IWAN ARAMILEW
IWAN KOSHEWNIKOW
Jagd auf den Feuervogel
Auf der Suche nach Glück
Erzählungen eines Jägers
Geschicht...
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IWAN ARAMILEW
IWAN KOSHEWNIKOW
Jagd auf den Feuervogel
Auf der Suche nach Glück
Erzählungen eines Jägers
Geschichte eines Jungen
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Jeder Band ist illustriert und kostet 1,80 M D N In jeder Buchhandlung, an jedem Kiosk
V E R L A G
N E U E S
L E B E N
im
A u s l a n d
Humorvolle Erlebnisse
B E R L I N
HANS SIEBE
Nepomuk muß sterben Hauptwachtmeister Schmidt erzählt
VERLAG
NEUES
LEBEN
Alle Rechte beim Verlag Neues Leben, Berlin 1965 Lizenz Nr. 303 (305/87/65) ES 9 A Umschlag und Illustrationen: Karl Fischer, Berlin Typograüe: Walter Leipold Schrift: 8 p Primus Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin
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ie war mir unser spartanisch einfach möbliertes Dienstzimmer so trostlos erschienen wie an diesem sonnigen Junitag. Unsere Volkspolizei-Inspektion war in einem alten Mietshaus untergebracht. Durch die geöffneten Fenster drang der Straßenlärm in den ersten Stock herauf, wo Herbert, Oberleutnant Herbert Kühn, und ich unser Zimmer hatten. Ein Sprengwagen fuhr mit rauschenden Wasserbrausen durch die Straße, und Geruch nach feuchtem Asphalt stieg mir kribbelnd in die Nase. Mißmutig besah ich den Stapel Papier auf meinem Schreibtisch. Es waren alte Dienst- und Schichtpläne des Tierparkpersonals. Im stillen verwünschte ich es, diese Bagatellsache ausgegraben zu haben. Doch Herbert hatte wohlwollend dazu genickt. Ich solle mich getrost noch einmal in die Tierparkgeschichte hineinknien. Es entsprach unserer Methode, solche Fälle „am Rande" zu erledigen. Es lag nichts Wichtigeres vor. Zuerst suchte ich mir die Nachtschichtpläne heraus. Der Stapel schrumpfte zusammen. Nun konnte ich mir für die fraglichen vierzehn Daten eine Tabelle anfertigen. Die Daten waren zum Teil einige Monate alt. Es handelte sich um jene Nächte, in denen im Tierpark einer der merkwürdigen Bagatelldiebstähle verübt wprden war.
Der Dieb öffnete mit Nachschlüsseln Bürotüren, Garderobenschränke und Schubladen. Seine Beute bestand aus läppischen Dingen, aus Kugelschreibern, Bleistiften, Anspitzern und solchem Kram. Er verschmähte auch Zigaretten, Frühstücksreste, Näschereien und ähnliches nicht. Weiß der Kuckuck, ich fand diesen Fall genauso interessant, als sollte ich ein Paar verschwundener Pantoffeln suchen. Sonnenkringel geisterten über die Dienstpläne, und meine Gedanken schwirrten davon. Die bunten Zeichen: gefehlt, unentschuldigt gefehlt, frei oder anwesend, wurden lebendig und tanzten durcheinander. Ich sah vom Fünfmeterbrett auf sie herab, denn mit einemmal waren es durcheinanderwimmelnde, sonnenhungrige Menschen am Müggelseestrand. Trotzdem konnte ich, als Herbert in die Inspektion zurückkehrte, meine fertige Tabelle vorlegen. „Drei Tierpfleger waren in allen vierzehn Nächten im Dienst, als die Bagatelldiebstähle verübt wurden. Blunk aus dem Raubtierhaus, Reineke aus dem Affenhaus und Hoffmann von den Elefanten." Erwartungsvoll sah ich Herbert an. Es war schließlich ein Erfolg, von fünfzig Tierpflegern die drei herauszufinden, die 'für diese Diebstähle in Frage kamen. Doch er 3
sagte: „Stell Dir vor, auf der Insel gibt es nicht ein einziges Auto. Herrlich." Ich schluckte enttäuscht. Wenigstens andeutungsweise hätte ich eine Anerkennung erwartet. Aber Herbert war in Gedanken schon auf der Insel Hiddensee, obwohl sein Urlaub erst in einer Woche anfing! Ich sah ihn mißbilligend an. „Entschuldige", sagte er, „das soll kein Herabmindern deines Erfolges sein. Mach nur so weiter. Bloß — die Vorfreude ist das Schönste vom Urlaub." Bald entspann sich eine Debatte um den Bagatelldieb. Wir glaubten, daß er krankhaft veranlagt sei. Wichtige Telefongespräche erreichen uns stets kurz vor Dienstschluß. Herbert hatte gerade meinen Ermittlungsplan für den nächsten Tag genehmigt, an dem ich mich den drei Verdächtigen widmen wollte, als das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab, und über seiner Nasenwurzel entstand eine steile Falte. Scheinbar ein dicker Hund, dachte ich. Ich war nicht erbaut davon. Da entdeckte ich in Herberts Augen blanke Schadenfreude. „Wir kommen sofort", sagte er und legte den Hörer auf. „Mahlzeit", sagte ich forsch. Herbert zuckte bedauernd die Schultern und fragte: „Wie heißen deine drei Verdächtigen?" „Blunk, Reineke und Hoffmann." „Czymanski ist nicht dabei?" „Czymanski", wiederholte ich und erinnerte mich an den ungewöhnlichen Namen. „Was ist mit Czymanski?" „Er ist der Dieb. Sie haben ihn selber erwischt." Bestimmt sah ich nicht gerade 4
geistreich aus. Da ärgerte ich mich mit den alten Schichtplänen herum, und nun war die ganze Arbeit für die Katz. Bevor wir nach Friedrichsfelde fuhren, warf ich einen Blick auf meine Tabelle. Ich schüttelte den Kopf. „Das verstehe ich nicht, Herbert. Czymanski kann nicht der Dieb sein, den wir suchen. Nur in zwei von den vierzehn Nächten war er im Dienst." Herbert zuckte die Schultern. „Wir werden ja sehen." Das fand ich unfair. Seit Jahr und Tag predigte er mir seine wissenschaftliche Arbeitsmethode, und nun hielt er selbst das daraus resultierende Ergebnis für fragwürdig! Ich begann mich für diesen Fall zu interessieren. Ärgerlich fand ich nur, daß ich wieder einmal verspätet zum Boxtraining kommen würde. Czymanski saß unglücklich auf einem Hocker und blickte abwechselnd auf Herbert und mich. Er war achtunddreißig Jahre alt, mittelgroß und hatte ein offenes Gesicht. Seinen Händen, die nervös die Dienstmütze mit dem blanken Lederschirm drehten, sah man an, daß sie gewohnt waren zuzupakken. Alles in mir sträubte sich dagegen, diesen Mann für einen Dieb zu halten. Ich sah zum Fenster der Betriebswache hinaus. Auf dem Platz vor dem Raubtierhaus drängten sich sommerlich gekleidete Menschen. Dabei hatten wir Dienstag, einen Wochentag! Vor dem bronzenen Löwen gruppierten sich junge Leute zum Fotografieren. Ich wandte mich zurück ins Zimmer. Auf dem Schreibtisch lag ein
praller Beutel voll Kraftfutter, wie es die Büffel bekamen. Daneben lagen ein Kugelschreiber, ein ramponierter Füllfederhalter und eine billige Taschenuhr. ..Das mit dem Futter", sagte Czymanski schluckend, „das gebe ich zu Die Büffel kriegen zuviel und verasen es. Da kratze ich manchmal die Reste im Trog zusammen." Czymanskis Stimme wurde trotzig. „Son' bißchen für die Karnickel." Resigniert verstummte er wieder. „Wenn alle Tierpfleger so handelten wie Sie, käme bald eine Fuhre zusammen", sagte ich und fühlte, daß meine Bemerkung nicht gerade originell war. Doch Czymanski wußte, wie ich es meinte. „Das kommt nicht mehr vor", versprach er. Herbert kam auf die übrigen Gegenstände zu sprechen, die auf dem Schreibtisch lagen. Der Kugelschreiber, der Füllfederhalter und die Taschenuhr waren in den letzten drei Wochen gestohlen worden.
