Aidan Chambers Nachricht aus dem Niemandsland
Aidan Chambers, 1934 in Durham, England geboren, arbeitete zunächst als...
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Aidan Chambers Nachricht aus dem Niemandsland
Aidan Chambers, 1934 in Durham, England geboren, arbeitete zunächst als Lehrer, ging dann für sieben Jahre als Mönch des Anglikanischen Ordens ins Kloster und lebt seit 1968 als freier Schriftsteller in einem Dorf in der Grafschaft Gloucestershire. Seine Romane wurden in viele Sprachen übersetzt und mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. In Deutschland kam er zweimal auf die Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis. Für sein Gesamtwerk zeichnete ihn die IBBY-Jury 2002 mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis aus.
Von Aidan Chambers sind in den Ravensburger Taschenbüchern außerdem erschienen: RTB 52006 Wer stoppt Melanie Prosser? RTB 52212 Seehundbaby in Gefahr RTB 58055 Tanz auf meinem Grab RTB 58149 Fingerspitzengefühle RTB 58195 Die Brücke
Aidan Chambers
Nachricht aus dem Niemandsland
Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann
Ravensburger Buchverlag
Als Ravensburger Taschenbuch Band 58218 erschienen 2006 Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Postcards from No Man’s Land« bei Bodley Head Children’s Books, London © 1999 Aidan Chambers Die deutsche Erstausgabe erschien 2001 in der Ravensburger Jungen Reihe © 2001 der deutschsprachigen Ausgabe Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH Umschlag: Init GmbH, Bielefeld Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten durch Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH Printed in Germany 1234
09 08 07 06
ISBN 3-473-58218-2 www.ravensburger.de
Alles Schreiben ist Erinnern
POSTKARTE Amsterdam ist eine alte Stadt, die von der Jugend okkupiert wurde. Sarah Todd Da er sich nicht auskannte, schlug er den Weg ein, den er gekommen war. Nahm dann aber doch keine Straßen‐ bahn zum Bahnhof, um von dort nach Haarlem zurück‐ zufahren, sondern marschierte einfach weiter die Prinsen‐ gracht entlang, noch zu aufgewühlt von dem, was er gerade gesehen hatte, um seine Umgebung wahrzuneh‐ men, und zu gedankenverloren, um darauf zu achten, wo er hinging. Nach etwa zehn Minuten kam er zu sich, als eine Straßen‐ bahn unmittelbar vor ihm vorbeirumpelte. Plötzlich wollte er unter Menschen sein, wollte Lärm und Ablenkung, wollte aus sich selbst herausgeholt werden – die letzten vierundzwanzig Stunden hatten ihn ganz schön gebeutelt –, wollte etwas trinken, wollte es an einem Tisch in einem Touristen‐StraßenCafé trinken und dabei das Treiben der Passanten beobachten. Und er suchte, auch wenn er sich das in diesem Moment nicht eingestehen konnte, ein Abenteuer. Er hatte ein Gänsehautgefühl und zitterte, ohne dass er wusste warum, denn es war zwar bewölkt und 9
regnerisch, aber ein warmer Mittseptembertag, und er schwitzte ein bisschen in seinem Anorak und bereute, ihn angezogen zu haben, aber die großen Taschen waren praktisch für Geld und Adressen, Sprachführer, Stadtplan und was man sonst noch alles brauchte, wenn man einen ganzen Tag lang allein in einer fremden Stadt war. Als er sich entschieden hatte, nach rechts über die Brücke zu gehen, fand er sich gleich darauf auf einem weiten, offenen Platz, der von der mächtigen Front eines Theaters dominiert wurde und Treffpunkt vieler Straßen und Straßenbahnen war. Leidseplein. Auf der einen Seite des Theaters lag, dem Rest des Plein zugewandt wie ein Zuschauerraum der Bühne, ein Mini‐ Platz, voll gepfropft mit Tischen, an denen Kellner be‐ dienten, die aus den Cafeeingängen unter den Markisen geflattert kamen wie Vögel aus ihren Nistkästen. Er wählte einen Tisch auf der Theaterseite, dritte Reihe vom Rand, setzte sich hin und wartete. Und wartete. Aber niemand kam. Was sollte er tun? Du bist der verflixte Gast, es ist ihr Job, dich zu bedienen, also sei nicht so ein Waschlappen, setz dich durch. Die Stimme seines Vaters. Schüchternheit, diese halsabschnürende Schüchternheit, hinderte ihn etwas zu sagen. Also tat er gar nichts, aber das machte nichts, weil es eine Menge zu gucken gab. Und dazu die Spontanmusik eines Trios mitten auf dem Plein, zwei Jungen, etwa in seinem Alter, der eine weiß und mit einer Fiedel, der andere afro‐schwarz mit einer Blechflöte, sowie ein dickliches Mädchen, das als Blickfang in der 10
Mitte auf einer umgestülpten Mülltonne hockte und auf seinen Bongos ausflippte, das lange Blondhaar wild flie‐ gend, die Augen geschlossen, die sonnengebräunten Arme wunderbar nackt, die trommelnden Hände eine verschwommene Bewegung, die runden Brüste wippend unter dem schwarzen Tanktop, die Schenkel kräftig und weiß bestretcht und in ihrem Klammergriff die rampo‐ nierte kleine Zwillingstrommel, die er sich plötzlich als jemandes willige Arschbacken vorstellte. Seine eigenen vielleicht. Hey, wo kam denn das her? Das war ja etwas völlig Neues, in ihm zumindest. Er lehnte sich zurück und lächelte leise. Die Freuden der Selbstentdeckung. Hey, hey, Bedienung, wenn du nicht bald kommst, bin ich bedient, improvisierte er stumm zum Rhythmus der Bongos. Bis ein schlanker, lederbekleideter Arm einen lässigen Finger in sein Gesichtsfeld schob. Ein Mädchen lächelte auf ihn herab, fragend, noch umwerfender als die Herrin der Arschbackentrommel. In der Annahme, dass sie den freien Platz neben ihm meinte, wand er sich in die Senkrechte, um ihr zu ermöglichen, sich vorsichtig an ihm vorbeizuquetschen, wobei sie den berückenden Duft von getragenem Leder und warmen Jeans verströmte. Sie setzte sich und manövrierte ihre (da sie nicht groß war) verhältnismäßig langen Beine unter den kleinen Tisch, wo sie beim Versuch, sich irgendwie zu arrangie‐ ren, seine Beine streiften. Mehr, mehr, bettelte seine innere Stimme. Zerzaustes, schwarzes, kurzes Haar gab ihr etwas Jungenhaftes; blasser Teint ohne Make‐up; 11
offener schwarzer Lederblouson über weißem T‐Shirt; enge schwarze Jeans. Sie lächelte dankend. »Engländer?« Er nickte. »Schon bestellt?« »Nein.« Sie sah sich um, über die eine Schulter, über die andere. Hob eine träge, langfingrige Hand, von einer Sinnlichkeit, der ein Handfetischist wie er hilflos ausgeliefert war. Ihre Lässigkeit kratzte an seinem ohnehin wackligen Selbst‐ vertrauen, heizte aber sein Verlangen an. Außerdem war da an ihr so etwas Mysteriöses, etwas Ungewöhnliches, was er nicht recht dingfest machen konnte. »Tourist?«, fragte sie, und es klang wie Tourisch. Lispeln oder niederländischer Akzent? Wie auch immer, es gefiel ihm. »Sozusagen«, log er, da er nicht in die ganze komplizierte Geschichte einsteigen wollte. »Okay, wenn wir ein biss‐ chen reden?« Das tiefe Timbre ihrer Stimme trug noch zu der Faszination bei. »Klar. Gern.« Ein Kellner kam und sie sprach niederländisch mit ihm. Dann sagte der Kellner zu ihm: »Meneer?« »Nur eine Cola, danke.« »Kein Bier?«, sagte sie. »Probier mal ein gutes flämisches Bier.« Er mied Bier normalerweise, aber wenn du in Rom bist ... »Okay, ein Bier.« »Trappist?«, meinte er den Kellner sagen zu hören, aber das konnte ja wohl nicht sein. 12
Sie nickte und der Kellner ging. Plötzlich fühlte er sich wie der letzte Nerd, so in seinen Anorak gemummelt, also stand er auf, zog ihn aus und hängte ihn über seine Stuhllehne. Und jetzt stieß sein Bein an ihres, als er sich wieder hinsetzte. Würde er’s wagen? Würde sie drauf eingehen? Mädchen aufzureißen, war eigentlich nicht sein Stil. Nicht weil er’s nicht gewollt hätte, sondern aus Angst vor Zurückweisung. Und aus Abneigung gegen das, was ihm als Sexjagd erschien, als ein brutaler Sport, von einer Roh‐ heit, die ihn, wenn er andere hechelnd am Werk sah, nur abstieß. Eine Empfindlichkeit, die ihm sein Vater als ein weiteres Zeichen seiner Waschlappigkeit ankreidete. Er war so scharf darauf, sie anzugucken, und hatte gleich‐ zeitig solche Angst, etwas von dem, was in ihm vorging, zu verraten, dass er sich zwang, über den Plein – das Bongo‐Trio war am Zusammenpacken – auf die andere Seite hinüberzugucken, auf die modernen Werbetafeln und vertrauten internationalen Ikonen, Burger King, Pepsi, Heineken, die die spitzgiebligen alten Fassaden zierten. Sie rettete ihn mit der Frage »Zum ersten Mal in Holland?«, was ihm erlaubte, den Blick wieder auf sie zu richten. »Ja. Gestern angekommen.« »Gefällt’s dir hier? In Holland, meine ich, nicht hier.« Sie machte eine abfällige Kopfbewegung in Richtung Plein. »Eine Touristenfalle, ehrlich gesagt.« »Du gehörst nicht zu den Touristen.« 13
Ein Mischung aus Zusammenzucken und Lächeln. »Nein. Ich bin nur – wie sagt man auf Englisch? – hinübergegan‐ gen? –und hatte Durst.« »Vorbeigekommen. Hinübergehen heißt, dass man stirbt.« Diesmal ein kehliges, ironisches Lachen. »Das hoffentlich noch nicht.« »Mir scheinst du ganz lebendig.« Sie mimte Erleichterung. »Gott sei Dank!« Und streckte ihm die Hand hin. »Ich bin übrigens Ton!« »Jack«, sagte er und genoss die kurze Berührung. Gar nicht wie ein englischer Händedruck: flüchtiger, ohne Zufassen, eher ein Kuss als eine Umarmung der Hände. »Jacques?« »Wenn du willst.« »Jacques gefällt mir.« Der Kellner kam wieder und lud zwei eutergroße Gläser mit kastanienbraunem Bier ab. Jacob verrenkte sich auf seinem Stuhl, um Geld aus seiner Anoraktasche zu fum‐ meln, aber bis es ihm gelungen war, den Reiß verschluss der Sicherheitstasche zu öffnen, seine Brieftasche heraus‐ zuziehen und einen Schein herauszufischen, hatte Ton schon bezahlt, und der Kellner war wieder weg. »Hey, das kann ich nicht zulassen«, protestierte er eher halbherzig, weil es ihm eigentlich gefiel, dass sie bezahlt hatte, und weil es hieß, dass er jetzt gefordert war (wenn nicht gar aufgefordert) und die Begegnung noch hinzie‐ hen konnte, indem er zwei weitere Biere bestellte. »Du bist das erste Mal hier. Da sollst du mein Gast sein.« 14
»Aber ...« »Nächstes Mal bist du dran.« Also würde es ein nächstes Mal geben. »Na ja ...« Er steckte die Brieftasche in die Anoraktasche zurück und erhob sein Glas. »Danke.« »Proost!« »Prost«, ahmte er sie nach. Sie tranken. »Schmeckt’s?« »Ganz schön stark! Heißt es wirklich Trappist?« »Klar. Von Mönchen gebraut. Muss doch rein sein, oder?« Sie lachten. »Bist du mit jemandem hier?« »Allein.« »Und du wohnst im Hotel?« »Nein. Bei Bekannten in der Nähe von Haarlem.« »Schön für dich«, sagte Ton, »oder?« »Ja«, log Jacob und nahm, da er auf dieses Thema nicht weiter eingehen wollte, einen weiteren Schluck von dem schweren Bier, das ihm noch weniger schmeckte als die Sorten, die er bisher probiert hatte. Er fühlte es schon in seinem Magen säuern. Ton kippte ihres in langen Zügen. Sie sagte: »Kennst du dich in Amsterdam aus?« »Nein. Keine Ahnung, wo ich hier bin, ehrlich gesagt.« »Hast du einen Stadtplan ?« »Klar.« »Ich zeig’s dir.« Die nächsten paar Minuten vergingen damit, dass Ton ihm zeigte, wo er war, ihm das Straßenbahnsystem zu 15
erklären versuchte und mit Jacobs Füller die sehens‐ werten Orte markierte. »Denk dir die Altstadt als ein halbes Spinnennetz, mit dem Bahnhof im Zentrum«, sagte sie, »die Grachten als die Halbkreise, da, siehst du, und die kreuzenden Straßen als die – Schnüre?« »Fäden?« »Fäden, die sie verbinden.« »Für mich sieht’s eher wie ein Labyrinth aus.« »Ja, vielleicht auch das.« »Im einen kann man sich leicht verfangen und im anderen verirren.« Ton puffte ihn leicht in die Seite und sagte, das spöttische Lächeln nur eine Faustbreit von seinem Gesicht: »Du bist ein Pessimist, Jacques.« Er lächelte zurück, gebannt von ihren grünen Augen, und wollte nichts mehr als ihren breiten Mund küssen, sagte aber nur: »Typisch weiblich, an ein Spinnennetz zu denken, und typisch männlich, das mit dem Labyrinth, findest du nicht?« »Oh! Du –« Sie neigte das Gesicht wieder über den Stadt‐ plan. »Was?« »Nichts.« Er wartete, verdutzt von ihrer Reaktion. »Muss jetzt gehen«, sagte sie und rückte von ihm weg. »Echt? Schade.« Sie trank den letzten Rest von ihrem Bier aus. »Muss wirklich.« 16
Er sagte in einem einzigen hektischen Rutsch: »Können wir uns wieder treffen? Ich meine – hättest du Lust?« Sie sah ihn ausdruckslos an und sagte: »Bist du sicher?« »Ganz sicher. Und du?« Sie lächelte wieder, aber ihre Mundwinkel zeigten ab‐ wärts. »Ich geb dir meine Telefonnummer. Ruf an, wenn dir irgendwann immer noch danach ist.« Sie kramte in einer Tasche, förderte ein Streichholzbriefchen zu Tage und nahm seinen Füller vom Tisch. Während sie schrieb, faltete er den Stadtplan zusammen – warum ist es immer so knifflig, einen neuen Stadtplan wieder richtig zusam‐ menzufalten? – und stopfte ihn in die kängurubeutel‐ artige Vordertasche des Anoraks. Als er sich wieder umdrehte, nahm Ton seine Hand, hielt sie unterm Tisch fest in ihrer, sah ihm offen und aus nächster Nähe ins Gesicht und sagte: »Ich würde dich gern wieder sehen. Dir ein paar Orte zeigen, wo Touristen nie hinkommen. Ganz ehrlich. Aber weißt du – so eine kurze Begegnung. Du könntest zu dem Schluss kommen, dass du dich geirrt hast.« »Nein, ich –« Zwei simultane Aktionen brachten ihn zum Schweigen. Tons Lippen, die flüchtig den Geist eines Kusses auf seine hauchten. Und ihre Hand, die seine fest auf ihren Schritt presste, wo er deutlich ein kompaktes Set von Penis und Hoden fühlte. In seinem Schock nahm er nebelhaft wahr, wie Ton aufstand und »Meine Straßenbahn« sagte, wie er selbst ebenfalls aufstand, damit sie (er) sich an ihm vorbei‐ 17
quetschen konnte, wie sie (er) etwas sagte, was wie »Tot sind’s« klang, wie ihre (seine) schmale Gestalt sich durch die Menge zwängte, in eine Straßenbahn stieg und ihm durchs Fenster zuwinkte, als sich die Tür schloss und die Bahn bimmelnd anfuhr. Da erst fand er seine Stimme wieder und während er hilflos die Hand in die Luft reckte, hörte er sich rufen: »Hey, du hast meinen Füller mitgenommen!« Du hast meinen Füller mitgenommen ? Er schaute auf den Tisch und stellte fest, dass sie (er) ihn tatsächlich mitge‐ nommen hatte. Doch neben ihrem (seinem) leeren Glas lag ein Streichholzbriefchen. Noch immer motorisch schneller als mental, nahm er das Heftchen, drehte es hin und her. Nichts. Wollte es gerade aufklappen, als ihm die Stuhlkante in die Kniekehlen krachte und er auf den Sitz sackte. Er drehte sich instinktiv um und sah seinen Anorak an seinem Gesicht vorbeifliegen, umkrallt von der Hand eines mageren Jungen, dessen knallrote, verkehrt herum aufgesetzte Baseballkappe wie ein Leuchtfeuer an‐ zeigte, wo er durch die Menschenmenge witschte. Er schrie: »Hey, das ist meiner! Bleib stehen!«, rappelte sich aus dem Stuhl und stolperte, vom Klirren herab‐ fallender Biergläser verfolgt, hinter dem Dieb her. Der jetzt, mitten auf dem Plein, auf die umgestülpte Müllton‐ ne der Bongospielerin von vorhin stieg und dort, mit einem unverschämten Grinsen, das Jacobs Wut noch steigerte, so lange stehen blieb, bis er sicher war, das ihn sein Opfer erspäht hatte. Es war, als wollte er verfolgt werden. »Haltet ihn!«, brüllte Jacob und zeigte mit dem 18
Finger auf den Kerl, während er durchs Gedränge stürmte, aber die Leute guckten ihn nur erschrocken an und taten ihr Bestes, ihm aus dem Weg zu gehen. Als Jacob noch drei, vier Meter von ihm entfernt war, rannte der Dieb wieder los, diesmal zu einer Ecke des Plein, wo eine schmale Straße voller Bars, Cafes und Touristenshops abging. So flink war Rotkäppchen und so offensichtlich geübt, dass Jacob keine Chance hatte, obwohl er nur noch ein paar Schritt zurücklag, als der Typ plötzlich links abschwenkte. An der Ecke angekom‐ men, sah Jacob ihn zwanzig Meter weiter am Ende eines schmalen Durchgangs stehen und den Anorak schwen‐ ken, als wollte er klar demonstrieren, dass er wartete, bis sein Verfolger aufgeholt hatte, ehe er wieder losflitzte, durch eine weitere enge Straße, parallel zu der von eben. Und so ging die Jagd weiter: am Ende dieser zweiten Straße, wo sie an eine Gracht stieß, den Wasserlauf entlang, dann links ab, über eine Brücke und halb links weiter, durch eine schmale Wohnstraße, links und wieder rechts und wieder links, in eine breite Geschäftsstraße mit Straßenbahnen in der Mitte. Und weiter flitzte Rotkäpp‐ chen, so wendig wie ein Windhund, während Jacob jetzt Seitenstechen hatte und langsam außer Atem geriet. Auf einer Brücke über eine große Gracht sprintete Rotkäpp‐ chen über die Fahrbahn und einen weiteren Block ent‐ lang, um dann rechts abzuschwenken, wieder in eine schmale Straße mit Wohnhäusern und da und dort einem kleinen Laden oder einer Galerie, ein langes Stück, wo wenig Menschen oder Autos Jacobs Fortkommen behin‐ 19
derten. Aus dem Gefühl heraus, dass er nicht mehr lange durchhalten würde, legte er einen letzten Verzweiflungs‐ sprint ein und hatte tatsächlich beinahe aufgeholt, als sie am Straßenende ankamen. Doch Rotkäppchen witschte nach rechts, eine weitere Gracht entlang, und flitzte mit demoralisierender Leichtigkeit davon. Am Ende seiner körperlichen und seelischen Kräfte, konnte Jacob nicht anders, als sich keuchend an einen Grachtuferbaum zu klammern und mit Wuttränen in den Augen zuzugucken, wie Rotkäppchen auf einer steil zulaufenden Brücke hundert Meter weiter stehen blieb, um sich umzugucken und noch einmal munter zu winken, ehe er abtauchte und verschwand und zwar, du guter Gott, tatsächlich entlang einer weiteren Gracht, die die, an der Jacob keuchend um Luft rang, kreuzte. Rot‐ käppchen hatte ihn die ganze Zeit nur an der Nase herumgeführt. Aber warum? Das ergab doch keinen Sinn. Saures Bier stieg seine Speiseröhre empor und ergoss sich in die Gracht. Er dankte dem Himmel, dass da niemand war, der Zeuge seiner Demütigung hätte werden können. Die Gracht lag einsam und verlassen da. Aber da war auch niemand, den er fragen konnte, wo er war. Es begann, auf eine schlappe, triste Art zu regnen. Er nahm es als Gesichtswäsche und Mundspülung. Begriff dann, dass er, nur in Jeans und Sweat‐Shirt, binnen kurzem klatschnass sein würde. Und er sah auch nir‐ gends einen Zufluchtsort, außer einem seltsamen Holz‐ bau – ein Restaurant? – auf einem großen freien Platz 20
jenseits der Gracht, und wie er dort empfangen werden würde, ohne Geld und in seiner momentanen Verfassung, konnte er sich vorstellen. Was tun? Da er keine Ahnung hatte, wo er war, wusste er nicht, welche Richtung er einschlagen sollte. In einem Anfall von leiser Panik krampfte sich sein Magen zusammen. Da es nun mal seine Natur war, im Zweifel lieber irgendwas zu tun als gar nichts und eher den Weg nach vorn zu wählen als den zurück, holte er tief Luft, schluckte resolut, rülpste und trottete in Richtung der kreuzenden Gracht. Die angesichts ihrer Breite und der großen, imposanten Häuser auf beiden Seiten wohl eine der Hauptwasserstraßen sein musste. Er sah sich nach einem Schild um und fand eins am Eckhaus, zwischen Erdgeschoss und erstem Stock: Prinsengracht. Ja! In ganz Amsterdam, ach, in ganz Holland, gab es nur eine Adresse, die er auswendig wusste: Prinsengracht 263. Das Haus, wo sich Anne Frank und ihre Familie während des Zweiten Weltkriegs in dem geheimen Hinterhaus ver‐ steckt hatten, das Haus wo sie das berühmte Tagebuch geschrieben hatte, eins seiner Lieblingsbücher, das Haus, das jetzt kein Haus mehr war, sondern ein Museum, und das Haus, aus dem er heute Vormittag geflüchtet war, weil ihn dieses Erlebnis so fix und fertig gemacht hatte. Auch in seinem konfusen Zustand wusste er noch, dass er, wenn er der Gracht in die richtige Richtung folgte, bei der Nr. 263 ankommen würde, wo ihm vielleicht die 21
Angestellten helfen würden. Oder ein Besucher. Vorhin waren dort jede Menge Leute gewesen, hauptsächlich Rucksackreisende in seinem Alter, die englisch sprachen. Er hatte lange anstehen müssen, ehe er hineingedurft hatte. Sein Magen entkrampfte sich. Das Eckhaus hatte keine Nummer, das nächste war Nr. 1045, das danach Nr. 1043. Die Richtung stimmte. Er ging zügig weiter. Aber es regnete jetzt richtig heftig, er würde patschnass sein, ehe er Nr. 263 erreichte. Vielleicht würde der Regen ja nicht lange anhalten und er konnte eine kleine Ruhepause gebrauchen. Wenn da nur irgendwo ein Ort zum Unterstellen wäre. Er fand nichts Geeignetes, bis er relativ bald zu einem Haus mit einer überdachten Ein‐ gangstreppe kam, sechs steile Steinstufen, die zu einer schweren Holztür hinaufführten. Hier konnte er wenigs‐ tens geschützt sitzen. Nachdem er sich auf der obersten Stufe ein paarmal umgeguckt hatte wie ein Murmeltier auf seinem Bau, setzte er sich, trocknete sich das Haar mit seinem Taschentuch, damit ihm nicht mehr dauernd Wasser in den Nacken lief, drapierte das Taschentuch zum Trocknen über die Türklinke und fragte sich dann, ob da noch irgendetwas Nützliches in seinen Jeanstaschen war. Kein Geld, das war klar; alles, was er besaß, steckte im Anorak. Ein Kamm in der Gesäßtasche wie immer. Er kämmte sich kurz die Haare durch, ehe er ihn wieder ein‐ steckte. Suchte weiter. Nichts rechts vorn, wo das Taschentuch gesteckt hatte. Links vorn: das Streichholz‐ 22
briefchen. Völlig vergessen. Er konnte sich nicht mal mehr erinnern, es eingesteckt zu haben. Er inspizierte es noch einmal. Außen drauf nichts. Klapp‐ te es auf. Innen guckte hinter der erwarteten Parade von Pappzündhölzchen ein rundes Etwas aus knittrigem rosa Plastik hervor. Er hatte es schon herausgezogen, ehe er kapierte, dass es ein Kondom war. Da erst bemerkte er auch, was Ton in krakliger Handschrift innen auf die Klappe geschrieben hatte: eine Telefonnummer, unter der stand: SEI BEREIT NITS IN AMSTERDAM IS WAT HET LIJKT
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GEERTRUI Fallschirme, die wie Konfetti von einem blauen Himmel fallen. Meine lebhafteste Erinnerung an seine Ankunft. Sonntag, 17. September 1944. »Gutes Flugwetter«, hatte Vater gesagt. »Wir müssen auf weitere Luftangriffe gefasst sein.« Die ganze Woche hatten britische Flugzeuge in der Nähe Bomben abgeworfen. In Arnhem hatte der Widerstand einen Sabotageanschlag auf die Eisenbahnlinie verübt und am Samstag hatte die deutsche Sicherheitspolizei verkünden lassen, wenn sich die Täter nicht bis Sonntag, zwölf Uhr, gestellt hätten, würden etliche unserer Leute erschossen. Alles war äußerst angespannt, die Menschen bald voller Hoffnung, bald verzagt. Wir wussten, dass die Alliierten die holländische Grenze erreicht hatten. Be‐ stimmt, sagten die Leute, sind sie bald hier. Doch es waren ständig deutsche Truppenbewegungen im Gang und in unserem Dorf wurden mehr Soldaten denn je ein‐ quartiert. »Seid ihr bereit, für eure Freiheit alles zu opfern?«, hatte De Zwarte Omroep, unsere Untergrundzeitung, gefragt und uns gleichzeitig angewiesen: »Haltet eine Tasche mit Unterwäsche, Lebensmitteln und euren Wertsachen be‐ reit.« Mutter hatte Geld in unsere Kleidung eingenäht. 25
Vater hatte mich instruiert, was ich tun sollte, falls es zum Schlimmsten käme und wir getrennt würden. Womit er natürlich meinte, wenn er getötet würde. Ich war gerade neunzehn geworden und hätte an diesem Sonntagmorgen mit meinen Eltern in der Kirche sein sollen. Aber mein Bruder Henk und sein Freund Dirk Wesseling hielten sich auf dem Land versteckt, auf dem Bauernhof von Dirks Eltern, weil sie nicht in die deut‐ schen Arbeitslager wollten, wo so viele von unseren jungen Männern hingeschickt worden waren. Ich war besorgt um Henk. Deshalb ging ich an diesem Morgen in aller Frühe das Risiko ein und radelte trotz Vaters War‐ nung von unserem Haus in Oosterbeek zu Dirks Bauern‐ hof. Ich war auf dem Rückweg, als ich die Flugzeuge hörte und die Fallschirme sah. »Da!«, rief ich aus, obwohl da keiner war, der mich hätte hören können. »Da! Wie wunderschön!« Und dann raste ich nach Hause und sagte dabei immer wieder vor mich hin: »Die Tommys sind da! Die Tommys sind da! Die Befreiung! Die Befreiung!« Vater hatte Recht gehabt. In meiner Abwesenheit waren weitere Bomben gefallen. Diesmal auf die Eisenbahnlinie bei uns in der Nähe. In den Häusern am Bahndamm waren die Fenster zerborsten. Und eine Spitfire hatte die deutschen Flakstellungen auf der Wiese beschossen, dabei einige Soldaten getötet und andere verwundet. Als ich in unsere Straße kam, standen dort die Deutschen in Reih und Glied und warteten auf den Abtransport. Die Ersten wurden bereits von Lastwagen weggebracht, als ich unser 26
Haus erreichte. Vater war ganz außer sich, weil er dachte, ich sei bestimmt tot. Mama war ruhig wie immer und damit beschäftigt, Lebensmittel in den Keller zu bringen. Aber ich wusste, sie war nicht so ruhig, wie sie schien, weil sie jedes Mal am oberen Ende der Kellertreppe stehen blieb und vehement ihre Brille putzte. Das tat sie immer, wenn sie aufgeregt war. Ich blieb, als ich mit einem Arm voll Decken auf dem Weg nach unten war, bei ihr stehen und gab ihr einen Kuss. »Vier Jahre«, sagte sie, »vier Jahre habe ich auf diesen Tag gewartet.« Ich bewun‐ derte meine Mutter und liebte sie sehr, vor allem aber in diesem Moment, der unser letzter ruhiger Augenblick sein sollte, bis dann, viele Wochen später, alles vorbei war. Zwei, drei Gänge später, als ich gerade wieder aus dem Keller heraufkam, hörte ich einen deutschen Soldaten vorbeirennen und »Die Engländer, die Engländer!« brüllen. Ich wollte hinausgehen und gucken, aber Papa sagte Nein, ängstliche Soldaten seien die allergefährlichsten, wir müssten drinnen warten. Wir kauerten zusammen‐ gedrängt in der Diele, hinter der Haustür, Mama, Vater und ich, brauchten aber nicht lange zu warten, bis wir Männer in Richtung Arnhem vorbeilaufen hörten und Stimmen vernahmen, die weder Deutsch noch Nieder‐ ländisch sprachen. So oft hatten wir um das Radio herum‐ gesessen und heimlich die BBC‐Nachrichten gehört. Papa und ich hatten sogar miteinander Englisch geübt, damit wir auch ja so viel wie möglich verstehen würden, wenn die Befreier endlich kämen. Und doch war es jetzt plötz‐ 27
lich ein Schock, dort draußen, direkt vor unserer Haustür, Englisch zu hören. Nicht dass wir die Wörter hätten identifizieren können. Aber wir hörten es am Klang: ganz anders als Deutsch oder Niederländisch. Papa flüsterte mir auf Englisch zu: »Music to my ears!« – eine der »gängigen Redewendungen«, die wir anhand einer Liste geübt hatten. Wir kicherten wie kleine Kinder vor einem lang ersehnten Fest. »Ihr zwei!«, sagte Mutter. »Benehmt euch!« Mutter war Lehrerin gewesen und hielt immer sehr auf Manieren, auch wenn wir unter uns waren. Aber es war auch ein Spiel; sie tat gern so, als ob Papa und ich ungezogene Kinder wären. In dem Moment hörten wir eine Feuersalve, einen dump‐ fen Schlag gegen unsere Tür, als hätte jemand ein paar Kartoffelsäcke dagegengeworfen, dann nichts mehr. Wir klammerten uns alle drei aneinander. Eine Ewigkeit passierte gar nichts. Dann hörten wir eine Männerstimme. Was sie sagte, war so ein Schock, dass ich die Worte noch ganz genau weiß. »Herrgott noch mal, Jacko, ich hab schon keine Spucke mehr vor lauter Durst.« Er war so dicht vor unserer Tür, dass wir alle zusammenfuhren. Es dauerte einen Moment, bis zu mir durchdrang, was ich da gehört hatte, aber dann rannte ich in die Küche, füllte einen Krug mit Wasser, schnappte mir ein Glas und rannte wieder zur Tür. »Pass auf, pass auf«, murmelte Mutter. Papa hielt mich zurück, öffnete selbst die Tür vorsichtig einen Spaltbreit und spähte hinaus. Als er sah, dass da zwei englische Soldaten standen, riss er die Tür ganz auf und breitete herzlich die Arme aus. Aber wir 28
brachten alle drei kein Wort heraus. Die jäh aufgehende Tür erschreckte die Soldaten genauso, wie uns ihre plötz‐ liche Anwesenheit erschreckt hatte. Sie fuhren herum, die Gewehre im Anschlag. Doch als sie Vater dastehen sahen, mit ausgebreiteten Armen, und Mutter mit ihrem stren‐ gen, aber lächelnden Gesicht und mich, mit einem dümm‐ lichen Grinsen und einem Krug Wasser in der einen Hand und einem Glas in der anderen, sagte der, der eben gesprochen hatte: »Heiliger Strohsack, das nenn ich Service!« Worauf Vater seine Stimme wieder fand und in seinem besten Englisch sagte: »Willkommen in Holland. Will‐ kommen in Oosterbeek. Willkommen in unserem Haus.« Wir lachten und es folgte ein allgemeines Händeschüt‐ teln, nur ich konnte nicht mitmachen, weil ich die Hände voll hatte. Also füllte ich das Glas und reichte es, als die Formalitäten beendet waren, dem Soldaten, der bisher geschwiegen hatte, worauf er sagte: »Danke, Miss, Sie sind ein barmherziger Engel.« Er hatte Augen, die mich dahinschmelzen ließen. Während sie tranken, stellten wir uns einander vor. Sie hießen Max Cordwell und Jacob Todd. Inzwischen hatten sich an der ganzen Straße Türen geöff‐ net und Leute waren herausgekommen, mit Blumen und Sachen zu essen und zu trinken und orangefarbenen Bändern, die sie schwenkten, und einige sogar mit der niederländischen Fahne, die unter den Deutschen streng verboten gewesen war. Und ich sah Küsse und Umar‐ mungen. 29
Als sie getrunken hatten, fragten die Soldaten, wie weit es bis Arnhem sei. »Fünf Kilometer«, erklärte Vater. Während er noch sprach, kam ein Jeep angefahren und ein Offizier erhob sich vom Sitz und rief einen Befehl. »Tut mir Leid, wir müssen, Sir«, sagte Max. »Veel succes«, sagte Vater, sein Englisch vergessend. Viel Glück. »Succes!«, wiederholte Mutter. »Wiedersehen, Miss«, sagte Jacob. »Danke für das Wasser.« Als sie sich zum Gehen wandten, kam einer von unseren Luftschutzhelfern die Straße entlanggelaufen und rief: »Alle wieder reingehen! Reingehen! Es herrscht immer noch Gefahr.« Die Soldaten zogen weiter. Vater schloss die Haustür. Mutter begann, ihre Brille vehementer denn je zu putzen. Und da erst wurde mir klar, dass ich kein Wort gesagt hatte. »Oh, Papa«, sagte ich und wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte, »ich hab nicht mal Hallo gesagt!« Vater und Mutter sahen mich an, als sei ich ver‐ rückt geworden. Dann brach Vater in schallendes Geläch‐ ter aus und Mutter legte die Arme um uns und schwenkte uns im Kreis herum und sagte: »Vrij, vrij, vrij, frei, frei, frei!«, bis uns so schwindlig war, dass wir nicht mehr stehen konnten. Ich glaube, so berauscht war ich in meinem Leben kein zweites Mal. Am nächsten Tag, dem Montag, landeten noch mehr briti‐ sche Soldaten per Fallschirm oder Lastensegler. Wir beob‐ achteten die Flugzeuge, als sie Wolfheze überflogen. Und wie am Vortag füllten rote, weiße, braune, grüne und 30
blaue Fallschirme den Himmel. Ein erregender Anblick. Aber inzwischen waren einige der Soldaten, die am Sonn‐ tag weitergezogen waren, müde und verdreckt zurückge‐ kehrt und hatten auf der Wiese neben der Kirche Ge‐ schütze postiert, die sie jetzt ständig in Richtung Arnhem abfeuerten. Mutter machte Brote, die wir ihnen brachten, weil sie so wenig zu essen hatten. Sie waren sehr froh, dass die — wie sie sich ausdrückten – »zweite Welle« frische Kameraden und Versorgungsgüter brachte. »Jetzt wird alles gut«, sagten sie, »bald werden die Hunnen rennen!« Sie erklärten, dass sie Order hatten, die Brücke von Arnhem einzunehmen, damit die Hauptarmee, die von Nijmegen heranrückte, den Fluss überqueren und die deutschen Besatzungstruppen in Holland von Deutsch‐ land abschneiden konnte. Das werde dazu beitragen, dass der Krieg bald vorbei sei, sagten sie. Sie waren fröhlich, machten Witze, frotzelten herum, neckten mich und flirte‐ ten um die Wette, um an die Brote zu kommen. So anders als die Deutschen. Aber wir waren ja auch froh, dass sie da waren, und das macht einen großen Unterschied. Es war so eine Erlösung, da machte sich niemand etwas daraus, dass wir keinen Strom und kein Gas mehr hatten und unser hübsches altes Dorf von Bomben und Granaten böse zugerichtet wurde. »Der Preis der Freiheit«, sagte Papa. Er war ruhelos, wollte helfen, wusste aber nicht wie. Die Luftschutzhelfer ermahnten uns immer wieder, vorsichtig zu sein und drinnen zu bleiben. Noch seien wir nicht endgültig sicher. Deutsche Soldaten lägen ein Stück nördlich des Ortes, von wo ab und an geschossen werde. 31
Und der Widerstand berichte von schweren Kämpfen um die Brücke von Arnhem. Abends erzählte uns ein Nach‐ bar, das Hotel Schoonoord am Utrechtseweg, an der Hauptkreuzung im Ort – eins unserer besten Hotels, bis es die Deutschen beschlagnahmt hatten – werde als Laza‐ rett für verwundete britische Soldaten hergerichtet und es würden freiwillige Helferinnen gesucht. Die ersten Ver‐ wundeten träfen bereits ein. Ich wollte mich melden, aber Papa sagte Nein. Heutzu‐ tage, schätze ich, hätte ich gar nicht erst gefragt, aber damals tat eine Neunzehnjährige noch, was ihr die Eltern sagten, und so sehr ich auch bat und bettelte, Papa verbot es mir rundweg. Seit der letzten Nacht war er nicht mehr so optimistisch wie Mama und ich. »Warum sind die Soldaten zurückgekommen?«, fragte er jetzt. »Warum haben sie Geschütze auf der Wiese aufge‐ stellt? Warum feuern sie ständig? Und warum müssen sie ein Hotel in ein Lazarett umwandeln, wenn die Armee morgen von Süden her eintrifft, wie die Geschützbedie‐ nungen sagen? Wozu der ganze Aufwand, wenn alles glatt läuft?« »Eine Schlacht ist nun mal kein nettes, geordnetes Spiel, das man bis ins letzte Detail planen kann«, erklärte Mama. »Sie ist eine wüste, unvorhersagbare Angelegen‐ heit, sie wogt hin und her und dabei kommen Menschen zu Schaden.« »Das mag ja sein«, sagte Vater, »aber solange wir nicht wissen, wer hin und wer her wogt und wo in dem ganzen Gewoge wir uns befinden, bleibt unsere Tochter hier bei 32
uns.« Ob es nicht schon schlimm genug sei, dass der eigene Sohn irgendwo dort draußen sei und man nicht wisse, ob lebend oder tot? Ob man da noch der einzigen Tochter erlauben müsse, ihr Leben ebenfalls aufs Spiel zu setzen? Ob Mutter wolle, dass sie im Alter kinderlos dastünden? Wer sich dann um sie kümmern solle? Wenn Vater so stur und pessimistisch war, hütete sich Mutter, ihm zu widersprechen. Also blieb ich zu Hause, mit Sooji, meinem alten Teddy, als einzigem Objekt meiner Fürsorge, während ich die Soldaten von meinem Zimmerfenster aus beobachtete. Jedes Mal, wenn eins ihrer Geschütze losging, ließ die Druckwelle unser Haus erzittern, die Fensterscheiben vibrieren, Staubwolken auf‐ steigen. In dieser Nacht schliefen wir schon zum zweiten Mal in unseren Kleidern – oder versuchten zumindest zu schla‐ fen. Die Kampfgeräusche schienen von allen Seiten zu kommen. Und nach einer Weile zogen weitere Marschko‐ lonnen und Jeeps, ja sogar Kettenfahrzeuge, am unteren Ende unserer Straße vorbei. Am Dienstagmorgen um sechs hatte der Lärm noch zuge‐ nommen. Soldaten von den Geschützen kamen Wasser holen und warnten uns, dass die Deutschen wahrschein‐ lich zurückschießen würden. Wir sollten vorsichtig sein. Sie hatten Recht. Bald darauf explodierten Granaten auf der Wiese und sogar ganz in unserer Nähe. Erstmals flüchteten wir uns in den Keller. Der Angriff dauerte nicht lange, dämpfte aber selbst Mamas Zuversicht ein 33
wenig. Uns blieb jedoch keine Zeit für düstere Gedanken. Kaum hatte das Granatfeuer aufgehört, vernahmen wir oben ir‐ gendeine Art von Tumult. Als wir hinaufkamen, fanden wir in unserem vorderen Wohnzimmer zwei Soldaten, die einen dritten stützten, dem das Blut aus einer Wunde über der Hüfte lief. Es war ein Schock: diese drei Männer in ihren dreckverkrusteten Kampfanzügen und schweren, schlammverklebten Stiefeln, mit ihrem sperrigen Gepäck und ihren klappernden Waffen hier zwischen unseren besten Möbeln, und überall Blut. Irgendwie war wohl bis zu diesem Moment der Krieg, das Kampfgeschehen, etwas gewesen, was draußen ablief, anderswo. Jetzt passierte es plötzlich hier, in unserem Haus. Papa und ich starrten die drei von der Tür aus an, als hätte uns ihr Anblick in Salzsäulen verwandelt. Aber nicht so Mutter. Sie war in Krisensituationen immer großartig. Da lief sie zu Hochform auf. Ich hatte sie ein‐ mal einen deutschen Offizier, der unser Haus auf seine Eignung als sein höchstpersönliches Quartier inspizierte, so lehrerinnenhaft herunterputzen sehen, weil er es wag‐ te, über unsere Schwelle zu treten, ohne sich die Schuhe abzutreten und die Mütze abzunehmen, dass er daraufhin beschloss, uns nicht mit seiner Anwesenheit zu beehren, sondern seinen Unteroffizier zu schicken, der bald darauf in unseren Gartenschuppen zog, weil es ihm lieber war, dort zu wohnen, als jeden Tag Mutters verächtlicher Geringschätzung ausgesetzt zu sein. Jetzt zögerte sie keine Sekunde. 34
»Geertrui«, sagte sie, »bring warmes Wasser und Desin‐ fektionsmittel.« Und zu Vater: »Barend, hol den Ver‐ bandskasten.« Noch im Sprechen legte sie die Kissen auf dem Sofa zurecht. Dann sagte sie, da sie kaum Englisch konnte: »Komen, komen«, komm, komm, und bedeutete den Soldaten mit einer Handbewegung, ihren Kameraden hinzulegen. Als ich mit dem Wasser zurückkam, hatten sie den Ver‐ wundeten von seiner Ausrüstung und den äußeren Klei‐ dungsstücken befreit und er lag jetzt mit schmerzver‐ zerrtem Gesicht auf dem Sofa. Mutter kniete neben ihm und inspizierte die Wunde. Vater hatte den Verbands‐ kasten gebracht und war damit beschäftigt, dem Mann die Stiefel auszuziehen. Der arme Junge war nicht älter als mein Bruder Henk. Sein Gesicht war mit einer Mischung aus Dreck und Schweiß verschmiert, aber dennoch konnte ich sehen, dass er totenbleich war. Seine Freunde redeten leise auf ihn ein, versuchten Munterkeit zu verbreiten, ihn davon zu überzeugen, dass jetzt alles gut würde. Der eine zündete eine Zigarette an und hielt sie dem Verwundeten so an den Mund, dass er rauchen konnte, ohne die Hände zu heben. Der Junge versuchte zu lächeln, aber in seinen Augen war Angst und er zuckte immer wieder zusam‐ men, wenn Mutter ihn berührte. Die Wunde war schreck‐ lich. In den ganzen vier Besatzungsjahren hatte ich Verwun‐ dete nur nach den jüngsten Luftangriffen gesehen und auch da nur von fern. Das war das erste Mal, dass ich einen aus der Nähe sah. Aus der Nähe und noch dazu in 35
unserem eigenen Haus, unserer guten Stube, wo bisher immer nur höflicher, fein herausgeputzter Besuch geses‐ sen hatte oder Anlässe wie Nikolaus, unsere Geburtstage, die Hochzeitstage unserer Eltern begangen worden waren. Fröhliche Situationen. Familiäre Situationen. Feste. Jetzt war hier dieser herzzerreißend junge Mann, dessen Blut auf unser Sofa rann, dessen stumme Pein den Raum füllte, zusammen mit dem Geruch von Schweiß und Dreck und dem ungewohnten süßlichen Aroma engli‐ scher Zigaretten. Er tat mir so Leid, wie er so hilflos dalag, und ich wollte ihn in den Armen halten und irgendwie seinen Schmerz wegzaubern und ihm den heilen, lebendigen Körper wiedergeben, den er noch vor einer knappen Stunde gehabt haben musste. Und in diesem Moment wurde mir die Entsetzlichkeit dessen, was geschah und was diese ganzen schrecklichen Jahre geschehen war, zum ersten Mal richtig bewusst. Mutter stand auf und sagte zu mir: »Bitte einen von den anderen, mit uns zu kommen.« Ich wählte den, der älter aussah, und erklärte ihm in meinem besten Englisch, dass Mutter gern mit ihm reden würde. Er, Vater und ich folgten Mutter in die Küche. Ich sollte ihm erklären, die Wunde sei so schlimm, dass sie nichts für seinen Kamera‐ den tun könne, und wenn sie auch keine Ärztin sei, stehe für sie doch fest, dass der arme Kerl sterben werde, wenn er nicht bald angemessene Hilfe erhalte. Als ich über‐ setzte, nickte der Soldat. Jetzt, wo er nicht mehr um seines Kameraden willen munter tun musste, wirkte er erschöpft und mutlos. Sein verwundeter Freund heiße Geordie, 36
sagte er, der andere sei Norman und er selbst Ron. Sie hätten Befehl erhalten hierher zu kommen und zu fragen, ob sie unser Haus als Beobachtungsposten nutzen könn‐ ten, weil man von unseren oberen Zimmern die Wiese und die Straße überblicken könne. Sie fürchteten nämlich, die Deutschen könnten hier entlangkommen. Aber dann seien sie in das Granatfeuer geraten und Geordie habe einen Splitter abgekriegt. Sie müssten auf ihrem Posten bleiben. Alles, was er tun könne, sei, ihrer Einheit eine Nachricht zu übermitteln und zu bitten, einen Sanitäter zu schicken. Die Wunde zu verbinden, würde nicht reichen, sagte Mutter. Das sei eine Sache für den Chirurgen. Vater stimmte ihr zu. »Wir haben gehört, ein Hotel hier im Ort ist als Lazarett hergerichtet worden«, sagte er. »Sie müssen ihn dort hinbringen.« Ron wusste nicht, wo das Hotel war, also erklärte ich’s ihm: droben im Ortszen‐ trum, keinen Kilometer von hier. »Wir müssten beide gehen, Norm und ich, um ihn so weit zu tragen«, sagte Ron. »Aber wir dürfen unseren Posten nicht verlassen, nicht mal für einen Schwerverwundeten.« »Dann wird der Junge sterben«, sagte Mutter, als ich übersetzt hatte. »Irgendwas muss man doch tun können.« »Wir könnten ihn doch hinbringen«, sagte ich. »Papa und ich. Wir könnten die Schubkarre nehmen.« »Nein«, sagte Papa sofort. »Das wäre zu gefährlich.« Ich sagte: »Das Granatfeuer hat aufgehört. Und außerdem zielen sie sowieso auf die Geschütze. Wir würden doch in die andere Richtung gehen. Da passiert uns nichts, Papa.« 37
»Nein«, sagte er. »Ich gehe allein. Du musst bei deiner Mutter bleiben.« »Mama, red mit ihm, bitte.« Mutter sah Vater fest in die Augen und sagte: »Geertrui hat Recht. Es geht nur zu zweit. Wenn du sie nicht mit‐ nehmen willst, komme ich mit.« »Nein, nein«, sagte Vater, jetzt erregt. »Wir können sie nicht mit den Soldaten allein lassen. Das geht nicht. Das ist gefährlich. Das lasse ich nicht zu.« Mutter nahm Vaters Hand und sagte sanft: »Überleg doch mal, Schatz. Das sind wir diesen Leuten schuldig. Sie sind uns zu Hilfe gekommen. Wir müssen tun, was wir kön‐ nen, um ihnen zu helfen. Und denk doch an deine Tochter. Ist es nicht ganz natürlich, dass sie auch ihren Teil beitragen will? Wenn dieser Horror vorbei ist, soll sie dann sagen müssen, dass sie dabeistehen und zugucken musste, wie andere die Gefahr auf sich nahmen? Dass sie im entscheidenden Augenblick nicht helfen durfte? Und es ist doch nur recht und billig, oder?, dass wir diesen armen Jungen ins Lazarett bringen. Stell dir vor, es wäre Henk.« So wie Mutter Vater nicht widersprechen konnte, wenn er grimmig und stur war, konnte Vater Mutter nicht wider‐ sprechen, wenn sie sanft und logisch argumentierte. Er sagte immer, ohne sie wäre er nichts. Sie hingen so aneinander, dass ich sie mir nicht getrennt vorstellen konnte. Papas größte Angst war, dass er Mama irgendwie verlieren könnte. Während der ganzen Besatzungsjahre hatte ihn nie der Mut verlassen. Aber jetzt, da die Befrei‐ 38
ung in Sicht war (oder wir das zumindest in dem Moment glaubten), schien er plötzlich die Nerven zu verlieren. Damals erstaunte mich das, ich dachte sogar, wie schwach er doch sei. Aber jetzt, wo ich selbst alt bin und so viel mehr hinter mir habe als damals, meine ich es zu verstehen. Wenn der Erfolg schon fast greifbar scheint, werden einem plötzlich die Fragilität des menschlichen Lebens und die unausgesetzte Möglichkeit, ja fast schon Unausweichlichkeit des Scheiterns bewusst. Und das lässt einen zaudern. Vater schwieg einen Moment, seufzte dann. »Du hast Recht«, sagte er. Er nahm Mutters Gesicht mit beiden Händen und küsste sie zärtlich und auf eine so intime Art, dass ich wegguckte. Ich hörte ihn leise sagen: »Diese Jahre haben wir nur wegen dir überstanden. Ohne dich könnte ich nicht leben.« Und Mutter flüsterte: »So weit kommt es nicht, Schatz.« Dann setzte Betriebsamkeit ein. Die Schubkarre wurde mit Kissen und Decken möglichst bequem hergerichtet. Ron und Norman hoben Geordie hinein. Beim Abschied tat jeder sein Bestes, munter zu klingen. Und dann brachen Papa und ich auf, in Richtung Utrechtseweg und Schoonoord. Unterwegs trafen wir Bekannte, die Taschen mit einigen wenigen Habseligkeiten dabeihatten. Sie hatten gehört, dass es für die Briten an der Brücke nicht gut stand, also verließen sie ihr Haus, weil sie sich sicher waren, dass im Dorf gekämpft werden würde, und ihnen ihr Keller als Schutz nicht stabil genug schien. Etwas weiter stießen wir 39
auf eine Gruppe schwer bepackter Menschen. Papa sah mich beunruhigt an. Wir wussten beide, ohne dass es ausgesprochen wurde, dass das Schlimmes verhieß, denn es bedeutete, dass die Briten von der Stadt in unsere Rich‐ tung zurückgedrängt wurden. Als wir uns dem Utrechtseweg näherten, war der Geschützlärm wesentlich lauter. Er kam von jenseits der Bahnlinie, die etwa einen Kilometer nördlich des Dorfs verlief, und auch aus der Richtung von Arnhem, das östlich lag. Wir waren beide außer Atem und schweiß‐ gebadet, ebenso vor Angst und Aufregung wie vom Schieben der Karre. Geordie, der arme Kerl, wurde durch‐ gerüttelt, als wir übers Kopfsteinpflaster liefen. Aber er war wohl bewusstlos, denn seine Augen waren geschlos‐ sen und er gab keinen Laut von sich. Das Schoonoord‐Hotel bot einen schrecklichen Anblick. Die Veranda, auf der wir so oft gesessen und Kaffee getrunken hatten, war voller Verwundeter, die auf Tragen lagen und warteten, dass sie versorgt würden. Zu mei‐ nem Erstaunen sah ich unter den Briten auch ein paar deutsche Soldaten. Wie konnten die Briten so ruhig neben ihnen liegen? Einer gab sogar einem Deutschen eine Ziga‐ rette. Ich war entsetzt! Drinnen war jeder Raum voll gepackt mit Männern, die auf Tragen oder Matratzen oder sogar auf dem blanken Fußboden lagen. Da es so viele waren, musste auch das Hotel auf der anderen Straßenseite als Lazarett herhalten. Der Geruch von Blut und Dreck und Schweiß war schier unerträglich. Er drehte mir den Magen um. Frauen und sogar Jungen aus 40
dem Dorf halfen, so gut sie konnten. Ich sah Meik und Joti, zwei Freundinnen aus meiner Schulzeit, Verwundete waschen, Meik hurtig wie immer, Joti bemüht, ihr fröh‐ lichstes Gesicht aufzusetzen. Die Soldaten waren erstaun‐ lich ruhig und geduldig, obwohl einige schreckliche Schmerzen haben mussten. Ein junger Mann, bestimmt nicht älter als ich, hatte fünf offene Schusswunden an den Armen. Während Hendrika, die Tochter des Hotelbesit‐ zers und in normalen Zeiten Lehrerin, gerade dabei war, den armen Jungen zu waschen, kamen sie, um ihn in den Operationssaal zu bringen. Sie trocknete ihn ab und ver‐ suchte ihm Mut zu machen, ehe sie ihn wegtrugen. Ich führte Hendrika nach draußen, wo Papa mit Geordie wartete. Sie sah sofort, dass Geordie dringend behandelt werden musste, und rief zwei Jungen heraus. Sie hoben Geordie auf eine Trage und brachten ihn hinein. Das war das Letzte, was wir von ihm sahen. Nach dem Krieg erfuhren wir, dass er noch am selben Tag gestorben war. Ich wollte so gern bleiben und mithelfen, aber Vater sagte Nein, wir hätten Mutter versprochen, sofort zurückzu‐ kommen. Wie ich ihn in diesem Moment hasste! Und ich glaube, ich hätte mich ihm widersetzt, wenn Hendrika nicht gesagt hätte, sie hätten genug Helferinnen, außer gelernten Krankenschwestern, was ich ja nicht sei. Ich habe immer gedacht, dass sie das nur sagte, damit ich ohne schlechtes Gewissen mitgehen konnte. Also gingen wir los und karrten unsre leere Schubkarre, so schnell es ging, die Gefällestrecke hinunter, wo der Kampflärm 41
bereits lauter war als auf dem Herweg. Ich erinnere mich genau an den bitter schmeckenden, heißen Geruch des Geschützfeuers, der die Luft zu versengen schien. Zu Hause hatte Mutter für Ron und Norman, die oben Wache hielten, Kartoffeln mit kaltem Schweinefleisch und Apfelsoße gemacht. Vater und ich aßen etwas davon, während wir Mutter erzählten, was wir gesehen und ge‐ hört hatten. Den ganzen Nachmittag strömten erschöpft aussehende Soldaten aus der Arnhemer Richtung zurück. Ein Offizier kam vorbei, um nach Ron und Norman zu sehen. Sie sprachen ein paar Minuten im vorderen Schlaf‐ zimmer miteinander. Als der Offizier wieder ging, schien Norman bedrückt, aber er wollte nicht viel sagen, nur, dass es nicht so gut lief, wie sie gehofft hatten. Andere Soldaten kamen, um Wasser zu trinken und zu fragen, ob sie sich waschen dürften. Natürlich gewährten wir ihnen jede Hilfe. Und später dann, in der kalten Abenddämme‐ rung, standen wir draußen und schauten nach Süden, in Richtung Nijmegen, wo am Himmel der Widerschein von Feuer zu sehen war und schwere Geschütze donnerten. Ron sagte, das sei die Hauptarmee, die sich zu uns durchkämpfe. Er und Norman waren inzwischen, nach drei durchwachten Nächten, so müde, dass Vater erklärte, er und ich könnten doch Wache halten, während sie sich ein bisschen hinlegten. Aber Ron sagte, sie wären »dran«, wenn sie dabei erwischt würden, wie sie beide während des Wachdiensts schliefen. Also schlug Vater vor, dass ich mit Ron wachen sollte, während Norman schlief, und er 42
und Norman uns dann ablösen würden, damit Ron schlafen konnte. Norman überredete Ron, dass das in Ordnung war. Also saß ich während der ersten Nacht‐ hälfte mit Mutter an den hinteren Fenstern, während Ron vorn wachte. Am Mittwoch begann die schlimmste Phase. Bis dahin war es die Schlacht von Arnhem gewesen. Jetzt wurde es zur Schlacht von Oosterbeek. Wir wussten das zu der Zeit noch nicht, aber nur eine kleine Truppe von etwa tausend Mann hatte die Brücke von Arnhem erreicht und hielt sie gegen eine erdrückende Übermacht. Die Deutschen hat‐ ten den Rest der britischen Truppen, etwa achttausend Mann, abgeschnitten und kesselten ihn jetzt bei Ooster‐ beek ein, innerhalb eines Rechtecks, das vom westlichen Teil des Ortes einerseits und dem etwas weiter gelegenen Wald andererseits sowie der Bahnlinie im Norden und dem Fluss im Süden begrenzt wurde. Am Morgen eröffneten die Deutschen ein massives Artil‐ leriefeuer, und diesmal blieben wir in unserem Teil des Ortes nicht verschont. Unsere gesamten Fenster wurden eingedrückt, einer von unseren Schornsteinen bekam einen direkten Treffer ab, Granaten krachten und schlu‐ gen ringsum ein. Wir flüchteten, sooft es richtig losging, in den Keller, wo schon bald Soldaten zu uns stießen, die den Befehl hatten, eine Verteidigungslinie entlang unse‐ res Dorfteils zu errichten. Zwischen den Granatfeuer‐ wellen hoben sie in unserem Garten Schützengräben aus, aber sie baten um die Erlaubnis, zu uns in den Keller zu 43
kommen, sobald es wieder losging, da ihnen, wie sie sagten, unsere Gesellschaft lieber war als ein einsames Erdloch, das keinen Schutz bot gegen einen direkten Tref‐ fer oder umherfliegende Splitter. Am Abend wurden deutsche Panzer gesichtet, die auf uns zukamen, und wir wurden alle angewiesen, in die Keller zu gehen, mit Lebensmitteln und Wasser und allem, was wir im Belagerungsfall sonst noch zu benötigen glaubten. Ich zählte siebenundzwanzig Personen, die sich so eng zusammendrängten, dass sich niemand mehr hinlegen konnte, während es droben klang, als fiele uns die Welt auf den Kopf. Wir hatten kein Licht, außer Kerzen, die aber reichlich, da jeder Soldat eine zugeteilt bekommen hatte. Aber das Schlimmste war, dass wir keine richtige Toilette hatten, nur einen Eimer im Kohlenabteil des Kellers. Es war mir schrecklich, ihn benutzen zu müssen, und ich versuchte deshalb, nichts zu trinken. Aber Angst und Anspannung sind enorm harntreibend. Am nächsten Tag suchte Vater ein große Blechtonne mit Deckel heraus, die er im Schuppen verstaut hatte. Er räumte im Kohlen‐ abteil Platz frei, um sie aufzustellen, und nagelte eine Decke so fest, dass sie etwas Blickschutz bot. Wenn wir den Eimer benutzt hatten, entleerten wir ihn in die Tonne, und das machte das Leben etwas erträglicher. Ernstlich verletzte Soldaten wurden zu einem Verbands‐ platz gebracht, der inzwischen nicht weit von uns einge‐ richtet worden war. Die Leichtverletzten blieben bei uns und Mutter und ich halfen, ihre Wunden zu säubern und zu verbinden. So wurde ich doch noch Lazaretthelferin. 44
Zuerst war ich zimperlich, aber dann entdeckte ich, wie schnell man mit schrecklichen Dingen umzugehen lernt, wenn man keine andere Wahl hat. Und zum Glück habe ich die praktische Ader meiner Mutter geerbt. Während wir unsere Arbeit machten, erzählten uns die Soldaten von zu Hause, von ihren Familien, ihren Freunden und Freundinnen, und sie zeigten uns Fotos. Sie waren größtenteils noch sehr jung, neunzehn oder zwanzig, und ich glaube, sie wollten vor allem bemuttert werden. Und die ganze Zeit herrschte rings um uns herum ein unablässiger, nervenzerrüttender Krach. Zuerst hatte ich Angst gehabt. Jetzt hatte ich keine mehr. Ich glaube, das lag daran, dass die Soldaten so lustig waren und guten‐ teils in meinem Alter. Mit diesen ausländischen jungen Männern so dicht gedrängt zusammenzusitzen, über ihr und mein Leben zu reden, zwischen ihnen zu essen und zu schlafen und die intimsten Dinge in ihrer Gegenwart zu verrichten, war für ein behütetes und wohlerzogenes Mädchen wie mich als solches schon eine Befreiung. Eine Hemmung nach der anderen fiel von mir ab. Trotz des Gestanks und des Krachs und der Wolken von Staub und rieselndem Verputz, die sich bei jedem Granateinschlag wie eine feine Schicht von rosa Puder auf uns absetzten, hatte ich das Gefühl, dass sich hier, in unserem überfüll‐ ten, umkämpften Keller, meine Zukunft auftat. Ab und zu hörte das Granatfeuer eine Weile auf. »Die Jerrys genehmigen sich einen Schnaps, um sich Mut anzu‐ trinken!«, sagten die Männer, und Norman imitierte Hitler, was sehr lustig war, weil er es sehr gut konnte. 45
Dann stolperten wir hinaus in den Garten, um unsere eingerosteten Gliedmaßen zu strecken und etwas frische Luft zu schnappen, obwohl »frisch« für das, was wir einatmeten, vielleicht nicht das richtige Wort ist. Einige Häuser an unserer Straße brannten, und andere waren so schwer beschädigt, dass sie aussahen, als würden sie gerade abgerissen. Dach und Wände unseres Hauses waren voller Löcher, die Schornsteine verschwunden, und auf der Vorderseite war die eine obere Ecke wegge‐ schossen, sodass man durch das klaffende Mauerwerk genau in das Schlafzimmer meiner Eltern sah, auf das zusammengebrochene Ehebett mit den zerfetzten, im Wind flatternden Betttüchern. Das war mir peinlich, als ob meine Eltern plötzlich in nichts als zerschlissener Unterwäsche in der Öffentlichkeit aufgetreten wären. »Jetzt wissen wir, was Krieg heißt«, sagte Mutter. Ich kämpfte dagegen an, aber beim Anblick unseres böse zugerichteten Hauses kamen mir doch ein paar Tränen. Ron, der dabei war, sagte nichts, legte mir nur den Arm um die Schulter und drückte mich tröstend.
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POSTKARTE Mit Schreiben werde ich alles los. Mein Kummer verschwindet, mein Mut lebt wieder auf. Anne Frank Langsam begann er dieses Land zu hassen. Seine Ankunft gestern in Haarlem war peinlich gewesen. Die Besichtigung des Anne‐Frank‐Hauses, die Unterneh‐ mung, auf die er sich am meisten gefreut hatte, war ein Schock gewesen. Die Sache mit Ton hatte ihn total irri‐ tiert. Der Anorakdieb hatte ihn zum Trottel gemacht. Die Jagd auf den Dieb hatte nur dazu geführt, dass er nicht mehr wusste, wo er war. Von der Rennerei und dem immer noch anhaltenden Gepiesel war er dampfig feucht. Und jetzt auch noch das: ein Pseudostreichholzbriefchen, ein Kondom und eine Botschaft. Das Briefchen war kein Briefchen und das Kondom war womöglich defekt und die Botschaft in einer Sprache, die er nicht verstand. Na ja, größtenteils jedenfalls. Die Zif‐ fern waren vermutlich eine Telefonnummer – aber war es Tons Nummer oder wieder so ein Trick? Nits hieß wahr‐ scheinlich »nichts«. Bedeutete in im Niederländischen auch »in«? Amsterdam war klar, und nach seinen bisheri‐ gen Erfahrungen konnte es ihm gestohlen bleiben. Ob is 47
wohl »ist« hieß? Sicher zu optimistisch gedacht. Wat het lijkt ? Ach, zum Teufel damit! Was juckte es ihn! Warum reagierte er immer erst, wenn es zu spät war? Warum wusste er nie, ob ihm etwas gefiel, ehe es vorbei war? Warum wusste er nie genau, was er von etwas hielt, bevor es keine Rolle mehr spielte? Gestern zum Beispiel. Als er gemerkt hatte, dass es Probleme gab, hätte er sofort Nein‐danke sagen und auf dem schnellsten Weg heim‐ fahren können. Aber erst im Bett hatte er gemerkt – wirklich gefühlt – wie peinlich ihm das Ganze war. Und wie um Himmels willen hatte er nicht merken können, dass Ton ein Junge war? Jetzt, wo er drüber nachdachte, war ihm klar, dass er’s die ganze Zeit gewusst hatte. Gespürt hatte. Aber er hatte gewollt, dass Ton ein Mäd‐ chen sein sollte, hatte es so sehr gewollt, dass er sich selbst daran gehindert hatte zu sehen, dass er keins war. Die Wahrheit war, dass er sich selbst getäuscht hatte. Und als er dann hatte sehen müssen, dass Ton nicht das war, was er sich wünschte, da hatte er nicht gewusst, was sagen oder tun, sondern nur dagestanden wie ein Ochse. Hatte sein Vater Recht und er war wirklich ein Wasch‐ lappen ? Die nächsten paar Minuten gab er sich einem Anfall von Selbsthass hin, wobei der Regen diese Stim‐ mung noch verstärkte. Hamlet hatte nur zu Recht. Wie ekel, schal und flach und unersprießlich schien doch das ganze Treiben dieser Welt. Was war er doch für ein niedrer Sklav’. Vielleicht sollte er ja den Drang des Ird’schen abschütteln. Sich selbst in Ruhstand setzen, wenn auch natürlich nicht mit einer Nadel bloß, sondern 48
auf zeitgemäßere Art. Durch eine Überdosis E vielleicht oder eine Ladung Autoabgase – vom Wagen seines Vaters natürlich. Nachdem er eine Weile solchen Gedanken nachgehangen hatte, sagte er sich, was für ein degoutantes Konglomerat genuiner Faeces (ersetzbar durch ähnlich farbige Syno‐ nyme aus seinem umfangreichen Thesaurus) er doch sei. Doch das alles fungierte letztlich nur als Beweis dafür, dass er wirklich ein Waschlappen, ein Idiot, ein Nerd war und daher allen Grund hatte, in suizidalem Selbstekel zu versacken. Und so schloss sich der Kreis, seine Schwer‐ mut nährte sich selbst und wurde autark. Wenn ihn diese Stimmung zu Hause überfiel, gab es normalerweise zwei Personen, die ihm halfen, aus dem Teufelskreis auszubrechen. Die eine war Anne Frank. Ihr Tagebuch zu lesen, hatte immer einen Wiederbelebungs‐ effekt, aber jetzt hatte er sein Exemplar nicht mit, und das war gut so, denn sonst wäre es ihm ebenfalls gestohlen worden und er war sich sicher, dass er diesen Verlust nicht verkraftet hätte. Die andere Person war seine Groß‐ mutter. Sarah hatte ihm erklärt, dass diese Attacken dessen, was sie seine Mausstimmung nannte, nicht sein persönliches Versagen seien, keine Schwäche, für die er sich schämen müsse, wie er es jedes Mal tat, wenn der Anfall vorbei war, sondern einfach nur Wachstums‐ schmerzen, ein Adoleszenzleiden, etwas, das man, wie Kurzsichtigkeit oder eine Hausstauballergie, einfach habe und womit man auf die eine oder andere Weise leben lerne. Er saß da, starrte aus seinem Unterschlupf heraus 49
und fühlte sich wie die Maus in jener Episode, von der er wünschte, er könnte sie vergessen, die Maus, nach der Sarah seine Anfälle benannt hatte. Das Aufleben dieser Erinnerung ging mit einem Wiederholungstraum einher, den er auch letzte Nacht wieder geträumt hatte, weshalb er heute auf einen Anfall von Mausstimmung hätte ge‐ fasst sein müssen. Der Traum beunruhigte ihn nicht nur, weil er düstere Phasen ankündigte. Er spürte, dass ihm dieser Traum etwas sagen wollte, etwas Wichtiges über ihn, Jacob, was er unbedingt wissen musste, aber einfach nicht kapierte. Selbst wenn er guter Laune war, unbeschwert und fröh‐ lich, passierte es, dass sich dieser Traum aus unerfind‐ lichen Gründen in sein Denken drängte und es mit seiner Rätselhaftigkeit absorbierte. Und das passierte auch jetzt, während er darauf wartete, dass der Regen nachließ. Eines Abends, kurz nachdem er zu seiner geliebten Groß‐ mutter gezogen war, sah Jacob eine Maus die Fußleiste entlanghuschen. Sarah schrie auf und zog blitzartig die Beine auf den Stuhl. Obwohl ansonsten gar nicht zimper‐ lich, hatte sie eine schlimme Mäusephobie. Sie assoziierte Mäuse von ihrer Kindheit her mit Dreck und Krankheit, fürchtete ihre schnellen, unvorhersehbaren Bewegungen und konnte die Vorstellung nicht ertragen, eine Maus zu berühren oder, schlimmer noch, von ihr berührt zu werden. Letzteres ging Jacob genauso, da er in dieser Hinsicht wie in so vielem seiner Großmutter sehr ähnlich 50
war. Sein Reflex war aufzuspringen und hinter dem rutschigen, verängstigt an den Boden geduckten kleinen Biest herzujagen, wobei er laute Verwünschungen aus‐ stieß und mit seinem Buch fuchtelte. (Wie klischeehaft, hatte Sarah später gesagt, dass die Frau die Beine zusam‐ menpresst und sich der Gefahr zu entziehen versucht, während der Mann brüllend zur Gegenattacke übergeht, um den Feind in die Flucht zu schlagen.) Genauso erschrocken wie sie beide, machte die Maus kehrt und huschte in das erstbeste vermeintlich sichere Versteck, nämlich den schmalen Spalt zwischen einem Bücherbord und der Wand daneben. Stille. »Was macht sie?«, wollte Sarah wissen. Aus sicherer Entfernung linste Jacob gebückt in den Spalt. »Zu dunkel. Hol eine Taschenlampe«, schlug Sarah vor. Eine Wange auf den Boden gepresst, spähte Jacob mithilfe der Taschenlampe in den Zwischenraum und sah die kleine graubraune Maus ganz hinten in der Ecke kauern, mit großen, fast durchsichtigen Ohren, riesigen schwar‐ zen Babyaugen, haarlosen Pfötchen, so rosa und hand‐ artig wie die eines Miniäffchens. Sah sie dort hocken, panisch atmen, ihre Schnurrhaare putzen und ihn anstar‐ ren. »Nur eine Feldmaus«, sagte er. »Mir egal, was es für eine ist«, sagte Sarah, »ich will sie hier nicht haben und wenn es eine Feldmaus ist, ist sie sowieso am falschen Ort. Wir müssen sie hier rauskriegen, sonst kann ich nie wieder schlafen.« »Vielleicht«, sagte Jacob, »kann ich sie ja mit einem Stock 51
rausscheuchen, ein Handtuch über sie werfen und sie dann rausbringen.« Das einzig geeignete Gerät, das er fand, war ein Staub‐ wedel mit einem dünnen Bambusgriff, der flexibel genug war, um sich in den dämlichen Spalt manövrieren zu lassen. Doch auch das nur so, dass er flach am Boden damit stochern konnte. An das, was dann geschah, wollte Jacob nicht denken. Statt die Maus herauszubugsieren, stieß er zu fest zu. Noch tagelang spürte er die tödliche Stichbewegung in seiner Hand. Ein paar Nächte darauf kam der Traum das erste Mal. Er war zu der Zeit nicht schlecht drauf und es war auch kein eigenständiger Traum, nur das Ende eines längeren, an den er sich nicht mal mehr erinnerte. Er wusste nur: Er redet, keine Ahnung, mit wem oder worüber, aber ganz fröhlich. Er befindet sich in einem schummrigen, engen Raum, vielleicht einem großen Schrank: Da sind keine Fenster. Im Reden sieht er aus dem Augenwinkel rechts von sich, auf einem breiten, leeren Holzbord in Brusthöhe, ein kleines, dunkelbraunes, klumpiges Etwas, nicht größer als eine Männerfaust. Er dreht den Kopf, um direkt hinzugucken, stupst es dann mit einer kleinen, dünnen Eisenrute mit einem ober‐lippenförmigen Wulst am Ende, die er aus irgendeinem Grund in der Hand hält. Sobald er es berührt, zerfällt das Etwas, verwandelt sich in zwei kaninchengroße Mäuse. Die eine lässt sich auf den Rücken fallen, die Beine nach außen gekippt. Wie ein Hund, der am Bauch gekrault werden will, bietet sie die 52
rosa schimmernde, nur spärlich hellgrau behaarte Unter‐ seite dar. Sein Augenmerk aber gilt der anderen Maus, die auf der Seite liegt, in Embryonalstellung, den Kopf zwischen den Pfötchen. Sie liegt ganz still da. Lebt sie? Er stupst sie mit seiner Metallrute. Nichts. Er patscht ihr leicht auf die Kopfseite. Jetzt ist es auf einmal keine Maus mehr, sondern ein Kind, mit einem großen, viel zu großen Kopf und einem Gesicht, das ihn irgendwie irritiert. Er patscht noch einmal, fester und diesmal auf die Schläfe. Das Kind wimmert, macht aber die Augen nicht auf. Er schlägt wieder und wieder zu, von Mal zu Mal fester, mit einer absichtlich mobilisierten Kraft, die er in den Händen spürt und bis in seine Oberarmmuskeln. Zwischen den Schlägen beobachtet er die Reaktion des Kindes ganz genau. Nach jedem Schlag stöhnt es vor Schmerz und Verzweiflung und es ist jetzt auch größer und näher. Es ist, als ob das Kind immer näher käme, ohne dass sich einer von ihnen bewegt. Wie eine Zoom‐Einstellung im Film. Nach dem vierten oder fünften Schlag ist da auf der Schläfe des Kindes eine Wunde und Blut quillt hervor, dickflüssiges, knallrotes Blut, aber nicht viel. Es fließt nicht übers Gesicht des Kindes, gerinnt vielmehr zu einer glänzenden Raute auf seiner Schläfe. Vom Anblick des Blutes erregt, schlägt Jacob noch fester zu. Und immer noch fester. Doch jetzt denkt er nach jedem Schlag: Was tue ich? Ich sollte das nicht tun! Warum tue ich das? Ich will’s nicht tun! Aber er schlägt weiter zu, noch mal und noch mal, bis das Kind so nah und groß ist, dass Jacob nur noch den verletzten, blutenden Kopf sehen kann. Und die 53
wimmernden Laute, die das Kind nach jedem Schlag ausstößt, werden immer schrecklicher, schlimmer, als wenn es schreien würde. Und bei all dem hat das Kind die Augen zu, als ob es schliefe. Dann macht es die Augen auf, und Jacob sieht: Das Kind ist er.
