Männer in Ketten von John Curtis
Philip Hasard Killigrew und Ben Brighton wissen, was die Stunde geschlagen hat. Sie s...
16 downloads
784 Views
708KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Männer in Ketten von John Curtis
Philip Hasard Killigrew und Ben Brighton wissen, was die Stunde geschlagen hat. Sie sollen als Mörder von Estoban Rizzio verhaftet werden. Mit knapper Not entgehen sie den Soldaten, die Isaac Henry Burton, der alte Todfeind des Seewolfs, auf sie gehetzt hat. Ganz Sevilla ist eine Falle. Nur ein Trick verhilft den beiden zur Flucht. Ihren Plan, die elf Engländer von Bord der ›Tortuga‹ zu holen, können sie nicht verwirklichen, denn dazu brauchen sie Schlechtwetter, - aber verdammt noch mal - in Spanien scheint unentwegt die Sonne ...
1. Ben Brighton starrte mißmutig in die flackernde Kerze, die vor ihm und Philip Hasard Killigrew auf dem runden Holztisch stand. Mit einem Ruck schob er sein Weinglas von sich weg. Seine harten Seemannsfäuste verkrampften sich in ohnmächtigem Zorn, als er Hasard ansah. »Verdammter Mist, daß Burton, dieses Schwein, ausgerechnet jetzt in Sevilla auftauchen und uns entdecken mußte!« sagte er wütend. »Ich halte jede Wette: Kein anderer als er hat Estoban Rizzio umgebracht. Feige von hinten erstochen. Diesem verfluchten Bastard schlage ich den Schädel ein, wenn er mir noch einmal in die Finger läuft!« Er ließ seine Fäuste schwer auf die Tischplatte fallen. »Wir werden noch eine Menge Schwierigkeiten durch die Ermordung Estoban Rizzios haben, Hasard, darauf kannst du
Gift nehmen!« fügte er ein paar Sekunden später hinzu. Hasard sah seinen Bootsmann an. Dann nahm er einen langen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. Dabei zog ein verwegenes Lächeln über seine braungebrannten Züge. Seine eisblauen Augen blitzten den Gefährten an. »Ich werde mich lieber an Wein halten, Ben. Gift soll der Gesundheit höchst abträglich sein. Was aber diesen Burton angeht - eines Tages ist er fällig. Die Rechnung für den Mord an Rizzio wird ihm präsentiert - auch wenn es noch eine Weile dauern sollte.« Abermals nahm er einen Schluck. Im stillen gab er seinem Bootsmann recht. Es würde Schwierigkeiten geben, wenn sie nicht auf der Hut waren. Den Mord an Rizzio hatte die spanische Polizei bereits entdeckt, und sie beide, er und Ben Brighton, waren immerhin die letzten gewesen, die nach Rizzio gefragt hatten und bei ihm gewesen waren. Daß sie Rizzio bereits sterbend vorgefunden hatten, mit einem Messer im Rücken, das war zweifellos eine andere Sache. Mit einem Blick musterte Hasard seine Umgebung. Ganz bewußt hatte er sich mit Ben unter die Steintreppe in eine dunkle Nische der Kneipe zurückgezogen. Sie saßen unmittelbar hinter einem dicken Pfeiler aus Stein, vor allem aber in der Nähe der Treppe, über die sie blitzschnell in ihr Zimmer entweichen konnten, sofern dies aus irgendeinem Grunde erforderlich werden sollte. »El Pescado« - der Fisch - war eine Kellerkneipe in den engen Gassen des Hafenviertels. Sie lag in der Calle don Circo -unmittelbar dem Torre del Oro gegenüber, dem Goldenen Turm, der wegen seiner kostbaren Verkleidung mit Platten aus purem Gold so hieß. Gegenüber vom Torre del Oro, auf der anderen Seite des Guadalquivir, stand ein zweiter Turm, zu dem schwere Ketten hinüberführten. Mit diesen Ketten konnten die Spanier den Fluß für den gesamten Schiffsverkehr
innerhalb kürzester Frist sperren, sobald sie die Ketten mittels der schweren, spillartigen Winden straff zogen. Hasard hatte den »Fisch« als Domizil gewählt, weil die Kneipe in einem Viertel Sevillas lag, in dem Seeleute, Fischer, Hafenhaie und allerhand lichtscheues Gesindel verkehrten. Dort fielen er und Ben am wenigsten auf - und, was noch weitaus wichtiger war, dort wurde getrunken, gewürfelt, gemogelt, geflucht und getuschelt in allen Tonarten, man konnte im »Fisch« an Informationen aller Art gelangen, sofern man zahlungskräftig genug war. Informationen aber waren genau das, was er und Ben Brighton dringend brauchten. Estoban Rizzio, ihr Verbindungsmann in Spanien, war tot. Er hatte ihnen nur noch sagen können, daß sich Ferris Tucker, Batuti, Dan O’Flynn, der Kutscher, Smoky, Blacky, Stenmark, Gary Andrews, Al Conroy, Pete Ballie und Matt Davies an Bord einer Galeere befanden, die ›Tortuga‹ hieß. Wo sich jedoch jene Galeere befand, das mußten sie nun selber herausfinden, und zwar so schnell wie möglich. Abermals ließ Hasard seine Blicke durch die Kellerkneipe wandern - wüstes Gebrüll, das von noch wüsteren spanischen Flüchen begleitet wurde, hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Einer der schweren Tische kippte polternd um, Gläser und Flaschen zerklirrten auf dem steinernen Boden. Entermesser blitzten auf - und unwillkürlich griffen auch Hasard und Ben Brighton zu ihren Messern. Aus Erfahrung wußten sie, wie rasch solche Streitigkeiten zu blutigen Massakern jeder gegen jeden ausarteten. Ben und Hasard sprangen auf. Sie hatten nicht die geringste Absicht, sich in derartige Geschichten verwickeln zu lassen, das wäre das allerletzte gewesen, was sie hätten brauchen können. Doch dann geschah etwas, was die ganze Situation blitzartig änderte und die beiden Männer, die schon im Begriff gewesen waren, über die Steintreppe in ihr Zimmer zu verschwinden,
veranlaßte, schleunigst wieder auf ihre Hocker zu sinken und sich so weit wie möglich zusammenzukauern. Auf der Treppe, die von der Gasse herunter in die Kneipe führte, erschallten Kommandos. Schritte polterten die Treppe hinunter, gleich darauf drangen spanische Soldaten in die Kneipe ein. Mit ein paar Streichen fegten sie die Kampfhähne unsanft auseinander. Und dann trauten Hasard und Ben ihren Augen nicht: Ein spanischer Offizier, in Begleitung von Isaac Henry Burton, betrat die Kneipe. Suchend blickten sie sich um. Aber das schwache, flackernde Licht der Kerzen verbreitete nicht genügend Helligkeit, als daß sie die Kneipe hätten überblicken können. »Verdammt, Hasard, das gilt uns!« flüsterte Ben Brighton dem Seewolf zu. »Dieser Hundesohn, dieser dreimal verfluchte Burton hat herausgefunden, daß wir uns hier eingemietet haben. Und jetzt will er uns den Spaniern als die Mörder von Estoban Rizzio ausliefern. Wenn der Kerl das schafft ...« Ben Brighton sprach gar nicht erst weiter. Es war klar, was ihnen dann blühen würde. Statt dessen knirschte er vor Wut mit den Zähnen. Auch Hasard spürte, wie sich sein Magen unwillkürlich zusammenkrampfte. Ben hatte recht, die Aktion galt ihnen. Er sah, wie zwei Soldaten den Wirt packten und ihn zu dem spanischen Offizier und dem neben ihm stehenden Burton schleppten. In der Kneipe herrschte Totenstille. Hasard und Ben konnten jedes Wort verstehen. »Wo sind die beiden Mörder, die sich bei dir eingemietet haben?« hörten sie den Spanier fragen. Der Wirt krümmte sich vor Schreck zusammen. Sein schwerer, fetter Körper schien in sich zusammenzuschrumpfen. »Aber Senor Capitan - Mörder? Mörder sollen sich bei mir eingemietet haben? Senor Capitan, ich bin zu Tode erschrocken, ich weiß gar nicht, was ich ...«
Burton schlug zu. Blitzschnell und brutal. Der Schlag war mit solcher Kraft geführt worden, daß er den Wirt zu Boden fegte. »Rede, du verdammte Ratte, oder ich lasse dir dein räudiges Fell in Streifen abziehen!« brüllte Burton. Gleichzeitig gab der Capitan zwei Soldaten einen Wink. Sie packten den Wirt, zerrten ihn vom Boden hoch und schleppten ihn zu Burton und dem spanischen Offizier. Hasard spürte, wie seine Nackenhaare sich aufzustellen begannen. Die nächsten Sekunden mußten über Tod und Leben entscheiden. Hasards Rechte glitt zum Entermesser, das er im Gürtel trug. Ben Brightons Rechte ebenfalls. Und dann sprach er aus, wozu auch Hasard felsenfest entschlossen war: »Ehe die Dons mich kriegen, bringe ich diese elende Kakerlake von Burton um. Er wird den Triumph unserer Verhaftung nicht erleben!« Der Wirt hatte sich unterdessen stöhnend aufgerichtet. Und doch schien es Hasard, als habe er absichtlich Zeit herausgeschunden. »Rede endlich, oder ich stopf dir deine Zähne in den Hals!« Burton hob die Faust abermals zum Schlag. »Das sieht diesem erbärmlichen Feigling ähnlich«, flüsterte Ben Brighton. »Wenn die Kugeln pfeifen und die Kanonen donnern, dann scheißt sich dieser Wicht in die Hosen, daß es noch bis in den Topp des Großmastes stinkt. Aber Wehrlose schlagen und quälen - oh, dieser Schinder!« Ben Brightons Rechte zuckte zum Messer, aber Hasard packte blitzschnell zu und hielt sie fest. Die Antwort des Wirtes unterbrach sie. » ... sind oben in ihrem Zimmer. Gleich die zweite Tür nach der Treppe. Wenn sie wirklich Mörder sind, Senor Capitan, dann will ich mit den Kerlen nichts zu tun haben. Im Gegenteil, ich werde zusehen, wenn sie aufgeknüpft werden. Jawohl, baumeln sollen sie!«
Der Capitan gab den Soldaten einen Wink. Sie ließen den Wirt los und stürmten zusammen mit dem Capitan und Burton die Treppe hoch. Hasard atmete auf. Er hatte zwar keine Ahnung, wie es weitergehen sollte, aber eins war sonnenklar, der Wirt wollte ihnen helfen. Alles starrte zur Treppe hinüber, den drei Spaniern und Burton nach, die mit gezogenen Degen und schußbereiten Musketen die Stufen hinauf stürzten. Plötzlich zischte neben Hasard und Ben Brighton eine Stimme: »Durch den Hinterausgang, Senores, schnell! Niemand schlägt Pedro Overo Hernandes ungestraft! Beeilen Sie sich, Senores, ich muß da sein, wenn diese Bastarde zurückkehren.« Hasard und Ben Brighton liefen geduckt runter dem Wirt her. Die Treppe, der Pfeiler und ein Teil der Theke verschafften ihnen Deckung. Sie gelangten in einen flurähnlichen Gang und passierten eine dicke Holztür. Dann standen sie plötzlich im Hinterhof der Kneipe, nachdem sie noch ein paar Stufen hinaufgestürmt waren. Hasard drehte sich um. Impulsiv drückte er dem Wirt fünf Golddublonen in die Hand. »Du bist ein Ehrenmann und ein Freund, Pedro Overo Hernandes«, sagte er. Er sah gerade noch, wie der Wirt verschwand. Er verneigte sich, dann schloß sich die schwere Bohlentür, und ein Riegel wurde vorgelegt. Der Seewolf grinste. »Diesmal hat Burton sich verrechnet - er hat einmal zuviel zugeschlagen!« Oben, dort, wo ihre Kammer lag, zersplitterte in diesem Augenblick die Tür des Zimmers, das sie noch nicht einmal einen halben Tag bewohnt hatten, unter den Kolbenhieben der Soldaten. Durch Stapel von Kisten, Brettern, durch Gerumpel und leere
Flaschen hasteten der Seewolf und Ben Brighton zu der Umfassungsmauer, die den Hinterhof abschloß. Hasard erreichte sie als erster. Er sprang, packte die Mauerkrone und zog sich blitzschnell hinauf. Er überzeugte sich nur noch, daß Ben es ebenfalls im ersten Anlauf schaffte, dann ließ er sich von der Mauer einfach in die dahinterliegende Gasse fallen. »Weg, Ben!« keuchte er. »Die werden gleich merken, daß die Vögel ausgeflogen sind. Dann werden sie das ganze Viertel durchkämmen. Wir müssen die Stadt so schnell wie möglich verlassen, wir dürfen nicht warten, bis sie die Tore schließen!« Ben Brighton nickte nur kurz. Durch die Calle de Adriano eilten sie davon. Die Dunkelheit schützte sie. Hinter ihnen ragte drohend und wuchtig die Silhouette des Torre del Oro in den Nachthimmel. Irgendwo marschierte ein Trupp spanischer Soldaten durch eine der Gassen. Laut durchdrangen die Schritte ihrer Stiefel die Stille der Nacht, Kommandos erschallten. Die beiden Engländer drückten sich in eine pechrabenschwarze Tornische und verharrten dort regungslos.
Isaac Henry Burton stampfte mit dem Fuß auf. »Sie sind uns entwischt!« schrie er mit sich überschlagender Stimme. »Dieser verfluchte Seewolf ist uns entwischt!« Seine feisten, fleischigen Wangen wabbelten bei jedem Wort, sein Gesicht war hochrot angelaufen. Er trat auf einen der Soldaten zu und stieß ihn vor die Brust, daß der Soldat etliche Schritte zurückgeworfen wurde. »Was steht ihr Idioten da und haltet Maulaffen feil? Bringt mir den Wirt, dieser Kerl steckt mit den Mördern unter einer Decke. Holt den Kerl - und wenn er nicht redet, dann wird er gefoltert, bis er alle Teufel der Hölle heulen hört!« Der spanische Capitan hatte das unbeherrschte Gebrüll Burtons mit steigendem Mißbehagen verfolgt. Was bildete sich
dieser Engländer, den er aus tiefstem Herzen verachtete, weil er sein Vaterland verriet, eigentlich ein? Zwar ahnte der Capitan, daß dieser Mann über gefährliche Verbindungen verfügen mußte, aber er wußte nichts Genaues. Trotzdem paßte es dem Capitan ganz und gar nicht, daß dieser Mann nun auch noch begann, seine Soldaten herumzukommandieren. Er sah, daß der eine seiner Soldaten sich anschickte, in die Kneipe zu gehen, um den Wirt herbeizuholen. Das war der Moment, in dem er eingriff, weil sein Stolz ihm verbot, dem Treiben Burtons noch länger untätig zuzusehen. »Halt!« kommandierte er. Dann drehte er sich zu Burton herum und sah ihn aus seinen dunklen Augen an. »Senor, ich gebe meinen Soldaten hier die Befehle. Nur ich ganz allein. Ich möchte Sie bitten, sich künftig nicht in meine Angelegenheiten zu mischen, oder ich müßte geeignete Maßnahmen ergreifen, um das zu verhindern.« Burton glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Seine wäß rigen, blaßblauen Augen verengten sich. »Capitan - Sie wagen es, mir zu drohen?« fragte er und trat einen Schritt auf den Spanier zu. Burton neigte zum Jähzorn, zur Gewalttätigkeit, und auch jetzt überwältigte ihn die Wut. »Ausgerechnet Sie, der Sie zwei gefährliche Feinde Spaniens durch Ihre Unfähigkeit entwischen ließen, Sie wagen es, sich meinen Anordnungen zu widersetzen?« brüllte er. »Sie wollen Ihre Soldaten, die mir zugeteilt wurden, um diese beiden Mörder zu fangen, gegen mich aufwiegeln?« Burton ballte die Hände, und es sah aus, als wolle er sich jeden Moment auf den Spanier stürzen. Der Capitan wich einen Schritt zurück. Mit einer raschen Bewegung zog er seinen Degen. Im nächsten Moment spürte Burton die scharfe Spitze auf seinem Leib - und im plötzlichen Entsetzen über diese Wandlung quiekte er wie ein Schwein. Der Capitan sah ihn aus starren Augen an und beobachtete ungerührt, wie Burton plötzlich alle Farbe verlor und sein
Gesicht aschgrau wurde. »Noch eine Beleidigung, Senor, dann werde ich meine Ehre so zu verteidigen wissen, wie es einem Offizier der spanischen Krone und Ihrer Katholischen Majestät ansteht. Nehmen Sie sich in acht, Senor!« Er zog seinen Degen zurück und ließ ihn wieder in das Wehrgehänge an seiner Hüfte gleiten. Dann wandte er sich an seine Soldaten. »Holt den Wirt! Beeilt euch!« Die beiden Soldaten polterten die Treppe hinunter. Minuten später brachten sie den heftig protestierenden Wirt. Sie schleppten ihn mehr, als daß er ging. »Senor Capitan - ich protestiere. Ihre beiden Soldaten schleppten mich aus meiner Kneipe. Wer ersetzt mir den Schaden, he? Was glauben Sie, Senor Capitan, was diese Bande von Halunken und Halsabschneidern dort unten tun wird, während ich hier oben mit Ihnen rede? Sie werden mich berauben, sie werden meine Kasse aufbrechen, sie werden ...« »Ruhe!« donnerte der Capitan. Dann wandte er sich an einen der Soldaten. »Runter mit dir. Du paßt auf, daß dort unten alles seine Richtigkeit hat, verstanden?« Der Soldat sauste los. »Und jetzt zu Ihnen, Senor«, fuhr der Capitan ungerührt fort. »Wer waren die beiden Männer, die diese Kammer hier gemietet hatten?« Der Wirt kniff die Augen zusammen, dann hob er die Schultern. »Sie bezahlten bar, Senor Capitan. Für eine Woche im voraus. Das passiert nicht alle Tage. Ich hatte deshalb auch keinerlei Grund, überflüssige Fragen zu stellen.« Burton fuhr herum wie eine Natter. »Da haben Sie es, Capitan!« schrie er. »Für eine Woche im voraus. Woher sollten diese Halunken, diese Säufer und Nichtstuer, die da unten die Kneipe mit ihrem Geschrei
erfüllen, soviel Geld haben, um für eine Woche im voraus zu zahlen? Sie würden, selbst wenn sie das Geld hätten, lieber die letzten Peseten versaufen oder verhuren. Aber dieser Killigrew, ausgeschickt von Francis Drake, der hat natürlich Mittel genug, um für eine Woche im voraus zu bezahlen.« Der Wirt erkannte die Gefahr, die ihm plötzlich drohte. »Senor Capitan - dieser Mann da redet als Fremder, er kennt unser Land nicht. Er kennt nicht den Stolz, den selbst der Ärmste der Armen in unserem Land in seiner Brust trägt. Er beleidigt uns alle, ich brauche mich von diesem Mann nicht beleidigen zu lassen. Sogar geschlagen hat er mich vorhin madre de dios, zu Boden geschlagen!« Sein Gejammer hatte Erfolg, der Capitan warf Burton einen finsteren Blick zu. »Beantworten Sie mir jetzt bitte noch folgende Fragen, Senor«, fuhr er betont höflich fort. Voll Freude sah er, wie Burton vor Wut rot anlief. »Wieso glaubten Sie, daß die beiden Männer hier oben seien?« Der Wirt hob abermals die Schultern. »Ich sah sie nicht fortgehen. Und ich hätte sie von der Theke aus, von wo ich mein Lokal gut überblicken kann, eigentlich sehen müssen. Aber das Lokal war gerade heute abend sehr voll, und dann der Kerzenschein, nicht hell genug, um wirklich alles genau überblicken zu können, tut mir wirklich leid, Senor Capitan. Denn wenn die beiden wirklich Mörder und Verbrecher sind, dann wäre ich der letzte gewesen, der sie der gerechten Strafe entzogen hätte.« Er verneigte sich unterwürfig vor dem Capitan. Aber wieder fuhr Burton dazwischen. »Lassen Sie sich von diesem Kerl nicht einwickeln, Capitan. Er hat die beiden versteckt oder gewarnt. Wie könnte es sonst sein, daß sich in dieser Kammer auch nicht mehr die geringste Habe findet, nichts, was überhaupt darauf hindeuten könnte,
daß diese Kammer je an die beiden Gesuchten vermietet wurde?« Er merkte, wie der Capitan stutzte, und ein triumphierendes Grinsen zog über seine fleischigen Lippen. Aber auch der Wirt war auf der Hut. »Ich weiß gar nicht, was dieser fremde Senor dort ständig will. Wer sagt denn überhaupt, daß die beiden geflohen sind? Vielleicht sind sie nur unterwegs, um von einem der Schiffe ihre Sachen zu holen? Sie haben das Zimmer erst heute mittag gemietet. Und noch etwas, bei allem Respekt, Capitan: Wer würde denn wohl für eine ganze Woche im voraus zahlen, wenn er damit rechnen müßte, jeden Moment verhaftet zu werden, wenn er genau wüßte, daß er wegen Mordes gesucht wird? Solche Halunken würden den armen Wirt betrügen, sie würden vielleicht nur jeden Tag bezahlen - oder aber den Wirt totschlagen und ebenfalls ausrauben, wenn sie herausfänden, daß er ein paar schwerverdiente Peseten in seiner Schatulle hat.« Das Argument gab den Ausschlag. Der Capitan sah den Wirt an. Seine dunklen Augen loderten. »Ich werde diese beiden Männer in der ganzen Stadt suchen lassen, Senor. Gnade Ihnen Gott, wenn ich herausfinden sollte, daß Sie es gewagt haben, mich in irgendeinem Punkt zu belügen. Wehe, wenn sich herausstellen sollte, daß Sie zwei Verbrechern zur Flucht verholf en haben!« Der Capitan wandte sich um. »Vorwärts - es müssen alle Stadttore benachrichtigt werden. Genaue Beschreibung an alle Wachen. Wo auch immer die beiden gesehen werden, sie sind sofort festzunehmen und mir vorzuführen.« Burton nickte. Er warf dem Wirt einen triumphierenden Blick zu, während der Capitan bereits dem noch in der Kammer befindlichen Soldaten die notwendigen Befehle erteilte. Noch im Gehen blieb Burton bei dem Wirt stehen.
»Ich komme wieder, Freundchen«, sagte er leise, aber in seiner Stimme lag eine so eiskalte Drohung, daß dem Wirt eine Gänsehaut über den Rücken lief. »Du hast die beiden auf irgendeine Weise gewarnt und ihnen zur Flucht verhelfen. Sie waren noch hier, als wir dein Rattenloch betraten. Ich werde dich baumeln sehen, oder ich werde dir zu ein paar netten Jährchen auf einer Galeere verhelfen. Ich kenne Galeeren - dort stirbst du tausend Tode. Jeden Tag einen neuen!« Isaac Henry Burton versetzte dem Wirt einen derben Stoß in den Rücken, dann verließ er die Szene. Und zum erstenmal verspürte der Wirt so etwas wie Panik in sich aufsteigen. Instinktiv spürte er, wie verschlagen und gefährlich dieser Fremde war. Der Capitan und seine Soldaten rückten ab. Auch die Wachen, die der Capitan an der Treppe zur Kellerkneipe in der Calle don Circo aufgestellt hatte, wurden abgezogen. In der Kneipe wurde wieder gewürfelt. Rauhe Kehlen schrien nach Wein, Hafenhaie tuschelten mit Seeleuten und finsteren Gestalten, die kamen und gingen. Der Zwischenfall schien vergessen - aber nur in der Kneipe. In Sevilla selbst entwickelte sich eine geradezu hektische Betriebsamkeit. Der Capitan gehörte zu den höchst energischen und umsichtigen Offizieren, die jede nur erdenkliche Möglichkeit ausschöpften, ehe sie sich mit einem Mißerfolg oder einer Niederlage abfanden. Melder liefen oder ritten durch die Stadt. Jedes Stadttor wurde innerhalb der nächsten Stunde verständigt, den Wachen wurde das genaue Signalement von Hasard Killigrew und Ben Brighton durchgegeben. Nach menschlichem Ermessen waren ihre Chancen äußerst schlecht, unerkannt aus Sevilla zu entwischen. Und Isaac Henry Burton rieb sich schon in der Vorfreude auf den Augenblick die Hände, in dem er den verhaßten Seewolf endgültig in der Falle haben würde. Dann sollte dieser Killigrew für alles bezahlen, was er ihm und seinem Bruder, Samuel Taylor Burton, dem
Friedensrichter von Plymouth, an Schmach und Niederlagen zugefügt hatte.
»So schaffen wir es nicht«, flüsterte Hasard Ben Brighton zu, nachdem sie nun schon das vierte Tor in der Hafengegend minutenlang aus dem Schutz eines dunklen Torweges beobachtet hatten. Den beiden war das hektische Treiben innerhalb der Ringmauer Sevillas, das mit ihrer Flucht eingesetzt hatte, nicht entgangen. An allen Toren waren die Wachen verstärkt worden. Und wenn zu dieser nachtschlafenden Zeit überhaupt ein Mann oder ein Wagen passieren wollte, dann wurde er auf eine Weise kontrolliert, wie weder Hasard noch Ben das bisher irgendwo erlebt hatten. Der Seewolf überlegte, während er beobachtete, wie die Torwachen einen Wagen, der offenbar Getreide geladen hatte, von dem Fahrer und seinem Begleiter vollständig entladen ließen. In jeden der Säcke stießen sie ihre Lanzen. Sie hörten deutlich das laute Protestieren der Betroffenen, die erregt auf das herausrinnende Korn zeigten, und die zornigen Antworten der Wachen, die darüber ergrimmt waren, statt wie sonst bei Wein und Würfelspiel die Nacht auf diese Weise verbringen zu müssen. Hasard biß sich auf die Lippen, als er an Burton dachte. Nie im Leben hätte er damit gerechnet, diesen auf schmachvolle Weise degradierten Captain hier in Sevilla wiederzutreffen. Er begriff auch sofort, daß Burton auf die spanische Seite übergewechselt sein mußte. Er kannte seine Verbindungen am englischen Hof, er wußte um jene Clique, die den Spaniern nicht nur freundlich gesinnt war, sondern auch nicht davor zurückschreckte, um ihrer eigenen Interessen willen die englische Krone zu verraten, der Königin und ihrer Sache schweren Schaden zuzufügen.
Er ahnte, daß auch dieser aalglatte Sir Thomas Doughty zu dieser Clique gehörte. Vielleicht war er es sogar, der Burton nach Spanien in Marsch gesetzt hatte, um den lästigen Estoban Rizzio auszuschalten - sei es auch durch meuchlerischen Mord. Kreaturen wie dieser Burton, der sich in England ohnehin nicht mehr sehen lassen konnte, waren für solche Aufträge wie geschaffen. Und wer außer Doughty konnte schon so genaue Kenntnisse von allem haben, was sich hinter den Kulissen abspielte? Hatte Burton vielleicht mit der Ermordung Rizzios sozusagen sein Gesellenstück geliefert - seine Aufnahmeprüfung in der Verschwörerclique auf diese Weise bestanden? Wie dem auch war, eines schien Philip Hasard Killigrew von Minute zu Minute sicherer, je länger er darüber nachgrübelte: Burton verfügte auch hier in Spanien über gute Verbindungen und einflußreiche Hintermänner, die ihn zu ihrem Werkzeug bestimmt hatten. Dabei spielte keine Rolle, ob sie ihn eines Tages beseitigen würden oder nicht. Für den Moment jedenfalls war dieser Burton ein nicht zu unterschätzender Gegner, mit dem sie rechnen mußten und der vielleicht sogar den Auftrag hatte, ihn, Hasard Killigrew, und Ben Brighton den Spaniern ans Messer zu liefern. Damit aber wurde die Befreiung seiner in spanische Gefangenschaft verschleppten Männer noch schwieriger und noch dringender als zuvor. Der Seewolf war sich absolut im klaren darüber, daß Drake jeden dieser Männer brauchte, dringend brauchte. Hasard straffte sich. Es war jetzt weiß der Himmel nicht die Zeit, solche Überlegungen anzustellen. Es mußte ihnen gelingen, noch während der Nacht die Stadt zu verlassen. Denn sobald es wieder hell wurde, verschlechterten sich ihre Chancen beträchtlich, ihren Häschern zu entkommen. Genau wie der Seewolf hatte auch Ben Brighton das Stadttor nicht aus den Augen gelassen. Auch ihm war klargeworden, daß es für sie so gut wie keine Möglichkeit gab, durch eins der
Tore nach draußen zu gelangen. Und nicht nur das, es war sogar dringend nötig, daß sie Sevilla ohne jedes Aufsehen verließen. Ihr Plan, die auf der spanischen Galeere ›Tortuga‹ gefangengehaltenen Männer der ›Isabella‹ zu befreien, hatte nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie unerkannt und vor allen Dingen ohne Verfolger im Nacken ans Werk gehen konnten. Ben Brighton stieß einen Seufzer aus. Es gab wahrhaftig nur eine einzige Möglichkeit, die Stadt zu verlassen. Hasard war der Seufzer nicht entgangen. Aus Erfahrung wußte er, daß solche Laute, von Ben Brighton ausgestoßen, nichts Gutes bedeuteten. »Rede schon, Ben, was hast du für eine Idee? Wie stellst du dir unsere Flucht vor?« Ben Brighton sah den Seewolf an. »Also lieber würde ich nur mit einem Enterhaken bewaffnet gegen zehn spanische Kriegsgaleonen kämpfen. Aber es hilft alles nichts: Wir müssen über die Mauer. Und zwar im Südwesten der Stadt, damit vermeiden wir, daß wir im Anschluß an unsere Flucht erst noch an der ganzen Stadt vorbei müssen. Und wir sollten es schnell tun, solange es dunkel ist.« Hasard hielt den Atem an. Er kannte Ben Brighton gut genug. Wenn sein Bootsmann so etwas vorschlug, dann hatte er auch schon einen Plan. Dennoch konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Die nötigen Flügel dazu hast du sicher schon besorgt, oder?« fragte er in die Dunkelheit hinein. »Über die Mauer, Ben einfach so! Was glaubst du wohl, warum haben die Dons so sorgfältig angelegte Wehrgänge auf ihren Mauern zwischen den Türmen? Und wozu, meinst du, patrouillieren dort oben Doppelwachen bei Tag und bei Nacht?« Ben Brighton hatte sich umgedreht. Er starrte den Seewolf an. »Alles richtig, Hasard. Trotzdem bleibt die Mauer unsere einzige Möglichkeit. Schon weil die Dons damit ganz bestimmt nicht rechnen! Und dieser dreimal verfluchte Bastard von
Burton auch nicht!« Hasard nickte. Aber Ben Brighton ließ ihm gar keine Zeit, irgendwelche Überlegungen anzustellen. »Ich denke mir die Sache etwa so ...« Und dann setzte er Hasard seinen Plan in allen Einzelheiten auseinander. Der Seewolf hörte ihm zu. Zum Schluß versetzte er Ben Brighton einen leichten Schlag auf die Schulter. »Ho, Ben, ich glaube, mit dir kann man wirklich den Teufel persönlich aus der Hölle holen. Ans Werk, beeilen wir uns!« Die beiden Männer verließen die schützende Toreinfahrt. Durch das Gewirr der Gassen huschten sie davon.
