Marie Seurat
Mein Königreich des Windes Das Leben der Lady Hester Stanhope Roman
Aus dem Französischen von Cornelia L...
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Marie Seurat
Mein Königreich des Windes Das Leben der Lady Hester Stanhope Roman
Aus dem Französischen von Cornelia Lauber
Fischer Taschenbuch Verlag
Die Frau in der Gesellschaft Herausgegeben von Ingeborg Mues Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, September 2000 Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der edition ebersbach, Dortmund Die Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel Mon royaume de vent bei Bernard Grasset, Paris Copyright © by Marie Seurat 1994 Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 1997 by edition ebersbach, Dortmund Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-596-13666-0
Um das abenteuerliche Leben der Lady Hester Stanhope (1776 bis 1839) rankten sich vielerlei Legenden. Marie Seurat zeichnet in ihrem biographischen Roman die Geschichte dieser ungewöhnlichen Frau nach und zeigt, jenseits der Legendenbildung, eine widersprüchliche Persönlichkeit, die zwischen Großherzigkeit, Tollkühnheit und Halsstarrigkeit schwankte und gleichermaßen Anerkennung wie Abneigung erfuhr. Früh schon übte sie sich in politischer Einflußnahme und brach, von der englischen Aristokratie wegen ihrer Exzentrik ausgegrenzt, in Männerkleidung in den Orient auf. Ihr Ziel war es, Palmyra, den ehemaligen Regierungssitz der Königin Zenobia, zu erreichen, was noch keinem Europäer zuvor gelungen war. Dort angekommen, wurde sie mit offenen Armen empfangen. Die Beduinenfürsten liebten und bewunderten sie und krönten sie zur »Königin der Wüste«. Ihr palastartiges Haus wurde zum Treffpunkt von Menschen, die den Orient bereisten, aber auch zur Zuflucht für Verfolgte und Hungernde. Ihre Kühnheit und Abenteuerlust machten sie zu einem Mythos und zum Vorbild weiblicher Orientreisender. Ein spannender Roman über ein außergewöhnliches Frauenleben. Marie Seurat, geboren in Aleppo, aufgewachsen in Beirut, studierte in Oxford und verlor 1986 ihren Ehemann, den Orientalisten Michel Seurat, bei einem Angriff der Hisbollah. Sie lebt heute als freie Schriftstellerin mit ihren beiden Töchtern in Paris. Unsere Adresse im Internet: www.fischer-tb.de
Ebensogut könnte man träumen, die Pforten des Meeres zu öffnen. PAUL ÉLUARD, Hauptstadt der Schmerzen.
Djun, Mai 1838 Seit geraumer Zeit schon verheißt das Zusammentreffen von Jupiter und Saturn nichts Gutes. Das trübe Meer in der Ferne trägt kein Segel, und die Wolkenmassen verschmelzen mit dem Gebirgsmassiv, wo mein Schicksal seinen Lauf nahm. Ich habe also gelebt wie jene sturmgepeitschten Zypressen und mich gegen den Krieg gestemmt, gegen das Durcheinander der Welt und die Macht der Ereignisse. Der tobende Wind wirbelt eine Kante meiner Abayya* auf, schleudert sie mir ins Gesicht. Taumelnd befreie ich mich daraus. Diese aus Saïda kommende Böe begleitet meinen letzten Spaziergang. Es ist ihr nicht gelungen, mich hinunter auf die Terrasse zu zwingen, von der aus – so erzählt man sich hier – ehemals ein kreuzfahrender Prinz die Überbringer schlechter Nachrichten in die Tiefe stürzte. Noch immer sehe ich die gute Nachricht nicht kommen, auf die ich seit Monaten warte, den Brief, der mir mitteilen würde, daß meine Ehre gerettet sei und ich die kurze mir noch verbleibende Zeit in Würde leben könne. Ich besitze nichts mehr: Von meinen früheren Reichtümern sind mir gerade vierunddreißig Dienstboten geblieben, denen ich siebentausend Piaster Lohn schulde. Das Gerücht über meinen Ruin macht im Basar die Runde und bestürzt die Meister des Hammams und die Barbiere. Sir Francis’ Schweigen ist unbegreiflich, doch ich weiß, daß dieser Ehrenmann alles versucht, um mir – in Ermangelung von etwas Besserem – zu meinem irischen Erbe zu verhelfen. Ich muß geduldig ausharren, von einer Schlacht zur nächsten, vom Winter zum Frühling, vom Herbst zum Sommer! Seitdem ich meinen Fuß in den Orient setzte, habe ich soviele Pläne entworfen, soviele Entscheidungen getroffen und Herausforderungen angenommen, daß ich zur Legende geworden bin, aber das
alles nur, um nach dem lächelnden Gesicht des Ruhmes der Grimasse des Leides zu begegnen. Ein schönes Ende für Hester, die unbeugsame Königin von Palmyra•! In ihrem verfallenen Kloster ist sie, umgeben von wackligen Möbeln und verblichenen Briefen, nichts weiter als eine Kranke, eine Bedürftige unter dem Baldachin der Wolken, die von einem Baumwipfel zum nächsten ziehen! Ach, würden doch neue Brände ausbrechen und das Wenige verbrennen, was noch zu verbrennen ist! Der Kreis schließt sich; nicht einmal Verachtung ist mir geblieben. Alles sucht Zuflucht im Warten und in der Dürre. Die Pflanzen scheinen aus Metall. Das Meer in der Ferne ist erstarrt. Die Vögel sind verstummt. Aus dem Nachbardorf dringt nicht eine Stimme, auch nicht das leiseste Geräusch eines Spinnrades, Spatens oder Hammers. In dieser unvergleichlichen Stille hört man die Blätter eines Feigenbaumes leise rascheln. Ein Falke zieht seine Kreise. Nur er sieht die nichtsahnende Beute, die er töten wird. Es wird Abend. Ein violetter Schatten überzieht die Mauer. Ist das ein Park dort drüben am Hang des Hügels? Flocken fallen auf diese Landschaft, und in der Ferne fährt ein Wagen vorüber. Alles ist so klar, so deutlich, daß ich die Raben erkennen kann, die den Schnee meiner Kindheit aufpicken. Ich muß diese Geschichte erzählen, von der man sonst bald glauben wird, daß es sie nie gegeben habe, sie diktieren, wenn ich die Kraft dazu noch finde.
Ich bin am 12. März 1776 im Zeichen der Fische geboren, zu jener Jahreszeit, in der sich die Natur von der Kälte befreit und •
Palmyra, heute Tadmur, in der Antike bedeutende Handelsstadt nordöstlich von Damaskus. Von 266 bis 273 n. Chr. Residenz der Königin Zenobia. Wurde im Jahre 744 von den Arabern zerstört.
die so lange Zeit unterdrückte Wärme der Erde hervorzuquellen sucht. In diesem Augenblick der Unentschlossenheit der Natur suchte sich meine Seele ihren Weg wie das Feuer. Unser Haus stand an einer Wegkreuzung. Eine ihrer Abzweigungen führte von Rye nach London; sie wurde die »Straße des Fisches« genannt. Die andere, von Winchester nach Canterbury führend, hieß »Der Weg des Seelenheils«. Beide haben nichts von ihrer Anziehungskraft auf mich verloren. Meine beiden ersten Vornamen, Hester und Lucy, hatte man gewählt, um mich doppelt an die Pitts zu binden. Chevening war ein großer Landsitz aus roten Ziegeln und weißem Stein. Meine ersten Wiegenlieder waren von Trommelschlägen erfüllt, meine Papierdrachen ahmten die Kriegsfahnen von Marlborough nach; als ich vier war, handelten die Geschichten meiner Kindermädchen vom Dreiund Vierbund. Kaum konnte ich sprechen, da wußte ich bereits alles über Horace Walpole, Inigo Jones und Diamond Pitt. Ich spürte schon damals, wie die kochende Lava in mir aufzusteigen begann, die im Vornamen meines Ahnen zum kostbarsten und härtesten aller Steine geworden war.
Ich glaube, schon bei meiner Geburt habe ich nein gesagt! Meine ersten Kriege führte ich gegen meine schweizerischen und französischen Gouvernanten. Unter dem Vorwand, daß ich eine gute Haltung bekommen sollte, zwängten sie mich in einen hölzernen Schraubstock, den sie mit Brachialgewalt festzogen, so daß mein Rücken mit Sicherheit verkümmern oder entstellt werden mußte. Sie gaben sich außerdem große Mühe, den hohen Rist meines Fußes zum Verschwinden zu bringen, der so gewölbt war, daß sich sogar ein Kätzchen darunter hätte durchschlängeln können, indem sie ihn mit Gewichten beschwerten. Mein Gang ist jedoch nie von jener
engelsgleichen Leichtigkeit gewesen, zu der ihm diese Folter verhelfen sollte. Er ist schwerfällig, gewiß, aber da ich in meinem Leben häufiger gehen als tanzen mußte, war ich damit immer ganz zufrieden. Stundenlang streckte ich meine Füße, die man auf diese Weise so übel zuzurichten gedachte, in die Lichtstreifen, die die Sonne, gefiltert durch das Buntglasfenster, in die große Halle warf. Sie überflutete die Wände mit roten, gelben, blauen und grünen Streifen. Ich stellte mich in den bunten Schatten eines Wappenfalkens und dachte mir Abenteuer aus, Schlachten und Niederlagen von Feinden, die dem Nebel der Vergangenheit entstiegen waren. Wenn ich aus diesen kriegerischen Träumen erwachte, setzte ich sie nur allzu schnell in die Tat um und tötete Hasen, wütend darüber, daß sie es wagten, schneller zu rennen als ich. Doch kaum war das Leben aus ihnen gewichen, da schluchzte ich über ihren kleinen hakenförmigen Körpern. Ich spielte in den Stallungen, Hundezwingern und Vorratsräumen. Im Winter versteckte ich mich in dem Gebäude, in dem die Kerzen gefertigt wurden. Im Frühjahr sprang ich um die Hufschmiede herum. Im Sommer stürzte ich mich voller Wonne in die moosbewachsenen Waschtröge. Rings um mich summte das Leben wie ein Bienenstock. In den Stallungen schaute ich zu, wie die Knechte die Pferde striegelten; ich beobachtete heimlich den Hagel aus Holzspänen, der vom Hobel des Schreiners sprang; ich lauschte dem grellen Geräusch, das entsteht, wenn Diamanten Glas schneiden, und dem Grollen der Schmiedegebläse. Ich stand mitten im Hof, schärfte mein Gehör und bemühte mich, alles zu erkennen, alles zu unterscheiden; das Klappern des Holzbeines, das Brutzeln der Ente auf dem Grill, den Bleuel der Wäscherinnen, Miss Williams, die mit lauter Stimme die Laken zählte, die aus dem Schrank genommen wurden. Ich wollte der Wachposten der Familie sein, doch schnell wurde ich des Wachestehens
überdrüssig. Ich entfloh dem Prunk der unteren Räume und flüchtete mich auf den Speicher, um den unzähligen Porträts mit ihren vorwurfsvollen Blicken zu entkommen. Schon damals zog ich den bunten Farben und Goldverzierungen kalkweiß und aschgrau vor und rüstete mich für ein Leben, in dem Luxus meine Vorliebe für Schlichtheit nur stärken würde. Meine Mutter Hester, an die ich keine Erinnerung habe, war die Tochter des alten William Pitts•, des »Great Commoners«, der 1775 eingewilligt hatte, sie meinem Vater zur Frau zu geben, einem jungen, brillanten Untertan, der gerade aus Genf zurückgekehrt war, wo die angeschlagene Gesundheit seines älteren Bruders die Familie Stanhope festgehalten hatte. Doch ihr Glück währte nur kurze Zeit. Meine Mutter starb im Alter von fünfundzwanzig Jahren, als ich vier und meine Schwestern Griselda und Rachel gerade erst drei und zwei waren. Mein Vater, dem weniger daran gelegen war, uns eine neue Mutter zu geben, als einen Erben seines Titels auf die Welt kommen zu sehen, heiratete Louisa Grenville. Die neue Lady Stanhope, ein eitles Geschöpf, das man nie ohne einen Spaniel auf den Knien sitzen sah, konnte den Anblick von Blut nicht ertragen. Es ging sogar so weit, daß rotes Fleisch bei Tisch sie ohnmächtig werden ließ. Jeden Morgen widmete sie sich stundenlang ihrer Frisur, betrachtete sich endlos im Spiegel, ließ sich in ein Korsett zwängen, schnüren, pudern, bis schließlich die Zeit zum Abendessen gekommen war, das gefolgt von einer Oper oder irgendeinem Empfang, bis in die Dämmerung des folgenden Tages andauerte. Mein Vater galt zu Recht als Original. Sein ganzer Stolz war die Wissenschaft, und ehe er seine Gäste zu Tisch bat, ließ er sich lange über seine Forschungen aus: »Die Dichte eines Körpers… das Quadrat der Entfernung… der Rückstoß durch ein elektrisches Fluidum…« Die Herrschaften von Welt, •
William Pitt, der Ältere (1708-1778), Earl of Chatham, engl. Staatsmann.
die diese Darbietung seines Wissens konsternierte, lächelten höflich und gingen dem Quälgeist aus dem Weg. Mein Vater merkte das und blieb den Diners seiner Gattin schließlich fern. Sie gab sie jedoch unverdrossen weiter, bis schließlich alle zu einer Badekur nach Bath fahren mußten, um ihre durch Wein, Wild und Lammkeule angegriffene Gesundheit wiederherzustellen. Tischgesellschaften mit bis zu dreißig Gästen ließ Lady Stanhope mit unzähligen Wachteln bewirten. Seitdem ich am Gottesdienst teilnahm, betrachtete ich etwas angewidert, wie sie es sich geräuschvoll schmecken ließen. Ich entsinne mich noch des Höflings und späteren Premierministers Addington: Mit seiner makellosen Weste glich er einem Steinbutt, der auf seinem Schwanz steht. Bevor er sich von den Diners ganz zurückzog, hatte mein Vater seine Extravaganzen noch gesteigert, so daß schließlich an seinem Geisteszustand gezweifelt wurde. Eines Tages hatte er beispielsweise den Adel der Nachbarschaft in eine Holzhütte eingeladen, die er mitten im Park hatte bauen lassen und die er, aus Gründen, die nur ihm bekannt sein dürften, einer Feuerprobe unterziehen wollte. Er ließ seine Gäste, die in ihrem schönsten Staat erschienen waren, Platz nehmen, und bei der Durchführung seines Experiments entgingen sie nur knapp dem Schicksal, bei lebendigem Leib geröstet zu werden. Wenn ich mich bis in sein Zimmer wagte, so traf ich ihn zu jeder Jahreszeit in einem mottenzerfressenen Gehpelz und einer uralten Kniehose an. Sein Refugium hatte zwar keinen Teppich, war aber angefüllt mit Kompassen, Magneten, Kolben, archimedischen Schrauben und Apparaten, die einem Angst einjagen konnten. Zum Abendessen nahm er oft nur eine Tasse Tee und ein Stück Schwarzbrot zu sich, während er in der anderen Hand eine Feder hielt; beim Schreiben überraschte ich ihn jedoch selten. Er schien stets aus einer anderen Welt zurückzukehren. Ich bat ihn, mir zu erklären, was er von jener
Welt halte. Er drehte sich zu mir um und sagte ernst: »Sprechen wir also über Philosophie, mein Kind.« Er stellte die Füße auf das Schutzgitter des Kamins und stürzte sich in eine feurige Argumentation, von der ich nur wenige Bruchstücke begriff. Wenn ich irgendeinen Einwand vorbrachte, rief er begeistert aus: »Gut, Fräulein, die Schlußfolgerung ist nicht schlecht, hat aber einen falschen Ansatzpunkt.« Eine Woche lang mühte er sich eifrig, zwei Rechenmaschinen zu bauen. Die eine ähnelte einem Buch und bestand aus mehreren Skalen und kleinen Lettern, die von einem stählernen Zeiger in Bewegung versetzt wurden. Sie diente zum Addieren und Subtrahieren. Mit der anderen, die so groß war wie ein Spielbrett, konnte man erfolgreich multiplizieren und dividieren. Wenn ich die Schraube einmal falsch bewegte, wurde eine kleine Elfenbeinkugel vom Brett hochgeschleudert, die mich auf meinen Fehler aufmerksam machen sollte und die mich jedesmal in Gelächter ausbrechen ließ. Mitunter rief mich Lord Stanhope zu sich, um mir einen endlich funktionierenden Apparat vorzuführen oder um mir seine berühmte, auf Französisch verfaßte Abhandlung über das Perpetuum mobile vorzulesen (Mademoiselle hatte mich mit dieser Sprache vertraut gemacht), die von der Akademie in Stockholm mit einem Preis ausgezeichnet worden war. Er zeigte mir eine Mechanik, deren abmontierte Teile in alle Richtungen ausgebreitet waren. Eines Tages sah ich ihn blaß vor Wut von der Admiralität zurückkehren; man hatte seine Idee, ein Schiff mit Dampf fortzubewegen, spöttisch verworfen und über das Modell gelacht, das er drei Jahre lang montiert und demontiert hatte. Wie jeder weiß, sollte sich in der Folge zeigen, daß unser komischer Sonderling bisweilen geniale Einfälle hatte. Kurz bevor sich in Frankreich jene unerfreulichen Vorfälle ereigneten, die den Auftakt zum Schlimmsten bildeten, übte der Graf von Adhemar, ein königlicher Botschafter am Hofe
