JAMIE DENTON
ElN TRAUMMANN MUSS HER!
1. KAPITEL Jaycee Richmond zerknüllte den Papierstreifen aus dem Glückskeks, den ...
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JAMIE DENTON
ElN TRAUMMANN MUSS HER!
1. KAPITEL Jaycee Richmond zerknüllte den Papierstreifen aus dem Glückskeks, den sie beim Lunch bekommen hatte, und steckte ihn in ihre riesige Schultertasche, während sie den Fahrstuhl betrat. Wie viele andere Leute hatten schon dieselbe Prophezeiung in Chans China-Restau rant erhalten? Und wie viele, dachte sie, als sie aus dem Lift stieg und den Korridor zur Tür mit dem Schild „Privat" hinunterging, glaubten diesen Unsinn? Sie glaubte nicht an Karma, Vorbestimmung oder an in Fabrikproduktion hergestellte konfuzianische Glückskeks-Weisheiten. In dieselbe Kategorie fielen Hellsehen, Handlesen und Horoskope, und das Letzte, was Jaycee Richmond je ernst nehmen würde, war die Pro phezeiung auf ihrem neuesten Glückskeks: „Heute wird der ideale Partner in Ihr Leben treten." Nein, Jaycee war Realistin. Erfolg oder Scheitern hatten nichts mit Schicksal zu tun - sie glaubte, dass harte Arbeit belohnt wurde und Trägheit die gegenteilige Konsequenz hatte. Ihre beiden Brüder, die auch ihre Arbeitgeber waren, vertraten dieselbe Philosophie, wende ten sie allerdings nicht auf sie an. Was sie maßlos frustrierte. Sie hatte bereits sechs Jahre in verschiedenen Abteilungen der Imageberatungsfirma ihres Vaters gearbeitet und die letzten vier Jahre, seit John Richmond sich zur Ruhe gesetzt hatte, mit Rick und Däne als ihren Chefs. Und in den zehn Jahren loyaler Mitarbeit war sie auf der Karriereleiter um keine einzige Stufe aufgestiegen. In den vergangenen sechs Monaten hatte sie das brave Mädchen gespielt, in der Hoffnung, die verzweifelt gewünschte Beförderung voranzutreiben. Schließlich war „Better Images" ein Familienunternehmen, und sie gehörte auch zur Familie. Sie betrat ihr Büro und fluchte leise, als sie sich den Ellenbogen an der Stahlkante des Aktenschranks stieß. Wahrscheinlich hatten Strafgefangene mehr Bewegungsfreiheit in ihren Zellen als sie in ihrem so genannten Büro. Die einstige geräumige Besenkammer war die Belohnung ihrer Brüder gewesen, als sie das College mit einem Abschluss in Betriebswirtschaft verließ. Sie war von ihrem eigenen, wenn auch winzigem Büro begeistert gewesen. Bis ihr klar wurde, dass der Ortswechsel die einzige Veränderung in ihrem Job war. Sie war noch immer Sekretärin, aber wenigstens musste sie nicht länger auch als Rezeptzionistin herhalten. Ihre Ausbildung war nicht mit dem Coollege-Diplom beendet gewesen. In den vergangenen drei Jahren hatte sie im Abendstudium an der Universität von Seattle auf ihren Magister hingearbeitet und vor sechs Monaten ihr Examen abgelegt. Damit, so hatte sie geglaubt, würde sie eine gleichgestellte Partnerin in dem Familienunternehmen werden. Sie hatte sich schwer getäuscht. Statt sie zu befördern mit der Option, sich als Teilhaberin einzukaufen, hatten ihre Brüder sie mit einer zweijährigen Mitgliedschaft bei einem Wellness-Club für Singles überrascht. Nach der Richmond-Philosophie gehörte ein „Mädchen", das arbeiten wollte, in traditionelle Frauenberufe wie Sekretärin, Buchhalterin oder Krankenschwester. „Traditionell? .Untergeordnet' kommt eher hin", schimpfte Jaycee vor sich hin und blickte mürrisch auf den Aktenstapel, der sich auf ihrem Stuhl Türmte, Begriffe wie „Gleichberechtigung" und „Frauenrechte" waren für die Richmond-Männer fast Fremdwörter. Aber wenigstens machte es Däne im Gegensatz zu Rick nichts aus, sich selbst Kaffee zu kochen oder Fotokopien anzufertigen. Ansonsten waren sie beide unverbesserliche Chauvis. Es ist der Fehler unserer Eitern und Großeltern, dachte Jaycee, während sie den Ordnerstapel von dem schäbigen Stuhl nahm und auf den Aktenschrank knallte. Die Richmond-Frauen arbeiteten nicht. Sie verließen ihre Elternhäuser, um in die Häuser ihrer Ehemänner einzuziehen. Die Tatschache, dass Jaycee berufstätig war, ein Diplom in Betriebswirtschaft und einen Magistertitel besaß und eine Karriere anstrebte – dass sie noch dazu allein lebte und im reifen Alter von siebenundzwanzig noch immer unverheiratet war, war für konservative Familie eine Quelle ständiger Verlegenheit. Vielleicht bin ich adoptiert, dachte sie. Das würde es erklären. Sie verstaute ihre Schultertasche in der obersten Schublade des Aktenschranks und ärgerte sich zum x-ten Mal, dass in ihrem Minibüro nicht einmal Platz für ein Schränkchen war, wo sie ihre persönlichen Dinge verwahren konnte. Sie musste einen Weg finden, um Rick und Däne zu beweisen, dass sie zu Arbeiten fähig war, die sie als Männerjobs betrachteten. Aber wie? So konnte sie das nicht schaffen, eingesperrt in einer Besenkammer, wo sie nichts anderes zu tun
hatte, als den ganzen Tag Angebote und Geschäftspläne zu tippen. Wie sollte das wohl den Intellekt anregen? „Sind Sie Miss Richmond?" Erschrocken über die fremde Männerstimme in ihrem Büro schob Jaycee die Schublade heftig zu und klemmte sich zwischen den Metallkanten prompt die Finger. Sie drehte sich um und setzte ihr übliches berufsmäßiges Lächeln auf, das wegen des stechenden Schmerzes in ihren Fingerspitzen zu einer Grimasse geriet. „Ich bin Jaycee, ja. Und Sie sollten gestern kommen", sagte sie ungewohnt scharf. Sie ging um ihren Schreibtisch herum und schob sich an dem Mann vorbei zur Tür. „Kommen Sie, der Fotokopierer steht nebenan." „Ich bin nicht hier, um Ihr Kopiergerät zu reparieren." Seine tiefe, volle Stimme stand in starkem Kontrast zu dem jämmerlichen Körperbau des großen, schlaksigen Burschen, der eine Brille mit dicken Gläsern und großem schwarzen Rahmen und ein kurzärmliges weißes Hemd trug. Seine Schultern sackten nach vorn, als er die Hände in seine Hosentaschen steckte. Die Hose war marineblau. Polyester, stellte Jaycee missbilligend fest. „Warum sind Sie dann hier?" fragte sie schroff. Er runzelte die Stirn. „Ich möchte Sie anheuern." Sie holte tief Luft und zählte schnell bis zehn. Nur weil sie mit ihrer beruflichen Situation unzufrieden war, hatte sie noch lange nicht das Recht, ihre Frustration an einem Fremden auszulassen - und erst recht nicht an jemandem mit so unglaublich hübschen grünen Augen, die leider hinter dicken Brillengläsern versteckt waren. „Sie wollen mich anheuern?" Er nickte heftig, dann sackten seine Schultern noch tiefer. „Sie haben gesagt, dass ich ein Leben brauche." Sie? Wer waren „sie"? Angesehene Mitglieder des ärztlichen Berufs? Oder vielleicht Vertreter der Justiz? Gerichtspsychologen? Er sah nicht verrückt aus, aber der Amokläufer Jeffrey Dahmer war auch ein ruhiger, netter Kerl gewesen. Jaycee bewegte sich weiter in Richtung Tür. Draußen im Flur war kein Laut zu hören. Fiona, ihre beste Freundin und die Buchhalterin der Firma, überzog garantiert wieder ihre Lunchpause. Abgesehen von der neuen Rezeptzionistin, Juliana, war sie also allein mit einem Mann, der behauptete, dass er ein Leben brauchte. Seine Brille rutschte seinen Nasenrücken hinab. „Ein Leben'', wiederholte er und krauste seine Nase, um die Brille wieder in die richtige Position zu bringen. „Sie wissen schon. Mit Leuten und so." Jaycee trat in den Korridor, in der Hoffnung, ihn zum Empfangsbereich zu lotsen, wo Juliana an ihrem Pult saß. „Ich glaube, Sie sind hier falsch." Er rührte sich nicht vom Fleck. „Sie verstehen mich nicht." Und Ted Bundy, der Serienkiller, war ein unverstandener Jurastudent gewesen. „Sie sind doch Imageberaterin, oder?" Alarmiert von dem verzweifelten Unterton in seiner Stimme, versuchte Jaycee, sich an die Selbstverteidigungstaktiken zu erinnern, die einen Angreifer bremsen oder gänzlich außer Gefecht setzen können. „Ja, aber ..." Mit dem rechten Ellenbogen in den Solarplexus und mit dem linken Fuß zwischen die Beine? Oder nahm man den linken Ellenbogen und den rechten Fuß? „Better Images", sagte er, während er ihr so nah folgte, dass sie seinen Atem in ihrem Nacken spürte. Er blieb stehen und zeigte auf das an der Wand hängende gerahmte Foto mit ihrem Vater und ihren Brüdern, die vor dem Firmenlogo im Foyer des Firmengebäudes standen. Die Aufnahme war an dem Tag gemacht worden, als ihr Vater in den Ruhestand ging, und es war kein Zufall, dass ihre Mutter und sie nicht auf dem Foto waren. „Ich brauche ein neues Image", erklärte er, stützte die Hand neben dem Bild an die Wand und begann, mit den Fingern zu klopfen. Jaycee stieß langsam den Atem aus. „Sie sind also kein ... Ich meine, was machen Sie beruflich, Mr. ...?" Ich muss wirklich aufhören, mir die Serie „Monster in Menschengestalt" anzusehen, dachte sie. „Hawthorne", stellte er sich vor. „Simon Hawthorne. Ich bin Wirtschaftsprüfer." „Aha, eine Wirtschaftsprüfungsfirma", sagte sie ruhig, während ihre Gedanken sich überstürzten. Niemand war heute im Büro - außer den „Girls", wie ihre Brüder den Hilfsstab nannten. Zwar hatte Jaycee schon gelegentlich neue Kunden interviewt und ihre Daten aufgenommen, aber die eigentliche Arbeit mit den Auftraggebern übernahmen stets Rick oder Däne. Wenn sie Simon Hawthorne und seine Firma nicht in der Kartei registrierte, dann würde es auch kein Kundenbudget geben, den ihre Brüder ihr wegnehmen konnten. Die Idee versprach eine Menge Möglichkeiten. Zwar war Jaycee von dem betrügerischen Aspekt nicht begeistert, aber wie konnte sie sonst beweisen, dass sie mehr als fähig war, einen Auftrag selbständig zu bearbeiten? Natürlich wäre es schön gewesen, wenn sie etwas Aufregenderes
gehabt hätte als eine Wirtschaftsprüfungsfirma, um ihre Fähigkeiten zu beweisen. Aber sie
konnte nicht wählerisch sein. Außerdem war ein Auftrag ein Auftrag, und, noch wichtiger, dahinter
stand ein Kunde mit Werbepotenzial. Sie brauchte Leute mit vielen Geschäftskontakten, die vor
anderen Leuten ihre Fähigkeiten priesen.
Schließlich ging es um ihre Zukunft im Familienbetrieb.
Jaycee schenkte Mr. Simon Hawthorne ihr schönstes geschäftsmäßiges Lächeln. „Kommen Sie,
Mr. Hawthorne", sagte sie und führte ihn den Korridor entlang zu Ricks Büro. Als der Älteste hatte
Rick das frühere Büro ihres Vaters übernommen, das den besten Blick auf den Puget Sound
hatte und nicht der heißen Mittagssonne ausgesetzt war. Es war ein großer, exklusiv
ausgestatteter Raum, in dem Jaycees Besenkammer locker zehn Mal Platz gehabt hätte.
Mit einer schwungvollen Handbewegung zeigte sie auf den Besuchersessel und ließ sich dann
auf dem butterweichen Lederpolster des Chefsessels hinter dem Schreibtisch aus massivem
Mahagoni nieder. Sie blickte über den Schreibtisch hinweg zu dem Mann, durch den sie sich eine
Beförderung verschaffen wollte, und lächelte.
„Warum fangen Sie nicht einfach damit an, mir zu erzählen, was für ein Image Ihnen
vorschwebt."
Hawthorne trommelte mit den Fingern auf das Holz unter der gepolsterten Armlehne seines
Sessels. „Meine Sekretärin hat den Ausdruck ,benutzerfreundlicher' gebraucht."
Jaycee bemerkte eine leichte Verlegenheit in seiner Stimme. „Das ist nichts, was einem peinlich
sein müsste, Mr. Hawthorne", bemerkte sie freundlich, obwohl sie sich wunderte. Denn als benut
zerfreundlich bezeichnete man eigentlich Geräte, nicht Menschen.
Klopf, klopf, klopf machten seine Finger.
„Wirtschaftsberatungsfirmen sind für ihre Nüchternheit bekannt", fuhr sie fort.
Das Klopfen wurde fester und rhythmisch. Und es klang irritierend vertraut.
„Ich persönlich hätte ein besseres Gefühl, wenn die Finanzen meiner Firma in den Händen von
professionell wirkenden Menschen in einer nüchternen, sachlichen Atmosphäre wären statt in
einem supermodernen Büro mit einem locker-flockigen Kreativ-Team."
Klopf, klopf, klopf ... klopf, klopf.
„Entschuldigen Sie, aber ist das ,Jingle Beils', was Sie da trommeln?"
„Ja." Hawthorne machte ein verlegenes Gesicht. „Eine dumme Angewohnheit."
„Wie gesagt", fuhr sie fort, „es ist ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass die Firma, der man
seine Geschäftsbilanzen anvertraut ..."
„Miss Richmond?"
„Ja?"
„Es ist für mich."
Jaycee blinzelte verwirrt.
Er rutschte in dem Sessel hin und her, legte ein Bein über das andere und schlang die Hände um
seine Knie. „Ich selbst brauche einen Imagewechsel, Miss Richmond, nicht die Firma."
Seine tiefe, sanfte Stimme erinnerte Jaycee plötzlich an Telefonsex.
Er hatte genau so eine erregende Stimme wie einer dieser jungen Studenten, die sich meldeten,
wenn man eine dieser kostspieligen neunziger Nummern wählte, und erotische Worte in die
Leitung murmelten. Wenn sie die Augen schließen würde, könnte sie die sinnlichen Untertöne
hören und ein warmes Prickeln auf ihrer Haut fühlen. Es war herrlich dekadent und ...
„Verstehen Sie? Es geht um mich, nicht um die Firma", sagte er und riss Jaycee damit abrupt aus
ihrer Fantasie.
Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Mann in der blauen Polyesterhose und versuchte nicht
mehr auf seine tiefe, sanfte Stimme zu achten, die so verrückte Gefühle in ihr weckte.
„Na ja, es ist überhaupt nicht meine Firma". erklärte er. „Ich bin nur ein Angestellter, aber sie
haben alle gesagt, dass ich benutzerfreundlicher sein müsse."
„Sie wollen also ein neues Image", stellte sie klar, „und nicht Ihre Firma."
Er lächelte, und sie stellte fest, dass er ein sehr hübsches Lächeln hatte. Und auch einen
angenehmen sinnlichen Mund. Soweit sie es beurteilen konnte, war Simon Hawthorne nicht ganz
so fade, wie man ihm offenbar eingeredet hatte. Eigentlich war er richtig niedlich, wenn man von
der Verpackung absah.
„Bei ,Eaton & Simms' hält sich keiner lange, der kein Aufstiegspotenzial hat."
Er war in seiner Firma nur angestellt, der Laden gehörte ihm nicht mal! Tolle Chance, sich selbst
zu beweisen. Aber es würde sich schon noch eine andere Gelegenheit bieten. Von diesem Flop
ließ sie sich noch lange nicht entmutigen.
Jaycee zwang sich zu einem Lächeln. „Ich würde Ihnen gern helfen, Mr. Hawthorne, aber Better
Images ist eine Beratungsfirma für Unternehmen, nicht für Einzelpersonen." Sie stand auf, ging
um den Schreibtisch herum und streckte Simon die Hand hin, um das Ende ihres Treffens zu
signalisieren. „Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber vielleicht würde eine Selbsthilfegruppe
hilfreicher sein."
Er erhob sich ebenfalls, und sie müsste den Kopf zurückbiegen, um ihm ins Gesicht zu sehen. Sie fragte sich, wie er wohl ohne diese dicke Brille aussehen würde oder vielleicht mit einem randlosen Exemplar. In seinen Augen blitzte ein irritierter Ausdruck auf. ..Ich habe nicht genug Zeit." „Für Selbstverbesserung ist immer Zeit", murmelte sie und ließ den Blick über seinen Körper huschen. Wie zum Beispiel eine Einkaufstour für einen neuen Look. Und ein Besuch bei einem Friseur für einen modischen Schnitt - etwas Ansprechenderes als diese angeklatschten zurückgekämmten Strähnen. Er brauchte etwas, das seine scharfen, kantigen Gesichtszüge weicher machte. „Mir bleiben nur ein paar Tage Zeit, Miss Richmond." Wieder war dieser verzweifelte Ton in seiner Stimme. ..Wofür?" fragte sie. Seine Schultern sackten, seine Hände verschwanden in seinen Hosentaschen. ,.Bis die Partner bei Eaton & Simms ihre Entscheidungen treffen. Ich bin schon zwei Mal bei Beförderungen übergangen worden. Am kommenden Wochenende findet die jährliche Gesellschafterkonferenz statt, und wenn ich wieder übergangen werde ... Die Drei ist eine magische Zahl, Miss Richmond. Wenn es beim dritten Mal nicht klappt, bin ich draußen." „Sind Sie sicher, dass es nur an Ihrem Image liegt?" fragte sie, obwohl sie nichts tun konnte, um ihm zu helfen. Wirtschaftsprüfer waren für gewöhnlich langweilige Muffel, und wenn Simon Hawthorne sich mit seinen Zahlenkolonnen wohler fühlte als in der Gesellschaft von Menschen, war er dann nicht ideal für seinen Job? „Ich weiß, dass ich meine Arbeit gut mache", sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Falls Sie es wissen müssen - meine Sekretärin hat ein Gespräch der Firmeninhaber mitangehört. Sie haben gesagt, ich sei ein ... ein trotteliger Sonderling." Jaycee zuckte zusammen. Sie ahnte, dass dies nicht das erste Mal war, dass jemand ihm dieses wenig schmeichelhafte Etikett verpasst hatte. „Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, aber wie ich schon sagte, unsere Firma ..." „Ich brauche ein besseres Image, um in der Firma aufzusteigen. Die Sache ist nämlich die. dass Eaton & Simms sich auch ein neues Gesicht geben will. Den Kontakt mit den Kunden pflegen und so. Ich kann nicht so bleiben, wie ich bin, wenn ich persönlichen Kontakt mit unseren Kunden haben möchte. Sonst muss ich mir woanders einen Job suchen. Na ja. vergessen wir's. Es tut mir Leid, dass ich Ihre Zeit verschwendet habe." Ais er sich zum Gehen wandte, überkam Jaycee so etwas wie Mitgefühl. Wusste sie nicht aus eigener Erfahrung, was Simon Hawthorne durchmachte? Sie kannte nur allzu gut das Bedürfnis, anerkannt zu werden. Anerkannt auf Grund der Fähigkeiten und nichts anderem. Sie und Simon hatten etwas gemeinsam, sie waren beide Opfer von Vorurteilen und kamen deshalb beruflich nicht voran. Sie, weil sie eine Frau war. und er wegen der ungünstigen „Verpackung" und seines ungeschickten Auftretens. Er bekam seine verdiente Beförderung nicht, und sie würde wahrscheinlich nie zur Miteignerin von Better Images aufsteigen. Hawthorne ging durch die Tür und machte sie leise hinter sich zu. Auf einmal hatte sie das Gefühl, als wäre zusammen mit Simon Hawthorne auch eine enorme Chance durch diese Tür entschwunden. Ein lächerlicher Gedanke. Was Mr. Hawthorne suchte, konnte er hier nicht bekommen. Oder doch? Nein. Kopfschüttelnd verließ sie Ricks Büro. Einem Typ wie Simon standen wahrscheinlich seine eigenen Vorurteile im Weg. Er war ein Opfer des Mythos von dem perfekten Mann, der durch die Abbildungen in Zeitschriften und durch die Fernsehwerbung aufrecht erhalten wurde. All diese Stars und Models konnten sich eigene Fitnesstrainer leisten oder waren von Natur aus mit einem Prachtkörper begnadet. Es hatte nun mal nicht jeder den perfekten Körper eines Sporthelden oder die retuschierte Schönheit eines Hochglanz-Models. Es gab viele Männer, die so waren wie Simon. Hart arbeitende, einfache, unscheinbare Burschen. Und daran war nichts zu ändern. Oder doch? An der Tür zu ihrem Büro blieb Jaycee stehen. Vielleicht war ihre Chance doch nicht verloren. Vielleicht war sie noch in ihrer Reichweite. Better Images mochte eine Beratungsfirma für Unternehmen sein, die sich ein neues Gesicht für die Öffentlichkeit zulegen wollten, aber warum sollte man nicht dieselben Methoden auf eine Person anwenden können? Jaycee fand keinen Grund, der dagegen sprach. Die Aufgabe war eine andere, aber das Resultat würde dasselbe sein - ein Kunde mit einem neuen Image. Sie musste nur dafür sorgen, dass ihre Arbeit mit Simon vorerst geheim blieb. Und ihn erwischen, bevor er weg war. Warum zögerte sie also noch? Wenn sie sich nicht beeilte, wäre ihre Chance dahin. Rick und Däne verbrachten den Tag auf dem Golfplatz, wo sie einen potenziellen Kunden umgarnten. Eine bessere Gelegenheit würde sie nie bekommen. Jaycee schoss den Korridor hinunter, an der verdutzten Fiona vorbei und in die Eingangshalle. Kein Simon Hawthorne in Sicht.
„Bin gleich zurück!" rief sie Juliana zu. stieß die Tür auf und flitzte den Flur entlang zu den Fahrstühlen. Als sie um die Ecke bog, ertönte das „Bing" der Fahrstuhlglocke. Sie sah Simon in den Aufzug treten und schoss gerade noch hinein, bevor die Tür sich schloss. „Ich werde Ihnen helfen. Wir können uns gegenseitig helfen", stieß sie atemlos hervor. Er drückte den roten Stopp-Knopf, und der Fahrstuhl hielt. ,.Sie können mir helfen? Ich dachte ..." „Die Firma lassen wir außen vor. Diese Sache muss unter uns bleiben." Er starrte sie an, die Augen voller Skepsis. Nachdem sie ihm wie eine Verrückte nachgejagt war, konnte sie ihm nicht verdenken, dass er misstrauisch war. Und sie hatte ihn für einen Verrückten gehalten! „Wie können wir uns gegenseitig helfen?" fragte er schließlich. Sie richtete sich auf und hielt sich an der Messingstange fest. „Sagen wir einfach, wir haben das gleiche Ziel, Mr. Hawthorne. Was haben Sie zu verlieren?" „Eine Menge", sagte er und drückte wieder den roten Knopf. Der Lift setzte seine Fahrt fort. Sie ließ die Haltestange los, drückte den Knopf, und wieder machte der Fahrstuhl Halt. „Ich auch." Er streckte die Hand aus, drückte, und der Lift glitt weiter nach unten. „Zum Beispiel?" Sie stoppte den Aufzug von neuem und stellte sich vor die Schalttafel. „Alles, was mir wichtig ist." Im Moment war ihr nur wichtig, dass er ihr zuhörte. Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Ich weiß, ich habe Ihnen eben gesagt, dass ich Ihnen nicht helfen könne. Aber ich glaube, ich kann es doch. Wie war's, wenn wir uns gegen sechs im Harbor Inn treffen? Wenn ich bis dahin keinen brauchbaren Plan für Sie entwickelt habe, gehen wir unserer Wege. Okay?" Auch wenn er sie noch immer ansah, als wäre sie irre - sie war alles, was er hatte, und sie beide wussten es. „Was haben Sie zu verlieren?" drängte sie. Hawthorne atmete geräuschvoll aus. „Also gut." Lächelnd drückte sie auf den Knopf, und der Fahrstuhl glitt ohne weitere Stopps zum Parterre. Jaycee stieg vor Simon aus. „Sie werden nicht enttäuscht sein", versprach sie und streckte ihm die Hand hin. Seine Hand schloss sich um ihre. „Vielen Dank", sagte er und musterte sie ein letztes Mal, bevor er sich umwandte und durch die Glastür das Gebäude verließ. Jaycee beobachtete, wie er die belebte Straße überquerte, und fragte sich, warum die kurze Berührung seiner Hand ihr Herzklopfen verursachte. Es kommt vom schnellen Laufen, sagte sie sich. Zu dumm, dass ihr Atem schon lange wieder ruhig ging - sonst hätte sie es wahrscheinlich geglaubt.
2. KAPITEL Der Tag würde nie zu Ende gehen. Simon sah zum dritten Mal in ebenso vielen Minuten auf seine Uhr. Er konnte es nicht abwarten, Jaycee zu treffen, und seine Ungeduld hatte nicht nur mit ihrem geschäftlichen Angebot zu tun. Sein Interesse an ihr ging über das Geschäftliche weit hinaus, und das beste Anzeichen dafür war, wie jämmerlich er sich fühlte. Er lehnte sich in seinem Bürosessel zurück und schloss die Augen. Jämmerlich oder nicht, er stellte sich vor, wie er um Punkt sechs das Harbor Inn betrat. Weltmännisch und smart, Selbstsicherheit ä la Pierce Brosnan verströmend. Er würde sie mit einem Mel-Gibson-Lächeln betören und ein wissendes Grinsen unterdrücken, wenn ihr Blick über seine eisenharte Schwarzenegger-Brust glitt, die unter der neuesten Armani-Kreation verborgen war. Mit James Bonds geschliffenem Charme würde er lässig durch das trendige Lokal schlendern. Die Frauen würden ihn mit unverhüllter Bewunderung anstarren und versuchen, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, aber seine Aufmerksamkeit würde nur auf eine einzige Frau gerichtet sein. Auf die Frau mit dem strahlenden Lächeln und dem glänzenden kastanienbraunen Haar, das ihr hübsches Gesicht umrahmte und ihre porzellanglatte Haut streichelte. Die Frau mit den längsten, aufregendsten Beinen, die er je in einen Fahrstuhl hatte springen sehen. Ein kurzes Klopfen an der Tür brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Er blickte über den Rand seiner Brille und sah seine Sekretärin Stella kopfschüttelnd näher kommen. „Können Sie mir mal verraten, wann ,Uncle Harley's Hamburger' Kaschmirschals in sein Angebot aufgenommen hat? „Wie bitte?" Stellas knallpink geschminkter Mund bog sich zu einer Grimasse, von der Simon annahm, dass sie ein Grinsen sein sollte. „Ich weiß, dass der Kaffee in Carlene's Coffee-Shop stark ist, aber ich bezweifle, dass sie dort neuerdings einen kostenlosen Ölwechsel anbieten." Simon rückte seine Brille zurecht. „Ich hab keine Zeit für Ratespiele. Wovon reden Sie?" Seine spargeldünne Sekretärin knallte drei Ordner auf seinen Schreibtisch. „Diese Quartalsbilanzen", sagte sie und ließ ihre Kaugummiblase zerplatzen, „sind eine schiere
Katastrophe. Sie haben die Warenkosten des Cafes in die Umsatzlisten der O'Hara-Boutique eingetragen, die Tankstellen-Quittungen des Motorradladens mit den Coffee-ShopUnterlagen vermischt, und die Listen mit den Warenbeständen sind ein hoffnungsloses Durcheinander von Kaffee und Kleidern und Motorradteilen. Was ist los mit Ihnen, Boss? So was ist Ihnen noch nie passiert." Simon stieß einen Seufzer aus. Stella hatte Recht, so was war ihm noch nie passiert. Aber er war auch noch nie so zerstreut gewesen. Null Konzentration. Stattdessen erotische Fantasien mit Jaycee Richmond als Star. „Lassen Sie die Mappen hier. Ich kümmere mich drum." Stella ließ ihr Kaugummi knallen und verzog den Mund wieder zu diesem grimassenhaften Grinsen. „Die Abschlüsse sind morgen fällig, Boss", erinnerte sie ihn, drehte sich dann auf ihren bleistiftdünnen Beinen um und ging hinaus. Toll! Er hatte nicht einmal zwei Stunden, um den Schaden zu reparieren. Bis sechs würde er es nie schaffen. Vielleicht war es nur zum Besten. Ihm war sowieso nicht wohl bei dem Gedanken, sich in diesem Schickimicki-Pub mit Jaycee Richmond zu treffen. Ganz davon abgesehen war er nicht gerade scharf drauf, sein Image-Problem an einem öffentlichen Ort zu diskutieren. Noch dazu mit einer Frau wie Jaycee Richmond ... Er machte sich keine Illusionen. Dass Frauen wie Jaycee Richmond, sexy, charmant und extrovertiert, Typen wie ihn nicht beachteten, hatte er nur allzu oft erfahren. Er blätterte kopfschüttelnd in den Ordnern. Offenbar hatte die Erinnerung an Jaycees hübsche lange Beine ihn ziemlich durcheinander gebracht. Simon zog die Geschäftskarte, die er bei Better Images vom Rezeptionstresen genommen hatte, aus seiner Brieftasche und wählte die Nummer. Also kein lässiger James Bond-Auftritt in der Bar. Umso besser, er hatte Menschenansammlungen noch nie gemocht. In einem privateren Rahmen würde es ihm leichter fallen, einen völlig fremden Menschen zu bitten, ein Wunder zu vollbringen. Besonders weil die kleine Stimme in seinem Kopf ihm ständig zuflüsterte, dass er der war, der er war, und dass nichts und niemand das ändern könnte. Er war Simon Hawthorne, diplomierter, vereidigter Wirtschaftsprüfer, und laut Urteil der Chefs war er fade und langweilig und nicht länger der geeignete Mann, um das neue trendige Image der ältesten Wirtschaftsberatungsgesellschaft von Seattle zu repräsentieren. Er war von Stellas vertraulicher Information schockiert gewesen. Einen trotteligen Sonderling nannten die Chefs ihn hinter seinem Rücken, ihn, den korrektesten Mitarbeiter, den sie sich wünschen konnten. Hatte nicht auch Jaycee betont, Nüchternheit und Buchführung gehörten zusammen? Aber dann hatte Stella ihm schließlich die brutale Wahrheit gesagt - dass auch die Sekretärinnen und Buchhalterinnen ihn als „nicht benutzerfreundlich" betrachteten. Benutzerfreundlich - war er ein Haushaltsgerät? Simon krauste die Nase, um seine Brille hochzuschieben. Er war ein netter Kerl, das wusste er. Nur dass er gern für sich blieb. Gesellschaftlicher Rummel hatte ihn nie sonderlich interessiert, und nun brauchte er ausgerech net in diesem Fach einen Intensivkurs. Warum konnte er sich nicht weiter mit Bilanzen und Jahresabschlüssen und Steuererklärungen befassen, so wie er es schon seit vierzehn Jahren tat? Warum sollte seine Persönlichkeit jemanden kümmern, solange die Kunden mit seiner Arbeit zufrieden waren? Laut Stella waren die Kunden anspruchsvoller geworden. In einer Welt der Automatisierung schätzten die Leute persönlichen Kontakt, und das neue Konzept der Firmenleitung bestand darin, der Kundschaft mehr persönlichen Service zu bieten. Beratungen, Gespräche von Mensch zu Mensch statt E-Mails und Versand von Computer-Ausdrucken. Simon hingegen zog die Kommunikation per Computer vor. „Better Image. Guten Tag." Er zuckte zusammen, als die Rezeptzionistin sich meldete. „Bitte verbinden Sie mich mit Jaycee Richmond." „Einen Moment, ich stelle Sie durch." Er wartete, dann klickte es in der Leitung. „Hier Jaycee Richmond." Beim Klang ihrer Stimme durchrieselte ihn eine Welle des Verlangens. Er brachte kein Wort heraus. „Hallo?" Er schluckte und räusperte sich. „Kann ich Ihnen helfen?" Er versuchte zu sprechen, aber seine Stimmbänder schienen so verknotet zu sein wie seine Eingeweide. „Wer ist da?" Eine leichte Schärfe mischte sich in das dunkle Timbre ihrer Stimme.
Er räusperte sich wieder. Hustete. Verschluckte sich. „Simon Hawthorne", brachte er schließlich
heraus.
Stille. Sie erinnerte sich nicht. Sie hatte ihn schon vergessen.
„Sie können mich hier nicht anrufen." Ihre Stimme ging in ein ersticktes Flüstern über.
Seine Fantasie lief auf Hochtouren. Sie waren Liebende, aber ihre Affäre musste geheim bleiben.
„Kommen Sie zu mir statt ins Harbor Inn", sagte er.
Wieder Stille.
Wäre dies ein Film, musste sie ihn jetzt fragen, wann sie kommen sollte. Oder „natürlich komme
ich, Darling" erwidern.
„Miss Richmond?"
„Ich bin noch da", flüsterte sie.
Widerstrebend riss er sich aus seinem Fantasiegespinst. „Ich hab noch mal über die Sache
nachgedacht", sagte er. „Wäre es nicht besser, wenn wir uns irgendwo treffen könnten, wo wir
ungestört sind?"
„Na ja, kann schon sein."
„Soll ich vielleicht lieber zu Ihnen kommen?"
„Nein!" rief sie in den Hörer. Dann hörte er klappernde Geräusche.
„Entschuldigen Sie", sagte sie dann. „Ein kleines Problem mit dem Telefon. Geben Sie mir
einfach Ihre Adresse."
Er gab ihr nicht nur die Adresse, sondern auch drei Telefonnummern - die Privatnummer, den
Anschluss im Büro und die Nummer seines Piepsers. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn
wir uns statt um sechs um acht Uhr treffen? Ich habe noch etwas länger im Büro zu tun - eine
unvorhergesehene Sache."
„Vielleicht sollten wir uns dann besser morgen ..."
„Nein", unterbrach er sie, „mir wäre es lieber, wenn wir Ihren Plan heute Abend diskutieren."
„Na gut", sagte sie nach kurzem Zögern, „dann also um acht bei Ihnen."
Simon legte den Hörer auf und versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal eine schöne
Frau in seine Wohnung eingeladen hatte. Eine Stunde später überlegte er noch immer.
Nachdem Jaycee den Hörer aufgelegt hatte, wandte sie sich wieder ihrem Computer zu und
begann, eifrig zu tippen. Sie tat, als ob sie nicht bemerkt hätte, dass ihre Freundin Fiona ihre
Unterhaltung ungeniert belauscht hatte. Schon als sie Kinder waren, war es eine Regel gewesen,
dass man eine Sache, die jemand Bestimmtes erfahren sollte, einfach nur Fiona zu erzählen
brauchte.
Die drei Schritte von der Tür an den Schreibtisch machten Fiona zur offiziellen Besucherin in
Jaycees Büro. „Du kannst mir ebenso gut gleich sagen, wer er ist, Jay, und uns beiden eine
Menge Nerverei und Streit ersparen."
Jaycee tippte weiter. „Ich nerve nicht."