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POSTKARTE Alt und Jung, wir sind alle auf unserer letzten Fahrt. R. L. Stevenson »Wat is er aan de hand? Kan ik je helpen?« Eine alte Frau am Fuß der Treppe. Rundes Gesicht mit freundlichen Augen, formloser langer, grüner Mantel, himmelblauer Schirm, der das krisslige, graue, zu einem Knoten zurückgenommene Haar vor dem Regen schützt. Leere Leinentragetasche in der einen Hand. »Voel je niet good?« »Sorry?« »Engländer?« Er nickte. »Alles in Ordnung?« Er nickte wieder, zuckte die Achseln, stand dann auf, weil er dachte, die Frau wolle, dass er da wegging. »Bin ich Ihnen im Weg?« »Nein, nein.« »Hab mich nur untergestellt.« »Sie sehen aus, als ging’s Ihnen nicht gut.« »Schon in Ordnung. Ich bin nur, na ja ... ich bin bestohlen worden.« »Owei! Ist Ihnen was passiert?« 55
»Nein. Ich bin nur ein bisschen daneben. Und vor allem bin ich wütend.« »Was ist Ihnen denn gestohlen worden?« »Anorak. Geld. Alles, ehrlich gesagt.« »Ach herrje!« Er ging die Stufen hinunter, blieb aber auf der vorletzten stehen, als die Frau sagte: »Kann ich Ihnen helfen?« Er dachte daran, worum er die Leute im Anne‐Frank‐ Haus hatte bitten wollen, und sagte: »Wenn Sie vielleicht ein Telefonbuch hätten ...?« »Sicher.« »Ich wohne bei Leuten in Haarlem, aber mein Bahnticket war in meinem Anorak, also – na ja, sie haben mir die Adresse und die Telefonnummer von ihrem Sohn gege‐ ben, der in Amsterdam lebt. Das war auch alles in meinem Anorak – aber der Name müsste im Telefonbuch stehen ...« »Ich schaue mal nach. Wie heißt er?« »Van Riet. Daan van Riet. Ich glaube, er wohnt irgendwo beim Bahnhof.« »Van Riet. Beim Bahnhof. Ich gucke nach.« »Danke.« »Warten Sie bitte solange hier.« Statt, wie er erwartet hatte, an ihm vorbei zur Haustür hinaufzusteigen, drehte sie sich um und schien die Straße entlanggehen zu wollen. Jacob trat auf den Gehweg hinaus, um ihr hinterherzugucken. Er sah ihre runde Kehrseite zwischen den Efeuranken und Kletterrosen ver‐ schwinden, die, im Verein mit einer Menge rot und weiß 56
blühender Topfpflanzen, die Kellerfenster umrahmten. Sie stieg durch eins der Flügelfenster, das, wie er jetzt merkte, zugleich eine Tür war, mit einem nach außen aufgehenden Eisengitter davor. Es war, dachte er, wie der Eingang zu einer vergitterten Höhle oder einer Zauber‐ grotte. Es dauerte nicht lange, bis der Kopf der alten Frau wieder erschien, knapp über dem Niveau des Bürgersteigs. »Hallo!«, rief sie. Und dann, als sie Jacob durch das Blät‐ tergeranke erblickte: »Da sind Sie!« Sie hielt das offene Telefonbuch hoch. »Jede Menge van Riets. Aber einer mit einem D davor, in der Nähe des Bahnhofs, in Oudezijds Kolk.« Für Jacob klang dieser Name wie ein Gemengsei aus gequetschten Vokalen und verschliffenen Konsonan‐ ten. »Ich probier’s mal«, fuhr sie fort. »Warten Sie auf der Treppe. Sie werden ja ganz nass.« Was stimmte, obwohl der Regen jetzt nachgelassen hatte und der Himmel aufklarte. Er hätte gern mehr von ihrer unterirdischen Wohnung ge‐ sehen, tat aber, wie ihm geheißen, und ging zum Vorder‐ eingang zurück. Während er wartete, glitt ein elegantes, weißes, glasüber‐ dachtes Rundfahrtboot mit der Aufschrift LOVERS geisterhaft leise die Gracht entlang, halb voll mit gaffen‐ den Touristen an kleinen Vierertischen. Etliche hatten Kameras oder Camcorder vor dem Gesicht, was aussah wie schnüffelnde Rüsselschnauzen. Linsenschweine, dachte er, auf Futtersuche. Hinten am Heck saß ganz allein, den Kopf in die Hand gestützt, ein wunder‐ 57
hübsches schwarzes Mädchen mit Dreadlocks, etwa so alt wie er, und starrte ihn dumpf an, bis das Boot fast vorbei war. Dann bedachte sie ihn plötzlich mit einem strahlen‐ den Lächeln und einem kleinen Winken. Er winkte zurück und fühlte sich sofort heiterer. Der Regen hörte auf. Ein langbeiniger junger Mann, knallbraun, in engen weißen Minishorts und einem flatternden rosa T‐Shirt, radelte vorbei, im Lenkerkorb einen Mops, der mit ange‐ legten Ohren in den Wind grinste. Ein roter Alfa Romeo raste die andere Grachtseite entlang und sein arrogantes Röhren dröhnte herüber. Endlich erschien die Frau wieder am Fuß der Treppe, immer noch mit der Leinentasche, aber diesmal ohne Schirm. »Niemand da. Ich hab’s dreimal probiert.« »Danke.« »Ich habe die Adresse und die Nummer notiert.« Sie reichte ihm einen Zettel. »Danke, sehr nett von Ihnen.« Er sah weg, wusste nicht, was noch sagen, weil er gern noch mehr Hilfe gehabt hätte, aber nicht darum bitten wollte. Jetzt herrschte jenes verlegene Schweigen, das sich zwischen Fremden einstellt, wenn der eine dem anderen vergeblich zu helfen versucht hat und beide Schuld‐ gefühle haben und ratlos sind. Er beschloss, zum Anne‐Frank‐Haus zu gehen. Aber ehe er sich rühren konnte, sagte die alte Frau: »Ist nicht gut, wenn Sie hier sitzen bleiben. Ich gehe vor dem 58
Einkaufen noch Kaffee trinken. Möchten Sie nicht mit‐ kommen? Wir können’s ja vom Café aus noch mal probie‐ ren.« Er konnte nicht anders, als die Einladung anzunehmen. »Wie heißen Sie?« »Jacob. Jacob Todd.« »Bitte nennen Sie mich Alma.« Er nickte lächelnd. Sie saßen sich gegenüber, im Mezzanin des Café Panini, an einer breiten Straße mit Straßenbahngeleisen in der Mitte, die Jacob als die Straße wiedererkannte, durch die er Rotkäppchen gejagt hatte. Kaffee und heiße Croissants kamen, gebracht von einer kräftigen jungen Bedienung mit ultrakurzem, hennarotem Haar, weiß geschminktem Gesicht, lila Lippen, eng anliegendem Trikothemdchen über BH‐losen, kleinen Brüsten, schwarzem Leder‐Mini‐ rock, schwarzen Strümpfen und Doc Martens. An ihrem und Almas Verhalten war deutlich abzulesen, dass sie sich kannten und dass sie über ihn redeten. Im Gehen schenkte sie Jacob ein verruchtes Lächeln, das noch stim‐ mungsaufhellender wirkte als das Winken des Mädchens auf dem Boot. »Eine Studentin«, sagte Alma, die ihren Spaß an dem stummen Dialog hatte. »Sie arbeitet hier, um ihr Studium zu finanzieren. Also, ich würde vorschlagen, wir trinken jetzt in Ruhe unseren Kaffee und probieren es dann noch mal bei van Riet. Wenn er da ist, zeige ich Ihnen, wie Sie hinkommen. Und wenn nicht ... na ja, das überlegen wir 59
uns dann. Einverstanden?« »Einverstanden«, nahm Jacob ihren heiteren Ton auf. Er lockerte seine Schultern unter dem feuchten T‐Shirt und biss heißhungrig in sein Croissant. Dann, als er sah, wie Alma zierlich von ihrem Kaffee trank und ihn dabei genau beobachtete, setzte er sein dankbarstes Lächeln auf, probierte höflich das wohltuend heiße Getränk und sagte: »Danke. Er ist sehr gut.« »Ich komme jeden Morgen hierher. Um Kaffee zu trinken, Zeitung zu lesen und mit allen zu reden, die ich kenne. Es ist ein guter Ort, um interessante Leute zu treffen. Sehr beliebt bei Schriftstellern, Schauspielern, Musikern. Wenn man alt ist und allein lebt wie ich, ist es wichtig, Kontakt zur Welt zu halten.« Jacob sah sich um. Nur zwei schwabblige Männer mitt‐ leren Alters, die für sich saßen, Zigaretten rauchten und Zeitung lasen. Resopaltische in geschmackvollen Blau‐, Grün‐, Gelb‐ und Orangetönen. Dazu schwarze Metall‐ stühle. An der Decke dicke, gelb gestrichene Balken. An den cremefarbenen Wänden Originalkunstwerke: Radie‐ rungen, Pinselzeichnungen von Pferden. Neben ihm war eine Spiegelwand, die ihn, Alma und die Tische auf der anderen Seite spiegelte. Die italienische Designer‐Version eines Arbeitercafes? Betont –oder zumindest bemüht – anti‐bürgerlich und anti‐schicki‐micki? »Und Sie?«, fragte Alma. »Auf Ferienreise?« »So ähnlich. Mein Großvater wurde in der Schlacht von Arnhem verwundet. Ein paar Einheimische haben sich um ihn gekümmert. Aber dann starb er. Ich will sein Grab 60
auf dem Soldatenfriedhof besuchen.« »Waren Sie schon mal in Holland?« »Nein. Na ja, einmal haben mich meine Eltern mitgenom‐ men, als ich noch ein Baby war, aber daran kann ich mich nicht erinnern.« »Und die Leute in Haarlem, bei denen Sie wohnen?« »Die Familie der Frau, die sich um meinen Großvater ge‐ kümmert hat. Meine Großmutter und sie haben bis heute Kontakt gehalten. Eigentlich sollte meine Großmutter her‐ kommen, aber sie konnte nicht. Sie ist gestürzt und hat sich den Oberschenkelhals gebrochen.« »Tut mir Leid. Gehen Sie zur Gedenkfeier für die Opfer der Schlacht, am nächsten Sonntag?« »Meine Großmutter meint, das müsste ich sehen.« Er zuckte die Achseln. »Ich heiße Jacob nach meinem Groß‐ vater.« Beim Gedanken an zu Hause zog er sich plötzlich in sich zurück und wollte über dieses ganze Thema nicht mehr reden. Er titschte ein paar Croissantflöckchen mit dem Finger auf und leckte sie ab. »Nehmen Sie meins«, sagte Alma und stellte ihren Teller vor ihn hin, »ich habe keinen Hunger.« Sie wartete, bis er die gebührenden Höflichkeitslaute produziert hatte, und fragte dann: »Und wie sind Sie bestohlen worden?« »Ich habe etwas getrunken, auf dem ... Leidseplein.« Sie sagte es ihm vor, er sprach es nach, sie gluckste. »Schon besser!« »Na ja, dort jedenfalls!« Sie lachten gemeinsam über sein Unvermögen. »Ich hatte meinen Anorak über die Stuhl‐ 61
lehne gehängt. Auf einmal wutsch! Ich bin dem Typ nach‐ gerannt. Ein halbes Kind. Na ja, so alt wie ich vielleicht. Er hatte eine rote Baseballkappe auf. Verkehrt rum natür‐ lich!« »Versteht sich!« »Er rannte rechts rum und links rum, eine Gracht rauf, die nächste runter, hier um die Ecke, da geradeaus, bis ich keine Ahnung mehr hatte, wo ich war. Durch diese Straße hab ich ihn auch gejagt. Ich erinnere mich an die Brücke da draußen.« »Vijzelgracht.« »Wenn Sie’s sagen.« Alma lächelte nachsichtig. »Sie müssen die Sprache versu‐ chen.« »Mache ich, später. Versprochen!« Vielleicht war es ja der Kaffee, der ihn keck machte, oder wohl eher die Erleichte‐ rung, die ihn allmählich überkam. Aber er sah, dass Alma auch ihren Spaß daran hatte. »Hab ihn jedenfalls nicht ge‐ kriegt. Ich bin kein großer Läufer und er war tierisch schnell. Aber das Verrückte ist, ich bin mir sicher, er woll‐ te, dass ich ihn verfolge.« »Wie kommen Sie darauf?« »Er hat manchmal gewartet, bis ich ihn fast hatte, und ist dann wieder losgerannt. Wieso ? Man sollte doch meinen, er hätte mich so schnell wie möglich abhängen wollen, damit ich ihn später nicht wiedererkenne.« »Vielleicht aus Spaß.« »Spaß?« »Für mich klingt das alles nach einem professionellen 62
Dieb, nicht nach jemandem, der so was nur macht, weil er unbedingt Geld für Drogen braucht, was der Grund für die meisten Diebstähle und Überfälle hier in Amsterdam ist, und das sind viele, wie ich leider zugeben muss. In allen Großstädten heutzutage, hab ich gehört. Aber wenn man berufsmäßig stiehlt, wird es vielleicht... vervelend ... langwierig?« »Langweilig.« »Genau. Langweilig. Jeder Job wird manchmal langwei‐ lig. Das gilt auch für Diebe. Eine ordentliche Verfolgungs‐ jagd, die Möglichkeit, dass man erwischt wird, das gibt der Sache ein bisschen Pep. Und vielleicht war’s ja Ihr Äußeres. Vielleicht hielt er sie ja für einen würdigen Geg‐ ner. Sie sollten es als Kompliment nehmen.« »Oh, vielen Dank! Schönes Kompliment, einem alles zu klauen, was man besitzt.« »Immerhin hat er Ihnen für Ihr Geld etwas geboten.« Er lachte. »Sie sprechen sehr gut Englisch.« »Ihr Engländer! Immer beeindruckt, wenn jemand mehr als nur die eigene Sprache spricht.« »Alles, was ich zustande kriege, ist ein bisschen Touris‐ ten‐Französisch.« »Man lernt, was man lernen muss. Ihr Engländer kommt überall durch, weil eure Sprache überall gesprochen wird. Wir Niederländer sprechen eine kleine Sprache und sind umgeben von Ländern mit Weltsprachen. Und von unserer Geschichte her sind wir Kaufleute. Da muss man anderer Leute Sprache sprechen um zu überleben.« 63
»Trotzdem, ich wollte ...« »Das ist nur eine Sache der Übung. Wenn Sie eine Zeit lang hier im Land leben würden, ginge es leichter.« »Vielleicht tu ich das ja. Ich will irgendwas machen, zwischen der Schule und dem, was dann kommt, was immer das sein wird.« »Sie wissen es noch nicht?« »Was ich machen will? Nein, bis jetzt noch nicht.« Alma nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. »Ich muss immer noch an diesen Dieb denken. Vielleicht war’s ja in seinem Kopf gar kein Diebstahl.« »Was dann?« »Ein Spiel, ein Wettkampf. Er hat Ihnen eine Chance ge‐ geben. Er hat gewonnen. Also hat er den Preis einge‐ sackt.« »Hey, auf wessen Seite sind Sie überhaupt?« Obwohl es als Scherz gemeint war, hatte sein Ton etwas Scharfes. »Auf Ihrer, würde ich meinen, Sie nicht?« Er hörte einen leisen Rüffel heraus. »Sorry. War nicht undankbar gemeint.« »Ich versteh’s schon. Ist ein Schock, so was. Ich meine ja nur, Sie sind nicht verletzt. Sie haben ein bisschen Geld verloren und noch ein paar unwichtige Dinge. Ihr Stolz ist angeschlagen, aber ist Stolz etwas so Wertvolles? Ich werde dafür sorgen, dass Sie zu Ihren Bekannten zurück‐ kommen, dann wird alles wieder gut und das Ganze ist bald nur noch eine interessante Anekdote. Aber der Junge, der Sie bestohlen hat, was ist mit dem? Wie sieht sein Leben aus? Und wer kümmert sich um ihn?« 64
»Klingt, als hätten Sie ihm genauso geholfen, wie Sie mir helfen. Wenn Sie ihn auf Ihrer Treppe gefunden hätten.« »Ich nehme an, er ist ein Straßenjunge, der sich durch‐ schlagen muss. Sie hatten etwas Stehlenswertes, er hat vermutlich gar nichts. Warum sollte ich Ihnen helfen und ihm nicht?« »Sie sind wie meine Großmutter. Die sieht auch immer die andere Seite.« »Ist das so schlimm?« »Nein. Es macht einen nur ein bisschen sauer, wenn man zufällig der Betroffene ist, das ist alles.« »Ich wollte Sie nicht belehren. Eine Schwäche des Alters.« »Schon gut. Ich wäre ja völlig einverstanden, wenn’s um was anderes ginge.« »Als Außenstehender hat man immer gut reden. Möchten Sie noch einen Kaffee?« Als er zögerte, setzte sie hinzu: »Ich trinke meistens zwei.« Nachdem sie bestellt hatte, sagte sie: »Ich erinnere mich an den Krieg, wissen Sie, die Besatzung. Vor allem diesen letzten Winter vor der Befreiung. Wir nennen ihn de Hongerwinter. Es war schrecklich. Lebensmittel waren ent‐ setzlich knapp. Und Brennstoff. Die Leute verbrannten ihre Möbel, selbst das Holz in den Häusern – Türen, die Täfelung, ja sogar Dielen. Es gab nichts. Selbst die deut‐ schen Soldaten hatten Hunger. Deshalb benahmen sie sich manchmal schlecht. Das hatten sie vorher nicht getan. In den ersten Besatzungsjahren war es, zumindest hier in Amsterdam, so, dass ich allein herumlaufen konn‐ 65
te, ohne etwas von ihnen befürchten zu müssen. Ich war eine junge Frau, achtzehn, neunzehn erst, aber ich hatte keine Angst. Ich mochte sie nicht. Hasste sie sogar. Aber sie achteten streng darauf, sich uns gegenüber korrekt zu benehmen. Das vergessen die Leute. Natürlich galt das nur für Nicht‐Juden. Für Juden war es immer schrecklich. Was ihnen alles angetan wurde ...« Sie hob eine Hand und ließ sie langsam wieder auf den Tisch sinken. »Unver‐ zeihlich.« Sie schwieg kurz, um sich zu sammeln. »Aber was ich sagen wollte, ist, auch wenn es am Ende schrecklich war, haben wir doch alle zusammengestan‐ den. Jetzt ist das nicht mehr so. Den meisten Menschen in Ihrem Land und in meinem geht es verglichen mit damals gut und doch lassen wir zu, dass so viele von unseren jungen Leuten obdachlos sind. Auf der Straße leben müs‐ sen. Selbst hier in Holland, wo wir so stolz darauf sind, alles für unsere Kinder zu tun, passiert das immer öfter. Ich sehe diese jungen Menschen betteln und in Hausein‐ gängen hocken, dass man denkt, es sind Säcke mit alten Lumpen. Es heißt, dass wir ihnen kein Geld geben sollen, dass sie gefährlich sind, dass es sie nur noch ermuntert und dass sie’s für Drogen ausgeben. Aber mir ist das egal. Wenn ich kann, gebe ich ihnen etwas. Nicht allen, dafür sind es zu viele. Denen, bei denen ich glaube, dass es was nützt.« »Aber welche sind das? Woher wissen Sie das?« »Ich rate. Verlasse mich auf meine Intuition.« Bewegt und auch ein bisschen beschämt von ihrer Leiden‐ 66
schaftlichkeit, der Röte, die ihr blasses Gesicht überzogen hatte, dem Tränenglanz in ihren verwaschenblauen Augen, dem leisen Zornbeben in ihrer Stimme, dachte Jacob, dass sie bestimmt noch mehr gesagt hätte, aber der Kaffee kam. Alma seufzte, fasste sich, trank und wurde wieder die ruhige, optimistische Person, die sie vorher gewesen war. Doch er wusste, dass er etwas von der temperamentvollen jungen Frau gesehen hatte, die sie einmal gewesen war, und dachte, dass er sie damals sehr gemocht hätte. Und auch jetzt mochte. An diesen Gedankenstrang anknüpfend, sagte er: »Ich weiß ein bisschen was über Amsterdam während des Krieges, aus dem Tagebuch der Anne Frank. Das ist nämlich eins meiner Lieblingsbücher. Na ja – mein Lieblingsbuch, genauer gesagt.« »Dann möchten Sie doch sicher das Hinterhaus sehen, wo sie sich versteckt und das Tagebuch geschrieben hat. Das ist nicht weit von hier.« »Ja, ich weiß.« Er wollte ihr nicht von heute Vormittag erzählen. »Im Tagebuch sagt Anne, dass die Jugend einsamer ist als das Alter. Finden Sie, dass das stimmt?« »Ich habe noch nie drüber nachgedacht. Was meinen Sie?« »Woher soll ich das wissen? Ich bin noch nicht alt.« »Das war Anne auch nicht, woher also wollte sie es wissen?« Er lächelte. »Das hab ich mich auch gefragt. Aber sie sagt alle möglichen Sachen, bei denen ich mich frage, woher sie sie wissen konnte.« 67
»Fühlen Sie sich einsam?« Er zögerte, weil ihm diese Wendung des Gesprächs nicht geheuer war, riskierte es dann aber und sagte: »Ja.« »Ich habe das Buch vor langer Zeit gelesen und erinnere mich nicht mehr. Sagt sie, warum sie glaubt, dass die Jugend einsamer ist als das Alter?« »Ich kann es auswendig. Das ist eine der orangefarbenen Passagen. Möchten Sie’s hören?« »Orangefarbene Passagen?« »Immer wenn mir eine Passage ganz besonders gefällt, markiere ich sie mit orangefarbenem Leuchtstift. Klingt vermutlich ziemlich albern.« »Ganz und gar nicht. Ich bin weniger farbenfreudig. Wenn ich in meinen Büchern etwas markieren will, unter‐ streiche ich es nur mit Bleistift. Und Sie nehmen Orange –?« »Ja, das ist –« »Die holländische Nationalfarbe.« »Genau!« Wieder lachten sie beide. »Dann lesen Sie viel?«, sagte Alma. »Jede Menge. Weil ich bei meiner Großmutter lebe.« »Bei der, die jetzt hier sein sollte?« »Ja. Sarah. Sie liest ständig. Hat mich angesteckt.« »Da haben Sie Glück. Also, dann rezitieren Sie mal die Passage über das Alter. Schließlich betrifft es mich ja.« Jacob schwieg kurz und befragte sein Gedächtnis. Dann sagte er: »Okay, also: ›Denn im tiefsten Grund ist die Ju‐ gend einsamer als das Alter.‹ Diesen Spruch habe ich aus 68
einem Buch behalten und gefunden, dass es stimmt. Ist es denn wahr, dass die Erwachsenen es hier schwerer haben als die Jugend? Nein, bestimmt nicht. Ältere Menschen haben eine Meinung über alles und schwanken nicht mehr, was sie tun sollen oder nicht. Wir, die Jüngeren, haben doppelt Mühe, unsere Meinungen in einer Zeit zu behaupten, in der aller Idealismus zerstört und kaputt‐ gemacht wird, in der sich die Menschen von ihrer häss‐ lichsten Seite zeigen, in der an Wahrheit, Recht und Gott gezweifelt wird.« Alma hatte mit gebeugtem Kopf dagesessen, fast als lauschte sie einem Gebet, und schwieg einen Moment, ehe sie leise sagte: »Sie hat es während des Kriegs geschrieben, als alles so schrecklich war.« »Ich weiß.« Jacob beugte sich vor, die Unterarme auf dem Tisch, und sagte so leise, dass nur sie es hören konnte: »Ich weiß, dass es jetzt nicht so schrecklich ist. Aber in manchem ist es doch auch nicht besser, oder? Ich meine, Bosnien, Teile von Afrika, Kambodscha und andere Weltgegenden, nukleare Verseuchung, Drogen, Aids, die Straßenkinder. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt.« »Mich bedrückt das auch.« »Und es gibt immer noch Rassismus, oder? Überall. Es gibt immer noch jede Menge Nazis auf der Welt, scheint mir. Menschen, die sich von ihrer schlimmsten Seite zeigen.« »Die Nachrichten sind täglich voll davon.« »Ich meine, Anne spricht von Idealen. Aber was gibt es 69
noch für Ideale, an die man glauben kann? Und wer weiß denn noch, was die Wahrheit ist?« Alma sah auf und taxierte ihn kurz, ehe sie in hartem, festem Ton sagte: »Man muss seine eigene Wahrheit kennen und an ihr festhalten. Darf nie verzweifeln. Nie‐ mals aufgeben. Es gibt immer Hoffnung.« Dann – als sei ihr bewusst, wie streng das geklungen haben musste – lächelte sie und fügte achselzuckend hinzu: »Das habe ich während des Krieges gelernt.« Jacob nickte. »Also hat Anne Recht?« »Ich weiß nicht genau. Im Alter hat man mehr, woran man sich halten kann. Mehr Erfahrung. Das hilft.« Ehe er es zurückhalten konnte, sagte Jacob: »Und weniger Zeit vor sich.« Ihr Blick wurde hart. »Stimmt. Aber glauben Sie bloß keine Sekunde, das würde es einfacher machen.« Sie trank ihren Kaffee aus. »Trotzdem, meiner Meinung nach sind die Menschen überwiegend gut.« Sofort fiel ihm ein: »›Es ist ein Wunder, dass ich nicht alle Erwartungen aufgegeben habe, denn sie scheinen absurd und unausführbar. Trotzdem halte ich an ihnen fest, trotz allem, weil ich noch immer an das innere Gute im Men‐ schen glaube. Ich fühle das Leid von Millionen Menschen mit. Und doch denke ich, dass sich alles wieder zum Guten wenden wird, dass auch diese Härte aufhören wird.‹« »Wieder Anne Frank?« Er nickte. »Sie lieben dieses Buch wirklich, was?« 70
»Um ehrlich zu sein, ich glaube, ich bin verliebt in Anne selbst.« Von diesem unbeabsichtigten Geständnis überrascht, lehnte er sich zurück, leerte seine Tasse, rieb sich die Schenkel, merkte, wie seine Schuhspitzen einen Trommel‐ wirbel auf dem Fußboden schlugen und ihm die Röte ins Gesicht stieg. Er lachte, um seine Verlegenheit zu über‐ spielen, und sagte: »Ich habe das Gefühl, sie besser zu kennen als irgendjemanden sonst. Ich meine, aus meiner Familie oder von meinen Freunden.« »Und was mögen Sie an ihr so, wenn ich fragen darf?« »Alles Mögliche. Erstens mal ist sie komisch. Sehr witzig. Und sie ist ernst.« »Aber was mögen Sie an ihr am allermeisten?« Er überlegte, lehnte sich zurück, bis der Stuhl hintenüber‐ kippelte, und sagte schließlich: »Ihre Ehrlichkeit. In Bezug auf sich selbst. Auf alle. Sie will alles wissen. Und sie durchschaut alles. Sie ist eine Denkerin. Sie war erst fünf‐ zehn, als sie sie ... holten.« Er hatte immer Probleme, seine Emotionen zu kontrollieren, wenn er daran dachte, wie sie sie weggeschleppt hatten. An ihr schreckliches Dasein und ihren grässlichen Tod in der Hölle der Lager. Er ließ den Stuhl wieder auf alle vier Beine hinunter, heftete den Blick auf seine Hände, die gefaltet auf der Tischplatte ruhten. »Erst fünfzehn, aber sie wusste mehr über sich selbst und über andere und über das Leben als ich, und ich bin siebzehn. Obwohl sie dort eingesperrt war, in diesen ...«, ihm fiel kein angemessenes Wort für das ein, was er am Morgen gesehen hatte, »... diesen Räumen.« Er 71
schlug mit den Handkanten auf den Tisch. »Sie hatte so viel Mut. Und sie wusste genau, was sie vom Leben wollte. Ich wollte, ich wäre auch so mutig. Und würde mich selbst so gut kennen.« Er hielt inne, dachte angestrengt nach, ehe er fortfuhr: »Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber –. Das Wichtige ist nicht, worüber sie redet. Es ist ihre Art zu denken, die mir gefällt. Und es sind nicht nur ihre Gedanken. Es ist noch mehr. Ich habe immer das Gefühl, mehr ich selbst zu sein, ich meine, mehr bei mir, wenn ich mit ihr zusammen bin ... Wenn ich sie lese ... Ich weiß, dass ich nicht wirklich bei ihr bin. Ich weiß, dass sie nichts ist als Wörter in einem Buch.« Er sah Alma ängstlich an. »Das hab ich noch nie jemandem erzählt.« »Sie sind fern von zu Hause, in einem fremden Land. Sie hatten gerade ein Schockerlebnis, und ich bin eine mitfüh‐ lende fremde Person. Das ist nicht ungewöhnlich.« »Aber Sie müssen mich doch für verrückt halten, wenn ich mich in ein Mädchen verliebe, das nichts ist als Wörter in einem Buch.« »Manche Leute behaupten, dass es immer eine Art Ver‐ rücktheit ist, sich zu verlieben. Wenn dem so ist, kann ich nur sagen, möchte ich lieber verrückt sein als normal.« Sie lachten wie Freunde, die ein gemeinsames Geheimnis haben. »Meer koffie?«, fragte die Bedienung, als sie an ihrem Tisch vorbeikam. Es war jetzt mehr los im Café. »Nee, dank je«, erwiderte Alma und erhob sich. Und zu 72
Jacob sagte sie: »Ich sollte noch mal telefonieren.« »Gelukt!«, sagte sie, als sie zurückkam. »Er war da und wartet auf Sie. Jetzt setze ich Sie in eine Straßenbahn zum Bahnhof. Sie können meine Strippenkaart haben. Da sind nur noch zwei Fahrten drauf, Sie sehen also, so weit ist es mit meiner Großzügigkeit doch nicht her. Den Bahnhof kennen Sie ja von Ihrer Ankunft heute Morgen. Dort ist die Endstation der Straßenbahn. Wenn Sie aussteigen, schauen Sie über den Plein vor dem Bahnhof nach links. Da sehen Sie eine große Kirche über den Dächern. Gehen Sie drauf zu, über die Straße am Wasser, und dann die kleine Straße hinter der Kirche entlang. Da ist eine schma‐ le Gracht zwischen Straße und Kirche. Die Adresse haben Sie ja auf dem Zettel, den ich Ihnen gegeben habe, und hier sind fünf Gulden, für den Fall, dass Sie noch mal telefonieren müssen. Aber ich glaube, jetzt wird alles glatt gehen.« »Sie waren sehr, sehr nett.« »Ich habe unsere Begegnung genossen. Sie haben sich Ihren Unterhalt verdient!« Er hielt die Münzen hoch. »Das Geld bringe ich Ihnen zu‐ rück.« »Nein, nein. Betrachten Sie sich als eins meiner Straßen‐ kinder.« Als er das Geld einsteckte, fand er in seiner Tasche das Streichholzbriefchen. Er zeigte es ihr. »Das hat mir jemand gegeben, kurz, bevor mir mein Zeug geklaut wurde. Gucken Sie mal rein.« 73
Alma lachte laut auf und rief aus: »Typisch voor Amster‐ dam.« »Was da steht – was heißt das?« »›Sei bereit‹ verstehen Sie ja wohl. Vielleicht wäre ›sei vorbereitet‹ besser. Niets in Amsterdam is wat het lijkt. ›Sei bereit. Nichts in Amsterdam ist, was es zu sein scheint.‹« »Aha.« Jacob steckte das Briefchen wieder ein und dach‐ te, dass das in Tons Fall allerdings zutraf. »Wir müssen jetzt los.« »Kann ich noch eben auf die Toilette gehen?« »Natürlich. Ich zahle inzwischen die rekening.« Als die gelbe Straßenbahn auf sie zugerollt kam, eine Raupe auf Rollerblades, sagte Alma: »Um mich nicht aus‐ stechen zu lassen, habe ich Ihnen auch etwas aufgeschrie‐ ben.« Und sie gab Jacob eine Papierserviette aus dem Café, säuberlich zu einem kleinen Quadrat gefaltet. »Also, dag hoor, auf Wiedersehen. Ich hoffe, der Rest Ihres Hol‐ landaufenthalts verläuft glücklich und diebstahlsfrei.« Sie streckte die Hand aus und Jacob drückte sie, plötzlich von einem solchen Dankbarkeits‐ und Zuneigungsanfall übermannt, dass er nicht anders konnte, als Alma einen Kuss auf die Wange zu geben. Sie gab einen erfreuten Laut von sich, wischte sich die Wange mit der Hand und strahlte. Verlegen stolperte Jacob in die Bahn, die Türen schlossen sich zischend, die Bahn bimmelte und ruckte an. Bis er es geschafft hatte, die Karte in dem kleinen gelben Kasten zu entwerten und einen Platz am Rück‐ fenster zu finden, war die Bahn schon über die Prinsen‐ 74
gracht‐Brücke und Alma nicht mehr zu sehen. Während er sich wieder in den Griff zu kriegen versuchte, starrte er, ohne wirklich viel zu sehen, auf die Prozession von kleinen Läden und größeren Bürogebäuden und das Menschengewimmel. Doch als die Bahn um eine scharfe, geschäftige Ecke in eine breite Straße, den Rokin, bog und sich rechterhand eine Gracht voller wartender Rundfahrt‐ boote erstreckte, begann er sich zu entspannen. Da erst fiel ihm die Papierserviette in seiner Hand ein und er faltete sie auseinander. Darauf stand in sorgfältiger Schrift: WAAR EEN WIL IS, IS EEN WEG
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GEERTRUI Am späten Mittwochabend kam Jacob zu uns zurück. Oder vielmehr, wurde er zu uns zurückgebracht. Es hatte einen weiteren Bombenangriff gegeben. Danach wurde ein bewusstloser Mann in unserem Garten gefunden und in den Keller gebracht. Wir betteten ihn auf Matratzen und inspizierten seine Verletzungen. Niemand von uns erkannte ihn wieder, denn sein Gesicht war ganz schwarz, überzogen mit etwas, das wie eine Kruste aus Ruß und Schlamm aussah, und ebenso seine Hände und die Beine, da seine Hosen weggefetzt worden waren. Er blutete aus einer tiefen Schnittwunde an der Schläfe und einer bösen Verletzung am rechten Unterschenkel. Einer der Soldaten machte sich auf die Suche nach einem Sanitäter. Während er unterwegs war, stellten Mutter und ich eine Schüssel Wasser bereit, beschafften saubere Lap‐ pen, nahmen dem Verwundeten vorsichtig die Ausrüs‐ tung ab und lockerten seine Uniform. Mehr wagten wir nicht zu tun, aus Angst, er könnte noch weitere Verlet‐ zungen haben und wir würden alles nur noch verschlim‐ mern. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis der Sanitäter kam. Er schien selbst am Rand seiner Kräfte. Er sagte, er habe so etwas schon oft gesehen und wisse, was da passiert sei. 77
Eine Granatexplosion in nächster Nähe. Der Mann habe das Bewusstsein verloren und sei von aufspritzendem Schlamm, verbranntem Sprengstoff und umherfliegenden Splittern getroffen worden. Er untersuchte ihn kurz, erklärte, dass er keine inneren Verletzungen feststellen könne, und begann, das verletzte Bein zu säubern und zu verbinden. »Er ist noch glimpflich davongekommen.« Während er das Bein versorgte, erklärte er uns, dass die schwarz verkrustete Haut mit desinfiziertem Wasser ge‐ reinigt werden müsse, was jedoch sehr vorsichtig zu geschehen habe, da unter dem Dreck vermutlich noch viele schmerzhafte Schrammen und Schnitte seien, die von winzigen Splittern stammten. Außerdem könnten in dem Dreck auch noch scharfkantige Partikel stecken, die nur weiteren Schaden anrichten würden, wenn man zu fest rubbelte oder zu hastig vorging. Das Säubern würde viel Zeit brauchen. In diesem Abschnitt gebe es im Moment viele Verwundete, weshalb er überall gebraucht werde. Ob wir meinten, dass wir den Verwundeten säubern und die Kopfwunde verbinden könnten? Ich übersetzte und Mutter sagte, wir würden unser Bestes tun. Sie fragte, wie lange der Mann wohl noch bewusstlos sein werde und was wir tun sollten, wenn er zu sich komme. Der Sanitäter erklärte, das sei schwer zu sagen. Er habe Männer in solcher Verfassung schon nach weni‐ gen Minuten zu sich kommen sehen, aber es könne durchaus auch Tage dauern. Und man könne auch nicht absehen, wie sich die Leute verhalten würden, wenn sie erwachten; manche seien ganz normal, andere, wie er sich 78
ausdrückte, »ein Fall für die Klapsmühle«. Wir sollten einfach tun, was wir für richtig hielten, erklärte er. Ob es nicht besser sei, ihn ins Lazarett zu bringen, fragte Mutter. Aber der Sanitäter erklärte, der Beschuss zwischen hier und dem nächsten Verbandsplatz sei so heftig, dass der arme Kerl vermutlich nicht lebend dort ankäme. In unserem Keller sei er wenigstens einigermaßen sicher und in der Obhut »zweier aufopferungsvoller Kranken‐ schwestern«. Er gab uns etwas Wundsalbe und ein paar Schmerz‐ tabletten und eilte hinaus ins Dunkel. So ein mutiger Mensch. Wir haben ihn nie wieder gesehen. Ich habe mich oft gefragt, ob er die Schlacht überlebt hat. Inzwischen waren die meisten Soldaten oben, um sich während der Feuerpause, so gut es ging, auszuruhen. Außer der Klotonne hatte Vater im Gartenschuppen auch noch eine alte Petroleumlampe und etwas Petroleum auf‐ getrieben. Er zündete die Lampe an, und in ihrem Schein begannen Mutter und ich, Gesicht und Hände des Ver‐ wundeten zu säubern. Vater machte es sich zur Aufgabe, uns mit frischem warmem Wasser zu versorgen (was zu der Zeit gar nicht einfach war) und die Lappen auszuwa‐ schen, was häufig passieren musste, denn sie waren immer gleich wieder schwarz von dem dicken Dreck, den wir langsam von der Haut des armen Kerls lösten. Zwischendurch zog er dem Mann die Stiefel aus, schnitt ihm den Rest der Hose vom Leib und breitete eine Wolldecke über ihn. Wir waren etwa eine halbe Stunde am Werk, als Mutter 79
plötzlich sagte: »Geertrui, schau mal!« Sie hatte ihm die Stirn, die geschlossenen Augen, Nase und Mund gesäu‐ bert und sein Gesicht war jetzt wie eine weiße Maske vor dem immer noch schwarzen Kopf, mit lauter winzigen blutroten Kratzern. »Ist das nicht einer von denen vom Sonntag?« Vater sagte: »Doch. Das ist der, der Jacob heißt.« »Der, dem du ein Glas Wasser gegeben hast«, sagte Mut‐ ter, als ich nicht antwortete. Aber ich hatte sofort gesehen, wen sie meinte. Ich dachte: der mit den Schmelzaugen. Aber ich sagte: »Er hat mich einen barmherzigen Engel genannt.« »Prophetischer, als er wusste«, sagte Mutter. Nach dem Gesicht und den Händen nahmen wir uns die Beine und den Unterleib vor. Alles war in einem schreck‐ lichen Zustand. Dann kamen wir zu seinen Geschlechts‐ teilen. Das war ein Schock für mich, das erste Mal, dass ich den Penis eines erwachsenen Mannes sah. Und nicht nur sah, sondern auch noch berühren sollte. Es war faszi‐ nierend, dieses Geheimnis der Männlichkeit aus solcher Nähe zu sehen, und es machte mir auch Angst. Wie naiv wir jungen Leute damals doch waren. Wie uninformiert in solchen Dingen. Verlegenheit überkam mich. Ich guck‐ te weg. Wenn auch, glaube ich, mehr aus dem Gefühl heraus, dass es von mir erwartet wurde, als aus echter Scheu. Im Gegenteil, ich wollte immerfort hingucken. Mutter berührte mich am Arm und sagte mit einem trau‐ rigen Lächeln: »Diese Woche lässt du wohl endgültig deine Kindheit hinter dir.« Und damit wandte sie sich 80
wieder unserer Aufgabe zu und ich ebenfalls. Aus Angst, ihm wehzutun, machten wir sicher viel lang‐ samer, als nötig gewesen wäre. Es dauerte fast zwei Stunden, bis wir fertig waren. Am nächsten Tag wurden die Kämpfe noch schlimmer. Zeitweise dachte ich, von unserem Haus würde kein Backstein auf dem anderen bleiben. Immer mehr Verwun‐ dete wurden in unseren Keller gebracht, und Mutter, Vater und ich hatten alle Hände voll zu tun. Die Verwun‐ deten ertrugen ihre Schmerzen mit großer Tapferkeit. Außer einem armen Jungen namens Sam, der an einer so genannten Schützengrabenneurose litt. Einer von denen, die »ein Fall für die Klapsmühle« waren. Er war völlig mit den Nerven herunter. Er kauerte in einer Ecke, hatte schreckliche Zitteranfälle, fing manchmal plötzlich zu schreien an oder brach in Tränen aus, den Kopf in die Hände gelegt. Aber er sagte nichts und wollte sich auch von niemandem trösten lassen. »Du wolltest doch im Schoonord Verwundete pflegen«, zog Vater mich auf. »Tja, dein Wunsch ist in Erfüllung gegangen, nur hier zu Hause.« Und dann brachte er eins der englischen Sprichwörter an, die wir in der Zeit vor der Landung der Fallschirmjäger geübt hatten, was jetzt schon hundert Jahre her schien. »Wer warten kann, dem kommt alles zur rechten Zeit.« Der Soldat, um den ich mich in dem Moment gerade kümmerte, hörte es und sagte: »Wer nicht kommt zur rechten Zeit, der muss nehmen was übrig bleibt.« 81
Worauf Vater erwiderte: »Denn die Zeit wartet auf nie‐ manden.« Um auch mitzuhalten, sagte ich: »Was man tun muss, das tue man beizeiten.« Darauf rief ein anderer Soldat: »Mit der Zeit vergisst man’s Leid.« Und ein weiterer: »›Die Zeit ist reif‹, das Walross sprach, ›von mancherlei zu reden –‹« »›Von Schuhen – Schiffen – Siegellack –‹«, warf wieder ein anderer ein. Worauf mehrere Stimmen im Chor riefen: »›Von Königen und von Zibeben !‹« Jetzt lachten alle. »Man kann alle Leute einige Zeit zum Narren halten«, de‐ klamierte jemand, »man kann sogar einige Leute die ganze Zeit zum Narren halten –«, und der Chor ergänzte: »Aber man kann nicht alle Leute die ganze Zeit zum Nar‐ ren halten.« Wir erholten uns gerade von dem neuerlichen Gelächter, das dies Zitat hervorgerufen hatte, als jemand mit einem Blatt Papier in der Luft herumwedelte und mit hoher Piepsstimme sagte: »Friede in unserer Zeit!«, was ein solches Gewieher hervorrief, dass ein paar Soldaten oben den Lärm hörten und herunterkamen um nachzusehen, was los war. Also musste der Scherz wiederholt werden, was weitere Heiterkeitsstürme zur Folge hatte. Obwohl ich nicht verstand, warum das so komisch war, da ich nichts von Mr Chamberlain und seinem Münchener Ab‐ kommen mit Hitler wusste, steckte das Lachen auch Papa und mich an und bald hielten wir uns ebenfalls die Seiten. 82
»Was ist, was ist?«, fragte Mutter in einem fort. »Was sagen sie?« Aber keiner von uns fand den Atem, es ihr zu erklären. Dann, als wir uns gerade beruhigten und uns die Nase schnäuzten und die Tränen aus den Augen wischten, sagte eine übertrieben muntere Stimme: »Ach, Jungs, das Leben ist doch wahrhaftig eine Schüssel süßer Kirschen.« Kurze Pause, ehe eine andere Stimme übertrie‐ ben grämlich brummte: »Aber irgendjemand hat meine aufgegessen.« Und wieder lachten wir alle, dass es weh‐ tat. Als wir uns allmählich wieder fassten, sah ich den armen Sam mitlachen – jedenfalls dachte ich, dass er lachte. Erst als er mich plötzlich mit wilden, wunden Augen ansah, die Wangen tränenüberströmt, die Gesichtshaut weiß und gespannt über den Knochen, da wurde mir klar, dass er überhaupt nicht lachte, sondern – nun ja, wehklagte, wäre vielleicht das richtige Wort. Alle anderen schienen es im selben Moment zu merken. Ich wollte zu ihm hingehen, aber der Soldat neben mir legte mir die Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf. Und dann sprach Sam zum ersten Mal, seit man ihn zu uns gebracht hatte. In einem klaren hohen Singsang sagte er: »Mein Begehren war, zu gehn dorthin, wo Lenze nicht schwinden, zu den Feldern, wo kein scharfer und schräger Hagel fliegt und ein paar Lilien blühn. Und mich verlangte, zu sein, wohin keine Stürme kommen, wo grüne Dünung im Hafen stumm ist und dem Wogen des Meeres entrückt.« Wieso weiß ich etwas so genau, was sich vor so langer 83
Zeit abspielte und in einer Sprache, die nicht meine ist? Die Alten sagen oft, dass sie sich an ihre Jugend genauer erinnern als an den vorgestrigen Tag. Aber das ist es nicht. Ich weiß diese Dinge, weil jene wenigen Tage und die darauf folgenden Wochen so viel intensiver waren als jede andere Zeit meines Lebens, so dicht und eindring‐ lich, dass sie mir unvergesslich blieben. Und ich habe sie seither immer wieder Revue passieren lassen. Manchmal konzentriert sich in einer Stunde mehr Leben als sonst in einer Woche und manchmal erlebt man in ein paar Wochen mehr als im gesamten restlichen Leben. So geht es mir mit diesen Tagen des Jahres 1944. Und dass ich weiß, was in dieser anderen und von mir damals schon geliebten Sprache gesagt wurde, liegt auch daran, dass ich, wie ich dir noch genauer erzählen werde, diese Ge‐ schehnisse während der Schlacht später immer und immer wieder mit Jacob durchgesprochen habe. Mein Problem ist nicht, dass ich Mühe hätte, mich daran zu erinnern, sondern dass ich es nicht vergessen kann. Ich dachte im ersten Moment, der arme, gepeinigte Sam spräche wunderschöne, wunderliche, aus seiner Verwir‐ rung geborene Worte. Aber Jacob wusste, dass es ein Ge‐ dicht war, eins, das er mir später beibrachte. Wie auch ein anderes, von dem ich dir bald erzählen werde und das ich mein Leben lang in meinem Herzen bewahrt habe. In der Stille, die auf Sams Worte folgte, hörten wir eine raue Stimme flüstern: »Hopkins.« Wir wandten alle die Köpfe und sahen, dass es von Jacob gekommen war, der 84
uns, auf einen Ellbogen hochgestützt, aus tief eingesun‐ kenen, dunkel umschatteten Augen ansah und grinste wie ein halb verhungerter Hund. Er war während unseres Gelächters zu sich gekommen. Später erzählte er mir, er habe uns gehört, als läge er tief in der Erde, und unser Lachen habe ihn ausgegraben. Alles drehte sich zu ihm um. »Gerard Manley Hopkins«, sagte Jacob. Hugh, ein Soldat, der in Jacobs Nähe saß, rückte zu ihm hin, um ihn zu stützen, und sagte: »Sieh mal an, wer wieder unter den Lebenden ist.« Ich ging sofort zu Jacob, half ihm, ein biss‐ chen Wasser zu trinken und später ein wenig Zwieback zu essen. Wir hatten inzwischen kein Brot mehr und auch sonst kaum noch etwas. Die Soldaten hatten unsere gan‐ zen Vorräte aufgegessen, bis auf ein paar Gläser mit ein‐ gemachtem Obst, die Mutter im Keller stehen hatte. Sobald er wieder richtig sprechen konnte, wollte Jacob natürlich wissen, wo er sich befand und was passiert war. Zuerst war er verwirrt und schwach, weil er, zu allem anderen, ewig nichts gegessen und getrunken hatte. Er konnte nicht glauben, dass er so lange bewusstlos gewe‐ sen war, und war beunruhigt, weil er sich nicht erinnern konnte, was er gemacht hatte, als die Granate explodiert war. Seine Beinwunde schmerzte. Er wollte sie sehen. Wir überredeten ihn zu warten, bis wir den Verband wechseln mussten. Wir wussten, wie schmerzhaft das sein würde. Ich gab ihm ein Schmerzmittel. Nach einer Weile ging es ihm besser und er wurde ruhiger. Aber er sagte immer wieder: »Inzwischen müssten sie doch hier sein«, womit er die Hauptarmee meinte. »Sie kommen schon«, erklärte 85
Hugh. »Sie würden uns nie im Stich lassen.« Auch in diesem Moment beschossen ihre schweren Geschütze die deutschen Stellungen nicht weit von uns, was einen Höllenlärm machte und den Boden, auf dem wir saßen, beben ließ. Bei all dem sah Jacob mich immer wieder forschend an. Ich erriet, dass er sich zu erinnern versuchte, wer ich war. Schließlich dämmerte es ihm. »Der barmherzige Engel!«, sagte er plötzlich, aber so leise, dass nur ich es hören konnte. »Und Sie sind Jacob Todd«, sagte ich. Er lachte auf, und der herzzerschmelzende Blick kehrte in seine Augen zurück. »Sie nennen mich Jacko«, sagte er. »Mir gefällt Jacob besser«, sagte ich. »Mir auch. Wie heißen Sie?« Ich sagte es ihm und er versuchte es nachzusprechen, kam aber mit der niederländischen Aussprache nicht besser zurecht als die meisten seiner Kameraden, sodass es jetzt an mir war zu lachen. »Ihre Freunde nennen mich Gertie«, sagte ich. »Ich nicht«, sagte er. »Nein?« »Das ist kein Name für einen Engel. Also, wie soll ich Sie nennen? Haben Sie noch einen anderen Namen? Einen, den ich aussprechen kann ?« »Ja. Aber so nenne ich mich nie.« »Warum nicht?« »Ich weiß nicht. Hab’s nie getan.« »Wie lautet er? Kommen Sie schon, Sie müssen’s mir 86
sagen. Einem Verwundeten können Sie doch nichts ab‐ schlagen. Das tut man nicht.« »Maria.« (Eigentlich ist es Marije, aber ich wollte es ihm leichter machen.) »Maria«, wiederholte er. »Ein guter Name für einen Engel. Darf ich Sie Maria nennen, Maria?« Natürlich erweichten mich seine Augen. Meine Jugend sei meine Entschuldigung! Ich sagte lachend: »Na gut! Aber nur Sie. Sonst niemand.« Es war sehr kalt geworden, und in dieser Nacht regende het pijpenstelen, regnete es Pfeifenstiele, wie wir im Niederländischen sagen. Ich dachte, außer dem Haus fiele uns auch noch der Himmel auf den Kopf. Wir fühlten uns alle sehr elend. Jacob begann zu frösteln. In einer Feuer‐ pause barg Vater aus dem Chaos im Obergeschoss eine von seinen Hosen und einen Pullover für Jacob, denn was von dessen Uniform noch übrig war, nützte nichts. »Lass dich bloß von den Jerrys nicht so erwischen«, sagte Hugh, »sonst halten sie dich für einen Spion und erschießen dich.« Es war sicher als Witz gemeint, aber es jagte mir doch einen Schauer über den Rücken. Ich sah auch Jacob kurz überlegen, aber dann ergriff er sein pflaumenfar‐ benes Fallschirmjägerbarett, setzte es auf, nahm sein Fall‐ schirmjägerhalstuch, band es mir um und sagte: »Das wird sie verwirren!« Es war kein besonders guter Witz, aber wir lachten dennoch, während wir uns aneinander drängten, um uns gegenseitig zu wärmen. 87
Am nächsten Tag kam ein Offizier und instruierte die Männer wegen des bevorstehenden Rückzugs. Da erst er‐ fuhren wir, dass die Soldaten an der Brücke von Arnhem am Donnerstag hatten aufgeben müssen. Nicht, wie ge‐ plant, achtundvierzig Stunden, sondern vier Tage hatten sie den Panzern, schweren Geschützen und Granatwer‐ fern und der erdrückenden Übermacht der Deutschen standgehalten. Erst als ihnen die Munition ausgegangen war und fast alle in Gefangenschaft geraten, verwundet oder tot waren, hatten die wenigen Übriggebliebenen aufgegeben. Jetzt, acht Tage nach der Landung der ersten Fallschirmjäger, sahen sich die in Oosterbeek eingeschlos‐ senen Briten von immer mehr Deutschen umstellt. Nicht mehr lange, höchstens noch einen Tag oder zwei, und sie würden überrannt werden. Ihre einzige Rettung war der Rückzug über den Fluss, dorthin, wo die Hauptarmee lag. Aber um irgendeine Erfolgschance zu haben, musste der Rückzug in dieser Montagnacht erfolgen, gedeckt von schwerem Artilleriefeuer der Hauptarmee südlich des Flusses, das die Deutschen ablenken und ruhig stellen sollte. Die Befehle lauteten, dass das Sperrfeuer um 20 Uhr 50 beginnen sollte und der Rückzug um 22 Uhr. Die Männer der nördlichsten Verteidigungslinie, die am weitesten vom Fluss entfernt war, sollten sich als Erste zurück‐ ziehen, dann die nächsten und immer so weiter, wie eine zurückebbende Welle, bis hin zur südlichsten Linie, drun‐ ten am Fluss selbst. Da wir auf der Flussseite des Dorfs wohnten, ziemlich am Rand, würden die Soldaten in 88
unserem Haus unter den Letzten sein, die sich absetzten. Als Vorbereitung sollten die Männer ihre Gesichter schwärzen, ihre Stiefel zwecks Geräuschvermeidung mit Wolldeckenstreifen umwickeln und dafür sorgen, dass ihre Waffen am Körper nicht klapperten. Alle übrigen Ausrüstungsgegenstände waren zu vernichten. Von den Verwundeten sollte alles, was gehen konnte, den Rückzug mitmachen. Wer dagegen gehunfähig oder in zu schlechter Verfassung war, sollte bleiben, zusammen mit den Sanitätern und Sanitätsoffizieren. Sie alle sollten sich ergeben und gefangen nehmen lassen, wenn die Deut‐ schen das Dorf wieder einnahmen. Während all der Kampftage bis zum Ergehen dieser Befehle hatte sich jeder bemüht, fröhlich und optimistisch zu sein. Jetzt kam eine seltsame Stimmung über uns. An diesem Montag wurde das Kampfgeschehen noch grimmiger, schlimmer als je zuvor. Was von unserem Haus noch stand, wurde öfter getroffen und einmal brannte es sogar in den oberen Räumen, aber Vater und ein paar leicht verwundete Männer konnten die Flammen löschen, während die Unverletzten weiter auf den Feind feuerten, der Häuser auf der anderen Straßenseite besetzt hatte. Zweimal drangen deutsche Soldaten fast bis zu uns vor, wurden dann aber doch – zum Teil Mann gegen Mann – zurückgeschlagen, wenn auch nicht ohne einen hohen Preis. Ron, der während dieser ganzen schrecklichen Woche bei uns gewesen war und uns so oft geholfen hatte, starb bei der Verteidigung unseres Hauses. Sein Kamerad Norman 89
kam mit der Nachricht zu uns in den Keller. Mutter und ich weinten um diesen tapferen und gütigen Menschen, der so viel getan hatte, um uns das Leben während der Schlacht erträglicher zu machen, der sich nie beklagt hatte und der jetzt, daheim in seinem Land, eine junge Frau und eine kleine Tochter hinterließ, die er uns so oft auf Fotos gezeigt hatte. Norman saß stumm bei uns, betäubt vom Verlust seines Freundes, aber noch ehe er wieder zu sich fand, wurde er schon von oben gerufen und musste eilig hinaufrennen, um sich dem Feind zu stellen. Ich glaube, das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass wir doch nicht befreit waren, sondern bald wieder in den Händen der deutschen Invasoren sein würden. Und zum ersten Mal in dieser Woche hatte ich wirklich Angst. Solche Angst, dass meine Beine sich zu schwach anfühl‐ ten, um mich zu tragen, und meine Hände unkontrollier‐ bar zitterten. Ich wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Mein Magen zog sich zu einem harten Klumpen zusammen und ich wollte zur Toilette rennen. Die Verwundeten im Keller verstummten und zogen sich in sich selbst zurück. Es war, als schämten sie sich. Sie wollten uns nicht anschauen – Papa, Mama und mich. Einige sagten, sie empfänden es als Verrat, uns einfach hier zurückzulassen. Und natürlich litten sie unter schrecklichen Versagensgefühlen. Das war viel schlimmer als all unsere Entbehrungen zusammen. Resigniert‐tapfer halfen wir ihnen den Rest des Tages, so gut wir konnten, sich auf die Gefahren dieser Nacht vorzubereiten. Selbst der arme Sam wollte mit. Er konnte gehen, war wieder 90
weit genug bei Sinnen um mitzukriegen, was los war, und ruhig genug, dass ihn jemand zum Fluss führen konnte. Außerdem bin ich mir sicher, dass die Gefahr, zurückgelassen zu werden und in Gefangenschaft zu geraten, selbst in seinen umnebelten Verstand gedrungen war und in ihm die Entschlossenheit mobilisierte, sich irgendwie zusammenzureißen. Schon damals kam mir der Gedanke, dass seine Tapfer‐ keit angesichts seiner seelischen Qualen genauso bewun‐ dernswert war wie die der Männer, die immer weiter kämpften, um uns zu retten. Alle würden also unseren Keller verlassen. Alle außer Jacob. Er war so schwach, dass er nicht ohne Hilfe stehen konnte, von Gehen ganz zu schweigen, schon wegen der Unterschenkelverletzung. Eine Zeit lang versuchte er die anderen zu überzeugen, dass er es schaffen würde, wenn ihn zwei Mann stützten. Aber der verantwortliche Ser‐ geant sagte Nein, er käme niemals durch. Jacob brütete zunächst eine Weile vor sich hin. Dann ver‐ kündete er raubeinig munter, wenn er schon dableiben müsse, könne er sich doch wenigstens nützlich machen. »Tragt mich nach oben, bevor ihr geht«, erklärte er den anderen, »und lasst mir ein Gewehr und einen Haufen Munition da. Ich sorge dafür, dass die Jerrys die Köpfe einziehen, während ihr euch hinten rausschleicht.« Ich konnte nicht fassen, dass die anderen darauf eingin‐ gen. »Wie können sie zulassen, dass Sie so etwas tun ?«, sagte ich. Er zuckte lächelnd die Achseln. 91
»Das beschäftigt mich wenigstens. Lenkt mich von mei‐ nen Beinschmerzen ab.« »Sie sind nicht kräftig genug«, sagte ich. »Sie werden be‐ stimmt getötet.« »Besser als Gefangenschaft«, sagte er. »Ich kann’s nicht ertragen, eingesperrt zu sein. Ich verabschiede mich lieber kämpfend. Ehrlich.« »Nein!«, sagte ich, jetzt völlig außer mir. »Das ist nicht recht!« »Hören Sie«, sagte er und versuchte, meine Hand zu fassen, um mich stillzuhalten, aber ich riss sie weg. »Das verstehen Sie nicht. Es hilft meinen Kameraden, heil hier wegzukommen. Jeder von den Jungs würde das an meiner Stelle auch tun. Das gehört zu unserer Ausbil‐ dung. Ehrlich. Mein verdammtes Pech. Ich bin nun mal der Klotz am Bein.« »Pech!«, rief ich. »Wie können Sie so was sagen? Das hat nichts mit Pech zu tun! Das hat mit dieser Kämpferei zu tun. Mit dem Krieg. Diesem verdammten Krieg! Ich hasse ihn! Ich hasse das alles! Ich hasse die, die das gemacht haben! Wie können sie so was tun! Wie können sie!« Alle hörten es. Unterbrachen ihr Tun. Sahen mich sorgen‐ voll an. Ich hatte diesen Ausbruch nicht gewollt. Angst und Zorn, kombiniert mit Hunger und Erschöpfung, hat‐ ten ihn provoziert. Und etwas, was mit Jacob und mir zu tun hatte und mir zu der Zeit noch nicht bewusst war. Vor allem Letzteres, glaube ich. Mutter kam und nahm mich in die Arme. »Denk an deine Manieren, Liebes«, flüsterte sie, als sie mich an sich zog. 92
»Mach diesen armen Leuten nicht alles noch schwerer. Überleg mal, wie das für sie sein muss. So bald schon müssen sie alles riskieren um zu entkommen. Manche werden es nicht überleben. Das ist ihnen klar.« »Wenn wir doch nur etwas tun könnten, um ihnen zu hel‐ fen«, sagte ich, als ich wieder ruhig sprechen konnte. Mama sah mir fest in die Augen. »Wir haben getan, was wir konnten. Ich wüsste nicht, was wir noch tun könn‐ ten.« Wir sollten es schon bald herausfinden.
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POSTKARTE Wie lange, bis ich sterbe? Das ist die dringlichste Frage. John Webster Als Jacobs Straßenbahn am Bahnhof ankam, regnete es schon wieder, heftig und ohne dass ein Nachlassen abseh‐ bar gewesen wäre. Er tauchte für ein paar Minuten im Gewimmel der Bahn‐ hofshalle unter, wurde dann aber nervös, weil er fürchte‐ te, Daan van Riet könnte das Warten leid werden und wieder aus dem Haus gehen. In einer Ecke der Halle war ein Blumenstand. Seine Groß‐ mutter hatte ihm eingeschärft, dass es in Holland üblich sei, Blumen mitzubringen, wenn man jemanden besuche. Er befingerte Almas Gulden in seiner Tasche. Aber es ging ihm nicht um Blumen. »Hi«, sagte er zu dem Verkäufer. »Lo«, sagte der Mann, ohne eine Miene zu verziehen. Er hielt ihm die Münzen hin und zeigte auf die Blumen. »Was kriege ich für vier Gulden?« Der Mann guckte skeptisch, lächelte aber, musterte sein Sortiment bemerkenswert gründlich, gemessen am Um‐ fang des möglichen Geschäfts, und wählte dann eine bescheidene Sonnenblume. 95
»Und die Tüte da«, sagte Jacob und zeigte auf eine große, braune Plastiktüte, die neben ein paar Blumenkübeln lag. »So geht mein Profit dahin«, sagte der Mann und wickelte die Tüte sorgsam um die Sonnenblume, ehe er Jacob das ungewöhnliche Gebinde mit einer spöttischen Verbeu‐ gung überreichte. »Sie müssen sie wirklich lieben, um so viel zu investieren. Veel succes!« Draußen nahm Jacob den Blumenstängel zwischen die Zähne, während er die Tüte entlang der einen Seitennaht aufriss und sie sich dann kapuzenartig über Kopf und Schultern stülpte. Dergestalt geschützt, marschierte er zügig auf die Orientierungspunkte zu, die ihm Alma ge‐ nannt hatte. Van Riets Adresse war nicht schwer zu finden. Das Haus sah aus wie ein altes Lagerhaus. Eine improvisierte Stoep aus abgetretenem, verwittertem Holz führte zu einer ur‐ alten, schweren, schwarz gestrichenen Tür. Neben dieser fand Jacob zwei unauffällige Klingelknöpfe mit verbliche‐ nen Namensschildchen. Er drückte auf den, an dem Wesseling van Riet stand. Während er wartete, musterte er die kurze Straße, die aussah, als hätte sie einmal nur aus Lagerhäusern bestan‐ den. Jetzt jedoch war auf der einen Seite neben van Riets Haus ein neu wirkendes Hotel mit Restaurant und auf der anderen erhob sich eine frisch renovierte Fassade mit großen, in Fenster umgewandelten Speichertoren auf allen fünf Stockwerken. Neben der schmalen Straße ver‐ lief eine ebenso schmale, trübe Gracht, auf deren anderer 96
Seite die Rückfront einer Kirche emporragte, ein Unge‐ tüm aus schmutzigem Backstein, mit Bogenfenstern aus schmuddligem Maschendrahtglas. Links der Kirche dann, als provozierender Kontrast, die Rückseite eines eher neuen Gebäudes mit vielen, regelmäßig angeordneten modernen Fenstern: Hotelzimmer, vermutete Jacob. Im Nebelgrau des strömenden Regens erschienen ihm die düstere Kirche und die hohen, glattwandigen Häuser, nur durch den brackigen Kanal und die kopfsteingepflasterte Straße getrennt, wie eine verbotene Schlucht. Er fröstelte in seinen feuchten Klamotten und zog sich die Plastik‐ kapuze tief ins Gesicht. Ein Riegel wurde weggeschoben, die schwere Tür öffnete sich überraschenderweise nach außen, und ein junger Mann mit dickem schwarzem Haar, hübschem, dreiecks‐ förmigem Gesicht, blasser Haut, intensiven leuchtend blauen Augen, langer gerader Nase, breitem schmallippi‐ gem Mund, schlanker Figur, grauem, in schwarzen Jeans steckendem Sweatshirt und bloßen Füßen in Zehensan‐ dalen, sagte: »Mijn God! Titus!« »Jacob Todd.« »Sorry, hoor. Daan. Komm rein.« Ein schummriger Gang mit einer steilen, rostrot gestriche‐ nen Holztreppe am Ende, einer rauen, nackten, alten Backsteinmauer auf der einen Seite und einer weiß gestri‐ chenen Rigipswand mit einer blauen Tür auf der anderen. Der Geruch von feuchtem Staub und neuem Papier. »Schicke Kopfbedeckung.« »Bisschen nass.« 97
»Willst du sie abnehmen?« »Danke.« Er hielt ihm die Sonnenblume hin. »Für dich.« »Für mich geklaut. Und ohne mich zu kennen! Wie galant!« »Geklaut?« »Die Frau, die vorhin hier angerufen hat, sagte, dein gan‐ zes Geld sei weg.« »Oh ja, stimmt, aber sie hat mir fünf Gulden gegeben, für alle Fälle. Ich hab das Ding für dich gekauft. Eigentlich wollte ich ehrlich gesagt diese Tüte gegen den Regen, und –« »Ich war also nur ein Vorwand. Ich bin schon jetzt zutiefst geknickt.« Er streckte die Hand aus und Jacob schüttelte sie, fühlte seine eigenen Finger kalt und glitschig in Daans warmen, trockenen. »Komm mit. Hast du schon Übung mit unserer holländi‐ schen Stolpertrap?« »Treppe meinst du?« »Ich meine Treppe und ich meine Stolperfalle. Ich seh schon, dein Niederländisch ist brillant.« »Und ich«, beschloss Jacob die Herausforderung anzu‐ nehmen, »seh schon, dein Englisch ist raffiniert.« Daan gab etwas von sich, was ein leises Lachen sein mochte. »Ich wohne ganz oben.« So eine Wohnung hatte Jacob noch nie gesehen. Ein kom‐ pliziertes Muster aus glänzenden, exotischen Fliesen (blumenartige Kreisgebilde und abgerundete Quadrate in 98
Olivgrün, in Hell‐ und Dunkelblau, angeordnet auf weißem Grund) zog sich in steter Wiederholung diagonal über den Fußboden, der sich in einer einzigen Fläche von einer Seitenwand des Hauses zur anderen erstreckte und ebenso von der Front‐ zur Rückseite, bis dann im hinteren Teil ein Wandschirm aus dünnen, schwarzen Rahmen und Japanpapier etwas abtrennte, was wie ein Schlafbe‐ reich aussah. Die gesamte Fußbodenfläche war riesig, so breit wie ein Tennisplatz, schätzte er, aber länger. Die Wände waren rohe, alte Backsteinmauern, an denen da und dort Bilder hingen: mehrere alte Ölgemälde – ein Porträt von jeman‐ dem, der aussah wie ein angejahrter Daan, eine althollän‐ dische Landschaft –, aber auch moderne Fotografien und kolorierte Zeichnungen. Die Decke trugen dicke Holzbal‐ ken, ähnlich den Deckbalken eines Segelschiffs. Im vorde‐ ren Teil des Raums war ein Stück der Decke entfernt worden und man sah das obere Stockwerk, das mit seinem relingartigen Geländer wie das Oberdeck eines Schiffs wirkte und über eine weiß lackierte Treppe zu erreichen war, die wie ein Schiffsaufgang aussah. Als er dort hinaufschaute, fühlte er förmlich den Fußboden unter sich rollen und stampfen. Auf der Vorderseite ging ein Fenster, das aus einem großen, oben gerundeten, ehemaligen Speichertor be‐ stand, auf die Rückfront der Kirche hinaus. Rechts und links davon waren Pflanzen arrangiert. In diesem vorde‐ ren Teil gab es kaum Mobiliar, nur ein großes schwarzes Ledersofa und zwei mächtige Ledersessel, die um einen 99
schweren hölzernen Couchtisch standen. Ein antiker Kredenztisch an der einen Wand trug eine teure TV‐ und Stereoanlage, und ein Stück weiter stand eine große Glas‐ vitrine, voll mit Nippes und merkwürdigen Gegenstän‐ den. Zum hinteren Teil des Raumes hin war eine Küche in einer Nische untergebracht, die sich durch das Treppen‐ haus des Außenaufgangs ergab. Hinter der Küche kam dann der Schlafraumwandschirm. Doch was ihn vor allem fesselte, war ein raumhohes Bücherregal, das die gesamte Wand zwischen Frontseite und Küchennische einnahm – etwa die halbe Raumlänge. Er starrte darauf, verblüfft von diesem Riesensortiment an Gedrucktem, aus dem ihm, wie bekannte Gesichter aus einer Menschenmenge, zahlreiche englischsprachige Bücher ins Auge sprangen. Die ganze Wohnung war eine so reizvolle, seltsame Mischung aus Alt und Neu, dass er von Bewunderung und Neid überwältigt war. Was für ein Ort zum Leben! Aber wie konnte Daan sich das leisten? Nachdem Daan die Sonnenblume in eine leere Wein‐ flasche gesteckt und auf den Couchtisch gestellt hatte, war er nach oben verschwunden. Jetzt kam er wieder, mit einem roten Sweatshirt und einer Jeans. Er streckte Jacob beides hin und sagte: »Da ist ein Bad, gleich links von der Treppe. Magst du was essen?« »Danke. Ich bin wirklich ein bisschen nass. Und auch ein bisschen hungrig, um ehrlich zu sein.« »Geh dich umziehen. Ich mache uns was.« 100
Sie saßen einander gegenüber, Jacob in frischer blau‐roter Kleidung, Daan in grau‐schwarzer mit immer noch blas‐ sem Gesicht. Sie saßen auf hohen Hockern, beidseits der Frühstückstheke, die die Küche vom Hauptraum trennte, und redeten, während sie Dosengemüsesuppe aus der Mikrowelle, holländischen Frischkäse, Schinken, Toma‐ ten, angemacht mit Knoblauch, frischem Basilikum und Olivenöl, und dazu Baguette aßen. Daan wollte wissen, wie das mit dem Diebstahl zuge‐ gangen war. Jacob erzählte die Geschichte, jetzt, beim zweiten Mal, schon in hübsch aufbereiteter und unterhalt‐ samer Form, spielte jedoch die Begegnung mit Ton herun‐ ter und ließ das ihn noch immer beschämende Detail mit den intimen Körperteilen weg, sodass Ton eine Sie blieb. Und wieder stellte er die Frage, was hinter Rotkäppchens seltsamem Lockverhalten gesteckt haben mochte. Daan sagte achselzuckend: »Stand auf dich, schätze ich.« »Wie?«, sagte Jacob. »Du meinst, das war Anmache?« »Klar.« »Er? Mich? Nie und nimmer! Er wollte nur ein Spiel draus machen. Sich ein bisschen amüsieren. Glaubst du nicht?« Daan lächelte. »Wenn du meinst.« »Weißt du noch, wie wir dich besucht haben?«, sagte Daan. »Da warst du etwa fünf, glaube ich. Ich war zwölf.« »Nein, daran kann ich mich nicht erinnern.« »Ich habe mit dir in einer Sandgrube in eurem Garten ge‐ spielt.« 101
»Das ist jetzt ein Goldfischteich.« Jacob grinste und zuckte die Achseln. »Dad’s Midlife‐Crisis. Er hat den Garten völ‐ lig umgekrempelt.« »Du hast dich mit deiner Schwester gestritten, als sie auch mitmachen wollte. Du hast ihr Sand ins Gesicht geschmis‐ sen.« »Klingt plausibel.« »Dein Vater hat gesagt, ihr sollt aufhören.« »Typisch.« »Du hast ihn angeschrien. Fuck you, hast du gesagt.« »Niemals!« »Doch.« »Glaub ich nicht.« »Es gab eine Mordsaufregung.« »Das glaub ich allerdings.« »Ich hatte diesen englischen Ausdruck noch nie gehört. Kapierte nicht, was das ganze Getue sollte. Deinen Eltern war das schrecklich peinlich. Meine fanden es komisch. Sie haben es mir später erklärt, als sie irgendwann erneut drüber lachen mussten.« »Und was ist dann passiert?« »Du wurdest in dein Zimmer verfrachtet, heulend und schreiend. Aber nach einer Weile hat dich deine Groß‐ mutter wieder runtergebracht. Und du hast gegrinst wie – wie sagt ihr noch mal? – die Katze überm vollen Milch‐ topf.« »Und mein Vater war stinksauer.« »Er hat nicht viel gesagt.« »Nicht, solange ihr da wart.« »Nur, dass deine Großmutter das nicht hätte tun dürfen, 102
dass sie dich verziehen würde. Ich weiß noch, was sie gesagt hat, es war so ein komisches Wort.« »Lass mich raten. Quack.« »Genau.« »So viel wie Blödsinn. Eins ihrer Lieblingswörter.« »Du lebst jetzt bei deiner Großmutter.« »Ja.« »Das weiß ich von Geertrui. Sie und deine Großmutter schreiben sich ab und zu.« »Ich weiß.« »Mögt ihr euch, du und deine Großmutter?« »Sehr. Immer schon.« Als sie fertig gegessen hatten und die Hocker leid waren, zogen sie mit ihrem Kaffee um, Daan aufs Sofa, Jacob in einen Sessel, mit dem Rücken zum Fenster, sodass er den Raum im Blick hatte, während sie redeten. »Die Häuser in dieser Straße«, sagte Jacob, »sehen aus, als seien sie einmal Lagerhäuser gewesen.« »Waren sie auch. Früher kamen die Schiffe bis hierher. Sie machten fest und wurden entladen. Hier in diesem Haus lagerte mal eine Zeit lang Tee und ein andermal Kölnisch‐ wasser. Hast du das turmartige Gebäude am Ende der Straße gesehen?« »Das runde, mit dem kleinen spitzen Turm obendrauf?« »Das heißt der Schreierstoren, Schreierturm, weil früher die Frauen von dort zum Abschied winkten, wenn ihre Männer in See stachen.« »Das hier ist eine irre Wohnung. Totaler Wahnsinn.« 103
»Gehörte mal einem Mann, der ein großer Fan von Segel‐ schiffen war. Und von spanischen Kacheln. Geertrui hat alles von ihm gekauft. Ich wohne hier, seit sie im Verpleeg‐ huis ... wie heißt das bei euch?« »Ich schätze, du meinst ›Pflegeheim‹. Deshalb.« »Deshalb was?« »Die komische Mischung von Möbeln und allem.« »Komisch?« »Nicht komisch komisch. Einfach nur ungewöhnlich, inte‐ ressant.« »Inwiefern?« Langsam wünschte er, er hätte nicht damit angefangen. »Na ja, die Kombination von alten und modernen Sachen. Die Bilder an den Wänden zum Beispiel.« Er lachte ner‐ vös. »Das meiste gehört Geertrui, ein paar Sachen sind von mir. Ich könnte nicht nur zwischen ihren Sachen leben. Aber groß was verändern will ich nicht. Es ist schließlich immer noch ihre Wohnung.« »Die Bücher?« »Geertruis natürlich. Meine sind in meinem Zimmer. Ich bin nicht so lesebegeistert wie sie.« »Du studierst, oder?« »Ja.« »Das war, ehrlich gesagt, noch ein Grund, warum ich mich über die Wohnung gewundert habe.« »Wie sollte ein armer Student sich so was leisten kön‐ nen?« »Was studierst du?« 104
»Molekularbiologie. Und nebenbei Kunstgeschichte.« »Wow!« »Wieso wow?« »Stark.« »Ach, hör doch auf! Sei nicht so ein Snob.« Jacob war, als hätte ihm jemand mit einem nassen Lappen ins Gesicht geschlagen. Gerade, als er geglaubt hatte, dass es ganz gut lief. Er hasste es, abgekanzelt zu werden, vor allem, wenn er einfach nur freundlich Konversation machte. Und wenn es passierte, wusste er nie, was sagen. Die richtige Replik fiel ihm immer erst später ein, zu spät, wenn er allein war und sich beim Gedanken an die Demütigung innerlich wand. »Noch Kaffee?«, fragte Daan. Jacob brachte ein Nicken und ein verschüchtertes »Dan‐ ke« zustande. Als Daan aus der Küche zurückkam, sagte er: »Wegen Geertrui. Was hat Tessel – meine Mutter – dir gestern erzählt?« Jacob nahm einen Schluck Kaffee, während er sich wieder in den Griff zu kriegen suchte. »Dass deine Großmutter im Pflegeheim lebt, weil sie sehr krank ist. Dass deine Großmutter meine Großmutter Sarah eingeladen hatte, ohne es mit irgendwem aus der Familie zu besprechen, und dass ihr bis vor ein paar Tagen gar nicht wusstet, dass ich komme. Und sie hat noch gesagt, dass deine Großmutter ein sehr eigensinniger Mensch ist und dass 105
ihre Krankheit zur Folge hat, dass sie sich manchmal sehr merkwürdig verhält.« »Das stimmt.« »Für mich war es eine ganz schön peinliche Situation, als sie mir das gestern gesagt hat. Ich hatte, ehrlich gesagt, das Gefühl, dass ich nicht hier sein sollte.« »Mutter ist gestresst und besorgt, was jetzt mit dir wer‐ den soll.« »Ich wusste nicht, was tun. Weiß es immer noch nicht. Dein Vater hat dann vorgeschlagen, ich solle doch heute nach Amsterdam fahren und mir das Anne‐Frank‐Haus angucken. Ich mag nämlich ihr Tagebuch sehr. Er sagte, wir würden dann heute Abend alles klären. Er hat mir deine Adresse gegeben. Aber er hat gesagt, ich soll’s deiner Mutter nicht sagen.« »Ich weiß. Er hat mich heute Morgen von seinem Büro aus angerufen.« »Er hat nicht gesagt, warum. Das scheint mir alles ein bisschen verrückt, wenn ich das mal sagen darf.« Der klagende Unterton in seiner Stimme war nicht beabsich‐ tigt gewesen. Aber der Schlag von eben brannte noch. Daan sagte kühl und ruhig: »Geertrui ist unheilbar krank. Sie hat die meiste Zeit schreckliche Schmerzen. Sie setzen sie unter Drogen, und die provozieren manchmal wirk‐ lich, na ja, sagen wir mal, seltsame Verhaltensweisen. Aber das ist nicht alles.« »Das wusste ich nicht. Und Sarah auch nicht. Wir wuss‐ ten, dass es deiner Großmutter nicht so gut geht, aber nicht, dass sie ernstlich krank ist. Sonst wäre ich doch 106
nicht gekommen. Ich meine, in ihrem Brief hat deine Großmutter geschrieben, es würde eine Art Party geben.« »Wird’s auch, aber nicht die Art Party, die du meinst, schätze ich.« »Was für eine dann?« »Erkläre ich dir später. Da sind noch ein paar andere Dinge, die ich dir erklären sollte. Aber ich muss mit Tessel reden, bevor ich’s tue. Sie ist heute bei Geertrui.« »Ich weiß. Deshalb hat dein Vater ja gemeint, ich solle heute nach Amsterdam fahren.« »Ich kann nicht mit ihr reden, solange sie bei Geertrui ist. Sie wird so um fünf wieder zu Hause sein.« Jacob wusste nicht, ob er vor allem ärgerlich war oder einfach nur müde. »Hör mal, tut mir Leid, aber das wird mir alles ein bisschen viel. Ich habe das Gefühl, ich bin allen nur ein Problem. Wär’s nicht das Beste, wenn ich wieder heimfahre?« Daan sah ihm direkt in die Augen und sagte ernst und nachdrücklich: »Ich finde wirklich, du solltest warten, bis ich dir alles sagen kann. Es ist sehr wichtig. Glaub mir. Da sind Dinge, die du wissen solltest. Es geht nicht nur um uns, um meine Familie. Es betrifft auch dich.« Jetzt verdrängte Verblüffung den Ärger. »Mich! Wieso ?« Daan hielt die Hände hoch, wie jemand der einen Schlag abwehrt. »Später. Wenn ich mit Tessel geredet habe. Ver‐ rau mir. Nur die paar Stunden. Danach beschließen wir alles Weitere.« »Ich weiß nicht.« »Du kannst sowieso nicht sofort zurückfliegen nach Eng‐ 107
land, oder? Eine Nacht mehr oder weniger spielt doch keine Rolle.« »Ich weiß nicht recht.« Daan stand auf und sammelte die Kaffeebecher ein. »Hör zu, wir werden etwas unternehmen, um die Zeit he‐ rumzubringen. Da ist was, was ich dir zeigen möchte. Ich glaube, das wird dich interessieren. Okay?« »... na gut.« Im Bad starrte Jacob sein Spiegelbild finster an. Er hasste es, wenn Leute sagten, sie wüssten Dinge, die sie ihm nicht sagen wollten. Aber was sollte er machen? Gehen? Und wohin? Zurück nach Haarlem, wo sein Pass und seine Flugtickets waren? Aber wovon? Daan anpumpen? »Ich habe die Nase voll und fahre zurück zu deiner Mut‐ ter, also könnte ich bitte das Fahrgeld haben?« So unver‐ froren dann wohl doch nicht! Und außerdem, was dann, da dort niemand zu Hause sein würde? Sich vor die Tür setzen und warten, wie ein streunender Hund? Schon wieder! Was würde das bringen? Dieser Besuch machte ihm wirklich keinen Spaß. Aber Daan, wie es aussah, auch nicht. Eigentlich, dachte Jacob, während er das Klo benutzte und seine inzwischen getrockneten Sachen wieder anzog, mochte er Daan. Seinen blassen Nachtschattengewächs‐ Look mit Sicherheit: irgendwie faszinierend. Sein Selbst‐ bewusstsein: beneidenswert. Seine Ich‐sag’s‐dir‐ins‐Ge‐ sicht‐Direktheit: Selbst wenn es wehtat, wusste man wenigstens, woran man war, kein Getue. Und noch 108
etwas. Etwas, was unter die Haut ging. Er konnte es nicht genau benennen. Aber er hatte auch etwas gegen ihn. Weil er so hyper‐selbstsicher tat, so wissend. Neunmal‐ klug, würde Sarah sagen. Er wollte, dass man seine Über‐ legenheit anerkannte. Er wollte das Sagen haben, der Boss sein. Na ja, meinetwegen, dachte Jacob, was juckt’s mich? Ich muss ja nur noch ein paar Stunden mit ihm zu‐ sammen sein. Als er aus dem Bad kam, fand er Almas Papierserviette in einer seiner Jeanstaschen und zeigte sie Daan, der lächelnd sagte: »Ein altes niederländisches Sprichwort. Das heißt, wenn man bereit ist, etwas einzusetzen, kommt auch etwas dabei raus.« Jacob lachte und sagte: »So was Ähnliches kenne ich auch.« Und schrieb unter Almas säuberliche Blockbuch‐ staben: WER NICHT WAGT, DER NICHT GEWINNT
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GEERTRUI Am Spätnachmittag des Rückzugstags kamen mein Bru‐ der Henk und sein Freund Dirk die Kellertreppe herun‐ tergestolpert. Sie waren so verdreckt und zerzaust, dass wir sie in dem Schummerlicht zuerst kaum erkannten. Mutter hing sehr an Henk. Sobald sie merkte, dass er es war, verlor sie die Fassung, die sie bis dahin bewahrt hatte, rannte zu ihm, wobei sie sogar auf Verwundete trat, die im Weg lagen, flog ihm um den Hals und sagte: »Henk! Henk! Was machst du hier? Weißt du denn nicht, dass die Briten abziehen?« Sie küsste ihn immer wieder und streichelte sein Gesicht, als wollte sie sich verge‐ wissern, dass er nicht nur ein Geist war. Vater begrüßte unterdessen Dirk, den er sehr mochte und manchmal als seinen zweiten Sohn bezeichnete. »Was ist los ?«, fragte er. »Alles in Ordnung mit euch? Warum seid ihr hier?« Dirk sagte: »Alles in Ordnung. Uns geht’s gut. Wir woll‐ ten nur sehen, ob euch nichts passiert ist.« Wie immer bei solchen Szenen, hielt ich mich instinktiv zurück, bis die erste Aufregung abgeklungen war. Dann würde ich meinen Bruder für mich haben können. Er sah mich über Mutters Schulter an, zwinkerte und grinste, sodass ich wusste, es war nichts passiert und er würde alles erklären, wenn er so weit war, denn Henk ließ sich 111
immer Zeit und war einer der gelassensten und in sich ruhendsten Menschen, die ich je gekannt habe. Ich liebte ihn so sehr, dass ich ihm einmal, als ich noch nicht alt genug war, um zu wissen, dass man so etwas nicht sagt, erklärte, ich wollte, er wäre nicht mein Bruder, damit ich ihn später heiraten könnte! Als Mutter sich schließlich besann, ließ sie Henk los, wandte sich den Soldaten zu, die das Ganze mit unver‐ hohlenem Amüsement beobachteten (und wohl auch mit einigem Neid, da die meisten nicht älter waren als Henk und einige sogar jünger) und erklärte mit Tränen in den Augen: »Mijn zoon, mijn zoon.« Verständnisvoll räumten die Männer neben Jacob die Ecke, damit wir unter uns sein konnten, so gut das in dem überfüllten Keller ging. Ein Soldat, ein junger Bursche namens Andrew, der den verletzten Arm in einer Schlin‐ ge trug, kam herüber, gab uns eine Tafel englische Scho‐ kolade und sagte: »Die habe ich für etwas Besonderes aufgehoben. Sie sind etwas Besonderes, also sollen Sie sie haben.« Ich weiß aus eigener Erfahrung und aus dem, was mir Freunde und Nachbarn nach dem Krieg erzähl‐ ten, dass solche Akte der Freundlichkeit in jenen schlim‐ men Tagen nicht ungewöhnlich waren, aber diesen habe ich besonders deutlich in Erinnerung, weil er in einem für uns so bewegenden Augenblick erfolgte. Und auch we‐ gen der Traurigkeit, die ich in den Augen des jungen Mannes sah, als er uns sein Geschenk überreichte. Es war nicht schwer zu erraten, dass er an seine Familie daheim in England dachte und sich nach dem Moment sehnte, da 112
er mit ihr wieder vereint sein würde, so wie Henk jetzt mit uns. Und ich frage mich immer wieder, ob ihm viel‐ leicht eine Vorahnung sagte, dass er sein Zuhause nicht wiedersehen würde. Später erfuhren wir, dass er in jener Nacht des Rückzugs getötet wurde. Ich bin oft an seinem Grab auf dem Soldatenfriedhof von Oosterbeek stehen ge‐ blieben und habe ihm noch nachträglich gedankt. Während wir unser Festtagsgeschenk aßen – oh, mir läuft jetzt noch das Wasser im Mund zusammen, wenn ich an diesen köstlichen Geschmack denke; nie wieder hat eine Schokolade so gut geschmeckt, nicht mal die beste, die man heutzutage im Pompadour in Amsterdam kaufen kann –, erzählte uns Henk seine Geschichte. Nachdem ich an jenem Sonntagnachmittag von Dirks Bauernhof abgefahren war, sahen er und Dirk das Fall‐ schirmkonfetti ebenfalls. Sie machten sich sofort auf den Weg dorthin, wo sie landeten, begrüßten die ersten engli‐ schen Soldaten, die sie trafen, und boten ihnen ihre Hilfe an. Den Rest der Woche fungierten sie, zusammen mit anderen holländischen Freiwilligen, als Dolmetscher, Führer und Boten und leisteten den britischen Offizieren alle möglichen Hilfsdienste. Sie baten um Waffen, um mitkämpfen zu können, aber das war nicht erlaubt. Seit Mittwoch hatten sie im britischen Hauptquartier gearbei‐ tet, im Hotel Hartenstein – wo heute das Museum der Schlacht ist. Es gebe so viel zu erzählen, sagte Henk, aber das müsse noch warten. Er und Dirk wussten von dem Rückzugs‐ plan und waren gekommen, solange es noch ging, um 113
nach uns zu sehen. Aber sie konnten nicht bleiben. Sie mussten sofort wieder untertauchen. »Ihr wisst ja, wie die Deutschen sind«, sagte er. »Wenn die Briten weg sind, werden sie gnadenlos mit allen um‐ springen, die ihnen geholfen haben. Und sie werden noch entschlossener sein, junge Männer zur Zwangsarbeit zu schicken.« »Er hat Recht«, sagte Papa. »Aber nicht nur die Männer«, sagte Dirk. »Junge Frauen werden jetzt auch nicht mehr sicher sein. Es wird Vergel‐ tungsmaßnahmen geben.« »Wir meinen, Geertrui sollte mit uns kommen«, sagte Henk. Es erstaunte mich nicht, dass Vater sich über diesen Vorschlag aufregte. »Geertrui? Nein, nein, Henk. Ich mag die Deutschen genauso wenig wie du, aber bis‐ her haben sie sich den Mädchen gegenüber immer an‐ ständig verhalten, das musst du zugeben. Warum sollte das jetzt anders werden?« »Weil ihnen gar nicht gefallen wird, was inzwischen passiert ist«, sagte Henk. »Die Briten haben hier zwar ver‐ loren, aber es ist nur eine Frage der Zeit, dass wir befreit werden. Ein paar Wochen noch. Vielleicht auch nur ein paar Tage. Die britische Hauptarmee ist nicht mehr weit, und die Alliierten stoßen von Belgien aus vor. Die Deut‐ schen müssen doch wissen, dass für sie alles aus ist. Wer kann schon sagen, wie sie sich verhalten werden, wenn sie in einer verzweifelten Lage sind?« »Henk hat Recht«, sagte Dirk. »Und außerdem ist der Ort zerstört. Alle Lebensmittel sind vernichtet oder ver‐ 114
braucht. Es gibt hier kein bewohnbares Haus mehr. Wie wollt ihr überleben? Bitte lasst Geertrui mit uns gehen. Auf dem Land ist sie sicherer. Und dort findet man auch eher etwas zu essen.« »Vielleicht solltet ihr auch mitkommen, Mutter und du«, sagte Henk. »Hier ist doch nichts mehr übrig.« Vater nahm Mutters Hand und sie sahen sich einen Moment an, ehe Mutter sagte: »Es ist nicht viel übrig, ich weiß. Aber dein Vater und ich, wir leben hier, seit wir verheiratet sind. Ihr wurdet in unserem Schlafzimmer geboren, du und Geertrui. Das hier ist unser Zuhause. Der Ort, wo wir hingehören. Wie könnten wir das einfach aufgeben? Warum sollten wir?« Vater sagte: »Du und Dirk, ihr müsst gehen. Ihr habt Recht. Junge Männer sind hier nicht sicher. Aber deine Mutter und ich, wir müssen hier bleiben. Wir schaffen es schon irgendwie. Wir haben es noch immer geschafft. Und Geertrui muss bei uns bleiben. Sie ist hier schon sicher genug. Warum sollten sie uns etwas antun? Wir haben doch nichts getan.« »Nichts getan!«, sagte Henk. »Vater, ihr habt britischen Soldaten Unterschlupf gewährt. Für die Deutschen ist das Kollaboration mit dem Feind.« »Das haben all unsere Nachbarn auch getan«, sagte Mut‐ ter. »Aber das macht es doch nur noch schlimmer«, sagte Dirk. »Verstehen Sie denn nicht? Sie werden uns deswe‐ gen hassen.« »Du weißt, dass wir Recht haben, Papa«, sagte Henk. »Wenn ihr nicht mitkommen wollt, lasst wenigstens 115
Geertrui mitgehen.« »Recht hin, Recht her, Henk«, sagte Papa, »deine Mutter und ich bleiben hier und Geertrui auch.« Ich hatte mir all das schweigend angehört. Und mit wach‐ sendem Zorn. Es heißt, etwas ganz Typisches für die Hol‐ länder sei das Overleg, was so viel heißt wie »Beratschla‐ gen«. Aber hier wurde eine Entscheidung über mich gefällt, über mein Leben – und vielleicht sogar meinen Tod –, ohne dass sich irgendwer mit mir beratschlagte. Meine Eltern, mein Bruder und Dirk – der mir erst vor wenigen Wochen erklärt hatte, wie sehr er mich liebte und wie gern er mich heiraten würde, wenn ich ihn wollte: Sie alle entschieden in dieser gefährlichen Situation über mich, und keiner fragte mich, was ich dachte, was ich wollte. Noch heute spüre ich den Zorn, der dadurch ausgelöst wurde, dass meine Familie so tat, als wäre ich gar nicht da. Da Vater und Henk uneins waren, ging das Gespräch nicht weiter. Einen richtigen Streit wollte keiner. Das wäre nicht recht! Das gehört sich nicht! Uns Holländern sind solche Aus‐ einandersetzungen peinlich. Ich wartete, ob mich doch noch jemand ansprechen würde. Als das nicht passierte, sagte ich so selbstgerecht und patzig, wie es nur ein Mäd‐ chen kann, das noch keine Frau ist: »Möchte vielleicht jemand wissen, was ich meine, oder hören, wie ich über mein eigenes Schicksal entscheide? Oder ist das zu viel verlangt?« 116
Sofort sagte Dirk: »Du willst doch sicher mit uns kom‐ men?« Mutter sagte: »Wir wollten dich nicht übergehen. Wir wollen doch nur dein Bestes.« Vater sagte: »Natürlich musst du hier bei uns bleiben. Du weißt doch, wie sehr wir dich lieben.« Aber Henk sagte: »Wie gedankenlos von mir. Tut mir Leid, kleine Schwester.« Wie verquer wir Menschenwesen doch sind! Die Zuwen‐ dung, mit der sie mich alle überschütteten, erboste mich nur noch mehr. Und mein lieber Bruder Henk musste es büßen, wie sich so häufig in solchen Situationen der Zorn am stärksten gegen den Menschen kehrt, den man am meisten liebt. Ich sagte: »Ich bin deine Schwester, Henk, aber so klein bin ich nicht mehr. Oder ist es dir noch nicht aufgefallen? Ich bin durchaus alt genug, eine eigene Meinung zu haben, und ich bin ganz gut in der Lage, selbst auf mich aufzupassen, besten Dank.« Natürlich waren jetzt alle schockiert, vor allem meine Mutter, die solche Szenen nicht ertragen konnte. »Geertrui«, sagte sie in ihrem Lehrerinnen‐Ton. »Hör auf! Benimm dich! Keine Widerworte, bitte.« Es herrschte verlegenes Schweigen. Vater starrte auf seine Stiefel, Mutter putzte langsam ihre Brille, Dirk inspizierte die granatengeschädigten Wände unseres Kellers. Nur Henk konnte mir noch in die Augen gucken und er war es schließlich, der das Eis brach. »Na gut, große Schwester«, sagte er mit einem Lächeln, dem ich, wie er wusste, nicht widerstehen konnte. »Teil uns deine Entscheidung mit. Wir wollen sie wirklich 117
hören. Ehrlich!« Es fiel mir immer noch schwer, meinen Zorn hinunterzu‐ schlucken und in freundlichem Ton zu sprechen, aber mit einiger Anstrengung schaffte ich es. »Ich würde gern mit euch gehen, Henk«, sagte ich, »weil ich glaube, dass ihr Recht habt mit dem, was ihr sagt, wie sich die Deutschen verhalten werden, und dass es auf dem Land besser ist.« Ich hielt – wie ich leider gestehen muss, aus Gründen der Dramatik – einen Moment inne und fuhr dann fort: »Aber ich werde hier bleiben.« Wieder eine gemeine dramati‐ sche Pause. »Aber nicht, weil du es so willst, Papa.« »Warum dann ?«, fragte Henk. »Wegen Jacob.« »Jacob?«, sagte Dirk. »Welcher Jacob?« »Der englische Soldat, der hier neben uns liegt«, sagte Vater. »Wieso? Was bedeutet ihr der?«, fragte Dirk im selben Moment, als Mutter sagte: »Das kann nicht dein Ernst sein.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Papa. Ich sagte: »Ihn kämpfen lassen, wie er es vorhat, während sich die anderen absetzen – das ist Unsinn. Er ist nicht bei Kräften. Er wird bestimmt getötet. Wie können wir das zulassen? Ich werde hier bleiben und ihm helfen. Es ist nicht richtig, ihn einfach in den Wald zu schicken.« (Habt ihr diesen Ausdruck auch? Ich weiß es nicht mehr. Es heißt, jemanden verraten oder im Stich lassen.) Papa war entsetzt. »Was redest du da? Ihn in den Wald schicken! Wir! Wir 118
haben damit gar nichts zu tun. Er ist Soldat. Er hat sich freiwillig angeboten. Wenn er seinen Kameraden auf diese Art helfen will, ist es nicht an uns, uns da einzu‐ mischen. Das ist seine Sache.« »Das ist mir egal, Papa. Ich werde tun, was ich kann, um ihm zu helfen.« »Geertrui, sei doch vernünftig.« »Vernünftig!«, sagte ich. »Vater, ist an dem, was hier passiert, irgendwas vernünftig? Hat Vernunft diesen Krieg verhindert? Hat uns Vernunft vor dieser Invasion bewahrt? Wird uns Vernunft befreien?« »Du gehst zu weit«, sagte Mutter. »Du solltest nicht so mit deinem Vater reden.« »Tut mir Leid, Mama. Ich dachte, du wenigstens würdest das verstehen.« »Was verstehen? Dich verstehe ich jedenfalls nicht. Du bist überspannt. Reiß dich zusammen!« Aber ich war jetzt so wütend, dass mich nicht mal Mama und ihr strengster Tonfall zum Schweigen bringen konn‐ ten. »Mama«, sagte ich, so ruhig ich irgend konnte, »vor‐ letzten Sonntag haben wir diesen Mann als Befreier in unserem Haus willkommen geheißen. Wir haben ihm Wasser gegeben. Wir haben Freudentänze aufgeführt. Hast du das vergessen? Dann wurde er halb tot zu uns zurückgebracht. Fünf Tage haben wir ihn jetzt gepflegt. Seine Wunden verbunden. Ihn gewaschen. Ihn angezo‐ gen. Ihn gefüttert wie ein kleines Kind. Wir haben ihm sogar geholfen, aufs Klo zu gehen. Während wir ihn ver‐ sorgt haben, habe ich männliche Körperteile gesehen und 119
berührt, die ich noch nie gesehen oder berührt habe. Er und ich, wir haben uns beim Schlafen gegenseitig ge‐ wärmt, während der Feind unser Haus zerstört hat. Wir haben ihn behandelt wie einen von uns, wie ein Familien‐ mitglied. Gemeinsam haben wir ihn vor dem Tod be‐ wahrt, Mama, du, Papa und ich. Und wenn er jetzt um seiner Kameraden willen – und auch um unsertwillen, wenn ich euch daran erinnern darf – beschlossen hat, etwas zu tun, wozu er nicht stark genug ist, wobei er mit Sicherheit getötet würde, dann willst du, Papa, mir erzäh‐ len, dass wir damit nichts zu tun haben. Dass wir uns nicht einmischen sollen. Dass es nicht vernünftig ist, wenn ich ihm helfen will. Ich kann nur sagen, wenn er Henk wäre, würden wir nicht lange überlegen. Aber in den letzten paar Tagen habe ich für diesen Mann mehr getan, als ich je für meinen Bruder getan habe. Ist es da nicht recht und billig, dass ich ihm jetzt auch helfe? Ist es nicht das, was der Anstand erfordert? Das heißt für mich Vernunft, Papa. Und das war’s, Mama, wovon ich dachte, dass du es wenigstens verstehen würdest.« Noch nie hatte ich so eine Rede gehalten. Ich hätte mir auch gar nicht zugetraut, so etwas zu tun. Und ich habe es auch nie wieder getan. Vielleicht, weil mich nie wieder so ein Zorn gepackt hat wie damals. Droben, in den Ruinen meines Elternhauses, kämpften ausländische Soldaten für mein Land. Hier im Keller kämpfte ich für mich selbst. Eine ganze Weile sagte niemand etwas, alle starrten mich 120
nur erstaunt an. Selbst die Soldaten, die dicht gedrängt um uns herumhockten, waren verstummt, weil sie wohl an unserem Verhalten merkten, dass wir Probleme hatten. Jacob, der mit seinem Oberkörper halb an die Wand ge‐ lehnt neben mir auf dem Boden lag, hatte mich die ganze Zeit aufmerksam beobachtet. Ich vermied es, ihn anzuse‐ hen, da ich sonst bestimmt in Tränen ausgebrochen wäre, und dann wäre meine ganze Würde dahin gewesen und damit auch die Wirkung meiner Rede. Draußen krachten und ratterten die Geschütze, es war kalt und regnete in Strömen, sodass die Luft im Keller eisig feucht war. Ich weiß noch, wie ich nach meiner Rede vor lauter Nervosität schwitzte und wie klamm sich die Luft auf meiner Haut anfühlte. Die Petroleumlampe, die uns die letzten zwei Tage Licht gespendet hatte, suchte sich just diesen Moment aus, um endgültig zu verlöschen und uns im Dunkeln sitzen zu lassen, sodass wir wieder zum unsteten Licht von Kerzen zurückkehren mussten, die wir rasch in Einmachgläsern festtropften und mit Bindfaden an die Deckenbalken hängten. Das war zum Glück erst mal eine Ablenkung. Als wir uns wieder hingesetzt hatten, sagte Dirk: »Ich ver‐ stehe nicht, warum dir das so viel bedeutet, Geertrui, aber wenn du nun mal so wild entschlossen bist, fällt mir nur eine Lösung ein. Wir müssen ihn auch mitnehmen.« Wie man sich unschwer vorstellen kann, heizte das die Diskussion wieder an. Vater sagte, das sei doch Wahn‐ sinn, wir würden alle umkommen. Nicht wahnsinniger, erwiderte Dirk, als einen Juden zu verstecken oder für 121
den Widerstand zu arbeiten, wie es manche von unseren Freunden oder Nachbarn täten. Mutter sagte, es sei nicht machbar – wie sollten drei Leute, die einen Verwundeten trugen, ungesehen an den deutschen Stellungen vorbei‐ kommen? »Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg«, sagte Dirk. »Du redest wie ein kopfloses Huhn«, sagte Vater. »Wenn ihr schon entschlossen seid, dieses Wahnsinnsunterneh‐ men zu riskieren, dann plant es wenigstens ordentlich. Und lasst um Himmels willen Geertrui aus dem Spiel.« »Nein, Vater«, sagte ich. »Ich gehe mit. Henk und Dirk werden einen Weg finden, stimmt’s, Henk?« »Es wäre immerhin ein Versuch«, sagte Henk. »Wenn er mit uns kommt, hat er eine größere Überlebenschance, als wenn er in seinem Zustand dort oben liegt, ganz allein mit einem Gewehr.« »Es ist die einzige Möglichkeit«, sagte ich. »Er muss mit.« Henk sah mich schmunzelnd an. »Hört euch an, wer hier für andere redet«, sagte er. »Woher weißt du, dass dein Soldat überhaupt mit uns kommen will? Hast du ihn ge‐ fragt? Oder entscheidest du über ihn?« Natürlich hatte er Recht. Ich fühlte mich ertappt. Von der selbst gelegten Bombe zerrissen, wie es eine der engli‐ schen »gängigen Redensarten« ausdrückte. Wir sagen: Wie een kuil graaft voor een ander, valt er zelf in. Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. »Manchmal hasse ich dich!«, sagte ich zu Henk, und die anderen lachten, was die Spannung ein bisschen löste. Ich setzte mich so hin, dass ich leise mit Jacob reden 122
konnte. Ich erklärte ihm, wer Henk und Dirk waren, dass sie sich auf Dirks Bauernhof vor den Deutschen versteckt hielten und dass sie mich dorthin mitnehmen wollten, weil sie meinten, dass ich dort sicherer sei als in Ooster‐ beek, jetzt, nach der Schlacht, und weil es dort noch etwas zu essen gebe. Jacob reichte ihnen die Hand und sie sag‐ ten Hallo. Dann erklärte ich ihm, dass ich mich geweigert hätte, mit ihnen zu gehen, weil ich entschlossen sei, bei ihm zu bleiben. Er versuchte zuerst, es mit einem Lachen abzutun, und sagte: »Das geht nicht. Seien Sie nicht albern! Ich komme schon zurecht. Aber trotzdem vielen Dank.« – »Tja«, sagte ich, »ich bleibe bei Ihnen, ob Sie das für albern halten oder nicht. Aber«, fuhr ich fort, ehe er mich unterbrechen konnte, »Dirk hat einen anderen Vorschlag gemacht.« Und ich erklärte, dass wir ihn mitnehmen könnten, in unserer Gartenschubkarre, und ihn dann auf dem Bauern‐ hof verstecken, bis uns seine Armee befreien würde, was bestimmt nicht mehr lange dauern könne. »Auf diese Art«, sagte ich, »sterben Sie nicht oben in unserem Zim‐ mer, was mir eine unerträgliche Vorstellung ist, und Sie kommen auch nicht in Gefangenschaft, wenn Sie nicht sterben, was Ihnen, wie Sie sagen, eine unerträgliche Vor‐ stellung ist.« An der Veränderung seines Gesichtsausdrucks konnte ich ablesen, wie sehr ihm der Gedanke gefiel. Seine Augen wurden so lebendig, wie ich sie seit unserer ersten Begeg‐ nung nicht mehr gesehen hatte. Aber er erhob trotzdem Einwände, wenn auch sicherlich nur, weil er es zu 123
müssen glaubte. Es sei sehr riskant, sagte er. Wenn wir uns auch noch um ihn kümmern müssten, erhöhe sich die Wahrscheinlichkeit, dass wir erwischt oder erschossen würden. Mit der Schubkarre wären wir langsamer. Wenn uns die Deutschen erwischten, würden sie Henk, Dirk und mich erschießen, weil wir einem britischen Soldaten zur Flucht verholfen hätten. Und so weiter und so fort, mehrere Minuten lang. Wie umständlich Männer doch argumentieren. Hin und her und rundherum! Ich hatte bald genug. »Jacob!«, sagte ich, so fest es mein damals noch wackliges Englisch erlaubte, »wir bauen hier keinen Deich. Wir haben keine Zeit für diese lange Rederei. Sie müssen ent‐ scheiden, was Sie wollen. Aber mein Entschluss steht fest. Ob Sie mitkommen oder nicht, ich bleibe bei Ihnen.« »Sie tun so«, sagte er, »als läge es allein bei mir.« »Tut es auch.« »Nein. Da sind noch Sie. Wenn Sie mich nicht verlassen wollen, Engel Maria, dann wirkt sich meine Entscheidung auch auf Sie aus, oder nicht?« »Ach, Sie Jesuit!«, sagte ich und hätte ihm am liebsten einen freundlichen Klaps gegeben. »Aber ich habe Recht. Ja?« »Ja.« »Also sollten Sie mir sagen, was Sie für das Beste halten und was Sie wollen.« Nachdem ich darauf bestanden hatte, dass alle berück‐ sichtigten, was ich dachte und wollte, war ich jetzt, da es an mir war, die letzte Entscheidung zu treffen und die 124
Verantwortung zu übernehmen, nicht dazu bereit. Viel‐ mehr sehnte ich mich danach, dass mir jemand die Entscheidung abnähme. Beides zugleich, Vorwurf und Forderung. Nach Jahren weiß ich jetzt, wie typisch das für mich ist. »Ich tue, was Sie wollen«, brachte ich mit Mühe heraus. »Schließlich ist es Ihr Leben, das ich zu retten versuche.« »Und Ihrs, das Sie dafür aufs Spiel setzen«, sagte Jacob. »Also sind wir beide betroffen und sollten gemeinsam entscheiden.« Ich wollte immer noch nicht antworten und senkte den Kopf, um diesen gefährlichen Augen zu entgehen. Jacob stützte sich so hoch, dass er mir genau ins Gesicht sehen konnte, und sagte lächelnd: »Ganz hübsch zornig, was ich da sehe!« »Weil ich zornig bin«, sagte ich, da ich damals seine eng‐ lische Ironie noch nicht verstand. Er berührte meine Wange mit einem Finger und sagte: »Sollen wir uns jetzt auch noch gegenseitig bekämpfen?« Ich brachte ein ersticktes »Nein« heraus. »Friede also?« Wie hätte ich sein Lächeln nicht erwidern können? Ich räusperte mich und sagte: »Ich denke, es wäre am besten, mit Henk und Dirk zu gehen.« »Gut. Ich denke es auch. Und wie unser Freund sagte: ›Es wird bestimmt ein furchtbar großes Abenteuer.‹« »Freund? Welcher Freund?«, sagte ich. »Das habe ich noch nie gehört. Meinen Sie das ernst? Das weiß ich nie.« »Haben wir Zeit, das jetzt zu bereden?«, sagte er. 125
»Nein«, sagte ich, denn plötzlich war ich mir der Situation wieder bewusst: des Lärms draußen und der anderen – Henk, Dirk und meine Eltern –, die uns beobachteten. »Sie müssen mir’s später erklären. Ich sage den anderen, was wir beschlossen haben.« Ich kann nicht behaupten, dass Mutter und Vater froh waren, aber sie hatten resigniert. Das war, selbst nach hol‐ ländischen Maßstäben, mehr als genug Overleg gewesen. Da es nichts mehr zu sagen gab, machten wir uns an die Vorbereitungen. Wie erleichternd es doch ist, wenn eine Entscheidung endlich getroffen wurde und man etwas tun kann! Als ob eine Last von einem abfällt. Man fühlt sich sofort so viel besser, voller neuer Energie und Hoffnung. Nie habe ich das stärker empfunden als an jenem Tag, da draußen der Tod umging und die einzige Perspektive, wenn ich blieb wo ich war und überlebte, ein Dasein in Elend und Erniedrigung schien. Was immer jetzt geschehen würde, zumindest machte ich den Versuch, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen und nicht in die Hände des Feindes zu geben. Ich war nie so gläubig wie meine Eltern, aber in solchen Momenten fallen einem die alten Worte ein. Während ich mein kleines Notköfferchen aus dem Durcheinander unseres Kellergefängnisses barg, hörte ich mich murmeln: Meine Zeit steht in deinen Händen. Errette mich von der Hand meiner Feinde und von denen, die mich verfolgen. Der Herr Zebaoth ist mit uns; der Gott Jakobs ist unser Schutz. 126
Was mich zum Lächeln brachte und an eine andere Passa‐ ge erinnerte: Er erwählt uns unser Erbteil, die Herrlichkeit Jakobs, den er liebt. Da musste ich laut lachen, und ich erklärte dem Gott Jakobs, während ich in der unsicheren Abgeschiedenheit unseres Kellerklos anzog, was ich noch an sauberen oder zumindest ungetragenen Sachen finden konnte: »Bitte erwähle uns ein Erbteil, zu dem ein Bad gehört.« Ich stelle mir ungern vor, wie erg wir inzwischen gestonken haben müssen. In der Zwischenzeit machten Henk und Dirk einen Aus‐ fall in den hinteren Garten, um die Schubkarre herzurich‐ ten. Und Jacob redete mit zwei anderen Soldaten und erklärte ihnen, was wir vorhatten. Als ich aus der Toilette kam, hatten sie Jacob eine von ihren Kampfjacken angezo‐ gen, damit er es so warm und trocken wie möglich hätte. Außerdem war er damit, falls er den Deutschen in die Hände fiel, in Uniform und würde nicht als Spion er‐ schossen werden. Und sie hatten ihm auch ein Gewehr gegeben und ihm die Jackentaschen mit Munition voll gestopft. »Musst du das mitnehmen?«, fragte ich. »Rück‐ versicherung«, sagte er und tätschelte die Waffe wie ein Schoßtier. Mir war das gar nicht recht, und ich versuchte Henk zu überreden, das Gewehr dazulassen. Aber er war nur neidisch, hätte selbst auch gern eins gehabt. Männer und ihr tödliches Spielzeug. Das nimmt nie ein Ende. Henk und Dirk waren sich einig, dass wir gleich losgehen sollten, wenn um 20 Uhr 50 das Sperrfeuer der britischen 127
Geschütze südlich des Flusses einsetzte. Henk sagte sich, dass das der sicherste Zeitpunkt wäre, um das von den Briten gehaltene Gebiet zu durchqueren, von unserem Haus in der Nähe der östlichen Begrenzungslinie bis zur westlichen Begrenzungslinie am Rand des Waldes, in den wir gelangen mussten. Die Nacht fiel über uns. Und mit ihr heftiger, wind‐ gepeitschter Regen. Und durch den Wind und den Regen brach ein Hagel von Granaten auf uns herein, als das Sperrfeuer begann und wie geplant die deutschen Ge‐ schütze zum Verstummen brachte. Zeit zum Aufbruch. Ein schrecklicher Moment, in dem es um unser aller willen ruhig und heiter zu wirken galt. Eine Fassade, die ich nicht hätte aufrechterhalten können, hätte ich ge‐ wusst, dass dies das letzte Mal war, dass ich meinen Vater sah. Er starb im Hungerwinter, der über uns kam, nach‐ dem die Briten es nicht geschafft hatten, mein unglück‐ liches Land zu befreien – was erst im Frühjahr 1945 ge‐ lang. Nur gut, dass die Zukunft immer ein verschlossenes Buch ist, denn hätte ich gewusst, dass ich Papa nie wieder sehen würde, hätte ich ihn nicht verlassen können. Solche unseligen Schicksalsfügungen, die einen in der Jugend treffen, verfolgen einen im Alter in Gestalt irrationaler Schuldgefühle. Wenn ich doch nur da gewesen wäre, hätte ich ihm vielleicht helfen können. Wenn ich doch nur. In dieser Münze ist man reich, wenn man alt ist. Du siehst, warum ich lieber nicht zu lange bei unserem 128
Abschied verweilen will. Wir umarmten uns und küssten uns und schüttelten uns die Hände und beteuerten uns gegenseitig unsere Liebe und unseren unverrückbaren Glauben an eine gemeinsame Zukunft. Das alles mit jener robusten Gutgelauntheit und gezügelten Emotionalität, die für uns Holländer der Inbegriff dessen sind, was sich gehört. Und nach dem Familienabschied waren die Solda‐ ten dran, die unseren Keller mit uns geteilt hatten. Diese jungen Männer aus einem fremden Land waren uns innerhalb weniger schrecklicher Tage engere Freunde geworden als unsere holländischen Nachbarn über Jahre. Vielleicht, weil sie nicht wussten, wie sie ihre Gefühle sonst zeigen sollten, drängten sie mir, als ich mich einzeln von ihnen verabschiedete, etwas von den wenigen persönlichen Dingen, die sie noch besaßen, als Geschenk auf. Zigaretten, obwohl ich nicht rauchte, ein paar Bon‐ bons, ein Mützenabzeichen, Schulterklappen, einen Füll‐ federhalter (»Vielleicht können Sie uns ja eines Tages mal schreiben.«), Streichhölzer, ein Fallschirmjägerhalstuch, sogar eine Armbanduhr (»Sie müssen doch wissen, wie spät es ist, Gertie, wo immer Sie sind.«). Und von dem armen traumatisierten Sam, der sich mit Mühe selbst zusammenhalten konnte, bekam ich einen Gedichtband, den ich jetzt beim Schreiben neben mir liegen habe (»Damit Sie Ihr Englisch verbessern können!«). Norman, der Älteste und der, der am längsten bei uns gewesen war, wartete angemessenerweise bis zuletzt. Er überreich‐ te mir eine kleine schwarze Lederbrieftasche mit einem Foto von seiner Familie und ihm und sagte: »Cheerio, 129
Gertie. Sie sind ein tapferes und hübsches Mädel. Ich möchte Ihnen das hier schenken. Ich hoffe, wir sehen uns wieder.« Und dann führten und bugsierten und geleiteten sie uns witzelnd und frotzelnd – was wohl für die Briten eine ebenso typische Form des Umgangs mit schwierigen Situationen ist wie für uns Holländer unsere resolute Nettigkeit – die Kellertreppe hinauf, durch die Trümmer unseres geliebten Heims und hinaus in den Garten, wo wir, im Donnern und Beben des nächtlichen Kampfge‐ schehens, Jacob in die Schubkarre setzten, das Gewehr schussbereit in den bandagierten Händen, mein Notköf‐ ferchen an der einen, seinen Rucksack an der anderen Seite, und uns in dem eisigen Regen, der uns zu lähmen oder zu ersäufen drohte, noch ehe wir erschossen werden oder unser Ziel erreichen konnten, auf den Weg machten, Dirk vorneweg, Henk mit der Schubkarre vor sich und ich an seiner Seite, schweren, hämmernden Herzens, einen Klumpen in der trockenen Kehle und nur wirre Ge‐ dankenfetzen im Kopf. Einen solchen Aufbruch würde ich niemandem wün‐ schen. Und auch nicht das, was folgte.
