dieser Tage zusammen? Ich bin zweimal die Woche in Barcelona.« »Sehr gerne, Tom. Rufen Sie mich im Konsulat an.« Nach der Landung winkte er ihr wie zur Bekräftigung aus der Pilotenkanzel zu. Sie winkte zurück, froh, dass sie wenigstens zweimal die Woche einen Freund in diesem fremden Land hatte. Generalkonsul Dr. Heinrich Keßler war ein kultivierter Sechziger, der schon zur Zeit des letzten spanischen Königs das Deutsche Reich konsularisch vertreten hatte. »Alfonso XIII., das war ein wahrer Gentleman, gebildet und mit beißendem Humor, wenn ihm etwas nicht passte«, schwärmte er. »Onkel Rex«, sagte Detta scheinbar ohne jeden Zusammenhang. Ihr neuer Chef war irritiert. »Wie meinen?« »Wir nannten ihn Onkel Rex, weil niemand wissen sollte, wer er war, wenn er mit Onkel Juan zur Jagd nach Aichborn kam«, er‐ innerte sich Detta. »Er war ein miserabler Verlierer beim ›Mensch Ärgere Dich Nicht‹. Mein Bruder Hans‐Georg und ich schum‐ melten manchmal, um ihn in Rage zu bringen. Dann schimpfte er auf Spanisch wie ein Vaquera, was sich herrlich komisch an‐ hörte.« »Arvid von Troll hat nicht zu viel versprochen, als er Sie an‐ kündigte. Sie seien immer für eine Überraschung gut, schrieb er mir. Was Ihre Bleibe betrifft – Ihrem Vorgänger Jagold hat man mit Kurierpost seinen Einberufungsbefehl geschickt, der muss nächste Woche zu den Fahnen. Sie könnten seine Wohnung über‐ nehmen.« 241
»Das würde die Dinge vereinfachen. Wann beginne ich meine Arbeit, Herr Dr. Keßler?« »In ein, zwei Tagen, das genügt. In der Passabteilung, für die Sie als Vizekonsul verantwortlich sein werden, liegt nichts Drin‐ gendes vor. Wer beantragt heutzutage schon ein Visum nach Deutschland? Ah, Jagold, da sind Sie ja.« Ein jüngerer Mann war eingetreten. Er hatte dunkelblondes Haar, das sich an den Schläfen und im Nacken lockte. Detta fand ihn ein bisschen dandyhaft, wegen seiner weißbraunen Schuhe, dem cremefarbenen Leinenanzug und dem dunkelblauen Hemd, zu dem er eine zitronengelbe, auf die Knopflochnelke abge‐ stimmte Krawatte trug. »Axel Jagold — Henriette von Aichborn«, machte der General‐ konsul bekannt. »Meine charmante Kollegin und Nachfolgerin, nicht wahr?« Der Vizekonsul küsste ihr die Hand. »Wenn unser Chef nichts da‐ gegen hat, zeige ich Ihnen meine Wohnung. Anschließend lun‐ chen wir zusammen. Danach bringe ich Sie zur Siesta ins Hotel, und nachmittags lernen Sie den Rest der Truppe hier kennen.« »Tun Sie das, Jagold«, bekräftigte Keßler. Er wandte sich zu Detta: »Zum Abendessen würden meine Frau und ich uns freuen. Ich schicke Ihnen um acht Pedro mit dem Wagen.« »Das ist sehr liebenswürdig von Ihrer Gattin und Ihnen. Vielen Dank, Herr Dr. Keßler.« Sie folgte Jagold hinaus. Auf der Straße schlug ihnen die Hitze glühend entgegen. Der Fahrtwind durch die offenen Fenster des Taxis half nur wenig. Jagolds Apartment an der Ronda Sant Antoni war angenehm temperiert. »Barcelonas Architekten haben ihre Jugendstilbauten mit erstaunlich dicken Wänden ausgestattet«, erklärte ihr Gast‐ geber. »Darf ich Ihnen einen Eistee anbieten?« Er holte einen Glas‐ krug aus dem Kühlschrank und füllte zwei hohe Gläser, die er mit Stengeln frischer Minze garnierte. Detta sah sich um. Der Wohnraum war im maurischen Stil ge‐ 242
halten. Auf dem Sideboard lehnte das Foto eines athletischen jun‐ gen blonden Mannes mit bloßem Oberkörper. Durch die offene Schlafzimmertür sah sie halbgepackte Koffer. Jagold bemerkte ihren Blick. »Ich habe eine Passage nach Spa‐ nisch Marokko gebucht. Mein Freund ist schon vorgefahren.« Er wies auf das Foto. »Gunnar ist Schwede. Wir wollen weiter nach An‐gola, um in São Paolo de Loanda ein Restaurant aufzumachen. Die Portugiesen interessieren sich nicht sonderlich dafür, woher man kommt und wer man ist, solange man die richtigen Leute besticht.« »Dr. Keßler erwähnte, Sie hätten Ihren Einberufungsbefehl er‐ halten und müssten nach Hause.« »Um in den Krieg zu ziehen? Ich bin doch nicht verrückt. Na, stellen Sie sich doch mal vor, der Feind schießt auf mich.« Er lachte etwas zu schrill für ihren Geschmack. Sie begriff, und alles in ihrer preußischen Seele lehnte sich da‐ gegen auf. »Mein Vater ist zu alt für den Dienst mit der Waffe, was ihn sehr bekümmert«, sagte sie eisig. »Mein Bruder steht mit seinem Regiment in Frankreich. Zwei Onkel und drei meiner Vettern sind am ersten Tag eingerückt. Einer ist in Polen gefallen. In meiner Familie gibt es keine Drückeberger und, Ihr Glück, Herr Jagold, auch keine Denunzianten.« »Gefällt Ihnen die Wohnung? Ich lasse Ihnen die Einrichtung ganz billig«, versuchte er einzulenken. »Die Miete ist nicht sehr hoch und der Hausbesitzer ein umgänglicher Mensch. Sie werden sich bestimmt wohlfühlen, liebe Kollegin.« »Für Sie Freiin von Aichborn«, wies sie ihn scharf zurecht und ging. Draußen atmete sie tief durch und marschierte trotz der Hitze energisch los. Auf den Straßen und Plätzen überwog das Militär. Überall stan‐ den Polizeiposten. Der Bürgerkrieg war seit einem Jahr vorüber. General Franco hielt das Gewonnene mit eisernem Griff zusam‐ men. Die Leute in Barcelona ignorierten ihn. Der Diktator war Spanier. Sie waren stolze Catalanen. 243
An der Plaça de Catalunya hatte sie ihre Fassung wiederge‐ wonnen. Ein Taxi brachte sie in ihr Hotel an der Kathedrale. Sie duschte und zog sich um. Zum Lunch wählte sie einen Tisch in einer kleinen Nische hinter Topfpalmen, wo sie sich ungestört fühlte. Über einem Glas geeistem Rosé studierte sie die Speise‐ karte. »Die gegrillten Gambas mit frischen Feigen sollen heute beson‐ ders gut sein.« David Floyd‐Orr stand lächelnd vor ihr. Sie wollte aufspringen und ihm um den Hals fallen. »Bitte nicht«, sagte er leise. »David ... « Mehr brachte sie nicht heraus. Er setzte sich. »Wir sind nichts als gute Bekannte. Es besteht mithin kein Grund für öffentliche Gefühlsausbrüche, die Auf‐ sehen erregen würden. Die gesamte ausländische Kolonie ver‐ kehrt hier im Hotel. Die Front verläuft quer durchs Restaurant. Links die Achsenmächte, rechts die Vertreter der Entente. Die Neutralen pendeln je nach Sympathie. Man beobachtet alles und jeden. Vergiss nicht, wir stehen auf verschiedenen Seiten.« »Nicht wir, Darling, unsere Länder.« Sie hätte schreien können vor Glück, aber sie nahm sich zusammen und sagte beiläufig: »Gegrillte Gambas mit frischen Feigen sind eine Premiere für mich. Sowas gibt᾿s bei uns zu Hause nicht mal im tiefsten Frieden. David, wie kommst du hierher?« »Das erzähle ich dir später.« In seiner Suite fielen sie übereinander her wie zwei Verdurs‐ tende. Als sie selig erschöpft beieinander lagen, während die Jalousien den gleißenden Nachmittag aussperrten, redeten sie. »Man hat mich auf mein Drängen hierher geschickt. Die Alter‐ native hieß Rio, aber es zog mich natürlich zu dir. Ich bin Vize‐ konsul, genau wie du, und leite die Presseabteilung.« Sie hätte sich fragen sollen, wieso er wusste, dass Sie Vizekonsul des Deutschen Reiches in Barcelona war. Aber der Nachklang ihrer stürmischen Begegnung war wie ein wohliger Rausch und 244
trübte ihr Denkvermögen. Sie sah auf seine Uhr. »Du lieber Him‐ mel, ich sollte längst im Konsulat sein.« »Da bist du nicht die Einzige. Sehen wir uns heute Abend?« »Ich weiß nicht, David. Du sagst ja selbst, wir müssen vorsichtig sein.« »Wir werden eine Lösung finden, weit weg von diesem ver‐ dammten Krieg«, versprach er. Die Lösung bot ein romantisches Malerstudio, das sie bei einem ihrer Streifzüge am alten Fischerhafen entdeckten. Sein Bewohner, ein hitziger junger Künstler, hatte an verbotenen republikanischen Treffen teilgenommen und sich mit dem Zeichenstift über die neuen faschistischen Herren lustig gemacht. Er entging der Ga‐ rotte, weil seine Schwester die Mätresse des Militärkommandanten von Barcelona war. Den Steinbruch konnte sie ihm nicht ersparen, und so wurde das Atelier vermietet, ein Schild an der Haustür hatte die Liebenden darauf aufmerksam gemacht. Detta war entzückt vom Blick auf den malerischen Fischerhafen und lief sofort hinunter, um von einem eben eingelaufenen Kut‐ ter frische Goldbrassen zu kaufen. Kühler roter Rioja aus der Hafenkneipe vervollständigte das simple Mahl. Zum Nachtisch gab es wieder Liebe. Sie hatten sich ein langes Jahr nicht gesehen. »Wie geht es deinen Eltern?«, erkundigte er sich, während sie das Atelier mit Blumen schmückte. »Ach, danke. Mutter packt Pakete mit Dauerwurst und Zigaret‐ ten für alle Bekannten und Verwandten in Uniform.« »Und der Generalleutnant?« Wieder hätte Detta aufhorchen sollen. David kannte ihren Vater als Gutsherrn. Woher wusste er also, dass sie Papa reaktiviert und befördert hatten? Der Freiherr hatte den Großen Krieg 1918 als Oberst und Regimentskommandeur beendet. Aber sie war zu ver‐ liebt, um derartige Nuancen wahrzunehmen. »Vater macht eine vergebliche Eingabe nach der anderen, um 245
vom OKH zur Truppe versetzt zu werden«, gab sie harmlos Aus‐ kunft und fuhr fort, Möbel umzustellen. Die schmale Liege des jungen Künstlers hatte sie durch ein großes Doppelbett ersetzt. »Unsere erste eigene Wohnung«, strahlte sie. »Deine Wohnung, Darling. Von mir darf kein Mensch was wis‐ sen«, warnte sie David. »Vergiss nicht, wir haben Krieg.« »Den Krieg lassen wir draußen«, entschied Detta und erfand mit diebischem Vergnügen einen spanischen Liebhaber namens Carlos, der über den schwatzhaften Fahrer Pedro rasch Eingang ins Konsulat fand. Als der nämlich dringende Unterlagen bei ihr abholte, rief sie nach nebenan: »Carlos, Liebling, stell den Wein kalt!« Einige fingierte Telefongespräche mit Carlos, die sie unter‐ brach, wenn jemand in ihr Büro schaute, untermauerten den klei‐ nen Schwindel. Bald wusste das ganze Konsulat von »Don Carlos« und ihrem Liebesnest am Hafen. David griente: »Meine heißt Conchita. Ein feuriges Geschöpf mit schwarzen Augen, das mir keine Zeit für Club und Cricket lässt. Die meisten haben es geschluckt. Nur die kleine Jenny aus der Chiffrierabteilung klimpert unbeirrt mit den Wimpern, wenn sie mir über den Weg läuft — und sie läuft mir erstaunlich oft über den Weg.« Detta lachte: »Mach mich nur eifersüchtig«, traf aber für alle Fälle Gegenmaßnahmen. An einem der nächsten Abende empfing sie ihn in herrlich sündhaften Pariser Dessous, die sie bei Madame Solange auf der Rambla erstanden hatte, doch er nahm ihren ver‐ führerischen Aufzug überhaupt nicht wahr. »Was ist los, David?« Er zog die Stirn in Falten: »Eure Luftwaffe bombardiert London Tag und Nacht. Es heißt, das sei ein sicheres Zeichen für die bevorstehende Landung. Detta, du musst mir helfen. Wann startet ›Seelöwe‹?« »Seelöwe?« »Der Codename für die deutsche Invasion der britischen Inseln. 246
Nanny Sarah ist jüdischer Abstammung. Meine Eltern wollen sie rechtzeitig nach Kanada schicken, falls die Gerüchte stimmen. Du fliegst doch nächste Woche nach Hause. Frag einfach deinen Vater.« »Nach einem militärischen Geheimnis? Das meinst du nicht im Ernst, David.« »Unsinn«, meinte er leichthin. »In Berlin pfeifen es vermutlich schon die Spatzen von den Dächern. Trotzdem, vergiss es.« Er zog sie an sich. Seine Lippen strichen über ihre Wangen. Seine Zunge drang feucht in ihr Ohr, dass tausend Volt durch ihren Körper zuckten und ihre Knie weich wurden. Sie schrie laut, als er sie auf der Bastmatte unter dem großen Fenster liebte. Ein Herr Gleim besuchte Detta in ihrem Büro. Sie hatte ihn einige Male im Hause gesehen, doch zum Konsulat gehörte er nicht. Panama und Bambusstock gaben ihm das Air eines kubanischen Tabakpflanzers. Er kam ohne Umschweife zur Sache: »Fräulein von Aichborn, uns ist bekannt, dass Sie mit dem Engländer David Floyd‐Orr zusammen sind. Wir wissen, dass es sich um eine private Beziehung aus Vorkriegstagen handelt, die Ihnen niemand vorwirft.« Sie ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken. »Wie darf ich das verstehen?« »Ihr Freund ist nicht so zufällig in Barcelona, wie er Ihnen weis‐ macht. Noch weniger zufällig ist sein Zusammentreffen mit Ihnen. Captain Floyd‐Orr ist Angehöriger des British Intelligence Service.« Um Detta drehte sich alles. Dass David von ihrem Posten als Vizekonsul wusste und Vatis militärischen Rang kannte, ergab plötzlich einen furchtbar logischen Sinn. Man hatte ihn auf sie angesetzt, und sie ahnungsloses Schaf hatte vor lauter Verliebtheit nichts gemerkt. Sie riss sich zusammen. »Danke für die Aufklärung, Herr Gleim.« 247
»Oberstleutnant Gleim, Abwehr, wenn Sie gestatten. Haben Sie mit Ihrem Freund irgendein Thema erörtert, das für die andere Seite von Bedeutung sein könnte? In aller Unschuld, versteht sich.« »Nein. Aber Captain Floyd‐Orr interessierte sich unter einem harmlosen Vorwand für das Datum von ›Seelöwe‹. Ich soll nächste Woche in Berlin meinen Vater danach fragen.« Der Major nickte zufrieden. »Ausgezeichnet. Sie werden Ihrem Freund die gewünschte Auskunft bringen.« »Ich bin keine Verräterin. Nicht einmal zum Schein. Bitte rech‐ nen Sie nicht mit mir.« Der Besucher stand auf. »Schade, dass Sie uns nicht helfen wol‐ len. Aber ich verstehe Ihre Beweggründe. Ich bitte Sie nur um eines, und das ist Ihr Schweigen.« Detta war ganz die kühle Preußin. »Ich sagte schon, ich bin keine Verräterin. Guten Tag, Herr Gleim.« Der Oberstleutnant verließ das Zimmer. Als er die Tür geschlossen hatte, brach sie schluchzend zusammen. »Ich fürchte, Carlos ist keine Erfindung«, sagte sie abends zu David. »Conchita auch nicht.« »Goodbye, David.« »This damned war will destroy us all«, sagte er tonlos und ging. Fortan verdrängte Detta jeden Gedanken an ihn und vergrub sich in Arbeit. Sie begann, die gesamte Registratur ihrer Passabteilung auf den Kopf zu stellen und neu zu ordnen, eine ebenso überflüs‐ sige wie langwierige Beschäftigung. In ihrer freien Zeit versuchte sie sich an einer Übersetzung von Calderôns »Dame Kobold« und frequentierte den Bridge‐Zirkel der Generalkonsulin. Tom Glaser meldete sich regelmäßig, wenn er in Barcelona war. Sie gingen zusammen essen und redeten über alles und nichts. Sie fuhr nach Madrid zu Onkel Juan und den übrigen Alvarez de Toledos, die sie 248
mit einem spanischen Granden verheiraten wollten. Der junge Mann gestand ihr unter Tränen seine Liebe zum Gärtner seines Palastes. »Lady Chatterley« andersrum, dachte Detta. Miriam kam auf Stippvisite aus Lissabon. Sie war etwas voller geworden. Sie hatte einen amerikanischen Banker geheiratet und hatte zwei Kinder. »Wir fliegen nächste Woche nach Hause. Komm doch mit nach Amerika. Bill kann das für dich arrangieren. Er hat gute Verbindungen zum State Department.« »Keine Sehnsucht mehr nach dem Kurfürstendamm?«, konnte Detta sich nicht verkneifen. »You must be joking«, gab Miriam zurück. Den Jahresurlaub verbrachte Detta wie gewöhnlich zu Hause. In Aichborn hatte sich so manches geändert. Alle »wehrfähigen« Männer kämpften an den zurückweichenden Fronten. Ihre Frauen machten fast sämtliche Arbeiten. Vor den Bomben geflüchtete Städter bevölkerten das Gut. Damen mit hohen Absätzen stöckel‐ ten durch den Mist und ernteten Spott und Verachtung. Frau von Aichborn hatte Mühe, den Frieden zu wahren. Außerdem galt es, die Fremdarbeiter vor dem Kreisbauernfuhrer Fanselow zu schüt‐ zen, der mit Vorliebe die Polen drangsalierte, wenn er in Aichborn war. Heute hatte er den polnischen Pferdeknecht auf dem Korn. Jurek spannte gerade »Loschek« an, wie er den alten Ackergaul liebevoll nannte, der den Mistkarren zog. »Mach zu, du verdamm‐ ter Polacke.« Fanselow riss die Peitsche vom Bock. Detta schob sich dazwischen und hielt ihm ihren Korb mit den Eiern entgegen, die sie gerade eingesammelt hatte: »Ach bitte, Herr Fanselow, würden Sie die wohl zu meiner Mutter in die Küche bringen? Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen.« Fanse‐ low legte verblüfft die Peitsche fort und nahm den Korb. Jurek sah Detta dankbar aus braunen Augen an. Der Freiherr war skeptisch und schweigsam, als er an diesem 249
Februartag des Jahres 1943 von seinem Schreibtisch im Oberkom‐ mando des Heeres heimkehrte. Die Wahrheit über die angeblich so heldenhafte Niederlage der deutschen Armee in Stalingrad war durchgesickert. »Den Karren zieht keiner mehr aus dem Dreck«, war eine seiner wenigen, dafür umso grimmigeren Äußerungen. Hans‐Georg, auf Urlaub aus Paris, war desto gesprächiger. »Keine Frage, Hitler muss weg«, erklärte er der Schwester auf ihrem gemein‐ samen Ritt durch den verschneiten Park. »Nur eine Regierung aus unseren besten nationalkonservativen Kräften kann einen ehrenhaf‐ ten Frieden herbeiführen. Die Alliierten haben bereits zugesagt, eine innerdeutsche Auseinandersetzung militärisch nicht auszunützen.« »Freiwillig geht der Mann nie«, prophezeite Detta. »Eine Kugel aus nächster Nähe wird dieses Problem lösen«, sagte der frisch gebackene Rittmeister überzeugt. »Zum Glück haben einige Kameraden Zugang zu ihm und sind bereit, alles zu riskieren. Ach, Dettalein, ich wünschte, ich gehörte zu diesen Aus‐ erwählten.« Sie hörte die Begeisterung und Entschlossenheit in seiner Stim‐ me und war froh, dass er nicht zu den Auserwählten gehörte. Zum Glück ist er in Paris weit vom Schuss, dachte sie zufrieden und gab ihrem Pferd die Sporen. Detta erhielt die Nachricht im April 1945. Irgendjemand hatte sie unter ihrer Tür am Fischerhafen durchgeschoben. Captain David Floyd‐Orr war vor drei Jahren mit seiner Spezialeinheit in der Steilküste der Normandie tödlich abgestürzt. Sie rechnete nach. Er musste sich unmittelbar nach ihrer Trennung zu diesem Him‐ melfahrtskommando gemeldet haben. »Mir wird schon schwind‐ lig, wenn ich auf einen Küchenhocker steige«, meinte sie ihn zu hören. Du Narr, dachte sie, du lieber, lieber Narr. Eine Woge der Zärt‐ lichkeit durchflutete sie. Ihr Chef hatte Arbeit für sie an jenem Morgen, das lenkte ab. 250
Der Generalkonsul deutete auf einen eleganten Handkoffer aus Croco, mit den Initialen »F. M.«. »Den schickt uns das AA. Sein Besitzer starb vor einigen Tagen bei einem Luftangriff auf Berlin. Fernando Mendez, ein spanischer Diplomat. Man barg ihn und den Koffer aus dem eingestürzten Wohnhaus am Lietzenseeufer, wo er bei seiner Freundin genächtigt hatte. Unter den paar Sachen war ein Brief aus Barcelona, mit dem Absender seiner Eltern. Übergeben Sie alles Señor und Señora Mendez und sprechen Sie ihnen das Beileid der Deutschen Reichsregierung aus«, wies Dr. Keßler seine Vizekonsulin an. Und nun stand der Koffer geöffnet auf Dettas Schreibtisch, und sie machte sich daran, eine Liste des Inhalts aufzustellen, die sie sich ordnungsgemäß quittieren lassen würde. Blauweiß gestreifte Seidenpyjamas, Wasch‐ und Rasierzeug, der Diplomatenpass des Verstorbenen, eine halbvolle Reiseflasche Cognac, der Brief der Eltern und eine angebrochene Tafel Sarotti‐Bitterschokolade. Eine Packung Kondome ließ sie diskret verschwinden. Sie griff zum Telefon, um ihren Besuch anzukündigen. Die Putzfrau meldete sich: Señor und Señora Mendez seien bei ihrer Tochter auf dem Land. Detta schloss den Koffer in den Aktenschrank und wandte sich einigen Papieren zu. Kopfschüttelnd las sie den Antrag eines Fe‐ derico Vargas auf ein Visum nach Deutschland. Der quirlige kleine Importeur hatte bereits mehrmals persönlich bei ihr vorgespro‐ chen. Er wollte unbedingt nach Köln, rechtzeitig Geschäftsbezie‐ hungen für die Zukunft anknüpfen. »Das ›Eau de Cologne‹ war schon vor dem Krieg bei uns ein Renner«, versicherte er eifrig. »Abgelehnt!«, schrieb sie quer über den Antrag und fügte in einem Anflug von Sarkasmus hinzu: »Wir empfehlen dem Antragssteiler, sich an das Britische Generalkonsulat zu wenden, das neuerdings für Köln und Umgebung zuständig ist.« Unwill‐ kürlich lächelte sie. David hätte das gefallen. Dann nahm die Trauer wieder überhand. 251
Sie war dankbar, dass Tom Glaser sie an diesem Abend zum Es‐ sen einlud. Der Flugkapitän war zwei Tage in Barcelona. Er war‐ tete auf ein Ersatzteil für seine Maschine aus Madrid. »Schlimm?«, fragte er teilnahmsvoll. Sie weinte lautlos. Er versuchte nicht, sie zu trösten. Er hatte noch Schlimmeres zu melden. »Kriege ich einen Kaffee?«, bat er vor ihrer Haustür. »Ein anderes Mal, Tom. Ich bin sehr müde.« »Ich habe Neuigkeiten von Hans‐Georg«, sagte er leise. Detta war wie elektrisiert. Sie ließ Tom ein. Sie hatte monatelang nichts von ihrem Bruder gehört. Der Rittmeister war seit dem missglückten Anschlag auf Hitler spurlos verschwunden. »Ein ge‐ heimer Sondereinsatz an der Ostfront«, war die Lesart, welche die Familie wider besseres Wissen verbreitete. »Er war am erfolgreichen Putsch der Wehrmacht gegen die SS in Paris beteiligt und konnte nach Abbruch der Aktion mit Hilfe der Résistance zunächst untertauchen«, berichtete Glaser. »Ich weiß das von einem Air‐France‐Kollegen, der zum französischen Widerstand gehört. Aber bald drohte ihm die Entdeckung, und er gelangte mit einem Verwundetentransport nach Deutschland. Irgendwie schlug er sich nach Hause durch. Nicht einmal die Gestapo hielt ihn für dumm genug, sich ausgerechnet in Aichborn zu verstecken. Das war bisher sein Glück. Trotzdem haben sie schon zweimal dort nach ihm gefragt. Detta, machen wir uns nichts vor, seine Lage ist hoffnungslos. Es ist eine Frage der Zeit, bis sie ihn fassen und umbringen.« »Können Sie ihm eine Nachricht zukommen lassen?« »Ich kann von Berlin aus mit Ihren Eltern telefonieren. Sie wer‐ den mich auch verschlüsselt verstehen. Was soll ich sagen?« »Dass ich Hans‐Georg rausholen werde.« »Sie sind verrückt«, entfuhr es dem Flugkapitän. Detta hatte einen entschlossenen Zug um den Mund. »Schon möglich.« 252
Noch nie hatte Dr. Keßler sie mit ihrem Vornamen angeredet, und noch nie hatte er so offen gesprochen. »Henriette, Sie dürfen nicht fort. Deutschland liegt in Schutt und Asche. Das Ende ist eine Frage von Wochen. Meine Frau und ich bleiben hier. Freunde in der Regierung haben versprochen, dass man uns auch nach Verlust der konsularischen Vorrechte nicht ausweist. Für Sie ist es einfach. Ihre Familie in Madrid hat großen Einfluss und wird Sie schützen. Sie sind jung und haben viel Zeit. Irgendwann wird sich zu Hause alles normalisieren.« »Ich beantrage hiermit Kurzurlaub, Herr Generalkonsul«, sagte Detta bestimmt. »Ich muss nach Berlin. In ein paar Tagen bin ich zurück«, fügte sie optimistisch hinzu. Der Mercedes mit dem Stander des Deutschen Reiches und dem CC‐Schild des Corps Consulaire brachte die Vizekonsulin Hen‐ riette von Aichborn zum Flughafen Prat de Llobregat am Rande Barcelonas. Der Fahrer trug ihre Reisetasche zur Abfertigung. »Nicht wahr, Sie kommen wieder, Dona Henrietta ?« »Aber ja, Pedro. Es ist nur eine kleine Dienstreise.« Sie nahm ihm die Tasche ab und wies an der Kontrolle ihren Diplomaten‐ pass vor. Der Beamte öffnete ihr galant die Schranke. Die viermotorige Junkers 290 mit dem Kennzeichen D‐AITR wartete bereits draußen auf der Rollbahn. Detta schaute zur Kan‐ zel hinauf. Tom Glaser war mit Startvorbereitungen beschäftigt. Seit ihrem letzten Flug hatte sich einiges verändert. Das Innere des Flugzeugs war nicht gereinigt. Die Sitze waren durchge‐ sessen, die Bezüge verschlissen. Statt eines Stewards empfing sie ein missgelaunter Stoppelkopf, der sich als Flugmaschinist Bichler vorstellte und Fallschirme ausgab. »Die Gebrauchsanweisung liegt auf Ihren Plätzen. Wünsche einen guten Flug.« Es klang wie Hohn. Detta setzte sich ans Fenster vorne links. Tom hatte ihr erklärt, dass man Turbulenzen dort am wenigsten spürte. Ein Motor nach 253
dem anderen brüllte auf. Die schwere Verkehrsmaschine rollte langsam an und schwenkte in Startposition. Ihr Leib zitterte unter der Gewalt von tausend Pferdestärken. Die vier großen dreiflüge‐ ligen Propeller zerschnitten die Luft und zogen den Riesenvogel vorwärts. Mit rasant zunehmender Geschwindigkeit schoss er über die Piste, dass die Passagiere in ihre Sitze gedrückt wurden. Das Flugfeld versank unter ihnen. DLH‐Flug Nummer K22 nahm Kurs auf Berlin. Vor einem Jahr war die Maschine gut besetzt gewesen, und man hatte Champagner gereicht. Jetzt gab es keinen Bordservice mehr und höchstens einen Schluck Wasser. Sie zählte sechs Fluggäste. Wie sie im Laufe der Reise erfuhr, waren es ein schwedisches Paar, das von Berlin weiter nach Stockholm wollte, ein Siemens‐ Vertreter, der nach Hause flog, ein Major der spanischen »Blauen Division«, den es zur Front zog und ein älteres deutsches Ehepaar aus Valencia, dessen Tochter in Frankfurt an der Oder ihr erstes Kind erwartete. »Nach Frankfurt an der Oder? Ob᾿se das noch vor den Russen schaffen?«, mokierte sich der Siemensmann und knüpfte eine langatmige Beurteilung zur Lage an, die keinen inte‐ ressierte. Detta schloss die Augen, weil der geschwätzige Mensch von Sie‐ mens Anstalten machte, sich zu ihr zu setzen. Sie musste nachdenken, musste ihren Plan auf schwache Stellen abklopfen. Ihr und des Bruders Leben hing davon ab. Natürlich war ihr Plan totaler Wahnsinn. Zugleich schien er wahnsinnig einfach. So einfach, dass eigentlich gar nichts schief gehen konnte. Sie würde von Berlin nach Aichborn fahren. Sie würde Hans‐ Georgs Kopf in Mullbinden wickeln und den Bruder als den bei einem Luftangriff verletzten spanischen Botschaftssekretär Fern‐ ando Mendez mit der Lufthansa heim nach Barcelona begleiten. Den dienstlichen Auftrag dazu hatte sie sich auf dem Briefpapier und mit dem Dienstsiegel des Konsulats selber gegeben. Den Di‐ plomatenpass des toten Mendez hatte sie bei sich. Er würde jeder 254
Prüfung standhalten. Seine Verletzung machte dem angeblichen Botschaftssekretär das Sprechen unmöglich. So konnte der deutsche Akzent den Bruder bei eventuellen spanischen Mitreisenden nicht verraten. Nein, eigentlich konnte nichts schief gehen, wenn sie beide ruhig blieben. O Gott, gib, dass sie ihn nicht finden, ehe ich ihn rausholen kann, flehte sie in stummem Gebet. Denn das war die einzige wirkliche Gefahr: dass die Gestapo Aichborn umkrem‐ pelte, oder dass ein Denunziant Hans‐Georg verriet. »Schokolade?«, riss Tom Glaser sie aus ihren Gedanken. Er trug wie immer makellose Lufthansa‐Uniform. »Ah, hallo, Tom. Ja, gerne. Die stecke ich ein. Als eiserne Ration. Wie sieht es aus?« Er war gestern in Berlin gewesen. »Trostlos. Die Stadt liegt in den letzten Zügen. Alles ist zerbombt oder brennt. Kein Mensch weiß genau, wie weit die Russen sind. Einige hoffen, dass die Amerikaner zuerst eintreffen.« Er senkte die Stimme: »Ich konnte telefonieren. Aber Eile ist geboten.« »Wann fliegen Sie wieder nach Barcelona?« »In zwei Tagen.« »Das wird reichen, um meinen konsularischen Auftrag zu er‐ füllen. Ich habe zwei Plätze für den Rückflug gebucht.« Der Flug‐ kapitän neigte unmerklich den Kopf. Er hatte verstanden. »Feindberührung, Käpten!«, rief der stoppelköpfige Bayer erregt aus der Kanzel. Glaser eilte nach vorne. In der Kabine breiteten sich Verwirrung und Angst aus. »Na denn Prost Mahlzeit«, verkündete der Siemensmann und legte den Fallschirm an. Im blauen Himmel zeichnete sich ein Punkt ab, der schnell grö‐ ßer wurde. Sie erkannte eine schlanke zweimotorige Maschine mit englischen Kokarden, die direkt auf sie zuhielt. Aus ihren Trag‐ flächen schossen Blitze, das Mündungsfeuer der Bordkanonen. Der Gegner tauchte unter ihnen durch und setzte nach einer Schleife erneut zum Angriff an, den Käpten Glaser jedoch nicht abwartete. 255
Im Sturzflug ging er fast senkrecht hinab. In der Kabine flogen Passagiere und Gepäckstücke durcheinander. Detta stemmte sich in ihren Sitz. Ihr Magen revoltierte, während sie der Erde entgegenstürzten. Wenige Meter über dem Boden fing der Pilot die Maschine ab. Im Tiefstflug rasten sie dahin, Bäume, Geländewellen, Gehöfte zuweilen nicht unter, sondern neben ihnen. Sie ahnte den Verfolger, sehen konnte sie ihn nicht. Todesangst packte sie. Eine felsige Hügelkette raste auf sie zu. Das ist das Ende, dachte sie. Doch die JU 290 zog hoch und legte sich schräg in die Kurve. Unter ihnen wuchs ein schwarzer Rauchpilz. Der feindliche Pilot hatte im Tiefflug weniger Geschick bewiesen als Tom Glaser. »Eine Moskito der Royal Air Force«, wusste der Siemensvertre‐ ter, der seine Geschwätzigkeit rasch wieder fand. »Der einmalige Fall, dass eine unbewaffnete Verkehrsmaschine einen Luftsieg er‐ ringt. Ein Kabinettstückchen unseres Flugkapitäns. Der Mann ver‐ dient einen Orden.« Vier Stunden später loderten unter ihnen Städte und Dörfer. Der Funker konnte sich nur an der ungenauen Ausstrahlung des Reichssenders Berlin orientieren. Mangels besserer Navigations‐ hilfen hatte er die Maschine versehentlich an der sterbenden Hauptstadt vorbei hinter die russische Front gelotst, wo man sie zum Glück ignorierte. Sie machten kehrt und flogen ohne weitere Zwischenfälle von Osten her den zerstörten Flughafen Tempelhof an. Die Maschine setzte krachend auf und rumpelte über die geborstene Landebahn. Es war der 20. April 1945. Im Bunker unter der Reichskanzlei feierte der Herrscher des Grauens seinen letzten Geburtstag. »Willkommen daheim!«, rief der Siemensmann und lachte laut. Auf dem Stettiner Bahnhof wimmelte es von Militär. Feldjäger mit blanken Brustschildern prüften die Papiere jedes Soldaten, ob Ge‐ meiner oder Offizier. Sie führten einen weinenden jungen Gefrei‐ 256
ten ab. »Der wollte sich vadrücken«, hörte Detta im Vorbeigehen einen Passanten. »Jetz wirta jehängt.« Der Personenzug wartete weit draußen, wo man den Bahnsteig nicht überdacht hatte. Er war total überfüllt. Die Menschen drängten sich bis in die Toiletten. Sie fand einen Platz im Gang. Die Fahrt dauerte endlos lange, weil der Zug mehrmals auf Ab‐ stellgleise rangiert wurde, um Truppentransporte vorbeizulassen. In Wrietzow wartete Jurek mit dem Pferdewagen. »Willkemm, Frei‐ lein.« Der Pole half ihr auf den Bock, Freude und Bewunderung im Blick. Ihre Mutter putzte in der Küche mit Lina Kohlrüben. »Du hät‐ test in Spanien bleiben sollen«, sagte sie bekümmert. »Du weißt, dass ich kommen musste.« Detta umarmte sie. »Wie geht es dir, Mama?« »Mit Kartoffeln, Majoran und Speck gibt das einen ganz brauch‐ baren Eintopf für alle«, wich die Freifrau aus. »Dein Vater ist in der Bibliothek.« Der Freiherr saß am Kamin. Er war alt geworden. »Seit sie mich wegen meines Herzens in Pension geschickt haben, ist nichts mehr mit mir los. Dettakind, wie schön, dass du da bist. Das wird deine Mutter aufheitern. Sie verschanzt sich hinter ihren Pflichten oder dem, was sie dafür hält. Sie lässt sich᾿s nicht anmerken, aber sie lei‐ det sehr darunter, dass unsere zwei Kleinen fort sind.« Die »Klei‐ nen«, das waren Fritz und Viktoria, die in München studierten. Detta hörte kaum hin. »Wo ist er?«, fragte sie ungeduldig. Die Tür flog auf, der Bruder stürmte herein, wirbelte sie herum, war außer sich vor Freude. »Schwesterherz, endlich.« Er war blass und hatte etliche Pfund abgenommen, seine Stiefelhosen und der dicke Pullover waren zu weit geworden, aber er war so lebhaft und enthusiastisch wie eh und je. »Das ist Anlass für meinen letzten Armanac.« Der Vater zauberte eine Flasche hinter Detlev von Liliencrons Werken hervor und schenkte ein. 257
»Prost, Vater, Detta, auf unsere Zukunft!«, rief Hans‐Georg zu‐ versichtlich. »Auf eure Zukunft«, verbesserte ihn der Herr von Aichborn matt. »Meine Zeit ist vorbei. Mir bleibt nichts. Die alten Werte sind dahin.« »Es wird neue Werte geben und ein neues, freies Reich, friedlich und von aller Welt geachtet«, redete Hans‐Georg sich in Be‐ geisterung. »Erst musst du mal weg aus dem alten«, unterbrach Detta ihn nüchtern. Sie zog die Klingel am Kamin. Bensing erschien. Er hatte zur Feier des Tages die schwarze Lüsterjacke angezogen, die nicht so recht zu den Gummistiefeln passte. »Der Maibach, Bensing?« »Steht mit Ihrem BMW hinten in der alten Scheune unter Stroh und Gerumpel verborgen. Beide Fahrzeuge sind aufgetankt. Ich warte sie regelmäßig.« »Montieren Sie das D‐Schild von meinem Roadster ab und malen Sie ein C dazu. Schrauben Sie es an den Maybach. CD steht fur ›Corps Diplomatique‹. Am Kühler befestigen Sie als Stander das Sofadeckchen mit Mutters Familienwappen, das ich für sie in den spanischen Farben gestickt habe. Polieren Sie den Wagen. Bü‐ geln Sie Ihre Chauffeursuniform. Wir fahren Mittwochfrüh. Mein Bruder ist spanischer Diplomat. Unser Flugzeug nach Barcelona geht um vierzehn Uhr ab Tempelhof.« »Ich mache mich sofort an die Arbeit, Fräulein Detta.« Bensing entfernte sich mit gemessenen Schritten. »Barcelona?«, fragte ihr Bruder ungläubig. »Tom Glaser fliegt uns raus.« Sie erklärte ihm ihren Plan. »Wenn das nur gut geht«, murmelte der Freiherr kopfschüt‐ telnd. Von irgendwo aus der Höhe tönte ein Jagdhorn. »Wir haben einen Ausguck auf dem Turm.« Hans‐Georg hatte es plötzlich eilig. Durch die hohen Fenster sah sie, wie er über den Hof sprin‐ 258
tete und in der Luke zum Kartoffelkeller verschwand. Bensing tu‐ ckerte mit dem Traktor heran und schob ein Fuder Mist über den Einstieg. Es war Kreisbauernfuhrer Fanselow, der in brauner Parteiuni‐ form seinem DKW entstieg und auf das Schlossportal zu stolzierte. Der Freiherr rümpfte die Nase. »Er kommt oft auf Freundschafts‐ besuch, wie er das nennt, und erkundigt sich nach meinem Befin‐ den. Ich glaube, er will sich rückversichern.« »Ich gehe derweil zu den Pferden.« Detta hatte keine Lust, dem Mann zu begegnen. Tom Glasers Anruf erreichte sie beim Mittagessen. Eine Brand‐ bombe hatte vergangene Nacht seine zum Rückflug bereits auf‐ getankte JU 290 zerstört. »Eine Ersatzmaschine gibt es nicht. Die Deutsche Lufthansa fliegt nicht mehr.« Mit einem Schlag war ihr verwegener Plan dahin. Doch sie ließ sich die Enttäuschung nicht anmerken. »Na wenn schon«, sagte sie flapsig. »Ein paar Tage mehr bei den Kartoffeln bringen dich auch nicht um. Die BBC meldet, dass die Russen die Oder bei Frankfurt überschritten haben. Bis zu uns sind das höchstens achtzig Kilometer.« Das Jagdhorn auf dem Turm tönte früh am Morgen. Hans‐Georg verschwand in seinem Versteck. Bensing schob den Mist über die Luke. Vor Schloss Aichborn hielten zwei Jeeps. Acht Rotarmisten sprangen heraus. Drohend schwenkten sie ihre Kalaschnikows in alle Richtungen. Eine geschlossene Limousine hielt in der Auf‐ fahrt. Ein Offizier stieg aus, gefolgt von Fanselow. Der Kreisbau‐ ernfuhrer trug eine proletarische Kappe und am Joppenärmel eine rote Armbinde. Hoch aufgerichtet erschien der Schlossherr im Portal. »Da ist er, der Faschistengeneral!«, rief Fanselow. »General ja, Faschist nein«, erwiderte der Freiherr ungehalten. Detta trat neben ihn. 259
»Das ist die Tochter! Noch so eine Faschistensau.« Fanselows Stimme überschlug sich. Detta ging ruhig auf ihn zu. »Keine Krebse heute, Fanselow, sondern Kartoffelsuppe. Die kann man laut vom Löffel schlürfen, das ist ja wohl mehr Ihr Stil.« Fanselow lief rot an. Detta wandte sich dem Russen zu. Sie sprach Französisch: »Je suis Henriette von Aichborn. Was geschieht mit meinem Vater? Er ist alt und krank.« »Major Rubatschow, NKWD«, stellte der Offizier sich in tadel‐ losem Deutsch vor. »Ich habe Befehl, Generalleutnant Heinrich von Aichborn als Kriegsverbrecher festzunehmen.« Aichborn wies auf seine Strickjacke. »Ich darf mich zuvor um‐ ziehen.« Er wartete die Antwort nicht ab. »Abhauen, was?« Fanselow packte den Freiherrn am Ärmel. »Lassen Sie das«, befahl der russische Offizier und betrachtete die Familienbilder in der Halle. »Ich bin auch ein Kriegsverbrecher.« Die Freifrau erschien in Hut und Mantel oben an der Treppe. Der Major hob die Schultern: »Wie Sie wollen.« Der Freiherr trat neben sie. Die Generalsbiesen an seinen Reithosen leuchteten rot. Am Kragen schimmerte das blaue Email des preußischen Ordens »Pour le Merit«. Er küsste seiner Frau altväterlich die Hand und reichte ihr den Arm. Voll unnachahmlicher Würde schritt das Paar die Treppe hinunter. Bensing half seinem Herrn in den Man‐ tel. Der Major hielt den Wagenschlag auf. Heinrich und Maria von Aichborn stiegen ein. Die Limousine fuhr an. »Wir kommen wieder«, zischte Fanselow und sprang in den Jeep. Bensing drohte ihm mit erhobener Faust hinterher, Zornes‐ tränen in den Augen. »Sie sind bestimmt bald wieder da.« Detta legte ihm tröstend den Arm um die Schultern. Mit einem Mal dämmerte es ihr. »Der Krieg ist aus, Bensing. Wir sind frei«, sagte sie erstaunt. »Ja, Fräulein Detta.« Bensing entfernte sich mit müden Schritten. 260
»Hans‐Georg, wir sind frei!« Sie lief über den Hof und griff zur Mistgabel. »Frei...!! Frei...!! Frei...!!!«, jubelte sie mit jeder vollen Gabel. Der Mist flog beiseite, die Luke klappte auf. Wie ein Phoe‐ nix stieg der Bruder ans Licht. Die Morgensonne färbte sein schmales Gesicht golden. Detta fiel ihm um den Hals, tanzte aus‐ gelassen mit ihm über den Hof, hielt endlich ein. »Keine Gestapo mehr, keine Angst.« Sie küsste ihn. Es war wie der Kuss einer Lie‐ benden. Dann verflog die Euphorie. »Die Russen haben Vater ab‐ geholt«, sagte sie beklommen. »Fanselow muss ihn wohl denunziert haben. Mutter ist mit ihm gegangen.« »Vater hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Sie werden ihn bald freilassen«, beruhigte Hans‐Georg sie. Ein Kübelwagen brauste auf den Hof, gefolgt von zwei Motor‐ rädern mit Beiwagen. Sechs SS‐Leute in langen Gummimänteln richteten ihre Maschinenpistolen auf die Anwesenden. Ein SS‐Leutnant stieg aus dem Kübelwagen. »Sturmführer Keil, Sonderkommando.« Er warf einen kalten Blick auf Hans‐Georgs Stiefelhosen. »Wer sind Sie? Ihre Papiere«, blaffte er. »Noch vor fünf Minuten Rittmeister Freiherr von Aichborn. Jetzt nur noch Landwirt. Die Russen waren schon hier. Der Krieg ist aus, auch für Sie, Herr Keil.« »Wann der Krieg aus ist, bestimmen wir. Aufhängen, den Verrä‐ ter«, befahl der Sturmführer. Zwei Mann packten ihn. Ein dritter zog ein Ende Bindfaden aus der Manteltasche und schnürte ihm die Hände auf den Rücken. Der Fahrer des Kübelwagens brachte Melkschemel und Kälber‐ strick aus dem Kuhstall. Sie schleppten den sich vergeblich Weh‐ renden unter die Laterne an der Remise. Alles geschah mit grau‐ siger Routine. »Bitte warten Sie«, hörte Detta sich aus weiter Ferne. »Ich hole seine Papiere.« »Ich gebe Ihnen eine Minute«, rief der SS‐Scherge ihr nach. Wie eine Schlafwandlerin ging sie über den Hof. 261
Am Fenster des Jagdzimmers kam sie zu sich. Sie sah, wie sie Hans‐Georg auf den Schemel hoben und ihm die Schlinge um den Hals legten. Einer der SS‐Leute zog das Knie an, den Schemel umzustoßen. Sie fühlte den glatten Schaft der Büchse an ihrer Wange, hatte die Stirn des Bruders im Fadenkreuz des Zielfern‐ rohrs. »Ausatmen, langsam durchziehen, ungefähr so, als drückst du einen Schwamm aus, sonst verreißt du«, hörte sie seine Stimme. Ich liebe dich, dachte sie. Ihr erstickter Aufschrei wurde vom Schuss übertönt. Ein russischer Tiefflieger hatte das SS‐Kommando verjagt. Über Aichborn lag Stille. Die Frühlingssonne wärmte die schweigenden Menschen. Die polnischen Arbeiter zogen ihre Mützen und be‐ kreuzigten sich. Frauen blickten weinend auf den Toten. Sie trugen ihn ins Haus und legten ihn auf den großen Eschen‐ holztisch, wo zur Jagdzeit das Wild zerwirkt wurde. Detta wusch den nackten Leib mit langsamen liebkosenden Bewegungen. Lina half ihr, dem Toten seine Uniform anzuziehen. Sie mussten die Reitstiefel dazu hinten aufschneiden. Dann betteten sie ihn in der Schlosskapelle auf Efeu. Bis zum Abend würde Bensing den Sarg gezimmert haben. Fackelschein erhellte die Gräber hinter der Kapelle, wo seit vierhundert Jahren alle Aichborns ruhten, die nicht in fernen Ba‐ taillen gefallen waren. Die Nacht war kalt und sternenklar. Pfarrer Wunsig sprach vom Frieden im Lande, den der Bruder nun nicht mehr erleben durfte und vom ewigen Frieden, den er gefunden hatte. Die Schwester stand tief verschleiert am Grab, die Tradition gebot es so. In der Küche legte sie den Schleier ab. Sie bot dem Pfarrer Grog zum Aufwärmen an und erzählte eine amüsante kleine Geschichte aus ihren und Hans‐Georgs Kinderjahren. Aich‐ borns Frauen zeigten nie ihre Gefühle. Detta hatte keine Gefühle mehr. In ihr war alles leer. Sie registrierte, was in den nächsten Stunden um sie geschah: 262
den Einzug der roten Horden unter einem dicken kleinen Haupt‐ mann, der den Greueltaten seiner Soldaten beifällig zusah und sich die jüngsten Mädchen zuführen ließ; die Schreie der geschändeten Frauen und misshandelten Männer; das sinnlose Abschlachten von Pferden und Vieh. Sie registrierte es, aber sie nahm es nicht wirklich wahr. Sie kochte in der Küche mit Lina große Töpfe Suppe für die Eroberer, das bewahrte sie im Augenblick vor dem Schlimmsten, aber sie gab sich keinen Illusionen hin. Als sie einen Suppentopf hinaus zum Feuer trug, packte sie der Pole Jurek. Er hatte mit den Soldaten getrunken. »Komm her, deitsche Hure«, gröhlte er und zerrte Detta vom Feuer weg ins Dunkel. Sein Atem roch nach Wodka. Hinter den Pferdeställen ließ er sie los. »Musst du schreien laut, dass alle meinen, ich mach dich kaputt«, flüsterte er. Detta schrie, dass die Kehle ihr wehtat. »Hab den Loschek gesattelt. Schnell weg, ja?« Er hatte eine Decke auf den Rücken des alten Ackergauls gegurtet und half ihr hinauf. Die Nacht war wieder kalt und ster‐ nenklar. Sie orientierte sich am Großen Bären. Berlin, ich komme! schoss es ihr durch den Kopf. Du wiederholst dich, dachte sie bit‐ ter. Der amerikanische Stadtkommandant sah von seinem Schreibtisch auf. »Good morning, Curt.« »Good morning, Sir.« Curtis S. Chalford wies auf seine Beglei‐ terin. »Sir, this is Henriette von Aichborn.« Der General reichte Detta die Hand. »Glad to meet you, Miss von Aichborn. I am Henry Abbot. We are all here to find out whether you would like to become my German liaison.« Abbot war ein schlanker Graukopf mit wettergegerbtem Gesicht. Er hatte jene knappe trockene Aussprache, die für Neuenglands Aristokratie typisch war. Detta mochte ihn auf Anhieb, was auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien. 263
»This is entirely up to you, General Abbot. But why don᾿t we give it a try?«, schlug sie vor. »Eine Probezeit, ausgezeichnet«, meinte Chalford beifällig. Detta hatte bei ihm im German‐American Employment Office vor‐ gesprochen. Er hatte sie für den Posten vorgeschlagen. Die Bewer‐ berin sprach fließend Englisch, war eine wirkliche Lady und hatte jenes gewisse Etwas, das nicht erlernbar war, sondern ange‐ boren. Detta hätte praktisch jeden Job angenommen. Sie wollte nur eines – sich in Arbeit vergraben und alles vergessen: ihre aben‐ teuerliche Flucht aus Aichborn, erst zu Pferd, dann weiter zu Fuß, nachdem hungrige Obdachlose den Gaul geschlachtet hatten, tagsüber in Unterholz oder Scheunen vor den marodierenden Be‐ freiern verborgen, nachts auf abgelegenen Wald‐ und Feldwegen; die folgenden Wochen bei den Glasers in Mahlow am Rande Berlins, wo eine einquartierte Majorin der Roten Armee das Ärgste abwenden konnte; die Nachricht, vom treuen Bensing auf verschlungenen Pfaden übermittelt, dass man die Mutter freige‐ lassen habe, der Vater sei im NKWD‐Lager Buchenwald. Nach dem Einzug der Westalliierten in die Hauptstadt wagte Detta sich zum Steubenplatz, der im Britischen Sektor lag. Ihr Apartment war besetzt. Man hatte eine Familie eingewiesen, die den Treck von Ostpreußen überlebt hatte. Sie konnte ein paar Sachen aus ihrem Kleiderschrank bergen. Wohin damit, einschließ‐ lich ihrer selbst, wusste sie nicht. Auf dem Wohnungsamt, beim stundenlangen Schlangestehen, sprach sie jemand an: »Fräulein von Aichborn, nicht wahr?« Die Frau trug einen einstmals eleganten Fohlenmantel und ein Kopf‐ tuch. »Elisabeth Mohr. Sie besuchten uns einmal mit Fräulein Goldberg im Modenhaus Horn am Kurfürstendamm. Das muss so etwa 1935 gewesen sein.« »Frau Mohr, ja, ich erinnere mich.« Frau Mohr musste ein Zimmer ihrer Wohnung abgeben. »Da 264
suche ich mir den Mieter doch lieber selber aus, statt mir wen einweisen zu lassen.« So kam Detta mit ihren paar Sachen in der Waltraudstraße am Fischtalpark unter und erhielt dazu gleich Frau Mohrs guten Rat: »Wenn Sie etwas Englisch können, versu‐ chen Sie᾿s wegen Arbeit mal bei den Amis. Die zahlen Allimark, aber vor allem gibt᾿s bei denen was zu essen.« Und nun war sie im Begriff, einen der wichtigsten Posten anzu‐ treten, den ein Deutscher derzeit bekleiden konnte: den US‐Stadt‐ kommandanten zu beraten und zwischen ihm und den Berlinern zu vermitteln. Aber sie empfand keine Freude oder Genugtuung. Sie fühlte Leere und Einsamkeit. Die Ankunft ihrer Mutter war ein unerwarteter Lichtblick. Sie hatte sich zu Fuß und auf den Dächern überfüllter Güterzüge nach Berlin durchgeschlagen. In Aichborn wüteten Fanselow und seine roten Helfershelfer. Sie hatten das Schloss geplündert und die Ländereien enteignet. Die Freifrau lächelte schmerzlich. »Bensing hat als ›Junker‐ knecht‹ Selbstkritik geübt. Er bestand darauf, zu bleiben. Irgend‐ wer müsse in Aichborn sein, wenn Vater nach Hause kommt. Ach, Detta, ich habe so wenig Hoffnung. Unter den neuen Herren sollen im Lager Buchenwald noch schrecklichere Zustände herrschen als zuvor.« Fortan teilten sich Mutter und Tochter das Bett. Frau von Aich‐ born war kein Flüchtling und hatte kein Wohnrecht in Berlin. Sie war wie ein Schatten, den man kaum bemerkte. Ihre Tage ver‐ brachte sie mit Lesen oder langen Spaziergängen im Fischtal. »Ein hübscher Park«, bemerkte sie. »Der Name hat übrigens nichts mit Fischen zu tun. Die Zehlendorfer Bauern nannten die Weiden dort ›Viehstall‹. Ich hab᾿s von einem Spaziergänger.« Sie lebte auf, als sie an der neu eröffneten Volkshochschule einen Spanischkurs einrichten durfte. Auch ein Zimmer wies man ihr schließlich zu: im Souterrain einer Villa in der Katharinen‐ straße, ganz nah bei Detta. Ein Foto auf der Kommode zeigte den 265
Freiherrn in Gummistiefeln, wie er einen Zuchtbullen begutach‐ tete. Baron und Bulle sahen glücklich aus. Der Weg zur Arbeit war nicht weit: über die Waltraudbrücke zur Argentinischen Allee und rechts bis zum U‐Bahnhof Oskar He‐ lene Heim. Schräg gegenüber war das Gelände mit den Gebäuden des ehemaligen Luftgaukommandos, das die Amerikaner zu ihrem Berliner Hauptquartier gemacht hatten und dank ihrer Vorliebe für absurde Abkürzungen OMGUS nannten, »Office of the Military Government of the United States«. Die Sandstein‐ fassaden des Dritten Reiches waren unversehrt und unverändert. Der Geruch von Nescafe und Virginiazigaretten in den geboh‐ nerten Korridoren war neu. Detta ging diesen Weg von nun an täglich, und täglich begeg‐ nete ihr der Blinde, ein jüngerer Mann, klein, mit dunkler Brille und weißem Stock, in einer an mehreren Stellen geflickten Uni‐ form, auf deren Brust man die Umrisse des abgetrennten Luftwaf‐ fenadlers erkennen konnte. Er wohnte wohl irgendwo hier in der Gegend. Er tat ihr leid. Doch dabei wäre es wohl geblieben, ihr stand nicht der Sinn nach Bekanntschaften, wäre er nicht eines Morgens fast vor ein Auto gelaufen. Sie hielt ihn am Ärmel zurück, er erschrak, begriff und dankte ihr. »Ich kenne Sie, ich kenne Ihre Schritte. Wir begegnen uns hier jeden Morgen, nicht wahr? Ich mache meine tägliche Runde, um nicht endgültig zu vergreisen.« »Kommen Sie.« Detta nahm seinen Arm und führte ihn über die Straße. »Einen guten Morgen«, wünschte sie ihm auf der anderen Seite. Er entfernte sich mit sicheren Schritten. Offenbar kannte er jeden Pflasterstein. Ihre neue Alltagsroutine begann mit dem Vorweisen ihres Aus‐ weises beim Posten an der Einfahrt. Lieutenant Anny Randolph, die persönliche Assistentin des Stadtkommandanten, erwartete sie im Vorzimmer mit einem schwarzen Kaffee, an den Detta sich erst 266
hatte gewöhnen müssen, die Amerikaner kochten das starke Ge‐ bräu, statt es aufzubrühen. »Hi, Detta, how are you this morning?« »Thanks, Anny, swell«, ahmte Detta den Tonfall der lebhaften New Yorkerin nach. »What᾿s on?« »Der Boss will Sie sehen. Die Leute wegen der Zeitungslizenz haben um elf einen Termin.« Ein normaler Arbeitstag begann. Colonel Tucker, der Adjutant des Stadtkommandanten, schaute kurz herein, aber es lag nichts für ihn vor. Mr. Gold, der undurchsichtige Vertreter des State De‐ partments, der angeblich kein Wort Deutsch konnte, obwohl er aus Frankfurt am Main stammte, brachte für den Stadtkomman‐ danten ein Kuvert mit dem Aufdruck »confidential«, das er sich von Anny Randolph quittieren ließ. Herr Bongartz machte mit Fläschchen und Pinsel seine wöchentliche Runde, er desinfizierte die vierhundert OMGUS‐Telefone. Die Amerikaner hatten vor Bazillen noch mehr Angst als vor dem Kommunismus. Henry Abbot erhob sich höflich, als Detta seinen Arbeitsraum betrat, und wies einladend auf einen der Sessel. »Bitte, Henriette.« »Danke, Sir. Es geht um die Lizenz zur Herausgabe einer neuen Berliner Zeitung, nicht wahr?« »Mein Presseoffizier Major Landon hat die Antragsteller ge‐ checkt. Er hat keine Bedenken, aber ich möchte, dass Sie sich die beiden ansehen. Ich gebe viel auf Ihre Menschenkenntnis.« »Nur ein bisschen common sense, General«, wehrte Detta ab. Die deutschen Besucher kamen pünktlich. Detta stellte sie dem General vor. Hermann Lüttge war Drucker und hatte die nötigen Maschinen. Er sagte nicht viel. Sein Partner sprach dafür umso mehr: »Ich werde mich um die verlegerische Seite kümmern. Ich habe jahrelang organisatorische Erfahrungen im Wirtschaftsminis‐ terium gesammelt, völlig unpolitisch, wie Sie meiner vorlie‐ genden Akte entnehmen können. Mein Schulfreund Leo Wolf wird als Chefredakteur die Redaktion zusammenstellen. Er war im KZ«, schloss er triumphierend. 267
Detta übersetzte. Henry Abbot hörte aufmerksam zu. »Befähigt das KZ automatisch zum Chefredakteur?« »Aber ich bitte Sie, Herr Stadtkommandant. Der Mann ist na‐ türlich Jude. Die sind am schlauesten. Bei welcher Gelegenheit ich anmerken darf, dass ich vielen jüdischen Mitbürgern geholfen habe. Ich kann das belegen.« Den Goldbergs zum Beispiel, dachte Detta. Sie hatte den ehe‐ maligen Ministerialdirektor Aribert Karch sofort wieder erkannt. Er wusste offenbar nicht, wo er sie hintun sollte. »Einen Moment dachte ich fast, wir seien uns schon mal begegnet«, sagte er, als sie wieder im Vorzimmer waren. »Da haben Sie richtig gedacht, Herr Karch. Auf Miriam Gold‐ bergs Abschiedsparty in der Gumbinner Allee. Sie halfen ihr und ihrer Familie damals so nett außer Landes. Ich werde ihr nach Amerika schreiben. Sicher wird sie Ihren Lizenzantrag unterstüt‐ zen. Gehören Sie übrigens noch zum Freundeskreis des Reichs‐ führers?« Karch machte ein Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. »Wir mussten alle mit der Zeit gehen.« »Und manche gingen dabei weiter als andere.« »Ich verstehe kein Wort«, sagte der Drucker. »Das ehrt Sie, Herr Lütge. Guten Morgen, die Herren.« »Herr Karch hat seinen Lizenzantrag zurückgezogen«, meldete sie dem General. »Hätte er sich das nicht früher überlegen können«, brummte Henry Abbot ungehalten. »Er brauchte ein wenig Nachhilfe.« Der Blinde löste sich von der Laterne an der Ecke Waltraud‐straße und passte sich Dettas Schritten an. »Ich habe Sie schon von weitem gehört. Wie ist das werte Befinden heute morgen? Ich habe die ganze Nacht an Sie gedacht. Sie sind schön. Eine richtige Dame. Ich erkenne das an Ihrer Stimme. Früher kannte ich viele 268
schöne Damen. Heute hat keine mehr was für mich übrig. Aber Sie sind anders.« Alles in ihr sträubte sich. Dass sie ihn gestern vor einem Unfall bewahrt hatte, gab ihm kein Recht zur Vertraulichkeit. »Entschul‐ digen Sie mich. Ich bin in Eile.« Sie ging schneller, doch er ließ sich nicht abschütteln. Sein Stock schlug den Takt zu ihren Schritten. Irgendwie klang es bedroh‐ lich. »Sie arbeiten bei den Amerikanern, nicht wahr? Da wollen Sie deutsche Pünktlichkeit zeigen. Für mich gilt das leider nicht mehr, ausgemustert wie ich bin. Ob ich zu spät komme oder überhaupt nicht, wen interessiert das schon?« Der Posten würde ihm Einhalt gebieten. Sie war einfach nicht in der Stimmung für dieses Geschwätz. Er nahm ihr Schweigen für Interesse. »Ist noch gar nicht solange her, da war das anders. Da erwartete mich die Bodenmannschaft nach jedem Luftsieg mit ᾿ner Pulle Schampus. Nach dem fünfundzwanzigsten gab᾿s das Ritterkreuz.« Der Posten, gottlob. »Weiter können Sie leider nicht mit. Guten Tag.« »Brandenburg, Hauptmann Jürgen Brandenburg, Jagdgeschwa‐ der Richthofen«, rief er ihr nach. Der Stadtkommandant war an diesem Morgen ungewöhnlich aufgekratzt. »Stellen Sie sich vor, Henriette, ich habe auf der Werft am Wannsee eine völlig intakte seetüchtige Segelyacht entdeckt. Ganz aus Mahagoni und Teak. Ein Prachtstück. Der alte Bootsbauer dort sagt, er brauche einen Monat, um die ›ASTRA‹ zu zerlegen. Er macht das für ein paar Kartons Zigaretten. Colonel Hastings vom Transport Command bringt sie für mich nach Bremerhaven, wo wir sie nach Hause verschiffen. Sechs Wochen drüben bei uns im Shipyard, und sie ist wie neu.« »Und der Eigentümer?« »Irgendein Deutscher.« Detta war empört. »Ich bin auch irgendeine Deutsche, General 269
Abbot. Leider habe ich nichts, was Sie mir wegnehmen und nach Hause verschiffen könnten. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden ... « »One moment, Henriette.« Er wird mich feuern, dachte sie. »Der Eigentümer der Yacht heißt Erpenborg, ein Briefmarken‐ händler. Ein netter alter Herr, der nicht mehr segelt. Wir sind übereingekommen, dass ich ihm den Schätzwert in Dollars auf das Konto seiner Schwester nach Rio überweise. Sie wird es dort für seine Kinder anlegen.« »Nehmen Sie meine Entschuldigung an, Sir?« »Nur, wenn Sie heute Abend zum Essen kommen. Wir haben eine Überraschung für Sie. Lucy mag Sie sehr. Ich übrigens auch.« Verlegen sah er zu Boden. Dann war er wieder der straffe West‐ point‐OfSzier. »Und jetzt an die Arbeit. Was liegt vor?« Der evangelische Bischof von Berlin hatte ein Anliegen. Curtis S. Chalford steckte sein rosiges Gesicht zur Tür herein. Er kam mit einem Vorschlag zur Arbeitszeitregelung für deutsche Army‐An‐ gestellte.Der Stadtkommandant empfing eine Gruppe Schöneber‐ ger Bezirksabgeordneter. Dann war Mittag. Detta hätte ins Harnack Haus zum Essen gehen können. Als einzige Deutsche hatte sie eine Sondererlaubnis. Doch es wider‐ sprach ihrer tief verwurzelten preußischen Art, vom Sieger ge‐ währte Vorrechte in Anspruch zu nehmen. Sie wusste um ihr Di‐ lemma: dass sie einerseits die Befreier begrüßte, die das Joch der Diktatur von ihr genommen hatten; dass sie in ihnen andererseits aber noch immer den Gegner erblickte. Hinter Truman Hall lag ein Stück Wald. Die Kiefern hier waren jung und darum den Schwarzfällern bisher entgangen. In Kürze würde man sie abholzen und eine Wohnsiedlung in den Sand bauen, die schon vor dem Krieg für Berlins wachsende Be‐ völkerung geplant worden, aber nun fur die Amerikaner vorgese‐ hen war. Sie ließ sich auf dem warmen, mit Kiefernadeln gepols‐ 270
terten Boden nieder und schloss die Augen. Seit Henry Abbot die Yacht erwähnt hatte und den Wannsee, dachte sie an David und an BERTIE, das Motorboot. Erst zehn Jahre war das her, und doch schien es eine Ewigkeit. Sie wähnte sein sommersprossiges Ge‐ sicht über sich, ernst und konzentriert, während er bemüht war, in sie einzudringen, mehr besorgt, ihr wehzutun, als von Leiden‐ schaft erfüllt. Sie musste lachen, und das tat ihr gut. »Madame sind guter Laune«, unterbrach eine Stimme ihre Erin‐ nerungen. Der Blinde stand vor ihr. »Sie gestatten doch.« Er setzte sich dicht neben sie. »Hauptmann Jürgen Brandenburg, ich sagte es wohl schon. Achtundzwanzig Luftsiege, bis mich der Heck‐ schütze einer B‐17 erwischte. Ein Schlag am Kopf. Ringsum plötz‐ lich alles verschwommen. Keine Ahnung, wie ich meine Maschine runterbrachte. Dann nur noch Schwärze. Bis heute.« Widerwille stieg in ihr auf. Sie wollte mit diesem Mann nichts zu tun haben. »Das tut mir sehr leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen.« »Noch vor einem Jahr hätte ich Sie zu Horcher eingeladen oder ins Adlon. Da machten die Ober Bücklinge, und all die schönen Damen konnten gar nicht schnell genug Ja sagen.« Sie richtete sich auf. »Bitte versuchen Sie nicht mehr, mich zu treffen.« Sie nahm sich zusammen, um nicht davonzulaufen, son‐ dern mit ruhigen Schritten zu gehen. Es gab keinen Grund zur Panik. Die OMGUS‐Einfahrt war kaum hundert Meter entfernt. Dennoch blieb das beklemmende Gefühl, auch nachdem sie den Posten passiert hatte. Frau Mohr musterte kritisch Dettas schlichtes schwarzes Kleid und das zu einem Knoten gestraffte blonde Haar. Es gab keinen Friseur. Sie zeigte auf die Schuhe. »Ihre Treter sind völlig unmöglich. Ver‐ suchen Sie mal meine schwarzen Pumps.« Die rauchfarbenen Ny‐ lons waren ein Geschenk von Anny Randolph und brachten Dettas lange schlanke Beine vortrefflich zur Geltung. »Da werden sich einige Herren umdrehen«, freute sich ihre Wirtin. 271
»Danke, Frau Mohr.« Detta tat die Pumps in den Schuhbeutel und zog ihre alten Treter wieder an. Eine halbe Stunde Fußweg lag vor ihr, aber das störte sie nicht. Der Abend war warm und trocken. Der amerikanische Stadtkommandant residierte in einer ge‐ diegenen alte Villa in der Pacelliallee, die einst einem Rothschild gehörte. Zwei geschwungene Treppen führten links und rechts zum Portal empor. Ein Mädchen in Häubchen und gestärkter Schürze ließ Detta ein. Eine Ordonnanz in weißer Messejacke erschien und führte die Besucherin in den großen Salon. Lucy Abbot kam ihr in rauschendem blauem Organza entgegen. »Hen‐ riette, Kind, wie geht es Ihnen? Wir haben uns fast einen Monat nicht gesehen, das darf nicht wieder vorkommen, Sie müssen es versprechen. Harry, mach unseren Gast mit den anderen be‐ kannt.« General Henry C. Abbot trug ein bordeauxrotes Dinner Jackett und sah fabelhaft aus. Er stellte der Reihe nach vor: »Brigadier und Mrs. Anthony Thompson — Baroness Henriette von Aichborn.« Es folgten ein französischer Luftwaffencolonel mit Frau und Tochter, ein russisches Ehepaar, beide in Majors‐ uniform, ein deutscher Dirigent nebst Gattin, einige Verwaltungs‐ offizielle mit Damen und ein Herr im grauen Anzug. »Das ist Andrew Hurst, Ihr Tischherr, wir haben ihn extra für Sie aus Washington eingeflogen«, scherzte der Gastgeber. »Sind Sie die Überraschung, Mr. Hurst?« »Ja, wenn Sie so wollen.« Die Ordonnanz bot ein Tablett mit Getränken an. Detta nahm ein Glas Weißwein. »Und Sie kommen also direkt aus Washing‐ ton?« »Ich bin vom Justizministerium beauftragt, die Anklage gegen eine Reihe deutscher Kriegsverbrecher vorzubereiten, denen in Nürnberg der Prozess gemacht werden soll.« Detta war im Begriff, etwas zu sagen, aber Hurst hob lächelnd 272
die Hand. »Ich kenne die Problematik eines solchen Unterfangens, das von vielen als Siegerjustiz angesehen wird, aber Stalin besteht darauf, und dem können wir als Alliierte nicht ausweichen. Ich würde dieses Thema heute Abend nicht anschneiden, wenn es nicht mit einer guten Nachricht fur Sie verbunden wäre. Wir haben den Generalleutnant Heinrich Freiherrn von Aich‐ born, einstmals Abteilungsleiter im Oberkommando des Heeres, als Zeugen vor dem alliierten Tribunal benannt. Unsere sowje‐ tischen Verbündeten mussten ihn daraufhin aus dem Lager ent‐ lassen und uns überstellen. Er ist ein freier Mann und bis zum Ende der Verhandlung unser Gast.« Fast wäre Detta ihm um den Hals gefallen, aber sie beherrschte sich. »Danke, Mr. Hurst, das ist die schönste Nachricht seit langem. Ich muss sie sofort meiner Mutter überbringen.« »Nach dem Essen, mein Kind«, mischte Lucy Abbot sich ein. »Sagen Sie ihr, dass mein Mann für sie einen Flug nach Nürnberg arrangiert hat. Ihre Eltern wohnen mit den anderen Zeugen in einem komfortablen Gästehaus.« Es gab Wildbouillon und Geflügelfrikassee, Käse und Dessert, dazu weiße und rote Weine. Andrew Hurst war ein amüsanter Plauderer mit trockenem angelsächsischem Humor. Detta zwang sich, eine gute Gesprächspartnerin zu sein und keine Ungeduld zu zeigen. Aber nach dem Essen hielt sie nichts mehr. »Gehen Sie nur, Kind. Grüßen Sie Ihre Mutter von uns.« Lucy Abbot brachte sie diskret hinaus, um die Party nicht zu stören. Die Nacht hatte sich etwas abgekühlt. Aus den Gärten drang Blu‐ menduft. Detta nahm ihn nicht wahr. Sie lief vor bis zum Thiel‐ platz und weiter durch die Ihnestraße. Hecken warfen das Echo ihrer eiligen Schritte zurück. Keine zehn Minuten, dann würde die Mutter die wunderbare Neuigkeit hören. An der Ecke Garystraße streikten ihre Füße. Die Pumps waren zu eng. Sie hatte die bequemen Treter im Beutel völlig vergessen. 273
Sie stützte sich auf eine Mülltonne am Bordstein, um die Schuhe zu wechseln. Sie wurde den Verfolger erst gewahr, als sie seinen Atem im Na‐ cken spürte. »Was soll das?«, reagierte sie ärgerlich und wollte sich umdrehen. Eine Kette legte sich um ihren Hals. Keuchend zerrte der Angreifer an ihrem Kleid. Sie wehrte sich mit Händen und Füßen, aber das Metall schnitt immer tiefer in ihre Kehle, bis sie nur noch hilflos mit den Armen ruderte. Ein sengender Schmerz zerriss ihren Schoß. Sie würgte, rang vergeblich nach Luft, hatte keine Kraft zum Kämpfen mehr, wusste, dass es das Ende war. Wie banal, war ihr letzter Gedanke. 274
FÜNFTES KAPITEL
A
m frühen Abend kreischten in der Riemeister Straße Bremsen. Erstaunt öffnete Inge Dietrich die Haustür. Ein Corporal der Military Police hob einen großen Karton vom Rück‐ itz seines Jeeps und trug ihn an ihr vorbei ins Wohnzimmer, wo er ihn auf den Tisch stellte. »From Captain Ashburner, with his best regards.« Der Corporal grüßte lässig und brauste los. Frau Inge öffnete den Karton. Sprachlos starrte sie auf die Schätze, die ihr entgegenquollen. »Mann, det jibt᾿s doch nicht.« Ralf angelte sich eine der oliv‐ grünen Dosen. »Pineapple in Syrup«, las er die Aufschrift. »Okay, Apple, das ist Apfel«, überlegte er. »Syrup ist auch klar. Aber Pine?« Seine Mutter holte das alte Lexikon ihres Vaters aus dem Bü‐ cherschrank. »Pine — Kiefer, Pinie«, las sie. »Kiefernapfel?« Ein Schimmer der Erleuchtung glitt über Ralfs Engelsgesicht. »Klar. Kiefernäppel in Sirup. Komisch, was die Amis so alles essen.« Dr. Hellbich erschien und zog erfreut einen Karton Camel aus dem Wunderhorn. Augenblicke später hing eine würzige Virginiawolke im Wohnzimmer. »SPAM« las seine Frau derweil ratlos auf einer eckigen Dose. »Ob das was zum Essen ist, was meinst du, Vater?« Der Bezirksrat inhalierte verzückt seine Zigarette und war nicht zu sprechen. »Ich hole den Büchsenöffner«, bot Ralf der Großmutter unge‐ wöhnlich hilfreich an. »Brauchste nicht.« Ben war eben nach Hause gekommen. Er brach den angelöteten kleinen Schlüssel vom Deckel der Kon‐ 275
serve. Geschickt fädelte er die Lasche seitlich an der Büchse in den Schlitz des winzigen Instruments und begann zu drehen. Vor den staunenden Augen der Anwesenden löste sich ein dünner Blech‐ streifen rings um die Dose. Ben rollte ihn auf den Schlüssel, bis man den Deckel abheben konnte. Eine rosa Fleischmasse kam zum Vorschein. »SPAM«, dozierte er lässig. »Abkürzung fur Spiced Ham, was soviel wie gewürzter Schinken heißt.« Er wusste das von Mister Brubaker, der ihm ein Sandwich mit dieser Köstlichkeit bereitet hatte, einschließlich der blassgelben »Heinz Salad Sauce«, die bei jedem Biss links und rechts herausquoll. Ralf steckte den Finger in die Dose. Seine Mutter klopfte ihm auf die Hand. »Jeder bekommt eine Scheibe zum Abendessen.« Sie nahm dem erbosten Bezirksrat den offenen Karton mit neun Päck‐ chen Camel weg. »Dafür kriege ich fünfzehn Liter Speiseöl und zwei Seiten Speck. Vielleicht reicht᾿s sogar für ein paar Eier.« Die anderen rätselten inzwischen um eine Dose Peanut Butter. Dr. Hellbich übersetzte »Pea« und »Nut« wörtlich und wunderte sich: »Weiß der Himmel, wie die aus Erbsen und Nüssen Butter machen. Sicher ein Ersatz wie unser Kastanienkaffee«, vermutete er. »Papa kommt. Mann, wird der Augen machen«, freute sich Ralf. Sein Vater stellte das Rad auf der Veranda ab und zog die Klam‐ mern von den Hosenbeinen. Inge strahlte. »Sieh nur, Schatz, was Mister Ashburner uns Schö‐ nes geschickt hat.« »Kiefernzapfen in Sirup. Butter aus Erbsen und Nüssen«, murrte Hellbich. »Diese Amerikaner sind wirklich Barbaren.« Klaus Dietrich ging stumm an der Familie vorbei und stieg mit schweren Schritten die Treppe hinauf. Besorgt sah ihm Inge nach. »Dass mir keiner eine Dose aufmacht, wir müssen uns diese nahrhaften Sachen gut einteilen«, warnte sie, bevor sie ihrem Mann folgte. Der Inspektor lag auf dem Bett und starrte zur Decke. Inge 276