von Saint James, einen vielleicht entscheidenden Einfluß auf mein weiteres Schicksal aus, indem er mir allzu offen zur Schau getragene Vornehmheit verleidete. Ich war gerade sieben oder acht Jahre alt, als er zum ersten Mal mit einem großen Aufgebot an funkelnden Karossen und herausgeputzten Lakaien nach Chevening kam und Knickse und Komplimente vielfach wiederholte, die kein anderer hätte besser machen können. Abgesehen von der Abscheu vor öffentlichem Pomp verdanke ich ihm meine immerwährende Verbundenheit mit seinem Volk. Weder das blutige Vorgehen des korsischen Kaisers noch die Pariser Machenschaften im Orient konnten mich dazu bringen, die Franzosen zu hassen oder sie als meine Feinde zu betrachten, wenngleich zu jener Zeit alles danach aussah. Ich entsinne mich, wie ich, nachdem ich mit meinen Schwestern und unserer Gouvernante nach Hastings gesandt worden war, glaubte, auf der anderen Seite des Meeres Kanonendonner zu hören. Der Premierminister Pitt, mein Großvater, hatte seine berühmte Rede, ein Plädoyer gegen jede Versuchung, vor den Franzosen zu kapitulieren, mit solcher Inbrunst gehalten, daß ihm ein Gefäß in der Brust gerissen war. Auch mein Vater war nicht gemäßigter. Er hatte die Überzeugungen und Zornesausbrüche des Amateurwissenschaftlers in die Politik übernommen und das Parlament mit einer so mächtigen Flut seiner Wortgewalt überschüttet, daß er zur Zielscheibe der Karikaturisten wurde, die ihn als Don Quichotte beim Angriff auf die Mühlen abbildeten. Er wetterte gegen alles und jeden und kritisierte erbittert den Plan zur Reduzierung der Schulden. Seine Kreuzzüge, die kaum jemanden auf seine Seite zogen, brachten ihm schließlich den Spitznamen »Minorität eines einzelnen« ein. Bald sollte seine Extravaganz eine für uns noch unangenehmere Form annehmen: Im Namen der neuen Ideen begann er, Chevening zu verunstalten, unseren Wohnsitz zu
verwüsten, und ging sogar soweit, die Bäume im Park fällen zu lassen, mit der Begründung, daß uns die Natur das Holz nicht zur Verfügung stellte, damit wir es uns im Schatten des Geästes behaglich machten, sondern zu einer sinnvollen Verwendung, zum Zwecke des universellen Fortschritts! Was in Frankreich geschah, verdrehte sogar viel solideren Leuten den Kopf. Ich glaube, mein ganzes Leben lang hat mich nichts so entsetzt wie der Bericht über die Flucht von König Ludwig XVI. und seine Verhaftung in Varennes. Für mich waren die Wörter ‘König’ und ‘Verhaftung’ unvereinbar. Ich konnte nicht begreifen, daß jemand seinen Souverän am Kragen packte und Untertanen ihren schmachbedeckten Monarchen gefangenhielten. Bei der Marine wurden Meuterer, die es gewagt hatten, die Hand gegen ihren Kapitän zu erheben, gehängt. Mein Vater fand diese Greueltaten dagegen vielversprechend. Er sagte, wir wohnten der Geburtsstunde der HUMANITÄT bei, und in seiner Stimme konnte man die Großbuchstaben hören. Bald setzten seine Entgleisungen, die Ablehnung seines Standes und der Bruch mit seinem Umfeld unserem guten Einvernehmen ein Ende; heute verstehe ich, daß ich damals hinter dem Original, das mich mit seinem Nonkonformismus und Einfallsreichtum fasziniert hatte, plötzlich nur noch den Aristokraten Sansculotte sah, einen Komplizen jener Rebellen, die die Bastille gestürmt hatten, um vier Fälscher, einen Lasterhaften und zwei Irre zu befreien! Er tat nichts, damit ich meine Meinung über ihn änderte; im Gegenteil, er wandte die republikanischen Prinzipien gar mit dem ihm eigenen Sinn für Ordnung an: Auf seinen ausdrücklichen Befehl hin mußten die Wappen auf unseren Karossen übermalt werden. Nur die Eingangstore blieben verschont. Selbst der grüne Wandteppich, ein Geschenk des Königs von Preußen, auf dem Kamele und Elefanten abgebildet waren, wurde – seiner unlauteren Herkunft wegen –
abgehängt und in die Abstellkammer geräumt. Der konsequente Lord Stanhope ließ sein Tafelsilber verkaufen, das gut und gern sechshundert Pfund gewogen haben dürfte. Und in seinem Kampf gegen jene Lebensumstände, die er für »entsetzlich aristokratisch« hielt, befahl er sogar, unter seinen Leuten die »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« zu verteilen. Ich rechnete sogar schon damit, daß er das Wort ‘Freiheit’ auf unsere Handtücher sticken lassen würde. Er fand jedoch etwas noch Besseres: Zweimal sandte er Sympathiebezeugungen an die verfassunggebende Versammlung. Der gewohnte Gehorsam Seiner Herrlichkeit gegenüber änderte sich nicht so leicht; ganz Chevening teilte die fortschrittlichen Ansichten seines Herrn bis hin zum Butler, der eines Tages ausrief: »Hurra! Gesegnet sei die Hand, die die Pforten der Kerker geöffnet hat.« Er mag dabei an die Kellerpforte gedacht haben, die er oft durchquerte, um der neuen Religion Trankopfer zu bringen. Der Kult um die Gleichheit, der unserem Wohnsitz in der adligen Nachbarschaft den Beinamen »Democracy Hall« einbrachte, wurde so weit getrieben, daß mein Vater, wenn ihm eine von uns durch die Zierde eines Kleides oder Hutes hübscher erschien als die anderen, das überflüssige Zierwerk durch einen gewöhnlicheren Gegenstand ersetzte. Die arme Lady Stanhope war darüber natürlich sehr betrübt. Um die Stimmung zu entspannen, besorgte ich mir eines Tages ein Paar Stelzen und stellte mich in Sichtweite des Republikaners auf, der die Angewohnheit hatte, von Zeit zu Zeit einen Blick aus dem Fenster zu werfen, um sich von seiner Arbeit zu erholen. »Wo bist du denn auf deinen Stelzen hingegangen?« fragte er mich bei meiner Rückkehr. »Da Sie unsere Pferde haben wegbringen lassen, Vater, bin ich auf diese Weise ein wenig spazierengegangen, ohne daß mich der Schlamm dabei gestört hat. Aber leider ist die arme Lady Stanhope nicht so gewandt
wie ich!« Und mein Vater, den diese häusliche Auswirkung seiner republikanischen Ideale beunruhigte, antwortete nach kurzem Überlegen: »Nun, was würdest du davon halten, wenn ich ihr einen neuen Wagen schenkte?« »Daß dies sehr großzügig von Ihnen wäre.« »Also gut, aber ich möchte um Himmels Willen keine Wappen!« Er glaubte an das Geschwätz Rousseaus, demgemäß der von Natur aus gute Mensch durch die Ungleichheit schaffende Gesellschaft verdorben wird. Ich habe mir eine andere Doktrin zu eigen gemacht, und zwar die des Orients: Der Mensch ist stark, schwach oder gerissen. Der Starke befiehlt, der Schwache gehorcht, und der Gerissene profitiert von der Eitelkeit des einen und der Not des anderen. Meine Familie wurde durch die große Persönlichkeit des Bruders meiner Mutter, meinen Onkel William• , beherrscht, der seine glanzvolle Karriere schon sehr früh begonnen hatte und von uns gewöhnlich »Pitt, der Zweite« genannt wurde. Er war siebzehn, als ich geboren wurde. Meine frühesten Erinnerungen an ihn zeigen mir das Bild eines traurigen jungen Mannes, der zu lächeln begann, sobald er mich erblickte. Das kleine Mädchen, das er in seine Arme schloß, sollte im Leben des ewigen Junggesellen die einzige Frau bleiben. Geschult durch seinen berühmten Vater nahm er im Alter von vierundzwanzig Jahren, zwei Jahre nachdem er erstmals seinen Fuß über die Schwelle des Parlaments gesetzt hatte, die Zügel der Regierung fest in die Hand. Abgesehen von einer kurzen Unterbrechung, sollte er bis zu seinem Tod Premierminister bleiben und unser aller Geschichte das Gepräge seines Genies geben. Ich dagegen begnügte mich damit, über meine Schwestern zu herrschen: Lucy besaß die Sanftmut der Heiligen Jungfrau. Griselda hingegen konnte sich •
William Pitt, der Jüngere (1759-1806), Earl of Chatham, engl. Politiker von 1784 bis 1801 und von 1804 bis 1806 Premierminister.
für nichts anderes als für ihre Haare begeistern, die sie stundenlang in Locken drehen oder flechten ließ. Die beiden betraten mein Zimmer nie, ohne daß ich sie dazu aufgefordert hätte; ich kümmerte mich um ihre Vergnügungen: Sei es Tanzen, Reiten oder Feiern, es gab immer etwas, was ich ihnen vorschlagen konnte. Meine Halbbrüder Philip Henri, genannt Mahon und Erbe des Titels, sowie Charles und James standen mir näher. Wie der unglückliche Dauphin von Frankreich, den die Revolutionäre einem Schuhmacher anvertraut hatten, mußten sie bei einem Schmied in die Lehre gehen. Mein Vater wollte ihre geistigen Fähigkeiten aber nicht brachliegen lassen: Er hatte einen gewissen Jeremiah Joyce eingestellt, einen leidenschaftlichen Republikaner, der sie Gleichheit und die mathematische Wissenschaften lehren sollte. Zwischen zwei Unterrichtsstunden sprangen sie so ungestüm im Gras herum, daß sie ganz außer Atem gerieten, und stießen dabei wilde Schreie aus, zweifelsohne, um aus ihrer adligen Brust jene Ideologie zu vertreiben, die ihnen aufgezwungen wurde. Doch die Erziehung meiner Brüder sollte bald unter der Verhaftung ihres Hauslehrers leiden, dessen politische Vorstellungen bei uns als umstürzlerisch galten. Mein Vater war zu weit gegangen: Er mußte mitansehen, wie sein Haus in London von einer dem Fortschritt wenig wohlgesonnenen Menge überfallen wurde, und verdankte sein Heil einzig einer überstürzten Flucht.
Ich war die vielgeliebte Nichte eines großen Mannes und wußte schon immer, daß ich für Großes geschaffen war. Die Bestätigung erhielt ich, als ich mich selbst auf Lord Romneys Gartenfest in die Gesellschaft einführte. Ich war siebzehn Jahre alt, und mein den Eitelkeiten der Aristokratie feindlich gesinnter Vater hatte mir untersagt, mich dort zu zeigen. Ich gab vor, einem gewissen Fräulein Crumps einen Besuch abzustatten und verschwand, so gut gekleidet, wie es mir möglich war; doch mein Pferd warf mich unterwegs ab. Als ich bei dem Gartenfest ankam, waren meine Kleider in Unordnung, und mein Haar fiel aufgelöst über meine Schultern, doch das kümmerte mich nur wenig. Admiräle, Botschafter und Richter waren an langen Tischen versammelt. Das Essen türmte sich zu Pyramiden, und der Wein wurde so reichlich ausgeschenkt, als käme er aus Brunnen. Ich richtete mich zu meiner vollen, fast sechs Fuß hohen Größe auf und stellte mich allen und jedem vor; ich grüßte, schwebte unbefangen von einem zum anderen, stellte den mit Orden beladenen Gästen Fragen nach ihren Ämtern und brachte sie dazu, mit mir über Taktik und Navigation zu sprechen, wußte ich doch, daß ich mir alles oder fast alles erlauben konnte und nicht Gefahr lief, abgewiesen zu werden. Bei den Themen Pferde und Windhunde, die vorwiegend den Gesprächsstoff lieferten, machte ich auf viele sogar großen Eindruck. Als ich gerade im Begriff war, den Empfang zu verlassen, kam der König auf unsere Gruppe zu und sagte: »Wo ist sie denn? Ich höre sie lachen, und wo immer jemand lacht, da muß ich hingehen.« Keineswegs eingeschüchtert – bin ich das je gewesen? – machte ich ihm meine Aufwartung, und er führte mich zur Königin. »Meine Liebe, Hester wird mit uns kommen. Wir werden sie Democracy Hall entreißen.« Doch die erlauchte Person bemerkte schnell, daß ich ohne Begleitung war und es also
kaum schicklich gewesen wäre. Der König hütete sich davor zu insistieren. Ich kam zu dem Schluß, daß ich Männer, die sich von ihren Frauen beherrschen ließen, nicht mochte, und verbrachte den Rest meines verrückten Tages in Gesellschaft von Janet, der Nichte des Jagdaufsehers, dessen gastfreundliches Haus, das er mit drei alten Tanten bewohnte, hinter den Wirtschaftsgebäuden von Sevenoaks lag. Gott, wie köstlich waren Bier und Käse nach so viel Prunk! Heute kann ich das alles ohnehin nicht mehr vertragen. All die Süßigkeiten des Libanons, all die unendlich lang zubereiteten Gerichte des Orients zermürben den Körper und ersticken die Seele. Bei meiner Ankunft hatte ich die Zusammenstellung der Farben auf den Tischen bewundert und den unbekannten Duft der Gewürze geschätzt. Doch ich verlor sehr schnell die Lust auf das Mosaik aus gefülltem, in Fett schwimmendem Gemüse, auf als »deliziös« geltendes, in Honiglachen getränktes Gebäck. In Bezug auf Speisen bin ich nicht jene Überläuferin, als die mich meine Landsleute anprangern: Ich habe weder den Geschmack meiner Kindheit noch die robuste Einfachheit des englischen Landlebens verraten.
Von seiner eitlen Frau verlassen, von seinen Kindern nicht beachtet und unbeliebt bei den Menschen seines Standes, klammerte sich mein Vater verzweifelt an seine Hirngespinste. Ich verabscheute die schmutzigen Republikaner, die sich um ihn scharten, auch wenn ich für die Intelligenz eines Painee• oder Horne Tooke•• empfänglich war. Gleichwohl machte ich mich in diesen Gesprächen mit den Geschäften des •
Thomas Painee (1737-1809), engl. Politiker, forderte Demokratie und allgemeines Wahlrecht für England. •• Thomas Tooke (1774-1858), engl. Bankfachmann, Volkswirtschaftler, Vertreter der klassischen Nationalökonomie des Freihandels.
Königreiches vertraut, mit den politischen Intrigen, den geschwätzigen Parlamentariern und dem ewigen Problem der Iren, die nie wußten, für oder gegen wen sie nun eigentlich kämpfen wollten. Das Ende des Jahrhunderts nahte mit großen Schritten, und ohne genau zu wissen warum, erwartete ich von ihm nichts Gutes. Als mein Vater das politische Leben endlich aufgab, um sich ganz nach Chevening zurückzuziehen, bereitete er uns andere Sorgen. Außer für seine wissenschaftlichen Experimente interessierte sich mein Vater für niemand anderes als Mahon, seinen Ältesten, den er dadurch jedoch nur erdrückte und demütigte und jeder Freiheit beraubte. Als mein Onkel ihm riet, den jungen Mann an der Universität einzuschreiben, weigerte sich Lord Stanhope, seinen Erben in jene blaublütige Hölle zu schicken, in der festen Überzeugung, daß seinem Sohn in der Schmiede eine bessere Erziehung zuteil würde. Ich konnte meinem Bruder nicht helfen, dieser Tyrannei zu entkommen. Das Leben in Chevening bedrückte mich immer mehr. Daher nahm ich das Angebot meiner Großmutter Chatham an, zu ihr nach Burton Pynsent zu ziehen. Gewiß, ich würde mich dadurch im tiefsten Somerset vergraben, während mir London bereits seine Salons öffnete und ich im väterlichen Wohnsitz angenehme und elegante Nachbarn hatte, doch mein Entschluß stand fest. Mein Umzug geschah im Jahre 1800. Fast hundert Zedern warfen ihre Schatten auf meine neue Wohnstätte, die ganz oben auf einem Hügel errichtet war und Sedgemoor überragte. Wenn er sich von den Staatssorgen ablenken wollte, pflegte sich der Premierminister Pitt, so wurde erzählt, in die Voliere neben seinem Büro zurückzuziehen, um im Gesang der Inselvögel seinen Seelenfrieden wiederzufinden. Ich fühlte mich genauso wie sie. Meine einzige Freiheit bestand darin, daß ich mich in meinem Käfig bewegen konnte, aber ich konnte mich zumindest dafür einsetzen, daß mein Bruder Mahon seinen
Käfig verlassen konnte. Ich unterbreitete Onkel William und meinem Cousin Grenville geschickt, ja fast schon gerissen meinen Vorschlag, Mahon seine Ausbildung auf dem Kontinent fortsetzen zu lassen. Grundsätzlich waren sie einverstanden, und ich hütete mich wohlweislich davor, von seinem fehlenden Arbeitseifer zu sprechen. Nachdem ich von einem sehr guten, durch Heirat reich gewordenen Freund, Francis Burdett, das nötige Geld für meinen verschwörerischen Plan erhalten hatte, ließ ich Mahon einen Paß, Kreditbriefe und Empfehlungen für den Markgrafen von Brandenburg und einige Professoren in Erlangen ausstellen, damit er dort Vorlesungen an einer renommierten Universität hören konnte. In einer dunklen Nacht verschwand Mahon schließlich aus Chevening. Sobald seine Flucht entdeckt worden war, ließ mein Vater seine Leute nach ihm suchen. Mahon war jedoch schon in Frankreich. Würde Lord Stanhope in seiner Wut nach Burton Pynsent stürmen, um von mir Rechenschaft zu fordern? Ich fürchtete es, er tat jedoch nichts dergleichen. Dafür fand meine Großmutter, die meine Launen bislang sehr nachsichtig hingenommen hatte, wenig Geschmack an meinem letzten Streich. Durch die Gänge irrend, murmelte sie immer wieder: »Hester hat die Ruhe aus diesen Räumen vertrieben! Miss Stanhope und Miss Seelenruhe können nicht länger unter einem Dach wohnen!« Es war höchste Zeit, die Leinen loszumachen. Mein Onkel, von seinen hohen Ämtern ganz in Anspruch genommen und mit dem schwierigen Problem der katholischen Gleichstellung befaßt, tat so, als merkte er nicht, daß ich ihm meinen Willen aufgezwungen hatte; bei unserem Wiedersehen bedachte er mich mit einem »Gut gemacht, Hester«, ehe er mich wie gewöhnlich umarmte. Doch hinter dieser Reaktion des realistischen Politikers, der sich mit einer vollendeten Tatsache abfindet, erkannte ich den gütigen Verwandten und großzügigen Mann. Er hatte jedoch nicht nur
Freunde; mein Cousin Grenville und Charles Fox• lehnten ihn ab und zogen den großen Addington•• vor, der in ihren Augen den Vorzug besaß, die Frauen zu lieben; doch auch sie wußten, daß England meinen Onkel brauchte. Ich meinerseits habe ihn stets bewundert und geliebt; ich verspürte den dringenden Wunsch, diesem einsamen Mann, der den Staat geheiratet hatte, nützlich zu sein, ihm dieses Leben voller Arbeit und Kampf angenehmer zu gestalten. So verknüpfte ich damals mein Schicksal mit seinem und gab ihm, in meinem Herzen, ehrfürchtig den vertrauten Namen Mr. Pitt, den er fortan in dieser Geschichte tragen wird.
