Ich muss sie verführen!
Jacqueline Diamond
Bianca 1222 18 - 1/00
Gescannt von suzi_kay Korrigiert von
1. KAPITEL „W...
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Ich muss sie verführen!
Jacqueline Diamond
Bianca 1222 18 - 1/00
Gescannt von suzi_kay Korrigiert von
1. KAPITEL „Was soll das heißen, dass ich ein Baby bekommen soll?" Annalisa Maria van de Camp de la Pena, besser bekannt als Lisa, bemühte sich, ihren Zorn im Zaum zu halten. Wut half ihr niemals weiter. Im Gegenteil. Ihre Neigung, das Kinn trotzig vorzurecken und die grünen Augen zusammenzukneifen, garantierte geradezu Ärger. Bisher hatte es dazu ge führt, dass sie aus dem Amsterdamer Büro ihres Vaters abgezo gen worden war, ihre beste Freundin in Rom nicht besuchen durfte und in ein altes Chateau in Frankreichs wunderschönem, aber abgelegenem Tal der Loire verbannt worden war. „Welches höhere Ziel könnte unsere Tochter haben, als uns einen Erben zu schenken?" entgegnete ihr Vater. Das Temperament ging mit Lisa durch. „Jetzt ist es also kein Baby, sondern ein Erbe!" Sie umklammerte die Armlehnen des hohen Sessels mit der geraden Rückenlehne. „Ich bin doch keine Zuchtstute!" Bevor ihr Vater antworten konnte, bemerkte ihre Mutter auf ihre ruhige, aber autoritäre Art, die einen ganzen Ballsaal voller Gäste zum Schweigen zu bringen vermochte: „Du bist sechsund zwanzig. " Obwohl sie sich gewöhnlich auf Holländisch oder Spanisch unterhielten, bediente sich Valeria van de Camp de la Pena diesmal des Englischen, der Geschäftssprache. „Es ist an der Zeit, dass du heiratest und ein Kind produzierst. Nicht nur um der Firma willen, die dein Vater gegründet hat, sondern auch um meiner Familie willen. Vergiss nicht, dass wir von adliger Herkunft sind." „Ich habe es nicht vergessen!" Ungehalten strich Lisa sich eine Strähne ihrer langen dunklen Haare zurück. „Aber wozu die Eile? Ich will weiter für Papa arbeiten, entweder in Amsterdam oder in einem der anderen Büros. Ich habe sehr viel beizusteuern, wenn ihr mir nur eine Chance gebt!" Ihr Vater Schuyler, der einen Kopf kleiner als seine Frau war, tippte ungehalten mit den Fingern auf einen mit Elfenbein eingelegten Tisch. Seine entschlossene Miene enthüllte seine unge heure Willenskraft, die ihn befähigt hatte, von einem Dockarbeiter in Amsterdam zum Begründer eines Geschäftsimperiums aufzusteigen. „Du bist nicht zäh genug, um in meine Fußstapfen bei Components International zu treten", bemerkte er bissig. „Du musst einen starken Mann heiraten, der Nachkommen zeugt, die Mumm haben. Eines Tages werde ich die Zügel abgeben müssen, und ich will es an mein eigen Fleisch und Blut tun. Deine Kinder!" Lisa kochte innerlich. Nicht zäh genug, um das Geschäft zu übernehmen? Nicht erfahren genug sicherlich, aber das war nicht ihre Schuld. Doch es hatte keinen Sinn, den Streit fortzusetzen. Sie hatte keine Chance zu gewinnen. Aber vielleicht gelang es ihr, die Situation zu ihrem Vorteil zu wenden. „Ich bin nicht sicher, ob ich Kinder mit Mumm haben möchte, aber ich nehme an, dass es an der Zeit für mich ist, wieder in Umlauf zu kommen." Und aus diesem feuchten Chateau, auf das ihre Eltern so stolz waren. „Mutter und ich könnten in das Apartment in Paris ziehen." „Du hast all unsere infrage kommenden Bekannten in Paris kennen gelernt", entgegnete Valeria kühl. „Und abgelehnt." Das stimmte. „Wie ihr wisst, hat meine Freundin Nicola mich nach Rom eingeladen", rief Lisa ihnen in Erinnerung. „Ihr habt gesagt, dass ihr es euc h überlegen wollt." „Nicola verkehrt nicht länger in den besten Kreisen", wandte Schuyler ein. „Ich weiß, dass sie guten Grund hatte, sich von dem Baron scheiden zu lassen. Ich halte nichts von Männern, die ihre Frauen schlagen, und es war richtig von dir, zu ihr zu halten. Aber sie ist nicht in der Position, dich zu fördern." „Mich zu fördern?" Trotz ihrer besten Absichten konnte Lisa nicht verhindern, spöttisch eine Augenbraue hochzuziehen. „Nun, wie wäre es dann mit Maureen Buchanan? Ihr wisst schon, die Kanadierin, die ich in St. Moritz beim Skifahren kennen gelernt habe. Sie geht mit einem Regisseur. Sie wohnen in Genf und kennen eine Menge ..."
Ihre Worte verklangen. Die Mienen ihrer Eltern spiegelten deutlich deren Einstellung wider. Mit einem Mann zu leben, ohne verheiratet zu sein, mochte in der heutigen Welt toleriert werden. Maureen jedoch war ein Freigeist ohne Geld und Beziehungen. „Wir haben uns so sehr bemüht", fuhr Valeria fort. „Du hast unzählige Bälle und Dinnerpartys besucht. Du hättest dir sehr leicht einen geeigneten Mann aussuchen können, aber ... nun, vielleicht haben wir dich verzogen." Lisa konnte nicht leugnen, dass ihre Eltern ihr sehr eifrig junge Männer vorgestellt hatten. Zumeist höfliche, attraktive und makellos gekleidete Männer, die auf Geld und sozialen Status fixiert waren. Sie hingegen hatte stets gehofft, einen prosaischeren Mann kennen zu lernen, der ... Der was? Gewiss wollte sie keinen hässlichen, ordinären Mann mit schlechten Manieren. Was wollte sie dann? Ihre Gedanken kehrten in die Wirklichkeit zurück, als ihre Eltern einen bedeutungsvollen Blick tauschten. Zu bedeutungsvoll. Die Wahrheit traf Lisa wie ein kalter Guss. Sie sprachen nicht über die Ehe im Allgemeinen. Sie hatten jemanden im Sinn! Eine arrangierte Ehe, wie im Mittelalter. In diesem liberalen Zeitalter hätte Lisa sich natürlich einfach weigern und notfalls die Beziehung zu ihren Eltern abbrechen können. Doch sie war sehr loyal gegenüber ihrer Familie und ihren Freunden eingestellt und scheute sich, ihre Eltern zu enttäuschen. Ihr Zorn verrauchte, als sie die Besorgnis auf dem Gesicht ihrer Mutter sah. „Wer ist er?" Schuyler blickte sie mit einer Mischung aus Respekt und Empörung an. „Du hast wirklich die Gabe, Gedanken zu lesen. Das hat dir einen Vorteil in unserer Marketingabteilung verschafft - bis du dich so trotzig an deine eigenen Ideen geklammert hast." Bis ich etwas Selbstbewusstsein und Professionalismus ent wickelt habe, korrigierte Lisa im Stillen. Sie war sicher, dass das der wahre Grund war, aus dem ihr Vater sie im vergangenen Jahr von Amsterdam nach Hause geschickt hatte. Doch es war nicht der geeignete Zeitpunkt, um den alten Kampf wieder aufzunehmen. „Wie heißt er?" „Boris Grissovsky", sagte ihr Vater schroff. „Er besitzt eine Importexportfirma in Bulgarien. Außerdem stammt er vom österreichisch- ungarischen Adel ab. Sein Stammbaum ist makellos." Wie ein Deckhengst, dachte Lisa. Laut sagte sie: „Wie gut kennt ihr ihn?" „Wir haben mehrere erfolgreiche Geschäfte miteinander getätigt." Die Firma ihres Vaters produzierte Ersatzteile für alte Autos, landwirtschaftliche Geräte, Flugzeuge und Computer, die zwar im Westen als veraltet galten, aber in anderen Regionen der Welt zahlreich in Betrieb waren. „Er hat einen ausgeprägten Sinn für Finanzen und kann skrupellos sein, wenn nötig." „Skrupellos? Papa, wir reden von einem Ehemann, nicht von einem Bodyguard." „Ich weiß, welche Qualitäten nötig sind, um in dieser Welt voranzukommen. Mein Erbe muss alle haben." „Seine Familie ist entfernt mit den Hohnersteins verwandt, die von altem Adel sind." Valeria fixierte Lisa mit einem eindringlichen Blick. „Ihr habt nicht zufällig ein Foto?" „Wir haben etwas Besseres", erwiderte ihr Vater. „Ein Video." Wie sich herausstellte, war die Kassette bereits eingelegt, und ihr Vater brauchte nur noch den Recorder einzuschalten. Verdrossen durchquerte Lisa das gobelingeschmückte Foyer, das so groß und in etwa so behaglich wie ein Fußballplatz war, und setzte sich auf eine Couch in der Nähe des Fernsehers. Das Bild war gestochen scharf. Offensichtlich hatte Boris Grissovsky einen Profi angeheuert, um sich seiner zukünftigen Frau zu präsentieren. An Deck einer Jacht war ein Mann im Smoking im Profil zu sehen. Dann drehte er sich zur Kamera um und streckte einladend ein Glas Champagner aus. Über die gezierte Pose hätte Lisa hinwegsehen können, doch zwei andere abstoßende Züge fielen ihr auf.
Zum einen seine flache Boxernase, zum anderen sein Stiernacken, der lächerlich in dem gestärkten Kragen mit der weißen Fliege wirkte. Doch kleinere körperliche Makel konnte sie ihm nicht vorhalten. Schließlich besaß Nicolas Baron eine perfekte Nase und einen schlanken Hals und hatte sich dennoch als Schuft erwiesen. Als Nächstes erschien ein bezauberndes Straßencafe' mit Blumenkästen auf dem Bildschirm. Mit der Speisekarte in der Hand verbeugte Boris sich einladend vor der Kamera. Als er sich aufrichtete, fiel ihm gleißendes Sonnenlicht in die Augen, und er warf dem Kameramann einen finsteren Blick zu. Eine Sekunde lang ent hüllten seine Augen eine Grausamkeit, die sie erschauern ließ. Im nächsten Moment lächelte er charmant. Doch sie hatte den Eindruck, etwas sehr Hässliches in seinem Innern entdeckt zu haben. Verstohlen blickte sie zu ihren Eltern und erkannte, dass ihnen nichts Negatives aufgefallen war. Doch sie traute ihren Instinkten. Wie ihr Vater gesagt hatte, konnte sie manchmal beinahe Gedanken lesen. Was sie in Boris' Miene gelesen hatte, erfüllte sie mit Entsetzen. Was sollte sie tun? Sie wollte diesen Mann nicht einmal kennen lernen, geschweige denn den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen. Tränen brannten in ihren Augen. Sie liebte ihre Eltern. Um ihnen gefällig zu sein, hatte sie darauf verzichtet, eine aktive Rolle bei Components International zu spielen oder sich auf eigene Füße zu stellen. Sie hatte sich sogar vorschreiben lassen, wo und wie sie lebte. Doch sie konnte diesen Mann unmöglich heiraten. Ihre Eltern wirkten jedoch fest entschlossen. Wenn Lisa sich direkt weigerte, würde es zu einem offenen Kampf kommen, dem ersten in ihrem Leben. Nicola hatte sich ihren Eltern widersetzt, als sie den Baron verlassen hatte, und seitdem sprachen sie nicht mehr mit ihr. War Lisa bereit, dieses Risiko einzugehen? Das Video endete. „Nun?" verlangte ihr Vater zu wissen. „Ich werde es mir überlegen", sagte sie und floh in ihr Zimmer. Das Telefon war zu gefährlich. Ihrer Mutter hörte manchmal vom Nebenapparat aus mit. Doch das Internet hatte Valeria bislang nicht erobert. Lisa loggte sich ein und verfasste eine E-Mail an Nicola und Maureen - die einzigen Menschen, denen sie traute. Sie schickte die Botschaften ab, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und wartete auf Antwort. Trotz der zahlreichen Fenster wirkte das riesige Gemach düster. Ein Himmelbett, eine Kommode und ein Kleiderschrank aus Eiche füllten die ferne Ecke; ein massiver Kamin und mehrere Sofas nahmen ein weiteres Viertel des Raumes ein. Bei der Tür standen prall gefüllte Bücherregale und ein Computertisch mit Faxgerät und Farbkopierer. Obwohl es ihr gefiel, so viel Platz zu haben, hätte sie dieses Chateau gern gegen das hohe, schmale Haus in Amsterdam ge tauscht, in dem sie während ihrer Kindheit gelebt hatte. Dort herrschte Leben. Die Räume waren erfüllt vom Lärm der Straße und dem Licht, das die Gracht hinter dem Haus reflektierte. Tulpen in Balkonkästen und Vasen sorgten für frische Farben. In dieses Schloss hingegen drang kaum ein Geräusch, und obwohl die Wände vergipst waren, spürte sie die Kälte des Steines darunter. Die Außenwelt schien weit entfernt zu sein. Vielleicht war das nicht ganz fair. Durch die Fenster sah sie grüne Weinberge und einen sanft fließenden Fluss in der Aprilsonne schimmern. In der Ferne lag ein Dorf mit dunklen Holzhäusern, die sich um einen Marktplatz scharten. Lisa glaubte, den Duft von frischem Brot aus der Dorfbäckerei zu riechen. Sie liebte es, im Ort spazieren zu gehen und dem Geplauder der Dorfbewohner zu lauschen. Einige Monate lang hatte sie freiwillig im lokalen Krankenhaus geholfen. Doch ihre Eltern hatten sich beklagt, dass die Leute über sie tratschten, und sie gezwungen, wieder aufzuhören. Sie konnte sich vorstellen, dass die Leute neugierig waren. Mit seinen zahlreichen
weißen Türmchen sah das Chateau wie ein Märchenschloss aus, und die Dorfbewohner hielten sie vielleicht für eine Prinzessin. Leider kam in diesem Märchen ein Ungeheuer vor, dessen Name Boris lautete. Auf dem Bildschirm tauchte eine Nachricht von Nicola auf. Was gibt es denn so Dringendes? Lisa tippte ihre Story ein. Die Antwort lautete prompt: Du darfst diesen Mann nicht heiraten! Im Geiste sah Lisa Nicolas Gesicht vor sich. Hohe Wangenkno chen, große Augen, kastanienbraune Haarmähne. Kennst du ihn? Nein. Aber du musst auf dein Herz hören. Ich wünschte, ich wäre meiner Intuition beim Baron gefolgt. Aber wie kann ich es umgehen, ohne es mir mit meinen Eltern zu verderben? Nach einer kurzen Pause schrieb Nicola: Krieg ein Baby. Allein? Warum nicht? Dein Vater will doch einen Erben. Und wenn du schwanger wärst, würde dieser Boris dich bestimmt nicht heiraten wollen. Lisa nagte an der Unterlippe. Es war eine interessante, aber auch eine beängstigende Idee. Sie wünschte sich Kinder, aber ihr war nie in den Sinn gekommen, ledige Mutter zu werden. Sie war der Meinung, dass Kinder ebenso einen Vater wie eine Mutter brauchten. Und sie war noch Jungfrau. Im Laufe der Jahre hatte es mehrere Gelegenheiten gegeben, die Jungfräulichkeit zu verlieren. Doch keiner der Männer hatte ihr Herz erobert. Außerdem bestand die Gefahr, von der Boulevardpresse erwischt zu werden. Sie erschauerte bei der Vorstellung, ihre Ungnade auf Titelblättern dokumentiert zu sehen. Die Vorstellung reichte, um jedes Verlangen zu vertreiben. Doch die Umstände hatten sich geändert. Vielleicht hatte Nicola Recht. Wie soll ich es denn bewerkstelligen, ein Baby zu bekommen? Samenbank, kam als lapidare Antwort. Ein Baby aus einem Reagenzglas? Lisa verzog das Gesicht. Es klang so ... kalt. Außerdem war zu befürchten, dass einer der Angestellten der Versuchung nicht widerstehen konnte, die Information an die Presse zu verkaufen. Lieber nicht. Aber danke für den Vorschlag. Sie plauderten noch eine Weile, bevor sie sich verabschiedeten. Geraume Zeit später meldete sich Maureen. Während Lisa ihre Geschichte wiederholte, sah sie das sommersprossige, von roten Haaren umrahmte Gesicht vor sich. Das Video über Boris war für dich? fragte Maureen. Er hat Win damit beauftragt und gut bezahlt. Win, ihr Freund, drehte Videos, um sich zwischen der Herstellung von billigen Filmen über Wasser zu halten. Er schien stets in Geldnot zu sein. Wie ist dieser Boris? schrieb Lisa. Hast du ihn kennen gelernt? Nein. Aber Win sagt, dass er verschroben ist. Du wirst ihn doch nicht heiraten, oder? Lisa teilte ihr Nicolas Vorschlag mit und brachte ihr Widerstreben zum Ausdruck, eine Samenbank zu benutzen. Vergiss die Reagenzgläser! Such dir einen Mann und tu es auf die erfreuliche Weise. Lisa stöhnte laut. Mit einem Fremden schlafen? Das ist gefähr lich. Du machst dir zu viele Gedanken. Maureen selbst war unerschrocken. Direkt nach der High School hatte sie ihr Elternhaus verlassen, die verschiedensten Jobs angenommen und ausgiebige Reisen angetreten. Außerdem muss es ja nicht ein völlig Fremder sein. Wir könnten ihn ja überprüfen." Auch auf Lisas nächsten Einwand hatte Maureen prompt eine Antwort. Das Risiko, erkannt zu werden? Sie brauchte nur nach Amerika zu gehen, wo die de la Penas beinahe unbekannt waren. Win hatte viele Kontakte und konnte ihr einen falschen Pass besorgen, so dass sie nicht einmal ihren eigenen Namen benutzen musste.
Dass es ein Adliger sein sollte? Vergiss das! Du hast selbst ge nug blaues Blut. Und was Mumm angeht, dafür sind Amerikaner berühmt. Danke, schrieb Lisa. Aber lieber nicht. Ich erkundige mich. Sei morgen früh um neun online. Maureen schaltete ab, bevor Lisa protestieren konnte. Lisa hatte gehofft, dass ihre Eltern sie nicht drängen würden, doch beim Dinner wurde sie eines Besseren belehrt. Ihr Vater erwähnte, sie Boris vorstellen zu wollen, und reagierte verärgert, als sie sich mehr Bedenkzeit erbat. Sie schlief nicht gut in dieser Nacht. Um neun Uhr war sie wieder online. Zu ihrer Überraschung entsetzte die Vorstellung, allein ein Baby zu bekommen, sie nicht mehr so sehr. Nun, nicht ganz allein. Es gefiel ihr nicht, ihre Jungfräulichkeit an einen Mann zu verlieren, der nicht ihr Ehemann war. Aber konnte das schlimmer sein, als sie an Boris zu verlieren? Nach zehn Minuten meldete sich Maureen. Hier kommt der Knüller! Ich habe Win nach seiner Meinung gefragt... Du hast ihm doch nichts von mir erzählt, oder? Natürlich nicht. Ich habe ihm nur gesagt, dass eine Bekannte ein Baby haben möchte, anonym bleiben will und einen amerikanischen Vater sucht. Er hatte eine tolle Idee! Welche denn? Ein Detektiv. Er hat letztes Jahr in Kalifornien bei den Dreharbeiten für ein Reklamevideo einen Privatdetektiv kennen ge lernt, der auf Personensuche spezialisiert ist. Du meinst, ich sollte ihn engagieren, um einen Daddy zu suchen? Das hat Win vorgeschlagen. Er hat gesagt, ich könnte mir die Webseite von dem Typ ansehen, und ich habe es getan. Er heißt Ryder Kelly, und weißt du was? Er ist süß. Maureen, du willst mir doch wohl nicht vorschlagen, dass ich mit diesem Detektiv schlafe? Warum nicht? Er war Mariner und Polizist. Also müsste er Mumm haben. Außerdem ist er ledig. Das hat er alles auf die Webseite gesetzt? Um zu beweisen, dass er bereit ist, überall und jederzeit zu arbeiten. Unter anderem spürt er Flüchtige auf, die auf Kaution freigelassen wurden. Er ist Kopfgeldjäger? Im Geiste sah Lisa einen Cowboy im Wilden Westen vor sich, der einen Halunken mit einem Lasso einfing. Reitet er etwa auf einem Pferd herum? scherzte sie. Überzeuge dich selbst. Maureen schickte ihr die Internetadresse und meldete sich ab, ohne auf eine Antwort zu warten. Lisa konnte es kaum fassen, dass sie diese verrückte Idee in Erwägung zog. Aber vielleicht war es tatsächlich die Lösung ihrer Probleme. Ihre Eltern wünschten sich vor allem einen Erben, der das Geschäft und den Familiennamen fortführen sollte. Boris lag ihnen nicht besonders am Herzen. Sie betrachteten ihn nur als akzeptablen Ehemann. Aber für Lisa war er keineswegs akzeptabel. Doch wie sah es mit diesem Kopfgeldjäger aus? Sie gab seine Webadresse ein, und einen Moment später betrachtete sie die farbenfrohe Reklame für Ryder Kelly Investigations. Ein Foto zeigte einen Mann mit einem markanten Gesicht und kurzen hellbraunen Haaren. Der Text bestätigte, was Maureen ihr erzählt hatte: Ryder Kelly war ein Privatdetektiv, der sich auf die Suche vermisster Personen spezialisiert hatte. Es folgten Referenzen, unter anderem von dem Sicherheitschef einer großen Firma und einem Oberst der Polizei, der Ryders Vorgesetzter gewesen war. Ein zukünftiger Daddy mit Referenzen, dachte sie. Wie perfekt. Sie klickte das Foto an, und plötzlich wandte sich das Gesicht ihr zu. Dunkle Augen schienen sie direkt anzusehen. Eine tiefe, stete Stimme verkündete: „Ich bin froh, dass
Sie mich gefunden haben. Jetzt lassen Sie mich finden, wen immer Sie suchen." Sie lächelte. Es war eine clevere Reklame. Der Mann besaß Intelligenz und Nerven. Ganz zu schweigen von Referenzen. Natürlich musste sie ein paar Dinge mehr über ihn erfahren, bevor sie ihn guten Gewissens zum Vater ihres Babys auserwählen konnte. Aber diese Dinge konnte sie nur persönlich feststellen. Ein Baby. Die Vorstellung begann real zu werden. Ein niedliches Kind, das sie in den Armen halten und liebkosen konnte. Sie würde sich nicht einmal an den schmutzigen Windeln stören. Im Krankenhaus hatte sie auf der Kinderstation ausgeholfen, so dass sie wusste, was sie zu erwarten hatte. Die Stärke ihrer Sehnsucht überraschte sie. Ein Kind würde Sinn und Freude in ihr Leben bringen. Außerdem konnten ihre Eltern bestimmt nichts gegen einen Erben einwenden, der ihre eigenen Gene mit denen des rauen Ryder Kelly vereinte. Als sie sich ausloggte, erkannte sie, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte. Ob sie sich nun letztendlich von diesem Mann schwängern ließ oder nicht, sie wollte auf jeden Fall nach Amerika gehen, um ihn kennen zu lernen, und damit zu dem größten Abenteuer ihres Lebens aufbrechen.
2. KAPITEL Ryder rückte die Sonnenbrille gegen den gleißenden Sonnenschein zurecht, während er auf dem Gipfel des Berges darauf wartete, dass er an die Reihe kam. Seine Aufmerksamkeit galt Joe Ortiz alias Joseph Orton, der in der Schlange unterhalb auf dem Hang für Fortgeschrittene stand. Genau vor Ortiz stand seine neueste Zielscheibe, eine Frau in den Sechzigern mit teurer Skiausrüstung. Sicherlich kannte Joe ihre finanziellen Verhältnisse genauestens und war auf dem besten Weg, sich ihr Vermögen zu ergaunern. Der Skifahrer direkt vor Ryder stieß sich ab. Auf dem unteren Hügel war Mrs. Zielscheibe an der Reihe, doch sie fingerte an einem Stiefel herum und hielt die Schlange hinter ihr auf. Wenn Ryder nun losfuhr, kam er zu früh. Er drehte sich um, hüstelte und sagte zu dem bärenstarken Mann hinter ihm: „Mir steckt was im Hals. Fahren Sie zuerst." „Danke, Kumpel." Der Hüne glitt an ihm vorbei. Auf dem unteren Hang setzte sich die alte Dame schwankend in Bewegung, gefolgt von Joe. Eilig fuhr auch Ryder los. Er war dem Flüchtigen bereits seit dem Morgen des Vortages auf der Spur. Nachdem ein ge werblicher Kautionssteiler 100.000 Dollar gezahlt hatte, war Joe aus Kalifornien verschwunden und hatte sich somit dem schwebenden Gerichtsverfahren wegen Heiratsschwindel ent zogen. Die Kaution war so hoch angesetzt worden, weil er bereits drei Damen um ihre Ersparnisse erleichtert hatte, und ihm stand eine lebenslängliche Gefängnisstrafe für diese Vergehen bevor. Da Joe für sein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber Fremden bekannt war, plante Ryder, ihn auf der Piste zu Fall zu bringen, was nicht allzu schwer sein sollte, da Joe diesen Sport erst seit kurzem trieb. Ryder beabsichtigte, darauf zu bestehen, ihn zum Arzt zu fahren. Oder, falls diese Taktik nicht aufging, wollte er Joes Geldgier nutzen und andeuten, dass er aus Angst vor einer Anzeige zu einer finanziellen Entschädigung bereit war, sofern sie sich unter vier Augen darüber einigen könnten. Mit vorgebeugtem Oberkörper sauste Ryder über die strahlend weiße Piste, wedelte an anderen Skifahrern vorbei. Erschrocken sah er, dass Joe in eine völlig falsche Richtung schwankte. Blind gegen alles außer seiner Angst vor einem Sturz taumelte er auf den Hang zu, der Anfängern vorbehalten sein sollte. Dort gehörte er zwar zweifellos hin, aber die Piste war bereits gefüllt mit einer Gruppe Kinder, die den Schneeflug übten. Offensichtlich beherrschte Joe diese Art des Anhaltens noch nicht. Als die Kinder ihn kommen sahen, erschraken sie und bemühten sich ängstlich, ihm aus dem Weg zu gehen. Plötzlich wurde der Plan, Joe zu Fall zu bringen, sehr vordringlich. Der Anfänger fuhr zwar nicht besonders schnell, aber er war wesentlich schwerer als die Kinder, und ein Zusammenstoß konnte zu Knochenbrüchen oder Schlimmerem führen. Ryder duckte sich noch tiefer und stieß sich heftig mit den Stöcken ab. Er musste Joe rechtzeitig einholen. Doch das war nicht leicht, denn die Distanz war recht groß und die Strecke mit anderen Skifahrern und Schildern übersät. Er umfuhr ein Hindernis nach dem nächsten und nahm eine Abkürzung über einen felsigen Vorsprung. Einige Sekunden segelte er durch die Luft, bevor er mit einem harten Ruck wieder auf dem Schnee landete. Inzwischen war Joe den verschreckten Kindern schon bedrohlich nahe. Ein kleines blondes Mädchen in bunter Kleidung stolperte und fiel in den Schnee, direkt in Joes Bahn. Es war keine Zeit zu verlieren. Von oben fuhr Ryder direkt in Joe hinein. Der heftige Aufprall raubte ihm den Atem. Beide segelten durch die Luft und verloren Stöcke und Skier. Ryder fühlte sich in eine wirbelnde Leere stürzen, als er wie ein Häufchen Elend im
Schnee landete. Doch er weigerte sich, dem Schwindelgefühl nachzugeben und in Ohnmacht zu versinken. Nach einem Moment hörte die Umgebung auf zu schwanken. Ihm wurde bewusst, dass ein Kind weinte, Leute schrien, ringsumher Schnee aufspritzte, als andere Skifahrer auftauchten. Mit Mühe hob er den Kopf. Gleißendes Licht blendete ihn. Er musste seine Sonnenbrille verloren haben. Es dauerte einen Moment, bis sich seine Pupillen an die Helligkeit gewöhnten und er die Szene überblicken konnte. Das kleine Mädchen rappelte sich unverletzt auf. Ein Stück entfernt lag Joe. Ein Bein war in unnatürlichem Winkel abge knickt. Die ordinären Flüche, die er lautstark ausstieß, kündeten davon, dass seine Lungen unversehrt waren. Ryder wurde sich eines heftigen Schmerzes im rechten Sprunggelenk bewusst. Es sah ganz so aus, als ob er nicht in der Lage war, Joe ins Krankenhaus zu eskortieren. Andererseits standen die Chancen gut, dass der Plan mit der Entschädigung aufging. Plötzlich verdunkelte sich das Licht. Ryder blinzelte und fragte sich, ob er doch ohnmächtig wurde. Dann roch er einen zarten, aufreizenden Duft, den er nicht zu identifizieren vermochte. Er hätte ihn mit der Essenz des Frühlings bezeichnet, was ihm seltsam erschien, da er für gewöhnlich nicht zu Metaphern neigte. Eine lange schwarze Haarmähne fiel wie ein Vorhang vor sein Gesicht, und er starrte in die grünsten Augen, die er je gesehen hatte. Und in ein exotisches, ovales Gesicht, für das Botticelli alles gegeben hätte, um es malen zu dürfen. „Sind Sie okay?" erkundigte sich die Frau mit leichtem Ak zent. Die Antwort hätte ihm leicht fallen sollen, aber ihr bezaubernder Anblick hatte ihm die Sprache verschlagen, und er brachte nur einen seltsamen Laut hervor. Sie streichelte sein Handgelenk und legte die Finger auf seinen Puls. „Er ist stabil." „Wirklich?" Es überraschte ihn. Er hätte schwören können, dass sein Herz im abgehackten Rhythmus einer karibischen Reggaeband schlug. „Sind Sie Krankenschwester?" „Nun ... ja, gewissermaßen." Sie schluckte schwer. „Ich muss Ihnen einige medizinische Fragen stellen." „Nur zu." „Wann und mit welchem Ergebnis sind Sie zum letzten Mal gründlich durchgecheckt worden?" „Letzten Monat. Ich bin kerngesund." „Einschließlich Bluttests?" „Natürlich. Mein Geschäft ... meine Versicherung verlangt es." „Wie sind Ihre privaten Gewohnheiten?" Lange, dunkle Wimpern verschleierten ihren Blick, und er hätte schwören können, dass ihre Wangen erröteten. „Sexuell gesehen." „Ich lebe wie ein Mönch. Was hat das mit meinem Knöchel zu tun?" „Sie haben sich den Knöchel verletzt?" Das war die seltsamste medizinische Untersuchung, die er je erlebt hatte. „Richtig, Schwester." Aus den Augenwinkeln erhaschte er eine Bewegung. Er wandte den Kopf und sah, dass Joe auf einer Trage von zwei Männern abtransportiert wurde. „Ich muss ihm nach. Könnten Sie mir helfen ...?" Aus dem Nichts tauchte ein junger Mann in einer weißen Skijacke auf. „Ich bin Dr. Witt, der Hausarzt. Sind Sie verletzt?" „Sein Knöchel", erwiderte die schwarzhaarige Frau und trat zurück, um ihm Platz zu machen. Zu Ryders Erleichterung machte sie keine Anstalten, sich zu entfernen. Er wusste nicht, warum er so auf ihr Bleiben bedacht war. Vermutlich nur aus Neugier. Und weil sein Körper sehr heftig auf ihre Nähe reagierte. Natürlich wusste er es besser, als seinem Verlangen nachzugeben. Diese Lady wirkte zu unschuldig, zu sexy, zu reich in der teuren
Designerkleidung, zu königlich in ihrer Pose. Ryder deutete zu Joe, der gerade in eine Ambulanz gehoben wurde. „Wohin wird er gebracht?" „Ins Krankenhaus, wohin wir Sie als Nächstes bringen." Ryder unterdrückte ein Stöhnen, während er sich mühsam aufsetzte. „Ich habe mir zwar vielleicht den Knöchel verstaucht, aber ich brauche nicht ins Krankenhaus eingeliefert zu werden." „Rechts oder links?" „Rechts." Während Dr. Witt das Bein untersuchte, holte Ryder sein Handy hervor und wählte die Nummer des Kautionsstellers. „Wie heißt das Krankenhaus?" Der Arzt zuckte die Achseln. „Ich bin erst letzte Woche hier angekommen. Irgendwas mit Saint. Es ist das einzige in der Stadt." „Kann ich irgendwie helfen?" erkundigte sich die grünäugige Lady und schwebte über ihm wie ein Schutzengel. „Bleiben Sie einfach hier. Sie inspirieren mich." Sie lächelte. Der Anblick ließ sein mühsam beherrschtes Verlangen zu fieberhaftem Sehnen aufflammen. „Ja, hallo?" brüllte ihm der Kautionssteller ins Ohr. Mit knappen Worten berichtete Ryder, wo der vermisste Klient zu finden war. „Bringen Sie ihn mir persönlich!" „Ich wurde verletzt." Ryder wusste, dass Joe in zwei Tagen zur Vernehmung vorgeladen war. Wenn er nicht rechtzeitig erschien, würde die Kaution an das Gericht verfallen. „Ich kann ihn auf keinen Fall rechtzeitig bringen. Ich sage Ihnen genau, wo er sich befindet. Wollen Sie ihn oder nicht?" Die folgende Bedenkzeit kostete mehr als einen Dollar Tele fongebühren. Dann sagte der Mann: „Ja, okay." „Sie wissen ja, wohin Sie den Scheck schicken müssen." „Ja." Ohne ein weiteres Wort legte der Kautionssteller auf. „Es scheint nicht gebrochen zu sein", verkündete der Arzt. „Aber ich empfehle eine Röntgenaufnahme, um sicherzugehen." Ryder hasste Krankenhäuser. Herumzuliegen und untersucht zu werden, entsprach nicht seiner Vorstellung von produktiver Aktivität. „Verbinden Sie ihn einfach, ja?" „Sehr gern, aber ich fürchte, dass ich Sie noch nicht entlassen kann. Sie haben eine starke Erschütterung erlitten. Ist Ihnen schwindlig oder übel?" „Nur bei dem Gedanken an Krankenhauskost." „Sie scheinen bei klarem Bewusstsein zu sein, aber es könnte eine verborgene Kopfverletzung vorliegen. Manchmal stellt sich die Schwellung erst später ein." „Ich kann mich um ihn kümmern", bot der Schutzengel an, der nicht zu bemerken schien, dass er von der Hälfte der Männer auf dem Hang angestarrt wurde. Wenn sie sich nicht bald entfernte, würde die Unfallrate vermutlich steil ansteigen. „Wenn ihm übel wird, kann ich ihn ja in die Ambulanz bringen." „Dann können wir Ihren Mann wohl in meiner Praxis verarzten. Er muss allerdings eine Verzichterklärung unterschreiben." „Einverstanden", sagte Ryder. Die Frau hielt sich dicht hinter ihnen, als sie den Hang hinabstiegen. Er war froh, dass sie nicht geleugnet hatte, seine Frau zu sein. Aber warum war sie so freundlich? Vielleicht glaubte sie, ihn von irgendwoher zu kennen. Doch er hatte sie noch nie gesehen. Er hätte sich daran erinnert. War sie vielleicht eine Trickbetrügerin, die ihn für einen Millionär hielt? Nicht in dieser abgetragenen Jeans und geflickten Jacke. Die Skistiefel aus Bundeswehrbeständen waren auch nicht besonders eindrucksvoll. Vielleicht war sie eine gute Samariterin. Wenn nicht, würde er ihr Spiel schnell genug durchschauen.
