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Von der Serie MAGIC. Die Zusammenkunft™ erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: 1. Band: William R. Forstchen, Die Arena • 06/6601 2. Band: Clayton Emery, Flüsterwald • 06/6602 3. Band: Clayton Emery, Zerschlagene Ketten •06/6603 4. Band: Clayton Emery, Die letzte Opferung • 06/6604 (in Vorb.) 5. Band: Ten McLaren, Das verwunschene Land • 06/6605 (in Vorb.) 6. Band: Kathy Ice (Hrsg.), Der Gobelin • 06/6606 (in Vorb.) Weitere Bände in Vorbereitung
CLAYTON EMERY
Zerschlagene Ketten DRITTER BAND
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/6603
Titel der Originalausgabe MAGIC THE GATHERING™ SHATTERED CHAINS Übersetzung aus dem Amerikanischen von Anja Jacke und Armin Abele Das Umschlagbild malte Steve Crisp
Redaktion: Irene Bonhorst Copyright © 1995 by Wizard of the Coast, Inc. Erstausgabe bei HarperPaperbacks A Division of HarperCollinsPublishers, New York Copyright © 1996 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1996 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-453-09523-5
Es war der junge Stiggur auf dem Rücken seines mechanischen Untiers, der als erster die Gefahr erkannte. »Gull! Da, im Norden! Es ist ein... ein... Ich weiß nicht, was es ist!« Alle im Lager schauten auf. Es waren Dutzende von Leuten jeglicher Statur, Hautfarbe und Größe, die sich zum Schutz gegen den früh gefallenen Winterschnee in bunte Gewänder eingemummt hatten. Von hier aus konnten sie nichts sehen außer immergrünen Nadelbäumen, die sich über ihren Köpfen scheinbar bis ins Unendliche erstreckten. Gull, der Holzfäller, ließ sein Abendessen auf den schneebedeckten Boden fallen, stürmte quer durch das Lager und hechtete nach der Strickleiter, die an der Seite des mechanischen Monsters herabbaumelte. Der General dieses zusammengewürfelten Haufens hatte als Holzfäller angefangen und sah auch so aus: Er war groß und von dem ständigen Leben im Freien braungebrannt. Sein langes braunes Haar wurde im Nacken von einem Lederband lose zusammengehalten. Über einem wollenen Hemd trug er eine stark zerkratzte lederne Tunika, dazu einen ledernen Kilt, enganliegende rote Beinkleider und robuste kniehohe Stiefel. Sein Atem gefror, als er die Leiter hinaufkletterte. Das mechanische Untier war eine Konstruktion, die einem riesigen Pferd aus Holz und Eisenplatten mit mühlwerkähnlichen Eingeweiden glich: surrende hölzerne Getriebe, lederne Riemen, Flaschenzüge und Hebel. Noch immer hatte man nicht herausgefunden, ob die mechanische Kreatur lebendig war oder nicht. Man 5
wußte nur, daß sie die ganze Zeit lief, dabei wie ein Bienenstock summte und sich mit Hilfe von Hebeln steuern ließ, die aus ihrem Eichenholz-Schädel herausragten. Der Besitzer - oder Meister oder Freund - des Untiers war ein Waisenjunge namens Stiggur, dessen Name >Gatter< bedeutete, denn an einem solchen war er gefunden worden. Er war ein magerer Bursche von etwa dreizehn Jahren, der wie ein Würstchen in einer Pelle aus Leder und Wolle steckte, ganz nach der Art seines Helden - Gull. Dieser erklomm gerade das wacklige >SattelnestSpießgespannroten< Weibel - so genannt wegen ihres buschigen Federschmucks - Tomas, Neith und Varrius hatten ihre Truppen in ungeordneten Reihen gesammelt. Einige nahmen Haltung an, als Gull heranschlurfte, andere hantierten an ihren Rüstungen herum oder würgten die letzten Bissen ihrer unterbrochenen Mahlzeit hinunter. Der große, kahlköpfige, tiefgebräunte Tomas brüllte unter seinem schwarzen Bart: »Was sind Eure Befehle, General?« Gull winkte unbestimmt mit seiner riesigen Doppelaxt. In Zeiten wie diesen hätte er wirklich lieber Holz gefällt. »Tom, nimm deine Männer und Frauen und stelle sie ungefähr... äh... zweihundert Schritt weiter im Nordosten in einer Linie auf. Var, tu das gleiche im 14
Nordwesten. Wir müssen das Lager verteidigen. Neith, führ deine Leute nach hinten und laß sie ausschwärmen, um uns Rückendeckung zu geben. Wenn ihr von der Hauptmacht angegriffen werdet, zieht euch zum Lager zurück. Ansonsten haltet sie vom Zentrum fern. Und haltet die Köpfe unten, wenn diese Sturmwolke heranfegt. Verstanden?« Selbstverständlich hatten sie es verstanden, doch sie hatten trotzdem noch Dutzende von Fragen, aber die Disziplin verbot es ihnen, diese Fragen zu stellen. In bester militärischer Manier würden sie sich >durchwurstelnseine< Soldaten, ein Kopf hier, ein Hut dort, aufgestellt in einer unregelmäßigen gekrümmten Linie. Aber wo steckte der Feind... Dann sah er ihn! Dunkel war er, dunkler noch als Tomas, beinahe schwarzhäutig, und sein Gesicht zierte ein schwarzer Bart. Ein wollenes Gewand, leuchtendblau wie der Abendhimmel, umhüllte die gesamte Gestalt des Mannes, selbst der Kopf war mit einem Tuch umwickelt. Einen >TurbanArbeit< 49
und sich selbst - und schlug sie so hart unter das Kinn, daß ihr Kiefer brach. Verflucht sei alle Zauberei, dachte er, und dieses unnötige Sterben! Diese Leute waren in die Schlacht gezwungen worden, und als Sklaven der Magie blieb ihnen nichts anderes übrig, als für die Eitelkeit eines Zauberers bis zum Tod zu kämpfen! Das Beste an unserer Sache, philosophierte der Holzfäller, ist die Tatsache, daß jeder Soldat, der jetzt und hier für meine und Greensleeves Armee kämpft und stirbt, ein Freiwilliger ist - keiner ist zum Dienst gezwungen worden. Überall um ihn herum heulten, kreischten, weinten und starben Kriegerinnen und Krieger. Zweikämpfe tobten an jedem Ort des dreckigen Lagers, und die Verteidiger - Gulls Leute - zogen sich nicht zurück, sondern hielten stand. Wie es seiner Schwester mit ihren Wölfen erging, konnte er nicht sehen, da bei ihrem Zelt ein heilloses Durcheinander herrschte. Gull überlegte gerade, wie er den ungleichen Kampf wenden und die Wüstenunholde verjagen konnte, als Helki mit donnernden Hufen auf die Lichtung galoppierte. »Gull!« schrie die Zentaurin. »Kavallerie im Anmarsch! Zweimal zehn oder mehr!« Die Dinge überstürzten sich so schnell, daß Greensleeves ihnen nicht folgen konnte. Karlis zwei Wächter sprangen vor, als sie die Wölfe sahen, und stellten sich sofort - aus Loyalität oder unter Zwang - schützend vor ihre Herrin. Ein Mann schlug instinktiv nach dem Anführer des Rudels, ein riesiges schwarzes Tier mit zottigen Haaren, und ritzte dem zurückweichenden Wolf die Nase auf. Die großen Tiere griffen normalerweise nicht von sich aus an, aber sie waren verwirrt und in Panik, so daß sie markerschütternd bellten und knurrten. Der große Wolf sprang los, um sein Rudel zu verteidigen, und sofort stürzten sich vier weitere auf den Mann. Als sie knur50
rend zubissen und das Fleisch vom Knochen rissen, schlug der andere Wächter nach den Tieren, brachte sich so aber nur selbst in Erinnerung. Karli, die Zauberin, beachtete das Gemetzel gar nicht, dem ihre Wächter zum Opfer fielen, sondern umklammerte mit zierlicher brauner Hand ein Medaillon an der Hüfte. Sie bellte ein Wort, und Feuer loderte unter ihren Füßen auf, als wäre sie eine Hexe, die auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Die Flammen flackerten ihr bis zur Hüfte hinauf, und die Hitze bewegte die gelben Federn ihres Gewandes, doch Karli schenkte alledem keine Beachtung. Greensleeves und Lily fühlten die Hitze, und der Geruch des brennenden Harzes der Zedernzweige und der heißen staubigen Zeltplane stieg ihnen in die Nase. Die ungeduldige, temperamentvolle Zauberin, die ihrer Sprache nicht mächtig war, stach sich mit den Fingern in die Handfläche und verlegte sich auf eine gebieterische Zeichensprache. Zuerst deutete sie eine runde Form an, dann ein Gehen, und schließlich wackelte sie mit den Händen wie ein Oktopus mit seinen Tentakeln. Ernstlich verwirrt, bemühte sich Greensleeves, etwas zu verstehen. Fast ihr ganzes bisheriges Leben lang war sie schwachsinnig gewesen, und tausend unzusammenhängende Gedankenfetzen hatten stets in ihrem Kopf gewirbelt, so daß sie immer noch Schwierigkeiten hatte, sich für längere Zeit auf einen einzigen Gedanken zu konzentrieren. Sie beachtete das Knurren, Heulen und Prasseln der Flammen nicht und schüttelte wiederholt den Kopf. »W-was w-willst du?« Greensleeves sah, daß auch Lily verwirrt war, aber ihre Freundin schob sich näher heran, um sich zwischen die Druidin Greensleeves und die mißlaunige Hexe zu schieben. Die glutäugige Magierin schlug sich mit der Faust in die Handfläche, die letzte Aufforderung, das schachtelförmige gehende Ding mit den Tentakeln herauszuge51
ben. Schmollend stach sie mit einem Finger in Lilys Richtung und griff nach einem anderen Medaillon am Saum ihrer Jacke. Lily schluckte und fiel zusammen wie ein geplatzter Ballon. »N-nein!« keuchte Greensleeves. »B-bitte! Ich w-weiß nicht, w-was du w-willst!« Doch die Zauberin war zornig. Die Flammen um ihre Füße prasselten nun so hoch, daß ihr Gesicht durch die Hitzewellen verzerrt erschien. Sie griff nach einem weiteren Medaillon und deutete auf Greensleeves. Greensleeves fühlt sich plötzlich luftig und leicht, als schwebe sie, obwohl sie wußte, daß sie noch auf dem Boden stand. Gebannt beobachtete sie, wie Karli das Versagen ihres Spruches (welches Spruches?) mit einem Stirnrunzeln bestätigte, einen weiteren Knopf ergriff und erneut deutete. Diesmal fühlte Greensleeves einen Stich wie von einem Eiszapfen im Herzen, und aus der Tiefe ihres Geistes drang ein grauenhafter Schrei. Ein überwältigender Drang fortzulaufen überkam sie. Sie wollte nur ihren Dachs aufheben, wegrennen, sich verstecken, sich nötigenfalls selbst in einem Loch begraben - doch irgend etwas hielt sie am Boden fest. Der Spruch traf auch die blutbeschmierten Wölfe, die jaulend zwischen den Zedern das Weite suchten. Zwei von ihnen waren den Hieben der Krummsäbel zum Opfer gefallen, aber auch beide Wächter lagen regungslos am Boden. Lily lag flach auf dem schmutzigen Vorleger des zerstörten Zeltes. Mit ihrem Gesicht, das so weiß wie ihre Kleidung war, und ihren in seltsamen Winkeln verdrehten Gliedmaßen sah sie aus wie eine fallengelassene Puppe. Greensleeves versuchte, sich etwas auszudenken, womit sie zurückschlagen konnte, doch sie war keine Kämpferinnennatur, ihre normale Reaktion wäre es gewesen, fortzulaufen und sich zu verstecken, so wie es ein Tier täte - denn nur Menschen töten einander grund52
los. Aber sie mußte hierbleiben und das Lager und ihr Gefolge verteidigen - wenn sie konnte. Wie sollte sie dieses angriffslustige Ungeheuer bekämpfen, das nach unbekannten Seltsamkeiten gierte? Und wie konnte sie gegen eine Zauberin ankommen, die richtige Sprüche beherrschte, während Greensleeves nur auf blinden Instinkt vertraute? Die flammenumkränzte Karli fauchte wie ein Wüstenadler und berührte ein Paar goldener Knöpfe in den Ecken ihrer Jacke. Diesmal war es gelber Rauch, der offenbar aus einer Spalte im Boden hervorquoll und in dem zwei riesige häßliche Frauen Form annahmen. Noch größer als ihr Bruder Gull, beeindruckten die Wesen mit rotverbrannter Haut und schwarzem Haar, das zu einem Knäuel aufgebunden war und an die scharfumrissene Form eines Witwenknotens erinnerte. Die sackartigen schweren Brüste waren mit haarigen Warzen bedeckt. Die Gesichter waren nicht menschlich: niedrige Stirnen, Nasen, lang wie die von Jagdhunden, und dicke Lippen, die wegen der riesigen, kinnlangen, säbelförmigen Fangzähne vorstanden. Sie trugen die grotesken Karikaturen gelber und grüner Tänzerinnenkleider und protzten mit quastengeschmückten Ohrringen, die groß wie Fuchsschwänze an ihren Pferdeohren hingen. Oger, dachte Greensleeves, oder Ogerinnen - Riesinnen, die für ihre Grausamkeit berüchtigt waren! Karli gab Befehle, und die Ogerinnen polterten vorwärts, um mit ihren warzigen roten Händen nach der jungen Frau zu greifen. Sie werden mir die Arme brechen, wenn sie mich in die Finger bekommen, dachte Greensleeves voller Angst. Sie werden mir das Leben aus dem Leib prügeln, bis Karli das bekommt, was sie haben will. Hilfe, dachte das Mädchen, ich brauche Hilfe! Doch sie war nur eine Naturzauberin, die, ungeübt, wie sie war, nur Wesen und Dinge beschwören konnte, die sie 53
früher einmal berührt hatte, ohne die Möglichkeit, diese auch zu beherrschen. Die Ogerinnen erhoben die furchterregenden Pranken wie Fleischerhaken - und Greensleeves wedelte wie wahnsinnig mit den Händen, so als wolle sie sie fortscheuchen. Dann wurde der dreckige Vorleger unter ihr und um sie herum an mehreren Stellen durchbohrt - von unten! Gull zählte seine geschwächten Truppen und versuchte dadurch, zu einer Lösung zu kommen, wie er die anreitende Kavallerie zurückweisen konnte, als Holleb, der männliche rothaarige Zentaur in ziselierter, bemalter Rüstung - die nun mit Blut bespritzt war - wie von einem Katapult geschossen auf die Lichtung brach. Er trug eine gefiederte Lanze, die länger als sein Pferdekörper und bis zum Griff mit Blut beschmiert war. Er schrie Helki etwas zu, woraufhin diese herumfuhr und auf ihn zugaloppierte, doch sofort wieder kehrtmachte, als sie seine Worte verstand. Das ist nicht gut, dachte Gull. Holleb hatte die Kavallerie im Osten verfolgt. Da er jetzt aber hier war, bedeutete das... »Tomas!«, brüllte Gull. »Laß im Karree antreten! Wir müssen sofort...« Mit dem infernalischen Geheul eines Sandsturms donnerten blaugewandete Kavalleristen auf die Lichtung. Überall um Greensleeves herum schossen unter grünbraunem Kräuseln weiße Steinsäulen auf, spitz wie Schwerter. Einige waren kaum größer als eine Stricknadel, andere schulterhoch. Es waren Stalagmiten aus einer fernen Höhle, einem Ort, den Greensleeves nie gesehen hatte. Die wie Angelhaken scharfen Stalagmiten bildeten einen Wall aus Schwertern um die junge Zauberin. Sie brachen durch den Boden, rissen Löcher in den dreckigen Vorleger und ließen nur eine zwei Schritt 54