„Sie bestreiten, sich diese Sachen angeeignet zu haben?" Czymanski sah Herbert empört an. „Ich bin doch kein Dieb." Er schwieg betroffen und verbesserte sich. „Wegen dem bißchen Futter bin ich doch kein Dieb, meine ich." „Dann erklären Sie uns, wie Sie zu diesen Gegenständen gekommen sind", forderte Herbert. Auf dem Tisch- lag ein Zettel, den wir mehrmals gelesen hatten. „Schimski ist der Dieb!" stand darauf. Schimski war Czymanskis Scherzname bei den Kollegen. Der Zettel war aus einem Schülerheft herausgerissen und die Schliff, plumpe Blockbuchstaben, offensichtlich verstellt. Czymanski wurde beim Verlassen des Wirtschaftshofes kontrolliert. Man fand das Diebesgut bei ihm. Aber er stritt ab, der Täter zu sein. „Ich weiß nicht, wie die Sachen in meine Tasche gekommen sind', antwortete er auch diesmal. Seine fi
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Stimme klang beschwörend. Der Teufel sollte mich holen, wenn er nicht die Wahrheit sagte. Auf der Rückfahrt in die Stadt versuchte ich Herbert zu überzeugen, daß Czymanski nicht der Bagatelldieb war. Herbert schwieg. Er wußte, daß er mich damit zu neuen Hypothesen provozieren konnte. „Der Fall ist klar, Herbert. Der Bagatelldieb weiß, daß Czymanski für seine Karnickel Futterreste mitnimmt. Er schmuggelte ihm etwas von seiner Beute in die Aktentasche und schrieb die anonyme Bezichtigung, um seine eigenen Straftaten auf ihn abzuwälzen." „Wenn es sich so verhält", erwiderte Herbert, während er den . Wartburg geschickt durch das Verkehrsgewühl lenkte, „dann ist also deine Theorie gerettet, daß einer der drei — wie heißen sie gleich?" „Blunk, Reineke und Hoffmann." „Richtig, daß einer von ihnen der Dieb ist." Es ärgerte mich, daß Herbert annahm, mir ginge es nur darum, meine Theorie zu retten. Aggressiv fragte ich: „Glaubst Du im Ernst, daß Czymanski der Dieb ist?" „Nein." „Na also", sagte ich. Doch er gab mir gleich wieder einen Dämpfer. „Das ändert nichts daran, daß er gestohlene Gegenstände in seiner Aktentasche mit sich führte, als er kontrolliert wurde." So war Herbert. Er gab kein Quentchen eines Sachverhalts preis. Auch nicht angesichts der überzeugendsten Theorie. „Wir sollten diese Ermittlungssache der zuständigen Konfliktkommission übergeben", sagte ich. Herbert lenkte den Wagen unter 6
der S-Bahnbrücke an die Bordsteinkante. Ich wollte hier aussteigen. „Das ist noch verfrüht", sagte er und fügte hinzu: „Halt die Ohren steif und komme morgen früh nicht wieder mit einem Veilchen zum Dienst. Tschüs, Genosse Hauptwachtmeister." Dann legte er den Gang ein und gab Gas. Der folgende Tag, der Mittwoch, ließ sich ordentlich an. Die Sonne schien, und wenn . die Wetterfrösche recht behielten, würden die Gaststätten Rekordumsätze erzielen. Bedenklich war dagegen, daß Herbert ohne Mantel und Hut gekommen war. Noch vor dem Frühstück wurde er zu einer Dienstbesprechung gerufen. Gleich darauf läutete das Telefon. Der Anruf kam vom Tierpark. Doktor Schönburg, der Leiter der Schlangenfarm, teilte aufgeregt mit, daß der Giftschrank in seinem Zimmer erbrochen und ein Arsenpräparat gestohlen worden war. Ich notierte die Einzelheiten und gab ihm Verhaltungsmaßregeln. Diesmal konnte man nicht von einer Bagatelle sprechen. Ich verständigte Herbert, und er kam sofort. Er ließ sich von mir die Einzelheiten berichten. Doch als ich Vermutungen anstellte, ob einer der drei Verdächtigen für diesen Diebstahl in Frage käme, winkte er ab. „Das paßt nicht zu deinem Bagatelldieb." Im stillen verwahrte ich mich dagegen, daß er mir den Dieb zuschob wie einen unerwünschten Gegenstand. Aber er hatte recht. Der Dieb begnügte sich bisher immer mit harmlosen Dingen. War-
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um sollte er nun ein gefährliches Gift gestohlen haben? Vor allen Dingen, und diese Frage bereitete uns Kopfschmerzen, was hatte der Dieb mit dem Gift vor? Doktor Schönburgs Arbeitsraum war durch einen schmalen Flur von den anderen Räumen der Schlangenfarm getrennt. Der Doktor, ein quicklebendiger Fünfziger mit einer rosigen Stirnglatze, betrachtete uns durch dicke Brillengläser wie zwei seltene Schlangenexemplare. Er tat es so ungeniert, daß es mir peinlich wurde. Es sei das erstemal in seinem Leben, daß er es mit der Kriminalpolizei zu tun habe, sagte er. Das erbrochene Wandschränkchen barg die vorgeschriebenen Schutzsera gegen Schlangenbisse. Doktor Schönburg erklärte uns, daß die Sera meist intravenöse Präparate seien, die in den Blutkreislauf gespritzt würden, während das gestohlene Arsenpräparat per os, also über die Verdauungsorgane in den Kreislauf gelange. In der Hand eines Unkundigen sei es daher besonders gefährlich. Unsere Frage an Doktor Schönburg, ob er eine Vermutung habe, wer das gefährliche Präparat gestohlen haben könnte und zu welchem Zweck, wurde von ihm mit bedauerndem Schulterzucken beantwortet. Zunächst mußten die Tatumstände geklärt werden. Die Tür zu Doktor Schönburgs Zimmer war mit einem Nachschlüssel geöffnet worden, nicht mit einem Dietrich, obwohl es kein Sicherheitstürschloß war. Das Türglas des Schränkchens war zerbrochen worden. Der Dieb hatte sich nicht die Mühe gemacht, Spuren zu vermeiden. Alles deu-
tete auf einen Dilettanten hin. Merkwürdig war, daß er nur das Arsenpräparat gestohlen und die Schlangensera unberührt gelassen hatte. Herbert war Spezialist für Spurensicherung. Wenn er feststellte, daß es bei aller Unvorsichtigkeit des Täters keine Fingerabdrücke und außer den Glasscherben keine weiteren Spuren gab, war nicht daran zu zweifeln. Unsere Arbeit nahm etliche Stunden in Anspruch. Für den Diebstahl kam die Zeit vom Nachmittag des vergangenen Tages bis zum heutigen Vormittag in Frage. Doktor Schönburg war nämlich heute später als gewöhnlich gekommen. Doch es gab keinen Anhaltspunkt dafür, wo der Dieb zu suchen war. Auch die wichtigste Frage, zu welchem Zweck das Gift gestohlen worden war, blieb unbeantwortet. Die Sonne versteckte sich plötzlich hinter dicken Wolken, und dann klatschten die ersten Regentropfen herunter. Ich hatte das ja vorausgesagt! Die Tierparkbesucher eilten zu den Ausgängen. Als wir vom Verwaltungsgebäude zur Betriebswache gingen und den Park wieder in seiner ganzen Ausdehnung durchqueren mußten, wurde aus den einzelnen Tropfen ein Platzregen. Wir schlugen die Kragen unserer Sportsakkos hoch und absolvierten mit gekrümmten Rücken einen Dauerlauf. „Woher hattest du bloß wieder deine Weisheit, daß es Regen gibt? Im Fernsehfunk ist nichts gesagt worden." Herbert schnaufte ärgerlich. „Du bist ohne Mantel und Hut gekommen", antwortete ich. Im Betriebsschutz erwartete uns eine neue Überraschung. Wir er7
fuhren von einer unbekannten Person, die in der vergangenen Nacht versucht hatte, den Tierparkzaun zu überklettern. Von einem Wächter entdeckt und angerufen, floh die Person. Im Hinblick auf den Giftdiebstahl bekam dieses Vorkommnis Bedeutung. War die Person identisch mit jener, die in die Schlangenfarm eingedrungen war? 'Aber woher hatte sie den Nachschlüssel? Darauf gab es keine Antwort. Herbert ordnete an, ich solle in der kommenden Nacht zur Verstärkung des Betriebsschutzes im Tierpark bleiben. — Die Dämmerung kam spät und hielt sich nur kurze Zeit. Als würde ein schwarzes Tuch über dem Park ausgebreitet, so plötzlich fiel die Finsternis herab. Die Kronen der alten Bäume waren ineinander verschlungen und verwehrten den Blick zum mondlosen Himmel, an dem vereinzelte Sterne blinkten. Der Regen vom Nachmittag stieg als feuchter, nach Erde duftender Dunst empor, und von der Kamelwiese roch es nach Heu. Unter meinen Schritten knirschte der Kies. Ich wechselte auf den Grünstreifen am Wegrand hinüber und versuchte mit dem Schatten der Büsche eins zu werden. Lautlos, fast unsichtbar bewegte ich mich vorwärts. An der Brüstung des Eisbärengeheges lehnte eine Gestalt und sah auf die matt blinkende Wasserfläche hinunter. Auf dem felsigen Ufer lag reglos ein riesiger Eisbär. Leise näherte ich mich der Gestalt. Es war ein Angehöriger des Betriebsschutzes. Er erschrak, als ich plötzlich neben ihm stand und mich zu erkennen gab. Als ich wei3
terging, lief er eilig zum Telefonhäuschen. Er wollte wohl seine Kollegen vor meinem unverhofften Auftauchen warnen. Es machte Spaß, ihm ein Schnippchen zu schlagen. Ich änderte meine Richtung. Statt zum Kinderzoo, lief ich am Käfig der Greifvögel vorbei zum Büffelgehege. Dann wendete ich mich wieder dem Haupteingang zu. Dabei überlegte ich, ob Herbert wußte, welch unmögliche Aufgabe er mir zugedacht hatte? Der ehemalige Schloßpark war etliche Hektar groß, und die verschlungenen Wege zogen sich über viele Kilometer hin. Nachts verdoppelten sich die Entfernungen für mich als Ortsunkundigen. Nur mit einem Motorrad hätte ich die Runden in einer annehmbaren Zeit schaffen können. Es war doch einfach sinnlos, ohne Ziel durch die Gegend zu laufen, mit dem Auftrag zur rechten Zeit dort zu sein, wo etwas passierte! Am Nachmittag hatte ich mir die Schichtlisten angesehen und festgestellt, daß der Tierwärter Reineke im Affenhaus Nachtdienst versah. Ich lenkte meine Schritte dorthin. Wer die nächtliche Natur nie selbst erlebt hat, der kann davon sprechen, daß sie schläft, wer sie kennt, weiß, daß auch nachts tausendfältiges Leben pulsiert. Besonders gern erinnere ich mich an die Nächte, die ich im Dienst bei der Volksarmee im Freien verbracht habe. Doch diese Nacht im Tierpark war ganz anders. Jeder Windhauch trug exotische, fremde Laute durch die Nacht, und Gerüche schwebten darin mit, welche die Sehnsucht nach fernen Kontinenten weckten.
Ein Nachtvogel strich lautlos über mir dahin, und ich wäre nicht erstaunt gewesen, hätte plötzlich ein Tiger vor mir gestanden. Neben mir im Gebüsch knackte ein Zweig, ich fuhr erschrocken zusammen und vergewisserte mich, daß meine Dienstwaffe im Schulterhalfter steckte. Ich fand es jetzt doch beruhigend, daß die Raubtiere im Brehm-Haus sicher untergebracht waren. Im Affenhaus brannte eine trübe Nachtlampe. Ich tastete mich den schmalen Gang hinter den Käfigen
entlang. Unter einer Tür schimmerte Licht hindurch. Leise drückte ich die Klinke herab. Die Tür gab meinem Druck nach. Auf einer schmalen Pritsche lag ein Schimpanse. Eine bunte Decke reichte ihm bis an das Kinn. Das kleine Affengesicht weckte meine Teilnahme. Es erinnerte mich an ein krankes Kind. Der Wärter, der auf dem Stuhl neben dem Bett saß, stand auf und kam mir entgegen. Er sah mich fragend an. Ich legitimierte mich, und sein Blick wurde neugierig. Flüsternd 9
fragte ich, ob der Affe krank sei. Ebenso leise antwortete er: „Ja, Nepomuk ist krank." „Sind Sie Kollege Reineke?" Sein Erstaunen wuchs. „Ja." „Ich heiße Schmidt." Reineke wandte sich wieder dem Krankenbett zu. Auf einem Tischchen stand ein Glas, gefüllt mit einer trüben Flüssigkeit, und in einer Schale lagen Bananen und gewaschene Möhren. Ich blieb unschlüssig stehen. Reineke wandte mir wieder sein besorgtes Gesicht zu und sagte leise, als solle der Schimpanse seine Worte nicht hören: „Wenn er die nächsten Tage übersteht, wird die bösartige Geschwulst operiert." Er schüttelte ablehnend den Kopf. „Eine unnötige Quälerei. Bei seiner Mutter hat die Operation auch nicht geholfen." Ich empfand Mitleid mit dem kleinen Kerl. Seine Stirn schien sorgenvoll gefaltet, und in seinen Augen war nichts von dem Übermut, der diese Tiere so possierlich macht. Sie blickten trübe und teilnahmslos. Behutsam verließ ich den Raum. Trotz der Dunkelheit fand ich mich jetzt besser zurecht. Ich lief zurück zum Raubtierhaus. Diesmal kam ich von der unbebauten Seite des Geländes. Der Haupteingang war geschlossen. Ich wußte aber, daß ich die schmale, für das Pflegepersonal bestimmte Tür offen finden würde. Der scharfe Geruch verriet, daß ich auf dem richtigen Wege war. Auch hier schien mir alles lebendig und voll Bewegung, obwohl die Tiere schliefen. Dennoch staunte ich, als ich den Wärter sah, der auf einem provisorischen Lager vor einem Käfig hingestreckt lag. Er 10
beachtete mich nicht weiter, und ich fand keinen Anlaß mich vorzustellen. Nach meiner Erfahrung im Affenhaus fragte ich: „Ist er krank?" Dabei nickte ich zu dem Käfig mit dem Leoparden hin. Der Wärter grinste einfältig, wie mir schien, und bequemte sich zu der Antwort: „Nein. Er ist nicht krank. Er kriegt Junge!" Dabei betonte er albern das Er. Was blieb mir übrig, als nachsichtig zu lächeln. Ich ging weiter. Meine Gedanken beschäftigten sich mit dem Giftdiebstahl. Wer konnte nur der Täter sein? Wozu brauchte er Gift? Nach einer halben Stunde etwa kam ich wieder zum Haupteingang und ging abermals ins Affenhaus. Es war weniger meine Teilnahme an dem kranken Nepomuk. Mich interessierte sein Pfleger. Ich fand Reineke nicht allein im Krankenraum. Ein älterer Mann war bei ihm. Ich wußte, er hieß Henkel und machte seit zwei Jahren Nachtdienst im Verwaltungsgebäude. Er bediente auch die hauseigene Telefonvermittlung. Es war ihm peinlich, bei einer Unkorrektheit erwischt worden zu sein, denn hier hatte er nichts zu suchen. Da sagte Reineke: „Ich habe Kollegen Henkel gerufen, weil Nepomuk unruhig wurde." Er merkte wohl, daß mir diese Begründung nicht genügte, und fügte hinzu: „Kollege Henkel war früher Wärter hier im Affenhaus. Er hat Nepomuk aufgezogen. Bei ihm beruhigt er sich schneller." Das schien zu stimmen. Henkel löste behutsam seine Hand aus d i r kleinen, behaarten des Schimpansen und eilte auf seinen Posten zurück.