Kurze Zeit später war sein Knöchel bandagiert, und er trug ein paar Krücken unter dem Arm. Er war ein freier Mann. Doch er konnte nicht Auto fahren. „Ich fahre Sie nach Hause." Die Frau begleitete ihn aus dem Gebäude. Sie bewegte sich so graziös, dass er sich neben ihr auf den klappernden Krücken wie ein Roboter fühlte. „Schließlich haben Sie das kleine Mädchen gerettet. Sie sind ein Held." Früher einmal hätte diese Bezeichnung Ryder Kelly erfreut das Kid aus dem Wohnwagenpark, das ausgezogen war, um die Welt zu erobern. Nun erweckte sie nur seinen Argwohn. Er war kein Held. Aber er brauchte eine Mitfahrgelegenheit. Ganz zu schweigen von der liebevollen Fürsorge, die diese Lady ihm zu geben bereit schien. Er wusste, dass er sich töricht verhielt. Die ganze Sache roch förmlich nach Schiebung. Doch er war bereit, diese Traumfrau noch eine Weile länger gewähren zu lassen. Einerseits fühlte er sich benommen von dem starken Schmerzmittel, das der Arzt ihm gegeben hatte. Außerdem hat er das Gefühl, dass er so oder so als Sieger hervorgehen würde. Notgedrungen ignorierte Boris Grissovsky das Handy, das im unglücklichsten Moment klingelte. Es dauerte mehrere Minuten, bevor er das Schlafzimmer seiner Geliebten unter dem Vorwand einer Rauchpause verlassen konnte. Er trat hinaus auf die Straße, zündete sich eine Zigarette an und rief seinen persönlichen Assistenten zurück. „ Lothaire Warner." „Ich bin's. Was wollen Sie?" Boris runzelte die Stirn, als einige Passanten den Schritt verhielten und sein Handy anstarrten. Bulgarien litt immer noch unter den Folgen der kommunistischen Einschränkungen, und High-Tech-Geräte waren noch nicht an der Tagesordnung. „Ich habe von der Zofe erfahren, dass Miss de la Pena das Chateau verlassen und einen Flug nach New York genommen hat." Der junge Assistent hatte Boris bei seinem letzten Besuch im Chateau begleitet und einen Spitzel innerhalb der Mauern postiert. Annalisa hatte kaum ein Wort mit Boris gewechselt. Ihre Eltern hatten sich hingegen als sehr gesprächig erwiesen, aber von einer geplanten Reise war keine Rede gewesen. „Aus welchem Grund?" „Sie hat die Nachricht hinterlassen, dass sie eine Freundin besuchen und am Dienstag zurückkehren will." „Weiß die Zofe von irgendwelchen Freunden in Amerika?" „Nein." Das war eine beunruhigende Nachricht. Die Eisprinzessin hatte deutlich gezeigt, dass sie Boris nicht mochte. Er mochte sie auch nicht besonders. Aber er mochte ihr Geld und ihren Gehorsam. Sie musste ihn heiraten. Er schuldete der Russenmafia ein Vermögen, die nicht für Geduld bekannt war. Dieser Trip nach Amerika mochte Rebellion auf Annalisas Seite bedeuten, aber vielleicht war es nur eine kindische Eskapade, mit der sie ihre Eltern ärgern wollte. Er durfte nicht in Panik geraten. „Finden Sie heraus, was sie nach der Landung tut." „Natürlich." Lothaire kannte sich bestens mit Computern aus und hatte bereits die Nummern ihrer Kreditkarten herausgefunden, so dass es nicht schwer sein dürfte, sie aufzuspüren. Boris hoffte, dass die schöne Erbin wie ein braves Mädchen nach Hause zurückkehren würde. Wenn nicht, musste er Maßnahmen ergreifen, um sie zur Räson zu bringen. Sobald sie erst einmal verheiratet waren, kamen solche Eskapaden nicht mehr infrage. Was Boris gehörte, kontrollierte er ausnahmslos. Ob es ihr nun gefiel oder nicht, Miss de la Pena sollte schon bald auf der Liste seiner Besitzungen stehen.
Lisa konnte es kaum glauben, dass Ryder Kelly tatsächlich in ihrem Leihwagen saß. Sie vermutete, dass er sich über ihr unverhohlenes Interesse wunderte. Aber lernten Männer und Frauen sich nicht häufig auf mehr oder weniger diese Art kennen? Es lag natürlich außerhalb ihrer Erfahrung. Wie fast alles, was im vergangenen Monat geschehen war. Ihre Vermutung, dass ein Treffen mit Boris bereits geplant war, hatte sich als korrekt erwiesen. Kaum eine Woche, nachdem sie von seiner Existenz erfahren hatte, war er im Chateau aufge taucht, voll seichter Schmeicheleien und Andeutungen über seinen enormen Reichtum. Sie mochte die besitzergreifende Art nicht, in der er sie anblickte. Sie mochte die Art nicht, in der er ihre Hand mit dem Daumen streichelte. Alles an ihm rief eine Gänsehaut hervor. Zu ihrer Verzweiflung war von Hochzeit geredet worden. Vielleicht zu Weihnachten, hatte ihre Mutter vorgeschlagen. Warum nicht schon im Herbst, wenn das Wetter noch schön ist, hatte Boris gekontert. Je eher, desto besser. Nachdem er gegangen war, hatte Lisa versucht, ihre Eltern davon zu überzeugen, dass er ungeeignet war. Ihre Mutter hatte sich kerzengerade aufgerichtet und den Blick abgewendet. Schuyler hatte sie zornig als selbstsüchtig und undankbar bezeichnet. Jeden Abend war sie mit schwerem Herzen und Tränen in den Augen schlafen gegangen. Den einzigen Trost hatten ihr E-Mails von Maureen und Nicola sowie der Ovulationstest gespendet, den sie im Dorf gekauft hatte. Eine Woche zuvor war der gefälschte Pass aus der Schweiz eingetroffen, verborgen in einer Modezeitschrift für den Fall, dass ihre Mutter das Paket öffnete. Zwei Tage zuvor hatte Maureen in Ryders Büro angerufen und vorgegeben, für eine große Firma zu arbeiten, die dringend seine Dienste benötigte. Auf ihr Drängen hin hatte seine Sekretärin enthüllt, dass er sich in einem Skigebiet in Colorado aufhielt. Als Lisa die Straße zur Stadt im Tal hinabfuhr, warf sie dem Mann neben ihr einen verstohlenen Blick zu. Auf eindrucksvolle Weise füllte er den Beifahrersitz mit seinen langen Beinen und breiten Schultern aus. Seit sie ihn auf dem Berghang erblickt hatte, verspürte sie eine rastlose Energie. Vom ersten Moment an hatte er ihre Aufmerksamkeit gefesselt. In dem engen Raum des Wagens spürte sie förmlich die Luft vibrieren. Es war kaum zu glauben, dass er wirklich wie ein Mönch lebte, aber das erklärte seine Gereiztheit. Ich werde mit diesem Mann schlafen, durchfuhr es sie. Es beängstigte und erregte sie zugleich. Ryder Kelly wirkte durch und durch maskulin mit seinen wachsamen braunen Augen und seinem harten, agilen Körper. Ein Anflug von Panik veranlasste Lisa, das Tempo zu drosseln. „Stimmt etwas nicht?" erkundigte sich Ryder. „Ich weiß nur nicht, wo Sie wohnen", erwiderte sie. „Am Stoppschild rechts, den Hügel hinauf und die Zweite links. Es ist das vierte Haus auf der rechten Seite." Ich kann ihn einfach absetzen, sagte Lisa sich, und als Jungfrau wegfahren. Unversehrt. Be hütet. Bis sie mit Boris zum Altar schritt. Alles andere als das! Nach dem Ovulationstest war das Timing perfekt. Dieses Wochenende. Dieser Mann. Sie musste es tun. „Wissen Sie", murmelte er, „ich bin nicht besonders gut im Smalltalk. Aber wäre es zu viel Mühe, mir Ihren Namen zu verraten?" „Lisa Schmidt." Er wartete, fügte dann hinzu: „An dieser Stelle müssen Sie mich nach meinem Namen fragen." „Ich habe gehört, wie Sie ihn dem Arzt genannt haben." „Dann können wir ja zu einem anderen faszinierenden Thema übergehen." Er neigte den Kopf und musterte sie mit belustigter Ironie. „Mal sehen. Sie sind Krankenschwester.
Wo wohnen Sie?" Lisa hatte sich eine Story zurechtgelegt, in welcher sie als leitende Angestellte einer multinationalen Firma Skigebiete zum Kauf erkundete. Ryders Vermutung, dass sie Krankenschwester sei, hatte sie bestätigt, weil es ihr einen Vorwand lieferte, medizinische Fragen zu stellen. Doch nun musste sie sich schleunigst etwas anderes einfallen lassen. „Ich komme aus Florida." Es war das Erste, was ihr in den Sinn kam. Eine verrückte Idee. Sie wusste über Florida nur, dass es dort Disney World und Alligatoren gab. „Florida im Allgemeinen oder aus einer Stadt im Besonderen?" „Miami", sagte sie und erkannte sofort, dass sie es falsch ausgesprochen hatte. „Miami?" hakte er nach. „Davor habe ich in Spanien gelebt. In Barcelona." Zumindest wusste sie diesen Namen richtig auszusprechen. „Ich wusste gar nicht, dass Krankenschwestern so viel herumkommen." „Ich bin noch in der Ausbildung." „Und Sie spezialisieren sich darauf, Unfallopfer nach ihren sexuellen Gewohnheiten zu fragen?" Lisa lachte laut auf. „Also gut, Sie haben mich erwischt, ich bin keine Krankenschwester." „Und Sie leben nicht in Miami?" „Nein." „Verraten Sie mir vielleicht, wo Sie wirklich leben und was Sie wirklich tun?" „Nein." „Sie hätten sagen können, dass Sie für eine Versicherung als Schadenssachverständige für Skiunfälle tätig sind." „Hätten Sie mir das geglaubt?" Er schüttelte den Kopf. „Da haben Sie es. Stellen Sie mir keine Fragen, und ich erzähle Ihnen keine Lügen." „Oh, aber ich glaube, ich habe das Recht erworben, Ihnen eine bestimmte Frage zu stellen." Sein leiser, dunkler Ton sandte ein Prickeln durch ihren Körper. „Und welche ist das?" „Wie steht es mit Ihren sexuellen Gewohnheiten?" „Ich nehme an, Sie beabsichtigen, das herauszufinden." Ryder seufzte. Nichts an dieser Frau ergab einen Sinn, was seinen Argwohn erregte. Leider erregte sie auch ihn. Er wusste nur zwei Dinge über Lisa Schmidt. Dass sie eine unwiderstehliche Mischung aus Naivität und kaum verhohlener Sinnlichkeit war, und dass sie eine lausige Lügnerin war. Demnach war sie keine Betrügerin. Eher eine Touristin, die ein bisschen Vergnügen suchte. Doch er hatte nicht die Absicht, als zufälliger Unterhalter zu dienen, nicht einmal einer so reizvollen Frau. „Ist das nicht eine Unterstellung?" konterte er, als sie vor dem Chalet anhielt. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich wie ein Mönch lebe." „Sie haben Recht. Ich hoffe, Sie sind nicht beleidigt." Er öffnete seine Tür und nahm die Krücken vom Rücksitz. „Das bin ich nicht. Und ich bin auch nicht zu haben. Danke für die Fahrt, Lisa. Ich wünsche Ihnen einen schönen Urlaub." „Sie können mich nicht wegschicken!" Die Bestürzung in ihrer Stimme verwunderte ihn. „Warum nicht?" „Sie brauchen mich." „Ach so?" „Jemand muss Sie morgen zurückfahren, damit Sie Ihr Auto holen können." „Ich nehme ein Taxi." „Nun, ich brauche Sie."
„Wozu?" „Lassen Sie uns hineingehen, und dann sage ich es Ihnen." Ohne auf eine Antwort zu warten, stieg Lisa aus und ging um den Wagen herum, um ihm zu helfen. Ryder ließ sich nicht gern helfen, aber sein Knöchel tat trotz der Schmerzmittel höllisch weh. Außerdem war er neugierig darauf, was sie als Nächstes sagen würde. Darüber hinaus musste er feststellen, dass seine geschundenen Muskeln ärgerlicherweise schwach geworden waren. Er schwankte auf den Krücken und wäre gegen das Auto gefallen, hätte Lisa nicht seinen Ellbogen gestützt. Er zögerte, als er den Schlüssel ins Schloss steckte. Es war immer riskant, eine fremde Person ins Haus zu lassen, vor allem, wenn er nicht in Topform war. Er hatte genug im Leben gesehen, um zu wissen, dass Gefahr dort lauern konnte, wo man sie am wenigsten erwartete. Doch er hatte sich nie gefürchtet, es darauf ankommen zu lassen. Er beabsichtigte nicht, jetzt damit anzufangen. Vor allem nicht, da er dann niemals herausgefunden hätte, welche Umstände ihm diese faszinierende Frau über den Weg geführt hatten.
3. KAPITEL „Wie verrückt." Mit seltsamer Miene musterte Lisa den blauen Teppich, die weißen Wände mit den blauen Stuckverzierungen, die blau und weiß gehaltenen Möbel und den blauen Krimskrams. „Was ist denn?" erkundigte sich Ryder, während er in einen Sessel sank. „Es ist so blau." „Ich wohne nur übers Wochenende hier. Ich habe die Farben nicht ausgesucht." Das Chalet gehörte Nina McNally, der von Joe betrogenen Witwe. Sie hatte ihn dorthin mitgenommen und ihm das Skifahren beigebracht. Da er den Kopf nach all den anderen vornehm gekleideten Damen auf den Pisten verrenkt hatte, war ihr die Idee gekommen, dass er zurückkehren würde, um des Geldes einer anderen habhaft zu werden. In dem Bestreben, den Betrüger dingfest zu machen, hatte sie Ryder bereitwillig das Chalet zur Verfügung gestellt. „Es ist sehr ... ungewöhnlich." Lisa zog sich die Jacke aus. Darunter trug sie eine rosenfarbige Seidenbluse, die ihre Kurven umschmiegte. Sie war so schlank, dass ihre üppigen Brüste ihn verwunderten. Er musste sich zwingen, den Blick abzuwenden. „Wozu brauchen Sie mich?" „Soll ich Ihnen etwas zu essen machen?" Sie wandte sich dem Flur zu. „Warum wechseln Sie das Thema?" „Weil es mir unangenehm ist." Sie blieb stehen und musterte einige blaue Kristallkelche auf einem Regal aus Glas. „Oder weil Sie Zeit brauchen, eine neue Story zu erfinden?" Sie drehte sich zu ihm um. „Ich wünschte, mir würde eine einfallen." „Dann sagen Sie mir die Wahrheit. Sie haben gesagt, dass Sie mich brauchen. Warum?" Ihre Wimpern verhüllten ihre Augen. Beschützend schlang sie die Arme um sich selbst, als sie sich zu sagen zwang: „Ich muss Sie verführen." „Wie bitte?" Normalerweise achtete Ryder nur auf Körpersprache, wenn er versuchte, einen Vorteil gegenüber einem Widersacher zu erlangen. Doch nun wurde ihm alles an Lisa bewusst. Sogar ihre Nase, die schmal und aristokratisch war, und ihre Lippen, die ein wenig zitterten. „Da war ein anderer Mann", sagte sie schließlich. „Er hat sich als nicht sehr nett herausgestellt. Ich brauche jemanden, der mir hilft, mich davon zu erholen. Als ich Sie auf der Piste sah, habe ich beschlossen, dass Sie derjenige sind." Ryder wollte aufspringen und sank vor Schmerz wieder zurück. „Sie müssen mich verwechselt haben. Ich bin kein Kava lier." „Sie haben das kleine Mädchen gerettet." „Ich bin gut in raschen Rettungsaktionen. Aber lassen Sie uns eines klarstellen. Ich kann es nicht ausstehen, wenn Leute Erwartungen an mich stellen oder versuchen, mich einzusperren. Ich will allein bleiben." Lisa ging zur Couch und hockte sich auf die Armlehne. „Das will ich auch." „Mit mir ins Bett gehen und dann wieder verschwinden?" „Ich kann momentan keine feste Beziehung eingehen. Aber dieser Mann hat schlechte Gefühle über mich selbst und Männer im Allgemeinen in mir erweckt. Das muss ich überwinden." Obwohl ihre Worte aufrichtig klangen, wirkte ihr Blick verschleiert. Womöglich log sie wieder. Oder vielleicht war ihr der Vorschlag nur peinlich. „Sie haben mich also einfach ausgesucht und beschlossen, mich zu verführen?" hakte er skeptisch nach. „Sie sind sehr attraktiv. Tun Frauen das nicht ständig?" „Meiner Erfahrung nach nicht. Ich will damit nicht sagen, dass ich nicht hin und
wieder ein eindeutiges Angebot bekomme. Aber gewöhnlich ist die Dame zu unbeherrscht für meinen Geschmack, oder sie will einen größeren Teil von mir, als ich zu geben bereit bin." „Ich will nur einen kleinen Teil von Ihnen", entgegnete sie und errötete heftig. „Wie schmeichelhaft." „Es tut mir Leid. Ich habe es nicht so gemeint, wie es klang." „Glauben Sie wirklich, dass Sie diesen Schuft vergessen, wenn wir miteinander ins Heu gehen?" Er musterte sie zweifelnd. „Wie alt sind Sie?" „Sechsundzwanzig." Stolz hob sie das Kinn. „Ja, das glaube ich, wenn es der Richtige ist, mit dem ich ins Heu gehe, wie Sie es nennen." Ryder fragte sich, warum er zauderte. Sein Knöchel schmerzte und die Medizin machte ihn benommen, aber es brauchte nicht viel Stimulation, um diese Nachteile zu überwinden. Er begehrte sie, schon vom ersten Augenblick an. Aber er traute keinen Glückstreffern. Irgendetwas war faul an der ganzen Sache, und dem musste er auf den Grund gehen. Draußen wurden die Schatten länger. Er fühlte sich erschöpft bis auf die Knochen. „Ich muss darüber nachdenken. Habe ich richtig gehört, dass Sie mir etwas zu essen angeboten haben?" „Sicher." Lächelnd sprang sie auf und eilte in den Flur. „Es ist nicht viel im Kühlschrank!" rief er ihr nach. „Sie werden eine Dose aufmachen müssen." „Okay." Selbst in ihrer Abwesenheit füllte ihr betörender Duft seine Sinne. Ryder lehnte sich zurück und genoss es, sich zu dieser bezaubernden Frau hingezogen zu fühlen, während er die Ereignisse des Tages Revue passieren ließ. Er hatte Joe geschnappt. Wenn der Kautionssteller mit seiner üblichen Tüchtigkeit agierte, würde der Kriminelle direkt vom Krankenhaus in den Knast wandern. Für Ryder wurde es Zeit, nach Los Angeles zurückzukehren. Er hatte allerlei Kleinigkeiten zu regeln, und vermutlich wartete bereits ein neuer Auftrag auf ihn. Andererseits war es nicht ratsam, den verletzten Knöchel zu sehr zu belasten, und der folgende Tag war ein Sonntag. Ein wenig Entspannung war genau das, was der Doktor verordnet hätte. Und Lisa? War sie auch das, was der Doktor verordnete, oder brachte sie nichts als Scherereien ein? Ein lautes Poltern drang aus der Küche, gefolgt von einem entsetzten Aufschrei. „Lisa? Was ist passiert?" Er stemmte sich aus dem Sessel, griff nach den Krücken und humpelte durch den kurzen Flur zur glänzenden Küche. Einstmals glänzend. Als er eintrat, waren Schranktüren und Fußboden mit roten Spritzern übersät. Einen schrecklichen Moment lang glaubte er, Lisa hätte sich schwer verletzt. Dann sah er sie die bekleckerte Kühlschranktür abwischen. Mitten auf dem Fußboden lag eine halb geöffnete Dose Tomatensuppe. Mit leidvoller Miene drehte Lisa sich zu ihm um. Tomatens uppe tropfte von ihren Haaren, der Seidenbluse und der Skihose hinab auf ihre Designer-Stiefel. „Da drüben an der Wand hängt ein elektrischer Büchsenöffner. Warum haben Sie den nicht benutzt? Damit wäre es ein Kinderspiel gewesen." „Ich bin etwas außer Übung, was Kochen angeht." Suppe tropfte von dem Lappen in ihrer Hand auf den Fußboden. „Und was Reinigen angeht, anscheinend auch. Sind Sie gerade aus einer Anstalt entlassen worden?" „Normalerweise vermassle ich es nicht so schlimm. Ist Kochen eine Voraussetzung?" „Wofür?" „Um Sie verführen zu können." Trotz bester Absichten erwachte Verlangen in Ryder. Wie brachte sie es nur fertig, von Kopf bis Fuß mit Tomatensuppe bekleckert so viel Sinnlichkeit auszustrahlen?
Vielleicht lag es an der Verletzlichkeit in ihrem Blick, oder dem humorvollen Zucken ihrer vollen Lippen, oder an der nassen Bluse, die an ihren üppigen Büsten klebte. Oder vielleicht lag es einfach daran, dass ein bezauberndes Wesen in seinem Leben gelandet war, das voller Überraschungen steckte und eine Erforschung lohnte. „Vergessen Sie das Kochen", sagte er. „Gehen wir duschen." Lisa hätte überglücklich sein sollen, dass ihr Plan aufging. Offensichtlich hatte sie ihre Story überzeugend dargelegt. Doch nun, da er ihr glaubte und sie begehrte, war sie nicht mehr sicher, ob sie es durchziehen konnte. „Haben Sie mich gehört? Ich habe angeboten, mit Ihnen zu duschen." Sie schluckte schwer, nahm ein Geschirrhandtuch und betupfte ihre Bluse. „Wir sollten hier zuerst sauber machen." „Ich verstehe." „Was?" „Dass ich Sie verunsichere." Erstaunt blickte sie auf. Sie wurde sich seiner stolzen Kopfhaltung bewusst, seiner breiten Schultern und starken Arme. Des Flanellhemdes, das seine muskulöse Brust umspannte, und der verwaschenen Jeans, die seine schmalen Hüften umschmiegten. „Sie verunsichern mich wirklich. Deswegen habe ich Sie auserkoren." „Weil Sie Angst vor mir haben?" „Ich habe keine Angst vor Ihnen. Ich bin der Meinung, dass Sie Mann genug sind, um mich Bor... meinen Exfreund vergessen zu lassen." „Sie haben also vor, meine Technik als Liebhaber an seiner zu messen?" „Ich kann Ihnen versichern, dass ich Sie an niemandem messen werde." „Das klingt schon besser." Er ging einen Schritt auf sie zu und zuckte zusammen. „Dieser verdammte Knöchel!" „Setzen Sie sich." Lisa schob ihm einen Küchenstuhl zu. „Sie sind mein Patient." „Aber Sie sind doch gar keine Krankenschwester", wandte er ein, doch er setzte sich. „Das bedeutet nicht, dass ich Sie nicht versorgen kann." „Ich brauche nicht versorgt zu werden." „Aber natürlich. Außerdem brauche ich eine Verzögerungs taktik." „Weil ich Sie so sehr verunsichere?" „Weil ich noch nie so etwas getan habe. Es ist nicht meine Gewohnheit, Männer auf Pisten aufzugabeln. Also sitzen Sie still, damit ich mich daran gewöhnen kann, Sie anzufassen." Lisa kniete sich vor ihn und strich über sein Bein. Seine Wadenmus keln fühlten sich verspannt an. Daher massierte sie die Stelle und spürte, wie er sich allmählich entspannte. Es war ein berauschendes Gefühl, dass dieser starke Mann sich ihr fügte. Aber war sie wirklich bereit, ihm ihre Unschuld zu schenken? Zorn gegen ihre Eltern stieg in ihr auf. Hätten sie nicht einen derart abscheulichen Mann für sie auserwählt, hätte sie als Jungfrau zum Altar schreiten können. Doch das hatten sie ihr unmöglich gemacht, indem sie versuchten, sie zu beherrschen. Wie immer. Sie war zu ungeschickt, um eine Konservendose zu öffnen, weil ihre Mutter und ihr Koch sie aus der Küche verbannt hatten. Auch ihr Vater hielt sie an einer sehr kurzen Leine. Selbst als sie in seiner Firma gearbeitet hatte, war ihre Belohnung die uneingeschränkte Benutzung einer Kreditkarte gewesen, aber kein Gehalt. Im Laufe der Jahre hatte sie nur Bargeld erhalten, um nebensächliche Unkosten decken zu können. Zum Glück hatte sie genug von dem Geld in ihrem Schrank angespart für den Fall, dass etwas Unerwartetes eintrat. Wie die ser Trip. Lisas Aufmerksamkeit kehrte zu Ryder zurück, als ihre Wange sein Bein berührte. Es fühlte sich hart und gut entwickelt an. Das Bein eines Skifahrers. Eines richtigen Mannes. Sie genoss es, ihn zu massieren. Sich wie eine sechsundzwanzigjährige Frau zu benehmen, anstatt wie eine behütete Erbin. Empfindungen zu verspüren, die ihre Eltern nicht billigen würden, zu einem Mann, den sie ganz entschieden nicht billigen würden.
„Ryder?" „Hm?" murmelte er entspannt. „Stellt Ihre Familie Forderungen an Sie?" „Meine Familie?" „Ihre Eltern. Werden Sie von ihnen gedrängt, zu heiraten oder einen konventionellen Beruf zu ergreifen?" Er seufzte tief. „Mein Dad ist fort." „Fort? Sie meinen ... tot?" „Einfach nur fort." Sein Körper spannte sich, und sie fuhr fort, seine Wade zu massieren. Nach einer Weile lehnte er sich zurück. „In einem heruntergekommenen Wohnwagen zu leben, mich und meine Schwestern zu kriegen, bevor er dafür bereit war, einen Gelegenheitsjob nach dem anderen auszuführen - das konnte er nicht verkraften." Lisa versuchte vergeblich, sich ein Leben vorzustellen, das so sehr von ihrem eigenen abwich. „Hätte er nicht vorankommen können? Seine beruflichen Fähigkeiten erweitern oder so?" „Er hatte die gleichen Chancen wie jeder andere", entgegnete Ryder mit bitterem Unterton. „Aber er und Mom haben nie im Voraus geplant. Nie eine Anschaffung verschoben, nie härter ge arbeitet, als sie unbedingt mussten. Es war leichter, sich treiben zu lassen - und zu trinken. Schließlich hat Mom ihn hinausge worfen, und wir haben ihn nie wiedergesehen." „Und was ist mit Ihrer Mutter?" hakte Lisa besorgt nach. „Es muss schwer für sie gewesen sein." „Sie tat, was sie konnte. Wir hatten viele Freunde im Wohnwagenpark. Und dann fand sie einen anderen Mann." „Aber Sie mochten ihn nicht?" „Er hatte eines mit Dad gemeinsam. Er trank. Also wurde sie ihn wieder los, und dann kam Ehemann Nummer drei. Zu dem Zeitpunkt bin ich in die Marine eingetreten." „Was ist mit Ihren Schwestern? Haben Sie Kontakt zueinander?" „Wir schreiben uns zu Weihnachten. Ich nehme an, es geht ihnen gut." Es klang, als wäre er des Themas überdrüssig, also ließ sie es fallen. Außerdem erregte seine Nähe sie so sehr, dass sie kaum noch klar denken konnte. Der würzige Geruch von Tomatensup pe auf ihrer Bluse rief ihr außerdem in Erinnerung, dass es Zeit war voranzuschreiten. „Ich kann eine Dusche gebrauchen." Sie stand auf und deutete auf das Chaos in der Küche. „Aber ..." „Die Putzfrau kommt am Montag. Es kann bis dahin warten."
4. KAPITEL Ein Kronleuchter warf einen goldenen, warmen Schein auf das Bett. Die Tür zum Badezimmer stand offen und enthüllte einen großen Spiegel. Alles war perfekt. Der Mann, der Ort, der Zeitpunkt. Lisa fühlte sich nicht länger wie die Annalisa, die sie kannte, sondern wie eine völlig andere Frau voll zärtlicher Leidenschaft und hemmungsloser Hingabe. Ryder lehnte am Türrahmen und beobachtete, wie sie sich die Bluse aufknöpfte. Er war von Natur aus ein Mann der Tat. Er betrachtete es als sein Privileg, eine Frau auszuziehen, bevor er mit ihr schlief. Doch jedes Mal, wenn er nach ihr griff, erzitterte sie wie ein scheues Reh. Also stand er nur da und betrachtete sie. Dunk les Haar verbarg ihr Gesicht und ihre Schultern, als sie sich die Bluse auszog. Sie besaß eine frische, natürliche Schönheit. Ihre Haut war samtig und gebräunt. Wo hat sie sich gesonnt? fragte er sich. Bestimmt nicht in Florida, da sie Miami falsch aus sprach. Gemächlich zog er sich das Flanellhemd aus und warf es beiseite. Sie blickte ihn erstaunt an, als er nach seiner Gürtelschnalle griff. Was hatte sie erwartet? Dass er voll bekleidet duschte und womöglich sogar so mit ihr schlief? Dann wurde ihm bewusst, dass sie fasziniert auf seine nackte Brust starrte. Dabei hatte sie doch gewiss unzählige muskulöse Körper gesehen, und dazu prächtigere als seinen. Am Strand, wenn schon nicht im Schlafzimmer. Es sei denn, sie schwamm nur in einem privaten Pool, in beschränkter Gesellschaft. Er war es gewohnt, Anhaltspunkte zu sammeln, und nun fügten sich mehrere zusammen. Sie trug teure Kleider. Sie wollte nicht verraten, wer sie war und woher sie kam. Und sie war zu ungeschickt, um eine Dose zu öffnen. Sie musste jemandes verwöhnte Tochter sein. Ihr leichter Ak zent deutete darauf hin, dass sie aus einem fremden Land kam. Abgesehen von den grünen Augen sah sie spanisch aus. Der Name Schmidt konnte falsch sein, oder sie hatte deutsche Vorfahren. Das war nicht ungewö hnlich, wenn sie aus Südamerika stammte. „Argentinien", vermutete er. Lisa hielt im Ausziehen ihrer Hose inne. „Wie bitte?" „Du kommst aus Argentinien." Sie schüttelte den Kopf. „Paraguay? Uruguay?" „Worauf willst hinaus?" „Wer bist du wirklich?" „Ist das wichtig?" Ihre Miene verriet, dass sie ihm keine weiteren Lügen auftischen, aber auch nicht die Wahrheit eingestehen wollte. „Ich möchte, dass du mir eines versprichst", sagte Ryder. Ihre Hose rutschte hinab zu Boden. In ihrer zarten Unterwäsche stand sie da und blickte ihn so ernst an wie Eva den Apfelbaum. „Was denn?" „Dass es kein Spiel für dich ist. Dass ich keine Trophäe für ein reiches Mädchen bin." „Trophäe?" Sie musterte ihn erstaunt. „Tun Leute wirklich so etwas? Mit jemandem schlafen, um damit bei ihren Freunden anzugeben?" „Männer tun es. Zumindest habe ich das gehört. Und ich habe großen Respekt vor der Fähigkeit von Frauen, all das zu tun, was Männer tun. Wie töricht es auch sein mag." „Jemanden als Sportart zu benutzen! Das kann ich mir nic ht vorstellen." Sie stieg aus der Hose, stellte sich auf Zehenspitzen vor ihn und strich mit einer Hand über seine Wange. Als ihre Blicke sich begegneten, hatte er das Gefühl, als würden sie sich auf mehreren Ebenen gleichzeitig berühren und in das Bewusstsein des anderen vordringen. Ihre Lippen berührten seine, zögernd und leicht. Er überließ ihr die Führung, genoss die Zartheit ihrer Liebkosung. Dann strich sie mit der Zunge über seine Lippen, und Verlangen erwachte in ihm. Er umfasste ihre Taille und zog sie an sich. Sie schloss die Augen und schmiegte sich an ihn. Er wollte sie auf der Stelle nehmen. Auf dem
Fußboden. Auf dem Bett. Irgendwo. Und er hätte es getan, hätte nicht eine Gewichtsverlagerung einen schmerzhaften Stich durch seinen Knöchel gejagt. Er stöhnte auf und taumelte zurück an den Türrahmen. Lisa blickte ihn besorgt an. „Ich habe dir wehgetan! Es tut mir Leid." Sein Stöhnen ging über in ein Schmunzeln. „Du, Sweetheart, bist das reinste Vergnügen. Der Schmerz sitzt wesentlich tiefer." Ihr Blick fiel auf seinen Knöchel. „Das hatte ich ganz vergessen. Was kann ich tun?" „Du kannst mir mit dieser Hose helfen." „Ausziehen?" „So ungefähr." „Wird das deinem Knöchel helfen?" hakte sie zweifelnd nach. „Nein, aber dadurch bleibt die Hose trocken. Ich empfehle dir, dich auch zu Ende auszuziehen. Es sei denn, du ziehst es vor, deine Unterwäsche zu waschen, während du sie anhast." Ein Lachen huschte über ihr Gesicht. Dann presste sie die Lip pen zusammen, bückte sich und griff nach seiner Jeans. Als sie sich vorgenommen hatte, ihre Unschuld zu verlieren, hatte sie nicht an die Details gedacht. Sie hatte angenommen, dass der Mann alles handhaben würde. Offensichtlich funktionierte es im wahren Leben nicht auf diese Weise. Zumindest nicht bei diesem Mann. Ungeschickt fummelte sie an dem Reißverschluss. Hastig riss sie die Hand fort, als sie die harte Ausbuchtung darunter berühr te. Dann zwang sie sich fortzufahren, als wäre nichts geschehen. Trotz ihres Unbehagens begehrte sie ihn. Die Knospen ihrer Brüste richtete sich unter dem dünnen BH auf, und sie verspürte einen äußerst undamenhaften Drang, sich an ihn zu pressen, ihn zu küssen und zu streicheln und diese Ausbuchtung zu vergrößern. Schließlich gelang es ihr, mit zitternden Fingern seine Hose zu öffne n. Sie kniete sich nieder und streifte sie ihm ab. Als sie sich wieder aufrichtete, musterte sie ihn. Sie hatte Männer in knappen Badehosen gesehen, aber nur aus der Ferne. Keiner von ihnen konnte seinem perfekten Körper das Wasser reichen. „Dieser Verband sollte lieber nicht nass werden, oder?" „Ich halte ihn zur Tür hinaus." „Läuft das Wasser dann nicht heraus?" Im Chateau ihrer Eltern bedeutete eine Lache auf dem Holzfußboden anhaltende Feuchtigkeit und vermutlich Flecken an der Decke des Raumes darunt er. „Hast du schon mal was von Abfluss gehört?" Sie blickte zum Badezimmer und sah, dass der Fußboden ge fliest war und in der Mitte einen Abfluss aufwies. „Sicher. Sogar in Argentinien gibt es Abflüsse." „Du lebst also dort?" „Abflüsse gibt es überall." „Du bist wirklich fest entschlossen, mich raten zu lassen, wie?" „Nicht raten. Im Dunkeln tappen." „Die Unterwäsche." Sie griff zu ihrem Slip. „Meine." Lisa schüttelte den Kopf. „Die kannst du dir selbst ausziehen." „Aber ich habe furchtbare Schmerzen", behauptete Ryder. Nur das Funkeln in seinen Augen verriet ihn. „Ich glaube, dass du diese ganze Verletzung nur vortäuschst." „Ich wünschte, es wäre so." Er seufzte übertrieben, verschränkte die Arme und blickte sie auffordernd an. „Gleich." „Lass dir nur Zeit." Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen, als sie sich BH und Slip auszog, und dann hörte
sie ihn anerkennend pfeifen. Sie hockte sich vor Ryder, wandte den Blick ab und streifte ihm den Slip ab. Hastig wich sie zurück. Er rührte sich nicht, aber sie spürte seine Anspannung. Als sie einen Blick wagte, erkannte sie, dass er äußerst bereit war. Sie wollte das Verlangen entfesseln, das hinter seiner eisernen Selbstbeherrschung lauerte. Ihre Brüste fühlten sich geschwollen an, sehnten sich danach, liebkost zu werden. Doch sie konnte es nicht über sich bringen, sich ihm zu nähern. Ryder wandte sich ab und humpelte ins Badezimmer. Sein steifer Rücken verriet, wie sehr er an sich hielt. Durch seine Zurückhaltung erkannte sie in ihm den Mann, den sein Lebenslauf beschrieb. Einen ehemaligen Mariner und Polizisten. Einen harten, erfahrenen Mann. Sie brauchte all die Erfahrung, doch die Härte ängstigte sie ein wenig. Die Dusche erklang, füllte das Badezimmer mit einem Rauschen und die Luft mit Dampf. Ryder humpelte in die Kabine und ließ die Glastür einen Spaltbreit offen. „Wir sollten den Verband mit einer Plastiktüte umwickeln. Hast du eine zur Hand?" Lisa schüttelte den Kopf. „Dann komm mich lieber schnell schrubben." Früher, vor Nicolas Scheidung, hatte Lisa gelegentlich geholfen, die Pferde des Barons zu duschen. Einen Mann zu waschen, war bestimmt nicht schwerer. Sie begab sich in die Kabine und griff nach einem Waschlappen. „Du hast einen seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht", bemerkte Ryder. „Wirklich?" Er musterte sie eingehend. „So als hättest du Angst, von einem Huf getroffen zu werden." „Wie hast du das erraten?" fragte sie erstaunt. „Reiche Mädchen haben immer Pferde." „Sie gehörten nicht mir, sondern dem Baron." „Dem Baron? Dein scheußlicher Exfreund war ein Baron?" „Es ist ein Spitzname", behauptete sie hastig und erkannte sofort, dass er ihr nicht glaubte. „Soweit ich weiß, gibt es keine Barone in Argentinien. Europa also. Dein Name lautet Schmidt. Demnach stammst du aus Österreich oder Deutschland." „Möchtest du meine Lederhose sehen?" „Ein andermal." Lisa griff nach der Seife und schäumte den Waschlappen ein. So rasch wie möglich seifte sie Ryders Schultern und Brust ein. Er nahm ihr den Waschlappen aus der Hand. „So nicht, Lisa. Lass dir zeigen, wie es gemacht wird." „Nicht nötig. Ich kann es ja noch mal versuchen." Er lachte. „Warst du dem Baron gegenüber auch so verklemmt?" „Nein. Ja." Sie war sich nicht sicher, was sie ihn glauben lassen sollte. Er drängte sie zurück an die Glaswand. „Steh still." „Dein Verband wird ganz nass." „Wir legen einen neuen an. Irgendwo ist hier bestimmt ein Verbandskasten." Sie wollte sich entwinden, als er sich über sie beugte, aber es war kein Platz vorhanden. Außerdem strich er so sanft mit dem Waschlappen über ihre Schultern, dass sie sich beruhigte. „Komm von der Wand weg, damit ich deinen Rücken erreiche", murmelte er. „Okay. Ich drehe mich um." „Nein." Er zog sie an sich, sodass sie seinen gesamten Körper an ihrem spürte. Seine Beine waren sehnig und leicht behaart. Seine Brust war glitschig von Seife, und seine
Haare rochen nach Kräutershampoo. „Du hast das schon mal gemacht", warf sie ihm vor, als er sie geschickt einseifte. „Was sollte der Unsinn, dass du wie ein Mönch lebst?" „Ich habe es eigentlich noch nie getan. Aber ich habe als Kind immer unseren Hund gewaschen." „Wie bitte?" Er schmunzelte über ihre Entrüstung. „Reiche Mädchen haben Pferde. Kinder, die in Wohnwagen leben, haben Hunde." „Ich erinnere dich an deinen Köter?" „Glaub mir, es hat nicht annähernd so viel Spaß gemacht", murmelte er, während er mit dem Waschlappen über das Tal zwischen ihren Brüsten strich. Lisa stockte der Atem. Er lächelte zufrieden über ihre Reaktion. Dann stützte er sich mit einem Arm gegen die Wand, beugte sich vor und nahm eine Knospe zwischen die Lippen. Quälendes Verlangen vertrieb jeden klaren Gedanken. Sie schmiegte eine Hand um seinen Kopf, drückte ihn aufmunternd an sich. Er gab die Knospe frei und widmete sich der anderen. Instinktiv bog sie den Rücken durch und streichelte mit der freien Hand seine Hüften. Zu ihrer Verwunderung verspürte sie keinerlei Scheu, keine Hemmungen. Sie wollte es, brauchte es, sehnte sich danach. Als er den Kopf hob und ihr Gesicht musterte, nahm sie seine Lippen mit ihren in Beschlag und gab dem Drang nach, sich an ihn zu pressen. Starke Finger umfassten ihre Hüften. Er stöhnte auf, und dann wich er abrupt zurück. „Was ist denn? Tut dein Fuß weh?" Er schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht an Verhütung ge dacht." „Wie bitte?" „Ich muss ein Kondom suchen. Irgendwo hier im Haus müssen welche sein." Er stieß einen leisen Fluch aus. „Entschuldige. Es ist einfach frustrierend." Lisa konnte es kaum fassen. Sie sollte ihre Unschuld verlieren ohne eine Chance, schwanger zu werden? Sie wusste, dass sie nie wieder einen Mann wie ihn finden würde, der in medizinischer Hinsicht unbedenklich, charakterlich einwandfrei und dazu so sinnlich war. Sie musste dringend das Thema wechseln. Sie strich ihm eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn und befühlte eine weiße Narbe über seiner Schläfe. „Woher stammt die?" „Von einer Rettungsaktion bei der Marine. Bei einer Revolution in Zentralafrika. Wir mussten die amerikanischen Bürger he rausschaffen." „Du wurdest angeschossen?" „Beworfen." „Wie bitte?" „Jemand hat mir eine Kanne an den Kopf geworfen. Ich war so benommen, dass ich mit der Kanne in der Hand in den Helikopter gestiegen bin." „Was für eine Kanne?" „Eine Teekanne." „Sind alle heil davongekommen?" „Ja." „Dann warst du also damals schon ein Held." „Sie wären ohne hin davongekommen. Die Revolution war schon vorbei, als wir landeten." Lisa lachte. „Du lässt es so nebensächlich klingen." Ryder musterte sie fasziniert. „Du bist sehr hübsch, wenn du lachst. Aber das sollte ich dir eigentlich nicht sagen." „Warum nicht?"