durchmessende >Lichtung< innerhalb der vier Schritt dicken Mauern übrig. Die Magierin mußte ihren kratzenden Dachs absetzen und Lilys Hand packen, um sie in den Kreis zu ziehen, damit sie nicht von unten aufgespießt wurde. Sie rümpfte die Nase, und ihre Augen tränten von dem Gestank nach Ammoniak, denn der beschworene Höhlenboden war fingerdick mit Fledermausdung und sich windenden schwarzen Insekten bedeckt. Doch falls Greensleeves gehofft hatte, damit die Ogerinnen aufhalten zu können, so hatte sie sich getäuscht. Nur einen Augenblick lang wurden die blutgierigen Monster durch das rasche Erscheinen der tödlichen Speere aufgehalten und wichen zurück, doch dann walzten sie wie wildgewordene Stiere vorwärts. Die Steinbarrikade zerbarst knirschend unter der Wucht ihres Ansturms, und Greensleeves zuckte zusammen, als kleine Steintrümmer ihr Gesicht trafen. Die Ogerinnen kreischten, als sie sich die warzigen bloßen Füße an den scharfen Steinstümpfen aufrissen. Aber hartnäckig kämpften sie sich weiter nach vorn. Irgend etwas anderes! dachte Greensleeves. Ich muß etwas anderes beschwören! Aber es war so schwer, sich über all dem Donnern und Brüllen darauf zu konzentrieren, denn weitere Reiter griffen das Lager an. Was konnte sie vor tobenden Ogerinnen retten? Eine geschmeidige gelbbraune Gestalt kam ihr in den Sinn, die schnell wie der Wind rannte und wie eine Bergziege auf Felsklippen herumsprang - mit Zähnen und Klauen. Mit dem Gedanken und dem Wunsch kam die Beschwörung. Ein riesiger Berglöwe materialisierte sich schimmernd und fauchend vor ihren Füßen. Die weißen Schnurrhaare zitterten, als das Tier die Zähne fletschte, und die weichen, runden, schwarzgeränderten Ohren legten sich flach an den Kopf. Mit einem gewaltigen Sprung stieß sich der Puma vom Boden ab, als hätte er Flügel, '55
und griff den Feind vor sich an. Rasiermesserscharfe Klauen zerrissen das Gesicht einer Ogerin, stachen ihr ein Auge aus, schlitzten die lange Nase auf und zerfetzten die sabbernden roten Lippen, Das geblendete Monster heulte wie ein Dämon, als es zur Seite taumelte, auf die scharfen Stalagmiten krachte und sich selbst pfählte. Der Gestank seines heißen Blutes erfüllte die frostige Luft. Doch wie jedes Tier kämpfte der Puma nur, um fliehen zu können, also stieß er sich von dem zu Boden gestürzten Leichnam ab wie von einem Sprungbrett und verschwand zwischen den schützenden Zedern. Noch einmal zuckte der buschige Schwanz, dann war die riesige Katze verschwunden. Die andere Ogerin heulte über die Schande, die man ihrer Schwester angetan hatte, und stürzte vor, um Greensleeves zu zermalmen, während weit hinter ihr Karli wie eine Verrückte Anfeuerungen brüllte. Eine größere Barriere! dachte die Magierin. Ich brauche etwas Festeres! Undeutlich erinnerte sie sich an ein Artefakt, das sie einst weit entfernt in den Domänen auf einer tropischen Insel gesehen hatte: eine Kuriosität, die von irgendwo noch weiter her fallengelassen worden war. Ekelhafter Atem, der nach fauligem Fleisch stank, stieg Greensleeves in die Nase, als die Ogerin die letzten Stalagmiten zerschmetterte. Greensleeves flatterte wild mit den Händen, denn ihr Leben hing von ihrem Handeln ab. Plötzlich flimmerte die Luft wie an einem heißen Sommertag, dann nahm sie Gestalt an, und plötzlich erschien eine uralte, exotische, drei Schritt hohe Lehmstatue. Dutzende von Steinspeeren zerbrachen unter ihrem tonnenschweren Gewicht. Die Statue strahlte noch immer die Wärme der tropischen Sonne ab, in der sie gelegen hatte. Greensleeves wußte nichts über sie - außer daß ihr Bruder sie auf 56
einer Insel, auf der er gefangengehalten worden war, im Dickicht liegend gefunden hatte. Mit ihren überkreuzten Beinen, den im Schoß gefalteten Händen und den geschlossenen mandelförmigen Augen wirkte die Statue wie eine gütige Heilige. Wie bei einer Knopfleiste verliefen Abdrücke und Kratzer entlang ihrer Körpermitte im Lehm. Die matte braune Haut war hart wie Ton, doch sah die Statue biegsam genug aus, als könne sie aufstehen und auf Befehl tanzen. Vermutlich vermochte sie dies auch - wenn man den richtigen Befehl kannte. Welchem Zweck sie auch immer diente, sie gab eine nützliche Barriere ab. Die Ogerin röhrte vor Zorn, als ihr die Statue den Weg zu Greensleeves versperrte. Sie hämmerte mit schwieligen Fäusten auf das Ding ein und stampfte durch die Steinspeere, um es zu umgehen. Doch Greensleeves errichtete bereits eine Mauer aus Holz - aus Ästen, Wurzeln und Baumstümpfen, die alle seltsam ineinander verschlungen und selbst für ein Kaninchen undurchdringbar waren. Sie hatte sie aus den Tiefen ihrer Heimat, dem Flüsterwald, herbeibeschworen. Selbst die schwere Lehmstatue wurde von den Bäumen erschüttert, die sich unter ihrem Körper hervorwanden. Wild gestikulierend zog Greensleeves die Mauer um sie herum immer höher - drei Schritt, vier Schritt -, bis sie von düsterem Zwielicht umfangen wurde. Als sie hörte, wie die Ogerin tobend gegen die Mauer anrannte, fühlte sie sich sicher in ihrem kleinen geschützten Kreis. Zumindest so lange, bis sie sich eine andere Verteidigungsmöglichkeit ausgedacht hatte. Aber sie hatte sich selbst in die Falle gelockt: Von diesem geflochtenen Käfig aus konnte sie nicht erkennen, was die Wüstenzauberin Karli, die vor Wut und Enttäuschung laut schrie, vielleicht gerade beschwor. Quer über die Lichtung hinweg erkannte Gull, daß Karli, die Magierin, ein bronzenes Medaillon mit einem 57
purpurnen Stein berührte. Aus dem Stein entwich wabernder Rauch - eine purpurne Gestalt, in der zwei leuchtend grüne Punkte glühten. Der Holzfäller sah, wie die Wolke aufstieg und sich drohend über dem hölzernen Wall - mit seiner darin gefangenen Schwester auftürmte. Dann erkannte auch Greensleeves die Gefahr: Ein purpurner, von Kopf bis Fuß nackter Teufel mit glühenden grünen Augen ragte über ihr auf.
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Der Schlag auf den Kopf und die Beschwörung an einen unbekannten Ort ließen Sterne vor Norreens Augen aufblitzen. Als das Feuerwerk nachließ, erkannte sie, daß sie in Matsch und Schlamm kniete. Der Geruch von Zedernharz stieg ihr in die Nase, und der falsch auf ihren Rücken gebundene Schild grub sich schmerzhaft in ihr Fleisch. Sie bemerkte, daß ihre Hände frei waren: Der Zauberer hatte es geschafft, sie ohne Fesseln auf die Reise zu schicken. Eisige Kälte drang an ihre Haut, und sie zitterte. Alles, was sie über den milchfeuchten Brüsten trug, war eine lederne Weste. Ihr Atem formte große Dunstwolken in der Luft, und durch die dampfende Feuchtigkeit erkannte sie, daß sie sich inmitten einer Schlacht befand. Gull, der Holzfäller und General wider Willen, stand kurz davor, eine Armee zu verlieren. Die Phalanx der Kavallerie war genauso gekleidet wie die fliegenden Teppichreiter, doch diese Angreifer schwangen Krummsäbel, die lang genug waren, um einen Mann von Kopf bis Fuß zu spalten. Die Pferde brachen aus dem immergrünen Wald hervor, und jeder der erfahrenen Reiter scherte nach links oder rechts aus, um so Platz für den nächsten Angreifer zu schaffen, denn in einer breitgefächerten Linie konnten sie die meisten Feinde töten. Sie kamen so rasch näher, daß Gull überrumpelt stehenblieb. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er seiner Schwester helfen sollte - deren dünne Steinbarriere ge59
rade von Riesinnen in grünen und gelben Gewändern zertrümmert wurde - oder ob seine Truppen, das Rückgrat ihrer Verteidigung, seine Unterstützung brauchten. Aber wo waren die anderen? Wo war Liko mit seiner gewaltigen Kraft? Waren die Kentauren wieder im Wald verschwunden, um weitere Kavalleristen abzuwehren? Und waren Bardo und seine adleräugigen Späher irgendwo anders in Kämpfe verwickelt worden? Wie konnte diese Armee beim Abendessen nur so riesig sein, während sie in einer Schlacht derart zusammenschmolz? Gull bemerkte zwischen den umherhetzenden Leuten, den Toten und Sterbenden, daß eine bewaffnete fremde Frau in schwarzem Leder das Lager betreten hatte. Sie stand einfach da und sah sich gelassen um. War sie eine Späherin, die ausgesandt worden war, um heimlich ihre Verteidigungsstellungen auszuspionieren? Es gab wenig genug zum Spionieren: Sie waren wehrlos! Tomas, der älteste Veteran, der stets kühl blieb, was auch immer über ihn hereinbrach, hatte seine Kriegerinnen und Krieger zu einem Keil formiert. Sie standen zwei Reihen tief gestaffelt mit dem Rücken zu den Zedern und hielten ihre Stangenwaffen und Schwerter bereit. Es waren sicherlich zwanzig Soldatinnen und Soldaten, mit Tomas an der Spitze des Keils und Neith und Varrius an dessen Basis. Die roten Weibel hatten alle Hände voll zu tun, um ihre verdrossenen Truppen vor Auflösung und Flucht zu bewahren - und sie zusätzlich noch auf den Angriff der herandonnernden Kavallerie vorzubereiten. Doch trotz dieses stählernen Walls lichtete der erste Ansturm der Wüstenreiter die Reihen der Verteidiger, und ihre Säbel sausten durch die Luft, als wollten sie Löwenzahn köpfen. Entweder hatte Tomas seine Verteidigungsstellung falsch eingeschätzt, oder die Reiter waren verrückt, denn sie preschten die Linie auf und ab, als ob sie an einem harmlosen Zaun entlangritten. Leicht und schnell 60
schwangen sie ihre langen dünnen Säbel, zielten geübt nach einem halben Dutzend Soldaten, spalteten Köpfe, Gesichter und Arme und machten dann elegant kehrt, als hätten ihre Pferde Flügel. Nachdem drei Reiter die Linien durchbrochen hatten, lösten sich diese auf. Tomas lag am Boden, er hatte den Helm verloren, und Blut strömte über seinen kahlen Kopf. Gull fluchte und rannte los, während ihm das verkrüppelte Knie höllische Schmerzen durch den Oberschenkel jagte. Seine Schwester hatte er nicht mehr gesehen, seit sie von einer purpurnen Wolke bedroht worden war. Lily war einige Zeit vorher wie unter dem Schlachterbeil zusammengebrochen. Wenn sie nun starb, ohne daß sie Gelegenheit gehabt hätten, das zu klären, was zwischen ihnen stand? Verfluchte Zauberei! Und verdammt auch er, der Bruder einer Druidin und Geliebte einer Zauberin! Und anstatt Magier zu bekämpfen, hätte er genausogut Schweinezüchter werden können: Er wäre nicht weniger erfolgreich gewesen! Eine Erschütterung unter seinen Füßen ließ ihn herumfahren. Über seinen bitteren Selbstbezichtigungen hatte er die wichtigste Regel einer Schlacht vergessen: aufmerksam zu sein. Hinter ihm donnerten zwei Kavalleristen, schnell wie der Wind, mit schlagbereit erhobenen Säbeln auf ihn zu. Greensleeves schrie auf, als sich der purpurne Teufel das größte Objekt weit und breit - vor ihr in die Luft erhob. Sein von purpurnen Muskelsträngen umwundener Kopf war so lang wie ein Pferdeschädel, seine Oberseite knollig, und aus einem Loch stieg Rauch auf wie die Fontäne eines Wals. Die leeren Augenhöhlen glühten grün, und der offene Mund wirkte wie der grüne Rachen des Todes. Der nackte Dämon hatte die Gestalt eines Mannes, die spitzen Ohren waren mit goldenen 61
Ringen geschmückt, und das Höllenfeuer umwaberte die weißglühenden Dornen an seinen Ellbogen. Als sich das Ding erhob, keifte die finstere Zauberin Karli in ihrer gurgelnden Sprache. Der Efreet spreizte die Finger, die zu wachsen begannen, immer länger wurden und innerhalb von Sekunden seinen Körper an Länge übertrafen. Als würde es ihn nicht mehr Mühe als ein Schulterzucken kosten, schob der Teufel seine langen Finger in die Holzbarriere, die Greensleeves um sich herum gewoben hatte, und zog. Die ineinanderverflochtenen Bäume zerkrümelten zu Splittern und Rinde. Die Kreatur schleuderte das Kleinholz beiseite, grub die purpurnen Klauen tief in den Boden vor Greensleeves und riß einen Erdballen heraus, groß wie eine Wagenladung: Obenauf thronten Greensleeves, Lily und die Einrichtung des Zeltes. Greensleeves schluchzte aus purer Verzweiflung, als sie auf dem wackligen Erdklumpen, den nur ein schäbige Zeltvorleger zusammenhielt, in den Himmel gehoben wurde. Kämpfen bewirkte überhaupt nichts, doch sie hatte keine andere Wahl, und wieder suchte sie nach einer Hilfe, nach etwas, das auch nur den geringsten Schaden anrichten konnte. Ihre erste und natürlichste Reaktion war, etwas zu beschwören, das ihr vertraut war, und der Dachs zu ihren Füßen, ein treuer Freund, obwohl ihm ein Name fehlte, erinnerte sie an etwas. Das Tier nahm in ihren Gedanken Gestalt an, und sie stellte sich vor, wie es unsichtbar über Meilen herbeiflog. Ein Regenbogen in allen Erdfarben flackerte neben ihr auf, braun wie der Boden, grün wie die Pflanzen und blau wie der Himmel und die Wolken und schließlich gelb wie die lebensspendende Sonne. Etwas materialisierte sich neben ihr in der Luft und krachte geradewegs auf die Brust des Efreets. Es war ein weiterer Dachs, aber ein riesiges Tier mit einem Körper, so groß wie der eines Pferdes, und er wog 62
sicherlich mehr als eine halbe Tonne. Allein sein Gewicht gebot dem Efreet Einhalt und ließ ihn niedersinken, bis er kaum noch vier Schritt über dem Boden schwebte. Erschreckt durch die Beschwörung in luftiger Höhe, verkrallte sich der riesige Dachs in den festen Halt unter sich. Die Klauen gruben sich sechs Finger tief in die purpurne Brust des Efreets und rissen Furchen in die violette Haut, als der knurrende Dachs strampelnd nach Halt suchte. Aus der aufgeplatzten Haut quoll grünes Blut, und obwohl die Wunden sofort wieder verheilten, wand sich der Efreet vor Überraschung und Schmerz. Da er die beiden vergrößerten Hände voll mit Erde, zwei Zauberinnen und deren Ausrüstung hatte, blieben ihm nur seine zahnlosen grünen Kiefer zum Angriff und er setzte sie ein. Das höhlenartige Maul schloß sich dicht um den Hals des Tiers, und Greensleeves schreckte zurück, als sie das entsetzliche Knacken hörte, mit dem der Kopf des Dachses zerbarst. Seine vier Pfoten zuckten und verloren den Halt, als der Efreet Knochen, Blut und Fell ausspuckte, und Greensleeves hätte um ihren armen toten Riesendachs laut weinen mögen. Der Efreet hob sie höher in die Luft, so hoch, daß ihr Bruder von dort aus wie eine Maus wirkte. Sein aufschauendes Gesicht wurde nahezu ganz von den blaugewandeten Reitern verdeckt, die über ihn herfielen. In der Ferne stand der Riese Liko knietief in den Nadelbäumen und hielt nach Feinden Ausschau, die wahrscheinlich direkt unter seinen großen Füßen waren. Endlich erkannte er Greensleeves' Schwierigkeiten und kam angerannt doch es war zu spät. Das Erdreich unter ihr verschob sich, und Greensleeves duckte sich, um nicht hinunterzufallen. Mit einer Hand krallte sie sich an Lily fest, mit der anderen an dem kleinen Dachs. Karli hob sich mit ihren rosafarbenen fliegenden Pan63