2. Ben Brighton hatte die Führung übernommen, weil er sich in Sevilla besser auskannte als Hasard. Vor allem aber wußte er genau, wo der Laden des Schiffsausrüsters lag, zu dem sie wollten. Er hatte diesen Laden auf einem seiner Streifzüge durch die Stadt entdeckt und sich seine Lage genau gemerkt. Hasard und Ben bewegten sich so lautlos wie möglich durch die Gassen. Sie mußten in die Hafengegend zurück, und beide wußten, wie gefährlich das für sie werden konnte. »Nächste Gasse links«, flüsterte Ben Brighton dem Seewolf zu, als sie eine kurze Verschnauf- und Horchpause einlegten. »Der Laden liegt in der Calle del Dos de Mayo, ganz in der Nähe der Stadtmauer, aber zwischen den beiden Toren, die zum Hafen führen.« Sie lauschten in die Dunkelheit, doch es war nichts zu hören. Keine Schritte, nicht die Kommandos einer herannahenden Patrouille. »Ich laufe jetzt los. Warte zehn Sekunden, dann folgst du. Es ist besser, wenn wir uns einzeln bewegen, diese Gegend hier wird wegen der Hafennähe besonders scharf bewacht.«
Der Seewolf nickte nur. Er sah noch, wie sich Ben Brighton von der Mauer löste und gleich darauf aus der Calle Temprado in die Calle del Dos de Mayo einbog. Er begann zu zählen. Und dann zuckte er plötzlich zusammen. Aus der Calle del Dos de Mayo erscholl wüstes Gebrüll. Deutlich hörte er Ben Brightons Stimme heraus - dann spanische Flüche, einen schweren Fall und einen Schuß, der sich donnernd aus einer Muskete löste. Hasard blieb keine Zeit zum Überlegen. Er mußte Ben heraushauen, und zwar sofort, oder alles war verloren. Er stürmte los. Als er in die Calle del Dos de Mayo einbog, erkannte er sofort im Schein einer zu Boden gefallenen Laterne das Knäuel menschlicher Leiber, das sich vor ihm auf der Straße herumwälzte. Wie der Blitz war der Seewolf heran. Der Musketenschuß hatte garantiert die Wachen der beiden nahegelegenen Stadttore alarmiert. Jeden Augenblick konnten weitere Soldaten herbeieilen. Und richtig - am Ende der Gasse wurden Rufe laut, Laternen wurden hin und her geschwenkt. Einer der beiden Streifensoldaten, die sich mit Ben Brighton am Boden herumwälzten, begann lauthals zu schreien. Hasard packte zu. Mit einem gewaltigen Ruck riß er den Schreihals von Ben herunter. Dann schlug er zu, und seine Rechte traf den Spanier mit verheerender Gewalt. Hasard wußte nicht genau, wo und wie er getroffen hatte, aber er hörte, wie der Mann einen gurgelnden Schrei ausstieß und gleich darauf zusammenbrach. Inzwischen hatte sich Ben Brighton auch von dem anderen Spanier befreit. Mit beiden Fäusten schlug er auf den am Boden Liegenden ein, bis auch dessen Geschrei verstummte. Die Rufe wurden lauter, die Laternen rückten näher. Aber auch von der anderen Seite näherten sich Soldaten. Hasard schoß ein Gedanke durch den Kopf. Ihre Lage war aussichtslos, wenn sie nicht zu einer List griffen. Blitzschnell
legte er die Hände an den Mund, formte sie zu einem Trichter und brüllte dann, so laut er konnte, in bestem Spanisch, das er inzwischen ja genau wie Ben Brighton dank des von Drake verordneten Unterrichts perfekt beherrschte: »Oh, diese Hunde, sie sind uns entwischt! Fangt sie, sie fliehen durch die Calle Rodo, kreist sie ein, umzingelt sie - es sind die gesuchten ingles!« Er wiederholte den Ruf ein paarmal, während er und Ben bereits davonrannten, ebenfalls in Richtung auf die Calle Rodo. Erst als Hasard die laut gebrüllten Befehle hinter sich hörte, als er wußte, daß die Spanier ihm auf den Leim gegangen waren, änderte er seine Laufrichtung. Er lief ein paar Schritte weit in die Calle del Dos de Mayo zurück und preßte sich dort mit Ben in eine der zahlreichen Toröffnungen. Ben fand gerade noch die Zeit, Hasard einen verständnislosen Blick zuzuwerfen, da waren die Verfolger auch schon heran. Und es kam genauso, wie Hasard vorausgesehen hatte. Einer der Verfolger stolperte über einen der bewußtlosen Soldaten, der mitten in der Gasse lag. Er krachte zu Boden, seine Hellebarde schepperte laut. Aber die anderen, angestachelt durh das Gebrüll der Soldaten, die sich von der anderen Seite her der Calle Rodo näherten, achteten nicht darauf. Sie liefen weiter, als sei der Satan persönlich hinter ihnen her. Hasard wartete, bis der letzte von ihnen vorbei war, dann schnellte er aus der Tornische und warf sich auf den Spanier, der sich gerade eben fluchend wieder aufrappeln wollte. Er legte dem Überraschten sofort beide Hände um den Hals und drückte zu. Da war auch Ben Brighton schon heran und schickte ihn mit einem genau plazierten Faustschlag ins Land der Träume. Hasard ließ den Bewußtlosen zu Boden gleiten. »Die Uniformen, rasch, Ben!« zischte er seinem Gefährten zu.
Und Ben begriff sofort. Sie packten die beiden Bewußtlosen, den dritten, der ebenfalls noch immer in der Gasse lag, ließen sie liegen. So schnell sie konnten, liefen sie mit ihren beiden Gefangenen durch die Calle del Dos de Mayo wieder zurück und verschwanden gleich darauf mit ihren Opfern über der Schulter in der Calle Velarde, die direkt an der Stadtmauer entlangführte. Hinter einem dort abgestellten Wagen ließ Hasard seinen Spanier zu Boden gleiten und entkleidete ihn. Während er in Rekordzeit in die Soldatenuniform schlüpfte, merkte er, daß er wiederum sagenhaftes Glück entwickelt hatte: Der Spanier, den er sich geschnappt hatte, war von außergewöhnlich großer und kräftiger Statur. Auf diese Weise paßte die Uniform beinahe wie angegossen. Aus der Calle Rodo drang lautes Rufen herüber. Die Spanier suchten die beiden angeblich entflohenen Engländer also immer noch. Ein Grinsen huschte über die Züge des Seewolfs. »Fertig, Ben?« fragte er, während er sich den Helm über den schwarzen Haarschopf stülpte. Ben Brighton grunzte nur. »Dann los, Ben. Nur wenn wir uns höllisch beeilen, können wir durch eins der beiden Tore entwischen. Und die Dons werden platzen vor Wut!« Er lief los, Ben Brighton raste hinterher. »Durch eins der Tore?« keuchte er. »Mann, du bist verrückt, Sir, das klappt nie, die Dons werden uns ...« Er kam nicht weiter, denn das Tor war bereits in Sicht, und Hasard Killigrew stürmte schnurstracks darauf los. Wohl oder übel mußte Ben Brighton ihm folgen. Ein Soldat trat ihnen entgegen, aber Hasard ließ ihm gar keine Zeit zum Überlegen. Er hatte keine Ahnung, wie viele Soldaten sich außer ihm noch als Wache beim Tor befinden mochten, deshalb riskierte er es auch nicht, den Mann niederzuschlagen und sich selbst das Tor zu öffnen. »Rasch, das Tor auf, die anderen sind dicht hinter mir. Diese
englischen Bastarde haben zwei von uns erstochen und sind dann über die Mauer getürmt. Los, beeil dich, die Kerle sollen uns nicht entwischen!« Und damit griff er sich auch schon die geladene Muskete des verdutzten Soldaten, der, ohne zu fragen, den schweren Riegel zurückschob und dann zusammen mit Hasard und Ben Brighton die schweren Torflügel auf wuchtete. Noch im Hinauslaufen drehte Hasard sich zu dem Torwächter um. »Sag den anderen, daß sie nach links laufen sollen. Wir beide suchen die Stadtmauer und den Hafen auf der rechten Seite ab!« Damit eilte er durch das Tor, gefolgt von Ben. Im Nu hatten sie den Hafen erreicht und wandten sich aber sofort statt nach rechts nach links. Denn der Schwindel mußte schon sehr bald offenkundig werden, und dann würden die Soldaten bestimmt zunächst nach rechts laufen, um ihn und Ben dort zu suchen. Hasard und Ben gönnten sich keine Ruhe, ehe sie die Stadtmauer nicht weit hinter sich gelassen hatten. Erst ein wüstes Gebrüll, donnernde Schüsse und spanische Flüche, die von ferne an ihre Ohren drangen, ließen sie stehenbleiben. Der Seewolf und sein Bootsmann schlugen sich vor Vergnügen auf die Schenkel, während sie gleichzeitig nach Luft rangen und lachten. »O Lord - wie wird dieser verdammte Bastard von Burton toben, wenn er von diesem neuen Streich des Seewolfs hört!« gluckste Ben Brighton. »Wie schade, daß ich nicht dabeisein und ihm ordentlich was aufs Maul geben kann!« Als sie etwas zu Atem gekommen waren, liefen sie weiter. Die Stadt Sevilla blieb hinter ihnen zurück. Eine Stunde später zogen sie die Uniformen, die sie lediglich über ihre eigene Kleidung gestreift hatten, wieder aus. Sorgfältig verbargen sie die Sachen unter einem dichten Busch. Dann marschierten sie weiter. Die schwere Muskete warf Hasard kurzerhand in einen
Wassergraben, den sie übersprangen. Sie bewegten sich nun am Guadalquivir entlang nach Südwesten. Etliche Stunden später näherten sie sich dem Fischerdorf Coria. Sie wagten sich jedoch nicht an das Dorf heran, sondern krochen unter eins der an Land gezogenen Fischerboote. Sie waren zu erschöpft, um noch einen Wachtörn einzurichten. Es mußte schon mit dem Teufel zugehen, wenn sie jemand unter diesem Boot entdeckte, bevor sie wieder aufgewacht waren. Der Seewolf und sein Bootsmann schliefen im Handumdrehen ein. Als sie schließlich wieder erwachten, war es bereits hell um sie. Aber dennoch war das Erwachen völlig anders, als sie sich das vorgestellt hatten.
Der alte Enrico - so jedenfalls nannten ihn die Bewohner des Dorfes Coria, obwohl er keineswegs ein alter Mann war - ging zum Strand hinunter. Sein weißes Haar und sein weißer Bart bildeten einen lebhaften Kontrast zu seiner runzligen, braungebrannten Haut. Hin und wieder blieb er stehen und hob schnuppernd die Nase in die leichte Brise. Dabei warf er jedesmal einen Blick in den strahlendblauen Himmel, an dem nur hin und wieder ein paar weiße Kumuluswolken entlangsegelten. Enrico kannte dieses Wetter. Immer wenn der Wind aus dem Landesinnern zur Küste hin aufbriste, dann stand in den nächsten Tagen eine Wetteränderung bevor. Zugleich waren aber auch diese Tage am günstigsten zum Fischen. Die Sardinen zogen dann in Schwärmen in der Mündung des Guadalquivir herum. Volle Netze und guter Verdienst auf den Märkten von San Lucar waren stets die Folge. Enrico murmelte eine Verwünschung vor sich hin. Für einen Moment schlossen sich seine Augen. Er hatte keinen Partner
mehr, er mußte allein fischen, seit dieser verdammten Sache. Die Leute mieden ihn, denn sie hatten Angst, mit den spanischen Soldaten oder der spanischen Polizei aneinander zu geraten, wenn sie ihm halfen. Enricos Gesicht war noch runzliger geworden. Aber es zeigte nichts von Resignation, im Gegenteil, um seinen Mund lag ein Zug, der Zorn und wilde Entschlossenheit ausdrückte. Es ging ihm nicht gut, aber er brauchte auch nicht viel. Fürs Leben reichte es, der Rest war ihm im Moment ziemlich gleichgültig. Langsam ging er weiter. Sein Boot hatte ein paar Reparaturen nötig, dieser Tag war wie geschaffen dafür. Morgen würde er fischen und danach zum Wochenmarkt nach San Lucar segeln. Er dachte flüchtig daran, daß er sich auch noch sein Schleppnetz vornehmen müsse. Es war beim letztenmal in einem Anker hängengeblieben, den irgendeins der spanischen Schiffe im Fluß verloren haben mußte. Enrico seufzte. Für einen einzelnen Mann verdammt viel Arbeit, das alles. Doch dann hob er die Schultern - er würde sehen. Manchmal ging alles viel besser, als es zunächst den Anschein hatte. Er näherte sich dem Guadalquivir. Das Ufer war an dieser Stelle nicht bewachsen, sondern wies einen breiten Sandstreifen auf, der sich am Strom entlangzog. Schon von weitem erkannte Enrico sein Boot, das mit dem Kiel nach oben auf dem Strand lag. Wieder blieb er für einen Moment stehen. Er hatte an diesem Tage länger geschlafen. Und noch immer brummte ihm der Schädel, denn in der vergangenen Nacht in Sevilla war es hoch hergegangen. Wein - ein Mädchen, von Zeit zu Zeit leistete sich Enrico diesen Luxus. Und dann jener Zwischenfall im »Fisch«. Die Soldaten, die beiden Fremden, die dort gesucht worden waren. Dann der Aufruhr in der Calle del Dos de Mayo und der anschließende Riesenspektakel an einem der beiden
zum Hafen gelegenen Stadttore. Enrico lachte bei der Erinnerung daran leise in sich hinein. Die spanischen Soldaten hatten dagestanden wie begossene Pudel. Ein Capitan und ein anderer Kerl, den er wohl zuvor im »Fisch« gesehen hatte, dem er aber noch nie zuvor in Sevilla begegnet war, hatten geschrien und getobt. Dieser widerliche feiste Kerl, der schon den Wirt vom »Fisch« zu Boden geschlagen hatte, hatte sich aufgeführt wie ein Wahnsinniger. Und die umstehenden Spanier, Zeugen dieses Schauspiels, hatten lauthals gelacht, bis sie von den Soldaten mit Kolbenstößen davongejagt worden waren. Enrico wußte auch jetzt noch nicht, warum diese beiden Fremden gesucht wurden. Er wußte aber eins: Diese Fremden mußten außergewöhnlich kühne Burschen sein. Denn dieses Stückchen, das sie sich mit den Spaniern geleistet hatten, war einfach einmalig, solange er, Enrico, überhaupt zurückdenken konnte. Enrico lachte immer noch, als er weiterging. Das war wirklich eine tolle Nacht gewesen, und diesen verfludhten Soldaten gönnte er die Schlappe von Herzen, Mehr noch, er wünschte ihnen die Pest und alles mögliche andere an den Hals. Er näherte sich seinem Boot - und dann blieb er an diesem Morgen zum drittenmal stehen. Deutlich zeichneten sich die Fußspuren zweier Männer ab, die am Strand entlang zu seinem Boot führten und dort endeten. Enrico faßte einen Belegnagel, den er fast immer bei sich trug, fester. Zwar hatte er nichts dagegen, wenn Leute unter seinem Boot die Nacht verbrachten. Aber die Zeiten waren unsicher, viel Gelichter und Strolche aller Art trieben sich neuerdings in der Umgebung größerer Städte herum. Da galt es, auf der Hut zu sein. Vorsichtig ging er auf das Boot zu. Doch so sehr er auch horchte, er hörte nichts. Kein Schnarchen, keine Atemzüge. Enrico grinste. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel. Die
Burschen da unter seinem Boot mußten schon einen gesunden Schlaf haben. Sie hatten Glück, daß das Boot zu dieser Stunde noch im Schatten eines Olivenbaums lag, sonst hätte die Sonne ihnen schon ganz schön eingeheizt. »Nun gut, ich werde die Kerle mal wecken«, murmelte Enrico und trat an das Boot heran. Im nächsten Moment sauste sein Belegnagel auf die Planken, danach wich Enrico ein paar Schritte zurück, Vorsicht war immer noch der bessere Teil der Klugheit.
Hasard und Ben Brighton fuhren in die Höhe. Im Bootsrumpf dröhnte es wie nach einem Schlag auf einen Riesengong. Ben Brighton rammte vor Schreck seinen Schädel gegen die Planken und zog ihn fluchend wieder ein. Dann starrten Hasard und er sich an. Sie hatten länger geschlafen, als sie es sich aufgrund ihrer Lage erlauben konnten. Schließlich konnten sie sich an allen zehn Fingern abzählen, daß die Spanier nach der gestrigen Schlappe nach ihnen suchen würden. Und was, zum Teufel, sollten sie tun, wenn jetzt ein Trupp spanischer Soldaten draußen vor dem Boot stand? Dunkel erinnerte sich der Seewolf an den feuchten Sand, durch den sie zuletzt gegangen waren, ehe sie das Boot fanden. Sie mußten Spuren hinterlassen haben, die auch der größte Idiot nicht mehr übersehen konnte. Hasard warf einen Blick auf den Lichtrand, der unter dem Schanzkleidbord zu sehen war. Es mußte längst heller Tag sein. Vielleicht schon später Vormittag. Weiter gelangte er mit seinen Überlegungen nicht. Eine Stimme drang an ihre Ohren. »Los, raus mit euch Halunken! Oder glaubt ihr, der alte Enrico hat Zeit zu warten, bis ihr euren Rausch ausgeschlafen habt? Vorwärts, oder ich mach euch Beine!«
Der Seewolf und Ben Brighton atmeten auf. Also keine Soldaten, sondern wahrscheinlich der Besitzer des Bootes. »Sollen wir ihm was aufs Dach geben?« fragte Ben Brighton flüsternd. »Mit dem werden wir schon fertig. Und dann nichts wie weg!« Hasard grinste. Aber dann schüttelte er den Kopf. »Wir wollen nichts übereilen, Ben. Vielleicht ist dieser alte Enrico ein ganz passabler Bursche, der sich in dieser Gegend gut auskennt. Das könnte von Nutzen sein. Wenn er allerdings auf Ärger scharf ist, dann ...« Ben Brighton nickte, aber zu einer Antwort kam er nicht, denn abermals knallte der Belegnagel auf den Rumpf der Felucke, daß ihnen die Trommelfelle schepperten. »Meine Geduld ist nun zu Ende. Ich weiß, daß ihr verdammten Saufköpfe unter dem Boot steckt. Kommt raus, oder es setzt was, verstanden?« Die Stimme des Alten klang energisch, und Hasard war überzeugt, daß er es ernst meinte. »Na, Ben, dann wollen wir mal«, sagte er. »Mal sehen, was das da draußen für ein Typ ist. Achtung, zugleich!« Die beiden Männer hoben den Bootskörper an und krochen nacheinander ins Freie. Dann blinzelten sie in den hellen Sonnenschein, der ihnen vom Strand und vom Wasser des nahen Flusses entgegengleißte. Philip Hasard Killigrew und Ben Brighton verloren keine Zeit. Sie richteten sich sofort auf und standen dann vor der Felucke, dem Fischerboot, das wahrscheinlich dem weißbärtigen Alten dort gehörte, der sie aus schmalen Augen ansah. Weder Ben noch Hasard übersahen den Belegnagel, den der Alte in der Hand hielt, und auch nicht den Abstand, den er zwischen sich und das Boot gelegt hatte. Doch dann ließ der Alte den Belegnagel sinken, und ein Grinsen huschte über sein runzliges Gesicht. Langsam trat er näher, aber immer noch deutlich auf der Hut. »Sie sind fremd in diesem Land, wie?« fragte er dann. »Nein,
nein, Senores, versuchen Sie gar nicht erst, dem alten Enrico etwas vorzuschwindeln. Ich erkenne Fremde schon von weitem, war selber viele Jahre mal hier und mal dort.« Hasard und Ben erwiderten das Grinsen des Alten, obwohl ihnen ganz und gar nicht danach zumute war. Dieser alte Bursche war ein schlauer Patron, der würde sich so leicht kein X für ein U vorspiegeln lassen. Hasard war gespannt, wie sich die Dinge entwickeln würden. Aber dann passierte etwas, was ihm und Ben glatt den Atem verschlug. Der Alte war etwa drei Schritte von ihnen entfernt. Noch immer überzog ein undefinierbares Grinsen sein Gesicht. »Pedro Overo Hernandes ist ein guter Freund von mir. Hoffentlich kriegt er nicht noch eine Menge Schwierigkeiten, weil er den beiden ›ingles‹ zur Flucht verhelfen hat«, sagte der Alte und grinste weiter. Ben Brighton, der direkt neben dem Seewolf stand, sog vernehmlich die Luft ein. »Was soll dieses dämliche Gerede, Opa?« fuhr er den Fischer an. »Wir kennen keinen Pedro Overo Hernandes, wir ...« Der Alte schüttelte den Kopf. In seine verrunzelten Züge trat der Ausdruck belustigter Mißbilligung. »Ich sagte doch, daß ich ein guter Freund des Wirtes vom »Fisch« bin. Ich war gestern dort. Ich habe alles miterlebt, ich habe sogar euch beide dort gesehen. In der Nische unter der Treppe. Und dann wart ihr plötzlich verschwunden. Später habt ihr in der Calle del Dos de Mayo ein paar spanische Soldaten niedergeschlagen, euch ihre Uniformen genommen und seid dann durch eins der beiden Stadttore getürmt. Wollt ihr noch mehr über die vergangene Nacht wissen?« Der Alte kicherte. Dabei ließ er Hasard und Ben aber keine Sekunde aus den Augen. »Ich weiß, was ihr jetzt denkt«, sagte er dann plötzlich, und aus seinem Gesicht war das Grinsen verschwunden. »Ihr überlegt, ob ihr mir was über den Schädel geben sollt, damit ihr
ungehindert türmen könnt. Ich könnte euch nicht einmal daran hindern, aber es wäre dumm von euch. Ich habe einen besseren Vorschlag. Ich brauche zwei Gehilfen. Das Boot ist für mich allein zu groß, außerdem fangen wir zu dritt mehr Fische. Ihr seid bei mir sicher, Senores. Pedro Overo Hernandes Freunde sind auch meine Freunde. Ich weiß nicht, was ihr in Spanien tut, es interessiert mich auch nicht. Genau wie ihr bin auch ich auf diese verfluchten Affen in Uniform nicht gut zu sprechen der Grund kann euch gleichgültig sein. Wenn ihr mein Angebot annehmt, dann bessern wir jetzt das Boot aus. Anschließend segeln wir zur Reede von San Lucar zum Fischen. Ich habe dort unten eine kleine Hütte, in der für uns alle genug Platz ist. Auf dem Wasser werden wir nicht kontrolliert, ihr braucht also die Soldaten nicht zu fürchten. Na, wie ist es, wollt ihr dem alten Enrico helfen?« Der Seewolf und Ben Brighton erkannten sofort, wie günstig dieses Angebot für sie und ihre Pläne war. Denn wenn sie die Galeere ›Tortuga‹ überhaupt finden wollten, dann war das auf diese Weise am besten möglich. Denn auf der Reede von San Lucar ankerten die spanischen Kriegsgaleonen, die von den Galeeren mit Proviant und Munition versorgt wurden. Dort mußte auch die ›Tortuga‹ zu finden sein. Hasard trat auf den Alten zu und bot ihm die Rechte. »Wir nehmen an, Enrico«, sagte er. »Und damit wir dir nicht auf der Tasche liegen, sind hier zunächst einmal zwei Golddublonen. Wir werden uns jetzt dein Boot ansehen, besorg du uns was zu essen. Unsere Mägen knurren schon seit gestern.« Enrico riß die Augen auf, als Hasard ihm die beiden Golddublonen in die Hand drückte. Doch dann sah er den Seewolf und Ben Brighton, der ihm nun ebenfalls mit Handschlag ihren Pakt bekräftigte, aufmerksam an. Und er begriff, daß er diesen beiden Männern trauen konnte. Er zwinkerte den beiden zu.
»Ich glaube, wir haben soeben einen sehr gescheiten Pakt miteinander geschlossen«, sagte er. »Wir passen bestimmt zusammen. Gut, gut, ich werde etwas zu essen besorgen. Was das Boot angeht ...« »Das laß unsere Sorge sein, Enrico. Wir verstehen uns darauf. Und nun beeil dich!« Wieder kniff der Alte die Augen zusammen. Dann nickte er ein paarmal und lief los. Wie günstig sich dieses rein zufällige Zusammentreffen für sie alle auswirken sollte, ahnte in diesem Moment noch keiner von ihnen.
3. Als Hasard und Ben das Werkzeug endlich aus der Hand legten, hatte die Sonne den Zenit überschritten. Enrico besah sich kopfschüttelnd die Planke, die die beiden ausgebessert hatten. Das war absolut fachmännische Arbeit. Dann betrachtete er das Segel, das Ben Brighton geflickt hatte. Er betastete die Nähte, und abermals stellte er fest, daß hier die Hand eines Fachmannes am Werk gewesen war. Enrico sah die beiden an. Längst war ihm klargeworden, daß die beiden alte Fahrensleute sein mußten, anders wären diese Fertigkeiten und die Art und Weise, wie sie mit dem verhältnismäßig schweren Boot umgingen, gar nicht zu erklären gewesen. Aber er sagte nichts. Statt dessen packte er die Lebensmittelvorräte ein und verstaute sie zusammen mit den Rudern und dem Netz in der Back der Felucke. Es wurde allerhöchste Zeit, das Boot zu Wasser zu bringen und aufzubrechen. Bis zur Küste waren es über fünfzig Meilen. Auch wenn sie im Moment noch günstigen Wind hatten, die Strecke wollte erst einmal gesegelt sein. Selbst unter
Berücksichtigung der Strömung des Guadalquivir rechnete Enrico sieben bis acht Stunden. Hasard und Ben begannen damit, das Boot auf die Rundhölzer zu zerren, die sie zum Teil schon unter den Kiel geschoben hatten. Wortlos packte der Alte mit zu, und bei dieser Gelegenheit merkten der Seewolf und Ben Brighton, daß Enrico alles andere als ein Schwächling war. Die Rollen begannen unter dem Kiel der Felucke zu knirschen, der schwere Bootskörper setzte sich in Bewegung. Es war nicht weit bis zum Wasser, aber durch den sandigen Boden gestaltete sich das Drücken, Ziehen und Schieben zu einer schweißtreibenden Arbeit. Immer wenn eins der Rundhölzer unter dem Heck des Bootes hervorkam, lief Enrico damit nach vorn und legte es wieder unter den Bug. Schließlich hatten sie das Wasser erreicht, und schon Minuten später schwamm die Felucke auf. Ben Brighton wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann sah er den Alten an. »Nun sag bloß noch, das hättest du sonst allein getan, Enrico! Dann glaube ich dir auch in Zukunft kein Wort mehr!« Der Alte schüttelte den Kopf. »Ich habe das Boot nur selten hier liegen«, erwiderte er. »Entweder segle ich nach Sevilla, oder ich bleibe in meiner Hütte bei San Lucar. Dort habe ich mir eine Möglichkeit geschaffen, das Boot auch allein an Land zu ziehen. Na, ihr werdet sehen. Ich bin immer froh, wenn ich Coria den Rücken kehren kann, seit ...« Der Alte verstummte plötzlich. Seine Züge spannten sich, und Hasard glaubte, irgendwo auf dem Grund seiner Augen tödlichen Haß gesehen zu haben. Mit zwei Schritten war er bei Enrico. »Seit?« fragte er, und seine eisblauen Augen blickten den Alten fordernd an. Aber Enrico schüttelte verbissen den Kopf. »Es ist nichts.