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POSTKARTE Wir werden, was wir schaun. William Blake »Augen auf«, sagte Daan. Er stand hinter Jacob, in einem der kleineren Säle des Rijksmuseum, und hielt ihn an den Schultern. Er hatte Jacob vor dem Betreten des Saals das Versprechen abge‐ nommen, nicht zu mogeln, und ihn dann durch den Be‐ sucherstrom hierher geführt. Vor sich an der Wand sah Jacob ein Porträt seiner selbst. In alter Ölmaltechnik. Kopf und Oberkörper. Halb von der Seite. In reichen Rostrot‐ und Brauntönen. Ausnahme: das vertraute dreieckige Gesicht. Lebensgroß. Leuchtend wie von Sonnenlicht, umrahmt von einer hochgeschlage‐ nen dunklen Kapuze. Die Augen niedergeschlagen und schwerlidrig. Der breite Mund mit der fleischigen, fast schon geschwollen wirken‐ den Unterlippe im Moment eines scheuen, spröden, aber selbstzufriedenen Lächelns festgehalten. Und das Detail, das Jacob am stärksten ins Gesicht sprang, weil er es so sehr hasste, die lange, dicke Nase mit dem stumpfen Knubbel am Ende. Die Nase seines Vaters und seines Großvaters. Die toddsche Nase. Seine Schwester Poppy und sein Bruder Harry hatten sie nicht. Sie hatten die 131
hübsche Slimline‐Version ihrer Mutter. Wie oft hatte er das Ding mithilfe von zwei Spiegeln aus allen erdenklichen Winkeln angestarrt, diesen grässlichen Riechkolben, dieses widerwärtige Wühlorgan, diesen ge‐ schwollenen Rüssel, diese Nasalgeschwulst. Manchmal quetschte und bearbeitete er das Ende dieses peinlichen Zinkens mit Daumen und Zeigefinger wie ein Bildhauer den Ton, in der Hoffnung, ihn doch noch in einen zumin‐ dest präsentablen, wenn schon nicht hübschen Gesichts‐ erker umformen zu können. Ihm schwebte so etwas vor wie das reizende Naschen, das etwa Michelangelos David zierte, oder wie das dieses ekelhaft gut aussehenden River Phoenix, das er kürzlich erst genau studiert hatte, als er sich zum vierten Mal My private Idaho angeguckt hatte. Vergebens. Sein abstoßendes Riechorgan war immer noch so abscheulich wie eh und je. Unfähig, den Blick von seinem Ebenbild zu wenden, sagte er: »Wer ist das?« »Titus. Titus van Rijn.« »Nie gehört.« »Aber von seinem Vater.« »Nicht, dass ich wüsste.« »Wer hat Rembrandts Selbstbildnisse gemalt?« »Was?« »Wer hat Rembrandts Selbstbildnisse gemalt?« »Rembrandt natürlich!« »Der mit vollem Namen Rembrandt van Rijn hieß.« »Ach! Aber das hier ist ja wohl keins seiner Selbstbild‐ nisse, denn es stellt jemanden namens Titus dar. Also ist 132
es ein Rembrandt‐Bild von ... ?« »Seinem Sohn, als Mönch kostümiert. Gemalt 1660, als Titus neunzehn war.« Jacob, der erst jetzt auf diese Idee kam, guckte auf das Schildchen neben dem Bild, sah, dass Daan sich das alles nicht nur ausdachte, trat dann so dicht an die Leinwand heran, wie er sich traute, und inspizierte, gewissermaßen Nase an Nase, das Porträt seiner selbst als Titus. Eine wachsame Aufseherin von der Statur eines Sumo‐ Ringers kam näher. Titus schien so präsent, dass Jacob war, als könnte der gemalte Jüngling jeden Moment den Kopf heben, ihm direkt ins Gesicht sehen und etwas sagen. Seine Finger gierten danach, dieses nachdenkliche Gesicht zu berüh‐ ren. Automatisch hob er die Hände. »Zurück«, sagte die Wächterin. »Treten Sie zurück.« Jacob trat ein, zwei Schritte zurück, vermochte aber den Blick nicht von dem Bild zu lösen. Er war wie gebannt. Was ihn noch in der Situation selbst wunderte, denn das Bild war nicht besonders beeindruckend. Wäre er allein durch diesen Saal spaziert, hätte er es vielleicht einfach links liegen lassen, wie es jetzt andere Leute taten. Der größte Teil des Bildes war so dunkel, dass man kaum sah, was darauf war: etwas herbstlich gefärbtes Blattwerk hinter Titus’ Rücken war klar zu erkennen und die braune Mönchskutte, die aus einem dicken, groben, schwer wirkenden Material bestand und, jedenfalls dem Kopf nach zu urteilen, viel zu weit für den Jüngling war, sodass dieser eher in dem tonnenartigen Rumpfteil und den 133
voluminösen Ärmeln wie in einer Rüstung zu stecken schien, als das Ding zu tragen. Doch mitten aus diesem ganzen erdrückenden Dunkel leuchtete Titus’ Gesicht, lebendig und strahlend, die Haut blassgolden, die niedergeschlagenen Augen tief und viel‐ leicht ein bisschen traurig, die volle Unterlippe, die er sich gerade mit der Zunge befeuchtet haben mochte, frischrot und sinnlich und dennoch unschuldig zart. Unberührt war das Wort, das Jacob in den Sinn kam. »Gefällt’s dir?«, fragte Daan und trat an seine Seite. Kein Bild hatte ihn je so gefesselt. Das wollte er nicht sagen, aber er rang sich ein Ja ab. »Dann solltest du mal das Bild von Titus mit einer roten Mütze sehen, auf dem er ein bisschen älter ist. Auf dem guckt er einem genau in die Augen. Und man sieht sein Haar, das auf dem hier nicht zu sehen ist. Im Unterschied zu dir hat er langes, lockiges, braunes Haar. Sehr schön. Du solltest mal versuchen, deins auch wachsen zu las‐ sen.« »Nein, danke.« »Würde dir stehen. Du könntest dir das andere Porträt leicht angucken. Es hängt in der Wallace‐Sammlung in London. Ich mag es lieber als das hier. Es ist besser gemalt und dieses hier ist ein bisschen, wie sagt ihr? ... nuffig ... prüde. Die Madonnapose.« »Madonna!« »Nicht Madonna. Ich meine die Mutter Christi. Die Ma‐ donna.« Sie lachten. 134
»Und was hat Titus von ihr?« »Die Pose. Der gesenkte Kopf, unschuldig ergeben. Die gefalteten Hände im Schoß. Das Mönchsgewand. Sehr heilig, sehr rein. Prüde eben. Genau wie die tausende von Bildnissen der Heiligen Jungfrau. Und bij God! Jungfräu‐ lich sieht er allerdings aus, findest du nicht?« Den Blick immer noch auf das Bild geheftet, sagte Jacob: »Das weißt du vermutlich alles aus deinem Kunstge‐ schichtsstudium.« »Nein, andersherum. Ich studiere Kunstgeschichte wegen Rembrandt.« »Wieso?« Er wollte es nicht wirklich wissen, aber solange Daan redete, konnte er wenigstens weiter Titus anstarren. »Für mich ist er der größte Maler aller Zeiten. Er steht am Ende der alten Welt und am Beginn der modernen. Er fasziniert mich schon, seit ich das erste Mal die Nacht‐ wache gesehen habe. Das Riesengemälde, an dem wir auf dem Weg hierher vorbeigekommen sind. Mein Vater war mit mir hier, um es mir zu zeigen, als ich acht war. Ich fand es so dramatisch, so aufregend. Ich wollte in die Leinwand reinklettern. Echt! In das Bild steigen – und Teil der Szene sein. Heute weiß ich natürlich, dass es reines Theater ist, kein bisschen realistisch. Das Licht ist künstlich, die Anordnung der Figuren opernhaft, ihre Haltung gekünstelte Heldenpose. So bühnenmäßig. Eine kitschige Inszenierung! Aber als ich acht war, schien es mir wirklicher als die Leute, die sich rings um mich drängten, um es zu sehen. Von da an wollte ich über Rembrandt wissen, was es zu wissen gab. Ich schaue mir 135
seine Bilder an, so weit ich irgend kann. Ich studiere sein Werk, sein Leben. Alles. Bis ins kleinste Detail. Und meine Doktorarbeit werde ich über Titus schreiben. Titus’ Rolle in Rembrandts Leben. Das hat noch nie jemand behandelt. Nicht als eigenständiges Thema.« Jacob hatte nur halb zugehört und konnte sich nicht weit genug von Titus losreißen, um das Gespräch in Gang zu halten. Schweigen machte sich zwischen ihnen breit, bis er fühlte, wie Daans Arm seine Taille umfing und ihn davonzog. »Schau, da«, sagte Daan und führte ihn zu einem etwas größeren Gemälde, das als übernächstes an der Wand hing. Ein alter Mann mit verschwollenem Gesicht, einer weiß‐ gelben Kopfbedeckung, die wie ein Küchenpapierturban aussah, mit wirr abstehendem, welligem Haar, hochge‐ zogenen Augenbrauen, faltiger Stirn. Seine wässrigen Augen starrten genau auf Daan, der links neben Jacob stand, und in den Händen hielt er ein aufgeschlagenes Buch, als hätte er gerade von seiner Lektüre aufgeschaut. Jacob kicherte. »Wirkt ein bisschen ga‐ga.« »Rembrandt mit fünfundfünfzig, acht Jahre vor seinem Tod.« »Sieht aus, als würde er schon auf dem letzten Loch pfei‐ fen.« »Ein Selbstbildnis, er als Apostel Paulus. Entstanden ein Jahr nach dem Bild von Titus als Mönch. Komm, geh mal ein bisschen weiter weg.« Daans Hand fasste Jacobs Schulter und zog ihn zurück. »Von hier aus kannst du 136
beide sehen. Fast nebeneinander. Wie sie sich angucken. Siehst du? Vater und Sohn, ungefähr um dieselbe Zeit.« Um sich nicht lumpen zu lassen, sagte Jacob: »Und jeder als jemand anders.« »Aber was rüberkommt, was man sieht, ist nicht das Acte‐ ren –« »Das Schauspielern? ... Der äußere Schein.« »Ja, nicht der Schein ... het doen alsof...« »Sondern die wahre Person?« »Genau. Die wahre Person. Findest du nicht?« Jacob betrachtete jedes der beiden Bilder. »Doch. Stimmt.« Und es stimmte wirklich. Er sah es. »Das liegt an den Gesichtern, schätze ich.« »Das ist einer der Gründe, warum ich Rembrandt so liebe. Seine Wahrhaftigkeit. Immer ehrlich. Liebt die Menschen und liebt sie, wie sie sind. Hat keine Angst vor dem Leben, so wie es ist.« Jacob dachte: Das ist kein Spiel mehr. Er redet auf einmal anders. Er ist ernst. Ihm ist es ernst. Unser Verhältnis ist nicht mehr dasselbe wie eben. Es hat sich geändert. Wieder fühlte er etwas von Daan ausgehen, was er nicht genau benennen konnte. Etwas, was ihm gefiel, was ihn aber auch irritierte. »Aber warum schreibst du über Titus? Was ist an dem so interessant? Rembrandt ist doch derjenige, den du be‐ wunderst.« »Na ja, erstens mal: Als Rembrandt bankrott war –« »Er ging bankrott?« »Ja. Er verdiente einen Haufen Geld, war sehr erfolgreich, 137
arbeitete sehr viel. Arbeit, Arbeit, Arbeit, immerzu. Aber er gab auch eine Menge Geld aus. War ein besessener Sammler. Hatte ein regelrechtes Museum voller Zeug. Alle möglichen Dinge. Sein ganzes Haus war voll davon. Am Ende war er verschuldet und zahlungsunfähig. Sein ganzer Besitz wurde abgeholt und versteigert. Titus ging zur Versteigerung und kaufte zurück, was er konnte. Dinge, die sein Vater brauchte. Unter anderem den schö‐ nen ebenholzgerahmten Spiegel, den Rembrandt benutz‐ te, um seine Selbstbildnisse zu malen. Aber irgendwie ging auf dem Heimweg der Spiegel kaputt.« »Oh‐oh! Mist.« »Allerdings. Kannst du dir vorstellen, wie ihm zumute war? Und überleg mal, was es heißt, dass er alles tat, um die Sachen seines Vaters zurückzukaufen. Damit Rem‐ brandt weiter das tun konnte, was ihm das einzig Wichti‐ ge war: Bilder malen. Viele Leute, Historiker, Kunstsach‐ verständige behaupten, Rembrandt hätte Titus bestohlen. Hätte seinen Sohn ausgebeutet, das Geld, das Titus von seiner Mutter Hendrickje geerbt hatte, für sich ausgege‐ ben. Mit anderen Worten, Rembrandt sei ein egoistischer, mieser Vater gewesen, der nur an seine eigene Karriere und sein eigenes Wohl dachte. Ich glaube das ganz und gar nicht. Und die Geschichte, wie Titus zu der Auktion ging und den Spiegel zurückkaufte, besagt für mich, dass er seinen Vater liebte und alles tat, um ihn zu unter‐ stützen und ihm zu helfen. Ja, wenn Titus nicht gewesen wäre, hätte Rembrandt gar nicht mehr weitermalen kön‐ nen, da damals jemand, der Bankrott ging, sein Gewerbe 138
nicht mehr ausüben durfte. Um Rembrandt davor zu bewahren, wurde Titus sein Arbeitgeber und stellte ihn zum Bildermalen an.« Jacob sah die beiden Bilder jetzt mit anderen Augen. Der Sohn, der den Vater anheuerte, wurde vom Vater als Modell angeheuert. »Eine gute Geschichte«, sagte er. »Was hat Titus ge‐ macht?« »Beruflich, meinst du? Es heißt, er habe sich als Maler ver‐ sucht, aber nichts getaugt. Ich glaube nicht, dass er das wirklich wollte. Was er machte, war, seinem Vater Modell zu stehen. Ich glaube, das hat er wirklich gern getan. Er liebte es, von seinem Vater genau angeguckt zu werden, seine volle Aufmerksamkeit zu genießen, und er liebte es, seinem Vater bei der Arbeit zuzuschauen.« »Der Vater, der den Sohn betrachtet, der den Vater be‐ trachtet.« »Genau. Während der eine den anderen malte und wäh‐ rend der andere wusste, dass er gemalt wurde. Das ist das Wichtige daran.« »Wieso? Ich weiß nicht genau, was du meinst.« »Sagen wir mal so. Neulich habe ich Geertrui gefragt, was sie meint, was Liebe ist – echte Liebe, wahre Liebe. Sie sagte, für sie sei wahre Liebe, einen anderen Menschen mit ganzer Aufmerksamkeit zu betrachten und vom anderen mit ganzer Aufmerksamkeit betrachtet zu wer‐ den. Wenn sie Recht hat, brauchst du dir nur Rembrandts Titus‐Bildnisse anzugucken, von denen es eine ganze Menge gibt, um zu sehen, dass sie einander liebten. Denn 139
genau das ist es, was man darin sieht. Vollkommene Auf‐ merksamkeit, wechselseitig.« Jacob ließ seinen Blick zwischen Vater und Sohn hin‐ und herwandern und sah, was Daan meinte. »Aber in dem Fall«, sprach er aus, was ihm in den Sinn kam, »ist doch alle Kunst Liebe, weil es in der Kunst doch immer ums genaue Hingucken geht, oder? Ums genaue Angucken dessen, was man malt.« »Der Maler guckt genau hin, während er malt, der Be‐ trachter guckt sich genau an, was gemalt wurde. Stimmt. Wahre Kunst in jeder Form, ja. Malerei. Schriftstellerei – Literatur – auch. Ich glaube schon, dass es so ist. Und schlechte Kunst ist die Unfähigkeit, mit voller Aufmerk‐ samkeit hinzugucken. Du siehst, was mir an Kunst‐ geschichte gefällt. Es ist das Studium der Fähigkeit, das Leben mit ganzer Aufmerksamkeit zu betrachten. Es ist die Geschichte der Liebe.« »Was ist aus ihm geworden? Aus Titus, meine ich.« »Er heiratete die Tochter eines Silberschmieds. Sie waren gerade sieben Monate zusammen, als Titus starb, an der Pest.« »Dem schwarzen Tod.« »Der hat damals viele dahingerafft. Er wurde in der Westerkerk begraben.« »In der Nähe vom Anne‐Frank‐Haus.« »Ein Jahr darauf starb Rembrandt. Aber nicht an der Pest. An gebrochenem Herzen, würde ich sagen. Wir wissen, dass er neben Titus in der Westerkerk begraben wurde. Aber sein Grab wurde nie gefunden.« 140
Da Jacob nicht wusste, was er dazu noch sagen sollte, ent‐ wand er sich Daans Arm und ging noch mal dicht an Titus heran. Daan kam hinterher. Die Wächterin beäugte sie von der Tür aus. »Und?«, sagte Daan. »Hab ich Recht? Titus sieht doch genau aus wie du.« »Nur dass ich nicht in Mönchsklamotten herumlaufe, wenn es nicht regnet.« Daan ignorierte den lauen Witz. »Wie fühlt sich das an?« »Komisch. Vor allem jetzt, wo ich weiß, wer er ist.« Die Wächterin trat einen Schritt auf sie zu. »Sie denkt wohl, wir wollen ihn klauen«, murmelte Jacob. »Kürzlich gab es hier einen Vorfall.« »Einen Vorfall?« »Jemand hat Titus geküsst.« »Du meinst, jemand ist tatsächlich an das Bild rangegan‐ gen und hat ihm einen saftigen Schmatz auf den Mund gedrückt?« »Genau.« »Hoijoi! Und dann?« »Hat keiner gesehen.« »Aber woher wissen sie’s dann?« »Der Täter hat einen Lippenstiftabdruck hinterlassen.« »Ich glaub’s nicht.« »Das Problem war, dass sie den Lippenstift kaum wieder abkriegen konnten, ohne das Bild zu beschädigen.« »Und niemand weiß, wer es war?« »Nicht mit Sicherheit.« Jacob sah Daan an. »Aber du meinst, du weißt es ?« 141
»Nee, nee!« »Doch, du glaubst es zu wissen. Ich seh’s dir an!« Daan grinste. »Komm schon, gesteh. Wer war’s ?« »Meine Lippen sind versiegelt. Sagt ihr nicht so ?« »Wie’s die von Titus waren. Versiegelt mit einem innigen Kuss. So heißt es bei uns in Kitschromanen.« Daan grinste verächtlich, sagte aber nichts. Sie standen schweigend da und studierten das Gemälde. Andere Besucher strömten vorbei. Kaum einer hatte mehr als nur einen flüchtigen Blick für Titus übrig. Schließlich sagte Jacob: »Ich habe die ganze Zeit das Ge‐ fühl, wenn wir nur noch ein bisschen warten, wird er auf‐ stehen und aus dem Bild treten und uns Guten Tag sagen.« Daan sagte nichts, legte aber wieder die Hand auf Jacobs Schulter und dirigierte ihn durch die Besuchermassen zu‐ rück. Im Museumsshop blieb er stehen und erstand je eine Postkarte von Titus als Mönch und Rembrandt als Apostel Paulus. »Da«, sagte er und gab sie Jacob. »Du als Jüngling und als alter Mann.« Auf der Marmortreppe, die zum Ausgang führte, begann er mit rauchiger Stimme ein klagendes Lied zu singen: »Mijn hele leven zocht ik jou, om – eindelijk gevonden – te weten wat eenzam is.« »Und was ist das, was du da singst?«, fragte Jacob. »Ein Lied von einem holländischen Sänger, Bram Ver‐ 142
meulen«, sagte Daan. »Das da übersetzt lautet?« Daan blieb am Fuß der Treppe stehen, dachte nach und sagte dann mit theatralischem Ernst: »Mein ganzes Leben hab ich dich gesucht, nur um jetzt, da ich dich endlich gefunden, zu erfahren, was Einsamkeit heißt.«
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POSTKARTE Wladimir: Es genügt ihnen nicht, gelebt zu haben. Estragon: Sie müssen darüber sprechen. Wladimir: Es genügt ihnen nicht, tot zu sein. Estragon: Das genügt nicht. Samuel Beckett, WARTEN AUF GODOT »Das ging ja länger«, sagte Jacob. Das Telefongespräch zwischen Daan und seiner Mutter hatte über eine halbe Stunde gedauert. Dabei hatte Jacob unbehaglich oft seinen Namen gehört. »Tessel ist mit den Nerven runter«, sagte Daan. »Geertrui war den ganzen Tag schwierig. Sie hat immer wieder ge‐ fragt, wo du bist. Sie will dich sehen.« »Freut mich, dass ich so begehrt bin.« Der Scherz ging ins Leere. Wieder überkam ihn leise Panik. Der Ausflug zu Titus hatte ihn für ein Weilchen geerdet. Jetzt holte ihn das Fremdheitsgefühl wieder ein. »Ich hab ihr erklärt, was dir passiert ist.« »Was die Situation sicher unendlich entspannt hat.« »Ich hab’s dir doch gesagt. Sie fühlt sich für dich verant‐ wortlich. Aber jetzt, wo Geertrui sie wahnsinnig macht, weiß sie nicht, was tun.« »Ich sollte wieder nach Hause fliegen.« »Nein, nein. Morgen musst du Geertrui besuchen.« 145
»Ich muss...?« »Wenn’s dir nichts ausmacht. Am Sonntag fährt Tessel mit dir nach Oosterbeek, zu der Gedenkfeier. Ich bleibe bei Geertrui. Heute übernachtest du hier. Ich konnte Tessel davon überzeugen, dass es so am besten ist.« »Danke, dass du mich gefragt hast.« »Ich dachte, es wäre dir lieber. Ist doch netter für dich hier, oder? Und es ist für alle einfacher.« »Meine ganzen Sachen sind bei deinen Eltern.« »Die eine Nacht kommst du doch so zurecht. Wir holen deine Sachen morgen, auf dem Rückweg von Geertrui.« »Halt! Moment mal! Sorry, aber das geht mir ein bisschen schnell. Bevor wir irgendwas beschließen – du hast doch gesagt, da ist was, was du mir erklären willst, wenn du mit deiner Mutter gesprochen hast.« »Ia.« »Das klang sehr ernst.« »Ist es auch.« »Na ja, ich will ja nicht kompliziert sein, aber ich würde doch gern hören, was es ist, bevor wir irgendwas planen.« »Alle sind immer so – wie sagt man? – ongerust... ängst‐ lich, sagen wir mal.« »Schon möglich, aber ...« »Ich weiß, ich weiß, ich kriege oft zu hören, ich sei autori‐ tär. Aber wenn etwas getan werden muss, kann ich Un‐ entschlossenheit nicht ausstehen. Wie mein Vater. Der ist auch so. Tessel macht in schwierigen Situationen immer so ein Hin und Her. Immer er om heen draaien ... Christus! Wie heißt das auf Englisch? So was wie immer im Kreis 146
gehen –« »... sich drehen und winden?« »Drehen und winden? Echt?« »Sich drehen und winden.« »Okay. Dank je. Sie dreht und windet sich! Na, jedenfalls, ich kann das nicht ausstehen.« »Schon klar. Aber trotzdem ...« »Ja. Okay. Du hast Recht. Das Problem ist, dass Tessel meint, sie sollte es dir erklären. Sie besteht darauf. Hat gerade eben am Telefon auch darauf bestanden.« »Aber wann? Ich werde nicht... ich meine, ich möchte nicht zu deiner Großmutter gehen, bevor ich nicht weiß ...« »Genau. Also muss ich’s dir erklären. Nur musst du Tes‐ sel gegenüber so tun als ob.« »Als ob was?« »Als ob du’s nicht wüsstest.« »Das kann ich nicht.« »Wäre aber das Beste. Sie ist sowieso schon mit den Ner‐ ven am Ende.« »Aber ich kann’s nicht. Das wäre gelogen. Ich hasse Lügen.« »Du brauchst ja nichts zu sagen. Wenn sie’s dir erzählt, hör einfach nur zu. Das ist keine Lüge.« »Ach, nein?« »Willst du eine moralphilosophische Diskussion mit mir führen ?« »Nicht jetzt, danke. Aber trotzdem, das ist nicht gut. Sie wird’s mir am Gesicht ansehen. Mir sieht man immer 147
alles am Gesicht an. Das sagen alle.« Daan lachte: »Ein offenes Buch!« »Wo wunderbare Dinge geschrieben stehen.« »Was?« »Shakespeare. Sorry. Das Schottendrama.« »Das was?« »Das über den schottischen König. Du weißt schon.« »Nein, weiß ich nicht. Woher sollte ich’s wissen?« »Kann den Namen nicht sagen.« »Warum nicht?« »Bringt Unglück.« »Du bist doch nicht etwa abergläubisch?« »Nein, eigentlich nicht. Ist nur eine alte Theatertradition.« »Macht das einen Unterschied?« »Wenn man den Namen des Stücks sagt, muss man in die Hände klatschen und sich dreimal um sich selbst drehen, um das Unglück abzuwenden.« »Klets!« »Stimmt aber. Ich habe in dem Stück mitgespielt. Bei einer Schulaufführung. Ich habe Malcolm gespielt, den Sohn des ermordeten Königs. Eine stinklangweilige Rolle. Das meiste wurde gestrichen. Was nur gut war, weil ich näm‐ lich kein großer Schauspieler bin. Aber, jedenfalls den Leuten ist dauernd der Name rausgerutscht, und wir hat‐ ten fürchterliche Probleme.« »Was für Probleme?« »Am einen Abend einen Beinbruch, ein andermal eine Stichverletzung bei der Kampfszene. Solche Sachen.« »Unfälle.« 148
»Mag sein. Geht schon ziemlich gewalttätig zu in Macbeth, aber trotzdem.« »Aha – Macbeth.« »Oh, Mist.« »Jetzt sollen wir vermutlich dieses alberne Händeklatsch‐ und Im‐Kreis‐Drehding veranstalten?« »Fürchte ja.« Sie standen auf, einander zugewandt. »Krankzinnig!« »Vorsehen ist besser als Nachsehen.« Sie klatschten in die Hände und drehten sich dreimal um sich selbst, ehe sie kichernd auf ihre Plätze zurückfielen. Daan sagte: »Ich glaub’s nicht, was ich eben gemacht habe.« »Ein Rationalist wie du«, sagte Jacob. »Musst dich ja dafür schämen.« »Lächerlich.« »Pueril«, sagte Jacob, mehr, weil ihm der Klang des Wor‐ tes gefiel, als aus Überzeugung. Und in der Hoffnung, dass Daan nicht merkte, dass sein Lachen eher Panik‐ abwehr als Ausdruck von Erheiterung war. Daan ging in die Küche und öffnete eine Flasche trocke‐ nen Weißwein. Es war kurz nach sechs, die Zeit, erklärte er, zu der Geertrui das immer getan habe, sodass es ihm zur Gewohnheit geworden sei. »Die Stunde des Abend‐ gläschens« habe sie es genannt. »Aber das hier ist nur een goedkoop wijntje‐ du weißt schon, billiges Zeug.« »Fusel.« 149
»Deshalb trinke ich ihn mit Tonic. So eine Art Schorle. Und du?« »Dasselbe wie du.« »Hast du keine eigene Meinung?« »Nicht in Bezug auf Fusel. Auf Wein überhaupt, wenn du’s genau wissen willst. Im Unterschied zu dir bin ich das nicht gewöhnt.« »Dann werde ich dich unterweisen.« »Verderben, meinst du wohl.« »Ist doch manchmal dasselbe, oder?« »Ach, ja?« »Wenn man etwas lernt, ist man nicht mehr unschuldig.« »Wenn du’s so formulierst.« »So oder so, kommt doch aufs selbe raus.« »Will ich jetzt nicht diskutieren, wenn’s recht ist. Später vielleicht.« Sie machten es sich mit ihren Drinks bequem. Der Raum war jetzt im Abendlicht ziemlich schummrig. Daan knips‐ te eine Stehlampe beim Sofa an, die eine Lichtinsel um sie herum goss. Die schweren Balken hingen dunkel über ihnen. Jacob fühlte sich mehr denn je im Bauch eines alten Segelschiffs. Auf hoher See, ohne zu wissen, wohin die Reise ging. Die Stimmung wurde wieder ernst. Daan musterte Jacob auf eine taxierende Art, die den Altersunterschied zwi‐ schen ihnen herausstrich. Obwohl Jacob merkte, wie er wieder ins Schwimmen geriet, guckte er unverwandt zurück, wobei der Wein sicherlich half. 150
Schließlich begann Daan: »Also erzähl ich dir’s jetzt. Okay?« »Okay.« »Du weißt, dass Geertrui krank ist.« Jacob nickte. »Aber nicht einfach nur krank. Sie hat Magenkrebs.« Er hielt inne, wartete auf eine Reaktion. Jacob konnte nichts sagen, nur schlucken, wobei er die Bewegung seines Adamsapfels spürte, als steckte ihm ein scharf‐ kantiger Stein in der Kehle, und sein Magen sich zusam‐ menkrampfte, als hätte ihn das bloße Wort infiziert. »Unheilbar«, fuhr Daan fort. »Und sehr schmerzhaft. Oft schmerzhafter, als ein Mensch ertragen kann. Immer öfter.« Jacob zwang sich zu einem »Wie schrecklich«. »Sie tun ihr Bestes mit Drogen. Aber inzwischen genügt das nicht mehr. Manchmal habe ich das Gefühl, der Schmerz frisst die Drogen, nährt sich davon und wird immer stärker.« Jacob musste sein Glas abstellen, brachte aber heraus: »Ir‐ gendwas können sie doch bestimmt tun.« Daan schüttelte den Kopf. »Sie ist im Endstadium.« »Du meinst, sie hat nicht mehr lange?« »Ein paar Wochen. Aber gegen Ende ist der Schmerz ...« Daan holte tief Luft, als spürte er selbst ein plötzliches Stechen. »Ein Arzt hat mir gesagt, es ist schlimmer als die schlimmste Folter.« Jacob versuchte zu begreifen, was das hieß, konnte aber in seinem Leben keinen Maßstab für einen solchen Horror 151
finden. Er sagte, weil etwas gesagt werden musste: »Und sie können wirklich gar nichts tun ?« »Niets. Nicht viel.« Daan wandte den Kopf ab, ehe er fort‐ fuhr: »Nur eins.« Jacob war sofort klar, was jetzt kommen würde. Sein Körper versteifte sich, um sich dagegen zu wappnen, aber gleichzeitig war es, als ob alle Kraft aus ihm entwich, und übrig blieb das Gefühl schlaffer Schwäche in einem star‐ ren Panzer. Daan hielt nicht inne, sondern sprach weiter, mit der unerbittlichen Konsequenz eines Menschen, der das Unausweichliche aussprechen muss. »Sie können ihr Sterbehilfe leisten. Und Geertrui will es. Sie werden es tun. Es ist beschlossen. Verstehst du?« Jacob nickte. »Euthanasie.« Und setzte hinzu: »Wir haben in der Schule drüber diskutiert.« Und merkte noch im Sprechen, wie banal es klang. »Und was wurde da gesagt?« »Die meisten Leute waren dagegen. Sie haben gesagt, es sei eine Sünde wider das Leben. Und es würde dazu füh‐ ren, dass Leute, die Macht haben, jeden beseitigen kön‐ nen, der ihnen nicht passt.« »Wie Hitler und die Nazis in Deutschland.« »Ja, und nicht nur die. Stalin war auf seine Art auch nicht besser. Pol Pot. Heute leben wir länger und es gibt immer mehr sehr alte Menschen. Wir kriegen ständig zu hören, was ihr Unterhalt kostet. Und wenn Euthanasie erlaubt wäre ...« »Diese ganzen Argumente gab es bei uns hier in Holland auch. Und du, warst du auch dieser Meinung?« 152
»In dem Punkt ja. Aber ...« »Aber?« »Aber manche Leute haben gesagt, jeder müsse das Recht haben, in Würde zu sterben. Selbst über seinen Tod zu entscheiden. Wir hätten nicht drum gebeten, geboren zu werden, haben sie gesagt, aber wir müssten wenigstens bei unserem Tod ein Wörtchen mitzureden haben. Vor allem, wenn –na ja, nichts mehr richtig funktioniert. Das sei Teil der persönlichen Freiheit.« »Und du? Was meinst du?« »Ich bin damit einverstanden. Was den würdigen Tod und das Mitspracherecht angeht.« Er sah Daan emotions‐ los an. »Aber als Außenstehender hat man gut reden.« Daan trank seinen Wein aus. »Hier ist es erlaubt, solange es nach Vorschrift läuft. Die Krankheit muss im End‐ stadium sein und extreme Schmerzen verursachen. Ist bei Geertrui der Fall. Zwei Ärzte müssen zustimmen. Haben sie getan. Ein unabhängiger Arzt muss den Fall offiziell prüfen und ebenfalls zustimmen. Ist passiert. Die nächs‐ ten Angehörigen müssen gefragt werden und zustimmen. Haben wir getan. Aber es war nicht leicht. Mein Vater und ich können es akzeptieren. Aber Tessel war total da‐ gegen. Nicht auf der rationalen Ebene. Aber gefühls‐ mäßig. Sie findet es einfach schrecklich. Sie und ich – wir haben uns deswegen böse gestritten. Wir haben uns schreckliche Dinge an den Kopf geworfen. Sie hat mich beschuldigt, ich wolle Geertrui nur aus dem Weg haben, damit ich an das Geld aus dem Verkauf dieser Wohnung käme, die mir Geertrui in ihrem Testament vermacht hat. 153
Ich habe ihr vorgeworfen, sie wolle Geertrui leiden sehen, weil... na ja, wegen Dingen in der Familiengeschichte. Ich schätze, in solchen Situationen werfen die Leute sich unverzeihliche Dinge an den Kopf. Wir haben versucht, es wieder auszubügeln. Aber es tut immer noch weh. Ich glaube, dass das der Grund ist, warum Tessel es dir selbst sagen wollte. Sie will es dir auf ihre Weise erklären. Und auch der Grund, warum sie dir gestern meine Adresse nicht gegeben hat.« Er goss sich Wein nach und setzte sich bequemer hin. »Na ja, jedenfalls, Tessel ist diejenige, die am meisten mit Geertrui zusammen ist und ihr Leiden mit ansehen muss, was sie fix und fertig macht. Und Geertrui hat auf sie eingeredet und gebettelt und gefleht und nicht lockergelassen, bis Tessel schließlich akzeptie‐ ren musste, dass das zählt, was Geertrui will, egal wie sie selbst dazu steht.« Schweigen. Jacobs Mund war trocken. Als er nach seinem Glas griff, musste er es mit beiden Händen halten. Die kalte, sprudelige Flüssigkeit schockte seine Speiseröhre und löschte das Brennen in seinem Magen. Er sah Daan an, der ihn vom Sofa aus beobachtete. Durchdringende blaue Augen, hübsch, fragend, forschend. Immer wieder hatte Jacob Daan dabei ertappt, wie er ihn auf diese Weise musterte. Warum? Wonach forschte er? Wollte er irgend‐ was? Jacob rieb sich die feuchte Stirn mit Fingern, die noch kühl von seinem Glas waren. »In neun Tagen«, sagte Daan. »Übernächsten Montag.« Diese Ankündigung traf Jacob wie ein Schlag. Er konnte 154
nichts sagen, nicht mal, dass er nicht wusste, was er sagen sollte. Stattdessen stiegen ihm, unwillkürlich und unerwartet, Tränen in die Augen, bis sie überquollen und ihm über die Wangen rannen und vom Kinn auf seine Brust tropf‐ ten. Er machte keinen Versuch, sie zu unterdrücken oder wegzuwischen. Er schluchzte nicht, atmete nicht stoß‐ weise, schniefte nicht, machte gar kein Geräusch, sondern saß einfach nur still auf seinem Stuhl und starrte gerade‐ aus, in das Dunkel, das das andere Ende des Zimmers verschluckte. Das vertraute, verhasste Gefühl – ein un‐ fähiger, stoffeliger, idiotischer Trottel zu sein – flutete durch ihn hindurch, aber ausnahmsweise kümmerte er sich gar nicht darum. Der Maustraum flackerte durch seinen Kopf. Dann dachte er an Anne Frank und seinen Gang durch ihr Haus – nein, nicht Haus, Museum – an diesem Vormittag. Und jetzt das und diese Tränen. Und all diese Dinge hingen irgendwie miteinander zusammen. Nach einer Weile sagte Daan ruhig, aber mit einer gewis‐ sen Härte: »Weine nicht wegen Geertrui. Das würde sie nicht wollen.« »Tue ich gar nicht«, sagte Jacob und die Erkenntnis kam ihm beim Sprechen. »Warum dann?« »Weil ich lebe«, sagte Jacob.
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GEERTRUI Ich bedaure bis heute, dass Dirk den deutschen Soldaten getötet hat. Während wir uns durch den Ort arbeiteten, von Haus zu Haus, von Straße zu Straße und von Baum zu Baum im Park hinter dem Hotel Hartenstein, betäubt vom Donnern der britischen Geschütze, die die deutschen Stellungen mit Granatfeuer belegten, und durchnässt vom eisigen Regen, da betete ich – denn damals betete ich noch –, dass niemand umkäme. Nicht mein Bruder Henk, nicht unser Freund Dirk, nicht unser britischer Verbünde‐ ter Jacob, nicht ich, aber auch kein deutscher Soldat. Es hatte genug Tote gegeben. Ich hasste diese ganze Grau‐ samkeit. Sie war wie ein Gift, das sich in uns ausgebreitet hatte und unsere Seelen zerfraß. Wir waren schon fast entkommen, als es passierte. Henk und Dirk waren von frühester Kindheit an Freunde gewe‐ sen. Sie hatten überall in dieser Gegend gespielt, waren so oft auf so vielen verschiedenen Wegen vom Haus des einen zu dem des anderen gelaufen und geradelt. Sie kannten jeden Millimeter Boden dazwischen. Deshalb waren wir so zuversichtlich, dass es uns auch im Dunkeln und bei diesem schrecklichen Wetter gelingen würde, den Weg zu finden und die Deutschen zu umgehen, die nur verstreut in dem Waldstück am westlichen Rand des 157
Kessels lagen. Wir glaubten es schon geschafft zu haben und entspannten uns gerade ein bisschen, als sich plötz‐ lich vor uns etwas aus dem Erdboden erhob. Ich glaube nicht, dass er uns gesehen hatte. Vielleicht stand er einfach nur auf, um seine schmerzenden Glieder zu strecken oder eine andere Position in seinem unbeque‐ men Splittergraben einzunehmen. Wie auch immer, ich glaube, er war überraschter als wir. Und das rettete uns. Denn zum Glück zögerte er einen Moment. Jacob hielt das Gewehr schussbereit wie schon die ganze Zeit seit unse‐ rem Aufbruch. Doch nach einer guten Stunde in unserer Gartenschubkarre war sein geschwächter Körper steif von der Kälte und dem Regen. Er schaffte es anzulegen, aber seine Finger waren so starr, dass er mit dem Abzug nicht zurechtkam. Während er sich noch mühte, kam der Deut‐ sche zur Besinnung und riss die Waffe hoch. In dem Moment ließ Henk die Schubkarre los, warf sich auf mich und begrub mich unter sich, um mich zu schützen. Des‐ halb sah ich nicht, was dann passierte, hörte nur die Schüsse aus Jacobs Gewehr. Als es vorbei war, erfuhr ich, dass in dem Moment, als Henk sich auf mich geworfen hatte, Dirk Jacob die Waffe entrissen, angelegt, abge‐ drückt, den Deutschen ins Gesicht getroffen und ihn sofort getötet hatte. Als Bauernsohn war Dirk den Um‐ gang mit Schusswaffen gewöhnt, aber so etwas wie Jacobs halb automatisches englisches Sturmgewehr hatte er noch nie in der Hand gehabt. Was er tat, tat er aus der Not des Augenblicks, instinktiv. So wie es Henks Bruder‐ instinkt war, mich zu Boden zu reißen und mit seinem 158
eigenen Körper zu schützen. Es war unser Glück, dass uns der Deutsche nicht gesehen hatte, ehe er aufstand. Es war unser Glück, dass Dirk so schnell reagierte. Es war unser Glück, dass Jacobs Waffe schußbereit war und dass sie trotz der Bedingungen richtig funktionierte. Wie so oft in solchen Situationen und vor allem im Krieg, war der Ausgang eine Sache des Glücks. Er hatte nichts mit Heroismus zu tun, soweit Heroismus rationales Denken voraussetzt, denn zum Denken war keine Zeit. Nur mit der irrationalen, willkürlichen, ungerechten Natur des Glücks. Mir war, als würde ich im selben Moment, da Henk mich zu Boden riss, auch schon wieder auf die Füße gezerrt, und wir rannten, so schnell es die Schubkarre zuließ, durch den Wald, weg von dem Geschützfeuer und den Granatexplosionen und dem toten Soldaten und weg von eventuellen anderen Deutschen, die sich womöglich ganz in der Nähe auf den Grund ihrer Splittergräben pressten. Da es die Granaten unserer Verbündeten waren, die sie dazu zwangen, war es wohl eine weitere Portion Glück, dass wir nicht durch das umkamen, was Militärs heutzu‐ tage so nett »freundliches Feuer« nennen. (Wird das denn nie ein Ende haben, dieser zynische Sprachmissbrauch durch die Mächtigen.) Als wir gegen drei Uhr morgens endlich den Bauernhof erreichten, empfingen uns Herr und Frau Wesseling keineswegs so herzlich, wie man vielleicht hätte denken können. Natürlich waren sie froh, ihren Sohn lebendig 159
und heil wiederzusehen. Aber sie waren strikt dagegen gewesen, dass er loslief, um den Briten zu helfen, und gaben Henk die Schuld, weil sie glaubten, dass er Dirk dazu überredet hatte. Gerechtigkeitshalber muss ich sagen, ich kann es ihnen nicht verübeln. Dirk war ihr einziges Kind. Seine Mutter war vor Angst völlig außer sich gewesen. Jetzt kam er mitten in der Nacht von dem zurück, was sein Vater ein »idiotisches Heldenstückchen« nannte, und brachte nicht nur den Freund, der bei ihnen so schlecht angeschrieben war, und dessen Schwester mit, sondern auch noch einen verwundeten britischen Solda‐ ten, der sich nicht selbst versorgen konnte und der das Todesurteil für uns alle bedeutete, wenn ihn die Deut‐ schen bei uns fanden. Unter diesen Umständen war wohl nicht zu erwarten, dass sie uns überglücklich begrüßen würden. Jacob war in einer erbärmlichen Verfassung, fast ohn‐ mächtig und schmerzgepeinigt. Wir brachten ihn ins Haus, säuberten ihn, zogen ihm statt seiner klatschnassen Kleidung Sachen von Dirk an, die ihm hervorragend passten, da beide etwa gleich groß waren. Dann wuschen wir uns, Henk, Dirk und ich, und zogen uns ebenfalls trockene Sachen an. Bei all dem wurde nicht viel ge‐ sprochen. Die Wesselings waren brave, handfeste Bauers‐ leute, die für Aufregung und Gefühlausbrüche nicht viel übrig hatten und auf eine solche Krisensituation reagier‐ ten, indem sie ruhig und effizient taten, was getan wer‐ den musste, um möglichst schnell zu einem geordneten Alltagsleben zurückzufinden, ganz egal, wie sie innerlich 160
dazu standen, dass wir ihnen solche Schwierigkeiten ver‐ ursachten. Sobald wir alle so weit waren, gingen Herr und Frau Wesseling mit Henk und Dirk und einem Tablett voll Essen in die gute Stube, um die Situation zu erörtern, während es mir überlassen blieb, mich um Jacob zu küm‐ mern. Gemeinsam saßen wir am Küchenherd und aßen wunderbar frisches Brot und Erbsensuppe, die ich ihm einflößen musste, weil seine Hände noch nicht wieder beweglich genug waren, um einen Löffel zu handhaben. Nach den Entbehrungen der letzten Tage schien das der Himmel. Wieder im Warmen und Trockenen zu sein, wieder etwas Anständiges zu essen zu haben, außer Gefahr zu sein, weg vom Donner der Geschütze und vom Krachen der Granaten, in einem sauberen, ordentlichen Haus mit all seinen beruhigenden Gegenständen, Geräu‐ schen und Gerüchen – das war der Himmel. Aber kein Himmel, den ich uneingeschränkt genießen konnte. Denn ich musste an Mutter und Vater denken, die noch immer in der Hölle gefangen saßen, der wir gerade entkommen waren, denen noch immer unabsehbare Gefahren droh‐ ten, sobald sie durch den Abzug der Briten dem Zorn der Deutschen preisgegeben waren. Ich betete für sie, wäh‐ rend ich mich zurücklehnte und ins Feuer starrte. Was das Letzte ist, woran ich mich erinnere, bis ich Stunden später von Henk geweckt wurde. Der Himmel war zu viel für mich gewesen. Nach all den Tagen der Angst und der Erschöpfung, der nachzugeben ich mir nicht erlaubt hatte, ließen mich Essen, Wärme, Sicherheit 161
und die beruhigende Stille in einen so tiefen Schlaf fallen, dass ich gar nicht mitgekriegt hatte, wie die Wesselings und Henk in die Küche zurückgekehrt waren, Jacob und mich dort wie tot vorgefunden hatten und zu dem Schluss gekommen waren, dass es am besten sei, uns einfach bis zum Morgen dort zu lassen. Herr und Frau Wesseling waren ins Bett gegangen. Den Rest der Nacht hatte erst Dirk, dann Henk oben Wache gehalten und aus den Fenstern nach nahenden Deutschen ausgespäht. Erst als die Familie sich für ihr Tagwerk bereitmachte, weckte mich Henk mit Kaffee und erzählte mir, was sie beschlos‐ sen hatten. Du weißt wohl nicht, wie ein holländisches Bauernhaus damals aussah, also muss ich es dir erklären, wenn du verstehen sollst, wie wir die nächsten Wochen lebten und was in dieser Zeit passierte. Wie auf den meisten Bauernhöfen bei uns, war an das Wohnhaus der Wesselings ein großer Kuhstall angebaut. Jedes Gebäude hatte einen eigenen Eingang, aber man kam auch innen vom einen ins andere, durch eine Verbin‐ dungstür in der Milchkammer, die praktisch war, um die Milch ins Wohnhaus zu bringen. Im Kuhstall standen mindestens zwanzig Kühe, die zu beiden Seiten aufge‐ reiht waren, jede in einem eigenen Stand, mit dem Kopf zum Futtertrog und dem Schwanz über einer Kotrinne, und dazu noch einen Mittelgang, breit genug für einen Heuwagen, der durch ein großes Tor an der Stirnseite hereinfahren konnte. Über den Kühen, unter dem ge‐ wölbten Dach, lief ein galerieartiger Heuboden rings‐ 162
herum, wo das Heu und nicht benötigte Gerätschaften lagerten. Dort hinauf kam man über eine Leiter, die bei den Wesselings mit der obersten Sprosse am Heuboden‐ rand festgebunden war, während von der untersten Sprosse ein Seil über eine Laufrolle an einem der Dach‐ balken lief, damit man die Leiter, wenn sie nicht benötigt wurde, unters Dach hochziehen konnte. In der Zeit, ehe die Briten gekommen waren, hatten Dirk und Henk auf dem Heuboden ein Versteck gebaut. Zuerst hatten sie Wände aus altem Kistenholz errichtet. Dann hatten sie Heuballen an diesen Wänden aufgeschichtet und loses Heu darüber gehäuft. In den übrigen Heubo‐ denecken hatten sie ähnliche Heuhaufen aufgetürmt, damit es nicht auffiel. Um in das Versteck zu gelangen, musste man loses Heu beiseite forken und dann genau wissen, welche Ballen es wegzuziehen galt, um die Öff‐ nung in der Holzwand freizulegen. Wenn man sich auskannte, kam man schnell und leicht hinein und heraus. Natürlich rechneten die Deutschen damit, dass sich Leute im Heu versteckten, aber wenn sie nicht gerade besonders misstrauisch waren oder einen Tipp bekom‐ men hatten, stocherten sie nur mit einer Heugabel oder einem Bajonett herum und nahmen sich selten die Zeit, einen ganzen Heuhaufen auseinander zu nehmen. Das war zu viel Aufwand – und harte Arbeit. Drinnen im Versteck war Platz für zwei übereinander angeordnete Pritschen, ein Tischchen mit zwei Melksche‐ meln als Sitzgelegenheiten und einem Regal aus aufeinan‐ der gestellten Apfelsinenkisten, bestückt mit Lebensmit‐ 163
teln und etwas zu trinken, wichtigen Utensilien wie Mes‐ sern und Gabeln, Tellern und Bechern, Ersatzkleidern, Büchern, einem Schachspiel – allem, was sie brauchten, um es ein, zwei Tage dort drinnen auszuhalten. Es gab sogar ein Behelfsklo mit fest schließendem Deckel. In der Dachschräge, knapp über Kopfhöhe, war eine Fenster‐ luke, die frische Luft hereinließ und durch die man, wenn man sich auf einen der Melkschemel stellte, das Gelände auf der Vorderseite des Hauses überblicken konnte. Eine gemütliche kleine Höhle. Sie gefiel ihnen so gut, dass sie meiner Meinung nach sogar lieber dort waren als im Haus. Werden Jungen jemals erwachsen? Natürlich wurde von ihnen erwartet, dass sie für ihren Unterhalt arbeiteten. Die Wesselings hatten alle ihre Arbeitskräfte verloren. Es gab viel mehr zu tun, als Herr Wesseling allein schaffen konnte. Also kümmerten sich Dirk und Henk um die Kühe, melkten und fütterten sie und misteten den Stall aus, was alles drinnen geschah und sie nicht der Gefahr aussetzte, von irgendeinem Vorbeikommenden entdeckt zu werden. Sie drehten auch die Schleudertrommel in der Milchkammer, die den Rahm von der Milch trennte, damit er zu Butter verarbei‐ tet werden konnte. Sie fütterten die Pferde, Schweine, Hühner und misteten auch deren Ställe aus. Wenn es ungefährlich schien, besserten sie kaputte Entwässerungs‐ rohre aus und machten, was immer Herr Wesseling ihnen auftrug. Ein Teil des Wohnhauses und der Nebengebäude war von einer Baumhecke geschützt, die die Funktion hatte, den über das freie Feld fegenden Wind zu brechen. 164
Daher war es relativ sicher für sie, auf dieser Seite der Gebäude zu arbeiten, solange einer von ihnen aufpasste. Ein langer Fahrweg führte von der Straße durch die Wiesen und Felder zum Haus. Wenn man jemanden kommen sah, blieb Henk und Dirk genügend Zeit, um in den Kuhstall zu rennen und in ihr Versteck zu schlüpfen. Doch für den Fall, dass uns jemand überraschte, hatten sie sich Schlupflöcher in alle Nebengebäude geschaffen. »Wir sind wie Ratten«, sagte Henk einmal zu mir, als ich sie, noch vor der Ankunft der Briten, dort besuchte. »Und genauso schwer zu fangen!«, sagte Dirk. Sie grinsten beide, als hätten sie ihren Spaß, was wohl auch der Fall war. Wieder die Buben, die der Autorität trotzten. Gefahr drohte nicht nur von Kommandos der Deutschen, die mit einer offiziellen Durchsuchungserlaubnis kamen, sondern auch von einzelnen Soldaten und Zweier‐ oder Dreiergrüppchen, die in ihrer Freizeit herumzogen, auf der Jagd nach Lebensmitteln oder nach Delikatessen, die sie in den umliegenden Städten nicht kaufen konnten. Es war ihnen streng verboten, allein umherzuziehen. Daher waren sie von erlesener Höflichkeit und Freundlichkeit, denn sie wussten, wenn sich der Bauer bei ihren Offizie‐ ren beschwerte, säßen sie in der Tinte. Sie wollten vor allem Frau Wesselings hausgemachte Wurst und ihren jungen Käse, aber auch Eier und Butter und Obst. Sie zahlten gut oder boten im Tausch Uhren und andere Gegenstände an, von denen sie meinten, dass sie einen Bauern oder eine Bäuerin reizen könnten. Diese ungebete‐ nen Besucher waren leicht zu handhaben, aber es war 165
wichtig, dass sie nichts Verdächtiges sahen, was sie ihren Vorgesetzten melden könnten, die dann garantiert mit einem Durchsuchungskommando wiederkommen wür‐ den. Oder was sie, schlimmer noch, als Druckmittel be‐ nutzen könnten, um den Bauern zu erpressen, ihnen zu geben, was immer sie wollten, sooft sie vorbeizukommen geruhten. Denn wer wusste schon, ob sie nicht nur so taten, als seien sie gewöhnliche Soldaten, die in ihrer Frei‐ zeit auf der Suche nach Essbarem waren, in Wirklichkeit aber Jagd auf Widerständler machten. Und besonders verdächtig wäre es natürlich gewesen, wenn sich zwei kräftige junge Männer auf dem Grundstück zu schaffen machten oder irgendetwas darauf hindeutete, dass auf diesem Hof mehr Menschen waren als offiziell dort lebten. Es kamen nicht nur deutsche Soldaten vorbei. Auch Holländer aus den Städten, wo Nahrungsmittel und Brennstoff knapp waren, kamen und flehten um Hilfe. In den Monaten nach der Schlacht, im Hungerwinter, als die Lage so verzweifelt wurde, dass selbst die Deutschen Pro‐ bleme hatten, kamen so viele Leute den Fahrweg entlang‐ getrottet, dass wir uns schon fast gegen sie verteidigen mussten. Und obwohl das unsere eigenen Leute waren, wagten wir doch nicht, ihnen zu trauen. Jeder von ihnen konnte Mitglied der NSB sein – Nationaal Socialistische Beweging, die holländische Nazipartei, jener Schandfleck unserer Geschichte, den wir so gern vergessen wollen und doch nie vergessen dürfen, weil er uns daran erin‐ nert, was, wenn wir nicht wachsam sind, aus jedem von 166
uns werden kann. Diese Leute hätten uns verraten, aus ideologischem Fanatismus – diese ewige Geißel der Menschheit. Doch die anderen, die Mehrheit unseres Volkes, das sich so gern als das ehrlichste der Welt sieht? – Wenn Menschen verzweifelt sind, tun sie Dinge, die sie in besseren Zeiten nie tun würden. Es ist leicht, solches Verhalten zu verdammen, aber nur, wenn man nie in einer solchen Situation war. Das also war unsere Situation an jenem Dienstag, dem 26. September 1944. Bei ihrem nächtlichen Overleg waren die Wesselings zu dem Beschluss gelangt, dass ich bei ihnen im Haus bleiben könne. Wenn jemand fragen würde, ließe sich leicht erklären, ich sei eine Freundin der Fami‐ lie, die gerade zu Besuch gewesen sei, als die Kämpfe mit den Briten begonnen hätten, weshalb ich nicht nach Oosterbeek hätte zurückkehren können. Meine Ausweis‐ papiere waren in Ordnung. Wir befanden alle, dass das eine überzeugende Geschichte sei. Dirk und Henk würden es halten wie zuvor, auf dem Hof arbeiten und in ihrem Versteck schlafen. Das Problem war Jacob. Er war schwach, krank, außerstande, sich auf den Beinen zu halten, von Gehen ganz zu schweigen, und ihn im Versteck der Jungen zu pflegen, wäre für alle schwierig gewesen. Das Wichtigste war, ihn möglichst schnell so weit hochzupäppeln, dass er sich aus eigener Kraft bewe‐ gen konnte. Das ging am besten, wenn er in einem richti‐ gen Bett im Haus liegen konnte, wo er es wärmer und 167
komfortabler hatte. Obwohl Herr und Frau Wesseling wegen des Risikos gar nicht glücklich damit waren, erlaubten sie doch, dass er für ein paar Tage in einem ihrer Zimmer blieb. Wir mussten einfach hoffen, dass die Deutschen mit den Nachwehen der Schlacht zu beschäf‐ tigt waren, um sich die Mühe zu machen, einen ver‐ gleichsweise abgelegenen Bauernhof zu durchforschen oder auch nur aufzusuchen. Aber Frau Wesseling machte uns – und vor allem mir – klar, dass Jacob meine Sache war, seine gesamte Pflege und Versorgung, das ganze nötige Treppauf, Treppab, zusätzlich zur Mithilfe im Haushalt, die sie von mir erwartete. Sie habe genug damit zu tun, sagte sie, uns alle zu versorgen, auch ohne gleichzeitig noch einen Verwun‐ deten zu betreuen. Und außerdem, erklärte sie, spreche sie seine Sprache nicht. Ich protestierte nicht und erhob keine Einwände. Ich hätte, erklärte ich, Jacob schon zu Hause übernommen, es sei meine Entscheidung gewesen, ihn mit hierher zu brin‐ gen, ich wisse, dass ich für ihn verantwortlich sei. Frau Wesseling war eine resolute, ja, man kann sagen, strenge Frau, und sie war fest entschlossen, den Deut‐ schen keinen Anlass zu liefern, ihre Familie oder ihr Heim anzutasten, wobei ich sagen muss, dass sie sich beidem mit ganzer Kraft widmete. Aber die Forderungen, die sie an mich stellte, hatten noch andere Gründe. Wir alle wussten um Dirks Gefühle für mich, er hatte sie erst vor ein paar Wochen seinen Eltern und mir gegen‐ über klar genug geäußert. Er hatte sich in den Kopf ge‐ 168
setzt, mich zu heiraten. Ich hatte ihn in dieser Hinsicht nie ermutigt. Nicht, weil ich ihn nicht gemocht hätte. Oh nein. Er war ein gut aussehender junger Mann und einer der gutherzigsten, rücksichtsvollsten Menschen, die ich je gekannt habe. Aber ich liebte ihn nicht so, wie ich damals dachte, dass man einen Menschen lieben müsse, um ihn zu heiraten. Und außerdem wusste ich, dass Frau Wesse‐ ling in mir nicht die richtige Frau für ihren einzigen Sohn sah. Ich wusste es, weil sie es mir eines Tages, als wir allein waren, ziemlich unverblümt gesagt hatte. Dirk, sagte sie, sei ein Bauernsohn. Er werde eines Tages den Hof übernehmen, der seit Generationen im Familienbesitz sei. Er brauche eine Frau, die in der Landwirtschaft aufgewachsen sei. Sie habe nichts gegen mich, ich sei ja »ein ganz nettes Mädchen«, aber ich sei aus der Stadt und ein leichtes, bequemes, gutbürgerliches Leben gewöhnt. Ich wisse nichts vom Landleben und von der harten Ar‐ beit einer Bauersfrau. »Wenn man ein Pferd nicht zurich‐ tet, solange es jung ist«, sagte sie, »taugt es nicht zur Arbeit, wenn es älter ist. Und«, setzte sie hinzu, »bei dir ist es schon zu spät.« Selbst wenn ich mich bemühen würde, mich an dieses Leben anzupassen, würde ich doch nie glücklich werden. Und wenn ich als seine Frau nicht glücklich wäre, wäre es ihr Sohn als mein Mann auch nicht. Er sei im Moment in mich verschossen, fuhr sie fort, aber er sei noch so jung, das werde sich legen, und dann werde er zur Vernunft kommen. »Also, egal, wie du dazu stehst, Mädchen, ich wäre dir dankbar, wenn du die Finger davon lässt.« 169
Ich widersprach nicht. Ich hatte nicht die Absicht, Dirk zu heiraten. Und wie so viele Menschen, die selbst, wie sie es nannte, »kein Blatt vor den Mund nehmen«, hatte es Frau Wesseling gar nicht gern, wenn man den Spieß umdrehte. Deshalb ent‐ schloss ich mich, obwohl ich ihr gern ein paar offene Worte gesagt hätte, lieber zu schweigen, als einen Bruch zu provozieren, der nicht nur Henks und Dirks Freund‐ schaft gefährdet hätte, sondern auch Dirks und meine, denn er war mir ein Freund, und zwar ein guter. Und ich nahm es Frau Wesseling auch nicht übel, sie versuchte ja nur, ihren einzigen Sohn davor zu bewahren, einen Fehler fürs Leben zu machen. Vielleicht, dachte ich, hätte ich das an ihrer Stelle auch getan. Und meine geliebte Mutter ebenso. Mütter und Söhne – gibt es eine kämpferischere Liebe? Ich glaube nicht, es sei denn, die zwischen Vätern und Töchtern. Der Unterschied, das ist mir oft aufgefal‐ len, liegt darin, dass eine Mutter für ihren Sohn gegen die Welt kämpft, während ein Vater darum kämpft, seine Tochter für sich zu behalten. In den ersten ein, zwei Wochen nach unserer Ankunft wurde mir allmählich klar, dass Frau Wesseling wohl noch etwas anderes im Sinn hatte als nur, mich von Dirk fern zu halten. Sie wusste, so genau sie mich auch im Auge behielt und so viel Hausarbeit sie mir auch aufbür‐ dete, gab es doch für Dirk und mich immer noch genü‐ gend Gelegenheiten zum Zusammensein und jede Menge Plätzchen auf dem Hof, wo wir unsichtbar wären, wenn 170
wir es wollten. Vielleicht hoffte sie ja, mich abzu‐ schrecken, indem sie mir demonstrierte, wie ein Leben mit ihrem Sohn aussehen würde. Aber auch das störte mich nicht weiter. Ich bin gern beschäftigt, ich fürchtete mich nicht vor vuil werk (Drecksarbeit) und hatte durch meine Mutter eine gute Schulung in töchterlichem Gehor‐ sam genossen. Obwohl ich zugeben muss, dass mir diese Schulung durch ein gerüttelt Maß an Humor und Lachen versüßt worden war, was in Frau Wesselings Rezept leider beides fehlte. Die Ärmste, bei ihrer Erschaffung hatte ihr Kalvinistengott offenbar den Humor vergessen. Ein Missgeschick, das dieser speziellen Gottheit nur zu oft passierte. Aber selbst das grämte mich nicht weiter. Ich war jung. Und wenn man jung ist, ist man nicht so leicht zu erschüttern. Am Abend unseres ersten Tages war alles so, wie Frau Wesseling es wollte. Jacob lag auf einem Sofa, warm zugedeckt und fest schlafend, in einem Zimmer nahe der Treppe, die in den hinteren Ausgangsflur führte, wo auch die Tür zur Milchkammer war, durch die man in den Kuhstall kam. Wenn jemand von uns deutsche Soldaten den Fahrweg entlangkommen sah, würde uns, so hofften wir, immer noch genug Zeit bleiben, ihn ins Versteck zu schaffen, ehe sie da waren. Dirk und Henk hatten sich natürlich wieder in ihrer Höhle einquartiert. Sämtliche Spuren unserer Ankunft und alles, was darauf hätte hin‐ deuten können, dass sich außer Herrn und Frau Wesse‐ ling und mir noch jemand auf dem Hof befand, hatten wir sorgsam beseitigt. Als alles getan und die Normalität, 171
oder zumindest das, was die Umstände an Normalität zuließen, wiederhergestellt war, räumten Frau Wesseling und ich den Abendbrottisch ab und spülten das Geschirr, ehe wir die Wäsche des Tages wegbügelten, während die Männer in einem der Nebengebäude verschwanden, wo sich ein versteckter Rundfunkempfänger befand, und die Nachrichten auf Radio Oranje hörten, dem Londoner BBC‐Sender in niederländischer Sprache. Ach, die Erinnerung. Für mich ist jetzt alles nur noch Erinnerung. Erinnerung und Schmerz. Das ganze Leben ist Erinnern. Schmerz ist momentan, vergessen, sobald er weg ist. Aber Erinnerungen leben weiter. Entwickeln sich. Und verändern sich. Wie die Wolken, die ich durch mein Fenster sehen kann. Mal hell und bauschig. Mal eine dichte Decke. Mal sturmgejagt. Mal dünn, lang und hoch am Himmel. Mal tief hängend, grau und düster. Und manchmal sehe ich gar keine, nur das wolkenlose Blau, so friedlich, so unendlich. So ersehnt. Aber sprechen wir nicht vom Tod. Nur von den Wolken. Immer gleich und doch nie gleich. Unstet. Unverlässlich. Unvorhersagbar. Hätte ich doch nur all die Jahre Tagebuch geführt. Die beste Erinnerung ist das, was man in der Zeit selbst schriftlich festhält. Hätte ich das getan, wie viel mehr könnte ich dir dann heute über meine Tage mit Jacob erzählen. Aber jetzt ziehen die Wolken durch meinen Kopf, wie es ein unsichtbarer Wind will, und ich bin mir nicht immer sicher, was in welcher Reihenfolge passierte. Im Gegensatz zu den Tagen der Schlacht, die ich der Reihe nach vor mir sehe, ist das, was während unserer 172
gemeinsamen Zeit auf dem Bauernhof passierte, bis zum Ende, eher wie eine Montage, bei jedem Durchlauf anders. Ein paar Szenen sind immer dabei, die mir am teuersten sind. Andere jahrelang gar nicht. Und wieder andere öfter, aber erratisch. Aber du, für den dies der einzige Durchlauf sein wird –? Nun ja, ich werde mein Bestes tun. Jacob während seiner Genesungszeit im Wohnhaus mor‐ gens zu wecken, war ein kleines Ritual, das am ersten Morgen entstand. Er war ein großer Schläfer vor dem Herrn. Er schlafe gern, sagte er, weil er eine Menge träume und seine Träume genieße. Sie seien oft wie ein wunderschöner Film. Und er schlief tief. Sein Leben lang, sagte er, habe er das Aufstehen gehasst. Und er war wirklich schwer wachzukriegen. Am ersten Morgen wusste ich das nicht, war aber, nach allem, was er hinter sich hatte, nicht weiter erstaunt, dass er so fest schlief. Ich brachte ihm eine Schale Kaffee (eine Brühe aus Ersatzkaffee, das Einzige, was es in dieser Phase des Krieges noch gab, aber annehmbar, wenn heiß und mit Honig von Herrn Wesselings Bienen gesüßt). Ich stand mit dem Kaffee an seinem Bett und sprach ihn mit seinem Namen an. Nichts, nur schweres Atmen. Ich rüttelte an seiner Schulter. Immer noch kein Zeichen des Erwachens. Auf seiner Stirn glänzte Schweiß. Ich stellte die Schale auf seinem Nachttisch ab und strich ihm ein paarmal über die Stirn. Er rührte sich immer noch nicht. Nicht einmal meine kühle Hand brachte ihn zu sich. Ich 173
setzte mich auf die Bettkante und sagte leise seinen Namen. »Jacob. Jacob.« Nichts. Im Schlaf sah er aus wie ein kleiner Junge. So kwetsbaar – so verletzlich und unschuldig. Der Instinkt, dieser biologische Mechanis‐ mus, der so viel mehr von unserem Handeln steuert, als wir sehen wollen, gab mir ein, ihm etwas vorzusingen, wie eine Mutter einem kleinen Kind. Vader Jakob, vader Jakob, Slaapt gij nog? Slaapt gij nog? Alle klokken luiden. Alle klokken luiden. Bim Bam Bom. Bim Bam Bom. Aber auch das wirkte keine Wunder. Doch dann, wäh‐ rend ich den Kanon ein ums andere Mal wiederholte und ihm mit meiner kühlen Hand über die Stirn strich, gab er endlich Lebenszeichen von sich. Seine Lider flackerten. Sein Mund verzog sich zu einem zufriedenen Lächeln. Er bewegte sich unter der Decke. Und schließlich gingen seine Augen auf und sahen direkt in meine. Ich sang das Liedchen zu Ende, und für einen Moment schwiegen wir beide. Bis Jacob sagte: Kämm mich zart und streichle mich, dann gibt es Zuckerbrot für dich. »Was?«, sagte ich, da ich kein Wort verstanden hatte. Aber er grinste nur und sagte: »Engel Maria, Sie erretten mich schon wieder.« »Diesmal nur aus dem Schlaf«, sagte ich. »Gott sei Dank.« »Wenn es Gott zu danken gälte«, sagte er, »wären wir nicht hier.« »Sie sprechen schon wieder in Rätseln«, sagte ich. »Was 174
meinen Sie?« »Nichts«, sagte er. »Hier«, sagte ich, nahm die Schale vom Nachttisch und hielt sie ihm an die Lippen. »Trinken Sie das. Wenn Sie etwas davon kuriert, nichtige Dinge zu sagen, dann das.« Er lachte. Ich auch. Und das wurde unser Morgenritual. Das Aufwachlied‐ chen und meine tröstende Hand, der Austausch von Nichtigkeiten, ehe ich ihm half, seinen Kaffee zu trinken. An manchen Morgen wusste ich, dass er keineswegs tief und fest schlief, aber dennoch so tat, weil er wollte, dass ich das Ritual vollzog. Es bereitete ihm Vergnügen. Und mir auch. Bis zu dem Morgen, der dieser glücklichen Zeit ein Ende setzte.
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POSTKARTE Ich denk und vergleiche Sehe mit fühlendem Aug, fühle mit sehender Hand. J. W. von Goethe, Römische Elegien »Hör zu«, sagte Daan, »das war ein harter Tag für dich. Du musst was essen. Ich auch. Gleich um die Ecke ist ein Café, wo ich oft bin. Lass uns da hingehen.« Daan wurde geschäftig, räumte die leere Flasche und die Gläser weg. Jacob wollte Nein sagen, wollte allein sein, war aber plötzlich so müde und ausgelaugt, dass er sich einfach von dieser Welle zielgerichteter Energie mitziehen ließ. Es war entlastend, ja, sogar angenehm, sich Daans Bestimmt‐ heit zu überlassen. Das kleine Café, in einem schmalen Seitensträßchen voller Bars und billiger Restaurants, quoll schon fast über von jungen oder doch relativ jungen Menschen beiderlei Ge‐ schlechts, von denen die meisten zu rauchen schienen, denn der Raum war vernebelt vom scharfen Qualm von Tabak und Haschisch, der Jacob in die Nase biss. Daan ging voran, blieb zwei‐, dreimal stehen, um jemanden zu begrüßen, und steuerte zu einem Ecktisch, an dem noch zwei Stühle an einem Fenster zur Straße frei waren. Hier ließ er Jacob erst mal sitzen und dieser betrachtete die 177
Passanten draußen, um den Blicken der Leute drinnen auszuweichen. Er versuchte, einfach ganz relaxed dazusitzen, inmitten dieser lärmenden Gemütlichkeit, aber ein Blick auf sein Spiegelbild in der Scheibe zeigte ihm sein angespanntes Gesicht. Würde er es je lernen, einfach relaxed und natür‐ lich und er selbst zu sein, wenn er allein an einem öffent‐ lichen Ort war? Aber wer war denn er selbst? Und was hieß »natürlich«? Er wünschte, er wüsste es. Manche Leu‐ te (die meisten?) schienen sich von Geburt an in der Welt zu Hause zu fühlen, zu wissen, wer und was sie waren und wo sie hingehörten. Daan zum Beispiel. Aber er, dieses Ich, diese Person, die andere Leute Jacob nannten, hatte dieses Gefühl nicht. Jetzt weniger denn je. Als ob (wie lange war das jetzt?) dreißig Stunden –nur dreißig! – in diesem fremden Land genügt hätten, um ihn, so wie man eine Schutzhaut abpellt, der wenigen Gewissheiten zu entkleiden, die er in Bezug auf sich selbst zu haben geglaubt hatte, und ihn verwirrt und entwurzelt zu‐ rückzulassen. Wie die Orientierung wieder finden? Oder war er einfach nur müde? Oder vielleicht ein biss‐ chen betrunken ? Nach einer Ewigkeit kam Daan zurück, in Begleitung einer fröhlich gehetzten, großbusigen Bedienung. Mit vereinten Kräften transportierten sie Teller mit Pasta und Salat, ein Brotkörbchen, Weingläser und Handwerkszeug herbei. Nachdem das Mädchen alles schnell und sachlich auf 178
dem Tisch verteilt hatte, wünschte es Jacob auf Englisch guten Appetit. »Woher wusste sie, dass ich Engländer bin?«, fragte Jacob. »Weil du so aussiehst«, sagte Daan. »Bin ich so ein Klischee‐Engländer?« »Nur, wenn du versuchst, keiner zu sein.« »Hey, Daan!« Ein kräftiger Typ, ganz in schwarzem Leder und mit einem roten Halstuch, arbeitete sich mit Brustschwimm‐ bewegungen auf sie zu. Daan stand auf. »Koos!« Sie begrüßten sich mit einer Grisli‐umarmung und einem schnellen Drillingskuss – rechte Wange, linke Wange, wieder rechte Wange –, eine landestypische Begrüßungsweise unter Freunden, die Jacob zuerst mit Erstaunen beobachtet hatte, an die er sich aber langsam gewöhnte. Der englische Einfach‐Judaskuss, die Franzosen mit ihrer Doppelversion, die Holländer mit ihrem Dreierpack. Und man konnte, wie er bemerkt hatte, die Art der Beziehung daran ablesen, wie nahe die Küsse dem Mund kamen. Routinebegrüßung: Die Lippen berührten das Gesicht kaum und zielten auf den oberen Wangenbereich, Richtung Ohr. Freundschaft, platonisch, aber auf Sympathie beruhend: Die Küsse wurden leicht in Wangenmitte platziert. Gute Freunde, Familie: Die Küsse wurden sachte in Mundnähe aufgebracht. Sehr, sehr gute Freunde, Liebespartner: Die Küsse wurden voll auf den Mundrand gedrückt. Und wenn eine erotische Kompo‐ nente dabei war, erfolgte der letzte Kuss Mund‐zu‐Mund: das lebensrettende Siegel der Intimität. 179
Bis jetzt, dachte Jacob, der schon mal mit seiner Pasta be‐ gann, während Daan und sein Wangemittenkumpel über ihm auf Niederländisch plauderten, hatte ihm noch nicht mal jemand eine Dreiersequenz auf die entlegenste Wan‐ genzone gehaucht, von einem satten Kuss auf die Lippen ganz zu schweigen. Er dachte daran, wie Anne in ihrem Tagebuch schrieb, dass sie sich so sehr danach sehnte, geküsst zu werden (wobei er immer gedacht hatte, was für ein Trottel dieser Peter van Daan sein musste, um es nicht endlich zu tun) und fühlte mit ihr, da Küssen seiner Meinung nach zu den vergnüglichsten Tätigkeiten gehörte. Aber wieso, dachte er, während das Salatöl seine Zunge umschmei‐ chelte, war ein so komischer Akt wie das Aneinander‐ reihen feuchter Oralschleimhäute etwas so Erstrebens‐ wertes? Woher kam ein solcher Impuls? Was in aller Welt konnte das mit Evolution und dem Erfolg der menschli‐ chen Spezies im Darwin’schen Überlebenszirkus zu tun haben, dass es so weit verbreitet und beliebt war? Warum auch immer, er wusste nur, dass er den Mangel spürte. Er hatte seit Monaten keine Küssbeziehung mehr gehabt. Und ehrlich gesagt, wäre ihm das im Moment lieber gewesen als diese Pasta mit Salat, und er wünschte, es gäbe jemanden, der ihn dessen für würdig befände. Dann fiel ihm plötzlich der einmalige, flüchtige Lippenkontakt mit Ton ein, und ein wohliger Schauer durchlief ihn. Und an diesem Punkt verabschiedeten sich Daan und sein Kumpel mit einem Händedruck und Daan setzte sich wieder hin. 180
»Hab dich nicht vorgestellt«, sagte Daan. »Koos hatte es eilig. Wollte mir nur schnell ein paar Sachen erzählen und wieder gehen.« »Komischer Name.« »Komisch?« »Merkwürdig.« »Nicht für uns.« »Oh – klar. Sorry. War nicht böse gemeint.« »Findest du deinen Namen komisch?« »Nein.« »Koos ist die Kurzform von Jacob.« »Ach?« »Ja. Und mir erscheint Todd komisch.« »Warum?« »Weil es bei uns, im Niederländischen, Lumpen heißt. Du weißt schon – ein Stofffetzen. Was vermutlich der Grund dafür ist, dass hier niemand so heißt.« »Interessant. Aber früher, im Mittelalter oder so, war in England ein Tod‐ mit einem d – eine Gewichtseinheit für Wolle. Etwa sechzehn Kilo, umgerechnet.« »Was du alles weißt.« »Ich ergründe gern Namen. Da hängen so viele Bedeutun‐ gen und Geschichten dran.« »Dann kennst du ja sicher auch das deutsche Wort ›Tod‹.« »Ja.« »Wenn man Niederländisch und Deutsch zusammen‐ nimmt, bist du Koos, der Todeslumpen. Und du findest unsere holländischen Namen seltsam?« »Und was heißt van Riet?« 181
»Vom Ried oder Reet.« »Wie Schilf?« »Genau. Sehr passender Name für einen Holländer, fin‐ dest du nicht?« »Bei uns wurde Reet früher zum Dachdecken benutzt.« »Bei uns auch. Aber Riet heißen auch die Schilf‐ und Bam‐ busgewächse, aus denen man Möbel und Körbe macht. Sehr nützliche Pflanzen.« »Und Daan?« »Wie Dan im Englischen. Kurzform von Daniel. Daniel auf Niederländisch. Was, wenn ich’s recht bedenke, wohl aus dem Französischen kommt.« »Der mit der Löwengrube.« »Ach, ja?« »Aus der Bibel.« »Nicht gerade mein Lieblingsroman.« Jacob quittierte das mit dem erwarteten Grinsen, ehe er sagte: »Demnach bist du nicht religiös.« Daan schnaubte verächtlich und schob seinen leeren Teller weg. Er hatte in halsbrecherischem Tempo geges‐ sen. »Der einzige Gott, vor dem ich meinen rationalen Kopf beuge, ist der nicht‐rationale Gott zwischen unseren Beinen.« Jacob sah von den Resten seines Salats auf um zu prüfen, ob das ein Scherz war. Nichts deutete darauf hin. Wieder hatte Jacob das Gefühl, dass er getestet wurde, dass Daan irgendetwas aus ihm herauskriegen wollte. Er hat’s wieder getan, dachte er, mich überrumpelt, genau wie vor dem Titusbild und vorhin, als er mir von seiner Großmutter erzählt hat. Hat einfach auf eine andere 182
Ebene umgeschaltet. Kommt plötzlich aus einer ganz anderen Richtung. »An wessen nicht‐rationalen Gott zwischen wessen Bei‐ nen denkst du?«, fragte er so unbeeindruckt wie möglich. »Momentan an keinen bestimmten«, sagte Daan. »Im Ge‐ gensatz zu dem Freund von mir da drüben, der schon seit fünf Minuten den Blick nicht von dir wendet.« Jacob drehte sich um und sah Ton an der Bar stehen und ihn mit einem erwartungsfreien Lächeln betrachten. Jacob brachte ein grüßendes Nicken zustande, ehe er sich wieder zurückdrehte, den Kopf gesenkt, in der Hoffnung, dass Daan die Röte nicht bemerken würde, die er in sein Gesicht steigen fühlte. Ton ein Freund von Daan? Guter Gott, das war wirklich zu viel. Und natürlich hatte Daan es mitgekriegt. »Du kennst ihn?«, fragte er. Jacob brachte eine wenig überzeugende Papierservietten‐ nummer, wischte sich Lippen und Finger ab, ehe er die zerknüllte Serviette auf den Tisch warf. »Er ist ein Freund von dir, sagst du ?« »Ja, ist er.« Jacob rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. Bestimmt würde Daan Ton herüberwinken. Besser gleich damit herausrücken. Er zwang sich, Daan in die Augen zu gucken. »Weißt du noch«, sagte er, »wie ich dir erzählt habe, dass ich da heute Morgen so ein Mädchen getroffen habe, das mir ein Bier spendiert hat, kurz bevor mir mein Zeug geklaut wurde?« 183
»Ja.« »Na ja, um ehrlich zu sein, ich dachte es sei ein Mädchen, aber dann, bevor sie ging, war was, und ich habe ge‐ merkt, dass sie gar kein Mädchen war, sondern ein Junge. Und zwar er.« »Ton?« »Mit dem Namen hat er sich vorgestellt. Ton.« »Du dachtest, Ton wäre ein Mädchenname?« Jacob sagte achselzuckend: »Gibt’s auf Englisch nicht. Hatte ich noch nie gehört.« Daan sah ihn einen Moment lang mit unbewegter Miene an, bis er sich nicht mehr halten konnte und in etwas ausbrach, was Jacob ein nachsichtiges Lachen zu sein schien. Er stand auf und ging zu Ton hinüber. Sie wech‐ selten den Drillingskuss, eindeutig von der sehr vertrau‐ ten Sorte, redeten kurz miteinander, wobei sie reichlich lachten, und kamen dann beide an den Tisch. Ton streckte seine langfingrige Hand aus; Jacob drückte sie so zaghaft flüchtig, als sei sie eine verbotene Frucht. Er sah jetzt, warum er Ton für ein Mädchen gehalten hatte: kleine, zierliche, feingliedrige Statur, mädchenhaft zarte Züge unter einer glatten Haut, die keinerlei Rasurspuren zeigte. »So trifft man sich wieder«, sagte Ton. »Ja«, sagte Jacob und hörte sich hinzufügen: »Freut mich.« Sie lächelten sich komplizenhaft an, als sie sich hinsetz‐ ten, wobei Daan Ton seinen Platz abtrat, indem er etwas auf Niederländisch zu ihm sagte und sich dann zu einem Grüppchen an der Bar gesellte. Das alles tat er mit jener 184
Bestimmtheit, die Jacob inzwischen als charakteristische Eigenschaft von ihm erkannt hatte. »Leute, die er kennt«, sagte Ton. »Er dachte, wir hätten gern die Chance, ungestört zu reden.« Es folgte eine Schweigepause, bis Jacob sich zwang zu sagen: »Heute Vormittag ... Ich dachte ... Dein Name. Hatte ich vorher noch nie gehört.« »Von Antonius. Antony. Auf Englisch würde ich vermut‐ lich Tony heißen.« »Tony kann ich nicht leiden. Also bin ich froh, dass du nicht so heißt.« Wie immer, wenn sein Selbstbewusstsein auf dem Tief‐ punkt angelangt war, hörte er sich reden, als lauschte er seinem eigenen Echo. »Hast du nicht gesagt, du heißt Jack?« »Doch.« »Aber du heißt Jacob.« »Zu Hause nennen sie mich Jack. Jedenfalls mein Vater.« »Das erklärt’s.« »Was?« »Daan hat von dir gesprochen. Aber als wir uns heute Morgen getroffen haben – na ja, ich dachte nicht, dass du das bist.« »Nein. Wie hättest du auch sollen?« Jacob hoffte, dass Ton weiterreden würde, damit er selbst sich nichts einfallen lassen musste. Heute war schon so viel geredet worden und er hatte schon so viel sagen müssen, dass ihm langsam die Ideen ausgingen. Er war es nicht gewöhnt, mit Fremden zusammen zu sein, schon 185
gar nicht mit Ausländern im Ausland. Er wollte allein sein, um (wie Sarah es ausgedrückt hätte) seiner Seele Zeit zu geben, seinen Körper einzuholen. Aber die Chance schien vorerst gering. Ton saß schweigend da, ohne auch nur einmal den Blick von Jacobs Gesicht zu wenden. Es war das erste Mal, dass Jacob jemanden seines Alters traf, der etwas so Ruhiges hatte. Nicht dass Ton betont lässig oder auch einfach nur lethargisch gewesen wäre, nein, es war keine Pose und auch sonst nichts Negatives. Man konnte nicht anders, als sich seiner Person, seiner Gegenwart bewusst zu sein. Und doch schien er gleichzeitig so dünn und leicht wie Luft. Wie ein Geist. Seltsam schön. Ätherisch. Was, wie Jacob aufging, auch ein Grund –neben seinem Äußeren – gewesen war, warum er ihn heute Vormittag sofort so anziehend gefunden hatte. Und warum er ihn für ein Mädchen gehalten hatte. Oder war das nur eine Ausrede? Aber eine Ausrede wofür? Für seine Verwirrung? Um sich daran zu hindern, diesem Gedanken weiter nachzugehen, sagte er: »Danke für das kleine Geschenk.« Ton lächelte. »Schon benutzt?« »Keine Gelegenheit.« »Dagegen sollten wir was tun.« »Danke vielmals.« »Und«, sagte Ton, jetzt nicht mehr scherzend, »hast du verstanden, was ich draufgeschrieben habe ?« »Mit etwas freundlicher Hilfe.« »Daan?« »Nein. Eine alte Frau, die mir geholfen hat, nachdem ich 186
beklaut worden war.« Ton streckte den Arm herüber und legte die Hand auf Jacobs Arm. »Du bist beklaut worden? Wann?« »Gleich, nachdem du weg warst. Ein Junge mit einer roten Baseballkappe. Ist mit meinem Anorak getürmt.« »Ist dir viel geklaut worden?« »Geld. Bahnfahrkarte. Eigentlich alles. Alles, was ich dabeihatte, meine ich.« »Nein!« Ton schlug sich die andere Hand vor den Mund. »Mein Gott, jetzt fällt’s mir ein! Er saß hinter dir. Dünn. Schlimme – wie sagt ihr? – Pusteln?« »Akne.« »Akne. Jeugdpuistjes, sagen wir. Jugendpusteln. Ja, ich hab ihn gesehen. Er war ganz schön hässlich. Wenn ich nicht weggegangen wäre, wäre das nicht passiert. Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen.« »Wieso? War doch nichts Wichtiges dabei. Ich meine, zum Beispiel mein Pass oder meine Kreditkarte oder irgendetwas. Hatte ich zum Glück alles nicht mit. Nur ein bisschen Geld, der Stadtplan und solcher Kram. Hat Daan dir das eben nicht erzählt?« »Er hat nur gesagt, du wolltest mit mir reden.« »Das hat er gesagt! Ich wollte mit dir reden? Das habe ich nicht gesagt!« »Dann wolltest du mich gar nicht wieder treffen?« Ton wirkte so niedergeschlagen, dass Jacob schnell sagte: »Doch, doch, ich wollte dich wieder treffen. Ich will ja mit dir reden. Ich meinte nur, dass ich das nicht zu Daan gesagt habe. Er hat’s sich aus den Fingern gesogen.« 187
»Oh, Daan!« Ton stand halb auf und drehte sich nach Daan um, aber der kehrte ihnen den Rücken zu. »Typisch!«, sagte er, rückte seinen Stuhl näher an Jacob heran und setzte sich wieder. Der Lärm im Café war jetzt so laut, dass man sich im normalen Gesprächston kaum verständigen konnte. »Er denkt gern für andere.« Jacob lachte. »Das ist mir auch schon aufgefallen.« Die Bedienung zwängte sich zwischen sie, nahm die leeren Teller und Gläser weg und sagte etwas auf Nieder‐ ländisch zu Ton. Er fragte Jacob: »Möchtest du noch was?« »Ich hab kein Geld.« »Ein Drink ist gratis. Zwei, und wir müssen uns wieder treffen. Also bestehe ich drauf.« Jacob lächelte. »Okay. Kaffee, danke.« Die Bedienung ging. Jacob sagte: »Ich bin’s nicht gewöhnt, so viel Wein zu trin‐ ken. Daan ist ein großer Weinfan.« Er merkte, dass alles ein bisschen schwankte und dass seine Haut feucht war. »Ich dachte, du wohnst bei seinen Eltern.« »Nachdem ich beklaut worden war, fiel mir ein, wo Daan wohnt. Sein Vater hatte es mir gesagt. Zum Glück, sonst wäre ich ziemlich aufgeschmissen gewesen. Daan hat be‐ schlossen, dass ich heute bei ihm übernachte. Mein Groß‐ vater hat bei Arnhem gekämpft. Er wurde schwer ver‐ wundet. Daans Großmutter und ihre Familie haben sich damals um ihn gekümmert. Aber dann ist er doch gestor‐ ben.« 188
»Ja, ich kenne die Geschichte.« »Ach? Dann musst du Daan ja ziemlich gut kennen.« Ton lachte. »Ja, ich kenne Daan ziemlich gut.« Die Bedienung kam mit Tons Bier und Jacobs Kaffee. Als sie wieder weg war, konnte Jacob seine Neugier nicht länger zügeln. Er sagte: »Kann ich dich was fragen?« »Ja.« »Was Persönliches?« »Geht’s nicht immer um was Persönliches, wenn einen je‐ mand fragt, ob er einen was fragen kann?« »Bist du schwul?« Ton gluckste vergnügt. »Stockschwul. Sieht man das nicht?« »Und noch was?« »Nur zu.« »Heute Vormittag ... hast du da versucht, mich anzuma‐ chen?« »Nicht versucht. Es ist mir gelungen.« »Ach?« »Aber dann hab ich’s sein lassen.« »Warum?« »Weil ich gemerkt habe, dass es ein Fehler war.« »Ein Fehler? Inwiefern?« »Du dachtest, ich wäre ein Mädchen.« »Das weißt du von Daan.« »Nein, nein. Du hast’s mir gesagt.« »Ich! Wann?« »Als wir auf den Stadtplan geguckt haben.« »Was hab ich gesagt?« 189
»Nicht viel. Aber genug. Du hast Daan davon erzählt?« »Ja.« »Dass du dachtest, ich wäre ein Mädchen, und dann ge‐ merkt hast, dass ich keins bin?« Jacob nickte. »Das hat ihn bestimmt amüsiert.« »Allerdings. Du hast ihn doch gesehen, bevor er zu dir rübergegangen ist. Wie er sich schiefgelacht hat.« »Du hast’s ihm da erst erzählt?« »Ja. Na ja, er sagte, du seist ein Freund von ihm, also dachte ich, ich rücke besser damit raus.« »Jacques, du bist so naiv.« »Ja, bin ich wohl. Sorry.« »Nein, das ist nett. Gefällt mir. Ist mal was anderes. Aber –« Er wurde ernst. »Manchmal kann’s auch gefähr‐ lich sein. So wie heute Vormittag. Hängst deine Jacke über die Stuhllehne. Zeigst dann noch, dass du Geld drin hast. Und das auf dem Leidseplein. Der ist zwar nicht so schlimm wie andere Tummelplätze von Taschendieben, zum Beispiel der Dam oder die Gegend hinterm Haupt‐ bahnhof, aber schlimm genug, wenn man nicht aufpasst.« »Schon gut. Ich hab meine Lektion gelernt.« »Aber deshalb mache ich mir Vorwürfe. Ich hätte besser auf dich Acht geben sollen. Dich wegen der Jacke warnen. Dich irgendwohin mitnehmen, wo’s netter ist.« »Wieso? Du kanntest mich doch gar nicht.« »Aber ich wollte es. Ich bin kein Stricher, weißt du. Ich reiß keine Kerle auf der Straße auf. Würde ich nie tun, ist nicht mein Ding. Ich bin viel zu eigen. Wie soll ich das 190
sagen? Schnell angewidert, wenn du verstehst.« »Heikel?« »Heißt das so? Na ja, jedenfalls, als du dich hingesetzt hast, saß ich an einem Tisch ein paar Reihen weiter. Du hast mir so gefallen. Und der Kellner kam nicht zu dir. Und du hast so allein ausgesehen. Und ich dachte, du bist vielleicht auch schwul. Aber unerfahren. Wie gesagt – naiv. Du hast dich regelrecht als Opfer angeboten. Und ich wollte dir helfen. Beschützerinstinkt, schätze ich. Was nett war, weil es normalerweise andersrum ist. Normaler‐ weise bin ich es, der bei den Leuten Beschützerinstinkte weckt. Bei Daan zum Beispiel. Aber diesmal war’s so rum, und, wie gesagt, das Gefühl hat mir gefallen. Ich dachte, wir könnten vielleicht Freunde werden und ich könnte dir was von Amsterdam zeigen. Ich liebe Amster‐ dam so, es ist eine wunderbare Stadt. Ich zeige sie gern anderen. Also hab ich mich neben dich gesetzt und wir haben angefangen zu reden. Und du warst so nett, hast sogar für mich diesen hässlichen Anorak ausgezogen. Nur gut, dass er weg ist, da kannst du dir jetzt was Besseres zulegen.« »War das so offensichtlich? Wie hast du’s mitgekriegt?« Ton dachte kurz nach. »Wenn man offen schwul ist wie ich, dann überlebt man nur – selbst in Amsterdam, wo es leichter ist als an den meisten anderen Orten –, wenn man ziemlich schnell lernt, die Menschen zu durchschauen. Wenn man kapiert, warum sie tun, was sie tun. Man muss ganz Auge sein. Die Gefahrenzeichen erkennen lernen. Und um Trouble zu vermeiden, muss man – wie soll ich 191
sagen? – ihm voraus sein.« »Ihn antizipieren?« »Ja, ihn antizipieren. Denn sonst kriegt man in dieser unserer wunderbaren Welt, wo doch jeder an die Individualität glaubt und daran, dass man man selbst sein soll –« »Sein soll, wer man sein will.« »Wer man ist –« »Sich selbst treu.« »Und wo wir doch alle so tolerant sind, nicht wahr, und so weiter und so fort und ... Was wollte ich sagen? Ich verliere mich in meinem Englisch! – Oh, ja – Denn sonst kriegt man, wenn ›man selbst‹ so jemand ist wie ich, sehr bald eins über den Schädel. Oder Schlimmeres. Das woll‐ te ich sagen.« »Ja«, sagte Jacob, »ich weiß.« Überraschend direkt hob Ton die Hand, strich mit den Fingerrücken über Jacobs Wange und sagte lächelnd: »Nein, lieber Jacques, ich glaube nicht, dass du das weißt. Du hast davon gehört. Du hast vermutlich Sachen drüber gelesen. Aber du weißt es nicht. Wenn du’s wüsstest, würdest du nicht fragen.« Jacob senkte den Kopf, verlegen wegen der Liebkosung, aber auch verärgert. Um seine Gefühle zu verbergen, trank er einen Schluck Kaffee. Der war fast kalt und schmeckte stark und bitter. Aus einem jähen Impuls heraus sagte er: »Dann zeig’s mir.« »Ich soll’s dir zeigen!« Tons Gesicht war jetzt so dicht an 192
seinem wie heute Vormittag, als sie gemeinsam den Stadtplan studiert hatten. »Was soll ich dir zeigen ?« Sein Atem streifte Jacobs Stirn. »Wie es ist, ich zu sein? Wie es ist, eins über den Schädel zu kriegen? Oder wie es ist, mit mir Sex zu haben?« Jacob zuckte die Achseln, lehnte sich zurück und fuhr sich durchs Haar. Sein Magen rebellierte; ihm war schlecht. »Ich weiß nicht«, sagte er mühsam. »Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe.« »Ist auch egal. Ein andermal, wenn du’s dann noch willst«, sagte Ton und sah ihn dann mit einer neuen Art von Besorgnis an: »Alles okay? Du siehst nicht so gut aus.« »Alles bestens«, log Jacob. »Vielleicht hast du ja für heute genug. Ich hole Daan. Du solltest nach Hause gehen.« Er war schon weg, ehe Jacob ihn aufhalten konnte. Das laute Reden und Lachen schien Jacob jetzt direkt zu attackieren, als wäre Tons Gegenwart ein Schutzschild gewesen, und die verrauchte Luft verstopfte seine Lunge. Er zog sich in sich selbst zurück. Die Worte »nach Hause« hallten in seinem Kopf nach. Daans Wohnung, »zu Hause«! Er wünschte, er wäre wirk‐ lich zu Hause, und sah sein Zimmer bei Sarah vor sich. Realisierte dann aber, zum ersten Mal und verbunden mit einem Schock, der seine Nerven sirren ließ, dass auch das nicht sein Zuhause war, sondern ein Zimmer bei Sarah. 193
Und bei seinen Eltern, wo er früher gewohnt hatte, war das Zimmer, das seins gewesen war, bis er sich entschlos‐ sen hatte, zu seiner Großmutter zu ziehen, von seinem Bruder Harry übernommen worden, weil es größer war und weil Jacob, wie Harry erklärte, ja nicht mehr dort wohnte, er, Harry, aber wohl. Wenn er für ein, zwei Nächte käme, würde es Harrys Zimmer, das kleinste im Haus, doch tun. Jacob hatte nicht protestiert; wie könnte er? Er war aus eigenem Entschluss weggegangen, hatte es vorgezogen, woanders zu leben – oder genauer gesagt, bei jemand anderem. Damals hatte ihm das mit seinem Zimmer nichts ausgemacht, weil er ja das getan hatte, was er wollte. Ja, insgeheim war es ihm sogar ganz recht ge‐ wesen. Er war in diesem Zimmer groß geworden, es war Teil seiner Kindheit. Dort auszuziehen, hatte für ihn das Ende seiner Kindheit markiert. Das Zimmer aufzugeben, war ein weiterer Schritt zum Erwachsensein gewesen, dahin, sein eigener Herr zu sein. Und das war etwas, was er immer schon gewollt hatte, solange er denken konnte. Er war nie gern Kind gewesen, hatte immer groß sein wollen, unabhängig, selbst verantwortlich. Er hatte im‐ mer so frei wie möglich sein wollen, um sein Leben so zu leben, wie er wollte. Obwohl er, wie er zugeben musste, noch nicht genau wusste, wie er leben wollte. Aber erst jetzt, hier, in diesem überfüllten, rauchigen, lauten Café in einer kleinen Seitenstraße einer fremden Stadt in einem fremden Land, weit weg von allem, was er je als sein Zuhause bezeichnet hatte, drang die Realität des Unabhängigseins, des Selbstverantwortlichseins, zu 194
seinen überreizten Nerven durch und bis in sein verwirr‐ tes Hirn. Als hätte sein Gedächtnis nur auf diesen Moment gewar‐ tet, kam ihm die prägnante Melodie des Liedchens in den Sinn, das Daan ihm heute Nachmittag nach dem Titus‐ Besuch vorgesungen hatte, und mit ihr Daans Stimme, die den Text übersetzte. Mein Leben lang hab ich auf dich gewartet, nur um jetzt, da ich dich endlich gefunden, zu erkennen, was Einsamkeit heißt. Oh, Herrgott, dachte er, ist es das? Der Kern des Ganzen, die Quintessenz, das Fazit? Allein, allein, allein. Ist es das, was Erwachsensein heißt? Einsamkeit? Er spürte eine Hand auf seiner Schulter und hörte Ton sagen: »Jacques ?« Er riss sich aus seinen Gedanken, sah empor in das Jun‐ gen‐Mädchen‐Gesicht, legte seine Hand auf Tons Hand und lächelte. Ton sagte: »Er kommt. Bis bald dann, okay?« Jacob nickte. Ton lächelte, beugte sich zu ihm herab, küsste Jacob auf den linken Mundwinkel, dann auf den rechten und dann sanft und langsam auf die Lippen.