setzte sich zu ihm und ergriff seine Hand. »Klaus, was ist los? Willst du drüber reden?« »Es nimmt kein Ende«, klagte er leise. Sie wusste sofort, was er meinte: »Noch ein Mord? Mein Gott, die arme Frau.« »Welche arme Frau?«, begehrte er auf. »Die Tochter, die er um‐ brachte, oder die Mutter, der ich die Nachricht überbringen durfte, dass man ihre Tochter auf bestialische Weise getötet und in eine Mülltonne gesteckt hat?« »Du hast es ihr bestimmt so schonend wie möglich beige‐ bracht.« Er lachte bitter. »Stell dir vor, sie war um mich besorgt: ob mich das alles auch nicht zu sehr mitnehmen würde?« »Es hat dich sehr mitgenommen, Liebling, ich sehe es dir an. Schlaf ein bisschen. Ich bringe dir nachher was zu essen rauf. Ich habe unter Mister Ashburners Gaben eine Flasche Mosel entdeckt. Die machen wir dazu auf.« »Ich muss ihn fassen, bevor er weitermordet«, murmelte Diet‐ rich. Dann schlief er erschöpft ein. Herrn Rödels Schneiderwerkstatt befand sich in der Veranda sei‐ nes Einfamilienhauses am Ithweg, das er, Frau und Tochter Heidi sich mit zwei Familien teilen mussten. Von der Verglasung hatten vier Scheiben die Druckwellen von Bombeneinschlägen, herab‐ regnende Splitter der Flakgranaten und die Maschinengewehr‐ salven der Roten Armee überstanden. Die übrigen sechsundfünf‐ zig waren mit Pappe verkleidet oder aus Zelluloid gefertigt, das ursprünglich zu Fenstern für Kübelwagen der Wehrmacht verar‐ beitet wurde. Rödel hatte das Material gegen einige Rollen Näh‐ seide eingetauscht, er brauchte zur Arbeit viel Licht. »Wie das im Winter werden soll, ist mir ausgesprochen schleier‐ haft. Heizen kannst du die Bude nicht, oder willst du᾿n heißes Ofenrohr durch die Pappe stecken?« 277
»Bei uns im Garten liegt ein Stück Blech rum, das können Sie haben«, bot Ben großzügig an. »Wenn Sie da ein Loch reinschnei‐ den, lässt sich das Ofenrohr durchschieben.« Ben schaute öfter mal vorbei. Es gab ihm das Gefühl, seinem Anzug näher zu sein. Interessiert schaute er zu, wie Rödel einen abgeschabten Paletot auseinander trennte, den ein Kunde zum Wenden gebracht hatte. »Die Teile wäschst du kalt, damit sie nicht einlaufen. Du bügelst sie trocken, baust sie wieder zusammen, die Innenseite nach außen, und schon hast du ᾿nen nagelneuen Mantel. Zum Glück habe ich noch Rosshaar und Wattierung.« »Für meinen Zweireiher hoffentlich auch.« Ben sah sich schon in tadellosem Glencheck, die Hosenumschläge haargenau fünf Zenti‐ meter hoch und leicht auf die Wildlederschuhe stoßend, sodass sich darüber nicht mehr als die Andeutung einer Falte ergab. Er strich voll Besitzerstolz über den Coupon im Regal. Der Stoff war aus bester Vorkriegswolle, fest und weich, das klassische graubraune Muster mit rotem Durchschuss gewebt. »Die Engländer nennen das ›Prince of Wales Karo‹. Ich hab᾿s im Herrenjournal gelesen.« »Finger weg, junger Mann. Erst unser Geschäft.« Ben zog Mr. Brubakers Karton Cameis unter dem Hemd hervor und legte ihn auf den Schneidertisch. »Das sind dreitausend Emm, okay?« »Zwo Fünnef.« Rödel notierte es mit Speckstift auf dem Anzug‐ stoff, der bereits ältere Teilzahlungsvermerke trug. »Da fehlt noch ᾿ne ganze Menge. Beeil dich, mein Junge. Herr Kraschinski von nebenan überlegt, ob er seine Uhr verkaufen soll, um dem Sohn einen Anzug zur Hochzeit zu spendieren.« Ben war empört: »Das können Sie nicht machen, Herr Rödel. Wo ich doch schon siebentausendneunhundert Mark angezahlt habe.« Der Schneider blinzelte über den Rand seiner Brille. »Ich will dir ja gerne einen erstklassigen Anzug machen, aber lange kann ich nicht mehr warten. Meine Frau braucht Schuhe. Sie hat auch ᾿ne Quelle für Geflügel und Winterkartoffeln aufgetan. Das kostet. Na, 278
und ein bisschen echter Bohnenkaffee an Weihnachten soll ja auch sein.« »Weihnachten ist im Dezember. Wir haben August«, erinnerte ihn Ben. »Sie kriegen den Rest wirklich bald, ich versprech᾿s.« Doch vom Versprechen bis zur Einlösung lag ein beschwerli‐ ches Stück Weg. Obwohl sich in der Bruckstraße was abzuzeich‐ nen begann. Wo Amis waren, gab es erfahrungsgemäß was zu ho‐ len. Der GYA‐Club Zehlendorf war in einer großen Villa unterge‐ bracht. Der Colonel des Signal Corps hatte einen Sergeant, der ein wenig Deutsch konnte, mit der Clubleitung beauftragt. Sergeant Allen war ein begeisterungsfähiger junger Sportlehrer aus Phila‐ delphia, der sofort ein Baseballteam aufstellte. Ben hing im Club herum und hielt die Augen offen. Man musste Geduld haben. Die wurde ein paar Tage drauf belohnt, als ein Army‐Liefer‐ wagen mehrere Kartons brachte. Ben las die Aufschriften mit wachsendem Interesse. »250 Mars Candy Bars« stand auf einem Karton, ein anderer enthielt laut Aufkleber 300 Marshmallows der Marke Sunshine und ein dritter 500 Tafeln Hershey᾿s Hazelnut Chocolate. Der Segen stammte vom katholischen Garnisonspfarrer Major Baker, der über großzügige Spenden von daheim verfügte. Baker war regelmäßig Gast im Club. »Er sagt, er will ab nächste Woche immer ein bisschen was aus den Kartons verteilen«, wusste ein Clubmitglied. »Selbstredend erst nach seiner Bibelstunde.« Offen‐ bar war der Gottesmann Realist. Unter Sergeant Aliens Aufsicht hob Herr Appel die Kartons vom Lieferwagen. Herr Appel war ein kurzgescheitelter Graukopf mit Basedowaugen, dem die Hausbesorgung oblag. Wie alle deut‐ schen Angestellten der Amerikaner trug er eine umgefärbte Army‐ Uniform. Er war Hausmeister einer Knabenschule gewesen, bis russische Raketenwerfer das Gebäude zerkleinert hatten. Appel konnte kein Wort Englisch, was nicht auffiel, weil er kaum sprach. 279
Nur wenn es um seinen Schrebergarten ging, wurde er redselig. Er war Vorsitzender des Kleingärtnervereins Südwest. Ben half Herrn Appel, die Kartons nach unten zu tragen. Ser‐ geant Allen schloss sie in den ehemaligen Vorratskeller. Da war momentan kein Rankommen. Trotzdem, dieser Schatz durfte nicht ungehoben bleiben. Am Ende verteilte Father Baker die sü‐ ßen Sachen sonst wirklich unter seine Schäfchen. Ben begann, die Geschichte gründlich zu durchleuchten. Der Schwarzmarktkurs für Schokolade war steigend. »Franz heißt die Kanaille!« tönte es an einem der nächsten Nachmittage durch den geräumigen Keller des Clubhauses. Die Theatergruppe probte Schillers »Räuber«. Ben hockte auf einer Bank und gähnte. Ein zünftiger Western wäre ihm lieber gewesen. Heidi Rödel hielt ein Reclam‐Heft in der Hand. Sie konnte die Rolle der Amalia noch nicht richtig. Den von der Regie nicht vorgesehenen Schlenker mit dem Kopf, der ihr das Haar effektvoll um die Schultern wirbelte, konnte sie dafür umso besser. Die erhoffte Wirkung blieb aus. Bens Blicke waren nicht auf das seidige Mädchenhaar, sondern auf die Tür des Vorratskellers gerichtet. Dahinter lockte die Beute. Das Problem war, an sie ranzukommen. Der Schlüssel lag in der Bleistiftschale auf dem Schreibtisch im Office, und da saß ent‐ weder Sergeant Allen oder sein Vertreter Corporal Kameha, ein kleiner Hawaiianer mit glänzendem Mondgesicht. Den dritten und vierten Akt über dachte Ben angestrengt nach. Doch es wollte sich keine Lösung abzeichnen. »Dem Mann kann geholfen werden«, beendete Regisseur Gert Schlomm, der vermutlich erste Darsteller des Karl Moor in kurzen Lederhosen, die Probe des Stücks. Die Worte klangen wie ein Omen. Heidi trat an die Rampe. »Wie war ich?« Sie zog das Kleid bis zu den sonnenbraunen Schenkeln hoch, sprang von der improvisierten Bühne, knickte vor Ben auf dem linken Keilabsatz ein und suchte 280
mit einem kleinen Schrei an seinen Schultern Halt. Ihr Körper war warm und weich und verströmte einen herben Duft. »Du warst okay.« Er half ihr auf die Bank. Sie rieb sich den Knöchel. »Muss jetzt nach Hause. Gert, bringst du mich? Ich kann kaum gehen.« »Hab zu tun. Ben kann dich bringen«, rief der große Mime von der Bühne. Ben sah voll Abscheu die behaarten Oberschenkel des Siebzehn‐ jährigen. Was sie nur an dem findet, dachte er verächtlich. »Bist du nicht auch in der Bastelgruppe?«, erkundigte er sich. Heidi rieb sich weiter den Knöchel. »Klar. Wir bauen mit Corporal Kameha ein Puppenhaus für den Bezirkskindergarten. Machst du mit?« »Nee danke, nichts für mich. Könnt ihr das Puppenhausbasteln kurz unterbrechen?« »Wozu?« »Für᾿n Schlüsselbrett mit ein paar Haken. Ich rede mit der Mal‐ gruppe. Die pinseln Blumen drauf und lackieren das Ganze. Ser‐ geant Allen hat nächste Woche Geburtstag. Wäre doch ein hüb‐ sches Stück für sein Office. Wir schrauben es als Überraschung an die Tür.« »Das lässt sich machen.« Heidi humpelte ein paar Schritte. »Also bringst du mich nach Hause?« Es war die Gelegenheit, mit ihr alleine zu sein. Aber sozusagen mit Genehmigung und auf Kommando seines Nebenbuhlers kam das für Ben natürlich überhaupt nicht in Frage. »Keine Zeit«, be‐ schied er sie knapp. »Dann eben nicht«, sagte sie schnippisch und hörte auf zu hum‐ peln. Sergeant Allen bedankte sich für das schöne Geschenk. Corporal Kameha grunzte entzückt und hing sämtliche Schlüssel an die Ha‐ ken, auch den zum Vorratskeller, wie Ben zufrieden registrierte. 281
Die Tür des Office ging nach außen auf. Wenn man sie nur weit genug öffnete, entzog sich ihre Innenseite samt Schlüsselbord dem Blick des am Schreibtisch Sitzenden. Ben hatte die Lösung seines Problems gefunden. Galt es noch, den rechten Zeitpunkt abzupassen. Der kam, als Sergeant Allen im Garten die Baseballspieler trainierte und Cor‐ poral Kameha im Office telefonierte. Ben riss die Tür weit auf und griff sich flink den Schlüssel, während der Hawaiianer in guttura‐ len Lauten mit einem Landsmann sprach, den Blick in pazifische Fernen gerichtet. »I᾿ll come back later.« Ben warf die Tür zu und flitzte nach un‐ ten. Im Keller war niemand, die Theatergruppe probte erst später. Er schloss den Vorratsraum auf, griff sich einen Karton mit der Aufschrift »Mars Candy Bars«, versteckte ihn unter der Probe‐ bühne, schloss wieder ab und lief nach oben. Corporal Kameha beendete sein Gespräch gerade, als Ben zum zweiten Mal die OfHcetür öffnete und den Schlüssel dabei zurück ans Bord zauberte. »Okay, what do you want?« Ob er wohl die neue Saturday Evening Post haben könnte, bat Ben und zog dan‐ kend mit der Zeitschrift ab. Er setzte sich in die Halle und blätterte pro forma ein bisschen darin rum, ehe er sich nach unten verdrückte. Er holte den Karton unter der Bühne vor, schulterte ihn und spähte durch das Fensterchen der Kellertür. Die Baseballer hatten ihr Training beendet. Im Schutz von Sträuchern und Büschen klet‐ terte Ben über die Zäune der Nachbargrundstücke und gelangte schließlich durch eine Heckenlücke auf die Straße. Kein Mensch beachtete ihn. Jeder trug in diesen Tagen irgendetwas irgendwo‐ hin, sei᾿s nach Hause, oder um es zu verhökern. Ben wollte die Ware bei Frau Molch absetzen. Der Karton war ziemlich schwer. Zweihundertfünfzig mit einer zähen, klebrig süßen Masse gefüllte Mars‐Schokoriegel wogen so einiges. Vor allem wogen sie ein paar satte Tausender auf. Der 282
ersehnte Anzug, Symbol eleganter Männlichkeit und Schlüssel zur Angebeteten, rückte näher. Während er den Karton auf die andere Schulter verlagerte, spielte Ben bereits mit dem Gedanken an einen zweiten Beutezug. Das Leben, insbesondere Maßklei‐ dung für den Mann von Welt, war teuer. Frau Molch war eine energische kleine Frau, die im Winter einen Ausschank an der Rodelbahn betrieb. Doch erstens war Sommer, und zweitens gab es nichts auszuschenken. Den Schwarzhandel hatte sie angefangen, als sie die Garderobe ihres gefallenen Mannes gegen andere Sachen tauschte. Bald glich ihre Wohnung am Eschershauser Weg einem Warenlager. Säcke mit gelben Erbsen, zu Pyramiden gestapelte Dosen Kon‐ densmilch, Damen‐, Herren‐ und Kinderschuhe, Kerzen, Fahr‐ räder, Milchpulver, Kaffeebohnen, Zigaretten, Schweizeruhren, es gab praktisch nichts an begehrten Gütern, was es bei ihr nicht gab. Im Onkel‐Tom‐Viertel war sie eine feste Einrichtung. Wer eine Dauerwurst und eine Tasse Kaffee höher bewertete als einen Ehe‐ ring oder eine Kamera und den Weg zum Potsdamer Platz scheute, der ging zu ihr. Ben ließ den Karton von der Schulter auf den Wohnzimmertisch gleiten, wo er zwischen einer Packung Kekse und einem Feld‐ stecher landete. »Zwohundertfünfzig Schokoriegel, Marke Mars«, sagte er geschäftsmäßig. »Dreitausend Allimark, okay?« »Mehr als tausendachthundert ist nicht drin«, entschied Frau Molch. »Zehn Mark das Stück. Macht Zweifünf«, konterte Ben. »Zweitausend«, bot Frau Molch. Sie würde das Zeug fürs Drei‐ fache absetzen. »Mach mal auf.« Der Karton war flüchtig mit einem Stück Klebestreifen ver‐ schlossen. Bisher war das Ben gar nicht aufgefallen. Er riss den Strei‐ fen ab und klappte die vier Deckelseiten auseinander. Vor ihnen la‐ gen, säuberlich zu Dutzenden gebündelt, sechshundert gelbe Bleistifte. Father Baker hatte den leeren Karton zur Aufbewahrung 283
seiner wohl gemeinten Gabe benützt. »Damit die Kinder was zum Schreiben haben«, hatte der geistliche Herr dem Clubsergeant gü‐ tig lächelnd erklärt. Der Karton mit den Marshmallows der Marke Sunshine enthielt infolgedessen Radiergummis, und unter dem Aufkleber von Hershey᾿s Hazelnut Chocolate verbargen sich Stapel jungfräulicher Notizblöcke. Frau Molch war richtig böse. »Willst du mich für dumm ver‐ kaufen?« Ben war erschüttert. »Das wusste ich nicht, ehrlich.« Er fasste sich. Geschäft war Geschäft. »Was halten Sie von zweihundert Mark? Bleistifte werden überall gebraucht, besonders so hübsche gelbe.« »Fünfzig. Und nun verschwinde.« Ben steckte die einer Dollarnote nachempfundenen fünfzig Al‐ limark ein und trollte sich. »Scheißverein«, murmelte er und meinte damit die US Army im Allgemeinen und ihre Jugendclubs insbesonders, wo man mit gelben Bleistiften hinters Licht geführt wurde. Klaus Dietrich hatte eine unruhige Nacht hinter sich. Die un‐ gewohnte Flasche Wein mit Inge trug dazu bei. Doch es waren vor allem die beklemmenden Gedanken an die toten Frauen und deren Mörder, die ihn im Traum quälten und nach dem Erwachen weiter verfolgten. Die schreckliche Ahnung weiterer Untaten be‐ gleitete ihn auf dem Weg zur Arbeit und führte ihm seine Ohnmacht vor Augen. Nicht einen Schritt war er bisher vorangekommen. »Wir wissen inzwischen etwas mehr über diesen Müllfahrer«, empfing Franke den Inspektor. »Otto Ziesel hat einen pathologi‐ schem Hass auf deutsche Amibräute.« Dietrich war nicht überzeugt: »So pathologisch, dass er drei Frauen bestialisch umbringt und sich beim Abtransport der letz‐ ten erwischen lässt?« »Wäre nicht das erste Mal in der Kriminalgeschichte, dass der Mörder sein Opfer ›findet‹.« 284
»Bisschen weit hergeholt, finden Sie nicht, Franke?« »Der Verdächtige ist einschlägig vorbelastet, Herr Inspektor. Seine Akten haben den Zusammenbruch überstanden. Während des Krieges lief ein Ermittlungsverfahren gegen ihn. Eine Ver‐ gewaltigung. Das Verfahren wurde eingestellt. Die Frau sei Jüdin und darum nicht glaubwürdig, hieß es in der Begründung. Ziesel war Fahrer irgendeines Nazibonzen. Damals ein Grund mehr, die Sache niederzuschlagen.« »Wo ist der Mann?« »Ich habe ihn für zehn Uhr vorgeladen. Chef, eines zeigt dieser dritte Fall viel deutlicher als die beiden ersten: Der Killer arbeitet für die Amis.« Eine Spur Zynismus klang in Frankes Worten mit: »Dem deutschen Normalverbraucher fehlt nämlich der Ausweis, um im Sperrbezirk zu morden und sein Opfer in eine amerikani‐ sche Mülltonne zu stopfen.« Draußen quietschten Reifen. Sergeant Donovan stampfte wie ein Kampfstier durch die offene Tür, direkt in Inspektor Dietrichs Büro. »My captain wants you«, bellte er. »Let᾿s go.« »Good morning, Sergeant. Sorry, I am busy. Ich habe um zehn eine Vernehmung. Sagen Sie Ihrem Captain, dass ich gerne am Nachmittag vorbeikomme.« »I said, let᾿s go«, schrie Donovan. »Now!« Er legte die Hand drohend um den Knauf seiner Magnum. Hatte dieser verdammte German immer noch nicht begriffen, wer hier der Sieger war? »Stop this nonsense, Sergeant«, bat Dietrich ruhig. »Ich komme, sobald ich Zeit habe.« Der Sergeant wurde rot im Gesicht. Er zog die Waffe und rich‐ tete sie auf den Deutschen. »Come on, you goddamn Kraut.« Klaus Dietrich trat einen Schritt vor. Ein blitzschneller Schlag mit der Handkante gegen Donovans Unterarm. Die Magnum pol‐ terte zu Boden. Dietrich hob sie auf, zog das Magazin heraus und entlud es mit dem Daumen, sodass die Patronen zu Boden kuller‐ ten. Er gab Donovan die Waffe. Der ging auf ihn los. Dietrich wich 285
ihm aus. »Ich war vor dem Krieg im Judoclub. Ich bin zwar nicht mehr in Form, trotzdem, für unhöfliche Leute reicht᾿s.« Kochend vor Wut steckte Donovan die Waffe ins Halfter. Kriminalmeister Franke verbarg sein Grinsen hinter einer Akte. »Kommen Sie, Sergeant, wir wollen Ihren Captain nicht warten lassen«, lenkte Dietrich ein. »Franke, Sie halten diesen Ziesel fest, bis ich zurück bin.« Aber Otto Ziesel saß in Captain Ashburners Office und sah Dietrich mit herausfordernder Miene entgegen. Ashburner nahm die Füße vom Tisch. »Hello, Inspector. Ich möchte, dass Sie an der Vernehmung teilnehmen, damit es nicht wieder heißt, ich blockiere Ihre Ermittlungen. Donovan, bringen Sie uns Kaffee und setzen Sie sich.« Donovan schenkte zwei Tas‐ sen aus der Thermoskanne voll, stellte eine vor den Captain und nahm sich die andere. »Kaffee für alle, Sergeant«, befahl Ashburner. Donovan gehorchte widerwillig. »Also, Sie haben die Tote gefunden, Herr Ziesel?« Ashburner war betont höflich. »Nicht direkt, Captain. Es war eigentlich mehr dieser schwarze Sergeant, der den Arm aus der Tonne baumeln sah.« »Die Sie gerade hinter der Ladenstraße aufgeladen hatten«, mischte sich Dietrich ein. Ziesel schüttelte den Kopf. »Nicht hinter der Ladenstraße. Die Mülltonne stand an der Ecke Ihne‐ und Garystraße. Da wohnen ᾿ne Menge Amis. War verdammt schwer, als ich sie auf den Truck hob. Jetzt weiß ich, warum.« Dietrich wandte sich zu Ashburner. »Der Mord fand also nicht im Sperrgebiet von Onkel Tom statt.« »Dann kann᾿s praktisch jeder Kraut getan haben«, triumphierte Donovan. »Und jeder Ami«, platzte Ziesel heraus. »Seien Sie nicht vorlaut«, ermahnte ihn Dietrich. »Dazu haben Sie am allerwenigsten Grund. Uns liegen Aussagen gegen Sie vor. 286
Ihre hasserfüllten Ausfälle gegen deutsche Mädchen, die mit ame‐ rikanischen Soldaten befreundet sind, belasten Sie sehr.« »Ami‐Flittchen, klar, das habe ich gesagt. Na und? Deswegen fasse ich noch lange keine an.« »Wie damals Lea Finkelstein? Die haben Sie auch nicht an‐ gefasst? Das Ermittlungsprotokoll aus dem Jahr ᾿44 liegt uns vor, Herr Ziesel. Sieht nicht gut aus für Sie.« Klaus Dietrich erklärte dem Captain, worum es ging. »Okay, lochen wir ihn erst mal ein. Donovan, take him down‐ stairs.« Der Sergeant drehte Ziesel den Arm auf den Rücken und stieß ihn zur Kellertreppe. »Zufrieden, Inspektor?« »Mit der vorläufigen Festnahme ja. Mit Donovans brutalem Vorgehen nein. Sie sollten ihn ein bisschen zurechtstutzen.« »Wir haben es mit einem Serienkiller zu tun.« »Das ist nicht bewiesen. Aber ich werde darüber nachdenken.« »Dazu haben Sie im Zug Zeit genug.« Ashburner gab dem In‐ spektor ein rotes Papier mit mehreren amtlichen Stempeln. »Ihre Besuchserlaubnis fürs Zuchthaus Brandenburg. Mein Freund Maxim Petrowitsch Berkow hat einen NKWD‐Obersten beim Schach gewinnen lassen. Good luck.« »Danke, Captain. Und danke für Ihre milden Gaben. Sie haben sechs hungrigen Deutschen den Blick in ein längst vergessenes Paradies gewährt.« »Ein einfaches ›thank you‹ hätte auch gereicht«, gab Ashburner ärgerlich zurück. Dann dachte er an Jutta, und seine Miene glät‐ tete sich. Sie würden sich abends treffen. Jutta wartete um sieben am Tor zum Sperrgebiet. John Ashburner sprang aus dem Jeep und mimte den Chauffeur, der ihr den ver‐ meintlichen Wagenschlag öffnete. »Wohin, Madam?«, fragte er mit einem Akzent, den er für sehr englisch hielt. »Ins Ritz, John«, spielte sie mit. Die Fahrt ging durchs Tor und gleich rechts um die Ecke in die Wilskistraße. Er schloss die Woh‐ 287
nungstür auf und ließ ihr den Vortritt. Sie drehte sich um, stand plötzlich mit halb geöffneten Lippen dicht vor ihm. Sie legte die Arme um seinen Hals, zog ihn zu sich herab und küsste ihn so in‐ tensiv, wie ihn noch keine Frau geküsst hatte. Die spontane Re‐ aktion seines Körpers blieb nicht aus und war ihm peinlich. Jutta fühlte seine zunehmende Härte durchs dünne Kleid und wurde feucht. Später, dachte sie, und der gewollte Aufschub erregte sie. »Einen Whiskey?«, überspielte er seine Verlegenheit. »Ist mir zu stark. Lieber einen Schluck Wein. Hast du irgendwas dazu? Sonst falle ich um.« »Ein paar Crackers. Und Peanuts.« Er stellte die Packungen auf den Tisch und öffnete eine Flasche Weißwein. Sich selber schenkte er einen Whiskey ein. »How wonderful to relax with a glass of Bourbon«, stöhnte er behaglich und streckte die Beine aus. Sie mochte es, dass er sich vor ihr ein bisschen gehen ließ. Es schuf eine Vertrautheit zwischen ihnen, wie sie junge Liebende oder sehr alte Paare kannten. »Gehen wir ins Kino?«, schlug er vor. »Au fein, was läuft denn?« »Keine Ahnung.« Das Onkel‐Tom‐Kino war gleich nebenan. Es war Teil des beschlagnahmten Viertels um den U‐Bahnhof. Deutsche hatten nur als Begleiter amerikanischer Soldaten Zutritt. Ein Geruch von Pepsi Cola und Wrigley᾿s Spearmint Kaugummi lag in der Luft. Die Platzanweiserin ging ihnen durch den Mittelgang voraus, eine groteske lila Schleife im langen blonden Haar. Sie wies auf eine Sitzreihe. Ashburner dankte ihr mit einem Lächeln, was Jutta nicht entging. Ein stummes Duell entwickelte sich zwischen den Frauen: »Nicht wahr, er gefällt dir. Aber er gehört mir, klar?« — »Schon gut, ich nehm ihn dir ja nicht weg.« — »Bilde dir bloß nichts ein.« Es gab einen Film mit Gary Cooper, Rita Hayworth und einer Postkutsche. Gary Cooper sagte »Yep« und »Is that so, Ma᾿am?«, Rita Hayworth zeigte soviel von ihren schönen Beinen, wie die 288
prüde US‐Filmzensur gestattete, und aus der Postkutsche wurde geschossen. Überall raschelten Popcorntüten. Während die feurige Rita dem trägen Gary was mit den Kastagnetten vorklapperte, tastete John Ashburner zaghaft nach Juttas Hand, aber seine Finger landeten unbeabsichtigt auf ihrem Ober‐ schenkel. Erschrocken wollte er sie zurückziehen. Jutta hielt sie sachte fest. Sie genoss seine Berührung als Vorschuss auf das, was kommen sollte. Sie konnte das Ende des Films kaum erwarten. Endlich stiefelte der großmütig Verzichtende in den Sonnen‐ untergang hinter dem Corral. Der Vorhang schloss sich, die Be‐ leuchtung flammte auf. Alles strömte hinaus. Jutta hing sich bei John ein. »Was hältst du von Dinner im Harnack Haus?«, schlug er vor. »Nein danke, John, ich habe zu viel Popcorn gegessen. Ich brau‐ che jetzt eine Menge frischer Luft.« »Is that so, Ma᾿am?« »Fahren wir runter zum See?« Sie juchzte und quietschte, als sie quer durch den Wald über Stock und Stein holperten. Um ein Haar vermied er einen Granattrichter, bevor es so rasant den Steil‐ hang zur mondbeschienenen Krummen Lanke hinunter ging, dass einem der Atem wegblieb. Für den auf einem Dutzend Kriegs‐ schauplätzen bewährten Jeep war das eine Kleinigkeit. »Du, das war toll.« Sie fiel ihm um den Hals. »Komm ins Was‐ ser.« Sie sprang aus dem Fahrzeug und streifte ihre Sachen ab. Er löschte diskret die Scheinwerfer. Langsam watete sie bis zu den Knien hinein und drehte sich um. Sie wollte, dass er sie sah. Das Mondlicht umschmeichelte ihren Leib. Sie beugte sich vor und schöpfte Nass auf ihre Brüste. Es rann über den Bauch und blieb als glitzerndes Netz im blonden Dreieck hängen. Ihr Körper sang vor Erregung. Zögernd legte er seine Uniform ab und folgte ihr. Sie umarmten sich, küssten sich, sanken ins seichte Wasser, das die Sonnenwärme des vergangenen Tages gespeichert hatte, fanden ohne Zögern zueinander. Unter seinen fordernden Bewe‐ 289
gungen jubelte sie einem unaufhaltsamen Höhepunkt entgegen. Die Lust trug sie beide empor, und wäre Ashburner zum Denken fähig gewesen, er hätte das leidenschaftliche Geschehen erstaunt mit den lauwarmen Begegnungen seiner Ehe verglichen. Sie blieben ineinander verschlungen, bis es sie von neuem packte. Jutta rollte ihn herum, dass sie über ihn kam. Entzückt genoss er ihren heißen Ritt, der von rhythmischen Schreien begleitet wurde: Am nahen Ufèr liebte sich geräuschvoll ein anderes Paar. Es störte sie nicht, sondern feuerte sie an, Komplizen in der Liebe. Er brachte sie heim und küsste sie zärtlich. »Bis morgen.« Ein lange nicht gekanntes Glücksgefühl erfüllte sie. Die Meldung kam über Funkradio, als Ashburner seinen Jeep vor der Haustür parkte. »Shit«, war seine erste Reaktion. Dann brüllte er ins Mikro: »I᾿m coming!« Das gelbe Mietshaus Nummer 198 war die einzige Ruine in der Argentinischen Allee. Eine verirrte englische Bombe hatte es von oben bis unten aufgerissen. Mondlicht erhellte die gespenstische Szene. Der Richtscheinwerfer von Sergeant Donovans Jeep tat ein Übriges. Ashburner drängte sich zwischen den Anwohnern durch, die sich trotz der Sperrstunde auf die Straße gewagt hatten. Im Eisen‐ geflecht des geborstenen Betons, das bizarr verbogen aus dem dritten Stock über den Abgrund ragte, hing eine Frau. Sie schwang am Gürtel ihres Bademantels wie eine Puppe hin und her. Drei deutsche Polizisten in schwarz gefärbten Uniformen und zwei Mann der Military Police krochen auf allen Vieren vor bis zum Rand. Sie zogen einen Strick unter ihren Armen durch. Einer legte sich flach auf den Bauch und durchtrennte den Gürtel. Vorsichtig ließen sie den leblosen Körper hinab. Er landete zu Ashburners Füßen. Der Bademantel klaffte weit offen. Die blau‐ schwarze Furche um den Hals und der blutverschmierte Schoß sprachen ihre eigene grausige Sprache. 290
»Viehisch misshandelt und mit einer Kette erwürgt wie die an‐ deren«, sagte Donovan gepresst. »Was meinen Sie, Captain?« »Dass dieser Otto Ziesel als Täter nun nicht mehr in Frage kommt. Lassen Sie ihn laufen, Sergeant.« Ashburner warf noch einen Blick auf die Tote. Ihr langes blondes Haar klebte in Sträh‐ nen auf den bleichen Wangen. Vor wenigen Stunden im Kino war es hübsch frisiert und mit einer grotesken lila Schleife geschmückt gewesen. Die Rückseite des Grundstücks grenzte an einen von Holzsuchern geplünderten Waldstreifen, den die Stadtplanung »Sprungschan‐ zenweg« genannt hatte, obwohl die alte Skisprungschanze längst abgerissen und zur »Rodelbahn Onkel Toms Hütte« umgestaltet war. Im Winter sauste dort die Jugend auf ihren Schlitten bergab. Um diese Jahreszeit war der Boden mit trockenen Kiefernnadeln bedeckt, welche die Reifenspur des Motorrades verschluckten. Sein Fahrer kannte auch im Dunkeln jeden Schritt. Er schob die Maschine durch die schmale Tür hinten in die Garage. Alte Ma‐ tratzen und zerbrochene Möbel versperrten den Weg nach vorne. Nicht einmal die plündernden Rotarmisten der ersten Nach‐ kriegstage waren da durchgedrungen. »Bist du es, Junge?«, fragte eine Stimme jenseits des Gerümpels. »Ja, Mutter.« »War sie wieder blond?« Er antwortete nicht. Er hatte die Befriedigung gefunden, die er anders nicht erlangen konnte. Jetzt war er ruhig und ausgeglichen und mochte nicht darüber reden. Schweigend verstaute er Hand‐ schuhe, Schutzbrille und Lederhelm. »Diesmal werden sie dich finden.« Er zog die zerschlissene Steppdecke über die Maschine. »Sie werden mich nicht finden, weil es mich nicht gibt. Gute Nacht, Mutter.« Er verließ die Garage auf dem Wege, den er gekommen war. In 291
der Argentinischen Allee stellte er sich zu den Schaulustigen vor der Nummer 198. Zwei Sanitäter trugen die Bahre mit der Toten an ihm vorbei. Irgendjemand hatte ihr die Augen geschlossen. Ihr Antlitz hatte einen friedlichen Ausdruck, der ihm missfiel. Er dachte an ihr verzerrtes Gesicht und an ihr Röcheln, das ihm den Höhepunkt gebracht hatte. »I have her gefunden, Herr Captain«, sagte neben ihm ein Mann mit Dackel an der Leine. »Her name is Marlene Kaschke.« 292
SECHSTES KAPITEL
D
er Zug bewegte sich träge durch die märkische Sommerland‐ schaft, deren hässliche Kriegsnarben unter dem Grün der Wiesen und dem Gelb des reifenden Getreides verschwunden waren. Ein ausgebranntes Schrankenwärterhaus bei Krielow erinnerte die Reisenden an die jüngste Vergangenheit — und der Gestank in den Viehwaggons, die noch vor kurzem Häftlinge in die Lager geschafft hatten und seither nur sehr oberflächlich gereinigt worden waren. Wer drinnen keinen Platz fand, stand draußen auf den Trittbrettern. Aus dem einzigen Personenwagen ganz vorne drang Akkordeonspiel und Gesang. Eine Gruppe Rotarmisten war unterwegs zu ihrer Einheit nach Rathenow. Klaus Dietrich hatte sich einen Platz auf dem Dach erkämpft, neben einem älteren Mann mit Rucksack und Aktentasche, der betont von ihm abrückte. »Bin ich Ihnen zu nahe gekommen?«, konnte der Inspektor sich nicht verkneifen. »Nicht mir, sondern meinen Eiern. Es wäre ein unersetzlicher Verlust, wenn eines beschädigt würde.« Wie sich herausstellte, betreute Dietrichs Mitreisender das Vogelhaus im Berliner Zoo. »Zwei Papageiengelege und diverse andere Kostbarkeiten vom Amazonas, bruch‐ und stoßfest in den Stullendosen meines Sohnes verpackt. Ich hoffe, sie mit Hilfe eines Kollegen im Leipziger Zoo über die Runden zu bringen. Bei uns ist ja alles zerstört. Und Sie? Auf Hamsterfahrt?« »Eine Dienstreise.« Dietrich schloss die Augen und wandte das 293
Gesicht zur Sonne. Er hatte keine Lust auf eine längere Unter‐ haltung. Vor dem Bahnhof Brandenburg wanden sich verbogene Ran‐ giergleise wie stählerne Schlangen in die Luft. Überall im Schotter glitzerten Glasscherben. Der Zug hielt ein Stück weiter draußen. Die Reisenden mussten über die Schienen zum Bahnsteig mar‐ schieren. Man half sich gegenseitig hinauf. Die Sperre am Ende hatte man repariert. Ein Reichsbahner in verstaubter blauer Uni‐ form sammelte die Fahrkarten ein. Zwei Männer, trotz der Wärme in Hut und Ledermantel, musterten die Ankommenden aus schmalen Augen und prüften die Papiere der männlichen Reisen‐ den. Auch Dietrich verschonten sie nicht. »Chaben Ausweis.« Es war keine Frage, sondern ein Befehl. Der Inspektor wies seinen Dienst‐ ausweis und den vielfach gestempelten roten Passierschein vor. Der Mann winkte seinem Kollegen. Sie ergriffen Dietrich bei den Armen und führten ihn aus dem Bahnhof. Einige mitleidige Bli‐ cke begleiteten ihn. Die meisten sahen weg. Mit Männern in Hut und Ledermantel wollte man nichts zu tun haben. Heute ebenso wenig wie gestern. Draußen wartete eine schwarze Tatra‐Limousine. Die Männer zwängten sich links und rechts neben Dietrich auf den Rücksitz. Sie stanken nach Machorka und Wodka. Am Steuer saß ein dritter mit Ballonmütze. Nach zwanzig Minuten Fahrt passierten sie mehrere russische Wachposten und Stacheldrahtsperren. Ein hohes Tor öffnete sich. Der Wagen rollte hindurch und hielt. Sie waren im Hof des Zuchthauses Brandenburg. Dröhnend schloss sich das Tor hinter ihnen. Ob ich hier je wieder rauskomme?, dachte Dietrich mit gemischten Gefühlen. Ein roter Backsteinbau. Noch ein Posten mit Maschinenpistole. Drinnen ging es eine Treppe hinunter und einen betonierten Gang entlang. Einer seiner Begleiter öffnete eine Eisentür. Der andere schob ihn in den kahlen Raum, der von einem gleißenden Schein‐ 294
werfer erhellt wurde. Hinter einem Tisch saß eine dicke Russin in Unteroffiziersuniform. »Cheißen?«, bellte sie ihm entgegen. »Klaus Dietrich. Inspektor der Kriminalpolizei aus Berlin. Ich habe eine Sprecherlaubnis.« Er reichte ihr das rote Papier. Sie legte es vor sich auf die Tischplatte. »Ausziehen«, befahl sie. Dietrich erstarrte. »Chaben nicht gechört?« Seine zwei Bewacher hatten sich mit verschränkten Armen an der Tür postiert, offen‐ sichtlich bereit, nachzuhelfen. Er wusste, dass er keine Wahl hatte. Er hatte sich freiwillig in die Höhle des Löwen begeben, und nun durfte er den Löwen nicht reizen. Betont gleichgültig zog er sich aus. Die Prothese mit Strumpf und Schuh behielt er an. Sie war sein einziger Halt. Es gab nichts, worauf er sich hätte stützen kön‐ nen. Die Russin erhob sich und watschelte auf ihn zu. Langsam um‐ rundete sie ihn und musterte ihn von oben bis unten. Ebenso langsam watschelte sie wieder hinter ihren Tisch. Sie hieb einen Stempel auf das rote Papier und gab es ihm. »Anziehen«, befahl sie, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Und da begriff er. Das Ganze war eine Routine, der sich jeder Besucher zu unter‐ werfen hatte. Er schloss den letzten Hosenknopf. »Nett, Sie kennen gelernt zu haben«, sagte er ironisch. Sie nahm es für bare Münze. Ein breites Lächeln erschien auf ihrem runden Gesicht. In einem großen Büro im ersten Stock erwartete ihn ein Offizier mit den Kragenspiegeln des NKWD. »Oberstleutnant Korsa‐ kow«, stellte er sich vor. »Kriminalinspektor Dietrich, nicht wahr?« Er sprach recht gut deutsch. »Einen Wodka?« »Sehr freundlich, Tawaritsch Oberstleutnant.« Nach der Begrü‐ ßung im Keller war dieser Empfang beruhigend. Korsakow füllte zwei Gläser, die sie im Stehen kippten. »Bitte setzen Sie sich. Erzählen Sie. Wie geht es ihm?« »Erst müssen Sie mir bitte sagen, wen Sie meinen.« 295
»Natürlich Gennat. Kriminalrat Ernst Gennat. Der dicke Gennat, so nannten Sie ihn doch. Ein großer Kriminalist. Erfinder der flie‐ genden Mordkommission. Wir haben sie mit viel Erfolg übernom‐ men.« Wie sich herausstellte, war Korsakow von Beruf Kommissar bei der Moskauer Kriminalpolizei und ein Bewunderer der Berli‐ ner Kripo. »Er ist längst im Ruhestand. Irgendwo im Rheinland, glaube ich«, improvisierte Dietrich. »Genaueres weiß ich leider nicht.« »Grüßen Sie ihn von mir, falls er nach Berlin kommt. Noch einen Wodka?« »Nein, danke. Sie wissen ja, warum ich hier bin. Dazu brauche ich einen klaren Kopf.« »Oberkommissar Schlüter. Auch ein Berliner Kripomann. Schade um ihn. Er wartet nebenan.« Korsakow öffnete die Tür zum Nachbarraum. »Bitte gehen Sie hinein. Klopfen Sie, wenn Sie fertig sind.« Der Raum war leer bis auf Stuhl und Tisch, vor dem ein klobiger Holzsessel stand. Riemen an seinen Armlehnen und Beinen ließen keinen Zweifel an den hier üblichen Verhörmethoden. Der Mann am vergitterten Fenster trug einen geflickten Drillichanzug, der die gleiche schmutziggraue Farbe hatte wie sein hageres Gesicht. »Ich bin Wilhelm Schlüter. Ich nehme nicht an, dass Sie mir die Hand geben möchten.« »Klaus Dietrich. Kommissarischer Leiter der Kriminalinspektion Zehlendorf. Ich bin nicht Ihr Richter.« Der Inspektor streckte die Hand aus. Schlüter ergriff sie dankbar. »Mein Nachfolger also. Was wollen Sie von mir, Herr Dietrich?« »Ihre Hilfe. Ein Frauenmord 1936. Sie haben seinerzeit die Er‐ mittlungen geführt. Die Akten sind verschwunden. Ich wüsste gerne sämtliche Einzelheiten.« »Warum?« »Drei Frauen wurden bei uns kürzlich gequält und getötet.« 296
»Mit einem scharfen Gegenstand vaginal misshandelt und mit einer Kette erwürgt. Alle haben blondes Haar und blaue Augen.« Klaus Dietrich schluckte. »Woher wissen Sie das?« Schlüter ging hin und her. Schließlich blieb er dicht vor Dietrich stehen. »Es waren nicht einer, sondern sechs Morde, von 1936 bis 1939.« »Sechs?« Dietrich war entsetzt. »Beim FBI nennen sie das einen ›Serial Killer‹. Ich habe sei‐ nerzeit alles über vergleichbare Fälle in den USA gelesen, um mich weiterzubilden. Die Mordserie in Milwaukee zum Beispiel. Der Täter band seine Opfer an einen Baum und erwürgte sie mit den Händen, bevor er sich an ihnen verging. Achtzehn rothaarige Frauen und Mädchen.« »Sechs Morde in Onkel Toms Hütte, und alle nach dem gleichen Schema?« »Nur der erste gelangte an die Öffentlichkeit. Beim zweiten wurde klar, dass es sich um ein und denselben Täter handelte, der auf einen bestimmten Frauentyp fixiert war. Die folgenden Fälle bestätigten es. Himmler zog die Akten an sich und beauftragte seine eigenen Leute. Er befahl Geheimhaltung. Ein manischer Sex‐ killer passte nicht ins Bild vom gesunden deutschen Volk. Uns verbot er, weiter zu ermitteln.« »Sie folgten dem Befehl?« »Ich arbeitete auf eigene Faust weiter. Die Sache war eine Herausforderung für jeden echten Kriminalisten, und die bajuwa‐ rischen Laienspieler bei der Gestapo kriegten sowieso nichts raus.« »Die Fälle glichen sich aufs Haar?« »Vor allem darin, dass der Täter mit mir Katz und Maus spielte. Er wusste, dass ich hinter ihm her war, und er nahm die Heraus‐ forderung an.« Schlüter lachte lautlos. »Fall Numero Drei. Gerlinde Unger. Junglehrerin an der Zinnowaldschule. Das war im Winter ᾿38. Er vergrub sie am U‐Bahnhof Onkel Tom in einem Kasten Streusand und zwar so, dass ihr Gesicht freiblieb. Wie eine Ma‐ 297
donna sah sie aus. Ich entdeckte sie, nachdem er mir als freundli‐ chen Hinweis eine Tüte Sand in den Wagen gelegt hatte. Der Streusand wurde damals mit rotem Salz gemischt, sodass ich wusste, wo ich suchen musste.« »Sie konnten ihn trotzdem nicht fassen.« Ich war ihm auf den Fersen. Ich hoffte, das Tatwerkzeug würde mich weiterbringen. Bei Kriegsbeginn brach die Reihe plötzlich ab.« »Weil der Mörder eingezogen wurde«, rief Dietrich erregt. »Er war den ganzen Krieg über fort. Jetzt ist er zurück und tötet wie‐ der.« Schlüter unterbrach seine Wanderung und deutete auf den klo‐ bigen Sessel mit den Ledergurten. »Sie foltern mich nicht mehr. Sie haben alles aus mir herausgepresst.« »Was raten Sie mir, Herr Schlüter?« »Da weitermachen, wo ich aufhören musste. Das Tatwerkzeug. Ich sagte es ja schon.« »Die Kette?« Schlüter antwortete nicht. Sein Blick war in die Ferne gerichtet. »Sie werden mich nun bald erschießen. Ein Nahschuss ins Genick. Es geht ganz schnell. Meine Leute und ich haben das in der Ukraine tausendmal gemacht. Leben Sie wohl, Herr Kollege. Ich wünsche Ihnen und unserem Land eine bessere Zukunft als die, für welche wir glaubten, morden zu müssen.« Klaus Dietrich pochte gegen die Tür. Oberstleutnant Korsakow ließ ihn heraus. »Ein Serienkiller, wie interessant. Ich wünschte, ich könnte bei Ihnen in Berlin mitarbeiten.« Er hatte das ganze Gespräch abgehört. Sechs Stunden auf einem Abstellgleis bei Potsdam wegen endloser russischer Militärtransporte und zwei schikanöse Kontrollen durch sächselnde deutsche Bahnpolizisten machten auch die Rückfahrt nach Berlin zur Strapaze. Sie durchfuhren den Bahnhof Zehlen‐ 298
dorf‐West im Schneckentempo, sodass Klaus Dietrich den Sprung auf die Plattform wagen konnte und unbeschadet landete. Von dort waren es nur ein paar Schritte zur Kriminalinspektion. »Ein neuer Frauenmord, Herr Inspektor«, empfing ihn Franke niedergeschlagen. »Und wir sind keinen Schritt weiter.« Dietrichs Reaktion war sachlich und professionell: »Was wissen wir?« »Die Tat geschah gestern Abend gegen zehn Uhr in der Argen‐ tinischen Allee 198. Da wohnte das Opfer. Eine gewisse Marlene Kaschke. Der gleiche Typ. Blond, blaue Augen, arbeitete bei den Amerikanern. Platzanweiserin im Onkel‐Tom‐Kino. Mit einer Kette erwürgt wie die Übrigen. Auch der Obduktionsbefund ist wie bei den anderen.« »Ich möchte zum Tatort. Ist das Fahrzeug angeheizt? Wir fahren in fünf Minuten.« Klaus Dietrich ging auf die Toilette. Er zog das Hosenbein hoch übers Knie. Ächzend löste er die Prothese. Dann hüpfte er zum Waschbecken, ließ es voll laufen und tauchte den geröteten Stumpf hinein. Das kalte Wasser war eine unbeschreib‐ liche Wohltat. Er trocknete die Narbe mit dem Taschentuch und streute Puder in die Pfanne des künstlichen Unterschenkels. Er hatte immer eine kleine Streudose bei sich. Der Wagen war bereit. Franke gab Gas, was dem Opel ein em‐ pörtes Husten entlockte. »Die Knebelkette«, überlegte Dietrich laut. »Was sagt uns die?« »Herzlich wenig«, meinte Franke achselzuckend. »Sowas gibt es in jeder Tierhandlung, falls schon wieder eine aufgemacht hat. Ein so genanntes Würgehalsband für größere Hunde. Wenn Bello zu arg zieht, wird᾿s ihm eng um den Hals. Nee, Chef, in der Rich‐ tung kommen wir nicht weiter.« Zehn Minuten später standen sie vor der aufgerissenen Fassade des Hauses Nummer 198. »Sie hing da oben im dritten Stock«, in‐ formierte ihn der Kriminalmeister. »Ein Hausbewohner entdeckte sie. Ein gewisser Mühlberger. So weit es sich rekonstruieren lässt, 299
hat der Mörder die Tote über die Kante gestoßen. Der Gürtel ihres Bademantels verfing sich in den verbogenen Armaturen, das ver‐ hinderte den Sturz.« »Oder er stellte sie da oben absichtlich zur Schau«, überlegte der Inspektor. »Er hat einen Sinn fürs Makabre. Denken Sie an die Tote in der Rolle Stacheldraht und an ihre Leidensgenossin in der Mülltonne.« Sie stiegen im unversehrten Teil des Hauses zum dritten Stock hinauf. »Die Kollegen vom Revier haben die Wohnung versie‐ gelt.« Franke riss den amtlichen Aufkleber ab, der noch den Adler mit Hakenkreuz trug. Auf dem Tisch im Schlafzimmer standen ein Topf Geranien, ge‐ brauchte Gläser, Teller und eine leere Sektflasche. Drei herunter‐ gebrannte Kerzen erinnerten an die Stromsperre gestern Abend. Klaus Dietrich betrachtete kopfschüttelnd das Kitschbild eines röhrenden Hirschen über der Kommode. Unter dem Bild lag ein Orden. »Das Kreuz der französischen Ehrenlegion. Von welchem Trödler sie das wohl hatte?« Franke nahm die letzte Backpflaume im Speckstreifen vom Tel‐ ler und ließ ein paar Erdnüsse folgen. »Sie hatte Besuch.« Er wies auf das zerwühlte Bett. »Ihren Mörder?« Der Inspektor öffnete die Tür zum einstigen Wohnzimmer. Kaum zwei Schritte trennten ihn vom Abgrund. »Mal hören, ob die Hausbewohner was wissen.« Franke pochte im zweiten Stock an die Wohnung mit dem Namensschild »Mühlberger«. Ein Mann in Hausjoppe öffnete. Zwischen seinen karierten Pantoffeln kläffte ein schwarzer Dackel. »Kripo, Kriminalmeister Franke. Das ist Inspektor Dietrich.« »Sie haben Glück, dass Sie mich antreffen. Bin nämlich krank‐ geschrieben. Sonst arbeite ich bei den Amis.« »Wir hätten ein paar Fragen an Sie, Herr Mühlberger.« »Klar. Wo ich sie doch entdeckt habe.« »Können Sie uns sagen, wann das war?« 300
»Ungefähr viertel nach zehn. Da gehe ich mit Lehmann Gassi. Nicht mehr als ein paar Schritte vors Haus, wegen der verdamm‐ ten Sperrstunde. Lehmann macht sein Geschäft gern auf dem Sandstreifen, wo mal die zweite Fahrbahn hin soll. Von dort sah ich, dass in Höhe des dritten Stocks irgendwas Helles baumelte.« Franke war skeptisch: »Trotz der Dunkelheit?« »Hab ᾿ne starke Stablampe und ein paar Batterien gerettet. Ich war den Krieg über als Werkschutz bei Leuna dienstverpflichtet. Bin erst seit ein paar Wochen zurück.« »Ganz in der Nähe startete ein Motorrad, nicht wahr?« fragte Dietrich beiläufig. »Ja, und es fuhr ziemlich schnell davon. Eine 300er NSU. Den blubbernden Auspuff erkenne ich im Schlaf. Hatte selbst so eine Rakete. Sagen Sie, woher wissen Sie das, Herr Inspektor?« »Eine Vermutung. Berichten Sie weiter, Herr Mühlberger.« »Ich richtete den Strahl also nach oben, und da hing sie. Trau‐ rige Geschichte, klar, aber kein großer Verlust. Ein billiges Flitt‐ chen.« Eine Frau in Kopftuch und Schürze kam die Stufen herauf. »Sagt er, weil sie ihn nicht ranließ. Bräuer, erster Stock«,stellte sie sich vor. »Das war eine richtig Anständige, die nur eins mochte – in Ruhe gelassen werden. Wer weiß, was die alles durchgemacht hatte.« »Gab es viele männliche Besucher?«, wollte Franke wissen. Frau Bräuer schüttelte den Kopf. »Nicht einen einzigen.« »Außer dem Kerl, der sie hingemacht hat«, berichtigte Mühl‐ berger. »Einer mit ᾿nem Grübchen am Kinn.« Inspektor Dietrich horchte auf. »Sie haben ihn gesehen?« »Na und ob. Das war kurz vor zehn. Kommen Sie rein, meine Herren. Nee, Sie nich, Frau Bräuer.« Die Bräuer zog beleidigt ab. Die Beamten folgten Mühlberger hinein. Der Dackel Lehmann knurrte feindselig. »Wo war ich? Ja, richtig, also kurz vor zehn höre ich wen vom dritten Stock runterkommen. Ich mach die Tür auf. Man will schließlich wissen, wer sich im Haus rumtreibt, in diesen 301
unsicheren Zeiten. Er hatte ᾿ne Kerze in der Hand. Die hatte er wohl oben mitgehen lassen, um nicht die Treppe runterzufallen. Man erkannte deutlich das Grübchen am Kinn.« Der Kriminalmeister war damit nicht zufrieden: »Können Sie ihn näher beschreiben?« »Er trug eine umgefärbte Uniformjacke.« »Eine deutsche?« »Nee, deutsch war die nicht.« Franke nahm ein gerahmtes Foto von der Anrichte. Es zeigte den jüngeren Mühlberger rittlings auf einem Motorrad, die Stiefel links und rechts in den Sand gestemmt. Er trug Stulpenhand‐ schuhe. Die Schutzbrille hatte er hoch auf den Lederhelm gescho‐ ben, genau wie sein Nachbar. Beide Gesichter waren schwarz vor Staub. »Mein Kamerad Kalkfurth und ich«, erklärte Mühlberger stolz. »Nach einer Cross Country im Grunewald vor dem Krieg. Wir waren nämlich beim NSKK, beim Nationalsozialistischen Kraft‐ fahrkorps. Scharfe Geländefahrten haben wir da gemacht. War nicht alles schlecht — damals.« Der Kriminalmeister stellte das Foto an seinen Platz. »Was wurde aus Ihrem Kameraden?« »Der Kurt ist gleich zu Beginn auf dem Vormarsch in Polen ge‐ fallen.« »Dieser Mann in der eingefärbten Uniformjacke, mit dem Grüb‐ chen am Kinn — würden Sie ihn erkennen?«, kam Dietrich wieder aufs Thema. »Ich glaube schon.« »Danke, Herr Mühlberger. Wir werden Sie zu uns auf die In‐ spektion bestellen und Ihre Aussage zu Protokoll nehmen.« »Geht in Ordnung, Herr Inspektor. Bestimmt kriegen Sie ihn bald.« »Bestimmt«, erwiderte Franke und sah ihn scharf an. »Oberkommissar Schlüter weiß von sechs weiteren Morden vor 302
dem Krieg, die unseren aufs Haar gleichen«, berichtete Dietrich, als sie im Wagen saßen. »Dann ist diese Marlene Kaschke die zehnte?«, fragte der Krimi‐ nalmeister fassungslos. »Sieht ganz so aus, Franke. Laut Schlüter brach die Reihe bei Kriegsbeginn ab.« »Und setzt sich nun nach Kriegsende fort. Das deutet auf einen Heimkehrer, Herr Inspektor.« »Liegt nahe, nicht wahr? Einer, der schon vor dem Krieg hier wohnte und sich in und um Onkel Toms Hütte bestens aus‐ kennt.« »Mühlberger. Er war den Krieg über fort und ist seit ein paar Wochen zurück. Er könnte sein Motorrad irgendwo versteckt haben. Und einen Job bei den Amerikanern hat er auch.« Dietrich schüttelte den Kopf. »Das macht ihn nicht gleich zum Frauenmörder. Aber er ist unser einziger Zeuge. Ich weiß von Captain Ashburner, dass es eine Lichtbildkartei aller bei den Amis beschäftigten Deutschen gibt. Die werden wir mit Mühlberger durchsehen. Möglich, dass der Mann mit dem Grübchen am Kinn da verzeichnet ist.« Im Garten hinter dem Reihenhaus schwelte ein undefinierbarer Haufen. Ben sah es voll schlimmer Vorahnung. »Irgendwer wusste wohl nicht, wohin mit dem Nazikram, und hat ihn bei uns im Verschlag abgeladen«, bestätigte der Großvater seine Befürchtungen. »Eine komplette Parteiuniform mit allem Drum und Dran. Junge, nimm den Schürhaken und halte das Zeugs am Brennen.« Dr. Hellbich kehrte ins Haus zurück. Niedergeschlagen stocherte Ben in den Resten. Außer dem Eh‐ rendolch war nichts mehr zu retten. Den schmuggelte er unterm Hemd nach oben. Mit Sidol und Schuhwichse frischte er Stahl‐ klinge und Lederscheide auf. Das Hakenkreuz am Griff polierte er mit einem alten Socken. 303
Der einfältige Clarence P. Brubaker war hellauf begeistert. »Ein wahrhaft historisches Stück.« »Der Führer persönlich hat᾿s ihm überreicht«, schwindelte Ben. »Ich muss ihn unbedingt kennen lernen«, drängte der hoff‐ nungsvolle Anwärter auf den Pulitzerpreis. »Den Führer?« »Den Mann mit dem Dolch. Hitlers rechte Hand, nicht wahr? Wann kann ich ihn treffen?« »Er will fünf Kartons Chesterfields für seinen Dolch.« Mister Brubaker war sofort einverstanden. »Fünf Kartons Ches‐ terfields, okay. Die bringst du ihm und sagst ihm, dass er weitere zehn von mir persönlich bekommt. Zeit und Ort bestimmt er. Ist ein faires Angebot, oder?« »Ich sag᾿s ihm. Versprechen kann ich nichts. Er ist sehr vorsichtig.« Mister Brubaker brachte eine Army‐Tasche aus olivgrünem Sackleinen, in der die fünf Stangen Zigaretten bequem Platz fan‐ den, zusammen mit einer Hunderterpackung Kaugummi, als Be‐ lohnung für Ben. Das war dem Starreporter aus Hackensack diese sensationelle Untergrundstory wert. »Die Tasche kannst du behal‐ ten«, gestattete er großzügig. »Hätten Sie wohl ᾿nen leeren Kartoffelsack?« »Ich glaube nicht. Sieh im Keller nach, wenn du willst.« Bruba‐ ker hatte es sich längst abgewöhnt, über die merkwürdigen Wün‐ sche der Deutschen nachzudenken. Im Keller gab es zwar keinen Kartoffelsack, dafür einen Berg schmutziger Wäsche, die vor sich hin schimmelte. Eine Horde Rotarmisten hatte die Waschfrau des Hauses vom Kessel weg in den Garten geschleppt, wo dreißig Mann über sie hergefallen waren, bevor der einunddreißigste sie erschlug. Das war jetzt vier Monate her. Ben zog einen großen Kissenbezug aus dem Haufen und nahm ihn mit nach oben. Nur ein Schwachsinniger wäre offen mit einer olivgrünen Tasche herumgelaufen, die meilenweit als Eigentum der US Army zu erkennen war. 304
»Vergiss nicht, die zehn Kartons Chesterfields zu erwähnen«, ermahnte ihn Brubaker. »Fünfzehn wären besser«, stieß Ben kühn nach. »Meinethalben auch fünfzehn.« Zufrieden angelte sich Ben eine Flasche Coke aus dem Kühl‐ schrank, schulterte den Kissenbezug mit der Tasche drin und marschierte los, direkt zu Schneidermeister Rödel. Der ließ den Speckstift zwecks Gutschrift von fünf Kartons Chesterfields über den Anzugstoff gleiten. Auch für Tasche, Kaugummis und Bezug notierte er ein paar hundert Mark. Auf dem Weg zum Club rechnete Ben nach. Wenn er Brubaker statt fünfzehn zwanzig Kartons abhandeln konnte, waren Anzug und Schuhe gesichert. Doch der große Reporter würde erst zahlen, sobald er Hitlers rechter Hand die Hand drücken durfte, selbst für den findigen Ben eine schwierige Aufgabe. »Kommt Zeit, kommt Rat«, tröstete sich der verspätete Nutznießer des Dritten Reiches. Die Theatergruppe war beim Proben. »Ein freies Leben führen wir ... «, gröhlten Schillers Räuber durch den Keller, »... ein Leben voller Wonne ... «, während Herr Appel hinter der improvisierten Bühne eine Maus aus der zugeschnappten Falle in den Abfall‐ eimer beförderte. Ben sah interessiert zu, wie Appel seinen Kaugummi aus dem Mund nahm und als Köder auf das Brettchen klebte, bevor er den Bügel neu spannte. Heidi Rödel setzte sich neben ihn. »Wie findest du das Lied?« »Auch nicht anders als beim Jungvolk.« Noch vor wenigen Mo‐ naten hatte er im Chor mit den anderen Pimpfen seines Fähnleins »Flamme empor« gesungen. »Song der jungen braunen Brandstif‐ ter« nannte Großvater Hellbich das hinter vorgehaltener Hand, womit sein Widerstand gegen das Regime aber auch schon er‐ schöpft war. Heidi rückte so nah, dass ihre Knie sich berührten. »Wenn᾿s dunkel wird, gehen – wir nackt baden. Kommst du auch?« 305
Auf Wochenendfahrt mit den Pimpfen waren sie nackt um die Wette geschwommen und hatten in der Sonne die eigene Größe mit der des Nachbarn verglichen, ohne dass sie sich viel dabei dachten. Nachts mit einer nackten Heidi im Wasser bekam das ganz andere Dimensionen. Ben hatte plötzlich ein Gefühl wie in der Turnstunde beim Stangenklettern. Verwirrt ging er nach oben. Er warf sich in einen Sessel und langte nach der neuesten Nummer der amerikanischen Soldatenzeitung Stars and Stripes. Herr Appel ächzte die Treppe rauf. Er pulte einen frischen Kaugummi aus dem Silberpapier und legte ihn auf die vorgescho‐ bene Zunge. Mit seinen Basedowaugen erinnerte er Ben an ein Chamäleon, das er im Reptilienhaus des Zoos gesehen hatte. Nur dass Herr Appel die Zunge mit der Beute etwas langsamer einzog. »Ein freies Leben führen wir, ein Leben voller Wonne... «, tönte es zum ᾿zigsten Male aus dem Keller. »Echt gut, dieser Goethe«, lobte Appel kauend. Ben ersparte sich eine Berichtigung. Er nahm die Zeitung hoch und las die Schlagzeile: »WEREWOLVES GETTING ACTIVE«. Ein über‐ eifriger Korrespondent berichtete von einer angeblichen Ver‐ schwörung der Hitlerjugend, die sich als Geheimbund »Die Wer‐ wölfe« gegen die Besatzungsmacht organisiert habe. Vor Bens geistigem Auge zeichnete sich, wenn auch zunächst in undeut‐ lichen Umrissen, die Lösung seines Problems ab. Inspektor Dietrich wartete im Vorzimmer des German‐American Employment Office. Die deutsche Sekretärin lackierte sich die Fin‐ gernägel. »Mögen Sie Kaffee, Herr Inspektor? Und dazu ein Sand‐ wich? Ich lass eins aus der Kantine rüberkommen. Hier gibt᾿s reichlich.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich möchte Ihrem Chef nicht mit vollem Mund gegenübertreten.« »Ich pack Ihnen eins ein«, raunte sie im Verschwörerton. »Ich heiße Gertrud Olsen.« 306
»Sie sind sehr freundlich, Frau Olsen.« »Ich suche einen Mann. Da probiert man alles. Sogar Sandwi‐ ches. Sind Sie verheiratet, Herr Inspektor?« »Seit fünfzehn Jahren. Wir haben zwei Söhne.« »Wir waren gerade ein Jahr verheiratet, Horst und ich. Er war Heeresflieger, Artillerieaufklärer. Sie schossen ihn bei Smolensk ab. Ich verlor das Baby, als die Nachricht kam. Nicht, dass ich ihn je vergessen werde. Nur, allein fällt einem die Decke auf den Kopf. Kommen Sie mich doch mal besuchen. Irmgardstraße 12a.« »Das ist ganz bei mir in der Nähe. Wir wohnen bei den Schwie‐ gereltern in der Riemeister Straße. Wie gesagt, ich bin verheiratet.« »Die netten Männer immer.« Sie holte einen Spiegel aus der Handtasche und zog sich die Lippen nach. Dietrich fand das Rot etwas zu grell. »Geschenk vom Chef. Er mag das so«, entschuldigte sie sich. »Wie ist er, Ihr Chef?« »Mister Chalford? Er mag die Deutschen nicht, glaube ich. Sonst ist er okay. Manchmal vielleicht ein bisschen ungeduldig. Ande‐ rerseits bringt er mir öfter ᾿ne Kleinigkeit aus dem PX mit.« Chalford traf gegen siebzehn Uhr ein. Er hatte ein Meeting mit dem Stadtkommandanten. »Come into my office, Inspector. Cap‐ tain Ashburner has announced you. Let᾿s see what we can do for you.« Neugierig musterte Dietrich den Amerikaner. Chalford war rund und wohlgenährt, Bote aus einer heilen Welt. »Terrible, all these murders.« Das glatte rosige Gesicht mit den wasserblauen Augen war bekümmert. »Okay, Inspector, kommen wir zur Sache.« »Was wissen Sie über die Tote?« »An sich geben wir keine Auskunft an Deutsche. Aber Captain Ashburner hat mich gebeten, Ihnen behilflich zu sein. Ich will also eine Ausnahme machen.« »Wie großzügig von Ihnen.« Curtis S. Chalford strich unsicher über das dünne blonde Haar. 307
Machte dieser German sich über ihn lustig? »What would you like to know, Inspector?«, fragte er zurückhaltend. »Wer war sie?« Chalford nahm eine Karteikarte zur Hand. »Marlene Kaschke, dreiunddreißig. Keine Geschlechtskrankheiten. Ich habe sie vor drei Wochen als Platzanweiserin für das Army Cinema einge‐ stellt. Sie wohnte in der Argentinischen Allee 198.« »Das Haus, in dem sie ermordet wurde«, bestätigte der Inspek‐ tor. »Weiß man etwas über ihre Vergangenheit?« »Sie gab an, in der Landwirtschaft dienstverpflichtet gewesen zu sein.« »Wissen Sie Näheres?« »Nein. Haben Sie schon eine Spur?« »Der Täter ist vermutlich ein deutscher Angestellter der US Army und kennt sich gut aus in Onkel Toms Hütte. Wahrschein‐ lich haben Sie ihn sogar selber eingestellt.« »The Aankel Taam killer«, wiederholte Chalford mit breitem Akzent. »Why the hell does he kill in Aankel Taam?« »Wir vermuten, dass er da irgendwo untergeschlüpft ist.« Diet‐ rich brachte sein Anliegen vor: »Captain Ashburner sagt, es gibt hier eine Lichtbildkartei. Wir haben einen Zeugen, der behauptet, den Mörder gesehen zu haben. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ihm erlauben würden, sich die Fotos aller bei der Army beschäf‐ tigten Deutschen anzuschauen.« Chalford verzog das Gesicht. Offenbar passte ihm die ganze Geschichte nicht. Sie brachte die Routine in seinem Office durcheinander. »Es wäre uns wirklich eine große Hilfe, Sir«, bat der Inspektor mit höflichem Nachdruck. Chalford spielte ungeduldig mit einem Bleistift. »Wir richten uns selbstverständlich nach Ihrem Terminkalender.« Chalford legte den Bleistift aus der Hand. »Allright, Inspector. Kommen Sie morgen. Gertrud wird Ihnen die Kartei zeigen. Ger‐ trud, time to go home!« »Yes, Mr. Chalford«, tönte es von nebenan. 308
Franke wartete unten mit dem Holzgas‐Opel. »Wie war᾿s, Chef?« »Ein kleiner Wichtigtuer, dieser Chalford. Zu Hause ist er ver‐ mutlich ein zweitklassiger Angestellter. Hier spielt er den großen Mann. Uns kann᾿s egal sein. Hauptsache, wir dürfen seine Kartei einsehen. Verständigen Sie den Zeugen Mühlberger.« Wie jeden Abend nahm Curtis S. Chalford den Armybus von sei‐ nem Office in Lichterfelde zum OMGUS‐Hauptquartier an der Clayallee. Von dort waren es zu Fuß nur noch ein paar Minuten. Er bewohnte eine beschlagnahmte Villa in der Gelfertstraße, die ihm wegen seiner Stellung zustand. Er freute sich auf seinen Feierabend. Grund war eine rundliche Frau mit dunklem Lockenkopf, hübschem vollem Gesicht und einem Ansatz zum Doppelkinn. Renate Schlegel war achtund‐ zwanzig und der mütterliche Typ. Sie hatte sich beim German‐American Employment Office um Arbeit beworben. Sie sprach leidlich Englisch. Chalford lud sie zum Essen ein. Über Hühnchen mit Reis machte er ihr sein An‐ gebot: als Housekeeper bei ihm zu wohnen und sich um ihn zu kümmern. Über ihren offiziellen Lohn hinaus bot er ihr drei Kar‐ tons Zigaretten monatlich und natürlich gute Verpflegung, dazu die kleinen Dinge aus dem PX, die eine Frau eben so brauchte. Renate Schlegel war alleine. Ihr Mann war gleich zu Anfang des Krieges in Narvik gefallen. Danach hatte sie zwei Affären, die eine mit einem Sparkassenleiter, der zu alt für den Krieg war und während eines Bombenangriffs im Luftschutzkeller am Herz‐ kollaps starb, die andere mit einem Schweizer Geschäftsmann, der nach Hause eilte, ehe die Russen kamen. Der Amerikaner machte einen ruhigen, anspruchslosen Eindruck. Renate willigte ein. Chalford läutete. Er hatte Schlüssel, aber er mochte es, wenn sie ihm öffnete, adrett in einer geblümten Kittelschürze, einen Rühr‐ löffel in der Hand, die Schüssel am großen weichen Busen. »Zum 309
Nachtisch gibt᾿s Eierkuchen«, verriet sie strahlend und kehrte zu‐ rück in die Küche. Im Erdgeschoss der Villa waren das Esszimmer, der große Salon und das Arbeitszimmer des Hausherrn. Dort arbeitete Chalford jeden Abend eine halbe Stunde. Dann saß er am Schreibtisch vor dem Schrank, in dem er seine Papiere aufbewahrte, und war über Hefte gebeugt, aus denen er sich Notizen machte. »Ein Fernkurs für Buchhaltung. Mein Job hier in Germany ist befristet. Ich muss an die Zukunft denken.« Sie bewunderte seine Strebsamkeit. Auch heute zog er sich eine halbe Stunde zurück, bevor er den Schrank zusperrte und nach oben ins Bad ging. Zehn Minuten später erschien er im bequemen Hausmantel. »Was gibt᾿s denn schönes zu essen?«, erkundigte er sich gemütlich. »Panierte Schweinskoteletts mit jungen Möhren und Röstkar‐ toffeln.« Sie brachte ihm ein Bier. Er musterte sie wohlgefällig, und damit endete sein Interesse an ihr. Er wollte nur seine Bequemlichkeit. Sie fragte sich, ob er Familie hatte, das Foto einer jüngeren Brünetten mit zwei kleinen Mädchen legte das nah, aber er sprach nicht darüber. Sie hoffte, dass er recht lange bleiben möge. Das Arrangement gefiel ihr. »Weiß man schon mehr über diesen neuen Mord? Das ist die vierte Tote, nicht wahr?« Er nahm einen Schluck aus der Flasche. »Sie nennen ihn den Onkel‐Tom‐Killer. Ich weiß das von einem deutschen Inspektor, der heute bei mir war. Eine konkrete Spur haben sie bisher nicht.« »Hoffentlich kriegen sie diese Bestie bald.« Sie ging, um die Schweinskoteletts in die Pfanne zu tun. Bald duftete es verhei‐ ßungsvoll aus der Küche. Er wartete morgens im Schutze der Ziersträucher am Club 48. Er musste sie einfach sehen, musste sich wieder und wieder ausmalen, wie er sie besitzen würde, sobald die Gelegenheit günstig war. Den Offiziers‐Trenchcoat mit dem großen Dreiangel über der linken 310
Tasche hatte er bis unters Kinn geknöpft und den Kragen hoch‐ gestellt, weil es regnete. Auf die Entfernung konnte man ihn ebenso gut für einen Amerikaner wie für einen Deutschen halten, nur dass ein Ami den Trenchcoat wegen des Dreiangels längst fortgeworfen oder einem Deutschen geschenkt hätte. Sie war pünktlich wie jeden Morgen. Sie stieg vom Rad, wobei sich Regenmantel und Kleid hochschoben, sodass ihr Knie und ein Stück Schenkel sichtbar wurden. Sie löste das Kopftuch und schüttelte ihr langes blondes Haar. Er schluckte erregt. Es hörte auf, zu regnen. Die Sonne brach durch und versprach einen heißen Tag. Wie gehetzt lief er davon, als könnte er vor sei‐ nen Gedanken fliehen. Doch die Gedanken ließen ihn nicht los. Auch die Arbeit lenkte ihn nicht ab. Als es dunkel war, holte er das Motorrad aus dem Versteck. Rastlos fuhr er durch die Nacht, immer die gleiche Strecke, aber sie hatte wohl früher Schluss gemacht als sonst, Frauen waren erschreckend unzuverlässig. Enttäuscht brachte er die Maschine in die Garage zurück. John Ashburner öffnete auf Juttas Läuten. »Du bist früh dran«, freute er sich. »Sergeant Varady kocht auf allgemeinen Wunsch ein echtes Sze‐ gediner Goulasch. Da waren meine Kochkünste nicht gefragt, und ich durfte gehen.« Er war noch im Basketball‐Dress. Sie hatten ein »Army«‐ und ein »OMGUS«‐Team aufgestellt und die Turnhalle einer Dahlemer Schule zur Korbball‐Arena umfunktioniert. Wegen seiner Länge war der Captain ein willkommener Mitspieler. Sie umarmten und küssten sich, und einen Moment schien es, als würden sie gleich ins Bett gehen. Er wandte sich ab und goss sich einen Bourbon ein. »John, was ist los?« »Nichts. Genauer gesagt: nichts als Ärger. Colonel Tucker war 311
heute in meinem Office und drückte mir ziemlich unverblümt das Missfallen des Stadtkommandanten aus. Der General verlangt, dass wir enger mit den Deutschen zusammenarbeiten, um weitere Frauenmorde zu verhindern. Die Bevölkerung wird unruhig. An‐ dererseits ist das direkte Eingreifen der Military Police nicht er‐ wünscht, wenn es um deutsche Belange geht. Ich muss mich also auf eine Beraterrolle beschränken.« »Mein armer Liebling sitzt zwischen zwei Stühlen.« »Das kann man wohl sagen.« Ashburner nippte an seinem Whiskey. »Entschuldige — willst du auch einen?« »Ich mache mir einen Kaffee.« Sie stöpselte den Heißwasser‐ kocher ein. »Übrigens, ich habe zwei Briefe nach Rockdale geschrieben. Einen an Tony Mancetti, der seinen Spaghettiladen verkaufen möchte. Mit meinem Entlassungsgeld und einem Kredit der High Street Bank schaffe ich das schon. Die rotkarierten Decken auf den Tischen könnten bleiben, wenn du willst. Der andere Brief ist an Ethel. Ich habe ihr die Scheidung vorgeschlagen. Sie kann be‐ halten, was wir in zehn Jahren zusammengetragen haben. Haus, Lebensversicherung, den Ford und so weiter. Was meinst du?« Sie legte die Arme um seinen Hals. »Dass du es dir sehr sorgfäl‐ tig überlegen solltest. Mich wirst du nämlich nie wieder los.« »Wenn du willst, erkundige ich mich, ob wir in Berlin heiraten dürfen. Dann könnten wir deine Familie einladen und ein paar Freunde. Klaus Dietrich und Frau zum Beispiel.« »Und den gut aussehenden Russen mit seinem weißen Sport‐ wagen?«, neckte sie ihn ein bisschen. »Maxim Petrowitsch? Warum nicht? Was ist mit deinen Eltern? Du musst mich vorstellen.« »Vati wird begeistert sein. Mutti wird in Tränen ausbrechen. Beides aus dem gleichen Grund: weil ich nach Amerika gehe. Ich werde uns für nächste Woche bei ihnen ansagen.« Er zog sie an sich. »Bleibst du? Oder soll ich dich heimfahren?« 312
»Bring mich bitte nach Hause. Ich muss das erst mal ein bisschen verdauen.« Sie griff nach ihrer Umhängetasche. »Diesen Mörder, werdet ihr ihn bald fassen?« »Er ist sehr schlau. Womöglich macht er sich sogar über uns lustig. Sein jüngstes Opfer sei nicht zufällig im Eisengestänge der dritten Etage hängen geblieben, meint Inspektor Dietrich.« »Wer war sie?« »Marlene Kaschke, eine der Platzanweiserinnen im Army‐Kino. Erinnerst du dich — die Mädchen mit den komischen Haarschlei‐ fen. Offenbar kannte sie ihren Mörder. Er besuchte sie nach der Sperrstunde zu Hause.« »Armes Ding«, sagte Jutta mitleidig.
