Salley Vickers
Miss Garnet und der Engel von Venedig
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Salley Vickers
Miss Garnet und der Engel von Venedig
scanned 2004 corrected 2008 Sie besteht darauf, »Fräulein« genannt zu werden. Und es ist zu vermuten, dass sie unter ihren karierten Röcken Liebestöter trägt. Für Venedig ist Miss Garnet wahrlich nicht gerüstet. Aber dann zieht die Stadt sie in ihren Bann und macht sie mit der Liebe, dem Licht – und einem verschwundenen Engelsgemälde bekannt … ISBN: 3-548-25928-6 Original: Miss Garnet’s Angel Aus dem Englischen von Karen Nölle-Fischer Verlag: Ullstein Erscheinungsjahr: 2004 Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, München
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Als Miss Garnet, englische Lehrerin im Ruhestand, nach dem Tod ihrer engsten Freundin Harriet beschließt, für ein paar Monate nach Venedig zu ziehen, meint sie, ihr Leben bestens unter Kontrolle zu haben. Doch schon bald begegnet sie in der Lagunenstadt einem charmanten Kunsthändler, in den sie sich auf ihre späten Tage zu ihrer eigenen Verblüffung heftig verliebt. Carlo zeigt ihr das Venedig jenseits der Touristenpfade und führt sie in die Zauberwelt der Kunst und Religion ein – was die spröde Miss Garnet in arge Gewissensnöte bringt. Besonders faszinieren sie die geheimnisvollen Gemälde Guardis in der Chiesa dell’Angelo Raffaele, die die Geschichte des biblischen Tobit erzählen, der seinen Sohn Tobias auf die Reise nach Medien schickt. Je mehr Miss Garnet die Geschichte von Tobias und dem Erzengel Raphael zu entschlüsseln sucht, desto klarer wird ihr, dass ihr eigenes Schicksal mit dem der biblischen Gestalten aufs engste verknüpft ist. Und als sie schließlich dem rätselhaften Geheimnis um ein verschwundenes Gemälde mit einem Abbild Raphaels auf die Spur kommt, werden ihr Leben, ihre Einschätzung von Gut und Böse und nicht zuletzt ihr Bild von den Menschen, die sie umgeben, vollständig auf den Kopf gestellt …
Autor Salley Vickers war Universitätsdozentin für Literatur, bevor sie sich zur analytischen Psychologin ausbilden ließ. Neben ihrer Arbeit als Schriftstellerin verfasst sie wissenschaftliche Artikel und hält Vorlesungen. Salley Vickers hat zwei Kinder und lebt in London und Bath.
Für Grace Fredericks, in Liebe und Dankbarkeit
»Wenn manche Menschen wirklich Engel sehen, wo andere nur Leere sehen, so sollen sie die Engel malen …« John Ruskin
DANKSAGUNG »Das Buch Tobit« hat durch seinen eigentümlichen poetischen Charme die Herzen von Künstlern aller Epochen erobert. Viele Menschen dürften Bilder eines Jungen mit einem Fisch gesehen haben, der von einem Hund und einem Engel begleitet wird, ohne sich über den Ursprung der Darstellung im Klaren zu sein. In meiner Wiedergabe der Geschichte aus der Bibel habe ich einige der anachronistischen Züge des Originals beibehalten, die Abweichungen jedoch – freie Rekonstruktionen ihrer Quellen – sind meiner eigenen Phantasie entsprungen; für sie habe ich die Verantwortung zu tragen. Dem anonymen Autor oder den anonymen Autoren aber gebührt mein inniger Dank. Salley Vickers
I EPIPHANIAS
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1 Der Tod steht außerhalb des Lebens, doch er verändert es: Er hinterlässt ein Loch im Gewebe der Dinge, das die Hinterbliebenen zu flicken suchen. Vielleicht ist das der Grund, weshalb wir gesonnen sind, Beerdigungen mit einem Leichenschmaus zu begehen, und weshalb es heißt, die Furcht, eine Trennung könne sich als endgültig erweisen, verleite manche Partner dazu, vor einem Abschied noch schnell ein Kind zu zeugen. Wenn in alten Geschichten ein Held stirbt, setzen sich seine Gefährten, sobald sie den Göttern gehuldigt haben, als Erstes hin, um ausgiebig zu tafeln. Dann brechen sie wieder auf und stellen ihre verwundbare Lebendigkeit abermals dem großen Rätsel des Nichtseins entgegen. Als Miss Garnets Freundin Harriet starb, beschloss Miss Garnet, für ein halbes Jahr ins Ausland zu reisen. Für Miss Garnet, die längst das gebärfähige Alter hinter sich gelassen und den einzigen Menschen verloren hatte, mit dem sie je den Tisch geteilt hatte, war der Entschluss, eine größere Reise zu unternehmen, etwas sehr Mutiges. Ihre Auslandsfahrten waren rar und zumeist von Ängsten begleitet gewesen. Unmittelbar nach dem Studium, als frisch gebackene Lehrerin, hatte sie sich, da sie im Unterricht gerade den Hundertjährigen Krieg durchnahm, erboten, mit einer Schülergruppe nach Crecy zu fahren. Damals hatte es sie um ihre Fassung gebracht, als sich die Jungen hinter ihrem Rücken, aber durchaus hörbar über ihren Akzent lustig machten und (alles anders als subtil) andeuteten, dass sie nur mit ihnen nach Frankreich gereist sei, um mit dem großen, schwitzenden, käsig-bleichen Busfahrer anzubändeln. 9
»Mademoiselle aus Armentières«, sangen sie freudestrahlend hinten im Bus. »Mademoiselle aus Armentières. Hat seit vierzig Jahren kein Verkehr!« Und während Miss Garnet dem Busfahrer verständlich zu machen suchte, um welche Uhrzeit man ihrer Ansicht nach zur Rückfahrt nach Calais aufbrechen sollte, intonierten sie übermütig und vielsagend im Chor: »Inky pinky parley-vous!« Dieses Erlebnis hatte Spuren hinterlassen, sowohl in Miss Garnets Unterricht als auch in ihrem Gedächtnis. Hatte es ihrem schüchternen Wesen ohnehin von jeher entsprochen, die Schüler nicht gerade herzlich zu behandeln, so zog sie sich jetzt vollends zurück, erwarb den Ruf streng, ja hart zu sein, und entwickelte sich mit der Zeit zu einer Lehrerin, die zwar nicht geliebt, aber zumindest geachtet wurde. Selbst in jüngster Zeit, da man »Mademoiselle aus Armentières« als eher harmlosen Schülerspott eingestuft hätte, war niemals ein Schüler von Miss Garnet auf die Idee gekommen, öffentlich Mutmaßungen über ihr Liebesleben anzustellen. Julia Garnet und Harriet Josephs hatten über dreißig Jahre zusammengewohnt. Harriet hatte sich auf Julias Anzeige im Monatsblatt der nationalen Lehrergewerkschaft gemeldet: »Ruhige, berufstätige Frau als Mitbewohnerin für kleine Wohnung in Westlondon gesucht. Raucherinnen und Haustiere unerwünscht.« Harriet war, musste man sagen, die einzige gewesen, die auf die Anzeige reagierte, doch das hatte Julia nicht davon abgehalten, sie, wie ihre Freundin es später beschrieb, einem »knallharten Bewerbungsgespräch« zu unterziehen. »Ehrlich«, pflegte Harriet bei den wenigen Anlässen, da sie gemeinsam Freunde bewirteten, zu sagen, »es war schlimmer als damals, als ich versucht habe, mich verbeamten zu lassen!«
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Normalerweise hatte Harriet an dieser Stelle auf eine Weise laut gelacht, die ihrer Mitbewohnerin auf die Nerven ging. Jetzt stellte Miss Garnet fest, dass ihr dieses Lachen ebenso fehlte wie Stella, Harriets Katze. Das Haustierverbot war vor sieben Jahren gelockert worden, nachdem Stella Harriet eines späten Abends nach der Chorprobe vom Bahnhof aus nachgelaufen war. Stella, damals noch ein namenloses schwarzes Kätzchen mit einem weißen Stern auf der Brust, hatte die ganze Nacht vor der Tür zu ihrer Wohnung im vierten Stock gewartet, und als die weichherzige Harriet das Kätzchen entdeckte, stellte sie ihm Milch hin. Von da an war, wie Julia zu bemerken pflegte, »das Tier nicht mehr loszuwerden«. Unter der Obhut der beiden Lehrerinnen wurde Stella zu einem ältlichen, anhänglichen Geschöpf, wobei sie stets mehr Harriet zugetan schien. Zwei Tage, nachdem sie beide in Pension gegangen waren (sie hatten die Termine auf Harriets Vorschlag so gelegt, dass sie zu Neujahr beide auf »neuen Füßen« stehen würden), hatte Julia, die einkaufen gewesen war, ihre Mitbewohnerin beim Nachhausekommen ausgestreckt auf dem Sofa vorgefunden, dem Anschein nach schlafend, auf dem Teppich neben ihr ein Liebesroman, mit den aufgeschlagenen Seiten nach unten. Später an diesem Tag, nachdem erst der Arzt da gewesen war und dann der Bestattungsunternehmer, war Stella verschwunden. Julia hatte Milch hingestellt, zuerst vor die Wohnungstür und dann, da die Sorge größer war als ihre Angst vor nachbarlichem Spott, unten vor die Haustür. Die Milch, die sie draußen hinstellte, wurde jedes Mal getrunken, doch nach ein paar Tagen musste sie sich eingestehen, dass nicht Stella die Milch trank, sondern vermutlich der zum Stadtleben konvertierte Fuchs, den man auch dabei beobachtet hatte, wie er in den Mülltonnen wühlte. 11
Vielleicht war es nicht allein der Verlust Stellas, sondern auch Miss Garnets bei diesem Anlass bewiesenes Unvermögen – so kurz nach Harriets Dahinscheiden –, was sie zu ihrem plötzlichen Entschluss bewog. Sie und Harriet hatten Pläne geschmiedet, oder vielmehr Harriet hatte Pläne geschmiedet, denn sie war von ihnen beiden nun einmal diejenige, die eher dazu neigte, Pläne zu schmieden. (Als »Fluchtgedanken« bezeichnete Harriets Mitbewohnerin zuweilen deren Tendenz, aus dem Observer Anzeigen für Reisen an weit entfernte, exotische Orte auszuschneiden.) Harriets (nunmehr endgültige) Flucht hatte die Pläne zunichte gemacht. Miss Garnets übliche Skepsis wurde von einer Art Benommenheit überlagert, und so kam es, dass sie sich, noch ehe sie sich der Absicht bewusst wurde, im Büro eines der zahlreichen Haus- und Wohnungsmakler wiederfand, die in ihrer Gegend neuerdings florierten. »Keine Sorge, Mrs Garnet, die kriegen wir problemlos vermietet«, hatte der junge Mann mit dem zu kurzen Haarschnitt und dem leuchtfarbenen Handy beteuert. »Miss Garnet, nur Miss«, hatte sie erläutert, denn sie war sorgsam darauf bedacht, keinen Titel zu beanspruchen, von dem sie das Gefühl hatte, er sei nie in den Bereich ihrer Möglichkeiten gerückt. (Dass Miss Garnet zur Ms avanciert wäre, stand vollends außer Frage: Ihre Großtante hatte irgendwie mit Christabel Pankhurst zu tun gehabt, und diese Verbindung, sei sie auch noch so lose gewesen, hatte dazu beigetragen, Miss Garnets Ansichten über die fehlgeleiteten Prioritäten des modernen Feminismus zu festigen.) »Miss, Verzeihung«, sagte der junge Mann und verkniff sich mühsam ein Lachen. Er hatte von Mrs Barry der Hausmeisterin, gehört, Miss Garnet habe mit einer
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anderen alten Schachtel zusammengelebt, die kürzlich verstorben sei. Wahrscheinlich Lesben, dachte er. Miss Garnet war keine Lesbierin, genauso wenig wie Harriet Josephs eine gewesen war, wobei es den beiden Frauen mit den Jahren aufgegangen war, dass die Leute sie manchmal dafür hielten. »Es ist ausgesprochen ärgerlich«, hatte Harriet einmal gesagt, als eine verwitwete Freundin die Vermutung äußerte, Jane Austen sei möglicherweise lesbisch gewesen, »für homosexuell gehalten zu werden, bloß weil man nicht so glücklich war, im Hafen der Ehe zu landen.« »Oder so dumm«, hatte Julia hinzugefügt. Doch insgeheim gab sie Harriet Recht. Es wäre schon ein Glück gewesen, von einem Mann so geliebt zu werden, dass er einen zur Frau genommen hätte. Sie war einmal um einen Kuss gebeten worden, bei einer Jahresabschlussfeier in der Schule, an der sie fünfunddreißig Jahre lang Geschichte unterrichtet hatte. Die Bitte kam von einem Mann, der sich spät im Leben zum Lehrer berufen gefühlt hatte und sein Probejahr an St. Barnabas & St. James absolvierte, wo Miss Garnet mittlerweile zur Fachbereichsleiterin für Geschichte aufgestiegen war. Leider hatte er den Dienst quittieren müssen, nachdem beobachtet worden war, wie er nach der Sportstunde in der Nähe des Umkleideraums der Oberstufenschülerinnen herumlungerte. Julia, die bedauert hatte, der Bitte um den Kuss nicht nachgekommen zu sein, weinte, als sie von seinem Weggang hörte, heimlich in ihr Taschentuch. Später nahm sie allen Mut zusammen und schrieb ihm einen Brief mit Neuigkeiten über das radikale, moderne Stück, das er zu inszenieren begonnen hatte. Mr Maguire, der Fachbereichsleiter für Englisch, hatte die Regie übernehmen müssen – Miss Garnets Ansicht nach sehr zum Nachteil des Stückes. Diesen Gedanken hatte sie schüchtern an den suspendier13
ten Mr Kenton zu übermitteln versucht, aber der Brief war mit dem Vermerk »Empfänger unbekannt« zurückgekommen. Daraufhin war Miss Garnet irgendwie ein Stein vom Herzen gefallen, und sie hatte ihren einzigen Verführungsversuch stumm über dem Mülleimer zerrissen. »Wo soll’s denn hingehen?«, fragte der junge Wohnungsmakler, nachdem sie sich darüber geeinigt hatten, mit welchen Einschränkungen die Wohnung untervermietet werden sollte (Rauchen und Haustiere verboten – im Andenken an Stella). Vielleicht diente die offensichtliche Gleichgültigkeit des jungen Mannes als Katalysator, jedenfalls hörte sie sich eine erstaunliche Antwort geben – eigentlich hatte sie nämlich noch nicht einmal in Gedanken formuliert, wohin ihre Reise für den Fall, dass sich die Wohnung über Messrs Brown & Noble untervermieten ließ, führen könnte. Vor Miss Garnets innerem Auge marschierten die diversen bunten Anzeigen für weit entfernte Reiseziele auf, die sie jüngst zusammen mit einigen aus Illustrierten ausgeschnittenen Artikeln über Haartönungen – unziemlich, so etwas – von Harriets Eichenschreibtisch geräumt und (mit ein wenig Überwindung) in den Müll befördert hatte. Eine der Anzeigen hatte für eine Kreuzfahrt durch die Adria geworben, mit Besichtigung historisch bedeutender Städte. Der Name der berühmtesten dieser Städte kam ihr plötzlich in den Sinn. »Venedig«, verkündete sie bestimmt. »Ich gehe für ein halbes Jahr nach Venedig.« Und weil es so selten gelingt, lebenslange Gewohnheiten auf einen Schlag abzulegen, setzte sie hinzu: »Dort soll es bekanntlich um diese Jahreszeit billiger sein.«
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Es war kalt, als Miss Garnet auf dem Flughafen Marco Polo landete. In ihrer Unsicherheit darüber, was ihr auf ihrer abenteuerlichen Reise alles bevorstehen mochte, war sie immerhin so vorausschauend gewesen, sich mit einem Paar guter Stiefel auszurüsten. Sie besaßen feste Sohlen und halfen ein wenig gegen das Gefühl der Haltlosigkeit, das Miss Garnet überkam, als sie den von ihrer Mutter geerbten Koffer mit dem stabilen Ledergurt abgeholt hatte und den anderen Ankömmlingen nach draußen folgte, wo ein Mann mit einem Klemmbrett rufend und gestikulierend auf sich aufmerksam machte. Vor ihr dehnte sich eine perlgraue, schimmernde, befremdliche Wasserfläche. »Zattere«, sagte Miss Garnet deutlich. Sie hatte über eine Agentur, die sie im Reiseteil des Guardian gefunden hatte, ein appartamento in einem der günstigeren Viertel von Venedig angemietet. Dann sagte sie noch einmal lauter, weil der Mann mit dem Klemmbrett ihr keine Beachtung schenkte: »Zattere!« »Si, si Signora, momento, momento.« Er deutete auf ein Wassertaxi und wandte sich dann an ein gut gekleidetes Paar, das sich vor Miss Garnet in die chaotische Schlange drängte. »Prego?« »Hotel Gritti Palace?« Der Mann, ein hoch gewachsener Amerikaner mit einem eckig geschnittenen Bart, sprach mit der Autorität der Begüterten. Sogar Miss Garnet war bekannt, dass das Gritti zu den exklusiveren der vielen teuren Hotels in Venedig zählte. Sie hatte zu ihrer Enttäuschung erfahren, dass ein von ihr bewunderter sozialistischer Dramatiker die Gewohnheit pflegte, sich dort jedes Frühjahr einzumieten. Vor vielen Jahren, noch als Referendarin an der Schule, war Miss Garnet zaghaft in die Labour Party eingetreten. Mit den Jahren hatte sie feststellen müssen, dass die Politik der aufeinander 15
folgenden Parteivorsitzenden nur ungenügend zu ihrer Vorstellung von Sozialismus passte. Die Lektüre zunächst von Marx und dann Lenin veranlasste sie schließlich aus der Labour Party auszutreten und sich stattdessen, schon weniger zaghaft, den Kommunisten anzuschließen. Allem, was über die Jahre in Europa geschehen war, zum Trotz sah sie bis heute keine Veranlassung, ihrer Treue zu der Ideologie, die ihr so lange Kraft gegeben hatte, abzuschwören. So war es nicht zuletzt der Ruf Venedigs als politisch linker Stadt, der sie in ihrer überraschenden Idee, sich dort für sechs Monate niederzulassen, bestärkt hatte. Nun indes vereinigten sich die Auswirkungen des langen Flugs, die vom graugrünen Wasser der Lagune aufsteigende eisige Kälte und die noch eisigere Angst, die von etwas aufstieg, das ihr mehr und mehr als die eigene Tollkühnheit erschien, mit ihren politischen Vorurteilen. »Entschuldigen Sie bitte!« Miss Garnet sprach das geschniegelte Paar mit erhobener Stimme an. »Ich war zuerst da.« Noch im Sprechen verlor sie das Gleichgewicht und schrammte sich an einem Poller das Knie. Die Amerikanerin drehte sich um und betrachtete die Person, von der diese gebieterischen Worte gekommen waren. Sie sah eine dünne Frau mittlerer Größe in einem langen Tweedmantel und mit einem Hut, an dem ein Schleier befestigt war. Der Hut hatte Harriet gehört, und obschon er Miss Garnet, als sie ihn bei ihr gesehen hatte, übertrieben extravagant vorgekommen war, hatte sie es nicht über sich gebracht, ihn in die Kiste mit den Sachen für Oxfam zu verbannen. Der Hut stand, wie ihr klar wurde, für eine Seite ihrer Freundin, über die sie sich zu deren Lebzeiten hinweggesetzt hatte. Wie um Harriets Sinn für das Theatralische zu würdigen, hatte sie sich den Hut im letzten Augenblick vor ihrem Aufbruch zum Flughafen spontan auf den Kopf gesetzt. 16
Vielleicht lag es am Hut, vielleicht am Ton ihrer Stimme, auf jeden Fall reagierte das Paar, als wäre Miss Garnet »wer«. Möglicherweise, dachten sie, ist sie eine englische Adlige, die dem Glauben anhängt, es verstoße gegen den guten Ton, sich auffällig zu kleiden. Auf jeden Fall hatte die kleine Frau mit den feinen, spitzen Zügen die Diktion einer Herzogin. »Nein, wir haben uns zu entschuldigen.« Der Mann sprach mit einem ausgeprägten Neu-England-Akzent. »Es wäre uns eine Ehre, wenn Sie unser Taxi mit uns teilen würden.« Miss Garnet stockte. Sie war es nicht gewohnt, Gefallen anzunehmen, schon gar nicht von hoch gewachsenen, weltgewandten Herren. Doch sie war müde und, wie sie sich eingestehen musste, ziemlich verängstigt. Ihr Knie, das sie sich dummerweise gestoßen hatte, tat weh. Und schließlich blieb die Tatsache bestehen, dass die beiden sich vorgedrängelt hatten. »Danke sehr.« Sie sprach lauter als sonst, um von dem Blut abzulenken, das, wie sie fürchtete, mittlerweile sichtbar unter ihrem karierten Rock durch den dicken Strumpf sickerte. »Es wäre mir ein Vergnügen, das Taxi mit Ihnen zu teilen.« In dem Bestreben, jede unbeabsichtigte Unhöflichkeit wiedergutzumachen, bestand das amerikanische Ehepaar darauf, das Wassertaxi zuerst zum Campo Angelo Raffaele fahren zu lassen, wo die von Miss Garnet angemietete Wohnung lag. Miss Garnet hatte sie der Anschrift wegen unter vielen ähnlichen Angeboten ausgewählt. Treue Kommunistin, die sie war, fand sie doch, dass vom Engel Raphael etwas Tröstliches ausging. Die zahlreichen anderen Heiligenfiguren, deren Namen Venedigs Straßen und Denkmäler zierten, empfand sie als fremd und 17
unsympathisch. Der Engel Raphael war ihr vertraut. Von den Erzengeln aus ihrer baptistischen Kindheit, Gabriel, Michael, Raphael, hatte ihr letzterer immer am besten gefallen. Das Wassertaxi legte an flachen breiten Steinstufen an, die mit einem gefährlich aussehenden grünen Schleim überzogen waren. Miss Garnet schlug beide Seiten ihres langen Mantels zurück und trat vorsichtig aus dem Boot. »Oh, Sie haben sich ja wehgetan!«, rief die Amerikanerin, die, wie Miss Garnet erfahren hatte, Cynthia hieß. Doch Miss Garnet, die nach vorn schaute, war von dem gütigen Blick eines Engels getroffen worden. Er stand da, den Arm schützend um einen, wie es schien, ziemlich kleinen Knaben gelegt, der einen großen Fisch trug. Auf der anderen Seite des Engels war ein Hund. »Danke«, sagte sie ein wenig abwesend, »es ist nichts weiter.« Dann, als das Boot seinen Weg durch den rio fortsetzte, rief sie: »Oh, aber ich muss Ihnen noch Geld geben.« Doch die Amerikaner winkten nur lächelnd und erwiderten, das habe Zeit, sie könne, was sie schuldig geblieben sei, zahlen, wenn sie sich wiedersähen. »Versorgen Sie Ihr Bein«, mahnte die Frau, und der Mann rief: »Besuchen Sie uns im Hotel«, so laut, dass drei kleine Jungen auf der anderen Seite des Kanals ebenfalls Rufe ausstießen und dem abfahrenden Boot nachwinkten. Miss Garnet wurde gewahr, dass der Abschied von den eben erst in ihr Leben getretenen Amerikanern sie mit einem Gefühl des Verlassenseins erfüllte. Ungeduldig ob dieses Beweises alberner, wie es ihr schien, Gefühlsduselei, ergriff sie ihren Koffer und ihr Handgepäck und sah sich Orientierung suchend um. Der Engel zwinkerte ihr abermals zu, und ihr ging auf, dass sie vor dem Portal der Chiesa dell’Angelo Raffaele stand, welche ihren Namen 18
nicht nur auf den Campo übertragen hatte, sondern liebenswürdigerweise gleich mit auf das Gewässer davor. »Scusi«, sagte Miss Garnet zu den Jungen, die über die Backsteinbrücke gekommen waren, um die neue Besucherin in Augenschein zu nehmen, »Campo Angelo Raffaele?« Sie war stolz auf ihr »Scusi«, und gleichzeitig machte es sie verlegen. »Si, si«, riefen die Jungen und griffen nach ihrem Gepäck. Miss Garnet merkte gerade noch rechtzeitig, dass sie keine finsteren Absichten hegten, sondern sich lediglich ein paar Lire verdienen wollten, indem sie ihr die Koffer ans Ziel trugen. Sie holte den Zettel hervor, auf dem sie die Adresse notiert hatte, und reichte ihn dem größten, dem Anschein nach aufgewecktesten der Jungen. »Si, si!«, bestätigte er freudig und deutete über den Platz, und ein kleinerer Junge, der sich des Koffers bemächtigt hatte, eilte fast im Laufschritt auf ein Haus mit bröckelnder rosaroter Fassade und grünen Fensterläden zu, an dem von einem Balkon Wäsche hing. Der Weg betrug keine dreißig Meter, was Miss Garnet, die nicht geizig erscheinen wollte, vor das Problem stellte, wie viel sie den Jungen für ihre »Hilfe« geben sollte. Sie hätte eigentlich keiner Hilfe bedurft: Ihre Koffer waren absichtlich sparsam gepackt, und durch die jahrelange Eigenständigkeit fehlte es ihr nicht an Kraft. Dennoch erschien es ihr knauserig, eine solche Begrüßung durch die hübschen Jungen nicht zu belohnen. Ihrer fünfunddreißig Jahre im Lehrberuf zum Trotz war Miss Garnet Aufmerksamkeiten von Seiten der Jugend so gut wie nicht gewohnt. »Danke schön«, begann sie, als sie sich vor der Haustür drängten, doch noch bevor sie das Problem gelöst hatte, wie die Jungen angemessen zu entlohnen seien, ging die Tür auf, und vor ihr stand eine dunkelhaarige Frau 19
mittleren Alters, die sie willkommen hieß und im selben Atemzug die Jungen davonjagte. »Sie haben es gut gemeint«, sagte Miss Garnet bedauernd und sah ihnen nach, wie sie grölend über den Campo liefen. »Si, si, Signora, das sind die Söhne von meine Cousine. Sie müssen Ihnen helfen, natürlich. Bitte, kommen Sie herein. Ich warte hier, Ihnen zu zeigen das appartamento.« Signora Mignelli hatte ihr Englisch in vielen Jahren des Umgangs mit Touristen gelernt. Dass sie Miss Garnets Muttersprache beherrschte, beschämte letztere, da ihr jede Kenntnis der Sprache Signora Mignellis abging. Die Signora führte Miss Garnet in eine kleine Wohnung mit einem Schlafzimmer, einem Wohnraum mit Küchenzeile, Bad und einem grünen schmiedeeisernen Balkon. »No sole.« Signora Mignelli deutete auf den weißen Himmel. »Aber wenn scheint … ah!« Sie breitete die Arme aus, um zu zeigen, welch warmer Segen ihre Mieterin erwartete. Der Balkon ging zur Kirche hinaus, wenn auch nur zu ihrer Rückseite, so dass der Engel mit dem Hund und dem Jungen nicht zu sehen war. Trotzdem hatten das bräunliche, pflanzenüberwucherte Mauerwerk und der allgemeine Anschein von Verfall etwas Anziehendes. Miss Garnet hätte gern gefragt, ob die Kirche manchmal geöffnet sei – sie wirkte irgendwie, als hätte sie die Tore für immer geschlossen –, aber sie wusste nicht, wie sie das Thema Kirche mit Signora Mignelli anschneiden sollte. Dafür erklärte ihr die Wirtin, wo sie einkaufen und ihre Wäsche waschen lassen konnte und wie man sich per Vaporetti, also mit den Wasserbussen, durch die Kanäle von Venedig bewegte. Im Kühlschrank der Wohnung standen bereits Milch und Butter, nebst einer halben Flasche Sirup in knalligem Orange, vermutlich die Hinterlassenschaft eines ehemaligen Bewohners. Die 20
Signora zeigte ihr den Brotkasten, in dem ein langes, knuspriges Brot lag, und eine Schale, in der sich eine Pyramide aus Clementinen mit grünen Blättern türmte. In einer blauen Glasvase auf einer Anrichte prangte ein Strauß dunkelrosa Anemonen. »Oh, wie hübsch«, sagte Miss Garnet errötend, denn sie fand, es sah alles aus wie auf einem Gemälde. »Es ist gut, nein?«, entgegnete die Signora sichtlich zufrieden mit der Wirkung ihrer Wohnung. Dann wurde ihr Ton gebieterisch: »Sie haben eine Verletzung? Zeigen Sie!« Miss Garnet verbrachte den Nachmittag, nachdem sie sich das Knie von einer tadelnden Signora Mignelli hatte reinigen und verbinden lassen, mit Auspacken und mit dem Umräumen der wenigen beweglichen Gegenstände in der Wohnung. Im Wohnzimmer entfernte sie ein paar der zahlreichen Spitzendeckchen, stapelte die verstreuten Beistelltischchen übereinander und stellte das antiquierte Telefon – das sie gewiss kaum brauchen würde – abseits auf eine Kommode mit Marmorplatte. Das Schlafzimmer war schmal, so schmal, dass es von dem Bett mit dem geschnitzten Kopfteil und der perlweißen gehäkelten Tagesdecke fast vollständig ausgefüllt wurde. An der Wand über dem Bett hing ein Bild der Jungfrau mit dem Kinde. »Das kann da nicht bleiben«, sagte Miss Garnet laut vor sich hin. Sie nahm die Madonna von der Wand und suchte nach einem Platz, an dem sie es verwahren konnte. In der Wohnung hingen noch mehr Bilder mit religiösen Motiven, und nach einigem Hin und Her entschied sie sich, sie allesamt auf den Schrank mit der reich verzierten Vorderseite in der Diele zu legen, wo sie sicher und unsichtbar verstaut waren. 21
Als sie sich die Hände waschen wollte (trotz der tadellosen Sauberkeit der Zimmer waren die Bilder staubig gewesen), fand sie keine Seife und nahm das zum Anlass für ihre erste Einkaufstour. Und tatsächlich war es ganz einfach, dachte sie bei sich, als sie mit einer nach Erdbeeren duftenden Seife aus der farmacia trat, weil sich die italienischen Laute erschließen ließen: Farmacia klang durchaus ähnlich wie das englische pharmacy. Binnen drei Tagen hatte sich Miss Garnet (in Anbetracht der Tatsache, dass sie keine Übung darin besaß, neue Gewohnheiten auszubilden) überraschend gut in ihrem Viertel eingelebt. Sie kaufte bei einem Gemüsehändler, der des Englischen mächtig war und in dessen Laden sich Berge von bunten Früchten und verschiedensten Gemüsesorten türmten, die auf eine in den Geschäften von Ealing genährte Phantasie wirkten wie kleine Wunder der Beschaffenheit und Farbe. Im Lebensmittelgeschäft, in dem Mann und Frau gemeinsam bedienten, knurrte ihr beim Anblick des Parmesans und des hauchdünn geschnittenen Prosciutto der Magen, und beim Bäcker schwankte sie fast übermütig zwischen der Möglichkeit, eines der knusprigen langen Brote zu kaufen, die innerhalb eines Tages verzehrt werden mussten, oder aber das teigige, feuchte Olivenbrot, das sich länger hielt, wenn es luftdicht in einer Plastiktüte aufbewahrt wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Miss Garnet nicht viel mehr unternommen als in ihrem Viertel umherzustreifen und zu schlafen. Vor ihrer Abreise hatte sie bei Stanfords in Covent Garden ein gelehrt aussehendes Buch erstanden: Venedig für Historiker von einem Reverend Martin Crystal, Magister Artium aus Oxford. Beim Hineinblättern hatte sie den Eindruck gewonnen, der Inhalt sei vornehmlich historisch ausgerichtet, und dies hatte sie zusammen 22
mit dem akademischen Grad aus Oxford bewogen, über den Titel »Reverend« hinwegzusehen. Als sie den Reverend Crystal nun jedoch zwecks fachgerechter Vorbereitung aufschlug, musste sie wiederholt feststellen, dass ihr bei der Lektüre die Augen zufielen. Dieser neue Hang zum Schlaf war ihr ein wenig peinlich: neun bis zehn Stunden in der Nacht und zusätzlich oft noch ein Nickerchen am frühen Nachmittag. Aber es half nichts, sie war wehrlos dagegen. Einmal versuchte sie früh aufzustehen und stellte den Wecker auf acht Uhr, doch als sie aufwachte, war es zehn. Sie musste im Halbschlaf unwillig auf den Knopf gedrückt und das Klingeln abgestellt haben. Von da an überließ sie sich einfach der Narkolepsie. Aus einem ihrer tiefen nachmittäglichen Nickerchen erwachte Miss Garnet, weil sie draußen auf dem Campo Stimmen hörte. Sie zog sich eine Wolljacke über und ging ans Fenster. Eine Prozession. Kinder, die singend umherliefen, auf Plastiktrompeten spielten oder auf Papiertröten bliesen, dass es aussah, als streckten sie lang die Zungen heraus. Mütter mit Säuglingen auf dem Arm und größeren Kindern in Buggys. Mitten unter ihnen, prächtig in Rot, Blau und Gold gewandet, schritten drei Könige mit Kronen einher. Einer der Könige drehte sich zu ihrem Fenster um, und sie erkannte ihn wieder. Es war der größte der drei Jungen, die ihr am ersten Tag geholfen hatten. Sie hatte seitdem halb nach ihnen Ausschau gehalten. Dass sie einen von ihnen jetzt sah, vermittelte ihr zum ersten Mal ein Gefühl der Zugehörigkeit. Der junge König winkte grinsend zu ihr hinauf, und sie versuchte, die Glastür zum Balkon zu öffnen. Doch nein, wie ärgerlich, die Tür klemmte. Miss Garnet zog und zerrte am Griff, fluchte heftig und riss sich den Daumennagel ein, bevor die Tür endlich nachgab und sie auf den Balkon hinaustreten konnte. 23
Doch da hatte die Prozession den Campo bereits verlassen, die letzten Nachzügler verschwanden gerade über die Backsteinbrücke am Rio dell’Angelo Raffaele. »Mist, Mist, Mist.« Die Enttäuschung darüber, den größten Teil des Schauspiels verpasst zu haben, trieb Miss Garnet fast die Tränen in die Augen. Sie fragte sich, ob sie die farbenfrohe Parade wohl noch einholen könnte, wenn sie schnell nach unten lief und der Schar folgte. Aber sie hatte Angst, sich lächerlich zu machen. Nachdem sie die Prozession verloren hatte, geriet Miss Garnet plötzlich in ein Stimmungstief. Bis dahin war sie stolz darauf gewesen, wie gut sie sich nach so kurzer Zeit zurechtfand und welch überraschende Ortskenntnis sie bereits besaß. Die regelmäßigen, einfachen Ladenbesuche hatten begonnen, eine gewisse Stabilität zu schaffen, eine Basis, wie sie ihr in Ealing erst nach fünfunddreißig Jahren beschert gewesen war. Doch nun schien diese Sicherheit durch das Bild des grinsenden, rotgewandeten Jungen bedroht, der sie so zuvorkommend zu Signora Mignellis Tür geleitet hatte. Miss Garnet neigte nicht zu Einbildungen, aber ihr war fast, als hätte der Junge aus dem Staub des Campo einen Stein aufgehoben und ihn absichtlich auf sie geworfen. Das Lachen und Plappern der Einheimischen hatte einen scharfen Beiklang, der ihr sagte, dass sie ausgeschlossen war. Dabei war sie sicher, dass ihnen nicht daran lag, sie auszuschließen – die wenigen Tage ihres Aufenthalts hatten Miss Garnet bereits deutlich gezeigt, dass dies absolut nicht ihre Art war –, ihr Problem war, dass sie im Grunde nichts über das Leben in Venedig wusste. Das Ereignis, dessen Zeugin sie zufällig geworden war, musste eine Bedeutung besitzen, doch welche, das verbarg sich vor ihr. Die Rückkehr in das weiche, durchgelegene Bett, aus dem sie kürzlich aufgestanden war, hätte ihr keinen Trost 24
gebracht. Sie hatte schon zu lange geschlafen, und die schwergliedrige Trägheit, die ihr mittlerweile vertraut und willkommen war, wich einer anderen Art der Schwere. Wiewohl Introspektion ihr eigentlich fremd war, stieg in ihr der Verdacht auf, dass ihr womöglich Harriet fehlte. Diese schwache Einsicht weckte in ihr den Wunsch nach körperlicher Betätigung. Miss Garnet, die sich bislang mit Freude dem gewidmet hatte, was Harriet »herumpusseln« genannt hätte, war noch nicht aus der Gegend um den Campo Angelo Raffaele herausgekommen. Doch jetzt befand sie, es sei an der Zeit, ihre Rolle als Besucherin der Stadt ernst zu nehmen. Es erschien ihr naiv, sich – wie sie es bis jetzt getan hatte – vorzumachen, dass sie in so kurzer Zeit schon irgendwie »dazugehörte«. Schließlich war sie eine Ausländerin, die in erster Linie hier war, um die historischen Sehenswürdigkeiten Venedigs zu besichtigen und mehr über sie zu erfahren. Über den hellen Nachmittag hatte sich Nebel gebreitet, und Miss Garnet zögerte einen Moment, bevor sie Harriets Hut vom Haken nahm. »Ein Drittel der Körperwärme geht über den Kopf verloren«, hatte ihr Vater mit seinem unerschöpflichen Fundus an Spruchweisheiten immer gesagt. Es war kalt, da konnte sich Harriets Hut mit dem Schleier doch wirklich als nützlich erweisen. Ein Blick in den Spiegel des hohen, gelben Schranks vermittelte ihr den flüchtigen Eindruck einer unbekannten Person: der schwarz gesprenkelte Schleier stellte einen Ausgleich zu ihrem Tweedmantel mit Fischgrätmuster dar. Der einst unmodisch lange Mantel, der die Spanne zwischen den soliden Stiefeln und dem Schleierchen überbrückte, bekam anstelle des beliebigen irgendwie einen modischen Anstrich.
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Miss Garnet war alles andere als eitel, aber ihr Anblick in dem gefleckten Spiegel hob ihre Stimmung. Sie fühlte sich besser gegen das umfassende Gefühl der Fremdheit gewappnet, das sie so plötzlich überfallen hatte. Sie holte einen Stadtplan aus der Schreibtischschublade und faltete ihn auseinander, um eine Route zu planen. Doch wo sollte sie anfangen? Der eben entzündete Funke der Introspektion begann etwas Verborgenes zu erhellen: Ihre Tendenz zur Beschränkung war aus Schüchternheit geboren, nicht aus einer natürlichen Affinität zur neuen Umgebung. Ihrer scheinbaren Klarheit zum Trotz verwirrte die Karte Miss Garnet bloß. Nur ein einziger Ort ließ etwas in ihr anklingen: die Piazza San Marco, das berühmte Herz Venedigs. Er war ihr zumindest aus dem eigenen Geschichtsunterricht bekannt. Sie beschloss, sich zur Piazza aufzumachen, wo die Dogen zur Feier der Hochzeit mit den Fluten einst alljährlich einen goldenen Ring ins Wasser geworfen hatten. Ihre Wohnung hatte sich Miss Garnet in einem der entlegeneren Viertel der Beinahe-Inselstadt-Venedig gesucht, und der Fußweg von dort zur Piazza San Marco war weit. Signora Mignellis Einführung zum Trotz fühlte sich Miss Garnet etwaigen Experimenten mit den Vaporetti noch nicht gewachsen, und außerdem fand sie, würde ihr die Bewegung gut tun. Sie marschierte zielbewusst durch die schmale Calle, die zur Accademia führte (in der ihrer, wie Reverend Crystal versprach, eine Fülle von Kunstschätzen harrte). Auf der hölzernen Accademia-Brücke hielt sie inne. Vor ihr erhob sich aus den kreisenden, taubengrauen Nebelschwaden wie eine riesige Seifenblase Santa Maria della Salute, die Kirche am Eingang zum Canal Grande. »Oh!«, rief Miss Garnet aus. Sie hob die Hand an den 26
Hals und dann streifte sie Harriets Schleier von den Augen, um besser sehen zu können. Und oh, das Licht! »Gott«, seufzte Miss Garnet, »Gott.« Sie fragte sich nicht, warum sie diese Worte gewählt hatte, als sie weiterging, getrieben von der Sorge, wenn sie länger verweilte, womöglich so von der ungewohnten Schönheit gefangen zu werden, dass sie sich in Stein verwandelte: dies jedenfalls die Formulierung, die sie später zum Spaß für sich fand. Doch es war etwas Wahres daran, sie spürte eine Art Angst, fast als würde sie auf ihrem Weg von einem grässlichen Geist verfolgt. Über einen weiteren Campo ging die Flucht, über Brücken, dann durch weitere Gassen, vorbei an verblüffendem, hoch aufgetürmtem Gebäck in blitzenden Fenstern, vorbei an Geschäften voller Spirituosen, voll furchteinflößender Messer, voll gemusterten Papiers. Einmal kam sie an einem Geschäft für Künstlerbedarf vorbei, vor dessen Schaufenster sie dem Gespenst zum Trotz stehen blieb, um die Vielfalt der quadratischen Schalen mit den leuchtenden Farbpulvern zu bewundern: oro, oro pallido, argento, lacca rossa – Gold, Silber, Rot, die Farben der Alchemie, dachte Miss Garnet im Weitereilen, denn sie hatte einiges über Alchemie gelesen, als sie mit der fünften Oberschulklasse die Renaissance durchnahm. Am Rand der Piazza blieb sie stehen. Sollte das Gespenst sein Unwesen treiben, so viel es wollte, hier war sie am Ziel. Vor ihr stand der Campanile, der hohe Glockenturm, und dahinter traten die schimmernden Bögen und Nischen, die vergoldeten Flügel und reich verzierten Kuppeln der Basilika San Marco hervor. Es gibt Leute, die San Marco als eine Art Traum beschreiben, doch Miss Garnet kannte solche Träume nicht. Als Kind hatte sie einmal geträumt, sie sei eine Meerjungfrau, aber das war auch schon das höchste der Gefühle. 27
Langsam überquerte sie die Piazza. Es war zwar noch Nachmittag, doch es fing bereits an zu dunkeln, und wie beiläufig tauchte am Himmel eine schmale, perlmuttfarbene Mondsichel auf, um den prunkvollen Gesamteffekt der Basilika zu vervollkommnen. Als Miss Garnet den Haupteingang unter dem hohen Bogen erreichte, hielt sie inne und fragte sich, ob es überhaupt erlaubt war weiterzugehen. Doch es musste erlaubt sein, denn, schau, es waren noch andere Touristen da – wie dumm sie sich anstellte, natürlich brauchte man kein Christ zu sein, um einzutreten und sich ein berühmtes Beispiel byzantinischer Baukunst anzusehen. Drinnen in der großen Basilika schob sich vor ihr eine Menschenschlange langsam voran. Über ihr und zu allen Seiten tanzte das Licht auf Millionen winzigen Flächen von gebrochenem Gold. Ein dumpfer Geruch nach Zwiebeln verwirrte ihre Nase. Was war das? Schweiß von vielen Jahren vielleicht, mit dem die viel besuchte alte Luft getränkt war. Es schien genau geregelt zu sein, welche Bereiche man betreten durfte, denn an vielen Stellen verwehrten Absperrungen und Seile den Eintritt. »Aber wieso dürfen die da rein?«, fragte Miss Garnet. Denn vor ihr drangen Männer und Frauen, wenn auch zugegebenermaßen in der Mehrheit letztere, in den großen Innenraum vor, an dem die schwankende Besucherschlange vorbei geleitet wurde. Sie blieb vor einem Aufseher in blauer Uniform stehen. »Vespero?«, fragte er, und sie hörte sich antworten: »Si, si«, denn ganz gleich, worum es sich handelte, sie hatte nicht vor, sich zum zweiten Mal an diesem Tag ausschließen zu lassen. Der Aufseher löste ein tiefrotes Tau aus der Halterung und ließ die Signora mit dem schwarzen Schleier ein. »Sieh mal, da ist unsere kleine Herzogin«, sagte Cynthia 28
Cutforth aufgeregt zu ihrem Mann. »Sie nimmt am Gottesdienst teil, sie muss katholisch sein. Sieh nur, wie süß sie aussieht mit ihrem Schleier.« Doch Miss Garnet nahm nichts wahr außer der überwältigenden Umgebung, in der sie sich jetzt befand. Silberne Ampeln brannten trüb in den Nischen. Über ihr und zu allen Seiten zeichneten sich seltsame, glitzernde Mosaikfiguren vor einem Hintergrund aus funkelndem Gold ab. Abbildungen von Löwen, Lämmern, Blüten, Dornen, Adlern, Schlangen, Drachen, Tauben verwoben sich vor ihren staunenden Augen zu einer schimmernden, ehrfurchtgebietenden, gütigen Vision. Wie Blut, das sich durch lang verengte Adern eine Bahn bricht, begann ein wildes Frohlocken sie zu durchfluten. Zögernden Schritts bewegte sie sich auf einen Platz am Mittelgang zu. Auf dem Sitz lag ein dünnes, geheftetes Faltblatt, und als sie es aufhob, las sie: »Vespero Epifania«. Natürlich! Epiphanias. Wie dumm sie gewesen war. Der sechste Januar war in England Twelfth Day, der letzte Tag der Weihnacht. In der Nacht zuvor trieb traditionsgemäß der Fürst der Verwirrnis sein Unwesen, und den Tag beging man, indem man den Weihnachtsschmuck aus dem Haus entfernte, um Unglück von sich zu lenken. Doch in einem katholischen Land wie diesem wurde noch die Reise der Heiligen Drei Könige gefeiert, die dem Stern folgten und dem im Stall geborenen Kind Geschenke darbrachten. Da hatte sie nun also die Erklärung für die drei Könige, die am Nachmittag den Campo Angelo Raffaele beehrt hatten. Als Miss Garnet nach dem Gottesdienst aus der Kirche trat, war die Mondsichel vom Himmel verschwunden, und dafür erstrahlte am anderen Ende der Piazza ein beleuchteter Baum. An den Kolonnaden um den Platz hingen üppige, von goldenen und roten Bändern durchwirkte, immergrüne Girlanden. Hier scheren sie sich nicht darum, 29
Unglück abzuwehren, dachte Miss Garnet und machte sich auf den Heimweg. In ihrem Herzen herrschte ein Frieden, der ihr nicht ganz verständlich war. Immerhin reichte ihre Einsicht, während sie ohne Angst dem Campo Angelo Raffaele zustrebte, weit genug, dass sie nicht weiter nach seiner Bedeutung forschte. Nach der Rückkehr in die Wohnung von Signora Mignelli stieg Miss Garnet, die in ihrem Leben noch nicht ins Bett gegangen war, ohne vorher ihre Sachen ordentlich aufzuhängen, einfach aus den Kleidern, aus Schuhen, Mantel, Hut, Bluse, Rock, Unterkleid, Unterwäsche und so weiter und ließ alles mitten auf dem Marmorfußboden in einem Haufen liegen. Das war das Erste, was sie am nächsten Morgen fand. Als sie Harriets Hut oben auf den Schrank legen wollte, stieß sie mit der Hand gegen einen Widerstand, und das Bild der Jungfrau mit dem Kinde fiel krachend zu Boden. Das Bild selbst nahm keinen Schaden, aber das Glas zersplitterte. Miss Garnet betrachtete es entsetzt. Das ruhige Antlitz der Jungfrau blickte sie durch ein Netz aus Scherben an. Ich werde einen Glaser finden müssen, dachte Miss Garnet. Draußen bolzten ein paar Jungen mit einem Fußball, und sie erkannte unter ihnen den größten der drei Könige. »Scusi«, rief Miss Garnet vom Balkon. Der Junge kam herbeigerannt und blieb höflich unten stehen. Sie hielt das zerbrochene Glas hoch. »Scusi. Kaputt.« Zu ihrer Überraschung schien der Junge sie zu verstehen. Er winkte heftig zum Zeichen, dass sie zu ihm hinunterkommen solle. Miss Garnet zog Hut und Mantel an, schob die Jungfrau mit dem Kinde in einen Plastikbeutel und lief eilig die Treppe hinunter. Ein paar Briefe auf der Fußmatte erregten ihre Aufmerksamkeit; zwei von ihnen trugen 30
englische Briefmarken, und diese steckte sie in die Tasche, während sie mit der anderen Hand Harriets Schleier zurechtrückte. Draußen im kalten Sonnenlicht wartete der Junge. »Sie wollen Glas?«, fragte er. Miss Garnet staunte. »Du sprichst Englisch!«, rief sie und dann, weil sie befürchtete, dass es fast wie ein Vorwurf geklungen hatte: »Du hast eine sehr gute Aussprache.« »Danke schön.« Der Junge zeigte sich erkenntlich, indem er die Augen niederschlug. »Mein Vater sagt, wenn ich gut Englisch spreche, er schickt mich nach Londra.« »Oh, dann möchtest du vielleicht mit mir Englisch sprechen?« Sie sprach langsam, doch der Junge verstand sie nicht gleich. Dann schenkte er ihr ein bildschönes Lächeln. »Si, Signora, ich spreche mit Sie. Ich heiße Nicco.« Miss Garnet, für die solch physischer Charme etwas ganz und gar Ungewohntes war, errötete. »Hallo Nicco, ich bin …«, aber wie sollte das Kind »Miss Garnet« über die Lippen bringen? Deshalb vollendete sie ihren Satz mit »Julia« und verfärbte sich abermals. Nicco lächelte und zeigte umwerfend schöne Zähne. »Sie wollen Glas, Giulia?« Er fragte sie nicht danach, wie das Unglück geschehen war, sondern führte sie schlicht über Brücken und durch eine Gasse, bis sie zu einer Werkstatt am Fondamenta kamen, in der ein Mann mit Gummischürze und roter Wollmütze über einem großen Stück leuchtend blauem Glas saß. Nicco drehte sich zu seiner Begleiterin um. »Hier«, sagte er stolz. »Glas.« Miss Garnet bot dem Mann mit der Mütze unbeholfen die zerbrochene Jungfrau dar. »Bitte«, sagte sie, »können Sie reparieren?« 31
Beim Anblick des Bildes breitete sich ein Lächeln auf dem Gesicht des Mannes aus. Miss Garnet stellte erleichtert fest, dass seine Zähne, anders als Niccos, in schlechtem Zustand waren. »Bellini!«, rief er aus, »bellissimo Bellini«, und dann küsste er seine Fingerspitzen, wie Miss Garnet es bisher nur im Film gesehen hatte. »Er findet sehr schön«, erläuterte Nicco ernst. »Aber er kann es – er wird das Bild reparieren?« Der Mann mit der Wollmütze streckte einen dicken Zeigefinger empor. »Si, Signora, in eine Stuhnde, okay?« Er sprach die Silben überdeutlich und zeigte dabei seine nikotingelben Zähne. Da bin ich aber froh, dachte Miss Garnet und sagte aus Freude darüber, dass sie ihre erste venezianische Katastrophe gemeistert hatte, laut: »Nicco, darf ich dich zum Essen einladen?« Nicco, der ihren Vorschlag nicht gleich verstand, zeigte sich, als der Groschen fiel, begeistert. Er führte sie in eine Trattoria, wo er ein Käse-Schinken-Toast und eine Cola bestellte. Miss Garnet entschloss sich kühn zu Gnocchi, die in einer blassgrünen Sauce serviert wurden und das Köstlichste waren, was sie je aufgetischt bekommen zu haben meinte. »Carciofi«, erklärte Nicco, als sie ihn nach dem Namen des grünen Ingrediens fragte, und legte die gewölbten Hände am Handgelenk aneinander, um eine Artischocke anzudeuten. Sie verstand nicht, was er meinte, wurde aber auch sogleich vom plötzlichen Erscheinen eines großen Glases abgelenkt, in dem eine Flüssigkeit schwappte, die aussah wie Brandy. »Für Sie«, sagte Nicco stolz. »Ist mein Cousin.« Er zeigte auf den jungen Mann, der das Glas gebracht hatte. »Er sagt ›hallo!‹.«
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»Freddo!« Niccos Vetter schlang die Arme fest um seinen Körper, um die Kälte anzudeuten. Miss Garnet war keine Abstinenzlerin, aber sie trank selten etwas. Infolge lebenslanger Zurückhaltung reagierte sie empfindlich auf Alkohol. Dennoch schien es ihr unhöflich, das freundliche Angebot abzulehnen. Und der Brandy war wirklich durchaus schmackhaft, befand sie, als sie den Inhalt des bauchigen Glases in kleinen Schlucken leerte. »Mein Cousin sagt, Sie wollen mehr?« »Nein, danke vielmals, der war köstlich. Bitte danke ihm, Nicco, ich möchte nur zahlen.« Miss Garnet war ungewöhnlich gut aufgelegt, als sie und Nicco hintereinander am grünen Kanal entlang zum Glaser zurückgingen. Ihre Augen labten sich am Licht, das sich auf dem Wasser brach und an den schäbigen Backsteinfassaden der Häuser spielte. Der Brandy hatte sie gewärmt, ein Gefühl des Wohlbehagens durchflutete ihren Körper. Als sie die Glaserwerkstatt betrat, stieß Miss Garnet mit einem Mann zusammen, der gerade hinaus wollte, so dass ihr beinahe das Portemonnaie aus der Hand fiel, das sie vor lauter Eifer, die Transaktion zu vollenden, welche Signora Mignelli wieder in den Besitz ihres Bildes bringen würde, schon hervorgeholt hatte. Der Glaser hatte die reparierte Jungfrau auf die Werkbank gelegt, doch als Miss Garnet anfing, Geldscheine abzuzählen, hielt Nicco, der bis dahin in einen Wortwechsel mit dem weggehenden Kunden verwickelt gewesen war, sie auf. »Ist frei«, erklärte er. Miss Garnet verstand ihn nicht. »Drei und was, Nicco? Tausend? Millionen?« Sie war fix im Kopfrechnen, aber die Vielzahl der Nullen in der italienischen Währung bereitete ihr immer noch Probleme. »Nein, nein, ist frei.« 33
»Oh, das kann ich aber nicht …« Der Glaser hielt ihr das Bild entgegen und tippte aufgeregt auf das Gesicht der Jungfrau Maria. »Bellissimo«, insistierte er. »Per niente – kostet nix. Ich schenke Sie.« Niedergeschlagen und hoch gestimmt zugleich folgte Miss Garnet Nicco den Fondamenta entlang nach Hause. Dass der Glaser sich geweigert hatte, Geld zu nehmen, war ihr nicht recht. Sein energischer Drang zur Selbstbestimmung indes bereitete ihr Freude. Karl Marx, der Gedanke drängte sich ihr auf, hätte das Verhalten des Glasers gutgeheißen, auch wenn er die dahinter stehende Motivation missbilligt hätte. Die Liebe zur Jungfrau Maria wäre Marx als Zeichen der Unterwerfung erschienen, und dennoch konnte man den Mann nicht, nein, man konnte den Mann wahrhaftig nicht als unterwürfig bezeichnen, überlegte Miss Garnet, während sie sich bemühte, mit Nicco Schritt zu halten. »Er liebt diese Maler«, hatte Nicco zur Erklärung gesagt. Doch Miss Garnet, in der Einsicht, einem frisch entzündeten Waldbrand gleich, der aufflammte und sich ausbreitete, spürte plötzlich, dass es mehr war als nur das. Der Glaser, so mutmaßte sie, war auch dem Gegenstand von Bellinis Gemälde zugetan, und seine Liebe zu Maria und dem bambino in ihren Armen war stärker als seine Liebe zum Geld. Als sie auf dem Fondamenta gegenüber der Chiesa dell’Angelo Raffaele ankamen, fragte sie sich gerade, wie Marx oder Lenin diesen Tatbestand erklärt hätten. Der Erzengel lächelte auf sie herab, und ihr fiel ein, dass sie gern mehr über den Jungen mit dem Fisch und dem Hund gewusst hätte.
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»Nicco, wer ist der Junge da oben mit dem Hund?« Sie deutete auf die Steinfiguren, die oberhalb des Portals an der Kirchenfassade standen. Doch Nicco hatte anderweitige Verpflichtungen. Der Stolz auf seine neue Rolle als Dolmetscher und Fremdenführer wich der nun erwachenden Sorge um seine Kameraden. Er hatte eine Verabredung zum Fußballspielen, die er nicht verpassen durfte. Er zuckte die Achseln. »Tobiolo?«, sagte er unsicher. »Bis bald. Ciao, Giulia!« »Ciao!«, rief auch Julia Garnet und blickte dem geschmeidigen Jungen nach, wie er über die Brücke rannte und hinter der Kirche verschwand. Die Sonne stand als blasse goldene Scheibe am Himmel. In ihrer Erinnerung stiegen Worte auf: Wenn die Sonne aufgeht, siehst du dann nicht eine runde Feuerscheibe ungefähr einer Guinee gleich? Nein, nein, ich sehe Unzählige Scharen des Himmlischen Heeres, die rufen: Heilig heilig heilig … Ich zweifle mein Körperliches Auge so wenig an wie ich ein Fenster … Anzweifeln würde. Ich sehe hindurch und nicht damit. William Blake. Vor Jahren war sie einmal gebeten worden, für ein Buch über radikale Denker einen Beitrag über Blake zu verfassen, doch irgendwie war das Projekt im Sande verlaufen. William Blake war ein Revolutionär gewesen, aber hatte er nicht auch von seinem Vater Prügel bezogen, weil er Engel in den Bäumen sah? Oro pallido, dachte sie bei sich, während sie im schwindenden Licht über dieselbe Brücke ging, über die Nicco vorher gerannt war. Dies war keine feurige Morgensonne, sondern blasses winterliches Gold – oro pallido.
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Die Briefe, die aus England gekommen waren, stammten von Brown & Noble, dem Makler, der ihre Wohnung untervermietet hatte, und von ihrer Freundin Vera Kessel, ebenfalls Mitglied der Kommunistischen Partei und einstige Kommilitonin von Julia Garnet in Cambridge. Als Studentinnen waren sie kaum befreundet gewesen, hatten einander jedoch ein paar Jahre später auf einer Parteiversammlung wiedergetroffen und von da an gelegentlich in Dubrovnik oder am Schwarzen Meer zusammen Urlaub gemacht. Ihre gemeinsamen Ferien waren fade Unternehmungen gewesen, von völlig anderem Charakter als die Reisen, die Harriet für ihre Pensionszeit geplant hatte. Julia Garnet hatte die Briefe ganz und gar vergessen und erst zufällig in der Manteltasche gefunden, als sie ihren linken Handschuh suchte. Nun öffnete sie die Umschläge, während das Teewasser heiß wurde. Sehr geehrte Miss Garnet, mit diesem Brief bestätigen wir die Untervermietung Ihrer Wohnung an Mr A. D. Akbar für einen Zeitraum von sechs Monaten zur Miete von £ 1200 pro Kalendermonat. Wir erlauben uns, Sie an die somit gemäß Vertrag fälligen Gebühren in Höhe von 12 % inkl. Versicherung und Inkassogebühren zu erinnern. Einen ersten Betrag von £ 1006,00 (zuzügl. der Kaution in Höhe einer Monatsmiete) haben wir heute auf Ihr Konto überwiesen, wie von nun an monatlich, letztmalig zum 3. Juni. Im Vertrauen, damit zu Ihrer Zufriedenheit gehandelt zu haben, verbleibe ich mit freundlichen Grüßen Ihr etc. »In den Augen des Geizigen ist eine Guinee schöner als die Sonne«, murmelte Miss Garnet, abermals Worte des 36
visionären Dichters zitierend, an den sie schon am Kanal hatte denken müssen, und riss den zweiten Umschlag auf. Liebe Julia, nur eine kurze Karte, um dir in Italien hinterm Mond alles Gute zu wünschen! Wie kommst du mit dem katholischen Vaterunserkommando zurecht? Ich stelle mir das ziemlich bedrückend vor, aber ich hoffe, die historischen Sehenswürdigkeiten machen alles wieder wett. Wir hatten letzte Woche eine enttäuschende Versammlung zur Gewerkschaftsfrage. Ted hat wie gewöhnlich gut gesprochen, aber den Genossen geht einigermaßen die Luft aus. Ich soll dir von allen solidarische Grüße bestellen. Herzlich Vera Einen Augenblick sah Julia Garnet die armselige kleine Zeremonie vor sich, mit der sie ihren letzten Abschied von Harriet genommen hatte, und den zweckmäßigen Stein mit den nüchternen Worten und Zahlen, die sie zum Gedenken an ihre engste Freundin hatte einmeißeln lassen. Sie wünschte jetzt, sie hätte die Beerdigung feierlicher begangen. Harriets großes, sanftes Gesicht stand vor ihr – irgendwie konnte sie sich noch immer nicht recht an die Vorstellung gewöhnen, dass Harriet nicht mehr war. Sie stellte die Flamme unter dem Topf mit dem Wasser klein und hängte zwei Teebeutel hinein. In der Küche gab es weder einen Wasserkessel noch eine Teekanne. Zuerst hatte sie den Mangel beklagt, da ihre Tasse Tee nun einmal unabdingbarer Bestandteil ihrer täglichen Routine war, doch mittlerweile genoss sie das leicht bohemehafte Gefühl, das ihr das Teekochen im Topf vermittelte. Kein »Liebe Grüße« am Ende von Veras Brief. Nach fast
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vierzig Jahren Bekanntschaft brachte sie nicht mehr als das trockene »Herzlich« über sich. Am nächsten Morgen kehrte Julia Garnet, diesmal mit dem Reverend Crystal in der Tasche ihres Tweedmantels (»Es wird wirklich Zeit«, schalt sie sich, »dass ich etwas über diese Stadt erfahre«), zur Basilika San Marco zurück. Sie trat nicht durch das Hauptportal ein, sondern durch einen weniger frequentierten Eingang an der Nordseite. Und ließ sich nicht davon abschrecken, dass dieser Nebeneingang in die Basilika mit einem Schild »Per Pregare« – »Zum Gebet« – versehen war. Drinnen, hinter langen, rotsilbernen Ampeln, stand die Tür zu einer Seitenkapelle offen. Ohne spezielle Absicht ging sie hinein. Dort saßen etwa ein Dutzend Leute in einem uralten Gewölbe und lauschten einem Priester, der aus einem in Leder gebundenen Buch vorlas. Julia Garnet sah sich um. An einem Ende der Kapelle blickte aus einem blauen Mosaik eine riesige Madonna herab, am anderen Ende befand sich ein Grabmal, auf dem, überwacht von einem Engel, eine liegende Marmorfigur ruhte. Auf einem Tisch vor dem Grabmal brannten zwölf Kerzen. Der Priester kam zum Ende seiner Lesung und setzte sich. Es entstand eine lange Pause, in der Julia Garnet darauf wartete, dass etwas geschah. Nach einer Weile wurde ihr klar, dass nichts geschehen würde, außer der Stille. Zunächst ärgerte sie sich darüber. Die Vesper neulich war hochdramatisch gewesen: der Singsang der Geistlichen, die melodischen Glocken, der Weihrauch, der faszinierende Rhythmus des liturgischen Wechselgesangs zwischen Priester und Gemeinde – im Vergleich zu dieser threnodischen Pracht empfand sie die plötzliche Leere als 38
Betrug. Doch nach einer Weile begann sie die Stille zu genießen. Sie ließ ihren Blick rundum über die Mosaiken wandern, die ein grausames Martyrium darzustellen schienen, auf jeden Fall gab es einen Leichnam und ein Grab und, ja, das war gewiss derselbe Leichnam, der aus dem Grab entfernt wurde, und hier, mit welchem Eifer er fortgetragen wird. Die Geschichte, die sie sich aus der Bilderfolge an der Kapellenwand zusammenreimte, atmete einen Überschwang, als hätte der Tote seine Verfolgung zwar nicht unbedingt genossen, zumindest aber kräftig Anteil daran gehabt. Sie verdrehte den Hals, um sich die blaue Madonna noch einmal anzusehen und spürte den Blick eines Herrn in einem Sergeanzug, der sie anstarrte, als wäre er dafür zuständig, ihre Berechtigung zur Teilnahme an der Zeremonie zu überprüfen, und als hegte er die Hoffnung, einen Grund zu finden, mit dem er sie hinauskomplimentieren konnte. Erschrocken wandte sie sich von der Madonna ab und betrachtete die anderen Anwesenden. Es waren ausschließlich Frauen und eine, zwei, drei, vier, fünf, sechs, nein sieben von ihnen trugen Pelz. Na, so etwas! Sie bewegte eine Hand in der Tasche ihres Tweedmantels und musste an Veras Brief denken. Fast hätte sie laut gelacht. Was würde Vera von ihr denken, hier in der Kirche, umgeben von sieben Pelzmänteln? Und was würde sie mehr verabscheuen? Die Kapelle oder den Reichtum? Alle Pelze waren fortgeschrittenen Alters, nur einer nicht: in ihm steckte eine Frau mit einem langen, osterglockengelben Pferdeschwanz und goldenen Stöckelschuhen. »Nuttig«, hätte Harriet dazu gesagt. (Vera hätte das Wort wahrscheinlich nicht in den Mund zu nehmen gewusst.) Aber war Maria Magdalena nicht auch eine Nutte gewesen? Erstaunlich, wie vieles aus dem Religionsunterricht bei einem hängen blieb, dachte Julia Garnet. 39
In diesem Moment entstand eine Unruhe an der Tür, und drei weiß gewandete Nonnen traten ein. Mit ihrer glatten braunen Haut schienen sie einem afrikanischen Orden anzugehören – aber so jung! Die Nonnen, die in der Tat kaum dem Kindesalter entwachsen waren, bekreuzigten sich heftig und knieten nieder, so dass Julia Garnet ihre dick besohlten Stiefel sah. Jetzt warf sich eine von ihnen voll Inbrunst zu Boden und küsste die Fliesen, während die ernsten Damen im Pelz weiter schicklich schwiegen. Wie störten die jungen Nonnen doch, und wie verfehlt wirkten das Küssen und die Stiefel inmitten der stummen Eleganz. Julia Garnet war froh, als sie sah, dass sie gingen, nicht ohne noch geräuschvoll mit den Fingern in einem hohen, reich verzierten Weihwasserbecken zu plantschen. Um den Rand wiederum Engel. Eine der stummen Pelzbekleideten trug einen breitkrempigen, smaragdgrünen Hut. Die Frau war nicht jünger als sie selbst, und in Julia Garnet entstand der Wunsch nach gerade so einem Hut. Aber das konnte doch gewiss nicht der Sinn dieses Schweigens sein? Dass man sich eine Garderobe entwarf! Sachte, wie tropfender Honig sickerte die Stille in ihre Poren, tröstend wie der traumlose Schlaf, der sie neuerdings zu überkommen pflegte. Der Engel über dem liegenden Mann hob einen Arm zum Himmel; ein anderer Engel auf dem Grabmal unter ihm schaute mit allsehenden, blicklosen Augen hinüber zu den Engeln am Weihwasserbecken … »Ich sehe Unzählige Scharen des Himmlischen Heeres, die rufen: Heilig heilig heilig …« Die Stille war heilig. Was bedeutete »heilig«? War damit die Möglichkeit gemeint, wieder heil zu werden? Aber wann war man jemals heil gewesen? Schweigend, schweigend, immerfort schweigend saß der Priester da. Und Julia Garnet saß nun ebenfalls in namenlosem Frieden da und dachte keine Gedanken mehr. 40
Eine leichte Unruhe zu ihrer Rechten. Jemand war hereingekommen und wollte neben ihr Platz nehmen. Ein Herr, der sich bekreuzigte, aber Gott sei Dank unaufdringlich. Sie nahm den Reverend Crystal von der Bank, roch Tabak, und im selben Moment tauchte ihr Vater vor ihr auf, nicht in den Tagen, als er sie ständig mahnte, dass Reinlichkeit und Frömmigkeit Hand in Hand gehen, sondern in jenen letzten Tagen, als er den Verstand verloren hatte und nur noch unter Aufsicht rauchen durfte. Sie hatte sich seinetwegen bei den Krankenschwestern entschuldigen müssen. »Nehmen Sie es ihm nicht übel, er weiß nicht, was er sagt«, hatte sie gefleht und beschämt die dämonischen Flüche ihres selbstgerechten Vaters mit angehört. Die Schwestern hatten ihr lächelnd bedeutet, sie solle sich keine Sorgen machen, so etwas gehöre nun einmal zu ihrer Arbeit. Aber er hat doch gewusst, was er sagt, dachte Julia Garnet, und sie wussten das. Jetzt erhob sich der Priester, und darauf erhoben sich alle. Ein Mann mit Weihrauch und einem Glöckchen kam herein. Inbrünstig wurde der »Signore« gepriesen (wie nett, dass Gott auf diese einfache Anrede hörte!), es folgten Gesang und das Amen. Danach plauderten die Pelze miteinander, während Julia Garnet aufstand und begierig den Anblick der blauen Madonna mit ihrem steifen, naturgetreuen Kind in sich aufnahm. »Unsere Schätze gefallen Ihnen?« Es war der Mann, der neben ihr Platz genommen hatte. »Woher wussten Sie, dass ich Engländerin bin?« Als beantwortete er damit ihre Frage, sagte der Mann: »Ich habe Freunde in England.« Dann deutete er mit einem Nicken auf die Mosaikbilder: »Kennen Sie die Geschichte?«, und bescherte sie mit einer lebendigen Wiedergabe der Legende, wie die Gebeine des heiligen Markus aus dem Grab entfernt wurden. »Wir Venezianer 41
nehmen uns immer, was wir haben wollen«, lachte er, und um seine Augen bildeten sich Fältchen; ein hochgewachsener Mann mit weißem Haar und Schnurrbart. Als er neben ihr die Stufen zur dunkel werdenden Piazzetta hinunterschritt, sagte er: »Da ist noch ein Beispiel für unsere Räubereien«, und zeigte auf die beiden hohen Säulen. »Sankt Theodor mit seinem Krokodil war einst unser Schutzheiliger. Aber in Wirklichkeit ist das da gar nicht der heilige Theodor, sondern eine griechische Statue, die wir uns angeeignet haben. Und gegenüber, sehen Sie, der Löwe des heiligen Markus ist gar kein Löwe, sondern eine Schimäre aus dem Morgenland, der wir Flügel angeklebt haben. Alles gestohlen! Die Säulen auch. Würden Sie mir die Ehre erweisen, Sie einladen zu dürfen – zu einem Glas Prosecco vielleicht?« Er lächelte, und obwohl ihr plötzlich eingefallen war, dass sie den Reverend Crystal in der Kapelle auf dem Boden vergessen hatte, erwähnte sie es nicht. Statt dessen dachte sie, warum nicht, denn ihre Rückkehr wurde von niemandem erwartet. Laut sagte sie jedoch lediglich: »Danke sehr, das wäre reizend«, und war stolz auf sich, dass sie keinen Einwand vorgebracht hatte. »Fein. Ich gehe mit Ihnen ins Florian.« »Aber ist es hier nicht sehr teuer?«, rutschte es ihr zehn Minuten später heraus, als sie von vergoldeten Früchten und verspiegelter Wärme umgeben unter den bekränzten Kolonnaden der Piazza Platz genommen hatten. »Ja, natürlich!« Um die Augen des Mannes, der sich als Carlo vorgestellt hatte, bildeten sich wieder Lachfältchen. »Nächstes Mal führe ich Sie in die Kneipe, in der die Gondolieri verkehren, aber beim ersten Mal muss es das Florian sein.«
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Julia Garnet spürte etwas, was sie bisher nur unter Druck oder bei Angst gespürt hatte. Ihr war, als stiegen die Bläschen in dem blassgoldenen Glas aus ihrem Bauch zu ihrem Herzen auf. »Oro pallido«, sagte sie laut vor sich hin. Ihr Begleiter runzelte die Stirn. »Bitte?« »Oh, Verzeihung. Ich habe versucht, blasses Gold auf Italienisch zu sagen – der Wein. Er ist köstlich.« »Ah! Oro pallido, ich hatte es nicht verstanden. Prosecco ist ein Geheimnis Italiens. Mir schmeckt er besser als Champagner, aber meine französischen Freunde würden mich umbringen, wenn sie das hörten!« »Ihr Englisch ist sehr gut.« Er sei, erklärte er, Kunsthistoriker und habe mehrere Jahre am Courtauld Institute in London gearbeitet. Jetzt sei er Kunsthändler, der in erster Linie in Rom kaufe und verkaufe, dann und wann auch in London, manchmal in Amsterdam. Aber Venedig sei seine Heimatstadt. Seine Mutter sei verstorben, doch er habe ihre Wohnung behalten und komme so oft wie möglich her. Er habe noch Verwandte hier, eine Tante. »Und Sie?«, fragte er. »Sie haben einen Mann, Kinder?« Dafür war sie ihm dankbar, denn sie war sicher, dass er ihr das Gegenteil ansah. »Was für eine Schande!«, entgegnete er leichthin, »Sie sind eine so hübsche Frau«, worauf sie ernsthaft nur ganz leicht errötend: »Danke sehr« sagte, als hätte er ihr eine Tür aufgehalten oder etwas aufgehoben, was sie fallen gelassen hatte. Sie fragte ihn ihrerseits nicht, ob er verheiratet sei. Carlo erkundigte sich, wo sie wohne, und sie erzählte ihm von Signora Mignelli und dem Campo Angelo Raffaele. Vielleicht weil er sie nach Mann und Kindern gefragt hatte, die sie nicht aufzuweisen hatte, brachte sie unwillkürlich das Thema auf Nicco. »Ich scheine hier 43
einen kleinen Schüler gefunden zu haben«, erklärte sie, ohne sich des verdeckten Stolzes in ihrer Stimme bewusst zu sein. Und als er nickte und ermutigend lächelte, fuhr sie fort: »Ich bringe ihm Englisch bei«, wohl wissend dass sie ein wenig übertrieb, denn Nicco zeigte bislang wenig Begeisterung für das Erlernen ihrer Sprache. Carlo jedoch lauschte höflich. Er gab ihr seine Karte und bestand darauf, sie mit dem Vaporetto nach Hause zu begleiten, das sie an San Basilio absetzte, der Anlegestelle, die ihrer Wohnung am nächsten lag. »Ich werde Sie nicht zu mir bitten.« Julia Garnet artikulierte die Worte sorgfältig. Die Fahrt auf dem Wasser und der Prosecco waren ihr zu Kopf gestiegen (womit sie zum zweiten Mal in zwei Tagen beschwipst war). »Ich habe außer Tee nichts anzubieten und bin sicher, Sie werden zum Abendessen erwartet.« »Ein andermal sehr gern. Sie wohnen an einem der schönsten Campi von Venezia!« Ruhig, murmelte Julia Garnet innerlich. Sie dankte ihrem gut aussehenden Gönner und eilte über die Brücke und an San Sebastiano vorbei, Veroneses Kirche, deren Gemeinde nicht genug Geld für einen Küster hatte. »Ruhig, Mädchen«, sagte sie später noch einmal laut, als sie sich die Strümpfe auszog. Mit diesen Worten hatte der Trödler, der noch durch Ealing fuhr, als sie eine junge Lehrerin war, immer auf sein Pferd eingeredet. Eine Schimmelstute namens Lily, dachte sie geistesabwesend, während sie Badewasser einließ und barfuß auf dem kalten Boden stand. Am Morgen darauf sah sie, als sie am Seiteneingang der Kirche vorbeikam, einen Mann mit einem überdimensionalen Schlüsselbund, der dabei war, die Kirche aufzuschließen. 44
Sie richtete fragend den Finger auf das Innere, und er forderte sie mit einer Geste zum Eintreten auf. »Prego!« Schlurfend ging er voraus und versah im trüben Licht des Innenraums seine Pflichten. Nach und nach leuchteten immer mehr kleine helle Felder auf, so dass Julia Garnet zwischen lauter Kegeln aus gebündeltem Halblicht stand. Sie drehte sich um. Es war das erste Mal seit wer weiß wie vielen Jahren, dass sie eine richtige Kirche betrat (San Marco konnte man nicht zählen). Die Beerdigung eines Kollegen in einer hässlichen anglikanischen Kirche in Acton, das musste das letzte Mal gewesen sein. Wie kalt es dort gewesen war, und wie ihr der Geruch bürgerlicher Unantastbarkeit missfallen hatte. Warum war es hier anders? Einen Augenblick schweiften ihre Gedanken schuldbewusst zum Reverend Crystal. Er hätte mit Sicherheit zuverlässige, solide Informationen zu solchen Fragen gehabt. Sie saugte schnüffelnd die staubige Luft ein. Auch hier roch es trocken und muffig, aber der Geruch war von einem anderen Duft überlagert. Was für eine vernünftige Idee, sein Gotteshaus zu parfümieren. Weihrauch, natürlich, es war Weihrauch, das Geschenk von einem der drei Könige. Gold, Weihrauch und Myrrhe. Gab es einen Grund für die Wahl der Geschenke? Das wusste sie nicht mehr. Der Küster trat jetzt zu ihr und deutete erst auf eine Orgel über der Tür, die zum Wasser hinaus ging, und dann auf einen kleinen Tisch mit sortierten Broschüren. Ihm zu Gefallen nahm sie sich eine von dem Stapel, der mit »English« gekennzeichnet war. »Tobiolo and the Angel Raffael.« Als sie aufblickte, erkannte sie oben an der Orgelempore einen gemalten Engel mit azurblauen Flügeln.