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POSTKARTE »Mache den Anfang mit dem Anfang«, sagte der König ernst, »und lies weiter, bis du ans Ende kommst.« Lewis Carroll Jacob starrte aus dem Fenster des Vormittagszugs Am‐ sterdam‐Bloemendaal, den er und Daan genommen hat‐ ten, um Geertrui zu besuchen. Um sich von dem abzu‐ lenken, was auf ihn zukam, konzentrierte er sich auf die Aussicht. Die Leute hatten ihm gesagt, Holland sei langweilig, lauter nette, kleine, rotdachige Schachtelhäuschen in lego‐ stadtartiger Anordnung, und zwischen den Ortschaften nicht viel mehr als endlose platte Felder und Weiden und Kanäle. Aber so war es nicht, nicht für ihn, nicht an diesem Morgen. Die flache Landschaft mit dem tief hängenden Himmel, der leicht dunstig war, sodass Land und Himmel fast verschmolzen, fand er beruhigend. Das adrette Aussehen der Häuser und Gärten, Bauernhöfe und Felder, Kanäle und Deiche, ja, sogar der Fabriken und modernen Bürogebäude, die sie jetzt gerade passier‐ ten, kam seinem Sinn für Ordnung und Sauberkeit entge‐ gen. Aber außerdem: die Farben. Die matten Rottöne von altem Backstein und Dachziegeln. Die frischen, leuchten‐ 197
den Grüns und Brauns der Felder und Wiesen, jeweils umrahmt mit den dicken, dunklen Bleistiftstrichen der Gräben. Streifen von himmelspiegelndem Wasser, silbern gekräuselt von dahingleitenden Schleppkähnen. Und in der Ausstrahlung der Menschen etwas, was ihm gefiel, etwas Zielstrebiges, eine Art, das Leben anzupacken, ohne großes Getue. Das alles war ihm bisher nicht aufge‐ fallen. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft begann er dieses Land zu mögen. Und warum gerade jetzt, in einem Zug, auf dem Weg zu einer todkranken alten Frau? Er dachte: Wie schwer es doch manchmal ist, sich selbst sich selbst zu erklären. Manchmal ist da nur Sein, kein Wissen. Daan saß ihm gegenüber und las eine Zeitung mit der Kopfzeile de Volkskrant in modern‐altmodischen, spitz und streng aussehenden Lettern. Er hatte ein Brille auf, die Jacob vorher noch nie an ihm gesehen hatte: kleine ovale Gläser in einem dünnen schwarzen Drahtgestell. Damit sah er selbst ein bisschen spitz und streng aus. Er hatte seit gestern Abend kaum ein Wort mit Jacob ge‐ wechselt. Ihm gerade mal mitgeteilt, wo er etwas zum Frühstück finden würde, wann sie aus dem Haus gehen müssten und wie sie auf dem Rückweg Jacobs Sachen holen würden. Und erklärt: »Bin morgens nicht zu ge‐ brauchen. Nachtmensch. Hat nichts zu sagen, wenn ich nichts sage.« Was Jacob nicht weiter störte, weil ihm auch nicht nach Reden war. Er hatte überraschend gut, ja, tief und fest geschlafen. Ein Wunder, wenn man die Umstände bedachte – fremdes Bett in fremdem Haus, der gestrige Tag mit all seinen 198
Schrecken, Katastrophen und Schocks und/aber, wenn er’s recht bedachte, auch Freuden (Ton, Titus, Alma). In der Nacht war er nur einmal kurz emporgedriftet, nach seiner Uhr um halb drei, als er aus dem großen Wohn‐ raum unten Stimmen und Lachen gehört hatte, Daan und Ton. Aber dann war er sofort wieder abgetaucht. Heute Morgen war er mit wattigem Kopf aufgewacht und seine Gliedmaßen waren so träge gewesen, dass er sie nur mit Mühe aus dem Bett hatte manövrieren können. Wieder belebt hatte ihn erst die Dusche, unter der er sich alle Zeit der Welt hatte lassen können, ohne sich Gedan‐ ken darüber machen zu müssen, ob jemand hereinwollte, weil er sein eigenes Gästebad hatte, was bei Daans Eltern nicht der Fall gewesen war. Daan hatte ihm frische Unter‐ wäsche (blaue Boxershorts, rotes T‐Shirt) geliehen und, statt seines strapazierten Pullovers, ein altes, schwarzes, locker sitzendes Jackett, das Jacob, obwohl es einen Tick zu groß war, ziemlich gut gefiel, weil er sich darin anders fühlte, holländischer und ergo nicht mehr so offenkundig englisch, was ihn amüsierte, denn auf dem Etikett innen stand Vico Rinaldi. Auf dem Bahnhof war mächtig Betrieb gewesen und der Zug war voller unternehmungslustiger Samstagspassa‐ giere, Touristen mit Gepäck, Einheimische mit ihren Ein‐ käufen, ein hoher Anteil von jungen Leuten mit sperrigen Rucksäcken und Sporttaschen, munter schnatternd, aber nicht laut. Sie hatten so etwas geradlinig Frisches, äußer‐ lich und in ihrer Art, gar nicht englisch, aber auch nicht bedrohlich fremd. Nicht so, wie er war, dachte Jacob, aber 199
so, wie er manchmal gern wäre. Er versuchte, es genauer zu fassen zu kriegen, dieses attraktive Etwas, war aber immer noch bei nichts Besserem als »non‐aggressives Selbstvertrauen« gelandet, als der Zug in Haarlem hielt und die meisten Leute ausstiegen. Daan faltete seine Zeitung zusammen und beugte sich zu Jacob. »Noch eine Station. Tessel ist dort im Verpleeghuis. Wir bleiben nicht lange, das würde Geertrui zu viel. Die Krankenschwestern wissen, dass du kommst, also hat der Arzt Geertrui vermutlich eine Extradosis gegeben, um die Schmerzen in Schach zu halten, solange wir da sind. Ich lass dich’s wissen, wenn es Zeit zum Gehen ist. Also müsste es so weit okay sein, nicht zu viel für dich.« Nicht zu viel für dich klang irgendwie abschätzig, als wollte Daan sagen, dass Jacob der Situation nicht gewach‐ sen sei, nicht stark genug, den Schmerz der todkranken, alten Frau auszuhalten, und dass man es ihm daher er‐ sparen müsse. Und dass er ein Außenstehender war, kein Familienmitglied, nur ein Besucher, den man nach allen Regeln des Anstands nicht mit quälenden internen Din‐ gen belasten durfte. Ihn ärgerte beides, diese Einschät‐ zung und dass es so war. Aber, fragte er sich, als der Zug anfuhr, war es angemessen, so auf etwas zu reagieren, was doch letztlich nur eine hingeworfene Bemerkung war, nicht so gemeint, wie es bei ihm ankam? Doch was immer Daan gemeint oder nicht gemeint hatte, er hatte wieder einmal einen Nerv getroffen. Entschlossenheit konzentrierte sich in ihm, fühlte sich an wie ein Kraftfeld um sein Rückgrat. Was immer er vorfin‐ 200
den würde, er würde dem nicht ausweichen und es nicht von sich fern halten, sondern es akzeptieren. Sich hinein‐ begeben. Und zwar um seiner selbst willen. Um seiner Selbstachtung willen. So viel wusste er. Es überraschte und freute ihn. Also doch nicht so ein Waschlappen. Vielleicht. Er hatte sich das Pflegeheim als ein heimeliges, kleines Gebäude vorgestellt, wo eine Hand voll alter Leute in Frieden ihre letzten Tage verbrachten, getröstet durch die Zuwendung hingebungsvoller Pflegerinnen. Aber das Gebäude, zu dem Daan ihn führte, war riesig. Drei Stock‐ werke und mehrere Trakte, ausgehend von dem zentralen Block in einem gepflegten Park mit einer Menge Bäumen und Blumenbeeten, die zweifellos dazu gedacht waren, diesem Ort etwas von einem noblen Landsitz oder einem Luxussanatorium zu geben. Doch das alles überspielte weder die fabrikartigen Ausmaße des Heims noch das unablässige Kommen und Gehen von Pkws, Vans, Klein‐ bussen, Fahrrädern, Krankentransportfahrzeugen und Leuten – Patienten, Besucher, medizinisches Personal. Ja, es war gar kein Heim in irgendeinem üblichen Sinn des Wortes, sondern es war ein geschäftiges Krankenhaus zur Behandlung all der unzähligen Leiden und Gebrechen, der Unfälle und Kalamitäten, die ältere Mitbürger, Senioren, Menschen im dritten Lebensalter nun einmal ereilten – einschließlich der letzten Unausweichlichkeit des Todes. Und, dachte Jacob, wie die Menschen doch darauf behar‐ ren, sich durch Euphemismen selbst zu betrügen. Wie 201
etwa: heimgegangen, hinübergegangen, von uns gegan‐ gen, abberufen, vom Herrn zu sich genommen, verschie‐ den, entschlafen, heimgeholt. Ganz zu schweigen von den eher komischen Prägungen, die man besser nicht in Gegenwart frisch gebackener Hinterbliebener benutzte: abnibbeln, ins Gras beißen, die Hufe einklappen, abtreten, den Geist aufgeben, die Radieschen von unten betrachten, abkratzen, den Löffel abgeben. Was alles nichts weiter hieß als tot und sterben. Die einzigen Worte, die genau das sagten, was gemeint war. Weshalb die Leute sie an‐ scheinend lieber nicht benutzten. Jetzt waren sie in der Haupteingangshalle, die, wie Daan sagte, »der Dorfplatz« genannt wurde (wieder so ein Euphemismus). Jacob fand, dass sie Ähnlichkeit mit der Abfertigungshalle eines kleineren Flughafens hatte. Eigentlich gar nicht unpassend, wenn man’s recht be‐ dachte. Nicht nur Check‐in‐Schalter (receptie, informatie), sondern auch kleine Läden, Bücherkiosk, Blumenstand, Café, Wartebereiche, ja sogar Besprechungsräume. Alles gespickt mit Zimmerbäumen und ‐büschen in klobigen Plastikkübeln. Und genau wie unter Flugpassagieren und ihrer Begleitung überspielte eine künstliche Gelassenheit und Munterkeit nur unzulänglich die Langeweile, Nervo‐ sität, Ungeduld, Erleichterung und den generellen Wunsch, nicht hier zu sein, der wie emotionaler Schweiß aus allen Poren drang, aus denen der Demnächst‐Patien‐ ten und ihrer Begleiter, aus denen der Verabschiedeten und der Verabschiedenden, aus denen der Demnächst‐ Ex‐Patienten und ihrer Abholer. (Die Leichen der Ver‐ 202
storbenen, dachte er, wurden wohl durch einen diskreten Hinterausgang hinausgekarrt, damit die Lebenden, Patienten wie Besucher, nicht mit dem wahren letzten Grund ihres Hierseins konfrontiert würden.) Jacob war froh, dass Daan hier nicht länger verweilte, sondern rasch auf einen Lift zustrebte, der sie in den dritten Stock brachte. Hier führte er ihn durch einen breiten Korridor mit Glaserkern, in denen Leute saßen und auf den Park hinunterguckten. Sehr nett und zivili‐ siert, dachte Jacob, aber dennoch ein Krankenhaus, mit Krankenhausgeräuschen und ‐gerüchen. Und was das Schlimmste war, mit dieser lauwarmen, desinfektionsmit‐ telgeschwängerten Luft, die einem gleichzeitig stickig und zu trocken erschien und so, als wäre sie immer wieder durch fiebrige Lungen zirkuliert, ohne je zur Regeneration ins Freie zu gelangen. Überall Anzeichen dafür, dass man sich Gedanken gemacht hatte, dass man versucht hatte, diesen Ort zu etwas anderem zu machen, als er war – wohltuende moderne Farben an den Wänden, hübsch gerahmte Bilder, noch mehr echte Pflanzen, gesel‐ lig gruppiert, bequeme Sessel, fröhliche Vorhänge – alles besser als in irgendeinem Krankenhaus, das er zu Hause gesehen hatte, einschließlich des relativ neuen, in das Sarah kürzlich für die Hüftoperation gekommen war, die sie daran gehindert hatte, jetzt hier in Holland zu sein. Geertrui lag in einem Einzelzimmer, als Einzige auf der Station. In allen anderen Zimmern waren sechs, vier oder zwei Personen. Eine Konzession, hatte Daan erklärt, ein 203
letztes Privileg. Während Daan zu seiner Großmutter hinging, um sie zu begrüßen, stand Jacob in der Tür, schwankend zwischen Raus und Rein. Geertruis weißhaariger Kopf ruhte auf einem Wall aus weißen Kissen, in einem weißen Eisenbett mit weißen Laken. Die Zimmerwände waren rosa. Auf einem weißen Nachttisch ein Stillleben von Farben: eine Keramikschale mit Orangen, Äpfeln, Birnen, Bananen; eine blaue Glas‐ vase, übervoll mit roten Rosen; ein bronzegerahmtes Foto‐Tryptichon, das zwei Männer und eine Frau zeigte. Die Frau, erkannte Jacob, war Mrs van Riet, Daans Mut‐ ter, jünger als jetzt. Der eine Mann war Daan. Den ande‐ ren kannte er nicht. Keine Spur von irgendetwas Medizi‐ nischem, kein Hinweis auf Krankheit. Aber das war wohl Absicht. Wie ein extra für den Besuch aufgeräumtes Wohn‐zimmer. In der Luft spürte er jedoch Spannung, ein unbehagliches Schweigen. Sie ist, dachte Jacob, wie eine Motte, die sich für den Winterschlaf eingesponnen hat. Aber ihre großen, tief ein‐ gesunkenen Augen waren wach und musterten ihn an Daans Kopf vorbei, als dieser sich bückte, um seiner Großmutter langsam und behutsam einen Drillingskuss zu geben. Mrs van Riet, Tessel, saß in dem einzigen Sessel auf der einen Seite des Betts. Sie stand auf und kam zu Jacob herüber. »Tut mir Leid, dass du solche Probleme hattest«, sagte sie gedämpft. »Fühlst du dich bei Daan wohl?« 204
»Ja, alles bestens, danke.« »Morgen bringe ich dich zu der Gedenkfeier in Ooster‐ beek. Ich komme dich um neun Uhr fünfzehn abholen. Bitte, sei dann fertig, wir dürfen den Zug nicht verpassen. Wir reden dann miteinander.« »Neun Uhr fünfzehn. Okay.« »Jetzt werde ich einen Kaffee trinken gehen, während du bei Mutter bist. Sie besteht darauf, mit dir allein zu sein.« Mrs van Riet ging und ließ ihr Unglücklichsein hinter sich zurück wie einen Kondensstreifen. Daan stand an Geertruis Bett, wartete, dass Jacob so weit war. Geertrui lag reglos da, die ausgewaschen‐blauen Augen auf ihn gerichtet. »Geertrui«, sagte Daan, »dit is Jacob.« Als er sich nicht rührte, weil er es nicht konnte, sagte Geertrui lächelnd: »Bitte. Komm her.« Daan platzierte einen Stuhl so, dass Geertrui Jacob sehen konnte, ohne den Kopf heben zu müssen. Der Ausdruck »wie auf rohen Eiern gehen« leuchtete Jacob zum ersten Mal ein, als er jetzt das Zimmer durch‐ querte und sich auf die Stuhlkante setzte. Es war Geertruis musternder Blick, der ihn nervös machte. Keine Frau, mit der man es sich verscherzen wollte. Besser gerade sitzen. Und doch war sie kaum vorhanden. So wenig Anzeichen von einem Körper unter der Decke, dass man denken konnte, da seien nur ein körperloser Kopf und zwei auf der Bettdecke ruhende Arme, die in feinen kleinen Händchen endeten, fast wie die Hände eines kleinen Mädchens, nur dass sie mit braunen Alters‐ 205
flecken gesprenkelt waren. »Guten Tag, Mrs Wesseling«, sagte Jacob. »Ich soll Ihnen Grüße von Sarah bestellen. Sie hat mir auch ein Geschenk und einen Brief mitgegeben, aber das ist beides bei mei‐ nen Sachen in ... Na ja, das wissen Sie ja vermutlich.« »Ich hab’s ihr erklärt«, sagte Daan. »Ich lasse euch beide jetzt allein. Ich bin nur ein Stück den Korridor runter. Geertrui schickt dich zu mir raus, wenn’s Zeit zum Gehen ist. Okay?« Jacob nickte. Daan warf ihm einen Blick zu, der besagte: »Bleib nicht zu lange.« Dann sagte er etwas auf Nieder‐ ländisch zu seiner Großmutter und küsste sie wieder. Er sprach mit ihr in einem Ton, den Jacob bei ihm noch nie gehört hatte. Ganz sanft, zärtlich, intensiv. Wie ein Liebender mit seiner Geliebten. Bei alldem wandte Geertrui den Blick nicht von Jacob. Daan ging hinaus, schloss die Tür leise hinter sich. Es entstand eine lange Schweigepause, bis sie schließlich etwas sagte. »Du hast die Augen deines Großvaters.« Jacob lächelte. »Das sagt meine Großmutter auch.« »Und sein Lächeln.« »Auch das.« »Sein ... Naturell?« »Teilweise. Ich bin anscheinend nicht so praktisch, wie er war. So geschickt mit den Händen, meine ich. Mit Werk‐ zeug. Er hat gern Sachen fabriziert.« »Ich weiß.« »Sogar Möbel. Sarah hat immer noch welche in Gebrauch. 206
Und gegärtnert, er hat Gartenarbeit geliebt, während ich sie hasse. Er war ein großer Leser, das haben wir gemein‐ sam. Aber ich bin sicher nicht so mutig wie er.« »Hättest du je Grund dazu gehabt?« »Mutig zu sein? Braucht Mutigsein einen Grund?« »Ohne geht es nicht.« Zum ersten Mal, seit er im Zimmer war, wandte sie den Blick von ihm. Er konnte seinen immer noch nicht von ihr lösen. Aber jetzt, wo sie ihn nicht mehr direkt ansah, konnte er sich weit genug entspannen, um sich zurück‐ zulehnen. Nach einer Schweigepause sagte Geertrui: »Du wohnst bei deiner Großmutter?« »Ja.« »Nicht bei deinen Eltern.« »Nein.« Er wartete, wusste, dass sie gern eine Erklärung hätte, tat aber ganz unschuldig. Würde sie versuchen, es ihm irgendwie zu entlocken, oder würde sie direkt darauf lossteuern? Ein Spiel, das er mit Sarah gern spielte. »Würdest du mir erzählen, warum?« Direkt. Nicht die Frau, die sich die Zeit mit Spielchen ver‐ trieb. Jedenfalls nicht jetzt, wo ihr nur noch so wenig Zeit blieb. »Wenn Sie möchten.« »Ja.« Auch diese Stimmung kannte er. Erzähl mir eine Ge‐ schichte, unterhalte mich. War das sein Job für heute, der Grund, weshalb er hier war? Kleine Kinder wollten Ge‐ 207
schichten hören, um besser einschlafen zu können. Viel‐ leicht wollten alte Leute Geschichten hören, um besser sterben zu können. Na ja, dachte er, wenn ich deshalb hier bin, soll es mir auch recht sein. Nicht der schlechteste Job. Und es ist allemal leichter als Konversation zu machen. Mache den Anfang mit dem Anfang. »Sie wissen ja, ich habe eine ältere Schwester, Penelope, und einen jüngeren Bruder, Harry. Penny – unser Vater nennt sie Poppy – ist drei Jahre älter als ich, Harry ist achtzehn Monate jünger, also fünfzehneinhalb. Mein Vater vergöttert Penny. Na ja, sie vergöttern sich gegen‐ seitig. So, dass es in meinen Augen schon ans Obszöne grenzt.« Er lachte, aber es kam keine Reaktion. »Ich weiß, Freud hat gesagt, dass Söhne in ihre Mütter verliebt sind und am liebsten ihre Väter umbringen würden, aber bei uns zu Hause ist das nicht so. Das Problem ist die Liebe Vater‐Tochter und umgekehrt. Aber wenigstens wollen sie meine Mutter nicht umbringen.« Immer noch keine Reaktion. »Also, das Mutter‐Sohn‐Ding heißt doch Ödi‐ pus‐Komplex. Ich wüsste gern, ob es für das Vater‐Toch‐ ter‐Ding auch einen Namen gibt.« »Elektra«, sagte der Kopf im Bett. »Elektra?« »Elektra‐Komplex. Tochter von Agamemnon und Kly‐ tämnestra. Kennst du sie nicht?« »Nein.« »Elektra hat ihren Bruder Orest dazu gebracht, die Ermor‐ dung des Vaters durch Ägisth, den Liebhaber ihrer Mut‐ ter, zu rächen. Erzähl weiter.« 208
»Okay. Danke. Na ja, Penny ist Substitutin in einer Bouti‐ quenkettenfiliale. Wir verstehen uns überhaupt nicht. Ich finde, sie ist ein modebessener Zombie, und sie findet, ich bin ein langweiliger, aufgeblasener Snob. Jedenfalls hat sie mich das letzte Mal so tituliert. Harry ist der Liebling unserer Mutter. Nicht nur, weil er der Jüngste ist, sondern auch, weil es so schwierig war, ihn überhaut zu kriegen. Er ist gut in Sport, also mag Vater ihn auch, und er spielt Oboe in unserem örtlichen Jugendorchester. Und er sieht außerdem sehr gut aus. Im Grund ist er in allem so gut, dass ich ihn hassen müsste, aber das tue ich nicht. Ich habe ihn sehr gern und bin sehr stolz auf ihn. Wir ver‐ stehen uns prächtig. Er will mal Tontechniker werden. Ich bin nicht gut in Sport, spiele gerade so viel Klavier, dass es reicht, um jeden zufälligen Zuhörer zu nerven, sehe nicht besonders gut aus und bin eher ein Einzel‐ gänger. Sie sehen also, ich bin in unserer Familie der, der in der Mitte eingequetscht ist, und gleichzeitig das schwarze Schaf. Aber das ist mir egal, weil ich immer schon ein besonderes Verhältnis zu meiner Großmutter hatte. Mutter sagt, Sarah hat mich von meiner Geburt an unter ihre Fittiche genommen. Sie war es, die darauf bestanden hat, dass ich nach meinem Großvater Jacob genannt werden sollte. Mutter war das recht, aber Vater war dagegen.« »Warum?« »Dad hat seinen Vater ja nie gekannt, weil Jacob schon tot war, als er zur Welt kam. Aber das wissen Sie ja alles. Sarah hat mir erzählt, Dad wurde an Jacobs letztem Ur‐ 209
laubswochenende gezeugt, ein paar Tage, bevor er in die Schlacht geschickt wurde. Und außerdem hat es Dad nie gepasst, dass Sarah ihren Jacob so idealisiert – wie er’s nennt – und ihre drei Ehejahre – wieder seine Formulie‐ rung – so verklärt. Er sagt, das sei ungesund. Keine Bezie‐ hung, sagt er, sei so perfekt, wie Sarah ihre zu Großvater darstellt, egal, wie sehr sich die beiden lieben. Ich kann das nicht beurteilen. Ich weiß nur, dass sie nie wieder geheiratet hat. Sie hatte eine Reihe Freunde, aber sie sagt, keiner konnte Jacob das Wasser reichen. Ich glaube, für sie ist es irgendwie so, dass sein Tod nicht das Ende ihrer Liebe war, sondern sie für immer konserviert hat. Sarah ist sehr entschieden. Wenn sie mal was beschlossen hat, dann bleibt’s auch dabei, dann gibt’s kein Zurück. Stur, sagt Dad. Aber Dad und Sarah sind nie so besonders miteinander ausgekommen. Sie sind wie Feuer und Wasser, sagt Mum. Man braucht sie nur in einem Zimmer allein zu lassen und nach fünf Minuten bricht der dritte Weltkrieg aus. Und Dad hat wirklich ein Ding weg, weil er keinen Vater hatte. Sobald ich mich über etwas beschwert habe, was irgendwie mit ihm zu tun hatte, hat er sofort gesagt: ›Du solltest froh sein, dass du einen Vater hast, über den du dich beschweren kannst.‹ Aber das hat mich nur noch mehr geärgert. Einmal hat es mich so geärgert, dass ich ihn angebrüllt habe, wenn einer froh sein könne, dann er, weil ich wollte, ich hätte keinen Vater, jedenfalls nicht ihn. Da war ich ungefähr elf. Ich glaube, das sollte mehr so ein wütender Witz sein, Sie wissen ja, wie das so ist, 210
wenn man sich in der Familie streitet. Aber Dad hat’s nicht so genommen. Das war das einzige Mal in meiner ganzen Kindheit, dass ich dachte, er würde mich schla‐ gen. Er hat’s nicht getan, weil er strikt gegen Gewalt ist. Aber er war so außer sich, wie ich es sonst nie erlebt habe. Er ist aus dem Zimmer gestürmt und in seiner Werkstatt verschwunden – er ist ein großer Heimwerker, süchtig danach – und ewig nicht wieder aufgetaucht. Mum war stinksauer auf mich. Hielt mir eine Mordsstandpauke. Sehr zur Zufriedenheit meiner Schwester, wie ich wohl nicht extra zu sagen brauche. Dad und ich, wir haben uns gut verstanden, als ich klein war, bis ich zehn war etwa. Ich weiß nicht, was dann passiert ist. Na ja, Verschiedenes wohl. Dad hat sich end‐ gültig damit abgefunden, dass für mich Fußball nicht zu den wichtigen Dingen im Leben gehörte und dass ich nie ein Do‐it‐yourself‐Fan werden würde. Mir hat es nicht gepasst, wie er und Penny plötzlich miteinander umgin‐ gen, er war total vernarrt in sie, ist es bis heute. Jedenfalls fingen wir ernsthaft an zu streiten. Ich weiß, es klingt sicher albern, aber der Wendepunkt kam eines Tages, als ich etwa dreizehn war und plötzlich merkte, dass ich Dads Witze nicht mehr komisch fand. Und das war’s. Von da an war er nur noch dieser Mann, der zufällig mein Vater war, aber ansonsten vor allem peinlich, so eine Art Relikt aus den Sixties. Mit seinem langen, strähnigen Haar, das oben immer dünner wurde. Und seiner dämlichen Omabrille. Und immer mit diesem Ausdruck um die Augen, als ob er gerade aufgestanden 211
wäre, nachdem er gar nicht erst geschlafen hatte. Und dann dieser fette Bauch über den Stone‐washed‐Jeans, die seinen schlaffen Hintern voll zur Geltung bringen. Er sieht aus wie ein aus dem Leim gegangener John Lennon. Wobei John Lennon – wer sonst! – sein großes Idol ist und Beatles‐Songs die Krone seines Musikgeschmacks sind. Sarah sagt, er ist bleibend infiziert worden, als diese hirn‐ erweichenden Flower‐Power‐Toxine aus den USA über den Atlantik geschwappt sind, damals, Ende der sech‐ ziger Jahre, als Dad ein Twen war. Ach, übrigens, wissen Sie, wo er und Mom sich kennen gelernt haben? Auf einem so genannten Rolling‐Stones‐Konzert. Verzeihung, wenn ich kichere.« Jacob hielt inne, weil er merkte, dass er sich hatte hin‐ reißen lassen, dass das Erzählen die Oberhand über die Geschichte gewonnen hatte. Hatte er’s übertrieben? Geer‐ truis Augen waren geschlossen, aber er wusste, sie hörte zu, und ein belustigtes Lächeln ermutigte ihn weiterzu‐ machen. »Jedenfalls, das war der Stand der Dinge, als ich vierzehn war und Mom ins Krankenhaus musste, zu einer großen Operation, nach der es Wochen dauerte, bis sie wieder auf dem Damm war. Vater und Penny kamen gemeinsam mit dem Haushalt klar, und Harry, na ja, Harry war kein Problem. Aber ich. Ich war eins. In der ersten Woche, als Mum weg war, wurden die Streitereien zwischen Dad und Penny und mir richtig schlimm. Also hat Sarah ange‐ boten, ich soll doch zu ihr ziehen, bis Mom wieder zu Hause und gesund ist. Um uns alle zu entlasten, hat sie 212
gesagt. Und ausnahmsweise war Dad mal ihrer Meinung. Sarah wohnt in einem Cottage, etwa vier Meilen von meinen Eltern, also kann ich jederzeit heimradeln, wenn ich will, aber gleichzeitig bin ich weit genug weg, dass wir uns nicht in die Haare geraten. Und, wie gesagt, Sarah und ich, wir verstehen uns wirklich gut. Wir mögen dieselben Sachen – Musik, Bücher, Theater und so was. Und jeder von uns ist gern ziemlich viel für sich. Irgendwann war Mutter dann wieder gesund. Es hat etwa vier Monate gedauert. Aber inzwischen war ich so glück‐ lich bei Sarah, dass ich nicht wieder zurückwollte. Was, wie ich wohl kaum sagen muss, allen recht war. Außer Mum. Ich habe noch nicht gesagt, oder, dass ich Mum sehr gern habe? Sie ist nicht in den Sixties stecken geblie‐ ben, so wie Dad, und sie ist auch nicht aus dem Leim gegangen. Nicht, dass sie versucht, sich ewig jugendlich zu geben, das meine ich nicht. Ich glaube, ich meine, sie ist so alt, wie sie ist, aber innerlich jung geblieben. Mum ist übrigens diejenige, von der Harry sein gutes Aussehen hat. Und er ist überhaupt in vielem wie Mum, weshalb ich mich vermutlich auch so gut mit ihm verstehe. Ich weiß, Harry ist ihr Kind der Liebe, wie Sarah das nennt, aber das macht mir nichts aus, weil ich auch weiß, dass Mum und ich Freunde sind. Inzwischen denke ich, das ist das Größte, was man über einen Elternteil sagen kann. Ich konnte ihr immer alles erzählen und mit ihr über alles reden. Also haben Mum und ich drüber geredet und beschlossen, dass ich bei Sarah bleiben soll, aber jederzeit willkommen bin, sollte ich wieder in das zurückwollen, 213
was ich nicht mehr als mein Zuhause betrachte. So kam es, dass ich bei meiner Großmutter wohne.« Vom Korridor drangen Krankenhausgeräusche herein. Geertruis Augen gingen auf. Zum ersten Mal bewegte sich ihr Kopf. Sie sahen einander an, Aug in Aug. Schließlich sagte Geertrui: »Und hast du ihm verziehen?« »Wem?« »Deinem Vater.« »Was?« »Dass er dein Vater ist.« Die Frage brachte ihn ins Stolpern. »Ob ich ...? Wie ...?« Geertrui wartete einen Moment, ehe sie fragte: »Bist du froh, dass du am Leben bist?« Jacob holte tief Luft. Sein Herz schlug schneller und er merkte, wie er rot wurde. Für eine dahinschwindende Motte hatte diese Frau den Biss eines Rottweilers. Er brachte heraus: »Ja. Na ja, meistens. Manchmal nicht. Ab und zu bin ich mal deprimiert und dann wünsche ich mir ... Sarah nennt das meine Mausstimmungen und sagt, da würde ich rauswachsen.« Geertrui gab ein kurzes, trockenes Lachen von sich, das klang, als ginge jemand über Schotter. »Alles nur Biologie!«, sagte sie. Er war sich nicht sicher, ob das ironisch gemeint war oder nicht. Aber er war froh über die Gelegenheit zu lächeln und »Ja!« zusagen. Geertruis Kopf wandte sich ab, und ihre Augen schlossen 214
sich wieder. Nach einer Schweigepause sagte sie: »Daan hat dir er‐ klärt, was mit mir passieren wird?« Er konnte nur nicken, obwohl sie gar nicht herschaute. »Verstehst du’s?« Erneutes tiefes Lufthohlen, ehe er sagte: »Ich glaube schon.« »Billigst du’s?« »Ich –« »Nein.« Geertrui unterbrach ihn. »Billigen ist nicht das richtige Wort. Es ist nicht an dir, es zu billigen oder nicht zu billigen. Warte.« Wieder Schweigen. Dann: »Würdest du so was selbst tun?« Jacob rang mit der Frage, dachte an seine Tränen gestern, fürchtete, sie könnten wiederkommen. Das war nicht der richtige Moment. Da war zu viel. Und zu wenig Zeit. Zeit, Zeit! Plötzlich schien sich alles um die Zeit zu dre‐ hen. Alle Zeit der Welt. Alles zu seiner Zeit. Kommt Zeit, kommt Rat. Zeit ist Leben und Leben ist Zeit. Kinder, wie die Zeit vergeht. Zeit abgelaufen. »Ich weiß nicht«, sagte er in ernsthaft‐festem Ton. »Ich weiß es wirklich nicht. Theoretisch ja. Aber ... faktisch. Es scheint mir so ...« Es kam nichts mehr heraus. Ein Kehlkopfverschluss tief in seinem Inneren. Geertrui räusperte sich den Schotter aus der Kehle, ehe sie sagte: »Dann bist du doch froh, dass du lebst.« Eine Feststellung, keine Frage. 215
Jacob schwieg kurz, ehe er sagte: »Ja, ich glaube schon.« »Selbst während deiner – wie hieß das noch mal?« »Mausstimmungen.« »Ja, selbst während deiner Mausstimmungen spielst du nur mit dem Gedanken, nicht zu sein.« Sie räusperte sich wieder. »Biologie, verstehst du. Es ist eine Sache der Biologie, dass wir leben wollen und nicht sterben. Und es ist eine Sache der Biologie, dass wir an einen Punkt kom‐ men, an dem wir sterben wollen und nicht leben. Wichtig ist...« Schmerz zuckte über ihr Gesicht. Sie hielt ein paar Se‐ kunden den Atem an. Schweiß glänzte auf ihrer Haut. Ihre Hände auf der Bettdecke waren zu Klauen ge‐ krümmt. Erschrocken sagte Jacob: »Alles in Ordnung? Soll ich jemanden rufen?« Geertrui hob eine zur Faust gekrümmte Hand, signali‐ sierte ein Nein. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder entspannte. »Du musst jetzt bald gehen.« Ihre Stimme klang gepresst. »Aber vorher muss ich dich noch zwei Dinge fragen.« Sie schürzte die trockenen Lippen und rieb sie aneinander. »Morgen fährst du nach Oosterbeek. Kommst du mich Montag noch einmal besuchen? Da ist etwas, was ich dir geben möchte.« »Ja. Klar.« »Jetzt die andere Frage. Würdest du mir etwas vorlesen. Ein kurzes Gedicht.« Wer kann einer Todkranken etwas abschlagen? »Wenn 216
Sie’s möchten. Ich weiß nicht, wie gut ich ...« »Dein Großvater hat es sehr gemocht. Er hat es mir vorge‐ lesen. Ich würde es gern von dir hören.« Jacob brachte nur ein Nicken zustande. »Meine Nachttischschublade. Das Buch, das da liegt. Die Seite, wo der Zettel steckt.« Ein ramponiertes, eselsohriges Buch, der rotbeige Ein‐ band verschossen und schmuddlig. »Der Ben Jonson?«, fragte er. Geertruis Kopf drehte sich zu ihm und ihre Augen sahen ihn wieder an, eindringlich, verschlingend. Er hatte das Gedicht noch nie gesehen. Er ging die paar Zeilen durch, probte sie einmal im Stillen, weil er Angst hatte, über das unvertraute Englisch des frühen siebzehn‐ ten Jahrhunderts zu stolpern. Zeit. Zeit. Er holte tief Luft, redete sich zu, ganz ruhig zu bleiben, sich zu konzentrieren, nur auf die Worte zu sehen, sich an die Zeilen zu halten, der Interpunktion zu trauen: so wie man es ihm bei den Proben zu dem Schottendrama beige‐ bracht hatte. Er atmete ein. Und begann. »Nicht schierer Wuchs, dem Baume gleich, Macht eines Menschen Leben reich, Noch einer Eiche Zeit in Stolz zu stehn, Um dann als morscher Stamm zu End zu gehn: Der Lilie flücht’ges Blühn Beglückt und ist dahin, Sie sieht den nächsten Morgen nicht; 217
Doch war sie Blum geword’nes Licht. Die Schönheit achtet’s nicht, ob groß, ob klein; Das Kurzbemessne kann vollkommen sein.« Draußen hallten Klinikgeräusche. Im Zimmer füllte Krankenhausduft die Stille.
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GEERTRUI Diese unschuldige, glückliche Zeit endete eines frühen Morgens. Bis dahin waren unsere Aufstehgewohnheiten so gewesen: Herr Wesseling stand um halb sechs als Erster auf. Er brachte das Feuer im Küchenherd wieder zum Brennen, ehe er hinausging, um sich an seine Arbeit zu machen und zu kontrollieren, ob Dirk und Henk wach waren, denn die beiden standen als Nächste auf, um die Kühe zu melken. Um sechs folgte Frau Wesseling ihrem Mann aus dem Bett und bereitete das Frühstück für sieben Uhr. Ich erhob mich nach ihr und verrichtete ein paar Haushaltstätigkeiten, bis das Frühstück fertig war. Wenn wir gefrühstückt hatten, brachte ich Jacob seinen Kaffee und vollzog unser Weckritual. Doch an diesem Morgen lagen Frau Wesseling und ich noch in unseren Betten und Herr Wesseling kümmerte sich gerade um das Feuer, als Dirk plötzlich aus dem Kuhstall hereingestürzt kam und schrie: »Deutsche! Deut‐ sche!« Das war ein Wort, das uns wie eine Zauberformel sofort in heftigste Aktivität versetzte. Dirk hatte sich im Versteck angezogen und durch einen glücklichen Zufall aus der Dachluke einen deutschen Lastwagen von der Hauptstraße in unseren Fahrweg einbiegen sehen. Sobald wir seinen Warnruf hörten, rannte Herr Wesseling nach 219
draußen, um die Soldaten abzufangen und so lange wie möglich am Betreten des Hauses zu hindem. Frau Wesse‐ ling lief aus ihrem Zimmer an die Treppe und rief Dirk zu, er solle wieder ins Versteck gehen. Was mich betrifft, so galt mein erster Gedanke Jacob. Ich stürzte aus dem Bett und rannte, seinen Namen rufend, zu seinem Zim‐ mer, weil mir klar war, dass er irgendwie aus dem Bett kommen und weggebracht werden musste. Aber wohin? Als ich bei ihm angelangt war und ihn wachgerüttelt hatte, kam auch schon Frau Wesseling herein, genau wie ich im Nachthemd, das Haar offen und schlafwirr, und Dirk kam, trotz der ängstlichen Zurufe seiner Mutter, bar‐ fuß die Hintertreppe heraufgerannt. »Wo sind sie?«, rief ihm Frau Wesseling zu. »Auf unserem Weg, in einem Lastwagen«, rief Dirk zurück. »Vater ist draußen, um sie aufzuhalten.« Gleichzeitig erklärte ich Jacob, was los war, und half ihm aus dem Bett. Doch sein verletztes Bein ver‐ mochte immer noch nicht sein Gewicht zu tragen, ja, er konnte es nicht einmal bewegen, ohne große Schmerzen zu haben. Er saß auf der Bettkante, als Dirk hereinkam. »Schnell, schnell«, sagte Dirk. »Ich nehme ihn Hucke‐ pack.« »Nein, nein«, rief Frau Wesseling. »Keine Zeit. Das schaffst du nie. Sie werden überall sein. Geh, geh! Uns fällt schon was ein.« So wie mein erster Gedanke Jacob gegolten hatte, galt ihrer Dirk. Egal, wen sie erwischten, sie selbst eingeschlossen, aber nicht ihr einziges Kind. Dirk versuchte zu widersprechen, aber seine Mutter, völ‐ lig außer sich, packte ihn an den Armen, drängte ihn mit ihrem ganzen Gewicht aus dem Zimmer und rief: »Ver‐ 220
steck dich, Dirk, los, versteck dich!« Inzwischen hörten wir die Deutschen schon in den Hof fahren. Und jetzt packte auch mich die Angst. »Was sollen wir tun?«, hörte ich mich sagen. Diese entsetzliche Panik. So etwas habe ich, glaube ich, in meinem Leben nie wieder erlebt. Und das, während ich Jacob aufzuhelfen versuchte und er ebenfalls erregte Worte – auf Englisch natürlich – hervorstieß, die ich (damals!) nicht verstand. Später erklärte er mir, er habe auf sich selbst geschimpft, weil er sich die letzten paar Tage einfach hatte gehen lassen, während wir einen Plan für solche Notsituationen hätten machen sollen. Aber es seien Tage gewesen, sagte er, in denen er sich in einem Schwebezustand befunden habe, außerhalb von Zeit und Raum, ohne Vergangenheit und Zukunft, einfach nur eine unendliche, losgelöste, verzauberte, zeitlose Zeit. Aber jetzt war der Zauberbann gebrochen. Erst als wir deutsche Befehle durch den Hof hallen hörten und das Klacken von Stiefeln, weil die Soldaten aus dem Lastwagen quollen, da begriff Dirk plötzlich, dass ihm keine Zeit mehr blieb. Er gehorchte seiner Mutter, stolper‐ te die Treppe hinunter und durch die Milchkammer in den Kuhstall, wo Henk wartete, bereit die Leiter hochzu‐ schwenken, sobald Dirk oben war, und den Eingang zum Versteck hinter ihnen zu schließen. Sie schafften es gerade noch. Herrn Wesselings Versuche, die Soldaten aufzuhal‐ ten, indem er sie fragte, was sie wollten, und sich ihre Durchsuchungsgenehmigung zeigen ließ, wurden von dem verantwortlichen Offizier einfach beiseite gefegt. Die 221
Soldaten schwärmten in alle Gebäude aus: zwei kamen mit dem Offizier durch den Kücheneingang ins Wohn‐ haus, zwei gingen durch das große Tor in den Kuhstall. Herrn Wesseling wurde befohlen, bei dem Lastwagen zu bleiben, den der Fahrer bewachte. Sobald Dirk weg war, fasste sich Frau Wesseling in Sekundenschnelle und handelte mit einer Sicherheit, die mich verblüffte. Was ich auch sonst über sie sagen mag, eins muss ich ihr lassen: Sie verfügte über eine bewun‐ dernswerte Selbstbeherrschung und sehr viel Mut. »Ruhig«, murmelte sie, ebenso an sich selbst gerichtet wie an mich. Und dann – als sei alle Emotion aus ihr ge‐ wichen – betrachtete sie mich, wie ich dastand, Jacob stützend, seinen Arm um meinen Hals, sah sich dann im Zimmer um und nach einem kurzen Moment des Nach‐ denkens, der mir wie eine Ewigkeit erschien, breitete sich ein fast schon belustigter Ausdruck über ihr Gesicht. »Schnell«, sagte sie, ging zur Bedstee und öffnete die Tür. Da ihr in England so etwas wie unsere Bedstee wohl nicht habt, sollte ich dir erklären, dass das ein Bett in einer Art Wandschrank ist. Viele alte Häuser hatten das bei uns. Normalerweise war die Bedstee in der Wohnküche, neben dem Herd. Tags‐ über konnte man das Bett aus dem Blickfeld verschwin‐ den lassen, indem man die Tür oder den Vorhang schloss. Nachts war es eine gemütliche Schlafstatt. Und so konnte man den knappen Platz und die wenigen Räume der alten Häuser maximal ausnutzen, ohne dass das Bett im Weg stand oder tagsüber das Auge störte. 222
Wie so viele reichere Bauern hatten die Wesselings ein Obergeschoss mit mehreren Schlafzimmern. Aber den‐ noch hatte man durch die Bedstee im Bedarfsfall einen zusätzlichen Schlafplatz. Zum Glück befand sich in Jacobs Zimmer eine. Ich hatte gar nicht daran gedacht, bis Frau Wesseling jetzt die Tür öffnete. »Rein mit ihm, los«, sagte sie und half mir, den auf einem Fuß hüpfenden Jacob mehr oder minder zur Bedstee zu tragen und hineinzuverfrachten, wobei ich ihm erklärte, was wir taten. »Jetzt du«, sagte Frau Wesseling, sobald Jacob flach auf der Matratze lag. »Was ? Wieso ?«, fragte ich, atemlos von der Anstrengung und Aufregung. »Mach schon. Auf ihn drauf. Schnell!« In einem solchen Moment ist keine Zeit für lange Diskus‐ sionen oder auch nur Erklärungen. Wir hörten schon die Stiefel eines Soldaten drunten über die Steinfliesen klirren und dazu die scharfen Kommandos des Offiziers. Außer‐ dem konnte man sich Frau Wesselings Willen nicht widersetzen, wenn sie so entschlossen war. Also kletterte ich in die Bedstee und legte mich rücklings auf Jacob. Nur um mich sofort mit dem Federbett zuge‐ deckt zu finden, das Frau Wesseling von Jacobs Bett ge‐ rissen und über uns geworfen hatte. »Was wird das?«, flüsterte Jacob mir zu. »Still«, flüsterte ich zurück. »Keinen Mucks!« Jetzt hörten wir die Soldatenstiefel die Treppe heraufstap‐ fen. 223
»Stell dich krank«, murmelte Frau Wesseling mir zu, ehe sie sich zur Tür wandte und hinaus auf den Treppen‐ absatz eilte, wo sie sich dem Soldaten am oberen Ende der Treppe in den Weg stellte. »Was machen Sie hier? Was wollen Sie?«, hörte ich sie zornig auf Deutsch fragen. »Befehl. Aus dem Weg«, erwiderte der Soldat. »Wie kommen Sie dazu! Was für ein Befehl! Zeigen Sie mir den Befehl!« »Ist beim Offizier. Unten. Weg da.« Die Nagelstiefel des Soldaten trampelten den Treppenab‐ satz entlang, zum entferntesten Zimmer. Frau Wesselings bloße Füße tappten hinterher und sie zeterte die ganze Zeit: »Was glauben Sie, was wir hier tun? Eine Armee verstecken? Wir sind Bauern, wir tun unser Bestes, trotz allem Nahrungsmittel zu produzieren, um Leute wie Sie zu ernähren. Wie können Sie es wagen, einfach so hier hereinzuplatzen?« Und der Soldat knurrte immer wieder »Ruhe. Weg da«, während er die Zimmer durchsuchte. Er war nicht sehr sorgfältig, oder vielleicht wollte er auch nur Frau Wesseling möglichst schnell wieder entkommen, denn er tat nicht viel mehr als unter die Betten und in die Schränke zu gucken (wobei er mit dem Gewehrkolben gegen die Schrankrückwand hämmerte, weil wohl be‐ kannt war, dass Leute sich Verstecke in den Wänden hinter Schränken bauten) und die Wände und Decken hier und da auf verdächtige Hohlräume abzuklopfen. Schließlich kam er auf Jacobs Zimmer zu. Frau Wesseling sorgte dafür, dass sie das Zimmer vor ihm betrat, blieb in 224
der Nähe der Tür stehen und schaute zur Bedstee hinüber. Als er hereinkam, sagte sie ruhig: »Besuch. Sie ist krank.« Der Soldat blieb jäh stehen. »Krank?«, fragte er beun‐ ruhigt. »Tuberkulose«, sagte Frau Wesseling mit einer resignier‐ ten Geste und setzte dann hinzu: »Sehr schlimm. Armes Ding. Hoffnungslos.« Über das Federbett hinweglinsend, sah ich die Nase des Soldaten zucken, als röche er die gefürchtete Krankheit. »Mein Gott!«, sagte er, machte auf dem Absatz kehrt und stampfte hinaus und die Treppe hinunter. »Bleib da liegen«, befahl mir Frau Wesseling, als er draußen war, mit stummen Mundbewegungen. Dann ging sie hinter ihm her. Ich lag eine ganze Weile auf Jacob in der Bedstee, ehe ich schließlich die Deutschen davonfahren hörte und Frau Wesseling keuchend die Treppe heraufkam, um mir zu sagen, dass sie meinen Bruder und Dirk nicht entdeckt hätten. Wie lange das war – zehn Minuten, fünfzehn, zwanzig oder sogar mehr – konnte ich nicht sagen. Nicht nur deshalb, weil das Leben damals nicht so von der Uhr diktiert war wie heute und man nicht überall Uhren hatte. Nein, da war noch etwas anderes, was mir jedes Zeit‐ gefühl nahm und sogar die Gedanken an die Soldaten aus meinem Kopf verscheuchte. Während der Soldat in den Schlafzimmern herumgestapft war, hatte ich angststarr in der Bedstee gelegen und meinen Atem und mein jagendes Herz zu kontrollieren versucht. Doch als er es aufgab und nach unten ging, war 225
ich so erleichtert, dass meine Knochen sich in Teig verwandelten und ich reglos liegen blieb, in meinem schweißgetränkten Nachthemd, zu schwach, um mich zu rühren. Da erst wurde ich mir Jacobs bewusst, seines Kör‐ pers, auf den sich meiner mit vollem Gewicht presste, seines zur Seite gedrehten Gesichts unter meiner linken Schulter, seines atmenden Brustkorbs unter meinem Rücken, seiner eckigen Hüften unter den Rundungen meines Hinterns, seiner Beine an den Außenseiten meiner Beine. Ich fühlte seine Wärme durch die klebenden Schichten unserer schweißnassen Nachtwäsche dringen, spürte die Architektur seiner Knochen, die Polster seiner Muskeln. Und da er, als ich auf ihn getaumelt war, instinktiv die Arme um meine Taille gelegt hatte und mich festhielt, während ich das Federbett unter mein Kinn raffte, damit auch bestimmt nichts von uns zu sehen wäre als mein Gesicht, lagen wir in dieser Umklammerung da, zuerst nur erfüllt von der Gefahr in den Nachbarräumen, dann nur noch von der engen Berührung unserer Körper. Noch nie hatte mich jemand so gehalten, noch nie hatte ich die intimen Formen eines Männerkörpers an meinem gespürt. Das allein hätte schon ausgereicht, mich zu ver‐ wirren. Nicht, dass es mir missfallen hätte, nein, ganz und gar nicht. Während mein Herz vorher vor Angst gepocht hatte, pochte es jetzt vor Erregung. Doch dann passierte etwas, was noch verwirrender war. Ich fühlte Jacobs Geschlecht zwischen meinen Schenkeln schwellen. Als würde es jemand mit einer Fahrradluftpumpe aufpum‐ 226
pen. Es wäre gelogen, wollte ich behaupten, ich hätte nicht ge‐ wusst, was da vor sich ging. Aber es wäre auch gelogen, wollte ich behaupten, ich sei mir ganz sicher gewesen, was das für mich hieß. Was sollte ich tun? Wie sollte ich reagieren? Dir muss das unvorstellbar sein. Da ihr heute als junge Leute, ja sogar schon als Kinder, alles über die sexuellen Funktionen des Körpers wisst, ist mir klar, wie unglaub‐ lich es dir vorkommen muss, dass eine junge Frau von neunzehn Jahren, wenn auch nicht völlig unwissend, so doch höchst unsicher sein konnte, was es mit dem schwel‐ lenden Penis eines Mannes auf sich hatte. Aber so war es, und ich muss dich bitten zu akzeptieren, dass das, was ich fühlte, eine so verwirrende Mischung war – aus Über‐ raschung, einer unbekannten Art von sinnlicher Erregung und der Unsicherheit, was ich wollte und was ich sollte — und mich eine so überwältigende Scheu und Schüchtern‐ heit überkam, dass ich wie gelähmt dalag, unfähig zu reagieren, wie es ein Teil von mir wollte, ohne genau zu wissen wie, aber auch unfähig zu fliehen, wie es ein anderer Teil von mir zu müssen glaubte. Alles, was ich konnte, war genauso liegen zu bleiben, während ich in jeder Zelle meines Körpers ein nie da gewesenes Prickeln spürte und auf eine überwache Weise jedes Detail und jede kleinste Bewegung unserer beiden Körper wahr‐ nahm. Mehr passierte nicht. Wir lagen in einem zeitentrückten Zustand des Verlangens da, ich zu schockiert, um mich 227
zu rühren, und Jacob dazu verurteilt still zu liegen, um sich nicht noch mehr zu kompromittieren und meine Gefühle nicht zu verletzen. Bis Frau Wesseling hereinkam und den Bann brach, worauf ich, noch während sie mir nachrief, dass den anderen nichts passiert war, in mein Zimmer floh, weil ich fürchtete, dass mein Gesicht meinen inneren Zustand verraten würde, und mich erst beruhigen musste, ehe ich wieder irgendjemandem in die Augen zu gucken wagte. Jacob, der Ärmste, hatte das alles natürlich nicht beab‐ sichtigt. Die Natur hatte die Absichten des Verstandes überrollt, es war alles die Schuld der Biologie. Man bedenke: ein geschlechtsreifer junger Mann, über Wochen fern von zu Hause, über viele Tage der Anspannung und Anstrengung, dem Hin und Her einer erbitterten Schlacht ausgesetzt, einer Schlacht, die andere in den Wahnsinn trieb, dann verletzt, dem Gemetzel entronnen und schließlich über Tage verwöhnt und gepflegt von einer auf ihre bescheidene Art attraktiven jungen Frau. Und plötzlich dann, in einem schmalen Bett, der Körper eben dieser Frau auf seinem, während akute Gefahr und deren Abwendung seine Nerven aufs Äußerste spannen und wieder lösen und Adrenalinstöße durch seine Adern jagen. Wie sollte der Körper dieses jungen Mannes anders reagieren als der eines Löwen nach getaner Jagd auf den einer Löwin oder als ein Keimling, der sich im Frühjahr durch das Wintereis bohrt? Wir waren um Haaresbreite davongekommen. Ich brau‐ 228
che dir wohl nicht zu sagen, was für ein Schock das plötzliche Auftauchen der Deutschen gewesen war und wie es uns in den Knochen steckte, dass sie so schnell über uns hereingebrochen waren und uns beinahe über‐ rumpelt hätten. Deshalb waren wir uns alle einig, dass es zu gefährlich war, Jacob weiter im Haus zu behalten. Es ging ihm gut genug, um ihn in das Versteck im Kuhstall zu verlegen. Doch dort würde es zu dritt nachts so eng werden, dass Dirk und Henk beschlossen, abwechselnd in einem der Notverstecke in den anderen Nebengebäuden zu schlafen. Diese Entscheidung wurde noch am Morgen der Durch‐ suchung in die Tat umgesetzt. Und während der nächsten paar Tage merkte ich, was für eine unerwartete und uner‐ wünschte Veränderung das in meinem Leben bedeutete. Drei Wochen war Jacob, zuerst im Keller bei uns zu Hause, dann auf dem Hof, Hauptgegenstand meiner Auf‐ merksamkeit gewesen. Ja, er war zum Mittelpunkt meines Lebens geworden. Manche von uns vergessen im Alter, wie total die hingebungsvollen Gefühle einer jungen Frau sein können. Ich nicht. Vielleicht konnte ich es auf Grund der Geschehnisse nicht vergessen. Wenn ich an diese Tage denke, fühle ich immer noch alles genauso deutlich wie damals. Plötzlich, nur eine Stunde, nachdem die wenigen intensi‐ ven Momente in der Bedstee Gedanken, Gefühle, Emotio‐ nen, sinnliche Empfindungen an die Oberfläche gebracht hatten, die sich bis dahin, wenn überhaupt, nur in den tiefsten Tiefen meiner Selbst geregt hatten, plötzlich 229
wurde mir derjenige, der all das ins Leben gerufen, ans Licht gebracht hatte, weggenommen – erstmals, seit man ihn mir ohnmächtig in den Keller gebracht hatte. Was diese jähe Trennung für mich bedeutete, begriff ich nicht sofort, nicht in den nächsten paar Stunden, als wir das Versteck für ihn vorbereiteten und ihn hintrugen, nicht, während ich »sein« Zimmer im Haus aufräumte und seine Bettwäsche wusch, und auch noch nicht wäh‐ rend des restlichen Tages, da ich meinen üblichen Arbei‐ ten nachging, ihm seine Mahlzeiten ins Versteck brachte und bei ihm saß, während er aß. In dieser Zeit gab es zu viel zu tun, und die nachwirkende Angst, die die Durch‐ suchung ausgelöst hatte, betäubte alle weiterführenden Gedanken. In dieser Zeit war ich vor allem erleichtert, dass sie Jacob nicht gekriegt hatten, und froh, dass er noch da war. Doch am Abend und vor allem während der folgenden Nacht im Bett fühlte ich den Verlust. Fühlte die Leere, die er im Haus, in seinem Schlafzimmer neben meinem, hinterlassen hatte. Er war nicht dort, als die Zeit kam, mich nach getaner Arbeit zu ihm zu setzen. Er war nicht da, als ich in der Nacht nach ihm horchen wollte, für den Fall, dass er etwas brauchte. Er würde nicht da sein, allein in seinem Zimmer, wenn es Zeit für unser zärtliches Weckritual wäre. Und erst in dieser Nacht, nachdem ich ihn im Versteck besucht hatte, um ihm gute Nacht zu sagen, und ihn mit Henk und Dirk dabei vorgefunden hatte, wie sie selbst gebrautes Bier tranken und übel riechende Kriegszigaretten rauchten, und mir eine so 230
fremde und mich – als Frau – ausschließende Stimmung entgegengeschlagen war – erst da, als ich im Bett lag, kamen mir die Tränen. Und als ich sie trocknete, kamen die Fantasien des ersten sexuellen Sehnens. Ich fühlte wieder seinen Körper in der Bedstee unter meinem, fühlte seine Erektion an meinem Schenkel, erträumte mir, dass seine Hände mich berührten und seine Stimme mir sanfte Worte ins Ohr flüsterte, so wie die, die er mir erst am Abend zuvor aus Sams Buch vorgelesen hatte. Soll ich dich einem Sommertag vergleichen? Nein, du bist lieblicher und frischer weit – Durch Maienblüten raue Winde streichen Und kurz nur währt des Sommers Herrlichkeit. Zu feurig oft lässt er sein Auge glühen, Oft auch verhüllt sich seine goldne Spur, Und seiner Schönheit Fülle muss verblühen Im nimmer ruh’nden Wechsel der Natur. Nie aber soll dein ewiger Sommer schwinden, Die Zeit wird deiner Schönheit nicht verderblich, Nie soll des neidischen Todes Blick dich finden, Denn fort lebst du in meinem Lied unsterblich. So lange Menschen atmen, Augen sehn, Wirst du wie mein Gesang nicht untergehn. Lange Minuten verbrachte ich damit, all meine Wünsche zu ihm ins Versteck hinüberzusenden, um ihn durch meine Willenskraft dazu zu bringen, still und heimlich zu mir zu kommen, in mein Bett. Ich wusste, er war noch 231
nicht einmal imstande, die Leiter herunterzusteigen, geschweige denn den ganzen Weg herüberzuhoppeln, redete mir aber dennoch ein, dass er es irgendwie schaf‐ fen würde, da ich mir in meinem Verlangensrausch sicher war, dass er alles konnte, wenn er für mich fühlte, was ich für ihn fühlte. Noch längere Minuten lag ich still auf dem Rücken, horchte auf jedes Knacken und Ächzen des schlafenden Hauses, hielt beim kleinsten Geräusch, das ihn hätte ankündigen können, den Atem an, nur um dann mit einem Seufzer schmerzlicher Enttäuschung in mich zusammenzusinken, wenn sich die Hoffnung zerschlug. Ich hatte keine besonders genauen Vorstellungen, was ich mir von ihm erhoffte, wenn er käme. Unwissenheit und Unerfahrenheit beschränkten meine Vorstellung auf das Naheliegendste. Ich wusste nur, ich wollte, dass er an meiner Seite läge, mich küsste und streichelte, mir intime‐ re Worte sagte, als ich sie gehört hatte, ich wollte von ihm umschlungen und gehalten sein und mich an ihn schmie‐ gen. Ich hatte keine anderen Worte als diese verschwom‐ menen Figuren, die ich wohl aus der Lektüre von Liebes‐ romanen kannte, um mir zu erklären, was ich da so ver‐ zweifelt begehrte. Und so erlebte ich in dieser Nacht das Erwachen erwach‐ sener Empfindungen, das eine so schmerzhafte Lust ist und für mich dadurch erschwert wurde, dass ich nieman‐ den hatte, mit dem ich darüber hätte reden können. Nur Frau Wesseling, und ich wusste, ich konnte nicht darauf vertrauen, dass sie mich verstehen und unterstützen würde. Also musste ich meinen inneren Aufruhr für mich 232
behalten. Und so lernte ich: Nichts brennt so heiß wie die Leidenschaft, von der niemand weiß. Dass mir Jacob weggenommen worden war, war schon schlimm genug. Aber dazu kam noch die Veränderung, die der Umzug in das Versteck bei Jacob selbst auslöste. Durch das ständige Zusammensein mit Dirk und Henk – drei junge Männer, auf engem Raum zusammengesperrt – wurde er bald, wie ihr sagt, »einer von den Jungs«. Ein rauerer Kerl als jener Mann, den ich gekannt hatte. Wenn sie ganze Abende in ihrer engen Höhle hockten, animierten sie sich gegenseitig zu Großsprecherei und Großtuerei. Angeheizt wurde das natürlich noch durch die unausgesprochene Eifersucht und Rivalität zwischen Dirk und Jacob, für die ich damals jedoch blind war. Und es wurde sicher auch dadurch nicht besser, dass Dirk kaum Englisch konnte und Jacob gar kein Niederländisch, sodass Henk für beide dolmetschen musste. Sooft ich sie besuchte, neckten sie mich, ebenso sehr, um sich gegen‐ seitig zu beeindrucken, wie um mich zu amüsieren (wo‐ bei ich tat, als gelänge es ihnen) oder zu ärgern (wobei ich tat, als gelänge es ihnen nicht). Ach, wie öde ist doch dieses Bubengetue bei erwachsenen Männern! Mein geliebter Bruder, mein Möchtegern‐Ehemann und mein betörender Soldat: In dieser grässlichen Stimmung hasste ich sie alle drei. Vier Tage vergingen, fünf, eine Woche, zwei. Es wurde immer schlimmer. Die Buben‐Männer wurden großmäu‐ lig, rowdyhaft, rebellierten gegen ihr Eingesperrtsein. 233
Eines Tages gegen Ende der zweiten Woche herrschte eine gereizte Stimmung zwischen Jacob und Dirk, wäh‐ rend Henk den Frieden zu wahren versuchte. Sie wollten mir nicht sagen, was los war. Henk, den ich fragte, als wir allein waren, sagte nur, es werde schon vorbeigehen. Heute denke ich, dass sie sich vielleicht meinetwegen gestritten hatten. Was auch immer der Grund war, Jacob begann mit einem Ertüchtigungsprogramm, um sein verletztes Bein zu kräftigen und sich nach der langen Bettlägrigkeit überhaupt wieder in Form zu bringen. Doch selbst das wurde zum Gegenstand von Konkurrenz, und Dirk begann ebenfalls mit dem, was man heute »Fit‐ nesstrainig« nennen würde. Was du kannst, kann ich schon lange, nur besser, länger, schneller. Ich versuchte Jacob davon abzubringen, weil ich Angst hatte, seine Wunde könnte wieder aufgehen, aber er wollte nicht hören. Er könne nicht so weitermachen, sagte er; er müsse es schaffen, zu seinen Leuten zurückzukommen. Ich sollte dir erklären, dass der Vormarsch der Alliierten nach Holland hinein nicht so schnell ging, wie wir es erwartet und gehofft hatten. Den militärischen Stand erfuhren wir aus dem Radio. Aber was in den Städten und Dörfern um uns herum passierte, erfuhren wir von Leuten, die auf den Hof kamen und um Lebensmittel bettelten, und durch gelegentliche Briefe von Verwandten und Freunden. So erführen wir auch, dass die Deutschen Oosterbeek nach der Schlacht völlig geräumt hatten. Der Ort war größtenteils zerstört. Das, was noch übrig war, 234
durfte niemand ohne Sondergenehmigung aufsuchen. Anfang Oktober erreichte mich endlich ein Brief von Mutter. Sie und Vater lebten bei Vaters Verwandten in Apeldoorn. Sie schilderte, wie die Deutschen mit allen Mitteln Jagd auf Männer zwischen sechzehn und fünfzig machten, die für sie arbeiten sollten. Plakate versprachen den Männern gute Bezahlung und ihren Familien zusätz‐ liche Lebensmittelrationen. Doch nur wenige stellten sich. Bald darauf wurden tote Männer an Straßenecken zur Schau gestellt, mit Folterspuren am Körper und einem angehefteten Zettel, auf dem nur ein einziges Wort stand: Terrorist. Das war natürlich als Einschüchterung gedacht, und es funktionierte. Mutter, die uns schrieb, hatte Fuhr‐ werke mit Männern daraufgesehen und dahinter eine lange Schlange zu Fuß gehender Männer, bewacht von einigen Soldaten. Auf diese Weise hatten sie auch Vater verschleppt, aber das erzählte sie mir nicht. Er hatte sich gestellt, um zu verhindern, dass Mutter und seine Ver‐ wandten Repressalien ausgesetzt wären, wenn er sich versteckte und gefunden würde. Von anderen hörten wir, dass dasselbe auch in Gronin‐ gen, einer unserer nördlichsten Städte, in Amersford im Herzen des Landes, im Haag im Westen und in Deventer bei uns im Osten passiert war. Überall. Jetzt verstanden wir, was es hieß, wenn wir in den englischen Nachrichten hörten, dass die Alliierten bei der Befreiung Maastrichts, einer unserer südlichsten Städte, kaum Männer vorgefun‐ den hatten. Sie waren nicht nur als Zwangsarbeiter ver‐ schleppt worden, sondern auch, damit sie den Briten 235
nicht helfen konnten. Als uns diese Nachrichten tröpfchenweise erreichten, wurden die beiden Jungen – Dirk vor allem, aber auch Henk – immer wütender und frustrierter, weil sie »weg‐ gesperrt« waren und nichts tun konnten, um den verhass‐ ten Feind schlagen zu helfen, der unser Land besetzt hielt und solches Leid über uns brachte. Es sei feige, sagten sie, weiter dazubleiben. Ihre Bubenprahlereien schlugen in Kampfwut um. Tagsüber bei der Arbeit und nachts in der Bruthöhle ihres Verstecks heckten sie Plan um Plan aus, wie sie die Deutschen schwächen und töten könnten. Sie sprachen davon, mit selbst gebastelten Bomben deutsche Gefechtsstände in die Luft zu jagen, Patrouillen aus dem Hinterhalt zu erschießen oder Drähte über Landstraßen zu spannen, als Falle für Soldaten auf Motorrädern oder Fahrrädern. Es konnte gar nicht tollkühn genug sein. Herr Wesseling mahnte sie zur Geduld. Die Alliierten würden bald kommen, sagte er, und dann sei es wichtiger, dass junge Männer da seien, um nach der Befreiung beim Wiederaufbau unseres Landes zu helfen, als dass sie ihr Leben bei gefährlichen Unternehmen riskierten, die man besser den Experten vom Widerstand überlassen solle. Frau Wesseling beschwor Dirk, auf seinen Vater zu hören, und ich beschwor Henk, weil ich wusste, dass er Dirk beeinflussen konnte, wenn er von etwas sehr überzeugt war, dass er sich aber umgekehrt genauso von Dirk beein‐ flussen lassen würde. Sie waren, von ihrer ersten Begeg‐ nung als kleine Jungen an, so unzertrennliche Freunde gewesen, dass das, was der eine tat, der andere aus 236
Loyalität ebenfalls tun würde. Und Henk war zwar der intelligentere und gelassenere von beiden, aber auch der bequemere, sodass er gewöhnlich eher der folgende als der führende Teil war. Jetzt, da Dirk so vor Tatendrang brannte, fürchtete ich um Henk. Jacob schwieg zu alle‐ dem, was nur klug war, denn hätte er meine Partei ergrif‐ fen, hätte das Dirk erst recht aufgestachelt. Vielleicht wäre ja alles gut gegangen, wären wir nicht noch einmal durchsucht worden, diesmal in der Abend‐ dämmerung. Es war eine halbherzige Sache. Wir sahen sie so rechtzeitig kommen, dass die Jungen sich in ihrem Versteck einigeln konnten. Die Soldaten hatten zwar ihre Befehle, aber es war deutlich erkennbar, dass sie nicht damit rechneten, das zu finden, was sie suchten (Männer im arbeitsfähigen Alter, nahmen wir an). Vielmehr gab uns der Offizier zu verstehen, dass sie uns keine allzu großen Unannehmlichkeiten bereiten würden, wenn wir ein paar Lebensmittel der knapperen Sorte herausrücken würden. Sie verschwanden mit einem Sack voll Käse, Eiern und Butter, begleitet von unserer stummen, aber tief empfundenen Verachtung. Als Dirk davon erfuhr, war er außer sich vor Zorn und schrie seinen Vater an, damit sei garantiert, dass sie in ein paar Tagen wiederkommen und mehr fordern würden. Und so weiter und so fort, mit jedem Mal schlimmer. Und wenn wir uns irgendwann weigerten, würden sie den ganzen Hof auseinander nehmen, unter Berufung auf irgendwelche Versteckten oder Waffen oder Rundfunk‐ 237
empfänger oder was immer dem Offizier sonst gerade als Vorwand einfallen würde. Und wenn das passierte, wür‐ den sie mit Sicherheit den Heuboden im Kuhstall räumen und das Versteck finden. »Ihr wisst doch, wie sie sind«, sagte er. »Man muss sie zwingen, sich an die Vorschriften zu halten, oder sie verachten einen und machen mit einem, was sie wollen. Es ist gegen ihre Vorschriften, ohne offizielle Ermächtigung Lebensmittel entgegenzu‐ nehmen. Das wissen sie. Jetzt haben wir die Regeln ge‐ brochen und uns erpressen lassen und sie werden wieder‐ kommen und mehr wollen. Jetzt sind wir nicht mehr sicher.« An diesem Abend gingen wir ängstlich und verzagt zu Bett. Am nächsten Morgen waren Dirk und Henk weg. Sie hatten Jacobs Gewehr und seine Munition mitgenommen. Und sie hatten jeder einen hastig geschriebenen Brief hinterlassen, Dirk für seine Eltern, Henk für mich. Den von meinem Bruder habe ich immer noch. Dirk hatte ein paar Worte darunter gekritzelt. Ich habe Henk nie wieder gesehen.
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Geliebte Schwester, wir können nicht länger warten. Wir müssen mithelfen, die Invasoren aus unserem Land zu vertreiben. Dirk hat Recht. Die Deutschen werden jetzt öfter Durchsuchungstrupps auf den Hof schicken. Später, wenn die Alliierten in der Nähe sind, werden sie ihn als Gefechtsstand oder Geschützstellung über‐ nehmen. Falls – nein, wenn – das passiert, würden sie uns kriegen. Und dann würden die Deutschen uns übel behandeln und dich und die anderen auch. In die Ecke getriebene Ratten sind die schlimmsten. Für Dirk und mich ist es besser, jetzt zu gehen, wo noch die Möglichkeit zum Kämpfen besteht, als darauf zu warten, dass sie uns holen und töten oder für sich arbeiten lassen. Das ist auch für euch das Beste. Euch wird weniger passieren, wenn wir nicht hier gefunden werden. Aus diesem Grund musst du auch Jacob helfen, vom Hof zu ver‐ schwinden, sobald er kräftig genug ist. Zögere es nicht hinaus. Wir haben beschlossen, Kontakt zum Widerstand aufzunehmen, und wenn die uns nicht gebrauchen können, wollen wir uns zur britischen Armee im Süden durchschlagen. Das hätten wir schon vor Monaten tun sollen. Auf jeden Fall aber nach der Schlacht, die unser Elternhaus zerstört hat. Ich weiß, du wirst dich aufregen. Ich hätte dir ja von unserem Plan erzählt, aber ich wäre deinen Tränen nicht gewachsen 239
gewesen. Was wir jetzt tun, muss ich tun. Um Dirk die Treue zu halten. Aber auch um meines eigenen Stolzes willen. Ich hoffe, dass du das verstehst. Sei gewiss, dass Dirk und ich bald wieder da sein werden, und dann werden wir die Freiheit mitbringen. Bis dahin, liebste Schwester, deren Leben mir kostbarer ist als mein eigenes, pass vor allen Dingen gut auf dich auf. Dein Bruder Henk. Ich trage dich in meinem Herzen. Alles Liebe, Dirk.