„Es gibt dir zu viel Macht." Sie zog seine Hüften an ihre. „Du bist derjenige, der die Macht hat." Bis zu diesem Moment hatte sie versucht, nicht über ihr Vorha ben nachzudenken. Nun musste sie es tun. Denn in diesem Moment erkannte sie, dass sie unvollständig war und bleiben würde, solange sie sich nicht mit Ryder vereinigte. Es war mehr als ein Drang oder ein Bedürfnis. Es war ein Zwang. Sie spürte auch in ihm eine Veränderung. Er bewegte die Hüften im selben Rhythmus wie sie, während er die Arme wie Stahlklammern um ihre Taille schloss. Unter spritzendem Wasser und einigen gemurmelten Flüchen, als er zu viel Gewicht auf den verletzten Knöchel legte, begaben sie sich aus der Duschkabine auf eine flauschige Badematte. Der Kontrast zwischen nass und trocken, kalter Luft und heißen Wassertropfen verblasste angesichts des allumfassenden Verlangens, das nur er zu stillen vermochte. Lisa gab sich der elementaren Kraft hin, die gleichermaßen aus ihr wie aus ihm bestand. Sie streichelte ihn überall, mit ihrem gesamten Körper, und öffnete sich ihm vorbehaltlos. Mit einem heftigen Stoß drang er in sie ein. Einen flüchtigen Moment lang spurte sie einen stechenden Schmerz. Er rang nach Atem, stützte sich auf die Ellbogen und wich zurück. War das alles? fragte sie sich verwundert. Sie war zwar nicht länger Jungfrau, aber sie fühlte sich nicht erfüllt. „Ryder?" flüsterte sie. „Ich will nicht zu schnell vorgehen." Er runzelte die Stirn. „Warst du ...? Habe ich mir nur eingebildet, dass ...?" Sie streichelte seine Hüften und spürte ihn erschauern. Als sie sich an ihn schmiegte, entdeckte sie, dass er immer noch erregt war. Es war also doch noch nicht alles. „Küss mich", forderte sie ihn auf. „So?" Beinahe grob nahm er ihre Lippen gefangen. „Oder so?" Wahrend er sanft ihren Mund mit der Zunge erforschte, drang er ebenso behutsam in sie ein. I4sa hatte sich nie so berauscht gefühlt. Sie wand sich unter ihm und verspürte ein starkes Entzücken, als er mit schnelleren Bewegungen reagierte. Das Entzücken wuchs und steigerte sich zu beinahe unerträglicher Ekstase. Sie klammerte sich an ihn Und spürte ihn erschauern. Er rief ihren Namen, wieder und wieder, und irgendwie brachte seine raue Stimme sie sicher zurück in die Wirklichkeit, Vage wurde ihr die feuchte Matte unter ihr und das Rauschen der Busche bewusst. So werden also Babys gemacht, dachte sie und fragte sich verklärt, warum es nicht viel mehr Kinder auf der Welt gab. Mit einem zufriedenen Seufzen zog Ryder sich zurück. Es waren nur wenige Zentimeter, aber es erschien ihr wie Meilen. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du noch Jungfrau warst?" wollte er wissen und wappnete sich auf eine weitere Lüge. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es eine überzeugende Erklärung dafür gab, dass sie einem völlig Fremden ihre Unschuld geschenkt hatte. Zu nervös, um still zu liegen, zog er sich am Waschtisch hoch und humpelte zurück in die Duschkabine. Als er wieder heraus kam, musterte er Lisa, die mit zerzausten Haaren auf der Badematte kauerte. Wäre sie nur nicht so umwerfend schön, dachte er, dann könnte ich vielleicht klar denken. Zweifellos fiel es ihr leicht, andere zu manipulieren, wie sie es offensichtlich mit ihm getan hatte. „Nun?" „Weil du es nicht wissen solltest", erwiderte sie. „Wie oft kann man es tun?" „Was?" „Was wir gerade getan haben. Sex haben. Müssen wir eine Stunde warten oder so?" „Du meinst, wie mit dem Schwimmen nach dem Essen?" Er schüttelte den Kopf. „Lady, ich lasse mich nicht ablenken. Warum zum Teufel hast du dir einen Fremden
ausgesucht, um ... Wir haben nicht mal Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Der Himmel weiß, was für ein Risiko das heutzutage für dich bedeuten kann." Graziös erhob sie sich. Wie eine Nymphe, dachte er und schalt sich insgeheim für diese lächerliche Vorstellung. „Ich habe mich doch nach deinem Gesundheitszustand erkundigt", rief sie ihm in Erinnerung. „Ich hätte lügen können." „Warum solltest du? Schließlich hast du mich für eine Krankenschwester gehalten." „Weil manche Leute ständig lügen, wie du wissen solltest." Ryder zuckte zusammen, als sein Knöchel wieder zu schmerzen begann. „Sie lassen andere Leute im Dunklen tappen, um immer die Oberhand zu behalten." Lisa wickelte sich ein Handtuch um die Hüften. „Du meinst mich?" „Sieht du sonst noch jemanden, der von der Wahrheit abgewichen ist?" „Ich bin von gar nichts abgewichen. Ich habe regelrecht gelo gen." Das weiße Handtuch unterstrich wirkungsvoll ihre gebräunte Haut, und sie hatte sich aufreizend von der Taille aufwärts nackt gelassen. Gegen seinen Willen erwachte sein Körper erne ut. „Lisa! Beantworte meine Frage!" „Da ist ein Mann, dem ich zu entkommen versuche, aber er ist nicht der Baron." „Und er lässt dich in Ruhe, wenn du beweisen kannst, dass du keine Jungfrau mehr bist?" „Nun, nein." Er war froh, dass sie diesen offensichtlichen Vorwand nicht ergriffen hatte. „Du wolltest nur herausfinden, wie Sex ist, bevor du dich an jemanden bindest, der reich und akzeptabel in den Augen deiner Eltern ist?" „Nein!" Ihre Augen funkelten feurig. „Ich will ihn überhaupt nicht heiraten." „Tja, dann habe ich eine gute Nachricht für dich. Du musst es nicht tun." Ryder griff nach einem Handtuch und schlang es sich um die Taille. „Es gibt einen Slogan in diesem Land: Sag einfach nein." Sobald er das Handtuch losließ, rutschte es zu Boden. „Du hast es nicht stramm genug gezogen." „Vielleicht kannst du es mir ja zeigen." „Gern. Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet." „Welche?" „Wie lange müssen wir warten, bis wir es noch mal tun können?" Er konnte ihre Unverfrorenheit kaum fassen. Noch schlimmer war, dass sein Körper um so schneller bereit für eine Wiederho lung wurde, je länger er ihre Brüste und ihr lebhaftes Gesicht betrachtete. „Jahrzehnte", murrte er und humpelte aus dem Badezimmer. Sie folgte ihm auf den Fersen. „Bist du sauer?" Er versuchte, seine Kleidung vom Fußboden aufzuheben, und verdrehte dabei schmerzhaft seinen Knöchel. „Hebst du sie bitte auf?" Lisa erfüllte die Bitte. Sie schien sich kaum bewusst zu sein, dass sie noch immer halb nackt war. Er nutzte die Gelegenheit, um ihre Brüste nüchterner zu betrachten, als es ihm zuvor möglich gewesen war, und befand, dass sie perfekt waren. Sie reichte ihm die Kleidung. „Meine Freundinnen haben mir erzählt, dass Männer gern Sex haben. Ich hätte nicht gedacht, dass du es so ungern tus t." „Gegen den Teil habe ich nichts einzuwenden." Er entfernte den nassen Verband und begann, sich anzuziehen. „Es ist der andere Teil." „Die Schwindelei?" „Plural. Die Schwindeleien. Schau mal im Bad nach, ob du einen Verbandskasten findest, ja?" Ihm kam in den Sinn, dass sie vielleicht nicht wusste, wie so etwas aussah. „Es müsste ein weißer Kasten mit einem roten Kreuz sein." Als sie im Badezimmer verschwand, tat Ryder, was jeder eifrige Privatdetektiv in Amerika getan hätte. Er begab sich ins Wohnzimmer und öffnete Lisas Handtasche.
Sie war schlicht, aber kunstvoll aus weichem grauem Leder angefertigt. Es war kein Designername zu sehen, was bewies, dass sie wahrhaft exklusiv war. Er untersuchte den Inhalt: eine goldene Puderdose, die Museumswert zu haben schien; ein kleiner Parfümzerstäuber, dem der Duft von Frühling und Geheimnis entströmte; eine Brieftasche mit fast dreitausend Dollar in bar. Keine fremden Währungen. Keine Kreditkarten. Ein internationaler Führerschein auf den Namen Lisa Schmidt, mit einer Züricher Adresse. Die Schweiz? Daran hatte er gar nicht gedacht. Unter der Brieftasche lag ein Schweizer Pass, ebenfalls ausgestellt auf den Namen Lisa Schmidt, nur einmal abgestempelt, am Vortag auf dem Flughafen von New York. Das war seltsam. Lisa Schmidt mochte ihr ausländisches Geld und ihre Kreditkarten im Hotel gelassen haben, aber es war unwahrscheinlich, dass sie mit einem brandneuen, nie zuvor benutzten Pass nach Amerika gekommen war. Es sei denn, er war gefälscht. Die gesamte Situation wurde immer merkwürdiger. Wollte ihn jemand in eine Falle locken? Wenn ja, inwiefern? Erpressung? Er war weder verheiratet noch ein Politiker, und soweit er wusste, war Entjungferung in gegenseitigem Einvernehmen keine Straftat. Vielleicht wollte sich einer der Männer, die er im Laufe der Jahre geschnappt hatte, an ihm rächen. Aber wie? Niemand hatte wissen können, dass Lisa Gefühle in ihm erweckte, deren er sich nicht für fähig gehalten hatte. Wie Zärtlichkeit. Und Beschützerdrang. Und den irrationalen Wunsch, sie möge für eine Weile bei ihm bleiben. „Ryder?" Lisa stand, immer noch halb nackt, in der Tür und beobachte ängstlich, wie er ihre Handtasche zurück auf den Tisch legte. „Was tust du da?" „Ich wünschte, ich wusste, wie ein echter Schweizer Pass aussieht. Aber ich kann es herausfinden." „Ist es dir wichtig?" Ihre Augen wirkten groß und verletzlich, und sie umklammerte eisern den Verbandskasten. „Hat dich jemand beauftragt?" „Nein." „Hast du tiefere Motive?" „Ja, aber die gehen dich nichts an." „Wie bitte?" „Hast du dir jemals gewünscht, dass etwas in deinem Leben perfekt ist, damit du dich für immer daran erinnern möchtest?" Während sie sprach, setzte sie sich an den Couchtisch und öffnete den Verbandskasten. „Nein." „Du hast es wohl auch nicht nötig, weil du suchen kannst, was immer du willst, bis du es findest." Sie legte sich seinen Fuß auf den Schoß und begann, ihn zu bandagieren. „Aber ich kann normalerweise nicht selbst über mein Leben bestimmen. Dieses eine, dieses erste Mal wollte ich auf meine Weise tun." „Ich sollte mich also geehrt fühlen, dass du mich auserkoren hast, dich zu entjungfern? Ohne mein Wissen oder meine Zustimmung, wie ich hinzufügen möchte." „Ich entschuldige mich dafür. Ich hatte angenommen, dass es dir einfach Spaß machen würde, Sex zu haben, und es dir egal wäre, warum es dazu kommt." Ihre Erklärung klang beinahe aufrichtig. Aber Ryder gab sich niemals mit beinahe zufrieden. „Wieso kannst du einen Verband wie ein Experte anlegen, aber nicht mal eine Konserve öffnen?" „Ich habe unentgeltlich in einem Krankenhaus gearbeitet. Es war die einzige Aktivität, die meine Eltern mir gestattet haben." Geschickt befestigte sie das Ende der Binde mit zwei Streifen Klebeband. „Fertig." „So gut wie neu." Sie schloss den Verbandskasten. „Ryder, schlaf noch mal mit mir."
„Warum? War es nicht perfekt genug?" Sie lachte. „Zu perfekt. Ich will mehr." „Aber nicht genug, um lange zu bleiben", murmelte Ryder und fragte sich, warum er das gesagt hatte. Er wollte nicht, dass irgendjemand blieb. „Ist das wichtig? Willst du mich nicht so nehmen, wie ich bin?" O doch, er wollte. Er wollte sie auf jede erdenkliche Weise nehmen, in jeder Position. „Komm her. Wir wollen doch mal sehen, ob wir es nicht noch ein bisschen perfekter machen können."
5. KAPITEL Lisa hatte nicht geahnt, dass es so viel Entzücken geben konnte. Und es war nicht nur körperlich. Sie hatte nie erwartet, dass sie sich einem Mann so völlig hingeben würde - oder er ihr. Ryder hatte eine Art, sie zu halten, sie anzusehen, sie zu erregen, die ihre Träume überstieg. Als sie später am Abend Seite an Seite lagen, fragte sie sich, ob sie bereit war, auf diese unerwarteten Freuden zu verzichten. Nachdenklich musterte sie ihn. Der Mondschein betonte seine klassischen Gesichtszüge. Wenn sie wirklich schwanger von ihm wurde, war es dann fair, dass er niemals von dem Kind erfahren würde? Oder dass ihr Kind niemals einen Vater haben würde? Was wäre, wenn es ihm so sehr ähnelte, dass es sie jeden Tag für den Rest ihres Lebens an ihn, an ihre Täuschung und an das kurze Glück erinnerte? Würde sie den Rest ihres Lebens bereuen, ihn verlassen zu haben? Vielleicht sollte sie es nicht tun. Ihr stockte der Atem bei diesem rebellischen Gedanken. Es wäre falsch, ihre Eltern einfach zu verlassen. Aber wie Ryder ge sagt hatte, stand es ihr frei, deren Wahl eines Ehemannes abzulehnen und ihr Leben auf ihre Weise zu führen. Mit ihm? War das möglich? Er war anders als alle Menschen, die sie bisher kennen gelernt hatte. Ihre Eltern würden ihn nie akzeptieren, ebenso wenig wie er sie. Die Vorstellung, ihre Eltern zu enttäuschen, bedrückte Lisa. Sie konnte es nicht aus selbstsüchtigen Gründen tun. Doch Ryder war kein Objekt, das sie benutzen und dann wegwerfen konnte. Falls er sich in sie verliebt hatte, war sein Anspruch auf sie ebenso groß wie der ihrer Eltern. Ihr Rückflug nach Paris ging am Montag. Um ihn zu erreichen, musste sie am übernächsten Tag in der Früh aufbrechen. Ihr blieb ein Tag, um über ihre Zukunft zu entscheiden. Es war nicht viel Zeit, um seine und ihre Gefühle zu ergründen, aber es musste reichen. Nachdenklich streichelte sie seine Brust. Er rührte sich im Schlaf und seufzte zufrieden. Geliebter. Lebensgefährte. Ehemann. War es möglich? Sie konnte kaum erwarten, es herauszufinden. Boris konnte sein Pech kaum fassen. Ein Kartenspiel mit einer Gruppe japanischer Geschäftsleute hatte wie eine leichte Beute gewirkt. Das war es auch gewesen - für sie. Sie hatten ihn ausgenommen wie eine Weihnachtsgans. Warum hatte ihn niemand ge warnt, dass es sich um Profis handelte? Nun war er bei zwei Gruppen Gangstern verschuldet. Dann rief Lothaire ihn an und teilte ihm mit, dass Miss de la Pena unter dem Namen Lisa Schmidt nach Denver geflogen und in einem Leihwagen verschwunden war. „Es muss doch irgendwelche Anhaltspunkte für ihren Aufenthaltsort geben!" fauchte Boris. „Finden Sie sie." „Sie hat keine Kreditkarte benutzt. Aber ich habe einiges he rausgefunden", entgegnete Lothaire gelassen. Trotz seiner Jugend ließ er sich von Boris' schlechter Laune nur selten einschüchtern. „Vor ihrer Abreise hat sie ein Päckchen aus Genf erhalten. Der Absender war Win Hoffer, der Kameramann, der Ihr Video ge dreht hat." „Was?" „Die Zofe glaubt, dass seine Freundin, eine Kanadierin, mit Miss de la Pena befreundet ist." „Was war in dem Päckchen?" „Sie hat nur eine Modezeitschrift gesehen. Aber Miss de la Pena war außerdem in der Apotheke, und danach hat die Zofe einen Ovulationstest im Badezimmer gesehen." „Was hat denn das zu bedeuten?"
„Ich werde Mr. Hoffer kontaktieren. Für Geld wird er uns erzählen, was er weiß. Ich habe zudem erfahren, dass die junge Dame für Montagabend einen Rückflug aus New York gebucht hat." „Hoffen wir, dass sie ihn auch nimmt." „Ich glaube nicht an Hoffnung. Ich glaube an Vorbereitung." „Dafür bezahle ich Sie. Natürlich werde ich Ihr ausstehendes Gehalt zahlen." „Das weiß ich", erwiderte Lothaire. „Sobald wir Miss de la Pena in unserer Gewalt haben." Boris gefiel der Klang. Als er die Verbindung abbrach, war er beinahe fröhlich. Bis ihm wieder einfiel, dass er soeben über hunderttausend Dollar an die japanische Mafia verloren hatte. „Nein, Sir, Miss Schmidt hat keine Telefonate geführt", verkündete der Portier. Schade, dachte Ryder. Telefonate hätten Telefonnummern bedeutet, die ihm vielleicht geholfen hätten, Lisas wahre Identität herauszufinden. „Würden Sie bitte die Rechnung für sie zur Unterschrift vorbereiten?" bat er in der Hoffnung, einen Blick auf ihre Kreditkarte werfen zu können. „Das ist bereits erledigt." „Danke." Enttäuscht wandte Ryder sich ab und humpelte durch die Halle. Es herrschte viel Betrieb für einen Sonntag. Einige Touristen eilten hinaus auf die Hänge, und andere spazierten in den Speisesaal zum Brunch. An diesem Morgen hatten er und Lisa bereits die Krücken in die Skihütte zurückgebracht und veranlasst, dass sein Wagen von einem Angestellten zum Chalet gebracht wurde. Sobald sie das Hotel erreicht hatten, war Lisa auf ihr Zimmer gegangen, um ihre Sachen zu packen. Nun wartete Ryder ungeduldig auf ihre Rückkehr. Wo blieb sie so lange? Hatte sie sich davongeschlichen? Er wünschte, sie wäre ihm nicht so wichtig und ihre Absichten wären ihm nicht so ungewiss. Ein Fahrstuhl öffnete sich, und da war sie. Mit einem Koffer auf Rädern im Schlepptau marschierte sie durch die Halle. Erleichterung durchströmte Ryder. Anerkennend musterte er sie. Sie trug einen flauschigen Pullover zu einer weißen Seidenhose und Stiefeln mit hohen Absätzen. Es war eine völlig unge eignete Aufmachung für alles außer ... nun, außer sich ausziehen zu lassen, und genau danach sehnte er sich. Doch er wollte wesentlich mehr von ihr, als sie ihm bisher gegeben hatte, und das konnte er nur erreichen, wenn er ihren Körper für eine Weile ignorierte. „Gestatten." Er humpelte zu ihr und griff nach dem Koffer. Nach kurzem Zögern überließ sie ihn ihm. „Ich bin gleich wieder da." Ihre dunkle Haarmähne wippte, als sie zur Rezeption schritt und dem Portier ihren Schlüssel übergab. Der junge Mann starrte sie fasziniert an, bevor er eifrig etwas zu ihr sagte. Auf dem Rückweg durch das Foyer verdrehte Lisa zahlreichen Männern den Kopf: einem alten Mann, der eine Zeitung las; einem Pagen, der Gepäck auf einen Wagen lud; und einem Teenager, der seinen Eltern zum Speisesaal folgte. Sie schien nicht zu bemerken, dass alle eine verklärte Miene zur Schau trugen. Ryder vermutete, dass es ihm nicht anders erging. Sein Knöchel schmerzte bei jedem Schritt, während er mit dem Koffer zur Tür hinaus und zu Lisas Leihwagen ging. Als er gerade den schweren Koffer in den Kofferraum wuchten wollte, eilte zu seiner Erleichterung ein Page zu ihnen. „Lassen Sie mich helfen, Miss." Der Mann ignorierte Ryder, stürmte an Lisa vorbei und hielt ihr die Fahrertür auf. „Darf ich Ihnen versichern, dass es uns ein Vergnügen war, Sie bei uns zu haben?" Lächelnd reichte sie ihm ein Trinkgeld. Zu Ryders Verwunderung zögerte er, so als widerstrebte es ihm, von ihr Geld anzunehmen. Dann steckte er es doch ein und kehrte pfeifend auf seinen Posten zurück.
Mürrisch verfrachtete Ryder den Koffer, knallte die Haube zu und setzte sich auf den Beifahrersitz. Seine schlechte Laune ergab keinen Sinn. Es sei denn, er war eifersüchtig, und das verärgerte ihn noch mehr. Lisa startete den Motor und fuhr los. „An der nächsten Kreuzung rechts", wies er sie an. „Aber das Chalet liegt links." „Wir müssen ein bisschen einkaufen." Es behagte ihm zwar nicht, seinen Knöchel noch mehr zu belasten, aber so konnte es nicht weitergehen. Lisa mochte zu naiv sein, um an Schwangerschaft zu denken, aber er war es nicht. „Halt hier an", sagte er, als sie einen Supermarkt erreichten. „Wir wollen Lebensmittel einkaufen?" „Das auch." Im Supermarkt führte er sie schnurstracks zu dem Regal mit Kondomen. Die Auswahl war beträchtlich: dünne, strukturierte, farbige. „Hast du eine Vorliebe?" Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder, schluckte schwer. „Ich ... ich bin allergisch gegen das Zeug." „Woher willst du das wissen?" „Vom Krankenhaus. Wir mussten Handschuhe tragen, und ich habe Ausschlag bekommen." „Vielleicht gibt es auch antiallergische." Ryder kramte in dem Regal, bis er ein Päckchen mit der Aufschrift Für empfindliche Haut fand. „Hier, die müssten in Ordnung sein." Lisa nickte stumm. In der Lebensmittelabteilung füllte er den Einkaufswagen mit verschiedenen Vorräten. „Ist das nicht ein bisschen viel?" bemerkte sie zweifelnd, als sie zur Kasse gingen. „Dauert es nicht Stunden, das alles zu verarbeiten?" „Sicher. Aber wir haben doch den ganzen Tag Zeit." „Ich habe noch nie mit einem Mann zusammen gekocht. Eine wundervolle Vorstellung." „Wir müssen zuerst die Küche säubern. Du bist nicht gerade passend dafür angezogen." „Dann werde ich mich eben dafür ausziehen müssen", konterte sie gelassen. „Sie will schwanger werden?" Boris presste das Handy fester an sein Ohr. Der verwöhnten jungen Erbin hätte er niemals so etwas zugetraut. „Glaubt sie, dass es mich davon abhalten würde, sie zu heiraten?" „Sie glaubt, dass ihre Eltern in Wirklichkeit einen Erben wollen, nicht einen Schwiegersohn", erwiderte Lothaire. „Das ist absurd! Sind Sie sicher, dass Sie die richtige Frau im Auge haben?" „Win hat zugegeben, dass er ihr einen falschen Pass auf den Namen Lisa Schmidt besorgt hat." „Aber er weiß nicht, wen sie in Denver besucht?" „Er behauptet, in ganz Colorado von niemandem zu wissen, den sie kennt. Offensichtlich hat sie den Kontakt selbst hergestellt. Ein einfallsreiches Mädchen, diese Miss de la Pena." Verärgert riss Boris an dem Lederlenkrad. Keine gute Idee bei einem Tempo von hundertzwanzig Stundenkilometern auf der Autobahn. Der Wagen schleuderte, und ihm entglitt beinahe das Telefon. „Was haben Sie sonst noch herausgefunden?" „Dir Flug landet am Montagnachmittag auf dem Flughafen La Guardia. Sie hat einen Anschlussflug nach Paris gebucht. Um ihn zu erreichen, muss sie mit einem Taxi zum JFK fahren. Das ist der Punkt, an dem sie verletzlich sein wird." „Verletzlich wogegen?" „Ich fliege heute nach New York", verkündete Lothaire in seinem aufreizend gelassenen Tonfall. „Ich werde rechtzeitig eintreffen, um gewisse Vorbereitungen zu
treffen. Ich schlage vor, dass Sie mich dort so schnell wie möglich treffen." „In New York? Wie Sie wissen, bin ich nach Deutschland ge kommen, um einen lukrativen Deal abzuschließen. Auf keinen Fall..." „Diese Heirat, Mr. Grissovsky, ist der Deal Ihres Lebens", rief Lothaire ihm in Erinnerung. „Ich glaube kaum, dass mein Anblick Miss de la Pena inspirie ren wird, ihren Plan von einem Baby aufzugeben!" „Miss de la Pena wird Sie nicht sehen. Ich werde das Taxi fahren." „Welches Taxi?" „Das Taxi, das sie am Flughafen nehmen wird." Schließlich begriff Boris. Lothaire wollte die Erbin kidnappen. Zweifellos beabsichtigte er, eine geeignete Droge zu beschaffen, um sie ruhig zu stellen, und ein Privatflugzeug zu chartern. „Haben Sie ein bestimmtes Ziel im Sinn?" „Eine Karibikinsel, deren Namen ich am Telefon lieber nicht nennen möchte. Dort werden Ehen ohne Wartezeit geschlossen und keine Fragen gestellt." In den anderthalb Jahren der Zusammenarbeit hatte Boris ge lernt, sich völlig auf den jungen Mann zu verlassen. „Sehr gut." Der deutsche Deal musste verschoben werden. Es war ein Jammer, da es um Schwarzgeld und somit steuerfreie Profite ging. Doch andererseits vermutete Boris, dass seine zukünftigen Partner ehemalige Mitglieder der Stasi waren. Falls etwas schief ging, hatte er nicht nur die japanische und die russische Mafia auf den Fersen, sondern auch noch die Geheimpolizei der frühe ren DDR. Er war sich nicht sicher, ob selbst Annalisas beträchtliche Erbschaft ausreichte, um all das abzudecken. „Ich treffe Sie, wo immer Sie wollen."
6. KAPITEL Irgendwann zwischen dem Schälen von Kartoffeln und der Zubereitung einer Kapernsoße erkannte Ryder, dass er im Begriff stand, sich zu verlieben. Hoffnungslos. Töricht. In eine Frau, von der er wusste, dass er ihr nicht vertrauen sollte, und es dennoch tat. Im Laufe des Nachmittags hatte sie ihn ausgefragt, und er hatte ihr von seiner Kindheit und seinen Bemühungen erzählt, sich in der Welt durchzuschlagen. Jedes Detail schien sie zu faszinieren. Er hingegen hatte über Lisa Schmidt nur erfahren, dass sie aus der Schweiz kam und reiche, übertrieben beschützerische Eltern hatte. Gekleidet in eine Schürze, hatte sie eifrig geholfen, die Küche zu reinigen und zu kochen. Trotz ihrer Unerfahrenheit befolgte sie Anweisungen auf intelligente Weise und fand Wege, den Prozess rationeller zu gestalten. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er ihr Führungsqualitäten zugetraut. Schließlich waren die Kartoffeln aufgesetzt, die Kapernsoße brauchte nur noch zu ziehen, und der Salat war kühl gestellt. Für eine Stunde war weiter nichts zu tun. Lisa hängte die Schürze auf und drehte sich zu ihm um. „Was nun?" Ryder unterdrückte den Drang, eine Dusche oder das Schlafzimmer vorzuschlagen. Er wollte mehr über sie erfahren, und das erforderte, sich dem Bett fern zu halten. „Wie wäre es mit einem Gläschen?" Er deutete zu dem Weinregal. An diesem Morgen hatte er sich Joe Ortiz' Festnahme bestätigen lassen und anschließend Nina McNally die gute Nachricht und einen Blumenstrauß zukommen lassen. Sie hatte ihn anrufen, ihm gedankt und ihn gedrängt, eine Flasche ihres Weines zur Feier des Tages zu trinken. Lisa schüttelte den Kopf. „Das ist alles inländisch. Ich trinke nur französischen Wein." Sie rümpfte die Nase. „Es tut mir Leid. Das klang versnobt." Ryder musterte sie belustigt. „Ich war beeindruckt, weil es gutes Zeug aus Kalifornien ist. Ich vergesse immer wieder, wie verschieden wir sind." Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. „Bestimmt hat jedes Paar unterschiedliche Geschmäcker und Erfahrungen zu bewältigen. Wer heiratet heutzutage schließlich noch den Jungen von nebenan?" Das Wort heiraten raubte ihm den Atem. Er wusste nicht, ob er fürchtete, angekettet zu werden, oder ob es ihn erleichterte, dass sie womöglich zu bleiben beabsichtigte. Erinnerungen an das heruntergekommene Zuhause seiner Eltern, an aussichtslose Jobs und Kinder, die immer neue Schuhe brauchten, drängten sich ihm auf. Sie hatten ihn motiviert, die harte Grundausbildung beim Militär zu überstehen, der tüchtigs te Cop in seiner Einheit zu werden und permanent ein Single zu bleiben. Aber wäre es wirklich so furchtbar, zu einer Frau wie Lisa nach Hause zu kommen oder mit ihr auf Reisen zu gehen, wenn seine Arbeit nicht zu gefährlich war? Mit ihr zu kochen, war ein Vergnügen statt eine lästige Pflicht. Er konnte es kaum erwarten, sie in seine übrigen Freizeitaktivitäten einzuführen: Tanz in Nachtclubs, Grillpartys am Strand, verschiedene Festivals, die fast immer am Wochenende irgendwo im Süden von Kalifornien stattfanden. Sie verlieh allem eine ge wisse Würze, und er wusste, dass es ein Vergnügen sein musste zu beobachten, wie sie durchs Leben ging. Eine Frau wie sie konnte auch ihm neue Horizonte eröffnen, wie ihm bewusst wurde, als er eine Flasche Wein öffnete. Er interessierte sich für Kunst und Tanz, ausländische Filme und klassische Musik, aber er scheute davor zurück, sich zum Narren zu machen. Er brauchte jemanden, der ihn anleitete. Womöglich jemanden wie Lisa, die erwähnt hatte, dass sie und ihre Mutter häufig ins Theater gingen. Als er zwei Gläser füllte, summte er vor sich hin. Er wollte sich nicht anketten lassen, daran hatte sich nichts geändert. Aber bis zum heutigen Tag war ihm nie in den Sinn gekommen, dass eine Beziehung ihn stattdessen befreien konnte. Er reichte Lisa ein Glas. Sie schnupperte daran, kostete dann. „Er ist gut." „Das sagst du nur so."