Mahon war geholfen, und meine beiden anderen Brüder hatten Laufbahnen eingeschlagen, in denen sie große Verdienste erlangen konnten. Meine Schwestern waren mit nicht besseren oder schlechteren Ehemännern als die meisten anderen Frauen versorgt; da die Männer bürgerlicher Herkunft waren, würden sie ihnen, den Adligen, sogar zuvorkommender begegnen. Bettler zogen an den Gittertoren von Burton Pynsent vorbei und belagerten die Backstuben, denn eine Reihe schlechter Ernten hatte den Unmut der Armen erregt. Ich verfluchte den Irrsinn der Franzosen und war überzeugt davon, daß sich in den Strom der französischen Auswanderer Anhänger der Revolution gemischt hatten, die nun versuchen würden, hier Unruhen zu stiften. Ich erregte die Empörung meiner Brüder, als ich in ihrer Gegenwart behauptete, daß die oberste Aufgabe der Regierung darin bestände, ihre Bürger mit Brot zu versorgen. Mich verlangte danach, England für einige Monate •
Charles James Fox (1749-1807), engl. Politiker, von 1782 bis 1783 und 1806 Außenminister. •• Lord Henry Addington (1757-1844), erster Viscount Sidmouth, engl. Politiker, von 1801 bis 1804 Premierminister.
zu verlassen und das Italien zu entdecken, das mir jene beschrieben hatten, die es bereist hatten: Sein Licht, seinen warmen Zynismus, seine Unordnung, sein barockes Gold und seine alten Lumpen, seine Gräber mit den abgestoßenen Kanten, seine ausgetrockneten Brunnen und seine Votivtafeln an den Wegkreuzungen. Ich sehnte mich danach, eine sinnlichere Welt als die meine zu umarmen. Als Anstandsdamen wählte ich die unschuldigen Egertons, wußte ich doch, daß ich sie jederzeit in einer Herberge zurücklassen konnte und sie bei meiner Rückkehr noch vorfinden würde. Bevor ich in Dover zu ihnen stieß, machte ich halt in Walmer. Diese Festung von karger, fast kriegerischer Bauart, einer jener Bauten, mit denen Heinrich VIII. die Küste übersät hatte, um ihren Schutz zu sichern, besaß weder Wälle noch Zinnen oder Schießscharten. Sie war im Zeitalter der Artillerie errichtet worden, und die Kanonenmündungen auf ihrer Mauerkrone waren in perfekter Ordnung ausgerichtet. In Walmer, seinem Landsitz, pflegte sich Mr. Pitt von Zeit zu Zeit etwas Erholung nach seiner erschöpfenden Arbeit zu gönnen. Da ich wußte, daß er sich gerade dort aufhielt, überzeugte ich mich von seinem guten Gesundheitszustand und verbrachte, von schmucken Offizieren umgeben, einige angenehme Tage in seiner Gegenwart, ehe ich aufbrach, um mich einzuschiffen.
Ich durchquerte Frankreich im Sturmschritt und reiste auch an Paris vorbei, dessen Besichtigung ich mir für den Rückweg aufsparte. Mahon stieß in Lyon zu mir. Nach dem Ende seiner Studien hatte er Deutschland verlassen und beschlossen, mich zu begleiten, ehe er seine neue Stellung antrat. Mr. Pitt hatte Mahon zur Burg von Dover beordert, was ihn, nach unserer Rückkehr aus Italien, zu meinem Nachbarn machen würde; eine Neuigkeit, die ich mit großer Freude vernahm. Er schien
die republikanische Tyrannei und die schlechte Behandlung durch unseren Vater recht gut überstanden zu haben. Alles an ihm, von seinem Gang bis hin zu seiner Stimme, machte den Eindruck, daß aus ihm ein Mann geworden war. An der Universität hatte er viel gelernt, und er schien bewandert in den politischen Problemen Europas. Vielleicht war er sich dessen allerdings all zu sehr bewußt. Er sprach eingebildet wie ein humorloser Franzose, und Mr. Pitt würde diese Veränderung ganz bestimmt nicht schätzen. Ich war jedoch überzeugt, daß Mahon, dank seines mächtigen Beistandes und meines glückbringenden Einflusses, zu einem guten Untertan und zu einem seinem Land dienlichen Bürger würde, denn er hatte mir anvertraut, daß er eine politische Laufbahn einschlagen wollte. Der Tag, an dem wir den Mont Cenis überquerten, war himmlisch. Wie ein Kavallerieregiment, das Italien endlich erreicht hat, streiften wir uns den Schnee von den Uniformen und Flaggen. Unser erster Halt hinter der Grenze war hingegen weniger ruhmreich, denn das Zimmer der Herberge war dunkel und stank wie der Frachtraum eines Schiffes. Mahon und der Pudel, den er überall mit hinschleppte, veranstalteten einen solchen Lärm, daß ich meine Korrespondenz nicht erledigen konnte, wie es eigentlich meine tägliche Gewohnheit war. Dieser Trubel umgab mich bis Neapel, wo ich die endlos um Gipsvulkane und römische Perlen feilschenden Egertons zurückließ. Der einzige Zwischenfall auf meiner Reise hätte ihr ein vorzeitiges Ende bereiten können: Als ich in Pompeji hoch oben auf einem wackligen Mäuerchen saß, stürzte ich, und mein Kopf verfehlte den Marmorboden nur knapp. Es wäre wohl etwas frühzeitig gewesen, aber ich hätte nur schwerlich eine schönere Todesart und eine würdevollere Grabstätte finden können. Auf einem der Mosaike hatte ein grausamer Künstler eine alte Frau in Gold- und Ockertönen dabei verewigt, wie sie gerade einen Zaubertrank vorbereitet,
während vor ihr eine junge Ratsuchende vor Angst die Hände ringt. Ich konnte das böse Omen dieses Bildes nicht aus meinem Kopf vertreiben, ein Omen, das mir vielleicht schon damals mein Schicksal im Orient weissagte, wo jede Frau auch ein wenig eine Hexe ist. Was mir an inseltypischer Selbstgefälligkeit noch geblieben war, hatte mich glauben lassen, daß es auf der Welt nur englische Parks gäbe mit sorgfältig durchdachten Improvisationen, mit beschönigter Natur und Aussichtspunkten, in denen allein der Zollstock des Landvermessers die Überraschung bemißt. Bei den Franzosen verbirgt sich der Erbauer zumindest nicht und herrscht vor aller Augen über Bäume und Blumen. In Caserta entdeckte ich Gärten, in denen einzig der Künstler regierte. Hier in Djun habe auch ich, umgeben von Maulbeerbäumen, deren Zweige gen Himmel ragen und die von Heuschrecken alle zwei Jahre bis auf ihr kauerndes Skelett kahlgefressen werden, ein Wunderwerk schaffen können, indem ich die Naturgewalt bis hin zu Basalt und Kreide, Veilchen und Alpenveilchen bändigte. Seit jeher hat es für mich nur die Gesetze der Natur gegeben, doch was Gärten betrifft, so bedürfen sie unbedingt der Unterstützung. Ehe er in Livorno für die Rückreise an Bord ging, bat mich Mahon, ihm meine Meinung über sein Verhalten und seine Person zu sagen und ihm jeden Rat zu geben, den ich für wichtig erachtete. Ich war nicht vollkommen aufrichtig. Meine Zuneigung für ihn, den ich noch unlängst »den unvergleichlichen Mahon« genannt hatte, hatte unter den gemeinsam verbrachten Wochen ein wenig gelitten. Sein Pudel hatte meine letzten Reserven an Nachsicht erschöpft, und mit wachsender Verzweiflung ließ ich seine frenetische Begeisterung für Kirchenbesichtigungen an glühendheißen Nachmittagen über mich ergehen, an denen ich mir nichts sehnlicher wünschte, als mich in den Schatten einer Arkade zu
setzen und die Gesichter der Vorübergehenden zu studieren. Er konnte es wiederum kaum ertragen, wenn ich bei jeder Gelegenheit von unserem Onkel sprach; der Undankbare hatte ihm seine Berufung nach Dover zu verdanken, fühlte sich aber trotz der väterlichen Unterdrückung eher als Stanhope denn als Pitt! Als ich die französische Grenze passieren wollte, stellte sich mir Bonaparte zum ersten Mal in den Weg. Seine Soldaten hatten Straßensperren errichtet; eine der Maßnahmen des endlosen Zermürbungskrieges, den er uns aufzwang. Ein Besuch in Paris kam nicht mehr in Frage. Wie gerne hätte ich mir an der Spitze einer Armee einen Weg dorthin erzwungen! Aber das vertrug sich natürlich nicht mit den törichten Vorurteilen, die unserem Geschlecht noch immer angelastet werden und die ich mein Leben lang widerlegt habe. Eines Tages sagte Mr. Pitt zu mir: »Ich habe viele gute Diplomaten, aber keiner von ihnen wäre ein guter Soldat. Ich habe viele gute Offiziere, aber in einer Kanzlei gäben sie eine klägliche Figur ab. Ach, wären Sie doch ein Mann, Hester, ich sähe Sie schon auf dem Kontinent an der Spitze von sechzigtausend kräftigen Burschen.« Heute befehlige ich eine Schattenarmee: drei Dutzend Diener, eine Schar Flüchtlinge und zweihundert albanische Deserteure, die keine mir verständliche Sprache sprechen. Was die Diplomatie angeht, die im Orient, wo nichts ohne List, Verhandeln und Feilschen geht, kostbar ist, so wird sie mir angesichts der mir drohenden Gefahr von keinem großen Nutzen sein.
Als ich nach England zurückkehrte, war meine Großmutter Chatham gerade gestorben. Ich hatte meine Mutter kaum gekannt, doch angesichts meines Schmerzes begriff ich nun, welchen Verlust ein Tod bedeuten konnte. Die Nacht nach meiner Rückkehr wachte ich am Bett der Toten, ihre fleckige
Hand in der meinen, die von der italienischen Sonne gebräunt war. Licht schien von ihr auszuströmen. Spät in der Nacht wich das verschwommene Weiß der Dunkelheit, während auf ihrer Haut die gelbroten Flecken des Alters verblaßten. Auch ich würde gern in meiner letzten Stunde, die nun naht, für einen Augenblick so zärtlich auf der Seite der Lebenden gehalten werden, ehe mich irgendwelche Rüpel in ein eilig gegrabenes Loch hinunterwerfen. Chevenings Pforten waren mir verschlossen, und im Haus meiner verstorbenen Großmutter gab es für mich nichts mehr zu tun. Ich wandte mich daher an Mr. Pitt, und alle lächelten hämisch, als er mir, seiner geliebten Nichte, Walmer öffnete. Ich höre noch das heuchlerische arglistige Beileidsgemurmel, das meinen Einzug unter sein Dach begleitete: »Wie liebenswert von ihm, die arme Hester aufzunehmen! Gewiß wird sie ihm mitunter ein bißchen hinderlich sein und den Gang seiner Gewohnheiten stören. Aber er ist ja so gut, so edel und großherzig!« Doch ich wußte, daß ihn weder Pflichtgefühl noch Mitleid dazu bewegt hatten. Dies alles hatte zum Ziel, uns zusammenzuführen, auch wenn er sich zuvor nie für Frauen interessiert hatte und sein ganzes Leben lang der Student geblieben ist, der in Cambridge vor den adretten Blumenmädchen davongelaufen war. Man hat sich auf törichte Weise über sein fehlendes Temperament mokiert, aber ein Schürzenjäger zu sein, scheint mir keineswegs ein Ruhmestitel für jemanden zu sein, der eine erhabenere Art der Liebe kennt.
Nachdem Mr. Pitt zwei Jahre lang dem König gezürnt hatte, weil dieser gegen seinen großartigen Vorschlag zur katholischen Gleichstellung gewesen war, hatte er im Jahre 1804 seine Geschäfte gerade wieder aufgenommen. Die Bedrohung durch den kleinen korsischen General, der sich, in einer dem Papst abgenötigten Zeremonie, zum Kaiser der Franzosen hatte krönen lassen, lastete auf unseren Küsten. James kehrte zur Armee zurück, in der die Dienste seines Bruders Charles sehr geschätzt wurden, während Mahon seinen Aufgaben in der Burg von Dover nur ungenügend nachkam. Das Mißverhältnis zwischen Dienstgrad und Ansehen meines ältesten Bruders kränkte mich tief. Ich wollte noch keine Pläne für den Winter schmieden, da alles von Mr. Pitt abhing. Sein Gesundheitszustand war nicht wirklich schlecht, aber ich wußte, daß er sehr anfällig war, und ich gab daher, falls sich das Risiko einer Invasion als weniger gefährlich darstellen sollte, die Hoffnung nicht auf, ihn zu einer Kur mitnehmen zu können. Einstweilen begleitete ich ihn oft auf seinen unzähligen Reisen zwischen Walmer und London. Sein Ansehen und seine Autorität waren selbst zu jener Zeit, als er nicht mehr Premierminister war, unvorstellbar. Dies hatte ich im Frühjahr letzten Jahres bei der denkwürdigen Sitzung des Parlaments festgestellt, als ich sah, wie er, unerschütterlich und ganz in Schwarz gekleidet, auf seinen Platz zuging und langanhaltenes Sympathiegemurmel hervorrief. Er hatte damals in respektvoller Stille seine Rede gehalten und inmitten des Beifalls wieder Platz genommen. England brauchte diesen Mann für seine Führung, und nach dem Sturz Addingtons, einen Monat später, bat ihn der Lordkanzler, seine neue Regierung zu bilden, so daß nun, wie in Frankreich, alle Kräfte in den Händen eines einzelnen vereint waren. Die Schwäche des Königs, die endlosen Debatten im Parlament und die
unerfreuliche Erinnerung an Cromwell hatten diese Entscheidung hinausgezögert, die zu dieser Zeit, in der das alte Getriebe der Politik zusammenbrach, unverzichtbar war. Vor dem Genie meines Onkels verblaßten alle. In London kursierte indessen ein Scherz: Da haben wir das Ministerium von William und von Pitt.
Was mich betrifft, so verbrachte ich fortan den Großteil meiner Zeit in der Downing Street, und zunächst glaubte man wohl, ich würde meinen Ehrgeiz auf Küche, Anrichte und Waschküche beschränken. Diese Aufgaben hätten die meisten Frauen auch völlig in Anspruch genommen, und ich hatte mehr als genug zu tun, um diesen Haushalt, in dem sich allein die Ausgaben für den Weinkeller jährlich auf dreihundert Pfund beliefen, zu ordnen. Wie sehr meinem Onkel der Portwein auch schmecken mochte, mir schien diese Summe maßlos, und ich mußte die diebischen Dienstboten daher wieder zur Raison bringen. Ich fühlte mich jedoch nicht dazu geschaffen, Ordnung in die Finanzen Mr. Pitts zu bringen, der sich seinerseits kaum darum kümmerte und lieber eine neue Bestellung aufgab, sobald ihm ein Lieferant eine Rechnung vorlegte, anstatt die alte zu begleichen. Von ihm habe ich wohl leider die schlechte Gewohnheit übernommen (was sich der mich bedrängende Wucherer zunutze macht), einen Gläubiger mit dem Anreiz eines neuerlichen Gewinns zu entwaffnen, munter Schulden um Schulden anzuhäufen und niemals dem Vergnügen einer Anschaffung oder Freizügigkeit zu widerstehen… Downing Street, wo mich meine Freunde oft besuchten, verwandelte sich bisweilen in ein Haus der Heiterkeit. Weder die Kanonen Napoleons noch der Lärm der Politik oder gar die Autorität des Premierministers konnten unser Lachen unterdrücken, und in dieser offiziellen Residenz
trat noch einmal ein Teil meiner Kindheit in Chevening zu Tage. Nie werde ich die Augenblicke vergessen, in denen sich der Premierminister trotz seiner natürlichen Würde und zurückhaltenden Art – als Kind hatte er nie Stockschläge erhalten, die unter den Narren in Eton hoch angesehen waren, oder sich mit seinen künftigen Nachbarn im Parlament geprügelt – dazu hinreißen ließ, ausgelassen mit uns herumzutollen. Ich erlaubte mir ihm gegenüber auch Streiche: Als ich eines Tages in Begleitung einiger junger, immer zu Spaßen aufgelegter Kerle war, darunter William Napier, ein Freund von Charles, wollten wir den trotz seiner zarten Statur erstaunlich kräftigen Mr. Pitt gefangennehmen, um ihn mit einem angesengten Korken anzumalen. Er wehrte sich gerade wie ein Wilder, als ein Diener fassungslos, aber würdig meldete, daß Lord Castlereagh und Lord Liverpool um eine Unterredung bäten. »Lassen Sie sie nebenan warten«, antwortete Mr. Pitt, um unser Gefecht nicht allzu schnell beenden zu müssen. Dann wischte er sich sorgfältig das Gesicht ab, und ehe ich mich fortstahl, sah ich, wie die beiden hochgestellten Persönlichkeiten, folgsam wie Cockerspaniels, den Mann förmlich begrüßten, mit dem wir gerade noch so vertrauten Umgang hatten. Er war wie verwandelt; hocherhobenen Hauptes unterbrach er mit einigen kurzen Bemerkungen die Empfehlungen seiner Besucher, ehe er sie verabschiedete und sich wieder unserer kleinen Rasselbande stellte. Ein andermal stürzte ich in sein Bureau und versicherte ihm mit der nötigen entsetzten Miene, ich hätte eine Karikatur gesehen, die ihn auf possenhafte Weise als Königin am Arm des Monarchen darstellte, während Addington als verschmähter Liebhaber hinter ihnen wütend die Augen rollte. Er schenkte meiner Geschichte Glauben, übermittelte sie Addington, und ganz London wurde auf den Kopf gestellt, um den Urheber dieser unerhörten Zeichnung zu suchen und zu
bestrafen. Ich habe den Schwindel nie gestanden. Unschuldigere Scherze nahm mir mein Onkel nicht übel, er schien vielmehr entzückt, wenn ich das voluminöse Hinterteil meines Cousins Grenville, den er nicht besonders mochte, mit verbalen Pfeilen durchbohrte oder wenn ich über den Prinzen von Wales herzog, den ich mir heute sehr gut mit vorgebeugtem Oberkörper unter einem Feigenbaum vorstellen könnte, wie er bei einer Wasserpfeife mit meinen Dorfbewohnern plaudert.