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Seinen Flügeln zum Trotz schien der Engel entschlossen voranzuschreiten, an der Hand einen jungen Mann, der sich nach hinten umschaute und die andere Hand wie flehend zu einem alten Mann ausstreckte, der dem sich entfernenden Paar nachblickte. Neben ihm, das Gesicht abgewandt, eine Frau, vielleicht seine Ehefrau? Und da! Allen voran lief ein kleiner, schwarzweiß gefleckter Hund. Sie folgte der Geschichte weiter. Jetzt schien der Knabe Tobiolo einen riesigen Fisch in seinem Taschentuch gefangen zu haben, während der Hund ihm bewundernd zuschaute. Und der Engel, nunmehr mit einem prächtigen und gewiss anachronistischen blauen Wams bekleidet, stand in der Haltung eines stolzen Elternteils bei der Schulabschlussfeier im Hintergrund. Und dort eine weitere Szene: Diesmal kniete der junge Mann neben einer jungen Frau in hauchfeinen Kleidern. Und jetzt kniete das junge Paar vor dem Engel an einem Bett, in einer Schale brannte ein mysteriöses Feuer, und der Hund hatte sich, dem Anschein nach vor Angst, in eine Ecke verkrochen. In der nächsten Szene war der junge Mann zu dem alten Mann zurückgekehrt, der sich zurücklehnte, als staune er, und auch die junge Frau stand dabei. Über ihnen der Engel mit den azurblauen Flügeln. In der letzten Szene schien der Engel Abschied zu nehmen: mit ausgebreiteten Flügeln schwebte er in der Luft, eine Wolke aus Rosa und Blau. Seine wohlgeformten Gliedmaßen und kräftigen Füße waren in all ihrer Herrlichkeit dargestellt, bestaunt von dem jungen und dem alten Mann, während der Hund sehnsüchtig hochblickte. Während sie die lebhafte, erfrischende Malerei, die Freudigkeit des Entwurfs und das unverkennbare Mitgefühl im hellen Blick des Engels in sich aufnahm, verschob sich tief in Julia Garnets Innerem etwas Hartes, Eingero46
stetes. Tränen stiegen ihr in die Augen. Die Kirchentür ging auf, Licht strömte herein, und in dem Lichtschein stand eine hochgewachsene Gestalt. Erschrocken erkannte sie den Mann, den sie tags zuvor im Markusdom kennen gelernt hatte, und schluckte hastig ihre Tränen hinunter. »Meine Freundin!« Er lächelte wieder, und einen Augenblick empfand sie dies als störend: Es war, nun, nicht eben männlich, so häufig zu lächeln. Doch sogleich schämte sie sich ihrer xenophoben Anwandlung und bemühte sich, sein Lächeln zu erwidern. »Ich habe mir dies hier angesehen.« Welch schwache Worte zur Beschreibung der Schätze, auf die sie zufällig gestoßen war. »Ah! Die Guardis!« »Sie kennen sie?« Doch weshalb sollte sie das überraschen? Er war Kunsthistoriker, und wahrscheinlich wusste in Venedig jeder von den Bildern. Mit Verärgerung nahm Julia Garnet zur Kenntnis, dass sie ihm ihre neue Entdeckung missgönnte. »Aber ja. Sie sind berühmt. Und außerdem gibt es einen berühmten Streit über ihre Urheberschaft. Sie müssen wissen, es gibt zwei Guardis, einen um viele Jahre älteren, Giannantonio, und einen jüngeren, Francesco, der soweit man weiß keine religiösen Bilder gemalt hat. Einige Fachleute schreiben diese hier wegen ihres überragenden Stils dem jüngeren, bekannteren Bruder zu. Aber andere, zu denen auch ich gehöre, vertreten mit aller Leidenschaft, dass sie von dem älteren sind. Es ist ein großer Disput!« »Und die Geschichte?« Ihr war es nicht so wichtig, wer den Engel gemalt hatte – das Wunder war, dass er überhaupt gemalt worden war. »Sie stammt aus dem Alten Testament – und heißt bei Ihnen, wenn ich nicht irre, das Buch Tobit?«
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Carlo nahm ihren Ellbogen, und sie gingen in der hohen, theatralischen, heruntergekommenen Kirche umher, während er die Geschichte des jungen Tobias erzählte, der ohne zu wissen, dass er von einem Engel begleitet wird, auszieht, um ein Heilmittel gegen des Vaters Blindheit zu finden. »Das Heilmittel wird in einem großen Fisch gefunden, doch zuvor heiratet und rettet Tobias oder Tobiolo, wie wir ihn nennen, eine junge Frau, auf der ein Fluch lastet. Ein Dämon wohnt in ihr und tötet in der Hochzeitsnacht die jungen Männer, die ihre Jungfräulichkeit auf die Probe stellen. Vor Tobiolo mussten sieben Männer ihr Leben lassen, aber natürlich hat er den Erzengel Raphael dabei, damit er ihm zu Hilfe kommt.« »Und hilft er ihm?« »Gewiss. Er erklärt Tobiolo, wie er Herz und Leber des Fisches verbrennen muss, und so wird« – wie ein Zauberer wedelte Carlo mit der Hand – »der Dämon fluchend vertrieben.« Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse, um den fliehenden Geist nachzuahmen. »Und das steht im Alten Testament?« So eine Geschichte konnte doch nur in einer schmissigen katholischen Fassung der Bibel stehen. Carlos plötzliche Imitation des Dämons beunruhigte sie ein wenig. »Aber ja, natürlich. Eine wundersame Geschichte, nicht wahr?« »Eher eine Zaubergeschichte, wie mir scheint. Warum kommt der Engel Tobiolo zu Hilfe?« Doch Carlo zuckte nur leicht mit den Achseln, als hätte er genug von dem Thema. Er sei vorbeigekommen, erklärte er, um zu sehen, wie es ihr gehe, und um sie, falls sie Lust habe, für den Abend in ein Konzert einzuladen. Julia Garnet konnte keinen Grund entdecken, die Einladung nicht anzunehmen. Ihr Reverend Crystal hätte sie nie 48
und nimmer so unterhaltsam informiert – und vielleicht nicht einmal mit solcher Kenntnis. Später, im Angesicht ihrer spärlichen Garderobe, gestattete sie sich, ausgehend von der Frage, was sie zu dem Abendvergnügen anziehen sollte, den Gedanken, was ein Mann von so angenehmer Erscheinung wohl mit einer so wenig eleganten Begleiterin wollte.
Ich bin ein alter Mann, dessen Ende naht – obwohl mein Sohn dies leugnet und sich dagegen verwahrt. (Er ist trotzdem ein guter Sohn.) Man mag sich fragen, was ein alter Mann von hundertachtundfünfzig Jahren mitzuteilen haben könnte, das von Interesse wäre. Das Geheimnis meines hohen Alters vielleicht? Nun, es könnte sein, dass unsere Jahre nicht so gerechnet werden, wie ihr die euren rechnet. Aber selbst wenn wir Unterschiede einräumen, würde meine Antwort lauten, wir leben im Einklang mit den Zyklen der Sonne und des Mondes, wir stehen mit den Vögeln auf und gehen mit ihnen zu Bett, wir arbeiten hart und essen wenig. All dies trägt zur Langlebigkeit bei, aber ich wage zu behaupten, dass es etwas gibt, was wichtiger ist als all dies: Es kann sein, dass wir ein langes Leben haben, weil es etwas gibt, was wir höher schätzen als das menschliche Leben – einen Namen werde ich dem nicht geben! In unserem Volk werden die Alten ihrer Weisheit wegen geachtet – ich hoffe, das ist bei euch nicht anders. Wie immer es um dich bestellt sein mag: Solltest du jetzt jung sein, so wäre es gut, im Kopf zu behalten, dass auch du eines Tages alt sein und dann möglicherweise froh sein wirst, wenn man dich noch anhört: solltest du bereits alt sein, dann hast du vielleicht so wie ich eine Geschichte zu 49
erzählen? (Denn jedes Leben birgt, denke ich, eine Geschichte.) Dennoch erzähle ich die meine nicht, weil ich es so will oder weil ich erklären möchte, wie man zu leben hat, obwohl ich gern zugebe, dass dies früher womöglich meine Absicht gewesen wäre. Nein, ich erzähle sie, weil mir befohlen wurde, sie zu erzählen – sagen wir durch eine »höhere Macht« –, und um die Wahrheit zu sagen, macht mir der Gedanke, wie ich sie erzählen soll, schon seit vielen Jahren zu schaffen. Ich habe vor unendlich langer Zeit versprochen, alles niederzuschreiben, aber man weiß doch, wie es geht mit solchen Versprechungen, oder? In deinem Innern meldet sich jene leise Schlangenstimme, die sagt: »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben«, oder: »Nachher geht es bestimmt besser«, oder (was für meinen Fall am ehesten zutrifft): »Lass dir Zeit, du musst erst den Sinn noch besser begreifen.« Das viele Denken führt dazu, dass man ständig seine Worte wägt und nie dazu kommt zu handeln. Doch jetzt spüre ich den Schatten des Todesengels über mir, und ich glaube nicht, dass mir noch viel Zeit bleibt. Zuerst war das Problem nicht bloß, dass ich den Sinn nicht verstand, sondern, dass ich nicht einmal einen Ansatz zum Verständnis fand. Was mir und meiner Familie geschehen war, war so außerordentlich, dass ich glaubte, die Erzählung nur verpatzen zu können. Doch ich hatte ja zu der Zeit, als die Ereignisse stattfanden, auch erst ein Drittel meines Lebens hinter mir. Seither bin ich zu der Einsicht gelangt, dass wir alle stümpern: Vielleicht sind wir sogar da, um zu stümpern. Ich würde gern am Anfang beginnen, wenn ich nur wüsste, wo der »Anfang« liegt. Manche würden ihn vielleicht in der Zeit ansiedeln, da wir aus dem Lehm des großen Stroms Tigris geformt wurden, noch ehe unsere Frauen uns aus den Rippen geschnitten wurden, damit wir 50
jemanden hatten, der an uns etwas zu bekritteln fand! (Das ist mein kleiner Scherz: Ich nenne meine Frau Hanna »Rippe«. Ich habe den Eindruck, dass ihr dieser oft wiederholte Scherz auf die Nerven geht. Aber sie ist eine großzügige Frau, die sich meist mit der anstrengenden Art ihres Mannes abfindet.) Vielleicht liegt der »Anfang« auch später, damals, als unsere Urahnen aus dem Paradies vertrieben wurden (von dem manche Leute behaupten, es habe hier im Zweistromland gelegen, das von den Kaufleuten noch immer Garten genannt wird, weil es so fruchtbar ist) und sich draußen in der Welt zurechtfinden mussten? Von der Zeit unserer frühesten Ahnen an waren wir ein umherirrendes Volk, bis der Patriarch Abram aus Ur in das Land kam, das man damals Kanaan nannte. Später fand unser Volk nach Ägypten und mit Hilfe der Vision Mose, den wir den Befreier nennen, auf einem Weg durch das Rote Meer wieder hinaus. Mit ihm kehrten wir zurück in das Land, das uns verheißen war, sofern wir nicht mit andern Göttern buhlten. Zu jener Zeit verteilten sich zwölf Stämme auf zwei Königreiche, und zwischen dem Reich im Norden und dem Reich im Süden herrschten Spannungen. Vielleicht finden sich die Bewohner des Nordens immer nur widerwillig damit ab, wenn der Süden den Ton angibt? Etliche der nördlichen Stämme wandten sich tatsächlich den Götzen zu. Als ich jung war, hatte mein Geschlecht, der Stamm Naphtali, heimlich begonnen, den alten Göttern zu opfern (die mit Öl oder Gerste als Geschenk leichter zu beeinflussen waren als unser Gott), und ich allein wanderte in das Königreich im Süden, in die heilige Stadt Jerusalem zum Tempel mit den ehernen Säulen, ausgestattet mit Gold und Elfenbein und Lapislazuli, die Wände mit Zedernholz aus Libanon verkleidet, von Salomo, dem 51
Sohn Davids, der über unser beider Reiche herrschte. Ich allein hielt am Glauben fest und brachte die Erstlinge und die erste Schafschur und den Zehnten aller Feldfrüchte dorthin, Korn, Wein, Öl und Granatäpfel, während meine Verwandten ihren Zehnten öffentlich dem Baalskalb opferten. Und am Ende wurde mein Stamm in die Gefangenschaft geführt, nach Ninive im Lande Assyrien, und die andern Stämme wurden über die Städte Mediens verstreut, des berüchtigtsten aller Reiche, unter die wir zersplittert sind. Wie man sieht, waren wir also von Anfang an dazu bestimmt, Fremdlinge und Halbbürger zu sein!
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2 Wenn Julia Garnet auf diese Phase in ihrem Leben zurückblickte, erschien sie ihr in der Erinnerung als eine Zeit, in der sie die Sinnlichkeit entdeckte. Das Konzert, zu dem Carlo sie an jenem ersten Abend einlud, fand in einer alten scuola mit bemalten, vergoldeten und mit Schnitzwerk verzierten dunklen Kassettendecken statt. Sie lauschte Vivaldi, Albinoni, Corelli – Venedigs triumphalen musikalischen Genies –, gespielt von einem Quintett, das aus hübschen Mädchen in langen Röcken und jungen Männern mit ungebändigten Mähnen bestand. Die Musiker sahen aus, als wären sie zu jung, um die Heiterkeit der Musik, die sie spielten, zu verstehen. Doch als sie mit ihren Geigen, Bratschen und Cellos loslegten, ging von ihnen eine Dynamik aus, die das Blut schneller fließen und den Körper, so fand Julia Garnet, von oben bis unten prickeln ließ. Sie dachte an die trostlosen Lieder zurück, die sie als Kind im Klavierunterricht hatte spielen müssen, und wurde bescheiden. »So hätte ich niemals spielen können!« In der Pause stand sie ein wenig fröstelnd im Marmorsaal. Um sie herum lauter luxuriöse Pelzstolen um weiße venezianische Hälse. »Das glaube ich nicht.« Carlo zog sein Jackett aus und legte es ihr mit der Geschicklichkeit eines Matadors um die Schultern. Als sie protestieren wollte, sagte er lächelnd wie immer: »Das ist unsere venezianische Art. Frauen sind uns lieb und teuer!« Es war die erste von vielen gemeinsamen Unternehmungen. Nie hätte sie für möglich gehalten, dass jemand den Wunsch verspüren könnte, so oft mit ihr auszugehen, und 53
schon gar nicht dieser hochgewachsene, kultivierte Herr, der, obwohl er, wie er ihr versicherte, auf die Siebzig zuging, auf altmodische Weise unbestreitbar gut aussah. Manchmal gingen sie in ein Konzert und aßen anschließend in einem der ausgefallenen Restaurants, in denen man ihn wie einen verlorenen Sohn begrüßte; oder er schlug einen Besuch in einer Kirche vor, wo er ihr dann im prächtigen Dämmerlicht Altarbilder mit obskuren katholischen Heiligengeschichten vorführte, die in der protestantischen Kirchengeschichte nicht vorkamen; oder er lenkte sie, die Hand immer charmant an ihrem Ellbogen, durch die Räume der Accademia, wo sie Gemälde von Künstlern anzuschauen lernte, von denen sie vordem noch nicht einmal die Namen gekannt hatte: Bassano, Longhi, Vivarini. Das kräftige Rot, Gold und Blau, das sie früher als viel zu knallig verlacht hätte (denn einst waren die Bilder Lowrys für sie der Inbegriff hoher Kunst gewesen), blendete sie ein wenig. In einem Raum mit acht riesigen Gemälden, die alle vier Wände ausfüllten, blickte sie sich überwältigt um. »Carpaccio«, sagte Carlo amüsiert angesichts ihres offensichtlichen Entzückens. »Carpaccio, behaupte ich immer, ist der Prosecco unter den Malern – noch eines unserer venezianischen Geheimnisse!« Eines der Gemälde erregte ihre besondere Aufmerksamkeit: ein hohes Zimmer im stillen Licht des Tagesanbruchs, auf einer Seite des Bildes ein schlichtes Bett, in dem eine Frau friedlich schläft – gegenüber, an der Schwelle zu einer Tür, durch die Licht hereinfällt, ein blauer Engel mit dunklen Flügeln, der dort einfach verharrt. Als sie den Engel ansah, wie er so reglos dastand, durchlief Julia Garnet so etwas wie ein kleiner Schauder. Bei einer anderen Gelegenheit, im Peggy Guggenheim Museum, trieb es ihr die heiße Röte ins Gesicht, als Carlo ihr einen strammen Engel zeigte, der sein nacktes Glied in 54
seiner ganzen Pracht stolz den vorbeifahrenden Booten präsentierte. (»Oh, ich versichere Ihnen, dass er sich bedeckt, wenn Vertreter der Kirche ins Museum kommen!«) Hinterher hatte er ihr in einem schmalen, voll gestopften Blumenladen Ringelblumen gekauft, und sie wusste, dass er sich damit für die Peinlichkeit entschuldigen wollte, die er ihr bereitet hatte. In jener Nacht lag sie wach, verfluchte sich und ihre dämliche puritanische Erziehung und hatte sich bis zum Anbruch des nächsten Morgens eingeredet, dass sie nicht damit rechnen durfte, ihn noch einmal zu sehen (denn was sollte ein so gebildeter, weltgewandter Mann mit einer so naiven Frau?). Doch dann war er wie gewöhnlich lächelnd, als wäre nichts geschehen, über den Campo gekommen, und ihr Herz hatte vor Freude Purzelbäume geschlagen, während sie ihm vom Balkon entgegenwinkte. Einmal hatte sie einen Niesanfall bekommen, und er hatte darauf bestanden, ihr sein Taschentuch zu geben, warm vom Tragen in der Hosentasche. Sie hatte versucht, es nicht schmutzig zu machen, und sich, da sie dank seiner untadeligen Manieren nicht erwartete, dass er es zurückverlangen würde, gleich vorgenommen, es ungewaschen zu dem Buch in die Schublade zu legen, in dem sie eine der peinlichen Ringelblumen gepresst hatte. Obwohl sie seine Karte in ihrer Handtasche aufbewahrte, sah sie davon ab, jemals von sich aus ein Treffen vorzuschlagen, weil sie sich davor scheute, sein Bedürfnis sie zu sehen, auf die Probe zu stellen. Dabei lieferte er vielfältige Beweise dafür, dass er ihre Freundschaft suchte. Gewöhnlich kam Carlo nachmittags vorbei, um sie abzuholen. Signora Mignelli, durch das Thema Liebe zu Vertraulichkeiten animiert, begann sie mit ihrem »Freund« aufzuziehen.
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Julia Garnet spürte, wie sie dank Carlos Gesellschaft femininer wurde: Sie erstand einen schwarzen Rock und eine cremefarbene Seidenbluse mit gewagten breiten Revers – für die Konzerte. Sie streifte sogar durch die Seitengassen, halb hoffend, einen smaragdgrünen Hut in der Art zu finden, wie sie ihn bei der Frau in der Kapelle von San Marco gesehen hatte, doch sie entdeckte nichts, was ihr so gut gefiel, dass es ihren Mut genug geschürt hätte, um einen Kaufakt einzuleiten. Eines Tages, als sie gerade von einem solchen Streifzug zurückkehrte (sie war bei einem roten Hut fast schwach geworden, doch dann hatte schließlich die Vernunft gesiegt), blieb Julia Garnet vor einem Laden stehen, der Wäsche und bestickte Tischtücher feilbot. Die Tischtücher erinnerten sie an ihre Mutter, deren Rebellion gegen ihren Ehemann einzig im obsessiven Kauf von Wäsche zum Ausdruck gekommen war. Julia Garnet stand, von einer Art Sehnsucht befallen, da und betrachtete die mit buntem Seidengarn gestickten Blumen, bis der Besitzer, der ein Geschäft witterte, herauskam und sie bedrängte, so dass sie schleunigst in eine kleine Gasse flüchtete, die neben dem Laden abging. Es war viele Jahre her, dass Julia Garnet riskiert hatte, eine Abkürzung zu nehmen (Abkürzungen assoziierte sie mit Faulheit), und es verunsicherte sie ein wenig, ihre vertraute Route verlassen zu haben. Gleichzeitig verspürte sie freilich auch jene Entdeckungslust, die nach ihrer Ankunft in Venedig erwacht war. Der erste Monat war, beschleunigt durch das Novum ihres neuen Gefährten, fast vergangen. Er hatte die Abenteuerlust gefördert, die zuerst durch Harriets Hinscheiden in ihr aufgekeimt war. Beinahe, dachte Julia Garnet, während sie durch die dunkle Gasse eilte (als ob 56
die Tischdecken losgeflogen wären und sie wie Gespenster verfolgten), beinahe war es, als hätte Harriets Seele deren kärglichen Vorrat an Kühnheit über ihr ausgegossen, als letztes Geschenk an die Freundin, die sie für immer verließ. Du liebe Güte, wie überspannt sie mittlerweile war! Der Gedanke, eine Seele zu besitzen, schien ihr indes wirklich nicht mehr abwegig. Und wenn man schon eine Seele besaß, wie viel schöner war es, sie hier durch Venedig spazieren zu lassen. Noch während sie das Für und Wider einer angenehmen Umgebung für das Leben nach dem Tode abwägte, mündete die Gasse in einen schmalen Campo, den sie noch nie zuvor betreten hatte. Auf dem Platz stand einer der alten, aus Stein gehauenen Brunnen, mit denen Venedig gesegnet ist, und links davon erhob sich ein kleines romanisches Bauwerk mit gewölbtem Dach, das zur Hälfte von einem Gerüst verdeckt war. Angeregt durch ihre neue Abenteuerlust ging Miss Garnet langsam auf das Bauwerk zu und suchte nach einem Hinweis auf dessen Funktion. Es war nicht zu erkennen, ob es sich um eine Kirche handelte, wenngleich die Bauweise insgesamt auf einen religiösen Zweck hinzudeuten schien. Als sie in der Absicht näher trat, sich das Gebäude genauer anzusehen, wurde Julia Garnet von einem Schrei erschreckt. »He, passen Sie auf! Weg da!« Die Stimme kam von oben, und in ihrer Verblüffung hatte sie im ersten Moment den Eindruck, ein Engel habe sie angesprochen, dann glitt mit einem blau bekleideten Paar Beine eine eindeutig menschliche Gestalt in ihr Blickfeld. »Haben Sie das Schild nicht gesehen?«
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»Schild?« Julia Garnet reagierte verärgert. Zum zweiten Mal hatte man sie als Engländerin »ertappt«: Die fremde Person, die so überraschend von dem Gerüst über ihr heruntergestiegen war, hatte sie gleich in ihrer Muttersprache angeredet – allerdings ohne eine Spur von Carlos zuvorkommender Höflichkeit. Wer war dieser Mensch in dem schmutzigen Overall? Nicht einmal sein Geschlecht war zu erkennen, denn er trug eine Schutzbrille und die bei den Arbeitern Venedigs so beliebte Wollmütze. »Da! Sehen Sie!« Der Mensch in Blau deutete auf ein gelbes Schild mit herabstürzenden Steinen, das am Gerüst hing und von Julia Garnet übersehen worden war. »Wenn was passiert, wird das verdammt teuer. Hier wird gearbeitet.« Der Mensch nahm die Schutzbrille ab und sah sie mit blassblauen Augen empört an. »Tut mir Leid.« Obwohl es ihr in Wirklichkeit gar nicht Leid tat. »Ich habe das Schild nicht gesehen.« »Was ist los?« Eine zweite Stimme, heller als die erste. Eine zweite Gestalt mit Schutzbrille schwang sich herab. Sie nahm eine fast identische Mütze ab, zog die Schutzbrille vom Gesicht und erwies sich als blonde junge Frau. »Was ist, Tobes?« »Ich fürchte, ich habe ein Verbot übertreten.« Julias Stimme war kalt. »Halb so wild«, sagte die junge Frau beschwichtigend. »Er hat sich nur Sorgen gemacht, dass Ihnen was auf den Kopf fallen könnte. Wir wollten sowieso gerade Mittag machen. Ich heiße übrigens Sarah. Das ist Toby.« Sie deutete auf die zweite Gestalt und fügte, als Julia schwieg, hinzu: »Wir arbeiten zusammen.« Ihr Ton stimmte Julia versöhnlich. »Es war dumm von mir. Ich habe nicht aufgepasst.« Dem aggressiven jungen Mann wäre sie am liebsten schnell entkommen, aber das Mädchen machte einen angenehmen Eindruck. Bemüht 58
um eine höfliche Entgegnung fragte sie: »Woran arbeiten Sie denn?«, und merkte, während sie es aussprach, dass sie es wirklich gern wissen wollte. »Wir sind Restauratoren. Dies ist eins der englischen Restaurierungsprojekte.« »Und arbeiten Sie immer zusammen?« Es musste berauschend schön sein, so hoch oben zu arbeiten. Mit Blick über die Stadt, wie ein Vogel – oder ein Engel. »Wir sind Zwillinge«, sagte das Mädchen wie zur Erklärung, und tatsächlich hatten ihre Augen exakt die gleiche blassblaue Farbe wie die ihres Bruders. Julia Garnet hatte Zwillinge im Unterricht gehabt, doch das war keine erfreuliche Erfahrung gewesen. Ein ganzes nervenaufreibendes Schuljahr lang hatten die StevensZwillinge in einer Klasse für Chaos gesorgt, indem sie jedes Mal, wenn einer von ihnen gefragt wurde, im Chor antworteten oder (was schlimmer war) mit einem seltsam monotonen Sprechgesang, wenn eigentlich keiner von beiden an der Reihe war. Zwillinge besaßen oft eine Dreistigkeit und Selbstgenügsamkeit, die sie aus der Fassung brachte. Instinktiv wandte sie sich zum Gehen. »Hätten Sie Lust, sich umzusehen?« Wieder war es die junge Frau, die sprach, während ihr Bruder nur stumm dabeistand. Seine Wimpern, bemerkte Miss Garnet, waren lang und blond. »Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich muss …« »Wenn Sie wollen, können Sie mit nach oben kommen und seine Herrlichkeit sehen.« Es war der junge Mann, der sprach. Er hatte nun auch die Wollmütze ausgezogen, so dass lange blonde Locken und ein Ohrring zum Vorschein kamen. »Seine Herrlichkeit?« Julia Garnet spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Wie ärgerlich, dass sie vor diesen jungen Leuten so leicht errötete. 59
Doch der junge Mann, der seinen Hader von vorhin vergessen zu haben schien, sah ihr nicht ins Gesicht, sondern streckte ihr eine behandschuhte Hand entgegen. »Hier, es ist ganz ungefährlich.« Und zu ihrer Überraschung spürte Julia Garnet, wie sie am Ellbogen gefasst und auf eine Plattform aus Holzplanken an der Seite des Gebäudes gehievt wurde. »Sehen Sie«, sagte der junge Mann und dann, als wollte er sie vorstellen: »Der Erzengel Raphael.« Hinter dem Gerüst schaute gelassen lächelnd ein in Stein gemeißeltes Antlitz hervor. Was in aller Welt tat man nur, wenn man auf einmal einem lächelnden Engel gegenüberstand? »Er ist toll, oder?« Die Stimme des jungen Mannes war voller Begeisterung. Sicherer geworden, fragte Julia Garnet: »Woher wissen Sie, dass es ein ›Er‹ ist?« »Die Konvention will es so.« Es war die junge Frau, Sarah, die sich selbst hinaufgeschwungen hatte und jetzt bei ihnen auf den Planken stand. »Eigentlich sind Engel geschlechtslos. Sehen Sie? Das Gesicht ist absolut androgyn.« Und bei sich dachte Julia Garnet, dass die junge Frau und ihr Bruder ebenfalls ziemlich androgyn wirkten, wie die Engel. Eine seltsame Begegnung, dachte sie ein wenig später, als sie die Zwillinge bei ihrem Mittagessen zurückließ, das aus Ciabatta mit Tomaten und jenen länglichen, rötlichen Zwiebeln bestand, die sie schon an mehreren Gemüseständen gesehen hatte. Die beiden hatten ihre Beine vom Gerüstrand baumeln lassen. Gleichwohl breitete sich langsam ein Gefühl von Wärme in ihr aus, wie damals von dem Brandy, den Niccos Cousin ihr eingeschenkt hatte: Sie war mit sich zufrieden. Sie hatte wieder eine Bekanntschaft geschlossen. 60
»Eigentlich zwei«, sagte sie abends, »obwohl man irgendwie dazu neigt, Zwillinge als Einheit zu sehen.« Carlo und sie speisten in der Nähe des Arsenale. Bis vor kurzem war Julias Speiseplan äußerst beschränkt gewesen. Zu den seltenen Gelegenheiten, da Harriet und sie Gäste eingeladen hatten, hatte Harriet ein Hähnchen gebraten und die Sauce mit einem Löffel trockenem Sherry gewürzt. Nach Harriets Tod hatte Julia bei Marks & Spencer eingekauft – Fertigmahlzeiten für eine Person, Fleisch und Gemüse getrennt voneinander, auf Pappe und mit Folie verpackt. Venedig zu erleben, hatte ihr nicht nur die Augen geöffnet, es hatte auch ihren Appetit angeregt. Sie war dabei, das Essen genießen zu lernen – vor allem mit Carlo. »Und sie sind Restaurateure? Das werde ich mir ansehen müssen.« Ein Krug Prosecco wurde auf den Tisch geknallt. »Ein Schlückchen Prosecco? Wie er hier serviert wird, perlt er kaum, aber er ist sehr erfrischend.« Später, nachdem sie Venusmuscheln zu Polentascheiben gegessen hatten, die in Salbei und Knoblauch gegart waren, fragte sie: »Ist es eine Kapelle, die sie restaurieren?« Carlo hatte einen silbernen Zahnstocher aus seiner Brieftasche geholt. Julia betrachtete ihn und dachte: Wie komisch, dass mich das gar nicht abstößt! Als hätte er ihre Gedanken gelesen, steckte Carlo den Zahnstocher weg. »Ja, sie ist allgemein unter der Bezeichnung Pestkapelle bekannt, weil sie für ein pestkrankes Kind gebaut wurde – obwohl andere behaupten, es sei eine Mätresse gewesen.«
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»Ist das der Grund, warum der Engel da ist?« Von dem Faltblatt in der Kirche erinnerte sie sich, dass sein Name im Hebräischen »Gott heilt« bedeutete. »Vermutlich ja – er kommt in Venedig häufig vor.« »Ich mag ihn.« Seltsam, dass sie sich dessen bereits so sicher war. »O ja, er ist netter, mit seinem Lächeln, als der streitbare Michael oder der tugendhafte Gabriel!« Carlo machte ein langes Gesicht und lachte dann. Julia, die sich nicht gänzlich von der Ansicht befreien konnte, dass es sich nicht gehörte, über die eigenen Äußerungen zu lachen, stimmte ein wenig unsicher ein. »Aber wissen Sie, Ihre Zwillinge müssen besonders qualifiziert sein, wenn man sie für dieses Projekt geholt hat. Dass die Soprintendenti Ausländer einstellen, ist äußerst selten. Ich muss vorbeischauen – meine Nase hineinstecken! Also, wir haben die Wahl zwischen Langusten und Hummer. Was sollen wir probieren?« Ein paar Tage darauf entsann sich Julia Garnet auf ihrem gewöhnlichen Weg die Calle Lunga entlang ihrer Abkürzung. Sie hatte das Gefühl, sich mit dem Umweg über das kleine, von Gerüststangen umgebene Backsteingebäude einen Hauch von Exzentrik zu gestatten, wenn nicht gar einen kleinen Übertritt, doch dann waren die Zwillinge nirgends zu sehen. Dass die Zwillinge nicht da waren, verhalf Julia Garnet zu der Einsicht, dass sie enttäuscht war. Ohne es sich einzugestehen, hatte sie sich darauf gefreut, die Bekanntschaft mit dem androgynen Paar zu erneuern. Irgendetwas an der ungezwungenen Art, mit der sie sich über das Gerüst hangelten (den Gibbons ähnlich, die Julia einmal im Zoo von Whipsnade auf einem Baum gesehen hatte), hatte sie berührt. Und sie hatten ihr ein Gegenbild zu der 62
Erfahrung mit den Stevens-Zwillingen vermittelt, indem sie unerwartet freundlich waren und sie aufs Gerüst hoben, damit sie das Gesicht des Erzengels sehen konnte. Vielleicht, dachte sie, ihrer Phantasie einen Moment freien Lauf lassend, war Tobys Vorschlag auf irgendeine Weise durch den Engel ausgelöst worden? Denn es war doch er und nicht die umgänglichere junge Frau gewesen, der das Angebot gemacht hatte, welches zu ihrer Begegnung mit dem lächelnden Raphael führte. Auf dem Nachhauseweg kam sie an zwei kleinen Mädchen vorbei, die sich etwas aus einem Korb nahmen, der an einem Seil aus einem der oberen Stockwerke hing. »Grazie, Nana!«, riefen die Mädchen, und als Julia Garnet hinaufschaute, sah sie am offenen Fenster das Gesicht einer älteren Frau. Die Frau warf den Mädchen eine Kusshand zu, und mit übertriebenen Bewegungen erwiderten die Mädchen die Geste. Das Erlebnis löste bei Julia Garnet Niedergeschlagenheit aus. Die ältere Frau hatte Enkelkinder, denen sie in einem Korb Süßigkeiten oder Taschengeld hinunterschicken konnte und die sie liebten. Egal, welche Schattenseiten das Altwerden für diese Venezianerin haben mochte, sie besaß eine Familie, zu der sie gehörte – dieser Gedanke trug, als Julia Garnet wieder in ihrer Wohnung war, zu einem allgemeinen Gefühl der Verlorenheit bei. Sie hatte Briefe zu schreiben und Bücher zu lesen, doch diese Tätigkeiten hatten nichts Verlockendes: Sie sehnte sich nach Gesellschaft, und sie war dankbar, als Signora Mignelli mit einer Emaille-Teekanne vor der Tür stand. »Zum Tee machen!«, sagte die Signora und zeigte auf die Kanne. »Tut mir Leid, ich hatte vergessen.« Julia selbst hatte vergessen, dass ihr eine solche jemals gefehlt hatte. Signora Mignelli blieb zum Plaudern und lehnte sich mit dem Gesäß an die Sofalehne. Ihr Mann war 63
an einem Leistenbruch operiert worden, und die Signora gab nun eine dramatische Darstellung davon, wie er mitten in der Nacht mit dem Rettungsboot ins Krankenhaus gebracht wurde. Sie lehnte eine Einladung zum Tee ab, berichtete aber noch von einem Krieg zwischen dem Fischhändler und ihrem Pfarrer. Der Fischhändler stand in dem Ruf, so folgerte Julia, er stelle anderer Männer Frauen nach, und der Pfarrer hatte den Versuch unternommen, diese Angelegenheit mit ihm zu besprechen. »Er ist Kommunist – also passt ihm nicht«, erklärte die Signora. »Er sagt, er geht in andere Kirche.« »Aber wenn er Kommunist ist, warum geht er überhaupt in die Kirche?« »Natürlich er geht in Kirche«, sagte die Signora, jede andere Möglichkeit ausschließend. Besorgt, dass sie ihre Wirtin beleidigt haben könnte, lenkte Julia das Gespräch auf ein anderes Thema. »Kennen Sie die Pestkapelle?« Signora Mignelli nickte anerkennend. »Sehr alt«, sagte sie, »und sehr heilig. Viele Wunder einmal dort. Jetzt nicht mehr.« Sie zuckte die Achseln. »Wegen Fernsehen, glaube ich.« Nicco machte mit dem Englischen keine rechten Fortschritte. Als Carlo zu Besuch kam, um Julia zu erzählen, dass er seine Ankündigung wahr gemacht, sich die Kapelle angesehen und mit den Zwillingen gesprochen hatte, verpasste er eine von Niccos Englischstunden um wenige Augenblicke. »Sie müssen entschuldigen.« Julia räumte eilig einen Stapel Bücher beiseite. Eines von ihnen, Die Geschichte von Emma Ententropf von Beatrix Potter, war ihr ein wenig peinlich: Es verriet, dass sie sich die Mühe gemacht hatte, ausgerechnet dieses Buch aus England mitzubrin64
gen. Sie hatte ihre Neigung, sich durch Carlos Anwesenheit verunsichern zu lassen, noch nicht gänzlich überwunden, und das Kinderbuch verstärkte dieses Gefühl. »Das ist für den Jungen, dem ich Englisch beibringe.« Sie schob Emma Ententropf unter eines der Hello-Hefte, die ihr die Signora geschenkt hatte. Carlo bewies makellose Manieren. Falls er die Geschichte über die gutgläubige Ente und den räuberischen Fuchs, die Julia seit ihrer Kindheit hütete, erblickt hatte, so ließ er sich nichts anmerken. Er schien sich nach Nicco erkundigen zu wollen, aber sie interessierte sich mehr dafür, was er zu der Restaurierung zu sagen hatte. »Da habe ich Ihre Freunde nun also kennen gelernt.« Dies meinte sie allerdings korrigieren zu müssen. »Freunde ist wirklich zu viel gesagt!« »Es ist faszinierend.« Er ignorierte ihren Einwand. »Wie immer ist Salz das Problem. Sehen Sie, Venedig hat die Füße ständig im Wasser, und sie müssen den Fußboden wiederherstellen. Das macht der Junge, auf den Knien, während das Mädchen hoch oben als Steinmetzin arbeitet. Moderne Jugend, was? Sie waren außerordentlich liebenswürdig, muss ich sagen. Sie gestatteten mir, mich umzusehen.« »Haben Sie Ihnen seine Herrlichkeit gezeigt?« Julia verspürte eine leise Eifersucht. Auf dem Gerüst hatte sie sich frei gefühlt. »Seine Herrlichkeit?« Carlo wirkte verdutzt. »Den Erzengel. Raphael.« Mehr als die Menschen, die sie bei der Kapelle kennen gelernt hatte, erschien ihr der Engel als Freund. »O ja. An ihm ist bei der Restaurierung die komplizierteste Arbeit zu leisten. Die junge Frau hat bei einem ausgezeichneten Restaurator aus Ihrem Victoria & Albert Museum gelernt, der ’66 nach dem Hochwasser hier war. 65
Ich kenne ihn ein wenig. Mit dem Meißel seid ihr Engländer unübertroffen.« »So ein verklärtes Lächeln.« Julia dachte an den Engel. »Ich kann Ihnen nur zustimmen. Sie ist außerordentlich charmant, Ihre junge Freundin«, erwiderte Carlo, sie höflich missverstehend. Julia Garnet traf Sarah, als sie gerade ein Paket Wäsche abgeholt hatte, draußen vor der Wäscherei. Sarah trug weder Schutzbrille noch Wollmütze, aber immer noch den blauen Overall. »Hallo! Ist es nicht herrlich heute?« Und wirklich hatte sich der Tag zu einem Gemälde in Apricot und Blau entwickelt. Bündel strahlenden Sonnenlichts fielen, fast als wären sie greifbar, auf das geschützte Fleckchen, wo die beiden Frauen standen. »Herrlich«, pflichtete ihr Julia bei und balancierte das braune Paket auf den Händen. (Sie verspürte den Wunsch, die genossene Gastfreundschaft zu erwidern, und wog innerlich die diesbezüglichen Möglichkeiten ab.) »Sie hätten nicht zufällig Lust, eine Tasse Tee mit mir zu trinken?« »Doch, das ist eine schöne Idee. Ich trockne völlig aus von dem Steinstaub, und wenn man nur in die Nähe eines Cafés geht, ist man gleich ein Vermögen los.« »Nehmen Sie keine Thermosflasche mit?« »Zu faul!« Die junge Frau hatte ein verführerisches Kichern. Die beiden machten sich auf den Weg zu Signora Mignellis Haus und Julia überlegte, dass jemand mit einem solchen Lachen sich wahrscheinlich die schlimmsten Untaten leisten konnte. Es war offenbar also ganz simpel, dachte sie weiter, während Sarah neben ihr den Redestrom in Gang hielt: Man lud jemanden zum Tee ein, und dieser 66
Jemand sagte ja oder nein. Weiter war nichts dabei. Sie dachte an die vielen Jahre zurück, in denen sie nie jemanden eingeladen hatte (höchstens mal Harriet – die sie, wie ihr jetzt klar wurde, zu sehr als »bloß« Harriet verbucht hatte). Aus Angst vor Zurückweisung hatte sie der Welt nach außen hin Unabhängigkeit vorgegaukelt. Wäre sie in jenen freudlosen Jahren fähig gewesen, es für sich in Worte zu fassen, hätte sie vermutlich die Ansicht geäußert, sie sei zu unattraktiv, als dass jemand sie zur Freundin haben wolle. Dabei hatte sich an ihrer Erscheinung nichts geändert: Wenn sich an Julia Garnets Auftreten etwas gewandelt hatte, so war das eine Folge anderer Veränderungen. Der aprikosenfingrigen Sonne zu Ehren servierte Julia den Tee auf dem Balkon. Obwohl es draußen wirklich nur gerade warm genug war, bemühte sie sich stolz, ein wenig Pracht zu entfalten. Die blaue Emaille-Teekanne wurde hervorgeholt und eingeweiht. Im Grunde trauerte Julia dem Kochtopf nach, der ihr das verwegene Gefühl vermittelt hatte, sie lasse die Zügel schleifen. Gegen die Teekanne, an der sie sich die Hand verbrannte und die beim Einschenken tropfte, hätte selbst ihr Vater nichts einzuwenden gehabt. »Zucker? Milch?«, fragte sie und freute sich, als ihr Gast um Zitrone bat, denn das bot ihr die Gelegenheit, sich mit einem Quäntchen mehr Aufhebens in ihrer Rolle als Gastgeberin zu beweisen. Sie setzten sich so, dass sie auf die Kirche blickten. »Das ist also die Angelo Raffaele. Es ist furchtbar, wissen Sie, aber obwohl ich die Türme vom Gerüst aus sehen kann, schaue ich sie mir jetzt zum ersten Mal richtig an. Wenn der Tag vorbei ist, hab ich von Kirchen ziemlich die Nase voll – verkündet es nicht in Gat!« »Sagt es nicht an …« 67
»Was?« Sarah kniff die Augen zusammen und wirkte auf einmal weit weniger attraktiv. Was ist es, fragte sich Julia, was eine Frau attraktiv macht und die andere nicht? Bei näherem Hinsehen erinnerte Sarahs Gesicht an ein Wiesel, dennoch wusste man gleich, dass sie auf Männer anziehend wirkte. »Oh, entschuldigen Sie, ich kann mir die Lehrerin einfach nicht abgewöhnen!«, beeilte sich Julia zu erklären und errötete über ihre Unbedachtheit. »Ich bin zu meinem Leidwesen mit der Bibel groß geworden, und das bleibt hängen, selbst wenn man alles Mögliche andere vergisst. Ich glaube die Stelle heißt ›Sagt es nicht an in Gat …‹. Die meisten Leute zitieren sie falsch.« Sie benahm sich unmöglich, es war ungeschickt und ungehörig, einen Gast zu korrigieren. In dem Versuch, das Gespräch auf sicheren Boden zu lenken, kam sie auf die Chiesa dell’Angelo Raffaele zurück. »Sie enthält ein paar recht schöne Guardis«, sagte sie und schämte sich sogleich ihrer Vermessenheit, denn bis vor kurzem hatte sie nicht einmal den Namen Guardi gekannt. Falls es Sarah etwas ausgemacht hatte, korrigiert zu werden, zeigte sie es nicht. »Ach ja, die umstrittenen Orgelgemälde. Die sollte ich mir wirklich allmählich ansehen.« Somit um die Chance gebracht, ihr frisch erworbenes Wissen zu präsentieren, suchte Julia nach einem neuen Thema, als ihre Besucherin, die womöglich die Enttäuschung ihrer Gastgeberin spürte, sagte: »Helfen Sie mir auf die Sprünge, was ist noch auf den Guardis? Eigentlich müsste ich es wissen …« »Es ist eine Geschichte aus dem Alten Testament. Da fang ich schon wieder an – Sie müssen den Eindruck gewinnen, dass ich eine Bibelexpertin bin, dabei habe ich nicht die geringste Ahnung. (Darf ich Ihnen noch Tee 68
einschenken?) Mein Freund nennt die Geschichte ›Tobiolo‹. Bei uns heißt sie glaube ich ›Das Buch Tobit‹.« »Nein, danke, keinen Tee mehr. Ihr Freund?« Sarah legte eine Hand über die Augen, um das Licht abzuschirmen. Es sah aus, als errötete ihre seltsame Gastgeberin. »Sie haben ihn kennen gelernt. Er heißt Carlo. Er war bei Ihnen, um sich Ihre Arbeit anzusehen.« »Ach ja! Der Kunsthistoriker mit dem Schnurrbart.« Sarah musterte Julias Gesicht ein wenig zu eingehend, dann, da ihre Gastgeberin wirklich außerordentlich von der Teekanne in Anspruch genommen war, hakte sie nach: »Erzählen Sie mir mehr von diesem Dingsda. Ich vermute, ich müsste die Geschichte kennen, aber wenn ja, dann hab ich sie vergessen.« Julia missfiel es, Tobiolo als Dingsda bezeichnet zu hören. »Ich fürchte, ich kenne sie selbst kaum richtig.« Vor Verwirrung beugte sie sich noch weiter über die Teekanne. »Mein Freund hat sie mir erzählt. Aber man kann sich die Geschichte im Großen und Ganzen aus den Bildern zusammenreimen. Es ist ein Hund dabei.« Sarah half abermals nach. »Ein Hund?« »Ja, der ist mir zuerst aufgefallen – ein ziemlicher Kontrast, fand ich, ein Hund und ein Engel. Es ist ein Dalmatiner.« »Wir hatten zu Hause auch einen Dalmatiner.« Das Gesicht der jungen Frau – es war wirklich sehr wandelbar – wirkte fast traurig. »Zu Hause?« »Ja, er hat meinem Vater gehört. Huch, wo wir gerade bei Engeln sind« – sie sah auf ihre Armbanduhr –, »ich muss weg. Hören Sie, es war unheimlich nett von Ihnen mich einzuladen.«
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»Sie müssen wiederkommen.« Seltsam, dass der Gedanke an Sarahs Abschied sie wehmütig stimmte. »Klar komm ich wieder. Darf ich Ihre Toilette benutzen?« Noch ehe Julia antworten konnte, war sie aufgestanden und in der Wohnung verschwunden. Als sie wieder herauskam, rieb sie die Hände aneinander. »Ich habe Ihre Handcreme benutzt, meine Hände werden rau wie Schmirgelpapier, ich hoffe, Sie haben nichts dagegen?« Julia, die sich Carlos wegen parfümierte Handcreme gekauft hatte, kämpfte gegen das Gefühl an, überfahren zu werden. So viel Vertrautheit in so kurzer Zeit warf sie aus der Bahn. Doch wahrscheinlich machte man das heute so, und sie wollte das Mädchen zur Freundin haben. »Ich habe sie in der farmacia neben der Wäscherei gekauft – sie war gar nicht teuer.« Zum Donnerwetter, warum entschuldigte sie sich denn schon wieder? Bemüht, sich zu fangen, sagte sie: »Bringen Sie Ihren Bruder mit, das nächste Mal.« Und dann, weil es ihr plötzlich wichtig war, dass der junge Mann mitkam: »Bringen Sie Toby mit zum Tee bei mir, ja?« »Mach ich, wenn er Lust hat.« Sarah sprang zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinunter. Ihre Ausgelassenheit hatte etwas einnehmend Kindliches. Julia Garnet sah vom Balkon zu, wie sie winkte und über den Campo davonschritt (als gehörte ihr die Welt), bis ihre knabenhafte Gestalt sich zur Brücke wandte und entschwand. Zweifelsohne war es auf den teilweisen Erfolg ihres Vorstoßes in die Welt der Geselligkeit zurückzuführen, dass Julia Garnet einen Abendspaziergang in das Stadt70
viertel wagte, in dem das Hotel Gritti Palace lag. Sie brach nicht in einer bestimmten Absicht auf, doch die Einladung der Amerikaner, ausgesprochen damals bei ihrer Weiterfahrt mit dem Wassertaxi, nagte noch immer an Julias Gewissen. Es war unhöflich von ihr gewesen, nicht eher darauf zu reagieren, und außerdem war sie ihnen noch Geld für das Taxi schuldig. Vielleicht lag es an dem prachtvollen Foyer des Hotels, vielleicht an dem unbewussten Wunsch, an nichts erinnert zu werden, was eine Verbindung zu dem darstellte, was sie zunehmend als ihr früheres Leben zu betrachten geneigt war, jedenfalls musste sie an der Rezeption feststellen, dass ihr Gedächtnis sie im Stich ließ: Aller Mühe zum Trotz wollte ihr der Name der Amerikaner nicht einfallen. »Sie sind Freunde, nein?«, fragte der Portier. Er war kahlköpfig und desinteressiert. »Keine Freunde, nein«, entgegnete Julia Garnet entnervt. Der Portier bekundete träges Erstaunen. »Also, wenn keine Freunde, bitte, dann was?« Seine Miene war fast unverschämt. »Bekannte«, sagte Julia Garnet, verärgert darüber, dass ihr Bemühen um gesellschaftlichen Verkehr durchkreuzt wurde. »Ich habe sie bei meiner Ankunft kennen gelernt. In einem Taxi«, fügte sie unnötigerweise hinzu. »In einem Taxi?« Der Mann zog die Augenbrauen hoch, als kommentiere er eine Unschicklichkeit, die sich nur Ausländer zuschulden kommen lassen konnten. Doch er hatte noch nicht ausgeredet, da wurde die Situation gerettet, indem von der Treppe her deutlich Cynthia Cutforths Stimme zu hören war. Julia Garnet, die sich, auf einen leeren Blick gefasst, von dem ungläubigen Portier abwandte, wurde angenehm überrascht, als Cynthia ausrief: »Ja, hallo! Wir haben Sie 71
in San Marco gesehen, aber wissen Sie, wir mochten nicht …« Julia Garnet erklärte einigermaßen verlegen, sie sei gekommen, um für das Taxi zu bezahlen, aber davon wollte das ranke, schlanke Ehepaar absolut nichts wissen. »Wir haben uns vorgedrängt«, sagte Charles. »Das war äußerst unhöflich von uns. Wir hoffen schon die ganze Zeit, dass wir Ihnen noch einmal begegnen, damit wir uns endlich entschuldigen können.« »Bitte erlauben Sie uns jetzt, die Sache wieder gutzumachen«, sagte seine Frau. »Wollen Sie nicht mit uns speisen? Das Essen ist hier ganz passabel. Und wie geht es Ihrem Bein? Ich war entsetzt zu sehen, wie schlimm Sie sich wehgetan hatten.« Der Speisesaal des Gritti war ganz in prächtigem Marmor gehalten. Geräuschlose Kellner zogen Stühle zurück und zauberten Leinenservietten vom Tisch auf den Schoß. Doch Julia Garnet spürte, obwohl sie auf den Anlass nicht vorbereitet war, dass sich in ihr etwas verändert hatte. Sie fühlte sich nicht mehr gehemmt – zumindest nicht in dieser Umgebung. Vielleicht lag es daran, dass es ihr gleich war, was die Eheleute von ihr dachten. Sie mochten noch so reich und gepflegt sein, es lag nicht in ihrer Macht, Julia zu verunsichern. Auf jeden Fall wurde sie zu so etwas wie dem Mittelpunkt des Abends. »Nein, wirklich!«, rief sie aus, als der Kellner silberne Glocken auftrug, unter denen sich blaue Tintenfische, ansehnliche Portionen Steinbutt und dicht geschlossene Reihen winziger exotischer Gemüsesorten verbargen. »Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn zu schlagen. Es war eine Frage von ›er oder ich‹!« Sie schilderte gerade ihre Beziehung zu Michael Morrell, einem Schüler, der sie mit seiner Unerzogenheit so zum Wahnsinn getrieben hatte, dass sie ihn eines Tages, 72
nachdem sie ihn im Unterricht mehrmals vergeblich aufgefordert hatte, still zu sitzen, voll Zorn auf den Gang scheuchte und ihm einen ordentlichen Klaps auf den Hintern gab. Die Cutforths lauschten diesem Beispiel britischer Anthropologie allem Anschein nach mit Faszination. Cynthia äußerte vorsichtig, in Philadelphia bevorzuge man andere Methoden, aber beider Mienen waren respektvoll, ja fast ehrerbietig. Und Charles berichtete: »Ich habe als Kind oft Prügel bekommen. Ich denke nicht, dass es mir geschadet hat. Ich frage mich manchmal, ob wir in unserer Erziehung nicht allmählich zu liberal werden.« Julia Garnet wusste nicht, ob sie ihr damaliges Verhalten heute noch guthieß. Michael Morrell, das musste man sagen, hatte auf das Erlebnis mit mürrischem Respekt reagiert. Und er hatte aufgehört, sich in der Klasse so störend zu gebärden. Vielleicht hatte sie dem Jungen nicht geschadet? Sie vermochte es nicht zu sagen. Deutlich war indes, dass sie mit den Amerikanern einen Volltreffer gelandet hatte. Er, so erfuhr sie, war ein Professor, der über den Handel Venedigs mit dem Vorderen Orient arbeitete. Er erzählte ihr von einem Haus mit dem Relief eines Kamels an der Außenwand. Ein levantinischer Kaufmann war im 12. Jahrhundert nach Venedig gereist, um dort ein Handelsgeschäft aufzubauen. Als er es zu Vermögen gebracht hatte, baute er ein Haus und schickte nach seiner jungen Frau. Sie fragte ihn mittels eines Briefeschreibers: Wie soll ich dich nur finden, wenn ich in Venedig ankomme? Ich kann nicht lesen. Und ihr Mann antwortete: Wenn du in Venedig ankommst, frag nach dem Kamel, das wird jeder kennen und daher wissen, wo unser Haus liegt. »Nicht gerade emanzipiert«, lachte Cynthia.
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»Oder vielleicht gerade doch?«, entgegnete Julia, die dachte, es hätte ihr als Frau des Levantiners durchaus gefallen können zu wissen, dass ein Kamel auf sie wartete, als Symbol der Heimat, wenn sie sich allein in die Fremde aufmachte. Als Gegenleistung für das Kamel erzählte sie ihnen von der Pestkapelle. Charles, der sich bereits mehrere Stumpen in Folge angesteckt hatte (»Ich muss leider gestehen, dass ich es mittlerweile aufgegeben habe, ihn dazu zu bewegen, sich das Rauchen abzugewöhnen!«, warf seine Frau ein, als er sich den zweiten anzündete), wurde neugierig. »Ich kenne sie nicht, aber ich werde sie mir unbedingt ansehen. Vermutlich handelt es sich um den schwarzen Tod, der halb Europa ausgelöscht hat. Das wird Giuseppe genauer wissen, den werde ich danach fragen.« »Charles hat sich mit einem dubiosen katholischen Priester angefreundet.« Cynthia lachte. Julia lauschte ihrem Gefrotzel und merkte, dass ihre Vorurteile sie zu der Annahme verleitet hatten, reiche Leute seien dumm. Die Cutforths erwiesen sich als außerordentlich gebildet. Sie beschrieben ihr den Weg zu dem Kamel in der Nähe von Tintorettos Kirche. »Die ist ebenfalls von einem Team Ihrer ›Venice in Peril‹-Leute restauriert worden.« Charles war äußerst angetan. »Sie haben phantastische Arbeit geleistet. Die Kirche sollten Sie sich ansehen. Tintoretto ist dort bestattet, und früher hat ein Bellini da gehangen. Ein frühes Bild, aber trotzdem ein schönes Stück. Irgendein Gauner hat es gestohlen. Wenn es nach mir ginge, würden solche Typen auf dem elektrischen Stuhl enden!« Die Entdeckung, dass ihr Gast mit den Kommunisten sympathisierte, löste bei den Cutforths Amüsement – oder gar Begeisterung? – aus. (»Und ich«, rief Cynthia, »habe 74
mir eingebildet, Sie wären eine Herzogin. Ich wollte schon all meinen Freundinnen davon berichten!« – »Habe ich es nicht immer gesagt – man braucht an einem Demokraten nur zu kratzen, schon kommt ein Snob darunter hervor«, hatte ihr Mann darauf erwidert und seiner Frau zärtlich übers Knie gestrichen.) Was nur beweist, sagte sich Julia, nachdem sie das Hotel verlassen hatte, um nach Hause zu gehen, dass man sein Leben lang einem Irrtum verhaftet bleiben kann. Charles’ Angebot, sie zu begleiten, hatte sie höflich abgelehnt. »Nein, nein, es ist absolut nicht gefährlich, und der Spaziergang tut mir gut!« Denn es war ihr kleiner privater Luxus, sich nur einen hochgewachsenen Mann als Begleiter zu wünschen. Auf dem Weg zurück in ihre Wohnung lachte sie einmal sogar laut heraus, als sie daran dachte, wie treulos sie mit dem Reverend Crystal verfahren war. Ein Abend wie der heutige hatte, bevor sie nach Venedig kam, schlicht jenseits ihrer Vorstellungen gelegen. Am darauf folgenden Tag sagte Signora Mignelli etwas, was Julia nicht verstand, und als sie merkte, dass die Engländerin ihr nicht folgen konnte, holte sie eine hohe Bienenwachskerze und deutete auf die Chiesa dell’Angelo Raffaele. »Für Heilige Jungfrau«, sagte sie, jede Silbe sorgfältig mit den Lippen artikulierend. »Es ist für sauber machen?« Ein Ritual zur Reinigung der Kirche vielleicht? Die ockerfarbene Kerze sah verlockend aus, und Julia begab sich später am Nachmittag zum Fondamenta, an dem der Erzengel zum ersten Mal auf sie herabgelächelt hatte. Als sie nun abermals zu dem Sims über dem Kirchenportal aufschaute, auf dem er stand, sah sie, dass der Bildhauer ihm Falten in die Strümpfe gemacht hatte. Was für eine 75
tröstliche Gestalt Raphael doch war! Irgendwie musste sie beim Anblick der Strümpfe an die Frau des levantinischen Kaufmanns denken und wie sie übers Meer gefahren war, um ihren Mann zu finden. Die dunkelgrünen, verwitterten Türen standen weit offen. Sie trat in die Vorhalle und erkannte drinnen eine Prozession mit Kerzen, deren kleine schwankende Lichtkreise punktuell die schattenreiche Dämmerung erhellten. Während sie innehielt, ertönten die ersten Takte eines Liedes. Was hatte sie nur für eine Welt betreten, indem sie nach Venedig gekommen war! Eine Welt der seltsamen Rituale, der Halbschatten, des Überschwangs. Plötzlich von Schüchternheit befallen, von jenem alten, heimtückischen Empfinden, dass sie nicht dazugehörte, trat sie aus der wachsschweren Luft wieder hinaus in den rauen Nebel. Draußen dribbelte Nicco mit einem Fußball über den Campo. »Ciao, Giulia!« »Ciao, Nicco. Nicco, in der Kirche. Was ist da los? Wofür sind die Kerzen?« Nicco runzelte die Stirn. Die vom Vater versprochene Londonreise erwies sich als unzureichende Motivation zum Englisch lernen. »Für Maria«, erklärte er. »Aber die Kerzen …« Nicco lächelte. »Ich komme morgen.« Er rollte den Ball mit dem Fuß hin und her, zu höflich um einfach davonzulaufen. Sie spürte seine Ungeduld und ließ ihn gehen. »Gut, Nicco, wir sehen uns morgen.« Erst als Carlo vorbeischaute, wurde ihr die Aufklärung zuteil.
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»Heute ist Maria Reinigung«, erklärte er. »Oder Lichtmess, wenn Ihnen das lieber ist.« Es war Julia in der Tat lieber. »Wozu muss sie gereinigt werden? Trieft sie nicht ohnehin vor Heiligkeit?« »Es war so Sitte nach der Niederkunft. Sechs Wochen nach der Geburt musste die Frau sich einem Reinigungsritual unterziehen. Was ist mit dem Jungen, dem Sie Unterricht geben? Ich sehe ihn hier nie. Sehen Sie ihn oft?« Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, hatte Carlos Gesicht etwas Unfreundliches. »Wie chauvinistisch.« Aus Sorge, dass sie ihn womöglich schockiert hatte, schlug Julia einen schärferen Ton an, als sie eigentlich beabsichtigt hatte. »Nicco ist entsetzlich faul, danke der Nachfrage. Ich überlege ernstlich, ob ich mich seiner weiter annehmen soll.« Sie begann ihm von ihrem Besuch bei den Cutforths zu erzählen, doch der Abend, der so beschwingt verlaufen war, geriet in der Wiedergabe langweilig. Aus irgendeinem Grunde entstand zwischen ihnen nicht der gewohnte leichte Fluss, und er verabschiedete sich abrupter als gewöhnlich. Vermutlich sind sie alle empfindlich, wenn es um ihren Glauben geht, selbst diejenigen, die kein Getue darum machen, dachte sie, als sie sich zum Baden auszog. Während sie darauf wartete, dass die Wanne voll lief (Signora Mignellis Bad ließ sich nicht hetzen, der Wasserdruck war niedrig, und aus dem Hahn kam nur ein dünnes Rinnsal), betrachtete sie sich im Spiegel des Schrankes. Ihr Körper starrte ihr sehnig entgegen, wie ein gerupftes Federvieh. Als sie hineinstieg, war das Wasser heiß. Sie sah zu, wie sich ihre Haut von der Hitze rötete und fühlte sich mehr denn je wie ein altes Suppenhuhn. In den Anblick ihrer Arme und Beine verloren, die vor ihr schwebten, fast als
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gehörten sie ihr gar nicht, sann sie über die Unvorhersehbarkeit menschlicher Beziehungen nach. Sie hatte, so begriff sie jetzt, ihr Leben lang Menschen gemieden, weil sie Angst vor Abneigung oder Missbilligung hatte. Ihre bestimmte Art und ihre strengen Ansichten hatte sie als Mittel eingesetzt, um jede Intimität von vornherein zu vereiteln. Wenn Leute sie hatten kennen lernen wollen – und sie konnte wirklich nicht mehr sagen, ob es solche Leute gegeben hatte oder nicht –, hatte sie Wege gefunden, um zu verhindern, dass sie ihr zu nahe kamen. Carlo war eine Ausnahme, eine höchst erfreuliche Ausnahme, denn falls er je einen Versuch der »Verhinderung« wahrgenommen hatte, so hatte er sich nichts anmerken lassen, sondern war unbeirrt, mit langbeiniger Lässigkeit, in eine Beziehung zu ihr vorgedrungen. Und hatte somit einen Weg eröffnet, auf dem andere folgen konnten. Es stimmte, sie hatte begonnen, seine gute Meinung von ihr als selbstverständlich hinzunehmen. Ihre Überraschung darüber, dass er sie wiedersehen wollte, dass er sie immer häufiger wiedersehen wollte, war der Vorfreude auf seinen nächsten Besuch und dem Plänemachen für ihre nächste Unternehmung gewichen. Heute allerdings war irgendetwas zwischen ihnen zwar vielleicht nicht wirklich schief gelaufen, so doch auch nicht ganz richtig gewesen. Sie hatte das Gefühl, gleichsam von einem unsichtbaren, böswilligen Geist niedergedrückt zu werden. Der abergläubische Teil ihrer Seele suchte die Ursache für die kleine Missstimmung in der Beziehung zu Carlo in ihrem Stolz auf den Abend, den sie mit den Cutforths verbracht hatte. Nicht einmal vor sich selber, dachte sie, kann man ungestraft prahlen. Plötzlich erschienen ihr die bröckelnden gelben Wände des kleinen Badezimmers trist und hässlich. Das Buch – 78
sie war so langsam damit vorangekommen, eine Abhandlung über Garibaldi, der ihr, wie sie merkte, eigentlich gar nichts bedeutete –, das Buch, das sie zum Lesen mit in die Badewanne genommen hatte, war nass geworden, und sie legte es beiseite und begann über ihren Schüler Michael Morrell nachzudenken. Wo war er jetzt? War er Verbrecher geworden oder Banker? (Beides erschien ihr gleichermaßen möglich.) Wenn er kein erfolgreicher Mensch geworden war, hatte sie zweifellos eine Mitschuld zu tragen: Sie war eine langweilige Lehrerin gewesen. Es war deutlich, dass Nicco sie bei aller Höflichkeit als solche empfand. Und sie hatte ihm so vollmundig angeboten, ihn zu unterrichten. Nach einer Weile nickte sie ein, und als sie aufwachte, waren ihre Knie gebeugt, und das kalte Wasser reichte ihr bis über den Mund. Wie unklug von dir, schalt sie sich, als sie sich, in ein Handtuch gehüllt, einen Brandy aus der eckigen Flasche einschenkte, die sie nach dem Mittagessen bei Niccos Cousin erstanden hatte. So unmerklich dem Tod entgegengeschlittert zu sein, machte ihr Angst. Irgendwie verband sich die Erfahrung für sie mit Carlo und ihrem undeutlichen Empfinden, sein Missfallen erregt zu haben.