Fiona ließ sich auf den harten braunen Plastikstuhl neben dem Schreibtisch fallen. „Okay", sagte
sie lachend, „dann werd' ich eben nerven. Und du kannst streiten und mich anblaffen, dass ich
mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern soll."
Jaycee stieß einen theatralischen Seufzer aus und wirbelte in ihrem Sessel zu ihrer Freundin
herum. „Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass ich das tue, weil ich mein Privatleben als
... na ja ... als privat betrachte?"
Fiona Goldwyn bezeichnete sich oft als einen „Power-Cocktail", oder, an schlechten Tagen, als
„Promenadenmischung". Die Wahrheit war, dass Jaycees irisch-chinesisch-jüdische Freundin
eine exotische Schönheit war. Ihr volles schwarzes Haar hing lang über ihren Rücken - die
stumpf geschnittenen Enden reichten fast bis zu ihrem wohlgeformten Po. In ihren blaugrünen
Mandelaugen erschien ein übermütiges Glitzern, und ihre perfekt geschwungenen Lippen bogen
sich zu einem breiten Lächeln. „Du hast seit der neunten Klasse kein einziges Geheimnis vor mir
verbergen können. Wie kommst du auf den Gedanken, dass du jetzt damit anfangen kannst?"
„Und du hast seit damals kein einziges Geheimnis für dich behalten."
Fiona studierte ihre perfekt manikürten Fingernägel. „Ich schlage eine neue Seite auf."
..Und ich kandidiere für den Kongress", gab Jaycee trocken zurück.
Sie nahm einen Stapel Papiere vom Schreibtisch, stand auf und öffnete den Aktenschrank.
Fiona starrte verdrossen auf Jaycees Rücken. „Gib's schon auf, Jay. Wer war der Supermann am
Telefon?"
Jaycee hielt einen Moment inne. „Er ist kein Supermann", sagte sie ruhig und ordnete dann die
Bögen in die Hängemappen. Simon Hawthorne war für sie nichts weiter als ein Mittel zum Zweck.
„Aber er ist ein Mann, oder?" konterte Fiona.
Dem konnte Jaycee nicht widersprechen. Aber die Tatsache, dass er ein Mann war, hatte keine
Bedeutung für sie. Für sie war Simon ein Kunde, basta. Was machte es schon, wenn seine
Augen sie an einen Laubwald im Sommer erinnerten? Was war dabei, dass ihr der Atem stockte
und ihre Haut prickelte, wenn er ihre Hand schüttelte? Sie war gerannt und außer Atem gewesen,
das war alles. Und Fiona Goldwyn, ihre liebe geschwätzige Freundin, war der letzte Mensch, dem sie von ihrem neuen Vorhaben erzählen würde. „Du kennst ihn nicht", sagte sie fest. Fiona lehnte sich zurück, legte ihre Füße auf die Schreibtischkante und verschränkte die Arme. „Dann musst du mir unbedingt alles über ihn erzählen." „Tut mir Leid, dass ich dich enttäuschen muss, aber es gibt nichts zu erzählen." Jaycee warf ihrer Freundin einen kurzen Blick zu. „Hast du überhaupt nichts zu tun?" Fiona grinste. „Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch." Jaycee ließ sich wieder in ihrem Schreibtischsessel nieder und setzte eine gestresste Miene auf. „Ich hab Rick versprochen, dass er die Angebote für die Henderson Corporation noch heute auf seinem Schreibtisch hat." Fiona schwang ihre Füße auf den Boden und stand auf. „Du führst irgendwas im Schilde, Jay." Sie musterte Jaycee aus zusammengekniffenen Augen. „Das spüre ich." Jaycee zwang sich zu einem unbewegten Ausdruck, um Fiona von ihrer Spur abzulenken. „Deine seherischen Kräfte lassen nach, Fiona. Ich hab einfach nur 'ne Menge zu tun, das ist alles." Fiona wackelte mit dem Finger. „Irgendwas ist hier im Busch, und ich werd's schon herauskriegen." Jaycee zuckte gleichmütig mit den Schultern. In Wahrheit war sie äußerst beunruhigt. Denn Fiona Goldwyn hatte die Instinkte eines Spürhundes. Simon raffte die Zeitungen vom Esstisch und stopfte sie in den Mülleimer, hetzte dann ins Wohnzimmer, um die halb geleerte Cola-Dose und die aufgerissene Krackerpackung vom Couchtisch zu nehmen. Er riss die Schublade unter dem Fernsehtisch auf und ließ die Fernbedie nung, das TV-Programm und das Heft mit den Kreuzworträtseln darin verschwinden. Nervös blickte er auf seine Uhr. Drei Minuten vor acht. Er hatte gedacht, er würde früher nach Hause kommen, aber er hatte mehr Zeit für die Korrektur der Quartalsabschlüsse gebraucht als geplant. Als er schließlich das Büro verließ, hatte er nur noch eine Dreiviertelstunde, um eine Flasche Wein zu besorgen, nach Hause zu fahren und die Wohnung aufzuräumen. Selbst das hätte er gut geschafft, wenn nicht sein Vater angerufen hätte, „nur um Hallo zu sagen". Mit dem Versprechen, am nächsten Abend zum Essen zu kommen, war es Simon gelungen, die Unterhaltung mit seinem allein stehenden Dad zu beenden. Die Türglocke schellte. Den Küchen Mülleimer in der Hand, ließ Simon den Blick hastig durch das Zimmer wandern. Auf dem Kaffeetisch entdeckte er eine dünne Staubschicht und wischte rasch mit dem Arm über die Tischplatte. Es läutete wieder. „Komme sofort", rief er. während er den Staub von seinem Ärmel klopfte. Dann hastete er zur Tür. öffnete ... und hätte fast seine Zunge verschluckt. Das wilde Verlangen, das ihn erfasste, hätte ihn eigentlich nicht überraschen dürfen. Aber es haute ihn fast um. Er konnte es kaum glauben, aber seine Träumereien von Jaycee verblassten, als er die Wirklichkeit vor sich sah. Ein zögerndes Lächeln spielte um ihren vollen, sinnlichen Mund. Er senkte den Blick zu ihren wundervollen langen Beinen und wünschte, er könnte seine Hände darüber hingleiten lassen. Und nachsehen, ob taubengraue seidene Strapse ihre Strümpfe hielten, so wie in seinen Fantasien ... Langsam löste er den Blick von ihren Beinen und bewegte ihn aufwärts, über den grauen Leinenrock und die weiche Rundung ihrer Hüften zu ihrer schmalen Taille, und höher hinauf, über die tiefschwarze Seide ihrer Bluse und an den verführerischen Umrissen ihrer vollen Brüste entlang. Weiter glitt sein Blick, streifte ihren hübschen schlanken Hals und die zierliche Goldkette auf ihrer cremigen Haut, verweilte kurz auf ihrem zum Küssen geschaffenen Mund, bis er ihren Blick traf. Simon sah direkt in ihre beobachtenden hellblauen Augen. Er schluckte. Um ein Haar hätte er seine Krawatte gelockert, die seinen Hals plötzlich wie eine Schlinge einschnürte. Eine Frau zu bewundern war eine Sache, dabei ertappt zu werden eine andere. Er fühlte, wie das Blut in sein Gesicht schoss, räusperte sich, trat einen Schritt zurück, um sie eintreten zu lassen. Sie blickte hinter sich auf den Plattenweg, dann zu ihm, als ob sie erwog, wie ihre Fluchtchancen standen. Offenbar hielt sie ihn für einen lüsternen Trottel. Aber das war er wirklich nicht, sondern nur eine zum Verwechseln ähnliche Kopie. „Kommen Sie herein", sagte er und fühlte etwas um seinen Fußknöchel flattern, als er in einer großartigen Willkommensgeste den Arm zurückschwang. Er blickte nach unten und bemerkte zu Boden schwebende und sich um seine Füße sammelnde Zeitungsseiten. Dann starrte er auf seine Hand und auf den schräg geneigten Mülleimer.
Wie versteinert stand er da, als sie mit einem kaum unterdrückten Grinsen in seine Wohnung trat, sich dann bückte und die Zeitungen aufsammelte. Er bezweifelte, dass sie je einen errötenden Mann gesehen hatte. Wahrscheinlich dachte sie, dass er nicht ganz richtig im Kopf war. „Ich hoffe, ich bin nicht zu früh", sagte sie ruhig, jedoch mit einem belustigten Unterton in ihrer rauchigen Stimme. Sie stopfte das Papier in den Mülleimer, von dem er sich aus einem unerfindlichen Grund nicht trennen mochte. „Nein. Ich bin nur etwas spät dran", stammelte er. Seine Nervosität war ihm noch peinlicher, als beim Aufräumen ertappt worden zu sein, oder dabei, dass er sie angaffte wie ein Seemann auf Landgang. Für eine so weltgewandte, schöne und sexy Frau wie Jaycee war er nichts als ein Typ mit verbesserungsbedürftigem Image, und darauf sollte er sich besinnen, statt sich ihr gegenüber wie ein pubertierender Teenager aufzuführen. „Geben Sie das Ding mal her." Sie zog den Mülleimer aus seinem Klammergriff und stellte ihn draußen vor die Tür. Er holte tief Luft und ließ den Atem langsam aus. Als sie die Wohnungstür geschlossen hatte und sich zu ihm wandte, war er der festen Überzeugung, dass er nun ruhig und gefestigt war und sich auf den Grund ihres Besuchs konzentrieren konnte. Sie hatten einen Job zu tun, und sie würden nur produktiv arbeiten können, wenn er mit den Gedanken bei der Sache war statt bei Strapsen und ihrem verführerischen Mund. Professionalität. Sein neues Schlüsselwort. Ihr Mund bog sich zu einem Lächeln. „Wo möchten Sie mich haben?" Ein Dutzend Ideen schössen durch seinen Kopf. „Wollen wir es da drüben auf dem Tisch tun?" fragte sie unschuldig und deutete auf den runden Esstisch. Ein höchst erotischer Gedanke verdrängte sein neues Schlüsselwort. Jaycee blickte über die Schulter zu ihm. „Oder meinen Sie, dass wir es auf dem Sofa bequemer haben?" Es durchzuckte Simon heiß. Um seinen peinlichen Zustand vor ihr zu verbergen, hielt Simon sich hinter ihr, als sie zu dem Tisch in der Essnische ging. „Ich denke, hier wird es am besten sein", sagte er und blieb hinter einem der Stühle mit den ledergepolsterten Rückenlehnen stehen. Körperlicher Abstand würde tatsächlich das Beste sein, wenn er bei Verstand bleiben wollte. Jaycee legte ihre schwarze Schultertasche auf den Tisch und nahm einen Ordner und einen Satz Pappen im Briefformat heraus, die mit einem Gummiband zusammengehalten wurden. Sie hatte nach Büroschluss, als endlich alle gegangen waren, in fieberhafter Eile ihre Präsentation für Simon zusammengebastelt. Hätte sie mehr Zeit für die Gestaltung und eine reichhaltigere Materialauswahl gehabt, wäre das Ergebnis natürlich eindrucksvoller gewesen, aber sie hoffte, dass ihre improvisierten Schautafeln, die sie mit Hilfe des Internets, eines Farbdruckers und Klebe und Pappe aus dem Materialschrank der Firma angefertigt hatte, ebenso ihren Zweck erfüllen würden. „Sie sitzen hier", instruierte sie ihn, während sie den Stuhl neben ihr hervorzog. Er folgte ihrer Anweisung, beobachtete dann, wie sie das Gummiband von den Papptafeln streifte und sich über den Tisch beugte, um sie in einer ordentlichen Reihe mit der Rückseite nach oben auszulegen. Dabei rutschte ihr Rock hoch, und Simon erhaschte einen Blick auf ihre schlanken Schenkel. Sie trug eine Strumpfhose, leider. Wenn auch eine hauchzarte mit seidigem Glanz. Professionalität! ermahnte Simon sich. Verdammt, er fühlte sich ungefähr so professionell wie ein Vierzehnjähriger, der heimlich in den Umkleideraum der Mädchen späht. „So", sagte sie und drehte ihm das Gesicht zu. Ihr strahlendes Lächeln beraubte ihn des letzten Rests von gesundem Menschenverstand. „Simon Hawthorne, machen Sie sich darauf gefasst, dass es Ihnen gleich die Socken von den Füßen haut." 3. KAPITEL „Eliza Doolittle mag als kleine Blumenverkäuferin angefangen haben", begann Jaycee und hielt die erste Pappe hoch, „aber als Professor Higgins und Colonel Pickering ihre Schulung beendet hatten, war Eliza eine Lady mit geschliffenen Umgangsformen und hätte sogar als Gräfin durchgehen können." Sie blickte gespannt zu Simon, in der Hoffnung, dass ihr Storyboard den gewünschten Effekt haben würde. Die Bildfolge sollte Simon die menschliche Wandlungsfähigkeit verdeutlichen, und offenbar hatte sie sein Interesse tatsächlich geweckt. Seine anfängliche Nervosität war verschwunden. Er saß lässig zurückgelehnt auf dem Stuhl, die Arme vor der Brust verschränkt und die langen Beine unter den Tisch gestreckt. Auch die leichte Röte, die sie bei ihrem Kommen in seinem Gesicht bemerkt hatte, war fort. Irgendwie mochte sie seine Schüchternheit - wahrscheinlich lag es daran, dass sie, solange sie denken konnte, im Schatten selbstsicherer Chauvis gelebt hatte. Simon war wie ein frischer Lufthauch in einem Kerker ohne Tageslicht. Sein Kopf war leicht zur Seite geneigt, seine tief grünen Augen voller Neugier. Ein guter Start - sie hatte seine ganze Aufmerksamkeit.
Sie legte das Beispiel „My Fair Lady" auf den Tisch und zeigte ihm die nächste Bildtafel. „Norma Jean Baker wurde nicht als Marilyn Monroe geboren", fuhr sie fort und deutete auf die beiden Fotos von Norma Jean und der späteren Marilyn Monroe. „Die sexy Stimme, der bombige Körper und die platinblonden Locken - all das hat Norma Jean geschaffen, um einen neuen, sensationellen Typ aus sich zu machen." „Ich mag jetzt zwar etwas Altbekanntes sagen", bemerkte er trocken, „aber Eliza Doolittle ist eine erfundene Person, und Marilyn Monroe war eine labile Neurotikerin, die Selbstmord begangen hat. Und sie waren beide Frauen." „Niemand weiß mit Sicherheit, was mit Marilyn passiert ist", entgegnete Jaycee, und dann, als er die Augen verdrehte, musste sie grinsen. Anscheinend überzeugten ihn ihre beiden Beispiele nicht, also warf sie ihm eine kleine Dosis Testosteron zu. „Reginald Dwight war einmal ein ruhiger, unauffälliger Bursche mit einem bemerkenswerten Talent für das Klavierspiel." Simon zuckte mit den Schultern. „Wer ist Reginald Dwight?" Jaycee legte das Marilyn-Beispiel beiseite und präsentierte ihm ein wahnwitziges Bild von Elton John in seiner Rolle als Flipper-Genie aus der Film-Version der Rockoper „Tommy". Simon schüttelte entgeistert den Kopf. „Wollen Sie etwa, dass ich eine diamantverzierte Brille, Plattformschuhe und einen grünen Overall trage?" „Dies ist ein ziemlich altes Foto. Für Sie schwebt mir etwas Konservativeres vor." Er gab einen Laut von sich, der wie ein Grunzen klang. Da sie nicht erkennen konnte, ob das Zustimmung oder Ablehnung bedeutete, setzte sie ihre Präsentation fort. Nach einigen weiteren Beispielen für Männer, die eine erstaunliche Wandlung durchgemacht hatten, legte sie die beiden letzten Pappen auf den Tisch und bedeutete Simon, aufzustehen. Das eine Bild war eine Collage von Abbildungen aus Katalogen für Herrenkleidung. Das allerletzte stammte aus dem bekannten Männermagazin „GQ" und zeigte einen umwerfend attraktiven Burschen. Man konnte fast sagen, dass er Simon Hawthornes Statur hatte. „Also, was meinen Sie?" fragte sie gezwungen ruhig. ..Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, wäre meine Präsentation natürlich viel professioneller geworden. Aber ich denke. Sie haben jetzt eine Vorstellung von meinem Konzept." Simon hob die Pappe mit dem Titelfoto auf, hielt sie zum Licht und betrachtete das Bild einen langen Moment. Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine tiefe Furche, und seine Brille rutschte ein wenig hinab. Wieder zog er auf eigenartige Weise die Nase kraus, um die Brille an ihren Platz zu befördern. Dann klopfte er mit dem Finger auf die Pappe. „Sie wollen erreichen, dass ich so aussehe?" fragte er ungläubig. „Also wirklich, Miss Richmond, so viel Geld hat kein Mensch." Sie lachte, nahm ihm die Pappe aus der Hand und warf sie zu den anderen auf den Tisch. „Nun. da Sie das Thema angesprochen haben, sollten wir uns vielleicht über das Geschäftliche unterhalten", sagte sie locker und drehte sich zu ihm. Dieser Teil würde etwas knifflig werden, da sie nicht ganz bei der Wahrheit bleiben konnte. Sie hielt es für das Beste, Simon in dem Glauben zu lassen, dass sie tatsächlich eine erfahrene und erfolgreiche Imageberaterin war. Nur so würde er an ihre Fähigkeiten glauben und darauf vertrauen, dass sie eine vollkommene Verwandlung zu Stande bringen würde. Da sie jedoch nicht völlig ohne moralische Prinzipien war, hatte sie auf der Fahrt zu seiner Wohnung beschlossen, kein Geld von ihm anzunehmen. Sie lehnte sich gegen die Tischkante und kreuzte die Füße übereinander. „Ich will kein Honorar von Ihnen. Aber wenn wir mit unserer Aktion fertig sind, könnte ich einen sachkundigen Rat in Bezug auf meine Finanzen gebrauchen." Er rieb sich den Nacken und musterte sie mit einem sonderbaren Ausdruck. „Sie möchten kein Geld von mir, sondern stattdessen eine Finanzberatung?" Sie konnte ihm seine Skepsis nicht verdenken. Ihr Angebot musste ihn einfach misstrauisch machen, aber sie hoffte dennoch, dass er es annehmen würde. ,.Ja." Sie zuckte lässig mit den Schultern. „Ich habe vor. ein wenig Geld zu investieren." „Ich bin Wirtschaftsprüfer und kein Anlageberater." „Jedenfalls sind Sie vom Fach. Ich möchte nur lernen, wie das Börsenspiel geht. Da können Sie mir sicher das eine oder andere beibringen." Er vergrub die Hände in den Taschen seiner blauen Polyesterhose und sah sie eindringlich an. ..Am Aktienmarkt spielt man nicht, Miss Richmond. Geld anzulegen ist eine ernsthafte Angelegenheit, und wer denkt, er brauche nur ..." „Jaycee", unterbrach sie ihn. Er blinzelte sie durch seine dicken Brillengläser an, runzelte dann die Stirn, als musste er eine schwere Aufgabe lösen. „Nennen Sie mich Jaycee", erklärte sie. Er nickte und wandte sich ab. als ob irgendetwas ihn verlegen machte. Den Blick auf die Pappen geheftet, fragte er: „Jaycee? Bedeutet das J.C.? Ist es eine Abkürzung?"
Sie beugte sich über den Tisch, um die Pappen einzusammeln. Dabei streifte ihre Hand seinen Arm, und dasselbe sonderbare Prickeln, das sie bei seinem Händedruck gefühlt hatte, wanderte ihren Arm hinauf und von dort in ihre Magengrube. Der Hunger nagt, sagte sie sich. Das musste es sein. Sie hatte seit dem Lunch nichts mehr gegessen. „Genau. Für Jocelyn Camille." Er nahm die Pappe mit dem männlichen Supermodel in die Hand und fixierte das Foto. „Gefällt mir", sagte er ruhig. Nun wurde sie rot. Sicher hatte sie sich nur eingebildet, dass seine Stimme gerade besonders tief und warm geklungen hatte. „Danke." Sie konzentrierte sich darauf, das Gummiband über den Kartenstapel zu schieben. „Ich habe meinen Namen nie sehr gemocht." „Würden Sie lieber nach zwei Comic-Streifenhörnchen benannt sein?" Auf ihren fragenden Blick hin sagte er mit einem schiefen Grinsen: „Simon Theodore." Ihr fiel auf, was für einen schönen Mund er hatte ... Das kleine Grinsen weitete sich zu einem breiten Lächeln, und sie konnte nicht anders als zurücklächeln. Sie war nun schon fast eine Stunde in seiner Gesellschaft und hatte keinen Deut des nicht-benutzerfreundlichen Büromuffels an ihm bemerkt, der er angeblich war. Er war weder unhöflich oder schroff, noch verschlossen und in sich gekehrt. Nur wenn es im Gespräch irgendwie um Zahlen ging, wurde er auffallend ernst. Wenn jemand sie nach ihrem Urteil gefragt hätte, dann hätte Jaycee geantwortet, dass Simon ganz einfach süß war ... und hinreißend schüchtern. „Möchten Sie einen Schluck Wein?" fragte er unvermittelt und stand für zwei volle Sekunden ein klein wenig gerader. Bis seine Schultern wieder nach vorn sackten und seine Hände wieder in den Hosentaschen verschwanden. „Ich hab eine Flasche Wein. Ich dachte, wir könnten ..." Er blickte zu Boden. ..... mit einem Drink den Deal besiegeln?" beendete sie den Satz, da er selbst es anscheinend nicht konnte. „Ja, ich würde gern ein Glas Wein trinken." Als er wieder aufblickte, war seine Erleichterung so offensichtlich, dass sie lächeln musste. Er ging in die Küche, und Jaycee nutzte die Gelegenheit und sah sich in der Wohnung um. „Wohnen Sie hier schon lange?" rief sie in Richtung Küche. „Fast sechs Jahre", rief er zurück. Das überraschte sie nun wirklich. Abgesehen von einem Bücherregal, auf dem neben den üblichen Nachschlagewerken mehrere Bände über das Sammeln von Briefmarken standen, gab es in seinem Wohnzimmer nicht viel, was ihr über seine Person hätte Aufschluss geben können. Seiner kleinen CD-Sammlung nach war sein Musikgeschmack so vielfältig wie ihrer - die Titel rangierten von Klassik bis hin zu Countrymusic. Ansonsten entdeckte Jaycee keine Gemeinsamkeiten. Ihre Wohnung war mit lauter Krimskrams aus ihrer Kindheit und Jugendzeit voll gestopft, mit Reisesouvenirs und selbst gemachten Geschenken von ihren beiden Großtanten. Simons sparsam eingerichtete Wohnung war fast so unpersönlich wie jene sterilen Apartments, die große Firmen ihren auswärtigen Kunden als Gratisunterkunft zur Verfügung stellten. Nach einigen Minuten kam Simon mit zwei gefüllten Gläsern zurück und reichte ihr eines. „Ich bin kein Kenner, aber der Verkäufer meinte, dass dies ein guter Tropfen sei. Da ich mir dachte, dass Sie gegessen haben würden, hab ich's einfach riskiert und ihn genommen." Sie ermahnte sich zur Vorsicht, weil sie noch nicht zu Abend gegessen hatte, und nippte von ihrem Wein. „Hm, sehr gut." Sichtlich erfreut hob er sein Glas und trank ihr zu. „Kann ich einen Blick in Ihren Kleiderschrank werfen?" Seine freie Hand verschwand in der Hosentasche, und er ließ die Schultern hängen. „Warum?" „Eine Bestandsaufnahme. Ich muss wissen, ob wir irgendwas gebrauchen können." Seine Brauen zogen sich zusammen, und dann machte er wieder diese seltsame Bewegung mit Nase und Brille. „Wie viel wird mich das kosten?" „Lassen Sie uns erst mal nachsehen, ob etwas da ist, womit man arbeiten kann." Sie konnte nicht sagen, warum sie sich beklommen fühlte, als sie ihm in sein Schlafzimmer folgte. Es war ja nicht so, dass sie noch nie allein mit einem Mann in einem Schlafzimmer gewesen war. Nur nicht sehr oft, woran Fiona sie immer wieder gern erinnerte. Jaycee versuchte, ihre Beklommenheit abzuschütteln. Dies ist rein beruflich! wiederholte sie sich, als sie das mächtige Himmelbett mit den vier gedrechselten Pfosten erblickte. Mit einem Mann in einem von einem riesigen Bett beherrschten Raum zu sein, bedeutete nicht, dass sie etwas anderes als ihren Job tat. Viele Leute arbeiteten in Schlafzimmern, und nicht alle davon landeten dabei notgedrungen in der Horizontalen. „Ich bin für das Einfache", hörte sie ihn sagen. Aus einem unerfindlichen Grund konnte sie den Blick nicht von dem gewaltigen Vier-Pfosten-Bett und dem gerahmten Kunstdruck lösen, der darüber hing. „Wie gefällt es Ihnen?" fragte er.
Ein Dutzend Gedanken flogen durch ihren Kopf, und nicht einer davon hatte etwas mit ihrem Job
zu tun. „Ich weiß nicht so recht. Hat es einen Namen?" Sie hoffte, er meinte das Bild.
„Erotik."
Na prima. Jetzt fühlte sie sich wirklich unbehaglich. „Erotik?"
Er schüttelte den Kopf und lächelte dasselbe hinreißende Lächeln wie bei der Preisgabe seiner
Streifenhörnchen-Vornamen. „Es ist eine Studie aus der Serie ,Etudes' von Picasso."
„Interessant", sagte sie und brachte ein schwaches Lächeln zu Stande. „Sind Sie Fan oder
Sammler?" Sie hatte wegen der Fachbücher im Regal vermutet, dass er Briefmarken sammelte.
Eine Schmetterlingssammlung hätte sie ihm auch zugetraut. Oder Käfer. Aber Kunst? Simon
erschien ihr nicht als der kunstsinnige Typ.
Er zuckte mit den Schultern. „Nichts von beidem. Dieses Zeug hat meiner Großmutter gehört. Als
wir nach ihrem Tod ihren Haushalt auflösten, hab ich's genommen. So, hier ist der Schrank",
sagte er und schob die Spiegeltür des Kleiderschranks auf.
„Dann lassen Sie uns mal sehen, was wir gebrauchen ..." Ihre Stimme verebbte, als sie in den
perfekt organisierten Schrank blickte. Mindestens ein Dutzend kurzärmlige weiße Oberhemden
hing ordentlich aufgereiht von einer Messingstange. Dann kamen zwei langärmlige, ebenfalls
weiße Hemden. An der Stange unter den Hemden hingen die Hosen - drei schwarze, drei graue
und zwei dunkelblaue. Jaycee blickte über die Schulter zu Simon. Er trug die dritte marineblaue
Hose. „Nicht viel", murmelte sie und schob die Tür zu. „Falls Sie für morgen Pläne haben,
streichen Sie sie. Wir gehen morgen einkaufen."
„Oh nein! Ich hasse Shopping."
„Das sehe ich", konterte sie. „Simon, Ihre Garderobe stellt ein ziemliches Problem dar."
Er blickte an sich hinab. „Was ist falsch mit meiner Kleidung? Sie ist absolut ..."
Absolut langweilig, dachte Jaycee. „Falsch ist nichts damit", erklärte sie ihn ruhig. „Es ist nur,
dass Ihre Sachen ... na ja, dass sie nicht ..." Sie wollte nicht grob sein, aber Simon hatte sie
schließlich für einen ganz bestimmten Zweck engagiert. Von Professionalität konnte keine Rede
sein, wenn sie bei jedem Wort, das sie zu ihm sagte, befürchtete, sie könnte ihn verletzen.
„Simon, Ihr Kleidergeschmack ist nicht zu Ihrem Vorteil."
Er stellte sein Weinglas auf den antiken Sekretär und stemmte die Hände in die Hüften. „Ich trage
diese Sachen seit Jahren."
„Genau das ist mein Punkt." Jaycee fasste seine Hand und zog, bis er vor der Spiegeltür seines
Kleiderschranks stand. „Erzählen Sie mir, was Sie sehen."
Erstaunlicherweise zog er nicht die Hängeschulter- und Hände-in-den-Hosentaschen-Show ab.
Stattdessen musterte er sein Spiegelbild und blickte dann fragend zu ihr. „Mich ..."
„Nein, das genügt mir nicht. Was sehen Sie darüber hinaus?"
„Den neuen Hauptdarsteller für ,Rache der tumben Trottel', Teil vier?"
Sie stieß einen Seufzer aus. Der Mann war unglaublich begriffsstutzig. „Wollen Sie wissen, was
ich sehe?" Sie streckte die Arme hoch, zog ihm die dicke schwarz gerahmte Brille vom Gesicht
und blickte in die klarsten grünsten Augen, die sie je in ihrem Leben gesehen hatte.
Er erwiderte ihren Blick, und ihr stockte der Atem. Das schwere Brillengestell war so
beherrschend gewesen, dass sie erst jetzt bemerkte, wie hübsch sein Gesicht geschnitten war.
Mit den hohen Jochbögen, der geraden Nase und dem markanten Kinn wirkte es wie gemeißelt.
„Ich sehe eine Menge ungenutztes Potenzial", flüsterte sie.
Simon drehte sich blinzelnd zum Spiegel. „Wollen Sie wissen, was ich sehe?"
„Was?"
„Sehr wenig ohne meine Brille."
Sie nippte an ihrem Wein. „Wie war's mit Kontaktlinsen?" Es war ein Jammer, dies
bemerkenswerte Gesicht hinter einer so grässlichen Brille zu verstecken.
„Nein, bloß nicht! Ich würde mir wahrscheinlich die Finger in die Augen bohren."
Sie gab ihm seine Brille zurück. „Dann ein neues Gestell. Mit einer dezenten Fassung. Oder eine
randlose Brille."
Er war wirklich ein Quell an Potential. Ihr Rohdiamant, den sie zu einem glitzernden Brillanten
zurechtschleifen würde. Sie wartete, dass er seine Brille wieder aufsetzte, wobei sie das
Muskelspiel in seinen Armen beobachtete.
„Halten Sie das bitte mal", sagte sie und drückte ihm ihr Weinglas in die Hand. Dann stellte sie
sich hinter ihn und zog sein Hemd zusammen, so dass die Umrisse seines Oberkörpers sichtbar
wurden. „Sehr eindrucksvoll", murmelte sie, während sie die Hemdschöße aus seiner Hose
zerrte. „Was tun Sie da?" fragte er irritiert.
Sie ging um ihn herum und knöpfte ihm das Hemd auf, um ihr „Arbeitsmaterial" zu begutachten.
„Pscht, ich denke nach."
Er versuchte, sich ihr zu entziehen - vergebens. Schließlich hatte sie ihr Leben lang damit
verbracht, sich gegen zwei übermächtige Brüder zu behaupten.
„Sie ziehen mich aus!"
Sie ignorierte seine Empörung und seufzte frustriert. „Es funktioniert nicht, schade." Ein leichtes Unterhemd versperrte ihr den Blick auf seinen Körper. „Das hätte ich Ihnen gleich sagen können", murmelte er, und dann sagte er etwas, was sie nicht verstand. Sie ließ von ihm ab und inspizierte von neuem den Kleiderschrank. In den Fächern befanden sich Gitterkörbe aus Plastik und in diesen akkurat gefaltete und gestapelte weiße T-Shirts - die gleichen wie das, was er anhatte -, außerdem einige Pullover in seinen Standardfarben Marineblau, Schwarz und Grau, und ein Sortiment Socken in denselben Farben. „Jaycee, was suchen Sie?" „Irgendwas, womit ich ... Oh, da seh ich was!" Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte das oberste Regal zu erreichen, wo sie eine Jeans entdeckt hatte. „Ich komm an die Jeans nicht ran. Können Sie mir bitte helfen?" Auf einmal rutschte sie aus, weil ihre Ledersohlen auf dem glatten Holzboden keinen Halt hatten. Jaycee machte einen Schritt, um sich ins Gleichgewicht zu bringen, suchte mit der Hand nach etwas, woran sie sich festhalten konnte, und erwischte einen Gitterkorb. Ein Kon fettiregen flatterte auf sie herab, und dann fühlte sie eine kühle Flüssigkeit über ihren Rücken laufen. Quiekend sprang sie zurück und prallte genau gegen Simons Brust. Er fing sie auf und legte die Arme um ihre Taille. Durch die Bewegung rutschte der Läufer, auf dem er stand, unter seinen Füßen fort, und mit Jaycee in den Armen fiel er hintenüber. Als sie zusammen auf dem Boden landeten, sah sie über sich kleine Papierfetzen nieder flat tern, die auf ihrer feuchten Bluse und auf ihrem Rock kleben blieben. Sie versuchte, sich zu bewegen, aber etwas Hartes presste sich fest an ihre Kehrseite. Ein rauer Laut entwich ihr, als ihr bewusst wurde, dass es Simons Schenkel waren, die ihren Po umschlossen. Und obwohl er ein Kunde war und sie seine Beraterin, waren die Empfin dungen, die sie in diesem Augenblick hatte, alles andere als professionell.
4. KAPITEL Jaycee starrte die stuckverzierte Decke an und fragte sich, was eigentlich passiert war. Im einen Moment hatte sie nach einem Paar Jeans gegriffen, und im nächsten lag sie in Simons Armen. „Alles in Ordnung?" Simons tiefe Stimme und sein warmer Atem an ihrem Hals sandten ein heißes Prickeln über ihre Haut. Ein nicht gerade unangenehmes Gefühl, aber ein Gefühl, das auch eine andere Empfindung deutlich verstärkte - den harten Druck an ihrem Po, der zweifellos von einem interessanten Teil der männlichen Anatomie herrührte. „Ja, ich bin okay", murmelte sie. Aber die klebrige Kälte in ihrem Rücken sagte ihr, dass sie ihre Seidenbluse in den Müll werfen konnte. Dies bestätigte ein Blick auf ihre weinbefleckte und mit Briefmarken verzierte Vorderseite. So wie es aussah, war auch ihr Rock hin. „Was ist passiert?" fragte sie. Das Einzige, was sie mit Sicherheit wusste, war, dass ein warmer, fester Männerkörper sie umfing. Und das gefiel ihr. „Bin weggerutscht", murmelte er. Wieder rieselte ein Prickeln über ihre Haut. In ihrem Bauch flatterten Schmetterlinge. Sie versuchte sich hoch zu rappeln. Simon presste sie an sich. „Nicht bewegen!" sagte er mit angespannter Stimme. Sie ließ den Kopf auf seine Schulter zurücksinken. „Und was soll jetzt passieren? Wir können doch nicht ewig so liegen bleiben." Schade, dachte er. „Sie haben Recht", sagte er schließlich. „Okay, Sie können sich bewegen, aber ganz langsam. Einige von diesen Briefmarken sind vielleicht eine Menge Geld wert." Sie verkniff sich die Antwort, dass man wertvolle Briefmarken nicht lose herumliegen ließ, und konzentrierte sich darauf, ihren Po vorsichtig über Simons Schenkel zu hieven. Er belohnte ihre Mühe, indem er scharf die Luft einsog. Allerdings vermutete sie, dass dies weniger mit seiner Sorge um seine kostbare Briefmarkensammlung zu tun hatte, sondern mehr mit der Reibung jener interessanten Körperpartie, die ihr akrobatischer Akt verursachte. Die Briefmarken sind unser geringstes Problem, dachte sie, als er mit seinen großen Händen ihre Hüften umfasste und der nächste Stromstoß über ihre Haut Oberfläche zuckte. Ihr stockte der Atem. Er hob sanft ihren Po an, und es war, als versengten seine Hände ihre Haut durch die Kleidung hindurch. „Was tun Sie?" fragte sie. „Ich erspare uns beiden Peinlichkeiten", sagte er gepresst.
Es dauerte zwei Atemzüge, bis sie begriff, was er meinte. „Oh" war alles, was sie herausbrachte,
als er sie über sich hinweghob und sanft auf den kalten Fußboden setzte. Es folgte der Rest von
ihr - außer ihrem Kopf, der von einem prallen Bizeps abgepolstert wurde.