Die Londoner Salons erstrahlten in hellem Glanz, um ihre Geringschätzung gegenüber den französischen Drohungen zu demonstrieren. Mit gespielter Gleichgültigkeit ging George Brummell•, in dessen Haarpracht die Farben des Herbstes leuchteten, von einem zum anderen. Er trug sein ebenmäßiges, durch einen Sturz vom Pferd etwas flaches Profil zur Schau und bemerkte mit umherschweifendem Blick: »Wo nur finde ich eine Frau, die zu tanzen versteht, ohne mich zu erdrücken?« Sobald er mich erblickt hatte, kam er auf mich zu, nahm meine Ohrringe hoch, die so lang waren, daß sie den Ansatz meines Halses verdeckten, und rief: »Um des Himmels Willen, Lady Hester, lassen Sie mich sehen, was sich darunter verbirgt.« Um ehrlich zu sein, nichts wirklich Erstaunliches. Statt Schönheit besaß ich ein strahlendes Äußeres; meine Zähne strahlten, mein Teint und vor allem mein Geist. Man hielt mich für originell, überraschend und wiederholte, was ich sagte. Den Schmeichlern antwortete ich: »Wahre Originalität besteht darin, im rechten Moment das Rechte zu sagen.« Ich mochte keine Lobreden, war aber empfänglich für Komplimente, die dazu anregten, sich zu übertreffen, und die die Phantasie nährten. Man versuchte, mir Vertraulichkeiten und sogar •
George Bryan Brummell (1778-1840), engl. Dandy
Geheimnisse zu entlocken, in deren Besitz ich gar nicht war. Und ich bediente mich in großem Maße der Unverschämtheit, die mit den Jahren zur Arroganz wurde und mir sehr dabei geholfen hat, die hiesigen Paschas das Fürchten zu lehren. War ich die Haushälterin des Premierministers oder eine Macht im Hintergrund? Ich hatte einen Hang zur Macht und zur Politik und war in der Lage, dieser Neigung nachzugehen. Während die Menschenmenge unter unseren Fenstern schrie: »Kampf den Franzosen!«, unterstützte ich, so gut ich konnte, Mr. Pitt dabei, einem sich gnadenlos ankündigenden Konflikt die Stirn zu bieten. Ich mußte der Ironie jener trotzen, in deren Augen eine Frau nur für Salon und Küche geschaffen war; mein Onkel teilte diese Auffassung jedoch nicht. Überlassen wir die Bescheidenheit den Mittelmäßigen, bei denen sie am rechten Ort ist: Ich erkannte schnell, daß er mich für einen überlegenen Geist hielt und meinem Urteil vertraute. Ich verbrachte viele Stunden in seinem roten Ledersessel, las Dokumente und Berichte und stellte schließlich jene Fragen, auf die der Fachmann nicht kommt, weil sie in seinen Augen zu simpel sind. Manchmal machte er einen Besucher lächelnd auf mich aufmerksam: »Schauen Sie sie genau an; wenn sie wollte, könnte sie den Teufel in einen Esel verwandeln.« Das traf damals zu, doch heute führt Satan den Ball an. Er hetzt ganze Heerscharen von Dschinnen und bösen Geistern auf mich, die mir keine Ruhe mehr lassen. In Gesellschaft verärgerte ich meinen Onkel oft mit meiner Freimütigkeit, und wenn ich seiner Ansicht nach zu weit ging, brummte er: »Hester, Hester, was sagen Sie da bloß?« Doch ich erheiterte ihn auch, wenn es mir gelang, den festen Wall, mit dem er sich umgeben hatte, zu durchbrechen. Seither habe ich gelernt, jene Ironie besser einzusetzen, die aus dem Munde Marcus Antonius’ den Mord von Brutus vorbereitete. Damals war ich jedoch nur die begabte, aber unerfahrene junge Frau vom Land, die sich im
Eilschritt über die großen Angelegenheiten unterrichtete, begeistert von den Männern, die sie tagtäglich traf und deren Empfänglichkeit für ihren Charme sie bisweilen erahnte. Welt von gestern, leuchtende Nächte. Heute wieder von Dunkelheit umgeben und von verblaßten Gesichtern! Nichts als die Last der Erinnerung ist mir geblieben. Die Abendgesellschaften in Melbourne House – dem Ort haftete etwas Verwelktes an, der Zermürbungskrieg bekam ihm nicht – waren sehr beliebt. Georgina Spencer ließ keine einzige aus. Georgina, Königin des guten Tons, mit einer Nase wie Roxane • und ihrem unsicheren Zug um den Mund, der Gainsborough•• ein »Euer Gnaden ist mir zu schwierig« entlockt hatte. Die Schöne hatte daraufhin wütend den Pinsel an sich gerissen und ihn ans andere Ende des Ateliers geschleudert. Ich fand, sie machte einen etwas diabolischen Eindruck, wann immer sie zu lächeln vergaß. Lady Melbourne dagegen war vollkommen mit der Laufbahn ihrer Kinder beschäftigt und hatte einem ihrer Söhne zu einem Sitz im Parlament und einer Ehefrau aus vornehmem Haus verhelfen können. Aber jene, Caroline, war eine Exzentrikerin, eine extravagante Frau. Ich sage das, ohne über sie zu urteilen, denn ich stehe ihr in dieser Hinsicht nun wirklich in nichts nach. Ich verlebte eine stürmische Zeit. »Um Ihnen zu gefallen, muß die Welt ein Wirbelsturm, die Politik ein Intrigenstück und das Alleinsein Anmaßung sein.« Diese Äußerung von Mr. Pitt machte ich zu meinem Motto. Ich war achtundzwanzig Jahre alt, erstrahlte im letzten Glanz meiner Jugend und war glücklicher als je zuvor. Granville LevesonGower, Freund und Schützling des Premierministers, bedachte mich mit einem Blick, den ich für zärtlich hielt. Der dritte Sohn des Marquis von Stafford verehrte meinen Onkel abgöttisch, •
Roxane, Prinzessin aus Sogdiana (heute Usbekistan) (327-311 v. Chr.), mit Alexander dem Großen verheiratet. •• Thomas Gainsborough (1727-1788), engl. Maler.
besaß den Charme der Stuarts und nahm alle Herzen für sich ein. Ich war empfänglich für seine Intelligenz, seine aus ironischer Gleichgültigkeit bestehenden Distanziertheit, mit der er jedem außer mir begegnete, seine Art, sich selbst zu kritisieren und andererseits engelsgleich zu wirken, auch wenn er es gar nicht war. Wie mir heute scheint, war ich von der verrückten Verliebtheit einer späten Halbwüchsigen erfüllt. Er teilte diese keineswegs, ich hatte seine bloßen Aufmerksamkeiten für Avancen gehalten. Doch was ist Liebe, und bin ich zur Liebe überhaupt fähig? Mehrmals in meinem Leben habe ich mir diese Frage stellen müssen, und ich glaube nicht, daß ich ein großes Talent für dieses Gefühl besitze – zumindest nicht einem Mann gegenüber –, das überall mit solcher Selbstgefälligkeit beschrieben wird. Granville wurde zum Botschafter in Petersburg ernannt, in den Augen Mr. Pitts eine elegante Art, der delikaten Situation ein Ende zu setzen, da er wußte, wie sehr ich darunter litt. Einer ausschlagenden Kompaßnadel gleich wies mein Herz in Richtung Osten, und mein Onkel schenkte mir mehrere Wochen lang sein herzliches Mitgefühl, zwang mich zu essen und schälte mir mit erstaunlicher Geschicklichkeit sogar meine Pfirsiche. Für ihn gab es nur noch England und mich. Ich ließ mich umsorgen. Heute weiß ich, daß ich Vater und Vaterland auf Vorrat genoß, für den Tag, an dem ich den einen wie auch das andere verlieren würde.
Ich hatte zuviel zu tun, um mir lange in meinem Kummer zu gefallen; das Leben ging weiter, und es sollte Jahrzehnte dauern, bis ich seines Schauspiels überdrüssig wurde. Mein Stolz heilte die Wunde. Er war mir Ansporn und Schutzschild, weckte schlummernde Kräfte in mir, die durch jede Konfrontation neu belebt wurden. Damit ich mich von den
Herzenswirren erholen konnte, stürzte ich mich auf die Verschönerung der Parks von Walmer, die es bis dahin nur dem Namen nach gab. Als erstes verband ich Festung und Wiesenland durch einen Holzsteg. Lord Guilford, der seine Sträucher für gewöhnlich mit dem größtmöglichen Gewinn verkaufte, gestattete mir, ganze Armvoll davon zu holen. Ich beschloß, eine brachliegende Fläche hinter der Festung zu bepflanzen. Ich erhielt Unterstützung von den in Dover stationierten Soldaten, die ich den Boden einebnen, Gartenerde bringen, die Sträucher einpflanzen und Blumenbeete anlegen ließ. Manchmal wandte ich mich dabei unvermittelt an einen meiner Helfer in Uniform: »Sie, Sie sind aus Warwick, das sehe ich Ihrem Gesicht an.« Er brüstete sich, ohne zu ahnen, daß ich seinen Akzent erkannt hatte. Als Blickfang und Zierde ließ ich auf dem Rasen Steinplatten auslegen, deren Kanten ich unter Blumen verbarg. Eine alte Zeder, zwei Eiben und zwei Eichen ließen das Landschaftsbild geräumig wirken und erlaubten Licht- und Schattenspiele. Es war mir gelungen, den Rosen einzureden, sie seien hier zu Hause, und ich war zuversichtlich, daß sie sich gut vermehren und meine Bemühungen krönen würden. An Walmer habe ich nur glückliche Erinnerungen. Wir waren meist zu acht oder zehnt bei Tisch. Neben den vier ständigen Bewohnern waren durchreisende Seeleute und Offiziere immer herzlich willkommen. Andere Frauen hatten in dieser Gesellschaft hingegen keinen Platz. Mit ihrem Tüll, ihren Perlen und ihrem lauten Lachen hätten sie die Unterhaltung nur gestört. Für die Männer, die mich umgaben, zählten allein Kanonen, Schießpulver und Gewehre. Ich habe den Ausdruck »Liebesdienst am Soldaten« nie besser begriffen. Daß Frauen unterhalten, nun gut. Daß sie Kinder bekommen, auch gut. Können sie aber den Männern nicht gleichkommen oder sie übertreffen, dann sollten sie sie wenigstens ihrer Arbeit
nachgehen lassen. Einige Männer verachteten mich, weil sie wußten, daß ich sie jederzeit in Mißkredit bringen und ihrem Ansehen beim Premierminister schaden konnte, vor allem aber verziehen sie mir meinen Sinn für Offenheit und geradlinige Aufrichtigkeit nicht, meinen Haß auf alle Unklarheiten, Umschweife und Ausflüchte, derer sich die Politiker so häufig bedienen. Bei einer in ihren Augen von Natur aus zu Ungenauigkeit und Gefühl bestimmten Frau schätzten sie eine felsige Geisteslandschaft mit klaren Konturen und einschneidenden Linien nicht. Freunden wie Feinden bin ich stets gleich begegnet und habe ihnen immer offen gesagt, was ich von ihnen halte, seien es der Sultan, die Christen, Drusen, Abd Allah oder – vor nicht allzu langer Zeit – die Königin Englands, die Undankbare aus dem Hause Hannover.
Um besser den Oberbefehl führen zu können, glaubte Mr. Pitt, die Strapazen eines Unteroffiziers auf sich nehmen zu müssen. Umgeben von forschen jungen Männern eilte er von Appell zu Parade, was den Boshaften und den Dummköpfen Anlaß zu Geschwätz gab. Ich begleitete ihn dabei fast immer. Lange regungslos auf meinem Pferd im Hintergrund sitzen zu bleiben, während er die Front der Truppen abschritt, langweilte mich tödlich. Das Wetter war oft scheußlich, und während der starken Regenfälle des Herbstes ist mir sogar Wasser kniehoch aus den Stiefeln gespritzt. Ich erlaubte mir, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß diese Unternehmungen unnütz, wenn nicht gar gefährlich waren. Er hörte nicht auf meine Warnungen. Die Verteidigungsstellungen an der Küste müßten verstärkt werden, sagte er. War es seine Schuld, wenn seine Anwesenheit den Menschen überall Mut machte? Der Korse zögerte, das Abenteuer einer Landung zu wagen. Kam er? Kam er nicht? Es gehörte zum guten Ton zu wetten, und einige Buchmacher machten ein Vermögen. Des Wartens überdrüssig ging das Parlament in Urlaub, während der Premierminister, neben seiner erschöpfenden Arbeit, weiterhin unerschütterlich Munitionswagen und Feldbatterien inspizierte. Eines Tages nahm er Charles, Lord Camden und mich mit, um uns ein französisches Kanonenboot zu zeigen, das gerade in den Hafen eingelaufen war. Es schien mir schlecht ausgerüstet und überladen, doch die Matrosen, unsere Gefangenen, waren von stattlicher Erscheinung. Keineswegs dadurch gedemütigt, daß man ihnen so frech ins Gesicht sah, rückten sie ihre Uniformen zu Recht, und die Offiziere machten einen eleganten Eindruck. Einer von ihnen versicherte uns mit taktvollem Mitgefühl, der Krieg werde bald beendet sein. Zu ihren Gunsten, versteht sich! Die Selbstgefälligkeit dieses leider humorlosen Volkes wird mich stets verwundern, im vorliegenden Fall vermischte
sie sich jedoch mit dem Stolz, dessen es sich seit Heinrich IV. rühmt. Die Matrosen trugen, ihrem Unglück die Stirn bietend, ihre Hüte aus gekochtem Rindsleder kühn über den Ohren. Bis in die Reihen der Machthaber schienen mir einige meiner Landsleute viel zu sicher, daß sie vor jeder Gefahr geschützt seien, weil sie auf einer Insel lebten. Mr. Pitt hatte die große Bedrohung durch die französische Revolution erst spät erkannt und mißtraute unseren Nachbarn daher noch stärker. Weit davon entfernt, sie zu unterschätzen, wußte er, daß uns dieses kriegerische Volk wie ehemals Wilhelm der Eroberer überfallen konnte. Unsere gezierten Aristokraten, die, ohne einen Finger zu rühren, den Vorposten Ratschläge erteilten, gerieten bald an die Richtigen.
Wenn ich heute an jenen Lärm von Stiefeln denke, an jene Bedrohungen und Ängste, die in den Geschichtsbüchern in Grabesstille ruhen, sage ich mir, daß nicht Gottes Urteil über das Kriegsglück entscheidet. Von London bis Deir el-Kamar habe ich viele Allianzen gesehen, die wie Schafe zur Schlachtbank trotteten, Gefechte, die durch den größten Zufall verloren oder gewonnen wurden, Triumphzüge, die letztendlich doch fehlschlugen, Niederlagen, die den Auftakt zu Siegen bildeten, Feldherren, die die Flucht ergriffen, und einfache, aber heldenmütige Soldaten! Soviele Trümmer, Morde und Plünderungen! Mein Onkel fand sichtlich Gefallen an seiner militärischen Eskorte; die Federn, Tressen und Winkel, die diese Fachmänner der Tapferkeit auszeichneten wie Kamm und farbenträchtiges Gefieder einen Hahn im Hühnerstall, hielt ich für lächerlich, verglichen mit der Schlichtheit dieses bescheidenen Mannes im schwarzen Gehrock, dessen geringste Geste oder Äußerung auf jeden großen Eindruck machte. Welch bewundernswerte Energie! Gleich nach dem Erwachen
las er die Depeschen, eilte anschließend nach Windsor, arbeitete ohne Unterbrechung, ein kleines Fläschchen mit einem herzstärkenden Mittel in der Tasche, für den Fall, daß ihn die Kräfte verlassen sollten. Die Stunde meiner Gunst, die ich gegenüber all den aufdringlichen Menschen zu verteidigen suchte, war das Abendessen, seine einzige warme Mahlzeit. Rings um ihn traten alle ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Unter dem holländischen Kronleuchter, der sein Arbeitszimmer spärlich erhellte, sprach er bis drei Uhr morgens mit seinen Generälen und Ministern. Oft sah ich, wie er erschöpft das verlöschende Feuer im Kamin betrachtete. Er lebte in einem rasenden Tempo, das selbst einen gesunden Mann umgebracht hätte. Sein Arzt, Dr. Farquhar, bat ihn inständig, eine Pause einzulegen, und sei es auch nur für einen Tag. Lächelnd zuckte er nur die Achseln. Die Nachricht vom Tode Nelsons, die unsere Freude über Trafalgar trübte, ging ihm so nah, daß er für einen Augenblick die Sprache verlor, dann vertiefte er sich wieder in seine Depeschen. Von einer Invasion war zwar keine Rede mehr, doch um unsere Angelegenheiten auf dem Kontinent stand es immer schlechter. Zwei Monate später war Austerlitz. Ein entmutigter, wenn nicht verzweifelter Ausdruck wich ihm nicht mehr aus dem Gesicht, und ich konnte die Siege eines das Ende der alten Monarchien einläutenden Emporkömmlings genauso wenig ertragen wie er. Doch das Schlimmste stand noch bevor. Als ich eines Abends Mr. Pitt wie gewöhnlich in der Downing Street erwartete, beschlich mich eine böse Vorahnung. In der erstarrten Winterluft draußen läuteten die Glocken von Saint Paul schwerfällig Stunde um Stunde, und ihr dumpfes Hallen dauerte länger an als üblich. Ich versuchte, das unheilvolle Vorzeichen aus meinen Gedanken zu verdrängen und die Panik nicht von mir Besitz ergreifen zu lassen. Wie die Schiffe des Kaisers mußte sie am anderen Ufer
bleiben. Doch die Fragen ließen mir keine Ruhe: Würde er noch lange Freude daran haben, den jubelnden Beifall der Menge aus seinem Wagen heraus mit einem Winken zu erwidern? Würde er noch oft von der oberen Terrasse Walmers aus unsere prächtige Flotte betrachten, die ihm zu Ehren einen Salut schoß? Die Turmuhr schlug sechs. Beim ersten Schlag legte ich aus einer Art Aberglauben heraus fest, daß der Premierminister beim sechsten Schlag erscheinen würde, doch die Uhr schlug vergebens. Als Mr. Pitt schließlich spät in der Nacht angekündigt wurde, eilte ich zum oberen Treppenabsatz, um ihn zu empfangen. Er blieb an der Schwelle stehen, außer Atem, mit hochroten Wangen, seine blonden Locken schauten unordentlich unter dem Hut hervor, der Anzug in Purpur und Schwarz betonte seine beunruhigende Schlankheit noch. Von zwei Adjutanten gestützt stieg er mühsam die Stufen hinauf. Ich trat zurück, um ihm die Mühe zu ersparen, sich vor mir zu verbeugen. Der erste Gegenstand, auf den sein Blick fiel, war eine Karte Europas auf einem kleinen runden Tisch. Er seufzte: »Rollen Sie diese Karte auf, wir werden sie nicht mehr brauchen!« Da wußte ich, daß das Ende nahte.