toffeln in die Luft und schwebte auf sie zu. Ihr weißes Haar wehte im Wind, als sie die dunklen Arme in das gelbe Federgewand grub, und ihr Mund verzog sich zu einem hämischen Lächeln. Greensleeves wünschte sich, ihr diese Grimasse aus dem Gesicht zu schlagen, und der plötzliche Haß tief in ihrem Herzen erstaunte sie. Nun gut. Wenn sie kämpfen mußte, dann würde sie eben kämpfen. Sie würde mit etwas angreifen, das diese Frau in den Wahnsinn treiben würde. Der von den beiden Reitern gejagte Gull packte seine blutige Axt dicht am Kopf und rannte - wie ein Hase zur rettenden Hecke - auf die nächsten Bäume zu. Hinter ihm donnerte die Kavallerie heran, so nahe, daß er den heißen Atem der Pferde im Nacken zu spüren vermeinte. Jeden Augenblick erwartete er das Sichelschwert, das ihm den Schädel bis zum Kiefer spalten würde. Dann versperrte ein huschender schwarzer Schatten das Herannahen des nächsten Pferdes - die fremde Frau in schwarzem Leder. Schnell wie ein Frettchen und geschmeidig wie ein Panther stürmte Norreen auf das nächste Pferd zu. Sie behielt sowohl ihr Ziel als auch den mit Baumstümpfen übersäten schlüpfrigen Grund im Auge, als sie ihr Kurzschwert in Armeslänge vorschnellen ließ und der empfindlichen Nase des Pferdes einen Schnitt verpaßte. Das getroffene Pferd blieb verängstigt stehen, zuckte zurück und warf sich so heftig herum - weg von Gull -, daß die Reiterin beinahe aus dem Sattel gerutscht wäre. Norreen nutzte die Verwirrung aus, duckte sich unter dem Tier hinweg und stach es in den Widerrist, um es noch weiter von Gull abzudrängen. »Laß dich fallen!« schrie sie und drosch eine Faust gegen Gulls Schulter, so daß dieser nach hinten geschleudert wurde und schwer auf den mit Zedernstümpfen bedeckten Boden krachte. 64
Norreen blickte nicht nach unten, als sie über ihn hinwegsprang. Sie huschte seitlich heran, um ein schlechteres Ziel zu bieten, und vollführte einen perfekten Überkopfschlag, der keinen Teil ihres Armes dem herankommenden nächsten Reiter gegenüber ungeschützt ließ. Da sein eigentliches Ziel durch dieses wirbelnde Etwas beiseite gestoßen worden war, versuchte der Reiter, seinen Hieb in einen Schlag mit der Rückhand zu verwandeln, doch es sollte ihm nicht mehr gelingen. Norreens Klinge schnitt ihm den Arm sauber am Ellbogen ab, und die benalische Klinge war so scharf, daß der angreifende Marodeur nur einen eisigen Kuß am Gelenk spürte. Als er den Schwertarm hob, um nachzusehen, wo er getroffen war, stellte er fest, daß er fehlte und daß nur ein blutiger Stumpf übriggeblieben war. Das Pferd machte noch drei Galoppsprünge, bevor er aus dem Sattel fiel. Norreen nahm ihre Kräfte zusammen, riß Gull zu seiner Überraschung in die Höhe. »Ich suche Gull, den Holzfäller, General dieser Armee!« Sie umklammerte weiterhin seine Hand, um sich seiner Aufmerksamkeit zu vergewissern. »Pah!« schnaubte Gull und spuckte aus. »Es ist die Armee eines Narren, der für dieses Durcheinander verantwortlich ist!« Seine Armee war schon längst aufgerieben. Die Angehörigen von Tomas' Trupp hatten das Weite gesucht und Haufen von Toten um den sterbenden Tomas zurückgelassen. Was soll der Tod dieser vielen Leute nur Gutes bringen? dachte der Holzfäller. Norreen hätte vor Enttäuschung schreien können. »Aber wo ist...« Gull entwand sich ihrem Griff und packte seine große Axt fester. »Keine Zeit! Wir müssen...« Er sah nach seiner Schwester, dann erblickte er sie: sieben Schritt hoch auf einem zerkrümelnden Erdbrocken, der von einem purpurnen Dämon getragen wurde. Norreen starrte auf seine Axt, ein riesiges zweischneidiges Werkzeug, wie es 65
von Holzfällern verwendet wurde. War dies der Mann, den sie suchte? Ein Donnern unter ihren Füßen weckte ihre Kriegerinneninstinkte. Sie packte erneut den Arm des Mannes und sah sich nach der Quelle der Gefahr um. Vier Kavalleristen waren in ihre Richtung ausgeschwärmt. Greensleeves fauchte wie eine wütende Katze und bündelte ihre ganze Wut auf die Frau, die sie in luftiger Höhe gefangenhielt und kaum sieben Schritt entfernt auf ihren spitzen Pantoffeln am Himmel schwebte. Um einem Freund zur Hilfe zu kommen, war Greensleeves einst - bis zu den Oberschenkeln im Schlamm - durch einen Sumpf gewatet. Ihr Bruder und sie waren damals zu ihrem Schrecken von... Plötzlich kräuselte sich glitzernde grünbraune Luft um die Zauberin Karli und überhäufte sie mit unzähligen fetten Blutegeln. Sie sprenkelten die Haut der Magierin: schmierige fingerlange Schnecken wie Rotzklumpen, mit raspelnden, sägenden Mäulern, die sich in ihrer Gier nach rotem Blut an Karlis dunkler Haut festsaugten. Die neben dem Efreet schwebende Karli war zunächst verwirrt und berührte sich nur gedankenverloren an der Wange, an der sie einen Hauch von Feuchtigkeit gespürt hatte. Plötzlich keuchte sie auf und zerrte an dem schleimigen Ding. Da sie es aber nicht schaffte, es zu entfernen, zog sie immer heftiger und riß es schließlich von der Haut weg. Blut spritzte, und sie schrie und wimmerte wie ein Schwein auf der Schlachtbank, als sie seitwärts durch den Himmel purzelte. Der verwirrte Efreet taumelte und sank dem Boden entgegen, während Greensleeves sich an ihre Freundin und ihr Haustier klammerte. Sie betete, daß die Zauberin den Efreet nicht >entschwören< möge, damit sie nicht Dutzende von Schritt durch die Luft fiele. Wenn nur... Doch Karlis Wut kannte keine Grenzen. Wild um66
klammerte sie ein mit einer Spirale geschmücktes Medaillon an der Hüfte und stieß zusätzlich zu ihren gellenden Schreien einen heisernen Ruf aus. Wie ein Donner fiel der Tornado vom Himmel und pflügte durch das Lager. Gull stemmte sich mit den Füßen in den Boden, riß die lange Axt hinter den Kopf und erwartete die heranpreschenden vier Reiter. Wenn es sein mußte, konnte er vermutlich die Kehle eines Pferdes spalten und den dahinter sitzenden Angreifer töten. Ein Feind weniger... Die Kriegerin in Leder müßte sich um sich selbst kümmern. Sie hatte sich als kampferfahren erwiesen, mehr als er selbst. Aber was war... Ein Brüllen wie der Schrei von tausend Wahnsinnigen erfüllte Gulls Kopf: ein Lärm, so laut, daß er seinen Ursprung in ihm selbst zu haben schien und nicht außerhalb. Der Boden bebte, als Dreck, Holzsplitter, Zedernzweige und Asche in die Luft geschleudert wurden. Unsichtbare Finger zerrten an seiner wollenen Mütze, dem Saum seines Umhangs, den Bändern seiner Lederweste und an seinem Haar. Das Brüllen verstärkte sich noch, bis Gull befürchtete, sein Schädel werde bersten und seine Eingeweide würden zermalmt werden. Der Himmel wurde dunkel, als sich über ihm eine verdrehte Form wie ein gestürzter Berg auftürmte, eine wirbelnde dunkle Masse mit der Kraft und der Launenhaftigkeit eines Gottes. Dann kam der Tornado über sie. Der Holzfäller konnte nicht wissen, daß Tornados nicht über den Grund fegten, sondern sich Dutzende Schritt hoch in der Luft drehten, dann wie ein Blitz zu Boden fuhren, dort mit Windgeschwindigkeiten von fünfhundert Meilen in der Stunde und mehr tobten und schließlich wieder in die Luft hüpften, um den Wechsel von Schweben und Landen aufs neue zu beginnen wie ein Stein über der Wasseroberfläche, bis sie endlich vom Sog der Erde aufgehalten und aufgelöst wurden. 67
Und so erschien der von Karli beschworene trichterförmige Sturm erneut, diesmal etwa dreißig Schritt hoch über dem Lager. Spielerisch wie ein Welpe packte er die Menschen und schleuderte sie wie Ameisen durch die Luft. Gull wurde hochgehoben und gegen ein herangaloppierendes Pferd geworfen. Er schnaubte, als er gegen den Reiter prallte, einen Mann, der nach Gewürzen, Zimt, Tabakrauch und Honigtee roch. Wie durch Magie wurde der Holzfäller gegen die Brust des Angreifers geschmettert, bevor er in den Sattel des braunen Pferdes sank. Gull fand noch Zeit, die mit Juwelen und echtem Blattgold besetzten Zügel zu bewundern, bevor die beiden Männer und das Pferd emporgerissen und sich überschlagend durch die Luft gewirbelt wurden. Der Reiter krachte in die verästelten dicken Zedernzweige wie ein Pfeil in eine Strohscheibe, und Gull folgte ihm. Er fühlte, wie sein Stiefel weggerissen wurde, und wenn auch die Zedernzweige schmerzhaft in seine Haut stachen, ließ er die Axt nicht los. Der Geruch nach Zedernöl war überwältigend, und er befürchtete in seiner Benommenheit, daß er für immer wie dieser Wald riechen würde. Der unter Gull eingeklemmte Kavallerist schnappte schwer nach Luft und erschauerte. Der Holzfäller roch plötzlich frisches Blut und fühlte, wie sich eine Spitze in seine Brust bohrte: Der Reiter war von einem abgebrochenen Baumstamm gepfählt worden. Dann krachte das Pferd, das hinter ihnen durch die Luft geschleudert worden war, auf die beiden Männer. Gull fühlte, wie das Tier unmittelbar neben ihm in die Bäume geschmettert wurde, so nahe, daß er das verschwitzte üppige Haar der Pferdemähne auf der Zunge schmeckte. Der schwere Pferdeleib drückte ihm die Luft aus den Lungen. Er geriet in Panik, als das sterbende, um sich tretende Tier, das ihn halb unter sich begrub, weiterrutschte und ihn ins dichte Farnkraut quetschte. Vergebens versuchte er sich zu befreien - und er hoffte, 68
daß die Angst ihm die Kraft verleihen würde, einen Mammut hochzustemmen -, doch sein Griff fand nur knorrige, zerrende Zweige. Der Kopf des unter Pferdefleisch und Zedernholz begrabenen Holzfällers krachte gegen etwas zugleich Hartes und Weiches, und dann erloschen ihm die Lichter des Bewußtseins. Greensleeves klammerte sich an Lily - die schlaff wie ein Mehlsack und schwach atmend dalag -, an ihren Dachs und den dreckigen Vorleger, der sie auf dem krümelnden Erdklumpen hielt. Doch alles wurde durch die Luft gewirbelt wie Weizenspreu, und so hätte sie genausogut nach dem toten Riesendachs oder dem Efreet greifen können, der wie eine Kerzenflamme flackerte und von dem über allem aufwirbelnden Tornado ausgelöscht wurde. Sie hätte auch Karli packen können, die sich über dem Wald in der Luft überschlug und schreiend an ihrer Haut zerrte, um die Blutegel wegzureißen, wobei sie sich mit ihren langen Fingernägeln ebensoviel Schaden zufügte wie die Blutsauger. Dann glitten ihr Lily, der Dachs, der Vorleger und Erde durch die Finger, und sie fiel. Es blieb keine Zeit mehr für Beschwörungen... Sie krachte in die Zedern, und nur ihre dicke Wollkleidung bewahrte sie davor, ernsthaft verletzt zu werden. Der Umhang hatte sich um ihren Kopf gewickelt, und sie fühlte, wie hundert hölzerne Finger statt an ihm an ihrer Haut zerrten. Ihr Kopf schlug schmerzhaft gegen irgend etwas, doch sie vergaß den Schmerz sofort, als ihr Fuß in einen Kaninchenbau einbrach und ihr Körper in die andere Richtung verdreht wurde. Sie schrie, als ihr das Gelenk brach und lähmender Schmerz wie eine Welle durch ihren Körper brandete. Nur Norreen sah das Ende von Karlis Überfall. Der grimmige Zephyros hatte die Kriegerin von den Füßen 69
gehoben und sie zwanzig Schritt weiter sacht wie Distelwolle wieder abgesetzt. Doch die Erfahrung, auf einem Mördersturm geritten zu sein, ließ ihre Knie zittern, und sie hielt sich erleichtert an einer nahestehenden Zeder fest. Von dort aus sah sie die Wüstenmagierin landen. Die anderen Leute - Karlis Truppen oder die Mitglieder dieser Armee - krochen durch das Lager, saßen da, den Kopf in den Händen vergraben, oder lagen still am Boden, für immer unbeweglich, denn der Atem war ihnen aus den Körpern gewichen, und ihre Herzen hatten aufgehört zu schlagen. Selbst eine riesige Ogerin in zerrissener Kleidung lag jammernd mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden: Ein verirrter Baumstamm hatte ihr das Rückgrat gebrochen. Karli war ein rotgeflecktes zerzaustes Schreckensgemälde. Sie hatte sich die Haut zerstochen, Haare ausgerissen und die Kleidung zerfetzt, um die widerwärtigen Blutegel loszuwerden, obwohl sie tatsächlich in dem Augenblick zu sterben begannen, da sie aus ihrem weit entfernten Sumpfwasser gerissen worden waren. Wütend, fast außer sich vor Abscheu und dem Wunsch nach Entkommen, trat die Zauberin nach der verstreuten Einrichtung von Greensleeves Zelt. Um ein frisches gähnendes Loch herum lagen die nunmehr zerbrochenen oder aufgesprungenen geschnitzten Kisten. Alles war mit Dreck bedeckt, doch die kleine Frau trat, grub und zerrte mit wachsender Verzweiflung auf der Suche nach irgendwelchen Dingen. Norreen blieb still stehen und beobachtete verwirrt das Schauspiel. Die Zauberin schien nach etwas Bestimmtem zu suchen, nach irgendeinem Schatz zu gieren, denn sie hielt nicht inne, um die Dinge zu untersuchen, sondern warf sie nur beiseite und grub tiefer. Dann hörte sie plötzlich auf - fast entgeistert vor Glück. Norreen hielt den Atem an. Die Zauberin hatte eine rosafarbene kopfgroße 70
Schachtel gefunden, die seltsam umbunden oder - es war schwer zu sagen - eingekerbt war und auf allen Flächen runde oder rechteckige Erhebungen aufwies. Karli lachte frohlockend, als sie das Artefakt gegen die Brust preßte. Dann glitt das Ding durch ihre Finger. Norreen keuchte. Es sah so aus, als hätte die Frau es aus Ungeschick fallengelassen, aber das stimmte nicht. Die Kriegerin hatte mit eigenen Augen beobachtet, daß ihr die Schachtel wie Rauch durch die Finger geschlüpft war. Die verblüffte Karli bückte sich und griff danach, doch sie konnte sie nicht hochheben. Es war, als wolle sie Wasser festhalten: Immer wieder glitt ihr die Schachtel durch die Finger. Verzweifelt fuhr sie mit den Händen durch das Trugbild der Schachtel, doch es war sinnlos. Um Magie mit Magie zu bekämpfen, berührte Karli die Knöpfe ihrer nunmehr schäbigen Jacke und sprach Formel um Formel. Jedesmal bückte sie sich und versuchte, das Artefakt aufzuheben, doch jedesmal versagte sie. Tränen der Verzweiflung rannen ihr über die Wangen, und Norreen wußte, warum: Sie hatte einen wundervollen Schatz gefunden, und nun konnte sie ihn nicht mitnehmen. Aber... war es die Schachtel selbst, die der Zauberin nicht folgen wollte und sich selbst unberührbar gemacht hatte? Wütend stampfte Karli mit den Füßen auf, trat nach dem geisterhaften Artefakt, warf den Kopf zurück und schrie. Dann wurde ihr ihre mißliche Situation wieder bewußt. Viele Überlebende im Lager, sowohl Verteidiger als auch Angreifer, sahen sie an. Einige der einheimischen Soldaten verständigten sich leise und suchten nach einer Armbrust... Mit einem letzten Blick auf die Schachtel, teils verächtlich, teils sehnsüchtig, scharrte sie mit den Füßen, wickelte sich den zerrissenen gelben Federumhang um die Schultern und erhob sich in die Luft, um fortzufliegen. 71
Als erfahrene Soldatin bemerkte Norreen, daß sie ihre Truppen zurückließ. Sie hatten in ihren Augen versagt, und so ließ sie sie im Stich. Verdammt seien alle Zauberer, dachte Norreen, dann seufzte sie, rappelte sich hoch und überquerte die Lichtung. Sie mußte diesen großen Mann mit der Axt finden, denn er schien zu wissen, was hier geschah, und konnte sie wahrscheinlich zu Gull, dem Holzfäller, bringen. Und zu dieser Zauberin, fügte sie hinzu, denn trotz ihrer abgerissenen Kleidung mußte sie die berühmte Greensleeves sein. Mit etwas Glück würde sie die zwei, Gull und Greensleeves, töten können, bevor sich die Armee wieder erholt hatte. Dann würde sie nach Benalia zurückkehren und ihren gefangenen Sohn in die Arme schließen.