Ein schönes Gefühl, stellte sie fest.
Sie gab einen kleinen lustvollen Seufzer von sich, als sie hochblickte und Simons markante, von
einem leichten Bartschatten überstäubte Wangen bewunderte. Bevor sie ihren Verstand so weit
sammeln konnte, um von ihm fortzurücken und aufzustehen, beugte er sich über sie. Obwohl er
wieder seine Brille trug, war sein Blick von einer solchen Intensität, dass Jaycee Mühe hatte,
ganz ruhig zu atmen.
„Sind Sie sicher, dass Sie okay sind?" fragte er mit leiser, sinnlicher Stimme.
Ihr Herz hämmerte wie wild. Das zählt nicht, sagte sie sich. Nur eine verspätete Reaktion auf den
Sturz.
„Ja, ganz sicher." Sie wartete, dass die Peinlichkeit ihrer Lage sie aufrüttelte. Als nichts
dergleichen passierte, blickte sie an sich hinab und klaubte eine Briefmarke von ihrer Bluse.
„Gehört die zufällig Ihnen?" witzelte sie.
Er nahm ihr die Marke aus der Hand und hielt sie vorsichtig zwischen zwei Fingern. „Das war ein
Fehler", sagte er leise.
„Missgeschicke passieren nun mal", murmelte sie und verspürte plötzlich den Drang, den Arm um
seinen Hals zu schlingen und ihn mit einem heißen, hungrigen KUSS zu schocken.
Simon schüttelte den Kopf. „Das meinte ich nicht", sagte er und drehte die Briefmarke, so dass
sie die Vorderseite sehen konnte. „Was stimmt nicht an diesem Bild?"
Herrje, wo sollte sie anfangen? Vielleicht mit der Umarmung auf dem Fußboden seines
Schlafzimmers? Oder mit der prickelnden Spannung zwischen ihnen, die sie beim besten Willen
nicht ignorieren konnte?
Was stimmte nicht mit ihr? Sie war als seine Imageberaterin hier und nicht als sein Wochenend-
Schätzchen.
„Sehen Sie sich die Verkehrsampel an", drängte er, als sie noch immer ihn anstarrte, statt die
Briefmarke zu betrachten.
Okay, warum sollte sie nicht mitspielen? Sie studierte das Bild auf dem kleinen gezackten
Papierquadrat zwischen seinen Fingerspitzen. „Das rote Licht ist unten und nicht oben", stellte
sie fest. „Macht das die Marke wertvoll?"
Er brachte sich und sie in Sitzstellung und stand auf. Dann streckte er ihr die Hand hin und half
ihr auf die Füße, führte sie zum Bett und drängte sie, sich zu setzen. Sie bewegte sich wie
hypnotisiert, setzte sich auf die Bettkante und blickte in diese unglaublich grünen Augen, in
denen sie sich leicht verlieren könnte, wenn sie es zuließ.
Junge, Junge, sie war drauf und dran, es zu tun.
Er beugte sich über sie und zupfte vorsichtig noch eine Briefmarke von ihrer Bluse. „Nicht in
diesem Fall", sagte er. und sein Blick glitt zu ihrem Mund.
Jaycee schluckte und gab sich die größte Mühe, der Unterhaltung zu folgen.
Nicht in welchem Fall?
Briefmarken!
Sie redeten über Briefmarken.
„Diese italienische Marke von 1947 ist einfach nur ungewöhnlich", erklärte er und entfernte
behutsam eine weitere Briefmarke, die in gefährlicher Nähe ihrer Brust haftete.
Jaycee atmete tief durch.
„Aber es gibt eine ähnliche französische Marke aus dem Jahr 1952, die äußerst wertvoll ist."
Eine andere Briefmarke löste sich von ihrer Bluse und flatterte zu Boden. Keiner von beiden
beachtete es.
„Es existieren nur drei davon", fuhr Simon fort, und sein Blick tauchte in ihren.
Atme, Jaycee, befahl sie sich. Atme!
„Drei?" Irgendetwas bahnte sich hier an. Etwas, das sie nur in einem sehr weiten Sinn als
imagebezogen betrachten konnte. Das Problem war nur, dass die Bilder, die durch ihren Kopf
huschten, ihren Kunden in horizontaler Lage zeigten.
Was war mit ihr los? Sie hatte Pläne und Ziele, die absolut ausschlössen, dass sie sich an den
Kunden heranmachte, den sie ihren Brüdern als Beweis ihrer Eignung als gleichwertige
Geschäftspartnerin vorführen wollte.
Zu dumm, dass die einzige Partnerschaft, an die sie momentan denken konnte, diejenige war,
die die gute altmodische Art der Fusion erforderte ... und zwar mit ihrem Kunden.
Ganz eindeutig passierte hier etwas mit ihr - etwas, das mit Bewusstwerden und mit Neugier zu
tun hatte. Und mit Küssen.
Mit Küssen von der wilden, Schwindel erregenden Art. Die Sorte Küsse, die heißer waren als die
Bürgersteige in Las Vegas mitten im Sommer.
„Und zwar französische", sagte er.
Ihre lüsternen Gedanken stürzten sich auf dies eine unschuldige Wort und fegten ihre
Professionalität mitsamt ihren zielorientierten Argumenten aus dem Fenster. „Französische
Briefmarken", sagte sie, und ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Ja." Sein Blick glitt zu ihren Augen und dann zu ihrem Mund.
In ihrer plötzlichen Befangenheit befeuchtete sie ihre Lippen mit der Zunge. Es war ganz
bestimmt nicht als Einladung gemeint, aber als Simon langsam den Kopf neigte, schlug Jaycee
alle Bedenken in den Wind und hob ihm das Gesicht entgegen, um ihre Neugier zu stillen.
Ohne den Blick von ihren Augen zu lösen, nahm er seine Brille ab und legte sie aufs Bett. „Sehr
französisch", sagte er, und seine Stimme war so weich und samtig wie der luxuriöseste
Kaschmir, und genauso verführerisch.
Seine Lippen waren warm, sanft, lockend. Und sie schmeckten leicht nach dem Wein, nur
doppelt so berauschend.
Jaycee war keine Anfängerin im Küssen, aber Simon Hawthorne gab dem Begriff „küssen" eine
völlig neue Bedeutung. Heiße, Schwindel erregende Gefühle durchströmten ihren Körper und
brachten ihre Haut zum Glühen.
Er vertiefte den KUSS, und Jaycee stöhnte leise. Als er sanft mit den Fingern über ihre Wange
strich, sie dann in ihr Haar schob und seine große warme Hand um ihren Kopf legte, schlang sie
die Arme um seinen Hals und zog ihn an sich.
Ganz offensichtlich hatte Simon keine Bedenken, ihren Wünschen nachzukommen. Er senkte sie
rückwärts auf das Bett und bedeckte sie mit seinem Körper - ein Gefühl, das sie ebenso genoss
wie das sanfte Locken seines Mundes. Sie öffnete sich seinem KUSS, erwiderte ihn heiß und
lustvoll, und drängte sich sehnsüchtig an ihn.
Simon Hawthorne war kein tumber Trottel. Er war hundert Prozent Mann, ein Mann, der in ihr das
Verlangen weckte, zum Punkt ohne Umkehr zu treiben. Noch nie hatte sie sich so sinnlich
gefühlt.
Unbekannte Empfindungen durchströmten sie, eine nach der anderen und in so schnellem
Wechsel, dass sie nicht genügend Zeit hatte, um jedes einzelne Gefühl voll auszukosten. Ein
Schwindelgefühl erfasste sie, und sie glaubte, in einem heißen, wilden Strudel zu versinken.
Sie durften das nicht tun.
Aber Simons Mund auf ihrem zu fühlen war absolut himmlisch.
Sie musste ihn stoppen. Tiefe Küsse konnte man kaum als Teil einer professionellen
Imageberatung bezeichnen.
Jaycee mobilisierte den letzten winzigen Rest ihres gesunden Menschenverstands und drückte
sanft gegen Simons Schultern. Er hob den Kopf und sah sie an. In seinem Blick war Verwirrung
und etwas weit Interessanteres - Begehren.
„Ist etwas?" fragte er.
Das brennende Verlangen in seinen Augen raubte ihr die Sprache, und sie brachte nur ein
schwaches Nicken zu Stande.
„Was?" sagte er schließlich, als sie trotz angestrengten Suchens ihre Stimme nicht wieder fand.
Sie atmete tief durch. Es half nicht. Wahrscheinlich existierte überhaupt kein wirksames
Kühlmittel gegen ihre unaufhaltsam steigende Temperatur. Also versuchte sie es mit der
Verzögerungstaktik, um ein paar wertvolle Sekunden zu gewinnen, bis sie sich
zusammengerissen hätte.
Es zuckte um seine Mundwinkel. „Du musst dir schon was Besseres einfallen lassen als das",
meinte er neckend. Er neigte den Kopf und strich federleicht mit den Lippen über ihren Hals.
Sie gab einen tiefen kehligen Laut von sich - ein ziemlich halbherziger Protest.
Er hauchte einen KUSS auf ihren Hals, ließ dann die Zunge darüber hingleiten.
Jaycee streifte ihre Pumps ab und strich mit dem Fuß an seiner Wade entlang. Ihre sensible
Fußsohle kam mit seinem Polyesterhosenbein in Berührung. Was sie augenblicklich an ihren Job
erinnerte. Sie benahm sich professionell, ganz klar, aber wie eine Professionelle von der Sorte,
die als Entlohnung für ihre Arbeit knisternde Scheine auf dem Nachttisch erwartet.
„Simon", flüsterte sie atemlos, „wir müssen aufhören." Das war wirklich sehr überzeugend, dachte
sie. Du hättest ebenso gut rufen können: „Nimm mich, Lover!" Verflixt, warum klang ihr Gewissen
immer nach Fiona, wenn es um das andere Geschlecht ging?
„Hm, ich weiß", murmelte er.
„Wirklich, Simon, diese Art Image habe ich mir nicht vorgestellt."
In Wahrheit hatte sie nichts an seinem Image auszusetzen. Weg mit dem Polyester, und der
Mann war die reine Perfektion!
Du leidest an sexuellem Notstand, Jaycee Richmond, sagte die kleine Stimme in ihrem Kopf.
Das mochte ja stimmen, doch Tatsache war, dass dieser Mann fantastisch küsste.
Er liebkoste die Stelle hinter ihrem Ohr, und sie erbebte wie die nach Sex hungernde Nymphe,
die, wie sie allmählich glaubte, in Jaycee Richmonds Hülle lebte.
„Irgendwie gefällt mir dieses Image", flüsterte er verführerisch in ihr Ohr.
„Ich habe eben als seriöse Imageberaterin gesprochen", entgegnete Jaycee und hoffte, dass der strenge Ton ihr gelungen war. Wenn ihr jemand gesagt hätte, dass ihr biederer Kunde ihr Inneres zum Schmelzen bringen würde, hätte sie schallend gelacht. Ihre Finger spielten mit dem Haar in seinem Nacken, glitten dann am Halsausschnitt seines TShirts entlang. Vielleicht hatte ihr Gewissen Recht. Vielleicht war sie wirklich nur sexuell ausgehungert, denn sie konnte sich nicht erinnern, wann sie ihr letztes Date gehabt hatte. Sexueller Notstand oder nicht - was machte es, wenn Simon ihr so köstliche Genüsse bot? Ehe sie sich bremsen konnte, schob sie die Hand unter sein T-Shirt, um zu erkunden, was sich darunter verbarg. Sie fand feste Muskeln und glatte, geschmeidige Haut. Leise stöhnend schob sie die Finger in sein Haar, und sie glitten weiter und weiter und weiter ... Sie rieb ihre Fingerspitzen aneinander. Sie waren mit einem feinen geleeartigen Glibber überzogen. „Simon, hören Sie auf! Schluss jetzt!" „Bist du sicher?" Nein, hätte sie am liebsten geschrien. Sie rieb noch einmal ihre Fingerspitzen aneinander. „Ganz sicher." Widerstrebend richtete er sich auf und setzte sich neben sie auf die Bettkante. Sie stand abrupt auf, zupfte ein Papiertuch aus der Schachtel auf dem Nachttisch, wischte sich die Hände ab und pflückte dann die restlichen Briefmarken von ihren Kleidern. Noch immer pulsierte ihr Körper von Simons erotischen Küssen, was sie zu ignorieren versuchte. Nachdem sie die Briefmarken auf die Kommode gelegt hatte, ging sie wieder zum Bett. Der hoffnungsvolle Ausdruck in Simons Augen ließ sie fast schwach werden, aber ehe ihr gesunder Menschenverstand nochmals streikte, nahm sie Simon bei der Hand, zog ihn aus dem gefährlichen Bett und den Flur entlang ins Bad. „Ich brauche meine Brille", protestierte er mit rauer, schwankender Stimme. Offenbar war er genauso durcheinander wie sie, was sie mit weiblichem Stolz erfüllte - ganz gleich, wie verrückt die Bett-Episode gewesen war. „Hier brauchen Sie die Brille nicht", sagte sie resolut und knipste die Deckenbeleuchtung im Bad an. „Was ... haben Sie vor?" Obwohl sie das förmliche „Sie" überdeutlich betont hatte, um ihm einen Wink zu geben, war sie nun fast enttäuscht, dass er sie wieder siezte. Ohne zu antworten leitete sie ihn zur Badewanne, drehte den Wasserhahn auf und griff nach der Brause. „Auf die Knie, Hawthorne!" befahl sie, während sie die Wassertemperatur regulierte. Sein Mund bog sich zu einem vielsagenden Grinsen, aber ehe er sich wer weiß was für aufregende Spielchen ausmalen konnte, fasste sie ihn beim Kopf, beugte ihn über den Wannenrand und stellte den Einstellhebel auf Dusche. „Was ... was tun Sie da?" lamentierte er spuckend und prustend, als sie die Brause über seinen Kopf hielt, um den Glibber aus seinem Haar zu spülen. „Es ist höchste Zeit, mehr als Ihr Image zu verändern, Simon." Sie griff nach der Shampooflasche und begann, sein Haar einzuschäumen. ..Ich würde sagen, der Ölwechsel war überfällig." 5. KAPITEL Simon hätte jede Menge Stellen an seinem Körper nennen können, an denen er Jaycees Hände nur allzu gern gefühlt hätte. Mit dem Kopf unter fließendes Wasser gedrückt zu werden und dann das Haar gewaschen zu bekommen - das stand jedoch nicht auf seiner Wunschliste. Schon gar nicht nach ihrem unbeschreiblichen KUSS. Vielleicht war sie eine Shampoo-Fetischistin. Eigentlich wusste er nicht so recht, was er erwartete, seit er Jaycee geküsst hatte. Oder hatte sie ihn zuerst geküsst? Egal. Hauptsache, sie taten es noch öfter. Er fühlte den kühlen Conditioner, den nie benutzten aus der luxuriösen Kosmetikserie eines namhaften Designers, das ihm seine Sekretärin zu Weihnachten geschenkt hatte, auf seine Kopfhaut rinnen. Es folgte das sinnliche Gefühl von Jaycees sanft massierenden Händen. Er konnte froh sein, dass er über den Wannenrand gebeugt war und sie nicht sehen konnte, wie sehr er die Wohltaten ihrer Hände genoss. Er mochte ein benutzerunfreundlicher Sonderling sein, aber als Mönch würde er sich nie qualifizieren. Obwohl er sich fast wie ein Mönch vorkam. Denn wer außer einem Mönch würde sich angetörnt fühlen, nur weil eine Frau ihm das Haar wusch? Die Wahrheit war, dass er zurzeit etwas mönchisch lebte. Doch es hatte auch andere Zeiten gegeben. Okay, er konnte nicht so viele Eroberungen verzeichnen wie die Sportasse an der High School und am College. Aber immerhin hatte er einige Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gesammelt. Jene Frauen waren zwar nicht halb so schön wie Jaycee gewesen, und sie hatten ihm auch nie das Haar gewaschen, aber als Kandidatinnen für den Job einer Vogelscheuche
wären sie mit Sicherheit abgelehnt worden. Der hauptsächliche Unterschied zwischen Jaycee und seinen wenigen Exfreundinnen war der, dass keine von ihnen ihn je mit einem simplen KUSS derart aufgewühlt hatte. Simpel? An dem KUSS war überhaupt nichts Simples gewesen. Sie hielt die Brause von seinem Kopf fort. „Haben Sie etwas gesagt?" „Mjam, mjam", antwortete er, den Blick auf den Boden der Badewanne geheftet. Mannomann, das war intelligent, und wie! „Was ist ,mjam, mjam'?" fragte sie und fuhr fort, seinen Kopf abzubrausen. Von dir geküsst zu werden. „Das Zeug riecht gut. Richtig lecker", antwortete er lahm und bezog sich auf den Gurkenduft der Haarspülung, ehe er sich auf das zarte, blumige Aroma von Jaycees Parfüm konzentrierte. Das Wasser hörte zu laufen auf, und sie warf ein Handtuch auf seinen Kopf. „So, jetzt können Sie aufstehen", sagte sie, und er kam langsam aus der Hocke hoch. „Drehen Sie sich zu mir." Er tat es, und sie führte ihn zur Toilette, klappte den Deckel herunter und befahl ihm, sich zu setzen. Sie redete, während sie sein Haar frottierte, aber ihre Worte drangen nur gedämpft und bruchstückhaft zu ihm. Die Szene brachte verschwommene Erinnerungen aus einer fast vergessenen Zeit zurück. Er sah das schemenhafte Bild seiner Mutter vor sich, hörte ihre von Lachen erfüllte Stimme, während sie zusammenhanglose Worte murmelte und ihm das Haar trocken rubbelte. Eine Erinnerung aus einer glücklicheren Zeit, bevor die Enttäuschung kam ... bevor das Verschwinden der Mutter die Seele eines kleinen Jungen erschütterte. Jaycee hat viel mit meiner Mutter gemeinsam, dachte Simon. Die Aufgeschlossenheit und Kontaktfreudigkeit, die Willensstärke, die Lebendigkeit, die Schönheit. Jaycee war alles, was er nicht war -sie waren dieselben Gegensätze wie seine Mutter und sein Vater. Und Jaycee war genau alles, was er, Simon Hawthorne, nie würde sein können. Er war, wie er war, das hatte er schon vor langer Zeit begriffen.
Was dachte er da eigentlich? Dass er und Jaycee zum Altar schreiten und ein hübsches Haus im Grünen mit einer Horde spielender Kinder im Garten haben würden, nur weil sie heiße Küsse getauscht hatten? Wohl kaum. Jaycee war seine Imageberaterin. Und dabei würde es bleiben, ganz gleich, was für wundervolle Szenarios sie in seinen Wunschträumen schuf. Die Wirklichkeit unterschied sich beträchtlich von seinen kühnen Fantasien. Besser, er akzeptierte die Realität, bevor er sich zum kompletten Narren machte. Sie zog das Handtuch von seinem Kopf und warf es über die Stange, an welcher der Duschvorhang befestigt war. „Ich hoffe, das ist Ihnen klar", sagte sie, während sie sich bückte und in dem Schränkchen unter dem Waschbecken nach etwas suchte. Er hatte keine Ahnung, wovon sie redete. Jedenfalls war ihm klar, dass ihr Po, der sich unter ihrem engen Rock abzeichnete, ein enorm verführerischer Anblick war. „Es war nichts Persönliches", fuhr Jaycee fort. „Dieser KUSS war ..." Eine Offenbarung, dachte er. „Aha!" rief sie aus, ohne ihren Satz zu beenden. Sie stand auf, in der Hand den Föhn, den er nie benutzte. Mit gerunzelter Stirn versuchte sie, das Gerät von dem angesammelten Staub zu befreien, schnappte sich dann kurzerhand einen Waschlappen und wischte den restlichen Staub fort. Sie kramte in der Schublade herum und förderte eine Bürste zu Tage. „Dieser KUSS war eine Ablenkung, und so etwas können wir beide momentan nicht gebrauchen." Er antwortete nicht. Was ihn betraf, konnte er ein paar mehr Ablenkungen gebrauchen, solange sie genauso angenehm ausfielen wie die letzt;. Jaycee fand eine Steckdose und stellte den Föhn an. „Wir haben beide unsere Ziele", fuhr sie etwas lauter fort, während sie mit Bürste und Föhn an ihm zu arbeiten begann. Ihr Vortrag plätscherte an ihm vorbei. Umso mehr fesselte ihn, was er sah. Mit den Bewegungen ihrer Arme hoben sich ihre vollen Brüste und pressten sich gegen ihre feuchte Seidenbluse. Es war ein atemberaubender Anblick, für den er Jaycees Vortrag bereitwillig über sich ergehen ließ. Hauptsache, sie hantierte noch möglichst lange mit Föhn und Bürste an seinem Haar herum. „Ich meine, Sie haben ein Ziel", sagte sie, während sie eine dicke Haarsträhne über die Bürste zog und die heiße Luft daran entlang streichen ließ. Ihre Brüste traten prall unter dem Blusenstoff hervor. „Sie wollen erreichen, dass die Chefs in Ihrer Firma Sie als einen flotten, benutzerfreundlichen Mitarbeiter betrachten. Das ist auch mein Ziel, aber ..." Sie brach ab, nahm eine größere Haarpartie mit der Bürste auf und bewegte den Föhn um seinen Kopf
herum. „Wir haben uns in einem kurzen, unbedachten Moment hinreißen lassen. Ein kleiner
Ausrutscher. Nichts weiter."
Das weckte schlagartig Simons Aufmerksamkeit. „Ein Ausrutscher?" wiederholte er. Plötzlich
hatte er den Eindruck, als ob sie mehr sich selbst als ihn von der Harmlosigkeit ihres Kusses
überzeugen wollte.
Sie stellte den Föhn aus, legte ihn auf das Ablagebord und nahm einen Kamm aus der
Schublade. „Sie wissen schon, was ich meine."
Er blickte sie an. Sogar ohne seine Brille konnte er den rosigen Hauch auf ihren Wangen
sehen. „Ich glaube nicht", sagte er. Natürlich wusste er genau, was sie meinte, aber er wollte
sich das Vergnügen, sie bei einem Erklärungsversuch zu beobachten, nicht entgehen
lassen. „Meinen Sie die ... Hitze des Moments?"
Er stand auf und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Es fühlte sich leichter und viel
weicher an - Jaycee hatte das wirklich toll hingekriegt. Seine bisherige Frisur war eher eine
Notlösung als ein bewusstes Styling gewesen, da er morgens dazu neigte, den Wecker zu
ignorieren.
In Ermangelung seiner Brille beugte er sich nah zum Spiegel und betrachtete sich einen
Moment lang. „Also, was meinen Sie?" fragte er, gespannt auf ihr Urteil.
Er hörte ihren schnellen, tiefen Atemzug, und männliche Genugtuung erfüllte ihn. Dass eine
Frau wie Jaycee so auf sein Äußeres reagierte, war absolut neu für ihn.
„Zu der ,Hitze des Moments'?" fragte sie mit leiser und zugleich angespannter Stimme.
„Hm, ja", log er und drehte sich zu ihr. „War es das, was Sie gemeint haben?"
„Ich ... ich denke ja", murmelte sie, und er bemerkte ein Flackern in ihrem Blick. Dann reckte
sie die Schultern und trat einen Schritt zurück. „Aber das ist nicht wichtig, Simon. Unsere
Beziehung ist rein
beruflich, das dürfen wir nicht vergessen."
„An dem KUSS war nichts Berufliches, Jaycee. Der KUSS war ..."
„... ein Fehler", sagte sie schnell, zog die Schnur aus der Steckdose und wickelte sie um den
Griff des Föhns.
„Der KUSS war heiß, wollte ich sagen." Er hätte sich auf die Zunge beißen können. Hatte er
sich nicht gerade vorgenommen, sich an die Realität zu halten und zu akzeptieren, dass es
zwischen ihm und Jaycee nie mehr als eine rein geschäftliche Verbindung geben würde? Ein
scharfer Atemzug, eine zögernde Antwort, ein von Verlangen erfüllter Blick von ihr, und
schon warf er alle Vernunft über Bord ...
Sie legte den Föhn auf das Ablagebord und wandte sich zu Simon. „Heiß?" wiederholte sie.
Simon nickte und ging ganz nah auf sie zu. Realität? Vergiss es. Er wollte noch einmal in die
Fantasie eintauchen, nur noch einmal Jaycees süßen Mund schmecken. „Sehr heiß", sagte
er. während er die Hand um ihren Nacken legte und sanft mit den Fingerspitzen ihre warme
Haut liebkoste.
„Oh..."
„Können Sie es ernsthaft leugnen, Jaycee?"
Sie schloss die Augen, und er wünschte, er könnte ihre Selbstbeherrschung zum Einstürzen
bringen wie ein Sprengmeister eine alte Ruine.
Jaycee öffnete wieder die Augen. „Natürlich nicht. Ich wollte nämlich etwas beweisen."
Er strich ihr Haar von ihrem Hals fort, bezwang die Versuchung, ihre Haut zu kosten. „Und
was wollten Sie beweisen?"
Seine Liebkosungen und der Klang seiner tiefen, rauen Stimme sandten heiße, prickelnde
Schauer über ihren Rücken. Sie konnte es nicht fassen, dass sie ein zweites Mal am selben
Abend die Kontrolle über sich verlor. Herrje, Simon war ihr Kunde und nicht ihr Geliebter!
„Sexuelle Anziehung", platzte sie heraus.
„Sie fühlen sich von mir sexuell angezogen?"
„Nein", log sie, Jaycee, wie berauscht von seiner tiefen, rauchigen Stimme.
Wie sexy er klang! Und wie aufregend war das, was er mit seinem Daumen tat - dieses
sanfte Streicheln hinter ihrem Ohrläppchen. Alles in ihr sehnte sich danach, ihn noch einmal
zu umarmen und zu küssen, noch einmal in seinem KUSS zu schwelgen und diese
unglaublichen Gefühle zu erleben.
„Ja", flüsterte sie, außerstande zu lügen.
Anfangs hatte sie ihn einfach nur niedlich gefunden, dann aber hinter seiner langweiligen
Fassade hundertprozentige Männlichkeit entdeckt.
„Was ich meine, ist ..." sie brach ab und suchte nach einer Erklärung, bei der sie sich nicht verheddern würde, „... dass eine Menge Frauen Sie sexuell anziehend finden werden. Das habe ich zu beweisen versucht." „Indem Sie mich geküsst haben?" Seine Frage klang wie eine sinnliche Lockung, der ihr Körper ungeachtet der strengen Mahnung ihres Verstands allzu gern nachgegeben hätte. „Der KUSS zum Beispiel war eine Möglichkeit, es zu beweisen", sagte sie betont sachlich. „Gibt es noch mehr Möglichkeiten?" Sie konnte in seinem Blick keine Spur von Durchtriebenheit oder Spott entdecken, wurde aber trotzdem den Verdacht nicht los, dass seine Fragerei nur ein Trick war, um ... Um was zu tun? Um sich anzunähern? Wenn er noch näher käme, würde sie keinen Raum mehr zum Atmen haben! „Natürlich gibt es noch mehr Möglichkeiten", sagte sie und trat sicherheitshalber einen Schritt zurück, bevor sie etwas wirklich Dummes tat. „Nicht dass wir irgendeine davon durchexerzieren werden", sagte sie resolut und brachte damit das Lächeln, das sich gerade um seinen verführerischen Mund bildete, blitzartig zum Verschwinden. Seine Hand fiel zu seiner Seite hinab. „Wie schade." Und wieder verschwanden seine Hände in den Hosentaschen, seine Schultern sackten nach vorn, was Jaycee trotz ihrer überraschenden Entdeckungen vor Augen führte, wie sehr es ihm an Selbstsicherheit mangelte. Sie tat das einzig Kluge und ging aus dem Badezimmer. Diesem wirklich vernünftigen Schritt folgte etwas völlig Dummes: Sie blieb im Schlafzimmer stehen und blickte sehnsüchtig zum Bett, dessen Oberfläche deutliche Spuren ihres „Ausrutschers" aufwies. Und als Erinnerung an die Sekunde vor dem KUSS lag auch noch Simons Brille auf der Decke. „Simon", sagte sie, während sie rasch in das neutrale Territorium des Wohnzimmers flüchtete. „Sex-Appeal ist mehr als das Wissen, wie man eine Frau küsst, so dass ihr Inneres schmilzt." Sie nahm ihre Tasche vom Tisch und hängte sie sich über die Schulter. Ihre Kleider waren wahrscheinlich hin, und während ihr weiblicher Stolz sagenhafte Höhen erreichte, war ihre Professionalität kurz davor, einen kläglichen Tod zu sterben. Besser, sie beeilte sich, damit sie wenigstens ein bisschen von ihrer beruflichen Würde behielt. „Ich habe Ihr Inneres zum Schmelzen gebracht?" „Ja." Simon erschien grinsend im Wohnzimmer, die Brille auf der Nase. „Nein." Jaycee atmete tief ein und langsam aus, bevor sie weitersprach. „Was ich meine, ist, dass Sie nicht nur wie ein flotter und gewandter Business-Typ aussehen müssen. Sie müssen dieses Image auch leben." Sein Grinsen wurde breiter - das war nicht die Reaktion, die sie wünschte. „Das Image leben, aha. Komme ich diesem Ziel näher, wenn ich Ihr Inneres noch einmal zum Schmelzen bringe?" Ihre Miene blieb unbewegt. „Das kommt überhaupt nicht infrage, Simon." Sein Grinsen war ausradiert, und zwischen seinen Augenbrauen erschien eine steile Falte. „Warum nicht?" Weil du ein Mittel zum Zweck bist, dachte sie. Weil ich meinen Brüdern beweisen will, dass ich eine intelligente Person mit hervorragendem Geschäftssinn bin und nicht nur eine Frau, die sich von dem erstbesten Kunden den Kopf verdrehen lässt. „Weil es nicht professionell ist", antwortete sie und bewegte sich zur Tür. Wenn sie nicht sofort ging, würde sie doch noch tun, wonach ihr Körper flehte - Simon umarmen und nicht mehr loslassen. „Ich hole Sie morgen um zwölf ab", sagte sie, die Hand am Türgriff. „Stecken Sie Ihre Kreditkarten ein, denn wir werden ernsthaft Shopping gehen." Wieder vergrub er die Hände in den Hosentaschen und ließ die Schultern hängen. „Muss das sein?" fragte er, und sie sah die nächste Generation kleiner Richmonds vor sich, wenn sie versuchten, ihre Eltern zu beschwatzen. Sie verbiss sich ein Lächeln. „Ja, es muss sein. Sie müssen Ihrer Rolle entsprechend aussehen, das wissen Sie doch. Wenn ich mit Ihnen fertig bin, werden Sie nicht nur äußerst ,benutzerfreundlich' sein, sondern es wird auch eine sensationelle sprachliche Veränderung stattfinden. Der Begriff ,Trottel' wird nie mehr als Synonym für Simon Hawthorne verwendet werden." Sie schlüpfte durch die Tür und zog sie fest hinter sich zu. Draußen atmete sie tief die kühle, vom Meeresduft erfüllte Abendluft ein. Aber weder das noch der Befehl an ihr Herz, das wilde Hämmern zu beenden, konnte etwas an der unglaublichen Tatsache ändern. Der unscheinbare Simon Hawthorne hatte sich als ein hinreißender Mann entpuppt, der, wenn man sein verborgenes Potenzial ans Licht brachte, der Mr. Perfect einer beneidenswerten Frau sein würde.
6. KAPITEL In einem samtbezogenen Sessel sitzend, blätterte Jaycee in einer Frauenzeitschrift, während sie darauf wartete, dass Simon wieder aus der Umkleidekabine auftauchte. Dies war ihr viertes Geschäft in ebenso vielen Stunden und glücklicherweise ihr letztes. Gereiztheit war eine milde Beschreibung für Simons Laune, als er vor zehn Minuten in den Umkleideraum des noblen Herrenbekleidungsgeschäfts getrottet war. Er hatte etwas von seinen Kreditkarten-Rechnungen gemurmelt, die sich mit den Staatsschulden der USA messen könnten. Sie hatte sein Gejammer gnadenlos ignoriert. Als sie ihn um Punkt zwölf bei seiner Wohnung abholte, hatte sie erwartet, dass er zu seinem unaktiven früheren Look zurückgekehrt war. Veränderungen passierten schließlich nicht über Nacht, aber Simon war offenbar fest entschlossen, sein altes Image loszuwerden. Beim Anblick des umwerfenden Mannes, der ihr die Tür öffnete, hatte der unprofessionelle Teil in ihr ein heißes Prickeln verspürt. Zwar trug Simon das langweilige Outfit, das sie am vergangenen Abend für ihn ausgesucht hatte, aber auf die öde Krawatte und den glatten Nasshaar-Look hatte er verzichtet. Ganz offensichtlich war sein vernachlässigter Föhn zu Ehren gekommen, denn sein volles dunkelbraunes Haar sah seidenweich aus und hatte einen schönen natürlichen Glanz. Sie hatte an sich halten müssen, um nicht spontan mit den Fingern durch die locker fallenden Strähnen zu fahren. Es war alles andere als leicht gewesen, sich auf den Kunden Simon zu konzentrieren statt auf Simon, den Mann. Simon der Mann hatte sie die halbe Nacht wach gehalten. Stundenlang hatte sie sich von einer Seite auf die andere gewälzt, mit einem schmerzenden Ziehen in ihrem Innern, wie sie es vorher noch nie verspürt hatte. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, spielten ihre Gedanken den berauschenden KUSS durch. Wieder und wieder rief sie sich den Moment in Erinnerung, bevor er den Mund auf ihre Lippen senkte. Er hatte sie angesehen, als ob er sie weit höher schätzte als seine kostbare Briefmarkensammlung. Ein lächerlicher Gedanke. Sie hatten sich doch gerade erst kennen gelernt. Es war wirklich besser, sie konzentrierte sich auf Simon, den Rat suchenden. Nur so konnte sie mit klarem Kopf ihre Ziele anvisieren - seine Dauerbeschäftigung bei Eaton & Simms und ihre Part nerschaft in der Familienfirma. Sie betrachtete abwesend das Werbefoto einer Körperlotion. Vermutlich könnte sie sich leichter auf ihre Ziele konzentrieren, wenn sie Simon heute nicht als Erstes in den Optikerladen mit Schnellservice geschleppt hätte. Es war längst nicht so schwierig gewesen, ihn in die Kategorie „Kunde" einzuordnen, solange das schwere dunkle Brillengestell sein hübsches Gesicht verdeckte. Die neue Brille mit der ansprechenden Form und dem feinen Metallrahmen ließ seine einzigartige Augenfarbe und die Konturen seines Gesichts voll zur Wirkung kommen. Sie hatte sich immer wieder dabei ertappt, wie sie ihn bewundernd anblickte. Nach dem anschließenden Friseurbesuch war sie noch weniger in der Lage gewesen, Simon unter rein beruflichen Aspekten zu sehen. Wie auch, wenn sein von kundiger Hand gestyltes Haar sie in einem fort verlockte, mit den Fingern hindurchzustrei chen ... Seufzend warf sie die Zeitschrift auf den niedrigen Glastisch und starrte auf die geschlossene Kabinentür. Tatsache war, dass sie sich total ohnmächtig fühlte. Simon verwandelte sich allmählich in ein einzigartiges sexy Exemplar. Sie war in keiner Weise auf den Effekt seiner erstaunlichen Metamorphose vorbereitet gewesen. Ohne die Barriere der dicken Brillengläser war das Grün seiner Augen noch dunkler, noch intensiver. Obwohl sie es schon am vergangenen Abend bemerkt hatte, erschien es ihr wie eine neue Entdeckung, dass seine Kinnpartie wie von Meisterhand gemeißelt wirkte. Und seine Jochbögen, die sie gestern als leicht kantig bezeichnet hätte, wirkten durch die vorteilhafte neue Brille und den exzellenten Haarschnitt glatter und weicher. Dummerweise endete ihre Faszination damit noch lange nicht. Bei jedem Stopp auf ihrer Einkaufstour war ein veränderter Simon aus der Umkleidekabine getreten, und ihre großen Ideale von unerschütterlicher Professionalität verflüchtigten sich immer mehr. Eine Bewegung riss sie aus ihren Gedanken. Sie blickte auf, schüttelte den Kopf, als könnte sie nicht ganz glauben, dass der Mann, der aus der Umkleidekabine trat, wirklich ihr Kunde war - ein Kunde, der ihre Temperatur in die Höhe jagte, ihren Puls zum Rasen brachte, ihren Körper nach mehr als seinen sinnlichen Küssen hungern ließ. „Ich weiß nicht", murmelte er, während er sich stirnrunzelnd in dem großen Wandspiegel betrachtete. „So viel Geld für etwas rauszuwerfen, was ich wahrscheinlich nie tragen werde."