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Marlene
F
reitags gab es Wochenlohn. Lene erkannte an der Fahne des Vaters, ob er auf dem Heimweg mehr als die Hälfte versoffen hatte. Mehr als die Hälfte bedeutete, dass sie ins Vorderhaus zu Herrn Pohl musste. Der hatte einen kahlrasierten Schädel, roch aufdringlich nach Kölnisch und sah gleichmütig zu, wie die Vier‐ zehnjährige sich auszog. Manchmal befingerte er sie erst, manch‐ mal hob er sie gleich rittlings auf sein zum Glück nicht sehr großes Glied. Dann schnaufte Herr Pohl und presste sie fest an sich. Nicht, dass es weh tat. Den Schmerz hatte Lene schon mit acht Jahren hinter sich gelassen, als es zum ersten Mal hieß: »Jetz jehste zu Herrn Pohl wejen Mietaufschub. Und stell dir nich so an.« Nein, es tat längst nicht mehr weh, es war nur feucht und kalt in Herrn Pohls Kellerwohnung, sommers und winters, und Lene fröstelte dem Moment entgegen, da der Hausmeister endlich fer‐ tig war und sie sich anziehen durfte. »Sach Vatern, det neechste Woche jezahlt wer᾿n muss. Sonst jibt᾿s ᾿ne Räumung«, entließ Herr Pohl das Mädchen. »Räumung«, dieses Schreckenswort hing über den Hinterhöfen von Berlin‐Moabit wie der schwarze Qualm aus den Schloten von AEG und Borsig. Die Kaschkes, Vater, Mutter, Marlene und ihre zwei kleinen Brüder, kannten das trostlose Bild: wenn eine Fami‐ lie mit ihren paar Möbeln am Bordstein saß und nicht wusste, wo‐ hin. Egon Kaschke stand gut mit seinem Vorarbeiter bei Siemens und ergatterte gelegentlich ein paar Überstunden für ein bisschen 314
Extralohn. Das wendete das Schreckliche ab, meist in letzter Se‐ kunde. Lene stieg ans Tageslicht, das spärlich in die vier Hinterhöfe der fünfstöckigen Mietskaserne Rübenstraße Nummer 17 sickerte. Die Höfe waren stinkende Spielplätze für rachitische Kinder und feiste Ratten. Im zweiten Hof hatten sie ein Fußballtor markiert. In dem hechtete Marlene schon als Sechsjährige den Bällen wie ein Junge nach. Die meisten hielt sie. Jeder Hof maß achtundzwanzig Meter im Quadrat, laut Bau‐ vorschrift aus dem Jahre 1874 das Mindestmaß, welches pferde‐ bespannten Feuerlöschwagen das Wenden erlaubte. Heute, 1926, war die Berliner Feuerwehr längst motorisiert, und man hatte be‐ gonnen, in Britz und Zehlendorf freundliche Arbeitersiedlungen zu bauen, wenn auch nicht für die Kaschkes. Alfred Neubert lehnte im Durchgang vom dritten zum vierten Hinterhof. Er trug Schlips, Kragen und Anzug, in dem erbärmli‐ chen Milieu eine Herausforderung. Er nickte ihr zu. »Tag, Lene, na, wie geht᾿s denn so?« »Biste wieder da?« Sie hatte den Fredie lange nicht gesehen, aber sie erkannte ihn trotz seines flotten Bärtchens sofort. Fredie war neunzehn, ein gut aussehender dunkler Typ, der schon mit dreizehn begriffen hatte, dass es für ihn nur einen Weg raus aus der Rübenstraße gab. So begann er seine Laufbahn in den Pissoirs am Alexanderplatz und setzte sie im Tiergarten fort, wo er mit feinen Herren hinter die Büsche ging. Der zweite Portier des »Bristol« rekrutierte ihn schließlich als Page. Der Türsteher ver‐ mietete die ihm unterstellten Boys an männliche Hotelgäste. Ein reicher Engländer fand Gefallen an dem hübschen Jungen. Zwei Jahre reiste sein Mentor mit ihm durch die Welt, bis er ihn in Mogador wegen eines schönen Marokkanerknaben ohne einen Penny sitzenließ. In Tag‐ und Nachtmärschen folgte Fredie dem Paar nach Marrakesch. Dort schlug er den Päderasten kaltblütig zusammen und nahm dessen Reisekasse, gut zweihundert Pfund 315
Sterling, an sich. Lord Trevellyan ließ sich lieber neues Geld aus London kommen, als die Behörden zu alarmieren. Die Beute, über viertausend Reichsmark, zahlte der Räuber nach seiner Heimkehr auf einem Dutzend Sparbücher ein. Außer dem Geld hatte er sich Englisch und Französisch, gute Manieren und einen abgrundtiefen Hass auf Männer wie Lord Trevellyan an‐ geeignet. »Bin kurz gekommen, um nach Mutter zu sehen.« Fredie hatte den Jargon der Rübenstraße abgelegt und sprach das preußisch getönte Deutsch der höheren Berliner Klassen. »Und du? Weiterhin Pohl gefällig?« »Was dajegen?« »Dass du so dämlich bist?« Fredie versenkte Daumen und Zeige‐ finger in der Westentasche und brachte ein silbernes Markstück zum Vorschein, für Lene ein Vermögen. »Hier, Fahrgeld. Du nimmst den Omnibus von der Turmstraße zur Kantstraße. Da steigst du aus und gehst nach rechts. Die erste Ecke ist die Weimarerstraße. Rechts rein, Nummer 28, Hinterhaus dritter Stock links, bei Wilke. Dreimal klingeln, und ich mache auf. Kapiert?« »Bin ja nich doof.« »Komm Dienstagnachmittag.« Sie fragte nicht, was er von ihr wollte, so überwältigt war sie von dieser Einladung in eine andere Welt. Sie riss die Mark nicht an, obwohl die Versuchung groß war, zum allerersten Mal im Leben mit dem Omnibus zu fahren, am liebsten auf dem Oberdeck. Allein schon die offene Wendeltreppe hinten raufzusteigen, wäre ein Erlebnis gewesen. Doch sie blieb stark. Am Dienstag um zwei Uhr marschierte sie los. Sie hatte den weißen Spitzenschal umgelegt, den Großmutter Mine ihr vererbt hatte. Es war das Kostbarste, das sie besaß. Sie hätte den weiten Weg schneller geschafft, wären da nicht die mit jedem Schritt gen Westen üppigeren Schaufenster gewesen. Eine Hutmacherin zeigte extravagante Kreationen. In der Rüben‐ 316
straße hätte sowas wütende Beschimpfungen ausgelöst. Im Fenster daneben zählte Marlene dreißig verschiedene Modelle von Damenschuhen. Sie verglich jedes einzelne betrübt mit ihren aus‐gelatschten altmodischen Knöpfstiefeletten. Die stammten noch von Mutters Schwester. Tante Rosa war an der Schwindsucht krepiert. Von den Auslagen einer Fleischerei konnte sie sich gar nicht losreißen. Da ruhte auf silberner Platte, das Rot appetitlich mit weißem Fett durchsetzt, ein Berg Hackepeter, garniert mit Zwie‐ belringen, in denen sich gemahlener Pfeffer, körniges Salz und fette Kapern häuften. Ein rundes Roggenbrot und eine Flasche braunes Lagerbier von Bötzow ergänzten das deftige Stillleben. »Portion 30 Pfennig«, lockte die schwarze Schrift auf dem ins Hackfleisch gepiekten Zelluloidschild. Lene schloss die Linke fest um ihr Markstück. Im Fenster von »Hefter« prangte eine üppige Aufschnittplatte, umgeben von feinen Konserven. Daneben lag sattgelb eine Kugel frisch geschlagener Butter, man merkte das am Muster der Kelle. Lene kannte nur die übel riechende harte Margarine aus dem Eck‐ laden, wo vom Hahn die wässrig blaue Magermilch tropfte, wel‐ che die Mutter ihrem Jüngsten einflößte, ihre Brust war schon bei der Tochter ausgetrocknet. Vor dem Kino an einer Straßenecke lockten bunte Plakate und glänzende Szenenfotos. Der Film hieß »Der Scheich« und war mit Rudolph Valentino, der unbeschreiblich schön aussah. Zwei Platzanweiserinnen schwatzten vor der Tür. Lene bestaunte die roten Uniformen mit den goldenen Schnüren. Sie wollte auch Platzanweiserin werden. Denn darfste imma umsonst in᾿t Kino, dachte sie. Um vier bog sie in die Kantstraße und an der nächsten Ecke rechts in die Weimarerstraße. Nummer 28 war ein vierstöckiges Haus mit reich verzierter Fassade und Topfpflanzen in den hohen Erkerfenstern. Der Hausflur war in Marmor und Kristall gehalten, 317
das Messing der Scherengitter am Aufzug glänzte. Das Hinterhaus war anspruchsloser, doch gemessen an der Rübenstraße Nummer 17 immer noch ein Traum. Die Türklingel im dritten Stock neben dem Namensschild »Wilke« schrillte dreimal. Fredie öffnete. Er trug einen langen sei‐ denen Hausmantel und rauchte eine Atikah aus einer fast ebenso langen Spitze. »Mensch, du bist ja ᾿n richtich feiner Pinkel«, ent‐ fuhr es Lene. »Komm rein.« Sein Zimmer war ganz hinten. »Da, setz dich.« Er schob ihr einen Stuhl hin. Auf dem Tisch stand schokoladenüber‐ zogen eine Schwarzwälder Torte. Schlagsahne quoll über den Rand der Schale daneben. »Lang ordentlich rein.« Fredie schenkte süßen Wein in kleine Gläser. Sie verschluckte sich, weil sie zu has‐ tig trank. Belustigt sah er zu, wie sie große Bissen Torte und gehäufte Löffel Sahne verschlang. Nach der dritten Portion nahm er ihr den Teller weg. »Sonst kotzt du mir noch ins Bett«, erklärte er sachlich. »Nachher kriegst du mehr. Zieh dich aus und wasch dich.« In der Nische hinter dem Vorhang war ein Waschtisch, daneben ein länglich gekurvtes Becken. »Wat iss᾿n det?« Fredie goss aus einem Krug Heißwasser hinein. »Das ist für untenrum«, belehrte er sie. »Aber mach nicht solange.« Fünf Minuten später kroch sie zu ihm ins Bett, sie fand das völ‐ lig in Ordnung, wo er ihr soviel Torte und Schlagsahne spendiert hatte und Wein, mit Aussicht auf noch mehr. Von Herrn Pohl kriegte sie nur Mietaufschub. Fredie zog die Decke weg. Er be‐ trachtete sie von oben bis unten. »Du bist sehr hübsch«, stellte er zufrieden fest, während seine Finger über ihre Haut glitten. Seine Lippen verstärkten das won‐ nige Gefühl, das sie durchzog, seine Zungenspitze ließ ihre win‐ zige Knospe erblühen. Kleine Seufzer schwebten empor und gip‐ felten in einen entzückten Schrei. An diesem Nachmittag erlebte die junge Frau, wovon die meis‐ 318
ten nicht einmal zu träumen wussten. »Mann, war det jut«, staunte sie völlig außer Atem, bevor sie sich erneut an Torte und Schlag‐ sahne machte. Zum ersten Mal in all den Jahren rebellierte Lene, als es hieß: »Jeh zu Herrn Pohl.« »Jeh doch selber«, herrschte sie die Mutter an und lief runter in den Hof, wo sie die Mülltonnen mit den Füßen traktierte. Alles war mit einem Mal anders. Bisher hatte der Schleier des Gewohn‐ ten das Elend verhüllt. Jetzt zeigte es höhnisch seine Fratze. Sie begriff, dass sie hier weg musste, ehe es zu spät war. Als die Mutter am Nachmittag mit den Kleinen zur Wohlfahrt war, einen Extralaib Brot zu erjammern, knotete Lene ihre paar Sachen in ein Tuch. Den Karton mit Großmutter Mines weißem Spitzenschal hatte sie unter den Arm geklemmt. Diesmal mar‐ schierte sie los, ohne die Schaufenster eines Blickes zu würdigen. Nischt wie weg, war ihr einziger Gedanke. Es dauerte eine Weile, bis Fredie aufmachte. Er war unrasiert und verschlafen. »Was willst du?« Er gähnte. »Na komm schon rein.« Sein Zimmer war unaufgeräumt. Neben dem eigelbverkleb‐ ten Teller auf dem Tisch lag eine angebissene Scheibe Brot. Sie musterte ihn kritisch. »Du siehst aba janich jut aus.« »Bin spät ins Bett gekommen«, behauptete er, was allerdings nicht stimmte. Er war eher früh ins Bett gekommen, und zwar in das der Witwe Deister in Neukölln. Fredie hatte sich auf reifere Damen spezialisiert, die er im »Resi« auftat, wo Rohrpost und Tischtelefon das Anquatschen erleichterten. Die Damen luden ihn gewöhnlich nach Hause ein und zeigten sich erkenntlich für seine Dienste. Der Stamm dankbarer Kundinnen wuchs. »Also, was willst du?«, fragte er ungeduldig. »Ick bin abjehaun«, gab Lene lapidar Auskunft. Er wies auf ihr Bündel. »Das sieht man. Und nun?« »Wer᾿ ick Platzanweiserin im Kino.« 319
Fredie ging ohne ein Wort und kam mit einem Waschkrug voll Heißwasser aus der Küche. »Hab Frau Willke gesagt, dass du meine Schwester bist. Du kannst bleiben.« Er verschwand hinter dem Vorhang. Lene hörte Wasser plätschern und Gurgeln. Mit feucht gekämmtem Haar erschien er wieder. Er wischte sich die letzten Spuren Rasierschaum aus dem Gesicht. Vor dem Spiegel des Kleiderschrankes legte er den Kragen um und band sorgfältig die Krawatte. Danach waren Weste, Jackett und heller Filzhut an der Reihe. »Jetz biste schnieke. Und nu?« »Kaufen wir dir was zum Anziehen.« Sie führen mit der Elek‐ trischen zum Tauentzien. Fredie hob Geld von einem seiner Spar‐ bücher ab. Im Kaufhaus des Westens probierte Lene begeistert ein Dutzend Kleider von der Stange und wählte ein geblümtes. Matte Kunstseidenstrümpfe und halbhohe Spangenschuhe kamen dazu. Den mondänen Glockenhut durfte sie erst aufsetzen, nachdem die Kaufhausfriseuse ihr das blonde Haar nach neuester Mode gelegt und beim Make‐up geholfen hatte. »Nicht wiederzuerkennen«, urteilte Fredie zufrieden. »Deine Leute werden staunen.« »Da kriste mich nich wieda hin«, lehnte sie sich auf. »Du hältst die Klappe und tust, was ich sage. Ich weiß, was gut für dich ist. Klar?« »Klar«, lenkte sie widerwillig ein. Egon und Anna Kaschke brachten keinen Ton raus, als sie die Tochter sahen. Fredie nutzte ihre Überraschung: »Ich habe eurer Tochter ᾿ne Stellung als Kindermädchen bei Herrn und Frau Dr. Schlüter besorgt. Da bekommt sie zehn Mark Lohn.« Er zog ein Fünfmarkstück aus der Westentasche und warf es auf den Tisch, dass es klirrte. »Hier ist ᾿ne Anzahlung. Soviel gibt Marlene jede Woche ab, weil sie ja nun nicht mehr zu Pohl kann. Ich bringe den Fünfer jeden Freitag vorbei.« Lene war vollkommen hin und weg. Noch nie hatte sie jemand 320
Marlene genannt. Sie wollte etwas sagen, wollte Vater und Mutter versprechen, dass sie bestimmt nach Hause kommen würde, wenn sie freihatte. Fredie drängte: »Dalli, Mädel, deine Herrschaft wartet.« »Ick dachte, du bringst mir zu meene neue Herrschaft?«, wun‐ derte sich Lene, als sie wieder in Fredies Bude waren. »Die Willke verlangt fünf Mark mehr die Woche, weil du ja nun bei mir wohnst. Dazu der Fünfer für deine Leute, dass sie keinen ZofF machen... « »Det sind zehn Eier die Woche, da bleibt nischt über«, rechnete Lene nach. »Du kapierst schnell. Hör zu, Schatz. Ein Bekannter von mir ist ziemlich alleine und sehnt sich nach einem netten Mädchen. Er wäre schon mit ᾿nem Stündchen zufrieden und bestimmt nicht kleinlich, sagt er. Ich bring dich hin, du bist ein bisschen nett zu ihm, ich hole dich ab, und wir sind dreißig Mark reicher.« Lene war nicht dumm. »Ick soll ins Bett mit eenem, den ick ja‐ nich kenne? Da mach ick nich mit.« »Zieh deine alten Klamotten an und hau ab!« Er schmiss ihr die Sachen hin. »Bei Pohl stellst du dich ja auch nicht so an.« »Ick bin doch keene Nutte«, wehrte sie sich ein letztes Mal. Er zog sie an sich. »Das behauptet ja keiner«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Du bist ein ganz süßes Ding.« Seine Lippen strichen ihren Hals hinunter. Seine Hand wanderte zwischen ihre Schenkel. Sie schob ihn weg, um das Kleid auszuziehen. »Damittet nich vaknautscht.« Sie war ein praktisches Mädchen. Sie schrie lustvoll unter seinen Stößen und erlebte ein neuerli‐ ches Feuerwerk himmlischer Orgasmen. Bald würde sie wie eine Süchtige danach verlangen. Doch davon wusste sie nichts, während die Erregung abklang und sie sich an ihn kuschelte. »Mit dir isses imma so schön«, murmelte sie dösig. »Nicht wahr, Schatz, du hilfst ein bisschen mit, dass die Kohlen stimmen«, raunte er ihr ins Ohr. 321
Sie antwortete nicht, sondern rückte ein Stück von ihm weg. Sie kniff die Augen zusammen und dachte eine Minute angestrengt nach. Dann setzte sie sich mit einem Ruck auf. »Also jut. Wo wohnta denn, dein Bekannter?« »Herr Hildebrand — Fräulein Kaschke«, machte Fredie zwischen Tür und Angel bekannt und verdrückte sich. Herr Hildebrand war Kohlenhändler. »Ang groß«, wie er betonte. Vom Lager unter den Stadtbahnbögen belieferten seine Leute den ganzen Westen der Hauptstadt. Die Zentralheizungen der Mietshäuser mit den gro‐ ßen Herrschaftswohnungen verschlangen den Koks tonnenweise. Hildebrand war vierzig, ordentlich gekleidet, mit schütterem Haar. Seine Schüchternheit verbarg er hinter einem steif gewichsten Schnurrbart und übertrieben höflichem Benehmen. »Sehr angenehm, Fräulein Kaschke, bitte, treten Sie näher.« Hil‐ debrand komplimentierte sie in den Salon, wo sie auf harten Stüh‐ len Platz nahmen und sich anschwiegen. »Darf ich mir gestatten, Ihnen eine Erfrischung anzubieten?«, rang er sich schließlich ab. »Dürfen᾿se«, genehmigte Lene und bekam ein Selters mit Zi‐ trone, die sie geräuschvoll durch den Strohhalm sog. »Ein schöner Tag«, versuchte Hildebrand sich in Konversation, was Lene mit einem Nicken quittierte, während sie andächtig weiternuckelte und gespannt darauf wartete, wie er wohl die Biege kriegen würde. »So richtig schön zum Sonnen«, fuhr Hildebrand fort. »Wollen Sie sehen?« »Die Sonne?« Lene war verblüfft. »Den Balkon.« Hildebrand öffnete die verglaste Doppeltür. »Bitte sehr, Fräulein Kaschke, reine Südlage. Und von nirgends einzusehen.« Lene trat hinaus. Eine halb runtergekurbelte Markise, eine ebenso rot gestreifte Liege... Langsam dämmerte es ihr: Herr Hildebrand wollte im Freien zur Sache kommen. »Denn zieh ick mir jetz aus zum Sonnen«, kündigte sie an und legte ab. Herr Hil‐ 322
debrand folgte ihr mit freudigen Blicken. »Wenn᾿se sich ooch frei‐ machen, sonn᾿ wa uns beede«, ermunterte sie ihn. Herr Hildebrand zog sich zurück und tauchte im Bademantel wieder auf. Lene prustete los. Er hatte seinen Wilhelm‐Zwo‐Bart vor eventuellen Leidenschaftsausbrüchen mit einer breiten Bart‐ binde gesichert. »Na denn kommse man her«, lockte sie von der Liege und spreizte die Schenkel. Herr Hildebrand kam mit gemessenen Bewegungen zum Ziel. Sie fand die ganze Geschichte nicht unangenehm, wenn auch total ereignislos. Er raffte den Bademantel um seine fünf Glieder und eilte, sich anzukleiden. Auch Lene machte sich proper. »Mit Ihrer Erlaubnis ein kleines Geschenk, Fräulein Kaschke, in der Hoffnung, Sie bald wieder zu sehen.« Hildebrand wies auf das Tischchen im Salon. Neben dem geleerten Limonadenglas la‐ gen vier Scheine à zehn Mark, die sie in ihren Beutel stopfte, einen davon so tief, dass er nicht wieder auftauchte, auch nicht, als sie mit Fredie, der sie unten erwartete, abrechnete. »Dreißig Mark, nicht schlecht für den Anfang.« Fredie war zufrieden. »Ein Zehner ist für dich, einer für mich, der Rest für unsere Zahlungen. Was machst du mit deinem Geld?« Lene war eine schnelle Rechnerin: »Neun Märker siebzich wern jespart. Und für drei Jroschen, da koof ick mir ᾿n Hacke‐ peter.« »Noch etwas Beluga, mein Kind?« Eulenfels senkte den silbernen Löffel in die Kristallschale und hob den grau glänzenden Kaviar auf Marlenes Teller. »Danke, Ferdinand.« Die feinen blonden Härchen auf ihren bloßen Armen schimmerten verführerisch im Kerzenschein. Die Achtzehnjährige strahlte ihn an. Sie wusste um ihre Wirkung. »Sie machen einen tönenden Film aus Dr. Manns Roman. Eine interessante Frage des Urheberrechts, da der Film ja auf dem Buch basiert. Ich muss das mit unseren Juristen erörtern. Die Schauspie‐ 323
ler werden sprechen und singen wie auf der Bühne. Die Haupt‐ darstellerin heißt übrigens auch Marlene.« Ferdinand Eulenfels hielt gerne kleine Monologe zu Themen, die ihn als Verleger beschäftigten. Die wichtigsten Berliner Zei‐ tungen und Zeitschriften gehörten ihm. Aber seine Liebe galt dem Buch. Zu seinen Autoren zählten einige große Namen und viele kleine. Eulenfels hatte das »Buch für eine Mark« erfunden und verkaufte mit großem Erfolg leichte Unterhaltungskost. Marlene sah aus dem Fenster. Mondschein glitzerte auf den schneebeladenen Bäumen. Das Jagdhaus des Verlegers lag eine Stunde östlich von Berlin. Eulenfels benützte es für diskrete Rendezvous. Sie war ihm auf dem Presseball im »Esplanade« in die Arme gestolpert und hatte etwas Champagner auf seiner gestärk‐ ten Hemdbrust vergossen. Fredie hatte das geschickt inszeniert. Die reifen Witwen waren Vergangenheit. Er widmete sich jetzt ganz der Promotion seines Schützlings. Er hatte ihr das Essen mit Messer und Gabel sowie Hochdeutsch beigebracht. Marlene war eine eifrige Schülerin. Nur wenn sie aufgeregt war oder spontan reagierte, fiel sie unweigerlich in die Sprache der Rübenstraße zu‐ rück. Französisch und Englisch gehörten ebenfalls zum Programm. Das Weitere besorgte ihre hübsche junge Erscheinung. Sie begriff schnell, was die Kundschaft mochte, reiche Männer in den besten Jahren, die großzügig für die Erfüllung ihrer meist anspruchslosen Wünsche zahlten. Damit finanzierte Fredie das Apartment im neuen Westend und ihrer beider Garderobe. »Ohne Frack kommt man ja nirgends rein«, hatte er erkannt. »Die sprechen und singen richtig auf der Leinwand?«, staunte sie. »In der Tat. Obwohl ich nicht weiß, wozu das gut sein soll.« Eulenfels schenkte Champagner nach. »Den trinken wir nebenan.« Sie nahm das Glas und ging ins Schlafzimmer. Als er sich zu ihr gesellte, hatte sie ihr Kleid abge‐ streift und stand in hauchzarten Dessous da. 324
»Bezaubernd.« Er küsste ihre Hand. Sie leerte das Glas in einem Zug und schmetterte es übermütig in den flackernden Kamin. Er küsste sie auf die Schulter. Sie begann heftig zu atmen. Das erregte ihn, wusste sie seit ihrer ersten Begegnung. Der Rest war Routine. Sie ließ ihn gewähren und gab dem Sechzigjährigen mit kleinen Schluchzern und Schreien das Gefühl eines überwälti‐ genden Liebhabers. Nach zehn Minuten war alles vorbei. Zum Abschied überreichte er ihr ein rotgebundes Taschenbuch. »Vicki Baums neuester Roman. Sag mir, wie er dir gefällt.« Er brachte sie durch den Schnee zum hohen kastanienbraunen Mercedes. Der Fahrersitz der altmodischen Karosse war offen. Der Chauffeur schloss den Wagenschlag und setzte sich ans Steuer. Marlene sah durch die Trennscheibe aus der behaglichen Wärme des Fonds das schwere Tuch seines Mantels, den hochgeschlagenen Kragen, die Handschuhe und die Ohrenwärmer unter der Schirmmütze, während sie durch die Winternacht nach Berlin führen. Unterwegs schlug sie das Buch auf. Ein Hundertmarkschein fiel heraus. »Sie müssen ja völlig durchgefroren sein. Kommen Sie mit rauf, wärmen Sie sich ein bisschen«, lud sie ihn am Ziel ein. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, gnädiges Fräulein, aber es ist schon spät.« »Ach was.« Sie knipste das Licht an. Fredie war in irgendeinem Herrenclub, auf Jagd nach potentiellen Kunden. Er hatte immer einige Fotografien seiner angeblichen Ex‐Verlobten bei sich. Sie ließ ihren Persianer fallen. Fredie hatte ihn beim Pelzjuden am Spittelmarkt gemietet. »Legen Sie ab. Ich mache Ihnen einen Grog.« Als sie mit den dampfenden Gläsern zurückkehrte, wartete er barhäuptig in grauer Chauffeursuniform und blanken schwar‐ zen Ledergamaschen. Er war mittelgroß, hatte ein freundliches rundes Jungengesicht mit einem Grübchen am Kinn und sorg‐fältig gekämmtes nußbraunes Haar. Er war achtundzwanzig, wie sie später erfuhr. 325
Er nahm zögernd Platz und blies vorsichtig in das heiße Ge‐ tränk. »Sie sind sehr nett zu mir. Manche von euch sind ziemlich von oben herab.« Er wurde rot. »Verzeihen Sie, so war das nicht gemeint.« »Ach Quatsch. Is ja keen Jeheimnis, was ick mache. Wie heißen‐ ᾿se eij entlich?« Er hieß Franz Giese und war aus Breslau. Er grinste. »Wie die meisten echten Berliner.« »Eijentlich wollte ick ja Platzanweiserin wer᾿n«, entschuldigte sie sich. »Aba wie᾿t oft so jeht... « Giese nickte verständnisvoll. Schlüssel klirrten. Fredie war im Smoking, die unvermeidliche Zigarettenspitze zwischen den Zähnen. Er erfasste die Szene mit einem Blick. »Darf man erfahren, was diese Idylle soll?« »Hab ihn kurz zum Aufwärmen mit raufgenommen.« »Raus.« Fredie wies mit dem Daumen zur Tür. Franz Giese nahm schweigend Mütze und Mantel. »Hättest ihn ruhig seinen Grog austrinken lassen können«, be‐ schwerte sich Marlene. Fredie trat dicht vor sie. Mit unbewegtem Gesicht rammte er ihr die Faust in den Bauch, dass sie nach Luft japste. Sie krümmte sich unter dem Schlag und rettete sich auf einen Stuhl. Sie weinte lautlos. Es war nicht der Schmerz, der rasch verklang, sondern dieses Gefühl grenzenloser Einsamkeit. Er hob mit gekrümmtem Zeigefinger ihr Kinn. »Deine Gäste suche ich aus. Kapiert? Was ist mit der Abrechnung?« Sie gab ihm Eulenfels᾿ Hundertmarkschein. Er holte ein kleines Notizbuch aus der Tasche und trug ein: »Dreißig für die Unkosten, fünfund‐ dreißig für mich, fünfunddreißig für dich.« Er führte gewissenhaft Buch. Ihr Geld bekam sie nie zu sehen. »Das verwalte ich für dich«, war seine Antwort, wenn sie gelegentlich danach fragte. »Ein Herr von Malsen kommt morgen zum Tee. Ich habe an‐ gedeutet, dass du aus verarmtem Hochadel stammst und sehr an‐ spruchsvoll bist. Wir können mit zwei Hundertern rechnen.« 326
Sie hatte nur den einen Wunsch, sich zu verkriechen und alles zu vergessen: Fredie, die Männer, das ganze Leben im mondänen Westend, das auch nicht besser war, als das Elend der Rübenstraße, nur verlogener. Dieser Franz Giese ist anders, schoss es ihr mit einem Mal durch den Kopf. Fredie lächelte schräg. Dann zerrte er sie auf die Couch. Sie hatte keine Chance gegen ihn. Sie versuchte, an etwas Abstoßendes zu denken. Doch der Orgasmus war nicht aufzuhalten. Verächtlich ließ Fredie von ihr ab. Herr von Malsen war ein drahtiger Rittergutsbesitzer aus Vorpom‐ mern, der sie höflich bat, die Strümpfe anzubehalten. Herr Nuss‐ baum war ein asthmatischer Likeurfabrikant aus Köpenick und wünschte, beschimpft zu werden. Herr Dr. Bernheimer war Rechtsanwalt aus Potsdam und wollte Sonja genannt werden, während er sich ins Korsett schnüren ließ. Sie erfüllte allen ihre kleinen Wünsche und wurde großzügig beschenkt. Ein Ausländer gehörte auch zu ihrer Kundschaft. Sie hatte ihn beim Tee im Adlon kennen gelernt. Der Trick hatte sich schon ein paarmal bewährt. Fredie brachte sie in die Hotelhalle, ließ sich vom Pagen ausrufen und eilte davon. Marlene genoss die Atmo‐ sphäre. Gut gekleidete Männer und Frauen. Im Hintergrund englische Stimmen. Bruchstücke einer französischen Konversation. Ein deutscher Herr, der den Ober um die Times bat. Eine Schwedin, die nach Zigaretten rief. Zwei Spanier, die einander enthusiastisch begrüßten. Richtich intanassional, dachte sie in bester Rübenstraßenmanier. »Mein Bruder musste unerwartet geschäftlich fort, und ich habe kein Geld bei mir«, gestand sie dem Ober so laut, dass es der ein‐ zelne Herr am Nebentisch hörte. Der einzelne Herr war Ameri‐ kaner und bot sofort an, die unbedeutende Rechnung zu erledi‐ gen. Marlene lächelte verlegen. »Wie kann ich Ihnen danken, mein Herr?« 327
»Indem Sie einen Drink mit mir nehmen.« Anschließend lud er sie zum Dinner ein und zu einer Flasche Champagner in seiner Suite. »Sie bleiben doch auch sicher gern ein wenig länger?« Er schob eine 100‐Dollar‐Note unter ihr Glas. Sie lachte: »Woher wissen Sie, was ich mache?« »Ich habe zufällig bemerkt, wie ihr Begleiter in einer der Tele‐ fonkabinen verschwand und gleich darauf ausgerufen wurde. Das Übrige war nicht schwer zu erraten und trifft sich mit meinen Wünschen. Ich bin neu in Berlin und das einzige weibliche Wesen, das ich bisher kenne, ist die Putzfrau in meinem Büro.« Er hieß Frank Saunders und war Korrespondent der New York Herald Tribune. Er sprach gut Deutsch. »Was mir nicht zuletzt den Job hier eingebracht hat. Verdammt interessante Stadt, dieses Berlin. Besonders in der gegenwärtigen Situation. Meinen Sie, dass dieser Herr Hitler die Wahlen gewinnt?« »Können Sie mich nicht was Leichteres fragen?« »Sie interessieren sich nicht für Politik?« »Nicht die Bohne. Und Sie?« »Nur beruflich. Privat liebe ich schöne Frauen und Pferde‐ rennen, wie die meisten Männer aus Kentucky. Ich wette gern ein bisschen. Hätten Sie Lust, mit nach Hoppegarten zu kommen?« »Vielleicht ... « Er war dreißig und hatte eine Boxernase. »Habe bei den Uni‐ versitätsmeisterschaften in Yale eine Sekunde meine Deckung vernachlässigt. Das war der Lohn.« Frank Saunders war sportlich, gut gewachsen und roch ange‐ nehm. Im Bett war er unverklemmt und ganz bei der Sache. »Mit dir macht es richtig Spaß«, lobte er sie. »Ich beziehe nächste Woche meine neue Wohnung. Wirst du mich besuchen?« Er schrieb ihr die Adresse auf. Von nun an trafen sie sich regelmäßig. Marlene mochte den unkomplizierten Amerikaner. Fredie mochte die Dollarquelle. Er gestattete ihr sogar, Saunders zum Rennen zu begleiten. Sie kaufte 328
sich ein elegantes Nachmittagskleid und einen extravaganten Hut und war entzückt von all den schönen Menschen ringsum und von ihrem stattlichen Begleiter im grauen Flanell. Sie spielten ein kleines Spiel, das sie beide erregte. »Der Herr da mit Melone, das ist auch ein Kunde von mir. Weißt du, was der mit mir macht?« Sie flüsterte ihm eine erotische Phantasie ins Ohr. Ein anderes Mal war es eine knochige Gräfin mit besonderen Wünschen. Danach waren zwei flotte junge Reiterleutnants an der Reihe: »Stell dir vor, was die beiden von mir verlangen ... « Nach dem Rennen, in seiner Wohnung, entlud sich ihre Span‐ nung wie ein Frühlingsgewitter. Er war der erste Gast, bei dem sie etwas empfand, und der erste Mann, mit dem sie danach gerne plauderte. Außerdem war da Herr Dr. Friedhelm Noack. Stets in schwarzem Jackett, taubengrauer Weste und gestreifter Hose, penibel geschei‐ telt, mit silbernem Binder. Noack war Regierungsrat im Preußi‐ schen Innenministerium, liebte es jedoch, als »Herr Major« ange‐ redet zu werden. »Hat᾿s im Krieg zwar gerade mal zum Zahl‐ meister gebracht, aber na schön, lassen wir dem Kind die Bulet‐ ten.« Fredie wusste immer, wie man mit den Leuten umgehen musste. Herr Dr. Noack erschien jeden Donnerstag. Er fiel ächzend in einen Sessel, sie kniete sich vor ihn und knöpfte ihn auf. Es war jedes Mal ein ziemliches Stück Arbeit. Irgendwann kam er und zog zufrieden ab. An sich wäre es die reinste Routine gewesen, hätte sie ihn auf Fredies Weisung hin nicht umsonst bedienen müssen. »Einem Parteifreund knöpfen wir keine Mäuse ab«, entschied Fredie. Marlene hatte keinen blassen Schimmer, der Freund welcher Partei dieser Dr. Noack war. Fredie schlug sie nicht mehr, weil er begriffen hatte, welche Macht er über sie besaß. Er arrangierte ihre Rendezvous, und sie gehorchte. Ihr Konto wuchs, zumindest auf dem Papier. Großzü‐ 329
gig genehmigte er ihr mehr Geld für die Eltern. Sie schickte es ihnen per Boten. An einem Sonntag gegen drei Uhr früh drehte der arbeitslose Wilhelm Kuhle in seiner Wohnschlafküche in der Rübenstraße den Gashahn auf, weil der Hausmeister Pohl und zwei starke Hel‐ fer ihn in wenigen Stunden auf die Straße setzen würden. Er starb wie geplant. Im Gegensatz zu Marlenes Eltern und den zwei klei‐ nen Brüdern, die gerne noch ein bisschen gelebt hätten. Die Gas‐ schwaden waren durch die rissige Trennwand nach nebenan ge‐ drungen. Am letzten Januarmontag des Jahres 1933 war die Beerdigung. Fredie hatte vorausgesehen, dass die Zeitungen wegen der publi‐ kumswirksamen Tragödie Reporter schicken würden und für Marlene beim Kleiderhändler ein paar alte Klamotten besorgt. So fiel sie nicht weiter auf und brauchte keine Fragen zu beantworten. Abends trug sie Seidenstrümpfe und Pelz. Herr Eulenfels hatte ins Jagdhaus gebeten. Franz Giese holte sie zu Hause ab. Er wartete mit gezogener Mütze am Wagenschlag der neuen Pullman‐Limousine. Seine Ledergamaschen glänzten. Marlene gab ihm die Hand: »Tach᾿chen, wie geht᾿s denn immer so?« »Ach danke. Kann nicht klagen.« Er nahm am Steuer Platz. Sie schob die Trennscheibe beiseite. »Na, nun sitzen Sie wenigs‐ tens nicht mehr im Freien.« Er schluckte, als wollte er etwas sagen. »Ist was?«, ermunterte sie ihn. »Weiß nicht.« Er fuhr an. »Na, nu kommen Sie. Wo wir uns schon solange kennen.« »Sie dürfen nicht böse sein.« »Ihnen kann man gar nicht böse sein, Herr Giese.« Er konzentrierte sich scheinbar angestrengt auf die Straße. Dann platzte er heraus: »Hab ᾿ne Wohnung in Schöneberg. Alles ganz proper. Ob Sie mich da wohl besuchen würden? Ich zahle. Genau wie Herr Eulenfels.« 330
»Is aba janz schön teuer. Unta hundertfuffzich Emm läuft nischt«, versuchte sie ihn abzuwimmeln. Er ließ die Limousine an den Straßenrand rollen und hielt. Mit ernstem Gesicht zählte er sechzehn Scheine aus der Brieftasche. Er reichte ihr die Banknoten nach hinten. »Einhundertundfünfzig Mark. Und ein Zehner extra fürs Taxi. Wäre Ihnen Sonntagabend angenehm? Hier ist meine Adresse.« Er gab ihr einen Zettel. Sonntag kam Fredie nie vor ein Uhr früh nach Hause. »Kame‐ radschaftsabend«, ließ er gelegentlich fallen, worunter sich Marlene nichts vorstellen konnte. »Sonntagabend, ja, in Ordnung.« Sie stopfte Geld und Zettel in die Handtasche. Am Nollendorffplatz wandte er sich um: »Die Fahrt dauert heute ᾿n bisschen länger. Sie haben die Linden und das Regierungs‐ viertel gesperrt, wegen dem Fackelzug für den neuen Reichskanz‐ ler.« Marlene war an Reichskanzlern nicht interessiert. Sie betrachtete Gieses Rücken, den steifen weißen Kragen, das graue Tuch der Chauffeurslivree, auf das die vorübergleitenden Leuchtreklamen bunte Flecken malten. Sie sah sein Gesicht im Spiegel. Ooch nich anders als die andern, dachte sie achselzuckend. Nach Mitternacht war sie weitere zweihundert Mark reicher. Sie hatte ein bisschen zu viel von Eulenfels᾿ 1926er Ruinart Père & Fils getrunken und sang auf der Heimfahrt eine Auswahl der Comedian Harmonists, wobei sie »Veronika, der Spargel wächst« deutlich bevorzugte. Fredie filzte wie gewöhnlich ihre Handtasche. »Dreihundert‐ sechzig Eier? Hast du Herrn Eulenfels ᾿ne Sondernummer gebo‐ ten?« Sie war zu beschwipst, um zu antworten. Früh um neun ging sie runter, um Schrippen zu holen. Beim Bäcker war ein lebhafter Diskurs im Gange. »Der Mann ist richtig. Der lässt sich vom Ausland nicht einschüchtern. Sie werden sehen, wie schnell der den Schandvertrag von Versailles aufkün‐ 331
digt.« Der pensionierte Studienrat Korff von nebenan blickte tri‐ umphierend in die Runde. »Und Sie werden sehen, — wie schnell dieser Herr Hitler alle einsperrt, deren Nase ihm nicht passt, zum Beispiel meine«, konterte sein Nebenmann Louis Silberstein, der Flötist bei den Philharmonikern war. »Können Sie in seinem scheußlichen Schinken ›Mein Kampf‹ nachlesen. Ich gehe zu Weingartner an die Wiener Oper. Ein halbes Weißbrot bitte.« »Er will Hindenburg in den wohlverdienten Ruhestand schicken und den Kaiser zurückholen«, wusste die Bäckersfrau. »Denn kommen endlich wieder die richtigen Leute an die Spitze.« »Sie meinen die Schwachköpfe ›von und zu‹, die statt Stamm‐ hirn einen Stammbaum haben?«, mokierte sich die Bildhauerin Anita Kolbe aus der Westendallee. »Vier blonde Schrippen bitte«, unterbrach Marlene die Künst‐ lerin. In der Wohnung erwarteten sie ein jüngerer und ein älterer Mann in Mantel und Hut. »Kommissar Eggebrecht und Kriminal‐ sekretär Meiser«, stellte der Altere vor. »Die Herren sind vom Sittendezernat«, erklärte Fredie gering‐ schätzig. Er war in Bademantel und Frisierhaube und gab sich eher ungehalten als besorgt. Es schien also keine unmittelbare Gefahr zu drohen. Der Kommissar räusperte sich. »Sie sind die Wohnungsinhabe‐ rin Marlene Kaschke?« »Und Sie sind ein Flegel«, konterte Marlene. »Nehmen Sie gefäl‐ ligst den Hut ab. Was wollen Sie hier überhaupt?« Eggebrecht nahm tatsächlich seinen Hut ab. »Ein Hausbewoh‐ ner hat Sie wegen unsittlichen Lebenswandels angezeigt.« »So einen Quatsch glauben Sie? Na, ich mach erst mal Früh‐ stück. Mögen Sie eine Tasse Kaffee?« Sie wollte in die Küche gehen. Meiser packte sie brutal beim Handgelenk. »Du bleibst hier und beantwortest unsere Fragen.« 332
Sie setzte einen spitzen Absatz auf seinen linken Fuß und drehte ihn langsam hin und her. Meiser schrie auf. »Benehmen Sie sich gefälligst, Sie Grobian«, wies sie ihn furchtlos zurecht. Der Krimi‐ nalsekretär hob wütend die Hand. »Lassen Sie das, Meiser«, bremste ihn der Kommissar. »Und wer bist du?« Meiser stieß Fredie mit jedem Wort zwei Finger in die Rippen. »Alfred Neubert, der Verlobte von Fräulein Kaschke. Sie haben kein Recht, hier so einfach einzudringen. Oder haben Sie einen richterlichen Durchsuchungsbefehl?« »Nicht frech werden, Jungchen.« Meiser stieß ihm wieder die Finger in die Rippen. Der Kommissar blieb höflich: »Fräulein Kaschke, Zeugen haben wiederholt Herrenbesuche bei Ihnen beobachtet.« »So? Was für angebliche Zeugen sollen das denn sein?«, fragte sie angriffslustig. »Ein gewisser Ebel aus dem dritten Stock«, erklärte Meiser. »Buchhalter mit bestem Leumund. Der Mann hat keinen Grund, sich das aus den Fingern zu saugen.« »Außerdem werden Sie häufig von Automobilen der Luxus‐ klasse, beziehungsweise mit dem Taxi abgeholt«, fuhr Kommissar Eggebrecht fort. »Um Kunden zu besuchen, vermute ich.« »Da vermuten Sie richtig«, sagte Fredie lässig. »Als Fremdspra‐ chensekretärin arbeitet meine Verlobte selbstredend auch außer Haus.« »Der Lude will uns für dumm verkaufen!«, rief Meiser aufge‐ bracht. »Ich kann Sie gerne mit dem Preußischen Innenministerium verbinden«, sagte Fredie kalt. »Regierungsrat Dr. Noack hat es selbstverständlich nicht nötig, einem frechen kleinen Rotzpolizis‐ ten wie Ihnen Auskunft zu geben. Dem Herrn Kommissar wird er gerne bestätigen, dass das Ministerium Fräulein Kaschke Überset‐ zungsaufträge erteilt und sie auch internationalen Kunden emp‐ 333
fiehlt, welche Fräulein Kaschke hier aufsuchen, beziehungsweise in ihre Geschäftsräume oder ins Hotel abholen lassen.« Fredie griff zum Telefon. Der Kommissar winkte ab. »Nicht nötig, Herr Neubert. Bitte entschuldigen Sie uns, Fräulein Kaschke. Kommen Sie, Meiser.« Die Beamten gingen. Marlene fiel Fredie um den Hals. »Mann, das war Klasse! Wie du das hingekriegt hast. Aber was, wenn die wiederkommen?« »Lass mich das machen.« Fredie wählte eine Nummer. »Hier Neubert. Verbinden Sie mich mit Herrn Regierungsrat Dr. Noack. Hallo? Guten Morgen, Herr Major. Ein großer Sieg für uns alle, nicht wahr? Und jetzt wird aufgeräumt. Mit Typen wie einem gewissen Kriminalsekretär Meiser vom Sittendezernat zum Bei‐ spiel. Der wagte es tatsächlich, daran zu zweifeln, dass Sie meine Verlobte Fräulein Kaschke als Fremdsprachensekretärin empfeh‐ len. Der Mann ist Sozialdemokrat oder noch Schlimmeres. Mög‐ lich, dass sein Vorgesetzter Kommissar Eggebrecht bei Ihnen nach‐ fragt. Den sollten Sie mal gehörig über seinen Untergebenen aufklären. Heil Hitler, Herr Major.« Zufrieden legte Fredie auf. Marlene kicherte. »Heil was?« Fredie griente. »Heil Hitler. So lässt sich der neue Reichskanzler grüßen. Der Mann ist Österreicher und spinnt ein bisschen. Vor‐ sichtshalber bin ich Mitglied in seinem Verein geworden. Noack ist da übrigens schon länger bei. Man muss immer aufs richtige Pferd setzen.« Sie drängte sich an ihn. »Heute hab ich richtig Lust auf dich.« »Na dann komm«, gestattete er. Am Mittwoch wurde der Buchhalter Ebel, ein säuerlicher Junggeselle, auf dem Heimweg von einem Trupp Braunhemden überfallen und zusammengeschlagen. Er starb auf dem Weg ins Westendkrankenhaus. Marlene erfuhr nichts von dem Zwischen‐ fall. 334
Im Hausflur roch es kernig nach Schmierseife. Aus einer Parterre‐ wohnung drang Kindergeschrei. Marlene stieg die Treppen hinauf. »Giese« las sie in schwarzer Schnörkelschrift auf einem ovalen weißen Emailschild im zweiten Stock. Sie drückte den Klingelknopf daneben. Franz Giese öffnete sofort. Er war im dunklen Anzug, mit hell‐ grauer Krawatte, er hatte das wohl Herrn Eulenfels abgesehen. »Da hat sich aber einer feingemacht.« Verlegen sah er zu Boden. »Darf man reinkommen?« Vom runden Esstisch im Wohnzimmer leuchteten Tulpen, ein Luxus um diese Jahreszeit. Die Stühle rings‐ herum hatten dunkelrote Samtpolster. Auf der Nussbaumanrichte stand eine Flasche Wein. Darüber röhrte goldgerahmt ein Hirsch im Herbstwald. Spitzendeckchen zierten das Plüschsofa. Am Fenster prangte eine Zimmerlinde. Alles war sauber und adrett. Er benützt das Wohnzimmer sonst nie, dachte sie. Franz Giese entkorkte die Flasche. »Ein Glas Piesporter zur Be‐ grüßung? Is wirklich nett, dass Sie gekommen sind.« Dafür haben Sie ja auch ᾿ne Menge bezahlt, verkniff sie sich in letzter Sekunde. »Hübsch haben Sie᾿s hier, so richtig gemütlich.« Sie versuchte, sich sein Schlafzimmer vorzustellen. Sicher dunkle Eiche, mit leichtem Moderduft in den Kissen. Na, sie würde es in Kürze kennen lernen, dazu hatte er sie ja schließlich eingeladen. Sie war gespannt, wann er zur Sache kommen würde. Manche Kunden waren sehr zielstrebig, andere brauchten einen längeren Anlauf. In hoffnungslosen Fällen ergriff sie selber die Initiative. Sie setzten sich. »Prost.« Er hob sein Glas, stellte es ab, ohne ge‐ trunken zu haben, drehte es hin und her. Das sah nach einem mühsamen Anfang aus. »Ihr Wohl, Herr Giese. Soso, aus Breslau kommen Sie?«, machte sie den Eröffnungszug. »Mit ᾿nem kleinen Umweg über Frankreich. Hab da das Ende vom Schlamassel mitgemacht. Von dort befahlen sie das Regi‐ ment direkt nach Berlin. Wir sollten gegen die Aufständischen 335
vorgehen.« Er sprach ruhig und bedächtig. »Die meisten von uns weigerten sich, auf Landsleute zu schießen. Der Kommandeur war außer sich. Er schrie was von Befehlsverweigerung und be‐ schimpfte uns als Deserteure. ›Was Majestät kann, können wir schon lange‹, sagte ich ihm ins Gesicht. Bis er Luft kriegte, war ich längst weg. Na, ich blieb in Berlin. Ich arbeitete als Monteur in ᾿ner Werkstatt für Lastkraftwagen, det hatte ich bei Preußens gelernt. Denn wurde ich Lieferfahrer bei Tietz und nu bin ich Chauffeur von Herrn Eulenfels. Die Stellung hat mir unser Ortsverein besorgt. Ich bin nämlich Sozi, müssen Sie wissen.« »Ein richtiger Roter?« »Nicht ganz. Wir Reformsozialisten wollen keinem was weg‐ nehmen, nur weil er mehr hat. Wir wollen, dass es unsereins bes‐ ser geht, ohne dass deswegen ᾿nem anderen was fehlt.« Er holte Teller, Besteck und Papierservietten aus der Anrichte. »Hoffentlich mögen Sie Schweinekoteletts.« Marlene war verblüfft. Mit einer Einladung zum Essen hatte sie nicht gerechnet. »Dazu gibt᾿s jrüne Erbsen. Die kriegt man fertig in der Dose. Ich bin kein großer Koch. Bin gleich wieder da. Trinken Sie inzwi‐ schen soviel Sie wollen. Ich hab ᾿ne Flasche in Reserve.« Er ver‐ schwand. Aus der Küche hörte sie Töpfe scheppern und das Brut‐ zeln von Fleisch. Die Salzkartoffeln waren zu Würfeln geschnitten. Marlene gluckste. »Kartoffelschälen ist wohl nicht gerade Ihre Stärke.« »Hier fehlt eben ᾿ne Hausfrau.« Zum Nachtisch brachte er eine Torte herein, auf die der Kon‐ ditor in weißem Zuckerguss »Marlene« gemalt hatte. Gespannt wartete er auf ihre Reaktion. »Hab erst im Juni Geburtstag«, wehrte sie ab. »Macht nischt. Ein Käffchen dazu und ᾿nen Kirsch von Mampe?« Sie warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr. Es musste drin‐ gend was passieren, damit sie rechtzeitig zu Hause sein würde. 336
»Danke, keinen Kaffee. Und den Kirsch trinken wir im Schlaf‐ zimmer.« Franz Giese brauchte einen Moment, bis er kapierte. »Sie glaub‐ ten, ich hätte Sie eingeladen, weil ich ... « Die Rübenstraße schlug bei ihr durch: »Für hundertfuffzich Eier und ᾿nen Zehner Taxigeld keen janz abwegijer Jedanke, oda?« »An sowas hätte ich nie gedacht. Ich wollte Sie einfach sehen. Ich finde Sie nämlich sehr nett. Ich hoffe, sobald Sie mich besser kennen ... Fräulein Marlene, ich hab ehrliche Absichten, wenn Sie wissen, was ich meine.« »Ach was, nenn᾿se mich einfach Lene.« Sie war gerührt. Sie schluckte ein paarmal, weil es ihr nicht leicht fiel, ihn zu enttäu‐ schen. »Ich hab schon wen, Herr Giese.« Er widmete sich mit ernstem Gesicht seinem Stück Torte. »Ich dachte an ein kleines Fuhrunternehmen. Zu Beginn mit ᾿nem Dreiradwagen, der hat ᾿ne erstaunlich geräumige Ladefläche. Spä‐ ter vergrößern wir uns auf ᾿nen Dreiachser und stellen einen Fah‐ rer ein. Keine große Zukunft, aber ein anständiges Auskommen.« »Ich bin aus der Rübenstraße. Kennen Sie die?« »Moabit. Ziemlich miese Gegend.« »Noch viel mieser. Da komm᾿ die Jören mit Jummiknochen uff die Welt, wejen det fehlende Obst und Jemüse. Wenn de da nich schleunigst machst, dass de rauskommst, jehste ein wie ᾿n Priemel‐ topp.« Sie fiel ins Hochdeutsche: »Fredie hat mich da rausgeholt. Wir sind zusammen durch ᾿ne Menge Dreck gewatet, aber die Aussichten sind gut. Fredie kennt die richtigen Leute. Er wird Karriere machen, und ich will dabei sein.« »Wird er Sie heiraten?« »Heiraten, ist das so wichtig?« Sie wusste genau, wie wichtig es ihr war. »Ich möchte, dass Sie meine Frau werden.« Sie weinte ein kleines bisschen. Dann musste sie lachen, weil er das Schnupftuch nicht aus der Brusttasche kriegte, er hatte es 337
in Falten gelegt und mit einer Sicherheitsnadel festgesteckt. Sie schnauzte sich stattdessen kräftig in ihre Papierserviette. »Es bleibt trotzdem dabei«, sagte er fest. »Ich möchte Sie heiraten.« »... erkläre ich Sie hiermit zu Mann und Frau und darf Ihnen als erster meine Glückwünsche aussprechen.« Der Standesbeamte reichte den frisch Vermählten die Hand. Durch die hohen Fenster des getäfelten Raumes drang strahlende Junisonne und fing sich in Großmutter Mines weißem Spitzenschal. Marlene hatte ihn aufs blonde Haar gelegt. Sie vergrub das Gesicht im duftenden Brautbouquet. Sie tastete nach der Hand des Bräutigams. Sie konnte es noch immer nicht fassen, seine fast beiläufige Frage vor drei Wochen, ihre zögernde Antwort, das Aufgebot. Alles würde nun anders werden, nein, viel besser, ach Quatsch: richtig gut! Fredie sah fabelhaft aus im hellen Sommeranzug. Er war in letz‐ ter Zeit anders als früher, richtig nett und zuvorkommend. Er brachte ihr neuerdings Blumen und kleine Geschenke und führte sie aus. »Wenn ich um Ihre Unterschriften bitten darf?« Der Standes‐ beamte wartete am Pult unter dem Bildnis des Reichspräsidenten. Fredie unterzeichnete schwungvoll. Sie schrieb langsam in ihrer Kleinmädchenschrift »Marlene Neubert, geborene Kaschke.« Es war wie im Traum, nur viel schöner. Die beiden Trauzeugen waren an der Reihe: der binnen weniger Monate vom Regierungsrat zum Ministerialdirigenten avancierte Dr. Friedhelm Noack und Frau Hermine Anders, seine Sekretärin. Noack hatte zur Feier des Tages eine Knopflochnelke angelegt und gab sich jovial. Er küsste Marlene auf die Wange. »Ich hoffe, die Braut bleibt mir weiterhin gewogen.« Sie wusste, was er meinte. Er hatte ihnen das Hochzeitsfrühstück bei Horcher in der Lutherstraße ausgerichtet, Marlene fragte sich verwundert, warum. »Auf euer Wohl, Kinder«, prostete er ihnen zu. 338
»Danke gehorsamst, Herr Obersturmbannführer!« Fredie redete seinen Mentor mit dessen neuem Dienstgrad an, der in etwa einem Oberstleutnant entsprach. »Eine Menge Arbeit liegt vor uns. Der Führer braucht jeden an seinem Platz. Auch Sie, liebe Frau Marlene.« Die Schildkröten‐ suppe wurde unaufhaltsam kalt, während Noack sich in ausführ‐ lichen Betrachtungen über das neue Deutschland erging. Wat für ᾿n Stuss er redet, dachte sie. Dr. Noack war Mitbegründer der neuen Geheimen Staatspolizei. Er hatte Fredie zu sich ins Amt geholt und der Abteilung für besondere Aufgaben zugeteilt. Das bedeutete Besoldungsgruppe IIIc und war mit dem Rang eines SS‐Hauptsturmführers verbun‐ den, das kam einem Hauptmann gleich. Marlene blieb unbeein‐ druckt: »Hauptsache, die Kohlen stimmen.« Die stimmten offenbar; denn wie anders hätten sie sich die neue Wohnung leisten können, ein Haus am Kleinen Wannsee, mit gro‐ ßer Küche und Kachelbad, den Garten bis runter zum Wasser. Sie hatte entzückt in die Hände geklatscht. »Dass es sowas gibt. Was für Glückliche wohnten denn vor uns hier?« »Jüdische Koofmichs. Aber die sind jetzt weg, genau wie dein Eulenfels.« Sie hatten Eulenfels gezwungen, sein Verlagsimperium für einen Bruchteil des Wertes zu verkaufen. Mit dem Rest war er nach London übergesiedelt. »Ein kultivierter Mann, der Herr Eulenfels. Er war sehr nett zu mir«, nahm sie ihren einstigen Kunden in Schutz. Marlene ließ sich vorsichtig vom Steg ins Wasser. Es reichte ihr bis zu den Schultern, wenn sie sich auf die unterste Sprosse der Lei‐ter wagte. Schwimmen konnte sie nicht. Dennoch genoss sie die sommerliche Wärme des Kleinen Wannsees. Sie juchzte, als die Heckwelle eines vorbeirauschenden Motorbootes sie anhob. Sie kletterte wieder auf den Steg. Zeit, das Mittagessen vorzubereiten. Fredie kam sonnabends früher aus dem Amt. Sie fühlte sich glück‐ 339
lich und frei in der neuen Umgebung, Lichtjahre entfernt vom Elend der Rübenstraße und den Wünschen zahlender Herren. Sie war nur noch für ihren Mann da und für ihr eigenes Heim. Sogar der Gedanke an ein Kind schwebte ihr vor. Sie würde mit Fredie reden. Um eins hielt vorm Haus ein offener silbergrauer »Horch« mit SS‐Kennzeichen, Dienstwagen des Obersturmbannführers Dr. Noack, der heute schwarze Uniform trug. Fredie bevorzugte einen rohseidenen weißen Anzug, er hatte wegen seiner besonderen Aufgaben Kostümfreiheit. »Bezaubernd.« Noacks Blicke sogen sich an ihrer Figur fest. Sie hatte keinen Besuch erwartet und lediglich eine Schürze über den Badeanzug gebunden. Im Schlafzimmer streifte sie den Badeanzug ab und schlüpfte flink in ein leichtes Sommerkleid. Sie legte ein drittes Gedeck auf. Man aß im Garten unter einer alten Birke. Es gab gefüllte Paprikaschoten mit Reis und einen leichten Mosel. Marlene hatte sich einige Kochkenntnisse angeeignet. Sie nahm ihre Pflichten als Hausfrau ernst. Beim Kaffee wurde Dr. Noack dienstlich: »Wie Sie sich ge‐wiss denken können, bin ich eigentlich nicht zum Essen gekommen, für das ich mich im Übrigen sehr bedanke, es war vorzüglich. Ihr Mann hat mich gebeten, Ihnen zu erläutern, was wir von Ihnen erwarten.« Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Noack nahm zwei Löffel Zucker und rührte gemächlich um. »Es geht um Eddie Talberg, den Kommunistenhäuptling. Ein gefährlicher Feind des deutschen Volkes, gegen den Haftbefehl erlassen wurde. Er hat Wind davon bekommen und ist unterge‐ taucht. Einer weiß mit Sicherheit, wo sich Talberg verborgen hält: sein Freund, der Schriftsteller Dr. Erwin Kastner, einer dieser jüdisch infizierten Intellektuellen und Nestbeschmutzer, den wir bisher verschont haben. Kastner sitzt jeden Nachmittag im Romanischen Café. Sie werden dort seine Bekanntschaft machen 340
und ihm Talbergs Versteck entlocken. Von Ihrem Erfolg hängt nicht zuletzt die Karriere Ihres Mannes ab, der Ihnen die Einzel‐ heiten auseinander setzen wird.« Noack stand auf und ging ins Haus. »Fredie, was soll das?« »Es wird dir bestimmt nicht schwer fallen, Kastner im Romani‐ schen kennen zu lernen.« »Na schön. Ich lerne diesen Dr. Kastner scheinbar zufällig ken‐ nen. Und weiter? Soll ich ihn fragen: ›Ach bitte, wo hält sich Ihr Freund Talberg versteckt?‹« »Im Bett reden sie alle.« Sie brauchte einige Sekunden, bis ihr klar wurde, was er von ihr verlangte. »Da mache ich nicht mit,« sagte sie entschlossen. »Du machst, was ich will.« Er drückte sie gegen den Stamm der alten Birke. Noack beobachtete die Szene vom Fenster des Ar‐ beitszimmers. Fredie schob ihr dünnes Kleid bis zu den Hüften hoch. Darunter war sie nackt. Er hob ihr linkes Knie und nahm sie heftig im Stehen. Sie schrie wie ein Tier. Als er mit ihr fertig war, drehte er ihr brutal einen Arm auf den Rücken und führte sie ins Haus. Noack saß auf der Couch. Fredie zwang sie vor ihm auf die Knie. »Na los, mach schon«, befahl er. Hinterher lief sie zum Gurgeln ins Bad und duschte. Fredie reichte ihr ein Handtuch. »Ist doch halb so schlimm, Mädel.« Be‐ gütigend klopfte er ihr auf den Po. »Noack kann uns unbegrenzt fördern, wenn du mitspielst. Also stell dich nicht so an.« »Warum hast du mich geheiratet?«, fragte sie gequält. »᾿ne Dauerverlobte mit wechselnden Herrenbekanntschaften widerspricht dem gesunden deutschen Volksempfinden. Bei den neuen Stenzen geht᾿s nach außen anständig zu.« Sie zog einen leichten Pulli an, weite hellgraue Flanellhosen, Sandalen. Sie sah sich im Spiegel, eine hübsche junge, modisch ge‐ kleidete Ehefrau mit aufstrebendem Gatten und einer Wohnung in bester Lage. So musste es jedem unbeteiligten Zuschauer erschei‐ 341
nen. »Und doch nischt als ᾿ne kleene Nutte«, schleuderte sie ihrem Spiegelbild ins Gesicht. Fredie las den Lokalanzeiger im Liegestuhl auf der Terrasse. »Fa‐ belhaft«, rief er. »Es gibt bei uns schon eineinhalb Millionen Autos. Jeder zweiundvierzigste Deutsche hat eines. Was hältst du von einem DKW Cabriolet?« »Was hältst du von der S‐Bahn?«, holte sie ihn in die Wirklich‐ keit zurück. »Mit der fährst du in die Stadt und besorgst mir ein paar Bücher von diesem Erwin Kastner. Ich gehöre nämlich ab so‐ fort zu seinen begeisterten Leserinnen.« »Erstaunlich, was ein paar Freiübungen am Birkenstamm so be‐ wirken«, spottete er. »Irgendwann bringe ich dich um, Fredie«, erwiderte sie ruhig. Sie las in letzter Zeit viel. Sie saugte wahllos auf, was Stefan Zweig, Hedwig Courths‐Mahler, Theodor Fontane, Thea von Harbou und viele andere geschrieben hatten. Die vormaligen Hausbesitzer hatten ihre Bibliothek zurückgelassen. An Erwin Kastners »Ver‐ wandtenbesuch«, seinem »Guckkasten« und dem »Brevier einer Giraffe« las sie zwei Tage und eine halbe Nacht. Es waren bissige Kommentare zum Zeitgeschehen. Marlene ahnte mehr als sie ver‐ stand, dass hier jemand Risse in pompöse Fassaden schlug. Am Dienstag fuhr sie in die Stadt, eine schicke Berlinerin, groß und schlank, mit modischer blonder Wasserwelle. Sie erntete bewundernde Männerblicke und parierte schlagfertig einige An‐ näherungsversuche. Sie kaufte bei Stiller ein Paar Schuhe und im Kaufhaus Wertheim Strümpfe aus Kunstseide. Bei Aschinger ge‐ nehmigte sie sich ein Paar Würstchen. Nachmittags betrat sie das Romanische Café an der Kaiser‐Wilhelm‐Gedächtniskirche. Der Autor war auf dem Schutzumschlag eines seiner Bücher ab‐ gebildet. Sie erkannte ihn gleich. Erwin Kastner war ein adretter kleiner Herr mit gewelltem grauem Haar. Er hatte nichts Bohéme‐ haftes an sich, sondern wirkte in seinem sorgfältig gebügelten An‐ 342
zug wie ein freundlicher Gymnasiallehrer. Er saß an einem Mar‐ mortischchen vor einem Dutzend gut gespitzter Bleistifte und ei‐ nem linierten Schreibblock, den er mit zierlicher Schrift bedeckte. Marlene beobachtete ihn vom Nebentisch. Ab und zu hob er den Kopf, als suchte er in der Ferne nach dem Fortgang seiner Ge‐ schichte. Sie winkte dem Ober und gab ihm ein Buch. »Bringen Sie das bitte Herrn Dr. Kastner.« Der Ober tat wie geheißen und legte den »Verwandtenbesuch« mit ein paar Worten vor den Empfänger. Diskret wies er auf Marlene. Sie hatte einen Zettel eingelegt: »Ich heiße Marlene Neubert. Die Figur des Arnold Wagenfeldt gefällt mir besonders gut. Darf ich um eine Widmung bitten?« Kastner schrieb ein paar Worte ins Buch und reichte es dem Ober. »Für Marlene Neubert von Arnold Wagenfeldt, der in die‐ sem Buch nicht vorkommt«, las sie. Sie hatte Erwin Kastners »Verwandtenbesuch« mit seinem »Brevier einer Giraffe« verwech‐ selt. Diesmal erwiderte er ihren Blick. Ein belustigter Zug spielte um seine Mundwinkel. Sie hob entschuldigend die Schultern und zahlte. Ein glattgescheitelter Blonder legte den Zeitungshalter mit der Vossischen aus der Hand und folgte ihr. Er war ihr schon stadt‐ einwärts in der S‐Bahn aufgefallen. »Hab im ›Romanischen‹ Kontakt mit Kastner aufgenommen«, meldete sie Fredie am Abend. »Na, das weißt du ja schon.« »Für Marlene Neubert, meiner bezaubernden jungen Leserin, Erwin Kastner, September 1933«, stand im »Brevier einer Giraffe«, das der Ober Marlene am nächsten Nachmittag an den Tisch brachte und zugleich ausrichtete: »Herr Dr. Kastner lässt fragen, ob er Sie zu einem Tee einladen darf.« Der Schriftsteller erhob sich höflich. Er reichte Marlene bis zu den Schultern. »Das ist sehr nett von Ihnen. Bitte, nehmen Sie Platz. Kommen Sie öfter hierher?« 343
»Gestern das erste Mal. Ich wollte Sie kennen lernen.« »Was Ihnen vortrefflich gelungen ist. Einen Chinatee?« »Lieber einen Kaffee.« »Und warum wollten Sie mich kennen lernen?« »Nehmen wir einfach an, ich mag reife Männer.« »Einfach so?« »Ich erkläre es Ihnen morgen, wenn Sie mich zu sich einladen. Hier gibt᾿s zuviele gespitzte Ohren.« »Genügt meine Sammlung von Erstausgaben als Vorwand? Ich wohne am Bayerischen Platz. Ist Ihnen vier Uhr recht?« Er gab ihr seine Karte. Marlene händigte Fredie abends die Karte aus. »Er hat mich morgen zu sich eingeladen.« »Spiel ihm die glühende Jungkommunistin vor, die ihrem Idol Talberg helfen möchte.« »Kastner ist kein Dummkopf.« »Du wirst ihn schon rumkriegen, mit deinen Fähigkeiten im Bett.« »Macht es dir eigentlich gar nichts aus, dass ich mit anderen Männern schlafe?« »Nein. Wieso?«, war seine erstaunte Antwort. Erwin Kastner bereitete den Kaffee in einem doppelten Glasballon über einer Spiritusflamme. Fasziniert sah Marlene, wie das Wasser stieg und als dunkelbraunes Gebräu wieder herabfloss. »Als Junggeselle braucht man kleine Haushaltshilfen wie diese«, entschuldigte sich ihr Gastgeber. Sie wies auf die Bücherwände ringsum. »Haben Sie die alle ge‐ lesen?« »Die meisten. Nehmen Sie Zucker?« »Ja, bitte. Und wieviele davon haben Sie geschrieben?« »Ein knappes Dutzend.« »Macht es Spaß, das Schreiben?« 344
»Es ist eine Höllenarbeit, vor der ich mich drücke, sobald sich ein guter Vorwand findet. Bleistiftanspitzen zum Beispiel. Damit kann ich einen ganzen Vormittag zubringen, ohne eine Zeile zu Papier zu bringen. Einfach wunderbar.« Sie musterte ihn prüfend. Sie wusste nicht recht, ob er es ernst meinte. »Was schreiben Sie denn zur Zeit?« »Ein Kinderbuch. Für Erwachsene zu schreiben, hat man mir verboten. Ich könnte nach Österreich ausweichen. In Wien soll es sehr schöne Cafehäuser geben. Aber ich mag nun mal das Roma‐ nische‹ und meine Wohnung hier.« »Ein richtiges Buch für Kinder?« »Es heißt ›Die Schlange Lucie‹ und handelt von einer Anaconda, die aus dem Zoo entwischt ist. Eine Schulklasse schützt sie vor den Suchkommandos der Tierwärter.« »Wie Sie Ihren Freund.« »Was für einen Freund?«, fragte er beunruhigt. »Eddie Talberg, der Kommunistenführer. Die Geheime Staats‐ polizei will wissen, wo er sich versteckt hält.« »Sie sind entweder sehr schlau oder sehr dumm, meine Beste.« »Weder noch. Ich möchte nur keinen ans Messer liefern, am we‐ nigsten mich selber.« »Sie können Ihren Auftraggebern ausrichten, dass Talberg seit einer Woche in Warschau ist, auf dem Weg nach Moskau.« »Spielverderber«, beklagte sie sich lächelnd. »Inwiefern?« »Ich sollte Ihnen diese Information nicht bei einer Tasse Kaffee entlocken, sondern im Bett.« Er küsste ihr die Hand. »So bleibt Ihnen eine Enttäuschung erspart und mir eine charmante Bewunderin erhalten. Darf ich fragen, warum Sie den neuen Machthabern zuarbeiten?« »Dürfen Sie nicht«, stieß sie heftig hervor. »Überhaupt muss ich jetzt gehen.« »Gute Arbeit, auch wenn uns Talberg entwischt ist«, lobte Dr. 345
Noack. Er war zum Abendessen gekommen. »Dafür sollten Sie Ihre Frau belohnen, Hauptsturmführer.« Fredie nahm Marlene auf dem Teppich. Dann zwang er sie zwi‐ schen Noacks Knie. Teilnahmslos tat sie, was von ihr erwartet wurde. Fredie war an diesem Junimorgen beim Ankleiden: hellgraue Kammgarnhose, weißes Hemd, blauer Baumwollbinder. Marlene reichte ihm das leichte cremefarbene Leinenjackett. Kein Mensch hätte in dem eleganten Mittzwanziger einen Angehörigen der Ge‐ heimen Staatspolizei vermutet. »Willst du Rühr‐ oder Spiegelei?« »Rührei bitte. Und eine Butterschrippe.« »Der Kaffee ist fertig. Das Rührei kommt sofort. Ich hol inzwi‐ schen die Zeitungen rein.« Die Welt war in Ordnung. Das Grund‐ stück am Wasser, die hübsche geräumige Wohnung, das Frühstück mit dem Ehemann, es waren sonnige Bilder wie dieses, welche ihr Glück und Zufriedenheit vorgaukelten. Die Zeitungen ragten aus dem Briefkasten am Gartenzaun, der Völkische Beobachter, offizielles und darum ungenießbares Parteior‐ gan. Und die Morgenpost, die sich, von einigen politischen Pflicht‐ übungen abgesehen, bislang ihre bürgerliche Gemütlichkeit be‐ wahrt hatte. Fredie telefonierte. »Jawohl, Obersturmbannführer, Hotel Bris‐ tol, Zimmer 221. Ich garantiere eine schnelle, reibungslose Erledi‐ gung. Vollzugsmeldung an Sie persönlich. Ende.« »Möchtest du im Garten frühstücken?« »Meine Uniform. Na los, mach schon.« Er ließ das Jackett fallen, riss den Binder vom Hals, zog die Hose aus. Sie half ihm in die schwarzen Breeches von Benedict und schob die Haken in die Laschen der smarten Reitstiefel von Mahlmeister, damit er sie über die Waden ziehen konnte. Fredie verabscheute Uniform. Da sie sich zuweilen nicht vermeiden ließ, sollte sie wenigstens maßgefertigt sein. 346
»Fredie, was ist los?« Er legte Koppel und Schulterriemen an, nahm die 7.65er Mauser aus der Schreibtischlade und steckte sie ins Futteral. »Zieh das schwarze Kleid mit der weißen Schürze an«, befahl er. »Vergiss das Spitzenhäubchen nicht. Beeil dich.« Sie hatte das Kostüm zuletzt für einen Gast getragen, der es liebte, vom Dienstmädchen mit dem Staubwedel gekitzelt zu werden. Wollte Fredie sie zu einem Kunden mit ähnlichen Vorlieben bringen? Aber wozu Uniform und Pistole? Eine unerklärliche Angst beschlich sie. Während sie die Nähte der Strümpfe richtete, bugsierte er den Ford aus der Garage. Der Wagen stammte aus dem Nachlass eines kommunistischen Reichstagsabgeordneten, den sie in der »Schutzhaft« totgeschlagen hatten. Sie betraten das Bristol durch einen Seiteneingang. Fredie stürmte zur Hintertreppe. Seit seinen Tagen als Hotelboy kannte er hier jeden Winkel. Auf der zweiten Etage rollte ein Zimmer‐ kellner seinen Servierwagen vorbei. Fredie hielt ihn an. »Den übernehme ich.« »Das ist das Frühstück für 230.« »Jetzt ist es das Frühstück für 221.« »Sie können doch nicht so einfach... « Fredie zog die Pistole und lud durch. »Ihren Etagenschlüssel.« Bleich nestelte der Mann den Schlüssel von der Kette. »Verschwinden Sie.« Kopflos stürzte der Kellner davon. Fredie schob Marlene den Wagen zu. Er senkte die Stimme. »Du klopfst an Tür 221, schließt auf und sagst laut: ›Das Zimmermäd‐ chen mit dem Frühstück.«* Er gab ihr den Schlüssel. »Du schiebst den Wagen rein und machst, dass du zur Seite kommst. Los.« Sie gehorchte, obwohl sie ahnte, dass etwas Schreckliches passieren würde. »Das Zimmermädchen mit dem Frühstück«, hörte sie von fern ihre eigene Stimme. Sie schob den Servierwagen ins Zimmer. Am Boden verstreut lagen braune Uniformteile. Im Bett lagen zwei 347
Männer, ein hübscher junger Blonder und ein älterer, dunkelhaa‐ riger. Der Altere setzte seine Brille auf. »Haben Sie auch den Orangensaft nicht vergessen, mein Kind?« Fredie stand plötzlich am Fußende. »Raus aus dem Bett!«, herrschte er den Jungen an. Der gehorchte zitternd. Fredie hob die Pistole. Er sah das angstverzerrte Gesicht des Mannes im Bett. Für ihn war es das glatte, selbstzufriedene Gesicht des Päderasten Trevellyan. Die Schüsse dröhnten schmerzhaft in Marlenes Ohren. Der Mann warf sich hin und her, während Fredie kaltblütig das Magazin auf ihn leerte. Schließlich fiel er in sich zusammen. Das Bett färbte sich rot. Der nackte Junge stand weinend in einer Ecke. »Zieh dich an und verschwinde«, sagte Fredie unerwartet sanft. »Komm, Lene.« »SA‐Stabschef Röhm vom Führer persönlich verhaftet. 7 weitere verräterische SA‐Führer bei abartigen Gelagen in Bad Wiessee und Berlin festgenommen und standrechtlich erschossen«, mel‐ dete die Abendausgabe. Fredie ließ die Zeitung zu Boden fallen und griff gut gelaunt nach dem Cognac. »Sie werden Noack befördern. Dafür wird er sich erkenntlich zeigen.« Standartenführer Dr. Noack ließ sich damit Zeit. Er hatte viele neue Aufträge. Dann schob Fredie seine 7.65 er Mauser in den Toilettenbeutel und blieb oft tagelang fort. Marlene stellte keine Fragen, weil sie die Antwort nicht hören mochte. Stattdessen flüchtete sie sich in ihren Traum. Sie schwebte schwerelos durch ein wunderschönes Lichtspieltheater und wies den Besuchern ihre Plätze an. Sie trug eine scharlachrote Uniform mit goldenen Schnüren. Ihr voraus schwebte ein Bauchladen voll Vanilleeis am Stiel, von dem sie schlecken durfte, soviel sie wollte. Ringsum waren lauter nette Menschen. Sobald sie erwachte, fand sie sich im kalten Licht der Wirklich‐ keit wieder. Die Wirklichkeit, das waren Fremde, denen Fredie sie auslieferte, wenn es seinen und seines Chefs Zielen nützte. Die 348