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POSTKARTE Mir scheint, Sir, es ist eine Brücke zu viel. Lieutenant‐General F.A.M. Browning Ich habe immer noch so heftige Albträume, dass meine Frau im Bett blaue Flecken davonträgt. Ich bin nicht verbittert; ich hatte schon fast fünfzig Jahre mehr als diese armen Teufel, die auf dem Oosterbeeker Friedhof liegen. Damals schien es eine gute Idee. Es war ein Glücksspiel; bei so was gewinnt man manchmal, und manchmal verliert man. In diesem Fall haben wir verloren. Staff Sergeant Joe Kitchener, Lastenseglerregiment, Schlacht von Arnhem Sonntag, 17. September 1995 08 Uhr 00. Frühdunstgefilterte Morgensonne, Vorbotin ei‐ nes strahlenden, warmen und, wie sich erweisen sollte, zur Abwechslung regenfreien Spätsommertags, weckte Jakob im Gästezimmer von Geertruis Wohnung am Oudezijds Kolk in Amsterdam. Auf dem Weg hinunter ins Bad sah und hörte er nichts von Daan, der wohl noch in seinem Bett hinterm Wand‐ 241
schirm schlief. Nachdem er das Klo benutzt und sich schnell gewaschen hatte, zog er endlich wieder eigene Sachen an. Schwarzes Sweatshirt, saubere blaugrüne Jeans, rote Socken und leichte gelbbraune Ecco‐Town‐ boots. Zum ersten Mal, seit er in Holland war, fühlte er sich wieder richtig als er selbst. Er machte sich ein schnelles Frühstück, bestehend aus Toast, Honig und Tee, wobei er sich bemühte, das Geklapper so gering zu halten, wie das in einer ihm immer noch fremden Küche möglich war. Er wollte vermeiden, Daan zu wecken und sich dessen morgendlicher Brummigkeit auszusetzen. Ihm schwirrte sowieso schon so viel durch den Kopf, dass er nicht gerade entspannt war. Das, was Geertrui gestern in Bewegung gebracht hatte, vermischte sich mit Gedan‐ ken an das, was ihm heute bevorstand. Nach dem Besuch bei Geertrui hatte Daan ihn zu den van Riets begleitet, wo sie Jacobs Sachen eingesammelt und mit Mr van Riet gegessen hatten. Dabei hatten Daan und sein Vater die meiste Zeit auf Niederländisch irgendwel‐ che Familienangelegenheiten besprochen, wofür sie sich entschuldigten, was Jacob aber sehr gelegen kam, weil ihm nicht nach Geplauder war. Der Besuch bei Geertrui hatte ihn in einer Weise aufgewühlt, die er sich selbst nicht recht erklären konnte. Wieder in Amsterdam, hatte Jacob ein ausgedehntes heißes Bad genommen und dann den Rest des Abends allein verbracht, froh, dass Daan eine Verabredung hatte und erst spät wiederkommen würde. Nach dem ständi‐ gen Zusammensein mit fremden Menschen war es 242
erleichternd, allein zu sein und alle Annehmlichkeiten der Wohnung für sich zu haben. Er stöberte ein bisschen im Bücherregal herum, hörte Musik auf der Superanlage, zappte sich durch die vielen Fernsehsender und spähte ab und zu durch die Frontfenster in die Zimmer des Hotels auf der anderen Grachtseite. (Erstaunlich, wie viele Leute die Vorhänge offen ließen, wenn sie sich, in ihrem erleuchteten Zimmer wie auf einer kleinen Bühne, intims‐ ten Verrichtungen hingaben. Auspackten, einpackten, Geld sortierten, Make‐up auflegten, in der Unterwäsche auf dem Bett lagen. Daan hatte ihm erzählt, was er schon alles beobachtet hatte: Leute beim Hetero‐ und beim Schwulensex, eine nackte junge Frau, die im Zimmer herumtanzte, und ähnliche unterhaltsame Dinge. Typisch, dachte Jacob, dass das einzig Ungewöhnliche, was er zu sehen bekam, ein mittelalter, extrem fettleibiger Mann in Unterhemd und Boxershorts war, der sich die Zehennägel zu schneiden versuchte, dieses Projekt aber aufgab, als es ihm trotz aller möglichen Verrenkungen nicht gelang, mit dem Klipser an seine Zehen zu kommen.) Doch die ganze Zeit, bis er irgendwann nach zwölf einge‐ schlafen war, hatte Jacob über diese Stunde mit Geertrui nachgegrübelt und seine aufgewühlten Gefühle zu sortie‐ ren versucht. Doch heute Morgen war das Durcheinander noch genauso spürbar. Nach dem Frühstück tappte er leise von der Küche über die Fliesenfläche zu dem Schiffsaufgang, über den er aufs Oberdeck und in sein Zimmer gelangte. Hier packte er seine Olympia‐Kamera und einen von Daan geborgten 243
Plastikregenschutz in eine Plastiktüte mit einem Logo und dem Aufdruck Bijenkorf (Bienenkorb: er hatte es gestern Abend nachgeguckt), die er in der Küche gefun‐ den hatte. Sonntag, 17. September 1944, Südengland Um 09 Uhr 45 dieses anfangs noch nebligen, jedoch bald schon schönen, sonnigen Tages standen 332 RAF‐Maschinen und 143 amerikanische Flugzeuge sowie 320 in ihre Landezonen zu schleppende Lastensegler mit einer Fracht von etwa 5700 Mann nebst Ausrüstung, darunter auch Jeeps und leichte Artillerie‐ geschütze, auf acht britischen und 14 amerikanischen Militär‐ flughäfen bereit, um zur größten Luftlandeoperation aller Zeiten zu starten. Der Rest der insgesamt 11920 Mann, die für den Einsatz in der Schlacht bestimmt waren, sollten am nächsten Tag in einer zweiten Welle zu ihren Absprungzonen in der Nähe des Dörfchens Wolfheze geflogen werden, drei Meilen westlich von Oosterbeek und sieben Meilen von ihrem Einsatzziel, der inzwischen berühmten »Brücke von Arnhem«, die sich im Zentrum dieser Stadt, 20 Kilometer von der deut‐ schen Grenze, über den Niederrhein spannte. Private James Sims, 19 Jahre, S‐Kompanie, 2. Bataillon, Fall‐ schirmjägerregiment, 1. Britische Luftlandedivision, Schlacht von Arnhem: Am Samstagabend machten die meisten von uns etwas Entspannendes; einige spielten Fußball, andere Darts. Manche lasen, andere schrieben Briefe. Ich ging in die Kantine hinüber und setzte mich auf einen Stuhl, die Füße 244
auf dem kalten Ofen. Die Katze kroch mir auf den Schoß und schnurrte zufrieden, als ich sie am Ohr kraulte. Einer der Männer von der C‐Kompanie zeigte mir ein religiöses Traktätchen, das er gerade in einem Paket von zu Hause gekriegt hatte. Vorne drauf waren ein Bild von einer Windmühle und die Worte »Verschollen in der Zuider Zee«. Er meinte, das sei ein schlechtes Omen, und es war schon ein komischer Zufall (da die bevorstehende Opera‐ tion geheim war). Schließlich gingen wir in die Quartiere, und ich schlief erstaunlich gut. Der Sonntag begann wie jeder andere Tag, bis auf das leise Kribbeln im Bauch. »Gut frühstücken«, wurde uns geraten, »ihr wisst ja nicht, wann ihr wieder was zu essen kriegt...« Geordie und ich bekamen Anweisung, uns fertig zu machen. Da wir noch nicht lange im Bataillon waren, wurden wir zu Bombenträgern bestimmt und kriegten das Geschirr mit sechs Viereinhalb‐Kilo‐Mörserbomben, die wir an ihren Einsatzort schleppen sollten. Jeder von uns bekam niederländisches Besatzungsgeld, Karten, Fluchtsäge, vierzig Schuss 303er Gewehrmunition, zwei 36er Granaten, eine panzerbrechende Granate, eine Phos‐ phorbombe und ein Schanzwerkzeug, zusätzlich zu den Gewehren, die wir schon hatten. (Sims, S. 50‐51) Major Geoffrey Powell, kommandierender Offizier der C‐Kom‐ panie, 156. Fallschirmjägerbataillon, 4. Fallschirmjägerbrigade, bei der zweiten Welle. 245
Jetzt kam die vertraute Plackerei, die ganze Sprungaus‐ rüstung anzulegen. Über Kampfanzug und Fallschirm‐ jägerjacke trug ich bereits die volle Ausrüstung: den Brot‐ beutel mit Karten, Taschenlampe und diversem Klein‐ kram; Gasmaske, Wasserflasche und Kompass; Pistolen‐ holster und Munitionstasche; die beiden großen Brust‐ taschen voll gestopft mit Sten (MG)‐Magazinen und Handgranaten. Vor den Bauch band ich mir jetzt meine kleine Packtasche, prall von konzentrierten Rationen für zwei Tage, Feldgeschirr, Ersatzsocken, Waschzeug, Pull‐ over, Blechnapf, dazu, als krönender Abschluss, noch eine Hawking‐Panzerabwehrgranate. Um meinen Hals hing der Feldstecher, während in den kleineren Taschen ein großes Verbandspäckchen, eine Morphiumspritze und ein rotes Barett steckten. Als Nächstes hüllte ich mich in eine Denim‐Sprungjacke, um das ganze Zeug an seinem Platz zu halten und zu verhindern, dass sich die Schirmleinen in den vielen Auswüchsen verfingen. Über das Ganze kamen eine Mae‐West‐Schwimmweste und ein um den Hals gebundenes Tarnnetz. Auf den Kopf schließlich der Fallschirmjägerstahlhelm mit dem gewebeüberzogenen Netz. Ans rechte Bein band ich mir dann eine große Ausrüstungspacktasche für das Sten‐MG, ein längliches Funksprechgerät und ein kleines Schanzwerkzeug: eine Reißvorrichtung ermöglichte es, diesen Beutel in der Luft zu lösen, sodass er an einem dünnen Seil unter einem baumelte und vor einem aufkam. Dann half mir Private Harrison in meinen Fallschirm und ich ihm in seinen, worauf wir wechselseitig unsere Reißklappen kontrollier‐ 246
ten, um sicherzustellen, dass sie auch richtig funktionier‐ ten. Nach langem Überlegen hatte ich mich entschieden, zwei Luxusgegenstände mitzunehmen, ein rotes Barett und dazu ein Oxford Book of English Verse. (Powell, S. 19‐20) Punkt viertel nach neun klingelte Mrs van Riet an der Haustür. Jacob nahm die Bijenkorf‐Tüte, stapfte in seinen Townboots den steilen Schiffsaufgang hinunter, warf noch einen prüfenden Blick in einen Wandspiegel an der Tür zum Treppenhaus und war schon fast draußen, als er Daan aus seinem Bett hinterm Wandschirm rufen hörte. »Schönen Tag!«, parodierte er das amerikanische Klischee so übertrieben, dass Jacob sich fragte, ob Daan vielleicht sauer war. »Grüß Mutter«, schickte Daan nicht minder ironisch hinterher. Und eine Jacob unbekannte weibliche Stimme fügte ver‐ schlafen hinzu: »Tot ziens, Engelsman.« Automatisch rief Jacob zurück: »Bis später.« Die ganzen drei Treppen bis zur Straße hinunter kreisten seine Ge‐ danken um Daans unbekannte Bettgenossin. Mrs van Riet wartete auf der improvisierten Stoep, in einem grauen Dreiviertelmantel, passend zu ihrem kur‐ zen, schon recht grauen Haar, und einem wadenlangen Leinenkleid mit einem abstrakten Muster in Grau‐ und Blautönen. Über der Schulter trug sie eine abgenutzte Ledertasche im selben Gelbbraunton wie Jacobs Boots, und ihre Füße steckten in robusten braunen Halbschuhen. Sie sah müde aus, empfing ihn aber mit einem Lächeln, 247
machte gute Miene, wie er es von seiner Mutter aus der Zeit vor ihrer Operation kannte. Es mit Anstand hinter sich bringen, nannte Sarah das. Sofort überkamen ihn Schuldgefühle und der Drang, sein Bestes zu tun, um es ihr recht zu machen und Abbitte dafür zu leisten, dass er eine solche Last war. Sie gaben sich die Hand, begrüßten sich auf eine förm‐ liche Art, die Jacob zwar altmodisch, aber auch angenehm fand. Er hatte wieder, wie bisher bei jeder Begegnung mit Mrs van Riet, das Gefühl, dass sie ihm gegenüber sehr vorsichtig war. Aber vielleicht, befand er jetzt, da sie die Straße entlanggingen, war sie ja auch einfach nur schüch‐ tern. Ganz im Gegensatz zu Geertrui, ihrer Mutter, und ihrem Sohn und auch zu ihrem geschwätzigen Mann. Das machte sie ihm geradezu sympathisch, wie es einem so oft mit Leuten geht, an denen man eigene peinliche Schwächen wieder findet. »Mein Sohn«, sagte Mrs van Riet, »ist sicher nicht der Mensch, der sich anständig um dich kümmert. Es wäre mir lieber, du würdest bei mir wohnen.« Schüchtern vielleicht, aber ganz schön direkt. »Ist schon in Ordnung, danke«, sagte Jacob. »Das ist eine tolle Wohnung.« »Ja, die Wohnung meiner Mutter ist, na, sagen wir, unge‐ wöhnlich. Aber die Art, wie mein Sohn lebt –. Na ja, solange er dich nicht völlig vernachlässigt. Ich nehme an, du als junger Mensch verstehst das eher als ich. Ich bin sehr konservativ, sagt mein Sohn.« Und nach einer kur‐ zen Pause: »Du bist uns in Haarlem jederzeit willkom‐ 248
men.« »Danke, aber ich fühle mich wirklich wohl. Daan war sehr nett zu mir. Ich kann ihn gut leiden.« »Ich fühle mich deiner Familie gegenüber verantwort‐ lich.« »Ich bin siebzehn, fast achtzehn, Mrs van Riet, ich komme schon zurecht, ehrlich. Aber es ist nett von Ihnen, dass Sie sich Gedanken um mich machen.« »Es wäre einfacher für dich, mich Tessel zu nennen, wenn du möchtest.« »Ja. Danke.« Sie überquerten die Prins Hendrikkade am Übergang zum Bahnhof, so sehr damit beschäftigt, auf die Ampeln zu achten und dem Verkehr auszuweichen, vor allem dem Durcheinander von Straßenbahnen, Bussen und Fahrrädern, aber auch den Fußgängerströmen, dass jede Unterhaltung unmöglich war. Der Bahnhofsvorplatz war noch voller als gestern. Mitten im Gewühl zog sich ein dichter Zuschauerkreis um ein Straßenmusikantensextett in Folklorekostümen (peruanisch?), das auf hölzernen Panflöten und großen Trommeln muntere Klänge produ‐ zierte. Drinnen in der Halle herrschte ein Getümmel von Sonntagsausflüglern. Tessel führte Jacob direkt zum Bahnsteig. »Ich habe dir unterwegs schon eine Karte gekauft«, sagte sie und streckte sie ihm hin. »Du solltest sie bei dir haben, falls wir uns verlieren.« Sie lächelte kurz. »Achtung, Taschendiebe!« Und fasste bei dem Gedanken ihre Hand‐ tasche fester. 249
Auf dem Bahnsteig, wo sie noch ein paar Minuten warten mussten, sagte Tessel plötzlich: »Hast du vielleicht von den Veteranen gehört, die gestern mit dem Fallschirm abgesprungen sind?« »Nein.« »Mehrere Männer, die die Schlacht damals überlebt haben. Es stand in der Zeitung. Sie sind gestern über demselben Gelände abgesprungen, wo sie neunzehnhun‐ dertvierundvierzig gelandet sind. Sie wollten es schon letztes Jahr zum fünfzigsten Jahrestag der Schlacht tun, aber da war das Wetter zu schlecht. Also haben sie’s statt‐ dessen gestern getan. Sicherheitshalber war jeder von ihnen an einem jungen Soldaten festgeschirrt.« »Wahnsinn!« »Das fand ich auch. Ich meine, da stand, dass einer sogar schon achtzig war.« Sie lachte. »Und einer hat gefragt, ob er sein Gebiss herausnehmen soll, damit er es bei der Landung nicht verschluckt.« Jacob lachte ebenfalls. »Und sind sie heil runtergekom‐ men? Samt Gebiss und allem?« »So weit ich weiß. Als ich es Mutter heute Morgen am Telefon erzählt habe, sagte sie, das hätte sie gern gesehen.« »Vielleicht wäre sie auch gern gesprungen.« »Oh ja. Du kennst meine Mutter schon ganz gut.« »Sie erinnert mich an Sarah. Das hätte sie gesagt.« »Meine Mutter hat sie damals runterkommen sehen, an dem Tag, an dem die Schlacht begann. Hat sie’s dir er‐ zählt?« 250
»Nein.« »Das erstaunt mich.« Ihr Zug fuhr ein. Nachdem sie in einem vollen Wagen noch zwei Plätze nebeneinander ergattert hatten, setzte Tessel das Ge‐ spräch fort, als sei es nie unterbrochen worden. »Diese Geschichte erzählt sie gern. Ich habe sie so oft gehört, seit ich klein war.« »Wir haben eigentlich nicht über den Krieg gesprochen.« »Ach, ich dachte, das würde das Hauptthema sein. Als du wieder weg warst, hat Geertrui sehr wenig gesagt. Über deinen Besuch gar nichts.« Diese Bemerkung war eine einzige Frage. »Sie – Ihre Mutter –« »Geertrui.« »Okay, Geertrui. Sorry, ich kann das nicht besonders gut aussprechen.« »Wie Gertrude in England.« »Ja. Gertrude. Hamlets Mutter.« Er versuchte es noch mal und scheiterte wieder, diesmal aber schon erfolgreicher. Sie lächelten beide ob seiner Probleme mit dem guttura‐ len niederländischen gee und dem verschliffenen rui. Der Zug fuhr an. Als sie aus dem Bahnhof waren, sagte Jacob: »Sie hat mich gefragt, warum ich bei meiner Großmutter wohne. Ich glaube, ich habe zu viel darüber geredet. Zu viel Zeit damit verbraucht. Ich war ihr gegenüber, ehrlich gesagt, ein bisschen nervös.« »Diese Wirkung hat Mutter auf viele Menschen. Auf mich 251
manchmal auch, muss ich gestehen. Sogar auf die Pflege‐ rinnen. Sie mögen sie, aber sie haben auch ein bisschen Angst vor ihr.« »Sie hat mich gebeten, morgen noch mal wiederzukom‐ men. Vielleicht erzählt sie mir dann ja von der Schlacht.« Er spürte, wie sich Tessels Körper neben ihm versteifte. So dicht an sie gequetscht, konnte er sich nicht zu ihr drehen und die Reaktion auf ihrem Gesicht prüfen, ohne dass es unhöflich wirkte. »Das ist eine sehr schwierige Zeit für uns«, sagte sie. »Verstehst du?« »Ja.« »Geertrui ist eine sehr entschiedene Person.« »Ja.« »Wie ich schon sagte, hat sie dich eingeladen, ohne es mit jemandem von uns zu besprechen. Jedenfalls nicht mit mir und meinem Mann. Ob mit Daan, weiß ich nicht. Die beiden haben ein sehr enges Verhältnis. Mir hat sie’s erst ein paar Tage vor deiner Ankunft mitgeteilt.« Jetzt drehte Jacob sich doch zu ihr. »Das ist mir alles sehr peinlich.« »Nein, nein. Du kannst ja nichts dafür. Ich hätte es nicht noch mal ansprechen sollen. Ich wollte nur sagen, Mutter war immer schon ein bisschen geheimniskrämerisch. Und so entschieden ... stur, sollte ich wohl sagen, von ihrer ganzen Persönlichkeit her. Jetzt ist es noch schlimmer, weil die Medikamente, die sie ihr gegen die Schmerzen geben, sie noch zusätzlich verwirren.« Sie zuckte die Achseln. »So ist sie nun mal.« 252
Jacob schaute an seinem Gegenüber – einer jungen Frau, deren Knie nicht mit seinen zu berühren ihm schwer fiel – vorbei und den Wagengang entlang, nahm aber nichts wirklich wahr. Er dachte daran, wie Tessel ihn, gemäß der telefonischen Absprache mit Sarah, am Flughafen abge‐ holt hatte. Sie hatte angespannt und kurz angebunden gewirkt, ja, sogar ungeduldig. Er hatte sich gefragt, ob das typisch holländisch war oder einfach ihre Art. Außerdem war sie nervös gewesen, hatte die Autoschlüssel fallen lassen, auf der Autobahn eine falsche Abfahrt genommen, sich für ihr schlechtes Englisch entschuldigt (das ihm, ganz im Gegenteil, beschämend gut vorgekommen war, zumal er es nicht für nötig gehalten hatte, auch nur ein Wort Niederländisch zu lernen) – lauter solche Dinge. Zu Hause hatte sie ihm »sein« Zimmer gezeigt (in Wahrheit, den Postern, Klamotten und sonstigen Dingen nach zu urteilen, Daans altes Teenagerzimmer, so sauber und ordentlich wie ein Museum), ihm ein paar Minuten gelas‐ sen, um sich einzurichten, ihm dann eine Tasse starken holländischen Kaffee vorgesetzt und ihm auf eine ziem‐ lich konfuse Art erklärt, dass sie während seines Aufent‐ halts nicht viel für seine Unterhaltung tun könne. Sie werde Sonntag mit ihm nach Oosterbeek fahren. Aber bis dahin werde er sich allein beschäftigen müssen. Natür‐ lich, hatte Jacob gesagt, ja, klar, kein Problem. Und dann war die Geschichte von Geertrui und der Einladung aus ihr herausgebrochen, als könnte sie sie nicht länger für sich behalten. Und Jacob wäre am liebsten im Erdboden versunken. Er hatte das Gefühl gehabt, nur eine Last zu 253
sein, und bereut, dass er gekommen war. Mr van Riet war es dann gewesen, der ihm vorgeschlagen hatte, doch am nächsten Tag allein das Anne‐Frank‐Haus zu besichtigen, und der dann geschlagene eineinhalb Stunden auf ihn eingeredet hatte, indem er ihm zuerst die Bahnverbindungen erklärte, ihn dann in den Stadtplan von Amsterdam einwies, ihm zeigte, wo das Anne‐Frank‐ Haus lag und wie man mit der Straßenbahn dorthin kam, woran sich nicht nur ein längerer Diskurs über das Straßenbahnsystem anschloss, sondern auch eine Auflis‐ tung verschiedener Orte, die er, Jacob, vielleicht gern sehen wolle – das Rijksmuseum, wegen der Rembrandts und Vermeers, das historische Museum, wo es eine faszi‐ nierende Ausstellung darüber gebe, wie sich Amsterdam im Lauf der Jahrhunderte entwickelt habe, mit einem Modell, das zeige, wie die alten Amsterdamer Häuser gebaut worden seien, nämlich mittels solider Fachwerk‐ gerüste, verankert auf Plattformen aus Holzstämmen, die man im sandigen Grund versenkt habe, was nämlich immer noch das Einzige sei, worauf man hier bauen könne, womit, wie er lachend erklärte, bewiesen sei, dass die Bibel irre, wenn sie behaupte, ein Haus, das auf Sand gebaut sei, habe keinen Bestand. In Amsterdam gebe es ganze Straßenzüge, die vor dreihundert Jahren auf Sand gebaut worden seien und noch immer stünden, genauso vornehm und schön wie damals. Um diese Häuser in kurzer Zeit und aus einem günstigen Blickwinkel zu sehen, hatte Mr van Riet ihm empfohlen, solle er doch eine Grachtenrundfahrt mit einem Touristenboot machen. 254
Er hatte auf dem Stadtplan die Stellen markiert, wo man die Boote besteigen konnte, und ihm aufgeschrieben, was ein solche Rundfahrt kosten würde. Das hatte Mr van Riet daran erinnert, Jacob ein Referat über das holländische Geld zu halten, inklusive einer zehnminütigen Erläute‐ rung der Bedeutung der Bilder und Inschriften auf den Münzen und Scheinen und natürlich eines Vergleichs mit der britischen Währung sowie einer Abhandlung über die Umrechnungsformeln, worauf ein Exkurs darüber folgte, wie wichtig es sei, dass baldmöglichst eine gemeinsame europäische Währung gelte, mit der einen bedauernden Einschränkung, dass die vorliegenden Entwürfe alle nicht so hübsch und geschmackvoll seien wie das derzeitige holländische Geld. Aber natürlich seien die handels‐ und wirtschaftspolitischen Vorteile wichtiger als das Ausse‐ hen. Man müsse sich immer vor Augen halten, was Hitler an die Macht gebracht habe: wirtschaftliche Instabilität und eine schwache Währung. Nun gut, auch ideologische Verblendung und Rassenvorurteile. Aber wirtschaftliche Stabilität und ein florierender Handel seien die Grund‐ voraussetzungen für ein gesundes Staatswesen. Nach diesem Tutorium (bei dem Jacob kaum etwas von sich gegeben hatte, außer den unumgänglichen Lauten des Ver‐stehens und der einen oder anderen Frage, um Interesse zu demonstrieren) hatte Mr van Riet Jacob auf‐ gefordert, ihn und den Hund des Hauses (ein draller, leicht sabbernder, angejahrter und nicht gerade geruchlo‐ ser Sealyham) auf ihrem abendlichen Gang zu begleiten. Draußen hatte er Jacob Daans Adresse gegeben und dazu 255
gesagt, er solle es seiner Frau nicht sagen. Es gebe im Moment Probleme zwischen ihr und Daan, die mit Geertrui zu tun hätten. Mrs van Riet sei zurzeit etwas gestresst. Aber das brauche ihn, Jacob, nicht zu kümmern. Er wisse ja, wie Frauen sein könnten, vor allem – leises Lachen – Frauen in einem gewissen Alter. Daan werde Jacob jederzeit gern helfen und wolle ihn, das wisse er, sowieso kennen lernen. Worauf sich Jacob erst recht in einer peinlichen Position gefühlt und sich mehr denn je gewünscht hatte, er wäre nicht hergekommen. James Sims Auf den Einsteigebefehl hin kletterten wir in die Maschine. Die beiden Motoren (der Douglas Dakota C‐47 »Skytrain«) sprangen sofort mit ohrenbetäubendem Gedröhne an, die Maschine erschauerte und rollte das Rollfeld entlang. Die amerikanischen Piloten rollten in V‐ Formation an den Start. Unsere Maschine ging in die Knie, als sie an der Startlinie abrupt stoppte. Zwei Maschinen staffelten sich neben uns, und hinter uns waren noch drei. Das Flugzeug zitterte, als die Motoren aufdrehten. Wir rollten an, wurden schneller und donnerten gleich darauf die Startbahn entlang. Das Motorengeräusch wurde zu einem Sturmgetöse, während wir dahinrumpelten und – holperten. Wir pressten die Nasen an die kleinen Schei‐ ben und winkten unseren Kameraden in den anderen Maschinen. Es schien, als würden wir immer weiter‐ rattern, bis wir schließlich in den Begrenzungszaun 256
krachen würden, aber eine kaum merkliche Veränderung der Bewegung sagte uns, dass wir in der Luft waren; Lieutenant Woods bestätigte das, indem er die vorge‐ streckten Hände hob und lächelte. Es war jetzt etwa halb zwölf und wir würden – ein ernüchternder Gedanke – noch vor dem Ende der Mittagessenszeit in Holland sein. Wir sahen den freundlichen Boden Englands unter uns wegsinken, als wir gemächlich aufstiegen. Die Dakota war ein schwerfälliges Flugzeug und gänzlich unbewaff‐ net. Als unsere Luftflotte die Küste erreichte, stießen wir zum Jäger‐Geleitschutz, hauptsächlich RAF‐Hawker, Tempests und Typhoons, bewehrt mit Bordkanonen und Raketen. Man hatte uns »maximale Jägerunterstützung« versprochen, was eintausend Maschinen bedeutete und sehr beruhigend war. Die imposante fliegende Armee schwenkte über die Nordsee hinaus und wir machten es uns bequem. Wir saßen, zu jeweils acht Mann, auf bankartigen Sitzen zu beiden Seiten des rippenverstärkten Rumpfs. Wir waren ein echter britischer Cocktail: Engländer, Iren, Schotten und Waliser; Geordies aus Northumbrien, Scouses aus der Liverpooler Gegend, Londoner Cockneys, Männer wie Brum aus den Midlands, Männer aus Cambridge, Kent und Sussex. Drei Mann unserer Gruppe kamen aus Brighton. Manche von uns waren Verkäufer gewesen, andere Vertreter, Bauern oder Straßenhändler, einer sogar Wilderer. Lieutenant Woods als Nummer eins saß direkt neben der offenen Luke. Ich war Nummer fünfzehn, und der Mann 257
hinter mir, der letzte Springer, war Maurice Kalikoff (ein Sergeant und russischer Jude – ein erstklassiger Soldat und einer der feinsten Menschen, die mir je begegnet sind) ... Ich versuchte mir einzureden, dass das genau das war, was ich immer gewollt hatte. Das gehörte nun mal zu dem roten Barett, dem Jägerabzeichen und dem Sprung‐ sold. Wir flogen in etwa viertausend Fuß (1220 m) Höhe, über einem Wolkenmeer, das die Sonne reflektierte und mir das Gefühl gab, schon im Himmel zu sein. Es war einer dieser Augenblicke reiner Schönheit. Die Dakota dröhnte weiter über die Nordsee. Reden war unmöglich, also dösten wir oder lasen ... Wir näherten uns der niederländischen Küste und wurden angewiesen, uns gut abzustützen, während das Flugzeug durch die Wolken auf etwa zweitausend Fuß (610 m) hinabstieß. Wir waren immer noch über der Nordsee, als plötzlich ein deutsches Patrouillenboot das Feuer auf uns eröffnete. Es war zum Glück nur ein kleines Boot und hatte nur ein MG. Der amerikanische Pilot unternahm sofort ein Ausweichmanöver und wir hielten uns aneinander fest und stützten uns mit den Füßen ab, als die Maschine in eine alarmierende Schräglage ging. Wir sahen fasziniert zu, wie ein Strom von Leuchtspur‐ geschossen im Bogen auf uns zukam, erst langsam, dann aber schließlich wie ein zorniger Hornissenschwarm, der an unserer offenen Tür vorbeisauste. Jetzt sagte man uns, dass die niederländische Küste direkt vor uns liege, und mein Magen schlug den nächsten 258
Purzelbaum. Das Einzige, was die Küstenlinie der über‐ schwemmten Niederlande markierte (die Deutschen hat‐ ten das Küstengebiet geflutet, um eine alliierte Landung zu verhindern), war eine Art langer, aus dem Wasser ragender Erddamm, ein bisschen wie die Wirbelsäule eines ausgestorbenen prähistorischen Tiers. Als wir land‐ einwärts flogen, gab das Wasser allmählich breitere Land‐ streifen und schließlich ganze Felder frei. (Sims, S. 52‐55) Das Umsteigen in Utrecht war nicht weiter kompliziert, aber die Bahnsteige und Treppen waren überfüllt. Wieder saßen sie nebeneinander, Jacob diesmal am Fenster, damit er besser gucken konnte. In dem Maß, wie sie nach Osten fuhren, wurde das Land weniger flach. Hier gab es bewaldete Flächen, kein so augenfälliges Netz von Kanälen mehr. »Weißt du viel über die Schlacht?«, fragte Tessel. »Viel würde ich nicht sagen«, sagt Jacob. »Ich habe ein paar Bücher drüber gelesen, aus Interesse, wegen Grandad. Und den Film habe ich natürlich gesehen. Anthony Hopkins als schneidiger Offizier. Ziemlich komisch. Ich glaube nicht, dass es die Realität wieder‐ gibt.« »Das tun Filme doch nie, würde ich meinen. Wie sollten sie auch?« »Eins von den Büchern, die ich gelesen habe, war eine richtige historische Abhandlung. Aber das, was mir am besten gefallen hat, ist von einem kleinen Soldaten, der 259
dabei war, kein Offizier, nur ein Gemeiner. Die Sorte Soldat, die auch mein Großvater gewesen sein muss. Es ist nicht besonders brillant geschrieben, aber mir gefällt es, weil es einem die Art Details vermittelt, die man in den Büchern von professionellen Historikern, die die ganze Schlacht darstellen wollen, nicht findet. Er erzählt Sachen, die man nur wissen kann, wenn man dabei war. Und weil er ein ganz normaler Typ ist, kein Offizier, sieht er auch alles anders als Historiker oder Offiziere. Und er ist kein Hurrapatriot, bestimmt nicht. Aber er ist stolz drauf, dass er dabei war und seinen Beitrag geleistet hat. Deshalb ist es nicht nur dokumentarisch interessant, son‐ dern auch eine gute Geschichte.« »Ich habe nie etwas darüber gelesen«, sagte Tessel. »Ich habe so viel von meiner Mutter darüber gehört, das hat mir gereicht. Außerdem ist Krieg immer schrecklich, ent‐ setzlich, ich will nichts davon hören. Und über diesen Krieg, Hitlers Krieg, wird hier in den Niederlanden immer noch so viel geredet, immerzu und immer weiter, als sei er erst gestern zu Ende gegangen. Ich wollte, die Leute würden damit aufhören. So viel Leid, warum müs‐ sen wir so viel daran denken? Es wäre besser, wir würden es vergessen. Aber die Leute sagen, nein, wir müssen uns immer daran erinnern, damit so etwas nie wieder passiert. Aber da kann ich nur fragen, wann die Mensch‐ heit je ihre Kriege vergessen hat und inwiefern das neue verhindert hat.« »Ich weiß nicht. Aber ich glaube, ich bin da nicht Ihrer Meinung. Kennen Sie das Tagebuch der Anne Frank?« 260
»Das kennt doch wohl jeder, oder?« »Und erinnern Sie sich, dass sie eine berühmte Schrift‐ stellerin werden wollte? Na ja, sie hat kurz vor der Ver‐ haftung ihr Tagebuch noch mal überarbeitet, weil sie im Radio einen Aufruf von einem der holländischen Minister gehört hat. Er sagte, alle Leute sollten Briefe, Tagebücher und so was aufheben, Dinge, die sie während der Okku‐ pation geschrieben hatten, und nach dem Krieg würde man das alles sammeln und in eine staatliche Bibliothek stellen, damit künftig die Leute lesen könnten, wie es während des Krieges für ganz normale Leute wirklich war, und sich nicht nur mit den Werken von Historikern begnügen müssten.« »Das ist auch geschehen. In unserem Staatlichen Institut für Kriegsdokumentation in Amsterdam.« »Finden Sie nicht, dass das eine tolle Idee war? Meinen Sie nicht, es ist gut zu wissen, was in der Vergangenheit war und wie die Menschen waren? Ich meine, es aus dem zu wissen, was die Leute selbst in der betreffenden Zeit geschrieben haben?« »Doch, das ist wohl schon gut. Ich kann es nur nicht leiden, wenn ewig über die Kriegszeiten geredet wird, als sei das alles, was es an Vergangenheit gibt.« »Ja, schon, aber ist es nicht immer langweilig, wenn Leute ewig über irgendwas reden?« Er dachte an Mr van Riet. Tessel lachte. »Doch, das stimmt.« »Manchmal wünsche ich mir, es gäbe irgendwelche Briefe von Grandad oder vielleicht ein Tagebuch. Nicht, weil ich mehr über die Schlacht als Schlacht wissen will, sondern 261
weil ich gern wüsste, wie das für ihn war, was er getan hat, was ihm widerfahren ist. Alles so, wie er’s gesehen hat. Das würde mir gefallen. Dann wäre er für mich lebendiger. Ich meine, auf die Art lebendig, wie Anne Frank für mich lebendig ist. Ich finde, wenn man lesen kann, was jemand geschrieben hat, so wie bei ihr, dann hat man das Gefühl, mit dieser Person zu leben. In ihrem Kopf, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Ja, das verstehe ich. Geertrui kann dir natürlich eine Menge erzählen, aber das ist nicht das, was du meinst, und außerdem ist es nur ihre Erinnerung. Und die Erin‐ nerung – na ja, der Erinnerung kann man meiner Erfah‐ rung nach nicht trauen. Die Erinnerung stellt die Dinge so dar, wie man will, dass sie gewesen sein sollen. Das ist jedenfalls meine Meinung.« »Das sagt mein Vater auch. Er wirft meiner Großmutter immer vor, dass sie meinen Großvater erfindet. Er sagt, der Mann, von dem sie redet, ist nicht der, der wirklich gelebt hat, sondern der, als den sie ihn sehen möchte.« »Und was sagt Sarah dazu?« Jacob lachte. »Sie zieht ihm eins mit der Bratpfanne über.« »Wie bitte?« »Sorry. Metaphorisch gemeint... bildlich gesprochen?« »Ach so«, sagte sie lachend. »Verstehe! Ja, das kann ich mir vorstellen. Oh, jetzt musst du aber rausgucken, weil wir gerade an dem Gelände vorbeikommen, wo die Soldaten damals gelandet sind.« Ein weites, flaches Areal, gelblich nach der Ernte, in der Ferne Bäume, aber auch hier an der Bahn ein paar Birken. 262
Fast genauso, wie er es von den Fotos kannte, die während der Landung aus der Luft und unmittelbar danach vom Boden aus gemacht worden waren. Einen verrückten Moment lang kam das, was er gelesen hatte, mit dem zusammen, was er sah, und ihm war, als wäre er nicht jetzt hier, sondern damals, nicht neunzehnhundert‐ fünfundneunzig, sondern neunzehnhundertvierundvier‐ zig. Mit seinem Großvater, einem Mann, der damals nicht viel älter gewesen war als er jetzt. So alt wie Daan. Er sah zum aufklarenden Himmel empor und dachte: Gemein‐ sam in das Dort‐oben springen, ohne zu wissen, welche Gefahren im Hier‐unten lauern. James Sims Ein amerikanisches Crewmitglied kam nach hinten und sagte, wir würden jetzt für den Anflug auf siebenhundert Fuß (214m) runtergehen. Wir setzten unsere engen Helme auf und justierten den Gummikinnschutz. Wir hängten uns ein, hievten dann die Packtaschen mit sechs Mörser‐ bomben, Schanzwerkzeug, Gewehr und persönlichem Gepäck in Position und befestigten sie mit speziellen Gurten. Da jeder von uns mindestens 100 Pfund (46 kg) Ausrüstung am Leib trug, war gesichert, dass wir schnell und ohne großes Gependel runterkommen und ein schwieriges Ziel für die feindlichen MGs darstellen würden. Wir stellten uns in einer Reihe hintereinander auf, die rechte Hand am Griff der Packtasche, die linke auf der Schulter des Vordermanns ... der Mann vor mir beugte sich leicht vornüber, als er sprang. Sein Helm war 263
noch nicht ganz verschwunden, als ich auch schon sprang, aber der Propellerstrahl erwischte mich und wirbelte mich herum, sodass sich meine Schirmleinen verdrehten. Ich musste den Packtaschengriff loslassen, um etwas dagegen zu unternehmen, denn wenn sich die Leinen bis zum Schirm hinauf verzwirbelten, war ich geliefert. Das Dröhnen der Flugzeugmotoren war weg, und zum ersten Mal seit dem Abflug konnte ich andere Geräusche ausmachen. Rings um mich herum spuckten Dakotas Fallschirmjäger aus und ich fand mich mitten in einem Schneegestöber aus Fallschirmseide. Die Schirme hatten sämtliche Regenbogenfarben und es war ein un‐ vergesslicher Anblick. Mir war bewusst, dass ich an einem der größten Luftlandeunternehmen der Militär‐ geschichte teilnahm, aber die Euphorie wurde durch meine akuten Probleme gedämpft. Zum Glück war die Drehbewegung jetzt in die andere Richtung umgeschla‐ gen und ich kreiselte an meinen Leinen, während sie sich entzwirbelten. Ich fühlte mich nicht gerade wie ein Adler – es war eher, als würde ich erhängt. Zwar war mein Schirm jetzt voll entfaltet, aber ein anderes Problem kam auf mich zu. Mein rechtes Bein mit der schweren Pack‐ tasche dran hing senkrecht nach unten, und ich war abso‐ lut außer Stande, an den Griff zu kommen, um es wieder hochzuziehen. Drunten bot sich der Anblick eines geordneten Durchei‐ nanders, da Myriaden ameisenähnlicher Gestalten über die Absprungzone wieselten, um zu den verschiedenfar‐ bigen Rauchmarkierungen zu gelangen, die die Sammel‐ 264
punkte der einzelnen Bataillone kennzeichneten. Gebrüll und das Knallen von Schüssen driftete empor, interpunk‐ tiert von MG‐Salven. Die Amerikaner hatten uns punktgenau abgesetzt, und ich fand ohne Probleme die gelbe Rauchmarkierung, die anzeigte, wo sich das 2. Bataillon formierte. Überall wurde scheinbares Chaos zu Ordnung, da die gelandeten Soldaten sich organisierten. Der Boden, der mir eben noch so weit weg erschienen war, kreiselte erschreckend schnell auf mich zu. Ich sah der Landung nicht gerade freudig entgegen, da mein Bein immer noch hilflos herab‐ hing, von der Packtasche gezogen. Man hatte uns gesagt, dass eine Landung in dieser Haltung so gut wie sicher einen Beinbruch bedeutete und das würde ich jetzt jeden Moment überprüfen können. Wumm! Ich kam mit einem fürchterlichen Schlag, aber heil auf, wurstelte mich sofort aus dem Gurtzeug und zerschnitt die Schnüre meiner Packtasche, um mein Gewehr herauszunehmen. Das war das Allerwichtigste. (Sims, S. 55‐57) Kurz darauf erreichten sie Oosterbeek, nicht mehr als ein Vororthalt in einem tiefen Gleisgraben, der Bahnsteig relativ neu, keine Gebäude, nur ein Schutzdach. Mit ihnen stiegen ein paar Leute aus, einige mit Blumen, aber es waren nicht die Massen, mit denen Jacob gerechnet hatte. Würde es bei der Feier denn nicht total voll sein? Letztes Jahr hatte man in den BBC‐Nachrichten eine dicht gedrängte Menschenmenge auf dem Friedhof gesehen, 265
aber das war ja auch der fünfzigste Jahrestag gewesen. Sie stiegen die Treppe zur Straße hinauf. Hier waren mehr Menschen unterwegs, über die Bahnbrücke, dann nach rechts in eine Straße mit dem dezenten Wegweiser: »Soldatenfriedhof Arnhem‐Oosterbeek.« Gediegene, ein‐ zeln stehende Häuser, gar nicht so anders als eine engli‐ sche Mittelschicht‐Eigenheimgegend: große, gepflegte Gärten, manche mit hohen, gestutzten Hecken, andere mit Zäunen, Bollwerke bürgerlichen Fürsichseins, sauber gemähte Grasränder neben der Straße, Bäume auf der Seite, wo die Bahnlinie in der Versenkung verlief. Die‐ selbe Bahnlinie, entlang derer die Fallschirmjäger damals nach Arnhem vorzudringen versucht hatten, nur um von den Deutschen aufgehalten und hier eingekesselt zu werden. Aber diese Häuser hatten damals bestimmt noch nicht gestanden; hier war wohl waldiges Gelände gewe‐ sen und der Ort hatte erst jenseits der Bahn begonnen. Nach zwei‐, dreihundert Metern machte die Straße einen scharfen Knick nach links. Ein Stück weiter standen Pkws und Reisebusse auf einem Vorplatz zwischen Bäumen. Zwei quadratische Backsteintürme mit Bogentüren auf allen vier Seiten flankierten den Eingang zum Friedhof. Linkerhand konnte Jacob, über einen ihm irgendwie unangemessen erscheinenden Maschendrahtzaun und eine niedrige Buschreihe hinweg, das weite Friedhofs‐ areal sehen. Die militärisch exakten Reihen gleichförmiger Grabsteine waren von einer dichten Zuschauermenge nahezu verdeckt. Erst als er und Tessel drinnen waren und ein Plätzchen am Rand gefunden hatten, konnte er 266
erkennen, dass das Zentrum des Friedhofs, ein großes Rasenkreuz, das sich durch die Anordnung der Grab‐ steine ergab, voll von alten Leuten war, die auf Stuhlrei‐ hen saßen, einem überdachten Podest im Schnittpunkt des Kreuzes zugewandt. Die meisten Männer trugen blaue Blazer und viele hatten rote oder blaue Barette auf. Einen Moment lang wirkte es auf ihn, als seien sie gerade den Gräbern entstiegen, um ein Konzert zu hören. Und in gewisser Weise, dachte er, war es ja auch so, denn das waren ja wohl die Überlebenden, ihre Frauen und zwei‐ fellos auch die Frauen einiger Männer, die nicht überlebt hatten. Er sah staunend auf die mehreren (sechs‐, zehn‐?) tausend Menschen, die sich auf diesem Paradeplatz der Toten ver‐ sammelt hatten. 1757 Gräber, erfuhr er, davon 253 von unbekannten Soldaten, deren sterbliche Überreste nicht hatten identifiziert werden können. Und die Gesamtzahl wuchs noch, denn immer noch fand man Gebeine in vergessenen Gräberfeldern, wo man die Toten während der Schlacht provisorisch begraben hatte. Tessel fasste ihn am Arm und bugsierte ihn durch die Reihen, indem sie sich unter höflichen Entschuldigungen an Leuten vorbeizwängte, die ihr im Weg standen. »Wir sollten möglichst dicht ans Grab deines Großvaters herankommen«, murmelte sie. Dann blieb sie stehen und zeigte mit dem Finger. »Da, siehst du, dritte Reihe, das mit dem Rosenstrauch, der fast so hoch ist wie der Grabstein.« »Ja. Ja, ich seh’s.« 267
»Deine Großmutter und Geertrui haben den Rosenstrauch gepflanzt, als sie das letzte Mal zusammen hier waren. Daan kommt zweimal im Jahr her, um ihn zu beschnei‐ den und zu düngen.« Der Anblick ließ ihn verstummen. Er hatte Fotos gesehen. (Das ist dein Großvater als kleiner Junge. Genauso hast du in dem Alter auch immer dagestanden. Das ist dein Großvater als junger Mann, mit seinem Motorrad. Damals war er eine Landplage. Das ist dein Großvater kurz vor unserer Hochzeit. Er sah ja so gut aus. Hier sind wir in unserem letzten gemeinsamen Urlaub, in Weston. Das ist dein Großvater in Uniform.) Und es hatte ihm gefallen. Er hatte sinnierend über den Fotos gesessen und sich ge‐ wünscht, er hätte diesen Mann gekannt, dessen Namen er trug und dem er angeblich in so vielem ähnlich war. Aber das hier – in der Nähe dieses Grabes zu stehen, das die Gebeine eines Mannes enthielt, der nicht viel älter gewe‐ sen war als er jetzt –, das war etwas anderes. Fotos waren nur ein konservierter Schatten, nicht die Sache selbst, nicht der Mensch selbst. Dort vor ihm, zwei Körperlängen entfernt und seine eigene Größe tief, war etwas Reales. Der Körper. Oder das, was davon übrig war. Der Körper, aber nicht der Mensch. Auf eine Art, wie er es vorher noch nie gefühlt, nie ge‐ dacht hatte, wusste er, und zwar sofort, dass das, was von dem Menschen übrig war, was ihn ausmachte, nicht mit den physischen Überresten dort unter der Erde lag. Was von seinem Großvater geblieben war, stand hier, in den 268
Townboots des Enkels, und schaute zu dem Grab hinüber. Der Gedanke war beunruhigend, so als hätte sich ein Geist in ihm materialisiert. Er holte tief Luft und sah weg, zum Himmel empor. Die Sonne war jetzt ganz hervor‐ gekommen, strahlte von einer Kuppel aus wolkenlosem Blau auf den Teppich aus sitzenden Veteranen mit der Bordüre aus stehenden Menschen. Fünf, sechs Reihen, in denen alles vertreten war, von Babys bis hin zu alten Männern mit Krückstöcken. Gleich nebenan eine Gruppe junger Fallschirmjäger mit ihren roten Baretts und Tarn‐ jacken, zwei Frauen mittleren Alters im leuchtenden Sonntagsstaat, eine Horde Jungen in Nikes, eine Schar Mädchen in weißen T‐Shirts und Jeans, drei Männer in grauen Anzügen, das Jackett über dem Arm und die Hemdsärmel aufgerollt. Alle leise. Nicht völlig stumm. Nicht flüsterstill wie in der Kirche, nicht gedämpft wie auf einer Beerdigung, nicht ehrfürchtig und nicht passiv, noch nicht mal reglos, denn da und dort herrschte Bewe‐ gung, Kommen und Gehen, ständig tröpfelten Neuan‐ kömmlinge hinzu. Aber nirgendwo geschäftige Ordner, kein Getue und Gemache. Sie warteten und warteten gleichzeitig nicht. Eher so, als ob sie auf etwas warteten, was schon da war. Da und nicht da, dachte er. Existent und nichtexistent. Abwesend anwesend. James Sims »Marsch, Marsch!«, kam das Kommando und wir trabten los, truppweise auf beiden Straßenseiten, Mann hinter 269
Mann, die so genannte »Ack‐ack«‐Formation (Flakfeuer‐ formation). Die holländische Landschaft war, dafür dass Krieg herrschte, sehr ordentlich und gepflegt, die Straßen von Bäumen gesäumt, die Weiden drahtumzäunt. Hier und da standen Häuser, und die Bewohner kamen mit ihren Kindern heraus, um uns vorbeiziehen zu sehen. Man reichte uns Krüge mit Milch, Äpfel, Tomaten und Ringelblumen. Sie steckten die Blumen in unsere Helm‐ netze und schmückten unsere Materialwagen damit. »Wir haben über vier Jahre auf euch gewartet«, schien alles zu sein, was sie auf Englisch sagen konnten, aber diesen Satz hörten wir immer wieder von den lächelnden, freund‐ lichen Menschen, die den Krieg jetzt, wo wir da waren, für so gut wie vorbei zu halten schienen. Wir rückten aus der Gegend von Wolfheze, wo wir gelan‐ det waren, südwärts vor, Richtung Heelsum. Das adler‐ farnbewachsene Heideland zu beiden Seiten der Straße war wie gemacht für Hinterhalte und tatsächlich hörten wir, nicht weit vor uns, Kleingewehrfeuer, das uns in Deckung stürzen ließ. Die vordersten Bataillonsteile hat‐ ten Feindberührung, aber das Feuer hörte bald auf und wir rückten weiter vor. Als wir den Schauplatz des Schar‐ mützels erreichten, hing der Pulverqualm noch in der Luft. Am Straßenrand lag ein langer, blonder Schützen‐ sergeant; ich erkannte ihn wieder: ein Ex‐Gardegrenadier, der mit mir zusammen in dem Panzerabwehrlehrgang in Street gewesen war. Jetzt war sein Gesicht weiß vor Schmerz und Schock. Er hatte einen MG‐Feuerstoß ins Bein gekriegt, die ganze eine Seite hinunter, und seine 270
Kameraden hatten ihn verbunden, ehe sie ihn liegen ließen. Im Vorbeiziehen murmelten wir aufmunternde Worte und warfen ihm Bonbons und Zigaretten zu. Das nächste Mal wieder gesehen habe ich ihn im Stalag XIB (einem deutschen Kriegsgefangenenlager), nur ohne das Bein. Erneutes Feuer ließ uns wieder in Deckung hechten, aber diesmal waren es unsere Jungs gewesen, die geschossen hatten. Ein deutsches Stabsfahrzeug stand auf der Straße, die Windschutzscheibe zersplittert, die Reifen in Fetzen geschossen. Ein deutscher Offizier lag tot auf dem einen Vordersitz. Neben ihm saß, überm Lenkrad zusammen‐ gesackt, der Fahrer. Im Fond hing der Leichnam eines weiteren deutschen Offiziers, vornübergebeugt, die eine Hand noch auf der Schulter des Fahrers. Er war offen‐ sichtlich gerade im Begriff gewesen, den Fahrer zu war‐ nen, als die britischen Fallschirmjäger vor ihnen auf die Straße herausgetreten waren und das Feuer eröffnet hatten. Der Offizier auf dem Vordersitz schien eine Art General zu sein, also musste das dem Feind einen schwe‐ ren Schlag zugefügt haben. Ich näherte mich neugierig dem Stabsfahrzeug, da ich nicht nur noch nie einen deutschen Offizier gesehen hatte, sondern auch noch keinen Toten ... Als ich klein gewesen war, hatte mir meine Mutter erklärt, wenn man einem Toten mit dem Finger ein Kreuz auf die Stirn machte, würde man nicht von ihm träumen. Zaghaft berührte ich die steinernkalte Stirn des einen deutschen Offiziers. »Was zum Teufel machen Sie da?«, 271
brüllte ein Sergeant. »Los, Bewegung, Sie werden noch jede Menge von der Sorte sehen, ehe Sie viel älter sind!« (Sims, S. 60‐61) Ein englischer und ein holländischer Geistlicher betraten das Podest. Ein Choral wurde gesungen, begleitet von einer Kapelle, die Jacob nicht sehen konnte. Oh Gott, der du uns hast gebracht durch Dunkel, Not und Leid, / O God, die droeg ons voorgeslacht, in nacht en stormgebruis. Der Gesang aus den tausenden von Kehlen verlor sich im leeren Him‐ mel. Leer, bis auf einen einsamen Jet hoch droben, mit einem Kondensstreifen, so fein und gerade, als hätte ihn jemand mit dem Lineal über das Blau gezogen. Jacob, dem das auf eine bizarre Weise passend erschien, hob die Kamera und knipste die Szene. Am unteren Rand Rasen, Gräber und Menschen vor einer Reihe zarter Bäume, darüber der hohe blaue Himmel mit einem diagonalen weißen Strich vom Blau in der linken oberen Ecke zu den grünen Baumwipfeln unten rechts. Ringsum hatten die Leute Heftchen mit der Gottesdienst‐ ordnung und den Liedtexten. Woher? Er hatte niemanden welche verteilen sehen. Er sah Tessel an. Sie lächelte, wandte sich an zwei Männer, die auf der anderen Seite neben ihr standen, sagte etwas auf Niederländisch zu ihnen und bekam das Heftchen des einen. Die Liedtexte standen links auf Englisch und rechts auf Niederländisch. Gewähr uns Schutz in Sturm und Nacht und Zuflucht allezeit. / Wees ons een gids in storm en nacht en eeuwig ons tehuis! Ein Colonel trat ans Mikrofon, um das Schriftwort zu 272
verlesen. Psalm 121, Verse 1‐8. Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Englische Worte, die, wie Jacob wusste, so alt waren wie die von Shakespeare. Ihre schlichte Schönheit, die aus den Füllhörnern der Lautsprecheranlage quoll, schmückte die Bäume und funkelte in der Luft. Plötzlich verspürte er einen fast schon peinlichen Stolz, auf diese Worte, diese Sprache, die er zum ersten Mal im Leben bewusst als seine reklamierte. Gebete wurden gesprochen. Ein zweites Lied wurde ge‐ sungen. Bleib bei mir, Herr, der Abend bricht herein; Es kommt die Nacht, die Finsternis fällt ein. / Blijf mij nabij, wanneer het duister daalt; De nacht valt in, waarin geen licht meer straalt. Ein Lied, das Jacob noch nie gemocht hatte. Die schweren, klagenden Worte und dazu die süßliche Melodie, das irritierte ihn. Wäre es etwas Körperhaftes gewesen, hätte er danach treten wollen. Statt Hoffnung oder Trost zu spenden, schien sich das Lied für ihn nur in der Gewissheit des Todes zu suhlen, auf eine unerträglich kitschige Weise. Und doch war es eins der populärsten Kirchenlieder. Wieder verschmolz der zweisprachige Ge‐ sang tausender von Kehlen in der Luft und verlor sich im weiten Blau, wobei, wie immer bei solchen Anlässen, manche Leute aus voller Brust sangen, andere dagegen nahezu stumm die Worte formten. Es folgte die unvermeidliche Predigt, auch wenn sie im Programm Ansprache hieß. Dort waren sogar zwei Ans‐ prachen angekündigt. Schon bei dem bloßen Gedanken 273
wollte Jacob sich hinsetzen, aber das hätte die Kleinkin‐ derperspektive aus Füßen, Knien und Hängehintern bedeutet, weshalb er stehen blieb. Vielleicht würden die Kirchenleute ja den Anstand haben, sich kurz zu fassen. Der englische Reverend sprach zuerst. Er hatte mit dem 110. Bataillon an der Schlacht teilgenommen. Immerhin war er dabei gewesen, hatte es miterlebt. Was Jacob jetzt doch aufmerken ließ, war der seltsame Kontrast zwischen diesem alternden Geistlichen, der in Rede und Erschei‐ nung so exakt der – viel verspottete – Prototyp des engli‐ schen Landpfarrers war, von sanfter Stimme, milder Art, bemüht bescheidenem Auftreten, und dem brutalen Gemetzel, das er vor fünfzig Jahren miterlebt haben musste. Der Reverend sprach von den Männern, die am Vortag ihren verspäteten Fünfzig‐Jahre‐Gedenkabsprung nachgeholt hatten. Erzählte, wie sie dafür trainiert hatten, jeweils im Tandem mit einem jungen Soldaten, und wie sie angewiesen worden waren, sich einfach auf den Schoß ihres Begleiters zu setzen. So war das zu meiner Zeit nicht, scherzte der Reverend, und Jacob dachte an Ton und ihr Gespräch neulich Abend im Café. Selbst hier fuhr die Homophobie ihre Ellbogen aus, wenn auch in Gestalt eines humorigen Rippenstoßes. Hier, wo die Gefallenen Seite an Seite lagen, im Tod so kameradschaftlich vereint wie in dem Leben, das in diesen Tod geführt hatte. Er dachte an James Sims und die tausende seinesgleichen, von denen jetzt etliche hier saßen. Männer, deren posi‐ tivste Erinnerung an ihre Zeit in der Hölle das war, was sie Kameradschaft nannten. Das hatte diese Männer 274
hierher geführt. Und wer würde schon ein halbes Jahr‐ hundert lang Jahr für Jahr hierher zurückkehren, um derer zu gedenken, die umgekommen waren, ohne es Liebe zu nennen? Wie es bei Predigten nun mal war, musste die Story von den tapferen alten Männern, die mit dem Fallschirm abgesprungen waren, natürlich für eine moralische Lektion herhalten. Die magischen Worte, auf denen diese Lektion aufbaute, stammten von einem der jungen Soldaten, der zu seinem Seniorpartner gesagt hatte: »Geben Sie sich einfach in meine Hände, seien Sie ganz entspannt, genießen Sie es und vertrauen Sie darauf, dass ich Sie heil runterbringe.« Genauso, erklärte der Reverend, sei es auch mit dem Leben und mit Gott. Wir müssten lernen, uns in Gottes Hand zu geben, uns zu entspannen, das Leben zu genießen und darauf zu ver‐ trauen, dass Gott uns schon sicher ans Ziel bringen würde. Oder so ähnlich. Es war schwer zu verfolgen, da die Worte des Reverend genauso im weiten Raum zu verschwinden schienen wie vorhin der Gesang. Doch wenigstens hatte der Reverend seine Predigt barmherzig kurz gehalten. Ihm folgte sofort ein holländischer Kollege, ein römisch‐katholischer Priester, der in seiner Sprache ablas, was er zu sagen hatte. Wobei Tessel sich lächelnd zu Jacob beugte und leise sagte: »Das ist so typisch für uns Holländer. Der englische Priester hat wie aus dem Stegreif gesprochen und war amüsant. Der holländische Priester liest ab und ist ganz ernst.« Aber auch er fasste sich rücksichtsvoll kurz. Noch ein abschließender Choral. Lob, meine Seel, den Her‐ 275
ren, preise ihn durch deine Lieder / Loof de Koning, heel mijn wezen, licht in het duister, wijs de weg omhoog. Fröhlicher, mitreißender. Sie sangen sich mit Schwung durch die kraftvollen Verse, dem nunmehr willkommenen Ende der Formalitäten entgegen. Doch Jacobs Aufmerksamkeit galt etwas anderem. Wäh‐ rend des Liedes zogen Schulkinder, Jungen und Mäd‐ chen, die zwischen elf und sechzehn sein mochten und allesamt Blumensträuße trugen, vom Eingang zu den Seitenrändern des Friedhofs. Von da ging jedes zu einem Grab, vor dem es abwartend stehen blieb. Das Ganze hatte nichts Steifes, die Kinder waren bunt, leger und in unterschiedlichem Maß modisch gekleidet, diszipliniert, aber nicht gedrillt, konzentriert, aber nicht verbissen, und nur ein, zwei zeigten Anzeichen von Schüchternheit. Als das Lied zu Ende war, hatte jedes einen ihm offenbar vor‐ her zugewiesenen Platz erreicht. Da und dort half eine erwachsene Person denen, die unsicher oder verwirrt wirkten, mit lehrerhafter Autorität oder elterlich‐fürsorg‐ licher Freundlichkeit weiter. Während das Vaterunser ge‐ sprochen wurde, standen die Kinder vor »ihren« Gräbern wie wachende Engel, manche hatten die Hände in den Taschen, manche die Köpfe gesenkt, manche guckten sich um und lächelten Zuschauern am Rand der Menge zu, aber alle waren sich ihrer Rolle in diesem Schauspiel des Gedenkens bewusst. James Sims Der mittlerweile vertraute Geruch von verschossener 276
Munition lag in der Luft und ein Rauchschleier hing über dem Schauplatz dessen, was offenbar ein kurzer, heftiger Schusswechsel gewesen war. Die Schützen waren schon zu ihrem nächsten Angriffsziel weitergeeilt ... hatten aber einen der ihren zurückgelassen. Er lag, gegen eine hölzer‐ ne Bank gelehnt, auf einer Lichtung mit Blick auf den Fluss. Es war ein lauschiges Plätzchen, im Schatten von Bäumen und mit einer wunderbaren Aussicht auf den Niederrhein, die Sorte Plätzchen, wo Liebende Zukunfts‐ pläne schmieden und alte Männer von früher träumen. Doch heute waren hier weder Liebende noch alte Männer, nur ein junger Bursche aus einer Schützenkompanie, die Beine unter dem Körper weggeknickt, der Helm abge‐ nommen. Die Brust seines Kampfanzugs war blutgetränkt und jemand hatte ihm, auf raue Art wohlmeinend, ein weißes Handtuch vorn ins Hemd gestopft, ein vergeb‐ licher Versuch, das Bluten zu stillen. Aus dem wächser‐ nen Gesicht starrten die Augen des Jungen durch uns hindurch in die Ewigkeit und wir schlichen so leise wie möglich vorbei, als hätten wir Angst, ihn aus diesem gefürchteten Schlaf zu wecken. (Sims S. 65) Lieutenant Jack Hellinghoe, 11. Gruppe, 1. Fallschirmjäger‐ bataillon. ... Wir brachen einfach durch die Tür des nächstgelegenen Hauses und gingen nach oben, direkt bis unters Dach. Die Deutschen deckten die Häuser ein; Kugeln drangen durch Dach und Fenster, pfiffen durch die Räume und schlugen 277
hinter uns in die Wände. Sie spickten diese beiden Häuser förmlich mit Blei. Private Terrett schlug ein paar Dachziegel weg und brachte das MG auf den Dachbalken in Stellung, den Lauf durch das Loch gerichtet. Wir sahen sofort, wo das Feuer herkam, von den Häusern und Gärten auf dem höher gelegenen Terrain, etwa 150 bis 200 Yards (137 bis 183 m) entfernt. Man konnte die Deutschen, die sich dort beweg‐ ten, ohne weiteres erkennen. Die meisten Feuergefechte in Arnhem erfolgten auf sehr kurze Distanz. Ich gab Terrett Feuerbefehl und ich glaube, er schaffte es, zwei Magazine zu leeren, ehe ihn die Deutschen ausmachten und ein Feuerstoß das Maschinengewehr traf. Die Kugeln rissen das Visier ab, rissen ihm die ganze Wange und das Auge weg, und wir fielen beide rücklings durch das Dach‐ gebälk und krachten in das Schlafzimmer darunter. Ich hatte nichts abgekriegt, aber Terrett rührte sich nicht. Jemand klatschte ihm ein Verbandspäckchen aufs Gesicht und er wurde weggeschleppt. Ich dachte, er sei tot, aber viele Jahre nach dem Krieg fand ich zu meiner großen Überraschung heraus, dass er noch lebte. Er hatte ein Auge verloren, aber sein Gesicht hatten sie prima hinge‐ kriegt. (Middlebrook, S. 178‐179) Jetzt nahte der Moment, da, wie Jacob wusste, weil Sarah es ihm oft erzählt hatte, Kinder aus den örtlichen Schulen Blumen auf den Gräbern niederlegten, ein Ritual, das seit dem ersten Gedenkgottesdienst ein Jahr nach der 278
Schlacht, 1945, alljährlich stattfand. Seit fünfzig Jahren. Die Kinder, die die ersten Sträuße niedergelegt hatten, rechnete Jacob aus, waren jetzt schon alt genug, um selbst Großeltern zu sein, und ihre Kinder, die ebenfalls Blumen niedergelegt hatten, alt genug, um die Eltern der Kinder zu sein, die es jetzt taten. Ein Blumenstammbaum. Er hatte genau verfolgt, wer zu Jacobs Grab gehen würde. Ein schmaler Junge, vielleicht dreizehn, mit ganz kurzem kastanienbraunen Haar, das einen wohlgeformten runden Kopf und ein ovales, noch mädchenhaft‐jungenhaftes Ge‐ sicht zur Geltung brachte. Er trug eine graugrüne Reiß‐ verschlussweste, ein rostrotes T‐Shirt, hellgraue Jeans und Hush‐Puppy‐Boots. In den Armen hielt er, als handelte es sich um ein Baby, einen großen Wildblumenstrauß. Jacob erkannte blaue Glockenblumen, altrosa Malven, ein paar leuchtend rosa Blumen, die Sarah Laveterea nannte, zart‐ lila Weidenröschen, sogar ein paar langstielige Butterblu‐ men und Schilf‐tängel mit braunen, zigarrenförmigen Kolben, das Ganze mit Efeu abgerundet. Niemand sonst hatte einen so ungewöhnlichen Strauß. An seinem Platz angekommen, inspizierte der Junge den Boden um den Grabstein herum, bückte sich, um ein paar herabgefallene Blätter aufzusammeln, und steckte sie dann, weil er nicht wusste, wohin damit, in eine seiner Jeanstaschen. Dann wartete er, reglos und mit gesenktem Kopf. Ein weiterer holländischer Geistlicher sagte ein paar Worte über die Kinder und dankte ihnen, dass sie gekom‐ men waren. Jetzt kam der Höhepunkt der Zeremonie. Die Kinder 279
bückten sich und legten die Blumen an den Fuß des jeweiligen Grabsteins. Die Stille, während sie es taten, war intensiver als alles Bisherige. Die Luft schien von Emotion erfüllt. Jacob konnte den Blick nicht von dem Jungen wenden, der jetzt wie alle anderen sein Blütenbukett niederlegte, es dann aber sorgsam und vorsichtig zu einem Fächer von Farben lockerte, als arrangierte er es in einer Vase. Als er damit fertig war, lehnte er sich, noch immer in der Hocke, zurück und prüfte den Effekt, beug‐ te sich dann noch zwei‐, dreimal vor, um eine Kleinigkeit zu korrigieren. Das tat er so hingebungsvoll konzentriert, als wäre er ganz allein, und Jacob war, als ob er jemanden bei einem sehr privaten Tun beobachtete und eigentlich weggucken müsste. Der Junge hockte immer noch da, als die andern Kinder schon wieder standen und der englische Reverend das traditionelle Gedicht auf die Kriegsgefallenen von Lau‐ rence Binyon vortrug. Nicht altern sollen sie wie wir, die wir noch sind ... Sie leben in uns fort. / Zij sullen niet out worden, zoals wij, die het wel overleefd hebben ... wij sullen aan hen denken. Ein Hornist blies den Zapfenstreich und das Signal zum Wecken und die Töne waren so greifbar, dass sie im Geäst der Bäume hängen zu bleiben schienen. Dann spielte die Kapelle die britische Nationalhymne. Und es war vorbei. Eine kurze abwartende Pause, dieser typisch englische Zwischenmoment, da sich niemand als Erster bewegen will, um nur ja nicht ungeduldig und drängelig zu wirken oder, schlimmer noch, etwas peinlich Falsches zu tun. Doch dann löste sich der Stress des 280
allgemeinen Bemühens um angemessenes Verhalten in einem kollektiven Seufzer und die Leute begannen zu reden, zu lachen, herumzuspazieren, sich gegenseitig zu begrüßen, sich miteinander bekannt zu machen, die In‐ schriften der Grabsteine zu studieren, bestimmten Grä‐ bern besondere Aufmerksamkeit zu widmen, zu fotogra‐ fieren. Es entwickelte sich eine Art Party, die Jacob an die Sommerfeste in Sarahs Dorf erinnerte, zu denen sie ihn mitgenommen hatte. Obwohl in Anbetracht des Ortes und des Anlasses die allgemeine Stimmung natürlich im‐ mer noch taktvoll‐verhalten war. Die Kinder, die die Blu‐ men niedergelegt hatten, waren rasch umringt von Eltern, Verwandten, Gleichaltrigen und britischen Gästen. Sie standen jetzt im Zentrum der allgemeinen Aufmerksam‐ keit, als sei das ihr Tag, so eine Art kollektives Geburts‐ tagsfest mit zusätzlichen ausländischen Großeltern. Aus‐ ländisch, aber nicht fremd. Und noch etwas sehr Eigentümliches bestimmte die Atmosphäre: Die Briten waren hier die Gäste, bewegten sich aber an diesem Ort, als wäre es ihr Vorgarten, wäh‐ rend sich die Holländer, deren Land dies war, wie die eingeladenen Nachbarn auf einem Familienfest benah‐ men. Und so verhielten sich alle wie Gäste und Gast‐ geber, Hausherren und Besucher zugleich, mit den Grä‐ bern als Kulisse und den Kindern als Zerstreuung. Hendrika van der Vlist, 23, Tochter des Besitzers des Hotels Schoonoord, Oosterbeek. Jemand ruft: Da sind Engländer, die uns sprechen wollen. 281
Ein Jeep mit einem Arzt und einem Sanitätsunteroffizier steht vor dem Haus. Man bittet uns, das Hotel binnen einer Stunde als Lazarett herzurichten. »Das würden wir herzlich gern tun, aber im Haus herrscht schreckliche Unordnung und wir haben kein Personal.« »Bitten Sie die Leute aus der Straße um Hilfe«, sagt der Arzt. »Gut, wir tun unser Bestes.« Dann fällt uns plötzlich ein, dass es im Haus kein elek‐ trisches Licht mehr gibt. Letzte Nacht (Sonntag) haben die Deutschen die Leitung zerstört. Vielleicht fiel aus irgendwelchen Fenstern Licht. Vielleicht schien es ihnen die wirksamste Möglichkeit, das abzustel‐ len. Aber egal. Der Pudding bleibt unberührt auf dem Tisch stehen. Wir haben anderes zu tun. Als Erstes laufe ich zu den Leuten gegenüber, um sie um Hilfe zu bitten, dann zu den übrigen Nachbarn. Als ich den Utrechtseweg überquere, sehe ich vor dem Anwesen der Dennenkamps englische Soldaten bäuchlings auf der Straße liegen. Sie zielen mit ihren Gewehren auf Deut‐ sche, die sich im Gutshaus verschanzt haben. Auch vom Pietersbergseweg kommen Explosionen (das Hotel lag an der Ecke Utrechtseweg/Pietersbergseweg). Hier sind die Deutschen in dem Haus namens Overzicht. Der Krieg ist ganz nah. 282
Aber es bleibt keine Zeit zum Nachdenken. Mit Besen, Eimer und Wischmopp bewehrt, kommen alle bereitwillig angelaufen, froh, etwas helfen zu können. Wenn die Deutschen, denen gegenüber wir uns vier Jahre mit allen Mitteln vor der Arbeit gedrückt haben, uns so sehen könnten. Männer und Frauen, Jung und Alt, alles arbeitet mit vol‐ lem Einsatz. Eine Stunde ist so kurz! Mutter übernimmt unten das Kommando, ich versuche oben die Dinge zu regeln. »Würden Sie so nett sein und den Fußboden fegen. Danach könnten Sie ihn wischen.« »Kaja, eine wichtige Aufgabe für dich. Dieser ganze Müll muss raus in die Mülltonne. Was machen wir mit diesem hübschen Hitlerbild? (Die Deutschen hatten in dem Hotel Soldaten einquartiert.) Na ja, wenn du magst, kannst du’s behalten – ist doch ein nettes Souvenir, oder? Andernfalls kannst du’s zertrümmern.« »Sollten wir diese dreckigen Teppiche nicht lieber zusam‐ menrollen und auf den Speicher bringen? Besser gar keine Teppiche als dreckige und dann können wir alles wischen.« »Würden Sie bitte Zimmer vierzehn fegen? Ich bitte gleich jemanden, dort zu wischen.« »Schau, Kaja, da ist noch mehr Müll.« »Würden Sie so nett sein und sämtliche Waschbecken auf diesem Stock sauber machen. Da ist eine Schrubbbürste.« Als ich runterkomme, sehe ich, wie Mutter sich umschaut und vor Zufriedenheit strahlt. Wie anders jetzt alles aus‐ sieht! All diese Hände haben es geschafft, in so kurzer 283
Zeit Ordnung zu schaffen. Stroh wird hereingebracht und auf dem Fußboden des kleinen Salons verteilt. In der großen Halle sind bereits Bettenreihen aufgestellt. Veranda und Speiseraum haben wir gelassen, wie sie waren. Dort sind Steinfußböden. Die erscheinen uns zu kalt für die Patienten. Und dann – wir sind noch nicht fertig – setzt ein Strom von Verwundeten ein. Sie werden auf Tragen hereinge‐ bracht. Andere können gehen. Manche nur unter Schwie‐ rigkeiten, für einige ist es kein Problem, sie sind an den Armen oder Händen verwundet. Und das alles geht so leise vor sich. Es wird nicht viel geredet. Die Helfer, die bis eben sauber gemacht haben, geben es auf. Sie sind fast fertig. Rasch schaffen wir Eimer und Besen aus dem Weg, wir wollen nicht, dass jemand drüber stolpert. Und die ganze Zeit kommen immer noch mehr Patienten herein. (Van der Vlist, S. 11—12) »Ich möchte ein Foto von dem Jungen machen, der die Blumen aufs Grab meines Großvaters gelegt hat«, sagte Jacob zu Tessel und machte sich auf den Weg durch die Menge, um den Jungen zu erwischen, ehe er verschwand. Der Junge hatte einen Fotoapparat aus der Tasche seine Weste gezogen und richtete ihn gerade auf die Blumen und den Grabstein, als Jacob bei ihm angelangte. Als der Junge das Foto gemacht hatte, sagte Jacob: »Ent‐ schuldigung.« Der Junge sah ihn aus klargrünen Augen an. 284
»Kannst du Englisch?« Der Junge nickte. »Ein bisschen.« »Kann ich dich neben diesem Grab fotografieren ?« Tessel sagte etwas auf Niederländisch. Der Junge lächelte und sagte zu Jacob: »Dieser Mann ist dein Großvater?« »Genau.« Der Junge sagte: »Warte, bitte«, drehte sich um, suchte offensichtlich jemanden, schien dann die Person in einem schwatzenden Häufchen junger Leute drei Gräberreihen weiter zu entdecken. »Hille«, rief er und winkte einem Mädchen, das sich, als es herankam, als eine Art Spiegelbild des Jungen ent‐ puppte. Der gleich runde Kopf mit ganz kurzem kasta‐ nienbraunen Haar, weit stehende Augen, breiter Mund mit vollen Lippen, klares ovales Gesicht, so jungenhaft wie das des Jungen noch mädchenhaft war. Sie trug ein loses, weißes, langärmliges Polohemd, in die Jeans ge‐ steckt, und hatte einen lila Pullover um die Taille geschlungen. Der Junge sprach auf Niederländisch mit ihr. Sie lächelte Jacob ebenfalls an. »Mein Bruder sagt, das hier ist das Grab von deinem Großvater.« »Ja.« Sie wandten sich beide dem Grabstein zu wie einem gemeinsamen Freund. Jacob hatte Sarahs Fotos von dem Stein gesehen, aber jetzt, da er real damit konfrontiert war, empfand er zum ersten Mal, wie seltsam es war, den eigenen Namen auf einem Grabstein verewigt zu sehen. J. TODD. Und das 285
Wissen, dass er praktisch auf dem stand, was noch von seinem Großvater übrig war, erzeugte ein Kribbeln in seinen Füßen. Ihm kam das verrückte Bild, wie sein Großvater durch die Erde langte, ihn an den Knöcheln packte und ihn zu sich in sein erdenes Bett zog. Schon mal von einem Leichnam geküsst worden? Ihn gruselte bei dem Bild und er hatte Schuldgefühle, dass er so etwas überhaupt dachte. »Was heißt J.?«, wollte der Junge wissen. »Jacob. So heiße ich auch.« Sie sahen sich wieder an. »Ich bin Hille«, sagte das Mädchen. »Das ist mein Bruder Wilfred.« »Und ich bin Tessel«, sagte Mrs van Riet. »Oh ja, Entschuldigung«, sagte Jacob und schaltete wie‐ der auf seine Erwachsenenmanieren um. »Das ist Mrs van Riet.« Worauf sie sich alle, wie es sich gehörte, die Hand gaben, Wilfred ernst und förmlich, Hille und Jacob mit einem leisen Grinsen wegen des Ebenenwechsels. Jacob sagte: »Ich möchte ein Foto von deinem Bruder und seinen Blumen machen. Ich weiß, dass meine Großmutter gern eins hätte.« »Ich habe auch mal Blumen da niedergelegt, als ich so alt war wie Wilfred«, sagte Hille. »Vielleicht hättest du mich auch gern auf dem Foto ?« Auf die Gefahr hin, dass sie ihn veralberte, sagte er: »Okay.« »Unsere Mutter auch«, sagte Wilfred. »Sie hat auch mal Blumen auf dieses Grab gelegt.« 286
»Als sie noch auf der Schule war. Ist natürlich viele Jahre her!«, sagte Hille. »Aber sie ist heute nicht hier. Wir ziehen morgen um, deshalb hat sie zu tun.« Hille und Wilfred stellten sich zu beiden Seiten des Grab‐ steins auf, je eine Hand darauf. Jacob trat ein Stück zurück, ging in die Hocke, damit er Stein, Blumen und die beiden Personen aufs Bild kriegte, machte ein Foto und dann, wie immer, sicherheitshalber noch eins. Sie bildeten jetzt wieder ein Quartett auf dem Rasen über dem toten Jacob, guckten einander an, lachten und über‐ legten, was sie jetzt sagen sollten. »Warst du schon mal hier?«, fragte Hille Jacob. »Nein.« »Möchtest du ein bisschen rumlaufen?« »Gern.« Sie suchten sich einen Weg durch die Menge. Wilfred und Tessel gingen hinterher und unterhielten sich auf Nieder‐ ländisch. »Das Schlimmste ist ihr Alter«, sagte Hille. »Neunzehn, zweiundzwanzig, zwanzig.« »Ich weiß, es klingt sicher blöd und ich versteh’s selbst auch nicht, aber ein Teil von mir wünscht sich, ich wäre dabei gewesen. Bei der Schlacht, meine ich.« »Männer!«, sagte Hille mit einem verächtlichen Schnau‐ ben. »Deshalb gab es Kriege.« »Ich hasse Krieg. Ich hasse sogar Gewalt überhaupt.« »Es ist der Mann‐Teil von dir, der gern dabei gewesen wäre. Das Testosteron. Dagegen kannst du gar nichts machen, du Armer.« 287
»Na ja, wenn ich dabei gewesen wäre, bei der Schlacht, dann wäre ich jetzt bestimmt in einem dieser Gräber und nicht unter den Überlebenden. Ich bin kein Held, so viel steht fest.« »So was gibt’s nicht«, sagte Hille. »Niemand ist ein Held.« »Glaubst du nicht, dass manche Menschen mehr Mut be‐ weisen als andere und tapferer sind und alles?« »Glaubst du’s?« »Na ja, schon. Wenn man zum Beispiel liest, was manche Soldaten in der Schlacht getan haben. Nicht nur ge‐ kämpft, sondern auch andere Soldaten gerettet, unter Einsatz des eigenen Lebens. Sie haben unglaubliche Sachen gemacht, die sich andere nicht getraut haben.« »Und was haben sie gemacht, als sie wieder zu Hause waren ?« »Wie bitte?« »Was haben sie zu Hause gemacht? Wie haben sie ihre Frauen oder Freundinnen behandelt? Wie haben sie sich ihren Arbeitskollegen gegenüber verhalten?« »Keine Ahnung.« »Ist das noch wichtig? Wenn sie doch Helden sind.« Er ließ die Frage und Hille auf sich wirken. »Ja, ich glaube schon. Mir wär’s wichtig. Worauf willst du raus?« »Du bist nicht dumm –« »Vielen Dank!« »– du weißt schon, worauf ich hinaus will. Ist ja nicht so, dass ich nicht an Mut und Tapferkeit und all so was glaube. Ich denke einfach nur, dass die meisten Leute 288
tapfer und mutig sind, aber auf unterschiedliche Art und bei verschiedenen – wie sagt ihr? Gelegenheden — Gele‐ genheiten.« »Aber niemand ist besonders mutig?« »Frauen beim Kinderkriegen, sagt unsere berühmte Anne Frank.« Jacob blieb jäh stehen. »Du kennst Anne Frank? Ich meine, das Buch?« »Ja, warum ?« »Ich auch! Mein Lieblingsbuch.« »Ach?« Sie beäugten sich mit gesteigertem Interesse. Und setzten sich wieder in Bewegung. Sie erreichten den Blickpunkt des Friedhofs, an dem Ende, das dem Eingang gegenüberlag. Ein hohes weißes Kreuz auf einem Sockel. Drumherum stand eine Men‐ schenmenge. Viele Leute legten Kränze und Blumen am Fuß des Kreuzes nieder, so viele, dass sich dort schon eine ganze Pyramide türmte. Gegenüber von Jacob und Hille, auf der anderen Seite des Blumenhügels, standen drei alte Männer in ihrer Uniform aus blauem Blazer und grauer Hose, einer mit einem roten Fallschirmjägerbarett, die beiden anderen mit blauen Baretten, und alle mit Reihen von Orden auf der Brust. Der Mann in der Mitte hielt eine zusammengerollte Fahne in der weiß behandschuhten Hand. Sie standen stumm und ernst in Habachtstellung, während die Leute um sie herumwimmelten. Einem spontanen Impuls folgend, hob Jacob den Fotoapparat und knipste sie. 289
Und hatte sofort ein mieses Gefühl, als hätte er etwas gestohlen. »Für meine Großmutter«, sagte er zu Hille, als sei sie es, bei der er sich entschuldigen müsste. Aber sie hörte gar nicht zu. Sie schaute auf das schlanke weiße Kreuz, das vor ihnen emporragte. In den Stein eingelegt war ein riesiges bronzenes Schwert, wobei Griff, Klinge und Blatt die Form des Kreuzes wiederholten. »Das Schwert Christi und das Kreuz des Oorlog«, sagte sie. »Oorlog?«, wiederholte Jacob, so gut er konnte. »Krieg. Traurig, findest du nicht?« »Traurig?« »Das Kreuz. Das Schwert. Zusammengeklatscht«, sagte sie. »Fertig. Erledigt.« Und damit marschierte sie los. Ein anonymer Offizier: Ich bin sehr verbittert wegen Arnhem; ich habe zu viele Freunde verloren. Als ich bei Kriegsende geheiratet habe, ist mir aufgegangen, dass mein Trauzeuge der neunte auf der Liste derjenigen war, die ich gern gehabt hätte; die ersten acht waren alle tot oder versehrt. Ich konnte jahre‐ lang nicht über Arnhem reden und nichts darüber lesen. Als ich schließlich anfing, Sachen darüber zu lesen, kam ich zu dem Schluss, dass schuld an dem Ganzen dieser Fähnchen schwenkende Enthusiasmus von Leuten wie (Feldmarschall) Montgomery war, die zeigen wollten, dass sie so viel cleverer waren als die anderen. (Middlebrook, S. 452) 290
Lance‐Corporal Harry Smith, South Staffordshire Regiment: Es fällt mir bis heute schwer, das zu erklären, aber manchmal überkommt mich etwas. Ich ziehe mich in mich zurück, will allein sein und rede tagelang nichts. Dann sind plötzlich meine Gedanken – oder sollte ich besser sagen: bin ich – wieder in Arnhem. Und dann, nachdem ich drüber nachgegrübelt habe, was hätte pas‐ sieren können oder was gewesen wäre, wenn dies oder das passiert wäre, scheint mich für einige Zeit etwas Schreckliches umzutreiben, bis ich schließlich ganz lang‐ sam wieder zu mir komme. (Middlebrook, S. 452) Ms Ans Kremer, die im Stationsweg 8 in Oosterbeek wohnte: Die Kämpfe haben bei mir tiefe Spuren hinterlassen. Ich hatte keine Angst, aber ich hatte so ein Gefühl, wegen der Verwundeten und Toten, die einfach herumlagen, und wegen der Sterbenden – ein Gefühl, das ich nicht benen‐ nen kann. So wie bei dem einen Soldaten, der vor unseren Augen getroffen wurde und dreimal »Goodbye« schrie, bevor er starb. Deswegen benutze ich kaum je das Wort »Goodbye«; es hat so etwas Endgültiges für mich. Diese Geschehnisse sind für mich immer noch da, nicht ständig und nicht bewusst, aber ab und zu weckt ein Gesicht, ein Geruch, ein Geräusch oder eine Situation in mir eine vage Erinnerung oder ein plastisches Bild und das traurige Gefühl, das damit verbunden ist. Diese Män‐ ner sind für mich Freunde. Irgendwie ist da so ein Band, 291
und wenn ich sie treffe, will ich dafür sorgen, dass sie es schön haben und sich wohl fühlen. Sie sind gekommen, um uns wieder zur Freiheit zu ver‐ helfen, und ich bin ihnen dankbar, aber ich fühle mich auch in ihrer Schuld, wegen all des Leidens und des Todes so vieler Menschen, derer, die uns bekannt sind, und derer, die uns unbekannt sind. »Dankbar« ist ein zu schwaches Wort. Es gibt Gefühle, die man nicht wirklich in Worte fassen kann. (Middlebrook, S. 452‐453) Sie kamen am Ausgang an. »Ich möchte echt gern mehr über deinen Großvater wissen«, sagte Hille. »Wir haben uns immer gefragt, wer er war, wie er war, dieser Mann, auf dessen Grab wir die Blumen gelegt haben. Aber als meine Mutter es getan hat und als ich es getan habe, ist nie jemand gekommen und hat gesagt, er sei ein Verwandter von ihm. Also konnten wir nie jemanden fragen. Bis heute. Wie wär’s mit einem Kaffee? Wir könnten doch in ein Café gehen und reden.« Nichts wollte Jacob lieber. Alles an diesem Mädchen gefiel ihm. Ihr Aussehen. Das, was sie sagte. Die witzige, leicht aggressive Art, wie sie manches davon sagte. Und das mit Anne Frank. Wie immer, wenn er jemanden besonders anziehend fand, wollte er sie berühren; aber bei diesem Mädchen wollte er noch mehr, als sie nur berühren. Er verscheuchte diesen Gedanken aus seinem Kopf, aus Angst, sich zu verraten, und um sich Zeit für die Antwort 292
zu verschaffen, drehte er sich nach Tessel um, die mit Wilfred ein Stück hinterherging. »Das würde ich wirklich sehr gern«, sagte er. »Aber ich bin doch mit ihr hier, mit Mrs van Riet, ich meine mit Tessel, und –« »Ich habe nichts gegen sie«, sagte Hille auf ihre sachliche Art. »Sie scheint ja sehr nett, aber es wäre doch nicht dasselbe, oder?« Er sah sie an, und sie grinste auf dieselbe komplizenhafte Art wie vorhin, als sie sich alle die Hand gegeben hatten. »Nein«, sagte er, »das wär’s nicht.« »Wenn ich sie fragen würde, ob wir allein ... Meinst du, sie hätte was dagegen ?« »Ich schätze, du würdest sie rumkriegen. Ich nehme an, das schaffst du meistens.« »Darin bin ich ganz gut, da hast du Recht.« »Aber ich weiß nicht. Es wäre ein bisschen unhöflich, sie einfach stehen zu lassen, nachdem sie sich um mich gekümmert hat und mit mir hierher gefahren ist.« Er zuckte die Achseln. »Und da sind Komplikationen.« »Du willst doch nicht plötzlich auf höflich machen oder, Engelsman?« Er lachte. »Kann nicht anders. Ist nun mal meine Natur. Wie der Skorpion zum Frosch sagte.« »Ach herrje, dagegen müssen wir was tun!« »Müssen wir?« »Warum nicht? Würde doch Spaß machen, meinst du nicht?« 293
»Ich halte eigentlich ziemlich viel von Höflichkeit.« »Das merke ich.« »Macht das Leben leichter. Ölt die Maschinerie, sagt meine Großmutter.« »Ich habe ja schon von Muttersöhnchen gehört. Aber noch nie von Großmuttersöhnchen. Du bist doch kein Groß‐ muttersöhnchen, oder?« Er lachte nervös. »Ein bisschen. Kann nicht anders. Ich lebe bei ihr, weißt du.« »Die Frau deines Soldatengroßvaters?« »Eben diese.« »Und du bist auch ein Jacob.« »Inzestuös, was?« »Mein Gott!« Sie warf ihm einen wissenden Blick zu. »Und du?«, fragte Jacob. »Bist du ein Vatertöchterchen wie meine Schwester?« Jetzt lachte Hille, das Echo seines Lachens eben. »Ein biss‐ chen. Kann nicht anders. Ich lebe bei ihm, weißt du.« Sie lachten. Als spielte sie eine Trumpfkarte aus, sagte sie: »Anne Frank war auch eins.« »Ja«, sagte Jacob, »stimmt. Aber nicht so wie meine Schwester. Sie ist nicht nur ein bisschen ein Vatertöch‐ terchen, sie ist es in obszönem Ausmaß, wenn du mich fragst.« »Du magst sie nicht?« »Nicht besonders.« 294
»Schade. Mein Bruder Wilfred und ich, wir verstehen uns gut. Ich mag ihn sehr, um ehrlich zu sein. Er ist so ernst! Es ist komisch, wie ernst er alles nimmt. Vielleicht würde ihm ein bisschen mehr Leichtigkeit gut tun. Aber ich liebe ihn so, wie er ist.« »Ihr seht euch sehr ähnlich.« »Das sagen alle, was ziemlich witzig ist.« »Wieso?« »Er ist adoptiert. Mutter konnte nach mir keine Kinder mehr kriegen und sie wollten einen Sohn, also haben sie Wilfred adoptiert, und ich habe mich sehr gefreut. Ich hab ihn ausgesucht.« »Echt!« »Echt! Jedenfalls sagt Mutter das. Ich war erst vier, aber sie sagt, ich hätte ihn sofort ins Herz geschlossen. Also haben sie beschlossen, dass es Wilfred sein musste.« »Aber ihr seht euch wirklich sehr ähnlich.« »Ja, ich weiß. Ich seh’s auch. Und ich habe nichts dage‐ gen, weil ich ihn hübsch finde.« Jacob wollte sagen, dass das stimme, aber damit hätte er zu viel von dem verraten, was er für sie empfand. Noch ehe Tessel ganz bei ihnen war, redete Hille schon in schnellem Niederländisch auf sie ein und Tessel lächelte und nickte und antwortete und sah ab und zu zu Jacob herüber, der nicht viel mehr heraushörte als seinen Namen und die Worte Amsterdam und Koffie. »Natürlich musst du noch bleiben und mit Hille reden, wenn du möchtest«, sagte Tessel zu ihm, als die Unter‐ redung beendet war. »Ich habe nichts dagegen. Für mich 295
macht es das einfacher. Ich kann direkt zu Geertrui fahren. Aber wirst du denn allein zu Daan zurückfin‐ den?« »Kein Problem«, sagte Hille. Sie grinste, wandte sich an Jacob und zitierte mit verblüffendem Imitationstalent: »Gib dich einfach in meine Hände. Sei ganz entspannt. Genieß es. Vertraue darauf, dass ich dich sicher nach Amsterdam bringe.«
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GEERTRUI Frau Wesseling war nach Dirks Verschwinden so verstört, dass sie tagelang nicht aus ihrem Zimmer kam. Es war, als wäre ihr Sohn tot. Wie eine Gebetsmühle wiederholte sie die ganze Zeit, dass sie ihn nie wieder sehen würde. In ihrem Schmerz gab sie Henk die Schuld, behauptete, er habe Dirk dazu überredet. Mir warf sie vor, dass ich überhaupt auf den Hof gekommen war, weil ich dadurch ihren Sohn in Verwirrung gestürzt hätte. Und sie warf mir vor, dass ich Jacob mitgebracht und ihre Familie dadurch noch größerer Gefahr ausgesetzt hatte. Ihrem Mann warf sie vor, dass er Dirk gegenüber nicht energischer gewesen sei. Aber die alier‐heftigsten Vor‐ würfe machte sie sich selbst, weil sie das alles überhaupt zugelassen hatte. Sie hätte Henk gleich wegschicken sollen, als er und Dirk beschlossen hatten, sich auf dem Hof zu verstecken; sie hätte uns alle drei noch in der Nacht, als wir angekommen waren, wieder wegschicken sollen; sie sagte sogar, sie hätte die Deutschen Jacob finden lassen sollen, das hätte wenigstens ihren Sohn gerettet. Ihre Qual war kaum mitanzusehen. Und Herr Wesseling und ich konnten nichts tun, um ihre Pein zu lindern. Es war ein Schock, eine erwachsene Frau, die ich immer nur 297
als so stark, so beherrscht, so unbezwingbar erlebt hatte, plötzlich in sich zusammenfallen, ja, in ihrer Verzweif‐ lung fast infantil werden zu sehen. Eine weitere Lektion, die erschütterndste meines Lebens: wie zerbrechlich das Wesen des Menschen ist. In den wenigen Minuten, die sie brauchte, um den Brief ihres Sohnes zu lesen, löste sich diese reife, erfahrene, dominante Frau auf, als hätte jemand an dem Faden gezo‐ gen, der das Gestrick ihres Selbst bildete, und sie aufge‐ ribbelt, bis nur noch ein wirres Garnhäufchen übrig ge‐ blieben war. Und obwohl Dirk schließlich zurückkehrte, fand sie nie wieder ganz zu ihrem früheren Selbst zurück, wurde sie nie wieder die selbstbewusste, gebieterische Person, die sie gewesen war, sondern blieb für den Rest ihres Lebens eine nervöse, unsichere Frau, in sich zurück‐ gezogen, schwer zu erheitern, immer auf das Schlimmste gefasst. Ihr einziges bleibendes Vergnügen und, wie ich glaube, ihr einziger Trost war es, auf dem Harmonium zu spielen, einem Instrument, das sie als Kind spielen ge‐ lernt, dann aber in Jugendjahren aufgegeben hatte und dem sie sich jetzt wieder zuwandte, als hätte es nie eine Unterbrechung gegeben. Sie spielte nur für sich allein, wollte nie, dass ihr jemand zuhörte, und investierte in das Spiel alles von sich, was sie vorher in ihren Sohn investiert hatte. Es war, als lebte sie, wenn sie Harmonium spielte, ein anderes Leben, ein Alternativleben, das sie nicht so enttäuschte, wie es ihr Alltagsleben getan hatte. Bis schließlich, vor ihrem Tod, das Harmoniumspiel ihre ganze Welt wurde und es 298
nichts anderes mehr gab. Alles andere war verschwun‐ den, ihr Mann, ihr Sohn, ihr vorheriges Leben war verges‐ sen. Sie erinnerte sich nur noch an die Musik und an die Logik der Tastatur. Sie starb mit Anfang sechzig an Krebs, während sie auf der Bettdecke die Töne eines Musik‐ stücks spielte, das nur sie hören konnte. Doch ich greife vor. Gehen wir wieder zurück zu den Tagen nach Dirks und Henks Verschwinden. Herr Wesseling war natürlich bestürzt, aber er verkraftete es besser als seine Frau und war optimistischer. Sie kom‐ men schon wieder, sagte er, vermutlich in ein paar Tagen, wenn sie gemerkt haben, dass der Untergrundkampf nicht so leicht ist, wie sie es sich vorgestellt haben. Was seine Frau anging, so nahm er ihren Rückzug zu‐ nächst mit derselben pragmatischen Gelassenheit hin. Er war kein fantasiebegabter Mensch, sondern phlegmatisch und fatalistisch. Für ihn waren die Dinge, wie sie nun mal waren, so war das Leben, und man tat gut daran, das Beste daraus zu machen. Es gab eine Formulierung, die er oft benutzte: Es ist nun mal Gottes Art, dass wir nur kriegen, was wir verdient haben. Außerdem waren ihm Frauen ein Rätsel, ihre Eigentümlichkeiten unerklärlich. Ihr Bereich waren das Haus und die Kleintiere und da mischte er sich nicht ein. Deshalb tat er den Rückzug seiner Frau in ihr Zimmer achselzuckend als weibliche Reaktion auf schlimme Nachrichten ab und überließ mir nun, neben dem Rest der »Frauenarbeit«, auch ihre Betreuung. Er beachtete mich nicht weiter, sagte nur ab und zu mal: »Sie machen sich sicher Sorgen um Ihren 299
Bruder. Er kommt schon durch. Den Burschen fällt schon etwas ein.« Und das war alles. Zurück an die Arbeit. Die unablässige Plackerei auf einem Bauernhof, wo Tiere und Pflanzen nie Urlaub machen und auch denen, die sich um sie kümmern, keinen freien Tag lassen. Das Land ist ein grausamer Herr und Meister. Und das Beste, was ich über Herrn Wesseling sagen kann, ist, dass er sich ihm mit absoluter Hingabe widmete. Das war die Eigenschaft an ihm, die alles wettmachte, und ich muss sagen, ich habe ihn immer gemocht und mich gut mit ihm verstanden. Aber Frau Wesseling hatte Recht: Ich war nicht in das Bauernleben hineingeboren und auch nicht der Typ dazu. Ich weiß nicht, wie ich die nächsten Tage hätte überstehen sollen, wäre Jacob nicht gewesen. Ohne ihn hätte ich die Wesselings vermutlich genauso abrupt verlassen wie mein Bruder und Dirk, ganz gleich, was für Gewissens‐ bisse ich dabei gehabt hätte. Aber für Jacob war allein ich verantwortlich. Ich hatte mich, entgegen jedermanns Rat, darauf eingelassen und ihn jetzt zu verraten, hätte ge‐ heißen, mich selbst zu verraten. Ich hätte nie wieder mit mir leben können. Wegen Jacob musste ich bei den Wes‐ selings bleiben, musste ich tun, was immer mir an Arbeit zufiel, egal, wie erschöpft und verzweifelt ich war. Und ich musste alles tun, um ihm zu helfen, so weit zu kommen, dass er überleben konnte. Ich sage nicht »flie‐ hen«, weil ich damals schon, wenn ich es mir auch nur halb eingestand, den Tag fürchtete, an dem er mich verlassen würde. Frau Wesseling zog sich also in ihr Zimmer zurück, Herr 300
Wesseling vergrub sich in seiner Arbeit und ich floh, sooft ich konnte, vor der Last der Hausarbeit zu Jacob. Meistens war das abends, nach dem Essen. Herr Wesse‐ ling ging dann Radio Oranje hören und ich ging zu Jacob, mit der zusätzlichen Ausrede, dass man durch die Dach‐ luke des Verstecks den besten Blick auf die Straße und den Fahrweg zum Haus hatte, sodass ich nach ungebete‐ nen Besuchern Ausschau halten konnte, während Herr Wesseling den englischen Sender hörte. Hinterher kam er dann zu uns, um uns die neuesten Nachrichten über den Krieg mitzuteilen, nach Jacobs Fortschritten zu sehen und uns dann wieder allein zu lassen und sich zu seiner Frau zu setzen. Sein Englisch war so schlecht, dass er nie lange blieb. Nachdem Jacob so lange von mir abhängig gewesen war, was seine physischen Bedürfnisse anging, wurde ich jetzt in meinen emotionalen Bedürfnissen von ihm abhängig. Er war mein einziger Vertrauter. Es gibt wenige Männer, die gute Zuhörer sind. (Jedenfalls war das in meiner Jugend so. Ist es heute anders?) Aber Jacob war einer. Und die ersten ein, zwei Tage nach Henks Verschwinden musste er sehr viel zuhören, da ich meine ganze Ver‐ zweiflung über den Verlust meines Bruders, meine Sorge um meine Eltern, meine Klagen über Frau Wesseling, mein Leiden unter der einsamen Schufterei und meine Ängste, seine und meine Zukunft betreffend, bei ihm ablud. Alles, was ich bisher so sorgsam für mich behalten und vor ihm verborgen hatte, weil ich so fest entschlossen gewesen war, gute Laune zu bewahren, um ihn nicht zu 301
belasten und womöglich seine Genesung zu behindern. Ich schätze, ich hatte mich die ganze Zeit als seine Rette‐ rin gesehen, seine Krankenschwester, ja sogar, wie er es nannte, seinen Schutzengel. Seine Maria. Jetzt änderte sich das alles innerhalb eines Tages. Der Damm war gebrochen, meine Gefühle strömten sintflutartig aus mir heraus und Jacob wurde jetzt meine Zuflucht, mein Beschützer, mein Gefährte. Das war ja so eine Erlösung! Nicht mehr die ganze Zeit stark sein, nicht fröhlich und optimistisch tun zu müssen, nicht immer entschieden und unverzagt sein zu müssen. Nicht mehr so viel vorgeben zu müssen. Sondern bloß zu sein. Und Jacob hielt mich nicht davon ab. Was für eine Befrei‐ ung! Wie eine Gefangene, der man endlich die Kette abge‐ nommen hatte. Eines Abends, als wir uns an dem improvisierten Tisch‐ chen im Versteck gegenübersaßen und die Geräusche und der Geruch der Kühe drunten im Stall durch die Heu‐ wände drang, begann ich beim Reden zu weinen. Obwohl wir in dem engen Versteck eingesperrt waren, fühlte es sich an, wie nach einer langen staubigen Dürrezeit, die man drinnen verbracht hat, in den Regen hinauszulaufen. Und als wären wir Freunde, die zusammen durch den Regen liefen, streckte Jacob den Arm aus und wir hielten über den Tisch hinweg Händchen. Das war das erste Mal, dass wir uns auf diese Art nahe kamen. Wie gesagt, ich hatte diesen Mann gewaschen, einschließlich seiner intimsten Körperteile, etliche Male. Ich hatte ihn in seiner 302
schlimmsten Leidenszeit in unserem Keller in den Armen gewiegt, während er schlief. Ich hatte ihn löffelweise ge‐ füttert wie ein Baby. Ich hatte seine Verbände gewechselt. Ich hatte ihm sogar geholfen, aufs Klo zu gehen. Es gab keinen Teil seines Körpers, den ich nicht gesehen und berührt hatte. Aber das war die Berührung seiner aufopferungsvollen Krankenschwester gewesen, seines Engels Maria. Natürlich waren da diese Momente in der Bedstee gewe‐ sen und die Wünsche und Sehnsüchte, die sie geweckt hatten. Aber ich hatte versucht, das alles zu verdrängen, nicht daran zu denken. Um es mit jenem altmodischen Wort zu sagen, das heute niemand mehr ernsthaft be‐ nutzt: Ich war keusch geblieben. Was passiert war, hatte ich mir gesagt, war ein Versehen gewesen, das es zu vergessen galt. Auch wenn ich es nachts nicht aus meinen Gedanken fern halten konnte und schon gar nicht aus meinen Träumen. Aber jetzt war es nicht der Engel Maria, der ihn berührte. Er berührte mich, Geertrui, indem er über den Tisch hin‐ weg meine Hand nahm, während ich redete und weinte. Ich sträubte mich nicht. In diesem Augenblick hätte mich nichts mehr trösten, mehr freuen können, als meine Hand in seiner zu spüren. Und doch wühlte es einen solchen Wirrwarr von Gefühlen auf, da meine Verzweiflung und meine Angst sich mit dem Verlangen und den Sehn‐ süchten mischte, die mich nachts wach gehalten hatten und die jetzt endlich auf eine Reaktion stießen, endlich ein Ventil, eine Antwort, eine äußere Bestätigung in der 303
streichelnden Berührung seiner Finger fanden. In der Sekunde, in der er meine Hand nahm, sah ich ihn nicht mehr als verwundeten Soldaten, als Flüchtling, als Fremden. Und, wie ich ehrlichkeitshalber hinzufügen muss, auch nicht mehr als verheirateten Mann. Ich sah ihn nur noch als mein und mich als sein. In dieser einen kompromisslosen Sekunde gab ich mich ihm voll und ganz. Und ich tat es bewusst, willentlich (bitte nimm das zur Kenntnis, nicht mutwillig, sondern willentlich). Und ich habe ihn und mich seit jenem Tag nie mehr anders gese‐ hen. Ich will es klar sagen. Keine Sekunde habe ich mich da‐ mals zurückgehalten, gesträubt, verwahrt. Ich versuche das nicht zu erklären, nicht zu entschuldigen. Und ich äußere nicht das leiseste bisschen Reue. Ganz im Gegen‐ teil. Ich stehe fest zu diesem Moment, dieser Entschei‐ dung. Und trage die Folgen. Wenn ich mir in meinem Leben einer Sache sicher war, dann meiner Liebe zu Jacob. Wäre er am Leben geblieben, hätte ich alles getan, um ihn zu halten. An jenem Abend redeten wir, hielten Händchen, sahen uns in die Augen, wie alle Liebenden in dem köstlichen Moment, da sie einander erstmals ihre Gefühle zeigen. Mehr nicht. Wir küssten uns nicht einmal. Und doch schien es uns, als ob sich unser ganzes Leben in diesem improvisierten, geheimen Raum konzentrierte. Wie es in diesem Gedicht heißt, das ich so liebe und von dem du ja schon weißt: »Das Kurzbemessne kann vollkommen sein.« Es gibt nichts darüber hinaus. Es kann nichts 304
Besseres geben. Diese zwei Stunden, die Jacob und ich an jenem Abend zusammen verbrachten, waren solch ein kurz bemessnes Stück Vollkommenheit. Es fand dadurch sein Ende, dass Herr Wesseling – unter dem Vorwand, mich darauf hinweisen zu wollen, wie spät es schon sei — von unten heraufrief und dann am Fuß der Leiter auf mich wartete, während ich Jacob hastig Gute Nacht sagte. Ich nahm Herrn Wesseling diese Einmischung nicht übel, im Gegenteil, ich war froh darüber. Er trug zum erregen‐ den Verlauf des Abends bei und gab mir ein Gefühl der Sicherheit, die beruhigende Gewissheit, dass ein väterli‐ ches Auge über mich wachte. Und inzwischen, nach so vielen strapaziösen Tagen fern von meinen Eltern (die ich zum ersten Mal so lange nicht gesehen hatte), brauchte ich diese Art beruhigender väterlicher Liebe genauso, wie ich dazu bereit war und mich danach sehnte, die beun‐ ruhigenden Gefühle der ersten leidenschaftlichen Liebe zu erfahren. Du kannst dir sicher denken, dass ich in jener Nacht sehr wenig schlief. Und dass ich voller hoffnungsfroher Ge‐ danken war. Gedanken, wie die Zukunft mit Jacob aus‐ sehen würde, wo und wie wir leben würden. Junge Liebe hat einen Tunnelblick, ihre Netzhaut ist eine Filmleinwand, sie sieht die Welt als Projektion ihrer eige‐ nen Fantasien. Doch am nächsten Tag war die Welt genau wie am Vor‐ tag, nur noch schlimmer. Kälter, trüber, staubiger, trister. Und mein Los – als Frau Wesselings Dienstmädchen und Herrn Wesselings Magd‐Haushälterin – härter denn je. 305
Alles, was ich wollte, wonach ich mich sehnte war, mit Jacob allein zu sein. Doch ich bin zum Glück eine aktive Natur. Je tiefer mein Mut und meine Stimmung sinken, desto stärker wird der Impuls, zuzupacken und etwas zu tun. Ein Erbteil meiner Mutter. Also stürzte ich mich mit der ganzen Wut frustrierten Begehrens in meine Arbeit. Doch die menschliche Natur ist so verdreht, dass mich, sooft ich Jacob an diesem Tag sah – als ich ihm Frühstück brachte und Mittagessen, heißes Waschwasser, saubere Kleidung – eine solche Schüchternheit überkam, dass ich ihm kaum in die Augen sehen konnte. Ich versuchte so sachlich wie möglich zu sein, versuchte, so geschäftig zu wirken, als hätte ich keine Zeit stehen zu bleiben und zu reden, versuchte so zu tun, als hätte sich zwischen uns nichts geändert, als sei ich weiterhin nur die freundliche Krankenschwester Maria. Aber das war natürlich sinnlos. Alles hatte sich geändert. Schwerer noch, als ihn anzu‐ gucken, war es, ihn zu berühren, und am allerschwersten, von ihm berührt zu werden. Normalerweise wechselte ich nach dem Frühstück Jacobs Verband. Aber an diesem Morgen war sein Bein nicht mehr nur ein verwundeter Körperteil, es war Teil des begehrten Körpers des Gelieb‐ ten, den zu küssen und zu streicheln mich so sehr ver‐ langte. Also murmelte ich etwas von einem dringenden Problem mit Frau Wesseling, um den Verbandswechsel auf später zu verschieben, wenn ich, wie ich hoffte, dafür gewappnet wäre. »Später« kam nach dem Mittagessen. Um diese Zeit hatten wir immer eine halbe Stunde zusammen verbracht, 306
eine Entspannungspause vor der nachmittäglichen Arbeit. An diesem Vormittag hatte Herr Wesseling den Kuhstall ausgemistet. Jacob hatte geholfen, indem er auf dem Heuboden herumhumpelte und frisches Heu und Stroh zu Herrn Wesseling hinunterforkte. Mittags war er staub‐ und schweißverklebt, sein Verband war schmudd‐ lig und halb locker und behinderte ihn. Wenn ich ihn nicht wechseln wolle, erklärte er gereizt, als ich ihm sein Mittagessen brachte, werde er’s selbst tun. Aber das konnte ich nicht zulassen. Keine anderen Hände als meine durften meinen geliebten Patienten berühren, noch nicht mal seine eigenen. Diese Eifersucht! So etwas hatte ich noch nie empfunden. Bis dahin hatte ich Eifersucht immer für eine hässliche Schwäche gehalten, für etwas, was ich verachtete. Jetzt überfiel sie mich als ein unver‐ kennbarer seelischer Krampf, der mich völlig überrum‐ pelte und noch verlegener machte, als ich sowieso schon war. Wortlos ging ich davon, um einen Krug mit heißem Wasser und frisches Verbandsmaterial zu holen. Als ich zurückkam, saß Jacob in der Unterwäsche auf dem Bett. Er hatte sich gewaschen, so gut das mit kaltem Wasser ging. Ich hatte meinen Patienten oft so gesehen, aber nicht seit diesen einschneidenden Stunden am Vorabend. Ich wollte mich in seine Arme stürzen. Stattdessen bemühte ich mich, so zu sein wie vorher. Aber in meiner über‐ triebenen Geschäftigkeit hantierte ich zu ungeschickt. Ich goss Wasser aus dem Krug in die Schüssel, aber auch da‐ neben. Als ich mich vor sein Bein knien wollte, krachte 307
ich schmerzhaft auf das eine Knie. Mit zitternden Händen fasste ich das gelockerte Ende der Binde über seinem Knie und begann sie abzuwickeln. Da meine Finger jedoch nur aus Daumen bestanden, flutschte mir die Binde beim Auf‐ rollen aus den Händen und fiel in die Wasserschüssel neben mir. Als wäre die Schüssel über Leitungen direkt mit meinen Augen verbunden, trieb diese Ungeschick‐ lichkeit einen Tränenstrom hervor. Ich zwang mich, ihn zu ignorieren, senkte den Kopf, damit Jacob nichts merk‐ te, griff im Zeitlupentempo in die Schüssel, fischte die klatschnasse Binde heraus, wickelte bemüht bedächtig den Rest von seinem Bein ab und legte dann die schmut‐ zige Stoffstreifenrolle beiseite. Stand auf. Schüttete das verschmutzte Wasser weg. Scheuerte die Schüssel aus. Stellte sie wieder auf den Boden. Goss aus dem Krug neues, jetzt lauwarmes Wasser hinein. Beugte mich über Jacobs Bein und wollte gerade die Salbenauflage von der Wunde nehmen – immer der schlimmste Teil des Ganzen, da sie an dem geronnenen Blut festklebte und es schmerz‐ haft war, sie abzuziehen –, als Jacobs Hände sich auf meine Schultern legten und er sich in den Stand hoch‐ stützte und wartete, bis ich nicht mehr anders konnte als aufzuschauen, in sein Gesicht und schließlich in seine Augen. Diese Augen, die mein Herz vom ersten Moment an bezaubert hatten. Ein solcher Moment, eine solche Stasis, lässt sich nicht lange hinziehen. Es gibt nur Vorwärts oder Rückwärts, Annehmen oder Ablehnen, Anerkennen oder Leugnen. Was hätte es für mich in diesem Moment anderes geben 308
können als Vorwärts, Annehmen, Anerkennen? Mit der Sicherheit schieren Instinkts hob ich die Hand und fuhr mit den Fingern sein Gesicht nach, von Stirn und Schläfe bis hin zu Lippen und Kinn. Die Stoppeln seiner unrasierten Wange schickten ein Kribbeln meine Schenkel hinunter. Als meine Finger sein Kinn umfassten, beugte er sich zu mir und küsste mich zart und langsam auf die Lippen. Ich fasste seinen Kopf mit beiden Händen, reckte mich auf die Zehenspitzen und küsste die Lider seiner sich schließenden Augen, zuerst das rechte, dann das linke. Schlang die Arme um seinen Nacken. Presste mich, meinen ganzen Körper, fest an ihn. Und fühlte zum zweiten Mal sein Geschlecht schwellen, aber diesmal an meinem Bauch, und es erfüllte mich mit vibrierender Freude, dieses Zeichen seines Verlangens nach mir, und mit dem Wunsch, die Kräfte, die es in mir wachrief, kennen zu lernen. Es fiel kein Wort, da waren nur das Seufzen und die leisen Laute der Lust, die die Glossolalie der Liebe sind. Wir umklammerten einander und küssten uns innig, eine ganze lange Zeit, die doch so schmerzlich kurz schien. Und mir immer noch genauso schmerzlich kurz erscheint. Und lösten uns schließlich widerstrebend voneinander, als wir Herrn Wesseling an seine Arbeit drunten im Kuh‐ stall zurückkehren hörten. Nachdem ich Jacobs Wunde rasch neu verbunden hatte, stürzte ich, von plötzlicher Hast getrieben, an meine Arbeit zurück, in mir das Singen meines Blutes, wirre Gedanken und das Sehnen, Sehnen, Sehnen nach mehr. 309
Andere Symptome meines Zustands will ich hier lieber nicht näher erörtern: die Röte meiner Haut, meine steifen Brustwarzen, die immer noch den Druck von Jacobs Brust spürten, das fast schon schmerzhafte Ziehen in meinem Unterleib, die Feuchtigkeit unter meinen Armen und zwischen meinen Beinen. Gott sei Dank war niemand im Haus, der meine Verwirrung und meine Seligkeit hätte bemerken können. Bis zum Abendessen hatte ich mich wieder gefasst, aber ich wusste, wenn ich Jacob das Essen hinüberbrächte, würde ich genauso aufgelöst zurückkeh‐ ren, selbst wenn es mir gelänge, mich von ihm loszu‐ reißen. Also bat ich Herrn Wesseling, es ihm zu bringen und ihm auszurichten, ich käme später. Aber später ging ich auch nicht zu ihm. Ich meine, nicht im Lauf dieses Abends. Eine große Nervosität überkam mich. Ich konnte mir nicht trauen. Wie würde ich mich verhalten? Wie sollte ich mich verhalten? Wie würde sich Jacob verhalten? Und wie sollte ich auf ihn reagieren? Würde ich wissen, wie? Da war ebenso viel Angst wie Verlangen in meinem aufgewühlten Inneren. Und außerdem fühlte ich mich plötzlich nicht gut genug für ihn. Mit meinem schmutzigen Körper, meinen alten, ausgeblichenen, formlosen und unansehnlichen Kleidern. Wonach roch ich? Nach der Abendessenkocherei? Nach dem Staub des Hauses? Nach dem Hühnerstall, wo ich eben gewesen war, um die Hennen für die Nacht einzu‐ schließen? Nach der käsigen Luft der Milchkammer, wo ich eine halbe Stunde lang die Schleudertrommel gedreht hatte, um den Rahm von der Milch des Tages zu schei‐ 310
den? Oder nach meinem eigenen Schweiß und meinen Geschlechtsausdünstungen? Dieser Gedanke entsetzte mich. Ich konnte mich keinen Moment länger ertragen. Es war, als wäre mein Äußeres ein abstoßender Panzer, eine erstarrte Hülle, alt und ausgewachsen, das Gefängnis eines neuen Selbst, das daraus hervorzubrechen trachtete. Ich wollte diese Hülle abstoßen, so wie eine Schlange ihre Haut abstreift oder ein Schmetterling die Raupenform, wenn er aus seinem Kokon schlüpft. Wollte? Nein, nein. Musste! Keine Option. Kein Wunsch. Sondern ein Impera‐ tiv. Ein Erfordernis. Eine biologische Notwendigkeit. Ich hatte seit Tagen nicht mehr gebadet. Das war nicht außergewöhnlich. Damals badete man nicht so oft wie heute. Und Duschen waren, zumindest dort, wo ich lebte, unbekannt. Die Menschen waren nicht so penibel mit ihrem Körper. Doch unser Haus in Oosterbeek hatte ein Badezimmer gehabt, während der Bauernhof noch immer keins hatte. Das machte einen großen Unterschied. Vor allem, was den Aufwand anging. Auf dem Hof hatte man die ganze Mühe, genug Wasser heiß zu machen, einen Zuber herzurichten, der vor dem Küchenherd stand, zum einen der Wärme wegen, aber auch, damit man das Wasser möglichst leicht aus dem Kochkessel in den Zuber schütten konnte. Hinterher hatte man die Mühe, das Wasser wegzuschütten und wieder Ordnung zu machen. Und dann war da das Problem von Schicklichkeit und Anstand. Während die Frauen badeten, hielten sich die Männer fern und umgekehrt. Im wesselingschen Haus‐ halt badeten die Männer am Freitagabend, die Frauen am 311
Samstag. Abweichungen von diesem Ritual gab es nur ausnahmsweise. Nach einer Krankheit vielleicht oder aus besonderem Anlass – an einem Geburtstag oder vor einer Reise. Aber nie einfach nur so. Nur weil einem gerade nach Baden war. Dieser Tag war ein Donnerstag. Welche befriedigende Erklärung konnte ich Herrn Wesseling geben, warum ich an diesem Abend baden wollte? Mir fiel nur eine ein, die er ohne Nachfragen schlucken würde, weil dieses Thema ihm viel zu peinlich war. Es würde auch für mich peinlich sein, denn damals sprachen Frauen nicht mit Männern über Frauenbeschwerden, selbst wenn die Männer schon davon gehört hatten, was, auch wenn das heute unglaub‐ lich scheinen mag, bei vielen und selbst bei verheirateten Männern nicht der Fall war. Die speziellen Funktionen des weiblichen Körpers wurden zwischen Männern und Frauen behandelt, als seien sie nicht existent. Offen darüber zu reden galt, zumindest in anständigen, from‐ men Familien, im besten Fall als ungehörig und im schlimmsten als eine soziale Sünde, die streng bestraft werden musste. Aber meine Ausrede hatte zugleich den Vorteil, dass sie stimmte. Meine Periode hatte am Vortag aufgehört. Die einzige Unwahrheit, die ich äußern muss‐ te, war eine klitzekleine Andeutung, dass sie diesmal in irgendeiner Weise unangenehm gewesen sei, und schon würde Herr Wesseling ohne weitere Nachfragen das Haus verlassen. Und das tat er auch prompt. Er erklärte, er werde Radio hören gehen, dann bei Jacob vorbei‐ schauen und etwa in einer Stunde wieder da sein, wenn 312
mir das reiche. Ja, ja, sagte ich und weg war er. Beim Baden wurde mir schließlich bewusst, dass ich das nicht für mich tat, sondern für Jacob. Um mich wie eine Braut darauf vorzubereiten, ihn zu empfangen. »Ich will zu ihm gehen«, sagte ich laut, »weil ich ihn in mir haben möchte.« Meine Schamlosigkeit schockierte mich. Nie hätte ich so etwas von mir gedacht! Und doch begann ich auf eine fast schon kaltblütige Art zu planen, wie ich es machen würde. Ich würde zu Ende baden, sauber machen, mein Haar am Feuer trocknen und dann in mein Zimmer gehen. Dort würde ich mir die Nägel schneiden, meine Hände und Beine einölen, jeden Winkel und jede Ritze meines Körpers genauestens inspizieren und herrichten, mich mit Lavendelduft parfümieren, mein Haar frisieren und mich so schön anziehen, wie es die paar Kleidungs‐ stücke, die ich für besondere Anlässe aufbewahrte, erlaubten. Ich würde mir Zeit lassen, es genießen, mein Bewusstsein von der ganzen Anstrengung und Anspan‐ nung der letzten Wochen reinigen, nur noch an Jacob denken. Ich würde warten, bis Herr Wesseling ins Bett gegangen war und ich sein eruptionsartiges Schnarchen (eine regelmäßige Begleiterscheinung seines Schlafs) hörte. Erst als ich in meinem Zimmer war und die feuchtkalte Herbstnachtluft meinen badwarmen Körper rasch ab‐ kühlte, kam mir, verbunden mit einem noch kälteren Schauer, der Gedanke, dass diese Liebesbegegnung, nach der mich so sehr verlangte, ungewollte Folgen haben 313
könnte. Über die praktische Seite der Sexualität wusste ich (muss ich das noch extra sagen?) so gut wie nichts. Selbst darüber, was wohin gehörte und wie es dorthin gelangte, hatte ich nur rudimentäre Informationen und auch die nur aus unsicherer Quelle – von Freundinnen –, nicht aus Büchern oder von Eltern oder Lehrern. Zu dem, was mir in der Schule sozusagen unterm Tisch erklärt worden war, gehörte die so genannte »Sichere‐Tage‐ Methode« zur Verhütung einer ungewollten Schwanger‐ schaft. Sicher waren demnach die sieben Tage vor Einset‐ zen der Periode, die drei oder vier Tage der Blutung selbst und die sechs bis sieben darauf folgenden Tage. Ansonsten sorgte man besser dafür, dass der Mann die Kirche verließ, ehe das letzte Lied ertönte. (Wie hatten wir Mädels gekichert, wenn wir diese alberne Formulierung benutzten, die uns ein so geheimer Kode für den Coitus interruptus schien.) Tja, wie gesagt, meine Periode hatte am Vortag aufgehört. Aber, dachte ich jetzt, wer gab mir die Sicherheit, dass meine Schulfreundinnen über diese »sicheren Tage« bes‐ ser Bescheid wussten als über andere Dinge ? Und selbst wenn, wie sicher war »sicher«? Hundertprozentig? Zwei‐ fel schlichen sich in meine romantischen Fantasien und ließen mich noch grübeln, als Herr Wesseling bereits seine Schnarcheruptionen von sich zu geben begann. So lange, bis ich schließlich gelassen entschied, dass wahre Liebe immer gefährlich sei. Und für den Teil, der sie gibt, noch gefährlicher als für den, der sie empfängt. Schon damals hatte ich kaum noch Illusionen über das 314
Verhalten des menschlichen Körpers, so wie der Krieg mir kaum noch Illusionen über das Verhalten des ganzen Menschen gelassen hatte. Der Körper konnte, da war ich mir sicher, genauso irren wie der ganze Mensch, genauso unzuverlässig sein, denselben Abweichungen von einer angeblichen Norm unterliegen. Jede Regel, jedes Gesetz, egal, ob in der Natur begründet oder von Menschen gemacht, implizierte Ausnahmen, provozierte Abwei‐ chung. Ich wusste, dass ich im Begriff war, mehrere menschliche Gesetze zu brechen – religiöse (Unzucht, Duldung des Ehebruchs, Begehren des Mannes einer anderen Frau), juristische (Beischlaf vor Erreichen des Mündigkeitsalters) und soziale (Vertrauensbruch gegen‐ über meinen Eltern und den Menschen, die mich unter Gefährdung ihres eigenen Lebens aufgenommen hatten und ernährten). Warum sollte mein Körper nicht genauso eigenmächtig sein und die Gesetze der Natur brechen? Wenn ich erwischt würde, drohten mir für alle diese Übertretungen schwere Strafen. War ich bereit, die Folgen zu tragen, fragte ich mich, während ich in der kerzen‐ erhellten Nachtkälte meinen Körper im Spiegel musterte. Und ich antwortete mir laut und mit dem überheblichen Mut ungeprüfter Jugend: »Ja, ja, das bin ich.« Und als mein Entschluss endgültig gefasst war, ging ich zu Jacob und gab mich ihm.