Ich will euch vom Exil erzählen. Es gibt zweierlei Umgang mit dem Exil: Du kannst dich anpassen, dich unauffällig verhalten – wes Brot ich ess, des Lied ich sing, wie wir zu sagen pflegen –, oder du kannst auffallen wie eine einsame Krähe. Es dürfte nicht schwer fallen zu raten, welchen Weg meine abtrünnigen Stammesverwandten einschlugen! Doch ich muss gestehen, dass auch ich mich in der frühen Zeit des Exils, nachdem die Schande der Eroberung 79
überwunden war, in Ninive einigermaßen wohl gefühlt habe. Mir fehlten die sanften Hügel und die saftigen Weiden von Galiläa. Doch mir widerfuhr bald nach der Ankunft in Ninive ein ziemliches Glück: Der König schenkte mir seine Gunst und übertrug mir die Einkäufe für seinen Hof, so dass ich in den ersten Jahren des Exils weite Reisen über die Berge nach Medien machen durfte, um für den assyrischen König zu feilschen und einzukaufen, und dort häufig mit anderen Kindern Israels zusammentraf. Wir sind ein gescheites Volk, und unser flinker, findiger Verstand erwies sich unseren Unterdrückern als nützlich. Daher hatten in dem neuen Leben bald etliche von uns so wie ich hoch angesehene Positionen inne. Doch der König von Assyrien verschied, wie Könige das nun einmal tun, und nicht lange nach seinem Tod verlor ich meinen Posten am Hof. Der alte König hatte von Sklaven einen großen neuen Palast erbauen lassen, mit Gärten, in denen süße Kräuter und Tulpenbäume wuchsen, und einer hohen, dicken Mauer, die sich am Fluss Tigris entlang um die Stadt zog. In der ersten Zeit hatte ich mit meiner Frau innerhalb der Mauern gewohnt und war mit meinem Sohn zwischen den Affen und Pfauen im Garten spazieren gegangen. Als der alte König starb, zogen die Stämme Judas gegen den neuen König zu Felde, und als er wie ein Flüchtling in Lumpen aus dem Krieg zurückkehrte, ließ er seinen Zorn an uns aus, die wir nach Ninive verschleppt worden waren. Eines Tages fuhr er in seinem Wagen an mir vorüber, als ich durch den Garten wandelte, und schlug mit der Peitsche nach mir. Es war gefährlich geworden, dem auserwählten Volk anzugehören. Es kam zu brutalen Säuberungen, und die Leichen unserer Volksgenossen wurden nicht bestattet, sondern stinkend auf die Stadtmauern geworfen, damit sie von 80
streunenden Hunden gefressen würden. Diese Hunde waren mir verhasst. Ich erinnere mich bis heute an einen wilden Köter mit sandfarbenem Fell; er war der Anführer eines Rudels, und ich nannte ihn Khan, nach einem der Dämonen der Gegend um Ninive, von denn es hieß, ihm mundete das Fleisch von Toten. Dieser helle Teufel von einem Hund witterte mein Vorgehen und folgte mir schnuppernd, um Leichen aufzuspüren. Oft kam es zwischen ihm und mir zum Kampf darum, ob ich die Leiche begraben konnte oder ob er sie für sein Rudel eroberte. Einmal biss er mich, und die Rippe verband mich einen Monat lang mit Flachs und Krokodildung gegen die Seuche, die einem den Schaum vor den Mund treibt. Sie war eine Jüngerin des heidnischen Medizinmannes und seines Zaubers. Selbst wenn ich es gewollt hätte, hätte ich sie nicht davon abhalten können, ihn zu konsultieren. Aber ich wollte es gar nicht. Sie brauchte jede Unterstützung, die sie finden konnte. Mit dem Tod des alten Königs wandte sich mein Herz Jerusalem zu, und ich gedachte der Tage, da ich dorthin gereist war, um den Zehnten abzuliefern. In dieser Zeit begriff ich, dass wir von unserem Herrgott dafür bestraft worden waren, dass wir uns seinem Befehl widersetzt hatten: Wir waren dem Gesetz, den Geboten und Vorschriften untreu geworden, deshalb waren wir ins Exil verschleppt worden. Doch überall um mich herum beobachtete ich, wie die Unseren die Gesetze des Herrn vergaßen, die Gebete, die Einhaltung des Sabbat, die Speisegesetze, die Armenhilfe, die warnenden Worte der Propheten. Strikt sind auch die Vorschriften zur Bestattung der Toten. Es ist ein Sakrileg, wenn einer der Unseren unter der Sonne zum Fraß der Maden wird. Deshalb machte ich es mir zur Aufgabe, jedes Mal, wenn ich einen aus meinem Volk fand, der vom König oder 81
seinen Gefolgsleuten ermordet worden war, die Leiche mitzunehmen und sie bis zum Untergang der Sonne in unserem Haus vor den Mäulern des Hunderudels in Sicherheit zu bringen. Wenn die Sonne verschwunden war, bestattete ich den Leichnam, allein mit meinen eigenen Händen. Es war harte Arbeit, in dieser Gegend ein Grab auszuheben. Schon das Schaufeln und Schleppen macht einen marode. Und dann sind da die Fliegen und der elende Gestank, wenn der Leichnam schon länger gelegen hat. Nein, es war keine Aufgabe, die man leichten Herzens übernimmt, noch dazu weil die königlichen Häscher aufgerufen waren, den Leichenräuber zu fangen. Und am Ende wurde ich von einem aus unserem Volk in Ninive verraten, ohne Zweifel, weil er sich einen Vorteil verschaffen oder Privilegien für seine Familie erwirken wollte. Als ich aber erfuhr, dass man nach mir fahndete, um mich zu töten, ergriff ich eilig die Flucht aus der Stadt und verbarg mich. Mein Haus wurde aufgebrochen, all meine Habe wurde geraubt, alles, was wir mit unserer Hände Arbeit erwirtschaftet hatten, wurde uns genommen: das feine Silber, das ich von aramäischen Händlern gekauft hatte, das Leinen aus Ägypten, die Ballen gefärbter Stoffe aus Tyrus, die geschnitzten Truhen und Möbel aus Sandel- und Zedernholz von den Karawanenhändlern, sogar die gewirkten roten Schuhe, die meine Frau an Feiertagen trug. Es blieb nichts, was nicht in die königlichen Schatzkammern geschafft worden wäre. Nichts blieb mir übrig als mein Weib Hanna und mein Sohn. Doch es verfloss nicht viel Zeit, bis der neue König von seinen beiden Söhnen ermordet wurde – ich danke dem Herrn für meinen eigenen Sohn, Tobias, denn es kann gewiss kein größeres Leid geben, als dass sich ein Sohn gegen seinen Vater wendet, so wie Absalom sich gegen 82
seinen Vater David wandte. Es kam eine Zeit, da gedachte ich der Worte König Davids, als er um seinen Sohn weinte. »O mein Sohn, o Absalom! O Absalom, mein Sohn, mein Sohn!«
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3 Am Mittwoch, nachdem Julia so erschreckend tief in die Badewanne gerutscht war, begegnete sie Nicco, der auf dem Heimweg von der Schule war. Er lächelte versöhnlich, und ihr kam der Gedanke: Er hat nach einer Entschuldigung gesucht, um heute nicht zu mir kommen zu müssen. »Ich gehe für meine Cousin zu Glas …« Er wedelte mit den Händen. »Zu machen, dass Glas passt.« Nach dem Unglück hatte Julia Garnet die rot gewandete Jungfrau Maria wieder an die Schlafzimmerwand gehängt. »Zum Glaser, Nicco?« Sie sprach die Endung überdeutlich aus: »Gla-serr.« »Ich komme später?« Niccos Gesicht wirkte besorgt. Julia dachte an die abfälligen Worte über Nicco, die sie Carlo gegenüber geäußert hatte, und verspürte Reue. Sie sollte dem Jungen Bestätigung geben, sie wollte doch nicht, dass ihm die Englischstunden bei ihr zur Qual wurden. Ihr gemeinsamer Besuch bei dem Mann mit der roten Mütze und das anschließende Mittagessen ruhten warm in ihrem Gedächtnis. Damals hatte Nicco ihr geholfen. »Darf ich mit dir kommen?«, fragte sie. »Bitte.« Nicco schenkte ihr sein typisches Lächeln. Nicht zum ersten Mal erinnerte es sie an Carlo, und ihr Herz tat einen Sprung. Und plötzlich war, wie auf ein Stichwort, auch Carlo da. Über das ganze Gesicht grinsend winkte er ihr zu. »Ciao«, rief sie über den Kanal, durchflutet von plötzlicher Erleichterung darüber, dass sie ihn doch nicht gegen sich aufgebracht hatte. Was schadete es, dass Nicco dabei war? Sie schämte sich ihrer Freundschaft mit dem Jungen 84
nicht. »Wir wollen gerade einen Spaziergang machen, kommen Sie doch mit!« Und er kam mit seinen langen Schritten über die Brücke. Mit ernster Miene verbeugte sich Carlo vor ihnen beiden, der schmalen, grauhaarigen Frau und dem goldhäutigen Jungen an ihrer Seite. »Das ist mein Freund Nicco«, erklärte Julia Garnet voll Stolz, dass sie diejenige war, deren Position verlangte, die beiden einander vorzustellen, »und dies«, sie drehte sich zu dem hochgewachsenen Mann mit den silbernen Haaren um, »ist mein Freund Carlo.« Julia Garnets natürliche Zurückhaltung hatte verhindert, dass sie eine besondere Scharfsichtigkeit entwickelte, doch als sie Nicco jetzt ansah, entdeckte sie einen Ausdruck der Verlegenheit in seinem Gesicht. Und als sie daraufhin zu Carlo blickte, fand sie, dass er ebenfalls verändert wirkte. »Zum Glaser«, erklärte sie munter, »wir wollen zum Glaser, Nicco und ich«, und errötete, ohne zu wissen warum. Doch Nicco wartete mit einer Überraschung auf. »Nein«, sagte er bestimmt, »ich gehe später.« Er schob sich, wie sie fand, ziemlich unhöflich hinter ihr vorbei und rannte am Wasser entlang davon. »Ja, was war denn das?« Julia Garnet drehte sich zu ihrem Freund um, bereit, das wunderliche Verhalten des Kindes abzutun, indem sie als Erwachsene ein belustigtes Kopfschütteln darüber austauschten, doch Carlo blickte dem Jungen gebannt nach. Wenn jemanden, dem es an Eingebung mangelt, plötzlich die Eingebung trifft, kann es geschehen, dass er mit Blindheit geschlagen wird: Bei einem ihrer Besuche in der Accademia war Julia Garnet von einem Gemälde einer der zahllosen kleineren Meister beeindruckt gewesen, deren 85
Werke die Kunstsammlungen Italiens füllen. Es war ein Bild des heiligen Paulus auf der Straße nach Damaskus, und was sich ihrer frisch erwachten Sensibilität einprägte, war der Ausdruck von Verwirrung und Angst auf dem jäh erhellten Antlitz des Zeltmachers. Wäre sie in der Lage gewesen, sich in diesem Moment selbst zu beobachten, hätte sie womöglich just den gleichen Ausdruck auf ihrem eigenen Gesicht entdeckt. Doch den Angstblitz, der gleichzeitig ihr Herz durchzuckte, hätte nur der Engel Raphael sehen können, der von seinem Posten an der Kirche auf sie hinunterblickte. Eingebung fördert auch das Erinnerungsvermögen. In Julias Gedächtnis stieg deutlich und unverarbeitet die Erinnerung an den Tag auf, als sie mit Nicco zum Glaser gegangen war. Ein Mann. Ein Mann war herausgekommen, während sie in Gedanken über die Bezahlung des Bildes versunken und mit der italienischen Währung beschäftigt war. Der Mann und Nicco waren zusammengestoßen, und einen Augenblick lang hatte Niccos Stimme, wie sie sie jetzt in ihrer Erinnerung hörte, einen aufgeregten Ton gehabt, dann war der Mann gegangen. Der Mann, hochgewachsen und mit silbergrauem Haar, war, so ging ihr plötzlich auf, Carlo gewesen, und ihr kam nun, als sie den hungrigen, sehnsüchtigen Blick sah, mit dem er dem davoneilenden Nicco nachschaute, die schmerzhafte Einsicht, dass sie als ahnungsloses Mittel zu dem Zweck missbraucht worden war, den Jungen zu finden, der sie an jenem Tag begleitet hatte. Carlo hatte gar nicht sie zur Freundin haben wollen, er hatte Nicco gesucht. Sie stand, durch nichts in ihrem bisherigen Leben auf den durch diese Erkenntnis bewirkten, entsetzlichen Moment negativer Intimität vorbereitet, reglos da. Auch Carlo, der wie die hochroten Flecken auf seinen Backen86
knochen anzeigten, gemerkt hatte, dass mit seiner Begleiterin etwas Folgenschweres vorging, regte sich nicht. Aber sie waren kultivierte Menschen, Carlo und Julia Garnet, und der tiefe Riss, der sich in dem Gewebe ihrer Bekanntschaft aufgetan hatte, blieb zwischen ihnen unerwähnt. Carlo fand zuerst die Sprache wieder. »Ein Konzert heute Abend … es wird Albinoni gespielt?« Seine Augen sahen sie nicht direkt an. »Danke, ich denke, ich werde zu Hause bleiben. Ich bin ein wenig müde.« Wie lahm die Worte herauskamen. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht laut aufzuschreien. Er begleitete sie mit den üblichen Höflichkeiten zurück zu ihrer Wohnung. Aber sein Lächeln war angestrengt. An der Haustür verließ er sie mit einer scherzenden Bemerkung – sein Blick kalt und abweisend. Sie musste an sich halten, um ihm nicht nachzurufen. Sie rief ihm nicht nach. Sie blieb nur am Küchentisch sitzen, bis es dunkel wurde. Vor vielen Jahren hatte Julia Garnet, die mit einem guten Gedächtnis gesegnet war, irgendwo die folgenden Zeilen gelesen: Bedenke: Jene, die dir Leben geben, können es dir wieder nehmen, und dabei mehr nehmen als sie dir gegeben haben. Sie erinnerte sich nicht an die Quelle, wohl aber an das Empfinden, mit dem sie diese Worte gelesen hatte. Sie hatte gewusst, dass sie sie nicht verstand, doch sie hatten ihr Angst gemacht. In den Tagen nach dem, was sie für sich als die »Entdeckung« bezeichnete, kehrten die Worte des vergessenen
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Autors zu ihr zurück und hielten, während sie durch die Straßen von Venedig lief, unbarmherzig mit ihr Schritt. Sie hatte den größten Teil ihres Lebens allein gelebt. Ihre Mutter hatte sie spät im Leben zur Welt gebracht, und Julia Garnet hielt es für wahrscheinlich, dass dies ebenso wie die Kraft, die es kostete, ihren tyrannischen Vater zufrieden zu stellen, zum frühen Tod ihrer Mutter beigetragen hatte. Als sie wenige Wochen nach ihrem sechzigsten Geburtstag starb, war Julia Garnet noch nicht ganz fünfzehn. Sie war ihrem Vater so bald wie möglich entflohen, indem sie mit einem Stipendium nach Cambridge ging, um am Girton College zu studieren. Er hatte sich bemüht, ihr den Weggang aus dem Elternhaus so schwer wie möglich zu machen, auch wenn es nicht in seiner Macht gelegen hatte, ihn zu verhindern, und sie hatte, nachdem sie ihm einmal entronnen war, das Gefühl gewonnen, sie werde sich nie wieder damit abfinden können, mit einem Mann zusammenzuleben. Sie hatte Freundinnen gehabt, wie Vera, und sie hatte Harriet gehabt, zu der sie, wie sie jetzt auf ihren Märschen durch die Straßen feststellte, nicht so gut gewesen war, wie sie es hätte sein können. Harriet war mehr als eine bloße Freundin gewesen, doch in ihrer Blindheit hatte Julia sie als selbstverständlich hingenommen. Dabei hatte sie Harriet geliebt. Das erkannte sie jetzt, da sie gelernt hatte, noch jemanden zu lieben. Wenn man den größten Teil seines Lebens allein verbringt, merkt man oft nicht, dass man einsam ist. Julia Garnet stellte erst anlässlich der »Entdeckung« fest, dass sie einsam war und es den größten Teil ihres Lebens gewesen war. Sie kannte Carlo seit weniger als fünf Wochen, und trotzdem schien es, als wäre er eine der wichtigen Versorgungsadern, die zu ihrem Herzen führten. 88
Zu einem guten Teil war es dieses Mysterium, das sie in die Straßen hinausdrängte, als wäre das Rätsel ihrer raschen und intensiven Annäherung an diesen Mann durch gründlichste äußere Explorationen zu lösen. Sie wachte früh auf und wanderte unter Umgehung aller Gegenden, in denen sie Bekannte treffen könnte, umher, bis sie eine anonyme Bar fand, in der sie ihren Morgenkaffee unter Männern mit Wollmützen trank, die sie an den Glaser erinnerten, jenen Mann mit der roten Mütze, der ihr, wie eine Gestalt aus einem Kindermärchen, als Hüter an der Tür zu einer Welt neuer Erfahrungen erschien. Die Erinnerung an die erste Begegnung mit Carlo quälte sie nicht, im Gegenteil, sie begann sie sogar willentlich hervorzukramen. Sie bemühte sich zu rekonstruieren, was er angehabt hatte. Seinen dunkelgrauen Mantel? (Sie hätte fast schwören können, dass er einen roten Schal getragen hatte – oder hatte sich in ihrem Gedächtnis nur das Rot der Mütze des Glasers auf ihn übertragen?) Getrieben von einer brennenden Begierde, jedes Fitzelchen Zeit, das sie mit ihm verbracht hatte, zu bewahren, durchforstete sie ihre Erinnerung nach vergessenen Momenten: das Mal, als er ihr ein Eis gekauft hatte; die Aspirintablette, die er ihr angeboten hatte, als sie über leichte Kopfschmerzen klagte; die Fahrt im Wassertaxi nach Hause, als sie müde gewesen war. War all die Liebesmühe wirklich nur darauf gerichtet gewesen, eine Verbindung zu Nicco herzustellen? Denn die Entdeckung, dass die Neigungen ihres Freundes nicht dem weiblichen Geschlecht galten, hatte ihre eigenen Gefühle nicht im Geringsten schrumpfen lassen. Zuerst hatte sie mit Entsetzen, ja voll Abscheu reagiert. »Widerlich!«, hatte sie wütend gefaucht, als sie an jenem ersten Abend schwerfällig ins Bett gewankt war. Dann hatte sie vollständig bekleidet im Dunkeln gelegen und die 89
Arme fest um sich geschlungen. Doch die Liebe ist berüchtigt dafür, dass sie sich Vorurteilen verweigert, und allmählich setzten sich Carlos Augen, wie sie sie zuletzt gesehen hatte, wieder durch. Sie wirkten nicht mehr kalt. Sondern traurig. Ja, sie war sicher, dass das, was sie gesehen hatte, Traurigkeit war, Traurigkeit und Bestürzung. Ob er sie auch ein wenig vermisste? Ihr tat das Herz weh, wenn sie an ihn dachte, und sie dachte die meisten Minuten der meisten Stunden der meisten Tage an ihn. Einmal erhaschte sie auf ihren Wanderungen einen Blick auf die Cutforths, Arm in Arm – Cynthia betrachtete das Schaufenster eines Kürschners, er zündete sich gerade einen seiner ewigen Stumpen an –, woraufhin sie sich in den Schatten einer Gasse zurückzog. Solch enge, traute Zweisamkeit mitzuerleben (denn der stärkste Eindruck, den sie aus dem Gritti mitgenommen hatte, war der von der großen und irgendwie praktischen Intimität der Cutforths), ging ihr arg an die Substanz. Sie so selbstverständlich zusammen zu sehen, vermittelte ihr das Gefühl, als stünde das höfliche Pärchen, die Hände auf die schlanken Hüften gestemmt, vor ihr und verhöhnte sie, weil sie allein war. In dem Bemühen, alle bekannten Kontakte zu meiden, schweifte sie weit über das ihr vertraute Terrain hinaus. Eines Tages drang sie, ohne daran zu denken, dass sie hier mit Carlo den nicht perlenden Prosecco getrunken hatte, bis zum Arsenale vor, jenem von Mauern umschlossenen Stadtteil, in dem die Venezianer ihre Schiffe bauten, und dort fiel ihr Blick auf eine nicht mehr ganz junge Frau, die neben einem der Löwen saß, die den alten Toreingang bewachen. Etwas an der Miene der Frau erregte Julias Aufmerksamkeit, und sie blieb vor dem Löwen stehen. »Sprechen Sie Englisch?«
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Die Frau drehte sich zu ihr um, und Julia sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. »Wenn ich überhaupt etwas spreche.« Liebe – selbst die Liebe zu etwas, das wir nicht haben können – kann unseren Mut beflügeln. »Haben Sie jemanden verloren?«, fragte Julia Garnet. Doch die Frau stöhnte nur leise auf, und Julia, die den Leichnam einer Katze im Kanal schwimmen sah, fühlte sich an Stella erinnert und ging weiter. In einem anderen Stadtteil landete sie einmal unversehens in der Kneipe der Gondolieri, in die Carlo sie aus Jux mitzunehmen versprochen hatte. Vielleicht war er gerade da? Ihr Herz machte einen Satz, dass ihr schwindelig wurde, und sie bestellte sich einen Brandy. Es war halb elf am Vormittag, und der Mann hinter der Theke sagte bewundernd: »Brandy für die Signora?« Danach schritt sie eine gute Stunde beschwingter aus, bis sich der schwarze Schlund wieder öffnete und sie mit allem, was sie besaß, abermals hineinstürzte. So vergingen viele Tage, und in den Nächten schlief sie kaum. Ich vermute, ich habe das, was man gemeinhin einen Nervenzusammenbruch nennt, dachte Julia Garnet. Während dieser ganzen Zeit hörte sie weder etwas von Carlo noch von Nicco. Armer Nicco! Denn sie merkte, dass sie keinerlei Wunsch verspürte, ihn zu sehen, und sogar einen heftigen Zorn gegen den Jungen hegte, der sich doch nichts weiter hatte zuschulden kommen lassen, als dass er, ohne eigenes Zutun, das Verlangen des Mannes geweckt hatte, in den sie sich törichterweise verliebt hatte. Mehr als verliebt: Sie betete ihn an. In Ermangelung anderer Zeugen ihres Kummers sagte sie eines Tages laut zu der rot gewandeten Jungfrau mit dem ernsten Kinde, deren Bild sie wieder an die Schlafzim-
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merwand gehängt hatte: »Ich liebe dich über alles, ich bete dich an.« Sie schämte sich ein wenig dafür, dass diese glühenden Worte nicht der so genannten Muttergottes zugedacht waren, sondern einem alternden italienischen Päderasten. Doch die Mandelaugen der Madonna blickten ohne Vorwurf auf sie herab, und eine flüchtige Idee fand Eingang in Julias Gedanken. Vielleicht, formulierte sie die Worte leise für sich, vielleicht macht es ihr gar nichts aus? Und die Vorstellung erwies sich als merkwürdig beruhigend. Es mag sein, dass es diese Beruhigung war, die Julia bewog, etwas bislang Vermiedenes zu tun und zu den schimmernden Kuppeldächern der Basilika San Marco zurückzukehren. Ein kalter Wind blies, als sie die Calle Lunga hinunterlief, und sie zog sich den Schleier von Harriets Hut tiefer ins Gesicht. Das feine Netz schützte sie gegen den Luftzug, und sie entdeckte sogleich noch einen zweiten Vorzug: Hinter dem Schleier konnte sie die Vorübergehenden mustern, ohne selbst gesehen zu werden. Harriet! Was hätte Harriet dazu gesagt, dass ihre Freundin sich so spät in ihrem Leben so leidenschaftlich und, das musste man sagen, so unziemlich verliebte? Es entbehrte nicht der Ironie, wenn man bedachte, dass Julia stets diejenige gewesen war, die Harriet der Unziemlichkeit gerügt hatte. War Harriet je verliebt gewesen, fragte sie sich beim Überqueren der Brücke mit dem Ausblick auf die hohe Kuppel der Salute, gleichsam als Vorgeschmack auf die alsbald folgenden Kuppeln der Basilika. Sie wäre nun nicht mehr überrascht gewesen, wenn sie plötzlich erfahren hätte, dass es in Harriets Leben einen heimlichen Liebhaber gegeben hatte. Zum einen war da die Geschichte mit dem Haarefärben gewesen, aber Julias Gefährtin 92
hatte auch noch weitere Anzeichen gezeigt: eine Tendenz, zu viel Sherry zu trinken; eine Schwäche für extravagante Hüte und Handtaschen, eine Vorliebe für Liebesromane. Julia hatte sich über Harriets Mills-&-Boon-Romane aus der Bücherei lustig gemacht. Nun diente ihr die bittere Kälte des von den Alpen her wehenden Windes als konkretes Pendant zur Bitterkeit ihrer Reue. Unter dem Vorwand der Vernunft hatte sie Harriet die Flügel gestutzt, ein scheußliches Wortbild, wie sie jetzt begriff. Von der Erinnerung an ihre Fehler ebenso schaudernd wie vom Februarwind, erreichte sie abermals den Rand der Piazza. Und da waren sie – eindrücklicher als in ihrer Erinnerung, die bauchigen Dächer von der Farbe undurchsichtigen Kristalls und die blitzenden Flügel der ewig aufwärts in den wolkenverhangenen Himmel strebenden Engel. Oh, auch das ist Liebe, dachte Julia Garnet. Drinnen hatte sie auf einmal das Gefühl, als wäre der gigantische Innenraum geschrumpft oder vielmehr als hätte er sich in eine große Höhle goldenen Wohlwollens verwandelt, in der sie keine Fremde mehr war, sondern als gern gesehener Gast herzlich aufgenommen wurde. Die Tür zu der kleinen Seitenkapelle war verschlossen, und so wandte sie sich mit einem Gefühl der Erleichterung dem daneben liegenden Querschiff zu. Auf einem Schild stand »Nur für Beichtende«, und sie trat, ohne es wirklich zu wollen, an den Altar, um einen Blick darauf zu werfen. Doch ach, du Schreck! Dort saß in einer hölzernen Zelle eine kleine, zusammengesunkene Gestalt in Purpur. Natürlich nichts weiter als ein Priester, der darauf wartete, eine Beichte abzunehmen, doch sie wich erschrocken zurück in das Hauptschiff der Basilika. Die Menschenmenge bewegte sich langsam in mit Seilen abgetrennten Korridoren umher. Teppiche lagen auf den Marmorböden, deren verwirbelte geometrische Formen, 93
den Verwerfungen vieler Jahrhunderte folgend, auf und nieder führten. Das Gestühl, auf dem sie bei der Vesper gesessen hatte, war fortgeräumt worden. Julia Garnet blieb an der Tafel mit Preisen und Zeiten vor der Schatzkammer stehen und setzte sich auf den Sockel einer Säule, unter ein hohes, geschwungenes Mosaik, das einen kahlköpfigen Heiligen darstellte. Die unbeabsichtigte Begegnung mit dem Priester hatte ihr vorsichtig wiederentstehendes seelisches Gleichgewicht gestört. Erinnerungen an all ihre vergangenen, kleinlichen Gehässigkeiten Harriet gegenüber stürmten auf sie ein. Sie konnte sich vorstellen, dass es eine Erleichterung wäre, ihre Verfehlungen zu beichten, aber sie hegte auf keinen Fall den Wunsch, sie einem hässlichen puppenhaften Mann in einem sargartigen Schrank zu gestehen. Mitten im gedämpften Geschiebe saß sie in goldenem Halblicht auf dem Sockel der Säule, überwältigt vom Gefühl ihrer Verzweiflung, ihres Verlusts und der Tatsache, dass sie selbst am Ende ohne jede Bedeutung war. Eine Bewegung am Rand ihres Gesichtsfeldes zog ihren Blick an. Hoch oben in der Nähe eines für Besucher gesperrten Bereichs war ein kleiner Vogel irgendwie ins Kircheninnere eingedrungen und flatterte nun von einem behauenen Sims zum anderen. Julia verspürte, während sie sein braun gesprenkeltes Gefieder betrachtete, den schulmeisterlichen Drang, den Vogel für sein unerlaubtes Eindringen in den berühmten Dom zu rügen. Doch auf den Fersen der Schulmeisterlichkeit meldete sich ein anderer Impuls: eine Art respektvoller Bewunderung für die Kühnheit des kleinen Geschöpfs. Sie beobachtete es weiter, und schließlich landete der Spatz auf einer Marmorskulptur. Ein Gesicht, das Antlitz 94
der Madonna, und in ihren Armen ein Kind. Julia Garnet wurde von dem inbrünstigen Wunsch befallen, das Gesicht aus der Nähe zu betrachten, und sie tat etwas, das sie in ihrem Leben noch nie getan hatte: Sie missachtete ein Verbot und tauchte unter dem Absperrseil hindurch. Um sie herum war niemand. Der Tag ging zu Ende, und es wurden bereits Vorkehrungen zur Schließung des Doms getroffen. Die langen silbernen Ampeln erloschen nach und nach. Julia, die sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatte, erkannte einen niedrigen Hocker am Fuß der Skulptur. Sie zog die Schuhe aus, stieg in Strümpfen hinauf, reckte sich und küsste der marmornen Madonna die Hand. In jener Nacht schlief Julia Garnet, ohne von Träumen verfolgt zu werden. Als sie aufwachte, hatte die Sonne ihre Strahlen an den Fensterläden vorbei ins Zimmer geschickt und malte schräge Balken an die Wände. Draußen auf dem Balkon spürte Julia, wie die Sonne ihr die Schultern wärmte. Obwohl es erst Februar war, hing ein Hauch von Frühling in der Luft. Julia setzte einen Topf mit Wasser auf und ging hinunter, um nach der Post zu sehen. Und tatsächlich, auf dem Regal über der Heizung lag ein Paket. Signora Mignelli musste schon da gewesen sein. Julia nahm es mit nach oben, dann goss sie ihren Tee in der Emaillekanne auf. Sie hatte keine Milch, aber der kochend heiße Tee wirkte belebend, und sie fand auch noch ein Stück alten Mandelkuchen, den sie mit Vergnügen in die goldene Flüssigkeit tunkte. Ihr Vater hätte ihr Tun missbilligt. »Der alte Mistkerl!«, sagte Julia Garnet laut vor sich hin. Sie räumte ihre Frühstückssachen weg, streute die Krümel für die Vögel auf den Balkon, und erst dann öffnete sie das Paket. 95
Vera Kessel war nicht allzu überrascht gewesen, als ihre Freundin sich mit der Bitte an sie gewandt hatte, ob sie so gut sein könne, ihr eine King-James-Bibel zu kaufen und zu schicken. Der Ton des Briefes hatte genug Ähnlichkeit mit der Julia Garnet besessen, die Vera kannte, um den Inhalt nicht alarmierend erscheinen zu lassen. »Es muss die Übersetzung von 1611 sein«, hatte der Brief ausdrücklich erklärt. »Eine andere Fassung kommt nicht in Frage. Auf gar keinen Fall (die letzten Worte waren unterstrichen)will ich eine von den Ausgaben, in denen alles mit der Blässe der Moderne angekränkelt ist. Bitte keinen neuenglischen Blödsinn!« Vera, die noch den vagesten Hinweis auf anderer Leute Wünsche befolgte, als führte sie einen gesetzlichen Auftrag aus, hatte ihren freien Tag damit zugebracht, eine autorisierte Bibel aufzutreiben. Ein scharfer Beobachter hätte vielleicht bemerkt, dass sich ihr als eingefleischter Sozialistin bei diesem Unternehmen die Nackenhaare sträubten. Nicht dass Vera selbst auf den Gedanken verfallen wäre, aber es war so, als hätte ihre Freundin sie aus heiterem Himmel gebeten, anrüchige oder gar pornographische Schriften für sie aufzutreiben. »Ich schicke dir gleich die apokryphen Schriften mit«, schrieb sie. »Ich dachte, ich schicke dir am besten gleich den ganzen Kladderadatsch – da du schon mal in die Heilige Schrift vertieft zu sein scheinst.« Letzteres war ein typischer Scherz von Vera, und aus Dankbarkeit für die Mühe, die sich ihre Freundin gemacht hatte, bedachte Julia ihn mit einem nachsichtigen Lächeln. Es war großzügig von Vera gewesen, ihren freien Tag zu opfern, auch wenn sie, wie Julia bemerkte, nicht hatte widerstehen können, den Tatbestand in ihrem Brief zu erwähnen. »Es ist heutzutage dermaßen mühselig, sich durch die Londoner Innenstadt zu bewegen, aber zum Glück hatte ich einen 96
Tag frei und konnte die Suche nach deinen Büchern mit einem Besuch in der National Gallery verbinden.« Dem Brief lag eine Postkarte bei. Ein Porträt von Tizian: das Bildnis eines Mannes mit blauem Ärmel. Er sah Julia über die gebauschte blaue Seide hinweg mit unerschütterlichem Selbstvertrauen an. Das war nun wirklich komisch! Die glühende Sozialistin Vera hatte offensichtlich auf die aristokratische Arroganz des Mannes angesprochen. Menschen, so begann Julia zu begreifen, waren aus verschiedenen Teilstücken zusammengesetzt. Das Porträt erinnerte sie an den Herrn mit dem »sandig roten Bart«, Emma Ententropfs aufmerksamen Wohltäter, zu dem sie sich, wie ihr plötzlich bewusst wurde, als Kind hingezogen gefühlt hatte. Vielleicht hatte ein undeutliches Empfinden dafür sie an jenem Tag veranlasst, das Buch zu verstecken, als Carlo vorbeigekommen war und Nicco um wenige Minuten verpasst hatte, und so aufgebracht gegen sie gewesen zu sein schien. Wobei sie den wahren Grund mittlerweile natürlich kannte. Ihr Magen sackte durch, und rasch lenkte sie ihre Gedanken wieder zurück zu Vera. Hinten auf die Karte hatte Vera geschrieben: »Zur Erinnerung an die wirkliche Welt.« Das Wort »wirkliche« war drei Mal mit Kugelschreiber unterstrichen. O je, dachte Julia und schenkte sich noch eine Tasse strohfarbenen Tees ein. Was ist das, die wirkliche Welt? Wenn ich das nur wüsste. Aus dem wattierten Umschlag kam ein kompaktes Buch mit schwarzem Einband hervor, auf dem in goldenen Blockbuchstaben stand: The Holy Bible. Das Vorsatzblatt verkündete, sie sei auf besonderen Befehl Seiner Majestät unter sorgfältigem Vergleich mit den früheren Übersetzungen aus den Ursprungssprachen übersetzt und überarbeitet worden. Gute alte Vera, auch sie hatte Sorg97
falt bewiesen. Julia sollte sich wirklich nicht über eine Freundin lustig machen, die ihre Wünsche mit so beispielhafter Genauigkeit erfüllte. Julia blätterte die reispapierdünne Seite um, schlug das Verzeichnis auf, in dem die Namen aller Bücher des Alten und Neuen Testaments nacheinander aufgeführt waren, und überflog die klein gedruckte Liste: Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri … die kannte sie natürlich. Aber es gab auch andere, früher kaum wahrgenommene, weniger vertraute: Josua, Ester, Esra. Und dazu einige, von denen sie noch nie etwas gehört hatte: Nahum, Habakuk, Zefanja. Von Tobit keine Spur. Na also! Sie hatte es doch gewusst. Das Buch Tobit war ein katholischer Firlefanz. In der protestantischen Bibel kam es überhaupt nicht vor. Diese Entdeckung versetzte sie in Aufregung. Sie nährte den partiellen, von ihren zunehmend komplexen Gefühlen Carlo gegenüber herrührenden Wunsch, das Schlimmste von ihm zu denken, während ihr gleichzeitig davor graute. Schließlich hatte er sie mit der Geschichte von dem alten Mann, seinem Sohn und dem Engel bezaubert und sie deren heiliger Herkunft versichert. Und sie war gleich argwöhnisch gewesen. Zu Recht, wie sie jetzt feststellte, während sie sich auf dem Balkon auf ihrem Stuhl zurücklehnte und in kleinen Schlucken Tee ohne Milch trank. Denn Carlo hatte ihr etwas vorgegaukelt, das war es (sie kostete das Wort förmlich aus). Er hatte ihr etwas vorgegaukelt und sie mit seiner Religion und deren billigem Kitsch verführt. Julia Garnet hatte es sich in den Jahren als Geschichtslehrerin an St. Barnabas & St. James zur Gewohnheit gemacht, in ihre Unterrichtsstunden gelegentlich Geschichten einzustreuen, deren Zweck, wie sie auf Anfrage bestätigt hätte, darin bestand, den Kindern ein nützliches 98
Lebensprinzip nahe zu bringen. Dass vermutlich nicht ein Quäntchen des beabsichtigten moralischen Gehalts der Anekdoten in den Köpfen ihrer Zuhörer hängen blieb, war kein Gedanke, der sie geschreckt hatte, denn sie hatte wenig Interesse daran gehabt, was sich in den Köpfen ihrer Schüler festsetzte. In Wirklichkeit hatte sie die Geschichten höchstwahrscheinlich eingebracht, um ihre eigene Langeweile zu mindern – obwohl das keine Erklärung war, die sie ohne weiteres akzeptiert hätte. Eine ihrer liebsten Geschichten dieser Art hatte sie regelmäßig, wenn es im Unterricht um die gesellschaftlichen Reformen des 19. Jahrhunderts ging, hervorgekramt. Sie handelte von dem Parlamentsabgeordneten Samuel Plimsoll, der auf die Entdeckung hin, dass arme Seeleute um der Profitsteigerung willen auf Schiffen eingesetzt wurden, die gefährlich tief im Wasser lagen, im Parlament einen heftigen Zornesausbruch mimte, weil er sich kühl ausgerechnet hatte, dass dies seine Chancen erhöhte, angemessene Sicherheitsmaßnahmen durchzusetzen. »An seinem Beispiel könnt ihr sehen«, hatte Miss Garnet ihren teilnahmslosen Schülern verkündet, »dass alles eine objektive Seite haben kann. Schließlich hat Plimsolls ›Zorn‹ uns die Reederei Plimsoll beschert!« Und an diesem Punkt hatte sie dann ihrerseits stets eine Art nachsichtiges Strahlen aufgesetzt, mit dem sie die Klasse beglückte. Sie hätte noch hinzufügen können, dass Zorn im Allgemeinen eine eher schwache Verbindung zur Objektivität besitzt, denn schon damals hatte sie vage geahnt, dass Menschen normalerweise davor zurückscheuen, sich selbst zu erforschen. Vielleicht lag es an dieser Geschichte, die sie über die Jahre lieb gewonnen hatte, oder vielleicht lag es auch allgemein an ihren Jahren als Geschichtslehrerin, dass sie eine Liebe zur Wahrheit entwickelt hatte. Auf 99
jeden Fall befähigte diese sie jetzt, für sich auf ihrem Balkon mit Blick auf die Rückseite der Chiesa dell’Angelo Raffaele, zu der Einsicht zu gelangen, dass die Behauptung, Carlo habe ihr etwas »vorgegaukelt«, nicht gerecht war. Wenn jemand irgendwem etwas vorgegaukelt hatte, dann sie ganz allein sich selbst. Auch war es nicht wahr, dass sie seine Religion für kitschig hielt. Dagegen sprachen die marmorne Madonna, die sie geküsst hatte, die honigwabene Stille des Markusdoms und der Engel, der lächelnde, rätselhafte Erzengel Raphael. Das Paket enthielt ein zweites Buch, ein schmales rotes Bändchen. Sie nahm es in die Hand und las: Die Apokryphen: Autorisierte (King James) Ausgabe. Auf dem Titelblatt der gleiche Vermerk, den sie in der schwarzen Bibel gelesen hatte: »… unter sorgfältigem Vergleich mit den früheren Übersetzungen aus den Ursprungssprachen übersetzt …« Am Ende stand: »Bestimmt zum Lesen in der Kirche.« Sie blätterte weiter. Das erste Buch Esra. Das zweite Buch Esra. Das Buch Tobit. Da war es also. Ein apokryphes Buch! Doch was bedeutete das? Hieß »apokryph« nicht so viel wie unecht? Der Vermerk bestimmte es zum Gebrauch in der Kirche, also musste es im 17. Jahrhundert als heiliges Buch gegolten haben. Oder zumindest, vermutete sie, nicht als unheiliges Buch. Trotz des Sonnenscheins war ihr auf dem Balkon um die Schultern kalt geworden, und die Teekanne war leer. Sie brachte das Tablett und die Bücher nach drinnen. Als Kind hatte man Julia beigebracht, sich die schönste ihrer wenigen Verlockungen aufzusparen, bis alle Pflichten erledigt waren. Da sie nie einen Grund gesehen hatte, diese Gewohnheit abzulegen, hielt sie sich auch jetzt daran. Sie spülte ihren Teller und ihre Tasse und trocknete beides mit einem Geschirrtuch ab, auf dem die Freiheits100
statue abgebildet war und das eine Mieterin aus New York Signora Mignelli als Geschenk mitgebracht hatte. Das Geschirrtuch löste bei ihr stets ein leises Schuldgefühl aus. Während sie mit leeren Händen in Venedig angekommen war, hatte die unbekannte Amerikanerin – wie die bunt gewandeten Heiligen Drei Könige, die sie kurz nach ihrer Ankunft gesehen hatte – die Voraussicht bewiesen, ein Geschenk mitzubringen. Dieses Fehlers schämte sie sich mittlerweile. Sie erkannte darin jetzt, während sie Löffel und Messer mit einer Gründlichkeit polierte, die gedacht schien, andere Makel wettzumachen, eine schreckliche Arroganz, denn sie hatte sich doch anscheinend eingebildet, durch ihr EnglischSein beschere sie dem Haus genügend Ehre. Wie absurd, wie absurd wir Menschen sind, dachte sie und setzte sich mit ihrer Brille auf dem Sofa zurecht. Es war viele Jahre her, dass Julia Garnet eine Bibel auch nur aufgeschlagen hatte. Als Teil der lebenslangen Rebellion gegen ihren Vater hatte sie sogar an St. Barnabas & St. James aus »Prinzip« die Teilnahme an der Morgenandacht verweigert. Doch mittlerweile gewannen ihre »Prinzipien« für sie ein völlig anderes Gesicht – wie alte Fotografien, auf denen die Personen mit verkniffener Miene dastehen, weil sie nicht daran gedacht haben, was für ein peinliches Bild sie der Nachwelt hinterlassen. Was würden ihre alten Parteifreunde denken, fragte sie sich, während sie durch die klein gedruckten Seiten und die nummerierten Verse des rot gebundenen Buchs blätterte und nach »Tobit« suchte. Mit Belustigung nahm sie wahr, dass sie ihr Tun als eine Art Sakrileg empfand. Als Erstes fielen ihr die Namen der Orte ins Auge: Thisbe, Ninive, Rages, Medien, Assyrien. Geheimnisvolle 101
Namen, von schillernden Mysterien umwittert. »Die Gesetze der Meder und Perser.« Waren das dieselben Assyrer, die »in die Weide einfielen wie ein Wolf«? Ein barbarisches Volk offenbar. Aber eines mit Feuer, denn sagte der Dichter nicht von ihren Kohorten, »sie blitzten in Purpur und Gold«? Und dann die Geschichte selbst: »Ich, Tobit, bin all mein Leben lang auf dem Weg der Wahrheit und der Gerechtigkeit gewandelt und habe meinen Stammesbrüdern und Volksgenossen viel Barmherzigkeit bewiesen …« Nanu, dachte Julia Garnet, das muss doch gewiss ein Irrtum sein. Denn der Mann klang, nun, unendlich selbstgerecht – zu überzeugt von seiner Rechtschaffenheit, um ganz so heilig zu sein, wie seine Worte behaupteten. Die bleiche Sonne schien zum Fenster herein und erhellte, während sie weiterlas, die klein gedruckte Schrift. Es war die gleiche Geschichte, die sie auf den Gemälden an der Orgelempore gesehen hatte. Doch die karge Nacherzählung in der Broschüre aus der Kirche hatte wenig Gefühl für die merkwürdige Poesie der TobitErzählung gezeigt, für die jüdische Gefangenschaft in Assyrien, für Tobit, der trotz seiner äußersten Rechtschaffenheit gezwungen wurde, von Israel nach Ninive umzusiedeln und für seinen Sohn Tobias, der auf einer Reise, auf die er ausgeschickt wurde, um das Vermögen der Familie einzuziehen, von keinem Geringeren als dem Engel Raphael begleitet wurde, einem der »sieben heiligen Engel, die die Gebete der Frommen emportragen und vor die Heiligkeit des Heiligen treten«. Michael, Gabriel, Raphael – und wer waren die anderen vier? Julia legte das Buch beiseite, denn die kleine Schrift ermüdete ihre Augen. Bei ihren Streifzügen durch Venedig war sie eines Tages in eines der vielen kleinen Spezialgeschäfte für Papier 102
eingetreten und hatte ein Notizbuch mit einem blauen, marmorierten Umschlag erstanden. Ursprünglich hatte sie darin historische Details aus dem Leben der Stadt notieren wollen, weil sie sich dadurch wenigstens teilweise wieder mit dem Fach zu versöhnen hoffte, das ihr so viele Jahre Halt gegeben hatte. Doch die Hauptstütze ihres Berufslebens, ihr historisches Denken, schien ebenfalls von dem Trauma mit Carlo in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein. Die Erinnerung an den Reverend Crystal, der in der Kapelle, in der sie und Carlo einander zum ersten Mal begegnet waren, verlassen auf dem Boden zurückgeblieben war, hatte bisher jeden Impuls zu historischen Forschungen vereitelt, so dass die cremeweißen Seiten noch immer leer waren. Doch als sie jetzt das blaue Buch neben sich sah, nahm sie einen Bleistift, schlug es auf und schrieb: »Wer sind die sieben Engel? Michael, Gabriel, Raphael.« Nach einer Weile fiel ihr Uriel aus Miltons Verlorenem Paradies ein, und sie fügte den Namen hinzu. »Die anderen drei Namen finden.« »Der verantwortliche Architekt ist natürlich Venezianer«, sagte Sarah, »und es wird alles bis ins letzte Detail von den beiden Soprintendenti kontrolliert: einem für Denkmalpflege und einem für Malerei. Es ist zum Auswachsen!« Julia hatte zu ihrer Beunruhigung von Signora Mignelli vernommen, dass, während sie auf der Post war, um ein Geschenk an Vera abzuschicken (ein braun-marmoriertes Notizbuch zum Dank für die Bibel und die Apokryphen), ein »junges Mädchen« nach ihr gefragt hatte. Julias Mut zu gesellschaftlichen Kontakten war erloschen. Doch sie hatte Sarah neulich ausdrücklich gebeten, mit ihrem Bruder zum Tee zu kommen. Es war unhöflich, die
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Einladung nicht zu erneuern. Wahrscheinlich würden sie ohnehin nicht kommen. Zu ihrer Bestürzung erschienen die Zwillinge jedoch gleich am nächsten Nachmittag, als sie auf dem Balkon saß, und jetzt saßen sie abermals dort, und die Emaillekanne war im Einsatz. Die Unterhaltung verlief stockend. Julia erkundigte sich zaghaft nach den Restaurierungsarbeiten, doch nur Sarah stand Rede und Antwort. Im Bemühen, den stummen Zwilling mit einzubeziehen, fragte Julia: »Und Sie sind also der Mosaizist, Toby? Sie sind für die Fußböden zuständig?« Sie wollte nicht erwähnen, dass sie dies von Carlo wusste. Doch Toby sagte nur: »Ja. Ich brauch Zigaretten«, stand unvermittelt auf und ließ die beiden auf dem Balkon allein. »Tut mir Leid«, sagte seine Schwester und blickte ihm nach, wie er den Campo überquerte. »Er ist furchtbar launisch. Das macht die Liebe.« »O je!«, sagte Julia bestürzt. In den letzten Tagen waren ihre Gedanken wiederholt zu dem Engel gewandert, dessen Name im Hebräischen »Gott heilt« bedeutete. Sie hatte Toby dafür danken wollen, dass er ihr das steinerne Bildnis gezeigt hatte, das so erhaben über die Kapelle wachte. Ein verliebter junger Mann war ihrem Vorstellungsvermögen fremd, aber ihr eigenes Befinden machte sie für sein Leiden empfänglich. Sie sah plötzlich Carlos Hand vor sich, auf der anderen Tischseite im Restaurant am Arsenale, und fragte: »Ist es ein Mädchen von hier?« »Nein. Er hatte damit gerechnet, am Valentinstag von ihr zu hören, und sie hat sich nicht gemeldet. Er ist wie ein Bär, dem der Schädel brummt.« »Der Arme.« Fast war es Julia, als sei es ihre Schuld, dass Tobys Mädchen nicht geschrieben hatte. Sie hatte 104
Valentinskarten vollkommen aus dem Gedächtnis verloren: In ihrem Leben hatte es wenig Ursache gegeben, sich ihrer zu erinnern. »Er wird schon drüber wegkommen. Wussten Sie, dass man hier am Valentinstag früher Lichtmess gefeiert hat?« »Ich muss leider gestehen, dass ich mich mit der Kirche nicht auskenne.« Auf der Suche nach Gesprächsthemen hatte Julia den Zwillingen von dem Gottesdienst in der Chiesa dell’Angelo Raffaele erzählt, vor dem sie neulich geflohen war. »Ich hatte noch nie von Lichtmess gehört.« Erst durch Carlo hatte sie davon erfahren – durch Carlo, der ihr so vieles gezeigt und erklärt hatte –, an jenem Tag, als sie Nicco idiotischerweise Die Geschichte von Emma Ententropf vorgelesen hatte. An jenem Tag, als sie törichterweise versucht hatte, Carlo mit dem armseligen Bericht von ihrem Abend mit den Cutforths zu fesseln! »Wir wurden als Kinder gezwungen, in die Kirche zu gehen«, sagte Sarah und zog eine Grimasse. »Sagen Sie, wollten Sie mir nicht die Geschichte mit den Guardis erzählen?« Hinterher konnte Julia nicht mehr genau sagen, ob sie schon vorher beschlossen hatte, der jungen Frau die Geschichte von Tobit und der Reise seines Sohnes mit dem als Diener getarnten Engel vorzuenthalten, oder ob sie den Entschluss erst als Reaktion auf das fasste, was ihr plötzlich beim Blick über die Dächer der Kirche ins Auge fiel, so dass sie unvermittelt mit den Worten aufstand: »Liegt es an mir, oder wird es kalt?«, und ihren Gast förmlich ins Haus drängte.
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Mein Neffe war zum Mundschenk und Vorsteher der Reichsverwaltung aufgestiegen und genoss in diesem hohen Amt das Vertrauen des neuen Königs. Darum lieh dieser ihm auch sein Ohr, als mein Neffe sich für mich verwendete. Der König war ein gelehrter Mann, und sein Lieblingsplan war der Bau einer Bibliothek für seine Tontafeln und die Einrichtung einer königlichen Sternwarte zur Beobachtung der Planeten und der Gestirne. Vielleicht wollte er auch gern den »neuen Besen« spielen und sich gegen den kriegslüsternen Sanherib abgrenzen. »Ich habe ihm gesagt, du seist ein bisschen verrückt, Onkel«, erklärte mir mein Neffe ein wenig gönnerhaft. »Du darfst nach Hause zurückkehren, aber du musst dich an die assyrischen Gesetze halten. Wes Brot ich ess … du weißt schon.« Dabei lächelte er aufreizend, wie es die Art der Jungen ist, wenn sie eine Position bekleiden, in der sie von oben auf jemanden herabblicken können, der ihnen früher einmal das Leder gegerbt hat. Von unserem Haus waren nur die nackten Mauern geblieben, aber nach der Höhle, in der ich mit den Raben und dem Ungeziefer gehaust hatte, erschien es mir traut und heimelig. Am Tag meiner Heimkehr war gerade Pfingsten. Die Rippe hatte zur Feier des Tages ein großes Festmahl bereitet, und sie wollte gern, dass der Sohn meiner Schwester mit uns feierte. Aber der Bursche wollte nicht in zu enger Gemeinschaft mit einem Aufrührer wie mir gesehen werden – was ich ihm gar nicht verdenken konnte, denn jeder hat sein eigenes Feld zu bestellen – und gab an, schon anderswo geladen zu sein. Also sprach ich zu meinem Sohn Tobias: »Geh und schau, dass du einen Armen findest, und bringe ihn her an deines Vetters statt. Wir sollen unser Gut mit den weniger Begüterten teilen.« Ich ertappte die Rippe dabei, wie sie bei diesen Worten die Augen zum Himmel verdrehte, doch weil ich selbigen 106
Tages erst heimgekehrt war, schwieg sie rücksichtsvoll. Sie wollte gerade die Kerzen für das Festmahl anzünden, als mein Sohn hereingestürzt kam und ausrief, er habe hinter der Stadtmauer den Leichnam eines unserer Stammesgenossen entdeckt. Seine Mutter schnalzte leise mit der Zunge und setzte sich kommentarlos hin, aber mit dem typischen Blick, den Frauen haben, wenn sie etwas denken, was sie nicht offen aussprechen wollen. Ich weiß nicht, ob sie sich einbilden, diese sprechenden Blicke wären etwas anderes als Widerreden ohne Worte. Doch die Rippe wusste, dass sie mich nicht aufhalten konnte, denn als ich Anstalten machte zu gehen, sank sie sogleich auf die Knie. Andere hätten darin wohl eine Geste der Ehrfurcht gesehen, nur ich wusste, dass das ihre Art war, mir Vorwürfe zu machen. Der Mann war erdrosselt worden. Ich kann mich an den Leichnam erinnern, als ob es erst gestern gewesen wäre: ein dünner Mann in einem schmutzigen gestreiften Gewand und mit einem langen Wolfsgesicht, das durch den Erstickungstod violett und grau verfärbt war. Ich schleifte den Toten an seinen beiden dürren Armen durch die Straßen und trug ihn in unser oberes Zimmer hinauf, was auch nicht die Zustimmung der Rippe fand. Sie war stolz auf das Zimmer, in dem sie die paar verbliebenen Wäschestücke aus ihrer Brautgabe aufbewahrte, und es als Lagerraum für eine Leiche zu missbrauchen, war so ziemlich das Letzte, was sie sich gewünscht hätte. Nach Sonnenuntergang schleppte ich den Toten an eine Stelle hinter der Stadtmauer, wo selten jemand hinkam und wo sich deshalb die wilden Hunde besonders gern herumtrieben. Da der Leichnam schon steif wurde, gingen die Glieder nicht leicht in die Grube, die ich geschaufelt hatte, und mir 107
graute bei dem Gedanken, ihm einen Arm brechen zu müsse. Ich sehe ihn noch manchmal im Traum, diesen widerspenstigen Arm. Der Lehmboden war so hart und unerbittlich, dass ein Teil von mir das elende Ding am liebsten den Hunden und den großen Aasvögeln überlassen hätte, die hungrig ihre Kreise über der Stadt zogen. Doch ich dachte daran, wie unser Stamm vom Herrn abgefallen und dafür mit der Verbannung bestraft worden war: Ich hatte beschlossen, ein rechtschaffenes Leben zu führen. Als ich nach Hause kam, hatten die Nachbarn Wind von meinem Tun bekommen und ließen deutlich erkennen, dass sie nichts mit mir zu tun haben wollten. Ich war ihnen ein Dorn im Auge, und da sie fürchteten, meine Nähe könnte ihnen Scherereien mit der Obrigkeit eintragen, hielten sie um ihrer persönlichen Sicherheit willen Abstand von mir. Ich war durch die Berührung des Leichnams ohnehin unrein geworden und setzte mich deshalb allein nach draußen. Um die Wahrheit zu sagen, war es nicht allein die Unreinheit, die mich bewog, das Haus zu meiden. Ich wollte der Rippe nicht gegenübertreten. Ich wusste, dass sie das Gerede der Nachbarn scheute – schließlich hätte es mich zuvor um ein Haar das Leben gekostet –, und ich wusste, es würde Tränen geben und nach den Tränen Vorwürfe. Für so etwas sei sie nicht geboren, das wäre ihrem Vater und ihrer Mutter nicht recht gewesen, und immer so weiter nach Weiberart. Doch ich konnte es ihr nicht verdenken. Es war kein leichtes Leben, das ich ihr bereitete. Ich musste an unserer Hofmauer eingeschlafen sein, denn ich nahm meine Umgebung erst wieder wahr, als die Vögel ihr Morgenlied anstimmten. Ich machte die schlafverklebten Augen auf und erblickte ein paar zwitschernde Sperlinge in den blau blühenden Ranken, die unsere 108
Mauer gewissermaßen vor dem Einsturz bewahrten. Niedliche Geschöpfe, dachte ich noch. Da schiss einer der kleinen Teufel auf mich herunter und traf mich direkt ins Auge! Der Vogelkot war warm und klebrig und brannte wie Ameisengift. Ich schrie, und die Rippe, die schon nach mir schauen gegangen war, kam angerannt. Sie führte mich ins Haus, spülte mir die Augen aus und legte warme Tücher auf. Doch obgleich der Schmerz abklang, hatte der Kot weiße Flecken auf meinen Augen gebildet. Von dem Tage an war ich blind.
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4 Es waren einige Wochen vergangen, seit Julia die Zwillinge zuletzt gesehen hatte. Ein Husten, den sie sich während ihrer ziellosen Streifzüge im Februarnebel geholt hatte, hatte sich zunächst festgesetzt und dann zu einer Bronchitis ausgewachsen, die sich zur Lungenentzündung zu entwickeln drohte. Signora Mignelli war zwar aufgefallen, dass der hochgewachsene Freund ihrer Mieterin sich nicht mehr blicken ließ, dennoch hatte sie sich zunächst taktvoll zurückgehalten. Sie mochte von moderner psychologischer Theorie unbeleckt sein, aber sie entstammte einer Tradition, die selbstverständlich von einer Verbindung zwischen emotionaler und körperlicher Gesundheit ausging. »Es ist ihr Herz, das leidet«, hatte sie ihrer Schwester leise anvertraut, als diese sich nach dem Fortschreiten der relazione amorosa der allein stehenden älteren Dame erkundigte. Erst als die Signora den Husten schon über den Campo hörte, griff sie ein und rief einen jungen Mann mit Lederjacke und Stethoskop auf den Plan. Julia Garnet war so darnieder, dass sie kaum mitbekam, wie jung der Dottore der Signora war. Der Husten hatte sie zuerst geärgert und dann stark ermüdet, so dass sie sich auf seine Anordnung hin fast erleichtert in das Bett mit dem hohen geschnitzten Kopfteil begab. Die Tage im Bett, während derer Signora Mignelli darauf bestand, für sie einzukaufen und zu kochen, ließen ihr viel Zeit zum Träumen. Julia las ein wenig, schlief viel und gab sich, wenn sie wach war, mäandrierenden Tagträumen hin, in denen die mannigfaltigen Schnitzereien am Kopfteil eine Rolle spielten. Mag sein, dass die 110
Medizin, die der Dottore in der Lederjacke ihr zur Linderung des Hustens verschrieben hatte, ein Opiat enthielt. Jedenfalls lösten sich seltsame Formen aus dem Schnitzwerk und schlängelten ihr drachengleich durch die Sinne. Die Drachen erinnerten sie an Gemälde, die sie mit Carlo zusammen gesehen hatte – vor allem ein Bild von Carpaccio, das den heiligen Georg als jungen Mann mit Strubbelschopf darstellte, verschmolz mit dem Gesicht des jungen Arztes. Eines Tages, während sie über den heiligen Georg und den Ausdruck unerschütterlicher Hingabe nachsann, den der Maler dem jugendlichen Heiligen gegeben hatte, der sich anschickt, den Drachen zu töten, kehrte Ruhe in Julia Garnets fiebergequältes Bewusstsein ein, und ihr kam eine Idee. Wenn der Leib schwach ist, verschaffen sich Gedanken, denen man bei robusterer Verfassung widersteht, Eintritt und legen unsichtbare Fundamente. Was Julia Garnet aufging, während sie ihre Finger betrachtete, die den Rand der perlweißen Tagesdecke eindrehten (wie sie im Laufe der Zeit, in der Signora Mignelli sie pflegte, erfahren hatte, ein Überbleibsel aus deren einst reichhaltiger Mitgift), war, dass es zwei Sorten von Menschen gab: solche, die mit ihrem Schicksal haderten und dem, was das Leben ihnen bescherte, Widerstand entgegensetzten, kurzum, die Wellen machten, und solche, die sich in die Umstände schickten und die Bedeutung des Lebens aus dem ablasen, was ihnen geschah, und nicht aus dem, was sie ihm abrangen. Es wollte ihr, während sie dalag und zusah, wie die Sonnenstrahlen über die weißen Wände wanderten und von einer Seite zur andern springen ließ, wenn sie wie früher als Kind abwechselnd ein Auge zukniff, so scheinen, als gehörten der heilige Georg, Florence Nightingale 111
und der alte Tobit in die erste Kategorie, während Sokrates, Jane Austen und Tobias in die zweite fielen. Jesus von Nazareth, beschloss sie nach einigem Nachdenken, gehörte in beide Kategorien zugleich – wie Karl Marx möglicherweise auch. Für Menschen ihres Schlags allerdings konnte es nur eine Kategorie geben, und (so der Schluss, zu dem sie in den Tagen gelangte, in denen sie sich wie ein Schiff, das nach einem Sturm den Hafen anläuft, langsam, aber sicher auf die Genesung zu bewegte) es war nicht möglich, der Kategorie zu entkommen, in die man hineingeboren war. Die Kinder in der Schule, das wusste sie, hatten sie als abweisend und streng empfunden. Auch Harriet war, so sehr sie der Gedanke mittlerweile reute, durch ihre barsche Art irregeführt worden. Dabei hatte sie in Wahrheit immer nur die Möglichkeit gehabt zu nehmen, was ihr gegeben worden war: Sie würde sich nie über Verbote hinwegsetzen oder Wellen machen. Carlo dagegen, der sie dem Anschein nach mit jeder nur denkbaren liebevollen Aufmerksamkeit bedacht hatte, hatte, wie sie jetzt allzu deutlich erkannte, ebendies zur Durchsetzung eines Verlangens getan, über das er womöglich selbst keine Kontrolle besaß. Wer hätte sagen können, dass Carlo nicht ebenfalls zu den Menschen gehörte, die an ihrem eigenen Schicksal litten? Man musste nur – und Julia Garnet, die mittlerweile so weit genesen war, dass sie auf der Couch im Wohnzimmer lag, suchte nach Worten, die den Sachverhalt in seiner ganzen Einfachheit erfassten –, ja, richtig, man musste nur davon ausgehen, dass alle Erfahrungen irgendwie notwendig waren. Und ihr Leiden war nicht ohne Entschädigung geblieben. Obschon sie von Emotionen bestürmt wurde, die sie nicht wirklich verstand, hatte das Leben – das musste sie zugeben – an Zauber gewonnen. 112
Unter dem Einfluss dieser Idee zog Julia, kaum dass sie so weit genesen war, dass sie Signora Mignellis Pflege entbehren konnte, erneut los, um die Zwillinge aufzusuchen. Es machte nichts, dass sie, aus eigener Dummheit, gelitten hatte. Das war kein Grund, Dingen aus dem Weg zu gehen. Außerdem verspürte sie vage den Wunsch, die kleine Bewusstseinslücke zu schließen, die beim letzten Besuch der Zwillinge aufgerissen war – ein Erlebnis, das sie selbst während der Tage, als es ihr besser zu gehen begann, noch keiner näheren Betrachtung unterzogen hatte. Ihre Zeit im Bett hatte eine Reihe von Erinnerungen gelöscht – sie wusste schlicht nicht mehr, ob sie zu Sarah unhöflich gewesen war, als Toby sie so abrupt verlassen und sie seine Schwester darauf fast gewaltsam ins Innere der Wohnung bugsiert hatte. Und sie stellte, vielleicht auch als Folge der Krankheit, fest, dass sie neugierig geworden war auf den jungen Mann mit dem unbefriedigenden Liebesleben. Doch es war seine Schwester, die sie draußen vor der kleinen Kapelle begrüßte. »Hallo, wie geht es Ihnen? Wir haben gehört, Sie waren krank.« Julia winkte ab. »Ich fürchte, das war eigene Dummheit. Ich habe einen Husten bekommen und mich nicht darum gekümmert und bin meiner Wirtin zur Last gefallen. Sie war außerordentlich geduldig mit mir.« »Vermutlich hat es ihr Spaß gemacht. Endlich eine Gelegenheit, die italienische Mamma zu spielen!« In diesem Moment trat Toby mit finsterer Miene aus der offenen Tür und sagte ohne Gruß: »Wollen Sie ein Gemälde sehen, mit einem Engel?« Es war das zweite Mal, dass er anbot, ihr einen Engel zu zeigen. Vielleicht hatte Toby unwissentlich eine Verbindung zwischen ihnen entdeckt – denn war nicht auch er ein Opfer unerwiderter Liebe? Sie waren Leidensgenos113
sen! Julias verfeinerter Sinn für die Auswirkungen von Kummer und Not bewegte sie dazu, einen herzlicheren Ton anzuschlagen als üblich. »Ja, sehr gern, Toby.« »Toby!« Sarahs Stimme klang vorwurfsvoll. »Julia war krank. Wir dürfen sie nicht der Kälte da drinnen aussetzen!« Toby gab durch nichts zu erkennen, ob er die Worte seiner Schwester gehört hatte. Seine blassblauen Augen sahen unverwandt in Julias Augen, als wollte er ihr eine dringende Botschaft übermitteln. »Ein Hund ist auch drauf.« »Toby!« Sarahs Ton war unüberhörbar scharf – sie hatte plötzlich gar nichts mehr von dem charmanten jungen Mädchen, das sie bei ihren bisherigen Begegnungen gewesen war. Vielleicht, dachte Julia, ist sie der ältere Zwilling und deshalb gewohnt, ihn herumzukommandieren. An Toby gewandt, fragte sie betont freundlich: »Wie in der Raffaele?« In ihr Notizbuch hatte sie geschrieben: »Warum der Hund? Ich habe Hunde nie gemocht.« Zu Katzen hatte sie durch Stella ein positives Verhältnis gewonnen. Doch Hunde hatten etwas Ungebärdiges, unübersehbar Animalisches, das sie aus der Fassung brachte. Für den Hund von Tobias allerdings hegte sie Sympathie: Er war Teil des Begrüßungskomitees gewesen, das sie bei ihrer Ankunft in Venedig willkommen geheißen hatte, in Gestalt der Skulpturen über dem Portal der Chiesa dell’Angelo Raffaele. Toby sagte schlicht: »Kommen Sie gucken!«, und zog sich wieder ins Innere der Kapelle zurück. Noch ein wenig geschwächt von ihrer Krankheit machte Julia einen unbeholfenen Schritt in die Dunkelheit hinein und blieb erst einmal stehen, damit sich ihre Augen an das trübe Licht gewöhnten. Es war schwer, sich den beschei114
denen, aus rohem Mauerwerk erbauten Raum als prächtiges venezianisches Interieur vorzustellen. Sie besann sich auf ihre Geschichtskenntnisse und fragte: »Sie ist romanisch, nicht? Von wann?« Die Stimmung in der Kapelle hatte fast etwas Biblisches. »Wahrscheinlich um 1350.« Sarah, die Julia in die Kapelle gefolgt war, klang immer noch missgestimmt. »Obwohl man damals längst begonnen hatte, im gotischen Stil zu bauen, bediente man sich manchmal noch byzantinischer Vorbilder.« Julia zeigte auf das Gerüst, an dem eine vergitterte Arbeitslampe hing. »Restaurieren Sie das da auch?« Sarah wirkte noch immer ungeduldig. »Ja, ich will hier gerade anfangen.« Die grauen, gewundenen Säulen mit ihren laubbekränzten Kapitellen hatten in dem gebrochenen Licht fast etwas Durchscheinendes. Sie bildeten gleichsam einen schützenden Bogen, eine Art Halbkreis aus wildseidenen Bäumen um das, was offensichtlich der Altar war, und hoch über ihnen in der Wand entdeckte Julia ein schmales Fenster, durch das die Sonnenstrahlen Sprenkel und Striche auf die Überreste des Mosaikbodens malten. »Dann sind Sie nur zu zweit? Sie oben in der Höhe und Toby unten auf dem Fußboden?« Julia spürte einen Stich. Was die Zwillinge hier machten, hatte mit wirklicher Geschichte zu tun – verglichen damit erschien ihr ihr Unterricht an St. Barnabas wie verwässerte Milch. »Wenn Tobes mit dem Boden fertig ist, kommen noch andere hinzu. Sie ist zu klein, als dass viele von uns gleichzeitig hier arbeiten könnten, deshalb haben wir sie im Moment für uns.« Auf ein paar Holzbohlen waren ein gelber Regenmantel und ein Schlafsack ausgebreitet. Sarah, die sah, in welche Richtung der Blick ihrer Besucherin gewandert war, sagte: »Da schläft Tobes 115
manchmal«, und fügte abschätzig hinzu, »mit den Fledermäusen als Nachtgespenstern – aber na ja, bei ihm spukt’s ja auch im Kopf«, worauf sie ein humorloses Lachen ausstieß. Julia beschlich ein leises Unbehagen. Fledermäusen fühlte sie sich noch nicht wieder ganz gewachsen, und so ging sie zum vorigen Thema zurück. Sie sog die moderige Luft ein und fragte: »1350, das muss gegen Ende der Pestepidemie gewesen sein, oder?« Die Antwort kannte sie bereits. Charles Cutforth hatte sich im verschwenderischen Prunk des Gritti Palace über den schwarzen Tod ausgelassen, an einem der letzten Tage ihrer Unschuld. Doch Sarah schien die Geduld für Fragen ausgegangen zu sein, ob echte oder unechte. »Hören Sie, es geht gegen jede Vernunft, dass Sie hier drin sind, Julia. Die Feuchtigkeit ist der Tod für Ihre Lunge.« Ach, wenn sie’s doch nur wäre, dachte Julia. Laut sagte sie, während sie ihren Ellbogen aus dem allzu festen Griff befreite, in den die junge Frau ihn genommen hatte: »Bitte, es ist alles in Ordnung. Mir geht es gut.« Hinten aus der Dunkelheit tauchte plötzlich Toby auf, der etwas in den Armen hielt. »Oh, das Bild – ist er das, was glauben Sie?« Sarahs Stimmung hemmte Julia: Sie traute sich nicht, den Namen des Erzengels auszusprechen. Toby wickelte sorgfältig eine rechteckige Holztafel aus einer grauen Decke. »Ich denke schon. Raphael war beliebt bei den Seeleuten. Er soll auch mal hier in der Gegend erschienen sein.« Unter der Decke kam ein Tafelbild von etwa sechzig mal hundert Zentimetern hervor, dessen Dicke von fünf bis sechs Zentimetern einen stabilen Kontrast zur offensichtlichen Zartheit der Farben bildete. An den abgesplitterten Kanten war eine Art Bogengewölbe erkennbar, als spielte 116
sich die dargestellte Szene ebenfalls in einer Kapelle ab. Doch was das Auge unwiderstehlich anzog, war die Gestalt mittendrin. Der Künstler hatte den Engel mit einem fragenden Ausdruck versehen, die großen, im dunkel schimmernden Blau eines Pfauenschweifs gehaltenen Flügel nach hinten gefaltet. Vor langer Zeit, als Kind, hatte Julia einmal einen Ausflug zu einem Landschloss unternommen, mit einem Park, in dem Pfauen frei herumliefen. Einer hatte unmittelbar vor ihr mit lautem Klappern seinen Fächer ausgebreitet, und als sie vor Schreck und Verblüffung aufgeschrieen hatte, war ihre Mutter herbeigeeilt, um sie zu trösten. Es war die einzige Gelegenheit, bei der sie sich genau erinnerte, getröstet worden zu sein, obwohl sie, wenn auch ohne sich direkt zu erinnern, vermutete, dass sie noch weitere solcher Momente erlebt hatte. Die Ironie war, dass sie ausgerechnet bei dieser Gelegenheit gar keines Trostes bedurft hatte – ebenso wenig wie jetzt. »Ich wusste gar nicht, dass er hier gewesen sein soll.« Ihre Äußerung klang ein wenig so, als hätte das himmlische Wesen irgendwann in der Vergangenheit eine Städtereise nach Venedig gebucht. »In dieser Gegend wohnten früher viele Seeleute. Raphael ist ihr Talisman, warum weiß ich nicht. Er ist gut, finden Sie nicht?« Mehr als »gut«, dachte Julia. »Wie heißt der Maler?« Selbst in dem schlechten Licht konnte Julia erkennen, wie Toby rot wurde. Mist, dachte sie, jetzt habe ich ihn bloßgestellt. »Wahrscheinlich ein Unbekannter.« Toby klang verlegen. Dann wechselte er das Thema: »Da, sehen Sie den Hund?«
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Er deutete mit dem Zeigefinger auf einen schwarzweißen Klecks zu Füßen der Gestalt. Die Füße schauten elegant und lang unter dem goldenen und weißen Faltengewand hervor. Julia war fast versucht, die Hand auszustrecken und sie zu berühren, aber Sarah stieß sie beinahe beiseite. »Toby, hast du nicht gesagt, du brauchst die neue Klinge?« »Ja, schon gut, schon gut. Ich wollte Francesco bitten, mir diese hier zu schärfen.« Francesco, stellte sich heraus, war der Name des Glasers mit der roten Mütze. Während Julia draußen vor der Kapelle wartete und die Zwillinge drinnen noch stritten, überlegte sie, dass es nicht die biologischen Bazillen waren, von denen man sich kurieren musste, sondern die emotionalen: Angst, Demütigung, Verlust. Einen flüchtigen Moment lang, während sie das Bild mit dem Engel betrachtete, hatte die Verheißung einer Alternative über dem Krater in ihrem Herzen geschwebt. »Mögen Sie nachher zum Tee kommen?«, fragte sie Toby. Sie ließ ihn ungern gehen und war enttäuscht, als statt seiner die Schwester antwortete: »Tobes muss nach Hause, aber wenn Sie wollen, komme ich.« Toby war mit einem Ausdruck auf dem Gesicht verschwunden, für den Harriet ihn als »beleidigte Leberwurst« bezeichnet hätte. Offensichtlich hatten die Zwillinge Streit miteinander. Beim Anblick von Tobys gebeugten Schultern hätte sie ihm am liebsten nachgerufen: »Ich habe auch Brandy da, wenn Ihnen das lieber ist!« (Denn Brandy war, wie sie aus eigener Erfahrung wusste, für unglücklich Liebende verlockender als Tee.) Da sie in Gedanken Toby zum rot bemützten Francesco folgte, war es vielleicht nicht überraschend, dass ihr, als sie mit Sarah über den Campo ging, Nicco über den Weg lief. Es war nicht das erste Mal, dass sie den Jungen sah, 118
seit sie damals zu dem Glaser hatten aufbrechen wollen. Aber sie hatte seitdem möglichst zugesehen, dass sich ihre Wege nicht kreuzten. Von Carlo hatte sie nie wieder etwas gehört – er hatte sich aus ihrem Leben davongeschlichen. Wie ein Dieb in der Nacht, dachte sie und verachtete sich sogleich für das abgedroschene Klischee. Nicco war sie nicht mehr böse – sie schämte sich lediglich. Sie hatte ihn fallen lassen, und mit ihrer neu erwachten Sensibilität spürte sie, dass der Junge dies sehr genau mitbekommen hatte. Und sie spürte auch, dass die Freundlichkeit, mit der sie Nicco jetzt ansprach, zum Teil dem Wunsch entsprang, Sarah damit zu beeindrucken, wie locker sie mit den Einheimischen umging. »Ciao, Nicco! Was macht der Fußball? Kommt Venezia weiter?« Zu höflich, um auch nur im Stillen auf die Unbeständigkeit seiner älteren Freundin zu reagieren, war Nicco außerstande, ihr die Antwort zu verweigern. »Si! Sie spielen Hamburg letzte Woche.« »Das ist ja wunderbar, Nicco, wie haben sie denn gespielt?« »Ich noch nicht weiß. Später ich sage Ihnen.« Julia erkannte seinen Fehler und sagte: »Nächste Woche hat der Junge gemeint.« Er lief weiter, und sie rief ihm nach: »Nächste Woche, Nicco, nicht letzte Woche. Nächste …« Und dann, obwohl es ihr in Wirklichkeit nicht erst nachträglich einfiel: »Nicco, komm mich bald mal wieder besuchen, ja?« »Einmal Lehrerin, immer Lehrerin, stimmt’s!«, sagte Sarah später auf dem Balkon. »Kann ich was helfen?«
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Julia, die den Drang verspürte, sich zu beschäftigen, hatte angefangen, Saubohnen zu schälen, die sie vormittags an einem Gemüsestand entdeckt hatte. Harriet hatte Saubohnen gern gegessen. Im Andenken daran hatte Julia ein Pfund gekauft und sich vorgenommen, sie mit Zitronensaft und Olivenöl zum Abendbrot zu verzehren. »Ich fürchte, eine sehr gute war ich nicht.« Ihr Unterricht, hatte Julia während ihrer Krankheit beschlossen, war farblos, ja lieblos gewesen. Das hatte Nicco schon vor der »Entdeckung« gespürt. Sie musste versuchen, es bei ihm wieder gutzumachen. Sarahs Stimmung schien sich mit dem Weggang ihres schwierigen Zwillingsbruders aufgehellt zu haben. »Wirklich? Ich hätte gedacht, Sie waren klasse! Der Kleine kann sich glücklich schätzen, dass er Sie hat. Aber Kinder sind undankbar, oder?« Julia Garnet, die zartgrüne Bohnen aus ihren weich gepolsterten Hülsen löste, wusste es besser. Nicco musste sich nicht glücklich schätzen, ihrer pädagogischen Aufmerksamkeiten zuteil zu werden. Er hatte mit natürlicher Liebenswürdigkeit ertragen, was für ihn höchstwahrscheinlich eine Tortur war. Die Entdeckung von Carlos wahren Absichten hatte sie unter anderem gelehrt, dass es nichts einbrachte, sich vorzugaukeln, man sei besser, als man tatsächlich war. Aber sie hatte auch überlegt, dass es nicht richtig war, alles ständig offen zu äußern. Ihrer neuen jungen Freundin zu widersprechen, die zweifellos die besten Absichten hegte, wäre wieder nur eine Spielart des kritischen Impulses gewesen, dem sich Nicco offensichtlich hatte entziehen wollen. »Sagen wir, ich war nicht so gut, wie ich dachte«, lautete die Formel, die sie nach kurzem Zögern anbot. »Ich hab meine Lehrer zum Wahnsinn getrieben!« Sarah lachte. Unter der Abendsonne hatten ihre wandelbaren 120
Züge den wieselhaften Ausdruck, den sie in der Kapelle angenommen hatten, verloren und sich wieder ins Hübsche gewendet. Es hatte Julia einigermaßen schockiert, das Gekabbel der Zwillinge so unmittelbar mitzuerleben; aber vielleicht war es gar nicht so selten, dass Leute sich stritten? Sie und Harriet jedenfalls waren sich häufig in die Haare geraten, obwohl auch dies zu den Dingen gehörte, die sie früher vor sich selbst geleugnet hätte. »Waren Sie auf einem Internat?« Sarahs ungezwungenes Selbstvertrauen ließ auf die Roedean School oder das Cheltenham Ladies College schließen. Sarah schüttelte den Kopf. »Nee. Ich wollte nicht. Aber mein …« Sie zögerte einen Moment, als wüsste sie nicht genau, was sie sagen sollte. »Meine Eltern wollten mich unbedingt ins Internat schicken – typisch.« »Warum wollten Sie denn nicht?« »Ich wollte erst, als es zu spät war.« Ihre Stimmung schien sich wieder verdüstert zu haben. Vielleicht war nicht ihr Bruder allein schwierig? »Als es zu Hause nicht mehr auszuhalten war.« Julia Garnet war überrascht. Sarah wirkte zu selbstsicher, um aus einem schwierigen Elternhaus zu stammen. »Oh«, sagte sie, »das tut mir Leid.« Sie merkte, wie sie wieder einmal rot wurde. Ein Kreuz war das mit ihrer Schüchternheit! Sarah ging, falls sie überhaupt etwas gemerkt hatte, nicht auf das Unbehagen der anderen ein. Stattdessen sagte sie ein wenig zu munter: »Macht nichts. Das geht doch vielen Leuten so, oder, dass sie scheußliche Dinge aus ihrer Kindheit mit sich herumschleppen? Wie ist es mit Ihnen? Wie war Ihr Zuhause?« Julia Garnet hatte bis vor kurzem nie allgemein über Kindererziehung nachgedacht. Sie war sich der Fehler in ihrer eigenen Erziehung nur vage bewusst gewesen und 121
hatte dazu geneigt, diese eher zu verbergen als in Gesprächen hervorzukramen. Sie sei nicht dazu erzogen worden, über Erziehung zu reflektieren, hatte sie einmal (ziemlich geistreich, wie sie damals fand) erklärt. »Darüber habe ich eigentlich nie nachgedacht.« Sie musste irgendwie den Eindruck erweckt haben, dass sie die Frage missbilligte, denn das, was das junge Mädchen jetzt sagte, klang wie eine Zurechtweisung. »Na ja, ich bin sexuell missbraucht worden. Natürlich hat mir keiner geglaubt, aber inzwischen häufen sich ja die Hinweise. Überall kommen Hunderte von Fällen ans Licht.« »Ach, du liebe Zeit!« Vor Schreck nahm Julia Garnet das Bein vom Knie und stieß dabei mit dem Knöchel die Teekanne um. »Mist! Das tut mir ja so Leid!« Sie wusste selbst nicht, ob ihre Entschuldigung dem Gesprächsthema galt oder ihrer Ungeschicklichkeit. »Warten Sie, ich hole schnell einen Lappen.« Sarah sprang auf, lief in die Küche und war im Nu wieder zurück. »Haben Sie sich verbrannt? Alles in Ordnung?« »Nichts passiert.« Julia wünschte, das Mädchen würde nicht so einen Aufstand machen. Das überraschende Geständnis hatte sie ihr gerade in dem Moment, da sie Freundschaft zu schließen schienen, wieder entfremdet. Musste jede gut gemeinte Tat so enden? Die Heftigkeit ihrer Stimmung von vorhin flammte wieder auf. In der Kapelle hatte sie sich zunächst verflüchtigt, aber die Verzweiflung hatte weiter im Hintergrund gelauert und nur darauf gewartet, jeden Ansatz zum Guten wieder zunichte zu machen. Tee war von dem Tablett auf den Balkon gelaufen, und das durcheinander geworfene Teegeschirr sah traurig aus. Staub und Asche. Staub und Asche. Wenn das Mädchen doch nur endlich ginge.
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»Keine Sorge.« Sarah wischte an dem Tablett herum. »Es ist kein Thema, über das ich gern rede. Tobes und ich sprechen nie drüber. Mir wär’s übrigens lieb, wenn Sie ihm nicht sagen würden, dass ich es erwähnt habe.« Als ob ich das jemals täte, dachte Julia Garnet entrüstet. »Natürlich nicht.« Ihre Stimme klang unangenehm berührt. Sie wünschte, sie wäre noch in dem kalten, schattigen Innenraum der Kapelle, wo Toby ihr den Engel und den Hund zeigte. Er hatte sympathische Hände – breit und zupackend. In ihr stieg ein Bild von ihm auf, wie er dort allein im Dunkeln in seinem Schlafsack lag und an seine widerspenstige Geliebte dachte. »Was macht die Freundin Ihres Bruders?« Julia hoffte, der Themenwechsel ließ sie nicht zu neugierig erscheinen. Schließlich hatte Sarah ihren Bruder zuerst erwähnt. Mit einer geschickten Daumenbewegung befreite Sarah eine offene Hülse von ihren Bohnen. »Ach, die! Die ist der Grund dafür, dass er ständig in der Gegend rumstreicht.« Julias Gefühl der Identifikation mit Toby rührte sich erneut. Die Wanderkur. Auf die war sie neulich auch verfallen. »Kennen Sie das Mädchen?« Doch ihr Gast gab keine Antwort. Vielleicht hatte sie wieder einen Fauxpas begangen? Sie war einfach zu ungeübt in der Etikette moderner Beziehungen. Konnte es sein, dass es zwar in Ordnung war, über sexuellen Missbrauch zu reden, sich aber nicht schickte, der Natur des Kummers eines jungen Mannes nachzugehen? Nun, das verstand sie – sie würde sich so etwas auf jeden Fall verbitten. Doch Sarah war anscheinend nur in Gedanken gewesen. »Sie ist nichts Besonderes, aber das denken wir oft von den Geliebten anderer, oder?« »Ja? Ich fürchte, das kann ich nicht beurteilen.« Julia, der gerade das Bild durch den Kopf geschossen war, wie 123
der goldhäutige Nicco vor Carlo über die Ponte de Cristo floh, beugte ihr Haupt über die letzten Bohnen. »Was für eine verschwindende Menge am Ende davon übrig bleibt. Eigentlich wollte ich Sie fragen, ob Sie Lust hätten, noch zu bleiben und sie mit mir zu essen, aber sie scheinen kaum der …« »Ich kann sowieso nicht.« Obwohl Julia gar nicht wirklich wollte, dass Sarah blieb, fühlte sie sich durch ihre rasche Entgegnung zurückgewiesen. Aber sie war nun einmal eine impulsive junge Frau. Julia erinnerte sich daran, wie sie ihr über den Campo nachgeschaut hatte, als sie nach ihrem ersten Besuch zum Tee davongeeilt war. »Eile mit Weile«, hätte sie wohl zu Sarah gesagt, wäre sie eine Schülerin gewesen, zu der Zeit, als sie noch an ihre pädagogischen Konzepte glaubte. Sarah erklärte ihr nun, dass sie gleich zu dem Architekten müsse, der für die Restaurierung der Kapelle verantwortlich zeichne. »Zum Glück ist er ganz hin und weg von mir – wohl vor allem, weil der Mann, bei dem ich gelernt habe, eine Art Legende ist, was sich für den Umgang mit der Soprintendente als ein Segen erweist. Sie kann mich nicht leiden, stellt sich bei allem quer, was ich will. Sie ist nicht gerade einem Gemälde entsprungen, hässliche alte Kuh!« In Sarahs Gesicht, das grausam wirkte in seiner jugendlichen Strahlkraft, stand Blindheit gegenüber den möglichen Empfindlichkeiten einer weniger attraktiven Frau. Julia verspürte keinerlei Neigung, sich einer Verschwörung gegen die reizlose Soprintendente anzuschließen. »Vielleicht ist es für sie schlicht gewöhnungsbedürftig, dass eine junge Frau gute Arbeit leistet. Es ist schon kühn, was Sie da tun. Macht es Ihnen nichts aus, so hoch oben zu arbeiten?«
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Sarah stand auf. »Ich bin gern ›hoch oben‹, wie Sie das nennen.« Sie lachte abermals, und Julia konnte sich nur allzu gut vorstellen, dass die hässliche Soprintendente sie um ihren blonden Schopf und ihre zierliche Figur beneidete. »Tobes meint, in einem anderen Leben muss ich eine Gemse gewesen sein.« Sarah hielt sich zwei gekrümmte Finger an die Stirn, um Hörner anzudeuten. »Hören Sie, ich muss los, um mich umzuziehen!« Ehe sie ging, fragte Julia: »Weiß er von dem Tafelbild, Ihr Architekt?« Aus irgendeinem Grunde schien die Frage Sarah zu verärgern, denn ihre Stimme wurde wieder hart. »Aber wieso denn. Das geht ihn gar nichts an – dafür ist er nicht zuständig!« Während sie allein auf dem Balkon ihre Saubohnen aß, ließ Julia den Besuch Revue passieren. Sarah war völlig anders als die Kinder, die sie unterrichtet hatte (in ihren Augen war Sarah wirklich noch ein Kind!), doch was wusste sie schon davon? Sie hatte ihr Leben damit vertan, nach Schema F verstaubte Geschichten an Kinder zu verabreichen, denen es vollkommen gleichgültig gewesen sein dürfte, ob ihre Lehrerin tot oder lebendig war. Nein, sie konnte wirklich nicht behaupten, diese Kinder gekannt zu haben. In jenem Bruchteil einer Sekunde, der ihr für alle Zeiten in Erinnerung bleiben würde, als sie erlebt hatte, wie eine andere Geschichte starb, und einer lebendigen Wahrheit (der Wahrheit über Carlo) ins Gesicht gesehen hatte, war sie in die Hölle gestürzt. Doch dann hatte sie, ähnlich wie es heißt, man könne bestimmte Sterne aus einem tiefen Schlund noch am hellen Mittag sehen, aus dieser »Hölle« etwas anderes gesehen: ein kaum wahrnehmbares Licht, das mit seinem Schein über 125
ihre Leiden hinaus wies. In diesem schwachen Licht ging ihr jetzt schemenhaft auf, warum Carlo so war, wie er war: Nicco war für ihn schön, denn Nicco war das Leben. Es gab keinen Zweifel, dass es nicht rechtens war, wenn Carlo danach trachtete, die Schönheit des Jungen für die eigenen perversen Zwecke zu missbrauchen, aber er nahm sie zumindest wahr und reagierte. Sie dagegen … sie hatte die Augen vor der Natürlichkeit der Kinder verschlossen und blindlings ihr formelhaft erstarrtes Verständnis von Recht und Unrecht vertreten, ganz ähnlich dem alten Tobit, der seine Toten fromm begraben und immerzu auf seine Rechtschaffenheit gepocht hatte. Sie schlug ihr Notizbuch auf und schrieb: »Hunde führen die Blinden. Der alte Tobit ist ›blind‹, weil er die Grenzen seiner Werte nicht erkennt. (Man sehe nur, wie er seine Frau behandelt, wenn sie sich für ihn schindet. Er ›sieht‹ sie nicht!)« Sie brachte ihren Teller nach drinnen, und als sie ihn gespült und abgetrocknet hatte, ging sie mit einem Gläschen Brandy wieder auf den Balkon hinaus und schrieb: »Dieses ständige Begraben der Toten – engstirnig!« »Aldo kennt Ihren Freund«, rief Sarah ein paar Tage darauf von ihrem Posten auf dem Gerüst zu ihr hinunter, und noch ehe sie weitersprach, kündete das Stechen in Julias Brust davon, wer dieser Freund war. »Carlo Antonini! Er war hier. Er sagt, wir sollen Sie grüßen. Er hat nur einmal vorbeigeschaut und scheint alles über die Kapelle zu wissen.« »Ja«, rief Julia hinauf. »Das kann gut sein.« Aber ihre Stimme war zu schwach, um das Mädchen so hoch oben zu erreichen. »Kommen Sie hoch, wenn Sie mögen!« Doch Julia mochte nicht. Der Gedanke an das Gerüst 126
lockte sie nicht mehr. Sie wollte lieber wieder in den stillen Innenraum der Kapelle – in die Höhle von Sarahs Bruder Toby, zu den Fledermäusen. Dort war auch das geheimnisvolle Tafelbild, eingewickelt in eine Decke wie die in der Krankenstube ihrer Schule. Vor ihrem inneren Auge stieg das Bild eines schlafenden Kindes auf. Die Kapellentür wurde geöffnet, und Toby kam gegen die Sonne blinzelnd heraus. »Hallo!« Seine Miene wirkte bekümmert. Vermutlich immer noch das Mädchen, dachte sie. Der Ton ihrer Antwort war von Mitgefühl geprägt. »Oh, hallo, Toby! Sind Sie bei der Arbeit?« »Ja, wollen Sie mal gucken?« Sie hatte gehofft, dass er das fragen würde. Er hielt ihr die Tür auf, und im Vorbeigehen roch sie den Schweiß unter seinen Achseln. Das war für sie eine neue Erfahrung, die, wie ihr aufging, einen erotischen Anstrich hatte, und sie errötete bei dem Gedanken nicht einmal. Drinnen in der Kapelle brannten neben der Lampe, die sie zuvor gesehen hatte, zusätzlich zwei am Gerüst hinter dem Altar befestigte Halogenstrahler, die auf den beschädigten Fußboden gerichtet waren. Toby, der ihr in dem seltsamen Licht merkwürdig vertraut erschien, zeigte auf die mosaiklosen Flächen am Boden, die aussahen wie aufgerissene, zahnlose Mäuler: das Ergebnis jahrhundertelanger Bodensenkung und ständiger Überschwemmungen. Wie friedlich es sein musste, eine solche Liebe zu Stein und Glas zu hegen. Aber sie durfte nicht vergessen, dass er auch Fleisch und Blut liebte. Auf den winzigen unbeschädigten Feldern des Mosaikbodens konnte sie schwungvolle geometrische Muster erkennen, ähnlich denen, die sie in San Marco gesehen hatte, doch in dem Abschnitt, an dem er arbeitete, waren Blätter zu erkennen und etwas, das aussah wie eine Tiergestalt. 127
»Es ist im Moment noch ein ziemliches Puzzle«, sagte Toby, »aber vielleicht können Sie es schon erkennen« – er deutete mit dem Finger –, »das da ist ein Teil von einem Fisch.« »Warum ausgerechnet ein Fisch?«, schrieb sie hinterher in ihr Notizbuch. »Fisch, Hund, Mensch, Engel – ob sie für verschiedene Stufen der Evolution stehen?« »In der Geschichte mit Tobias gibt es auch einen Fisch, neben dem Hund.« »Ja, stimmt! Ich hatte an Jonas Wal gedacht.« Jona, der unstete Prophet, erinnerte sie zu sehr an ihren Vater. »Das war ein ziemlicher Miesepeter, oder?« Gerechtigkeitshalber musste man allerdings sagen, dass drei Tage im Bauch eines Wals wahrscheinlich den Blick veränderten. Am Anfang, so stand es in der Bibel, wurde die Welt aufgeteilt in Wasser, Erde, Luft und über der Luft das himmlische Firmament, das Element der Engel. »Wie finden Sie den Engel vom Tafelbild?«, fragte sie, sich unvermittelt zu ihm umdrehend, und sollte sich noch lange danach an seine Antwort erinnern, die fast klang, als hätte er etwas anderes sagen wollen. »Ich finde … ich glaube, er ist das Himmlischste, was ich je auf Erden sehen werde!«
Ich, Tobit, der ich von den Ufern des Sees von Galiläa zu Fuß nach Jerusalem ging, von Kedesch nach Ninive, von Ninive nach Rages in Medien, ich, der ich immer stolz auf meine körperliche Tüchtigkeit gewesen war, sah mich jetzt zu ohnmächtigem Nichtstun verurteilt. Nachdem ich erblindet war, konnte ich nicht mehr für meine Familie sorgen, und die Rippe musste für unsern Lebensunterhalt mancherlei. Arbeiten annehmen. Waschen, Nähen und 128
dergleichen mehr. Für mich war das schlimmer als die Blindheit. Sie konnte ihren Unmut nicht vor mir verbergen. Nicht dass ihr die Arbeit etwas ausgemacht hätte – sie war sozusagen mit hochgekrempelten Ärmeln zur Welt gekommen. Aber Frauen können zickig sein, und die andern Frauen ließen sie unsern Abstieg spüren, schließlich hatten wir einst dem königlichen Hofstaat angehört. So entstanden Spannungen zwischen uns, während es vorher nur die üblichen kleinen Reibereien und gelegentlichen Unstimmigkeiten des Ehelebens gegeben hatte. Ich wurde misstrauisch und sie zänkisch. Ich ärgerte mich, dass sie arbeiten musste, und sie ärgerte sich über meinen Ärger. Mit der Zeit jedoch wurde sie eine recht gefragte Wäscherin in unserem Viertel und fing an, stolz auf ihre Arbeit zu sein. Eines Tages schenkte ihr eine reiche Witwe zusätzlich zu dem ihr zustehenden Lohn noch ein Ziegenböcklein. Ich hörte das Tier meckern, und da ich keine Ahnung hatte, wie wir zu einem solchen kostbaren Gut gekommen waren, zog ich voreilig den Schluss, sie oder der Junge hätten es gestohlen. Ich fragte nicht taktvoll nach, sondern bezichtigte sie geradeheraus des Diebstahls. So weit kommt es, wenn sich zwischen Eheleuten der Groll aufbaut: Die Vorwürfe bleiben wie Kletten hängen. Das war der tiefste Punkt in unserem Zusammenleben. Ungeachtet meiner Blindheit schüttelte sie mich an den Schultern und schrie: »Es ist ein Geschenk, ein Geschenk von einer Kundin, für meine Arbeit! Ich arbeite nämlich hart, ob du’s glaubst oder nicht! Wie kommst du dazu, deine eigene Frau als Diebin anzuklagen? Für wen hältst du dich eigentlich? Meinst du, ich durchschaue dich nicht? Wo ist jetzt der Lohn für dein großartiges Almosengeben
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und deine guten Werke, du eingebildeter, selbstgerechter und von Selbstmitleid triefender Narr?« Nacht für Nacht ging mir diese Litanei von Schimpfnamen durch den Kopf, bis ich mir schließlich wünschte, ich wäre tot. Wieder verbrachte ich die Nacht an der Hofmauer, und diesmal kam meine Frau nicht nach mir sehen. Damit war es für mich entschieden. Da hatte ich mich so bemüht, hatte überreichlich Almosen gegeben und mich treulich an die Wege des Herrn gehalten, während alle andern in meiner Umgebung ungehorsam geworden waren, doch alles, was es mir einbrachte, waren Schmach und Schande und jetzt in meinem eigenen Hause Verachtung. Was hatte es da noch für einen Sinn, den Pfad der Gerechtigkeit zu wandeln? Lieber tot als das. Doch vor meinem Scheiden aus der Welt wollte ich noch mein Möglichstes tun, um mein Haus in Ordnung zu bringen und Weib und Kind gut zu versorgen, auch wenn sie noch so gering von mir dachten. Als die ersten Sperlinge in den blauen Ranken munter wurden (ich hörte ihr Gezwitscher immer noch gern, obwohl sie an meinem Unglück schuld waren), fiel mir etwas ein. Das menschliche Gedächtnis ist ein merkwürdiges Ding. Die ganzen Jahre über hatte die Begebenheit, die mir jetzt in den Sinn kam, wie begraben dort geruht. Doch jetzt, wo die Not am größten war, stieg vor meinen blinden Augen das Bild eines meiner Verwandten auf, und ich erinnerte mich, dass ich ihn vor langer Zeit, als ich noch jung und rüstig war, einmal in der Stadt Rages besucht und bei ihm eine Summe Geldes hinterlegt hatte. Damals nämlich erfreute ich mich noch der Gunst des Königs und war ein wohlhabender Mann. Rages liegt jenseits des Sagrosgebirges in Medien. In jenen Tagen, da ich als Einkäufer am Hofe unterwegs war, herrschte Friede zwischen Assyrien 130
und Medien, und ein Strapazen gewohnter Mann konnte binnen eines Mondes dorthin und wieder zurück reisen. Als die Vögel schon emsig umherschwirrten, und ich die erste Wärme auf dem Gesicht spürte, begab ich mich ins Haus und rief nach meinem Sohn. Natürlich war die Rippe gegen meinen Plan, sobald sie ihn vernahm. Zuvor hatte sie, glaube ich, Gewissensbisse, weil sie wegen des Zickleins ausfällig geworden war, und wegen meiner taufeuchten Nacht im Freien tat ich ihr Leid, denn sie umsorgte mich mit heißen Getränken und diesem und jenem und achtete deshalb zunächst nicht auf das, was ich sagte. Auf einmal jedoch merkte ich auch ohne Augen, dass sie erbleichte, genau wie früher immer, wenn ich hartnäckig losging, die Toten zu begraben. Der Junge aber war Feuer und Flamme. Heute ist mir klar, dass ihn die Lage bedrückt haben muss, weil er der Familie helfen wollte, aber nicht wusste wie. Als ich ihm auftrug, nach Rages zu reisen und von unserem Verwandten dort das hinterlegte Geld einzufordern, war er sofort bereit und hatte seine Sachen gepackt, bevor noch einer »Mose« sagen konnte. »Was hast du jetzt wieder vor, du törichter Alter?«, rief die Rippe aus. (Zu dem Zeitpunkt war ich erst achtundfünfzig, aber es stimmte wohl, dass ich kein junger Springer mehr war.) »Er ist unser einziger Sohn, und der Weg ist gefährlich, es wimmelt von Räubern. Obendrein stehen Medien und Assyrien nicht mehr auf freundschaftlichem Fuß miteinander. Wenn er nun niemals wiederkehrt? Du bringst mich noch ins Grab!« Und sie hob an zu jammern und zu wehklagen. Nun ließ auch mich die Aussicht, dass der Junge die weite Reise allein antreten sollte, keineswegs kalt. Gewiss, in seinem Alter war auch ich über die Berge ins ferne Rages gezogen, aber damals waren die Zeiten rauer, und 131
ohnehin glaubt ein Vater nie, dass der Sohn so fähig ist wie er selbst. Obwohl ich also der Rippe befahl, mit dem Heulen aufzuhören, dachte ich meinerseits darüber nach, wie ich den Jungen schützen konnte. »Hör zu«, sagte ich zu ihm, »deine Mutter ist verstört. Es wäre vielleicht nicht unangebracht, dir einen Begleiter mitzugeben. Lassen wir lieber Vorsicht walten, dann wird sie sich nicht so sehr ängstigen.« (Von meiner eigenen Gemütsverfassung sagte ich nichts: Es ist einem Jungen nicht förderlich, von der Angst seines Vaters zu erfahren.) Nun ist mein Sohn ein guter Junge, wie gesagt, und durchaus nicht hochmütig, und so begab er sich unverzüglich zum Markt, wo Männer gegen Lohn ihre Dienste anbieten. Viele Tage lang hielt er Ausschau, doch die Männer seiner Wahl waren entweder seiner Mutter zu rau oder mir zu weichlich. Ich wollte, dass ein starker Mann meinen Sohn begleitete, denn auf den hohen Pässen, die er auf dem Weg nach Medien überqueren musste, trieben Banditen ihr Unwesen, wilde Männer, die einem ohne viel Federlesens die Kehle aufschlitzten. Da brachte er eines Tages einen Mann mit nach Hause, einen hochgewachsenen jungen Mann mit breiten Schultern und blonden Haaren, wie er mir sagte, als ich mit meiner üblichen Liste von Fragen anfing, um festzustellen, aus was für einem Holz der Bursche geschnitzt war. Blonde Haare sind in diesem Land recht ungewöhnlich. Vielleicht war es das, aber ich könnte heute noch schwören, dass er mir gleich irgendwie besonders vorkam. Manche Dinge »weiß« man, bevor man sie begreift, und so erging es mir an jenem Morgen. Sie traten gemeinsam in den Hof, wo ich müßig herumsaß. Ich hatte einen schlechten Tag, war nicht einmal in der Stimmung, Vorbereitungen für mein Hinscheiden zu treffen, und die Mutter des Jungen war unterwegs wegen 132
einer Stickerei, die sie für eine Hochzeit anfertigen sollte. Noch heute erscheint es mir bemerkenswert, dass ich nicht erschrak, nicht einmal vor dem Hund. Ich, der ich bei meiner leidigen Totengräberarbeit so häufig den sandfarbenen Höllenhund und sein Rudel mit Mühe und Not in die Flucht geschlagen hatte, ich, der ich aus reicher Erfahrung wusste, dass diese Tiere für gewöhnlich auf Totes aus sind, zuckte nicht einmal zusammen, als der Hund mir seine Schnauze in den Schoß stieß. Ohne zu überlegen, streckte ich die Hand aus und streichelte ihn. Trotz meiner Blindheit sah ich ihn vor meinem inneren Auge (und in dem Moment begann ich zu verstehen, dass Augen nicht allein Äußeres wahrnehmen): einen schlanken, gepflegten Jagdhund mit glattem Fell und intelligenten Ohren. Jeder, der sich auch nur ein wenig mit Hunden auskennt, wird wissen, was ich mit »intelligenten« Ohren meine. Ohren, die sprechen. Vielleicht war es der Hund, der mir den Gedanken der Umkehr eingab. Die Hunde, die ich vorher gekannt hatte, hatten es immer auf Totes abgesehen. Zwischen ihnen und mir fand eine Art Wettrennen statt, und als sich mein Unglück ereignete, waren wir ungefähr gleichauf, ich und die sandfarbene Bestie. Mit diesem Hund jedoch kam mir zum ersten Mal die Ahnung einer Umkehr, eines Richtungswechsels. Ja, dieser Hund, der an jenem Tag mit dem jungen Mann, den mein Sohn gefunden hatte, in unser Leben trat, war das Zeichen einer bevorstehenden Wende.