Vielleicht erzähle ich es euch später - ab jetzt mit uns. Sonst wird es dunkel, bevor wir bei meiner Hütte sind.« Er ging ein Stück den Strand hinauf und machte sich am Mast für das Lateinersegel zu schaffen. Wortlos packten der Seewolf und Ben Brighton mit zu. Gemeinsam setzten sie den Mast ein, danach takelten sie die Felucke auf. Eine halbe Stunde später war das Fischerboot seeklar. Das dreieckige Lateinersegel, das an einer langen Gaffelrute befestigt war, blähte sich im Wind. Zusätzlich hatten Ben Brighton und der Seewolf noch die sonst kaum benutzte Fock gesetzt. Die Felucke bewies hervorragende Segeleigenschaften. Sie gewann schnell die Mitte des Flusses und lief stromabwärts mehr Fahrt, als Hasard und Ben Brighton zunächst angenommen hatten. Enrico verfolgte die Seemannschaft der beiden mit wachsamen Blicken. Was er längst geahnt hatte, bestätigte sich für ihn schon während der ersten halben Stunde: Diese beiden Männer waren Seeleute, und ausgezeichnete dazu. Vergnügt rieb er sich die Hände, eine solche Besatzung hatte sein Boot wahrscheinlich während seines gesamten und schon recht langen Lebens sicher noch nie gehabt. Wenn die beiden jetzt auch noch etwas von der Fischerei verstanden, dann würde das bestimmt der beste Fang seines Lebens werden. Die nächsten Stunden verrannen ohne jeden Zwischenfall. Ein paar Schiffe, die stromauf segelten oder auch gerudert wurden, glitten vorbei. Ben und Hasard lagen auf der Back im Schatten der Fock und machten sich so weit wie möglich unsichtbar. Sie registrierten, daß Enrico hin und wieder einen der vorbeifahrenden Fischer grüßte, aber sonst schweigsam am Ruder saß. Manchmal nahm er einen Schluck Wein und reichte die Flasche dann an seine beiden Gefährten weiter. Als sie den Ort Queipo passierten, geschah es. Der Alte sprang plötzlich auf, sein eben noch freundliches Gesicht verzerrte sich. Gleichzeitig hörten der Seewolf und Ben
Brighton das unverwechselbare Geräusch von vielen im Takt eintauchenden Riemen. Hasard und Ben richteten sich auf und drehten sich um. Und dann sahen sie es. Wie ein riesiger Tausendfüßler kroch aus der Biegung des Flusses eine spanische Galeere auf sie zu. Während sie die Galeere beobachteten, hörten sie den Alten am Ruder der Felucke Verwünschungen ausstoßen. Hasard wandte sich um und sah Enrico an. Der Alte schien völlig verwandelt. Er ließ kein Auge von der herannahenden Galeere, die linke Hand war geballt, voller Wut begann er sie zu schütteln. Dann brüllte er plötzlich Beschimpfungen über den Strom. »Ben, los, geh ans Ruder. Der Alte spinnt. Ich werde ihn ein wenig zur Vernunft bringen, es ist absolut überflüssig, daß die Dons auf diese Weise auf uns aufmerksam werden.« Ben Brighton war mit ein paar Sätzen am Ruder. Hasard packte den Alten, der sich wütend gegen seinen eisernen Griff wehrte. Aber der Seewolf hielt den Arm fest. Er zerrte ihn vom Ruder fort und schleifte ihn ins Innere des Bootes. »Hör endlich auf, Enrico. Glaubst du Narr, ich habe Lust, die Galeere durch dein blödsinniges Gebrüll auf uns aufmerksam werden zu lassen? Du weißt doch ganz genau, daß die Offiziere an Bord der Galeere genügend Vollmachten besitzen, dich jederzeit wegen Beleidigung vor eins der Militärtribunale zu schleppen! Ich kenne diese Sorte - die ist empfindlich an diesem Punkt!« Enrico starrte den Seewolf schwer atmend an. Dann straffte sich sein Körper plötzlich. Es war, als würde er plötzlich wach, als würde er sich in diesem Augenblick von einem Alptraum befreien. »Schon gut, Hasard«, sagte er, aber seine Stimme vibrierte immer noch vor Erregung. »Laß mich los, es ist vorbei!« Hasard löste seinen Griff.
»Enrico, was regt dich beim Anblick einer Galeere so auf? Ich will jetzt endlich die Wahrheit wissen! Wirst du gesucht? Hast du irgend etwas verbrochen? Wir sind Partner. Wenn wir weiterhin zusammenbleiben, dann muß einer über den anderen und seine Probleme Bescheid wissen.« Enrico senkte den Kopf. Für einen Moment dachte Hasard, er würde sprechen, aber dann verschloß sich das Gesicht des Alten wieder. »Hör zu, ingles«, sagte er, »mich kümmert nicht, weshalb die Soldaten euch gesucht haben. Kümmert ihr euch nicht um meine Angelegenheiten. Wenn ich reden will, dann werde ich das von selber tun, wenn nicht, dann hat fragen bei mir auch keinen Sinn.« Er drehte sich um und ging zum Achterschiff. Neben Ben Brighton blieb er stehen und starrte zu der vorbeigleitenden Galeere hinüber. Dabei ballten sich seine Hände wieder, und seine Wangenmuskeln begannen zu spielen. Jedesmal, wenn er die lauten Kommandos der Aufseher hörte und das Klatschen ihrer Peitschen, sobald sie die Rudersklaven schlugen, zuckte er zusammen. Als die Galeere schließlich vorbei war, nahm er wortlos seinen Platz am Ruder wieder ein. Für den Rest der Fahrt sprach der Alte kein Wort mehr, sondern brütete mit finsterer Miene vor sich hin. Der Seewolf und Ben Brighton zerbrachen sich über das sonderbare Verhalten des Alten den Kopf, aber sie fanden keine Erklärung. »Vielleicht war der Alte selber mal Galeerensklave«, brummte Ben Brighton schließlich. »Solche Jahre vergißt man nie wieder.« Hasard schüttelte den Kopf. »Nein, Ben, glaube ich nicht«, erwiderte er. »Ich habe den Oberkörper und den Rücken des Alten gesehen, als wir heute morgen am Boot arbeiteten. Peitschenhiebe, wie sie auf
Galeeren verteilt werden, hinterlassen Narben. Enrico hatte keine. Nein, Ben, da ist noch etwas anderes.« Die Sonne stand bereits tief, als sie den kleinen Seitenarm des Guadalquivir erreichten, an dem Enricos Hütte lag. Sofort bemerkten der Seewolf und Ben Brighton die Talje, die in einer Balkenkonstruktion hing, und vor ihr die Rutsche, die der Alte sich gezimmert hatte, um die Felucke bequem ans Ufer ziehen zu können. Irgendwo lagen garantiert auch noch die dazugehörigen Rundhölzer. »Gar nicht so dumm, dieser Enrico«, stellte Ben Brighton fest, und sein Respekt vor dem Alten wuchs. Dann glitten seine Blicke zu dem Steg, der von der Hütte aus ins Wasser führte. Die Hütte selbst sah ebenfalls sehr solide aus. Der Alte, der unbemerkt neben sie getreten war, weidete sich an ihrem Erstaunen. Seine Laune hatte sich erheblich gebessert. »Nicht nur die ingles verstehen etwas von Schiffen, Senores«, sagte er. »Ich habe mit dieser Felucke schon Reisen bis nach Afrika unternommen, aber damals war ja auch noch ...« Abrupt verstummte er. Wieder verhärteten sich seine Züge. Ohne ein weiteres Wort ging er nach achtern und begann, das Lateinersegel zu bergen. Ben Brighton und Hasard postierten sich auf der Back, während das Boot auf den Steg zuglitt. Dann vertäuten sie es und halfen Enrico, den Proviant und die Ruder an Land zu schaffen. Mast und Segel blieben an Bord, denn am nächsten Tag sollte es in aller Frühe auf Fischfang gehen. Als der Alte die Ruder in einem Verschlag neben der Hütte verstaute, wandte sich Ben Brighton Hasard zu. »Dieser Enrico ist mir ein Rätsel«, sagte er. »Ich werde aus dem Burschen nicht mehr schlau. Aber ich habe das Gefühl, daß er unseren Plänen sehr nützlich sein wird. Ich glaube sogar, daß er mitmachen würde, wenn wir ihn einweihen.« »Keine Übereilungen, Ben«, warnte der Seewolf. »Wir werden sehr vorsichtig sein müssen, wenn wir Erfolg haben wollen. Zunächst einmal will ich versuchen, herauszufinden,
was mit Enrico eigentlich los ist. Irgendwie werde ich den Alten zum Reden bringen. Dann sehen wir weiter.« Der Alte kam zurück, mit ihm betraten sie die Hütte. Und wieder erwartete sie eine Überraschung. Die Hütte war geradezu behaglich eingerichtet. Es war nicht zu übersehen, daß hier noch vor kurzem mindestens zwei Menschen miteinander gelebt hatten. Gab es in Enricos Leben eine Frau oder hatte es eine gegeben?
Der nächste und der übernächste Tag brachten nichts Neues. Schon vor Sonnenaufgang fuhren sie auf die Reede hinaus zum Fischen. Der Seewolf und Ben Brighton packten kräftig mit zu. Enrico rieb sich die Hände, als die silbernen Leiber der Sardinen zappelnd aus dem Schleppnetz ins Boot quollen und seine beiden Gefährten sofort damit begannen, sie in die Kisten zu sortieren. Sie fingen an diesen beiden Tagen mehr, als der Alte jemals gefangen hatte. Anschließend segelten sie nach San Lucar hinüber und schafften die Ware auf den Markt. Während Ben und Hasard aus Sicherheitsgründen im Boot verblieben und sich so unauffällig wie möglich benahmen, brachte Enrico die Fische an den Mann - und er fand reißenden Absatz. Händereibend tauchte er gegen Abend des ersten Tages wieder an Bord auf. Dann segelten sie zu seiner Hütte zurück. Der zweite Tag verlief fast genauso. Allerdings kreuzten ein paar Galeeren ihren Weg, und wieder verfinsterten sich die Züge des Alten, wieder ballte er die Hände. Aber er hatte sich weitaus besser in Gewalt, als am ersten Tage ihrer Bekanntschaft. Hin und wieder warfen der Seewolf und Ben einen Blick zu den auf Reede liegenden Galeonen hinüber. Aber auch dort geschah nichts Besonderes. Als sie am Abend des zweiten Tages zurücksegelten, kreuzte
eine Galeone so nahe den Kurs ihrer Felucke, daß Hasard und Ben ohne weiteres den in Goldbuchstaben geschriebenen Namen des Schiffes entziffern konnten. ›San Mateo‹ - Ben Brighton las den Namen gedankenverloren. Zugleich erkannten seine seemännisch geschulten Augen, daß diese Galeone ein hervorragender Segler sein mußte. Er schätzte ihre Größe auf etwas über zweihundert Tonnen, an jeder Seite ihres Rumpfes zählte er acht Stückpforten. Was ihm besonders auffiel, waren die vier Drehbassen auf dem Achterkastell, je zwei an Backund an Steuerbord. Ganz automatisch wanderten seine Blicke zur Takelage. Drei Masten - Fockmast, Großmast und Besan. Im stillen verglich er die ›San Mateo‹ mit ihrer ›Isabella‹. Die ›San Mateo‹ war schlanker gebaut, wahrscheinlich also ein besserer Flautenläufer und ein wesentlich schnellerer Segler. Ben Brighton stieß unwillkürlich einen Seufzer aus. Es wurde für ihn und Hasard allerhöchste Zeit, endlich wieder ein gutes Schiff unter die Füße zu kriegen. Der gegenwärtige Zustand war für Seebären wie sie einfach zum Kotzen. Als sie am Morgen des dritten Tages wiederum zum Fischfang ausliefen, ahnte noch keiner von ihnen, daß dieser Tag einen völlig anderen Verlauf nehmen sollte. Mehr noch dieser dritte Tag beendete schlagartig ihre gemütlichen Abende in der Fischerhütte am Seitenarm des Guadalquivir.
4. Schon lange vor Sonnenaufgang stand Enrico vor der Hütte. Die Morgendämmerung hatte bereits weite Teile des Himmels erobert. Im Osten, über den weiten Wiesenflächen der Flußmündung des Guadalquivir, schien der Himmel zu brennen. Glutrot leuchteten die feinen Wolkenbänder, die sich dort während der Nacht formiert hatten. Hin und wieder fuhr
ein leichter Wind über das Wasser der Bucht und durch die runden Kronen der Olivenbäume. Es war kühl an diesem Morgen, und Enrico zog fröstelnd die Leinenjacke fester um Brust und Rücken. Langsam ging er zum Steg hinüber, an dessen rechter Seite die Felucke vertäut im dunklen Wasser lag. Am Ende des Steges blieb der Alte stehen und hob schnuppernd die Nase in die Luft. Es war April. Er hatte schon mehr als einen Morgen am Fluß erlebt, der so begann wie dieser. Enrico wußte, was dieses glühende, brennende Morgenrot, dieser leichte, über die Landschaft dahinhuschende Wind zu bedeuten hatten. Sturm, Regen, pechschwarze Nächte, in denen die Wassermassen des Atlantiks in die Flußmündung drückten, in denen das Wasser höher und höher stieg und Mensch und Tier auf der Hut sein mußten. Mal mehr, mal weniger, aber einen Wetterumschwung würde es geben. Das war so sicher, wie in der nächsten Viertelstunde die Sonne aufgehen würde. Enrico blickte auf die Reede. Auch die dort vor Anker liegenden Galeonen sollten sich besser in acht nehmen. Wenn ein Kapitän bei einem solchen Wetterumschwung nicht aufpaßte, dann konnte es leicht geschehen, daß der Sturm sein Schiff mit den hereindrängenden Wassern des Atlantiks auf den Strand spülte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, daß Enrico zugesehen hätte, wie die Spanier später versuchten, die gestrandeten Galeonen mit Hilfe von ganzen Heeren von Galeerensklaven wieder flottzukriegen. Abermals schnupperte er in den Morgenhimmel, als ein Windstoß über die Wasseroberfläche fuhr und sie kräuselte. Dann kratzte er sich den Bart. Es war schwer zu sagen, wann der Wetterumschwung einsetzen würde. Vielleicht gegen Abend, vielleicht auch erst im Lauf der kommenden Nacht oder auch erst in ein oder zwei Tagen. Noch wehte der Wind aus der Ebene, erst wenn er plötzlich auf West drehte, wenn die
dunklen Wolken vom Atlantik heranzogen, dann war es soweit. Abermals warf er einen Blick auf die Reede hinüber. Ihm fiel auf, daß dort ein paar Galeonen mehr vor Anker lagen als noch am Abend des Vortages. Sie mußten entweder während der Nacht oder beim ersten Morgengrauen eingelaufen sein. Das bedeutete Arbeit für die Galeeren - und bei diesem Gedanken verfinsterte sich sein Gesicht. Er suchte die Reede ab, und richtig, eine dieser verdammten Galeeren kroch bereits wie ein riesiger Tausendfüßler auf die Reede zu den Galeonen hinaus. Enrico drehte sich abrupt um. Er würde die beiden Gefährten wecken. Es wurde höchste Zeit, daß sie zum Fischen hinaussegelten. An Tagen wie diesem wimmelte die Flußmündung nur so von Sardinen. Sie würden heute noch mehr fangen als an den beiden Tagen zuvor. Enrico rieb sich gewohnheitsgemäß die Hände, bei ihm stets ein Zeichen größter Zufriedenheit oder der Vorfreude auf angenehme Dinge, von denen er mit Sicherheit annahm, daß sie sich ereignen würden. Nur - diesmal verspürte er nichts von alledem. Er fühlte, daß dieser Tag anders werden würde. Irgend etwas lag in der Luft, etwas Bedrohliches, etwas wie er es seit vielen Jahren nicht mehr erlebt hatte. Er hielt mit dem Händereiben inne und ließ die Arme sinken. Und wieder suchte sein Blick die Galeere, die auf eine der ankernden Galeonen zukroch. Plötzlich schüttelte er in sinnloser Wut die Fäuste. Tränen traten ihm in die Augen und rollten über seine runzligen Wangen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Enrico sich wieder beruhigte. Er ahnte nicht, daß Ben Brighton und der Seewolf ihn aus schmalen Augen beobachteten. »Entweder ist der Alte nicht mehr ganz dicht, oder er hat etwas so Schreckliches erlebt, daß er damit einfach nicht fertig wird, Ben«, flüsterte Hasard. »Komm weg, der Alte braucht nicht zu merken, daß wir ihn beobachtet haben.« Er zog seinen Bootsmann mit sich in die Hütte und ließ sich
auf sein Lager fallen. Ben Brighton folgte seinem Beispiel. Die beiden Männer stellten sich schlafend. Erst als Enrico sie schließlich ziemlich brummig und mißgestimmt weckte, schlugen sie die Augen wieder auf. »Hoch mit euch, ihr verdammten Faulpelze!« schimpfte er. »Das Wetter wird bald umschlagen, wir müssen schnellstens auf Fang. Morgen und vielleicht auch für die nächsten Tage werden wir nicht mehr auslaufen können. Wenn wir heute abend zurückgekehrt sind, dann ziehen wir das Boot an Land und vertäuen es dort nach allen Regeln der Kunst. Ich wäre nicht der erste, dem Sturm und Hochwasser das Boot entführen.« Ben Brighton grinste. »Ach, Mann, was du so Sturm nennst. Da sind Hasard und ich ganz andere Wetter gewöhnt. Du mußt mal draußen auf der offenen See einen richtigen Orkan abreiten, dann wüßtest du gleich, warum mich eure Frühlingslüftchen hier nicht sonderlich aufregen können.« Ben Brighton langte nach der Weinflasche und nahm einen kräftigen Schluck. Enrico starrte ihn aus seinen dunklen Augen an. »Das habe ich anfangs, als ich hier an der Mündung des Flusses die Hütte baute, auch gedacht«, sagte er. »Das erste Wetter erwischte uns dann draußen, nur ein paar Meilen vor der Mündung des Guadalquivir. Da ist mir das Lachen vergangen, Ben. Aber warte es ab, dieser Fluß ist tückisch. Und seine Stürme auch. Vielleicht liegt das an den nahen Bergen im Osten. Na, ihr werdet sehen.« Hasard hatte dem Alten aufmerksam zugehört. Ihm war das Wort »uns« nicht entgangen. »Du sagtest, es erwischte euch, Enrico. Wen meinst da damit? Rück doch endlich mal heraus mit der Sprache. Das sieht doch ein Blinder, daß diese Hütte noch vor kurzer Zeit nicht von dir allein bewohnt worden ist.«
Hasard sah, wie sich die Züge des Alten verhärteten. Langsam stand Enrico auf und bewegte fahrig die Rechte, als müsse er etwas fortwischen. »Ja, ingles, es gab da mal jemanden, mit dem ich hier gewohnt habe. Es gab sogar zwei, wenn ihr es ganz genau wissen wollt. Und nun laßt mich in Frieden!« Der Alte verließ die Hütte. Sie hörten, wie er aus dem Verschlag neben der Hütte die Ruder holte und über den Steg zur Felucke hinüberging. Wohl oder übel folgten sie ihm. Ein paar Minuten später blähte der Wind das Lateinersegel des Bootes und trieb es mit rauschender Bugwelle aus dem schmalen Seitenarm des Guadalquivir auf die breite Mündung des Stromes hinaus. Und dann, etwa eine Stunde nach Sonnenaufgang, passierte es.
Ben und Hasard waren eben damit beschäftigt, das Schleppnetz zum Ausbringen zu klarieren. Der Alte überprüfte noch einmal die Schleppleinen und blickte dabei hin und wieder nach San Lucar hinüber, dessen weiße Häuser und Befestigungsanlagen mit den dicken Türmen in der Morgensonne zu ihnen herüberleuchteten. Aber dann erstarrte er plötzlich und ließ die Schleppleinen fallen, als habe er sich an ihnen die Finger verbrannt. Hasard, der den Alten eigentlich immer unauffällig beobachtete und sich sorgte, weil die Tage verrannen, ohne daß sie imstande gewesen wären, etwas über die Galeere ›Tortuga‹ und ihren Liegeplatz zu erfahren, entging das nicht. Er stieß Ben an, der neben ihm auf einer der Duchten hockte. Dann blickten die beiden Männer nach San Lucar hinüber. Und sofort wußten sie, was den Alten so sonderbar stimmte. Hinter der Außenmole des Hafens glitt eine Galeere hervor. Hasard zählte achtundvierzig Riemen. Es handelte sich mithin
um eins der mittleren Schiffe dieses Typs. Aber er entdeckte zugleich auch noch etwas anderes. Am Bug des Schiffes, vor der Plattform, auf der ein schweres Geschütz montiert war, trug es einen kupferfarben leuchtenden Schildkrötenkopf, der zu einer gefährlichen Ramme ausgebildet war. Hasard und Ben hatten noch nicht allzu viele Galeeren in ihrem Leben gesehen, aber sie wußten sofort, daß eine solche Gallionsfigur bei diesem Schiffstyp ungewöhnlich war. Mehr noch, diese Galeere war schon von weitem von allen anderen zu unterscheiden, denen sie bisher begegnet waren. Durch Enrico ging ein Ruck. Seine starre Haltung löste sich. Mit einem Satz war er beim Mast und griff nach dem Fall, mit dem das Lateinersegel gesetzt wurde. Dabei zuckte es in seinem runzligen Gesicht wie Wetterleuchten, das ein nahendes Gewitter ankündigt. Hasard und Ben ließen das Schleppnetz fallen. Hasard sprang auf und stand im nächsten Moment neben dem Alten, der wie von Sinnen an dem Fall zerrte. Er fiel ihm in den Arm. »He, Enrico, was soll das?« fragte er. »Was zum Teufel hast du vor? Wir sind mit dem Netz noch nicht fertig, wir ...« »Laß mich«, fauchte der Alte und versuchte, Hasards Hand von seinem Arm abzuschütteln. »Ist mir scheißegal, ob wir heute was fangen oder nicht. Ich muß zu dieser verdammten Galeere hinüber, hilf mir gefälligst!« Ben Brighton war ebenfalls aufgestanden und zu den beiden getreten. »Opa, jetzt spinnst du aber endgültig. Lange genug habe ich mir dein Theater angesehen, wenn eine Galeere in unsere Nähe kam. Jetzt will ich endlich wissen, was eigentlich los ist. Oder glaubst du Narr, ich lasse mich wegen einer deiner Verrücktheiten von den Dons fischen? Los, rede endlich, wir werden keinen Finger rühren, wenn du nicht endlich damit herausrückst, was dich an diesen verdammten Galeeren so aufregt!«
Ben hatte nach dem Fall gegriffen und hielt es fest. Auf diese Weise konnte der Alte das Segel nicht hochziehen, zumal Hasard ihn immer noch am rechten Arm gepackt hatte. Enrico kriegte einen Tobsuchtsanfall. »Laßt mich los, ihr verfluchten Bastarde, oder ich werfe euch eigenhändig über Bord. Laßt mich los, sage ich, ich will zu dieser Galeere hinüber, ich will diesen Schweinen und Schindern ...« Hasard sah, wie Schaum auf die Lippen Enricos trat. Er spürte die Kraft, mit der der Alte sich gegen seinen Griff wehrte. Hasard tauschte einen kurzen Blick mit Ben Brighton. Ben nickte. Hasard ließ den Alten los und schlug im selben Moment zu. Nicht sehr hart, aber doch ausreichend, um Enrico zu Boden zu schicken. Geschickt fing er den Alten auf, als er in sich zusammensackte. Dann legten sie ihn auf den Boden der Felucke. »Bei allen Stürmen der Hölle, dieser verrückte Hengst bringt uns noch in Teufels Küche mit seiner Unbeherrschtheit!« sagte Ben Brighton aufgebracht. »Der wäre glatt zu den Dons hinübergesegelt und hätte sie beschimpft, angespuckt, die Fäuste geschüttelt. Und dann hätten uns die Kerle hops genommen, darauf kannst du Gift nehmen, Sir. Diese Dons sind in diesem Punkt mindestens so unberechenbar wie der Alte!« Hasard hatte nur mit einem Ohr hingehört. In Gedanken war er ganz woanders, und seine Gedanken überstürzten sich. »Ben, wir tun jetzt genau das, was der Alte wollte. Wir segeln an die Galeere heran. Mal sehen, ob wir dort etwas Besonderes entdecken können. Und wenn der Alte wieder wach ist, dann knöpfen wir ihn uns vor. Ich bediene Segel und Ruder, du paßt auf den Alten auf. Ich will nicht, daß er irgendeinen Blödsinn inszeniert.«
Gemeinsam zogen sie das Segel hoch, Hasard übernahm das Ruder. Ein Blick nach San Lucar hinüber zeigte ihnen, daß die Galeere die Mole längst hinter sich gelassen hatte und Kurs auf die offene Reede nahm. Der Seewolf legte seinen Kurs so, daß sie sich der Galeere unauffällig näherten. Dabei versuchte er, aus ihrem Kurs auch das Ziel ihrer Fahrt zu erkennen, und die Linie, die er mit den Augen zog, wies auf eine schlank gebaute Galeone, die weit draußen auf Reede lag. Flüchtig dachte Hasard an das, was ihnen der Alte am Morgen über das Wetter gesagt hatte. Er warf einen Blick in den Himmel und musterte dann auch den Horizont im Westen und im Osten. Der Alte kannte sich aus. Zwar war der Himmel über der Mündung des Guadalquivir immer noch klar, aber von Osten her zogen feine, wie Spinnweben anmutende Fäden weiter und weiter durch das strahlende Blau. Um sie herum breitete sich dabei, wenn man scharf hinsah, etwas aus, das wie milchiger Nebel aussah. Gleichzeitig wehte aus Ost ein frischer Wind, der immer wieder für kurze Augenblicke aufbriste und die Felucke dann nach Steuerbord krängen ließ. Die Fock hatten sie stehen lassen, nachdem der Alte zuvor das Lateinersegel geborgen hatte. Das war günstig, denn mit der Fock ließ sich die Felucke schneller und leichter manövrieren. »Ben, hol die Fock dicht«, sagte Hasard, »wir müssen höher an den Wind.« Ben Brighton warf einen prüfenden Blick auf den Alten, aber der rührte sich noch nicht, Dann sah er den Seewolf an und grinste. »Höher an den Wind - Mann, das hört sich an, als hätten wir unsere alte ›Isabella‹ unter den Füßen! Aye, aye Sir, Fock wird dicht geholt!« Ben Brighton turnte zur Back und grinste dabei von einem Ohr bis zum anderen.
Sie näherten sich der Galeere ziemlich rasch. Hasard hatte den Kurs der Felucke so gewählt, daß es für einen eventuellen Beobachter den Anschein haben mußte, als hätten sie bisher in der Flußmündung im östlichen Wind gekreuzt auf der Suche nach einem ergiebigen Fangplatz. Er hatte vor, sich später ins Kielwasser der Galeere zu mogeln, um festzustellen, ob es irgendeine Besonderheit an ihr gab. Bis dahin würde auch der Alte sein Bewußtsein wiedererlangt haben, so daß sie ihn gehörig in die Mangel nehmen konnten. Je näher sie an die Galeere heransegelten, desto mehr Einzelheiten erkannten sie. Es mußte sich um ein Schiff neueren Datums handeln, das sah Hasard deutlich an der Beplankung des Rumpfes, am laufenden und am stehenden Gut, an dem schweren Geschütz auf der Bugplattform. Dieses Schiff hatte noch kein Gefecht auf See hinter sich, andernfalls wären die unvermeidlichen Narben, die dabei immer zurückblieben, zu sehen gewesen. Kommandos schallten zu ihnen herüber, auf dem Mittelgang schlugen die Aufseher brüllend mit ihren Peitschen auf die Rudersklaven ein, ein spanischer Offizier stand auf dem Achterdeck und blickte zu der heransegelnden Felucke hinüber. Gleichmäßig tauchten die Riemen ein, zwischen den einzelnen Schlägen klirrten deutlich hörbar die Ketten, mit denen die Rudersklaven an ihre Bänke angeschlossen waren. Der Seewolf zerbiß einen Fluch auf den Lippen. Ihm lief eine Gänsehaut über den Rücken, wenn er daran dachte, daß die besten Männer aus seiner einstigen ›Isabella‹-Crew wahrscheinlich in genau diesem Moment ebenfalls von brutalen Aufsehern gepeitscht wurden, daß sie Tag und Nacht angekettet an ihre Ruderbänke dahinvegetierten. »Achtung, Hasard! Der Alte kommt wieder zu sich!« unterbrach Ben Brighton seine Gedanken. Der Seewolf blickte hoch.
»Paß auf, Ben, daß Enrico keinen Unfug anstellt, ein spanischer Offizier beobachtet uns.« Ben Brighton nickte nur kurz und wandte sich Enrico zu. In diesem Moment passierte die Felucke das Heck der Galeere und kreuzte ihren Kurs. Unwillkürlich sah Hasard hinüber, er wußte, daß dort der Schiffsname stehen mußte. Die großen Goldbuchstaben, die im hellen Sonnenlicht über dem dunklen Wasser gleißten, sprangen ihm in die Augen und blendeten ihn für Sekunden. Aber dann las er den Namen. ›Tortuga‹ stand dort. Unübersehbar, auch wenn der Seewolf seinen Augen in diesem Moment nicht traute. Hasard schloß für einen winzigen Moment die Augen, dann öffnete er sie wieder. Der Name blieb. »Ben - sieh hin!« sagte er, und unwillkürlich dämpfte er seine Stimme, als müsse er befürchten, sonst von dem spanischen Offizier, der immer noch auf dem Achterdeck stand, dessen Interesse an der Felucke jedoch erloschen schien, gehört zu werden. Ben riß die Augen auf, als er ebenfalls den Namen las. »Die ›Tortuga‹!« stieß er betroffen hervor. Er bemerkte nicht, daß der Alte, der längst wieder bei Bewußtsein war, erst ihn anstarrte und dann der sich rasch entfernenden Galeere aus großen Augen nachschaute. Mit einem Ruck setzte sich Enrico auf. Seine Augen begannen zu funkeln. Er dachte in diesem Moment gar nicht mehr daran, daß er von Hasard niedergeschlagen worden war. Er sah nur die Galeere und den immer noch im Sonnenlicht gleißenden Namen, den er so haßte. »Ja, die ›Tortuga‹!« schrie er und erhob sich taumelnd. »Ich habe diese verfluchten Bastarde gesucht. Man hatte mir gesagt, daß die ›Tortuga‹ nach Cadiz abkommandiert worden sei und von dort mit einem Verband spanischer Galeonen in See gehen sollte. Aber jetzt ist sie hier, jetzt ...« Pötzlich schlug der Alte die Hände vors Gesicht, und sein
magerer Körper bebte unter dem heftigen Schluchzen, das ihn übermannt hatte. Der Seewolf und Ben Brighton blickten sich an. Dann winkte Hasard seinen Bootsmann ans Ruder und ging zu Enrico hinüber. Er wußte, daß dies der Moment war, in dem er den Alten zum Reden bringen würde. »Bleib dran, Ben. Geh ins Kielwasser, aber so, daß die Kerle da drüben nichts merken. Ich muß wissen, welche der Galeonen sie ansteuert, wir müssen vor allen Dingen herausfinden, wo ihr Liegeplatz ist.« Enrico, der seine Hände wieder vom Gesicht genommen hatte, starrte den Seewolf an. In seinen Augen standen deutlich Überraschung und Mißtrauen. »Ihr - ihr kennt die ›Tortuga‹?« fragte er. Hasard schüttelte den Kopf. »Nein, Enrico«, erwiderte er. »Wir haben die ›Tortuga‹ gesucht, wir wußten weder, wo sie sich befand, noch wie sie aussieht.« Enrico starrte ihn immer noch an. »Hat man euch deswegen in Sevilla gejagt?« fragte er. Hasard hob die Schultern. »Möglich. Genau wissen wir das nicht. Wenn es aber so war, dann ist Verrat im Spiel. Mein Freund und ich sind Engländer, das hast du richtig erkannt, und natürlich befinden wir uns nicht zu unserem Vergnügen in Spanien.« »Und was wollt ihr hier? Warum sucht ihr die ›Tortuga‹?« Immer noch flackerte das Mißtrauen in den Augen des Alten. »Enrico, jetzt werde ich dir erst mal ein paar Fragen stellen. Setz dich, wir müssen miteinander reden.« Der Alte zögerte. Seine Blicke saugten sich an Hasard fest. Und langsam, ganz langsam erlosch das Mißtrauen in seinen Augen. »Also gut. Ich will vergessen, daß du mich vorhin niedergeschlagen hast. Vielleicht war es sogar richtig. Du
willst wissen, warum mich der Anblick von Galeeren so aufregt? Und warum ich diese da, diese dreimal verfluchte ›Tortuga‹ sofort erkannte, als sie hinter der Mole hervorglitt?« Der Seewolf nickte. »Gib mir die Flasche, Amigo. Ich muß erst einen gehörigen Schluck trinken. Dann redet es sich leichter. Denn ich werde dir jetzt eine Geschichte erzählen, eine traurige Geschichte. Seit sie passierte, habe ich längst vergessen, daß ich Spanier bin. Wenn das nicht so gewesen wäre, dann würdest du mit deinem Freund jetzt nicht in diesem Boot sitzen und mit mir hinter der ›Tortuga‹ hersegeln.« Ben reichte die Weinflasche vom Ruder herüber, und der Alte nahm einen gewaltigen Schluck, bevor er sie an Hasard weitergab. »Als ich damals in Coria für euch etwas zu essen besorgte, hielt mich eine Streife an. Sie fragten nach euch. Und jener Mann, der meinen Freund im »Fisch« niederschlug, hat auf euren Kopf hundert Golddublonen ausgesetzt. Viel, sehr viel Geld für einen armen Fischer wie mich.« Enrico machte eine Pause und griff abermals zur Flasche. »Aber ich hasse diese uniformierten Holzköpfe, ich würde eher verhungern, als ihnen auch nur einen einzigen Menschen auszuliefern. Und das war euer Glück.« Der Alte schwieg eine Weile. Hasard und Ben sahen, wie er mit sich kämpfte, während er aus schmalen Augen auf die ›Tortuga‹ starrte, die jener schlank und rank gebauten Galeone entgegenkroch, die ganz vorn in der Flußmündung lag. Dann gab er sich einen Ruck und sah Ben und Hasard an. »Ich habe einen Sohn, Senores. Vielleicht sollte ich auch sagen: Ich hatte einen Sohn. Denn er befindet sich als Rudersklave auf der ›Tortuga‹ - seit Monaten schon.« Enrico fuhr sich über die Augen. In diesem Moment wirkte er alt und verfallen. Aber dann straffte sich sein Körper, und seine Augen begannen wieder zu funkeln.