Sie runzelte die Stirn. „Er ist wirklich gut. Ich scherze nie, wenn es um Wein geht." Sie griff zu der Flasche und musterte das Etikett. „Er stammt aus Napa Valley. Ich habe davon gehört, aber ich kannte diese Kellerei noch nicht. Nun, man lernt im Le ben nie aus." Er hob sein Glas. „Auf das Leben und das Lernen." Sie stießen an und tranken. Das ist ein Anfang, dachte Ryder mit untypischem Optimismus. Nach dem zweiten Glas Wein fühlte Lisa sich allzu entspannt. Da sie in Kreisen aufgewachsen war, in denen Trinken als normaler Bestandteil des Dinners angesehen wurde, merkte sie fast zu spät, dass sie auf nüchternen Magen trank. Sie stellte das dritte Glas unberührt auf den Tisch. „Das hebe ich mir lieber für nachher auf." Sie hatten es sich auf der Couch bequem gemacht. Sie saß an Ryder gelehnt zwischen seinen Beinen. „Erzähl mir mehr von der Schweiz", murmelte er. Die intime Pose und der Wein machten sie redselig. „Es is t wunderschön. Atemberaubende Berge und märchenhafte Dörfer. Wie das Klischee behauptet, sind die Schweizer sehr sauber und ordentlich." „Du hast die Schweizer gesagt und nicht wir", bemerkte er. „Meine Familie hat mehrere Häuser." „Aha. Herrenhäuser, nehme ich an?" „In Paris haben wir nur ein Apartment. Es ist recht geräumig, wenn man die Zimmer des Personals mitrechnet." „Es würde dir schwer fallen, dich an meine Wohnung in L.A. zu gewöhnen. Es hat nur ein Schlafzimmer und lässt dieses Cha let wie das Tadsch Mahal wirken." Lisa verstand die Frage, die sich hinter seinen Worten verbarg. Er wollte wissen, ob sie bereit wäre, dort mit ihm zu leben. „Ich hätte lieber eine kleine Wohnung, in der ich mich zu Hause fühle, als ein Schloss, in dem ich wie eine Gefangene behandelt werde." Er verstärkte den Griff um sie. „Behandeln deine Eltern dich denn so?" „Manchmal." „Dann gehst du also nicht zurück." Ihr war bewusst, dass er die Bemerkung ausgesprochen hatte, ohne über die Implikationen nachzudenken. Ihr Verstand warnte sie, zu viel auf impulsive Worte zu geben, aber dennoch fühlte sie sich in Hochstimmung. Er zog sie näher an sich, und sie spürte seine Erregung. Sie fragte sich, ob es möglich war, sich in dieser Position zu lieben. Die Zeituhr in der Küche ertönte. Das beharrliche Summen brach den Zauber, und Lisa rückte widerstrebend von ihm ab. „Zeit für die zweite Runde in der Küche." Ryder stand auf und half ihr auf. Er nahm die Kartoffeln vom Herd. „Sie müssen auskühlen, bevor wir sie aushöhlen und füllen können. Der Lachs braucht nicht lange, und die Soße muss nur aufgewärmt werden." „Dann haben wir also etwas Zeit", stellte sie hoffnungsvoll fest. Ryder zog eine Augenbraue hoch. „Hast du etwas Bestimmtes im Sinn?" „Wenn du in der Nähe bist, ist es schwer, an etwas anderes zu denken", gestand sie ein. Auf seine halb belustigte, halb zweifelnde Miene hin erklärte sie: „Ich mag es, dich zu halten, deine Reaktion auf mich zu beobachten. Vor allem mag ich es, wenn du die Beherrschung verlierst." „Ach ja?" „Vielleicht liegt es daran, dass du so stark und reserviert bist. Wenn du dich mir öffnest, bedeutet es etwas ganz Besonderes." Lisa war sich nicht sicher, ob es klug war, so freimütig zu sprechen. Nicola hatte ihr geraten, Männer im Ungewissen zu lassen. Doch Nicola war es auch nicht gelungen, den
Mann ihrer Träume zu finden. „Wenn du dich mir öffnest, ist es für mich auch etwas ganz Besonderes." . Sie trat zu ihm und legte ihm die Hände auf die Schultern. Obwohl sie hoch gewachsen war, überragte er sie um gute fünfzehn Zentimeter. Sehr langsam senkte er den Kopf bis sich ihre Lippen schließlich begegneten. Dann umfasste er ihre Hüften und zog sie an sich. Als der Kuss endete, musterte er sie lange. „Du gehörst zu mir. Ich habe das Gefühl, dass wir füreinander bestimmt sind." „Ich weiß." Lisa, die normalerweise so wortgewandt war, fiel nichts anderes zu sagen ein. „Wollen wir noch länger hier herumstehen und den Tag vertrödeln?" Ryder umfasste ihre Taille und schickte sich an, sie auf die Arme zu heben. Abrupt taumelte er rückwärts. „Verdammt! Ich habe den Knöchel vergessen." „Ich massiere ihn dir." „Du kannst massieren, was du willst." Arm in Arm gingen sie zum Schlafzimmer. In der Tür blieben sie stehen und küssten sich erneut. „Lass uns die Massage verschieben", sagte Lisa. „Zumindest des Knöchels." „Wie wir auf der Couch gesessen haben ..." „Möchtest du es ausprobieren?" „Geht das?" „Mir wäre nichts lieber." Er führte sie zum Bett, setzte sich auf die Kante und griff nach ihr. Als sie sich über ihn beugte, streifte er ihr geschickt die Seidenhose ab, zog ihr den flauschigen Pullover aus und öffnete ihren BH. Seine Lippen schlössen sich um eine Knospe, während er ihre Brüste umschmiegte. Fieberhaft verbarg sie das Gesicht in seinen Haaren. Sie ersehnte sich unzählige Dinge auf einmal. Sie drückte ihn hinab in die Kissen, kniete sich über ihn und knöpfte sein Hemd auf. Er stöhnte auf, als sie mit der Zunge seine Brust streichelte, und seine Erregung wuchs unter ihren liebkosenden Händen. Lisa half ihm, die Jeans auszuziehen. Ihre wie seine Unterwäsche landete auf dem Fußboden. Würde er an die Kondome denken? Die unliebsame Frage kühlte sie für den Bruchteil einer Sekunde ab. Dann lehnte Ryder sich in die Kissen und zog Lisa rückwärts auf sich. „So wolltest du es doch, oder?" Ohne auf eine Antwort zu warten, hielt er sie fest und hob sich ihr entgegen. Er füllte sie völlig in dieser Position, und ein unglaubliches Entzücken durchströmte sie. Mit beiden Händen auf die Matratze gestützt, bewegte sie sich zögernd zuerst und dann mit wachsender Zuversicht. Unter ihr bewegte Ryder sich immer schneller und heftiger, und Lisa passte sich seinem Rhythmus an. Sie waren Partner ge worden, vereint in Ekstase. Irgendwann verebbte das Feuer. Still, eng umschlungen, lagen sie Seite an Seite. Wenn diese Nähe doch nur für immer anhalten könnte, dachte Lisa sehnsüchtig. Doch bevor sie ihre Beziehung festigen konnten, musste sie ihm gestehen, warum sie wirklich gekommen war. Er hatte das Recht, die Wahrheit zu erfahren. Noch bevor sie einen Weg fand, es ihm zu sagen, bot er ihr einen Einstieg. „Wir haben das Kondom vergessen", murmelte er betroffen. „Honey, ich kann nur hoffen, dass du nicht schwanger bist." „Wäre das denn so schrecklich?" Er erstarrte. „Willst du etwa ein Baby? " „Na ja, irgendwann schon. Du nicht?" „Nein." „Niemals?" hakte sie betroffen nach.
„Niemals", bestätigte er tonlos. „Ich habe nicht das Zeug zu einem Vater." Lisa schluckte schwer. „Vielleicht bist du jetzt noch nicht bereit, Vater zu werden, aber ..." „Ich werde nie dazu bereit sein, und du solltest dich gleich damit abfinden." „Aber was ist, wenn es nun passiert ist?" Ein Muskel zuckte an seinem Kiefer. „Ich würde natürlich Unterhalt zahlen. Aber ich müsste dich drängen, das Kind zur Adoption freizugeben. Ein Kind braucht beide Eltern, und ich bin nicht geeignet, einer der beiden zu sein." Lisa ahnte, dass ein alter, tiefer Schmerz seine harten Worte hervorrief, denn ihrer Meinung nach hätte er einen idealen Vater abgegeben. „Vielleicht änderst du eines Tages deine Ansicht." „Rechne nicht damit", fauchte er. „Ich hoffe sehr, dass du nie mals so tief sinkst und mir eine Falle stellst. Ich könnte einer Frau niemals verzeihen, die mich derart manipuliert." „Ich würde dir niemals eine Falle stellen", entgegnete sie kleinlaut. Er schloss die Arme fester um sie. „Ich weiß. Du hast etwas Unverdorbenes und Aufrichtiges an dir, trotz des Unsinns über deine Herkunft. Ich möchte dich gern öfter sehen. Wesentlich öfter." „Natürlich", erwiderte sie automatisch, obwohl sie wusste, dass es nicht möglich war. Sie mochte sich über die Wahl ihrer Eltern hinwegsetzen können, aber sie konnte nicht so weit gehen und einen Mann heiraten, der sich weigerte, Kinder zu bekommen. Selbst wenn sie dazu bereit wäre, lag die Entsche idung nicht mehr bei ihr. Vom ersten Augenblick an hatte sie Ryder getäuscht. Selbst wenn sie nicht schwanger geworden war, hätte sie ihm irgend wann die ganze Geschichte beichten müssen. Er würde sie dafür verachten und hassen, und sie hatte es verdient. Sie hatte außerdem das gebrochene Herz verdient. Nicht verdient hatte sie ein Baby, aber sie ersehnte sich trotzdem eines. Nicht mehr so sehr um ihrer Eltern willen, sondern um einen Teil von Ryder zu behalten. Helles Licht und das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, weckten Ryder. Er tastete neben sich und fand das Bett leer. „Lisa?" Er hörte keine Antwort, keine Schritte, keine Geräusche' aus dem Badezimmer. Sine Woge der Ungläubigkeit erfasste ihn. Am liebsten hätte er sich umgedreht und weitergeschlafen. Wenn er dann erneut erwachte, stellte sich vielleicht heraus, dass diese Einsamkeit nur ein Traum gewesen war. Bann stellte er fest, dass es bereits neun Uhr morgens durch war. Vielleicht war Lisa nur die Zeitung oder das Frühstück ho len gegangen. Vielleicht war ihre Abwesenheit nur vorüberge hend. Ryder setzte sich auf und ärgerte sich über seine Unruhe. Dass er mit einer Frau geschlafen hatte, gab ihm noch lange nicht das Recht, sie anzubinden. Außerdem hatte sie ihn vielleicht nur nicht rufen hören, falls sie in der Küche war. Er stand auf und humpelte durch das Chalet. „Lisa?" rief er dabei mehrmals und lauschte mit wachsender Aufregung der Stille im Haus. Sie durfte ihn nicht verlassen haben! Nicht gerade jetzt, da er zum ersten Mal im Leben tiefe Gefühle zu entwickeln begann. Auf dem Küchentisch sah er ein Blatt Papier. Tu mir das nicht an, dachte er. Er ging zum Tisch und griff zu dem Zettel. Ein Hauch von Parfüm entströmte dem Papier und rief Erinnerungen wach. Nur zwei Worte standen darauf. Entschuldige. Lisa. Kein einziges Wort darüber, wohin sie gegangen war und wann sie zurückzukehren gedachte. Ryder blickte in den Mülleimer und sah winzige Papierschnipsel darin. Zu winzig, um sie zusammenzufügen und herauszufinden, was Lisa ihm zu sagen versucht hatte, bevor
sie es aufgege ben hatte. Er zerknüllte das Papier in der Hand. Als Knäuel nahm es Substanz an, so als hätte sie ihm doch etwas zurückgelassen. Und sie hatte tatsächlich etwas zurückgelassen: einen brennenden Zorn, weil er ausgetrickst und benutzt worden war. Er wusste immer noch nicht, welches Spiel sie mit ihm spielte, und er konnte nur hoffen, es nicht auf besonders unangenehme Weise herauszufinden. Instinktiv ging er seine Brieftasche im Schlafzimmer überprüfen. Er konnte sich nicht erinnern, sie aufgeschlagen hingelegt zu haben, aber soweit er es beurteilen konnte, fehlte nichts. Immer und immer wieder ließ er vor seinem geistigen Auge die gesamte bizarre Episode ablaufen, die auf der Skipiste begonnen hatte, aber sie passte in kein ihm bekanntes Schema. Er hatte keine Zeit mehr an Miss Schweiz zu vergeuden oder woher sie in Wirklichkeit auch immer stammen mochte. Auf dem Weg zur Kaffeemaschine warf er das Papierknäuel in den Mülleimer. Das ist das Letzte, sagte er sich, was ich je von Lisa Schmidt sehen oder hören werde. Das Flugzeug war bereits in der Luft, als Lisa sich gestattete, an den Mann zu denken, den sie verlassen hatte, und an die Art, in der es geschehen war. An diesem Morgen im Chalet hatte sie mehrmals versucht, eine Erklärung für Ryder abzufassen, aber es klang so verworren und selbstgerecht. Außerdem wusste sie, dass nichts seinen Zorn besänftigen konnte. Bevor sie gegangen war, hatte sie sich in das Schlafzimmer ge schlichen und den schlafenden Mann betrachtet. Es war nicht nötig, sich seinen starken Körper oder den sanften Mund einzuprägen. Das alles war bereits in ihr Herz geschrieben. Sie wollte ihm nur nahe sein, ein letztes Mal. Impulsiv hatte sie seine Brieftasche aufgeklappt und eine seiner Visitenkarten an sich genommen. Es war albern, da sie dieselbe Information seiner Webseite entnehmen konnte, aber durch die Karte fühlte sie sich, als würde sie ein kleines Stück von ihm bewahren. Er hatte sich so unerbittlich gegen Kinder ausgesprochen. Aber bestand nicht die Chance, dass er es sich anders überlegte, wenn sie ihm sämtliche Fakten erläuterte? Sie erschauerte. Sie glaubte nicht, den Abscheu auf seinem Gesicht ertragen zu können. Deshalb war sie geflohen. Ich wusste gar nicht, dass ich so feige bin, schoss es ihr durch den Kopf. Denn es war feige, ihn auf diese Weise zu verlassen. Während des langen Flugs nach New York betrachtete sie sich selbst in einem harten, nüchternen Licht. Nie zuvor hatte sie vorsätzlich jemanden benutzt oder jemandem weh getan. Bisher war es ihr stets gelungen, ihre Eltern zu besänftigen und dennoch ein angenehmes, wenn auch eingeschränktes Leben zu genießen, das Freunde, Bücher, Theater und gelegentliche Reisen mit ihrer Mutter beinhaltete. Ohne groß darüber nachzudenken, hatte sie angenommen, dass es immer so weitergehen könnte. Als der furchtbare Boris Gris sovsky auf der Bildfläche erschienen war, hatte sie Ryder Kelly für die perfekte Lösung gehalten: ein Daddy, der keine Ansprüche stellte. Mit wilder Leidenschaft und schmerzlicher Liebe hatte sie nicht gerechnet. Lisa war überzeugt, dass er genauso empfand. Deshalb war es falsch, davonzulaufen, ihn im Unklaren zu lassen und sich vor den Konsequenzen ihres Verhaltens zu drücken. Er verdiente die Wahrheit. Er hatte das Recht, selbst zu entscheiden. Ein Schauer der Erleichterung durchströmte sie. Sosehr die Vorstellung einer Rückkehr sie auch beängstigte, wusste sie doch, dass es sein musste. Doch zuerst musste sie mit ihren Eltern reinen Tisch machen und mit Boris brechen. Dann erst stand es ihr frei, Ryder zu konfrontieren und vielleicht eine Zukunft mit ihm zu
erwägen. Doch was war, wenn sie alle Brücken hinter sich abbrach und er ihr nicht verzeihen konnte? Es ändert nichts, entschied Lisa, als das Flugzeug zur Landung ansetzte. Sie konnte nicht mehr so leben wie früher. Von diesem Tage an wollte sie sich nicht länger treiben lassen, sondern ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Polternd setzte das Flugzeug auf. Die Zukunft stürmte ihr ent gegen, voller Unsicherheiten. Beinahe wünschte sie, sie könnte wieder die verwöhnte Prinzessin im Schloss sein. Doch dieser Teil ihres Lebens hatte geendet, als sie sich in Ryder Kelly verliebt hatte. Jene Annalisa van de Camp de la Pena existierte nicht länger.
7. KAPITEL Lothaire war wie gewöhnlich sehr tüchtig gewesen. Er hatte eine Taxilimousine besorgt, die genügend Platz aufwies, so dass Boris sich unter einer Plane hinter den Vordersitzen verstecken konnte. Sobald Annalisa das Taxi bestieg, sollte er ihr ein mit Äther getränktes Tuch auf das Gesicht pressen, während Lothaire sie zu einem Jet auf einem Privatflugplatz fuhr, der sie in die Karibik befördern würde. Während Boris unter der Plane schwitzte und dem Dröhnen der landenden Flugzeuge lauschte, hatte er Zeit, über diesen Plan nachzudenken. Allmählich fragte er sich, ob er mit diesem Vorhaben nicht sich selbst ebenso eine Falle stellte wie Annalisa. Denn er war Lothaire auf Gnade und Ungnade ausgeliefert und setzte ein enormes Vertrauen in ihn, obwohl er ihn erst seit anderthalb Jahren kannte. Lothaire, der ein bescheidenes Einkommen besaß und von Bo ris' prekärer finanzieller Situation wusste, brach zahlreiche Gesetze, indem er bei der Entführung mitwirkte. Was erwartete er dadurch zu gewinnen? Boris konnte nur hoffen, dass der junge Mann nichts im Schilde führte. Er brauchte ihn. Ihn angeheuert zu haben, war ein Glücksfall in einer Pechsträhne, die bereits mehrere Jahre andauerte. Pech hatte mehrere große Deals fehlschlagen lassen - und die Unehrlichkeit und Inkompetenz anderer. Nun schuldete Boris den Japanern hunderttausend Dollar, und das war ein geringer Betrag im Vergleich zu dem, was er bereits an die Russenmafia verloren hatte. Lothaire hatte kurz nach seiner Einstellung die Heirat mit Annalisa als Ausweg vorgeschlagen. Boris hatte zunächst abge lehnt. Schließlich war er entfernt mit den Hohnersteins verwandt, während sie nur das verwöhnte Kind eines holländischen Emporkömmlings war, der mit Altwaren handelte. Schuyler Camp hatte das van de nur als Effekt seinem Namen hinzugefügt und nach der Heirat den spanischen Namen seiner adeligen Frau angenommen. Boris hatte dem Plan erst zuge stimmt, als er erfahren hatte, dass die Tochter blaues Blut von Seiten der Mutter besaß und ihre Mitgift allein reichte, um seine Schulden zu begleichen, während er durch ihre Erbschaft für das ganze Leben ausgesorgt haben dürfte. Er hatte jedoch nicht damit gerechnet, so tief sinken zu müs sen, um sie sich angeln zu können. Es machte ihn rasend, dass ein brillanter Unternehmer wie er sich wie ein Straßendieb benehmen musste. Er zitterte vor Zorn. Wie konnte dieses Mädchen es wagen, ihn zu demütigen? Sobald sie verheiratet waren, sollte sie dafür büßen. Boris zuckte zusammen, als jemand am Türgriff rüttelte. „Besetzt!" rief Lothaire vom Fahrersitz. „Ihr Schild ist beleuchtet", entgegnete eine Männerstimme. „Ich habe es eilig! Öffnen Sie gefälligst die Tür!" „Das Taxi ist besetzt! Verschwinden Sie!" knurrte Lothaire „Ich werde mich bei der Behörde beschweren! Lassen Sie mich sofort einsteigen! " Der Mann zerrte so heftig an der Tür, dass der Wagen schaukelte. Boris reichte es. Er warf die verhasste Plane beiseite, bleckte die Zähne und sprang zum Fenster. Ein kleiner Mann mit rundem Gesicht wich so hastig zurück, dass seine Brille auf den Bürgersteig flog. „Ich komme mir vor wie ein Idiot", knurrte Boris. „Manche Dinge sind unvermeidbar", sagte Lothaire. „Aha, da ist sie." Boris spähte nach vorn und entdeckte eine große, elegant ge kleidete Gestalt mit einem Koffer im Schlepptau. Ihr langes schwarzes Haar wehte im Frühlingswind, und ihre Augen funkelten wie Smaragde. Sein Preis. Sein Schatz. Sie winkte nach einem Taxi. „Ducken Sie sich", ordnete Lothaire an.
Bevor Boris gehorchen konnte, erblickte er ein anderes Taxi, das sich vor ihres zu schieben versuchte. Zweifellos hatte der Fahrer die wohlhabende Gestalt ebenfalls erblickt. Sie winkte dem anderen Taxi und trat vom Bürgersteig hinab. „Nun fahren Sie schon!" rief Boris. Lothaire trat auf das Gaspedal. Der Wagen schoss so abrupt vorwärts, dass Boris gegen den Rücksitz geschleudert wurde. Kurz darauf erfolgte ein heftiger Aufprall. Glas splitterte. Umstehende schrien. Boris wurde nach vorn geschleudert und landete auf dem Fußboden. „Was ist passiert?" „Wir haben sie getroffen." „Wen?" „Steigen Sie aus." Lothaire löste seinen Sicherheitsgurt. „Schnell." Zitternd griff Boris nach der Klinke. Auf der Straße vor ihnen erblickte er eine Gruppe Menschen. Zwischen ihren Beinen sah er eine schwarzhaarige Gestalt liegen. Sie hatten Annalisa angefahren. Verdammtes Pech. Aber vielleicht war noch nicht alles verloren. „Heben wir sie auf und verschwinden wir." „Sie ist womöglich tot." Lothaire stieß die Fahrertür auf. „Und wenn wir nicht schleunigst verschwinden, sind wir es vielleicht auch bald." Annalisa tot? Seine letzte Hoffnung? Boris war immer noch dafür, sie mitzunehmen, aber Lothaire drängelte sich bereits durch die Menge zu einem Taxistand, und er war der Einzige, der wusste, wo die Chartermaschine stand. Auf der Straßenseite stahl Boris sich aus dem Taxi und auf den Bürgersteig. Alle waren zu sehr mit Annalisa beschäftigt, um ihn zu bemerken. Verzweifelt bahnte er sich einen Weg zum Mittelpunkt des Aufruhrs. Annalisa lag da wie eine Puppe. Doch ihre Brust hob und senkte sich. Erleichterung stieg in ihm auf. Sie lebte! Sirenen heulten. Er zwang sich, durch die Menge zu eilen, so als müsste er ein Flugzeug erreichen. Wie schwer sie verletzt war, blieb ungewiss. Doch da er nun wusste, dass sie noch lebte, würde er sie irgendwie bekommen. Benommen verspürte sie einen stechenden, pochenden Schmerz, der abebbte und anschwoll. Erst nach einer Weile konnte sie ihn lokalisieren. Mein Kopf tut weh, wollte sie laut sagen, aber ihr Mund weigerte sich. Ihr wurde bewusst, dass sie auf einer Trage geschoben wurde. Die Gerüche nach Desinfektionsmittel und Medizin sowie eine Lautsprecherstimme, die nach einem Doktor rief, bestätigten die Vermutung, dass sie sich in einem Krankenhaus befand. Sie wollte, dass jemand ihre Hand hielt. Doch sie konnte die sem Wunsch kein Gesicht zuordnen. Mutter? Ehemann? Sie wusste es nicht. Die Trage bog um eine Ecke, bewegte sich dann langsamer. Blieb stehen. „Sie nehmen ihre Schultern", sagte eine Männerstimme. Hände ergriffen sie, hoben sie in die Luft, legten sie auf ein Bett. „Ist sie wach?" fragte ein Mann aus kurzer Entfernung. „Ihre Lider flattern", erwiderte eine Frau, die vermutlich Krankenschwester war. „Officer, sie hat eine schwere Kopfverletzung erlitten. Ich bezweifle, dass sie in der Verfassung ist, Fragen zu beantworten." „Wir müssen aber mit ihr reden. So schnell wie möglich." Jemand deckte sie zu, merkte aber offensichtlich nicht, dass sie wach war. Vielleicht lag es daran, dass es ihr nicht gelang, die Augen zu öffnen. Sie wollte jemandem erzählen, was vor sich ging. Sie wollte jemanden an ihrer Seite haben, der sie liebte.' Aber sie konnte sich nicht erinnern, wer das hätte sein können. „Hat jemand ihre Angehörigen verständigt?" fragte die Frau. „Das ist das Problem", erwiderte der Officer. „Sie hat einen schweizerischen Pass und einen Führerschein auf den Namen Lisa Schmidt bei sich, aber wir vermuten, dass sie gefälscht sein könnten. Wir überprüfen das gerade. Außerdem hat sie etwa zweitausend Dollar und ein Ticket nach Paris, das bar bezahlt wurde."
„Sie meinen, sie könnte in etwas Illegales verwickelt sein?" Nein, wollte sie sagen, unmöglich. „Das ist möglich. Es ist seltsam. Das Taxi, das sie angefahren hat, hat ein falsches Nummerschild. Der Fahrer ist geflohen, bevor wir eintrafen." „Er hat sie absichtlich angefahren?" fragte die Schwester. „Möglich. Deswegen müssen wir dringend mit ihr reden. Um herauszufinden, ob es sich um Fahrerflucht oder Mordversuch handelt." Sie versuchte zu sprechen, doch Dunkelheit hüllte sie ein. Kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, wurde ihr etwas äußerst Beunruhigendes bewusst. Sie wusste nicht, warum sie falsche Papiere bei sich hatte, und der Name Lisa Schmidt sagte ihr gar nichts. Sie kannte nicht einmal ihren Namen. Sie erinnerte sich an nichts. An rein gar nichts. Die Besitzerin des Chinarestaurants neben Ryders Büro übermalte gerade die nächtlichen Graffiti auf der Fassade, als er vorfuhr. Auf der anderen Seite rollte der Pfandleiher gerade das Gitter hoch. Ryder parkte seinen Wagen zwischen zwei Haufen Asphalt und stieg aus. Die Gerüche nach frischer Farbe und Abgasen ließen ihn die Nase rümpfen. Einen Moment lang wünschte er, in den Bergen von Colorado geblieben zu sein. Es war jedoch weniger die frische Luft, die er vermisste. Trotz einer gut entwickelten Fähigkeit, Enttäuschungen wegzustecken, konnte er nicht aufhören, an die Frau zu denken, die er verloren hatte. Sie hatte ihn während des Fluges nach L.A. verfolgt und in seinen Träumen mit ihm geschlafen. Als er erwacht war, hatte er sich eingebildet, ihren Atem zu hören. Der Gang zu seinem Büro brachte ihn zurück in die Wirklichkeit rissiger Gehsteige und Rinnsteine voller Kaugummi und Ab fälle. Die Chinesin lächelte ihn an. „Wie schön, Sie zu sehen. Ich fühle mich immer sicherer, wenn Sie da sind." „Der?" grunzte der Pfandleiher. „Er trägt ja nicht mal eine Waffe. Wollen Sie mal sehen, was ich hinter dem Tresen habe?" „Ein Detektiv hat ein stärkeres Image", konterte sie. „Die bösen Buben haben Angst vor ihm." „Weil sie dumm sind", brummelte der Pfandleiher und ging in seinen Laden. Ryder schmunzelte. Er wusste, wie wichtig es war, das richtige Image zu pflegen. Deshalb trug er die Haare kurz und einen dunklen Anzug. Deshalb hatte er vor drei Jahren ein Büro in diesem schäbigen Viertel westlich der Innenstadt gemietet. Für das gleiche Geld hätte er größere Räumlichkeiten in einem Dutzend anderer hübscher Gemeinden haben können. Aber er legte Wert auf eine Adresse in L.A. Das bedeutete den Leuten in der ganzen Welt etwas, die seine Webseite lasen. Los Angeles beschwor sofort Bilder von Humphrey Bogart herauf. Er stellte fest, dass die Gitter an seinen Fenstern verstaubt waren. Auch das Firmenschild, Ryder Kelly Investigations, hatte eine Politur nötig. Zum Glück kamen selten Klienten im Zeitalter der E-Mails, Faxe und Ferngespräche. Er schloss die Tür auf, die niemals offen blieb, sofern er nicht anwesend war. Schwarz umrandete Augen leuchteten auf, als er eintrat. Er war froh, dass seine Sekretärin nicht gerade irgendwo vorsprach. Da es schwer war, in Los Angeles eine Sekretärin zu bekommen und zu behalten, duldete er ihre häufige Abwesenheit. Zum Glück mangelte es ihr an schauspielerischem Talent, so dass die Gefahr sehr gering war, sie an die Filmbranche zu verlieren. „Hi!" Derzeit trug sie ihr kurzes Haar feuerrot. „Was macht der Knöchel?" „Besser." Er schlängelte sich durch das Büro, vorbei an zwei Aktenschränken, einem Tisch mit Faxgerät und Kopierer und Zizis Schreibtisch. Es roch nach billigem Parfüm, Nagellack und Staub. „Gibts was Neues?" „Ein gewisser Anthony Callas will dringend mit Ihnen reden." Sie reichte ihm einen
Zettel mit drei Telefonnummern. Ryder kannte den Namen. In einer Stadt wie L.A. machte es sich bezahlt, mit der Unterhaltungsbranche vertraut zu sein. Anthony Callas produzierte Schallplatten und wollte seit einiger Zeit eine Radiostation kaufen. „Hat er gesagt, was er will?" „Es ist vertraulich." Zizi musterte ihre Fingernägel. „Hat die se Frau Sie übrigens erreicht?" Ryders Handflächen wurden feucht. Hatte Lisa es sich vielleicht anders überlegt? „Wann hat sie angerufen? Heute?" „Nein, letzten Donnerstag. Ich hatte es ganz vergessen." Er schalt sich einen Dummkopf. Natürlich bereute Lisa nicht, ihn verlassen zu haben. „Sie arbeitet für einen großen Konzern, International Substrate oder so, der dringend jemanden finden muss. Sie hat Ihre Annonce im Internet gesehen und wollte unbedingt wissen, wo Sie sich aufhalten." „Haben Sie es ihr etwa gesagt?" „Hätte ich es nicht tun sollen? Sie hat es so wichtig klingen lassen." „Zizi, geben Sie in Zukunft bitte niemandem meinen Aufenthaltsort preis", ermahnte Ryder. Dann wurde ihm bewusst, wie seltsam die ganze Sache war. Trotz der angeblichen Dringlichkeit hatte die Frau ihn nicht angerufen, aber kurz darauf war Lisa auf der Skipiste aufgetaucht. „Hatte die Frau einen ausländischen Akzent?" Zizi schüttelte den Kopf. „Höchstens einen kanadischen." Dann konnte es nicht Lisa gewesen sein. „Sie hat mich nicht angerufen. Wahrscheinlich hat sich die Sache anderweitig erle digt." Ryder ging in sein Büro und wählte eine der Telefonnummern auf dem Zettel. Beim ersten Klingeln meldete sich eine Männerstimme. „Hier Callas." „Ryder Kelly. Sie wollten mich sprechen?" „Wie gut sind Sie im Aufspüren von Ausreißern? Meine Tochter ist verschwunden." „Sind Sie sicher, dass sie freiwillig weggelaufen ist?" „Sie hat eine Nachricht hinterlassen. Ich will keine Polizei. Ich will nur sichergehen, dass es ihr gut geht." „Meine Erfolgsquote ist hoch. Die meisten Ausreißer kommen nicht weit." „Ginger ist sechzehn und vertraut jedem außer der einen Person, der wirklich an ihr liegt." Seine Stimme klang verletzt und zornig zugleich. Sie vereinbarten einen Vorschuss und ein Treffen für den Nachmittag in Callas' Haus in Beverly Hills. Ryder hoffte, dass er das Mädchen vor Schaden bewahren konnte. Dieser neue Fall und einige andere Dinge, die noch zu erledigen waren, sollten ihn eine Weile beschäftigen. Wenn er Glück hatte, würde es auch seine Gedanken von Lisa Schmidt ablenken, bis Zeit und Entfernung sie für immer aus seinen Träumen verbannten. Lisa erwachte früh. Sie hörte Leute auf dem Korridor, doch die Betten neben ihrem waren leer. Von dem Officer war nichts zu sehen. Ihr Körper fühlte sich zerschunden an, doch irgendetwas in ihrem Kopf warnte sie, dass sie nicht im Krankenhaus liegen sollte. Womöglich hatte jemand versucht, sie umzubringen. Der Officer hatte sie am vergangenen Abend verhört. Sie hatte den Eindruck, dass er ihr die Amnesie nicht glaubte. Doch die Schwester war ihr zur Hilfe geeilt, als er sie zu bedrängen versuchte. Ihre gefälschten Papiere schienen ihn mehr zu kümmern als ihre Sicherheit. Aber wenn jemand sie zu töten versucht hatte, lag die Vermutung nahe, dass es erneut geschehen würde. Wer wollte ihr etwas antun, und warum? Solange ihr Gedächtnis nicht zurückkehrte, konnte Lisa - oder wie immer sie in Wirklichkeit heißen mochte - es nicht ergründen. Doch eine wachsende Unruhe raubte ihr den Schlaf. Steif setzte sie sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Ihr schwindelte, und ihr
Magen rebellierte. Sie blieb reglos sitzen, bis ihr Gleichgewicht zurückkehrte. Ihr. Arm hing an einem Tropf. Obwohl sie ihren eigenen Namen nicht erinnerte, wusste sie, dass die klare Flüssigkeit Nährstoffe und Medizin enthielt. Sie musste einen klaren Kopf bewahren und durfte ihren Verstand nicht von Schmerzmitteln umnebeln lassen. Mit offensichtlich geübten Fingern entfernte sie die Nadel aus ihrem Arm und presste ein Papiertuch vom Nachttisch auf die Einstichstelle, um die Blutung zu stoppen. Benommen stand sie auf und ging in das kleine angrenzende Badezimmer. Sie schaltete das Licht ein und musterte sich im Spiegel. Unter einem weißen Kopfverband, der wie ein hässlicher Hut aussah, kamen lange schwarze, stumpfe Haare zum Vorschein. Das Gesicht mit den zahlreichen Prellungen war ihr völlig fremd. Panik stieg in Lisa auf. Ich erkenne nicht mal mich selbst, durchfuhr es sie. Woher soll ich wissen, wem ich vertrauen kann? Wohin soll ich gehen? Ihr Körper drängte sie, zurück ins Bett zu gehen, doch ihr Verstand rebellierte. Sie wusch sich, kehrte ins Krankenzimmer zurück und blickte sich um. Die Tür zum Korridor stand einen Spaltbreit offen. Zur Rechten befand sich ein Kleiderschrank. Darin fand sie einen dunkelblauen Koffer und eine graue Handtasche. Mit zitternden Fingern durchsuchte sie den Inhalt. Der silberne Kamm, die Puderdose und das Parfümfläschchen kündeten von hervorragender Qualität. Der Duft kam ihr vertraut vor. Lisa fand ein Ticket, aber keinen Pass. Laut Aussage des Polizisten war sie Schweizerin, doch der Flug ging nach Paris. Was wollte sie dort? Zu ihrer Enttäuschung enthielt die Brieftasche keine Fotos, aber einen internationalen Führerschein und über zweitausend Dollar in bar. Zwischen den Scheinen verborgen befand sich eine Visitenkarte mit der Aufschrift Ryder Kelly Investigations sowie einer Adresse und Telefonnummer von Los Angeles. Offensicht lich hatte der Polizist sie nicht gefunden, da er sie nicht danach gefragt hatte. Womöglich konnte ihr dieser Detektiv wertvolle Hinweise auf ihre Vergangenheit geben. Paris oder Los Angeles? Wohin sollte sie gehen? Aufgebracht lief Boris im Wohnraum seiner Hotelsuite umher, die über tausend Dollar pro Nacht kostete, und brüllte: „Es war Ihr Job, das zu verhindern, Sie Kretin!" Lothaire zündete sich eine Zigarette an. „Es war nicht leicht herauszufinden, wohin sie gebracht wurde. Als ich ankam, war Miss de la Pena schon verschwunden." „Wie kann eine Frau mit einer ernsten Kopfverletzung aus einem Krankenhaus verschwinden? Noch dazu mit einem Koffer!" „Wir sind in New York. Hier achtet keiner auf den anderen", entgegnete Lothaire. Dennoch wirkte er unzufrieden mit sich selbst. „Was ist mit unserem Freund, dem Filmemacher? Hat seine Freundin von Annalisa gehört?" „Das weiß er nicht." „Warum nicht?" fauchte Boris. „Sie würde es nicht billigen, dass er uns Informationen verkauft. Er muss sie ausspionieren." „Er sollte es aus ihr herausprügeln!" „Dann würde sie ihn verlassen, und er würde gar nichts erfahren. Übrigens wird im Krankenhaus gemunkelt, dass die geheimnisvo lle Frau an Amnesie leidet." „Sie meinen, sie weiß nicht, wer sie ist?" „Das versteht man im Allgemeinen unter Amnesie", bemerkte Lothaire mit leicht bissigem Unterton. „Sie könnte also auf der Straße herumirren?" „Wer weiß?" „Sind Sie sicher, dass sie nic ht nach Hause gegangen ist?" „Ja. Ich habe die Zofe kontaktiert."
„Und die Polizei weiß nicht, wo sie sich aufhält?" „Nein." „Wenn sie nicht wie versprochen nach Hause kommt, werden ihre Eltern sich Sorgen machen", sinnierte Boris. „Je mehr Zeit vergeht, um so beunruhigter werden sie. „Es könnte Tage oder sogar Wochen dauern, bis ihr Erinne rungsvermögen zurückkehrt." „Eine Woche sollte reichen", murmelte Boris. „Wofür?" Es war Boris ein Vergnügen, seinen Assistenten zur Abwechs lung einmal im Dunkeln tappen zu sehen. „Um zu einer Stange Geld zu kommen, ohne auf die Hochzeit warten zu müssen." Lothaire blickte ihn mit widerstrebender Bewunderung an. „Sie beabsichtigen, ein Lösegeld zu fordern?" „Wenn sie nichts von ihr hören und meine E-Mail erhalten, werden sie bereitwillig glauben, dass sie gekidnappt wurde." „Und wenn sie die Polizei einschalten?" „Wir werden drohen, das Mädchen zu töten, wenn sie die Entführung nicht geheim halten." Boris schmunzelte. „Und wenn sie unversehrt nach Hause kommt und Schuyler merkt, dass er reingelegt wurde, wird es ihm zu peinlich sein, um Anzeige zu erstatten." „Da könnten Sie Recht haben. Er wird bei seinen Geschäftspartnern nicht den Eindruck erwecken wollen, dass er sich so leicht austricksten lässt." Mit zufriedener Miene öffnete Boris seinen Laptop, um die E-Mail zu verfassen. Er konnte ein schönes Lösegeld einheimsen und Annalisa nach ihrer Rückkehr trotzdem als seine Braut fordern. Sie musste nur noch eine Weile verschwunden bleiben.