Als Julia Garnet aus der Kapelle trat, richtete sie den Blick nach oben. Sarah war von dem Gerüst heruntergeklettert und diskutierte nun drinnen mit ihrem Bruder darüber, wie sie mit Chemikalien gegen den Algenbefall vorgehen 133
sollten. Da Julia sich überflüssig vorkam, war sie wieder hinausgegangen. Am Himmel kreisten Möwen, und als sie aufblickte, sah sie ihn wieder, wie sie es vorausgeahnt hatte. Er fiel durch nichts Besonderes auf. Es gab keine deutlichen Anzeichen, aber wenn man Acht gab, sah man ihm an, dass er kein gewöhnlicher Mensch war. Zum einen stand er ohne sichtbare Stütze auf dem Dachfirst, schwerelos gegen die Luft gelehnt, wie ein Segel. Allerdings schwankte er nicht in dieser Haltung: Die Erscheinung stand reglos aufrecht, als wäre sie durch einen hauchfeinen Goldfaden mit der Unendlichkeit des Himmels verbunden. Als Julia Garnet ihn zum ersten Mal gesehen hatte – an jenem Tag, als sie die Zwillinge zum Tee eingeladen und Sarah so plötzlich vom Balkon ins Zimmer gedrängt hatte –, war sie von etwas ergriffen worden, was sie zunächst nicht hatte festmachen können. Später, als das junge Mädchen gegangen war und ihre Gastgeberin das Teegeschirr mit dem unpraktischen und auf jeden Fall unhygienischen Schwammtuch spülte (das sie eigentlich gleich am ersten Tag hatte ersetzen wollen), hatte sie einen Eindruck davon gewonnen, was an dem Erlebnis seltsam gewesen war: Die Gestalt besaß die Transparenz des Gewöhnlichen. Wie ein im Laub verborgenes Vogelnest hatten sich die Umrisse eines Mannes vor dem rot gedeckten Dach abgezeichnet und waren trotzdem fast mit dem Hintergrund verschmolzen. Ob die Vögel ihn wohl sahen, hatte sie sich an jenem Abend gefragt, während sie sorgfältig die Untertassen stapelte (die, wie Signora Mignelli ihr mitgeteilt hatte, ebenfalls aus der Mitgift stammten). Sie hatte nicht daran gedacht, darauf zu achten, ob die Stare, die in wolkenhaften Scharen über die roten Dächer sausten, der Gestalt ausgewichen waren, von der sie so rasch die Augen 134
abgewandt hatte (warum, war ihr da noch nicht erfindlich gewesen). Doch als sie ihn jetzt wiedersah und die Möwen beobachtete, die am tiefblauen Himmel kreisten, hatte sie den Eindruck, sie könnten direkt durch ihn hindurchfliegen, so still und – was war das nur an ihm? – so bescheiden stand er da. Nun verstand sie auch besser, warum sie beim ersten Mal das seltsame Bedürfnis verspürt hatte wegzusehen. Seine Selbstbescheidung war so extrem, dass sie fast beängstigend wirkte. Und dennoch verspürte sie in diesem Moment nicht etwa Angst (denn ihr ging jetzt unvermittelt auf, dass sie ihr Leben damit zugebracht hatte, alle möglichen Ängste im Zaum zu halten). Ihr war eher, als falle ein riesiges, unförmiges Gewicht von ihr ab, das sie, ohne es zu wissen, mit sich herumgeschleppt hatte. Ihr wurde leicht. Die Leichtigkeit schien von der Stelle auszugehen, wo die Erscheinung eben über der Engelsstatue schwebte, als ob sie über ihr steinernes Abbild lachte. Sie übertrug sich auf Julia Garnet und durchströmte ihren Körper bis in die Zehenspitzen. (Das Gefühl, vermutete sie später, musste, wäre sie in der Lage gewesen, dies zu beurteilen, so etwas Ähnliches wie ein Orgasmus gewesen sein.) Und obwohl sie ihn nur den Bruchteil einer Sekunde dort stehen sah, wusste sie im selben Moment, dass er schon immer da gewesen war.
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II PASSAH
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1 Mein Vater ist sehr alt geworden. An den meisten Tagen sitzt er unter den Kampferbäumen und kritzelt auf seine Papyrusblätter. Er weiß nicht, dass ich ihn schon länger dabei beobachte, denn wenn er mich nahen sieht oder hört, schiebt er schnell die Schriftrolle in seinen weiten Ärmel, zupft sich am Bart und wartet darauf, dass ich wieder weggehe. Aber er hört nicht mehr so gut wie früher, auch wenn er immer noch die Schritte meiner Mutter erkennt, wie mir aufgefallen ist. Mitunter habe ich bei seiner heimlichen Schreibarbeit unmittelbar hinter ihm gestanden und bin weggegangen, ohne dass er etwas davon gemerkt hätte. Doch neulich hörte er mich, als ich auf Zehenspitzen davonschlich, und bat mich zu bleiben. Er sei dabei, ließ er mich wissen, die Geschichte meiner Reise nach Medien niederzuschreiben – jene Reise, mit der sich unser Schicksal gewendet hat. Falls er sterbe, bevor er damit fertig sei … Doch an dem Punkt unterbrach ich ihn und erklärte, so etwas dürfe er nicht sagen, er werde bestimmt noch zehn Jahre unter uns weilen. Das ist natürlich gelogen, aber er lässt sich gern belügen. Für ihn sind Lügen eine Art Respektbezeigung. Mein Vater wird sehr bald von uns gehen, und das wird mich schmerzen, denn ich liebe meinen Vater. Doch die Eröffnung, dass er diese alten Dinge aufschrieb, die noch vor die Begegnung mit meiner Frau zurückreichen, weckte auch in mir Erinnerungen. Sonderbar, wie selbst die außergewöhnlichsten Begebenheiten einem entschwinden können wie Tau vor der Morgensonne.
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Es war der Hund – Kisch, wie ich ihn nannte –, der meinen Vater zuerst stutzig machte. Er sei, meinte Vater, anders als alle Hunde, die er je gekannt habe, von so flinker Auffassungsgabe und so zutraulich. Ich erinnere mich, dass er mich fragte, wo Kisch herkomme, und ich antwortete ihm wahrheitsgemäß, er sei bei Asarja gewesen, als ich ihm auf dem Markt begegnete. Dreimal hatte ich mich aufgemacht, um jemanden zu suchen, der mich über die Hochebenen und die Berge nach Medien führen konnte. Manche gaben an, den Weg zu kennen, doch ich merkte ihnen an, dass sie flunkerten, manche hatten ein ehrliches Gesicht, aber waren nicht besser befähigt als ich, die richtige Route zu finden, und manche waren hoffnungslose Fälle, arme Tröpfe, die allein nicht einmal den Weg durch die Stadt gefunden hätten. Es gab solche, die mir gefielen (verwegen und fröhlich), von denen mein Vater aber nichts hielt, und solche, die ihm gefielen (älter und sauertöpfisch), die meiner Mutter aber nicht passten, und nach einer Weile fragte ich mich, wie ich es meinem Vater beibringen sollte, dass ich auf die Art niemals nach Rages kommen würde. Da traf ich Asarja. Asarja stand am Rande des Marktes neben einem niedrigen Mäuerchen, den Fuß darauf gestellt, die Unterarme aufs Knie gestützt, und schaute. Er schaute einfach. Doch sein Blick schien die fernen Berge zu erfassen und gleichzeitig die kleinste Regung in seiner Nähe wahrzunehmen. Er bemerkte mich sofort und lächelte. Bei uns zu Hause wurde nicht viel gelächelt. Ich bin das einzige Kind meiner Eltern, und obwohl sie immer gut für mich gesorgt haben (vielleicht zu gut?), war ihre Sorge recht sorgenschwer, wenn ich einmal so sagen darf. Nach der bei uns zu Hause herrschenden Auffassung war die Zeit abgelaufen und die Welt vor lauter Verdruss und 138
Mühsal nahezu unbewohnbar. Als ich daher dieses Lächeln von Asarja sah, wurde etwas tief in meinem Innern wach und merkte auf. Meine Mutter hat von ihrer Arbeit als Wäscherin eine wehe Schulter, und so oft sich die Gelegenheit bietet, setzt sie sich zur Linderung in die Sonne. Asarjas Lächeln war wie die Sonne auf einer schmerzenden Stelle in meinem Herzen. Auf einmal erschien alles möglich, so dass ich, als ich mit meinem Ansinnen auf ihn zutrat, daher nicht (wie es sonst meine Art gewesen wäre) dachte: Er wird bestimmt nicht mitkommen. Ich fragte: »Könntest du mich vielleicht nach Medien führen?«, und er antwortete einfach: »Ja.« Und da war noch etwas: Er hatte einen Hund bei sich. In unserem Volk werden Hunde verachtet. Ein Hund kehrt zurück zu dem, was er erbrochen hat, pflegte meine Mutter zu sagen, wenn jemand, den sie verwerflich fand, verstockt an seinem üblen Lebenswandel festhielt. Doch bei dem Hund von Asarja war es von Anfang an anders. Zum einen hatte er ein geflecktes Fell, ganz anders als die verwilderten, sandfarbenen Köter, die am Rande von Ninive in Rudeln herumstreunten. Das Fell dieses Hundes war glatt und scheckig, wie wenn die Sonne durch belaubte Zweige fällt. Noch eigentümlicher war, dass er zwei Punkte über den Augen hatte, so dass er aussah, als hätte er vier Augen. »Na, Vierauge«, sprach ich ihn unwillkürlich freundlich an und tätschelte seine Flanke. Und er schien mich auf Hundeart zu verstehen, denn er machte sogleich Miene, mit mir zu gehen, und Asarja schien ihm diese Treulosigkeit nicht im Geringsten übel zu nehmen. Es zeigte sich bald, dass es nicht in Asarjas Wesen lag, Dinge übel zu nehmen. Als ich mit ihm und Kisch zu Hause ankam, gab es zunächst weitschweifige Erkundigungen nach Asarjas Herkunft. (Ich glaube, mein Vater hatte das Gefühl, die 139
Selbstverständlichkeit, mit der er Kisch akzeptierte, ausgleichen zu müssen, wobei es bemerkenswert war, wie genau Kisch zu spüren schien, aus welcher Richtung ihm Abneigung entgegenschlagen könnte, denn sobald er unsern Hof betrat, steuerte er den Ruheplatz meines Vaters an der Mauer an und legte ihm seine lange Schnauze in die Hand.) Vater fragte, welchem Stamm Asarja angehörte. Dazu muss man wissen, dass durch die Versprengung unseres Volkes die Stammeszugehörigkeit große Bedeutung gewonnen hat, vor allem für meinen Vater. Doch Asarja lächelte abermals, so wie er mich auf dem Markt angelächelt hatte, und obwohl mein Vater das Lächeln natürlich nicht sehen konnte, war es, als ob seine Bedenken dadurch zerstreut würden wie Spreu im Wind. »Nun, suchst du einen Stamm oder schlicht einen Mann, der gegen Lohn mit deinem Sohn zieht?«, fragte Asarja. (Und obwohl sein Ton ehrerbietig war, stellte die Frage unüberhörbar einen humorvollen Seitenhieb auf meinen Vater dar.) Dann ließ er sich erweichen und gab den Namen seines Vaters preis. Da verzichtete mein Vater zum ersten Mal, seit ich mich erinnern konnte, auf seinen hochtrabenden Ton. »Ich kenne Hananja!«, rief er aus. »Wir haben vor langer Zeit zusammen im Tempel geopfert.« Dabei wurden seine Augen feucht, und ich befürchtete schon, er werde zu weinen anfangen. (Ich spitzte auch die Ohren, denn bisher war nie die Rede davon gewesen, dass noch jemand mit ihm zum Tempel des Herrn gepilgert war; in seinen früheren Schilderungen hatte es immer so geklungen, als hätte er die Wallfahrten allein unternommen.) Am misstrauischsten verhielt sich meine Mutter. Aus irgendeinem Grund erregte Asarja ihr Missfallen, aber sie achtete meinen Vater zu sehr, um sich offen gegen ihn zu stellen. Ich hörte, wie sie vor sich hinmurmelte, während 140
sie unseren Reiseproviant packte: Ochsenblutwurst, in Lorbeerblätter gewickelten weißen Schafskäse und mit Wasser gefüllte Ziegenhäute. »Dieser Kerl, für wen hält der sich eigentlich? Meint wohl, er wäre was Besseres als wir!« Als es aber ans Abschiednehmen ging, war es nicht meine Mutter, die als Erste weinte, sondern mein Vater. Die Tränen liefen ihm aus den blinden Augen, und er klammerte sich an den Ärmel von Asarjas weitem Gewand (das ich ihn übrigens niemals ablegen sah, als ob er darunter etwas verbergen wollte). Asarja stand einfach da und ließ milde seinen Blick auf dem Mann ruhen, der wie ein Kind an seinem Ärmel hing, und da kam mir ein flüchtiger Gedanke: Seit Vaters Vertreibung aus der Heimat ist dies der erste Mann, von dem er sich helfen lässt (abgesehen von meinem Vetter, der dies tat, damit kein Makel seinen Namen befleckte). Bei dem Gedanken fing auch ich zu weinen an, was wiederum meine Mutter ansteckte, und schließlich jammerten wir alle drei wie Ziegen, die zur Schlachtbank geführt werden.
Veras Brief war ein Schock. Letzte Woche ist Ted plötzlich gestorben. Es hat uns alle schrecklich mitgenommen. Keine Blumen (das versteht sich von selbst!), aber eine Spendensammlung für Krebs. Ich habe in deinem Namen einen Betrag überwiesen. Du hast hoffentlich nichts dagegen. Julia betrachtete die Vase mit Ringelblumen, die sie zusammen mit der Post auf dem Teetablett auf den Balkon hinausgetragen hatte. Der Kauf der Blumen war eine 141
Geste des Trotzes wider das verwelkte Andenken an Carlo gewesen, das sie immer noch in der Schublade neben ihrem Bett verwahrte. Sie hatte sich noch nicht dazu bringen können, es in den Müll zu werfen. »Das versteht sich von selbst« – von wegen! Und sie hatte durchaus etwas dagegen. Sie war sich nämlich alles andere als sicher, dass sie sich an einer »Spendensammlung für Krebs« zu beteiligen wünschte, bei der es sich, wenn man sich an Veras Wortlaut hielt, ebenso gut um einen Fonds zur Förderung der Krankheit handeln konnte. Julias Vater war an Krebs gestorben. Wer vermochte zu sagen, ob Krebs nicht bisweilen ein notwendiges Ende darstellte? Und überhaupt, was bildete sich Vera ein, im Namen einer anderen zu spenden? Hätte sie, Julia, Teds auf diese Weise gedenken wollen, wäre der Sammlung nichts entgangen, wenn man auf eine Überweisung aus ihrer eigenen Tasche gewartet hätte. Veras Großzügigkeit hatte etwas unangenehm Kontrollierendes. Sie schob den Brief als Lesezeichen in ihr Notizbuch und ließ ihre Gedanken zu Ted wandern. Ein rotgesichtiger Mann von scharfem Verstand, der eigentlich dazu berufen gewesen wäre, an der London School of Economics Politik zu lehren. Stattdessen hatte er sein Arbeitsleben damit zugebracht, auf der Seite der Gewerkschaften und der KP zu kämpfen. Julia fragte sich, wo er jetzt sein mochte, denn sie war nicht mehr so sicher, dass das komplexe Beziehungsgefüge, aus dem der Mensch besteht, mit dem Leben erlischt und zu Nichts wird. Sie wünschte, sie wäre da gewesen, um sich der Verfügung gegen die Blumen zu widersetzen. Es war doch möglich, dass Ted sich über Blumen gefreut hätte. Er war ein Mann gewesen, der auf Farben ansprach (hatte er ihr nicht einmal ein Kompliment gemacht, als sie sich von Harriet
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für eine Demo einen roten Schal geliehen hatte?). Vielleicht würden die Ringelblumen passen? Als sie den Brief noch einmal in die Hand nahm, sah sie, dass sie ein b.w. übersehen hatte. Sie drehte das Blatt um und las: »P.S. Angeregt von deinem Beispiel komme ich über die Feiertage Anfang Mai nach Venedig. Mit einer WEA-Gruppe.« Julia Garnet war Zorn nicht fremd – sie war sich bewusst, dass er in ihrem Umgang mit dem Vater kurz vor seinem Tod eine zu bedeutende Rolle gespielt hatte –, aber sie war es nicht gewohnt, so unvermittelt von Wut überfallen zu werden. Wie konnte Vera es wagen! Wie konnte sie es wagen, ihr nachzureisen, oder besser, sie nachzuäffen (denn ohne sie wäre Vera niemals auf die Idee gekommen, nach Venedig zu fahren), und das, wo sie so wenig Gespür für den Ort mitbrachte. Julia hatte nicht vergessen, dass auch sie einst von beschränkter Wahrnehmungsfähigkeit gewesen war. Doch dass sich in Vera in derselben Umgebung ein ähnlicher Wandel vollziehen könnte wie bei ihr, kam ihr nicht in den Sinn, und selbst wenn sie die Möglichkeit erwogen hätte, hätte dies keine Beruhigung dargestellt. Die Vorstellung, dass Vera an ihren venezianischen Erfahrungen teilhatte, erfüllte sie mit Entsetzen. Sie starrte auf das P.S. als könnte sie diesen Stein des Anstoßes durch stirnrunzelnde Konzentration in Nichts auflösen. Einen gewissen Trost bezog sie aus der Tatsache, dass es sich um eine Reise der Workers’ Educational Association handelte. Das bedeutete wenigstens, dass Vera Teil einer Gruppe sein würde und sich einigermaßen an deren Zeitplan halten müsste. Und zum Glück würde ihr Aufenthalt kurz sein. Doch wie in Gottes Namen sollte sie Veras permanente Vernunftsäußerungen ertragen?
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Harriet, die in den ersten beiden Klassen der Grundschule unterrichtet hatte, hatte einmal gemeint, »ihre Kinder« seien offenbar am wenigsten tolerant gegenüber der Stufe, der sie soeben entwachsen seien. Mädchen, die gerade erst lesen gelernt hätten, bezeichneten diejenigen, die noch unbeholfen mit den Buchstaben kämpften, verächtlich als Babys. »Vermutlich sind wir auch nicht besser«, hatte Harriet in ihrer typischen Art gemeint, und Julia, die Genugtuung an ihrer eigenen Gleichgültigkeit gegenüber Dingen wie »kindlicher Entwicklung« fand, hatte mit einem abschätzigen Schnaufen geantwortet. Wäre Harriet jetzt zugegen gewesen, hätte sie ihrerseits möglicherweise mit Freude gesehen, dass die Aussicht auf Veras Atheismus, ein ehemals so tragendes Element der Beziehung zwischen ihnen, sowie die Grundlage ihrer gelegentlichen Reisen in billige osteuropäische Urlaubsorte, Julia Garnet mittlerweile mit so etwas wie Grauen erfüllte. Wie war der angekündigte Überfall nur abzuwenden? Sie vermutete, dass die von Vera erwähnten Feiertage am ersten Maiwochenende lagen. Am Anfang des letzten Drittels ihres Aufenthalts in Signora Mignellis Wohnung. Was sie tun sollte, wenn der Juni zu Ende ging, war eine Frage, die Julia bisher vor sich hergeschoben hatte. Sie wusste, dass die Mietkosten mit dem Beginn der Hochsaison ins Unermessliche stiegen. Signora Mignelli hatte mehrmals angedeutet, wie viel Julia dadurch sparte, dass sie einen Vertrag über sechs Monate abgeschlossen hatte. Und jetzt kündigte sich Vera an und zwang sie mit ihrem penetranten Sinn für Vernunft schon vor der Zeit, über die Zukunft nachzudenken. Sie fragte sich, ob sie es wagen sollte, in der Zeit von Veras geplantem Besuch zu verreisen und zu behaupten, sie hätte die Fahrt – sagen wir, in 144
die Berge – schon seit langem gebucht. Doch sie hatte keine Gewähr, dass Vera ihr nicht nachreisen würde! (Denn Julia war sicher, dass die Fahrt mit der WEA lediglich als Deckmäntelchen für Veras Neugier diente.) Und außerdem, dachte sie, indem sie die Idee verwarf, will ich mich um keine einzige Minute der mir verbleibenden Zeit hier bringen. »Ich will mich um keine Minute bringen«, wiederholte sie noch einmal laut und heftig in Richtung der Ringelblumen. Die Post hatte ihr zwei weitere Sendungen gebracht: einen Brief von ihrem Makler und eine Postkarte aus Vermont, von den Cutforths. Schade, dass wir uns vor unserer Abfahrt nicht mehr gesehen haben. Aber hier zumindest die Nachricht, dass wir Ende Mai wieder in Venedig sein werden. Wir sind Ihrem Beispiel gefolgt und haben uns für den Sommer noch mal ein Apartment genommen. Wir hoffen sehr, Sie dann zu sehen – Cynthia und Charles Die Cutforths auch! Sie war zu einer Art Trendsetterin geworden. Diese Vorstellung amüsierte sie und nahm Veras Ankündigung ein wenig von ihrem Stachel. Julia freute sich darauf, Cynthia und Charles wiederzusehen. Sie seien während ihrer Krankheit vorbeigekommen, hatte Signora Mignelli erzählt, aber sie habe sie nicht hereingelassen. Bald darauf waren ein Korb mit Obst und ein Blumenstrauß eingetroffen. Die Blumen hatten zunächst Pein ausgelöst, da Julia geglaubt hatte, sie seien von Carlo. Sie waren exakt im Stil seiner herrlichen Sträuße, wunderschöne langstielige hellrosa Lilien zu prächtigen weißen Rosen. Als sie gemerkt hatte, dass sie den Namen falsch entziffert hatte, hatte sie den mit einer Schleife gebundenen Strauß weit von sich gestoßen und eine Allergie gegen 145
den Duft der Lilien erfunden. Signora Mignelli hatte die Blumen schließlich mit in die eigene Wohnung genommen. Und, so erinnerte sich Julia jetzt beschämt, sie hatte auch nie ins Gritti geschrieben, um sich bei den Cutforths zu bedanken. Sie schlug das blau marmorierte Notizbuch auf, das sie mit der Post auf den Balkon gebracht hatte, und schrieb: »Kränkung macht egozentrisch.« Diese Einsicht stimmte sie Vera gegenüber nachsichtiger. Vielleicht war Vera einsam? Wahrscheinlich hatte sie nur wenige Freunde und nahm sich den Verlust jedes einzelnen sehr zu Herzen. Und vielleicht konnte sie aus Veras Besuch sogar einen Nutzen ziehen. Es gab ein paar Dinge, die sie haben wollte: vor allem ein Buch über die Apokryphen. Vera würde die Gelegenheit begrüßen, für sie eine Mühe auf sich zu nehmen. Es war ein strahlender Apriltag, der Himmel war von dem übertriebenen Blau eines Tiepolo-Deckengemäldes, und das Gemäuer der Chiesa dell’Angelo Raffaele leuchtete korallenfarben in der späten Vormittagssonne. Über den Campo nahte eine zierliche, knabenhafte Gestalt, und Julia rief: »Sarah! Sarah! Hallo!« »Darf ich raufkommen?« Doch ehe Julia antworten konnte, war das Mädchen schon oben. »Was ist los?«, fragte Julia, denn Sarah wirkte aufgeregt. Ihre langen blonden Haare hatten sich teilweise aus dem Pferdeschwanz gelöst, und sie strich die Strähnen nervös mit den Fingern zurück. »Julia, oh, mein Gott, Julia!« »Was ist los? Ist was mit Toby?« Hatte die treulose Freundin ihm wieder etwas angetan? »Er ist weg!« »Aber wohin, Sarah? Kommt er nicht wieder?« Die Melodramatik erschien ihr ein bisschen übertrieben. 146
»Es ist das Tafelbild. Er hat das Tafelbild mitgenommen, glaube ich. Es ist auch weg! Ach, Julia, Julia.« Sarah brach in lautes Schluchzen aus. »Sarah, beruhigen Sie sich!« Julia schenkte einen Brandy ein und brachte ihn auf den Balkon. Zu ihrer Sorge sah sie, dass sich unten eine Kinderschar versammelte, die wissen wollte, woher der Lärm rührte. »Sollen wir nicht lieber hineingehen?« Sarah ließ sich von ihr ins Wohnzimmer führen. »So. Hier sind wir mehr unter uns. Jetzt erzählen Sie.« Auf dem Sofa sitzend und zwischendurch immer wieder weinend, erklärte Sarah, sie habe am Tag zuvor beim Aufwachen gemerkt, dass Toby nicht da war. Julia, die noch nie darüber nachgedacht hatte, wie die Zwillinge wohnten, stellte fest, dass ihr Interesse geweckt wurde. Sie wusste nicht einmal, in welchem Teil von Venedig sie untergekommen waren. »Er war nicht da, aber das ist nichts Ungewöhnliches. Er schläft oft in der Kapelle.« Julia nickte. Bei den Fledermäusen. Ein Bild des Jungen, die langen blonden Wimpern wie Fransen an einem Vorhang, stieg vor ihrem inneren Auge auf. »Und da ist er auch nicht?« Sarah erzählte ihr, sie sei in die Kapelle gegangen, und als sie ihn dort nicht gefunden habe, sei sie zunächst davon ausgegangen, dass er eine Besorgung machte oder einfach eine Runde drehte. Mit wachsender Sorge habe sie bis zum Abend gearbeitet und sei dann in die Wohnung zurückgekehrt, in der Hoffnung, ihn dort zu finden. »Und das Bild?« »Ich habe erst heute Morgen gemerkt, dass es verschwunden ist. Erst als ich gesehen hatte, dass er sein Werkzeug mitgenommen hat. Da ist mir auch aufgefallen, dass das Tafelbild weg ist.« »Ich hatte mich schon gefragt, ob es sicher genug ist.« 147
Julia hatte sich wirklich Gedanken darüber gemacht, wie sorglos das Bild in der feuchten Kapelle gelagert wurde, durch nichts als die graue Decke geschützt. »Es ist immer einer von uns da – oder die Kapelle ist abgeschlossen. Wir sind die Einzigen, die rein können.« Sie schlug sich an die Stirn. »Scheiße! (Verzeihung, Julia.) Ich mache mir Vorwürfe. Ich hätte darauf kommen müssen, dass irgendwas passieren würde. Er war so komisch in letzter Zeit!« Julia sah Toby vor sich, wie er sie an dem Tag, als er ihr den Engel gezeigt hatte, mit seinen blassblauen Augen unverwandt angeschaut hatte. »Vielleicht ist er nach England abgereist. Und hat den Engel mitgenommen. Könnte er losgefahren sein, um eine Expertenmeinung einzuholen?« Der Junge machte ihr nicht den Eindruck, als könnte er ein Dieb sein. Aber wie sollte sie das beurteilen? Sie hatte irrtümlich die Gefühle, die ein Päderast einem kleinen Jungen gegenüber hegte, auf sich bezogen. »Daran habe ich auch gedacht. Ich habe ihm Nachrichten auf dem Handy hinterlassen, aber er ruft nicht zurück. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich sollte es irgendwie melden, doch dann erfährt es gleich die Polizei.« »Aber Sie sagen doch, nur Sie beide können in die Kapelle. Gibt es irgendwelche Hinweise auf einen Einbruch?« Instinktiv verwarf Julia den Gedanken, die Polizei einzuschalten. Sarah schüttelte den Kopf; sie hatte ihr »Armes-kleinesMädchen-Gesicht« aufgesetzt, so dass Julia gegen aufkeimenden Ärger ankämpfen musste. »Wo wohnt das Mädchen? Können Sie sie telefonisch erreichen?«
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Doch Sarah kannte die Nummer von Tobys abweisender Freundin nicht. Sie saß auf Signora Mignellis Sofa und hielt das Brandyglas in beiden Händen. Julia sagte so sanft wie möglich: »Ich würde die Polizei nicht hinzuziehen, wissen Sie. Nicht bei einer Familienangelegenheit. Ich würde noch eine Zeit lang abwarten. Sie können immer behaupten, Sie hätten nicht gemerkt, dass das Bild weg ist.« »Ach, außer Ihnen weiß sowieso keiner von dem Bild.« Sarahs Stimme wurde munterer. »Ich bin die Einzige? Das kann doch nicht sein!« Julia verspürte plötzlich schreckliche Angst um die kostbare Tafel mit dem blau geflügelten Engel. Die Postkarte von den Cutforths hatte sie an die Geschichte mit dem verschwundenen Bellini erinnert. »Wir haben es erst an dem Tag gefunden, als Sie vorbeigekommen sind. Es ist nicht in den Listen mit den Sachen aufgeführt, die damals vor dem Beginn der Restaurierungsarbeiten ausgelagert wurden. Ich hab nachgesehen.« Julia, die sich fragte, ob Carlo von der Tafel wusste – schließlich war er in der Kapelle gewesen –, sagte laut: »Ich kann nicht glauben, dass ich die Einzige bin, die von dem Bild weiß. Doch wenn es so ist, dann besteht gewiss kein Bedarf, die Polizei zu informieren, zumindest bis Sie eine genauere Vorstellung davon haben, was los ist.« Sie konnte sich nicht überwinden, Sarah zu fragen, ob sie Carlo gegenüber etwas von dem Tafelbild erwähnt hatte. »Liebe Vera,« schrieb Julia, »darf ich dich vielleicht bitten, mir ein Buch mitzubringen, das ich brauche?« Sie strich das »brauche« aus und schrieb stattdessen »gern hätte«. »Es ist vergriffen, aber ich habe mit der London Library telefoniert, und wenn du Zeit hättest, es dort abzuholen, würde ich hinschreiben, um es reservieren zu 149
lassen. Eine Vollmacht für dich füge ich bei. Die wirst du brauchen, denke ich, sie nehmen es mittlerweile ziemlich genau.« Julia las das Geschriebene noch einmal durch und fügte hinzu: »Ich freue mich sehr darauf, dich zu sehen und alles aufzuholen.« Dieser letzte Satz floss ihr nicht leicht aus der Feder. Sie zögerte und fragte sich, ob sie das »sehr« streichen sollte. Aber es war nicht wirklich gelogen. Sie hatte Vera gern. Da sie partout nicht wusste, was sie sonst noch hätte schreiben können, schloss sie unvermittelt mit den Worten: »Liebe Grüße, Julia.« Da, jetzt hatte sie zumindest das Wörtchen »Liebe« über sich gebracht, auch wenn es vermutlich nicht ganz aufrichtig gemeint war. Aber wann ist Liebe jemals vollkommen aufrichtig?, grübelte sie, während sie Tomaten für das Abendessen dünstete. War es Liebe, die den jungen Toby von seiner Schwester und aus der fledermausbewohnten Kapelle an ein unbekanntes Ziel vertrieben hatte? Und hatte er zur Begleitung den Engel mit den langen Füßen mitgenommen? Beide waren spurlos verschwunden. Liebte Toby seine Freundin, und hatte diese Liebe ihn womöglich um den Verstand gebracht? Wie es bei ihr selbst gewiss der Fall gewesen war. Und hatte sie, fragte sie sich – als sie Basilikum hackte und in die Sauce gab, die sie (nach einem Rezept von Signora Mignelli) vorher mit einem Schuss Essig und einer Prise Zucker gewürzt hatte –, hatte sie es diesem Tatbestand zu verdanken, dass ihr neulich, als sie beim Verlassen der Kapelle in die Sonne hinaustrat, jenes wundersame, aufrüttelnde Erlebnis beschert worden war? Die Erscheinung selbst, dessen war sie sich vollkommen sicher, war keine Frucht des Wahnsinns. Aber vielleicht hatte es einer gewissen Form von Wahnsinn bedurft, um ihre Wahrnehmung aufzurütteln.
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Und Licht hereinzulassen, sinnierte sie, während sie die leuchtend rote, dampfende Tomatensauce über verschlungene grüne Pastabänder goss.
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2 Ich fragte Asarja niemals, wie er an Kisch gekommen war. Die erste Etappe unserer Reise führte uns am Ostufer des Tigris entlang, des großen graugrünen Stromes, der aus den fernen Bergen im Norden kommend an Ninive vorbeifließt und von dort weiter zum noch ferneren Meer, über das die Kaufleute kommen, die die Stofffarben bringen. (Als meine Mutter sich noch edle Stoffe leisten konnte, liebte sie diese Farben.) Kisch lief gern voraus und stöberte Wasserratten auf, doch wenn Asarja beschloss, dass es Zeit zum Übernachten war, wartete Kisch stets hechelnd hinter der nächsten Biegung auf uns. Somit war er es häufig, der den Ort aussuchte, an dem wir Halt machten. Die beiden waren gut aufeinander eingestimmt, Asarja und Kisch. In der ersten Nacht schlugen wir das Zelt auf, und Asarja guckte sich meine Füße an, die geschwollen waren, und meinte, ich solle zum Fluss gehen, um sie zu baden (ich war lange Fußmärsche nicht gewöhnt und kam bei seiner schnellen Gangart nur mühsam mit). Am Ufer wuchs Schilf, doch das Wasser war klar, und als ich gerade hineinsteigen wollte, wallte es auf, und etwas packte mich am Fuß. Was es auch war, es hatte scharfe Zähne und zerrte mich unter Wasser, bevor ich auch nur einen Schrei ausstoßen konnte. Verzweifelt suchte ich Atem zu holen und war wohl einer Ohnmacht nahe, denn plötzlich erstrahlte ein helles Licht in meinem Kopf, und ich dachte halb, halb fühlte ich: »Ich darf nicht sterben!« Wild um mich schlagend, kam ich an die Oberfläche, und Asarja war zur Stelle und zog mich ans Ufer, neben ihm der kläffende Kisch. Eine Weile lag ich nur da und 152
keuchte. Als ich aufstand, sah Asarja mich mit einem breiten Grinsen an, und ich kam mir wie ein Idiot vor. »Was gibt’s da zu grinsen?«, fragte ich unwirsch. Er streckte die Hand aus und sagte: »Du hast uns etwas zum Abendessen gefangen, wie ich sehe.« Zu meinen Füßen lag der größte Fisch, der mir je untergekommen war. Wir brieten den Fisch über dem Feuer, das wir angezündet hatten, um die wilden Hunde fern zu halten, und verzehrten ihn. Ich sage »wir«, aber eigentlich sah ich Asarja niemals essen; trotz seiner Stärke war es, als lebte er vom Wüstenwind. Den Rest des Fisches salzte Asarja ein. (Ich glaube, wenn meine Mutter gesehen hätte, wie gut er sich darauf verstand, hätte ihr Misstrauen nachgelassen.) Dann machte Asarja etwas Merkwürdiges: Er warf die Innereien des Fisches nicht einfach weg, sondern legte Leber, Herz und Galle beiseite. Die müssten wir aufheben, erklärte er mir, sie seien Arznei, hervorragende Heilmittel, und damit schlug er sie in Blätter ein und hieß mich sie in den Lederbeutel stecken, den ich am Gürtel trug. Obwohl er ein bezahlter Dienstmann war und ich der Herr, gehorchte ich ihm. Irgendwie brachte er es fertig, dass man tat, was er sagte. Aber bevor ich einschlief, Kisch an meiner Seite, Asarja schweigend Wache haltend, ging mir noch die Frage durch den Kopf, wer er eigentlich war und warum er diese Reise mit mir unternahm.
Vera schrieb zurück: »Das mit der London Library ist kein Problem, du brauchst ihnen nicht zu schreiben – ich habe dort angerufen, und sie reservieren mir das Buch.« (Julia stieß einen ärgerlichen Seufzer aus.) »Wir werden im Hotel Bellini wohnen. Ich freue mich, das Zimmer mit meiner Freundin Peggy teilen zu können, die letzten Juni 153
ihren Mann verloren hat – ich glaube nicht, dass es mir angenehm gewesen wäre, es mit jemand Fremdem zu teilen!« Signora Mignelli hatte Neuigkeiten vom Krieg des Fischhändlers – »Er legt Fisch vor Priesterhaus. Große Fisch, große Gestank!« Die Signora hielt sich die Nase zu. »Dann …«, sie musste lachen, »er sagt, Priester geht mit Prostituierte! Wegen Gestank!« Erneutes Lachen. Sie beschrieb Julia, wo das Hotel Bellini lag: in der Nähe der Strada Nuova, nicht weit von der Kneipe der Gondolieri. Julia, die mitbekommen hatte, dass der Fisch irgendwie eine obszöne Anspielung war, fühlte sich geschmeichelt, bei solchen Anstößigkeiten mit einbezogen zu werden. Sie amüsierte sich, während die Signora weiterplapperte – über den Sohn einer Cousine, der die Familie schockiert hatte, indem er seine Verlobte für einen Mann verließ, aber mittlerweile ein erfolgreiches Schuhgeschäft auf der Strada besaß –, indem sie sich Veras Reaktion auf das Gespräch vorstellte. Vera, so war sie sicher, hätte die Signora mit der ganzen Herablassung ihrer demokratischen »Prinzipien« behandelt. Wie sie selbst zweifelsohne einst auch. Wie viel Zeit schien vergangen, seit sie die Wohnung zuerst betreten hatte, nachdem Nicco und seine Freunde ihr den Koffer getragen hatten. Damals hatte sie rosa Anemonen in einer blauen Vase vorgefunden. Die Erinnerung an die Blumen brachte sie auf die Lilien der Cutforths. Die beiden waren nett zu ihr gewesen. In dem Zusammenhang fiel ihr ein, dass sie nie losgezogen war, um sich Charles’ Kamel anzusehen. Das war eine Sehenswürdigkeit, zu der sie sich mit Vera aufmachen konnte; sie überlegte ohnehin die ganze Zeit, wie sie Vera von den Orten in Venedig fern halten konnte, die für sie mit – na ja, mit dem assoziiert waren, was sie auf keinen 154
Fall einer Dosis von Veras Vernunft auszusetzen gedachte, weil sie das nicht ertragen würde. »Peggy hat sich hingelegt. Sie ist seit Bobs Tod oft müde.« Vera besaß, so konnte Julia nicht umhin zu bemerken, ein Geschick dafür, Fürsorge mit einem Beigeschmack von Missbilligung zu versehen. »Ist er schon lange tot?« Trotz ihres Vorsatzes, das Beste aus dem Besuch zu machen, war Julia am Rande der Verzweiflung. Das Gespräch erlahmte bereits, und Vera war erst zehn Minuten in der Wohnung. »Seit letztem Juni. Das hatte ich dir geschrieben.« Vera trug ihre Missbilligung nun offen zur Schau. »Es kam ganz plötzlich. Schlaganfall.« Sie hatte Furchen auf der Stirn, an die sich Julia nicht erinnerte. »Ach ja«, sagte Julia schwach. Sie hatte Peggy kennen gelernt und fragte sich, ob ihr Mann vielleicht gestorben war, um dem ständigen Geplapper seiner Frau zu entkommen. Vera wühlte in ihrer Tasche und holte einen dicken Wälzer hervor. »Dein Buch«, sagte sie. »Ich muss sagen, es hat ein ziemliches Gewicht.« »Vera, das hast du doch nicht etwa hergeschleppt? Ich hatte keine Ahnung …!« Ihr schlechtes Gewissen verdrängte die Spekulation über den verstorbenen Bob. Das Buch, um das sie Vera gebeten hatte, musste gute drei Kilo wiegen. Zu ihrer Überraschung brach Vera in schallendes Gelächter aus. »Es ist seit 1952 nicht mehr ausgeliehen worden. Ich habe ihnen gesagt, du wärst ein bisschen abgedreht.« Endlich klang sie einmal fast heiter.
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»Und was haben ›sie‹ darauf gesagt?« Julia hörte nicht richtig zu. Sie hatte das Buch aufgeschlagen und blätterte nun zu dem Abschnitt über Tobit. Begierig stürzte sich ihr Blick auf verführerische Worte und Begriffe: Magier – Todesrituale – Verwandtenehe. Wenn Vera doch nur bald ginge und sie lesen ließe. Doch wie undankbar von ihr, nachdem ihre Freundin sich solche Mühe gemacht hatte! Widerstrebend legte sie das Buch beiseite und sagte in einem Ton, von dem sie hoffte, dass er munter klang: »Und jetzt zum Essen. Wohin darf ich dich einladen?« »Gleich hier in der Nähe ist Tintorettos Hauskirche. Hättest du Lust, sie dir anzusehen?« Sie hatten unweit des Fondamenta Nuove zu Mittag gegessen, mit Blick über das Wasser auf die Wolken, hinter denen sich unsichtbar die Dolomiten verbargen. Die Mahlzeit war kein Erfolg gewesen. Vera hatte sich mit dem Kellner über den Preis einer Limonade gezankt. »Ist doch egal«, hatte Julia gesagt, »mach dir doch bitte keine Gedanken. Ich zahle.« Doch Vera hatte gemeint, es gehe ums Prinzip, und Julia schmerzlich an ihre eigene Vergangenheit erinnert. Sie hatte angesetzt, leichthin zu sagen: »Prinzipien helfen nicht immer weiter …«, aber dann war ihr die Luft ausgegangen. Warum sollte sie versuchen, an Veras Grundsätzen zu rütteln? Wer konnte schon sagen, was sie alles zusammenhielten. Hinterher hatten sie sich auf die Suche nach Charles Cutforths Kamel begeben. Die Unternehmung erwies sich als glücklicher. Vera fand Freude an der Geschichte, weil sie damit etwas hatte, was sie Peggy und den anderen Studienreisenden erzählen konnte. »Meine Freundin kennt einen Historiker von der Princeton Universität«, würde sie vermutlich erklären, dachte Julia, und dabei einen prahlerischen Ton anschlagen. Das war historischer Materia156
lismus nach ihrem Geschmack! Das Porträt eines levantinischen Kamels bot das rechte Maß an Gelehrsamkeit und politischer Korrektheit. Und Tintoretto – der Färberbube – war als Maler berühmt genug, um einen Besuch seiner Kirche zu rechtfertigen. »Ich wüsste nicht, was dagegen spräche«, sagte Vera, als Julia vorschlug, die Kirche zu besichtigen, und wieder einmal musste Julia ihren Ärger hinunterschlucken. Warum musste sich Vera dieser lächerlichen, umständlichen Ausdrucksweise bedienen? Die Kirche lag in einem abgeschiedenen Hof. Sie wirkte wie von Schatten gezeichnet, die hohe Backsteinfassade von einem zwiebelförmigen Glockenturm überragt. Die beiden Frauen warteten draußen, während die Glocken läuteten. Selbst Vera schien ein wenig eingeschüchtert von dem gebieterischen Frieden, der sie umfing. Drinnen über dem Hochaltar hing eine riesige Leinwand, von der es in Veras Führer hieß, Ruskin habe sie in den höchsten Tönen gelobt. Finstere, verknäuelte Leiber stürzten gen Hölle. Animiert las Vera in ihrem Führer weiter: »Seiner Frau war es zu gruselig«, verkündete sie voll Freude. »Es ist nämlich das ›Jüngste Gericht‹!« Julia verwarf den Impuls, Vera zu fragen, was ihrer Vorstellung nach bei einem »Jüngsten Gericht« ablaufe. Was hieß es, auf der Waage gewogen und für zu leicht befunden zu werden? Und waren es deine Taten oder deine Gedanken, die ins Gewicht fielen? Denn ihr Studium der Geschichte hatte sie, wenn sonst nichts, so doch gelehrt, dass Vorsätze fast nichts zählten, wenn es darum ging, etwas besser zu machen. War nicht der Weg zur Hölle mit ihnen gepflastert? Andererseits mussten gute Vorsätze auch irgendwie einen Wert haben, oder? »Hier steht, sie ist schreiend aus dem Zimmer gelaufen. Sie war Jungfrau, weißt du, seine Frau.« 157
Julia ging langsam weiter, um den Rest des Innenraums zu besichtigen. War Vera demnach keine Jungfrau? Dem überlegenen Ton nach zu urteilen, in dem sie sich über die unglückselige Mrs Ruskin geäußert hatte, vielleicht nicht. Sollte sie mit der Spitze etwa auch eine kleine Rache gegen Julia im Sinn gehabt haben? Sie stellte sich Vera nackt in einem Feld vor – oder auf einer Wiese am Hang? –, wo sie sich athletisch mit einem Genossen wälzte. In dem Fall wüsste Vera wenigstens, wie das war, Sex. Julia wandte sich von einem in hellen, lichten Farben gemalten Cima ab und hielt inne. An einem Altar auf der anderen Seite der Kirche erkannte sie wie einen Freund in unerwarteter Umgebung Signora Mignellis Bellini mit den Mandelaugen. Doch warum stand er nur auf einer Staffelei? Dann entdeckte sie den Grund. Es war nicht das Gemälde selbst, sondern eine Reproduktion, ein Druck des Originals, das, wie eine Tafel erklärte, die sie im Näherkommen las, gestohlen worden war. Ihr fiel wieder ein, dass die Cutforths davon gesprochen hatten, als sie im Gritti mit ihnen gegessen hatte. Wieder einmal dachte sie reuig an ihre erste Reaktion auf das Bild zurück. Wie traurig der Hinweis auf sein Verschwinden sie jetzt machte – ganz ähnlich Polizeiaufnahmen von vermissten Kindern. Sie musste an Toby denken, von dem es immer noch keine Nachricht gab. Doch jetzt stieß Vera, stimuliert durch ihre Begegnung mit der Verdammnis, wieder zu Julia, und es war dankenswerterweise Zeit für sie, zu ihrer Reisegruppe zurückzukehren. Anscheinend stand die Besichtigung des Dogenpalasts auf dem Plan. Julia, die noch nie einen Fuß ins Innere des Palazzo Ducale neben San Marco gesetzt hatte, hörte sich plötzlich lügen: »Oh, den musst du dir auf jeden Fall ansehen. Er ist fantastisch. Komm, ich bringe dich noch zum Vaporetto.« 158
Doch davon wollte Vera nichts wissen. »Nein, nein, das ist nicht nötig. Die Haltestelle finde ich ohne weiteres allein. Ich rufe dich morgen an, um dir unsere Pläne mitzuteilen.« Julia ging mit ihr hinaus in den Vorhof und sah ihr nach, wie sie durch die enge Gasse davonschwirrte. Ach, welch ein Segen, wieder allein zu sein! Mit dem Gefühl, sich jetzt weniger gehemmt in dem kühlen Kirchenschiff umsehen zu können, trat Julia wieder ein, um Tintorettos Grabmal zu inspizieren. Auf einem Schild neben dem Grabmal las sie, wie der Maler einst über die Ausführung eines Porträts in Rage geraten war. Der ausgebrochene Streit sei so heftig gewesen, hieß es, dass sich Tintoretto daraufhin in der Kirche habe verstecken müssen. Wie wunderbar, den Mut zu haben, seine Gefühle auszuleben! Aber der venezianische Adlige, auf den sich sein Zorn gerichtet hatte, war vermutlich auch mit einem dicken Fell gesegnet gewesen. Man konnte, wenn es um Vera ging, nicht einfach losschreien und mit Dingen werfen wie Tintoretto, auch wenn Julia durchaus danach gewesen wäre. Zur Rechten wurde eine Tür geöffnet, und ein Priester kam heraus; dort ging es also noch in einen anderen Teil der Kirche! Julia schob die schweren Türen auf und trat in eine Seitenkapelle. Hinter einigen Kerzenreihen erblickte sie eine Frauenfigur mit einem kräftigen Säugling auf dem ausladenden steinernen Schoß. Natürlich! Die Madonna dell’Orto, die einst in einem Garten der Umgebung gefunden worden war. Sarah hatte ihr davon erzählt. Julia trat näher an die breit gebaute Jungfrau heran, und in dem Moment sprang eine Gestalt, die zu Füßen der Statue gehockt hatte, hinter den brennenden Kerzen auf
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und verschwand, noch bevor Julia erkannte, um wen es sich handelte, durch die Tür, durch die sie gekommen war. »Sarah, wo liegt eigentlich Ihre Wohnung? Das habe ich schon längst einmal fragen wollen.« Julia hatte auf dem Rückweg von der Kirche Madonna dell’Orto in der Kapelle vorbeigeschaut und Sarah beim Packen ihrer Sachen vorgefunden. »Im Ghetto. Warum?« Das Ghetto, einst die jüdische Siedlung von Venedig, lag in der Nähe der Gegend, aus der Julia gerade gekommen war. »Dann war ich ja heute ganz in Ihrer Nähe.« Die frühe Abendsonne umspielte das Haar des Mädchens wie ein Heiligenschein. Mit ihrem androgynen Körperbau und Gesicht hätte man sie als »engelhaft« beschreiben können. Irgendetwas hielt Julia davon zurück, Sarah die Eröffnung zu machen, derentwegen sie eigentlich in die Kapelle gekommen war. Wenn es Toby gewesen war (und sie hegte im Grunde keinen Zweifel, dass es sich bei der Person, die sie vor der steinernen Madonna hatte beten sehen, um Sarahs Zwillingsbruder handelte), dann wollte er offenbar nicht, dass jemand von seiner Anwesenheit in Venedig wusste. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte Julia das Gefühl, sein offensichtliches Bedürfnis, unerkannt zu bleiben, respektieren zu müssen. »Sie müssen mich mal besuchen.« Sarah lächelte, und Julia verspürte flüchtig ein schlechtes Gewissen, dass sie ihre Vermutung hinsichtlich der Gestalt, die sie aus der Seitenkapelle hatte eilen sehen, nicht preisgegeben hatte. Sie war ihm so schnell und unauffällig sie konnte durch das Kirchenschiff nachgegangen. Doch als sie in den Vorhof hinaustrat, war er nirgends mehr zu sehen. Sie hatte noch eine Weile dagestanden, die Hand zum Schutz vor der Sonne über den Augen, und den Fondamenta nach 160
einer davoneilenden Gestalt abgesucht. Sie war fast hundertprozentig sicher, dass es Toby gewesen war, das sagte ihr etwas an der Art, wie er den Kopf gehalten hatte. Trotzdem verspürte sie, aus welchem Grund auch immer, keine Lust, diese Information weiterzugeben. »Wie nett. Sehr gern. Dann können Sie mir zur Abwechslung Tee machen!« »Wie war Ihre Freundin?« »Nervtötend.« Julia verkniff sich eine Grimasse. »Sie ist jetzt mit ihrer Reisegruppe im Dogenpalast. Aber ich habe sie in die Madonna dell’Orto geschleppt, damit sie sich das Jüngste Gericht ansieht, und das hat ihr gefallen!« »Ah ja. Der gruselige Tintoretto. Den mag Tobes auch.« Dann war er es in der Kirche wahrscheinlich wirklich gewesen. Es passte alles zu gut zusammen, als dass sie sich irren konnte. Und trotzdem mochte Julia Sarah irgendwie nicht verraten, dass ihr Bruder sich noch immer in Venedig aufhielt. Stattdessen sagte sie: »Da befindet er sich ja in guter Gesellschaft. Meiner Freundin zufolge muss Ruskin völlig hin und weg gewesen sein!« Zu Hause auf dem Balkon schrieb sie: »Der Tod zieht den Strich unter die Rechnung, d.h. die Summe des Lebens, wenn alles, was sein kann, gewesen ist. Das muss der Grund sein, warum dann das ›Gericht‹ stattfindet. Was ist die Summe meines Lebens?«
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3 Viele Meilen weit zogen wir durch die ausgedehnten Gerstenfelder am Tigris, Kisch immer vor uns her, und bogen schließlich an einem Nebenfluss, der durch die sanften Hügel floss, nach Osten ab. Das Tal war schmal, die Hügel karg, ganz anders als das fruchtbare grüne Land, das wir hinter uns ließen. Es war angenehm, Asarja an der Seite zu haben. Er erzählte mir unterwegs Geschichten, bei denen die Zeit schneller verging. Eine hieß zum Beispiel »Der dankbare Tote« und handelte von einem Mann, der einen Leichnam am Wege findet und ihn begräbt und dafür später durch die Dienste des Totengeistes zu Wohlstand gelangt, was mich an meinen Vater erinnerte. Ich war vorher noch nie von zu Hause fort gewesen, und wenn ich an meine Eltern dachte, überkam mich oft Heimweh. Doch davon verriet ich Asarja nichts. Nach einer Weile verließen wir den kleinen Fluss und stiegen in höheres Gelände. Dort auf den Hochebenen kamen wir an wandernden Nomaden vorbei, deren Kamele und Esel in langen Reihen dahinzogen. Manchmal hielten sie und boten uns Datteln an oder saure Eselsmilch, die sie mit Honig gesüßt tranken. Bei solchen Gelegenheiten überließ Asarja es mir, mit dem Anführer zu reden, und verhielt sich seiner untergeordneten Stellung gemäß. Einmal litt eines der Maultiere des Zuges an krampfartigen Anfällen, und ich erfuhr etwas später von einem der Treiber, dass Asarja ihm mit der Hand über den Rücken und die Flanken gestrichen hatte. Nach einer Weile habe das Tier das Maul zu einem langen »Iaaaah« aufgerissen und sich geheilt wieder aufgerappelt.
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Die meiste Zeit aber begegneten wir niemandem. Es herrschte eine eigenartige Stimmung, und oft, wenn wir viele Meilen schweigend gegangen waren, sah ich seltsame Erscheinungen. Ich weiß bis heute nicht, ob es Trugbilder waren, verursacht von der unbarmherzigen Sonne und der Einsamkeit. Einmal meinte ich einen brennenden Busch in der Ferne zu sehen. Zu dem Zeitpunkt war Asarja auf der Suche nach Wasser vorausgegangen. Als er zurückkehrte, die Ziegenhäute bis zum Rand gefüllt, konnte ich keine Spur des Feuers mehr erblicken und hatte somit keinen Zeugen für die Erscheinung. Ein andermal schwebte eine Wolke über uns, nicht größer als die Hand eines Mannes, und mir war eine Zeit lang, als verfolgte sie uns. Doch Asarja schien nichts Ungewöhnliches zu bemerken und marschierte mit seinen langen Schritten einfach weiter. Um nicht von ihm für krank erklärt und zu einer Rast gezwungen zu werden (wie vorher schon einmal geschehen, als ich Visionen von Wasser und Dattelpalmen gehabt hatte), behielt ich die Sache für mich. Einmal wachte ich in der Nacht von einem Traum auf, in dem Asarja mich verlassen hatte. Ich schrie auf, schrie, wie ich es getan hatte, wenn ich als Kind wach wurde und meine Mutter nirgends erblicken konnte, und als ich aufstand, um nachzuschauen, war Asarja fort, und nur Kisch bewachte das Feuer. Obwohl ich mich zu dem Zeitpunkt schämte, kann ich heute zugeben, dass mich eine tiefe Traurigkeit überkam, wie ich sie weder davor noch danach je gefühlt habe. Ich schrie erneut, diesmal aus echter Furcht, und so blitzschnell, wie ein Falke vom Himmel schießt, erschien Asarja aus der Dunkelheit und war wieder bei mir. In jener Nacht sang er mich mit süßen, hohen Tönen in den Schlaf. Ich hatte von dem Hirten gehört, dass Asarja dem kranken Maultier ein ähnliches 163
Lied vorgesungen hatte. Wie das Lied eines Vogels war es, doch einen solchen Vogel habe ich in diesem Erdenleben sonst niemals gehört.
»Es ist wirklich nicht nötig«, beharrte Vera. »Aber ich würde gern mitkommen«, sagte Julia und meinte es nicht einmal unaufrichtig. Sie stritten über Veras Abreise. Julia hatte vorgeschlagen, sie zum Abschied zum Flughafen Marco Polo zu begleiten. Jetzt, da ihre Freundin abfuhr, bereute sie ihre bisherige Unfreundlichkeit. Peggy sagte: »Es wäre eine Hilfe mit dem Gepäck«, so dass es Julia fast Leid tat, ihr Angebot gemacht zu haben. Andererseits freute sie sich auf die lange Fahrt über das Wasser, am Cimitero vorüber – der Friedhofsinsel, auf der die Knochen der toten Venezianer zehn Jahre ruhen durften, bevor sie in die Ossarien überführt wurden –, und weiter draußen an den kleinen Tauchervögeln vorbei, die auf den mit Tauen abgetrennten Strecken zum Flughafen im Wasser patrouillierten. Die WEA-Gesellschaft reiste mit dem Hotelboot. »Ich bin sicher, wir können dich mit reinquetschen«, hatte Peggy beteuert, doch Julia, die es vorzog, nicht »gequetscht« zu werden, nahm das Schiff der öffentlichen Transportlinie. Am Flughafen traf sie Vera und Peggy am Check-in, wo diese ihr Gepäck ungeduldig in der Schlange vor sich her schubsten. Sie fühlte sich überflüssig und machte sich auf den Weg, ihnen einen Kaffee zu holen. Am Stehcafé hatte sich ebenfalls eine Schlange gebildet. Julia verkürzte sich die Wartezeit damit, die Spiegelbilder der Vorübergehenden in den Schaufenstern der Läden 164
ringsum zu betrachten: ein Mann mit rasiertem Schädel und einem Zopf im Nacken, eine Frau mit grünen Haaren und hochhackigen Sandalen, ein Geschäftsmann mit einem Alukoffer und – Toby! Doch wo war er? Verwirrt verdrehte sie den Kopf, um zu sehen, wo er sich im Verhältnis zu dem Kahlköpfigen befand. Dort ging die grünhaarige Frau, und da, nicht weit voraus, ging Toby und entfernte sich von ihr. Julia verfolgte seine schwindende Gestalt durch die Halle. Er hatte ein schnelles Tempo angeschlagen, und während sie ihm fast im Laufschritt folgte, sah sie vor ihrem geistigen Auge den Rücken seiner Schwester, wie sie über den Campo Angelo Raffaele davoneilte. Toby war am andern Ende der Halle angekommen. Zu ihrem Entsetzen sah Julia das Schild Partenza, und dahinter legte Toby – sie war sich fast sicher – ein langes, flaches Paket auf das Band der Gepäckkontrolle. »Toby!«, rief sie verzweifelt, denn sie wollte ihn nicht verlieren. Und noch einmal: »Toby!« Aber ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren dünn, und er sah sich nicht einmal um. Zum zweiten Mal in zwei Tagen stand sie da und starrte bestürzt hinter der kleiner werdenden Gestalt des verschwundenen Zwillings her.
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4 Wenn du wanderst, hast du Zeit zum Nachdenken. Die Reise war anstrengend und wurde noch anstrengender, als wir in den Gebirgszug kamen, der Assyrien von Medien trennt. Doch mit jedem Tag Klettern erstarkte ich mehr, und das war vielleicht der Grund, warum auch eine neue Empfindung in mir erstarkte. Ich habe noch nicht von dem großen Gott Jahwe gesprochen, um dessentwillen mein Vater, zum Ärger meiner Mutter, loszog und unsere Toten bestattete. Mein Vater war streng: Als ich klein war, unterwies er mich in der Thora, den Büchern des Gesetzes, und erzählte mir, wie die Stämme sich gegen unsern Gott versündigt und den Stiergott Baal angebetet hatten und dass wir deswegen zur Strafe aus unserem Gelobten Land verschleppt worden waren, um unter dem Joch der Assyrer zu fronen. Ich hatte diese Vorstellung mit der Muttermilch eingesogen und bemitleidete andere Jungen, deren Familien das Land ihrer Väter vergessen hatten, wie mein Vater sagte, und die als gottlose Heiden aufwuchsen. Doch während ich mit Asarja und Kisch und den Kamelen, die wir für die Reise gekauft hatten, über die hohen Gebirgspässe stieg, verspürte ich eine neue Freiheit, ein weitwerden meiner Seele, so als ob sich mir fern von meinem Vater und seinem harten Gott die Gelegenheit eröffnete, jemand anders zu sein. Meine Mutter hatte mir öfter Geschichten von den Bergen um den See von Galiläa erzählt, wo sie aufgewachsen ist: Dort sei ein Licht, sagte sie, das auf dem Wasser tanze, und sie sprach von ihrer Großmutter Debora, welche die Gabe der Weissagung besessen und verkündet habe, eines Tages werde ein Mann auf diesem 166
Wasser gehen, woran man erkennen werde, dass er der Messias sei. Meine Mutter sprach auch von den grünen Höhen und verschwiegenen Hainen, den Heiligtümern der alten Landesgötter, die unser Volk heimlich aufgesucht hatte, um dort zu opfern. Die alten Götter waren vielleicht gütiger als unser Einziger, der (wie ich mich mit wachsender Entfernung von zu Hause zu denken traute) den Menschen ziemlich viel abverlangte. Mir war so oft eingeschärft worden, dass er ein eifersüchtiger Gott ist. Ich hatte den Eindruck, den Abfall von unserm Gott Jahwe vielleicht ein wenig zu verstehen: Er war ein strenger Zuchtmeister. Stellten andere Götter möglicherweise keine so hohen Ansprüche an die Gläubigen? Als mir diese Gedanken eines Tages wieder einmal durch den Kopf gingen, fragte ich: »Bist du gläubig, Asarja? Betest du?«, und wurde gleich darauf verlegen, denn der Gottesglaube eines Menschen ist allein seine Angelegenheit. Doch Asarja nahm mir schnell jede Verlegenheit. »Aber ja«, sagte er. »Anbetung ist mein Leben, könnte man sagen.« Das war dann doch zu rätselhaft für mich, schließlich war Asarja ein Dienstmann, der seine Arbeitskraft auf dem Markt verkaufte. »Wie das?«, fragte ich. Aber darauf gab er keine Antwort. Eines der Kamele machte gerade Schwierigkeiten, ein ziemlich störrisches Biest, und er redete ihm gut zu. Nach einer Weile sagte er: »Vielleicht wirst du dahinter kommen, wenn wir in Ekbatana sind.« Dann ließ er ein vogelähnliches Pfeifen hören, und das Kamel antwortete mit einem Niesen. Die Erwähnung von Ekbatana vertrieb alle Gedanken an Gott aus meinem Kopf. »Ekbatana? Wieso Ekbatana? Wir wollen doch nach Rages!«
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»Nein«, erwiderte Asarja, »nicht nach Rages. Nach Ekbatana.« Abermals pfiff er dem Kamel etwas vor. Jetzt war ich ernstlich besorgt. »Nein, nein, Asarja!«, rief ich. »Mein Vater will, dass wir so rasch wie möglich nach Rages ziehen, um seinen Wechsel einzulösen. Er wird die Tage bis zu unserer Rückkehr zählen. Wir müssen seinem Befehl gehorchen.« Das Kamel schien sich beruhigt zu haben und trottete mit seinen hohen Schritten folgsam neben Asarja einher. »Tobias«, sagte Asarja, und dabei fiel mir auf, dass er mich zum ersten Mal bei meinem Namen nannte, »wir werden jetzt nicht nach Rages gehen, sondern erst einmal in die Stadt Ekbatana, wo dein Verwandter Raguel wohnt.« Ich hatte noch nie von diesem Raguel gehört. »Hör zu«, sagte ich, »ich glaube, wir sollten zwischen uns etwas klarstellen. In Abwesenheit meines Vaters bin ich der Herr, und du bist der Diener. Also schlag dir das mit Ekbatana bitte aus dem Kopf! Wir gehen nach Rages, und damit basta!« Als ich klein war, hatte der König einen Verwalter, einen dicken alten Eunuchen, der mich ein wenig unter seine Fittiche nahm, wohl weil er selber niemals Kinder haben konnte. Er erzählte mir Geschichten von den kriegerischen Seevölkern und von schrecklichen Ungeheuern aus fernen Ländern. Eines dieser Scheusale konnte einen mit seinem Blick in Stein verwandeln. Asarja sah mich zwar nicht wie ein Basilisk an – denn von seinem Blick fühlte man sich weniger in Stein verwandelt als in Brand gesetzt –, aber dennoch ist das der beste Vergleich, mit dem ich seine Wirkung auf mich beschreiben kann. Ich weiß nur noch, dass ich ausrief: »Na gut, na gut, du sollst deinen Willen haben! Dann gehen wir eben nach Ekbatana!« Darauf sagte ich etliche Meilen nichts mehr. 168
Nach einiger Zeit stiegen wir in eine weite Ebene hinab und hielten an. Wortlos deutete Asarja auf eine vor uns liegende Stadt mit hohen Türmen. »Ekbatana, nehme ich an«, sagte ich mit möglichst kalter Stimme, er aber ging einfach mit dem Kamel an der Leine weiter. Am Stadtrand drehte Asarja sich um und bedeutete mir stehen zu bleiben. »Ich muss dir etwas sagen«, meinte er. »Hör gut zu. In dieser Stadt wohnt ein Mädchen. Sie ist dir von Ewigkeit her bestimmt.« Bei diesen Worten bekam ich einen Schreck. Ich wusste, dass ich eines Tages heiraten musste. Und wenn ich im Bett lag, gab ich mich durchaus Gedanken an Mädchen hin. Auf unserem Zug durch die Wüste hatten wir einmal die Nacht in der Gesellschaft einer Nomadenhorde verbracht, und da hatte mich der Anblick einer jungen Sklavin mit entblößten Brüsten erregt. Sie hatte mich beäugt und den Kopf zu ihrem Quartier hin geneigt, ich aber war zu hasenherzig gewesen, um ihr zu folgen. In den Nächten danach dachte ich oft an sie und verfluchte meine Schüchternheit. Konkrete Heiratsabsichten allerdings lagen mir noch vollkommen fern. Und auf einmal sprach hier Asarja von ewiger Bestimmung. »Aber mein Vater …«, begann ich zaghaft und ohne große Überzeugung, wusste ich doch bereits, dass auch mein Vater gegen Asarja nicht ankam. »Raguel ist aus dem gleichen Geschlecht wie dein Vater.« Asarja lockte das Kamel wieder mit derart kamelähnlichen Lauten, dass ich hätte schwören können, er sei selber eines. »Er hat eine Tochter, die Sara heißt. Ich will mit ihm reden, dass er sie dir zur Frau gibt.« Dann fügte er noch etwas hinzu, das ich nicht verstand, aber meine Seele erbebte, als ich es vernahm. Er sagte: »Sie ist eine, in der das Dunkle gleich stark ist wie das Lichte.« 169
Das Buch zum Thema Apokryphen war dick, aber auch sehr informativ. Julia lag auf Signora Mignellis Sofa und las den sorgfältig formulierten, gelehrten Text zum zweiten Mal durch. Das Buch Tobit sei, so mutmaßte der Herausgeber, obwohl es von Ereignissen im 8. Jahrhundert v. Chr. handele, vermutlich erst im letzten Viertel des 2. vorchristlichen Jahrhunderts offiziell niedergeschrieben worden, von einem Juden, der möglicherweise in der israelitischen Kolonie auf der ägyptischen Insel Elephantine gelebt habe. Die Geschichte selbst sei möglicherweise von persischen Soldaten nach Ägypten gebracht worden und enthalte mit großer Wahrscheinlichkeit Elemente weitaus älterer Legenden. Julia lehnte sich zurück, schloss die Augen und dachte erneut über Tobit nach, der vor über achtundzwanzig Jahrhunderten aus dem heimatlichen Israel in die Gefangenschaft verschleppt worden war. Sie hatte die Hintergründe im Alten Testament nachgelesen. Im Buch der Könige hieß es, das nördliche Königreich Israel (das getrennt von dem Königreich Juda bestand, welches im Süden lag) habe sich gegen Jehova versündigt: »Sie errichteten sich Steinmale und Kultpfähle auf jedem hohen Hügel und unter jedem grünen Baum.« Doch nicht so der alte Tobit! Seinem eigenen Zeugnis zufolge zog er Jahr für Jahr mit seinem Zehnten zum Tempel in Jerusalem, der in einem anderen Land lag, weil die Stämme Israels sich zerstritten und in zwei Königreiche gespalten hatten. Armer alter Tobit, seine Gesetzestreue hatte ihn das Augenlicht gekostet! Rechthaberisch und streng wie er war, hatte er ihr Herz gewonnen – fast als wäre er ein Bruder oder ein Vetter, den zu haben ihr nie vergönnt 170
gewesen war. Denn war sie dem streitbaren, manchmal ein wenig lachhaften Mann, der solche Mühen auf sich nahm, um alles richtig zu machen, nicht in der Tat ziemlich ähnlich? Und wie er dann, nach seinem Missgeschick, solch ein Aufhebens gemacht hatte um seine Nutzlosigkeit und hatte sterben wollen! Wusste sie da nicht (um sich einmal wie Cynthia Cutforth auszudrücken) genau, wie es in ihm aussah? Das Telefon klingelte. »Julia?« Sie traute ihren Ohren kaum. »Ich bin’s, Cynthia. Ich rufe an, um Ihnen zu sagen, dass wir wieder im Lande sind.« Ein unterdrücktes Geräusch am anderen Ende. »Charles meint, Venedig darf ich nicht als Land bezeichnen – Sie sehen, er ist immer noch der alte Pedant! Also, wann können Sie mal vorbeischauen?« Noch ein wenig benommen davon, wie vorausschauend der Lauf ihrer Gedanken gewesen war, fragte Julia, wo sie untergekommen seien, und Cynthia erklärte ihr, sie hätten eine Wohnung auf der Giudecca genommen, der Insel, die dem Eingang zum Canal Grande fast genau gegenüberliegt. »Sie können uns also ganz leicht mit der 82 erreichen«, sagte sie, die Bootslinie nennend, die von San Basilio dorthin fuhr. Zwei Nachmittage später saß Julia auf dem großen Balkon der Cutforths. Jenseits des Wassers schweifte ihr Blick über Häuser, die in Rosétönen, Häuser, die terrakottafarben, Häuser, die blau, ocker oder pistaziengrün gestrichen waren. Direkt zu ihren Füßen schaukelten, kreuzten und kurvten mit Gemüsekisten beladene Boote, mit Eimern beladene Boote, mit Zucker, Waschmittel, Cornflakes, Klopapier beladene Boote, mit Stahlstangen, Sand, Holzbohlen beladene Boote, grüne Müllboote, blaue Polizeiboote, ein Boot voller Vögel in Käfigen und 171
Hühnern in Ställen, und Boote, die Menschen aus aller Herren Länder beförderten. Menschliche Findigkeit ist ein Produkt der Not, dachte sie. Die Venezianer haben ihrer wässerigen Umgebung einen Lebensstil abgerungen, der als Kunstform bezeichnet zu werden verdient. Obwohl die drei erst einen einzigen Abend zusammen verbracht hatten, hatte der zeitliche Abstand seit ihrer ersten Begegnung vor sechs Monaten ihre Bekanntschaft irgendwie vertieft. Sie unterhielten sich, oder vielmehr Charles redete und die Frauen hörten mal mehr, mal weniger konzentriert zu, über die Pestkapelle. Charles steckte sich einen Stumpen an und lehnte sich in seinem Sessel zurück, vor ihm kräuselte sich der Rauch. »Ein faszinierendes Bauwerk. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, Julia, wie dankbar ich Ihnen bin, dass Sie mich auf die Kapelle aufmerksam gemacht haben.« Er schlug einen leicht aufgeblasenen Ton an, und Julia vermutete, dass die Weise, wie er seiner Rede durch ständiges Nicken Nachdruck verlieh, seine Frau auf die Palme trieb. »Absolut faszinierend. Es gab einen Todesfall, ich glaube, das hatten Sie damals an unserem Abend im Gritti schon erwähnt, oder vielmehr einen Beinahe-Tod. Während der großen Pestepidemie machte eine junge Frau den Eindruck, sie liege im Sterben, und als ihre Angehörigen alle glaubten, es sei aus mit ihr – bingo!«, er schnipste mit den Fingern, seine Nägel, bemerkte Julia, waren rosa und sorgfältig geschnitten, »da wurde sie wieder gesund. Und da das im 14. Jahrhundert geschah, galt es als Wunder.« »Charles ist ein echter Mann«, sagte Cynthia geruhsam, »er kann die Vorstellung nicht ertragen, dass mehr am Leben dran ist als das, was man mit bloßem Auge sieht.« »Ich muss gestehen, dass ich früher genauso war.« Julia, die sich in der Vergangenheit stets dagegen verwahrt hatte, dass Rationalität dem männlichen Geschlecht 172
vorbehalten sein sollte, sagte dies voll Reue. »Wer war die junge Frau? Haben Sie es herausbekommen?« »Ich habe nur recht vage Informationen gefunden. Anscheinend war sie die einzige Tochter eines der zahlreichen kleineren Adligen in Venedig. Es klingt, als wäre schon irgendwas mit ihr nicht in Ordnung gewesen, bevor sie an der Pest erkrankte, denn sie sollte ständig verheiratet werden, kehrte aber jedes Mal wieder nach Hause zurück, ohne dass die Ehe vollzogen worden war.« »Wahrscheinlich psychosomatisch.« Cynthia verschränkte die Hände über dem Bauch, überzeugt, dass sie auf diesem Gebiet besser Bescheid wusste als ihr Mann. »Konnte man denn aber von der Pest genesen? Ich kenne mich so wenig in mittelalterlicher Geschichte aus.« Und wirklich waren Julias einstige Sicherheiten in letzter Zeit rapide geschwunden. »Ich denke, hin und wieder ist jemand wieder gesund geworden, aber das war selten genug. Und außerdem weist der Name darauf hin: Pestkapelle, obwohl der auch aus späterer Zeit stammen könnte, nach einer Serie angeblicher Heilungen. Sie wissen doch, wie solcher Aberglaube entsteht.« »Aberglaube?« »Es soll ein Heiligenbild gegeben haben, dem Heilkräfte zugeschrieben wurden.« Julia sagte nichts. Der Gedanke an Toby und die verschwundene Tafel bedrängte sie. Von beiden hatte sie seit der Begegnung am Flughafen nichts mehr gehört. »Ich mag Engel«, sagte Cynthia. Sie wollte verhindern, dass die Unterhaltung ins allzu Akademische abglitt. Manchmal, wenn Julia nachts aufwachte, spürte sie, dass ihre Sorge nicht ihr selbst, sondern dem Engel galt. Sie hatte zu Sarah nichts mehr gesagt, doch die Wochen vergingen, und der Zeitpunkt, an dem das Verschwinden 173
gemeldet werden musste, rückte näher. Und dann würde sich die Polizei einschalten. Charles war aufgestanden, um ein Buch zu holen. Als er an ihr vorbeiging, stieg ihr der Rauch seines Stumpens in die Nase, und sie musste plötzlich an Carlo denken. Noch einer, der wie Toby in die Finsternis verschwunden war. Vielleicht lag es an ihr? Konnte es sein, dass sie wie die junge Frau im Buch Tobit einen bösen Zauber auf Männer ausübte? »Wir wollen eine Party geben«, sagte Cynthia. »Nur ein paar Leute, die wir im Lauf der Jahre kennen gelernt haben, auf einen Drink. Sie müssen versprechen, dass Sie kommen werden.« Charles kehrte mit dem gesuchten Buch zurück. »Sehen Sie, hier.« Er deutete auf ein Foto. Die Kapelle, in desolatem Zustand, wie es schien, mit Stacheldraht umzäunt. »Das ist gleich nach dem Krieg aufgenommen. Sieht grausig aus, nicht?« Julia sah sich das Foto an und fragte sich, ob er wohl damals da gewesen war. Denn es hieß, der Erzengel Raphael, der zu Fuß mit dem jungen Tobias von Assyrien über die Berge nach Medien gewandert war, sei auch mit den Seefahrern übers Meer nach Venedig gekommen. Laut sagte sie: »Charles, wie ist eigentlich die Pest hergekommen? Mein Gedächtnis lässt mich im Stich. Mir entfällt ständig etwas, das ich früher wusste.« »Tragischerweise ist sie über die Schifffahrtswege nach Venedig gekommen, mit den Handelsschiffen aus dem Orient.« Deshalb war er also hergekommen! Sie stellte sich vor, wie die langen Füße über das Wasser eilten und unsichtbar mit den Schiffen Schritt hielten, auf denen die todbringenden Ratten hausten.