»Wissen Sie eigentlich, Senores, was es heißt, als Sträfling auf eine solche Galeere geschickt zu werden? Ich habe mich genau erkundigt. Die meisten überstehen nicht einmal die ersten zwei Monate, dann haben die Peitschen der Aufseher sie zerschlagen, dann haben sich die blutigen Striemen auf ihren Rücken und an ihren Körpern entzündet, manchmal verfaulen diese Unglücklichen bei lebendigem Leibe, weil in ihren Wunden und den eitrigen Entzündungen Maden herumkriechen und sie von innen her auffressen. Weniger auf hoher See - das Salzwasser verhindert das, und dort gibt es keine Insekten. Aber hier, in der Mündung des Guadalquivir ...« Der Alte schloß die Augen. Hasard und Ben begriffen, was dieser Alte durchgestanden haben mußte, und wie furchtbar er litt. Wortlos reichte der Seewolf ihm die Weinflasche. »Wie geriet dein Sohn auf die Galeere, Enrico?« fragte er. »Wie er dorthin geriet?« Enrico ächzte und sprang plötzlich auf. Erst als der Seewolf zupackte und ihn wieder auf die Ducht zwang, stieß er pfeifend den Atem aus. Und wieder vergrub er sein Gesicht für eine Weile in den Händen. Hasard rührte sich nicht. Er ahnte, daß das Schlimmste erst jetzt begann. Endlich richtete sich der Alte wieder auf. »Marcus, so heißt mein Sohn, hatte ein Mädchen. Die beiden waren miteinander versprochen. Estrella hieß sie, und sie war bildschön, Senores. Aber es gab in Sevilla einen spanischen Edelmann, der hatte ein Auge auf sie geworfen. Eines Tages, Marcus und ich waren zum Fischen, einige Meilen vor der Küste, ließ dieser Schuft Estrella entführen. Er vergewaltigte sie. Dieses Schwein, dieser verfluchte Hund!« Enrico schrie die letzten Worte hinaus. »Estrella vertraute sich mir an, wir wagten Marcus nichts davon zu sagen, denn wir wußten, daß er diese Schande rächen würde. Aber dann, dann stellte sich heraus, daß Estrella
schwanger war. Sie wußte nicht mehr ein und aus. Irgendwann ging sie ins Wasser. Ihre Leiche wurde unweit von Coria ans Ufer gespült. Marcus hat sie in diesem Zustand nicht gesehen, das war das einzige, was ich für ihn tun konnte.« Der Seewolf legte Enrico mitfühlend die Hand auf die Schulter. »Sprich weiter, Enrico. Was geschah dann?« sagte er leise. »Wir begruben Estrella. Sie liegt bei Coria, aber nicht auf dem Friedhof, als Selbstmörderin verweigerte ihr der Pfaffe die geweihte Erde. Ich konnte nicht anders - als ich eines Tages betrunken war, erzählte ich Marcus alles. Es war schrecklich, Senores. Tagelang verließ er nicht mehr unsere Hütte, sondern brütete vor sich hin. Eines Tages war er verschwunden. Ich suchte ihn fieberhaft, mein Freund Pedro half mir. Wir fanden ihn nicht, jedenfalls nicht mehr rechtzeitig genug. Erst nachdem er dieses Schwein, diesen spanischen Edelmann, erschlagen hatte, auf offener Straße, da sahen wir Marcus wieder. Soldaten schleppten ihn weg, blutüberströmt, denn sie hatten ihn hinterher zusammengeschlagen. Das Gericht verurteilte ihn zu lebenslänglicher Galeere.« Der Alte schwieg, und Tränen rannen ihm über die runzligen Wangen. Als er wieder aufblickte, waren seine Augen fast blind vor Tränen und vor Leid. »Ich lebe nur noch, weil ich auf ein Wunder hoffe, Senores! Das kann Gott nicht zulassen, das kann er einfach nicht wollen. Es muß doch eine Möglichkeit der Rettung für meinen Marcus geben!« Hasard wechselte mit Ben Brighton einen Blick. »Hör zu, Enrico, vielleicht gibt es wirklich eine.« Enrico zuckte zusammen, als habe ihn ein Peitschenschlag getroffen. »Was sagst du da? Eine Möglichkeit? Rettung für meinen Sohn? Wie stellst du dir das vor? Weißt du denn nicht, was
eine Galeere ist?« Die Blicke des Alten hingen an den Lippen Hasards. »Ich weiß das alles, Enrico. Und mein Freund auch. Aber wir sind hier, um Freunde von uns, die genau wie dein Marcus als Sklaven auf die ›Tortuga‹ verschleppt wurden, zu befreien.« Hasard und Ben berichteten dem Alten, was alles seit jener Nacht am Blackwater in Irland geschehen war. Mit großen Augen hörte der Alte ihnen zu. Dann plötzlich, als Hasard endlich schwieg, sprang er auf. »Euch hat der Himmel geschickt, Senores! Ich bin dabei - auf Spanien pfeife ich. Auf Ihre Katholische Majestät erst recht. Die können mich alle mal. Ich will meinen Sohn wiederhaben, und dann segle ich mit ihm nach Afrika. Dort haben wir Freunde, bei denen wir bleiben können, die uns aufnehmen werden. Fischer wie wir. Wir waren schon dort, des öfteren sogar.« Enrico tanzte vor Freude durchs Boot, bis Ben Brighton ihn energisch stoppte. »Noch sind wir nicht soweit. Jetzt gilt es zunächst einmal, einen Plan zu entwickeln, nach dem wir vorgehen können. Es wird sehr schwierig werden und gefährlich dazu. Der kleinste Fehler, und wir können unseren Freunden auf der ›Tortuga‹ gleich Gesellschaft leisten, Enrico!« »Egal, was soll’s! Solange auch nur die kleinste Chance besteht, daß wir es schaffen können, bin ich zu jedem Risiko bereit, Senores. Ihr könnt euch auf mich verlassen, ich werde tun, was ihr sagt. Verfügt über mein Boot, über alles, was ich habe. Ich bin ein alter Mann, mein Leben gilt mir nur dann noch etwas, wenn ich meinen Marcus befreien kann.« Der Seewolf und Ben Brighton nickten. »Auch dich hat uns vielleicht der Himmel geschickt, Enrico«, sagte Hasard. »Du bist genau der Mann, den Ben und ich brauchen. Und jetzt wollen wir darauf noch einen Schluck trinken und uns dann um die ›Tortuga‹ kümmern.
Aber unauffällig. Wir sollten herauskriegen, wie die Galeone heißt, zu der sie fährt, ob sie das Schiff entlädt oder neu mit Proviant versorgt. Und dann - heute nacht, müssen wir uns um ihren Liegeplatz kümmern.« Hasard warf einen Blick zum Himmel, über den sich mehr und mehr Fäden von Osten nach Westen zogen. »Wir brauchen eine stürmische, regnerische und pechschwarze Nacht. Du hast heute morgen gesagt, daß das Wetter umschlagen würde. Wann, Enrico? Du kennst dich hier am Guadalquivir besser aus als wir. Wann rechnest du mit einem Wetterumschwung?« Enrico hob schnuppernd die Nase. Er blickte lange in den Himmel. Immer wieder sog er prüfend die Luft ein und beobachtete die kurzen Windstöße, die hin und wieder über den Strom fuhren. »Morgen, spätestens übermorgen. Es wird Sturm und Regen geben. Die Besatzungen der Galeonen auf der Reede wissen es auch schon, denn sie bringen einen zweiten Anker aus. Das tun sie immer hier, wenn ein Wetterumschwung droht. Einige von ihnen werden sich weiter in den Fluß zurückziehen, aber nicht alle. Ein Kapitän, der sein Handwerk versteht, weiß, daß er vorn in der Mündung sicherer ist. Dort hat er festen Ankergrund, dort kann er sein Schiff, weit genug vom gefährlichen Strand entfernt, zur Not noch manövrieren, falls die Anker nicht halten sollten.« Der Seewolf nickte. Der Alte kannte sich aus. Sollte der Sturm nur losschlagen, etwas Besseres konnten sie sich für ihre Pläne gar nicht wünschen.
5. Unauffällig folgten sie der ›Tortuga‹. Sie beobachteten, wie
die Galeere an der weit vorn in der Flußmündung vor Anker liegenden Galeone vertäut wurde. »Wir müssen näher heran, Hasard«, sagte Ben Brighton. »Ich kann den Namen der Galeone nicht entziffern.« Der Seewolf nickte. »Wir gehen näher ran. Vielleicht bringen wir dabei auch sonst noch etwas in Erfahrung. Aber zum Schein fahren wir unser Netz aus. Sonst schöpfen die Dons am Ende doch noch Verdacht.« Ben Brighton und Enrico gingen sofort ans Werk. Sie befestigten die Schleppleinen am Netz, dann brachten sie es über das Heck aus. Alles hübsch langsam und demonstrativ, so daß die Spanier reichlich Gelegenheit erhielten, ihnen zuzusehen. Hasard und Ben hatten ihr Äußeres dem Enricos angepaßt. Ihre Oberkörper steckten in weiten Hemden, die Hosen, die sie trugen, bestanden aus derbem Segelleinen. Um die Hüften trugen sie einen breiten Ledergürtel, in dem das lange Entermesser steckte. Rote Kopftücher vervollständigten die Kleidung. Hasard verwünschte sich wieder einmal, daß er das kleine Spektiv nicht mitgenommen hatte, es hätte ihm bei der Beobachtung der Galeone gute Dienste geleistet. Langsam trieb sie der Wind näher an die Galeere heran. Sie ließen das Schiff nicht aus den Augen, obschon sie scheinbar faul auf der Back herumlagen, während Enrico wieder seinen Platz am Ruder eingenommen hatte. »Sie entladen das Schiff, aber gleichzeitig haben sie auch neuen Proviant mitgebracht. Offenbar segelt die Galeone von hier aus also noch weiter.« Hasard richtete sich plötzlich ein wenig auf. »Verflixt, Ben, erinnerst du dich noch an die Galeone, die gestern abend dicht an uns vorbeigesegelt ist, als wir zur Bucht zurück wollten?«
Ben sah genauer hin. »Du hast recht, es ist die ›San Mateo‹, ich erkenne sie jetzt an den vier Drehbassen auf dem Achterkastell. Eine ungewöhnliche Anordnung. Außerdem habe ich mir auch ihre Takelage genau angesehen, doch, das ist die ›San Mateo‹!« Hasards Gedanken überstürzten sich. Je näher sie an die Galeere und die ›San Mateo‹ herantrieben, desto fieberhafter arbeiteten seine Gedanken. Langsam aber sicher reifte in ihm ein Plan, der ihm zwar anfangs selber ungeheuerlich erschien, aber je intensiver er darüber nachdachte, desto konkretere Formen nahm dieser Plan in seiner Vorstellung an. Es sollte jedoch etwas geschehen, was seinen Entschluß noch fester werden ließ. Eine gute halbe Stunde war vergangen, die Felucke trieb in nur knapp zweihundert Yards Entfernung an der ›San Mateo‹ vorbei. Normalerweise wäre Enrico mit dem Netz im Schlepp zwar schneller gesegelt, aber es war ihm völlig gleichgültig, ob sie an diesem Tage überhaupt auch nur einen einzigen Fisch fangen würden. Auf der ›Tortuga‹ erschallten plötzlich Kommandos. Auf dem Mittelgang entstand Unruhe. Ein paar Uniformierte stürzten von achtern heran. Wortfetzen drangen zu Hasard und seinen Gefährten herüber. Spanische Flüche erst, dann die scharfen Befehle eines Offiziers. Unwillkürlich hatte sich Hasard auf der Back aufgerichtet und starrte zur ›Tortuga‹ hinüber. »Halt - schließt das englische Schwein los und bindet den Kerl an den Mast. Die anderen sollen es alle sehen, wie wir mit rebellischen Sträflingen fertig werden! An den Mast mit dem Kerl!« Der Wind stand so günstig, daß sie jedes Wort verstanden. »Die wollen einen auspeitschen, Mann«, sagte Ben Brighton erbittert. »Und nachher, wenn der arme Kerl wieder rudern muß und vor Schmerzen kaum kann, dann schlagen ihn die
Aufseher halb tot.« Auf der ›Tortuga‹ entstand Bewegung. Drei Seesoldaten schleppten einen rothaarigen Hünen über den Mittelgang bis zum Mast. Hasard spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. »Ben, das ist Ferris - Ferris Tucker, unser Schiffszimmer mann!« Er zerbiß einen Fluch. »Das sollen sie mir büßen! Die Auskunft stimmte also, unsere Männer sind an Bord der ›Tortuga‹!« Der Seewolf knirschte mit den Zähnen, als die Soldaten den hünenhaften Ferris Tucker am Mast festbanden. Einer der Aufseher näherte sich mit der Peitsche in der Hand, aber wieder gellte die Stimme des spanischen Offiziers über Deck. »Nein, holt noch einen von diesen englischen Hunden. Er wird die Bestrafung durchführen. Wenn er auch nur ein einziges Mal nicht fest genug zuschlägt, wird er gehängt!« Hasard, Ben und Enrico glaubten, nicht richtig gehört zu haben. »Dieser Schuft!« stieß Ben Brighton hervor, aber er zwang sich eisern zur Ruhe. »Der Kerl muß ein Sadist sein. So etwas gibt es auf unseren Schiffen nicht. Dort nimmt der Profos die notwendigen Bestrafungen vor, und damit aus. Ah - diese verfluchten Dons!« Wieder schleppten die Soldaten einen heran. Und diesmal wurden Hasard und Ben Brighton blaß vor Schreck. »Himmel - das ist ja unser Bürschchen Dan O’Flynn! Das tut der nie, lieber läßt er sich hängen«, flüsterte Ben Brighton mit vor Erregung heiserer Stimme. Der Seewolf spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Ausgerechnet Dan O’Flynn - der Junge, der schon an Bord der ›Isabella‹ ganz schön frech werden konnte, wenn ihm irgend etwas nicht paßte. Dan O’Flynn, der Mut für drei hatte, den Hasard manchmal nur gerade noch vor irgendeiner tödlichen Unbesonnenheit im Kampf hatte bewahren können!
Man hatte Dan allem Anschein nach die Fußfesseln abgenommen, ebenso löste man nun auch die Eisen, die seine Handgelenke über eine Kette miteinander verbanden. Wieder brüllte eine spanische Stimme Befehle. Und dann hörten sie Dan. »Ihr Dreckskerle könnt mich hängen oder vierteilen oder kielholen! Ich schlage meine eigenen Kameraden nicht, ich ...« »Dan, sei vernünftig!« brüllte Ferris Tucker. »Wenn du nicht schlägst, kriegen diese Kakerlaken es glatt fertig, dich aufzuknüpfen. Dieser Capitan ist ein Sadist, und du hilfst keinem von uns, wenn du ...« Der Aufseher hatte brutal zugeschlagen. Seine Peitsche klatschte auf Ferris Tuckers Rücken. Im nächsten Moment zog er dem wütend aufschreienden Dan eins über. Selbst aus der Entfernung sahen Hasard und Ben, wie dem Jungen die Haut am Hals aufplatzte und Blut über seinen nackten Oberkörper lief. »O nein, Dan, nicht ...« Weiter gelangte Ben Brighton nicht. Dan O’Flynn hatte sich blitzartig gebückt, seine Eisenfessel vom Deck hochgerissen und schlug damit auf den völlig überraschten Aufseher ein. Er traf ihn so hart, daß der Mann, ein wahrer Hüne von Gestalt, aufschreiend irgendwo zwischen die Rudersklaven stürzte. Im Nu war auf der ›Tortuga‹ der Teufel los. Aber Dan reagierte eiskalt. Der nächste Hieb traf einen der Seesoldaten, den anderen beförderte er mit einem kräftigen Tritt ebenfalls vom Laufgang in das tiefergelegene Deck, in dem sich die Ruderbänke befanden. Ferris Tucker rief irgend etwas, aber das konnten die Männer an Bord der Felucke nicht verstehen, weil er von den Spaniern und dem schlagartig einsetzenden Gebrüll der Rudersklaven glatt überschrien wurde. Hasard krampfte die Fäuste zusammen, denn er sah, wie einer der Spanier seine Muskete emporriß und auf Dan anlegte.
Gleichzeitig war man an Bord der Galeone auf den Lärm aufmerksam geworden. Auch von dort liefen bewaffnete Seesoldaten heran. Dan verlor keine Sekunde. Er sprang den Seesoldaten an, noch bevor dieser abzudrücken vermochte, entriß ihm die Muskete, fegte den Soldaten mit einem gewaltigen Hieb zur Seite und feuerte gleich darauf die Ladung aus gehacktem Blei auf das Achterschiff ab. Der spanische Capitan griff sich an die Brust, schrie und stürzte der Länge nach an Deck. Dan rannte um sein Leben. Er erreichte das Achterschiff der Galeere bereits, als die Spanier noch fassungslos auf ihren Capitan starrten, der sich stöhnend hin und her wälzte. Mit ein paar Kolbenhieben verschaffte Dan sich Luft, dann sprang er auch schon. Sein Körper flog wie eine vorgespannte Stahlfeder durch die Luft. In diesem Moment lösten sich auf der ›San Mateo‹ ein paar Schüsse. Hasard hörte nur noch, wie Dan aufschrie, dann verschwand sein Körper im aufspritzenden Wasser. »Sie haben Dan erschossen!« rief Ben Brighton außer sich vor Zorn. »Sie haben unser Bürschchen erschossen! Aber das konnte ja auch nicht gutgehen. Bei allen Teufeln der Hölle, mußten diese Idioten sich denn auch gerade Dan aussuchen?« Ben Brighton rang verzweifelt die Hände, und es war das erstemal, daß Hasard diesen sonst so ruhigen, bedachtsamen Mann so verzweifelt, so ganz und gar fassungslos erlebte. Aber er war selber nicht in der Lage, auch nur einen Ton von sich zu geben. Was er soeben mit angesehen hatte, das schnürte ihm die Kehle zu. Auf der ›Tortuga‹ und auf der ›San Mateo‹ liefen die Spanier jetzt durcheinander wie die Ameisen, deren Bau man zertreten hat. Kein Mensch kümmerte sich um Ferris Tucker, der nach wie vor an den Mast angeschlossen war. Ein paar Soldaten knieten bei ihrem Capitan, den der Schuß Dans offenbar schwer erwischt hatte, andere wieder rannten mit geladenen
schußbereiten Musketen herum und suchten von den Decks aus die Wasseroberfläche ab, bereit, sofort das Feuer zu eröffnen, falls Dan wieder auftauchte. »Diesmal hat Dan seine Hitzköpfigkeit teuer bezahlt«, stieß Hasard schließlich hervor, und er konnte nicht vermeiden, daß es in seinem Gesicht dabei zuckte. »Und er hat uns durch seine Unbesonnenheit unsere Aufgabe verdammt erschwert. Hoffentlich lassen die Dons jetzt nicht ihre Wut an Ferris aus. Es könnte nur allzuleicht geschehen, daß man ihn an Stelle von Dan aufknüpft.« Langsam glitten sie an den beiden Schiffen vorbei. Absichtlich hatte Enrico den Kurs geändert, so daß sie sich der ›Tortuga‹ bis auf weniger als zwanzig Yards näherten. Aber die Spanier beachteten die Felucke nicht. Endlich beruhigte sich die Szene etwas, nachdem ein anderer spanischer Offizier durch scharfe Befehle die Ordnung wiederhergestellt hatte. »Die Bestrafung des Mannes wird verschoben. Schafft ihn auf die Ruderbank zurück. Kontrolliert alle Fesseln. Los, los, beeilt euch, Männer, sobald wir die letzte Ladung an die ›San Mateo‹ übergeben haben, legen wir ab. Jeder auch noch so geringe Widerstand, jede Aufsässigkeit bei den Sträflingen ist sofort und mit allen Mitteln zu brechen. Doppelte Wachen auf den Laufgang, vorwärts!« Hasard und Ben atmeten auf, als zwei der Aufseher Ferris Tucker wieder ins Ruderdeck zurückschafften. Er kassierte zwar noch einige Peitschenhiebe und einige derbe Kolbenstöße der Seesoldaten, doch sonst blieb er ungeschoren. Was aber war mit Dan?
Dan spürte das kühle Wasser, das seinen Körper umgab, während er tiefer und tiefer sank. Mühsam öffnete er die
Augen und nahm jene grün-glasige Helligkeit wahr, die er nur zu gut kannte. Irgendwo in seinem Körper brannte ein höllischer Schmerz, der ihn fast paralysierte. Noch halb benommen begann er Arme und Beine zu bewegen. Er drehte den Kopf und registrierte unmittelbar über sich einen riesenhaften dunklen Schatten. Und genau in diesem Moment setzte seine Erinnerung wieder ein. Der Schatten über ihm mußte der Rumpf der Galeone sein, an der die ›Tortuga‹ festgemacht hatte. Blitzartig zogen in seiner Erinnerung die Geschehnisse der letzten Minuten vorbei. Dan kriegte nicht mehr alles zusammen, denn viel zu schnell hatte sich alles abgespielt. Er erinnerte sich aber, daß er plötzlich rot gesehen und den Capitan der ›Tortuga‹ niedergeschossen hatte. Dann war er vom Achterschiff der Galeere gesprungen und noch während er dem Wasser entgegenstürzte, hatte seinen Körper ein Schlag getroffen. Irgendwo über ihm hatten Leute geschrien und waren Musketen abgefeuert worden. Dann mußte er das Bewußtsein verloren haben. Dans Gehirn begann wieder zu funktionieren. Von Sekunde zu Sekunde wurde ihm die Lage, in der er sich befand, klarer. Er erinnerte sich plötzlich auch, daß er vor dem Aufschlagen auf die Wasseroberfläche einen lauten, schrillen Schrei ausgestoßen und sich unter dem wahnsinnigen Schmerz, der seine Glieder durchzuckte, zusammengekrümmt hatte. Sie hatten also auf ihn geschossen, und wenn er jetzt auftauchte, war er ein toter Mann, denn darauf lauerten diese Kerle ja nur. Wieder drehte er den Kopf. Der Schatten über ihm war größer geworden. Er verdrängte jetzt die glasgrüne Helligkeit, die ihn eben noch umgeben hatte. Ich muß tot sein! fuhr es ihm durch den Kopf, erschossen! Diese Dreckskerle dürfen gar nicht auf den Gedanken kommen, daß ich noch leben könnte! Dan überlegte, während er konzentriert zu schwimmen begann, wo er für die nächsten Minuten am sichersten sein
würde. Gleichzeitig spürte er wieder jenen scharfen Schmerz, der seinen Körper durchzuckte, sobald er die Beine bewegte. Aber Dan biß die Zähne zusammen. Dann hatte er es. Er mußte zum Spiegel der Galeone schwimmen. Wenn er sich hinter dem Ruder verbarg, dann war er weder von der Galeone noch von der Galeere aus zu sehen. Und er konnte in Ruhe Atem schöpfen. Dan drehte sich im Wasser auf den Rücken. Er war ein vorzüglicher Schwimmer, ein fast noch besserer Taucher dazu. Er schwamm unter dem Rumpf der Galeone entlang. Ein erstes Pressen in der Brust zeigte ihm, daß ihm die Luft allmählich knapp zu werden begann. Sekunden später tauchten vor ihm die Umrisse des Ruderblattes auf. Dan verlangsamte seine Schwimmbewegungen und benutzte nur noch die Arme. Seine Hände spürten das rissige, zum Teil mit Muscheln und Algen bewachsene Holz des Ruders. Langsam - obwohl ihm die Luft bereits höllisch knapp wurde - zog er sich an der Kante des Ruders zur Oberfläche hoch. Ganz behutsam brachte er seinen Kopf über die Wasseroberfläche. Dann sog er gierig Luft in die Lungen. Dans nächster Blick galt der Galeone. Über ihm ragte das Heck des Schiffes wie ein Berg in den Himmel. Der schräg nach oben verlaufende Spiegel entzog die Galerie des Achterkastells seinem Gesichtsfeld, also würde ihn auch niemand von der Galeone aus sehen können. Er wandte den Kopf vorsichtig zur anderen Seite. Auch von der Galeere war nichts zu sehen, sie war mittschiffs an der Galeone vertäut. Allmählich beruhigte sich Dans Puls. Nur der Schmerz, der jetzt von den Beinen her nach oben ausstrahlte, nahm zu. Dan überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Versuchen, das Ufer schwimmend zu erreichen? Mit einigem Glück konnte das sogar gelingen, wenn er beim Luftholen entsprechend vorsichtig zu Werke ging. Aber verdammt gefährlich würde es
trotzdem sein, denn Dan hörte über sich die scharfen Kommandos der spanischen Offiziere, das aufgeregte Gebrüll, mit dem die Deckoffiziere die Mannschaft der Galeone durcheinanderscheuchten. Hoffentlich setzten sie kein Boot aus, um nach seiner Leiche zu suchen - dann säße er ganz schön in der Klemme. Flüchtig dachte Dan an Ferris Tucker. Hatte er ihm mit seiner Flucht einen üblen Streich gespielt? Aber er hatte sich nicht mehr beherrschen können. Was sie alle auf dieser mörderischen Galeere hatten durchstehen und hinnehmen müssen, an Qualen, an Demütigungen, an Schlägen und anderen Brutalitäten, das war einfach zuviel gewesen und hatte sich nun bei ihm in einer solchen Explosion Luft verschafft. Dan ließ sich so weit wie möglich ins Wasser gleiten. Er mußte einen Entschluß fassen, und zwar rasch. Seine einzige Chance bestand darin, daß die Dons glaubten, ihn erschossen zu haben. Er blickte sich um. Das Ufer zeigte sich nur als ferner, verschwommener Strich. Für Dan als Schwimmer kein Problem, aber was war mit den Ausgucks in den Mastkörben der Galeone? Ganz bestimmt hatte man sie seit seiner Flucht besetzt. Dan begann zu frieren. Das Wasser war im April selbst im südlichen Spanien noch lausig kalt. Außerdem begann jetzt auch der blutige Striemen an seinem Hals zu brennen, den er von dem Peitschenhieb des Aufsehers davongetragen hatte. Wieder glitt sein Blick zum Ufer hinüber. Nein, es gab für ihn keine andere Möglichkeit. Wenn diese Bestien ihn erwischten, wenn sie ihn wieder einfingen - Dan wagte nicht, weiterzudenken ... Doch dann zuckte er plötzlich zusammen und verschwand ruckartig unter der Oberfläche. Ein Boot hatte sich in sein Blickfeld geschoben. Himmel! schoß es ihm durch den Kopf, wo kam das verflixte Boot plötzlich her?
Vorsichtig hob er den Kopf bis zu den Augen aus dem Wasser. Er sah das Boot, er sah die drei Männer in diesem Boot, und doch glaubte er plötzlich zu träumen. Das gab es doch gar nicht, das konnte es gar nicht geben. Er kniff verzweifelt die Augen zu und öffnete sie wieder. Das Bild blieb. Dan wußte, daß er scharfe Augen hatte, auf die er sich verlassen konnte. Den dritten Mann, einen alten Fischer offenbar, kannte er nicht. Aber die beiden anderen, die kannte er um so besser! »Hasard«, murmelte er, »Ben! O ihr neunmal geschwänzten Teufel - ihr lebt also, aber wie, um alles in der Welt, taucht ihr genau in diesem Moment hier auf?« Dan starrte die Felucke wie eine Erscheinung an. Und dann handelte er.