Am 14. Januar 1806 begleitete ich ihn auf einem Spaziergang entlang der Themse. Die dunkle Fläche des Flusses schien meine Angst widerzuspiegeln. An jenem Abend empfing er seinen alten Freund Wellesley, aber noch vor Ende des Besuchs verlor er das Bewußtsein. Als ich in sein Zimmer trat, erkannte er mich und lächelte mit gewohnter Milde. Weil er Angst hatte, mich weinen zu sehen, sprach er von meinem Bruder: »Sorgen Sie dafür, daß James den Grundsätzen treu bleibt, die wir ihm beigebracht haben.« Er schlief ein, und ein wenig später hörte ich, wie er meinen Namen sagte. »Wo ist Hester?« Er sprach von der Aufgabe, mit der er Harrowby
betraut hatte, fragte, aus welcher Richtung der Wind komme, und gab sich selbst die Antwort: »Aus dem Osten. Gut, das wird ihn schneller wieder herbringen.« Da sich der Tod unerbittlich näherte, mußte ich einmal mehr Nein sagen. Am 18. Januar kleidete ich mich in mein schwarzgoldenes Samtkleid, legte meinen schönsten Schmuck an und verwandte die größte Sorgfalt auf meine Toilette, um mich zum Geburtstag der Königin Charlotte zu begeben. Zu jener Zeit in meinem Leben, in der ich vom Schmerz gequält wurde, empfand ich die Notwendigkeit, Stärke zur Schau zu stellen, zu zeigen, daß meine Seele dem Schicksal verschlossen war, daß ich fähig war, ohne zu wanken, vom hellen Schein der Festkerzen in den schwachen Schimmer der Todeskerzen zu blicken. Am 22. desselben Monats betete sein Freund Bischof Tomline an seinem Bett, doch der Sterbende machte ihn darauf aufmerksam, daß er Gott zu lange vernachlässigt habe, um zu hoffen, daß Gebete ihn nun, im vorgerückten Alter, erretten könnten. Er sagte noch folgende Worte: »Wenn die Nation es für richtig hält, meine Dienste zu entlohnen, dann sorge sie für meine Nichte.« Wir wissen, wie die Krone diesen letzten Willen respektiert hat, sie, die nicht zögerte, den Schützling des Mannes, der das Land gerettet hat, mittellos zurückzulassen! Um ein Uhr morgens wurden wir von einem gewissen Mr. South gestört, der mit einem Fläschchen Hirschhornöl gekommen war, welchem er die größten Wunder nachsagte. Mit meinem Einverständnis ließ ihn Dr. Farquhar einen Versuch wagen. Nichts geht zu weit, um den Schatten des Todes zurückzudrängen, selbst wenn man sich an Scharlatane und Hexenmeister wenden muß. Doch eine Stunde später rief Mr. Pitt plötzlich mit klarer Stimme: »Oh, mein Land, in welchem Zustand nur hinterlasse ich mein Land!« und seine Hand erkaltete in der meinen. Ich betrachtete ihn, ruhig, tief schlafend, weit, so weit entfernt von mir, wie eine
Winterlandschaft, strahlend und eisig. Sein Kopf war auf das Kissen gesunken, seine Augen geschlossen, doch unter den Lidern mußte sein Blick seine Ausstrahlung bewahrt haben, denn er konfrontierte mich mit der unerträglichen Bedeutungslosigkeit meines Lebens ohne ihn. »Kommen Sie zurück! Kommen Sie zurück!« schluchzte ich unaufhörlich. Er aber gab sich ganz seinem Traum hin. Was kümmerten ihn das Schlachtgetümmel der Armeen im brennenden Europa, die Trommelwirbel, das Kreischen der Querpfeifen und der lärmende Applaus? Auch ich werde bald auf diesen Frieden treffen. Als ich bei Tagesanbruch gegenüber dem Totenbett erwachte, über dem ein in dunklen Farben gehaltenes Bild hing, brach ich in Tränen aus. Ich war überzeugt, daß ich meinem Leben ohne ihn keinen Sinn mehr geben könnte. Totenkerzen und schwarze Tücher hielten bereits Einzug. Benommen vom Duft der Blumen, dem Geruch der Fackeln, dem Gestank der Heilmittel und Salben übernahm ich die Rolle der Witwe. Die Beisetzung fand an einem Sonntag im Februar statt, einem Sonntag von eisiger Kälte, die die Stadt hatte erstarren und den Fluß fünf Fuß tief zufrieren lassen; das strahlende Weiß blendete mich. Von Saint Paul konnte ich nur ein goldenes Kreuz erkennen. Meine Kutsche hielt vor der Westpforte von Westminster. Der König war anwesend, in Begleitung der Bischöfe. Der Zeremonienmeister, acht junge Pagen und zwanzig Edelmänner gingen vor dem Sarg her. Das Bahrtuch hielten der Erzbischof von Canterbury und drei Herzöge, Beaufort, Rutland und Montrose. Die Statue meines Großvaters Lord Chatham, die ganz hinten im Kirchenschiff stand, schien entsetzt das Grabgewölbe zu betrachten, das seinen Sohn aufnehmen würde. Von meinem Umhang wie von einem Leichentuch erdrückt, war ich am Boden zerstört.
Ich war entschlossen, mich wie eine hölzerne Marionette zu verhalten, zu grüßen, zu gehen, niederzuknien, und alles zu tun, was ich tun mußte, doch nie hatte ich mich so verloren, so verlassen und so furchtbar einsam gefühlt.
Zu jener Zeit schlich sich ein gewisser Überdruß an London ein, der sich alsbald bis zum Widerwillen steigerte. In meinen Gedanken erschienen mir Downing Street und Westminster als Orte des Schmerzes, und ich fühlte mich als Gefangene eines von den düsteren Schranken des Ozeans umgrenzten, shakespearischen Landes, das sich den Tränen König Lears oder der Schwermut Hamlets in seinem schlichten schwarzen Samtgewand verschrieben hatte. Ich weigerte mich, dem üblichen Trauerzeremoniell zu folgen und mich aufs Land zurückzuziehen. Auch der Zukunft meiner Brüder konnte ich mich leider nur sehr begrenzt widmen, um mir so wieder eine Art Lebensinhalt zu schaffen. Charles und James waren in die Armee eingetreten, wo ihr Erfolg nunmehr von ihrem eigenen Verhalten abhing. Die zweitausendzweihundert Pfund jährlich, die mir das Parlament bewilligt hatte – eine Rente, die mich im Orient eine Zeitlang als reich hatte gelten lassen und mir nun schändlich entzogen wird –, erlaubten mir keine großen Ausgaben. Am Montagu Square mietete ich mir ein Haus, das sich in den Augen meiner seltenen Besucher bescheiden ausnahm. Ich hatte mich bisher im Besitz einer unklaren, aber gebieterischen Autorität gewähnt, die ich mit der Gewißheit ausübte, daß man mir gehorchte, und ich war es gewohnt, daß man mich anhörte – und mit einem Mal das Nichts. Ich brachte es nicht fertig, mich weiterhin mit den vergnügten Kameraden meiner Brüder zu umgeben, die ich früher mit den Herzögen und Dandys bekannt gemacht hatte, um ihnen zu zeigen, daß eine Hester Stanhope um ihren Tisch versammeln konnte, wen immer sie wollte. Der Herzog von York und George Canning, diese Getreuen, kamen häufig und versuchten, mir Trost zu spenden. Sir John Moore, dem ich drei Jahre zuvor in Putney begegnet war, zeigte sich über den Tod des Premierministers sehr betrübt. Kaum war er von seinem Feldzug in Sizilien
zurückgekehrt, machte er mir unverzüglich seine Aufwartung. Ich bewunderte diesen Soldaten, den die Regierung nur kärglich entlohnte, und konnte nicht zulassen, daß der Schützling Mr. Pitts vom Spanienkrieg ferngehalten wurde. Er rührte mich, als er zum ersten Mal in meinen Salon trat, mit der Ungeschicklichkeit eines Kriegers, der eher den Schlamm der Schlachtfelder als poliertes Parkett gewöhnt war. Ich beschloß, ein Unrecht wiedergutzumachen, und mein Eintreten für ihn trug bald Früchte: Der alte König, dessen Zuneigung zu mir unverändert geblieben war, obwohl es ihm nicht geglückt war, mich in seiner Staatskutsche nach dem Empfang bei den Romneys mitzunehmen, betraute Sir John trotz der Mißbilligung des Parlaments mit der Führung seiner Armee in Spanien. Ehe er mit meinen in seinen Stab beorderten Brüdern James und Charles an Bord ging, schenkte er mir ein schönes Intaglio, das ich nie aus der Hand gegeben habe. Dann erhielt ich mehrere Briefe von ihm. Der letzte und kürzeste war in dem dumpfen, bedrohlichen Ton einer bösen Vorahnung geschrieben. Er lautete: Salamanca, den 23. November. Charles ist noch nicht angekommen. Sein Regiment ist eines der letzten gewesen, die Lissabon verlassen haben. Wir sind in einen Hinterhalt geraten, aber ich hoffe, daß wir uns daraus befreien können. Ich wünschte, ich könnte Ihnen bessere Nachrichten übermitteln. Die Truppen sind ausgezeichneter Stimmung, so als würde alles gutgehen. Ihre Haltung erstaunt sogar die unerbittlichen Spanier. Bitte, beten Sie für gutes Wetter. Beginnt es hier zu regnen, dann werden die Wildbäche anschwellen und die Furten unpassierbar, und ich kann für nichts mehr garantieren. Ach, wären Sie doch bei uns, dann könnten wir schöne Ausritte unternehmen, und Sie würden uns Mut machen in Ihrem roten Amazonengewand!
Adieu, liebe Hester. Gelingt es mir, die Franzosen zu schlagen, dann kehre ich mit ungetrübter Freude zu Ihnen zurück. Andernfalls täte ich besser daran, Spanien nie wieder zu verlassen. Ich verbarg diese beunruhigende Nachricht rasch in jenem Mahagonisekretär, der den Schriften Mr. Pitts als Mausoleum diente. Es gelang mir jedoch nicht, das Unheil abzuwenden, das sie durchblicken ließ. Als zunächst diskret, dann lauter an meine Türe geklopft wurde, wußte ich, daß mich nach drei Jahren der Schonung wieder ein Trauerfall ereilt hatte. Ich mußte das Kuvert mit dem blutroten Siegel nicht einmal öffnen, statt dessen legte ich es sofort zu dem prophetischen Brief in seinen polierten Sarg. Es befindet sich noch immer dort, neben dem Intaglio. Ich empfing lediglich Oberst Anderson, der an der Seite seines Kommandeurs verletzt worden war. Ich bestand darauf, ihn eine Weile bei mir am Montagu Square zu haben. Wir sprachen lange über den General, und ich wollte alles wissen: über das Schießpulver, den Staub und seine letzten Worte. Sein durch eine Kugel verletzter Arm hatte bis zum Schluß das Schwert gehalten. »Weil ich es nicht gern auf dem Schlachtfeld zurückgelassen hätte«, sagte er. Und später, als die Wundärzte seine Verletzung untersuchten: »Ich habe mir immer sehnlichst gewünscht, auf diese Weise zu sterben. Sind die Franzosen geschlagen, Anderson?« Und als er James in der kleinen Gruppe von Offizieren erblickte, die mit den Tränen kämpfte: »Stanhope, ich bitte Sie, empfehlen Sie mich Ihrer Schwester.« Ach, wie anders wäre doch mein Schicksal verlaufen, wäre er aus La Coruna zurückgekehrt! Die Erinnerung an ihn verfolgt mich auch hier in der Einsamkeit des Libanongebirges. In dieser kalten, leidvollen Zeit schmerzt sie mich wie einst. Wenn ich des Mutes bedarf, nehme ich aus einer kleinen
Schachtel den blutbefleckten Handschuh, den mir Anderson schenkte. Er vertreibt vorübergehend die elenden Taten Emir Beschirs, Ibhrahim Paschas und anderer aus meinen Gedanken. Ich mußte in einen zweiten schwarzen Umhang schlüpfen, der mir so vertraut wurde wie der erste. Mit John Moore hatte England den einzigen General verloren, der von Napoleon bewundert wurde, von dem er gar sagte, seine Begabung und Beherrschtheit hätten die englische Armee vor dem Zusammenbruch bewahrt. In meinem Haus am Montagu Square habe ich allein um ihn getrauert. Und der dritte Trauerfall nahte bereits. Meldungen über einen Oberleutnant werden langsamer befördert als die über einen Generaloffizier; ich erfuhr, daß Charles bei einer Schlacht, die man in derselben Woche geschlagen hatte, von einer Kugel mitten ins Herz getroffen worden war. Was blieb mir noch? James war ein inkonsequenter junger Mann, und ich setzte nur begrenzte Hoffnungen in ihn. Der von mir so geliebte Mahon hatte mich verraten: Einige Wochen nach dem Tod seines Premierministers war er gesehen worden, wie er in Holland House speiste und Mr. Pitts ärgsten Feinden die Hand reichte. Der Besuch Cannings tat mir gut, und es gelang mir, Castelreaghs zu entgehen, der die Ernennung Sir Johns befehdet hatte. Doch ich mußte voller Bitterkeit mitansehen, wie der Feldzug meines Freundes, der für England den Heldentod gestorben war, im Parlament scharf kritisiert, seine Schlachtpläne in Frage gestellt, sein Andenken beschmutzt wurden. Mit dreiunddreißig Jahren war ich mit einem Mal von Gleichgültigen umgeben, wenn nicht gar der Schmach ausgesetzt. Monate und Jahre verstrichen. Ein unwiderstehliches Verlangen zu fliehen, überkam mich. Wohin aber konnte ich gehen, um meine Wunden zu heilen?
Zunächst suchte ich Zuflucht in einem walisischen Cottage in Glen Irfon, das mir Reverend Price, der Eigentümer, vermietete. Ich richtete dieses vorübergehende Domizil mit soviel Eifer und Einfallsreichtum ein, als ginge es darum, meine letzten Tage dort zu verbringen. Ich ließ die Fassade tünchen, die Fenster neu streichen, Regale für meine Bücher aufstellen und fühlte mich wirklich zu Hause, als ich mein erstes Bad nahm. Jegliche Gedanken an die Zukunft verdrängte ich, so wie man ein Kind davon abhält, im Schlamm herumzuwaten. Die Tage verstrichen, hell und still. Ich interessierte mich für die Spinnarbeiten der Frauen und die Käseherstellung. Eine Kuh wurde zu meinem Lieblingstier; ihr Name war Pretty Face. Nachrichten aus London hatte ich wohlweislich meine Pforte verschlossen. Bei meiner Rückkehr fand ich sie jedoch wieder vor. Boshafte Schmähschriften stellten die Herzogin von York an den Pranger; ihr wurde vorgeworfen, Offizierspatente Seiner Majestät meistbietend zu verkaufen. Es betrübte mich zutiefst zu sehen, wie der Herzog, mein Freund, durch eine Frau kompromittiert wurde, der er nichts abschlagen konnte. Ich erfuhr auch von der Verlobung Leveson-Gowers. Seiner Mätresse, Lady Bessborough, war es geglückt, ihm ein junges Küken ins Bett zu setzen: ihre eigene Nichte. Doch es gelang mir nicht, Gefallen an diesen gesellschaftlichen Farcen zu finden. Ich langweilte mich. Hitze begann mich zu durchströmen, ein unbeschreibliches Feuer, das meine Traurigkeit nach und nach verglühte. Ich machte Pläne. Ich hatte bei weitem nicht den gesamten Betrag meiner Rente ausgegeben und verfügte über die notwendigen Mittel; James und Miss Williams sollten mich begleiten. Ich würde den Ort meines Triumphes und meiner Verzweiflung verlassen.
Nachdem ich das Haus am Montagu Square seinem Eigentümer übergeben hatte, verbrachte ich den letzten Monat damit, meine Angelegenheiten zu ordnen und ein Testament aufzusetzen. Fern war die Zeit, in der ich auf dieser Welt keine anderen Güter mehr besitzen würde als meine zwei Stuten, drei turkmenische Sättel, ein paar verbeulte Töpfe und ausgefranste Laken. Das Glück Chevening noch einmal zu sehen, war mir nicht vergönnt. Seine Pforten blieben mir fortan verschlossen. Mein Vater hatte gesagt, er wollte mit seiner Ältesten, der unverbesserlichen Aristokratin, die sich dafür entschieden hatte, auf Kosten des Volkes zu leben, nichts mehr zu tun haben. Seine Gattin, seiner Launen und Verrücktheiten überdrüssig, hatte bei meinem Cousin Grenville Zuflucht gesucht. Das gesamte Haus war in den Händen der Köchin, die über den alten Republikaner herrschte.
Da der Kontinent durch den Krieg nahezu unpassierbar geworden war, mußte ich den Seeweg nehmen. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn die Admiralität nicht die Nichte jenes Mannes an Bord nehmen würde, der die Flotte mit sechshundert Schiffen verstärkt hatte! Dr. Farquhar wollte mich nicht ohne einen Arzt gehen lassen. Der Auserkorene war ein gewisser Charles Meryon, dessen Schicksal keine großen Überraschungen bereitzuhalten schien: eine gutgehende Praxis, eine ihm treuergebene Frau, artige Kinder, allabendlicher Sherry, verschiedene Ehrungen, vornehm erweiterte Äderchen im Gesicht. Doch er hatte sein Berufsleben mit einem Fauxpas begonnen. An dem Tag, an dem er sich nach Oxford begeben mußte, um seine letzte Prüfung abzulegen, hatte er die Postkutsche knapp verpaßt, war hinter ihr hergerannt, hatte sich schwitzend und außer Atem an sie geklammert, sich endlich oben auf das Dach gesetzt und sich dabei verkühlt. Er war nach London zurückgekehrt, hatte sich mit einer Blasenschwäche ins Bett gelegt, und dort stöberte Farquhar ihn auf, damit er mich auf meiner Expedition begleitete. Ich trank Tee mit dem Bewerber, der einen guten Eindruck auf mich machte. Er wollte sehr gern, in den Dienst einer Aristokratin treten, um endlich das Diplom zu erlangen, das ihm das schlechte Wetter verwehrt hatte, und ich sagte ihm, daß ihn nach seiner Rückkehr aus dem Orient eine glänzende Laufbahn erwarten würde. Er starrte mich mit offenem Mund an, als wäre ich plötzlich einer Fata Morgana zwischen Granatapfel- und Feigenbäumen entstiegen, und war begeistert, dieses Klima, das ihm so übel mitgespielt hatte, gegen die Hitze einzutauschen. Ich bat ihn, zum Essen zu bleiben, nicht ahnend, daß wir zwei Jahrzehnte lang Brot und Salz teilen würden, daß er mir mehr als ein Arzt sein würde, ein Gefährte
in ruhmreichen Tagen wie in Zeiten der Not und – ich gestehe es zu meiner Schande – auch Unterhalter und Prügelknabe.