„Simon?" Nur weil er sie über die Schulter mit seinen smaragdgrünen Augen ansah, war das noch lange keine Entschuldigung dafür, dass ihr Herz schneller klopfte und ein heißer Schauer über ihre Haut rieselte. Aber es passierte. „Erklären Sie mir noch mal, warum ich einen Smoking brauche", sagte er in klagendem Ton, und seine Miene verfinsterte sich noch mehr, als er bedeutungsvoll auf das Preisschild blickte, das an einem Ärmel baumelte. Der Anblick des absolut hinreißenden Mannes, der zu ihr sprach, raubte Jaycee die Sprache. Sie ging über den dicken Teppich zu ihm, um ihn aus der Nähe zu betrachten. Ungläubig starrte sie ihn an. „Wow!" flüsterte sie total unprofessionell. „Simon, Sie sehen fantastisch aus." Er grinste schief. „Das beantwortet nicht ganz meine Frage." Kopfschüttelnd ging sie langsam um ihn herum, wobei sie ihn von oben bis unten musterte. In den raren Momenten, in denen seine Hände nicht in den Hosentaschen versteckt waren und seine Schultern nicht herabhingen, hatte der Verdacht sie beschlichen, dass er unter seinen grausigen Polyester-Hosen und schlecht sitzenden weißen Hemden einen traumhaften Körper versteckt hielt. Trotz einiger erfreulicher Anzeichen war sie in keiner Weise auf diesen atem beraubenden Mann vorbereitet gewesen. „Es ist einfach erstaunlich", flüsterte sie, während sie dicht vor ihn trat und seine Fliege ausrichtete. „Man sagt, dass Kleider Leute machen. Ich glaube, bei Ihnen ist es eher umgekehrt. Sie sind es, die diesen Smoking zu einer wahren Glanznummer machen." Ganz davon zu schweigen, was er mit ihr tat. „Und warum brauche ich dieses Ding?" Sie verkniff sich ein Lächeln. Während sie einen unsichtbaren Fussel von seiner Schulter wischte, blickte sie in seine Augen und sagte: „Um benutzerfreundlich zu werden. Das wollten Sie doch, oder?" „Nicht zu diesem Preis!" Er hob den Arm, so dass das Preisschild zwischen ihnen baumelte. „Ich bin Wirtschaftsprüfer, Jaycee. Ich glaube nicht, dass ich je einen Smoking benötigen werde." „Da Ihre Firma ihr Image verändern will, ist es sehr gut möglich, dass Sie ab und zu für Ihre Klienten eine Show abziehen müssen. Ich meine damit Honig um den Bart schmieren, oder, gewählt ausgedrückt, persönliche Kontaktpflege, die förmliche Geselligkeiten mit förmlicher Kleidung durchaus mit einschließen kann." „Zu schade", sagte er sarkastisch, „da nämlich schon ein halbes Dutzend neue Anzüge im Kofferraum Ihres Wagens liegen." „Ach, Simon, hören Sie mit dem Gejammer auf." Sie strich an seinem Arm hinab, um eine nicht vorhandene Falte in seinem Ärmel zu glätten. „Sie sehen fantastisch aus." Wieder erschien dieses schiefe Grinsen in seinem Gesicht, das ihrer Professionalität gar nicht gut tat. „Fantastisch, hm?" Das diskrete Klopfen an der Tür zu dem privaten Ankleidebereich rettete Jaycee davor, sich völlig zur Närrin zu machen. „Wir nehmen den Smoking", sagte sie zu dem Verkäufer, sowie er den Raum betrat. Simon warf ihr einen grimmigen Blick zu und verschwand in der Umkleidekabine, während der Verkäufer die anprobierten Sachen zusammensammelte und auf den Smoking wartete. Mit dem Kleiderstapel im Arm zog er sich wieder diskret zurück. „Wissen Sie, Jaycee, das Aussehen ist nicht alles", bemerkte Simon, als er aus der Kabine trat. Eine dunkelolivefarbene Hose und ein sandfarbenes Hemd mit dezenten schiefergrauen und olivgrünen Streifen ersetzten sein vorheriges Outfit, und statt der gewohnten schwarzen Halbschuhe trug er neue italienische Slipper in einem hellen Braun, die den Eindruck legerer Eleganz vervollständigten. „Was wollen Sie damit sagen?" „Dass Sie mich zwar anziehen können wie Barbies Freund, dass ich aber trotzdem keine KenPuppe bin." An dem Argument ist was dran, dachte sie. Er sah unbeschreiblich attraktiv aus, aber wie stand es mit seiner Fähigkeit, mit Menschen zu kommunizieren, potenzielle Klienten mit Charme und Beredsamkeit zu gewinnen? War Simon dieses Talent nicht genauso fremd wie ihren Brüdern die Gleichberechtigung? Plötzlich hatte sie eine Idee und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ja, VEGT war genau das Richtige für Simon, dort würde er beobachten und lernen können. Sie würde ihn zu dem nächsten Treffen der Selbsthilfegruppe für Trauerarbeit mitnehmen, der ihre Großmutter sich auf den Rat ihres Tierarztes hin angeschlossen hatte, nachdem ihr geliebter Kanarienvogel Pietro verstorben war. Jaycee hatte ihre Granny zu den monatlichen Meetings der Gruppe gefahren, bis Martha Richmond vor vier Monaten erklärte, dass sie den Verlust überwunden hätte und an den Treffen nicht länger teilnehmen würde. Aus Gründen, die Jaycee nicht näher untersuchte, ging sie weiter zu den Zusammenkünften der Trauernden. Sie redete sich ein, dass sie es wegen der Leute in der Gruppe tat, weil sie so reizend und so interessiert waren und für ihre Ambitionen
Verständnis hatten. Außer Fiona waren die Mitglieder von VEGT die Einzigen, die ihre akademischen Leistungen ernst nahmen. Sie schüttelte ihre düsteren Gedanken ab und ging auf Simon zu, um seinen tadellos sitzenden Hemdkragen zu richten. „Ich habe eine Idee", sagte sie, während sie ihn mit einem sanften Druck am Arm aus dem Raum führte. „Ich gehöre einer Selbsthilfegruppe an, die sich heute Abend trifft. Haben Sie nicht Lust, mitzukommen?" „Und was soll ich da?" „Zuhören. Beobachten. Lernen", sagte sie, während sie durch den eleganten Verkaufsraum zum Tresen gingen. Simon zückte automatisch seine Kreditkarte und wartete, dass der Verkäufer den Rechnungsbeleg ausdruckte - für ein Kleidungsstück, das er mit Sicherheit niemals tragen würde. Herausgeworfenes Geld, dachte er. Andererseits war Jaycees Reaktion, als er in dem Smoking aus der Umkleidekabine trat, den horrenden Preis beinahe wert. Schließlich stand der Ausruf „Wow!" für uneingeschränkte Bewunderung. „Sie werden sehen, wie einfühlsam die Mitglieder von VEGT aufeinander eingehen", fuhr Jaycee fort, während sie sich dem Krawattenständer in der Nähe der Kasse zuwandte und die edlen Seidenkrawatten begutachtete. „Sie glauben nicht, was für interessante Entdeckungen man über die menschliche Natur machen kann, wenn sie in einer Atmosphäre von Toleranz und Verständnis bloßgelegt wird. Ich garantiere Ihnen, Sie werden eine Menge über zwischenmenschliche Kommunikation lernen." Sie zog eine Krawatte mit Paisleymuster in Blau und Brau von dem Ständer, hielt sie kurz zur Inspektion hoch, schenkte Simon ein Tausend-WattLächeln und legte die Krawatte auf den Tresen. „Die passt toll zu dem blauen Anzug, den wir vorhin zusammen gekauft haben." Zusammen gekauft? Das sah er etwas anders. Schon nach Laden Nummer zwei hatte er begriffen, dass es sinnlos war, mit ihr zu streiten, wenn es um das Thema Kleidung ging. Nicht nur, weil sie einen ausgezeichneten Geschmack hatte. Er konnte ihr einfach nicht widerstehen, wenn sie in eiserner Entschlossenheit den Blick auf ihn richtete. „Also, was meinen Sie?" Er zuckte mit den Schultern. „Ich schätze, es kann nicht schaden", sagte er und dachte an den viel größeren Schaden, den er seinem Sparkonto zufügen würde, wenn er nächsten Monat sein Girokonto ausgleichen musste. VEGT? Er hatte keinen blassen Schimmer, was das bedeutete. War Jaycee die Initiatorin der Gruppe? Hätte er auch nur eine Spur von ihrer Selbstsicherheit besessen, hätte er sie gefragt, wofür die Buchstaben standen. Stattdessen nahm er den Rechnungsbeleg entgegen, las die astronomische Summe und setzte seufzend seine Unterschrift auf die gepunktete Linie. „Das letzte halbe Jahr war sehr schwer für mich. Das Haus ist viel zu still." Die ältliche Frau tupfte mit einem Spitzentaschentuch an ihren feucht schimmernden Augen. „Moses und ich waren fast sechzehn Jahre zusammen, bevor er mir genommen wurde. Nach Harold dachte ich, ich würde keinen anderen mehr finden, aber dann hatte der liebe Gott Erbarmen und hat mir noch eine Segnung geschickt." Obwohl Simon sich in der Gruppe völlig fehl am Platz fühlte und sich am liebsten leise davongestohlen hätte, war er von Catherine Lincolns seelenvollen Worten, in denen sich die Trauer um ihren verstorbenen Mann offenbarte, irgendwie angerührt. Was sein Unbehagen keineswegs schmälerte. Zwei Dinge hielten ihn jedoch an seinem Platz - die Tatsache, dass er nicht zur Teilnahme aufgefordert wurde, und die Erinnerung an das freudige Glitzern in Jaycees Augen, als er vor etwa zehn Minuten den schummerigen Raum betreten hatte. „Ich kann Ihnen Ihren Schmerz nachfühlen, Catherine", sagte Lida, die Leiterin der Gruppe. Ihr warmherziger, ruhiger Ton hätte jedem Bestattungsunternehmer Ehre gemacht. „Aber vergessen Sie nicht aller guten Dinge sind drei. Ich bin sicher, das Glück kommt noch einmal zu Ihnen." „Es wird nie einen zweiten Moses geben", erwiderte Catherine mit bebender Stimme. „Nicht nach dieser Operation und diesem qualvollen Ende." Simons Blick schweifte zu Jaycee, die bei Catherines Worten mitfühlend nickte. Sie hatte ihm, als sie ihn nach dem Shopping bei seiner Wohnung absetzte, den Weg zum Gemeindezentrum beschrieben, wo sie sich gegen sieben treffen wollten. Dann aber harte das Abendessen bei seinem alten Herrn sich länger hingezogen, als er geplant hatte. Ihm war schon bei seinen letzten Besuchen aufgefallen, dass sein Vater ihn neuerdings nur widerstrebend gehen ließ, was ihn wunderte, da Steven Hawthornes Lebensmotto Unabhängigkeit war. Mit einer halben Stunde Verspätung kam Simon im Gemeindezentrum an und fand erst nach längerem Suchen den Tagungsraum der Gruppe. Da in Jaycees Nähe kein Platz mehr frei war, setzte er sich an die Seite und beobachtete. Nicht nur die Gruppe, sondern vor allem die Frau, an die er ständig denken musste, seit er sie kennen gelernt hatte. Den ganzen Nachmittag über hatte er sich gefragt, wozu jemand wie Jaycee eine Selbsthilfegruppe brauchte. Aber nachdem er zehn Minuten lang Mrs. Lincolns Litanei über ihren
geliebten Moses gelauscht hatte, dämmerte es ihm, und sein Unbehagen wuchs - trotz Jaycees Bedürfnis nach der Gruppe. Sie und die anderen Mitglieder von VEGT unterstützten sich gegenseitig in dem Bemühen, mit dem Verlust eines geliebten Menschen fertig zu werden. „Nein, einen zweiten Moses wird es sicher nicht geben, und Moses' Krankheit war bestimmt eine schwere Belastung für Sie", sagte Lida mit weicher Stimme. „Aber das bedeutet nicht, dass Sie nicht noch einmal Ihr Glück finden können, Catherine." „Wir alle haben es verdient, glücklich zu sein", sagte daraufhin ein älterer Herr und erhielt von den anderen zustimmendes Nicken. „Duke hat Recht", bestätigte Lida und drückte bekräftigend Catherines Hand. Simon sah, wie Jaycee leise aufstand und zum hinteren Ende des Raums huschte, wo ein langer Tisch stand, der offenbar als Erfrischungsbüfett diente. Sie trat hinter den Tisch und öffnete einen großen rosa Konditoreikarton, aus dem sie Kuchenstücke nahm und auf Papptellern verteilte. „Es war ein so tröstliches Gefühl, Moses' Kopf auf dem Kissen neben mir zu spüren, wenn ich nachts wach wurde." Catherines wehmütige Stimme zog Simons Aufmerksamkeit von Jaycee fort und wieder zur Gruppe. „Ich glaube, das vermisse ich am meisten. Das und wie er um mich herumscharwenzelt ist und sich an mich geschmiegt hat, wenn ich von meiner Patchworkgruppe oder vom Canasta-Abend bei Betty Miller nach Hause kam. Moses hat es einfach gehasst, allein gelassen zu werden." Simon kannte das Alleinsein sehr gut und hatte bis zu diesem Moment geglaubt, dass es ihm nichts ausmachte. Er war nicht einsam, aber jetzt, da er den Mitgliedern von VEGT zuhörte, wurde ihm bewusst, dass er auch nicht richtig zufrieden war. Er hatte ein paar Kumpel, mit denen er sich gelegentlich traf. Sie waren keine Kneipentypen, sondern eine kleine Gruppe intellektueller Singles mit ähnlichen Interessen. Nette Freundschaften, aber auch nicht mehr. Tiefe emotionale Bindungen von der Art, wie Catherine Lincoln sie beschrieb, existierten in Simons Freundeskreis nicht. „Meine Prissy war genauso", sagte Duke. „Das alte Mädchen hat ein Mordstheater gemacht, wenn ich sie zu lange allein gelassen hab." Rupert, ein extrem großer und schlanker junger Mann, kicherte und beugte dann seinen langen Körper zu dem fülligen kleinen Duke. „Das ist gar nichts, Schätzchen", verkündete er mit einer theatralischen Handbewegung. „Mr. Jones hat sich in solchen Fällen ostentativ zum Schlafen auf dem Sofa eingerollt, und wehe, wenn ich versucht hab, ihn aufzuwecken. Einmal hätte es mich fast meine Hand gekostet." Duke zog seine buschigen grauen Augenbrauen zusammen. „Dafür hättest du ihn zurechtweisen müssen, Rupert." „Duke hat Recht. Man kann ihnen nicht alles durchgehen lassen", piepste eine kleine grauhaarige Frau mit kaum hörbarer Stimme. Mr. Jones' hinterbliebener Lebensgefährte kicherte wieder. „Gibst du ihnen den kleinen Finger ..." „... nehmen sie die ganze Hand", ergänzte Catherine. „Es ist wahr, man muss ihnen Grenzen setzen, aber die Liebe macht das manchmal wirklich schwer." Aus irgendeinem Grund fand Rupert das komisch und kicherte wieder los, bis Lida das Gespräch unter Kontrolle brachte. „Georgia, Sie waren eine ganze Weile nicht hier. Wie geht es Ihnen?" wandte sie sich an eine sehr junge Frau, die Simon auf achtzehn, neunzehn Jahre schätzte. Simon blickte zu Jaycee und betrachtete ihr Gesicht, während er halb zu Georgia hinhörte, die ihre beste Freundin Hildy verloren hatte. Er fragte sich, um wen Jaycee trauerte und ob sie sich oft einsam fühlte. Sein alter Herr hatte immer gesagt, dass alleine sein und einsam sein nicht dasselbe sei und dass er mit dem Alleinsein bestens zurechtkäme. Er war mit Mitte dreißig Witwer geworden und hatte damals bewusst entschieden, nicht wieder zu heiraten. Und bei jeder Gelegenheit pries er Simon gegenüber seine Unabhängigkeit und Freiheit. In letzter Zeit jedoch fragte Simon sich häufiger, ob sein alter Herr nicht vielleicht doch einsam war. Nun, da er in seine „goldenen Jahre" kam, bedauerte er womöglich seinen Entschluss, unverheiratet zu bleiben. Das, so dachte Simon, würde erklären, warum sein Dad ihn neuerdings unter allen möglichen Vorwänden anrief und ihn nur widerstrebend gehen ließ, wenn er ihn besuchte. Was ist die ganze Unabhängigkeit wert, wenn man sich am Ende einsam fühlt? überlegte Simon. Nur weil sein Vater sich entschieden hatte, allein zu bleiben, musste er das nicht auch tun, oder? Nein, dachte er und wendete seinen Blick von der Gruppe wieder zu Jaycee. Nein, er würde nicht denselben Fehler wie sein Vater machen. Er musste nur darauf achten, dass seine zukünftige Frau zu seinem ruhigen Lebensstil passte. Unglücklicherweise schloss dies lebhafte und betriebsame und kontaktfreudige Frauen aus, obwohl eine ganz bestimmte Vertreterin dieses Typs seine Körpertemperatur in beunruhigende Höhen jagte. Simon beobachtete, wie Jaycee Plastikbestecke und Papierservietten auf den Tisch legte und die riesige Thermoskanne überprüfte. Dann blickte sie in seine Richtung. Er hielt ihren Blick fest, und sogar aus der Entfernung konnte er sehen, wie ihre Augen sich verdunkelten. Dachte sie an den
KUSS?
Wünschte sie, dass er sie noch einmal küsste? Fragte sie sich, wie es sein würde, mit ihm
zu schlafen?
Er dachte an den KUSS. Und hoffte, sie nochmals zu küssen. Und sie zu lieben. All das
beschäftigte ihn ununterbrochen.
Am liebsten wäre er aufgestanden und zu ihr nach hinten gegangen. Die Interaktion der Gruppe
hatte er nun wirklich lange genug beobachtet, und offen gestanden erkannte er nicht ganz den
Sinn in der Sache. Wie sollte er von einem Grüppchen trauernder Leute lernen, im
gesellschaftlichen Umgang gewandter zu werden? Hätte eine andere Art Interaktion ihm nicht
weit mehr genützt?
..Mein Ichabod hat immer so ein merkwürdiges Geräusch in seiner Kehle gemacht", berichtete
Carlotta, eine erfolgreiche Zeitungsverlegerin. „Ich hatte keine Ahnung, dass es vom Splitter
eines Hühnerknochens herrührte."
Simon verzog das Gesicht. Er hatte sich einmal als Kind an einem Hot Dog verschluckt, und es
hatte höllisch wehgetan. Wie musste es sich erst anfühlen, wenn einem ein Hühnerknochen in
der Kehle quer saß!
„Hat der Arzt Ihnen denn nicht gesagt, dass Sie ihm keine Hühnerknochen geben dürfen?" fragte
Catherine entsetzt. „Besonders bei seinem Alter."
„Ich hab sie ihm nicht gegeben", erwiderte Carlotta leicht gereizt. „Er hat sie immer aus dem
Mülleimer stibitzt, wenn ich nicht in der Nähe war."
Simon glaubte, er hörte nicht richtig. „Ihr Mann musste sich sein Essen aus dem Müll holen?"
platzte er heraus. „Kein Wunder, dass er gestorben ist, wenn er Hähnchenreste aus dem
Abfalleimer gegessen hat."
Die Mitglieder der Gruppe starrten ihn entgeistert an. Rupert kicherte. Carlotta wurde rot vor
Empörung. Jaycee schoss um das Büfett herum. „Simon, es ist nicht, was Sie denken."
„Also, das ist doch ... Wie können Sie es wagen! Wie kommen Sie zu solchen Unterstellungen?"
Er ignorierte Jaycees Beschwichtigungsversuch. Carlottas Entrüstung ließ ihn kalt. Eine Frau,
deren Ehemann sich seine Nahrung heimlich aus dem Mülleimer klauben musste, war in seinen
Augen ein Monster. Und dass diese Person auch noch die Unverfrorenheit besaß, in einer
Gruppe netter Leute nach Trost und Verständnis zu suchen! Er konnte es einfach nicht fassen.
Unterstellungen ...
Nicht, was er dachte ...
Er blickte von Gesicht zu Gesicht, seine Gedanken rasten, eine Hitzewelle schoss in ihm
hoch, bevor die Erkenntnis ihn traf wie ein Blitz.
Mr. Jones war nicht Ruperts Liebhaber gewesen, sondern sein Hund! Catherine, Duke,
Georgia - alle, die hier versammelt waren, trauerten um ein geliebtes dahingeschiedenes
Haustier.
Sekundenlang saß Simon wie gelähmt da. Dann stand er abrupt auf. „Entschuldigen Sie",
sagte er tonlos zu der schweigenden Runde und eilte zur Tür. Er wusste, er würde nie der
Mann sein können, den Jaycee sich vorstellte.
7. KAPITEL Simons erster Impuls war, in seinen Wagen zu steigen und nach Hause zu fahren. Und morgen Jaycee anzurufen und sich für ihre Mühe zu bedanken. „Nett, dass Sie es versucht haben, aber leider ..." Nein. Er mochte ein Trottel sein, aber ein Feigling war er nicht. Er würde auf sie warten und ihr von Angesicht zu Angesicht sagen, dass sie zu viel verlangte. Oder - genauer - dass er nicht von ihr verlangen könnte, ein Wunder zu vollbringen. Zuhören und beobachten - trotz ihrer kinderleichten Aufgabe hatte er total versagt und sich vor der ganzen Versammlung lächerlich gemacht. Das Schlimmste war, dass er sich über seinen idiotischen Ausbruch vor der Gruppe gar nicht so sehr ärgerte. Nein, was ihn aus dem Raum getrieben hatte, war der entsetzte Ausdruck in Jaycees Augen, als er die Mülleimer-Mahlzeiten von Carlottas verstorbenem Liebling kommentierte. Hinzu kam seine Enttäuschung, nachdem er für einige wenige Stunden geglaubt hatte, Jaycee könnte einen neuen Mann aus ihm machen. Erinnerungen stiegen in ihm auf - Erinnerungen an den Tag, als seine Mutter starb. Er war erst sechs Jahre alt gewesen, aber sein Vater hatte ihn mit der harten Realität konfrontiert, statt das Unfassbare kindgemäß zu verbrämen. Elena Hawthorne war gestorben und würde nie zurückkommen. Für den kleinen Jungen war das schwer zu verstehen und eine unermessliche Enttäuschung, für den Mann das Ende eines Lebens und einer Ehe.
Simon nahm an, dass seine Eltern sich auf ihre eigene Art geliebt hatten, aber seine Erinnerungen waren nicht nur von Sonnenschein und Blumen und glücklichem Lachen erfüllt. Als Kind hatte er die Streitereien seiner Eltern nicht verstanden, später jedoch war ihm klar geworden, dass sie nicht zusammenpassten und eine Scheidung für sie und auch für ihn das Beste gewesen wäre. Und wahrscheinlich hätten sie sich früher oder später getrennt, wenn das Schicksal nicht interveniert und einen arbeitsbesessenen Mann mit seinem sechs jährigen Jungen zurückgelassen hätte. Fortan fehlte der sanftere, weichere Einfluss in Simons Leben. Er hatte nur wenige Erinnerungen an seine Mutter, aber ganz zweifellos war sie eine willensstarke, unternehmungslustige und lebenssprühende Frau gewesen. Simon erinnerte sich an ihr melodisches Lachen, an die fantastischen Geschichten von Rittern und Drachen, die sie ihm abends am Bett erzählte. Sie liebte es, sich hübsch anzuziehen und auszugehen, und Simon entsann sich der herrlichen Nachmittage im Sommer, wenn sie mit ihm in eines der Strandcafes Eis essen ging. Wie musste sie es gehasst haben, Abend für Abend allein zu Hause zu sitzen, während ihr Mann bis in die späten Abendstunden in seinem Büro arbeitete, um seine Buchhaltungs- und Steuerberatungsfirma aufzubauen. Steven Hawthorne zog Heim und Herd dem vielfältigen Nachtleben von Seattle vor - welche unternehmungslustige Ehefrau konnte das lange ertragen? Was ist aus jenem kleinen Jungen geworden? fragte Simon sich. Aus dem Knirps, der fasziniert den spannenden Geschichten von Rittern und Drachen und gefangenen Königstöchtern gelauscht hat? Der nicht genug von diesen albernen Abenteuerspielen bekommen konnte, wo Mutter und Kind so taten, als wäre in der Wolldeckenhöhle ein Schatz versteckt. Oder der Kirschbaum im Garten war eine Burgmauer, die der furchtlose Ritter Sir Simon erklimmen musste, um die Königstochter zu erlösen. Jener kleine Junge hatte ununterbrochen geplappert. Und er hatte vor nichts Angst gehabt. Weder vor dem Feuer speienden Drachen, den er hinter der Burgmauer entdeckte, noch vor den Piraten, die den Schatz bewachten. Jener kleine Junge hatte alle Hindernisse über wunden, um die Prinzessin zu befreien. Aber dann wurde die Prinzessin weggeholt, und alles wurde anders. Ihre Geschichten und magischen Abenteuer hatte sie zurückgelassen, aber es war niemand da, um sie weiterzuspinnen. Simon stieß einen Seufzer aus. Die Vergangenheit war nicht zu ändern. Vielleicht wäre er ein wenig mehr wie seine Mutter geworden, wenn sie den Brustkrebs besiegt hätte und am Leben geblieben wäre. Vielleicht hätte ihr Bedürfnis nach Geselligkeit ein wenig auf ihn abgefärbt. Von einem arbeitssüchtigen Vater und einer pflichtbewussten Haushälterin großgezogen, hatte er gelernt, dass harte Arbeit belohnt wird und - wichtigster Grundsatz seines alten Herrn - dass man sich nur auf sich selbst verlassen sollte. Ein Grundsatz, den Simon offenbar vergessen hatte - bis zu diesem Abend. Es war absolut unsinnig gewesen, Jaycee anzuheuern und von ihr das Wunder einer totalen Umwandlung zu erwarten. Feigling oder nicht - er suchte die Autoreihen auf dem Parkplatz nach seinem Wagen ab und ging über den Vorplatz zu dem breiten Treppenaufgang. „Gehen Sie nicht. Bitte!" Er blieb stehen. Welcher Mann, der seine fünf Sinne beisammenhatte, wäre gegangen, wenn eine süße, sinnliche Frau ihn bat zu bleiben? Nicht einmal er brachte das fertig, trotz der betrüblichen Realität. Er drehte sich um und sah sie über den Platz vor dem am Meer gelegenen Gemeindezentrum eilen. Sie trug dasselbe bananengelbe Leinenkleid, das sie bei ihrem Einkaufsbummel angehabt hatte, und sah noch genauso frisch aus wie am Mittag, als sie ihn abgeholt hatte. Die Meeresbrise spielte in ihrem dichten kastanienbraunen Haar. Jaycee schob sich eine Strähne hinters Ohr und sah ihn zerknirscht an. „Es ist meine Schuld", sagte sie, „ich dachte ..." „... dass ich wüsste, worum es in Ihrer Selbsthilfegruppe geht? Nein, ich habe nicht gewusst, dass diese Leute da drinnen um ihre verstorbenen Haustiere trauern und nicht um einen geliebten Menschen." Er stopfte die Hände in die Hosentaschen. „Das war ziemlich peinlich." „Ich weiß. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie Leid mir das tut." Sie legte begütigend die Hand auf seinen Arm. „Ich habe nicht nachgedacht." Er hatte ebenfalls Mühe zu denken, da die Wärme ihrer Hand ihn ablenkte. „Ich verstehe nicht ganz, wieso mir dies Gruppentreffen nützen sollte", sagte er leicht gereizt. „War es als ein Intensivkurs in Selbsterniedrigung gedacht? Falls ja, hab ich toll abgeschnitten."
„Es tut mir schrecklich Leid, Simon." Sie zog die Hand von seinem Arm fort. „Dies sind die tolerantesten Leute, die ich kenne. Bis auf ganz wenige Ausnahmen fällen sie keine Urteile über andere. Sie sind lieb und nett und ohne jede Häme. Ich hatte gehofft, dass Sie sich in dem Kreis wohl fühlen würden." Er gab einen kurzen, schroffen Laut von sich, der eigentlich ein Lachen werden sollte. „All das hätten Sie mir erklären müssen. Dieser Abend hat mir nichts gebracht - außer dass ich mich jetzt wie ein kompletter Idiot fühle." Sag es ihr! drängte sein Gewissen. Sag ihr, dass ihre Dienste nicht länger erwünscht sind. Er brachte es nicht fertig. Denn wenn er ihr dies sagen würde, dann würde er sie nie wieder sehen. Ein deprimierender Gedanke. Selbst das alte Argument, dass Frauen wie sie sich mit Typen wie ihm nicht einließen, konnte die Worte nicht aus ihm herauszwingen. Als er in ihre saphirblauen Augen blickte und den zarten, blumigen Duft ihres Parfüms in sich aufnahm, gestand er sich ein, dass er eigentlich nur eines tun wollte - sie in die Arme ziehen und küssen. Statt seinem Wunsch nachzugeben, vergrub er seine Hände in den Hosentaschen und sagte: „Schwamm drüber. Sie müssen nicht sich allein die Schuld geben. Ich hätte Sie fragen sollen, worum es geht, statt irgendwelche Vermutungen anzustellen." Er sah, wie ihr Gesicht sich entspannte. Sie lächelte sogar ein winziges Lächeln. „Wofür steht VEGT denn nun genau?" fragte er. „Verlust eines geliebten Tieres", klärte sie ihn auf. „Und was hat Sie zu der Gruppe gebracht?" „Meine Großmutter hatte einen Kanarienvogel", begann sie, während sie zu der Brüstungsmauer bei der Treppe schlenderte und von dem Trauerfall und dem Rat des Tierarztes erzählte. „Da mein Großvater nichts von Dingen wie Selbsthilfegruppen hält", fuhr sie fort und setzte sich auf die Brüstung, „bat Granny mich, sie zu den Meetings zu fahren." „Ich hab gar nicht gewusst, dass Ihre Großmutter dabei war", sagte er, aber wie hätte er es auch wissen können, wenn er Jaycee nicht einmal die Chance gegeben hatte, ihn den Gruppenmitgliedern vorzustellen? Zuerst kam er eine halbe Stunde zu spät, und dann flüch tete er Hals über Kopf. Sie drehte ihr Gesicht von ihm fort und blickte zum Meer hinüber. „Meine Großmutter war nicht bei dem Treffen. Sie geht schon seit ein paar Monaten nicht mehr hin." „Dann hatten Sie Pietro wohl sehr lieb, oder?" Sie schüttelte den Kopf und lächelte. „Nein." Nach einer kleinen Pause wandte sie ihm wieder das Gesicht zu. „Ich gehe wegen der Gruppe hin." „Verstehe." Er verstand keineswegs. Sie lächelte noch immer. „Ich weiß, es ist ziemlich verrückt, zu einer Gruppe zu gehen, der man nicht wirklich angehört. Aber diese Leute sind mir wichtig. Und ... danke, dass Sie mich nicht verurteilen." „Ich und Sie verurteilen? Warum sollte ich?" Sie zuckte mit den Schultern. „Möglich ist alles." Sag ihr, dass es keinen Sinn hat, mahnte sein Gewissen. Sag ihr, dass du ihre Beratung nicht länger willst, und geh dorthin zurück, wo du dich am besten auskennst. In der Einsamkeit. „Also", sagte er und setzte sich neben sie auf die Mauerbrüstung. „Was steht als Nächstes auf dem Programm?" „Daran habe ich gerade eben gedacht." Sie schaukelte mit den Beinen, und das lenkte seine Aufmerksamkeit auf diese beiden wundervoll geformten langen Gliedmaßen. Der Drang, über ihre seidige Haut zu streichen, war fast übermächtig. „Ein gesellschaftlicher Event mit mehr Interaktion als bloßer Beobachtung hätte Ihrem Bedarf mehr entsprochen", sagte sie. „Aber genau das bietet sich schon morgen Nachmittag. Eine Freundin von mir gibt bei sich zu Hause eine Grillparty. Ein kleines zwangloses Bei sammensein, nichts Pompöses. Eine perfekte Gelegenheit für Sie, Ihre kommunikativen Fähigkeiten aufzupolieren." In seinem Kopf schrillten Alarmsignale. Dies war exakt das, wovor ihm gegraut hatte. Situationen mit nur einem Gegenüber konnte er meistern, aber ein „zwangloses Beisammensein", wie Jaycee es nannte, bedeutete ein Gruppenereignis, an dem er sich beteiligen musste. Charme versprühen, witzig sein, geistreich plaudern und so weiter. Es konnte nur in einer Katastrophe enden. Von Panik erfasst, schoss er von seinem Platz hoch und begann auf und ab zu wandern. „Das wird nichts, vergessen Sie's." „Es wird klappen, glauben Sie mir."