Um mit ihm ins Gespräch zu kommen, erzählte ich Reineke von meiner Begegnung im Raubtierhaus. Er nickte. „Ich weiß, Irina kriegt Junge. Voriges Jahr ist es schwierig gewesen. Darum bleibt Blunk bei ihr." „Wer?" „Biunk." „Der hat doch keine Nachtschicht." Als ich es gesagt hatte, ärgerte ich mich darüber. Reineke sah mich überlegen an, als wolle er sagen: Das verstehst du nicht. Laut erwiderte er: „Was heißt Dienst, wenn die Tiere uns brauchen?" Ich nickte, denn ich verstand ihn schon. Er fügte hinzu: „Zu Hause hat man doch keine Ruhe, wenn ein Tier krank ist." Die gleiche Haltung traf ich bei allen Tierpflegern an, mit denen ich zu tun bekam. Bei allen spürte ich dieses selbstverständliche Da-Sein für ihre Schützlinge. Ich verließ das Affenhaus, und der Gedanke ging mir durch den Kopf, daß also nicht einer, sondern zwei der verdächtigen Tierpfleger in dieser Nacht Dienst taten. Plötzlich stockte mein Fuß. Ich blieb mitten auf dem Weg stehen. Wenn es sich so verhielt, dann war meine Tabelle nicht die Tinte wert, mit der ich sie geschrieben hatte. So wie Blunk heute nacht bei der Leopardin Irina wachte, obwohl er dienstfrei war, konnten in den fraglichen vierzehn Nächten andere Wächter bei ihren Tieren geblieben sein. Am liebsten hätte ich Herbert angerufen, um ihm meine traurige Entdeckung mitzuteilen. Obwohl nun meine Theorie nicht mehr zu halten war, überlegte ich, wem ich meine Aufmerksamkeit
widmen sollte, Blunk im Raubtierhaus oder Reineke im Affenhaus. Ein Kriminalist läßt sich nicht von Gefühlen leiten. Doch ich bin auch nur ein Mensch, und mein Gefühl sagte mir, daß Reineke weniger verdächtig sei als Blunk. Während ich im Dunkeln den Hauptweg am Wassergraben hinunterlief, versuchte ich herauszubekommen, warum mir Blunk mehr und Reineke weniger verdächtig erschien. In Blunks Augen war etwas gewesen, das ich nicht zu deuten wußte. Wenn ich es als Verschlagenheit bezeichnete, tat ich ihm unrecht. Doch angesichts der veränderten Situation war es wohl sinnlos, Spekulationen anzustellen. Außerdem geschah in diesem Augenblick etwas, was meine Aufmerksamkeit fesselte. Ich kam zum Wirtschaftshof. Irgendwo plätscherte Wasser, und der Nachtwind spielte in den Zweigen. Von der Kamelwiese roch es noch stärker nach Heu, obwohl keines dort lag, davon hatte ich mich inzwischen überzeugt. Vielleicht ist es der Duft blühender Gräser, dachte ich. Da hörte ich einen dumpfen Laut, wie von einem Sprung oder Fall. Regungslos blieb ich stehen. Am Zaun, der den Wirtschaftshof umgab, sah ich dunkle Umrisse. Sie bewegten sich. Ich preßte mich eng an einen Baumstamm. Dabei fühlte und roch ich seine feuchte moosige Borke. Da war er. Ein Mann war vom Zaun herabgesprungen. Etwa derselbe, der in der vergangenen Nacht versucht hatte, über den Zaun zu steigen? Jetzt blieb keine Zeit zu überlegen. Der andere kam näher. Ich hielt den Atem an. Plötzlich mußte ich lachen. Ich bemühte mich 11
dabei, jeden Laut zu unterdrücken. Der Zwang war unwiderstehlich. Ich konnte nichts dagegen tun, er kam von einem kitzeligen Gefühl in der Magengegend. Verstecken war schon als Kind mein liebstes Spiel gewesen. Doch jetzt ging es um keinen Spaß. Wer über Zäune stieg, trug sich mit schlechten Absichten. Als der Eindringling wenige Meter von mir entfernt seinen Schritt verhielt, pirschte ich mich vorsichtig an ihn heran. Da passierte es. Unter meinem Schritt knackte ein morscher Ast laut wie ein Pistolenschuß. Der Eindringling fuhr zusammen und sprang mit langen Sätzen in die Büsche. Das Gelände war mir schon ver12
traut. Ich wußte, daß nur ein schmaler Buschgürtel vor mir lag. Dahinter kam eine Lichtung vor einem Büffel-Freigehege. Der andere kannte sich ebenfalls aus. Der Abstand zwischen uns vergrößerte sich, und mein sportlicher Ehrgeiz erwachte. Ich sprintete hinter der Schattengestalt her. Zweige schlugen mir schmerzhaft ins Gesicht. Ich achtete nicht darauf. Langsam kam ich dem Flüchtenden näher. Dann stolperte ich und schlug einen Meter und achtzig Zentimeter lang hin. Ein Känguruh hätte mich um den Satz beneidet, mit dem ich wieder auf den Beinen war. Vor mir lag der Weg, und in seiner Mitte hastete der fliehende Schatten. Endlich konnte ich meine langen
Beine ausgreifen lassen. Der Fliehende vermied die Wegkrümmungen und lief über den Rasen. Daß es Rasen war, spürte ich unter den Füßen, ich lief wie auf einem Teppich. Der Flüchtende erkannte meine Überlegenheit als Sprinter. Er schlug einen Haken und setzte mit einem mächtigen Sprung über ein Hindernis hinweg. Ich nahm ebenfalls Anlauf. Vor mir hörte ich Wasser plätschern. Der Wassergraben, der sich schlangenartig um das Büffel-Freigehege hinzog, war breiter, als ich gedacht hatte. Das wurde mein Verhängnis. Obwohl ich alle Kraft in den Sprung legte, fehlten ein paar Zentimeter zum jenseitigen Uferrand. Ich glitt an der glitschigen Böschung ab, mein linkes Bein tauchte tief in den Graben, und ich fiel lang in das flache Wasser. Naß wie eine gebadete Katze und wütend auf den Flüchtigen, stand ich da. Er blieb ebenfalls stehen und atmete keuchend. Aha, dachte ich, geht dir die Puste aus? Doch statt zum Endspurt anzusetzen, blieb ich entsetzt stehen. Da bewegten sich massige Klumpen! Der andere mußte wahnsinnig sein, er rannte direkt auf sie zu. Und dann, ich traute meinen Augen kaum, dann rannte er durch die aufgeschreckte Büffelherde. Ich zögerte. Mein Hals wurde trocken. Ich bin doch nicht verrückt und laufe durch eine Büffelherde. Der andere hat sie aufgeschreckt, und mich werden sie zertrampeln. Plötzlich wußte ich, was Herbert sagen würde, wäre er hier. „Komm, Wir jagen die Ziegen weg."