Kaum war die Küste Englands aus unserem Sichtfeld verschwunden, da gab mir ein Sturm einen Vorgeschmack auf all die Unwetter, die mich noch erwarten sollten. Meine Begleiter flüchteten sich in ihre Kabinen, während ich, der Seekrankheit gegenüber unempfindlich, mit dem Wachoffizier scherzte. Ich erzählte ihm aus dem Leben des Premierministers Pitt, des Eroberers der Hafenstadt Mahón. Einige Tage später teilte man mir mit, daß wir auf der Höhe von La Coruna waren. Muß ich beschreiben, was ich fühlte? Die Erinnerung bestärkte mich in meinem Entschluß. Um ehrlich zu sein, ich wollte vor allem mein Land verlassen; diese Reise hatte keinen anderen Zweck. Ich war gegenüber niemandem verpflichtet. Ich hoffte weder auf einen Aufstieg, noch fürchtete ich den Fall. Ich schwebte zwischen dem Gestern und dem Morgen, war einzig damit beschäftigt, die Wolkengebilde zu deuten, in denen ich den Kampf der Titanen sah. Ich war nicht mehr auf der Suche nach Vorzeichen. An Bord der Fregatte brachte die Sonne das Gold der Tressen, die Knöpfe der Uniformen und die Bajonette der Soldaten der Marineinfanterie zum Glänzen. Eines Morgens erfuhren wir durch das laute Wecksignal, daß wir die Zone des englischen militärischen Einflußbereiches verlassen hatten. Die Blockade wurde noch immer aufrechterhalten. Wir machten einen längeren Zwischenstopp in Gibraltar, wo James uns verlassen mußte, um zu seinem Korps zurückzukehren. Der Gouverneur gab einige glanzvolle Empfänge für uns, ehe wir an Bord der Cerberus gingen, die uns nach Malta bringen sollte.
Die Insel der Ritter stand gerade in voller Blüte. Sie war ein beliebter Ort für Sommerfrischler geworden, seit Murat, dem Usurpator und der englischen Kolonie abtrünnig, den neapolitanischen Adel hatte herströmen lassen. Maurer, Zimmermänner und Steinmetze hatten sich an steilen Abhängen oder am Fuß der Mauern zu schaffen gemacht. Man hätte den Grundriß mit seinen rechtwinkligen Straßen für eine Stadt Campanellas• – einer jener Utopisten, die mein Vater verehrte – halten können, die versehentlich auf unebenem Boden errichtet und nach allen Seiten dem Wind ausgesetzt war. Doch die Festung war in Alarmbereitschaft; die in den Fels gehauenen Schächte waren mit Schießpulver und Munition angefüllt. Mehr noch als die Schiffe des Korsen fürchteten die Malteser die Rückkehr der Schergen der Hohen Pforte. Würden sie je glauben können, daß die verfluchte Zeit der Osmanen vorbei war? Ich mußte an Shakespeare denken, der seinen Heinrich V. zur Beruhigung seiner über die neue Regentschaft besorgten Höflinge sagen ließ: »Dies ist der Englische und nicht der Türk’sche Hof. Hier folgt nicht Amurath auf Amurath.« Unsere Anwesenheit machte die Rückeroberung der Insel durch einen Amurath recht unwahrscheinlich. La Valetta, auf drei Seiten von Bollwerken umgeben, fiel steil zum Meer ab. Jeder Vorsprung, jeder Fels war mit einem Wachturm bestückt. England machte seine Sache gut; es wußte, die Franzosen, die so unvorsichtig gewesen waren, zuzulassen, daß es sich hier einrichtete, hofierten den Sultan, und England war entschlossen, seinen Anlaufhafen auf dem Seeweg nach Indien erbittert zu verteidigen. Mit weitgeschwungenen Bögen verband ein Aquädukt, das sich auf einer Länge von fünf Meilen durch das ausgedörrte Land zog, La Valetta mit dem Palast von General Oakes, dem Gouverneur der Insel. Er war ein Mann von Welt, •
Thomas Campanella (1568-1639), ital. Renaissancephilosoph.
der Besuche sehr schätzte. Wir verbrachten einige Tage in diesem wuchtigen Bau, dessen wenig ansprechende Fassade nicht die prunkvolle Innenausstattung vermuten ließ. Ein viereckiger Glockenturm, der dem Beifried einer englischen Kirche ähnelte, verunstaltete ihn zudem noch. Mein Zimmer, ein altertümlicher hoher Raum mit Steinfußboden und mindestens sechs Fuß voneinander entfernten Fensteröffnungen, war mit verblichenen Samtvorhängen ausgestattet. Dr. Meryon empfand für Malta, seinen Ritterorden und die Malteser Damen eine gleichermaßen unersättliche Leidenschaft. In seiner Gesellschaft durchstreifte ich die Stadt; wir trafen auf eine ziemlich dunkelhäutige, kraushaarige Bevölkerung, die schon an den Orient gemahnte, und auf Matrosen, die Trinklieder vor sich hin sangen, während ein Papagei, den sie vom Ende der Welt mitgebracht hatten, mit dem Schnabel weiße Körner aus ihren Händen pickte. Das Durcheinander der vielen Geräusche am Hafen entzückte mich; jeden Tag wurden auf einem Schiff die Segel für die Fahrt nach Indien gehißt, während ein anderes mit sonnengegerbter Mannschaft und geschwärztem Rumpf von dort zurückkehrte. Im Juni jenes Jahres waren alle fünfunddreißig Zimmer des Palastes belegt, und die Gäste drängten sich auf den engen Treppen. Der Gouverneur gab jeden Abend ein Festessen, doch die Pracht seines Tisches besaß für mich keinen großen Reiz. Zumal drei der Gäste, Thomas Sheridan, Lord Ebfrington und Lord Bute, nach dem Essen vor Trunkenheit laut schnarchten.
Auf Malta traf ich einen jungen Mann wieder, dessen Bekanntschaft ich in Gibraltar gemacht hatte, wo ich ihm jedoch nicht die Aufmerksamkeit geschenkt hatte, die er nun plötzlich zu verdienen schien. Michael Bruce, der, so sagte er mir, seine Pläne geändert hatte, um mich in La Valetta wiederzutreffen, wurde zu meinem Gefährten auf den nächtlichen Spaziergängen. Er erzählte hinreißende Geschichten von schönen Sklavinnen, in Karawanen dahinziehenden Rittern und Spionen im Dienste der Republik Venedig. Als Sohn des Gründers des berühmten Bank- und Handelshauses Bruce, Fawcet and Company machte er seine »große Reise«, um die Welt kennenzulernen. Er erklärte mir, daß er sich von seinem Aufenthalt in Konstantinopel viel erhoffte und anschließend bis an die Grenze Asiens Weiterreisen wollte. Mit der ihm eigenen Mischung aus Anmut und Kraft, dem rosigen Flaum auf seinen Wangen, seinen dünnen Handgelenken und veilchenblauen Augen erinnerte er mich an ein arabisches Vollblut; und er brachte mir grenzenlose Bewunderung entgegen. Nach meinem Mißgeschick in London hatte ich beschlossen, daß ich, sollte ich jemals wieder einem Mann Interesse entgegenbringen, darauf warten würde, daß er als erster ein noch stärkeres Interesse bekundete. Außerdem mußte er ein schönes, intelligentes und vollkommenes Wesen sein. All diese Bedingungen waren erfüllt, und so war ich Michael gegenüber nicht ablehnend, sondern machte zum ersten Mal Erfahrungen mit den so viel gerühmten sinnlichen Freuden. Die Vorstellung, mich verstecken zu müssen, war mir unerträglich. Daher hielt ich mich nicht an die Konvention und setzte, stolz auf meine Eroberung, seinen Vater in einem Brief davon in Kenntnis. Ein Brief, der zweifellos einer der seltsamsten ist, die ich je geschrieben habe. Doch urteilen Sie selbst:
Brächte ich Ihrer Person weniger Hochachtung entgegen, würde ich mich nicht der Gefahr aussetzen, Ihnen impertinent zu erscheinen, indem ich mir anmaße, mich bezüglich einer Angelegenheit an Sie zu wenden, die ich nicht ansprechen kann, ohne all meinen Mut zusammenzunehmen und auf Ihre Großzügigkeit zu hoffen, damit Sie die Gründe verstehen, die mich Ihnen das Folgende mitteilen lassen. Zweifellos hörten Sie bereits, daß ich die Bekanntschaft Ihres Sohnes gemacht habe. Die Erhabenheit und die Vorzüge seines Verstandes, die schon den künftigen Staatsmann in ihm erahnen lassen, seine brillanten Talente, ganz zu schweigen von seiner wunderschönen Erscheinung, können keinen Menschen gleichgültig lassen, der ein wenig Sensibilität besitzt. Ihn zu kennen heißt, ihn zu lieben – und ich liebe und bewundere ihn. Ich möchte nicht, daß Sie all dies auf indirektem Weg erfahren und so die wahre Natur meiner Gefühle für ihn und meine Absichten ihm gegenüber mißverstehen könnten. Sie könnten sonst glauben, daß er von einer gewissenlosen Frau umgarnt worden ist, die all ihre Raffinesse eingesetzt hat, um ihn zu ihrem Sklaven zu machen. Doch fürchten Sie nichts dergleichen, mein Herr. Die Zuneigung, die ich Ihrem Sohn entgegenbringe, wird mich stets dazu drängen, in allen Dingen nur seinen Vorteil zu suchen. Auch wenn ich ihn über alles liebe, habe ich schon heute den Tag vor Augen, an dem ich ihn einer vielfach glücklicheren Frau überlassen muß, die seiner wirklich würdig ist. Doch in der Zwischenzeit, wo er noch damit befaßt ist, seine Zukunft zu planen, glaube ich, gibt es nur wenige Frauen, deren Gesellschaft ihm nützlicher sein könnte als die meine. Sobald er seinen Weg gefunden hat und zu einem Mann des öffentlichen Lebens geworden ist, werde ich mich,
gewissermaßen als entthronte Kaiserin, zurückziehen und einer anderen den Besitz dieser Vollkommenheit überlassen, auf den nur sie allein Anspruch hat… Würden Sie mich kennen, mein Herr, dann wäre es, dessen bin ich überzeugt, unnötig, Ihnen einen Beweis für die Aufrichtigkeit meiner Absichten zu geben, doch da Sie mich nicht kennen, sollen Sie wissen, daß ich bereit bin, Ihnen diesbezüglich mein feierliches Versprechen zu geben. Obgleich ich nicht darauf drängen möchte, daß Sie mir schreiben, wäre es mir doch angenehm zu wissen, daß Sie dieses aufrichtige Bekenntnis nicht verstimmt hat. Doch mißverstehen Sie nicht den demütigen Ton dieses Briefes. Er rührt nur daher, daß ich eine der stolzesten Frauen auf dieser Welt bin, stolz genug, die öffentliche Meinung ganz und gar geringzuschätzen. Wende ich mich aber an den Vater des Menschen, den ich liebe (und dem er eine so große Zuneigung entgegenbringt), überkommt mich so etwas wie Ehrfurcht. Ich wage zu hoffen, mein Herr, daß es mir gelungen ist, Ihnen gegenüber diese Ehrfurcht sowie mein Vertrauen und meine Ehrerbietung zum Ausdruck zu bringen, und verbleibe hochachtungsvoll Ihre… Trunkener vor Stolz als vor Liebe beabsichtigte ich, die ganze Welt, den Hof, meine Familie und Freunde über meine zarte Liebe zu einem schönen Jüngling in Kenntnis zu setzen, und erwartete, daß man sie guthieß! Der entsetzte James drohte, seine Sekundanten zu Michael zu schicken, dachte aber, noch immer inkonsequent, schon wenige Stunden später nicht mehr daran. Michaels Vater, der zu meinen Bewunderern in London zählte, war weit davon entfernt, sich gekränkt über meine Offenheit zu zeigen; er war froh, daß sein Sohn in guten Händen war. So entstand eine Liaison, die am Hof, in den Salons und Kanzleien Entrüstung hervorrief. Um der Wahrheit
die Ehre zu geben, dachte ich nicht im entferntesten daran, die Folgen meiner Tollkühnheit zu ermessen. Ihr verdanke ich den größten und wohl schlechtesten Teil meiner Legende, die eine herrische, aufbrausende und verdorbene Frau beschreibt, bereit, öffentlicher Auffassung und Moral zu trotzen, verrückt nach Liebhabern, Tribaden und Pferden. Seit Malta haben diese Gerüchte unaufhörlich Schmutz in jenen Rinnstein um mich gespült, der mir aber wenig bedeutete und nie höher als bis zu meinem Absatz anstieg. Ein letztes Mal begaben wir uns in die Kathedrale des Heiligen Johannes, in der die großen Meister und Ritter zur Ruhe gebettet sind, die auf ihrem Felsen zwei Jahrhunderte lang die Heldentaten der Kreuzzüge fortsetzten und Krieg gegen Piraten und Barbaren führten. Diese Korsaren des Glaubens ruhen in einem ihnen gemäßen Rahmen: ein mit vielen Details geschmückter Marmoraufbau gegenüber einem mit Lapislazuli besetzten Hauptaltar. Ich wanderte an den an die Wände gelehnten Gedenktafeln vorbei. Michael vertiefte sich in das Wappenbuch der edelsten Familien Europas, während ich grausame Totenskelette betrachtete, die mit ihren Sicheln die Sand- und Wasseruhren zertrümmerten. Ein geflügelter Kronos begleitete ihr mühsames Werk. Diese Fresken, auf denen Mächtige sowie Bettler dem Tod folgen, strahlten die ironische Ungeniertheit des Todes aus, der weder Prinzen noch Prinzipien respektiert. Ich hatte damals noch kaum über das Jenseits nachgedacht, welches uns gewissermaßen als der Welt der Lebenden vergleichbar prophezeit wird. Ich akzeptierte es, so wie es mich gelehrt worden war, und ahnte nicht, daß meine Überzeugungen eines Tages in sich zusammenstürzen würden und ich dem Triumph des Nichts eher Verachtung als Gebete entgegenbringen würde. Nach vier Monaten der leidenschaftlichsten Liebe, umgeben von Orangenbäumen und Jasmin, war mir danach, weiterzureisen. Auch Michael mußte seinen Weg fortsetzen.
Auf ihre Bitte hin ließ ich meine treue Miss Williams, die ich als Gesellschafterin mitgenommen hatte und die in Malta ebenfalls eine Liebschaft begonnen hatte, auf der Insel zurück. Einige Jahre später, als die Einsamkeit auf mir zu lasten begann, sollte ich sie wieder an meine Seite holen.
Die Admiralität gestattete mir, mit meiner kleinen, um den jungen, schönen Freund bereicherten Gefolgschaft an Bord eines Mittelmeerdampfers zu gehen. Der Ansturm des Interesses und die unzähligen Ehrerbietungen, die ich als Pitts Nichte in jedem Hafen hervorrief, waren mir bald lästig. Gouverneure und Konsule scharten sich mit einem Kompliment auf den Lippen um mich, bereit, all meinen Launen nachzukommen. Michael an meiner Seite nahm an all diesen Aufmerksamkeiten mit der naiven Selbstgefälligkeit der jungen Männer teil, die das Leben gerade entdecken. Bisweilen rührte sie mich, meistens aber regte sie mich auf. Mitte August gingen wir vor Zante• vor Anker; ich hatte aber nicht vor, mich dort lange aufzuhalten. Die Luft war zu feucht, um den Eifer meines Liebhabers genießen zu können. An Bord gab ich mich ihm ohne Zurückhaltung hin, vermied dabei aber, mich offen zur Schau zu stellen. Nicht, daß ich jemals befürchtet hätte, Ärgernis zu erregen, aber ich glaubte, mich gegenüber den einfachen, ehrbaren Matrosen unserer Flotte meines Standes würdig erweisen und als die große Dame zeigen zu müssen, der sie stolz die Überfahrt ermöglichten. Wir besichtigten einige Ruinen, und Michael zeigte seine noch frische Gelehrsamkeit für meinen Geschmack allzu deutlich. In diesem jungen Geist waren noch die Spuren sichtbar, die der etwas schwerfällige Meißel seiner Lehrer hinterlassen hatte. Ich wandte mein Interesse daher lieber den Schiffsmanövern zu. Lord Sligo, ein •
Ital. Name der griechischen Insel Zakynthos (von 1797 bis 1864 britisch).
junger Mann aus vornehmer Familie, der für die Antike schwärmte, war auf der Rückreise von Konstantinopel zu uns gestoßen, glücklich darüber, uns mit seinen bissigsten Anekdoten über die Gepflogenheiten am Goldenen Horn erfreuen zu können. Er erzählte uns von den schweigsam eingenommenen Essen, zu denen ihn die würdevollen Paschas vielfach eingeladen hätten, jenen Mahlzeiten, die nur dann von den Dienern gestört wurden, wenn sie das eine oder andere der obligatorischen achtzig Gerichte servierten. Er wurde von seinem türkischen Koch begleitet, der für mich einige jener Köstlichkeiten zubereitete. Ich entdeckte den komplizierten Geschmack des Orients. Die Zubereitung der Speisen, auf die ich gewöhnlich keinen großen Wert legte, verriet, wie meisterlich die trägen, alten Kulturen die Sinnenfreuden beherrschten. Lord Sligo, der Michael seit mehreren Jahren kannte und versuchte, ihm seine Begeisterung für Archäologie näherzubringen, war so gütig, Meryon von Zeit zu Zeit unter einem Vorwand zu sich zu bitten, und verbarg dabei die Absicht, mich mit meinem Liebhaber allein zu lassen. Ich schätzte sein nicht geheucheltes Taktgefühl.