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»He! Wach auf, Soldat! Wach auf!« Gull kletterte benommen und mit schädelsprengenden Kopfschmerzen aus einer dunklen Fallgrube in fahles winterliches Sonnenlicht. Die ausgefransten, zitternden Ränder der Grube ragten immer noch über ihm auf, bis er sich schließlich daran erinnerte, daß es Zedern waren. Ach ja, da hatte es eine weitere Schlacht gegeben... Hatten sie gewonnen oder verloren? Gull hätte gern einmal gesiegt, nur um zu sehen, was für ein Gefühl das war. Dann erinnerte er sich an Greensleeves, die von einem Geist davongetragen worden war. Und Lily. Waren sie... Norreen schüttelte ihn wieder und zerrte an seinem verbliebenen Stiefel. »He, Großer! Lebst du noch da drinnen?« »Ich weiß nicht...« Gull hustete und spuckte Zedernnadeln aus. Als er sich aufsetzte, fühlte er tausend Kratzer wie Insektenbisse. Er wischte sich noch mehr Zedernzweige aus dem Gesicht, so daß er wieder klar sehen konnte, und stieß gegen etwas Kaltes, Steifes - ein totes Pferd. Schwerfällig und steif wie das verendete Reittier wand sich Gull aus den ihn umschlingenden Zedern hervor und kletterte über das braune Pferd hinweg. Unter dem Tier lag ein blaugewandeter Reiter, dem ein blutiger Baumstumpf aus der Brust ragte, und darunter ein Nest aus zerschmetterten Zedernbäumen, das seinen Sturz aufgehalten hatte. Die Frau in Leder hatte ihn geweckt und bot ihm nun eine behandschuhte Hand, die ihn schließlich aus dem Gewirr herauszog. 73
»Danke«, murmelte er. »Hast du meine Schwester gesehen? Und die Frau in Weiß? Und meinen Stiefel?« Ah, dachte Norreen, dieser große Hornochse ist der Bruder der Zauberin Greensleeves. Deshalb hatte er wohl irgendeine untergeordnete Kommandofunktion oder den Posten des Leibwächters inne. Wahrscheinlich trug er die Holzfälleraxt nur, um den berühmten General dieser Armee zu imitieren. Er sah groß und zäh aus, dennoch schwerfällig, mit Dutzenden von Narben und nur noch zwei Fingern an der linken Hand. Es war gut, daß sie ihm das Leben gerettet hatte: Er würde ihr den Zugang zu Greensleeves ermöglichen, die Gelegenheit, dieser nahezukommen. »Ja. Sie ist noch tiefer im Wald. Ich habe dich hier herausgezogen, nun laß uns nach ihr sehen.« »Oh, danke! Du bist sehr freundlich«, brummte der Holzfäller. Seine Lippen waren zerkratzt, zerquetscht und geschwollen, sein ganzes Gesicht schorfig, aufgerissen, und es juckte wie der Teufel vom Harz und den Nadeln der Zedern, die sich selbst unter seinem Hemd festgesetzt hatten. Mehr als alles andere wünschte er sich ein Bad, aber Greensleeves und Lily kamen zuerst. »Du hast da draußen mein Leben gerettet. Vielen Dank. Du bist auch eine verdammt gute Kämpferin. Du bist zwischen diesen Pferden geradezu herumgetanzt und doch nie so nahe an eines herangekommen, daß es dich ankratzen konnte. Wie kommt es, daß du unsere Sprache sprichst? Niemand sonst von den Söldlingen dieser dunklen Zauberin konnte das.« Norreen fühlte eine Welle des Stolzes, als sie die Komplimente hörte, obwohl sie keine gute, sondern nur eine durchschnittliche Kriegerin war, zudem fett und deshalb langsam, mit Muskeln, die am ganzen Körper schmerzten und zitterten. Aber was meinte er mit den Söldlingen der Zauberin? Ah, er glaubte, sie sei von der Zauberin beschworen worden! Sehr gut, sollte er es ruhig glauben. »Oh, ich komme von den Grenzen ihres Landes, vom Rande der Wüste.« 74
»Dann bist du also auch gestrandet?« Gull suchte nach seiner Axt und seinem Stiefel und fand beide unter dem Kleinholz. Er zwängte sich durch die Zedern in die Richtung des Lagers, und Norreen bemerkte, daß er auf dem rechten Knie hinkte. »Das tut mir leid, aber du bist nicht allein. Wir sind alle Opfer von Zauberern und versuchen, nach Hause zu kommen!« rief er ihr über die Schulter zu. Die Worte >nach Hause< stachen in Norreens Herz. Sie brach hinter ihm durch das Unterholz und rief: »Ich muß Gull sprechen, den Holzfäller!« Der Mann vor ihr schnaubte verächtlich, als er zwischen den letzten Bäumen hindurch auf die Lichtung stampfte. »Warum?« Fast jeder war auf der entfernten Seite des Lagers beschäftigt, dort, wo die Verteidigungsstellungen seiner Soldaten aufgerieben worden waren. Troßleute lagen jammernd über ihren toten Ehemännern und Ehefrauen. »Er leistet hier eine verdammt armselige Arbeit als General. Er hätte beim Ästestutzen bleiben sollen«, knurrte Gull bitter. Ohne ein weiteres Wort ging der riesige Mann auf die größte Menschenansammlung zu, wo weinende, fluchende oder still arbeitende Söldlinge und Troßleute die Leichen in langen, geraden Linien aufreihten. Norreen folgte ihm. Amma, eine Samitin und Anführerin einer heruntergekommenen Gruppe von Heilkundigen, gab Befehle, wo welche Verwundeten hinzubringen seien. Der große Mann stand mit seiner großen Axt einfach nur da, bis ihn die weißgekleidete Heilerin zu sich herüberwinkte. Am Boden lag der sterbende Tomas, einst ein stolzer Weibel seiner roten Kohorten, dann Offizier dieser bunten Truppe. Eine klaffende Kopfwunde schimmerte rot an seinem Haaransatz, und seine Augen starrten glanzlos in die Sonne, denn er war erblindet. Doch von seiner ursprünglichen Kraft war noch viel geblieben, genug, um Gulls Hand zu packen und ihn zu sich heranzuziehen. 75
»Gull!« schrie der Sterbende, als wäre er bereits weit entfernt. »General! Könnt Ihr mich hören?« Erstaunt riß Norreen die Augen auf, als sich der große Mann über den Soldaten beugte und sich nicht darum scherte, daß die blutigen Hände seine lederne Tunika befleckten und nach seinem braungebrannten Gesicht tasteten. Auch er schrie: »Ich bin hier, Tomas! Unmittelbar vor dir. Es tut mir leid, daß du verwundest wurdest, Tom. Das ist alles meine Schuld!« Der blinde Mann setzte sich halb auf und klammerte sich fest an Gull. »Nein! Nein... das ist... nicht wahr! Du hast... es versucht! Kämpfst für das Gute! Vergiß niemals...! Du hilfst uns... hilfst uns, nach Hause zu kommen! Wir brauchen dich... Gull, und auch deine Schwester. Deine Sache ist gerecht...« Seine Kraft und seine Seele entwichen in einem einzigen langen Seufzer, und er fiel zurück auf den schlammigen Boden. Gull schloß ihm die blinden Augen. »Ich werde mich daran erinnern, Tomas. Ich verspreche es.« Norreen erstarrte verwundert. Dieser junge, freundliche, rücksichtsvolle Mann war der General dieser Armee? Der berühmte und berüchtigte Gull, der Holzfäller? Der Bruder von Greensleeves? Der Mann, den sie töten mußte? Greensleeves erwachte durch ein sanftes Rütteln und den Klang ihres Namens. Als sie die Augen öffnete, sah sie einen dunklen Engel, der über ihr schwebte: Er hatte ein schlankes Gesicht, dunkles, langes, glattes Haar und einen ernstlich besorgten Blick. »O K-Kwam. D-du b-bist es.« »Ja, nur ich«, kam die freundliche Antwort. Kwam war nur einer von mehreren Magie-Studenten, ein Helfer im Lager, der nun die Äste von Greensleeves fortzerrte. »Wie geht es ihr?« fragte eine rauhe Stimme: Tybalt. Zusammen zogen er und Kwam Greensleeves aus dem 76
verhakten Nest aus Splittern und Zedernzweigen. Eine der Heilerinnen half Lily, die sich etwa vier Schritt entfernt aus einem anderen Haufen erhob. Doch Greensleeves schrie, als sie aufzustehen versuchte: Ihr Fußgelenk wackelte und bog sich unter ihrem Gewicht durch. »Gebrochen!« stöhnte Tybalt. »Ich werde eine Heilerin holen und eine Trage machen...« »Ich kann sie tragen«, bot der sanfte Kwam an. Greensleeves konzentrierte sich so sehr darauf, ihr Bein nicht zu bewegen - und einen weiteren Stich zu ertragen, als sie aufzutreten versuchte -, daß sie nicht widersprach. Vorsichtig nahm sie der überraschend kräftige, hochgewachsene Student in die Arme, und Greensleeves fühlte sich wieder wie ein Kind, als sie sich an seine Brust schmiegte. Doch sie achtete sehr darauf, ihr Bein ruhig zu halten. Ihr Dachs schnüffelte unter den Zweigen und flitzte dann hinter ihnen her. Ihre Kohlmeise Cherrystone flog von einem verborgenen Zweig auf und ließ sich auf ihrem Schal nieder. Der Anblick ihrer Tiere machte Greensleeves glücklich, und sie lächelte, während sich Kwam mit unbewegtem Gesicht auf das Gehen konzentrierte. Tybalt bahnte sich einen Weg durch die zerbrochenen Bäume, und da weder ein Überfall noch ein Tornado oder der Hauch des Todes ihn zum Schweigen bringen, geschweige denn von seiner Leidenschaft ablenken konnte, plapperte er schon wieder drauflos. »Ich habe rasch nach den Artefakten gesehen! Sie sind immer noch alle da! Jemand hat erzählt, daß diese dunkle Zauberin das Durcheinander untersucht hat, aber sie hat überhaupt nichts mitgenommen! Seltsam, nicht wahr? Ach ja, ich habe bei einem - nein, bei zwei - Dingen herausgefunden, worauf ihre Wirkung beruht. Soll ich es dir zeigen?« Die schmerzgeplagte Greensleeves, die in Kwams Armen hin- und herschwankte, stammelte: »E-es r-reicht, wenn du m-mir d-das n-nur er-erzählst. Im Momoment.« 77
»Was? Ja, natürlich! Zuerst also diese Wurstmaschine! Oder das, was aussieht wie eine Wurstmaschine! Du wirst es nicht glauben, was herauskam, als wir ein Stück Schweinefleisch hineingesteckt hatten! Und dieser Zinnhund? Er hat gekläfft, als wir...« Greensleeves verstand von seinem Geschnatter nicht viel, denn ihre Schmerzen waren zu stark. Aber sie bemerkte, daß Kwam sehr darauf achtete, sie nicht zu schütteln. Er sollte ein Heiler werden, dachte sie müßig, kein Student, der der Zauberei hinterherjagt. Von Schmerzen geschüttelt sah Greensleeves, daß sie den Wald verlassen hatten, und fast blieb ihr das Herz stehen, als sie die lange Reihe der Toten sah, die auf der Lichtung nebeneinanderlagen. Doch sie versuchte, höflich zu bleiben: »J-ja. D-das ist gut, T-Tybalt. Ich bin froh, d-daß du diese D-dinge he-herausgefunden hast.« Und irgendwie war sie tatsächlich froh darüber. »E-es ist n-nur dir zu ver-verdanken, T-Tybalt, daß wir T-Tomas und die anderen hi-hierherb ringen ko-konnten...« Sie verstummte, als sie ihren großen Bruder daherkommen sah, gefolgt von einer fremden Frau in schwarzem Leder mit Wehrgehenk. Gulls Hirschledertunika war mit frischen blutigen Handabdrücken verschmiert, und sein Gesicht sah finster aus. »Wenn wir Tomas nicht hierhergebracht hätten, wäre er immer noch auf dieser Insel - lebendig. Jetzt ist er tot, und mit ihm viele andere. Sieh es ein, Greenie: Wir erreichen nichts.« Das Lagerfeuer in der Mitte des Kreises knackte, knisterte und rauchte, denn sie hatten nur grünes Feuerholz gefunden. Die Leute blinzelten und duckten sich, als ihnen die Brise Asche in die Augen blies. Dutzende von Söldlingen, Troßleuten, Köchinnen und Köchen, Heilerinnen, Kartographen, Bibliothekaren und Schreibern hatten sich im Kreis um das Feuer versammelt, so wie die vielen Mitläufer, deren Zweck sich Norreen nicht 78
vorstellen konnte. Aber es gab noch mehr Unverständliches bei dieser bunten Menge. In der Mitte tagte der Rat dieser Armee, eine recht zwanglose Versammlung, zu der neben General Gull, die Zauberinnen Greensleeves und Lily, die KentaurenSpäher, die roten Weibel Varrius und Neith - ohne ihren Kameraden Tomas -, Bardo, der Paladin, Hauptmann der Späher, und selbst Stiggur, der Junge, der das riesige Holzpferd ritt, gehörten. Nach einem improvisierten Abendessen hatten sie sich hingesetzt, für alle hörbar ihre Pläne und Strategien diskutiert und selbst Kommentare von außerhalb des Rates zur Kenntnis genommen. Aufgrund ihrer streng militärischen Erziehung, gewöhnt an strengste Disziplin, verschlüsselte Befehle und Nichtverbrüderung zwischen Offizieren und Soldaten, verstand Norreen weder, wie diese Armee irgend etwas erreichen wollte, noch, wie Befehle überhaupt ausgeführt wurden. Diese Leute waren unglaublich nachlässig. Kein Wunder, daß sie alle Schlachten verloren. Und wo, bei der Liebe von Typhon, waren die Feldwachen? Wußten diese Leute nicht, daß der beste Zeitpunkt für einen zweiten Angriff einige Stunden nach dem ersten war, wenn die Überlebenden müde, versprengt und im Sammeln begriffen waren? »Ich wei-weiß«, stammelte Greensleeves. »Ich weiweiß, daß wir es n-nicht ge-gerade gut machen. A-aber w-wir versuchen es.« Sie bemerkte, daß ihre Kohlmeise fror, und wickelte den winzigen Körper in ihren Schal. Ihr Bruder kratzte sich über das Gesicht und zuckte, als er sich einige Krusten aufriß. »Nun gut, unser Vater hat immer gesagt: >Solange du nicht aufgibst, solange kannst du gewinnen< Aber ich würde wirklich gern einmal gewinnen, möchte triumphieren, anstatt es immer nur zu versuchen. Wir haben unzählige gute Leute für nichts und wieder nichts verloren. Wir könnten genausogut Zielscheiben auf unsere Rüstungen malen und die Zauberer rufen, um ihre Schüsse abzugeben.« Doch 79