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»Wolltest du nicht mit Julia zum Monsignore?«, fragte Cynthia. Sie nahmen die 82 über das Wasser. »Mist, ich kann nicht anrufen!« Charles steckte sein Handy wieder ein. »Ich habe die Nummer zu Hause vergessen.« Ein Arbeiter im Blaumann sauste vorbei, sein Hund stand mit gespitzten Ohren auf dem Heck. Julia sah den Hund an und sagte: »Das Heiligenbild. Haben Sie darüber etwas in Erfahrung bringen können?« »Nein, aber es kann sein, dass Giuseppe etwas weiß. Herrgott, was für ein Ärger. Ich hätte ihn vorhin gleich anrufen sollen, aber da hat Cynthia mir im Nacken gesessen. Sie kann den Monsignore nicht leiden.« »Ah, deshalb sollte ich also mit!« »Ja, aber ich glaube, Ihnen wird er gefallen«, sagte Charles, ohne auf ihren scherzhaften Ton einzugehen. »Er ist ein Experte für Orientalisches. Aber eigentlich kennt er sich überall aus. Wenn einer etwas über die Kapelle weiß, dann er.« Da sie sonst nichts vorhabe, versicherte Julia, begleite sie ihn gern. Und das Vaporetto brachte sie im Zickzackkurs über das Wasser auf die Insel San Giorgio. »Da, sehen Sie, unser schönster Palladio-Bau.« Charles vollführte eine ausladende Geste mit seiner manikürten Hand, als die imposante Fassade von San Giorgio Maggiore auf sie zuglitt. Julia wollte schon zustimmen, doch dann überlegte sie es sich anders. »Mir gefällt sie nicht. Kann sein, dass ich ein Banause bin, aber ich finde sie irgendwie unheilig.« Sie hatte den marmornen Innenraum der berühmten Kirche einmal betreten und ihn, bis ins Mark gefroren, gleich
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wieder verlassen. »Es ist so kalt darin. Waren Sie schon mal drinnen?« Allein der große, verwitterte Bronze-Engel von der Spitze des Campanile hatte ihr Interesse erregt. Er war zur Restaurierung in die Kirche gebracht worden, und sie hatte sich heimlich gebückt und seinen großen Engelsfuß geküsst, der unter dem schillernden Gewand hervorlugte. Dies vertraute sie Charles Cutforth allerdings nicht an. »Ich hab mit Heiligkeit nicht viel am Hut.« Er ist ein netter Mann, dachte sie, als er ihr den Arm entgegenstreckte, um ihr auf den Landungssteg zu helfen. An einem solchen Steg waren sie sich auch zum ersten Mal begegnet. Wie anders sie damals noch gewesen war. Zu ihrer Überraschung hörte sie sich zu Charles sagen: »Oh, ich war, bis ich hierher kam, gegen alles, was auch nur im geringsten heilig schien. Venedig hat mich verändert.« »Ja, ja, die Wirkung der Schönheit.« Sie spazierten an den vertäuten, schaukelnden Gondeln vorbei am Wasser entlang, vor sich am anderen Ufer die Basilika San Marco. Sie war nicht wieder dort gewesen, seitdem der Spatz sie zu der großen, marmornen Madonna geführt hatte. Die Erinnerung an diesen Tag brachte sie auf den purpur gewandeten Priester im Beichtstuhl, vor dem sie sich so erschrocken hatte. Vielleicht war das der Monsignore gewesen. »Charles, was steckt eigentlich genau hinter dem Titel Monsignore?« Eine große Schar kameraschwenkender Touristen versperrte ihnen den Weg, und Charles dirigierte sie durch das Geplapper in eine schmale Calle hinein. »Ein Priester, der ein Ehrenamt innehat, das ihm vom Papst für besondere Dienste übertragen wird. Giuseppe hat sich durch ausgezeichnete Arbeit für den Außenminister des Vatikans Ottaviani verdient gemacht, in deren Rahmen er in alle 176
möglichen diabolischen diplomatischen Intrigen verwickelt war. Ich habe ihn kennen gelernt, als er für den Vatikan in den Vereinigten Staaten war. Mittlerweile ist er seit etlichen Jahren pensioniert und hat reichlich Zeit, seinen eigenen Interessen nachzugehen, die in Giuseppes Fall ziemlich umfassend sind. Wie gesagt, wenn überhaupt jemand etwas über Ihre Kapelle weiß, dann er.« Sie waren an einem schmiedeeisernen Tor in einer Mauer stehen geblieben. Lichthungrige Rosen rankten sich langstielig über das Tor, dessen beide Flügel mit einem Wappen geschmückt waren, auf dem neben einem Löwen ein Baum prangte, der aussah wie eine Palme. Charles sagte mit einem Blick auf das Wappen: »Ein Vorfahre mit einer Verbindung zum Orient. Giuseppe stammt aus einer der ältesten Familien Venedigs. Er ist ein ziemliches Original. Erinnern Sie mich nachher daran, dass ich Ihnen von seinen Söhnen erzähle.« »Söhnen?« Charles legte einen Finger an die Lippen, als zur Antwort auf ihr Klingeln am Tor ein Riegel zurückgeschoben wurde. Im Spalt zwischen den schmiedeeisernen Flügeln tauchte eine Frau mit deutlich sichtbarem Schnurrbart auf. Charles begrüßte die Frau in fließendem Italienisch und überreichte ihr seine Karte. Nach wenigen Minuten kehrte sie zurück und öffnete das Tor weit genug, um sie in einen üppig bewachsenen Garten einzulassen, der an drei Seiten von einem grün gestrichenen Laubengang umgeben war. Unter dem Laubengang saß, einen Mops zu seinen Füßen, ein Mann im schwarzen Talar. Selbst aus einiger Entfernung war zu erkennen, dass er klein und ziemlich hässlich war. Der Mann im schwarzen Talar breitete die Hände aus: »Carlo, amico!« Eine Sekunde zog sich Julias Herz
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schmerzhaft zusammen, bis ihr einfiel, dass Carlo die italienische Form für Charles war. »Giuseppe!« Charles ging mit großen Schritten auf den Laubengang zu. »Was für ein Glück, dass Sie zu Hause sind. Verzeihen Sie, dass ich uns nicht angemeldet habe. Ich Idiot hatte die Nummer verlegt.« Der Monsignore erhob sich aus seinem Sessel und umarmte seinen Freund. Er musste fast zwei Köpfe kleiner sein als Charles, denn seine Arme schienen den hochgewachsenen Amerikaner nur knapp über der Taille zu umfangen. Charles deutete in Julias Richtung: »Giuseppe, das ist unsere Freundin aus England, Julia Garnet.« »Ah, Garnet – granato, das ist mein Lieblingsstein.« Der Monsignore hatte die stechend braunen Augen eines Vogels – einer Amsel vielleicht –, aber sein Gesicht ähnelte eher dem seines Hundes. Dieser hatte sich, da der schützende Talar verschwunden war, unter den Tisch verkrochen und starrte mit seiner komischen platten Schnauze zu Julia hinauf. »Meine Mutter glaubte, als ich ein Kind war, ich sei homosexuell, weil ich ständig ihren Schmuck anlegte. Ihre Angst war unbegründet. Doch wie Sie sehen, sublimiere ich meine homosexuellen Neigungen, indem ich Ringe trage und im Kleid herumlaufe.« Er streckte ihr eine sommersprossige Hand entgegen, an der ein großer Granatring prangte, und Julia schüttelte sie stumm, weil sie nicht recht wusste, wie sie auf diese Erklärungen eines kirchlichen Würdenträgers reagieren sollte. »Julia war der erste Mensch, den wir damals um Neujahr hier kennen gelernt haben«, sagte Charles, ihre Verlegenheit überspielend. »Setzt euch, setzen Sie sich. O Verzeihung, Marco!« Der Priester war versehentlich auf den Mops getreten, der zum Protest einmal laut aufbellte. »Ihm ist es zu heiß – er liebt 178
den Schatten unter meinem Talar. Wenn sie auch sonst zu nichts nütze ist, so dient meine Position wenigstens meinem Hund zum Schutz! Prosecco?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, rief er: »Constanze, Constanze, prosecco per favore!« Julia, der schon die Erwähnung des Themas Homosexualität, unmittelbar nachdem der Name Carlo gefallen war, zu schaffen gemacht hatte, erschrak erneut, als ihr das Getränk angeboten wurde, das sie mit ihm assoziierte. Sie saß stumm dabei und fühlte sich überflüssig, während die beiden Männer Nettigkeiten austauschten. Nach einer Weile wandte sich ihr der Priester wieder zu: »Und Blumen. Als Engländerin müssten Sie doch Blumen lieben, nicht wahr, Signora Garnet? Ich bestehe darauf, dass Sie meine Rosen bewundern. Ich bin äußerst stolz auf sie.« »Bitte, nennen Sie mich Julia.« Sie wurde zu den Blüten geleitet, die sie am Tor begrüßt hatten. »Sie haben eine Farbe, die ich ganz besonders liebe. Beinahe die Farbe Ihres Namens.« Der Monsignore umfasste eine dunkelrote Blüte mit seiner gescheckten Hand und sog ihren Duft ein. »Davon kann ich niemals genug bekommen. Er ist noch herrlicher als das Parfüm der Damen. Deshalb ist ›Garnet‹ ein« – er tippte auf seinen Ring – »verheißungsvoller Name. Sie sind Historikerin, sagt Charles.« »Das wäre übertrieben. Ich war Lehrerin.« »Aber das macht Sie doch zur Autorität im besten Sinne. Und Charles sagt, Sie interessieren sich für die kleine Kapelle in der Nähe der Raffaele?« »Ja, für die Pestkapelle. Freunde von mir restaurieren sie gerade.« Sie vermutete, dass sie mittlerweile berechtigt war, die Zwillinge als Freunde zu bezeichnen. »Ach so?« Der Monsignore schien angenehm berührt. 179
»Ich war ein großer Verehrer Ihres Ashley Clarke. Die englischen Restaurierungen sind meiner Ansicht nach bisher die gelungensten. Ohne Projekte wie diese hätte Venedig bereits viele seiner Schätze verloren. Und Ihre Freunde haben Ihnen die Geschichte der Kapelle nicht erzählt?« »Ich vermute, sie kennen sie selber nicht.« Sie waren wieder unter das grüne Dach geschlendert, wo die schnurrbärtige Frau gerade ein Tablett mit einem Krug und ein paar Gläsern abstellte. Charles war verschwunden. »Charles ist in meiner Bibliothek und sucht nach einem Buch. Er tut immer so, als ob er kommt, um mich zu besuchen, aber in Wirklichkeit liebt er meine Bibliothek. Immerhin«, der Monsignore kicherte, »bekomme ich dadurch Gelegenheit, mit einer schönen Frau allein zu sein, und er weiß, dass mir das gefällt!« Julia, die nicht wusste, was sie darauf sagen sollte, ließ sich ein Glas Prosecco einschenken. Vielleicht war es die Wirkung des Alkohols oder die Erinnerung an gemeinsame Zeiten mit Carlo, jedenfalls hörte sie sich sagen: »Sie sind nicht so, wie ich mir einen Priester vorgestellt hätte.« Der Monsignore lächelte selbstgefällig. »Ich bereite meinen Vorgesetzten manchmal Kopfzerbrechen«, gestand er. »Aber ich nehme mein Gelübde sehr ernst. Die Priester, die mit heruntergelassener Hose ertappt werden, sind meist jene, die sich verächtlich über das Geschlechtsleben äußern. Ich liebe die Frauen – aber noch mehr liebe ich die Heilige Jungfrau. Und weil ich die Frauen liebe, kann ich die Heilige Jungfrau umso besser lieben. Das leuchtet Ihnen ein?« »Ja, vermutlich schon.« Die Direktheit des Priesters vermittelte ihr ein Gefühl vollkommener Schutzlosigkeit, deshalb brachte sie das Thema fast abwehrend wieder auf 180
die Pestkapelle. »Charles hat mir erzählt, die Kapelle sei für eine junge Frau gebaut worden, die von der Pest genesen war.« »Aber hat er Ihnen auch erzählt, dass sie eine Jüdin war? Nein, ich sehe, das hat er nicht!«, sagte der Monsignore triumphierend. »Wie konnte sie eine Jüdin sein? Wenn es eine Kapelle ist, muss sie doch christlich sein. Das verstehe ich nicht.« »Aber das ist ja gerade der Punkt.« Die Stimme des Monsignore nahm den Ton eines Mannes an, der sich die Hände reibt. »Das musste verborgen bleiben, weil in der Republik Venedig, obwohl sie der erste christliche Staat war, in dem Gesetze verabschiedet wurden, die es strafbar machten, den Juden Schaden zuzufügen, jeglicher Verkehr zwischen Juden und Christen strikt verboten war. Selbst Prostituierte waren, so es sich um Christinnen handelte, für Juden tabu. Obwohl es – nebenbei bemerkt – eine interessante Tatsache ist, dass jüdische Männer vergleichsweise selten Prostituierte aufsuchen, und noch viel seltener einen Mord begehen.« Dies hörte Charles, der sich mit einem Buch wieder zu ihnen gesellte, und gab zu bedenken: »Manche Leute würden behaupten, sie haben Jesus Christus ermordet.« Der Monsignore hob eine Hand. »Natürlich, das würde ich niemals leugnen. Aber der Tod Christi, so beklagenswert er auch sein mag, ist kein Mord im herkömmlichen Sinn. Die Juden sind ein legalistisches Volk, sie würden sagen, die Kreuzigung wurde nach geltendem Recht durchgeführt. Sie stellen die Unverletzlichkeit des Lebens über alles. Vom Tod unseres Herrn einmal abgesehen, ist dies eine Angelegenheit, in der wir Christen einiges von den Juden lernen könnten.«
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»Aber die junge Frau, die beinahe starb …?«, sagte Julia, die nicht wollte, dass die Geschichte in Vergessenheit geriet. »Verzeihen Sie. Ich reite mein Steckenpferd.« Der Monsignore nahm einen kleinen Schluck aus seinem Glas. Seine Handbewegungen hatten etwas von der Geschicklichkeit eines Chirurgen. »Obschon wir in Venedig also diejenigen waren, denen die Welt den Begriff Ghetto zu verdanken hat …« »Von gettare«, unterbrach Charles, darauf erpicht, sein Wissen an den Mann zu bringen. »Genau. Charles hat wie immer Recht.« Der Monsignore zwinkerte Julia verschmitzt zu. »Wie Charles uns erklären wird, kommt das Wort vom Metallgießen her, denn ursprünglich haben wir die Juden in eine alte Kanonengießerei gesteckt – was ich in Anbetracht der späteren Taten Hitlers als beunruhigend empfinde. Natürlich gibt es nichts Neues unter der Sonne, aber manchmal frage ich mich, ob wir ihm mit unserer venezianischen Kanonengießerei die Idee zu seinen Gaskammern geliefert haben. Wie dem auch sei, man begann hier erst 1512, die Juden nachts hinter Toren einzuschließen, die von Christen bewacht wurden, für deren Dienste sie auch noch zahlen durften!« Der Monsignore lachte. »Shylock hatte Recht: Die eigentlichen Schacherer sind wir!« Julia fragte, sich an ihr Gespräch mit Charles erinnernd, fast schüchtern: »Sie waren die wichtigsten Kaufleute hier, nicht wahr?« Der Monsignore lächelte ihr zu wie einem klugen Kind. »Ja, selbstverständlich! In der Tat haben die Juden, wie Charles von uns Dreien am besten weiß, ausgezeichnete Geschäfte gemacht, Venedigs Reichtum stammt zum größten Teil aus ihrem Handel mit dem Orient. Und das ist
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auch für diese Geschichte von Bedeutung. Hör zu, Marco, während ich sie Signora Garnet erzähle!« Der Hund, der in den Blumenbeeten herumgeschnüffelt hatte, kam zurück und legte sich unter den schwarzen Talar. »Der Vater des Mädchens war ein venezianischer Adliger, der sich heimlich mit der Tochter eines jüdischen Arztes vermählte. (Die jüdischen Ärzte hatten übrigens einen ausgezeichneten Ruf, der Leibarzt des Dogen war fast immer ein Jude.) Jüdische Frauen waren für ihre Schönheit berühmt, und der Gott der Liebe richtet sich nicht nach menschlichen Gesetzen!« »Woraus ich entnehme, dass er Don Cupido meint und nicht etwa die Heilige Dreifaltigkeit«, bemerkte Charles belustigt. Der Priester hob darauf beide Hände wie zur Kapitulation und entgegnete milde: »Eros, bitte. Cupido ist kein würdiger Name für einen so gefährlichen Gott.« »Oh«, sagte Julia, »der Meinung bin ich auch!«, und errötete, als der Priester sie mit einem langen Blick musterte, bevor er seine Geschichte fortsetzte. »Es heißt, dieser Adlige habe um einen Sohn gebetet. Und als seine Frau starb, nachdem sie eine Tochter zur Welt gebracht hatte, verstieß er das Kind. Dem jüdischen Gesetz zufolge nimmt ein Kind die Rasse der Mutter an – und so wuchs die Tochter, ohne ihren Vater jemals zu sehen, im oberen Stockwerk des Palazzo auf, als Jüdin, ohne es zu wissen.« »Das klingt apokryph, Giuseppe!«, sagte Charles. »Ah, Carlo, Sie sind ein Rationalist. Begraben Sie Ihre Zweifel, sonst erzähle ich Ihnen nicht …« »Oh, bitte erzählen Sie weiter«, sagte Julia. Sie hoffte inständig, Charles würde wieder in die Bibliothek gehen.
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»Eines Tages kam ein junger Mann aus dem Morgenland, aus der Levante, wo übrigens auch meine Familie vor langer Zeit hergekommen ist, was der Grund dafür sein mag, weshalb mir diese Geschichte so gut gefällt. Er war Seidenhändler und irgendwie lernte er die junge Frau kennen und verliebte sich in sie. Wie er sie kennen gelernt hat, darüber können wir nur Mutmaßungen anstellen. Vielleicht kam er wegen irgendwelcher Geschäfte mit ihrem Vater ins Haus? Der junge Seidenhändler war ebenfalls Jude, so dass ihr Vater ausschließlich geschäftlich mit dem jungen Mann verkehrte. Das wusste die Tochter, obwohl sie nicht wusste, dass sie selbst auch Jüdin war und ihr Vater sie deshalb vor der Welt verschloss.« Der Monsignore hielt inne, um einen Schluck Prosecco zu trinken. »Ich hoffe, der Wein mundet Ihnen?« Julia antwortete ohne zu überlegen: »Danke, sehr gut. Mein Freund, ein anderer Carlo, hat mich früher häufiger zum Prosecco eingeladen.« Es war das erste Mal, seit der »Entdeckung«, dass sie seinen Namen aussprach. Der Priester ließ seinen Blick abermals einen Moment auf ihr ruhen und fuhr dann fort. »So trifft sich das junge Paar heimlich. Unterdessen versucht der Vater, das junge Mädchen mit verschiedenen Adelssprösslingen zu vermählen. Er ist außerordentlich wohlhabend, deshalb ist eine wertvolle Mitgift im Spiel.« »Das habe ich auch gelesen«, sagte Charles unvermittelt. »Wie gut, dass meine Geschichte nicht unbestätigt bleibt!« Die Vogelaugen blitzten boshaft. »Wo es um Geld geht, treten natürlich jede Menge Freier auf den Plan, wie auch Ihre Jane Austen wusste – was für eine kluge Frau!« Er küsste mit dramatischer Geste seine Fingerspitzen. »Etliche junge Männer wollen das Mädchen heiraten, doch 184
in allen Fällen kehrt sie nach der Hochzeit ins Elternhaus zurück. Warum? Die Ehe ist nicht vollzogen worden.« Julia wollte fragen, was aus den gescheiterten Ehemännern geworden war, doch der Monsignore hob wieder einmal die Hand. »Dann wacht die junge Frau zum Entsetzen des ganzen Hauses eines Morgens mit den Symptomen der Pest auf. Ihr lieblicher junger Leib ist übersät mit brombeergroßen Beulen.« Er hielt inne und sah zu den Rosen hinüber, als wollte er seine Trauer über die zerstörte Schönheit des längst verstorbenen Mädchens mit ihnen teilen. »Ihr Vater ist außer sich vor Verzweiflung und Schuldgefühlen. In seiner Angst holt er alle verfügbaren medizinischen Kapazitäten ins Haus, denn ihm ist, zu spät, aufgegangen, dass er seine Tochter, die ihn an seine verstorbene Frau erinnert, liebt. Verzeihen Sie …« Hier kramte der Monsignore ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich. »Es ist eine anrührende Geschichte«, fuhr er fort, »und das spricht, denke ich, für ihre Wahrheit.« »Wenn dem so wäre, könnten Sie mit gleichem Recht behaupten, das Musical ›The Sound of Music‹ über die Familie Trapp sei ›wahr‹!« Die Augen des Monsignore ruhten auf Julia, Charles wurde ignoriert. »Der junge Mann hört von der Erkrankung. Da er weiß, dass man ihn nicht zu seiner Angebeteten vorlassen wird und dass ihr Tod wahrscheinlich binnen weniger Tage eintritt, betet er vor ihrem Fenster. Und da geschieht das Wunder.« Er machte eine dramatische Pause. »Schon gut, Giuseppe.« Charles zeigte sich ein wenig ungeduldig. »Raus mit der Sprache! Was für ein Wunder?« »Es ist Nacht, und er betet am Kanalufer gegenüber dem vornehmen Palazzo. Während er dies tut, erscheint ihm 185
der Erzengel Raphael, um ihm zu sagen, wie das Mädchen zu heilen ist.« Der Monsignore lehnte sich zurück und faltete die Hände auf dem Schoß, als wäre das alles, was er zu sagen hätte. »Nun machen Sie schon«, sagte Charles. »Sie dürfen an der Stelle nicht aufhören. Was geschieht dann? Wie kommt es zu der Kapelle?« »Wie ich sehe, erwärmen Sie sich allmählich für meine Geschichte, Carlo! Irgendwie gelingt es dem jungen Mann, in das Zimmer des Mädchens vorgelassen zu werden. Bei der Pest führt der geringste Kontakt zur Ansteckung, deshalb ist es ungewöhnlich, dass jemand sich freiwillig einem Erkrankten nähert. Der junge Mann vollbringt, vermutlich indem er den Rat des Engels befolgt, ein medizinisches Wunder, und das Mädchen wird gesund. Selbstverständlich gibt es eine zweite Version der Geschichte, in der behauptet wird, sie sei mit Hilfe ihres Großvaters, des jüdischen Arztes, genesen, und die Sache mit Raphael sei eine spätere Beigabe. – Da sehen Sie, was für ein guter Freund ich Ihnen bin, Carlo, dass ich Ihnen gleich die rationalistische Entgegnung auf meinen Hokuspokus mitliefere! Auf jeden Fall aber wird das Mädchen gesund, und der Vater erlaubt dem jungen Paar endlich zu heiraten. Unterdessen sind allerdings die Juden zum Sündenbock für die Pest gestempelt worden. Venedig hatte damals zwei Drittel seiner Bevölkerung verloren, und die Juden wurden, sofern man sie nicht aus den Häusern holte und verbrannte, durch Enteignung um den größten Teil ihres Hab und Guts gebracht. Das junge Paar musste seine Religionszugehörigkeit geheim halten. Zu diesem Zweck baute der Papa an die Stelle, wo der Engel erschienen war, eine Kapelle und widmete sie dem Erzengel Raphael. Als Tarnung, verstehen Sie! Und das amüsiert mich aus dem folgenden Grund: Die Engel sind 186
nämlich eigentlich jüdisch. Weil wir Christen sie ihnen jedoch ausgespannt haben, war dem Vater die Möglichkeit gegeben, den unseligen jüdischen Ursprung des Wunders zu vertuschen. Und es wurde einfach eine christliche Kapelle daraus. Ja, wir Christen sind wahrhaftig gewieft«, sagte der Monsignore mit offensichtlicher Freude an seiner Aussage. »Und das junge Paar. Was ist mit den beiden passiert?« Mehr als alles andere wollte Julia das wissen. »Sie lebten glücklich bis an ihr Ende!«, sagte Charles ironisch. »Wie viel davon ist Unfug, Giuseppe?« »Man sollte über Unfug nie einfach hinweggehen, Carlo. Die tiefsten Wahrheiten finden sich in den unwahrscheinlichsten Geschichten. Denken Sie nur an die Evangelien!« Später, als sie mit Charles am Ufer entlang zum Anlegesteg zurückging, sagte Julia: »Was für ein außergewöhnlicher Mann!« Der Monsignore strahlte eine Energie aus, gegen die Charles beinahe fade wirkte. »Das stimmt«, sagte Charles. »Während des Krieges, als er noch im Priesterseminar war, hat er Juden mit seinen Kenntnissen über die geheimen Gänge, die durch Venedig verlaufen, geholfen, sich in Sicherheit zu bringen. Vermutlich ist er deshalb so von dem Märchen über die Kapelle angetan!« »Wir haben ihn nicht nach dem Heiligenbild gefragt«, sagte Julia. Sie hatte keine Lust, sich die Geschichte von ihm verderben zu lassen. »Da haben Sie Recht«, sagte Charles. »Aber Giuseppe wird bestimmt zu unserer Party kommen. Er ist für Feste immer zu haben. Dann können Sie ihn ja danach fragen.«
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5 Ich weiß, hinterher ist man immer klüger, aber noch bevor Asarja mich einweihte, witterte ich Gefahr. Ich hatte ein hohles Gefühl unter den Rippen, während wir das Haus dieses Verwandten suchten, mit dem Asarja mich überrascht hatte. Alle, die wir fragten, schienen zu wissen, wer er war. »Raguel?«, sagten sie. »Aber sicher kennen wir Raguel. Er wohnt in dem Haus mit dem Türm gleich am Binsengraben.« Es gab aber hier in Ekbatana viele zum Himmel aufragende Gebäude. Als wir endlich das richtige Haus gefunden hatten, drängte Asarja mich, bei meinen Verwandten vorzusprechen, obwohl sie gar nicht mit unserer Ankunft rechneten. Ich trat näher und sah neben der Tür zum Hof einen breitschultrigen Mann sitzen. Bei seinem Anblick stockte mir das Herz, denn er hatte einen ganz ähnlichen, leicht hochmütigen Blick wie mein Vater, bevor er sein Augenlicht verlor. »Heil dir, Fremder!«, begrüßte mich der Mann und führte mich in sein Haus. Er stellte mir seine Frau Edna vor, eine Person mit einem breiten, freundlichen Gesicht, das keinerlei Ähnlichkeit mit dem Gesicht meiner Mutter Hanna hatte. Meine Mutter, sagte mein Vater immer, habe das Gesicht einer Hirschkuh. Edna hieß mich höflich willkommen, und sie war es auch, die mich erkannte, so dass ich gar nicht erst lange erklären musste, wer ich war, denn kaum hatte sie mich erblickt, sagte sie: »Raguel, wie gleicht dieser doch deinem Vetter Tobit aus Ninive!«
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»Das ist kein Zufall«, entgegnete ich, »denn Tobit aus Ninive ist mein Vater.« Da sprang Raguel auf und umarmte mich und sprach: »Gesegnet seist du, Junge, denn du bist der Sohn eines guten und edlen Vaters.« Und er gab Befehl, zu unserem Empfang einen Widder aus seiner Herde zu schlachten. Ich überlegte hin und her, wie ich die Sprache auf ihre Tochter bringen sollte, aber das hätte ich mir sparen können, denn in dem Augenblick kam wehklagend und händeringend eine Magd die Treppe herunter. Das Mädchen, das ich nach Meinung Asarjas heiraten sollte, drohte offenbar damit, sich aus dem obersten Turmfenster zu stürzen.
Signora Mignelli hatte schon von Zeit zu Zeit auf das Datum hingewiesen, an dem das Mietverhältnis auslief. »Ich Sie vermisse«, erklärte sie Julia bedauernd. »Aber ich muss an Touristen vermieten für Geld verdienen.« Julia, die noch nicht entschieden hatte, was sie zu tun gedachte, wenn sie den Campo Angelo Raffaele verlassen musste, erwähnte Sarah gegenüber, sie suche unter Umständen eine andere Bleibe. In ihr lehnte sich alles dagegen auf, so bald schon nach Ealing zurückzukehren. Die kleine Wohnung, in der sie so viele Jahre gewohnt hatte, war in ihrer Phantasie grau und eng geworden. Überraschend hatte Sarah eine Lösung angeboten. »Ich muss Anfang Juli für eine Weile nach Hause«, erklärte sie. »Ich komme wieder, aber Sie können gerne bei mir wohnen, während ich weg bin. Es wäre sogar ganz wunderbar zu wissen, dass jemand da ist und auf die Wohnung aufpasst. Wollen Sie mal vorbeikommen, um sie sich anzusehen?« 189
Das Ghetto lag in der Nähe der Kirche Madonna dell’Orto, dem Ort von Julias indirekter Begegnung mit Toby, dort, wo der junge Levantiner wahrscheinlich untergekommen war, während sich der himmlische Beistand des Erzengels Raphael angebahnt hatte. Julia drückte auf die Klingel neben dem obersten der vielen messingglänzenden Namensschilder (einer der Namen, Melchiori, erinnerte sie an den Myrrhe schenkenden König), die an der Seite eines hohen Hauses unweit der Synagoge angebracht waren. »Sie sind hoch – die Häuser hier –, weil die einzige Richtung, in die sich die Juden ausdehnen konnten, nach oben war«, erklärte Sarah. Sie war nach unten gekommen, um Julia zu begrüßen, und nun stiegen sie gemeinsam die steinerne Treppe ins Dachgeschoss hinauf. »He, ich komme erst jetzt drauf, aber wird Ihnen das vielleicht zu viel werden mit diesen vielen Stufen?« Julia war pikiert. »Keineswegs. Ich bin tipptopp in Form, vielen Dank.« »Verzeihung, ich hab es nicht so gemeint.« Sie waren im obersten Stockwerk angekommen, und Julia betrat einen großen Raum mit Dielenfußboden. In der einen Ecke befand sich eine Kochnische und in der anderen ein Doppelbett. Auf einem Zeitschriftenhaufen neben dem Bett lag eine aufgerollte Tasche aus grünem Boi mit Sarahs langen Meißeln und Beiteln. »Ich fürchte, es ist alles ein bisschen primitiv.« »Haben Sie nur das eine Zimmer?« Julias Gedanken wanderten beim Anblick des Bettes unwillkürlich zu Toby. Wo hatte der geschlafen? Sarah durchquerte das Zimmer. »Es gibt noch ein Bad – aber das ist ziemlich eng.« Sie öffnete eine Tür und zeigte Julia eine verkürzte Badewanne mit Duschvorrichtung. »Das ist eine Sitzwanne. Nett, finden Sie nicht?« 190
Julia ließ ihren Blick über Fläschchen und Döschen schweifen. Die Lotionen und Cremes mit ihren goldenen Deckeln erinnerten sie daran, wie Sarah vor ein paar Monaten ihre Handcreme benutzt hatte. Sie betrachtete das Gesicht des jungen Mädchens und dachte: Das ist wohl das, was man gemeinhin eine Pfirsichhaut nennt. Ihre eigene dagegen fühlte sich alt und papieren an. Sie hat’s gut, dachte Julia und folgte Sarah schicksalergeben aus dem Bad. Nirgendwo war eine Spur von Toby zu erkennen. Hatte er auf dem Boden geschlafen? Allerdings nahm sie an, dass er seine Nächte häufiger auf dem Fußboden der Kapelle verbracht hatte. Bei den Fledermäusen. Die Wohnung war kleiner als die von Signora Mignelli. Julia versuchte sich vorzustellen, darin zu wohnen. Ihr gefiel der Effekt des Lichts, das von drei Seiten ins Zimmer fiel. Eine Glastür führte zu einem Balkon, und als sie hinaustrat, konnte sie das Meer als grauen Streifen am Horizont erkennen. »Im Winter kann man sogar die Dolomiten sehen.« Sarah gesellte sich zu ihr. »Aber im Sommer nicht. Ich weiß nicht, warum.« Julia dachte an ihr Mittagessen mit Vera am Fondamenta Nuove und sagte: »Eine Freundin hat mir erklärt, es habe etwas mit der Brechung des Lichts zu tun.« Damals hatte sie Toby zum vorletzten Mal gesehen. Sie fragte sich, wo er jetzt war. Darauf sagte Sarah, als hätte sie ihre Gedanken gelesen: »Ich muss nach Hause, um nach Tobes zu suchen.« Ihr Stirnrunzeln machte sie älter. »Ehrlich gesagt wäre es eine Erleichterung, Sie hier zu wissen.« »Nun, mir würde es gut passen.« Sie wollte auf keinen Fall schon nach England zurück und nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit mit Herrn Akbar zu telefonieren, um 191
ihn zu fragen, ob er interessiert sei, sein Mietverhältnis noch eine Weile fortzusetzen. »Wann wollen Sie denn fahren, Sarah?« Sarah schlug die erste Juliwoche vor und bot Julia an, ihr beim Transport ihrer Sachen aus Signora Mignellis Wohnung zu helfen, wenn es so weit war. »Ich habe nicht viel«, sagte Julia, dankbar, dass sie nicht hatte darum bitten müssen. »Bloß ein paar Bücher und Papier, fast keine Kleidung.« Doch die Party bei den Cutforths stand bevor, und sie musste endlich darüber nachdenken, was sie anziehen würde, überlegte sie auf dem Rückweg zur Fondamenta Nuove, wo die Dolomiten hinter dem Wasser unsichtbar im Dunst lagen. Vera hatte ihr berichtet, Ruskin sei einst gern dort spazieren gegangen, wenn die Berge sich nicht verhüllten. Wahrscheinlich war er auf und ab geschritten und hatte der jungfräulichen Effie, die entsetzt vor Tintorettos »Jüngstem Gericht« davongelaufen war, Vorträge gehalten. Jungfräulichkeit: Was besagte das eigentlich? Es gab die Jungfrau Maria (siehe Bellinis Madonna mit den Mandelaugen), doch mit ihr ließ sich Ruskins jungfräuliche Ehefrau gewiss in keiner Hinsicht vergleichen! Und was war mit der schönen Jüdin, die beinahe an der Pest gestorben wäre? Bis zum zufälligen Eintreffen des Seidenhändlers waren alle ihre »Ehen« unvollzogen geblieben. Dann war da noch die junge Frau im Buch Tobit, die von einem Dämon besessen war, der ihre Liebhaber erwürgte, bevor sie ihr beiwohnen konnten. Vielleicht bedeutete Jungfräulichkeit die fehlende Bereitschaft, eine Veränderung durchzumachen? Ist es denn wahr, dass wir lieber zugrunde gehen als uns ändern zu lassen, überlegte sie. Vielleicht ist es weniger eine Frage dessen, was man mit seinem Körper machen lässt, als was
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man in seinen Geist eindringen zu lassen bereit ist – ein Widerstand gegen die Einsicht in die eigene Sterblichkeit? Bis zu Harriets Tod jedenfalls war ihr Geist fünfunddreißig Jahre lang mehr oder weniger auf demselben Stand geblieben. Erst durch den Verlust ihrer Freundin hatte sie neue Wege eingeschlagen, und mal war sie dabei förmlich geschwebt, mal hatte sie gezappelt wie der Fisch, den Tobias am Ufer des Tigris gefangen hatte. Nun näherte sich das Vaporetto der Linie 52, und als sie sich in die Schlange der Wartenden stellte, fand sie sich neben Cynthia Cutforth wieder. »Meine Liebe«, sagte Cynthia. Sie duftete nach einem herben, teuren Parfüm. »Ich war in Burano. Charles hat sich geweigert mitzukommen. Ihm ist es zu touristisch. Aber ich wollte eine Spitzentischdecke für die Party haben. Außerdem macht es Spaß, sich ab und zu von seinem Gatten freizunehmen. Und ich habe eine wunderschöne gefunden.« Sie deutete auf ein sorgfältig verschnürtes Paket in blauem Seidenpapier. »Ich hatte gerade an Ihre Party gedacht«, sagte Julia, was fast der Wahrheit entsprach, denn sie hatte sich Sorgen gemacht, was sie zu der Gelegenheit anziehen sollte. Die cremefarbene Bluse und der schwarze Rock waren eher für den Winter geeignet. Und sie erinnerten sie an Carlo. »Was soll ich anziehen?« Cynthia, die ihren ersten Eindruck von Julia am Flughafen nicht vergessen hatte, sagte: »Meine Liebe, es ist kein feierlicher Anlass. Tragen Sie einfach, wozu Sie Lust haben.« Was Julia nicht als besonders hilfreich empfand. Sie verließen das Boot in der Nähe der Pietà. »Glauben Sie, dass Vivaldi hinter kleinen Mädchen her war?«, fragte Cynthia. »Ich meine, was hat er sich dabei gedacht, die
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kleinen Waisenmädchen in seine Schule zu holen? Meine Vermutung lautet, er war ein Päderast.« Julia, die überlegt hatte, ob sie Cynthia von dem Eisvogel erzählen sollte, den sie am Bug vorbeiflitzen gesehen zu haben glaubte, als sie durch die verlassenen Bootswerften des Arsenale fuhren, ließ die Idee fallen und fragte: »›Päderast‹ hieße doch kleine Jungen, oder? Und wenn schon. Ist nicht das, was zählt, seine Musik?« Cynthia war keine Frau, die leicht beleidigt war. Mag sein, dass sie hinter der Antwort ihrer Begleiterin eine persönliche Empfindlichkeit spürte. Jedenfalls reagierte sie nicht auf die scharfe Antwort, und die beiden gingen schweigend die Riva Schiavoni entlang. Bald würden sie an der Calle vorbeikommen, die zum Haus des Monsignore führte. Julia, die sich der durch ihre Entgegnung hervorgerufenen Stille unangenehm bewusst war, überlegte, ob sie erwähnen sollte, wie gut ihr der Besuch beim Monsignore gefallen hatte, aber das erschien ihr als Beschreibung der merkwürdigen Begegnung zu banal, und außerdem fiel ihr ein, dass Charles gesagt hatte, der Priester sei Cynthia nicht unbedingt sympathisch. Sie näherten sich dem Stadtviertel, in dem sich die modischen Geschäfte drängen, und Julia fand, in Gedanken immer noch bei der bevorstehenden Party, einen Vorwand, um sich zu verabschieden. Ohne ihren Mann, beschloss sie, ging Cynthia ihr auf die Nerven. Von dem Rock und der Bluse für die Konzertbesuche einmal abgesehen, war es viele Jahre her, dass Julia etwas anderes als zweckmäßige Kleidungsstücke erstanden hatte. Harriets Tod hatte ihr eine Vielzahl von Blusen beschert, aber da ihre Freundin breitere Hüften gehabt hatte und fülliger gewesen war als sie, hatte Julia all ihre Röcke und Kleider an Oxfam gegeben. Ein Kleid, sagte Julia sich, 194
war das, was ihr jetzt fehlte. Etwas Sommerliches, Legeres, so hätte sich ihre Mutter ausgedrückt. In dem ersten Geschäft, das sie betrat, bediente eine Verkäuferin, die einen so kurzen Rock und so auffälliges Make-up trug, dass Julia buchstäblich zurückschreckte. »O Verzeihung«, sagte sie, als hätte sie sich aus Versehen in den Laden verirrt, »Verzeihung bitte.« Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und ging wieder hinaus. Doch in einer kleineren Calle entdeckte sie ein dezenteres, nicht gar so grell beleuchtetes Geschäft, und die nicht mehr ganz junge Frau, die sie begrüßte, war ein wenig mollig und trug einen Rock von beruhigender Länge. »Signora«, sagte die Frau. »Please?« Julia hatte längst jeden Versuch aufgegeben, dahinter zu kommen, woran die Venezianer sie immer gleich als Engländerin erkannten. »Ich suche ein Kleid«, sagte sie schlicht. »Bene.« Die Verkäuferin klatschte in die Hände. »Für einen feierlichen Anlass?« Sie deutete auf eine Stange mit metallisch schillernden Kostümen. »Oh, nein, nein!« Die Gold- und Silberfäden blitzten gefährlich. Sie hatte an leichte Baumwolle oder Musselin gedacht. »Vielleicht etwas Saloppes?« Sie wurde auf eine Stange mit eleganten Hosenanzügen verwiesen. »Keine Hosen«, sagte Julia bestimmt. »Ein Kleid.« Die Verkäuferin runzelte die Stirn, als gälte es ein hochkomplexes Problem zu lösen. Julias Blick fiel durch die Tür auf ein anderes Bekleidungsgeschäft gegenüber. »Danke schön«, sagte sie und wandte sich zum Gehen. Doch die Verkäuferin stellte sich ihr in den Weg, fast als wollte sie Julia daran hindern, das Geschäft zu verlassen. »Ich habe sehr schönes Kleid für Sie«, verkündete sie. »Warten Sie!« 195
Sie verschwand in den Tiefen des Geschäfts und kehrte wenige Augenblicke später mit drei Kleidern über dem Arm zurück. »Dieses da«, rief Julia und zeigte auf ein Kleid aus lavendelblauem Stoff. Als sie es in der kleinen Umkleidekabine vor dem Spiegel anprobierte, begann sie sich zu schämen. Ihre Unterwäsche wirkte altmodisch und angegraut. Auf jeden Fall bildete sie einen unguten Gegensatz zu der Eleganz des Kleides, mit dem sie liebäugelte. Und sie musste zugeben, das Kleid war wirklich hübsch, mit seiner weichen, fließenden Form. Während sie ihr Spiegelbild betrachtete, vernahm sie ein Hüsteln. »Signora, vielleicht möchten Sie diese probieren?« Diskret waren ein paar seidene Wäschestücke über die Tür der Umkleidekabine gehängt worden – ein Hemdchen und spitzengesäumte French knickers. Ähnliche Wäsche hatte Julia schon gelegentlich verlegen beäugt, wenn sie an einer der vielen exotischen Lingerien Venedigs vorbeigekommen war. Als sie die spinnwebfeine Spitze und den seidig schimmernden Stoff sah, war ihr erster Gedanke: Ich werde mich doch nicht lächerlich machen! Aber dann, nachdem sie sich zuerst das cremefarbene Hemd und danach das Höschen angehalten und dabei aufmerksam in den Spiegel gesehen hatte, zog sie das lavendelblaue Kleid wieder aus. Die Verkäuferin verpackte die Spitzenwäsche triumphierend in buntes Seidenpapier. »Sie ist sehr hübsch«, sagte sie. »Mein Mann liebt es sehr, wenn ich sie trage!« Sie lachte voll Nachsicht darüber, wie leicht Männer zu beeindrucken waren. »Bedauerlicherweise habe ich keinen Mann.« Julia, die nicht recht wusste, was sie zu diesem Geständnis bewegte, 196
fühlte sich aus Höflichkeit genötigt, der vertraulichen Mitteilung der Verkäuferin etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen. Außerdem war ihr ein wenig bange zumute. Wohin sollte das noch führen? Hoffentlich entwickelte sie sich nicht zu einer dieser enthemmten alten Frauen, die sich überall nackt zeigten. Ein beunruhigendes Bild von ihrem Vater im Pflegeheim, wie er im Bett lag und vor aller Augen masturbierte, blitzte in ihrem Gedächtnis auf. Doch die Verkäuferin strahlte nur umso mehr. »Ihr Geliebter wird Ihnen darin zu Füßen liegen.« Sie drückte geschickt schwarzgoldene Aufkleber auf das Seidenpapier. »Das Kleid auch? Das müssen Sie haben. Es sieht entzückend aus an Ihnen.« Julia verließ das Geschäft mit einer dicken schwarzgoldenen Tüte und einem etwas schlechten Gewissen. Noch nie hatte sie so viel Geld für sich ausgegeben. Und so sinnlos, höhnte eine innere Stimme. Ihr fiel eine Geschichte ein, die man sich über Rita Hayworth erzählte. Rita Hayworths Garderobiere hatte vergessen, für eine Aufnahme die Seidenunterwäsche zu besorgen, die der Filmstar gerne trug. Und als sie die verärgerte Diva zu beschwichtigen versuchte, indem sie beteuerte: »Das wird bestimmt keiner merken«, lautete die hoheitsvolle Entgegnung: »Doch, ich!« Die Geschichte hatte ihr Harriet erzählt. Es machte nichts, dass Julia weder einen Ehemann noch einen Liebhaber besaß, der sich an ihrem neuen Kauf freuen würde. Sie würde wissen, dass sie insgeheim verführerische cremefarbene Seide auf der Haut trug. Der Gedanke an Harriet munterte sie auf. Harriet, das wusste sie jetzt, hätte die neue Reizwäsche gebilligt. Aber war es nicht komisch, dass es möglich schien, einen Menschen nach dessen Tod besser kennen zu lernen als zu seinen Lebzeiten? Lag der Grund dafür vielleicht darin, dass die Toten nicht an einem herumkritteln 197
konnten? Die Angst davor war es doch, die einen davon zurückhielt, andere näher kennen zu lernen. Sie dachte an die junge Frau von der Pestkapelle, die, gefangen in ihren hohen Zimmern, sich an ihre Jungfräulichkeit geklammert hatte, ohne zu ahnen, dass eines Tages die wahre Liebe in Gestalt des jungen Kaufmanns, der aus dem Orient über das Meer gesegelt kam, auf sie wartete. »Wir sind eingeschlossen und mit unserer Ungewissheit allein«, erschallte eine Stimme in ihrem Kopf, während sie sich durch die Calle Lunga einen Weg heimwärts bahnte.
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6 Ich gebe zu, dass ich am liebsten auf der Stelle kehrt gemacht hätte und weggelaufen wäre. Ein Mädchen, von dem ich bis zu dem Tage noch niemals gehört hatte, eine Fremde aus einem nach meinem Dafürhalten barbarischen Land, war schon schlimm genug. Eine, die sich umzubringen drohte, war ganz sicher nicht die Frau meiner Träume. Zu allem Überfluss waren diese Leute auch noch meine Verwandten, und somit gebot die Höflichkeit, wenn sonst nichts, dass ich wenigstens eine Nacht bei ihnen blieb. Hinzu kam die Sorge, dass mein armer Vater wegen seines Geldes die Tage zählte und meine Mutter meinetwegen. Ich hätte Asarja die Zähne einschlagen können, dass er mich in diese Sache hineingezogen hatte. Es war offensichtlich, dass die Eltern der Magd am liebsten den Mund verboten hätten. Sie aber platzte damit heraus, dass ihre junge Herrin dort oben war und sich weigerte herunterzukommen. »Sieben, alle sieben«, plärrte die Magd in einem fort, und als ich nachfragte, was das zu bedeuten habe, wurden alle ganz still. Da tauchte plötzlich Asarja auf, der bis dahin Kisch gefüttert hatte, fasste das Mädchen am Ellbogen und schob es aus dem Zimmer. Ich befürchtete, die Eltern könnten das als grobe Ungehörigkeit ansehen, doch sie rührten sich nicht, blickten nur ernst zu Boden, und so folgte ich Asarja nach draußen. Die Magd saß an einer niedrigen Mauer beim Brunnen, die Arme zum Himmel erhoben, wie meine Mutter es machte, wenn mein Vater in ihren Augen zu weit gegangen war. Asarja stand neben ihr und hörte zu, einen Fuß auf das Mäuerchen gesetzt, genau wie damals, als ich ihm 199
das erste Mal auf dem Markt begegnet war. An diese Haltung erinnere ich mich heute noch, an die Festigkeit, die der Fuß ausdrückte. »Alle tot, alle tot!«, klagte die Magd. »Und jetzt will meine Herrin auch noch sterben!« Ich begriff sofort, dass jetzt ich an der Reihe war, denn Asarja nahm zwar nicht seinen Fuß von der Mauer, aber er wandte den Blick von der Magd ab und richtete ihn auf mich. Da ging mir auf, dass ich ihm bis dahin noch niemals wirklich in die Augen geschaut hatte. Sie glichen den »Augen« auf dem Schweif der großen Vögel, die der König in Ninive zur Zeit meiner Kindheit in seinem Palastgarten gehabt hatte. Man konnte nicht sagen, ob sie blau oder grün waren, denn wenn er einen anblickte, schienen sie in vielen Farben zu schillern. Als Asarja mich jetzt mit seinen Pfauenaugen ansah, durchfuhr mich ein Schreck, und ohne zu überlegen, sagte ich: »Asarja, ich habe Angst.« Asarja aber gab zur Antwort: »Das ist deine Frau, die auf dich wartet. Geh jetzt und sage ihrem Vater, dass du gekommen bist, sie zur Frau zu nehmen.« Und dann sagte er noch einmal: »Hab keine Angst! Sie ist dir von Ewigkeit her bestimmt.« Bei diesen Worten fühlte ich einen unbändigen Zorn in mir aufkochen, was mir nur recht war, weil ich ansonsten womöglich losgeheult hätte. Statt meiner fing Kisch an zu jaulen, Asarja aber berührte ihn einfach am Kopf, zwischen den Punkten über seinen Augen, und er verstummte. »Und was ist, wenn ich das gar nicht will?«, brüllte ich beinahe, doch Asarja sah mich nur unverwandt an und sprach kein Wort der Erwiderung. Bevor ich mich’s recht versah, war ich wieder im Haus und redete mit den Eltern. »Ich bin gekommen, eure Tochter zur Frau zu nehmen«, erklärte ich, und bis heute 200
weiß ich nicht, was mich zu dieser Aussage bewegte. Daraufhin fing die Mutter zu weinen an und rief aus: »Nein, nein, um deinetwillen nicht! Und auch um unsertwillen!« Aus irgendeinem Grunde weckte das meine Entschlossenheit, und ich sagte ohne Umschweife: »Nach dem Gesetz ist sie mein, wenn ich sie will.« (Da Sara und ich offenbar verwandt waren, hatte ich nach dem Gesetz des Mose vor jedem andern ein Anrecht auf ihre Hand. Meine Eltern waren ebenfalls verwandt, und mein Vater war ein entschiedener Vertreter dieses Gesetzes, auch wenn ich, ehrlich gesagt, bis dahin nicht viel darüber nachgedacht hatte.) Raguel, der sich noch nicht geäußert hatte, gebot ihr: »Schwester, sei still! Er ist der Vetter unserer Tochter, und es ist nach Recht und Gesetz, dass sie heiraten. Geh und hol unsere Tochter herbei, und sorge dafür, dass sie sich das Gesicht wäscht und sich hübsch macht, ehe sie ihrem Freier gegenübertritt.« Asarja war in der Zwischenzeit hereingekommen und stand jetzt hinter mir. Er stellte mich in keiner Weise vor den anderen bloß. Ich zürnte ihm zwar noch, aber ich hatte auch Angst, und es war tröstlich, ihn bei mir zu wissen. Nach einer Weile kam Edna wieder herunter, gefolgt von einer schlanken Gestalt mit einem Schleier vor dem Antlitz. Zuerst konnte ich sie gar nicht anschauen, und ich fühlte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich, und mein ganzer Körper zu zittern begann. Doch Asarja trat vor, nahm sie bei der Hand und führte sie zu mir. Dann teilte er ihren Schleier. Ich sah ihr Gesicht, und mir war, als müsste ich sterben, so augenblicklich und unwiderstehlich entbrannte mein Verlangen nach ihr.
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Die Party bei den Cutforths fand Ende Juni statt, an einem jener Tage, die trotz der Jahreszeit so grau in grau sind, dass man keine sommerliche Wärme spürt. Ein grässlicher Tag, beschloss Julia, als sie sich aus dem Morgenmantel pellte. Das lavendelblaue Kleid wirkte irgendwie unpassend. Kaum war sie hineingeschlüpft, zog sie es wieder aus, tat sich die Ohren weh, als sie es über den Kopf zerrte, und zerzauste sich die Frisur. Aber die Seidenwäsche ließ sie an. Dass sie die tragen würde, hatte sie sich fest vorgenommen. Sie zog den schwarzen Rock und eine Baumwollbluse an, die sie bei dem Mann erstanden hatte, der die Tischwäsche verkaufte, und war nun so spät dran, dass sie fast nicht mehr ans Telefon gegangen wäre, als es klingelte. Dann eilte sie doch die Treppe wieder hoch, stolperte, verdrehte sich dabei das Knie und musste sich zusammenreißen, damit ihre Stimme nicht ärgerlich klang, als sie an den Apparat ging. Es war Sarah, die wegen des bevorstehenden Umzugs anrief. »Ich könnte morgen, wenn Sie mögen … nur dass ich übermorgen schon fahre.« Julia war sich zwar bewusst gewesen, dass ihr Mietverhältnis mit dem Wochenende auslief, hatte aber trotzdem jeden Gedanken an den Umzug verdrängt. Dass sie ausgerechnet jetzt daran erinnert wurde, schien sich bestens in einen Tag zu fügen, an dem ihr alles zuwider lief. »Ich denke, das wird gehen …« »Na ja, wenn es Ihnen nicht passt, ich hab nur …« »Nein, nein.« Julia riss sich zusammen. »Tut mir Leid, ich musste nur erst meine Gedanken sortieren. Ich war gerade im Aufbruch.« »Ach, wohin denn?« 202
»Zu einer Party bei meinen Freunden, den Cutforths«, antwortete Julia widerstrebend. »Ach so.« Sarah schien Bescheid zu wissen. »Aldo, unser Architekt, geht auch hin. Kann sein, dass ich mich ihm anschließe.« Julia stellte fest, dass ihr diese Aussicht nicht gefiel. Die Cutforths waren ihre Entdeckung. Sie waren ihre ältesten Freunde in Venedig, und sie empfand Sarahs Mitteilung als Übergriff. Zögernd gab sie zu bedenken: »Ich weiß nicht, ob ihnen das recht wäre. Sie sind ziemlich vornehm: Auf der Einladung stand RSVP.« Das entlockte Sarah ein prustendes Lachen: »Aldo und Charles kennen sich schon eine halbe Ewigkeit! Ich glaube nicht, dass sie was dagegen hätten, wenn ich mitkäme. Aber wenn Sie meinen, ruf ich vorher an!« »Nein, nein, lassen Sie nur, wenn Sie meinen, dass es in Ordnung ist.« Julia wollte sich geschlagen geben, doch Sarah hatte bereits aufgelegt, und als Julia ihre Nummer wählte, war sie schon wieder besetzt. Der kleine Wortwechsel trug weiter zu ihrer Verstimmung bei. Draußen war es schwül, und sie war auf dem Weg zum Vaporetto noch nicht an der Kirche San Sebastiano mit Veroneses überladenen Deckenmalereien vorbei – sie konnte sich noch so bemühen, Veronese traf einfach nicht ihren Geschmack –, da war ihr schon klar, dass es ein Fehler gewesen war, das lavendelblaue Kleid wieder auszuziehen. Die kühlen Stoffmengen hätten sie gegen die feuchte Wärme geschützt. Jetzt war es zum Umkehren zu spät. Sie ging weiter, und der Schweiß rann ihr den Rücken hinunter. Die Wohnung der Cutforths besaß eine Dachterrasse. Cynthia, die nach ihrem teuren Parfüm duftete und in weißem Leinen erstrahlte, küsste Julia und dirigierte sie zu der schmiedeeisernen Treppe. »Ich habe keine Ahnung, ob 203
es drinnen oder draußen angenehmer ist, aber da oben ist Charles und macht die Honneurs.« Julia erhaschte, während sie die Stufen erklomm, einen Blick auf sich selbst im Garderobenspiegel. Ich bin alt, dachte sie. Auf dem Dach waren bereits eine ganze Reihe Leute versammelt, doch als Charles sie sah, kam er mit einer Flasche und einem Glas herbei. »Herzlich willkommen, Julia!« Er sprach so laut, dass sie sich fragte, ob er ein wenig angeheitert war. »Möchten Sie ein Glas oder soll ich Sie lieber mit einem Witz erfreuen? Wenn die Freuds in Wien eine Gesellschaft gaben, begrüßten sie ihre Gäste immer mit einem Witz.« »Am liebsten beides«, sagte Julia. »Wer sind die Freuds?« »Sigmund Freud«, erklärte Charles, während er ihr ein Glas Prosecco einschenkte. »Doktor Freud, der Entdecker des Unbewussten. Ist es so recht?« So war es schon besser. Julia nippte an ihrem Prosecco. »Irgendwie assoziiere ich den nicht mit Witzen.« »Doch, natürlich, er war ganz versessen darauf. Hat ein Buch geschrieben: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten.« »Ist es lustig?« »Öde«, sagte Charles. Er war eindeutig beschwipst. »Egal, womit kann ich Sie zum Lachen bringen?« Julia war der Ansicht, es sei nicht ihre Aufgabe, ihren Gastgeber mit Ideen für ihre eigene Begrüßung zu versorgen. »Da ich keine Witze behalten kann, kann ich das auch kaum von Ihnen erwarten.« Charles lachte schallend, als hätte sie etwas unendlich Gelungenes gesagt, und ihr fiel ein, wie selbstsicher sie aufgetreten war, als sie mit ihm und Cynthia im Gritti gegessen hatte. Unter den (falschen) Voraussetzungen 204
ihrer Beziehung zu Carlo war es ihr geglückt, mitteilsam, ja beinahe geistreich zu sein. Man vermittelte Leuten einen Eindruck von sich, und den hielten sie dann fest, ganz gleich wie man zu anderen Zeiten war. Wie ein Hund seinen Knochen, dachte sie erbost. Dann drehte sie sich halb zur Seite, um einem weiteren Gast Platz zu machen, und erkannte Carlo. Hinter ihm stand Sarah. Sarah trug ein langes schmal geschnittenes Kleid aus blassblauem Stoff, der genau zu dem Blau ihrer Augen passte. Sie hatte sich das Haar scheinbar nachlässig mit einer silbernen Spange hochgesteckt, die wie ein Fisch geformt war. An ihren Ohren baumelten noch zwei silberne Fische, mit dem ulkigen Effekt, dass sie aussah wie eine Wassernymphe aus einem alten Gemälde. Julia sah sie an und dachte: Ich bin eine lächerliche alte Schachtel mit seidener Unterwäsche. Eine Schrecksekunde herrschte Schweigen, dann setzten Sarah und Carlo gleichzeitig zum Sprechen an, stockten, und Sarah sprach allein weiter. »Julia! Sie kennen Carlo, oder? Er ist der älteste Freund unseres Architekten.« »Unsere Väter sind zusammen zur Schule gegangen«, sagte Carlo mit einem steifen Lächeln. »Aldos und meiner. Julia, wie geht es Ihnen? Ich wollte Sie morgen anrufen und – hier sind Sie!« Die Sonne war hinter den Wolken hervorgekommen, und auf der anderen Seite des Wassers wurde die hässliche weiße Fassade der Jesuitenkirche von dem unvermittelt aufblitzenden Licht angestrahlt. Sie wussten beide, dass er log. Doch der erste Schreck war vorüber, und Julia fand eine Möglichkeit, ihm entgegenzukommen. »Möglicherweise hätten Sie mich dann nicht mehr angetroffen. Ich ziehe morgen um.« Sarah war weitergewandert und stand mit Charles Cutforth am Geländer der Dachterrasse. »In 205
Sarahs Wohnung, wie es der Zufall will.« Wie verkrampft sie klang. Er zog die Augenbrauen hoch, und sie ergänzte, bemüht, nicht allzu gestelzt zu klingen: »Sie muss beruflich nach England zurück. Hat sie das nicht gesagt?« »Ich kenne Sarah kaum. Wir haben uns erst einmal gesehen. Ich glaube, als ich nach Weihnachten in Venedig war.« Er sagte nicht, dass dies auch die Zeit war, als sie sich kennen gelernt hatten, sondern stand da und ertrug galant (sie konnte nicht umhin, ihn dafür zu bewundern) die Peinlichkeit, der sie beide ausgesetzt waren. Nach einer Weile kehrte Charles zu ihr zurück, und Carlo entschuldigte sich mit einem Vorwand. »Hübsches Ding, das Sie da mitgebracht haben.« Charles nickte in Sarahs Richtung. Er wirkte wieder nüchterner. »Unsere Söhne sollten hier sein. Sie würden sich die Finger nach ihr lecken!« »Ich habe sie nicht mitgebracht. Sie ist mit einem Freund von Ihnen gekommen.« Julia hoffte, sie klinge nicht defensiv. Mit dem Wunsch, das Thema zu wechseln, sagte sie, flüchtig zum Monsignore am anderen Ende der Terrasse schauend: »Sie haben mir nie von den Söhnen des Monsignore erzählt«, und hoffte, Charles würde nicht nach Carlo fragen. »Wissen Sie das von mir? Cynthia würde mich umbringen! Sie kann es nicht leiden, wenn ich Klatsch verbreite!« Charles machte nicht den Eindruck, als ließe er sich durch die Missbilligung seiner Frau aufhalten. Er beugte sich vertraulich zu Julia vor. »Er hat einen Sohn – oder besser gesagt derer zwei! Zwillinge, stellen Sie sich vor, obwohl ich nur einen von ihnen kennen gelernt habe. Der ist ebenfalls ein angesehener Historiker. In Stanford. Wir sehen uns gelegentlich auf Kongressen. Netter Kerl.« »Er ist doch aber Priester.« 206
»Es wird strengstens geheim gehalten. Giuseppe spricht von ihnen als seinen ›Neffen‹«, erklärte Charles und sah, als er sich umschaute, dass der Monsignore fast neben ihm stand. Der Monsignore ließ durch nichts erkennen, ob er etwas mit angehört hatte. »Wir sehen uns wieder. Welch eine Freude für mich«, sagte er, den Kopf vor Julia neigend. Seine Tonsurkappe war mit einer schmalen Kante aus lila Seide gesäumt. Wie mein lavendelblaues Kleid, dachte sie und bereute abermals, es nicht angezogen zu haben. »Charles, darf ich mir noch einmal nachschenken?« Der Monsignore streckte seine sommersprossige Hand aus. »Einer der vielen Vorzüge des Lebens in Venedig ist, dass man niemals Auto fahren und sich daher niemals Gedanken ums Trinken machen muss. Obwohl ich das Gefühl habe, Zorn ist weit gefährlicher als Alkohol. Was meinen Sie?« »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Ich habe keinen Führerschein.« »Ich auch nicht«, sagte der Monsignore unbekümmert. »Ich weiß gar nicht, wie ich auf das Thema komme!« Er redete weiter, und während er sprach, spürte Julia, wie sich ihre Schultern und ihre Rückenmuskulatur entspannten. Es lag nicht an seinen Worten, auch wenn das, was er sagte, durchaus feinsinnig war. Sondern es war etwas in seiner Art, das Lebendigkeit verbreitete. Er hatte die Macht, die Stimmung der Menschen, denen er begegnete, günstig zu beeinflussen. Der Tag, der so unglücklich angefangen hatte, begann sich angenehmer zu gestalten. Aldo, ein kleiner Mann mit Glatze und gesenktem Blick, gesellte sich zu ihnen, und sie nutzte die Gelegenheit, ihn nach der Kapelle zu fragen. »Wir können uns sehr glücklich schätzen«, sagte er, an
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einem Teller mit Salat herumpickend. »Ein Verwandter von Sarah hat das Geld für dieses Projekt gestiftet.« »Das wusste ich nicht. Ist das der Grund, weshalb sie dort arbeitet?« Hatte Sarah nicht behauptet, der Architekt habe ein Auge auf sie geworfen? »Sie ist in der Tat sehr gut und hat als Steinmetzin eine hervorragende Ausbildung genossen. Aber es hilft natürlich, dass es Geld aus ihrer Familie ist. Mit Geld kann man hier immer Fäden ziehen!« Sarahs Familie war also wohlhabend. »Und hat der Geldgeber sich die Kapelle selbst als Restaurierungsobjekt ausgesucht?« Der Architekt nickte so heftig, dass ihm der Salat fast vom Teller fiel. »O ja. Sie ist ziemlich klein, so dass man mit einer begrenzten Summe auskommt. Natürlich«, lachte er, »ist das relativ gesprochen!« Aber er ist ja schwul, sagte Julia sich, ohne zu wissen, woran sie das erkannte, doch voll Stolz auf ihre Beobachtung. »Wussten Sie, woher das meiste Geld, das aus England kommt, stammt?« »Ich hab immer geglaubt, aus Spenden.« Bildete Sarah sich wirklich ein, dass dieser Mann Gefallen an ihr fand? »Aus Pizzerien!« Eine Frau, die in der Nähe stand, zuckte zusammen, als Aldos Salatgabel ihrem Seidenkleid gefährlich nahe kam. Er fuhr unbeirrt fort. »Von Ihrer Restaurantkette ›Pizza Express‹. Vor vielen Jahren ist der Besitzer auf eine geniale Idee verfallen. Er hat eine besondere Pizza, Pizza Veneziana, auf seine Speisekarte gesetzt und verfügt, dass zwanzig Pence von jeder verkauften Pizza Veneziana an den ›Venice in Peril Fund‹ gehen. Mit diesem Geld sind schon viele, viele Gebäude restauriert worden. Eine Menge Pizzen, was?« Carlo und Sarah schienen sich voneinander entfernt zu haben. Gelegentlich erhaschte sie einen Blick auf Sarah, die anscheinend die Gabe besaß, alle Leute zum Lachen zu 208
bringen. Vielleicht waren sie nur zufällig zusammen eingetroffen. Und Carlo war ein alter Bekannter von Aldo, so ließ sich das alles erklären. Das Gespräch mit dem Architekten gab ihr das Gefühl, etwas geleistet zu haben. Cynthia, die sie später von einer zähen Unterhaltung mit einer Amerikanerin erlöste, die in Venedig mit einem Arzt verheiratet war, lobte sie aus vollem Herzen. »Sie sind ein Engel. Mina ist unglaublich langweilig. Ich mag sie, aber es graust mir vor jeder Verabredung mit ihr, weil sie eine von den Frauen ist, die endlos über ihre Kinder reden. Haben Sie den Bürgermeister schon kennen gelernt? Der würde Ihnen gefallen – er ist auch Kommunist!« »Ich weiß gar nicht, ob ich selbst noch Kommunistin bin.« »Er ist nebenbei noch Professor der Philosophie«, erklärte Cynthia. »Außerdem ist es hier etwas anderes, ein Kommunist zu sein. Er hat einen niedlichen Bart.« Charles trat von hinten an Cynthia heran und küsste sie auf den Nacken. »Das war knapp«, sagte er zu Julia und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Julia, die erriet, dass er damit auf seinen Klatsch über den Monsignore anspielte, und nicht vergessen hatte, dass Cynthia es missbilligte, wenn Charles tratschte, sagte: »Charles hat mir erzählt, wie der Monsignore im Krieg den Juden geholfen hat.« »Dein Bart kitzelt mich, Charles! Ja, das war natürlich bewundernswert.« Cynthias Ton war höflich, aber nicht enthusiastisch. »Entschuldigen Sie, meine Liebe, wenn ich Sie mit meinem caro sposo allein lasse. Ich muss mich unter die Leute mischen.« »Ihre Vorfahren sind mit der Mayflower nach Amerika gekommen«, sagte Charles erklärend. »Ihr sind alle 209
Katholiken suspekt. Aber Giuseppes Mut im Krieg ist über jeden Zweifel erhaben. Er steht mit beiden Beinen im Leben, sage ich immer zu Cynth. Daher auch die Kinder!« »Charles, warum hat die katholische Kirche den Juden im Krieg nicht mehr geholfen? Es ist doch schockierend, oder, dass Leute wie der Monsignore es heimlich tun mussten?« »Vermutlich, weil die Juden in ihren Augen JC ermordet haben.« »Was ist mit dem Darbieten der anderen Backe? War das nicht seine Botschaft?« Eine Erinnerung an ihren Vater, wie er ihr ins Gesicht schlug. Sie hatte ihm gewiss die Backe hingehalten – aber aus Furcht und Scham und nicht etwa in christlicher Demut. »Es hat auch Gutes gegeben. Die erste offizielle Ausgabe des Talmud, Sie wissen schon, der beiden Bücher rabbinischer Weisheit, ist hier in Venedig erschienen. Und auch aus der Zeit der Inquisition gibt es eine schöne Geschichte. Als die Aufforderung an Venedig erging, mehr Hinrichtungen durchzuführen, vermutlich weil die Zahl hinter einigen der anderen Stadtstaaten zurückblieb, schickte Venedig die Botschaft: ›Keine Ketzer hier!‹ Die Inquisition hakte nach: ›Was ist mit den Juden?‹ Worauf die Venezianer antworteten, dass die Juden, da sie nicht an Christus glaubten, nicht als Ketzer bezeichnet werden könnten! Ich finde das wunderbar – diese venezianische Spitzfindigkeit!« »Aber für die Pest wurden die Juden trotzdem verantwortlich gemacht?« Sie dachte an die Geschichte des Monsignore. »Ja, zum Teufel!« Charles wirkte jetzt weniger beschwipst als ernsthaft engagiert. »Ganze Familien haben sie verbrannt. Aber das war überall dasselbe: Die Verun-
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glimpfung der ›dreckigen Juden‹ hat eine unendlich lange Tradition.« Fremdlinge und Halbbürger. Drüben, jenseits des Wassers, konnte sie die anmutigen Zwillingstürme der Angelo Raffaele erkennen und dazwischen den niedrigeren Turm von San Sebastiano. »Er hat doch aber Recht, nicht wahr, der Monsignore? Wir haben sie bestohlen. Ich hatte keine Ahnung, dass wir die Engel von den Juden haben. Ich hatte sie immer mit dem ›lieben Heiland sanft und mild‹ in Verbindung gebracht, und rührseligen Bildern im Stil der Präraffaeliten.« Mit Ausnahme allerdings des Erzengels Raphael. Denn hatte er sie nicht ihrer hartnäckigen Ignoranz zum Trotz aus Ealing in die Nähe seiner Kirche gerufen? Noch im Gehen fragte sie: »Glauben Sie, der Monsignore hat gehört, wie wir über seine Söhne geredet haben?« »Bestimmt nicht.« Charles war von keinem Zweifel gequält. »Passen Sie auf, wo Sie langgehen, ja? Fallen Sie nicht in die Lagune!« Doch Julia war sich, als sie an der Haltestelle der Linie 82 stand, die sie nach Hause bringen sollte, weniger sicher. Sie hatte die Augen des Monsignore blitzen sehen, als er näher kam, aber das hätte auch ein Zeichen von Erheiterung gewesen sein können. Sie hatte Schmerzen in der Hüfte und das Bein, das sie auf der Treppe verdreht hatte, tat weh. Aber sie hatte die Begegnung mit Carlo überstanden, und die Party war für sie im Großen und Ganzen erfolgreich verlaufen. Andererseits spürte sie, als sie über das grüne Wasser zu den Zattere getragen wurde, wie ihre Glieder von der Schwüle und dem ungewohnten Umgang mit so vielen Menschen schwer wurden. Den Abend über blieb es stickig, und Julia lag bis spät in die Nacht in ihrer seidenen Unterwäsche oben auf den Laken, ohne schlafen zu können. Die Begegnung mit 211
Carlo, die sie am Tage so erfolgreich gemeistert hatte, kehrte höhnisch verzerrt abermals zu ihr zurück. Was wohl in ihm vorging, fragte sie sich. Wie erklärte er sich den unvermittelten Abbruch jeglichen Kontakts zwischen ihnen? Falls er überhaupt darüber nachdachte, denn natürlich war sie für ihn nur ein Mittel zum Zweck gewesen, eine triviale Episode im Roman seines Lebens. Ihr Körper war so unruhig, dass sie, als sich der Himmel zuerst grünlich-grau, dann gelb verfärbte und anschließend rötete, den Eindruck hatte, überhaupt noch nicht geschlafen zu haben. Sie sah vom Balkon aus zu, wie das Licht sich ausbreitete, und spürte dabei deutlich, wie viel der Campo ihr mittlerweile bedeutete: die beiden steinernen Brunnenköpfe; die Trattoria, der der Erzengel freundlicherweise seinen Namen geliehen hatte und die nach außen hin so wenig hermachte, doch eines der besten Fischrestaurants von Venedig war; die Balkons mit ihrem bescheidenen Schmuck aus Wäsche und Geranientöpfen. Und, alles Übrige beherrschend, die würdige, bröckelnde Präsenz der Chiesa dell’Angelo Raffaele. Es war, als hätten sich sämtliche Ereignisse der vergangenen sechs Monate, der ganze Jammer, das Staunen und die Schrecken (denn bei ihren privaten Grübeleien gestattete sie sich mittlerweile solch große Worte) der vor ihr liegenden schönen, stillen, alten Szenerie aufgeprägt, die jetzt, schweigend und unaufgeregt, ihre Emotionen widerspiegelte, als Teil der über Jahrhunderte hier akkumulierten Gefühlswelt. Plötzlich wurde sie von dem Wunsch ergriffen, nach draußen an die frühe Morgenluft zu gehen, und sie stand schon angezogen und in Schuhen da, ehe sie überhaupt einen Plan gefasst hatte, wohin ihr Weg sie führen sollte. Wie wäre es, wenn sie, so lange es kühl war, ins Ghetto liefe und sich die neue Umgebung ansähe? Es war 212
ziemlich weit, aber ihr Bein fühlte sich besser an, und der Morgen war noch jung. Da Venedig nicht aus einer, sondern aus vielen Inseln besteht, die durch Brücken miteinander verbunden sind, ist es selten möglich, direkt von A nach B zu gehen. Normalerweise nimmt man ein Boot und benutzt die Kanäle als Wege. Doch an diesem Morgen wollte Julia zu Fuß gehen, und die Selbstverständlichkeit, mit der sie den Weg fand – zuerst durch die vertraute Calle Lunga zur AccademiaBrücke, dann über den Campo Santo Stefano und am Goldoni-Theater vorbei, wo gerade Othello gespielt wurde –, erfüllte sie mit Stolz. »Ich kenne mich aus!« In ihrem Stolz hätte sie die Worte fast laut ausgesprochen. Von dort waren es nur wenige Schritte zur teils überdachten RialtoBrücke (wo Antonio auf Shylocks jüdischen Rocklor gespien hatte), der zweiten Hauptbrücke über den Canal Grande. Hier, am Rand des ihr vertrauten Terrains, legte sie eine kurze Pause ein. Der Monsignore hatte ihr bei ihrem ersten Treffen einen Rat gegeben: »Verlernen Sie nicht, sich in Venedig zu verirren – das ist etwas, wozu ich mich täglich ermahne!« Doch heute war ihr nicht danach zumute, sich zu verirren. Deshalb überquerte sie die Brücke nicht, sondern marschierte zielstrebig durch die gewundenen Gassen, bis sie an der Apostelkirche herauskam, von der die Strada Nuova ausging, die einzige langweilige Straße in Venedig. Im Turm der Santi Apostoli läuteten die Glocken. Sechs Uhr. Weit und breit kein Mensch zu sehen, außer einem Landstreicher mit einer goldbetressten Marinemütze. Ihn hatte Julia auf ihren winterlichen Streifzügen oft gesehen, umlagert von braunen Papiertüten unter den Arkaden des Dogenpalasts. Ein einstiger Doge, zurückgekehrt in sein früheres Domizil, hatte sie sich damals vorgestellt und den Mann angesichts der eisigen Kälte für seine Tapferkeit 213
bewundert. Und dann war er plötzlich verschwunden, und sie hatte sich dumpf gefragt, wohin. Dies war also sein Sommerquartier. Die Strada Nuova, die Einkaufsmeile der Venezianer, ist tagsüber die geschäftigste Straße der Stadt. Jetzt war nur ein einsamer Mann zu sehen, der den Gehsteig vor seinem Schuhgeschäft schrubbte, womöglich Signora Mignellis entfernter Cousin, der sich als schwul geoutet hatte? Sonst nirgendwo eine Seele. Vorbei an verrammelten Läden, Kirchen, Bögen, gotischen Spitzfenstern ging sie, immer auf das Ghetto zuhaltend, bis sie zu einem Platz kam, wo sie vor einem Frauenkopf über einer hohen, geschnitzten Tür mit abblätternder Farbe stehen blieb. Das letzte Mal war sie mit dem Vaporetto zu Sarah gefahren. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Abgesehen von den Vögeln war alles still. Sie hatte sie in Venedig noch nie so singen hören, und als sie zu einer munteren Spatzenschar aufblickte, die in einem dichten Efeugewirr aus und ein hüpfte, las sie in alter venezianischer Schrift: Calle Ghetto Novissimo. Sie hatte die richtige Straße gefunden. Sie folgte der Calle bis zu einer Holzbrücke. Auf beiden Seiten des schmalen Kanals waren Wäscheleinen zwischen den hohen Häusern gespannt, und als sie nach unten schaute, sah sie im trüben grünen Wasser perfekt gespiegelte Unterhosen, Unterröcke, Pullover und Blaumänner. Vor den verrottenden Fassaden waren Boote festgemacht, die mit ihren kreuz und quer vertäuten Persennings aussahen wie gut eingewickelte Pakete. Julia überquerte die Brücke, duckte sich unter einem niedrigen Türsturz hindurch und lief durch den finsteren sotoportego. Dann trat sie hinaus auf den Campo, der einst das Zentrum des alten Ghettos gebildet hatte. In der Pfütze
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unter einer tropfenden Pumpe badeten Tauben; die tiefe Stille wurde nur vom Gesang der Vögel unterbrochen. Warum sind sie als Volk so sehr verfolgt worden, grübelte Julia und schaute den Tauben zu, wie sie sich das Gefieder putzten. Liegt es daran, dass sie den Leuten durch ihre Sicherheit Unbehagen bereiten? Sie zählte die Bäume (neun), die zur friedlichen Atmosphäre des Platzes beitrugen, und dachte wieder einmal an den alten Tobit, der brutal entwurzelt und aus seiner Heimat Samaria nach Assyrien vertrieben worden war, um mit seinem Stamm und den anderen neun Stämmen Israels samt ihrem Königreich für alle Zeiten in der Versenkung zu verschwinden. Auch das war ein Holocaust gewesen, selbst wenn es so weit in der Vergangenheit lag, dass niemand mehr daran dachte. Eine Katze, die den Tauben zugeschaut hatte, kam zu ihr und streifte ihr um die Beine. Julia fühlte sich an Stella erinnert und bückte sich, um sie zu streicheln. Sie kraulte ihr immer noch das Fell, als die Tür von Sarahs Haus aufging, und ein Mann heraustrat. Es war ein hochgewachsener Mann mit einem Schnurrbart. Im Eingang hinter ihm stand Sarah im Morgenmantel. Ihr blondes Haar fiel offen nach hinten. Der Mann machte zum Abschied eine diskrete kleine Geste mit der Hand und ging rasch durch den Tunnel des sotoportego davon. Julia Garnet, die stocksteif in ihrer über die Katze gebückten Position verharrte, als hinge ihr Leben an einem seidenen Faden, sah er nicht.