Ein einmonatiger Aufenthalt in Athen, wo ich ein Haus mietete, brachte mir die Bekanntschaft Lord Byrons ein. Er sollte bald durch Ritter Harold und seine aufsehenerregende Liaison mit Lady Caroline Berühmtheit erlangen. Er, Sligo und Michael wurden rasch unzertrennlich; bei Tisch tat er alles, um die Aufmerksamkeit unserer Gäste auf sich zu lenken. Hatte er das Wort ergriffen, gab er es nur ungern wieder ab und hielt unaufhörlich weitschweifige Reden über seine geliebten Hellenen. Ich fragte mich bisweilen, wie es den beiden gelang, unseren »Milord Extravaganza« zu ertragen. Er schien mir einer jener sorgfältig gebildeten Schönredner zu sein, die
unsere Universitäten hervorbringen. Ich weiß nicht, ob sein Genie so unermeßlich ist, wie, darf ich Meryon Glauben schenken, Herr von Goethe schrieb; sein Charakter jedenfalls war unerträglich: Bald schmollend und mürrisch gestattete er nicht, daß man in seine Nähe kam, bald fröhlich und zu Scherzen aufgelegt wandte er sich an alle in seiner Reichweite. Ein Dichter? Zweifelsohne konnte er, wie so viele seiner mit humanistischer Bildung überladenen Kommilitonen, geschickt reimen. Aber so schwierig wird es wohl nicht sein, Verse zu schmieden! Er betete uns einige Gedichte vor, auf die er stolz war wie ein Versschmied auf einer Dorfhochzeit. Ich erinnere mich noch an einen Zweizeiler gegen Elgin, den Schotten, der den Fries des Parthenons nach London hatte bringen lassen: »Schottland erglüh’! Dein Sohn, der solches trieb! England, mich freut’s, du nanntest nie ihn dein.« In diesen schlechten Versen spüre ich wenig Poesie. Wieviele vorgeblich tiefsinnige Denker beschränken sich darauf, ihre Gedanken in irgendeinem Buch niederzuschreiben, das niemand kennt! Eines Tages stritten wir uns über Erziehung; ich war der Meinung, man könnte ein Pferd alles lehren und es auch auf den Hinterbeinen ein Menuett tanzen lassen; wieder sich selbst überlassen, würde es aber nichts dergleichen mehr tun. Mit den Menschen verhielte es sich ebenso. Solange der Vater lebte, wird sich ein Heranwachsender unter der Aufsicht seines Lehrers aus Angst vor Enterbung in seine Bücher vertiefen; an dem Tag aber, an dem der Vater zu Grabe getragen würde, träte sein wahres Naturell zutage. Genauso war Lord Byron, hinter seinem brillanten Äußeren stand ein Naturell, das ich für gewöhnlich hielt. Seine mit Adjektiven beschwerten Strophen, die stets nach Großartigkeit streben, habe ich nie gemocht. Purpur ist bei ihm das Blut und wild die Leidenschaft. Und dann seine vielgerühmte Schönheit! Ich gestehe ihm nichts weiter zu als einen hübschen Teint, eine
tadellose Halsform und eine braune Haartracht, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Verärgert über die Kühnheit, mit der ich ihm die Stirn bot, wurde er alsbald verletzend. Seine Menschenfeindlichkeit war wohlbekannt, und wahrscheinlich sah er in mir das, was er auf dieser Welt am meisten verachtete: ein Frau von einigem Format. Er wirkte auf mich immer angetrunken, wie er in seinem mit schweren Parfüms getränkten Gehrock abends den Salon mit zahlreichen Umwegen an Stühlen und Sesseln vorbei durchquerte und sich vergeblich mühte, ein Hinken zu verbergen. Wenn er uns, den linken, gesunden Fuß gut sichtbar auf den Teppich gestellt, eine klangvolle Strophe vortrug, erweckte er in mir das Gefühl, daß vor mir ein nonchalanter Müßiggänger stand, dessen Nachlässigkeit gespielt war.
Als wir Konstantinopel endlich erreichten, erwartete uns am Kai eine Sänfte. Diese Annehmlichkeit lehnte ich ab, denn ich wollte mich dem Orient nicht sitzend nähern. Ich ahnte, daß diese Begegnung für mich den Auftakt zu einem unentschiedenen, vielleicht gar tödlichen Kampf darstellen würde. Während ich darauf wartete, daß man mir ein Pferd brachte, betrachtete ich die ärmlichen Häuser, die von schmalen Minaretten überragt wurden. Abgemagerte Hunde streunten in Rudeln umher. Unsere Ankunft war trostlos, doch das geräumige Haus, das mich im Vorort Therapia erwartete, erschien mir nach dem wenig komfortablen Leben an Bord wie das Paradies. Ein vernachlässigter Garten umgab es, und die Innenausstattung, die der landestypischen Vorliebe für Grelles und Auffallendes entsprach, rief bei mir ein Lächeln hervor. Eine sechs Zoll hohe Estrade verlief rings um mein Zimmer, das lediglich mit einer Matte und einem Stapel Kissen ausgestattet war, die als Bett und Sitzgelegenheit zugleich dienten. Das war hier wohl üblich, sagte mir aber nicht zu. So mußte unser Schiffskoffer einstweilen als Tisch dienen. Der französische Palast versperrte uns einen Teil der Aussicht, aber durch eine Lücke zwischen den Zypressen konnte ich das schwarze Wasser des Bosporus, die mit goldenen Bannern geschmückte Küste Asiens und ein Fleckchen Grün erblicken, von dem man mir sagte, es handele sich um die Gärten des Sultans. Am Tag nach unserer Ankunft erwies mir Stratford Canning als Vertreter unserer Staatskanzlei die Ehre. Er war damals ein junger Mann von vierundzwanzig Jahren, der mit der schweren Aufgabe betraut war, die Interessen unseres Handels zu wahren und insbesondere dem Einfluß der Franzosen entgegenzuwirken. Der junge Diplomat erzählte uns von seinen Verhandlungen mit den Türken, die ihm den Eindruck vermittelten, als würde er tief in totes Gewebe
schneiden. Aber wußte er, wie er das Messer zu halten hatte? Ich merkte schnell, daß die Mittel seiner guten Erziehung nicht ausreichten, so zu tun, als erkenne er die wahre Natur meiner Beziehung zu Michael nicht. Da ich ihm gegenüber nicht die Bedenken hatte, die unsere Matrosen in mir wachriefen, trug ich meine Liebe seelenruhig zur Schau, und trotz der Wunden, die ich seinem Sinn für Anstand zufügte, war Canning glücklich, uns zu beherbergen. Vielleicht überschätzte er meinen Einfluß in London und meine gesellschaftliche Stellung ein wenig. Ich meinerseits mochte seine Gesellschaft, wenn ich mich auch über seine förmliche Art lustig machte. Manchmal fand ich ihn für einen Anfänger sogar sehr begabt. »Ohne Ihnen schmeicheln zu wollen«, sagte ich ihm eines Abends, »aber einige Ihrer Ansichten entsprechen denen meines Vaters Lord Chatham. Ich werde Ihnen eine Abschrift seiner Briefe zukommen lassen, damit Sie sich davon überzeugen können.« Wie viele seinesgleichen hatte er kein Interesse am Völkchen der Ausgewanderten, das die Wechselfälle des Krieges oder des Handels an die Ufer des Bosporus gespült hatte. Michael, dem daran gelegen war, das Land zu erkunden, reiste in Gesellschaft Lord Sligos nach Smyrna. Während seiner Abwesenheit entdeckte ich die Freuden des Alleinseins wieder. Spät am Abend ging ich durch das Tor hinaus, um in die Menge einzutauchen, mich im Basartrubel zu verlieren. Süßwarenhändler, Marionetten- und Schattenspieler vermischten sich mit den Ulemas, den Nachfahren des Propheten, die dicke, grüne Turbane trugen. Die Stadt war ungestüm, wild und offenherzig; sie roch nach Safran, verbranntem Fett und Bittermandeln. Ich hoffte sehr, daß mein Liebhaber unsere Trennung nutzen würde, um wieder Vernunft anzunehmen. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, mich zu heiraten. Glaubte er wirklich, ich könnte mein Schicksal an seines knüpfen? Zu vielschichtig waren die
Gefühle, die ich für ihn empfand, um sie auf das banale Wort zu beschränken, dessen man sich so häufig bedient; eine seltsame Mischung aus Anziehung, Verärgerung, Bewunderung und Mitleid. Ihm fehlte es keineswegs an Persönlichkeit, denn er war einer der wenigen Männer, die gewagt hatten, mich zurechtzuweisen oder mir zu widersprechen. Als ich mich Sligo und ihm gegenüber eines Tages lange über das Werk meines Großvaters ausließ, unterbrach er mich, um sich auf einen Vergleich der Verdienste verschiedener Übersetzer Theokrits zu stürzen. »Wer zum Teufel ist dieser Theokrit?« fragte ich gereizt. Und er gab zur Antwort: »Gnädige Frau, ich erlaube mir die Freiheit, Ihnen mitzuteilen, was man ehemals von jenem großen Mann hielt, über den Sie seit einer Stunde sprechen. Ich weiß nicht, was mich mehr erstaunt, Ihr außergewöhnliches Wesen oder Ihre nicht weniger außergewöhnliche Unkenntnis!« Er hatte nicht unrecht, aber statt von Unkenntnis hätte er lieber von meiner Verachtung für Phrasendrescher, Poeten und Philosophen sprechen sollen, die Reime und Theorien wieder aufbügeln wie Trödler alte Kleider.
Durch Meryon, in den einige Paschas, die europäischer Ärzte entbehrten, ganz vernarrt waren, hatte ich Zugang zu den osmanischen Wohnstätten. Der Doktor kümmerte sich auch um die Haremsdamen, die über unser Kommen hocherfreut waren. Es fiel mir schwer, diese ihrem Nichtstun verhafteten Gefangenen zu beneiden, doch ich bewunderte ihre heitere Ergebenheit in ihr Schicksal. Als mich eine von ihnen wissen ließ, daß sie mich besuchen wollte, mußte ich alle Männer fortschicken. Kaum waren die Dame und ihre Begleiterinnen eingetroffen, nahmen sie Schleier um Schleier ab und enthüllten, außer ihren wohlgeformten Reizen, prächtige
Armreifen und mit Edelsteinen besetzte Gürtel. Alle forderten mich auf, ihnen meine europäische Unterbekleidung zu zeigen, und eine von ihnen, erstaunt, daß ich nicht ihre schwarzumrandeten Augen hatte, setzte sich in den Kopf, mich mit einem Khôl* zu schminken. Ich ließ sie gewähren, nicht wissend, daß sich Lord Sligo, der seine Neugier stillen wollte, im Nebenzimmer aufhielt und durch eine Lücke in der Wand die schönen Besucherinnen heimlich beobachtete. Der Unverfrorene konnte nicht umhin zu lachen. Dieser Laut eines Mannes löste zwar entsetzte Schreie unter den Begleiterinnen aus, doch die Dame schien deswegen nicht gekränkt. Sie zuckte lächelnd die Achseln, und wir gingen als gute Freundinnen auseinander. Der Vorfall zog keine Konsequenzen nach sich, doch er erinnerte mich daran, daß wir dadurch in diesem Land, in dem mit dem weiblichen Schamgefühl nicht zu scherzen ist, sehr große Unannehmlichkeiten hätten bekommen können. Mitunter empfing mich ein türkischer Herr bereitwillig in seinem Haus; doch eine Europäerin, die auf der Straße unaufhörlich angestarrt, von der Sonne verbrannt und durch ihren lästigen Staat behindert wurde, konnte sich in diesem Klima nur schwerlich wohlfühlen. Ich kam zu dem Schluß, daß es höchste Zeit war, den Orient nicht länger als ein großes Gartenfest zu betrachten, und daß ich mir neue Kleidung zulegen mußte, die sowohl bequem als auch kleidsam war und vor allem so beschaffen sein sollte, daß ich mit niemandem verwechselt werden konnte. Ich wählte sie sorgfältig: nichts völlig Orientalisches, aber doch sehr wenig Abendländisches, nichts wirklich Männliches und noch weniger Weibliches, denn ich habe stets gern Grenzen verwischt.
Ich zog also zum ersten Mal die Pluderhose, das Baumwollhemd, die bestickte Weste und die roten Stiefel aus weichem Leder an, die ich seither meistens trage, und setzte einen Turban auf, in den ich mir allerdings oberhalb des Ohres eine Blume steckte. Ich fühlte mich auf seltsame Weise verwandelt, da nun Spitzen, Knöpfe und Schnallen fehlten, all das, was sich die Engländerin so lange hatte auferlegen lassen. Wer hätte mich so verändert in London wiedererkannt? Einige Jahre später sollte ich noch weitergehen und mir den Kopf rasieren, weil ich es unbequem fand, meine langen Haare unter einen Fes oder Turban zu zwängen. Als ich mich in einem großen Spiegel betrachtete, überkam mich Angst. Wer war ich jenseits meiner äußeren Erscheinung? Die Regentin von Walmer und der Downing Street, die sich auf Gärten und Strategie verstand, oder der bartlose, zwielichtige Bey, den ich im Spiegel sah? Der Zufall offenbart uns, wer wir sind, und er bringt die in uns wohnenden, uns unbekannten Kräfte zum Ausdruck. Der Bey im Spiegel trug das von mir herbeigerufene Gesicht eines jener Leben, die mir möglich waren, die ich aber noch nicht gelebt hatte; fortan war ich eine andere und blieb doch ganz ich selbst, mit einer Blume am Turban und der rechten Hand auf dem Knauf eines Säbels. Ich habe dieses Aussehen nie mehr verändert. Es war keine Verkleidung, sondern die Wahrheit, die mich seit jeher erwartet hatte.
Die Türkei war zwar ein angenehmer, aber außerordentlich teurer Aufenthaltsort. Es traf sich gut, daß Michaels Vater, der meinen ungewöhnlichen Brief nicht mißbilligt hatte, über die Mittel verfügte, um die unzähligen Geschenke, Dragomane und all die anderen unentbehrlichen Vermittler zu bezahlen, die sich in jedem Staat eifrig bemühten, die Reisenden auszunehmen. Die Janitscharen*, deren wenig wirksamer
Schutz verbindlich war, verlangten zehn Piaster pro Tag, um uns das Vergnügen zu bereiten, ihnen beim Pfeiferauchen zusehen zu können. Es gelang mir, die Bekanntschaft des liebenswürdigsten Türken von Konstantinopel zu machen, des Kapudan-Paschas, einer Art Marineminister. Er war ein großer, gutgebauter Mann, der eine königliche Eleganz besaß und in den Augen dieses interessante gewisse Etwas hatte, das die Frauen glauben macht, man würde eine innere Kränkung verbergen. Alle waren vernarrt in ihn. Durch seine Vermittlung erhielt ich eine Einladung von der Mutter des Sultans. Ich machte mich auf eine Matrone aus Kleinasien gefaßt, bestenfalls auf eine tscherkessische Schönheit mit grünen Augen. Es war mir unvorstellbar, daß die Sultanmutter eine Kreolin aus Martinique war, die ehemalige Aimee de La Rivery und Cousine von Josephine de La Pagerie, die von einem algerischen Korsaren gefangengenommen und verkauft worden war. Der Schatten des Korsen verfolgte mich bis hierher! Sie bereitete mir einen freundlichen Empfang in ihren Gemächern, auf deren Eichenparkett hier und dort ein Leinentuch lag. Mit gelbrotem Atlas bezogene und mit Goldfransen verzierte Sofas standen um Lackbaumund Elfenbeintische herum. Ein perlmuttfarbenes Möbel stand neben einer Louis XV.-Konsole und Wiener Samtsesseln von entsetzlich schlechtem Geschmack. Auf einem runden Tisch entdeckte ich eine in Manchester angefertigte Rattenfalle, die wie eine Goldschmiedearbeit ausgestellt war. Meine Besuche bei den Einheimischen schienen unserem Repräsentanten unangebracht. Er konnte seinen Unmut immer weniger verbergen, aber mich kümmerte das wenig. Ich hinterfragte meinerseits den Nutzen seines Auftrags gegenüber der Hohen Pforte. Es mangelte ihm gewiß nicht an Verstand, aber eignete sich ein so junger Mann tatsächlich für diese delikate Position? Mr. Pitt hätte sie ihm wohl keineswegs zu einem solch
schwierigen Zeitpunkt anvertraut. Um das große Reich stand es sehr schlecht, es drohte der Zusammenbruch, und früher oder später würden die Fremden für diese Situation zahlen müssen; man würde die Engländer oder Franzosen auffordern, das Land zu verlassen. Für uns war die Gefahr größer, denn Napoleon hatte bereits allzu viele Häfen für den englischen Handel geschlossen. Wir hatten also einen schweren Stand; wohingegen der französische Minister, Graf von La Tour Maubourg, gewandt und besonnen war, so daß ihm nicht beizukommen war. Sah an einem Tag alles nach Frieden und Einklang aus, kam es am folgenden Tag auf den Straßen zu Tumulten. Dann kehrte wieder Ruhe ein. Beim letzten Aufstand waren tausendzweihundert Mann gefallen. Diese Atmosphäre der Ungewißheit und der Intrigen konnte mich nicht ängstigen, und andererseits gefiel mir vieles hier, so etwa die außergewöhnlichen Titel, die der Sultan seinen Höflingen verlieh: »Hüter der hoheitlichen Nachtigallen und Papageien«, »Meister der Kaffeeherstellung«, »Pfeifenreiniger«, »Steigbügelhalter«. Seine Hoheit war jedoch nicht immer so liebenswert: Er vergaß die Ehrungen, die er der Vielfalt und dem guten Einvernehmen wegen seinen Völkern regelmäßig zuteil werden ließ, und überhäufte die Beduinen der Wüste, maronitischen Patriarchen, jüdischen Finanziers oder armenischen Händler mit Versprechungen unter der stillschweigenden Bedingung, daß er keines davon hielt. Der Großherr entsann sich stets nur des Verrats. Während meines Aufenthalts wurde der Kopf des Paschas von Bagdad, den man in Salzlake aufbewahrte, drei Tage lang auf einem Silbertablett ausgestellt. An diesem den Europäern widerwärtigen Anblick nahm ich keinen Anstoß. Die Verachtung, die die Türken dem Tod entgegenbringen, macht diese Art von Zurschaustellung für sie weit weniger grauenerregend als für uns. Schließlich stellte ich mich an den Weg, den der Befehlshaber der
Gläubigen auf seinem weißen Pferd, dessen Geschirr und Harnisch mit Diamanten besetzt waren, zur Andacht nahm. Mahmud schien mir nicht älter als dreißig Jahre. Blaß, mit gleichmäßigen Gesichtszügen ließ er seinen Blick aus großen dunklen Augen über sein knieendes Volk schweifen. Einen gebieterischen, gönnerhaften oder verächtlichen Blick? Ich hätte es nicht sagen können. Vor ihm ging eine Heerschar mit Stöcken gewappneter Bostandschis* und Lanzen schwingender Janitscharen*. Ein Spalier aus muskulösen schwarzen Sklaven hielt die außer sich geratene Menge zurück, die sich verneigte und verbeugte, wie Heidegras unter dem Wind flach auf den Boden gedrückt wird. Dieses Schauspiel ist viele Male beschrieben worden: der dumpfe Klang der Hufe, das Rascheln der Seidenstoffe, die heiseren Schreie der Ausrufer. Der Monarch wollte sich »mit dem Nimbus der Kalifen« aus dem alten Serail umgeben. Die Mischung aus Verfeinerung und Ungezügeltheit dieses Aufmarsches rief in mir eine Art heimliches Einverständnis wach, hatte ich doch immer schon gespürt, daß wahre Macht aus einer derartigen Verbindung besteht. Unverschleiert, aus der Menge herausragend, richtete ich mich auf meinem Pferd auf in der Gewißheit, daß der Sultan die englische Amazone erblicken und sich vielleicht sogar eines Tages ihrer entsinnen würde. Was auch der Fall war, als ich ihm in seiner syrischen Provinz bedeutende Dienste erweisen mußte, auf die ich noch zu sprechen kommen werde. Michael und Sligo kehrten mit großem Staat aus Smyrna zurück, mit vierzehn Pferden und einem gewissen Henry Pearce im Gefolge, einem jener unzähligen Reisenden des Morgenlandes, die ich eines Tages wie die Pest meiden sollte. Sich aufplusternd wie ein Pfau, verkündete er lautstark zahlreiche Gemeinplätze in einem gekünstelten Tonfall, den außer ihm wohl nur seine alten Kameraden in Cambridge anschlugen. Michael hatte sich nicht verändert; er gab nicht
nach und trug mir erneut seine Heiratsabsichten vor, die sich mir im Verlauf jener langen, einsamen Wochen als genau das enthüllt hatten, was sie waren: als pure Kindereien. Was sollte er mit einer vierzehn Jahre älteren Frau anfangen? Und vor allem, was sollte ich schon frühmorgens mit einem solch schönen Jüngling anfangen, dessen Fehler und Schwächen ich nur zu genau kannte. Eines Tages würde er sich, wie ich es seinem Vater vorhergesagt hatte, mit einer jüngeren, seiner würdigen Frau verloben und sie in der Kapelle seines Schlosses heiraten. Sie würde ihm einen Erben schenken, und er würde sie, zwischen zwei Reden im Oberhaus, mit einer Herzogin betrügen. Am 12. August würde er im Norden auf Auerhahnjagd gehen und sich am 1. September Richtung Süden begeben, um den Rebhuhnbestand zu verringern. Gerade diesem Leben hatte ich aber entgehen wollen und mich, als ich zwischen dem Wolf und dem Hund der Fabel wählen mußte, für ein weniger vorhersehbares Schicksal entschieden. Ich ertrug das Joch der Zwänge und Konventionen nicht, und hatte ich mit Michael auch Zugeständnisse an die weibliche Schwäche gemacht, so fühlte ich in mir noch ganz andere Sehnsüchte als die des Körpers.