„Wie soll ich etwas aufpolieren, wenn ich nicht mal das richtige Werkzeug für den Job besitze?" Plötzlich war da wieder das glitzernde Leuchten in ihren Augen, und sie lächelte herzlich. „Kommen Sie morgen um elf zu mir. Wenn wir am Nachmittag zu der Party aufbrechen, werden Sie gerüstet sein. Das verspreche ich Ihnen." „Wie können Sie sich so sicher sein?" fragte er argwöhnisch, über-' zeugt, dass das Unheil vorprogrammiert war. „Warten Sie's ab und überlassen Sie alles mir." „Können Sie mir bitte erklären, warum ich das wissen muss? Ich habe starke Zweifel, dass ich je mit potenziellen Kunden über ,zehn Tabus beim Dating' diskutieren werde." Jaycee ignorierte Simons Sarkasmus, da sie wusste, dass er damit nur seine Nervosität überdeckte. Er hatte Angst, sich auf Fionas Party lächerlich zu machen, und ihr Plan war, diese Angst durch Selbstsicherheit zu ersetzen. Allerdings war sie sich nicht völlig sicher, ob ihr das gelingen würde. Auf der Glasplatte ihres Esstisches lagen diverse Zeitschriften, die sie auf der gestrigen Heimfahrt vom Gemeindezentrum besorgt hatte, um sie als Lehrmaterial bei Simon einzusetzen. Ihre Auswahl umfasste die neuesten Ausgaben von „Good Housekeeping", „Time", „Newsweek", „Populär Science", „Sports Illustrated", „Outdoor Life" und ein Exemplar des „Cosmopolitain", das ihr Interesse erregt hatte. Natürlich nicht wegen des Artikels „Geheimnisse, wie man einen Mann im Bett glücklich macht", sondern weil sie den Bericht über erfolgreiche Karrierefrauen lesen wollte. Den Artikel über die Bettgeheimnisse fand sie zwar recht aufschlussreich, jedoch erschienen ihr die Recherchen der Autorin etwas zweifelhaft. Als sie Simons Blick auffing, schoss ihr die Frage durch den Kopf, was er wohl über Kirschlollis im Schlafzimmer denken mochte. Sie konzentrierte sich wieder auf ihren Job. „Wenn wir heute Nachmittag zu der Party gehen, werden Sie genug Wissen haben, um sich so ziemlich über jedes Thema zu unterhalten angefangen bei den aktuellen politischen Ereignissen und den neuesten wissenschaftlichen Entdeckungen bis hin zu der Frage, wo dieses Jahr die Großmaulbarsche zu finden sind." „Immerhin besser, als über Verhaltensregeln bei einem Date zu philosophieren", entgegnete er brummig, legte den „Cosmopolitain" beiseite und griff nach der Sportzeitschrift. „Aber genauso wichtig. Dieser Artikel über den Liga-Aufstieg der „Seattle Mariners ..." Jaycee tippte auf die Seite, die er aufgeschlagen hatte, „... würde einen tollen Aufhänger bei einer schleppenden Unterhaltung abgeben." „Ich bin kein Football-Fan", brummte er, während er den Artikel überflog. „Und was ist mit diesem Bericht über das politische Gerangel um die Gesundheitsreform?" fragte sie und schlug das Nachrichtenmagazin „Newsweek" auf. „Business ist mehr als einfach nur Business, Simon. Man muss seine Klientel kennen und ein gemeinsames Terrain finden - Gesprächsthemen, um das Eis zu brechen, oder als Ausklang, wenn das Geschäftliche erledigt ist." Er lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Das dunkelblaue kurzärmelige Hemd mit den feinen sandfarbenen Nadelstreifen und die sportliche Khakihose standen ihm fantastisch und brachten seinen schlanken Körper voll zur Geltung. Er wirkte locker und entspannt, wie jemand, der sich auf ein paar nette Stunden mit Freunden in einer zwanglosen Atmosphäre freut. Fort war der schlaksige Bursche mit der dicken Brille und dem Brillantine-Look und der Polyesterhose. Jaycee hatte ihn irgendwie niedlich gefunden, als er am Freitagnachmittag in ihrem Büro aufkreuzte. Jetzt war er schlichtweg umwerfend. Während ihrer Shoppingtour war Jaycee aufgefallen, dass er Schwierigkeiten mit der Kombination von Farben hatte. Er wusste ganz einfach nicht, welche Farben zusammenpassten, was erklärte, warum er nur weiße Hemden und einfarbige, gedeckte Krawatten trug. Daher hatte sie bei der Auswahl seiner neuen Garderobe darauf geachtet, dass alle einzelnen Teile farblich harmonierten. Und ihre Idee hatte offensichtlich funktioniert, denn sein Anblick hatte ihr förmlich den Atem geraubt, als er heute Morgen um Punkt elf vor ihrer Tür stand. Er griff nach einer anderen Zeitschrift und blätterte darin herum. „Was ist falsch daran, über Geschäftliches zu reden?" Sie ließ sich auf dem Stuhl ihm gegenüber nieder. „Überhaupt nichts, solange es nicht das einzige Thema bleibt. Deshalb habe ich diese Magazine besorgt - um Ihnen zu zeigen, dass es im Leben noch andere Dinge gibt als nur Business und Karriere. Außerdem möchte ich,
dass Sie sich ein grundlegendes Allgemeinwissen aneignen, damit Sie mit den Leuten
kommunizieren können und einigermaßen intelligent klingen."
Er runzelte die Stirn. „Ich bin intelligent", sagte er leicht gereizt.
Sie seufzte und stand wieder von ihrem Stuhl auf. „Was ich meine, ist, dass es auf der Welt
mehr gibt als Gewinn- und Verlust-Berechnungen. Haben Sie Hunger?"
Auf sein Nicken hin ging sie in die angrenzende Küche, wo sie einen gemischten Salat mit
gegrillten Hähnchenstücken und einen Krug Eistee vorbereitet hatte.
„Dies ist schwieriger, als ich gedacht hatte", sagte er, während sie das Dressing unter den
Salat mischte.
„Hatten Sie nicht gesagt, Sie seien intelligent? Diese Zeitschriften sind nun wirklich nicht
extrem anspruchs..." sie brach ab, als es an der Tür läutete. „Ich geh rasch öffnen. Wenn Sie
mit dem Artikel über die Gesundheitsreform fertig sind, nehmen Sie sich ,Outdoors' vor und
lesen Sie den Artikel ,Die besten Köder für Bachforellen'."
Sie erwartete niemanden und dachte sich, dass vielleicht Schüler von Haus zu Haus gingen,
die für irgendeinen guten Zweck Geld sammelten. Oder Vertreter einer
Religionsgemeinschaft, die Mitglieder für ihre Kirche gewinnen wollten. Die
Sonntagvormittage, wenn die Leute zu Hause waren, boten sich für solche Besuche an. Sie
hätte nicht überraschter sein können, als sie durch den Türspion Dane erblickte.
„Einen Moment", rief sie und hastete ins Esszimmer zurück. „Es ist mein Bruder", zischte sie
Simon zu, zog ihm die „Newsweek" aus der Hand und warf das Heft auf den Tisch.
Er sah sie verdattert an. „Dürfen Sie keine Männer zu Besuch haben, oder was?"
„Simon, bitte ..." flehte sie, nicht im Geringsten von seinem Witz belustigt. „Stellen Sie keine
Fragen. Nicht jetzt. Tun Sie mir einfach nur den Gefallen und ..."
Und was? Du lieber Himmel, was sollte sie mit Simon tun? Sie konnte ihn auf keinen Fall
ihrem Bruder vorstellen, da sie Dane dann auch den Rest erklären müsste. Was das Ende
ihres Projekts bedeuten würde. Lügen kam ebenfalls nicht in Frage, da sie eine miserable
Lügnerin war.
„Verstecken Sie sich!" platzte sie heraus.
Er sah sie an, als ob sie nicht ganz dicht wäre. Tatsächlich war sie kurz davor,
durchzudrehen.
„Verstecken?"
Sie packte seine Hand und zog ihn vom Stuhl hoch und zur Küche.
„Ja! Sie müssen sich verstecken!" Hektisch blickte sie umher. „Da. Nun machen Sie schon."
„Sie wollen mich unter dem Spülbecken verstecken?" fragte er ungläubig.
Sie ließ seine Hand los, und plötzlich schnippte sie mit den Fingern. „Ich hab's! Tun Sie so,
als ob Sie das Abflussrohr reparieren."
Er sträubte sich, als sie versuchte, ihn zur Spüle zu schieben. „Ich verstehe nichts von
Klempnerarbeiten."
Sie stieß einen ungeduldigen Seufzer aus. „Das spielt keine Rolle. Hantieren Sie einfach nur
ein bisschen an den Rohren herum."
„Jaycee?" Lautes Klopfen an der Tür. „Jaycee, bist du okay? Warum machst du nicht auf?"
Und wenn sie ihn im Schlafzimmer ... Nein! Nicht dran zu denken, was ihr Bruder sagen
würde, falls er ins Bad gehen wollte und im Schlafzimmer einen Mann fand. Noch schlimmer
- was würde er ihren Eltern erzählen?
„Komme sofort", rief sie, und dann flüsterte sie mit panikerfüllter Stimme: „Bitte, Simon.
Kommen Sie erst wieder raus, wenn ich es Ihnen sage, okay?"
Sein Blick sagte ihr, dass er eine Erklärung verlangen würde, und sie wusste, dass sie ihm
eine schuldig war. Aber zuerst müsste sie mit Dane fertig werden.
Sie wartete, bis Simon sich vor den Unterschrank hockte, wobei er etwas wie „Angestellter
der Telefongesellschaft war mir lieber" murmelte. Dann eilte sie zur Tür.
„Dane!" rief sie und hoffte, ihr Lächeln wirkte einigermaßen echt. „Was für eine
Überraschung! Besuch am Sonntagmorgen - wie komme ich zu der Ehre?"
„Da Mutter dich nicht in der Kirche gesehen hat", sagte ihr Bruder und schob sich an ihr
vorbei in den Korridor, „hat sie mich gebeten, bei dir vorbeizuschauen. Du kennst sie ja, sie
macht sich immer gleich Gedanken."
„Ich weiß, aber wie du siehst, bin ich gesund und munter. Ich war gestern Abend aus und
hab lange geschlafen."
„Das dachte ich mir. Hast du noch frischen Kaffee?"
„Nein!" Es war zu spät. Dane war bereits um die Ecke gebogen und blieb am Eingang zur
Küche stehen.
„Wer ist das?" fragte er im herrischen Ton des großen Bruders.
Jaycees aufgesetztes Lächeln wurde immer kläglicher, als sie an Dane vorbei in die Küche
blickte. Simon lag auf dem Rücken, die Hälfte seines Oberkörpers unter der Spüle, seine
langen khakibekleideten Beine auf dem weißen Fliesenboden ausgestreckt.
„Der Klempner. Das Abflussrohr ist undicht."
„Warum hast du mich nicht angerufen?" fragte Däne, während er in die Küche schlenderte.
Er nahm einen Becher vom Regal und die Glaskanne von der Warmhalteplatte und schenkte
sich Kaffee ein. „Ich hätte das auch reparieren können. Weißt du, was diese Burschen für
Arbeiten am Wochenende verlangen?"
„Nicht genug", kam es aus dem Dunkel des Spülenschranks.
Jaycee stieß mit ihrer Sandalette gegen Simons Oberschenkel und grinste, als aus dem
Schrank ein gedämpftes „Au" ertönte. „Die Hausverwaltung bezahlt die Reparatur",
antwortete sie Däne.
„Ganz recht", erwiderte Däne. „Und zwar von dem Instandhaltungskonto, auf das du und die
anderen Eigentümer monatlich einen Batzen Geld einzahlt. Jaycee, wenn du etwas zu
reparieren hast, ruf mich oder Rick an. Du weißt, dass wir solche Dinge für dich erledigen."
Sie seufzte. „Ich soll also draußen unter meinem hübschen rosa Sonnenschirm sitzen,
während ihr heil macht, was dem armen, hilflosen, kleinen Ding kaputtgegangen ist?"
„Wir wollen dir nur helfen, das ist alles."
„Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass ich mich um mich selbst kümmern kann
und es sogar gern tue?"
„Ich verstehe nicht, warum, da du eine Familie hast, die dir jederzeit bereitwillig solche
lästigen Aufgaben abnimmt."
„Hast du in letzter Zeit mal auf den Kalender geschaut, Däne? Ist dir bekannt, in welchem
Jahrhundert wir leben? Die Frauen sorgen nun schon seit geraumer Zeit für sich selbst."
Er schoss ihr einen brüderlich-finsteren Blick zu und stellte seinen Becher auf den makellos
weißen Keramiktresen. „Na ja, ich hab nur reingeschaut, weil Mutter sicher sein wollte, ob du
okay bist. Außerdem sollte ich dich an das Familientreffen morgen Abend erinnern. Du
kommst doch, oder?"
Ihr Gestreite tat ihr sofort Leid, wie jedes Mal, wenn hinter dem autoritären Chauvi der nette
Bruder zum Vorschein kam. „Geht es um die Planung von Dads Geburtstagsparty?"
Dane nickte. „Zu seinem sechzigsten Geburtstag müssen wir uns was Besonderes einfallen
lassen, findest du nicht?"
„Und ob. Natürlich komme ich."
„Prima, dann sehen wir uns also morgen", sagte er und ging zur Tür.
Sie merkte an seiner Stimme und an seinen federnden Schritten, dass er sich auf den
gemeinsamen Abend freute. Sie bedeutete ihm eine Menge, das wusste sie, und er war
aufrichtig um ihr Wohl besorgt. Im Vergleich zu den anderen Männern in der Familie war
Dane noch am wenigsten frauenfeindlich. Was allerdings nicht viel besagte.
„Dane", rief sie, als er die Haustür öffnete. „Danke, dass du vorbeigekommen bist."
Er drehte sich zu ihr um, und seine Augen wurden weich. „Kein Problem. Übrigens, dieser
Klempner beschubst dich, Jay. Jeder weiß, dass man verstopfte Rohre leichter freikriegt,
wenn man Werkzeug benutzt." Er zwinkerte ihr zu und ging aus der Tür.
Toll! dachte Jaycee, als sie durch das Fenster beobachtete, wie ihr Bruder den Gehweg
hinunter in Richtung Parkplatz ging. Dane würde der Familie berichten, dass der Grund für
ihr Fernbleiben vom sonntäglichen Gottesdienst und dem anschließenden gemeinsamen
Brunch im Lieblingslokal der Familie ein MANN in ihrer Wohnung war. Ihr war klar, was
morgen außer der Geburtstagsfeier auf der Themenliste stehen würde: Spekulationen über
den Burschen, der sich unter dem Spülbecken in ihrer Küche versteckt hatte.
Besagter Mann kam nun um die Ecke und sah sie auffordernd an.
„Sie wollen eine Erklärung, nicht wahr?"
Simon nickte.
Sie steuerte auf das Esszimmer zu. „Lassen Sie uns essen. Ich möchte nicht mit leerem
Magen über diese Sache diskutieren."
8. KAPITEL Jaycee breitete umständlich die Serviette über ihren Schoß und trank einen Schluck von ihrem Eistee, während sie überlegte, wie sie am besten mit ihrer Erklärung anfing. „Erinnern Sie sich noch, was ich Ihnen gesagt habe, als Sie am Freitag in mein Büro kamen?"
„Sie sagten, dass das Kopiergerät nebenan stünde und dass ich eigentlich schon Donnerstag hätte kommen sollen." Sie beobachtete, wie er sich genüsslich eine Gabel voll Salat in den Mund schob. War er wirklich so begriffsstutzig, oder war dies eine kleine Rache dafür, dass sie ihm die Schmach angetan hatte, als ihr Klempner herzuhalten? „Nein, das meine ich nicht", sagte sie und zwang sich zu einem energischen Ton. „Ich meine die Antwort, die ich Ihnen gegeben habe, als Sie sagten, dass Sie mich als meine Imageberaterin engagieren wollten." Er kaute und kaute und schluckte endlich seinen Bissen herunter. „Sie haben gesagt, ich sei bei Ihnen an der falschen Adresse. Weil Better Images keine Einzelpersonen, sondern nur Firmen betreut." „Richtig. Erinnern Sie sich auch daran, als ich Ihnen sagte, ich könnte Ihnen dennoch helfen?" Wie könnte er das je vergessen? Jaycees Verfolgungsjagd und ihr spektakulärer Sprung in den Fahrstuhl standen nach wie vor ganz oben auf der Liste seiner schönsten Erlebnisse, die ihn zu Tagträumen inspirierten. Natürlich war ihr atemlos hervorgestoßenes Angebot in diesen Fantasien weitaus interessanter als das in der Wirklichkeit. Er nickte und trank einen Schluck von seinem Tee. „Klar erinnere ich mich. Ihre Zusage, mir zu helfen, war das Beste, was mir je passiert ist", erwiderte er und dachte: unser KUSS war das Beste, was mir je passiert ist, und ich möchte dich noch öfter küssen. „Nach Ihrer Abfuhr hatte ich überhaupt nicht damit gerechnet." Sie lächelte schwach. „Offen gestanden habe ich etwas getan, was nicht ganz ... Also, die Sache ist die. Ich bin ..." sie schloss die Augen, und als sie sie wieder öffnete, bemerkte Simon darin Unsicherheit. Am liebsten hätte er über den Tisch gelangt und seine Hand beruhigend auf ihre gelegt. „Ich bin für meine Brüder die Sekretärin", gestand sie. „Däne und Rick machen die Imageberatung, nicht ich. Zwar bin ich fachlich qualifiziert, aber ich führe nicht den Titel ,Imageberaterin'. Jedenfalls noch nicht." Er musterte sie aufmerksam. „Und Sie streben schon eine ganze Weile nach diesem Titel, nehme ich an." Ihm war klar, was sie antworten würde, bevor sie nickte. Ihre Verlegenheit war ein deutlicher Hinweis gewesen. Und der beinahe herablassende Ton, in dem ihr Bruder mit ihr geredet hatte, passte in das Bild, das sie jetzt von ihrer Situation malte. „Und dann sind Sie auf der Bildfläche erschienen, Simon, und ich sah meine Chance", fuhr sie fort. Sie schob ihren halb gegessenen Salat beiseite und seufzte frustriert. „Ich hab es schon vorher ein paar Mal versucht, aber meine Brüder haben mir die Kunden immer weg genommen, so dass ich mich ihnen nie beweisen konnte. Wenn ich Rick und Däne jetzt aber zeige, dass ich jemanden erfolgreich verändern kann, dann werden sie begreifen, dass ich mehr als fähig bin, dasselbe für eine Firma oder für ein Unternehmen zu tun. Sie werden mich wohl oder übel befördern müssen." Sie sah Simon offen ins Gesicht und lächelte zaghaft. „Deshalb will ich kein Honorar von Ihnen, verstehen Sie? Better Images hat mit Ihrem Auftrag nichts zu tun, es ist ein Deal zwischen Ihnen und mir. Ich arbeite auf eigene Faust und ohne Wissen meiner Brüder mit Ihnen und möchte mich dafür entschuldigen, dass ich Ihnen das alles nicht gleich zu Anfang erzählt habe." Er machte eine beschwichtigende Geste mit der Hand. Jaycee hatte ihm - abgesehen von der Sache mit ihrer offiziellen Stellung in der Firma - nichts erzählt, was er nicht schon wusste. Selbst in diesem Punkt hatte sie ihn nicht belogen, sondern ihn schlicht in dem Glau ben gelassen, dass sie Imageberaterin war. Dass sie in der Hierarchie bei Better Images einen unteren Rang bekleidete, war ihm sowieso in dem Moment klar gewesen, als er ihr zellenartiges Büro betrat. Eine aufstrebende Berufsanfängerin hatte er beim Anblick ihres bescheidenen Büros vermutet, womit er, außer was Jaycees Titel betraf, vollkommen richtig lag. All das erklärte jedoch nicht, warum sie ihn unter die Spüle geschubst hatte. „Warum das Versteckspiel vorhin?" fragte er. Sie fummelte nervös an ihrer Serviette. „Ich habe Ihnen erzählt, dass meine Brüder mir schon mehrere mögliche Kunden weggenommen haben. Sie sperren sich hartnäckig dagegen, dass ich in der Firma aufsteige und einen Job tue, der meinen Qualifikationen entspricht. Hätte ich Sie Däne als meinen Kunden vorgestellt, wäre ich Sie los gewesen. Nicht nur das - Sie selbst hätten auch im Regen gestanden. Meine Brüder hätten Sie kalt lächelnd abgewiesen, da, wie Sie wissen, Better Images keine Einzelpersonen betreut. Folglich hätten Sie sich eine andere Consulting-Firma suchen müssen, und das bei dem Zeitdruck, unter dem Sie stehen. Also hielt ich es für das Beste, Sie vor Dane zu verstecken ..."
„... und den Mann unter der Spüle als Ihren Klempner auszugeben", fügte Simon trocken hinzu und musterte Jaycee nachdenklich. „Irgendwie habe ich den Eindruck, dass diese KlempnerShow nicht ganz zu Ihrer Zufriedenheit gelaufen ist." „Stimmt", gab sie zerknirscht zu. „Ich habe diesen gewissen Ausdruck in Danes Augen gesehen. Und dann seine viel sagende Anspielung auf das nicht vorhandene Werkzeug und dass ich mich ,benutzen' lasse. Es ist klar, was Dane vermutet hat - dass mein angeblicher Klempner mehr als nur ein Klempner war. Das hätte er erst recht gedacht, wenn er auch den Rest von Ihnen gesehen hätte. Ich weiß genau, was passiert wäre, wenn Däne Sie später bei der Präsentation meines Erfolgs als meinen vermeintlichen Liebhaber wieder erkannt hätte, der an einem Sonntagmorgen in meiner Wohnung war. Ich wäre bei meinen Brüdern unten durch gewesen. Sie hätten sich in ihren dummen Vorurteilen bestätigt gesehen." „Vorurteile? Inwiefern?" „Frauen sind unfähig, Privates und Berufliches zu trennen, können daher keine vernünftigen geschäftlichen Entscheidungen fällen und gehören folglich nicht in gehobene Positionen", zitierte Jaycee in geschwollenem Ton, dem ein frustrierter Seufzer folgte. „So denken alle RichmondMänner. Das schwache, instinktgesteuerte Geschlecht hat in den traditionellen MännerPositionen nichts zu suchen." So war das also. Nun begriff Simon, warum sie sich so sehr anstrengte, um sich vor ihren Brüdern zu beweisen. Unglaublich, diese antiquierte Philosophie über Frauen in ihrer Familie! Sogar ein nüchterner Zahlenfritze wie er verstand und befürwortete das Konzept der Gleichberechtigung. „Sie halten meine Existenz also geheim", resümierte er, „um unbehelligt an meinem Image basteln zu können und, wenn das Werk vollbracht ist, mich als Vorführmodell zu benutzen und dann im Applaus Ihrer Brüder zu schwelgen. So ist es doch, oder?" „Na ja ... so ähnlich." Wahrscheinlich hätte er beleidigt sein müssen, oder sogar wütend. Aber er wusste, wie es war, mit einem Etikett behaftet zu sein, und konnte Jaycee ihren Schachzug nicht verübeln. Im Grunde war ihm nur eines wichtig - wie unter den gegebenen Umständen ihre Beziehung zu definieren war. Er war kein offizieller Klient von Better Images, und Jaycee betreute ihn nicht als Angestellte der Firma. Bedeutete das nicht, dass sie einfach nur ein Mann und eine Frau waren, die sich gegenseitig einen Gefallen taten? In dem Fall wären Jaycees Argumente hinsichtlich beruflich bedingter Grenzen gegenstandslos. Was in seinen Augen sehr interessante Möglichkeiten eröffnete. Natürlich war er nicht völlig beschränkt. Ihm war durchaus bewusst, dass Jaycees Argumente gegen Umarmungen und Küsse mehr mit Gefühlen zu tun hatten als mit Professionalität. Und er meinte Gefühle, die länger anhielten als ein kurzer Moment aufwallender Begierde. Simon schob seinen Salatteller fort und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. „Was ist, wenn Ihre Brüder sich nach Ihrer Präsentation weiterhin weigern, Sie als die zu sehen, die Sie sind?" „So weit habe ich noch nicht gedacht." Sie trank einen Schluck Eistee und sah ihn über den Rand ihres Glases hinweg an. „Wie meinen Sie das überhaupt - die, die ich bin?" „Eine intelligente Person mit ausgeprägtem Geschäftssinn. Eine Frau mit einer Menge Power und Ehrgeiz. Jemand, der zu mehr fähig ist, als von neun bis fünf in einem vier Quadratmeter großen Kabuff zu sitzen und irgendwelches Zeug für zwei Burschen zu tippen, die für den NeandertalerPreis kandidieren sollten." Sie spießte ein Stück Hähnchenbrust auf ihre Gabel und tunkte es in das restliche Dressing auf ihrem Teller. „Ja, es gibt Tage, an denen ich mir wünsche, sie würden mich als etwas anderes als ihre kleine Schwester betrachten." Sie fuhr fort, das Hähnchenteil zu malträtieren. Simon war damit zufrieden, ruhig dazusitzen und sie zu betrachten. Zu beobachten, wie ihr kastanienbraunes Haar in dem Sonnenlicht glänzte, das durch die gläsernen Schiebetüren in den Raum flutete. Zu sehen, wie ihre Augen entschlossen aufblitzten, als sie sich kerzengerade aufrichtete und ihn anblickte. Himmel, war sie schön! Schön und nicht ganz so unerreichbar, wie er noch vor zwei Tagen geglaubt hatte. Eines war jedenfalls vollkommen klar. Jaycee Richmond törnte ihn an, und er hätte um seinen Posten bei Eaton & Simms gewettet, dass es umgekehrt genauso war. Er musste sie nur noch davon überzeugen. Auf der Fahrt zu Fionas Haus bekam Jaycee Zweifel, ob ihre Idee, Simon mit auf die Party zu nehmen, so gut gewesen war. Konnte sie jemanden, für den gesellschaftliches Leben ein unbekanntes Terrain war, durch einen Zeitschriften-Crashkurs jagen und annehmen, dass dies den Kandidaten fit für lockeren Small Talk machte? Nicht eine von den geplanten praktischen Konversationsübungen hatte sie mit Simon durchexerzieren können. Danes
überraschender Besuch, die Klempner-Episode und ihre unvermeidliche Erklärung hatten ihren genau kalkulierten Zeitplan hoffnungslos durcheinander gebracht. Simon war auf das, was ihn erwartete, nicht vorbereitet. Sie hatte ihm Fionas Fete als zwangloses geselliges Beisammensein beschrieben, aber natürlich würde es nur für diejenigen eine zwanglose Geselligkeit sein, die sich in den Spielregeln des aktuellen Lifestyle auskannten und sich vor allem in der nicht jedem geläufigen Kunst übten, möglichst spritzig und witzig zu sein. Jaycee kannte die Leute, die Fiona eingeladen hatte, und eigentlich waren sie alle aufgeschlossen, unkompliziert und nett. Fast alle, bis auf zwei oder drei ziemlich schrille Frauen, die sich unglaublich hip fanden und dies bei jeder Gelegenheit demonstrierten. Was zum Beispiel würde Fionas Nachbarin Hattie, dies überhebliche, arrogante Fuß-Model mit Simon tun, wenn er mit ihr eine Unterhaltung über die besten Köder für Bachforellen begann? Wahrscheinlich würde sie hysterisch loskreischen und ihm dann vorschlagen, sie doch bitte bald zu besuchen und sich ihre einmalige Fliegensammlung anzuschauen. Oder Bob, der feinsinnige Antiquitätenhändler. Wie würde er reagieren, wenn Simon es bei ihm mit einem „Eisbrecher" über den gloriosen Aufstieg der „Seattle Mariners" in der Football-Liga versuchte? Eine Diskussion mit Fiona über die globale Klimaveränderung konnte Jaycee sich auch nicht als besonders ergiebig vorstellen. War die Idee mit den Zeitschriften vielleicht doch nicht so genial gewesen? Jaycee blickte verstohlen zu Simon, der seit ihrer Abfahrt kein Wort gesprochen hatte. Er starrte nach vorn auf die Straße und trommelte in einem fort nervös aufs Lenkrad. Offenbar hatte er dieselben Bedenken wie sie. „Bei der übernächsten Straße nach rechts abbiegen", befahl Jaycee sanft. „Wir sind gleich da." Er befolgte schweigend ihre Anweisungen und fuhr langsam durch das feine Villenviertel mit den gepflegten Gärten und den pompösen Häusern. „In dieser noblen Gegend wohnt Ihre Freundin? Hatten Sie nicht was von einer lockeren, zwanglosen Grillparty gesagt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass so was hier überhaupt je stattfindet. Einen Haufen aufgeblasener Yuppies, die nur über schnelle Autos, Luxusreisen und trendige Restaurants diskutieren, wollen Sie mir doch wohl nicht zumuten, oder? Ich habe starke Zweifel, dass Ihre Freundin Fiona und ihre Gäste mich überhaupt zur Kenntnis nehmen werden." „Ihre Zweifel sind völlig unbegründet, Simon. Vertrauen Sie mir -ich schleppe Sie doch nicht auf eine Party, wo irgendwelche oberflächlichen Leute Sie von vornherein ausgrenzen. Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie nette und kontaktfreudige Leute kennen lernen werden. Und Fiona ist nicht so, wie Sie anscheinend denken. Sie ist meine beste Freundin. Da vorn ist es, das weiße Haus hinter der Rhododendrenhecke ." Er fuhr im Schritttempo weiter und hielt. „Wie bitte? Da wohnt sie?" Er starrte zu der immensen Rasenfläche mit den Ausmaßen eines Golfplatzes hinüber. Hinter Bäumen und blühenden Ziersträuchern schimmerte das Weiß einer gigantischen Villa durch, und in der gekiesten Auffahrt waren mehrere Wagen geparkt, die man nicht gerade der Mittelklasse zuordnen konnte. Die leichte Sommerbrise trug Stimmen und leises Lachen zu ihnen herüber. „Dies ist Fionas Haus? Sorry, Ihre Millionärsfreundin mitsamt ihren zwanglosen Gästen wird auf meine Plaudereien verzichten müssen. Im Ernst, Jaycee, da drinnen werd ich mich noch lächerlicher machen als bei dem Meeting der VEGT-Leute. Da kriegen Sie mich nicht rein. Ich fahr wieder nach Hause. Irgendjemand von den Gästen wird Sie nachher bestimmt mitnehmen." Als er die Beifahrertür öffnen wollte, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein, berührte sie ihn sanft am Arm. Er nahm die Hand wieder vom Türgriff, und in Sekundenschnelle legte Jaycee sich zurecht, was sie sagen konnte, damit er jetzt nur ja keinen Rückzieher machte. Als Nebeneffekt ihrer Ermutigungsrede erhoffte sie sich eine Wiederbelebung ihrer eigenen Zuversicht, die angesichts ihrer beider Feuerprobe bedenklich schrumpfte. Selbst aus der Entfernung konnte sie Hatties hysterisches Lachen erkennen, und sie malte sich aus, wie sie Simon mit ihrer bissigen Arroganz zu einem Nichts zermalmte. Und sie würde wieder die Schuld haben. Wäre es nicht das Beste, \ sich bei ihm zu entschuldigen und ihn umkehren zu lassen? Keine gute Idee. Denn dann würde sie wieder auf Feld eins landen. Und in der Firma weiterhin das brave Mädchen spielen müssen. Bis zu ihrer nächsten Chance - auf die sie wahrscheinlich lange warten konnte. „Simon", sagte sie und strich besänftigend über seinen Arm. Die Berührung erfüllte sie mit einer prickelnden Wärme, sie sah in sein schönes Gesicht, und in diesem Moment wünschte sie nichts mehr, als mit ihm zusammen auf Fionas Party zu erscheinen. „Ich nehme Ihnen
nicht ab, dass Sie sich durch dieses Reiche-Leute-Viertel oder durch Fionas Haus eingeschüchtert fühlen. Ich glaube, Sie haben kurz vor Ihrem gesellschaftlichen Debüt schlicht und einfach kalte Füße gekriegt, was ich verstehen kann. Aber selbst wenn Sie tatsächlich Angst davor haben, in dieses Haus zu gehen, weil Sie eine riesige Blamage befürchten, dann ist dies die beste Chance, sich Ihre Hemmungen abzutrainieren." „Ich bezweifle, dass das hier ein geeignetes Trainingslager ist." Jaycee entspannte sich ein wenig. Sein trockener Humor brach durch, ein gutes Zeichen. Aber sie verkniff sich ihr Lächeln - noch hatte sie ihn nicht überzeugt. „Vergessen Sie nicht, Simon, es geht um Ihre Zukunft. Wenn Sie bei Eaton & Simms bleiben und sich dem neuen Image der Firma anpassen wollen, dann werden Sie in Häusern wie diesem öfter zu Gast sein. Sie werden mit potenziellen Klienten in feinen Restaurants speisen oder in exklusiven Golfclubs einen Drink mit ihnen nehmen. Sie werden auf gepflegten Gesellschaften Kontakte knüpfen und Geschäftsbeziehungen ausbauen." Sie machte eine Pause, um mit ihrem nächsten Vorstoß mehr Nachdruck zu verleihen. „Wie wollen Sie das lernen, wenn Sie schon bei einer kleinen harmlosen Grillparty kneifen?" „Ich kneife nicht, ich bin einfach nicht so gut drauf." „Vielleicht fühlen Sie sich besser, wenn ich Ihnen sage, dass Fiona eine ganz normale Frau ist, die in ihrem Leben schon viel Schweres durchgemacht hat. Sie wohnt in diesem grandiosen Haus, weil sie es von ihren Eltern geerbt hat, die bei einer Urlaubsreise in Irland auf tragische Weise ums Leben gekommen sind. Kurz bevor sie nach Hause fliegen wollten, um mit Fiona ihren einundzwanzigsten Geburtstag zu feiern, explodierte in der Hotelhalle, wo sie auf das Taxi zum Flughafen warteten, eine von Terroristen gelegte Bombe und tötete sie und noch zwölf andere Hotelgäste. So wurde aus Fionas geplanter großer Geburtstagsparty eine stille Trauerfeier." Simons Ausdruck veränderte sich schlagartig. „Was für eine schreckliche Tragödie. Wie hat Fiona diesen Verlust bloß verkraftet?" „Das frage ich mich auch manchmal. Sie hat Jahre gebraucht, um drüber wegzukommen. Jedenfalls hat sie diszipliniert ihre Ausbildung beendet, was ich bewundernswert finde, zumal sie es finanziell nicht nötig hatte zu arbeiten. Sie ist Buchhalterin bei Better Images und wegen ihrer offenen Art und ständig guten Laune bei allen beliebt. Sie würde mir unglaublich fehlen, wenn sie nicht in der Firma wäre. Fiona ist ... na ja, sie ist halt Fiona." „Verstehe", bemerkte Simon nachdenklich. Offenbar führte Fiona trotz des furchtbaren Verlustes ein erfülltes Leben, was darauf schließen ließ, dass sie von ihren Eltern gelernt hatte, was das bedeutete. Fiona hatte Freunde, sie lud sich Gäste ein, und wahrscheinlich hatte sie auch sonst ihren Spaß. Daneben hatte sie einen Job, mit dem sie anscheinend zufrieden war. Und sie war bei ihren Arbeitskollegen beliebt. Aus alldem konnte man schließen, dass es Fiona gut ging. Er hatte auch einen Verlust erlitten, aber von niemandem gelernt, sein Leben freudvoll zu gestalten und locker Kontakte zu knüpfen. Er hatte einige Kumpel und keinen besten Freund, geschweige denn eine Freundin. Er lud sich nie Gäste ein und hatte nicht besonders viel Spaß. Das Einzige, was er hatte, war ein befriedigender Job, den er demnächst verlieren würde, weil er nicht nur ein Trottel, sondern auch ein duckmäuserischer Waschlappen war. Aus Angst, sich auf einer harmlosen kleinen Gartenparty lächerlich zu machen, war er drauf und dran, das Handtuch zu werfen und seinen heroischen Imageveränderungsplan sausen zu lassen. Was unweigerlich seine Kündigung bedeuten würde. Er riskierte aus purer Feigheit seine berufliche Existenz. Der Gedanke, dass Jaycee ihn fallen lassen würde, war noch schlimmer. Sie spürte, wie es in ihm arbeitete. „Kommen Sie, Simon. Sie werden's schaffen. Ich bin ja bei Ihnen." Er drehte sich zu ihr. Sein hinreißendes schiefes Grinsen nahm ihr den Atem. „Okay, ich tu's", sagte er. „Ihnen zuliebe. Schließlich geht es um Ihre Zukunft, oder?" Fiona lächelte triumphierend. „Ich hab's doch gewusst! Es war sehr wohl ein sexy Supermann, mit dem du am Freitag telefoniert hast. Ich wusste, dass da was im Busch ist." „Ich finde nicht, dass er ein sexy Supermann ist", behauptete Jaycee zum dritten Mal an diesem Nachmittag. Okay, sie log. Und wahrscheinlich war es auch die schlechteste von all den schlechten Lügen, die sie in ihrem Leben fabriziert hatte. Denn sie dachte genau das selbe, was Fiona und davor zwei Freundinnen von ihr unverblümt ausgesprochen hatten. Der Mann, den sie den Partygästen als einen Freund vorgestellt hatte, war ein echter Hit. „Und damit du's weißt -es ist nichts im Busch." Sie blickte unauffällig zu Simon und stellte erleichtert fest, dass er sich in der Disziplin „charmantes Plaudern" viel besser machte, als sie erwartet hatte. Zu Beginn der Party war er noch schüchtern und reserviert gewesen, aber
nach einer halben Stunde in Fionas Gesellschaft war sogar der zurückhaltende, sanfte Simon aufgetaut. Jaycee bemerkte auch, dass er von der exotischen Schönheit ihrer Freundin nicht gänzlich unberührt war. Momentan stand er mit Hattie zusammen, die sich - oh Wunder - von ihrer charmanten Seite zeigte. Als er etwas zu ihr sagte, stieß sie ein perlendes Lachen aus und warf mit einstudierter Grazie ihre rote Lockenmähne zurück. Dann legte sie vertraulich ihre gepflegte schlanke Hand auf seinen Arm und redete und redete. Jaycee fing nur einige Bruchstücke ihres Monologs auf, wie „Modewüste Seattle" und „mittelmäßige Fotografen". Offenbar versuchte sie, Simon für die Mühsal ihres Model-Berufs zu interessieren. Er nickte verständnisvoll, lächelte, warf ab und zu eine Bemerkung ein und drehte seinen Arm kaum merklich zur Seite, so dass Hatties Hand ihren Halt verlor. Jaycee unterdrückte ein Lächeln. Er machte seine Sache sehr gut. Höflich, freundlich, locker. Obwohl er sich voll auf die Unterhaltung mit Hattie zu konzentrieren schien, waren Jaycee seine gelegentlichen Blicke in ihre Richtung nicht entgangen. Dummerweise hatte auch Fiona es bemerkt. „Komm schon, Jay. Raus mit der Sprache." Sie stupste sie mit dem Ellenbogen an. „Wer ist er?" „Ich hab's dir doch gesagt. Er ist nur ein Freund." „Dann ist er also zu haben?" Fiona richtete ihre mandelförmigen Augen auf Simon, der plaudernd dastand, in der einen Hand einen Drink, die andere Hand in der Hosentasche. Hatties narzisstische Tiraden und ihre vereinnahmende Art schienen ihn nicht im Geringsten zu irritieren. Keine Spur mehr von hängenden Schultern oder einer schlaffen Haltung. Er stand aufrecht da und sah aus wie ein Mann, der sich in seiner Haut wohl fühlt. Es erfüllte Jaycee mit Stolz, dass sie ihm geholfen hatte, ein wenig von dem Selbstvertrauen wieder zu finden, das unter seinem Trottel-Look begraben gewesen' war. „Ob er zu haben ist? Ich schätze ja", sagte sie, nicht im mindesten überrascht, dass sie die Worte heraus zwingen musste, die Simon vor Fionas Opferaltar legen würden. Ein Lächeln glitt über Fionas Gesicht, und in ihren Augen erschien jenes jagdlüsterne Glitzern, das Jaycee in all den Jahren, die sie Fiona kannte, schon allzu oft gesehen hatte. „Interessant. Er gefällt mir." Fiona klang wie eine schnurrende Katze. Sosehr Jaycee ihre Freundin bewunderte, sie wusste, dass Fioana eine richtige Viper sein konnte, wenn es um Männer ging. Nach einer vor fünf Jahren zerbrochenen Beziehung, unter deren Ende sie schlimm gelitten hatte, war sie zu einer grausamen Philosophie in Bezug auf die Männer übergewechselt. Sie jagte sie, bis sie sie in den Fängen hatte, spielte eine Weile mit ihnen und ließ sie dann fallen. Fiona würde Simon zum Dinner verspeisen und ihn schon vor dem Dessert ohne eine Spur von Magendrücken ausspeien. Simon war viel zu weich und sanft für Fiona. „Unsere Verbindung ist geschäftlicher Natur." Jaycee nahm sich vor, gleich am nächsten Morgen einen Psychiater aufzusuchen, weil sie die Verrücktheit beging, Fiona ein Geheimnis anzuvertrauen. „Ich berate ihn." Zwei perfekt geformte rabenschwarze Augenbrauen schössen in die Höhe. „Wie bitte?" „Pscht!" Jaycee packte Fiona am Arm und zog sie durch die Terrassentür in das extravagant möblierte Wohnzimmer. „Bist du verrückt?" zischte Fiona, sobald sie allein waren. Das bin ich, weil ich es dir erzähle, du Plappermaul, dachte Jaycee. „Simon ist ein Kunde", wiederholte sie ruhig und sah ihre Freundin scharf an. „Dir ist hoffentlich klar, Fiona, dass ich dich höchstpersönlich erwürgen werde, wenn du Rick oder Däne auch nur ein Ster benswörtchen verrätst." Fiona ließ sich auf das riesige weiße Ledersofa gegenüber dem enormen gemauerten Kamin fallen. „Dein Kunde - ich kann's nicht fassen! Was hast du dir bloß dabei gedacht, Jay? Du bist wirklich verrückt, stimmt's?" „Wahrscheinlich." Jaycee durchquerte den großen Raum und setzte sich in einen Sessel vor dem Kamin. „Aber wie soll ich meinen vernagelten Brüdern sonst beweisen, dass ich genauso viel kann wie sie?" Es war nicht das erste Mal, dass Jaycee mit Fiona über ihre frustrierende Situation redete. Und Fionas Rat war stets derselbe. Wenn ihr der derzeitige Zustand nicht gefiel, dann sollte sie woanders hingehen. Fiona war erstaunlich ruhig, während Jaycee von ihrer bisherigen Arbeit mit Simon und von ihren weiteren Plänen erzählte. Als sie endete, schüttelte Fiona den Kopf. „Was meinst du?" fragte Jaycee und strich den Rock ihres Kleides glatt. „Es wird niemals funktionieren." „Natürlich wird es klappen. Das muss es einfach! Warum sollte es nicht funktionieren?"