Wirklichkeit waren Fredies Übergriffe. Ihr Körper gierte danach, während ihr Verstand sie verachtete. Einziger Hoffnungsschimmer waren die unbeschwerten Stun‐ den mit Frank Saunders. Aber auch er erinnerte sie gelegentlich an die Wahrheit, indem er ihr das Honorar gedankenlos in die Hand gab, statt es diskret in ihre Handtasche zu stecken. Frank Saunders wohnte in der Tiergartenstraße. Der Weg zu ihm führte Marlene auch an diesem Dienstag ein Stück durch den Park. Hinter den Büschen hörte sie Johlen und Lachen. An einen Baum gebunden stand weinend ein etwa zehnjähriger Junge. Eine Horde Halbwüchsiger tanzte um ihn herum. Sie hatten ihm Hose und Unterhose runtergezogen. »Jude, Jude!«, sangen sie im Takt und spuckten auf sein kleines beschnittenes Glied. Am Neuen See hatte sie einen Polizisten passiert, der gerade seine Runde machte. Sie lief, ihn zu holen. Er legte keine beson‐ dere Eile an den Tag. »Tun Sie was!«, rief sie angesichts der ab‐ scheuliche Szene. »Er rührte keinen Finger«, empörte sich Marlene bei Saunders. »Zum Glück kam ein junger Parkwächter vorbei. Der griff sich den Anführer und schüttelte ihn kräftig durch. Und weißt du, was der Bengel schrie: ›Euch Judenfreunde kriegen wir alle.‹ Na, ich band den Kleinen los und tröstete ihn so gut ich konnte. Schreib das mal in deiner amerikanischen Zeitung. In unseren Blättern darf man das ja nicht.« Saunders war wenig beeindruckt. »Für sowas interessiert sich bei uns kein Mensch. Außerdem wollen wir die guten Beziehun‐ gen zu unseren deutschen Gastgebern nicht mit der Schilderung so einer Dumme‐Jungen‐Geschichte belasten.« »Wie dicke muss det eijentlich kommen, bis ihr da draußen uff‐ wacht?«, wunderte sich Marlene. »Die Welt ist hellwach, Sweetheart. Sie bewundert euren bei‐ spiellosen Aufschwung. Antisemitische Strömungen gibt es über‐ all und hat es zu allen Zeiten gegeben. Die Nazis bekennen sich 349
wenigstens dazu.« Er zog sie an sich. »Im Übrigen weiß ich jetzt ein viel hübscheres Thema.« »Dafür zahl᾿ste ja«, sagte sie trocken. »Ton Français n᾿est pas mal«, stellte Fredie eines Abends fest. Er war spät von einer Besprechung aus dem Amt gekommen. »Weißt du noch, wie du mit mir gepaukt hast? Ich sollte es ein bisschen aufpolieren, was meinst du?« »Dazu wirst du in Kürze Gelegenheit haben. Er heißt André Favarel und spricht kaum Deutsch. Er tritt nächsten Monat seinen Posten als französischer Militärattache an. Dr. Noack meint, wir sollten ihn beizeiten freundlich stimmen.« »Ich soll mit ihm ins Bett.« »Nicht direkt. Du wirst Favarel beim Five O᾿Clock im Eden kennen lernen. Er mag junge blonde Frauen mit einem gewissen Touch.« »Mit was für ᾿nein Touch?« »Nach unseren Informationen bevorzugt Colonel Favarel eine strenge Behandlung. Wir haben den Blauen Salon bei Kitty gemie‐ tet. Der ist für verborgene Kameras eingerichtet. Lass dir was ein‐ fallen.« »Ihr wollt ihn mit den Fotos erpressen.« »Der Reichsführer möchte, dass wir dem Nachrichtendienst der Wehrmacht jederzeit um eine Nasenlänge voraus sind.« »Und ich soll die Peitschenlady in Kitty Schmidts Puff spielen.« »Du sagst es.« Sie fühlte sich verletzt und gedemütigt. Sie nahm ihr letztes bisschen Selbstachtung zusammen. »Dazu kriegt ihr mich nicht, verstehst du? Das kannst du auch deinem Herrn Noack sagen.« Er knöpfte den Hosenschlitz auf. »Dann wollen wir die Dame mal etwas geneigter stimmen.« Sie wehrte sich nicht. Es hätte nichts genützt. Er nahm sie rücksichtslos wie immer. Der verhass‐ te Orgasmus blieb nicht aus. Hinterher lag sie heftig atmend da, ein 350
Opfer ihrer Sucht. Gelassen knöpfte er die Hose zu. »Na, Schätz‐ chen, haben wir es uns überlegt?« Sie nahm all ihre Kraft zusammen. »Und wenn du dich auf den Kopf stellst. Ich mache sowas nicht mit.« Er schlug sie, eiskalt und systematisch, bis sie ein wimmerndes Bündel war. Sie schleppte sich ins Bad. Eine verschwollene blutige Fratze sah sie aus dem Spiegel an. »Bis Favarel kommt, bist du wie neu«, tröstete er sie hämisch. Die Schwellungen gingen zurück, die Wunden heilten. Am hart‐ näckigsten war das blutunterlaufene Auge. So hatte sie Bedenk‐ zeit, obwohl sie keine brauchte. Ihr von der Rübenstraße geprägter Überlebenswille sagte ihr, dass es an der Zeit war. Nischt wie weg, dachte sie, wie damals, als sie von Moabit nach Berlin WW aufgebrochen war. An einem Montag packte sie. Ihren kostbarsten Besitz, Großmut‐ ter Mines weißen Spitzenschal, faltete sie zuoberst in den Koffer. Fredie würde nicht vor sieben nach Hause kommen. Das gab ihr den nötigen Vorsprung. Sie hatte sich einen Fahrplan der Reichs‐ bahn besorgt. In dem kreuzte sie als falsche Fährte eine Verbindung von Berlin nach Hannover an und weiter nach Essen, für alle Fälle. Obwohl Fredie ihr vermutlich keine Träne nachweinen würde. Er würde sich eben ein anderes Mädchen dressieren. Andererseits durfte sie Fredies Sinn für Besitz nicht unterschätzen. Er hatte eine Menge in sie investiert, und das würde er sich nicht so einfach wegnehmen lassen. Sie hatte ihren alten Reisepass aufbewahrt, der sie als Marlene Kaschke auswies, Andenken an einen kurzen Abstecher nach Ös‐ terreich. Fredie hatte in Baden bei Wien einen vertrottelten Erz‐ herzog aufgetan, der gut zahlte. Sie musste sich als Schulmädchen zurechtmachen und Seiner k.u.k. Hoheit auf den Schoß klettern. Wo Fredie das Bare versteckt hielt, wusste sie schon lange: im Spülkasten der Toilette, wasserdicht in Ölhaut verpackt. Sie nahm 351
weit weniger als den beträchtlichen Anteil, der ihr nach all den Jahren zustand. Einen Moment war sie versucht, Frank Saunders um Hilfe zu bitten. Ebenso schnell verwarf sie den Gedanken. Frank war ein zahlender Kunde. Zahlende Kunden, so nett sie sein mochten, wollten eine problemlose Gespielin auf Zeit, keine fortgelaufene Ehefrau. Aus dem Reisepass lugte ein Zettel. Sie zog ihn heraus und las die solide, ein wenig klobige Handschrift. Franz Giese hatte ihr damals seine Adresse aufgeschrieben. Sie hatte das völlig ver‐ gessen. Es war wie ein Fingerzeig des Schicksals. Klar, Giese würde ihr helfen. Sie war im Begriff, den Zettel wieder zurück‐ zulegen, als das Telefon läutete. Es war Anita, eine flüchtige Bekannte. Ob sie mit ins Kino kommen würde. »Heute geht᾿s leider nicht. Tschüs.« Marlene legte auf und schob den Pass in ihre Handtasche. Der Zettel flatterte zu Boden. Sie fuhr mit der S‐Bahn nach Schöneberg. Von der Station war es nicht weit. Im Hausflur roch es nach Schmierseife wie damals. Sie drückte den Klingelknopf im zweiten Stock. Es dauerte ein Weilchen, bis er aufmachte. »Fräulein Lene?«, fragte er ungläubig. »Nu kommen Sie doch rein.« Er war in Hosenträgern und trug ein blau gestreiftes Wollhemd ohne Kragen. Sein freundliches Jungengesicht war schmaler geworden. Aber es strahlte die gleiche Ruhe und Besonnenheit aus, wie damals. Een richtijer Kerl zum Anlehnen, dachte Marlene unwillkürlich. Er sprach langsam und bedächtig, auch das hatte sich nicht geändert. »Der reinste Zufall, dass Sie mich erwischen. Bin dabei, die Papiere für die nächste Fuhre vorzubereiten. Die überprüfen mich öfters. Dafür sorgt schon mein Konkurrent Meier. Der ist ein strammer Parteigenosse und gönnt ᾿nem früheren Sozi wie mir nicht die Butter aufs Brot. Na Schwamm drüber. Mit Politik hab ich nichts mehr im Sinn. Wie steht᾿s bei Ihnen, Fräulein Lene?« »Frau Marlene Neubert. Ich habe Fredie geheiratet. Er schickt 352
mich nach wie vor zu anderen Männern und schlägt mich. Herr Giese, ich muss da weg.« »Für Sie Franz, Fräulein Lene. Ich mache uns erst mal einen Kaf‐ fee. Die Fuhre hat Zeit.« Im Wohnzimmer war alles wie bei ihrem ersten Besuch: der runde Esstisch, die Stühle mit den dunkelroten Samtpolstern, der röhrende Hirsch im Goldrahmen, die Spitzendeckchen auf dem Plüschsofa, die Zimmerlinde am Fenster. Er hatte Schlips und Kragen umgelegt und balancierte das Tablett mit Kaffeekanne, Tassen und einer Blechdose Kekse zum Tisch. »Sie haben also tatsächlich Ihr Fuhrgeschäft aufgemacht.« »Mit ᾿nem Dreirad‐›Tempo‹. Zu mehr fehlt mir der Auftrieb, so ganz alleine. Weg wollen Sie von ihm?« »Kann ich hier bleiben? Ich meine vorübergehend, bis ich ᾿ne andere Bleibe finde. Wir würden uns bestimmt gut verstehen. Und übahaupt haben᾿se ja hundertfuffzich Eier bei mir jut«, setzte sie kess hinzu. Er senkte den Blick. »Ich möchte nicht, dass Sie so reden. Ich möchte auch nicht, dass Sie bleiben. Nicht so, wie Sie das andeu‐ ten. Zwischen uns soll alles richtig laufen, wie sich das gehört. Falls Sie mich überhaupt wollen. Bis dahin werde ich warten, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« »Sie sind der anständigste Mann, den ich kenne.« Er räusperte sich verlegen. »Eine Bekannte von mir hat ᾿ne Pension in Charlottenburg. Ich gebe Ihnen ein paar Zeilen mit. Was werden Sie machen?« »Am liebsten Platzanweiserin.« Sie lachte. »Ich wollte nämlich schon immer zum Film.« Die Pension Wolke war im ersten Stock eines Wohnhauses in der Windscheidstraße und sah ordentlich aus. Außerdem war sie die geeignete Basis für eine Stellungssuche in den Kinos des Ber‐ liner Westens. Frau Wolke machte Marlene mit den anderen Pensionsgästen 353
bekannt, zuerst mit ihrer Zimmernachbarin, die ungefähr gleich‐ altrig und ebenfalls blond war. Sonst unterschieden sie sich so ziemlich in allem. Henriette von Aichborn war einfach und prak‐ tisch gekleidet, trug nicht eine Spur Make‐up und hatte eine freundliche, unmerklich distanzierte Art, mit den Menschen um‐ zugehen. »Janich wie ᾿ne ›Von‹.« Marlene fasste rasch Vertrauen zu ihr. »Kommen Sie doch mit. Ich möchte mich im UfA‐Palast als Platz‐ anweiserin vorstellen und mir gleich den neuen Film mit Willy Fritsch ansehen.« »Sehr nett von Ihnen, aber ich erwarte Besuch.« »Wenn Sie mit mir vorlieb nehmen wollen... « Herr Köhler rückte sein Monokel zurecht. Er hatte das Zimmer schräg gegen‐ über. Sein Gehabe gefiel Marlene nicht. Sie kannte sich aus mit Männern. »Nein danke«, lehnte sie ab. Am Montag stellte sie sich im Marmorhaus vor und in der Film‐ bühne Wien, am Dienstag im Astor und in der Kurbel. Nirgends brauchten sie eine Platzanweiserin. Im Vorgarten des Café Schil‐ ling überdachte sie bei einer Tasse Kaffee ihre Lage. Vielleicht war es besser, aus Berlin fortzugehen. Selbst wenn Fredie nicht nach ihr suchte — sie könnte ihm unerwartet begegnen. Unwillkürlich wandte sie sich um. Hinter ihr saß nur ein zeitunglesender alter Herr. Sie zögerte die Entscheidung hinaus. Berlin blieb eben Berlin, das Übrige war Provinz. Der wahre Grund ihres Zögerns hieß Franz Giese. Lieber ᾿ne kleene Zukunft als jarkeene, dachte sie realistisch. Frau Giese klingt eij entlich janich so übel. Dass sie da‐ zu Fredie gegenübertreten und von ihm die Scheidung verlangen musste, schob sie beiseite. »Wird sich allet finden«, tröstete sie sich. Sie hatte in den Auslagen von Salamander ein Paar weiße San‐ daletten entdeckt, dem sie nicht widerstehen konnte. Abends lag 354
sie im Hausmantel auf dem Bett und lackierte sich die Fußnägel. Sie hatte dazu Watte zwischen die Zehen geklemmt. »Immer rin‐ spaziert«, rief sie munter, als es klopfte. Es war Fräulein von Aichborn. »Ich hoffe, ich störe nicht.« Inte‐ ressiert betrachtete sie Marlenes Malarbeit. Offenbar hatte sie so‐ was noch nie gesehen. »Sieht prima aus, wenn man ohne Strümpfe geht. Hellrot ist für blond genau richtig. Wollen Sie probieren?« »Ein anderes Mal gerne.« Ihre Zimmernachbarin kam zur Sache: »Ein Bekannter hat mich übers Wochenende aufsein Motorboot eingeladen. Es liegt an der Havel. Ich möchte anstandshalber eine Freundin mitnehmen. Hätten Sie Lust, mitzumachen?« Marlene war hellauf begeistert: »Mit ᾿nem Motorboot auf der Havel? Klar mache ich mit. Wo ich mir gerade einen todschicken himmelblauen ›Bleyle‹ zugelegt habe. Neuester Schnitt, mit ange‐ setztem Röckchen und tiefem Rücken. Den gibt᾿s in allen Farben bei Leineweber.« »Sie heißen Marion und sind eine uralte Freundin. Sie müssen mich Detta nennen und ›Du‹ sagen.« »Wenns weiter nischt is.« »Bis Sonnabend. Ich hole um sieben das Cabriolet aus der Ga‐ rage und klopfe um halb acht bei Ihnen.« »Wir beiden Schönen im offenen Auto? Mensch, det wird ja jeden Momang besser.« Marlene pinselte eifrig weiter. Am Freitag versuchte sie es weiter draußen. In Steglitz und in Zehlendorf gab es einige Lichtspieltheater. Das Onkel‐Tom‐Kino am gleichnamigen U‐Bahnhof war das letzte auf ihrer Liste. »Eines unserer Mädchen hat geheiratet. Wir suchen Ersatz«, erfuhr sie vom Geschäftsführer. »Sowas entscheidet allerdings Herr Star, der Besitzer. Kommen Sie am Montag wieder.« Sie durfte umsonst den Kulturfilm, die Wochenschau und einen Film mit Hans Albers sehen. Auf dem Heimweg kaufte sie etwas Obst und nahm ein paar 355
Zeitschriften mit aufs Zimmer. Gegen neun Uhr klopfte ihre Wir‐ tin. »Besuch, Fräulein Kaschke.« Es war Fredie. »Ich helfe dir packen«, bot er zuvorkommend an. »Vielen Dank, Frau Wolke.« Er zog die Tür zu. Marlene fasste sich. »Wie kommst du hierher?« »Ich fand den Zettel mit der Adresse deines Herrn Giese unter dem Tisch. Ziemlich unvorsichtig, meine Liebe. Anfangs war Herr Giese ein wenig zurückhaltend und wollte mir nicht sagen, wo ich dich finden würde. Im Plauderkeller wurde er gesprächiger. Bitte beeil dich.« »Ich komme nicht mit, und wenn du mich totschlägst.« »Aber wer wird denn. Ich brauche eine lebendige Ehefrau, die ihre Rolle ebenso gerne wie überzeugend spielt. Meine Karriere hängt davon ab.« »Deine Karriere ist mir scheißegal.« »Dein Herr Giese auch?« »Was ist mit Franz?« »In Kürze gar nichts mehr, wenn du nicht mitspielst. Wir haben ihn mitgenommen. Ich erwähnte ja schon, dass er uns dann doch bereitwillig Auskunft gab.« »Wo ist er?« »In der Prinz‐Albrecht‐Straße. Möchtest du ihn sehen?« Sie nickte schweigend. Er schnappte ihren Koffer zu. Unten wartete eine schwarze Limousine mit einem SS‐Mann am Steuer und einem Typ im Ledermantel als Beifahrer. Fredie half ihr in den Wagen und verstaute den Koffer. Sie sah Franz Giese durch einen Schlitz in der Kellertür. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie hatten ihn an einen Pfosten gebunden. Sein Hemd hing in Fetzen. Sein Gesicht war von Schlägen verwüs‐ tet. Der SS‐Mann vor ihm hob eine fauchende Lötlampe. »Franz... « Ihre Stimme war tonlos. »Der Sozi würde sogar gestehen, dass er Stalins Schwiegervater ist. Im Plauderkeller reden sie alle. Also was ist?« 356
»Lasst ihn gehen. Ich bleibe bei dir.« »Sehr vernünftig, meine Liebe.« Fredie machte die Tür einen Spalt auf und rief: »Bringen Sie ihn nach Hause, der Fall ist erle‐ digt.« Der SS‐Mann band Giese los und half ihm in die Jacke. Unterwegs war Fredie die Liebenswürdigkeit in Person. »Ich habe Champagner kaltgestellt. Dazu gibt᾿s ein paar delikate Hap‐ pen von Rollenhagen. Ich freue mich, dass du zu mir zurück‐ kommst.« Es war der reinste Hohn. »Was feiern wir denn?«, fragte sie leichthin. »Das wird erst zu Hause verraten.« Eine Dreiviertelstunde später waren sie am Kleinen Wannsee. Die Männer grüßten: »Guten Abend, gnädige Frau, Heil Hitler, Herr Obersturmbannführer.« »Muss man schon wieder zur Beförderung gratulieren?« Fredie schenkte Champagner ein. »Das auch. Prost.« Gut ge‐ launt hob er das Glas. »Sie haben Noack zum Chef der Berliner Gestapo ernannt. Nicht zuletzt wegen gewisser Fälle, die ich für ihn erledigen konnte. Er hat sich erkenntlich gezeigt. Ich werde Kommandant von Blumenau. Befehl von ganz oben: Der Kom‐ mandant hat glücklich verheiratet zu sein.« »Glücklich verheiratet«, wiederholte sie und erinnerte sich an Franz Gieses unbeholfene Liebeserklärungen. Sie würde ihn nicht wieder sehen, damit sie ihn in Ruhe ließen. Sein geschundenes Gesicht würde heilen. Irgendwann würde es für eine andere Frau lachen. Der Fuhrbetrieb würde Aufschwung nehmen. Nachwuchs würde sich einstellen. »Allet wie jehabt«, sagte sie traurig. »Wie meinst du?« Sie riss sich zusammen. »Dass ich mitspiele. Du wirst zufrieden sein. Sollte Franz Giese irgendwas zustoßen, veranstaltete ich einen so haarsträubenden Skandal, dass deine Karriere im Eimer ist.« »Weißt du was – das glaube ich dir sogar aufs Wort.« Marlene nippte an ihrem Glas. »Blumenau, sagst du? Noch nie gehört.« 357
Der Mercedes rollte durch das hohe Tor, in dessen schmiedeeiser‐ nes Gitterwerk Hakenkreuze aus Bronze eingelassen waren. Wie mit dem Lineal ausgerichtete Begonienbeete säumten die Einfahrt. Sie hielten auf dem weißen Kies vor dem Haus. Es hatte ein rotes Doppeldach und freundliche grüne Fensterläden. Über der Tür prangten aus Margeriten gesteckt die Worte: WILLKOMMEN IN BLUMENAU. Fredie half Marlene aus dem Wagen. Er trug seine neue tau‐ bengraue Uniform mit den Abzeichen eines Obersturmbannfüh‐ rers des SS‐Sicherheitsdienstes. Ein Mädchen in gestreiftem Kleid und ebensolcher Schürze wartete auf den Stufen, einen Strauß Tulpen vor der Brust. Es hatte eine schwarze Igelfrisur und hielt die Augen gesenkt. »Das ist Jana, dein Hausmädchen«, stellte Fredie vor. »Wenn du mehr Personal brauchst, sag mir Bescheid. Ich möchte nicht, dass dir der Haushalt über den Kopf wächst.« Er gab sich in den letzten Tagen sehr zivilisiert. Es hatte wohl mit der neuen Stellung zu tun. Wenns nur so bleibt, dachte sie hoffnungsvoll. Jana hielt ihr die Blumen hin. »Danke, das ist aber nett.« Sie nahm den Strauß. »Sicher wissen Sie, wo wir eine Vase finden.« »Jana ist neunzehn und gewöhnt, dass man ›Du‹ zu ihr sagt«, be‐ richtigte ihr Mann. »Ich muss zu einer Besprechung in die Dienst‐ baracke. Die ist da drüben.« Er wies auf die undurchdringliche hohe Taxushecke, über der man ein graues Wellblechdach sah. »Jana wird dir das Haus zeigen. Wir erwarten ein paar Leute meines Stabes zum Abendessen. Keine Sorge, das Mädchen kann kochen.« Er entfernte sich schnell über den knirschenden Kies. »Gehen wir hinein?« Der Fahrer hatte ihr Gepäck im gelb ge‐ fliesten Vorraum abgestellt. »Zeig mir zuerst die Küche.« »Jawoll, Frau Obarsturmbannfiehra.« »Det verjisstejefälligst sofort wieda«,bat Marlene energisch. »Ich heiße Frau Neubert. Klar?« 358
»Jawoll, Frau Obar... Frau Neibart.« »Gut. Und jetzt die Küche.« »Jawoll, Frau Neibart.« Blauweiße Fliesen und Kacheln, ein gusseiserner schwarzer Kohleherd mit glänzenden Messingbeschlägen, ein großer Eisschrank aus weiß lackiertem Holz, dessen Inneres mit Zink ausgekleidet war, vorn ein vernickelter Hahn zum Ablassen des Schmelzwassers. Eine Vorratskammer neben der Kellertreppe. Im benachbarten Esszimmer und im Wohnraum standen die vertrauten hellen Möbel vom Kleinen Wannsee. Oben waren drei Schlafzimmer und zwei Bäder. Von hier hatte man den Blick auf alte Obstbäume und einen sauber geharkten Rasen. Eine mit Ro‐ sen bewachsene Mauer trennte den Garten von der Landstraße – ein geräumiges und idyllisches Anwesen. »Ich glaube, hier werde ich mich wohlfühlen. Bist du schon län‐ ger hier, Jana?« »Eine Jahr un finf Monnat.« »Und vorher?« »Ieberall.« Mehr war aus Jana nicht rauszubringen. Marlenes Tischherr war ein schmaler Typ Mitte dreißig, mit dunklem Haar und, trotz sorgfältiger Rasur, dem Hauch eines Bartschattens. »Unser Medizinmann Sturmbannführer Dr. Alwin Engel«, hatte Fredie bekanntgemacht. Marlene fand ihn interes‐ sant, weil er gescheit über Literatur zu plaudern wusste. Er hatte Erwin Kastner gelesen. Das gab ihr Gelegenheit, mit ihren Kenntnissen zu glänzen: »Seine Kinderbücher sind kleine Meis‐ terwerke. Eigentlich mehr was für Erwachsene, finden Sie nicht auch?« Engel schien es nicht gehört zu haben. Er beobachtete Jana, die die Vorspeise hereintrug, Bücklingsfilets auf grünem Salat mit geriebenem Meerrettich. Er drehte ihr Kinn zu sich, als sie ihm ser‐ vierte. »Du hast schöne schwarze Augen«, sagte er lächelnd. Jana 359
entwich in die Küche. »Rein berufliches Interesse«, entschuldigte er sich. Marlene zeigte Verständnis. »Jana ist ein hübsches Mädchen. Leider nicht sehr mitteilsam. Ich habe sie gefragt, wo sie vorher war. Außer ›Ieberall‹ ist nichts aus ihr rauszubringen.« Engel schmunzelte. »Natürlich war Jana überall, landauf, land‐ ab, mit ihren Leuten im Wohnwagen. Verehrte gnädige Frau, das Mädchen ist Zigeunerin. Wussten Sie das nicht?« Jana brachte das Hauptgericht. Engel nahm mit der Gabel ein Stück Fleisch von der Platte und begutachtete es scheinbar kritisch von allen Seiten. »Hoffentlich hast du uns keinen gebratenen Igel untergejubelt.« Alles lachte. »Nein, Herr Sturmbannfiehra.« »Das ist Entenbraten, aus unserem landwirtschaftlichen Betrieb. Ebenso wie das Gemüse und die Sahne der Rahmsauce. Wir sind Selbstversorger, Herr Dr. Engel«, belehrte ihn eine große Vierzi‐ gerin mit durchdringenden blauen Augen und schwerem blondem Haarknoten. Sie war die einzige, die nicht gelacht hatte. Marlene hatte sich die Namen der Gäste auf ihrer Serviette notiert. So wusste sie, dass ihr Gegenüber Gertrud Werner hieß. Die Werner hatte hohe Wangenknochen und ebenmäßige Züge, die dem neuen germanischen Frauenideal entsprachen. Sie trug ein langes dunkelblaues Samtkleid mit hochgeschlossenem weißen Kragen. Ihre gesunde Gesichtsfarbe zeugte vom häufigen Aufent‐ halt im Freien. Das modische Make‐up und den Berliner Chic der Gastgeberin hatte sie bei der Begrüßung missbilligend zur Kennt‐ nis genommen. Marlene mochte die Frau instinktiv nicht. Sie ließ es sich nicht anmerken, sondern bat mit gespieltem Interesse: »Sie müssen mir das unbedingt zeigen, liebe Frau Werner. Vielleicht darf ich sogar ein wenig auf dem Hof mithelfen?« »Meine Frauen schaffen das alleine«, wies Gertrud Werner sie kühl zurecht. »Nu sein᾿se mal nicht zu streng mit unserem Stadtkind, Frau 360
Hauptsturmführerin«, beschwichtigte Dr. Noack gemütlich. Er war erst vor wenigen Minuten aus Berlin eingetroffen, mit einem großen Strauß Teerosen für Marlene und einer Flasche Cognac für Fredie. »Ich führe Sie gerne rum, Frau Neubert«, bot der Gast zu ihrer Rechten bereitwillig an. Marlene zog die Serviette zu Rate. »Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, Herr Schäfer.« »Ohne Oberscharführer Schäfer läuft hier nichts. Er ist unser wirklicher Chef«, verkündete Fredie gut gelaunt, was dem schwe‐ ren Mann mit dem grauen Stoppelkopf ein verlegenes Grinsen entlockte. »Lassen Sie das nicht seine bessere Hälfte hören«, scherzte der junge Mann neben Frau Werner. »Untersturmführer Siebert ist unser Laborleiter«, klärte Fredie seine Frau auf. Marlene schwirrte der Kopf von all den Unter‐, Ober‐, Haupt‐, Schar‐ und Sturmführern. Da half auch die Ser‐ viette nichts. »Siebert ist Junggeselle und bei den Mädchen sehr beliebt.« »Wie interessant.« »Der Junggeselle oder der Laborant?« Siebert zwinkerte ihr zu. »Als erfolgreich verheiratete Frau meine ich den letzteren. Was brodeln Sie denn Schönes in Ihrer Hexenküche, Herr Siebert?« »Wir beschäftigen uns mit Forschungsarbeiten.« Das Telefon schrillte. Fredie nahm ab, hörte kurz zu. »Raab, Doktor. Sein Kreislauf spielt verrückt.« Engel sprang auf. »Ich kümmere mich sofort um ihn.« »Dass mir da nichts schiefläuft«, mahnte Noack. »Der Reichs‐ führer ist persönlich an ihm interessiert.« »Sein Kreislauf ist stabil«, meldete der Arzt zum Nachtisch. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden, meine Damen und Herren. Ich muss morgen ziemlich früh raus.« 361
»Zeit für uns alle«, entschied Noack. »Meinen Dank, liebe Frau Marlene, ein köstliches Essen. Das verdient eine besondere Beloh‐ nung.« Sie wusste, was er meinte. Fredie und Noack erwarteten sie im Salon. Fredie fiel auf dem Fußboden über sie her. Noack sah gierig zu. Anschließend zwang Fredie sie zwischen die Knie seines Mentors. Sie hatte es vor Jahren ein einziges Mal ausgesprochen. In Ge‐ danken wiederholte sie es immer wieder: Irgendwann bringe ich dich um, Fredie. Ihr Mann war schon fort, als sie erwachte. Sie nahm ein Bad und kleidete sich an. In der Küche erwartete Jana sie mit dampfendem Milchkaffee und frischen Hörnchen. Die Sonne drang durch die Blätter der Obstbäume herein und malte bunte Bilder auf den Tisch. Die Welt war in Ordnung. »Setz dich, trink einen Kaffee mit mir. Magst du ein Hörnchen?« Das Mädchen schüttelte heftig den Kopf, dass die schwarzen Igel‐ haare wippten. »Na schön, wenn du nicht willst... Anderthalb Jahre bist du schon hier, sagst du? Möchtest du denn nicht zu dei‐ ner Familie?« Wieder dieses schweigende Kopfschütteln, das Ablehnung, Angst oder Nichtverstehen bedeuten konnte. Marlene wurde aus dem Mädchen nicht schlau. Wahrscheinlich reagierten Zigeuner einfach anders als normale Menschen. Obwohl Zigeuner eigent‐ lich auch normale Menschen waren, nur eben anders als normale Menschen. »Gibt᾿s hier einen Korb?«, befreite sie sich aus diesem Gedan‐ kengestrüpp. »Wir wollen Frau Werner um etwas Gemüse bitten. Du weißt sicher, wo wir sie finden.« Jana brachte aus der Vorratskammer einen großen Henkelkorb. Sie gingen von der Küche in den Garten und über den Vorplatz zur Taxushecke, durch die sich ein grüner Tunnel bahnte. Eine Wellblechpforte versperrte das andere Ende. Jana zog die schep‐ 362
pernde Glocke. Eine Klappe öffnete sich. »Mach auf fiehr Frau Kommandant.« Sie genoss es sichtlich, zu befehlen. Der Posten schlug die Klappe zu und schloss die Pforte auf. »Tschuldigung, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe, Frau Ober‐ sturmbannführer. « »Ich bin weder Frau Kommandant noch Frau Obersturmbann‐ führer. Ich heiße Marlene Neubert. Sagen Sie das bitte weiter.« »Wird gemacht, Frau Neubert.« Der Posten begleitete sie einige Schritte. Sie wies auf den flachen Holzbau, zu dem ein gepflegter Kies‐ weg führte: »Da arbeitet mein Mann?« »Jawoll, Frau Neubert, das ist die Dienstbaracke.« Jana beugte sich über das Rosenbeet am Eingang und roch an einer Blüte. »Scheene Rosen.« »Du magst Rosen?« »Mag ich serr.« Marlene wendete einige Blätter. »Blattläuse. Man muss die Pflanzen spritzen. Am besten mit Seifenlauge.« Sie wusste das von der Nachbarin am Kleinen Wannsee. »Ich sag᾿s dem Kapo.« Der Posten kehrte auf seinen Platz zu‐ rück. »Wir besuchen meinen Mann später. Jetzt geh᾿n wir Gemüse holen. Komm, Jana.« Der Kies knirschte unter ihren Schritten. »Sind deine Eltern hier?« Jana stellte den Korb ab. »Mama drieben in Frauenlager. Papa an Zaun, mit Mama ein bissei reden von frieher. Frau Haupt‐ sturmfiehra das sehen. Rufen Oberscharrfiehra. Oberscharrfiehra kommen mit Knippel.« »Der nette Herr Schäfer? Er hat doch nicht etwa...?«, fragte Marlene besorgt. »Hat ärr«, war die lakonische Antwort. »Sein Temperament ist da wohl ein bisschen mit ihm durchge‐ gangen. Soviel ich weiß, werden nicht mal die kleinsten Übergriffe 363
der Aufsichtspersonen geduldet. Dein Vater sollte sich beschwe‐ ren.« »Oberscharrfiehra schlagen mit Knippel, bis Papa tot«, lautete die sachliche Auskunft. Marlene war wie gelähmt. Sie brauchte eine Ewigkeit, um zu reagieren. »Ein Unfall, bestimmt. Sicher wollte Herr Schäfer gar nicht so fest zuschlagen«, versuchte sie ihr Weltbild zu retten. »Und deine Mutter?« »Mama sieben Tag in Keller bei die Ratzen. Wann sie raus, drei Zeh weg.« »Drei Zehen?« Marlene war entsetzt. »Ärrst du nicht wollen schlofen. Dann du missen schlofen. Ratzen warten bis du schlofen.« Das Zigeunermädchen nahm den Korb wieder auf. Marlene folgte ihr — und erstarrte. Vor ihr krallte sich ein hoher Stacheldrahtzaun in den Himmel. Die hölzernen Wachtürme an seinen vier Ecken schienen einem Schachspiel für Riesen entlehnt. Ein Posten mit Hund bewachte das Tor. Dahinter lagen schmutziggraue Baracken in Fünfer‐ reihen. Auf den schnurgeraden Schotterwegen dazwischen gedieh nicht einmal Unkraut. Fredie hatte es ihr vor dem Umzug auseinander gesetzt: »In Blu‐ menau werden Personen zusammengefasst, die nicht in unsere Volksgemeinschaft gehören. Juden, Homos, Kommunisten, Zigeuner und was es sonst so gibt. Wer ernsthaft will, kann sich durch Arbeit bewähren. Als Lagerkommandant bin ich für Ruhe und Ordnung verantwortlich.« Unheimliches Schweigen lag über der trostlosen Einöde. »Klar, die Leute sind zur Arbeit.« Sie war erleichtert, eine Erklärung für die tödliche Stille gefunden zu haben. Sie nickte dem Posten zu. Der Hund knurrte, als sie an ihm vorbeigingen. »Du kräftig, du arbeiten, du essen.« Jana wies auf eine Reihe sauberer dunkelgrüner Holzbauten im Hintergrund, offenbar die Arbeiterquartiere. Sie stieß die Tür zu einer der schmutziggrauen 364
Baracken vor ihnen auf. Gestank von Kot und Urin schlug Mar‐ lene entgegen. Als sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte sie lange Reihen vierstöckiger Holzpritschen. Darauf, oder besser darin krümmten sich mit Haut bespannte Ge‐ rippe in gestreiften Lumpen. Kahl geschorene Köpfe hoben sich mühsam. Tief in den Schädeln liegende Augen starrten sie teil‐ nahmslos an. »Nicht arbeiten, nicht essen. Nur Wassersuppe.« Jana sprach unbeteiligt wie eine Fremdenführerin. Marlene fühlte nichts außer dumpfer Leere. In den letzten fünf Minuten hatte sie mehr Entsetzliches erfahren als in ihrem ganzen bisherigen Dasein. Das Elend der Rübenstraße war dagegen sonnige Erinnerung, die abstoßende Begierde zahlender Männer harmloses Vergnügen. »Ich werde mit meinem Mann reden. Be‐ stimmt weiß er nichts davon.« Jana deutete voraus. »Landwirtschaft do drieben.« In endlos langen Gemüsebeeten wölbten sich die gestreiften Rücken und Kopftücher hunderter Unkraut jätender Frauen. Aufseherinnen überwachten die Arbeit. Die Hauptsturmführerin Werner stand groß und schlank zwi‐ schen den Beeten, ihre Mütze tief in der Stirn. Sie trug Stiefel zum Uniformrock und eine Reitpeitsche. Sie war auf furchtbare Art schön und sich ihrer Wirkung voll bewusst. Marlene steuerte auf sie zu. »Guten Morgen, Frau Werner.« Jana murmelte etwas, das sich wie »Guten Morgen« anhörte. Sie hatte merklich Angst. Marlene streckte die Hand aus. Die Werner ignorierte es. »Ich möchte Sie um etwas Gemüse bitten. Ein paar Karotten und Zu‐ ckererbsen und zwei Köpfe Salat, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« »Hast du in deiner neuen Stellung vergessen, wie man grüßt?«, fauchte die Werner das Zigeunermädchen an. Marlene nahm Jana in Schutz: »Sie hat ›Guten Morgen‹ gesagt.« »Vortreten. Wie grüßt man?« Jana trat einen Schritt vor, nahm hölzern militärische Haltung 365
an, holte tief Luft und schrie, dass sich ihre Stimme überschlug: »Häftling 304476. Heil Hitla, Frau Hauptsturmfiehra.« Ein hässlich klatschender Schlag. Ein blutiger Striemen zog sich vom linken Ohr bis zum Kinn über Janas Wange. Die Werner ließ ihre Reitpeitsche sinken. »Damit du das Grüßen nicht verlernst.« Marlene war außer sich: »Sie Unmensch! Dafür wird mein Mann Sie zur Rechenschaft ziehen.« Gertrud Werner musterte sie kalt von oben bis unten. Sie stieß der nächsten neben ihr kauernden Gefangenen die Stiefelspitze in die Seite: »Ein Korb mit Karotten, Zuckererbsen und zwei Köpfen Salat für die Frau Lagerkommandant. Lieferung frei Haus«, setzte sie spöttisch hinzu. »Komm, Jana. Dr. Engel wird sich um dich kümmern.« Das rote Kreuz auf weißem Grund wies Marlene den Weg. Alles in der Krankenbaracke hier war weiß gekachelt und steril. In kleinen Glasschränken blitzten chirurgische Instrumente. Eine Schwingtür führte nach nebenan, von wo es nach Desinfektionsmittel roch, offenbar der Operationsraum. Jana schrie auf, als der Arzt ihr die Wunde mit Alkohol abtupfte. Als das schreckliche Weib sie schlug, hat sie keinen Laut von sich gegeben, dachte Marlene erstaunt. »Abscheulich, diese Prügelei«, machte sie ihrer Empörung Luft. »Sehr unerfreulich, zugegeben. Das Lagerleben zerrt an unser aller Nerven. Ehrlich gesagt wäre ich lieber an der Front. Nach unserem Blitzsieg in Polen geht᾿s gen Westen.« Dr. Engel zog dem Mädchen die Unterlider herab. »Faszinie‐ rend, diese schwarzen Zigeuneraugen.« Er klebte ein großes Pflas‐ ter auf die Wange. »Die Wunde heilt in ein, zwei Tagen.« »In den grauen Baracken verhungern die Häftlinge bei Wasser‐ suppe.« Engel nahm ein Reagenzglas vom Ständer und hielt es prüfend gegen das Licht. »Für das Lager ist der Kommandant zuständig. Mein Platz ist hier bei meiner wissenschaftlichen Arbeit.« 366
»Wir wollen Sie nicht länger stören, Herr Doktor.« »Sie stören überhaupt nicht. Bitte besuchen Sie mich, wann immer Sie wollen.« Engel tätschelte Janas gesunde Wange. Die junge Gefangene erwartete sie mit dem Gemüsekorb in der Küche. Sie zischelte Jana etwas ins Ohr und lief wie gehetzt da‐ von. »Sema auch Zigeiner.« Jana begann, die Erbsen aus den Schoten in einen Topf zu pulen. »Ein gut aussehender Mann, dieser Dr. Engel. Ich glaube, du ge‐ fällst ihm.« Marlene griff eine Handvoll Schoten und pulte mit. »Schon neun Uhr«, begrüßte sie ihren Mann, als er an diesem Abend spät aus dem Lager kam. »Eine Menge Verwaltungskram. Entschuldige, Schatz, ich hätte dir das sagen sollen. Oder du hättest durchrufen können. Das Feldtelefon in der Küche ist direkt mit meinem Dienstzimmer verbunden. Du brauchst nur den Hörer abzunehmen. Gebt beim Reinemachen ein bisschen Acht. So eine provisorisch verlegte Feldleitung ist nicht sehr reißfest.« »Das nächste Mal weiß ich Bescheid. Komm zu Tisch.« Sie hatte sich vorgenommen, mit ihm nach dem Abendessen über die Zu‐ stände im Lager zu reden und über die HauptSturmführerin Wer‐ ner, aber er erstickte es im Keim: »Hier ist längst nicht alles, wie es sein soll. Eine große Aufgabe, die Sache in den Griff zu kriegen. Na, ich schaffe das schon. Nicht wahr, du hältst mir den Rücken frei.« Marlene verstand. Er wünschte, nicht mit Klagen behelligt zu werden. »Danke, Jana, geh jetzt schlafen«, entließ sie das Mädchen. »Den Abwasch machen wir morgen. Gute Nacht.« »Heil Hitla, Herr Kommandant, Heil Hitla, Frau Neibart.« »Ein liebes Mädchen.« »Ein Häftling wie die anderen. Vergiss das nicht.« Fredie schenkte sich einen Cognac ein und lehnte sich behaglich in den Sessel. »Hier kann man᾿s aushalten, was?« 367
»Solange nur die Hecke hoch genug ist... «, entfuhr es ihr. Als sie die Haustür abschloss, hörte sie draußen leises Weinen. Jana hockte auf den Stufen, den Kopf zwischen den Knien. »He, Kleene, was ist denn los? Willst du nicht schlafen gehen?« Das Mädchen hob das tränennasse Gesicht. »Sema sagt, Frau Hauptsturmfiehra sehr beese. Wartet mit Peitsche auf Jana.« »Ich bringe dich. In meiner Gegenwart wird sie das nicht wieder wagen.« Gequälte schwarze Zigeuneraugen sahen zu ihr auf. »Wann Frau Neibart fort, Frau Hauptsturmfiehra mehr beese. Dann missen Jana zu die Ratzen.« »Komm.« Sie zog das Mädchen ins Haus, die Treppe hinauf. Fredie war schon zu Bett gegangen. Auf dem Speicher lagen ein paar Matratzen. »Das muss für die Nacht genügen. Morgen sehen wir weiter.« Beim Frühstück war Fredie wie immer gut gelaunt. Großzügig genehmigte er Janas Übersiedlung ins Haus. Marlene war hellauf begeistert. Sie radelte in den Ort, kaufte geblümte Leinenvorhänge und Bettwäsche. Auf dem Dachboden fanden sich ein paar Möbel, die sie mit Jana hellblau anstrich. Gemeinsam richteten sie die kleine Mansarde ein. Nachmittags griff sie zum Feldtelefon in der Küche, um Fredie zu fragen, ob er auf eine Tasse Kaffee rüberkommen wollte. Überrascht hörte sie seine und eine fremde Stimme. Er sprach mit der vorgesetzten Dienststelle in Berlin. Sie legte sofort wieder auf. War wohl ein Fehler in der provisorischen Leitung, die sich aus dem Küchenfenster von Baum zu Baum über die Taxushecke zur Dienstbaracke schlängelte. Sie würde ihn darauf aufmerksam machen. Jana brachte sie einen alten vernickelten Wecker, den sie in einer Truhe gefunden hatte. Das Ding rasselte zum Steinerweichen. »Damit du deine Arbeit nicht verschläfst«, neckte Marlene sie. »Jana nicht schlafen. Jana arbeiten gern fier Frau Neibart.« Das 368
Mädchen schlang ihr die Arme um den Hals und küsste sie auf die Wange. »Lass den Quatsch«, wehrte Marlene gerührt ab. »Ich werde meinen Mann fragen, ob du mit dem Rad in den Ort fahren darfst, beim Bäcker die Frühstückshörnchen holen. Kannst du Rad fah‐ ren?« »Weiß nicht.« »Macht nischt, Kleene, det bring ick dir schon bei.« Jana quietschte, als Marlene sie aufs Rad setzte. Die beiden hat‐ ten einen Heidenspaß. Das Telefon war vergessen. Das Lager ließ sich nicht vergessen. Es war allgegenwärtig. Wenn der Wind zum Haus stand, roch Marlene es. Es roch nach Hunger, Latrine und Todesangst, nach dem Schweiß seiner Insassen und der schwarzen Schuhwichse, mit der sie die Koppel und Stiefel ihrer Sklavenhalter putzen mussten. Sie mied das Lager, doch das Lager kam täglich zu ihr, wenn ein weiblicher Häftling das Gemüse brachte. Sie sah nicht den Korb mit Salatköpfen und Karotten, sondern das Heer der gebeugten Frauenrücken in den endlos langen Beeten. Fredie hatte Janas Ausflüge in den Ort abgelehnt, und so radelte Marlene einmal die Woche zum Einkaufen nach Blumenau hi‐ nunter. Im Krämerladen verstummten jedes Mal die Gespräche. Misstrauen, Angst und Feindseligkeit lagen in der Luft. Am liebs‐ ten hätte sie geschrien: »Ich kann nichts dafür! Ich habe mit all dem nichts zu tun!« Sie schrie es nicht, sondern sie grüßte stets freund‐ lich. Ihr Gruß wurde an diesem Freitag, dem 14. Juni 1940, vom Rundfunk übertönt. Die deutsche Wehrmacht hatte Paris besetzt. Sie kaufte Brot und Butter, die Rationen waren großzügig bemessen. Als Sonderzuteilung gab es Kaffee und Schokolade aus erbeuteten Beständen. Die Engländer hatten bei ihrer kopflosen Flucht zur Atlantikküste sämtliche Verpflegungsdepots im Stich gelassen. 369
Draußen fragte jemand leise: »Kann ich Sie sprechen?« Die Frau war um die fünfzig, einfach gekleidet und hielt ihre schmale Handtasche an die Brust gepresst. In der anderen Hand trug sie eine Einkaufstüte aus braunem Packpapier. Sie wirkte abgehärmt und krank. Man konnte die einstige Schönheit nur erahnen. »Mich sprechen? Warum?« »Sie sind die Gattin des Kommandanten. Ich heiße Mascha Raab. Mein Mann ist bei Ihnen im Lager.« »Raab?« Marlene erinnerte sich: »Er hatte irgendwas mit dem Kreislauf. Dr. Engel hat das in Ordnung gebracht.« »Er ist Diabetiker. Sie hätscheln und pflegen ihn, damit er recht lange durchhält. Die reinste Menschenliebe.« Ihr bitterer Hohn war nicht zu überhören. »Sie sind sehr unvorsichtig, Frau Raab. Vergessen Sie nicht, ich bin die Frau von Obersturmbannführer Neubert.« Mascha Raab ließ die Handtasche sinken. Ein ans Kleid genähter gelber Davidstern mit der Aufschrift »JUDE« wurde sicht‐ bar. »Eine wie ich ist hellsichtig. Die reinste Überlebensfrage. Mein Gefühl sagt mir, dass ich von Ihnen nichts zu befürchten habe.« »Und wenn Ihr Gefühl Sie täuscht?« »Sie können mich einsperren lassen oder umbringen. Mehr nicht. Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken. Man wird nichts dergleichen tun, um Georg nicht die Hoffnung zu neh‐ men.« Sie hob die Hand mit der Einkaufstüte, aus der ein Fla‐ schenhals ragte. »Ein 1934er Chablis. Sehr trocken und darum für Diabetiker geeignet. Eine Köstlichkeit. Sowas darf nicht an Juden abgegeben werden. Aber der Weinhändler kennt uns von früher. Georg liebt französische Weine. Heute ist unser dreißigster Hoch‐ zeitstag. Würden Sie ihm die Flasche geben?« »Ich werde meinen Mann bitten, Ihnen ausnahmsweise eine Besuchserlaubnis zu erteilen.« »Nein. Bringen Sie Georg die Flasche. Lügen Sie für mich: wie 370
jung und gesund ich aussehe, und wie zuversichtlich ich bin, ihn bald wieder bei mir zu haben. Mein Zug geht in zehn Minuten. Sie sind ein guter Mensch. Leben Sie wohl.« Aufgekratzt setzte sich Fredie an den Mittagstisch. »Der Franz‐ mann ist so gut wie erledigt. Jetzt knöpfen wir uns den Tommy vor. Was gibt᾿s Neues im Ort?« »Stell dir vor, eine Frau Raab hat mich angesprochen. Einfach so. Ganz schön frech, diese Juden. Ihr Mann sei bei euch im Lager. Ob ich ihm wohl zum dreißigsten Hochzeitstag eine Flasche Wein übergeben könnte. Ich hab die Flasche auf jeden Fall mitgenom‐ men. Was meinst du?« Sie hatte den richtigen Ton getroffen. Fredie nickte gönnerhaft. »Kann nichts schaden, Raab bei guter Laune zu halten.« »Seit wann bist du um die gute Laune der Häftlinge besorgt?« »Raab ist ein besonderer Fall. Was gibt es denn Feines?« »Kalbsschnitzel ›natur‹, mit Sahnesauce und Reis. Dazu grüne Bohnen.« »Schäfer bringt dich nach dem Essen zu ihm. Übrigens, ich muss ein paar Tage dienstlich weg. Erfahrungsaustausch mit meinem Kollegen in Buchenwald. Nicht das reinste Vergnügen. Seine Frau soll eine miserable Köchin sein. Jana, beeil dich. Ich habe einen Mordshunger.« Oberscharführer Schäfer erwartete Marlene an der Pforte hinter der Taxushecke. Er hatte die Schirmmütze abgenommen und wischte sich die Stirn. »Heiß heute, was?« Der schwere Mann mit dem grauen Stoppelkopf versuchte ein Lächeln. Er sah aus wie der Türsteher eines zweitklassigen Hotels, der auf Trinkgeld hoffte. Wie ein Totschläger wirkte er nicht. Das war es ja, was die Schergen von Blumenau so schrecklich machte: Sie waren normale Männer und Frauen, die lächelten, schwitzten, sich liebten, aufs Klo gingen und dem Zahltag entgegenfieberten. Schäfer schlug mit dem Knüppel gegen das Wellblech. Es klang 371
dumpf wie eine Buschtrommel, die Unheil ankündigte. Der Posten öffnete sofort und nahm Haltung an. »Schon gut, mein Junge«, dankte der Oberscharführer jovial. »Hier lang, Frau Neubert.« Er marschierte auf einen Bungalow zu, der sich wie Dienst‐ und Krankenbaracke außerhalb des eigentlichen Lagers befand. Auch hier gaukelten Kieswege und gepflegte Blumen‐ beete dem Beschauer betulichen Schönheitssinn vor. Drinnen war es sauber und kühl. Gebohnertes hellgraues Linoleum dämpfte Schäfers genagelte Stiefelsohlen. Am Ende des Ganges war eine Tür. »Besuch für Sie, Raab. Geh᾿n Sie nur rein, Frau Neubert.« Ein lichtdurchfluteter Raum, eine Mischung aus Werkstatt und Labor. Ein rundlicher kleiner Mann, der über dem Häftlings‐ drillich einen weißen Kittel anhatte. Er trug einen Helmholtz‐ spiegel am Stirnband. Den klappte er jetzt hoch. Dahinter kamen kluge braune Augen zum Vorschein. Er nahm stramme Haltung an, was eher komisch wirkte. »Häftling 48659, Heil Hitler«, sagte er mit freundlicher leiser Stimme. »Sie sind Herr Raab?« »Professor Dr. Georg Raab in einem früheren Leben.« »Ich bin Frau Neubert.« »Ich weiß, Madame.« »Meinen Glückwunsch zum dreißigsten Hochzeitstag. Und einen Gruß von Ihrer Frau.« Marlene reichte ihm die Tüte mit der Flasche. »Mascha war hier?« »Unten im Ort. Eine Besuchserlaubnis war leider nicht möglich. Sie sieht gut und gesund aus. Eine schöne Frau.« »Oh ja, sie ist schön.« Ein verträumter Zug erschien auf seinem Gesicht. Er zog die Flasche aus der Tüte. »Wunderbar, ein 34er Chablis. Dass es sowas noch gibt. Ich werde mir zum Abendessen ein Glas genehmigen. In Gesellschaft wär᾿s schöner, aber ich darf nicht unbescheiden sein.« »Sie müssen abends nicht in die Baracke?« 372
»Ich habe hier einen komfortablen kleinen Schlafraum, ein ei‐ genes Bad mit WC und die gleiche Verpflegung wie die Wach‐ mannschaften. « »Als Häftling?« »Man braucht mich. Bitte nehmen Sie Platz, Madame.« Er schob ihr einen Stuhl zurecht. »Ihr Mann hat Ihnen erlaubt, mich zu besuchen. Er hat also nichts dagegen, dass Sie erfahren, was ich mache, obwohl es streng geheim ist.« »Det klingt ja mächtich spannend, Herr Professa.« »Eine echte Berlinerin, und dazu eine besonders hübsche.« Raab rieb sich entzückt die Hände. »Wir wohnen in Köpenick, im Ortsteil Wendenschloß, wenn Sie wissen, wo das ist.« »Kenn ick nich.« »Eine hübsche Gegend. Sie müssen uns da mal besuchen.« Er senkte den Kopf und fügte leise hinzu: »Sie haben Mascha ein kleines Zimmer im Haus gelassen.« Er nahm einen weißen Bogen Papier, legte ihn in den Druck‐ stock am Fenster und drehte den Knebel der hölzernen Schnecke, bis das Lederkissen das Papier auf die Druckplatte presste. Er hob das Papier ab und hielt es hoch. »Wollen Sie sehen?« Marlene er‐ kannte verschnörkelte schwarze Buchstaben auf weißem Grund. »Eine Banknote über zwanzig Pfund Sterling. Papier und Was‐ serzeichen halten jeder Prüfung stand, der Druck ist so gut wie das Original. Ein winziger Schnörkel am ›C‹ des ›Chief Ca‐ shier‹ fehlt. Den nehme ich mir jetzt vor. Na was sagen Sie?« Stolz schwang in Raabs Stimme mit. »Falschgeld?« »Falschgeld, das selbst die Bank von England für echt halten wird. Millionenfach auf den Markt geworfen, soll es die Währung Großbritanniens erschüttern. Ein Projekt des SS‐Wirtschaftsamtes, auf Anregung des Reichsführers.« »Sie sind Fälscher?« »Aus Leidenschaft. Ansonsten entlassener Professor für Kunstge‐ 373
schichte an der Universität Berlin, ehemaliges Mitglied der Preu‐ ßischen Akademie der Künste. Überdies gelernter Kupferstecher und Holzschneider. Auf meine Dürers und Piranesis sind schon eminente internationale Kunstexperten reingefallen. Ein Stecken‐ pferd, das ich bis vor kurzem zum Spaß und als brotlose Kunst betrieb. Nun zahlt es sich aus. Ich darf länger am Leben bleiben, und sie verschonen meine Mascha.« »Sie sind sehr offen zu mir, Herr Professor.« »Mascha vertraut Ihnen, das genügt. Außerdem braucht man mich. Solange Himmlers Kneifer mit gütigem Schimmer auf mir ruht, habe ich nichts zu befürchten... « »Und wenn Sie Ihre Arbeit abgeschlossen haben?« »Gibt es genug anderes zu fälschen. Wir arbeiten an Dollars und Schweizer Franken für Rüstungseinkäufe. Reisepässe aller Staaten für den Geheimdienst sind in Vorbereitung; Ausweise, Marsch‐ befehle, Ernennungsurkunden. Je ein Original dieser Dokumente liegt hier bei mir im Wandsafe. Man durchkämmt bereits die Zuchthäuser nach fähigen Mitarbeitern. Ah, Herr Siebert, da sind Sie ja.« Der junge Untersturmführer trug einen Labormantel über der Uniform. »Tag, Frau Neubert. Welche Ehre für unsere Hexen‐ küche. Wir haben den Nickelgehalt des Sicherheitsfadens um 0.03 Milligramm angehoben, Herr Professor. Ich hoffe, es ist richtig so.« Sie war überrascht, wie respektvoll der SS‐Mann den Häftling behandelte. »Danke, Herr Siebert. Entschuldigen Sie mich, Madame, ich will mich besagtem Schnörkel zuwenden. Besuchen Sie mich wieder?« »Mich auch?« Siebert war offenbar immer zu einem kleinen Flirt aufgelegt. Marlene überhörte es. »Wiedersehen, Herr Professor. Guten Tag, Herr Siebert.« »Ich bringe Ihnen ein Kissen, damit Sie bequem sitzen, Herr Professor«, hörte sie Siebert im Hinausgehen. Ob er ihn unter an‐ 374
deren Voraussetzungen erschlagen würde?, schoss es ihr durch den Kopf. »Einen Eintopf, wie ihn der Führer sich einmal die Woche auf jedem deutschen Mittagstisch wünscht. Dazu Wasser von unserem Brunnen. Als Nachspeise Obst aus lagereigener Ernte. Wir sind stolz auf unser einfaches, nahrhaftes Essen.« »Nu rede man nicht so jeschwollen.« Fredie war sichtlich nervös. Der Reichsführer hatte seinen Be‐ such angesagt. Er wollte sich persönlich vom Fortschritt des Falschgeldprojektes überzeugen, das den Decknamen »Nadel und Faden« trug. Die Bank von England war in der Threadneedle Street. »Rindfleisch‐, Schweine‐ oder Hammeleintopf?«, erkundigte sich Marlene. Fredies alter Sarkasmus kam hoch: »Einen Hühnereintopf. Schließlich war der Mann früher Geflügelzüchter.« »Ich sag Jana Bescheid.« »Deutsche Frauen kochen ihren Eintopf selber. Eine Küchenhilfe im zweiten Kriegsjahr wäre volksfremder Luxus. Denk außerdem dran – deutsche Frauen rauchen nicht. Und keinen Lippenstift.« »Sonst noch was? Vielleicht einen Strauß Ähren auf den Tisch und die Platzkarten in germanischen Runen?«, spöttelte Marlene. »Schick Jana zu ihrer Sippe in die Zigeunerbaracke.« »Dass die Werner sie quälen kann? Das lasse ich nicht zu.« »Ich habe für den Besuchstag Ruhe angeordnet. Unser Gast soll ziemlich zartbesaitet sein, wenn᾿s um die Praxis geht.« »Einen Tag ohne Knüppeln und Morden? Das Lager wird dir fremd vorkommen, Fredie.« »Halt den Rand«, sagte er böse. Sie hatten den Professor Dr. Georg Raab in eine nagelneue ge‐ streifte Häftlingskluft mit passender runder Mütze gesteckt. Er stand 375
vor dem Labor‐Bungalow neben Fredie und dem Untersturmfüh‐ rer Siebert. Wie ein Teddybär im Zebrafell, dachte Marlene, derweil sie die Szene durch die spaltbreit geöffnete Wellblech‐ pforte beobachtete. Sie war zur Besichtigung nicht zugelassen. Zwei schwere offene Mercedes rollten ins Bild. Sie spien Mützen mit Totenköpfen, taubengraue Uniformen und glänzende schwarze Reitstiefel aus. Marlene erkannte den Kneifer unter dem vordersten Mützenschirm. Fredie machte stramm Meldung. Seine Uniformjacke spannte neuerdings ein wenig um den Bauch. Auf seiner linken Brusttasche prangte ein Eisernes Kreuz aus dem Großen Krieg, das er bei irgendeinem Trödler aufgetrieben hatte. »Mundus vult decipi«, war sein lässiger Kommentar, den Marlene sich von Professor Raab übersetzen ließ. Anjeber, dachte sie geringschätzig beim Anblick der vielen Stiefel. »Von die hat im Leben keena uffm Pferd jesessen.« Sie durchschaute und verachtete diese Leute, wie sie sich selber durchschaute und verachtete. Die Taxushecke spaltete ihr Dasein. Diesseits der satte bürgerliche Alltag in Haus und Garten. Jenseits das Lager mit Folter und Tod. Der Kneifer verschwand samt Gefolge im Bungalow. Marlene überzeugte sich zum ᾿zigsten Mal, dass in Küche und Esszimmer alles in Ordnung war. In einer halben Stunde erwartete sie ihre unwillkommenen Gäste zu Tisch. »Heil Hitler, Reichsführer, Ihr Besuch ist eine persönliche Freude für mich und eine große Ehre für mein Haus.« Der Allgemein‐ platz ging ihr glatt über die Lippen. Seine Hand lag schlaff in der ihren. Die Augen hinter dem Kneifer wichen ihr aus und suchten irgendwo Halt. Er hat Angst vor Frauen, erkannte sie verblüfft. Er dankte mit leiser Stimme und wandte sich zu Fredie: »Ich bin beeindruckt, Obersturmbannführer Neubert.« Er setzte sich. Die anderen folgten seinem Beispiel. Man wartete, dass der Allmäch‐ tige weitersprach. Er schwieg und langte nach dem Wasserkrug. 376
Fredie wollte ihm zuvorkommen, um einzuschenken. Eine Kol‐ lision war die Folge. Der Krug schwappte über, Wasser ergoss sich auf die oberste aller SS‐Uniformen. Ihr Träger erhielt ein paar Spritzer auf Nase und Kneifer und machte ein dummes Gesicht. Marlene prustete los. Die Tischrunde erstarrte. Fredie wurde bleich. Das Ende seiner Karriere war abzusehen. Der Benässte trocknete Nase und Zwicker mit der Serviette – und lachte, zu‐ nächst lautlos, dann meckernd. Allgemeine Erleichterung breitete sich aus. Fredie atmete auf. Der Kelch, oder besser der Krug, war an ihm vorübergegangen. Das Meckern brach ebenso unvermittelt ab, wie es begonnen hatte. Marlene trug den Eintopf auf. Die leise Stimme fuhr fort: »Ich bin beeindruckt von dem, was ich gesehen habe. ›Operation Nadel und Fadem wird ein voller Erfolg. Die ausführende Hand verdient Lob. Der Häftling zeigt kaum semitische Züge. Wahr‐ scheinlich hat er überwiegend arische Ahnen. Das würde seine außergewöhnlichen Fähigkeiten erklären. Ich wünsche, dass der Mann weiter Ihre volle Unterstützung erhält und dass ihm auch persönlich nichts fehlt.« »Man könnte ihn aus der Haft beurlauben und das Labor unter seiner Leitung als SS‐eigene Forschungsstätte außerhalb des Lagers weiterführen«, schlug Noack vor. »Geheimhaltungs‐ und Sicherheitsgründe verbieten das, Herr Dr. Noack. Darum ist der Häftling nach Abschluss der Operation zu li‐ quidieren. Ihr Geflügeleintopf ist sehr schmackhaft, Frau Neubert.« Hoffentlich bleibt dir ᾿n Hühnaknochen inner Jurgel stecken, du vakotztet Stück Dreck, dachte sie. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Reichsführer«, bedankte sie sich höflich. Abends fläzte Fredie in Stiefelhosen und karierten Pantoffeln auf der Couch. Er war sichtlich zufrieden. »Na, das hat ja prächtig geklappt. Komm her, Schatz.« Er schob ihr Kleid hoch und zog den Schlüpfer runter. Sie hatte einfach nicht die Kraft, sich zu wehren. Ungläubig horchte sie in sich hinein. Der verhasste Orgasmus blieb 377
aus. Sie empfand nichts. Ein Gefühl des Triumphes überkam sie. Der jahrelange Bann war gebrochen. Morgens schreckte sie hoch, weil irgendetwas nicht stimmte. Der vertraute Kaffeeduft und das Geschirrklappern in der Küche fehl‐ ten. Natürlich. Jana war nicht da. Marlene duschte rasch und klei‐ dete sich an. Sie musste das Mädchen ins Haus holen, ehe die furchtbare Frau Werner auf grausame Gedanken kam. Sie lief an Dienst‐ und Krankenbaracke vorbei und durchs Stacheldrahttor ins eigentliche Lager. »Hol die Jana«, befahl sie einer alten Frau vor der Zigeunerbaracke. Die Frau sah sie merkwürdig an. »Jana nicht da.« »Wo ist sie?«
»He, hier wird nicht rumgelungert.« Der Oberscharführer Schä‐ fer schob die Frau mit dem Knüppel zurück in die Baracke. »Heil Hitler, Frau Neubert. Welch seltene Ehre. Mache gerade meinen Rundgang. Kann ich Ihnen behilflich sein?« »Ich suche mein Hausmädchen.« »Jana, nicht wahr? Keine Ahnung, wo die sich rumtreibt.« »Iss bei Doktarr«, zischte die alte Zigeunerin durch die Tür. In der Krankenbaracke war es still. Marlene betrat den Be‐ handlungsraum. In den Glasschränken blitzten die chirurgischen Instrumente wie bei ihrem ersten Besuch, als Dr. Engel Jana ver‐ arztet hatte. »Ist denn niemand da?« Die Schwingtür zum Nachbarraum bewegte sich leise im Luft‐ zug. Marlene schob sie auf. Unsichtbare Riesenhände pressten ihre Brust zusammen. Der Anblick war so unvorstellbar, dass ihr Gehirn sich weigerte, ihn aufzunehmen. Auf einem Wandbord standen fünf Menschenköpfe. Janas Kopf war der zweite von links. Marlene trat näher. »Jana... «, flüsterte sie. Sie berührte die kalten Wangen, strich zärtlich übers Igelhaar, sah in die noch vor kurzem so schönen schwarzen Zigeuneraugen. Jetzt waren sie milchig blau getrübt. 378
»Eine interessante Versuchsreihe. Ich injiziere organische Pig‐ mente.« Dr. Engel hob den Kopf des Mädchens vom Bord. »Ich nehme dazu gesunde junge Exemplare. Frau Werner ist bei der Auswahl eine große Hilfe. Bald werde ich in der Lage sein, eine artfremde dunkle Iris in nordisches Blau zu verwandeln. Ist Ihnen nicht gut? Warten Sie, ich bringe Ihnen ein Glas Wasser.« »Nein danke«, hörte sie ihre eigene Stimme. »Dann mache ich Mittag. In der Kantine gibt᾿s Kalbshaxe.« Marlene fühlte nichts, wusste nicht, wer sie war und wo sie war. Alles war wie ausgelöscht. Sie kam langsam wieder zu sich, als kalte Wasserschwaden auf sie niederprasselten. Sie kauerte ange‐ kleidet unter der Dusche in ihrem Badezimmer und schrie ᾿wie ein Tier. Die peitschende Kälte zwang sie zurück in die Gegen‐ wart. Sie streifte die nassen Sachen ab, trocknete sich und zog irgendetwas an. Dann kramte sie im Kleiderschrank, bis sie fand, was sie suchte. Aus dem Gartenverschlag holte sie einen Spaten. Niemand begegnete ihr auf dem Weg in die Krankenbaracke. Sie hob den Kopf vom Wandbord und hüllte ihn in Großmutter Mines weißen Spitzenschal. Im Rosenbeet vor der Tür stach sie eine Grube aus und bettete den Kopf hinein. »Scheene Rosen«, hörte sie Janas Stimme, während sie das kleine Grab einebnete. »Mach᾿s jut, Kleene«, sagte sie rauh. Es war mehr, als die meisten verkraften konnten. Aber Marlene war ein zähes Kind aus der Rübenstraße. Trauer und Entsetzen wichen kalter Wut. »Wenn det bekannt wird, seid ihr dran, du, Engel, Noack und die anderen. Nich zu vajessen der Reichsheini. Und weeßte wat? Denn wer ick zusehn, wie se euch ufihängen und mir dusslich lachen.« Fredie blieb gelassen: »Nun mach mal halblang, Schätzchen. Ich verstehe ja, dass du wütend bist, so ganz ohne Mädchen.« Er holte sich ein Bier aus der Küche. »Du kannst froh sein, dass Dr. Engel keine Dienstaufsichtsbeschwerde erstattet, wegen Sabotage einer 379
Versuchsreihe der Rassenhygienischen Forschungsstelle. Na, lassen wir das. Mit dem Transport Juden heute früh ist eine kräftige Sieb‐ zehnjährige angekommen. Sieh sie dir an, ob sie für den Haushalt taugt.« »Jetz fahr ick erst mal nach Berlin, einkaufen. Der Herr hat wohl nischt dajegen?« »Bring mir ᾿ne Flasche ›Petrol Hahn‹ aus dem Kadewe mit.« Sie besorgte das Haarwasser und kaufte für sich Unterwäsche. Es war ein Vorwand. Sie wollte zu Frank Saunders. Ihre unge‐ heuerliche Entdeckung musste an die Öffentlichkeit. Das Büro der NewYork Herald Tribune war in der Friedrichstraße. Eine wasserstoffblonde Sekretärin hämmerte mit rotlackierten Fingernägeln auf einer Underwood, eine Zigarette zwischen den stark geschminkten Lippen. Sie gab sich sehr amerikanisch. »How can I help you?« »Mit mir könn᾿se ruhig Deutsch sprechen, Frollein. Ich möchte zu Herrn Saunders.« Die Wasserstoffblonde ignorierte beleidigt die Aufforderung. »Your name, please?« Marlene tat ihr den Gefallen. Fredie hatte ihr genügend Englisch beigebracht: »My name is Marlene Neubert. Mr. Saunders knows me.« »Mr. Saunders is now in our Paris office. Mr. Wilkins will be back in half an hour. Would you like to speak to him?« Marlene wollte nicht mit Mr. Wilkins sprechen. Der kannte sie nicht und würde ihr kein Wort glauben. Det jloobt dir übahaupt keener, setzte sie in Gedanken hinzu. Im Vorgarten des Café Wien am Kurfürstendamm saßen som‐ merlich gekleidete unbekümmerte Menschen. Ein paar gut ausse‐ hende junge Offiziere flirteten mit ihren Mädchen. Ein Zeitungs‐ junge rief die Schlagzeilen der BZ am Mittag aus. Deutsche Fallschirmtruppen hatten die Engländer von der Insel Kreta ver‐ jagt. 380
Da löffelste deinen Eisbecher mit Sahne, und in Blumenau schneidense den Leuten die Koppe ab, dachte sie niedergeschla‐ gen. Irjendwat muss da jescheh᾿n. Sie wusste nur nicht, was. Sie war hilflos, war selber Gefangene, obwohl sie sich frei bewegen konnte. Sie übernachtete in der Pension Wolke, deren Fenster mit Pappe und Reißzwecken luftschutzmäßig verdunkelt waren. Frau Wolke erinnerte sich: »Sie wohnten mal ein paar Tage bei uns.« Nein, die Wirtin wusste nicht, was aus Fräulein von Aichborn geworden war. »Sicher vornehm verheiratet, mit ᾿nem Grafen oder so«, mut‐ maßte sie. Zu Hause griff Marlene als erstes nach dem Feldtelefon, um Fredie ihre Rückkehr zu melden. Verblüfft hörte sie Stimmen und erinnerte sich. Klar, da war irgendein Fehler in der Leitung. Sie hatte völlig vergessen, Fredie darauf aufmerksam zu machen. Sie erkannte Noacks Stimme: »...überwachen wir unter anderem alle ausländischen Zeitungskorrespondenten.« »Gewiss, Standartenführer.« »Auch das Büro der New York Herald Tribune. Die Sekretärin steht auf unserer Informantenliste. Sie meldet, dass gestern bei ihr eine Marlene Neubert erschien, um mit Frank Saunders zu spre‐ chen. Obersturmbannführer Neubert, Ihre Frau unterhält Kontakt zur Auslandspresse.« Kurzes Schweigen. Dann wieder Fredie: »Saunders war früher ein – Gast von ihr.« »Früher, na schön. Aber heute? Neubert, da ist doch eine Rie‐ senschweinerei im Gange.« Fredies Stimme klang gepresst: »Sie hat im Labor den Kopf ihres Hausmädchens gefunden. Dr. Engel hatte die Zigeunerin für eine Versuchsreihe ausgewählt. Meine Frau war deswegen ein biss‐ chen durcheinander. Darum maß ich ihrer Reaktion nicht viel Bedeutung bei.« »Was für eine Reaktion? Reden Sie, Mann.« 381
»Sie drohte, Engels Experimente an die Öffentlichkeit zu brin‐ gen.« »Mit der Öffentlichkeit meinte sie offensichtlich diesen ameri‐ kanischen Zeitungskorrespondenten. Neubert, das ist Hochverrat. Das kann unangenehme Folgen für Sie haben.« Fredies Stimme war ohne jede Gefühlsregung: »Herr Standar‐ tenführer, ich ersuche um sofortige Auflösung meiner Ehe.« »Das ehrt Sie, Obersturmbannführer. Ich leite das für Sie in die Wege. Lassen Sie Ihre Frau nichts merken. Alltag wie immer, ver‐ standen?« »Jawohl, Standartenführer.« »Was machen wir mit ihr? Ich wünsche eine unauffällige Lö‐ sung.« »Wir überstellen die Prostituierte Marlene Kaschke als Volks‐ schädling ins Lager Theresienstadt.« Fredie, du Schwein, dachte Marlene ohne besondere Überra‐ schung. Sie legte auf. Denn also nischt wie weg, beschloss sie zum dritten Mal in ihrem Leben. Fredie ließ sich nichts anmerken. Er war höchstens netter als ge‐ wöhnlich. Zum Abendessen machte er eine Flasche Mosel auf. »Weil Mittwoch ist«, scherzte er. Mann, hast du Chuzpe, dachte sie. Nach dem Essen gähnte er. »Ich gehe ins Bett.« »Bin nicht müde. Hast du was dagegen, wenn ich den ollen Ju‐ den in seiner Hexenküche besuche? Der erzählt so interessant von früher. Stell dir vor, er hat sogar den Kaiser getroffen.« »Meinetwegen.« Fredie verschwand nach oben. Der Posten vom Nachtdienst öffnete ihr die Pforte. Grelles Scheinwerferlicht drang von den Wachtürmen herab und gab dem Kiesweg des Vorlagers einen harten Glanz. Professor Dr. Georg Raab stichelte unter einer starken Lampe an einer Kupferplatte. Sein weißer Haarkranz schimmerte im 382
Halbdunkel. Er sah aus wie der gemütliche Großvater, den Mar‐ lene nie hatte. »Herr Professor, ick muss weg.« Sie verschwieg ihm nichts. »Ick weeß nich, wohin. Bitte raten Sie mir.« »Sie setzen großes Vertrauen in mich, Madame.« »Ick hab doch sonst keenen.« Raab stichelte weiter an seiner Platte. »Vielleicht gibt es einen Ausweg.« »Ick tu allet, wat Sie sagen.« »Ich mache Ihnen einen Pass mit Ausreiseerlaubnis, einem Schweizer Durchreisevisum und einer Einreisegenehmigung des deutschen Militärgouverneurs nach Frankreich. Sie fahren über München und Genf nach Paris. Der direkte Weg über die deutsch‐ französische Grenze ist für Zivilisten gesperrt.« »Für ᾿n Häftling kennen Sie sich janz jut aus in der Weltje‐ schichte.« »Man gestattet mir Zeitungen und Radio. Die BBC ist eine un‐ schätzbare Informationsquelle.« »Warum ausjerechnet Paris?« »Weil Sie da garantiert keiner sucht. Und weil ich da jemanden kenne, der Ihnen helfen wird. Haben Sie ein Passbild? Am besten ein etwas älteres.« »Fünf, wenn Sie wollen. Photomaton macht᾿s nämlich nicht unter Stücker sechs. Eins brauchte ich vor zwei Jahren für ᾿n neuen Ausweis. Die Übrigen liegen beim Nähzeug im Kasten.« »Bringen Sie mir die gleich morgen früh. Marlene Neubert heißt von nun an Helene Neumann. Das ist ähnlich genug, um es sich leicht zu merken. Ihren Geburtstag lassen wir unverändert. Sie haben Auftrag, Baulichkeiten auf ihre Eignung als Heim für die NS‐Frauenschaft der künftigen Ortsgruppe Paris zu begutachten. Das ist so meschugge, dass es kein Mensch nachprüfen wird. Bei eventuellen Kontrollen weisen Sie außerdem ein diesbezügliches Schreiben der Parteileitung in München vor. Der Briefkopf ist mir 383
gut gelungen. Besonders der Reichsadler. Er schielt ein bisschen.« Der kleine Professor gluckste. »Sie kennen wen in Paris?« »Ein alter Freund. Er heißt Brunei. Aristide Brunei. Verlangen Sie im Louvre nach ihm.« »Wo is ᾿n det?« »Jeder Pariser kann Ihnen den Weg zeigen. Fragen Sie Brunei, ob er die beiden Canalettos endlich unterscheiden kann. Er wird Sie sicher unterbringen. Und dann warten Sie ab.« »Den Endsieg?« »Den unausbleiblichen Sieg der Vernunft und der Menschlich‐ keit.« Der rundliche kleine Mann mit dem weißen Kittel über der gestreiften Häftlingskluft überlegte. »Sie brauchen Geld. Die erste Serie Schweizer Franken ist in Arbeit. Ich drucke für Sie ausrei‐ chend mit. Tauschen Sie nicht zu viel auf einmal um.« Er zögerte. »Es gibt allerdings ein Problem. Siebert sieht mir bei der Arbeit dauernd über die Schulter.« »Wie lange brauchen Sie?« »Täglich eine Stunde, und zwar eine Woche lang.« »᾿ne Stunde jeden Nachmittag kann ick Ihnen den Siebert von der Pelle halten.« »Wie wollen Sie das anstellen?« »Fragen᾿se besser nich.« Die Begegnungen mit dem jungen Siebert waren nicht übermäßig aufregend, aber Marlene gefiel der Gedanke, Fredie im eigenen Ehebett mit einem Untergebenen zu betrügen, und zwar täglich von fünfzehn bis sechzehn Uhr, wenn der Herr Kommandant seine Runde durchs Lager machte. Sie sorgte dafür, dass die Wer‐ ner diese Rendezvous mitkriegte. Irgendjemand musste es Fredie schließlich stecken, sonst war es nur der halbe Spaß. Eine Woche lang sielte sie sich mit Siebert in den Neubert sehen Kissen und gab ihm großzügig das Gefühl, ein unvergleichlicher 384