Hasard und Ben knirschten vor Zorn mit den Zähnen. Gleichzeitig überlegten sie verzweifelt, was sie tun könnten. Die beiden Männer wollten einfach nicht glauben, daß Dan vor ihren Augen erschossen worden war. »Wir müssen dichter an die beiden Schiffe heran!« stieß Hasard hervor. »Wenn Dan diesen Sprung von der Galeere überlebt hat, dann ist er bestimmt so schlau, nicht einfach irgendwo aufzutauchen, wo man ein Scheibenschießen auf ihn veranstaltet. Er wird sich verstecken, in Deckung bleiben. Das aber kann er nur bei den Schiffen. Wir müssen sie umrunden. Bevor ich nicht ganz sicher weiß, daß Dan tot ist, haue ich hier nicht ab.« Damit hatte Hasard genau das ausgesprochen, was Ben schon die ganze Zeit dachte, seit jene Schüsse gefallen waren. Enrico schüttelte den Kopf. »Wir können jetzt nicht einfach den Kurs ändern. Das fällt auf. Die Kerle haben es nicht gern, wenn man zu nahe an sie
heransegelt. Noch sind sie mit sich selbst beschäftigt, aber wenn sie erst anfangen, sich um uns zu kümmern, gerade jetzt, da einer eurer Leute geflohen oder erschossen worden ist ...« Enrico hatte recht, das war Hasard und Ben sofort klar. »Los, wir tun so, als sei etwas mit dem Schleppnetz unklar. Wir holen es ein, und dabei, während Ben und ich mit dem Netz beschäftigt sind, mogelst du dich auf die andere Seite der Galeone. Denn wenn Dan noch lebt, dann muß er sich irgendwo dort verborgen halten.« Enrico schüttelte abermals bedenklich den Kopf, doch als Ben ihn fragte, was er wohl tun würde, wenn statt Dan sein eigner Sohn Marcus über Bord gesprungen wäre, fügte er sich ins Unvermeidliche. Ben Brighton streifte sich das Hemd ab. »Ich springe über Bord und tu so, als wenn ich an den Schleppleinen etwas zu klarieren hätte. Du besorgst den Rest. Dabei treiben wir vor dem Bug der ›San Mateo‹ vorbei. In diesem Moment beginnst du damit, die Leinen einzuholen, während ich wieder an Bord steige. Wir holen das Netz ein, und Enrico steuert das Boot an der Galeone vorbei. Und zwar so, daß wir uns auf dem Weg zum Heck wieder von der Galeone entfernen. Wenn diese Dons nicht Vollidioten sind, dann müssen sie sehen, daß wir Schwierigkeiten mit unserem Netz hatten und werden weiter keine Notiz von uns nehmen.« Der Plan war gut, Ben Brighton fand in solchen Situationen fast immer einen Ausweg, Hasard hatte das während ihrer gemeinsamen Zeit auf der ›Isabella‹ oft genug erlebt. Die drei gingen sofort an die Arbeit. Als Hasard Ben Brighton auf Spanisch schimpfen und fluchen hörte, sobald er auftauchte, um Luft zu holen, mußte er grinsen. Hin und wieder blickte einer der Spanier zu ihnen herüber, schöpfte aber keinerlei Verdacht, sondern verschwand sogleich wieder vom Schanzkleid, sobald einer der Offiziere ihn anfauchte. Auf der Galeere herrschte immer noch große Aufregung. Dan
mußte den Capitan böse erwischt haben. Hasard begann sich um seine Gefährten zu sorgen, denn wenn die Kerle da drüben erst einmal die nötige Zeit fanden, dann würden sie ihr Mütchen wahrscheinlich an seinen Männern kühlen. Hasard stieß eine Verwünschung aus. Er kannte Dan zwar lange genug und konnte ihn auch gut verstehen, aber ein wenig mehr Besonnenheit wäre ihrer Sache bestimmt dienlicher gewesen. Die Felucke hatte den Bug der ›San Mateo‹ passiert. Enrico legte das Ruder nach Backbord, das Schiff schwang herum. Genau wie vorgesehen in dem Augenblick, als Ben prustend auftauchte und Hasard das Zeichen gab, die Leinen einzuholen. Sofort begann Hasard unter wildem Geschimpfe zu arbeiten. Ben schwang sich unterdessen wieder an Bord und half ihm. Einer der spanischen Offiziere trat ans Schanzkleid und starrte zu ihnen hinüber. »He, ihr da!« brüllte er. »Schert euch hier weg, oder wißt ihr nicht, daß ihr Kriegsschiffen Ihrer Katholischen Majestät nicht zu nahe kommen dürft? Wenn nicht, dann werde ich euch das beibringen!« Enrico stand auf und verneigte sich höflich. »Unser Netz, Senor, die Leinen hatten sich verfangen, wir konnten nicht ...« »Weg mit euch, habe ich gesagt! Kappt das Netz, ihr verdammten Ratten. Verschwindet, oder ich lasse feuern!« Hasard fluchte unterdrückt. »Ich könnte diesen Kerlen einzeln den Hals umdrehen, ich ...« Das Wort blieb ihm im Mund stecken. Denn eben glitt die Felucke in knapp zwanzig Yards Entfernung am Heck der Galeone vorbei. Und dort entdeckten sie Dan, der am Ruder hing und ihnen Zeichen gab. »Dan - mein Gott, Hasard, das Bürschchen lebt!« stieß Ben verblüfft hervor. Auch Hasard starrte den Jungen Sekundenlang aus großen
Augen an. Doch er beherrschte sich eisern. »Was jetzt, Hasard? Wie kriegen wir den Bengel an Bord, ohne daß die Dons es merken, ohne daß sie ...« Dan war plötzlich verschwunden. Hasard begriff sofort, was er vorhatte. »Schnell, Ben, Netz einholen, an Steuerbord!« zischte er. Ben Brighton nickte nur. Voller Hast begannen sie damit, das schwere Netz einzuholen. Das mußte von der Galeone aus so aussehen, als hätte der spanische Offizier ihnen mit seiner Drohung Angst eingejagt. Enrico holte das Segel dicht und tat so, als wolle er voller Panik den Kurs der Felucke ändern. Dabei war sein Manöver völlig falsch, aber auch das würde bestimmt keinem Spanier auffallen, wenn die Kerle da oben nur sahen, daß die Drohung des Offiziers gewirkt hatte. Hasard und Ben registrierten am Netz, das sie eben Hand über Hand hochzogen, einen Schatten, der von unten her langsam im Schatten der Bordwand emportauchte. Gleich darauf steckte Dan seinen Kopf vorsichtig aus dem Wasser, aber so, daß man ihn von Bord der Galeone aus nicht sehen konnte. »Dan!« Hasard sagte nur dieses eine Wort, aber in diesem Wort lag alles, was er empfand. »Junge, bleib, wo du bist. Rühr dich nicht, die Dons beobachten uns.« Unterdessen gab Ben Enrico verstohlen ein Zeichen. Sofort legte der Alte das Ruder um und änderte die Segelstellung. Er verfuhr dabei so geschickt, daß die Steuerbordseite der Felucke, je weiter sie sich von der Galeone entfernte, von dort nicht einzusehen war. Sie hatten Glück, der Wind briste etwas auf. Die Felucke lief gute Fahrt und entfernte sich sehr schnell aus der gefährlichen Nähe der beiden spanischen Kriegsschiffe. Längst hatten Ben und Hasard das Schleppnetz eingeholt und beschäftigten sich zum Schein mit den Fischen, die sie an Deck geschüttet hatten. Dan hing an einem Tau, das Hasard ihm unter den Achseln
hindurchgezogen hatte, an der Steuerbordseite der Felucke. Erst als die Galeone mehr und mehr zusammenschrumpfte, als sie schließlich nur noch eine Silhouette war, zogen sie den völlig entkräfteten und unterkühlten Jungen an Bord. Sie schafften ihn unter die Back, entkleideten ihn, und Hasard begann, ihn gründlich zu massieren. Wenige Augenblicke spater half ihm Ben Brighton dabei. Dabei entdeckten sie eine tiefe Fleischwunde im rechten Oberschenkel Dans und verbanden sie, so gut es ging. Den blutigen Striemen am Hals des Jungen ließen sie, wie er war. Das gab schlimmstenfalls eine Narbe, mehr nicht. Erst als sie in den Seitenarm des Guadalquivir, in dem sich Enricos Hütte befand, einliefen, kam Dan, der in einen tiefen Schlaf gefallen war, wieder zu sich. Hasard sah das Bürschchen aus seinen eisblauen Augen an. »Dan«, sagte er schließlich, »du bist ein Teufelskerl. An dich werden die Dons auf der ›Tortuga‹ noch lange denken. Jetzt werden wir dir erst mal etwas zu futtern geben und dafür sorgen, daß du trockene Klamotten kriegst, und dann erzählst du uns der Reihe nach, was sich seit damals am Blackwater ereignet hat. Ich denke, durch dich und deine genaue Kenntnis, die du von der ›Tortuga‹ hast, wird es leichter werden, die anderen zu befreien.« Er nahm den Jungen kurzerhand in seine Arme und trug ihn in die Hütte. Sie wußten inzwischen von Dan, daß alle noch am Leben waren, auch Marcus, der Sohn Enricos.
Dan erholte sich rasch. Er war jung, sein Körper elastisch und anpassungsfähig genug, um die erlittenen Strapazen zu überwinden. Er stopfte sich mit frischen Sardinen voll, die Enrico über offenem Holzfeuer gebraten hatte. Hasard und Ben hielten
wacker mit, und während sie aßen, ließen sie die Weinflasche kreisen. »Also, Dan, die Spanier hatten euch an Bord gezogen und dann nach Cadiz gebracht. Dort schaffte man euch an Land und sperrte euch zunächst in die Zitadelle ein ...« Dan, der gerade eine gebratene Sardine in der Hand hielt, sah Hasard an. »Nee, Hasard, so einfach war das alles nicht. Da kennst du die Dons schlecht. Einsperren heißt bei denen, daß sie dich in kalte, feuchte Zellen tief im Felsen schaffen, dich an die Mauern ketten, dir weder etwas zu essen noch zu trinken geben. Wenn du Glück hast, dann behältst du wenigstens deine Kleider. Matt Davies zum Beispiel hatten sie splitternackt an die Felsen der Zitadelle angeschlossen. Auch seine Hakenprothese hatten sie ihm abgenommen, er erhielt sie erst viel später zurück, als wir auf die Galeere gebracht wurden. Und das auch nur, weil er sie brauchte, um das Ruder bedienen zu können. Bombarde, der Schlagmann, ein ekelhafter, hinterlistiger und gemeiner Kerl, der mehrere Morde auf dem Gewissen hat, mußte an Matt Davies Ruder eine Lederschlaufe anbringen, in die er seinen Eisenhaken einhängen konnte.« Dan nahm einen Schluck Wein und biß dann in die Sardine. »Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat, bis wir zum erstenmal verhört wurden. Wenn du im Dunkeln steckst, wenn du nicht mehr weißt, wann Tag und wann Nacht ist, dann verlierst du jedes Zeitgefühl, das kannst du mir glauben.« Dan begann plötzlich zu grinsen. »Die Dons sind ganz schön bekloppt«, sagte er. »Die scheinen sich einzubilden, daß jeder Engländer genauestens über die Pläne informiert ist, die bei Hof entwickelt werden. Ich weiß jetzt gar nicht mehr, was für dusselige Fragen uns die Kerle stellten, aber immer wieder ging es darum, ob wir, England, eine Aktion gegen die Neue Welt planten. Natürlich haben wir die Dons ausgelacht und sie gefragt, über ihren
Dolmetscher natürlich, ob denn Ihre Katholische Majestät auch jeden seiner Untertanen in seine geheimsten Pläne einweihen würde. Da haben sie Smoky fast einmal halbtot geprügelt, vielleicht hatte dieses Aas von Dolmetscher auch irgend etwas falsch übersetzt. Der einzige von uns, der immer wieder zur Vernunft gemahnt hat, war neben Stenmark Ferris Tucker. Er hat uns von vornherein gesagt, daß es keinen Zweck hätte, uns jetzt schon totschlagen zu lassen, dazu sei später auf der Galeere noch genügend Zeit.« Dans Stirn furchte sich. Und unwillkürlich wurde seine Stimme leiser, als er weitersprach. »Eines Tages holten sie uns dann. Mit Ketten an den Armen und Beinen mußten wir quer durch die Stadt bis zum Hafen laufen. Wer sich nicht schnell genug bewegte, kriegte Prügel. Dabei konnten wir in der ersten halben Stunde kaum sehen, das Sonnenlicht brachte uns fast um den Verstand. Schließlich hatten wir wer weiß wie lange in absoluter Finsternis gesessen.« »Seid ihr denn immer alle zusammengeblieben, Dan?« fragte Ben Brighton dazwischen. »Ja, seltsamerweise ja. Die wußten, daß wir von der ›Isabella‹ waren, und alle, die mit uns zu tun hatten, kannten die ›Isabella‹ und auch die Geschichte ihrer Entführung. Du bist in Cadiz ein berühmter Mann, Hasard, das kann ich dir sagen. Den Seewolf, den kennen sie hier alle.« Dan schwieg wieder eine Weile und nahm einen kräftigen Schluck. »Am Hafen unten wartete noch eine ganz besondere Überraschung auf uns. Was glaubst du, wer dort auf uns wartete?« Dan ballte vor Wut die Hände, als er daran dachte. »Ich will es euch sagen: Henry Isaac Burton, diese Ratte. Dieser Hundesohn arbeitet jetzt für die Spanier. Er ist ein ganz erbärmlicher Verräter, aber er hat Beziehungen hier.« »Wir sind ihm in Sevilla begegnet, Dan, und fast hätte er uns
erwischt.« Hasard erzählte Dan in aller Kürze, was sich abgespielt hatte, wie ihnen anschließend die Flucht aus der Stadt gelungen war und welche Rolle Enrico dabei spielte. Dan sah die drei Männer an. Dann schlug er sich vor Vergnügen auf die Schenkel und verzog sofort vor Schmerz das Gesicht, denn er hatte seine Wunde im Oberschenkel vergessen. »Das geschieht diesem Mistkerl recht«, sagte er dann. »Dieser erbärmliche Feigling hat uns alle am Hafen, als wir ihm auf keine seiner Fragen antworteten, mit der Peitsche eines Aufsehers geprügelt. Pete Ballie und Al Conroy haben heute noch die Narben jener Schläge in ihren Gesichtern. Wehe Burton, wenn irgendeiner ihm je wieder begegnen sollte. Wir haben uns alle geschworen, ihn nicht etwa gleich umzubringen - nein, dieses Schwein wird lange und schmerzvoll sterben, und wenn ich ihn eigenhändig zu Tode prügeln müßte, aber ich will ihn schreien hören, schreien, bis ihm die Luft wegbleibt, verstehst du das, Hasard?« Dan war aufgesprungen, seine Augen funkelten.
Hasard nickte, aber Dan gab sich noch nicht zufrieden.
»Foltern lassen wollte er uns, aber einer der spanischen
Offiziere ging dazwischen. Sie brauchten uns dringend auf der ›Tortuga‹, die zwar gerade fertiggestellt war, aber noch keine ausreichende Besatzung hatte. Ich weiß allerdings nicht, wie die Sache ausgegangen wäre, wenn Burton diesem Capitan, den ich hoffentlich erschossen habe, so etwas vorgeschlagen hätte. Dieser Kerl war so brutal, wie du dir das gar nicht vorstellen kannst, Hasard. Hast du mal hintereinander zehn Tage und zehn Nächte an die Ruderbank angekettet verbracht? Hast du schon mal in deiner eigenen Scheiße gesessen? In dem Gestank, den achtundvierzig Galeerensklaven verursachen, weil man sie zehn Tage lang nicht losgeschlossen hat? Und bist du dann, obwohl du gar nichts dafür konntest, beim Saubermachen der Galeere für ebendiesen Gestank geschlagen,
geschlagen und nochmals geschlagen worden? Kannst du dir vorstellen, wie das ist, unentwegt rudern zu müssen, obwohl man dir nichts zu trinken gibt, statt dessen aber gesalzene Fische dreimal am Tag? Weißt du, wie dir zumute ist, wenn man vor deinen Augen so ein armes Schwein, das vor Entkräftung einfach nicht mehr kann, erst auspeitscht und dann am Mast aufknüpft und dort den ganzen Tag hängen läßt?« Dan atmete schwer. »Ich hoffe, daß dieser Hund von einem Capitan tot ist, daß er qualvoll verrecken mußte. Denn dann, und nur dann, haben es die anderen jetzt besser. Die übrigen sind nicht schlimm, ihnen genügte es, wenn wir unsere Riemen bedienten. Aber sie waren gegen den Capitan machtlos.« Dan schwieg erschöpft. Hasard, Ben und Enrico, der Dan mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen zugehört hatte, schwiegen ebenfalls. Sie sahen, wie Dan nur mühsam seine Erregung niederkämpfte. Und sie konnten jetzt alle verstehen, warum er bei der ersten sich bietenden Gelegenheit derartig explodiert war. »Dan«, Enrico hatte sich erhoben und ging langsam auf ihn zu, »Dan, bitte, sag mir die Wahrheit: Wie ist es meinem Marcus ergangen? Ist auch er so gequält worden? Ich kenne ihn, er ist kein Feigling, er ...« »Ich kenne deinen Sohn, Enrico«, sagte Dan, den Alten unterbrechend. »Er war klug genug, auf Ferris Tucker zu hören, neben dem er saß. Er hat uns eines Nachts seine Geschichte erzählt. Er ist geschlagen worden wie wir, aber dein Marcus ist ein zäher Bursche. Er hat nicht einmal schlappgemacht, wir holen ihn heraus, verlaß dich auf Hasard und Ben, die beiden schaffen es!« Das war für Hasard das Stichwort. Er wollte Dan damit gleichzeitig auch von seinen schlimmen Erinnerungen ein wenig ablenken. »Hör zu, Dan, wir haben nicht viel Zeit. Es ist sicher, daß die
Dons, besonders aber dieser Burton, nach uns suchen. Kennst du den ständigen Liegeplatz der ›Tortuga‹? Wo seid ihr nachts geblieben? Schloß man euch für die Nacht los, oder mußtet ihr auf dem Schiff bleiben?« Dan zögerte mit der Antwort. »Als Rudersklave sieht man auf einer Galeere nicht viel von seiner Umgebung. Man sitzt hinter einer Art Schanzkleid, die Ruder führen durch kleine Öffnungen. Aber die Sonne konnten wir natürlich sehen, wenn wir am Abend zu unserem Liegeplatz zurückkehrten. Und wir sahen sie auch am Morgen, wenn wir zur Reede hinausruderten. Daher weiß ich, daß die Galeere auf der anderen Seite des Flusses in einem Seitenarm stationiert ist. Es gibt dort einige Hütten für die Soldaten und ihre Offiziere. Nur einige Wachen bleiben auf der Galeere für die Nacht zurück. Die Ruderer werden nur zum Teil losgeschlossen, meist nur so weit, daß sie auf den Bänken schlafen können. Jeden Morgen aber wird ein Teil der Ruderer zum Reinschiff ganz losgeschlossen. Bewaffnete Seesoldaten beaufsichtigen sie dann. An Flucht ist überhaupt nicht zu denken, denn die schweren Ketten bleiben trotz allem an ihren Fußgelenken.« Hasard starrte vor sich hin. Das klang gar nicht so übel. Aber dann sah er Dan plötzlich an. »Und dir - warum nahm man dir die Ketten ganz ab, als du Ferris auspeitschen solltest?« Dan grinste. »Ich trug nur noch die Handfesseln, weil an meinen Fußfesseln irgend etwas nicht mehr in Ordnung war. Sie wollten mir hinterher neue verpassen, so eine Galeere hat davon genug an Bord. Die Handfesseln mußte man mir abnehmen, weil ich mit ihnen niemals hätte schlagen können. Sie sind zu schwer, hier, sieh dir meine Handgelenke an!« Er streckte ihm seine Arme entgegen, und sie sahen die Narben, die die Handfesseln dort hinterlassen hatten.
»In den ersten Tagen hätte ich bei jedem Durchholen des Riemens schreien können vor Schmerz. Aber irgendwie vergeht das dann. Man entwickelt eine Technik, die Handfesseln auf das Ruder zu legen, dadurch sind sie nicht mehr so schwer und scheuern die Haut nicht mehr auf.« »Wie öffnet man die Fesseln, Dan?« »Die Aufseher haben einen Schlüssel. Er paßt für alle. Wenn sie einen der Rudersklaven besonders gut leiden können, dann verschaffen sie ihm eine Menge Erleichterungen.« »Und wie ist der Zustand unserer Männer?« Dan wiegte den Kopf. »Unterschiedlich. Am schlimmsten ist der Kutscher dran. Wenn er nicht bald da rausgeholt wird, geht er kaputt. Am besten haben Ferris, Batuti, Pete Ballie, Blacky und Smoky die ganze Schinderei überstanden. Was mit Matt Davies ist, weiß ich nicht so genau, er ist viel geschlagen worden, saß auch zu weit entfernt von mir. Aber er ist zäh, na, du kennst ihn ja!« Dan überlegte. »Durchgehalten haben sie jedoch alle. Keiner von uns hat auch nur ein einziges Mal wirklich schlappgemacht.« Hasard drehte sich zu Ben herum, der neben ihm saß. »Wir müssen ans andere Ufer, zum Liegeplatz der ›Tortuga‹, und zwar heute noch. Wer weiß, was morgen ist, immerhin hat die ›Tortuga‹ ihren Kommandanten verloren. Es wird eine Untersuchungskommission anrücken, dann ist es für uns zu spät. Wir müssen schneller sein als die Dons.« Hasard bedachte Dan mit einem besorgten Blick. »Was ist mit dir, Dan? Was macht deine Wunde? Du mußt mit, wir können dich nicht hierlassen. Von uns wird überhaupt keiner je hierher zurückkehren.« »Ich habe schon ganz andere Dinge ausgehalten. Um mich braucht ihr euch nicht zu sorgen. Aber du hast doch einen Plan, oder? Denn selbst wenn du alle befreist, die Dons würden uns schnell wieder einfangen. So viele Leute können nicht einfach
spurlos verschwinden. Was willst du also tun, wenn die Befreiung geglückt ist?« Er sah, wie die eisblauen Augen des Seewolfs funkelten. Er kannte dieses Funkeln. »Dan, wie war das eigentlich«, fragte Hasard und betonte dabei jedes Wort. »Bevor ihr morgens auf die Reede herausgerudert seid, von wem empfingt ihre eure Order, welche der Galeonen zu versorgen, zu entladen oder was sonst zu tun sei?« »Eine kleine Galeere kam stets morgens längsseits und überbrachte die Order für den jeweiligen Tag. Selbst dann, wenn feststand, daß wir mit einer auf Reede liegenden Galeone sowieso noch zu tun gehabt hätten.« »Und mit der ›San Mateo‹ hättet ihr noch zu tun gehabt?« fragte Hasard. Dan nickte. »Mindestens zwei Tage. Und die Sache schien sogar eilig zu sein, denn man hat wegen der ›San Mateo‹ die ›Tortuga‹ von einer anderen Aufgabe einfach abgezogen. Wir sollten ursprünglich nach Cadiz zurück, zur Flotte.« Hasard überlegte angestrengt. »Bist du der Ansicht, daß die Arbeit der ›Tortuga‹ trotz des heutigen Zwischenfalls fortgesetzt werden wird?« »Unbedingt. Das hat keinen Einfluß, höchstens werden die Wachen verschärft. Was dann später geschieht, wenn die Untersuchungskommission erst angereist ist, das will ich mir lieber gar nicht erst vorstellen. Aber verzichten können die Dons auf die ›Tortuga‹ keinesfalls, sie haben auf der Reede gar nicht so viele Galeeren, wie sie benötigen. Zumal immer wieder welche von ihnen mit entsprechender Fracht bis nach Sevilla gerudert werden müssen. Das dauert nicht nur lange, sondern ist auch eine ganz verfluchte Schinderei. Wir haben das dreimal getan.« Hasard nickte. Und dann hatte er seinen Entschluß gefaßt.
»Hört zu«, sagte er nach einer Weile des Schweigens, in der nur das Prasseln des Feuers, über dem Enrico die Fische gebraten hatte, zu hören war. »Wir haben nur eine Chance ...« Und dann entwickelte er den anderen seinen Plan. Atemlos vor Spannung hörten sie zu. Ben Brighton, ein harter Mann und an Risiken jeder Art gewöhnt, sah den Seewolf zum Schluß nur an. »Also, wenn du das nicht wärst, der diesen Plan ausgebrütet hat, dann würde ich dich für einen Verrückten, für ein total übergeschnapptes Großmaul halten.« Er griff sich die Weinflasche und nahm einen gewaltigen Schluck. »Aber nach allem, was ich mit dir schon erlebt habe, traue ich dir diesen Streich auch noch zu. Ich bin dabei!« »Und du, Dan, was sagst du?« »Das gleiche wie Ben«, sagte das Bürschchen grinsend und griff ebenfalls nach der Weinflasche. »Nur an eins mußt du noch denken: Die Mannschaft der ›Tortuga‹ besteht zum größten Teil aus üblem Gesindel, aus Mördern und Halsabschneidern, aus Dieben und Verbrechern schlimmster Sorte. Wenn du denen etwa trauen solltest, dann bist du schon jetzt so gut wie tot. Du kannst es nur schaffen, wenn wir alle, Batuti, Ferris, Smoky, Pete, Matt und die anderen, die Kerle ständig im Auge behalten. Gib ihnen ja nicht gleich Waffen und paß auf diesen Bombarde auf. Ich werde ihn dir zeigen.« Der Seewolf nickte. »Enrico, auch einverstanden? Es geht schließlich auch um deinen Marcus!« Der Alte nickte nur, aber dabei bedachte er den Seewolf mit einem merkwürdigen Blick. »Es ist, wie dein Gefährte sagt: Das alles ist glatter Wahnsinn. Aber seltsam, ingles, dir traue ich zu, daß du es schaffst. Aber sobald mein Sohn frei ist, trennen wir uns. Marcus und ich werden nach Afrika segeln, und dort werde ich
den Rest meiner Tage beschließen, so Gott will.« »Das ist deine Sache, Enrico. Ich will dich nicht zwingen, bei mir zu bleiben. Du weißt ja, was dir blüht, wenn dich die Dons wieder erwischen. Also gut, beginnen wir sofort mit den Vorbereitungen, wir haben keine Zeit zu verlieren.« Hasard stand auf und trat vor die Hütte. Im Westen war der Himmel blutrot, schwere Wolkenbänke zogen heran. Hin und wieder pfiff ein heftiger Windstoß über die Hütte, und in der Flußmündung setzten die Wellen erste Schaumkronen auf. Enrico tauchte neben ihm auf. Prüfend sog er die Luft ein. »In zwei, drei Stunden haben wir Sturm, Regen und eine pechschwarze Nacht. Ein gutes Omen, Amigo.« Hasard nickte. Er brauchte eine solche Nacht. Aber wie zum Teufel sollte er in dieser rabenschwarzen Finsternis jenen Seitenarm und den Liegeplatz der Galeere finden? Hier half nur eins er mußte sich auf sein Glück verlassen.