8. KAPITEL Den ganzen Vormittag über befragte Ryder Ginger Callas' Freunde, doch er erhielt nur einen einzigen brauchbaren Hinweis: Sie hielt sich gern am Strand auf. In Beachside, genau genommen. Der Kurort wies den Vorteil auf, dass er nur sechs Meilen von Ryders Wohnung entfernt la g. Anderseits waren ausgerechnet in dieser Woche Frühlingsferien, so dass es nur so von Kids wimmeln würde. Das machte die Suche nach Ginger so schwierig wie die Suche nach einem bestimmten Sandkorn. Vor allem, da Ryder zu sehr wie eine Autoritätsperson aussah, um bei Teenagern Vertrauen zu erwecken. Er konnte es sich nicht leisten, diesen Fall zu verpatzen. Anthony Callas zahlte nicht nur gut, sondern konnte Ryder auch einen guten Ruf in der Unterhaltungsbranche verschaffen, der ihm mehr wohlhabende Klienten, interessantere Aufträge und weniger Zeitverschwendung an entflohene Straftäter einbrachte. Nach einem schnellen Lunch kehrte er ins Büro zurück und stellte fest, dass Zizi sich den Nachmittag für eine Vorsprechprobe frei genommen hatte. Mürrisch rief er seinen Freund Biff Connor an, der einen Surfladen in Beachside besaß. Er erkundigte sich, ob er vielleicht Flugblätter verteilen konnte, um unauffällig am Strand zirkulieren zu können. „Tut mir Leid, aber ich muss den Laden für ein paar Tage schließen und nach Phoenix fahren. Meine Mutter hat Bronchitis und möchte, dass ich für eine Weile zu ihr komme. Ich verzichte nicht gern auf die Einnahmen, aber ich bin allein. Wenn du den Laden führen möchtest, wäre es mir nur recht." „Ich bin kein guter Verkäufer. Außerdem muss ich mich draußen am Strand aufhalten und mit den Leuten reden." Ryder horchte auf, als die Glocke über der Eingangstür ertönte. Es konnte ein neuer Klient sein, oder aber ein Einbrecher. „Ich muss auflegen. Trotzdem danke." Er legte den Hörer auf und stürmte zum Vorderzimmer. Eine Duftwolke wehte ihm entgegen, noch bevor er den Raum erreichte. Aufreizend, schmerzlich vertraut. Er weigerte sich, Hoffnung aufkeimen zu lassen. Sicherlich benutzten viele Frauen dieses Parfüm. „Kann ich Ihnen ..." Er verstummte abrupt. Auf den ersten Blick sah die Frau, die vor dem Schreibtisch stand, wie Lisa aus. Auf den zweiten Blick bemerkte er gewisse Unterschiede. Die grünen Augen waren unverändert, aber sie blickten aus einem geschwollenen, bleichen Gesicht. Schwarze Haare hingen schlaff unter einer klobigen Skimütze hervor, und ihre Schultern wirkten verspannt wie vor Schmerz. »Sind Sie Ryder Kelly?" fragte sie unsicher. Argwöhnisch kniff er die Augen zusammen und presste die Lippen zusammen, um eine ätzende Entgegnung zu verhindern. „Wissen Sie, wer ich bin?" Er konnte ein ungehaltenes Seufzen nicht unterdrücken. »Was soll der Unfug?" Ihr immer noch schönes Gesicht spiegelte Verwirrung und Verletzlichkeit. Beinahe gelang es ihr, ihn zu überzeugen, dass sie durch und durch ehrlich war. „Ich glaube, ich heiße Lisa Schmidt, aber ich bin mir nicht sicher. Ich habe Ihre Visitenkarte in meiner Brieftasche gefunden und hatte gehofft, dass wir uns schon mal begegnet sind." »Allerdings", erwiderte Ryder kühl. »Wirklich?" Ihre Augen leuchteten auf. „Dann kennen Sie meinen Namen?" »Angeblich lautet er Lisa Schmidt, aber das ist gelogen", knurrte er. „Sie wissen nicht, wer ich bin?" »Ich habe keine Ahnung. Außerdem ist es mir egal." Lisa sank gegen den Schreibtisch. Er wollte nicht wieder auf ihre Tricks hereinfallen, aber ein Instinkt veranlasste ihn, zu ihr zu treten, um ihr zu helfen. Er nahm sie am Arm und stellte fest, dass sie zitterte. Als sie auf einen Stuhl sank, fielen ihm beunruhigende Verletzungen auf.
Eine Gesichtshälfte war unter dem Make-up bläulich verfärbt, und unter der Mütze lugte ein Verband hervor. „Sie brauchen einen Arzt." »Nein!" In Panik sprang sie halb auf, bevor sie zurück auf den Stuhl sank. »Warum nicht?" »Jemand versucht, mich zu töten." „Wahrscheinlich ein alter Liebhaber. Ich kann es ihm nicht verdenken", murrte er unwillkürlich. „Was soll das heißen? Mr. Kelly, kenne ich Sie in irgendeiner anderen als einer geschäftlichen Hinsicht?" „Nur, wenn man ein gemeinsames Wochenende im Bett mit zählt." „Ich habe mit Ihnen geschlafen?" Abwägend, mit hochgezo genen Augenbrauen musterte sie seinen Körper, vom Gesicht bis hinab zu der rebellisch erwachenden Region. „Ich muss einen beachtlichen Eindruck gemacht haben, um so schnell vergessen zu werden", knurrte er. „Schnell?" „Du hast mich vorgestern verlassen." „Wo?" „In Colorado. Komm schon, Lisa, du kannst doch nicht vergessen haben ..." „Deswegen war ich also auf dem falschen Flughafen", sinnierte sie. „Ich habe mich gewundert, was ich am La Guardia wollte, obwohl mein Flug vom JFK abging. Ich muss gerade angekommen sein." „Würdest du mir das bitte erklären?" „Ich hatte ein Ticket nach Paris in meiner Tasche, zusammen mit einem gefälschten Schweizer Pass. Ich weiß nicht, was passiert ist. Aber die Polizei sagt, ein Taxi hätte mich angefahren und der Fahrer sei geflohen." „Am La Guardia?" „Ja. Ich bin im Krankenhaus aufgewacht. Die Taxilizenz war gefälscht, ebenso wie mein Pass." „Dann haben wir also eine Fülle an falschen Papieren", mur melte Ryder. „Deswegen meint die Polizei, dass ich vorsätzlich angefahren wurde. Sie vermutet außerdem, dass ich in etwas Illegales verwickelt bin, aber ich bin sicher, dass es nicht stimmt. Es ist beängstigend. Ich erinnere mich nicht, wer ich bin, und niemanden, den ich kenne, einschließlich dich." Sie musterte ihn erneut. „Bist du sicher, dass ich dich verlassen habe?" „Ja." „Wie lange waren wir zusammen im Bett?" „Zwei Tage." „Mr. Kelly, demnach ... Ich sollte wohl lieber Ryder und du sagen in Anbetracht dessen, was vorgefallen ist. Also, demnach musst du etwas von mir wissen. Wie haben wir uns kennen ge lernt? Wer hat uns miteinander bekannt gemacht? Man stürzt sich doch nicht einfach in ... Ich meine, ich bin doch nicht der Typ, oder?" „Du bist äußerst hingebungsvoll mit mir ins Bett gehüpft." „Das ist ja furchtbar." „So furchtbar war es auch wieder nicht." „Ich meine, es ist furchtbar, dass ich mich nicht daran erinnere!" Verflixt, beinahe brachte sie ihn zum Lachen. Er wollte Lisa - oder wie immer sie heißen mochte - nicht mögen. Er wollte ihr weiterhin zürnen. Er ahnte, dass sie ihn erneut an der Nase herumführte, aber ihre Taktik ergab noch weniger Sinn als zuvor im Chalet. „Mal sehen, ob ich folgen kann", sagte er. „Du bist also von einem Taxi angefahren und ins Krankenhaus gebracht worden. Die Polizei meint, du seiest in Gefahr, und deshalb bist du na türlich sofort wieder entlassen worden." „Ich habe mich verdrückt." „Das Krankenhaus hat dich nicht entlassen?"
„Ich bin nicht sicher, ob es mich jemals aufgenommen hat. Zumindest nicht richtig, da man nicht weiß, wer ich bin." Sie runzelte die Stirn. „Ich scheine etwas von Krankenhäusern zu verstehen." „Du hast mal in einem gearbeitet." „Als Krankenschwester?" „Als Freiwillige. Du bist reich. Zumindest hast du das ge sagt." „Vielleicht solltest du mit mir einkaufen gehen und sehen, ob ich spontan zu teuren Sachen tendiere." Nun musste er tatsächlich lachen. „Ich kann es nicht fassen, dass du in einer derartigen Situation scherzt." „Ich auch nicht." Ihr ironisches Lächeln ließ sein Herz pochen. „Es klingt vielleicht seltsam, aber ich habe noch ungefähr tausendfünfhundert Dollar. Ich bezahle dich dafür, dass du herausfindest, wer ich bin." „Wenn du dein ganzes Geld an mich zahlst, wovon willst du dann leben? Es könnte eine Weile dauern." Ihm fiel ein, dass Zizi ein Telefonat erwähnt hatte, das einen Anhaltspunkt liefern konnte. „Hast du jemals von International Substrate ge hört?" Lisa streckte die langen, schlanken Beine aus. „Keine Ahnung." „Hast du Freunde aus Kanada?" „Ich wünschte, ich wüsste, ob ich überhaupt Freunde habe." „Sprichst du Französisch?" „Ich ... ich weiß nicht." „Kannst du sagen Ich liebe dich?" „Je t'aime." „Und auf Spanisch?" „Te amo." Sie sagte es in zwei weiteren Sprachen, die er nicht kannte, die sie aber als Holländisch und Russisch bezeichnete. „Sprichst du all diese Sprachen wirklich?" „Ich weiß es nicht. Vielleicht erzähle ich den Leuten nur gern, dass ich sie liebe. Soll ich es mit anderen Sätzen versuchen?" „Ich habe eine bessere Idee. Behalte dein Geld. Ich kann dir nicht helfen." Tränen glitzerten in ihren Augen. „Es tut mir Leid, dass ich mich so mies benommen habe. Ich verstehe es wirklich nicht. Ich weiß nicht mal, was für ein Mensch ich bin oder war. Aber du bist der Einzige, der mir helfen kann. Bitte!" Ryder war nicht durch harte Arbeit aus armseligen Verhältnissen emporgestiegen, um sich von einer Frau um den Finger wickeln zu lassen, die ihn bereits einmal wie Dreck behandelt hatte. Aber wenn sie nun wirklich in Gefahr schwebte? Leute, die mit gefälschten Papieren und viel Bargeld reisten, verkehrten im Allgemeinen in gewagter Gesellschaft. Vielleicht war sie ein Kurier für eine kriminelle Organisation. Vielleicht hatte sie sich in ihn verliebt und ihn zu seinem eigenen Besten verlassen. Sicher, dachte er sarkastisch, und Schweine können fliegen. Doch er konnte sich nicht dazu bringen, sie hinauszuwerfen. Falls ihr etwas zustieß, würde er es sich niemals verzeihen können. Dieser Gedanke erinnerte ihn daran, dass er Ginger Callas suchen sollte. Und das brachte ihn auf eine hervorragende Idee. „Wie würde es dir gefallen, das Wochenende über am Strand zu arbeiten?" „Wenn Sie diese Taste drücken, zeigt die Kasse den Gesamtbetrag an", erklärte der tätowierte Mann namens Biff hinter dem Ladentisch. „Erinnern Sie sich an alles, was ich Ihnen erzählt habe?" „Sicher", erwiderte Lisa. Was die Gegenwart anging, schien ihr Gedächtnis zu funktionieren. „Die Anleitung liegt hier unten im Regal, falls Sie eine Auffrischung brauchen." „Sie braucht vielleicht keine, aber ich", bemerkte Ryder.
„Du sollst ja nicht an der Kasse arbeiten, sondern neue Kunden bringen", konterte Biff. Lisa folgte seinem Blick durch die offene Ladentür des kleinen Geschäfts. Der Ausblick auf Strand und Meer war wundervoll und ihr völlig fremd. Doch womöglich hatte sie ihr ganzes Leben dort verbracht, ohne es zu wissen. „Wir gehen ins Hinterzimmer und entwerfen ein Flugblatt", erklärte Ryder. „Können wir dich hier allein lassen?" „Sicher." „Nicht mehr schwindelig?" „Nein." Nach einem ausgiebigen Lunch fühlte sie sich ge stärkt. Es freute sie, dass sie sich so rasch von dem Unfall erholte. Sie wollte niemandem zur Last fallen. „Ich hoffe, dass ich Ihrem Geschäft nicht schade, Biff." „Sie scherzen wohl." Er musterte sie bewundernd. „Bei einer flotten Biene wie Ihnen hinter dem Ladentisch werden sämtliche Surfer von Beachside hereinströmen, um zu testen, woher der Wind weht." „Soll das heißen, dass ich ihnen Unterricht geben soll?" hakte Lisa nach. Biff lachte. „Wohl kaum." „Es bedeutet, dass du hübsch aussehen und so tun sollst, als würden die Surfer was Intelligentes sagen", murrte Ryder. „Was nicht sehr wahrscheinlich ist." „Ist da etwa jemand eifersüchtig?" hakte Biff nach. „Hilf mir lieber bei dem Flugblatt und erspare mir die Psychoanalyse", entgegnete Ryder und ging voraus ins Hinterzimmer. Lisa setzte sich auf einen Hocker hinter der Theke und blickte sich um. Später Sonnenschein fiel zu den getönten Fensterscheiben herein, mischte sich mit dem Halogenlicht und dämpfte die schrillen Farben der Bademode und Strandhandtücher. Regale mit Surfbrettern, Skateboards und Surfanzügen säumten die Wände. Mitten im Laden standen Regale mit Sonnenlotion und Taucherbrillen. Ein Glaskasten neben der Kasse enthielt Unterwasseruhren, Thermometer und andere kleine Geräte. Der Geruch von Tang hing in der Luft, und das Donnern der Brandung mischte sich mit dem Geschrei von Möwen. Draußen auf dem Bürgersteig standen zwei kleine Mädchen mit ihren Fahrrädern und schleckten Eiscreme. Zum ersten Mal, seit Lisa im Krankenhaus aufgewacht war, verspürte sie ein Gefühl des inneren Friedens. Vielleicht lag es an der Beschaulichkeit der Umgebung, aber es hatte auch etwas mit Ryder zu tun. Selbst wenn er ihr nicht gesagt hätte, dass sie sich kannten, hätte sie es gespürt. Oder vielleicht hatte sie nur gespürt, dass sie ihn kennen wollte. Ihr gefiel sein Aussehen, sein muskulöser Körper und seine Art, sich zu bewegen, so als wäre er ständig auf dem Sprung. Instinktiv wusste sie, dass sie sich ihm eifrig hingeben würde, wenn er sie nur berührte. Wie frustrierend, dass sie sich nicht daran erinnerte, mit ihm geschlafen zu haben! Sie konnte sich nicht vorstellen, warum sie ihn verlassen haben sollte. Zwei Mädchen von etwa zwölf Jahren spazierten barfuß he rein und inspizierten ein Regal mit Lipgloss. „Kann ich helfen?" fragte Lisa. Die Kleinere der beiden blickte auf. „He, was ist denn mit Ihnen passiert? Sind Sie gegen eine Tür gelaufen?" „Autounfall." „Achten Sie nicht auf Buffy", entgegnete die andere. „Ist Ihnen nicht furchtbar heiß in dem Sweater? Sie sollten mal so einen Sarong anprobieren" „Starr denkt immer bloß an Kleider", erklärte Buffy, die ein orangefarbenes Stretchtop über einem roten Bikinihöschen trug. „Was war das für ein Autounfall? Sind Sie gefahren?" „Nein, gelaufen. Offensichtlich am falschen Ort zur falschen Zeit", erklärte Lisa.
„Wo kommen Sie her? Hawaii oder so? Oder vielleicht Italien? Sie sehen aus, als würden Sie Leilani oder Sophia heißen." „Ich heiße Lisa. Übrigens soll ich hier ein Mädchen namens Ginger treffen, aber ich kann sie nicht finden. Sie hat lange, rotblonde Haare und trägt am liebsten ein T-Shirt mit Brad Pitt drauf. Habt ihr sie gesehen?" Starr schüttelte den Kopf. „Wenn sie uns über den Weg läuft, sagen wir Ihnen ..." Sie verstummte abrupt, als Ryder aus dem Hinterzimmer kam. „Wer ist das denn?" „Ach, das ist Ryder. Er macht Werbung für den Laden", erwiderte Lisa. Buffy wich zur Tür zurück. „Er sieht aus wie ein Bulle." „Wir sehen uns", sagte Starr. Ryder blickte ihnen nach. „Hast du irgendetwas Nützliches erfahren?" „Dass ich neue Kleidung brauche." „Fünfundzwanzig Prozent Rabatt", verkündete Biff. Lisa beschloss, den Rat der Mädchen anzunehmen und sich eines der Wickelkleider auszusuchen, auch wenn es ihre ge prellte Schulter enthüllen würde. Das bunte Blumenmuster würde von ihren Verletzungen ablenken. „Ich habe ihnen Gingers Beschreibung gegeben. Sie haben versprochen, nach ihr Ausschau zu halten." Ryder seufzte. „Du kommst an sie heran, ohne dich anzustrengen. Ein Blick auf mich, und sie konnten nicht schnell ge nug verschwinden." „Weil du wie ein Drogenfahnder aussiehst." Biff warf ihm ein Päckchen mit selbstklebenden Tätowierungen zu. „Versuch es mal damit. Die Straße runter ist ein Laden, in dem du Shorts und weite T-Shirts kaufen kannst." „Und dann falle ich nicht mehr auf?" hakte Ryder zweifelnd nach. „Doch. Aber zumindest wirkst du dann wie ein Drogenfahnder, der versucht, dazuzugehören." „Herzlichen Dank." Ryder half Lisa von dem Hocker. „Wir sind morgen früh zurück." Biff gab ihm einen Ladenschlüssel und die Kombination der Alarmanlage. „Hier ist die Telefonnummer von meiner Mutter, falls ihr Fragen haben solltet." „Wir rufen an", sagte Lisa. „Wir kommen schon allein zurecht", sagte Ryder gleichzeitig. „Du, mein Freund, kannst allein zurechtkommen, und Lisa kann mich anrufen." Er zwinkerte ihr zu. „Jederzeit." Als sie das Geschäft verlassen hatten, fragte Lisa: „Hat er mit mir geflirtet?" „Das könnte man sagen." „Warum? Ich sehe furchtbar aus." „Ja, aber du siehst wunderschön furchtbar aus." „Oh, vielen Dank." Es überraschte sie, dass er ihr Komplimente zollte, obwohl sie ihn offensichtlich schlecht behandelt hatte. Jedenfalls fühlte sie sich nicht wunderschön, sondern zerschunden und plötzlich sehr müde. Auf dem Weg zum Auto kamen sie an einem weißhaarigen Mann in einer Toga vorbei, der mit halb geschlossenen Augen ein Mantra sang. „Was tut er da?" fragte Lisa verwundert. „Ich nehme an, er verhält sich seiner Meinung nach normal. Der Strand ist voll von Irren." „Warum trägt er eine Toga?" „Wieso kennst du eine Toga, obwohl du deinen eigenen Namen nicht weißt?" „Ich erinnere mich an viele Dinge. Dass der Sarong von den Pazifischen Inseln stammt und die Toga aus Rom." Ryder schloss seinen Wagen auf. „Es fällt mir schwer zu glauben, dass dein Gedächtnisverlust kein Trick ist." „Und ich bin nicht sicher, ob ich es zurückhaben will. Nach deinen Aussagen war ich kein sehr netter Mensch." „Du warst nicht sehr nett zu mir." Er öffnete die Beifahrertür. „Ich weiß nicht, wie du
andere Leute behandelt hast." „Offensichtlich habe ich jemanden dazu gebracht, mich umbringen zu wollen." Ryder blickte sich unbehaglich um. „Lisa, ich kann nicht für deine Sicherheit garantieren, solange ich nach Ginger suchen muss." „Ich fühle mich aber sicher bei dir, Ryder." Seine bekümmerte Miene verriet, dass er ihr früheres Verhalten nicht verziehen hatte. Doch er verhielt sich ihr gegenüber sehr beschützend, und er hatte ihr angeboten, in seinem Apartment auf der Couch zu schlafen. Lisa war sich nicht sicher, wie sicher sie dort vor ihm sein würde. Sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt sicher vor ihm sein wollte.
9. KAPITEL Ich bin der größte Trottel auf Erden, dachte Ryder, während er Lisa musterte, die in einem Sessel eingeschlafen war. Ihre Anwesenheit in seinem Apartment änderte die Dimensionen, die Atmosphäre. Das dunkle Haar und der bunte Skipullover bildeten einen scharfen Kontrast zu der nüchtern, unpersönlich eingerichteten Wohnung mit den weißen Wänden und den hellen Möbeln. In diese sterile Umgebung hatte er ein ungezähmtes Wesen ge bracht, das bereits die Macht bewiesen hatte, seine Selbstbeherrschung zu rauben. Doch er war froh darüber, dass sie aufgetaucht war. Es kümmerte ihn nicht, dass sie ihn vermutlich erneut benutzen und in ein paar Tagen wieder verschwinden würde. Er wollte jede Stunde, jede Minute dieser Tage auskosten. Vielleicht lag es an seiner Risikobereitschaft, dass er sie so faszinierend fand. Ihre Unberechenbarkeit erhöhte zweifellos ihren Charme. Lisa schlug die Augen auf. Er beobachtete sie eingehend. Als sie ihn erblickte, lächelte sie erfreut. Nichts deutete darauf hin, dass sie es nur vortäuschte. Sie blickte sich um und runzelte verwirrt die Stirn. „Ich hatte erwartet..." „Was denn?" „Ein anderes Zimmer." „Beschreibe es." „Blau und weiß." „Das Chalet. Deine Erinnerung kehrt zurück." „Das hoffe ich." Sie strich sich mit den Fingern durch das Haar und zuckte zusammen, als sie den Kopfverband berührte. „Erinnerst du dich an den Unfall?" „Nein. Aber an alles, seit ich im Krankenhaus aufgewacht bin." „Das Dinner ist fertig." „Gut. Ich bin am Verhungern." Sie aßen an dem kleinen Küchentisch. Nach dem ersten Bissen fragte sie: „Ryder, du hast dich geweigert, mein Geld anzunehmen. Aber hilfst du mir trotzdem herauszufinden, wer ich bin?" „Ich habe bereits darüber nachgedacht, wie wir vorgehen sollten", gestand er ein. „Unter normalen Umständen würde ich deine Beschreibung ins Internet geben. Aber wenn jemand dich zu töten versucht, sollten wir ihm keine Hinweise auf deinen Aufenthaltsort geben." „Du glaubst wirklich, dass ich in Gefahr bin?" „Wir müssen davon ausgehen. Obwohl die Tatsache, dass die Nummernschilder des Taxis gefälscht waren, nicht bedeuten muss, dass du absichtlich angefahren wurdest. Hast du im Krankenhaus jemand Verdächtigen bemerkt?" „Ich glaube nicht." „Niemand hat versucht, dich beim Verlassen aufzuhalten?" „Nein." Lisa legte die Gabel nieder. „Vielleicht sind in meinem Koffer irgendwelche Hinweise, die mir entgangen sind, so wie der Polizei deine Visitenkarte in meiner Brieftasche. Können wir die Sachen zusammen durchsehen?" „Es ist einen Versuch wert." Er wusch das Geschirr ab, und sie trocknete es recht unge schickt ab. Er war sich nicht sicher, ob es an mangelnder Praxis oder ihren Verletzungen lag. Schließlich wurde ihm bewusst, dass sie zusammenzuckte, sobald sie die Schulter bewegte. „Lass mich mal sehen." Sie wehrte sich nicht, als er ihren Sweater hinabschob. Der Anblick ließ ihn leise fluche n. Die gesamte Seite ihres Körpers war blau und schwarz verfärbt. Er hätte bedenken müssen, das der Unfall ernste Verletzungen hervorgerufen hatte. „Du brauchst
Medikamente." „Ich will einen klaren Kopf behalten", wandte sie ein. „Ich habe auch so schon genügend Gedächtnislücken." „Eine Schmerztablette schadet dir nicht. Ich hole dir eine, und dann gehen wir dein Gepäck durch." Einige Minuten später saßen sie inmitten von Lisas Sachen auf dem Bett. Die Kleider mit den Tomatenflecken waren nicht darunter. Vermutlich hatte sie sie weggeworfen, wie es für ein reiches Mädchen normal war. Ryder tastete die Innenseite des Koffers ab. Das Futter war an einigen Stellen lose. Vermutlich hatte die Polizei bereits nach Geheimfächern gesucht. Er fand keines. „Fällt dir hier irgendetwas auf?" Lisa inspizierte die Kleidungsstücke. „Sie sind alle von guter Qualität." Ryder musterte die Etiketten und stellte fest, dass die Sachen aus verschiedenen Großstädten wie Paris, Amsterdam, London und Madrid stammten. „Du kommst viel herum." Sie strich über ein Neglige^ aus hellblauer und rosa Seide. „Ich muss reich sein." „Hast du es eilig, zu diesem Reichtum zurückzukehren?" „Eigentlich nicht." Sie hielt ein Seidentuch hoch, das mit Pfauenfedern bedruckt war. „Damit könnte ich den Kopfverband verbergen." Ryders Blick fiel auf zarte, seidige Dessous. Unwillkürlich stellte er sich vor, dass Lisa diese Sachen trug und er sie ihr Stück für Stück auszog. Sein Körper spannte sich. Er sehnte sich danach, sie in die Arme zu ziehen und zu liebkosen, bis sie ihn anflehte, sie zu nehmen. Was ihn davon abhielt, war das Wissen, dass sie sich nicht daran erinnerte, mit ihm geschlafen zu haben. Für sie war er nicht länger ihr Liebhaber, sondern ein Fremder. „Ist es nicht seltsam, dass ich nur Kleidung und Toilettenartikel bei mir habe?" fragte Lisa. „Kein Adressbuch, kein Telefonverzeichnis. Entweder hat jemand es an sich genommen, oder ich wollte meine Identität verbergen." „Oder beides." „Ich kann mir nicht vorstellen, in was ich verwickelt war. Es ist beängstigend. Ich wünschte, ich könnte einfach nicht zurückgehen und neu anfangen als Lisa Schmidt." Das wünschte er auch. Er wollte, dass diese Traumfrau bei ihm blieb. „Nimm du das Bett", bot er an, als sie ein Gähnen unterdrückte. „Ich schlafe auf der Couch." „Das ist zu viel verlangt." Die Couch war zu kurz für ihn, aber er konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass sie es mit ihren Prellungen so unbequem hatte. „Ich bin lieber im Vorderzimmer. Um Wache zu halten." „Glaubst du, dass mir jemand nach L.A. gefolgt ist?" „Eigentlich nicht. Aber ich bin lieber vorsichtig." Dankbarkeit spiegelte sich in ihren großen dunklen Augen. „Ich weiß nicht, was ich ohne dich anfangen würde." „Mach dir deswegen keine Gedanken." Hastig, solange er noch an sich halten konnte, verließ er das Schlafzimmer. Im Wohnraum trat er an das Fenster und musterte die Gartenanlage des Apartmentkomplexes. Er sah nichts Verdächtiges in dem beleuchteten Swimmingpool, auf den Wegen oder in den Schatten der Palmen. Natürlich würde ein professionelles Überwachungsteam nicht im Gebüsch lauern, sondern sich in einem unbewohnten Apartment einnisten. Doch sein Instinkt verriet ihm, dass Lisa inzwischen längst geschnappt worden wäre, wenn ihr jemand gefolgt wäre. Er sank auf die Couch, schaltete den Fernseher ein und sah sich eine Nachrichtensendung an. Der Sprecher verlor kein Wort darüber, dass die New Yorker Polizei eine vermisste Frau suchte.
Sie konnte beruhigt am Strand arbeiten, ohne befürchten zu müssen, erkannt zu werden. Welchen Schaden sie ihm auch zuge fügt hatte, sie konnte es wieder gutmachen, indem sie ihm half, Ginger zu finden. Er musste nur seine Libido unter Kontrolle halten, ein paar Nächte auf der Couch überstehen und darauf warten, dass ihr Gedächtnis zurückkehr te. Dann würde sie ihn verlassen. Am nächsten Morgen, als Lisa und Ryder das Apartment verließen, fiel ihr auf, dass er ein wenig humpelte. „Wobei hast du dein Bein verletzt?" wollte sie wissen. „Bei einem Skiunfall. Dadurch haben wir ins kennen gelernt." „Du hast mich angefahren?" „Nein. Jemand anderen. Du bist zu mir gekommen, hast dich als Krankenschwester ausgegeben und meine Krankengeschichte aufgenommen. Dann hast du mich nach Hause gefahren und verführt." Lisa versuchte, sich daran zu erinnern, doch sie bekam nur Kopfschmerzen. „Aber ich bin keine Krankenschwester, oder?" „Nein. Du bist auch nicht aus Miami." Offensichtlich neckte er sie wegen etwas, das sie in ihrem früheren Leben gesagt hatte. Doch sie verstand den Scherz nicht. „Erzähl mir mehr von dem Mädchen, das wir suchen", bat sie, während sie zum Strand fuhren. „Ginger ist sechzehn. Ihr Vater ist ein Schallplattenproduzent und macht viel Geld." „Und ihre Mutter?" „Geschieden. Sie kümmert sich nicht sonderlich um ihre Tochter." Er nahm ein Foto aus seiner Brusttasche und reichte es ihr. Lisa betrachtete es. Rote lockige Haare. Ein offenes, sommersprossiges Gesicht, ein leicht trotziger Zug um die vollen Lippen. Ihr fiel auf, dass sie und Ginger zwei Dinge gemeinsam hatten: Reichtum und die Tatsache, dass beide verschwunden waren. „Du glaubst, dass sie bei Freunden ist?" „Ich hoffe es. Wo unbeaufsichtigte Kids sind, wie am Strand, sind auch immer Männer, die es auf sie abgesehen haben. Ginger ist naiv und starrsinnig. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie auf jemanden trifft, der ihr etwas antun könnte. Wir müssen sie vorher finden." „Was soll ich tun, wenn ich sie sehe? Sie festnehmen lassen?" Ryder schüttelte den Kopf. „Sie hat keine Gesetze gebrochen. Solange sie nicht in unmittelbarer Gefahr ist, müssen wir nur herausfinden, wo sie ist, und ihren Vater benachrichtigen. Es liegt an ihm, sie zu überreden, nach Hause zurückzukehren." Der Parkplatz am Strand lag zu dieser frühen Stunde beinahe verlassen da. Die Luft war noch kühl und das Meer von Frühne bel verschleiert. Ryder schloss die Ladentür auf, gab den Sicherheitscode ein und schaltete das Licht an. „Es macht mir etwas Angst, das Geschäft allein zu führen, während du am Strand bist", gestand Lisa ein. „Ich bleibe eine Weile und helfe dir", versicherte Ryder. Nachdem ein paar Kunden gekommen und wieder gegangen waren, von denen nur einer etwas gekauft hatte, wuchs ihre Zuversicht. Sie war zwar nicht qualifiziert, bei der Wahl eines Surfbretts zu helfen, aber das war Ryder schließlich auch nicht. „Wenn jemand Beratung braucht, muss er eben bis Montag warten", beruhigte er sie, als er sich gegen elf Uhr anschickte, die Flugblätter zu verteilen. „Viel Erfolg", wünschte Lisa ihm, als er das Geschäft verließ. In der folgenden Stunde unterhielt Lisa sich mit Kunden und verkaufte sogar einige Gegenstände. Einige junge Männer kamen offensichtlich nur, um sie verstohlen zu betrachten. Angesichts ihrer Prellungen erschien es ihr seltsam. Als gerade niemand da war, schlüpfte sie in eine Umkleidekabine und musterte sich
im Spiegel. Sie hatte den Kopfverband am Morgen abgenommen und sich das Tuch um den Kopf gewickelt. Es ließ ihre Augen größer als gewöhnlich wirken. Die Prellungen im Gesicht hatten sich inzwischen gelblichbraun verfärbt und waren unter der Grundierung kaum zu sehen. Worauf die Männer starrten, war vermutlich ihre olivfarbene Haut und der Brustansatz, der über dem Sarong hervorlugte. Sie fragte sich, ob sie auf Ryder dieselbe Wirkung ausübte, und hoffte es sehr. Denn jedes Mal, wenn er ihr nahe kam, stieg eine Woge der Sehnsucht in ihr auf. Es war kein Wunder, dass sie ihn in ihrem früheren Leben verführt hatte. Entschieden verdrängte sie diese Gedanken und verließ die Umkleidekabine. Es war beinahe ein Uhr, und ihr Magen begann zu knurren. Auf dem Bürgersteig spazierte eine Mutter mit zwei Kindern vorbei, die Hotdogs aßen. Der Duft wehte zur offenen Tür herein, und ihr lief förmlich das Wasser im Mund zusammen. Kurz entschlossen griff sie zu ihrer Handtasche. Sie hängte ein Schild mit der Aufschrift Bin gleich zurück an die Tür und verschloss den Laden. Von drinnen hatte sie nur gelegentlich einen flüchtigen Blick durch das getönte Schaufenster auf Passanten erhascht. Nun sah sie das ganze Ausmaß des regen Treibens am Strand. Kinder aller Größen planschten in der Brandung, und auf dem Sand lagen Hunderte von Sonnenanbetern auf bunten Badetüchern. Kein Wunder, dass Ryder so lange brauchte, um seine Flugblätter zu verteilen. Wie sollte er in diesem Gewimmel ein Mädchen finden? Zwei Häuser weiter erblickte Lisa eine Imbissbude, an der mehrere junge Frauen Schlange standen. Wie natürlich und perfekt sie aussahen, diese kalifornischen Mädchen mit ihrer gleichmäßigen Sonnenbräune und den knappen Bikinis. Lisa konnte einen Anflug von Eifersucht nicht unterdrücken. Ryder verbrachte den Tag inmitten fast nackter Frauen. Er lebte nicht einmal sechs Meilen entfernt. Ihm mangelte es gewiss nicht an Gelegenheit zu romantischen Abenteuern. Verdrossen stellte sie sich am Imbiss an. Als sie an der Reihe war, kaufte sie sich einen Hamburger, Pommes und eine Limo. Sie kehrte zum Laden zurück. Da kein Kunde zu sehen war, ging sie weiter und setzte sich auf eine Bank in der Nähe. Kurz darauf blieb ein verwahrloster junger Mann vor ihr stehen und spähte auf das handgeschriebene Namensschild an ihrem Kleid. „Bist du die Lisa vom Surfladen?" „Ja. Willst du etwas kaufen?" „Eigentlich nicht." Langes, struppiges Haar umrahmte das junge, recht nette Gesicht. „Buffy hat gesagt, dass ich mir dich ansehen soll, weil du eine tolle Puppe bist." „Sie will mich verkuppeln?" „Nicht mit ihm!" Ein kleinerer Jugendlicher, ebenfalls etwa achtzehn, schob sich vor den anderen. Sein Gesicht war schmal und auffallend blass für diese Gegend. „Ich bin doch eher dein Typ, oder?" „Kein Kommentar", entgegnete Lisa. Sie wollte seine Gefühle nicht verletzen, aber auch nicht flirten. Außerdem fühlte sie sich schwach vor Hunger. Obwohl sie es für unhöflich hielt, in Gegenwart anderer zu essen, ohne etwas anzubieten, konnte sie den Pommes nicht widerstehen. Die beiden jungen Männer beobachteten fasziniert, wie sie kaute und schluckte. Sie konnte nur hoffen, dass Buffy ihr keine weiteren Bewunderer schickte. Sie hasste es, Aufsehen zu erregen. Dann fiel ihr ein, dass die beiden ihr nützlich sein könnten. „Hat Buffy euch gesagt, dass ich nach meiner Freundin Ginger suche?" „Ja, lind deshalb ... Ich bin übrigens Jason." „Hallo, Jason." Sie nahm die Hand, die er ihr reichte. „Und ich heiße Percy", sagte der andere und gab ihr ebenfalls die Hand.