Liebhaber zu sein. Dann hatte der Professor seine Fälschungen vollendet. »Mit neuer Geburtsurkunde als Dreingabe. Hals‐ und Beinbruch, meine Liebe.« Sie hielt ihn am Ärmel fest. »Moment, Herr Professor. Und was ist mit Ihnen? Wir müssen beide weg. Ich muss weg, weil die mich nach Theresienstadt schicken wollen. Sie müssen weg, weil der Reichsheini nach Abschluss der ›Operation Nadel und Faden‹ Ihre Liquidierung angeordnet hat.« Sie schlug bewusst einen leichten Ton an: »Wolln᾿se etwa daraufwarten? Kommt janich in Frage. Nu zaubern᾿se sich selber ᾿n paar anständije Papiere, und denn türm᾿ wa jemeinsam und stelin uns die beknackten Jesichter von die Zurückjebliebenen vor.« Raab sah sie traurig an: »Ich würde nicht weiter als bis zum Tor kommen. Man kann seinem Schicksal nicht entrinnen. Mascha wird mir folgen, wenn sie es erfährt. Unser Abgang hat keine Bedeutung. Was sind schon zwei tote Juden mehr in der zweitau‐ sendjährigen Geschichte eines monumentalen Missverständnisses. Sie müssen leben, um der Welt das Ungeheuerliche zu berichten. Und nun gehen Sie bitte schnell.« »Du dämlicher Hund, du saudummer Jude!«, schrie sie ihren unsäglichen Kummer und ihre Verzweiflung heraus. Mit tränen‐ überströmtem Gesicht lief sie davon. Sie hatte sich vor ihren Mitreisenden hinter der Vogue verschanzt, doch sie las nicht. Sie schwebte in jenem Zustand zwischen Wa‐ chen und Schlafen, wenn Körper und Geist sich über Raum und Zeit nicht einigen können. Die letzten vierundzwanzig Stunden waren selbst für die unverwüstliche Göre aus der Rübenstraße zu viel gewesen. Die halsbrecherische Tour mit dem Rad zum Bahn‐ hof Blumenau, den Koffer hinten drauf. Der Frühzug, der Verspä‐ tung hatte. Das Bangen, den Anschluss in Berlin zu verpassen. Die endlos lange Fahrt nach München. Das Umsteigen in den Zug nach Genf. Das Herzklopfen bei jeder Fahrkartenkontrolle. Der 385
Beamte an der deutschen Grenze, der befahl: »Kommen Sie mit« — bis sie verwirrt erkannte, dass es der Zugschaffner war, der den Platz im Nichtraucherabteil für sie gefunden hatte, um den sie ihn gebeten hatte. Das Aufatmen, als Deutschland hinter ihr lag, und die nächtliche Schweiz vorüberglitt, ohne Kontrollen und mit hell erleuchteten Fenstern. Der Schlaf der Erschöpfung, der alles auslöschte, nur nicht das Geräusch der Räder auf den Schienen, das zum Rollen hundert abgeschnittener Köpfe wurde. »Votre passeport, s᾿il vous plaît.« Marlene schreckte hoch. Es war früher Morgen. Im Abteil stand ein französischer Passbeamter, ein deutscher Feldgendarm hinter ihm. Ich heiße Neumann, hämmerte es in ihrem Kopf. Helene Neumann... Der Beamte blätterte in Professor Raabs Kunstwerk. Der Feld‐ gendarm las über seine Schulter mit. »Wohin?«, fragte er knapp. »Paris«, antwortete sie ebenso einsilbig. »Was wollen Sie da?« Sie holte das Schreiben der NS‐Parteileitung aus der Handtasche. Der Feldgendarm las. Offenbar verstand er kein Wort. »Danke, in Ordnung.« Er gab ihr das Papier zurück. »Bon voyage, Mademoiselle.« Der Beamte händigte ihr den Pass wieder aus und wandte sich dem nächsten Reisenden zu. Eine französische Dampflokomotive hatte die schweizer E‐Lok abgelöst und puffte in schnellem Stakkato, bis ihre Schwungräder griffen, und der Zug sich langsam in Bewegung setzte. Der Gare de Lyon bot ein friedliches Bild, das ein paar herum‐ lungernde deutsche Landser nicht stören konnten. Eilige Reisen‐ de. Beflissene Gepäckträger. Bunte Kioske. Ein Akkordeonspieler. Ein pinkelnder Hund an der Säule mit der »Picon«‐Reklame. Und über allem ein unvergleichliches Duftgemisch aus Ruß, billigem Parfüm, Gitanes und Pastis. Die Ankommende nahm es in sich auf. Ooch nich anders als uff᾿m Lehrter Bahnhof, nur eben anders, dachte sie in bester Rübenstraßenlogik. 386
Vor dem Bahnhof warteten Fahrradtaxis. Benzin war knapp. Marlene hob ihren Koffer in eines der Gefährte. »Zum Louvre.« Sie genoss die schaukelnde Fahrt durch die Stadt, der ein paar Wochen Krieg und zwölf Monate Waffenstillstand nichts anhaben konnten. »Attendez«, befahl sie am Ziel. »Warten Sie.« Vor dem Louvre scharte sich eine Gruppe deutscher Offiziere um einen Fremdenführer, der in erbärmlichem Deutsch etwas er‐ klärte. »Mon dieu non, c᾿est intolérable. Parlez français, s᾿il vous plaît«, beschwerte sich ein Hauptmann in makellosem Französisch. Ein Major löste sich aus der Gruppe und baute sich vor Marlene auf. Sie stellte den Koffer ab, um ihren Reisepass aus der Handtasche zu kramen. Hier kontrollieren᾿se dir vamutlich sojar, wenn de uffs Klo musst, überlegte sie ärgerlich. »Vous permettez, Mademoiselle?« Der Major wollte nicht ihren Reisepass, sondern ihren Koffer. »Ou puis‐je vous la porter?« »Da rauf bitte.« Sie wies die Stufen zum Eingang hinauf. »Sie sind Deutsche?« »Das hören Sie doch.« »Besuch im Louvre?« »Das sehen Sie doch.« Ein deutscher Offizier war das letzte, was sie jetzt brauchen konnte. Er ließ sich nicht abwimmeln. »Major Achim Wächter, wenn Sie gestatten. Vielleicht könnten wir uns wieder sehen?« Er war ungefähr vierzig und hatte graue Fäden im Haar. Er musterte sie abschätzend. Jetz taxiert er, wie leicht man mir uff die Matratze kriegt, dachte sie. »Danke fürs Koffertragen.« Sie ließ ihn einfach stehen und wandte sich zum Museumsdiener am Portal: »Je cherche Monsieur Aristide Brunei.« »Vous êtes la dame allemande?« »Was dajegen?« »Allez.« Der Mann ging voraus. Eine kleine Seitentür. Ein schma‐ ler Gang. Eine Wendeltreppe. Ein langer Korridor. Eine hohe Flü‐ 387
geltür. Ein imposanter Schreibtisch. Ein weißhaariger Herr im dunklen Zweireiher. »La dame allemande, Monsieur le directeur.« »Unser Besuch aus München.« Der Weißhaarige sprach Deutsch. »Die Restauratorin von der Alten Pinakothek, nicht wahr? Bon jour, Madame.« »Mit Restaurants habe ich nichts zu tun. Ich soll mich erkundi‐ gen, ob Sie die beiden Canalettos endlich unterscheiden können.« Bruneis Miene hellte sich auf. »Wie geht᾿s meinem Freund Georg Raab?«, rief Monsieur Brunei erfreut. »Beschissen. Und solange es ihm beschissen jehtjeht᾿s ihm jut, weil er nehmlich lebt, fragen᾿se mich aba nich, wie lange.« »Steht es so schlimm?« »Noch viel schlimmer.« »Und Sie, Madame?« »Ich konnte abhau᾿n. Mit seiner Hilfe. Er sagt, Sie würden mich sicher unterbringen.« Brunei telefonierte. Er sprach leise und schnell. Marlene ver‐ stand kein Wort. Er legte auf. »Sie waren nicht hier, und wir wer‐ den uns nicht wieder sehen. Im unwahrscheinlichen Fall einer zu‐ fälligen Begegnung kennen wir uns nicht.« »Kapiert. Und nu?« »Gehen Sie hinunter. Das Weitere wird sich finden.« Er küsste ihr die Hand. »Bonne chance, ma chère.« Er brachte sie bis zur Wendeltreppe. Die deutsche OfEziersgruppe war fort. Am Fuße der breiten Treppe wartete das Fahrradtaxi. Marlene stutzte. Es war nicht derselbe Fahrer, sondern ein dunkler Typ mit Schnauzbart, der ihr stumm bedeutete, einzusteigen. Mit einem Ruck setzte sich das Gefährt in Bewegung. Sie führen in schnellem Tempo durch die Stadt, Marlene hatte keine Ah‐ nung, wie lange und wohin. Bergauf musste der Fahrer sich mächtig in die Pedale legen. »Montmartre«, erklärte er atemlos. In der gleichen Sekunde schossen sie bergab auf eine Einfahrt zu. BER‐ 388
TRAND᾿S VELOTAXIS las sie über dem Tor. Dann schlug es krachend
hinter ihnen zu. Ringsum war Finsternis. Und nu?, dachte sie mehr verblüfft als ängstlich. »Votre nom?«, drang eine Stimme durch das Dunkel. »Helene Neumann.« »Votre vrai nom.« »Wree vasteh ick nich. Mein Französisch hält sich nämlich in überschaubaren Grenzen, wenn᾿se wissen, was ich meine.« »Ihren richtigen Namen wollen wir wissen«, forderte die Stim‐ me ungeduldig. »Lassen᾿se erst ᾿n bissken Licht in die Bude, dass ick Ihnen in die Pupille linsen kann.« Leises Murmeln, gefolgt von einer Pause und dem Knarren von Fensterläden. Helligkeit blendete sie und zeichnete die Umrisse von drei Personen. Sie hob schützend die Hand vor die Augen. Sie erkannte den Schnauzbärtigen. Neben ihm stand eine junge Frau. Sie trug ein buntes Sommerkleid, dazu modische Keilab.‐ sätze. Das lange dunkle Haar hatte sie zu einer Innenrolle gefasst. Sie musterte Marlene abschätzend. »Wir wollen wissen, wer Sie sind, wie Sie wirklich heißen, wo‐ her Sie kommen.« Der Sprecher war um die dreißig, ein großer dunkler Mann mit eckigem Kinn. Sein Deutsch war fließend. Mar‐ lene meinte die Spur eines Dialektes herauszuhören, den sie nicht kannte. »Warum wolln᾿se det unbedingt wissen?« »Parce‐que vous êtes allemande et les allemands sont nos enne‐ mies«, sagte die junge Frau scharf. »Na jut, wenn ᾿ses jenau wissen wollen, mein Name ist Marlene Neubert. Ich komme aus dem Lager Blumenau bei Berlin. Ein Freund Ihres Freundes Monsieur Brunei hat mir da mit falschen Papieren rausjeholfen. Selbige besagen, dass ich Helene Neumann heiße und den Auftrag habe, in Paris ein jeeignetes Jebäude für die 389
NS‐Frauenschaft zu finden. Hier mein Pass und det jleichfalls je‐ türkte Schreiben von der Parteileitung.« Sie reichte dem Sprecher die Papiere. »Vielleicht sind᾿se jetz so jütig, sich ooch vorzustellen.« »Ich heiße Armand. Das ist Yvonne, und das ist Bertrand.« »Notre nom de guerre«, ergänzte die Frau. »Du heißt von nun an Madeleine«, entschied Armand. »Wir sind hier alle per Du. Was geschieht, falls die Deutschen dich kontrollieren?« »An sich janischt. Aba wenn᾿se in Berlin nachfragen, bin ick dran. Denn murksen᾿se mich ab oder schicken mich nach There‐ sienstadt, was aufs Jleiche rauskommt. Noch Fragen?« »Ja. Bist du bereit, uns beim Kampf gegen die Deutschen zu hel‐ fen?« »Jegen die Deutschen nein. Jegen SS, Gestapo und Nazis ja.« »C᾿est la même chose«, warf Yvonne verächtlich ein. »Demnach bin ick dieselbe Schose wie diese Mörderbande? Nee, Mademoiselle, det muss᾿te schon anders formulieren.« »Lass das,Yvonne«, mahnte Armand. »Notre nouvel allié prend le même risque que nous. Was sie in Kürze bei ihrem ersten Ein‐ satz beweisen kann«, setzte er nachdenklich hinzu. »Zeig Made‐ leine ihr Quartier.« Im unkrautbewachsenen Hof erhob sich ein Glashaus, bis vor Kurzem ein Maleratelier, dessen Fenster bis zur halben Höhe mit Leinentüchern verhangen waren, um den Bewohnern etwas Privatsphäre zu geben. Der Künstler war in die Provence ausgewichen. Seine abstrakten Werke hingen und lagen überall herum. Es roch nach Ölfarben und Terpentin. Auf der Staffelei lehnte ein halbfertiger weiblicher Akt, mit schiefen Brüsten und einem Auge statt Nabel. »So ᾿n Keese«, war Marlenes Kommentar. »Armand schläft nebenan in der Kammer. Du lässt ihn in Ruhe, d᾿accord?« »Da kannste janz unbesorgt sein. Von den Herren der Schöp‐ 390
fung hab ick für ᾿ne Weile jenug.« Marlene inspizierte den kleinen Spriritusherd in der Kochecke und braute sich einen Kaffee. Sie beachtete Yvonne nicht weiter. Die zog ärgerlich ab. Armand war dauernd unterwegs und erschien nur zum Schlafen. Die anderen Mitglieder der Gruppe, insgesamt ein Dutzend, lebten über Paris verstreut. Bertrands Fahrradtaxis gaben ihnen Bewegungsfreiheit und eine perfekte Tarnung für ihre Resistance‐Operationen ab. In einem der Fahrzeuge war ein batteriebetriebener Sender verborgen, der dauernd den Standort wechselte und darum von der deutschen Funkpeilung nicht geortet werden konnte. Sie hatten ihn auf London eingepegelt, von wo die Widerständler ihre Befehle erhielten. All das erfuhr Marlene in den nächsten Tagen. Ringsum war hektisches Kommen und Gehen, was auf den bevorstehenden Einsatz wies. Was für eine Rolle man ihr wohl zugedacht hatte? Inzwischen langweilte sie sich. Auf die Straße mochte sie nicht gehen. Sie hätte nicht gewusst, wohin. Die Gruppe hatte keine Zeit für sie. Einzig Yvonne beobachtete sie misstrauisch, beson‐ ders wenn Armand abends in der Nähe war. Männer waren wirklich das letzte, was Marlene im Sinn hatte. Sind doch allet nischt wie Schweine, fasste sie zwanzig Jahre Erfahrung zusammen. Na ja, fast alle, schränkte sie ein. Der alte Herr Eulenfels, der war eigentlich in Ordnung gewesen. Frank Saunders irgendwie auch. Sie dachte an Franz Giese und hatte mit einem Mal ein komisches Gefühl im Magen. Sehnsucht? Sie wusste es nicht. Eines wusste sie: Janz schön bescheuert wars᾿te. Wenn de damals Ja jesagt hättest, wärs᾿te heute Frau Giese, und die janze Kacke wäre dir erspart jeblieben. Im gleichen Atemzug begriff sie, dass nur sie alleine in den Genuss dieser Ersparnis gekommen wäre. Für Jana, für den kleinen Professor, für all die Elendsgestalten in Blumenau hätte sich nichts geändert. Am dritten Tag nach ihrer Ankunft rollte eine große weinrote Panhard‐Limousine mit Pariser Kennzeichen in den Hof. Ein deut‐ 391
scher Offizier stieg aus. Marlene erschrak. Als sie Armand erkannte, atmete sie erleichtert auf. Er trug die Uniform eines Obersten der Wehrmacht. Für Marlene hatte er die Kleidung einer deutschen Rotkreuzschwester mitgebracht. Marlene rümpfte die Nase. »Stinkt aber jewaltig.« Armand lachte. »Unser maghrebinischer Schneider lässt sich gerne von Knoblauch inspirieren, wenn er deutsche Uniformen nachempfindet.« Der Befehl kam aus London. Die Deutschen hatten ein Auf‐ klärungsflugzeug der Royal Air Force abgeschossen. Der Pilot und sein Beobachter waren mit dem Fallschirm abgesprungen und gefangen genommen worden. »Der Pilot interessiert uns nicht«, erklärte ihr Armand. »Wir wollen den anderen. Lieutenant Colonel Colby ist Chefstratege der RAF. Er kennt sämtliche Bomberziele von Bordeaux bis Berlin. Er hat sich bei der Landung den Arm gebrochen und befindet sich im deutschen Offiziershospital in Neuilly. Die Gestapo hat Wind davon bekommen, wer der Patient ist. Sie haben Edelgard als angebliche Pflegerin zu ihm geschickt.« »Edelgard?« »Edelgard Bornheim ist studierte Psychologin. Sie hat den Ehrgeiz, jeden zum Reden zu bringen. Man hat sie wegen ihres perfekten Französisch zur Gestapoleitstelle Paris versetzt. Ihr Englisch ist genauso gut. Eine gefährliche Gegnerin. Jedes Mittel ist ihr recht. Sie kann mitfühlend sein, verständnisvoll und zuckersüß. Wenn᾿s zum Ziel führt, schläft sie mit ihrem Opfer, sei᾿s Mann oder Frau. Sie wird versuchen, Colbys Vertrauen zu erlangen. Wir müssen ihn so schnell wie möglich rausholen. Hier. Für alle Fälle.« Er gab Marlene eine kleine Pistole. »Eine 6.35 Beretta. Auf kurze Distanz tödlich. Bei Eigenbedarf am besten in den Mund stecken und abdrücken. Es tut nicht weh. Komm. Bertrand fährt uns.« Bertrand trug eine schwarze Chauffeurslivree mit Schirmmütze. 392
»Ein deutscher Offizier in einer französischen Limousine mit einem französischen Fahrer?«, wunderte sie sich. »Das gehört zu unserer Camouflage. Steigen Sie ein, Schwester Magda«, forderte Armand sie auf. »Woher kannst du eigentlich so gut Deutsch?«, fragte sie, wäh‐ rend sie durch die Straßen der Seinestadt rollten. »Ich bin Elsässer. Das Licht der Welt erblickte ich als Untertan Seiner Majestät Kaiser Wilhelms II., aufgewachsen bin ich als Ci‐ toyen de la Republique. Frankreich gehört mein Herz. Seit neues‐ tem bin ich wieder Deutscher und damit wehrpflichtig. Wenn sie mich erwischen, füsilieren sie mich wegen Fahnenflucht.« »In solch einem Fall am besten in den Mund stecken und abdrü‐ cken. Es tut nicht weh«, meinte Marlene unbeeindruckt. Das deutsche Offiziershospital war in einer großen Villa aus den Tagen des dritten Napoleon im Park von Neuilly untergebracht. Eine reich verzierte Toreinfahrt führte in einen Innenhof. »Wenn die det Tor dichtmachen, komm᾿ wa hier nich wieda raus«, berli‐ nerte Marlene. »Nehmen Sie den Regenmantel und folgen Sie mir, Schwester Magda«, schnitt Armand ihr das Wort ab. Ein Sanitätsgefreiter sprang auf und grüßte. »Ich bin Oberst Klemens. Wie heißt der Chef hier?« »Stabsarzt Fahrenkamp.« »Bringen Sie uns zu ihm.« »Jawohl, Herr Oberst.« Der Gefreite eilte voraus, an einigen ver‐ schreckten Schwestern vorüber und riss eine Flügeltür auf. »Oberst Klemens, Herr Stabsarzt«, meldete er laut. »Und das ist Schwester Magda. Sie wird sich um unseren Pa‐ tienten kümmern«, stellte Armand vor. »Herr Oberst, Schwester Magda... « Der Klinikchef klickte mit den Absätzen. »Um welchen Patienten handelt es sich?« »Hat man Ihnen das Fernschreiben aus dem Führerhauptquar‐ tier denn nicht übermittelt? Unglaublich! Dieser Sauerei gehen 393
wir später nach. Jetzt machen wir erst einmal den Engländer rei‐ sefertig.« »Lieutenant Colonel Colby?« Armand senkte die Stimme. »Geheime Reichssache. Colby ist ein naher Verwandter des englischen Königshauses. Wir haben Befehl, ihn ins Prominentenlager Schloss Südmaringen zu bringen. Kann sein, dass man ihn gegen Heß austauscht. Aber das haben Sie nicht gehört.« »Selbstverständlich nicht, Herr Oberst.« Der Klinikchef schnup‐ perte verwundert. Armand griente. »Sie müssen schon entschuldigen, Herr Fah‐ renkamp. Schwester Magda und ich hatten gestern Abend zum Diner Schnecken mit Knoblauchbutter. Zur Sache. Der Patient muss unauffällig befördert werden. Daher mein französischer Wagen mit französischem Chauffeur. Wir haben einen Regen‐ mantel mitgebracht. Den wird Schwester Magda ihm über seine Uniform ziehen.« »Kann ich endlich den Patienten sehen?« Marlene war ganz die energische Krankenschwester. »Gefreiter Fink, bringen Sie Schwester Magda zu unserem Ge‐ fangenen. Darf ich Ihnen derweil einen Armanac anbieten, Herr Oberst?« »Nein, danke, keine Zeit. Beeilen Sie sich, Schwester. Die Luft‐ waffe wartet nicht ewig mit der Maschine«, bluffte Armand. Der Gefreite brachte Marlene in ein helles, freundliches Kran‐ kenzimmer. Ein hagerer Mann in Khakihemd und Hosenträgern erhob sich vom Bettrand. Er griff nach der Uniformjacke. »You must excuse me, I did not expect any visitors.« »I am sister Magda. I will help you.« Sie half ihm in den rechten Armel und legte die Jacke über seine linke Schulter, sodass der ein‐ gegipste Arm bequem in der Schlinge ruhte. »We will get you out of here. Please trust us«, bat sie leise. »And now your raincoat.« Sie wollte ihm den Regenmantel umlegen, als die Tür geöffnet wurde. 394
Wenn det man keenen Ärjer jibt, dachte sie besorgt. Die Hereinkommende war eine gut aussehende Frau um die dreißig. Sie trug ein adrettes blaues Schneiderkostüm und ein ge‐ stärktes Schwesternhäubchen. »Unser Patient hat Besuch«, stellte sie lächelnd fest. »Ich bin Schwester Edelgard, guten Tag.« »Schwester Magda«, machte Marlene sich bekannt. »Freut mich, Schwester.« Edelgard reichte ihr unbefangen die Hand. »Sie sind neu im Hause?« »Wir sind hier, um den Gefangenen abzuholen. Er wird nach Schloss Südmaringen verlegt.« Armand kam herein. »Oberst Klemens«, stellte er sich vor. »How do you do, Herr Oberst?«, erwiderte der Engländer förm‐ lich und verzog das Gesicht. Offenbar schmerzte der Bruch. »Schwester Magda hat Schmerzmittel im Gepäck. Sie wird sich unterwegs um Ihren Arm kümmern«, beruhigte ihn Armand. »Eine Fraktur des Femur«, sagte Schwester Edelgard sachver‐ ständig. »Das heilt bald. Ich mache uns zum Abschied einen Tee.« Sie öffnete die Tür zum fensterlosen Kabuff nebenan, wo auf dem Tisch Gaskocher und Teekessel standen — und ein Feldtelefon, dessen Leitung durch das offene Fenster des Krankenzimmers ins Freie führte. »Zugluft ist nicht gut für unseren Patienten.« Marlene schloss das Fenster. Edelgard füllte den Kessel am Waschbecken. »Südmaringen soll sehr schön sein. How nice for you, Lieutenant Colonel. Der Tee kommt gleich.« Sie wollte die Tür des Kabuffs hinter sich schließen. Armands Aufwärtshaken kam blitzschnell. Mit einem Seufzer fiel Schwester Edelgard um. »Sie wollte doch nur Tee kochen«, sagte Marlene vorwurfsvoll. »Sie wollte Alarm schlagen.« Armand sperrte die Tür des klei‐ nen Gelasses zu und steckte den Schlüssel ein. »Femur ist der Oberschenkelknochen. Eine echte Schwester weiß sowas. Das Telefon ist direkt mit der Gestapozentrale verbunden.« 395
»War verbunden«, berichtigte Marlene und hielt ihm die beiden Enden des Telefondrahts entgegen, den sie beim Schließen des Fensters zerrissen hatte. »So eine provisorisch verlegte Feld‐ leitung ist nicht sehr reißfest, hat mir mal jemand gesagt.« »Jolly good show«, lobte der Engländer. »Und nu va drücken wa uns unauffällich.« Marlene legte ihm den Regenmantel um und führte ihn aus dem Zimmer. Armand bildete die Nachhut. Auf der Treppe gesellte sich der Klinikchef zu ihnen und begleitete sie zum Wagen. »Alles Gute, Herr Oberstleutnant«, verabschiedete er sich von Colby. »Thank you, Doctor.« Der weinrote Panhard fuhr an. Colby wandte sich zu Armand: »And now?« »In ein paar Tagen sind Sie in London.« Sie hielten mitten im Park, im Schütze dichter Büsche. Bertrand pfiff schrill auf zwei Fingern. Über den Rasen preschten zwei Fahrradtaxis heran. Armand warf Mütze und Uniformjacke in den Wagen. Marlene ließ das Schwesternhäubchen folgen. Sie half dem Engländer in eines der Gefährte und zwängte sich neben ihn. Die Fahrer stellten sich in die Pedale. »Macht richtich Laune, eure Resistance«, rief sie ausgelassen. »Nur, solange sie uns nicht erwischen«, dämpfte Armand ihren Übermut. Mich erwischt keener, dachte Marlene unternehmungslustig und erkundigte sich bei Yvonne: »Wo geht man denn hier so einkau‐ fen?« »Bei Printemps oder in den Galeries Lafayette. Wenn du genug Geld hast, auch am Place Vendôme.« Eines der Fahrradtaxis brachte sie in die Stadt. An der Kasse der Crédit Lyonnais tauschte man ihre falschen Schweizer Franken an‐ standslos gegen Francs ein, genug für ein hübsches Kleid und einen darauf abgestimmten leichten Mantel von unnachahmlichem Pari‐ ser Chic bei Printemps sowie für ein Paar himmlischer Schuhe mit 396
hohen Absätzen und passender Handtasche am Place Vendôme, dazu seidene Wäsche und Strümpfe aus Madame Schiaparellis Boutique im Hotel Ritz. Aus der Hotelbar drang gedämpftes Stimmengewirr. Sie nahm an einem der Tischchen Platz. Ein paar hohe deutsche Offiziere saßen mit ihren Damen beim Aperitif. Einige französische Ge‐ schäftsleute träufelten ihren Ricard über einen Würfel Zucker ins Glas. »Vornehm jeht die Welt zujrunde.« Sie bestellte sich ein Glas Champagner. An der Bar tranken zwei Männer ihren Whisky. Marlene sah die Rücken ihrer Tweedjacken. Einer der beiden beobachtete sie im Spiegel. Es war Frank Saunders. Er nickte ihr unmerklich zu, schaute sie dabei fragend an. Sie neigte zustimmend den Kopf. Er nahm sein Whiskyglas und schlenderte zu ihr herüber. »Hast du dein Jagdrevier gewechselt?«, neckte er sie. »Bei der starken einheimischen Konkurrenz?«, ging sie locker auf seinen Ton ein, als hätten sie sich erst gestern gesehen. »Du bist konkurrenzlos.« Er küsste ihre Fingerspitzen. »Wie wär᾿s – ich wohne gleich um die Ecke.« »Jehn wa sofort, oda kann ick noch austrinken?« »Hey, Sweetheart, so empfindlich warst du früher nicht. Erzähl, was machst du in Paris?« »Das ist eine lange Geschichte. Bist du noch immer bei der He‐ rald Tribune?« »Ich leite unser Büro hier. Faszinierender Job. Als Neutraler habe ich Bewegungsfreiheit.« »Ich habe was für dich. Wo können wir ungestört reden?« »Ich sagte ja schon, ich wohne gleich um die Ecke.« »Nicht vögeln, Frank. Reden.« »Der Pianist bei Harry spielt so laut, dass man kaum das eigene Wort versteht. Es sind nur ein paar Schritte.« Saunders winkte dem Kellner und zahlte. »Bis morgen, Ernest.« Er klopfte dem Tweed‐ rücken an der Bar im Vorbeigehen auf die Schulter. »Ein Kollege. 397
Berichtet für die New York Times und schreibt nebenher Roma‐ ne.« »Harry᾿s New York Bar« war in die Rue Daunou. Ein Piano tönte ihnen in blechernem Stakkato entgegen. »Zwei Scotch nach hinten«, rief Saunders. »Ok, shoot«, forderte er sie auf. »Was möchtest du zuerst hören? Hautbespannte Skelette, die bei Wassersuppe verhungern? Wächter, die hilflose Häftlinge mit dem Knüppel totschlagen? Versuchspersonen, denen sie den Kopf abschneiden? Oder genügt dir ein Aufenthalt im Keller, wo die Ratten deine Zehen abnagen? Das Ganze heißt Blumenau und ist eines ihrer Lager, in denen sie Menschen quälen und umbringen.« »Klingt verdammt unwahrscheinlich. Wie kommst du als deut‐ sche Zivilperson mitten im Krieg nach Paris? Woher hast du die Story? Stimmen die Einzelheiten? Überzeuge mich.« Sie redete ununterbrochen eine halbe Stunde lang. Vergaß über all den Gräueln auch das Falschgeld nicht. Saunders schob sein Whiskyglas hin und her. Er dachte nach. »Ja, so müsste es gehen«, sagte er schließlich. »Pass auf. Meine Sekretärin Nancy ist so blond wie du. Mit Hornbrille ähnelst du ihrem Passbild. Wir nehmen das Flugboot von Lissabon über die Azoren nach Florida und fliegen weiter nach New York. Sowie unsere Rotation angelaufen ist, stelle ich dich Presse und Radio vor.« Er redete sich mehr und mehr in Begeisterung. »Exfrau eines KZ‐ Kommandanten packt aus. Wie findest du das? Gut, was? Sweetheart, das wird die Sensation, mit deinem Sex Appeal. Du bekommst ein sagenhaftes Honorar. Und vor allem – du bist in Sicherheit.« »So einfach is det.« In ihren Worten schwang die Verzweiflung all der Geschundenen mit, für die es keinen Ausweg gab. »Nancy hat kürzeres Haar als du. Geh zum Friseur.« »Telefon!«, rief der Barmann und hielt den Hörer hoch. Nach kurzem Gespräch kehrte Frank Saunders an den Tisch zurück. »Ick will nich nach Amerika«, sagte Marlene leise. »Ick will hier 398
bleiben. Und wenn der janze Scheiß vorbei is, will ick wieder nach Berlin.« »Das kannst du schneller haben, als du zu hoffen wagst. Der Anruf kam von meinem Büro. Hitler hat den Vereinigten Staaten den Krieg erklärt. Dass er ihn damit verloren hat, weiß der Unglücksrabe natürlich nicht. Entschuldige, ich muss packen. Man gibt uns nur ein paar Stunden, das Land zu verlassen.« »Bringst du den Bericht?« »Ohne deinen persönlichen Auftritt ist das Ganze nichts wert. Bei uns verkauft sich sowas nur mit Sex Appeal. Sorry, Sweetheart. Versuchs bei den Schweden. Die haben eine düstere nordische Vorliebe für Gruselgeschichten.« Sie verließ ihn ohne ein Wort. Es gab nichts mehr zu sagen. Sie traf Major Wächter vor dem Café an der Oper. Es war zu spät, auszuweichen. »Nicht wahr, diesmal geben Sie mir keinen Korb«, bat er. »Also gut, auf eine Tasse Kaffee.« »Ich weiß nicht einmal, wie Sie heißen.« »Helene Neumann. Ich komme aus Berlin. Ich soll hier ein pas‐ sendes Quartier für die künftige Ortsgruppe unserer Frauenschaft finden.« »Ich bin aus Nürnberg. Spielzeugfabrikant. Als Adjutant des Stadtkommandanten komme ich viel rum in Paris.« Er wartete auf ihre Reaktion. »Wir könnten eine Menge Spaß miteinander haben«, hakte er nach. Er weeß noch nich jenau, wie er mich rumkriejen soll, analy‐ sierte sie seinen Vorstoß. »Adjutant des Stadtkommandanten, das ist sicher ein sehr inte‐ ressanter Posten«, meinte sie unverbindlich. »Für einen Liebhaber von Frankreichs Küche und Keller das reinste Paradies. Man hofiert den Sieger. Ich begleite den Gene‐ ral auf Dutzende von Empfängen und Banketts. Ein Paar unserer 399
Nürnberger Rostbratwürstchen und dazu ein Bier wären mir manchmal lieber.« Sie erhob sich. »Danke für den Kaffee.« Er sprang auf. »Sehen wir uns wieder, Fräulein Neumann?« »Vielleicht. Ich komme öfter auf eine Tasse Kaffee hierher. Guten Tag, Herr Major.« Er ließ sich nicht abschütteln. »Ich bringe Sie nach Hause. Ich rufe einen Dienstwagen.« Er strebte zur nächsten Telefonzelle. Marlene winkte ein Fahrradtaxi heran. »Montmartre.« Aufat‐ mend fiel sie in den Sitz. »Spionin, Verräterin, sale boche«, fauchte Yvonne. Irgendwer hatte Marlene mit dem Major gesehen. »Das musst du uns schon erklären«, forderte Armand ruhig. »Er sprach mich am Tag meiner Ankunft vor dem Louvre an. Wollte unbedingt meinen Koffer tragen. Major Achim Wächter. Ich traf ihn heute zufällig am Café de l᾿Opéra. Sollte ich weg‐ laufen? Ich nahm seine Einladung auf einen Kaffee an. War nicht leicht, ihn loszuwerden.« »Was weißt du von ihm?« »Dass er im Zivilberuf Spielzeugfabrikant und jetzt Adjutant des Stadtkommandanten ist.« »Alles Lüge. Sie arbeitet für die Deutschen«, rief Yvonne erregt. »Ja seht ihr denn nicht, wie raffiniert sie sich bei uns eingeschlichen hat? Zur Tarnung macht sie ein paar Operationen mit. Dann liefert sie uns der Gestapo aus.« Armand überlegte laut: »Der deutsche Stadtkommandant resi‐ diert im Palais Verny. Die Marquis de Verny bauten es im fünf‐ zehnten Jahrhundert. Den Aufriss sämtlicher Räume von den Kel‐ lergewölben bis unters Dach haben wir aus dem Stadtarchiv. Wir wissen vom französischen Personal, dass der General sein Arbeits‐ zimmer in der Bibliothek hat, und dass sich sein Sekretariat im an‐ grenzenden Musiksalon befindet. Die Zentrale der Nachrichten‐ 400
truppe ist in der zweiten Etage untergebracht. Die Feldgendarme‐ rie übt ihren Wachtdienst vom Südflügel her aus. Was wir nicht wissen, ist die genaue Lage der Zellen im Keller, in denen man Arrestanten bis zu ihrer Überstellung an die französische oder deutsche Polizei, beziehungsweise an den Sicherheitsdienst der SS, festhält. Madeleine, ich möchte, dass du den Adjutanten wieder siehst. Von der richtigen Antwort auf unsere Frage könnte künftig das Gelingen einer Befreiungsaktion abhängen.« Von nun an trank sie jeden Nachmittag ihren Kaffee vor dem Café de l᾿Opéra. Sie musste sich eine Woche gedulden, bis der Major auftauchte. »Ich war auf Kurzurlaub zu Hause. Ilse und die Jungs wollten mich gar nicht mehr weglassen. Ich hoffe, Sie flüch‐ ten heute nicht wieder. Ich habe den Abend frei. Machen Sie mir die große Freude, essen Sie mit mir?« Er hatte eine Suite im George V bestellt, mit einem lautlosen Zimmerkellner, der den Champagner einschenkte und das Diner servierte. Es gab frisch geräucherten Loire‐Lachs, Consommée vom Limousinochsen und Schnepfen mit wildem Pfirsich. Da stürzt sich eener in Unkosten, wo ick für ᾿ne Bockwurst mit ihm in die Daunen klettern würde. Sie griente in sich hinein. Sie hatte beschlossen, geradlinig vorzugehen. Der direkte Weg führte durchs Bett und, das wusste sie aus Erfahrung, gewöhnlich zum Erfolg. Sie aß mit gutem Appetit, ohne Sinn für kulinarische Fein‐ heiten. Für das Kind der Rübenstraße war Essen Lebens‐Mittel im wahrsten Sinne des Wortes. Sie ließ sich verführen, um den Schein zu wahren. Er befum‐ melte sie, und ging dabei so plump zu Werke wie die meisten Männer. Sie gab seufzend nach, sobald der Anstand es erlaubte. Er hatte nicht viel Ausdauer, was ihr nur recht sein konnte. »Lockst du die Damen immer in so teure Betten?«, zog sie ihn auf. »In der Kommandantur ist Damenbesuch nicht drin.« »Auch tagsüber nicht?« 401
»Wir können uns in einem Tageshotel treffen.« Sie zog mit dem Finger eine imaginäre Linie von seinem Brust‐ bein zum Nabel. »Woran du schon wieder denkst«, gurrte sie. »Ich frage aus einem anderen Grund. Ich erwähnte schon, dass man mich nach Paris geschickt hat, um ein geeignetes Gebäude für unsere Frauenschaft zu finden. Ich bin nämlich Architektin. Da interessiere ich mich natürlich für historische Bauten. Ich kenne das Palais de Verny aus vielen Beschreibungen. Ich habe die fünfhundertjährigen Baupläne und ungezählte Abbildungen studiert. Besonders die Konstruktion der Fundamente würde ich mir liebend gerne aus der Nähe ansehen. Die alten Baumeister hatten uns da so einiges voraus.« »Unsere Sicherheitsvorschriften sind verschärft worden, seit wir vor ein paar Tagen einen Einbrecher im Großen Salon erwischt haben.« »Bitte, Achim.« Sie blies in die Löckchen auf seiner Brust und glitt tiefer. Ihre Lippen weckten ihn aufs neue. Sie ritt ihn mit krei‐ sendem Becken und kam dabei diesmal auf ihre Kosten. »Komm Dienstagfrüh in mein Büro«, sagte er zum Abschied. »Ich werde sehen, was sich machen lässt.« Der Dienstag war kalt und nass. Zum ersten Mal zog Marlene den neuen Regenmantel an und die schicken Überschuhe aus Kaut‐ schuk, beides aus den Galeries Lafayette. Die Umhängetasche hängte sie wie gewöhnlich über die rechte Schulter. Bertrand fuhr sie mit dem Fahrradtaxi zur Kommandantur. Er würde warten. »Für alle Fälle.« Er zündete sich eine Caporal an. Ein Unteroffizier brachte sie zu Achim Wächter, der gerade telefonierte: »Was für ein Unsinn. Der Mann ist kein Agent des britischen Secret Service. Ein ganz gewöhnlicher Einbrecher, der es auf das Tafelsilber abgesehen hatte. Schöne Blamage für unsere Feldgendarmerie, dass er es bis in den Großen Salon schaffte. Der General hat befohlen, ihn der französischen Polizei zu überstellen. 402
Eine Auslieferung an die Gestapo kommt nicht in Frage. Wenn Sie den Häftling unbedingt verhören wollen, müssen Sie sich schon zu uns bemühen, und zwar ein bisschen schnell, wenn ich bitten darf. Die Franzosen holen ihn nämlich heute Vormittag ab. Ihr hoher Chef persönlich, sagen Sie? Meinetwegen können Sie den Reichsheini schicken. Ende.« Ärgerlich knallte er den Hörer auf die Gabel. »Entschuldigen Sie meinen Ton. Die Herren von der Gestapo wollen dauernd ᾿ne Extrawurst.« Er küsste seiner Besucherin förmlich die Hand. »Frau Diplomarchitektin Neumann, wie freundlich von Ihnen, dass Sie gekommen sind. Ich habe dem Stadtkommandanten Ihren Wunsch vorgetragen. Er hat ihn genehmigt. Unteroffizier Lehmann, begleiten Sie die Frau Diplomarchitektin zu Gaston.« »Jawohl, Herr Major.« »Gaston ist Hausmeister hier und kennt jeden Winkel. Mich bitte ich zu entschuldigen. Dienstgeschäfte.« Er nahm Haltung an und schlug die Absätze zusammen. »Wann sehen wir uns?«, fragte er leise, dass der UnterofEzier es nicht hörte. »Bald.« Sie gönnte ihm ein viel versprechendes Lächeln. Gaston war ein buckliger kleiner Mann mit silbernem Haar und großer Nase. »Bon jour, madame. Je suis à votre entière disposi‐ tion«, begrüßte er Marlene mit altväterlicher Verbeugung. Offen‐ bar hatte man ihn instruiert, denn er eilte beflissen voraus, die ge‐ schwungene marmorne Freitreppe hinauf. Es wurde eine harte Geduldsprobe. Sie musste die meilenlange Ahnengalerie von Bild zu Bild absolvieren und über vierzig Räume besichtigen. Erst nach zwei Stunden war Gastons Repertoire erschöpft. »Et maintenant j᾿ aimerais voir le sous‐sol. Les fondations m᾿intéressent.« Der älteste Teil der Grundmauern sei unter dem Südflügel, erfuhr sie. Römische Katakomben, die später Teil der mittelalterlichen Befestigungsanlagen wurden. Im Südflügel empfing sie ein Offizier der Feldgendarmerie. »Frau Diplomarchitektin Neumann, nicht wahr? Major Wächter hat Sie 403
schon angekündigt. Ich bin Hauptmann Grosse. Hier runter bitte.« Ausgetretene steinerne Stufen führten in die Tiefe. Unten tat sich ein Backsteingewölbe auf, in das links und rechts je ein Gang mün‐ dete. In den rechten hatte man ein eisernes Gitter eingelassen. »Da geht᾿s zu den Arrestzellen«, klärte sie der Hauptmann auf. »In einer läuft gerade eine Vernehmung. Lassen Sie sich davon nicht stören.« Der Posten vor dem Gitter salutierte. »Schon gut, Gefreiter. Die Frau Diplomarchitektin wird sich hier unten ein bisschen umsehen.« »Jawoll, Herr Hauptmann.« »Das reinste Labyrinth. Verlaufen Sie sich nur nicht, gnädige Frau.« »Ich hoffe, mein Fremdenführer kennt sich aus. Danke, Herr Grosse.« Der Hauptmann verschwand nach oben. Der junge Ge‐ freite öffnete ihr das Gitter. Det jeht ja wie jeschmiert, dachte sie. »Der Franzose darf hier nicht rein«, wehrte der Posten ab. »Monsieur Gaston, attendez.« Der Gang machte eine Biegung, die sie der Aufsicht des Postens entzog. Drei Stahltüren, ebenso neu installiert wie das Gitter. Die Arrestzellen! Sie registrierte im Gedächtnis ihre Lage. Die mittlere Zellentür war halb offen. Ein Stuhl. Darauf ein Mann, die Hände hinter der Rücklehne mit einer Schnur gefesselt. Eine Pritsche, auf der, achtlos hingeworfen, ein taubengrauer Uniformmantel, eine Schirmmütze mit Toten‐ kopf und ein Koppel mit Pistolenfutteral lagen. Ihr Besitzer stand vor dem Gefangenen. »We can handle this in a civilised manner. So, once more — who are you? Secret Service? British Army intelligence?« »Je ne compris pas, Monsieur.« Der Verhörende holte zum Schlag aus. Sein Arm erstarrte in der Bewegung. Auch Marlene war wie gelähmt. Fredie fasste sich zuerst. »Hallo, Darling, was für eine Überra‐ schung. Hier hätte ich dich nie vermutet. Na macht nichts. Man‐ che Dinge regeln sich eben von selber.« Marlene sah zur Zellen‐ 404
tür. »Gib dir keine Mühe. Du kommst höchstens bis zur Treppe. Bleib schön hier und hör zu. Ich könnte dich mit dem nächsten Transport nach Auschwitz schicken. Oder, viel hübscher, dein Rendezvous mit dem Scharfrichter arrangieren. Monsieur de Paris, so nennt man ihn, musst du wissen, arbeitet schnell und prä‐ zise. Auf Wunsch kann er dich natürlich auch umständlich und langsam aufs Brett schnallen. Da vergehen schon ein paar klamme Minuten, bis endlich das Beil fällt.« Fredie genoss sichtlich jedes Wort. Sie hatte sich gefasst. Unsägliche Verachtung war in ihrer Stim‐ me. »Imma noch det alte Schwein, Fredie.« »Brigadeführer Neubert, bitte. Das ist soviel wie Generalmajor. Blumenau ist Vergangenheit. Man hat mich zum Chef der Gestapo hier ernannt. Hin und wieder führe ich Verhöre persönlich durch.« Er grinste gemein. »Um nicht aus der Übung zu kommen.« Ihr Blick fiel auf sein Koppel und das Pistolenfutteral. »Nein, Darling. Dazu bist du nicht schnell genug.« Mit einem Satz war er an der Pritsche. Die paar Sekunden Ablenkung genügten. Sie ergriff die Beretta in ihrer Umhängetasche. Armand hatte das mit ihr geübt. Sie schoss durchs Leder. Tasche und Inhalt dämpften den Knall. Fredie sank auf die Knie. Er sah flehend zu ihr auf, wollte etwas sagen. Ihr zweiter Schuss traf ihn mitten in die Stirn. Sie handelte schnell und umsichtig. Sie löste die Schnur. Der Häftling rieb sich die Handgelenke. In der Erregung sprach sie deutsch: »Los, mach, zieh det üba.« Sie warf ihm Fredies Mantel zu. Der Mann begriff. Er knöpfte den Mantel bis unters Kinn, schnallte das Koppel um und setzte die Mütze mit dem Totenkopf auf. Zum Glück trug er graue Hosen und schwarze Schuhe. »Du halst den Rand, ick rede.« Auch das schien er zu verstehen. Sie gingen vor bis zum Gitter. »Den Rest hier unten sehe ich mir ein anderes Mal an. Kommen Sie, Herr Brigadeführer. Wir feiern unser Wiedersehen.« Marlene redete ununterbrochen. »Wie geht es 405
Ihrer Frau? Ich habe Nina eine Ewigkeit nicht gesehen. Monsieur Gaston, allez.« Der kleine Hausmeister trottete ihnen nach. »Und dem Schäferhund Harro?« Die Treppe hinauf, nicht zu eilig. Mar‐ lene zwang sich zur Ruhe. »So ein liebes Tier.« Schritt um Schritt über die schwarzweißen Steinniesen des Erdgeschosses zur offe‐ nen Flügeltür. Noch ein Posten. »Was halten Sie von einem Glas Champagner im Ritz, Herr Brigadeführer? Es ist nicht weit zu Fuß. Den Wagen lassen wir nachkommen.« Endlich auf der Straße. Ruhig weiterschlendern. Mit einem Sprung um die Ecke. Aufatmen. In einer Toreinfahrt entledigte sich der Befreite seiner Verklei‐ dung. Bertrands Fahrradtaxi schlidderte auf regennassem Basalt ins Bild. Sie waren gerettet. Schlafen, nichts als Schlafen. Nach vierundzwanzig Stunden stört Armand die Stille des Glashauses. »Aufstehen, Madeleine, du musst weg. Sie suchen überall nach dir. Du hast nicht nur den Chef der Gestapo erledigt, sondern ganz nebenher einen unserer wichtigsten Leute gerettet. Wir bringen dich in die Provence. Da bist du in Sicherheit, bis der Krieg vorbei ist.« Sie spielten Märsche und die Lieder der Resistance und immer wieder die Marseillaise. Die Pariser jubelten ihren Soldaten zu, die sie befreit hatten. Der dünne lange General stand auf einem Podium über der jubelnden Menge. Armand, in der Uniform eines Colonels der Freien Französischen Streitkräfte, stand neben ihm. »Madeleine, mon General«, stellte er vor. Der dünne lange Gene‐ ral umarmte Marlene und heftete ihr einen Orden an die Bluse. Sie stieg vom Podium und reihte sich bei den anderen vom General Ausgezeichneten ein. Ihre Nachbarin hatte ebenfalls das Kreuz der Ehrenlegion erhalten. Sie trug amerikanische Uniform. »What᾿s your name? Where are you from?«, fragte sie mit rauchi‐ ger Stimme. 406
Unwillkürlich fiel Marlene in ihren heimatlichen Dialekt: »Ick heeße Marlene und bin aus Berlin.« »Ick ooch«, sagte ihre Nachbarin. »Der General ist sehr beeindruckt von deiner Geschichte«, meldete Armand. »Er möchte wissen, ob du einen Wunsch hast, den wir dir erfüllen können.« Marlene brauchte nicht zu überlegen. »Ick will nach Hause.« Die DC3 mit den französischen Kokarden an Rumpf und Trag‐ flächen landete holprig. Die Rollbahn wies mächtige Risse auf. Einige Bombenkrater waren provisorisch gefüllt. Die Amerikaner hatten vor wenigen Tagen ihren Teil Berlins besetzt und den Flug‐ hafen Tempelhof übernommen. Die Franzosen hatten noch kein Flugfeld in ihrem Sektor. Marlene kletterte aus der Maschine. Ein eleganter Spahi‐Of‐ fizier erwartete sie. »Capitaine de Bertin, Madame. Ich habe Auf‐ trag, mich für die Zeit Ihres Aufenthaltes um Sie zu kümmern. Wir haben Sie im Gästehaus unseres Hauptquartiers unterge‐ bracht. Sie bestimmen, wann Sie wieder nach Paris wollen.« Capitaine de Bertin hob ihren Koffer in den großen Stabswagen. »Ick will nich nach Paris. Ick will in die Rübenstraße.« »Wie meinen, Madame?« »In die Rübenstraße, bitte.« Der Capitaine hatte sich in vielen diplomatischen Missionen bewährt. Diese komplizierte Aufgabe konnte er erst nach länge‐ rem Palaver mit dem Fahrer und unter Hinzuziehung mehrerer deutscher Arbeiter lösen. Endlich führen sie los, vorbei an abge‐ rissenen Frauen und Männern, die unbekannten Zielen zustreb‐ ten. Andere waren mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt. Kinder mit hungrigen Gesichtern streckten dem Wagen ihre Hände ent‐ gegen. »Schokolade«, bettelten sie. »Schokolade.« Überall waren Ruinen und Trümmer. 407
Marlene weinte. Es war ihre Stadt. Es gab keine Rübenstraße mehr, nur eine Mondlandschaft von geborstenen Ziegeln und Schutt, aus denen drei Stock hoch ein einsamer Kamin ragte. Ooch jut, dachte sie und wischte die Trä‐ nen weg. »Arrêtez, s᾿il vous plaît.« Sie hielten. »Von hier aus muss ich alleine weiter.« Capitaine de Bertin gab ihr ein Kärtchen. »Sie erreichen mich jederzeit unter dieser Nummer.« Er half ihr galant aus der Limou‐ sine und salutierte. »Leben Sie wohl, Madame, Sie sind sehr tapfer.« Der Wagen verschwand in einer Staubwolke. Marlene nahm den Koffer und machte sich auf den Weg. Sie wusste, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Vom Haus in Schöneberg gab es nur noch den Eingang. »Familie Reich jetzt in Lichtenrade«, hatte jemand in Kreideschrift auf die angekohlte Türfüllung geschrieben, dazu die Anschrift. Ein Dut‐ zend Mieter hatte sich so verewigt. Franz Giese war nicht dabei. Marlene stieg über die Trümmer bis zu der Stelle, wo einst die Treppe hinaufgeführt hatte. Löwenzahn wucherte überall im Ge‐ röll. Zwischen Ziegelschutt und Mörtelbrocken schimmerte es golden. Es war der röhrende Hirsch im Herbstwald. Sie löste die letzten Glassplitter aus dem Rahmen und klemmte sich das Bild unter den Arm. Und wat nu?, dachte sie. Na klar, Franz suchen. Sie schlief im Stadtpark. Sie hatte ein Saucisson im Koffer, davon aß sie zum Frühstück einen Bissen. Wasser zur Morgenwäsche gab᾿s vom Hydranten. »Schmeckt scheußlich, ist aber trink‐bar«, sagte ein alter Mann und schlürfte es laut aus der hohlen Hand. ARBEITSAMT — das Schild hing an einer Seitentür des fast unversehrten Schöneberger Rathauses. Sie stellte sich hinten an die lange Schlange. Nach zwei Stunden erreichte sie einen Tisch. »Name?« »Kaschke, Marlene.« »Ausweis?« 408
Sie reichte dem Mann ihren alten Reisepass, den sie durch die Jahre gerettet hatte. »Der ist abgelaufen.« »Ick lass ihn rechtzeitig vor der neechsten Weltreise valängern. Jetz brauch ick Arbeit und ᾿ne Bleibe.« »Für Unterkunft ist das Wohnungsamt zuständig. Ich kann Sie als Arbeitsuchende registrieren. Zurzeit haben wir allerdings nichts.« »Do you speak English?«, fragte eine ältere Dame. Marlene war verblüfft. »A little. Why do you want to know?« »Sie sollten es beim amerikanischen Arbeitsamt in Lichterfelde versuchen. Mich haben sie leider nicht genommen. Ich bin zu alt.« »How old are you, Fraulein Käschkie?« Der Chef des German‐ American Labour Office konnte es in ihrem Pass nachlesen, aber er wollte offenbar ihr Englisch testen. Marlene rechnete nach: »I was born in 1912. Now we are in 1945. That makes me thirty‐three years, right?« »Your English is okay. Let᾿s see what we have got for you. How are your legs?« »Wie bitte?« »Ziehen Sie Ihr Kleid hoch.« Der Mann sprach Deutsch mit schwerem amerikanischem Akzent. »Sonst noch wat?«, empörte sie sich. »Wenn᾿se Nachschub für ᾿n Armypuff suchen, sind᾿se an der Falschen, Mister.« »Nonsense. Die Platzanweiserinnen im Army Cinema tragen einen kurzen Dress. Unsere Boys sehen gerne Girls mit hübschen Beinen. Also was ist?« »Platzanweiserin? Mann, is det ne Wolke!« Sie kriegte das Kleid gar nicht schnell genug hoch. Er musterte ihre Beine. »All right, die sind in Ordnung. Wir zah‐ len hundertzwanzig Mark die Woche. Sie bekommen Army‐Ver‐ 409
pflegung und pro Monat ein halbes CARE‐Paket. Gehen Sie jetzt zur ärztlichen Untersuchung.Your adress please.« »Stadtpark dritte Bank. Komm jrade aus᾿m Osten. War da in der Landwirtschaft dienstverpflichtet«, log sie. »Meine Wohnung is zerkloppt.« »Sorry, ohne Adresse kein Job.« Der Amerikaner schrieb etwas auf einen Zettel und drückte einen Stempel darunter. »Damit ge‐ hen Sie zum Wohnungsamt Zehlendorf.« Ob er das macht, weil er mit mir ins Bett möchte?, überlegte sie. Aber Mr. Chalford beachtete sie nicht weiter, sondern strich verliebt über den schwarzen Obelisken aus Marmor auf seinem Schreibtisch. »Sieht aus wie ᾿n jroßer Zahnstocher.« »Das ist ein echter Barlach«, sagte Mr. Chalford beleidigt. Eine englische Bombe hatte das vordere Drittel des Hauses Argen‐ tinische Allee Nummer 198 abgerissen. Der bizarre Querschnitt durch alle Stockwerke erinnerte an ein Puppenhaus. Schlafzim‐ mer, Küche und Bad im dritten Stock links waren unbeschädigt, einschließlich des Mobiliars. Die Tür zum Wohnzimmer führte ins Nichts. Ein Schritt, und man stand am Abgrund. Marlene packte ihre paar Sachen aus. Das Kreuz der Ehrenlegion legte sie auf die Kommode. Den röhrenden Hirsch stellte sie dahinter. »Hübsches Bild.« Erschrocken fuhr sie herum. Der Mann in der Tür hatte die gelblichen Haarsträhnen quer über den Schädel ge‐ klebt. Er trug ausgebeulte Hosen und karierte Pantoffeln. »Mühl‐ berger. Ich wohne nebenan. Meine Frau ist im Westen.« Er kratzte sich im Schritt. »Und Sie sind...?« »Marlene Kaschke. Man hat mich hier eingewiesen. Das nächste Mal klopfen oder läuten Sie bitte, Herr Mühlberger, oder kommen am besten gar nicht.« »Ziemlich hoch die Nase, was? Na schön, wenn die Dame meint, auf männlichen Schutz verzichten zu können. Besonders nachts sei man als Frau hier im Viertel gar nicht sicher, heißt es neuerdings.« 410
»Für mich kein Problem – solange ich Ihnen nicht begegne«, antwortete sie schlagfertig. Mit einem dreckigen Auflachen ver‐ schwand er. In der Küche fand sie Hammer und Nägel. Sie hängte den Hirsch über der Kommode auf. Bestimmt würde Franz sich freuen, dass sie das Bild gerettet hatte. Ihr Gesicht verklärte sich. »Und jetz jehn wa ins Kino.« Es war wie ein Traum. Der gedämpft beleuchtete Zuschauer‐ raum mit den geschwungenen Sitzreihen. Der schwere silberblaue Vorhang, der sich gleich öffnen würde für Hans Albers, Willy Fritsch oder Heinz Rühmann. Zuvor würde der Mann an der Wurlitzer Orgel aus der Tiefe aufsteigen, um die bunten Reklame‐ Dias mit schwellenden Zauberklängen zu begleiten. Marlene erinnerte sich an jede Einzelheit ihres damaligen Besuches im Onkel‐Tom‐Kino. Der Manager war ein blasser Corporal namens Pringle, der im Office mit seinem schmalen deutschen Freund Kaffee trank. »There will be no playing around with the boys. Gisela will get your dress.« Gisela war eine resolute Rothaarige, die ihr riet: »Mach᾿s wie ich. Zieh vier Schlüpfer übereinander. Wegen der verdammten Arschkneiferei. Hier, ich glaube, das passt.« Sie half Marlene in das kurze lila Taftkleid mit Rüschenärmeln und befestigte eine große ebenfalls lila Schleife in ihrem Haar. Sie schob Marlene vor den Spiegel und stellte sich daneben. »Entwurf und Ausführung: Corporal Pringle. Der Taft hat ihn vier Stangen Chesterfields gekostet. Detlev und er nähen so gern. Na wenigstens kneifen sie dich nicht, die Süßen.« Die beiden jungen Frauen sahen einander an und prusteten los. Marlene bekam eine Taschenlampe und einen Bauchladen mit Schokoriegeln, Popcorntüten und einem kleinen Kühlbehälter für das Eis am Stiel. Ihr Revier war der Gang an der linken Seite. Rechts außen paradierte eine Schwarzhaarige mit Puppengesicht. Gisela betreute den Mittelgang. 411
Wurlitzer Orgel, Reklame und Kulturfilm gab es nicht mehr, dafür Swing aus Lautsprechern, und Dias, die vor Geschlechts‐ krankheiten warnten. Statt eines Leinwandhelden der UfA, Terra oder Tobis war ein Metro‐Goldwyn‐Mayer‐Film mit Clark Gable angekündigt. Einlass war ab acht. Der Film begann zwanzig vor neun. Alles ging glatt. Der Pokneiferei konnte sie sich einigermaßen entziehen. Clark Gable verströmte raue Männlichkeit und kriegte, wie vorherzusehen, Loretta Young. Um elf war Schluss. Die Mäd‐ chen zogen sich um. »Vergiss um Himmels Willen nie deinen Ami‐Ausweis«, mahnte Gisela sie. »Sonst buchten sie dich wegen Übertretung der Sperrstunde ein.« »Hab ich dabei.« Marlene schlug mit der flachen Hand an ihre Umhängetasche. »He, da ist ja ᾿n Loch drin. Du, mein Erich ist gelernter Sattler. Er hat bestimmt ᾿nen Flicken Leder, um dir das auszubessern.« »Die Tasche soll so bleiben. Ein Andenken. Danke fürs Angebot. Bis morgen.« Sie hatte es nicht weit: am Amiposten vorbei aus dem Sperr‐ bezirk und rechts in die Argentinische Allee. Der Krieg hatte den Bau der zweiten Fahrbahn verhindert. Parallel zur Straße verlief daher ein unkrautbewachsener breiter Sandstreifen, den sie über‐ querte, um zu den Häusern auf der anderen Seite zu gelangen. Sie musste aufpassen, um nicht in eines der Kaninchenlöcher zu stol‐ pern. Durch die Dunkelheit knatterte ein Motorrad heran. Unmittel‐ bar vor ihr flammte der Scheinwerfer auf. Mit einem Sprung ret‐ tete sie sich zur Seite. »Wohl verrückt jeworden«, schimpfte sie dem Fahrer nach. Der Scheinwerfer verlosch. Das Motorrad wendete, sie hörte, dass es wieder auf sie zu kam. Diesmal brauste es ohne Licht um Haaresbreite an ihr vorbei. Sie wartete nicht ab, dass es nochmal wendete, sondern lief über den nahen Gehsteig zum nächsten Haus. Die Tür war nicht ver‐ 412
schlossen. Keuchend lehnte sie sich von innen dagegen. Allmäh‐ lich beruhigte sie sich. Das heftige Atmen ließ nicht nach. Sie knipste die Taschenlampe an. Auf der Treppe stand ein amerika‐ nischer Soldat mit seinem Mädchen. Das Mädchen lehnte eine Stufe höher an der Wand. Es hatte das Kleid hochgezogen und ein nacktes Bein um seine Hüfte gelegt. Es stöhnte im Takt seiner Bewegungen. »᾿tschuldijung.« Marlene verdrückte sich. Draußen war es jetzt ruhig. Unbehelligt erreichte sie ihre Haustür und schloss auf. »Ziemlich spät, die Dame.« Sie zuckte zusammen. Sie kannte die Stimme. Hastig stieg sie die Treppen hinauf. Er folgte ihr. Es schien ihr eine Ewigkeit, bis sie endlich die Wohnungstür aufbrachte. »Gute Nacht, Herr Mühlberger.« Sie schlug die Tür zu. Im Bad ließ sie Wasser ins Waschbecken. Dank der Amerikaner funktionierte die Versorgung im Onkel‐Tom‐Viertel wieder. Sie tauchte das Gesicht hinein. Das Chlor brannte in ihren Augen. Erschöpft schlief sie ein. Sie träumte. Franz hatte schützend die Arme um sie gelegt. »Jetz könn᾿se mir alle...«, murmelte sie zu‐ frieden. Mühlberger schien ihr Kommen und Gehen zu erraten. Stets war er zufällig im Treppenhaus, kratzte sich im Schritt und machte an‐ zügliche Bemerkungen. »So klein mit Hut, wenn seine Frau da ist.« Frau Müller aus dem zweiten Stock ließ eine winzige Lücke zwischen Daumen und Zeigefinger. »Trotzdem – gibt᾿s denn keinen, der auf Sie aufpasst?« »Klar gibt᾿s den.« »Meiner ist in Russland.« Frau Müller erwartete keine Antwort. Ob Franz auch in Russland war? Sie erinnerte sich, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte, im Keller an einen Pfosten gefesselt, von der Gestapo geschunden. Sie mochte gar nicht daran denken. »Franz Giese bitte melden. Lene wohnt in Onkel Toms Hütte, 413
Argentinische Allee 198, 3. Stck.«, schrieb sie auf den ehemals weißen Deckel eines Schuhkartons. Sie heftete die Nachricht mit Reißzwecken an den Eingang seines einstigen Mietshauses. Der Deckel verfolgte sie in ihre Träume. Was, wenn Franz an seiner alten Haustür gar nicht mehr vorbeikam, weil er längst wo‐ anders untergekommen war? Oder wenn irgendein Bengel die Nachricht abgerissen hatte? Regen konnte die Schrift verwischt, Wind den Karton davongetragen haben. Jeden zweiten Tag machte sie sich auf den Weg nach Schöne‐ berg. Die Nachricht hing unverändert und offenbar ungelesen an ihrem Platz. Ihre heimliche Hoffnung auf einen dahinter ge‐ klemmten Zettel mit seiner Antwort, samt kurzer Erklärung, wa‐ rum er sie bisher nicht besuchen konnte, schwand mehr und mehr. Auch am Mittwoch fuhr sie enttäuscht heim. Die Straßenbahn war wie immer überfüllt. Der Mann hinter ihr rieb sein Geschlecht an ihrer Hüfte. Sie drehte sich um, was nicht ganz einfach war. »Damit᾿se ooch richtich wat davon ha᾿m.« Sie rammte ihm das Knie ins Gemächt. Sein Gesicht wurde blass vor Schmerz. An der nächsten Haltestelle stieg eine Frau zu. Sie hatte ausge‐ zehrte Wangen und trug ein Kopftuch. Ihr Blick streifte Marlene und die anderen Fahrgäste und kehrte ungläubig zu Marlene zu‐ rück. Ihre Stimme war erst leise und zögernd, als müsste sie sich selbst überzeugen: »Frau Lagerkommandant Neubert, nicht wahr? Welche Überraschung.« Sie wurde lauter: »Wo ist Ihre Reitpeitsche, Frau Lagerkommandant?« Marlene begriff. Die Frau verwechselte sie mit der schrecklichen Hauptsturmführerin Gertrud Werner. In ihrer qualvollen Erin‐ nerung verwischten die Ähnlichkeiten. Für sie waren Marlene und die Werner eine Person. Beteuerungen und Erklärungen wür‐ den nichts nützen. Beim nächsten Halt würde sie aussteigen. Die Frau wandte sich anklagend an alle: »Sie schlug dich ohne Erbarmen, bis du nicht mehr winseln konntest.« 414
Die Fahrgäste ringsum wurden aufmerksam. Einige zeigten mit‐ leidige Anteilnahme. Die meisten wandten sich ab. Mit sowas wollte man nichts zu tun haben. Aber alle hörten zu: »Es hat ihr Vergnügen bereitet, dich auf den Stuhl zu schnallen, dass der Herr Kollege in dir wühlen konnte, bis dein Inneres wie Feuer brannte. Sie hat dir die Zähne auseinander gehebelt und dir Chemikalien in den Schlund gegossen, damit dieser promovierte Verbrecher ihre Wirkung studieren konnte. Wenn du Glück hattest, bist du nicht krepiert, sondern hast ein paar harmlose Nebensymptome entwickelt.« Die Frau riss sich das Tuch vom Kopf. Ihr Schädel war kahl und brandrot. »Darf ich mich vorstel‐ len, Herrschaften?«, rief sie. »Dr. med. Lilo Goldblatt, ehemals Versuchskaninchen im KZ Blumenau. Erinnern Sie sich an mich, Frau Lagerkommandant?« »Aufhängen, sowas«, trompetete der Mann, der Marlene beläs‐ tigt hatte. »Zur Polizei mit ihr«, rief ein anderer. Nischt wie weg, dachte Marlene. Zum wievielten Mal eij ent‐ lich? Sie holte tief Luft und sprang aus der fahrenden Tram. Ihr Sturz wurde aufgefangen von der Hecke, welche die Gleise vom Trottoir trennte. Sie raffte sich auf und rannte, wie damals in der Rübenstraße, als es galt, Erste vorn an der Ecke zu sein, um ein Stück Brot vorn Karren der Heilsarmee zu ergattern. Da war sie acht. Sie merkte, wie ihr Atem schneller und ihre Schritte lang‐ samer wurden. Sie war dreiunddreißig. Als sie das Friedhoftstor sah, setzte sie zum Endspurt an. Sie bremste inmitten einer Trauergemeinde vor einem offenen Grab, mit entschuldigendem Lächeln für den Pastor, sie hätte ihn beinahe in die Grube gestoßen. Der geistliche Herr neigte in christ‐ licher Vergebung das Haupt und fuhr mit seiner Predigt fort. Für den Moment war sie vor Verfolgern sicher. Aba wat denn?, fragte sie sich in nüchterner Einschätzung ihrer Lage. Was, wenn sie weiter nach ihr suchten und sie am Ende fanden? Dann müsste sie lange Erklärungen abgeben. In Paris brauchte sie nichts zu er‐ 415
klären. Ein Anruf bei Capitaine Bertin würde genügen. Det kann‐ ste dem Franz nich antun, mahnte eine innere Stimme. Der Pastor hielt die Bibel mit beiden Händen vors BäfFchen und verkündete, was für ein außergewöhnlicher Mensch der Dahin‐ geschiedene war: »Einer unserer besten Führer... vorausschauend und entschlussfreudig... erkannte zuverlässig die Signale... wollen wir jetzt beten... « Die Trauergäste verließen in Grüppchen den Friedhof und zer‐ streuten sich. Marlene witterte nach allen Seiten. Die Luft schien rein. Ein alter Herr schüttelte ihr ergriffen die Hand. »Er war ein begnadeter Lokomotivführer.« Marlene schüttelte kräftig mit. »Klar war er das. Sagen se, wie komme ich denn von hier nach Onkel Tom?« Sie bekam eine um‐ ständliche Beschreibung mit mehreren Alternativen und wählte die einfachste. Zu Hause erwartete sie ein Brief. Die Postzustellung klappte seit einigen Tagen wieder. Sie stieß einen Jubelschrei aus, als sie die klobige Schrift auf dem Kuvert erkannte. Sie riss es auf, zog das li‐ nierte Papier heraus und las: Sehr geehrtes Fräulein Lene! Habe Ihre Nachricht vorgefunden und melde mich hiermit. So sind wir nun also beide noch am Leben, was mehr ist, als man von vielen sagen kann. Ich war den Krieg über Gefreiter in Dänemark, nur dass da eigentlich gar kein Krieg war, was mir ganz recht war, ich hab nämlich noch vom ersten die Nase voll. Nach ein paar Wochen Gefangenschaft entließ man uns, und jetzt bin ich wieder in Berlin, und zwar in Ruh‐ leben, als Fahrer bei den Engländern. Ich komme Sie Sonntag besuchen. Ist Ihnen um 4 Uhr angenehm? Hochachtungsvoll, Ihr Giese (Franz) Sie lachte und weinte, weil er lebte und am Sonntag kommen würde, und weil er der einzige Mensch war, den sie richtig kannte, 416
die anderen zählten nicht. Sie dachte an das Fuhrgeschäft mit dem Dreiradwagen und später vielleicht mit ᾿nem größereren Laster. Jetz wird allet jut, dachte sie. »Gute Nachrichten?«, erkundigte sich Gisela am Sonnabend, wäh‐ rend sie in den lila Taft stiegen und die grässlichen Haarschleifen befestigten. »Janz besonders jute«, strahlte Marlene. »Er kommt morgen Nachmittag. Tu mir ᾿n Jefallen. Teil die Rita für mich ein.« »Okay, lover.« Gisela hatte das bei Mae West aufgeschnappt. »Corporal Pringle muss nich unbedingt wissen, det ick Sonntag blau mache.« »Keine Sorge. Der hat nur Augen für Detlev und das neue Strickmuster.« Marlene legte den Gurt des Bauchladens um die Schultern. Sie war für den Mittelgang eingeteilt, was doppelte Arbeit bedeutete, weil es das Publikum links und rechts einzuweisen galt. Ein paar PoknifFe steckte sie gelassen weg. Heute konnte sie nichts er‐ schüttern. Ein großer schlaksiger Captain kaufte zwei Tüten Popcorn und gab eine seiner Begleiterin. Marlene brachte die beiden zu ihren Plätzen. Der Captain dankte ihr mit einem Lächeln, was seiner Be‐ gleiterin gar nicht zu gefallen schien. Keene Sorge, ick nehm ihn dir nich weg, dachte Marlene übermütig. Sie hatte aus ihrem Bauchladen einen Schokoriegel abgezweigt. Dafür kriegte sie vom Heizer, der Ladenstraße und Lichtspiel ver‐ sorgte, ein paar Briketts. Die schob sie spät am Sonntagmorgen in den Badeofen, der bald gemütlich bullerte. Das Stück Camay‐Seife stammte aus der Kinotoilette. Es duftete himmlisch und schäumte wunderbar. Die Flasche Sekt kühlte unter fließendem Wasser. Kostete zwar den größten Teil ihres halben CARE‐Pakets,passte aber bestens zu der Army‐Ration Bacon aus der Dose, dessen Streifen sie um die 417
Backpflaumen einer früheren Zuteilung wickelte. Crackers und Peanuts machten den Luxus vollkommen. Sie zog Madame Schiaparellis hauchzarte Dessous an und die kostbaren Seidenstrümpfe. Sie hatte völlig vergessen, dass sie lange schlanke Beine hatte und eine gute Figur. Die Schuhe mit den hohen Absätzen brachten das richtig schön zur Geltung. Das schicke Kleid von Printemps war wie neu. Pariser Eleganz in Onkel Toms Hütte. Franz würde Augen machen. Der Wecker zeigte punkt vier, als es klopfte. Mit jedem Schritt zur Tür wuchs die Vorfreude. Langsam öffnete sie. Er hatte einen Topf Geranien unter dem Arm und schluckte verlegen. »Also da biste ja.« »Guten Tag, Fräulein Lene«, sagte er steif. »Wie geht es Ihnen?« »Danke, ausjezeichnet. Und nu lässte den Herrschaftschauffeur draußen und sagst Du zu mir. Los, rin in die jute Stube.« Er stellte den Geranientopf hin. »Hübsch hier.« »Bei dir in Schöneberg war᾿s hübscher. Na, das kriegen wir schon hin. Wir sind ja noch jung, oder?« Sie schenkte Sekt ein. »Prost, Franz.« »Prost, Lene.« Seine Befangenheit wich. Er setzte sich. »Ich kann᾿s immer noch nicht glauben, dass wir Zwei uns wieder ge‐ funden haben.« »Wir Drei.« Sie wies auf den röhrenden Hirsch über der Kom‐ mode. Er betrachtete das Bild, als sähe er es zum ersten Mal. Sie sog seinen Anblick in sich auf. Er war ein bisschen runder gewor‐ den, was ihm gut stand. Das Grübchen am Kinn war infolgedessen etwas tiefer gekerbt. Sein Haaransatz war ein wenig zurückgegangen. Seine braunen Augen waren unverändert. Sie sahen ruhig und ehrlich in die Welt. »Ist ᾿ne Weile her, was?« »Da kamst du zu mir, weil du weg wolltest von diesem Fredie, und ich schickte dich in die Pension Wolke. Das war das letzte Mal, dass ich dich sah.« 418
Er senkte den Kopf. »Ich verriet ihnen, wo du warst. Das war feige. Aber ich hatte Angst. Komisch, ich hab nie verstanden, wa‐ rum sie mich dann auf einmal in Ruhe ließen. Jeder andere wäre im Lager gelandet. Haben sie dich auch in Ruhe gelassen?« »Klar«, log sie. »Wir haben beide Glück jehabt, det isses.« Sie trat vor ihn. »Steh auf, Franz. Ich möchte, dass du mich endlich küsst.« Sie zog ihn an seiner umgefärbten englischen Uniform‐ bluse hoch, bis ihre Gesichter ganz dicht aneinander waren. Dann waren sie nur noch eine Frau und ein Mann, und alles zwischen ihnen war klar. Er war groß und hart. Ihr Saft machte ihn zum geschmeidigen Liebesboten, dem der Nachmittag nicht reichte und auch nicht der Abend. Sie sprachen nicht viel in den Pausen, wohl weil es zu viel zu sagen gab. Kurz vor zehn kleidete er sich an, er durfte die letzte U‐Bahn vor der Sperrstunde nicht verpassen. Sie nahm eine der flackern‐ den Kerzen von der Kommode. »Dass᾿de nich die Treppe runter‐ fällst.« Es gab keinen großen Abschied, er würde ja morgen wie‐ derkommen. »Dann reden wir über die Zukunft«, versprach er. »Über die Zukunft«, wiederholte sie andächtig, weil sie endlich eine hatte. Beschwingt ging sie ins Bad. Der Badeofen war noch warm. Die feinen Strahlen der Dusche verursachten ein unbeschreiblich sinn‐ liches Prickeln auf der Haut. Sie richtete die Handbrause gegen ihren Schoß. Die Klimax stellte sich im Nu ein. Es war wie der Schlusspunkt eines wunderschönen ersten Kapitels. Sie wickelte sich gerade in den Bademantel, als sie ein schwa‐ ches Klopfen hörte. Sie verknotete den Gürtel und nahm die Ta‐ schenlampe von der Flurgarderobe. »Franz?« Hatte er seinen Zug versäumt? Draußen stand eine Gestalt mit Schutzbrille und Leder‐ kappe. Zwischen zwei erhobenen Stulpenhandschuhen klirrte eine Kette. »He, wat soll᾿n det?«, schimpfte sie. 419
Zur Angst blieb ihr keine Zeit. Die Gestalt drängte sie zurück in die Wohnung. Kaltes Metall umspannte ihren Hals und schnürte die Schlagader ab. Der Sauerstoffmangel im Hirn löste Euphorie aus. Himmlische Ruhe erfüllte sie, eine Ruhe, die kein irdischer Schmerz durchdringen konnte. Schwerelos schwebte sie einer sonnigen Rübenstraße entgegen, mit hellen Häusern und fröhlichen Menschen, allen voran ein lachender Franz. »Uffjepaßt Leute, Lene kommt!«, rief sie glücklich.