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POSTKARTE Erwachsen werden ist schließlich nur das Verstehen, dass die eigene einzigartige und unglaubliche Erfahrung das ist, was alle erfahren. Doris Lessing, DAS GOLDENE NOTIZBUCH »Nimm einen Pannenkoek«, sagte Hille. »Was ist das ?« »Ein Pfannkuchen.« »Eier und Mehl und so was, zu einem Teig geschlagen und in der Bratpfanne gebraten?« »Ich schätze ja. Kochen ist nicht gerade meine Stärke. Das, was die Franzosen Crêpes nennen? Sehr beliebt hier in Holland.« Sie lächelte über die Speisekarte hinweg und zuckte die Achseln. »Man kann sie mit was drauf haben. Spek zum Beispiel, also Speck. Oder Apfel und – Kaneel?« »Sorry, keine Ahnung.« »Dich zu was einzuladen ist harte Arbeit.« »Noch mal sorry.« »Nein, schon gut. Macht mir Spaß, mein Englisch zu trainieren.« »Tust du das?« »Ich rede doch Englisch, oder?« »Mich einladen.« 317
»War doch mein Vorschlag.« »Wollte Wilfred nicht mitkommen?« »Er musste seine Sachen noch fertig einpacken.« »Speck ist okay, danke.« »Ich nehme Apfel und Kaneel. Dann kannst du mal pro‐ bieren und mir sagen, was Kaneel ist. Was zu trinken?« »Weißwein ?« Daan hatte ihn auf den Geschmack ge‐ bracht. »Okay.« »Wir können ja niederländisch ausgehen, wie man bei uns sagt.« »Was?« »Niederländisch ausgehen. Kennst du den Ausdruck nicht?« »Nein.« »Das heißt, jeder zahlt sein Essen selbst, statt dass einer für beide zahlt.« »Wieso ist das niederländisch?« Jacob lachte. »Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen?« »Ist doch deine Sprache.« »Na und? Kannst du alle Ausdrücke erklären, die ihr im Niederländischen habt?« »Nein. Aber ich wollte, ich könnte es.« »Wir haben jede Menge Redensarten mit ›niederlän‐ disch‹.« »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel, niederländischer Onkel. Jemand, der zwar kein Onkel von einem ist, einen aber onkelhaft behandelt. Oder niederländischer Mut. Mut, den man sich antrinkt, 318
um etwas zu tun, was man nicht tun will ... Was noch? Warte mal ... Niederländischer Ofen, für Mund. Von we‐ gen viel heiße Luft, schätze ich mal.« »Reizend.« »Niederländische Versteigerung. Wenn man bei einer Versteigerung bei einem hohen Preis anfängt und dann langsam runtergeht, bis jemand kauft, statt umgekehrt.« »Den Ausdruck kenne ich. Und Doppelniederländisch.« »Wenn man Stuss redet.« »Aber wieso?« »Wahrscheinlich, weil für uns Niederländisch so schwer verständlich klingt, deshalb muss Doppelniederländisch totaler Blödsinn sein.« »Danke vielmals! Es ist auch nicht schwerer als Schwe‐ disch. Und was ist mit Chinesisch? Warum nicht Doppel‐ chinesisch ? Gibt’s noch mehr?« »Noch ein paar Sachen, aber ich kenne nicht alle.« »Sind sie alle so abfällig?« »Abfällig? Ich schätze, die meisten schon. Möchte wissen, warum.« »Historisch, würde ich sagen, meinst du nicht?« »Du meinst, aus Zeiten, als wir uns bekämpft haben?« »So etwa. So wie die Dänen den Schweden gegenüber abfällig sind.« »Ach?« »Die Leute machen doch immer Witze und gemeine Be‐ merkungen über die Völker, mit denen sie Krieg hatten, oder? So wie wir mit den Deutschen. Oder jedenfalls meine Großeltern.« 319
»Hass hat ein langes Gedächtnis.« »Ist das auch eine englische Redensart?« »Jetzt ja. Ich hab’s gerade erfunden. So weit ich weiß zu‐ mindest.« Dass Hille laut loslachte, war ein gutes Gefühl. Er mochte sie immer mehr. Konnte den Blick nicht von ihr losreißen. Am wenigsten von ihrem breiten Mund mit der leichten Schmolllippe. Und von dem Perlschimmer ihrer Haut, der in ihm den Wunsch weckte, sie zu streicheln. Die Bedienung kam und sie bestellten. Als sie wieder weg war, sagte Hille: »Weißt du, wo du bist? Ich meine dieses Restaurant hier.« Das Lokal (für seinen englischen Blick eine Kreuzung zwischen Pub, Café und Restaurant) war voller Vetera‐ nen, die (das rote oder blaue Barett noch immer auf dem Kopf und die Orden noch immer an der Brust) dicht ge‐ drängt um die Tische saßen, mit ihren Freunden aßen und tranken und fast ausschließlich englisch sprachen. Jacob und Hille hatten die letzten beiden Plätze an einem klei‐ nen, in die Ecke gequetschten Tisch ergattert. Abgesehen von den Bedienungen, waren sie bei weitem die Jüngsten im Raum. Jacob war so auf Hille konzentriert gewesen, dass er gar nichts anderes wahrgenommen hatte. Jetzt schaute er sich um und sah, dass hoch oben an den Wänden Bilder (ob echte Gemälde oder Reproduktionen, konnte er nicht sagen) mit Szenen der Schlacht von Arn‐ hem hingen. Einige von den Bildern kannte er aus den Büchern, die er gelesen hatte. »Ich weiß nicht viel über die Schlacht«, sagte Hille. 320
»Schlachten sind nun mal, wie ihr Engländer sagt, nicht meine Tasse Tee. Aber dieses Haus hier ist ziemlich berühmt.« »Wie heißt es? Ich hab nicht drauf geachtet.« »Hotel Schoonoord.« »Da klingelt was. War das nicht ein Lazarett?« »Das hier ist nicht mehr das Originalgebäude. Was von dem noch übrig war, wurde abgerissen, weil es so schwer beschädigt war. Dieses Haus hier wurde nach dem Krieg an derselben Stelle gebaut. Ich weiß darüber Bescheid, weil die Tochter des Besitzers ein Tagebuch über die Er‐ eignisse während der Schlacht geführt hat, das dann veröffentlicht wurde. Hendrika van der Vlist. Sie war damals dreiundzwanzig. Es ist echt gut. Nicht so gut wie Annes Tagebuch. Aber es würde dir gefallen. Und du kannst es auf Englisch kriegen, ich hab’s nämlich im Museum der Schlacht gesehen, gleich die Straße runter. Wir können es doch für dich kaufen.« »Klar. Toll. Aber hör mal, wir können wirklich getrennt zahlen. Du brauchst mich nicht einzuladen.« Die Kellnerin kam mit ihrem Essen und Hille sagte: »Du hast mir von deinem Großvater erzählt. Jetzt kannst du dir dein Essen verdienen, indem du mir von dir erzählst.« »Ich wusste doch, da ist irgendwo ein Haken.« »Klar! Ich bin Holländerin. Von uns kriegt man nichts umsonst.« »Okay, okay! Friede!« Plötzlich ganz ernst, hob Hille ihr Glas, sah Jacob tief in die Augen und sagte: »Vrede für immer.« 321
Und genau in diesem Moment trat eine jener unerklärli‐ chen Schweigepausen ein, die sich manchmal in den vollsten Räumen ergeben, wenn plötzlich alle Gespräche gleichzeitig zu stocken scheinen. Hilles kurzer Trink‐ spruch füllte die Stille, als sei er an alle Anwesenden gerichtet. Kurzes Zögern, bis er überall angekommen war, dann hoben alle wie einstudiert ihre Gläser und riefen: »Vrede für immer.« Dann herrschte Stille, während der Trinkspruch noch in der Luft hing, bis ein Veteran das Schweigen brach, indem er ausrief: »Für euch haben wir’s getan!« Worauf die Gläser abgestellt wurden und alles lachte und klatschte oder auf den Tisch klopfte und johlte. Hille sah Jacob mit einem Was‐hab‐ich‐gemacht‐Gesicht an und sie mussten beide ein verlegenes Kichern unter‐ drücken. Als es vorbei war, sagte Hille: »Gib mir mal deinen Teller. Ich will dir was zeigen. Du kannst so lange meinen nehmen und das Kaneel probieren und mir sagen, was es ist. Magst du Stroop? So eine Art... Sirup nennt ihr das, glaube ich.« »Vermutlich«, sagte Jacob, während er ihr seinen Teller reichte und ihren entgegennahm. »Hab’s noch nie ver‐ sucht.« »Schön süß, aber nicht zuckrig. Wir tun das auf unsere Pannenkoeken.« Jacob schnupperte an Hilles Pfannkuchen. »Ich kann dir schon vom Geruch her sagen, was Kaneel ist. Zimt.« »Ja, genau. Zimt. Probier mal.« Er schnitt sich ein Stückchen ab. »Nicht schlecht.« »Möchtest du so was? Wir können ja noch einen bestel‐ 322
len.« »Nein, die Dinger sind riesig. Einer reicht mir.« Hille hatte sich eine Plastikflasche gegriffen, drehte sie um und ließ einen Strom von zähflüssigem Sirup aus dem Gießröhrchen auf Jacobs Pfannkuchen laufen, wobei sie die Hand mit der Flasche bewegte, als schriebe sie mit einem dicken Füller. Was sie, wie Jacob sah, als sie den Teller zu ihm neigte, auch getan hatte. Auf seinem Pfann‐ kuchen stand in gekonnten Buchstaben, ohne jedes Trop‐ fen oder Klecksen, sein Name, nur in etwas anderer Schreibweise: JAKOB. »Genial«, sagte er, »und lustig.« »Versuch’s mal auf meinem.« Sie reichte ihm die Flasche und Jacob versuchte, so damit umzugehen wie sie. Aber natürlich lief das klebrige Zeug viel schneller heraus, als er erwartet hatte. Alles, was er zustande brachte, war ein kaum lesbares Krikelkrakel, eine wacklige Annäherung an das von ihm geplante Wort HILLA. »Du brauchst nur Übung«, sagte Hille, während sie die Teller wieder tauschten. »Ich verordne einen Pannenkoek täglich. Und falls das da ein A sein soll, müsste es ein E sein.« »Na ja, so besehen«, imitierte Jacob ihren gespielt‐pikier‐ ten Ton, »müsste das K, das du mir verpasst hast, ein C sein.« »Ich weiß, aber K gefällt mir besser. Wenn’s dir nicht passt, iss es, dann ist es weg.« »Mach ich. Das Gleiche gilt für dein A. Ich werde mit dem 323
anstößigen K beginnen, hier in der Mitte, und mich dann langsam nach außen arbeiten.« Hille sagte, während sie mit einer Kreisbewegung ihres Messers das A heraustrennte: »Vielleicht sollte man im‐ mer innen anfangen und sich dann nach außen arbeiten. Vielleicht wäre die Welt dann besser. Was meinst du?« »Sag nicht, du bist außer Pfannkuchenfan auch noch Philosophin.« »Bin ich aber. Ich denke gern über den Sinn von Sachen nach. Du nicht?« »Doch, ich auch. Und das ist echt ein toller Pfannkuchen.« »Ich glaube, dass alles einen Sinn hat. Vor allem das, was keinen zu scheinen hat.« »Zu haben scheint.« »Zu haben scheint, ja, sorry. Jakob Todd ist ein guter Name für einen Philosophen. Ein bisschen – ouderwets. Was ist das auf Englisch? So was wie antik–?« »Altmodisch?« »Genau. Altmodisch.« »Bin ich altmodisch? Ja, vielleicht bin ich’s.« Hille sah von ihrem Pfannkuchen auf, der etwa dreimal so schnell verschwand wie seiner, und musterte Jacob mit nur halb gespieltem Ernst. »Ja, ich glaube schon. Doch, du bist ouderwets. Nicht hinter der Zeit zurück, das meine ich nicht. Einfach nur altmodisch.« Jacob senkte den Kopf, da er sich nicht recht sicher war, welches Spiel jetzt gespielt wurde. Flachste sie nur oder sagte sie etwas, was sie ihm wirklich sagen wollte? »Ist das schlecht?«, fragte er. 324
»Gut«, sagte Hille und machte sich wieder über ihren Pfannkuchen her. »Ich find’s langsam nervig, dass immer alles nach der neuesten Mode sein muss. Immer der letzte Schrei. Ich meine, was man anzieht zum Beispiel oder welche Musik man hört. All so was. Früher dachte ich, das wäre wichtig. Inzwischen find ich’s nur ätzend.« »Echt?« »Ja, echt«, sagte sie. Er lachte erleichtert auf. »Ich mein’s ernst«, sagte Hille vehement. »Ich weiß. Ich auch!« »Aber«, sagte Hille und begann ebenfalls zu lachen, »warum lachst du dann ?« »Darum! ... Warum lachst du denn?« »Weiß nicht... Weil du lachst!« »Dann lachen wir also, weil wir lachen!« Ihrer beider Lachen mäßigte sich zu einem Lächeln. Jacob zuckte die Achseln. Plötzlich konnte er gar nichts mehr sagen, weil da so viel zu sagen war. Und weil da diese irritierenden Gefühle in ihm waren, die er noch nie gehabt hatte. Er traute sich nicht, sie zu benennen. Hille aß den Rest ihres Pfannkuchens auf, saß dann da, die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn auf die Finger‐ knöchel gestützt, und sah ihn an. Nach einer Weile sagte sie: »Ich weiß eigentlich gar nichts über dich.« Obwohl er keinen Hunger mehr hatte, war Jacob froh, dass er noch etwas auf dem Teller hatte, als Vorwand, 325
ihrem Blick auszuweichen. Er überlegte erst mal, was er sagen wollte, weil er spürte, dass er die Wahl hatte, zwischen ihnen alles so weiterlaufen zu lassen wie bisher oder etwas anderes herbeizuführen. Aber er spürte auch, dass dieses andere, das er nicht zu benennen wagte, sein geheimstes Inneres einem anderen Menschen öffnen würde, auf eine Art, wie er es noch nie riskiert hatte. Und auch noch nie gewollt hatte. All diese Teile von ihm, die seine Schüchternheit unter Verschluss gehalten hatte, die er noch nicht einmal selbst je richtig inspiziert hatte. Das sagte ihm seine Intuition, denn er dachte es eigentlich nicht in Worten, und er merkte, dass sich dabei sein Herz‐ schlag beschleunigt hatte und seine Körpertemperatur ge‐ stiegen war. Er riss sich zusammen und beschloss, dass das, was er sagen würde – was immer es sein würde – auf jeden Fall wahr sein sollte. Oder zumindest so wahr, wie etwas sein konnte, das innere Vorgänge ausdrücken sollte, die man selbst nicht verstand. Nachdem er sich gezwungen hatte, langsam den Rest seines Pfannkuchens zu essen, langsam Messer und Gabel wegzulegen, langsam den Kopf zu heben und schließlich Hille direkt in die Augen zu sehen, sagte er ruhig und bedächtig: »Heute hatte ich das Gefühl... ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll... dass ich jemanden getroffen habe, auf den ich ... na ja, immer klingt so pompös, also ... schon sehr lange gewartet habe.« Hille zuckte mit keiner Wimper. Aber ihr blasses Gesicht rötete sich, so wie auch seins garantiert rot geworden 326
war. »Keine Ahnung, warum ich das so empfinde«, fuhr er fort. »Keine Ahnung, wie so was so plötzlich kommen kann. Keine Ahnung, was ich dazu sagen soll.« Hille nickte. Und gerade als die Intensität des Moments unerträglich zu werden drohte, löste Hille ihre Finger und legte mit einer Bewegung, die man unmöglich für Zufall halten konnte, ihre rechte Hand, mit der Handfläche nach oben, auf den Rand des Tischs, mitten zwischen sich und Jacob. Und als sei diese Hand ein Magnet und er aus Metall, legte Jacob seine Hand darauf. Erneutes Schweigen, während sie sich ganz auf den Strom konzentrierten, der zwischen ihnen floss. Dabei umgab sie weiter der fröhliche Lärm aus einer anderen Welt. »Wo anfangen?«, sagte Jacob schließlich. »Da ist so viel.« »Von innen nach außen?«, sagte Hille. »Ich hab das Gefühl, mein Innerstes ist schon nach außen gekehrt!« Sie gluckste leise. »Ich auch!« »Von außen nach innen? Als kleine Atempause?« »Der Park? Hinterm Museum.« »Ja.« »Gibt ein paar nette Fleckchen dort.« »Ja?« »Zwischen den Bäumen.« »Ja.« »Und Sonne. Schön heute.« »Ja.« »Gehen wir.« 327
Nach einem kurzen Gang durch das Hartenstein‐ Museum, wo sie die englische Ausgabe von Hendrika van der Vlists Tagebuch Oosterbeek 1944 und ein Fallschirm‐ jägerregiments‐T‐Shirt als Mitbringsel für Sarah erstan‐ den, spazierten sie in den Park und fanden ein verstecktes Plätzchen unter Bäumen. »Erinnerst du dich an Anne Franks ersten Kuss, von Peter van Daan?«, sagte Jacob. »Durch die Haare«, sagte Hille, »halb aufs Ohr und halb auf die Wange.« »Da war sie fast fünfzehn.« »Ich musste lachen, als ich’s das erste Mal gelesen habe. Ich war da etwa dreizehn und wusste schon eine Menge übers Küssen!« »Wie alt warst du, als du den ersten richtigen Kuss ge‐ kriegt hast?« »Elf. Ein gewisser Karel Rood. Er war vierzehn. Alle Mäd‐ chen wollten ihn als Freund. Wir fanden, dass er so toll aussah. Jetzt ist er ein Domkop und so verlockend zum Küssen wie eine Slak. Frag mich bitte nicht, was das auf Englisch ist, weil ich’s nämlich nicht weiß. Es kriecht über den Boden, ist klebrig und feucht?« »Eine Nacktschnecke?« »Egal, jedenfalls nichts zum Küssen. Aber damals war er gut darin. Und du?« »Ach, zwei, drei Freundinnen. Aber ich bin nicht so gut drin wie du, glaube ich. Schätze, du hast mehr Übung, genau wie im Schreiben mit Sirup.« 328
»So schlecht bist du gar nicht. Und außerdem hast du sehr kussfreundliche Lippen. Wir können doch jetzt mal ein bisschen üben, wenn du Lust hast.« »Gute Idee.« »Nach ihrem ersten Kuss überlegt Anne die ganze Zeit hin und her, ob sie ihrem Vater sagen soll, was sie und Peter treiben. Weißt du noch?«, sagte Jacob. »Umarmt auf dem Dachboden sitzen«, sagte Hille. »Und sich gegenseitig den Kopf an die Schulter legen, immer abwechselnd.« »Und das ist noch, bevor sie sich das erste Mal richtig auf den Mund küssen. Was nämlich erst nach elf weiteren Tagen passiert. Stell dir mal vor, so lange zu warten! Kein Wunder, dass sie zittert, als es endlich so weit ist.« »Ich dachte immer, ich kenne das Tagebuch, aber ich kenn’s nicht so gut wie du.« »Ich erinnere mich genau an ihren ersten Kuss, weil ich eine Zeit lang auch viel über Annes Freund Peter nachge‐ dacht habe. Ich hab dir nicht erzählt, dass ich immer be‐ stimmte Passagen des Tagebuchs in Orange markiert habe. Na ja, und dann hab ich alle Passagen, die irgend‐ was mit Peter zu tun hatten, grün markiert. Dann habe ich sie alle hintereinander weg gelesen, sämtliche grünen Passagen, damit ich mich ganz drauf konzentrieren konnte, was Anne mit ihm gemacht hat, was sie über ihn gedacht hat und so.« »Warum? Wozu?« »Weil ich die ganze Zeit drüber nachdachte, was ich getan hätte, wenn ich er gewesen wäre. Die beiden längsten 329
grünen Passagen sind die über ihren ersten und zweiten Kuss. Ich habe immer gedacht: Warum stellt Peter sich so an? Warum legt er nicht endlich los? Ich hätte es be‐ stimmt getan.« »Ich weiß nicht, ob du’s getan hättest, wenn du er gewe‐ sen wärst. Na ja, nicht er, sondern du, so wie du jetzt bist, aber in seiner Situation. Man kann ja nur man selbst sein, oder? Armer Peter. Neunzehnhundertvierundvierzig, als alles noch anders war als heute und vor allem das mit der Sexualität, zwei Jahre lang in den paar Räumen einge‐ sperrt zu sein, mit diesen ganzen Erwachsenen, die einen ständig beobachten. Hättest du’s da besser gemacht?« »Ich weiß. Du hast ja Recht. Aber als ich das gedacht habe, war ich vierzehn, fünfzehn.« »Dann verzeih ich dir.« »Gott sei Dank! Und wirst du deinem Vater sagen, was du mit einem Engländer im Park getrieben hast?« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ist das wichtig?« »Was würde er sagen, wenn du’s tätest?« »Hoffentlich hat’s Spaß gemacht.« »Und?« »Um das sagen zu können, muss ich’s noch ein bisschen weiter austesten.« »Gute Idee.« »Hast du zurzeit einen Küssfreund?«, fragte Jacob. »Nein«, sagte Hille. »Bis vor etwa drei Wochen hatte ich einen. Aber im Moment bin ich freundlos.« »Warum habt ihr Schluss gemacht?« »Oje! Na ja, er sah toll aus und alles, verstehst du. War 330
gut beim Sex. Und lustig. Und immer sehr nett zu mir. Hat mir Blumen mitgebracht. Mir Geschenke gemacht, wenn er’s gar nicht musste. Mir Liebesbriefe geschrieben. Viele. Die mir sehr gefallen haben ... Mehr als er, glaube ich jetzt. Na, jedenfalls, ich war etwa sechs Monate lang total scharf auf ihn. Er war, sagen wir mal, mein erster richtiger Freund.« »Aber?« »Das klingt bestimmt grässlich, aber ehrlich gesagt, mit der Zeit war ich irgendwie teleurgesteld ... Wie heißt das auf Englisch? ... Enttäuscht.« »Enttäuscht?« »Schwer, das in Worte zu fassen. Auch noch in engli‐ sche... Es war wie bei Anne, mit Peter. Sie sagt dasselbe. Ich erinnere mich an den genauen Wortlaut, weil es kein normales Niederländisch ist und weil es mir, als ich’s das erste Mal gelesen habe, so gut gefallen hat, dass ich’s immer wieder vor mich hinsagen musste. Sie sagt: Dat hij geen vriend voor mijn begrip kon zijn. Was so was heißt wie... kein Freund nach meinem Verständnis. »Du meinst: kein Freund, der mich versteht.« »Nein, nicht nur das. Eigentlich gar nicht das. Eher so was wie: Niemand, der geistig und seelisch mit mir auf einer Ebene ist ... Kein Freund dessen, was ich bin ... wer ich bin... Das ist schwer!« »Kein Seelenverwandter.« »Vielleicht. Sie drückt es irgendwie poetisch aus.« »Niemand, auf den man sein Leben lang gewartet hat.« »Ha! Genau! Und außerdem wurde es von seiner – Will‐ 331
lems, meine ich jetzt – Seite aus sehr ernst. Zu ernst. Er fing sogar an, vom Heiraten zu reden. Also wirklich! Ich weiß, er war drei Jahre älter als ich, aber Heiraten! In meinem Alter? Ohne mich, danke. Also habe ich Tschüss gesagt.« »Und es gibt niemand anderen?« »Oh, ich Ärmste! Wie soll ich nur über die Runden kom‐ men! Nein, niemanden.« »Kann ich mich für die Stelle bewerben?« »Bist du verfügbar?« »Absolut frei.« »Du wirst einen umfassenden Test absolvieren müssen.« »Um meine Qualifikationen nachzuweisen?« »Und wenn du den Test bestehst, kommt erst mal eine lange Probezeit, bevor du den Vertrag kriegst.« »Das könnte ich umgekehrt auch sagen.« »Ja. Klar. Anzunehmen. Zu einem Vertrag gehören schließlich zwei.« »Lass uns doch gleich noch ein bisschen in die praktische Prüfung einsteigen, damit ich weiß, ob sich die Bewer‐ bung lohnt.« »Gute Idee.« »Findest du nicht, dass das Leben ein ganz schöner Hau‐ fen Wenns ist?«, sagte Jacob. »Wie meinst du das?«, sagte Hille. »Na ja, guck mal: Wenn ich mich nicht mit meinem Vater zerstritten hätte und meine Mutter damals nicht krank ge‐ worden wäre und so lange ins Krankenhaus gemusst hätte und wenn meine Schwester nicht so ein – wie hast 332
du noch mal den Jungen genannt, von dem du deinen ersten Kuss gekriegt hast? Dom irgendwas?« »Domkop.« »Klingt passend für meine Schwester, was immer es heißt. Also, weiter: Wenn meine Mutter nicht so lange im Kran‐ kenhaus hätte bleiben müssen und meine Schwester nicht so ein Domkop wäre, dann wäre ich nicht zu meiner Groß‐ mutter gezogen. Und wenn meine Großmutter mir nicht das Tagebuch der Anne Frank gegeben und ich mich nicht in Anne verliebt hätte und wenn meine Großmutter sich nicht den Oberschenkelhals gebrochen hätte, weshalb sie nicht nach Holland kommen konnte, und wenn sie nicht stattdessen mich diese Frau besuchen geschickt hätte, die sich damals um meinen Großvater gekümmert hat, und wenn mein Großvater nicht bei den Fallschirmjägern gewesen wäre und nicht in der Schlacht von Arnhem gekämpft hätte und wenn er nicht verwundet worden und nicht von dieser holländischen Familie gerettet wor‐ den wäre und wenn er dann nicht gestorben wäre, solan‐ ge er noch bei ihnen war – wenn nichts von alledem passiert wäre, dann hätte ich dich nicht kennen gelernt und wir würden jetzt nicht hier sitzen und der nah‐ mündlichen Kommunikation frönen –« »Was?« »Schnäbeln und gurren.« »Noch mal!« »Uns amourös verlustieren.« »Sprich Englisch, Domkop!« »Ich spreche ja Englisch. Du meinst wohl, sprich Nieder‐ 333
ländisch.« »Na ja, warum nicht? Wieso soll die ganze Arbeit an mir hängen bleiben?« »Na, jedenfalls, wie gesagt, wenn all das nicht passiert wäre, wäre ich jetzt nicht hier bei dir. Und das würde ich sehr bedauern.« »Wie könntest du’s bedauern, wenn es nicht dazu gekom‐ men wäre? Wenn es nicht dazu gekommen wäre, würdest du doch gar nichts davon wissen. Dann könntest du auch nicht bedauern, dass es nicht dazu gekommen ist.« »Ah, du Sophistin, aber auch dann wäre es trotzdem in einem meiner Alternativleben passiert. Du weißt doch – diese Leben, von denen die Wissenschaftsgurus sagen, dass wir sie gleichzeitig mit diesem hier leben, von dem wir wissen. Und woher willst du wissen, dass nicht manchmal etwas, was in einem deiner Alternativleben passiert, sozusagen in dein Bewusstsein in diesem Leben hinüberleckt und dich traurig macht, dass du nicht das betreffende Alternativleben lebst statt diesem hier? Bist du nicht manchmal deprimiert, ohne dass du dir’s erklä‐ ren kannst? Ich schon. Und vielleicht ist das ja der Grund. Zu uns ist etwas aus einem Alternativleben herüberge‐ leckt und jetzt wollen wir dieses andere Leben leben. So wie man als kleines Kind ein Eis will, von dem man weiß, dass es im Eisfach ist, das einem die Mutter aber nicht geben will.« »Wenn du mal loslegst, redest du ganz schön viel.« »Nur mit der richtigen Person. Mit der richtigen Person rede ich gern, das geb ich zu. Stört’s dich? Soll ich die 334
Klappe halten?« »Nein, es gefällt mir. Sonst bin immer ich diejenige, die so viel redet. Und ich finde es lustig, wie dieses Ding hier, dein Adamsappel, immer hüpft, wenn du redest.« »Aber was ich sagen wollte – wenn du bitte deine Finger von meinem Adamsapfel nehmen könntest, weil mir sonst nämlich mein Pannenkoeken gleich wieder hoch‐ kommt – ist, was für eine Reihe von Wenns das Leben ist. Da fragt man sich doch, wie das Leben wäre, wenn diese Wenns nicht wären.« »Tot.« »Was?« »Tot. Das Leben wäre tot. Wenn keine Wenns wären, wären wir nicht da. Niemand wäre da. Wir wären über‐ haupt nicht. Also wäre es so, als wären wir tot.« »Du meinst, das Leben ist überhaupt nur ein einziges Wenn?« »Ist das nicht sonnenklar?« »Jetzt schon, danke. Und, wo du’s sagst, ist dir schon mal aufgefallen, dass Leben im Englischen schon das Wenn in sich hat? Ich meine das Wort life. Und das Wort if. Also war das Leben immer schon so wennig. Ich hab’s nur vorher nie gemerkt. Ich Domkop!« »Im Niederländischen ist es nicht so.« »Ach? Was heißt denn Leben auf Niederländisch?« »Leven.« »Wie geschrieben?« »Ich kann nicht gut auf Englisch buchstabieren. Ich schreib dir’s mit dem Finger auf die Hand.« 335
»L...e...v...e...n.« »Genau. Leven.« »Okay. Hm, das hat sich toll angefühlt. Und es ist echt aufschlussreich, oder? E, v, e in der Mitte. Wie Adam und Eve. Ihr Niederländer habt kein If in eurem Leben, ihr habt Eve. Für die Engländer dreht sich alles ums Wenn, für euch Niederländer dreht sich alles um Adam und Eva.« »Und gefällt dir die niederländische Art Leben nicht besser als die Engelse? Also lass uns jetzt deine englischen Domkop‐Wenns über Bord werfen und uns wieder dem netten niederländischen Adam‐und‐Eva‐Leben zuwen‐ den.« »Gute Idee.« »Wo wir’s gerade vom Tod haben«, sagte Jacob. »Im Moment bin ich mehr fürs Küssen«, sagte Hille. »Mal im Ernst.« »Das ist mein Ernst.« »Aber im Ernst im Ernst. Da ist was, was ich dich fragen möchte.« »Okay, frag.« »Ich hab dir doch von der alten Frau erzählt, Geertrui, bei der ich gestern im Krankenhaus war.« »Und?« »Was ich dir nicht erzählt habe, ist, dass sie in ein paar Tagen Sterbehilfe erhält.« »Ja ... Und?« »Na ja ... ich wollte wissen, wie du darüber denkst. Über Sterbehilfe überhaupt, meine ich, nicht in ihrem besonde‐ 336
ren Fall.« »Darüber ist hier so viel geredet worden, dass ich es kaum noch hören kann. Eine Schulfreundin von mir, Thea, deren Tante hat Sterbehilfe erhalten. Die Tante hatte schlimme Schmerzen und konnte nichts mehr allein. Sie wollte nur noch sterben. Und alle waren sich einig, dass das das Beste sei. Das Richtige. Auch Thea, obwohl sie ihre Tante sehr lieb hatte. Hinterher ging es Thea total schlecht. Ich meine, so schlecht, dass sie krank war, tage‐ lang nicht in die Schule konnte. Sie hatte solche Schuld‐ gefühle und es tat ihr so Leid. Sie dachte die ganze Zeit, dass sie irgendwas doch bestimmt noch hätten tun kön‐ nen. Oder sie dachte, dass es Egoismus war, dass sie woll‐ ten, dass die Tante stirbt, damit sie ihr Leiden nicht mehr mit ansehen und sich nicht mehr um sie kümmern muss‐ ten. Aber trotzdem, sagt Thea, hat sie, auch während es ihr so schlecht ging, gewusst, dass es wirklich das Beste gewesen war. Aber davon gingen die Schuldgefühle nicht weg. Sie hat sie immer noch manchmal, wenn sie schlecht drauf ist. Aber Thea sagt auch, sie weiß, dass sich Leute oft so mies fühlen, wenn jemand stirbt, den sie gekannt haben, ganz egal, wie der Betreffende stirbt, dass sie trotz‐ dem Schuldgefühle haben. Und das stimmt. Das weiß ich selbst. Als meine Großmutter letztes Jahr starb, hatte ich Schuldgefühle, obwohl sie ganz plötzlich an einem Herz‐ infarkt starb. Ich habe mich gefühlt, als hätte ich sie umgebracht. Oder ich dachte, dass ich nicht alles getan hätte, um sie glücklicher zu machen. Oder dass ich ihr nicht gesagt hätte, wie lieb ich sie hatte. Also ist es viel‐ 337
leicht immer schlimm für die Freunde und Verwandten, egal wie jemand stirbt. Meiner Meinung nach sollte jeder das Recht haben, waardig zu sterben. Wie heißt das auf Englisch? Angemessen? Anständig?« »In Würde?« »Genau. In Würde. Aber noch mehr. In Integriteit.« »In Integrität.« »Ja, in Würde und Integrität. Ich denke, dieses Recht sollte jeder haben. Leute, die dagegen sind, sagen, schlechte Menschen, Verbrecher wie Hitler zum Beispiel, könnten ein Euthanasiegesetz benutzen, um Leu‐ te umzubringen, die sie nicht mögen oder aus dem Weg haben wollen. Aber mir scheint, dass Verbrecher dazu kein Gesetz brauchen, sie tun es einfach. Hitler hat’s getan und Stalin auch. Und, na du weißt schon – Serienmörder. Deshalb sind sie ja Verbrecher. Und ich denke, wenn es kein richtiges Euthanasiegesetz gibt und richtige Vor‐ schriften und wie sagt ihr ? – Sicherungen –?« »Sicherheitsvorkehrungen.« »‐ wie man es machen darf und wann und all so was, wird es trotzdem Sterbehilfe geben, weil die Leute es wol‐ len. Aber ohne Gesetz müssen die Leute es auf schreck‐ liche Art machen und illegal und alle, die sie kennen, müssen sich als Verbrecher fühlen. Und so sollte es nicht sein. Hier in den Niederlanden gibt es jetzt eine Verein‐ barung zwischen der Regierung und den Ärzten, das ist noch kein richtiges Gesetz, aber ich hoffe, es wird bald eins geben. Der Punkt ist aber für mich, dass die Leute selbst über ihren Tod mitentscheiden sollten, und das können 338
manche nicht, weil sie nicht mehr dazu in der Lage sind. Wenn sie zum Beispiel zu krank sind oder schwere Kopf‐ verletzungen haben. Deshalb sollten wir uns eine Meinung dazu bilden, solange wir jung und im Vollbesitz unserer Kräfte sind. Und wir sollten ein offizielles Dokument unterschreiben, wo drin steht, was wir beschlossen haben. Ich habe so eins.« »Du meinst, du hast schon entschieden, wann du sterben willst?« »Nicht wann ich sterben will. Eher, unter welchen Um‐ ständen ich nicht am Leben erhalten werden will. Wenn ich zum Beispiel überfahren werde und klar ist, dass ich das Bewusstsein nie wieder erlange, oder wenn ich eine Krankheit kriege, die mich unfähig macht zu denken oder so was. Ich habe einen Euthanasiepas, den ich immer bei mir habe. Und meine Familie und unser Arzt und unser Anwalt wissen alle, was da drin steht, und haben eine Kopie.« »Hast du ihn mit?« »Klar. Für den Fall, dass mir irgendwas passiert und die Polizei oder die Ärzte im Krankenhaus Bescheid wissen müssen.« »Kann ich mal sehen?« »Klar.« »Sieht genau aus wie ein Pass. Sogar mit einem Passfoto.« »Nicht angucken. Darauf sehe ich blöd aus.« »Okay, okay, ich gucke nicht. Was ist das da alles?« »Adressen. Naaste relatie, meine nächsten Angehörigen. 339
Huisarts, unser Hausarzt. Gevolmachtigde, unser Anwalt. Damit die Polizei oder wer auch immer sie schnell errei‐ chen kann.« »Und das hier?« »Die Liste meiner Verfügungen.« »Zum Beispiel?« »Oh – dass ich nicht am Leben erhalten werden will, wenn mein Gehirn für immer geschädigt ist. Oder wenn ich nicht mehr selbstständig essen oder selbst auf mich aufpassen kann. So was.« »Und das lassen deine Eltern zu?« »Warum nicht? Bin ich nicht alt genug, um selbst über mein Leben und meine Zukunft zu entscheiden? Wir haben natürlich drüber geredet, weil es so wichtig ist. Zuerst haben sie nicht sehr positiv reagiert. Aber ich hab sie überzeugt. Jetzt sind sie voll und ganz damit einver‐ standen und haben sogar jeder einen eigenen Euthanasie‐ pas. Da bin ich richtig stolz auf sie, weil sie für sich selbst zuerst dagegen waren, wenn sie mich auch nie dran gehindert hätten. Für sie war es schwerer. Sie sind eine andere Generation, verstehst du? Sie sind nach dem Krieg geboren, aber nicht lange danach, und meine Großeltern waren immer noch sehr davon geprägt, von der Besat‐ zungszeit und Hitler und den Todeslagern und dem, was im Hungerwinter passiert ist. Die Familie meines Vaters hat damals einen Juden versteckt wie andere niederlän‐ dische Familien auch. Das alles hatten sie noch im Kopf, und der Gedanke, irgendwie an das menschliche Leben zu rühren, war für sie etwas ganz Schreckliches. Und das 340
hat meine Eltern beeinflusst. Ich kann das ja alles verste‐ hen. Aber das darf uns doch nicht von der Entscheidung abhalten, oder? Ja, es ist ein schwieriges Problem, aber das heißt doch nicht, dass wir nicht versuchen sollten, es zu lösen, oder? Meiner Meinung nach ist das eins der wichtigsten Probleme, mit der unsere Generation kon‐ frontiert sein wird, weil heute so viele Leute länger leben und die Wissenschaft uns so lange am Leben erhalten kann, selbst wenn unser Körper nicht mehr richtig funk‐ tioniert. Deshalb denke ich, wir sollten den Leuten das Recht zugestehen, selbst über ihren Tod zu entscheiden. Und ich bin stolz auf meine Eltern, weil sie sich dem gestellt haben und auf mich gehört haben und ihre Mei‐ nung geändert haben. Ich finde das mutig von ihnen.« »Die Art Mut, die du heute Vormittag gemeint hast?« »Ja. Der Mut von ganz normalen Leuten. Für mich ist das wahrer Mut. Aber dafür kriegt man keine Orden und keine Denkmäler. Und jetzt, Engelsman Jakob, habe ich vor lauter Reden allmählich Durst. Hättest du Lust auf einen Kaffee oder so was? Wir könnten noch einen trin‐ ken, bevor wir zu deinem Zug gehen.« »Gute Idee.« Sie waren fünf Minuten vor Abfahrt des Zuges am Bahn‐ hof. Jacob zog eine Fahrkarte für Hille aus einem Auto‐ maten. Der Redefluss war versiegt. Sie standen schweigend, Hand in Hand, und starrten auf das leere Gleis. Außer ihnen wartete niemand. Eine einsame Amsel sang in 341
einem Baum oben an der Straße. Ein Auto fuhr über die Brücke. Über ihnen hingen Wolken, leicht getönt von der Spätnachmittagssonne. In der letzten Sommerluft lag schon ein Hauch von Herbstkälte. Plötzlich verließ Jacob alle Energie. Die ganze Seltsamkeit dieses Tages holte ihn ein: in einem fremden Land zu sein, Hand in Hand mit einem ausländischen Mädchen, das er erst vor sechs Stun‐ den kennen gelernt hatte, auf dem Grab seines Groß‐ vaters, in einem Winkel eines ausländischen Friedhofs. Er brauchte Zeit, das alles zu verdauen. Beim Gedanken, mit Hille nach Amsterdam zurückzufahren, fühlte sich sein Kopf ganz schwer an und sein Körper ganz schwach. Nicht, dass er sie verlassen wollte. Schon lange hatte ihn niemand mehr so glücklich gemacht. Jeder Teil seiner Person fühlte sich in ihrer Gegenwart wohler. Aber er fühlte sich auch leer geredet. Und was sollten sie in Amsterdam tun? Hille konnte doch nicht einfach den nächsten Zug zurücknehmen, oder? Sollte er sie mit in die Wohnung nehmen? Was würde Daan sagen, wenn er mit einem Mädchen aufkreuzte? Er wünschte, sie könnten jetzt auseinander gehen, wo alles so gut lief. Aber was dann? Würden sie sich noch mal treffen können? Würden sie’s noch wollen, in ein, zwei Tagen, wenn alles herun‐ tergekühlt war und die Erregung sich gelegt hatte? Würde Hille denken, dass sie einen Fehler gemacht hatte? Würde er’s denken? Seine Schüchternheit hatte sich keine Sekunde bemerkbar gemacht, seit er Hille das erste Mal gesehen hatte. Aber jetzt durchflutete sie ihn plötzlich wie eine Überdosis 342
irgendeiner miesen Droge, ein Downer, der sein Selbst‐ vertrauen lähmte und düstere Zweifel in ihm auslöste. Den ganzen Nachmittag hatte er sich befreit gefühlt, frei, auf eine ganz neue Art er selbst zu sein. Ein Selbst, das unterdrückt und versteckt gewesen war, das nicht heraus‐ gedurft hatte, war freigesetzt worden. Er mochte dieses neue Selbst, wollte nicht, dass es wieder weggesperrt wurde. Mit einiger Willensanstrengung sagte er: »Ich bin sehr froh, dass ich dich getroffen habe.« »Ich auch«, sagte Hille, ohne sich ihm zuzuwenden. »Es war schön.« Hille nickte. »Ich möchte auf keinen Fall, dass es durch irgendwas ver‐ dorben wird.« »Warum sollte es?« »Es ist so viel passiert. Zwischen uns, meine ich.« »Ja.« »Und das mit dem Grab meines Großvaters ... das hat mich stärker mitgenommen, als ich gedacht hätte.« Hille wandte sich ihm zu. »Du brauchst ein bisschen Zeit.« Er sah sie an. Die grünen Augen. Die Lippen, die ihm schon vertrauter waren als irgendwelche anderen. »Es ist, als ob ein Teil von mir – ich meine, der Teil, der denkt – erst wieder hinter dem Teil herkommen muss, der Sachen macht.« Sie lächelte. »Ja, ich weiß, was du meinst.« »Ich könnte auch gut allein nach Amsterdam zurück‐ 343
fahren.« »Wäre dir das lieber?« »Ich will dich nicht los sein. Echt nicht.« »Soll ich vielleicht bis Utrecht mitkommen? Aufpassen, dass du richtig umsteigst? Hättest du das gern?« »Was ich am liebsten hätte ...« »Ja?« »Wäre, dass wir uns jetzt verabschieden und uns dem‐ nächst wieder treffen. Wenn du kannst. Wenn du willst. Wenn du gern möchtest, meine ich.« »Ich möchte gern.« »Ich möchte auch.« »Und ich will!« »Toll! Nur ... wann?« Der Zug kam in Sicht. »Ich habe die ganze Woche Schule. Und dann ist da der Umzug. Aber ich könnte einen Abend nach Amsterdam kommen. Oder du kommst hierher. Holst mich von der Schule ab.« »Okay. Soll ich anrufen?« Der Zug fuhr ein. »Du hast meine Nummer nicht.« »Mist! Nein, hab ich nicht.« »Steig ein. Ich fahre bis Wolfheze mit. Das ist die nächste Station. Nicht weit. Ich laufe dann nach Hause.« Sie standen im Vorraum des Waggons. Der Zug fuhr an. Hille fand einen Stift. »Wo soll ich sie hinschreiben?« Jacob zog Oosterbeek 1944 aus der Hartenstein‐Tüte. »Hier. Deine Adresse auch, sicherheitshalber.« 344
Hille nahm das Buch und schrieb etwas auf die Innenseite des hinteren Deckels. Während sie das tat, fand Jacob die Karte, auf der er Daans Adresse und Telefonnummer notiert hatte. »Da, nimm das. Ist im Moment alles ziemlich, na ja, sagen wir mal, im Fluss. Weiß nicht, wo ich wie lange wohnen werde. Aber die nächsten Tage wohl auf jeden Fall bei Daan. Und falls ich nicht da bin, weiß er, wo ich bin. Ich rufe an. Aber ich würde mich sehr freuen, von dir zu hören. Wenn du willst.« Hille lächelte. »Ja, Domkop, ich will. Okay?« »Sorry! Ist die Zugfahrerei. Da bin ich immer ein bisschen aufgedreht.« »Bist du sicher, dass ich nicht mitkommen soll? Wenigs‐ tens bis Utrecht?« »Ich schaff s schon. Es ist nur ... du hast mich in so einen Zustand versetzt –« »Oh, ich hab dich in so einen Zustand versetzt, was du nicht sagst! Alles Evas Schuld, was, Meneer Adamsappell Wieder mal!« Sie lachte. »Wir sind gleich in Wolfheze. Meinst du, dein Zustand ließe es zu, dass du mir einen letzten Kuss gibst?« »Nicht den letzten, hoffe ich.« »Nein«, sagte Hille und nahm sein Gesicht in beide Hän‐ de. »Nur den letzten für jetzt. Wie wär’s damit?« »Gute Idee.«
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GEERTRUI Ich will nicht sagen, dass es Tage – oder vielmehr Näch‐ te – voller Glückseligkeit waren, nur, dass dies die Zeit meines Lebens ist, die mir am meisten bedeutet. Sechs Wochen. Im Nu verflogen. Und doch im Rückblick länger und reicher an Erinnerungen als manches Jahr seither. An diese Zeit werde ich denken, wenn ich sterbe. An Jacob damals. An Jacob, meinen geliebten Jacob. Nachdem sie zehn Tage nicht aus ihrem Zimmer gekom‐ men war, erschien Frau Wesseling am Sonntagmorgen plötzlich in ihrer Kirchgangskleidung. Ohne ihren Mann und mich, die wir beim Frühstück saßen, eines Wortes zu würdigen, radelte sie davon. Als sie wiederkam, zog sie ihre Hauskleider an und machte sich an die Arbeit, als wäre nichts gewesen. Und an diesem Nachmittag begann sie mit dem Harmoniumspiel. Über die Zeit ihres Rück‐ zugs fiel kein Wort, ja nicht mal eine Andeutung, weder an diesem Tag noch später. Doch die Veränderung war allumfassend. Die alte Frau Wesseling war verschwunden und die neue war das Gegenteil der alten. Es war, als ob sie gar nichts mehr interessierte. Sie kritisierte mich nicht mehr und trieb mich nicht mehr an. Sie inspizierte nicht mehr, was ich gemacht hatte. Sagte mir nicht mehr, wie 347
ich mich benehmen und wie ich meine Arbeit tun sollte. Erteilte mir nicht mehr allmorgendlich Anweisungen. Statt dass ich froh darüber war, tat es mir Leid. Die alte Frau Wesseling mochte ja schwierig gewesen sein und mich manchmal geärgert haben, aber sie war doch wenigstens lebendig und vital gewesen. In einem war das allerdings gut für mich. Frau Wesseling kümmerte sich nicht mehr um meine Besuche bei Jacob – wann und wie lange ich bei ihm war und was ich dort machte. Falls sie mitbekam, wie ich abends mein Zimmer verließ, um zu ihm zu gehen, und dann morgens kurz vor der Aufstehzeit zurückkam, verlor sie kein Wort darüber. Und so machte ich, was ich wollte, wann immer ich es wollte, wenn auch stets diskret genug, um niemanden zu brüskieren. Für mich ist das die Zeit, in der Jacob und ich zusammenlebten wie Mann und Frau, nur ohne Trau‐ schein. Wir redeten nicht viel über die Zukunft. Es gab dazu nicht viel zu sagen, außer dass wir unser Leben zu‐ sammen verbringen wollten und tun mussten, was nötig war, um es zu können. Unsere erste Sorge war, Jacob wieder ganz gesund zu kriegen, die zweite, den Krieg zu überleben. Jacob dachte nicht mehr an Flucht. Wir beschlossen, dass er im Versteck bleiben sollte, bis die Befreier kämen, und dass wir dann schauen würden, was sich machen ließe, damit wir zusammenbleiben könnten. Wenn das nicht ging, wenn man Jacob befehlen würde, nach England zurückzukehren oder wieder zur kämpfenden Truppe zu 348
stoßen, dann würden wir es akzeptieren müssen und darauf warten, dass der Krieg vorbei war und er wieder zu mir kam. Wir hatten nicht den leisesten Zweifel, dass es so sein würde. Frisch verliebt sein ist wie ein Stern, es strahlt Energie ab. Junge Liebe zwischen zwei Menschen ist wie ein Firma‐ ment. Da ist kein Platz für Zweifel. Und in der Abgeschie‐ denheit des Bauernhofs lebten wir in einer selbst fabri‐ zierten Paradiesblase. Dank jener Fähigkeit, die allen Liebenden in der Zeit der ersten Leidenschaft eigen ist, sperrten wir alles aus unserem Denken aus, was unser Zusammensein hätte trüben oder unsere Zukunftsfanta‐ sien hätte beeinträchtigen können. Liebe ist blind, heißt es, und niemand ist so blind wie der, der nicht sehen will. Also war die Welt so, wie wir sie uns wünschten und wenn sie es versehentlich nicht war, nun ja, dann machten wir sie eben dazu. Aber Blasen platzen leicht. Wir hatten Glück, dass unsere so lange hielt. Obwohl wir es zu ignorieren versuchten, kam der Krieg mit jedem Tag näher. Der Winter begann mit Kälte und Nässe. Immer mehr Menschen kamen den Fahrweg ent‐ lang und flehten um Lebensmittel, boten dafür oft Wert‐ sachen an, deren Anblick einem das Herz zusammen‐ presste: Erbstücke, goldene Medaillons für die Haarlocke eines geliebten Menschen, Silberrähmchen, in denen einst kostbare Familienfotos gesteckt hatten, Briefmarkenalben mit lebenslang gehegten Sammlungen, ja sogar goldene Eheringe. 349
Bei diesen bedrückenden Begegnungen erfuhren wir Neues aus den Städten. Dass die Deutschen ständig auf der Jagd nach männlichen Arbeitskräften waren. Dass die Faber‐Werke in Apeldoorn bombardiert worden waren. Dass die SS Arnhem geräumt und geplündert hatte, als Vergeltung dafür, dass die Bewohner in der Schlacht die Engländer unterstützt hatten. Dass bei Bennekom alliierte Fallschirmspringer landeten und dort gekämpft wurde. Jemand hatte von Bekannten im Haag gehört, dass dort ein Sack Kartoffeln 180 Gulden kostete, was ein absurd hoher Preis war. In Rotterdam waren 40‐60000 Männer von den Deutschen verschleppt worden. Überall waren die Schulen geschlossen. Es fuhren keine Züge mehr, weil das Eisenbahnpersonal gegen die Deutschen in Streik getreten war. Niemand konnte mehr Schuhe reparieren lassen, weil es kein Reparaturmaterial mehr gab (ob wir nicht irgendetwas hätten, woraus man Schuhsohlen machen könne?). In Orten, wo es viele Evakuierte gab, kam es wegen der Lebensmittel‐ und Wohnraumknapp‐ heit zu Spannungen, Streitigkeiten, ja, sogar Schlägereien zwischen den Einquartierten und den Einheimischen. Und überall waren Menschen unterwegs, von einem Ort, wo das Leben zu schwierig geworden war, zu irgend‐ einem anderen, wo es angeblich leichter, sicherer, besser war. Etwa im Norden, in Friesland, Groningen, Drente, hieß es, und außerdem gebe es dort noch reichlich zu essen. Und so zogen die Leute auf ein bloßes Gerücht hin los. Aber dann hieß es, Teile des Südens seien befreit worden, also machten die Alliierten doch Fortschritte. 350
»Aber wann werden sie hier bei uns sein ?«, fragten die Leute. »Wann werden wir von diesen Barbaren frei sein?« »Nimmt das denn nie ein Ende?« »Wie lange, Herrgott, wie lange noch?« Und dann gingen sie wieder davon, mit vorwurfsvollen Blicken in unsere Richtung, weil wir ihnen nicht mehr von den Schätzen verkauft hatten, die wir ihrer Meinung nach horteten. Das Traurigste waren die Frauen mit kleinen Kindern auf dem Arm: bereit, für ein wenig Essen für ihre Kinder alles, aber auch alles zu tun. Als der Hungerwinter voranschritt, kamen die Bauern in Verruf, da so viele Menschen bei ihnen erschienen und um Lebensmittel flehten, dass sie nicht mehr allen etwas geben konnten. Manche, die kamen, wurden in ihrer Ver‐ zweiflung gewalttätig. Am Ende wiesen viele Bauern aus Angst um ihr eigenes Wohl, wenn nicht gar um ihr Leben, jeden ab, mit einer Hartherzigkeit, die sie vor dem Krieg selbst schockiert und beschämt hätte. Oft und im Lauf der Zeit immer öfter, hörten wir Jagd‐ flugzeuge – Spitfires und Hurricanes, sagte Jacob – über uns hinwegdonnern. Wenn sie ein deutsches Fahrzeug sahen oder überhaupt irgendetwas, was dem Feind gehö‐ ren konnte, beschossen sie es im Tiefflug mit ihren Bord‐ kanonen. Wir sahen drei‐, viermal, wie Fahrzeuge auf der Hauptstraße zerschossen wurden und die Insassen tot oder verwundet auf die Straße fielen. Wir liefen jedes Mal hinaus und winkten und jubelten, als sei das Blutbad ein erzielter Punkt in einem Spiel. Und jedes Mal ließen wir das Autowrack und die toten oder verwundeten Insassen, 351
wo sie waren. »Sollen sie doch in ihrem eigenen Dreck verrotten«, sagte Herr Wesseling und spuckte aus, ehe er wieder an die Arbeit ging. Wenn bis Einbruch der Dun‐ kelheit die Deutschen nicht vorbeigekommen waren und aufgeräumt hatten, kamen bei Nacht Widerstandskämp‐ fer und durchsuchten die Überreste nach Brauchbarem. Es war die seltsamste aller seltsamen Zeiten. Tagsüber die endlose Schufterei im Haus und auf dem Hof, die Sorgen wegen des Krieges, das Bemühen, Herrn und Frau Wesse‐ ling bei Laune zu halten. Abends und nachts dann, mit Jacob im Versteck, die Glut und Zärtlichkeit unserer Liebesbegegnungen, das Vergnügen unserer intimen Ge‐ spräche und Scherze, der Trost unserer Zukunftsfanta‐ sien, die Erfrischung, die es bedeutete, uns Verse aus Sams Buch (dem einzigen englischsprachigen Buch, das wir hatten) vorzulesen und vorzutragen. Während Jacob mir vorlas oder wir redeten, nähte ich meistens. Diese Näherei! Was haben wir Frauen damals genäht! Männersocken stopfen, Unterwäsche und Kleider für uns herstellen, Laken in Hälften zerschneiden und anders herum zusammennähen, damit sie länger hielten, Kissen, Vorhänge, Tischtücher und Stuhlbezüge nähen und umändern, Risse in der Arbeitskleidung der Männer flicken, neue Hemdkragen aus den Hemdschößen fabri‐ zieren. Immerfort, eine Arbeit, die kein Ende nahm. Heute macht das niemand mehr. Es war eine Last, aber an jenen langen Abenden, ohne Zerstreuungen wie Fernse‐ hen, Videos, CD‐Musik, Computerspiele oder, in Kriegs‐ zeiten, auch nur Radio, war Nähen eine erholsame, ent‐ 352
spannende Tätigkeit. Während Augen und Hände mit einer Routinearbeit beschäftigt waren, konnten sich Geist und Zunge frei bewegen. Und außerdem, hieß es damals immer, fand der Teufel Beschäftigung für müßige Hände (noch so eine gängige Redensart). Nicht mit solch not‐ wendiger Arbeit beschäftigt zu sein, galt geradezu als Sünde und Nähen war immer noch die am wenigsten mühsame Tätigkeit für die stillen Stunden. Zudem förder‐ te es die Gezelligheid. Gezellig. Ich weiß nicht, wie ich das auf Englisch sagen soll. Es ist so etwas typisch Holländisches, so tief in unserer Kultur und unserem Bewusstsein verwurzelt. Mein Wörterbuch bietet Wörter wie »gemütlich, umgäng‐ lich, verträglich, sozial«. Aber gezellig heißt mehr als das. Heute vielleicht nicht mehr so wie in meiner Jugend. Damals war Gezelligheid fast schon etwas Heiliges. Sie zu stören, war ein schwerer sozialer Verstoß. Für mich waren die Stunden mit Jacob wahrhaftig eine besondere Form von Gezelligheid. Wenn er mir nicht vorlas, redeten wir über Bücher, die wir liebten. Jacob erzählte mir von englischen Schriftstel‐ lern und Büchern, von denen ich noch nie gehört hatte, die ich aber nach dem Krieg fand und für mich las. Und ich erzählte ihm von den niederländischen Schriftstellern, die ich am meisten bewunderte. Wir sangen uns gegen‐ seitig die populären Lieder vor, die wir kannten. Er erzählte mir von seinem Leben in England, von seiner Arbeit als Elektriker und seiner Liebe zum Kricket, einem Spiel, das er mir vergeblich zu erklären versuchte; es ist 353
mir bis heute ein Rätsel. Und ich erzählte ihm, dass ich daran dachte, Lehrerin zu werden wie meine Mutter. Und von meinen Freundinnen und meiner Kindheit. Und so vergingen die Stunden. Wobei das Schönste für mich unsere gemeinsamen Stunden im Bett waren. Anderswo als bei ihm, außerhalb des Verstecks, war es schwer, der Realität zu entrinnen. Die ewige Mühle der Arbeit im Haus und auf dem Hof, der Stress, mit den bettelnden Menschen umzugehen, die Brutalität des Krie‐ ges und die nagende Angst, dass es wieder zu einer Durchsuchung kommen könnte und sie Jacob fänden und wir alle verhaftet würden. Wie anstrengend das war! Die widerstreitenden Emotionen in mir. Die Ängste und Schuldgefühle, die ich in den tiefsten Winkel meines Inneren hinabgequetscht hatte, um sie vor mir selbst zu verbergen. Die einzige Art, über die Runden zu kommen, die einzige Art, wie ich das überstehen konnte, war, von einem Moment auf den anderen zu leben, von Sekunde zu Sekunde, tags und nachts. Es gab nur das Jetzt. Diesen Augenblick. Sonst war nichts zugelassen. Keine Erinne‐ rungen. Keine Gedanken an morgen. Wenn ich nicht bei Jacob war, schloss ich mich in mir selbst ein, stürzte mich in die anstehende Arbeit, damit die Zeit ohne ihn mög‐ lichst schnell verging und alles, was geschah, mich mög‐ lichst wenig tangierte. Dann, wenn ich wieder bei ihm im Versteck war, schloss ich mich wieder auf, öffnete mich ihm, konzentrierte mich ganz auf ihn, ließ alles von mir in ihn hineinfließen. Ich kann es nicht anders sagen als so: Er 354
war meine ganze Welt. Die seltsamste, die intensivste Zeit, die ich je erlebt habe. Wie hätte je irgendetwas diese Zeit mit Jacob übertreffen sollen? Ihr auch nur gleichkommen? Und, da das Leben ist, wie es ist, wie hätte sie ewig dauern sollen? Natürlich dauerte sie nicht ewig. Das Ende kam am ersten schönen Sonnentag seit zwei oder drei Wochen. Einer jener wehmütigen Wintertage, die einen an den vergangenen Sommer erinnern und einem einen Vorgeschmack auf den nächsten geben. Er erinnerte mich an den Sonntagvormittag im September, da ich auf der Fahrradfahrt vom Bauernhof nach Hause den Himmel voller Fallschirme gesehen hatte. Wie lange schien das doch her, wie weit weg dieses Mädchen, das da nach Hause gesaust war und laut vor sich hingerufen hatte: »Frei, frei!« Es war so ein schöner Tag, so heiter und mild, dass ich am Morgen ein paar Bettlaken im Garten zum Trocknen auf‐ hängte. Es würde so angenehm sein, den Duft von fri‐ scher Luft zu riechen, wenn wir ins Bett gingen, statt des schweren Heugeruchs der Scheune, wo wir die Bett‐ wäsche im Winter normalerweise trockneten. Kurz vor Sonnenuntergang ging ich sie abnehmen. Frau Wesseling spielte Harmonium, in dem Zimmer, das auf den Garten hinausging. Sie hatte das Fenster offen, wie wir an diesem Tag alle Fenster im Haus aufgemacht hatten, um die Räume zu lüften. Sie war noch in der Phase, in der sie sich nach der langen Unterbrechung im Selbstunterricht das Spielen wieder beibrachte, indem sie sich die alten 355
Übungsstücke aus ihrer Kindheit vornahm. Nie werde ich das kleine Musikstück vergessen, das sie an diesem Nach‐ mittag übte, einen simplen Walzer von Becucci. Die Musik strömte zu mir heraus, während ich die Laken abnahm und zusammenfaltete. Ich war nach dem Mittag‐ essen mit Jacob zusammen gewesen. Er war an diesem Tag drängend gewesen, voller Verlangen, und ich glühte noch von der Lust, die es mir bereitet hatte. Er hatte so hart daran gearbeitet, sich wieder in Form zu bringen, seine Wunde heilte gut, er konnte schon fast wieder nor‐ mal gehen und wurde immer kräftiger. Ich erinnere mich, dass mir ganz schwach vor Glück war und ich ungedul‐ dig darauf wartete, dass die Nacht käme und wir wieder zusammen sein könnten. Ganz mit mir selbst beschäftigt, hörte ich ihn gar nicht hinter mir herankommen. Wusste erst, dass er da war, als er die Arme um meine Taille schlang und mich an sich zog. Ich stieß einen kleinen Überraschungsschrei aus und ließ das halb gefaltete Laken fallen. »Was machst du!«, sagte ich. »Du sollst nicht einfach hier draußen herumlaufen. Das ist gefährlich.« Er küsste mich auf den Nacken und lachte leise. »Wenn uns Frau Wesseling sieht?« Aber das nützte nichts. Ich versuchte nicht mal, mich loszumachen. »Die sieht nichts«, sagte er mir ins Ohr, »die ist viel zu sehr damit beschäftigt, in ihre Noten zu gucken.« Er drehte mich zu sich, die Arme um meine Taille, die Hände auf meinem Hintern, und presste mich an sich. Ich 356
ließ es geschehen, die Arme um seinen Hals, die Hände um seinen Hinterkopf, und fühlte ihn an mir schwellen. »Du bist unersättlich!«, sagte ich lachend. Ein Wort, das er mich gelehrt hatte, indem er es scherzhaft auf mich an‐ wandte. »Komm, wir tun es«, sagte er, »jetzt, im Freien, hier, mitten im Garten, auf deinen sauberen Laken. Wäre das nicht sagenhaft?« »Wundervoll«, sagte ich. »Eines Tages.« Er sagte ein Weile gar nichts. Seine Augen sahen mich an, diese dunklen Augen, die ich an ihm als Erstes wahr‐ genommen und in die ich mich sofort verliebt hatte. Jetzt lachte und scherzte er nicht mehr. Dann sagte er: »Tanzen wir.« Und wir tanzten. Mit kleinen Schritten im langsamen Takt der eingeroste‐ ten Finger. Eigentlich fast ohne uns zu bewegen, weil unsere Füße so verklumpt von der Wintererde waren. Aber da war der Rhythmus unserer liebenden Körper. So drehten wir uns auf der Stelle. Langsam. So langsam! Ich weiß noch, wie die Sonne zwei‐ mal einen blendenden Strahlenkranz um seinen Kopf bildete. Wir waren noch nicht wieder ganz im Kreis herum, als Jacob plötzlich innehielt und einen Schritt rückwärts machte. Einen schrecklich steifen Roboter‐ schritt. Das spürte ich. Was ich sah, waren seine Augen. Ich hatte meine nicht mehr von ihnen gewandt, seit er mich zu sich herumgedreht hatte. Jetzt, im Moment dieses jähen Innehaltens, wich alles Leben aus ihnen. Er war 357
nicht mehr in ihnen. Ich hörte mich »Jacob ?« sagen. Aber er antwortete nicht. Und dann sackte er zusammen. Fiel zu Boden, wie von einem Schlag niedergestreckt. Ich habe mich immer damit getröstet, dass er wenigstens einen schnellen Tod hatte und, wenn überhaupt, nur für den Bruchteil einer Sekunde leiden musste. Besser kann man es niemandem wünschen. Was mich angeht, kann ich nur sagen, dass an diesem Tag auch ein Teil von mir starb. Mein Schreien ließ Frau Wes‐ seling aus dem Haus stürzen und gleich darauf auch Herrn Wesseling. Sie versuchten, Jacob wieder zu bele‐ ben, aber nur aus dem menschlichen Instinkt heraus, Leben um jeden Preis zu erhalten, und um zu beweisen, dass wir taten, was wir konnten, ehe wir aufgaben. Uns allen war klar, dass er tot war. Danach bedeckten wir Jacob mit einem Laken und trugen ihn ins Haus. Drinnen legten wir ihn auf den Küchen‐ tisch. Uns mit ihm die Treppe hinaufzumühen, in eins der Schlafzimmer, war ausgeschlossen. Wir standen um den Tisch und starrten auf seinen ver‐ hüllten Leichnam. »Wie kann das passiert sein?«, sagte Frau Wesseling. »Es muss ein Herzschlag gewesen sein«, sagte Herr Wes‐ seling. »Was machen wir jetzt?« Ich konnte gar nichts sagen. Aber plötzlich begann ich zu zittern, als wollte sich mein Körper in Stücke zerschütteln. Frau Wesseling führte mich zu einem Stuhl und setzte mich ans Feuer. Dann holte sie ein Umschlagtuch und 358
legte es um mich. »Heißen Kaffee«, sagte sie zu Herrn Wesseling, »mit viel Honig. Für uns drei.« Als der Kaffee kam, konnte ich die Tasse nicht halten. Frau Wesseling musste mir den Kaffee löffelweise ein‐ flößen. »Wir sollten einen Arzt holen«, sagte Herr Wesseling. »Wozu? Was soll der machen?« »Dann einen Priester. Um ihn zu beerdigen.« »Wir wissen nicht, welchem Glauben er angehört hat«, sagte Frau Wesseling. »Und wem könnten wir trauen?« »Aber was sollen wir dann tun?« »Ihn begraben. Was können wir sonst tun ?« »Wo?« »Ich weiß nicht. In einer Ecke des Gartens.« Ich hörte das alles, aber als bedeutungslose Laute, als ob Leute in einer fremden Sprache sprächen. Und ich dachte auch nichts. Mein Denken war abgeschaltet. Alles, was ich wahrnahm, war Jacobs verhüllter Körper, von dem ich den Blick nicht losreißen konnte. Die Wesselings verstummten. Frau Wesseling flößte mir den Kaffee ein. Ich erinnere mich an das Ticken der staande Klok, so laut, dass es den ganzen Raum zu füllen schien. Nach einer Weile, als sich das Zittern gelegt hatte, sagte Frau Wesseling zu mir: »Du kannst hier nicht so sitzen bleiben. Das ist nicht gut. Komm mit auf dein Zimmer. Wir kümmern uns um alles.« Es war, als hätte sie mir ein Stärkungsmittel injiziert, denn 359
plötzlich schien sich alles in mir wieder zurechtzurücken. »Nein, nein«, sagte ich und setzte mich gerade auf. »Nein. Wir haben alles zusammen durchgestanden. Ich habe mich um ihn gekümmert, seit sie ihn zu uns in den Keller gebracht haben. Ich muss mich auch jetzt um ihn küm‐ mern.« »Aber, Geertrui«, sagte Herr Wesseling, »Jacob ist tot.« Er sagte es, als dächte er, es sei mir neu. Ich weiß noch, wie ich ihn anlächelte und mit einer Ruhe, die mir gefiel, sagte: »Ja. Ich weiß. Und ich weiß auch, dass wir ihn begraben müssen. Und dass wir es selbst tun müssen. Ich werde ihn herrichten. Würden Sie so nett sein, ein Grab auszuheben? Wir sollten es schnell tun, meinen Sie nicht?« Jetzt, im Rückblick, erstaunt es mich, dass die Wesselings ohne jede Diskussion akzeptierten, was diese Neunzehn‐ jährige vorschlug. Während der nächsten paar Stunden baute Herr Wesseling einen Sarg. Es war nicht mehr als eine längliche Kiste aus zusammengenagelten Brettern, die er mit einer Plane ausschlug. Während er arbeitete, half mir Frau Wesseling, Jacobs Leichnam herzurichten. Wir zogen ihn aus und wuschen ihn. Kleideten ihn dann wieder an, mit Unterwäsche, einem weißen Hemd, einer schwarzen Hose und einem Paar schwarzer Socken, alles vom Neuesten, was Frau Wesseling auftreiben konnte. Als wir damit fertig waren, räumten wir die Küche auf, drapierten den Tisch, auf dem er lag, mit rotem Samt, steckten sechs weiße Kerzen in hohe, frisch polierte Messingständer und stellten sie 360
neben Jacobs Leichnam auf, drei auf jeder Seite. Wir löschten das übrige Licht und hielten die staande Klok Punkt Mitternacht an. Danach sammelte ich Jacobs wenige persönliche Dinge und seine Erkennungsmarke ein und steckte alles in eine Mehldose, die wir ganz unten in Frau Wesselings Wäscheschrank versteckten, in der Hoffnung, dass sie eventuellen Durchsuchungen entgehen würde und ich Jacobs Habseligkeiten nach Kriegsende seiner Familie schicken könnte. Was ich auch tat. Für mich behielt ich nur die Fallschirmjägerabzeichen von seinem Kampfan‐ zug und noch ein Andenken, von dem ich dir später erzählen werde. Als es nichts mehr zu tun gab, überredete ich die Wesse‐ lings, zu Bett zu gehen. Ich hielt den Rest der Nacht bei Jacob Totenwache. Las laut unsere Lieblingsgedichte aus Sams Buch. Und weinte. Sobald das Licht reichte, ging Herr Wesseling hinaus in den Gemüsegarten, wo er in der entferntesten Ecke ein Grab auszuheben begann. Er brauchte drei Stunden, um es tief genug zu machen. In der Zwischenzeit hielt Frau Wesseling an den Fenstern Wache. Als das Grab fertig war, brachte Herr Wesseling den Sarg auf einer Schubkarre an die Tür. Er und ich trugen ihn in die Küche und stellten ihn neben dem Tisch ab. Frau Wesseling und ihr Mann hoben mein Liebstes, meinen Geliebten, in den Sarg. Ich legte eine von Herrn Wesse‐ lings luftdichten Tabakdosen neben Jacob. Darin war ein Stückchen Karton, auf das ich Jacobs Namen, sein Todes‐ 361
datum und eine kurze Darstellung der Todesumstände geschrieben hatte. Eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass uns dreien vor der Befreiung noch etwas zustieße und eines Tages jemand das Grab fände. Herr Wesseling hatte darauf geachtet, dass von der Plane genug über‐ stand, um Jacobs Leichnam einzuhüllen. Dann kam der schlimmste Moment. Herr Wesseling schloss den Sarg und nagelte den Deckel zu. Danach standen wir schweigend da und ich bin mir sicher, dass auch die anderen das Gefühl hatten, wir müssten doch noch irgendetwas tun oder sagen. Wie konnte dieser trostlose Moment das Ende sein? Nachdem er die Schlacht und seine Verwundung und den Trans‐ port zum Bauernhof und die Durchsuchungskommandos der Deutschen überlebt hatte, nachdem er so hart daran gearbeitet hatte, wieder in Form zu kommen, nach dieser wunderbaren Zeit der Liebe, wie konnte da alles so enden? Wie konnte das Leben so ungerecht sein? »Wir müssen weitermachen«, sagte Herr Wesseling leise. »Wir haben keine Zeit.« Wir trugen den Sarg zur Schubkarre, Herr Wesseling am Kopfende, Frau Wesseling und ich am Fußende. Und dann die kurze Prozession vom Haus zur Gartenecke, wobei Herr Wesseling den Leichenkarren schob. Mir war es egal, ob die Deutschen jetzt kamen oder nicht. Sollten sie doch kommen. Sollten sie mich doch holen. Sollten sie doch machen, was sie wollten. Sollten sie mich doch töten. Was kümmerte mich mein Leben, jetzt, wo Jacob nicht mehr da war. Tot. Ich zwang mich, das Wort inner‐ 362
lich zu sagen. Tot. Als wir zum Grab gingen, wollte ich auch tot sein. Nach den Regenfällen der jüngsten Zeit war der Boden mit Wasser voll gesogen. Schon jetzt stand Wasser auf dem Grund des Grabs. Ich schob den Gedanken weg, sperrte aus meinem Denken aus, was wir taten. Ich weiß nicht mal mehr, wie wir den Sarg ins Grab ließen. Nur, dass ich den Spaten nahm und darauf bestand, diejenige zu sein, die den Sarg mit Erde bedeckte. Und ich schaufel‐ te und schaufelte, immer schneller und schneller, mit wachsendem Zorn, der mir Kraft verlieh, bis Herr Wesse‐ ling mich am Arm fasste und sagte: »Genug. Überanstren‐ gen Sie sich nicht. Ich mache den Rest.« Worauf mein Zorn zu versiegen schien und ich auf einmal so schwach war, dass ich kaum noch stehen konn‐ te. Frau Wesseling legte mir den Arm um die Taille und gemeinsam sahen wir zu, wie Herr Wesseling das Grab vollends zuschaufelte und dann die übrige Erde verteilte. »Ich lege später ein paar Platten drauf«, sagte Herr Wesseling, als er fertig war. »Er ruhe in Gott«, sagte Frau Wesseling. »So ein trauriges Geschäft.« »Nach der Befreiung werden wir dafür sorgen, dass er an‐ ständig beerdigt wird«, sagte Herr Wesseling. »Jetzt kön‐ nen wir nichts mehr für ihn tun. Und die Tiere müssen versorgt werden.« Er wandte sich ab, ging mit der Schubkarre davon, an seine Arbeit. Und Frau Wesseling führte mich zum Haus 363
zurück. Den ganzen Tag machte es mir zu schaffen, dass wir am Grab nichts mehr gesagt hatten. Es mag verrückt schei‐ nen, dass einen so eine Kleinigkeit umtreibt, aber in Zei‐ ten des Schmerzes findet das Denken mancherlei Mög‐ lichkeit sich zu schützen. Und so ging ich in der Abend‐ dämmerung allein hinaus, stellte mich an Jacobs Grab und rezitierte eins seiner Lieblingsgedichte aus Sams Buch, eine Ode von Ben Jonson. Er hatte besonders die letzten beiden Zeilen gemocht, die, wie er sagte, das Leben besser erfassten als alles, was ihm sonst an Worten bekannt sei. Nicht schierer Wuchs, dem Baume gleich, Macht eines Menschen Leben reich, Noch einer Eiche Zeit in Stolz zu stehn, Um dann als morscher Stamm zu End zu gehn: Der Lilie flücht’ges Blüh’n Beglückt und ist dahin, Sie sieht den nächsten Morgen nicht, Doch war sie Blum geword’nes Licht. Die Schönheit achtet’s nicht, ob groß ob klein, Das Kurzbemessne kann vollkommen sein.