„Jason, du wolltest mir was von Ginger erzählen", erinnerte Lisa ihn. „Ach ja. Weißt du, wir haben da diese Bude ..." „Du und Percy?" „Und ein paar Freunde", fügte Percy hinzu. „Damen sind jederzeit willkommen." „Diese Ginger könnte vor ein paar Tagen bei uns übernachtet haben", erklärte Jason. „Steckt sie in Schwierigkeiten?" „Nein. Aber ich mache mir Sorgen um sie. Habt ihr eine Ahnung, wo sie jetzt steckt?" Beide schüttelten den Kopf. „Wir schicken sie her, falls wir sie treffen", sagte Percy. „Lasst mich lieber wissen, wo sie ist", entgegnete Lisa hastig. „Sie ist ziemlich scheu. Ich will nur mit ihr reden." „Okay." „Wo ist eure Bude eigentlich?" fragte Lisa nebenbei. „Willst du uns besuchen? Du bist jederzeit willkommen", versicherte Percy. Er setzte an, ihr die Adresse zu nennen, doch dann verstummte er abrupt und raunte Jason zu: „Da kommt Officer Valencia." Beide Jungen wirkten plötzlich sehr nervös. Lisa folgte deren Blick und sah einen stämmigen Polizisten kommen. Jason umfasste die Papiertüte in seiner Hand fester, und sie nahm die unverkennbare Form einer Weinflasche an. Wie Lisa auf einem Schild gesehen hatte, war Alkohol an diesem Strand verboten, ebenso wie Hunde und Feuerwerke. „Wir müssen jetzt gehen", sagte Jason, und die beiden tauc hten in der Menge unter. Das stundenlange Verteilen von Flugblättern und Plaudern mit den Badegästen hatte Ryder einen Sonnenbrand, aber nicht viele Informationen eingebracht. Einige Leute glaubten, Ginger gesehen zu haben, erinnerten sich aber nicht genau an Ort und Zeit. Leider war das Wetter sehr schön für April. Hätte es geregnet, wäre Ginger leichter aufzuspüren gewesen oder inzwischen vielleicht sogar freiwillig nach Hause zurückgekehrt. Ryder blieb stehen und ließ den Blick über den Strand schweifen. Ein Frisbee wirbelte an ihm vorbei. Ein Mädchen fing es auf und schleuderte es kichernd wieder in die Luft. Unten am Wasser baute eine Gruppe kleinerer Kinder eine Sandburg. Die Szene strahlte Friedlichkeit und Sicherheit aus. Für ein verwöhntes Mädchen wie Ginger musste es wie ein großer Spielplatz wirken. Ryder konnte nur hoffen, dass sie nicht lernen musste, wie gefährlich das Strandleben sein konnte. In der Menge erblickte er eine rothaarige Gestalt, die auf das Meer hinausblickte. Ginger? Er bahnte sich einen Weg zwischen Sonnenschirmen und Sonnenanbetern hindurch. Als er drei Schritte entfernt war, drehte sich die Gestalt um und blickte ihn finster an. Hakennase, Bartstoppeln und eine sehr unfreundliche Miene. Ryder reichte ihm ein Flugblatt und trat hastig den Rückzug an. Der Geruch nach gegrillten Meeresfrüchten wehte von einer Bude herüber und rief ihm in Erinnerung, dass es Mittagszeit war und er nach Lisa sehen sollte. Er fragte sich, ob sie überhaupt noch da war. War es ein Fehler, sie allein im Geschäft seines Freundes zu lassen? Doch wenn sie eine Diebin wäre, hätte sie im Chalet das Geld aus seiner Brieftasche gestohlen. Er musste sich eingestehen, dass er immer mehr an ihre Be hauptung von der Amnesie glaubte. Alles, was sie sagte und tat, passte in die Story. Oder vielleicht wollte er auch nur, dass es der Wahrheit ent sprach. Um noch eine Weile daran glauben zu können, dass sie ausschließlich zu ihm gehörte. Selbst hier am Strand, an dem es von jungen, knapp bekleideten Frauen wimmelte, zog ihn keine so an wie Lisa. Es war nicht nur ihr überwältigendes Äußeres, sondern auch ihre Intelligenz, ihr Humor, ihre Wärme ...
Hastig verdrängte er diese Gedanken. Es war ihm gelungen, dem ziellosen, armseligen Leben seines Vaters zu entfliehen, indem er sich niemals gestattet hatte, weich zu werden. Und so sollte es auch bleiben. In der Nähe der Promenade bemühte sich eine junge Frau, ihren Sonnenschirm zu öffnen. Ryder fühlte sich nicht verpflichtet, den guten Samariter zu spielen, aber er wollte ihr ein Flugblatt geben. Also ging er zu ihr. „Gestatten?" Er griff nach dem widerspenstigen Schirm. „Danke", sagte sie in gemessenem Ton und mit kritischem Blick. Bei näherer Betrachtung stellte er fest, dass sie Anfang dreißig sein musste. Da gerade Schulferien waren, vermutete er: „Sind Sie zufällig Lehrerin?" Sie nickte knapp. „Ich suche eine Ausreißerin." Er holte das Foto von Ginger hervor. Sie musterte es. „Ich habe sie gesehen." „Wann? Wo?" „Gestern Nachmittag. Das ist einer der Gründe, warum ich heute wieder hier bin. Ich mache mir Sorgen um sie." „Warum?" „Würden Sie mir vielleicht verraten, wer Sie sind?" Er zeigte ihr seine Lizenz, und daraufhin erklärte sie: „Ein Mann hat lange mit ihr gesprochen. Es sah so aus, als wollte er sie vom Strand weglocken." „Können Sie ihn beschreiben?" Sie seufzte. „Mittelgroß, mittelblond, etwa fünfunddreißig. Seine Kleidung sah billig aus. Nicht zerlumpt, aber aus billigem Polyester." „Wie hat sie sich verhalten?" „Sie wirkte unbehaglich, aber nicht verängstigt. Sie wissen ja, wie Teenager sind. Sie glauben, mit allem fertig zu werden." „Ist sie mit ihm weggegangen?" erkundigte Ryder sich besorgt. Die Frau schüttelte den Kopf. „Er hat sie am Arm gepackt, so als wollte er sie mit sich ziehen. Es hat mich so beunruhigt, dass ich mich ihnen genähert habe. Bevor ich etwas sagen konnte, hat er mich böse angeschaut und ist verschwunden." „Haben Sie mit ihr gesprochen?" „Nein. Sie hat mich sehr wütend angestarrt. Ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihr eine Predigt zu halten. Ich war einfach froh, dass sie nicht mit dem Mann gegangen ist." Ryder reichte ihr seine Visitenkarte. „Wenn Sie sie wiedersehen, rufen Sie mich bitte an. Ihr Vater ist sehr besorgt um sie." Er kehrte zur Promenade zurück. Inzwischen ließ ihm der Duft nach Meeresfrüchten das Wasser im Mund zusammenlaufen. Daher kaufte er eine große Tüte frittierter Muscheln. Zufrieden naschte er davon, während er zum Surfladen eilte. Ginger war also noch am Vortag wohlauf gewesen. Er konnte nur hoffen, dass der Polyester-Mann nicht zurückkehrte, um sein Glück noch einmal zu versuchen. Ryder verlangsamte den Schritt, als er Lisa mit einem Hamburger in der Hand vor dem Laden stehen sah. Ihr langes dunkles Haar flatterte in der Brise, und mit dem Schal um den Kopf erinnerte sie an eine schöne Zigeunerin. Er trat zu ihr und musterte ihr zartes Gesicht. „Wie ist der Vormittag gelaufen?" Er deutete auf den Hamburger. „Entschuldige, dass ich nicht früher gekommen bin. Ich hatte eigentlich vor, dich abzulösen." „Es ging ganz gut, aber es war nicht viel los." Lisa nahm sich eine Muschel aus der Tüte und aß sie anerkennend. „Es tut mir Leid wegen Biff. Wir sollten ihm helfen, das Geschäft anzukur beln." „Das tue ich doch." Ryder deutete auf die fast leere Leinentasche mit den Flugblättern. „Das stimmt, aber ..." Als Lisa den Laden betrat, fiel ihr Blick auf den Kleiderständer mit Bademoden und Wickelkleidern.
„Wer nicht hereinkommt, um ein Surfbrett zu kaufen, weiß gar nicht, dass es hier diese Sachen gibt. Und wie viele Frauen surfen schon?" „Er hat doch Schaufensterpuppen mit Bikinis in der Auslage", entgegnete Ryder. „Ich dachte, sie sollten nur die Aufmerksamkeit auf die Surfbretter lenken. Mir war nicht klar, dass er auch Kleidung verkauft, bis ich den Laden betreten habe." Ihre Miene erhellte sich. „Ich habe eine Idee. Halte du die Stellung. Ich bin gleich zurück." „Was ..." „Ich weiß nicht, in welcher Branche ich gearbeitet habe, aber irgend etwas sagt mir, dass ich Talent für Werbung habe", erklärte sie auf dem Weg zur Tür. „Bis später." Lisa brauchte nicht lange, um Starr und Buffy aufzuspüren, und es gelang ihr noch schneller, sie zu einer Modenschau zu überreden. Sie zogen sich in der kleinen Umkleidekabine um und stolzierten vor dem Geschäft auf und ab. Das Ziel bestand darin, weibliche Kundschaft anzulocken, doch die meisten Schaulustigen waren Männer. Lisa spürte Ryders Missbilligung, aber sie ließ sich nicht beirren. Weder Buffy mit ihrer kindlichen Gestalt noch Starr mit ihrem knochigen Körper zogen so viel Aufmerksamkeit auf sich wie Lisa, doch sie amüsierten sich köstlich. Zu Lisas überschwänglicher Freude betraten tatsächlich mehrere junge Frauen das Geschäft. Sie wusste nicht, warum es ihr so wichtig war, Biffs Geschäft zu fördern, aber ihr spukten bereits weitere Ideen im Kopf herum. Vielleicht ein Karaoke oder eine Wahl des Mister Surfer. Falls sie niemals herausfand, wer sie war, wollte sie versuchen, einen Job bei einer Marketingfirma zu bekommen oder sich auf diesem Gebiet ausbilden lassen. Als sie zum Umziehen in den Laden ging, kassierte Ryder gerade bei einer Kundin. Er trug eine Leidensmiene, aber er protestierte nicht, als sie in einem roten Badeanzug mit schwarzen Streifen wieder hinausging. „Das sieht phantastisch aus", sagte Starr. „S ie füllen ihn richtig aus." „Wie alt sind Sie eigentlich?" wollte Buffy wissen. Lisa erkannte, dass sie ihr eigenes Alter nicht wusste. Einen Moment lang verspürte sie Panik. „Über einundzwanzig", erwiderte sie mit erzwungener Gelassenheit. „Ich schätze, wenn man erst mal über zwanzig ist, zählt das genaue Alter nicht mehr, oder?" bemerkte Starr. Als sich die Menge vor dem Geschäft lichtete, stolzierten die beiden mehr oder weniger graziös zur Imbissbude, um dort ihre Wickelkleider vorzuführen. Lisa wandte sich ab und erblickte einen Neuankömmling unter den Zuschauern. Ein Mädchen mit roten Locken und Sommersprossen. Es trug Jeans und T-Shirt statt eines Badeanzug wie die anderen Mädchen und hatte eine große Schultertasche bei sich. Die Merkmale einer Ausreißerin, dachte Lisa und trat zu ihr. „Hi, ich bin Lisa." „Wen interessiert das schon?" lautete die mürrische Antwort. Lisa ließ sich nicht beirren und fragte: „Willst du bei unserer Modenschau mitmachen?" Ginger verzog das Gesicht. „Das ist nicht mein Stil." „Das kannst du nicht wissen, solange du es nicht versuchst." Lisa deutete zu den beiden Mädchen vor der Imbissbude. „Du kannst es bestimmt genauso gut wie Starr und Buffy." „Vergleichen Sie mich bloß nicht mit diesen Hohlköpfen!" „Gibt es eigentlich niemanden, den du leiden kannst?" „Das geht Sie gar nichts an. Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe!" fauchte Ginger. Dann wandte sie sich ab und tauchte in der Menge unter. Lisa wollte ihr nachlaufen und sie festhalten, doch dazu hatte sie kein Recht. Niedergeschlagen betrat sie den Laden, gerade als die letzte Kundin hinausging. „Du hattest Erfolg", verkündete Ryder. „Wir haben drei Sarongs, zwei Bikinis, einen Sonnenhut und allerlei Kleinigkeiten verkauft."
„Ich habe Ginger gesehen." „Wann? Wo?" „Sie hat bei der Modenschau zugesehen." Lisa ging in die Umkleidekabine und berichtete von dem Gespräch. „Anscheinend ist sie nicht besonders glücklich", bemerkte er. „Allerdings nicht." Lisa schlüpfte in ihr neues Kleid. „Sie tut mir Leid, aber sie ist nicht besonders liebenswert." „Zumindest nicht zu Erwachsenen." „Ryder, es tut mir Leid." Sie trat aus der Kabine und blickte ihn geradewegs an. „Ich habe versucht, meine negative Einstellung zu verbergen, aber vielleicht hat sie es gespürt. Wäre ich netter zu ihr gewesen, wäre sie vielleicht geblieben. Auf alle Fälle hätte ich dich rufen sollen." „Es ist besser, dass du es nicht getan hast." „Warum?" „Für Ginger bist du nur eine Verkäuferin. Vielleicht nicht ge rade überaus warmherzig, aber immerhin jemand, mit dem sie reden kann, wenn sie in Schwierigkeiten steckt. Falls sie Angst kriegt, kommt sie vielleicht zurück." „Sie könnte ja auch zu Hause anrufen", wandte Lisa ein. „Das täte sie nur im äußersten Fall." „Du hast mir noch gar nicht erzählt, warum sie überhaupt von Hause weggelaufen ist." „Sie hatte Streit mit ihrem Vater wegen ihrer Zensuren. Er hat sie als faul und verzogen bezeichnet. Als er von der Arbeit zurückkam, war sie verschwunden." „Wie ich aus dem Chalet. Aber ich glaube nicht, dass ich dir böse war." „Und du bist zu mir zurückgekommen." Ryder zupfte einen losen Faden von ihrer Schulter. „Du bist halb nackt in diesem Fummel." „Ich bin voll bekleidet", protestierte sie. „Ach so?" Er strich mit einem Finger über ihren entblößten Brustansatz. „Noch ein paar Zentimeter tiefer, und du könntest ein Baby stillen." Ein Baby. In ihrer Erinnerung regte sich etwas. Hatte sie wo möglich irgendwo ein Baby zurückgelassen? „Lisa?" „Ich erinnere mich an etwas über ein Baby." „Wir haben darüber gestritten." Er senkte den Kopf, bis seine Stirn ihre berührte. „Ich habe dir gesagt, dass ich keine Kinder will, und das hat dich aufgeregt." „Ich mag Kinder." Lisa schlang die Arme um seinen Nacken. „Du wärst ein wundervoller Vater, Ryder." „Vielleicht hast du mich deswegen ve rlassen." „Weil du keine Kinder willst? Habe ich denn ein großes Aufhebens davon gemacht?" „Nein, aber ich habe gespürt, dass du dich zurückgezogen hast." „Warum bist du so sicher, dass du keine Kinder willst?" „Weil sie ständig etwas brauchen. Aufmerksamkeit, Geld, Disziplin, neue Schuhe. Ich habe nicht so viel zu geben." Niedergeschlagen presste sie die Lippen zusammen. Sie spür te, dass sie ein Baby wollte,, und zwar von Ryder. War sie deswegen geflohen? Er legte die Arme um ihre Taille und zog sie an sich. „Andererseits könnte es viel Spaß machen, welche zu zeugen. Hast du wirklich vergessen, was wir getan haben?" Sie nickte und flüsterte: „Aber du könntest meine Erinnerung ja auffrischen." Es kümmerte sie nicht länger, welche Differenzen zwischen ihnen bestanden hatten. Die Vergangenheit war vergessen, und an die Zukunft wollte sie in diesem sinnlichen Moment nicht denken. „Entschuldigung. Können wir uns jetzt umziehen?" Verlegen wich Lisa zurück. Sie hatte Starr und Buffy völlig vergessen. „Oh. Ja, natürlich."
Ryder stieß ein leises Brummen aus und zog sich hinter den Ladentisch zurück. Seine Wagen glühten, aber das lag vielleicht nur an seinem Sonnenbrand. Die Mädchen stürmten in die Umkleidekabine. Gekicher drang heraus. Sie lachten ständig über irgend etwas, doch Lisa wusste genau, was diesmal die Heiterkeit verursacht hatte. „Fortsetzung folgt später", murmelte Ryder. „Jetzt müssen wir arbeiten." Sobald die Mädchen das Geschäft kurz darauf verlassen hatten, rief Ryder Gingers Vater an und erstattete ihm Bericht. „Meine Mitarbeiterin hat Kontakt zu ihr aufgenommen, ohne sich als solche erkennen zu geben. Ich glaube, Ginger findet sie recht zugänglich." Er lauschte eine Weile. „Ich halte es für besser zu warten, bis sie von sich aus kommt. Aber die Entscheidung liegt natürlich bei Ihnen." Er schwieg erneut. „Ich bin froh, dass Sie mir zustimmen. Ich melde mich, sobald wir sie wieder sehen." Nachdem er aufgelegt hatte, sagte Lisa: „Er will wirklich abwarten, obwohl wir jetzt wissen, dass Ginger hier in der Gegend ist? Ich verstehe nicht, warum er sie nicht holen kommt." „Was hätte es für einen Sinn, sie nach Hause zu schleifen, damit sie nur wieder ausreißt? Er braucht ihr Vertrauen." „Was ist, wenn der Kerl vom Strand wieder auftaucht?" Ein Muskel zuckte an seinem Kiefer. „Wenn er sie anfasst, erwürge ich ihn mit bloßen Händen. Und jetzt zieh dir irgendwas über diesen Fummel." „Was stört dich denn daran?" „Nichts. Zumindest nicht am Strand, wo alle fast hüllenlos herumlaufen. Aber ich führe dich nicht zum Dinner aus in dieser Aufmachung, die allen Männern den Kopf verdreht." „Du hast mich überredet. Dinner ist das Zauberwort", erwiderte Lisa und ging ihre Strickjacke holen.
10. KAPITEL „Wie geht es deinem Sonnenbrand?" erkundigte sich Lisa, als sie und Ryder nach dem Dinner zu seinem Wagen spazierten, der mehrere Häuserblocks entfernt in Strandnähe stand. „Hat mit meinem Knöchel eine Koalition gebildet." „Du meinst, dir tut alles weh?" „So ähnlich." „Wir sollten dir einen Balsam aus der Apotheke holen", schlug sie mitfühlend vor. „Ich habe bestimmt was zu Hause." Die Nacht war kühl und sternklar. Als sie sich dem Meer nä herten, sah er einige dunkle Silhouetten über den Sand huschen. Vermutlich Sonnenanbeter, die nach verlorenen Gegenständen suchten, übereifrige Jogger und vielleicht ein paar obdachlose Gammler, die ein Lager für die Nacht suchten. Er fragte sich, ob Ginger dort draußen herumlungerte. Vielleicht war sie in Gefahr. Vielleicht war es falsch von ihm gewesen, Anthony Callas davon abzuraten, ihr nachzusetzen. Doch sie konnte bei Tageslicht ebenso in Schwierigkeiten geraten wie bei Nacht. Als sie den Wagen erreichten, versetzte ihm eine Bewegung in der Nähe des Hecks einen Adrenalinstoß. Blitzschnell schob er Lisa hinter sich und duckte sich. Ein Kreischen zerriss die Stille, und dann sausten zwei Katzen vorbei und verschwanden in der Dunkelheit. Ryder verfluchte sich im Stillen. Nicht wegen des falschen Alarms, sondern wegen seiner Unachtsamkeit. Die Sorge um Ginger hatte ihn vergessen lassen, dass Lisa womöglich immer noch in Gefahr war. „Entschuldige", murmelte er. „Ich habe mich auch erschrocken." Er öffnete die Beifahrertür und ließ sie einsteigen. Dann blickte er sich prüfend um, stellte jedoch nichts Außergewöhnliches fest. Wenn jema nd ihr etwas antun wollte, hatte derjenige vermutlich ihre Spur verloren. Dennoch nahm er sich vor, künftig wachsamer zu sein. Ryder glitt auf den Fahrersitz. „Ist dir heute was eingefallen? Aus deiner Vergangenheit, meine ich." Lisa dachte nach. „Tulpen." „Was ist mit Tulpen?" „Sie waren in einem Blumenkasten vor meinem Fenster. Was dahinter war, weiß ich nicht. Wachsen hier Tulpen?" „Sie brauchen Frost, den es hier nicht gibt." „Tulpen kommen aus den Niederlanden, oder?" „Ja. Warum habe ich bisher nicht daran gedacht? Schmidt könnte holländisch sein. Hast du jemals Holzschuhe getragen?" Lisa schnitt eine Grimasse. „Das klingt schmerzhaft. Was bringst du noch mit Holland in Verbindung?" „Grachten." Sie rang nach Atem. „Ich sehe eine vor mir!" „Aber warum hattest du ein Ticket nach Paris statt nach Holland bei dir?" „Ich habe keine Ahnung." Die restliche Fahrt verlief schweigend. Ryder sagte nichts, Weil er hoffte, dass Lisa sich an weitere Dinge erinnerte, doch sie äußerte nichts dergleichen. Er fuhr an seinem Carport vorbei und drehte eine Runde um den Parkplatz. Doch er sah nichts Verdächtiges. Er stieg als Erster aus Und überprüfte die Umgebung, bevor er Lisa aus dem Wagen half. Die Wohnungstür wies keinerlei Anzeichen eines Einbruchs auf, Und auch drinnen war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Lisa blickte sich in dem nüchternen Wohnzimmer um. „Bist du gerade erst hier
eingezogen?" „Vor drei Jahren." „Warum hast du nichts dekoriert?" „Ich hasse Krimskrams. Außerdem spare ich mein Geld für etwas anderes." „Was Bestimmtes?" „Ein Haus. Ich wollte nie so leben wie meine Eltern. Ich möchte Eigentum haben." Sie musterte ihn eindringlich. „Wird es nicht furchtbar leer sein ohne Familie?" So weit voraus hatte er nie gedacht. Außerdem war Sentimentalität nicht seine starke Seite. „Mir sind Ruhe und Frieden lieber." Musste sie so traurig aussehen? Traurig und verführerisch und fröstelnd. Er rieb ihren Arm. „Dir ist kalt. Die Jacke ist sehr dünn." „Es muss einen Grund für all das geben", sinnierte sie, so als hätte sie ihn nicht gehört. „Wofür?" Er zog sie an sich, wollte sie ebenso wärmen wie sein kaltes Herz. „Dass ich dich überhaupt gefunden habe, und dass ich zurückgekommen bin. Ich meine nicht ein Motiv, sondern dass deine Visitenkarte der einzige Hinweis auf meine Identität war. Es ist, als wäre es mir bestimmt gewesen, dich wieder zu finden." „Verdammtes Glück", flüsterte er und rieb die Stirn an ihrer. Sie strich über seine Brust. „Es fühlt sich so richtig an, mit dir zusammen zu sein." „Weil wir es schon mal waren." „Wir sollten es wieder sein." Sie hob den Kopf und küsste ihn aufreizend. Eine Woge der Erregung strömte durch seinen Körper. Er umschmiegte ihre Taille und zog sie an sich. Doch zwei Worte auf weißem Papier drängten sich ihm auf: Entschuldige, Lisa. Schnipsel in einem Abfalleimer - zu klein, um zusammengefügt zu werden. Er wollte niemanden so sehr brauchen, nie wieder. Als er zurückwich, merkte er an ihrem raschen Atem, dass ihr Verlangen ebenso stark war wie seines. „Du glaubst, dass ich dich wieder verlassen werde", wisperte sie. Wann hatte sie gelernt, seine Gedanken zu lesen? „Hast du es nicht vor?" „Ich kann dir nichts versprechen." Sie erschauerte und schlang die Arme um sich selbst. „Alles hängt davon ab, warum ich dich überhaupt verlassen habe." „Würdest du mir einen Grund nennen, der es rechtfertigen würde?" „Wenn wirklich jemand versucht, mich umzubringen, und dich auch töten könnte." „Ich brauche keinen Schutz! Tu mir keinen Gefallen, Lisa." „Ich würde lieber bleiben. Wenn du es möchtest." „Aber du weißt nicht, was du zurückgelassen hast. Vielleicht hast du ja schon einen Ehemann. Vielleicht..." Aber sie war unberührt gewesen. Oder hatte sie ihn ausgetrickst? Vermutlich konnten solche Dinge vorgetäuscht werden. Tränen glitzerten in ihren Augen. „Du traust mir nicht, und ich kann es dir nicht verdenken. Ich weiß ja nicht mal, ob ich mir selbst trauen kann." Er wollte ihre Tränen fortküssen und ihr sagen, dass es ihm Leid tat. Ihr alles verzeihen und der Zukunft ihren Lauf lassen. Doch ein derart blindes Vertrauen entsprach nicht seiner Persönlichkeit. „Geh schlafen", sagte er. Sie zog den Kopf ein und eilte aus dem Raum. Am nächsten Morgen zog Lisa eine Designerjeans und eine dazu passende exquisite Bluse statt des Sarongs an. Sie hatte ihr Schicksal bereits zu sehr herausgefordert. Gott sei Dank hatte Ryder sich rechtzeitig zurückgehalten. Sie hatte ihn mit jeder Faser ihres Körpers begehrt und wusste, dass sie nicht so viel Selbstbeherrschung aufgebracht hätte. Er verdiente etwas Besseres, als erneut von ihr verführt und verlassen zu werden. Sie musste ihr Leben in den Griff bekommen, bevor sie ihm etwas bieten oder noch mehr von ihm verlangen konnte. Es war beinahe zehn Uhr, als sie zum Surfgeschäft fuhren, doch noch immer lag
Frühnebel über dem Meer, und sie fanden mühelos einen Parkplatz. „Ich setze dich im Laden ab und klappere dann die Imbissbuden ab", verkündete Ryder. „Schließlich muss Ginger irgendwo essen." Unvermittelt fielen Lisa die beiden Jungen ein, bei denen Ginger genächtigt hatte. Durch ihren impulsiven Beschluss, die Modenschau zu veranstalten, hatte sie die beiden völlig vergessen. Während sie über die Promenade spazierten, berichtete sie Ryder von der Begegnung. „Sie haben nicht zufällig erwähnt, wo das Apartment liegt?" hakte er nach. „Percy war gerade dabei, mir die Adresse zu sagen, als der Polizist kam. Es ist Nummer 125 in einer Straße, die mit P anfängt. Weiter ist er nicht gekommen." „Die Straßen verlaufen im rechten Winkel zum Strand, und die Nummern fangen bei 100 an. Das grenzt es ein." „Kennst du eine, die mit P anfängt?" „Pansy, Primrose, Poppy ... Kommt dir eine davon bekannt vor?" „Ich weiß nur, dass er P gesagt hat." Ryder seufzte und schloss das Geschäft auf. Nachdem er ge gangen war, beschloss Lisa, das Schaufenster neu zu dekorieren. Es erwies sich als schwierig, die Puppen in der schmalen Auslage umzukleiden. Als sie fertig war, hatte die Sonne den Frühnebel aufgelöst. Sie trat hinaus auf den Bürgersteig und betrachtete ihr Werk. Die bunten Röcke und Tops wirkten wesentlich anziehender als die Bikinis, befand sie. Als sie gerade wieder hineingehen wollte, erblickte sie einen Häuserblock entfernt zwei Gestalten. Es war Ginger mit einem Mann, der Ryders Beschreibung von dem Fiesling am Strand entsprach: mittelgroß, mittelblond, billig gekleidet. Sie schätzte ihn auf Anfang dreißig und bemerkte eine tätowierte Schlange auf seinem Unterarm. Er hielt Ginger eine Tüte von einem Imbiss wie einen Köder hin, und als sie danach griff, packte er sie am Handgelenk. Angst um das Mädchen ergriff Lisa. „Ginger, warte!" rief sie und eilte zu ihr. Der Mann warf ihr einen hasserfüllten Blick zu, ließ Ginger los und eilte davon. Ginger wirbelte herum. „Was wollen Sie?" „Wer ist der Kerl?" „Was geht Sie das an?" konterte Ginger feindselig. Lisa deutete auf die Türe. „Wenn du Hunger hast, lade ich dich gern ein." „Wie Sie sehen, habe ich schon was zu essen." Ginger blickte in die Richtung, in die der Mann verschwunden war. „Laufen immer alle Leute vor Ihnen weg?" „Nur, wenn sie etwas zu verbergen haben. Komm doch mit in den Laden, und ich koche dir einen Kaffee." Ginger blickte zum Strand hinüber: „Da sind Freunde von mir", entgegnete sie und eilte davon. Lisa blickte ihr nach und sah sie zu Percy und Jason gehen. Erleichtert atmete sie auf. Die beiden schienen harmlos zu sein. Als sie den Laden wieder betrat, zitterte sie immer noch vor Aufregung. Doch Ginger schien sich ihres knappen Entrinnens nicht bewusst zu sein. Offensichtlich hielt sie jeden Erwachsenen außer dem tätowierten Mann für ihren Feind. Es erschien ihr wie eine Ewigkeit, bis Ryder zurückkehrte. Seine Miene verfinsterte sich, als Lisa ihm von dem Vorfall berichtete. „Er wird es wieder versuchen", befürchtete er. „Ich muss ihren Vater anrufen, und ich werde auch Officer Valencia davon in Kenntnis setzen." Lisa wischte Staub, während Ryder telefonierte. Als er das Gespräch beendete, verkündete er: „Er hat eine dringende Konferenz und kann erst heute Nachmittag kommen. Das sagt einiges über seine Prioritäten." Er rieb sich mit Sonnenschutz ein, nahm die Tasche mit den Flugblättern und begab sich an den Strand.
Der Vormittag verlief gemächlich. Nur drei Kunden betraten das Geschäft, sodass Lisa viel Zeit zum Nachdenken blieb. Sie fragte sich, warum Ginger so zornig und trotzig war, und warum ihr Vater sich nicht die Zeit nahm, selbst nach ihr zu suchen. Wie mögen meine eigenen Eltern sein? schoss es ihr durch den Kopf. Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf, und nach einer Weile sah sie einen großen Raum vor sich, der an das Foyer eines Hotels erinnerte. Ein Mann und eine Frau hielten sich darin auf, doch die Gesichter blieben verschwommen. War es eine Erinnerung oder eine Szene aus einem Film? Je mehr sie versuchte, sich Klarheit zu schaffen, um so nebulöser wurde das Bild. Daher gab sie es schließlich auf. Gegen Mittag schauten Buffy und Starr vorbei und boten an, wieder eine Modenschau zu veranstalten. „Vielleicht später", vertröstete Lisa sie, denn sie wollte nicht, dass sie herumstolzierten, wenn Anthony Callas eintraf. „Sollen wir dir was zu essen holen?" bot Buffy an. „Das wäre großartig." Sie gab ihnen Geld und schickte sie frittierte Muscheln holen. Kurz danach tauchte Ginger in der offenen Ladentür auf. „Möchtest du jetzt den Kaffee?" bot Lisa an. Ginger schüttelte den Kopf und blieb in der Tür stehen. „Ist alles klar?" „Sie hatten Recht. Der Typ ist ein Schuft." „Welcher Typ?" „Mit dem ich gesprochen habe. Ned." „Du hast ihn wieder gesehen?" „Er ist in die Wohnung gekommen, in der ich übernachtet habe. Ich habe gerade mit den Jungen Karten, gespielt und ihm gesagt, dass er verduften soll." „Mit Jason und Percy?" „Ja. Ned wurde richtig gemein. Er hat gesagt, dass ich ihm was schuldig bin, weil er Geld für mich ausgegeben hat. Dabei waren es bloß ein paar Mahlzeiten!" „Die Mahlzeiten waren ein Köder." „Tja, ich habe jedenfalls nicht gedacht, dass ich ihm deshalb was schuldig bin. Es waren doch höchstens zehn Dollar! Das ist doch nicht die Welt." „Für ihn vielleicht schon." „Jedenfalls habe ich Angst, dass er wiederkommt. Wie wird man so einen Schuft los?" „Du darfst keine Geschenke mehr annehmen. Wenn du kannst, dann zahl ihm das Geld zurück, und sag ihm deutlich, dass du nichts mehr mit ihm zu tun haben ..." Entsetzt starrte Ginger zu jemandem auf der Straße. „Ich fasse es nicht!" rief sie und rannte blitzschnell davon. Warum hat sie nicht im Laden Schutz vor Ned gesucht? fragte Lisa sich verwundert und lief zur Tür. Der Mann, der auf sie zustürmte, hatte sicherlich in seinem ganzen Leben niemals billige Kleidung aus Polyester getragen. Er war stämmig gebaut, sein dunkelrotes Haar war silbern meliert, und er trug seinen Tausend-Dollar-Anzug mit Achtung ge bietender Haltung. „Ginger!" rief er, als sie um die Ecke verschwand. Er wollte ihr nachsetzen, doch zwei Frauen mit Kinderwagen versperrten ihm den Weg. „Mr. Callas?" fragte Lisa. „Ja?" Notgedrungen blieb er stehen, als eine Vorschulklasse mit Lehrerin den Bürgersteig versperrte. „Ich bin Lisa Schmidt, Mr. Kellys Mitarbeiterin." „Wo zum Teufel steckt er?" Ungehalten blickte er sich um. „Er sucht am Strand nach ihr. Ich rufe ihn an." „Ich rufe ihn an. Meine Tochter scheint vor Ihnen keine Angst zu haben. Also folgen Sie ihr." Er holte sein Handy hervor, während er den Laden betrat.
„Jawohl, Sir!" Nur mit Mühe unterdrückte sie den Drang zu salutieren. Buffy und Starr näherten sich dem Geschäft. „Wisst ihr, wo Jason und Percy wohnen?" fragte Lisa. „So ungefähr", sagte Buffy. „Ich habe sie einmal aus dem Haus kommen sehen." „Starr, würdest du bitte auf den Laden aufpassen? Sag den Kunden einfach, dass ich gleich zurück bin." „Was ist mit den Muscheln?" „Iß deine und heb unsere auf." Lisa und Buffy eilten davon. Nach einigem Suchen erreichten sie ein weißes Haus mit einer schmiedeeisernen Treppe, die zum Hochparterre führ te. Die Tür der Wohnung stand offen, und laute Musik scholl heraus. „Das ist es", sagte Buffy. „Soll ich mitkommen?" „Geh lieber zurück zum Laden. Wenn Ryder kommt, dann bring ihn bitte her, ja?" „Okay." Während Buffy davonlief, erklomm Lisa die Treppe. Als sie die Tür erreichte, sah sie Ginger in einer Ecke auf dem Fußboden kauern. „Sie Schwindlerin!" rief Ginger wütend. „Sie haben mich reingelegt! Sie arbeiten für meinen Vater!" „Du hast Recht. Mein Freund ist Detektiv und auf der Suche nach dir." „Ich brauche meinen Dad nicht", fauchte Ginger. „Ich komme allein zurecht." „Du kannst allerdings allein zurechtkommen." „Ist das sarkastisch gemeint?" „Nein." Lisa bahnte sich einen Weg an sandigen Handtüchern und zerknitterten Kleidungsstücken vorbei zu einer alten Couch und hockte sich auf die Kante. „Wie alt bist du? Sechzehn?" Ginger nickte widerstrebend. „Das bedeutete, dass du in zwei Jahren volljährig wirst. Dann kannst du dir einen Job suchen oder aufs College gehen, wie immer du willst." „Sagen Sie mir etwas, was ich noch nicht weiß", murrte Ginger. Lisa rang mühsam um Geduld. „Wenn du unabhängig sein willst, musst du herausfinden, was du dir vom Leben erhoffst. Und dann musst du es dir erarbeiten wie jeder andere." Lisa hatte das Gefühl, zu sich selbst zu sprechen. Zu ihrem früheren Selbst. „Mein Dad traut mir überhaupt nichts zu", konterte Ginger mit einer Mischung aus Zorn und Enttäuschung. „Was hat es also für einen Sinn?" „Es hat keinen Sinn, körperlich vor deinem Vater wegzulaufen", erklärte Lisa. „Du brauchst seine Hilfe, um die Schule zu beenden. Du solltest dich lieber mental von ihm distanzieren, damit du ignorieren kannst, was er denkt, und dir deine eigenen Ziele stecken kannst." Gingers Augen leuchteten auf. „So habe ich es noch nie gesehen. Ich kann also mein Zimmer und alles behalten und sozusagen innerlich weglaufen." Plötzlich trat ein alarmierter Aus druck auf ihr Gesicht. Diesmal war kein Trotz, keine Großspurigkeit, nur nackte Angst zu erkennen. Furchtvoll drehte Lisa sich zur Tür um. Ein Schauer rann über ihren Rücken, als sie eine dunkle Gestalt in der Tür erblickte. Der Mann mit der tätowierten Schlange auf dem Arm war gekommen.