Ich mußte grinsen. Dann lief ich mit klopfendem Herzen zwischen die massigen Tiere. Heute bin ich überzeugt, daß diese erschrockener gewesen sind als ich. Von dem Flüchtenden war nichts mehr zu sehen und zu hören. Die Überzeugung wuchs in mir, daß er im Tierparkgelände gut Bescheid wußte. In flottem Tempo lief ich zum Haupteingang. Die Tür zum Verwaltungshaus stand offen. Die erste Tür rechts führte in den Raum, in welchem Henkel Nachtdienst hatte. Dort stand auch die Telefonvermittlung. Als ich mit nassen Hosen und Schuhen ins Haus lief, platschte es, als wäre ein Eisbär aus dem Bassin gestiegen. Alle verfügbaren Funkstreifenwagen unserer Inspektion wollte ich herbeitelefonieren. Es mußte mit dem Teufel zugehen, wenn es nicht gelang, den Eindringling zu stellen. Ärgerlich sah ich, daß Henkels Platz unbesetzt war. So etwas von Pflichtvergessenheit, dachte ich. Unter der Tischlampe lag ein aufgeschlagenes Buch und daneben eingewickelte Schnitten. Außerdem war da eine Schachtel mit Kautabak. Gerade als ich zum Telefon-, hörer greifen wollte, fiel eine Klappe herunter, und es summte. Es war die vierte Klappe von links, in der zweiten Reihe. Der Anrufer war jetzt unwichtig. Ich mußte die Inspektion erreichen. Dann steckte ich den Stöpsel aber doch in das Kontaktloch. Eine verzerrte Stimme rief: „Hallo!" „Ja? Wer ist dort?" „Hilfe", gurgelte es aus der Membrane, „Hilfe, ich will nicht sterben." Das war kein Spaß. Mir wurde der Hörer feucht in der Hand, und ich vergaß, daß ich mit der Inspek13
tion telefonieren wollte. Am anderen Ende der Leitung war ein Mensch in Not. Wo aber war das andere Ende? Über der Klappe stand eine unleserliche Abkürzung. Ich rief: „Hallo, melden. Sie sich. Von wo rufen Sie? Was ist passiert?" Undeutliches Stöhnen antwortete mir, dann wurde es still. Henkel weiß es, dachte ich. Ohne Zeit zu verlieren, rannte ich zum nahen Affenhaus. Sicher bot ich einen furchterregenden Anblick, als ich die Tür zur .14
Krankenstube des Schimpansen aufriß. Die Haare hingen mir wirr ins Gesicht, und vom Gürtel abwärts war ich naß wie eine Robbe. Mein Gesicht mochte wohl verraten, wie empört ich war. Henkel erhob sich schuldbewußt vom Stuhl neben dem Bett, in welchem der Affe lag. Der ehemalige Wärter senkte den Blick und wollte hinausgehen. Ich hielt ihn am Arme fest. Ehe ich ein Wort herausbrachte, sagte er: „Nepomuk muß sterben." Dabei liefen ihm zwei Tränen über die Wangen,
Mein Zorn verflog. „Schnell, es ist etwas passiert. Von wo ist die vierte Klappe von links in der zweiten Reihe?" „Raubtierhaus." Ich drehte mich um und rannte los. Hinter mir keuchten Henkel und Reineke. Vergeblich rüttelte ich an der kleinen Tür. Jetzt war sie verschlossen. Viel Zeit ging verloren, weil auch die nächste Tür sich nicht öffnen ließ. Darüber kamen Henkel und Reineke heran. Beide waren außer Atem. Wir liefen den Gang hinter den Käfigen entlang. Plötzlich wußte ich, daß es Blunks Stimme gewesen war, die ich im Telefon gehört hatte. Er lag auf seinem improvisierten Lager. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, und Schweiß rann von seiner Stirn. Henkel und Reineke standen hinter mir, als ich mich zu Blunk hinunterbeugte. Seine Augen waren fast geschlossen. Ich wußte nicht, ob er uns durch die spaltoffenen Lider sah. Mein Hirn registrierte jede Einzelheit. Den Schemel neben seinem Lager. Darauf lagen lose Pralinen, und daneben stand eine halbvolle Flasche Milch. Ein klirrendes Geräusch hinter meinem Rücken, begleitet von einem Fauchen, ließ mich herumfahren. Irina, die Leopardin, strich aufgeregt am Gitter ihres Käfigs entlang. Ich sah, daß Henkels Gesicht schneeweiß geworden war. Er hielt die Rechte an sein Herz gepreßt, und ich fürchtete, daß er schlappmachen würde. Ich legte meine Hand auf Blunks Stirn und versuchte mit dem Daumen seine Augenlider hochzuschieben. Da öffnete er selber die Augen. Mich traf ein haßvoller Blick. Er
streckte mir heftig abwehrend seine Rechte entgegen. Dann sank er auf sein Lager zurück, und die Lider senkten sich wieder über die unnatürlich geweiteten Pupillen. Was hat er gegen mich, dachte ich und lief zur Betriebswache hinauf, um endlich zu telefonieren. Den Eindringling mußte ich nun aufgeben. Ob Blunk weiß, daß ich ihm auf der Spur bin? Ärgerlich schüttelte ich die zwecklosen Gedanken ab. Der Krankenwagen und der Funkstreifenwagen, die bald vor dem Brehm-Haus hielten, erschienen mir wie notwendige Requisiten dieser turbulenten Nacht. Im Osten ging die Sonne auf. Ihr rötlicher Schein fiel zwischen die Stämme der Parkbäume und verschmolz mit dem milchigen Frühnebel. In tausend Spinnenweben glitzerte der Tau. Zaghaft erklangen die ersten Vogellaute. Papageien stritten sich quarrend. Irgendwo schackerte eine Elster. Ein dumpf röhrender Tierlaut, den ich nicht erkannte, begrüßte den neuen Tag, den Donnerstag. Vor Müdigkeit und wegen meiner nassen Hosen fröstelnd, ging ich zurück ins Raubtierhaus. Herbert würde bald hier sein. Irina lief noch immer ruhelos am Gitter hin und her. Nachdenklich sah ich auf Blunks Lager. Etwas war verändert. Ich wußte nicht, was. Erst viel später fiel es mir ein. Ein paar Stunden Schlaf und der Mokka meiner Mutter genügten, mich fit zu machen. Während ich frische Brötchen aß, grübelte ich über die vergangene Nacht nach, die ich so rasch nicht vergessen würde. 15
In der Inspektion wartete Herbert schon auf mich. Er stellte mich dem Oberleutnant Weichmann von der Mord- und Unfall-Untersuchungskommission vor. Weichmann war einen Kopf klei-, ner als Herbert und ich. Er schien ein nervöser Mensch zu sein. Ruhelos lief er in unserem Dienstzimmer auf und ab. Er erinnerte mich an Irina. Endlich setzte er sich auf meinen Platz. Da auch Herbert hinter seinem Schreibtisch thronte, blieb für mich nur der Stuhl, auf dem gewöhnlich unsere Besucher saßen. Ich fühlte mich deplaciert, und Herbert griente, weil er wußte, wie ungern ich meinen Platz abtrat. Herbert erzählte mir, was sich inzwischen ereignet hatte. Blunk lag im Krankenhaus. Er war bewußtlos und noch immer in Lebensgefahr. Aus dem Kriminaltechnischen Institut war ein Befund eingetroffen. Blunk war mit einem Arsenpräparat vergiftet worden, wie es in der Nacht zuvor aus Doktor Schönburgs Wandschrank entwendet worden war, vermutlich sogar mit dem gleichen. Oberleutnant Weichmann steckte eine Zigarette am Rest der vorherigen an und sagte: „Erstaunlich, wie unsere Chemiker aus einem winzigen Milchrest eine Analyse zaubern." Weichmann war wirklich nervös. Er hielt es auf meinem Platz nicht aus und lief die wenigen Schritte, die unser Dienstzimmer gestattete, auf und ab. Ich wechselte rasch auf meinen Platz hinüber und tat so, als hätte ich im Schreibtisch etwas zu suchen. Ich war entschlossen, nur der Gewalt wieder zu weichen. ' Übrigens, was hatte Weichmann gesagt? Winziger Milchrest? lö
Plötzlich wußte ich, was an Blunks Lager verändert gewesen war. „Kleiner Milchrest? Die Flasche war doch halbvoll. Das heißt - " Weichmann blieb vor mir stehen. „Ja?" „Auf dem Schemel neben Blunk stand die Viertelliterflasche, und sie war noch halb voll Milch. Später fiel mir auf, daß etwas verändert war. Ich kam nicht darauf, was. Jetzt weiß ich es. Die Milchflasche war leer, als ich wieder in den Käfiggang zurückkam." Herbert sah mich erstaunt an. Einen solchen Lapsus war er von mir nicht gewöhnt. Oberleutnant Weichmann lief mit seinem Notizbuch auf und ab, wie ein Lehrer beim Unterricht. „Nun ist der Widerspruch geklärt", dozierte er. „Das im Milchrest nachgewiesene Gift entspricht in seiner Konzentrierung der gestohlenen Menge, sofern diese mit einem Viertelliter Milch verdünnt wurde. Es entstand die Annahme, Blunk habe das ganze Quantum zu sich genommen. In diesem Falle hätte er nach Ansicht der Ärzte sofort tot sein müssen." Herbert sagte: „Offen bleibt, wo die restliche Milch geblieben ist." „Vielleicht", sagte ich, „wurde sie verschüttet, als man Blunk auf die Trage legte. Da war ich gerade bei •den Genossen der Funkstreife." Weichmann blieb vor meinem Schreibtisch stehen. Seinen Äußerungen entnahm ich, daß Herbert ihn mit den Einzelheiten unserer Ermittlungen vertraut gemacht hatte. Der Oberleutnant sprach so abfällig von den läppischen Diebstählen, als wären für ihn nur Todesermittlungen interessant.
„Komisch, man sieht keine Zusammenhänge. Da ist ein Dieb, der lächerliche Nichtigkeiten stiehlt, dem man aber den Giftdiebstahl nicht zutraut. Demnach gibt es einen zweiten Dieb. Beide wissen im Tierpark gut Bescheid. Dann wird ein Tierpfleger des Diebstahls bezichtigt, und man findet bei ihm tatsächlich geklautes Futter und anderes Diebesgut. Dieser Dieb paßt wieder nicht zu den anderen Delikten. Zum Donnerwetter, ist denn das Tierparkpersonal eine Räuberbande?" „Dabei haben Sie nicht den Mann • berücksichtigt, den ich in der vergangenen Nacht verfolgt habe", sagte ich. „Der kann mit einem der Diebe identisch sein", meinte Herbert. Er fügte hinzu: „Wenigstens scheint deine Annahme zu stimmen, daß Blunk der Bagatelldieb ist. Die Pralinen stammen aus einem Schreibtisch im Verwaltungsgebäude. Wo die Milch her ist, wird er uns selber sagen müssen." „Wenn er die Vergiftung überlebt", sagte Weichmann skeptisch. „Ich glaube, es gibt eine Erklärung für diese Vorgänge", sagte ich. Weichmann sah mich zweifelnd an. Ich war froh, daß ich nicht ständig mit ihm arbeiten mußte. „Die wäre?" fragte er. „Der Giftdieb glaubte, daß es sich bei dem Arsenpräparat um ein Betäubungsmittel handelte, und stahl es, um denjenigen, der die Garderobenschränke plünderte, zu überführen." „Aha", sagte Weichmann spöttisch, „er wollte den Bösewicht in einen dornröschenähnlichen Schlaf versetzen, wie?" „Jedenfalls läßt sich einiges damit erklären."