6. Am Nachmittag dieses Tages hatte sich noch etwas ereignet, was für die geplante Aktion des Seewolfs nicht ohne Folgen bleiben sollte. Von Sevilla her hatte sich San Lucar in rasender Fahrt eine Kalesche genähert. Als sie die Stadt an der Mündung des Guadalquivir erreichte, sprangen einige der Bürger fluchend zur Seite, weil der Fahrer nicht die geringste Rücksicht auf im Wege stehende Passanten nahm. Erst am Hafen verlangsamte die Kalesche ihre Fahrt. Vor der Hafenmeisterei, einem leuchtendweißen, kastellartigen Bau, stoppte sie. Ein feister Kerl stieß den Schlag auf und kletterte aus dem Gefährt. Mit stechenden Augen blickte er sich um. Die Sonne stand schon tief, und die Masten der im Hafen und an den Kais liegenden Schiffe warfen lange Schatten. Ein kühler
Wind, der alle Augenblicke seine Richtung änderte, blies zwischen den Häusern der engen Gassen hindurch in den Hafen. Der Mann zog fluchend die Schultern hoch und zerrte seinen Mantel fester um den fülligen Körper. Dann watschelte er zur Hafenmeisterei hinüber und betätigte brutal den Türklopfer. Es dauerte etwas, bis ein schwerer Riegel zurückgeschoben wurde. Der Hafenmeister, ein dunkelhaariger, ebenfalls zur Fülle neigender Spanier öffnete die Tür. Mit zusammengezogenen Brauen musterte er den Ankömmling. Sein Unwillen über diese späte Störung stand überdeutlich in seinen Zügen. »Senor?« fragte er und zögerte, den Mann hereinzubitten. Aber Henry Isaac Burton störte das nicht im geringsten. Er schob den Hafenmeister einfach zur Seite und betrat die Amtsstube. Der Hafenmeister eilte hinter ihm her. »Senor, ich muß doch sehr bitten«, sagte er, blieb aber vorsichtig auf Distanz, denn das Verhalten dieses Fremden hatte etwas an sich, das ihn einschüchterte und zur Vorsicht mahnte. »Erst schlagen Sie mir fast die Tür ein, dann drängen Sie sich einfach in mein Haus, und nun ...« Burton trat auf den Hafenmeister zu. »Schweigen Sie endlich, Sie Wicht. Hier, lesen Sie das! Und dann beantworten Sie mir gefälligst meine Fragen, oder Sie erleben Ihr blaues Wunder, verstanden?« Der Hafenmeister griff nach dem Schriftstück, das ihm Burton hinhielt. Es war eine Vollmacht des Stadtkommandanten von Sevilla, die alle spanischen Dienststellen anwies, dem Inhaber dieses Schreibens auf Verlangen nach Kräften behilflich zu sein. Der Hafenmeister erschrak. Er kannte den Stadtkommandanten von Sevilla. Ein Capitan der ganz scharfen Sorte, äußerst reizbar und empfindlich,
sofern auch nur der geringste Verdacht auf Widersetzlichkeit in irgendeiner Form bestand. Der Hafenmeister beeilte sich, eine Verbeugung anzudeuten, obwohl er diesen Fremden nicht mochte, dessen ganzes Gehabe ihn schwer gekränkt, wenn nicht sogar beleidigt hatte. Denn immerhin, als Hafenmeister San Lucars war er ja auch nicht gerade irgendwer. »Das ist natürlich etwas anderes, Senor. Bitte nehmen Sie doch Platz. Womit kann ich Ihnen dienen?« Befriedigt ließ sich Henry Isaac Burton auf einen der Stühle nieder und öffnete seinen Wetterumhang. »Es handelt sich um die Galeere ›Tortuga‹. Sie läuft San Lucar doch regelmäßig an, oder nicht?« begann er. Der Hafenmeister nickte. »Sie befindet sich des öfteren hier, Senor. Ein neues, schönes Schiff. Aber regelmäßig - nein. Man kann nie wissen, wann sie einlaufen wird. Ich rechne eventuell morgen mit ihr, weil sie den Auftrag hatte, eine der Galeonen auf der Reede zu entladen. Da sie erst heute damit begonnen hat, wäre es sinnlos für ihren Capitan, bereits an diesem Abend nach San Lucar zurückzukehren. Zumal sie heute zunächst Versorgungsgüter ausgeliefert haben dürfte ...« Burton beendete die Erklärungen des Hafenmeisters mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Einfältiges Geschwätz!« fuhr er den Hafenmeister an. »Ich habe Sie nicht danach gefragt, was diese Galeere für Aufträge hat, sondern ob sie San Lucar regelmäßig anläuft. Das ist offenbar nicht der Fall. Wo also befindet sie sich über Nacht?« Seine stechenden Augen fixierten den Hafenmeister. Der kratzte sich am Kopf. »Hm, ich weiß nicht recht, Senor. Ich habe mit den Kriegsschiffen Ihrer Katholischen Majestät nicht viel zu tun, das ist Aufgabe der Flottenverwaltung. Aber warten Sie, vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
Er erhob sich, aber ihm entging nicht das unwillige, bösartige Zucken im Gesicht Burtons. Er nahm sich im stillen vor, diesem unverschämten Patron die Demütigungen heimzuzahlen. Und das war Philip Hasard Killigrews Glück. Umständlich kramte er in einem Haufen von Karten und Schriftstücken herum. Dann endlich schien er etwas gefunden zuhaben. »Ja, also, die ›Tortuga‹ hat eine andere Galeere, die inzwischen außer Dienst gestellt wurde, abgelöst. Sie hat, soweit ich weiß, auch deren Liegeplatz übernommen. Und der wäre hier, in diesem Seitenarm des Guadalquivir, auf der anderen Seite des Flusses. Die Besatzung hat dort für die Nacht feste Quartiere, ich meine selbstverständlich nur die Seesoldaten.« Burtons Augen schienen die Karte vor sich auf dem Tisch zu durchbohren. »Endlich, das erste brauchbare Wort, das ich von Ihnen höre! Besorgen Sie mir umgehend ein Schiff mit einem Kommando bewaffneter Soldaten. Ich muß sofort dorthin. Sofort, haben Sie mich verstanden?« Der Hafenmeister blickte auf. Es war das erstemal, daß dieser Fremde etwas gesagt hatte, was ihn interessierte. »Das wird leider nicht möglich sein, Senor. Sehen Sie hinaus. Es wird bereits dunkel. Außerdem scheint ein Sturm aufzuziehen, ich werde so rasch kein Schiff und keinen geeigneten Schiffsführer auftreiben können. Aber sagen Sie, Senor«, fuhr er rasch fort, als Burton ihn wieder anfahren wollte, »hängt das vielleicht mit jener Sache zusammen, die sich heute nachmittag auf der Reede ereignete?« Burtons Augen verengten sich. »Sache? Welche Sache, zum Donnerwetter? Ich verlange sofort Aufklärung über alles, was mit dieser ›Tortuga‹ zusammenhängt. Los, Mann, reden Sie, oder Sie kriegen eine Menge Ärger!«
Er packte den völlig überraschten Hafenmeister und zog ihn zu sich heran. Der Hafenmeister wurde blaß. Vor Wut und vor Angst. Dieser feiste Fremde wurde ihm unheimlich. »Ja, bitte, Senor, lassen Sie mich los.« Er wich zurück und strich seine Kleidung glatt. »Heute nachmittag unternahm einer der Galeerensträflinge einen Fluchtversuch. Dabei setzte er sich in den Besitz einer Muskete und schoß den Capitan der Galeere nieder, bevor er über Bord sprang. Seesoldaten der Galeone, an der die ›Tortuga‹ festgemacht hatte, um frischen Proviant und Trinkwasser zu übergeben, feuerten auf den Mann und haben ihn dabei erschossen. Jedenfalls ging der Kerl unter und tauchte auch nicht wieder auf. Ein Boot der Galeone brachte später den Capitan der Galeere nach San Lucar. Die Ärzte bemühen sich um ihn. Wie seine Chancen sind, weiß ich nicht.« Burton war aufgesprungen. »Ein Galeerensträfling? Geflohen? Erschossen?« Er bellte diese Fragen dem Hafenmeister ins Gesicht. »Handelt es sich bei dem Flüchtling um einen der Engländer, die sich erst seit kurzem an Bord der Galeere befinden?« Der Hafenmeister hob die Schultern. »Man sagt es, aber verbürgen kann ich mich nicht dafür.« Burton stand wie erstarrt. »Wie konnte das gesehen?« fragte er. »Die Kerle sind doch an ihre Ruderbänke angekettet.« Der Hafenmeister berichtete ihm, was er darüber wußte, und viel war es nicht. Burton überlegte fieberhaft. Dann gab er dem Hafenmeister eine genaue Beschreibung von Philip Hasard Killigrew und Ben Brighton. »Waren diese beiden Kerle hier im Hafen? Haben Sie zwei Männer gesehen, auf die diese Beschreibung passen könnte?«
fragte er. Aber der Hafenmeister verneinte. »Besorgen Sie jetzt so schnell wie möglich das Boot. Mit der ersten Morgendämmerung spätestens muß ich hinüber zum Liegeplatz der ›Tortuga‹. Ich mache Sie dafür verantwortlich, daß das Boot samt bewaffnetem Kommando bis zu diesem Zeitpunkt bereitliegt. Falls nicht, werden Sie die Folgen zu tragen haben. Der Stadtkommandant von Sevilla wird kein Verständnis dafür haben, wenn ich meinen Auftrag nicht ausführen kann, weil ein vertrottelter Hafenmeister nicht weiß, was seine Pflicht ist, und weil er sich den einfachsten Aufgaben gegenüber nicht gewachsen zeigt. Wahrscheinlich wird man dann in Erwägung ziehen müssen, die Stelle des Hafenmeisters von San Lucar mit einem fähigeren Mann zu besetzen! Ich nehme Quartier im »Rivero«, dort erreichen Sie mich!« Burton hastete davon. Grußlos, wie er erschienen war, verschwand er in der Kalesche, die sich sofort in Bewegung setzte und in eine der Gassen einbog. Der Hafenmeister starrte ihm wütend hinterher. Ob er wollte oder nicht, er mußte sich jetzt in Bewegung setzen, um diesem verfluchten Kerl das Boot samt Soldaten zu besorgen. Dabei war er gerade an diesem Abend zu seiner ältesten Tochter und deren Mann zu einem Familienfest eingeladen. Der Hafenmeister stieß eine Verwünschung aus, als er nach seinem Umhang langte. Dann trat er ins Freie. Das Wasser der Flußmündung hatte Schaumstreifen, es wirkte unter dem blutroten Himmel im Westen fast schwarz. Der Wind hatte sich weiter verstärkt. Er pfiff durch die Gassen und heulte in den Takelagen der im Hafen liegenden Schiffe. Irgendwo weit draußen segelte noch ein Fischerboot, offensichtlich darum bemüht, so rasch wie möglich die andere Seite der Mündung des Guadalquivir zu erreichen. Der Hafenmeister rannte los.
Der Weg zur Stadtkommandantur und zur Flottenverwaltung war weit. Er mußte sowohl bis ans andere Ende des Hafens als auch noch in die Stadt. Und selbst dort konnte es Schwierigkeiten geben, denn dieser unangenehme Patron hatte ihm ja nicht einmal die Vollmacht dagelassen. Gottlob hatte er sich den Namen des Fremden eingeprägt. Rafael Castillo Bergillo - so stand es in jener Vollmacht. Er konnte nicht wissen, daß dies lediglich der Deckname war, unter dem Burton seine landesverräterischen Aktionen durchführte.
Der Seewolf, Ben Brighton, Dan und der alte Enrico hockten zu dieser Zeit in der Felucke - in dem Boot, das der Hafenmeister gesehen hatte, als er sein Haus verließ. Es wurde rasch dunkler. Die Felucke kämpfte sich durch die Wogen, die vom Atlantik her in die Flußmündung drängten. Das Boot Enricos war fest gebaut, seine Beplankung aus starken Hölzern. Aber die lange Lateinergaffel machte Hasard und Ben gehörig zu schaffen. Unter dem Druck des Windes, der auf West umgeschlagen war und nun von Backbord heranfegte, bog sie sich knirschend durch. Die Fock, die Dan bediente, stand prall an Steuerbord. Immer wieder schlug Wasser ins Boot, immer wieder ließen plötzlich Böen die Felucke weit nach Steuerbord krängen, aber Hasard dachte gar nicht daran, nachzugeben. Er knüppelte die Felucke quer über die Flußmündung. Für ihn lief jetzt die Zeit, denn wenn sie den Seitenarm, in dem die Galeere ihren Liegeplatz hatte, noch finden wollten, dann mußten sie das letzte Tageslicht und die darauf folgende Dämmerung ausnutzen. Er hatte Dan gründlich ausgefragt, wie lange sie etwa gebraucht hatten, um von der Reede dorthin zu gelangen - und immerhin, einen Hinweis gab es. An der Einmündung des Seitenarms sollte ein einzelner
Olivenbaum von außergewöhnlicher Größe stehen. Er würde so leicht nicht zu übersehen sein. Dan hielt mit seinen Adleraugen Ausguck von der Back. Gischt und Spitzwasser hatten ihn im Nu durchnäßt, aber das störte ihn nicht. Er brannte darauf, die Gefährten zu befreien und dann ... Er grinste plötzlich. Wenn dem Seewolf das gelang, dann würden die Spanier eine bittere Lektion schlucken müssen. Die Felucke näherte sich mit schäumender Bugwelle dem Ufer, und plötzlich erkannte Dan den Olivenbaum, den er einmal durch Zufall bei der Einfahrt in den Seitenarm gesehen hatte. »Backbord voraus!« brüllte er durch den Sturm, durch das Tosen und Klatschen der Wellen. »Da ist sie, die Einmündung!« Die drei Männer im Boot blickten hoch. Hasard korrigierte den Kurs der Felucke, und dann glitten sie auch schon in das ruhigere, durch die Ufer geschützte Wasser des Seitenarms. Bäume und Gebüsch säumten die Ufer. Hasard hielt nach einer Stelle Ausschau, an der er die Felucke vor allzu neugierigen Blicken verbergen konnte. Denn den Rest des Weges, das war ihm von Anfang an klar gewesen, mußten sie zu Fuß zurücklegen. Enrico schaltete sich ein. »Dreihundert Yards weiter rechts«, sagte er. »Ich kenne diesen Arm, aber ich bin lange nicht mehr hier gewesen. Ich wußte nicht, daß sich hier der Liegeplatz einer Galeere befand, er kann auch erst seit kurzem eingerichtet worden sein.« Hasard steuerte das Boot nach den Anweisungen des Alten. Sie erreichten schon bald eine Stelle, an der das Gebüsch bis ins Wasser hineinzuwachsen schien. Der Alte übernahm das Ruder. Plötzlich teilte sich vor ihnen das Grün der Pflanzen, und die Felucke glitt in eine kleine, versteckte Bucht, die durch eine schmale Landzunge zum Seitenarm hin begrenzt wurde.
Hasard bewunderte das Ortsgedächtnis des Alten, der bereits beim ersten Anlauf die nur wenige Yards breite Einfahrt genau getroffen hatte. Knirschend schob sich der Bug der Felucke auf das Ufer, und sofort begann der Alte, das Lateinersegel zu bergen. »Hier können wir die Nacht in Ruhe abwarten«, sagte er und half Dan, die Fock einzuholen. Aber Hasard schüttelte den Kopf. »Du bleibst beim Boot, Enrico. Ben, Dan und ich sehen uns inzwischen ein bißchen um. Wir werden das für die Zeit, wenn es stockfinster ist, brauchen. Los, wir haben nicht mehr lange Tageslicht!« Doch Enrico hielt sie zurück. »Ich gehe lieber mit«, sagte er. »Das Boot liegt hier gut. Vielleicht müssen wir schnell handeln, oder es ergibt sich eine günstige Gelegenheit. Die Holzhütten der Seesoldaten dürften nicht unmittelbar am Landeplatz der Galeere oder in Ufernähe liegen, weil die Ufer dieser Seitenarme entweder sumpfig sind, oder weil das Wasser in Sturmnächten auch hier so hoch steigt, daß es in die Hütten eindringen würde. Im übrigen kann ich mir denken, wo der Liegeplatz der ›Tortuga‹ sein könnte. Es gibt ein paar hundert Yards weiter eine Biegung, dort erweitert sich der Arm fast zu einem kleinen See. Dort muß es sein, denn dort hat die Galeere genügend Raum, um zu drehen.« Dan starrte den Alten an. »Enrico hat recht. Ich war zwar nie bei den Hütten, aber am Ufer liegen sie nicht. Und auch jene seeartige Erweiterung gibt es, muß es geben, auch wenn ich sie noch nie gesehen habe. Jedenfalls haben wir immer gedreht, bevor wir anlegten.« »Gut, Enrico, wir lassen das Boot allein zurück. Vielleicht werden wir wirklich durch die Umstände gezwungen, schnell zu handeln, früher, als wir eigentlich beabsichtigen - dann sind wir jedenfalls schon alle an Ort und Stelle!« Die Männer verließen mit Dan das Boot. Gleich darauf hatte
sie das Dickicht, das an dieser Stelle die kleine Bucht wie ein Gürtel umgab, verschluckt.
7. Hasard bahnte sich einen Weg durch das Dickicht. Der Wind, der über das flache Land zu beiden Seiten der Flußmündung fuhr, hatte an Stärke zugenommen. Erste Regenschauer fuhren hernieder, tiefhängende Wolken jagten über den Himmel, an dem die hereinbrechende Nacht nun zusehends die Herrschaft übernahm. Während sie sich durch das Dickicht arbeiteten, überdachte Hasard noch einmal seinen gewagten Plan. Er rekapitulierte, was er von Dan erfahren hatte. Auf der ›Tortuga‹ gab es sechs Wachen. Insgesamt bestand die Mannschaft aber aus zwölf Seesoldaten und zwei Offizieren. Der eine der Offiziere schied aller Wahrscheinlichkeit nach aus, weil Dan ihn zumindest schwer verwundet hatte. Blieben also in den Hütten noch sieben Mann, die sie überwältigen und ausschalten mußten. Das bedeutete, daß sie mit den Wachen auf der Galeere sehr schnell und ohne jeden Lärm fertig zu werden hatten, wenn ihr Plan nicht von vornherein platzen sollte. Hasard fuhr sich über die Stirn. Er war zwar weit davon entfernt, auch nur die geringste Furcht zu verspüren. Zugleich war ihm aber auch klar, daß diese Nacht ihre einzige und letzte Chance darstellte, die Gefährten zu befreien. Was in dieser Nacht nicht klappte, würde nie mehr nachzuholen sein. Er mußte also, wenn die Überrumpelung der Wachen auf der ›Tortuga‹ geglückt war, sofort seine Männer befreien und mit den kräftigsten von ihnen dann zu den Hütten hinübereilen. Waffen hoffte er auf der Galeere zu finden. Aber da war noch ein anderes Problem - nämlich die restlichen Galeerensklaven! Wie sollte er sie ruhig halten,
während er die an Land im Schlaf liegende restliche Crew überwältigte? Wenn diese Kerle erst einmal merkten, was los war, würden sie anfangen zu lärmen, vielleicht sogar herumbrüllen. Sollte er doch lieber zuerst den an Land befindlichen Teil der Besatzung ausschalten? Ohne Waffen, denn sie besaßen ja lediglich Messer. Nein, der Seewolf verwarf diesen Gedanken sofort. Das war zu riskant. Es mußte einen Weg geben, die ganze andere Bande ruhig zu halten. Dieses Problem würde sowieso auch beim zweiten Teil seines Plans auf ihn und seine Männer zukommen! Hasard dachte an jenen Bombarde, von dem ihm Dan erzählt und vor dem er gewarnt hatte. Außerdem mußten Ben und er erst einmal sehen, in welchem Zustand sich seine Männer befanden. Fünf Monate auf einer Galeere - das überlebten normalerweise nur die Stärksten und Zähesten. Er hatte von Dan während ihrer Überfahrt zum anderen Flußufer erfahren, wie oft man des Morgens Tote einfach über Bord geworfen hatte. Die Lücken waren dann durch neue Sträflinge gefüllt worden, die über die Kommando-Galeere angefordert wurden. Hasard hatte eine kleine Lichtung erreicht. Mit einer Handbewegung stoppte er die drei hinter sich. Er winkte Dan zu sich heran. »Wo etwa liegt jetzt die ›Tortuga‹, Dan?« fragte er. Das Bürschchen deutete nach vorn. »An diesem Ufer, vielleicht noch zwei- oder dreihundert Yards. Du erkennst den Liegeplatz daran, daß das Gebüsch weitgehend gerodet worden ist. Der Seitenarm verbreitert sich dort, die ›Tortuga‹ hat an einem Steg festgemacht, der ziemlich weit ins Wasser führt, weil sie durch ihren Tiefgang nicht nahe genug ans Ufer heran kann.« Ein heftiger Regenschauer prasselte hernieder. Es war jetzt beinahe Nacht, die Sicht betrug nur noch wenige Yards, der Wind pfiff durch die Büsche und Bäume und zerrte an den Zweigen.
»Gut, Dan. Und nun hört mir mal alle gut zu. Ben und ich schleichen uns zuerst an Bord und schalten die Wachen aus.« »Ich komme mit, Hasard, oder denkst du etwa ...« Der Seewolf sah Dan an. »Ben und ich gehen zuerst allein, Dan. Du bist mutig, du verstehst zu kämpfen, aber du bist zu hitzig. Der kleinste Fehler, und alles ist geplatzt. Außerdem brauchen Ben und ich von Enrico und dir Rückendeckung. Denn während wir mit den Wachen auf der Galeere zu tun haben, könnte sich der Offizier oder einer der Seesoldaten aus irgendeinem Grund entschließen, noch einmal zur ›Tortuga‹ hinüberzugehen. Er würde uns überraschen, vielleicht die anderen alarmieren - und dann?« Er packte Dan an der Schulter. »Dan, ihr rührt euch hier nicht weg. Es ist wichtig, daß Ben und ich den Rücken frei haben, daß wir uns auf euch verlassen können. Ich hole euch, sobald das möglich ist. Kann ich mich auf dich verlassen, Dan?« Hasard vermied es ganz bewußt, einfach zu befehlen. Er kannte Dan und wußte, wie leicht er bockig wurde. Er mußte Dan an der Ehre packen, an sein Verantwortungsgefühl appellieren, das war der beste Weg. Und er behielt recht. D?n nickte, und die anfängliche Enttäuschung, die dem Seewolf nicht entgangen war, verschwand aus seinen Zügen. »Du und Ben, ihr könnt euch auf Enrico und mich verlassen. Geht in Ordnung. Aber paßt auf, eine der Wachen befindet sich stets auf dem Vorschiff, auf dem Achterschiff sind zumeist zwei, die anderen können irgendwo auf dem Mittelgang stehen. Und es könnte sein, daß sie heute nacht besser aufpassen als sonst.« Hasard und Ben nickten. »Also los. Wir wollen es rasch hinter uns bringen. Bei diesem Wetter hält sich garantiert niemand auf der ›Tortuga‹ auf, der nicht unbedingt dort sein muß.«
Sie eilten weiter. Dan hielt sich neben Hasard, er dirigierte ihn in die richtige Richtung. Trotzdem bewegten sie sich nicht allzuschnell, sondern blieben immer wieder stehen, horchten, sicherten nach allen Seiten. Aber Sturm und Regen bildeten eine undurchdringliche Wand. Für die letzten dreihundert Yards brauchten sie mehr als eine halbe Stunde, dann erst hörten sie, wie dicht vor ihren Füßen das Wasser auf das flache Ufer klatschte. Wieder gab Hasard das Zeichen zum Halten. Zusammen mit Dan schob er sich durch dichtes Gebüsch bis an den Seitenarm vor. Ganz behutsam teilten sie die Zweige, dann standen sie plötzlich auf einem sandigen Streifen, der sich am Wasser entlangzog und eine ungefähre Breite von vielleicht drei bis vier Yards haben mochte. »Wir sind richtig«, flüsterte Dan, und seine Stimme vibrierte vor Erregung. »Dort hinten«, er wies nach rechts, »ist die Anlegestelle. Wir brauchen nur auf dem Uferstreifen entlangzuschleichen, dann stoßen wir auf den Steg, an dem die ›Tortuga‹ liegt.« »Den Teufel werden wir tun, Dan«, gab Hasard zurück. »Wir kehren jetzt zu den anderen zurück, laufen ein Stück unter den Bäumen entlang und tasten uns wieder vorsichtig zum Ufer hinunter. Und das tun wir so lange, bis wir den Steg und die Galeere in unserer unmittelbaren Nähe wissen. Dann werden Ben und ich versuchen, von der Landseite her an das Schiff ungesehen heranzupirschen. Erst wenn das nicht möglich sein sollte, werden wir schwimmen!« Dan überlegte. Er hielt Hasard zurück, als er gerade zu Ben und Enrico zurück wollte. »Ich habe einmal gesehen, daß der Steg auf Pfählen steht. Wahrscheinlich wegen des hin und wieder eintretenden Hochwassers. Ich glaube, ihr könnt euch sogar unter dem Steg an die Galeere heranschleichen, dann kann euch keine der
Wachen entdecken.« »Das ist gut, Dan«, erwiderte Hasard, denn wenn das möglich war, dann hatten sie schon eine der vielen Schwierigkeiten gemeistert. »Beilen wir uns, los!« Der Seewolf und die anderen tasteten sich behutsam weiter durch die inzwischen herrschende pechschwarze Finsternis. Dann endlich tauchten der Steg und die Galeere vor ihnen auf, gerade noch zu erkennen im schwachen Licht der blakenden Deckslaternen. Hasard und seine Gefährten kauerten sich hinter einen Stapel Feuerholz, der unweit des Steges unter einem Olivenbaum aufgeschichtet worden war. Hin und wieder wehten ein paar Wortfetzen zu ihnen herüber. Aber sie konnten nicht verstehen, was sich die Wachen zuriefen. Nur soviel verstand Enrico, der über ein außerordentlich empfindliches Gehör verfügte, daß sie ihre Kameraden beneideten, weil sie in der warmen Hütte sitzen konnten und nicht in diesem Sauwetter Wache schieben mußten. Das war gut, denn der Seewolf wußte aus Erfahrung, daß verärgerte Wachen, noch dazu bei solchem Wetter, nicht besonders gut aufpaßten. Meist suchten sie sich an Deck irgendeine geschützte Stelle und kauerten sich dort hin, um dem herniederprasselnden, von den Sturmböen über das Schiff gepeitschten Regen nicht so ausgesetzt zu sein. Das alles mußte sich für Hasards Pläne nur günstig auswirken. Er gab Ben ein Zeichen und wandte sich noch einmal Dan und Enrico zu. »Ich weiß nicht genau, wo die Hütten der Soldaten liegen. Aber wer auf die Galeere will, muß über den Steg. Postiert euch so, daß ihr jeden Mann, der sich dem Steg nähert, sofort ausschalten könnt. Aber ohne Lärm, es muß so lautlos wie möglich geschehen!« Dan und Enrico nickten, dann huschten sie davon.
Dan und Ben schoben sich hinter dem Holzstapel hervor. Der Regen war so dicht, daß hinter seinen Schleiern zeitweilig sogar die Deckslaternen verschwanden. Yard um Yard schoben sie sich an den Steg heran. Sie mußten tasten, so finster war es. Dans Vermutung, daß sie sich unter dem Steg an die Galeere heranarbeiten konnten, erwies sich als richtig. Dabei würden sie zwar früher oder später ins Wasser müssen, aber das spielte keine Rolle. Als hinderlich erwiesen sich lediglich die Verstrebungen zwischen den tragenden Pfählen. Anfangs kletterten sie darüber hinweg, später, als das Wasser tiefer wurde, schwammen sie darunter durch. Es verging eine gute Viertelstunde, bis vor ihnen die Bordwand der ›Tortuga‹ auftauchte. Hasard und Ben hatten bereits keinen Grund mehr unter den Füßen. Sie hingen unter dem Steg, die Hände an einer der Querstreben. Hasard überlegte. Er versuchte sich den Rumpf der Galeere in allen Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen. Aber Ben Brightons Gedanken hatten sich in gleicher Richtung bewegt. »Vorn am Bug ist es am leichtesten«, raunte er Hasard zu. »Dann haben wir auch gleich die erste Wache. Anschließend nehmen wir uns den Mittelgang vor, das wird wahrscheinlich der schwierigste Teil. Denn wenn die Ruderer was merken, werden sie nicht still bleiben.« Hasard überdachte alles noch einmal gründlich. Dann stimmte er zu. Trennen durften sie sich auf keinen Fall, denn es konnte geschehen, daß sie auf zwei der Wachen zugleich stießen, weil die Soldaten vor dem Regen Schutz gesucht hatten und sich die Zeit vertrieben, indem sie wenigstens ein Schwätzchen hielten. »Gut, Ben. Am Rumpf entlang, vorn sehen wir dann weiter. Vielleicht haben sie wegen des Sturms den Anker ausgebracht. Dann nehme ich die Ankertrosse, und du kletterst an der Trosse
hoch, die an Land belegt ist. Auf diese Weise können wir die Wache von zwei Seiten und zugleich in die Zange nehmen. Zuerst werden wir allerdings versuchen, zu horchen, denn ich halte es für möglich, daß vorn zwei oder sogar drei zusammenhocken.« Hasard löste sich vom Steg und glitt an der Bordwand entlang. Sorgfältig vermied er jedes Geräusch, obwohl er durch den klatschenden, prasselnden Regen und den heulenden Wind bestimmt sowieso an Bord der Galeere nicht gehört werden konnte. Ben folgte ihm, und schon bald hatten sie den Bug der Galeere erreicht. Vorsichtig umrundete Hasard ihn. Er hatte recht, die Dons hatten zusätzlich den Anker ausgebracht. Er kehrte zu Ben zurück und informierte ihn. Dann verhielten sie sich still, in der Hoffnung, Gesprächsfetzen aufzufangen, um zu erfahren, wie viele Seesoldaten sich auf der Bugplattform befanden. Undeutlich erkannten sie über sich den riesigen Schildkrötenkopf, der sich unter der Wasserlinie als Rammsporn fortsetzte. Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, doch dann hatte sich ihr Warten gelohnt. »Bin gespannt, ob der Capitan, dieser verfluchte Schinder, endlich zur Hölle fährt. Diese ingles, die sie uns da an Bord gebracht haben, sind gefährliche Burschen. Ich habe sie oft beobachtet. Wenn die irgendwann mal Gelegenheit finden, sich zu befreien, dann gnade uns die heilige Mutter Gottes!« Das meiste mußte sich Hasard zwar zusammenreimen, weil Wind und Regen immer wieder dazwischenfuhren, aber er bekam doch ungefähr mit, wovon dieser Mann sprach. Gespannt wartete er, ob der andere antworten würde. Er brauchte nicht lange zu warten. »Du hast recht, Alfonso, dieser Capitan ist ein elender Menschenschinder. Wenn er könnte, würde er unsereinen auch auspeitschen lassen. Ich gönne ihm diese Ladung von
gehacktem Blei, und fast tut es mir leid, daß die Leute von der ›San Mateo‹ den Jungen erwischt haben.« Der Seesoldaten verstummte. Aber der andere meldete sich noch einmal. »Mit dem Leutnant werden wir und die Sklaven es besser haben«, sagte er. »Aber wenn der Capitan nicht sterben, sondern eines Tages an Bord zurückkehren sollte, dann wird er diese ingles alle zu Tode peitschen lassen, einen nach dem andern. Oder aufhängen.« Hasard hatte genug gehört. »Los, Ben«, flüsterte er leise. Im stillen nahm er sich vor, diese beiden nicht zu töten, wenn es sich vermeiden ließ, aber nur dann. Er schwamm vorsichtig, mit langsamen Bewegungen zur Ankertrosse hinüber. Dann zog er sich langsam an ihr hoch, das Entermesser zwischen den Zähnen. Auf der anderen Seite des Rumpfes enterte Ben Brighton. Fast gleichzeitig erreichten sie die Reling. Über ihnen ragte die Plattform mit dem Geschütz auf. Sie zogen sich Zoll um Zoll an der Reling hoch und warteten darauf, daß die beiden Seesoldaten noch einmal miteinander sprechen würden, damit sie den Platz genau ausmachen konnten, an dem sich die beiden befanden. Sie brauchten nicht lange zu warten. Ben Brighton und Hasard sprangen fast gleichzeitig. Dann huschten sie auf nackten Füßen über Deck und waren auch schon heran, als die beiden Wachen auf sie aufmerksam wurden. Hasard schlug mit dem Griff seines Entermessers zu. Es gab einen dumpfen Laut, und der Mann sackte in sich zusammen. Ben Brighton war nicht so günstig dran. Die Wache, die er genau wie Hasard lediglich niederschlagen wollte, reagierte schneller. Der Mann erkannte die drohende Gefahr, rollte sich blitzschnell zur Seite und griff dabei nach seiner Muskete. Ben Brighton ahnte diese Bewegung mehr, als daß er sie sah.