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III VISITATIO
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1 Julia blieb starr vornübergebeugt stehen, während die Katze neugierig zur offenen Tür tappte. Sarah stand im Eingang und schaute dem entschwindenden Carlo hinterher. Sie hatte sich schon umgedreht, um wieder ins Haus zu gehen, als sie Julia aus den Augenwinkeln erblickte und sich abrupt zu ihr umdrehte. »Julia?« »Sarah.« Mehr brachte sie nicht heraus. Allein den Namen auszusprechen, schien sie an den Rand ihrer Kräfte zu bringen. »Julia! Was machen Sie da?« Julia starrte sie, weiterhin gebückt, stumm an. Es war unmöglich, die Bedeutung von Carlos hastigem, verstohlenem Aufbruch nicht zu verstehen. Ihre Wirbel fühlten sich an, als wären sie zu einem Reif verschweißt, so dass ihr keine andere Wahl blieb, als in gebückter Demutshaltung zu verharren. »Julia. Fehlt Ihnen was? Kommen Sie herauf und trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir.« Der Weg ins Dachgeschoss war weit. Julia mühte sich hinter dem jugendlichen, lässig in den Morgenmantel gehüllten Rücken und dem locker fallenden Haar die steinernen Stufen hinauf. Hatte Carlo die hellen Strähnen gestreichelt? Nicht daran denken. Weiterklettern. Oben angekommen schwankte sie vor Erschöpfung, der steile Aufstieg und der morgendliche Blutzuckermangel hatten sie schwindelig gemacht. »Kommen Sie rein, Julia. Kaffee? Aber Sie trinken lieber Tee, nicht?« Sarah machte sich am Spülstein zu
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schaffen und lenkte sie auf diese Weise beide ein wenig ab. »Tee, bitte, wenn Sie haben.« Auf dem großen Bett am anderen Ende des Zimmers lag ein Knäuel aus verwühlten Laken. Sarah ging, nachdem sie den Kessel aufgesetzt hatte, hinüber und zupfte die Tagesdecke ein wenig zurecht. »Entschuldigen Sie die Unordnung. Ich hätte Sie nicht in diesen Saustall bitten sollen, aber es war so eine Überraschung, Sie zu sehen.« »Ich hatte Lust, einen Spaziergang zu machen.« »Wollten Sie zu mir? Ich bin normalerweise um diese Zeit noch gar nicht wach.« Die blassblauen Augen sahen sie unverwandt an, und Julia war diejenige, der die Röte ins Gesicht stieg. »Ich wollte mir das Haus ansehen …« Staub und Asche. »Ach so.« Sarah hängte Teebeutel in die Teekanne. Ohne sich umzudrehen, sagte sie: »Und da haben Sie Ihren Freund gesehen.« »Meinen Freund?« »Carlo. Sie haben Carlo weggehen sehen. Es tut mir Leid, wenn Ihnen das peinlich war.« »Aber nicht doch.« Julia rettete sich in ihren alten Ton. »Ich war natürlich überrascht, aber …« »So was kommt vor. Es war die Party. Ich glaube, wir hatten beide ein bisschen viel getrunken.« Sarah lachte. Das Lachen blieb mitten in dem hohen Zimmer hängen und erstarb. Sie saßen da und sahen einander stumm an, bis Sarah sagte: »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie es keinem weitersagen würden.« »Mein liebes Kind«, sagte Julia, froh, wieder eine Stimme gefunden zu haben, »wem in aller Welt sollte ich es erzählen?« Sie schwiegen abermals. Julia trank ihren Tee in kleinen Schlucken. Die Milch hatte einen Stich, sie war noch nicht 218
richtig sauer, aber ein wenig bitter. Der leichte Beigeschmack auf ihrer Zunge fügte sich gut in ihre Stimmung. Sarah sagte: »Und ihm gegenüber werden Sie auch nicht erwähnen, oder, dass Sie ihn gesehen haben? Ich schäme mich ein bisschen. Er ist wahrscheinlich alt genug, um mein Großvater zu sein. Ich weiß, dass er mit Ihnen befreundet ist.« »Wohl kaum.« Julias Stimme klang steif. Ihr war es zuwider, von Sarah in dieser Sache so bedrängt zu werden. »Wir sind gerade mal Bekannte.« »Oh, aber er hat mir erzählt, wie gern er Sie hat.« Julias Herz tat einen schmerzhaften Sprung, und sie versuchte, einen Anflug von Freude zu ersticken. Dennoch konnte sie nicht widerstehen zu fragen: »Was hat er gesagt?« »Er hat erzählt, wie gern er mit Ihnen ins Konzert geht. Julia, halten Sie mich für verrückt?« »Ich fürchte, das kann ich nicht beurteilen.« Und dann, weil sich die Augen des Mädchens mit Tränen füllten: »Sarah, ich kenne mich mit der Handhabung von Liebesbeziehungen nicht aus. Tut mir Leid.« Sarah war aufgestanden und stierte aus dem Fenster. »Es ist alles so ein heilloser Schlamassel.« Eine gute Erziehung kann sich als Kreuz erweisen. Obwohl Julia am liebsten schreiend aus der Wohnung gerannt wäre, bildete ihr Mund das Wort: »Schlamassel?« »Ja, Tobes, ich, alles.« »Immerhin haben Sie Ihre Arbeit.« Nie fern von ihren Gedanken lag der kühle Innenraum der kleinen Kapelle: eine stille Oase, Heim des blauen Engels. Sie rang um Gerechtigkeit und spürte dabei, wie ihr selbst Tränen in die Augen stiegen. »Und Sie haben bei der Restaurierung so gute Arbeit geleistet.«
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»Ach, die!« Sarah klang fast verächtlich. »Was wirklich restauriert werden müsste, ist mein Privatleben.« »Was liegt denn Ihrer Ansicht nach so im Argen?« Wieso musste ausgerechnet sie dieses Thema mit einer jungen Frau besprechen, die, ohne sich viel dabei zu denken, die letzte Nacht mit dem Mann verbracht hatte, den sie, Julia, liebte. »Hab ich Ihnen doch erzählt. Ich bin als Kind missbraucht worden. Sie wollten es nicht hören. So ist das meistens.« Julia erinnerte sich, wie sie mit Sarah auf dem Balkon gesessen hatte, mit Blick auf die Kirche Angelo Raffaele, und dachte: Da werde ich nie wieder sitzen. Staub und Asche. Staub und Asche. »Tut mir Leid, wenn Sie das Gefühl haben, ich hätte Sie zurückgewiesen.« Sie meinte es halb ironisch, doch Sarah nahm es wörtlich und sagte: »Das macht nichts. Ist doch eh alles egal, oder? Die Hauptsache ist, dass ich mich drauf verlassen kann, dass Sie über diese Sache Stillschweigen bewahren. Wissen Sie was, manchmal möchte ich mich am liebsten hier aus diesem Fenster stürzen. Es ist entsetzlich verlockend.« O ja, dachte Julia, das kann ich nachempfinden! »Sollten Sie nicht bei jemandem Hilfe suchen? Ich kenne mich in diesen Dingen nicht gut aus – oder besser gesagt, überhaupt nicht –, aber es müsste doch Leute geben, mit denen man reden kann.« »Schon geschehen.« Sarahs Antwort klang barsch. »Fünf Jahre Therapie. Mit dem Ergebnis, dass ich nur noch Schluss machen wollte.« »Himmel! Gibt es irgendetwas, das hilft?« »Ja«, entgegnete Sarah unverblümt. »Sex. Deswegen mach ich’s. Wobei das wohl vermutlich immer noch besser ist als Drogen.«
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Sie sprang auf und trat wieder ans Fenster. Julia betrachtete ihren langen, jugendlich geraden Rücken und dachte: Ich kann es ihm nicht verdenken. Sie ist hinreißend! Noch mit dem Rücken zu ihr, sprach Sarah weiter. Ihr Ton war aufgebracht. »Hören Sie, Julia, es tut mir Leid, Sie haben mit all dem nichts zu schaffen. Lassen Sie uns lieber besprechen, wie wir Ihre Sachen herholen, ja?«
An diesem Punkt verschwimmen meine Erinnerungen. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich meine Tage in Ekbatana verbrachte. Ich erinnere mich nur noch, wie anders mir alles vorkam. Zum einen ging es lustiger zu, als ich es von zu Hause gewohnt war. Die Leute sagten, ihr Prophet Zarathustra sei lachend auf die Welt gekommen, und er habe die Menschen unter anderem Fröhlichkeit gelehrt. Und sie verachteten den Tod, denn in ihm sahen sie den Sieg des Herrn der Lüge und der Finsternis – den Widersacher nennen sie ihn. Daran erinnere ich mich. Ich erinnere mich auch, dass mir Zweifel an der Sitte meines Vaters kamen, die Leichen in der Erde zu bestatten. Dort in der Gegend baute man hohe Türme – die »Türme des Schweigens« wurden sie genannt –, wo man die Körper der Toten auslegte, und man überließ es den wilden Hunden und den Geiern, die Gebeine sauber abzufressen, damit die eigenen Hände nicht mit dem Tod in Berührung kommen mussten. Die Leute lachten mich aus (sie lachten gern und viel), als ich von dem einen Gott zu ihnen sprach, denn sie hatten ihren »Allweisen Herrn«, den Gott des Lichts, der sich gegenüber fremden Gebräuchen und Göttern großzügig zeigte. Ich hatte dort in Medien den Eindruck, dass er ein freierer Gott war als unserer, der mir so oft als »eifersüchtig« beschrieben 221
worden war, und ich fragte mich, wie es meinem Vater in jungen Jahren als Einkäufer des Königs ergangen sein mochte. War auch ihm die Seele leichter geworden, als er in die Stadt des Zarathustra kam, die heilige Stadt Rages? Sara konnte mich nicht leiden, und sie zeigte es deutlich. Ich vermochte nicht zu ergründen, ob es an meinem Aussehen lag oder an meiner Herkunft (denn auch wenn wir aus demselben Geschlecht waren, hatte sie doch ihr ganzes Leben in Medien verbracht). Traurig erwog ich, ob sie vielleicht eine geborene Männerhasserin war; auf jeden Fall hatte sie eine giftige Zunge. Ich war vorher kaum jemals in der Gesellschaft einer jungen Frau gewesen, zumal einer, die so schön war, wie Sara. Daher erschrak ich regelrecht, als ich sie sprechen hörte. Nach ihrem Aussehen hatte ich eine zarte und feine Stimme erwartet, doch stattdessen hatte sie einen scharfen Ton, bei dem es einem die Sprache verschlug. Sie lachte über alles, was ich sagte, aber keineswegs aus Heiterkeit. Ich spürte, dass sie mehr über mich lachte als über das, was ich vorzubringen hatte. »Ach, heiraten willst du mich?«, höhnte sie, und es lag etwas in der Art, wie sie das sagte, das mich herabwürdigte. »Sieh dich lieber vor, ich bin gefährlich!« Natürlich gab es die Geschichten von den Männern, die sie vor mir zur Frau genommen hatten. Außer Saras Andeutungen erreichte mich noch manch düsteres Geraune von anderen Seiten: In der Stadt hieß es, es habe Tote gegeben, manche sprachen sogar von sieben Toten. Allerdings waren Sara und ihre Familie, auch wenn sie sich angepasst hatten, immer noch Fremde, und man weiß ja, dass die Leute am liebsten Gerüchte über diejenigen verbreiten, die nicht so sind wie sie selbst. Ich hatte den Verdacht, dass Sara den Geist der Männer gebrochen hatte, die sie hatten haben wollen, so dass ihnen das Herz 222
schwach und die Knie weich geworden waren, und wenn man einem Mann die Kraft nimmt, ist das in gewisser Hinsicht so, als tötete man ihn. Ich hatte nicht vor, auf diese Art zu »sterben«. Unterdessen schien Asarja, von dem ich Hilfe erwartete, in seinem Einsatz für mich zu erlahmen. Er verbrachte so viel Zeit mit Saras Magd, dass ich ein Techtelmechtel argwöhnte und ihn eines Tages darauf ansprach. »Hör mal!«, sagte ich mit mehr Schärfe als sonst, vielleicht weil ich es bei Sara gerade so besonders schwer hatte. »Ich dachte, du hilfst mir, die Herrin zu heiraten, stattdessen machst du der Dienerin schöne Augen.« Schließlich war diese ganze Geschichte seine Idee gewesen. Aber wenn er nicht wollte, bekam man aus Asarja kein Wort heraus. Er grinste mich einfach auf eine Art an, die mir wohl unverschämt erschienen wäre, wenn sie nicht auch wehgetan hätte. Mittlerweile betrachtete ich Asarja mehr als Freund denn als Diener, doch als ich ihn jetzt so grinsen sah, war ich versucht, ihn wieder in seine Schranken zu weisen. Nur brachte ich es diesmal einfach nicht fertig. An dem Abend gab es einen herrlichen Sonnenuntergang. Ich hatte in der Vergangenheit auf solche Dinge nicht allzu sehr geachtet, doch die Erschütterung durch die Begegnung mit Sara hatte mich verändert. Ich begab mich allein auf einen Spaziergang, um nach der Hitze des Tages die kühle Luft zu genießen, aber auch, wie ich zugeben muss, um darüber nachzudenken, ob ich das Richtige getan hatte, indem ich um Saras Hand anhielt. Kisch begleitete mich – ach ja, und das kam noch dazu. Kisch mochte Sara nicht. Gleich beim ersten Mal, als er sie sah, fletschte er die Zähne und ließ ein leises, drohendes Knurren hören, was sonst gar nicht seine Art war. Ich muss gestehen, dass Kischs Verhalten mich beunruhigte – 223
obwohl man sich eigentlich bei der Wahl seiner Frau nicht nach einem Hund richten sollte. Ich hatte einen Stock geworfen, den Kisch mir eifrig zurückgebracht hatte, und setzte gerade zum zweiten Wurf an. Ich hatte schon die Hand über den Kopf gereckt, und Kisch hechelte erwartungsvoll, als mein Blick zufällig auf das Fenster von Saras Turmstube fiel. Im Innern brannte eine Öllampe, und eine Gestalt trat ans Fenster und sah hinaus. Eine Sekunde lang dachte ich, es wäre Sara, und überlegte schon, ob ich es wagen sollte, ihr zuzuwinken. Da erkannte ich, dass es gar nicht Sara war, obwohl ich mich gewiss nicht im Zimmer irrte. Es war Asarja, der da am Fenster stand. In diesem Augenblick, in dem es ganz so aussah, als hätte Asarja mich hintergangen, brach für mich die Welt zusammen. Meine Verlobte mit meinem Diener! Kisch sprang kläffend an mir hoch, und da tat ich etwas, wofür ich mich heute noch schäme: Ich versetzte ihm einen kräftigen Tritt in die Seite, so dass er schrill aufjaulte und mit eingezogenem Schwanz das Weite suchte. Ich kam mir vor wie ein Schwein. Ein Schwein und ein Esel und ein Hahnrei obendrein (sofern man von einer Frau, die einem noch gar nicht gehört, zum Hahnrei gemacht werden kann). Also deshalb, dachte ich wütend, wollte Asarja, dass ich ihr einen Heiratsantrag machte – um selber freie Bahn zu haben! Kischs Jaulen musste Asarjas Aufmerksamkeit erregt haben, denn als ich wieder über das Wasser schaute, stand er immer noch am Fenster und sah hinaus. Plötzlich erblickte er mich, und ich fühlte, wie ich rot wurde – Noah weiß warum, aber es war mir peinlich, dass er bei der Braut seines Herrn im Zimmer ertappt worden war. Doch zu meiner grenzenlosen Verblüffung schien der Mann selbst nicht im Geringsten verlegen zu sein. Im Gegenteil, 224
er winkte mir mit seiner langen Hand zu, und sogar aus der Entfernung hätte ich schwören können, dieses vermaledeite Lächeln zu sehen!
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2 Julia war nicht zu Fuß zum Campo Angelo Raffaele zurückgekehrt. Die Sonne brannte schon zu sehr, sie fühlte sich ausgelaugt und verspürte nach dem Gespräch mit Sarah nur noch das Bedürfnis nach einem Brandy und einem Bad. Während sie auf die verschiedenen Vaporetti wartete, mit denen sie die Rückfahrt durch die Stadt bewältigte, ließ sie die Leere ihrer Gedanken durch nichts und niemanden stören. Nach der grässlichen, ungewollten Intimität empfand sie es als erholsam, in die Sicherheit ihrer vier Wände zurückzukommen, und so blieb sie einfach eine Weile auf dem Sofa sitzen und sah aus dem Fenster. Nicht einmal die Brandyflasche holte sie sich, sie war einfach zu müde. Es war Samstag, und sie konnte Nicco und seine Freunde draußen Fußball spielen hören. Ich will hier nicht weg, dachte sie. Dies ist mein Zuhause. Ich will es nicht verlassen. Aber in ihr »Zuhause« würden Montagabend Signora Mignellis neue Mieter einziehen. Sie ermahnte sich streng: Du kannst nicht alles haben, was du willst. So läuft das Leben nicht! Nicht einmal für Sarah, die vermutlich zumindest mit Carlo gehabt hatte, was sie wollte. Ihren Koffer zu packen, dauerte nicht lange. Das ungetragene, lavendelblaue Kleid und die Seidenwäsche wickelte sie in Seidenpapier und legte sie auf den schwarzen Rock und die cremefarbene Bluse. Sie hatte noch eine zusätzliche Tasche gekauft, eine geräumige, marineblaue Stofftasche aus einem der Discountläden im Rialto, und darin verstaute sie alles, was sich während ihres Aufenthalts angesammelt hatte: ein paar Wintersachen, Schuhe, ihre Kulturtasche, ein Ersatzhandtuch, Harriets Hut, 226
Papiere und Bücher. Damit blieb nur noch das Buch über die Apokryphen und andere alt-jüdische Schriften übrig, das zu dick war, um in den Koffer oder die Tasche zu passen. Julia schlug willkürlich eine Seite des Wälzers auf, den Vera so unerwartet gutwillig den ganzen Weg von London hierher geschleppt hatte. Der Text eines anderen heiligen Buchs der Juden sprang ihr entgegen: Und dies sind die Namen der heiligen Engel, die wachen: Uriel, einer der heiligen Engel, gesetzt über die Welt und den Tartarus. Raphael, einer der heiligen Engel, gesetzt über die Geister der Menschen. Raguel, einer der heiligen Engel, der Rache übt an der Welt der Lichter. Michael, einer der heiligen Engel, gesetzt über den besten Teil der Menschen und über das Chaos. Sarakiel, einer der heiligen Engel, gesetzt über die Geister, die wider den Geist sündigen. Gabriel, einer der heiligen Engel, gesetzt über das Paradies, die Schlangen und die Cherubim. Remiel, einer der heiligen Engel, von Gott über die gesetzt, die sich erheben. Das Buch Henoch, las sie. Das waren also die »sieben Engel«. Was waren nur »Geister, die wider den Geist sündigen«? Und Raguel, »der Rache übt an der Welt der Lichter«? (warum musste an Sonne, Mond und Sternen Rache geübt werden?) – war Raguel nicht auch der Name des Vaters der jungen Frau, die im Buch Tobit ihre Ehemänner umbrachte? Das kleine rote Buch mit den Apokryphen lag gut sichtbar oben in der marineblauen Tasche und öffnete sich fast von selbst bei den Seiten mit der mittlerweile vertrauten Geschichte:
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Am selben Tage ereignete es sich, dass Sara, die Tochter Raguels zu Ekbatana in Medien, von den Mägden ihres Vaters ebenfalls verhöhnt wurde. Denn sie war mit sieben Männern verheiratet gewesen; diese alle aber hatte Asmodi, der böse Dämon, umgebracht, bevor sie eheliche Gemeinschaft mit ihr gepflogen hatten. Das waren noch einfachere Zeiten, als die Bosheit eines jungen Mädchens auf einen bösen Dämon geschoben werden konnte. Doch in der Geschichte kam der heilige Engel Raphael und heilte das besessene Mädchen. Das Telefon klingelte. Julia fuhr zusammen. »Hallo«, sagte Sarah. »Ich bin’s. Wann müssen Sie eigentlich aus Ihrer Wohnung raus? Ich frag mich nur gerade – würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir Ihre Sachen erst morgen rüberholten?« »Im Grunde genommen muss ich sogar erst Montag ausziehen.« Julia bemühte sich, nicht so zu klingen, als würde sie am liebsten den Hörer fallen lassen. »Ach, wie gut. Könnten wir es dann auf morgen verschieben? Mir ist irgendwie was dazwischengekommen.« Sarah kicherte, und Julia, die davon ausging, dass dieses »was« nichts anderes bedeutete als »Carlo«, beendete rasch das Gespräch und legte auf. Eine Gnadenfrist! Sie legte sich aufs Sofa und streifte die Schuhe von den Füßen. Wie waren die Namen der sieben Engel? Uriel, Raphael, Raguel, Michael, Sarakiel, Gabriel. Mist! Auf den letzten kam sie nicht. Noch während sie sich zu erinnern versuchte, schlief sie ein. Ein junger Mann mit einem Hund stand an einem Flussufer und sah zu einem Fenster hinauf. »Es ist alles in Ordnung«, sagte sie. »Es ist nicht so, wie du denkst. Nichts ist je so, wie man denkt.« Der junge Mann war 228
Toby. »Wo warst du?«, fragte sie. »Wir haben uns um dich gesorgt.« »Ich musste nach Rages«, erklärte er. »Für meinen Vater.« »Aber der Engel?«, fragte sie. »Wo ist der Engel, der dich begleiten sollte?« Das Telefon klingelte erneut und weckte sie auf. Diesmal war es Cynthia. »Wir machen ein Resteessen«, sagte sie. »Lauter Kleinigkeiten, die bei der Party übrig geblieben sind. Kommen Sie doch vorbei, wenn Sie nichts gegen Essen vom Vortag haben.« »Vielen Dank«, sagte Julia noch ganz schlaftrunken. »Ich müsste eigentlich packen. Aber vielleicht bin ich bis zum Abendessen fertig.« »Dann also, falls Sie noch mögen«, sagte Cynthia, gastfreundlich wie immer. »Wollen Sie wirklich zu dieser jungen Nixe ziehen?« »Es war eine sehr schöne Party.« Julia verspürte keine Neigung, sich über Sarah auszulassen. »Vielen Dank, dass Sie mich eingeladen haben.« »Nicht doch, wir haben zu danken! Sie waren unser Stargast«, entgegnete Cynthia überschwänglich. »Wie ich höre, haben Sie sich mit Joyce’ Sohn über Dante unterhalten – er hat richtiggehend von Ihnen geschwärmt. Sie vollbringen Wunder. Wahrscheinlich kommt das vom jahrelangen Unterrichten. Normalerweise kriegt der Junge in Gesellschaft den Mund nicht auf!« Julia, die sich ehrlich dafür interessiert hatte, etwas über die Herkunft der Zeilen eines Yeats-Gedichts zu erfahren, die ihr ständig im Kopf herumgegangen waren, fand es ärgerlich, aufrichtiges Interesse mit bloßem sozialen Geschick verwechselt zu sehen. Es war ein lehrreiches Gespräch gewesen. »Die Zeilen beziehen sich auf den 229
neunten Kreis der Hölle«, hatte ihr der junge DanteForscher erklärt. »Graf Ugolino ist mit seinen Kindern in einen Turm eingesperrt, und am Ende zwingt ihn die Not, ihre Leichen zu fressen.« – »Wie ungerecht«, hatte sie gesagt, »ihn in der Hölle dafür zu quälen, dass er lediglich versucht hat, sich am Leben zu halten.« In der Wohnung war nur noch wenig zu tun. Julia kehrte die Böden ein zweites Mal und wischte auf den Möbeln Staub. Morgen wollte sie die Toilette putzen und die Geschirrtücher waschen. Aber damit war dann auch wirklich alles erledigt. Und einfach drinnen im Zimmer oder draußen auf dem Balkon zu sitzen und auf den morgigen Tag zu warten, erschien ihr plötzlich unerträglich. Sie versuchte die Apokryphen wieder in die Tasche zu zwängen, und als das nicht gelang, kippte sie andere Bücher auf den Fußboden. Aus einem fiel das Programm eines Barockkonzerts, ein Andenken von einem der ersten Abende mit Carlo. Überwältigt sank sie auf die Knie: »Oh, Liebster, mein Liebster …« Sie schaukelte vor und zurück. Er fehlte ihr noch genauso wie immer – nein, mehr denn je. Mit einem Mal verspürte sie den dringenden Wunsch, den Monsignore zu sehen. Er hatte etwas an sich, das quälende Gedanken vertrieb. Sie kannte ihn kaum. Konnte sie einfach aus heiterem Himmel an seiner Tür auftauchen? Andererseits, warum nicht? Warum sollte sie nicht genau das tun? Einfach aus heiterem Himmel vorbeikommen. Mehr als fortschicken konnte er sie nicht! In der stechenden Sonne waren wenig Menschen unterwegs. Morgen war der erste Juli. Genau sechs Monate nach ihrer Ankunft in Venedig hatte das Wetter das andere Extrem erreicht. Auf der Brücke in der Nähe der Calle des Monsignore versperrte ihr an derselben Stelle wie an dem 230
Tag, als sie mit Charles hier gewesen war, eine Schar japanischer Touristen den Weg. Unermüdlich wie immer! War es dieselbe Gruppe, die nur immer im Kreis lief? Kurz vor dem Tor mit den üppigen Rosen verkrampfte sich ihr Magen. Vielleicht schlief der Monsignore? Eigentlich war das an einem derart heißen Nachmittag kaum anders zu erwarten. Wenn dem so war, störte ihr Besuch nur. Sie sollte lieber wieder gehen. Noch während sie in Gedanken ihre nächsten Schritte abwägte, wurde der Riegel am Tor aufgesperrt, und vor ihr stand Constanze. »Oh«, sagte Julia. »Verzeihen Sie bitte. Ich habe mich gerade gefragt, ob der Monsignore vielleicht …?« »Ingresse, prego!« Constanze vollführte mit dem Kopf eine ruckartige Bewegung in Richtung des Innenhofs, ließ Julia am Tor stehen und marschierte davon. Nach kurzem Zögern trat sie ein. »Monsignore Giuseppe?« »Wer ist da?«, rief eine Stimme. »Hier ist Julia Garnet. Ich war gerade in der Gegend, da …« Der Monsignore kam ihr mit ausgestreckten Händen entgegen. Er trug eine einfache schwarze Kutte und einen runden Strohhut. Der Mops, der unter dem Dach des Laubengangs gelegen hatte, stand auf und trottete herbei. »Siehst du, Marco, wir haben Besuch! Gerade da ich mich langweile, kommen Sie, wie einer der heiligen Engel des Himmels!« »Oh«, sagte Julia, von der überschwänglichen Begrüßung verwirrt. »Über die habe ich gerade gelesen.« »Ach ja? Was haben Sie denn gelesen? Ich stehe ganz auf der Seite der Engel.« »Das Buch Henoch.« Was immer sie sich im vergangenen Januar vorgestellt hatte, sie hatte gewiss nicht damit 231
gerechnet, dass sie sich eines Tages mit einem katholischen Priester über die himmlischen Heerscharen unterhalten würde. »Ah, Sie meinen die sieben heiligen Engel.« »Ja. Was hat man unter den Geistern zu verstehen, die wider den Geist sündigen? Können Sie mir das sagen?« »Vielleicht so etwas wie unsere katholische Sünde wider den Heiligen Geist? Die Hoffart, die das Gute leugnet, wohl wissend, dass es gut ist. Darf ich Ihnen ein Glas Prosecco anbieten?« »Vielen Dank. Und warum wird einem Engel dafür die Verantwortung übertragen?« »Wer auf diese Weise sündigt, macht sich keiner geringen Sünde schuldig – sondern vielleicht eher der schwersten? Das ist ein interessantes Thema. Ich werde erst noch darüber nachdenken müssen. Und Sie? Sind Sie wohlauf nach der großen Party? Ich für meinen Teil habe zu viel getrunken, aber immerhin kann ich zu meiner Rechtfertigung sagen, ich habe es vorher gewusst. Wenigstens tue ich nicht so, als wäre es aus Versehen geschehen!« Julia, die fast automatisch geantwortet hätte, es gehe ihr gut, sagte stattdessen: »Eigentlich geht es mir gar nicht gut.« »Das ist bedauerlich«, erwiderte der Monsignore. Er redete nicht weiter, und sie saßen schweigend da. Zwei Tauben landeten im Hof, sonst regte sich in der unerbittlichen Nachmittagshitze kein Hauch. Julia wünschte, sie wäre nicht hergekommen, und war innerlich wie äußerlich vollkommen erstarrt. Nach einer Weile brachte sie hervor: »Es tut mir Leid – ich hätte Sie nicht behelligen dürfen«, und erhob sich zum Gehen.
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»Auch mir tut es Leid, dass Sie sich nicht imstande fühlen, mir zu erzählen, was Sie quält«, sagte der Monsignore. »Ich weiß nicht wie«, sagte Julia unglücklich. »Vielleicht kann ich es erraten«, sagte der Monsignore. »Meistens, wenn Leute zur Beichte kommen, das heißt, Leute, die nicht gewohnt sind, eine Beichte abzulegen, dann kommen sie aus einem von zwei Gründen – entweder wegen einer Verfehlung oder wegen einer Herzensangelegenheit.« »Ich denke, bei mir ist es das Herz«, sagte Julia und nahm wieder Platz. »Aha«, sagte der Monsignore und schob ihr den Weinkrug zu. »Mit dem Herzen kenne ich mich ein wenig aus.« Abermals trat Stille ein. »Das Problem ist«, sagte Julia. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Es ist mir peinlich.« »Natürlich.« Der Monsignore blieb ganz sachlich. »Das Herz brütet ständig Peinlichkeiten aus. Aber was das angeht, sind wir alle miteinander Idioten, darauf können Sie sich verlassen. Wir alle verbergen von Zeit zu Zeit vor Scham das Gesicht.« »Gut«, sagte Julia. »Ich will versuchen, es Ihnen zu erzählen.« Wieder trat Stille ein. »Sagen Sie nichts«, riet der Monsignore. »Lassen Sie uns einfach hier sitzen. Und Frieden finden.« Sie verharrten. Der Mops, der sich unter der Kutte des Priesters zurechtgelegt hatte, begann zu schnarchen. Nach einer Weile sagte Julia: »Als ich nach Venedig kam, hatte ich Schönheit noch nie wirklich wahrgenommen. Natürlich hatte ich einen gewissen Sinn für Ästhetik, aber ich hatte mich ihr noch nie wirklich geöffnet, verstehen Sie, was ich meine? Dann lernte ich jemanden kennen, einen Mann, der mir schöne Dinge zeigte, der mir die Schönheit 233
von Venedig nahe brachte – und ich verliebte mich in ihn.« »Das ist gut«, sagte der Monsignore. »Nein – denn, wissen Sie, ich dachte, er hätte mich ebenfalls gern. Ich dachte nicht, dass er mich liebte, ich wusste, dass er mich nicht liebte, aber ich dachte, er hätte mich gern. Ich dachte, er hätte Freude an meiner Gesellschaft.« »Und dem war nicht so?« »Nein. Es war ein Junge. Ein kleiner Italiener, mit dem ich mich angefreundet hatte, den wollte er über mich kennen lernen.« »Ah!« »Ja. Jedenfalls dachte ich, dass es so war. Ich war sehr wütend und sehr traurig, und dann wurde ich sehr krank. Ich fürchte, ich habe mich ziemlich dumm verhalten.« »Mag sein. Aber ich denke, Liebe ist nie ›dumm‹, wie Sie es nennen.« »Wie auch immer, jedenfalls war ich gerade halbwegs über die Sache hinweg, als ich ihn wieder traf.« »Wann haben Sie ihn getroffen?« Als sie schwieg, gab er die Antwort selbst: »Auf der Party, war es auf der Party?« »Ja. Er war verlegen, und ich war verlegen, es war ganz schauderhaft.« So unzulängliche Worte zur Beschreibung ihrer Herzensnot bei der Begegnung auf der Cutforthschen Dachterrasse. »Aber dann …« Wie sollte sie diesem Mann Gottes bloß erklären, was als Nächstes vorgefallen war? »Es gibt ein Mädchen.« »Ah! Jetzt kommt ein Mädchen ins Bild.« »Ja, sie war mit ihm zusammen auf dem Fest. Auch sie habe ich hier kennen gelernt – sie ist die Restaurateurin aus der Pestkapelle.«
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»Ja, natürlich, davon hatten wir neulich schon gesprochen. Ein Projekt der Leute von ›Venice in Peril‹.« »Sie fährt heim nach England, und ich muss aus meiner Wohnung raus, deshalb dachten wir beide, es sei eine gute Idee, wenn ich in ihr Apartment zöge, solange sie weg ist.« Der Monsignore schenkte sich noch ein Glas Prosecco ein. »Ein Hundehaar!«, sagte er. »Verzeihung. Bitte, fahren Sie fort.« »Ich konnte nicht schlafen. Deshalb bin ich früh aufgestanden. Es schien mir eine gute Idee, einen Spaziergang zu ihrem Haus zu machen. Um es mir anzusehen. Weiß Gott, wie ich darauf gekommen bin! Verzeihung.« »Bitte.« Der Monsignore winkte ab. »Gott ist nicht so empfindlich mit seinem Namen.« »Ich war sehr frühmorgens vor dem Haus, in dem ihre Wohnung liegt, und da habe ich sie gesehen.« »Sie?« »Ihn und sie. Er ging gerade. Sie war im Morgenmantel.« Der geschmeidige junge Rücken. Sie verbarg das Gesicht in den Händen. »Tut mir Leid. Ich wollte nicht …« Der Monsignore wartete ab und machte zu ihrer Erleichterung keine Anstalten sie zu trösten. Nach einer Weile sagte er: »Ich bin nicht sicher, ob ich Sie recht verstehe, aber falls Sie sich damit abgefunden haben sollten, dass dieser Mann homosexuell ist – und sicher sind, dass dieser ursprüngliche Eindruck der richtige ist –, und es Ihnen nun aber Probleme bereitet, wenn sich plötzlich herausstellt, dass er auch mit diesem jungen Mädchen schläft, dann lassen Sie sich bitte sagen: Ich bezweifle, dass beides der Fall sein kann. Es kommt zwar bisweilen vor, aber nur sehr selten. Wenn ein Mann kleine Jungen liebt, wird er in 235
der Regel mütterlichere Frauen bevorzugen – wenn er sich überhaupt auf diese Weise für Frauen erwärmt.« »Woher wissen Sie das alles?« Der Monsignore grinste. »Ach, meine Liebe! Die Beichte ist eine wunderbare Lehrmeisterin, was das Leben betrifft. Es gibt nicht allzu viele sexuelle Varianten, von denen ich in meinem kleinen Kabäuschen noch nicht gehört hätte. Und gelegentlich auch außerhalb!« »Aber sie hat es mir gesagt. Sarah hat mir erzählt, dass sie mit ihm geschlafen hat.« Sie dachte an Sarahs knabenhafte Figur. Vielleicht hatte das Carlo gefallen. Was konnte ein katholischer Priester schon über solche Dinge wissen? Der Monsignore legte beide Hände an seine Wangen, als hätte er Zahnschmerzen. Nach einer Weile sagte er: »Sehen Sie, eine Äußerung ist wie ein Scheck. Dessen Wert hängt davon ab, wie er bei demjenigen gedeckt ist, der ihn ausstellt. Wenn Richard Branson einen Scheck auf eine Million Pfund ausstellt, ist das eins. Wenn ich ihn ausstelle …« – er hob dramatisch die Hände –, »ist es etwas ganz anderes! Mein Scheck ist nicht gedeckt.« »Aber ich habe sie gesehen«, erwiderte Julia unglücklich. »Sie hat mich gebeten, niemandem davon zu erzählen.« Sie fand wenig Trost in diesem Vergleich aus der Finanzwelt. »Hören Sie, meine liebe Freundin«, sagte der Monsignore. »Ich will Ihnen eine Geschichte von mir erzählen. Es ist eine Geschichte, die ich noch nie jemandem erzählt habe, nicht einmal in der Beichte.« »Oh«, protestierte Julia, »dann dürfen Sie sie mir nicht erzählen.« »Aber warum denn nicht?« Die undurchdringlichen Vogelaugen sahen sie an. »Es ist eine wahre Geschichte, und der Zufall will, dass sie nichts enthält, was meinen 236
Beichtvater etwas anginge. Ich bin alt und muss bald sterben. Sie haben mir Ihre Geschichte anvertraut – es ist gut, wenn ich Ihnen nun diese Geschichte anvertraue. Doch zuerst brauchen wir noch etwas Prosecco.« Er winkte jemandem im Haus. Während sie warteten, ging Julia zu den dunkelkarmesinroten Rosen ans Tor. »Sie sind wunderhübsch.« »Leider haben sie Mehltau«, sagte der Monsignore. »Doch ich bin bequem und sage mir, die Natur wird so etwas besser zu richten wissen als ich. Natürlich ist es eine Lüge, mit der ich mich herausrede, aber keine schlimme!« Eine junge Frau kam mit einem Tablett. »Möchten Sie noch etwas?« Er ließ ihr Glas klingen wie eine Tulpe aus Kristall. »So, jetzt werde ich erzählen. Es ist Krieg. Ich bin ein junger Mann, noch nicht zum Priester geweiht, noch im Seminar in Rom. Meine Heimat ist Venedig, und wenn ich mir von meinem Studium frei nehme (das ziemlich hart ist – wir müssen Latein nicht nur schreiben, sondern auch jede Unterhaltung auf Lateinisch führen!), komme ich hierher. Mein Leben lang habe ich, wenn ich fort war, Venedig vermisst!« »Ich habe den Eindruck, ich würde es auch vermissen, und ich bin erst ein halbes Jahr hier«, sagte Julia. »Es gehen Gerüchte um, dass Hitler plant, Venedig zu seinem Hauptquartier zu machen, und ein paar von uns arbeiten daran, dass der kleine Gefreite, sollte das Unglück geschehen, die Kunstschätze Venedigs nicht in seine gierigen Pfoten kriegt. Davon erzähle ich meinen Vorgesetzten in Rom natürlich nichts. Meine Ansicht über Hitler wird dort nicht von allen geteilt!« Der Monsignore gluckste. Julia, die das Gefühl hatte, von ihr werde eine Reaktion erwartet, stieß ein verlegenes
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Lachen aus. Ihr war ein wenig mulmig angesichts der Ehre, die ihr zuteil wurde. »Es gibt Wege, vergessene Gänge, durch Venedig, die nur einigen Nachfahren der alten Familien bekannt sind. Jetzt stellen sich diese als nützlich heraus, für unsere alten Kunstschätze und auch, um unseren jüdischen Freunden zu helfen. Verstehen Sie?« »Charles hat mir erzählt, dass Sie Juden geholfen haben, durch die Gänge zu entkommen.« »Genau. Meine Familie kennt diese Wege, aber mein älterer Bruder ist nicht sehr verlässlich. Er ist sich nicht so sicher, ob er nicht doch den kleinen Gefreiten und dessen Pläne bewundert. Eines Abends, als ich gebeten werde, eine jüdische Familie ins Versteck zu bringen, bekomme ich so ein Gefühl.« Der Monsignore klopfte sich auf den Bauch. »Ich bekomme ein Gefühl, in meinem Innern, und eine Stimme sagt mir: ›Giuseppe, geh nicht!‹« »Hatten Sie Angst, Ihr Bruder könnte Sie verraten?« »Kann sein. Ich weiß es nicht. Vielleicht täusche ich mich, und das Gefühl hat sich nur eingestellt, weil ich meinen Bruder nicht leiden kann. Ich habe die Wahrheit nie erfahren, weil mein Bruder umgekommen ist, bevor ich ihn fragen konnte.« Da Julia nicht wusste, wie sie das aufnehmen sollte, sagte sie: »Das tut mir Leid.« Der Monsignore blies durch die Lippen. »Es ist nur der Tod! Und ich mochte ihn nicht, Gott hab ihn selig. Jedenfalls sage ich zu dieser Familie: ›Heute Abend nicht.‹ Möchten Sie noch etwas Prosecco?« »Danke. Er schmeckt wunderbar.« Der Monsignore trank mit kleinen, schnellen Schlucken. »Wissen Sie, es ist komisch, dies jetzt zu erzählen. Es ist mir jeden Tag gegenwärtig. Es jetzt laut auszusprechen, hat etwas Seltsames.« 238
»Bitte hören Sie auf, wenn Sie nicht mögen.« Er tätschelte ihren Unterarm. »Nein, nein, ich möchte es Ihnen erzählen, und wissen Sie, die größten Weisheiten sind nicht jene, die geschrieben stehen, sondern jene, die zwischen Menschen weitergegeben werden, die einander verstehen. In der Familie gibt es eine Tochter – ein sehr schönes Mädchen. Sie hat eine Figur wie Sophia Loren. – Habe ich Ihnen die Geschichte über Papst Johannes erzählt?« »Ich glaube nicht.« »Okay, ich erzähle Sie Ihnen später. Erinnern Sie mich bitte daran, damit ich es nicht vergesse. – Ihre Mutter bittet mich: ›Bringen Sie sie noch heute fort. Im Hafen liegt ein Schiff. Sie kann nach Amerika fahren, aber sie muss morgen in aller Frühe los.‹ Ich glaube nicht, dass es sicher ist, doch die Mutter ist sehr hartnäckig, und das Mädchen ist sehr schön.« Er seufzte. »Und ich bin ein junger Mann – noch kein Priester!« Lachend fuhr er fort. »Also nehme ich das Mädchen mit, aber ich überlege: Wo kann ich sie verstecken, bis ich weiß, dass ich sie zum Schiff bringen kann? Und dann denke ich: Okay. In der kleinen Kapelle.« »Der Pestkapelle?« »Genau! Übrigens mag ich Ihren Rudyard Kipling mit seinem wunderbaren Gedicht: ›Wenn du den Kopf behältst, wenn ringsumher/ Die andern ihn verlieren …‹« »Das mag ich auch sehr!« »Es ist so treffend, und ich habe es mir in den Zeiten damals häufig aufgesagt. Vielleicht sogar in jener Nacht? Ich weiß es nicht mehr!« Julia, die erwartet hatte, dass er mit dieser »Erinnerung« aufwarten würde, freute sich: Der Monsignore war kein Schönfärber.
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»Damals in der Zeit wurde die Kapelle nur zu bestimmten Festen geöffnet: zu Taufen und Hochzeiten. Aber ich wusste, wo der Schlüssel aufbewahrt wurde – unter dem Brunnenkopf auf dem Campo. Und ich wusste, dass sie ein Geheimnis enthielt.« »Ein Geheimnis?« »Jawohl. Es gibt einen Gang hinter einer Wand, der einst in einen benachbarten Palazzo führte. Das wusste ich aus der Geschichte, die ich Ihnen erzählt habe, als Sie mich damals netterweise mit Charles besucht haben. Übrigens glaubt Charles nicht an diese alten Geschichten, weil er ein rationaler Mensch ist. Das ist eine der besseren Seiten der katholischen Kirche, dass sie alles andere als rational ist.« Julia verkniff sich die Äußerung, das Christentum insgesamt sei irrational. Sie wollte seine Erzählung nicht unterbrechen. »Aber ich weiß eindeutig, per Empirie, wie Charles sagen würde, dass es diesen Gang gibt, weil ich eine Nacht darin verbracht habe!« Diesen Satz brachte der Monsignore mit einem gewissen Stolz hervor. Julia, die spürte, dass etwas dahinter steckte, fragte: »Mit dem schönen Mädchen?« »Mit dem schönen Mädchen.« Er nickte zufrieden. »Isabella war ihr Name. Eine wunderbare Figur!« Er zeichnete vor der Brust mit den Händen einen übertriebenen Umriss nach. »Himmel!« Julia beschloss, sich beeindruckt zu geben. Es war offensichtlich, dass dies von ihr erwartet wurde. »Doch jetzt kommt die Pointe der Geschichte. Wir haben die Nacht gemeinsam in der Kapelle verbracht, und vielleicht habe ich den Arm um sie gelegt, weil sie sich fürchtete. Und weil ich mich ebenfalls fürchtete. Aber
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sonst ist nichts gewesen.« Die Vogelaugen blickten starr und ernst. »Das glaube ich Ihnen.« »Ich weiß es genau, denn ich bin bis heute jungfräulich. Ich war zwar noch nicht geweiht, aber es war mir mit meiner Berufung ernst, und es wäre mir auch sonst nicht richtig erschienen, die schreckliche Situation dieser jungen Frau auszunutzen. Was nicht heißt, dass ich es nicht gewollt hätte, verstehen Sie mich recht.« »Ich bin auch jungfräulich.« Sie wusste nicht, warum ihr dies entfahren war, und ihr stieg die Röte ins Gesicht, doch der Monsignore streckte die Hand aus und tätschelte abermals die ihre. »Gut, gut, Sie leisten mir Gesellschaft. Ich glaube nicht, dass Keuschheit noch allzu verbreitet ist! Aber wissen Sie, ich finde es schade, wenn Sie sich dessen schämen. Ich für mein Teil bin stolz, allen Versuchungen zum Trotz an meiner Jungfräulichkeit festgehalten zu haben! Obwohl mir natürlich keiner glaubt.« Julia, die bei sich dachte, dass einem »Versuchungen« wahrscheinlich die Jungfräulichkeit weniger beschämend erscheinen ließen, entgegnete nur schwach: »Doch, bestimmt glaubt man Ihnen!« Der Monsignore stieß sein leises, hohes Kichern aus. »Lassen Sie mich fertig erzählen, dann urteilen Sie selbst. Nachdem ich das Mädchen auf das Schiff gebracht habe, höre ich eine ganze Weile nichts von ihr, bis ich nach Kriegsende eines Tages einen Brief aus Amerika bekomme. Er ist von Isabella. Sie teilt mir mit, dass sie heil in Amerika angekommen und mittlerweile mit einem amerikanischen GI verheiratet ist, und ich freue mich für sie. Außerdem hat sie Zwillinge. Ich freue mich noch mehr. Dann kommt die Bombe. ›Ich habe keinem gesagt‹, schreibt sie, ›dass die Zwillinge von dir sind.‹« Der 241
Monsignore lehnte sich zurück wie ein Zauberer, der unerwartet ein Kaninchen aus dem Hut gezogen hat. »Aber«, protestierte Julia verblüfft, »das verstehe ich nicht!« »Ich auch nicht«, erwiderte der Monsignore munter. »Oh, wir haben keinen Prosecco mehr. Immer sind sie so nachlässig, wenn Constanze nicht da ist. Oi! Prosecco, per favore!« »Nein, nein«, sagte Julia verwirrt. »Danke. Ich möchte nicht mehr.« »Aber ich. Oi!« Als das Tablett mit dem frischen Prosecco gebracht worden war, hob der Monsignore wieder an. »Man hätte mich mit einer Feder aus dem Flügel des Heiligen Geistes niederstrecken können! Da bin ich ein junger Priester im Vatikan, auf dem besten Weg zu einer großen Karriere, darauf bedacht, wichtige Zeichen zu setzen, und Simsalabim erfahre ich, dass ich Vater bin!« »Aber Sie haben doch gesagt …« Sie mochte nicht explizit werden. »Dass ich jungfräulich bin, und das ist die Wahrheit. Ich wusste es, und jetzt wissen Sie es auch. Unser lieber Signore weiß es glücklicherweise ebenfalls, aber die schöne Isabella scheint es nicht gewusst zu haben. Ich habe viel, sehr viel darüber nachgedacht«, sagte der Monsignore und schenkte sich das nächste Glas ein. »Und …?« Es schien ihr fast ungehörig zu fragen. »Und am Ende komme ich zu folgendem Schluss: Ich glaube, dass sie selbst es auch nicht wusste. Wer weiß, was diese Nacht der äußersten Angst mit ihr gemacht hat? Sie hätte jederzeit an die fascisti ausgeliefert werden und in ein Konzentrationslager kommen können. Vielleicht hätte sie ihre Familie nie wiedergesehen, die sie für die Überfahrt ins sichere Amerika ausgewählt hatte. Unter 242
solchen Umständen kann der Verstand uns Streiche spielen. Und letztlich fühle ich mich geschmeichelt, dass sie glaubt, wir hätten miteinander Verkehr gehabt.« »Aber wer war der Vater? Der GI?« »Ich glaube nicht. Vielleicht eine Begegnung auf dem Schiff nach Amerika, während sie noch verwirrt ist? Wer weiß. Wie so vieles kann dies nur unser Herrgott wissen.« »Was ist aus den Kindern geworden. Den Zwillingen?« »Nun, das ist interessant. Sie werden erwachsen. Ihre Mutter und deren Mann lassen sich scheiden, wie es zu meinem Leidwesen heutzutage nur allzu üblich ist. Ich habe nie erfahren, was sie ihrem Mann gesagt hat, aber eines Tages bekomme ich einen Anruf. Das ist zu einer Zeit, als ich im Dienst des Außenministeriums mit ziemlich schwierigen Verhandlungen mit den USA befasst bin, wegen der Unruhen in Irland. Da ruft mich eines Tages ein Mann an und sagt, er komme aus Amerika, ob er mich besuchen dürfe. Als er bei mir ist, stellt sich heraus, er ist Isabellas Sohn.« »Und er hat geglaubt, Sie wären sein Vater?« »Allem Anschein nach, ja. Vermutlich hat seine Mutter es ihm und seinem Bruder nach der Scheidung erzählt. Ich glaube, sie hatten mit Isabellas Mann Probleme gehabt, deshalb hat sie vielleicht gedacht, es sei ihnen eine Hilfe.« Julia runzelte die Stirn. »Das muss hart für Sie gewesen sein, oder?« Der Monsignore quietschte abermals vor Vergnügen. »O ja. Wieder war ich wie vom Donner gerührt! Es war aber auch eine ziemlich ernste Sache. Ich arbeitete an exponierter Stelle für den Vatikan. Der kleinste Skandal« – er blies die Backen auf – »und ich bin erledigt.« »Und was haben Sie getan?« »Ich habe unendlich viel darüber nachgedacht. Tag und Nacht. Sollte ich es meinem Vorgesetzten, Ottaviani, 243
erzählen? Er war ein ziemlich strenger Zuchtmeister, der keinerlei Unschicklichkeit duldete. Vielleicht sollte ich direkt nach ganz oben gehen und mich an den Papst wenden, der sicher weniger mitleidlos gewesen wäre. Am Ende entschied ich mich dafür, gar nichts zu unternehmen. Die Mutter des jungen Mannes hat ihm eingeschärft, es müsse um jeden Preis geheim bleiben. Außerdem habe ich den Verdacht, sie hat ihm erzählt, sie sei die Liebe meines Lebens. Ein Märchen, das nicht vollkommen an der Wahrheit vorbeigeht, weil ich mit Sicherheit keine größere Erfahrung menschlicher Liebe gemacht habe als in jener Nacht mit seiner Mutter. Vielleicht glaubt er sogar, dass ich aus Liebe zu seiner Mutter Priester geworden bin.« »Aus Enttäuschung, meinen Sie?« »Wer weiß? Ich habe sie nach jener Nacht nie wieder gesehen, und es tut ohnehin nichts zur Sache. Ich fühlte mich sicher, dass er mich nicht verraten würde. Natürlich hatte ich seinen Bruder noch nicht kennen gelernt, aber Zwillinge sind einander ähnlich, und so hatte ich tief in meinem Innern das Gefühl, auch dem anderen Bruder vertrauen zu können.« Sind Zwillinge einander immer so ähnlich, fragte sich Julia und dachte an Sarah und Toby. »Übrigens sollte sich herausstellen, dass ich Unrecht hatte.« Der Monsignore strahlte. »Irgendwer muss geplaudert haben. Vielleicht hat Isabella ihre irrige Überzeugung anderswo wiederholt. Auf jeden Fall entstand das Gerücht, ich hätte Söhne in Amerika, die ich als meine ›Neffen‹ bezeichnete, aber die Sache werde absolut geheim gehalten. Einer der Söhne ist an der Universität, daher kommt es, dass Charles die Geschichte kennt. Ich habe gehört, wie er sie Ihnen auf der Party erzählt hat.«
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Julia errötete. »Das dachte ich mir! Charles meinte, Sie hätten es nicht mitbekommen.« Ein Vogelauge zwinkerte ihr zu. »Manchmal ist es klug, sich taub zu stellen. Doch jetzt genug von mir. Ich habe Ihnen diese Geschichte aus zwei Gründen erzählt. Zum einen, weil ich Sie mag und es gut tut zu beichten, selbst wenn man eigentlich gar keine Sünde begangen hat. Und zum zweiten, weil ich Ihnen etwas verdeutlichen möchte. Es kann passieren, dass eine Frau sagt, sie habe mit einem Mann geschlafen – ja, dass sie es selber glaubt –, ohne dass es wirklich geschehen ist. Ich halte Sie für eine mutige Frau. Wenn es wahr ist, dass Ihr Freund mit diesem Mädchen schläft, dann werden Sie sich nicht belügen. Sie werden es wissen. Aber machen Sie nicht den Fehler, einer schlechten Nachricht nur deshalb Glauben zu schenken, weil sie schlecht ist. Wir leben, Gott möge uns vergeben, in einer Zeit, da uns schlechte Nachrichten lieber sind als gute. ›Priester am Vatikan hat nicht mit schöner Jüdin geschlafen‹ kommt nicht als große Schlagzeile! Und wissen Sie, nun, da ich Sie kennen gelernt habe, denke ich, dass Ihr Freund Sie auch um Ihrer selbst willen gern gehabt hat. Das mit dem kleinen Jungen ist nicht Grund genug – da gibt es andere Mittel und Wege …« Julia zog eine Grimasse. »Ja, aber ich habe Nicco Stunden gegeben. Verstehen Sie doch, es war eine perfekte Ausrede, um ihn zu sehen – mit mir als Anstandswauwau.« Und sie kannte ja selbst dieses verheerende, fiebrige Verlangen, das einem ins Blut ging und jeden anderen Gedanken infizierte. Ob dieser Mann, der sich so gut mit allem Menschlichen auskannte, wohl auch das zu durchschauen vermochte? Dem Priester entfuhr ein Geräusch, das man als Seufzen hätte deuten können. »Ihnen missfällt meine Vorstellung, 245
dass Ihr Freund Sie ebenfalls mochte, weil Sie, verzeihen Sie mir, zurzeit davon betört sind, immer das Schlimmste zu glauben. Das Gefühl kenne ich, glauben Sie mir. Zum Glück«, er prostete ihr zu, »ist dies heutzutage das einzige Gift, von dem ich mich betören lasse.« Sie schwiegen beide. Julia, die sich über seine Worte geärgert hatte, versuchte sich den hässlichen kleinen Priester als jungen Mann vorzustellen, der im Versteck mit dem völlig aufgelösten Mädchen vor Angst verging. »Wie war es denn, in der Kapelle?« »Es war ein wunderbarer Ort«, sagte der Monsignore. »Ich erinnere mich, nicht überrascht gewesen zu sein, dass der Engel Raphael ihn besucht hatte.« »Das glauben Sie?« »Auf jeden Fall hat es der Maler geglaubt.« »Der Maler?«, fragte sie und verstand nicht, warum ihr fast die Tränen kamen. »Habe ich das nicht gesagt? Es gibt ein Diptychon von einem anonymen Meister, das immer in der Kapelle stand, mit der Geschichte von Tobias und Raphael.« »Die Geschichte kenne ich.« »Ein sehr altes, heiliges Gemälde, dem man viele Wunder zuschreibt.« »Ja?« Ihr Atem brannte in der Kehle. »In der Nacht, als Isabella und ich uns in der Krypta versteckten, habe ich dort auch das Diptychon versteckt. Damit der kleine Gefreite es nicht bekam.« »War ein Hund darauf?« »Ein Hund?« »Ja. Ein Hund, auf dem Bild mit dem Engel?« In ihr Notizbuch hatte sie geschrieben: »Der Hund und der Engel treten gleichzeitig in die Geschichte ein, genau in dem Moment, als wir erfahren, dass Tobit und Sara sich beide mit Todesgedanken tragen. Vielleicht sind Tobit und 246
Sara zwei Seiten einer Medaille – dann wären der Hund und der Engel vielleicht Aspekte, die beiden fehlen und die sie brauchten, um geheilt zu werden?« Der Monsignore schien sein Gedächtnis zu erforschen. »Ja, natürlich«, sagte er langsam, »Sie haben Recht. Ich hatte vergessen, dass ein Hund an seiner Seite war – normalerweise ist der Hund mit Tobiolo zusammen, doch in diesem Fall war Tobiolo auf der anderen Tafel, mit seinem Vater.« Dann war es also wirklich dasselbe Tafelbild. »Wie sah der Engel aus?« Wieder ließ sich der Monsignore Zeit. Seine Augen unter den Schlupflidern glichen jetzt eher denen eines schlafenden Reptils als denen eines Vogels. Er schwieg so lange, dass Julia glaubte, er sei eingeschlafen, und sich gerade erhoben hatte, um leise davonzuschleichen, als er plötzlich die Augen aufschlug und sagte: »Ich kann verstehen, warum ihn dieser Maler in Blau gemalt hat, der Farbe des Himmels. Aber als ich ihn mit eigenen Augen sah, hätte ich unmöglich sagen können, wie er aussah.« Darauf trat Stille ein, und dann spürte Julia, wie sich aus ihrem Innern ungehemmt eine namenlose Empfindung in die Stille ergoss. Der Monsignore hatte die Augen wieder geschlossen, und ein Lid zuckte leise, als wollte es ihr halbherzig zuzwinkern. Wie ein unsagbarer Strom ergoss sich die Empfindung in den grünen Garten, über die hohen Mauern und in die mannigfaltige, zeitlose Helle, von der Venedig nur eine Spielart ist. Irgendwann fiel ihr auf, dass der Monsignore nun wirklich fest eingeschlafen war, und als er im Chor mit seinem Hund zu schnarchen begann, stand sie leise auf und verließ den Garten.
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In jener Nacht hatte ich einen Traum. Eine der Lehren meines Vaters, an die ich mich weiterhin hielt, war die Ermahnung, auf Träume zu achten. Träume seien von Engeln überbrachte Botschaften, meinte er, und er erzählte mir, wie unser Erzvater Joseph mit dem bunten Rock zu Ruhm gelangte, indem er die Träume des ägyptischen Pharaos deutete. Mir träumte, dass ich an einem Fluss entlangging und zu Saras Turmstube hinübersah, genau wie ich es am Vorabend wirklich getan hatte. Doch jetzt, mit den Augen des Traums, konnte ich durch das Fenster in den Raum hineinschauen. Asarja war darin und Sara auch. Sie lag auf dem Bett, die Hände über den Kopf gestreckt, und warf sich wie eine Wahnsinnige hin und her. Asarja stand still daneben und sah sie nur an. Auf einmal trat er vor, und ich bemerkte, dass er ein Seil in der Hand hielt. Er schlang es um sie und band sie fest, und so sah ich sie dort liegen, gefesselt wie ein Opfertier. Der Anblick erzürnte mich dermaßen, dass ich einen Schrei aussließ, und ich muss auch im Schlaf geschrieen haben, denn als ich aufwachte, stand Asarja an meinem Bett – und er lächelte, so wie er gelächelt hatte, als wir uns zum ersten Mal begegnet waren.