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POSTKARTE Das große Bestreben im Leben ist doch Empfindung – zu fühlen, dass wir existieren. Lord Byron Am nächsten Tag wachte er erst um halb elf auf, nachdem er wie ein Toter geschlafen hatte. Nur ein dringendes Pin‐ kelbedürfnis trieb ihn aus dem Bett. Eigentlich hatte er gleich wieder zurückschlüpfen wollen, aber auf dem Weg ins Bad fiel ihm sein Parknachmittag mit Hille wieder ein, und zwar in so lebhafter Form, dass, als er sich erleichtert hatte, die erinnerten Empfindungen auf seiner Haut so präsent waren, das Verlangen nach all dem so drängend war, dass er nicht anders konnte, als auch diesem natür‐ lichen Drang von Hand genüge zu tun. Was so befriedigend war wie lange nicht. Weil es, sagte er sich, von jemand Realem inspiriert war – jemand Leibhaf‐ tigem, und was für ein Leib, aber nicht nur, sondern auch Geist und Seele – nicht von einer Fantasie, einer virtuellen Realität, die man nicht wirklich anfassen (geschweige denn sonst was) konnte, sondern von einer absolut real existierenden Realität, die er mit diesen, seinen absolut real existierenden Händen greifen konnte. Als der Statt‐Akt‐Akt vollbracht war, betrachtete er sein schlafzerzaustes, handanlegeschwitziges Selbst im Spie‐ 365
gel, lächelte, zwinkerte und sagte laut: »Haut, Haut, ich liiiiebe Haut.« Zum ersten Mal, seit er in Holland war, fühlte er sich glücklich. Natürlich musste er gestern mit Hille glücklich gewesen sein, aber da hatte er nicht drüber nachgedacht, ob er’s war oder nicht, weil das Glücklichmachende in dem Moment passierte. Weiß man erst, dass man glück‐ lich ist, wenn das Glücklichmachende selbst vorbei ist? Ist das Glücklichmachende ein aktiver Zustand, das Wissen um das Glücklichsein ein reflexiver? Die Art Frage, über die Sarah gern diskutieren würde. Und Hille? Er wusste, was beglückend war, dass die Antwort ja hieß. Nach dem Frühstück musste er ihr schreiben. Nicht musste. Wollte. Kurze Schuldgefühlsattacke bei diesem Gedanken. Und Sarah auch, dies allerdings weniger Wollen als Müssen. Sie würde gekränkt sein und sich vernachlässigt fühlen, wenn er ihr nicht bald irgendwas schickte und wenn es nur eine Postkarte war. Außer einem kurzen Anruf gleich nach seiner Ankunft, um zu sagen, dass er heil gelandet war, hatte er nichts von sich hören lassen. Sarah tat zwar so, als sei ihr das nicht so wichtig, aber er wusste, es war ihr wichtig. Und er wusste, sie hatte lieber Geschriebenes als Anrufe. Aber jedenfalls, sagte er sich, war er richtig glücklich und fröhlich. Er putzte sich fröhlich die Zähne, ging fröhlich unter die Dusche, wusch sich fröhlich die Haare, seifte sich fröhlich von oben bis unten ein, duschte sich fröhlich mit der Handdusche von vorn und hinten, oben und unten und aus allen erdenklichen Winkeln ab, rubbelte 366
sich fröhlich trocken, schnitt sich Finger‐ und Zehennägel mit dem Mini‐Scherchen, das glücklicherweise in dem Kompakt‐Reisewaschbeutel war, den er von seiner Mutter als Abschiedsgeschenk gekriegt hatte, bürstete sich fröh‐ lich die Haare, die er sich glücklicherweise für die Reise richtig kurz hatte schneiden lassen, und betrachtete fröh‐ lich sein blitzendes, blinkendes, glühendes Selbst im Spie‐ gel. Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Schönste im ganzen Land? Und sag gefälligst, ich, sonst zerschmeiß ich dich. Ausnahmsweise war er ziemlich einverstanden mit dem, was er sah. Vor allem mit seinem besten Stück, das, ein‐ mal geweckt, durchaus noch mehr Aufmerksamkeit ge‐ wollt hätte. Aber nein, befand er, das musste warten. Sein Magen bedurfte der Fürsorge noch dringender. (Als er gestern aus Oosterbeek zurückgekommen war, hatte er sich so durchgemangelt gefühlt und so viel Stoff zum Nachdenken gehabt, dass er sofort ins Bett gegangen war, ohne Abendessen, nicht nur aus Müdigkeit, sondern auch, um allein zu sein und nicht mit Daan reden zu müs‐ sen. Er hatte später noch mal aufstehen und etwas essen wollen, war aber, sobald er sich hingelegt hatte, für den Rest der Nacht weggeknackt.) Beim Anziehen dachte er weiter an Hille. So hatte er noch nie für ein Mädchen empfunden. Auf manche Mädchen war er scharf gewesen, ja, und dann gab es andere, die Freundinnen waren, ihn aber nicht anmachten. Aber kein 367
Mädchen hatte ihn je so aus der Ruhe gebracht – alles an ihm, Körper und Kopf – wie Hille. Und schon gar nicht so glücklich gemacht, wie er sich jetzt fühlte. Ganz schööön unheimlich, sagte er auf dem Weg in die Küche leise vor sich hin, und er fragte sich, wie es wohl Hille heute wegen gestern ging. In der Küche fand er eine Botschaft von Daan auf einem großen gelben Blatt Papier, das wie ein Fähnchen vom Lampenschirm über der Küchentheke hing. Jacob: Planänderung: Geertrui: bittet dich, morgen um 11 Uhr zu kommen, nicht heute. Ich: bin bei ihr. Ca. 18 Uhr zurück. Dann will ich alles über gestern hören. Du: machst es dir hier gemütlich. Tust, was du möchtest. Lust auf Gesellschaft? Ton freut sich sicher, wenn du ihn anrufst. Schönen Tag. Daan 368
Er jubelte kurz und wandte sich der Frühstücksfrage zu. Im Kühlschrank fand er eine halbe Galia‐Melone in Klar‐ sichtfolie gewickelt. Er aß sie mit dem Löffel direkt aus der Schale. Ein kühler, erfrischender, saftiger Auftakt. Nächster Punkt: Wenn in Holländerland, halt es wie die Holländer. Zum Frühstück essen die Holländer dünne Käsescheiben und dünne Schinkenscheiben. Es gab jede Menge davon im Kühlschrank. Und Vollkornbrot im Brotkasten, nicht ganz frisch, aber okay zum Toasten. Und nach dem Käse und Schinken, weil es keine Marme‐ lade gab und er sowieso unter die Holländer gegangen war, diese Schokodingerchen, Hagelslag, die aussahen wie Mäuseköttel und die er Mrs van Riet beim Frühstück am ersten Morgen auf ihr Brot hatte streuen sehen, was ihm bizarr vorgekommen war, weil er das Zeug nur als Deko‐ ration für Teeküchlein kannte. Tee ? Er hatte gestaunt, dass die Holländer so viel Tee tranken, bis ihm Hille, als sie zufällig auf dieses Thema gekommen waren, die histo‐ rische Erklärung geliefert hatte: das enge Verhältnis der Niederländer zu ihren Ex‐Kolonien, die jetzt keine mehr waren, sondern Indonesien, richtig und wo sie sich wohl das Teetrinken angewöhnt hatten, so wie die Engländer während ihrer (unserer, dachte er, aber er hatte nicht das Gefühl, dass das irgendwas mit ihm zu tun hatte oder er irgendwas damit zu tun haben wollte) Herrschaft in In‐ dien. Aber er fand nur Earl Grey, den er nicht mochte: zu parfümiert. Na ja, egal. Nicht verzagen. Holländischer Kaffee, warum nicht? Douwe Egberts, in einer anspre‐ chend ominösen schwarzen Tüte, ho, ho, ho und ‘ne 369
Buddel voll Rum. Aufgebrüht wird er in dieser niedlichen silbernen Zwei‐Tassen‐Cafetiere, die da auf dem Ablauf‐ bord steht. Aber warum benutzen diese Holländer, oder zumindest dieser spezielle Holländer hier, keinen Elektro‐ Wasserkocher, statt das Teewasser jedes Mal mühselig auf dem Herd heiß zu machen? (Das wäre doch ein Dan‐ keschön‐Geschenk, nachdem Sarah ihm eingeschärft hat‐ te, dass das unbedingt sein musste, ehe er wieder abreiste. Aber war das nicht ein bisschen spießig? Eher was für ein Hochzeitsgeschenk. Er war noch nie gut darin gewesen, sich Geschenke für Leute auszudenken. Hey, hey, keine Mausstimmung heute: husch, raus aus meinem Kopf. Vielleicht würde Hille ihm ja helfen, was Besseres zu finden.) Zu Händen Ms Hille Babbe: Unter Bezugnahme auf Ihre Stellenausschreibung für den Pos‐ ten eines Küssfreundes, möchte ich der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass meine Resultate beim gestrigen Vorstellungsge‐ spräch und Test zu Ihrer Befriedigung ausgefallen sind. Falls Ihnen ein zweites Bewerbungsgespräch und weitere Befähi‐ gungstests erforderlich erscheinen, gestatten Sie mir die Kühn‐ heit vorzuschlagen, dafür baldmöglichst einen Termin anzube‐ raumen, da mein Auf enthalt in den Niederlanden leider allzu kurz bemessen ist. Seien Sie versichert, dass ich hoch motiviert bin, mich dieser zurzeit vakanten Position würdig zu erweisen. Liebe Ms Babbe, Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie den ersten 370
Test für den gestern erörterten Posten bestanden haben und zwar mit besseren Resultaten, als sie je eine Bewerberin vor Ihnen erzielt hat. In der Tat war Ihre Punktzahl so hoch, dass sie die Skala sprengte. Aufgrund dieses Ergebnisses würde ich Ihnen gern sofort einen Vertrag anbieten. Sollten Sie allerdings noch Vorbehalte haben, bin ich nur zu gern bereit, Ihnen für eine weitere Exploration der Gegenleistungen meinerseits zur Verfügung zu stehen. Ich hoffe auf einen Terminvorschlag für ein weiteres Meeting, sobald Sie es einrichten können. Hille, wenn du das hier liest, haben wir wahrscheinlich schon telefo‐ niert. Aber es gibt da Dinge, die ich jetzt sagen will und dir nicht telefonisch sagen kann, weil du in der Schule bist. (Es ist jetzt 11 Uhr und ich bin gerade aufgestanden.) Außerdem gibt es sowieso Dinge, die ich am Telefon sagen kann, andere, die ich gar nicht sagen kann, und wieder andere, die ich nur schriftlich sagen kann. Wobei es in diesem Brief nicht um Dinge geht, die ich nur schriftlich sagen kann. Ich schreibe nur, weil ich nicht bei dir sein kann. Das wäre mir am liebsten. Vielleicht auch einfach gar nichts zu sagen. Mit dir zusammen zu sein, wäre schon genug. Seit gestern denke ich die ganze Zeit an gestern. Na ja, das stimmt nicht ganz. Kann’s ja nicht, oder? Habe ich zum Bei‐ spiel im Schlaf dran gedacht? (Weiß nicht, kann mich nicht erinnern. Denken wir im Schlaf? Ist es das, was Träume sind? Schlafdenken. Diese Nacht habe ich geschlafen wie ein Mur‐ meltier – du auch? — und ich kann mich nicht erinnern, irgendwas geträumt zu haben. Du? Wenn ja, was?) Außerdem 371
habe ich auch darüber nachgedacht, was ich frühstücken soll (Was hast du gefrühstückt und was ist dein Lieblingsfrüh‐ stück?) und wie ich diesen Tag ohne dich zubringen soll. (Wie war dein Tag ohne mich? Sag’s nicht, wenn die Antwort lautet: »Schöner, als er mit dir gewesen wäre.«) Aber trotzdem: hinter (unter, neben, parallel zu, wie auch immer) dieser Art Gedan‐ ken, diesen Alltagsgedanken, habe ich auch die ganze Zeit in einem Teil meines Hirns an gestern gedacht. Nein, ich will genau sein, nicht an gestern. An dich. Das weiß ich, weil ich, seit ich wach bin, das bin, was die Leute wohl mit »glücklich« meinen. Du, gestern, hast gemacht, dass ich heute glücklich bin. Apropos glücklich. Ich habe gerade in einem Englisch‐Lexi‐kon, das ich in einem der Bücherregale hier in der Wohnung gefun‐ den habe, das Wort happy nachgeguckt und festgestellt, es kommt von dem alten norwegischen Wort happ, was so viel heißt wie Glück (im Gegensatz zu Pech) und verwandt ist mit dem altenglischen Wort gehaeplic, das so viel wie günstig oder geziemend heißt, und dem altslawonischen kobû, was Schicksal bedeutet. Da mich schon der Gedanke an dich so happ‐y macht wie noch nie irgendwas — meinst du, es ist viel‐ leicht das mir geziemende Glück, dass du mein Schicksal bist? Es gibt eine Trillion Dinge, die ich dich fragen will, von leich‐ teren Fragen wie: »Wie gedenkst du den Rest deines Lebens zu verbringen?«, bis zu den wirklich wichtigen Sachen wie: »Ist es besser, mit der Herde zu laufen oder die Herde laufen zu las‐ sen?«, »Welche Filme sind am komischsten, die mit Laurel und Hardy oder die mit Charlie Chaplin (oder weder noch)?«, und: »Wird die Ewigkeit lang genug sein, um alles mit dir machen 372
zu können, was ich mit dir machen will?« Ich höre jetzt besser auf, ehe dieser Brief noch schwachsinniger wird. Ich könnte ihn umschreiben, damit du nicht weißt, wie schwachsinnig ich sein kann. Aber ich werd’s nicht tun, denn wenn wir uns richtig kennen lernen und Freunde werden wol‐ len, was ich hoffe, was wiederum, um ehrlich zu sein, dieser Brief eigentlich besagen soll, dann, sage ich mir, sollst du ruhig von Anfang an wissen, wie schwachsinnig ich sein kann. Ich stelle mal eine Vermutung an: Du magst Gedichte. Ich auch. Deshalb habe ich eins speziell für dich geschrieben. Hille: Für dich spielt die Erde Himmelssongs singt das Wasser rocken die Steine brennt die Zeit vergeht das Feuer in mir Jacob »Ton? Hier ist Jacob.« »Jacques! Hey, hallo!« »Hab ich dich geweckt?« »Nein, nein. Schon okay.« »Ich dachte nur ...« »Ja?« »Ich bin heute ganz allein hier.« »Du gehst nicht zu Geertrui?« 373
»Nein. Kleine Planänderung. Und Daan ist heute bei ihr. Das Problem ist, ich müsste einen Brief aufgeben und ich hab das noch nie gemacht, in Holland, meine ich, und ich dachte, du könntest vielleicht... na ja, und wie du gesagt hast... mir ein bisschen was von Amsterdam zeigen.« »Wie spät ist es?« »Etwa halb zwölf. Wenn es ein Problem ist –« »Nein, nein, kein Problem. Ist eine tolle Idee. Ich überlege nur gerade. Kannst du um zwei Uhr unten vor Daans Haus sein?« »Zwei Uhr. Okay.« »Wenn’s nicht regnet. Wenn’s regnet, warte oben in der Wohnung.« »Um zwei vor Daans Haus, wenn’s nicht regnet. Im Mo‐ ment regnet’s nicht. Ist sogar schön draußen. Die Sonne scheint.« »Tatsache? Gut. Okay. Ich komme. Mit einer Über‐ raschung.« »Eine Überraschung? Was für eine Überraschung?« »Eine ohne Beine. Und, Jacques ...« »Ja?« »Freut mich sehr, dass du angerufen hast. Tot ziens.« Liebe Sarahgran, Gottchen, wie die Zeit vergeht! Was macht die Hüfte? Wärst du lieber hier? Ich bin sehr froh, dass ich hier bin. Wie Kilgore Trout zu sagen pflegt: Das Leben geht weiter. Ich habe gesehen: Anne Franks Haus (gar nicht, wie ich erwartet habe, aber davon, wie überhaupt von allem, später mehr), bisschen was 374
von Haarlem, bisschen was von Amsterdam, ein paar Rem‐ brandts (toll), die van Riets und diverses Holländerjongvolk. Aber das Beste war der Tag gestern. Die Gedenkfeier war toll. Gab Momente, in denen mir fast die Tränen kamen. Tausende von Menschen, darunter viele einheimische Jugendliche. Aber das weißt du ja, du warst ja schon dort. Herrliches Wetter. Nichts von dem peinlichen Gerede, das ich erwartet habe. Nix Hurrapatriotismus. Nix Fähnchenschwenken. Nix Heldenver‐ ehrung. Und sogar das religiöse Zeug war okay. Und du weißt ja, wie ich diese ganze heilige Schwafelei hasse. Habe sogar die Choräle mitgesungen, kannst du dir das vorstellen? Choräle! Da überkommt mich sonst eher Übelkeit. Aber diesmal überkam mich nur ein Lächeln. Auf so eine traurig fröhliche Art. Es war mehr so etwas wie ein großes Familienfest als eine Totenfeier. Da müssen auch Männer gewesen sein, die Grandad kannten. Wollte, ich wäre so schlau gewesen, mir einen zu suchen und mit ihm zu reden. Warum kommen mir die besten Ideen immer erst hinterher? Habe auf Grandads Grab gestanden. Da war mir’s am meisten nach Heulen. Habe zwei holländische Jugendliche getroffen, die Blumen auf sein Grab gelegt haben, ein Mädchen und der Bru‐ der dazu, Hille und Wilfred Babbe. Habe Fotos für dich ge‐ macht. Hinterher war ich mit Hille (17) essen. Hoffe sehr, sie noch mal zu treffen. Zieh keine voreiligen Schlüsse. Aber sie ist ganz schön toll. Ja, ich passe auf. Ich weiß, ich weiß, sag’s nicht: »Sei nicht so impulsiv, trag dein Herz nicht auf der Zunge. Und dein Angesicht, mein Edler, ist wie ein Buch, wo wunder‐ bare Dinge geschrieben stehn«. Ja, ich bemühe mich zuzuhören, wenn du mir gute Ratschläge gibst. Aber in diesem Punkt bin 375
ich mir nicht so sicher, ob du Recht hast. Oder vielleicht hast du ja Recht, aber es ist nicht mehr mein Problem. Weiß nicht, wa‐ rum. Hat irgendwas mit dieser Reise zu tun. Mit dem Besuch bei Geertrui. Mit der Gedenkfeier gestern. Ich will ja nicht sagen, ichfind’s okay, wenn man seine tiefsten Gefühle perma‐ nent jedem zeigt. Aber langsam glaube ich, man kann sie auch zu oft und zu gut verbergen. Ist es nicht manchmal besser, das Risiko einzugehen, zu zeigen, was man fühlt, wenn einem diese Gefühle und die andere Person wichtig sind? Die Gefühle zu verbergen, sie zurückzuhalten, so zu tun, als fühlte man etwas anderes als das, was man fühlt – das kann nicht gut sein. Vielleicht ist da alles ein bisschen wirr, aber wenigstens, das musst du mir lassen, probiere ich Neues, was ja auch zu dem gehört, wovon du immer sagst, dass ich es muss! (Bisher übri‐ gens keine Megamausstimmungen. Nur einmal ganz kurz ein davonhuschender Schwanz.) Heute Nachmittag will mir ein schwuler Typ, den ich getroffen habe und der Daan kennt, in dessen Wohnung (eigentlich Geer‐ truis Wohnung und ganz toll) ich im Moment wohne, warum erkläre ich dir später, zu interessant‐kompliziert für einen Brief – also, jedenfalls will mir dieser Typ ein bisschen was von Amsterdam zeigen. Du siehst, ich werde bestens betreut. Heute Nachmittag schicke ich der Familie eine Karte. (Schickst du mir meine wie immer? Ich würde sie sonst sehr vermissen. Nach so vielen Jahren kannst du den Kartenfluss nicht einfach unterbrechen. Die von dieser Woche hast du vermutlich an die van Riets geschickt.) Muss jetzt los, mich wieder ein bisschen amüsieren. Du weißt ja, wie das bei uns Touristen ist, alles eine einzige Vergnü‐ 376
gungsorgie. Wollte dich nur wissen lassen, dass es mir gut geht, dass ich blühe und gedeihe und Spaß habe. Jede Menge Reisestorys, wenn ich wieder daheim bin. Dein dich liebender Enkel Jacob Als die Uhren von Amsterdam mit ihrem melodischen Glockenspielklang zwei Uhr schlugen, stand Jacob auf der Holztreppe vor dem Haus. Ein kühler, sonniger Tag mit einem leichten Wind, der die schmale Straße entlang‐ wehte. Seine Sorte Wetter, warm genug, um sich ange‐ nehm anzufühlen, kühl genug, um etwas Erfrischendes zu haben. Etliche Leute unterwegs, überwiegend Einhei‐ mische, dem Aussehen nach, aber auch ein paar Touris‐ ten, die wie verlorene Seelen durch die Straße wanderten, in der es keine touristengerechten Läden oder sonstigen Attraktionen gab. Er hörte Tons Stimme seinen Namen rufen. Sie schien von unter ihm zu kommen. Was auch so war, denn jetzt sah er Ton aus der Gracht klettern. »Was machst du denn da?«, sagte Jacob, während Ton ihn an den Schultern fasste und ihm den üblichen Drillings‐ kuss gab, wobei das letzte Drittel seine Lippe streifte, was ihm einen kurzen Anfall freudiger Verwirrung bescherte. »Dich abholen, Jacques«, sagte Ton dann, »mit meiner Überraschung ohne Beine.« Ein Boot natürlich, ein geräumiges Dinghy mit einem schmucken abnehmbaren Außenbordmotor am Heck, ein hübsches kleines Gefährt, tadellos gepflegt, der Holz‐ 377
rumpf von der Farbe frischer Kastanien lackglänzend, die Messingteile blitzblank, die Bank in der Mitte mit wasser‐ festen, tiefblauen Polstern zum Sofa umfunktioniert, am Bug ein dreieckiger Wimpel mit dem Wappen von Amsterdam: blutrot mit einem schwarzen Balken in der Mitte und darauf drei weißen ›X‹, ein Kreuz für jedes der Desaster, die die Stadt in ferner Vergangenheit heimge‐ sucht hatten – Feuer, Pest und Hochwasser. Am Bug stand schwarz auf weiß der Name: Tedje. »Wow!«, sagte Jacob. »Schick. Deins?« »Schön wär’s. Gehört einem reichen Freund von mir. Die beste Art, Mokum zu sehen.« »Mokum?« »So nennen die Amsterdamer die Stadt mit Bijnam. Bei‐ name?« »Spitzname? So wie die Londoner London früher ›The Smoke‹ nannten.« »Ah! Was mir gerade einfällt – du kannst doch schwim‐ men?« »Durch die Gracht würde ich’s vermutlich schaffen.« »Das reicht. Fahren wir.« Ton hatte einen Stadtplan mitgebracht, damit Jacob ihre Route verfolgen konnte. Zuerst tuckerten sie aus dem schmalen Oudezijds Kolk heraus, vorbei am Schreier‐ storen und unter der Prins‐Hendrikkade‐Brücke durch, dann linker Hand in die breite Wasserstraße, vorbei an der Kathedralenfront des Hauptbahnhofs, wo es von Straßenbahnen, Bussen, Fahrrädern und Menschen wim‐ 378
melte, und (wobei Jacob sich in ihrem exklusiven Privat‐ boot mächtig überlegen vorkam) an den Rundfahrt‐ booten, die auf Kundschaft warteten, dann wieder links, in die erste der Spinnennetzgrachten, den Singel, aber schon gleich unter der Brücke nach rechts, in die Bouwersgracht, die, wie Jacob auf dem Stadtplan sah, die oberen Enden sämtlicher Grachten im Westteil der Alt‐ stadt verband, über die Einmündungen der Herengracht und der Keizersgracht hinaus und dann schließlich links in die Prinsengracht. »Meine Lieblingsgracht«, sagte Ton. »Die freundlichste. Eher für normale Menschen. Jede Menge Hausboote hier an diesem Ende und da, siehst du, rechts, die Straßen des Jordaan, wo früher die arbeitende Bevölkerung wohnte, Dienstboten und solche Leute, und wo ich wohne. Ich habe zwei Zimmer im Haus von einem Freund. Und siehst du den Kirchturm dort vorne links ?« »Ja.« »Die Westerkerk.« »Bei Anne Franks Haus.« »Daan hat mir gesagt, dass du so auf sie stehst. Ich dach‐ te, du würdest ihr Haus vielleicht gern vom Wasser aus sehen wollen.« Als sie vorbeischipperten, zog sich die Warteschlange – an diesem nunmehr warmen Nachmittag – in Dreier‐ und Viererreihen etwa hundertfünfzig Meter die Straße ent‐ lang, fast noch über die Kirche hinaus und bis zu dem Platz an der Raadhuisstraat, der belebten großen Straße, über die Jacob, wie er sich jetzt erinnerte, nach seiner 379
Flucht aus Annes Haus hinweggestolpert war. Vor vier Tagen erst. Inzwischen schien ein ganzes, langes Jahr vergangen. »Und da gegenüber«, sagte Ton und zeigte mit dem Fin‐ ger, »ist ein kleiner Laden, wo man den besten frischen Kaffee kaufen kann. Gibt eine Menge tolle kleine Läden hier in der Gegend. Nur für Käse oder nur für Wein oder nur für sonst was. Das ist eins der Dinge, die ich an Amsterdam so liebe, die kleinen Läden überall, wo es alles Mögliche gibt. In einem hier in der Nähe gibt’s zum Beispiel nur Olivenöl. Sie behandeln es so wie Spitzen‐ weine, die man vor dem Kauf probieren muss. Und außerdem ist alles so bunt gemischt. Die teure Kunst‐ galerie neben dem Second‐Hand‐Klamotten‐Shop, die Fahrradwerkstatt neben dem Pornobuchladen, das Ge‐ schäft für handgemachte Schuhe neben einem Laden, wo’s nur spezielle Sorten Metallgegenstände gibt. Ganz Amsterdam, ich meine, dieser Teil hier, das Spinnennetz, ist wie ein großes Dorf, wo man alles kriegt, was man will, und wo immer noch ganz normale Leute leben, nicht nur reiche Leute und Touristen in Hotels oder gar nie‐ mand, wie im Zentrum vieler anderer Großstädte. Eigentlich finde ich sogar, Amsterdam ist gar keine Groß‐ stadt. Es ist eine und es ist keine, wie’s mit so vielem hier ist. Und es ist nicht modern. Ich meine, die Gebäude sind’s nicht. Guck sie dir an. Die meisten wurden schon vor Jahrhunderten gebaut. Aber andererseits ist es eine moderne Großstadt, daran gemessen, wie die Leute leben und was man hier machen kann.« 380
Jacob hatte es sich inzwischen auf der blau gepolsterten Sofabank bequem gemacht, wo er freie Sicht voraus hatte und ihm der Motor nicht direkt ins Ohr dröhnte. Rechts neben ihm steuerte Ton das Boot mithilfe glänzender kleiner Messingbedienungshebel für den Motor und eines Mini‐Messingschiffssteuerrads für das Ruder, das am Rumpf befestigt war. Er ließ sich so genießerisch und relaxed treiben, wie man es nur in einem offenen, kleinen Boot kann, das an einem sonnigen Tag gemächlich durch ruhiges Wasser gleitet. Aber wenn er das sonst je getan hatte, dann immer in ländlicher Umgebung, bei Familien‐ ferienreisen auf den Norfolk Broads oder in einer Bar‐ kasse auf irgendwelchen englischen Wasserstraßen. Noch nie hatte er sich genießerisch und relaxed durch eine Großstadt schippern lassen. Auf dem Land schien es irgendwie natürlich, in die Landschaft passend. Aber das hier war, wie Ton gesagt hatte, weder noch. Nicht Land und nicht Großstadt. Wasser, aber kein Fluss. Ein Weg durch die Stadt, aber keine Straße. Kein Fluss, keine Straße, und doch beides. Er schipperte hier gemächlich dahin, während zu beiden Seiten Autos, Lastwagen, Fahr‐ räder und Fußgänger herumwieselten. Es war, als ob sich zwei Oberflächen des Lebens, zwei Arten von Leben, aneinander rieben: Wasser und Backstein (die Gracht‐ mauern waren aus Backstein, die meisten Gebäude eben‐ falls und selbst die Straßen neben den Grachten waren backsteingepflastert); er und Ton wassermäßig müßig und rechts und links von ihnen das straßenmäßige Gewimmel und Getümmel. Andere Boote zogen an ihnen 381
vorbei: Sightseeing‐Barkassen mit glotzenden Passagie‐ ren, hässliche, kleine, weiße Plastiktretboote, gewöhnlich bemannt mit touristischen Jungmännergespannen, die immer Hallo rufen und gackern mussten, ein patrouil‐ lierendes Wasserpolizeiboot, plumpe Nutzkähne der einen oder anderen Art. Ihre Bugwellen brachten Tedje ins Schaukeln. Hier, ein gutes Stück die Prinsengracht hinunter, auf einem geraden Teil, wo nur wenige Hausboote lagen, schien die Wasserstraße breiter und offener und die Oberfläche glitzerte. Vielleicht lag es ja am Sonnenstand und dem Knallblau des Himmels und dem leichten Wind, der in den leicht herbstlichen Blättern spielte, oder an seinem Blickwinkel, vom Wasser die Schluchtwände der Häuser hinauf, aber zum ersten Mal sah Jacob die Bäume, die die Gracht säumten. Sie rahmten das Wasser zu beiden Seiten ein, manche groß und kräftig, andere klein und zart und jung, wieder andere in mittleren Alters‐ stadien, eine ganze Großfamilie in verschiedenen Grüns vor dem Rot, Braun und Grau der Häuser mit den hohen, rechteckigen Fenstern und den weiß lackierten Fenster‐ rahmen. Die Bäume lockerten die flächigen, nie mehr als vier, fünf Stockwerke hohen Fassaden auf, die von deko‐ rativen, oft weißen oder cremefarbenen Giebeln gekrönt waren. Diese hatten für Jacob anfangs alle ziemlich gleich ausgesehen, bestanden aber in Wirklichkeit, wie er jetzt merkte, aus einer Vielfalt von Wellen‐, Schnörkel‐, Schnecken‐ und Stufenformen und schlichten Schrägen. Sie zierten die Häuser wie Perücken, Hüte und Kapuzen 382
die Köpfe georgianischer Gentlemen. Und diese Schulter an Schulter stehenden Häuser waren, dachte er, wie Bücher auf einem voll gepackten Bord, verschieden dick und auch in der Höhe nicht ganz gleich. Eine Häuser‐ bücherei. Und so schön. Es war, wie wenn man plötzlich jemanden ansah, den man bisher nie richtig wahrge‐ nommen, nie auch nur als ganz nett registriert hatte, und plötzlich sah, dass er/sie umwerfend attraktiv war. (Er oder sie – was von beidem? Trutzige, senkrecht emporragende, backsteinige Männlichkeit und sanft geschwungene, fließende, wasserhafte Weiblichkeit. Tons Wedernoch, Sowohlalsauch, Allesmiteinander und nichts in Amsterdam is wat het lijkt.) »Langsam verstehe ich, was du an dieser Stadt findest«, sagte Jacob. »Sie ist toll.« Er lachte. »Ich könnte mich in sie verlieben. Vielleicht bin ich schon dabei, mich in sie zu verlieben.« »Freut mich. Willkommen im Klub! Ich hab dir ja gesagt, das ist die beste Art, Mokum zu sehen.« »Wohnst du schon immer hier?« »Nein, nein. Aber ich wollte hier wohnen, seit ich die Stadt zum ersten Mal gesehen habe, mit fünf oder sechs. Geboren bin ich in einer Kleinstadt im Süden.« »Deine Eltern leben noch dort?« »Samt meinen zwei Schwestern und fünf Brüdern.« »Ihr seid acht?« »Eine gut katholische Familie.« »Der wie vielte bist du?« »Der Jüngste.« 383
»Was macht dein Vater?« »Außer Kinder in die Welt setzen, meinst du? Er ist Tandarts, Zahnarzt. Und hauptberuflich homophob.« Ton lachte leise und setzte dann hinzu: »Doe maar gewoon, dan doe je al gek genoeg.« »Heißt?« »So was wie: Verhalt dich normal, das ist verrückt genug. Sei nicht anders als die anderen. Alle Leute müssen gleich sein. Die schlimmste Seite unsrer holländischen Mentali‐ tät. Das Lieblingsmotto meines Vaters.« »Und du bist nicht normal?« »Nicht in den Augen meines Vaters. Er wird sich nie ver‐ zeihen, dass er einen Schwulen in die Welt gesetzt hat. Fragt meine Mutter andauernd, was sie bloß so verkehrt gemacht haben, dass ich dabei rausgekommen bin. War genauso glücklich, mich los zu sein, wie ich, endlich weg‐ zukommen. Kann den Gedanken nicht ertragen, dass seine Bekannten mich sehen könnten. So wie er sich an‐ stellt, könnte man meinen, das wäre sein Ende. Er bezahlt mich sogar dafür, dass ich wegbleibe.« »Du meinst, er bezahlt dich dafür, nicht nach Hause zu kommen?« »Nach Hause? Wo ist denn zu Hause? Das hier ist der einzige Ort, wo ich mich je daheim gefühlt habe. Amster‐ dam ist mein Zuhause. Diese paar Straßen und Grachten hier sind mein Zuhause. Und jawohl, mein wunderbarer Vater zahlt einen Haufen Geld dafür, dass ich hier bleibe. Aber na ja, er kann sich’s leisten. Alles hat seinen Preis, oder? Und der Preis dafür, ein Schwulenhasser zu sein, 384
sollte so hoch wie möglich sein.« »Und deine Mutter, was ist mit der?« »Sie besucht mich. Alle drei, vier Wochen verbringen wir das Wochenende zusammen. Haben eine Menge Spaß. Einkaufen. Nachtklubs. Kino. Musik. Wir verstehen uns gut. Immer schon. Sie war auch der erste Mensch, dem ich gesagt habe, dass ich schwul bin.« »Wie alt warst du da?« »Vierzehn.« »Und was hat sie gesagt?« »Genieß es.« »Das ist nicht wahr!« »Wieso nicht?« »Kann mir nicht vorstellen, dass das viele Mütter sagen würden. Nicht in Familien wie deiner jedenfalls.« »Meine Mutter ist nicht wie die meisten Mütter.« »Aber dein Vater –« »Sie liebt ihn. Frag mich nicht warum.« »Ist manchmal schwer zu verstehen, warum die Leute die Leute heiraten, die sie heiraten.« »Heiraten!« »Was dagegen?« »Du nicht?« »Wieso? Wenn’s die richtige Person ist.« »Findest du das nicht seltsam? Dass sich zwei Leute ver‐ sprechen, für den Rest ihres Lebens zusammenzubleiben und niemand anderen zu lieben –« »Nicht so.« »Wie immer so ist.« 385
»Frag mich nicht.« »Ich glaube nicht, dass es ein so gibt. Du? Freunde, ja. Ohne die geht’s nicht. Lover. Aber klar, bitte doch. Jeman‐ den zum Zusammenleben, solange es gut ist, solange es funktioniert. Okay. Aber für immer? Niemals. Nichts ist für immer.« In diesem Moment fuhren sie unter einer Brücke durch, die Jacob laut Stadtplan nicht zum ersten Mal sah und hinter der sie an dem Haus vorbeikommen mussten, wo er sich vor dem Regen verkrochen und Alma ihn gerettet hatte. »Kannst du mal da rüberfahren und kurz anhalten?«, sagte er und erklärte Ton die Sache mit Alma. Das Haus auf der anderen Grachtseite war leicht zu er‐ kennen. Seine Front und die daneben waren die einzigen mit Vordereingangsstufen. Alle anderen Häuser hatten die Treppen außen an der Seite. Und dann die üppige Blumenpracht um Almas ebenerdige Fenster‐Türen. »Nett, an diesem Ende der Gracht zu wohnen«, sagte Ton. »Und teuer.« »Ich schätze, ich hätte Alma das Geld zurückgeben und mich noch mal bei ihr bedanken sollen.« »Und? Tu’s doch jetzt. Und du solltest ihr was mitbrin‐ gen.« »Ja.« »Wie wär’s mit Pralinen?« »Klingt gut.« »Komm mit.« 386
Sie vertäuten das Boot und gingen zu Fuß in die Vijzel‐ gracht, vorbei an dem Café, in das Alma ihn geführt hatte. »Panini«, sagte Ton. »Das kennt jeder.« Und ein Schreibwarengeschäft mit einem Postkartenstän‐ der davor. »Warte mal«, sagte Jacob. »Ich muss eine Karte für meine Eltern kaufen und sie dann gleich mit den Briefen einwer‐ fen.« Es war leicht. Die meisten Karten zeigten die üblichen Stadtansichten. Aber eine stach Jacob ins Auge. Die Rück‐ ansicht zweier Amsterdamer Polizeibeamter, hemdsärm‐ lig bei schönem Wetter. Der eine Polizist war eine Polizis‐ tin, eine beleibte Frau, deren Körperfülle noch durch den Gürtel betont wurde. Sie war behängt mit Pistolenholster, Sprechfunkgerät und sonstigem Polizeizubehör. Ihr Kol‐ lege zielte heimlich mit gestrecktem Mittelfinger auf ihr Hinterteil. Briefmarken gab es hier auch. Er schrieb eine Kurzbot‐ schaft auf die Karte. Alles klar. Amüsiere mich. Werde bes‐ tens betreut. Hoffe, bei euch auch alles okay. Liebe Grüße, Jacob. Ton hatte inzwischen gleich drüben an der Prinsengracht einen Briefkasten entdeckt. Dann ein Gebäck‐ und Pralinenladen, Holtkamp, die Art Geschäft, die Sarah begeistert hätte. Ein bisschen altmo‐ disch, die Verkäuferinnen in schwarzen, weiß paspelier‐ ten Kleidern, sehr höflich. Kaum Platz für mehr als vier, fünf Kunden. Ton erklärte auf Niederländisch, was er wollte. Eine luxuriöse kleine Schachtel, mit Blumendekor und Bändchen. Ein Sortiment erlesener Pralinen, manche 387
ganz dunkelbraun, manche milchighell, manche weiß, die einen quadratisch, die anderen dreieckig, eine kugelför‐ mig, eine mit einem Schnitzchen von einer glasierten Frucht darauf, eine limonengrün, eine knallorange, eine leuchtend gelb. Insgesamt fünfzehn. Und ein Preis, für den man locker ein Essen im Panini gekriegt hätte und der, als er auf der Kasse aufleuchtete, Jacob erst mal den Atem stocken ließ. »Zu viel?«, fragte Ton grinsend. Jacob schüttelte den Kopf. »Was soll’s. Sie hat es ver‐ dient.« Sie gingen zum Boot zurück und fuhren über die Gracht, zu einer Anlegestelle gleich bei Almas Haus. Die Luft war jetzt feucht, der Himmel dunstverhangen. »Ich warte hier«, sagte Ton. »Holländer besuchen Leute nicht unangemeldet. Na ja, jedenfalls keine alten Leute. Aber wenn du kommst, wird sie sich bestimmt freuen.« Und sie freute sich tatsächlich. Jacob langte durch das Schutzgitter und klopfte an die Fenster‐Tür ihrer Woh‐ nung. Als Alma aufmachte, zog sich ein breites Lächeln über ihr Gesicht. »Ach! Sie sind’s. Schon wieder bestohlen worden?« Er lachte. Manche Leute schafften es, dass man sich wohl‐ fühlte, sobald man sie sah. »Kam nur gerade vorbei«, sagte er und streckte ihr die Pralinenschachtel hin, »und wollte Ihnen das hier brin‐ gen, als Dank für Ihre Hilfe.« »Das war doch nicht nötig«, sagte sie und nahm die 388
Pralinen sichtlich erfreut entgegen. »Sie waren bei Holt‐ kamp. Kommen Sie rein, kommen Sie rein.« »Nein, danke. Ich bin mit einem Freund hier. Mit dem Boot. Er wartet auf mich. Er zeigt mir die Grachten.« »Sie haben einen Freund gefunden? Gut. Und haben Sie sich von Ihrem Schockerlebnis erholt?« »Mir geht’s gut. Ich wohne bei Daan. Sie wissen doch? Sie haben ihn für mich angerufen.« »Ich weiß. Warten Sie noch einen Moment.« Sie verschwand in den Tiefen ihrer Höhle. Jacob bückte sich, um etwas von ihrer Wohnung zu sehen. Ein kleiner quadratischer Raum mit einem hellen, glänzenden Holz‐ fußboden, Bücherregale an den Wänden, eine große TV‐ und Stereoanlage, ein antiker runder Esstisch aus schö‐ nem dunklem Holz, ein bequemer Sessel vor einem nach‐ gebauten bauchigen Gusseisenofen. Ein hübsches, ordent‐ liches, gemütliches Nest. Als Alma wiederkam, reichte sie ihm eine Papiertüte, die vier von den Pralinen enthielt. »Für Sie und Ihren Freund, damit wir alle ein kleines biss‐ chen davon haben.« »Aber die sind für Sie.« »Ich könnte sie nicht alle essen. Das wäre zu gierig. Ich möchte, dass Sie auch ein paar versuchen.« »Ach, fast hätte ich’s vergessen«, sagte Jacob und kramte in seiner Jeanstasche. »Das Geld, das Sie mir geliehen haben.« »Nein. Das war doch nichts. Wenn Sie’s nicht brauchen, geben Sie’s jemandem, der es braucht. Dem Jungen mit 389
der roten Mütze vielleicht.« Sie lächelten sich an. »Und«, sagte sie, »bevor Sie nach England zurückfliegen, kommen Sie doch noch mal auf einen Kaffee vorbei. Ich möchte gern von Ihren Abenteuern hören. Ich schreibe Ihnen meine Telefonnummer auf, dann können Sie vorher anrufen.« Er fühlte sich geehrt. »Danke«, sagte er. »Jetzt gehe ich besser.« »Wiedersehen. Viel Spaß.« Einem spontanen Impuls folgend, beugte er sich zu ihr hinunter und als sie ihm, fast ohne zu zögern, ihre Wange darbot, gab er ihr den Standard‐Drillingskuss, so formell, wie er es in dieser seltsamen Haltung konnte, tief ge‐ bückt, die Hände am Fensterrahmen, um sich festzuhal‐ ten. Aber er schaffte es unfallfrei und war sehr zufrieden mit sich. Nachdem er zu Ton zurückgekehrt war, tuckerten sie so langsam wie möglich dahin, sinnierten und grübelten, witzelten und kokettierten und fügten ihrer immer um‐ fangreicher werdenden Anthologie von Geschichten aus ihrer beider Leben neue Beiträge hinzu. Und saßen ab und zu auch einfach nur schweigend da, wobei Ton Jacob ansah und Jacob das Panorama studierte. Von der Prinsengracht drifteten sie in der warmen Nach‐ mittagsluft via Reguliersgracht in die Keizersgracht, von dort wieder über die Bouwersgracht in die Herengracht, diese hinunter und in die Amstel und nach einer kleinen 390
Tour auf dem Fluss wieder in den Singel und zurück zu Daans Haus. »Wir haben durch das Labyrinth gefunden«, sagte Jacob, als sie wieder in den Oudezijds Kolk einfuhren. »Das Spinnennetz bewältigt«, sagte Ton. Sie lachten beide. Gab es etwas Schöneres, dachte Jacob, als jemanden ken‐ nen zu lernen, bei dem man die ganze Zeit das Gefühl hatte ihn schon zu kennen, so als verbände einen in einem Alternativleben immer schon die beste aller besten Freundschaften.
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GEERTRUI Zwei Monate nach Jacobs Tod wusste ich sicher, dass ich von ihm schwanger war. Ich sagte es niemandem. Das hätte unerträgliche Folgen gehabt. Frau Wesseling hätte mich mit Sicherheit aus dem Haus gewiesen. Und das Kind wäre mir gleich nach der Geburt weggenommen worden. Ihr könnt heute nicht mehr wissen, ja, euch vermutlich nicht einmal mehr vorstellen, was für eine Schande es da‐ mals für eine Frau war, ein uneheliches Kind zu erwarten. Das galt als eine Sünde schlimmster Art. Wenn die Frau katholisch war, wurde sie normalerweise in ein von Non‐ nen geleitetes Heim geschickt. Dort musste sie ihre Sün‐ den durch Leiden büßen und das Baby wurde ihr sofort nach der Geburt weggenommen. Die nächsten paar Tage brachte man es ihr zum Stillen. Manchmal wurden ihr dabei sogar die Augen verbunden, damit sie das Kind nicht sah, und man band ihr die Hände ans Bett, damit sie es nicht berühren konnte. Dann hielt ihr eine Nonne das Kind zum Trinken an die Brust. Nur eine Mutter kann wirklich ermessen, wie grausam das war. Sobald wie möglich wurde das Kind zur Adoption freigegeben, oder es kam in ein Waisenhaus, wo es ein armseliges Leben erwartete. Es würde für den Rest seines Lebens mit dem 393
Fluch, dem Stigma der Unehelichkeit behaftet sein. Die Männer, die Väter, traf diese Schande natürlich nicht. In keinem anderen Fall galt so wörtlich, dass die Sünden der Väter an den Kindern heimgesucht werden. Nur sollte man hinzufügen: und an deren Müttern. Protestantische Frauen erwartete ein weniger rohes, aber letztlich nicht minder grausames Schicksal. Oft wurden sie zu Verwandten oder Freunden geschickt, um aus dem Blickfeld klatschsüchtiger Nachbarn zu sein. Nach der Geburt wurde das Kind, wenn es nicht zur Adoption frei‐ gegeben wurde oder ins Waisenhaus kam, von einer Ver‐ wandten der Mutter als ihres aufgezogen. Ich habe Leute gekannt, die erst als Erwachsene heraus‐ fanden, dass die Menschen, die sie für ihre Eltern gehal‐ ten hatten, in Wirklichkeit ihre Großeltern waren, oder dass eine vermeintliche Tante oder ältere Schwester tat‐ sächlich die eigene Mutter war. Die Alternative, auf die sich sehr viel mehr Frauen ein‐ ließen, als wir jemals wissen werden, war entweder eine selbst herbeigeführte Fehlgeburt oder eine illegale Abtrei‐ bung samt der damit verbundenen Lebensgefahr, Obszö‐ nität und Demütigung und dem physischen, emotionalen, psychischen und selbst spirituellen Trauma, das sie be‐ deutete. Diejenigen, die diese Qual überlebten, trugen für den Rest ihres Lebens wie eine unheilbare Krankheit die Schuldgefühle und Selbstachtungsprobleme in sich, die ihnen das Schicksal und ihre Mitmenschen aufgebürdet hatten. Für mich steht nun einmal fest, dass keine Gesellschaft, 394
Nation oder Religion, die einen solchen Moralkodex hochhält und ihren Mitgliedern aufzwingt, die Bezeich‐ nung »zivilisiert« oder – sofern sie sich nicht ändert – irgendeine Form der Unterordnung verdient hat. Selbst in normalen Friedenszeiten hätte ich mich einer sol‐ chen Behandlung nicht ausgesetzt. Aber in dieser Situa‐ tion, gefangen im Chaos der letzten Wochen vor der Befreiung, ohne Möglichkeit, meine Eltern zu erreichen, ohne einen Arzt, dem ich hätte vertrauen können, ohne Freunde in der Nähe, die mir hätten helfen können, und vor Trauer um Jacob selbst ohne rechten Lebenswillen, verfiel ich in die ganze Verzweiflung und Panik der Ver‐ lorenen, Verlassenen und Hilflosen. Und weil es Jacobs Baby war, war mir klar, dass ich es niemals anderen Men‐ schen überlassen oder dem vorgeburtlichen Tod preisge‐ ben würde. Es war alles, was mir jetzt noch von ihm blieb. Und in den Zeiten tiefster Verzweiflung war es dieses Kind, dieses Stück von ihm, für das ich weiterlebte, statt mich zu ihm ins Grab zu flüchten. In meinem Schmerz brachte ich es nicht über mich, das Versteck, wo wir unser »Eheleben« geführt hatten, auszu‐ räumen und ich flehte Herrn Wesseling an, nicht daran zu rühren, bis ich stark genug wäre, es selbst anzugehen. Er ließ sich darauf ein, vermutlich aus Angst, mein Unglück sonst noch zu verschlimmern. Und so saß ich dort, manchmal stundenlang, in einer Art Wachkoma, hielt kleine Gegenstände in der Hand, die Jacob benutzt hatte, seinen Trinkbecher, sein Essbesteck, seinen Rasierpinsel, und las die Gedichte, die wir so geliebt hatten. Und 395
schrieb ihm lange Briefe, als ob er nur auf Reisen wäre und irgendwann wiederkommen und wissen wollen wür‐ de, was ich in der Zwischenzeit getan und gedacht hatte, und ich ihm die Briefe dann geben könnte. So war, als ich schließlich von der Schwangerschaft wuss‐ te, das Versteck für mich bereits ein Zufluchtsort gewor‐ den. Ein sicherer Ort und tatsächlich eine Art heiliger Ort, ein Schrein meiner verlorenen Liebe, wo ich den Gott, von dem ich inzwischen wusste, dass er kein Gott war, sondern der unbe‐nennbare, unerkennbare Quell unseres gesamten fragilen Seins, um Hilfe und Trost anrief. Jetzt musste ich außer meinem Schmerz, den ich von meiner ganzen Natur her nur für mich allein ausdrücken konnte (ich hasse die öffentliche Zurschaustellung priva‐ ter Gefühle), auch noch meinen Zustand vor den beiden Menschen verstecken, die ich Tag für Tag sah, die mir Essen und Obdach gaben und von denen ich in allem abhängig war. Und das Versteck war der einzige Ort auf dem Hof, wo ich ich selbst sein konnte. Hier konnte ich mich gehen lassen und meine Gefühle zeigen, konnte ich weinen oder düsteren Gedanken nachhängen oder mich auch einfach auf dem Bett – Jacobs Bett, in dem noch sein Geruch hing, unserem Bett – zusammenrollen, in dem sicheren Wissen, dass mich niemand beobachtete und nie‐ mand unerwartet hereinplatzen würde. So kostbar wurde mir dieser Ort damals, dass von all den Räumen, die ich in meinem Leben bewohnt habe, dies derjenige ist, an den ich mit den wärmsten Gefühlen zurückdenke, und der einzige, von dem es mir Leid tut, dass ich ihn nicht noch 396
einmal wiedersehen kann – dieses roh zusammengezim‐ merte, kalte, kaum möblierte, heuduftende Kuhstallver‐ steck. Eine weitere englische Redensart, die mein Vater und ich gelernt hatten: Die dunkelste Stunde ist die vor dem Hell‐ werden. So war es auch für mich. An einem trübseligen Abend im März 1945 saß ich im Versteck und grübelte über die Auswegslosigkeit meiner Lage nach, als ich plötzlich jemanden die Leiter herauf‐ steigen hörte. Mein erster Gedanke war: Jacob. Aber ich wusste noch im selben Moment, dass das nicht sein konnte, und fragte mich, wer es war, da Frau Wesseling jetzt nie mehr in den Kuhstall kam und Herr Wesseling, wenn er etwas von mir wollte, von unten nach mir rief. Noch ehe ich mich aufgerafft hatte hinauszugehen und nachzusehen, stand da schon Dirk im Eingang des Ver‐ stecks, dürftig erhellt von der einen Kerze in dem Ein‐ machglas auf dem Tisch, das Gesicht so lieb und vertraut und doch so fremd. Geschehnisse trennen Menschen ebenso wie Zeit und Raum. Was dem einen in Abwesen‐ heit des anderen widerfahren ist und umgekehrt, macht sie zu Fremden. In den paar Wochen, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten, hatten wir beide Dinge erlebt, die uns verändert hatten. Wir waren beide keine Jugend‐ lichen mehr. Wir waren in eine neue, erwachsene Lebens‐ phase eingetreten. Und wir merkten es beide, sobald wir uns ansahen, noch ehe ein Wort fiel. Und so war unsere Begrüßung stiller, als sie es vorher gewesen wäre, ein 397
bisschen vorsichtig, aber auch zärtlicher. Ich weiß es noch ganz genau: Als wir uns umarmten, sag‐ te ich aufrichtig erleichtert, weil da plötzlich ein Freund in der Not auftauchte: »Du bist wieder da!« Und Dirk sagte: »Ja, ich bin wieder da.« (Was sagt man doch in solchen Momenten für Plattheiten!) Und als ich ihn losließ und einen Schritt zurücktrat und fragte: »Ist Henk mit dir zurückgekommen?«, antwortete Dirk: »Nein. Ich dachte, er wäre hier.« Sie hatten zusammen etwas für den Wider‐ stand gemacht. Genaueres, sagte Dirk, werde er mir später erzählen. Es war schief gegangen. Sie waren um ihr Leben gerannt, hatten beschlossen, sich getrennt zum Hof durchzuschlagen. Erst Monate später sollten wir erfahren, dass Henk verhaftet und erschossen worden war. In dieser Nacht jedoch und die ganze Zeit, bis wir die Wahr‐ heit erfuhren, hielten wir die Hoffnung aufrecht, indem wir einander versicherten, dass er sich bestimmt irgend‐ wo versteckt halte, dass Henk ein Überlebenskünstler sei und dass er zurückkommen werde, sobald der Krieg vorbei sei. Ich habe es nie wirklich geglaubt. Aber in solchen Zeiten tut man so, auch vor sich selbst, weil man sonst nicht leben könnte. Wie einer eurer Dichter sagt: »Der Mensch verträgt nicht sehr viel Wirklichkeit.« Dann setzten wir uns an den Tisch, wie Jacob und ich so oft dort gesessen hatten. Dirk erklärte, dass er seine Eltern schon gesehen hatte. »Aber, Geertrui«, sagte er, »was ist denn mit Mama los?« Statt ihn, wie er erwartet hatte, freudig zu begrüßen, zu verhätscheln und zu behandeln, als sei er noch ein kleiner Junge, war sie kühl, ja, fast 398
schon bitter gewesen. »Aha, du hast also beschlossen, wieder zurückzukommen?«, hatte sie gesagt. »Du lässt uns im Stich, wenn wir dich am dringendsten brauchen, und jetzt kommst du wieder, weil du in Schwierigkeiten steckst oder etwas brauchst, nicht wahr?« Er hatte ver‐ sucht, es ihr zu erklären, aber sie hatte gar nicht zugehört. Während er noch geredet hatte, war sie ans Harmonium gegangen und hatte zu spielen begonnen. Und dann benutzte Dirk die Worte, die ich so oft innerlich gesagt hatte, wenn ich sie hatte spielen sehen: »Es war, als ob sie gar nicht mehr bei uns wäre, sondern in einer anderen Welt.« Für mich war immer schon offensichtlich gewesen, dass Dirk ein Muttersöhnchen war. Das war auch einer der Gründe, weshalb ich ihn als Mann nicht recht ernst genommen hatte. Ich glaube, er selbst hatte es vorher nicht begriffen. Aber die Verzweiflung, in die ihn das Verhalten seiner Mutter jetzt stürzte, machte es auch ihm klar. Ich versuchte ihn zu trösten, indem ich sagte, meiner Meinung nach habe seine Mutter einfach einen Nerven‐ zusammenbruch. Es geschähen so schreckliche Dinge. Wenn der Krieg erst vorbei sei, werde sie sich wieder erholen und dann werde er seine Mama wiederhaben. Als Dirk sich wieder gefasst hatte, fragte er nach Jacob. Sein Vater hatte ihm erzählt, was passiert war, aber nur ganz knapp. Er wollte von mir mehr wissen. Mir kamen schon die Tränen, als Dirk nur Jacobs Namen aussprach. Ich hatte mit niemandem über uns oder über Jacobs Tod 399
gesprochen, weil da niemand zum Reden gewesen war. Es war alles in mir verkorkt und sobald der Korken gezo‐ gen war, sprudelte alles aus mir heraus wie Sekt, wenn man die Flasche vor dem Öffnen geschüttelt hat. Was haben wir Menschen doch für ein Bedürfnis, Ge‐ ständnisse abzulegen. Vor einem Priester, einem Freund, einem Psychoanalytiker, einem Verwandten, einem Feind, ja, sogar einem Folterer, wenn niemand anders da ist; es kommt nicht drauf an, solange wir nur aussprechen können, was uns innerlich bewegt. Selbst die Verschwie‐ gensten unter uns tun es, auch wenn sie sich vielleicht nur einem Tagebuch anvertrauen. Und beim Lesen von Ge‐ schichten, Romanen, Gedichten, vor allem Gedichten, habe ich so oft gedacht, dass Literatur eigentlich nichts weiter ist als die Geständnisse der Verfasser, die deren Kunst in etwas umgewandelt hat, das für uns alle Geständnis ablegt. Ja, wenn ich meine lebenslange Lei‐ denschaft für das Lesen betrachte, diese eine Beschäfti‐ gung, die mich immer über Wasser gehalten und mir das größte und dauerhafteste Vergnügen beschert hat, dann denke ich, dass das der Grund ist, warum mir das Lesen so viel bedeutet hat. Die wichtigsten Bücher und Schrift‐ steller sind für mich die, die zu mir sprechen und für mich sprechen, die all das aussprechen, was ich am dringlichsten als mein eigenes Geständnis hören muss. Aber das nur nebenbei. Ich wollte dir nur erklären, dass ich Dirk an diesem Abend alles erzählte, auch dass ich von Jacob schwanger war. Er hörte zu, ohne mich zu unterbrechen, ohne sich zu rühren, ohne irgendwelche 400
Gefühle zu zeigen. Du musst bedenken, dass das der Mann war, der mir erst wenige Wochen zuvor seine Liebe gestanden hatte und mich gebeten hatte, ihn zu heiraten. Meine Geschichte muss ihm schrecklich wehgetan haben. Ich werde ihm immer dankbar dafür sein, dass er mir zuhörte, dass er ein Mitgefühl bewies, wie man es selbst bei einem Freund, der keinen solchen Grund hätte, ver‐ letzt zu sein, nur selten finden würde. Als ich fertig war, herrschte Schweigen. Ich erinnere mich an das Husten einer Kuh unter uns. An das Donnern eines schweren Geschützes in gar nicht so weiter Ferne. An das Flackern und Zischen, als ein Wasserbläschen aus dem unreinen Kriegskerzenwachs in die Flamme der Kerze neben uns auf dem Tisch quoll. Es wäre ein Klischee zu sagen, dass die Welt stillstand oder mein Herz stehen blieb. Es braucht schon einen dieser großen Schriftsteller, von denen ich eben sprach, um für einen solchen Moment neue, unverbrauchte Worte zu finden. Aber nun ja, ich bin Leserin, nicht Schriftstellerin, also musst du dich mit dem begnügen, was ich in diesen mei‐ nen letzten, müden Tagen noch an Worten aufbringen kann. Vielleicht ist das richtige Wort an dieser Stelle in unserer Sprache Gaping, in deiner so etwas wie »Kluft« oder »Lücke«. Alles, was ich sagen kann, ist, dass etwas im Raum schwebte und dass Dirk und ich ebenfalls in der Luft hingen und warteten und herauszukriegen versuch‐ ten, was es war, was es bedeutete, während wir im Leeren baumelten. Es war Dirk, mein lieber, guter, verlässlicher Dirk, der 401
schließlich das Schweigen brach. »Willst du mich heiraten?«, sagte er. Ich starrte ihn fassungslos an. »Bitte«, sagte ich, »mach keine Witze. Nicht jetzt. Und darüber gar nie.« Er streckte die Hand über den Tisch, wischte mir die Trä‐ nen vom Gesicht, nahm meine Hand von meinem Mund, hielt sie in seiner und sagte noch mal: »Willst du mich heiraten?« Ich sagte: »Das kann nicht dein Ernst sein.« »Doch«, sagte er. »Warum?«, sagte ich. »Nach allem, was passiert ist.« »Zwei Bedingungen«, sagte er auf seine typische Art, so sachlich und geschäftsmäßig. »Erstens, du sagst nieman‐ dem, dass das Kind von Jacob ist. Und die zweite Bedin‐ gung ist, dass unser gemeinsames Leben heute Nacht beginnt.« Ich sah ihm in die Augen, diesem Mann, den ich seit meiner Kindheit kannte, mit seiner aufrechten, geradlini‐ gen holländischen Art, diesem Mann, der der engste Freund meines geliebten Bruders war, und während ich ihn ansah, erfuhr ich etwas über mich, was ich bisher nicht gewusst hatte und was mir gar nicht lieb war. Ich konnte berechnend sein. Hinter meinen Emotionen – wel‐ cher Art und welcher Intensität auch immer – war stets ein Teil von mir, der leidenschaftslos und unbeteiligt blieb und wie ein Mathematiker auszurechnen versuchte, was in der jeweiligen Situation das Beste für mich war. Das war das erste Mal, dass ich mir dessen bewusst war. 402
Ich bezog sogar noch etwas anderes in das Kalkül ein: dass Dirk mich genauso brauchte wie ich ihn. Wegen der Besitz ergreifenden Art seiner Mutter. Das hatte er an diesem Abend über sich gelernt, so wie mir klar gewor‐ den war, wie berechnend ich sein konnte. Er musste sich von ihr losmachen und dabei konnte ich ihm helfen. Also sah das Ergebnis so aus: Ich mochte ihn, war gern mit ihm zusammen, er war tüchtig und stark und er liebte mich sehr, viel mehr, als ich ihn je würde lieben können. Dennoch hielt mich der Teil von mir, den ich in späteren Jahren Mevrouwtje Uitgekookt zu nennen pflegte, davon ab, sofort Ja zu sagen. (Uitgekookt heißt »ausgekocht«, und wenn wir an ein Wort die Nachsilbe tje anhängen, ist das die Verkleinerungsform, was heißt, ich nannte mein berechnendes Selbst »die kleine Frau Ausgekocht«. Mevrouwtje Smartass sagt mein Enkel Daan, der mehr amerikanische Fernsehserien gesehen hat, als ihm und seinem Englisch gut tut.) Du musst nach außen hin ein bisschen zögern, erklärte mir Mevrouwtje Uitgekookt. Es ist nicht klug, dich so schnell und leicht darauf einzu‐ lassen. Dieser Mann wird dich nur noch mehr zu schätzen wissen, wenn du deine Würde wahrst und auch von ihm verlangst, dass er’s tut. Also dankte ich Dirk, sagte ihm, dass mich sein Antrag sehr überrasche und glücklich mache (was beides stimmte und kein Theater war), dass ich mich aber nicht auf der Stelle entscheiden könne (was nicht stimmte, ich wusste, ich würde Ja sagen). Ob es ihm recht wäre, wenn wir es uns beide noch mal vierund‐ zwanzig Stunden überlegten? Schließlich sei es ein sehr 403
großer Schritt für uns beide. Besonders für ihn, da er ein Kind annehmen würde, das nicht seins sei, und eine Frau, von der er wisse, dass er nicht ihre erste Wahl gewesen sei. Dirk war einverstanden. Und ich sah, dass ihm das, was ich gesagt hatte, gefiel. Erst als wir schon eine Weile ver‐ heiratet waren, fand ich heraus, dass Dirk immer schon von Mevrouwtje Uitgekookt gewusst hatte, so wie ich immer schon gewusst hatte, dass er ein großes, geschäfts‐ männisches Muttersöhnchen war. Er sagte, das gehöre zu den Dingen, die ihm an mir am besten gefallen hätten. »Ich hätte nie ein Frau geheiratet, die nicht scherpzinnig ist.« (Das heißt scharfsinnig, schlau.) Für ihn war das das größte Kompliment, das er mir machen konnte. Ich hoffe, lieber Jacob, du verstehst allmählich, warum wir all die Jahre unserer Ehe so gut miteinander ausgekommen sind. Achtundvierzig Jahre haben wir stets versucht, aufrichtig zueinander zu sein, und außerdem durchschauten wir einander sowieso so gründlich, dass wir uns gar nichts hätten vormachen können. Am nächsten Abend trafen wir uns im Versteck. Mevrouwtje Uitgekookt hatte Überstunden gemacht. Ja, erklärte ich Dirk, ich würde ihn heiraten, mit Freuden und voller Dankbarkeit. Aber auch ich hätte da ein paar Bedingungen. Die erste war, dass er bis zum Ende des Kriegs auf dem Hof blieb und nicht wieder wegging, um zu kämpfen oder für den Widerstand zu arbeiten. Nach allem, was ich 404
an Trennung und Verlust erlebt hätte, sei jetzt die Grenze erreicht. Wenn er mein Ehemann werden wolle, müsse er bei mir bleiben. Meine zweite Bedingung war, dass er versprach, was immer er nach Kriegsende tun werde, nicht von mir zu verlangen, hier auf dem Hof zu leben. Ich wusste, eine Bäuerin würde ich nie sein können. Die dritte Bedingung. Ich könne verstehen, sagte ich, warum er mit mir schlafen wolle. Dann würden wir auf‐ richtig sagen können, wir hätten miteinander geschlafen. Wir bräuchten ja nicht zu sagen, wann genau. Die Leute würden davon ausgehen, dass das Kind von ihm sei. Wir würden gar nichts dazu sagen müssen. Also, ja, ich würde mit ihm ins Bett gehen, würde im wortwörtlichen Sinn mit ihm schlafen. Aber mehr nicht. Mehr sei nicht mög‐ lich, so lange das Kind nicht geboren sei, es wäre Verrat an meinen Gefühlen Jacob und dem Kind gegenüber. Und, wie mir schien, auch an ihm. Außerdem, fügte ich hinzu, könne ich nicht mit ihm hier im Versteck ins Bett gehen, weil das für mich immer der Ort sein werde, wo ich mit Jacob gelebt hätte. Also sei meine dritte Bedin‐ gung, dass er mir jetzt helfen müsse, alles, was mit Jacob verbunden sei, zusammenzupacken und dann das Ver‐ steck ganz abzubauen. Diesen Teil meines Lebens müss‐ ten wir beide gemeinsam auflösen, ehe ich mein Leben mit ihm beginnen könne. Ich wisse, sagte ich, dass ich nicht in der Position sei, ihm irgendwelche Bedingungen aufzuerlegen, aber nur wenn er diese drei akzeptiere, könne ich ihn heiraten, denn 405
wenn er sie nicht akzeptiere, sei für mich klar, dass wir einander nie respektieren und nie miteinander glücklich werden könnten. Danach redeten wir noch lange, drei, vier Stunden, schätze ich. Nicht, weil Dirk Einwände erhoben oder meine Bedingungen nicht akzeptiert hätte. Er akzeptierte sie sofort. Wir redeten so lange, weil es so viele Zukunftsfragen zu erörtern gab. Und da wir nun mal beide gern redeten, wie hätte es anders sein sollen! Darüber will ich dir nichts erzählen, das hat nichts mit dem zu tun, was du über mich und deinen Großvater wissen musst. Aber du kannst es dir sicher vorstellen. Und wir hätten die ganze Nacht so weitermachen kön‐ nen, aber wenn wir Dirks Bedingung, in dieser Nacht noch zusammen zu schlafen, und meine Bedingung, das Versteck aufzulösen, erfüllen wollten, dann mussten wir aufhören und an die Arbeit gehen. Diese Aufgabe nahm weitere zwei, drei Stunden in Anspruch. (Immer geht das Zerstören so viel schneller als das Aufbauen. Dirk und Henk hatten zwei volle Tage gebraucht, um das Versteck zu bauen, ganz zu schweigen von der Zeit, die es gekostet hatte, es so komfortabel wie möglich einzurichten.) Als das getan war, gingen wir ins Haus, um uns vorzu‐ bereiten. Frau Wesseling war schon im Bett. Herr Wesse‐ ling saß am Feuer, obwohl seine übliche Zubettgehzeit längst vorbei war. Er tat, als döste er, aber mir war klar, dass er in Wirklichkeit darauf wartete, Dirk noch einmal sehen zu können. Ich ging in mein Zimmer. Die beiden Männer saßen noch eine Stunde zusammen und redeten. (Ich horchte ungeduldig auf das Schlagen der alten Stand‐ 406
uhr.) Dann ihre Schritte auf der Treppe. Ihr letztes geflüs‐ tertes Gute Nacht. Ihre Schlafzimmertüren. Und erneute Warterei, während die Uhr zwei weitere Viertelstunden schlug. Ich lag die ganze Zeit im Bett, der Wärme wegen. Es war eine schrecklich kalte Nacht. Und wenn man ungeduldig auf jemanden wartet, ist man ja oft angespannt und ärger‐ lich, bis man dann irgendwann denkt, dass derjenige nicht mehr kommt, und schließlich wegdöst. Genauso ging es mir an jenem Abend. Ich weiß nur noch, dass plötzlich Dirk sanft an meiner Schulter rüttelte. Ich fuhr erschrocken hoch. Das Bett knarzte laut genug, um das ganze Haus zu wecken. Wir mussten uns das Kichern verkneifen. Wir begannen unser gemeinsames Leben so, wie wir es zum Glück auch fortführen konnten: lachend. Dirk und ich wurden zwei Wochen später von unserem Bürgermeister, auf den wir uns verlassen konnten, heim‐ lich getraut. Es musste heimlich passieren, denn sonst wäre Dirk von den Deutschen geholt und zur Zwangs‐ arbeit geschickt worden. Bald darauf, im April, wurde unser Teil der Niederlande befreit. Jacobs Kind, meine Tochter Tessel, wurde im August geboren. Du kennst sie als Mevrouw van Riet, Daans Mutter. Man könnte in gewisser Weise sagen, dass sie deine holländische Mutter ist. Und Daan dein holländischer Bruder. Jacobs Leich‐ nam wurde später im selben Jahr exhumiert und auf dem Soldatenfriedhof von Oosterbeek beigesetzt. Ich habe meinem Mann Dirk gegenüber Wort gehalten 407
und, solange er lebte, keiner Menschenseele erzählt, wer Tessels wirklicher Vater war. Doch als er vor zwei Jahren starb, fand ich, dass Tessel es wissen sollte. Das war nicht leicht für sie. Aber ich habe immer schon geglaubt, dass es besser ist, die Wahrheit zu kennen, auch wenn sie noch so hart und schmerzhaft ist. Ich wollte, dass meine Toch‐ ter ihre wahre Geschichte kennt. Es ist wichtig, wo man herkommt, wo man seine Reise begonnen hat, auch wenn man unterwegs von jemand anderem aufgezogen wurde. So wie es wichtig ist, den eigenen Platz in der Welt zu kennen. Außerdem ist da, wie gesagt, dieser menschliche Drang, Geständnisse abzulegen, der Wunsch, unsere ge‐ heimsten Geschichten zu erzählen. Und eine Lüge, auch wenn es nur eine Lüge durch Verschweigen ist, eine Unterlassungslüge, wie unsere katholischen Nachbarn sagen würden, kann einem die Seele zerfressen wie Krebs. Körperlichen Krebs zu haben, reicht mir. Ich will die Krebsgeschwülste einer unausgesprochenen Wahrheit von meinem Gewissen haben, ehe ich sterbe. Da war noch jemand, dem ich ein Geständnis machen musste. Deine Großmutter Sarah. Natürlich wusste ich, dass ich mich ihr gegenüber unrecht verhalten hatte. Es entschuldigt nichts zu sagen, dass wir jung waren, dass es an den Strapazen und Wirren des Krieges lag oder dass wir vorhatten, ihr gegenüber so offen und behutsam wie irgend möglich zu sein, sobald der Krieg vorbei wäre. Das alles war so. Aber das spricht uns nicht frei. – Als ich deine Großmutter hierher einlud, hatte ich vor, es ihr zu erzählen. Ich habe ihr nichts von dem gesagt, was du, 408
Jacob, jetzt über meine Krankheit und meinen bevor‐ stehenden Tod weißt. Dann schrieb sie zurück, dass sie nicht kommen könne und ob ich nicht stattdessen dich einladen könne. Jetzt, da du groß genug seist, fände sie es gut, wenn du die Möglichkeit hättest, Jacobs Grab zu be‐ suchen und mich zu treffen, um die Geschichte der letz‐ ten Tage deines Großvaters direkt, wie sie es ausdrückte, »aus dem Maul des Pferdes« zu erfahren (noch so eine gängige Redensart, die mein Vater und ich damals lern‐ ten). Ich war sehr betroffen, als ich erfuhr, dass ich es Sarah nicht von Angesicht zu Angesicht sagen konnte. Ich hätte es ihr natürlich aufschreiben können. Aber jemandem etwas schriftlich gestehen ist nicht dasselbe. Es von Angesicht zu Angesicht zu tun, heißt, ungeschützt den Emotionen ausgesetzt zu sein. Dem Schmerz, den man zufügt, nicht entgehen zu können. Da gibt es kein Versteck. Der schuldige Teil, der das Geständnis ablegt, muss den Zorn oder die Trauer, die Verzweiflung oder die Rachsucht, die Tränen oder die Verachtung des zuhörenden Teils ertragen. Und gegebenenfalls auch das Verstehen und Verzeihen. Das ist das Schwerste. Die Wut des anderen akzeptiert in gewisser Weise, dass wir sind, wie wir sind. Wir brauchen uns nicht zu ändern. Sie be‐ wirkt, dass wir uns rein gewaschen fühlen, gerechtfertigt, sie beweist uns, dass unser Verhalten in Ordnung war. Mildes Verzeihen und tolerantes Verstehen hingegen bestätigen uns unsere Missetat, spiegeln uns unser Fehl‐ verhalten zurück, lassen uns keinen Ausschlupf und 409
tragen die Erwartung der Wiedergutmachung in sich. Das alles halten wir gewissermaßen auf Armeslänge, in siche‐ rer Entfernung, wenn wir unsere Geschichte aufschreiben und wegschicken. Daan war es, der mir vorschlug, mein Geständnis dir zu machen. Du kannst es Sarah nicht erzählen, sagte er, also erzähl es ihrem Enkel. Lass die Sünden der Väter ihn heimsuchen, das ist sein Erbe, so wie deine Sünden meins sind. Lass ihn damit machen, was er will. Er wird schon damit klarkommen, so wie ich auch damit klargekommen bin. (Du kennst ja wohl inzwischen Daans Art von Humor.) – Und das wollte ich zunächst auch. Ich fing nur an aufzuschreiben, was ich sagen wollte, um es besser formulieren zu können, weil mein Englisch anfangs noch ziemlich eingerostet war. Ich habe zwar immer weiter Englisch gelesen, es aber in den letzten Jahren kaum noch gesprochen. Doch dann bekam das Erzählen ein Eigen‐ leben. Und irgendwann dachte ich schließlich, dass du die Geschichte deines Großvaters vielleicht ganz gern in ordentlich aufgeschriebener Form hättest, als ein Doku‐ ment, das du aufbewahren und vielleicht eines Tages deinen Kindern geben kannst, damit sie diesen Teil ihrer Geschichte auch »aus dem Maul des Pferdes« erfahren. (Was ihnen natürlich als ein sehr fernes Stück Geschichte erscheinen wird!) Also gebe ich dir jetzt das hier. Und außerdem noch drei Dinge, die du haben sollst. Zum einen die Fallschirmjägerabzeichen, die ich in jenen ersten Tagen in unserem Keller von der zerfetzten Uniform die‐ nes Großvaters abgetrennt habe und die ich behielt, als 410
ich seine übrigen Sachen nach dem Krieg Sarah schickte. Als Andenken an ihn und an den Tag, an dem ich die Fallschirme aus dem unendlichen blauen Himmel herab‐ schweben sah. Zum zweiten den Gedichtband, den mir der arme Sam schenkte, das einzige englischsprachige Buch, das wir hatten. Das Buch, aus dem dein Großvater und ich uns in der Zeit, die wir zusammen waren, jeden Tag vorgelesen haben. Zum dritten das Andenken, von dem ich an anderer Stelle sagte, ich würde dir noch davon erzählen. Als wir uns unsere Liebe gestanden, Jacob und ich, wollten wir, wie es viele Menschen in dieser Situation tun, symbolische Liebespfänder tauschen. Jacob wollte, dass es Ringe sein sollten. Aber das ließ ich nicht zu. Wie immer wir uns selbst sahen, wir waren nicht verheiratet. Jacob verfiel auf die Lösung, zwei haargenau gleiche kleine Talismane her‐ zustellen. Die Inspiration dazu war eine bestimmte Art von Schnitzwerk, die man damals auf vielen Bauernhöfen fand, so etwas wie ein magisches Symbol aus Holz, Stroh oder manchmal auch Metall, das man an den Giebel‐ balken von Scheunen oder auf Heuhaufen anbrachte, um das Böse abzuwenden und das Gute anzulocken. Jacob schnitt unsere Talismane mit seinem Militärtaschenmes‐ ser aus einem Stückchen Blech, das er auf dem Heuboden fand. Er glättete die Kanten mit meiner Nagelfeile und polierte das Ganze mit der Creme, die wir zum Silber‐ putzen nahmen. Und beim Schneiden achtete er darauf, dass oben eine kleine Öse war, sodass wir die Glücks‐ 411
bringer auf Halsketten ziehen konnten. Diese Geveltekens, Giebelzeichen, gibt es in vielen Formen und jede hat ihre eigene Bedeutung. Die Form, die Jacob für unser Liebeszeichen wählte, besteht aus einem Besen, um den Donner wegzufegen, einem Lebensbaum, einem Sonnenrad und einem Kelch. »Mögen diese Zeichen unserer Liebe«, sagte er, als wir mit einer kleinen Zere‐ monie unsere Anhänger tauschten, »den Donnerzorn abwenden, der dir droht, weil du mich liebst, dich vom herrlichen Baum des Lebens speisen, die goldene Sonne stets auf dich scheinen lassen und dich bis zum Rand mit Freude darüber erfüllen, dass du meine geliebte Geertrui bist.« (Und zu der Zeit konnte er meinen Namen schon fast richtig aussprechen.) Den Talisman, den Jacob mir gab, habe ich Daan gegeben. Den Talisman, den ich Jacob gab, gebe ich jetzt dir. Hier also die drei Dinge. Die Erinnerung an die Kriegszeit deines Großvaters. Die Worte, die wir einander vorsprachen. Und das Zeichen unserer Liebe. Sie sind mir kostbarer, als ich es je mit Worten ausdrücken könnte, egal, ob in deiner Sprache oder in meiner. Für dich von deiner holländischen Großmutter Geertrui
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POSTKARTE Was geschieht, das ist zuvor geschehen, und was geschehen wird, ist auch zuvor geschehen, und Gott sucht wieder auf, was vergangen ist. Der Prediger Salomo »Hat Daan dir erklärt, weshalb ich dich heute sehen woll‐ te?«, sagte Geertrui. Jacob saß auf demselben Krankenhausstuhl wie neulich, genauso unsicher und verlegen, und Geertrui ruhte auf ihrem Kissenwall, die beunruhigenden Augen zur Decke gerichtet, genau wie beim letzten Mal. Er sagte: »Nein. Gar nichts.« Schweigen. Die Luft würde sirren, wenn man daran zupf‐ te. »Ich möchte dir etwas geben.« Geertrui schnappte nach Luft. Wartete einen Moment. Wandte den Blick dann zu ihm. »Dann müssen wir uns voneinander verabschieden.« Jacobs Kehle war rau, er konnte nicht sprechen. »Die Nachttischschublade.« Er schaffte es, sie zu öffnen, obwohl seine Gelenke einge‐ rastet und seine Muskeln miteinander verschweißt waren. »Das Päckchen.« Ein Päckchen von der Größe eines Laptops, in glänzend blutrotem Papier, mit himmelblauem Band umschnürt. 413
»Nimm es.« Er legte es neben Geertrui aufs Bett. »Für dich.« Er konnte immer noch nichts sagen. »Mach es in der Wohnung auf. Nicht vorher. Verspro‐ chen?« Er nickte. »Alles, was ich dir sagen kann, ist da drin.« Er starrte auf das Päckchen, als könnte es jeden Moment anfangen zu reden. Wieder Schweigen. Die Luft zum Splittern. Geertrui sagte: »Lass uns den Schmerz nicht verlängern.« Etwas bewegte sich auf dem Bett. Jacob sah hin. Geertrui streckte ihm ihre Maushand hin. Er stand auf. Ihre Finger waren so fragil, dass er Angst hatte, sie zu zer‐ brechen, also nahm er ihre Hand zwischen seine beiden Hände. »Vaarwel«, sagte sie. »Leb wohl.« Er versuchte zu sprechen, aber es kam nichts heraus. Stattdessen folgte er seinem Instinkt, beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr, ganz vorsichtig, damit sein Körper ihn nicht verriet, einen sanften Kuss auf die Wange. Ihre Hand flatterte in seinen Händen. Entfiel ihm, als er sich aufrichtete. Unfähig, sie anzusehen, nahm er das Päckchen vom Bett, presste es an die Brust und schaffte es irgendwie zur Tür. Dort angekommen, hörte er sie ganz leise sagen: »Jacob.« In ihren Augen glänzten Tränen und sie lächelte. 414
Er sah sie an, hätte gern etwas gesagt. Aber alles, was er fertig brachte, war zu nicken und zu‐ rückzulächeln.