Da blieb ihm keine Wahl, er sprang den Wachsoldaten an und stach zu. Der Schrei, den der Spanier noch hatte ausstoßen wollen, erstarb in einem Gurgeln. Sofort war Ben Brighton über ihm und drückte ihn mit dem ganzen Gewicht seines Körpers auf die Planken. Aber das war schon nicht mehr nötig, denn der Mann war tot. Ben Brighton stand auf. Er spürte Blut an seinen Händen, aber er kümmerte sich nicht darum. »Schnell, Ben, hilf mir den Kerl hier zu fesseln und zu knebeln. Nimm ihm seinen Umhang und den Helm ab. Die anderen Wachen müssen wir täuschen, wenn wir nahe genug an sie herankommen wollen, ohne daß sie Alarm schlagen!« Es war das Werk weniger Augenblicke. Dann stülpten sich Ben und Hasard die Helme auf, warfen sich die schweren Umhänge über die Schultern und nahmen die Musketen auf. »Weiter!« befahl Hasard und setzte sich sofort in Bewegung. Ben hielt sich direkt hinter ihm, so daß eine Wache, die sich auf dem Mittelgang befand, nicht sofort erkennen konnte, ob sich einer oder zwei näherten. Hasard schlenderte durch den Regen. Vor ihm, an einer Leine, schwankte im Sturm eine Laterne. Er durchquerte den Lichtkreis, den sie auf die Planken des Laufganges warf, und dann sah er den Mann. Er kam direkt auf ihn zu, wahrscheinlich wollte er seine Runde gehen und dann wieder zum Achterdeck, auf dem es mehr Schutz gegen das Wetter gab, zurückkehren. »He, Alfonso, bist du es?« fragte er und blieb ein paar Yards von Hasard entfernt stehen. Dann erblickte er Ben. Sofort nahm er seine Muskete hoch. »He, was zum Teufel ...« Weiter gelangte er nicht. Mit einem Satz war Hasard heran und rannte ihm den Lauf der Muskete in den Leib. Der Seesoldat stieß einen gurgelnden Schrei aus und krümmte sich
zusammen. In diesem Moment traf ihn der Kolbenhieb Ben Brightons. Mit zerschmettertem Schädel fiel er auf die Planken. Hasard stieß einen Fluch aus. Der Schrei dieses Kerls mußte auf dem Achterschiff gehört worden sein. Er brauchte Ben Brighton nichts zu sagen, der hatte auch so begriffen. Sie sprangen über den Toten weg und jagten mit Riesensätzen über den Mittelgang zum Achterschiff hinüber. Die schweren Umhänge, die ihnen dabei nur hinderlich waren, ließen sie einfach fallen. Einer der Spanier, dem trotz Sturm und Regen nicht entgangen war, daß irgend etwas auf dem Laufgang nicht in Ordnung war, sprang auf. Er sah den Seewolf heranstürmen, aber da war es für ihn bereits zu spät. Die scharfe Klinge des Entermessers drang in seine Brust, ein Kolbenhieb Ben Brightons fegte ihn zur Seite, katapultierte ihn zum Schanzkleid, und im nächsten Moment klatschte sein Körper ins Wasser. Von hinten tauchten zwei weitere Gestalten auf. Sie hatten getrunken und begriffen nicht mehr schnell genug, was da vor ihren Augen geschah. Der eine stierte den Seewolf an und hob lediglich abwehrend die Muskete, als ihn auch schon der mörderische Hieb Hasards traf und augenblicklich niederstreckte. Der letzte, noch betrunkener als der andere, kam überhaupt nicht mehr dazu, nach seiner Muskete zu greifen. Ben Brighton sprang ihn an, warf ihn zu Boden und drückte ihm kurzerhand die Gurgel zu, bis er sich nicht mehr rührte. Dann tastete er nach dem Puls des Seesoldaten. »Er ist nicht tot«, sagte er, als Hasard zu ihm trat. »Wir müssen ihn fesseln und knebeln wie den anderen. Die beiden Kerle können uns noch von Nutzen sein.« Hasard nickte nur, dann gingen sie an die Arbeit. Anschließend richteten sie sich auf und holten erstmal tief Luft. »Hol Dan und Enrico, Ben«, sagte Hasard. »Wir müssen uns
jetzt um unsere Männer kümmern und mit allen Mitteln verhindern, daß auf diesem Kahn irgend jemand laut wird. Gottlob hilft uns der Sturm.« Ben sauste los. Wenige Augenblicke später war er mit den beiden zurück. Hasard packte Dan ziemlich unsanft am Arm, als der Junge einen Freudentanz aufführen wollte. »Jetzt bist du dran, Dan! Du bringst mich jetzt zu Ferris und den anderen. Und du, Ben, sorgst dafür, daß es hier kein allgemeines Freudengeheul gibt. Wir haben es noch lange nicht geschafft, dies war nur der Anfang von dem, was wir noch zu tun haben.« Er sah Enrico an. »Enrico, ich weiß, daß du jetzt deinen Sohn sehen möchtest. Wir werden ihn als ersten losschließen, er kommt zu dir. Du mußt hier oben bleiben, auf Wache. Alles wäre vergebens gewesen, wenn uns jetzt einer überrascht und Alarm schlägt!« Enrico, schon auf dem Sprung nach unten ins Ruderdeck, knurrte unwillig. Aber dann fügte er sich. Er sah ein, daß Hasard recht hatte. Irgendwo in der Galeere begann es zu rumoren. Gedämpfte Stimmen klangen auf. »Es geht schon los, Ben! Rasch, oder hier ist gleich der Teufel los!« Der Seewolf, Dan und Ben Brighton liefen los. Der Junge, der die Galeere am besten kannte, führte sie. Es gab kaum Licht, und doch stockte ihnen der Atem, als sie die ausgemergelten Gestalten erblickten, die an ihren Ketten auf den Ruderbänken hockten und sie hohläugig anstarrten.
Ferris Tucker hatte auf seiner Ruderbank gesessen und keinen Schlaf gefunden. Die Ereignisse des Tages hielten ihn wach. Wenn er nur daran dachte, daß diese Schweine Dan abgeknallt
hatten, dann stieg ihm die Galle hoch. Aber der Junge war nicht zu halten gewesen. Kein Wunder, Dan hatte während ihrer Zeit auf der Galeere Dinge mit ansehen und erleben müssen, die kaum ein Erwachsener zu verkraften vermochte. Und doch, dachte Ferris Tucker, wäre es besser gewesen, wenn Dan den Befehl dieses sadistischen Capitans ausgeführt hätte. Was hätten ihm, Ferris Tucker, ein paar Schläge mehr oder weniger schon ausgemacht? Dennoch - an diesem Punkt stockte seine Überlegung. Wie hätte er sich verhalten, wenn die Dons von ihm verlangt hätten, Dan, Pete Ballie, Batuti, Matt Davies oder irgendeinen anderen aus der ›Isabella‹-Crew auszupeitschen? In diesem Moment verstand er den Jungen noch viel besser. Nein, er, Ferris Tucker, hätte es ebenfalls nicht getan, und wenn sie ihn aufgeknüpft hätten. Allein schon sein Stolz hätte ihm verboten, es zu tun und sich vor diesem Capitan zu erniedrigen. Der rothaarige Hüne seufzte. Matt Davies, der neben ihm auf der Ruderbank angekettet war, hörte es. »Du kannst nichts dafür, Ferris«, sagte er leise. »Jedenfalls ist Dan gestorben wie ein Mann, so, wie es jeder andere von uns auch getan hätte. Und er hat uns noch diesen Schinder vom Hals geschafft ...« Matt Davies unterbrach sich plötzlich. Über ihnen, auf dem Mittelgang, vernahmen sie einen unterdrückten Schrei und gleich darauf einen schweren Fall. Einen Moment später tropfte etwas Warmes, Klebriges auf ihre Hände und auf ihre Schultern. Matt Davies und Ferris Tucker fuhren sich gleichzeitig mit den Fingern über die Schultern und rochen an ihren Händen. »Verdammt, Matt, das ist Blut!« stieß Tucker betroffen hervor. »Was geht da oben vor, wer ist da eben erschlagen worden und von wem?« setzte er flüsternd hinzu. Matt Davies Augen begannen zu funkeln. Zwar hatte auch er nicht die geringste Vorstellung, wer über ihnen die Wachen auf
der ›Tortuga‹ umbrachte und warum, aber auf keinen Fall konnte das jemand sein, der ihnen übel wollte oder auf der Seite der Dons stand. Angestrengt lauschten sie. Dann hörten sie eilige Schritte, wieder das dumpfe Geräusch von Schlägen, ein röchelndes Gurgeln, dem abermals ein dumpfer Fall und gleich darauf ein lautes Klatschen folgte, so, als habe man einen Mann über Bord geworfen. »Matt, irgend jemand hat die Galeere überfallen. Verdammt noch mal, warum bin ich hier angekettet? Ich würde diesen Kerlen eigenhändig die Schädel einschlagen und ihnen die Hälse umdrehen!« Sie horchten wieder angespannt, und dann hörten sie, wie auch die anderen Galeerensträflinge um sie herum zu murmeln begannen. Sie hatten es also auch gehört. Batuti, der auf der anderen Seite der ›Tortuga‹ angekettet war, starrte zu Matt und Ferris hinüber. »Da sein wer - schlagen tot verflixte Dons«, sagte er in die Stille hinein und radebrechte dabei wieder sein fürchterliches Englisch. Aber auch ihm blieb keine Zeit mehr zu weiteren Feststellungen, denn nun wurden Schritte laut. Nackte Füße tappten über die Bohlen des Ruderdecks, und gleich darauf tauchte Dan, mit einer der Schiffslaternen bewaffnet, vor Ferris Tucker auf. Der rothaarige Hüne starrte ihn an, als sähe er einen Geist. »Dan - du - du ...« stieß er hervor und glaubte einfach nicht, was er sah. Doch als im nächsten Moment Hasard und Ben ebenfalls in den Lichtkreis der Lampe traten, riß er die Augen auf. »Hasard, Ben - wie, zum Teufel - wie habt ihr uns gefunden? Oh, ihr verdammten Hundesöhne, ihr dreimal verfluchten Affenärsche, ihr ...« Ferris Tucker erstarb die Stimme, er senkte den Kopf, und ein Schluchzen schüttelte seinen mächtigen Körper.
Matt Davies, Batuti, Pete Ballie, Gary Andrews, Smoky, Blacky, Stenmark, der Kutscher und Al Conroy stimmten ein Freudengeheul an, und Hasard mußte sie ziemlich hart zum Schweigen bringen. Auch die anderen Sträflinge klirrten mit ihren Ketten, wenn sie auch noch nicht begriffen, was überhaupt auf der ›Tortuga‹ vor sich ging. Hasard verschaffte sich Gehör. »Hört mir jetzt alle zu«, sagte er auf Spanisch, während Ben in englischer Sprache die ›Isabella‹-Männer aufklärte. »Wir sind hier, um euch zu befreien, euch alle. Aber das wird uns nicht gelingen, wenn ihr hier herumbrüllt und uns die Spanier auf den Hals hetzt. Verhaltet euch ruhig, ich schlage jedem persönlich den Schädel ein, der nicht sofort sein verdammtes Maul hält. Ihr werdet alle frei, aber zuvor muß ich noch diejenigen Soldaten überwältigen, die sich an Land in den Hütten befinden. Ich werde daher jetzt ein paar Männer losschließen, und zwar meine Leute, weil ich sie kenne und ihnen trauen kann. Sobald wir die Soldaten überwältigt haben, kehren wir zurück, dann werden auch alle übrigen losgeschlossen. Aber ich verlange von euch, daß ihr euch bis dahin ruhig verhaltet. Ich lasse Wachen zurück. Und nochmals, rammt das in eure Dickschädel hinein: Wer lärmt oder während unserer Abwesenheit herumbrüllt, wird zum Schweigen gebracht. Wir können kein Risiko eingehen. Habt ihr lausigen Affen das jetzt alle begriffen?« Aus dem Achterschiff ertönte eine Stimme. »Und wenn du falsches Spiel mit uns treibst? Wenn du nur deine eigenen Freunde herausholst? Was glaubst du, was diese Hundesöhne dann morgen früh mit uns anstellen werden?« »Das ist er, Hasard, das ist dieser Bombarde«, flüsterte Dan. »Nimm dich in acht, der hat was vor!« Hasard wandte sich zu Dan um. »Wo ist der Schlüssel für die Fesseln?« fragte er nur. Dan zog
ihn grinsend aus der Tasche seiner Segeltuchjacke. »Himmel, Hasard, was hast du vor, du willst doch diesen Bombarde nicht etwa losschließen?« Der Seewolf überlegte, dann wandte er sich abermals an Dan. »Du befreist jetzt Marcus, den Sohn des Alten, als ersten von seinen Fesseln. Dann schickst du ihn zu Enrico nach oben, aber schärfe ihm ein, daß er sich ruhig verhalten soll. Danach befreist du alle unsere Männer von der ›Isabella‹. Ben kann inzwischen nach Waffen suchen. Beeilt euch, ich fürchte, wir haben nicht allzuviel Zeit. Ich gehe jetzt mal zu diesem Bombarde. Falls nötig, kriegt er eines über den Schädel. Ich gehe von jetzt an kein unnötiges Risiko mehr ein, schon gar nicht wegen eines solchen Halsabschneiders.« Hasard ging an den Ruderbänken vorbei nach hinten. Er erkannte den Schlagmann der ›Tortuga‹ schon von weitem, denn er hatte sich ebenfalls eine der wenigen Laternen, die hier unten im Ruderdeck brannten, mitgenommen. Er trat dicht an den Kerl heran. Dabei übersah er keineswegs, daß dieser Bombarde ein nicht zu unterschätzender Gegner sein würde. Dicke Muskelstränge zogen sich über Arme, Schultern und Leib. Fischige Augen starrten den Seewolf tückisch an, und das weißblonde Haar Bombardes leuchtete ihm entgegen. Dicht vor Bombarde blieb der Seewolf stehen. »Bombarde, ich warne dich«, sagte er leise. »Du wirst frei sein wie alle anderen hier. Morgen mittag schon. Ich habe einen Plan. Ich werde ihn euch nachher erklären, ich kann ihn ohne euch gar nicht durchführen. Aber wenn du querschießt, Mann, dann bringe ich dich eigenhändig um. Und während ich jetzt mit einem Teil meiner Männer die Seesoldaten überwältige, wird eine Wache neben dir stehen. Planst du Verrat, stirbst du. Hier auf deiner Bank. Das ist mein letztes Wort. Überleg es dir also gut - Freiheit oder Tod.« Er ließ dem Verbrecher keine Zeit zu einer Antwort, sondern drehte sich um und kehrte zu Ferris Tucker zurück, den Dan
eben losschloß. Der rothaarige Hüne, der ihnen auf der ›Isabella‹ durch seinen Mut, seine Entschlossenheit, seine Umsicht und seine Findigkeit schon mehr als einmal das Leben gerettet und sie aus so manch übler Klemme befreit hatte, atmete schwer. Dann reckte er seine Glieder. »Sir, der Teufel soll mich lotweise holen, wenn ich dir das je vergesse«, sagte er nur. Hasard schlug ihm leicht auf die Schulter, dann hatte Dan Matt Davies bereits losgeschlossen. »Hör zu, Ferris, bist du so weit in Ordnung, daß du mit zu den Hütten kannst, zu den Soldaten?« Als Tucker nur nickte, fragte Hasard rasch: »Wer außer dir noch? Einige befinden sich in einem gottserbärmlichen Zustand. Der Kutscher zum Beispiel, auch Al Conroy ...« »Batuti kann mit, Matt ebenfalls, Pete Ballie, Smoky. Die anderen laß besser hier. Du darfst diesen Bombarde auf keinen Fall allein lassen, du wirst auch künftig ein wachsames Auge auf ihn haben müssen. Dieser Kerl ist ein Vieh, intelligent, stark, verschlagen. Wenn er auch nur den geringsten Vorteil darin sieht, dann verkauft er dich und uns alle an die Spanier. Und auch den anderen kannst du nicht trauen, Gesindel, Halsabschneider, Diebe, Mörder. Aber keiner von ihnen ist so tückisch und gefährlich wie der Schlagmann. Was hast du eigentlich vor? Ho, ich sehe dir doch an, daß du den Dons eine Lektion erteilen willst, an die sie mindestens so denken, wie damals an die Entführung der ›Isabella‹ von der Reede vor Cadiz!« »Diesmal wird es die ›San Mateo‹ sein, Ferris. Wir rudern morgens raus und kapern sie.« Ferris Tucker und auch einige der anderen, die Hasard in diesem Moment umdrängten, hatten im stillen schon beinahe so etwas vermutet, denn sie kannten den Seewolf und seine Art, sich aus der Klemme zu helfen. Aber wie er das eben
gesagt hatte, beiläufig fast, das verschlug ihnen nun doch die Sprache. »Wir sprechen nachher noch im einzelnen darüber. Jetzt ist keine Zeit dazu. Batuti, Smoky, Matt, Pete, Ben und Dan sucht euch Waffen. Messer, Belegnägel, Musketen, was ihr gerade findet. Und dann werden wir den Dons ein wenig zum Tanz aufspielen. Vorwärts! Die anderen bleiben hier, paßt mir ja auf diesen Bombarde und die anderen Kerls auf«, fügte er leise hinzu. »Sorgt für Ruhe, mit jedem Mittel, verstanden?« Sie nickten, während Ben Brighton ihnen bereits Belegnägel in die Hände drückte, die er aus den Nagelbanken am Hauptmast der Galeere gezogen hatte. Hasard und sein Trupp verließen das Ruderdeck. Jeder von ihnen verschaffte sich eine Waffe, mit der er schlagen oder stechen konnte. Zu schießen hatte Hasard verboten. »Und laßt den Leutnant am Leben, wir brauchen ihn noch. Ebenfalls einige der Soldaten, kapiert? Ohne sie klappt mein Plan nicht. Weiß einer von euch genau, wo die Hütten liegen?« Smoky drängte sich nach vorn. »Ich, haltet euch hinter mir«, sagte er. »Ich war schon einmal dort und mußte die Latrinen der Offiziere und Soldaten reinigen.« An Deck stießen sie auf den alten Enrico und seinen Sohn Marcus, die sich in den Armen lagen. Sie wollten dem Seewolf danken, aber der schnitt ihnen das Wort ab. »Enrico, du und dein Sohn, ihr könnt tun, was ihr wollt. Verschafft euch Proviant. Wenn du immer noch nach Afrika segeln willst, dann nutze dieses Wetter. Noch bevor der Morgen anbricht, kannst du schon weit sein mit deinem Sohn, und euer Boot ist dem Sturm gewachsen. Aber ihr müßt euch beeilen, denn morgen wird auf der Reede die Hölle los sein. Willst du aber bei mir und meinen Leuten bleiben, dann kannst du auch das. Überleg es dir. Und hab Dank für alles, ohne dich wären Ben und ich nicht hier!«
Hasard wandte sich ab und eilte hinter den anderen her, die bereits am Steg auf ihn warteten. Unter der Führung Smokys schlichen sie zu den Hütten hinüber. Es wurde ein kurzer Kampf. Ben Brighton nahm sich mit Ferris, Batuti, Matt Davis und Dan die eine Hütte vor. Hasard, Smoky und Pete Ballie drangen in die andere ein, in der sich auch der Leutnant, der die Kommandantenstelle auf der ›Tortuga‹ eingenommen hatte, befand. Die Männer wurden völlig überrascht und verzichteten auf jede Gegenwehr. Sie wurden gefesselt - mit genau denselben Eisen, die vorher die Galeerensträflinge auch getragen hatten. Nur mit dem Leutnant verfuhr der Seewolf anders. »Senor«, sagte er, und seine Stimme ließ nicht den geringsten Zweifel daran, daß er durchführen werde, was er vorhatte, »Sie werden morgen früh, sobald die Kommando-Galeere längsseits geht, die Order wie üblich übernehmen. Ich werde hinter Ihnen stehen, Ihre Pistole in der Hand. Sobald Sie auch nur ein Wort sagen, was mir nicht gefällt, oder versuchen, den Männern der Kommando-Galeere ein Zeichen zu geben, schieße ich Sie über den Haufen. Mit der Galeere werden wir dann auch fertig, denn wir sind in der Überzahl. Das gleiche wiederholt sich bei der ›San Mateo‹. Wenn Sie tun, was ich verlange, wird Ihnen und Ihren Leuten, die diese Nacht überlebt haben, nichts geschehen. Also, entscheiden Sie sich. Jetzt gleich, Senor. Lehnen Sie ab, sterben Sie.« Der Leutnant stand hoch aufgerichtet und totenblaß vor dem Seewolf. Der Schock darüber, daß ein paar Engländer es geschafft hatten, die ›Tortuga‹ in ihre Gewalt zu bringen, steckte ihm noch in den Gliedern. Außerdem waren Hasard und seine Leute die einzigen, die ihn vor der Wut und Rachsucht der anderen Sträflinge zu schützen vermochten. Sobald dieser schwarzhaarige Teufel mit den eisblauen Augen seine
schützende Hand von ihm abzog, waren er und seine Männer verloren, das wußte der Leutnant genau. Er nickte. »Ich habe keine andere Wahl, Senor«, sagte er, und Hasard spürte, wie schwer ihm diese Worte fielen. »Gut, aber denken Sie daran, Leutnant: Wir werden ein wachsames Auge auf Sie haben. Ihre Männer werden die Lücken bei den Riemen auffüllen, aber auch dort wird man sie bewachen. Sollte einer von ihnen versuchen, uns zu verraten, dann sterben sie alle, sagen Sie Ihren Leuten das. Andernfalls, wie bereits gesagt, sind sie frei, sobald wir uns der Galeone bemächtigt haben.« Hasard wußte, daß er ein Risiko einging, indem er den Leutnant so genau darüber ins Bild setzte, was er plante. Aber er sah keine andere Möglichkeit. Daß die Dons in dem Moment, in dem sie die ›San Mateo‹ enterten, genügend mit sich selber zu tun haben würden und nicht auf irgendwelche dummen Gedanken verfielen, dafür würde Ferris Tucker sorgen. Das war bereits bis in alle Einzelheiten besprochen worden. Jetzt galt es, die anderen Sklaven ebenfalls loszuschließen, einschließlich Bombarde. Hasard gab die nötigen Anweisungen, nachdem alle erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen von den Männern der ›Isabella‹ getroffen worden waren. Mit Vergnügen bemerkte der Seewolf ganz nebenbei, daß Dan förmlich umlagert wurde und seine Geschichte immer von neuem zum besten geben mußte. Das gönnte Hasard dem Kerlchen von Herzen. Leider hatte er keine Ahnung von den Dingen, die um diese Zeit in San Lucar geschahen. Und das sollte noch Folgen haben.
8.
Die zweite Nachthälfte näherte sich ihrem Ende, als Henry Isaac Burton alias Rafael Castillo Bergillo aus dem Schlaf fuhr. Es klopfte vernehmlich an seiner Kammertür. Der Wind heulte immer noch um die Häuser der Hafengegend, aber Burton registrierte, daß der Sturm zumindest nachgelassen haben mußte. Mühsam richtete er sich in seinem Bett auf. »Ja, verdammt noch mal, was ist los?« Vorsichtig wurde die Tür geöffnet, der Wirt des »Rivero« steckte den Kopf herein. »Senor, der Hafenmeister läßt Ihnen ausrichten, daß Ihr Boot bereitliegt und ein Kommando von Seesoldaten auf Sie wartet. Am Hafen unten, ganz in der Nähe der Hafenmeisterei, die Sie ja schon kennen.« Burton war schlagartig wach. »Das ist sein Glück! Wäre ich wachgeworden, und dieses faule Schwein hätte immer noch kein Boot gehabt, dann wäre ihm das schlecht ergangen!« Er richtete sich stöhnend auf und horchte auf das Heulen des Windes. »Wehe ihm, wenn er mir so eine Nußschale besorgt hat, in der ich bei diesem Wetter naß werde, auf der es keine Kabine gibt!« Er warf die Decke zurück und starrte den Wirt an. »Raus!« schrie er ihn dann an. »Frühstück, aber ein bißchen dalli, klar?« Der Wirt verschwand blitzartig, hinter ihm klappte die Tür wieder zu. Burton riß den Vorhang vom Fenster zurück, und seine Laune verfinsterte sich augenblicklich. Es wehte nicht nur, und nicht nur gischtgekrönte Wogen zogen draußen vor der Mole in der Morgendämmerung über die Mündung des Flusses, nein, es regnete auch immer noch in Strömen.
Burton fuhr in seine Kleider, dann stampfte er die Stiege hinunter und stopfte das Frühstück in sich hinein. Er war ein erbärmlicher Feigling, wenn es den Kampf Mann gegen Mann galt. Aber er haßte den Seewolf, und er war entschlossen, alles zu tun, um ihn zur Strecke zu bringen. Außerdem brauchte er Erfolge, die Pannen in Sevilla hatten ihm seine Auftraggeber übel vermerkt. Wenn er seinen Einfluß und seine Verbindung zu den Kreisen in Spanien behalten wollte, dann mußte er diesen verfluchten Seewolf ans Messer liefern. Und wie war das zu bewerkstelligen? Indem er sich an die Männer der ›Isabella‹ hielt, sie unter der Folter befragte - sie notfalls nach Sevilla schaffen ließ, aber so, daß es jedermann bemerkte. Der Seewolf würde ihm dann in die Falle laufen. O ja, er, Henry Isaac Burton, kannte Typen wie diesen Philip Hasard Killigrew. Männern wie ihm genügte es nicht, wenn sie selber lebten, vielleicht sogar gut lebten, nein, diese Kerle würden wieder und wieder unter Einsatz ihres Lebens versuchen, die gefangenen Gefährten zu befreien. Verständnis hatte Burton für eine solche Haltung nicht, aber er wußte einfach, daß es so war. Und darauf baute er. Er knallte dem Wirt des »Rivero« eine Golddublone auf den Tisch. Und er hatte es diesmal sogar so eilig, daß er darauf verzichtete, die Kutsche anspannen zu lassen, die hier auf seine Rückkehr warten sollte. Er warf sich den Umhang über die Schultern und verschwand gleich darauf hinter einer zuknallenden Tür im Regen. »O madre de Dios!« jammerte der Wirt, heilfroh, daß er diesen unfreundlichen und unheimlichen Gast wieder los war. Er mochte mit niemandem zu tun haben, der sich ein Kommando Seesoldaten schicken ließ. Burton eilte unterdessen durch die Gasse zum Hafen hinunter. Er sah die Soldaten in der Morgendämmerung schon von weitem. Und auch das Boot. Ein befriedigtes Grinsen lief über
seine Züge. Man mußte die Leute nur richtig anspitzen, dann spurten sie, genau wie dieser Hafenmeister. Das Boot wirkte geräumig und hatte auch eine Kajüte. Er würde also die Überfahrt leidlich trocken überstehen. Ein Corporal führte die sechs Seesoldaten an. Er salutierte, als Burton auf ihn zutrat. »Sofort ablegen!« bellte Burton ihn an. »Zum Liegeplatz der ›Tortuga‹, Beeilung!« Burton beeilte sich, an Bord zu gelangen und war gleich darauf in der Kajüte verschwunden. Grimmig blickten ihm die Soldaten hinterher. Eine solche Behandlung waren sie von einem lausigen Zivilisten absolut nicht gewöhnt. Dennoch legte das Boot gleich darauf ab. Als es den Schutz der Außenmole verließ, wurde es von den ersten Wellen gepackt und gehörig durchgeschüttelt. Burton schlug in seiner Kabine der Länge nach hin und rammte sich den feisten Schädel. Wutentbrannt stieß er die Tür zum Achterdeck auf, mit dem Erfolg, daß ihn eine über die Reling brandende Woge völlig durchnäßte. »Ihr spanischen Affen, ich lasse euch kujonieren, bis euch das Wasser im Arsch kocht!« schrie er erbost und mit sich überschlagender Stimme. Der Corporal erblaßte, aber er beherrschte sich eisern. Allerdings sollte er noch Gelegenheit haben, sich an diesen Schimpf gründlich zu erinnern und entsprechend zu handeln. Burton hatte seinen Stolz empfindlich verletzt. Das Boot krängte weit nach Steuerbord über, nahm dann aber Fahrt auf und kämpfte sich durch die gischtende See. Auf der anderen Seite des Guadalquivir spitzten sich die Ereignisse ebenfalls zu. Hasard hatte die Sträflinge losgeschlossen. Er selbst und seine Männer hatten Vor- und Achterschiff sowie den Mittelgang besetzt. Alle seine Männer, soweit sie an Deck in Erscheinung traten, trugen die Sachen
der entwaffneten Seesoldaten. Es war alles besprochen. Sie warteten auf die KommandoGaleere, die jeden Moment um die Biegung des Seitenarmes gleiten mußte. Neben Hasard stand der Leutnant, totenblaß, hinter ihm Ben, mit gezogener und schußbereiter Pistole. Bombarde befand sich unter Deck bei den anderen Sträflingen. Er hatte eine Clique von übel aussehenden Kerlen um sich versammelt, auf die er einredete. Aber Hasard konnte sich in diesem Moment nicht um ihn kümmern, das mußte er auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Trotzdem ahnte er, daß es mit diesem Mann noch Schwierigkeiten geben würde. Enrico hatte den Seitenarm mit seinem Sohn schon vor Stunden verlassen. Seine Felucke befand sich längst draußen auf dem Atlantik - Kurs Afrika. Das Boot kämpfte schwer, aber es war stark genug, um den Gewalten standzuhalten. Irgendwie bewunderte Hasard den Alten, er hatte Mut, und trotz seiner Jahre war er zäh wie eine Katze. »Achtung, Hasard - sie kommen!« Ben Brighton zischte Hasard die Bemerkung zu. Denn eben bog eine kleine Galeere mit nur insgesamt zehn Rudern um die Biegung des Seitenarms und glitt geradewegs auf die ›Tortuga‹ zu. »Also, Leutnant, jetzt müssen Sie wählen!« stieß Hasard hervor. »Tod oder Leben für Sie und Ihre Männer!« Der Leutnant antwortete nicht. Er spürte die Pistole Ben Brightons im Rücken. Er sah den schwarzhaarigen Mann neben sich, dessen eisblaue Augen in diesem Moment so kalt wirkten wie Gletschereis. Nein, dieser Kerl da neben ihm kannte keine Furcht. Der würde kaltblütig handeln. Die Kommando-Galeere schor längsseits. Aber sie machte nicht fest. »›Tortuga‹!« gab der Offizier, der sich auf dem kleinen Achterdeck der Kommando-Galeere befand, die Order weiter. »Auch die nächsten Tage fahren Sie zur ›San Mateo‹, sie wird
völlig entladen und dann neu mit Munition und Proviant versehen. Ebenfalls neue Mannschaften werden übernommen, denn die ›San Mateo‹ hatte bei ihrer letzten Reise erhebliche Ausfälle. Die neuen Männer sind bereits unterwegs. Aus diesem Grunde laufen Sie heute abend nach San Lucar und machen im Hafen fest.« Der Offizier salutierte, der Leutnant, der bisher kein Wort gesprochen hatte, ebenfalls. »Verstanden und in Ordnung«, bestätigte er die Order. Die Kommando-Galeere legte ab, und der Seewolf atmete auf. Er wartete, bis sie gewendet hatte und wieder hinter der Biegung verschwand. Dann wollte er die nötigen Kommandos zum Ablegen der ›Tortuga‹ geben, aber in diesem Moment enterten Bombarde und hinter ihm noch ein paar andere, wüst aussehende Kerle, den Mittelgang. Darunter ein Ire, ein Araber, ein Sizilianer und ein Grieche. »Es geht los, Ben. Gut, das kann dieser Bombarde haben!« Hasard ließ den Leutnant stehen und ging dem fischäugigen Muskelmann entgegen. Ein paar Yards vor Bombarde blieb er stehen. Gerade weit genug, um überraschenden Aktionen des anderen rechtzeitig ausweichen zu können. »Also, Mann, was willst du? Das Kommando über die ,›Tortuga‹ übernehmen?« fragte der Seewolf kalt. »Wäre eigentlich am vernünftigsten, denn ich kenne mich auf Galeeren aus, Senor«, sagte er und stieß ein heiseres Lachen aus. »Du siehst mir nicht so aus, als hättest du schon mal Ruderbank, Eisen und die Peitsche geschmeckt.« Er taxierte den Seewolf mit einem raschen Blick. Aber das Ergebnis schien ihm nicht recht zu behagen, er war viel zu intelligent, um die Gefährlichkeit des Mannes vor ihm mit dem schwarzen Haar und diesen eiskalten Augen nicht zu erkennen. »Ich schlage dir was vor - wir teilen uns das Kommando.