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SIEBTES KAPITEL
D
er große walnussfurnierte Superhet des Bezirksrates hatte Bomben, Russen und Inge Dietrichs Drängen, den Rundfunkempfänger bei Frau Molch gegen Lebensmittel einzutauschen, überstanden. Nicht einmal die Aussicht auf ein paar Schachteln jugoslawische Drina, die erschwinglicher waren als Amizigaretten, konnte Dr. Hellbich umstimmen. »Man muss wissen, was in der Welt passiert«, verkündete er und hörte die Nachrichten, wenn keine Stromsperre war. Es passierte ziemlich viel in der Welt, in diesem Frühherbst des Jahres 1945. Japan hatte vor Amerikas Atombomben kapituliert und durfte seinen Kaiser behalten. Ein weitgehend unbekannter britischer General hatte den ebenso unbekannten neuen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer wegen Unfähigkeit gefeu‐ ert. In Hollywood drehte Greta Garbo ihren vierzehnten Film. Der Engländer Alexander Fleming erhielt den Nobelpreis. Er hatte ir‐ gendein Wundermittel entdeckt. »Aus Schimmelpilzen, man stelle sich das einmal vor«, war Hellbichs Kommentar. »Können wir AFN hören?«, bat sein Enkel Ralf, als die Nach‐ richten zu Ende waren, und der Ansager heitere Operettenklänge androhte. »Das kannst du, wenn ich nicht zu Hause bin.« Sein Großvater verabscheute das »Gedudel« des amerikanischen Soldatensenders American Forces Network. 421
Das Radio hatte eine geheimnisvoll grün leuchtende Skala mit Namen wie Tripolis, Hilversum oder Brindisi, die Bens Fernweh weckten, obwohl er eigentlich nirgends hinwollte, außer vielleicht nach Amerika, weil es dort die längsten Autos und die schärfste Her‐ renmode gab. Ein G.I. hatte die neueste Nummer von Esquire in der U‐Bahn liegengelassen. Ben blätterte durch die sterile Welt von ge‐ schlechtslosem Glamour und verlogener Hochglanzwerbung, die eine Flasche Johnnie Walker wie Weihwasser anpries. Hinten im Heft stieß er auf eine farbige Anzeige für den Buick Eight. Der Klas‐ sewagen lag nach wie vor ganz vorn in seiner Wertschätzung. Sein Fahrer lehnte lässig am Kühler. Er trug einen Zweireiher, und das stürzte Ben in ein arges Dilemma. Sollte er sich, wie hier gezeigt, nicht lieber für einen Schließknopf in Taschenhöhe entscheiden, was längere Revers zur Folge hatte — oder war der bisher favori‐ sierte Taillenschluss das einzig Wahre? Er musste das unbedingt mit Schneidermeister Rödel besprechen, der Mann war schließlich von Berufs wegen eine Autorität auf diesem Gebiet. Vor allem aber musste er dem auf den größten journalistischen Scoop der Neuzeit hoffenden Clarence P. Brubaker zwanzig Kar‐ tons Amis aus den Rippen leiern. Erst dann rückten der ersehnte Anzug und die Wildlederschuhe in greifbare Nähe. Des Führers rechte Hand würde helfen. Ben griente zufrieden in sich hinein, weil er inzwischen wusste, wie. Am Nachmittag trabte er durch die Villenstraßen hinter dem US‐ Hauptquartier. Brubakers Wagen stand in der Auffahrt. Der An‐ wärter auf den Pulitzerpreis hatte seinen Ford aus Hackensack nachkommen lassen. Das US‐Government zahlte die Frachtkosten. Ben drückte nicht wie sonst den Klingelknopf, um sich bemerkbar zu machen, sondern ging ums Haus rum. Leise klopfte er ans Fenster. Brubaker sah über das Blatt Papier in seiner Remington. Ben bedeutete ihm mit Verschwörermiene, die Hintertür zu öff‐ nen. 422
Brubaker machte auf. »What᾿s happening?«, fragte er erstaunt. »I᾿ve been followed. But I could shake them off.« Ben spielte seine Rolle mit einem Touch Humphrey Bogart. Er hatte gerade den »Malteser Falken« gesehen. Der Starreporter aus Hackensack verstand nicht. »Wer ist dir ge‐ folgt?« »Die natürlich. Sie haben Wind bekommen. Wir müssen uns be‐ eilen. Er wartet auf Sie. Haben Sie die Zigaretten?« »Fünfzehn Kartons. Ich wusste, dass du᾿s schaffst.« Brubaker war sichtlich zufrieden mit der Entwicklung der Dinge. »Chesterfield?«, vergewisserte Ben sich und überlegte, wie er auf zwanzig erhöhen konnte. Immerhin handelte es sich nicht um einen gewöhnlichen Nazi wie den freundlichen kleinen Herrn Adler, der mit gesenktem Kopf durch seinen einstigen Amtsbereich schlich, als sei er ein Kriegsverbrecher. Dabei hatte er nur das Büro der NS‐ Volkswohlfahrt in Onkel Tom betreut und den ewig knappen Haus‐ frauen ein paar extra Lebensmittelmarken zugesteckt. Nein, hier ging es um einen erstklassigen Nazi, und der hatte seinen Preis. »Lucky Strike«, entschuldigte sich Brubaker. »Chesterfield war ausverkauft.« Ben witterte seine Chance. »Also, ich weiß nicht. Normalerweise raucht er nur Chesterfield. Na, vielleicht macht er bei Ihnen eine Ausnahme, wenn Sie fünf Stangen drauflegen.« »Fünf Kartons Philip Morris, mein eigener Vorrat«, willigte Clarence P. ein. Die Wildlederschuhe mit Kreppsohlen waren gesichert. »Wo sehe ich ihn?« »Er besucht heute ein Geheimtreffen der Werwölfe.« Brubaker war total aus dem Häuschen. »Dick Draycott von Uni‐ ted Press behauptete neulich ziemlich von oben herab, die Wer‐ wölfe seien das Hirngespinst kleiner Provinzreporter, vornehm‐ lich aus Hackensack, New Jersey. Das werde ich dem arroganten Herrn aber unter die Nase reiben. Die Hitleryouths machen also im Untergrund weiter?« 423
»Na, und wie«, bekräftigte Ben und schielte auf die Zigaret‐ tenkartons, die sich auf dem Tisch türmten. »Du weißt nicht zufällig etwas genauer, was die so machen?« »Singen«, wusste Ben aus gar nicht so lange zurückliegender eigener Erfahrung. »Nazisongs?« »Klar.« »Kennst du welche?« »Hoch auf dem gelben Wagen«, erinnerte sich Ben, obwohl er nicht ganz sicher war, ob das Sangesstück vorbelastet war, wie der arme Herr Adler. »High on the yellow car... «, übersetzte er so gut er konnte. Brubaker schrieb getreulich mit. »... I sit in front with my brother‐in‐law«, fuhr Ben im Text fort, was der Hackensacker Herold als Ausdruck typisch deutschen Familiensinns notierte. »Ich kann᾿s auch singen, wenn Sie wollen«, bot Ben an und entfal‐ tete den mitgebrachten Kartoffelsack, um die Zigaretten zu ver‐ stauen. »Some other time. Let᾿s go«, drängte Brubaker. »Wir müssen die Zigaretten erst in seinem Versteck abliefern, eher lässt er sich nicht sprechen.« Ben wollte auf Nummer Sicher gehen. Er verbarg den Schatz im Verschlag hinter dem Haus der Großeltern unter Kartons mit leeren Einweckgläsern. Eventuellen Schuldgefühlen begegnete er mit Achselzucken. Was konnte er da‐ für, dass der Ami so dämlich war? »No one is following us«, meldete er, als sie weiterfuhren. Bru‐ baker steuerte den Ford in freudiger Erwartung dem geheimen Meeting entgegen. Eine journalistische Sensation lag in der Luft. Er stellte den Wagen auf Bens Geheiß in einer unbenutzten Toreinfahrt ab und folgte ihm auf verschlungenen Wegen mehr‐ mals um die gleichen Ecken, was er allerdings nicht merkte. Nach der dritten Runde hob Ben die Hand zum Halt und kroch als ers‐ ter durch eine Heckenlücke. Von da ging es über sechs Grund‐ stücke und zwölf Zäune. Sie hätten das Ziel auch bequem von der 424
Straße her erreichen können, doch für zwanzig Stangen Zigaretten hatte der Mann das Recht auf eine dramatische Inszenierung. Ben duckte sich hinter einen Lorbeerbusch. Auch Brubaker ging in Deckung. Er erwog, zur Tarnung einen Käuzchenschrei loszu‐ lassen – er hatte das vor Jahren bei den Hackensacker Boy Scouts gelernt –, aber erstens schrien Käuzchen tagsüber nicht, und zwei‐ tens legte Ben warnend den Zeigefinger an die Lippen, bevor er die letzten Meter zur Rückseite des Zehlendorfer GYA‐Clubs auf dem Bauch zurücklegte. Boy Scout Clarence tat es ihm nach. Sein Körper prickelte vor unerträglicher Spannung, was aber wohl eher auf die Gartenameisen zurückzuführen war. Ben hatte alles genau berechnet. Sergeant Allen war zum Report beim Colonel, Corporal Kameha bastelte mit den Mädchen am Puppenhaus. Die Luft war rein. Er schob Brubaker zur Kellertür, durch deren vergittertes Fenster man einen guten Blick auf die Probebühne der Theatergruppe hatte. Das Timing war perfekt. Die »Räuber« sangen aus vollem Hals »Ein freies Leben führen wir«. »Der Kampfgesang der Werwölfe«, flüsterte Ben. »Den singen sie vor jedem großen Einsatz. Gehen Sie lieber nicht so dicht ans Fenster. Die schießen sofort. Achten Sie auf den Mann unter der Treppe. Das ist er.« »Hitlers right hand«, murmelte Brubaker ergriffen. Der ahnungslose Hausbesorger Appel leerte ein paar Mause‐ fallen. »Das Winseln der verlaßnen Braut ist Schmaus für unsere Trommelhaut«, sang der Räuberchor, während Herr Appel seine Fallen diesmal mit Popcorn bestückte. Heidi Rödel saß an der Rampe, ließ ihre bloßen Waden baumeln und sah gelangweilt zu. »Mädchen sind auch dabei?«, wunderte sich Brubaker. »And very pretty ones, too.« »Das ist Dynamit‐Heidi. Die macht Spezialeinsätze«, spann Ben munter weiter. Die Geschichte machte ihm immer mehr Spaß. »Kann ich ihn jetzt sprechen?« Auch das hatte Ben sorgfältig im Voraus bedacht. »Schleichen 425
Sie in Deckung zum Gartenhäuschen. Warten Sie da auf uns.« Er beobachtete interessiert, wie Brubaker in bester Pfadfindermanier von Strauch zu Strauch robbte und das freie Stück Rasen zwischen der letzten Forsythie und der Laube mit einem Hechtsprung be‐ wältigte, wobei ihm sein früheres Training im Baseballteam der Hackensack High School zustatten kam. Sein Body war eben weit‐ aus beweglicher als sein Brain. Ben betrat den Keller. Heidi baumelte noch immer mit den Bei‐ nen. »Du bist nicht gekommen, neulich Abend.« Sie schob sich ein Stück an der Bühnenkante vor, dass ihr Kleid höher rutschte. »Nacktbaden, mit der ganzen Blase... ?« Ben schnaubte verächt‐ lich. »Und mit mir alleine?« »Weiß nicht.« Er blickte auf ihre gebräunten Schenkel. Wie die sich wohl anfühlten? Regisseur Gert Schlomm klatschte in die Hände. »Wir gehen zwei Textseiten zurück. Moor bringt Amalie um. Los Heidi. Stirb diesmal bitte etwas langsamer.« Ben wartete nicht auf den Todesstoß, sondern schlenderte zwi‐ schen den improvisierten Sitzreihen nach hinten zum Hausbesor‐ ger. »Tag, Herr Appel. Hätten Sie wohl einen Moment Zeit? Ich hab da einen Ami, der ist Zeitungsreporter und will was über deutsche Kleingärtner schreiben.« Ein Amerikaner nahm Anteil an Appels Kohlrabi! Der Hausbe‐ sorger verbarg seine Freude hinter einem widerwilligen: »Kann ihn mir ja mal ansehen.« Wieso der Mann aus Übersee von ihm und dem Schrebergarten wusste, fragte er sich gar nicht. »Spricht er Deutsch?« »Kein Wort. Aber ich mache das schon.« Ben bugsierte ihn ins Gartenhäuschen. »This is Herr Appel.« Brubaker hatte Block und Bleistift bereit. »The Führers right hand, is that correct?«, vergewisserte er sich. Auch wenn Herr Appel kein Englisch konnte, »Führer« verstand 426
er garantiert. Ben reagierte wie der Blitz: »Stimmt es, dass der Füh‐ rer sich sehr für die deutschen Kleingärtner interessierte?« Herrn Appels Basedowaugen traten weiter hervor. »Das ist gut möglich. Als Vegetarier aß er ja nur Gemüse. Näheres ist mir allerdings nicht bekannt. Ich war nämlich nicht in der Partei, das möchte ich hier ausdrücklich betonen.« »Ich war immer an seiner Seite«, übersetzte Ben. »Where is he now?« Brubaker bemühte sich, diese weltbewe‐ gende Frage scheinbar ganz nebenbei fallen zu lassen. »Was ist Ihr Lieblingsgemüse?«, dolmetschte Ben. »Blumenkohl. Brassica oleracea argentinensis. Die argentini‐ sche Variante. Wächst fast von alleine und ist köstlich mit brau‐ ner Butter. Sagte ich Butter?« Herr Appel lachte kurz und tro‐ cken. »Tot. Oder in Argentinien. Oder beides«, übertrug Ben des Schrebergärtners kulinarische Ausführungen. »Falls er lebt, wissen Sie nicht zufällig seine Adresse?«, hakte Brubaker nach. »Mit Semmelbröseln überbacken?«, ließ Ben den Reporter fra‐ gen. »Nein«, sagte Herr Appel. »No«, sagte Ben. Draußen hörte man eine Trillerpfeife. Sergeant Allen war zurück und rief sein Baseball Team zusammen. »Muss an die Arbeit«, brummte Herr Appel. »Vergessen Sie nicht, zu schreiben, wie schwierig es für uns deutsche Kleingärtner heutzutage ist, die Ernte vor Dieben zu schützen. Vorige Woche zum Beispiel ... « »Das Alarmsignal. Sie haben Wind von unserem Treffen ge‐ kriegt. Ich muss sofort weg«, übersetzte Ben und schob des Füh‐ rers rechte Hand zur Tür hinaus. Vom Haus herüber klang eine weitere Strophe Räubergesang: »Mercurius ist unser Mann, ders Praktizieren trefflich kann... « 427
»Inspektor Dietrich mit seinem Zeugen, Sir«, meldete Gertrud ihrem Chef. »Wegen der Kartei.« Curtis S. Chalford warf einen Blick hinaus in den Korridor, an dessen Ende die Besucher warteten. »I am busy. Erledigen Sie das, Gertrud. Zeigen Sie ihnen die Kartei. Und dann raus mit ihnen. Wir haben wirklich besseres zu tun.« Nachdrücklich schloss er die Tür seines Office. Gertrud Olsen stellte im Vorzimmer zwei Karteikästen auf den Tisch. »Bitte sehr, die Herren. Beeilen Sie sich. Mr. Chalford hat keine sehr gute Laune. Trotzdem — wenn Sie einen Kaffee mö‐ gen...« »Nein, danke, Frau Olsen«, sagte Dietrich sehr zu Mühlbergers Missvergnügen. »Wir wollen Mr. Chalfords Laune nicht unnötig strapazieren.« Sie gingen die Kartei durch. Mühlberger wies stolz auf sein eigenes Foto. Dietrich erkannte außerdem den Müllfahrer Ziesel. Aber der kam als Täter ja nicht mehr in Frage. Der Inspektor holte sich die Kartei der weiblichen Angestellten heran, obwohl sie in diesem Zusammenhang eigentlich ohne Interesse war. Unter »A« fand er Henriette von Aichborns Karte. Hinter dem Namen stand ein schwarzes f. »Die anderen vier hat der Chef auch mit ᾿nem Kreuz markiert. Er ist in solchen Sachen sehr penibel«, erklärte die Olsen, als sie Dietrichs Verwunderung bemerkte. »Pietätvoller Mensch«, mokierte sich Mühlberger. »Können wir gehen?« »Ich fahre Sie nach Hause.« Chalford sah vom Fenster seines Büros, wie sich der Holzgasopel schwerfällig in Bewegung setzte. »Was gibt᾿s, Gertrud?« »Frau Weber ist da.« »Show her in.« Jutta kam herein. »Good Morning, Mr. Chalford. Sie haben mich herbestellt?« »Yes. Wir haben uns länger nicht gesehen.« 428
»Seit meiner Bewerbung.« »Sit down, please.« Chalford wies auf einen Stuhl und zog sich hinter seinen Schreibtisch zurück. »Wie ich höre, ist Sergeant Pa‐ nelli sehr mit ihnen zufrieden. He praises you a lot. He says you are a damned good cook, Frau Weber.« Er strich sich übers dünne blonde Haar. »Es freut mich immer, wenn meine Vermittlung er‐ folgreich ist.« Der starke amerikanische Akzent ließ sein Deutsch schwerfälliger erscheinen, als es tatsächlich war. »Was gibt᾿s denn heute Gutes zu Mittag bei Ihnen?« »Königsberger Klopse.« »Kounigbörger Klapse«, wiederholte er und lachte über seine eigene unbeholfene Aussprache. »What᾿s that?« »So ähnlich wie Ihre Meat Balls. Mit Kapernsauce und Salz‐ kartoffeln. Die Boys haben es nun schon zum dritten Mal auf die Wunschtafel geschrieben. Alles ist vorbereitet. Sergeant Panelli wird die Fertigstellung übernehmen. Ich habe ein paar Tage frei.« »Wonderful. Da haben Sie sicher Zeit, mit mir zu essen. Viel‐ leicht heute Abend?« »Danke für die Einladung. Aber ich fahre zu meinen Eltern nach Köpenick.« Sie war froh, dass sie keine Ausrede zu erfinden brauchte. Er gab nicht zu erkennen, ob er enttäuscht war. »Frau Weber, ich habe sie wegen Ihrer Kochkünste herbestellt. Mr. Gold vom State Department sucht eine erstklassige Köchin. Wegen seiner Stellung hat er oft wichtige Gäste zum Dinner. Sie hätten viele Vergünstigungen. Allerdings auch viele Überstunden. Wie wär᾿s?« Das würde weniger Zeit mit John bedeuten. »Sicher ein inte‐ ressantes Angebot, Mr. Chalford. Ich bin glücklich, wo ich bin.« »Ich kann Sie nicht zwingen, Frau Weber.« Er brachte sie bis zur Treppe. »Königsberger Klopse«, wiederholte er belustigt. »Bravo. Jetzt haben Sie es ganz ohne Akzent gesagt«, lobte sie ihn. 429
Sie radelte nach Hause, um ihre Übernachtungstasche zu holen. Auf der Treppe begegnete sie einer hageren Frau in Hut und Mantel. Sie trug einen abgeschabten Koffer. »Beeil dich gefälligst«, rief sie, ohne Jutta eines Blickes zu würdigen. Jürgen Brandenburg tastete sich mit seinem Blindenstock die Stufen herab. Er trug einen knöchellangen alten Lodenmantel, der ihn noch kleiner erscheinen ließ, als er ohnehin war und dazu eine über die Ohren gezogene schwarze Ballonmütze. Er sah jämmerlich und bemitleidenswert aus. Er schob sich an Jutta vorbei, wollte etwas sagen, traute sich nicht. In der Wohnung begrüßte sie ein aufgeregter Herr König. »Ein Hochstapler und Betrüger, dieser Brandenburg. Von wegen Jagd‐ flieger und Ritterkreuzträger. Seine Mutter hatte die Masern wäh‐ rend der Schwangerschaft, sagt seine Schwester. Darum wurde er blind geboren. Fräulein Brandenburg hat ihn über die Kartenstelle aufgespürt. Sie ist von Klein Beelzen gekommen, um ihn nach Hause zu holen, damit er keinen weiteren Schaden anrichtet. Einer Generalswitwe in Potsdam hat er den letzten Ring abgeschwindelt, für die teure Operation, die dem Lufthelden angeblich sein Augenlicht wiedergeben sollte. Bei uns hatte er auch schon vorgefühlt in dieser Richtung. Ilse war drauf und dran, ihm ihre Platinbrosche zu opfern. Nun kann er unter Schwesters Aufsicht weiter Körbe flechten, der Gauner. Ich sage Ihnen, ich hatte gleich so ein komisches Gefühl.« »Klar hatten Sie das, Herr König.« Jutta nahm die Tasche. »Bis zum nächsten Ritterkreuzträger.« John Ashburner verstaute einen Karton voller Konserven und Flaschen im Jeep, als Geschenk für Juttas Eltern. »Bitte nicht, John, sie könnten das als Almosen auffassen.« Achselzuckend trug er den Karton zurück in die Küche. »Wie war᾿s bei Chalford?« »Er hat mir einen anderen Job angeboten. Ich habe abgelehnt. Und er wollte mich zum Essen einladen.« 430
»Der Herr hat also ein Auge auf dich geworfen. Wie findest du ihn?« »Ein freundlicher Mensch. Als Mann sagt er mir überhaupt nichts.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und legte von hinten die Arme um seinen Hals. »Außerdem habe ich schon einen, der mich heiraten will. Sowas lässt sich ein Mädchen nicht entgehen«, raunte sie ihm ins Ohr. Ashburner zog die Karte zu Rate. Der Bezirk Köpenick lag im sowjetischen Sektor und war am besten quer durch die Stadt zu erreichen. Die Demarkationslinien zwischen den vier Besatzungs‐ zonen hatten in diesen frühen Nachkriegstagen rein symbolische Bedeutung. Alliierte wie Deutsche konnten sich frei in ganz Berlin bewegen. Sie führen durch die Trümmerlandschaft des Bezirks Mitte. »Bisher war es eine Weltreise zu den Eltern.« Jutta lehnte den Kopf an seine Schulter. »Da hatte ich noch keinen großen gut aussehenden Ami mit Auto.« »Wie sind sie, deine Eltern?« »Mutti ist hoffnungslos altmodisch. ›Er ist verheiratet, war ihre erste Reaktion, als ich ihr von uns erzählte.« »Und dein Vater?« »Er hadert mit der Zeit, doch im Grunde wohl mehr mit sich selbst.« »Ist er Nazi?« Sie setzte sich auf. »Willst du ihn heiraten oder mich? Trotzdem, wenn es dich beruhigt, Vati ist national eingestellt, aber kein Nazi.« Links und rechts an der Straße lagen zwei ausgebrannte deut‐ sche Panzer. Ashburner wollte zwischen ihnen durchfahren. Ein schmutzigbrauner Geländewagen mit rotem Stern schob sich in die Lücke. Der Captain trat scharf auf die Bremse. Ein Stoppelkopf mit den Schulterstücken eines Leutnants sprang aus dem Fahrzeug. Er stülpte umständlich seine Mütze auf und prüfte ihren Sitz im 431
Rückspiegel, bevor er näher kam. »Propusk«, verlangte er. Ashbur‐ ner riet, dass das wohl »Ausweis« hieß. Er grüßte betont korrekt. »Captain John Ashburner, United States Army. Laut Übereinkunft unserer Oberkommandos sind alliierte Uniformträger nicht ver‐ pflichtet, sich auszuweisen.« Der Russe bellte etwas ebenso Unverständliches wie Unfreund‐ liches, was beiden Seiten nicht weiterhalf. »Lass uns umkehren, Darling«, bat Jutta leise. »Das kann ich schon aus Prinzip nicht. Ich habe Recht auf freie Fahrt. Lassen Sie uns passieren, Leutnant.« Er bedeutete dem Rus‐ sen mit einer Geste, seinen Wagen aus dem Weg zu räumen. Der rief wütend etwas über die Schulter. Die drei Rotarmisten am Fahrzeug traten ihre Papyrossi aus und brachten die Kalaschnikows in Anschlag. Der vierte Insasse, ein Mensch im blauen Monteursanzug, eine Arbeitermütze schräg auf dem Kopf, kletterte heraus und näherte sich träge. »Verstehen Sie Deutsch?«, erkundigte er sich. »Mein Name ist Weber. Ich bin Deutsche«, erklärte Jutta. »Bitte machen Sie dem Mann klar, dass er kein Recht hat, einen amerika‐ nischen Offizier aufzuhalten.« »Storch, Sekretär der Kommunistischen Partei, Bezirk Köpenick. Mit der siegreichen Roten Armee in die Heimat zurückgekehrt.« »Wie schön für Sie, Herr Storch. Und nun möchten wir weiter‐ fahren.« Storch sprach Russisch mit dem Leutnant. »Ihren Ausweis«, ver‐ langte er. Sie wollte die Dinge nicht auf die Spitze treiben und gab ihm ihre Lichtbildkarte, die sie als Angestellte der Amerikaner auswies. »What᾿s going on?«, fragte Ashburner ungeduldig. Der Dolmetscher sprach mit dem Russen und teilte ihnen das Ergebnis mit: »Der Amerikaner darf weiterfahren. Die Deutsche kommt zur Überprüfung mit.« Er steckte ihren Ausweis ein. »John, sie wollen mich mitnehmen.« 432
Instinktiv griff Ashburner zur Magnum an seiner Seite. Zum Glück hatte er sie im Office gelassen. »Meine Begleiterin verlässt den Jeep nicht. Is that understood?« Jutta übersetzte ins Deutsche, der Dolmetscher übersetzte ins Russische. Der Leutnant schrie einen Befehl. Die Soldaten luden ihre Kalaschnikows durch. »Sieht gar nicht gut aus«, brummte Ashburner und angelte sich das Funktelefon. »Mal hören, was das Hauptquartier dazu sagt.« Der Leutnant zog seine Pistole aus dem Futteral und schrie: »Ne swonjit᾿!« »Schon gut, mein Freund und Verbündeter, ich habe verstan‐ den«, beschwichtigte ihn Ashburner und legte den Kippschalter des Gerätes auf »Aus«. Er entfaltete die neueste Ausgabe von Stars and Stripes und lehnte sich zurück. »Irgendwann wird ihm die Sache zu dumm werden«, beruhigte er seine Freundin. »Die haben auch Funk«, überlegte Jutta laut. »Ja, Darling?« »Dein russischer Bekannter. Der mit dem weißen Sportwagen. Ob er uns helfen kann?« »Maxim Petrowitsch? Mein kluger Engel, das ist die Idee des Jahrhunderts. Sag dem German Bolshie, sein roter Befreier soll mit dem Büro von Generaloberst Bersarin telefonieren und Major Berkow verlangen. Sag ihm weiter, dass er ziemlich viel Ärger kriegt, wenn er es nicht tut.« Jutta winkte den Bezirkssekretär heran. »Ach bitte, Herr Storch. Wir brauchen Ihre Hilfe.« Sie setzte ihm auseinander, worum es ging. »Major Berkow wird die Verantwortung übernehmen. Dann ist Ihr Leutnant aus dem Schneider.« Storch redete auf den Russen ein. Der nahm die Kappe ab und kratzte sich am Stoppelkopf. »Da«, entschied er. Er zog aus seiner am langen Riemen baumelnden Kartentasche Papier und Bleistift und reichte beides dem Dolmetscher. »Ich soll ihm Rang und Namen des Amerikaners in kyrillischer 433
Schrift notieren«, informierte er Jutta. Sie buchstabierte ihm das Gewünschte. Der Leutnant kehrte zu seinem Fahrzeug zurück. Er sprach ins Mikrofon. Er gestikulierte und wies wiederholt auf den Jeep. »Scheint als hätte er ᾿ne Menge zu melden«, meinte Ashburner gleichmütig. Zwanzig Minuten später bremste der weiße BMW neben ihrem Jeep. Major Berkow schälte sich heraus. »John, how are you?« »Thanks, very well. Von Ihrem leicht erregbaren Kollegen abge‐ sehen.« »Das haben wir gleich. Wollen Sie mich nicht erst einmal Ihrer schönen Begleiterin vorstellen?« »Maxim Petrowitsch Berkow – Jutta Weber«, sagte John Ash‐ burner erleichtert. Jutta gab dem Major die Hand. »Gesehen haben wir uns ja schon mal.« »Ich erinnere mich mit Vergnügen daran.« Berkow verhehlte sein Interesse nicht. »John, what seems the problem?« Ashburner erklärte es ihm. »Leave it to me.« Der Major ging hinüber zum Leutnant und kehrte nach kurzem Wortwechsel zurück. »Er hat Befehl, alle hier vorbeikommenden Militärfahrzeuge zu kontrol‐ lieren. Natürlich nur unsere eigenen. Sie müssen seinen Übereifer entschuldigen. Bitte, Madame.« Er gab Jutta ihren Ausweis wieder. »Was führt Sie in unseren Teil der Stadt?« »Wir wollen meine Eltern in Köpenick besuchen. Sie haben da die Gaststätte ›Zum Roten Adler‹.« »Ich wünsche Ihnen einen schönen Nachmittag.« Ein langer bewundernder Blick. »Schade, dass wir uns nicht wieder sehen werden. Man hat mich zurück nach Moskau beordert.« Der Major stieg in seinen Sportwagen. »Good bye, John.« »Thanks, Maxim Petrowitsch. You were a great help. It was nice to know you.« Berkow quittierte mit einer lässigen kleinen Handbewegung. 434
Der BMW schoss davon. Ashburner ließ beim Starten die vier Räder durchdrehen, dass fünf hustende Gestalten in einer Staub‐ wolke zurückblieben. Nach einer Viertelstunde waren sie am Ziel. Über der Tür »Zum Roten Adler« hing der brandenburgische Wappenvogel. Ein paar hungrige Kinder umringten den Jeep. Jutta verteilte Schokoriegel, die sie aus Johns Karton genommen hatte. Ein Mann in den Sechzigern trat aus dem Haus. Jutta umarmte ihn. »Vati, das ist John Ashburner. John, das ist mein Vater Ludwig Reimann.« Herr Reimann trug zur Feier des Tages seinen dunkelblauen Anzug mit silbergrauer Krawatte, im Knopfloch die kleine schwarzweiße Schleife der ersten Klasse des Eisernen Kreuzes aus dem Großen Krieg. Er schüttelte Ashburner die Hand. »Freut mich, Herr Hauptmann.« »Bitte einfach John, Sir.« »Kommen Sie, ich mache Sie mit Mutter bekannt.« Er zog den Gast ins Haus, durch den leeren Schankraum direkt in die Küche. Frau Reimann stand frisch frisiert am Herd und senkte mit dem Schaumlöffel dicke Klöße ins kochende Wasser. »Mutter, das ist er, John Ashburner. Und das ist Else, meine Frau.« Else Reimann wischte die Rechte an der Schürze ab, bevor sie sie dem Besucher gab. »Mögen Sie Sauerbraten mit Kartoffel‐klößen? Als Vorspeise gibt es mit Krebsen umlegte Zanderfilets aus dem Müggelsee und zwischendurch eine Rindsbouillon. Dem Himmel sei Dank für unseren ollen Kohleherd. Die Gasleitung ist zerstört, und auf der elektrischen Platte kriegt man ja keine anständige Mahlzeit zustande. Falls nicht sowieso Stromsperre ist. Mein Mann hat zum Fisch etwas Mosel gekühlt. Zum Braten gibt es Burgunder und hinterher Schokoladenpudding mit Vanille‐ sauce.« Sie ist aufgeregt und ziemlich durcheinander, dachte Jutta wäh‐ rend sie dolmetschte. Plötzlich wurde ihr bewusst, was für uner‐ reichbare Köstlichkeiten ihre Mutter eben aufgezählt hatte. 435
Ihr Vater behalf sich mit seinem rudimentären Englisch: »Das Lokal bleibt heute geschlossen. Wir sind also ganz unter uns. Ein Glas Sekt, Herr Hauptmann – Verzeihung, John.« Reimann öff‐ nete geräuschvoll eine Flasche. Es war kein Sekt, sondern ein 1940er Champagner von Duval‐Leroy. Wo hatten die Eltern all diese Genüsse her? »Ihr seid spät dran.« Ludwig Reimann griff nach der Uhr in der Westentasche. An der goldenen Kette pendelte nur der Anhänger. »Hab völlig vergessen, dass sie zur Reparatur ist«, murmelte er verlegen. Und da begriff Jutta: Ihr Vater hatte seine goldene Uhr geopfert, um dem Gast ein heiles Willkommen vorzugaukeln. John Ashburner sah sich im Schankraum um. Die abgewetzten Holztische mit den blank geputzten Aschenbechern standen ak‐ kurat ausgerichtet. Die Tischdecken im hinteren Teil des Lokals waren gestärkt und hatten Bügelfalten. Alles hier war einfach und sauber. Allein die Fensterrahmen passten nicht ins Bild. Sie schie‐ nen wie vom Holzwurm zerfressen. Es waren keine Wurmlöcher, sondern die Einstiche von ungezählten Reißzwecken, Erinnerung an die allabendliche »Verdunklung« der Kriegsjahre, als schwarzes Papier jeden Lichtstrahl nach draußen ersticken musste. Reimann erklärte es dem Gast und schloss düster: »Unsern Nachbarn hat᾿s den Kopf gekostet, weil er angeblich den feind‐lichen Bombern Lichtsignale gab. Dabei hatte der arme Kerl eines Abends schlicht und einfach vergessen, das Toilettenfenster abzu‐dunkeln. Ausge‐ rechnet in der Nacht hatte er Durchfall und lief dauernd aufs Klo.« »Warum tut ihr das?«, fragte Jutta in der Küche vorwurfsvoll. »John und ich sind nicht zum Tafeln gekommen.« »Wir haben auch unseren Stolz.« Ihre Mutter schmeckte die Bouillon ab. »Jochen brachte mir damals Blumen, als er um dich anhielt. Jutta und ich, das ist fürs Leben‹, sagte er.« Else Reimanns Augen füllten sich mit Tränen. »Und jetzt verrätst du ihn.« »Eine Witwenverbrennung wäre dir wohl lieber.« Im gleichen Augenblick begriff sie, dass ihr Sarkasmus für die Mutter zu hoch 436
war. Versöhnlich fügte sie hinzu: »Natürlich kann ich Jochen nicht so einfach vergessen. John weiß das und versteht es.« Ihre Mutter bekam schmale Lippen. »Weiß er auch, was diese Tiere dir angetan haben?« »Ich habe ihm gesagt, dass ich zweimal vergewaltigt worden bin und beinahe noch ein drittes Mal, und dass ich nicht die Absicht hätte, mein Liebesleben darunter leiden zu lassen.« »Er ist noch nicht mal geschieden.« »Es ist genug, Mutter. Verdirb uns nicht den Tag.« An den Wänden hingen ein paar Wimpel des örtlichen Fußball‐ clubs und eine Gruppenaufnahme. »Prost, Jungs.« Herr Reimann hob dem Bild sein Glas entgegen. »Von denen lebt nur noch der Linksaußen.« John Ashburner betrachtete nachdenklich die elf jungen Männer im Fußballtrikot. Auch wenn er es nicht zugeben mochte, war er verwirrt und mitgenommen von einem Krieg, den er nicht erlebt hatte und der seine Vorstellungskraft überstieg. »Bitte zu Tisch!« Jutta nahm seinen Arm und führte ihn ins Ex‐ trazimmer neben dem Schankraum. Aufmerksam rückte er ihrer Mutter den Stuhl zurecht, was ihm ein scheues Lächeln eintrug. Reimann schenkte Mosel ein. »Eine Wehlener Sonnenuhr. Un‐ sere deutschen Weine haben ziemlich blumige Namen. Dieser hier erinnert mich an den Professor aus dem Villenviertel am Wenden‐ schloß. Professor Dr. Georg Raab, Kunsthistoriker. Schaute öfter auf einen Schoppen Mosel vorbei. Seine Frau sollte es nicht wis‐ sen. Er war nämlich Diabetiker.« »Jutta, weißt du noch, wie er dich gezeichnet hat?« »Vierzehn Mal. Jedes Mal nackt.« Sie sah ihre Mutter heraus‐ fordernd an. Else Reimann lenkte peinlich berührt ab: »Sie haben den Ärms‐ ten abgeholt, wie die meisten. Seine Frau verschonten sie. Die war nämlich nur Halbjüdin. Trotzdem bestand sie darauf, den Juden‐ stern zu tragen. Sie durfte ein kleines Zimmer in ihrer Villa be‐ halten. Sie lief abgehärmt und halb verhungert durch die Gegend. 437
Halbe Rationen waren das Äußerste, was diese Leute bekamen. Irgendwann hat sie sich aufgehängt.« »Du hättest ihr was zustecken können«, meinte Jutta nüchtern. »Und uns alle gefährden? Kind, was redest du da?« »Die Wahrheit.« Ihre Mutter trug mit gekränktem Gesicht den Zander auf. »John, was halten Sie von den Juden?«, wollte Ludwig Reimann wissen. Ashburner hob ratlos die Schultern. »Ich weiß nicht. Bei uns in Rockdale gibt es keine.« »Ich mag sie nicht besonders. Nicht, dass ich ihnen jemals ir‐ gendein Leid wünschte. Das war ja Hitlers größter Fehler, sie um‐ zubringen, statt sie nach Madagaskar zu schicken. Damit brachte er das gesamte jüdische Kapital Amerikas gegen sich auf, das euren Präsidenten Roosevelt solange unter Druck setzte, bis die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten. Ohne Amerika als Gegner hätten wir den Krieg gewonnen. Glauben Sie einem alten Weltkriegssoldaten.« Reimann legte den Zeigefinger an die Ordensschleife. »Prost, mein Lieber.« Angeregt leerte er sein Glas und schenkte sich sofort nach. »Dein Zander wird kalt, Vater«, mahnte Jutta, um ihn vom Thema abzubringen. »Hat man ihn schon gefasst, diesen schrecklichen Mörder?«, gab ihre Mutter dem Gespräch eine kaum erfreulichere Wendung. »Wir sind nah dran, Ma᾿am. Ich habe einen sehr tüchtigen deut‐ schen Kollegen.« John Ashburner nahm einen Schluck Mosel. »Wonderful, Ihr Wein. Vielen Dank. Und vielen Dank für Ihre Einladung. Es ist sehr wichtig für mich, dass Sie mich kennen lernen. Immerhin möchte ich Ihre Tochter mit über den Atlantik nehmen.« Else Reimann schluchzte auf. »Nu, nu, Mutter«, beschwichtigte sie ihr Mann. »Bald kommen bessere Zeiten. Dann besuchen wir die beiden. Wollte schon lange nach Amerika.« 438
»Very nice people, your parents«, sagte John zum Abschied. Er ist nur höflich, dachte Jutta. Mutti ist weinerlich wie immer, und Vati hat nichts begriffen. Aber für die Kneipe in Köpenick reicht das wohl. Er verstaute seine langen Beine im Jeep. »Wie lange bleibst du hier?« »Bis Mittwoch. Ich will Mutti ein bisschen im Garten helfen. Sie hat᾿s mit dem Rücken.« Sie beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn. »Weißt du was? Mrs. John Ashburner klingt eigentlich gar nicht so übel.« Meister Rödel riss den linken Ärmel von der Schulter. Das häss‐ liche Ratschen ging Ben durch und durch. Er sah sich im Spiegel, in einem entfernt an ein Jackett erinnernden Gebilde, aus dem überall Rosshaar starrte. Heftfäden verwüsteten die klaren Linien des klassischen Glencheckmusters. Von der Verandawerkstatt konnte er durchs Wohn‐ ins Schlaf‐ zimmer schauen. Heidi saß nackt bis zur Taille an der Frisiertoilette und bürstete das Haar. Ihre Brüste hoben und senkten sich bei jedem Strich. Sie hatte wohl nicht bemerkt, dass die Tür halb offen war. Der Schneider riss auch den rechten Ärmel herunter, Ben glaubte, körperlichen Schmerz zu empfinden. »Muss das sein?«, protestierte er schwach. Die hellen Mädchenbrüste mit den blass‐ roten Spitzen wippten im Takt. Rödel setzte sein Zerstörungswerk unbeirrt fort. »Noch zwei Anproben, und Sie haben einen Anzug wie aus Baron Eelkings Herrenjournal.« Seit Ben zur geschätzten Kundschaft zählte, war er »Herr Dietrich« und »Sie«. Heidi erhob sich. Sie hatte ein Handtuch um die Hüften ge‐ schlungen, das beim Aufstehen zu Boden fiel. Sie ging zur Kom‐ mode. Ihre Pobacken bewegten sich gegeneinander. »Den Schließknopf lassen wir in Taillenhöhe. Nehmen Sie sich bloß nicht diese grässlichen Amerikaner zum Vorbild.« Heidi öff‐ 439
nete eine Lade und nahm ein weißes Turnhemd heraus. Sie streckte die Arme hoch und zog es über den Kopf. »Was haben Sie gegen die Amis, Herr Rödel?« »Was ich gegen die Amis habe?«, fragte Rödel herausfordernd. Heidis Brüste verschwanden unter dem ärmellosen weißen Turn‐ hemd, das ihr knapp bis zum Nabel reichte. »Ich hab was dagegen, dass ausgerechnet diese Halbwilden uns Kultur beibrin‐ gen wollen. Man darf das heutzutage nicht laut sagen, sonst heißt es sofort: ›Nazi!‹« Ben wusste nicht, warum, im kurzen Turnhemd wirkte sie nack‐ ter als ohne. Er versuchte, sich auf den Anzug zu konzentrieren: »Wann ist er fertig?« »Nächste Woche machen wir die zweite Anprobe. Sagen wir in vierzehn Tagen?« Gebannt sah Ben auf Heidis dunkles Dreieck, zwischen dessen Löckchen es rosa schimmerte. Ein singendes Gefühl stieg in seinen Leisten empor. »Haben Sie Schuhe, Herrensocken, Oberhemd, Krawatte?«, zählte der Schneider auf. »Ohne dieses Zubehör können Sie den Anzug vergessen.« Heidi drehte der Tür den Rücken zu und bückte sich, um die Turnschuhe zu schnüren. Ben ließ kein Auge von dem geheim‐ nisvollen Schatten zwischen ihren Schenkeln, bis sie in die schwarzen Mädchenturnhosen stieg. »Die Wildlederschuhe kriege ich vom Holländer. Das andere hab ich schon alles.« Heidi erschien in der Werkstatt, einen Ball unter dem Arm. Sie schlug ihn mit der flachen Hand zu Boden und fing ihn geschickt auf. »Ich geh zum Handball. Kommst du mit?« »Keine Zeit.« Sie warf Ben einen schlauen Blick zu. »Schade, ich mag nämlich Zuschauer.« Und da begriff er: Sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass er sie beobachtete. 440
Ein völlig aufgelöster Herr Mühlberger lehnte sein Rad an den Zaun und stürmte in die Kriminalinspektion Zehlendorf. »Er ist wieder da!« Kriminalmeister Franke war damit beschäftigt, seine Schreibmaschine zu malträtieren. Das Präsidium verlangte eine genaue Aufstellung des in den letzten Monaten verbrauchten Büromaterials. »Wer ist wieder da?«, fragte er ohne sonderliches Interesse und schrieb in einem Anflug grimmigen Humors: APRIL: 500 Blatt Schreibmaschinenpapier vom Explosionsdruck einer Bombe in der Gegend verstreut. 64 Blatt aufgesammelt, davon 14 intakt, 26 leicht beschmutzt, 11 stark beschädigt, 13 angekohlt. Die Fahndung nach den noch fehlenden 436 Blatt wird fortgesetzt. MAI: 100er Karton Kohlepapier von plündernden Muschiks geklaut. Bei deren Zivilisationsverständnis vermutlich zum Arschwischen. JUNI: 1000 Büroklammern für 2 Farbbänder eingetauscht. JULI: 1 Farbband für 3 Bleistifte eingetauscht. »Der Mörder. Der mit dem Grübchen am Kinn«, stieß Mühl‐ berger hervor. Franke schrieb weiter: AUGUST: 3 Bleistifte den Nachbarskindern für die Schule geschenkt. »Wo?« Franke vollendete seine Arbeit: SEPTEMBER: 2 Blatt Schreibmaschinenpapier und einen Briefum‐ schlagfür diese blödsinnige Aufstellung verschwendet. »Er streicht ums Haus. Völlig klar, Herr Kriminaler, es zieht ihn zum Tatort zurück.« »Herr Mühlberger, da sind wir ja schneller als erwartet wieder zusammen«, rief Inspektor Dietrich, der nebenan mitgehört hatte. »Franke, den Wagen.« »Ist in der Werkstatt, Chef. Die Zündung ist im Eimer.« »Auch gut. Wer Rad fährt, hat mehr vom Leben. Sie halten hier die Stellung. Kommen Sie, Herr Mühlberger.« Nach zwölf Minuten waren sie am Ziel. »Da, im Hauseingang, das ist er«, flüsterte Mühlberger, obwohl der Mann ihn auf diese Entfernung unmöglich hören konnte. »Halten Sie mein Rad.« Klaus Dietrich ging vom Fahrdamm 441
über den Sandstreifen zur Nummer 198.Der Mann saß auf der Stufe vor der Haustür. »Inspektor Dietrich, Kripo. Sagen Sie mir bitte Ihren Namen?« Der Angesprochene stand auf. »Giese. Franz Giese. Wir sind verabredet, Lene und ich. Bin ein bisschen früh dran. Na, und nu warte ich eben.« »Auf Marlene Kaschke?« »Wir haben Jahre gewartet, die Lene und ich, und nu haben wir uns endlich wieder gefunden, vorgestern war das, und nichts soll uns mehr trennen, haben wir uns versprochen.« »Sie waren vorgestern hier?« »Nachmittags um vier. Feine Happen hat sie gemacht, und Sekt gab᾿s. Bis spät haben wir uns geliebt.« »Sie blieben bis zum Abend, Herr Giese? Bis wann?« »Bis zur letzten U‐Bahn.« Mühlberger schob neugierig die Fahrräder näher. Klaus Dietrich winkte ab. Giese ließ sich wieder auf der Stufe nieder. »Sie ist eine gute Frau. Hat viel durchgemacht, auch wenn sie nicht drüber spricht.« Er machte eine lange Pause, als gäbe es nichts weiter zu sagen. Dann sah er zu Dietrich auf, Qual, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit im Gesicht. »Wer hat das getan, Herr Inspektor?« Klaus Dietrich hatte zerfetzte Soldatenleiber in russischen Bir‐ ken hängen gesehen, er hatte die Schreie der mit ihren Panzern verglühenden Besatzungen gehört und das Wimmern sterbender Frauen und Kinder in den brennenden Katen. Doch es war kein Krieg mehr, wo selbst das Schrecklichste zur Routine wurde, und die leise klagende Stimme dieses erwachsenen Mannes berührte ihn tiefer als alles Erlebte. Er legte ihm sachte die Hand auf den Kopf, er wusste nicht, warum. »Wir werden ihn finden, das ver‐ spreche ich Ihnen, Herr Giese. Sie können uns helfen. Kommen Sie zu uns auf die Inspektion. Hier ist die Adresse. Guten Tag, Herr Giese.« Mühlberger stand mit den beiden Fahrrädern in Hörweite und 442
ließ sich kein Wort entgehen. Der Inspektor wollte ihm sein Rad abnehmen. Mühlberger hielt es krampfhaft fest. »Einlochen, diesen Mörder«, zeterte er. »Sie müssen ihn einlochen.« Mit ärgerlichem Ruck befreite Dietrich sein Rad und fuhr los. Kriminalmeister Franke schlug die Hände zusammen. »Sie haben ihn laufen lassen?« »Ich habe ihn gebeten, in den nächsten Tagen bei uns vorbeizu‐ schauen.« »Und Sie glauben im Ernst, dass er Ihrer Einladung folgt?« »Er wird kommen. Er ist nicht der Mörder.« »Mühlberger hat ihn ziemlich genau zur Tatzeit im Treppen‐ haus gesehen, Chef. Soviele Männer mit Grübchen am Kinn gibt es nicht.« »Er hat Franz Giese gesehen, wie er die Treppe runterkam, das stimmt. Giese leugnet ja auch gar nicht, von vier Uhr nachmittags bis kurz vor der Sperrstunde bei Marlene Kaschke gewesen zu sein. Zwei Liebende, Franke, die sich wieder gefunden hatten. Da liegt Zärtlichkeit in der Luft und die Hoffnung auf eine wunderbare gemeinsame Zukunft. Der Mörder kam erst einige Minuten später.« »Wer, Chef? Wer war es?« »Das weiß ich nicht. Trotzdem habe ich so ein Gefühl, dass wir ihn kennen.« Hendrijk Claasen wohnte vier Reihenhäuser von den Großeltern entfernt. Er putzte im Vorgarten seine Triumph. »Tag Herr Claasen«, grüßte Ben höflich. Er klopfte gegen seine Schultasche. »Fünf Stangen Philip Morris, ist das okay?« Der Holländer legte den Schwamm auf den Sattel seines Motor‐ rades. »Komm rein.« Sie gingen ins Haus. Claasen verschwand bis zu den Schultern in der Anrichte und tauchte mit einem Paar Schuhen wieder auf. »Von meiner letzten Fahrt aus Nijmegen mitgebracht. Probier mal.« 443
Ben strich vorsichtig über das samtbraune Wildleder und drückte prüfend gegen die dicken Kreppsohlen. »Mann«, stöhnte er überwältigt. Dass die Schuhe eine halbe Nummer zu groß waren, konnte die Freude nicht schmälern. Claasen schnitt aus einigen Lagen Zeitungspapier Einlegesohlen. Ben schlüpfte hinein. Das Zuschnüren wurde zur rituellen Handlung. Die ersten Schritte waren eine Offenbarung. Er ging wie auf Watte durchs Zimmer. Vorsichtig zog er die Schuhe aus. Sie würden mit dem Anzug ihre Weihe erhalten. In vierzehn Tagen, hatte Herr Rödel gesagt. 444
ACHTES KAPITEL
D
ie Orangenernte auf der Krim war in diesem Jahr besonders gut. Der Direktor der Kolchose »Rote Sonne« beraumte darum eine Feierstunde zum Ruhme der siegreichen Roten Armee an und brachte nach einer zündenden Ansprache und dem mitrei‐ ßenden Gesang eines Chors Junger Pioniere aus Odessa einen Waggon der köstlich aromatischen Früchte auf den Weg »zu unseren tapferen Söhnen in der eroberten Hauptstadt des faschis‐ tischen Feindes«. Sein wohlberechneter Schachzug wurde von der Parteipresse aufgegriffen und entsprechend aufgebauscht. Bald waren es angeblich ein Dutzend Güterwagen, die gen Westen roll‐ ten, willkommenes Alibi für den Direktor, diese mit dem Löwen‐ anteil der Ernte zum hundertfachen Preis auf dem Schwarzmarkt abzusetzen. Der einzelne Waggon mit den zur Hälfte verfaulten Zitrus‐ früchten erreichte tatsächlich Berlin. Die andere, essbare Hälfte wurde auf Geheiß des sowjetischen Stadtkommandanten an Sol‐ daten mit Familie verteilt. Zwei Spankisten landeten beim Kultur‐ offizier Oberstleutnant Talin. Der hatte keine Familie, sondern war dem blonden Solotänzer Heinzotto Druschke zugetan, welchem er eine Kiste schenkte. Druschke hatte die Hitlerzeit im Bett eines höheren SS‐Führers überstanden, was ihn vor dem Konzentrationslager bewahrte. »Die reinste Notwehr, der Mensch hatte grässlichen Mundgeruch«, nölte er nach der Befreiung. Man wies ihm als Naziverfolgtem be‐ 445
vorzugt eine Wohnung in Zehlendorf am Eschershauser Weg zu, wo er die Apfelsinen bei seiner Nachbarin Frau Molch für zwei Flaschen Kirschlikör von Mampe eintauschte. Der klebrig süße Alkohol sollte ihm helfenjunge Bengels zu verzupfen. Die Kiste Orangen, nebst zwei geräucherten Schinken, zehn Zentnern Kohlebriketts, drei Zentnern Kartoffeln, fünf Litern Speiseöl, sowie je zwei Kilos Graupen, gelben Erbsen und weißen Bohnen waren Erlös für Frau Hermine Hellbichs Persianer. »Ich hab ja den dicken Wollmantel«, war ihre verlegene Entschuldi‐ gung. »Na, und im Winter brauchen die Jungs es warm und was Nahrhaftes zu essen, und der übrigen Familie kann᾿s auch nicht schaden.« Sogar sechs Schachteln Stella‐Zigaretten für den Be‐ zirksrat hatte sie rausgehandelt. Sie tat fünf Apfelsinen in eine Tüte. »Die bringst du deinem Vater auf die Inspektion«, befahl sie ihrem Enkel Ralf. »Die Vita‐ mine werden ihm gut tun.« Ralf sauste los. Vielleicht gab᾿s auf der Inspektion einen Verbre‐ cher in Handschellen zu besichtigen. Doch Papa saß friedlich hin‐ ter seinem Schreibtisch und nahm erfreut die Apfelsinen entgegen. »Was für eine nette Überraschung. Hier hast du eine. Setz dich still in die Ecke, bis wir fertig sind. Mögen Sie?« Der Inspektor hielt dem Kriminalmeister die Tüte hin. »Was gibt es sonst Neues?« »Weisung von oben, unsere geplante Razzia auf die Schwarz‐ händler am Bahnhof Schlachtensee abzublasen. Es handele sich um Displaced Persons, gegen die wir nicht vorgehen dürfen. Kroppzeug, wenn Sie mich fragen, Herr Inspektor.« »Sieht so aus, als seien uns da die Hände gebunden. Konzen‐ trieren wir uns also weiter auf die Suche nach unserem Mann.« Klaus Dietrich schob sich ein Stück Apfelsine in den Mund. Mit der Zunge drückte er es gegen den Gaumen, dass die Zellen bars‐ ten. Der Saft rann köstlich erfrischend die Kehle hinunter. »Noch eine, Herr Franke?« »Ja, gerne. Die bringe ich meiner Frau.« Franke knotete die kost‐ 446
bare Frucht in sein Schnupftuch. »Glauben Sie mir, Chef, wenn wir das Motorrad finden, finden wir auch den Täter.« »Ich bewundere Ihren Scharfsinn. Verraten Sie uns auch, wo wir suchen sollen?« »Bei Frau Kalkfurth in der Garage«, tönte es aus der Ecke. Klaus Dietrich war verblüfft. »Was sagst du da?« Ralf schnipste zielsicher einen Apfelsinenkern in den Papier‐ korb. »Die Katze saß auf der ollen Steppdecke. Na und die lag über dem Motorrad.« »Wann war das?« »Vor ᾿n paar Tagen.« Franke war skeptisch: »Die Maschine steht da einfach so in der Garage rum, dass jeder sie besichtigen kann?« »Da müssen Sie durch ᾿ne Menge Gerumpel durch, und ziem‐ lich dunkel ist es auch«, belehrte ihn Ralf. »Gibt᾿s einen anderen Zugang?«, verhörte ihn sein Vater. »Ja, ᾿ne Tür nach hinten raus«, erinnerte sich Ralf. »Komm her.« Klaus Dietrich legte die Hände auf die Schultern seines Sohnes. »Warum hast du mir das nicht eher gesagt?« »Wusste ja nicht, dass ihr danach sucht. Ist es geklaut?« »Hör zu, mein Junge. Was wir hier besprechen, ist strengstes Dienstgeheimnis. Du darfst keinem Menschen was davon sagen. Auch nicht Mama oder Ben.« Ralf trabte mit stolzgeschwellter Brust nach Hause. Er kannte ein richtiges Dienstgeheimnis. Franke war überzeugt: »Der Sohn Kalkfurth ist nicht in Polen gefallen, sondern hat den Krieg überlebt. Nun mordet er wieder. Seine Mutter versteckt ihn und das Motorrad. Ich schlage vor, wir nehmen die Dame in die Mangel. Ein paar Stunden in der Arrest‐ zelle werden sie weichkochen. Irgendein Vorwand dazu wird sich schon finden.« »Langsam, Kriminalmeister. Falls an der Sache was dran ist, würden wir ihn warnen. Im Übrigen haben wir keinerlei Be‐ weise.« 447
»Er lebt und mordet, ich hab᾿s im Urin«, beharrte Franke eigen‐ sinnig. »Was haben Sie vor, Chef?« »Wir beobachten die Garage. Wenn sich unser Verdacht bestä‐ tigt, wird er irgendwann mit dem Motorrad rauskommen, um auf Jagd zu gehen.« Franke war skeptisch: »Und wir tuckern mit unserem Holzgas‐ renner hinterher?« Der Inspektor griff zum Telefon. »Hallo, Captain Ashburner, Dietrich hier. Ich glaube, wir haben eine Spur.« Er berichtete kurz und schloss: »Wir überwachen die Garage. Das Problem ist: Wie folgen wir dem Motorrad gegebenenfalls? Unser fahrbarer Ofen schafft höchstens fünfzig Stundenkilometer. Natürlich – wenn wir einen Jeep hätten... « »Das schlagen Sie sich aus dem Kopf, Inspektor. Die Military Police ist kein Autoverleih. Da inzwischen klar ist, dass Sie nach einem deutschen Killer suchen, der außerdem so rücksichtsvoll ist, keine Amerikanerinnen abzumurksen, habe ich strikte Anweisung, mich auf eine Beraterfunktion zu beschränken.« Ashburner betrachtete das silbergerahmte Foto auf seinem Schreibtisch. »Trotzdem, mög‐ licherweise kann ich Ihnen helfen. Ich melde mich morgen. Good bye.« Der Captain rückte das Foto zurecht. Die Putzfrau hatte es beim Staubwischen verschoben. Das Bild zeigte Jutta und ihn Arm in Arm vor der Haustür in der Wilskistraße. Sie hatten es mit Selbst‐ auslöser aufgenommen, sehr zu Juttas Erheiterung, weil es so ko‐ misch aussah, wie er mit seinen langen Beinen von der Kamera an ihre Seite sprang. Für ihn war es mehr als ein Schnappschuss. Er bekannte sich damit offen zu seiner Liebe. Selbst der nicht ge‐ rade feinfühlige Sergeant Donovan verkniff sich jeglichen Kom‐ mentar. Colonel Harold Miles Tucker war da weniger taktvoll. Der Ad‐ jutant des Stadtkommandanten schnalzte mit der Zunge. »Hüb‐ 448
sches blondes Fraulein. Das wäre ein Leckerbissen für den Onkel‐ Tom‐Killer, finden Sie nicht?« »Behalten Sie Ihre Geschmacklosigkeiten für sich, Tucker.« »It was only a joke. Wissen Sie, Captain, was ich diesem ver‐ dammten Killer am meisten übel nehme? Dass er unsere Helga abgemurkst hat. Jetzt hängt Myra wieder an der Ginflasche.« »Die deutsche Polizei hat eine heiße Spur.« »General Abott wird das gerne hören. Das ist aber nicht der Grund, warum ich zu Ihnen ins Office komme. Sie müssen mir helfen, John. Es geht um Senator William Bullock aus Washington. Er hat das Brandenburger Tor besichtigt, auf dem Schwarzmarkt eine Leica gekauft und der Lokalpresse versichert, dass die Augen der freien Welt auf Berlin ruhen. Des Senators Augen ruhen mehr auf den Berlinerinnen, genauer gesagt auf einem üppigen rothaarigen Exemplar namens Waltraud. Bullock fliegt heute nach Frankfurt. Er trifft dort den Militärgouverneur zum Dinner. Nach diesem erschöpfenden Programm möchte er sich ein paar Tage im Taunus entspannen, in unserem Gästehaus, einem ehemaligen deutschen Luxushotel, und zwar an der Seite besagter Dame. General Abbott wünscht mit der Angelegenheit nichts zu tun zu haben und hat mir den Schwarzen Peter zugeschoben.« »Eine heikle diplomatische Mission, Sir«, spöttelte der Captain. »Wie kann ich dabei helfen?« »Ich brauche jemanden, der die Dame in Steglitz abholt und zum Flugzeug bringt. Ein Captain der Military Police wäre über jeden Zweifel erhaben.« »Das trifft sich gut, Sir. Ich muss ohnehin nach Tempelhof. Meine Frau kommt heute an, und zwar in der Maschine, die mit dem Senator nach Frankfurt zurückfliegt.« »Fehlt eine plausible Erklärung, warum dieses German Girl mit der AOA fliegen darf.« »Kein Problem, Sir. Wir sagen, es handele sich um eine Zeugin der US‐Anklage gegen irgendeinen Rüstungsbetrieb der Nazis, 449
die in Frankfurt vernommen werden soll. Letzte Woche mussten wir einen ehemaligen Staatssekretär als Zeugen nach Frankfurt fliegen. Die Sache ist also nicht neu. Kein Mensch wird das nach‐ prüfen.« »Perfect idea, John. Ich lasse sofort die entsprechenden Papiere ausstellen. Thanks a lot. Sie haben einen bei mir gut.« Die üppige Rothaarige hieß Waltraud Sommer und wohnte in der Albrechtstraße. Sie genoss es sichtlich, dass ein echter US‐ Cap‐tain ihren Koffer trug und ihr zuvorkommend in den Jeep half. »Schaukelt det sehr im Flieger?«, erkundigte sie sich mehr aus Vorfreude denn aus Angst. »Nicht bei schönem Wetter«, beruhigte er sie. Ankunft und Abfertigung der American Overseas Airlines waren provisorisch in einem Seitentrakt des zu zwei Dritteln zer‐ störten Flughafens Tempelhof untergebracht. Der Rest gehörte der US Air Force. Der vor zwei Wochen aufgenommene zivile Flugverkehr war spärlich und wurde nur von Angehörigen der in Berlin stationierten Soldaten sowie ein paar offiziellen Besuchern in Anspruch genommen. Senator William Bullock war ein massiger Mann mit weißem Texashut. Er stand umringt von Zeitungsleuten und gab ein paar Allgemeinplätze von sich. »Da isser ja. Hello Bullie‐Darling.« Waltraud segelte mit ausgebreiteten Armen auf den Senator zu. Ashburner dirigierte sie geistesgegenwärtig um und drückte sie mit sanfter Gewalt auf eine Bank. »Sie kennen den Senator nicht«, instruierte er sie leise. »Er wird auf Sie zukommen.« »Schon kapiert. Damit keener wat merkt und uns bei seiner Alten verpetzt.« Sie saßen Rücken an Rücken mit zwei auf ihren Abflug war‐ tenden Passagieren. »Hitlers rechte Hand ein Berliner Kleingärt‐ ner«, hörte Ashburner hinter sich. »Reingelegt haben sie dich, Cla‐ rence Preston Brubaker, und zwar nicht zu knapp.« »Ein Irrtum, Dad, ich geb᾿s ja zu.« 450
»Wenn ich nicht sofort herübergekommen wäre und Dick Draycott von UP beauftragt hätte, die Geschichte zu checken, wäre der Hackensack Herald jetzt das Gespött der Branche. Hat mich eine Stange Dollars gekostet, Draycott zum Schweigen zu verpflichten.« »Es tut mir leid, Dad.« »Es wird dir noch mehr leid tun, wenn du hörst, dass es mit Auslandsposten vorbei ist. In Zukunft kümmerst du dich zu Hause um die Rätselecke.« »Ja, Dad. Da kommt unsere Maschine.« John Ashburner sah mit gemischten Gefühlen, wie der silberne Vogel zwischen den Häuserruinen am Neuköllner Ende der not‐ dürftig geflickten Rollbahn einschwebte. Ethel hatte sich mit wenigen nüchternen Zeilen angekündigt. Ihr Brief enthielt kein Wort über Scheidung. Ohne ihre Einwilligung hatte er keine Chance. Die Gesetze von Illinois waren auf Ethels Seite. Er hatte Jutta die Ankunft seiner Frau verschwiegen und fühlte sich hunde‐ elend deswegen. »Sie rühren sich nicht, bis der Flug aufgerufen wird«, wies er seine Nachbarin an. »Und bleiben Sie weg vom Senator. Gute Reise.« Er erhob sich. »Allet klar. And thank you very much.« Ashburner ging auf Distanz, ehe Waltraud ihn dankbar an ihren üppigen Busen ziehen konnte. Im Vorübergehen warf er einen Blick auf Vater und Sohn. Dad hatte ein feistes Gesicht mit Hängebacken. Brubaker Junior war so farblos wie ein Glas Wasser. Der Captain öffnete die frisch verglaste Tür der Lounge und trat hinaus ins Freie. Im Hinter‐ grund lag das ausgeglühte Skelett einer Viermotorigen mit deut‐ schen Kennzeichen. »Der letzte Flug der Lufthansa von Barce‐ lona«, klärte ihn ein junger Air Force Sergeant auf. »Eine Junkers 290. Nach der Landung erwischte sie eine Brandbombe. Das war im Mai.« 451
Die DC4 schwenkte mit aufbrüllendem Backbordmotor unter dem stark beschädigten Hängedach des Flugsteiges ein. Zwei Mann rollten die Treppe heran. Oben zeigte sich eine Stewardess, die mit dem Lächeln einer Coca‐Cola‐Reklame über die rauchge‐ schwärzten Reste des einstigen Zentralflughafens blickte, als wäre es eine sonnige Märchenlandschaft. Routinemäßig verabschiedete sie die paar Fluggäste, die an ihr vorbei die Stufen hinabstiegen, und kehrte erleichtert in die Geborgenheit der Kabine zurück. Ethel trug ihren alten Trenchcoat und einen Allwetterhut. Sie hatte nie viel auf Kleidung gegeben. »Da bist du also.« Er nahm Reisetasche und Koffer. »Kriegst du genug zu essen?« Sie hatte von den Hungerrationen in Germany gelesen. »Im PX gibt es alles, was man braucht. Oder ich gehe zum Din‐ ner ins Harnack Haus.« Er verstaute das Gepäck im Jeep. Der Tag war heiß geworden. Eine Staubwolke trieb von den Ruinen an der Berliner Straße herüber. Während der Fahrt durch die Trümmer meinte sie kritisch: »Die Leute könnten wirklich etwas gründlicher aufräumen.« »Wenn die deutsche Luftwaffe bis Rockdale gekommen wäre, würdest du nicht so dummes Zeug reden«, fuhr er sie an und merkte erstaunt, dass er die Stadt und ihre Menschen verteidigte. Er bremste, weil ein mit Schutt beladener Pferdekarren den Fahr‐ damm kreuzte. »Wie rückständig. Haben die denn keine Lastwagen?« »Nein«, sagte er ärgerlich. Im gleichen Moment wurde ihm klar, dass er sich mit jedem Wort mehr gegen sie stemmte. »Erzähl mir, Dear, was gibt᾿s denn Neues zu Hause?«, lenkte er ein. »Sie haben Jesse Rawlins als Werfer zu den Chicago Redfoots geholt.« Ethel gehörte zu den Bewunderinnen des Baseballpro‐ fis. »Hat er immer noch ein Verhältnis mit der Frau des Bürger‐ meisters?« 452
»Ein Verhältnis schon, aber nicht mehr mit Millie Walker.« Sie kicherte wie bei einem gut gelungenen Scherz. Den Rest der Fahrt berichtete sie von den Nachbarn: »Liz Lunnon erwartet ihr Vier‐ tes. Man munkelt, es sei nicht von ihrem Mann. Dick und Ella Jar‐ wood lassen sich scheiden. Einziger Grund – sie will weg aus Rockdale und er nicht. Vanessa King liegt im Clinch mit dem Bür‐ germeister. Sie sagt, Amerika sei ein freies Land und weigert sich, dieses Lady‐Chatterley‐Buch aus dem Fenster zu nehmen.« Sie gluckste. »Ich hab᾿s gelesen. Also wo dieser Gärtner ihr überall Blumen hinsteckt... « Er hörte zu und dachte an Jutta. Würde ihr in Rockdale die Decke auf den Kopf fallen, wie der lebhaften Ella? Vielleicht nicht, wenn sie sich mit Vanessa anfreundete. Die war auch ge‐ lernte Buchhändlerin. Aber noch stand Ethel zwischen ihnen, die bisher mit keinem Wort erkennen ließ, was sie von einer Schei‐ dung hielt. Sie stoppten an der Einfahrt zur US‐Enklave. »Onkel Toms Hütte«, erklärte er. »Ich hab als kleines Mädchen an manchen Stellen geheult.« »Nicht das Buch – der U‐Bahnhof und die Gegend ringsum heißen so. Okay, Ted?« »Ja Sir.« Der junge Militärpolizist grüßte und hob den Schlag‐ baum. Ashburner bog rechts um die Ecke. »Akazien, wie hübsch«, rief sie entzückt. »Bei den Eltern in Springville haben sie die alle abgeholzt, als die Telefonleitung unterirdisch verlegt wurde.« Er trug Koffer und Tasche ins Schlafzimmer und stellte sie ans Bett. »Es ist frisch bezogen«, betonte er, was ihm einen belustigten Blick eintrug. »Ich werde nebenan auf dem Sofa schlafen. Soll ich Kaffee machen oder Tee?« »Lieber einen Drink. Gibt᾿s hier Bourbon?« Sie dehnte sich im Sessel, schleuderte die flachen Loafers von den Füßen und streckte die Beine ungeniert aus. Sie erinnerte ihn an das sport‐ 453
liehe, burschikose High‐School‐Girl, das er vor zehn Jahren ge‐ heiratet hatte. Er schenkte zwei Whiskeys ein. »Wie war die Reise?« »Endlos. Mit dem Bus nach Chicago und dem ›Century‹ nach New York. Sechs Stunden Flug von New York nach Neufundland. Auftanken in Gander. Du brauchst randvolle Tanks, damit es bis Shannon in Irland reicht. Das ist die kürzeste Strecke nach Europa. Die Stewardess hat es uns erklärt. Zehn Stunden über den Atlantik, stell dir das mal vor. Ganz zu schweigen von den vier Stunden bis Frankfurt und fast zwei Stunden nach Berlin.« »Du musst todmüde sein.« »Ich bin so wach wie nie und habe einen Mordshunger. Ich gehe unter die Dusche, und dann fahren wir zum Dinner in dein Har‐ nack Haus, okay, Johnny?« So hatte sie ihn in ihren ersten Ehejah‐ ren genannt. »Einverstanden.« Er bewunderte ihre Energie. Sie war frisch und ein wenig gerötet vom Bad, was ihr gut stand, ebenso wie ihr feucht schimmerndes braunes Haar, das sie hochgesteckt hatte. Sie trug hohe Absätze und ein weites blau gepunktetes weißes Sommerkleid mit blauem Bolero. So schick hatte er sie lange nicht gesehen. Sie zog das Kleid hoch bis zu den Schenkeln, um den Strumpfhalter zu richten. Er wusste nicht, dass das zu ihrer Inszenierung gehörte. Vor dem Harnack Haus parkten Straßenkreuzer und Armyfahr‐ zeuge. Drinnen spielte eine Band. »Capt. & Mrs. Ashburner« trug er ins Gästebuch ein. Das war Vorschrift, ebenso wie das Vorzei‐ gen seiner ID Card. Deutsche hatten nur in Begleitung Alliierter Zutritt. Harold Tucker und Frau liefen ihnen über den Weg. Myra Tucker war sichtlich angetrunken. »Alles glatt gegangen in Tempelhof, John?«, wollte Tucker wissen. »Ja, Sir. Darf ich Sie mit meiner Frau bekannt machen? Ethel, das sind Colonel und Mrs. Tucker.« 454
»Hi, Ethel. Nenn mich einfach Myra«, lallte Mrs. Tucker und suchte an ihrer Schulter Halt. »Freut uns außerordentlich, Mrs. Ashburner. Sie und John müs‐ sen uns bald einmal besuchen«, überspielte der Colonel die peinli‐ che Situation. »Komm, Myra.« Er führte die schwankende Gattin hinaus. »Scheint ein Problem zu haben, die Gute«, mokierte sich Ethel. Ashburner rückte ihr den Stuhl zurecht. Der Ober brachte die Karte. Sie wählten Kalbsgoulasch mit Reis, dazu einen Rheinwein. Hinterher gab es Apfeltorte mit Vanilleeis. Ethel plauderte ange‐ regt über Belanglosigkeiten. Beim Kaffee konnte er nicht länger an sich halten: »Du hast meinen Brief erhalten?« »Swing, that᾿s great!«, rief sie und klatschte in die Hände. »Come on, Johnny.« Sie zog ihn vom Tisch in den benachbarten Nightclub. Die Engineers hatten das hufeisenförmige Auditorium des Harnack Hauses umgebaut. Die ansteigenden Bankreihen waren jetzt Terrassen mit Tischen. Oben befand sich die Bar. Unten, wo einst Max Planck Vorlesungen gehalten hatte, wurde geswingt. Ethel war nicht zu bremsen. Sie wirbelte herum, fing seine Hand, stieß sich ab, zog ihn dicht zu sich heran, dass ihre Leiber aufeinander prallten, schnellte mit Schwung auf Armeslänge. Seit ihren Verlobungstagen hatte er nicht so ausgelassen getanzt. Sie wirkte jünger und lebhafter als beim Abschied vor sechs Monaten. An der Tanzfläche war ein freier Tisch. »Champagner«, verlangte sie. Auch das war neu an ihr. Er tat ihr den Gefallen. Er musste sie bei guter Laune halten. »Cheers«, prostete er ihr zu. »Cheers, Johnny.« Sie leerte ihr Glas. »Let᾿s dance again.« Er hatte keine Wahl. Zum Glück hielt der Slowfox ihren Schwung in Grenzen. Dafür drängte sie sich so dicht an ihn, dass ihr Knie bei jedem Schritt zwischen seine Schenkel geriet. »Hey, du trinkst ja gar nichts«, forderte sie ihn heraus, als sie 455
wieder auf ihren Plätzen waren. Er leerte sein Glas in einem Zug. Ein weiteres folgte, nachdem sie zum dritten Mal erhitzt von der Tanzfläche kamen, und schließlich noch eines. Auf der Heimfahrt merkte er, dass er ein bisschen zu viel getrunken hatte. »Wollen wir jetzt reden?«, fragte er im Schlafzimmer. »Morgen, Johnny.« Sie ließ ihr Kleid neben dem Bett zu Boden gleiten. Sie sah sehr sexy aus, in Strapsen und Höschen. »Okay, also morgen.« Er nahm eine Decke aus dem Schrank, um sich nebenan einzurichten. »Machst du mich auf?« Er wartete, dass sie sich umdrehte, damit er ihr den BH öffnen konnte. »Der Verschluss ist vorne.« Er nes‐ telte ungeschickt zwischen ihren Brüsten, bis sie ihm entgegen‐ sprangen. Plötzlich schwante ihm, dass sie das alles geplant hatte. Doch da waren sie bereits ineinander verschlungen, wie an den heißen Sonntagnachmittagen zu Beginn ihrer Ehe, als sie nicht ge‐ nug voneinander kriegen konnten. »Wie ist sie, deine Neue?«, fragte sie später im Dunkeln. »Die German Girls sollen gut sein im Bett, habe ich gehört. Meinen Glückwunsch.« Sie lachte leise. »Unser Abschiedsfick, Johnny. Ich hoffe, es hat dir gefallen. Ich ziehe mit Jesse Rawlins nach Chicago. Wir wollen heiraten. Ich bin gekommen, um den Scheidungskram mit dir zu erledigen.« »Du Biest.« Er warf sie herum und nahm sie mit wilden Stößen. Frau Inge wickelte ihrem Mann seine zwei Scheiben Frühstücks‐ brot ein. Er verstaute sie in seiner Aktentasche, die er hinten auf den Gepäckträger klemmte. »Kommst du nach Hause wie immer?« »Ich weiß nicht. Wartet nicht auf mich.« Er küsste sie flüchtig, war mit seinen Gedanken ganz woanders. Dieses unbestimmte Gefühl ließ ihn nicht los. Das Gefühl, ihm sei etwas Wichtiges entgangen. Direkt mit der Nase war er drauf gestoßen und hatte es nicht gemerkt. Die halbe Nacht hatte er wachgelegen, auf der Suche nach dem nicht Fassbaren. Gegen Morgen schien die Ant‐ 456
wort zum Greifen nah, doch sie zerrann ihm zwischen den Fin‐ gern. Inge war besorgt. Sie wusste, dass ihn die Frauenmorde bis in seine Träume verfolgten. Er hatte die Herausforderung des un‐ heimlichen Killers angenommen. Für ihn war es ein Kampf Mann gegen Mann, den es zu gewinnen galt. Sie schnitt das Brot für die anderen. Es war grau und glitschig, der Bäcker streckte den Teig mit Kartoffelschalen, die er zuvor durch den Wolf drehte. Sie hatte bei Frau Kalkfurth gestern eine Portion Sirup auf Sonderzuteilung ergattert, der aus dem Abfall von Zuckerrüben gewonnen wurde. Ihr Vater träufelte das zäh‐ flüssige dunkelbraune Zeug auf eine Scheibe. »Dein Mann macht mir Sorgen. Er hat sich erkundigt, wann die Wach‐ und Schließ‐ gesellschaft wieder aufmacht.« »Er möchte zurück auf seinen alten Posten, sobald diese ent‐ setzlichen Untaten geklärt sind.« »Würde ich an seiner Stelle nicht tun«, riet der Bezirksrat. »Wenn er bei der Stange bleibt, übernehmen sie ihn ins Beam‐ tenverhältnis. Das macht ihn pensionsberechtigt. Man muss an die Zukunft denken.« Hellbich leistete sich noch einen Löffel Sirup. Ben biss in die zweite Schnitte und begutachtete das Halbrund, das die Zähne herausgestanzt hatten. Mehr gab es nicht, was seine überschwengliche Laune jedoch nicht dämpfen konnte. Der An‐ zug wartete auf ihn. Keine halbe Stunde, und er würde den maß‐ gefertigten Traum heimholen. Seine Mutter erschien in Kopftuch und Jacke. »Beim Apotheker gibt᾿s Pfefferminztee ohne Marken. Ist mal was anderes als Kastanienkaffee und außerdem gut für die Bronchien.« Zwar hatte außer ihrem von permanentem Raucherhusten geplagten Vater niemand im Haus Bronchialprobleme, aber sie vermochte allem eine gute Seite abzugewinnen. Es war ihre Art, der hoffnungslosen Misere des Nachkriegsalltags zu begegnen. 457
Der Bezirksrat griff nach seinem Hut. Ralf klemmte sich die Schultasche unter den Arm. »Ben, kommst du?« »Geh schon vor«, rief sein Bruder von oben. Vom Fenster be‐ obachtete er, wie Großvater, Ralf und die Mutter das Haus verlie‐ ßen. Er holte die Wildlederschuhe aus dem Versteck. Die Socken hatten an der linken Zehe ein Loch, aber die Schuhe verbargen das. Der Kragen seines Konfirmationshemdes war zwei Nummern zu eng und ließ sich nicht schließen. Der gestreifte Schlips aus Vaters Kleiderschrank hielt ihn am Hals zusammen. Er stopfte das Hemd in die Hose und zog den Pulli drüber. Die Schultasche deponierte er im Gartenverschlag. Erwartungsvoll betrat er die Verandawerkstatt am Ithweg. »Mo‐ ment bitte, Herr Dietrich.« Meister Rödel war damit beschäftigt, einen schweren Ulster auszubürsten. »Den hatte ich all die Jahre vergessen, der hing im Mottensack hinten auf dem Speicher. Sani‐ tätsrat Simon brachte ihn zum Aufbügeln, im Jahr ᾿38. Am nächs‐ ten Tag holten sie ihn und seine Familie ab.« Ben hörte kaum hin. Seine Augen durchflogen die Werkstatt. Der Anzug war nirgends zu sehen. »Den Mantel motte ich nachher frisch ein. Für den Fall, dass der Sanitätsrat zurückkommt. Ein paar haben das Lager ja überstanden. Der kleine Rademann aus der Drogerie Schmidt zum Beispiel. Er redet zwar nicht drüber, aber es muss schrecklich gewesen sein. Jetzt wollen sie ihm einen Strick draus drehen. Da‐ bei war er nur der Bursche des Kommandanten. Heidi — Heidi! Bring Herrn Dietrichs Anzug!« Heidi ließ sich Zeit. Ben sah durch die offene Tür, wie sie vor dem Spiegel das Haar zurechtstrich und einen Blusenknopf öffnete, wohl, weil es heute ziemlich warm war. Sie verschwand aus seinem Blickfeld, um kurz darauf in der Werkstatt aufzukreuzen, den Anzug über dem Arm. »Tach.« Ben streckte die Hand aus, aber Heidi war viel zu be‐ schäftigt, der schwarzen Schneiderbüste das Jackett anzuziehen. Sie reichte Ben die Hose und blieb abwartend stehen. 458
»Heidi – bitte... « Ihr Vater machte eine ungeduldige Geste. Sie warf das Haar herausfordernd zurück und ging. Die Hose war lang und schlank, mit scharfen Bügelfalten, hohen Umschlägen und unnachahmlichem Fall auf die samtbraunen Schuhe. Am liebsten hätte Ben laut gejubelt, doch ein Mann von Welt brach wegen einem Paar gut sitzender Beinkleider nicht gleich in Entzückensschreie aus. Kühl benotete er das Jackett: »Eins‐A« — das Präfix, welches seit Menschengedenken die Auto‐ nummern der Hauptstadt von den minderen der Provinz unter‐ schied, Synonym für erstklassig und weltstädtisch schlechthin. »Ein Prachtstück. Sowas siehst du nicht alle Tage.« Herr Rödel half Ben ins Jackett und rückte ihm die Krawatte zurecht. »Feins‐ tes Vorkriegsrosshaar und Steinnussknöpfe. Meine letzten Reser‐ ven.« Der Schneider kramte in einer Lade. Heidi erschien wieder. Ein weiterer Knopf an ihrer Bluse hatte sich scheinbar von selbst geöffnet. Die oberen Hälften ihrer Brüste schimmerten Ben hell entgegen. »Steht dir echt gut, der Anzug.« Sie trat dicht vor ihn. Ihre Hände strichen über die Revers. »Wie weich die sind.« Ihr Atem streifte warm und süß sein Gesicht. »Sonntag um zwei in der Kuhle«, sagte sie leise. Ben atmete tief durch. Ganz klar, sein Anzug hatte Gerd Schlomms kurze Leder‐ hosen endgültig ausgestochen. Rödel hatte gefunden, was er suchte. »Hier, kleine Zugabe.« Er stopfte ihm ein seidenes Ziertuch in die Brusttasche. »Empfehlen Sie mich bitte weiter, Herr Dietrich.« Ben stieg in seine alten Klamotten. Der Schneidermeister hüllte den Anzug in ein graues Tuch und legte ihn dem Jungen über den Arm. Daheim gelangte Ben ungesehen die Treppen hinauf und ver‐ barg den Schatz im Spind auf dem Dachboden. Selbst seine blü‐ hende Phantasie hätte nicht ausgereicht, den Eltern diese über‐ raschende Ergänzung seiner Garderobe zu erklären. Der Anzug verschwand hinter dem schwarzen Gehrock des Bezirksrats, den dieser zuletzt zur Beisetzung seines Sohnes getragen hatte. Der 459
Unteroffizier Werner Hellbich war im Heimatlazarett den Ver‐ brennungen erlegen, die er als Ausbilder einer Volkssturm‐Gruppe erlitten hatte. Ein zwangsverpflichteter Siebziger hatte versehent‐ lich den rückwärtigen Feuerstrahl seiner Panzerfaust auf ihn ge‐ richtet. Großmutter Hellbich bohnerte den Flur. »Du hast heute früh Schluss«, wunderte sie sich. »Unser Mathelehrer ist krank«, schwindelte er. »Ich geh zum Friseur.« »Er soll dir᾿s diesmal etwas kürzer schneiden, hörst du?« »Mittellang, mit Scheitel«, wies Ben Herrn Pagel an. Der Friseur hatte den Betrieb in die Wohnung verlegt. Sein Salon lag un‐ erreichbar im amerikanischen Sperrgebiet am U‐Bahnhof Onkel Toms Hütte. Ein G.I. aus Brooklyn verpasste dort seinen Kamera‐ den Bürstenhaarschnitte. »Sofort, der Herr. Lektüre gefällig?« Herr Pagel hatte einige Jahrgänge der Berliner Illustrirten gerettet. Ben erwischte eine alte Nummer, die den ersten Flug des Luftschiffs »Hindenburg« nach New York feierte. »Und ᾿ne Packung Frommser«, verlangte er lässig, als es ans Zahlen ging. »Erstklassige Friedensware. Garantiert reißfest.« Herr Pagel schob das Gewünschte über den Tisch. »Damit sich das beste Stück nicht erkältet.« Er zwinkerte Ben zu. Der steckte die Schach‐ tel ein und machte, dass er rauskam. Er hätte gerne ein oder zwei Fragen bezüglich der Anwendung gestellt, aber es war ihm peinlich. Hoffentlich lag eine Gebrauchsanweisung bei. Inspektor Dietrich hatte einige Leute vom Revier angefordert, die Frau Kalkfurths Garage rund um die Uhr beobachteten. Ohne Erfolg. »Killer wie er haben einen sechsten Sinn«, meinte Franke düster. »Eher einen makabren Zyklus.« Klaus Dietrich hatte einige 460
Werke über Kriminalpsychologie auf vergleichbare Fälle durchge‐ arbeitet. »Er wird kommen, wenn es ihn wieder packt.« Vollmer steckte den Kopf zur Tür herein. »Captain Ashburner, Chef.« »Come in, Captain. How are you?« »Thanks, fine.« Ashburner legte eine kleine metallisch schim‐ mernde Box von der Größe einer Streichholzschachtel auf den Schreibtisch. »Wissen Sie, was das ist?« »Keine Ahnung.« »Kommen Sie, ich werde es Ihnen zeigen.« Am Bordstein standen zwei Jeeps. Im Vorderen saß Corporal Miller und rauchte seine Pfeife. Ashburner bückte sich und befes‐ tigte die Box mit einem Griff unter Millers Fahrzeug. »Ein Mag‐ net. Das Ding klebt wie Pech. Okay, Corporal, drive on.« Miller gab Gas. Ashburner ging gemächlich zu seinem Jeep. »Steigen Sie ein, Inspektor. Hier, nehmen Sie.« Er gab Dietrich eine Segeltuch‐ tasche. »Würden Sie mir sagen, was das soll?« »Machen Sie auf.« Ashburner fuhr los. In der Tasche war ein grauer Kasten so groß wie eine Zigarren‐ kiste, mit Schaltern und Stellknöpfen, ähnlich einem Radio. »Ein Funkmessgerät?«, riet Klaus Dietrich. »Gar nicht so schlecht, Inspektor. Legen Sie den linken Schalter um und drehen Sie den mittleren Knopf nach rechts.« Lautes Pie‐ pen ertönte, wurde bald schwächer. »Das ist der kleine Sender unter Millers Jeep. Der Corporal fährt schneller als wir. Mit wachsender Entfernung nimmt das Signal ab.Treten wir also ein bisschen drauf.« Ashburner beschleunigte. Der Piepton wurde stärker. Plötzlich wurde er leiser. Ashburner bremste. Sie setzten ein Stück zurück und bogen in die Nebenstraße, die sie eben passiert hatten. Das Piepen wurde immer durchdringender. Sie hielten. Millers Jeep wartete verborgen in einer Einfahrt. Ashburner beugte sich heraus und angelte die Box unter dem Fahrzeug des Corporals hervor. 461
»Sagenhaft.« Dietrich war begeistert. »Eine Leihgabe unseres Office of Strategie Services. Sie arbeiten bereits an einer kleineren Version, die man einem Verdächtigen unter den Schuh kleben kann.« »Das glaubt mir kein Mensch.« »Das geht auch keinen was an. Meine Beraterrolle sieht nämlich nicht vor, der deutschen Polizei mit elektronischem Spielzeug auszuhelfen.« Der Captain legte den kleinen Sender zum Empfän‐ ger in die Tasche. »Außerdem ist da ein Paar Kopfhörer. Die stöp‐ seln Sie ein und betätigen den rechten Schalter. Ich bringe Sie zur Inspektion.« »Nicht nötig. Die paar Schritte zu Fuß werden mir gut tun.« »Good luck, Inspektor.« Dietrich nahm die Tasche am Schulterriemen und stieg aus. Ash‐ burner sah ihm kopfschüttelnd nach, einem dünnen, früh ergrauten Mann im zu weiten Anzug, der das linke Bein etwas nachzog. »Und der will einen Killer fangen«, fasste Corporal Miller die Gedanken seines Vorgesetzten in Worte. »Ich möchte in die Garage, mir das Motorrad ansehen, ohne dass jemand was merkt. Irgendeine Idee?« »Ein Ablenkungsmanöver«, schlug Vollmer vor und wusste auch gleich, wie. »Ausgezeichnet«, lobte der Inspektor. »Abmarsch morgen früh acht Uhr dreißig.« Um neun Uhr waren sie am Hegewinkel. Vollmer ging als an‐ geblicher Kontrolleur der E‐Werke von Tür zu Tür, um zu prüfen, ob jemand schwarz Strom zapfte. Dietrich und Franke sammelten derweil hinter den Häusern, was es an Holz noch zu sammeln gab. Der Inspektor trug eine alte Windbluse und eine speckige Seglermütze. Franke hatte sich mit einem zerlöcherten Pulli ge‐ schmückt. Er zog einen kleinen Leiterwagen. Langsam näherten sie sich dem Kalkfurth᾿sehen Grundstück. 462
»Hinten anstellen«, schimpften die schlangestehenden Frauen, als Vollmer an ihnen vorbei in den Laden drängte. »BEWAG.« Vollmer wies ein amtliches Stück Papier vor. »Zeigen Sie mir sämtliche elektrischen Anschlüsse im Haus«, forderte er Winkelmann auf, der mit sattem Gesicht die hungrige Kundschaft bediente. »Gehen Sie mit ihm. Ich mache hier weiter.« Martha Kalkfurth lenkte den Rollstuhl hinter den Tresen. »Was darf᾿s denn sein, Frau Krüger?« Dietrich schaute zur Uhr. Er nickte Franke zu. Die Pforte im Zaun bot kein Hindernis. Mit wenigen Schritten waren sie an der rückwärtigen Garagentür. Franke holte ein Bund Dietriche aus der Tasche. Augenblicke später hatte er das einfache Schloss geöff‐ net. Drinnen war Dämmerlicht. Zwei Meter vor ihnen türmte sich Gerumpel bis zur Decke und versperrte den Weg in den vorderen Teil der Garage. Rechts an der Mauer hingen ein Gartenschlauch und ein Rasenmäher. Links ahnte man unter einer zerschlissenen Steppdecke die Umrisse eines Motorrads. Der Inspektor lüftete die Decke. Eine 300er NSU Baujahr ᾿36 wurde sichtbar. Der Tank war halbvoll. Einige feuchte Blätter am Vorderreifen bewiesen, dass die Maschine kürzlich bewegt worden war. Dietrich ging in die Knie, als prüfe er das Nummernschild. Er heftete die kleine Metallbox unter den hinteren Kotflügel. Es war seine ganz persönliche Waffe im Zweikampf mit dem Mörder, von der die anderen nicht zu wissen brauchten. »Was habe ich gesagt, Chef?«, triumphierte der Kriminalmeis‐ ter, als sie draußen waren. Dietrich griente: »Dass Sie mir helfen würden, die Ausbeute unserer Holzsammlungsaktion bei mir zu Hause abzuliefern. Ich wohne gleich um die Ecke.« Vollmer tauchte kurz nach ihnen in der Inspektion auf. »Draußen ᾿ne lange Schlange Kundschaft, drinnen Frau Kalkfurth und ihr Verkäufer Winkelmann«, mel‐ 463
dete er. »Ich habe zum Schein jede Steckdose vom Keller bis zum Dachboden kontrolliert und mich gründlich umgesehen. Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass außer der Kalkfurth jemand im Hause wohnt oder sich dort versteckt hält.« Wie immer wartete er, dass die Nacht kam. Die Nacht war sein Jagdrevier. Gegen zehn Uhr ging er in der Garage und knipste die Handlampe an. Er zog die Decke von der Maschine und stutzte. Irgendetwas war anders. Der Tankdeckel! Er verschraubte ihn stets so, dass das Firmenwappen darauf senkrecht stand. Jetzt war es verdreht. Er brauchte keine Minute, um die kleine Metallbox unter dem hinteren Kotflügel zu entdecken. Ratlos drehte er sie hin und her, heftete sie versuchsweise an den Rasenmäher, nahm sie ab, überlegte. Grinsend schob er sie in die Tasche. Er hätte begriffen. Er schnallte den Kinnriemen des Lederhelms fest und setzte die Schutzbrille auf. »Sie sind dir auf der Spur, Junge«, drang die Stimme durch das Gerümpel. Er lachte trocken. »Der Inspektor hat sich was Besonderes aus‐ gedacht. Er glaubt, ich weiß es nicht.« »Sie werden dich finden, wo du dich auch versteckst. Diesmal kann ich dir nicht helfen. Die Zeiten haben sich geändert. Lass dein Motorrad hier, Junge. Lauf fort, bevor sie dir den Kopf abhacken. Obwohl es vielleicht das Beste für uns beide wäre.« »Mutter, jetzt gehst du zu weit«, sagte er entrüstet. Klaus Dietrich hängte sich die Tasche mit dem Empfänger um und radelte hinaus in die Dunkelheit, eine wunderliche Gestalt, der die Kopfhörer das Aussehen einer Ohreneule gaben. Es war die dritte Nacht, und Frau Inge fragte sich besorgt, wie lange sein erschöpfter unterernährter Körper durchhalten würde. Seine Runde führte ihn zuerst zum Hegewinkel, wo in den letz‐ 464
ten zwei Nächten ein anhaltender Piepton bewiesen hatte, dass sich das Motorrad in der Garage befand. Heute blieb der Piepton aus. Der Killer war unterwegs. Die selbstgerechten Monologe des Vaters und das ewige Jam‐ mern ihrer Mutter gingen Jutta auf die Nerven. Sie machte sich zwei Tage früher als geplant auf die Heimreise. Von Köpenick bis Berlin Mitte brauchte sie eine Ewigkeit. Der totale Zusammen‐ bruch der Hauptstadt war knapp vier Monate her. Die Verkehrs‐ verhältnisse ließen infolgedessen noch sehr zu wünschen übrig. Ab Wittenbergplatz fuhr die U‐Bahn normal. Die Strecke in die westlichen Vororte war kaum beschädigt. Unterwegs dachte sie an John. Sie spürte ein schamlos schönes körperliches Verlangen nach ihm. Sie malte sich aus, wie sie ihn überfallen würde und wurde feucht, was der ältere Herr ihr gegenüber mit einem kleinen Zwinkern quittierte, als wüsste er um ihre Gedanken. Mit dem letzten Zug erreichte sie Onkel Toms Hütte. Sie eilte die Treppe hinauf und verließ den Bahnhof durch den schmalen stacheldrahtgesäumten Zugang, den die Amerikaner den Deut‐ schen gelassen hatten. Sie zeigte dem Posten am Schlagbaum ihren Ausweis. Voll freudiger Erwartung betrat sie das hell erleuchtete Sperrgebiet. Aus irgendeinem Fenster swingte Benny Goodman, begleitet von lachenden Stimmen. In der Wilskistraße Nummer 47 drückte sie den untersten Klingelknopf. Die schier endlosen Sekunden des Wartens steigerten ihre Erre‐ gung. Sie meinte, seinen festen Körper zu fühlen und ihre Zunge zwischen seinen Lippen. Endlich wurde geöffnet. »John, Dar‐ ling ... «, wollte sie sagen. Die Frau in der Tür kam ihr zuvor. »John, Darling... «, rief sie über die Schulter. Sie wusste sofort, wer diese Frau im Hausmantel war, die da vor ihr stand, das Haar etwas durcheinander, ein Glas in der Hand, und dass diese Frau gekommen war, ihren Besitz zu behaupten. Wie ein angeschossenes Wild lief sie davon. 465
John Ashburner kam aus dem Bad. Ethel war amüsiert. »Ziemlich impulsiv, deine junge Dame.« »Ich fahre ihr nach«, sagte er entschlossen. Der Inspektor bog in die Argentinische Allee. Der Stumpf schmerzte bei jedem Tritt in die Pedale. Das Fahrrad klapperte leise. In einigen Fenstern flackerte Kerzenlicht, als sei schon Weihnachten. Aber es war Oktober und Stromsperre, und ein Mörder kreuzte irgendwo durch die warme Sternennacht. Er lauschte in die Kopf‐ hörer, als erwartete er von dort eine Antwort auf seine Frage. Er ließ die Ereignisse der Woche an sich vorüberziehen. Wo war er gewesen? Was hatte er gemacht? Captain Ashburner hatte ihm den Piepsender vorgeführt, er war mit dem Zeugen Mühl‐ berger wegen der Angestelltenkartei in Mr. Chalfords Office ge‐ wesen, er hatte unauffällig das Garagenversteck durchsucht und das Motorrad präpariert, er war drei Nächte auf Fahrradpatrouille gewesen. Irgendwann und irgendwo in dieser Woche, die hinter ihm lag, war ihm etwas aufgefallen. Er hatte es im Unterbewusst‐ sein abgelegt, und da ruhte es nun und war um nichts in der Welt an die Oberfläche zu locken. Ein dünnes Piepen zirpte im Kopfhörer, wurde schnell stärker. Dietrich bremste, legte das Rad flach auf den Gehsteig und duckte sich hinter einen Schaltkasten am Bordstein. Keine zwei Meter vor ihm blubberte das Motorrad vorbei. Die Schutzbrille des Fahrers spiegelte den klaren Nachthimmel wider. Dietrich stieg auf und folgte dem abnehmenden Piepton, der ihm anzeigte, dass das Motorrad sich entfernte. Mit seinem alten Drahtesel hatte er da keine Chance. Zu seiner Überraschung wurde das Signal nach einer Minute wieder stärker und wuchs zum Fortissimo. Der Gegner musste ganz nah sein. Er hielt, sicherte nach allen Seiten – und sah die kleine metal‐ lisch schimmernde Box. Sie haftete am Laternenpfahl vor ihm. Der Gegner hatte ihn ausgetrickst. Aus der nahen Durchfahrt preschte ein Bündel geballter Kraft 466
auf ihn zu. Die 300er NSU! Ein dumpfer Stoß warf ihn um. Der Gegner wendete, setzte erneut zum Angriff an. Dietrich rollte zur Seite, war nicht schnell genug. Ein hässliches Knirschen, als zer‐ splitterten alle seine Knochen, das Motorrad raste davon. Hilflos lag er da. Plötzlich durchzuckte es ihn wie tausend Volt. Das, wonach er sich seit Tagen das Hirn zermarterte, war mit einem Mal voll da. Er versuchte aufzustehen. Es gelang ihm nicht. Die Reifen der schweren Maschine hatten seine Prothese zer‐ malmt. Sie hing in bizarren Verrenkungen am Stumpf. Er krem‐ pelte das Hosenbein hoch und schnallte sie los. Ein Jeep näherte sich. Sein Suchscheinwerfer tastete den Geh‐ steig ab. Dietrich hob den Arm und winkte, aber kurz vor ihm schwenkte der Scheinwerfer zur anderen Straßenseite. Seine Rufe gingen im Motorenlärm unter. Verdammt, irgendwie muss ich auf die Beine kommen, dachte er. Aufs Bein, berichtigte er sich in einem Anflug von Sarkasmus. Er wälzte sich herum und kroch auf Händen und Knien zur Laterne, wo sein Rad lag. Es waren kaum drei Meter, ihm schie‐ nen es Meilen. Er zog sich am Laternenpfahl hoch. Erst beim drit‐ ten Versuch gelang es ihm, das Rad aufzurichten. Er griff den Lenker mit beiden Händen, hob das halbe Bein über die Mittel‐ stange und schob das Gesäß in den Sattel. Mit dem gesunden Fuß stieß er sich ab. Sekundenlang drohte er umzukippen, doch rasch fand er sein Gleichgewicht. Er trat das Pedal und zog es mit dem Spann hoch. Es ging besser als erwartet. Er steigerte sein Tempo. Er durfte keine Zeit verlieren. Hoffentlich ließ ihn der Posten am amerikanischen Sperrgebiet telefonieren. Und dann hatte er ein Rendezvous mit dem Killer. Benny Goodman und die lachenden Stimmen klangen wie Hohn, und die gleißende Helligkeit der Tiefstrahler brannte in Juttas Augen. Sie riss sich zusammen. Nur nicht gehen lassen. Den Tri‐ umph gönnte sie der anderen nicht. 467
Jenseits des Schlagbaumes war Stromsperre. Mit energischen Schritten strebte sie vorwärts. Sie war wütend auf sich selber und auf John. Er hatte sie belogen. Er wollte ein bequemes Abenteuer bis Ethel kam, und sie dumme Gans hatte es ihm auf silbernem Tablett serviert. Sie blieb stehen und atmete tief durch. Die Nachtluft tat ihr gut. Sie erinnerte sich an das, was hinter ihr lag. Die Bombennächte. Die roten Horden. Die unbeschreiblichen Erniedrigungen. Und da regte sie sich über einen Amerikaner auf, dem sie eigentlich ganz gerne nachgegeben hatte? »Schwamm drüber«, hörte sie Jochen, wie damals nach ihrem ersten Ehekrach, der zu einer himm‐ lischen Versöhnung im Bett geführt hatte. Sie lächelte. Ein Geräusch riss sie zurück in die Wirklichkeit. Jutta wandte sich um. Aus der Dunkelheit wuchs eine Gestalt mit hoch erho‐ benen Armen. Eine Kette spannte sich klirrend um ihren Hals. Keuchend zerrte der Angreifer an ihrem Kleid. Sie japste wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ihre Hände griffen ins Leere. Die Kette schnürte ihr die Luft ab. Violette Kringel tanzten vor ihren Augen. In den letzten Sekunden vor dem Ende durchlebt der Strangu‐ lierte alles noch einmal, dachte sie. Wo habe ich das nur gelesen?