Fiona streifte ihre Slipper ab und zog ihre Füße unter sich. „Weil du immer ihre kleine
Schwester bleiben wirst, ganz gleich, was du tust. Sie meinen es nicht böse, Jay. Deine
Brüder denken, sie beschützen dich."
„Ich brauche keine Beschützer!"
„Wenn du diese Nummer durchgezogen hast, werden sie glauben, dass du vor dir selbst
beschützt werden musst. Bist du noch zurechnungsfähig? Wer ist dieser Bursche? Kennst
du ihn überhaupt?"
„Vor fünf Minuten hast du ihn noch angestarrt, als wolltest du ihn in einem Stück
verschlingen."
„Das war, bevor ich die ganze Story kannte. Da kreuzt jemand in deinem Büro auf, bittet dich
um deine Hilfe, und du sagst einfach zu, ohne auch nur eine einzige Auskunft über ihn
einzuholen. Du weißt überhaupt nichts über den Mann."
„Bei Simon brauche ich mir keine Sorgen zu machen", versicherte Jaycee. Und das stimmte
- solange sie ihr Herz aus dem Deal heraushielt. „Außerdem ist nächste Woche, nach meiner
Präsentation, das Projekt Simon Hawthorne vorbei." Aus Gründen, die sie nicht analysieren
mochte, erfüllte diese Feststellung sie mit einem Gefühl, das sie nur als Traurigkeit
beschreiben konnte. Weil sie Simon nicht wieder sehen würde? Die Erkenntnis überraschte
und erschreckte sie.
„Meine Meinung ist, dass du verrückt bist. Aber dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben ...
wenn du mir etwas versprichst."
„Und was ist das?"
„Dass ich bei deiner kleinen Präsentation dabei sein darf."
„Warum?"
„Weil es die denkwürdigste Präsentation sein wird, die Better Images je erlebt hat."
Simon fuhr auf den Parkplatz vor Jaycees Wohnkomplex und stellte den Motor seines
soliden Ford Taurus ab. Vielleicht sollte ich mir einen neuen Wagen zulegen, dachte er.
Etwas Modernes und Flottes, das zu dem neuen Image passte, das Jaycee für ihn
geschaffen hatte. Nicht zu schick und nicht zu teuer wie etwa ein Porsche, aber vielleicht
würde eines dieser neuen sportlichen Geländefahrzeuge mal eine nette Abwechslung sein.
Jedenfalls war es etwas schnittiger als seine schwerfällige Kiste.
Die Wärme des schönen Frühsommertags war von dem Wind vertrieben worden, der vom
Pazifik her einige Schauer mitgebracht und die Grillparty vorzeitig beendet hatte. Abgesehen
vom Trommeln der Regentropfen und den knackenden Geräuschen des abkühlenden
Motors war der Wagen von Stille erfüllt.
„Ich fand es sehr nett auf der Party", sagte Simon in das sich dehnende Schweigen hinein.
„Vielen Dank, dass Sie mich mitgenommen haben."
„Gehört alles mit zum Paket", sagte sie munter. Für sein Gefühl etwas zu munter. „Sie haben
das toll gemacht, Simon."
„Kommen Sie, ich bringe Sie zur Tür." Er stieg aus, aber ehe er die Beifahrertür erreichte,
ging Jaycee bereits den Plattenweg zu ihrer Wohnung entlang. Sie bewegte sich sehr
schnell, was jedoch ihren Hüftschwung ebenso wenig minderte wie seine Bewunderung.
„Glauben Sie wirklich, dass ich den Dreh bei diesem gesellschaftlichen Kram herauskriege?"
fragte er, als er sie eingeholt hatte.
„Davon bin ich überzeugt. Die Party heute war ein toller Start, und morgen werden Sie noch
besser sein."
„Morgen?" fragte er alarmiert.
Sie fischte ihre Schlüssel aus ihrer Tasche, als sie die Stufen zu ihrer Veranda hochgingen.
„Ja. Morgen in Ihrer Firma." Die Hand um den Holzpfosten gelegt, sah sie ihn an und lächelte
mit einer Zuversicht, die er ihr nicht abkaufte. „Sie werden sich wundern, was für eine Wir
kung Ihr verändertes Äußeres auf Ihre Mitarbeiter haben wird."
Er schluckte. „Sie meinen, die werden mit mir sprechen?"
„Da bin ich mir ganz sicher. Sie werden Sie vielleicht sogar anstarren. Lassen Sie sich davon
nicht irritieren, sondern bleiben Sie ganz gelassen."
Niemand in der Firma unterhielt sich mit ihm. Bis auf Stella. Sogar die Chefs sprachen lieber
mit seiner Sekretärin als mit ihm, was nur äußerst selten vorkam. Zweifellos lag dies an
seiner Unfähigkeit, Unterhaltungen zu führen - außer sie drehten sich um den Job. Auf dem
Gebiet kannte er sich aus, denn da hatte er es mit konkreten, überprüfbaren Daten zu tun,
die sich nur dann änderten, wenn er aus dem neu eingehenden Zahlenmaterial
Informationen hinzufügte. Ganz gleich, was er eintrug oder wegnahm - da war immer die
mathematische Konstante, die ihm ein Gefühl der Sicherheit gab. In der Welt der Zahlen
entglitt ihm nie die Kontrolle, weil er wusste, dass eins plus eins immer zwei ergeben würde.
Menschen hingegen waren nicht berechenbar, denn sie veränderten sich. Ihr Verhalten und ihre Ideale wandelten sich mit den Erfahrungen, die sie machten. Menschen waren stets in Bewegung ... oder sie starben. Verflixt, war sein Leben während seiner Kindheit so chaotisch gewesen, dass er sich völlig zurückgezogen hatte und sich vor der menschlichen Gesellschaft verschloss? War er zur Kommunikation derart unfähig, dass sein Ein und Alles - seine Arbeit - gefährdet war? Offensichtlich, dachte Simon bestürzt. Glücklicherweise war er zur Einsicht gekommen und hatte Hilfe gesucht. Bei der schönen Frau, die ihn in dem matten Schein der Verandabeleuchtung mit ihren klaren blauen Augen ansah. Ihr zuliebe war er mit zu dieser Party gegangen, statt sich feige zu drücken. Plötzlich wurde Simon bewusst, dass, wenn er in seinem alten Fahrwasser geblieben wäre, nicht nur seinen Job verloren hätte, sondern auch keine Chance gehabt hätte, etwas zu gewinnen, was viel kostbarer war als andere: Jaycee. Er schob seine Hände in die Hosentaschen. Diese Angewohnheit hatte er noch nicht abgelegt. „Einen Moment lang hab ich dran gedacht, mich morgen krank zu melden. Offen gestanden habe ich Angst, ins Büro zu gehen." Jaycee hob die Hand und legte sie an seine Wange. Ihre Berührung war kühl und sanft, aber er hatte das Gefühl, dass sie sich in seine Haut einbrannte. „Nach der Generalprobe heute Nachmittag werden Sie es morgen auch schaffen, Simon", sagte sie ruhig. „Es wird nicht leicht sein, zumindest zuerst ganz bestimmt nicht." Er bewegte den Mund zu ihrer Handfläche, spürte ihr leichtes Zittern. „Aber Sie werden Ihre Sache gut machen, da bin ich mir vollkommen sicher. Und Sie sollten genauso zuversichtlich selbstsicher sein wie heute auf der Party." Simon zog eine Hand aus der Hosentasche und legte sie auf ihre. „Die Leute auf der Party kannte ich nicht", sagte er und führte Jaycees Hand zu seinem Mund. Federleicht streifte er ihre Finger mit den Lippen. Jaycees Augen verdunkelten sich. „Bei Fremden Selbstsicherheit auszustrahlen ist sogar noch schwieriger, und Sie haben es getan. Hören Sie auf, sich wegen morgen Gedanken zu machen." „Sie waren heute dabei." Er wendete ihre Hand, drückte die Lippen auf ihr Handgelenk, berührte den Puls mit der Zunge. „Wahrscheinlich hat es deshalb geklappt." Jaycee sog scharf die Luft ein, nahm ihre Hand aber nicht weg. „Morgen werde ich auch bei Ihnen sein." Ihre Stimme war so weich wie die Haut unter seinen Lippen. „Zwar nicht in Fleisch und Blut, aber im Geist." Er grinste, umschloss dann fest ihre Hand und zog Jaycee in seine Arme. „In Fleisch und Blut ist entschieden besser", murmelte er, und dann senkte er den Mund auf ihren. Bevor er zu denken aufhörte, durchzuckte ihn die Erkenntnis, dass dies der aufregendste KUSS seines Lebens war. 9. KAPITEL Jaycee war überzeugt, sie sei gestorben und im Himmel, weil nichts auf Erden sich so wundervoll anfühlen konnte wie Simons Mund auf ihrem. Und falls sie nicht gestorben war, dann hätte sie schwören können, dass sie innerlich schmolz. Und sie konnte nichts dagegen tun - nein schlimmer, sie wollte nichts dagegen tun. Sie wollte einfach nur jede Sekunde des sinnlichen Vergnügens genießen. Zu fühlen, wie Simons Hände über ihren Rücken glitten, steigerte ihr Verlangen. Das Reiben ihrer übersensiblen Brüste gegen das Spitzengewebe ihres BHs, als sie die Arme um seinen Hals schlang, sandte elektrisierende Schauer über ihre Haut. Die Art und Weise, wie ihr Körper lebendig wurde, als sie sich an Simon presste, machte sie schwindelig vor Begehren. Professionell oder nicht - es gefiel ihr, Simon zu küssen. Und sie wollte mehr als Küsse. Sie wollte ihn ganz und gar. Ihr Körper lechzte nach ihm. Ihr Herz war voller Sehnsucht. Alles in ihr drängte danach, den Mann zu erreichen, der so mühelos mit seinen Händen, seinem Mund, seinem Duft ihr Verlangen weckte. Der Ausdruck in seinen Augen, bevor er sie küsste, hatte sie mit einer sinnlichen Hitze erfüllt. Ein Blick, der nicht eingeübt war, sondern seine wahren Gefühle widerspiegelte. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Simon war wie ein frischer Luftzug in einem stickigen, dunklen Raum, in dem sie viel zu lange eingeschlossen gewesen war. Sie hatte das Gefühl, als würde sie von seinem erfrischenden Sex-Appeal nie genug bekommen können.
Simon gab ihre Lippen frei und zog eine Spur über ihre Wange und ihren Hals hinab. Ein leises Stöhnen entwich ihrer Kehle, das sie ebenso wenig stoppen konnte wie das lustvolle Prickeln, das ihr über den Rücken rieselte, als seine Hand von ihrer Taille zu ihrem Nacken glitt und ihren Kopf umschloss. Er lenkte ihren Mund zu seinem und küsste sie noch tiefer und drängender, und wieder stöhnte sie. Sie verlangte. Er gab selbstlos. Und gleichzeitig musste sie auf der Hut sein. Er gefährdete ihren Seelenfrieden und die Erreichung ihrer Ziele. Sie strebte nach beruflichem Erfolg, während ihre Familie der Meinung war, dass Heim und Herd und Kinder genügten. Nicht dass sie nicht hoffte, eines Tages eine eigene Familie zu haben, aber das sollte nach ihren Vorstellungen geschehen und nicht nach dem Diktat ihrer Familie. Der Gedanke an Ehe und Kinder erschreckte sie, jedoch nicht genug, um sich aus Simons Umarmung zu lösen. Sie atmete den frischen Zitrusduft seines Rasierwassers ein und nahm die Andeutung eines anderen und sehr viel aufregenderen Dufts wahr - Maskulinität. Das ferne Klappen einer Autotür brach den sinnlichen Bann, den Simon so mühelos über sie geworfen hatte. Vielleicht liegen meine Brüder mit ihrer Theorie doch nicht so falsch, dachte Jaycee und ließ die Arme an ihre Seiten sinken. Dann trat sie einen Schritt zurück, brachte den notwendigen Abstand zwischen sich und den Mann, der die Macht besaß, sie ihr wichtigstes Ziel, die Selbstbehauptung im Beruf, vergessen zu lassen. Sie sah den Ausdruck männlicher Genugtuung in seinen Augen, wandte sich rasch ab und stieg die drei Stufen zu ihrer Wohnungstür hinauf. „Gute Nacht, Simon", sagte sie mit überraschend fester Stimme. Ohne einen Blick zu ihm schob sie den Schlüssel ins Schloss, ihre andere Hand lag auf dem Türknauf. „Warte." Jaycee schloss die Augen. Sie brauchte nicht mehr zu tun, als den Knauf zu drehen, die Tür aufzuschieben und in ihre Wohnung zu schlüpfen. Ein Ort, wo sie allein sein würde und in Ruhe nachdenken konnte. Wahrscheinlich würde es eine schlaflose Nacht werden. „Es war ein langer Tag", sagte sie, öffnete die Augen und drehte den Knauf. „Ich möchte dich wieder sehen." Sie brauchte sich nicht umzublicken, um zu wissen, dass Simon direkt hinter ihr stand. Ihr innerer Radar war aktiviert. „Das wirst du", antwortete sie, die Hand fest um den Türknauf geschlossen. Wenn sie losließ, würde sie sich umdrehen. Wenn sie sich umdrehte und ihr Verlangen in seinen Augen gespiegelt sah, würde sie auch noch über die letzten moralischen Grenzen hinwegstürmen, die sie zwischen ihnen gezogen hatte und die sie so tapfer verteidigte. „Morgen ist der Jour Fixe in der Handelskammer. Das ist eine monatliche Veranstaltung, auf der sich Geschäftsleute aus allen Bereichen treffen, um Kontakte zu knüpfen und Erfahrungen auszutauschen. Ich dachte mir, es wäre gut, wenn du hingingest. Ich werde dich begleiten." „Eigentlich hatte ich an etwas ..." seine Finger glitten sanft über ihre Schulter, „... Intimeres gedacht", sagte er mit leiser, tiefer Stimme. Telefonsex-Stimme oder nicht, Jaycee musste ihm widerstehen. Wenn sie schwach wurde, würde sie den Blick für die Prioritäten verlieren. „Weißt du, Simon ..." „Ich weiß, dass du mich genauso sehr willst, wie ich dich will." Sie rang nach Atem. Seit wann besaß er hellseherische Fähigkeiten? „Da irrst du dich gewaltig", behauptete sie. Seine Finger, die ein erotisches Muster auf ihre Schulter zeichneten, bewegten sich zu ihrem Nacken. „Wirklich?" Er schob ihr Haar beiseite und drückte einen KUSS auf die sensible Stelle direkt hinter ihrem Ohr. Jaycee erbebte. „Ich irre mich?" Wieder schloss sie die Augen. Warum musste die einzige Person, die ihr helfen konnte, ihr Ziel zu erreichen, ihr Herz in Flammen setzen? „Nein, du irrst dich nicht." Sie öffnete die Augen, mobilisierte ihre ganze Willenskraft und drehte sich zu ihm um. Du musst stark bleiben! befahl sie sich. Sie konnten und würden keine persönliche Beziehung haben. Wenn sie nachgab, dann würde sie ihren Brüdern nur eines beweisen können, nämlich dass sie Recht hatten mit ihrem Urteil, dass Frauen unfähig waren, Privates und Berufliches vonein ander zu trennen. „Vergiss die Sache in der Handelskammer", sagte Simon. „Lass uns morgen Abend richtig ausgehen, nur wir beide." „Das geht nicht." Wie gern hätte sie sein verlockendes Angebot angenommen!
„Klar geht es. Wir gehen morgen zu diesem Jour fixe, und der Dienstagabend gehört nur uns
beiden. Abgemacht?"
Sie schüttelte voll Bedauern den Kopf. „Du weißt, dass das unmöglich ist, Simon."
„Na gut", sagte er leichthin und zog seine Autoschlüssel aus seiner l Hosentasche. „Fürs
Erste lass ich dich vom Haken." Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um und ging zu
seinem Wagen.
Zwar hatte er es nicht ausgesprochen, aber Jaycee hatte ein deutliches „Aber" am Ende
seiner Bemerkung gehört. Und das machte sie} sehr nervös.
Am nächsten Morgen trat Simon, mit einem seiner neuen Anzüge bekleidet, aus dem
Fahrstuhl und steuerte auf die Tür mit dem Firmenschild Eaton & Simms zu.
Er hatte, als er nach dem Duschen sein Haar in Form föhnte, tatsächlich erwogen, sich krank
zu melden. Natürlich konnte er das l nicht tun - jedenfalls nicht, wenn er seinen Chefs zeigen
wollte, dass | er durchaus imstande war, sich dem neuen Image der Firma anzupassen.
Außerdem, so sagte er sich, während er auf die imposante Flügeltür starrte, wäre all die
Arbeit, die Jaycee sich am Wochenende gemacht hatte, umsonst gewesen.
Er schätzte ihre gemeinsam verbrachte Zeit zu sehr, um wieder in seine alten Gewohnheiten
zu verfallen und Zahlentürme gegen menschliche Kontakte zu tauschen - ganz gleich, wie
unbehaglich er sich noch auf dem Gebiet der menschlichen Beziehungen fühlte. Er würde
sich an sein neues Image gewöhnen, davon war er überzeugt. Es war nur diese
Übergangsphase, die ihm zu schaffen machte.
Simon atmete mehrmals tief durch, nahm seine Hände aus den Hosentaschen und straffte
die Schultern.
Seine Schultern sackten. Er drehte den Kopf zum Fahrstuhl und erwog flüchtig, wieder
einzusteigen und zurück ins Erdgeschoss zu fahren. Dann konnte er nach Hause fahren,
Stella anrufen und ihr mitteilen, dass er leider krank sei.
Er dachte an Jaycee und wie enttäuscht sie wohl von ihm sein würde.
Er holte nochmals tief Luft und drückte den Rücken durch. Entschlossen marschierte er zur
Tür und stieß sie auf.
Nichts hatte sich geändert. Die Möbel waren noch dieselben viktorianischen Fabrik-Imitate
und auf demselben dunkelblauen Teppich zu einer behäbigen Sitzgruppe arrangiert.
Dasselbe Seidenblumengesteck in Flieder und Blau zierte den ovalen Kirschholz-Tisch, und
hinter dem Empfangspult saß dieselbe junge Frau, die den Anrufern mit honigsüßer Stimme
verkündete, dass sie Eaton & Simms erreicht hatten.
Ihr Name war Leah Porter. Jedenfalls stand das auf dem Namensschild. Simon hatte vorher
nie darauf geachtet, und er hatte keine Ahnung, wie lange Leah schon bei der Firma
arbeitete.
„Kann ich Ihnen helfen?" fragte Leah in freundlichem Ton. Ihre Augen sagten jedoch etwas
ganz anderes, was über geschäftsmäßige Höflichkeit hinausging und Simon ziemlich
verunsicherte.
„Ich bin's", sagte er, und als Leah ihn weiterhin musterte wie eine leckere Delikatesse, fügte
er hinzu: „Simon Hawthorne."
Sie legte den Kopf schief, und ihre Augen nahmen einen verträumten Glanz an, als sie ihn
von oben bis unten musterte. „Mr. Hawthorne ist noch nicht da."
Er schüttelte den Kopf. „Aber ich bin es doch. Ich bin Simon Hawthorne."
Sie setzte sich kerzengerade auf. „Oh ... entschuldigen Sie, Mr. Hawthorne. Ich habe Sie
nicht erkannt. Ich meine, Sie sehen völlig anders aus."
Er lächelte. „Ist schon gut, Leah." Irgendwie gefiel es ihm, dass eine junge Frau, die
höchstens zwanzig war, bei seinem Anblick ins Stottern kam. Es war eine völlig neue
Erfahrung. „Gibt es irgendwelche Nachrichten für mich, Leah?"
„Ah ... nein, Mr. Hawthorne."
„Danke", sagte er, richtete seine blau-braune Paisley-Krawatte und ging, nun schon viel
selbstsicherer als noch vor zwei Minuten, durch die Tür, die zu den Büros führte.
Der große offene Bereich, ein Labyrinth von Gängen und Trennwänden und Arbeitsnischen,
war von gedämpftem Stimmengewirr erfüllt. Sekretärinnen, Buchhalterinnen und
Schreibkräfte liefen eifrig umher, wie jeden Morgen, bevor sie sich an ihre Plätze setzten und
mit der Arbeit begannen. Die Angestellten in höheren Positionen, so wie Simon, hatten
abgeschlossene Büros, die jenseits eines schmalen Korridors um den sechseckigen Büro-
Pool herum lagen.
Simon folgte demselben Slalom-Pfad, den er seit zwölf Jahren jeden Morgen entlangging.
Der einzige Unterschied zu sonst waren die neugierigen Blicke, das Getuschel und Flüstern
ringsum. „Wer ist das?" schnappte er auf, als er an einigen Sekretärinnen vorbeiging. Er
erkannte zwei Buchhalterinnen, mit denen Stella oft zum Lunch ging, und murmelte: „Guten Morgen." Die beiden Frauen starrten ihn an, der Jüngeren rutschte ein Stoß Computerbögen aus den Fingern, und die Blätter flatterten zu Boden. Als Simon sich bückte, um die Papiere aufzusammeln, starrten die beiden ihn noch immer wie hypnotisiert an. Er richtete sich auf und reichte der einen die Blätter. „Da, bitte", sagte er und unterdrückte ein Grinsen, als die junge Frau rot wurde. Simon wünschte, Jaycee wäre bei ihm und könnte die Reaktion der Belegschaft sehen. Sie hatte mit ihrer Prognose tatsächlich Recht gehabt. Interessierte Blicke, ein errötendes Gesicht, nervöses Kichern, aufgeregtes Geflüster - er hätte nie geglaubt, dass er so viel Aufmerksamkeit erregen würde. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass ihm so etwas passierte, und er musste zugeben, dass er sich sehr gut dabei fühlte. Beschwingt betrat er sein Büro. Stella stand an seinem Schreibtisch und stapelte für ihn die Ordner in der Reihenfolge der Wichtigkeit, so wie jeden Morgen. Und wie jeden Morgen hielt sie bei dieser Tätigkeit einen Becher mit schwarzem Kaffee in ihren klauenartigen Fingern. Für jemanden, der nicht an Stella gewöhnt war, wäre sie ein grotesker Anblick gewesen. Ihr Haar war zur Abwechslung schlohweiß gefärbt, und der knallrote Lippenstift, die schwarz umrandeten Augen, der schwarze Rollkragen-Pulli und der lange, wild gemusterte Rock machten den Kontrast noch dramatischer. Stella blickte auf, als Simon näher kam. „Guten ..." Sie verstummte, knallte den Kaffeebecher auf den Schreibtisch und stemmte die Hände auf ihre knochigen Hüften. „Donnerlittchen, Boss!" rief sie schrill. „Was ist denn mit Ihnen übers Wochenende passiert? Sie sehen verdammt gut aus." Stellas Kompliment machte ihn etwas verlegen, aber natürlich freute er sich darüber. „Danke, Stella", antwortete er lachend, während er aus seinem Jackett schlüpfte und es über die Stuhllehne hängte. Stella musterte ihn ausgiebig und stieß einen leisen Pfiff aus. „Es ist unglaublich! Die gesamte weibliche Belegschaft wird mich um meinen Boss beneiden." „Okay, Stella", sagte er in einem, wie er hoffte, warnenden Ton. „Wenn ich nicht meinen Bück hätte ... oh Mann!" „War ich denn vorher so schlimm?" fragte Simon und rückte seinen Schreibtischsessel zurecht. Natürlich wusste er, dass seine Frage überflüssig war. Schließlich hatte er Jaycee nicht ohne Grund angeheuert. „Na ja", meinte Stella, als sie zur Tür ging, „man kann wirklich nicht sagen, dass Sie kein netter Kerl waren oder so, aber ... Guten Morgen, Mr. Eaton." Simon blieb am Schreibtisch stehen und registrierte, dass Jared Eaton Stella einen neugierigen Blick zuwarf, bevor er zu ihm hereinkam. „Morgen, Hawthorne", sagte er jovial, „gut, Sie zu sehen. Wie geht's?" Neuigkeiten sprechen sich bei Eaton & Simms schnell herum, stellte Simon amüsiert fest. Er konnte sich nicht erinnern, wann Eaton ihn das letzte Mal in seinem Büro aufgesucht hatte. Stella huschte aus der Tür und schloss sie leise hinter sich. Eaton blickte über die Schulter zur Tür und dann zu Simon. „Neue Sekretärin?" flachste er. Simon grinste, deutete auf den Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch und wartete, bis sein Boss Platz genommen hatte. „Nur eine neue Haarfarbe. Letzte Woche war Rot an der Reihe." „Ach ja, stimmt. Die dürre Gestalt mit dem feuerroten Kopf. Hat ausgesehen wie ein Raketengeschoss." „Das ist unsere Stella", bestätigte Simon. „Was kann ich für Sie tun, Mr. Eaton?" „Mr. Eaton ist mein Vater", korrigierte Simons Chef. „Nennen Sie mich Jared. Wie sieht's aus, Hawthorne, haben Sie diesen Mittwoch schon was vor?" „Am Mittwoch? Nein?" „Ich gebe eine Dinnerparty für die Manager von ,Sport Champion' - die Sportausrüstungskette, Sie wissen schon. Ein wichtiger neuer Kunde, den wir gerade an Land gezogen haben. Greg und ich würden Sie gern bei dem Dinner dabei haben, damit Sie die leitenden Angestellten kennen lernen. Ihre Frau oder Freundin ist herzlich willkommen. Können wir mit Ihnen rechnen, Hawthorne?" Simon konnte kaum glauben, dass genau das, was er gewollt hatte, bereits passierte. Ganze dreißig Minuten, nachdem er mit bangen Gefühlen durch die Eingangstür der Firma gegangen war. Und es hatte ihn nicht mehr gekostet als einen Batzen von seinem Sparkonto und ein paar simple Höflichkeitsfloskeln, die er vorher nicht zu Stande gebracht hatte. „Sie können auf mich zählen", sagte er zu seinem Boss. Eaton erhob sich von dem Besuchersessel. „Und wie gesagt, bringen Sie Ihre Herzensdame mit, Hawthorne. Sie haben doch sicher jemanden, oder?" Ihm fiel nur eine einzige Person ein, die vielleicht bereit sein würde, ihn zu der Dinnerparty zu begleiten. „Meine Freundin wird bestimmt gern mitkommen", sagte er und wartete, bis
Eaton hinausgegangen war, bevor er sich in seinen abgewetzten Schreibtischsessel fallen
ließ und seine durcheinander wirbelnden Gedanken sortierte. Er war von Eaton förmlich in
Zugzwang gebracht worden und hatte, um nicht wieder als Sonderling dazustehen,
kurzerhand eine Freundin erfunden. Welcher Mann, der die gesamte weibliche Belegschaft
einer Firma in Aufruhr versetzte, fristete schon ein einsames Single-Dasein? Ein normaler
Mann jedenfalls nicht.
Zwar hatte er sich ein wenig zu weit vorgewagt, aber er war zuversichtlich, dass Jaycee
einverstanden sein würde, für einen Abend seine Freundin zu mimen. Sie konnte gar nicht
ablehnen, wenn er klarstellte, dass es sich um ein für ihn wichtiges Geschäftsessen han
delte.
Als seine Imageberaterin musste sie mitkommen. Schon rein beruflich.
Wenn es nach ihr ging, würde es eine rein berufliche Beziehung bleiben.
Wenn es nach ihm ging, würde es eine rein persönliche Beziehung werden.
Und so, wie die Dinge heute gelaufen waren, standen die Chancen eindeutig zu seinen
Gunsten.
Zwanzig Minuten vor zwölf betrat Simon die Büro-Etage von Better Images. Die
Rezeptzionistin begrüßte ihn mit einem Lächeln. Er erwiderte ihr Lächeln und sagte, dass er
Jaycee Richmond zu sprechen wünschte. Als Juliana sich nach dem Zweck seines Besuchs
erkundigte, schloss er aus ihrem überraschten Ausdruck, dass die Antwort „persönlich" das
Letzte war, was sie erwartet hatte.
Obwohl Simon aus ihren Gesprächen wusste, dass Jaycee ungebunden war, empfand er so
etwas wie Genugtuung darüber, dass sie an ihrer Arbeitsstelle keine Privatbesuche von
Männern bekam.
Statt Jaycee über die Sprechanlage über den in der Lobby wartenden Besucher zu
informieren, verließ Juliana ihr Pult und leitete Simon den Korridor entlang zu ihrem Büro.
Die Tür war geschlossen. Juliana klopfte, und auf Jaycees „Herein!" hin schob sie die Tür
weit auf und trat zur Seite.
Simon schritt durch die Tür und grinste, als Jaycees Augen sich vor Überraschung weiteten.
Dann ein freudiges Aufleuchten, das seinen Magen kribbeln ließ. Als ihre Augen sich im
nächsten Moment misstrauisch verengten, ließ er sich davon nicht irritieren.
„Was tust du hier?" flüsterte sie.
Er antwortete mit einem Schulterzucken, überrascht, wie leicht es ihm fiel, Selbstsicherheit
vorzutäuschen. Zwei kurze Schritte, und er stand direkt vor ihrem Schreibtisch. „Ich wollte dir
von meinem Vormittag in der Firma erzählen."
„Das hätte Zeit bis heute Abend gehabt", sagte sie leise. In seinen Ohren klang ihre
gedämpfte Stimme sinnlich - ein raues Murmeln, das er hoffentlich bald in einer intimeren
Umgebung als in dieser beklemmenden Bürozelle hören würde.
„Wir haben Mittwoch ein Geschäftsessen mit einem neuen Kunden."
„Wir? Wer ist ,wir'?"
„Du und ich. Und warum sollte ich nicht herkommen dürfen?"
Sie stand abrupt auf, ging um den Schreibtisch herum und schob sich an ihm vorbei. Er fing
den Duft ihres blumigen Parfüms auf und atmete den zarten Duft ein.
„Du weißt genau, warum", flüsterte sie, während sie die Tür schloss. „Was ist, wenn meine
Brüder dich hier finden?"