Einverstanden? Meine Männer würden sowieso nicht auf dich hören.« Hasard trat noch einen Schritt auf Bombarde zu. »Abgelehnt! Scher dich auf deine Ruderbank. Du bist an Bord der Schlagmann gewesen, und das bleibst du auch!« Bombarde erstarrte. Das hatte er nicht erwartet. Seine Fischaugen verengten sich, dann stieß er einen Knurrlaut aus und stürzte sich auf den Seewolf. Hasard war sich darüber klar, daß er diesen Kampf nicht verlieren durfte. Unterlag er Bombarde, dann bedeutete das eine sofortige Meuterei der anderen. Und sie waren erheblich in der Überzahl. Hasard wich dem Ansturm Bombardes erst in allerletzter Sekunde aus. Dann wirbelte er herum und erwischte den ins Leere stolpernden Sträfling mit einem Griff an seiner Kleidung. Mit einem Ruck riß er Bombarde zu sich heran, dessen Jacke, die er einem der toten Seesoldaten abgenommen hatte, dabei in Fetzen ging. Hasards Knie schoß vor, dann krachte ein mit aller Kraft hochgezogener Haken an Bombardes Kinn. Der Schlag war mit solcher Wucht geführt, daß er Bombarde glatt von den Füßen hob. Doch der Kerl war so leicht nicht umzuwerfen. Er taumelte zurück, nahm aber plötzlich den Kopf herunter und rammte ihn Hasard völlig überraschend in den Leib. Vor den Augen des Seewolfs tanzten Sterne und feuerrote Kreise, er rang nach Luft. Aber da war Bombarde auch schon wieder heran. Seine Fäuste flogen hoch, er holte aus zu einem vernichtenden Schlag, den nicht einmal der Seewolf hätte verdauen können. Seine Spießgesellen brachen in ein wildes Gejohle aus, aber sie freuten sich zu früh, denn Hasard war auf der Hut. Blitzartig wich er zurück, und Bombardes wüster Killerschlag ging ins Leere. Und dann war Hasard am Zug. Durch die
Wucht seines eigenen Hiebes aus dem Gleichgewicht gebracht, stolperte Bombarde wild mit beiden Armen rudernd auf dem Mittelgang entlang. Wie der Blitz war Hasard heran. Noch im Laufen hatte er beide Hände ineinander verschränkt und hieb sie Bombarde mit voller Wucht ins Genick. Im nächsten Moment, noch bevor Bombarde fiel, feuerte Hasard aus einer blitzartigen Schulterdrehung einen Rundschlag ab, der Bombarde gegen den Schädel traf. Der Seewolf wußte, daß dies ein gemeiner und hinterhältiger Schlag war, aber das kümmerte ihn im Moment herzlich wenig. Für Skrupel war keine Zeit, hier ging es ums nackte Überleben. Bombarde schrie auf. Sein Körper wurde gegen das Geländer des Mittelganges geworfen, die Knie seiner kurzen, säulenartigen Beine knickten ein. Und wieder war Hasard heran. Er packte Bombarde und warf ihn über das Geländer auf die Ruderbänke. Krachend schlug sein Körper dort auf und blieb regungslos liegen. Schweratmend richtete sich der Seewolf auf. Seine Augen funkelten. »Noch jemand?« fragte er. »Will sich noch jemand mit mir das Kommando teilen?« Keiner sagte ein Wort. Auf der ›Tortuga‹ herrschte Totenstille. Dann zogen sich die Komplicen Bombardes zurück. »An die Riemen!« befahl Hasard. »Klar zum Ablegen! Ben, überwache die Manöver, laß das Segel setzen!« Hasards Kampf mit Bombarde hatte ihm bei allen Sträflingen Respekt verschafft. Das hatte es noch nie gegeben, daß Bombarde in einem Kampf besiegt worden war. Einmal hatten die vier stärksten Männer der ›Tortuga‹ zur Erbauung des Capitans gleichzeitig gegen Bombarde kämpfen müssen, aber er hatte sie alle jämmerlich verprügelt und einen von ihnen in
seiner rasenden Wut fast totgeschlagen. Die Männer legten sich in die Riemen, Ben Brighton und Smoky warfen die Leinen los, die Galeere glitt in die seeartige Erweiterung des Seitenarms. Ben Brighton übernahm das Ruder. Der Leutnant, der noch immer auf dem Achterschiff stand, starrte den Seewolf aus großen Augen an. In seinem fahlen Gesicht zuckte es, und ein dünner Hauch kalten Schweißes begann es zu überziehen. Madre de Dios! dachte er verzweifelt. Was waren das nur für Teufel, die das Kommando über sein Schiff übernommen hatten?
Auch das Boot, in dem sich Henry Burton befand, segelte bereits in dem Seitenarm, in dem er den Liegeplatz der Galeere wußte. Der Regen hatte nachgelassen. Neugierig, wie er war, hielt es ihn nicht mehr in der Kammer, zumal das Wasser, in dem sie sich jetzt bewegten, kaum mehr Wellengang aufwies. Er langte nach seinem Umhang und trat an Deck. Im nächsten Augenblick stutzte er, da kam ihnen ja bereits eine Galeere entgegen! Sofort eilte er nach achtern, wo der Corporal neben dem Rudergänger stand und die Arbeit seiner Leute überwachte. Er empfing Burton mit einem unfreundlichen Blick. »Was ist das für ein Schiff?« fragte Burton barsch. »Ist das etwa die ›Tortuga‹?« Der Spanier starrte Burton an. Dieser Mann mußte verrückt sein! Kannte er denn nicht die schnellen Kommando-Galeeren, die nicht mit Sträflingen, sondern mit Seesoldaten besetzt und nur dazu da waren, eilige Orders zu überbringen? Was für einen Kerl hatte man ihm und seinen Leuten eigentlich zugeteilt? Hatte dieser Mann sie nicht vorhin alle »spanische
Affen« genannt? War dieser Kerl überhaupt ein Spanier? Er schüttelte verächtlich den Kopf und erklärte Burton den Sachverhalt. »Anrufen das Schiff!« bellte Burton zurück. »Ich will wissen, ob die ›Tortuga‹ wirklich noch an ihrem Liegeplatz ist!« Der Spanier gab einige Befehle, und das Boot änderte leicht seinen Kurs. Es segelte auf die kleine zehnriemige Galeere zu. Dann wollte er den Kommandanten anrufen, aber Burton kam ihm zuvor. »Ist die ›Tortuga‹ noch da?« brüllte er und hatte dabei die Hände zum Trichter geformt. Der spanische Offizier sah das Boot, Burton und die Seesoldaten einen Moment an. »Sie liegt noch am Steg, aber sie wird jeden Moment die Leinen loswerfen!« rief er. »Wenn Sie sich beeilen, erwischen Sie sie vielleicht noch!« Burton dankte lässig mit einer Handbewegung. Dann stiefelte er wortlos in seine Kammer zurück und verschwand unter Deck. Ihm war eingefallen, daß er den Lederbeutel mit seinen Vollmachten noch dort liegen hatte. Er wußte, daß er sie auf der ›Tortuga‹ brauchen würde. Er ahnte sowieso, daß ihm da noch erhebliche Schwierigkeiten seitens des Kommandanten bevorstehen würden, wenn er ihm eröffnete, daß er die gefangenen Engländer mit nach Sevilla nehmen müsse. Besser war also, sich mit den Dokumenten den nötigen Nachdruck zu verschaffen. Er trödelte ganz in Gedanken versunken noch ein wenig in der Kammer herum, aber dann stieg er wieder an Deck. Dort allerdings erwartete ihn eine fast tödliche Überraschung, die ihn beinahe einen Schlaganfall erleiden ließ.
9.
Dan hatte sich auf der Bugplattform postiert. Neben ihm stand Ferris Tucker, genau wie er als spanischer Seesoldat verkleidet. Allerdings, während sich für den schlanken Dan leicht eine passende Ausrüstung gefunden hatte, war das bei dem hünenhaften Schiffszimmermann nicht so einfach gewesen. Er glich weit eher einer Vogelscheuche als einem Seesoldaten. Das Lederwams ging nicht zu, der Helm paßte nicht auf seinen gewaltigen Schädel, die Hosen waren zu kurz und zu eng. Unbehaglich bewegte er die Schultern und stieß eine Verwünschung nach der anderen aus. Dan saß mit gekreuzten Beinen ganz vorn am Bug und grinste. Wenn er nur daran dachte, daß sie in ein paar Stunden den Dons wieder eine Galeone abstauben würden, dann hätte er vor Freude tanzen können. Die Ruderer legten sich mächtig ins Zeug. Von Bombarde war nichts zu sehen und zu hören. Der hatte bestimmt die Nase fürs erste voll, denn wo der Seewolf einmal hinlangte, da wuchs kein Gras mehr! Dan erlebte das nicht zum erstenmal. Die Galeere schoß um die Biegung, und an diesem Morgen hätte niemand davon reden können, daß sie über das Wasser kroch. Dan peilte nach vorn, er fieberte dem Moment entgegen, in dem sie die offene Reede erreichten und er die ›San Mateo‹ sehen konnte. Dan rieb sich vor Vergnügen die Hände. Ferris Tucker, der das sah, konnte sich ebenfalls ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. »Wenn unser Seewolf auch nur in der Gegend ist, schon geht es wieder rund, was Dan?« sagte er und klopfte dem Bürschchen auf die Schulter. »Schade, daß ich meine Axt nicht bei mir habe, sie mag diese Hohlköpfe von Dons ganz besonders gern. Nun, es wird mir auch so ein Vergnügen sein. Ein Belegnagel ist schließlich auch eine gute Sache, wenn man mit ihm umzugehen weiß!«
Dan wollte ihm eine Antwort geben, aber ihm blieb das Wort im Hals stecken. Aus der Biegung schoß ihnen ein Segelboot entgegen. Eine Schaluppe, so jedenfalls hätte Dan es in England genannt. Spanisch konnte er nicht, und es war ihm auch piepegal, was für hochtrabende Namen die Dons für so einen Kahn haben mochten. Etwas ganz anderes fesselte seine Blicke. Er sah zuerst die Gruppe von Seesoldaten. Dann, daß sie stutzten und der ›Tortuga‹ gleich darauf unmißverständliche Zeichen gaben. Wieder Blitz war Dan aufgesprungen. »Hasard! Da ist ein Boot - mit Soldaten an Bord. Es segelt genau auf uns zu und fordert uns zum Stoppen auf!« Der Seewolf hörte Dans durchdringende helle Stimme bis zum Achterdeck hinüber. Er blickte Ben und Pete Ballie an, die zusammen das Ruder bedienten. »He, Ben, da stimmt etwas nicht!« stieß er hervor. »Sind wir etwa verpfiffen worden? Oder haben die Kerle von der Kommando-Galeere doch Verdacht geschöpft und bauen uns jetzt eine Falle?« Er hastete nach vorn. Aber dort hatte sich inzwischen längst etwas Neues, viel Bestürzenderes ereignet. Dan und Ferris Tucker starrten den Mann, der eben an Deck erschien, mit offenem Munde an. »Bei allen Klabautermännern der Meere«, knurrte Ferris Tucker und glich in diesem Moment einem gereizten Walroß, »wenn das nicht dieser beschissene Burton ist!« »Er ist es, Ferris, dieser Bastard wagt es tatsächlich, noch einmal unseren Kurs zu kreuzen!« Dan trampelte vor Wut von einem Bein aufs andere. In diesem Moment tauchte der Seewolf neben ihm und Ferris auf. Ferris informierte ihn mit vor Zorn fast versagender Stimme. »Hasard, weißt du, was dieser Mistkerl uns angetan hat?
Weißt du, daß dieses Miststück mich, Ferris Tucker, blutig geprügelt hat. Mit einer Peitsche, als ich gefesselt war? Und die anderen auch?« Hasard nickte nur, während er aus schmalen Augen auf das Boot blickte, das ihnen entgegensegelte und auf dem die Seesoldaten immer noch das Zeichen zum sofortigen Stoppen gaben. Aber dann mußte Burton sie auch erkannt haben. Wie vom Teufel besessen stürzte er aufs Vorschiff und schüttelte die Fäuste. »Killigrew!« schrie er außer sich vor Wut und Angst. »Wie kommst du Hurensohn auf die ›Tortuga‹? Wieso hat man dich nicht in Ketten gelegt, dich und deine Komplicen?« Ein jäher Schwindel erfaßte Burton, und er taumelte zur Seite. Einer der Soldaten fing ihn auf, aber das bekam ihm schlecht. Burton stieß den Überraschten zur Seite, entriß ihm die Muskete, legte an und feuerte. Das alles geschah blitzartig. Weder Hasard noch Dan noch Ferris Tucker hatten damit gerechnet. Jede Reaktion erfolgte zu spät. Die Kugel traf. Sie durchschlug den viel zu kleinen Helm Tuckers und fegte ihn dem Hünen vom Kopf. Tucker stieß einen Wutschrei aus, und auch der Seewolf sah plötzlich rot, zumal jetzt auch noch die Seesoldaten ihre Musketen anlegten und zu feuern begannen. Ben Brightons Stimme röhrte über Deck. »Was gibt es, Hasard, was ...« »Ben!« Die Stimme Hasards dröhnte über die Galeere, »Ruder backbord, recht so, steht!« kommandierte er, während ihn die Kugeln umschwirrten. Die Galeere schwang herum. »Pullt, Männer, pullt um euer Leben!« brüllte Ferris Tucker, und seine gewaltige Stimme durchdrang mühelos alles andere. Die Manner im Ruderdeck wußten nicht, was gespielt wurde,
aber sie hatten die Schüsse gehört, und so legten sie noch einen Schlag zu. Die Seesoldaten erkannten die drohende Gefahr schneller als Burton. Sie sahen, wie der Bug der Galeere mit dem Schildkrötenkopf und dem Rammsporn plötzlich auf ihr Boot zuschwenkte. Verzweifelt versuchte ihr Ruderganger, dem drohenden Rammstoß zu entgehen, indem er das Ruder hart herumriß, aber die Galeere schoß mit schäumender Bugwelle auf sie zu. Der Corporal brüllte mit sich überschlagender Stimme einen Befehl, die Seesoldaten ließen ihre Musketen fallen und sprangen über Bord. Burton sah das alles mit weitaufgerissenen Augen. Er starrte auf die weißgischtende Bugwelle der ›Tortuga‹ und fragte sich verzweifelt, wieso sich der verhaßte Seewolf auf diesem Schiff befand, wieso er dort das Kommando führte, und registrierte voller Entsetzen, wie die Seesoldaten über Bord sprangen. Henry Isaac Burton ballte die Hände. Und in diesem Moment war es nicht die Angst, die ihn paralysierte, sondern die Wut, die jähe Erkenntnis, wieder einmal gegen den Seewolf verloren zu haben. Dann war die Galeere heran. Ihr Rammsporn erfaßte das Boot und durchbohrte es mit furchtbarer Gewalt. Der Bootskörper zersplitterte, wurde emporgerissen, Mast und Takelage stürzten in sich zusammen. Burton sah das verhaßte Gesicht des Seewolfs hoch über sich, das Eisblau seiner Augen, die schwarzen, im Wind flatternden Haare, dann katapultierte ihn irgendeine Gigantenfaust davon. Er schrie immer noch, als er auf die Wasseroberfläche klatschte, als ihn das kalte, dunkle Wasser des Seitenarms in schäumender, hochaufspritzender Gischt begrub. Etwas Dunkles glitt an ihm vorbei, streifte ihn, wirbelte seinen Körper wieder an die Oberfläche. Trümmer umgaben ihn; an irgendeinem Balken oder an einer Planke, Burton vermochte
das nicht zu unterscheiden, klammerte er sich fest. Irgendwann, während er vor Schmerzen, die seinen ganzen Körper erfüllten, stöhnte, zogen ihn harte Fäuste an Land. Dann verlor Burton das Bewußtsein, und er erlangte es auch für die nächsten Stunden nicht wieder. Aber dem Tod, dem drohenden nassen Grab, war er noch einmal entgangen ...
Die ›Tortuga‹ streifte die letzten Bootstrümmer ab, noch bevor sie das offene Wasser der Reede erreichte. Und wo sich die Trümmer nicht von selber lösten, da halfen Ferris Tucker, Dan und Smoky nach. »Diese Kanaille ist hinüber!« stieß Dan befriedigt hervor. »Ich wette, Ferris, daß er sich vorher wieder in die Hose geschissen hat, genau wie damals an der Dungarvanbai. Der Kerl treibt jetzt irgendwo als stinkende Leiche im Wasser. Hoffentlich finden die Dons ihn und ziehen ihn heraus. Dann wissen sie wenigstens gleich, was für Bundesgenossen sie sich da angelacht haben!« Der Seewolf, der immer noch vorn am Bug der ›Tortuga‹ stand, stimmte nicht in das röhrende Lachen der anderen ein. Er stellte sich immer wieder die Frage, warum dieser Burton ausgerechnet in diesem Moment mit einem Kommando von Seesoldaten aufgetaucht war und wieso die Seesoldaten versucht hatten, die ›Tortuga‹ zu stoppen. Er fand auf diese Frage keine befriedigende Antwort, aber irgend etwas ging da vor. Schließlich drehte er sich achselzuckend um. »Paßt mir auf diesen Bombarde auf«, sagte er, bevor er wieder über den Mittelgang nach achtern ging. Dabei warf er gleichzeitig einen Blick auf die Ruderer unter sich. Denn vom Laufgang aus vermochte er fast das ganze Ruderdeck zu
übersehen. Aber dort war alles ruhig. Die Männer arbeiteten wie besessen. Die ›Tortuga‹ gewann das offene Wasser der Flußmündung. Der Seewolf drehte sich kurz um. Sein Blick suchte die ›San Mateo‹, und er fand sie sofort. Er schätzte die Entfernung, sie würden nicht mehr lange brauchen. »Männer«, sagte er, »wir nähern uns der ›San Mateo‹. Sobald wir längsseits sind, entern wir. Alles muß blitzschnell gehen, die Besatzung der ›San Mateo‹ darf gar nicht erst zur Besinnung kommen. Wir treiben sie aufs Vorschiff und sperren sie dort ein. Wir dürfen uns auf keine langen Gefechte einlassen, denn wir müssen so schnell wie möglich ankerauf gehen und Segel setzen. Habt ihr das alle kapiert?« Zustimmendes Gebrüll antwortete ihm. Jeder hatte neben sich auf der Ruderbank eine Waffe liegen. Ein Messer, einen Enterhaken, ein Beil oder auch einen Belegnagel. Nur die Feuerwaffen hatten Hasard und seine Crew mit Beschlag belegt. Ein Schuß, aus dem Hinterhalt abgefeuert, war auch für den reaktionsschnellsten Mann immer eine tödliche Gefahr. Hasard trat auf den Leutnant zu. »Sie und Ihre Leute haben es bald geschafft. Ich lasse Sie an Bord der Galeere zurück. Aber Sie werden schwimmen müssen, denn die Galeere wird gesprengt. Ich empfehle Ihnen daher, sich schon jetzt mit diesem Gedanken vertraut zu machen. Zweifellos wird man Ihnen in kürzester Zeit zu Hilfe eilen. Mehr kann ich für Sie nicht tun, Senor.« Der Seewolf sah ihn eine Zeitlang an. »Sie leben nur deshalb noch, weil ich von Dan O’Flynn inzwischen erfahren habe, daß Sie sich teilweise sogar den unmenschlichen Quälereien Ihres Capitans widersetzt haben. Daß Sie sogar versucht haben, verhängte Strafen zu mildern. Wäre das nicht so, ich hätte Sie niedergemacht wie einen tollen Hund. So aber haben Sie meinen Respekt, Senor.«
Hasard wandte sich ab. Der Leutnant stand wie versteinert. Er blickte zur ›San Mateo‹ hinüber, und er wußte, daß es für ihn nach menschlichem Ermessen keine Rettung mehr gab. Denn die spanische Krone würde herausfinden, daß er sich nicht auf Tod und Leben gegen die Engländer und ihre Pläne zur Wehr gesetzt hatte. Der Leutnant wußte nur zu gut, wie anders sich eine Sache vom grünen Tisch aus darstellte, als sie in Wirklichkeit war.
10. Eine schwere Windbö fegte über das Wasser, als die ›Tortuga‹ an die ›San Mateo‹ heranglitt. Vom Deck der Galeone aus starrten einige Männer neugierig auf die Galeere hinunter. Sonst zeigte sich noch kein Mensch an Deck, es war, als schliefe die Besatzung noch. Viel später erst erfuhren Hasard und seine Männer, daß ein Teil der Besatzung Landurlaub hatte und sich noch in San Lucar oder gar in Sevilla herumtrieb. Der Wind drückte die Galeere gegen den Rumpf der ›San Mateo‹. Keinem fiel auf, daß sie nicht wie sonst festmachte. Aber dann brach es wie die wilde Jagd aus der ›Tortuga‹ hervor. Die Rudersklaven enterten wie die Affen an den herabhängenden Jakobsleitern hoch, Hasard und seine Männer ebenfalls. Der Seewolf stürmte auf das Achterdeck der Galeone zu. Neben sich Ferris Tucker, der ein geradezu furchterregendes Gebrüll ausstieß und seinen Belegnagel schwang. Hasard hatte sein Entermesser gezogen. Zusammen mit Ben Brighton, Ferris Tucker, Matt Davies und Dan drang er ins Achterkastell der ›San Mateo‹ ein. Durch den Lärm aufgeschreckt, torkelte ihnen der Kommandant der Galeone entgegen, keineswegs nüchtern, wie Hasard grinsend
feststellte. Und das vereinfachte die Sache ganz erheblich. Ben Brighton gab ihm eins über den Schädel, dann kämmten sie die große Kajüte im Achterkastell durch. Einige völlig verstörte und verschreckte rundliche Herren mit weißen Perücken auf den Köpfen starrten sie an. Sie wurden von Dan, Ferris, Ben Brighton und Matt Davies auf die gleiche Weise bedient und an Deck geschleppt. »Ferris, kümmere dich jetzt um die Galeere, wir kommen hier schon klar!« befahl der Seewolf und stürzte sich auf dem Hauptdeck ins Kampfgetümmel. Ferris Tucker, der an Bord der Galeere noch Batuti, den Kutscher und Al Conroy zurückgelassen hatte, um zu verhindern, daß die Spanier im letzten Moment doch noch irgendwie quer-schossen, lief zum Schanzkleid und beugte sich drüber. »Batuti, steck die Lunte an, und dann sorg dafür, daß die ›Tortuga‹ auf die Reise geht, kapiert?« Der herkulische Schwarze, der nur mit Mühe dazu zu bewegen gewesen war, auf der Galeere zurückzubleiben, grinste und zeigte dabei seine prächtigen weißen Zähne. »Batuti Dons ersäufen - sofort!« Er drehte sich um, packte den Leutnant mit einem blitzschnellen Griff und schleuderte ihn über Bord. »Husch, Senor, schwimmen jetzt, und Batuti nie wieder prügeln!« Der Leutnant klatschte ins Wasser, gleich darauf erging es seinen paar Leuten ebenso. Al Conroy, obwohl noch ziemlich mitgenommen, packte ebenfalls zu. Selbst der Kutscher warf einen der Spanier voller Grimm über die Reling. Dann sauste Batuti ins Achterschiff der Galeere, während Al Conroy und der Kutscher das Segel gemeinsam anbraßten, so daß der Wind die Galeere von der Galeone abtrieb. Als Batuti wieder an Deck erschien, hatte die ›Tortuga‹ sich schon ein ganzes Stück von der ›San Mateo‹ entfernt. »Springen!« schrie der Schwarze und warf sich ins Wasser.
Als er wieder auftrauchte, packte er den Kutscher und zog ihn mit sich hinüber zur ›San Mateo‹. Al Conroy schaffte es allein, dann wurden sie auch schon an Bord gezogen. Auf der ›San Mateo‹ war der Kampf bereits vorüber. Nur noch ein kleines Häuflein von Spaniern wehrte sich verzweifelt auf der Back. Batuti sah das und stürzte sich mitten hinein in das Knäuel der Kämpfenden. Hasard hatte indessen andere Sorgen. Er jagte jeden Mann, den er kriegen konnte, in die Takelage. »Ferris!« rief er, »schaff endlich Ruhe auf der Back, damit wir den Anker kappen können! Beeil dich, sonst sind die Segel noch eher gesetzt, und dann wird’s haarig!« In diesem Moment dröhnte eine dumpfe Explosion über die Reede. Auf der ›Tortuga‹ wuchs ein Feuerball hoch. Die Stichflamme, die gleich darauf aus dem Heck der Galeere hervorbrach, blendete die Männer fast. Dann zerplatzte das Heck der ›Tortuga‹ in einer neuen, weithin über das Wasser hallenden Detonation. Die ›Tortuga‹ schien einen Augenblick in den immer noch hochgehenden Wogen zu taumeln, dann sackte sie plötzlich über den Achtersteven weg. Langsam, fast widerstrebend, zog sie das rotweiß gestreifte Segel mit sich in die Tiefe. »Arwenack!« Dan hing in den Wanten und schrie den alten Schlachtruf der ›Isabella‹-Crew in den heulenden Wind. Andere fielen ein - und plötzlich erdröhnte das ganze Schiff unter dem donnernden Ruf. Was die Waffen, die Messer, Belegnägel, Enterhaken und Beile nicht vermocht hatten - der Schlachtruf »Arwenack!« schaffte es. Die Spanier auf der Back, gegen deren Tapferkeit und Kampfgeist auch der herkulische Batuti nichts hatte ausrichten können, ließen die Degen sinken. Wie die anderen wurden sie entwaffnet und in die Räume unter der Back gesperrt.
Ferris Tucker und Batuti kappten gleich darauf die Ankertrosse. Mit wuchtigen Beilhieben durchtrennten sie die dicke Trosse. Und als sie knallend brach, war ihnen, als würde der Bug der Galeone fast aus dem Wasser schnellen. Die ›San Mateo‹ nahm Fahrt auf. Hasard ließ an Segeln setzen, was das Schiff vertrug. Vor den Augen der völlig verwirrten Spanier, die am Hafen von San Lucar wie aufgescheuchte Hühner herumrannten, rauschte die ›San Mateo‹ unter dem Kommando des Seewolfs mit vollen Segeln in den offenen Atlantik hinaus. Eine gute Stunde später, sie befanden sich weit vor Spaniens Küste, die nur noch als dunkle Silhouette zu sehen war, zogen sie Bilanz. Dreiundzwanzig Mann und der Kapitän der ›San Mateo‹ hatten das Entern der Galeone überlebt. Die Toten hatte man auf dem Hauptdeck nebeneinandergelegt. Hin und wieder wurden ihre Körper von überkommendem Wasser überspült. »Wir werden sie so schnell wie möglich über Bord geben«, sagte Hasard, als Dan O’Flynn völlig außer Atem auf das Achterkastell stürmte. Vor dem Seewolf blieb er stehen und rang nach Luft. Dan setzte ein paarmal zum Sprechen an, aber er brachte einfach kein Wort heraus. Hasard schwante Böses, denn so leicht war Dan nicht aus der Fassung zu bringen. Wortlos reichte Ben Brighton ihm eine Whiskyflasche, die inzwischen auf dem Achterdeck die Runde gemacht hatte. Dan nahm einen kräftigen Schluck, und allmählich beruhigte er sich wieder. »Also, Dan, was ist?« fragte der Seewolf und hatte ein flaues Gefühl in der Magengrube. Hatte die San Mateo etwa ein Leck, das Ferris Tucker, der in diesem Moment das ganze Schiff durchkämmte, gefunden hatte? Oder war irgendwo ein Brand ausgebrochen - bei diesem Gedanken sträubten sich Hasard schon fast die Haare. Aber da grinste das Bürschchen plötzlich.
»Weißt du, was wir geladen haben?« fragte er und hatte glitzernde Augen. »Na?« »Silberbarren, Sir. Lauter Silberbarren. Genau wie damals auf der ›Isabella‹ - nur viel mehr!« Der Seewolf klappte den Mund auf und starrte das Bürschchen entgeistert an, dann blickte er zu Ben Brighton hinüber. Und der zog ein ähnlich dummes Gesicht. Denn von Silberbarren und allem, was damit zusammenhing, hatten sie alle die Schnauze eigentlich restlos voll ...
ENDE
Teufel an Bord von William Garnett
Die 36 Sträflinge können es nicht glauben: sie sind endlich frei! Doch schon naht ein neues Unheil. Der Teufel an Bord heißt Bombarde, und er erobert sich brutal die Gewalt über die ›San Mateo‹. Philip Hasard Killigrew und seine treuen Männer müssen klein beigeben. Bevor es zu der entscheidenden Auseinandersetzung kommt, müssen die Männer der ›San Mateo‹ ihren Machtkampf vergessen. Am Horizont tauchen zwei Galeeren auf, und ihre kriegerische Absicht ist unverkennbar. Bombarde sieht seine Chance. Er verlangt Waffen für seine Rabauken, und er weiß, daß nur der Seewolf sie ihm geben kann ...