„Aber nicht alles." „Das stimmt", gab ich zu, „denn woher wußte Blunk, daß ich ihm auf der Spur war?" „Wußte er es denn?" fragte Herbert. „Wenn du gesehen hättest, wie er mich anstarrte und vor mir zurückwich, würdest du nicht daran zweifeln." Das Haus in der Massower Straße, unweit des Tierparks, sah baufällig aus. Die Fassade brauchte längst einen neuen Anputz. Doch es sollte wohl nichts mehr für eine Renovierung angewendet werden, weil der Häuserkomplex zum Abriß bestimmt war. Im ersten Stock fanden wir neben einem lädierten Klingelknopf das zerschrammte Namensschild „Blunk". Herbert drückte auf den Knopf, und es bimmelte heiser. Eine Frau mit grauem Scheitel öffnete. Nachdem wir unsere Ausweise vorgezeigt hatten, durften wir eintreten. Ihr Gesicht war von Kummer gezeichnet. Frau Blunk führte uns in ein behagliches Wohnzimmer. Auf dem Flur tappten Schritte, und ein Mann Ende Fünfzig, in der Uniform eines Eisenbahners, trat ins Zimmer. Man sah an der Ähnlichkeit, daß es Blunks Vater war. Er müsse zum Dienst, sagte er, und ermahnte seine Frau, alles zu sagen. „Alles", betonte er, und sie nickte mit dem Kopf. Als wir darum baten, führte sie uns wortlos in das Zimmer ihres Sohnes. Es verriet ihre ordnende Hand, aber wenig von seinem Bewohner. Dagegen war schon der erste Schub, den wir aufzogen, aufschlußreich für uns. Er enthielt ein Sammelsurium zusammengetrage17
ner Nichtigkeiten. Bleistifte und Reste von solchen sowie Kugelschreiber lagen bunt durcheinander. Frau Blunk lächelte zaghaft, als sie sagte: „Er sammelt den unnützen Kram." Herbert und ich sahen uns an. Wir mußten der alten Frau den Sachverhalt schonend erklären. Schließlich konnte man die Methode, mit der ihr Sohn das Zeug zusammentrug, nicht gut als Sammeln bezeichnen. Im zweiten Schub lag das Diarium, aus dem die Seite herausgerissen war, auf der die Bezichtigung stand: „Schimski ist der Dieb!" Der abgerissene Rand paßte. Wie in vielen ähnlichen Fällen fand Herbert auch hier die richtigen Worte. Frau Blunk weinte leise. Wir ließen ihr Zeit, sich zu beruhigen. Dann erzählte sie von ihrem Sohn. Er war ein Nachkömmling. Als er geboren wurde, hatte der Krieg gerade angefangen. Frau Blunk war damals schon Mitte Dreißig gewesen. Der Junge war seinen Altersgenossen geistig unterlegen. Die ersten Schuljahre erlebte er unter den schweren Bedingungen der Nachkriegszeit. Der Vater kam zwei Jahre nach dem Krieg aus der Gefangenschaft. Er war in belgische Kohlengruben verpflichtet gewesen. Der Junge blieb unter der durchschnittlichen Intelligenz. Zu einem Lernberuf reichte es nicht. Er wechselte häufig seine Arbeitsstelle, da man ihn hänselte. Am längsten blieb er bei einem Kohlenhändler, weil er dessen Pferd betreuen durfte. Er liebte Tiere. „Ob er früher schon Diebstähle begangen hat?" wiederholte Frau Blunk Herberts Frage. 18
Sie sah auf die Tischdecke mit den gestickten Blumenmustern. Ihre verarbeiteten Hände mit den herausquellenden Adern lagen gefaltet darauf. „Nein, gestohlen hat er nicht. Jedenfalls nicht, um sich zu bereichern." Warum schränkte sie die Feststellung des ersten Satzes mit dem zweiten wieder ein? „Wenn so etwas passiert ist, dann nur, weil man ihn geärgert hat", ergänzte sie. Herbert und ich wechselten einen raschen Blick. Unsere erste Vermutung bestätigte sich also. Herbert fragte: „Frau Blunk, befindet sich Ihr Sohn in ärztlicher Behandlung?" Sie nickte und nannte die Adresse eines Nervenarztes. „Wird man ihn entlassen?" ihre Augen hingen ängstlich an Herberts Gesicht. „Wir wollen erst abwarten, daß er gesund wird", antwortete Herbert ausweichend. Mit ein paar tröstenden Worten verließen wir die alte Frau. Wir trafen Doktor Vanselow in seiner Praxis. Als er hörte, daß es um Blunk ging, fragte er: „Hat er was angestellt?" „Wieso vermuten Sie das?" fragte Herbert zurück. Der Arzt sagte unbestimmt: „Er ist gutmütig wie ein Kind, aber wenn er geärgert wird —" Nach Herberts Aufforderung gab uns der Arzt ein aufschlußreicheres Bild als Blunks Mutter. Der geistig Zurückgebliebene führte ein normales Leben, besonders seit er vor einem Jahr im Tierpark die Stelle als Hilfsarbeiter bekommen hatte und bald darauf zum Pflegepersonal übernommen worden war. Doch seine Kollegen fingen an, ihn wegen seiner Naivität
zu necken. Er wehrte sich auf seine V/eise, so motivierte es Doktor Vanselow, und stahl den Kollegen allerhand Nichtigkeiten, um sie zu ärgern. Als wir zur Inspektion zurückfuhren, sagte Herbert: „Die Diebstähle der vergangenen Monate sind geklärt. Nur mit dem Giftdiebstahl sind wir keinen Schritt weitergekommen." Ich konnte endlich die Vermutung äußern, mit der ich mich schon einige Stunden herumtrug. „Was halst du davon, daß Czymanski das Gift stahl, um Blunk eins auszuwischen? Vielleicht wußte er, daß Blunk ihn bezichtigt hatte." „Das ist doch nicht dein Ernst", sagte Herbert, „das wäre ja ein Mordversuch. Nee, mein Lieber, bleib mal auf dem Teppich." „So abwegig ist mein Verdacht doch gar nicht", sagte ich störrisch. „Von mir aus klopfe Czymanski daraufhin ab. Du weißt seine Adresse?" „Natürlich", sagte ich. „Also gut. Nimm den Wagen, fahr hin und unterhalt dich mit ihm. Ich lasse dir gern den Ruhm, einen Mörder entlarvt zu haben. Bis nachher." Herbert stieg aus und ging zu Fuß zur Inspektion. Die Laubenkolonie „Dohlengrund" zog sich am Bahndamm entlang. Der Hauptweg war für Motorfahrzeuge gesperrt. Ich stellte den Wagen draußen ab und lief den schwarzen Schlackeweg hinunter. In regelmäßigen Abständen zweigten rechts und links Nebenwege ab. Ich hatte mir auf der Orientierungstafel am Eingang der Kolonie den Weg eingeprägt und fand Czymanskis Parzelle leicht.
Der sauber gepflegte Vorgarten mit dem Beet helleuchtender Rosen gefiel mir. Das Häuschen war aus Steinen erbaut. Czymanski war Dauerbewohner, das heißt, er besaß keine Stadtwohnung. Alles war in fröhlichen Farben gehalten und machte einen anheimelnden Eindruck. Selbst die Erdbeeren schienen mir von einem kräftigeren Rot als anderswo. Czymanski wurde blaß, als er mich sah. Er war allein zu Hause und murmelte, seine Frau sei im Dienst und die Kinder im Ferienlager. „Kommen sie wegen dem Futter?" fragte er beklommen. Ich ließ die Frage offen. Wir setzten uns in die Veranda. Die schwarzweiße Katze, die sich auf der Bank sonnte, schien von meiner Anwesenheit ebenfalls nicht erbaut. Sie erhob sich, machte einen krummen Buckel, sprang auf den Boden hinab und verschwand mit wiegenden Schritten im Garten. In Czymanskis Stimme lag Besorgnis. Dabei hatten wir uns doch über die Futtergeschichte ausgesprochen. Was fürchtete er noch? Bestand mein Verdacht zu Recht? Hatte er etwas mit dem Giftdiebstahl zu tun? „Wissen Sie, daß Blunk im Krankenhaus liegt?" „Ich weiß." Er preßte die Lippen zusammen. „Woher wissen Sie es?" „Heute morgen war ich in der Kaderabteilung. Sie hatten mich hinbestellt." Er fügte bitter hinzu: „Aus dem Pflegedienst bin ich raus." „Was tun Sie jetzt?" „Gartenarbeit." „Was sagen Sie zu Blunks Vergiftung?" 19
Czymanski sah zu Boden. „Ich weiß nicht. Da wird viel erzählt. Es stimmt also?" „Wissen Sie das nicht selbst?" „Nein. Woher?" „Hatten Sie Streit mit Blunk?" „Streit?" Czymanski zog das Wort in die Länge. Nachdenklich musterte er seine Fingernägel. „Streit kann man das nicht nennen." „Was war es dann?" „Na ja, das ist nicht richtig. Es tut mir jetzt auch leid. Aber wer von uns hat ihn nicht schon mal auf die Schippe genommen?" „Den Blunk?" „Ja." „Was verstehen Sie unter auf die Schippe nehmen?" „Mal einen Spaß machen. Aber daß er so rachsüchtig ist." „Wieso rachsüchtig, Herr Czymanski?" „Na, mit dem Zettel hat er mich doch angeschmiert, daß ich der Dieb bin." Allmählich ging er aus sich heraus. „Woher wissen Sie das?" „Ist doch klar. Wenn er die Pralinen geklaut hat, dann hat er sich auch alles andere unter den Nagel gerissen. Also konnte nur er mir die Sachen zustecken. Er wußte auch, daß ich manchmal Karnickelfutter mitnehme." „Büffelfutter", korrigierte ich. „Und wofür wollte er sich rächen?" fragte ich weiter. In Czymanskis Augen glomm ein verstecktes Grinsen. Er ähnelte in diesem Augenblick eher einem halbwüchsigen Jungen als einem erwachsenen Mann. Er sagte: „Ich hatte seine Gummistiefel voll Wasser geschüttet." Nur mit Mühe konnte ich ernst bleiben. Der Gedanke, Czymanski 20
habe Blunk vergiftet, erschien mir plötzlich absurd. Ich sagte: „Zeigen Sie mir doch mal Ihre Karnickel." Er sah mich verblüfft an. Dann führte er mich zu den Ställen. Als ich ihm sagte: „Ich habe als Junge auch Kaninchen gezüchtet", machte es ihm Spaß, seine Riesenschecken zu zeigen. Die Tiere waren ausgezeichnet gepflegt. Ich nahm ein Jungtier auf den Arm und sagte: „Das Büffelfutter bekommt ihnen!" Czymanski schluckte verlegen. Dann sprach ich den Gedanken aus, der mir unablässig durch den Kopf ging. Wem war es eher zuzutrauen, mitten durch eine Büffelherde zu laufen, als dem Wärter, der die Tiere betreute? „Warum sind Sie mir in der Nacht davongelaufen?" „Sie haben mich erkannt?" fragte er und machte keinen Versuch, es abzustreiten. Das kam mir unerwartet. „Natürlich", sagte ich. „Deshalb sind Sie hier?" „Was wollten Sie nachts im Tierpark?" Czymanski schwieg. Ich ließ ihm Zeit. Doch auf seine folgende Frage war ich nicht gefaßt. „Sind Sie — sehr naß geworden?" Wollte er mich veralbern? Doch er sah mich eher ängstlich an, und in seinem Gesicht war nichts von Spott. „Es geht", sagte ich widerwillig. „Sie freu'n sich wohl darüber?" Er schüttelte ernsthaft den Kopf. „Es tut mir leid." Dann fügte er hinzu: „Aber daß Sie mir mitten durch die Herde nachgelaufen sind, Donnerwetter." Seine Stimme verriet Anerkennung. Ich hätte mich ohrfeigen können, daß ich auch noch rot wurde. Ziemlich barsch fragte ich: „Nun raus
mit der Sprache. Was wollten Sie?" „Den anderen Beutel." „Was?" „Ich habe noch einen Beutel versteckt. Bevor man ihn findet, wollte ich ihn ausschütten. So, nun wissen Sie's. Nun komme ich bestimmt nicht mehr zu meinen Büffeln zurück." „Haben Sie schon in der Nacht vorher über den Zaun zu klettern versucht?" „Ja." „Wo ist der Beutel versteckt?" „Im Büffelhaus, hinter der Futterkiste." „Ich werde nachsehen, ob das Zeug wirklich nur aus dem Trog zusammengefegt ist. Das sieht man doch, nicht wahr?" „Natürlich."