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POSTKARTE XXXXXXXXXXX X XXXXXXXXXXX XXXXXXXXX X XXXXXXXXX XXXXXX X XXXXXX »Ja«, sagte Daan. »Ich hab ihr dabei geholfen.« Sie saßen in Geertruis Wohnung auf ihren üblichen Plätzen, Daan auf dem Sofa, Jacob im Sessel, den Rücken zum Fenster, das auf die Gracht hinausging. Geertruis Geschichte, ganze einhundertvierundzwanzig DIN‐A4‐ Seiten in einem orangefarbenen Ringbuch, lag zwischen ihnen auf dem Couchtisch. »Ihr geholfen ?« »Es für sie getippt. Ihre Handschrift hättest du nie lesen können. Und außerdem ging es ihr einfach oft zu schlecht zum Schreiben, also hat sie’s diktiert. Sie hat immer weiter Englisch gelernt, liest dauernd englische Bücher, guckt jede Menge BBC. Deshalb kann sie’s gut. Aber manchmal brauchte sie trotzdem Hilfe. Formulierungen finden. Wörter nachschlagen. Und es gab Passagen, na ja ... die Medikamente.« Er zuckte die Achseln. »Man könnte wohl sagen, ich hab’s redigiert.« »Aber es ist alles ihre Geschichte? Ich meine, das ist alles wirklich passiert?« »Dachtest du, sie hätte sich’s ausgedacht?« 417
»Es ist einfach so irre. Deine Großmutter und mein Groß‐ vater.« »Einen Teil hab ich für sie geschrieben. Das hat sie zu sehr aufgewühlt. Sie konnte es nicht mal diktieren.« »Welchen Teil?« »Nach Jacobs Tod.« »Dann hast du das erfunden?« »Nein, nein. Geertrui hat mir auf Niederländisch erzählt, was war. Ich weiß nicht warum, aber über Dinge, die einen sehr aufwühlen, kann man immer besser in der eigenen Sprache reden.« »Sie hat’s dir erzählt –?« »Ja. Und ich hab’s dann auf Englisch hingeschrieben, in ihrem Stil, so gut ich konnte. Und ein paar Sachen hat sie dann noch geändert.« »Zum Beispiel?« »Warte mal... Das mit der Uhr. Wie sie tickt. Und wie sie sie um Mitternacht anhalten. Das hatte sie gar nicht er‐ wähnt. Ist ihr erst wieder eingefallen, als ich ihr meinen Text vorgelesen habe. Als ob sie beim Hören alles noch mal vor sich gesehen hätte. Man sollte es nicht für mög‐ lich halten, aber sie trauert immer noch um ihn, nach all den Jahren.« Gleich nach seiner Rückkehr von Geertrui war Jacob in sein Zimmer gegangen, hatte das Päckchen ausgepackt, den Inhalt inspiziert und die Geschichte sofort in einem Rutsch gelesen. Stunden später war er, nach Luft schnap‐ pend, wieder aufgetaucht. Unfähig ruhig dazusitzen, ver‐ 418
wirrt, was seine Gefühle und Gedanken anging, musste er mit jemandem reden. Jacob sagte: »Sie macht diesen Scherz, dass du so was wie mein holländischer Bruder bist. Aber in Wirklichkeit ist deine Mutter meine Tante. Womit wir beide Vettern er’s‐ ten Grades wären.« »Macht’s dir was aus?« Daan lächelte. »Nein. Es gefällt mir.« »Mir auch.« Jacobs Magen krampfte sich zusammen. »Oh Gott!« »Was?« »Sarah.« »Wieso?« »Sie weiß es nicht.« »Niemand weiß es, außer dir und mir und meinen El‐ tern.« »Aber –« »Vergiss es.« »Er ist ihr Gott.« »Gott?« »Na ja, fast. Mein Großvater ist alles für sie. Ihr ganzes Leben. Sie hat sogar meine Eltern dazu überredet, mich nach ihm zu nennen, verflixt! Sie sieht mich als seine Reinkarnation.« »Dann hast du allerdings ein Problem.« »Du sagst, Geertrui trauert immer noch. Na ja, Sarah hat nie wieder geheiratet. Kein anderer Mann konnte ihm das 419
Wasser reichen. Sie glaubt, sie und Großvater haben eine perfekte Ehe geführt.« »So was gibt’s nicht.« »Aber Sarah glaubt, dass es so war.« »Okay. Gut. Vielleicht war’s ja so, für – wie lange waren sie zusammen?« »Drei Jahre.« »Aber dann kommt unser Grootvader hierher, um den deutschen Drachen zu töten, und das erste holländische Mädchen, das er sieht, verliebt sich so heillos in ihn, dass es fünfzig Jahre später immer noch ganz hingerissen ist. Muss ja ein toller Hecht gewesen sein, unser Großvater, was? Hoffen wir mal, dass wir seine Gene geerbt haben.« »Aber seine Gene bedeuten vielleicht auch einen Herzin‐ farkt in den Zwanzigern.« Daan zuckte die Achseln. »Wenn’s vorbei ist, ist’s vorbei.« »Sei nicht so locker‐flockig.« »Bin ich locker‐flockig?« »Ich mein’s ernst.« »Das seh ich allerdings! Du bist ein ernster Mensch, Vetter‐Bruder, sehr ernst! Sei doch mal ein bisschen lockerer.« »Sag nicht, ich soll lockerer sein. Ich hasse diesen Satz, das ist so platt. Ich weiß nicht, was es bei Sarah auslöst, wenn sie hört, wie das alles war.« »Hey, hey! Moment mal! Du willst es ihr doch nicht er‐ zählen?« »Aber das muss ich doch.« »Nein, nein. Das wäre nicht richtig.« 420
»Nicht richtig! Es ihr nicht zu sagen, meinst du wohl.« »Das kann nicht dein Ernst sein. Wozu denn? Würde das irgendwas bringen? Nein, nur schaden. Sie ist eine alte Frau. Lass sie in Frieden.« »Geertrui wollte es ihr doch sagen. Sie hielt es für rich‐ tig.« »Geertrui ist eine alte Frau. Wird im übrigen Zeit, dass du ihren Namen richtig aussprechen lernst. Und sie ist eine sehr kranke alte Frau, die bald sterben wird. Sie weiß doch die Hälfte der Zeit kaum noch, wo sie ist und was sie sagt.« »Aber als sie wusste, was sie sagte, wollte sie, dass Sarah es wissen sollte.« »Stimmt. Aber sie wollte es ihr selbst sagen. Von Ange‐ sicht zu Angesicht. Richtig?« »Richtig.« »Schau, das ist doch alles ihre Sache. Geertruis und Sarahs, meine ich. Eine Sache zwischen zwei alten Frauen. Zwei Gleichen. Zwei Menschen aus einer anderen Zeit. Einem anderen Zeitalter sogar. Jedenfalls einer anderen Generation. Es hat sich doch alles geändert. Das ist nicht unsere Sache. Deine und meine. Und es ist nicht unsere Sache, ihnen ihre alten Tage noch schwerer zu machen. Alt sein ist so schon schwer genug, wenn du mich fragst.« »Aber was Geertrui da gesagt hat, dass Lügen die Seele vergiften? Selbst wenn es nur Unterlassungslügen sind. Willst du, dass deine Seele vergiftet wird?« »Seele! Wer weiß schon was über Seelen? Und außerdem meinte sie eigene Lügen, nicht die von jemand anderem. 421
Sonst wären wir doch alle von Geburt an vergiftet. Für sie ist diese Lüge etwas Innerliches. Sie hat sie gelebt. Die Lüge ist Teil ihres Lebens. Also, ja, wenn du so willst, es könnte sie vergiften. Aber für dich und mich ist es doch etwas Äußerliches. Wir haben doch nur davon gehört. Für uns ist es nichts als Information. Es kann uns nichts tun. Nicht, wenn wir’s nicht zulassen.« »Kann es wohl. Wenn es mich quält.« »Genau das meine ich doch! Lass dich davon nicht quä‐ len.« »Ich kann nichts dagegen machen. Ich bin nun mal von Natur aus selbstquälerisch.« Von der Gracht her kamen laute Jungmännerrufe und Mädchengekreische. Jacob stand auf und trat ans Fenster. Eine Horde Touristen, mit Juxhüten und wilden Urlau‐ berklamotten, alberten auf Tretbooten herum. Als er auf ihr enthemmtes Treiben hinabsah, flog ein Reiher in seiner Augenhöhe vorbei, der Gracht nach, in Richtung Bahnhof und Fluss. Träge Schwingenschläge, elegant weggeklappte Beine, der lange Hals gefaltet, der Con‐ corde‐Schnabel wie eine Speerspitze. Wie schön es sein musste, dachte er, diese alt‐neue, jedem‐alles‐bietende Stadt aus der Vogelperspektive zu sehen, so wie er sie gestern auf der Bootsfahrt aus der Fischperspektive gese‐ hen hatte. Was ihn an Ton erinnerte. Er fragte sich, was Ton wohl zu der Sache mit Geertrui und Sarah sagen würde. Und auch Hille. Er wollte, sie wären jetzt hier. Nein, nicht beide gleichzeitig. Zu viel auf einmal. Die Domkoppen veranstalteten jetzt ein Rennen, radelten 422
wie ungezogene Kinder in Richtung des Sexviertels hinter der nächsten Brücke. Schreiende Möwen kreisten. Früher hätten jetzt dort draußen Segelschiffe gelegen, die Masten höher als das Haus. Ein zweistrahliger KLM‐Jet war im Anflug auf Schiphol. Am Donnerstag ging sein Flug zu‐ rück nach England. Noch zwei Tage. Und plötzlich dachte er erstmals und zu seiner eigenen Überraschung: Ich will nicht zurück. Ich will hier bleiben. Hier gibt es mehr für mich. Und hier kann ich mehr ich selbst sein. Er drehte sich zu Daan um, der entspannt auf dem Sofa lümmelte. »Meneer Smartass«, sagte er. Daan lachte. »Ja, ja! Aber hör auf deinen großen Bruder, mein selbstquälerischer englischer Vetter.« »Ihr alten Männer seid echt versessen drauf, uns jungen gute Ratschläge zu geben.« »Hoijoi! Aber willst du wirklich deiner Großmutter die letzten Lebensjahre kaputtmachen? Dann mach nur, ver‐ rate ihr das schreckliche Geheimnis. Aber nein, das willst du nicht. Du nicht. Du bist kein Kaputtmacher.« »Ist das eine Schmähung oder ein Kompliment?« »Wie du meinst.« Er setzte sich wieder hin. »Was sagt Tessel dazu?« »Ihr passt das Ganze gar nicht. Sie wollte, Geertrui hätte es für sich behalten. Es regt sie nur auf. Sie hat ihren Vater geliebt – Dirk, meine ich. Sie ist eine Wesseling, keine Todd, sagt sie. Sie wusste gar nichts von Jacob. Dirk hat sie aufgezogen und er hat es gut gemacht. Ich mochte ihn 423
auch sehr gern. Sie ist seine Tochter, sagt sie, nicht die von Jacob. Sie versucht, das alles wegzuschieben. Aber das geht natürlich nicht. Wenn Geertrui nicht mehr da ist... dann vielleicht.« »Dann meint sie also, ich hätte es auch nicht erfahren sol‐ len.« »Sie meint, es sei ein Fehler. Und sie will mit all dem nichts zu tun haben. Es ist ihr eine grässliche Vorstellung, dass wir drüber reden. Und sie hat Angst, was das bei dir auslöst. Sie wollte nicht, dass du herkommst. Aber am Sonntag hat sie dich ins Herz geschlossen. Sie redet die ganze Zeit von dir.« Er lächelte. »Vielleicht sieht sie ja in dir den Sohn, der ich hätte sein sollen.« »Red keinen Blödsinn.« »Wie du meinst.« Jetzt wusste er nicht, was sagen. Da war zu viel und nichts davon gelangte bis in seinen Vorderkopf, den er immer als den Ort empfand, wo seine Gedanken in Worte gefasst wurden. Sein Magen war ein einziger Knoten. Nach einer langen Schweigepause sagte Daan: »Ich will mal telefonieren«, und ging ans Telefon in der Küche. Jacob rührte sich nicht. Sein Körper hing immer noch diesen letzten Minuten mit Geertrui nach. Während in seinem Kopf Episoden ihrer Geschichte abliefen wie Film‐ szenen. Und was es noch verwirrender machte: Die junge Geertrui war Hille, ihr Jacob war er selbst. Er wusste, es bestand Mausstimmungsgefahr, wenn es so weiterging, aber er wusste nicht, wie er es stoppen sollte. Daan kam wieder. 424
»Wir könnten die ganze Nacht drüber reden und es würde trotzdem nirgends hinführen. Was wir beide jetzt brauchen, ist Ablenkung.« Daans Energie rüttelte Jacob wieder auf. Er wusste, Daan hatte Recht. »Tut mir Leid, dass ich so ein Langweiler bin.« »Nein. Ist schon okay. Ich versteh’s ja. Wir brauchen was zwischen die Rippen. Ich habe Ton angerufen. Er kommt zum Essen rüber. Später könnten wir dann vielleicht ins Kino gehen. Willst du nicht ein bisschen Musik hören oder was, während ich uns was mache?« »Ich habe eine bessere Idee. Du und Ton, ihr habt mir die ganze Zeit mein Essen und Trinken bezahlt und alles Mögliche für mich getan. Jetzt bin ich mal dran. Ich mache das Essen.« »Du kannst kochen?« »Was ist daran so erstaunlich? Magst du Kalbfleisch?« »Ob ein Holländer Kalbfleisch mag! Also wirklich!« »Okay, dann brauche ich Kalbsschnitzel, Prosciutto, die Crudo‐Sorte, frischen Salbei, Tomaten, gutes Olivenöl, Weißweinessig, Knoblauch, jede Menge frisches Basili‐ kum. Mal überlegen, was noch? Ah ja, Zeug für grünen Salat, Spaghetti und frisches Baguette.« »Italienisch. Gut. Einiges habe ich da, ein paar Sachen müssen wir kaufen.« »Nicht wir. Ich muss sie kaufen. Und wie wär’s mit Eis zum Dessert?« »Damit hättest du bei Ton einen Stein im Brett. Er liiiiebt Eis.« 425
»Bei Ton hab ich sowieso schon einen Stein im Brett, auch ohne Eis. Also, helft mir fort, McDuff.« »Mijn hele leven zocht ik you«, sang Daan in übertriebenem Lacrimoso, während sie zusammen ins Treppenhaus hin‐ ausgingen, »om – eindelijk gevonden – te weten wat eenzaam is.« »Okay, okay, du brauchst es nicht breitzutreten.« Spaghetti, die dünne Capellini‐Sorte, mit einer Soße aus klein geschnittenen Tomaten, viel frischem Basilikum, Olivenöl, einem Schuss Weinessig, zerdrücktem Knob‐ lauch, Salz, Pfeffer und einer Prise Zucker, alles noch ein‐ mal kurz erhitzt, sobald die Spaghetti gar waren. Aufgekratzt, weil so weit alles geglückt war, und erhitzt vom Wein, den er zu schnell trank, verspürte Jacob einen Anfall von Spitzbübigkeit. Gespielt unschuldig sagte er zu Ton: »Daan hat mir neu‐ lich das Titusbild gezeigt.« Ton und Daan grinsten sich über den Tisch hinweg an. »Hat Daan mir schon erzählt«, sagte Ton. »Hat’s dir gefal‐ len?« »Ganz nett. Bisschen braun vielleicht.« »Aber er ist so hübsch, findest du nicht?« »Daan sagt, Titus sieht aus wie ich.« »Findest du nicht?« »Ich würde nicht sagen, dass ich hübsch bin.« »Nein?« »Und Daan hat mir erzählt, dass sie Lippenstiftspuren auf Titus’ Mund gefunden haben, als hätte ihn jemand ge‐ 426
küsst.« Daan gluckste leise in seine Spaghetti. Ton erwiderte Jacobs Unschuldsblick. »Ja«, sagte er, »hab ich gehört.« »Aber sie haben den Täter nicht erwischt?« »Nein?« »Sie haben keine Ahnung, wer’s war. Sagt Daan. Ko‐ misch, ich habe das Gefühl, dass er es weiß.« »Daan!«, sagte Ton. »Davon hast du mir gar nichts ge‐ sagt.« »Nein, nein!«, sagte Daan und grinste in seinen Wein. »Ich weiß nichts drüber.« »Vandalen«, sagte Jacob. »Wieso tut jemand so was?« »Ist wirklich mysteriös«, sagte Ton. »Vielleicht war sie –« »Oder er, wer weiß«, sagte Ton. »Oder er – echt?« »Wieso nicht?« »Okay. Also, vielleicht war er oder sie ja verrückt. Plem‐ plem. Glaubst du nicht? Ich meine, ein Gemälde küssen!« Daan sagte: »Katholiken küssen manchmal Kruzifixe. Orthodoxe küssen ihre Ikonen. Ich hab schon Leute Fah‐ nen küssen sehen – Patrioten, Fußballfans. Und Sportler küssen ihre Trophäen, wenn sie sie überreicht kriegen.« »Wie in Wimbledon«, sagte Ton. »Sind die alle verrückt?« »Ihr meint«, sagte Jacob, »jemand hat das Bild so bewun‐ dert oder wie man’s nennen soll, dass sie – oder er – es geküsst hat wie eine Reliquie oder eine Trophäe oder so was?« 427
Ton sagte: »Na ja, ist doch ein ganz schönes Kompliment für ein Bild, wenn es geküsst wird, oder? Wenn jemand es so sehr liebt, wieso nicht? Statt dass das arme Bild da nur rumhängt, Tag und Nacht an der Museumswand, so fein sauber und firnisglänzend? Und niemand darf es berüh‐ ren. Und die Leute ... wie heißt das?« – (zu Daan) »schui‐ felen – du weißt schon, so.« Er stand auf und machte es vor. »Schlurfen?«, sagte Jacob. »Schlurfen«, sagte Ton und setzte sich wieder hin. »Schlurfen vorbei und die meisten haben nicht mal einen flüchtigen Blick für den armen Titus. Nicht den aller‐ kleinsten. Und der arme Junge hängt da an der Wand, mit gesenktem Kopf und diesem hübschen, traurigen Lä‐ cheln, und tut, als ob’s ihm nichts ausmachen würde. Stell dir doch mal vor, wie einsam er sich fühlen muss. Also hat sich jemand erbarmt. Hat –« »Oder sie«, sagte Jacob. »Ach ja! Oder sie! sich was aus ihm macht.« »Und«, äffte Daan Tons Ton nach, »hat sogar das Risiko auf sich genommen, erwischt zu werden. Stell dir mal vor, was das für einen Aufruhr gegeben hätte. Mijn god, het Rijksmuseum! Hoijoijoi! So was Mutiges!« »Da hast du’s!«, sagte Ton und hob beschwörend die Hände. »Kein bisschen verrückt.« »Verstehe«, sagte Jacob, »ein Protest aus Liebe.« »Kann doch sein«, sagte Ton. »Gegen die, wie soll man das nennen? – die Mausoleumisierung – gibt es dieses 428
Wort?« »Jetzt schon«, sagte Jacob. »Okay, ein Protest gegen die Mausoleumisierung der Kunst.« »Hoffentlich hat’s ihm Spaß gemacht«, sagte Jacob. »Oder ihr«, sagte Ton. »Klar«, sagte Jacob. »Ganz vergessen. Ihm oder –« »Und«, sagte Ton. »Und?«, sagte Jacob. »Ihm und ihr«, sagte Ton. »Könnte doch sein ...?« »Oh, verstehe«, sagte Jacob. »Du meinst, es waren zwei.« Ton zuckte die Achseln. Daan sagte: »Genug jetzt, es reicht! Wo ist der Küchen‐ chef? Ich will mein Kalbfleisch.« Kalbsschnitzel, vorsichtig kurz gebraten, noch in zartem und saftigem Zustand aus der Pfanne genommen, jedes mit einer darauf gespießten Scheibe Prosciutto crudo und ein, zwei Basilikumblättchen als Dekoration. Dazu grüner Salat, den Daan angemacht hatte, während Jacob mit dem Fleisch beschäftigt gewesen war. Und natürlich noch mehr Wein, ein Orvieto, den Daan ausgesucht hatte. »Von wem hast du so kochen gelernt?«, fragte Ton, der genüsslich zulangte. Daan sagte: »Lass mich raten. Von deiner Großmutter Sa‐ rah.« »Stimmt«, sagte Jacob. »Wie hab ich das nur erraten?«, frotzelte Daan. »Da fällt mir was ein«, sagte Jacob. »Als ich gestern mit 429
Ton weg war, kamen wir irgendwie auf das Thema Ehe und er hat gesagt, ich soll dich mal fragen nach deiner Meinung zu Liebe und Sex und allem.« Daan sagte auf Niederländisch etwas zu Ton, der lachend die Achseln zuckte. »Los«, sagte Jacob, »raus damit.« »Das ist zu langweilig«, sagte Daan. »Langweilig!«, sagte Jacob. »Liebe und Sex langweilig! Vielleicht für einen alten Mann wie dich, der das schon fast hinter sich hat, aber für einen jungen Mann, der kaum damit angefangen hat, ist es alles andere als langweilig.« Ton sagte: »Für Daan ist die Ehe passée.« »Passée? Ich wusste gar nicht, dass er je damit angefan‐ gen hat.« »Bedeutungslos. Schon seit vielen Jahren«, sagte Daan. »Nicht da, wo ich herkomme«, sagte Jacob. »Dort reden alle dauernd drüber. Politiker und normale Leute. Über die Wichtigkeit des Familienlebens. Die schreckliche Scheidungsrate. Tss‐tss.« »Hier auch«, sagte Ton. »Die letzten Zuckungen«, sagte Daan »Also?« Daan legte die Gabel weg. »Du willst den Vortrag hö‐ ren?« Er trank von seinem Wein. »Okay, du sollst ihn hören. Aber das reicht dann vielleicht auch? Ja? Abge‐ macht?« »Ich weiß doch noch gar nicht, was ich zu hören kriege.« »Nein. Aber es wird reichen. Danach kommt das Eis. Das ist die Bedingung.« 430
»Was bist du doch für ein diktatorischer Typ. Ein Glück, dass du kein Politiker bist.« »Oder Ehemann«, sagte Ton. »Willst du’s jetzt hören oder nicht?«, sagte Daan. »Okay, ja«, sagte Jacob. Daan wischte sich den Mund mit der Serviette. »Du kennst die ganzen Argumente. Man müsste ja hirntot sein, um sie nicht zu kennen. Die Ehe ist Teil eines über‐ holten Gesellschaftssystems, einer anderen Lebensweise als unserer. Nichts daran ist absoluut. Die Ehe ist nur ein Mittel der Bevölkerungskontrolle. Da geht es um Vermö‐ gen und Eigentum, um (zu Ton) Overerving‐?« »Erben«, sagte Ton. »Ums Erben. Um die Reinhaltung des ... Shit! – (zu Ton) Geslacht?« »Warte mal... (zu Jacob) Geschlecht?« »Linie«, sagte Jacob. »Abstammungslinie.« »Ja«, sagte Daan, »um die Reinhaltung der Abstam‐ mungslinie. Nur wenn die Frau unberührt war, als der Mann sie heiratete und zu seinem Eigentum machte, konnte er sicher sein, dass seine Kinder auch wirklich seine waren. Und nur wenn er der Einzige war, der sie bumste, konnte er sie weiterhin als sein Eigentum be‐ zeichnen. Die Ehe hat mit dem Schutz der eigenen Gene und mit Eigentum zu tun. Das weißt du doch alles. Oder? Tja, und das spielt jetzt keine Rolle mehr. Es ist nicht mehr wichtig. Außer für ein paar Dinosaurier wie Königs‐ familien und monomane Multimillionäre und für Leute mit einem handfesten Interesse wie zum Beispiel Priester 431
und Juristen und Politiker.« »Und nicht mal mehr für die, ihrem Verhalten nach zu urteilen«, sagte Ton. »Guck dir doch mal eure britischen Royals an. Was für ein Chaos! Was für eine Heuchelei!« Sie lachten. Daan fuhr fort: »Und die ewige Liebe – auf ewig einen Menschen lieben, auf ewig mit ein und demselben Men‐ schen zusammenleben. Es gibt doch nichts, was so offen‐ kundig nicht hinhaut, oder? Das ist eine Illusion.« »Sarah und Geertrui denken nicht so«, sagte Jacob. »Ha!«, sagte Daan spöttisch. »Guck sie dir doch an. Was lieben sie denn, unsere beiden Grootmoeders?. Nicht wen. Was. Glaubst du wirklich, unser englischer Großvater war so umwerfend, wie sie beide sagen? Glaubst du, er war so perfekt? Glaubst du, er war wirklich dieser tolle romanti‐ sche Held, als den Geertrui ihn hinstellt? Nein, nein. Natürlich nicht. Sei doch mal real, Jakob.« »Realistisch, meinst du. Wieder so ein platter Satz.« »Platt?« »Weiß nicht«, sagte Jacob gereizt. »Dumm, nichts sagend, albern.« »Real, relistisch, wen juckt’s!«, sagte Daan. »Geertruis Jacob ist eine Illusion. Verbeelding. Fantasie.« Jacob war irritiert. »Das glaub ich nicht. Vielleicht sieht sie ihn ja jetzt durch die rosa Brille, nach all den Jahren. Und Sarah auch. Aber damals war doch irgendwas Großes und Mächtiges zwischen ihnen. Etwas Reales. Da war was, was keine Einbildung war. Sie haben es sich doch nicht aus den Fingern gesogen. Das musst du doch 432
zugeben.« »Ja. Damals. Und wie lange? Ein paar Wochen? Aber wenn er am Leben geblieben wäre ...?« »Das ist Spekulation. Das weiß niemand.« »Okay! Meinetwegen! So war’s. Die große Liebe für sie beide. Und Jacob war ein toller Typ. Na ja, muss er ja gewesen sein. Wir sind schließlich seine Enkel und wir sind beide tolle Typen, oder nicht?« Sie lachten. Daan fuhr fort: »Und du hast Recht, niemand weiß, was jetzt zwischen ihnen wäre. Genau das sage ich doch. Da sind wir uns völlig einig. Niemand weiß es, wir wissen nur, dass es wahrscheinlicher ist, dass da jetzt, nach all den Jahren, nicht mehr so was Großes und Mächtiges zwischen ihnen wäre. Nichts ist absoluut. Nichts ist ewig. Also soll man auch nicht so tun, als ob es so wäre. Soll man keine Regeln dafür aufstellen. Keine Gesetze darauf gründen. Wenn zwei Leute für immer Ja zueinander sagen wollen, okay, meinetwegen. Das ist ihre Sache. Aber ich – nein, danke. Genau wie es keine Regeln in Sachen Liebe gibt. Wen man liebt. Wie viele Menschen man lieben kann. Als ob Liebe ... (zu Ton) eindig?« »Endlich«, sagte Ton. »Endlich?«, sagte Daan. »Okay, endlich ... Was zum Teu‐ fel wollte ich sagen?« Jacob sagte: »Liebe ist nichts Endliches.« »Genau. Ja. Liebe ist nichts Endliches. Es ist nicht so, dass wir jeder einen begrenzten Vorrat davon hätten, den wir jeweils nur einem Menschen geben könnten. Oder dass 433
wir nur eine Sorte Liebe hätten, die wir in unserem gan‐ zen Leben nur einem einzigen Menschen geben könnten. Es ist doch lächerlich, so was zu denken. Ich liebe Ton. Ich schlafe mit ihm, wenn wir’s beide wollen. Oder wenn’s einer von uns braucht, auch wenn’s der andere in dem Moment vielleicht nicht will. Ich liebe Simone –« »Simone?«, sagte Jacob. »Sie war neulich Morgen hier, als du gegangen bist. Sie hat dir noch hinterhergerufen. Sie wohnt zwei Straßen weiter. Ton und Simone kennen sich. Sie waren schon be‐ freundet, bevor ich sie kennen lernte. Wir haben drüber geredet. Ton schläft nie mit Frauen. So ist er nun mal. Simone schläft nur mit mir. So ist sie nun mal. Ich schlafe mit beiden. So bin ich nun mal. Sie wollen beide mit mir schlafen. So sind wir nun mal. So wollen wir’s nun mal. Wenn wir’s je nicht wollen sollten oder einer von uns es nicht wollen sollte, okay, dann war’s das. Dieses ganze Geschlechterschubladenzeug. Männlich, weiblich, schwul, bi, feministisch, neuer Mann, was auch immer – das ist doch alles bedeutungslos. Genauso überholt wie die Ehe auf ewig. Ich hab es satt, will nichts mehr davon hören. Darüber sind wir doch raus.« »Du vielleicht«, sagte Jacob. »Aber nicht wir alle. Nicht mal die meisten, würde ich meinen. Jedenfalls nicht da, wo ich herkomme.« »Nein, klar, nichts ändert sich sofort von Grund auf, oder? Deshalb schlagen Revolutionen ja auch immer fehl. Man kann mit den Menschen nicht aus dem Stand alles umkrempeln. Aber das heißt nicht, dass man sich nach 434
denen richten muss, die an den alten Lebensformen fest‐ halten, wenn man’s selbst nicht tut. Wenn das alle täten, würde sich nie irgendwas ändern. Und ich bin’s, wie ge‐ sagt, leid, darüber zu diskutieren. Sollen die Leute doch auf die alte Art weitermachen, wenn sie’s wollen und wenn sie nicht auf die neue Art leben können. Aber ich lasse mich nicht bremsen. Ich lasse mich nicht zurück‐ halten. Ich werde nicht die Sorte Lügen leben, die das alte System aufrechterhalten.« Jacob sagte: »Weiß nicht. Scheint mir alles nicht ganz so klar und eindeutig zu sein, wie du’s hinstellst.« »Ist es aber«, sagte Daan. »Ich liebe, wen ich liebe. Ich schlafe mit den Menschen, die ich liebe, wenn sie’s wollen und ich’s will. Ohne dass das irgendwas mit männlich oder weiblich zu tun hat. Es gibt keine Geheimnisse. Wenn es zwischen uns aus ist, ist es aus. So ist das Leben. Der Schmerz gehört dazu. Ohne ihn wären wir tot. Das Einzige, was für mich zählt, sind die Menschen, die ich liebe. Ist, wie wir miteinander leben. Wie wir einander lebendig erhalten.« Daan lehnte sich zurück und klopfte mit den Finger‐ knöcheln auf den Tisch. »So«, sagte er. »Das war’s. Ende. Jetzt das Eis. Okay?« Am Tisch herrschte Schweigen, bis Jacob sagte: »Nur, weil du’s sagst.« Daan stand auf. »Das war abgemacht. Genug für heute Abend.« Jacob rührte sich nicht. Ton hatte ihn während Daans Kampfrede die ganze Zeit genau beobachtet. Jetzt streckte 435
er die Hand herüber und rieb tröstend Jacobs Oberarm. Jacob sagte: »Jetzt verstehe ich langsam, was Tessel am Sonntag gemeint hat.« Daan sagte: »Was hat sie gesagt?« »So was in der Richtung, dass sie hofft, dass ich damit klarkomme, hier bei dir zu wohnen. Irgendwas über die‐ nen Lebensstil, aber sie hat’s nicht genauer erklärt.« Daan lachte leise. »Sie hat Angst, ich könnte dich verder‐ ben. Sie ist, na, sagen wir mal, nicht besonders glücklich über meine Art zu leben.« Jacob sah Daan grinsend an. »Und wirst du’s tun?« »Was?« »Mich verderben?« Daan zog eine Grimasse und sagte, schon auf dem Weg in die Küche: »Ich hasse Missionare.« Drei Sorten Eis: Vanille, Zitrone, Schokolade. Und eine Schüssel Kirschen zum Naschen. Noch mehr Wein. »Wenn du Ton so liebst«, sagte Jacob, der nicht so einfach aufgeben wollte, »und wenn du Simone so liebst und sie beide dich so lieben, warum wohnt ihr dann nicht alle zu‐ sammen?« Daan aß weiter von seinem Eis und warf Ton einen leicht gequälten Blick zu. »Weil wir gern unseren eigenen Rückzugsort haben«, sag‐ te Ton. »Wir sind gern unabhängig.« »Und so«, sagte Daan strapaziert‐geduldig, »ist es, wenn wir uns dann sehen, immer wieder neu. So wird es nicht langweilig.« 436
»Jeder ist immer wieder beim anderen zu Gast. Wenn wir uns nicht sehen wollen, sehen wir uns nicht.« »So kommt es nie dahin, dass wir – wie sagt man? – vinden die ander vanzelfsprekend –?« »Selbstverständlich«, sagte Ton, »den anderen für selbst‐ verständlich nehmen.« »Genau. Wir nehmen einander nie für selbstverständ‐ lich.« »Wir sind füreinander da. Aber wir sehen uns nur, wenn wir wollen. Außer in Notfällen.« »Außerdem«, sagte Daan, »ist Tons Wohnung zu klein für mehr als eine Person. Das hier ist immer noch Geertruis Wohnung. Simone ist eine Einzelgängerin, sie mag nie lange mit jemandem zusammen sein. Eines Tages kann sich das vielleicht ändern.« »Wieso nicht? Wir sind jung.« »Aber im Moment gefällt es uns so, wie es ist.« »Gut«, sagte Ton, »findest du nicht?« »Genial«, sagte Jacob und meinte es auch. Er merkte, dass er sie beneidete. »Du solltest hierher kommen und mitmachen«, sagte Ton lachend. »Vielleicht tu ich’s«, sagte Jacob und spürte, wie er rot wurde, weil sein Ton verraten hatte, wie sehr er sich’s wünschte. Eine dieser jähen Gesprächspausen stellte sich ein – ein Engel ging durchs Zimmer, wie es die Alten ausgedrückt hätten. Daan stand auf und ging ins Bad. Ton nahm sich den Rest 437
Eis, seine dritte Portion. Jacob brütete vor sich hin. Es war, als ob durch das, was er gehört hatte, sein Inneres in Bewegung geraten wäre. Nicht seine Organe, nicht sein Herz, sein Magen, seine Leber, sein Gedärm, sondern Teile des inneren Selbst, das in seinem Körper wohnte. Es war, als wäre sein Selbst eine Art dreidimensionales Puzzle, bestehend aus flexiblen Teilen, die sich zu einer ganzen Reihe von Wesen zusammensetzen konnten, zu verschiedenen Jacobs, nicht nur zu einem. Jetzt verscho‐ ben sich diese Teile, formierten sich zu einem Selbst, das ihn beunruhigte. Nicht, weil dieses neu entstehende Selbst ein Fremder gewesen wäre. Ganz im Gegenteil. Seit er fünfzehn war, hatte er immer öfter Teile dieses Selbsts erblickt. Dieser Er, Jacobs Alter Ego, war der Hauptdar‐ steller in seinen Tag‐ und Nachtträumen gewesen, hatte in seinem Kopf geheime Wünsche und unausgesprochene Begierden ausagiert. Das Beunruhigende im Moment war, wie sich dieser andere Jacob voll und ganz enthüllte, als ob jemand aus dem Schattendunkel in helles Licht träte. Aber wie üblich konnte er, der Jacob, der hier am Tisch saß, nicht in Gedanken fassen, was das bedeutete. Nur, dass es sich ernst anfühlte. Er brauchte Zeit für sich, um es auf die Reihe zu kriegen. Was es auch sein mochte, es war verquickt mit dem, was er aus Geertruis Geschichte erfahren hatte und was in ihm vorgegangen war, als er sich das letzte Mal von ihr verabschiedet hatte. Und da war Ton und da war Hille. Er hatte einfach nicht genug Zeit gehabt, das alles zu verdauen. Und am Donnerstag ging es schon wieder (es fiel ihm schwer, die Worte auch 438
nur zu denken) nach Hause. Wenn er doch nur Zeit hätte, es zu entwirren. Hier. Daan kam wieder an den Tisch und goss ihnen Wein nach. »Ich hab mir überlegt«, sagte Jacob, obwohl er es erst beim Reden dachte, »ich würde gern noch hier bleiben, bis nach, na ja, Montag ...« Er brachte es nicht über sich, »Geertruis Tod« zu sagen. »Ich wäre gern dabei. Und auch bei der Beerdigung.« »Nein«, sagte Daan. Ehe er es zurückhalten konnte, sagte Jacob: »Warum nicht?« Er hörte die Stimme eines quengeligen Kinds. »Du wärst nicht willkommen.« »Oh, danke!« »Das geht dich nichts an.« »Geht mich nichts –! Nach allem, was war? Wie kannst du das sagen!« »Es ist nicht erlaubt. Ist alles arrangiert. Das ist eine priva‐ te Sache.« »Ach, und ich bin die Öffentlichkeit?« »Wir wollen es nicht.« »Wir? Wer ist wir?« »Geertrui. Tessel. Ich.« »Woher weißt du das? Hast du sie gefragt?« »Ich weiß es.« »Nein, du weißt es nicht. Ich werde sie selbst fragen. Ich will dabei sein. Ich sollte dabei sein. Geertrui wird wollen, dass ich dabei bin. Ich habe ein Recht –« Daan stand auf. Der Tisch bebte. 439
Ton schob seinen Stuhl zurück, sagte: »Daan!«, und rede‐ te dann in schnellem Niederländisch auf ihn ein. Es folgte ein scharfer Wortwechsel. Der damit endete, dass Daan aus dem Raum marschierte. Seine Schritte pol‐ terten die Treppe hinunter. Jacob schwitzte und zitterte. War zu schockiert, um auf‐ stehen zu können. Und zu verlegen, um Ton ansehen zu können. Als die Luft zu knistern aufgehört hatte, begann Ton abzuräumen und sich an den Abwasch zu machen. Jacob wusste, er sollte helfen, aber ihn überkam eine Schwere, als wäre sein Körper mit steinschwerer Luft auf‐ gepumpt. »Komm mit spazieren«, sagte Ton. Jacob konnte sich nicht rühren. »Da ist was, was ich dir zeigen will. Kein Touristenort. Und nicht weit. Dort kann man schreien und keiner hört einen. Oder in den Wind pfeifen. Du kannst doch hoffent‐ lich pfeifen, oder, Jacques? Du brauchst nur die Lippen zu spitzen und pusten.« Das brachte ihn zum Lächeln. Er wusste, Ton zitierte irgendwas. Er konnte sich nicht erinnern oder wusste nicht, was, aber es war trotzdem komisch. Er stand auf, fühlte sich wacklig, hielt sich einen Moment am Tisch fest, bis er das Gleichgewicht wieder gefunden hatte, folgte dann Ton nach draußen. Es war fast dunkel und ein heller Dreiviertelmond ent‐ 440
schlüpfte verstreuten Wolken. Ein leichter, frischer Wind schärfte die Sinne. Ton führte Jacob zum Bahnhof, durch die lange Haupt‐ halle unter den Bahnsteigen, mit den ganzen Geschäften und dem Menschengewimmel, und dann hinaus auf eine Straße, die den Fluss entlangführte. Die kleine Fähre, die Leute in die Wohngebiete gegenüber brachte, legte gerade ab. Ton wandte sich nach links. Es ging vorbei an schmuck‐ losen Eisenrumpfbooten, kleine Schleppkähne vielleicht, die an kurzen Piers lagen. Dann ein Stück, das unbenutzt und verlassen wirkte, ein paar unattraktive, kastenförmi‐ ge Gebäude, struppiges Gras, das durch rissigen Beton wuchs. Die Straße schwang sich von der Bahnlinie weg, folgte dem Lauf des Flusses. Ab und an huschten Autos vorbei. Die Straßenlaternen schienen die Straße nur noch finsterer zu machen. Niemand sonst war hier zu Fuß unterwegs. Zwanzig Minuten. Der Streifen zwischen Straße und Fluss schwoll in die Breite. Gesäumt von einem hohen Drahtzaun, an dem ein zerdelltes Schild hing, Verboden toegang, was keiner Übersetzung bedurfte. In den Nähe des Schilds war eine Art Klappe in das verzinkte Draht‐ gitter geschnitten und nach hinten weggedrückt worden, was ein Loch ergab, durch das man sich gebückt durch‐ zwängen konnte. In dem Dunkel war es schwer, auf der anderen Seite irgendetwas anderes zu erkennen als hup‐ peliges Gelände und wildes Gesträuch. Der verbotene Garten des Limbus. 441
Ton schlüpfte ohne anzuhalten durch das Zaunloch. Die Staubfahne eines vorbeifahrenden Autos wehte Jacob ins Gesicht und in den Mund. Des Schlamms durstige Schwester. Als er durch das Loch schlüpfte, blieb sein Ärmel an einem herausstehenden Drahtende hängen. Ton nahm seine Hand. Sie arbeiteten sich vorsichtig durch die kleine Wildnis und eine Böschung hinunter. Drunten zogen sich die Überreste einer Mauer, etwa einen Meter breit, in den Fluss hinaus. Es war, wie Jacob jetzt sehen konnte, die eine Seite eines Mauergevierts, das etwa die Fläche von zwei Tennisplätzen umfasste. Es war voll Wasser, wie eine Art Swimmingpool, und fünf, sechs Betonstümpfe ragten daraus hervor. »Wo sind wir?« »Das nennt sich Stenenhoofd. So was wie Grundmauer.« »Was war das mal? Irgendein Gebäude?« »Ein Lagerhaus, schätze ich. Früher, als hier noch Schiffe entladen wurden.« »Es ragt ja direkt in den Fluss.« »Traust du dich, bis ans Ende zu gehen? Die Mauer ist nicht besonders breit.« »Ich würd’s gern tun.« Jacob betrat den steinernen Steg. Links von ihm, ein, zwei Meter tiefer, war das Wasser. Je weiter sie sich vom Ufer entfernten, desto stärker wurde der Wind, der hier draußen ungehindert blies. Jacob sah einmal nach unten, verlor beinahe das Gleichgewicht. Seine Füße kribbelten. Das lehrte ihn, den Kopf hochzuhalten und geradeaus zu schauen. Jenseits der breiten, dunklen Wasserfläche 442
waren erleuchtete Häuser. Sie schienen Welten entfernt, aber es konnte nicht mehr als eine halbe Meile sein. An der äußersten Ecke blieb er stehen. Vor ihm wurde der Fluss so weit, dass er das Meer hätte sein können. Und er, Jacob, auf einem Schiffsbug, der durch Wind und Wellen schnitt. Ton fasste nervös seinen Arm. »Allein hätte ich mich das nie getraut!« »Angst?«, fragte Jacob, ohne den Blick von der weiten Wasserfläche zu lösen. »Bisschen. Du nicht?« Jacob gab dem Impuls nach, den Arm um Tons Schultern zu legen. »Das ist toll. Wie ein Schiff auf hoher See.« »Dachte mir, dass es dir gefallen würde.« Nacht jetzt. Aber der Mond, der auf sie herableuchtete. Sein Spiegelbild, das im Wasser flimmerte und waberte. Tons Arm schob sich um Jacobs Taille und hielt ihn fest. Sie kuschelten sich aneinander, um sich zu wärmen. »Erfrischend«, sagte Jacob. Ein kompaktes kleines Kajütboot glitt lautlos vorbei, da‐ hinziehende Positionslichter. Ein kleiner Rest von rotem Port auf dem Grund der Flasche. »Wäre es nicht toll, so ein Boot zu haben?« »Eines Tages werden wir eins haben. Und auf dem Ijssel‐ meer segeln. Du und ich, wir beide zusammen. Warum nicht?« »Okay. Machen wir. Wie würden wir es nennen?« »Titus«, sagte Ton ohne jedes Zögern. »Wie findest du 443
das? Ein Boot namens Titus.« Jacob lachte. Als hätte jemand eine Tür zugemacht, hörte der Wind plötzlich auf. Es herrschte Stille. »Setzen wir uns?«, fragte Ton. Sie ließen sich los, setzten sich hin, ließen die Beine über dem Fluss baumeln und horchten ein Weilchen auf die neu eingetretene Stille, ehe Ton schließlich sagte: »Nimm’s Daan nicht übel. Sie hatten so viel Stress wegen Geertrui. Familienkrach. Es geht ihm näher, als er zeigen will. Er leidet sehr. Und es wird immer schwerer, je näher der Tag kommt.« Jacob sagte bedauernd, aber nicht klagend: »Ich hab doch nur gesagt, dass ich noch bleiben möchte.« »Es ging nicht bloß darum. Daan ist eifersüchtig. Ein biss‐ chen.« »Eifersüchtig?« »Auf dich.« »Auf mich ? Wieso ?« »Er und Geertrui stehen sich sehr nahe. Er vergöttert sie. Ich glaube, er würde alles für sie tun. Und plötzlich kommst du daher. Sie hat ihre Erinnerungen für dich aufgeschrieben. Daan hat Stunden damit zugebracht, ihr dabei zu helfen. Sie hatte ihm von deinem Großvater erzählt. Aber für ihn hat sie’s nicht aufgeschrieben, so wie für dich jetzt.« »Deswegen ist er gegen mich?« »Nicht gegen dich, nein. Er mag dich. Hätte dich nicht bei sich wohnen lassen, wenn er dich nicht mögen würde. 444
Aber das macht es noch schlimmer. Er ist so ein Konkur‐ renztyp. Tut immer so, als war er’s nicht. Ist es aber.« »Na ja, ich bin kein Konkurrenztyp und ich konkurriere mit ihm um gar nichts.« »Das weiß er. Er hätte eigentlich heute Abend bei Geer‐ trui sein sollen, aber er hat beschlossen, lieber bei dir zu bleiben. Das wusstest du doch, oder?« »Nein.« »Er hat sich Sorgen um dich gemacht.« »Sorgen?« »Nachdem du Geertruis Geschichte gelesen hattest. Er dachte, das hätte dir zugesetzt.« »Hat’s auch.« »Er wollte nicht, dass du allein bist.« »Das hat er dir gesagt?« »Als er angerufen hat. Ich hab gesagt, ich könnte mich doch um dich kümmern, aber er wollte es selbst tun. Er hat mich gebeten vorbeizukommen, weil er dachte, es hilft was.« Ton puffte Jacob in die Rippen. »Er weiß näm‐ lich, dass ich auf dich stehe.« »Aber warum ist er dann so wütend geworden und ein‐ fach rausgestapft?« »Daan ist ziemlich jähzornig. Wenn er sich aufregt und ihm die Pferde durchgehen, kann er gewalttätig werden. Ich hab’s einmal miterlebt. Ganz schön beängstigend. Er kann das an sich selbst auch nicht leiden. Er hasst Gewalt. Wenn er merkt, dass es kommt, geht er. Flüchtet aus der Situation, bis er sich beruhigt hat. Simone kann mit ihm umgehen, wenn er so ist. Er ist bestimmt bei ihr.« 445
»Dann war er gar nicht wirklich sauer auf mich?« »Nicht auf dich. Auf sich selbst. Daan ist der großzügigste Mensch, den ich kenne.« Jacob holte tief Luft. Ein leichter Motorölgeruch vom Wasser her brachte seine Nase zum Laufen. Er schniefte und sagte: »Du willst mir irgendwas sagen, oder?« Ton hakte Jacob unter und sagte: »Ich will dich wieder‐ sehen. Ich will dich richtig kennen lernen. Ich will, dass du mich kennen lernst. Auf welche Art auch immer – wie du möchtest. Da ist was zwischen uns. Das brauche ich dir nicht zu sagen. Wäre doch nett, rauszufinden, was es ist, oder? Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. In den nächsten paar Wochen wird Daan alles brauchen, was Simone und ich ihm geben können. Ich kenne Leute, die Verwandte oder Freunde hatten, denen Sterbehilfe geleis‐ tet wurde. Das ist sehr hart. Alle haben hinterher gelitten. Manche sogar mehr als vorher. Da Daans Verhältnis zu Geertrui so eng ist, wird es sehr schlimm für ihn sein. Das weiß ich einfach. Er wird total fertig sein. Ich weiß nicht, wie das sein wird. Komm wieder, wenn es vorbei ist und Daan Zeit gehabt hat sich zu erholen. Wenn du dann noch willst. Das wäre für uns alle gut. Es wäre ein neuer An‐ fang.« Jacob starrte auf den mondbeschienenen Fluss. Er war froh, dass das Dunkel sie umhüllte. Und dass er nicht in Tons Gesicht sah, sondern auf das gleitende, glimmernde Wasser. Nach einer Weile sagte Ton: »Lass uns das hier in Erinnerung behalten. So, wie es jetzt aussieht, heute 446
Nacht. Und dann das nächste Mal wieder herkommen und gucken ... Da wieder anfangen, wo wir aufgehört haben ...« Er ließ Jacobs Arm los und wandte sich ihm zu. »Okay?« »Okay«, sagte Jacob mühsam. Er war sich jetzt nicht mehr so sicher, ob seine Nase wirklich wegen des Ölgeruchs lief. »Aber ... da ist ... einfach so viel. Ich bin vielleicht – ich weiß nicht – nicht stark genug. Nicht mutig genug. Nicht so wie du und Daan.« Ton stieß ein kurzes, schnaubendes Lachen aus. »Das hat nichts mit Mut zu tun! Das ist einfach nur unsere Vorstel‐ lung, wie das Leben sein sollte. Nicht für alle Leute. Aber für uns. Und für Leute, die so denken wie wir. Wir lernen dieses Leben zu leben, indem wir’s tun. Was könnte man sonst Lohnendes tun ?« »Nach den letzten paar Tagen habe ich das Gefühl, dass ich bisher einfach nur blind meiner Nase nach gelaufen bin.« »Na ja, ist ja auch eine Nase, die’s wert ist, dass man hin‐ ter ihr herläuft«, sagte Ton. Und setzte dann ernsthaft hinzu: »Einer der Gründe, weshalb ich Daan so liebe, ist, dass wir gemeinsam Dinge denken, die wir allein nie ge‐ dacht hätten. Oder mit irgendjemand anderem. Und für uns ist Sex einfach ein Teil davon.« »Ich weiß«, sagte Jacob. »Das mit dem Denken, meine ich. Das ging mir auch so, als er neulich mit mir im Rijks‐ museum war.« »Er ist besessen von Rembrandt. Ich glaube, er wäre gern 447
der größte Rembrandtexperte der Welt.« »Und Simone? Was macht sie?« »Studiert Kunst. Sie ist auch besessen.« »Wovon?« »Von ihrer Kunst. Und von Daan. Sie hat ein Projekt lau‐ fen. Sie zeichnet und fotografiert ihn in jeder erdenklichen Pose. Alles Aktstudien. Sie hat vor, eintausendachthun‐ dert Bilder zu machen.« »Wieso gerade diese Zahl?« »Das hat sie sich so ausgedacht.« Jacob lachte. »Was für eine Idee! Eintausendachthundert Bilder. Hat schon mal jemand so was gemacht?« »Nicht, dass ich wüsste.« »Das dauert doch Jahre.« »Zwei, sagte sie. Sie ist jetzt im zweiten. Wenn sie alle Bilder fertig hat, will sie sie ausstellen und dann anfan‐ gen, sechsundzwanzig Ölbilder zu malen, nach den Zeichnungen, die ihr am besten gefallen.« »Sechsundzwanzig ?« »So alt ist Daan bis dahin.« »Das ist allerdings totale Aufmerksamkeit.« »Geertruis wahre Liebe?« Jacob nickte. Er stand auf. »Ist es dir recht, wenn wir jetzt wieder gehen? Mir wird langsam kalt.« Ton nahm Jacobs Hand, um ihm hochzuhelfen. Ließ sie aber nicht los, als Jacob stand. 448
»Ich möchte, dass wir uns hier verabschieden. Dass wir dabei noch mal auf den nächtlichen Fluss gucken. Damit wir immer an ihn und uns denken.« »Seh ich dich morgen nicht mehr?« »Der monatliche Besuch meiner Mutter. Ich muss was mit ihr unternehmen.« »Verstehe. Okay. Tja, dann ...« Ton hob den Arm, legte Jacob die Hand um den Hinter‐ kopf und küsste ihn einmal ausgiebig auf die Lippen. »Wiedersehen, Jacques. Bis zum nächsten Mal.« Jacob legte die Hand um Tons Kopf, so wie Ton es bei ihm gemacht hatte, und erwiderte den Kuss. »Wiedersehen, Ton. Bis zum nächsten Mal.« Ton umarmte ihn einen Moment fest, ehe sie losgingen, über den Steinsteg und durch die Wildnis zurück zur Straße.
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POSTKARTE Wer singt, ist nicht immer glücklich. Pierre Bonnard Geräusche von unten weckten ihn. Acht Uhr dreißig, ein grauer, wolkenverhangener Mittwoch. Er stand auf, ging zum Bad und fand Daan ausgehfertig im unteren Raum. »Wollte dir gerade einen Zettel schreiben«, sagte Daan. »Muss heute den größten Teil des Tages mit Geertrui ver‐ bringen. Und mit Tessel. Gibt Dinge zu regeln. Rechtsan‐ walt. Ärzte. Bin abends wieder zurück. So um sieben. Kommst du so lange klar?« »Kein Problem.« »Tut mir Leid, aber –« »Versteh ich schon. Mach dir nichts draus. Und, hör mal, wegen gestern Abend.« »Vergiss es.« »Ich hab nicht richtig nachgedacht. Zu viel Wein. Jeden‐ falls, ich wollte nicht, na ja, ich meine – alles noch schwe‐ rer machen. Tut mir Leid.« »Braucht dir nicht Leid zu tun.« »Ich wollte dir noch was sagen.« »Schnell. In ein paar Minuten geht mein Zug.« »Nur, dass ... na ja, ich weiß, das ist jetzt hart für dich. 451
Und ich weiß auch, dass du dir große Mühe gegeben hast, dich um mich zu kümmern und alles. Und, also, ich woll‐ te dir noch mal danken und dir sagen, dass ihr, du und Geertrui und Ton –« »Wir reden später. Okay?« »Ja. Klar.« Sie musterten sich. Jacob im weißen T‐Shirt und blauen Boxershorts, muffig und schlafzerknittert. Daan sauber und adrett in frischen schwarzen Jeans und einer blauen Jeansjacke über einem weißen Hemd. Aber seine Augen waren rot und müde. »Muss los«, sagte er, fasste Jacob an den Schultern und gab ihm die drei Küsse, den letzten auf die Lippen. Der raue männliche Wolldeckenkuss. »Du weißt ja, wo alles ist. Bedien dich. Dein letzter Tag. Amüsier dich.« Als Daan in der Tür war, dachte Jacob noch daran zu sagen: »Sag Geertrui, ich bin ihr sehr dankbar für ihr Geschenk, ja? Was milde ausgedrückt ist.« Daans Füße trommelten durchs Treppenhaus. »Sag ich ihr.« Er beendete gerade sein Frühstück, als Tessel kam. Sie müsse etwas holen, was Geertrui brauche, sagte sie und ging nach oben, zu einer geschlossenen Tür ganz hinten – ein Raum, in dem Jacob nie gewesen war, der aber wohl Geertruis Schlafzimmer sein musste. Sie blieb nur kurz drinnen, kam dann mit einer kleinen Ledertasche nach unten, zurück in die Küche, wo Jacob den Abwasch vom gestrigen Abendessen und vom heuti‐ 452
gen Frühstück machte. »Wäre es dir recht«, sagte Tessel, »wenn ich einen Kaffee mit dir trinke? Aber ich kann nicht lange bleiben.« »Das fände ich schön«, sagte Jacob. »Nur sollten Sie ihn lieber machen. Meiner ist eher Glückssache.« Während Tessel Kaffee zu machen begann, sagte sie mit einem nervösen Unterton: »Ich hoffe, Geertruis Erinne‐ rungen haben dich nicht zu sehr schockiert. Dich nicht unglücklich gemacht.« War sie in Wirklichkeit deswegen hier?, fragte sich Jacob. »Unglücklich nicht, nein. Ich weiß noch nicht genau, was ich fühle. Aber das nicht.« »Hat Daan dir gesagt, dass ich nicht wollte, dass Geertrui dir erzählt, was zwischen ihr und deinem Großvater war?« Jacob nickte, weil er Daan nicht in den Rücken fallen, aber auch nicht lügen wollte. »Es stimmt, ich wollte es nicht«, sagte Tessel und goss heißes Wasser auf den Kaffee. »Nicht, weil ich nicht woll‐ te, dass du es erfährst. Es schien mir nur, nach dieser ganzen langen Zeit —. Was hat man denn davon, so etwas zu wissen?« »Ich weiß nicht, ob man was davon hat. Aber ich bin froh, dass ich weiß, dass Daan mein Cousin ist und dass Sie meine Tante sind.« Tessel drehte sich um und sah ihn zum ersten Mal, seit sie da war, richtig an. »Daan, dein Cousin?«, sagte sie. »Das freut mich.« Sie lä‐ chelte. »Und ich muss zugeben, dass es mich auch freut, 453
deine Tante zu sein. Vielleicht solltest du mich ja duzen – als Tante.« Sie wandte sich ab und setzte, während sie ihnen Kaffee eingoss, hinzu: »In diesen letzten Monaten gab es in unserer Familie nicht gerade viel Grund zur Freude.« Sie trug ihre Tassen in den vorderen Teil des Raums, stellte sie auf den Tisch und setzte sich in den Sessel mit Blick aufs Fenster. Jacob folgte ihr und setzte sich aufs Sofa. Er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass er Daans Platz eingenommen hatte. »Dein letzter Tag hier bei uns«, sagte Tessel. Er trank von seinem Kaffee, sagte dann: »Ich weiß, das klingt sicher komisch, nach allem, was war, aber ich fand es wirklich schön, hier zu sein und Sie – euch alle kennen zu lernen und, na ja –« »Wir haben uns nicht so um dich gekümmert, wie es sich gehört hätte.« »Das kommt mir ehrlich nicht so vor.« Tessel sah ihn an. »Du warst nicht der Einzige, um den ich mir Sorgen gemacht habe, als ich wusste, was Geertrui vorhatte.« »Sarah?« Tessel nickte. Er dachte, wie viel älter sie heute wirkte als am Sonntag. Ihr Gesicht war müde und zerfurcht. Sie trank von ihrem Kaffee und stellte die Tasse wieder hin, ehe sie sagte: »Wirst du’s ihr zu lesen geben?« »Sie – du meinst, ich sollte es nicht tun?« »Es ist deins. Du kannst damit machen, was du möch‐ test.« 454
»Daan meint auch, ich soll’s nicht tun.« »Aber du meinst, das wird dir schwer fallen?« »Nicht nur das. Ich will das tun, was richtig ist.« Tessel schnaubte leise. »Ah, ja!« Sie nahm einen weiteren Schluck Kaffee. »Es ist nicht immer leicht herauszufinden, was richtig ist.« »Das Richtige zu tun, ist auch nicht immer leicht.« Es war einfach nur als Bemerkung gemeint gewesen, kam aber irgendwie vorwurfsvoll heraus. Tessel sah ihn prüfend an. »Du denkst, ich will dem aus‐ weichen. Oder dir sagen, du sollst nicht tun, was richtig wäre.« Leicht verlegen sagte Jacob: »Nein, nein. Das hab ich nicht gemeint. Ich freue mich nur nicht gerade darauf, es Sarah zu sagen. Und ich habe Angst, wie sie’s aufnimmt.« »Es ihr nicht zu sagen, wäre also feige.« »Wär’s das?« »Und um kein Feigling zu sein, willst du’s ihr sagen.« »So hab ich’s noch gar nicht gesehen. Ist es so?« »Oder ist es feiger, es ihr zu sagen?« »Wieso?« »Dann bist du die Last los.« »Welche Last?« »Die Verantwortung.« »Welche Verantwortung?« »Etwas zu wissen, was jemand anderem sehr wehtun könnte. Einer Person, die du liebst und die dir eine Menge Liebe und Fürsorge gegeben hat. Einen beträchtlichen Teil ihres Lebens sogar. Die Verantwortung, es zu wissen und 455
es ihr nicht zu sagen, um ihr eine tiefe Verletzung zu er‐ sparen.« »Du meinst, es ist schwerer, es nicht zu sagen, und es wäre vielleicht guter – sorry! – besser, es nicht zu tun?« »Guter ist gar nicht so falsch. Das höhere Gut – es nicht zu sagen, ja, ich muss zugeben, dass ich das meine.« Jacob schwieg ein Weilchen, versuchte, die Frage für sich zu entscheiden, konnte aber an nichts anderes denken als an die beklemmende Situation. Tessel machte nervöse kleine Handbewegungen, zupfte an der Armlehne des Sessels, strich sich den Rock glatt, berührte ihr Gesicht, hob ihre Kaffeetasse und stellte sie, ohne getrunken zu haben, wieder hin. Schließlich sagte er: »Ich weiß nicht. Ich schätze, ich bin einfach immer noch ein bisschen durcheinander. Muss die Geschichte noch mal lesen. Ist irgendwie noch nicht rich‐ tig zu mir durchgedrungen. Ich bin ehrlich gesagt immer ein bisschen langsam, wenn’s darum geht, zu wissen, was ich fühle und was was für mich bedeutet.« Tessel holte tief Luft. »In meinen Augen ist das kein Feh‐ ler. Was lange reut, ist schnell getan. Habt ihr nicht diese Redensart?« Jacob lächelte und nickte dankbar. »So was in der Art, ja.« Tessel trank ihren Kaffee aus. Sie saß ganz vorn auf der Sesselkante, sah auf ihre Hände, die aufeinander gelegt auf ihren Knien ruhten und sagte: »Eigentlich bin ich ge‐ kommen, um dir Auf Wiedersehen zu sagen. Ich werde dich morgen nicht zum Flughafen bringen können. Daan sagt, du bist durchaus in der Lage, allein hinzukommen, 456
aber ...« »Das schaffe ich schon. Kein Problem. Ist mir ehrlich ge‐ sagt sogar lieber.« »Ich finde trotzdem, jemand von uns sollte dich hinbrin‐ gen.« »Ist nicht nötig. Wirklich nicht.« »Und ich wollte dir noch sagen, dass ich mich sehr freuen würde, wenn du uns noch mal besuchen kämst. Wenn ... nach ...« »Mache ich. Gern. Sehr gern.« »Daan würde sich auch freuen.« »Versprochen. Sobald ich kann.« Sie versuchte, ein heiteres Lächeln zustande zu bringen. »Schließlich sind wir ja deine holländische Verwandt‐ schaft. Du bist einer von uns. Du gehörst zu uns.« Er lachte aufrichtig erfreut. »Du solltest dann aber für länger kommen. Und Nieder‐ ländisch lernen.« »Das sagt Daan auch. Er nennt mich schon ›kleiner Bruder‹, was ich so wenig leiden kann wie jeder echte kleine Bruder.« Tessel stand auf. »Ich muss jetzt gehen.« Sie nahm Mantel und Taschen an sich. Drehte sich dann an der Tür noch mal zu Jacob um. »Auf Wiedersehen«, sagte sie. »Lass dich nicht von einer ängstlichen Tante durcheinander bringen. Wenn’s so weit ist, wirst du wissen, was das Richtige ist. Dann tu’s, egal, wer was sagt. So, darf deine holländische Tante dich jetzt 457
küssen, wie es sich für eine Tante gehört?« Sie beugte sich zu ihm und hauchte ihm ein kaum spür‐ bares Dreifachküsschen auf die Wangen. »Grüß Sarah von mir. Und bitte, lass mich wissen, was du tust. Wenn du’s ihr sagst, würde ich ihr gern etwas dazu schreiben. Wirst du das tun?« »Klar.« »Danke. Also noch mal, auf Wiedersehen. Das nächste Mal werde ich eine richtige Tante sein. Wir werden etwas zusammen unternehmen. Es gibt hier Orte auf dem Land, im Polder, die du bestimmt gern sehen würdest. Das wahre Holland. Nicht so wie Amsterdam.« »Mir gefällt Amsterdam sehr. Mit jedem Tag besser.« »Ach, ihr jungen Leute.« Er sah Tessel bedächtig die Treppe hinuntergehen und war froh, dass sie gekommen war. Er erkannte etwas von sich in ihr wieder. Eine bestimmte Art von Zurückhal‐ tung. Ein ängstliches Bemühen um den anderen. Und das Streben nach dem, was Sarah gute Manieren nannte. Ihre Jacob‐Gene oder Zufall, Erbe oder nicht? Spielte das eine Rolle? So waren sie nun mal und er war froh drüber. Nach Tessels Besuch war er ruhelos. Er konnte sich auf nichts konzentrieren. Nicht lesen. Musik ging ihm auf die Nerven, Schreiben war unmöglich, schon bei der Vorstel‐ lung würgte es ihn. Obwohl er Geertrui schreiben wollte, weil er das Gefühl hatte, dass er’s sollte, dass er ihr sagen sollte, was er konnte, solange noch Zeit war. Aber was sagen? Da war so viel zu sagen. Und so wenig, was er 458
sagen konnte. Was sagte man zu einer Frau, zu irgend‐ einer Person, die in fünf Tagen aus eigenem Entschluss sterben würde? Schließlich ging er, um seiner Nervosität zu entrinnen, nach draußen. Zuerst hatte er vor, wieder zu diesem Lagerhausfundament zu gehen, um zu gucken, wie es bei Tag aussah, und weil dort keine Menschen waren. Doch als er beim Bahnhof war, hatte er sich’s anders überlegt. Ihm war nicht danach, allein auf einer schmalen Mauer mitten im Fluss zu sitzen. Eine Weile beobachtete er die Straßenkünstler auf dem Bahnhofsvorplatz. Die Peruaner oder was immer sie waren. Ein Paar, das mit Flaschen jonglierte. Immer wieder hörte er Straßenbahnen bimmeln, ehe sie zu ihrer nächsten Tour aufbrachen. Ihm gefielen die Amsterdamer Straßenbahnen, ihr Bleistiftkörper, ihre Stumpfnase, ihr Geklingel, das Zischen der pneumatischen Türen und Bremsen, das jaulende Surren der Motoren, das metalli‐ sche Mahlgeräusch der Räder in den Schienen. Äußerlich waren sie altmodisch und grundsolide, aber vom Gefühl her modern und witzig. Wie die Stadt, durch die sie fuhren. Warum nicht, dachte er, einfach mit einer bis zur Endhaltestelle und wieder zurückfahren? Eine Stadt‐ durchquerung aus der Straßenbahnperspektive. Er spazierte zu einer Schautafel mit einem Stadtplan, auf dem die Straßenbahnlinien rot eingezeichnet waren. Ent‐ schied sich für die 25. Die endete in einer Gegend, wo er die Namen aussprechen konnte, Martin Luther King Park und President Kennedylaan, an einem scharfen Knick der 459
Amstel. Dort war sicher irgendwo ein Café, wo er ein bisschen sitzen und dem Treiben auf dem Fluss zugucken konnte, ehe er wieder zurückfuhr. Ab ging’s, klingeling, vom Stationsplein, klingeling, übers Wasser, klingeling, weiter auf den Damrak mit seinen halbseidenen Touristenläden und ‐bars – Sexmuseum, Foltermuseum – und vorbei an der Beurs van Berlage, die einst die Börse gewesen war, jetzt aber als Ausstellungs‐ und Veranstaltungszentrum diente, weiter zum Bijenkorf, dem Nobelkaufhaus am Dam, und dem königlichen Palast, der mit seinen grimmen, grauen, schweren Stein‐ mauern eher wie ein Gefängnis aussah (warum wurde er nicht mal gereinigt und ein bisschen aufgepeppt?), überall Leute, klingeling, eine Schlange vor Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett, klingeling, weiter auf den Rokin, schickere Läden hier – Antiquitäten, Klamotten, Restau‐ rants, ein Optiker, wo Daan seine Lesebrille gekauft hatte, ein, wie er sagte, wunderschöner alter Laden, seit Genera‐ tionen im Familienbesitz – und auf der anderen Seite eine Gracht mit wartenden Rundfahrtbooten, dann am Ende der Straße, klingeling, um eine geschäftige Ecke in die Vijzelstraat. Wo ihm einfiel, wie er diese Strecke in umgekehrter Rich‐ tung gefahren war, letzten Donnerstag, nachdem Alma ihn gerettet hatte, an seinem ersten Tag in dieser Stadt und dem letzten Tag seines alten Lebens. Also würde er jetzt gleich an dem Café vorbeikommen, wo sie geredet hatten, und an dem Laden, wo Ton mit ihm Pralinen gek‐ auft hatte, am Montag, dem Tag, an dem er sich (Lächeln) 460
in diese Stadt verliebt hatte. Hab ich doch, dachte er, oder? Ist genauso, wie sich in einen Menschen zu verlie‐ ben. Nicht mehr ohne diese Stadt sein wollen, alles über sie wissen wollen, sie mögen, wie sie ist, die schlechten wie die guten Seiten, das nicht so Hübsche wie das Schöne, die Geräusche, Gerüche, Farben, Formen und Merk‐würdigkeiten. Das mögen, was sie anders macht als andere Städte. Ihre Geschichte wie ihre Gegenwart. Und ihre Rätselhaftigkeit, weil da so vieles war, was er nicht verstand. Und die Leute, die ihn diese Stadt sehen gelehrt hatten, Daan und Ton. Und natürlich das Lustige an dieser Stadt. Er hatte noch nie eine Stadt lustig gefunden. Aber Amsterdam war lustig. Bis zu diesem Moment hatte er noch gar nicht gemerkt, dass er lächeln musste, wenn er nur hinguckte. Ganz egal, was er auf den Straßen sah. Diesen Mann dort zum Beispiel, der rasch durch die Men‐ ge schritt, wobei ihm alle Platz machten. Ein sehr großer, schlanker, muskulöser bronzefarbener Mann mit endlos langen Beinen, bekleidet nur mit einem schwarzledernen Posing‐Slip, einem schwarzen Lederhalfter um die Schul‐ tern und einer Art schwarzer Kappe aus Leder streifen. Und er ging nicht einfach nur, nein, er paradierte, stellte sich zur Schau. Ein Kunstwerk. So schön wie jedes Aus‐ stellungsstück im Museum. Eine lebende kinetische Skulptur. Jetzt kam die Keizersgracht. Dann die Prinsengracht. Er kannte inzwischen die Rei‐ henfolge der Grachten und freute sich über seine wach‐ sende Souveränität. Die Prinsengracht, wo Alma wohnte. 461
Er hatte versprochen, ihr von seinen »Abenteuern« zu erzählen, ehe er abflog. Über die Prinsengracht zu der Haltestelle in der Mitte der Straße, vor dem Panini. Ein Versprechen. Und außerdem, warum nicht? Spontan stand er auf und konnte gerade noch hinausschlüpfen, ehe die Tür zischend zuging. Als er die Fahrbahn überquerte, sah er den Blumenstand auf der Brücke. Er kaufte einen Strauß roter Teerosen, einer‐ seits in Gedanken an Sarahs Benimm‐Instruktionen, ande‐ rerseits aber auch aus schlechtem Gewissen, weil er nicht vorher angerufen hatte. Und wenn sie nun nicht da war? Die Blumen ins Fenstergitter stecken und, klingeling, weiter wie gehabt. Aber Alma war da und begrüßte ihn so herzlich, dass seine Schuldgefühle verflogen. Das Schutzgitter wurde geöffnet, und er stieg durch die blumenumkränzte Fenster‐Tür, drei steile Stufen hinunter, wie die Stufen zu einer Bootskajüte, und in die viereckige kleine Höhle ihres Wohnzimmers. Bei geschlossener Fenster‐Tür war es hier warm und gemütlich, das durchs Blattwerk gefil‐ terte Tageslicht weich und leicht grün getönt, während eine Kugellampe auf einem Bord in der Ecke einen gelben Lichtkreis um den Sessel goss, wo Alma ihr Buch aufge‐ schlagen zurückgelassen hatte, um ihm aufzumachen. Die schlichte Schönheit des Raums war kaum zu übertreffen. Kaffee und kaneel‐gewürzte Kekse, deren Geruch ihn an Hille erinnerte, erschienen aus einer Küche irgendwo hin‐ ter der Tür, durch die Jacob ein Stück von einem Einzel‐ bett mit einer narzissengelben Daunendecke in einem 462
deutlich kleineren Raum sehen konnte. Alma saß in ihrem Sessel, Jacob auf einem weichen, schwarzen Leinensofa an der Wand zur Straße, unter dem Fenster, das das Pendant zum Eingang war. Während der Kaffee in Arbeit gewesen war, hatte Jacob sich dafür entschuldigt, dass er unangemeldet hereinge‐ platzt war. Die Rosen waren mit entzückten Ausrufen quittiert, in eine Vase gestellt und auf dem antiken run‐ den Esstisch platziert worden, wo ihre Blüten vor dem altersdunklen Kastanienbraun des Holzes wie Blut leuch‐ teten. Seine morgige Abreise war erörtert worden – wann sein Flugzeug ging, welchen Zug er nach Schiphol neh‐ men musste, um genug Zeit zum Einchecken zu haben, wie lange der Flug dauerte (eine Stunde und zwanzig Minuten), wer ihn abholen würde (seine Mutter) und wie weit es dann noch vom Flughafen von Bristol bis zu ihm nach Hause war (eine Stunde mit dem Auto). Jetzt sagte Alma: »Und? Waren Sie im Anne‐Frank‐Haus? Wie fanden Sie’s?« Und nun erzähl mir eine Geschichte. »Um ehrlich zu sein, ich war schon dort gewesen, als wir uns neulich begegnet sind.« »Ach? Das haben Sie mir nicht erzählt.« »Nein. Ich war nicht in der Stimmung. Ich meine, nicht wegen der Diebstahlsgeschichte. Schon vorher. Ich war gerade erst hier angekommen, bei Daans Eltern, am Tag vorher. Ich glaube, das habe ich Ihnen erzählt. Und Daans Mutter, Tessel, sie ist eigentlich sehr nett und ich mag sie wirklich, aber als ich ankam, na ja, da sagte sie mir, sie 463
hätten Familienprobleme, sie sagte nicht, was genau, nur dass ihre Mutter, Geertrui, sehr viel Aufmerksamkeit brauche, und, na ja, jedenfalls, ich fühlte mich nicht sonderlich willkommen, eher im Gegenteil.« »Von all dem haben Sie letzte Woche nichts gesagt.« »Nein. Sie hatten mich für den Tag nach Amsterdam ge‐ schickt, damit ich irgendwie beschäftigt und aus dem Weg war, jedenfalls fühlte es sich so an. Deshalb war ich nicht gerade guter Laune.« »Das kann ich verstehen.« »Und ich fühle mich nie so besonders wohl, wenn ich allein in einer fremden Umgebung bin. Ich bin eigentlich überhaupt kein Großstadtmensch. Wobei ich Amsterdam inzwischen wirklich mag. Aber das ist eine andere Geschichte. Also, jedenfalls war ich hier und schlechter Laune und bin ins Anne‐Frank‐Haus gegangen, weil das der einzige Ort war, von dem ich wusste und wo ich hin wollte.« »Wegen des Tagebuchs natürlich.« »Dort war eine Warteschlange.« »Wie immer.« »Und zwar eine ziemlich lange, was meine Laune auch nicht gerade gebessert hat. Ich bin nicht sonderlich gedul‐ dig, was Schlangestehen angeht. Aber ich habe mich an‐ gestellt und es war, als ob wir drauf warten würden, den Mann mit den zwei Köpfen oder die Dame mit dem Bart oder sonst irgendeine Jahrmarktsattraktion zu sehen. Und als ich schließlich reinkam, waren da Leute vor mir und Leute hinter mir und wir trampelten alle die Treppe rauf 464
und in die Räume. Ihre Räume. Wo schon ein totales Ge‐ dränge war, lauter gaffende Leute. Sie benahmen sich nicht daneben, ganz im Gegenteil. Sie waren richtig ehr‐ fürchtig, ganz leise, redeten nicht mal, flüsterten nur und zeigten mit dem Finger und guckten. Ich weiß nicht. Mich überkam einfach das Gefühl, dass wir in Annes Privat‐ sphäre eindrangen. Einfach über sie hinwegtrampelten. Aber das war noch nicht alles, das albernste Gefühl war ...« »Ja?« »Klingt echt lächerlich. Aber als ich all diese Leute sah, von denen die meisten ungefähr in meinem Alter waren, und wir uns alle dort durchschoben wie die Pilger durch irgendein Heiligtum, na ja, da war es auf einmal gar nicht mehr meine Anne.« »Nicht mehr Ihre Anne?« »Nein. Da waren all diese anderen Menschen, die auch dort sein wollten, wo sie gelebt hatte. Wo sie ihr Tage‐ buch geschrieben hatte. Und da habe ich mir plötzlich gesagt: ›Die glauben auch alle, sie gehört ihnen.‹« »Aber, Jacob, Sie müssen doch gewusst haben, wie be‐ rühmt sie ist.« »Klar wusste ich das. Aber das war trotzdem etwas ande‐ res. Ich meine, es gibt Wissen und Wissen, oder? Ich wuss‐ te es im Kopf, wie eine Statistik, ein Faktum. Aber ich wusste es nicht wirklich, nicht innerlich. Sie war berühmt – na und? Ich hatte das Tagebuch immer wieder gelesen. Passagen mit Leuchtstift markiert, wie ich schon sagte. Aber ich glaube, darüber hatte ich nie nachgedacht. Es 465
war, als ob sie meine beste Freundin wäre, und ich habe einfach, ich weiß nicht, einfach geglaubt, bin einfach selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie das Tage‐ buch für mich geschrieben hatte. Nur für mich.« »Und dann sahen Sie diese Leute in dem Hinterhaus –« »Vor allem in dem Raum, wo sie geschlafen hat. Sie wissen ja, wie klein der ist und wie da all diese Bilder, die sie an die Wand geklebt hat, die Postkarten und Zeit‐ schriftenausschnitte –« »Ich weiß.« » – immer noch hängen. Keine Möbel. Auch ganz schön blöd von mir, schätze ich, aber irgendwie hatte ich erwar‐ tet, dass die Räume noch so wären wie damals, als sie dort gelebt hat. Sind sie aber nicht. Da ist nichts drin. Kein Stück. Außer einem Modell in einem Glaskasten, wie ein Puppenhaus, das zeigt, wie es damals aussah. Das hat mich fertig gemacht. Ich meine, hinterher ist mir natürlich aufgegangen, dass die Räume gar nicht mehr so sein kön‐ nen. Ich wusste ja, dass die Deutschen alles ausgeräumt haben, nachdem sie die Leute verhaftet hatten. Aber irgendwie war nicht richtig zu mir durchgesickert, was das hieß. Nur noch diese Bilder, die Anne an die Wand neben ihrem Bett geklebt hatte. Das war’s, was mich so geschafft hat, glaube ich. Als ich die gesehen habe, war es, als ob sie noch da wäre. Oder nicht sie, sondern ihr Geist. Das hat mich umgehauen. Da hatte ich so oft ihr Tage‐ buch gelesen. Und es bedeutete mir so viel. Vor allem die Teile, die ich markiert hatte, weil sie mir so wichtig waren. Anne, die zu mir sprach. Die ausdrückte, was in 466
meinem Kopf war. Meine eigenen Gedanken und Gefüh‐ le. Und dann diese kahlen Räume und all diese Men‐ schen, die sich plötzlich zwischen mich und Anne dräng‐ ten. Und die genauso über sie dachten wie ich. Und warum auch nicht? Das hat sie ja schließlich gewollt. Sie wollte eine berühmte Schriftstellerin sein, das war alles, was sie wollte. Und das ist es auch, was sie war, ich meine, ist.« »Und dann sind Sie rausgerannt?« »Nein. Nicht sofort. Ich habe versucht mich zusammen‐ zureißen. Ich wusste, was ich da gedacht hatte, war lächerlich. Ich wusste, ich sollte froh sein. Froh, dass so viele Leute sie genauso liebten wie ich. Ich habe es geschafft, mich zur Ecke am Fenster durchzuarbeiten, und bin dort an der Wand stehen geblieben, um mich zu erholen. Ich habe gezittert wie Espenlaub und mir stand der kalte Schweiß auf der Stirn. Ich weiß noch, dass da ein Mann neben mir stand und aus dem Fenster guckte. Er war Engländer, schon etwas älter, ein bisschen wie mein Dad. Er war mit einer Frau da, die er Joke nannte, also war sie vermutlich Niederländerin. Während ich dort stand und mich in den Griff zu kriegen versuchte, hörte ich ihn sagen: ›Siehst du die Häuser da drüben?‹ Und die Frau sagte: ›Die stehen an der Keizersgracht.‹ Und er sagte: Wusstest du, dass Descartes mal in einem davon gewohnt hat?‹ ›Ich denke, also bin ich‹, sagte die Frau. Und der Mann sagte: ›Ich denke, also bin ich. Ich bin, also werde ich observiert.‹ Und dann lachten sie, und sie küß‐ te ihn.« 467
Er sah Alma an. »Ich denke, also bin ich«, wiederholte sie. »Und dann?« »Ich bin, also werde ich observiert.« »Nie gehört«, sagte sie. »Ich auch nicht«, sagte Jacob. »Nicht von Descartes.« »Und finden Sie’s nicht seltsam, dass ich mich so genau dran erinnere – wortwörtlich?« »Vielleicht. Und als Sie sich wieder im Griff hatten, was haben Sie dann gemacht?« »Ich bin einfach der Masse nachgelaufen. Und Sie wissen doch, wie man dort runterkommt, vom Versteck in den Museumsteil.« »Wo ihre Geschichte in Bildern erzählt wird.« »Und wo diese Glasvitrinen stehen, mit Sachen von Anne.« »Dem Originaltagebuch.« »Ja, dem Tagebuch selbst. Na ja, als ich das Tagebuch ge‐ sehen habe, konnte ich einfach nicht mehr. Die Bilder in ihrem Zimmer waren schon schlimm genug. Aber die waren nicht sie. Nicht Anne selbst. Aber das Tagebuch –! Wenn man sich’s überlegt, ist es doch eigentlich das, was sie war. Was sie ist! Ihr Tagebuch. Das Buch, das sie geschrieben hat. Ihre Handschrift. Ihre Worte, die sie mit ihrem Füller hingeschrieben hat. Ich hab’s angeschaut und angeschaut. Konnte mich gar nicht davon losreißen. Ich hätte am liebsten das Glas eingeschlagen, um es in die Hand zu nehmen. Ich wollte es halten. Wollte es riechen. Wollte es küssen. Wollte es stehlen! Das wollte ich echt! 468
Und um mich herum drängten sich die Leute, wollten alle so dicht wie möglich ran. Genau wie ich. Ich wollte sie anschreien: ›Geht weg! Lasst sie in Ruhe! Ihr habt kein Recht, hier zu sein. Haut ab!‹ Aber ich hab’s natürlich nicht getan. Bin einfach nur selbst abgehauen. Ich weiß nicht mehr, wie. Keine Ahnung. Ich weiß erst wieder, wie ich zu mir kam, als ich fast von einer Straßenbahn über‐ fahren worden wäre. Da war ich an der Leidsestraat, ob‐ wohl ich da noch nicht wusste, welche Straße es war. Und so bin ich an dem Plein gelandet, wo ich dann bestohlen wurde.« »Und dann habe ich Sie gefunden«, sagte Alma und atme‐ te seufzend aus, wie es Zuhörer am Ende einer Geschichte tun. »Kein Wunder, dass Sie so verstört waren. Vielleicht mehr von Ihrem Besuch im Anne‐Frank‐Haus als von dem Diebstahl.« »Stimmt.« »Der Dieb hat nur Ihr Geld genommen. Was Sie im Anne‐ Frank‐Haus verloren haben, war etwas viel Kostbareres.« »Ich weiß. So fühlt es sich an. Aber ich kapiere immer noch nicht, was es war, obwohl ich viel drüber nachge‐ dacht habe.« »Vielleicht haben Sie ja etwas von Ihrer kindlichen Un‐ schuld verloren. Jedes Mal, wenn man eine Lektion über das Leben lernt, geht das mit einem Verlustgefühl einher. Das ist meine Erfahrung. Wir gewinnen etwas. Aber es hat auch seinen Preis.« Während Alma sprach, wurde Jacob plötzlich klar, wa‐ rum er zu ihr gekommen war. Ohne Einleitung, ohne 469
vorher zu fragen, erzählte er ihr von Geertruis Erinnerun‐ gen. Sagte ihr, dass er Angst habe, wie Sarah das Ganze aufnehmen würde. Sagte aber nichts davon, dass Daan und Ton und Tessel meinten, dass er es für sich behalten solle. Und schloss im selben Atemzug die Frage an, was Alma meinte, was er tun solle. Es Sarah sagen oder nicht? Sie schwieg. Er fühlte die Frage schwer über ihren Köpfen hängen. Endlich, als er schon dachte, er hätte sie etwas so Unge‐ höriges gefragt, dass sie nicht antworten würde, sagte Alma: »Sind Sie sicher, dass Ihre Großmutter das alles nicht schon weiß?« Ihre Frage verschlug ihm den Atem. Diese Möglichkeit war ihm noch gar nicht in den Sinn gekommen. »Das hätte sie mir gesagt«, sagte er, als er’s konnte. »Was macht Sie da so sicher?« »Wir reden über alles. Da hätte sie es mir doch gesagt, oder nicht?« »Sie reden über alles. Sie hat Sie zum Grab Ihres Groß‐ vaters geschickt?« »Ja.« »Warum erst jetzt?« »Sie sagte, jetzt sei ich alt genug, es zu verstehen.« »Was zu verstehen?« »Wie er gestorben ist, schätze ich.« »Und wie ist er gestorben?« »Na ja, da war seine Verwundung. Aber gestorben ist er wohl an einem Herzinfarkt.« »Ach, an einem Herzinfarkt. Also hat sie Sie zu seinem 470
Grab geschickt. Oder hat sie Sie in Wirklichkeit zu Geer‐ trui geschickt?« »Geetrui hatte Sarah eingeladen, aber die konnte nicht kommen.« »Haben Sie den Brief gesehen?« »Nein.« »Woher wissen Sie dann, was Geertrui ihr gesagt hat?« »Ich weiß es nicht. Nur das, was Sarah mir erzählt hat.« Schweigen, bis Alma wieder sprach. »Warum denken junge Leute so oft, dass alte Menschen nicht so gut mit dem Leben umgehen können wie sie? Oder dass sie die Wahrheit nicht mehr verkraften ?« Jacob sah sie an, versuchte abzuschätzen, was ihm da mit‐ geteilt wurde, was sie wirklich sagte. Aber ihr Blick war stet und ihr Gesicht verriet nichts. »Sie meinen, wenn Sarah es nicht weiß, wird sie’s schon verkraften?« »Ich kenne Ihre Großmutter nicht. Das müssen Sie ent‐ scheiden.« »Und wenn sie’s weiß, wird sie warten, was ich sage?« »Ganz schöne Zwickmühle«, sagte Alma lächelnd. Sie umfasste ihre Knie, stemmte sich in die Höhe, wie es an Arthritis leidende alte Menschen tun, und brachte die Kaffeetassen in die Küche. Als sie wiederkam, sagte sie in ihrem munteren Plauder‐ ton: »Ihre Blumen sind wunderhübsch.« Zeit zum Aufbruch. Jacob erhob sich. »Dann geh ich jetzt mal.« »Werden Sie noch mal nach Amsterdam kommen?« 471
»Ja. Ich komme bestimmt noch mal wieder.« »Dachte ich mir schon. Ich hoffe, Sie werden mich wieder besuchen und mir erzählen, wie Sie sich entschieden haben.« »Ja. Versprochen.« Alma streckte ihm die Hand hin. Er drückte sie und gab Alma den zurückhaltendsten und höflichsten aller Obere‐ Wangenzone‐Drillingsküsse. »Sie lernen unsere Gebräuche sehr schnell«, sagte Alma lachend.
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Jacob. Daan hat mir erzählt, dass du darum gebeten hast, bei meinem Ende hier sein zu können. Ich muss Nein sagen. Es wird schwer sein, vor allem für Tessel und Daan. Sie müs‐ sen hinterher weiterleben. Da darf nicht noch jemand sein, um den sie sich Gedanken machen müssen. Ich habe alles geplant. Nur Tessel und Daan hier bei mir. Und der Arzt. Aber du wirst an mich denken. Es wird mittags geschehen, am Montag. Tessel und Daan werden ab Freitag die ganze Zeit hier sein. Wir werden uns verabschieden. Der Arzt gibt mir eine Spritze. Wenn ich schlafe, gibt er mir die Spritze, die mein Leben beendet. Es wird nicht schmerzhaft sein. Es wird das Ende unerträgli‐ cher Schmerzen sein. Vom Moment unseres Abschieds bis zum Ende werden sie Worte lesen, die ich liebe. Ein Gedicht wird auf Englisch sein. Es wird kein Brimborium geben. Nach dem Trauergottesdienst wird mein Körper eingeäschert werden. Tessel und Daan verstreuen meine Asche im Hartenstein‐Park in Oosterbeek. 473
Dirks Asche ist auch dort verstreut. Wo wir aufgewachsen sind und unsere Kinderzeit mit Henk verbracht haben. Das Grab deines Großvaters ist nicht weit. Es ist schön dort. Unsere Familie kann hinkommen und an uns denken. Ich hoffe, du wirst auch hinkommen. Möge Segen auf deinem Leben ruhen. Liefs, Geertrui
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»Hille?« »Jacob.« »Okay?« »Okay. Du?« »Muss dich sehen.« »Aber du fliegst doch morgen, oder?« »Am Nachmittag.« »Ich wollte dir schreiben.« »Hast du meinen Brief gekriegt?« »Ja.« »Ich brauche deine Hilfe.« »Hilfe?« »Da ist was, was ich rausgefunden habe. Und ich muss dich sehen.« »Hier herrscht das totale Chaos. Der Umzug und alles.« »Ich muss dich echt sehen.« »Aber wann?« »Morgen. Ich komme nach Oosterbeek und fahre von da nach Schiphol.« »Ich bin in der Schule.« »Nur den Vormittag über.« »Ich gucke mal, was wir haben.« »Nachmittags kannst du ja hingehen.« »Vielleicht ließe sich’s ja machen.« »Ist wichtig.« 475
»Okay. Aber ich komme zu dir.« »Okay. Wann?« »So um zehn. Plusminus.« »Ich warte in der Wohnung. Weißt du, wo das ist?« »Ja.« »Danke. Bis dann.« »Tot ziens.«
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POSTKARTE Die Gabe der Lust ist das erste Mysterium John Berger »Du wolltest was über meinen Großvater wissen«, sagte Jacob. »Jetzt weißt du’s.« »Bin froh, dass ich heute lebe und nicht damals«, sagte sie. »Aber was denkst du? Über meinen Großvater und sie, meine ich.« »So was ist damals oft vorgekommen. Vor allem bei Kriegsende. Dieses Jahr hatten wir sogar einen speziellen Tag dafür.« »Wofür?« »Für Leute, deren Väter Soldaten waren, die für unsere Befreiung kämpften. Das nannte sich Tag der Versöh‐ nung. Einige Leute, viele Leute, die solche Soldatenkinder großgezogen hatten, ohne es ihnen zu sagen, haben an diesem Tag zum ersten Mal mit ihnen drüber gespro‐ chen.« »Öffentlich?« »Wenn sie wollten, ja. Und die Leute, die immer schon offen damit umgegangen waren, haben ihnen dabei geholfen.« 477
»Irre.« »Warum? Ich fand’s gut. Mir hat es gefallen.« »Kann mir nicht vorstellen, dass es so einen Tag in Eng‐ land geben könnte.« »Ihr braucht keinen. Ihr wart nie besetzt und seid folglich auch nie befreit worden.« »Würde es aber auch sonst nicht geben.« »Ist vielleicht schon ein bisschen typisch Niederlande.« »Zu erfahren, dass mein Großvater eine holländische Ge‐ liebte hatte und dass es eine holländische Tochter und einen holländischen Enkel von ihm gibt, war schon ganz schön heftig. Weiß der Himmel, wie sich’s anfühlt, wenn man rausfindet, dass der Mann, den man immer für den eigenen Vater gehalten hat, gar nicht der eigene Vater ist und dass einem die eigene Mutter fünfzig Jahre lang was vorgemacht hat.« »Manche Leute waren total fertig. Andere haben es gut verkraftet. Manche schienen gar nicht weiter betroffen. Ist doch immer so, meinst du nicht? Man weiß doch nie, wie sich Leute verhalten werden, wenn sie was Schwerwie‐ gendes erfahren. Man weiß ja nicht mal von sich selbst, wie man sich bei irgendwas verhalten wird, bis es einem passiert. Ich jedenfalls nicht. Ich hab dir doch erzählt, wie es war, als meine Großmutter gestorben ist. Vorher hätte ich nie gedacht, dass ich Schuldgefühle haben würde. Ich meine, warum auch? Ich hatte ihr doch nichts angetan, sie war alt und krank. Kranke alte Menschen sterben. Das ist natürlich. War ja nicht meine Schuld, dass sie alt und krank war. Aber ich hatte trotzdem Schuldgefühle.« 478
»Komisch, weil – darüber wollte ich auch mit dir reden. Seit gestern, seit ich Zeit hatte, drüber nachzudenken, habe ich Schuldgefühle. Wegen Grandad.« »Wieso? Weil er und Geertrui ein Liebesverhältnis hat‐ ten?« »Deshalb eigentlich nicht so sehr.« »Weil Geertrui ein Kind gekriegt hat?« »Ich kann verstehen, wie’s dazu kam. Warum’s dazu kam. Wie es für sie war. Hätte mir vermutlich auch pas‐ sieren können.« »Aber warum dann?« »Weil ich es weiß.« »Aber das ist doch so lange her. Und es ist doch nicht so schrecklich für dich, oder? Dass du nette holländische Verwandtschaft dazugekriegt hast?« »Nein, das ist okay. Das freut mich.« »Was dann?« »Ich bin mir nicht so sicher, dass es meine Großmutter auch freuen wird.« Hille schlug sich auf den Schenkel. »Sie weiß es ja nicht! Domkop! Ich hab nur an dich gedacht.« »Danke. Aber deshalb habe ich Schuldgefühle. Weil ich’s weiß und sie nicht. Fast, als ob ich mein Großvater wäre und sie meine Frau. Blöd, was?« Die Anspannung machte ihn unruhig. Er stand auf, wobei er sich fragte, warum er sich immer in diesen Sessel setzte, und ging ans Fenster. Eine Bläss‐ huhnfamilie paddelte die Gracht entlang. Die Jungen vom Frühjahr sahen schon ganz schön erwachsen aus. Im 479
Hotel drüben niemand in Sicht, außer einem Zimmer‐ mädchen, das ein Bett machte. Die schmutzigen Kirchen‐ fenster blind und drahtvergittert wie eh und je. Er hörte Hille vom Sofa aufstehen, hörte ihre Schuhe über die Fliesen klicken, als sie von hinten herankam und die Arme um seine Taille schlang. Durch sein Hemd fühlte er ihre weichen Brüste an seinem Rücken und ihre harten Hüften an seinem Hintern. »Wird es sie sehr treffen?« Ihr Atem kitzelte ihn im Nacken. Er wartete kurz, ehe er antwortete. »Du meinst, ich soll’s ihr sagen?« Jetzt schwieg sie erst mal einen Moment. »Du nicht?« »Daan sagt, ich soll’s nicht tun. Tessel auch.« Von Ton und Alma sagte er nichts, um die Dinge nicht zu kompli‐ zieren und weil er hören wollte, was sie meinte, wenn sie davon ausging, dass alle anderen Nein gesagt hatten. Eine längere Schweigepause folgte. Das störte ihn nicht. Er genoss es, so von ihr umarmt zu werden. Es war tröst‐ lich und sexy. Er hielt ganz still, wollte nicht, dass es auf‐ hörte. »Wie gesagt, man weiß nie, wie sich die Leute verhalten werden. Schon gar nicht bei unangenehmen Eröffnun‐ gen.« »Ich hatte gehofft, du würdest mir bei der Entscheidung helfen.« Sie trat ein Stückchen zurück. Er drehte sich zu ihr um. Sie nahm seine Hände, hielt sie zwischen ihren, schob die 480
Lippen vor und zog die Augenbrauen zusammen. »Wenn ich du wäre, würde ich es ihr sagen. Aber ich bin nicht du und ich kenne deine Großmutter nicht.« Er lächelte bitter und sagte: »Mit anderen Worten, das ist dein Problem, Jacob.« Sie lächelte und nickte. »Ich mein’s nicht so, wie du’s gerade gesagt hast. Aber es ist nun mal dein Problem, das musst du doch zugeben.« Er seufzte. »Mit sechs habe ich lesen gelernt. Um mir zu gratulieren, hat mir meine Großmutter – Sarah – eine Postkarte ge‐ schickt. Vorne drauf war ein Kaninchen, das ein Buch las. Hintendrauf hatte sie geschrieben: ›Gut gemacht! Jetzt kannst du alle Geheimnisse der Welt aufdecken.‹ Als ich sie das nächste Mal sah, fragte sie mich, ob mir die Karte gefallen habe. Ich sagte: ›Sie war so schön, Gran, am liebs‐ ten möchte ich jede Woche so eine.‹ Und seither schickt sie mir jede Woche eine Karte. Jede Woche eine Karte mit einer Nachricht. Auch jetzt noch, wo ich bei ihr wohne. Mit der Post. Wenn es keine Post gibt, wie einmal bei einem Poststreik, steckt sie die Karte selbst durch den Briefschlitz. Vorne drauf ist immer irgendwas, was sie mir nahe bringen will, zum Beispiel ein berühmtes Ge‐ mälde oder Gebäude oder eine Person oder eine Land‐ schaft. Irgendwas. Und hintendrauf schreibt sie, wenn sie mir selbst gerade nichts mitteilen will, ein Zitat aus einem Buch, das sie gerade liest, oder etwas, was sie im Fernse‐ hen gehört hat, oder sie klebt einen Zeitungsausschnitt oder so was drauf. Nicht nur ernsthafte Sachen. Manch‐ 481
mal auch Witze oder Cartoons. Ich hab die Karten alle aufgehoben, von Anfang an. Es sind bis jetzt siebenhun‐ dertelf Stück.« Hille musterte ihn ein Weilchen. Ließ dann seine Hände los und ging wieder zum Sofa. »Tolle Sache. Das ist wirklich eine Supergroßmutter«, sagte sie, als sie sich hinsetzte. Jacob folgte ihr und setzte sich neben sie. »Und mein Großvater war die Liebe ihres Lebens. Sie hat nie wieder geheiratet. Und jetzt soll ich ihr sagen, dass der Mann, der für sie so wunderbar war und den sie im‐ mer noch liebt. Das könnte sie umbringen.« »Dann sag’s ihr nicht.« »Dann würde ich mich für den Rest meines Lebens mies fühlen. Das weiß ich einfach. Außerdem sagt sie immer, dass man mir alles ansieht.« »Da hat sie Recht. Das stimmt.« »Vielen Dank. Das stärkt meine Zuversicht ganz unge‐ mein. Also, sie wird bestimmt wissen wollen, was ich hier erlebt habe. Ich habe ihr immer alles gesagt. Nie irgend‐ was vor ihr verborgen. Sie wird garantiert merken, dass ich ihr was verschweige.« »Dann hast du ein Problem.« »Klar habe ich ein Problem! Danke, dass du mir das extra noch mal sagst.« Wieder machte ihn die Nervosität ganz zapplig. »Ich muss mal aufs Klo«, sagte er. »Der viele Kaffee, während du Geertruis Geschichte gelesen hast.« 482
Als er wiederkam, betrachtete Hille gerade die Bücher‐ wand. Von hinten wirkte das Mädchen genauso anzie‐ hend wie von vorn: die Linien ihrer Schultern, die Run‐ dungen ihres Hinterns in der Jeans, die Proportionen von Körper und Beinen. Er sah auf seine Armbanduhr. Der Vormittag war fast um. Er ging zu ihr und schlang die Arme um ihre Taille, wie sie es vor wenigen Minuten mit ihm gemacht hatte. »Du schaffst es nicht zum Nachmittagsunterricht«, sagte er, »wenn du nicht bald gehst.« »Schon zu spät.« »Du gehst nicht?« Er versuchte, die Erregung aus seiner Stimme draußen zu halten, was ihm jedoch nicht gelang. Sie würde sie sowie‐ so in seinem Körper spüren. »Von wegen unangenehme Eröffnungen.« »Lass uns das Thema vergessen und einfach nur die Zeit genießen, bis ich gehen muss.« »Wann musst du los?« »Von hier so um vier.« »Ich will dir was sagen. Komm, setz dich.« Sie löste sich aus seinen Armen und ging zum Sofa. Irgendetwas in ihrem Verhalten riet ihm, sich in einen der Sessel zu setzen. Er wählte absichtlich den, in dem er sonst nie saß, mit Blick aufs Fenster. Hille saß vorgebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, eine Faust am Mund. »Wegen der Stelle als Küssfreund.« »Ah!« Er sah den Schlag kommen. »Du hast sie jemand 483
anderem gegeben.« »Nein.« »Was dann?« »Da ist noch eine andere Qualifikation, die ich vergessen habe.« »Nämlich?« »Er muss nah genug bei mir wohnen, um das mit dem Küssen auch praktizieren zu können.« »Und das tu ich nicht.« »Nein.« »Also krieg ich den Job nicht.« »Ich kann nicht die Freundin von jemandem sein, der weit weg ist. Das könnte ich nicht durchhalten.« Er sagte nichts. »Verstehst du das?« »Klar. Du brauchst’s nicht zu erklären. War’s das, was du mir schreiben wolltest?« »Ja. Und dass ich möchte, dass wir Freunde bleiben. Wenn du möchtest.« »Ich möchte. Aber alles andere? Wenn wir nah genug bei‐ einander wohnen würden?« »Würdest du den Job kriegen.« »Echt?« »Echt.« »Kann ich als Beweis einen Kuss haben?« Sie lachte. »Gute Idee.« »Hör mal«, sagte er. »Lass uns irgendwohin gehen. Zu‐ sammen noch was von der Stadt sehen. Hast du Hun‐ 484
ger?« »Hab ich.« »Wie wär’s mit einem Pfannkuchen?« »Wenn du’s auf Niederländisch sagst.« »Zal ... het zijn ... äh ... lijken ... een pannenkoek?« Was einen Kicheranfall auslöste. »Schön, dass ich dich wenigstens belustige.« »Sorry! Du hast dich bemüht. Ich weiß ein gutes Lokal in der Nähe vom Anne‐Frank‐Haus. Hat sogar einen engli‐ schen Namen, The Pancake Bakery, also kannst du’s wenigstens aussprechen.« »Aber das schmälert meinen Unterhaltungswert.« »Das nehme ich auf mich.« »Ich würde gern vorher noch packen, damit ich abfahr‐ bereit bin.« Er nahm Geertruis Geschichte vom Tisch. Hille sagte: »Kann ich mal die anderen Sachen sehen, die sie dir gegeben hat? Das Buch und den Anhänger, den dein Großvater gemacht hat.« »Okay. Komm mit rauf. Du kannst sie dir angucken, wäh‐ rend ich packe.« Sie folgte ihm in sein Zimmer. Alles, was sich während dieser Reise an Neuem angesammelt hatte, war in der Bijenkorf‐Tüte. Er nahm das Fallschirmjägerabzeichen seines Großvaters, Sams Buch und den Anhänger heraus und legte alles aufs Bett. Hille setzte sich daneben, nahm sofort den Anhänger und befühlte ihn auf eine so sinnliche Art, dass Jacob ganz nervös wurde. 485
Er wandte sich ab und begann seine Kleidungsstücke in seine Reisetasche zu packen. Ging dann runter ins Bad, um seine Toilettensachen zu holen. Als er wieder ins Zimmer kam, blätterte Hille gerade in Sams Buch. Er packte fertig. Ging dann zum Bett, um noch die Tüte mit seiner Reiseausbeute zu holen. »Was ist da sonst noch drin?«, fragte Hille. »Kann ich mal sehen?« »Wenn du möchtest.« Er kippte die Tüte aus. Hille ging den Inhalt durch. »Was ist das? Niederländisch in drei Monaten.« Sie lachte. »Hab ich gestern Abend von Daan gekriegt. Sein Ab‐ schiedsgeschenk. Eher ein Komm‐bald‐wieder‐Geschenk, hat er gesagt.« »Und tust du’s?« »Worauf du dich verlassen kannst.« »In drei Monaten Niederländisch lernen, meine ich.« »Ich werde den Versuch wagen. Aber mal ganz im Ernst, ich hab mir überlegt, es kann mich doch nichts dran hindern, hier zu studieren, oder? An der Uni. Daan sagt, viele Lehrveranstaltungen sind auf Englisch. Müssen es sogar sein, um ausländische Studenten anzulocken. Und er sagt, ich kann bei ihm wohnen. Unterkunft wäre also kein Problem. Mein Alternativzuhause, sagt er.« »Hab dir ja gesagt, es geht nichts über nette holländische Verwandte.« Sie legte das Buch weg, schob den verknipsten Film vom Oosterbeeker Friedhof und die Gottesdienstordnung bei‐ seite und entdeckte die Postkarten von Titus und Rem‐ 486
brandt. »Wieso die Karten hier?« »Daan findet, ich sehe aus wie Titus.« Sie hielt die Titus‐Karte neben Jacobs Gesicht. »Ein bisschen vielleicht.« »Du musst das Gemälde selbst sehen.« »Magst du Rembrandt?« »Ich finde ihn toll, ja.« »Ich finde Vermeer besser.« »Besser?« »Na ja, er ist nicht besser. Das ist blöd ausgedrückt. Aber er ist mein Lieblingsmaler unter den alten Meistern. Viel‐ leicht sollten wir jetzt noch hingehen und ihn uns an‐ gucken.« »Wenn du möchtest.« Dann die Papierserviette von Alma. »Was ist das?« Er erklärte es. »Aber warum hat sie das hingeschrieben?« »Na ja, bevor mir mein Anorak geklaut wurde, kam die‐ ser Typ und setzte sich zu mir und wir kamen ins Ge‐ spräch. Später stellte sich raus, dass er ein Freund von Daan ist, aber das wusste ich da natürlich noch nicht. Na jedenfalls, er sagte, er würde mir seine Telefonnummer geben, für den Fall, dass ich Lust hätte, ihn noch mal zu treffen, und dann hat er sie da reingeschrieben.« Er nahm Tons Streichholzheftchen vom Bett. »Aber er hat nicht nur seine Nummer hingeschrieben, sondern auch noch einen Spruch. Den habe ich dann 487
Alma gezeigt, weil ich wollte, dass sie ihn mir übersetzt, und sie fand ihn komisch und beim Abschied hat sie mir diese Papierserviette mit dem niederländischen Sprich‐ wort gegeben.« Hille nahm ihm das Streichholzheftchen aus der Hand und klappte es auf. Als sie kapiert hatte, was es war, sagte sie lachend: »Er ist also schwul.« »Ja, er ist schwul.« »Und er steht auf dich.« »Und er steht auf mich, ja.« Sie ließ das Briefchen vor seiner Nase baumeln. »Aber du hast’s nicht benutzt.« Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Meinst du nicht, du solltest es noch tun?« »Tun?« »Du willst es doch nicht mit nach Hause nehmen, oder?« »Aber mit wem?« »Wie wär’s mit mir?« »Falls das ein weiterer Job‐Test ist –« »Ist es.« »Weiß nicht, ob ich da so gut abschneiden werde.« »Wird sich ja rausstellen.« »Nicht mein Spezialgebiet. Könnte dich enttäuschen. Hab nicht genug Erfahrung.« Während sie seinen Gürtel aufschnallte, sagte sie: »Du kannst es in der Praxis lernen.« »Warum tust du das?« »Weil du’s willst.« 488
»Und was ist mit dir?« »Ich will’s auch.« »Weiß nicht, ob wir genug Zeit haben. Möchte meinen Flug nicht verpassen.« Hille lachte leise und sagte in unverschämt genau getrof‐ fenem Ton: »Gib dich einfach in meine Hände. Entspann dich. Genieß es. Vertrau darauf, dass ich dich rechtzeitig zu deinem Flieger bringe.«
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