11. KAPITEL Als Ryder eintraf, lief Anthony Callas wie ein gefangener Panther im Geschäft umher, während das knochige Mädchen namens Starr hinter der Kasse saß. „Wo ist Lisa?" „Wo ist meine Tochter?" konterte Callas heftig. „Ich bezahle Sie verdammt gut, um sie zu finden, falls Sie das vergessen haben sollten." „Wo ist Lisa?" wiederholte Ryder. „Ginger hat mit ihr gesprochen, als ich eintraf. Sie ist wegge laufen, und Ihre Assistentin ist ihr gefolgt." „Worüber beklagen Sie sich dann? Lisa scheint alles unter Kontrolle zu haben. Haben Sie eine Ahnung, wohin sie ist?" „Natürlich nicht." „Sie wollte wissen, wo Jason und Percy wohnen", warf Starr ein. „Buffy weiß es ungefähr und ist mit ihr gegangen." „Wollen Sie nicht endlich was unternehmen?" verlangte Callas. „Sie sind vielleicht schon auf dem Weg hierher, und dann verpassen wir uns nur. Ich gebe ihnen noch zehn Minuten." „Sie wollen einfach hier herumstehen?" „Vielleicht setze ich mich auch", konterte Ryder. Er wollte seinen Klienten nicht noch mehr zu erzürnen, aber er beabsichtigte, nach eigenem Gutdünken zu handeln, anstatt Befehle von einem hysterischen Vater entgegenzunehmen. „O nein", murmelte Starr, als eine kleine braunhaarige Frau auf das Geschäft zusteuerte. „Da kommt Buffys Mom. Hi, Mrs. Grayson." „Hallo, Starr. Wo ist Buffy?" „Sie kommt gleich." „Wir waren schon vor zwanzig Minuten an der Ecke verabredet! Ich habe in jedem Geschäft nachgefragt." Mrs. Grayson runzelte die Stirn. „Was machst du überhaupt hinter dem Ladentisch?" „Ich helfe aus." Mrs. Grayson wandte sich an Ryder. „Was fällt Ihnen ein, eine Zwölfjährige für Sie arbeiten zu lassen?" „Sie arbeitet nicht für mich", wehrte er hastig ab. „Warum verschwenden Sie unsere Zeit mit diesem Geplapper?" meldete Anthony Callas sich aufgebracht zu Wort. „Hi, Mom", ertönte eine Stimme von der Ladentür her. „Ent schuldige. Ich habe die Zeit ganz vergessen." Mrs. Grayson marschierte zu ihr und packte sie am Arm. „Gehen wir, junge Dame. Du hast eine Woche Stubenarrest." „Aber ich muss ihn doch wo hinbringen! Mom, es ist ganz doll wichtig." „Wohin sollst du mich bringen?" verlangte Ryder besorgt zu wissen. „Habt ihr Ginger gefunden?" „Ich weiß nicht. Lisa hat mich nicht in die Wohnung gelassen." „Mrs. Grayson", sagte er, „es tut mir Leid, aber ich brauche die Hilfe Ihrer Tochter. Nur für ein paar Minuten." „Mister, ich weiß nicht, wer Sie oder Ihr Freund da sind, aber diese Mädchen sind noch Kinder. Sie haben nicht mal das Recht, mit ihnen zu reden. Starr, du kommst auch mit!" Widerstrebend gehorchte Starr und ging mit Buffy und Mrs. Grayson hinaus. „Wie heißt die Straße?" rief Ryder ihnen nach. „Sie fängt mit einem P an." „Gehen Sie immer so dilettantisch vor?" höhnte Callas. Ryder hatte keine Zeit mehr zu vergeuden. „Raus!" befahl er, und Callas gehorchte nach kurzem Zögern.
Ryder verschloss die Ladentür hinter ihnen, Zum Glück hatte er den Streifenbeamten vor einer halben Stunde getroffen und in die Vorgänge eingeweiht. „Da ist ein Polizeibeamter, der hier Streife geht. Er heißt Valencia. Suchen Sie ihn und sagen Sie ihm, dass er dringend in die Nummer 125 in eine Straße mit P am Anfang kommen soll." „Nicht ich werde dafür bezahlt, um ..." Callas hielt inne. „Ja, natürlich." Ryder stürmte davon. Er hatte befürchtet, dass Lisa ihn verlassen könnte. Er hatte befürchtet, dass jemand aus New York ihr etwas antun könnte. Aber er hatte nicht bedacht, dass sie durch die Mithilfe an seinem Fall in Gefahr geraten könnte. In der Poppy Street öffnete ihm eine alte Dame. In der Pansy Street hing ein Schild Zu vermieten im Fenster. In der Primrose kochte eine junge Frau gerade das Mittagessen für ihre Kinder. Ryder lief weiter an der Promenade entlang, vorbei an Straßen namens Marigold, Zinnia und Lily. Gerade als er beschloss, sich einen Stadtplan zu besorgen, stieß er auf das Straßenschild Peony. Er sprintete zur Nummer 125. Gerade als er die Stufen erklomm, wurde die Tür geschlossen. Ohne an mögliche Konsequenzen zu denken, drückte er die Klinke und zerrte daran. Die Tür öffnete sich, und er erblickte eine raue Männerhand auf der inneren Klinke. Der Mann hatte offensichtlich nicht mit Besuch gerechnet. Ryder nutzte den Überraschungseffekt, zwängte sich durch den Spalt hinein, packte ihn an den zottigen Haaren und bog ihm den Kopf zurück. Wenn es die falsche Wohnung ist, schoss es ihm durch den Kopf, stecke ich tief im Schlamassel. „Ryder!" rief Lisa. „Gott sei Dank!" „Lassen Sie mich sofort los, oder ich erstatte Anzeige", knurrte der Mann. „Lassen Sie ihn nicht los!" flehte Ginger. „Er hat mich bedroht." „Ich habe gar nichts getan", protestierte der Mann. „Wir haben ihm gesagt, dass er gehen soll, aber er ist reingekommen und hat die Tür zugemacht", sagte Lisa. „Ist das nicht ein Vergehen?" „Die Kleine schuldet mir Geld. Ich bin im Recht!" Schritte erklangen auf der Außentreppe. Ryder atmete auf, als er Officer Valencia erblickte, mit Anthony Callas auf den Fersen. „Dieser Mann könnte bewaffnet sein", warnte er. Officer Valencia legte dem Mann Handschellen an, filzte ihn und förderte mit einem leisen Pfiff ein Messer zutage. Dann forderte er per Handy Verstärkung an und gab die Personalien durch, die er der Brieftasche des Mannes entnahm. „Daddy." Ginger schlich sich aus der Wohnung und warf sich in seine Arme. „O Daddy!" Er drückte sie an sich, und Ryder hätte schwören können, dass Tränen in seinen Augen schimmerten. „Sie können mir nichts vorwerfen", polterte der Gefangene. „Ich habe nur mit den Mädchen geredet. Ich zeige Sie an wegen unbegründeter Festnahme!" Der Officer beendete das Telefonat. „Nun, Sie werden wegen Verstoßes gegen die Bewährungsvorschriften gesucht. Außerdem sind Sie im Besitz einer gefährlichen Waffe ..." „Ein Taschenmesser!" „Sie sollten wissen, dass die Gesetze in Kalifornien für Wiederholungstäter verschärft worden sind. Sie werden für lange Zeit keine Gelegenheit mehr haben, mit jungen Mädchen zu reden." Ein Streifenwagen fuhr vor. Während zwei Beamte den Verdächtigen abführten, nahm Officer Valencia höflich die Aussagen aller Zeugen auf. Lisa hielt sich tapfer. Nur ein leichtes Schwanken ihrer Stimme verriet, welche Angst sie ausgestanden hatte. Als Ryder sie schließlich hinausführte, spürte er sie jedoch am
ganzen Körper zittern. „Lass uns nach Hause fahren." „Aber das Geschäft. Ich habe Starr gebeten ..." „Sie ist weg, und ich habe es geschlossen." „Danke." Lisa lehnte sich an ihn, und es störte ihn nicht im Geringsten. „Es tut mir Leid", murmelte Lisa, als sie zum Wagen gingen. „Was denn?" „Dass ich letztes Mal weggelaufen bin." „Was hat das denn ausgelöst?" In dem Moment, als er aufgetaucht war und Ned überwältigt hatte, war ihr klar geworden, dass sie ihn liebte. Weil er so wild und zärtlich, so misstrauisch und verletzlich war. Weil er sein Leben für sie riskierte, obwohl sie ihn im Stich gelassen hatte. Sie schwor sich, ihn nie wieder zu verlassen, wer immer sie auch sein mochte. Doch sie war überzeugt, dass ihm eine Liebeserklärung nicht willkommen war. „Ich glaube nur, dass ich dich bisher nicht richtig zu schätzen wusste." Er öffnete die Wagentür und ließ sie einsteigen. „Du scheinst etwas verwirrt zu sein. Das ist nur natürlich nach allem, was passiert ist." „Verwirrt? Ich denke klarer als je zuvor." „Je zuvor bedeutet in deinem Fall die Länge deines Gedächtnisses, also weniger als eine Woche." Lisa lachte. Als er einstieg, sagte sie: „Du hörst nicht gern Komplimente, wie?" „Sollte das denn eins sein?" „Ich will es deutlicher ausdrücken: Ich finde dich wundervoll." „So wundervoll bin ich nicht. Ich hätte dich nicht in diesen Fall hineinziehen dürfen." „Du hast es nur getan, weil ich nicht wusste wohin. Außerdem bin ich froh, dass ich dir helfen konnte." Irgend etwas regte sich in ihrem Hinterstübchen. „Ich habe eine Erinnerung, aber ich weiß nicht, was es bedeuten soll." „Ach?" „Es hat etwas mit Schwangerschaft zu tun." Seine Miene verfinsterte sich. „Wir haben vergessen, ein Kondom zu benutzen. Willst du damit sagen...? Ist es nicht zu früh, es zu wissen?" „Seit letzter Woche? Bestimmt. Vielleicht hatte ich Angst davor, schwanger zu werden", vermutete Lisa. „Ryder, sind wir bald zu Hause?" „In einer Minute." Als er in seinem Carport anhielt, stieg sie sofort aus, ging zur Fahrerseite und nahm ihn bei der Hand. Sie ließ ihm kaum Zeit, den Wagen zu verschließen, bevor sie ihn die Treppe hinaufzog. Sie begehrte ihn, und er brauchte sie mit jeder Faser seines Seins. Die Angst, die er um sie verspürt hatte, war noch nicht abge klungen. Es war schlimmer, als verlassen oder hereingelegt zu werden. Er hätte es nicht ertragen, wenn ihr etwas zugestoßen wäre. Er hatte nie viel auf Liebe gegeben. Das hatte sich nicht geändert. Doch in letzter Zeit verspürte er eine innere Leere, die nur Lisa füllen konnte. Im Schlafzimmer legte sie eifrig Bluse und BH ab. Verlangend musterte er ihre leicht geöffneten Lippen und ihre festen, einladenden Brüste. Sie öffnete ihre Jeans, streifte sie sich mit sinnlichen Hüftbewegungen ab und lächelte ihn einladend an. Er zog sich das Hemd aus und schloss sie in die Arme, presste sie an sich und küsste sie leidenschaftlich. Aufstöhnend drückte er sie hinab auf das Bett. Sie umfasste seine Hüften, drückte ihn an sich, wand sich aufreizend unter ihm, steigerte seine Erregung. Er konnte es kaum erwarten, seine Hose zu öffnen, bevor er in sie eindrang. Er hörte, dass sich ihr Atem ebenso wie seiner beschleunigte, als sie miteinander verschmolzen. Er sehnte sich danach, diesen vollkommenen Augenblick für immer festzuhalten, dieses Entzücken ewig andauern zu lassen. Ihr musste es ebenso ergehen, denn beide
verharrten reglos. Ihre Münder besiegelten die Vereinigung, und sie hielt seine Hüften fest. Er spürte sich in ihr wachsen und konnte sich schließlich nicht länger beherrschen. Behutsam begann er sich zu bewegen, steigerte das Tempo allmählich. Gemeinsam erklommen sie den Gipfel der Leidenschaft und sanken schließlich in einen erschöpften Schlummer.
12. KAPITEL Gespannt schlug Boris die Zeitung auf und überflog die Schlagzeilen. Die Zofe hatte Lothaire versichert, dass die de la Penas weder die Polizei noch die Presse informiert hatten. Offensichtlich entsprach es der Wahrheit, denn die vorgetäuschte Entführung wurde mit keinem Wort erwähnt. Boris' Plan schien aufzugehen. Als Lisa am vergangenen Wochenende nicht nach Hause zurückgekehrt war, hatten ihre Eltern bereitwillig die vorgetäuschte Entführung geglaubt. Sie hatten eingewilligt, am Montag ein Lösegeld von 1,5 Millionen Dollar zu übergeben. Ein abgelegener Weinberg, den er per Hubschrauber erreichen konnte, war als Übergabeort vereinbart worden. Es gab nur ein nicht so kleines Problem. Sie bestanden darauf, dass ihre Tochter im Tausch gegen das Geld übergeben wurde. Doch bisher war es Lothaire nicht gelungen, Lisa aufzuspüren. Wo zum Teufel steckte sie? Nervös holte Boris sein Handy hervor, als es klingelte. „Ja?" „Mr. Grissovsky? Hier ist Win Hoffer. Ich konnte Lothaire nicht erreichen. Deshalb rufe ich Sie an." „Hat Miss de la Pena Ihre Freundin kontaktiert? Wie Sie wissen, sind wir sehr um ihr Wohlergehen besorgt." „Nein, aber mir ist etwas eingefallen, das sich als nützlich erweisen könnte. Da Sie ja so besorgt sind." Der letzte Satz triefte förmlich vor Sarkasmus. Win Hoffer konnte unmöglich von der Lösegeldforderung erfahren haben, aber irgendetwas erschien ihm anscheinend verdächtig. „Und was soll das sein?" Win Hoffer räusperte sich. „Etwas, das mehr wert ist, als Lo thaire mir bisher gezahlt hat." Boris biss die Zähne zusammen. „Nun gut, dann das Doppelte als gewöhnlich." „Mir ist jemand eingefallen, der wissen könnte, wo sie sich aufhält." Boris klemmte sich das Telefon zwischen Kopf und Schulter, zog sein elektronisches Notebook hervor und notierte sich Adresse und Telefonnummer eines gewissen Privatdetektivs namens Ryder Kelly. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie zu ihm Kontakt aufge nommen hat", erklärte Win Hoffer. „Vielleicht weiß er, wen sie in Denver aufgesucht hat. Wenn nicht, könnte er Ihnen helfen, sie aufzuspüren. Schließlich ist das sein Spezialgebiet." Ihm blieben noch zwei Tage. Nicht sehr viel Zeit, um Lisa zu finden, zu entführen und nach Frankreich zu befördern. „Wenn er sie findet, ist es mir das Dreifache wert", sagte Boris. Ryder stand ein arbeitsreiches Wochenende bevor. In einer Stunde sollte er sich mit einem Firmeninhaber treffen, dessen Geschäftsführer mit einer CD voller Industriegeheimnisse verschwunden war. Lisa hatte darauf bestanden, das Surfgeschäft dennoch zu öffnen, da Biff an Samstagen die meisten Umsätze tätigte. Widerstrebend hatte er sie hingefahren und sie mit einem Gefühl des Unbehagens abgesetzt. Die Ereignisse der vergangenen Nacht waren ihm noch so frisch im Gedächtnis, dass er es hasste, sie aus den Augen zu lassen. Er spielte mit dem Gedanken, das Meeting zu verschieben, zum Strand zu fahren und Lisa zu überreden, ihn über das Wochenende an irgendeinen abgelegenen Ort zu begleiten. Doch die ser Auftrag brachte ihm einen großen Bonus ein. Zusammen mit seinen Ersparnissen würde es endlich für die Anzahlung eines Hauses reichen. Das Telefon klingelte. Zizi nahm das Gespräch entgegen und meldete einen Mr. Smith aus Paris.
„Kelly hier." „Ah, Mr. Kelly. Ich suche meine Verlobte, die in Amerika verschwunden ist." Starker Akzent, vermutlich osteuropäisch, fiel Ryder auf. „Könnten Sie es ein bisschen eingrenzen?" „Ihr Name lautet Annalisa Maria van de Camp de la Pena. Sie ist sehr schön, mit langen schwarzen Haaren und grünen Augen." Ryder stockte der Atem. Die Beschreibung passte haargenau auf Lisa. „Woher kennen Sie meinen Namen?" „Sie sind doch auf die Suche vermisster Personen spezialisiert, oder?" „Wie lange wird sie schon vermisst?" „Eine Woche, mehr oder weniger." „Sie sagten, sie sei Ihre Verlobte?" hakte Ryder nach und fragte sich, warum sie sich dann von ihm hatte entjungfern lassen. „Ich muss sie finden, und ich zahle gut. Haben Sie von ihr gehört?" „Warum hätte ich von ihr hören sollen?" „Es ist kompliziert. Sie muss Medikamente nehmen und ist gestört. Wir nehmen an, dass sie Ihren Namen von jemandem bekommen hat. Haben Sie nun von ihr gehört oder nicht?" Ryder beabsichtigte keineswegs, Lisa auszuliefern, aber dieser Mann kannte offensichtlich ihre wahre Identität. „Ja, ich habe von ihr gehört." „Wann?" „Vor ein paar Tagen." „Ist sie in Denver?" Woher wusste dieser Mann, dass Lisa in Colorado gewesen war? War er ihr gefolgt? Hatte er mit dem Unfall in New York zu tun? „Das weiß ich nicht. Sie soll mich am Montag wieder anrufen." „Montag?" Mr. Smiths Stimme wurde schrill vor Aufregung. „Wir müssen sie sofort finden!" „Ist sie in Gefahr? Wegen der Medikamente oder sonst wie?" „Ja!" „Dann sollte ich die Behörden benachrichtigen." „Nein!" Ryders Instinkt sagte ihm, dass Lisa in Gefahr war. „Ich fürchte, ich habe keine Möglichkeit, sie vor Montag zu lokalisieren." „Was wollte sie von Ihnen?" „Das ist vertraulich. Es würde mir helfen, wenn Sie mir mehr über Ihre Verlobte sagen könnten. Ist sie krank? Hat sie Familie, die benachrichtigt werden sollte, wenn ich sie finde?" Mr. Smith erlitt einen Hustenanfall. Ryder blickte zur Uhr. Wenn er nicht bald aufbrach, kam er zu spät zu seinem Termin. „Ich muss mich mit einem Kollegen beraten, bevor wir dieses Gespräch fortsetzen", sagte Mr. Smith. „Sie werden von mir hö ren, Mr. Kelly." Mit einer bösen Vorahnung legte Ryder den Hörer auf. Statt Lisas Identität aufzuklären, hatte dieser Mr. Smith die Sache nur noch mehr kompliziert. Was zum Teufel ging da vor sich? Vielleicht kehrte ihre Erinnerung zurück, wenn sie ihren vollständigen Namen erfuhr. Ryder brannte darauf, sie sofort damit zu konfrontieren. Doch er musste seinen Termin einhalten. Wenn er sich nicht augenblicklich auf die Fersen des verschwundenen Geschäftsführers heftete, würde die Spur erkalten. Außerdem wozu die Eile? Selbst wenn dieser Mr. Smith beschloss, nach L.A. zu kommen, konnte er nicht vor dem nächsten Morgen eintreffen. Es blieb also Zeit genug, die Lage an diesem Abend mit Lisa zu besprechen. Ryder verdrängte seine Sorge und verließ sein Büro. Am Empfang saß Zizi und
arbeitete am Computer. „Viel Spaß bei Ihrem Date mit dem Drehbuchautor heute Abend", wünschte er. Sie winkte ihm zu und tippte weiter. Vielleicht entwickelt sie sich doch noch zu einer anständigen Sekretärin, dachte er im Hinausgehen. Als er in seinen Wagen stieg, hörte er das Telefon im Büro klingeln. Wenn es wichtig war, konnte Zizi ihn über sein Handy benachrichtigen. Er hatte keine Zeit, um ins Büro zurückzukehren. Firmenchefs möchten es nicht, wenn man sie warten ließ. Der junge Mann mit dem europäischen Akzent hatte eine so sympathische Stimme, dass Zizi wünschte, er hätte ihretwegen ange rufen. Doch er hatte nach Lisa gefragt, wenn auch mit einem langen, spanisch klingenden Nachnamen. Erst nachdem sie ihm die Adresse des Surfshops genannt und den Hörer aufgelegt hatte, fragte sie sich, wer dieser Mann sein mochte und was er wohl wollte. Als Zizi zum Telefon griff, um Ryder zu informieren, klingelte es erneut. „Hi, hier ist Tom." Ihr Date für diesen Abend. „Ich habe Tickets für die Presseaufführung von unserem neuen Film und wollte dich fragen, ob du lieber dahin gehen willst statt zum Tanzen." Eine Presseaufführung klang höchst verheißungsvoll und konnte ihr als angehender Schauspielerin ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. „Super! Was ist es für ein Film?" Als sie das Gespräch beendete, schwirrte ihr Kopf vor heller Vorfreude auf den bevorstehenden Abend. Der junge Mann mit dem europäischen Akzent, der nach Lisa gefragt hatte, war völlig vergessen. Der verschwundene Geschäftsführer blieb nicht lange verschwunden. Er hatte mit seiner Kreditkarte einen Flug nach Washington gebucht und von einem Hotel aus seinen Anrufbeantworter zu Hause abgehört. Ryder hatte den Anruf zurückverfolgt und erfahren, dass der Flüchtige vom selben Hotelzimmer aus mehrere Telefonate mit Konkurrenzfirmen geführt hatte - offensichtlich in der Absicht, die geheimen Informationen an den Meistbietenden zu verkaufen. In diesem Moment waren zwei Sicherheitsbeamte und der Geschäftsführer der Filiale in Baltimore zu jenem Hotel unterwegs, um den Dieb zu konfrontieren. Sofern er bereit war, die CD auszuhändigen, ein Schuldgeständnis zu unterschreiben und Geheimhaltung zu schwören, wollte man ihn laufen lassen, um einen Skandal zu verhindern, der die Aktionäre nur aufgeregt hätte. In die Arbeit vertieft, merkte Ryder nicht, dass sich draußen die Dämmerung herabsenkte. Erst als der Fall endgültig abge schlossen war und der Firmenchef sich bei ihm bedankte, stellte er fest, dass es bereits sechs Uhr war. Der Surfladen hatte seit einer Stund geschlossen. Warum hatte Lisa ihn nicht angerufen? Als sein Handy klingelte, atmete er erleichtert auf. „Nehmen Sie das Gespräch ruhig an", sagte der Firmenchef. „Ich gehe jetzt. Ich habe veranlasst, dass der Bonus gleich Montag früh an Sie überwiesen wird." „Danke." Ryder holte sein Handy hervor. „Kelly hier." „Mr. Kelly, hier ist Officer Valencia. Ich dachte, Sie sollten wissen, dass ich den Surfshop unverschlossen vorgefunden habe und niemand anwesend ist." Ryder bemühte sich, ruhig zu bleiben. „Lisa war heute dort. Vielleicht ist sie nur schnell etwas essen gegangen." „Ich habe die Umgebung abgesucht und keine Spur von ihr gefunden." „Haben Sie im Hinterzimmer nachgesehen?" „Ja. Sie ist nicht da, aber die Hintertür ist offen. Und das Schloss weist Kratzer auf." „Ich komme sofort." Während Ryder zum Strand fuhr, ging ihm immer wieder ein Gedanke durch den Kopf. Hatte Mr. Smith womöglich gar nicht aus Paris, sondern aus der Nähe angerufen? Lisa mochte aus freien Stücken verschwunden sein, aber sie hätte niemals das
Geschä ft unverschlossen zurückgelassen. Und was hatten die Kratzer an der Hintertür zu bedeuten? Officer Valencia erwartete ihn im Geschäft. „Wenn etwas fehlt, nehme ich gern eine Diebstahlsanzeige auf." Ryder blickte sich um. Nicht ein einziges Surfbrett fehlte. Als er die Kasse prüfte, fand er eine Menge Bargeld, Schecks und Belege von Kreditkarten. „Das Einzige, was fehlt, ist Lisa." Als sie das letzte Mal verschwunden war, hatte sie eine Nachricht hinterlassen. Ryder hoffte beinahe, eine zu finden, nur um zu wissen, dass sie in Sicherheit war. „Ich habe die Nachbarn befragt, aber niemand hat etwa Verdächtiges bemerkt." Stirnrunzelnd bemerkte Ryder, dass eine kleine Schachtel mit Visitenkarten neben der Kasse umgekippt war. Als er die verstreuten Karten beiseite schob, kam ein beschriebener Notizblock ohne Adressat zum Vorschein. Es schien sich nicht um eine Nachricht zu handeln, nur um wahllose Notizen. Zuoberst standen zwei Namen, Nicola Dupin und Maureen Buchanan. Neben dem zweiten befand sich eine Telefonnummer mit internationaler Vorwahl. Dann folgten die Namen Schuyler und Valeria von de Camp de la Pena und eine Adresse in Frank reich. Offensichtlich Verwandte von Lisa, vielleicht sogar ihre Eltern. Also war Lisas Gedächtnis zurückgekehrt. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Das war ein Grund für sie, zu verschwinden und ihr altes Leben wieder aufzunehmen. Er schob eine weitere Visitenkarte beiseite und las unten auf der Seite: Ich bin hierher gekommen, um schwanger zu werden, damit ich Boris Grissovsky nicht heiraten muss. Enttäuschung stieg in Ryder auf. Darauf hatte sie es also abge sehen. Er konnte sich nicht erklären, warum sie schwanger werden musste, um eine Ehe zu umgehen. Aber es erklärte, warum sie ihn verführt hatte. Sie war nach Colorado gekommen, um ihn als menschlichen Deckhengst zu benutzen, und nachdem er sich in sie verliebt hatte, war sie fröhlich ihrer Wege gegangen. Nur Amnesie und das Schicksal hatten sie zu ihm zurückge führt. Nun war sie erneut verschwunden, möglicherweise mit seinem Kind unter dem Herzen. Sein Baby. Die Vorstellung traf ihn wie ein Schlag. Wo sollte es aufwachsen? Welche Lügen über ihn würde es zu hören bekommen? „Mr. Kelly?" Officer Valencia kam aus dem Lagerraum. „Ja?" Er hielt ihm eine Sandalette hin. „Kennen Sie die hier?" Ryders Herz pochte. „Lisa hat sich solche vor zwei Tagen ge kauft." „Ich habe sie auf dem Fußboden im Lager gefunden. Die zweite ist nirgendwo zu sehen." Warum hatte Lisa eine Sandalette zurückgelassen? Wenn sie untertauchen wollte, warum hatte sie dann diese belastenden Notizen gemacht, mit deren Hilfe er sie aufspüren konnte? Warum hätte sie die Hintertür aufbrechen sollen, wenn sie einen Schlüssel für die Vordertür besaß? Ryder erinnerte sich an den osteuropäischen Akzent des angeblichen Mr. Smith, der zu einem Mann namens Boris Grissovsky passen würde. Lisa war bereit gewesen, einen Fremden zu verführen, um ihm zu entkommen. Sie musste guten Grund ha ben, den Mann nicht ausstehen zu können oder sogar zu fürchten. „Soll ich eine offizielle Suchmeldung durchgeben?" bot Officer Valencia an. „Ich meine, wir haben genügend Anhaltspunk te, um ein Vergehen zu vermuten." „Absolut." Ryder wählte die Nummer von Maureen Buchanan, doch es meldete sich niemand. Als Nächstes setzte er sich mit dem französischen Fernamt in Verbindung, doch es fand sich kein Eintrag zu der Adresse in Frankreich. Er musste in Aktion treten. Er konnte Lisa nicht in den Händen ihres Entführers lassen.
Wenn sie in Los Angeles war, hatte die Polizei ebenso große Chancen wie er, sie zu finden. Doch er vermutete, dass sie außer Landes gebracht wurde. Es erschien ihm unwahrscheinlich, dass dieser Grissovsky beabsichtigte, sie bei ihren Eltern abzuliefern. Anderseits wollten sie Lisa zu dieser Ehe zwingen und mussten demnach irgendetwas von dieser Angelegenheit wissen. Es widersprach Ryders Natur, blindlings eine Adresse in Frankreich aufzusuchen, die womöglich nicht einmal Lisas war. Außerdem wusste er nicht, wie sie nun zu ihm stand oder was für ein Mensch sie war, da sie ihr Gedächtnis wieder gefunden hatte. Sie hatte ihn schamlos ausgetrickst, was das Baby anging. Aber wie konnte er die Frau, die er liebte, im Stich lassen, wenn die Gefahr bestand, dass sie ihn dringend brauchte? Ryder fühlte sich wie am Rande eines Kliffs, hinter dem ein Fall ins Ungewisse lauerte. Es war nicht abzusehen, wo er landen würde, wenn er sprang. Doch das zählte nicht mehr. Kurz entschlossen griff er zum Telefon und buchte den nächsten Flug nach Paris.
13. KAPITEL Vom New Yorker. Flughafen aus gelang es Ryder endlich, Maureen Buchanan zu erreichen. Sie kannte seinen Namen und lauschte aufmerksam, als er ihr die Lage der Dinge schilderte. „O Gott, das ist meine Schuld", murmelte sie. „Ich habe ihr dieses verrückte Abenteuer eingeredet. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wer sie entführt haben sollte." Ryder berichtete von seinem Telefonat mit Mr. Smith. „Kann es sich um diesen Boris Grissovsky handeln?" „Möglich, aber ... Er hat gesagt, dass irgend jemand Annalisa Ihren Namen gegeben hat?" „Das stimmt." „Nur drei Leute wissen von der Sache." Ihre Stimme klang grimmig. „Ich, Lisa und mein Freund Win. Er kennt Boris und ist immer knapp bei Kasse. Aber ich hätte nie gedacht, dass er so tief sinken und mich ausspionieren würde. Dieser verdammte ..." Ryder unterbrach sie mit Fragen, doch Maureen wusste nicht, wohin Lisa gebracht worden sein könnte. Doch sie nannte ihm die Telefonnummer und die Lage des Chateaus. Sobald Ryder aufgelegt hatte, wählte er die Nummer. Er versuchte, sich das Haus vorzustellen, in dem Lisa wohnte, doch er sah nur das Dornröschenschloss im Disneyland vor sich. Ein Mann meldete sich auf Französisch. Er klang wie ein Butler oder ein Touristenführer. Ryder kratze seine spärlichen Kenntnisse der französischen Sprache zusammen und bat darum, mit Madame oder Monsieur de la Pena zu sprechen. Er war stolz auf sich selbst, bis der Mann ihm eine Frage stellte, die er nicht verstand. Auf Englisch verkündete er: „Es geht um ihre Tochter! Beeilen Sie sich." „Einen Moment, Monsieur." Ryder hörte sich entfernende Schritte, gefolgt von hallenden Stimmen, wie in einem großen Saal. Ein anderer Mann meldete sich. Er klang ungehalten. „Was ist mit meiner Tochter?" „Mein Name ist Ryder Kelly. Ich bin ein Freund von ihr, ein Privatdetektiv aus Los Angeles. Lisa ist entführt worden." „Ja, das wissen wir." „Wieso?" „Wir stehen schon seit Tagen in Kontakt mit den Kidnappern." „Das ist unmöglich! Sie wurde erst gestern entführt." „Was soll der Unsinn?" „Sie können ja bei der Polizei von Beachside in Kalifornien nachfragen, wenn Sie mir nicht glauben. Hören Sie, Mr. de la Pena, Lisa hat die letzte Woche mit mir verbracht. Ich glaube, sie wurde von jemandem namens Boris Grissovsky entführt." „Wie können Sie es wagen, ein Familienmitglied der Hohnersteins zu beleidigen? Einen Mann von einwandfreiem Charakter und makelloser Zucht?" „Zucht?" Kein Wunder, dass Lisa ihn wie einen Deckhengst behandelt hatte, wenn ihr Vater von Menschen wie von Vieh sprach. „Hören Sie ..." „Nein, jetzt hören Sie mal, Mr. Kelly. Sie haben kein Recht, auch nur im selben Raum mit meiner Tochter zu sein, geschweige denn meinen zukünftigen Schwiegersohn zu beleidigen!" tobte Schuyler de la Pena. „Ich rieche einen Mitgiftjäger auf einen Kontinent Entfernung. Ich werde Sie ins Gefängnis werfen lassen!" Abrupt wurde die Leitung tot. Ryder seufzte niedergeschla gen. Lisa stammte nicht nur aus einer wohlhabenden, sondern auch einer versnobten Familie. Sie teilte diese Verblendung offensichtlich nicht. Aber wie konnte er hoffen, dass sie sic h auf lange Sicht mit dem bescheidenen Leben begnügte, das er ihr bieten konnte? Dann fiel ihm das Baby wieder ein, das sie womöglich in sich trug. Seines. Von ganzem Herzen hatte Ryder es abgelehnt, ein Kind in Armut aufwachsen zu
lassen. Doch nun war es an der Zeit, die überholten Ängste zu überwinden. Er war nicht länger arm. Wahrscheinlich würde er niemals ein Chateau besitzen, aber es gab Schlimmeres für ein Kind, als in einem bescheidenen Haus am Stadtrand von Los Angeles aufzuwachsen. Wie zum Beispiel Eltern zu haben, die ihre Tochter als eine Art Zuchtstute ansahen. Seine Gedanken wanderten zu der rätselhaften Aussage, die Kidnapper hätten sich schon vor Tagen gemeldet. Boris hatte ganz offensichtlich Lisas Verschwinden für eine Lösegeldforderung ausgenutzt und sie dann, als der Übergabetermin näher rückte, tatsächlich entführt. Ryder war überzeugt, dass sie sich in Lebensgefahr befand - ausgerechnet von Seiten des Mannes, dem ihre Eltern blind vertrauten. Über Lautsprecher ertönte ein Aufruf für den Flug nach Paris. Es war Ryders letzte Chance, sich aus der Affäre zu ziehen. Ihm graute davor, sich einem Chateau voller Aristokraten zu stellen und erneut die grausamen Verhöhnungen zu ertragen, die seine Kindheit und Jugend überschattet hatten. Er schreckte davor zurück, sein Leben für eine Frau aufs Spiel zu setzen, die ihn nur auserwählt hatte, weil sie einen Erzeuger für ihr Baby brauchte. Doch die Ängste verblassten angesichts seiner Erinnerungen an Lisa. Ryder schritt zum Gate und ließ die Geister der Vergangenheit hinter sich. Lautes Dröhnen und Vibrieren weckten Lisa aus tiefer Bewusstlosigkeit. Sie saß in einem kleinen Flugzeug, und ihre Hände waren im Rücken gefesselt. Offensichtlich war sie betäubt und ent führt worden. Aber von wem? Sie schaute sich um und erblickte einen jungen Mann. Vage erinnerte sie sich an das Gesicht aus dem Surfshop. Er hatte ihr ein äthergetränktes Tuch auf Mund und Nase gedrückt, und dann hatte sie die Besinnung verloren. Er war Anfang zwanzig. Das braune Haar und der Schnurrbart waren mit militärischer Präzision gestutzt. Der Anzug war maßgeschneidert, die Krawatte perfekt gebunden. „Wer sind Sie?" fragte sie beängstigt. „Lothaire Warner. Ich arbeite für Boris Grissovsky." „Wohin bringen Sie mich?" „Zu Ihren Eltern. Wenn Sie mir versprechen, nicht zu kämp fen, löse ich die Handfesseln." Als sie zögerte, fügte er hinzu: „Sie können nicht entkommen oder Hilfe holen. An Bord ist niemand außer Ihnen, mir und dem Piloten. Und der tut, was ich sage." „Boris ist nicht hier?" Er schmunzelte. „Der Idiot wartet auf einem Privatflugplatz bei Paris." „Okay, binden Sie mich los." Aus der Tasche seines makellosen Anzugs zog er ein schmales, langes Messer hervor. Einen Moment später fiel die Fessel von ihren Handgelenken ab. Er trat zurück, ohne sie berührt zu haben. Prickelnd rauschte das Blut zurück in ihre Fingerspitzen. Sie ließ die verkrampften Schultern kreisen und fragte: „Warum haben Sie mich entführt, wenn Sie mich doch nur zu meinen Eltern bringen?" „Weil sie ein beträchtliches Lösegeld zahlen werden." „Weiß Boris davon?" „Natürlich." „Meine Eltern wollen mich mit Boris verheiraten. Warum sollte er also so etwas tun?" „Er glaubt, er kann das Lösegeld und die Mitgift einheimsen." „Wie will er denn davonkommen?" „Ich habe doch gesagt, dass er ein Idiot ist. Er trägt eine Maske und glaubt, dass niemand ihn erkennt. Er wird nicht davonkommen, aber ich schon." Nun war sie noch verängstigter. Boris hatte durch ihren Tod nichts zu gewinnen, aber wie stand es mit diesem Mann? „Ich verstehe das alles nicht."