„Am besten schütte ich den Kram dann wieder den Büffeln hin, was? Vielleicht fressen die Biester es jetzt?" Czymanski schluckte und nickte heftig, Ich drückte ihm sein Karnickel in den Arm und ging. Als ich mich an der Wegkreuzung umdrehte, stand er noch immer vor seinem Gartentor und sah mir nach. Während ich noch einmal zum Tierpark fuhr, war ich unzufrieden mit mir. Ich war im Begriff, etwas Dummes zu tun. Was ging mich der Beutel an, den Czymanski hinter der Futterkiste versteckt hatte? Warum war er nicht gleich mit der ganzen Wahrheit herausgekommen ? Doch ich konnte nichts machen, er tat mir leid. Kürzlich erst hatte Herbert ge2t
sagt: „In unserem Beruf müßte man kalt sein wie eine Hundeschnauze." Dann hatte er geseufzt. „Ich kann's nicht und du auch nicht." Was sollte ich lange überlegen? Bestimmt verstieß ich gegen eine Dienstvorschrift. Schade, ich wußte nicht gegen welche. Aber wenn ich nicht half, kriegte es Czymanski noch fertig, sich vollends in strafbare Handlungen zu verstricken. Diesmal mied ich den Haupteingang und benutzte den Parkplatz am Bärenschaufenster. Von hier aus war es auch näher zum Büffelhaus. Der Zugangsweg war für das Publikum gesperrt. Das war für mich kein Hindernis. Ich stieg über die Sperrkette hinweg. Bis zu dem Blockhausbau waren es gute fünfzig Schritte. Trotz des hellen Sonnentages herrschte im Innern des Hauses dämmriges Zwielicht. Rechts stand die Futterkiste mit dem schrägen Deckel. Fast kam ich mir selber vor wie ein Dieb, als ich vorsichtig in den Spalt zwischen Kiste und Wand griff. Ich fühlte einen prallen Beutel, ähnlich dem, der in unserem Asservatenraum lag. Mochte der Teufel wissen, warum wir ihn mitgenommen hatten. Ich zog den Beutel hervor und war ratlos. Wo sollte ich mit ihm hin? In meine Hosentasche paßte er nicht. Prüfend betrachtete ich den Inhalt. Czymanski hatte nicht gelogen. Den Futterresten sah man an, daß sie zusammengefegt worden waren. Bis zu dem hölzernen Trog am Freigehege waren es noch einmal zwanzig Schritte, und sie kamen mir endlos lang vor. Als ich gerade dabei war, den Beutel auszuschütten, fragte jemand hinter mir: „Was mache/! Sie denn da?" Er sah schneidig aus mit seinen 22
Breecheshosen, den Reitstiefeln und der silbernen Kordel über dem Mützenschirm. Nanu, dachte ich, gibt es hier einen General? „Sehen Sie doch", sagte ich, „ich füttere die Büffel." Mein Dienstausweis beruhigte ihn sofort. „Entschuldigen Sie, ich konnte ja nicht wissen —" Ich winkte ab. „Woher auch." Er ahnte nicht, wie ungelegen er mir gekommen war. Aufmerksam besah er sich den Inhalt des Beutels. Ich war ihm eine Erklärung schuldig und sagte: „Das hatte sich Czymanski unter den Nagel gerissen für seine Karnickel." Der General nickte. „Ich weiß, das hatten Sie beschlagnahmt." Er sprach das Wort „beschlagnahmt" so gewichtig aus, als handele es sich um einen Zentner Bohnenkaffee. Unbehaglich dachte ich an den Zwillingsbeutel im Asservatenraum, von dem er sprach. „Wenn Sie mich fragen", sagte der General, „ob das Zeug weggeschmissen wird oder Czymanski nimmt es für seine Karnickel, das ist doch Wurscht." Ich sah ihn streng an und sagte: „Na hören Sie mal, wenn alle so denken, wo kämen wir da hin?" „Gewiß, gewiß", versicherte er, „aber deswegen braucht man ihn nicht gleich als Tierpfleger abzulösen. Schimski gehört zu den besten." Kopfnickend gab ich zu verstehen, daß ich seine Meinung teilte. „Na ja," sagte der General, „das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Morgen früh um sechs ist Brigadeversammlung. Seine Kollegen verlangen, daß er in den Pflegedienst zurückkommt." „Wann? Um sechs?" Der General nickte. —
In der Inspektion traf ich Herbert nicht mehr. Er hatte es heute eiliger gehabt als sonst. Ich erinnerte mich, daß er von einer Familienfeier gesprochen hatte. Am liebsten wäre ich nach Hause gegangen, ich war müde. Kein Wunder, nach den wenigen Stunden Schlaf. Es kostete Überwindung, mich an die Maschine zu setzen und den Tagesbericht zu tippen. Darin verstand Herbert keinen Spaß. Der Tagesbericht gehörte zum Dienstschluß wie das Feierabendläuten zum Kloster. Später, ich stand schon an der Haltestelle, schien es mir doch angebracht, ein paar Worte mit meinem Vorgesetzten zu reden. In der Telefonzelle wählte ich seine private Rufnummer. Es dauerte lange, bis er sich meldete, und dann erschwerten Nebengeräusche unsere Verständigung. Sie kamen nicht aus der Leitung, sondern aus Herberts Wohnung. Musik und Gelächter. „Was ist denn los", fragte er. Seine Zunge schien ihm Schwierigkeiten zu bereiten. ,.Ach, laß man", sagte ich und ärgerte mich, daß ich ihn gestört hatte. „Hör mal", sagte er, „wenn du Durst auf ein Glas Bier hast, dann komm her." Seine Stimme klang besorgt, als er fragte: „Oder ist was los?" „Nichts Besonderes. Wahrscheinlich habe ich eine Dummheit gemacht, aber darüber können wir ja morgen reden." „Na also", sagte er, „tatsächlich nichts Besonderes." Ehe er auflegte, sagte ich noch: „Morgen früh um sechs will ich im Tierpark sein. Da ist Brigadeversammlung."
„Gute Idee", sagte Herbertj „komm aber nicht zu spät zum Dienst. Tschüs." •/ Du machst mir Laune, dachte ich* als wenn ich zum Vergnügen hinginge. Laut sagte ich: „Viel Spaß noch." Und hängte ein. Zehn Minuten vor sechs war ich im Tierpark. Henkel war nicht am Haupttor, obwohl sein Dienst bis sechs Uhr dauerte. An seiner Stelle traf ich einen Kollegen, den ich noch nicht kannte. Im Park herrschte geschäftiges Treiben. Überall wurde gefegt, gesäubert und Unmengen Wasser aus Schläuchen verspritzt. Ein kleiner, gummibereifter Wagen, von einem Pony gezogen, bog in den Weg zum Affenhaus ein. Auf der Ladefläche stand eine flache Kiste mit geschnittenem Weißbrot, Möhren und Äpfeln. Affe müßte man sein, dachte ich, denn in den Gemüseläden gab es schon lange keine Äpfel mehr. Ich fragte den Kutscher, wie es Nepomuk gehe. Er konnte es mir nicht sagen. Wie von einem Magnet angezogen strebten die Tierpfleger wenige Minuten vor sechs zum Kulturraum hinüber. Ich schloß mich ihnen an. Meine Geduld wurde auf die Probe gestellt. Es dauerte einige Zeit, bis die Versammlung begann. Auch hier bestimmten die Bedürfnisse der Tiere den Zeitplan. Endlich war es soweit. Zuerst ging es um interne Dinge, um Urlaubszeiten und um die Aufteilung einer Prämie. Eine Tierpflegerin wurde zu einem Qualifizierungslehrgang delegiert. Dann erst wurde von Czymanski und seinem Karnickelfutter gesprochen. Es war eine Freude zu hören, 23
wie seine Kollegen für ihn eintraten. Der anwesende Kaderleiter versicherte schließlich, daß er Czymanski in den Pflegedienst zurückversetzen werde, da die Brigade für ihn bürge. Dann kam der Pferdefuß. Der kluge Kaderleiter sicherte sich, indem er seine Entscheidung davon abhängig machte, daß das Ermittlungsverfahren der Volkspolizei gegen Czymanski eingestellt werde. Nun war ich dran. Jetzt paß auf, dachte ich, eine Dummheit genügt. Ich sagte: „Das Ermittlungsverfahren gegen Czymanski wegen Diebstahl wird eingestellt, soweit es die Futterreste betrifft." Dabei dachte ich an Herbert und daran, was er dazu sagen würde, daß ich seiner Entscheidung vorgegriffen hatte. Doch ich war überzeugt, daß er mir nicht in den Rükken fallen würde. Außerdem galt meine Zusicherung nur für den Diebstahl der Futterreste. Der Giftdiebstahl wurde davon nicht berührt. Ich war zwar überzeugt, daß Czymanski nichts damit zu tun hatte, aber in unserem Beruf muß man auch mit unliebsamen Überraschungen rechnen. Wir sind mehr als einmal enttäuscht worden. In der Versammlung wurde es plötzlich lebendig. Jemand hatte den Namen Blunk genannt. Die Reaktion darauf war unterschiedlich. Es gab empörte Zwischenrufe, andere bedauerten ihn. Der Brigadier bat mich um meine Stellungnahme. Jetzt sei vorsichtig, Heinz, dachte ich, hier hört der Spaß auf. In dieser Geschichte stecken wir noch mittendrin. „Liebe Kollegen", sagte ich, und es wurde mäuschenstill. „Zunächst muß ich leider bestätigen, daß der 24
Kollege Blunk noch immer in Lebensgefahr schwebt. Zu seiner Vergiftung kann ich nichts sagen, das werden Sie einsehen. Es handelt sich um ein schwebendes Ermittlungsverfahren. Wer von Ihnen diesbezügliche Wahrnehmungen gemacht hat, den bitte ich, sie zu äußern. Das kann vertraulich geschehen." Ich bin kein guter Redner. Doch da diese Sache alle interessierte, hörte man mir zu. „Blunk ist der gesuchte Bagatelldieb. Er hat wirklich nur Nichtigkeiten gestohlen." An dieser Stelle brandete Empörung auf. Ich winkte energisch ab. Mein nächster Satz schockierte sie alle. „Schuld an den Diebereien ist nicht Blunk, schuld sind Sie." Zuerst war es still. Man hätte die viel zitierte Stecknadel zu Boden fallen hören. Dann gab es Protest. „So ist es richtig", rief einer, „Blunk klaut, und wir sind schuld." Ich nahm den Zwischenrufer beim Wort. „So ist es." Was ich in den folgenden fünf Minuten sagte, war kein Schriftdeutsch. Trotzdem verstanden sie mich, ich sah nachdenkliche Gesichter. Der Beschluß, Blunk die Diebereien nicht nachzutragen und in Zukunft ein echtes kollegiales Verhältnis zu ihm herzustellen, war jedoch verfrüht, fand ich. „Noch wissen wir nicht, ob Kollege Blunk die Vergiftung überleben wird", sagte ich. Ziemlich bedrückt gingen sie auseinander. Als ich in die Inspektion fuhr, fühlte ich mich nicht sehr wohl in meiner Haut. Herbert war noch nicht da. Mir blieb Zeit, alles noch einmal zu überdenken. Ich kam zu