dann erinnerte er sich an das Versprechen, daß er dem sterbenden Tomas gegeben hatte, und schwieg. Es war ruhig im Lager, und nur das Knistern des Feuers und das Stöhnen der Verwundeten aus dem Krankenzelt durchbrachen die Stille der Nacht. Norreen widerstand einem Kopfschütteln. Ein solches feiges Geschwätz - selbst wenn es stimmte -, kam von einem General? Undenkbar! Von einem General erwartete man, daß er sagte, er habe gesiegt, gleichgültig, wie schmählich er verloren hatte. »Wie v-viele h-haben wir ver-verloren?« fragte Greensleeves in die Stille. Ein Schreiber namens Niederhäuser, ein dünner Mann in dunklem Gewand, sah auf eine mit Kreide bekritzelte Tafel. »Schwer zu sagen. Sechs Soldaten - einschließlich Tomas - wurden sofort durch die Kavallerie getötet. Zwei der Derwische starben, einer wurde zertrampelt, der andere fiel einer Säbelwunde zum Opfer. Eine Köchin und ihre Tochter wurden niedergestreckt. Zwei Kinder wurden erstochen, doch wir können ihre Eltern nicht finden. Mindestens fünf Troßleute werden vermißt, vermutlich haben sie sich im Wald verirrt. Wir hoffen, daß sie das Lagerfeuer sehen.« Gull seufzte und fragte dann: »Gibt es Verwundete?« Die in ein pulverblaues Gewand und einen weißen Hut gekleidete Amma erstattete mit Hilfe eines mit Holzkohle beschriebenen Rindenstücks Bericht. »Drei unserer Soldaten werden vermutlich sterben, vier weitere werden sich wieder erholen. Ein Student erlitt schwere Verbrennungen, als er ins Feuer fiel, und wird wahrscheinlich sterben. Ein Koch hat sich das Bein gebrochen und wurde durch Pferdehufe schwer verletzt, bei ihm weiß ich es nicht so genau. Ein alter Mann - niemand weiß, wer er ist - wurde bewußtlos geschlagen und wird wohl nie wieder aufwachen. Eine meiner Heilerinnen verlor eine Hand, als sie versuchte, einen Angriff abzuwehren - sie wird es überleben. Ein Späher hat eine Schulterwunde davongetragen, die sich vielleicht 80
entzünden wird...« Es gab noch viele kleinere Verletzungen, die sie aufzählte, bevor sie zum Ende kam. »Und unsere Greensleeves hat ein gebrochenes Fußgelenk und kann nicht laufen. Unsere Gegner haben noch ein halbes Dutzend verwundeter Kavalleristen und einige Teppichreiter zurückgelassen - vier werden durchkommen.« »Wenn sie es überleben, werde ich sie anwerben.« Gull seufzte wieder. »Wir brauchen jede Hilfe, die wir kriegen können.« »Nein!« kreischte eine unordentliche verweinte Frau aus dem äußersten Kreis und zeterte: »Sie haben meinen Hassel umgebracht, und du willst, daß sie mit uns kommen? Sie wollten uns die Kehlen durchschneiden, und du willst sie durchfüttern? Das ist nicht richtig! Das ist eine Beleidigung für meinen armen toten Mann!« Gull spähte über den Kreis aus Gesichtern, sein eigenes wurde von den Flammen in ein flackerndes Rot getaucht. Seine Stimme klang mild. »Du meinst das nicht ernst, Atira, oder? Es tut mir leid um Hassel, aber du mußt daran denken, daß wir alle in einem Boot sitzen. Diese Wüstenkrieger wurden von den dunklen Kräften einer Zauberin zum Kampf gezwungen. Sie hatten keine Wahl. Wir aber können uns frei entscheiden, und wir ziehen durch das Land, um etwas zu verändern. Obwohl ich ja zugeben muß, daß wir nicht gerade viel zustande bringen...« Norreen traute ihren Ohren kaum. Ein General diskutierte mit einer alten Vettel, mit einer Troßhure? Ein richtiger Führer hätte sie auspeitschen und vierteilen lassen. Und er gestand Versagen und Unzulänglichkeiten ein? Das war keine Armee, sondern ein Pöbelhaufen! Sie würde der Welt einen Gefallen tun, wenn sie diese Narren enthauptete. Warum machte nichts Sinn, was hier gesagt wurde? Etwas ändern? Was ändern? Man konnte die Welt nicht ändern, man konnte nur überleben! Wie auch immer, sie erinnerte sich an ihren Geliebten Garth, der 81
ganz allein eine riesige Stadt auf den Kopf gestellt hat, der ihre korruptesten und mächtigsten Häuser stürzte und damit das Leben von Tausenden verbesserte... Der Rat hörte sich die anderen Berichte an: Der Chefkoch erklärte, daß die Vorräte - meist eiserne Rationen zum größten Teil noch genießbar waren, die Truppe aber bald frisches Fleisch benötigte. Die Jäger berichteten, daß in diesem Wald außer kleinen Vögeln kein Wild zu erbeuten war. Vielleicht konnten Rehe und Ziegen aufgespürt werden, wenn die Armee näher an das schroffe Vorgebirge heranrückte. Der Schreiber mußte zugeben, daß viele Zelte so sehr zerstört waren, daß eine Instandsetzung aussichtslos erschien, doch sie hatten die meisten Pferde und Maultiere wiedergefunden - dank Liko, dem Riesen, und Stiggur auf seinem mechanischen Holzpferd, die sich sehr gut auf das Hirtenhandwerk verstanden. Für die Kartographinnen und Bibliothekare, deren Aufgabe es war, die Karten des Landes zu zeichnen, erstattete ihre Anführerin Kamee Bericht: Sie bedauerte, daß zahlreiche Pergamente zertrampelt oder verbrannt worden und damit unwiederbringlich verloren waren. Tybalt, der Magiestudent, freute sich, daß die meisten Artefakte noch heil geblieben waren, obwohl einige zerbrochen waren, als der purpurne Teufel sie fallengelassen hatte. Gull und Greensleeves hörten den wenig ermutigenden Berichten zu, während die Leute durcheinanderredeten und ein müdes Kind jammernd nach seinem Vater verlangte. Schließlich sprach der Holzfäller: »Wir haben überlebt, aber sind wir unserem Ziel nähergekommen? Wer kann das sagen?« Norreen konnte ihre Neugier nicht länger bezähmen. »Ich verstehe das nicht! Was ist euer Ziel? Was versucht ihr zu ändern, indem ihr durch diesen götterverdammten Wald hier reist? Was gibt es hier zu erobern?« Die Leute verstummten. Gull, Greensleeves, Lily und die übrigen sahen Norreen neugierig an, und sie ver82
fluchte sich selbst dafür, daß sie ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Aber der Holzfäller blieb so ruhig wie immer. »Ja, du bist neu. Später sollten wir die anderen Neulinge hier versammeln und es ihnen auch erzählen. Mal sehen, ob ich es erklären kann...« Schnell berichtete er, wie er und Greensleeves einst in einem friedlichen Tal im Osten namens Weißfels gelebt hatten, bis eines Tages zwei Zauberer mit ihren Wagenzügen wie aus dem Nichts erschienen waren. Sofort hatten sie angefangen, sich zu bekämpfen, und beim Versuch, sich gegenseitig zu töten, Soldaten, Monster und Naturgewalten von überall her aus den Domänen beschworen. Gulls und Greensleeves' Dorf war zwischen die Fronten geraten, als hätten Götter ein Feuer auf einem Ameisenhaufen angezündet. Binnen Stunden war das Dorf von Soldaten, Barbaren, Trollen, Regen, Steinhagel und Erdbeben verwüstet worden. Die Zauberer verschwanden schließlich, aber innerhalb von Tagen hatte ihr Vermächtnis - Wassermangel, eine Pest, die durch Ratten ausgelöst wurde, Vampire und Seuchen den Rest des Dorfes ausgelöscht. Die Überlebenden waren fortgezogen, alle außer Gull und Greensleeves, die mehr aus Sturheit als aus Treue zu ihrer Heimat geblieben waren - genauer gesagt, Gull war geblieben, denn in jenen Tagen war Greensleeves umnachtet gewesen. Als sie in den Wäldern lagerten, hatten sie Versprengte aus den Armeen der Zauberer getroffen, die von ihren Führern im Stich gelassen worden waren: den Riesen Liko, der den rechten Arm im Kampf gegen eine Felsenhydra verloren hatte, die Kentauren Helki und Holleb, das mechanische Riesenpferd aus Holz und selbst einen unnützen Goblin namens Egg-Sucker. »Unnütz?« piepste eine Stimme. Der hüftgroße graugrüne Dieb sprang hinter einem Stapel Feuerholz hervor und fuchtelte drohend mit einem Kochlöffel in Gulls Richtung. »Ich bin nicht unnütz! Wer war es damals, der die Wölfe verjagt...« 83
»He!« unterbrach ihn ein Koch. »Das ist mein Löffel!« Egg-Sucker quäkte und wollte fliehen, doch er stieß einen eisernen Dreifuß um, so daß sich ein ganzer Kessel Suppe ins Feuer ergoß und es auslöschte. Hüpfend und sein Schienbein reibend, floh er in die Dunkelheit, gefolgt von dem wütenden Koch. Normalerweise hätten die Leute gelacht, doch dafür waren sie zu müde, und Gull konnte nur seufzen. »Vielleicht ist das unser Problem. Unser Glücksbringer ist ein Pechvogel... Wo war ich stehengeblieben? Ach ja...« Zu jener Zeit hatte sich Gull von einem Zauberer anwerben lassen, denn - das wußte er heute - der Mann verstand sich auf das Hypnotisieren und auf das Lügen wie eine Kobra. Später, fast zu spät, fanden sie heraus, daß der Zauberer Towser Greensleeves' verborgene Astralkraft erkannt hatte und plante, sie und Lily zu opfern. Glücklicherweise war sein Vorhaben in letzter Sekunde gescheitert, und die beiden ungelernten Zauberinnen hatten mit Hilfe von Gulls eigenwilligen Freunden gegen den Magier gekämpft und ihn in die Flucht geschlagen - und doch hatten vorher viele, viele Unschuldige das Leben verloren. »Vielleicht erkennst du jetzt, daß wir nichts als Schwierigkeiten von diesen Zauberern zu erwarten haben - außer von Lily und meiner Schwester hier. Sie sind wie Haie oder Schakale oder Drachen. Sie bekriegen sich untereinander und stehlen sich die Magie, um noch stärker zu werden. Wir Sterbliche sind nur wie Vieh, das sie benutzen, so wie die Götter die Menschen benutzen. Aber das Schlachtvieh hat beschlossen, sich zu wehren! Diese Armee«, er erhob die Hand, um die bunte Versammlung mit einzubeziehen, »besteht aus lauter Opfern, die unter den Heimsuchungen der Magier gelitten haben, und wir haben uns alle dem einen Ziel verschworen, Zauberer zu finden und sie von ihrem schändlichen Tun abzuhalten. 84
Und während wir das tun, versuchen wir - wenn wir können -, den Weg nach Hause zu finden. Zauberer denken sich nichts dabei, Menschen und Tiere aus ihrer Heimat zu reißen, sie Hunderte von Meilen entfernt in eine Schlacht zu werfen und sie dann einfach zurückzulassen und zu fliehen, wenn der Kampf verloren ist. Die Domänen sind so riesig, daß keine Karte sie erfassen kann, und es kann Jahre dauern, bevor einige von uns ihre Heimat finden. Manche von uns werden es nie schaffen, so wie der arme Tomas. Und deshalb haben wir die Kartographen, die das Land aufzeichnen, das wir durchqueren, und jeden befragen, den wir treffen, und die Bibliothekare, die die Geschichten, Gerüchte und Legenden sammeln und so versuchen, eine vollständige Karte zusammenzusetzen. Aber es ist nicht leicht«, fuhr Gull fort, und die Menge hörte versunken der Geschichte zu, in der sie alle eine Rolle spielten. »Wir sind jetzt neun Monde unterwegs, haben überall verlorene Seelen aufgegriffen und nach Zauberern gesucht, um sie zu beherrschen und aufzuhalten. Um sie zu töten, wenn nötig, obwohl wir noch nicht wissen, wie. Und wir suchen unsere Heimatländer, jedenfalls die meisten von uns. Greensleeves und ich haben kein Zuhause mehr. Bis jetzt«, schloß Gull, »sind wir über zwei andere Zauberer gestolpert und haben ihre Armeen und Monster niedergekämpft, doch jedes Mal konnten sie fliehen ... Doch wir sind alle Freiwillige und mit ganzem Herzen dabei. Das ist unser Vorteil in den Schlachten gegen versklavte Truppen. Wir mögen zwar aufgerieben werden - um so mehr, weil Tomas nun tot ist -, aber wir kämpfen hart. Und wir geben nicht auf.« Er hielt inne, um Atem zu holen. »Macht das irgendeinen Sinn? Oder sind wir verrückt?« Versunken in die Geschichte, platzte Norreen heraus: »Was? Nein. Aber... Ich habe nie davon gehört, daß 85
Zauberer sich bemühen, den Menschen zu helfen, ohne dafür den Schatz eines Königs als Gegenleistung zu fordern. In meinem Land nehmen selbst die Heiler für die Behandlung kleinster Wunden nur Gold.« Gull lachte leise. »Was ist schon Gold? Niemand in dieser Armee wurde jemals bezahlt. Wir teilen uns die Beute, die wir finden, aber es ist verdammt wenig.« »Keine Bezahlung?« Norreen schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie etwas von einer Armee gehört, die helfen und nicht verletzen will... Das ist wie ein... Kreuzzug!« Die Leute murmelten, als sie das erhabene Wort hörten, das nie zuvor ausgesprochen worden war. Norreen kam sich wie eine Närrin vor: Sie war beauftragt worden, sich in diese Armee einzuschleichen und ihre Anführer zu töten, und nun erregte sie Aufmerksamkeit und posaunte ihre Meinung frei heraus. »W-wo ist d-dein Hei-heimatland?« fragte Greensleeves. »U-und w-wie hei-heißt du?« »Hm? Oh... äh... Rakel.« Es war ihr wahrer Name, den sie jahrelang nicht mehr gehört hatte. »Aus... den Südlanden, nahe dem Hinterland von Gish. Mein... äh... Volk zieht Reben und preßt Wein.« Jedenfalls hatte Garth das getan, bevor die Magie seine Seele gefangengenommen und ihn entführt hatte - auch er war ein Opfer der Zauberei, wie alle, die hier versammelt waren. Aber diese hier waren vereinigt durch eine Idee, einen Kreuzzug, der den einfachen Leuten helfen sollte. Er diente nicht dazu, sich an Macht und Gold zu bereichern, sondern nur der Unterstützung von Unschuldigen. Wie in einer alten Geschichte, dachte sie, einer uralten Legende, die man Kindern erzählt, über die glorreichen Tage von Benalia, als die sagenhafte Stadt noch dazu bestimmt war, das Leben aller zu verbessern. Heute war der Ort ein intrigengeplagtes Labyrinth, in dem es alles käuflich war, selbst Loyalität und Ehre - einschließlich Kriegerinnen, wie sie eine war, und deren Seelen. 86
Und wenn sie diese beiden freundlichen Leute ermordete und diesen Kreuzzug enden ließe, dann würde das Böse dieser Welt triumphieren. Aber wenn sie sie nicht tötete, dann würde sie ihren Sohn nie wiedersehen... »Nun«, fragte Lily, die bisher geschwiegen hatte. »Wirst du bei unserem... Kreuzzug mitmachen?« »J-ja«, sagte Norreen, die jetzt wieder Rakel hieß. »J-ja. Ich bin dabei. Danke.« Doch Tränen rannen ihr über die Wangen.