Sie lehnte sich gegen die Tür, und er mobilisierte die Überbleibsel seiner rapide
schwindenden Willenskraft, um beim Schreibtisch stehen zu bleiben, statt die zwei Schritte
zu tun und sie in die Arme zu nehmen und stürmisch zu küssen.
Er zuckte lässig mit der Schulter. „Keine Ahnung, Jaycee. Was ist, wenn sie mich finden?"
Sie verzog entnervt den Mund. „Ich möchte, dass du gehst. Sofort."
..Ich gehe, wenn ich dir von meinem Morgen erzählt habe."
„Das kannst du heute Abend tun."
Er setzte sich auf die Schreibtischkante und grinste sie an. „Okay, ich erzähl's dir beim
Dinner, nach dem Kino."
„Wir gehen zu der Veranstaltung in der Handelskammer, nachdem ich bei meinen Eltern zu
Abend gegessen habe."
„Ich habe mir ein Date romantischer vorgestellt."
„Also wirklich, Simon, jetzt hör mal ..." Die hausinterne Sprechanlage summte, und sie starrte
den Apparat an, als ob es eine Höllenmaschine wäre.
„Jaycee?" Eine tiefe Männerstimme ertönte aus dem Lautsprecher.
Panik verdunkelte ihre Augen. „Ja, Rick?" antwortete sie, den Blick auf Simon geheftet.
„Verschwinde!" formte sie mit dem Mund.
Er schüttelte den Kopf. „Geh mit mir aus", signalisierte er ihr stumm.
„Hast du die Templeton-Akte da?" erkundigte sich Rick. „Ich kann sie nicht finden."
„Sie liegt in deinem Büro auf dem Sideboard. Neben der Lampe."
„Bist du sicher?"
„Links neben der Lampe, Rick. Sieh mal genau hin."
„Ach ja. Da liegt sie." Ein Klicken, dann Stille.
Nicht einmal ein kurzes Danke, stellte Simon fest. Er bedankte sich immer bei Stella.
Vielleicht war er ein wenig zugeknöpft gewesen, aber nie unhöflich oder gedankenlos
gegenüber seiner Sekretärin. Er wusste, wie er sich zu benehmen hatte. Ein falsches Wort,
und Stella hätte ihm das Leben zur Hölle gemacht. Jaycee war doch sonst so selbstbewusst
und energisch. Wieso ließ sie es sich gefallen, dass ihre Brüder sie dermaßen herablassend
behandelten? Er blickte in ihr angespanntes Gesicht und fragte sich, was sie dachte.
Jaycee starrte das Monster an, das sie selbst geschaffen hatte, und fragte sich, wann sie die
Kontrolle über die Dinge verloren hatte. Genauer gesagt - wann war Simon derart aus der
Kontrolle geraten? Und, am allerschlimmsten, wie brachte er sie dazu, Wünsche zu haben,
die sie nicht haben durfte? Er hatte sie genau dort, wo er sie haben wollte, und wirkte sehr
zufrieden mit sich selbst.
„Wir haben das bereits durchdiskutiert. Simon", sagte sie und hoffte, dass ihre Stimme fest
und entschieden klang. Warum, um Himmels willen, war er hergekommen? Um sie vollends
verrückt zu machen? Sie hatte eine schreckliche Nacht gehabt, hatte sich bis nach drei
schlaflos im Bett hin und her gewälzt, und als sie endlich eingeschlafen war, hatten Träume
sie heimgesucht, mit Simon als Star in höchst erotischen Szenen.
Simon stand auf, blieb aber am Schreibtisch stehen. „Ich gehe erst, wenn du mir versprichst,
mich zu begleiten." Sein Grinsen machte sie nervös. „Ich schätze also, dass ich deine Brüder
früher kennen lerne, als du beabsichtigt hattest."
Sie stieß einen resignierten Seufzer aus und kapitulierte. „Okay. Du hast gewonnen. Ich
gehe mit dir aus. Aber nicht heute Abend. Die Sache mit der Handelskammer fliegt nicht aus
dem Programm."
„Gut. Dann morgen."
Sie nickte. Sollte er ruhig denken, dass sie ein Date haben würden -sie plante den Abend als
eine weitere Übung in ihrem Veränderungsprogramm für Simon. Solange sie sich auf ihren
Job konzentrierte, würde sie ihre Gedanken vom Schlafzimmer fern halten können.
„Ich hatte so ein Gefühl, dass du es so sehen würdest wie ich", sagte er mit einem Anflug
von Arroganz, die ihr irgendwie aufgesetzt vorkam, obwohl er sie sehr gekonnt einsetzte.
Sie konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Simon hatte sich in diesen drei Tagen
wirklich enorm verändert. „Du spielst nicht fair, Simon."
Er zuckte mit den Schultern und ging um sie herum zur Tür. „Es gibt eine Redewendung, die
du sicher kennst", sagte er und fasste nach dem Türgriff. „Im Krieg und in der Liebe sind alle
Mittel erlaubt."
Warum bloß hatte sie das Gefühl, dass das, was er eben erklärt hatte, mit Krieg nichts zu tun
hatte?
10. KAPITEL Der Jour fixe am Montag war bestens gelaufen. Das Kerzenlicht-Dinner am Dienstag hatten Jaycee und Simon mit eiserner Konsequenz, wenn auch mit gelegentlichem Herzklopfen als Übung für das alles entscheidende Geschäftsdinner am Mittwoch durchgezogen. Jaycee nippte an ihrem Cognac und schlenderte durch den erlesen eingerichteten Salon des imposanten Hauses von Jared und Kathryn Eaton. Sie blickte zu der Gruppe am anderen Ende des Raums hinüber, fasziniert von dem großen, gut gebauten, lebhaft plaudernden Mann, der vor fünf Tagen mit nass glänzenden, angeklatschten Haaren, einer dicken, schwarz gerahmten Brille und einer schaurigen Polyesterhose bekleidet in ihrem Büro erschienen war und sie händeringend gebeten hatte, sein Image zu verbessern. Jaycee hatte den ganzen Tag über Lampenfieber gehabt. Sie hatte einen nervösen, angespannten, vielleicht sogar ängstlichen Simon erwartet. Womit sie nicht gerechnet hatte, war ein selbstbewusster, charmanter Mann, der sich benahm, als ob Dinnereinladungen und Cocktailpartys für ihn zur Alltagsroutine gehörten. Ihre körperliche Reaktion auf Simon, als er um halb sechs vor ihrer Wohnungstür stand, hatte sie jedoch überhaupt nicht überrascht. Er brachte es noch immer fertig, ihr mit seinem sexy Lächeln den Atem zu rauben. Als er ihr die Hand auf den Rücken legte und sie zu
seinem Wagen führte, hatte sie ein verräterisches Kribbeln im Bauch verspürt. Der Duft seines Rasierwassers hatte sie schwindelig gemacht. Der Klang seiner Stimme hatte sie erregt, und tief in ihrem Innern hatte sich Hitze gesammelt. Eine flammende Hitze, die während der Cocktails und das Vier-Gänge-Menü hindurch angehalten hatte und auch jetzt noch, obwohl Jaycee schon seit einer halben Stunde mit ihrem Cognac zwischen den Gästen umherwandelte, mit unverminderter Intensität in ihr brannte. Es war nicht zu leugnen, sie wollte Simon, trotz allem, was dagegen sprach. Sie stellte ihren nur zur Hälfte geleerten Cognacschwenker auf das Tablett eines vorbeigehenden Kellners und ließ den Blick durch den Raum und über die exquisiten antiken Möbel schweifen. Zumindest tat sie so, damit es nicht allzu sehr auffiel, dass sie ununterbrochen Simon beobachtete. Er hatte die kleine Gruppe verlassen und stand nun in der Nähe des Kamins, wo er sich mit einem der Manager der Sportausrüstungskette unterhielt, für die seine Firma künftig arbeiten würde. Simon sprühte vor Charme, er strahlte eine faszinierende Lebendigkeit aus und redete mit einer Selbstsicherheit, von der vor fünf Tagen noch nichts zu spüren gewesen war. Wieder fühlte Jaycee so etwas wie Stolz, dass sie diejenige gewesen war, die ihm geholfen hatte. Aber sie wäre vermessen gewesen, sich das alleinige Verdienst für seine Verwandlung zuzuschreiben. Die Intelligenz, der Humor und der Esprit, mit denen er die Herren vom Geschäftsvorstand und ihre Ehefrauen bezauberte, waren schon vorher in ihm gewesen. Niemand hätte geglaubt, dass dieser brillante, umwerfend attraktive Mann derselbe war wie der liebenswerte Tölpel, der sie vor noch nicht einmal einer Woche stammelnd beschworen hatte, ihn neu zu erfinden. Sie hatte nichts neu zu erfinden brauchen. Sie hatte ihm lediglich gezeigt, wie man sein Äußeres vorteilhaft verändern konnte. Simons neuer Look gab ihm Selbstsicherheit. Der Rest war Simon pur. Trotz Simons Erfolg konnte sie ein Gefühl der Enttäuschung nicht verleugnen. Der Gedanke, dass sie ihn bald nicht mehr wieder sehen würde, nagte an ihr. Ihre Mission war erfüllt. Außer der Präsentation bei Rick und Däne in zwei Tagen gab es für sie in dieser Sache nichts mehr zu tun. Traurigkeit überschwemmte sie bei der Vorstellung, dass die Zeit mit Simon vorbei war. Sie versuchte vergebens, das Gefühl abzuschütteln. Auch ihr Argument, dass sie keine Zeit für eine Beziehung hatte, half nicht, die plötzliche Enge in ihrer Brust zu lösen. Wieso „keine Zeit"? Gab es denn nicht unzählige Leute mit großen beruflichem Ehrgeiz, die trotz ihrer Arbeit eine glückliche Beziehung hatten? Halt! sagte sie sich. Wenn sie sich mit ihrem Vorzeigekunden nach getaner Arbeit weiterhin traf, würde das ihren Brüdern nur bestätigen, dass sie als Geschäftsfrau untauglich war. Und genau das war es, was sie nicht brauchen konnte. Nicht jetzt, da sie ihrem Ziel so nah war. Sie würde sich wegen eines Mannes nicht ihre Zukunft vermasseln. Simons Worte fielen ihr wieder ein: „Und was ist, wenn nichts draus wird? Was machen Sie dann?" Sie hatte seine Frage forsch vom Tisch gewischt, aber nun gab sie ihr zu denken. Was, wenn ihre Brüder ihr trotz ihres Fähigkeitsbeweises weiterhin den Aufstieg im Familienun ternehmen verweigerten? Was würde sie dann tun? Sie hatte über die Alternativen nicht nachdenken wollen, aber nach der hitzigen Diskussion mit ihrem Vater und Rick beim Dinner am Montag sollte sie es wirklich tun. Eines stand fest. Wenn sie weiterhin als Mädchen für alles für ihre Brüder arbeitete, würde sie todunglücklich sein und ihren Groll ewig mit sich herumtragen. Würde sie sich und ihrer Beziehung zur Familie nicht mehr dienen, wenn sie zu einer anderen Firma ging und dort die Karriereleiter erklomm? Sollte sie sich weiter in alten Kämpfen aufreiben, die sie niemals gewinnen könnte? Oder sollte sie den Sprung wagen und sich neuen Herausforderungen stellen? Sie fand keine Antwort, seufzte frustriert und durchquerte den Raum in Simons Richtung. Er blickte auf, als sie näher kam, in seinen grünen Augen ein verschwörerisches Funkeln. Und wieder spürte sie das vertraute Kribbeln im Bauch und die Hitze in ihrem Innern. Jaycee gesellte sich zu der Gruppe und hörte an Simons Seite der Unterhaltung einen Moment lang zu. Schließlich fragte sie Simon so leise wie möglich, ob sie bald gehen könnten. Er nickte, griff nach ihrer Hand und verflocht seine Finger mit ihren, während er eine Steuerfrage beantwortete. Eine halbe Stunde später hatten sie es endlich geschafft, sich von ihren Gastgebern zu verabschieden. „Wohin?" fragte Simon, als sie aus der Haustür traten, und zog die Wagenschlüssel aus der Jacketttasche.
Vielleicht lag es am Vollmond. Vielleicht auch an dem Blick, mit dem Simon sie angesehen hatte, als sie im Salon auf ihn zuging. Vielleicht war auch nur ein besonders schwerer Anfall von Begierde der Grund. Jedenfalls hatte Jaycee keine Lust, den Abend so früh enden zu lassen. Sie entschied, dass es nicht das Ende ihrer Karriere bedeuten würde, wenn sie ausnahmsweise mal etwas Spontanes tat, was Spaß brachte. Also hakte sie sich bei Simon ein und schenkte ihm ein spitzbübisches Lächeln. „Komm", sagte sie und zog ihn zu seinem Wagen. „Lass uns zu mir fahren und mal so richtig schön dekadent sein." „Schlagsahne?" quiekte Jaycee, und der spielerische Übermut in ihrer Stimme ließ Simons Herz schneller schlagen. „Schlagsahne - das ist ja noch dekadenter, als ich's mir vorgestellt hab." Er schüttelte die gekühlte Sprühdose. „Ach, komm schon, Jaycee", drängte er mit sanfter Schmeichelstimme. „Ich finde, wir sollten uns das ruhig gönnen." Sie biss sich auf die Lippe und zog düster die Brauen zusammen. „Ich hab so ein Gefühl, dass ich das morgen bereuen werde." „Also wirklich - jetzt bist du so weit gegangen und willst plötzlich aufhören? Das gibt es nicht, Jaycee!" Sie lachte ausgelassen. „Also gut, tu es", forderte sie ihn auf und tunkte ihren Finger in die Sahnehaube, die er sich selbst verabreicht hatte. „Aber ziel richtig." Er hielt die Düse über ihre mit Karamellsoße verzierten Vanille- und Walnusseiskugeln und reicherte die üppige Komposition mit noch mehr Kalorien an. Währenddessen huschte Jaycee auf Strümpfen durch die Küche und zog die Tür eines Unterschranks auf. Sein Herz vollführte einen Salto, als sie sich tief hinabbeugte und in den Schrank blickte, wobei ihr niedlicher fester Po sich verführerisch unter ihrem dünnen schwarzen Kleid abzeichnete. Ein Mann muss heutzutage eine Menge durchmachen, dachte Simon, den Blick auf Jaycees Rückansicht geheftet. Eine Einladung in die Wohnung der Lady, und was bekam er? Nicht etwa den ultimativen Gutenachtkuss, den er erwartet hatte, da ja schon ihr letzter KUSS heißer als die Sünde gewesen war. Jedenfalls hatte er überhaupt nicht an Eis mit Karamellsoße und Sahne gedacht, als sie vorhin im Mondschein mit rauchiger Stimme etwas Dekadentes vorschlug. Manchmal war das Leben einfach nicht fair. „Ha! Da sind sie! Ich wusste doch, dass noch welche da waren", rief sie, und er platzte vor Neugier auf ihren nächsten Einfall. Sie kam mit einer halb vollen Tüte Schokoladenstreusel zurück und streute je eine Hand voll über die sahnegekrönten Eiscreme-Berge in ihren Dessert-Schalen. Dann nahm sie zwei Löffel aus der Schublade und reichte Simon einen. Er nahm seine Schale vom Tresen und folgte Jaycee in ihr stilvoll eingerichtetes Wohnzimmer. Das Dekor war kühl und erfrischend wie ein heiterer Frühlingsmorgen. Helle Pastelltöne sorgten dafür, dass das den Raum beherrschende Cremeweiß nicht steril wirkte. Ganz gleich, wie trist die Landschaft von Seattle an den über hundert jährlichen Regentagen sein mochte - in Jaycees Wohnung war das ganze Jahr über Frühling. Sie setzte sich in die Sofaecke, zog die Füße unter sich und glättete ihr Kleid über den Beinen. „Ich finde, es ist heute Abend fantastisch gelaufen", sagte sie und fuhr mit dem Löffel an der Schlagsahne entlang, die über den gewellten Rand der Glasschale zu rutschen drohte. „Du warst toll!" Er schob sich einen Löffel voll schokobesprenkelter Sahne und Karamellsoße in den Mund, bevor er sich auf dem mittleren Sofapolster niederließ - nah genug, um Jaycees betörenden Blumenduft einzuatmen, jedoch weit genug von ihr entfernt, um sie nicht zu beunruhigen. „Eaton hat mich gebeten, den neuen Kunden zu übernehmen", erklärte er voller Stolz. „Und Greg Simms hat mich eingeladen, das nächste Wochenende im firmeneigenen Chalet am Mount Rainier zu verbringen. Das ist ein ziemlich großer Coup für mich, weil es nämlich das Wochenende des jährlichen Partner-Meetings ist." „Das überrascht mich überhaupt nicht", bemerkte Jaycee zwischen zwei kalorienstrotzenden Happen. „Du warst heute Abend wundervoll." Er grinste. „Dank deiner Genialität." Sie schüttelte den Kopf. „Ach was. Ich hab dir nur ein paar Anstöße gegeben. Alles andere hast du besorgt." „Du hast Recht." Simon verputzte den Rest seines Eises und stellte die Schale auf den Couchtisch aus gebleichtem Bambus. „Vor einer Woche hätte ich das nicht sagen können." Sie leckte mit ihrer Zunge einen Karamellklecks von ihrer Lippe, was seine Aufmerksamkeit auf ihren sinnlichen Mund zog, der zum Küssen geradezu einlud. „Du wirst alles erreichen, was du dir als Ziel setzt, Simon. Ich habe großes Vertrauen in dich." Das war es, was ihn so beflügelte. Ihr Vertrauen hatte ihn motiviert und ermutigt, seine Isolation zu durchbrechen. Ihm wurde klar, dass sie mehr mit seinem Erfolg zu tun hatte, als sie dachte. Sie hatte ihm nicht nur einen neuen Look gegeben. Wenn sie an seiner Seite war, glaubte er fest, dass er alle Qualitäten besaß, um der Mann ihrer Träume zu sein.
Dass ihre Worte sich auf seine berufliche Laufbahn bezogen, erschien ihm nebensächlich. Sie vertraute ihm, und das war das Wichtigste. Jetzt musste er nur einen Weg finden, sie wissen zu lassen, was er fühlte. „Ich habe immer gedacht, ich sei wie mein Vater", sagte er, lehnte sich im Sofa zurück und streckte seinen Arm auf der Rückenlehne aus. „Du hast mir klargemacht, dass das nicht wahr ist." „Wie ist dein Vater denn?" fragte sie und leckte einen mit Schokoladenstreuseln gesprenkelten Sahneklecks vom Löffel. Simon konnte sich kaum noch bezähmen. „Reserviert", erwiderte er und zwang seine Gedanken fort von seiner überaktiven männlichen Libido. „Mein Vater hatte, bevor er in den Ruhestand ging, eine eigene Wirtschaftsprüfungsfirma. Ich dachte immer, er wäre von Natur aus so introvertiert und ungesellig, aber in Wahrheit war er ein echter Workaholic. Weil das nämlich leichter war, als Zeit für andere Menschen oder für ein Hobby zu schaffen." Sie beugte sich vor und stellte ihre ausgelöffelte Eisschale auf den Couchtisch. „Was ist mit deiner Mutter?" „Sie ist gestorben, als ich sechs war." „Oh, das tut mir Leid, Simon." Sie sah ihn mitfühlend an und verschränkte ihre Finger mit seinen. „Das muss für dich sehr schwer gewesen sein. Und für deinen Vater. Vielleicht hat er sich aus Kummer in sich zurückgezogen, meinst du nicht auch?" „Nein. Mein Vater war ein Egoist, das ist mir jetzt klar. Ich habe lange Zeit gedacht, dass er aus einer Mischung von Trauer und angeborener Schüchternheit die Gesellschaft von Menschen mied. Aber die Wahrheit ist, dass er sich aus Angst abgekapselt hat. Er hat niemanden nah an sich herangelassen, um nicht verletzt zu werden. Die Ehe meiner Eltern war nicht die glücklichste. Sicher, sie mögen sich auf ihre Art geliebt haben, aber schöne Erinnerungen habe ich nur aus der Zeit, als meine Mutter noch lebte. Lachen und singen, spielen und Geschichten erzählen - das war meine Mutter. Mein Vater hat für mich gesorgt, aber das war auch alles. Ein Vater, wie ein Junge ihn braucht, war er nicht. Er hat nicht nur die Welt aus seinem Leben ausgeschlossen, sondern auch seinen Sohn." „Weil das leichter war, als das Risiko einer zweiten engen Bindung einzugehen?" Simon drückte sanft ihre Hand. „Ja, das trifft es ungefähr. Mein Vater war kein Einsiedler. Er hat sich in seiner Arbeit vergraben, weil das sicherer war, als sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Und ich wäre fast in seine Fußstapfen getreten." „Ich weiß, wie es ist, anders als der Rest der Familie zu sein", sagte Jaycee. „Versteh mich nicht falsch, ich liebe meine Familie, aber wenn es um Gleichberechtigung geht, sind die Richmonds so fortschrittlich wie Steinzeitmenschen. Mein Punkt ist, dass man nicht wie der liebe alte Dad sein muss, um ihn zu lieben." „Genau", stimmte Simon ihr zu und strich mit dem Daumen über ihre seidige Haut. „Das Leben besteht nicht nur aus Steuertabellen und Bilanzen. Ich möchte nicht so enden wie mein Vater. Ich möchte nicht mit fünfundsechzig zurückblicken und feststellen, dass das Leben an mir vorbeigegangen ist und dass niemand da ist, der an Sommerabenden neben mir auf der Gartenbank sitzt. Ich möchte Erinnerungen, wenn ich alt bin. Erinnerungen, die ich mit einem ganz speziellen Menschen teilen kann." Jaycee befahl sich, nicht in Panik zu geraten. Er machte ihr doch keinen Antrag, oder? „Was hast du gesagt?" Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Er drehte sich zu ihr und legte die Hand auf ihr Knie. Die Berührung entzündete Funken in ihrem Innern. Ihre Schläfen pochten, als er sich näher beugte. Sein warmer, maskuliner Duft hüllte sie ein, und die Warnungen ihres Verstandes wurden leiser und leiser. „Sei eine meiner Erinnerungen, Jaycee." „Aber ..." Sie stockte. Es war ja nicht so, dass er die Worte „für immer" sagte. Er wollte nur eine Erinnerung. Eine Erinnerung, die auch ihr ein Leben lang bleiben würde und ihre Ziele nicht gefährden konnte. Nur eine Erinnerung. Er rückte noch näher, und sie schob sich Zentimeter für Zentimeter rückwärts, bis sie die dick gepolsterte Armlehne im Rücken fühlte. Er streichelte sanft ihr Knie, streckte die andere Hand vor, und dann -sie wusste nicht, wie er das fertig gebracht hatte - waren ihre beiden Beine auf dem Sofa ausgestreckt. Mit der Fingerspitze berührte er ihr Kinn und blickte Jaycee dabei tief in die Augen. Sie sah seine Entschlossenheit und noch etwas anderes, das ihren Herzschlag gefährlich beschleunigte. Er kam noch näher, und Jaycee hielt den Atem an, wartete darauf, dass seine Lippen ihren Mund berührten. Das Blut rauschte in ihren Ohren, und ihr Herz hämmerte. „Simon ..." „Nur ein KUSS, Jaycee", murmelte er, während er die Hände an ihre Seiten legte. „Damit ich etwas habe, woran ich mich immer wieder gern erinnere."
Er ist durch und durch Mann, dachte sie benommen, fasziniert von der Glut in seinen Augen. Sie hob die Hand und strich eine Haarsträhne aus seiner Stirn - das hatte sie tun wollen, seit sie seine Haarpracht aus ihrem klebrigen Gefängnis befreit hatte. „Ja", flüsterte sie, während sie die Finger durch sein volles, weiches Haar gleiten ließ. Seine Lippen berührten ihre in einem federleichten, zarten KUSS, und sie war froh, dass sie nicht stand, weil sie plötzlich weiche Knie hatte. „Simon", wisperte sie, als er den Kopf hob. In seinem Blick las sie tiefes Verlangen. „Ein KUSS wird nicht genügen", sagte er mit belegter Stimme. Seine eine Hand glitt an ihrer Seite hoch und an ihrem Kinn entlang, bis er ihren Kopf umschloss. Und ehe Jaycee wusste, wie ihr geschah, senkte er seinen Mund auf ihren. Simon schmeckte nach Karamell, Cognac und Mann. Lustvolle Schauer durchrieselten Jaycee, als er tiefer vordrang und sie zu einer Erwiderung drängte. Sie tat, was er verlangte, schlang die Arme um seinen Nacken und bog sich ihm entgegen, so dass ihre Brüste sich an ihn pressten. Sie fühlte einen süßen Schmerz in ihren harten Knospen, der sich in ihr inneres Zentrum fortsetzte und sich mit dem darin schwelenden Feuer zu einem Inferno von Hitze und Begehren verband. Sie hatte gewusst, dass Simons Küsse von einer Sinnlichkeit waren, die sie schwindelig machte. Und dennoch war sie von der Wirkung dieses Kusses überwältigt. Ein Stöhnen entwich ihr, als er seine Hand zu ihrer Hüfte bewegte. Durch ihr dünnes Kleid fühlte sie den Druck seiner Finger, die ihren Körper erkundeten. Als er sie fester an sich zog und der kühle, glatte Stoff seiner Hose ihre Schenkel streifte, lief eine Spirale heißer Wellen durch ihren Körper. Simon streichelte ihre Wange, malte mit den Fingerspitzen erotische Muster auf ihren Arm, ließ die Hand zu ihrer Taille gleiten und von da zu einer ihrer Brüste. Sein Daumen liebkoste die Unterseite ihrer Brust, und Jaycee erbebte. Ein sehnsüchtiger Laut drang aus ihrer Kehle, der ihren eigenen wachsenden Hunger wiedergab. Niemals hatte sie sich so eins mit einem anderen Menschen gefühlt und so lebendig. Seine Hand bewegte sich von ihrer Brust zu ihrer anderen Hüfte. Sanft zog er sie tiefer auf das Sofa und rückte ein wenig, bis er halb neben ihr lag. Sie blickte in seine Augen, und ein Schwindel erregendes Glücksgefühl durchrieselte sie. „Was tun wir hier eigentlich?" flüsterte sie. Er strich ihr eine Haarsträhne von den Augen und umfasste zärtlich ihr Gesicht. „Wir werden eine wundervolle Erinnerung schaffen." 11. KAPITEL
Simons erotisches Versprechen hatte einen sofortigen Effekt auf Jaycee. Dabei hatte er nicht
wörtlich gesagt, dass sie sich lieben würden. Nur weil seine Worte dies andeuteten, bestand
noch lange kein Grund, dass ihr Puls aus der Kontrolle geriet. Doch er tat es.
Sie sah Simon in die Augen.
In seinem Blick las sie wilde Leidenschaft, die nur darauf wartete, freigelassen zu werden.
Und Jaycee konnte beim besten Willen nicht entscheiden, was sie mehr erstaunte - sein
sinnliches Versprechen oder ihre Ungeduld, das Versprochene wahr werden zu lassen.
Das matte Lampenlicht tauchte den Raum in einen weichen, romantischen Schein. Die
perfekte Atmosphäre - außer dass die Idee, sich in Teenagermanier mit Simon auf dem Sofa
zu vergnügen, Jaycee nicht besonders gefiel. Sie drückte leicht gegen seine Schultern, und
er richtete sich halb auf, so dass sie ihre Beine auf den Boden schwingen konnte. Sie stand
auf und streckte ihm die Hand hin.
Er ergriff ihre Hand, und dann stand er vor ihr. Er sah sie an und lächelte. Nie hatte sie etwas
Schöneres gesehen als diesen liebevollen, zärtlichen Ausdruck in seinem Gesicht.
„Nicht hier", sagte sie, beugte sich zum Couchtisch herunter und knipste die Lampe aus. Nur
vom fahlen Licht des Vollmonds geführt, das durch die Jalousien drang, geleitete sie Simon
den Flur entlang zu ihrem Schlafzimmer.
In der Tür zögerte er, zog leicht an ihrer Hand, so dass sie sich zu ihm drehte. „Ich will dich,
Jaycee", sagte er, „und ich weiß, dass du mich auch willst."
Sein Zögern, der Ernst und die leichte Besorgnis in seiner Stimme waren für sie ein Zeichen
von Achtung und wärmten ihr Herz. Sie ignorierte das in seinem Ton durchklingende „Aber"
und begann,
langsam sein weißes Hemd aus seiner Hose zu ziehen. Genauso langsam knöpfte sie das
Hemd auf, Knopf für Knopf, bis seine Brust ganz entblößt war.
„Was sollte uns dann davon abhalten?" flüsterte Jaycee.
Sie spreizte die Hände über seinem Oberkörper, spürte die Anspannung der Muskeln unter der glatten Haut. Sie neigte sich vor und drückte ihre Lippen auf seine glatte Haut. Er stöhnte auf, und sie lächelte, den Mund auf seiner warmen Haut. Nun strich sie lockend mit der Zunge über seine kleine flache Brustwarze und fühlte, wie sie unter ihren Liebkosungen hart wurde. Simon fasste Jaycee bei den Schultern und schob sie sanft von sich fort, als wollte er ihr eine Chance geben, es sich anders zu überlegen, bevor sie den Punkt ohne Rückkehr erreichten. Weibliche Genugtuung durchströmte sie, als sie seinen begehrlichen Blick sah. „Liebe mich, Simon", flüsterte sie. Dann hob sie den Saum ihres Kleides und zog es langsam über ihren Kopf. Mit nichts als einem schwarzen BH, einem atemberaubend knappen schwarzen Satinslip und hauchzarten, halterlosen schwarzen Strümpfen bekleidet, kam sie auf ihn zu. Feuer ballte sich in seinem Innern und machte Simon so hart, dass es schmerzte. Sie zum Bett tragen und die ganze Nacht lieben, das war sein einziger Gedanke. Aber er rührte sich nicht. Er hätte sich nicht einmal bewegen können, wenn er sich in Lebensgefahr befunden hätte. Sie schlang die Arme um seinen Hals und presste sich mit ihrem schlanken, für die Liebe geschaffenen Körper an ihn. Simon vergaß zu atmen. Wenn er seine Selbstbeherrschung nicht wiedererlangte, würde die „ganze Nacht" ungefähr dreieinhalb Sekunden dauern. Ab jetzt. Sie schmiegte sich an ihn wie eine geschmeidige schwarze Katze. Das Einzige, was noch fehlte, war ein leises, sinnliches Schnurren. Mit gezwungener Beherrschung, höchster Konzentration und schierer Willenskraft legte er die Hände um ihre Taille, führte sie zum Bett und legte sie sanft nieder. Dann schloss er sie in seine Arme. Jaycee hob ihm den Mund entgegen, und er stöhnte - ein warmer, intimer Laut der Erwartung. Sie wusste, diese Nacht würde alles verändern. Aber an morgen wollte sie jetzt nicht denken. Damit würde sie sich später befassen. Diese Nacht würde Simon ihr gehören. Sie küssten sich tief und voller Hingabe. Schließlich löste er den Mund von ihren Lippen und zog eine Spur kleiner, schneller Küsse von ihrer Wange zu ihrem Hals bis hin zu ihren Brüsten. Seine Hand strich an den weichen Unterseiten ihrer Brüste entlang, bewegte sich langsam höher zum Verschlussclip ihres BHs. Mit einer Geschicklichkeit, die sie schockte, hakte er den Verschluss auf und enthüllte ihre Brüste. Sie bog den Rücken durch, als er mit den Lippen eine aufgerichtete Brustspitze streifte. Die Hitze seines Mundes und seiner Hände schien ihre Haut zu versengen, und Jaycee wollte mehr von diesem Feuer spüren. Wie von selbst glitten ihre Finger in sein Haar, und Jaycee drängte ihn, die Knospe in den Mund zu nehmen. Wellen der Lust durchfluteten sie, als Simon die Lippen um ihre Brustspitze schloss und sie mit der Zunge liebkoste. Sie kämpfte nicht länger gegen ihre Emotionen an und ließ sich auf den Wellen der Lust hintreiben. Seinen Körper auf ihrem zu fühlen, seine Hände, seinen Mund und seinen Duft einzuatmen - das war himmlisch. Sie fühlte sich durch und durch lebendig und gleichzeitig ausgehungert. Er berührte, küsste, liebkoste sie überall, und dennoch bekam sie nicht genug von ihm. Würde nie genug von ihm haben. Ihr Verlangen wuchs. Nicht nur das körperliche Begehren, sondern auch ihre Sehnsucht nach Zärtlichkeit und emotionaler Nähe. Dieses Eingeständnis hätte sie eigentlich vorsichtig stimmen müssen, aber es erhitzte ihr Blut nur noch mehr. Simon machte ihre sanfte Sinnlichkeit wahnsinnig. Rasch rollte er sich von Jaycee, um sich seiner restlichen Kleidung zu entledigen und dann den Kampf um seine Selbstbeherrschung wieder aufzunehmen. „Ich dachte schon, du würdest mich allein lassen", murmelte sie, als er über sie glitt. Sie zog ihn enger an sich. „Und ich bin doch so heiß auf dich", flüsterte sie und drückte begierig die Lippen auf seine Brust. Er presste die Zähne zusammen, als sie eine Brustwarze zwischen die Lippen nahm und die Zunge darum kreisen ließ, so wie er es bei ihr getan hatte. „Oh Jaycee", stöhnte er, „weißt du, was du mir antust?" Sie drängte ihm ihren Schoß entgegen. Der glatte Satin, der ihre weiblichen Geheimnisse verbarg, rieb sich an seiner pulsierenden Härte. „Hm, ich glaube, ja." Er hielt die Anspannung kaum noch aus. Ihre Hände glitten über seinen Rücken, schlössen sich um seine Hüften, und sie begann, sich rhythmisch zu bewegen. Ihre Aufforderung war sonnenklar.