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Jutta
W
ar es Traum oder Wirklichkeit? Sie fühlte sein Gewicht auf sich und seine Männlichkeit tief zwischen ihren Schenkeln. Sein Gesicht blieb im Dunkel. Jochen? Oder der andere, den sie noch nicht kannte, aber bestimmt eines Tages kennen lernen würde? Es gab ihn, wie sonst könnte sie von ihm träumen? Ihr Herz klopfte laut und hartnäckig, als sei es Mutti, die gegen die Tür pochte. Es war Mutti. »Sieben Uhr, Kind!«, rief sie. Widerwillig schälte sich Jutta aus den Kissen. Ihr Schoß war heiß und feucht. Sie wäre liebend gerne in ihren Traum zurückgekehrt, um sein Gesicht zu erkennen. Auch unter der Brause blieben seine Züge verschwom‐ men. In der Küche strich sie sich ihre gewohnte Butterschrippe und beobachtete dabei eine Fliege, die über die Nase Kaiser Wil‐ helms trippelte. Der alte Herr mit dem Backenbart hing an der Tür zur Vorratskammer. Juttas Urgroßvater hatte ihn, ganz der ergebene Untertan, einst dort angeheftet. Mutti goss Kaffee aus der großen blauen Emaillekanne ein, die auf dem gusseisernen Herd stand. Auch nachts verlosch seine Kohlenglut nicht. Im Schankraum lärmten ein paar Arbeiter beim Frühbier. Vati lachte beifällig zu irgendeiner Bemerkung. Er lachte immer beifällig, kurz und scheinbar überrascht, es ersparte ihm das Mitreden. Mutti stellte die Kanne auf die Herdplatte. So blieb das schwarze Gebräu heiß, falls ein Gast welches bestellte. »Sieht man dich heute Abend?« »Kommt drauf an.« Sie hatte keine Ahnung, worauf, sie sagte 469
es einfach so hin, um Muttis unweigerlich folgenden Fragen vor‐ zubeugen: Warum sie nicht endlich heirateten? Bei einem Mann, auch dem zukünftigen, zu übernachten, sei unziemlich. Jochen sollte das eigentlich wissen, als verantwortungsbewusster Mensch und Akademiker. »Muss jetzt los.« Sie mied den Schankraum und verließ den »Roten Adler« durch den Gemüsegarten. Zum S‐Bahnhof Köpe‐ nick brauchte sie zehn Minuten. Im Zug nahm sie den neuen Roman von Fallada aus der Akten‐ tasche. Als angehende Buchhändlerin musste sie auf dem Laufen‐ den sein. Heute waren es die letzten Seiten einer deprimierenden Zuchthausgeschichte mit einem Helden ohne Hoffnung. Als sie fertig gelesen hatte, versuchte sie zu raten, wer ihre Mit‐ fahrer sein konnten, Menschen mit ernsten, heiteren, gleichgülti‐ gen, freundlichen oder abweisenden Gesichtern. Ein Herr mit Homburg, dessen runder Bauch die Weste spannte. Juwelier, Ver‐ sicherungsmakler, Studienrat? Er versteckte sein Parteiabzeichen hinter dem Lokalanzeiger. Jutta las die Schlagzeilen dieses Julitages 1934: »Österreichs Kanzler Dollfuß ermordet — Hans Stuck siegt auf Auto Union im Großen Preis von Deutschland — Marie Curie gestorben«. Die alte Frau gegenüber, in deren Korb ein Schock Eier, ein Schinken, zwei Würste und ein Bündel Rhabarber ver‐ staut waren, kam sicher aus Rahnsdorf, Zeuthen oder von noch weiter draußen, um den Kindern in der Stadt etwas Vernünftiges zu essen zu bringen. Die Dame in Hut und Zwirnhandschuhen neben ihr war gewiss bei Kranzler oder im Café Schilling mit an‐ deren Damen in Hut und Zwirnhandschuhen zum Vormittags‐ klatsch verabredet. Der Major der Flieger, mit sommerlich weißer Mütze und genarbter Ledermappe, befand sich vermutlich auf dem Weg zu seinem Schreibtisch im neuen Reichsluftfahrtminis‐ terium. Ebenfalls neu im Stadtbild waren die Hakenkreuzfahnen an den Postämtern und die Schilder in einigen Schaufenstern: »Arischer 470
Betrieb«. Das vertraute Preußischblau der Polizei war einem häss‐ lichen Grün gewichen, vor dem sogar Forstbeamte schauderten. Die Berliner blieben gelassen. All das stammte aus fernen süd‐ lichen Provinzen, die ohnehin kein Mensch ernst nahm. Man war sich einig: Dieser austro‐bajuwarische Zirkus würde bald wieder verschwinden. Auch der Typ in Braunhemd und Stiefeln am Heidelberger Platz, wo Jutta von der S‐ in die U‐Bahn wechselte, war erst mal Berliner und dann SA‐Mann. »Leute, jebt reichlich. Der Führa braucht warme Wäsche«, rief er und klapperte mit der Sammel‐ büchse fürs NS‐Winterhilfswerk. »Trägste ooch braune Unta‐ hosen?«,fragte ein Steppke. »Nur wenn ick feucht furze«, erhielt er gemütlich Auskunft. Jutta fuhr bis Onkel Toms Hütte. Vor ein paar Jahren hatte der Architekt Doering dort ein modernes Einkaufszentrum rings um den Bahnhof in den märkischen Sand gegraben, das auf Höhe der U‐Bahngleise, also unterhalb der Straßenebene lag. Die Buchhandlung befand sich in einer der beiden Ladenstraßen, die den Bahnsteig an seinen zwei Längsseiten begleiteten. Links daneben war Zabels Seifengeschäft, rechts Fräulein Schummels Herrenausstattung. Noch weiter rechts verkauften und reparierten die Herren Müller & Hacker Radios, die neuerdings »Rundfunkem‐ pfänger« hießen, während links von der Seife das Fischhaus Ehlers Nordseeduft verbreitete. Im Bücherladen roch es nach frisch gebrühtem Kaffee. Juttas Chefin trank ihn unentwegt aus winzigen Mokkaschalen und rauchte dazu ägyptische Zigaretten. Nachmittags nahm sie Tee. Sie saß wie immer im Hinterzimmer und las. Diana Gerold war eine Dreißigerin mit kurzem schwarzem Haar und gesundem Teint, der vom Tennisspielen im Club am Hüttenweg herrührte. »Auch einen?« Jutta goss sich eine Tasse ein. Sie öffneten um neun. Das ließ ihr noch zehn Minuten. Sie deutete auf das Buch. »Neuerscheinung?« 471
»Alter Bestand. Stefan Zweig, Novellen. Zwanzig unverkäufliche, weil neuerdings verbotene Exemplare. Artfremd und undeutsch, heißt es. Dabei meistert kaum einer die deutsche Sprache subtiler als er. Im Gegensatz zur grobschlächtigen Diktion eines Herrn Beumelburg, dessen Kriegsprosa uns das Börsenblatt des deutschen Buchhandels warm ans Herz legt. Fünfzig Stück hält der Verlag für uns bereit, mit dem zarten Hinweis, dass es nicht gut aussehen wür‐ de, wenn wir weniger abnehmen. Eine hanebüchene Erpressung.« Diana Gerold hatte sich in Rage geredet. »Zeit, aufzumachen.« Jutta kümmerte sich um Leihbücherei und Verkauf, während die Inhaberin meist unsichtbar blieb. Herr Lesch wartete schon. Ewald Lesch, verwitwet, Postbeamter im Ruhestand, Stammkunde der Leihbücherei. »Guten Morgen, Herr Lesch. Wir haben einen neuen Lord Peter Wimsey«, be‐ grüßte sie ihn. Lesch war Liebhaber englischer Detektivromane. Sie nahm den Band Dorothy Sayers aus dem Regal. »Hoffentlich kein Reinfall wie der Edgar Wallace. Dachte, ›San‐ ders vom Strom‹ sei ein Krimi. Wusste nicht, dass der Mann auch Afrikageschichten schreibt. Afrikageschichten interessieren mich nicht.« »Dafür haben Sie eine Agatha Christie gut«, besänftigte Jutta ihn. »Wie wäre es mit Hercule Poirot?« Zufrieden zog Herr Lesch ab. Er gab die Klinke einem gutgekleideten jüngeren Mann in die Hand, der sich etwas ratlos im Laden umschaute. »Guten Tag, der Herr. Suchen Sie etwas Bestimmtes?« »Ja. Hitlers ›Mein Kampf‹.« Es schien ihm peinlich zu sein. »Halb‐ oder Ganzleinen?«, erkundigte Jutta sich geschäftsmäßig. »Ganzleder bitte, Juchten oder Safian. Mit Goldprägung. Mög‐ lichst Dünndruck.« »Ich fürchte, mit solch einer Luxusausgabe können wir Ihnen nicht dienen, mein Herr. Vielleicht bei einer der großen Buch‐ handlungen in der Stadt... « »Ich kann Ihnen das Gewünschte gerne telefonisch bestellen.« 472
Frau Gerold war nach vorne gekommen. »Der Barsortimenter schickt es morgen mit der angekündigten Lieferung. Nehmen Sie inzwischen zum Lesen den Halbleinenband mit. Wir berechnen Ihnen das nicht.« »Ich will den Schmarrn nicht lesen. Ich brauche eine Protzaus‐ gabe für den Schreibtisch in meiner neuen Kanzlei.« »Nicht wahr, als guter Deutscher und aufrechter Volksgenosse hat man das Werk des Führers und Reichskanzlers gerne griffbe‐ reit.« Diana Gerold verzog spöttisch den Mund. Er gab Jutta seine Karte. »Wegen der Bestellung.« Er hieß Dr. Rainer Jordan und war Rechtsanwalt. Seine Blicke verrieten, dass sie ihm gefiel. »Wie gesagt bin ich neu hier in der Gegend und Junggeselle. Würden Sie es zudringlich finden, wenn ich Sie fragte, ob Sie nach Feierabend ein Glas Wein mit mir trinken mö‐ gen?« »Gar nicht zudringlich, Herr Dr. Jordan, sondern eher ein Kom‐ pliment. Aber ich bin schon verabredet.« »Trotzdem wünsche ich Ihnen einen recht guten Tag.« Er lüftete den Hut. »Gratuliere, ein Verehrer«, tönte Frau Gerold von hinten. »Sogar ein besonders netter«, rief Jutta vergnügt und tat »San‐ ders vom Strom« wieder an seinen Platz. Sie dachte an Jochen. Punkt sieben Uhr, Feierabend, war sie oben an der Normaluhr. Sie hörte das Hämmern des Motors schon von weitem. Der kleine Hanomag, seiner Form wegen von den Berlinern »Kommissbrot« getauft, bog um die Ecke und hielt mit einem Rülpser. Jochens Haar war wie immer zerzaust, und sein Schlips saß schief wie ge‐ wöhnlich. »Hallo Bücherwurm«, rief er aufgekratzt. »᾿n Abend, Herr Lehrer.« Isabel saß neben ihm. Isabel Severin, dunkelblond, graue Augen, groß, schlank. Jochen und sie standen vor dem Staatsexamen. Jochen als künftiger Gymnasiallehrer für Deutsch, Englisch und 473
Geschichte. Isabel würde am Lyceum Französisch und Geographie unterrichten. Kein Tag ohne Isabel, dachte Jutta ärgerlich. »Rück ein Stück.« Sie zwängte sich neben sie. »Wie war die Uni?« Jochen fuhr an. »Ich komme im Mündlichen mit den Mero‐ wingern dran. Isabel weiß es von Professor Gablers Assistenten.« »Ich habe ihm ein bisschen Knie gezeigt, da wurde er ge‐ sprächig.« Isabel hatte sehenswerte Beine. »Fahrt ihr mich nach Hause?« Sie hatte ein Untermietzimmer in der Lynarstraße. Die Mutter war bei ihrer Geburt gestorben. Ihr Vater hatte wieder geheiratet. Er zahlte ihr eine ausreichende Apanage. Weiter küm‐ merte er sich nicht um sie. Familie hatte sie keine. Wohl auch da‐ rum hatte sie sich dem Paar angeschlossen. Etwas zu dicht für Jut‐ tas Geschmack. Sie war erleichtert, als Isabel ausstieg. Jetzt freute sie sich auf den Abend mit Jochen in seiner originellen Schienenbehausung. »Ich schaue nachher bei euch vorbei«, dämpfte Isabel ihre Vor‐ freude. »Ich bringe die Mitschrift von Gablers Vorlesung über das neue nationale Geschichtsbewusstsein. Du solltest im Mündlichen was davon einfließen lassen, Jochen. Das wird ihm schmeicheln.« »Kann man denn gar nicht mehr allein sein?«, beschwerte sich Jutta. »Die Arbeit mit ihr ist für mich wichtig. Sie gibt gute Rat‐ schläge.« »Nächstens wird sie noch bei uns am Bett sitzen und gute Rat‐ schläge geben.« »Sie opfert viel Zeit für mich. Also hab dich nicht so.« »Bring mich bitte zur S‐Bahn. Ich fahre nach Hause. Viel Spaß mit Isabel«, sagte sie spitz. Die Luxusausgabe »Mein Kampf« wurde Freitagfrüh mit einigen Kochbüchern und den angedrohten fünfzig Exemplaren Beumel‐ burg geliefert. »Legen Sie eins davon ins Fenster«, ordnete Frau 474
Gerold an. »Verstecken Sie es hinter der französischen Küche‹.« Das Telefon klingelte. »Ihr Verlobter.« Sie gab Jutta den Hörer. »Hallo Bücherwurm, wie geht᾿s dem gedruckten Wort?« »Man liest und wundert sich, wie viel heroischer Mist veröf‐ fentlicht wird.« »Der Zug der neuen Zeit.« Er war völlig unbekümmert. Sie hatte beschlossen, nicht nachtragend zu sein. »Holst du mich um sieben ab?« »Darum läute ich ja an. Die Staatsbibliothek hat heute ihren langen Abend. Da können Isabel und ich ᾿ne Menge Material sich‐ ten. Samstag‐Sonntag arbeiten wir bei mir durch. Montag hole ich dich ab wie immer.« »Wünsche ein schönes Wochenende.« Sie versuchte, haushoch überlegen zu klingen, aber es langte nur zum kläglichen Einge‐ ständnis ihrer Eifersucht. »Isabel ist fabelhaft beim Abfragen.« Es sollte wohl Erklärung und Entschuldigung zugleich sein. »Und sonst? Auch fabelhaft?« »Red keinen Unsinn. Wir halten uns mühsam mit Pervitin auf den Beinen.« »Soll ein anregendes Mittel sein«, stichelte sie. Doch da hatte er schon eingehängt. »Holen Sie uns eine Tüte Kirschen zu Mittag«, bat ihre Chefin. »Da kann ich Dr. Jordan gleich seine Bestellung vorbeibringen«, warf sie so ganz nebenbei hin, was ihr prüfende Blicke eintrug. Es waren nur ein paar Schritte, hinten raus aus dem Laden und die Zufahrt für Lieferwagen zur Wilskistraße hinauf. Ein Messing‐ schild an der Nummer 47 verriet: DR. JUR. RAINER JORDAN, RECHTSANWALT. Der Türsummer ließ Jutta ein. Die Kanzlei war im Parterre rechts. Jordan öffnete selber. »Meine Sekretärinnen machen Mittag. Bitte kommen Sie in mein Büro.« »Ihre Bestellung. Die Rechnung ist mit drin.« Jutta legte das Päckchen auf seinen Schreibisch, hinter dem Dutzende juristischer 475
Werke die Wand hochkletterten. Sie ließ ihn nicht aus den Augen, während er das Buch auswickelte. Er hatte etwas an sich, das sie vorsichtshalber ignorierte, weil sie genau wusste, wie beschämend schnell sie dem nachgeben würde. Andererseits ein verlockender Gedanke, der ein Prickeln unterhalb des Nabels verursachte. Ne‐ benan klapperten Schreibmaschinen. Ein Telefon schrillte. Eine Frau rief etwas. »Aha, die Damen sind zurück.« »Ich will Sie nicht weiter stören, Herr Dr. Jordan. Sie sind offen‐ bar sehr beschäftigt.« »Merkt man das?«, fragte er erfreut. »Kommen Sie.« WARTERAUM – SEKRETARIAT I – SEKRETARIAT II las sie an den drei Türen im Vorraum. Jordan öffnete eine nach der anderen. Hinter der Milchglastür des »Warteraums« verbarg sich die Küche. Das Bad nannte sich »Sekretariat I«. »Sekretariat II« war ein leeres Zimmer. Auf dem Fußboden stand ein Grammophon, aus dem Schreibmaschinenstakkato, Telefonklingeln und geschäftige Stim‐ men tönten. »Hieß einer Ihrer Vorfahren Potjemkin?« »Klappern gehört zum Handwerk. Wenn sich wirklich ein Klient zu mir verirrt, bin ich der viel beschäftigte Anwalt. Bisher ist es nur ein Klempner, dessen Rechnung ich einklagen soll. Im Übrigen lebe ich wie die meisten Anfänger unseres Standes vom kargen Brot eines Pflichtverteidigers. Seine Augen ruhten auf ihrem himmelblauen Pullover. »Kriege ich wieder einen Korb, wenn ich Sie heute Abend auf ein Glas einlade?« Sie dachte an Jochen und Isabel. »Kriegen Sie nicht.« »Um sieben bei Brumm?« »Zehn nach sieben, wenn᾿s Ihnen nichts ausmacht.« »Womit ich mich zur wohlverdienten Siesta begebe.« Er klappte die Bücherwand hinter dem Schreibtisch herunter, ohne dass ein Band rausfiel. Es waren lauter festgeklebte Buchrücken. Ein unge‐ machtes Bett kam zum Vorschein. 476
»Sobald ich ein erfolgreicher Prominentenanwalt bin, der zu werden ich fest vorhabe, leiste ich mir natürlich eine Kanzlei in bester Lage und eine Wohnung am Kurfürstendamm. Kann ich den ›Kampf‹ nächste Woche bezahlen? Ich bin momentan etwas klamm.« »Die Chefin hat bestimmt nichts dagegen. Wünsche angeneh‐ men Mittagsschlaf.« Sie kaufte Kirschen in Froweins Obst‐ und Gemüseladen, dicke rotgelbe »Knubbern« aus Werder, die sie mit Frau Gerold im Hin‐ terzimmer der Buchhandlung verzehrte. »Das Bett hinter ᾿ner fal‐ schen Bücherwand und statt Tippse ein Grammophon im anderen Zimmer«, berichtete sie. »Erwähnten Sie nicht, dass Sie gelegent‐ lich einen Anwalt brauchen?« »Im Moment nicht.« Die Buchhändlerin legte den Arm um Jut‐ tas Schultern. »Nicht wahr, er gefällt Ihnen. Aber hüten Sie sich vor Komplikationen. « »Brumms Gaststätten« lagen gleich gegenüber vom U‐Bahn‐ hof. Links in der Bierschwemme spielten die kleinen Angestellten und Beamten des Viertels ihren Skat. In der Mitte befand sich die Bäckerei‐Konditorei. Rechts war das Café‐Restaurant. Die jungen Linden im Vorgarten schimmerten golden in der Abend‐ sonne. Rainer Jordan war schon da. Er rückte ihr einen Stuhl zurecht. »Wie wäre es mit einem Mosel? Der passt gut zum frischen Ha‐ velzander. Der Klempner kam nachmittags vorbei. Sein Kunde hat auf mein Schreiben hin eingelenkt. Ich habe mein Honorar be‐ kommen.« »Was kein Grund zum Leichtsinn ist.« Sie überschlug im Geiste ihre Barschaft. Es würde wohl reichen. Und bis Ultimo konnte sie Vati anpumpen. »Ich zahle die Hälfte.« »Sie sind sehr großzügig.« »Nur praktisch.« 477
»Annie!« Er winkte der Bedienung, einem hübschen blonden Mädchen mit blauen Augen. »Wir nehmen den Zander und dazu eine Flasche Mosel.« »Zweimal Zander, einmal Mosel. Sofort, Herr Dokta.« »Sie haben also schon Bekanntschaft geschlossen?« »Nur als zahlender Gast. Aber es stimmt, einige Männer kom‐ men Annies wegen. Der Sohn von Kalkfurths Würstchen sitzt jeden Sonntag stundenlang in ihrem Revier und bestellt zahl‐ lose Portionen Kaffee und Kuchen.« Er griente. »Der Junge sollte es zum Zeichen seiner Verehrung mit ein paar Bockwürsten aus der Familienproduktion versuchen. Kellnerinnen mögen es def‐ tig.« »Praktische Erfahrung, Herr Dokta?«, neckte sie ihn. »Darüber schweigt des Sängers Höflichkeit. In wie festen Hän‐ den befinden Sie sich eigentlich?« »Wieso interessiert Sie das?« »Weil ich Sie sehr sympathisch finde.« Er zerlegte geschickt sei‐ nen Zander. Es begann zu dunkeln. Die Gaslaternen der Straßenbeleuchtung flammten auf. Ein Bus der Linie »T« blies Dieselqualm von der nahen Haltestelle herüber. Einige Fahrgäste stiegen aus, um nach Hause zu eilen oder in die U‐Bahn zu wechseln. »Und Sie, Herr Dr. Jordan?« »Junggeselle mit ein bisschen Vergangenheit. Marion war sehr schick und sehr verwöhnt. Fabrikantentochter. Sie hielt sich den armen Studenten wie ein Schoßhündchen. Wenn er sie in teure Lokale führte, steckte sie ihm unter dem Tisch ihre Börse zu. Ir‐ gendwann wurde sie seiner überdrüssig und verabschiedete ihn mit sündhaft teuren Manschettenknöpfen. Die verkloppte er und finanzierte damit den Rest seines Studiums. Seither gab᾿s ein paar Eintagsfliegen, wenn Sie᾿s ganz genau wissen wollen.« Sie beobachtete ihn, während er sprach. Sie mochte sein offenes Gesicht, das an einen tolpatschigen jungen Hund erinnerte, wenn 478
er die Stirn hochzog. Wieder war da dieses Prickeln unterhalb des Nabels, das sie schamlos genoss. »Also ungebunden. Nehmen wir Eis zum Nachtisch?« »Annie, zwei Eisbecher bitte.« »Und die Rechnung«, ergänzte sie. »Halbe‐halbe, Sie erinnern sich.« »Mein Onkel will mir eine Stellung bei der UfA verschaffen. Er ist Regisseur. Theodor Alberti. Vielleicht kennen Sie ihn?« »Bedaure, nein.« »Macht nichts. Onkel Theo meint, dass ich in die Rechtsab‐ teilung der Filmproduktion reinschnuppern soll. Nach ein, zwei Jahren könnte ich mich mit einer lukrativen Clientele aus Film‐ kreisen selbstständig machen und viel Geld verdienen. Dann lade ich Sie richtig ein. Bringe ich Sie zum Bus oder zur U‐Bahn?« Jutta löffelte ihr Eis. Isabel und Jochen saßen sicher über dicke Wälzer gebeugt, natürlich ziemlich eng zusammen. Wie weit sie wohl gehen würden? Und wie weit würde sie gehen? »Kaffee?«, schlug sie vor. Er hob die Hand. »Annie!« »Ich meine — bei Ihnen.« Sie genoss seine Überraschung und war ebenso überrascht von sich selber. »Also Kaffee bei mir. Mit Vergnügen, aber leider ohne Milch und Zucker.« »Vergnügen reicht.« Die Sache gefiel ihr immer besser. Im Übri‐ gen würde sie die Dinge einfach auf sich zukommen lassen. Für Reue war hinterher Zeit. Falls es was zu bereuen geben würde, setzte sie in Gedanken vorsichtshalber hinzu. Am Bordstein vor dem Haus Wilskistraße 47 wartete ein Wagen mit abgeblendeten Lichtern. Ein Uniformierter stieg aus. »Rechts‐ anwalt Dr. Jordan?« »Der bin ich.« »Justizhauptwachtmeister Kuhlmann. Es geht um Ihren Man‐ 479
danten Paul Beizig. Er hat sich in der Untersuchungshaft erhängt. Wir benötigen Sie als Zeugen. Ein Vertreter der Staatsanwaltschaft ist schon unterwegs. Ne reine Formsache, Herr Doktor.« »Wie schrecklich«, entfuhr es Jutta. »Ein kleiner Einbrecher. Zum sechsten Mal rückfällig. Den neuen Richtlinien zufolge drohte ihm als so genanntem Volks‐ schädling nach Absitzen seiner Strafe Sicherungsverwahrung in einem Lager, was heutzutage lebenslänglich bedeutet. Das hat er nun abgekürzt.« Sie spürte seinen Zorn. Er fasste sich: »Es tut mir sehr leid, dass unser Abend so enden muss.« »Nicht Ihre Schuld.« Sie reichte ihm die Hand. »Gute Nacht.« Die Schlusslichter des Wagens verschwanden um die Ecke und mit ihnen die Antwort auf eine unausgesprochene Frage. Es war zu spät, um nach Hause zu fahren. Sie hatte Schlüssel zur Buchhandlung. Im Hinterzimmer zog sie das Faltbett auseinander, das Frau Gerold gelegentlich zur Mittagsruhe benützte. Ob Isabel mit ihm schläft?, überlegte sie und war erstaunt, wie sachlich sie sich die Frage stellte. Sonnabends schlossen die Geschäfte um eins. Anja Schmitt kam, um Diana Gerold abzuholen. Anja war ein zierlicher weißblonder Bubikopf im Tennisdress. Die beiden Frauen wollten auf ein Match in den Club. Es war Jutta erst nach einer Weile aufgegan‐ gen, dass sie als Paar zusammenlebten. »Was machen Sie denn dieses Wochenende Interessantes, Fräu‐ lein Reimann?«, erkundigte sich Anja höflich. »Unkrautjäten in Köpenick. Meine Eltern kommen mit dem Garten nicht mehr nach, so gut wie die Kneipe zurzeit läuft. Mein Verlobter sitzt über seiner Examensarbeit, da kann er mich nicht brauchen.« Der brandenburgische Wappenvogel über der Tür leuchtete rot in der Sonne. Juttas Urgroßeltern hatten den »Roten Adler« im Jahre 1871 eröffnet. Damals gehörte das Städtchen Köpenick noch 480
nicht zu Berlin, und der Schuster Wilhelm Voigt zischte hier seine Molle, lange bevor er zu Weltruhm gelangte. Hinter der Theke zapfte Vati liebevoll Bier in gläserne Krüge. Sein Gesicht spiegelte Zufriedenheit wider. Er nickte der Tochter zu, ohne zu unterbrechen, und wies mit dem Kopf Richtung Küche. Ihre Mutter briet in einer riesigen schwarzen Eisenpfanne Dutzende von Buletten. »Schreck die Eier ab!«, rief sie statt einer Begrüßung. Jutta nahm den Topf vom Feuer und trug ihn zum Spülstein. Dampf stieg auf, als sie das kochende Wasser abgoss. Sie drehte den Messinghahn auf und ließ Kaltwasser über die Eier laufen, ehe sie eines nach dem anderen schälte, insgesamt zwanzig Stück, die mit den Buletten unter die Fliegenhaube auf der Theke wanderten. Den ganzen Nachmittag säuberte sie die Gemüsebeete und kippte das Gejätete vom Schubkarren auf den Komposthaufen am Zaun. Unwillkürlich sann sie über Jochen Weber und Rainer Jor‐ dan nach und über die unvermeidliche Isabel Severin. Sie musste mit jemandem reden. Professor Dr. Georg Raab war Mitglied der Preußischen Aka‐ demie der Künste und Professor für Kunstgeschichte an der Uni‐ versität. Er bewohnte mit seiner Frau im Ortsteil »Wendenschloß« eine großbürgerliche Villa aus der Gründerzeit. Gelegentlich kam er auf einen Schoppen in den »Roten Adler«. Jutta kannte ihn seit ihrer Kindheit. Ringsum im Vorgarten sandten Rosen ihren leisen Duft aus. Auf den Schieferplatten, die schnurgerade von der schmiedeeisernen Pforte zur Villa führten, sprang ihr ein langhaariger schlanker Barsoi entgegen. »Ist gut, Igor, lass«, wehrte sie ihn ab und stieg die Stufen zur Haustür hinauf. Frau Mascha öffnete, eine schöne Vierzigerin mit schmalen Händen und samtdunklen Augen. »Jutta, wie nett, da wird sich mein Mann freuen. Er ist im Atelier. Geh nur runter.« Sie war den Weg ungezählte Male gegangen. Durch die geräu‐ 481
mige Halle, vorbei am gewaltigen Refektoriumstisch, auf dem im‐ mer frische Blumen leuchteten, direkt zur dunklen Eichentäfelung an der Treppe, in der sich die Tür nach unten verbarg. Das helle Souterrain war Werkstatt und Atelier. Mitten im Raum erhob sich eine Druckpresse mit mächtiger Spindel. An den Wänden wuchsen Regale voll Dutzender Papiersorten empor. Die klobige Werkbank mit den Arbeitsspuren von Jahrzehnten stand an einem der beiden vergitterten Fenster, durch die man in Au‐ genhöhe den Garten vor sich hatte. Auf der Staffelei daneben lehnte eine Kohleskizze des Hundes Igor. Der Professor war über einen Holzstock gebeugt und hob mit einem winzigen Messer feine Späne aus der glatten Oberfläche. »Das wird ein Holzschnitt von Dürer. Stillleben mit Kohl und Kartoffeln. Angeblich ein bisher unbekanntes Werk des Meisters. Ich mache davon einen Abzug auf Papier aus der Zeit. Ich habe mit Max Liebermann gewettet, dass der neue Kurator der Nationalgalerie sich haushoch blamieren wird, und zwar gleich doppelt. Erstens wird ihm die Fälschung als solche entgehen, zweitens die Tatsache, dass es Kartoffeln erst hundert Jahre nach Dürer in Deutschland gab. Bisher hat der Herr seinen beschränkten Sachverstand zur Jagd auf ›Entartete Kunst‹ eingesetzt. Lieber‐ manns von aller Welt bewunderte Meisterwerke fallen auch darunter.« Der Professor kicherte wie ein ungezogener Schul‐ junge. »Weißt du, was er sagte: ›Ick kann janich soviel fressen wie ick kotzen möchte.‹« Er stichelte emsig weiter. »Ich für meinen Teil erwarte täglich den Rausschmiss aus der Akademie und die Entlassung von der Uni. Als Juden sind wir denen nämlich mit einem Mal nicht mehr deutsch genug. Mascha freut sich auf meine vorzeitige Pensionierung. Da hat sie mich mehr für sich, hofft sie. Wie geht᾿s dir, Juttakind?« »Ganz gut, Herr Professor.« »Also nicht so gut wie du möchtest.« Der rundliche kleine Herr mit dem grauen Haarkranz legte den Stichel aus der Hand. »Du 482
bist noch hübscher geworden und erwachsener seit unserer letzten Sitzung. Da interessiert sich mehr als ein Mann für dich, und darum bist du hier.« »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin mit Jochen zusammen. Diese Isabel drängt sich dauernd dazwischen, und nun habe ich einen interessanten jungen Anwalt kennen gelernt. Ich glaube, ich gefalle ihm.« »Du meinst, er gefällt dir. So gut wie dein Jochen? Besser? Oder als willkommenes Instrument einer süßen Rache?« So klar hatte sie das bisher nicht gesehen. »Ich glaube, wegen der Rache.« Sie feixte. »Aber nicht nur.« Raab setzte sich auf den Hocker am Fenster und stützte einen großen Zeichenblock auf die Knie. »Ziehst du dich aus?« »Klar.« Unbefangen entkleidete sie sich. »Das letzte Mal warst du sechzehn, und davor vierzehn.« Der Professor begann mit dem weichen Bleistift zu arbeiten. »Erinnerst du dich noch an unsere allererste Sitzung?« Frau Mascha erschien mit einem Tablett Limonade. »Da war sie fünf. Du bestandest darauf, dass sie ihre Mutter mitbringt. Wie geht es ihr?« »Danke für die Nachfrage. Mutti hat Haus und Küche fest im Griff.« »Mit sieben Jahren kamst du zum ersten Mal alleine. Mascha‐ herz, weißt du noch — da wollte das Kind sich partout nicht aus‐ ziehen. Ist mir bis heute ein Rätsel, warum.« Jutta lachte. »Weil ich ein nagelneues Kleid anhatte, rot, mit großen weißen Punkten. Ich fand mich darin unendlich schön. Wie oft haben Sie mich eigentlich schon gezeichnet, Herr Profes‐ sor?« Es waren vierzehn Aktzeichnungen, die Raab nach der Sitzung aus der Mappe zog und zufrieden betrachtete. »Vom kleinen Mädchen zur hübschen jungen Frau. Alle gut gelungen. Nach meinem Tod gehören sie dir. Wirst du mir weiter Modell stehen?« 483
»Solange Sie wollen.« »Falls wir nicht weg müssen«, wandte Frau Mascha besorgt ein. »Unsinn, Herz, kein Mensch will uns an den Kragen. Sie werden mich aus meinen Ämtern entfernen. Eine Art vorgezogener Ruhe‐ stand. Damit können wir leben.« »Zeit für dein Insulin, Georg.« »Und ich muss gehen, Mutti in der Küche helfen«, verabschie‐ dete sich Jutta. Der Professor begleitete sie hinaus. »Sei begehrenswert für dei‐ nen Jochen.« Er lächelte fein. »Und mach Isabel mit dem Anwalt bekannt.« Wie immer kurz vor Feierabend hallten auch am Montag eilige Schritte durch beide Ladenstraßen. Stimmengewirr drang aus den Läden. Berufstätige holten sich auf dem Weg von der U‐Bahn nach Hause rasch ihr Abendessen. Jutta kaufte im Milchgeschäft ein halbes Pfund Butter vom Fass und in der Fleischerei Lehmann ein Viertel Aufschnitt. »Hallo Bücherwurm«, begrüßte Jochen sie an der Normaluhr. »᾿n Abend, Herr Lehrer.« »Bitte einsteigen.« Er nahm einen angebissenen Apfel vom Bei‐ fahrersitz. »Mal abbeißen?« »Danke verbindlichst, hab schon gefrühstückt. War᾿s schön, das Wochenende mit ihr?« »Sei bitte nicht albern. Wir haben verdammt hart gearbeitet. Isa‐ bel ist ein guter Kumpel, sonst nichts.« Er zog sie an sich. »Ich liebe nämlich nur dich.« »Wann?« Sie ließ die Zungenspitze in seinem Ohr spielen. »Später, du unmoralisches Mädchen. Erst geht᾿s zur Schule.« Der Hanomag setzte sich lustig ratternd in Bewegung. Im Orts‐ teil Dahlem hielten sie vor einem großen Bau mit Doppeldach. Ein wuchtiger Uhrenturm hob sich über dem breiten Portal. Links und rechts schlossen sich die Flügel des Gebäudes an. 484
»Das Ernst‐Moritz‐Arndt‐Gymnasium, mein künftiger Arbeits‐ platz als Lehrer fur Deutsch, Englisch und Geschichte. Studienas‐ sessor Weber. Klingt gut, was?« »Immer vorausgesetzt, dass du dein Examen schaffst«, dämpfte sie seine Begeisterung. »Die letzte Prüfung war heute Vormittag. Nachmittags gab es die Urkunden. Ich habe die ganze Chose bestanden. Was sagst du nun, Bücherwurm?« »Hurra!«, rief sie so laut, dass sich ein Fußgänger umdrehte. Sie umarmte ihn stürmisch. »Warum hast du mir nichts davon gesagt? Ich dachte, du bist erst nächste Woche dran.« »Damit du überflüssigerweise mit mir zitterst? Na, nun ist es überstanden.« »Du bist ein Genie«, freute sie sich. »Eher ein Glückspilz. Beim Mündlichen in Geschichte konnte ich dank Isabels Knie mühelos mit den Merowingern glänzen.« »Du hast also geschummelt.« »Nicht mehr als Armin Drechsel. Dem steckte es Professor Gab‐ ler persönlich, dass er mit Karl dem Großen drankommen würde.« »Gablers Liebling?« »Gablers Parteigenosse.« »Stolziert der immer mit durchgedrückten Knien in lächerlichen kurzen Hosen durch die Gegend?« Jutta hatte Drechsel ein paar Mal getroffen und nicht gerade in ihr Herz geschlossen. »Drechsel ist höherer Hitlerjugendführer. Er wird Mathe unter‐ richten. Da sieht man sich täglich im Lehrerzimmer. Ich muss mit ihm ebenso auskommen wie mit den anderen Kollegen. Isabel bringt nachher Sekt mit. Wir wollen unseren Erfolg begießen.« »Kein Tag ohne Isabel.« »Sei kein Spielverderber. Sie ist ein nettes Mädchen. Komm, wir besichtigen mein neues Wirkungsfeld. Der Hausmeister weiß Bescheid.« Sie liefen Hand in Hand die Stufen zum Portal hinauf. Drinnen öffnete sich ein Vestibül mit pseudoromanischen Säulen, 485
dazwischen eine Ehrentafel der im Großen Krieg gefallenen Schü‐ ler. Jutta las laut: »Reichsgraf Kuno von Schweinitz — Freiherr Art‐ wig Schreck zu Cadelbach — Prinz Heinrich von Selb XXIII. Kein einziger Schulze, Meier oder Müller. Der reinste Almanach de Gotha.« »Ganz Preußen schickt seine Söhne ins angegliederte Internat«, bestätigte Jochen. »Ein borussisches Eton. Der Direktor der Anstalt war Erzieher der kaiserlichen Prinzen.« »Du bist ja ein richtiger Snob.« »Was meinst du, warum ich die Prinzessin Jutta von Köpenick heiraten will.« »Willst du wirklich?« »Na und ob, Prinzessin. Komm, ich zeig dir ein Klassenzimmer und die Aula. Der Hausmeister schließt punkt acht.« Nach der Besichtigung tuckerten sie weiter. Zwanzig Minuten später parkten sie das Wägelchen am Ende der Trabener Straße. Es war windstill und schwül. Ein Gewitter lag in der Luft. Jochen knöpfte vorsichtshalber das Verdeck zu. Der Beamte am Drehkreuz zum Rangierbahnhof Grunewald grüßte. Sie stiegen über rostige Schienen und diestelbewachsenen Schotter. Ihr Ziel war ein ausgedienter Salonwagen auf dem Ab‐ stellgleis, den die Mitropa billig vermietete. Jochen hatte sich dort mit Büchern, Spirituskocher und Petroleumöfchen häuslich ein‐ gerichtet. Ein Abteil der ersten Klasse diente als Schlafzimmer. Jutta genoss diese Idylle zwei‐ oder dreimal die Woche. Sie nudelte das Koffergrammophon an und legte eine Platte auf. »Ich hab kein Auto, ich hab kein Rittergut... «, tönte der Schlager der Saison aus dem mit schwarzem Kunstleder bezogenen Kasten. »Wohin verreisen wir denn heute?«, erkundigte sich Jochen. »An die italienische Riviera. Wir fahren von Mentone nach San Remo und weiter nach Genua.« Sie ging ins Schlafabteil. Er folgte ihr kurz darauf. Sie beugte sich aus dem Fenster. »Wie blau 486
das Meer ist! Und da, das große weiße Schiff!«, erfand sie die vo‐ rüberziehende Szenerie. Sie trug noch immer die Bluse vom Tage. Aber von der Taille abwärts war sie nackt. Sie schrie entzückt, als er in sie eindrang. Sie nannten es »Verreisen«. Es war ihr Lieblingsspiel. Isabel balancierte über die Gleise, im Netz zwei Sektflaschen. Sie sah interessiert zu Jutta hinauf, deren erhitztes Gesicht Bände sprach. Das Koffergrammophon eierte im Leerlauf, als sie nach vorne kamen. Jochen stellte es ab. Isabel lag auf einer Polsterbank. »Hallo, ihr Zwei«, murmelte sie träge. Jutta setzte Wasser auf. Sie hatte sich in ihren Bademantel ge‐ wickelt. Als das Wasser kochte, drehte sie die Flamme herunter und tat eine halbe Erbswurst in den Topf. »Jeden Tag was Warmes, da besteht Mutti drauf. Außerdem gibt᾿s Aufschnitt.« Jochen säbelte Scheiben Brot zurecht und wickelte die dotter‐ gelbe Butter aus dem Pergamentpapier. Der Duft der Erbsensuppe stieg aus dem Topf. »Erbswurst«, dozierte er. »Gedämpftes Erbs‐ mehl, mit Fett, Salz und Gewürzen in Wurstform gepresst. Das Rezept wurde für die preußische Armee im Kriege 1870/71 ent‐ wickelt um Transportgewicht zu sparen und die Lagerfähigkeit zu erhöhen.« »Was du alles weißt«, bewunderte ihn Isabel. Er strich Teewurst auf einige Scheiben Brot und tat gekochten Schinken auf die anderen. Er öffnete eine Sektflasche und schenkte drei Gläser voll. Jutta reichte Isabel eine Tasse Suppe. »Hast du auch bestan‐ den?« »Nicht so glänzend wie dein Verlobter.« Jochen deutete auf den Brief neben seinem Teller: »Post aus Afrika. Meine Eltern lassen grüßen. Sie würden dich gerne kennen lernen, wenn᾿s von Windhuk nicht so weit wäre.« Jochens Großel‐ 487
tern waren Ende des vorigen Jahrhunderts von Mecklenburg nach Deutsch Südwestafrika gegangen, um Rinder zu züchten. Seine Eltern führten die Zucht auch nach Ende der deutschen Kolonial‐ herrschaft weiter. Den jüngeren Sohn schickten sie zur Schule in die alte Heimat. So wuchs Jochen bei Verwandten in Naumburg auf. »Fahrt doch einfach auf Hochzeitsreise hin«, riet Isabel. »Und du kommst natürlich mit«, mokierte sich Jutta. »Wenn ihr wollt?« Isabel war nicht aus der Ruhe zu bringen. Sie biss kräftig in ihre Stulle. Nach dem Essen hörten sie die Berliner Philharmoniker unter Furtwängler. Mendelsohns Fünfte erklang. »Schieb lieber das Fenster hoch«, mahnte Isabel. »Der Komponist ist neuerdings verboten.« »Glaubst du im Ernst, dass drüben im Stellwerk jemand Felix Mendelsohn von Paul Lincke unterscheiden kann? Und was, wenn sich rausstellt, dass der ᾿ne jüdische Urgroßmutter hat? Werden seine ›Glühwürmchen‹ dann auch verboten? Müssen wir diesen Blödsinn wirklich mitmachen?«, schimpfte Jutta. Jochen blieb gelassen. »Reg dich nicht auf, Bücherwurm. Nicht wir machen die Regeln.« »Wir folgen ihnen wie Schafe.« Jutta zog die Knie unters Kinn und vertiefte sich in die »Französische Küche«, ihre Chefin hatte sie darum gebeten. »Wusstet ihr, dass in eine ›Daube Provençal‹ auch Fuchs gehört? Ein Stück Fleisch wird in Musselin eingebun‐ den und für den Geschmack mitgekocht.« »Wusste ich nicht.« Er gähnte. »Die zweite Flasche trinken wir ein anderes Mal.« »Einverstanden. Tschüs, ihr Lieben.« Isabel verschwand in der Dunkelheit. Jutta seufzte. »Etwas weniger Isabel wäre mehr.« »Sie hat sonst niemanden.« Sie schlief eng an Jochen gekuschelt. Auch das Gewitter konnte 488
sie nicht wecken. In den Morgenstunden träumte sie, dass sie durch Afrika fuhr. Neben ihr saß Rainer Jordan. Er trug einen Tropenhelm und sah schrecklich gut aus. Sie genoss den Rhyth‐ mus der Räder auf den Schienen und den einmaligen Geruch von Dampf und Ruß, der für sie gleichbedeutend mit Fernweh war. Kurz vor Windhuk pfiff die Lokomotive, dass sie hochschreckte. Es war früh, noch nicht ganz sechs Uhr. Draußen glitt das Stellwerk vorbei, das bisher am anderen Ende des Rangier‐ bahnhofs gestanden hatte. Sie hielten mit einem Ruck. »Was ist los?« Jochen war noch halb im Schlaf. Jutta schlüpfte in ihren Bademantel und lehnte sich aus dem Fenster. Unten standen Männer in Bahnuniform. »He – was machen Sie da drin?«, blaffte einer mit Silber an der Mütze zu ihr herauf. »Bis eben haben wir geschlafen. Jetzt werden wir frühstücken, wenn Sie nichts dagegen haben.« Offenbar hatte der Silberne was dagegen. Er stürmte ins Abteil. »Das ist kein Platz für Obdachlose«, herrschte er sie an. Jochen erhob sich. »Ihre rüde Art gefällt mir nicht, mein Herr. Darf man fragen, was Sie wollen?« »Reichsbahnsekretär Schmitz«, bellte der Silberne. »Sie müssen hier raus. Der Waggon wurde dem SA‐Sturm Grunewald als Ver‐ sammlungsheim überlassen.« »Ich bin der rechtmäßige Mieter.« Jochen kramte in seinem Koffer. »Hier ist meine Mietvereinbarung mit der Mitropa. Hier die polizeiliche Anmeldung. Meine Verlobte Fräulein Reimann ist zu Besuch.« »Der Waggon wurde uns von der Schlafwagengesellschaft über‐ stellt. Damit ist die Reichsbahn der Eigentümer. Ihre Abmachun‐ gen mit der Mitropa interessieren uns nicht. Ende der Woche müssen Sie raus. Heil Hitler.« »Sie mich auch«, gab Jochen patzig zurück. »Schatz, was machen wir? Wohnungen sind verdammt knapp.« 489
»Frühstücken«, sagte Jutta lakonisch. »Und dann besuchen wir unseren Anwalt.« »Wusste gar nicht, dass wir einen haben«, wunderte er sich. Die unvermeidliche Isabel saß bereits im Hanomag. »Ihr nehmt mich doch mit?« Wohin, schien ihr völlig schnuppe. Normaler‐ weise wäre Jutta das gar nicht recht gewesen. Heute passte es bes‐ tens in ihre Pläne. »Wir fahren zu Dr. Jordan. Ein interessanter Mann und Jurist. Er soll Jochens Bleibe sichern. Du darfst zuhö‐ ren.« Sie genoss Isabels Reaktion, als sie Jordan mit ihr bekannt‐ machte. Isabel gab sich kühl, ließ aber kein Auge von ihm. Jochen setzte dem Anwalt die Situation auseinander: »Wenn die Reichs‐ bahn mich rauswirft, bin ich praktisch wohnungslos. Natürlich kann ich vorübergehend zu meiner Verlobten und ihren Eltern nach Köpenick ziehen, allerdings ist das keine Dauerlösung, besonders in den Augen der Schulbehörde, meinem künftigen Arbeitgeber. Ich fange nämlich nach den großen Ferien als Studien‐ assessor im Dahlemer Arndt‐Gymnasium an.« Rainer Jordan war gut gelaunt. »Fräulein Reimann, Herr Weber, Sie kommen im rechten Augenblick. Eine Auseinandersetzung mit der Reichsbahn können Sie sich sparen. Nächste Woche fange ich bei der Rechtsabteilung der UfA an. Ich ziehe in die Nähe der Filmateliers nach Babelsberg. Übernehmen Sie doch einfach die Wohnung hier. Wie ich höre, wollen Sie bald heiraten. Dem Eigentümer, einer großen Immobilienfirma, wird ein verheirateter Gymnasiallehrer als Mieter bestimmt recht sein. Ich melde Sie gerne beim Hausverwalter an. Bringen Sie gleich die nötigen Unterlagen mit.« »Dürfen wir uns umsehen?«, bat Jochen. »Gerne. Zwei Zimmer, Küche, Bad, wenn Ihnen das genügt.« Während sie die Wohnung besichtigten, hörte Jutta, wie Rainer Jordan sich mit Isabel verabredete. Sie griente still vor sich hin. 490
Die moderne kleine Küche war vollelektrisch, im Berlin des Jahres 1935 eine Seltenheit. Sogar ein elektrischer Heißwasserkocher gehörte zur Ausstattung. Jutta benützte ihn täglich. Der Toaster hingegen, ein Gebilde aus Bakelit, Heizdrähten und Blech, an des‐ sen Klappen man sich beim Offnen die Finger verbrannte, wurde nur sonntags eingestöpselt. Er war ein Hochzeitsgeschenk von Rainer und Isabel Jordan. Die Beiden hatten es tatsächlich ge‐ schafft, vor ihnen zu heiraten. Draußen graute ein verregneter Novembermorgen. Von den er‐ kahlten Akazien am Straßenrand troff das Wasser. Ein nasser Köter schlappte es aus einer Pfütze am Bordstein. »Sauwetter. Ich nehme den Bus.« Gewöhnlich fuhr Jochen mit dem Rad zur Schule. »Wenn wir wieder ein Auto haben... «, träumte er laut. Der Hanomag war an Altersschwäche eingegangen. »Mit Chauffeur, versteht sich«, ulkte sie. »Ein Auto ist nicht so unerreichbar wie du vielleicht glaubst«, do‐ zierte er. »Du sparst fünf Reichsmark die Woche. Wenn du drei Jahre lang Marken geklebt hast, kannst du den Wagen bestellen. Den Rest von zweihundertfünfundsiebzig Mark zahlst du bei Lieferung.« Jutta war eine schnelle Rechnerin. »Ein Auto für tausend Mark? Das glaubst du doch selber nicht.« »Der Führer garantiert den Preis. Nächstes Jahr werden die ers‐ ten Volkswagen ausgeliefert.« »Fünf Mark in der Woche, das sind zwanzig Mark im Monat. Die wollen erst mal verdient sein.« Jutta war Realistin. »Drechsel gibt Privatstunden in Mathe. Er hat mich den Eltern eines Schülers empfohlen. Der Junge braucht Nachhilfe im Engli‐ schen. Mächtig anständig von Drechsel.« »Findest du?« Juttas Abneigung gegen Jochens Kollegen war unverändert. »Das Geld könnten wir natürlich gut gebrauchen«, lenkte sie ein. »Du, ich hab ein Möbellager in Klein Machnow ent‐ deckt. Lauter moderne Stücke aus den Volkswerkstätten. Das wäre doch was für uns.« 491
»Wir haben, was wir brauchen.« »So? Haben wir?« Sie wies auf Anrichte, Esstisch mit sechs Stüh‐ len und Bücherschrank in scheußlichem Nussbaumfournier. Dazu zwei abgeschabte lederne Clubsessel. Eltern und Freunde hatten das junge Paar ausgestattet. Sie hasste die Einrichtung, einschließ‐ lich der schweren grünen Samtvorhänge. Bisher hatten ihrer bei‐ der Bezüge gerade fürs Schlafzimmer in heller Birke gereicht. Dort stand auch Jochens Schreibtisch. Im Wohnzimmer war nicht genug Platz. »Zwei Mark pro Nachhilfestunde. Zwei oder drei Schüler in der Woche. Damit schaffen wir den Wagen. Ich besorge uns auf jeden Fall schon mal das Sparheft.« Sie räumte den Frühstückstisch ab. »Holst du mir ein paar Koh‐ len rauf?« Er brachte eine Schütte Koks aus dem Verschlag im Keller und füllte in der Küche den Boiler nach, der die vier Heiz‐ körper versorgte. Wenn man die Luftzufuhr drosselte, reichte das bis zum Abend. Sie umarmten und küssten sich. Juttas Mahnung: »Nimm den Schirm« bewahrte sie beide vor einer stürmischen Rückkehr ins Bett und allseitiger Verspätung. Fünf vor neun zog sie die Wohnungstür hinter sich zu. Nebenan schloss Herr Vollmer gerade auf. »Guten Morgen, Frau Weber.« Er lüftete höflich den Hut. »Morgen, Herr Vollmer. Irgendwelche Fliegerangriffe in Aus‐ sicht?«, machte sich Jutta ein bisschen lustig. Der »Reichsluftschutzbund« hatte die Nachbarwohnung als Zehlendorfer Büro gemietet. Herr Vollmer war der Leiter, ein freundlicher Fünfziger, der auch nicht recht wusste, warum man sich vor feindlichen Fliegern schützen sollte, wo doch weit und breit kein Krieg in Sicht war. »Da müssen Sie schon Hermann Göring fragen. Ich bin für die Spenden unserer Volksgenossen zuständig. Wünsche einen angenehmen Vormittag.« Der verstrich schnell mit dem Ordnen der Leihbücherkartei und einem Kaffee im Hinterzimmer. Das Licht brannte und sperrte den 492
grauen Tag aus. Frau Gerold war missgestimmt wegen irgend‐ eines amtlichen Schreibens. »Ich hab heute meinen Haushalts‐ nachmittag«, erinnerte Jutta sie. »In Ordnung. Bei dem Wetter ist sowieso nicht viel los.« Sie machte die Betten, wischte Staub und erledigte den Ab‐ wasch. Dann nahm sie ein langes Bad. Um drei ging die Tür‐ klingel. Draußen stand ein Junge und riss die Augen auf. Hastig schloss Jutta den Bademantel, der ziemlich weit offen geklafft hatte. »Ich war noch in der Wanne«, sagte sie entschuldigend. »Du kommst zur Nachhilfestunde, nicht wahr? Ich bin Frau Weber. Komm rein.« Der Junge stand am Bücherschrank, als sie angekleidet ins Wohnzimmer kam. Er trug kurze Hosen und Kniestrümpfe. Seine nackten Schenkel waren von der nassen Kälte draußen gerötet. Es schien ihm nichts auszumachen. Er war ein kräftiger Bengel mit dunklem Lockenkopf. »Karl May«, sagte er andächtig. Jochen hatte die zwanzig Bände aus Jugendtagen bewahrt. Sie waren zwischen Großem Brockhaus und Muret‐Sanders aufgereiht. »Wie heißt du?« »Paul Grabert.« »Wie alt bist du?« »Elf.« »Quintaner?« »Ja.« »Und du kommst zur Nachhilfe im Englischen?« Jochen erschien und beendete das mühsame Frage‐ und Ant‐ wortspiel. »Die Konferenz dauerte länger als geplant«, entschul‐ digte er sich. »Ich lass euch jetzt alleine. Auf Wiedersehen, Paul.« Sie gab ihm die Hand. »Auf Wiedersehen, Frau Weber.« Er machte einen Diener. »Ein netter Junge.« Lachend erwähnte sie beim Abendessen ihren offenen Bademantel. 493
Jochen nahm es nicht weiter tragisch. »Da hat er wenigstens eine hübsche Zielfigur beim Onanieren.« »Onanieren alle Jungs?« »Die meisten.« »Und Männer?« »Manchmal.« Sie ging um den Tisch herum und legte ihm die Arme um den Hals. »Zeigst dus mir?«, hauchte sie ihm ins Ohr. Es wurde der Auftakt zu heißen verliebten Spielen. Sie konnte gar nicht genug kriegen. Neue Möbel gab es ein Jahr drauf. Sie waren leicht und modern, ganz wie Jutta sie sich wünschte. Frau Gerold hatte ihr eine Ge‐ haltserhöhung zugebilligt. Auch ihre Eltern hatten etwas beige‐ steuert. Jochen sparte unbeirrt auf den Volkswagen. »Spar lieber auf unseren Sohn. Ein Kind kostet Geld.« »Erst machen wir mit dem neuen Wagen eine große Urlaubs‐ reise.« Er plante bereits ihre Fahrt für den Sommer 1939. Das war in drei Jahren. Prospekte und Karten hatte er sich vom italieni‐ schen Reisebüro in der Friedrichstraße besorgt. »Unseren Sohn zeugen wir am Gardasee. Natürlich hörst du auf zu arbeiten.« Er genehmigte sich noch ein Stück Rindsbraten und dazu Bier aus dem Syphon, den er jeden Sonntag in der »Schwemme« holte. Er fragt mich gar nicht, dachte sie erstaunt. Er hat das längst be‐ schlossen. Sie sah zu, wie er den Braten mit brauner Sauce über‐ goss, er mochte ihn fett und würzig. Nach dem Essen sprachen sie eine halbe Stunde lang Englisch. Jochen brauchte das als Übung für die wöchentliche Konversa‐ tionsstunde seiner Abiturklasse. Jutta verbesserte damit beträcht‐ lich ihre Schulkenntnisse. Es machte ihr Spaß und lenkte sie ab, zum Beispiel von ihren Gedanken über sich und Jochen. Er hatte sich verändert in den letzten Monaten. Nicht so sehr äußerlich, obwohl er etwas zugelegt hatte. Sie fand sich damit ab, 494
dass er nicht mehr der feurige Liebhaber der ersten Stunde war. Sie führten ein befriedigendes Eheleben mit zuverlässigen Höhe‐ punkten. Man durfte nicht unbescheiden sein. Nein, das war es nicht. Es war diese satte Zufriedenheit, die er neuerdings an den Tag legte und die auch sie zu vereinnahmen drohte. Was ihr fehlte, war eine Herausforderung. Als Jutta am Dienstagmorgen Frühstücksbrötchen holte, scharten sich lauter aufgeregte Menschen in Brumms Vorgarten. »Tot, er‐ würgt, da an dem Tisch. Überall war Blut«, hörte sie. »Nein, nicht die Rothaarige. Die Blonde. Annie hieß sie.« »Erwürgt?«, wiederholte jemand. »Unsinn. Ein Blutsturz. Die hatte TB. Und so eine bediente in der Konditorei.« Das Gerücht von einem Frauenmörder hielt sich nicht lange. Die Zeitungen brachten nichts, also lag wohl kein Verbrechen vor. Außerdem zogen die Olympischen Spiele alle in ihren Bann. Bild‐ bände von früheren Wettkämpfen fanden reißenden Absatz. Frau Gerold konnte beim Barsortimenter gar nicht schnell genug nach‐ bestellen. »Drechsel stellt mit seinen Pimpfen im Stadion das Ehrenspalier an der Führerloge«, meldete Jochen beeindruckt. Jutta war besorgt: »Hoffentlich kippen die Kinder in der Hitze nicht um.« »Die halten das schon aus.« »Auch der kleine Müller?« Dieter Müller war einer von Jochens Nachhilfeschülern, ein schmächtiger Junge, den sie Didi riefen. Jutta hatte ihn in ihr Herz geschlossen. »Der ist genauso zäh wie die anderen. Die heutige Jugend ist nicht mehr so verweichlicht wie früher.« Dieser Ton war ihr neu. »Zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl«, zitierte sie ironisch den Hitlerspruch. »Pardon, ich vergaß — schnell wie die Wind‐ hunde sind sie natürlich auch. Allen voran dein Oberpimpf Drech‐ sel. Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dass der so gar nicht das 495
Bild des germanischen Jungmannen verkörpert?« Sie kannte Jo‐ chens Kollegen von gelegentlichen Begegnungen. Er war ein dün‐ ner Mensch mit leerem infantilem Gesicht und rötlichem Haar. »Drechsel ist in Ordnung. Er hat mir angeboten, meine Auf‐ nahme in die NSDAP zu befürworten. Als Parteigenosse werde ich schneller befördert. Das Gehalt eines Studienrats käme uns gut zupass. Was meinst du?« »Dass du ein guter Lehrer bist. Schüler und Kollegen mögen dich. Deine Beförderung kriegst du auch ohne die Partei.« Sie behielt Recht. Jochen wurde planmäßig zum Studienrat be‐ fördert. Das war kurz vor den großen Ferien des Jahres 1937, als der abgedankte englische König Eduard XIII. eine Mrs. Simpson heiratete, die Japaner Peking eroberten und das Luftschiff »Hin‐ denburg« während der Landung in Lakehurst bei New York ex‐ plodierte. In Gerolds Buchhandlung wurde erregt diskutiert. War es ein Unfall? Oder ein Attentat? Herr Lesch kannte die Schuldi‐ gen: »Die Amerikaner, völlig klar. Wenn die uns Heliumgas ver‐ kauft hätten, wäre nichts passiert. Stattdessen mussten wir die Auftriebszellen mit hochexplosivem Wasserstoff füllen, bei dem schon ein Funke genügt.« Woher dieser Funke kam, vermochte Herr Lesch nicht zu sagen. Herr Lesch wusste auch im folgenden Jahr, wer schuld war: »Der jüdische Promoter von Joe Louis natürlich. Der hat diesem Neger ein Hufeisen in den linken Boxhandschuh gesteckt. Sonst wäre unser Max Schmeling niemals K.o. gegangen, sondern Welt‐ meister geworden.« Hätte man Jutta gefragt, an welches Ereignis in den letzten Jah‐ ren vor dem Kriege sie sich besonders lebhaft erinnerte, sie hätte spontan den Ball des Deutschen Buchhandels im Sommer 1939 ge‐ nannt. Jochen hatte sich bei Koëdel in der Kantstraße einen Frack gemietet und sah fabelhaft aus. Ihr langes weißes Abendkleid war ein Traum. Juttas Chefin hatte das junge Ehepaar eingeladen. Sie erschien 496
mit ihrer weißblonden Freundin ganz in Schwarz. Die beiden er‐ regten einiges Aufsehen. Diverse Herren zeigten Interesse, Diana Gerold und Anja Schmitt hatten indes nur Augen füreinander. »Fehlt noch, dass sie zusammen tanzen«, mokierte sich Jochen. »Du entwickelst dich immer mehr zum Spießer«, entfuhr es ihr. Gekränkt wollte er etwas erwidern, doch das Orchester setzte ein. Jutta klatschte entzückt in die Hände: »The Lambeth Walk. Das Neueste aus London. Isabel hat mir gezeigt, wie᾿s geht.« Sie zog ihren Mann aufs Parkett. Jochen begriff schnell die einfachen Schritte — irgendwo zwischen Tillergirls und preußischem Parademarsch — und fand Spaß an der Sache. Mit einem Mal war er wieder der unbekümmerte Junge, den sie liebte. Danach spielten Kurt Widmann und seine Band einen heißen Foxtrott. »Richtig schöner artfremder Negerjazz!«, rief Jutta über‐ mütig. Zu Jochens Erleichterung wurden ihre Worte vom Schlag‐ zeug übertönt. Es gab Äußerungen, die unterließ man besser. Frau Gerold kaufte für jeden ein Los aus der Tombola. Bei Sekt und Hummermayonnaise warteten sie gespannt auf die Ziehung. Diana Gerold lachte Tränen. Sie hatte ein Buch von Beumelburg gewonnen. Jochen gewann einen Füllfederhalter von Waterman. »Meine Damen und Herren. Und nun zum Hauptgewinn. Ein Rotfuchsmantel, gestiftet vom Pelzhaus Kaiser. Bitte, Nadja Horn.« Die beliebte Schauspielerin griff lächelnd in den Sektkübel und reichte dem Ansager die gezogene Nummer. Der verkündete the‐ atralisch: »Der Hauptgewinn, meine Damen und Herren, hören Sie gut zu, der Hauptgewinn geht an die Nummer 1481. Ich wieder‐ hole: eins‐vier‐acht‐eins. Wer hat die Gewinnnummer 1481?« »Ich«, sagte Jutta kaum hörbar. Sie ließ teilnahmslos die Arme hängen. Jochen blieb gelassen. Er nahm ihr das Los aus der Hand. »Stimmt. Ich glaube, du musst jetzt nach vorne.« Es war wie ein Traum. Der Weg an den applaudierenden Gästen vorbei, die vier Stufen zum Podium hinauf, der Handkuss des 497
Ansagers, die Glückwünsche der Schauspielerin, die ihr schwes‐ terlich in den Pelz half, noch mehr Applaus. Am Tisch kam die Freude. »Ich glaube, ich kenne wen, der die kältere Jahreszeit gar nicht mehr abwarten kann«, zog Diana Gerold sie auf. Jutta umarmte sie spontan. »Danke, Frau Gerold, danke für das wunderbare Geschenk.« Sie kehrten fröhlich beschwipst heim. Jochen half Jutta die paar Stufen zur Wohnungstür hinauf. Als er ins Schlafzimmer kam, lag sie nackt auf dem Fuchspelz am Boden. Sie liebten sich so stür‐ misch wie damals im Mitropa‐Waggon. Erst am frühen Sonntag‐ morgen fanden sie ins Bett. Donnerstag um halb eins ging Jutta nach Hause, um das Mittag‐ essen vorzubereiten. Frau Gerold blieb in der Buchhandlung. Sie begnügte sich mit etwas Obst. »Bis morgen«, verabschiedete sie ihre Mitarbeiterin. Einmal im Monat war Juttas Haushaltsnach‐ mittag. Jochen rief um zwei an. Seit Neuestem hatten sie Telefon. »Warte nicht mit dem Essen auf mich. Irgendwer vom Luftschutz kommt, um das Schulgebäude auf Brandsicherheit zu prüfen. Als jüngstes Mitglied des Lehrkörpers habe ich das Missvergnügen, den Herrn rumführen zu dürfen.« Sie setzte sich mit einem Teller Risotto unter den Schirm auf den Balkon. Die Begonien in den Kästen schützten sie vor neu‐ gierigen Blicken. Nach dem Essen gönnte sie sich eine Juno. Sie inhalierte nicht, sondern blies den Rauch in die Luft. Die Schach‐ tel mit zwanzig Stück reichte für ein ganzes Jahr. Entspannt döste sie in der Sonne, bis der schwerhörige Herr Schnorr gegenüber seinen Empfänger voll aufdrehte. Das Mittagskonzert des Reichs‐ senders Berlin unter der Leitung von Otto Dobrindt dröhnte unerbittlich aus dem offenen Fenster. Niemand wagte, sich zu be‐ schweren. Herr Schnorr war »Alter Kämpfer«. Es hieß, er habe sein Gehör im Straßenkampf gegen die Kommunisten fast völlig ver‐ 498
loren. Jutta schloss die Balkontür. Sie würde wegen des Lärms mit Jochen reden. Auch von einem wie Schnorr brauchte man sich so‐ was nicht gefallen lassen. Der kleine Didi Müller läutete um vier. Er kam jeden Don‐ nerstag zur Nachhilfestunde. »Herrjeh, dich habe ich total verges‐ sen. Mein Mann ist heute spät dran. Willst du warten?« Didi antwortete nicht. Er wirkte verstört. »Was ist los, Didi? Ist dir nicht gut? Komm in die Küche. Ich mache dir einen Pfefferminz‐ tee.« Der Junge ging folgsam voraus. An seinem Hosenboden war Blut. »Mein Gott, Didi, hast du dich verletzt?« Der Zwölfjährige schüttelte stumm den Kopf. »Möchtest du mir nicht sagen, was passiert ist? Hast du dich mit anderen Jungs gebalgt? Was rede ich da. Du warst ja zur Nachhilfe bei Herrn Studienrat Drechsel.« Didi schluchzte auf. Jutta strich über sein Haar. »Was ist passiert? Du kannst es mir ruhig sagen. Ich erzähle es bestimmt nicht weiter, Ehrenwort.« Der Junge war steif wie ein Brett. Erst nach längerem Zureden löste sich seine Verkrampfung. Stockend kam die Antwort: »Er sagte, ich soll die Hose runterziehen.« Jutta war schockiert. Nie hätte sie gedacht, dass Drechsel zum Stock greifen würde. Besonders bei den jüngeren Lehrern war soetwas verpönt. Dass er den Jungen gleich blutig schlug, war barbarisch. Sie nahm Wundbenzin und Watte aus dem Wand‐ schränkchen im Bad. »Wir machen das mal sauber. Es wird ein bisschen brennen.« Der Junge senkte den Kopf. »Ich will nicht. Ich will nach Hause.« Ein Gefühl sagte ihr, dass es besser war, ihn gehen zu lassen. Abends berichtete sie, was geschehen war. Jochen winkte ab: »Drechsel prügelt nicht, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.« »›Er sagte, ich soll die Hose runterziehen.‹ Didis Worte. Die hat er sich nicht aus den Fingern gesogen.« »Ich frage Drechsel, was passiert ist.« 499
»Ich wusste gleich, dass die Sache völlig harmlos ist«, kam er am nächsten Mittag aufs Thema zurück. »Drechsel war genauso besorgt wie du und forderte Didi auf, die Hose runterzuziehen. Von Blut keine Spur. Der Bengel hatte zu viel Sauerkirschen gegessen. Die färben den Stuhl rot. Er hat sich schlicht und einfach in die Hose geschissen.« In ihr regte sich der Verdacht, dass das nicht stimmte. Die Kir‐ schenzeit war vorbei, und von der erwähnten Verfärbung hatte sie noch nie gehört. Sie traf Dr. Ohlsen am Sonnabend in der Kneipe der Eltern, wo er sich ein Helles genehmigte. »Jutta, man sieht dich ja gar nicht mehr.« »Sie wissen doch, ich bin seit zwei Jahren verheiratet. Wir woh‐ nen in Zehlendorf.« »Ist dort das Kinderkriegen verboten?«, frozzelte der alte Fami‐ lienarzt. »Oder braucht ihr ᾿ne ärztliche Anleitung?« »Weder noch. Kann ich Sie was fragen, Herr Doktor?« »Schieß los.« Sie erwähnte die angebliche Stuhlverfärbung. »Nach dem Genuss von Roten Beeten kann das schon mal pas‐ sieren. Bei Kirschen ist das ausgeschlossen«, lautete die ärztliche Auskunft. Also log Drechsel. Sie sah einen Kinderpo mit blutigen Striemen vor sich. Draußen quietschten Bremsen. Ein Lastwagen hielt. Sein Motor ratterte im Leerlauf. Rufe wurden laut. Polizisten brachten vier Personen aus dem Haus gegenüber. SA‐Männer in brauner Kluft hoben Vater, Mutter und zwei kleine Töchter auf die offene Ladefläche, auf der sich bereits zahlreiche Männer, Frauen und Kinder drängten. »Sie holen in ganz Berlin die Juden ab«, sagte jemand. »Heute ist Köpenick dran.« Der Lastwagen setzte sich schwerfällig in Bewegung. Die Ventile seines Diesels klingelten. Mein Gott, der Professor, dachte Jutta beklommen. Wie gehetzt 500
lief sie los. Sie kannte sämtliche Abkürzungen in der Gegend. Trotzdem kam sie zu spät. Professor Dr. Georg Raab stand schon auf der Ladefläche, einen kleinen Koffer an sich gepresst. »Einmal Einfach, Jerusalem«, höhnte der feiste Nacken vor ihr. Frau Mascha zwängte sich mit höflichen Entschuldigungen zwischen den Schaulustigen durch. Ihre hochgewachsene Figur im einfachen Tweedkostüm, das vornehme Antlitz mit den samtdunklen Augen, das im Nacken zum Knoten geschlungene Haar hoben sie aus der tumben gaffenden Menge. Ein SA‐Mann baute sich vor ihr auf. »Bitte lassen Sie mich vorbei. Ich fahre mit meinem Mann«, hörte Jutta ihre ruhige Stimme. »Leute, det jibt᾿s doch nich. Da will eene freiwillig mit«, gröhlte der SA‐Mann. »Mein Mann ist zuckerkrank. Er braucht meine Hilfe.« »Keene Sorge. Bei uns krigta jenug Süßet.« Der SA‐Rabauke sah Beifall heischend in die Runde. Seine Kumpel brüllten vor Lachen. Ein Polizeibeamter stellte sich schützend vor Mascha Raab. Jutta kannte ihn. Er war vom örtlichen Revier und kam öfter auf eine Molle in den »Roten Adler«. »Tut mir leid, Frau Professor. Halb‐ juden nehmen sie nicht«, sagte er bedauernd. Das Absurde seiner Worte wurde ihm nicht bewusst. Er bahnte ihr einen Weg zurück zur Pforte und schob sie behutsam hindurch. Igor begrüßte sie schwanzwedelnd im Vorgarten. Geistesabwesend kraulte sie ihn hinter den Ohren, den Blick über die Köpfe hinweg auf ihren Mann gerichtet. Jutta stand eingekeilt in der Masse. »Wo fahren die Leute hin, Mama?«, fragte ein kleiner Junge. »Nach Palästina. Da ist immer Sonne, und auf den Bäumen wachsen Apfelsinen«, belehrte ihn die Mutter. »Aufhängen, das braune Gelump«, murmelte der Mann hinter ihnen. »Sei still, Egon«, mahnte seine Frau. 501
Jutta löste sich aus ihrer Erstarrung. Sie arbeitete sich nach vorne durch und kletterte auf den Laster. Sie schlang die Arme um den kleinen Mann mit dem grauen Haarkranz und küsste ihn auf die Wange. »Das Judenflittchen nehmen wir mit!«, schrie ein SA‐Mann erbost. Der Polizist holte sie herunter. »Sie kommen mit aufs Revier«, rief er barsch und packte Jutta beim Arm. »Sind Sie wahnsinnig?«, flüsterte er. An der nächsten Ecke ließ er sie los. »Die SA‐Bandi‐ ten sind nicht von hier, und ich habe nichts gesehen. Gehen Sie schnell nach Hause.« In der Kneipe wurde laut gefeiert. Der örtliche Fußballclub hatte gegen Adlershof gewonnen. Sie trat hinter die Theke, um Vati zu helfen. »Sie haben Professor Raab abgeholt«, rief sie ihm zu. »Drei zu Null«, rief er begeistert. Rainer und Isabel Jordan kamen an einem Sonntagvormittag im August 1939 zu Besuch. Auch ohne den offenen Mercedes mit end‐ los langem Kühler und verchromten Kompressorschläuchen hätten sie eine Sensation geboten, Isabel langbeinig im sportlichen Fohlenmantel, das dunkelblonde Haar vom Fahrtwind zerzaust, Rainer im smarten flauschigen Teddycoat. Der Wagen verursachte einen Menschenauflauf in der sonst so stillen Wilskistraße. Die vier Freunde beobachteten es vom Fenster des Wohnzimmers mit diebischem Vergnügen. Jutta sah Rainers Profil, das runde, etwas vorgewölbte Kinn, die vollen Lippen, die kräftigen Augenbrauen über der geraden Nase. Er hatte sich kaum verändert, war immer noch jungenhaft, wenn auch nicht mehr so unbekümmert wie am ersten Tag ihrer Be‐ kanntschaft. Seine körperliche Nähe löste wieder dieses Prickeln unterhalb des Nabels aus. »Ziemlich neureich«, spöttelte sie. Er griente. »Die Früchte der Fron. Ich liege Tag und Nacht in 502
den Sielen. Für Metro Goldwyn Mayer feilsche ich mit dem Pro‐ pagandaministerium um jeden Hollywoodfilm, der nicht unserem gesunden deutschen Volksempfinden entspricht, Shirley Temple ausgenommen. Eine Schweizer Uhr oder ᾿ne goldene Krawatten‐ nadel für den zuständigen Ministerialdirigenten und pro forma ein paar Schnitte wirken da meist Wunder. Natürlich lasse ich mir das von MGM gut bezahlen. Der Tobis‐Film diene ich als juristischer Berater in urheberrechtlichen Fragen. Und dann die Scheidungen. Erstaunlich, wer sich so alles lieber von der jüdischen Ehefrau als von der Filmkarriere trennt. Rühmann hatte es besonders eilig. Andererseits schaffe ich auch schon mal die Rechtsgrundlage für einen innigen Lebensbund. Jetzt führen Hoppe und Gründgens einander die männlichen und weiblichen Gespielen im Schutze ihrer Eheringe zu.« »So zynisch kenne ich dich gar nicht«, wunderte sich Jutta. »Die reinste Selbstverteidigung. Gibt᾿s hier ein Bier?« »Klar, in der Küche.« Jochen nahm ihn beim Arm. Isabel blieb mit Jutta im Wohnzimmer. »Wie geht es denn so bei euch?« »Ich glaube, Jochen ist zufrieden. Seine Arbeit füllt ihn aus. Er ist mit Leib und Seele Lehrer.« »Kaum glaublich, dass ich auch sowas werden wollte. Verzeih, das ist nicht hochnäsig gemeint. Wie steht᾿s mit dir?« »Ich habe Frau Gerold und die Buchhandlung.« »Und eure Ehe?« »Du meinst im Bett? Da findet zuverlässige Routine statt.« »Lust auf Abwechslung?« »Ich glaube schon. Aber ich suche nicht nach Gelegenheit. Zu träge, zu feige, vermutlich beides.« Isabel nickte verständnisvoll. »Wir laden uns manchmal ein net‐ tes Paar ein.« »Da würde Jochen nie mitmachen.« Jutta bot Isabel eine Juno an, die abgelehnt wurde. Sie lachte trocken. »Das erotischste für ihn 503
ist ein Volkswagen. Ich glaube, das hat er mit unserem geliebten Führer gemein. Nur dass der vermutlich keine Sparmarken klebt. Jochen finanziert seine mit Nachhilfestunden. A propos Nachhil‐ festunden. Drechsel gibt auch welche und prügelt dabei. Dem kleinen Didi Müller hat er blutige Striemen geschlagen. Er leugnete es natürlich, als Jochen ihn danach fragte.« »Das passt nicht ins Bild«, sagte Isabel überzeugt. »Wie meinst du das?« Rainer und Jochen kamen aus der Küche, jeder eine Flasche Lagerbier von Engelhard in der Hand. Jochen war ungewöhnlich angeregt: »... biegst du den Klemmbügel auseinander und ziehst den Verschluss vom Flaschenhals. Das geht auch bei Brausefla‐ schen. Den Porzellanstöpsel machst du ab. Der Drahtbügel wird so zum perfekten Dietrich. Mit dem haben wir auf dem Domgym‐ nasium in Naumburg heimlich die Lehrertoilette geöffnet und die Klobrille mit Honig eingeschmiert.« »Ziemlich klebrige Angelegenheit.« »Studienrat Wetzer setzte sich auf eine Wespe. Den Schrei hät‐ test du hören sollen.« Die beiden schüttelten sich vor Lachen. Rainer rang nach Luft. Jochen bekam einen roten Kopf. Wie zwei unartige Jungs, dachte Jutta. Isabel zwinkerte ihr zu, offenbar dachte sie das gleiche. »Was machen wir?«, fragte sie ihren Mann. »Ich lade euch zu Brumm ein.« »Sommerfeld«, berichtigte Jochen. »So heißt der Laden neuer‐ dings.« Sie bekamen den letzten freien Tisch. Das Lokal war gut besucht. Der anhaltende wirtschaftliche Aufschwung erlaubte vielen den bescheidenen Luxus eines Mittagessens außer Haus. Herr Vollmer vom Luftschutzbund grüßte herüber. Er saß mit Frau und Sohn beim Hasenpfeffer. Der Junge mochte zwölf sein und kämpfte verzweifelt mit den abgegessenen Knöchelchen, die von der Gabel rutschten, ehe er sie auf dem Tellerrand deponieren konnte. 504
»Der Zander hier war damals ausgezeichnet, der Mosel auch, und die Gesellschaft zum Verlieben.« Rainer Jordan sah Jutta mit einem winzigen Lächeln an, das den anderen entging. »Aus dem Kaffee hinterher wurde leider nichts.« Überrascht merkte sie, dass sie feucht wurde. Sie presste die Schenkel zusammen, was die Sache förderte und gar nicht unangenehm war. Der Jahreszeit wegen gab es keinen Zander, auf den ohnehin niemand Appetit hatte, dafür ein ausgezeichnetes Wiener Gou‐ lasch mit Semmelknödeln, dazu Frankenwein. »Was macht Armin Drechsel?«, wollte Isabel wissen. Sie warf Jutta einen viel sagenden Blick zu. »Seine Schüler glänzen bei allen Prüfungen in Mathematik«, schwärmte Jochen. »Es heißt, dass man ihn vorzeitig zum Ober‐ studienrat befördern will. Er ist ein begnadeter Lehrer.« »Und ein begnadeter Hitlerjunge«, mokierte sich Jutta. »Kommt er auch in kurzen Hosen zum Unterricht?« »Armin nimmt seine Verantwortung als HJ‐Führer sehr ernst«, wies ihr Mann sie zurecht. Isabel wölbte die Lippen und schnaubte verächtlich. »Ich drehe mit Jochen eine Runde im Wagen. Bestellt uns in‐ zwischen Kaffee.« »Um auf Drechsel zurückzukommen...«, sagte Jutta ungeduldig, sobald sie allein waren. »Wäre ich sowieso. Also hör zu. Das mit dem Prügeln ist Quatsch. Armin schlägt kleine Jungen nicht. Armin benützt sie.« »Wozu?« Jutta verstand nicht. »Ich stieß zufällig in der Uni drauf. Ich hatte das ›Außer Betrieb‹‐Schild an der Damentoilette übersehen. Drinnen stand Armin, mit runtergelassener Hose, den zwölfjährigen Sohn vom Hausmeister vor sich. Ich behielt es für mich. Man reitet nicht gern einen Kommilitonen rein. Jetzt ist mir klar, dass es kein einmaliger Ausrutscher war.« »Er vergeht sich an Kindern?« Jutta war entsetzt. 505