dem Ergebnis, daß ich richtig gehandelt hatte. Auch heute würde ich Czymanski aus der Patsche helfen. Herbert kam. Er sah blasser aus als sonst. Vorsorglich holte ich eine Kopfschmerztablette aus dem Bereitschaftsraum und stellte wortlos ein Glas Wasser vor ihn hin. Herbert sah abwechselnd die Tablette, mich urid das Glas Wasser an. Dann griff er seufzend an seinen Kopf und sagte: „Wodka." Etwa zehn Minuten wartete ich, ehe ich mit der Sprache herausrückte. So lange dauerte es, bis die Tablette wirkte. Vorher rief ich im Krankenhaus an. Die Auskunft betrachtete ich als ein gutes Omen für den heutigen Tag. Die Schwester vom Dienst sagte, Blunk hätte eine gute Nacht gehabt. Es bestehe keine Lebensgefahr mehr. Allerdings sei er in den nächsten Tagen noch nicht vernehmungsfähig. Das war nicht gut, wenn ich an Oberleutnant Weichmann dachte, der unseren Bericht erwartete. Aber ich freute mich, daß Blunk leben würde. Inzwischen hatten sich die Falten auf Herberts Stirn geglättet. Ich konnte reinen Tisch machen. Zuerst berichtete ich von der Brigadeversammlung. Herbert brummte zufrieden. Ich hatte mit dem Komplex Blunk begonnen. Das spricht zwar nicht für meine Courage, aber auch andere lassen das Unangenehme bis zuletzt. Ich hätte mich umsichtig verhalten, sagte Herbert. Er wußte nicht, wie voreilig er war. Er fand auch den Brigadebeschluß gut, daß Czymanski in den Pflegedienst zurückkehrte und das Kollektiv für ihn bürgte. „Unvorstellbar", sagte Herbert,
„daß so etwas vor zehn Jahren möglich gewesen wäre. Eine Brigade übernimmt die Bürgschaft für ihren Kollegen, und die Ermittlungsbehörde kann beruhigt ihren Segen dazu geben, weil die Kraft des Kollektivs Strafmaßnahmen
erübrigt" „Das habe ich getan", sagte ich erleichtert. „Was?" „Unseren Segen dazu gegeben," „Du mußt schon deutlicher werden", sagte Herbert. „Da war nämlich ein Haken an der Geschichte." „Aha." „Die Voraussetzung, unter welcher der Kaderleiter in die Rückversetzung einwilligte, war, daß wir das E-Verfahren gegen Czymanski einstellen. Natürlich nur", fügte ich rasch hinzu, als ich Herberts gerunzelte Stirn sah, „soweit es den Diebstahl des Futters angeht," „Du hast eigenmächtig —" >,- ja." Einen Augenblick war es still im Zimmer. Zwei Seelen rangen in Herberts Brust. Nicht lange, dann siegte der Mensch über den Vorgesetzten. „Na schön", sagte er, „wahrscheinlich hätte ich es auch getan. Es handelt sich ja wirklich nur um eine Lappalie." „Na eben", sagte ich schnell, „hier geht es überhaupt nur um Lappalien. Außer dem Giftdiebstahl natürlich." „Ich verstehe bloß eins nicht", sagte Herbert und sah mich nachdenklich an, „als du mich gestern abend angerufen hast, war ich doch noch nüchtern." Ich hustete diskret, und Herbert verbesserte sich: „Noch ziemlich nüchtern. Wieso hast du mir 25
gestern abend schon von deiner Dummheit erzählen können, wo die Versammlung erst heute morgen war?" Ich holte tief Luft. „Das ist doch ganz was anderes, Herbert." „Allmächtiger", sagte er, „nun aber raus mit der Sprache!" „Ich habe ganz stikum das Futter aus Czymanskis Beutel den Büffeln in den Trog geschüttet." „Ach so. Einverstanden. War überhaupt Unsinn, daß wir es mitgenommen haben." „Das denke ich auch. Bloß —" „Ja?" „— es war nicht das aus dem Asservatenraum." „Nicht? Welches dann? Verdammt, nun erzähl endlich." Das tat ich. Dabei vermied ich es, Herbert anzusehen. Eine Weile war es still, dann sagte er: „Du bist vielleicht ein Heini. Läßt dich dabei erwischen. Der Beutel im Asservatenraum ist also —" „— übrig." Herbert warf mir den Schlüssel herüber, und sagte: „Schütte das Zeug auf dem Hof in die Futtertonne." Als ich von dieser Exkursion in unser Dienstzimmer zurückkehrte, hatte Herbert seine Predigt zurechtgelegt. Er begann: „Paß auf, mein Lieber!" Das war bedenklich. Wenn Herbert mir wohlgesonnen war, sagte er „mein lieber Heinz". Sagte er nur „mein Lieber", dann war die Sache faul. „Damit zwischen uns Klarheit herrscht. In Zukunft wirst du .. ." Ich habe nie erfahren, was ich in Zukunft tun sollte. Oberleutnant Weichmann trat ins Zimmer. Es war der erste sympathische Zug, den ich an ihm entdeckte. Ehe er sich auf meinen Platz setzen 2G
konnte, nahm ich diesen selbst ein. Weichmann war unzufrieden. Er ließ durchblicken, daß es besser gewesen wäre, man hätte uns den Giftfall aus der Hand genommen. Herbert ließ sich nicht die Butter vom Brot nehmen. Er berichtete, daß zwei der Vorkommnisse im Tierpark, die Bagatelldiebstähle und der Futterdiebstahl Czymanskis, aufgeklärt waren. Weichmann winkte ab. „Sie schießen doch mit Kanonen nach Spatzen. Das ist, als wenn die Feuerwehr zuerst den Brand in der Toilette löscht" — er drückte sich viel ordinärer aus —, „und dann erst die Scheune." „Blunk ist außer Lebensgefahr. In zwei, drei Tagen kann er uns alles erklären", sagte Herbert. „In zwei, drei Tagen?" Weichmann wiederholte das so empört, als hätte Herbert von zwei, drei Jahren gesprochen. „Morgen will der Alte den Abschlußbericht haben, verehrter Genosse." Als Weichmann eine Zigarette angesteckt hatte, wurde er ruhiger und hörte auf, den wilden Mann zu spielen. Etwas versöhnlicher sagte er: „Der Fehler scheint mir zu sein, daß Sie alle Fälle haben durcheinanderlaufen lassen, anstatt die einzelnen Delikte zu trennen." „Sie verwechseln mich mit einem Filmregisseur", sagte Herbert. „Als Filmregisseur hätte ich die Fälle übersichtlicher abgedreht, das stimmt. Aber ich bin Kriminalist. Die Fälle sind ineinander verquickt, und wir müssen sie entwirren." Gut der Mann, dachte ich. Der Vergleich schien mir treffend. Weichmann grinste und sagte: „So meinte ich es nicht, aüer ss war von Anfang an klar, daß der
Bagatelldieb nicht mit dem Giftdieb identisch ist. Warum sollte er Gift stehlen, einen Selbstmord arrangieren und dann um Hilfe rufen?" „Es ist schon mancher in selbstmörderischer Absicht ins Wasser gesprungen und hat dann um Hilfe gerufen", erwiderte Herbert schlagfertig. Bravo, dachte ich, die Tablette hat wirklich geholfen. Sein Kopf ist wieder klar. „Dennoch gehören die Fälle zusammen", sagte ich. Zwar war Weichmann erschienen und hatte mir dadurch aus der Patsche geholfen, aber ich konnte seine arrogante Art nun einmal nicht leiden, obwohl er eine versteckte humorige Ader zu haben schien. Vielleicht lohnte es sich, sie aufzuspüren? „Warum ist Blunk mir gegenüber so voller Haß gewesen?" fragte ich. „Doch nur, weil er gewußt hat, daß ich ihm auf der Spur bin." „Moment mal, Heinz", sagte Herbert, „das ist ein Punkt, über den ich mit dir noch einmal sprechen wollte. Weißt du genau, daß sein Haß, wie du es ausdrückst, dir gegolten hat?" Einen Augenblick war ich sprachlos. „Na höre mal", sagte ich, „ich muß doch wissen —" aber Herbert ließ mich nicht ausreden. Er hatte meine Schilderung noch genau im Kopf. „Ihr war't drei, wenn ich mich recht erinnere." Weichmann war plötzlich gar nicht mehr nervös. Zum ersten Male sah ich in seinem Gesicht gespannte Aufmerksamkeit. Er erinnerte an unseren Diensthund Axel, wenn man dem sagte: „Paß auf!"
„Rekonstruieren wir die Szene", sagte Weichmann. Na gut, dachte ich. Mir machte die Sache Spaß, obwohl sie ernst genug war. Ich zeigte auf den Schreibtisch. „Das ist der Käfig." „Der mit dem komischen Leoparden", ergänzte Weichmann. Ich wußte nicht, was er an Irina komisch fand, wollte ihm aber nicht widersprechen. Er legte Wert darauf, daß unser Rangunterschied nicht verwischt wurde. Ich nahm einen Stuhl und legte ihn auf den Boden. „Das ist Blunk." Dann stellte ich mich davor auf. „Hinter mir standen Reineke und der alte Henkel." „Wo standen die?" Weichmann wollte es genau wissen. „Ich bin Reineke", sagte er und, auf Herbert deutend, „Sie sind der alte Henkel." Ich stellte beide so auf, wie ich es in Erinnerung hatte. „Sage mal", fragte Herbert, „woher weißt du das so genau? Du hast doch hinten keine Augen?" Jetzt mußte ich mich wirklich konzentrieren. „Doch, Herbert. Gewissermaßen ja. Wenn ich mich zu Blunk hinunterbeuge, sehe ich gleichzeitig die Hosenbeine der hinter mir Stehenden." „Na gut, ich erinnere mich aber, daß du gesagt hast, der alte Henkel wäre einer Ohnmacht nahe gewesen. Hast du das an seinen Hosenbeinen gesehen?" „Natürlich nicht. Jetzt erinnere ich mich. Hinter mir war plötzlich ein Geräusch. Ich habe mich umgedreht. Es war Irina, die an das Gitter geschlagen und gefaucht hatte. Dann habe ich mich wieder Blunk zugewendet und —" „— Moment", unterbrach mich 2?