Bevor ihm die größte Peinlichkeit passierte, die einem Mann passieren konnte, brachte er den gefährdeten Teil seiner Anatomie in sichereres Territorium. Entschlossen, sie ebenso so verrückt vor Begehren zu machen wie sie ihn, erkundete er mit Händen, Lippen und Zunge die weichen Rundungen ihres Körpers. Langsam bewegte er die Fingerspitzen über ihren Bauch, schob sie dann unter ihren Slip, den er ihr behutsam von den Hüften streifte, über ihre schwarz bestrumpften Beine und Füße. Als er über die Spitzenränder ihrer Strümpfe strich und dabei das Haargekräusel zwischen ihren Schenkeln streifte, flüsterte sie atemlos seinen Namen. Männliche Genugtuung erfüllte ihn. Er fuhr mit den Lippen und der Zunge an den Innenseiten ihrer Schenkel entlang, und als er ihre sensibelste Stelle erreichte, bäumte Jaycee sich auf und rief mit rauer Stimme seinen Namen. Die eine Hand unter ihre Hüfte geschoben, nahm er die andere bei seinen intimen Erkundungen zu Hilfe und fühlte ihre wachsende Erregung, während ihr lautes Stöhnen den Raum erfüllte. Ihre Hände krallten sich in das Laken, als er ihr Becken noch ein wenig mehr zu sich heranzog und sie tiefer in den sinnlichen Strudel führte. Ihr Körper spannte sich an, und er spürte die ekstatischen Schauer, die sie durchzuckten, als sie in einem Rausch von Leidenschaft und Hitze ihre Lust herausschrie. Sein Blut pulsierte wild durch seine Adern. Er wusste, er würde in süßer Agonie sterben, wenn er Jaycee nicht vollkommen in Besitz nahm. Sofort. Er legte sich auf sie und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Ihre Augen waren halb geschlossen, als Simon in sie hineinglitt. Als sie ihm aufstöhnend entgegenkam, wäre es fast um ihn geschehen gewesen. „Du bist so schön", sagte er mit bebender Stimme. Er küsste sie lange und tief, überwältigt, wie vollkommen sie übereinstimmten. Sie bewegten sich in einem schnellen Rhythmus, und jedes Mal, wenn er in ihr versank und sie sich ihm entgegenhob, schienen sich Funken zu entzünden und zu Flammen aufzulodern. Simon schwelgte in den unbeschreiblichen Gefühlen, die sie ihm bereitete, während sie ihn der völligen Erfüllung näher brachte. Er packte sie um die Hüften und glitt noch machtvoller in sie hinein. Das Denken schwand, und die Sinne übernahmen die Herrschaft, als sie sich aneinander verloren. Simon hörte Jaycee seinen Namen schreien. Mitgerissen von der Wucht ihrer Leidenschaft, folgte er ihr auf den Gipfel der Lust. Die Leuchtziffern auf dem Wecker zeigten vier Uhr. Um Simon nicht zu wecken, glitt Jaycee so leise wie möglich aus dem Bett und tappte auf Zehenspitzen durch das Schlafzimmer zum Bad. Sie drehte den Hahn auf, wartete, dass das Wasser warm wurde, bevor sie unter die Brause trat. Um alle Gedanken auszuschalten, konzentrierte sie sich auf die Routine des Duschens und Haarwaschens. Danach schlüpfte sie in ihren flauschigen nachtblauen Bademantel, kämmte ihr Haar durch und putzte sich die Zähne. Nachdem sie das Licht ausgemacht hatte, öffnete sie leise die Tür. Sie hielt den Atem an, bis sie sich vergewissert hatte, dass Simon noch immer schlief. Leise verließ sie das Bad und schlich den Flur entlang zur Küche. Bei dem minimalen Licht der Dunstabzugshaube füllte sie einen Becher mit Wasser, das sie in der Mikrowelle erhitzte. Dann tunkte sie einen Teebeutel in das heiße Wasser, ließ den Tee einen Moment lang ziehen und gab zwei Löffel Zucker in den Becher. Erst als sie im Wohnzimmer in ihrem Lieblingssessel am Fenster saß und in ihren winzigen Vorgarten blickte, erlaubte sie sich, darüber nachzudenken, was zwischen Simon und ihr geschehen war. Sie zog die Füße unter sich und trank einen Schluck von dem süßen, beruhigenden Tee. Was sie getan hatte, war ein monumentaler Fehler. Sie hatte sich genau so verhalten, wie es der Theorie ihrer Brüder nach alle Frauen taten. Ausgerechnet sie, die ausgezogen war, den Richmond-Männern die Absurdität ihrer antiquierten Einstellung vor Augen zu führen, hatte lediglich bewiesen, dass sie Recht hatten. Nicht nur, dass sie moralische und berufliche Regeln gebrochen hatte, indem sie mit einem Kunden ins Bett ging. Sie hatte zugelassen, dass ihre Gefühle für Simon sie von ihrem eigentlichen Ziel ablenkten. Und was hieß hier, sie war mit Simon ins Bett gegangen? Das wäre noch nicht mal so schlimm gewesen. Aber sie hatte ihn ja förmlich angefleht, sie zu lieben! Sie konnte nicht leugnen, dass Simon und sie in dieser Nacht einzigartige Erinnerungen geschaffen hatten, wie er es genannt hatte. Aber ganz gleich, wie wundervoll es mit ihm gewesen war, es würde sich nicht wiederholen.
Ihre Zukunft stand auf dem Spiel. Sie durfte ihre Zukunft nicht mit weiteren so schwerwiegenden Fehlern gefährden. Sie nahm eine Bewegung wahr und ein leises Geräusch, aber sie brauchte sich nicht einmal umzudrehen, um festzustellen, was es war. Sie wusste, dass Simon in der Tür stand und sie beobachtete. „Möchtest du eine Tasse Tee?" fragte sie. Er kam ins Zimmer und ließ sich auf dem Sofa nieder. „Nein danke. Stehst du immer so früh auf?" Sie blickte zu ihm. Er hatte seine Hose angezogen, sein Hemd hing offen darüber. Als sie sich dabei ertappte, dass sie auf seine Brust starrte, ließ sie ihren Blick höher wandern. Was nicht viel half, denn mit seinem verwuschelten Haar und diesem verschlafenen Lächeln sah er einfach unwiderstehlich aus. Aber hinter seinem Lächeln sah sie noch etwas, und augenblicklich war ihr klar, dass er Bescheid wusste. Er wusste, dass ihre nächsten Worte seine Hoffnung, dass nicht nur er diese unglaubliche Magie zwischen ihnen verspürt hatte, schlagartig zerstören würden. Sie hingegen hoffte nur eins - dass er ihre nächsten Worte nicht als die allergrößte Lüge ihres Lebens entlarven würde. „Nein, ich stehe nicht immer so früh auf", sagte sie ruhig. „Ich sitze hier im Morgengrauen am Fenster, weil ich nicht mehr neben dir liegen konnte. Wir haben einen Fehler gemacht." Er heftete den Blick auf den Boden, als ob er es nicht ertragen könnte, sie anzusehen. Jaycee umklammerte den Becher, als könnte die Wärme die eisige Kälte mildern, die sich in ihr ausbreitete. „Vielmehr habe ich einen Fehler gemacht. Es tut mir Leid, Simon. Diese Nacht hätte nicht passieren dürfen." Er sah sie noch immer nicht an. Sie konnte sich denken, wie verletzt er war, und hoffte, dass sein neu erwachtes Selbstbewusstsein keinen Knacks bekommen würde. Einen Moment lang fragte sie sich, ob er sie überhaupt gehört hatte. Dann aber hob er langsam den Blick. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie in sein Gesicht sah. Wut war das Letzte, was sie erwartet hatte. Seine grünen Augen waren dunkel vor Zorn. Zwischen ihnen herrschte eine entnervende Spannung, und Jaycees Herz krampfte sich zusammen. Sie hatte in seinen Armen Leidenschaft erfahren, hatte Zärtlichkeit und Sorge in seinen Augen gesehen. Nun blieb nichts als Wut. Und das war einzig und allein ihre Schuld. „Bist du dir dessen sicher?" fragte er überraschend ruhig. „Hast du es auch wirklich durchdacht? Hast du dir deinen nächsten Schritt gut überlegt?" „Meine Arbeit ist erledigt." Sie hasste sich, als sie das sagte. „Deine Zukunft bei Eaton & Simms ist gesichert. Damit habe ich meine Aufgabe erfüllt. Ich würde sagen, unsere geschäftliche Verbindung ist beendet." „Und was war diese Nacht? Eine kleine Zugabe?" Seine Stimme troff von Sarkasmus. Sie zuckte mit der Schulter, blickte dann fort, weil sie die Verletztheit in seinem Blick nicht ertragen konnte. In ihrer Kehle saß ein dicker Kloß, der es ihr unmöglich machte, zu sprechen, selbst wenn sie die richtigen Worte gefunden hätte, um seinen und ihren Schmerz zu lindern. „Warum tust du das?" fragte er hitzig. „Wovor zum Teufel hast du Angst?" Sie hielt den Blick auf das Fenster geheftet. Tränen brannten in ihren Augen. „Wovor sollte ich Angst haben? Ich ..." Sie schluckte. „Wie ich schon sagte, meine Arbeit ist erledigt." Simon stand abrupt auf. „Das ist Quatsch, Jaycee, und du weißt es. Was zum Teufel ist los?" Sie blinzelte ihre Tränen fort und wandte ihm das Gesicht zu. „Ich hab versagt, okay? Wolltest du das hören? Ich hab alles vermasselt. Ich hab genau das getan, was meine Familie von einer Frau erwartet. Ich hab meinen Verstand von meinem Herzen überstimmen lassen, und das wird nicht noch mal passieren." Sie erwartete, dass er ihr widersprach und ihr sagte, sie irre sich, die wundervollste Nacht ihres Lebens sei kein Fehler gewesen, sondern das Beste, was ihnen beiden passieren konnte. Doch er schwieg. Sie fühlte die eisige Kälte, die von ihm ausstrahlte, und versuchte sich einzureden, sie habe sich in den Falschen verliebt. Ihr Herz kaufte ihr diesen Blödsinn nicht ab. Simon warf ihr einen letzten wütenden Blick zu und marschierte hinaus. Sie hörte ihn im Schlafzimmer rumoren. Einen Moment später kam er fertig angezogen zurück und schnappte sich die Krawatte und das Jackett, die er am Abend über die Sofalehne gelegt hatte. Im Hinausgehen zögerte er und blieb an der Tür stehen. Jaycee hielt den Atem an, betete, dass er ging, ehe sie etwas wirklich Albernes tat -wie zum Beispiel vor ihm zu weinen. „Der einzige Fehler ist der, den du gerade gemacht hast", sagte er, riss die Tür auf und marschierte aus ihrem Leben. Ganz so, wie sie es beabsichtigt hatte.
„Verbohrte, dumme Person", murmelte Simon, als er sich den Rasierschaum von der Wange schabte. Er hatte diese drei Worte in der letzten Woche unzählige Male hervorgestoßen, denn in seinem ganzen Leben war er keiner entnervenderen Frau als Jaycee Richmond begegnet. „Was richtig ist, würde sie nicht mal erkennen, wenn es sie anspringt und in den Hintern beißt. Autsch!" Er stieß eine Serie von Flüchen aus und untersuchte dann die Wunde auf seiner Wange. Nachdem er den Schnitt mit einem Papiertuch abgetupft hatte und sicher war, dass er nicht verbluten würde, fuhr er mit der Rasur fort. Also, total blöd war er nicht. Er wusste, worauf sie hinauswollte, als sie da im Morgengrauen in ihrem samtigen blauen Bademantel im Sessel saß und von „erledigter Arbeit" und „erfüllter Aufgabe" gesprochen hatte. „Geschäftliche Verbindung! So ein Blöd... Au, verdammt!" Blut tropfte von seinem Kinn, und er zupfte fluchend noch ein Papiertuch aus der Schachtel. Besser, er legte sich einen Plan zurecht, um Jaycee zu überzeugen, dass sie sich irrte, und zwar schnell, bevor von seinem Gesicht nichts mehr übrig war. Nicht, dass er es nicht versucht hätte, aber alle seine Bemühungen waren fehlgeschlagen. Er hatte sie angerufen. Zwei Mal. Beide Male war sie kühl und unzugänglich gewesen. Als er seinem Vater von ihr erzählte, hatte sein alter Herr überraschenderweise Blumen vorgeschlagen. Simon hatte ihr ein Dutzend rote Rosen geschickt, und was hatte er für alle seine Mühen von Jaycee bekommen? Eine unpersönliche Danksagungskarte mit einem vorgedruckten Text und ihrer Unterschrift. Als Nächstes hatte er Stellas genialen Vorschlag ausprobiert, der ihn sehr erstaunt hatte. Sie hatte ihm geraten, Jaycee ein Buch mit romantischen Gedichten zu schicken, denn mit einer solchen Gabe hatte ihr Freund Bück sie herumbekommen. Also war er losgezogen, um die Buchläden zu durchstöbern, bis er einen hübschen kleinen Band mit Gedichten von Elizabeth Barrett Browning entdeckte. Jaycee hatte sein Geschenk postwendend zurückgeschickt und einen dreizeiligen Brief beigelegt, in dem sie ihm für seine Aufmerksamkeit dankte, ihn jedoch bat, von weiteren Geschenksendungen abzusehen. „Bei einer Geschäftsbeziehung unangebracht", lautete ihre Schlusszeile. Er war nicht beschränkt. Ganz und gar nicht. Er verstand einen Wink mit dem Zaunpfahl. Nur wusste er mit absoluter Sicherheit, dass Jaycee Richmond nicht nur ihn, sondern auch sich selbst hinsichtlich ihrer Gefühle belog. Er hatte sich nicht eingebildet, was zwischen ihnen passiert war. Die Hitze, die Leidenschaft, die Emotionen waren keine Fantasiegespinste. All das war so wirklich, wie es nur sein konnte. Er liebte sie. Und sie erwiderte seine Gefühle, darauf würde er seine Karriere bei Eaton & Simms verwetten. Alles an ihr - jede Geste, jedes Wort, jeder Blick, jede Nuance ihres Verhaltens sagte ihm, dass sie ihn genauso wollte wie er sie. Denn kein Mensch, nicht einmal die verbohrte, dumme Frau, die nur wegen eines idiotischen Vorsatzes ihrer beider Leben zu ruinieren gedachte, konnte so gut schauspielern. Jaycee Richmond log, das war sonnenklar. Er hatte versucht, zu ihr durchzudringen, hatte angerufen und Blumen und Gedichte geschickt. Er hatte alles getan - außer den Neandertaler zu spielen und sie über die Schulter zu werfen und in seine Höhle zu schleppen. Wo sie ihm wohl oder übel würde zuhören müs sen. Und er hatte ihr eine Menge zu sagen. Da er es nicht riskieren wollte, wegen Entführung vor Gericht zu kommen, blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten. Warten und beten, dass die verbohrte, dumme Person zur Vernunft kam und der Stimme ihres Herzens folgte, bevor es zu spät war. 12. KAPITEL Um Punkt ein Uhr trat Jaycee aus dem Fahrstuhl. Noch immer spielte sie das brave Mädchen, das pünktlich zur Arbeit kam und pünktlich von der Lunchpause zurückkehrte. Aber heute war der große Tag, länger konnte sie es nicht aufschieben. Sie hatte diesen Schritt aus purer Feigheit hinausgezögert, aber es war Zeit, dass die Entscheidung über ihre Zukunft fiel. Wenn sie es nicht endlich hinter sich brachte, würde sie nie den nächsten Schritt in ihrer beruflichen Laufbahn tun können - wohin auch immer dieser Schritt sie bringen mochte.
Entschlossen marschierte sie durch die Tür mit dem Schild „Privat", ging an ihrer persönlichen Besenkammer vorbei und steuerte auf Danes Büro zu. Wenn ihr überhaupt jemand zuhören würde, dann ihr jüngerer Bruder. Ricks Bürotür stand offen. Sie hörte ihn mit seiner gebieterischen polterigen Stimme am Telefon sprechen, und das reichte ihr schon. Wenn sie zumindest eine Chance haben wollte, ihre Absicht vorzutragen, dann war Däne ihre einzig mögliche Wahl. Auch die Tür zu seinem Büro stand offen. Jaycee zwang sich zu lächeln und klopfte an den Türrahmen. „Hast du eine Minute Zeit?" Ihr Bruder blickte von seinen Papieren auf und winkte sie ins Büro. „Für dich immer", erwiderte er freundlich. Sie schloss die Tür und ging über den beigefarbenen Teppich auf das kleine schwarze Ledersofa zu. Das Sofa wählte sie absichtlich, weil sie Lockerheit und Selbstbewusstsein vermitteln wollte. In dem schwarzen Ledersessel vor Danes Schreibtisch fürchtete sie klein und unterwürfig zu wirken. Sie hockte sich auf die Armlehne, legte ihre Schultertasche auf das Sitzpolster, schlug dann lässig die Beine übereinander und strich ihren schwarzen Rock glatt. „Dane, ich finde, es ist an der Zeit ..." Seine Hand schoss in die Höhe und stoppte sie mitten im Satz. „Ich weiß, was du sagen willst, Jaycee." Das bezweifelte sie stark. „Wirklich?" Dane drehte sich in seinem Chefsessel zu ihr, lehnte sich zurück und verschränkte in entspannter Pose die Hände hinter dem Kopf. „Es ist Zeit für eine Gehaltserhöhung. Wir hätten das schon eher ansprechen sollen, aber du weißt ja, Rick hatte in letzter Zeit zu oft auswärts zu tun und war immer nur für kurze Zeit im Haus. Wir sind einfach nicht dazu gekommen, über deine nächste Gehaltsaufbesserung zu reden." „Es geht mir nicht um eine Gehaltserhöhung, Däne. Was ich möchte, ist mehr Verantwortung." Langsam ließ er die Arme sinken. „Mehr Verantwortung? Du koordinierst die ganze Büroarbeit, Jaycee. Du schmeißt jetzt praktisch den Laden. Was gibt's noch mehr an Verantwortung?" „Eine ganze Menge", sagte sie und kämpfte gegen ihre Enttäuschung an. Von Däne hatte sie sich mehr erwartet als solch eine herabwürdigende Antwort. Er war immer etwas anders als Rick gewesen - einfühlsamer, verständnisvoller. Sicher, er konnte manchmal ein wenig anmaßend sein, aber das hatten ältere Brüder nun mal an sich. Däne mochte denken, dass er mehr wusste und konnte als sie, aber sie hatte immer gedacht, dass er der einzige Richmond war, der an sie glaubte. Dass sie sich getäuscht hatte, tat weh. „Was genau meinst du mit ,eine ganze Menge'?" fragte er ruhig, und zum ersten Mal bemerkte Jaycee, dass er eine ähnliche Stimme wie ihre Mutter hatte, die die Ausgleichende in der Familie war. „Du weißt, was ich möchte, Dane. Du weißt, dass ich die gleichen Studienabschlüsse wie Rick und du vorweisen kann. Ich bin für eine anspruchsvolle Tätigkeit qualifiziert." „Das mag ja sein, aber dir fehlt die Berufserfahrung." „Wie soll ich Erfahrungen sammeln, wenn ihr mir keine Gelegenheit dazu gebt?" „Jay, es ist ..." „Ist es nur mein Mangel an Erfahrung?" fiel sie ihm ins Wort. „Oder ist es noch etwas anderes?" Offenbar verstand Däne, worauf sie anspielte. „Du bist nicht fair, Jay." „Du auch nicht", konterte sie mit erhobener Stimme. Sie atmete tief, um sich zur Ruhe zu zwingen. „Was, wenn ich dir und Rick beweisen könnte, dass ich den Job tun kann? Würde das etwas ändern?" Tief drinnen wusste sie die Antwort schon. Sie wollte es nur aus Danes Mund hören. „Ob es etwas ändern würde? Für mich vielleicht. Für Rick ..." Er zuckte mit den Schultern. Jaycee blickte fort, weil sie es nicht ertrug, die Wahrheit in Danes Augen zu sehen. Ganz gleich, was sie gelernt hatte, egal, was sie konnte - sie würde in der Familienfirma nie aufsteigen können, weil sie eine Frau war. Und jeder wusste, dass Frauen nicht das Zeug zur Führungskraft hatten. Zumindest nicht bei Better Images. Ihr Blick blieb an den gerahmten Diplomen hängen, die an der hinteren Wand prangten. Daneben hing die ebenfalls gerahmte Titelseite einer örtlichen Zeitschrift, wo Rick und Dane als die dynamischsten und zukunftsweisendsten PR-Berater von Seattle gepriesen wurden.
Zukunftsweisend - darüber konnte sie nur lachen! Wenn Rick und Dane ihre Einstellung zu beruflich engagierten Frauen nicht schleunigst revidierten, würden sie bald zu Zwergen schrumpfen. Sie blickte wieder zu ihrem Bruder. „Vergiss es. Es würde für Rick nichts ändern. Er findet es völlig in Ordnung, dass ich trotz meines Studiums und meiner Diplome seine Konzepte für ihn tippe. Er würde nur müde abwinken, wenn ich ihm mit der Idee käme, meine Fähigkeiten zu beweisen." „Jaycee, du weißt, dass du immer gut versorgt sein wirst", sagte Däne und stand von seinem Stuhl auf. „Nur weil Rick und Dad der Meinung sind, dass Frauen nicht in die Führungsetage gehören, ist dir trotzdem ein Firmenanteil sicher." „Es geht mir nicht um Firmenanteile", brauste sie auf. „Verdammt, Däne, es geht darum, was ich möchte und brauche! Und merk dir ein für alle Mal - ich habe es nicht nötig, mich von dir oder Rick oder Dad versorgen zu lassen. Warum kriegt ihr das nicht in eure Köpfe?" Ihr Bruder stieß einen Seufzer aus. „Was soll ich denn tun, damit du zufrieden bist? Mit Rick reden und antesten, ob du vielleicht als Firmenrepräsentantin arbeiten kannst? Wahrscheinlich wird er es schlichtweg ablehnen, aber wenn es dich glücklich macht, kann ich ihn darauf ansprechen. Selbst wenn er deinem Jobwechsel zustimmen sollte - du weißt so gut wie ich, dass er dich nie als gleichberechtigte Teilhaberin akzeptieren wird. Daraus wird nichts, Jaycee. Ganz gleich, wie sehr du es wünschst, es wird nie passieren." Sie zwang sich, ihre Frustration nicht zu zeigen, obwohl sie am liebsten geschrien hätte. Ruhig stand sie auf und durchquerte den Raum, bis sie vor Danes Schreibtisch stand. Die Hände auf die Tischplatte gestützt, beugte sie sich zu ihrem Bruder. „Ich habe nicht gesagt, dass ich eine Partnerschaft geschenkt kriegen will. Aber ich hätte es gut gefunden, wenn ich mir das Anrecht darauf durch meine Leistungen hätte verdienen können." Däne ging ans Fenster und blickte hinaus. „Warum kannst du nicht zufrieden sein, Jay?" fragte er, ohne sie anzusehen. „Warum genügt dir nicht das, was du hast?" „Weil ich von eurem Beispiel gelernt habe", antwortete sie und ließ sich in den Ledersessel sinken. „Dad, Rick und du, ihr habt mich gelehrt, nicht stehen zu bleiben, sondern den Arm immer nach der nächsten Sprosse auf der Erfolgsleiter auszustrecken. Und es auf jeder Stufe gut und richtig zu machen. Ich werde tun, was ich tun muss, um weiterzukommen. Das habe ich von euch gelernt, indem ich euch beobachtet habe." Dane drehte sich zu ihr. Die Traurigkeit in seinen Augen rührte sie, aber sie konnte und wollte den Kampf nicht aufgeben. Diesmal nicht. Wenn sie jetzt resignierte, würde sie es sehr bald bereuen, und sie litt schon genug unter der Reue, den Mann, der ihr Herz gestohlen hatte, aufgegeben zu haben. „Was du möchtest, ist nicht hier, stimmt's?" fragte Dane. Sie nickte. „Ich möchte eine Zukunft in der Werbung, und das wird nicht hier bei Better Images sein." Dane machte einen halbherzigen Versuch, zu lächeln. „Es tut mir Leid, Jaycee." Jaycee stand auf. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich möchte etwas, das diese Firma mir nicht bieten kann. Die fristgerechte Kündigung zum Monatsende bekommt ihr morgen. Und diesen Nachmittag nehme ich mir frei. Und morgen auch." „So leicht gibst du auf?" Dane schien überrascht zu sein, dass sie nicht wie sonst mit ihm stritt und kämpfte. Warum einen verlorenen Kampf fortführen? Jaycee konnte ihre Zeit besser nutzen, indem sie nach Möglichkeiten suchte, die sie weiterbrachten. Sie nahm ihre Tasche von der Couch und kramte nach ihren Autoschlüsseln. In dem Schlüsselbund klemmte ein Stück Papier, das sich löste und auf den Boden flatterte. Sie bückte sich nach dem Papierschnipsel - und hielt mitten in der Bewegung inne. Heute wird der ideale Partner in Ihr Leben treten. Noch immer in der Hocke, schloss Jaycee die Finger um den Glücksspruch aus dem ChinaRestaurant. Dann blickte sie zu ihrem Bruder. „Mit Aufgeben hat das überhaupt nichts zu tun", sagte sie, während sie sich langsam aufrichtete. Diesen Zettel hatte sie an dem Tag aus ihrem Glückskeks gezogen, als sie Simon kennen lernte ... Sie glaubte nicht an Dinge wie Schicksal, Vorbestimmung oder Karma. Zukunftsdeutung aus Karten, Sternen und Kaffeesatz war etwas für Leute ohne den Antrieb, ihr Schicksal tatkräftig selbst zu gestalten. Jedenfalls hatte sie nicht daran geglaubt, bis Simon Hawthorne in ihr Leben getreten war und sie gebeten hatte, ihm ein neues Image zu verpassen. Sie war bei dem Job auf alles gefasst gewesen, außer dass sie dabei ihr Herz verlieren würde. „Wenn es keine Kapitulation ist, was ist es dann?" fragte Däne.
Sie lächelte nur. Ihre Zukunft war ein Geheimnis, aber sie hatte sich nie sicherer gefühlt als in diesem Moment. „Es ist ein Schritt nach vorn." Am Freitagmorgen wachte Jaycee mit einem wahren Hochgefühl auf, obwohl sie demnächst arbeitslos sein würde und noch kein neuer Job in Sicht war. Was machte das schon? Sie sorgte sich nicht, denn sie hatte einen Plan. Nach mehreren Telefonaten am Donnerstagnachmittag und einem äußerst produktiven Dinner mit ihren Eltern hatte sie ihren Entschluss gefasst. In zwei Wochen würde die Firma „The Image Maker" eröffnen. Wunderbarerweise hatte ihr Vater, der bislang fanatischste Verteidiger der mittelalterlichen Rollenverteilung im Richmond-Clan, ihr finanzielle Hilfe für die Gründung ihres eigenen Unternehmens zugesagt. Natürlich wusste Jaycee, dass er dachte, die Sache würde ein Flop werden. Es machte ihr nichts, dass seine Großzügigkeit nur eine Beschwichtigungsgeste war. Und wenn er glaubte, er könnte den Verlust steuerlich abschreiben, dann hatte er sich schwer geirrt. Sie war nämlich fest entschlossen, seine milde Gabe in eine Gewinn bringende Investition zu verwandeln. Im Großraum von Seattle gab es jede Menge PR-Firmen. Ein Ortswechsel wäre also das Naheliegendste gewesen, wenn sie im Geschäft bleiben wollte. Was bedeutet hätte, dass sie ihre Wohnung verkaufen und von ihrer Familie fortziehen müsste. Sosehr die Richmonds sie mit ihren antiquierten Idealen nervten, sie waren ihre Familie, und sie liebte sie. Ein Ortswechsel hätte auch bedeutet, dass sie Simon nie wieder sehen würde - ein Gedanke, der ein schmerzliches Ziehen in ihrer Brust verursachte. Obwohl sie die Philosophie der Richmond-Männer nach wie vor indiskutabel fand, konnte sie nicht leugnen, dass ihr Herz und nicht ihr Kopf sie davon abhielt, einen Umzug in die Wege zu leiten. Nun müsste sie nur noch einen Weg finden, Simon wissen zu lassen, dass sie dumm und stur und blind gewesen war. Dass sie inzwischen eine Menge begriffen hätte und für die Zukunft - was immer sie bringen mochte - offen und bereit sei, solange sie sie zusammen anpackten. Sie hatte über Simons Sekretärin einen Termin vereinbart und lediglich gesagt, dass sie einen Wirtschaftsprüfer suchte und deshalb zur Zeit mit renommierten Firmen Kontaktgespräche führte. Als es schließlich so weit war und sie in ihrem besten Kostüm in die Innenstadt fuhr, beschlichen sie die ersten Zweifel. Schließlich hatte sie von Simon nichts mehr gehört, seit sie den Gedichtband zurückgeschickt hatte. Vielleicht wollte er nichts mehr von ihr wissen. Einen halben Block von dem Bürogebäude entfernt, in dem Eaton & Simms residierte, fand sie einen Parkplatz. Das letzte Stück des Weges legte sie zu Fuß zurück. Während sie durch die Halle zu den Fahrstühlen ging, schwand ihr Mut immer mehr. Jaycee nannte der Rezeptzionistin ihren Namen, und einen Moment später erschien eine spindeldürre Frau mit pechschwarzem Haar und kalkweißer Haut im Vorraum und führte sie durch ein Großraumbüro und dann einen Korridor entlang. Ihr Herz begann wild zu hämmern, als sie der Frau in einen kleinen Konferenzraum folgte. Für eine Sekunde blieb ihr das Herz stehen, dann nahm es das rasende Tempo wieder auf. Simon stand neben einem Fenster mit Blick über den Puget Sound. In dem dunkelgrauen Nadelstreifenanzug, den sie bei ihrer Einkauf für ihn ausgesucht hatte, sah er souverän und attraktiv aus. „Danke, Stella", sagte er mit seiner tiefen, wohlklingenden Stimme, die Jaycee von Anfang an verzaubert hatte. Stella schloss die Tür hinter sich. „Hallo, Simon", sagte Jaycee. Simon musste seine ganze Selbstbeherrschung mobilisieren, um nicht über den Konferenztisch zu hechten und Jaycee in die Arme zu ziehen. Ihr Besuch bei ihm war kein zwingender Hinweis auf eine veränderte Einstellung zu ihm. Zum Beispiel darauf, dass sie endlich erkannt hatte, dass sie ihn liebte, seit sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Er musterte sie flüchtig. „Warum bist du hier?" „Ich brauche einen Wirtschaftsexperten." Das war nicht gerade das, was er hören wollte, aber die Unsicherheit in ihrer Stimme und die in ihren Augen schimmernde Zärtlichkeit gaben ihm Hoffnung. Er wollte hören: Ich liebe dich, Simon. Ich kann ohne dich nicht leben. „Ich würde dich gern engagieren", sagte sie, als er nicht antwortete. Er schob die Hände in die Hosentaschen und wippte auf seinen Absätzen. „Ich weiß nicht recht. Ich arbeite in der Regel nur für Unternehmen und nicht für Einzelpersonen", erwiderte
er in Anspielung auf ihre Worte, als er sie wegen seines Imageproblems in ihrem Büro
aufgesucht hatte.
Es zuckte um ihre Mundwinkel. „Es soll dein Schaden nicht sein", versprach sie und ging
langsam um den Tisch herum auf ihn zu.
Es fiel Simon schwer, den Gleichgültigen zu spielen, zumal er noch immer gegen den Drang
kämpfte, Jaycee in seine Arme zu ziehen. „Ich hab ziemlich viel zu tun."
„Und wenn es nun für meine Firma wäre? Würde das etwas ändern?"
„Das würde keinen Unterschied machen."
„Womit könnte ich dich umstimmen?" fragte sie und blieb eine Fußlänge von ihm entfernt
stehen.
Er atmete ihren Duft ein, diese Mischung von blumig und feminin, die er überall wieder
erkannt hätte. Sanft ließ er die Hand über ihre seidenweiche Wange gleiten. „Ein KUSS
könnte ein Schritt in die richtige Richtung sein."
Das Blau ihrer Augen verdunkelte sich. „Nur ein KUSS?"
Er schob die Hand unter ihr Haar, schmiegte sie um ihren Nacken. „Für den Anfang", sagte
er.
Die Berührung ihrer Lippen war elektrisierend. Die erste Kostprobe von ihrem Mund erzeugte
einen Hitzestrom, die zweite entzündete ein loderndes Feuer.
„Ich hab dich vermisst", sagte Jaycee, als Simon die Lippen von ihrem Mund löste, um ihre
Wange, ihren Hals und ihr Ohrläppchen zu küssen.
„Vermissen" ist ein guter Start, dachte er und hatte auf einmal wieder Hoffnung.
Sie stemmte die Hände gegen seine Schultern. „Ich glaube, ich muss mich bei dir
entschuldigen."
Er seufzte. Worte konnten warten, oder? Er wollte mehr Küsse, obwohl er ihre Idee, sich zu
entschuldigen, wirklich schätzte.
Jaycee blickte auf ihre Füße und holte tief Luft, bevor sie den Kopf hob und ihn angstvoll
ansah. Er wollte ihre Angst fortküssen, beschloss dann aber, sich anzuhören, was sie ihm zu
sagen hatte. Ein wenig Stolz stand einem Mann zu, oder? Schließlich hatte sie ihn
schrecklich verletzt. War es so falsch, wenn er sich ein wenig Balsam auf seine Wunden
wünschte?
„Ich habe einen Fehler gemacht, Simon", sagte sie zerknirscht. „Nicht weil wir uns geliebt
haben, sondern weil ich mich von meiner Angst beirren lassen habe. Sie hat mir den Blick für
das verstellt, was ich wirklich wollte. Nicht nur beruflich, sondern auch privat."
Er musste sich auf die Lippen beißen, um den Mund zu halten.
„Ich wollte dich, Simon. Und ich will dich noch immer." Sie straffte die Schultern. „Ich liebe
dich." Sie stützte die Hände auf die Hüften und sah ihn mit einem finsteren Stirnrunzeln an.
„Hast du überhaupt nichts zu sagen?"
Er ging ein paar Schritte von ihr fort und setzte sich auf die Kante des Konferenztisches.
„Was möchtest du denn von mir hören?"
Sie kam zu ihm und legte die Arme um seinen Hals. Sein Herz zog sich zusammen, als er in
ihre Augen sah. „Bitte sag mir, dass es nicht zu spät ist."
Er lächelte. Er hatte sie beide lange genug gequält. „Es ist nicht zu spät", erwiderte er. Dann
legte er die Hände um ihre Taille und zog Jaycee näher zu sich heran.
Im nächsten Augenblick berührten seine Lippen ihren Mund.
„Oh Jaycee, du hast mir so gefehlt", murmelte er, als er nach einem langen, tiefen KUSS den
Kopf hob. „Ich liebe dich. Auch wenn du die sturste, dickköpfigste ..."
„Vergiss nicht selbstständig'", ergänzte sie mit einem übermütigen Lächeln. „Ich hab gestern
meinen Job gekündigt."
Die Neuigkeit überraschte ihn nicht sonderlich. Er hatte erwartet, dass sie früher oder später
ihre Bürozelle bei ihren emanzipationsfeindlichen Brüdern räumen würde. „Tatsächlich?"
„Ja."
„Ich dachte, du würdest ..."
„... in dem Familien-Business weiter das brave Mädchen spielen? Damit ist es vorbei."
Jaycee erzählte ihm von ihren Plänen, und er dachte, dass es sicher auf ihre Erfahrung mit
ihm zurückzuführen war, dass Image Maker nicht nur Firmen, sondern auch Einzelpersonen
betreuen würden. „Das klingt alles ganz toll, aber woher nimmst du das Startkapital?"
erkundigte er dann.
Sie erzählte ihm auch das, und nun war er mehr als überrascht, denn er kannte die
Ansichten ihres Vaters. Dass ihr alter Herr ihrer Idee zugestimmt und ihr sogar ein Darlehen
zugesagt hatte, erschien ihm geradezu sensationell. Anscheinend kannten sie beide ihre
Väter nicht so gut, wie sie glaubten. Er selbst war auch völlig perplex gewesen, als sein
sonst so nüchtern denkender Vater ihm zu einem Rosenstrauß geraten hatte.
„Natürlich glaubt Dad, dass das Geld zum Fenster rausgeworfen ist", fügte sie grinsend
hinzu, „aber er wird sich wundern, wenn er meine Geschäftsbilanzen sieht."
Das bezweifelte Simon keine Sekunde. Was immer Jaycee anpackte, es würde ihr gelingen.
Sie besaß nicht nur die Intelligenz, sondern sie hatte auch die Zuversicht, dass alles, was sie
sich vornahm, ein Erfolg werden würde.
„Wir haben noch nicht über meine Bedingungen geredet", sagte er und ließ die Hände über
ihre Hüften gleiten.
„Bedingungen?"
„Du brauchst doch einen Wirtschaftsprüfer, oder?" „Und ob ich den brauche", versicherte sie
und schmiegte sich weich in seine Arme. „Wie war's mit einem Dinner heute Abend? In
einem richtig noblen Restaurant?"
„Ich hatte eher an Frühstück gedacht. Jeden Morgen." „Was werden deine anderen Kunden
sagen, wenn ich so eine Vorzugsbehandlung bekomme?"
„Gar nichts. Mit denen werde ich schließlich nicht verheiratet sein." Ihre Antwort war ein von
Tränen des Glücks verschleierter Blick, gefolgt von einem überschwänglichen Nicken.
Und dann besiegelten sie ihren Deal mit einem langen, liebevollen KUSS.
- ENDE