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»Hier ist es!« freute sich Tybalt und hielt das Artefakt in die Luft, das in der Tat einer einfachen Wurstmaschine glich. »Wartet, bis ihr seht, was es kann!« Inzwischen hatten sie im Lager einen Anschein von Ordnung wiederhergestellt, und Greensleeves hatte die Möglichkeit, sich wieder um ihr >magisches Gefolge< zu kümmern. Tybalt, ihr Anführer, brannte darauf, mit seinen neuesten Entdeckungen anzugeben. Er spielte mit der Wurstmaschine herum und stopfte ein Mischmasch von Dingen in den oben angebrachten Fülltrichter, während er mehr zu sich selbst als zum Publikum sprach. Greensleeves saß vor ihrem Zelt auf einem Stuhl aus behelfsmäßig zusammengebundenen Zedernzweigen und Ästen, der auf dem wurzeldurchzogenen schlammigen Boden einen wohlriechenden, aber harzigen Sitz abgab. Ihr geschientes Gelenk lag auf einer Kiste und pochte heftig, trotz Ammas Gebräu aus Fieberklee, Fenchel, Hagebutten und anderen Heilkräutern. Cherrystone, die Kohlmeise, hüpfte auf Greensleeves' Bein auf und ab, als wäre es ein Ast, während der Dachs schlief und im Traum eingebildete Feinde anknurrte. Als Tybalt und zwei andere Studenten geschäftig ihrem Treiben nachgingen, faßte Greensleeves mit ihrer schmutzigen schwieligen Hand nach Kwams', woraufhin der große, stille und ernste Student seltsamerweise aufsprang. »E-es t-tut mir 1-leid, K-kwam. Ich w-wollte dir n-nur für d-deine Hi-hilfe danken. Daß du m-mich ge-getragen hast.« Greensleeves wunderte sich darüber, daß der Magie-
Student errötete und wegsah. Mochte er sie nicht? Er murmelte, daß es doch nichts gewesen sei, und ging dann weg, um irgend etwas zu holen. Greensleeves seufzte. Sie war so unbeholfen im Umgang mit Menschen. Siebzehn war sie nun, doch in vielen Angelegenheiten fühlte sie sich, als wäre sie erst ein oder zwei Jahre alt. Seit ihrer Geburt im Dorf Weißfels war sie durch die Magie des mysteriösen Flüsterwalds umnachtet gewesen - eine Halbverrückte, ein Einfaltspinsel. Ihre Familie - bis auf ihren Bruder waren nun alle tot, und niemals hatte sie sich für ihre Geduld angemessen bedanken können - hatte gesagt, daß sie mit dem >zweiten Gesicht gesegnet< sei, hatte sie akzeptiert und ihren Unfug, ihr Herumstromern und ihre Störungen mit Nachsicht hingenommen. Es war ihr Bruder Gull, der die >Hauptschuld< an ihrer Verwirrung trug, denn er hatte sie immer mit in den Wald genommen, wenn er Holz schlug, um ihr Gesellschaft zu leisten und sie davon abzuhalten, das Dorfleben zu stören. Oft genug hatte man sie dabei erwischt, wie sie Kaninchenställe und Brotöfen öffnete, Fallen auslöste, Säuglinge aus den Krippen stibitzte, Hunde losband oder Kuchen stahl. Kaum jemand - auch sie nicht - hatte gewußt, daß die seltsame Magie des Flüsterwalds ihre Seele und ihren Geist mit einer geheimen Kraft überschemmt hatte, so stark, daß ihr Denken ausgeschaltet worden war. Erst nachdem sie den Wald verlassen hatte, konnte sie das erste Mal in ihrem Leben klar denken. Doch noch immer war sie von Astralkraft erfüllt, so daß sie so leicht zaubern konnte wie ein Kind Sandkuchen backen. Aber wie ein Kind beherrschte sie die Kraft nur fehlerhaft, ungeübt und unkundig. Sie glich einem gespannten Bogen, doch es gab weder einen Pfeil zum Auflegen noch ein Ziel, auf daß man schießen konnte. Und was nutzte eine Kraft, die nicht beherrschbar war? Ein Blitz konnte Bäume spalten, doch wer wollte das schon? Als sie allein, mit nicht mehr Ver89
stand als eine Beutelratte, meilenweit durch die Wälder gestreift war, hatte sie sich mit Waldwölfen, Dryaden, großen und kleinen Dachsen, Bären, Elfen, Kardinalsvögeln, Berglöwen, Bienen, Waldschraten und Dutzenden anderer Kreaturen angefreundet. Doch was den Umgang mit Menschen betraf... Sie mochte sie sehr gern, verstand sie aber nicht immer, und nun hatte sie so viele Freunde - Lily, Tybalt, Kwam und auch diese Neue, Rakel -, obwohl sie niemals wußte, was sie gerade dachten. »In Ordnung!« Tybalts ungestüme Stimme unterbach ihre Gedanken. »Wir können beginnen!« Tybalt war ein Geheimnis für sie alle, denn niemand wußte, ob er ein Mensch, ein Elf, ein Halbelf oder ein Zwerg war - oder etwas ganz anderes. In den vergangenen Monden hatte er von ihrem Kreuzzug gehört und war über das Land gereist, um sich ihnen anzuschließen: ein langnasiger Kerl mit einem drahtigen Wangenbart und einer purpurnen Mütze, gekleidet in fremdländische Gauklerkluft. Als er erklärte, daß er ein >Fachmann in Sachen magischer Artefakte< sei (ob es nun stimmte oder nicht), hatte ihm Greensleeves leichten Herzens die Kisten, Töpfe und Spielzeuge anvertraut, die sie aus Towsers zerstörtem Wagenzug aussortiert hatte. Mit der Zeit hatte Tybalt noch andere Magie-Studenten angeworben, wie zum Beispiel Kwam. Zusammen mit zwei Frauen, Ertha und Daru, verbrachten die zwei jede Minute damit, mit dem Inhalt der Truhen herumzuexperimentieren. Da sie selbst jedoch keine Magie wirken konnten, hatten sie bis jetzt nur wenig herausgefunden. Die seltsame > Wurstmaschine < stand auf einer Kiste, auf der Tybalt sie notdürftig festgenagelt hatte. Er wedelte theatralisch mit dem Arm. »Dies hier sieht aus wie eine einfache Wurstmaschine, und in der Tat kann man Wurst damit machen. Einfach Fleisch, Gewürze und Mehl oben hineingestopft, den Darm über das Austritts90
loch hier unten gezogen, und schon hat man eine Wurst. Aber sie kann noch mehr! Stunde um Stunde haben wir mit Versuchen verbracht...« »Können wir mit der Vorführung fortfahren?« fragte die ältere wettergegerbte Daru. »Du machst mich hungrig.« »O ja, natürlich. Äh... Ah, und so haben wir alles, was wir finden konnten, in den Trichter hineingemischt, -gefüllt und -gestopft! Nun haben wir - laß mal sehen gesalzenes Schweinefleisch, Hirschhirn, Klettenblätter, Erde, Zedernzweige, Kerzenwachs und eine Prise Salz...« Greensleeves lehnte sich auf ihrem geflochtenen Stuhl nach vorn. Vielleicht würde Tybalt sich etwas beeilen, wenn sie ihn erwartungsvoll ansah. »Wie dem auch sei«, schloß er, »schaut her und staunt!« Entschlossen ergriff er die Kurbel und begann zu drehen, während Daru mit einem Stecken das Gemisch in den Trichter stopfte. Greensleeves beobachtete das Austrittsloch der ächzenden Maschine und erwartete, daß Wurstfüllung heraussickerte und sich auf dem Boden verteilte - aber es kam etwas Festes heraus, als sei die Wurst schon von einer Pelle umhüllt. Die junge Zauberin schluckte, denn was aus dem stählernen Loch herauskam, war eine... Klapperschlange! Der breite Kopf des giftigen Reptils leuchtete im satten Grün der Zedernzweige und war mit gelben Flecken wie von Kerzenwachs gesprenkelt. Für die Umstehenden sah es so aus, als sei die Schlange versehentlich in die Maschine geglitten und versuchte nun, sich wieder herauszukämpfen. Aber Greensleeves konnte sehen, daß es unmöglich war... »Paß auf!« brüllte Kwam so laut, daß die Zauberin hochfuhr, der Dachs bei dem Lärm wie ein Blitz verschwand und Cherrystone erschreckt aufflatterte. Tybalt war so sehr mit dem Drehen der Kurbel beschäftigt, und Daru achtete so sehr darauf, daß ihre Fin91
ger nicht in die Maschine gerieten, daß sie die Schlange vergessen hatten. Zitternd und zischend fiel das zwei Schritt lange Tier auf den matschigen Boden. Vielleicht durch die Kälte der Erde, den Lärm oder die >unsanfte< Beschwörungsweise höchst verärgert, wand sich die Schlange zu einem Knäuel und entblößte ihre vor Gift glänzenden Fangzähne, die weiß wie abgeschabte Knochen schimmerten. Das Untier richtete seinen kurzsichtigen Blick auf Greensleeves' verwundetes Bein, und als Tybalt und Daru aus dem Weg sprangen, rasselte es kurz und richtete sich wütend auf. Obwohl Greensleeves alle Tiere liebte, schrie sie entsetzt auf... ... doch Kwam sprang zwischen sie und die Schlange, die sich streckte und so rasch wie ein blitzender Dolch vorstieß. Der Magie-Student stöhnte, als der Kopf des Reptils sein Knie traf und die nadelspitzen Giftzähne sich durch die wollene Hose bohrten. Die Schlange schüttelte sich, um ihre Zähne zu befreien, wobei einer abbrach, und ihre kräftigen Bewegungen ließen Kwam wie einen Baum im Sturm schwanken. Dann hatte sich Tybalt wieder gefangen, riß die Wurstmaschine hoch und zerschmetterte der Klapperschlange das Rückgrat. Das verwundete giftige Reptil warf sich herum, um den unachtsamen Studenten anzugreifen, doch es kam nicht mehr zum Biß: Ein kräftiger Tritt von Kwam zerquetschte ihm den Kopf. Der lange, starke Körper der Schlange bog sich durch, bäumte sich noch einmal auf wie eine Peitschenschnur und lag endlich still da. Tybalt schob seine purpurne Kappe zurück und rieb sich den kahlen Schädel. »Puh! Mensch! Nie zuvor haben wir eine giftige herausgekriegt! Sie waren immer klein, wie harmlose Landnattern! Ich frage mich, ob wir vielleicht zuviel Pfeffer hineingetan...« Er verstummte, als Kwam gegen ihn stolperte. 92
Nach dem Durcheinander - man hatte inzwischen Kwams Bein mit einer Aderpresse abgebunden und ihn in das Krankenzelt getragen - schnitt Amma die Wunde auf und saugte sie aus, während die anderen Heilerinnen ihm die Arme und Beine massierten, um das Gift im Körper zu verteilen. Schließlich erklärten sie, daß er überleben würde. Unterdessen hatte Tybalt viel Mühe, irgend jemanden für ein weiteres magisches Artefakt zu begeistern. »Dieses hier«, er hielt einen Gegenstand in die Luft, der aussah wie eine Spieldose - ein Zinnhund auf einem kleinen Postament, »haben wir in einer Kiste mit einem magischen Schloß gefunden, das wir aufbrachen.« Er erwartete nicht, daß ihm jemand zusah, und sprach endlich einmal leise. »Wenn man es aufzieht und in die Nähe einer Magierin hält, dann...« Er drehte den Schlüssel im Rücken des Hundes, und sofort bewegte sich dieser auf dem Podest, richtete seine winzige Schnauze auf Greensleeves und Lily und bellte: »Wauwauwauwauwauwauwau!«, ertönte es lange nervenzerrüttende Minuten, bevor sich die Feder abgespult hatte. Tybalt sah in den Kreis der grimmigen Gesichter im blassen Morgenlicht. »Ist das nicht großartig?« Greensleeves machte es sich in dem Rohrstuhl bequem und versuchte, nicht zu stöhnen. Cherrystone kam zurück, und sie bot ihm einen Finger als Landeplatz. »J-ja, T-tybalt. D-das ist schö-schön. W-wundervoll. N-nimm es b-bitte we-weg.« Tybalt nickte trübsinnig und schlich sich mit seinem Zinnspielzeug von dannen, während Daru und Ertha schweigend an der Entzifferung einer Schriftrolle arbeiteten: Sie hatten keine Lust, an Tybalts Schande teilzuhaben. Gull war an den Ort des Geschehens gerannt, als der Magie-Student gebissen worden war, und Rakel war ihm wie ein Schatten gefolgt (wenn es Gull überhaupt aufge93
fallen war, so hatte er es zumindest nicht kommentiert). Müßig grübelte der Holzfäller: »Ich frage mich, ob Towser so herausgefunden hat, daß du und Lily unerkannte Zauberinnen seid. Aber warum hast du nichts von dem Gebell gehört?« Greensleeves warf beide Hände in die Luft und ließ sie wieder fallen. »I-ich we-weiß n-nicht...« Sie gab es auf. Das Reden war zu schwierig, und ihr Gestotter ermüdete sie. Früher hatte es ihr besser gefallen, damals, als sie nur Tierlaute von sich gegeben hatte: das Schnüffeln eines Dachses, das Gekeckere eines Erdhörnchens, das Pfeifen eines Eichelhähers. Beiläufig und ohne nachzudenken erhob Rakel ihre behandschuhte Hand und deutete auf die rosafarbene umbundene Schachtel, die auf einer Kiste lag. »Was ist denn das für ein häßliches Ding?« Alle sahen auf. Lily, die still dagesessen und ein Hemd gesäumt hatte, antwortete: »Das ist ein Speicher für astrale Kraft, glauben wir. Towser ließ ihn vom Grunde eines Krater heraufholen. Er fiel vom Himmel und speichert vermutlich Mana, magische Energie, aber wir waren noch nicht in der Lage, herauszufinden wie. Towser trug ihn auf dem Kopf, festgebunden mit einem Schal, als er versuchte, Greensleeves zu opfern, aber wir glauben nicht, daß man ihn so benutzen muß.« Die ehemalige Tänzerin sah die Kriegerin eindringlich an. »Warum fragst du?« »Reine Neugier.« Rakel zuckte mit den Schultern. Sie wußte, daß es das einzige Objekt gewesen war, nach dem es der räuberischen Karli gelüstet hatte. Doch sie hatte es nicht mitnehmen können, denn es war plötzlich unberührbar geworden. Rakel behielt ihr Wissen aber für sich, denn es konnte sich noch als nützlich erweisen. »Es ist scheußlich.« Lily nickte wortlos und machte sich wieder an ihre Näharbeit. Ohne aufzuschauen bemerkte sie, wie Gull ging und Rakel ihm auf dem Fuße folgte. Sie seufzte laut, zog einen Faden durch den Stoff und zerriß ihn dabei. 94
Greensleeves seufzte ebenfalls. »Du auch, Lily?« Lily legte ihre Arbeit zur Seite und starrte in den Himmel. »Was sollen wir tun, Greensleeves? Was können wir tun?« Greensleeves stand auf, humpelte auf dem unverletzten Fuß herum und rückte ihren Stuhl so zurecht, daß sie ihrer Freundin, die auf einem Hocker saß, ins Gesicht sehen konnte. Obwohl die winterliche Luft eisig war, war es doch für die in dicke Wollmäntel gehüllten Frauen angenehm warm im fahlen Sonnenschein. Das Geschehen im Lager spielte sich um sie herum ab: Gehetze, schreiende Kinder, die einander jagten, brüllende Weibel, die ihre neuen Rekruten ausbildeten, der Geruch eines brutzelnden Bratens, ein Vater, der seinem auf den Rücken gebundenen Kind etwas vorsang, während er auf einem kleinen Amboß hämmerte. Cherrystone schob sich tiefer unter Greensleeves' Mantel und schlief ein, doch die beiden Frauen waren sichtlich bedrückt. Greensleeves fragte: »V-vielleicht, w-wenn wir u-uns überlegen w-was wir w-wissen...« »Das haben wir doch schon! Tausend Mal!« »Ich w-weiß, ich weiß! A-aber v-vielleicht haben wir e-etwas ü-übersehen.« Lily unterdrückte ein Seufzen, denn die Beharrlichkeit ihrer Freundin ermüdete sie. »Also gut. Laß es uns versuchen. Was wissen wir? Gut, tatsächlich wissen wir nichts außer dem, das wir selbst gesehen und getan haben. Also, was ist sicher, geht man davon aus?« Lily fuhr fort und zählte auf. Es schien, als hätten Zauberer die Fähigkeit (woher, konnte niemand sagen), Dinge von einem Ort an einen anderen zu beschwören. Wenn Zauberer durch das Land reisten, konnten sie Dinge berühren, sie >einfangen< (Tybalts Wort). So konnten sie einen Katalog anlegen, in dem Tiere, Pflanzen, Naturerscheinungen - wie Stalagmiten -, Magiequellen - wie Schwarzer Lotus -, verzauberte Wiesen und alle Arten von Kreaturen aufgeführt 95