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3 Julia begab sich, nachdem sie den Monsignore verlassen hatte, nicht zum Abendessen bei den Cutforths. Stattdessen machte sie sich zu Fuß zum Markusdom auf. Es schien ihr unendlich viel Zeit vergangen zu sein, seitdem sie zum ersten Mal unter der Säulenarkade am Rand der Piazza gestanden hatte. Nun stand sie abermals da und versuchte, möglichst leidenschaftslos auf die Basilika zu schauen. Doch wozu die Mühe, dachte sie, während sie den großen Platz überquerte. Sie trat durch das Hauptportal in die Vorhalle ein. Wozu sich um Leidenschaftslosigkeit bemühen? War nicht Leidenschaft – Passion – im Grunde das Allentscheidende? Die Passion Christi. Sie hatte noch nie über diese Worte nachgedacht. Nein, das stimmte nicht: Sie hatte darüber nachgedacht, aber sie hatte ihnen keine Bedeutung abgewonnen. Vom Lateinischen passio – Leiden. Aller Jaspis und Porphyr, aller blau geäderter Marmor und meergrüner Serpentin, das ganze strahlende Gold – sie stand unter den Mosaikdecken der Vorhalle –, das alles diente dazu, das Andenken an das glühende Liebesopfer eines einzelnen Mannes zu bewahren. Als sie nach oben schaute, erblickte sie die Darstellung der Erschaffung der Welt in der südlichsten Kuppel. Eine Offenbarung, dachte sie. In einer Spirale vollzog sich die Trennung zwischen Nacht und Tag, die Erschaffung der Gestirne, von Sonne und Mond. Dann folgten die Meere, Fische, Vögel, die wilden Tiere bis hinab zum untersten Rand der Kuppel, wo Eva aus Adams Seite gezogen wurde. Aus seiner Rippe – sie sah aus wie ein Putenschenkel in Gottes Hand! 249
Die Japaner waren wieder scharenweise unterwegs. Eine Gruppe blieb stehen und hielt mit einer Batterie phallischer Fotoapparate auf Adam und Eva. Kein Wunder, dass ihnen ihre Nacktheit peinlich war. Entrüstet wandte sich Julia ab. Wirklich, dachte sie, man sollte den Zugang zu Orten der Schönheit eher erschweren als erleichtern. Man sollte die Leute einer Prüfung unterziehen, bevor man ihnen Eintritt in San Marco gewährte. Ein Hinweisschild erinnerte sie daran, dass sie während ihrer ganzen Zeit in Venedig noch nie die Treppe hinaufgestiegen war, um sich die berühmten Bronzerosse anzusehen. Drinnen in der Basilika war es bestimmt voll. Und sie war neugierig darauf, einmal von oben auf die Piazza hinunterzuschauen. Kurzentschlossen erklomm sie die steile Steintreppe nach oben. In der oberen Galerie angekommen, sah sie vor sich einen Leichnam an einem Baum hängen. Judas Iskariot, der Verräter. Der Mosaizist hatte ihn anscheinend hier oben vor den Augen der Leute versteckt. Armer Judas! Wie musste ihm zumute gewesen sein, nachdem er denjenigen verraten hatte, von dem er wusste, dass er der Beste war. Vielleicht war das die Aufgabe von Sarakiel, dem fünften Engel: uns vor Selbstbetrug zu bewahren? Aber die Pferde? Sie war gekommen, um die Pferde zu sehen. Es hieß, sie dürften nicht mehr draußen stehen, weil die verschmutzte Luft die vergoldete Kupferbronze angreife. Im Britischen Museum hatte sie einmal eines von ihnen angeschaut, nachdem sie geduldig Schlange gestanden hatte. Aber sie hatte keine richtige Erinnerung mehr daran. Sie lief an dem von vielen Fingern geglätteten Marmor entlang, und dann schnappte sie plötzlich nach Luft, denn auf einmal standen sie vor ihr, uralten Göttern gleich, mit aufgestellten Ohren, geblähten Nüstern, jedes mit einem 250
elegant erhobenen Huf. Fast zweitausend Jahre alt, hatten sie ihre Geschichte als Beutestücke in vollem Glanz überlebt. Was hatte ein solcher Schatz nur in einer so armseligen Kammer zu suchen? Was scherte man sich um die Luftverschmutzung? Sie gehörten draußen unter freien Himmel! Pferde sind wie Hunde, überlegte sie, während sie eilends den Raum verließ: Hüter unserer Instinkte. Julia trat hinaus auf das Dach. Es war früher Abend, und in der nachlassenden Hitze strömten unter ihr die Touristen in Scharen auf den Platz. Über den abschüssigen Marmorboden ging sie an den Nachbildungen der Pferde vorbei und streckte die Hand aus, um einen Huf zu berühren. Ein hartes Schicksal, ewig nur der Ersatz zu sein! An der Ecke setzte sie sich hin, die mächtige Basilika in ihrem Rücken, vor sich auf gleicher Höhe den blau-goldenen Glockenturm, dessen Klöppel der Stadt Venedig die Viertelstunden schlagen. Die sonderbare Geschichte des Monsignore musste sie erst noch verdauen. Sie traute ihm zu, dass er sie erfunden hatte, um sie zu trösten und ihr über ihr Unglück hinwegzuhelfen. Sie war nicht sicher, aber sie hielt ihn für einen Mann, der imstande war zu flunkern, wenn er dadurch Schmerzen zu lindern vermochte. Andererseits sprach die Absonderlichkeit der Geschichte gegen diese Theorie. Ihre Unwahrscheinlichkeit machte sie glaubwürdiger. Und außerdem war da noch seine zweite Offenbarung. Welche Wahrheit steckte denn nun hinter den Ereignissen der vergangenen Nacht? In der Natur von Carlos Interesse an Nicco hatte sie sich nicht getäuscht, dessen war sie sich absolut sicher. Während ihrer Wanderkur, wie sie ihr wochenlanges Umherstreifen mittlerweile für sich getauft hatte, war sie zu dem Schluss gelangt, dass die unerfüllbare Leidenschaft, die sie für Carlo hegte, und dessen unerfüllbare Leidenschaft für Nicco einander 251
entsprachen. Heute im Gespräch mit dem Monsignore hatte sie die Natur des grausamen Dürstens nach dem, was man nicht haben konnte, sei es »Liebe« oder »Verlangen«, besser verstanden. Die Worte des Monsignore klangen ihr noch im Ohr: »… falls Sie sich damit abgefunden haben sollten, dass dieser Mann homosexuell ist …« Hatte sie sich damit abgefunden? Vielleicht ja. Die Demütigung, die sie durch ihre Liebe zu Carlo erlitten hatte, hatte einer tieferen Empfindung Platz gemacht: dass nämlich Carlo genauso verwundbar war wie sie. Ohne Zweifel schämte er sich ebenfalls seiner Gefühle. Wir können unser Begehren nicht steuern, dachte Julia Garnet. Doch das Mädchen Sarah stellte sie vor ein ganz anderes Problem. Was der Monsignore angedeutet hatte, entsprach der Wahrheit: Die Möglichkeit, dass Carlo Sarah begehrte, machte sie eifersüchtig. Doch was in aller Welt gab ihr das Recht, eifersüchtig zu sein? Ein englisches Ehepaar tauchte auf und wollte sich an ihr vorbeizwängen. Sie stand auf und ging ein Stück am Dach entlang zurück. Im Süden lag die Lagune, deren Wasser darauf wartete, Venedig zu verschlucken. Sie mochte gar nicht daran denken. Wobei, dachte sie (und ging weiter bis an die Ecke zum Dogenpalast), die Dinge am meisten Schaden anrichten, die wir aus unseren Gedanken verbannen. Wenn Venedig in Gefahr war, dann war die Gefahr allein durch Klarsichtigkeit abzuwenden. Eine Gruppe kichernder Mädchen spielte am Geländer. Sie probierten, wie weit sie sich hinüberlehnen konnten, und unter ihren kurzen Röckchen lugten ihre Unterhosen hervor. Hinter und unter ihnen bewachten die beiden hohen Granitsäulen aus der Levante den Eingang zur Lagune – und erinnerten Julia an die andere Geschichte des Monsignore, von dem jungen Seidenhändler, der durch seine 252
Liebe und die Gnade des Engels Raphael Macht über Leben und Tod gewonnen hatte. Auf der einen Säule stand der falsche heilige Theodor mit seinem Krokodil, den Carlo ihr bei ihrer ersten Begegnung gezeigt hatte. Warum ein Krokodil? (Beim Reverend Crystal konnte sie nicht mehr nachschauen!) Sie hatte doch kürzlich irgendetwas über Krokodile gelesen. Natürlich – in dem Buch von Vera. Die Vorstellung von der Heilkraft des Fisches im Buch Tobit war unter Umständen auf die magischen Kräfte der Krokodile zurückzuführen. Offenbar hatten die Ägypter geglaubt, dass der Dung und die Galle von Krokodilen wirksame Heilmittel gegen Leukome waren, die Ursache von Tobits Erblindung. Doch zu ihrer eigenen Blindheit. Wenn es dafür nur ein Heilmittel gäbe! Ihr fiel ein, wie Sarah an ihrem Fenster mit Blick auf die unsichtbaren Berge gestanden hatte, und sie erschrak. Sarah hatte gesagt, sie sei manchmal versucht, sich hinunterzustürzen. Hier oben ging Julia auf, wie leicht das wäre: Die Vorstellung war mit einem seltsamen Kitzel verknüpft. Sie und Sarah, beide in tödlicher Liebe zu Carlo entbrannt? Nein, das war Unfug, überlegte sie auf dem Rückweg zur Galerie und machte sich an den Abstieg über die steile Treppe (denn es war ein Pfiff ertönt, der alle Besucher zum Aufbruch mahnte). Sarahs Motive dafür, sich vom Dach zu stürzen, waren ernster als jede vergängliche Verliebtheit, die sie für Carlo empfunden haben mochte. Aber wenn der Monsignore Recht hatte, wenn Sarah also nicht mit Carlo geschlafen hatte, was hatte er dann so frühmorgens in ihrer Wohnung gemacht? Und weshalb hatte ihr Sarah diese Lüge aufgetischt? Zu Hause auf ihrem Balkon sah sie zu, wie das reflektierte Licht der untergehenden Sonne die Wolken über dem Campo färbte, und schrieb: »Die Fische waren in der 253
Schöpfungsgeschichte als Erste da. Der alte Tobit hat sich über sich selbst erhoben, auf sein hohes moralisches Ross – auch das Mädchen musste ›aus ihrer Turmstube heruntersteigen‹. Beide haben etwas Grundsätzliches zu begreifen. Vielleicht ›heilt‹ sie der Fisch, weil er sie herunterholt, nicht auf den Boden, sondern auf eine noch tiefere Ebene? (NB: Nachforschungen über Garum anstellen.)« Am Ende war es Nicco, der ihr half, ihre Habseligkeiten ins Ghetto zu schaffen, und nicht Sarah. Signora Mignelli hatte, so erfuhr sie, als sie an ihrem letzten Abend in die Wohnung zurückkehrte, bereits alles für den kommenden Tag organisiert. »Wir sehen Sie hier wieder«, sagte sie, als stünde das außer Frage. »Ich weiß nicht, wann ich wieder herkomme«, sagte Julia ein wenig melodramatisch. »Natürlich Sie besuchen uns«, sagte die Signora im üblichen Befehlston. »Sie kommen nächste Woche Kaffee trinken mit mir! Si?« Nicco und Julia legten den Weg durch die Stadt fast schweigend zurück. Sie war nicht zu Gesprächen aufgelegt. Doch es war kein unbehagliches Schweigen, und in der Hoffnung, dass es für den Jungen (der den großen Koffer und die Tasche die Treppe hinaufgeschleppt hatte) keine allzu schlimme Tortur gewesen war, überreichte sie ihm zufrieden einen 50000-Lire-Schein, obwohl sie wusste, dass dies unter den Drachenaugen von Signora Mignelli niemals erlaubt gewesen wäre. »Nein, nein.« Nicco wies das Geld mit Nachdruck zurück. »Nimm es, Nicco, ich bestehe darauf. Du hast mir so freundlich geholfen.«
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»Okay.« Bezaubernd wie immer ließ Nicco zu, dass sie seinen Widerstand besiegte. »Ich helfe Sie mehr, Giulia?« »Danke, Nicco, stell nur noch die Bücher hier hin, ja? Dann brauche ich dich nicht mehr. Aber ich will dir noch meine Nummer hier geben. Und bitte komm mich mal besuchen.« Und rasch setzte sie hinzu: »Nicht zum Lernen – ich werde einsam sein.« »Okay«, sagte Nicco, und dann, überraschend fließend: »Jetzt Sie wohnen nicht mehr so nahe, Giulia, ich besuche Sie.« Sarah, die am Telefon erleichtert geklungen hatte, dass sie nicht vorbeizukommen brauchte, hatte bei einem jungen Iren, der in der Wohnung unter ihr wohnte, einen Brief und die Schlüssel hinterlassen. Liebe Julia – ich reise morgen in aller Frühe ab, deshalb übernachte ich bei Aldo, um Ihnen keine Unannehmlichkeiten zu bereiten. Als hättest du das nicht längst getan, dachte Julia. Eigentlich gibt es nichts zu erklären. Sollten Sie Schwierigkeiten haben, Sean von unten weiß alles über die Wohnung. Er ist Filmemacher und echt auf Draht. Viel Spaß und machen Sie’s gut! Sarah. Darunter waren drei xxx gemalt, als Küsschen. Julia, die zu erschöpft war um auszupacken, sah sich nach sauberen Laken für das Bett um. War das etwas, wonach sie Sean, den Filmemacher, fragen konnte? Zweifellos gab es gute Gründe dafür, dass er »alles über die Wohnung« wusste. Als sie keine Laken fand, setzte sie einen Kessel Wasser auf, um sich Tee zu kochen (wenigstens gab es 255
eine Teekanne), und da sie keine Lust verspürte, »Sean von unten« in Anspruch zu nehmen, stellte sie ihre Tasse auf einen wackeligen Zeitschriftenhaufen neben dem Bett und streckte sich auf der Tagesdecke aus. Nicco hatte den Wälzer aus der London Library ans Bett gelegt, und weil sie nichts Besseres zu tun hatte, schlug sie die erste Seite des Vorworts auf. Das Wort »Apokryphen« taucht zum ersten Mal im Zusammenhang mit Schriften auf, die der Öffentlichkeit vorenthalten wurden, weil sie geheime oder esoterische Weisheiten enthielten, die zu heilig oder zu profund waren, als dass sie anderen außer den Eingeweihten enthüllt werden durften. Das altgriechische Wort άπόκρυφα bedeutete verborgen. Was hatte der Monsignore noch zu ihr gesagt? »Die größten Weisheiten sind nicht jene, die geschrieben stehen, sondern jene, die zwischen Menschen weitergegeben werden, die einander verstehen.« Sie las weiter. »Erst in jüngerer Zeit wird ›apokryph‹ im Sinne von falsch oder häretisch verwandt.« Charles hatte die Geschichte des Monsignore über den jungen Levantiner und den Bau der Pestkapelle »apokryph« genannt. Trotzdem war ihr alles, was der Monsignore gestern erzählt hatte, als stichhaltig erschienen. Es hing eben stets davon ab, wie man die Dinge sah. Wie hatte Blake das ausgedrückt? »Ich zweifle mein Körperliches Auge so wenig an wie ich ein Fenster … anzweifeln würde. Ich sehe hindurch und nicht damit.«
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»Asarja«, sagte ich noch ganz benommen. »Was ist geschehen?« »Du hast geträumt.« Die klare Stimme vertrieb meine Schlaftrunkenheit. »Wo ist Sara?«, fragte ich, als mir der befremdliche Traum wieder einfiel. »Asarja, was ist mit ihr? Wer sind diese Männer, von denen die Magd gesprochen hat? Was hast du in ihrer Kammer gemacht?« Asarja wollte mich sanft niederdrücken, damit ich weiterschlief, doch ich ließ es nicht zu. »Nein«, sagte ich, »ich bin kein Kind und du bist nicht meine Amme. Ich bin so wach wie nie zuvor in meinem Leben. Sprich offen mit mir, oder ich werde morgen nach Rages abreisen.« Das Versprechen, das ich meinem Vater gegeben hatte, begann mich zu plagen. Asarja blickte mir fest in die Augen. Ich hatte das Gefühl, ins Unendliche gesaugt zu werden, und die Zeit blieb stehen. Dann wurde sein Blick wieder weicher. »Sie ist von einem bösen Geist besessen.« Er sprach in seinem sanften, ernsten Ton. »Sieben Männer, die ihr beizuwohnen versuchten, sind gestorben. Aber hab keine Angst. Meinem Licht ist der Dunkle nicht gewachsen.« Wie ich dort hilflos und verständnislos lag, wurde mir ganz kalt im Magen, und alle übrigen Empfindungen starben ab. Ich konnte nur noch daran denken, dass dies alles ohne Wissen meiner Eltern geschah – und ich war doch ihr einziges Kind. »Asarja«, sagte ich, aber diesmal nicht aufbegehrend oder zornig. »Ich kann nicht guten Gewissens mein Leben für diese Frau aufs Spiel setzen. Um meinetwillen sorge ich mich nicht, aber ich fürchte, ich könnte sterben und damit meinen Vater und meine Mutter aus Kummer ins
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Grab bringen. Haben sie doch keinen andern Sohn, der sie bestatten könnte.« (Ich hoffte, dass ich damit die Wahrheit sagte – dass es wirklich die Sorge um meine Eltern war, was mich bewegte.) Asarja sah mich wieder an, und erneut fühlte ich, wie ich in den Strudel seiner Augen hineingezogen wurde. »Höre auf mich, Bruder«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen wegen des bösen Geistes, denn noch in dieser Nacht wird Sara dir zur Frau gegeben werden. Erinnerst du dich an den großen Fisch, der dich im Tigris angriff? Und dass ich dir riet, das Herz, die Leber und auch die Galle aufzuheben? Mit dem Herzen und der Leber verhält es sich so, dass Menschen, die von einem Teufel oder einem bösen Dämon geplagt sind, von dem Quälgeist befreit werden, wenn in ihrem Beisein von beidem ein Stück verbrannt wird. Wenn du heute Nacht das Brautgemach betrittst, nimm Glut vom Räucherwerk, das dort brennt, den Dufthölzern und Harzen, lege etwas vom Herz und der Leber des Fisches darauf und räuchere damit. Sobald der böse Geist das riecht, wird er fliehen und in alle Ewigkeit nicht wiederkommen. Wenn du dann das erste Mal zu deiner Frau eingegangen bist, müsst ihr beide aufstehen und zum Allweisen Herrn beten. Er wird sich eurer erbarmen und euch erlösen.« Dann wiederholte er die Worte, die er mir früher schon gesagt hatte, nun aber erfüllten sie mich nicht mit Grauen, sondern mit Sehnsucht und Staunen: »Sie ist dir von Ewigkeit her bestimmt. Du wirst sie retten, und sie wird mit dir ziehen.«
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4 Julia lag auf Sarahs Bett und las das Buch über die Apokryphen, das Vera ihr (unendlich lange schien es her) aus England mitgebracht hatte, noch einmal. Die wohl durchdachte, gelehrte Sprache tat ihr gut. Anscheinend war der Autor des Buches Tobit ebenfalls ein Jude im Exil gewesen. Ein Exilant, der über das Exil schrieb. Vielleicht fühlte sie sich deshalb so zu dem Buch hingezogen, und zu dem alten Tobit, dessen Hingabe an die Toten ihn das Augenlicht gekostet hatte. Arme Vera! Wie schäbig sie sie behandelt hatte. Sie hatte wahrlich einen Charakter, der zu abgrundtiefer Schäbigkeit fähig war. Kein Wunder, dass sie jetzt mutterseelenallein war. Doch im Gegensatz zum alten Tobit oder seinem anonymen Autor hatte sie kein Jerusalem, um das sie trauern konnte – wer würde sich schon zum Tempel von Ealing zurücksehnen! Draußen war es dunkel geworden. Im Bewusstsein, dass sie weder etwas gegessen noch die Laken für das Bett gefunden hatte, zwang sie sich aufzustehen. Sie hatte wieder Schmerzen in der Hüfte, und obendrein schien sie sich einen Muskel im Arm gezerrt zu haben. Hunger, Schlafmangel und der heutige Umzug quer durch die Stadt mit Nicco und dem Gepäck setzten ihr so zu, dass ihr schwindelig wurde. Sie mochte nicht mehr die steile Treppe hinunter, um einzukaufen. Im Schrank stand ein Rest Cornflakes und im Kühlschrank eine Packung Milch. Sonst nicht viel außer einer geöffneten Dose Sardellen und einer halben Zitrone. Wehmütig dachte sie an ihre Ankunft bei Signora Mignelli zurück: die Wohnung blitzblank, das Bett mit spitzenge-
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säumter Wäsche bezogen, Obst und Blumen zu ihrer Begrüßung. Aber das war kindisch! Sie war eine erwachsene Frau und kein kleines Mädchen, das seine Mutter brauchte. Die Cornflakes mit Milch und eine Tasse Tee, magenschonend und leicht, würden bis zum Morgen reichen müssen. Und die Nacht war warm – sie konnte die Tagesdecke ohne Laken nehmen. Auf dem Bett sitzend, neben sich die Schüssel Cornflakes auf einer Illustrierten, schrieb sie einige Worte aus dem Band in ihr Notizbuch: »Bei den Parsen gehört zur Bestattung ein Hund (mit Flecken über den Augen), der geholt wird, um den Leichnam anzusehen und auf diese Weise die Nasu auszutreiben.« An St. Barnabas hatte es ein Mädchen gegeben, die Parsin war. Ihre Familie stammte aus Bombay, und Julia erinnerte sich noch gut an die Begeisterung der Eltern, als sie der Tochter einen Geschichtspreis zuerkannt hatte. Die Familie hatte sie zum Tee eingeladen, und sie hatte ihnen gegen ihre sonstige Gewohnheit (denn normalerweise pflegte sie keinen gesellschaftlichen Kontakt mit ihren Schülern, unter anderem vielleicht, weil sie so selten eingeladen wurde) einen Besuch in Brentford abgestattet, in ihrem bescheidenen, aber für Julias Empfinden kultiviert eingerichteten Reihenhaus. Der Vater hatte ihr erklärt, die Parsen seien die lebenden Nachfahren der Angehörigen einer uralten persischen Religion, die nach Indien geflohen waren, als die Moslems ihre uralten religiösen Praktiken beschnitten hatten. Auch die Parsen waren ein Volk im Exil. Doch anders als die Juden verschmolzen sie mit den Gemeinden, in die sie zugewandert waren. Vielleicht war das die Wahl, vor der man stand – zu verschmelzen oder die Eigenheiten hervorzuheben? Parse oder Jude zu sein. Entweder man hielt an dem 260
eigenen Gott fest wie der alte Tobit, oder man übernahm die am neuen Ort vorgefundenen Geister und vertraute auf die universelle Existenz der Kräfte, die einem in der eigenen Vorstellung von Gott wichtig waren. Doch wer oder was war diese »Nasu«? Ein giftig klingender Name. Offenbar irgendein böser Geist. Wie der Dämon, der sich in Tobias’ zukünftiger Frau eingenistet hatte. Armer Tobias. Was musste er dabei empfunden haben, sich auf eine Liebesnacht mit einem Mädchen vorzubereiten, von dem er wusste, dass sie von einem bösen Geist besessen war? Einem Dämon, von dem er, während er sich aufgeregt anschickt, zum ersten Mal einer Frau beizuwohnen, weiß, dass er zuvor schon sieben Liebhaber getötet hat? Sie legte ihr Notizbuch auf die Knie und schrieb: »Warum hat der Hund Flecken ›über den Augen‹? Ein zweites Paar, um besser ›sehen‹ zu können? Der Hund als ›Seher‹?« Sieben Männer, die in den Tod gegangen waren. Gab es sieben Teufel als Entsprechung zu den sieben Engeln? Wie waren noch ihre Namen? Uriel, Michael, Raguel, Gabriel, Sarakiel, Remiel. Und natürlich Raphael. Julia wachte mit klopfendem Herzen auf. Jemand war draußen vor dem Zimmer. Sie befahl sich, ruhig zu bleiben, und blieb reglos liegen. Da war es wieder. Ein schreckliches, gedämpftes, tastendes Geräusch, dann ging die Tür auf. Oh, schlimmster aller Schrecken! Ein Eindringling! Sie durfte nicht schreien. Ruhig bleiben. Nichts sagen. Sich schlafend stellen. Sich tot stellen. Nein, nicht tot, noch nicht! Dazu war sie noch nicht bereit. Eine Männerstimme fluchte leise: »Scheiße!« Dann ging das Licht im Zimmer an, und Julia sprang auf und duckte
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sich neben das Bett, um ihrem Angreifer Gott weiß was anzutun. »Wer zum Teufel …?« »Toby!« Um ein Haar hätte sie nach ihm geschlagen. Sie standen sich wütend gegenüber. Dann: »Oh, Toby, ich bin so froh, dass Sie es sind. Tut mir Leid. Ich muss … Verzeihung, ins Bad.« Sie hätte sich fast in die Hose gemacht. Aus dem Spiegel starrte ihr unter der grünlichen Glühbirne ihr Gesicht entgegen. Als sie wieder ins Zimmer kam, sagte sie: »Ich bitte vielmals um Verzeihung. Ich habe einen furchtbaren Schreck bekommen.« »Warum sollten Sie sich entschuldigen? Schuld bin doch ich.« Er klang aggressiv, aber das war ihr egal. »Es muss für Sie auch ein Schreck gewesen sein. Soll ich uns einen Tee machen?« »Ja, danke. Haben Sie was dagegen, wenn ich rauche?« »Nein, nur zu. Bitte.« Wie englisch sie sich verhielten. Toby holte eine Packung Golden Virginia samt Blättchen hervor und drehte sich eine hauchdünne Zigarette. Begeistert von seiner Geschicklichkeit sah sie ihm zu. »Haben Sie wirklich nichts dagegen, dass ich rauche, weil, ich kann ohne weiteres nach draußen auf den Balkon gehen?« »Nein. Im Gegenteil. Ich rieche es ganz gern.« Der Rauch erinnerte sie an Carlo. Carlo, der hier vielleicht mit Tobys Schwester geschlafen hatte. »Toby, weiß Sarah, dass Sie wieder da sind?« »Klar.« »Ach so.« Sie war enttäuscht, dass es ihr nicht beschert war, die gute Nachricht von der Rückkehr des verlorenen Sohns zu überbringen. »Wo ist sie, Toby?« Das hatte sie eigentlich nicht fragen wollen. 262
»Keine Ahnung. Ich hatte erwartet, sie hier anzutreffen. Wieso sind Sie hier?« Die Zwillinge hatten sich also nicht gesprochen. »Sarah hat mich gebeten, hier zu wohnen. Sie war außer sich vor Sorgen.« »Das ist nicht Ihr Ernst!« »Doch, Toby, es stimmt. Sie hatte keine Ahnung, wo Sie waren.« »Sarah?« Jetzt starrte er sie ungläubig an. In ihrem Kopf tat sich ein Spalt auf. Offenbar hatte sie irgendetwas falsch verstanden. »Sar weiß genau, wo ich war!« »Ich verstehe nicht.« Sie wurde von Panik erfasst. Ihr Herz begann zu flattern wie ein kleiner Vogel. Einen Augenblick musste sie nach Luft ringen. War sie dabei, den Verstand zu verlieren – wie ihr Vater? »Toby, haben Sie das Bild?« »Welches Bild?« »Die Tafel mit dem Engel.« Sie wusste, dass er es nicht hatte. Hinter dem verdutzten Ausdruck auf seinem Gesicht konnte nur echte Aufrichtigkeit stehen. »Die Tafel mit dem Engel?« Sie hätte am liebsten geschrieen: Das Gemälde mit dem Engel, das du mir gezeigt hast! Das du an dem Tag gefunden hattest, als ich unter dem Gerüst stand und du mich mit ins Innere eurer Kapelle genommen hast und ich irgendwie in dein Leben und das Leben deiner verfluchten Schwester geraten bin. Das Bild, das wie ein Stück blauer Himmel in eine graue Decke gewickelt war und mit dem ihr beide so leichtfertig umgegangen seid, ihr Unglückseligen! Der Engel, mein Engel, der Erzengel Raphael. Stattdessen sagte sie eher sanft: »Ja, Toby. Der Engel mit den blauen Flügeln.« »Ist er nicht in der Kapelle?« Er setzte sich unbeholfen auf das Bett. 263
»Toby«, sagte sie, denn mit einem Mal stieg ein Gedanke aus dem plötzlich entstandenen Spalt in ihrem Kopf auf, und sie musste sich beeilen, ihn aussprechen, bevor er ihr wieder entschlüpfte. »Wo schlafen Sie? Wenn Sie nicht in der Kapelle sind – wenn Sie hier sind, wo schlafen Sie dann?« Verblüfft schaute er sie an, und sie sah, wie ähnlich seine Augen denen seiner Schwester waren: ein ganz blasses Aquamarin, von einem schwarzen Ring umgeben. »Na, hier natürlich.« Er klopfte auf das ungemachte Bett. »Heute Abend nicht, aber normalerweise …« »Mit Sarah?« »Ja, mit Sarah. He, wir haben das Ende des 20. Jahrhunderts. Wir sind volljährig – erwachsene Menschen. Es ist nicht gegen das Gesetz.« »Aber sie ist Ihre Schwester!« Toby erhob sich vom Bett und suchte in seiner Tasche nach dem Tabak. »Toby, Sie haben schon eine Zigarette.« »Ach ja.« Er nahm wieder Platz. Sie schwiegen beide. »Hören Sie, tut mir Leid. Ich hab Ihren Namen vergessen.« »Julia.« »Ach ja, natürlich. Verzeihung.« »Macht nichts«, sagte Julia. »Warum sollten Sie ihn noch wissen?« »Sie ist nicht meine Schwester.« »Was?« »Sie ist nicht meine Schwester.« »Aber Sie sind doch Zwillinge.« Toby stand auf, drückte seine Zigarette im Spülbecken aus und setzte sich wieder, um sich die nächste zu drehen. »Sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen.« »Ja, das stimmt. Wir sind Zwillinge. Aber Cousin und Cousine, nicht Bruder und Schwester.« 264
»Aber Sarah hat mir doch erzählt, Sie wären echte Zwillinge?« Jetzt war Julia diejenige, die klang, als wäre sie schwer von Begriff. »Das stimmt. Gewissermaßen. Wir haben am selben Tag Geburtstag. Beide am ersten Mai. Unsere Mütter sind Schwestern. Meine Mutter hat meine Tante im Krankenhaus besucht, und da haben bei ihr die Wehen eingesetzt. Ich wurde noch am selben Tag geboren, kurz vor Mitternacht. Sarah sagt immer, ihr hässliches Gesicht sei der Auslöser gewesen. Meine Tante meint, meine Mutter habe die Konkurrenz nicht ausgehalten. Geschwisterrivalität.« Sie hatte vergessen, wie sein Aussehen gewann, wenn er lächelte. »Cousin und Cousine?« »Ja. Und wissen Sie, zwischen Cousin und Cousine ist es erlaubt.« Er sah verlegen zu Boden. »Also schlafen Sie wirklich zusammen? Verzeihen Sie, Toby, das geht mich nun wirklich nichts an.« »Schon gut. Macht nichts. Dann hat Sarah Ihnen also Märchen erzählt?« »Nun …« »Ich wette, ja. Hat sie auch erzählt, sie sei als Kind missbraucht worden? Das ist eine ihrer Lieblingsgeschichten. Ihr Vater hat ihr zu Füßen gelegen, aber er hat sich nie was zuschulden kommen lassen.« Was Toby sagte, war unglaublich, und dennoch spürte sie tief in ihrem Innern deutlich, dass er die Wahrheit sprach. Julia war nicht besonders scharfsichtig, und trotzdem hatte sie bei Sarahs Geschichte – wie konnte man sagen? – den Schatten einer Andeutung verspürt, dass etwas nicht ganz stimmte, oder besser ausgedrückt, dass irgendetwas an der Wahrheit vorbeiging. Ja, Sarahs Geschichte vom Kindesmissbrauch hatte sie weder berührt noch erbost. Sie hatte das auf ihre emotionale Beschränkt265
heit zurückgeführt und merkte erst jetzt, dass sie damit eine adäquate Reaktion gezeigt hatte, denn dieses Gespräch löste ganz andere Gefühle in ihr aus. Toby sprach immer noch. »In seinen Augen konnte sie nichts falsch machen. Tante Daisy war ein bisschen strenger, aber Sarahs Kindheitsglück wurde durch nichts Schlimmeres getrübt als die Tatsache, dass sie ihr nicht erlaubten, steppen zu lernen.« »Steppen?« »Ja, Stepptanz. Sie hat ein Drama draus gemacht, als sie sechs war. Ich weiß noch genau, wie sie geschrieen hat, als wollten sie sie ermorden oder so. Es hat mich tief beeindruckt.« Er lachte böse. »Ich konnte nie meinen Willen durchsetzen oder jedenfalls nicht so wie sie, aber meine Eltern hatten auch kein Geld. Wir haben alle Ferien zusammen verbracht, bis zur Kunsthochschule. Und in der Familie hießen wir nur ›die Zwillinge‹.« »Aber Toby, warum hat sie diese Dinge erzählt? Warum sollte sie sich so etwas Schreckliches ausdenken?« Toby zuckte die Achseln. »Weiß der Himmel. Erst hat sie diese Kopfschmerzen gekriegt. Migräne, ja? Dann hat sie aufgehört zu essen, fast zehn Kilo hat sie abgenommen. Irgendein Idiot hat ihr weisgemacht, das hätte psychische Ursachen – Druck von zu Hause –, was Blödsinn ist. Auf Sarah hat nie jemand Druck ausgeübt. Sie hat sich sogar als Kind erfolgreich dagegen gewehrt, eine Klammer zu tragen, die Druck auf ihre Zähne ausgeübt hätte! Und dann ist sie eines Tages zu dieser Therapeutin gegangen« – er bewegte den Mund, als wollte er ausspucken –, »in Devon, nicht weit von da, wo ihre Eltern wohnten. Sie hatten ein großes Haus, einen tollen Garten, Pferde und alles.« »Hat Sie das gestört?« »Was?« 266
»All das. Wenn Sie arm waren. Das große Haus, die Pferde?« Toby zog an seiner Zigarette. »Nee. Mein Zuhause war okay. Und ich konnte jederzeit zu Sarah gehen. Onkel Bill und Tante Daisy waren mein zweites Zuhause.« »Und was war mit der Therapeutin?« »Den Witz kennen Sie, oder? ›Therapie, Therapie, kostet viel und hilft doch nie.‹ Die Therapeutin von Sarah war eine echte Katastrophe.« »Nicht gut?« »Bösartig. Kaum hatte sie Sarah in den Klauen, verkündete Sarah, sie könne nicht mehr zu Hause wohnen bleiben. Sie ist für eine Weile zu meinen Eltern gezogen. Zuerst haben Onkel Bill und Tante Daisy sich noch eingeredet, es sei nur gerecht, weil ich bis dahin immer nach Devon gekommen war. ›Sie sorgt bloß für den richtigen Ausgleich‹, meinten sie, obwohl man ihnen anmerkte, dass sie gekränkt waren. Mir gefiel es nicht, weil mir die Pferde fehlten. Und weil Sarah komisch geworden war. Sie hielt auf einmal Diät, konnte nichts von dem anrühren, was wir aßen – nur noch rohe Möhren, keinen Alkohol, was lachhaft war, weil sie bis dahin immer ganz schön zugelangt hatte, und ihr Bett musste nach Norden ausgerichtet sein, all so’n Mist. Egal, nach einer Weile schrieb sie jedenfalls Onkel Bill, sie wolle sich bei der Therapeutin mit ihm treffen.« Toby verzog das Gesicht. »He«, sagte er. »Wollen Sie das wirklich alles hören? Es ist eine ziemliche Scheiße!« Julia dachte: Wie habe ich mich mein Leben lang nur um mich selbst gedreht. Laut sagte sie: »Wenn Sie es mir erzählen mögen, würde ich es gerne hören.« »Ja, na ja, es nimmt mich ziemlich mit. Tut mir Leid. Also, irgendwann haben Onkel Bill und Tante Daisy mich deswegen angerufen, und weil ich ihnen anmerkte, dass 267
ihnen das nicht geheuer war, habe ich ihnen geraten, bloß die Finger davon zu lassen. Aber nichts da!« »Er ist trotzdem hingegangen?« Toby nahm einen bedeutungsschweren Zug. »Ja! Unschuldig wie ein Neugeborenes ist der alte Onkel Billy hin und hat sich von dieser Kuh sagen lassen, er hätte seine geliebte einzige Tochter gefickt. Entschuldigung, das hätte ich nicht sagen sollen.« Julia reichte ihm ihr Taschentuch. »Es ist nun mal das richtige Wort für das, was Sie zu beschreiben haben«, sagte sie. »Da gibt es nichts zu entschuldigen. Wie ging es weiter?« »Es war sein Tod«, sagte Toby und drehte das kleine bestickte Spitzentuch zu einer Kugel zusammen. HMJ: Harriets Initialen. »Er hat es nicht verkraftet. Sie war sein Ein und Alles. Alle fingen an mit so Sprüchen wie ›Kein Rauch ohne Feuer‹ – was übrigens Quatsch ist, auch Trockeneis erzeugt Rauch –, und sogar Tante Daisy fing an Fragen zu stellen. Es war widerlich. Ich hielt es im Kopf nicht aus. Ist noch Tee da?« Julia stand auf und ging hinüber zur Teekanne. Sie drehte ihm absichtlich den Rücken zu, während sie seinen Becher füllte. »Solche Sprüche sind perfide. ›Kein Rauch ohne Feuer‹ – das vermittelt ein falsches Gefühl von Weisheit.« Das hatte man damals auch bei Mr Kenton gesagt, dachte sie. »Bitte erzählen Sie weiter – das heißt, wenn Sie mögen.« »Es hat die Familie zerstört. Tante Daisy stand zwischen Bill und Sarah. Sarah weigerte sich, Onkel Bill zu sehen, sie kam nicht mehr nach Hause, wenn er da war und dergleichen. Er war kurz davor auszuziehen. Wenn die Scheißtherapeutin mir je über den Weg läuft, bringe ich sie um.«
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»Wie ist er gestorben?« Sie wollte es eigentlich gar nicht wissen, aber die Geschichte war zu schrecklich, als dass sie es ausgehalten hätte, das Ende offen zu lassen. »Er hat sich erhängt«, sagte Toby knapp. »In einer der Scheunen.« »Oh, Toby«, sagte Julia. Ihre Lippen waren taub geworden. Als ihr Vater schon senil war, hatte er ihr einmal die Bluse aufgerissen und nach ihrer Brust gegriffen, um daran zu saugen. Sie hatte ihn angeekelt von sich gestoßen, wütend die Bluse zugeknöpft und war gegangen. Abends im Bad war ihr dann jedoch die Erinnerung gekommen, wie er sie kurz nach dem Tod ihrer Mutter einmal an sich gezogen und heftig geküsst hatte, mit nassen Lippen. Das war ihr damals ganz entsetzlich gewesen. Doch angenommen, er hätte sich deshalb erhängt? »Aber diese Frau. Was ist mit ihr passiert? Hat die Familie nichts unternommen?« »Was hätte sie tun sollen? Bill war tot. Daisy ist vor Schuldgefühlen fast durchgedreht. Und Sarah – wie schafft man es, einer solchen Sache ins Auge zu sehen? Soweit ich weiß, hat sie das nie getan.« »Aber sie wird doch nicht mehr zu dieser schrecklichen Frau gehen, oder? Mir hat sie erzählt, seit der Therapie sei sie selbstmordgefährdet.« Kein Wunder, dass Sarah manchmal den Drang verspürte, sich vom Dach zu stürzen. »Nee. Sie ist nicht mehr zu ihr gegangen. Aber es hat keine Untersuchung gegeben. Nichts. Die verrückte Kuh ist wahrscheinlich weiter munter dabei, anständiger Leute Leben kaputtzumachen.« Toby zufolge hatte Sarahs Vater seine Tochter so treu und schicklich geliebt, wie es nur möglich war.
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»Deshalb bleibe ich bei ihr. Sie braucht jemanden, der sich um sie kümmert. Schlafen tun wir übrigens nicht miteinander, da Sie das angesprochen haben.« »Oh, aber nur weil ich dachte …« »Sie kann nicht, oder vielmehr sie will nicht. Eigentlich kein Wunder. Ich darf manchmal ein bisschen mit ihr kuscheln, aber wir haben nie … Sie wissen schon. Manchmal wird es mir alles zu viel. Dann muss ich weg, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.« »Sie wirkt so …« Wie wirkte Sarah? Julia begriff allmählich, dass man Menschen nicht nach ihrem Verhalten beurteilen durfte. »Sie schien immer so viel Selbstvertrauen auszustrahlen.« »Ach ja? Mit ihrem Charme wickelt sie jeden um den Finger, aber darunter …« – Toby scheuerte mit Harriets Taschentuch auf einem unsichtbaren Fleck an seiner Jeans herum – »macht sie …« »… die Hölle durch, nehme ich an. War das auch diesmal so? Dass Sie einfach Abstand brauchten?« Was für eine gewiefte Lügnerin Sarah sein musste. Die Geschichte von Tobys kaltherziger Freundin hatte so plausibel geklungen. »Nicht ganz. Wir haben uns gezankt. Sie waren dabei!« An dem Tag, als er zum Glaser gegangen war. Toby zögerte, als wollte er mehr dazu sagen, doch dann schien er es sich anders zu überlegen. »Außerdem hatte ich ein paar Zeichnungen, die ich jemandem in London zeigen sollte, für einen Job, den ich vielleicht als Nächstes mache. Es schien ein günstiger Moment zu sein, um abzuhauen und den Ärger verrauchen zu lassen. Aber Sarah wusste, wo ich war. Sie weiß das immer.« »Mir hat sie erzählt, Sie hätten eine Freundin.« Am Valentinstag, draußen auf dem Balkon, dem Tag, an dem man in Venedig einst Maria Reinigung gefeiert hatte. 270
»Für mich hat es nie eine andere gegeben als Sarah.« Dann war also alles Lüge gewesen. Nun, das war auf eine Art auch tröstlich. »Und Sie lieben sie?« »Ja, ich liebe sie. Sie ist total verkorkst, aber ich könnte nie eine andere lieben.« »Denn ihr seid einander von Ewigkeit her bestimmt?« »Ja«, sagte Toby. »So ist es. Irgendwie schon!«
In jener Nacht fand ich keinen Schlaf mehr. Die Frösche paarten sich mit lautem Gequake unten im Binsengraben, und ich beobachtete, wie die Sonne über den fernen Bergen aufging, wo Asarja und ich in den Tagen, bevor ich Sara kennen lernte, zusammen gelagert hatten. Noch heute, nach so langer Zeit, sehne ich mich nach jenen friedlichen Tagen zurück, als wir zu zweit mit den Kamelen durchs Gebirge zogen und das ganze Leben vor mir lag. Ein Zug schwarzer Kraniche, die Beine lang nach hinten gestreckt, flog über den grün gebänderten Himmel. Die Welt kam mir mit einem Mal herrlich vor, ich wollte nicht daraus scheiden. Saras Magd rief mich und legte mir seidene, blau und violett bestickte Hochzeitsgewänder aufs Bett. Wie viele, fragte ich mich, hatten sie vor mir getragen? Die Dienerin, die arme Seele, war völlig aufgelöst, weinte und beschwor mich, tapfer zu sein. (Nicht gerade das, was man an seinem Hochzeitstag gerne hören möchte!) Unten war unterdessen das Festmahl aufgetischt worden: Gerstenfladen und Honig, verschiedene weiße Käse, süße Mandeln, Feigen und Granatäpfel, dazu dunkler medischer Wein. Saras Vater Raguel trat zu mir. Er nahm meine Hand und sprach: »Iss, trink und sei guter Dinge, denn es kommt dir wohl zu, meine Tochter zu freien.« Er wollte 271
sich schon abwenden, doch dann besann er sich, fasste mich am Arm und fuhr fort: »Ich muss dir die Wahrheit bekennen: Ich habe meine Tochter bereits sieben Männern zur Ehe gegeben, doch jeder, der bei ihr einging, starb in derselben Nacht.« Er war ein wackerer Mann und sah mir bei diesen Worten ins Auge. Vielleicht war das der Grund, warum ich ihm antwortete: »Wie dem auch sei, ich will nichts essen und nichts trinken, bis zwischen uns der Vertrag besiegelt ist, in dem ihr mir eure Tochter zur Frau gebt.« Da rief Raguel seine Frau Edna und hieß sie ein Blatt bringen, auf das er einen Ehevertrag schrieb, und er setzte sein Siegel darunter. Als der Vertrag somit gültig war, ergriff ich wieder das Wort. »Habt keine Angst«, sagte ich, obwohl mir selbst fast die Eingeweide vor Angst zerflossen. »Noch heute soll die Ehe zwischen meiner Cousine und mir vollzogen werden.« Jetzt wies Raguel seine Frau an: »Schwester, richte das Gemach her und führe unsere Tochter hinein.« Edna erhob sich, wischte sich die Tränen ab und sprach zu mir: »Sei getrost! Nach all dieser Betrübnis schenke der Herr dir Freude.« Dann befahl sie den Dienerinnen, im Brautgemach das Bett herzurichten. Ich schaute mich nach Asarja um, doch er war verschwunden, und so stieg ich allein die Stufen zur Turmstube empor.
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5 Sie redeten, bis der Himmel hinter der Balkontür nicht feurig, sondern blassgolden zu schimmern begann. Oro pallido. Julia überlegte, ob sie Toby anbieten sollte, sich aufs Bett zu legen. Aber dazu war ihr Gespräch irgendwie zu intim gewesen. »Noch Tee?«, fragte sie, und dann: »Oh, tut mir Leid, ich nehme das Angebot zurück. Es ist keine Milch mehr da – es sei denn, Sie mögen ihn ohne?« »Wir könnten welche holen gehen. Am Bahnhof gibt es einen Nachtautomaten.« »Ja, natürlich, wenn Sie mögen.« Er schien ihre Begleitung zu wünschen, denn er machte keine Anstalten allein zu gehen. Julia, die nicht einmal als Studentin über die Stränge geschlagen hatte, überlegte, dass es solche frühmorgendlichen Ausflüge waren, was sie sich in Cambridge vor lauter Bravheit hatte entgehen lassen. Sie liefen durch stille Straßen zum Bahnhof, aber der Automat war leer. »Tut mir Leid, ich hätte Sie nicht mit rauszerren sollen. Manchmal hab ich einfach keine Ruhe. Sarah macht das wahnsinnig!« »Toby, wo könnte Sarah heute Nacht sein?« Sie hatte noch nichts von Carlo gesagt. Dass sie den Mann, den sie liebte, vor Sarahs Tür gesehen hatte, erschien ihr nicht mehr wichtig. Sie schämte sich angesichts der Tragik von Sarahs Geschichte, sich so darüber aufgeregt zu haben. Wozu sollte sie es überhaupt erwähnen? Es konnte höchstens zu neuen Verwirrungen führen. Tobys Geschichte ließ es unwahrscheinlich erscheinen, dass Sarah mit Carlo geschlafen hatte, es sei denn, die Sache mit 273
ihrem Vater hätte zu einer Art Vaterfixierung geführt. Das bezweifelte Julia jedoch. Ihr fiel ein, dass Sarah sie gebeten, ja fast angefleht hatte, niemandem gegenüber zu erwähnen, was sie an jenem Morgen gesehen hatte. Doch wo war das Mädchen, wenn nicht bei Carlo? »Könnte Sarah bei Ihrem Freund, dem Architekten, sein?« Julia verriet nicht, dass Sarahs Brief sie auf diese Idee brachte. Toby verneinte. Aldo, so erklärte er, habe eine schwierige Mutter, die wohl kaum eine junge, attraktive Frau bei sich im Haus willkommen heißen würde. Dann hatte sie in Bezug auf Aldo also Recht; seine angebliche Schwäche für Sarah war nur wieder eine ihrer Lügen gewesen. Vielleicht strickte man, wenn es etwas gab, dem man nicht ins Auge sehen konnte, ein Lügengewebe um die eigene Person, um das Unerträgliche abzuwehren? Doch wie sollte man dann, wenn man in Not geriet, jemals wieder eine Möglichkeit finden, die Wahrheit zu sagen? »Wissen Sie was«, sagte Julia nach einer Weile, »wir gehen zur Kapelle. Was meinen Sie?« »Ja, klar.« Sie liefen den Canal Grande entlang. Im grünlichen Licht tuckerte ein grünes Boot vorbei, am Steuer ein Mann im grünen Arbeitsanzug und mit grüner Mütze. Es war das zweite Mal in drei Tagen, dass sie quer durch die Stadt lief. Das erste Mal am Morgen nach der Party, als sie Carlo gesehen hatte, wie er sich von Sarah verabschiedete. Jetzt vollendete sie den Kreis. Was war wirklich vorgefallen an dem Morgen, als sie Carlo beim Verlassen von Sarahs Haus ertappt hatte? Tobys Erzählung hatte sie vollends überzeugt, dass sie die falschen Schlüsse gezogen hatte. Sie hatte sich mit ihren 274
Überlegungen selbst das Netz gesponnen, in dem sie sich verfangen hatte – was nur gerecht war, wenn man darüber nachdachte, auch wenn es ihrem Verstand nicht eben schmeichelte! Wenn du mit dem Finger auf jemanden zeigst, hatte Harriet einmal im Streit zu ihr gesagt, denk dran, dass dabei drei Finger auf dich selbst zeigen! Eine Bemerkung, die sie damals mit »Quatsch!« abgetan hatte. Sie erinnerte sich nicht einmal mehr, worüber sie sich damals gestritten hatten. Stellas Katzenklo wahrscheinlich. Und jetzt war Harriet tot, und sie konnte sie nicht mehr um Vergebung bitten. In dem Buch, das sie gelesen hatte, wurde die Mutmaßung geäußert, die Geschichte von Tobit könne zum Teil auf eine Legende vom dankbaren Toten zurückgehen. Wie war es einem Toten möglich, Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen? Harriet konnte sich ihr gegenüber nicht mehr dankbar zeigen – nur sie konnte Harriet noch dankbar sein. Immer noch schweigend gingen sie am Giardino Papadopoli vorbei. Julia hätte gern gefragt, ob sie Tobys Arm nehmen durfte. Der Schmerz in ihrer Hüfte war schlimmer geworden. Doch Toby ging immer ein paar Schritte voraus und wirkte so in sich versunken, dass sie ihn nicht stören mochte. Warum hatte sich der alte Tobit die in Ninive herumliegenden Leichen so zu Herzen genommen? Warum sollten die wilden Hunde sie nicht bis auf die Knochen abfressen? Dass die Jäger der Natur den eigenen Leichnam verschlangen, hatte für Julia eigentlich nichts Erschreckendes. Als sie die Brücke über den Rio Nuovo überquerten, streckte sie die Hand aus, um Toby zum Stehenbleiben zu bewegen. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich muss mal kurz Atem holen.« »Klar.« Er lehnte sich mit dem Rücken ans Geländer und drehte eine Zigarette. 275
Ich bin froh, dass ich keine Kinder habe, dachte Julia, während sie ihm zusah. Es war nicht zu vermeiden, dass es einem wehtat, wenn sie sich Schaden zufügten. Der Himmel rötete sich allmählich, als sie in eine winzige Calle einbogen, die über eine Brücke zu dem Platz mit der exotischen Carmini-Kirche führte – wo Carlo ihr das Altargemälde von Cima gezeigt hatte: abermals ein Bild von Tobias und Raphael, diesmal als Anbetende des Jesuskindes, das winzig und nackt, von bewundernden Hirten umgeben, in einer blattgoldenen Voralpenlandschaft liegt, Cimas heimatlichem Conegliano. Der Künstler hatte Tobias als Kind gemalt, als kleinen Knaben mit offenem Gesicht, der den Fisch hält, als wollte er vor seinen Kameraden damit prahlen, und nicht als wäre er ein potentes Heilmittel gegen Dämonen. Julias Gedanken wanderten absurderweise zu der Dose Sardellen in Sarahs Kühlschrank. Vielleicht hätten sie sie mitnehmen sollen, als Mittel gegen modernere Erscheinungsformen des Bösen! Sie liefen an dem Kanal entlang, der in den Rio dell’Angelo Raffaele überging. Auf der anderen Seite des Wassers lag die Pestkapelle. Plötzlich blieb Julia stehen. »Tut mir Leid«, sagte sie. »Jetzt bekomme ich auf einmal Seitenstiche. Als Begleiterin zu Fuß bin ich allmählich ziemlich hoffnungslos.« »Ist schon okay.« Sie waren nicht weit von der Stelle, wo der Palazzo des Adligen gestanden haben musste. »Toby, kennen Sie die Geschichte der Kapelle?« »Ja. Sie wurde für eine Frau errichtet, die von der Pest genesen war.« »Aber wussten Sie auch, dass sie Jüdin war? So hat es mir zumindest ein Freund erzählt.« Den Monsignore als Freund zu bezeichnen, war sicher in Ordnung. 276
»Das ist ja cool! Genau genommen sind Sarah und ich auch Juden, von unseren Müttern her. Ihr Halbbruder, Onkel Herb, ist derjenige, der den größten Teil des Geldes für die Kapelle gestiftet hat. Herbie den Goldesel nennt Sarah ihn. Ihm haben wir es zu verdanken, dass wir die Arbeit machen durften. Normalerweise werden nur Restaurateure aus Venedig genommen.« »Sie sollten sich geschmeichelt fühlen.« Der Geschichte des Monsignore zufolge musste dort am anderen Ufer die Stelle sein, wo der junge Levantiner gestanden und geduldig auf ein Lebenszeichen seiner todkranken Geliebten gehofft hatte. Jetzt, sechseinhalb Jahrhunderte später, stand sie, Julia, mit einem anderen Liebenden hier. Aber das Objekt seiner Liebe – wo war es? Sie überquerten die Brücke und traten durch den Bogen, der zu dem winzigen, versteckten Campo führte, an dem die Kapelle einem Igel ähnlich hockte: ein kleiner, von Gerüststangen überragter Kuppelbau. Toby blieb stehen. »Haben Sie einen Schlüssel?« Er nickte. »Ja, wir haben jeder einen.« »Wollen Sie, dass ich draußen bleibe?« In dem kräftiger werdenden Licht konnte sie seine blassen Augen sehen; die schwarzen Ränder um die Iris verliehen ihnen fast etwas Dämonisches. »Nein, kommen Sie mit.« Ihr krampfte sich vor Aufregung der Magen zusammen, während Toby das große Schloss unter den grünen Bronzegriffen der Flügeltür öffnete. Was, wenn Sarah nicht dort war? Oder aber, wenn sie da war? Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie die Nacht doch mit Carlo verbracht und in seinen ach so väterlichen Armen Trost gesucht hätte. Tobys Geschichte über die bösartige Therapeutin war unsäglich. Und in der Scheune in Devon 277
die Leiche von Sarahs Vater – vor Verzweiflung erhängt. Julia hoffte, dass er mittlerweile in Sicherheit war, tief in der festen Erde begraben – falls das heutzutage Selbstmördern gestattet wurde. Der alte Tobit hatte Recht: Es war wichtig, die Toten gut zu behandeln. Es war nicht besser, aasfressenden Tieren überlassen zu werden. Toby hatte eine Taschenlampe angeknipst und ging voraus. Julia konnte das Gerüst hinter dem Altar nur undeutlich erkennen. Sie stand in der Finsternis, in der er sie zurückgelassen hatte. Ihr Magen tat immer noch weh, und sie hielt die Luft an – ob aus Aberglaube oder wegen der Schmerzen, wusste sie nicht – und zählte bis hundert. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs … »Sarah? Sarah, ich bin’s! Bist du da?« Zitternd streifte der Lichtkegel der Taschenlampe über die gewölbten Wände der Kapelle, verschwand hinter den wassergrauen Säulen und tauchte wieder auf. … dreizehn, vierzehn, fünfzehn … »Sarah! Ich bin’s, Tobes!« … einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig … »Sar! Antworte mir, wenn du hier bist. Es ist alles in Ordnung. Niemand ist dir böse.« … einunddreißig, zweiunddreißig, dreiunddreißig … Und in dem Moment sah sie ihn wieder. Ganz oben auf dem Gerüst, die bloße Ahnung einer Erscheinung, mehr nicht. Es war, als nähme er die Luft aus dem Raum rings um ihn her auf und als sähe sie, von Dunkelheit umgeben, einen kaum merklichen Schein aus Licht, der durch eine offene Tür dringt und dahinter namenloses, unermessliches Leuchten verheißt. Es war unmöglich, etwas Genaues zu erkennen, doch ein Stück weiter unten, unterhalb der Stelle, wo die langen Füße stehen mochten, sah sie 278
plötzlich die zusammengekauerte Gestalt des Mädchens. Sie hatte die Arme schützend über den Kopf gelegt, so dass sie aussah wie ein kleiner, sturmgebeutelter Vogel mit gebrochenem Flügel. Jetzt ertönte Tobys Stimme. »Sar, ich kann dich sehen. Bleib, wo du bist. Ich komme zu dir.« Dass der Junge hinaufkletterte, spürte sie mehr, als dass sie es sah, denn ihr ganzes Wesen war von der außerordentlichen Klarheit eingenommen, mit der sie plötzlich erkannte, welch erbärmliche Angst sich im Herzen des Mädchens verbarg. Einen kurzen Moment lang schwebte der Lichtschein noch oben über dem Gerüst. Julia fragte sich, während sie dastand und hinaufschaute, ob sie ihn gleichsam zärtlich über der geduckten Gestalt verweilen sah. Dann nahm sie eine geringfügige Bewegung wahr, und er war fort, die Tür zum unergründlichen Leuchten hatte sich geschlossen, und sie starrte in die undurchdringliche Dunkelheit hinein. Toby geleitete jemanden auf sie zu. »Sar, he, ich bin’s, und da vorne ist Julia. Es ist alles in Ordnung. Dir kann jetzt nichts mehr passieren.« Und Julia Garnet rief, plötzlich ganz und gar von dem eigenartigen Lichtglanz umfangen, stumm der verschwundenen Erscheinung nach: »Danke schön, hab Dank.«
Jetzt kommt der merkwürdigste Teil meiner Geschichte. Auf der obersten Stufe wartete Kisch auf mich, die Ohren aufgestellt und die Rückenhaare gesträubt. Ich hatte den Beutel mit der Leber und dem Herz des großen Fisches dabei, die ich auf Asarjas Geheiß aufgehoben hatte, und innerlich wiederholte ich mir seine Anweisung, wie ich damit zu verfahren hätte. 279
Sara lag nackt auf dem Bett. Es war das erste Mal, dass ich eine Frau nackt sah, und ich weiß noch, mit welch großen Augen ich sie betrachtete. Ich sah einen straffen Körper mit kleinen Brüsten und schmalen Hüften und mit einer Pfeilspitze dunkler Haare, die dort hindeutete, wo ich, wie ich vermutete, in sie eingehen musste. Ob sich wohl je ein Mann mehr vor diesem Eingang gefürchtet hatte? Mittlerweile will es mir eher scheinen, als erlebten das alle Männer gleich. Vielleicht ist es immer so ähnlich wie der Tod, wenn ein Mann das erste Mal in den Körper einer Frau eingeht, in das Dunkel hinein. (So etwas hätte ich meinen Vater natürlich niemals fragen können.) Im Zimmer brannte ein Feuer. Ich nahm Herz und Leber des großen Fisches, und wie in Trance schritt ich zur Feuerstelle und legte sie auf die wohlriechende Glut. Als ich das tat, drehte sich Sara auf dem Bett um – doch nicht ich war es, den sie anschaute, sondern Kisch. Mit gesenktem Kopf und peitschendem Schwanz ging Kisch auf sie zu, und er ließ ein lang gezogenes, tiefes Knurren hören. Plötzlich tauchte Asarja wie aus dem Nichts auf. Gleichzeitig stöhnte Sara auf und drückte den Rücken durch, und in dem Augenblick fühlte ich mit überwältigender Deutlichkeit, wie es sein musste, in sie einzudringen und in ihr zu sein. Da stieß sie einen langen, schaurigen, qualvollen Schrei aus, und auch ich schrie auf, und mit einem Mal erfüllten widerwärtiger Gestank und Qualm das Zimmer. Ich hustete und würgte und muss ohnmächtig geworden sein, denn als ich wieder zu mir kam, roch es nach Myrrhe, Weihrauch und Narde. Asarja war fort, und Sara lag auf dem Bett, die Hände über den Kopf gestreckt, wie ich sie in meinem Traum gesehen hatte.
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6 Cynthia sagte am Telefon sofort: »Natürlich müssen Sie zu uns kommen und in unser Gästezimmer ziehen. Ich weiß nicht, warum Sie sich mit diesem unmöglichen Kind eingelassen haben. Sie hat auf mich gleich einen labilen Eindruck gemacht. Sie hätten lieber uns fragen sollen, Julia.« Julia saß, während sie auf Charles wartete, der darauf bestanden hatte, ein Wassertaxi zu bestellen, im Zimmer und betrachtete die im Bett liegende Sarah. Neben Sarah saß Toby und hielt ihre Hand. »Sollten wir nicht einen Arzt holen?« In ihrer Erinnerung sah Julia den Dottore mit der Lederjacke vor sich. Doch Toby wollte das Mädchen nicht stören. Von Zeit zu Zeit machte sie unterdrückte, schnaufende Geräusche wie ein schlafendes Kind oder Tier, doch meistens lag sie, die Arme über den Kopf gestreckt, wie bewusstlos da. Dann kam Charles und schleppte ihren Koffer und die Tasche, die sie glücklicherweise gar nicht erst ausgepackt hatte, die Treppe hinunter. »He, danke«, sagte Toby, der mit heruntergekommen war, um sich von ihr zu verabschieden. »Ich wäre nicht darauf gekommen, dass sie … äh … dort sein könnte. Ich weiß nicht, warum.« »Ich denke, sie wird hingegangen sein, weil sie wusste, dass Sie oft da schlafen.« War es Reue gewesen, die Sarah in die Kapelle geführt hatte? »Würden Sie mich auf dem Laufenden halten, was Sie beide betrifft?«, fragte Julia, ohne sich aufdrängen zu wollen, aber auch nicht recht willens sich zu trennen.
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Der Taxifahrer begann mit venezianischer Flinkheit die Leinen loszumachen. »Ich rufe Sie an«, versprach Toby. »Sobald es ihr besser geht, müssen Sie uns besuchen.« »Das war ja eine etwas verrückte Bleibe für Sie, Julia«, erklärte Charles. »Ich weiß, wie zäh ihr Briten seid, aber die Treppe wäre mein Tod gewesen. Und wir beide finden es wunderbar, dass Sie bei uns wohnen werden. Cynthia hat mir aufgetragen, Ihnen unbedingt zu sagen, dass Ihr Zimmer ein eigenes Bad hat.« Julia war in Gedanken noch bei den Zwillingen in ihrem Nest und spürte, wie viel lieber sie bei ihnen geblieben wäre. Doch sie brauchten erst einmal Zeit für sich. Später am selben Abend, als sie mit Cynthia und Charles auf der Dachterrasse saß und über das Wasser auf die Zuckerwerksfassade der Gesuati schaute, nahm eine vage Idee allmählich Gestalt an. »Haben Sie zufällig die Telefonnummer von Ihrem Freund Aldo?« »Seine Mutter ist ein Drache«, sagte Charles. »An Ihrer Stelle würde ich Charles anrufen lassen. Bei ihm wird sie butterweich.« Cynthia lächelte. Dass ihr Mann ein Händchen für Frauen hatte, schien für sie keine Bedrohung zu bedeuten. Doch Julia wollte keine Hilfe. »Nein, das ist nicht nötig. Mit dem Drachen werde ich schon fertig.« Aldo ging selbst ans Telefon, so dass es gar nicht erforderlich war, die Mutter zu umgarnen. Er schien zum Plaudern aufgelegt und erzählte Julia, er wolle demnächst die Kapelle inspizieren. Mit der hässlichen Soprintendente, wäre Julia fast herausgerutscht, doch sie hatte sich gebremst und nur: »Mit den Soprintendenti?«, gefragt. »Genau«, sagte Aldo, und er selbst freue sich darauf zu sehen, wie weit die Arbeit vorangeschritten sei. Er gab durch nichts zu erkennen, dass er etwas von Sarahs bevorstehender Abreise wusste. 282
»Aldo, darf ich Sie um einen Gefallen bitten?« Die höfliche Antwort kam ohne Zögern: »Selbstverständlich.« »Es geht um Ihren Freund Carlo. Ich habe seine Karte verloren.« Auf dem Grund der Lagune lag sie, zusammen mit der toten Ringelblume und einem Stein in sein Taschentuch geknotet! »Wären Sie so gut, mir seine Telefonnummer zu geben?« Aldo war die Zuvorkommenheit in Person, und das Gespräch endete freundlich und in beidseitiger Zufriedenheit. Jetzt war ihr Mut erst richtig gefordert. Rasch, damit der Impuls nicht verpuffte, wählte sie die Nummer und betete halb, dass er nicht da war. Doch er nahm den Hörer ab. Tiefes Luftholen. »Carlo, hier ist Julia Garnet«, am anderen Ende eine Sekunde Schweigen. »Julia, wie wunderbar, von Ihnen zu hören.« Obwohl ihre Stimme zu zittern drohte, zwang sie sich zu sagen: »Es ist so lange her, dass wir uns richtig gesehen haben. Da habe ich mich gefragt, ob Sie nicht Lust hätten, sich mit mir zu verabreden, zum Essen vielleicht?« Wieder trat eine Pause ein, doch als er dann zu sprechen begann, meinte sie, ihm eine gewisse Erleichterung anzumerken. »Das ist eine sehr gute Idee. Wohin darf ich Sie einladen?« Doch davon wollte sie nichts hören. »Nein, bitte, diesmal lade ich Sie ein. Sie haben mich so oft ausgeführt. Jetzt möchte ich mich einmal revanchieren.« Am nächsten Morgen rief Toby an. »Sarah geht es viel besser. Ich hab ihr noch Bettruhe verordnet, aber sie trinkt Brandy und frisst wie ein Pferd.« Aus dem Hintergrund
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ertönte ein undeutlicher Ruf. »Sarah sagt, ich soll Ihnen erzählen, dass wir heiraten werden.« »Toby, wie schön! Das ist wunderbar.« »Wenn sie wieder auf ist, müssen Sie uns besuchen kommen, dann feiern wir zusammen.« In Gedanken versunken wartete Julia am Redentore auf das Vaporetto, das sie über das Wasser bringen sollte. Hatte Sarah begriffen, was für ein Verbrechen an ihrem Vater begangen worden war? Wie hieß bei den Zoroastriern der böse Geist, der so zerstörerisch wirkte? Das war die Nasu. Die verfluchte Therapeutin, die solches Leid über die Familie gebracht hatte, musste eine moderne Nasu sein. Das Restaurant, das Julia für ihr Treffen mit Carlo ausgesucht hatte, war eine Osteria, klein und gemütlich, aber nichts Besonderes. Sie verspürte nicht den Wunsch, durch eines ihrer einstigen feineren Lokale an ihre vergangene Beziehung erinnert zu werden. Carlo sah älter aus, dachte sie. Er wollte keinen Prosecco, und so tranken sie beide Mineralwasser. Wohlerzogen hielten sie sich an neutrale Themen, vornehmlich seine beruflichen Verpflichtungen, die ihn seit dem Frühling auf mehrere Reisen geführt hatten. Er erzählte von einem van Dyck, den er aufgespürt hatte und vielleicht an einen Banker in Los Angeles abstoßen wollte. Das Zwiegespräch war harte Arbeit. Nichts hätte der ungezwungenen Vertrautheit ihrer früheren Unterhaltungen weniger ähnlich sein können. »Ich war überrascht zu erfahren, dass Sie immer noch hier sind.« Sie spürte die Frage in seiner Stimme, und seine Augen sahen sie scheu, fast flehend an, so dass sie an die Worte des Monsignore denken musste und dabei gleichsam den Duft der dunklen Rosen roch: »… denke
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ich, dass Ihr Freund Sie auch um Ihrer selbst willen gern gehabt hat.« Verwirrt lenkte sie ab: »Werden Sie Ihren van Dyck auch in London anbieten?« Als er daraufhin rot zu werden schien, nutzte sie die Gunst des Augenblicks und fragte, bevor der Mut sie verlassen konnte: »Carlo, hat Sarah Ihnen in der Pestkapelle ein Tafelbild gezeigt? Mit einem Engel?« Noch ehe er sich tiefer rot verfärbte, wusste sie, dass sie mit der Idee, die sie seit dem Vortag umtrieb, ins Schwarze getroffen hatte. Ihr Verdacht stimmte: Carlo mochte alle möglichen Schwächen besitzen, doch es waren nicht die Lockungen der körperlichen Liebe gewesen, die ihn unter dem Deckmantel der Dunkelheit in Sarahs Wohnung geführt hatten, sondern das Tafelbild mit dem Engel. Julia nahm all ihren Mut zusammen und sprach weiter: »Es ist ein wunderbares Bild, nicht? Ich freue mich so, dass Aldo nächste Woche mit der für Malerei zuständigen Soprintendente in die Kapelle kommt, damit sie es sich ansehen kann. Sarah geht es nicht gut, aber bis dahin ist sie hoffentlich wieder auf den Beinen. Sie wird unbedingt dabei sein wollen, wenn das Bild gezeigt wird.« Julia hatte sich die Geschichte in den langen Stunden auf der Dachterrasse der Cutforths zusammengereimt, während sie zugeschaut hatte, wie die Boote kreuz und quer über das Wasser pendelten. Sarah hatte sexuelle Verwicklungen erfunden, um Julia abzulenken. Gleich zwei Handlungsstränge hatte sie ersonnen: Tobys angebliche Freundin und ihr vermeintliches Verhältnis mit Carlo. Wie schlau das Mädchen sich Julias blinden Fleck zunutze gemacht hatte. Ohne Zweifel hatte sie auch Julias verborgene Gefühle für Carlo erkannt (natürlich, ging ihr plötzlich auf, das war’s, so fand das Böse in die Welt, durch die Risse unserer Unwissenheit und Schwächen 285
drang es ein) und mit ihnen gespielt, um ihr Sand in die Augen zu streuen. Was für einen Deal mit dem Gemälde hatten Sarah und Carlo an dem Morgen gemacht, als sie die beiden überrascht hatte? Dass Sarah vorgehabt hatte, Julia als Zeugin zu missbrauchen, um eine Verbindung zwischen Toby und dem Verschwinden des Bildes herzustellen, mussten die beiden jetzt miteinander ausmachen. Julia fragte sich, ob das Mädchen sich noch daran erinnern würde, mit welch labyrinthischen Doppelspielen sie nicht nur Julia (die schließlich nichts als eine zufällige Bekannte war), sondern auch ihren sie treu liebenden Zwilling zu betrügen geplant hatte? Dass irgendein finsterer Pakt dahinter stand, war Julia mittlerweile erschreckend deutlich. Carlo stierte in seinen Kaffee und bemühte sich, sein Mienenspiel unter Kontrolle zu bekommen. Doch auch er bewies Mumm in der Art, wie er höfliche Erwartung in seinen Ausdruck zauberte. »Das freut mich sehr. Sarah hat mich, wie Sie Ihnen offenbar erzählt hat, einmal eingeladen, das Bild anzuschauen, weil sie meinen Rat einholen wollte. Meiner Ansicht nach war es in der Kapelle nicht sicher genug aufgehoben. Wie es dort überhaupt hingekommen ist, bleibt natürlich ohnehin ein Rätsel.« Er wusste also nicht, dass er dabei gesehen worden war, wie er das Bild aus Sarahs Wohnung holte. Nun, diese Wahrheit war bei ihr sicher aufgehoben. Und was die Frage anging, wie die Tafel all die Jahre dort hatte liegen können, so glaubte sie, auch darauf die Antwort zu kennen. Um ihn jedoch von seiner Pein zu erlösen, wechselte sie das Thema und erzählte von den Cutforths. »Sie waren so freundlich, mich bei sich aufzunehmen«, sagte sie, »mich als Halbbürgerin und Fremdling.« »Wie bitte?« Julia spürte deutlich, wie sehr es Carlo zu gehen drängte, wie quälend er jede weitere Minute in ihrer 286
Gesellschaft empfand. Doch einen kleinen Moment lang wollte sie ihn noch zwingen sitzen zu bleiben und ihr ins Gesicht zu sehen, ohne dass er wusste, womit sie noch aufwarten würde. »Das ist aus der Bibel. Aus dem Alten Testament. Abraham hat es gesagt, als er ins Gelobte Land kam. Sie werden es komisch finden, aber eine Freundin hat mir aus England eine Bibel und ein Buch mit den Apokryphen geschickt, und ich habe mir beide zu Gemüte geführt.« Sie hatte ihre kleine Rache gehabt: Er würde niemals sicher sein, wie viel sie wirklich wusste. Aber sie war ihm auch zu Dank verpflichtet. »Übrigens sind Sie daran schuld, denn ich habe sie mir schicken lassen, um das Buch Tobit zu lesen. Sie waren der Erste, der mir die Geschichte erzählt hat. Wissen Sie noch? Es kommt mir vor, als wäre es eine Ewigkeit her, in der Angelo Raffaele? Sie ist mir lieb und teuer geworden. Ich werde Ihnen ewig dankbar sein.« Und das stimmte sogar: Carlo, der ihr keine Liebe hatte schenken können, hatte ihr unbeabsichtigt etwas Bleibenderes beschert. »Ah, Sie Engländerinnen, Sie haben zu viel Tiefgang für mich.« Und im selben Atemzug, wie ein Hund, der von der Leine befreit wird: »Vergeben Sie mir, es war wunderschön, Sie zu sehen und ein wenig zu plaudern. Aber ich muss gehen. Ich erwarte einen Anruf und habe versprochen, zu Hause zu sein.« Er verabschiedete sich, ohne sie zur Haltestelle des Vaporetto zu geleiten. Sie ging allein an der Calle des Monsignore vorbei. Es war zu spät, um ihn noch zu stören. Sie stellte sich den Priester im Bett sitzend vor, vielleicht die Zähne neben sich im Glas, wie er Brandy trank und der Mops schon schlief. Er würde sich freuen, dass die Tafel mit dem Engel gerettet war.
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Noch im Gehen hatte sich Carlo beiläufig erkundigt, wo Sarah zu finden sei. »Natürlich will ich sie nicht belästigen, wenn es ihr nicht gut geht, aber sie hat mich um eine Telefonnummer gebeten. Ein Kontakt in der Kunstwelt. Ich muss sie bald einmal anrufen, um sie ihr zu geben.« Sie konnte also davon ausgehen, dass die beiden Mittel und Wege finden würden, das gestohlene Tafelbild zurückzubringen. Julia ging weiter, an der Seufzerbrücke und am Dogenpalast vorbei, wo sich zu ihrer Freude ihr alter Doge mit der Marinemütze wieder an seinem angestammten Platz niedergelassen hatte. Und weiter, an der Säule mit dem heiligen Theodor und dem Krokodil und der zweiten Säule mit dem geflügelten Löwen vorbei, auf die Piazza. Auch dies wird alles vergehen, dachte sie, wenn der Mensch keine Möglichkeit findet zu verhindern, dass es im Meer versinkt. Die große Basilika erstrahlte in künstlichem Licht, ein Zeugnis menschlicher Schöpfungskraft. Alles Schöne, dachte sie, kann gerettet werden, wenn wir lernen, im Kampf gegen die Kräfte der Finsternis und der Zerstörung zu bestehen. Die, so schloss sie, oft nichts weiter sind als Trägheit und Angst, Feigheit und Gier, wobei dieses Quartett wahrhaftig genug Schaden anzurichten vermag: Man denke nur an die Nazis – oder an Nasu. Nasu und ihr Dämonenheer hatten ihre Zerstörungsmacht über alle Epochen gebreitet, über alle Jahrhunderte, von dem Augenblick an, als der Mensch gelernt hatte zu töten und Schuldige zu suchen und Macht über andere anzustreben. Doch neben ihnen, unauffällig, hatte der Engel gewaltet, dessen Name »Gott heilt« bedeutet. Und heute hatte er den Sieg davongetragen.
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»Sara! Sara, meine Schwester, meine Geliebte. Sara, meine Frau.«
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IV RAPHAELSFEST
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1 Es dauerte eine Weile, bis Julias Post in ihr Quartier bei den Cutforths gelangte. Signora Mignelli hatte Nicco die Briefe gegeben, der hatte sie bei Toby abgeliefert, und der hatte sie beiseite gelegt. Als er schließlich anrief, entschuldigte er sich vielmals. Julia versuchte, sich nichts daraus zu machen, dass sie vergessen worden war, und sagte: »Kommen Sie vorbei, wenn Sie Lust haben – oder soll ich zu Ihnen …?« Sie wartete. Toby klang unsicher. »Hm, ich weiß nicht, ob Sarah …« »Selbstverständlich«, sagte sie, bemüht, sein Unbehagen zu überspielen. »Wenn es Ihnen nicht zu viel Umstände macht, dann bringen Sie die Briefe doch hier vorbei.« Der Zufall wollte es, dass die Cutforths beide ausgegangen waren, als Toby kam, so dass sie sich allein mit ihm auf die Dachterrasse setzen konnte. »Wow«, sagte er und ließ den Blick über die Stadt schweifen. »Coole Aussicht.« Er war unübersehbar nervös. »Einen Tee, Toby? Davon haben wir doch schon reichlich zusammen getrunken!« »Ein Tee wäre gut, danke.« Sie ließ ihn gemütlich draußen sitzen, während sie den Tee zubereitete. Ihn da zu haben, seinem Zwilling in allem so ähnlich (sie konnte es sich nicht abgewöhnen, die beiden als Geschwisterpaar zu sehen), erinnerte sie an ihre Gespräche mit Sarah beim Tee in ihrer alten Wohnung. Das arme Mädchen, sie hatte immer nur Lügen erzählt, Lügen über Lügen. Sarahs Vater war gestorben – mit einer Schlinge um den Hals –, weil seine Tochter an eine Lüge geglaubt hatte. Eine jener vernünftig klingenden Lügen, 291
die sich als moralisch ausgeben, weil Menschen so gern das Schlimmste voneinander denken. Und Sarah hatte sich gezwungen gefühlt, die Ungeheuerlichkeit zu rechtfertigen, hatte weitere Unwahrheiten verbreitet, um die grausige Wahrheit von sich fern zu halten. Und so war es immer weiter gegangen, hatte immer schlimmere Formen angenommen, bis die Lüge alles durchdrungen hatte, was sie tat. Was hatte Harriet noch so oft gesungen? »Sei auf der Hut, sei auf der Hut, vor Leuten, die es meinen gut.« Wenn wir Menschen doch nur lernen würden, dachte Julia (während sie kochendes Wasser über die grünen Blätter in der eleganten Porzellankanne der Cutforths goss), einander in Ruhe zu lassen. Draußen saß Toby und rauchte eine seiner selbst gedrehten Zigaretten. Der Anblick seiner gebeugten Schultern weckte Zärtlichkeit in ihr. Als sie das Tablett abstellte, sagte sie mit dem Empfinden, den Stier bei den Hörnern zu packen: »Es kommt mir vor, als wäre es eine Ewigkeit her, dass wir zusammen Tee getrunken haben.« »Ja. Hören Sie, Julia – oh, danke«, er schlürfte laut, »was ich Ihnen neulich nachts erzählt hab …« »Keine Sorge. Ich werde es niemandem weitererzählen – und ich habe auch noch niemandem davon erzählt.« »Danke.« Er entspannte sich sichtlich. »Es ist bloß, weil sie da so empfindlich ist. Sie hat mich gefragt, ob ich Ihnen was gesagt hätte, und offen gestanden hab ich’s nicht zugegeben.« »Das macht nichts«, versicherte sie ihm, »es kann unser Geheimnis bleiben.« Allmählich hatte sie eine ganze Reihe Geheimnisse zu hüten. »Toby, haben Sie das Bild gefunden?« Sein Gesicht hellte sich auf. »Ja! Es war in dem Gang. Sarah hatte vergessen, dass sie es wieder dort versteckt hatte.« 292
»Was für ein Gang?« »Der, in dem wir es ursprünglich gefunden hatten. An einer Seite der Kapelle verläuft ein Gang, von dem wir glauben, dass er zu einer Stelle führt, wo früher mal ein Palazzo gestanden hat. Er war versperrt, total voll mit Steinen und Schutt, und beim Freiräumen habe ich hoch oben in einer Nische die Tafel gefunden, in eine Decke gehüllt. Ich war total von den Socken, als ich sie entdeckt hab!« Der Gang aus der Geschichte des Monsignore. Dabei hatte ihr Gefühl sie also auch nicht getrogen. »Warum haben Sie es nicht sofort gemeldet?« Verlegen sagte er: »Ja, ich weiß. Auch darum wollte ich Sie bitten – ob Sie bereit wären, nichts davon zu sagen, wie lange wir, äh, schon davon wissen.« All die Jahre hatte ihr verschlossenes Wesen nichts gehabt, was es in sich hätte verschließen müssen, und auf einmal konnte sich hinter jedem Schweigen eine wahre Schatzkammer verbergen! »Das war der Grund für unseren Streit damals. Wissen Sie noch? An dem Tag, als Sie uns zum Tee eingeladen haben und ich abgehauen bin? Sie müssen mich für einen furchtbaren Rüpel gehalten haben.« »Ich dachte, ein Mädchen wäre schuld.« »Na, das stimmte ja in gewisser Weise sogar. Sarah nämlich. Sie wollte, dass wir das Bild behalten. Wenigstens eine Zeit lang sollten wir es für uns behalten, hat sie immer wieder gedrängt, als unser Geheimnis. Ich hatte keine Ahnung, was sie im Schilde führte, mir wurde die Sache richtig unheimlich. Deshalb habe ich es Ihnen gezeigt.« Seine Liebe war also nicht so blind wie ihre Liebe zu Carlo. Toby hatte gespürt, dass Sarah mit dem Bild finstere Pläne hatte. »Wir haben uns darüber wahnsinnig in die Wolle gekriegt, und ich bin nach England abgereist – ich war drauf und dran, die ganze Sache 293
hinzuschmeißen, falls es Sie interessiert. Ich liebe sie, aber, Mann, ein Bild von unschätzbarem Wert … sie hätte uns beide ganz schön in die Scheiße reiten können!« »Ich bin froh, dass Sie es mir gezeigt haben. Dadurch habe ich mich, wie soll ich sagen, zum ersten Mal in meinem Leben für etwas wirklich Wichtiges eingesetzt.« Und wie sie dafür belohnt worden war! Mit dem unvergesslichen, grenzenlosen Blick in der Kapelle. »Ja, das Bild war – und ist – sehr wichtig. Ich hab davon geträumt, während ich weg war. Deshalb bin ich wiedergekommen. Wegen des Bilds und wegen Sarah.« »… er muss das Himmlischste sein, was ich je auf Erden sehen werde«, hatte er damals zu ihr gesagt. »Toby, kann es sein, dass ich Sie einmal in der Madonna dell’Orto gesehen habe?« Toby lief krebsrot an. »Oh? Ja, da bin ich manchmal hingegangen. Ich mag sie irgendwie.« »Ich finde auch, sie hat etwas Tröstliches.« Die Madonnenstatue mit dem freundlichen Schoß. Wir leben in einer tragischen Phase der Zivilisation, dachte Julia, wenn wir uns schämen, beim Beten ertappt zu werden. »Und am Flughafen habe ich Sie auch gesehen!« »Echt?« Er grinste sie an, und ihr fiel wieder einmal auf, wie anziehend er wirken konnte. »Sie müssen mein Schutzengel sein – der mir überallhin folgt. Jedenfalls wäre ich neulich früh nie in die Kapelle gegangen, wenn Sie nicht gewesen wären.« Jetzt, da Toby seine Nervosität abgelegt hatte, wurde er vertrauensvoll, wie in der Nacht, als sie auf dem Doppelbett gesessen und geredet hatten. Sie konnte ihm unmöglich sagen, dass es die einzige Nacht in ihrem Leben war, die sie mit einem Mann verbracht hatte! »Noch was Komisches«, sagte er, »sie hat Plush gesehen.« »Plush?« Doch Julia ahnte, was er sagen würde. 294
»Ja, Onkel Bills Dalmatiner. Er musste eingeschläfert werden, damals, nachdem Bill … Sarah schwört, dass sie ihn neulich Nacht in der Kapelle gesehen hat. Das muss ihr einen furchtbaren Schrecken eingejagt haben.« »Aber jetzt geht es ihr wieder besser?« Das Bild des armen gebrochenen Vögelchens, das sie in jener Nacht vor Augen gehabt hatte, daran musste sie festhalten. »Sie erholt sich zusehends. Es ist alles rausgekommen, ihre ganzen Lügen. Natürlich macht sie die Hölle durch, wegen dem Tod von ihrem Dad. Darauf geht das alles zurück. Ich sag ihr in einem fort, sie muss sich vergeben. Ich kann dieses blöde therapeutische Geschwafel nicht leiden, aber in diesem Fall trifft es die Wahrheit: Man muss sich vergeben, sonst kann man nicht weiterleben.« »Es wäre eigensüchtig, sich nicht zu vergeben, oder?« »Ja, das denke ich auch. Außerdem hätte Bill das nicht tun dürfen. Er hätte die Sache durchstehen sollen – die verrückte Kuh verklagen oder dafür sorgen, dass sie aus ihrem Berufsverband geschmissen wird, oder was auch immer. Jedenfalls hätte er es mit ihr aufnehmen müssen. Aber das habe ich Sarah gegenüber nicht gesagt.« »Stimmt, aufzugeben ist der falsche Weg.« Aber vielleicht wusste sie jetzt den richtigen: Man ergab sich einer Lüge nicht – man widerstand ihr, indem man zu einer eigenen Wahrheit fand. »Und die Tafel?« Sie konnte nicht anders, sie fühlte sich immer noch verantwortlich für das kostbare Tafelgemälde. Toby berichtete ihr, dass Aldo mit den Soprintendenti in die Kapelle gekommen war, um sich die Tafel anzusehen, und vor Aufregung fast ohnmächtig geworden wäre. Sie hätten sie vorläufig als eine Hälfte des Diptychons aus der Hand eines anonymen Meisters des 14. Jahrhunderts identifiziert, welcher der lokalen Legende zufolge den Erzengel Raphael in der kleinen Kapelle mit eigenen 295
Augen gesehen hatte. (»Und wenn man seinen Engel betrachtet«, sagte Toby, »ist man geneigt, ihm das abzunehmen, nicht? Er wirkt so echt!«) Die Nachricht sollte an die Presse gegeben werden, sobald alle anstehenden Untersuchungen durchgeführt waren, aber niemand zweifelte ernstlich daran, dass die Tafel eine Hälfte des wertvollen Diptychons war, von dem man geglaubt hatte, es sei im Zweiten Weltkrieg abhanden gekommen. Julia fragte sich, während sie ihren Gunpowder-Tee trank, ob sie den Monsignore erwähnen sollte, entschied sich jedoch dagegen. »Dann wird es also groß herauskommen, in der Presse?« »Ja. Sie dachten, die Nazis hätten die Gemälde in die Finger bekommen. Ich habe sie gebeten, mit der Pressemitteilung zu warten, bis Sarah ganz wiederhergestellt ist. Ich möchte, dass sie diejenige ist, die die Geschichte erzählt.« »Waren Sie es nicht, der das Bild gefunden hat?« Toby zuckte die Achseln. »Klar, aber ich steh nicht gern im Rampenlicht. Außerdem will ich irgendwie lieber, dass man die Entdeckung ihr zuschreibt – sozusagen als mein Verlobungsgeschenk!« »Ah, die Hochzeit! Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Das ist die wichtigste Neuigkeit von allen. Werden Sie in der Kapelle heiraten?« Das verneinte Toby. »Ich will nicht mehr so lange warten, und außerdem finde ich, wir sollten dafür nach Hause fahren. Vielleicht heiraten wir in einer Synagoge – zerschlagen Gläser!« »Eine hübsche Idee!« Als er gegangen war, öffnete Julia die Briefe. Einer war von Vera, die beschlossen hatte, fortan in Hastings zu leben. »Die Immobilien dort sind noch 296
erschwinglich«, schrieb sie, »und Gott sei dank gibt es da heutzutage auch nicht mehr viele konservative Wähler.« Ein zweiter Brief kam von der Bank, und der dritte, ziemlich dicke Brief enthielt ein kurzes Schreiben und einen weiteren Umschlag. Das kurze Schreiben war von Mr Akbar. Sehr geehrte, gnädige Frau, ich würde Ihre sehr schöne Wohnung gern kaufen. Sollten Sie bereit sein, ein Angebot von mir entgegenzunehmen, würde ich £ 170000 zahlen wollen. Bitte teilen Sie mir mit, ob Sie Interesse hätten. Hochachtungsvoll, Ihr A. D. Akbar Mr Akbars Angebot lag ein Brief von einer Anwaltskanzlei bei, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass das Testament der verstorbenen Miss Harriet Myra Josephs rechtswirksam geworden sei und der Erbanteil von Miss Julia Ann Garnet sich auf circa £ 228000 in Aktien und Briefen belaufe. Julia hatte immer vermutet, dass Harriet sie in ihrem Testament bedenken würde, weil die Freundin von Zeit zu Zeit auf ihr »Postsparbuch« angespielt hatte. »Ich habe ein wenig für Regentage beiseite gelegt«, hatte sie gelegentlich bemerkt. »Und wenn das Wetter hält, bis ich mich pensionieren lasse, dann machen wir einen drauf. Sonst musst du alleine einen draufmachen.« In ihrem Kummer über den Verlust der Freundin hatte Julia diese elliptischen Bemerkungen vergessen, doch selbst wenn sie daran gedacht hätte, wäre sie niemals auf die Idee gekommen, dass es sich um mehr als ein paar tausend Pfund handeln könnte. Der Sohn von Harriets Bruder, ein hochgewachsener junger Mann mit Brille, der sich in seiner Rolle als Testamentsvollstrecker seiner 297
Tante nicht recht wohl fühlte, hatte sie in der Wohnung aufgesucht und den Schuhkarton mitgenommen, in dem Julia Harriets wenige Wertsachen verstaut hatte, ihre goldene Armbanduhr, ein Zigarettenetui aus Perlmutt, mehrere Ohrringe und die doppelreihige Zuchtperlenkette mit dem Diamantverschluss. Julias selbst angesparte Bausparkassenverträge hatten gereicht, ihren Aufenthalt in Venedig zu finanzieren. Danach (sie hatte den Gedanken daran ebenso beiseite geschoben wie den an ihre Rückkehr nach England) hatte sie wieder die zeitlebens gewohnte Genügsamkeit pflegen wollen. Durch den Zufluss von Harriets geheimem Reichtum war nun plötzlich alles anders. Harriet, dieses stille Wasser, musste sich ein bisschen an der Börse versucht haben. Nein, das war zu gönnerhaft formuliert, Harriet hatte mehr als nur »versucht«. Sie hatte das Geldgeschäft offensichtlich brillant beherrscht. Und hatte darüber, zweifellos aus Rücksicht auf die sozialistischen Prinzipien ihrer Freundin, nie auch nur ein Wort verloren. Was war sie nur für ein Dummkopf gewesen! Und wie gnädig war das Leben, dass es einem Gelegenheit zu einem Sinneswandel schenkte. Sie rechnete rasch im Kopf nach. Beinahe vierhunderttausend Pfund. Zusammen mit ihrer Pension war das mehr als genug, um ihren gesamten Lebensabend in Venedig verbringen zu können. Es gab keinen Grund, in ihre kleinliche Einsamkeit nach England zurückzukehren. Mit einem Mal ging ihr auf, dass sie auch ihre Freunde hier hatte: die Cutforths, die Zwillinge, die Signora, Nicco, der Monsignore, sogar Aldo – mehr Freunde, als sie zeitlebens in England angesammelt hatte. Sie ging hinein und holte sich einen Block, der auf Charles’ Schreibtisch lag. »Lieber Mr. Akbar«, schrieb sie. 298
Es liegt jetzt viele Jahre zurück, dass ich nach Medien reiste und dort Sara fand. Sie, die heute als meine Frau in Ninive lebt, spricht nur ganz gelegentlich von ihrem Elternhaus in Ekbatana. Doch durch das Erzählen dieser Geschichte bin ich ins Grübeln gekommen: Mir steht der Sinn danach, nach dem Ableben meines Vaters, wenn er die Brücke ins andere Leben überquert hat, meine Frau und unsere Kinder zu nehmen und zu guter Letzt doch noch in die heilige Stadt Rages zu ziehen, wohin ich einst im Auftrag meines Vaters reisen sollte. Ich kam nie nach Rages, weil mein Schwiegervater uns beschwor, vierzehn Nächte zu bleiben (doppelt so lange wie sonst für Festlichkeiten üblich) und zu feiern, dass ich meine Hochzeitsnacht wohlbehalten überlebt hatte und seine Tochter endlich glücklich verheiratet war. Mein Schwiegervater hatte in der Hochzeitsnacht ein Grab für mich ausgehoben, so sicher war er sich gewesen, dass ich sterben würde! In dieser Beziehung war er genau wie mein Vater – den Sinn immer auf den Tod gerichtet. Ich für mein Teil lernte in jenen Tagen etwas, was ich im Herzen bewahrte und meinem Vater niemals verriet. Wie immer war es Asarja, der mir den Weg wies. Als wir an jenem ersten Morgen herunterkamen, Sara lachend und ihre Eltern weinend, ihr Vater entschlossen, mir die Hälfte seines Vermögens zu schenken, schaute ich mich nach Asarja um. Etwas später kam die Magd und richtete mir aus, ich möge mich bitte nach draußen begeben. Dort wartete Asarja auf mich, doch als ich ihn in die Arme schließen wollte, wich er mir aus. »Bruder Asarja«, sagte ich, »ich glaube, ich verdanke dir mein Leben, und vor allen Dingen verdanke ich dir meine Frau.« 299
Asarja lächelte auf die ihm eigene Art. »Du hast gut gewählt, Bruder, denn du hast das Leben gewählt.« Das verstand ich nicht, da aber musste ich an den bösen Geist denken, von dem meine Frau besessen gewesen war. »Asarja«, fragte ich, »was geschah dort im Brautgemach? Ich erinnere mich, dass du da warst, und …«, auf einmal fiel es mir wieder ein, »Kisch war auch da. Wieso das?« Asarja schwieg. Es war, als ob eine Stunde oder einen Tag oder eine Woche lang kein Wort zwischen uns fiele. Endlich sprach er, und noch heute, so viele Jahre später, fühle ich den Schrecken, den seine Worte in mir auslösten. »Du kennst einen Gott, den du anbetest, und das ist recht. Doch er hat einen Widersacher, und gegen diesen Widersacher muss ein Mann jeden Tag seines Lebens kämpfen. In diesem Leben ist jedes Gute mit seinem Gegenteil gepaart. Der böse Geist war mir bekannt und ich ihm. Der Rauch des Fisches war ihm zuwider, und so floh er ins hinterste Ägypten und wurde dort gefesselt. Doch es bedurfte eines Hundes, um ihn aufzuspüren.« »Kisch?« »Hunde haben gute Instinkte, oft bessere als ihre Herren. Darum sind sie die Freunde des Menschen.« »Asarja, wer bist du?« Denn mittlerweile war mir klar geworden, dass in meinem Falle die Instinkte des Herrn schlechter waren als die des Dieners. Asarja aber lächelte nur und sagte: »Genug der Fragen. Wenn ich nach Rages will, um das Geld deines Vaters zu holen, muss ich mich schleunigst um die Kamele kümmern.« Da schämte ich mich, weil ich ganz vergessen hatte, dass ich eigentlich dieses Geldes wegen auf die Reise gegangen war und dass mein Vater und meine Mutter die Tage bis zu meiner Rückkehr zählten. Doch fürs Erste war ich vollauf beschäftigt. Was es auch auf sich haben mochte mit dem infamen Geist, der meiner 300
Frau ausgetrieben worden war, auf jeden Fall war dadurch Raum für mehr Leidenschaft frei geworden, als wohl sonst bei einer Jungfrau üblich.