Lothaire schien ihre Angst zu spüren. „Keine Sorge. Wenn Sie tun, was ich sage, geschieht Ihnen nichts. Möchten Sie etwas trinken oder essen?" „Vielleicht später." „Die Sache ist die, dass Ihr Freier einigen sehr ungeduldigen Leuten viel Geld schuldet. Diese Leute haben mich für ihn arbeiten geschickt. Als sein Assistent habe ich ihm vorgeschlagen, eine reiche Frau zu heiraten, damit er seine Schulden begleichen kann. Doch Sie waren so klug, ihn abzuweisen und nach Amerika zu verschwinden." „So weit kann ich Ihnen folgen." „Daraufhin wollten wir Sie in New York abfangen und für die Hochzeit unter Drogen setzen. Stattdessen kam es zu einem bedauerlichen Unfall." „Sie waren das?" „Nicht absichtlich. Es hätte alles noch nach Plan laufen können, wenn Sie nicht aus dem Krankenhaus verschwunden wären. Sie waren sehr schwer zu fassen." „Offensichtlich nicht schwer genug." „Da Sie an Amnesie litten und wir davon ausgehen konnten, dass Sie für eine Weile untertauchen würden, täuschten wir eine Entführung vor und forderten ein Lösegeld. Morgen werden wir Sie gegen eine Summe von anderthalb Millionen Dollar austauschen." „Und Sie werden Boris abschieben und mit dem Lösegeld verduften." „Sie sehen also, dass ich keinen Grund habe, Ihnen etwas anzutun, solange Sie kooperieren. Und wenn alles vorbei ist, dürften Sie keine Schwierigkeiten haben, Ihren Eltern die geplante Hochzeit auszureden." „Sie haben alles genau ausgeklügelt." „Das hoffe ich. Wichtig ist nur, dass Sie Boris von unserem Gespräch nichts verraten." „Ich glaube, das schaffe ich." Es nieselte, als Ryder den Bahnhof verließ. Es war Montagvormittag, und in der Kleinstadt herrschte rege Betriebsamkeit. Motorroller und Fahrräder bahnten sich einen Weg zwischen Lieferwagen hindurch. Bunte Regenschirme wurden auf den Bürgersteigen aufgespannt, und es duftete nach frisch gebackenem Brot. Nirgendwo war eine Autovermietung zu sehen. Also blickte Ryder sich nach einem Taxi um. Er fand keines. Er wandte sich an eine Frau mit einem Einkaufskorb am Arm und fragte sie auf Französisch, wo das Chateau lag. Die Frau deutete zu einem Hügel in der Ferne, auf dem ein weißer Palast mit zahlreichen Türmchen stand. Das Dornröschenschloss war gar nicht so weit gefehlt, dachte Ryder und erkundigte sich nach einem Taxi. Die Frau schüttelte den Kopf und lachte laut auf. Er brauchte keinen Übersetzer für ihre Antwort: Sie haben doch zwei Füße, Monsieur, die sind Ihr Taxi. „Merci", sagte Ryder und machte sich auf den Weg. Eine halbe Stunde später hatte er die Kleinstadt hinter sich gelassen und erreichte einen Feldweg, der durch Weinberge zum Chateau führte. Der Weg ging steil bergan. Der Wind frischte auf, peitschte ihm eiskalten Regen ins Gesicht und verschleierte seine Sicht. Der Schlafmangel und die Aufregung der letzten zwei Tage machten sich bemerkbar. Ihm wurde bewusst, dass er keinerlei Plan und keine detaillierten Informationen hatte. Vielleicht war ein ganz anderer Übergabeort vereinbart, oder vielleicht hatte die Zahlung bereits stattgefunden. Was nützte es Lisa, wenn er wie ein triefnasser, streunender Hund im Chateau auftauchte? Er spielte mit dem Gedanken, in den Ort zurückzukehren, sich ein Zimmer im Dorfgasthof zu mieten und erst mal ein paar Stunden auszuruhen, bis der Regen aufhörte. Ein leises Dröhnen erregte seine Aufmerksamkeit. Er blickte gen Himmel, sah aber nichts außer grauen Wolken. Dann verstärkte sich das Geräusch. Ein Hubschrauber brach
durch die Wolkendecke und steuerte ein offenes Feld in einiger Entfernung an. Hastig sprintete Ryder zu einer Baumreihe und hielt sich unter den Zweigen, um vom Hubschrauber aus nicht gesehen zu werden. Durch das Dröhnen des Motors und das Prasseln des Regens brauchte er nicht zu befürchten, dass jemand das gelegentliche Knacken von Zweigen hörte. Dennoch blieb er in einiger Entfernung von dem Fahrzeug stehen, das am Rande des Feldes stand und vermutlich der Familie de la Pena gehörte. Als der Hubschrauber landete, stiegen zwei Personen vom Vordersitz, gefolgt von zwei ehrerbietigen Gestalten, die offensichtlich der Dienerschaft angehörten. Die große, auffällige Frau mit dem schwarzen Regenschirm musste Lisas Mutter sein. Ryder entdeckte eine gewisse Ähnlichkeit, obwohl sie ein abweisendes Wesen hatte, das Lisa fehlte. Ein kleiner, stämmiger Mann, offensichtlich Lisas Vater, stapfte durch den Regen. Mit seiner Stupsnase und der gedrunge nen Gestalt wirkte er eher wie ein Straßenkämpfer als ein Aristokrat. Ryder beobachtete, wie der Militärhubschrauber in der Mitte des Feldes landete. Die Rotoren drückten das hohe Gras zu Bo den. Jegliche Aufschriften, die einer Identifikation hätten dienen können, waren vom Rumpf entfernt worden. Eines musste er Boris Grissovsky lassen: Es war eine Meisterleistung, Lisa in Kalifornien gekidnappt und in verschiedenen Flugzeugen über mehrere Grenzen hinweg bis nach Frankreich transportiert zu haben, ohne Verdacht zu erregen. Entweder hatte er viel Zeit für die Vorbereitungen gehabt, was unter den gegebenen Umständen unwahrscheinlich war, oder aber er besaß Beziehungen zur Unterwelt. Keine angenehme Vorstellung. Das Herz pochte Ryder bis zum Halse. Was war, wenn etwas schief ging? Er hatte keine Waffe dabei. Er konnte höchstens für eine Ablenkung sorgen, aber wem sollte das etwas nützen? Obwohl es gegen seinen Instinkt verstieß, zwang Ryder sich, vorerst abzuwarten. Er versuchte, nicht daran zu denken, wie verängstigt Lisa sein musste, oder ob sie verletzt worden war. Die Tür des Hubschraubers öffnete sich. Eine Gestalt mit breitkrempigem Hut und Trenchcoat stieg aus. Zu groß, um Lisa zu sein, und zu maskulin in den Bewegungen. Ryder konnte keine Überraschung auf Seiten der de la Penas erkennen, also handelte es sich offensichtlich nicht um Boris. Der Mann trat zu ihnen und verlangte vermutlich das Lösegeld. Schuyler schüttelte den Kopf und deutete auf den Hub schrauber. Wie auf ein Stichwort erschien eine schlanke Gestalt in der Tür. Lisa! Impulsiv wollte Ryder zu ihr stürmen, beherrschte sich aber im letzten Moment und blieb hinter einem Baumstamm verborgen stehen. Sie sprang zu Boden. Dir Haar war zerzaust und ihr Gesicht bleich, aber sie schien unverletzt zu sein und ging aus eigener Kraft auf ihre Eltern zu. Mrs. de la Pena trat vor, blieb jedoch stehen, als ihr Mann rief: „Valeria! Bleib dem Hubschrauber fern!" Während Schuyler einen Aktenkoffer aus dem Auto holte, lief Lisa zu ihrer Mutter. Ryder atmete erleichtert auf. Es schien alles glatt zu gehen. Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung in der Tür des Hubschraubers. Ein Mann mit einer Richard-Nixon-Maske sprang heraus, marschierte über das Feld zu Schuyler und griff nach dem Aktenkoffer. Der massige Mann legte den Aktenkoffer auf den Boden und öffnete die Schnappschlösser. Ryder spannte sich in der Erwartung, eine Explosion zu hören. Der Mann nahm ein Bündel Geldscheine heraus, blätterte es durch, griff dann zum nächsten. Sein Komplize drängte ihn zur Eile. Schließlich nickte der Maskierte zufrieden und schloss den Koffer wieder. Er stand auf und wirbelte mit einem Revolver in der Hand zu seinem Komplizen herum. „Ich habe Sie gestern Abend telefonieren hören, Lothaire", höhnte er mit dem
Akzent des gewissen Mr. Smith - alias Grissovsky, wie Ryder vermutete. „Ich weiß, was Sie und der Pilot planen, aber Sie werden mich nicht zum Narren halten." Er wirbelte zu Schuyler de la Pena herum. „Ich brauche Ihren Wagen, und ich werde Ihre Tochter als Geisel mitnehmen." „Nein!" schrie Valeria. Nun sah Ryder sich doch gezwungen einzugreifen. Da er unbewaffnet war, konnte er nur hoffen, einen Überraschungseffekt erzielen zu können. Lautlos schlich er sich im Schutz der Bäume zu der anderen Seite des Fahrzeugs. „Ich nehme den Koffer, Boris", sagte der Komplize und zog eine Maschinenpistole unter dem Trenchcoat hervor. „Boris? Boris Grissovsky?" stammelte Mrs. de la Pena. „Ein und derselbe", bestätigte der Komplize. „Boris, geben Sie mir das Lösegeld, und wir kommen alle lebend davon." Der Mann riss sich die Maske ab. Sein breites, feistes Gesicht ähnelte immer noch der Karikatur von Nixon. „Das werden Sie büßen, Sie Verräter!" „Ich glaube kaum", entgegnete der andere gelassen. „Sie schulden Geld, und ich bin hier, um es abzuholen." „Sie arbeiten für die Russen?" „Ja. Also geben Sie es mir lieber gleich, denn früher oder später holen sie es sich sowieso." „Ich habe das alles doch nicht inszeniert, um letzten Endes mit leeren Händen auszugehen!" In geduckter Haltung sprang Ryder unter den Bäumen hervor und sprintete im strömenden Regen zu der Limousine. Niemand bemerkte ihn. Boris stampfte zu Valeria, schnappte sich Lisa und zerrte sie vor seinen Körper. Er richtete den Revolver auf ihre Schläfe, so dass sie sich nicht wehren konnte. „Nun, Lothaire? Sind Sie bereit, das Mädchen zu erschießen, um mich zu kriegen?" „Es ist nicht mein Job, unschuldige Frauen zu erschießen", entgegnete Lothaire. „Gut." Mit Lisa vor sich bewegte Boris sich zum Wagen und riss die Tür auf. „Bleibt alle zurück, und niemandem geschieht etwas." In diesem Moment sah sie Ryder auf der anderen Seite des Wagens kauern. Er bedeutete ihr, sich zu ducken. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff. Dann tauchte sie blitzschnell ab. Gleichzeitig hechtete er über den Sitz und stürzte sich über ihren Kopf hinweg auf Boris. Beide landeten im Schlamm. Boris ließ Lisa und den Aktenkoffer los, aber er hatte immer noch den Revolver und richtete ihn auf Ryder. „Nein!" schrie Lisa und trat ihm mit aller Kraft gegen das Handgelenk. Mit einem ohrenbetäubenden Knall löste sich ein Schuss, als die Waffe im hohen Bogen durch die Luft flog. Die Kugel sauste so dicht an Ryders Kopf vorbei, dass er den Luftzug spürte. Schuyler de la Pena stieß Ryder beiseite, stürzte sich auf Bo ris und hämmerte mit den Fäusten auf ihn ein. „Ich bringe dich um!" Valeria rannte herbei und hob Revolver und Aktenkoffer auf, bevor Lothaire zuschlage n konnte. Trotzig starrte sie ihn an, bis er schließlich die Maschinenpistole schulterte und davonging. „Geht es dir gut?" Fieberhaft zerrte Lisa an Ryders Jacke. „Hat er dich getroffen?" Lisa. Sie roch wundervoll nach Wildblumen und Regen. Er vergrub die Hände in ihren zerzausten Haaren, blickte ihr stumm in die Augen, und dann küsste er ihre Lippen. „Es ging mir nie besser", murmelte er dann. „Und du?" „Ich kann es nicht fassen, dass du da bist." „Hilfe", wimmerte Boris. „Er bringt mich um." „Sebastien!" rief Schuyler. Der Butler eilte mit einem Seil herbei. Gemeinsam rollten sie Boris herum Und
fesselten ihm die Hände auf dem Rücken. „O Ryder!" Lisa barg die Wange an seiner Schulter. „Du hast mir das Leben gerettet." „Das Leben gerettet?" tobte Schuyler. „Durch diesen Verrückten bist du beinahe erschossen worden! Ryder Kelly? Sebastien, fessle ihn ebenfalls!" Fassungslos starrte Ryder ihn an. Hatte er die Situation tatsächlich missverstanden, oder gefiel es ihm nur nicht, seine Tochter in den Armen eines Mannes niederer Herkunft zu sehen? „Monsieur?" murmelte der Butler verblüfft, während er Boris vom Boden zerrte. „Ihn fesseln?" Lisa rang nach Atem. „Bist du verrückt, Papa? Er ist gekommen, um mich zu retten, und so willst du es ihm danken?" „Er ist gekommen, weil er es auf dein Vermögen abgesehen hat." Schuyler deutete zum Aktenkoffer. „Gib ihm das Geld und sag ihm, dass er verschwinden soll. Ich wette, er nimmt es sehr gern." „Ich habe gesehen, wie Sie Ihr Leben riskiert haben, Mr. Kelly", sagte Valeria mit sanfter, spanisch akzentuierter Stimme. „Wir stehen tief in Ihrer Schuld." Der Butler hatte Boris inzwischen in den Wagen verfrachtet, doch er machte keinerlei Anstalten, Ryder zu fesseln. „Womöglich war er von Anfang an in die Geschichte verwickelt. Vielleicht steckt er mit dem anderen Kidnapper unter einer Decke. Was meinst du, Boris?" „Wer weiß? Zumindest nehme ich an, dass sie ihn bereits bezahlt hat, damit er sie schwängert." Schuyler stieß einen erstickten Laut aus. Valeria rang nach Atem. „Warum seid ihr so schockiert?" rief Lisa. „Deswegen bin ich weggelaufen, um euch den ersehnten Erben zu liefern. Aber ich habe Ryder nicht dafür bezahlt!" „Es bestand kein Grund für so eine Dummheit", sagte Schuyler. „Wir hatten alles arrangiert." „Ja, eine Heirat mit diesem Schurken, nur weil er mit den Hohnersteins verwandt ist!" empörte sich Lisa. „Wisst ihr eigentlich, dass er pleite ist und der Mafia Geld schuldet?" „Mir scheint, dass du sehr viel Ruhe brauchst, Lisa", murmelte Schuyler. „Nein. Ich muss endlich aufhören, mich wie ein Teenager zu benehmen, und anfangen, wie eine Erwachsene zu handeln." „Du wirst tun, was ich sage!" „Sie wird tun, was ihr gefällt", warf Ryder ein. „Sie befinden sich auf französischem Boden." Schuyler holte ein Handy hervor. „Die Polizei wird sich mit Ihnen befassen." „Monsieur, Sie sind ein Ungeheuer!" rief die Zofe, die sich bislang schweigend im Hintergrund gehalten hatte. „Was meinst du damit, Mireille?" hakte Lisa nach. „Ich habe dem anderen Mann, diesem Lothaire, Informationen gegeben", gestand sie unter Tränen ein. „Ich habe es nicht für Geld getan. Ich dachte, ich würde Mademoiselle damit helfen, die wahre Liebe zu finden. Ich dachte, der junge Mann wäre in sie verliebt. Ich wollte ihr helfen zu entfliehen, weil sie von Ihnen wie eine Gefangene behandelt wird." „Du bist entlassen!" polterte Schuyler. „Ich kündige", konterte Mireille. Lisa nieste. „Du musst aus dem Regen, bevor du dir eine Lungenentzündung holst", entschied Ryder.
14. KAPITEL Als die Polizei eintraf, um Boris abzuführen, hatte Schuyler sich zum Glück so weit beruhigt, dass er nicht länger auf Ryders Verhaftung beharrte. Er stellte auch Mireille wieder ein, die sich überschwänglich für ihre Mithilfe entschuldigte. Doch zu Lisas Verärgerung erwartete er offensichtlich immer noch, dass sie wieder sein kleines Mädchen wurde, das sich im Chateau einschließen ließ und nicht wagte, sich seinen Eltern zu widersetzen. Jenes Mädchen kannte sie kaum noch. Ihr Gedächtnis war zurückgekehrt, aber es hätte zu einem anderen Menschen gehören können. Was nun zählte, war Ryder. Es war erstaunlich, dass er sich nicht von ihr abgewendet hatte, als er das wahre Motiv für ihre Bekanntschaft erfahren hatte. Dennoch wusste sie es besser, als zu viel in sein Verhalten zu interpretieren. Ein ehrenwerter Mann wie er fühlte sich vielleicht schuldig an ihrer Entführung, weil er sie allein im Surfgeschäft gelassen hatte. Oder aber verpflichtet, weil sie schwanger von ihm sein könnte. Nun, da er sich überzeugt hatte, dass sie wohlauf war, endete seine Pflicht. Er schuldete ihr nichts. Nichts, das er nicht freiwillig geben wollte. Sobald sie sich trockene Kleidung angezogen hatte, begab sie sich auf die Suche nach ihm. Ihre Eltern hatten ihm das Marie-Antoinette-Gemach gegeben. Gerüchten zufolge hatte die unglückselige Königin einmal dort übernachtet, und die überladene Einrichtung reflektierte jene längst vergangene Ära. Lisa klopfte zweimal. Obwohl sie keine Antwort erhielt, trat sie ein. Sie hatte vergessen, dass der Raum so riesig wie eine Turnhalle und überreichlich verziert war. Wie mochten die gemusterten Tapeten, die schweren Gardinen, der Stuck, die geschnitzten Möbel und all der Zierrat auf einen Mann wirken, der kein einziges Bild an seinen eigenen Wänden aufgehängt hatte? Die Tür zum angrenzenden Badezimmer öffnete sich, und in einer Dampf wölke tauchte Ryder auf. Seine Haare waren nass und frisch gekämmt. Er hatte ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Muskeln spielten an seinem nackten Oberkörper, und voller Sehnsucht erinnerte Lisa sich, wie sich seine Brust unter ihren Fingern angefühlt hatte. Abrupt blieb er dicht vor ihr stehen. „Lisa! Ich hatte dich gar nicht bemerkt." Seine Miene verriet ihr nichts. Sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Also wartete sie, dass er weitersprach. „Einer der Hausangestellten sollte meinen Koffer vom Bahnhof holen. Ich frage mich, ob er es getan hat." Er ging zu dem Schrank aus Mahagoni und öffnete ihn. Mehrere Anzüge und Hemden hingen frisch gebügelt darin. „Gütiger Himmel! Welche Effizienz!" „Ryder, sag etwas." Lisa sank auf die Bettkante. „Bitte!" Er drehte sich um, verlor beinahe das Handtuch und riss es wie der hoch. „Ich hatte den Eindruck, dass ich etwas gesagt hätte." „Rede nicht von deiner Kleidung. Sag mir, warum du gekommen bist." Er öffnete eine Schublade, nahm Unterwäsche heraus und zog sie unter dem Handtuch an. „Du warst in Schwierigkeiten." „Bist du mir nicht böse? Weil ich dich benutzt habe, um schwanger zu werden?" „Bist du es? Schwanger, meine ich." „Ich weiß nicht. Es ist noch zu früh." Er nahm ein weißes Hemd aus dem Schrank und schlüpfte hinein. Ihr fiel auf, dass er sie kaum anblickte und in Gedanken tausend Lichtjahre entfernt zu sein schien. War er zornig? Gelangweilt? Es lag ihr nicht, eine Auseinandersetzung zu forcieren, aber der Himmel allein wusste, wann sich eine weitere Gelegenheit zu einem Gespräch ergab. „Vor allem tut es mir Leid." „Wie Leid?" „Heftig." Nun blickte er sie direkt an. „Und zweitens?"
„Wie bitte?" „Du hast gesagt, dass es dir vor allem Leid tut. Was kommt als Nächstes?" „Kann ich dich mit irgendwas bewerfen? Sag mir, wo du keine Schmerzen hast, und ich treffe dich dort." Ein Lächeln erhellte sein Gesicht. „Ich habe nirgendwo Schmerzen. Komm und bearbeite mich, wo du willst.'" Lisa wusste nicht, was sie von seinem plötzlichen Stimmungs wandel halten sollte. „Ich will dich nicht treffen. Ich will nur deine Aufmerksamkeit." Ryder nahm eine Zeitung von der Kommode und setzte sich neben Lisa. „Sieh dir das an." Verwirrt musterte sie das Blatt. Es war der Immobilienteil der Los Angeles Times. „Ist da irgendwo eine geheime Botschaft? Irgendein Code?" Er schlug eine Doppelseite auf, die mit neuen Häusern übersät war. „Ich frage mich, ob du den mediterranen oder den Tudor-Stil vorziehst. Ehrlich gesagt, finde ich Tudor zu protzig für Südkalifornien, aber lass dich davon nicht beeinflussen." „Du möchtest, dass ich ein Haus aussuche?" „Mit dem Bonus, den ich am Samstag verdient habe, während du dich hast entführen lassen, kann ich die Anzahlung leisten. Das heißt, falls du dich von all diesem Flitter losreißen kannst." Mit einer ausholenden Armbewegung deutete er auf eine güldene Kaminuhr und eine Schar Hirten aus Porzellan. Lisa lachte. „Ich hasse diesen Flitter! Mediterran klingt perfekt." Unverhofft zog er sie an sich. Sie schmiegte sich an ihn, inha lierte seinen frischen Duft, genoss die Liebkosung seiner Lippen an ihrem Ohr. „Je t'aime", flüsterte er. „Te amo." „Ich liebe dich." Er strich ihr eine Locke aus der Stirn. „Als Boris dich in der Gewalt hatte ... Ich hatte oft Angst in lebensge fährlichen Situationen. Aber ich wusste immer, dass es irgendwie weitergeht, sofern ich es überlebe, wenn auch schwer verletzt. Aber wenn dir etwas zugestoßen wäre, hätte ich nicht damit leben können." „Was ist mit Kindern?" hakt sie nach. „Du willst doch keine." „Das war im Abstrakten gesprochen", murmelte er. „Es ist wie abstrakte Kunst. Sie stellt nicht unbedingt die Wirklichkeit dar." Lisa konnte es kaum fassen. „Du würdest dich nicht angekettet oder betrogen fühlen? Wir müssen nie befürchten, arm zu sein, weißt du." „Ist das ein Hinweis auf die legendäre Mitgift?" „Gewissermaßen." Sie hielt den Atem an in der Befürchtung, ihn beleidigt zu haben. „Lege sie zurück für die Ausbildung der Kinder. Ich kann meine Familie selbst ernähren." „Kinder? Plural?" „Wir wollen doch nicht, dass sie sich einsam fühlen." Er grinste. „Meinst du, dass deine Eltern etwas dagegen hätten, wenn wir für ein paar Stunden nicht hinuntergehen?" „Sie haben vielleicht was dagegen, aber ich nicht." Es war bereits Dinnerzeit, als Lisa und Ryder durch das gewaltige Treppenhaus und gobelingeschmückte Räume in einen Speisesaal von der Größe eines Fußballstadions gingen. Ryder konnte es kaum fassen, dass dieser Palast einer einzigen Familie gehörte. Nach dem wundervollen Liebesspiel, gefolgt von einer Stunde Schlaf und einer weiteren Dusche, fühlte er sich erfrischt. Ein Blick auf Valeria und Schuyler, die neben einer Anrichte standen und Wein aus Kristallkelchen tranken, verriet ihm, dass er ihren Anforderungen wiederum nicht genügte, obwohl er seinen besten Anzug angezogen hatte. Lisas Vater trug einen schwarzen Smoking und ihre Mutter ein hoch geschlossenes, bernsteinfarbenes Gewand, das bis zum Boden reichte.
Lisa kehrte in einem blauen Kleid mit weiten Ärmeln aus ihrem Zimmer zurück. Er fand, dass sie darin wie eine Märchenprinzessin aussah. Es wurde wenig geredet, während sie die Plätze einnahmen und der erste Gang, Schnecken in Knoblauchsoße, serviert wurde. „Du brauchst sie nicht zu essen", murmelte Lisa, die Ryder gegenübersaß. „Stimmt etwas nicht mit dem Essen?" erkundigte sich Schuyler vom Kopfende des langen Tisches her. „Sagen Sie bloß nicht, dass Sie sich vor Schnecken ekeln!" Ryder verdächtigte ihn, das ausgefallene Gericht absichtlich geordert zu haben. „Werden sie auf diesem Anwesen gezüchtet?" „Wohl kaum", sagte Valeria. „Wir werden bestimmt Unmengen in unserem Garten haben", sagte Ryder. „Aber keine Sorge, Lisa, ich werde uns mit Schne ckenköder eindecken." Sie verschluckte sich beinahe, als sie ein Lachen zu unterdrücken versuchte. Während Schuyler missbilligend hüstelte, hakte Valeria nach: „Euer Garten?" Eine ominöse Stille senkte sich über den Raum, bis Lisa erklärte: „Wir werden heiraten." Während Ryder auf die Reaktion seines zukünftigen Schwiegervaters wartete, verspürte er seltsamerweise weder Trotz noch Schadenfreude. Irgendwann zwischen der Überwältigung des entfernt mit den Hohnersteins verwandten Boris und dem Liebesspiel mit Lisa in Marie Antoinettes Bett hatte er aufgehört, den Snobismus zu verübeln. Es war einfach nicht mehr wichtig. Wenn die Allüren der Reichen dazu dienten, sie glücklich zu machen, dann sollte es ihm recht sein. Er spürte Schuylers abschätzenden Blick und rechnete mit einer Tirade von Einwänden. Statt dessen fragte der Mann: „Ich nehme an, Sie haben keine Erfahrung in der Leitung eines Geschäfts, Mr. Kelly?" „Nur in der meiner Detektivagentur." „Ich spiele mit dem Gedanken, eine Filiale in Amerika zu eröffnen", erklärte Schuyler sachlich. „Ich würde das Management gern in der Familie belassen." „Sie bieten mir einen Job an?" hakte Ryder nach. „Natürlich müssten wir die Details ausarbeiten." „Ich weiß ja nicht mal, in welcher Branche Sie tätig sind. Aber es scheint nicht ganz mein Fall zu sein. Trotzdem danke." „Selbst in den Vereinigten Staaten ist es schwierig, Ersatzteile für Geräte zu bekommen, die nicht das neueste Modell sind." Schuyler betupfte sich die Lippen mit einer Stoffserviette. „Ich glaube, wir könnten gute Profite erziele n." „Sie wären noch besser, wenn du eine Werbeabteilung einrichten würdest", warf Lisa ein. „Und du solltest eine sensationelle Eröffnung mit einer umfassenden Werbekampagne planen. Mit dem Slogan, dass es schicker ist, alte Sachen zu reparieren als neue zukaufen." „Du erwartest doch wohl nicht, dass ich dir die Präsidentschaft anbiete! Du bist nicht nüchtern und stur genug für so etwas." „Ich will auch gar nicht zwanzig Stunden am Tag arbeiten, da ich Kinder haben möchte." „Du würdest die Filiale nicht le iten wollen?" hakte Schuyler verblüfft nach. „Ich könnte eine beratende Position in Erwägung ziehen - sofern es ein Teilzeitjob wäre." Ryder unterdrückte ein Grinsen. Von ihm aus konnte seine Frau jede Karriere verfolgen, die sie wollte. Aber da er sich nun dafür erwärmt hatte, Kinder zu haben, zog er es vor, dass beide Elternteile viel Zeit mit ihnen verbrachten. Valeria brach das Schweigen. „Du wolltest doch Mumm, Schuyler. Den beweisen alle beide." Ryder zog eine Augenbraue hoch. „Mumm?" „Mein Vater will Enkel mit Mumm. Dadurch ist die ganze Geschichte ins Rollen
gekommen." „Wir hätten nicht versuchen sollen, dich in eine Ehe zu drängen" , gestand Valeria ein. „Ich hatte Angst, eure Liebe zu verlieren, wenn ich mich euch widersetzte", erklärte Lisa. „Ihr habt nie etwas gutgeheißen, das ich auf eigene Faust getan habe." Abrupt legte Schuyler seine Gabel nieder. „Lisa, du bedeutest uns mehr als alles andere auf der Welt." „Mehr als all das Geld", warf Valeria ein. „Mehr als mein Leben", sagte Schuyler. Lisas Augen glitzerten. Sie schob den Stuhl zurück, rannte zum Kopfende des Tisches und umarmte stürmisch ihre Eltern. Unwillkürlich dachte Ryder an seine eigene Mutter. Als junger Mann hatte er ihr die Wahl falscher Ehemänner verübelt, aber sie hatte sich stets sehr um ihre Kinder gekümmert. Gemäß der letzten Weihnachtskarte von seinen Schwestern war sie wieder Single und lebte in der Nähe von San Francisco. Es war Zeit, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Höchste Zeit. „Nun, Sohn? Wollen Sie mir nicht die Hand schütteln?" Ryder blickte auf und stellte fest, dass Schuyler aufgestanden war. „Es wäre mir ein Vergnügen, Sir." Er ging ebenfalls zum Kopfende und drückte ihm fest die Hand. Dann ließ er sich von Valeria umarmen. „Es ist mir schwer gefallen zu akzeptieren, dass mein Vertrauen in Boris unangebracht war", gestand Schuyler ein. „Aber bei nä herer Überlegung muss ich einräumen, dass Sie genau der Schwiegersohn sind, den ich mir wünsche. Unabhängig, hartnäckig und Ihrer Frau ergeben." „Wie du, Lieber", murmelte Valeria und hakte sich bei ihm unter. „Ich muss euch unbedingt erzählen, wie er das kleine Mädchen auf der Skipiste und mich am Strand gerettet hat", verkündete Lisa. „All das in nur einer Woche?" „Ryder tut das ständig." „Das stimmt gar nicht", wehrte er verlegen ab. „Ich selbst bin heute Zeuge Ihres vorbildlichen Verhaltens ge worden" , räumte Schuyler ein, als sie ihre Plätze wieder einnahmen. „Sie haben Anerkennung verdient. Es tut mir Leid, dass ich es aus Stolz nicht gleich eingesehen habe." „Erzähl uns von den Abenteuern!" bat Valeria gespannt. Eifrig begann Lisa zu berichten. Als die Dienstboten die weiteren Gänge servierten, verweilten sie im Hintergrund und lauschten fasziniert. Doch am meisten genoss Lisa die Schilderung. Ihre Augen funkelten, und ihre Wangen glühten. Wenn Ryder es sich recht überlegte, hatte auch sie sehr wagemutige Taten vollbracht. Er konnte es kaum erwarten, dass sie die Geschichten über ihn beendete, damit er berichten konnte, wie sie trotz ihrer Amnesie aus dem Krankenhaus verschwunden war und Ginger gefunden hatte. Das musste sogar Schuyler beeindrucken. „Der Hut war eine kluge Idee", lobte Nicola. „Wesentlich schicker als ein Schleier." „Ich finde, ein Stirnband mit Blumen wäre hübscher", wandte Buffy ein. „Sie heiratet doch nicht am Strand!" konterte Starr. „Das ist ein Palast! Sie kann sich nicht einfach ein paar Gänseblümchen ins Haar stecken." Lisa betrachtete ihre bunt zusammengewürfelten Freundinnen im Spiegel. Nicola trug ihr goldenes Gewand mit Eleganz und die Haare zu einem kunstvollen Knoten verschlungen. Sie genoss die Festlichkeiten besonders, da sie durch ihre Rolle als Trauzeugin wieder in die feine Gesellschaft erhoben wurde. Ein schlichteres Kleid passte zu Maureen und ihren kurzen roten Haaren. Sie war bedrückter als gewöhnlich seit der Trennung von ihrem verräterischen Freund, aber sie würde ihren Kummer gewiss bald überwinden. Starr und Buffy waren natürlich maßlos begeistert über ihre erste Reise nach
Frankreich und den Aufenthalt in einem Chateau. Ihre rosenfarbenen Kleider waren eigens angefertigt worden, um sowohl ihrem Alter zu entsprechen als auch zu den anderen Gewändern zu passen. Die gesamte Gruppe erinnerte Lisa an einen bunt gemischten Blumenstrauß, mit einer weißen Rose in der Mitte. Sie konnte kaum glauben, dass diese strahlende Braut sie selbst war. Die Frau, die sie aus dem ovalen Spiegel anblickte, wies einige vertraute Merkmale auf: die aristokratische Kinnpartie der de la Penas zum Beispiel, und die schwarzen Haare, die unter dem Seidenhut hervorquollen. Aber aus den grünen Augen leuchteten ein neues Selbstvertrauen und Entschlossenheit und Liebe. „Ich kann kaum glauben, dass ich es bin", gestand sie ein. „Ich kann kaum glauben, dass ich Ryder gefunden habe." „Es ist erstaunlich, was das Internet alles zu bieten hat, eh?" scherzte Maureen. „Dafür müssen wir wohl Win danken." „Selbst wenn er eine Ratte ist." „Die Welt ist voller Ratten", sinnierte Nicola. Sie wandte sich an Buffy und Starr. „Ihr müsst sehr vorsichtig sein. Bevor ihr einen Mann heiratet, müsst ihr ihn gründlich überprüfen." „Ich hatte noch nicht mal ein Date", wandte Starr ein. „Ich glaube nicht, dass ich schon daran denken muss." „Wo hast du denn diese reizenden Geschöpfe aufgetrieben?" fragte Nicola. „Ich muss sie unter meine Fittiche nehmen. Würdet ihr mich gern in Rom besuchen kommen?" „Ja!" riefen sie wie aus einem Munde. Lisa zog sich die Lippen nach und versuchte, das plötzliche Unwohlsein in der Magengegend zu ignorieren. Im vierten Monat musste die Phase der Übelkeit doch vorbei sein. Sie atmete tief durch, und das Unwohlsein verging. Sie war froh, dass die Plisseefältchen an der Taille die leichte Wölbung ihres Bauches verbargen. Bislang wussten nur ihre Eltern und Ryder von der Schwangerschaft. Sie hatten beschlossen, mit der offiziellen Ankündigung noch einen Monat zu warten. Ein Klopfen an der Tür erklang. Maureen öffnete und ließ Schuyler ein. „Sind die lieblichen Ladys bereit?" fragte er. Er sonnte sich bereits die ganze Woche lang in den Festlichkeiten und spielte genial den Gastgeber für Geschäftspartner, Freunde und Familienangehörige, die Pariser Gesellschaft und Ryders Mutter und Schwestern. Das Chateau war zum ersten Mal seit dem Kauf voll gestopft mit Leuten. Valeria, ganz in ihrem Element, kommandierte eine ganze Armee an Köchen, Dienern, Näherinnen, Floristen und Zo fen. Nach all der Hektik sehnte Lisa sich danach, sich in ihrem kürzlich erworbenen Haus in einer stillen Sackgasse niederzulassen. Sie konnte es kaum erwarten, mit Ryder allein zu sein. Ihre einzige Sorge bestand darin, dass sich seine wundersame Wandlung als vorübergehend erweisen könnte. Wie konnte er solche Geduld angesichts all des Reichtums und Pomps beweisen? Wollte er sich wirklich an Frau und Kinder binden, obwohl er einen Großteil seines Lebens für seine Unabhängigkeit gekämpft hatte? „Du siehst blass aus", bemerkte Schuyler, als sie seinen Arm nahm. Er beugte sich dicht zu ihr. „Dir ist doch nicht übel, oder?" „Ich bin nur nervös." Sie nahm ihren Brautstrauß und stützte sich dankbar auf seinen Arm. Sie folgten den Brautjungfern hinaus auf den Korridor. Als sie die gewundene Treppe erreichten, drang Stimmengewirr von unten herauf. Unzählige Stühle füllten das pompöse Foyer und den Salon, dessen Türen offen standen. Hunderte von Gästen nahmen an der Zeremonie teil. Lisa roch den Duft der Blumen, die in jedem Winkel standen, und hörte die lieblichen
Klänge der Orgel. Unter staunenden Ausrufen der Gäste schritten die Brautjungfern die Stufen hinab. Werde ich Panik auf deinem Gesicht sehen, Ryder? fragte Lisa sich ängstlich, als der Hochzeitsmarsch von Mendelssohn erklang. Die Biegung der Treppe verbarg ihn vor ihren Blicken. Sie hob den schweren Rock mit einer Hand und setzte sich langsam, mit weichen Knien in Bewegung. Ein Raunen ging durch die Menge, als sie das Brautkleid ge wahrten. Der schlichte Schnitt betonte geschickt ihren langen Hals und ihre geraden Schultern. Grelle Blitzlichter blendeten sie. Schuyler murrte missbilligend, doch Lisa wusste, dass er sich an den Fotos erfreuen würde. Ein offizieller Hochzeitsfotograf war engagiert worden, und Valeria hatte den Bitten des Couturiers nachgegeben und eine Fotografin von Vogue ins Haus gelassen. Lisa und Schuyler erreichten die Biegung, und endlich erblickte sie Ryder in seinem schwarzen Smoking. Ihre Augen wurden feucht. Sie blinzelte und heftete den Blick auf sein Gesicht. Einen Moment lang vermochte sie seine Miene nicht zu deuten. Dann grinste er und zwinkerte ihr beinahe unmerklich zu. Doch Lisa wusste, was er ihr sagen wollte: Sieh dir bloß all die Leute in den feinen Kleidern an. Würden wir nicht lieber was anderes tun, das keine Kleidung erfordert? Ihr erster Impuls war zu kichern. Ihr zweiter war, auf das Treppengeländer zu klettern und hinab in seine Arme zu rutschen. Sie tat keines von beidem. Irgendwie gelang es ihr, die restlichen Stufen würdevoll hinabzuschreiten und still zu stehen, während der Pfarrer ihren Vater bat, sie dem Bräutigam zu übergeben. Ryder nahm ihren Arm. Ein Sonnenstrahl drang durch die ho hen, schmalen Fenster und tauchte die beiden in einen goldenen, warmen Schein. Uns drei, verbesserte Lisa und legte sich instink tiv eine Hand auf den Bauch. Lange, nachdem die Gäste gegangen und die Blumen verwelkt waren, nachdem das Brautkleid in Seidenpapier verpackt war, sollten Lisa und Ryder und das Baby des Zaubers diesen Augenblicks gedenken. Auf ewig.
-ENDE-