waren. Diese Dinge enthielten >Manaanzapfen< konnten (niemand wußte wie). Magier, die etwas >eingefangen< hatten, konnten später das Mana nutzen (aus dem Land, in dem sie sich gerade befanden; oder aus dem Land, in dem sie das Objekt berührt hatten; das Mana in sich selbst?), um das Objekt an ihre Seite zu beschwören. Auf irgendeine Weise konnten sie das gerufene Objekt dann dazu zwingen, nach ihrem Willen zu kämpfen - wenn sie in der geheimen Kunst unterrichtet worden waren. Weder Greensleeves noch Lily waren ausgebildet worden, so daß sie nur auf gut Glück zaubern konnten und manchmal nicht einmal das. Sie vermuteten, daß Greensleeves seit frühester Kindheit von der Magie des Flüsterwaldes überschwemmt worden war und nun in Bedrängnis Dinge herbeirufen konnte, die sie früher einmal berührt hatte. Aber sie konnte sich nicht selbst durch die Leere bewegen (>teleportieren< - ein weiteres von Tybalts Worten), so wie es Towser und die anderen Zauberer, die sie gesehen hatten, taten. Warum nicht? Wie vollbrachten sie das? Warum glühten die Dinge, die Lily herbeirief, weiß, während die von Greensleeves sich in Erdfarben kräuselten? Wie konnten andere Zauberinnen Horden von Dämonen beherrschen? Hatten sie sich in dämonische Länder gewagt und jeden einzelnen berührt? Niemand wußte es genau, obwohl alle - Greensleeves, Lily, Tybalt und die Bibliothekare - hundert Ideen und Vermutungen aus aufgeschnappten Geschichten und alten Legenden hatten. Gieensleeves litt sehr unter der ganzen Verwirrung, und Lily ging es nicht besser. Sie wußten, daß auch sie magische Fähigkeiten besaß, denn damals, als Greensleeves geopfert werden sollte, war sie so in Angst aufgelöst gewesen, daß sie sich nach Gull gesehnt und ihn so von einer fernen Insel herbeibeschworen hatte, auf die er verbannt worden war. Dieses eine Mal hatten ihre 96
Hände in einem reinen Weiß geglüht (die ehemalige Prostituierte lachte bitter über die Tatsache, daß irgend etwas an ihr rein sein könnte), doch seit dieser Zeit war ihr nicht ein Spruch gelungen - bis auf eine Ausnahme. Und so waren Lily und Greensleeves Zauberinnen ohne die Möglichkeit, ihre Kraft sinnvoll einzusetzen. Zugegeben, Greensleeves konnte Berglöwen, Waldwölfe und Schwertwälle beschwören, aber weder schnell noch leicht. Und man mußte sich nur die blauen Flecken, die Verwundungen ihrer Gefolgsleute und die Reihe der frischen Gräber am Waldrand ansehen, um zu wissen, wie zufällig ihre Zauberei war. Tatsächlich gäbe es kaum diese Armee, wenn nicht Tybalt und seine Studenten gewesen wären. Sie hatten mit einem korallenbesetzten Silberreif herumgespielt und ein schimmerndes Tor zu der Insel geöffnet, auf die Towser seine Gefangenen verbannt hatte. Als sie durch das Tor auf die Insel gelangt waren, war es ihnen gelungen, Bardo, die roten Soldaten Tomas, Neith und Varrius und eine Handvoll Orks zu retten. Dort hatten sie aber auch einige Seltsamkeiten - beispielsweise eine gewaltige orientalische Lehmstatue - entdeckt. Die geretteten Krieger waren das Herz ihrer Armee geworden, denn Gull wußte nichts über Streitmächte und ihre Organisation. Und doch - wie Gull es gesagt hatte - war Tomas zum Kämpfen gekommen und hatte nur den Tod gefunden. Magie, so hatte er genörgelt, konnte ein Segen oder ein Fluch sein, üblicherweise aber traf letzteres zu. Für Lily hatte sich die Magie als Grund für die Suche nach sich selbst erwiesen. Seit ihrer Kindheit war sie eine Tänzerin und Liebesdienerin gewesen, praktisch denkend und mit einem Herzen aus Stein. Ihr Leben kannte wenig Ehrgeiz und keine Illusionen, doch dann war sie von der Erkenntnis überrascht worden, daß sie eine Zauberin war - wenn sie auch nur einen Spruch beherrschte. Zwar sonnte sie sich im Ruhm ihrer neuentdeckten Fähigkeiten, doch gleichzeitig erschreckte sie die Kraft, 97
und sie weigerte sich bislang, diese auszuprobieren fast so wie ein kleiner Vogel, der das Nest nicht verlassen will. Und so hatte sie an allem zu zweifeln begonnen, was in ihr steckte: Magie, Leben, Liebe, Treue. »Ich war immer so zuversichtlich!« klagte sie. »Ich wußte darüber Bescheid, was ich war, meine Aufgaben waren klar: Ich mußte nur mit Towser herummachen und mein Geld einsammeln. Ich wollte in eine Stadt ziehen und einen Laden aufmachen, verdammt. Aber jetzt... Was nütze ich dieser Armee und diesem Kreuzzug? Du verteidigst uns mit deinen Beschwörungen, Gull organisiert die Schlachten, Amma heilt, die Kartographen zeichnen, die Köchinnen kochen - ich kann nicht einmal das, bei Xiras Schwingen! Ich bin nicht einmal mehr eine Hure! Oder wenigstens die >Geliebte des Generals
der Wald bedeckte die Spitze eines weiten Hochlandtafelbergs. Greensleeves fühlte sich nicht sehr müde. Als sie durch die Taiga geritten war, hatte sie innerhalb - so schien es - einer Stunde die Sonne durch den Himmel wandern, untergehen und wieder aufgehen sehen, doch nicht ein einziges Mal hatte sie Hunger oder Durst verspürt. Ein weiterer verkürzter Tag folgte, bis sie die Taiga durchquert hatte, dann drei weitere Tage, an denen sie den Abhang zum Plateau hinaufgeklettert war - manchmal mußte sie an Stellen absteigen, die zu steil zum Reiten waren, und hinaufkriechen -, und schließlich noch einmal drei Tage, in denen sie durch einen Eichenwald geritten war. Und alles schien nicht länger als einen Tagesritt gedauert zu haben... Während sie auf ihrem niemals ermüdenden Pferd vorwärtsgeritten war, der Dachs leichtfüßig neben ihr hergehuscht war und die Kohlmeise niemals ihre Schulter verlassen hatte, hatte sie darüber nachgedacht, daß ihr Bruder begeistert gewesen wäre, diesen Wald zu sehen. Es wimmelte nur so von Wildschweinen, Hirschen und Elchen, von Waschbären, Opossums und Bibern in den Bächen. Selbst in diesem frühen Winter gab es mengenweise Pilze und Teebeeren. Die Sonne schien hell hier oben, und Greensleeves wußte, daß dies nicht nur an der Höhe lag - es war diese Frau... Sie trug eine wie durch ein Wunder saubere weiße Robe aus reiner Wolle, nichts an den Füßen und keinerlei Schmuck. Ihr langes weißes Haar fiel ihr in den wirren Locken einer alten Frau auf den Rücken. Ihre Augen waren geschlossen, aber als das Mädchen näher kam, sagte sie: »Sei gegrüßt, Greensleeves. Ich freue mich, daß du gekommen bist.« Mit der zerfurchten, blaugeäderten linken Hand wischte sie sich einen Speichelfaden vom Kinn. Das Mädchen hatte keine Wahl gehabt, doch sie sprach es nicht aus, sondern musterte neugierig diese 109
Zauberin, die offensichtlich sehr mächtig war - mächtig genug, um immer noch am Leben zu sein. Ihre gesamte rechte Seite war gelähmt: Das Gesicht war halb eingefroren, und die Lippe hing zu einer Grimasse verzogen schlaff herunter. Der rechte Arm baumelte kraftlos und verdorrt am Körper, das Bein war verdreht, der Fuß verkrüppelt und die Schulter nach oben verwachsen. Doch auch die linke Körperhälfte hatte nicht viel Kraft, und so konnte die alte Frau nichts tun, als sich auf den Stein zu quälen und wie ein alter Hund das Sonnenlicht zu genießen. Als hätte sie Greensleeves' Gedanken gelesen, wisperte die Alte mit einer Stimme, die an das Raspeln von Kornhülsen erinnerte: »Ich entschuldige mich für mein Aussehen. Schau, ich kämpfe gegen den Tod, und das schon seit langem. Er besucht mich regelmäßig, wie ein unerwünschter Werber, doch jedesmal verjage ich ihn von meiner Tür. Wie so viele Werber vor ihm...«, fügte sie mit einem Kichern hinzu. »Aber jedes Mal sterbe ich ein bißchen, wie ein Baum, der von Zeit zu Zeit einen Ast verliert. Der Verfall hat mein Herz noch nicht zum Stillstand gebracht, doch es braucht viel Magie, um es in Betrieb zu halten.« Erneut kicherte sie trocken. Greensleeves glitt aus dem Sattel und achtete sehr darauf, auf dem gesunden Fuß aufzukommen und den verletzten zu schonen. Sie ließ das Pferd los, so daß es zwischen dem Liebstöckel am Rand der Lichtung grasen konnte. Auch der Dachs und ihr Vogel machten sich auf Nahrungssuche davon. Furchtlos zwängte sich das Mädchen auf den Felsen neben die alte Frau. »D-du bist ei-eine Dr-dr-...« Sie holte Luft. »Druidin!« »So ist es. Und du bist eine Zauberin. Aber unausgebildet. Willst du lernen?« Greensleeves riß die Augen auf. »J-ja! J-j-ja...« Einen Moment lang konnte sie nur stammeln. Erneut holte sie tief Luft. »Ja! Ich w-würde g-gerne! K-kannst d-du mimich 1-lehren?« 110
»Ja, ich kann. Wenn du dich richtig bemühst. Wenn du das Opfer bringen willst.« »Be-bemühen? Ich w-will mi-mich be-bemühen! Aber w-was für ein O-opfer?« »Jedes. Alles. Das letzte Opfer.« »M-mein Le-leben?« »Das und mehr.« Greensleeves war verwirrt. Welches Opfer war größer als das eigene Leben? »A-alles. Ich h-hasse es, eine hahalbe Ma-gierin zu sein, d-die wei-weiß, daß sie d-die Kr-kraft hat, sie a-aber n-nicht nu-nutzen k-kann.« Die Hände der Druidin flatterten vom Felsen auf und kamen auf Greensleeves' Hand zu ruhen. Sie waren leicht wie eine verlorene Feder, doch kalt wie ein Eiszapfen. »Ich bin Chani« ertönte ein Wispern. »Mein Name bedeutet >EichenwaldWeg< war eigentlich zuviel gesagt, denn um Greensleeves' Spur zu folgen, mußten sie sich zwischen den verhakten Ästen des endlosen Nadelwalds durchkämpfen. Die Späherinnen und Späher waren alle gleich gekleidet: grüne oder braune Tuniken und Hosen, stumpfgraue Wollmäntel und Hüte mit tiefen Krempen, die ihre Gesichter beschatteten. Aus ihren Satteltaschen ragten Langbögen hervor, und tief an ihren Hüften hingen Kurzschwerter mit breiten Klingen - sogenannte Pallasche -, die Wild, Zweige oder Feinde zerteilen konnten, »Wie kann sie verzaubert worden sein«, fragte Gull, »wenn niemand irgendwelche Fremde ins Lager kommen sah und Lily direkt an ihrer Seite schlief?« Bardo zuckte mit den Schultern und schloß seinen Gürtel. »Isch weiß nischt. Abär, wir 'aben ein lahmäs Mädschan auf einäm Ffärd, das gut für 'ündefüttär ist, keine Feldflaschän, kein Essän, keine Deckän, auf einäm Spazierritt, während wir so 'art gerittän sind, daß unsäre Blasän bald platzän, abär wir 'aben kein Zeischän gese'än, daß sie abgestiegän ist.« Der Paladin, ein großer Mann mit bedächtigem Gang, ging in die Knie und schob einige Zweige zur Seite. Die trockenen Nadeln darunter zeigten Hufabdrücke. »Deine Schwestär ist entwedär ein meschanischäs Tier wie Stiggörs 'ütablagä odär sie ist unter einäm Bann. Selbst Rittär in einem Kreuzzüg reitän nischt mähr als sechs Stündän am Stück.« Gull wollte vor Enttäuschung schreien. »Aber sie reitet nur Schritt, und wir reiten wie die Teufel! Wann werden wir sie einholen?« Bardo zuckte erneut mit den Schultern. »Vielleischt gar nischt. Isch würde sagän, daß sie üntär einäm Bann steht und nischt an'altän wird, bis sie ihr Ziel erreischt 'at. Isch 'abe ge'ört von solschen Sprüchen, ein Bann auf Pfärd und Reitär. Die Zeit wird verkürzt, so daß Tagä in 112
Stündän verge'än. Was das Ein'olän angeht... wir sind keine 'exän, und unsere Tiere müssen rü'en.« »Aber...« Bardo verschwendete keine Zeit mit Diskussionen und wandte sich an seine Späher: »Eine Stündä! Dinos, das Lagär da vorne, Channa, be'alte unseren Rückwäg im Augä. Gebt ärst eurän Pferdän zu trinkän.« Um ein Beispiel zu geben, goß er Wasser für sein weißes Schlachtroß in seinen Helm. Der Atem des Pferdes dampfte, als es gierig trank. »Rakäl ist dein Namä? Du kennst disch aus mit Kündschaftän? Wir werden se'än. Isch wärde dir eine Aufgabä zuteilän, wie dem Rest. Schür das Signalfeuär an.« Nur Gull als General erhielt keine Aufgabe, was bedeutete, daß er um so mehr Zeit hatte, sich Sorgen zu machen. Um sich irgendwie abzulenken, fällte er eine Zeder und hackte deren Äste ab, während Rakel Feuerstein und Stahl schlug. Die Kriegerin war von der Arbeitsweise des Holzfällers beeindruckt: Er setzte seine große Kraft ein, ohne sie zu verschwenden. Sie fragte: »Du machst dir ziemlich viel Sorgen um deine Schwester, nicht?« »Was? Oh. Ja, klar.« Er stapelte die trockensten Zweige auf das Feuer, um es anzufachen, dann legte er die grüne Baumkrone darauf, um grauen Rauch zu erzeugen. »Ja. Obwohl sie kein Einfaltspinsel mehr ist, ist sie immer noch so unwissend.« Rakel verkniff sich ein Lächeln. Seine Schwester war nicht die einzig Unwissende in diesem Wald. Sie konnte die Naivität dieses Mannes kaum fassen, der alle Fragen beantwortete - anders als die Männer aus Benalia, die jeden Gedanken hüteten und sich jede Tat zweimal überlegten, damit niemand ihre Stärken oder Schwächen gegen sie einsetzen konnte. So wie es Garth in letzter Zeit auch getan hatte. Sie bedrängte Gull mit weiteren Fragen und redete sich ein, daß es darum ging, mehr über den Feind zu erfahren - das Ziel des Mordanschlags. 113