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2 Die Hochzeit der Zwillinge war für Ende August geplant, und Julia beschloss, die Gelegenheit für eine Reise nach London zu nutzen. Sie hatte Wichtiges zu erledigen: die Anwälte, Mr Akbar. Und auch sonst ist es richtig, dachte sie, als das Flugzeug am Flughafen Marco Polo über die Rollbahn fuhr, abhob und direkt über das Meer schwenkte. Sie hatte ein Leben zu beschließen. London war schmutzig und schwül, nach einem kalten Juli, und Ealing erwies sich als besonders stickig. Mr Akbar jedoch war überglücklich sie zu sehen. »Madam, treten Sie ein, treten Sie ein«, lotste er sie mit großer Geste durch ihren eigenen Flur. »Es ist wunderbar, dass Sie gekommen sind.« Er bereitete ihnen gesüßten Pfefferminztee, und sie setzten sich auf den Balkon mit Blick über den Park. Die Anlagen, die Julia in ihren Jahren am Cedar Court zum Stolz gereicht hatten, wirkten schäbig: das Gras verdorrt und die Blumenbeete städtisch karg. »Das da sind meine Lieblinge«, sagte Mr Akbar und zeigte auf zwei müde über den Rasen watschelnde Stockenten. »Ja, wenn das so ist, Mr Akbar, dann freue ich mich, dass Sie meine Wohnung kaufen werden.« »Sie akzeptieren mein Angebot?« Julia hatte vor ihrem Treffen mit Mr Akbar vorsichtshalber einen Makler aufgesucht und mithin erfahren, dass die angebotene Summe beträchtlich unter dem Marktwert lag. Sie war mit dem Vorsatz hergekommen, in diesem Punkt Härte zu beweisen. Doch als sie den flehenden Ausdruck in Mr Akbars Augen sah, wurde sie schwankend. Sie hatte die Wohnung für tausend Pfund gekauft, nachdem der 302
ursprüngliche Besitzer, mit dem sie einen langjährigen Mietvertrag geschlossen hatte, gestorben war. Es kam ihr gierig vor, dieses Glück nun ausnutzen zu wollen, und außerdem: Wäre Mr Akbar nicht mit seinem Angebot an sie herangetreten, wäre ihr vielleicht gar nicht die Idee gekommen zu verkaufen. Er machte keinen wohlhabenden Eindruck, und die Umstände, die es erfordern würde, die Wohnung anderweitig zu veräußern, würden sie zu einem längeren Aufenthalt in London zwingen. Außerdem war sie ihm etwas dafür schuldig, dass er ihr die Idee, endgültig nach Venedig zu ziehen, überhaupt in den Kopf gesetzt hatte. Ihm und Harriet hatte sie es zu verdanken. Da sie gerade an Harriet dachte, warf sie einen Blick durch die Glastür in das Wohnzimmer, das sie dreißig Jahre lang mit ihrer Freundin geteilt hatte. Es hatte kaum noch Ähnlichkeit mit ihrem alten Wohnzimmer, so überladen war es mit bunten Teppichen, Messinggegenständen und pastellfarbenen Porträts lockender junger Frauen im besten Heiratsalter. Mr Akbar beobachtete sie ängstlich. »Es ist ein guter Preis? Mehr könnte ich, das müssen Sie mir glauben, gnädige Frau …« – er hob beschwörend die Hände –, »auf keinen Fall aufbringen.« »Ich nehme Ihr Angebot an, Mr Akbar.« Wahrscheinlich log er, aber wen scherte das? Ein Gefühl unbändiger Freiheit begann sie zu durchströmen. »Madam, ich danke Ihnen.« Mr Akbar eilte in die Wohnung und kehrte mit einer Flasche Sekt zurück. »Champagner!«, sagte er wider besseres Wissen. »Wir müssen auf unser Glück anstoßen. Hören Sie, ich lege für Sie meine Elvis-CD auf.« Es war, überlegte sie später in der Central Line Richtung Holland Park, in gewisser Weise nicht weniger exotisch, mit einem libanesischen Geschäftsmann (womit Mr Akbar 303
handelte, war ihr verborgen geblieben, aber es schien etwas mit Partyscherzen zu tun zu haben) auf einem Balkon in Ealing zu sitzen und zur Begleitung von Elvis Presleys »Suspicious Minds« Sekt zu schlürfen, als nachts über die erleuchteten Wasser von Venedig zu schauen. Mr Akbar hatte unbedingt auf der Stelle seinen Anwalt anrufen wollen – der, wie er erklärte, außerdem der Mann einer Verwandten war. Sie hatte ihre liebe Mühe gehabt ihm klar zu machen, dass es zu dieser fortgeschrittenen Stunde vollkommen sinnlos gewesen wäre, ihre eigene Kanzlei in High Holborn anzurufen, zu der sie in denkbar loser Verbindung stand. Doch sie versprach, sich am nächsten Morgen gleich als Erstes bei ihrem Anwalt zu melden. »Wir sind Freunde«, erklärte Mr Akbar an der Tür, während sie höflich das Angebot ablehnte, noch eine Tasse Pfefferminztee zu trinken. Schon wieder hatte sie einen Freund gefunden. Harriets Anwalt hatte sich mit Julias Anwalt in Verbindung gesetzt, deshalb konnte sie, als sie am darauf folgenden Tag bei Derbyshire und Mills anrief, gleich einen Termin für beide Transaktionen auf einmal verabreden. In der Vergangenheit hatten Julias Angelegenheiten in den Händen einer überarbeiteten Assistentin namens Sita geruht. Doch bei dieser Gelegenheit kam ihr Mr Mills, der Juniorchef, schon im Eingangsbereich entgegen und geleitete sie in ein geräumiges Büro. »Bitte nehmen Sie Platz. Kann ich Ihnen Tee oder Kaffee anbieten – oder etwas Stärkeres zur Feier des Tages?« Mr Mills lächelte und zeigte sein strahlendes Gebiss. »Kaffee bitte«, sagte Julia paradoxerweise, da er ihr gar nicht bekam. 304
Mr Mills las Paragraphen vor, hielt sich an Kleinigkeiten auf und wiederholte sich mehrmals, bis Julia sich schmerzlich nach Sita zurücksehnte. Zu guter Letzt, als sie innerlich schon förmlich danach schrie, sich zu verabschieden, räusperte er sich und sagte: »Ahhhem, zu Ihrem eigenen Testament. Verzeihen Sie die Freiheit, aber sollten wir die Gelegenheit nicht beim Schopfe …?« Julia hatte über ihren eigenen Tod noch nicht nachgedacht, was sie nun, im Nachhinein, überraschte. »Meine Güte, Mr Mills, vermutlich haben Sie Recht. Wie aufmerksam von Ihnen.« Mr Mills, der seine Klientin kaum kannte, wusste nicht recht, wie ihre Antwort zu verstehen war. »Es ist allgemein anzuraten«, fuhr er fort. »Und da Sie im Ausland leben und so weiter …« Er lachte nervös. »Gesundheitlich ist es mir nie besser gegangen als seit dem Antritt meines Auslandaufenthalts, aber natürlich werde ich sorgfältig über Ihren Vorschlag nachdenken. Darf ich das schriftlich erledigen? Ich nehme an, es wird möglich sein, alle notwendigen Dokumente zusammen mit dem Vertrag per Post auf den Weg zu bringen?« Sie einigten sich darauf, dass sie ihr Vermächtnis formulieren und es ihm von Venedig aus zuschicken sollte, und dann durfte sie endlich gehen. »Auf Wiedersehen, Mr. Mills. Bitte grüßen Sie Sita herzlich von mir. Es tut mir Leid, dass ich sie nicht gesehen habe, aber Sie waren ein wunderbarer Ersatz.« So hat mir, dachte sie beim Einsteigen in die U-Bahn, der Wohlstand Mr Mills beschert. Was er mir wohl noch bescheren wird? Die U-Bahn war heiß und überfüllt. Julia stieg schon an Notting Hill Gate aus und ging das letzte Stück bis zum Hotel zu Fuß. Die Hitze und der ungewohnte Kaffee hatten sie ermüdet, und sie bekam wieder Seitenstiche. 305
Als sie sich auf dem Bett ausruhte, in einem modisch pastellfarben gestrichenen Zimmer mit passendem Bad, und dem Verkehrslärm draußen lauschte, überkam sie heftiges Heimweh nach dem stillen, blätternden Verfall des Campo Angelo Raffaele. Vor ihrem Aufbruch nach England hatte sie Signora Mignelli aufgesucht und ihr einen Vorschlag unterbreitet, den sie auf der Dachterrasse der Cutforths ausgebrütet hatte. »Ich würde mich unendlich freuen, wenn ich mich für das ganze nächste Jahr in Ihrer Wohnung einmieten dürfte.« Dann hatte sie einen Betrag genannt, von dem sie hoffte, Signora Mignelli würde ihm nicht widerstehen können. Die Signora war begeistert auf ihr Angebot eingegangen. Sie bedauerte, dass die Wohnung noch den ganzen August von Deutschen besetzt war. »Aber September ist frei«, sagte sie entschieden. »Mein Mieter aus Amerika sagt ab – so ist gut für uns beide. Gut für mich, weil ich behalte die Anzahlung. Und gut für Sie, weil Sie schneller einziehen!« Am folgenden Morgen rief sie, die Zähne zusammengebissen – denn London hatte unleugbar etwas, was einen so träge machte, dass einem jede Anstrengung zu viel wurde (»Nun mach schon, es muss unbedingt sein!«, forderte sie sich streng auf) –, aus ihrem Hotelzimmer Vera an. »Julia! Du hättest mir schreiben müssen, dass du nach England kommst!« Vera klang vorwurfsvoll wie immer. »Ich wusste es selbst nicht«, sagte Julia nicht ganz unaufrichtig. Vera lebte in einer Eigentumswohnung in der Nähe der Marylebone High Street. Julia (deren Blick für diese Dinge durch ihre jüngsten Nachforschungen bei den Immobilienmaklern von Ealing geschärft war) vermutete, dass die Wohnung durch die allgemeine Wertsteigerung mittlerweile ebenfalls zu einem »attraktiven Objekt«
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geworden war. Doch wie ihr auffiel, war Vera auf ihre Nachteile fixiert. »Sie wird natürlich ganz schwer zu verkaufen sein«, sagte sie, als Julia das Thema auf den bevorstehenden Umzug brachte. »Dieser Verkehrslärm.« »Aber zu den Theatern günstig gelegen«, entgegnete Julia, die keine Lust hatte, in Veras Klagelied mit einzustimmen. Vera machte ein unzufriedenes Gesicht. »Tut mir Leid, dass es keinen anständigen Platz zum Sitzen gibt«, sagte sie und räumte eine Zeitung von einem durchaus bequemen Sessel. »War der Fahrstuhl in Ordnung?« »Ich denke schon – er hat mich heil heraufgebracht!« »Wir haben einen unvorstellbaren Ärger mit dem Pförtner. Er ist nicht ganz … du weißt schon.« Vera senkte unnötigerweise die Stimme (denn wer außer ihr hätte etwas hören können, dachte Julia gereizt) und tippte sich an die Stirn. »Fledermäuse im Oberstübchen«, artikulierte sie stumm. »Mir graut davor, was er den Käufern erzählen könnte!« Julia, deren Gedanken zu Toby und den Fledermäusen in der Pestkapelle schweiften, hoffte, der Pförtner möge Veras potentielle Käufer mit anzüglichen Bemerkungen traktieren. »Meinst du, ich könnte dich um ein paar von meinen Büchern angehen?« Vor ihrer Abreise nach Venedig hatte Julia ihre Bücher in ein paar Kisten verpackt, die Vera freundlicherweise bei sich unterzustellen erboten hatte. »Sie sind im Gästezimmer, fürchte ich.« Vera seufzte, als stünde ihr eine überwältigende Herausforderung bevor. »Tut mir Leid, dir solche Mühe machen zu müssen«, sagte Julia, der es nicht im geringsten Leid tat. Die Kisten waren unter dem Gästebett verstaut, und nachdem Vera sie mit viel Gestöhne hervorgezogen hatte, 307
ließ sie Julia allein, um sich der Zubereitung des Mittagessens zu widmen. »Nimm dir alle, die du brauchen kannst.« »Mach ich, danke«, sagte Julia, belustigt über die Aufforderung, sich freimütig bei ihren eigenen Sachen zu bedienen. Während des Mittagessens versuchte sie ihr Verhalten wieder gutzumachen, indem sie Vera aus einem ihrer geretteten Schulbücher etwas über Garum vorlas, eine uralte, von den Römern hoch geschätzte Heilpaste aus den zersetzten Innereien einer exotischen Fischart. »Wieso interessiert dich das? Ich hätte gedacht, sie hätten davon am ehesten eine Lebensmittelvergiftung bekommen«, sagte Vera unwirsch. »Aber ich freue mich, dass du dich wieder mit Geschichte beschäftigst. Gott sei Dank hast du deine Bibeleskapaden hinter dir gelassen. Ich hab schon gedacht, du hättest nicht mehr alle Tassen im Schrank.« »Wie dein Pförtner?«, fragte Julia und war froh, als sie bei einem Blick auf die Uhr feststellte, dass sie gehen konnte, ohne dass ihr das wiederum als Unhöflichkeit auszulegen war. Nach Veras entschlossenem Pessimismus genoss sie es, ein Taxi in die St. Martin’s Lane zu nehmen. Dort gab es einen Buchladen, den sie aufsuchen wollte – einen, den sie bei ihren gelegentlichen Ausflügen ins Coliseum mit Harriet im Vorüberfahren gesehen hatte. Die liebe Harriet! Sie hatten in dem Rund gesessen – Harriet hatte es wegen der schweißtreibenden Hitze die »Achselhöhle« genannt – und in der Pause zu Tee aus der Thermosflasche von zu Hause mitgebrachte Käsebrote mit sauren Gurken verzehrt. Und die ganze Zeit war Harriet eine reiche Frau gewesen. Sie hätte sich über das Taxi gefreut. Abends, der Straßenverkehr ließ die blassrosa Hotelmöbel erzittern (wie Pudding, dachte Julia), bestellte Julia 308
sich Tee und belegte Brote aufs Zimmer – im Gedenken an Harriet. Sie hatte seit ihrer Studienzeit nicht mehr in ihren alten Atlas der antiken Welt geschaut (den sie jetzt unter Veras Bett hervorgeholt hatte). Als sie ihn aufschlug und die Stadt Nimrud fand, schlug ihr Herz vor Freude höher. So ähnlich hatte sie sich als Schulmädchen gefühlt, als sie den Plan gefasst hatte, dem Haus des Vaters zu entkommen, indem sie Geschichte studierte. Oberhalb von Nimrud, ein Stückchen den Fluss Tigris stromaufwärts, entdeckte sie Ninive, die Stadt Tobits, oder vielmehr die Stadt, in der er zu leben gezwungen war, nachdem seine Eroberer das Königreich Israel vernichtet hatten. Das also war Assyrien? Aber auch dieses Reich hatte am Ende seine Quittung bekommen, denn Ninive wurde von den Medern und ihren Verbündeten, den gerissenen Persern, erobert und verschwand wie die zehn Stämme Israels im Dunkel der Geschichte. Der alte Tobit hätte sich gefreut! Als sie zu der Seite mit dem persischen Weltreich umblätterte, fand sie einen Fahrschein: drei Pence – so viel hatte eine Fahrt durch die Kanäle von Cambridge gekostet. Thruppence. Sie hatte die kleinen, zwölfeckigen Münzen mit den Grasnelken oder dem Fallgatter der Bank of England auf der Rückseite ganz vergessen. Eine Münze, die man früher Kindern geschenkt hatte, wenn sie artig gewesen waren, einem die Fenster geputzt oder Kohlen aus dem Keller geholt hatten. Man lebte, als währte eine Lebensweise ewig, und wenn sie verging, verschwand sie einfach, sogar aus dem eigenen Gedächtnis. Aber ihr Tobias – auf welchem Weg war er gereist? Mit dem Finger folgte sie dem Tigris. Ekbatana, die Hauptstadt Mediens, Saras Heimatstadt, lag ein gutes Stück östlich von Assyrien jenseits des Zagros-Gebirges und schien heutzutage Hamadan zu heißen. Und es sah so aus, 309
als könnte Rages, nordöstlich von Ekbatana, wo Tobias das von Tobit hinterlegte Geld holen sollte, vielleicht mit der heutigen Stadt Teheran identisch sein. Julia ging an die Minibar, holte ein Portionsfläschchen Brandy heraus und schraubte den Deckel auf. Dabei ging ihr durch den Kopf, was ihr Vater wohl dazu sagen würde, dass seine Tochter sich, wie er es ausdrücken würde, dem Satan Alkohol ergab. »Der Weisheit Anfang ist die Furcht des Herrn!«, hatte er gesagt und ihr brutal auf die Schulterblätter geschlagen, während sie stumm dasaß und ihm die Befriedigung verweigerte, sie weinen zu sehen. Es war ein Spruch von Jahwe, dem Gott des alten Tobit. »Einem gottlosen Menschen wird’s gehen, wie er wandelt«, hatte ihr Vater auch gern gedroht, ohne die geringste Ahnung, vermutete sie (und verspürte darauf das Bedürfnis nach einem weiteren Brandy), was die Worte wohl bedeuten mochten. Die Hochzeit der Zwillinge sollte in Devon stattfinden, und im Zug dorthin (erste Klasse, Harriet sei Dank!) vertiefte sich Julia in den Band, den sie in dem Buchladen in der Nähe der St. Martin’s Lane gefunden hatte. Caspar, Melchior und Balthasar, so erfuhr sie, waren christlicher Phantasie entsprungen. Die Weisen aus dem Morgenland waren in Wirklichkeit gar keine Könige gewesen, sondern Angehörige des medischen Priesterstammes der Magier, für die es nicht unter ihrer priesterlichen Würde war, einen bescheidenen Ochsenstall zum Ziel ihrer Reise zu machen. Das Gold, der Weihrauch und die Myrrhe mussten rituelle Geschenke gewesen sein, dem von einer Jungfrau geborenen Heiland angemessen, dessen Geburt von ihrem Propheten Zarathustra angekündigt worden war. Und Zarathustras heilige Stadt erwies sich als keine andere als die Stadt Rages! 310
Aufregung erfasste ihr Herz, so dass es in ihrer Brust flatterte und pochte. Da! Sie hatte es gewusst. Das war der Grund, weshalb Tobit seinen Sohn nach Rages geschickt hatte, um seinen Wechsel einzulösen. Was war denn ein Wechsel überhaupt? Etwas, was einem gehörte und was wiederzuholen man sich wünschte. Und am Ende war es Raphael, der das Geld aus Rages beschaffte. Unbewusst musste der alte Knabe geahnt haben, dass ein Sinneswandel die größte Hoffnung für seine Familie darstellte. Kein Wunder, dass die sonderbare Geschichte, die Venedigs Künstler so beeindruckt hatte, aus der King-James-Bibel ausgeschlossen worden war: Sie war gar keine jüdische Lehrerzählung, sondern etwas weit Älteres und Milderes. In ihr Notizbuch schrieb Julia, bemüht, das Schaukeln des Zuges nicht zu übertragen: »Die zoroastrischen Priester Mediens (später Persien) führten einen Hund an die Bettstatt eines Sterbenden – damit der den Hund mit einem Brocken fütterte und somit nach seinem Tod von ihm sicher über die Brücke der Entscheidung geleitet würde, und vor den Richterstuhl.« An dieser Stelle hielt sie inne und sann über das Gericht nach. Der lachende Zarathustra hatte unsere Welt offenbar als ein Schlachtfeld gesehen, auf dem sich die Mächte des Lichts mit den Mächten der Finsternis bekriegten. Vielleicht hatte er Recht. Ihr erschien es zwar nicht mehr richtig, in den Kategorien »gut« und »böse« zu denken wie in ihrer vorvenezianischen Zeit, doch vielleicht stimmten sie insoweit, als es im Leben immer um Entscheidungen ging. (Aber woher wusste man, welche die richtige war? Und wie hatte sie bisher bei der Prüfung abgeschnitten?) Und Nasu – das schien im Persischen der Name für den Leichengeist zu sein, den Erzvernichter. Der Hund – im jüdischen Kontext ein sinnloses Element – hatte für sie in 311
der Geschichte mittlerweile einen Sinn bekommen. Der Zug raste schaukelnd dahin, und sie legte sich das Notizbuch auf den Schoß und hielt es mit einer Hand fest. »Wenn der medische Teil des Buchs Tobit, wie ich glaube, tatsächlich zoroastrischen Ursprungs ist, dann ist das die Erklärung für das Vorkommen des Hundes. Er ist da, um das Mädchen von dem zerstörerischen Geist zu befreien, von dem sie besessen ist.« Julia dachte noch eine Weile nach, dann schrieb sie: »Der Hund ist da, damit er den Tod riecht und den Geist der Vernichtung. Demnach hat der Hund zwei Funktionen: (i) er repräsentiert den natürlichen Instinkt – dessen Fehlen Tobit kraftlos macht. Während sein Sohn ihn im Überfluss besitzt und deshalb dem Mädchen beizuwohnen vermag, nachdem andere gescheitert sind (wobei auch er die richtige Hilfe braucht); (ii) der Hund führt zum Leben nach dem Tod – ob es sich um den physischen Tod oder das Ende einer todgeweihten Daseinsform handelt (s. Tobit und das Mädchen Sara).« Aber natürlich, wir alle tragen einen Geist der Vernichtung in uns, lautete Julia Garnets Schluss, als der Zug schwankend in den Bahnhof von Totnes einfuhr und bremste. Falls die Idee mit der Synagoge überhaupt diskutiert worden war, so hatte man sie verworfen, denn die Hochzeit fand in einer Kirche in der Nähe von Sarahs Elternhaus statt. Sarahs jüdische Anteile waren von dem anglikanischen Glauben der Familie ihres Vaters überlagert worden. Und vielleicht ist das ganz richtig so, dachte Julia – aus Respekt. Sie strich, während sie dem Taxi entstieg, die Stoffbahnen ihres lavendelblauen Kleides glatt, legte sich Harriets cremefarbenen Schal um die Schultern und 312
betrachtete die Kirche, die englischer nicht hatte sein können. Die Hochzeit verlief, wie Hochzeiten gewöhnlich verlaufen: Die Kirche mit dem Tonnengewölbe und dem eckigen normannischen Turm bot eine malerische Kulisse, des Pfarrers Predigt war gefällig, die Lieder munter, und Sarah in ihrem Spitzenkleid sah hinreißend aus. Doch es fehlte alles Mystische und alle Leidenschaft, alles Drama und alles Leid, wie es ihr in venezianischen Gottesdiensten begegnet war (dabei war all das, spekulierte Julia, doch gewiss nicht aus einer Ehe wegzudenken). Die Zeremonie war erst halb vorüber, als Julia bewusst wurde, dass sie enttäuscht war. Alles war äußerst geschmackvoll, doch in der Summe wirkte es fade. Es ist alles zu rosa, beschloss sie später: der Lachs, die Himbeeren – sogar der Pfarrer, der sich seines hohen Kragens entledigt hatte und seine Geschmeidigkeit zur Schau stellte, indem er mit einer der Damen vom Bufettdienst das Tanzbein schwang. Zum Glück gab ihr die für den nächsten Tag geplante Abreise nach Venedig eine Ausrede, sich zeitig zu verabschieden. »Vergeben Sie mir«, sagte sie zu Toby. »Es war wundervoll, aber ich werde alt, und außerdem muss ich meinen Zug kriegen.« »Sie sind nicht alt, Julia – in dem Kleid sehen Sie klasse aus. Ich würde Sie vom Fleck weg heiraten, wenn ich nicht schon eine wunderschöne Frau hätte.« »Schmeichler!« Zum ersten Mal in ihrem Leben ging Julia auf einen Flirt ein. »Nein, wirklich, ich meine es ernst. Unseren mitternächtlichen Spaziergang werde ich nie vergessen.« »Mitternacht war längst vorbei!«
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»Na schön, Spaziergang im Morgengrauen. Kehren Sie doch nicht die Lehrerin heraus. Hören Sie, ich hab Ihnen nie gesagt …« »Dann tun Sie’s auch jetzt nicht!«, unterbrach Julia ihn fast barsch. »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, wenn Sie schon meinen, ich würde die Lehrerin spielen. Übrigens habe ich noch ein Geschenk für Sie beide. Ich habe nichts gefunden, von dem ich dachte, dass Sie es gern hätten, deshalb habe ich Ihnen stattdessen etwas mitgebracht, was mir gefällt.« Sie überreichte ihm ein flaches Paket. »Wenn Sie jetzt wirklich gehen müssen, mache ich es auf. Eigentlich sollte ich auf Sarah warten, aber es sieht so aus, als wäre sie mit Onkel Herb beschäftigt.« Julia schaute über die Wiese zum Festzelt. Dort stand Sarah am Eingang, den Arm um einen kleinen, imposant wirkenden Herrn mit Zylinder und langen grauen Haaren gelegt. »Meine Güte, was für ein furchterregender Mann! Das ist der Bruder Ihrer Mutter?« Sarahs Mutter war sie vorgestellt worden, einer grauhaarigen, spindeldürren Frau, die aussah, als wäre sie zwischen Trauer und Freude hin und her gerissen. Ob ihr Mann, Sarahs Vater, Tobys Onkel Bill, irgendwo in der Nähe war, um mitzuerleben, dass seine einzige Tochter endlich gerettet war? Oder hatte schon der wundersame, heilende Blick in der Kapelle die Finsternis restlos vertrieben? Doch (sie ermahnte sich sanft zur Zurückhaltung) das würde sie vermutlich nie erfahren; solche Dinge waren der Zweisamkeit des Ehebetts vorbehalten. »Der Halbbruder«, unterbrach Toby ihre Gedanken. »Großmama hat zweimal geheiratet. Er ist ganz in Ordnung. Ein echter Krösus. Seiner Knete haben wir es zu verdanken, dass wir die Kapelle restaurieren dürfen.« 314
»Ich erinnere mich, dass Sie das erzählt haben. Womit hat er sein Geld verdient?« »Salzgebäck«, sagte Toby, worauf sie beide losprusteten. »Salzstangen und Pizzas!« Julia, die sich an dem Arm festhielt, den Toby nicht um sie gelegt hatte, musste sich Harriets Taschentuch bedienen. »Die wichtigsten Quellen der modernen Kunstförderung.« Dann, wieder ernst, aber der leichten Spannung ledig, die zuvor bestanden hatte: »Und sie ist wieder ganz hergestellt, Ihre Sarah?« Toby war braun gebrannt und sah gut aus. Seine Schultern waren straff und wirkten irgendwie breiter. Er beschattete mit einer Hand seine Augen, um zu seiner Frau hinüberzuschauen, und sagte: »Manchmal ist sie noch etwas daneben, aber sie reitet wieder, und das ist bestimmt gut für sie.« Vor ihrem geistigen Auge sah Julia die langen, klugen Nasen der Bronzepferde von San Marco. »Viel besser, denke ich, als jede Therapie!« »Hey!« Toby hatte das Paket ausgewickelt und ein rotes Buch hervorgeholt. »Die Apokryphen. Das sieht cool aus!« »Ich dachte, Sie hätten vielleicht Spaß dran, das Buch Tobit zu lesen. Wir hätten uns einmal beinahe darüber unterhalten und, na ja, vielleicht verstehen Sie dann, warum es mir gefällt.« »Hey«, sagte Toby, »bestimmt gefällt es uns dann auch!« Als Julia im Bahnhof von Plymouth ausstieg, war die Sonne bereits untergegangen, und sie war froh, Harriets Schal dabeizuhaben. Das Bahnhofsrestaurant hatte geschlossen, so dass sie nicht einmal eine Tasse Tee trinken konnte und sich bis zur Ankunft des Anschlusszuges nur mit ihrem Buch trösten musste. Als sie schließlich in den 315
Zug einstieg, stieß sie sich das Schienbein, was sie an den Tag denken ließ, als sie in Venedig angekommen war und Cynthia und Charles kennen gelernt hatte. Mittlerweile war es England, wo sie sich fremd fühlte. Ihre Augen waren müde und sie hatte Schwierigkeiten, ihre Platznummer zu finden, so dass sie, als sie sich endlich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung (was ihr eigentlich nicht zusagte) auf ihren Sitz fallen ließ, nicht gleich die dunkelhaarige junge Frau bemerkte, die ihr gegenübersaß. »Hätten Sie Lust auf eine Tasse Tee?« Julia, die sich in ihr Buch zurückgezogen hatte, blickte auf und sah, dass es ihre Mitreisende war, die diese Frage stellte. »Wie nett von Ihnen – ich komme um vor Durst.« »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, auf mein Gepäck zu achten, hole ich welchen für uns beide, es sei denn, Sie möchten sonst noch etwas?« Julia bedankte sich und sagte, sie wolle nur Tee. Binnen weniger Minuten kehrte die junge Frau zurück, die beiden Becher sorgfältig an den Plastikgriffen gefasst. »Ich fürchte, er sieht scheußlich aus – knallorange, aber wenigstens wird er die Kehle anfeuchten.« »Das hat mein Vater früher immer gesagt!« Die Freundlichkeit der Frau hatte etwas unerwartet Wohltuendes. »Ach, wirklich? Wie ulkig, meiner sagt es immer noch. Prost!« Die junge Frau toastete Julia mit ihrem Becher lächelnd zu, und Julia trank dankbar aus ihrem. Der Tag hatte sie mehr angestrengt als erwartet. Nach einer Weile sagte die Frau: »Verzeihen Sie, wenn ich zu neugierig bin, aber ich schiele ständig auf Ihr Buch.« Sie deutete auf den Band, den Julia mit dem Umschlag nach unten auf den Tisch zwischen ihnen gelegt hatte.
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»Sie können es sich gerne ansehen.« Julia schob das Buch über die Weisen aus dem Morgenland zu ihrer neuen Bekannten hinüber. Diese schlug das Buch vorne auf und vertiefte sich in die Einführung. Sie blätterte die Seiten sorgsam um. Während Julia sie beobachtete, wurde sie sich eines Gefühls bewusst, das sie neun Monate zuvor nicht erkannt hätte: Sie beneidete die Jüngere um ihre Attraktivität, um ihre Fähigkeit, so ungezwungen in ein Gespräch mit einer Fremden einzusteigen. Sie besaß eine Leichtigkeit, die Julia selbst nie besessen hatte und niemals besitzen würde, und dennoch überkam sie, im Laufe der Betrachtung, eine ganz seltsame Empfindung. Ihr war, als beobachte sie mit gleichsam klinischer Neugier eine kleine, heimtückische Kröte in ihrem Innern, die jahrelang ihre Beziehungen zu anderen vergiftet hatte. »Sind das die gleichen Weisen, die dem Stern gefolgt sind?« Die junge Frau schien wirklich interessiert zu sein. Sie könnte meine Tochter sein, überlegte Julia, und der unwillkürliche Gedanke wärmte sie. »Ja genau. Ich habe ein seltsames Interesse an ihnen entwickelt, nach der Lektüre eines der apokryphen Bücher des Alten Testaments: des Buchs Tobit. Es ist nur zum Teil eine jüdische Geschichte. Die Juden haben, wie ich nach und nach herausgefunden habe, etliches aus weit älteren Quellen übernommen.« »Ist das die Geschichte mit dem Engel? Wir haben sie in der Schule als Stück aufgeführt.« Ist er denn auch hier, fragte sich Julia Garnet, zwischen Plymouth und Paddington in der Great Western Railway? Vielleicht ist er überall, wenn man nur hinsieht. »Ja, der Engel Raphael. Nach allem, was ich habe in Erfahrung bringen können, geht das Thema des Buchs 317
Tobit auf die Zeit der Meder und Perser zurück. Bei den Medern gab es einen Priesterstamm, die Kaste der Magier, die Anhänger Zarathustras waren – oder Zoroasters, wenn Sie wollen. Die ›gute Religion‹ nannten sie ihren Glauben.« »Halten sich nicht alle Religionen für ›gut‹?« »Vermutlich schon. Aber Zarathustra scheint das Leben besonders geliebt zu haben, wissen Sie. Er hat sogar gemeint, dass wir die Pflicht haben es zu genießen. Aber auch dass wir auf der Hut sein müssen, vor …« Ja, wovor eigentlich? Vor Exzessen und Entbehrung, denn vor beiden hatte der altiranische Prophet gewarnt und wohl eher zu Mäßigung in allen Dingen geraten, einschließlich der Mäßigung selbst. »… ich glaube, vor allem, was der Lebenskraft abträglich ist – Zorn und Brutalität und Unehrlichkeit – die hat er besonders scharf gegeißelt! Es war jahrhundertelang die vorherrschende Religion im Iran, bevor sie von den Moslems förmlich ausgelöscht wurde. Ein Jammer, denn sie erscheint mir so einleuchtend.« »Und der Engel?« »In der Geschichte gibt es einen Hund, der meine Neugier geweckt hat«, sagte Julia, die nicht auf das Angesprochene eingehen wollte. »Hunde waren ein Bestandteil zoroastrischer Rituale, deshalb sind sie bei den Moslems bis heute verhasst.« »Mein Vater behauptet, jede religiöse Praxis fuße auf politischer Praktikabilität.« Die junge Frau hatte ihr langes Haar mit einem silbernen Kamm hochgesteckt, ähnlich wie Sarah an dem Tag, als sie sich auf der Party der Cutforths getroffen hatten. »Das habe ich früher auch geglaubt«, sagte Julia, von jäher Sehnsucht nach dem goldenen Dämmerlicht in der Basilika San Marco erfasst. »Aber vermutlich ist es auch 318
eine Frage der Entscheidung, woran man glaubt oder nicht glaubt.« »Ich weiß nicht einmal, wie Sie heißen«, hatte Julia (von einem peinigenden Gefühl überwältigender Einsamkeit heimgesucht) erklärt, als der Zug in Paddington einfuhr, und die junge Frau hatte ihren Namen und ihre Anschrift auf einen bunten Zettel geschrieben, den sie in ihrer Tasche gefunden hatte. Bevor sie sich in ihrem puddingfarbenen Hotelzimmer schlafen legte, sah Julia noch einmal auf den Zettel, um den Namen in ihr Notizbuch zu übertragen. »Saskia Thrale.« Ein sonderbarer Name. Wahrscheinlich würde sie die junge Frau nie wiedersehen, aber die Begegnung hatte ihr etwas deutlich gemacht.
Bald wird meine Zeit abgelaufen sein, und ich muss unter die Erde. Darum will ich abschließend erzählen, wie es war, als mein Sohn Tobias zu mir zurückkehrte. Die Rippe und ich warteten zwei Monde, und ich zählte jeden Tag seiner Reise. Jeden Abend vor Sonnenuntergang ging die Rippe fort, angeblich um Wäsche auszuliefern, doch ich wusste, dass sie in Wirklichkeit am Flussufer saß, Ausschau hielt und wartete. Eines Tages verlor ich endlich die Geduld (das war von jeher das Laster, mit dem ich geschlagen bin), und ich richtete das Wort an sie und sprach: »Ist denn mein Verwandter gestorben und niemand da, der ihm das Geld gibt, oder was ist geschehen?« Da brach es aus der Rippe heraus. »Mein Sohn ist tot. Jetzt ist mir alles gleichgültig. Das Licht meiner Augen habe ich fortziehen lassen.« Und so weiter. 319
»Sei still!«, sagte ich, denn es verdross mich, dass sie meinen eigenen Ängsten Ausdruck verlieh. »Bestimmt werden sie von irgendeiner dringenden Sache aufgehalten.« Sie aber wollte sich nicht von mir trösten lassen und ging alle Tage traurig vor die Stadt. Ich malte mir aus, wie ihre Augen die Straße verfolgten, die er gegangen war. So sehr ich ihr auch versicherte, unserem Sohn sei bestimmt nichts zugestoßen, in meinem Herzen glaubte ich doch, dass er umgekommen war und dass all ihr Harren auf ihn nur ein Haschen nach dem Winde war. Es würde niemand da sein, der sich nach meinem Hinscheiden um die Rippe kümmerte, niemand, der meinen Leichnam in der Erde begrub, dass ihn die Aasfresser nicht verschlangen. Und wie einst König David so rief auch ich: »O mein Sohn, mein Sohn!« Doch eines Tages geschah es, dass die Rippe laut rufend vom Ufer des Tigris heimgeeilt kam. Ich erhob mich von meinem Schattenplatz an der Hofmauer. »Er ist es!«, schrie sie. »Ich habe ihn gesehen. Er und der Mann, der mit ihm ging. Tobias ist wieder da! Sie werden gleich bei uns sein.« Auf einmal fühlte ich an den Füßen und um die Beine herum etwas Warmes und dann einen feuchten Druck an einer Wade. Es war wieder der gesegnete Hund! Ich spürte, wie er die Ohren aufmerksam aufstellte und mit dem Schwanz wedelte. Und ich schwöre, dass ich auch spürte, wie sie durch die Pforte in den Hof kamen wie am ersten Tage, mein Sohn und der Mann, der ihn begleitete, denn noch ehe mein Junge mich ansprach, rief ich aus: »Tobias, Sohn meines Herzens!«, und ich trat von der Mauer weg auf ihn zu, um ihn in die Arme zu schließen, meinen größten Schatz. Doch alt und blind, wie ich war, geriet ich ins Straucheln. 320
Ich hörte eine Stimme, als ich in die Dunkelheit stolperte, die sagte: »Vater!«, und dann: »Nur Mut, Vater!« Gleichzeitig verspürte ich ein schmerzhaftes Brennen in den Augen und roch einen üblen Gestank, so dass ich mich beinahe übergeben hätte, und ich verlor das Bewusstsein und sank zu Boden. Jemand half mir auf, strich mir übers Gesicht und löste etwas von meinen Augen ab. Auf einmal konnte ich wieder sehen! Vor mir stand ein hochgewachsener junger Mann mit einem Bart, und ich hielt ein Büschel abgerissener Blätter in der Hand, und neben ihm erblickte ich einen breitschultrigen, blonden Mann. Da sagte der bärtige junge Mann abermals: »Vater!«, und dann fügte er hinzu: »Siehst du, ich bin wieder heimgekehrt!«
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3 Im Oktober kam die Regenzeit, und wer wusste, was das bedeutete, warf abschätzende Blicke auf den Fuß des Campanile in der Piazza, denn dort hatte man mit einem Strich markiert, wie hoch das Wasser bei der Überschwemmung vom 4. November 1966 gestiegen war. Aqua alta, Venedigs Fluch, weil die Wasser, die mit jedem Jahr höher über den normalen Stand der Lagune steigen, große Schäden anrichten, wenn sie vom Wind in die Stadt getrieben werden. Auf der Piazza San Marco hatte man die hölzernen Stege, über die Besucher und Einheimische geübt schreiten oder ungeübt wanken, bereits aufgebaut. Julia hatte eine Einladung zum Abendessen beim Monsignore angenommen. Sie war nach dem Aufbruch noch einmal zurückgekehrt, um grüne Gummistiefel anzuziehen, das Kennzeichen der Einheimischen von Venedig. Bevor sie in die Calle Lunga einbog, warf sie ein paar Briefe ein. Das war nun also getan; Mr Mills würde sich zufrieden zeigen. Auf einem breiten, roten Kahn stand ein gelber Kran, der Pfähle im Wasser versenkte. Männer mit dicken Lederhandschuhen und Wollmützen brachten die Pfähle in Position und schlugen sie mit riesigen Holzhämmern tief in das Kanalbett. Ein Passant rief einem der Arbeiter, der offenbar jüngst geheiratet hatte, einen hänselnden Gruß zu. Darauf kam es zu einem kleinen Geplänkel darüber, wie lange der Frischvermählte im Bett verbracht hatte. Julia hörte amüsiert zu und merkte dabei, dass sie im Wesentlichen verstand, was die Männer sagten.
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Auf dem vertrauten Weg über die Accademia-Brücke (sie hätte ihn, wie sie Vera geschildert hatte, um ihr nach dem Besuch etwas Nettes zu schreiben, im Traum gehen können) traf sie die Frau mit dem smaragdgrünen Hut, die sie in der kleinen Kapelle von San Marco gesehen hatte. Die Frau, heute in glänzenden Lackstiefeln, gab ihr im Vorübergehen mit einem hoheitsvollen Nicken zu erkennen, dass sie ihr bekannt war. »Ihnen könnte selbst die Sintflut nichts anhaben!« Julia hatte die Stiefel ausgezogen, und der Priester hatte sie in Strümpfen (zu spät war ihr eingefallen, dass sie ihre Hausschuhe vergessen hatte) in ein Arbeitszimmer geführt, das aussah, als wäre es einem Gemälde entsprungen, das sie zuerst mit Carlo zusammen gesehen hatte. »Vielen Dank für die hier.« Sie deponierte ein Bücherpaket auf dem Tisch. »Bei Ihnen sieht es aus wie in der Zelle des Augustinus!« »Das ist ein übertriebenes Kompliment. Ich muss leider gestehen, dass es mir nicht gegeben ist, so über meinen Schatten zu siegen wie der Heilige. Während mein Marco hier das Ebenbild von Augustinus’ Hund ist!« Der Mops kam keuchend zu ihrer Begrüßung herbei. Julia beugte sich hinunter, um ihn ebenfalls zu begrüßen. »Ich habe einige Nachforschungen über Hunde angestellt. Wissen Sie, früher mochte ich sie überhaupt nicht.« Sie speisten in einem getäfelten Saal – Taube mit Erbsen in sahniger Sauce, die Kristallgläser voll rot glänzendem Wein. »Wein aus dem Veneto für den Winter«, sagte der Monsignore, als er ihr nachschenkte. »Eine Labsal für den Magen und das Herz.« »Und die Seele?« »Für die auch. Aber von der Seele sollte man nicht zu viel reden. Sie ist scheu.« Es klang, als spräche er von 323
einem hellhörigen Geist. »Heute Abend könnten wir beide, Sie und ich, allerdings einen Toast ausbringen.« »Ja, gern?« »Ottobre ventiquattro – das Raphaelsfest –, jedenfalls bis zu dem Jahr, als irgendein Idiot im Vatikan es auf denselben Tag wie Michaelis gelegt hat! Bis dahin war sein Fest immer heute, und ich ehre ihn immer noch jedes Jahr an diesem Tag.« Der Monsignore hob sein Glas und prostete Julia auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches zu. Deshalb hatte er sie also eingeladen. Sie hob ihr Glas ebenfalls, und sie tranken schweigend. »Die Bücher, die Sie mir freundlicherweise geliehen haben …« Sie war zu einer regelmäßigen Benutzerin seiner Bibliothek geworden. »… wissen Sie, ich glaube, er …« Sie sprach seinen Namen nicht gern aus. »… er geht noch viel weiter zurück als das Alte Testament.« Warst du es, o Raphael, vor Tausenden von Jahren in der Hochsteppe am Kaspischen Meer, lange bevor es einen Mose oder einen Christus oder einen Mohammed gab, der dem lachenden Zarathustra seine Vision einer zwischen Wahrheit und Lüge gehaltenen Welt offenbarte? Wenn sie gehofft hätte, den Monsignore überraschen zu können, wäre sie enttäuscht gewesen. »Aber natürlich, er und seinesgleichen waren schon immer da, von Anfang an. Wie sollte es anders sein!« Marco humpelte von seinem Platz am Feuer zu ihrem Stuhl herüber, und sie hielt ihm ein Stückchen Taubenfleisch hin. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ihm das gebe? Tut mir Leid, ich hätte fragen sollen.« Der Priester, der in die Flammen gestarrt hatte, schüttelte nur den Kopf. »Ich vermute, Sie wissen es schon lange, aber ich wusste es nicht, dass Hunde einst heilig waren. Und ich frage mich, ob das der Grund ist, weshalb er, wissen Sie, auf dem Bild von einem Hund begleitet wird.« 324
Der Monsignore wandte sich ihr wieder zu und begann, sich Käse zu nehmen. »Sie müssen unbedingt den Provolone probieren. Auch der Gorgonzola schmeckt ausgezeichnet zu diesem Wein. Der Hund aus der Geschichte von Tobiolo ist ein sonderbares Tier. Der einzige gute Hund in der Bibel. Aber wie Sie sagen, sind diese Geschichten weit älter als unsere Religion.« Er schien es damit gut sein lassen zu wollen, doch es gab noch etwas, was Julia beschäftigte, und sie fragte hartnäckig weiter: »Monsignore Giuseppe, was ist mit der anderen Hälfte des Diptychons?« Manchmal wachte sie nachts grübelnd auf. War das Gegenstück zusammen mit zahllosen anderen Schätzen von den Nazis konfisziert worden? Oder hatte Sarah es ebenfalls gestohlen? Befand es sich noch im Besitz von Carlo, der auf eine Gelegenheit wartete, es an einen diskreten Millionär zu verscherbeln? Toby hatte allerdings nur davon gesprochen, das Bild mit dem Engel entdeckt zu haben, niemals von der zweiten Hälfte. »Glauben Sie, dass sie jemals wieder auftauchen wird?« »Sind Sie um das Bild besorgt, oder fragen Sie um Ihrer selbst willen?« Würde die Tafel mit dem Engel ihre heilende Wirkung behalten, jetzt, da sie mittels moderner Alarmsicherungen abgeschirmt war und nicht mehr in der stillen Umgebung der kleinen Kapelle ruhte? Soweit Julia wusste, hatte der Priester niemandem außer ihr je verraten, dass er derjenige war, der das Diptychon in dem Gang versteckt hatte. In ihr keimte eine Hoffnung auf: Konnte es sein, dass die andere Hälfte noch …? Doch die Amselaugen sahen sie seelenruhig an, und ihre halb vorgeformte Frage erstarb. »Noch einen letzten Schluck Wein?« Er hielt ihr die Karaffe hin. »Dann trinke ich ihn aus. Ich habe Ihnen,
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glaube ich, immer noch nicht die Geschichte von Papst Johannes erzählt.« »Die Sie an dem Tag erzählen wollten, als …?« Sie hatten auch nie davon gesprochen, was er in der Kapelle gesehen hatte. »Genau. Alle Päpste werden von Gott ernannt, aber dennoch stehen ihm manche, sagen wir mal, näher als andere. Dadurch, dass ich Papst Johannes persönlich kannte, war es mir vergönnt, ein wenig mehr darüber zu lernen, was es mit der Macht des Lichts auf sich hat. Verstehen Sie?« Marco schnüffelte an ihrem Stuhl, und sie fütterte ihn mit einem Stückchen Speck. »Ich denke schon.« »Er war, wissen Sie, gewissermaßen …«, der Monsignore machte eine Geste, die aussah, als zerkrümelte er Teig zwischen den Fingern, »… selbst das Licht. Ich erzähle Ihnen also die Geschichte: Wir befinden uns vor einiger Zeit in Paris. Papst Johannes ist zu einem Abendessen geladen. Sophia Loren und ihr Mann Carlo Ponti sind ebenfalls eingeladen. Ich vermute, damit seine Heiligkeit heimatliche Gesellschaft hat, denn Papst Johannes spricht aufgrund seiner bäuerlichen Herkunft nur Italienisch. Signora Loren verspätet sich ein wenig, wie es ihre Gewohnheit ist, und als sie eintritt, trägt sie ein großes Dekollete. Aber sehr offenherzig! Und sofort entsteht in ihrer Umgebung, ausgehend von allen Mitgliedern des Vatikans, eine Atmosphäre.« Seine Augen versprühten boshafte Funken. »Nach einer Weile sagt Papst Johannes: ›Signora Ponti tut mir Leid, sie ist so charmant gekleidet. Doch wenn sie den Raum betritt, wird sie von niemandem angeschaut. Stattdessen sind alle Augen auf mich gerichtet! Meine Herren, wo bleiben Ihre Manieren?‹« Der Monsignore erhob sich vom Tisch. »Hätten Sie Lust, einen kleinen Spaziergang zu machen? Marco sollte 326
uns begleiten. Du wirst fett, Marco, genau wie dein Herrchen, und der Dottore sagt mir, wir sollen auf unsere Herzen Acht geben. Ich denke, den Maulkorb wirst du heute Abend nicht brauchen.« Der Vollmond hing über dem seichten See, der durch das Hochwasser auf der Piazza San Marco entstanden war. Weit und breit keine Menschenseele, die das flüssige Silber auf der Wasseroberfläche mit ihnen hätte genießen können. »Sie sehen«, sagte der Monsignore, »eine der wahrhaft schönsten Sehenswürdigkeiten von Venedig und zugleich die gefährlichste.« Carlo hatte ihr den Stand gezeigt, den das letzte große Hochwasser erreicht hatte, nur eine Spur niedriger als sein Scheitel. »Sehen Sie«, hatte er gesagt. »Wenn ich hier gestanden hätte, wäre ich fast vollständig von Wasser bedeckt gewesen!«, worauf es sie gedrängt hatte, ihn stattdessen mit ihrem Leib zu bedecken. »Jemand hat mir einmal erzählt, die Stadt sei nur gerettet worden, weil gerade Nippflut war.« Das ist die niedrigste Flut im Monat, hatte Carlo erklärt, wenn die Anziehungskräfte von Sonne und Mond aus verschiedenen Richtungen wirken. »Die Hochwasser nehmen an Häufigkeit zu?« »Auf jeden Fall. Das Eis an den Polen schmilzt, so dass der Meeresspiegel mit jedem Tag steigt. Und Venedig versinkt Jahr für Jahr ein paar Millimeter tiefer in der Lagune.« Im Mondlicht sah sie, wie seine Hand die Stadt mit einer Geste auswischte. »Aber ist denn gar nichts dagegen zu machen?« »O doch. Es heißt, man könne Flutschutztore errichten, um das Wasser aus der Adria abzuhalten. Aber ich habe Zweifel, ob sich das Blatt jemals wirklich wieder wenden lässt.« 327
Er drehte sich um, und sie gingen an die Lagune zurück. »Ich werde meinen Bootsmann rufen, damit er Sie zur Angelo Raffaele bringt.« Sie wollte gerade sagen, das sei doch nicht nötig, als er ihr eine Hand auf den Arm legte. »Nein, nein. Protestieren Sie nicht. Es ist mir ein Vergnügen. Erinnern Sie sich, wie Sie von den alten Religionen gesprochen haben? Alles hat seine Zeit. Früher einmal lagen hier …«, er deutete mit einer ausladenden Geste hinter sich auf die überschwemmte Piazza, »grüne Felder und Weingärten, und irgendwo verlief ein Kanal neben einer Kirche, die dem heiligen Theodor geweiht war, bevor die Gebeine des Evangelisten hierher gebracht und ihm vor die Nase gesetzt wurden. Wie so vieles in Venedig, wurde auch Markus aus dem Orient geraubt!« Julia blickte zu dem entthronten Heiligen und seinem Krokodil auf. Ein Vers, den die Kinder auf dem Schulhof früher gesungen hatten, klang ihr im Ohr. »See you later, alligator – in a while, crocodile.« Sie stellte sich den anonymen Verfasser des Buchs Tobit vor, wie er, vielleicht in Ägypten, die Geschichten der persischen Soldaten auf Papyrus niederschrieb und Elemente seines eigenen Volksglaubens hineinwob. »Eine einzigartige Verschmelzung vielfältiger Geistesströmungen«, hatte Ruskin über Venedig gesagt. Das hätte er auch über die Zivilisation allgemein sagen können! Was für ein Mischmasch. Vielleicht war das Krokodil zusammen mit dem heiligen Markus aus Ägypten gekommen? »Markus war Bischof von Alexandrien, nicht wahr?« Es war die einzige Information aus Reverend Crystals Buch, die sie behalten hatte. »Das stimmt. Und ein Feigling soll er auch gewesen sein, weshalb ich meinen Marco nach ihm benannt habe. Komm, Marco. Genug des traurigen Anblicks. Du und ich, wir müssen jetzt heim.«
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Und in Julia Garnets Kopf hallten die Worte: Ob Osten oder Westen, zu Hause ist’s am besten …
Ich bete den großen Gott Jahwe nicht mehr an, auch wenn ich meinem Vater gegenüber nichts davon erwähne. Doch ich glaube, mein Vater versteht mich, denn auch er ist seit jenem Tage verändert. Wen hätte es nicht verändert, Zeuge solcher Dinge zu werden? Die Heimreise nach Ninive ging weit langsamer vonstatten als die Hinreise: Ich musste auf meine Frau Sara und ihre Mägde Rücksicht nehmen und hatte viele Packpferde, Maultiere und Kamele dabei, beladen mit den reichen Geschenken, mit denen ihr Vater mich überhäuft hatte – als Brautgabe wie auch aus Dankbarkeit für das, was ich vermeintlich vollbracht hatte. Asarja ging nicht mit mir zusammen, sondern hielt sich an der Spitze oder hinten bei den Treibern auf – Tiere sind ihm am liebsten, denke ich seitdem. Doch Kisch blieb an meiner Seite, und obwohl ich für kaum etwas Augen halte als für meine Frau, war ich froh über seine Gesellschaft. Ich war ganz aufgeregt, als wir den Tigris erreichten, denn ich wusste, dass es jetzt nur noch wenige Tage bis nach Hause waren. Und in jener Nacht, bevor ich mich zu Sara ins Zelt begab (wir schliefen keine einzige Nacht getrennt), trat Asarja zu mir ans Feuer. »Tobias«, sagte er, »hast du die Galle des großen Fisches noch, die ich dich aufheben hieß? Wenn wir uns Ninive nähern, wollen wir deiner Frau vorauseilen. Dein Vater wird dir entgegenkommen. Hör mir zu, und ich sage dir, was du tun musst, um ihn von seiner Blindheit zu heilen …«
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Ich sagte meiner Frau, ich wolle vorgehen, um meine Eltern auf ihre Ankunft vorzubereiten, und mein Herz pochte heftig vor Freude über das bevorstehende Wiedersehen und darüber, wie glücklich sie sein würden. Ich war mittlerweile besser zu Fuß als bei unserem Aufbruch und hielt jetzt mühelos mit Asarja Schritt. Es war ein gutes Gefühl, wieder neben ihm am Ufer des schnell dahinströmenden Flusses entlangzugehen. Asarja pfiff unterwegs, und ich war ein wenig verlegen, weil ich ihn gern vieles gefragt hätte und ums Verrecken nicht wusste, wie ich das anstellen sollte. Ich muss ein gequältes Gesicht gemacht haben, denn plötzlich sagte er: »Schau nicht so düster, Mensch. Weißt du nicht, dass Sorgen Feinde des Lebens sind?« Dieser Gedanke war mir allerdings neu – aber andererseits steckte Asarja immer voller Überraschungen. »Wie das?« »Die Menschen haben ein Recht darauf, nicht unglücklich zu sein«, antwortete er einfach und ging weiter. Kisch, den wir mitgenommen hatten, war auf der Jagd nach seinen alten Feinden, den Wasserratten, vorausgelaufen, jetzt aber kehrte er um und trottete brav hinter Asarja her. »Asarja«, sagte ich. »Du hast mir seinerzeit auf der Hinreise erzählt, in Ekbatana würde ich vielleicht erfahren, wen oder was du anbetest. Magst du es mir jetzt sagen?« Ich hatte schon öfter darüber nachgedacht, wie die Stämme Israels von ihrem Gott abtrünnig geworden und zu den alten Baumheiligtümern zurückgekehrt waren. Seit der Abreise aus Ekbatana hatte ich den Verdacht, dass auch ich vermutlich abtrünnig geworden wäre. »Wie würden dir Tapferkeit und Wahrheit und Barmherzigkeit und rechtes Handeln gefallen?« »Das sind doch keine Götter!«, wandte ich ein. 330
Da blieb Asarja unvermittelt stehen und Kisch mit ihm. Ich erinnere mich an eine lang gezogene, lockere Kette von Flamingos, die hinter seinem großen Lockenkopf über den Himmel flogen. Im rosigen Abendlicht sahen sie aus wie feurige Engel. »Tobias, um Himmels willen, was meinst du denn, wie ein Gott aussieht, wenn er in Menschen wirkt?« Darauf wusste ich keine Antwort, und so eilten wir ohne weitere Worte gen Ninive.
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4 Es war nach Mitternacht, als das Boot des Monsignore an den breiten, algenbedeckten Stufen vor der Chiesa dell’Angelo Raffaele anlegte. Beim Aussteigen blickte Julia Garnet zu der Skulpturengruppe auf: Fisch, Hund, Knabe und dahinter und über den dreien die Gestalt des Engels Raphael. Sie dankte dem Bootsmann des Monsignore und schaute zu, wie sich seine Schultern strafften, als er das Boot durch den Rio und um die nächste Ecke außer Sichtweite lenkte. Der Mond schien so hell, dass sie die verrutschten Strümpfe des Erzengels sehen konnte, und sie zwinkerte ihm, als sie die Stufen erklomm, übermütig zu: »Ciao, Raffaele!« Da das Mondlicht sie am Einschlafen hinderte und sie es auch nicht aussperren konnte, stand Julia auf und kochte sich eine Tasse Tee. Was hatte der Monsignore heute Abend mit seiner Geschichte beabsichtigt? War sie bloß zu ihrer Unterhaltung gedacht gewesen? Wie er sich an weiblichen Brüsten ergötzen konnte! Vielleicht barg sie keine weitere Bedeutung. Julia schlug ihr Notizbuch auf und las, was sie nach der Hochzeit der Zwillinge im Flugzeug geschrieben hatte: »Die Weisen vertrauten ihrer Vision, sie trotzten allen Gefahren, um ihr zu folgen, sogar in ein fremdes Land (und zu einem fremden Gott!).« Die Weisen aus dem Morgenland waren dem Stern gefolgt, wohin er sie führte, und sie war ihnen, auf Umwegen zwar, ihrerseits gefolgt, nicht nur in Gestalt von
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Nicco und seinen Freunden. War sie demnach vielleicht eine Art Parsin ehrenhalber? Vor langer Zeit war sie zu dem Schluss gelangt, dass die Geschichte sich nicht wiederholte; aber es konnte doch sein, dass etwas, in dem Wahrheit steckte, in immer neuen Gewändern wiederkehrte, sich Elemente von Vergangenem borgte und neue Wege der Verkündigung fand. Auch Nasu lebte immer fort, zusammen mit ihren Komplizen und Erben. Und der Engel Raphael ebenfalls. Selbst der alte Tobit hatte ihn am Ende gesehen. Neben dem Telefon lag ein Bleistiftstummel. Sie nahm ihn und schrieb in ihr Heft: »Lass die Toten die Toten begraben!« Vielleicht war das der Punkt, auf den der Monsignore mit seiner Geschichte hinauswollte: Der Glaube an die eigene Rechtschaffenheit war eine Art Tod. Sie schien in dieser Nacht keinen Schlaf finden zu können. Die Schmerzen in ihrem Arm quälten sie wieder, und in ihren Beinen verspürte sie eine Ruhelosigkeit, dass sie am liebsten laut aufgestampft hätte. Draußen schimmerte leise die Chiesa dell’Angelo Raffaele. Auf der anderen Seite des Platzes sah sie etwas laufen und stellte, nachdem sie zunächst gedacht hatte, es wäre eine Katze, fest, dass dort ein kleiner Hund an der Brunneneinfassung herumschnüffelte. An Schlaf war immer noch nicht zu denken, und in ihren Beinen zuckte es so, dass sie fast tanzen wollte. Sie legte das Notizbuch beiseite, zog sich den Tweedmantel über das Nachthemd und schlüpfte in die grünen Gummistiefel. Zu guter Letzt griff sie in Erinnerung an die Gesundheitsmaxime ihres Vaters noch kurz entschlossen nach Harriets Hut und setzte ihn auf. Der Hund war mittlerweile verschwunden, doch es war friedlich so allein auf dem Platz, mit dem Mond als Gesellschaft. 333
»Ich werde dreimal um den Campo gehen und dann wieder ins Bett«, verkündete sie sich selbst. Doch als sie sich nach der dritten Runde immer noch ungewöhnlich wach fühlte, setzte sie ihren Weg leise fort, zur Brücke, die an der Kirche über den Kanal führte. Das eigentümliche Mondlicht musste noch mehr Leute aus dem Bett getrieben haben, denn auf der anderen Seite der Brücke sah sie einen alten Mann mit einem Bart. Der alte Mann hob die Hand und winkte ihr zu, als kenne er sie, und sie winkte zurück – Gefährten der Nacht. Ah, der Hund musste zu ihm gehören, denn auf einmal sah sie ihn wieder, ein schwarzer Fleck, der geräuschlos über die Brücke trippelte. Und auf der Brücke selbst erblickte sie Harriet. »Harriet?«, fragte sie. Dann erschien im blauen Schatten hinter Harriet, von einem Leuchten umrahmt, in einer Tür noch jemand Drittes, und als sie ihm in die Augen sah, wurde sie von unzähligen, unendlichen Strudeln gezogen, dem Ende der Zeit entgegen.
Ich wusste es schon, bevor Asarja sich uns offenbarte. Alle Dinge, worüber er auf unserer Reise gesprochen hatte, alle Merkwürdigkeiten, die vorgefallen waren, hatten sich in mir zu einem Ganzen verdichtet, bevor er sich zu erkennen gab. »Ich bin Raphael«, sprach er, »einer der sieben heiligen Engel, die vor die Herrlichkeit des Heiligen treten.« Das sagte er so leichthin, beiläufig geradezu, dass ich beinahe gelacht hätte. Doch mein Herz brannte, als ob es im Feuer zerschmölze.
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Er hatte mich und meinen Vater für die Eröffnung beiseite genommen, während meine Mutter meine Frau umarmte und weinte und sie nach der Reise und ihren Eltern in Ekbatana fragte. Kisch war auch dabei. Kisch jaulte laut und flehentlich, als Asarja von uns ging, dann winselte er und verstummte. Ich könnte mir vorstellen, dass auch Asarja traurig war, Kisch zu verlassen. Mein Vater ist uns inzwischen vorausgegangen. Er hat die Brücke der Entscheidung überquert, und ich weiß, dass ihn ein gerechtes Gericht erwartet, dafür wird Asarja sorgen. Er war ein guter Mann, mein Vater, und lebte, wie er es verstand. Heute konnte ich mich zum ersten Mal dazu aufraffen, die Aufzeichnungen zu lesen, um deren Niederschrift er den Rest seiner Tage rang. Ich bin überzeugt, dass es ihn verändert hat. Denn von dem Tage an, da er sein Augenlicht wiedergewann und von Asarja den Auftrag erhielt, aufzuschreiben, was ihm widerfahren war, ließ mein Vater die Finger von den Toten. Für mich hat sich alles verändert. Die Vorstellung eines eifersüchtigen Gottes habe ich aufgegeben (denn ich wanderte und schlief und redete und stritt mit Asarja, und der Gott, der Asarja zum Diener hat, kann nicht eifersüchtig sein). Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass der einzig wahre Gott alle Formen der Anbetung zulassen und alle Teile der Schöpfung unter seine Obhut nehmen muss. Ob Fisch, Hund, Mann, Frau oder Engel, mit allen kam ich auf meiner Reise zusammen, und letztlich stellten alle ihre Notwendigkeit unter Beweis. Und gleichzeitig hat sich für mich nichts verändert, denn ich habe einsehen gelernt, dass es in dieser Welt immer dieselben Dinge geben wird: das Wasser, das Land, den Himmel und die schwimmenden, laufenden und fliegen-
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den Tiere, die sie bewohnen – wie auch die Menschen, die diese Dinge unwissentlich missbrauchen. Und bis ans Ende der Zeit wird es Geister geben, die danach trachten, uns zu beherrschen, und, wenn wir Glück haben, auch solche, die uns dabei helfen, wieder zu uns selbst zu finden.
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5 Auszug aus dem Testament der Julia Ann Garnet: Meiner Freundin und Genossin Vera Kessel, Wohnung 2, 36 Harswell Road, Hastings, Sussex, vermache ich meine sämtlichen Bücher über die sozialistische Bewegung. Signora Beatrice Mignelli, wohnhaft Dorsoduro 1710A, Venezia, vermache ich eine Jahresmiete für die Wohnung am Campo Angelo Raffaele, in der ich so glückliche Zeiten verlebte. Niccolo Concetti, wohnhaft Dorsoduro 1728, Venezia, vermache ich den Gegenwert von zwei Rückflugtickets nach London zuzüglich einer Summe von eintausend Pfund für seinen dortigen Aufenthalt. Cynthia Cutforth aus Whitelands, 1169 Franklin Boulevard, Philadelphia, USA, vermache ich meinen Hut mit dem Schleier. Saskia Thrale, wohnhaft 12 Wells Rise, London SW 10, vermache ich mein Buch »Die persischen Magier« mit Dank für eine wichtige Begegnung. Der Stiftung »Venice in Peril« überschreibe ich auf Treu und Glauben mein verbleibendes Vermögen an Bargeld und Aktien, mit der Auflage, dass sie eine angemessene Zuteilung an Projekte vornimmt, die dem Ziel dienen, die Fundamente Venedigs zu befestigen und somit die Frist zu verlängern, die der Stadt bleibt, ehe sie im Meer versinkt – als kleiner Dank für alles, was die Stiftung für die Stadt getan hat, die mich so spät im Leben noch gelehrt hat, Neues zu lernen und zu genießen.
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Des Weiteren wünsche ich, dass meine Leiche verbrannt und meine Asche in der Lagune von Venedig verstreut wird, und erteile Sarah und Toby Traherne, wohnhaft Elm Cottage, Summerton, Devon, den Auftrag, zu dem ich hiermit die Mittel bereitstelle, einen Stein auszuwählen, den sie neben den Stein meiner Gefährtin Harriet Josephs ins Putney-Vale-Krematorium setzen lassen, nachdem sie darauf das Bild eines Hundes und die folgenden Worte eingemeißelt haben: UT MIHI CONTINGAT TUO BENEFICIO POST MORTEM VIVERE Valde te rogo, ut secundum pedes statuae meae catellam pingas … ut mihi contingat tuo beneficio post mortem vivere. * PETRONIUS
* Ich bitte dich, an den Fuß meiner Statue einen kleinen Hund zu setzen … dass ich durch deine Güte ein Leben nach dem Tode finden möge.
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NACHBEMERKUNG Das Buch Tobit gehört seit über zweitausend Jahren zum Korpus der religiösen Literatur des Judentums. Obwohl die Handlung nach dem ersten jüdischen Holocaust angesiedelt ist, der Zerschlagung des Nordreichs Israel (in dem sich zehn abtrünnige Stämme von dem langlebigeren Südreich Juda abgespalten hatten) und der Verschleppung eines Großteils der Bevölkerung nach Assyrien im Jahre 722 v. u. Z. wurde es wahrscheinlich erst im letzten Viertel des 2. Jahrhunderts v. u. Z. in seine heute vorliegende Form gebracht. Über die Entstehungszeit gibt es unterschiedliche Spekulationen: Manche Bibelforscher glauben, das Buch Tobit sei während der assyrischen Zeit verfasst worden, anderen zufolge gehört es in die Zeit der späteren, berühmteren Gefangenschaft Judas in Babylon, und wieder andere meinen, es sei aus der jüdischen Diaspora in Ägypten hervorgegangen. Die Apokryphen (nach dem griechischen Wort für »verborgen«) umfassen diejenigen Bücher des jüdischen Schrifttums, die von den Autoren der englischen Bibelübersetzung von 1611, der so genannten »Authorised King James Version«, aus dem anglikanischen Alten Testament ausgeschlossen wurden. Darin folgten sie der hebräischen Bibel, die diese Bücher nicht in den jüdischen Kanon aufnahm, auch wenn eine andere Überlieferung der Schriften, gesammelt in der Septuaginta, der ältesten griechischen Übersetzung des Alten Testaments von ca. 250 v. u. Z. diesen Ausschluss nicht mitvollzieht. Viele dieser »apokryphen« Bücher waren Teil der jüdischen Weisheitsliteratur und wurden oft als zu heilig oder zu 339
kostbar angesehen, um allgemein zugänglich gemacht zu werden. Die Annahme, dass das Buch Tobit um das 1. Jahrhundert u. Z. unter den Juden als heiliges Buch in Gebrauch war, wird dadurch bestätigt, dass sich unter den Schriftrollen vom Toten Meer Fragmente davon fanden. Da die Ostkirchen immer noch die Septuaginta als Altes Testament verwenden, hat das Buch Tobit dort nichts an Geltung verloren, und Gleiches gilt für den katholischen Kanon (in der Übersetzung des hl. Hieronymus erblindet Tobit übrigens an Schwalbenkot statt an Sperlingskot) sowie für den protestantischen Kanon des europäischen Festlands. Der Ursprung der Geschichte liegt im Dunkeln. Schauplatz ist zwar Ninive zur Zeit des assyrischen Reiches, doch der dramatischste und geheimnisvollste Teil der Handlung spielt in Medien, und viele Bibelforscher stimmen darin überein, dass zentrale Motive deutlich den Einfluss des Zoroastrismus verraten, jener altiranischen Religion, die von den Magiern Mediens und später vom mächtigen Perserreich übernommen wurde und die noch heute im Parsismus fortlebt. Bei meiner Beschäftigung mit der Geschichte bin ich zu der Auffassung gelangt, dass der Hund, dessen positive Darstellung in der jüdischchristlichen Überlieferung einzigartig ist, vermutlich auf zoroastrische Quellen zurückgeht. Gestützt wird diese Annahme auch dadurch, dass Rages, wohin Tobit in jungen Jahren eine Reise unternimmt, als »Stadt des Zarathustra« (griechisch: Zoroaster) galt. Bei den Zoroastriern war der Hund ein heiliges Tier, das zwei Funktionen erfüllte: Erstens »entsorgte« er als Aasfresser die Leichen der Toten, was in einem heißen Klima eine überaus nützliche Sache ist, aber für die Zoroastrier vor allem den religiösen Nebeneffekt hatte, ihnen die Verunreinigung durch Berührung der Toten zu 340
ersparen. Die Assyrer ebenso wie die von ihnen verschleppten Juden bestatteten ihre Toten hingegen in Gräbern. Die Versessenheit, mit der Tobit Tote begräbt, wird einleuchtender, wenn man sie im Kontrast zu dem Brauch der Magier sieht, die Leichname wilden Hunden und aasfressenden Raubvögeln zu überlassen. Die zweite und wichtigere Funktion war, dass nach Anschauung der Magier der Hund den »Leichengeist« vertrieb, auch »Geist der Vernichtung« genannt, und mithalf, die Seele des Verstorbenen über die Brücke der Entscheidung zu geleiten. In der zoroastrischen Religion ist damit der Augenblick des Gerichts gekommen, in dem die guten und bösen Taten eines Menschen gewogen werden. So kam es mir schließlich naheliegend vor, dass der Hund auch zur Heilung von einer tödlichen Krankheit herangezogen wurde, oder bei Besessenheit wie im Fall von Tobias’ Sara. Dieser Eindruck verstärkte sich, als ich entdeckte, dass der böse Geist Aschmodai, der von Sara Besitz ergreift und sie veranlasst, sieben Männer zu erwürgen, bevor sie schließlich Tobias’ Braut wird, wahrscheinlich von Aeschma Daeva kommt, dem Erzdämon, der im Zoroastrismus »sieben Kräfte« zur Vernichtung der Menschheit erhält und dessen hauptsächliche Eigenschaft der Zorn oder die Raserei ist. Genau wie der Erzengel Raphael gegen Aschmodai antritt, so ist die Gegenkraft zu Aeschma Daeva der unsterbliche Geist Sraoscha, einer der obersten zoroastrischen Engel. Das Judentum und das Christentum sind beide stark vom Weltbild Zarathustras beeinflusst und haben daher beispielsweise die Vorstellung einer Hierarchie von »Mildtätigen Unsterblichen« übernommen, übernatürlichen Wesen, die den Menschen im Kampf gegen Zerstörung und Bosheit beistehen und ihnen zu Gesund341
heit, Glück und Rechtgläubigkeit verhelfen. Mit ziemlicher Sicherheit sind dies die Vorbilder unserer jüdischchristlichen Engel. Zu ihnen gehört Sraoscha, dessen spezielle Aufgabe es war, den Körper zu beschützen und die Seele des Verstorbenen zur Brücke der Entscheidung zu bringen, wo er auch das Amt eines gnädigen letzten Richters über das Leben eines Menschen versah. Sraoscha wird anscheinend von einem Hund begleitet (wie auch andere antike Psychopompen oder Seelenführer), und das ist nicht nur eine weitere Parallele zu Raphael im Buch Tobit, sondern liefert auch eine zusätzliche Begründung für das Vorkommen des Hundes in der Geschichte. Der Talmud berichtet, als die Juden aus ihrem Exil in Babylon zurückkehrten (begünstigt von ihren toleranten neuen Herren, den Persern), brachten sie aus der Gefangenschaft die Namen der Engel mit. Meine Vermutung ist, dass Raphael, dessen Name auf Hebräisch »Gott heilt« bedeutet, damals Eingang in die jüdische Überlieferung fand, aber dass er ursprünglich Sraoscha hieß und einer der Mildtätigen Unsterblichen war und dass das Buch Tobit in Wirklichkeit eine alte Magierlegende ist, die dann mit jüdischem Pietäts- und Gesetzesdenken überdeckt wurde. Auch ist es heute nicht mehr allgemein bekannt, dass die drei »Weisen aus dem Morgenland« (die in der christlichen Mythologie dem Stern nach Bethlehem folgten) aller Wahrscheinlichkeit nach zoroastrische Priester waren. Ihre berühmten Gaben Myrrhe und Weihrauch stehen für die Dufthölzer und Harze, die in den Ritualen der Religion verwendet wurden, deren Stifter vielleicht fünfzehnhundert Jahre vor Christus die jungfräuliche Geburt eines Weltenheilands prophezeit hatte. Salley Vickers
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