»An Knaben. Gelegenheit dazu hat er genug. Erst war er Wan‐ dervogel und dann Pfadfinder. Später kam er zur Hitlerjugend. Auch seine Stellung als Lehrer am Gymnasium passt ins Bild. Er ist immer da, wo viele Jungen zusammenkommen. Auf ›Großer Fahrt‹, im Zeltlager, in eurer Schule. Du kannst dir ja ausmalen, woher das Blut am Hosenboden des kleinen Didi stammt.« Sie wurden von den Männern unterbrochen. Jochen war ganz aus dem Häuschen: »Rainer hat mich ans Steuer gelassen. Der Motor ist die reinste Musik. Und die Beschleunigung... « »Auch dieses Automobil hat nur vier Räder«, dämpfte Isabel seine Begeisterung. »Darling, wir müssen nach Hause, uns umzie‐ hen. Wir werden um sechs bei den Trencks zum Cocktail erwar‐ tet.« Abends paffte Jutta auf dem Balkon eine ihrer seltenen Junos. Jo‐ chen sah dem Rauch nach, der sich mit dem gelben Licht der Stra‐ ßenlaternen paarte. Es war spätsommerlich warm und friedlich, obgleich düstere Ereignisse ihre Schatten vorauswarfen. Zeitungen und Rundfunk versprachen seit Tagen nichts Gutes. »Werden sie dich einziehen, wenn es Krieg gibt?« »Lehrer sind ›unabkömmlich‹. Ich weiß das von Armin Drech‐ sel. Er hat einen hervorragenden Draht nach oben.« »Ach, darum legt ihm wohl keiner das Handwerk.« »Immer noch nicht zufrieden?«, fuhr er sie an. Jutta ließ nicht locker: »Er war Wandervogel und Pfadfinder, dann wechselte er zur Hitlerjugend. Drechsel war und ist überall dabei, wo viele Jungen zusammenkommen. Auch in eurer Schule.« »Ich habe dir den Gefallen getan und mit ihm gesprochen. Er hat meine Frage zufriedenstellend beantwortet.« »Frag ihn mal, wie das damals mit dem Sohn des Uni‐Haus‐ meisters war. Isabel sagt, sie hätte Drechsel mit dem Jungen in der Toilette erwischt.« »Er wird sich gegen solch eine Verleumdung wehren und zu‐ 506
rückschlagen. Die Leidtragenden sind wir. Drechsel hat einen lan‐ gen Arm. Ich sehe mich schon in der Provinz versauern und dich gleich mit.« »Du bist ein Feigling.« »Es gibt keine Beweise.« »Was ist mit dem kleinen Didi? Du hast mit dem Täter gespro‐ chen. Jetzt sprich mit dem Opfer.« »Am Dienstag mache ich mit der Klasse unseren jährlichen Aus‐ flug. Es geht in den Grunewald zum Kaiser‐Wilhelm‐Turm. Mit Picknick und spannenden Spielen. Die Jungen freuen sich schon drauf. Ich werde mir Didi mal vornehmen. Nur, damit du endlich Ruhe gibst.« »Falls was Belastendes rauskommt – wirst du Drechsel decken?« »Traust du mir das wirklich zu?« »Ich weiß nicht.« Sie wusste es wirklich nicht. In letzter Zeit war er ihr oft so fremd. Jochen war schon zu Hause, als Jutta Dienstagabend von der Arbeit kam. Er saß erschöpft am Tisch und starrte ins Leere. Seine Stimme war kaum vernehmbar: »Du hattest Recht. Ich bin ein Feigling, war viel zu lange einer.« »Hast du aus Didi was rausgebracht?« »Drechsel hat ihn und andere seit Jahren missbraucht.« Jochen sah auf. Er hatte Tränen in den Augen. »Weißt du, was der Junge zu mir sagte? ›Jetzt tut᾿s gar nicht mehr so weh, wenn Herr Stu‐ dienrat Drechsel das mit mir macht.‹« Jutta schwieg erschüttert. Schließlich fasste sie sich: »Du musst ihn anzeigen. Didi muss aussagen, so quälend das auch für ihn sein mag.« Jochen schloss die Augen. »Ich bin mit der Klasse den Kaiser‐ Wilhelm‐Turm raufgestiegen. Die Aussicht von da oben ist wun‐ derschön. Als wir oben waren, sprang Didi runter. Er war sofort tot.« 507
Wenn Jutta im Nachhinein daran dachte, wurde ihr schmerzlich bewusst, dass dies der Zeitpunkt war, da sie ihre Unschuld verloren. Ohnmacht trat an deren Stelle. Ohnmächtig standen sie am offenen Grab und hörten die Worte des Pastors, der ahnungslos von der jugendlichen Verwirrung eines Heranwach‐ senden sprach. Ohnmächtig erlebten sie, wie Drechsel befördert und mit persönlichem Lob des Gauleiters an die National‐ politische Erziehungsanstalt nach Schwerin versetzt wurde. Ohnmächtig erlebten sie den Beginn des Krieges, den sie nicht wollten. Ohnmächtig mussten sie wenige Tage nach Kriegs‐ ausbruch Jochens Einberufung hinnehmen, obwohl Lehrer als »unabkömmlich« eingestuft waren. Er hatte versucht, andere Jungen der Klasse zum Reden zu bringen. Achtundvierzig Stunden darauf war er an der Front, praktisch ohne militärische Ausbildung. »›Das ist gegen jede Usance. Da muss jemand kräftig dran ge‐ dreht haben, um Sie loszuwerden, mein Bester‹, sagte mein Batail‐ lonskommandeur, der mich wie ein exotisches Tier besichtigte«, schrieb Jochen nach Hause. Es war sein erster und zugleich letzter Brief. Ein polnischer Scharfschütze erwischte ihn auf der Latrine. Niemand hatte ihm beigebracht, dass es ratsam war, bei der Not‐ durft den Kopf einzuziehen. Jutta erhielt ein Handschreiben:
In der Schlacht bei Rydcz am 6. September 1939 fiel Ihr Ehemann Schütze Joachim Weber in soldatischer Pflichterfüllung, getreu seinem Fahneneide für das Vaterland. Möge die Gewissheit, dass Ihr Mann sein Leben für die Größe und den Bestand von Volk, Führer und Reich hin‐ gegeben hat, Ihnen ein Trost in dem schweren Leid sein, das Sie betroffen hat. Ich grüße Sie in aufrichtigem Mitgefühl. Kuntze, Hauptmann und Kompaniechef Sie schickte die Nachricht durch das Rote Kreuz an Herrn und Frau Carl Weber, Boescamp Farm, Windhuk, South West Africa. 508
Drechsel hat Jochen und Didi umgebracht. Dafür werde ich ihn töten, schwor sie sich. Sie packte Jochens Sachen weg und erinnerte sich. Es war ihre Art, zu trauern. Sie musste lachen, als ihr das Foto in die Hand fiel, auf dem sie erhitzt aus dem Fenster des Mitropa‐Wagens lehnte, Jo‐ chens angespanntes Gesicht hinter sich. Isabel hatte es mit ihrer kleinen Kodak gemacht und ganz unschuldig getan. Kopfschüt‐ telnd legte sie das Sparheft weg, in dem die letzten drei Marken fehlten. Im Oktober hätten sie den nagelneuen VW in Empfang nehmen sollen. Jetzt fuhr er wohl als Kübelwagen durch den Krieg. Der Waterman war mit blauer Tinte gefüllt. Jochen hatte ihn im Schreibtisch vergessen. Gedankenverloren malte sie ein paar Her‐ zen auf die Löschunterlage. Allmählich kehrte der Alltag zurück. Die heile Welt von Onkel Toms Hütte gewann Oberhand. Jutta verließ sie nur selten. Ihr Le‐ ben floss ruhig dahin, zwischen Frau Gerolds Buchhandlung und der kleinen Wohnung in der Wilskistraße. Der Krieg fand sieg‐ reich und gottlob fern der Heimat statt. Das Fanfarengeschmetter des großdeutschen Rundfunks brachte ihn auch nicht näher. Das taten schon eher die bis dato unbekannten Genüsse aus verbünde‐ ten oder eroberten Ländern. In Froweins Obst‐ und Gemüseladen sah man plötzlich Kakifrüchte, niemand wusste, wie man die aß. Artischocken wurden angeboten und frische Feigen. Die gewohn‐ ten Nahrungsmittel gab es ausreichend. Einzig Kaffee und Tee waren knapp. Diana Gerold bekam beides von einer Bekannten in der Schweizer Gesandtschaft. Sonnabends war wie immer um ein Uhr Geschäftsschluss. Anja Schmitt kam, um Diana Gerold zum Tennis abzuholen. »Nachher wollen wir ins Kino. Im Zeli gibt᾿s einen neuen Film mit Zarah Leander. Haben Sie Lust?« Aber Jutta wollte in die Stadt. Isabel hatte versprochen, ihr ein Paar Schuhe aus Rom mitzubringen. 509
Die Jordans wohnten am Kurfürstendamm, ganz wie Rainer es vorhergesagt hatte. Er öffnete selbst. »Jutta, du kommst gerade recht. Ich bin beim Kochen. Ein frühes Abendessen. Ich habe Spaghetti aus Italien mitgebracht, Parmesan auch. Dazu gibt᾿s ganz stilecht Chianti.« Die UfA hatte ihn zu Filmverhandlungen nach Cinecitta geschickt. »Isabel bleibt noch ein paar Tage in Rom.« Sie kannte die Wohnung von früheren Besuchen mit Jochen. Der große Salon war modern eingerichtet. Helles Kalbsleder, weiße Eiche, Plexiglas, ein paar antike Stücke, und als Nonplusultra ein Fernsehgerät. Es sah aus wie ein Rundfunkempfänger, der neben dem Lautsprecher eine Art Milchglasscheibe hatte. »Eines der wenigen privaten Geräte«, sagte Rainer Jordan stolz. »Hat mich sechshundertfunfzig Reichsmark gekostet. Die übrigen vierzig stehen in den Berliner Lazaretts. Viel bringen sie nicht, außer OKW‐Meldungen und der Sonntagsübertragung mit dem schönen Titel ›Wir senden Frohsinn — wir spenden Freude‹. Nach dem Krieg soll das Programm erweitert werden. Dann wollen sie sogar Spielfilme senden.« Er gab einige Tropfen Olivenöl ins kochende Wasser und schob die widerspenstigen Spaghetti hinein, bis sie biegsam wurden und in den Topf passten. In einer Kasserolle köchelten Tomaten mit Knoblauch und Estragon. Als Antipasto gab es für jeden eine Dose mit Thunfisch, Cala‐ mares und Oliven in pikanter Sauce. »Sowas Delikates habe ich noch nie gegessen«, schwärmte sie. »Im Filmcasino von Cinecitta gibt᾿s das alles frisch.« Er goss Chi‐ anti ein. »Sie drehen da ganz interessante Sachen. Natürlich auch Kitsch. Im neuesten Rührstück singt und schmachtet Benjamino Gigli als römischer Taxifahrer. Das wird garantiert auch bei uns ein Schlager. Ich sollte eine Gemeinschaftsproduktion aushandeln. Hans Albers und Alida Valli als deutsch‐italienisches Paar. Mit ᾿nem niedlichen japanischen Mädelchen als Adoptivtochter. Die Achse Berlin‐Rom‐Tokio treibt absonderliche Blüten.« 510
»Diesen Stuss machen die Italiener mit?« »Sie legten mir höflich nahe, es doch mal bei den Spaniern zu versuchen. Sie selber würden lieber mit den Franzosen drehen. Conrad Jung ist ganz schön sauer. Er sollte die Regie führen, ob‐ wohl er kein Wort Italienisch spricht.« Rainer Jordan rieb Parme‐ san über die Spaghetti. Dazu zog er die Stirn in Falten und sah zum Verlieben aus — wie eh und je. Und da war es wieder, dieses verräterische Prickeln. Er hatte einen Espressokocher mitgebracht, den man auf den Kopf stellen musste, sobald das Wasser stieg. Das Gebräu war pechschwarz und glühend heiß, Jutta trank es mit vorsichtigen Schlucken. Sie stellte die Tasse ab. »Damals kamen wir nicht mal bis zum Kaffee.« Er wusste, was sie meinte. »Damals kamen wir zu überhaupt nichts.« »Wir holen es nach.« Sie streifte ihre Sachen ab. »Vergiss nicht, ich bin ein älterer Herr Mitte Dreißig.« Er knöpfte die Hose auf. »Ich bin fünfundzwanzig und will dich.«. Sie legte die Beine links und rechts über die Armlehnen. Er kniete sich zwischen ihre Schenkel. Sein steifes Glied war leicht nach oben gebogen. Er lenkte es mit der Hand und rieb die Eichel mit kreisenden Bewegungen an ihrem Kitzler. Sie durchkostete dieses unaufhaltsam anschwellende Gefühl, das Erfüllung ver‐ sprach, aber kein Ende nahm. Die Eichel wanderte weiter und verharrte zwischen ihren Lippen. Er bewegte sich nicht und löste gerade damit einen zuckenden Orgasmus aus, den sie jetzt noch gar nicht wollte, obwohl sie ihm entgegenfieberte. Er zog sich aus. Dann kam er ganz zu ihr. Sein Stakkato erschütterte ihren Körper und den Sessel gleich mit, dass die Federn quietschten. Sie sah an sich herab, sah wie sein harter Stab immer wieder ihre blonden Schamlocken teilte und vorstieß, ihre Lust ins Unerträgliche stei‐ gerte, bis die Erlösung kam, doch längst nicht das Ende. 511
Als sie angekleidet aus dem Bad kam, stand er im Hausmantel am Fenster. »Wir mussten es hinter uns bringen«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Ein für allemal«, pflichtete sie ihm bei. »Es wird keine Wiederholung geben.« »Natürlich nicht.« Das Glas der Auslage war wie durch ein Wunder noch intakt. Jutta stand auf Strümpfen zwischen den Büchern. Sie öffnete das dritte Fensterchen des Adventskalenders. Draußen drückten sich zwei kleine Mädchen an der Scheibe die Nasen platt und zählten die verbleibenden Tage bis zum Fest. Nur den Kindern war die Vorfreude geblieben. Die Erwachsenen kümmerten zwischen schwindender Hoffnung und wachsender Angst dahin. Die unablässigen Bombenangriffe der Alliierten machten das Berlin der Vorweihnachtszeit 1944 zum Fegefeuer. Die Hölle ließ noch etwas auf sich warten. Sie stellte den Kalender wieder zwischen Rudolf Bindings »Reitvorschrift für eine Geliebte« und Goethes »Wahlverwandt‐ schaften«, die sie mit etwas Tannengrün und Lametta geschmückt hatte. Gähnend kletterte sie aus dem Fenster. Ein Luftangriff der Engländer hatte sie die ganze Nacht im Keller festgehalten, wo an Schlaf nicht zu denken war. Überdies plagten sie Zahnschmerzen. Eine Plombe war herausgefallen. Es gab längst keinen Zahnarzt mehr in Onkel Toms Hütte. Die jüngeren waren im Krieg. Der einzige aus dem Ruhestand zurückgekehrte alte Dentist war bald nach Wiederaufnahme der Praxis zu seiner Schwester aufs Land geflüchtet. »Vielleicht haben sie in der Apotheke Aspirin.« »Nehmen Sie ein Eumed, Jutta, das hilft genauso.« Diana Gerold hielt ihr die Blechschachtel mit den Tabletten hin. »Und fahren Sie endlich zu meinem Zahnarzt.« Diana drängte sie seit Tagen. Jutta schob den Besuch unent‐ 512
schlossen vor sich her. Dr. Bräuers Praxis war in der Stadt, das be‐ deutete eine Dreiviertelstunde mit der U‐Bahn. Niemand verließ gerne die trügerische Sicherheit seiner engeren Umgebung, den meist unzulänglichen Luftschutzkeller eingeschlossen. »Also gut, wenn Sie unbedingt wollen.« Sie schlang den Sei‐ denschal um den Hals und zog den Rotfuchs an. Die gefütterten Stiefeletten waren ein Geschenk aus Frau Gerolds Garderobe. Sie schritt die leicht ansteigende Ladenstraße bis zu ebener Erde hi‐ nauf, löste am Schalter eine Rückfahrkarte und stieg die breite Treppe zum Bahnsteig hinunter. Der Zug lief ein. Sie wählte einen der gelben Nichtraucher. Die Raucherwaggons waren rot. Im Wa‐ gen lärmten vier kleine Kinder um einen Urlauber. Der Mann sah satt und zufrieden aus. Er war in Norwegen stationiert. Seine Frau wirkte verängstigt und abgehärmt. Sie trug den bunt bestickten Schafspelz, offensichtlich ein Mitbringsel ihres Mannes, als gehörte er nicht zu ihr. Nachts war Neuschnee gefallen und hatte die Vororte in eine Zuckerbäckerlandschaft verwandelt. In der Stadt war er bereits zu schmutziggelbem Matsch geworden, den pferdegezogene Schnee‐ pflüge beiseite räumten. Dr. Bräuer hatte seine Praxis im zweiten Stock eines Mietshau‐ ses in der Budapester Straße. Die Sekretärin am Empfangspult wusste Bescheid. »Frau Gerold hat Sie telefonisch angemeldet. Ein Patient ist noch vor Ihnen dran. Bitte warten Sie nebenan.« Der Patient stellte sich als Armin Drechsel heraus. Er war dick geworden. Seine braune Parteiuniform spannte um den Bauch. Das rötliche Haar war spärlicher als vor fünf Jahren. Sein blasses infantiles Gesicht war voller, aber so ausdruckslos wie eh und je. »Heil Hitler, Frau Weber«, grüßte er ohne jede Überraschung. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie hätte sich auf der Stelle übergeben können, doch sie beherrschte sich. »Guten Tag, Herr Drechsel, was für ein Zufall.« »Ein Weisheitszahn. Und Sie?« 513
»Ich lasse eine Füllung erneuern.« »Eine Ewigkeit, seit wir uns zuletzt sahen. Ich bin jetzt Leiter der Parteischule in Schwerin. Wie geht es Ihnen?« Dr. Bräuer erschien, ein freundlicher weißhaariger Herr mit goldgeränderter Brille. »Herr Drechsel, bitte.« Sie war froh, als sich die Tür schloss. Ein dumpfer, körperlicher Schmerz erfüllte sie, der langsam eiskalter Wut wich. Dr. Bräuer brachte den Patienten kurz darauf zurück ins War‐ tezimmer. »Ein paar Minuten Geduld, bis die Spritze wirkt. Bitte, Frau Weber.« Sie musste dicht an Drechsel vorbei. Wenn ich jetzt eine Waffe hätte, durchzuckte es sie, und das war kein melo‐ dramatischer Gedanke, sondern tödliche Entschlossenheit. »Bitte nachspülen«, forderte der Zahnarzt sie auf, als er mit der Füllung fertig war. Im gleichen Augenblick heulten die Sirenen. In der Nähe krachten die ersten Bomben. »Sie warnen nicht mehr rechtzeitig«, schimpfte Bräuer. »Kommen Sie, die Hintertreppe runter geht᾿s am schnellsten.« Er eilte mit wehendem Kittel voran. Unten erhellten Kerzen notdürftig das Gewölbe. Immer mehr Hausbewohner fanden sich ein und reihten sich auf die roh ge‐ zimmerten Bänke. Dr. Bräuers Sprechstundenhilfe holte Strick‐ zeug aus ihrer großen Tasche. Drechsel war nirgends zu sehen. Detonierende Flakgranaten klangen wie mit Blechfolien erzeug‐ ter Theaterdonner. Die »Fliegenden Festungen« der US Air Force dröhnten zehntausend Meter über der Stadt. Der Luftdruck ihrer fallenden Bomben erschütterte die Ziele schon vor dem Einschlag. Bisher hatten die Bomber den Westen der Stadt verschont, ihr Ziel waren die Arbeiterviertel. Man hoffte, die Arbeiter damit zum Aufstand gegen das braune Regime zu bringen, ein Trugschluss der Alliierten. Die Frau neben Jutta sprach aus, wovor alle zitterten: »Heute sind wir dran.« Die Bestätigung folgte in Sekunden. Das Brüllen von fünfhun‐ dert Kilos explodierendem Amtex 9 lähmte die Menschen. Eine Bombe hatte den Dachstuhl getroffen und gezündet, ehe sie sich 514
durch die Etagen tiefer bohren konnte. So verpuffte ein Teil ihrer Wirkung. Einschläge ganz in der Nähe erschütterten die Fundamente des Hauses. Schreiendes, hustendes, wimmerndes Leben erfüllte den Keller. Der Strahl einer Taschenlampe erhellte den Staub wie ein Autoscheinwerfer den Nebel. Die Sprechstundenhilfe glich einer weißen Marmorstatue. Sie strickte automatisch weiter. Stechender Phosphorgeruch breitete sich aus. »Sie legen Brand‐ bombenteppiche, und wir sind genau in der Abwurfschneise!«, rief jemand. »Wir müssen hier raus!« Blind tastete sich Jutta durch den dichten Qualm. Sie stolperte an der untersten Stufe einer Treppe. Auf allen Vieren kroch sie hi‐ nauf. Niemand folgte ihr. Offenbar kannten die Bewohner einen anderen Ausgang. Die Stuckdecke im Vestibül war herabgestürzt. Sie versperrte den Hauseingang und gab den Blick nach oben frei. Durch eine Mauerlücke in der ersten Etage quoll beißender Rauch von den umliegenden brennenden Häusern herein. Jemand rang keuchend nach Luft. Schemenhaft erkannte sie eine Gestalt im Fahrstuhl. Ein Balken lag vor dem Scherengitter. Sie versuchte, ihn anzuheben — und sah in das infantile Gesicht, das sonst keiner Gefühlsregung fähig war. Jetzt war es vor Angst verzerrt. Im vierten Stock glühte das Gestänge. Brennender Phosphor floss klebrig den Fahrstuhlschacht herab, rann über den Lino‐ leumbelag der Kabine, dass ihr Insasse von einem Fuß auf den an‐ deren trat, wie ein Tanzbär auf heißer Eisenplatte. »Helfen Sie mir raus«, krächzte er. Ein naher Einschlag warf sie zu Boden. Sie raffte sich auf. Der Druck hatte die Tür zur Portierswohnung gesprengt. In der Wand des Wohnzimmers klafften Löcher, wo vorher noch Fenster waren. Der Weg ins Freie! Hinter ihr rüttelte der Eingesperrte verzweifelt an den Messingstäben. Sie brauchte ihn nicht zu töten, brauchte es nur geschehen zu lassen. Ein Angebot des Teufels. 515
Es schien ihr wie Verrat an Jochen und Didi, aber sie brachte es nicht fertig. Sie konnte ihn nicht verbrennen lassen. Sie stemmte sich gegen den Balken. Ihre Schulter schmerzte, doch sie ließ nicht nach. Langsam brachte sie den Balken in die Senkrechte. Eine letzte Anstrengung, und die Schwerkraft zog ihn zur anderen Seite. Sie öffnete das Scherengitter. Der Mann torkelte an ihr vorbei. Draußen regneten brennende Trümmer von den Dächern. Men‐ schen schützten sich mit nassen Decken, das Wasser kam aus geborstenen Hydranten. Splitterbomben streckten Dutzende Flüchtender nieder. Dann entfernten sich die Einschläge. Jutta hielt sich in der Mitte der Straße. Ihr Rotfuchs ähnelte dem Fell eines räudigen Hundes. Tiere aus dem nahen Zoologischen Garten irrten verstört umher. Ein Gorillaweibchen trug sein Junges auf verkohlten Armstümpfen. Der Phosphor hatte ihm die Hände weggebrannt. Drechsel lag tot auf einem schwarzen Schnee‐ haufen am Bordstein. Seine braune Uniform war von Bomben‐ splittern zerfetzt. Ein Schakal leckte sein leeres, infantiles Gesicht. »Weihnachten schmeißen die keene Bomben.« Gemüsehändler Frowein wusste es von einer Kundin, die es von ihrer Schneiderin hatte, deren Bruder jemanden bei der Abwehr kannte. »Die haben das Ohr direkt am Feind, das dürfen Sie mir glauben.« »Weihnachten nicht im Keller, das wäre schön«, seufzte Jutta. Sie tat das Pfund Äpfel und die paar Nüsse, die ihr zustanden, zum Rotkohl ins Einkaufsnetz. Nebenan in der Kaffeerösterei Otto, die eigentlich längst nichts mehr zum Rösten hatte, gab es eine Sonderzuteilung Bohnenkaffee und sogar ein paar Lebkuchen. Sie hing das Netz ins Hinterzimmer der Buchhandlung, wo ihre Che‐ fin geheimnisvoll etwas auswickelte. Ein knochiges Gebilde kam zum Vorschein. »Was soll denn das sein?«, fragte Jutta entgeistert. Diana Gerold war pikiert. »Natürlich eine Gans.« Ihre Bekannte in der Schweizer Gesandtschaft hatte sich wieder einmal nützlich gezeigt. »Zugegebenermaßen etwas mager, aber für uns Drei 516
reicht᾿s. Jutta, können wir mit Ihnen feiern? Unserer Gasofen ist außer Betrieb. Eine Bombe hat die Hauptleitung getroffen.« Sie schlug die Morgenpost auf. »Stromversorgung zum Fest gesichert«, stand auf Seite zwei. »Wir braten den Vogel in Ihrem elektrischen Ofen. Anja hat noch eine Flasche Kirschlikör vom letzten Fest. Wir müssten allerdings über Nacht bleiben, weil so spät nichts mehr fährt.« »Ich steuere einen ›Burgunder‹ aus Vatis letzter Reserve bei.« Die Ladentür rührte sich. Herr Lesch brachte zwei Leihbücher zurück. »Zeit, dass das Schlamassel zu Ende geht«, murrte er. »Weit und breit kein neuer Hercule Poirot. Meinen Sie, dass Agatha Christie inzwischen weiterschreibt?« »Das werden wir nach dem Endsieg erfahren.« »Glauben Sie daran?« »An Agatha Christie?« Herr Lesch brummte etwas Unverständliches und verließ das Geschäft. Von draußen spähte er durch die mehrfach gesprungene, mit Klebeband notdürftig reparierte Scheibe und sah zu, wie Jutta das letzte Fensterchen des Adventskalenders in der Auslage öffnete. Es war der 24. Dezember 1944. Anja Schmitt kam am Nachmittag. Sie trug zur Feier des Tages einen Redingote aus schwarzem Tuch mit grauem Astrachan‐ besatz, dazu Pelzmütze und Stiefel, und sah aus wie ein hübscher Kosakenjunge. »Aus meinen Petersburger Nächten«, ulkte sie. Sie hatte irgendwann eine Affäre mit einer weißrussischen Fürstin ge‐ habt. Diana Gerold bevorzugte Lodenmantel und Jägerhut, die ihr das Flair einer Gutsherrin gaben. Jutta hatte ihren Rotfuchs mit Shampoo und Fön restauriert. Die kahlen Brandflecken musste man eben ignorieren. »So tun als ob« gehörte zum Überlebensre‐ pertoire. »Na dann machen wir den Laden mal dicht.« Frau Gerold ver‐ riegelte die Ladentür von innen und legte die Sicherheitsstange vor. Sie verließen die Buchhandlung durch die Hintertür. Auch 517
hier sperrte sie alle drei Schlösser zu, was sie sonst nie tat. Jutta registrierte es verwundert. »Machen wir einen Umweg durch den Fischtalpark? Man kommt ja überhaupt nicht mehr an die frische Luft.« Frischer Schnee war gefallen und verlieh dem Wohnviertel ein wenig weihnachtlichen Glanz. Die Tannen in den Anlagen waren weiß gepudert. Eiskristalle glitzerten in der späten Nachmittags‐ sonne. Kinder rutschten auf ihren Rodelschlitten kreischend die Hänge hinab. Ein Fünfzehnjähriger in der Uniform eines »Luft‐ waffenhelfers« fuhr auf einem Ski vorbei. Das leere Hosenbein hatte er hochgesteckt. Die Sonne verschwand rot im Dunst. Es versprach eine klirrend kalte Nacht zu werden. Die drei Frauen beschleunigten ihre Schritte. Jutta zog fröstelnd den Pelz enger. »Zu Hause machen wir᾿s uns schön warm. Ich habe noch etwas Koks im Keller.« Aus der Kirche am U‐Bahnhof dröhnte die Orgel. Professor Heitmann spielte Bach. Das Innere des Ziegelbaus war überfüllt. Küster Held hatte das Portal weit geöffnet, damit die Draußenste‐ henden an Gottesdienst und Orgelklang teilhaben konnten. Pfar‐ rer Geß hielt die Weihnachtspredigt. Herrn Jesu Geburt war ein unverfängliches Thema, dem auch der Gestaposchnüffler in der dritten Bank nichts Widriges entnehmen konnte. Im Winter machte Jutta sich nicht die Mühe, das schwarze Ver‐ dunklungspapier von den Fenstern zu nehmen, wenn sie morgens die Wohnung verließ. So konnte sie die Beleuchtung gleich einschalten, ohne dass der Luftschutzwart »Licht aus!« brüllte. Sie öffnete die Klappe des Boilers in der Küche und schüttete reich‐ lich Koks nach. »Heute wird nicht gespart.« »Einen Cherry Brandy zum Aufwärmen? Jutta, gib mal Gläser.« Anja schenkte ein. Jutta hob ihr Likörglas: »Wir kennen uns ja lange genug. Diana, Anja – also auf ›Du‹.« Sie heizte den Backofen an. Dann bereiteten sie die Gans vor, schälten Äpfel und Kartoffeln und schnitten den 518
Rotkohl, der mit dem letzten Rest einer Speckschwarte an‐ gedünstet wurde. Die Kerzen im Wohnzimmer dienten gewöhnlich als Notbehelf bei Stromausfall. Jutta hielt einen Tannenzweig in die Flammen. Der herbe Duft des ätherischen Öls ließ so etwas wie festliche Stimmung aufkommen. Er vermischte sich bald mit dem Braten‐ geruch. Anja goss Cherry Brandy nach. Jutta zog sich mit ihrem Glas in Jochens Sessel zurück. Sie wollte einen kurzen Moment ganz für sich sein. Das Telefon läutete. Es war Vati, mit guten Wünschen zum Fest, und ob sie nicht kommen wollte. »Es ist noch nicht mal sieben. Um neun könntest du in Köpenick sein, wenn kein Angriff dazwischenkommt.« »Ich habe Besuch, und eine Gans im Ofen. Zu der trinken wir deinen Burgunder. Frohes Fest, auch für Mutti.« Sie legte auf, be‐ vor ihre Mutter den Hörer nehmen konnte. Sie hätte ihr weiner‐ liches Gehabe jetzt nicht ertragen. Anja betrachtete das Foto vom Klassenausflug 1938 neben der Balkontür. »Sah gut aus, dein Mann. Vermisst du ihn sehr?« »Es ist alles so lange her.« Sie wollte nicht darüber sprechen. »Opfern wir der Gans einen Schluck Roten für den Bratensatz?«, lenkte Diana ab, die ahnte, was in ihr vorging. »Ich hab noch einen Maggiwürfel. Den lösen wir in kochendem Wasser und gießen damit auf.« Die Gans war zäh und ohne Geschmack. Der Rotkohl schmeckte bedeutend besser. Jutta hatte ihm einige Nelken hinzugefügt. »Frohes Fest«, prostete sie den beiden zu. »Na, und ob«, gab Anja burschikos zurück. Sie genossen den vollmundigen Burgunder und kauten schick‐ salsergeben auf dem Gänsefleisch herum. »Es soll Schlimmeres geben«, tröstete Diana ihre Mitesserinnen. Zum Nachtisch nah‐ men sie Lebkuchen und Kaffee. Jutta schaltete den Volksempfän‐ ger ein und gleich wieder aus. Sie empfand die »Stille Nacht« der Wiener Sängerknaben als Zumutung. Lieber nudelte sie das Kof‐ 519
fergrammophon an und kramte längst vergessene Platten aus dem Bücherschrank. Sie legte einen Charleston auf, zu dem sie gekonnt durchs Zimmer wedelte. Anja folgte ihrem Beispiel. Diana sah lä‐ chelnd zu. Beim Tango nahm sie Jutta in die Arme und führte sie korrekt durch die Figuren. Sie tranken Cherry Brandy. Ausgelassene Stimmung kam auf. Anja hatte eine Platte der Donkosaken entdeckt und sprang zum Ka‐ satschok in die Hocke. »Anschließend gab᾿s bei der Fürstin Wodka, Kaviar und viel russische Seele«, erinnerte sie sich. »Auf die möchten wir diesmal lieber nicht warten«, wandte Di‐ ana sich zu Jutta. »Anja und ich weichen übermorgen ins Hessi‐ sche aus. Mein Bruder hat da einen Hof. Wir lassen uns lieber von den Amerikanern überrollen. Komm doch mit.« »Ich kann die Eltern nicht alleine lassen.« »Falls du Interesse hast, die Buchhandlung inzwischen weiter zu führen... « Diana Gerold legte die Schlüssel auf den Tisch. Die Kerzen waren heruntergebrannt, die Flasche Cherry Brandy war leer. Weihnachten war vorbei. Jutta schaltete das Licht ein. Die Deckenbeleuchtung wirkte ernüchternd. »Ich mache euch das Bett. Ich schlafe auf der Couch.« »Im Bett ist Platz für Drei«, entschied Diana. Jutta lag zwischen den Freundinnen und überließ sich ihren sanften Liebkosungen, doch sie fühlte sich so einsam wie noch nie. In einer hellen Februarnacht Anfang 1945 flogen Hunderte eng‐ lischer Lancasterbomber einen Angriff auf Berlin und töteten mehrere Tausend Kinder, Frauen und alte Menschen. Seiner Bri‐ tannischen Majestät Luftmarschall Arthur »Bomber« Harris probte für Dresden. Durch die Ruinen von Berlin Mitte fauchte der Feuersturm. Wer in der Hitze nicht verdampfte, wurde von Bom‐ ben zerrissen. Das Inferno drang wie ein fernes Erdbeben in den Keller der Wilskistraße Nummer 47. Was, wenn es näher kommen 520
würde? Die Angst krampfte Jutta den Magen zusammen. Frau Reiche aus dem ersten Stock links hielt sich an der Tasche mit den Familienpapieren fest. Frau Fritz von nebenan umklammerte ihre zwei kleinen Kinder. Leutnant Kolbe, erster Stock rechts, kam die Kellertreppe herunter. Er war im Zivilberuf Architekt und auf Urlaub. »Also das müssen Sie sehen. Kommen Sie mit rauf, draußen ist alles ruhig.« Seine Frau schüttelte ängstlich den Kopf. Jutta fasste sich ein Herz. Der Himmel im Osten pulsierte blutrot. Im Norden gab er den samtschwarzen Hintergrund für die strahlenden »Christbäume«, von Lotsenflugzeugen gesetzte Leuchtmarkierungen. Kolbe zündete sich eine Zigarette an. »Sie verschonen die Vororte. Sie wollen ihre künftigen Quartiere nicht zerstören.« Er warf die Zigarette fort und nahm Jutta bei den Hüf‐ ten. »Kleines Trösterchen im Stehen?« Er drückte sein Glied an ihren Schenkel. »Bitte nicht, Herr Kolbe.« »Meine Frau ist da nicht so sparsam. Na, Sie wissen vermutlich besser als ich, wie viel uniformierten Besuch sie empfängt. Da geht man liebend gerne zurück an die Front.« »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.« Jutta befreite sich und stieg wieder in den Keller. Sie hätte sich den Weg sparen können. Die Sirene auf dem Dach schräg gegenüber gab Entwarnung. Ihre Wohnung war kalt und unwirtlich. Der Kohlenhändler hatte zum Wochenende ein paar Briketts in Aussicht gestellt, aber sie fürchtete das Schlangestehen und noch mehr das Zittern in einem fremden Keller, falls es Luftalarm gab. Sie knipste die Steh‐ lampe im Wohnzimmer an, die ein paarmal flackerte und verlosch. Stromausfall. Der elektrische Speicher war zum Glück noch aufgeheizt. Sie trug eine Kerze ins Bad und ließ die Wanne voll laufen. Das heiße Wasser wärmte ihren frierenden Körper und gaukelte ihr Gebor‐ genheit vor. Sie wickelte sich in das große Frotteetuch und ging zu Bett. Morgen mache ich die Buchhandlung wieder auf, nahm 521
sie sich beim Einschlafen vor, doch sie wusste, dass sie es nicht tunwürde. Das Frühjahr kündigte sich mit dem zaghaften Grün der Akazien und milden Temperaturen an. Die Menschen im Keller der Wilski‐ straße 47 froren, aber wohl mehr aus Angst als vor Kälte. Sie aßen Kartoffeln, die ein längst aufs Land geflüchteter Mitbewohner zu‐ rückgelassen hatte. Herr von Hanke, ein kultivierter Siebziger, stets mit Krawatte und seidenem Einstecktuch, teilte sie aus. »Bitte, liebe gnädige Frau, seien Sie vernünftig«, mahnte er die alte Frau Mö‐ bich. »Wer weiß, wie lange wir damit reichen müssen.« »Aber ich bin doch so schrecklich hungrig«, schluchzte die alte Frau. Jutta gab ihr ein paar von der eigenen Ration. Sie kochten die Knollen auf einem Brenner, den sie samt einigen Riegeln Tro‐ ckenspiritus in ihrem Kellerverschlag gefunden hatte, Andenken an die Bohemezeit im Mitropa‐Waggon mit Jochen. »Sie können jeden Tag hier sein. Was dann?«, jammerte die alte Dame. »Na, Sie haben ja wohl nichts mehr zu befürchten.« Leutnant Kolbe feixte. Herr von Hanke räusperte sich, peinlich berührt. »Die Russen sind zivilisierte Menschen wie wir. Ich kenne sie gut. Ich war 1912 Attaché an der Kaiserlich Deutschen Gesandtschaft in St. Peters‐ burg und hatte dort viele Freunde. Ich spreche Russisch, müssen Sie wissen. Obwohl man in gehobenen Kreisen Französisch be‐ vorzugte.« »Das können Sie ja dann beides in Kürze ausprobieren«, meinte Jutta spöttisch. Der Geschützdonner der letzten Tage hatte abgenommen. Dafür hörte man Maschinenwaffen tacken. »Zeit zum Umkleiden«, verkündete Leutnant Kolbe. »Was trägt der Mann von Welt, wenn die Russen kommen?« »Einen Anzug in gedeckten Farben. Smoking bitte erst ab sechs 522
Uhr«, schlug Jutta sarkastisch vor. Das Telefon in der Wohnung funktionierte noch. Sie wählte die Nummer der Eltern. Ihr völlig aufgelöster Vater meldete sich. Im Hintergrund hörte man Johlen und Schüsse. »Jutta? Es ist schrecklich, sie sind da.« »Ihr müsst ruhig bleiben und freundlich sein, hörst du, Vati. Tut, was sie verlangen. Und zeigt keine Angst. So schlimm wird es schon nicht kommen. Ich melde mich, wenn alles vorbei ist.« In Onkel Toms Hütte hatte es noch nicht einmal begonnen. Zwei Tage heulten Tiefflieger über das Viertel, doch nichts ge‐ schah. Dann rasselten Panzerketten. Drei T34 krochen die Rie‐ meisterstraße herauf und kamen vor dem U‐Bahnhof mahlend zum Stillstand. Ihre Geschütztürme drehten sich drohend hin und her. Im Obergeschoss der Konditorei Sommerfeld schwenkte je‐ mand ein weißes Laken am Besenstiel. Kissenbezüge, Handtücher und Servietten folgten aus den Fenstern der umliegenden Häuser. Die Luke eines der Ungetüme hob sich. Ein rundes Gesicht unter einem Lederhelm kam zum Vorschein. Der Panzersoldat winkte lachend. Hinter den weißen Tüchern ertönte Applaus. Der Soldat verschwand, die Klappe schloss sich, die Kolosse setzten sich wie‐ der in Bewegung. Der Beifall drang bis in den Keller. »Na bitte«, sagte Herr von Hanke, zog sein weißes Ziertuch und ging nach oben. Jutta und ein paar andere folgten zögernd. Die alte Frau Möbich lief an ihnen vorbei. »Bei Frowein gibt es frisches Gemüse!«, rief sie mit verklärtem Blick. Ein Jeep hielt, dahinter ein Mannschaftswagen. Ein Offizier sprang aus dem Jeep, ein dunkler untersetzter Typ mit kurzen Bei‐ nen. Herr von Hanke sprach ihn höflich auf Russisch an. Es war das Russisch des Zaren und damit eine tödliche Beleidigung. Der Offizier zog die Pistole und schoss ihm in die Stirn. Den Toten schleuderte er mit einem Stiefeltritt beiseite. Sein Blick fiel auf Jutta. Er schrie einen Befehl. Zwei Soldaten packten die sich weh‐ rende Frau, schleiften sie zum Jeep, warfen sie auf die heiße Küh‐ 523
lerhaube mit dem roten Stern, hielten sie grinsend fest. Keuchend wälzte sich der Offizier auf sie. Er stank nach Wodka und Knob‐ lauch. Sie fühlte nichts, weil sie sich einredete, dass nicht sie es war, die vergewaltigt wurde, sondern eine Fremde. Der Offizier war schnell fertig. Er ließ von ihr ab und schwang sich wieder in den Jeep. Er fuhr rücksichtslos an, sodass sie vom Kühler stürzte. Ein Soldat half ihr auf, ein freundlich lächelnder Junge. Sie dankte ihm, strich das Kleid glatt, wollte zurück zu den anderen. Er hielt sie fest, sagte stockend etwas, es klang wie eine Bitte. »Ein anderes Mal, ja?«, versprach sie, nur um irgendwas zu sagen. Seine Augen wurden schmal. Er schlug ihr ins Gesicht, zerrte sie zwischen die Büsche vor dem Haus. Diesmal dauerte es lange. Ihr Vergewaltiger zwang sie zu immer neuen Verrenkungen. Er kostete seinen Sieg bis zur Neige aus. Danach taumelte sie er‐ schöpft ins Haus. »Sie haben es wenigstens hinter sich«, tröstete Frau Reiche sie. »So? Meinen Sie?«, stieß Jutta hervor. Sie wankte in die Woh‐ nung und riss sich die Sachen vom Leibe. Sie stellte sich in die Ba‐ dewanne und drehte die Dusche auf. Ein Rinnsal brauner Brühe war alles, was kam. »Verdammte Scheiße!« Das Fluchen tat gut. Sie rubbelte sich mit dem Frotteetuch und einem kläglichen Rest Eau de Cologne ab. Das gab ihr die Illusion der Reinheit. Frau Reiche erschien mit einem Gummilaken. »Andenken an Opa. Zum Schluss war er nicht mehr ganz dicht«, versuchte sie, die Sache ins Komische zu ziehen. Sie breitete das Gummilaken aufs Bett. »Legen Sie sich hin.« Sie hatte eine Klistierspritze mit‐ gebracht und eine Flasche Selters. »Meine letzte. Vielleicht hilft᾿s.« Es knallte, als sie den Verschluss öffnete. »Machen Sie die Beine breit.« Das Selterswasser war kalt. Die Kohlensäure stach wie kleine Nadeln. Nach der Spülung fühlte Jutta sich besser. Der motorisierten Vorhut folgten die Panjewagen, mit zottigen Pferden und schmutzstarrenden Soldaten. Selbst für ihre eigenen Generäle waren sie keine Menschen, sondern primitives Men‐ 524
schenmaterial, das man zu Zehntausenden opferte, um einen be‐ deutungslosen strategischen Vorteil zu erringen, oder das man in die Minenfelder trieb, damit es den Weg freisprengte. Hinter den Wagen trotteten magere Kühe. In Weidenkäfigen gackerte Feder‐ vieh. Der Konvoi hielt. Bald qualmten Feuer auf dem Straßen‐ pflaster. Ein pockennarbiger Asiate säbelte einem Huhn den Kopf ab und ließ den flatternden Rumpf ausbluten, ehe er ihn rupfte. Ein anderer schnitt dicke Scheiben schwarzes Brot und verteilte sie an die hungrigen Kinder. Dann griff er zur Ziehharmonika und spielte auf. Jutta zog sich an: lange Hosen, festen Gürtel, hohen Rollpulli. Als ob das was nützen würde. Sie steckte ein scharfes Küchenmes‐ ser in den Gürtel. »Den nächsten bringe ich um«, versprach sie. »Na, denn meucheln Sie gleich mal los«, meinte Frau Reiche la‐ konisch. Ein Muschik mit wildem Schnauzbart polterte herein. Seine Mütze hing abenteuerlich auf dem Hinterkopf. Er trug einen Korb erdverkrusteter Kartoffeln. Suchend schlurfte er durch die Wohnung. Sein Blick blieb am Klo hängen, in dessen Becken Wasser stand. Er schüttete die Kartoffeln hinein, um sie zu wa‐ schen. Neugierig zog er an der Kette. Der Spülkasten war noch gefüllt. Fassungslos sah er seine Mahlzeit verschwinden. Jutta lachte laut. Es war ein seltener Moment völliger Entspan‐ nung. Der Bärtige lachte dröhnend mit und trollte sich. Frau Rei‐ ches Stimme zitterte. »Das hätte ins Auge gehen können.« Berlins Frauen schmierten sich Ruß ins Antlitz, kleideten sich in verdreckte Fetzen, wälzten sich in Kot. Vergebens. Ihre Befreier waren Schmutz und Gestank von daheim gewöhnt. Sie konnten nicht lesen, aber sie befolgten die hasstriefenden Worte des infa‐ men Ilja Ehrenburg in der Prawda: »Nehmt ihre Frauen ohne Er‐ barmen. Brecht ihren germanischen Stolz.« Die Soldaten standen mit ausdruckslosen Gesichtern Schlange, bis sie an der Reihe wa‐ ren, oft dreißig Mann und mehr. Gegen Morgen wurde es still. Die Schreie der Geschändeten 525
waren verebbt, die Biwakfeuer auf der Straße heruntergebrannt. Die Befreier lagen bewusstlos im Wodkarausch. Jutta sah es vom Balkon. Es war die einzige Zeit, da sie sich an die frische Luft wagte. In zwei, drei Stunden würde der Schrecken von neuem be‐ ginnen. »He, Sie da oben«, flüsterte eine Stimme. »Ist das Nummer 47?« Sie beugte sich vor. Der Mann trug einen hochgeschlossenen schwarzen Regenmantel. Einen von der Sorte mit Clips statt Knöpfen, wie sie vor dem Krieg in Mode waren. »Die Haustür ist offen.« Ein hagerer Graukopf mit fahlem Teint und müden Augen er‐ schien. »Oberst Werner Lüddeke, OKH«, stellte er sich vor. »Ich soll den Bewohnern der Nummer 47 ausrichten, dass Frowein lei‐ der kein Gemüse hat. Ihre letzten Worte. Ich glaube, sie war nicht mehr ganz richtig im Kopf. Sie starb vor ein paar Minuten. Innere Blutungen, darf man wohl mit Recht annehmen. Diese Tiere schrecken vor nichts zurück.« »Frau Möbich. Mein Gott, sie war achtzig.« Der Oberst öffnete die Clips des Regenmantels. Darunter trug er Uniform. »Gibt᾿s hier irgendwas zum Anziehen? Ich bin den braunen Fleischern entkommen und beabsichtige nicht, ihren roten Nachfolgern in die Hände zu fallen.« Jutta gab ihm Jochens alten Trainingsanzug und stopfte die Uni‐ form in den Ofen der Etagenheizung. »Was haben Sie vor?« »Mich als französischer Fremdarbeiter nach Westen durchzu‐ schlagen. Die Papiere habe ich einem echten Franzmann abge‐ nommen, oder vielmehr dem Achtel, das noch von ihm übrig war.« »Und wenn man Sie erwischt?« »Machen Sie mal die Finger auf.« Eine kleine Kapsel rollte in Juttas offene Hand. »Das Glas zerbeißen und beten«, instruierte er sie. »Zyankali wirkt unmittelbar auf die Schleimhäute, nach fünf‐ zehn Sekunden ist alles vorbei. Ich muss weiter, solange es noch 526
dunkel ist. Ach ja, nehmen Sie die alte Frau ab, wenn᾿s hell wird. Die Bestien haben sie an die Kirchentür genagelt.« Im Morgengrauen betteten sie den faltigen alten Körper auf den Altar, Jutta, Frau Reiche und die junge Frau Kolbe, deren Mann sich längst verdrückt hatte. »Wie oft?«, fragte Frau Reiche die junge Frau. »Fünf Mal«, war die unbeteiligte Antwort. »Wir beten jetzt«, entschied Jutta. »Dann legen wir sie in den Bombentrichter hinter der Sakristei. Und dann nichts wie nach Hause, bevor die Schweine aufwachen.« Nach dem Gebet rollten sie die Tote in den Trichter und traten das Erdreich am Rand los, das den geschundenen Leib bald barmherzig bedeckte. Einzeln schlichen sie sich zurück. Ein neuer Tag, dachte Jutta. Vielleicht mein letzter. Sie um‐ klammerte die kleine Kapsel in der Tasche. Auf Dr. Liselotte Dorns weißem Kittel waren Blutspritzer. »Sie müssen entschuldigen, aber meine Haushaltshilfe hat sich nach dem fünfzehnten Befreier aufgehängt, und ich habe keine Zeit für die Wäsche. Meine Kartei ist auch im Eimer. Frau Weber, nicht wahr? Sie kommen einmal im Jahr zur Untersuchung, stimmt᾿s?« »Ja. Jutta Weber, Wilskistraße 47. Die Spülung einer hilfsberei‐ ten Hausgefährtin hat leider doch nichts genützt.« »Sechste oder siebente Woche, stimmt᾿s? Sie sind heute früh die Vierte. Die meisten sind in der sechsten oder siebenten Woche. Mich haben sie verschont. Ein Doktor scheint auch in Russland eine Respektsperson zu sein.« Vom Fenster des Behandlungsraumes sah man in den blühen‐ den Garten und weiter auf den sommerlich heiteren Fischtalpark, in dem ein paar russische Soldaten mit ihren Mädchen schäkerten. Marschall Schukow hatte die viehischen Schänder und Mörder der ersten Stunde abgezogen und durch etwas zivilisiertere Truppen ersetzt. Man konnte sich wieder auf die Straße wagen. »Legen Sie die Beine da rüber.« Die Ärztin schnallte Juttas Knie 527
links und rechts in den Stützen fest. »Damit Sie mir nicht ins Ge‐ hege kommen. Ich habe nämlich keine Narkose für Sie.« »Die ersten zwei Russkis hatten auch keine für mich.« Das trockene Schaben der Curette in der Gebärmutter zog wie Feuer durch ihren Leib. Es tat höllisch weh. »Und der Dritte?« Frau Dr. Dorn sprach im Konversationston, während sie das scharfe Instrument aus dem Uterus zog und das nächst größere einführte. »Mein Dritter war ein sauberer, gut rasierter Sergeant. Einer von der besseren Sorte.« Das Sprechen half gegen die Schmerzen. »Er schleppte mich in den Keller der Fleischerei Lehmann. Da hielt er Peitschen, Schlachtermesser und andere hübsche Sachen bereit. Ich musste mich ausziehen. Er wollte mir die Hände über dem Kopf an einen Fleischerhaken binden. Dauert᾿s noch lange?« »Wir sind bei der Sechs.« Die Ärztin drehte die Curette hin und her. »Nummer acht ist die letzte.« Jutta atmete heftig. Die Schmerzen waren fast unerträglich. Sie zwang sich, weiterzusprechen. »Es gab nur eine Möglichkeit, ihn davon abzuhalten.« Sie schrie auf. »Nummer sieben«, meldete Dr. Dorn nüchtern. »Und wie haben Sie das fertig gebracht?« »Ich habe es ihm mit dem Mund gemacht, da hielt er still. Dann zog ich ihn zu mir runter. Er glaubte, ich würde ihn reiten. Ich streichelte seine Wange. Die Kapsel hatte ich in der Hand. Ich rammte sie ihm ins Nasenloch und schlug mit der Faust drauf, dass sie zerbrach. Der Oberst hatte Recht. Die Schleimhäute ab‐ sorbierten das Gift sofort. In fünfzehn Sekunden war er hin. Die längsten fünfzehn Sekunden meines Lebens.« »Fertig.« Die Ärztin richtete sich auf. »Sie waren sehr tapfer.« Jutta lachte ärgerlich. »Sind wir das nicht alle?« »Die Nachblutungen sollten in einigen Stunden aufhören. Wenn nicht, kommen Sie bitte sofort her. Übrigens — in ein paar 528
Tagen haben wir auch die Westmächte in der Stadt. Die Amis, Bri‐ ten und Franzosen kriegen jeder ein Stück Berlin als so genannten Besatzungssektor. Ich hab᾿s aus dem Radio.« »That᾿s the best news in a long time.« »Sie können Englisch?« »Ein Lehrfach meines Mannes. Er unterrichtete am Arndt‐ Gymnasium. Wir sprachen es einmal die Woche zu Hause.« »Hoffentlich bringen sie uns Medikamente.« »Wir haben wieder Wasser und zeitweise auch Strom. Ich wa‐ sche Ihnen ein paar Kittel. Und vielen Dank, Frau Doktor.« An einem Donnerstag, dem ersten im Juli des Jahres 1945, rollten die Panzerspähwagen der 1. US Air Borne Division vom Branden‐ burger Tor über Hitlers »Ost‐West‐Achse« durch den verwüsteten Tiergarten und nahmen symbolisch ihren Teil der Stadt in Besitz. Nur wenige Berliner verfolgten das Schauspiel. Sie hatten von Auf‐ märschen aller Art die Nase gründlich voll. In Onkel Toms Hütte machten sich die neuen Herren mit Vermessungstrupps bemerkbar, die in Jeeps herumflitzten und überall Markierungen setzten, kein Mensch wusste, wozu. Jutta hielt die Fenster den ganzen Tag weit geöffnet und »machte gründlich«. Der alte Protos‐Staubsauger heulte, etwas VIM‐Scheu‐ ersand für die Küche gab᾿s auch noch, Frau Reiches grüne Schmierseife besorgte den Rest. Der Völkische Beobachter mit Berichten vom heldenhaften Kampf um Berlin war zwar nicht mehr aktuell, bot aber die beste Druckerschwärze zum Fenster‐ putzen. Den letzten Brennspiritus hatten ein paar Rotarmisten gesoffen. Die Wohnung samt Einrichtung war so gut wie intakt. Mehr als die Hälfte der Fensterscheiben war heil oder nur angesprungen. Den Rest vernagelte sie sauber mit Pappe, die sie weiß bemalte. Sie hatte im Keller einen Topf Farbe gefunden. Lüften, Großreinemachen und Malen waren ein Akt der Befrei‐ ung. Man konnte wieder atmen und Pläne schmieden. Die Ver‐ 529
kehrsmittel fuhren zwar nur streckenweise. »Aber irgendwie schaffe ich es schon nach Köpenick«, meinte sie optimistisch. »Wollen Sie da wirklich hin? Köpenick liegt im russischen Sek‐ tor.« Frau Reiche biss andächtig auf etwas herum. »Ich muss unbedingt zu den Eltern. Anrufen kann man ja nicht. Was kauen Sie da eigentlich?« »Einen Kaugummi mit Pfefferminzgeschmack. Auch einen? Das Päckchen hat mir ein Ami geschenkt, ein netter Mann. Zeigte mir Fotos seiner Familie. Er heiße Sergeant Backols, sagte er. Dauerte ᾿ne Weile, bis ich kapierte, dass das Amerikanisch ist für ›Buch‐ holz‹. Sein Großvater kam aus Königswusterhausen.« Jutta versuchte den Kaugummi. Der Geschmack war erfri‐ schend, aber das Ganze blieb unbefriedigend, weil man᾿s nicht essen konnte. Sie schaltete den Volksempfänger ein und drehte an der Skala. Flotter Swing tönte aus dem Lautsprecher. »This is AFN Berlin, the American Forces Network«, verkündete der Ansager. »And now ›Frolic at Five‹ with George Houdac.« Leb wohl, Otto Dobrindt, dachte Jutta vergnügt. Sie ging hinunter zur Ladenstraße. In den ersten Tagen hatten betrunkene rote Horden die Türen eingetreten und das Innere der Läden verwüstet. Jetzt, da es ruhig war, begannen einige Besitzer mit dem Aufräumen. Uhrmacher Thomas stellte ein paar ausge‐ diente Wecker ins geborstene Fenster: »Damit es nicht so leer aus‐ sieht.« Frowein und Frau schrubbten die Regale. »In freudiger Er‐ wartung der ersten Bananen«, ulkte der Gemüsehändler. Seit Kriegsende war Jutta nur einmal hier gewesen, um die Tür der Buchhandlung mit Kette und Schloss zu sichern. Viele Bücher waren aus den Regalen gerissen, aber die meisten befanden sich in gutem Zustand. Sie machte sich ans Sortieren. »Die Mühe können Sie sich sparen.« Ein Mann mit Hut und Aktentasche kam herein, gefolgt von zwei amerikanischen Offi‐ zieren. »Wacker, Bezirksamt«, stellte er sich vor. Der ältere Offizier grüßte höflich. Der Jüngere, ein Leutnant, 530
musterte Jutta von oben bis unten und pfiff anerkennend. »Hello, Fraulein, wie geht᾿s?« Es war offenbar der einzige deutsche Satz, den er aufsagen konnte. »What can I do for you, gentlemen?«, fragte sie zurückhaltend. »Herr Wacker will explain.« Es gab nicht viel zu erklären. Die US Army hatte das ganze Onkel‐Tom‐Viertel von der Ladenstraße bis zum Fischtal beschlag‐ nahmt. Wohnungsinhaber und Ladenbesitzer mussten binnen zwei Tagen räumen. »Was wird mit den Büchern hier und meinen Möbeln zu Hause? Ich wohne Wilskistraße 47.« »Wenn Sie die Bücher bis übermorgen abtransportieren können, geht das in Ordnung. Aus Ihrer Wohnung dürfen Sie nur Ihre Garderobe und andere persönliche Sachen mitnehmen«, belehrte sie Herr Wacker. »And don᾿t forget to hurry, Fraulein«, schnauzte der Leutnant. »Looks as if you are not much better than the Reds«, fauchte Jutta die beiden Amerikaner an. »I am sorry«, entschuldigte sich der Ältere. »Das Bezirksamt wird Ihnen Wohnraum zuweisen«, versprach Herr Wacker und lüftete den Hut. Bautrupps der US Engineers hatten bereits damit begonnen, hohe Pfosten zu setzen und einen mehrere Kilometer langen, mit Stacheldraht durchwobenen Zaun um das Viertel von Onkel Toms Hütte zu ziehen. Jutta war empört. Sie hatte geglaubt, alles würde besser werden. Ein neues Leben würde beginnen. Das Wort »Zukunft« würde wieder einen Sinn bekommen. Und nun hatten diese Amerikaner nichts besseres zu tun, als die gedemütigten, ausgehungerten Menschen von ihrem letzten bisschen Besitz zu vertreiben. Sie ging zu Bett, um die hässliche Wirklichkeit auszusperren. Warme Nachtluft bewegte die Vorhänge. Das Laken verschaffte Kühlung. Gesichter zogen an ihr vorüber. Jochen, der kleine 531
Didi, der schreckliche Drechsel, die alte Frau Möbich. Alle waren sie tot. Und ich?, fragte sie bange ins Dunkel. Bin ich nicht auch tot? 532
NEUNTES KAPITEL
D
as Dunkel wurde von Scheinwerfern durchschnitten. Mit ärgerlichem Grunzen ließ der Killer sein Opfer fallen und verschwand in der Nacht. John Ashburner sprang aus dem Jeep. Er kniete sich neben Jutta, löste die Knebelkette, legte den Handrücken an die Halsschlagader. Verzweifelt suchte er nach ihrem Puls. In der Nähe startete ein Motorrad. »Ich war ganz weit weg«, murmelte sie mit geschlossenen Augen. »Jetzt bist du wieder da«, sagte er überglücklich. Vorsichtig hob er sie auf und trug sie zum Jeep. Dr. Möbius untersuchte die blauroten Würgemale am Hals. »Da bleibt nichts zurück«, versicherte er. »Sie haben Glück gehabt. Eine halbe Minute länger, und Sie würden auf dem Obduk‐ tionstisch liegen wie die anderen. Ich möchte Sie bis morgen hier behalten. Ihr Blutdruck ist im Keller. Bei dem Schock kein Wunder. Schwester Dagmar bringt Sie zu Bett.« John Ashburner stand schlaksig im Hintergrund. Er hatte sie ins nahe »Waldfrieden« gebracht und eine bange halbe Stunde im Wartezimmer verbracht, bis man ihn in den Untersuchungsraum ließ. »Kann ich mit ihr reden, Doktor?« »Zwei Minuten.« »Mit mir gibt es nichts zu reden«, wehrte Jutta ab, als er sich zu ihr ans Bett setzte. »Du kannst dich ja mit deiner Frau unterhalten.« 533
»Mit Ethel? Natürlich. Über unsere Scheidung. Deswegen ist sie nämlich hier. Sie will Jesse Rawlins heiraten. Sie findet dich übri‐ gens sehr nett, vielleicht etwas zu impulsiv.« »So zum Beispiel?«, jubelte sie. Sie schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn. Schwester Dagmar erschien in der Tür. »Würden Sie bitte Ihr Auto beruhigen? Es redet ziemlich laut und stört die anderen Pa‐ tienten.« »Bis morgen, Darling. Gute Nacht, Schwester.« Ashburner lief hinaus zum Jeep. Sergeant Donovan tönte ihm aus dem Lautsprecher entgegen: »Hey, Boss, melden Sie sich end‐ lich. Es ist verdammt dringend.« Er war enttäuscht. Nur ein kurzes Röcheln hatte sie ihm gegönnt und sich ihm entzogen, ehe er sie besitzen konnte. Spielverderbe‐ rin, dachte er beleidigt. Er lehnte sein Motorrad an den Bordstein und tätschelte den Tank wie die Flanke eines Pferdes. Es hatte ihm geholfen, diesen hartnäckigen Inspektor zu beseitigen. Nun nützte es ihm nichts mehr. Mit schleppenden Schritten ging er nach Hause. In der Küche schälte er bedächtig einen Apfel und biss hinein. »Zu sauer«, murmelte er missbilligend. Glas splitterte. Die Tür von der Küche zum Garten hatte plötz‐ lich keine Scheibe mehr. Fassungslos sah er dem Inspektor entge‐ gen, der unbeholfen durch den Rahmen stieg. Klaus Dietrich hatte irgendwo eine Latte vom Zaun gebrochen, auf die er sich jetzt stützte. »Ich hätte schon vor Tagen darauf kommen sollen. Ihre Sekre‐ tärin hat es mir ahnungslos auf silbernem Tablett serviert, und ich merkte es nicht. ›Die anderen vier hat der Chef auch mit ᾿nem Kreuz markiert‹, sagte sie. Die anderen vier Karteikarten, das be‐ deutete insgesamt fünf, nicht wahr, Mr. Chalford? Mit dem Kreuz auf der fünften Karte nahmen Sie Jutta Webers Ende vorweg. Nur der Mörder konnte wissen, dass sie die Nächste sein würde.« 534
Chalford griff nach dem Messer auf dem Küchentisch. »Ein be‐ dauerlicher Irrtum, Inspektor. Ich nahm an, Sie seien ein Einbre‐ cher. Da stach ich zu.« Mit erhobener Hand ging er auf Dietrich los. Dietrich verlagerte sein Gewicht aufs gesunde Bein. Er konnte die Balance nur wenige Sekunden halten, aber das genügte. Mit voller Wucht drosch er dem Angreifer die Latte in die Kniekehlen. Chalford klappte zusammen. Der Inspektor taumelte und ging neben ihm zu Boden. »Den Rest erledigen wir.« Captain Ashburner stieg über knir‐ schende Glassplitter in die Küche, gefolgt von Sergeant Donovan. Er half Dietrich auf und rückte ihm einen Stuhl zurecht. Der Ser‐ geant legte Chalford Handschellen an und zog ihn am Kragen in die Höhe. »Bringen Sie ihn auf die Station. Sperren Sie ihn ein. Lassen Sie ihn keine Sekunde aus den Augen«, befahl Ashburner. »Und Sie ruhen sich ein bisschen aus, Inspektor. Ich sehe mich inzwischen hier um.« Klaus Dietrich war erschöpft. Er hatte den Killer zur Strecke ge‐ bracht. Er empfand weder Triumph noch Genugtuung. Er war einfach zufrieden, dass er seine Arbeit getan hatte. Zurück zur Wach‐ und Schließgesellschaft, dachte er mit leisem Spott. »Inspektor, sehen Sie sich das an.« Dietrich packte die Zaunlatte und stemmte sich schwer atmend hoch. Ashburner hatte nebenan im Arbeitszimmer den Schrank aufgebrochen. Hinter ihnen schrie jemand entsetzt. Die Haushälterin Renate Schlegel starrte an ihnen vorbei in den Schrank, durch den sich eine Wäscheleine spannte, auf der vier blutverschmierte Schlüpfer hingen. Inge Dietrich hatte ihren Mann ins Oskar‐Helene‐Heim begleitet. Er brauchte eine neue Prothese. Sie warteten, bis er an der Reihe war. »Wir haben den Obelisken aus schwarzem Marmor auf Chalfords 535
Schreibtisch sichergestellt. Ein echter Barlach, machte er Besuchern weis. Es besteht kein Zweifel, dass er damit seine Opfer quälte.« »Hör auf, Klaus, ich will das nicht hören.« Inge trat zum Emp‐ fangspult. »Dauert es noch lange?« »Wenn Sie dran sind, sind Sie dran«, beschied sie die Schwester. Sie setzte sich wieder. »Was wird mit Chalford?« »Es gibt keinen Curtis S. Chalford. Es gibt nur den Fleischer‐ gesellen Kurt Kalkfurth, der schon vor dem Krieg in Onkel Toms Hütte mordete. Die Amerikaner werden ihn erleichtert der deut‐ schen Gerichtsbarkeit übergeben.« »Und seine Mutter?« »Martha Kalkfurth ist so schuldig wie ihr Sohn. Sie wusste seit dem ersten Mord 1936, dass er ein pathologischer Killer ist. Sie hätte alle weiteren Morde verhindern können, indem sie ihn auslieferte. Stattdessen bestach sie einen amerikanischen Konsulatsangestellten, der das Einwanderungsvisum ausstellte. Kurz vor Kriegsausbruch verschwand Kurt Kalkfurth. Seine Mutter verbreitete das Gerücht, er habe sich freiwillig zu den Kradfahrern gemeldet und sei beim Einmarsch in Polen gefallen. Sie bezahlte ihre Affenliebe mit ei‐ nem Schlaganfall und nachfolgender Lähmung. Insgeheim hoffte sie wohl, er würde irgendwann nach Hause kommen; denn trotz ihrer Behinderung kümmerte sie sich um sein Motorrad und hielt es den Krieg über versteckt.« »Du hast sie verhört?« »Sie kann nicht mehr sprechen. Ein zweiter Schlaganfall, vor‐ gestern. Sie hat meine Vorhaltungen mit den Augenlidern bestä‐ tigt. Das einzige, was sie bewegen kann.« »Und Chalford — ich meine Kalkfurth?« »Hat sich in den Vereinigten Staaten ruhig verhalten. Für einen pathologischen Killer seines Grades nicht ungewöhnlich. Er war völlig auf Onkel Toms Hütte fixiert. Als die amerikanische Re‐ gierung Jobs im besiegten Germany ausschrieb, ergriff er die Ge‐ legenheit zur Rückkehr.« 536
»Und wenn ihn nun jemand erkannt hätte?« »In amerikanischer Uniform? Nicht sehr wahrscheinlich. Trotz‐ dem, das Risiko nahm er auf sich. Er konnte nicht anders, als seinen Trieb wieder in der alten Nachbarschaft zu befriedigen.« Die Schwester rief ihren Namen. Die orthopädische Werkstatt lag am Ende des gebohnerten Flurs. Der Meister nahm ein höl‐ zernes Stelzbein aus dem Regal. Es hatte unten eine Gummzwinge und oben ein paar Riemen. »Leider kann ich Ihnen zurzeit nichts besseres bieten, Herr Dietrich.« »Wenn Sie mir ᾿nen Papagei auf die Schulter setzen, trete ich als John Silver auf.« Dietrich hatte sich entschlossen, die Sache leicht zu nehmen. »Einen Papagei?« Der Mann hatte die »Schatzinsel« nicht gele‐ sen. »Sowie ich Material reinkriege, mache ich Ihnen ᾿nen piekfei‐ nen Unterschenkel. Das kann allerdings dauern. Bei der immensen Nachfrage und den beschissenen Verhältnissen... Sie müssen schon entschuldigen, gnädige Frau.« »Hauptsache, du bleibst beweglich. Wir schnallen das Ding mal an.« Inge half ihm. »Schaffst du es damit nach Hause?« Er hakte sich bei ihr ein. »Mit dir schaffe ich alles.« Sie hatten Jutta Weber und John Ashburner eingeladen. »Sozu‐ sagen als Vorverlobungsfeier«, meinte Klaus Dietrich etwas un‐ beholfen. »Na, und weil wir uns ja nun schon ein Weilchen ken‐ nen.« John Ashburner hatte ein paar Flaschen Wein mitgebracht und Zigaretten für den Bezirksrat. Er hörte sich geduldig Hellbichs Version der Geschichte an, derzufolge dieser natürlich schon lange den richtigen Verdacht hatte. Die Frauen kannten nur ein Thema: »Wann wird geheiratet?« Jutta strahlte. »In vier Wochen. Die Trauung ist in der evangeli‐ schen Kirche am U‐Bahnhof. Gefeiert wird im Club 48. John hat das arrangiert, damit sämtliche Dienstgrade kommen können. Sie 537
sind alle eingeladen. Sergeant Panelli arbeitet schon an einem vierstöckigen Hochzeitskuchen.« »Bis dahin kriegen Sie auch Ihr neues Bein, Inspektor. Ich habe mit General Abbot gesprochen. Er hat genehmigt, dass das Army‐ Hospital Ihnen eines anfertigt.« Ashburner deutete zum Fenster. »Sehen Sie mal hinaus.« Vor dem Haus stand ein Dreirad, daneben Sergeant Donovan. »Hat er in seiner Freizeit für Sie gebastelt. Wol‐ len Sie hören, zu welchem Kompliment er sich hinreißen ließ? – ›Ist schon ein toller Kerl, dieser verdammte Kraut.‹« »Hoffentlich mag er unser Essen. Noch einen Teller, Inge.« Klaus Dietrich humpelte zur Haustür und winkte Donovan herein. Er‐ wartungsvoll scharte sich die Familie mit ihren Gästen um den Tisch. Es gab eine deftige Erbsensuppe mit gebräunten Zwiebeln und dicken Speckwürfeln. Großmutter Hellbichs Persianermantel machte es möglich. »Ben, kommst du?«, rief Inge Dietrich. »Hab keinen Hunger. Hebt mir was auf«, tönte es von der Treppe. Aller Augen waren auf die Suppenterrine gerichtet. Un‐ gesehen schlich Ben sich aus dem Haus. Die Riemeister Straße döste in der Sonne. Die Anwohner saßen beim Essen, falls sie welches hatten, oder träumten auf ihren Veran‐ den besseren Zeiten entgegen. Irgendjemand hörte bei offenem Fenster lautstark Radio. Sein Gegenüber schrie erbost: »Ruhe!« Ben atmete tief ein und aus, drückte das Kreuz durch, nahm den Kopf hoch und steckte die Linke flach in die Jacketttasche. Den Daumen ließ er draußen, der neue Anzug verlangte eine aufrechte und zugleich lässige Haltung. Zu seinem Leidwesen begegnete er niemandem, der ob seiner unübertrefflich eleganten Aufmachung in ehrfürchtiges Staunen hätte ausbrechen können. Nur eine alte Frau schlurfte mit gesenktem Kopf vorüber. Da, wo Riemeister und Onkel‐Tom‐Straße zusammenliefen, um sich vereint auf den langen Weg zum Kurfürstendamm zu machen, 538
begann der von Bomben und Granaten gelichtete Grunewald. Vom Waldrand waren es fünf Minuten bis hinunter zum See. Die Krumme Lanke lag dunkelsilbern in ihrem moorigen Bett. Sie war ein Teil der Seenkette, die sich einst als Seitenarm der Ha‐ vel durch den Grunewald zog und bis zur Mitte des sechzehnten Jahrhunderts beschifrbar war. So konnte Brandenburgs Kurfürst Joachim II. das Baumaterial für sein Jagdschloss mitten in den Urwald befördern. Ben hatte das im Unterricht für Heimatkunde gelernt. Momentan war er allerdings nicht an fürstlichen Bauten interessiert, sondern an Heidi Rödel. »Sonntag um zwei in der Kuhle«, hatte sie gesagt, was bewies, dass sie einen gut gekleideten Mann zu schätzen wusste. Vom Wasser drang Lachen und Geschrei herauf. Die allgemeine Misere konnte das Vergnügen der Badenden nicht schmälern. Ben hielt Abstand vom Ufer, um nicht von einem nassen Ball getroffen zu werden, näherte sich aber weit genug, damit das Publikum den Gentleman im Glencheck sprachlos bewundern konnte. Die Reaktion des Volkes war dünn. »Vornehm jeht die Welt ins Wassa«, rief ihm jemand nach. Ben quittierte das mit einem Zug der Verachtung um die Mundwinkel, obwohl er nicht sicher war, ob der ihm richtig gelang. »Ein bisschen overdressed, mein Junge«, schmunzelte ein älterer Herr im Bademantel, was Ben souverän überhörte. Auf seinen Anzug ließ er nichts kommen. Der war Inbegriff einer heilen Welt, in der es elegante Menschen und genug zu essen gab. Er umging die Regenpfützen der vergangenen Nacht, sie wären den Wild‐ lederschuhen schlecht bekommen. Die eingezäunte Schonung stieg vom jenseitigen Ufer des Sees sanft an. Ben mied die Brom‐ beeren und schlüpfte zwischen den jungen Birken hindurch, die dem Anzug nicht gefährlich werden konnten. Er nahm Heidi erst wahr, als er dicht vor der Kuhle stand. Sie sonnte sich in einem zweiteiligen blauen Badeanzug. Ben sah ihre halb geöffneten vollen Lippen, die sie bei seinem Kommen rasch 539
angefeuchtet hatte, und ihre Brüste, die sich mit jedem Atemzug erstaunlich weit hoben. Sie hatte die Augen geschlossen und tat, als bemerke sie ihn nicht. Er räusperte sich. Sie rieb sich die Augen. »Ach, du bist᾿s«, murmelte sie scheinbar verschlafen und ziemlich desinteressiert. Ben war gekränkt. »Kann auch gehen. Obwohl wir eigentlich verabredet sind.« »Weiß ich doch.« Sie war plötzlich ganz da. »Sieht klasse aus, dein Anzug.« Sie klopfte einladend neben sich auf den Boden. Er setzte sich hin, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und starrte in den Himmel. Noch nie war er ihr so nah gewesen. Sie roch nach Nussöl mit einem Hauch Maiglöckchen, eigene Komposition des Drogisten Schmidt. Die Frage war, wie es nun weitergehen sollte. Erwartete sie, dass er sie küsste? Oder wollte sie sich lieber unterhalten, und wenn ja, worüber? Vielleicht mochte sie eine Zigarette? Er hatte noch ein paar Stella in der Schachtel. Andererseits war Rauchen im Wald verboten. Ihr Gesicht war mit einem Mal ganz nah. Sie presste ihre Lippen auf seine. Er war gespannt, wie lange sie das durchhalten würde, ohne Luft zu holen. Sie ließ es nicht darauf ankommen, sondern schlug vor: »Wenn du die Zähne aufmachst, geht es besser.« Er tat ihr den Gefallen. Ihre Zunge schnellte vor wie eine kleine Schlange und tastete nach seiner. Er kapierte und züngelte heftig gegen. Das löste ein angenehm kribbelndes Gefühl an völlig ande‐ rer Stelle aus. »Viel besser als Gerd Schlomm«, benotete sie in einer Atem‐ pause seine Bemühungen. »Zieh doch den Anzug aus, sonst ver‐ knautscht er, na, und die Grasflecken... « Das waren überzeugende Argumente, zumal er ja die Badehose drunter hatte. Augenblicke später hing das kostbare Kleidungsstück an einer jungen Birke, die Wildlederschuhe ruhten im Moos. Irgendwo raschelte Laub, es war wohl ein Reh. 540
Er drückte sie ins Gras, und sie setzten das Zungenspiel eifrig fort. Ihr Oberteil war verrutscht, sie hatte es vorsorglich aufge‐ hakt. Ihre Brüste waren warm und weich, ein bisschen glitschig von Herrn Schmidts Sonnenöl, aber insgesamt recht angenehm. »Ohne ist viel schöner«, flüsterte sie und streifte auch das Unter‐ teil ab. Zögernd zog er die Badehose aus, weil er sich wegen sei‐ nes steifen Gliedes schämte. Sie nahm es interessiert in die Hand. Im Hintergrund raschelte das Reh. Er streichelte ihren Schoß. Ihre Härchen waren seidenweich. Noch vor fünf Minuten hätte er nie geglaubt, dass er sie dort je be‐ rühren würde. Er tat es mit klopfendem Herzen, und sie schien es zu mögen. Ihre Hand rieb ihn sachte. »Hast du schon mal?« Ein Gefühl sagte ihm, dass dies die Stunde der Wahrheit war. »So richtig eigentlich nicht«,gab er zu. »Ich weiß aber, wies geht. Und du?« »Ich weiß auch Bescheid.« »Ich meine, ob du schon mal...« Er schluckte. »Mit Gerd Schlomm zum Beispiel.« »So doof wie der sich anstellt?«, platzte sie heraus, wobei ihre Hand zur Bekräftigung fester rieb. Ben kniete sich zwischen ihre Schenkel. »Hilf mal ᾿n bisschen.« Sie wies ihm den Weg. Er fühlte ihre feuchte Wärme — und glitt ab. Geduldig führte sie ihn erneut. Vergeblich versuchte er es noch einmal. Vor lauter Bemühen, alles richtig zu machen, war sein Glied weich geworden. »Schitt«, murmelte er. Heidi war enttäuscht. Das sollte alles sein? Kam gar nicht in Frage. Ihr Instinkt lenkte sie. Sie beugte sich über ihn. Zwischen ihren Lippen wuchs er zu neuer Größe. Ben ließ es teilnahmslos geschehen. Als sie sich rittlings auf ihn setzte und er sich staunend in ihr wieder fand, begriff er, dass der Anfang gemacht war. Er stemmte sich im Takt gegen ihre Bewegungen. Ihre kleinen Schreie feuerten ihn an. Es wurde immer schöner und noch schöner, und die Welt ringsum hörte auf zu existieren, auch das raschelnde Laub 541
und die knackenden Zweige, die gar nicht von einem Reh stamm‐ ten. Hinterher lagen sie erhitzt da und hielten sich bei den Händen. »War᾿s für dich auch so schön?«, flüsterte Heidi. Ben war wieder sein lässiges Selbst: »War ganz okay.« Er dachte an die Frommser. Sollte er jetzt einen überziehen? »Damit sich das beste Stück nicht erkältet«, hatte Herr Pagel gesagt, was sich ja wohl nur auf hinterher beziehen konnte. Die Schachtel stak in der Jacketttasche. Er stand auf, um sie zu holen und erstarrte. Anzug und Schuhe waren weg. Die junge Birke wiegte sich unschuldig im Oktober‐ wind.
Zentaur 2004‐12‐31
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