Weichmann, „das wollen wir genau festhalten. Wissen Sie sicher, wie Reineke und Henkel gestanden haben?" Ich nickte und korrigierte ihre Stellung. Henkel stand hinter mir, daneben Reineke. „So standen sie, als ich mich zu Blunk hinunterbeugte. Ich legte ihm meine Hand auf die Stirn und wollte mit dem Daumen seine Augenlider hochschieben, um zu sehen, ob er überhaupt noch —" „— na und?" unterbrach mich Weichmann ungeduldig. Mit seinen Nerven war wohl doch nicht viel los. „Er lebte", sagte ich. „Das wissen wir." „Na ja, in diesem Augenblick machte Blunk die Augen auf und sah mich derart haßvoll an, daß ich —" ,.— schon gut", sagte Weichmann, „Sie leben ja auch noch". Nachdem ich den Stuhl aufgestellt und wir unsere Sitzplätze wieder eingenommen hatten — Weichmann nahm diesmal gleich auf dem Besucherstuhl Platz —, sagte Herbert: „Es ist wohl sicher, daß der Bück und die Geste nicht dir gegolten haben. Woher sollte Blunk wissen, wer du bist? Sein Haß galt Reineke oder Henkel." „Der Grund ist auch klar", meinte Weichmann. „Ja", sagte Herbert, „Blunk wußte, wer von beiden, Reineke oder Henkel, an seinem Zustand schuld war." Bei mir war der Groschen gefallen. „Du meinst, Blunk wußte, wer von den beiden ihn mit der Milch vergiften wollte?" „Das habe ich nicht gesagt. Blunk ahnte nur, daß die Milch, die er U
getrunken hatte, vergiftet gewesen war. Allerdings wußte er, wem er sie geklaut hatte. Reineke oder Henkel." Da riß es mich vom Stuhle hoch. Herbert sah mich mißbilligend an. Meine spontanen Emotionen sind ein Zeichen mangelnder Selbstbeherrschung, zwar mit meiner Jugend zu entschuldigen, wirken sich aber auf meine Arbeit als Kriminalist nachteilig aus. Ich habe ihn wörtlich zitiert. Weichmann kam meinen Gedankengängen recht nahe. Er sagte: „Was hatten die beiden,mit vergifteter Milch zu schaffen?" „Ich glaube", sagte ich aufgeregt, „ich weiß, wem die vergiftete Milch gehörte." „Das ist fein", sagte Weichmann spöttisch. „Reineke." „Reineke?" fragten beide, und Herbert fügte hinzu: „Wie kommst Du auf Reineke?" Mir stand die Nacht im Tierpark wieder deutlich vor Augen. Zuerst war ich ins Affenhaus gegangen. Ich sah Reinekes Gesicht vor mir und wiederholte seine Worte: „Wenn er die nächsten Tage übersteht, wird die bösartige Geschwulst operiert", hatte Reineke gesagt und dann: „Eine unnötige Quälerei. Bei seiner Mutter hatdie Operation auch nicht geholfen." Weichmann war der Spott vergangen, und Herbert wiederholte nachdenklich: „Eine unnötige Quälerei. Das wäre ein Motiv —" „ — den Giftschrank in der Schlangenfarm aufzubrechen", fuhr Weichmann fort, „um Nepomuk weitere Qualen zu ersparen!" beendete ich den Kollektivsatz. Oberleutnant Weichmann stand von seinem Platz auf. Er nahm
seine Brieftasche heraus, und während er etwas suchte, sagte er: „Na endlich, jetzt kommen wir der Sache näher." Dann wandte er sich an mich und fragte: „Benutzt Reineke Kautabak?" „Keine Ahnung", sagte ich. Weichmann fand, was er suchte. Es war der Untersuchungsbefund des Kriminaltechnischen Instituts. Leise und schnell las er: „— handelt es sich um eine handelsübliche Viertelliterflasche, wie sie vom VEB Milchhof zur Abfüllung von Frischmilch verwendet wird. — Aha, hier ist es: Äußerer Zustand der Flasche. Unbrauchbare Fingerspuren. Ein mikroskopisch erkennbarer Rückstand von einer klebrigen Masse konnte als Kautabakrest erkannt werden. Die Flasche ist mit Kautabak oder der Verpackung von solchem in Berührung gekommen." „Reineke war es nicht", sagte ich, und diesmal war ich meiner
Sache sicher. „Henkel priemt. Benutzt Kautabak", verbesserte ich mich. „Als er bei Nepomuk im Affenhaus war, hab ich auf seinem Platz am Klappenschrank neben einem aufgeschlagenen Buch und den Brotschnitten ein Schächtelchen Kautabak gesehen." „Hm", machte Weichmann. „Ich erinnere mich auch", sagte ich, „daß Henkel im Raubtierhaus etwas aus einem Stückchen Papier wickelte und in den Mund steckte. „Vielleicht einen Bonbon", sagte Herbert. Nachdem uns Henkel in seine kleine Wohnung eingelassen hatte, war seine erste Frage: „Wie geht es Blunk?" Herbert sagte ihm, daß für Blunk keine Lebensgefahr mehr bestand. Henkel atmete erleichtert auf. Er schniefte umständlich, dann sagte er: „Gott sei Dank. Ich weiß nicht, was ich sonst getan hätte." 29
Wir saßen um den kleinen Tisch. Herbert, Oberleutnant Weichmann und ich. Mir gegenüber saß Henkel. Mein Blick irrte immer wieder vom Stenoblock ab und zum Fenster hinaus. Henkel konnte von hier in den Tierpark sehen. Die hohen Bäume langten fast ins Zimmer. Der Lärm der Straße war kaum zu hören. Viel näher waren die Geräusche aus dem Park, die grellen Stimmen exotischer Vögel, die sich im hellen Sonnenschein und in der hochsommerlichen Hitze wohl fühlten. „Nepomuk ist tot", sagte Henkel. Und Weichmann fügte hinzu: ..Auch ohne Ihr Gift." Henkel nickte. „Ja." Dann hatte ich Mühe, mit dem Stenogramm nachzukommen. Henkel, der den Aufbau des Tierparkes von Anfang an mitgemacht hatte, hatte mit ansehen müssen, wie Nepomuks Mutter nach einer vergeblichen Operation starb. In den vergangenen drei Tagen beherrschte ihn nur ein Gedanke, Nepomuk die gleiche Qual zu ersparen. Mit dem Originalschlüssel drang er in Doktor Schönburgs Zimmer ein. Zum Wandschränkchen besaß nur der Doktor einen Schlüssel. Da schlug Henkel die Scheibe ein. Nepomuk trank gern Milch. Zu Hause präparierte Henkel eine Viertelliterflasche Milch mit dem Gift und brachte die Flasche mit. Er schwieg einen Augenblick, und ich war ihm dankbar dafür, weil ich mein Stenogramm nachholen konnte. Dann sagte er leise: „Ich löste Reineke ein Weilchen ab. Da wollte ich es ihm geben —" „Und?" Weichmann nickte ihm ermunternd zu. Henkel schüttelte den Kopf. „Ich 30
konnte nicht. Nepomuk hat mich so vertrauensvoll angesehen und dann —" der ehemalige Tierpfleger schwieg. Er schneuzte sich und fuhr fort: „Dann hat er gelächelt." Er sah uns nacheinander an und fragte: „Wissen Sie, daß ein Schimpanse wie ein Mensch lächelt?" Ich räusperte mich und nickte. Henkel fuhr fort: „Da dachte ich; vielleicht ist es doch nicht so schlimm? Vielleicht wird er wieder gesund?" „Und die Milch?" fragte Herbert. „Wo haben Sie die Milch gelassen?" „Die habe ich in meinen Garderobenschrank gestellt." Das übrige war nicht schwer zu erraten. Blunk merkte wohl, daß Henkels Zimmer unbeaufsichtigt war. Außer den Pralinen, aus einem der Büros, stahl er aus Henkels Schrank die vergiftete Milch. Blunk muß gut zu Fuß sein ; dachte ich, bei seinen nächtlichen Streifzügen durch das Tierparkgelände hat er beträchtliche Entfernungen zurückgelegt. Allein der Weg vom Brehm-Haus zum Verwaltungsgebäude am Haupteingang erforderte eine Viertelstunde, wenn er sich sputete. „Ich dachte, mich rührt der Schlag", sagte Henkel, „als wir ins Raubtierhaus kamen und Blunk fanden. Auf dem Schemel, das mußte die Flasche aus meinem Schrank sein." „Und später, als Sie unbeobachtet waren, haben Sie die Flasche ausgeschüttet?" sagte ich, weil ich auf vollständige Protokolle Wert lege. „Ja", sagte Henkel mit einem verunglückten Lächeln. Eine Weile war es still, dann sagte Herbert: „Wir werden diesen Fall der Konfliktkommission über-
geben. Man wird Sie nicht aus dem Kollektiv ausschließen." Henkel winkte wehmütig ab. „Ich möchte nicht mehr. Irgendwann muß einmal Feierabend sein." Dabei sah er zum Eenster
hinaus. Auf einem Ast, zum Greifen nahe, saß ein großer fremdartiger Vogel. Sein lang herabwallendes Schwanzgefieder leuchtete in der Sonne in allen Earben des Eegenbogens.
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Hans von Oettingen
Tausend Dollar für eine Leiche Monty Quinn ist Reporter in New York, ein erfolgreidier Reporter. Zu seinen Freunden zählt auch der Senator McLean. Eines Tages gelingt es der Polizei, den Gangster Vallachi festzunehmen, ein einflußreiches Mitglied der Verbrecherorganisation „Cosa Nostra". Nach einem Mordversuch seiner ehemaligen Kumpane erklärt sich Vallachi bereit, vor einem Untersuchungsausschuß des Senats auszupacken, was er irgend weiß. Vorsitzender dieses Ausschusses wird McLean. Quinn möchte den Freund am Vorabend des entscheidenden Tages interviewen. Er findet ihn tot in der Garage. Der Senator ist ermordet worden. Quinn schwört sich, keine Gefahr und keine Mühe zu scheuen, bis die Hintermänner dieses Mords gefunden, sind.
Und wer leicht einen Schreck kriegt, der sollte auf keinen Fall die Abenteuer tapferer Berliner Freunde verfolgen.
Ali und die Bande vom Lauseplatz 6. Auflage
316 Seiten
Halbleinen
6,80 M D N
Ali und Ede sind den Schurken wirklich ganz allein auf die Schliche gekommen. Sie wollten niemanden mit ranlassen, wegen „dem Ruhm". Sie haben das Geheimnis des Kindersarges aufgedeckt und den Schatz, der viel mehr war als 'n lausiger Räuberschatz, ausgebuddelt. Dadurch sind sie in große Gefahr geraten und haben es mit Sarg-Engel und Messer-Schröter aufgenommen und Steinbachs Mordanschlag vereitelt. Wären nicht der Org und der alte Schatz und Bums-Molle und die wunderschöne Maria gewesen, wer weiß, was die drei Unholde mit ihnen angestellt hätten.
Gespenster-Edes Tod und Auferstehung 2. Auflage
256 Seiten
Halbleinen
5,80 M D N
Mit dem neuen Zelt muß die Bande unbedingt auf Fahrt gehen. Sie sind noch gar nicht weit weg von Berlin, da haben sie es schon mit einem spukenden Wasserschlößchen und dem „jrünen Jrafen" zu tun und Sophie zeigt den Bengels, was eine Angel ist. Was die alles anstellt, während die Jungen hinter Schloß und Riegel sitzen und Ali und Ede init dem Lastauto durchbrennen! Miterlebt und aufgeschrieben von KARL MUNDSTOCK • Illustriert von Hans Mau • Erschienen im Verlag Neues Leben Berlin