»Ist Greensleeves deine einzige Verwandte?« »Ja.« Gull stützte sich auf den Axtgriff und starrte in die Flammen, als lägen dort die Antworten. Als Rakel eine ihrer eisernen Rationen anbrach, wurde Gull ebenfalls ans Essen erinnert. »Unsere ganze Familie wurde getötet, als zwei Zauberer Weißfels zerstörten. Das Herz meiner Mutter war einem lebenentziehenden Spruch nicht gewachsen. Mein Vater wurde getötet, als Steine vom Himmel regneten. Der Steinhagel oder vielleicht die Pest haben mir auch meine Brüder und Schwestern genommen. Mein kleiner Bruder, Sparrow Hawk, verschwand spurlos. Ich denke, er wurde von Soldaten gefangengenommen und versklavt, oder er ist gestorben, und ich konnte seine Leiche nicht finden. Wir werden es niemals erfahren. Greensleeves ist alles, was ich noch habe, und es ist meine Aufgabe, auf sie aufzupassen. Ich nehme meine Verpflichtungen ernst.« Rakel nahm einen Schluck Wein aus einem Schlauch und betrachtete ihn verstohlen. »Sie ist sicher nicht alles, was du hast. Was ist mit Lily? Ist sie nicht deine... Geliebte?« Ein Achselzucken antwortete ihr. »Ich weiß nicht. Sie war es für eine Weile, aber sie ist nun besessen von der Zauberei. Wie es meiner Schwester auch langsam ergeht. Da ist etwas an der Magie, das süchtig macht, und Zauberer brauchen es mehr als Nahrung, Liebe, Freundschaft und alles andere. Ich hoffe, ich werde nie erkennen, was sie so anzieht. Es raubt ihnen die Menschlichkeit. Und es hat meine Schwester in seiner Gewalt, schon wieder, verdammt!« »Aber was ist mit der Armee? Deine Leute sind dir treu ergeben. Sie sehen zu dir auf.« »Eine Versammlung von Ausgestoßenen. Die eine Hälfte sucht ihre Heimat, die anderen haben sich eingeschrieben, weil wir ein bißchen was bezahlen und sie sich nach Abenteuern sehnen, oder weil sie gar keine Heimat haben. Es wäre mir lieber, es gäbe keine Armee 114
und Greenie, ich und meine Familie würden noch immer glücklich in Weißfels leben und hätten nie etwas von Magie gehört. Aber das ist alles vorbei. Und sich Zauberer wegzuwünschen ist wie im Herbst nach Pferdefliegen zu schlagen. Man muß mit ihnen leben.« Er schürte das Feuer mit dem Axtkopf und achtete sehr darauf, daß sich die Klinge nicht zu sehr aufheizte und dadurch zerstört würde. Rakel aß schweigend. Sie stellte keine weiteren Fragen mehr, denn seine Antworten trafen sie fast ins Herz. Er wollte keinen Ruhm, keine Ehre, keine Schmeicheleien oder Reichtümer. Er wollte nur ein Zuhause, eine Familie und ein friedliches Leben, um einen Hof zu bestellen oder seinen täglichen Arbeiten nachzugehen. Das war auch Garths Traum gewesen, so hatte er es jedenfalls gesagt. Aber die Magie hatte ihn verführt, und sie war von ihrem Herd gezerrt worden, um alte Schulden zu begleichen. Warum verweigerten einem die Götter die Dinge, die man sich wünschte - selbst die einfachsten? Gull, dachte sie, würde seine Familie nie verlassen, um der Magie und dem Ruhm hinterherzurennen. Er war ein Mann ganz nach ihrem Herzen... »...es ist alles wie ein Spinnennetz, siehst du? Wir sind ein Teil davon. Einige Zauberer glauben, daß wir das Zentrum sind, aber jeder mit Verstand kann sehen, daß es keine Zentren gibt, nur sich überlappende Zonen wie bei Schneeflocken, die mit ihren sechs Spitzen in einer Schneewehe aufeinanderliegen, sich berührend, doch voneinander entfernt, vereint, doch gleichzeitig getrennt...« Die Tage vergingen schnell für Greensleeves, die von der Morgen- bis zur Abenddämmerung eifrig lernte und nie müßig war Chani gönnte ihr keine Ruhe. Die alte Druidin redete unaufhörlich, denn sie hatte eine Welt von Wissen zu verschenken, und es blieb ihr nicht mehr viel Zeit. Die Frau wurde wie Greensleeves niemals 115
müde, obwohl sie nur Pilze, Eichelbrot, Weidenrindenstreifen, Geigenköpfchen oder Teebeeren aßen. Die Nächte vergingen in einem Augenblick, und Chani redete bereits wieder, wenn Greensleeves aufwachte. Aber vielleicht vergingen die Nächte ja auch, ohne daß sie es bemerkte, und die Dunkelheit kam und ging wie eine Wolke, die vor der Sonne vorüberzog. Aber sie hatte keinen Grund zur Klage, denn jede Minute lernte sie mehr, tauchte tiefer und tiefer in die Zauberwelt längst vergessener Weisheiten und Erkenntnisse ein, bis sie fürchtete, nie wieder in die wirkliche Welt zurückfinden zu können. Doch sie hörte zu und übte sich in ihren neuen Fertigkeiten und wurde mit jedem Tag selbstsicherer. »... ein Ding von einem Ort zu einem anderen zu beschwören, ist sonderbarerweise die leichteste Aufgabe, die man ausführen kann«, erklärte Chani eines Tages. Die alte Frau sah so verfallen aus wie immer, nur ihre heisere wispernde Stimme war lebhaft, und nur selten verließ sie ihren warmen Felsen. Doch Greensleeves fühlte, daß sie das Universum und all seine Dimensionen erforscht und selbst die Sterne berührt hatten, während sie auf dieser einen Lichtung saßen. »Es ist keine Kunst, ein Objekt von einem Platz zu einem anderen zu bringen. Es ist schwieriger, von einem Stuhl aufzustehen, durch eine Tür zu gehen und eine Kerze aus einem anderen Raum zu holen. Beschwörungen bewegen Dinge durch den Raum. Du wählst ein Objekt aus und machst den Raum, der es umgibt, zu deinem Raum...« Eigentlich erwartete Greensleeves jeden Tag den Schnee, denn es war früher Winter gewesen, als sie das Lager verlassen hatte, und nun mußten sie dem Jahreswechsel recht nahe sein. Doch jeder Tag blieb so mild, wie der Winter nur sein konnte, und jeden Tag lernte sie mehr. Gelegentlich fragte sie sich, wann Gull ankommen würde, doch dann schob sie diesen Gedanken beiseite. 116
Sie hatte sich um Wichtigeres zu kümmern als um Nahrung, Gesellschaft oder Schlaf. Sie lernte, wie sie das Universum selbst ändern konnte. Doch in manchen Nächten kehrten die Träume zurück - die Träume vom Wahnsinn, und je mehr sie über die Magie lernte, um so näher fühlte sie sich an den Abgrund gezogen... Doch immer war Chanis raspelnde sanfte Stimme da, die sie ermutigte, anspornte und ihr Lob und Sicherheit schenkte wie einst Greensleeves' Mutter Bittersweet, an die sich das Mädchen - damals noch ein Einfaltspinsel nur undeutlich erinnern konnte. Vielleicht konnte Greensleeves ihrer toten Mutter all die liebende Pflege vergelten, wenn sie sich um Chani kümmerte. Und gewiß fühlte sie sich am behaglichsten, wenn Chani sie >Kind< nannte. »Du nennst mich eine Druidin oder, noch mehr, eine Erzdruidin«, sagte Chani, »doch >Druidin< ist nur ein Name für eine Zauberin, die von Naturmagie durchdrungen ist. Magierin, Spruchwirker, Hexe, Thaumaturg, Zauberin, Dimensionsreisender, Magie-Macherin, Schamane, Priesterin - alles nur Namen. Die Leute benennen einen Eichelhäher, doch sie tun es nur für sich selbst: Es ändert nicht das Leben des Eichelhähers oder das, was er über sich selbst denkt...« So nahmen die Lektionen ihren Fortgang, und Greensleeves fühlte, daß sie das Wissen eines Lebens innerhalb kurzer Zeit lernte. Eines Morgens fand sie Cherrystone steif und kalt in ihrem Umhang. Als sie den Tod des Vogels ansprach, antwortete Chani: »Kohlmeisen leben nur zwei oder höchstens drei Jahre, Schatz...« Gulls Suchtrupp verließ die Taiga am zweiten Tag und erklomm einen mit gelbem Gras bewachsenen Abhang, um auf ein weiteres Plateau zu gelangen. Oft mußten sie absteigen und die Pferde halb hinter sich herzerrend auf Händen und Füßen weiterklettern. Nachts pflockten sie 117
die Tiere sorgfältig an und stellten Wachen auf, und Gull bestand darauf, ebenfalls eine Schicht zu übernehmen. Die Späherinnen und Späher lebten in ihrer eigenen Welt. Sie lasen die Zeichen und Geräusche des Waldes, wachten in der Nacht und sprachen nur wenig. Dinos und Channa waren ein Liebespaar, das sich des Nachts die Decken teilte. Bardo ritt voraus oder entfernt auf einer Seite und verlor sich in seinen eigenen Gedanken, wenn er mit seinem Gott Zwiesprache hielt. So ritt nur Rakel neben Gull, und sie unterhielten sich. Sie sprachen über viele Dinge, obwohl sie sehr darauf bedacht war, ihre Worte zu hüten. Sie ließ ihn in dem Glauben, daß sie eine einfache umherstreifende Söldnerin und von Karli in den Dienst gezwungen worden war. Aber sie sprach über ihre Familie, die sie in Benalia zurückgelassen hatte, und Gulls gelegentliche Fragen erinnerten sie an Dinge, die sie schon vor langer Zeit vergessen hatte: Geschichten, Erinnerungen und Ereignisse aus ihrer Kindheit und Jugend, Dinge, die vor kurzem an die Oberfläche ihres Bewußtseins gedrungen waren, denn jetzt hatte sie ihr eigenes Kind, Hammen. Die Gedanken an ihren Sohn drohten ihr das Herz zu zerreißen, doch es war ein süßer Schmerz, und sie fühlte sich ihrer Familie trotz der großen Entfernung näher als je zuvor. Dennoch schwor sie sich, daß sie ihr Kind zurückbekommen und ihre verlorene Familie wiedersehen würde. Und wenn Garth zurückkehrte, dann würde sie fordern, daß er seine Magie einsetzte, um den Menschen zu helfen, und nicht Monster und Mörder beschwor, um gegen Mörder und Monster zu kämpfen. Aber um ihren Sohn zu befreien, mußte sie dem Rat die Köpfe von Gull und Greensleeves bringen und sie dem abscheulichen Sabriam darbieten... Konnte sie das nun tun? Wäre es besser, niemals wieder zurückzukehren? Konnte sie sich vor dem Beschwörungsmagier Guyapi verstecken? Konnte sie in den unendlichen Weiten der Domänen untertauchen 118
und hierbleiben? Aber, ach, ihr Sohn würde niemals seine Mutter kennenlernen... Abend für Abend lag Rakel in ihre Decken gehüllt unter den frostigen Sternen und hörte Gull, wie er keine zwei Schritt entfernt atmete und das Lager abschritt. Nach Tagen voller Schmerz war die Milch in ihren Brüsten schließlich getrocknet und ihr weicher Körper von der Reise gestählt worden. Als sie nun allein dalag und ihren Sohn und Garth neben sich vermißte, ertappte sie sich dabei, wie sie sich danach sehnte, umarmt zu werden. Und eines Nachts war es nicht mehr Garth, dessen Bild in ihrer Vorstellung mehr und mehr verblaßte, sondern Gull, den sie ganz fest an sich drücken wollte. Weitere Lektionen... »Die astrale Kraft ist in allen Dingen enthalten, in manchen mehr als in anderen. Menschen bergen etwas, Elfen sind so damit durchdrungen - wie ein Tautropfen vom Sonnenlicht - daß sie sie nicht von ihrem täglichen Leben trennen können. Manche Menschen bezeichnen sich selbst als Glückspilze, doch Glück ist nichts anderes als die Anwendung von Magie, ohne es zu bemerken. Es gibt also Magieanwender und Menschen, die ihre Magie nicht benutzen. Astral begabt sind alle, doch nur einige wenige haben gelernt, die Kraft in sich anzuzapfen...« Eines Morgens streckte Greensleeves die Hand aus, um ihren Dachs zu tätscheln, doch er biß sie. Überrascht untersuchte sie das Tier und stellte fest, daß seine Augen durch grauen Star erblindet waren, so daß es nach allem schnappte, um sich zu verteidigen. Sein Fell war nun überwiegend weiß, nicht grau, und seine Bewegungen steif, als habe er Gliederreißen. Dachse lebten sechs oder sieben Jahre lang, wie sie wußte, und ihr Dachs war ein Jahr alt gewesen, als er sich ihr angeschlossen hatte. Wie...? 119
»Magie ist ein einziges Durcheinander, wie ein riesiger Mischmasch oder ein Eintopf. Sie erscheint in allen Farben, allen Geschmacksrichtungen und allen Arten. Druidinnen beschäftigen sich mit Naturmagie, die wiederum zusammengesetzt ist aus Erdmagie, Wassermagie, Tiermagie und Windmagie. Manche Zauberer schätzen nur Magie-Magie, die sich mit der Verformung der Zauberkraft beschäftigt: Sprüche, die Aufschluß darüber geben, wieviel Astralkraft in einem Artefakt steckt, oder die ein Artefakt unsichtbar machen. Da sie nur ein wenig beschwören und ein bißchen fliegen kann, vermute ich, daß deine Freundin Lily die Wolkenmagie, Himmelsmagie oder die Kraft, die in dem liegt, was am Himmel ist, anzapfen kann - falls dort überhaupt irgend etwas ist. Ich war auf Berggipfeln und habe festgestellt, daß die Luft dort dünn und kalt ist, und ich nehme an, daß wenn du noch höher hinaufsteigst, du dort überhaupt nichts finden wirst - außer einer Art ungenutzter Energie vielleicht... Der Trick dabei ist zu wissen, welche Art von Magie du anzapfst und diese dann zu reinigen. Wenn du fliegen willst, dann willst du nur Wolken-, Himmels- und Sonnenmagie. Wenn du eisenrote Erdmagie aufsaugst, dann wirst du einen Anker an deinen Füßen herumschleppen. Aber du mußt lernen, deine Magie zu erkennen und das eine Blatt von dem einen Baum in einem unendlichen riesigen Wald auszuwählen...« Langsam lernte das Mädchen, nahm das Wissen auf und stellte Fragen, Hunderte von Fragen. »Dimensionsreisen? Ich habe es eine Zeitlang gemacht, als ich jung war. Aber jetzt nicht mehr, darüber bin ich hinaus. Ich habe rechtzeitig gelernt, daß es das beste ist, wenn man der Natur ihren Lauf läßt. Ich nehme an, daß du das eines Tages einsehen wirst. Es ist das Ergebnis von andauerndem Lernen und der Vertiefung deines Wissens. Aus diesem Grund trage ich auch kein Zauberbuch mehr mit mir herum, denn ich habe 120
alles auf ein Lied reduziert, weißt du, und so ist es leichter, sich daran zu erinnern... Bannspruch? Ach ja, das Weben eines Banns, um das, was auch immer du beschwörst, zu zwingen, für dich zu kämpfen. Ja, viele Zauberer nutzen diesen Spruch bei ihrer Suche nach Macht. Üblicherweise ist es der zweite Spruch, den sie lernen, denn sie behaupten, daß es keinen Sinn hat, etwas zu beschwören, wenn man es nicht beherrschen und lenken kann. Doch ein Schwert hat immer zwei Schneiden, und wenn du mit dem Bannspruch lebst, dann rechne damit, daß du gebannt wirst. Aber du willst anderen deinen Willen nicht aufzwingen, oder, Kind? Nein, ich glaube nicht. Nur Freiwillige, wie deine Soldaten. Gut, denn das ist auch am besten so, weil ich dich den Spruch nicht lehren würde, selbst wenn ich ihn könnte... Du bist nicht zusammengebrochen, als diese Wüstenzauberin auf dich gedeutet hat, obwohl Lily es tat? Vielleicht bist du von Magie so durchdrungen, daß sie wie ein natürlicher Schild wirkt. Beherrschst du einen Schildzauber? Also gut. Normalerweise dauert es Jahre, dieses Wissen zu meistern, eine Mauer aus purer Astralkraft zu erschaffen, doch du weist Zauberei so leicht ab wie eine Ente den Regen... Alpträume? Alle Zauberinnen haben sie, Liebling. Wenn du beschwörst, dann schickst du deine Gedanken, einen Teil deines Geistes aus, nach dem Ding, das du herbeiholen willst. Es gibt Geschichten von Zauberern, die zuviel von sich selbst in den Äther geschickt haben und diese Teile nie zurückerlangen konnten...« Das machte ihr Angst. >»Einfangen