Im Februar schlug das Wetter plötzlich um. Konstantinopel war mehrere Zoll hoch mit Schnee bedeckt, und ich litt fürchterlich unter der Kälte. Die Kohlenbecken, die von einem Zimmer zum anderen getragen wurden, verbreiteten nicht einmal die Illusion von lauer Wärme; aus meinem Haus war eine zugige Falle geworden, und die hohen, gewölbten Räume, die Steinfußböden, die nach allen Seiten dem Wind ausgesetzten Gärten, die zugefrorenen Brunnen und Wasserbecken ließen es nicht länger wie ein Paradies wirken. Ich erwog, für einige Monate nach Frankreich zu gehen, wo James mich hätte treffen können. Meine Überlegungen kamen La Tour Maubourg zu Ohren, der so freundlich war, mich über den Umweg eines Dritten wissen zu lassen, daß er mir helfen wollte. Ein schwieriges und verdienstvolles Unterfangen zugleich, da sich Franzosen wie Engländer den gegenseitigen Haß auf das andere Volk zu eigen hatten machen müssen und nicht einmal auf privater Ebene höfliche Beziehungen zueinander unterhalten durften. Stratford Canning ging unserer Kolonie mit dem guten Beispiel eines ehernen Patriotismus voran, das seinen Ausdruck darin fand, schon bei der bloßen Erwähnung des Namens jenes verhaßten Korsen außer sich zu geraten. Er ließ mich daher verfolgen, und ich mußte mich in den Straßen Peras der Überwachung seiner Beamten entziehen. Nach einem Treffen mit dem französischen Gesandten fragte er mich am nächsten Tag: »Lady Hester, wo haben Sie den gestrigen Tag verbracht?« Ich ereiferte mich sogleich: »Hat es Ihnen Ihr Spion denn nicht gesagt?« Und ich teilte ihm mit, daß ich bewußt ohne sein Wissen gehandelt hatte, um ihm Schwierigkeiten zu ersparen, daß ich aber zukünftig nicht mehr soviel Rücksicht nehmen würde, sollte er sich allzu sehr in meine Angelegenheiten einmischen. Wütend wandte er sich von mir ab. Eine Antwort auf die Depeschen, die La Tour
Maubourg nach Paris gesandt hatte, war jedoch noch immer nicht eingetroffen. Wenn ich heute an den armen Stratford Canning denke, dem ich soviel Kummer bereitet habe, muß ich gestehen, daß seine Lage nicht gerade angenehm war, denn er mußte befürchten, daß ich in London wenig Schmeichelhaftes über ihn berichten würde. Ich habe gelernt, Diplomaten zu verabscheuen, er aber war bei weitem nicht der Schlimmste.
Da ich nicht nach Frankreich reisen konnte, begnügte ich mich mit Brussa, einer alten Stadt, von der Sligo, ein Kenner auf diesem Gebiet, sagte, sie sei das Kennenlernen wert. Von meinem Balkon in Therapia aus hatte ich lange Zeit das ferne Gebirge betrachtet. Unser Ritt dorthin dauerte sechs Tage und brachte mich zum ersten Mal mit den Menschen der Wüste in Kontakt, denn in der Nähe der Stadt befand sich ein Nomadenlager. Diese in graues Leinen gehüllten Vagabunden offenbarten mir die Gastfreundschaft der vornehmen Herren, die ihr Vermögen verloren haben; und daher begann ich langsam das Leben zu genießen, für das ich die Reichtümer Englands verlassen hatte. Keine Schriftstücke mehr studieren, Briefe versiegeln, Besuche machen und Dienstboten maßregeln – ich lebte jetzt ein Nomadenleben, das aus langen Wegstrecken und Rasten bestand, bei denen man salziges Wasser aus einem Lederschlauch trank, ohne ihn an den Mund zu führen. Ich ging sogar so weit, einen alten Mustafa zu bitten, mich an seiner Pfeife ziehen zu lassen! Während meine Begleiter in Brussa mit einem Notizbuch in der Hand eine Aufstellung der alten Steine machten, begleitete ich die Frauen unseres Gastgebers zum Bad, wohin sie jeden Tag gleich einer rauschenden Flotte aufbrachen, wie Segelschiffe aufgetakelt mit Juwelen, die im Rhythmus ihrer Schritte klimperten. In meinen Augen zeigt sich in der Vollkommenheit des
weiblichen Körpers die ganze Herrlichkeit der Welt. Die Frauen plauderten stundenlang, brachen in Lachen aus, schminkten sich gegenseitig mit kreidehaltigen Farben und verrieten mir all ihre kleinen Geheimnisse und ihre Kochrezepte sowie die Namen der Kleider, Blumen und Vögel. Ich ritt jeden Tag in die Ebene, wo ich die Hengste bewunderte und einen Araber für meinen Bruder auswählte. Ich ritt ihn ohne Sattel mit mamelukischem Zaumzeug, und binnen weniger Minuten wurde das wilde Tier lammfromm. Auf unseren Spaziergängen um die Stadt trafen wir manchmal auf Delibaschi, die den Stadtbewohnern so große Angst machten, daß sich ein jeder bei ihrem Anblick in seinem Haus verbarg. Sie sahen zwar wie Räuber aus, waren aber nicht auf eine Auseinandersetzung mit uns aus. Nichts bereitete ihnen ein größeres Vergnügen, als im gestreckten Galopp auf unsere kleine Gruppe zuzureiten und dann ihre Lanzen vor uns in den Boden zu stechen, um uns einen Beweis ihrer Geschicklichkeit zu liefern, und dabei einen furchterregenden Schrei auszustoßen, ehe sie mit einem klangvollen »Reist in Frieden!« wieder verschwanden. Als wir nach Konstantinopel zurückkehrten, bezog ich wieder das große Haus in Therapia. Der Wind wehte in Böen, und es schien mir, als hörte ich Tag und Nacht ein Regiment Dragoner trommeln. Meryon versuchte, mich dort zu halten; unter dem Vorwand sie zu pflegen, hatte er an den fülligen Orientalinnen Geschmack gefunden. Ganz offensichtlich zog er sie den mageren Engländerinnen vor, die sein Studentenleben versüßt hatten. Gegenüber seinen Patientinnen-Geliebten sprach er sich leidenschaftlich gegen die Übernahme abendländischer Moden aus, vor allem gegen die des grauenhaften Korsetts. Aber ich glaube, er konnte sie nicht überzeugen.
»Eine Krone und sieben Jahre Wüste«, hatte mir Brothers, der Magier aus London, vorhergesagt. In der Menge verloren, die begierig auf die Bühnen der Gaukler und Wahrsager schaute, von Lehrlingen und Hauben tragenden Mägden zur Seite gestoßen, stattete ich an jenem Tag dem ehemaligen Marineoffizier einen Besuch ab, der, wie man mir mitgeteilt hatte, mit mir über Dinge von größter Wichtigkeit zu sprechen wünschte. Er genoß großes Ansehen in der guten Gesellschaft und zwar solange, wie er sich darauf beschränkte, die Wechselfälle des Lebens und der Liebe oder die Wiederherstellung des Königtums von Juda vorherzusagen. Als er sich jedoch anmaßte, dem König Vorhaltungen zu machen, wurde er wie ein zweiter Johannes der Täufer auf das Strohlager Bedhams geworfen. Die Zeiten, in denen man Hexen verbrannt hatte, lagen noch nicht sehr weit zurück; und auch in Frankreich befand sich eine berühmte Hellseherin im Gefängnis, weil sie dem Korsen keine Siege vorhergesagt hatte. Brothers hatte ein sonnengebräuntes Gesicht, zwei schwarze Haarbüschel an den Schläfen, leuchtende Augen und eine Narbe, die sich vom Kinn bis zum Ohr zog. Sein pockennarbiges Gesicht sah aus, als ob ein ungeschickter Tätowierer es unfertig zurückgelassen hätte. Sobald mich dieser hellseherische Seeräuber erblickte, ergriff er meine Hände und prophezeite mir im Brustton der Überzeugung, ich würde das auserwählte Volk anführen, zur Königin von Palmyra gekrönt werden und ganze sieben Jahre in der Wüste verbringen. An dieser grandiosen Zukunft zweifelte ich zwar, doch der Mann, sei er nun Prophet oder Narr, hatte mir aufgrund seiner Extravaganz gefallen.
Ich beschloß, daß unser nächstes Ziel Ägypten sein würde, das auch im Programm von Michaels großer Bildungsreise vorgesehen war. Da zu diesem Zeitpunkt kein Schiff Seiner Majestät verfügbar war, ging ich, mit sieben Dienstboten im Gefolge, an Bord eines armselig wirkenden griechischen Schiffes, dessen Staatszugehörigkeit leider für uns von Bedeutung sein sollte. Wir hatten den Anker nachts gelichtet, um nach Rhodos zu fahren. Diese kurze Überfahrt, die letzte vor Alexandria, schien keine besonderen Gefahren mit sich zu bringen. Wir ahnten nicht, was uns erwartete. Der scharfe Wind, der uns seit zwei Tagen begleitete, verwandelte sich nach und nach in einen Sturm. Kein einziges Stück Land war in Sicht. Nähere Angaben kann ich dazu nicht machen, da sich der Kapitän nie die Mühe gemacht hatte, uns unsere Position anzugeben. Auf unsere Fragen hatte er stets in einem Kauderwelsch geantwortet, das, im Vergleich zu den Mundarten seiner Vorfahren, von der Degeneration der Völker zeugte. Plötzlich bekam das Schiff ein Leck. War es überladen oder waren die Lasten schlecht verteilt? Mir erschienen beide Ursachen naheliegend – aus Habgier und aus Nachlässigkeit. Die Pumpen funktionierten nicht, und die Matrosen schlugen entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen. Ich kleidete mich äußerst gelassen an, legte meine wertvollsten Besitztümer in eine Schatulle und ließ eine Korbflasche alten Weines und Becher auf die Brücke bringen. Ich füllte die Becher eigenhändig und verteilte sie an die Matrosen, um ihnen Mut zu machen. Dann stimmte ich den Refrain eines alten Trinkliedes an, das mich die Kameraden von James und Charles gelehrt hatten: Wein, ihr Kameraden! Stoßt an mit den Flaschen! Der Soldat ist ein Mann
Und kurz währt das Leben! Gebt Wein dem Soldaten! Doch die Mannschaft vermochte nicht, die Fassung wieder zu gewinnen, und der Kaik neigte sich immer besorgniserregender zur Seite. Ich wunderte mich, daß ich in dieser lebensbedrohenden Gefahr nichts, weder Angst noch Hoffnung, empfand und die Szene wie eine bloße Zuschauerin betrachtete. Der Gedanke an meinen Tod hat mich, soweit ich zurückdenken kann, nie beunruhigt. Stattdessen quälte mich oft die Angst, daß die Menschen, für die ich die Verantwortung trug, vor mir aus der Welt scheiden könnten. Sollten Brothers’ Voraussagen widerlegt werden? Der Schiffbruch war auf jeden Fall unvermeidbar, und wir mußten von Bord gehen. Wie durch ein Wunder war das Beiboot noch an seinem Platz; keiner der griechischen Gauner hatte es bisher verkauft. Der Kapitän bestieg es als erster und nicht als letzter, wie es den Gepflogenheiten zivilisierter Völker entspricht. Ich weiß, daß vieles an meinem Bericht konventionell und romanhaft klingt, und doch nach einer zweitägigen Irrfahrt erreichten wir, erschöpft, zerzaust und zerlumpt wie Schiffbrüchige in einem billigen Roman, gesund und munter nahe eines kleinen Marktfleckens namens Lindos die Küste Rhodos’. Meryon verhielt sich vorbildlich: Während die Mannschaft, der wenig daran gelegen war, ihren Heldenmut unter Beweis zu stellen, Reißaus nahm, pflegte uns Meryon in einem baufälligen Haus, in das uns einfache und freundliche Menschen aufgenommen hatten, so gut er konnte, während er auf den Besuch des englischen Konsuls wartete, den er hatte benachrichtigen lassen. Jener kam schnell, da der magische Name Pitt seine übliche Wirkung nicht verfehlte. Er war zwar ein munterer alter Mann, der sich vor Höflichkeit und mit Äußerungen des Bedauerns überschlug, der uns aber von keinerlei Nutzen war.
Die Türken auf Rhodos waren vermeintlich noch mitleidloser und unerbittlicher als die in Konstantinopel. Und doch war es ein Türke, der uns, gerührt durch unsere Not, ein Haus inmitten von Orangenbäumen überlassen hatte. Bei dem Unglück hatte ich nur meine Schatulle retten können, die meine ganze Habe enthielt: Gold und vor allem das Intaglio und den Handschuh John Moores.
Die englische Marine ist eines der wenigen Wunder auf dieser Erde – und wird es auch immer bleiben. An Bord der Salsette, eines kleinen Schiffes mit neunhundert Registertonnen, das mit zwölf Kanonen ausgerüstet war, verlief die Überfahrt nach Alexandria ohne Probleme. Doch die Stadt auf Pharus• war genauso schmutzig wie die Blackfriars Bridge an einem stürmischen Tag, und die berühmte Rosette bestand aus nichts weiter als aus Jasmin, der aus Pferdeäpfeln sproß. Mitte Januar 1812 bezog ich in Kairo am Nilufer Quartier, wo wir in eine Trägheit verfielen, die sich rasch in Langeweile zu verwandeln drohte. Wir tranken das Flußwasser; die Araber rühmten seine wohltuende Wirkung und beteuerten, daß der Prophet, hätte er es gekostet, auf dieser Welt hätte bleiben wollen. Mir schien es allerdings nur schmutzig. Die Stadt war staubbedeckt und stank wie ein Schlachthaus. Es stimmt, daß auf den öffentlichen Plätzen Schafe geschlachtet wurden. Meryon, stets um die allgemeine Gesundheit besorgt, wunderte sich über die vielen hinkenden, blinden oder triefäugigen Bettler. Er war sich sicher, daß von hundert Einwohnern Kairos mindestens zehn ihr Augenlicht verloren hatten und dreißig nur unwesentlich besser sehen konnten. Ich hingegen verließ den Palast des Großtürken und erkundete seinen Hinterhof. In der Provinz Ägypten trug das Kaiserreich keine Abendgarderobe mehr, sondern zeigte sich in Lumpen. Ich verabscheute diese Nachlässigkeit, diese Schlampigkeit nicht, die meine Landsleute so aufbrachte. Denn Moschus dient nur dazu, noch stärkere Gerüche zu überdecken. Meine Reisebegleiter hatten sich auf mehrere kleine Wohnungen verteilt, so daß ich ein Haus ganz für mich allein hatte. Als erstes kümmerte ich mich um die Vervollständigung meiner neuen Garderobe; ich kaufte •
Ehemalige Insel vor Alexandria mit berühmtem Leuchtturm, eines der sieben Weltwunder.
eine mameluckische, goldbesetzte Tracht, denn ich wollte in keinem bescheideneren Aufzug vor den Herrscher von Kairo treten.
Muhammad Ali, der über meine jüngsten Mißgeschicke unterrichtet war und über meine vergangenen Großtaten noch besser Bescheid wußte, empfing uns kurz nach unserer Ankunft. Er war ein beleibter, mittelgroßer Mann mit fröhlicher Miene, die bei einem Menschen, auf dem soviel Verantwortung lastete, erstaunlich war. Er hieß uns in seinem Land willkommen und erkundigte sich nach meinen Reiseplänen. Ein äußerst wacher Blick widerlegte die Gewöhnlichkeit seiner Gesichtszüge; ein gewaltiger Bart reichte ihm bis auf die Brust. Seine Kleidung war einfach, und er wirkte ruhig und selbstsicher. Er war ein einfacher albanischer, vom Glück begünstigter Soldat und der wahre König des Landes, und niemand, nicht einmal der Großherr, schien in der Lage, seinen Ehrgeiz zu zügeln. Nachdem er die Mamelucken vernichtet hatte, die jedes Jahr zu Ramadan unter dem Vorwand, ihre Pferde zu wechseln und sich mit Pistolen und Steigbügeln auszustatten, seiner Geldschatulle übel zugesetzt hatten, regierte er Ägypten mit eiserner Hand. Unter der scheinbar gutmütigen Schale konnte ich die Hartherzigkeit eines intelligenten und ehrgeizigen Tyrannen spüren, eines Napoleons an den Ufern des Nils. Mich überraschte der Gegensatz zwischen dem Haudegen und dem ihn umgebenden Luxus. Denn mir war seine Geschichte erzählt worden: Bis zum Alter von dreißig Jahren war er ein unbedeutender Krämer gewesen, erst danach kam er zum osmanischen Heer. Er wurde nach Ägypten gesandt, wo er die letzten Truppen Bonapartes vertreiben sollte, und er ist dort geblieben. Seine lässigen Umgangsformen und sein lockerer Gesprächston waren nur
vorgetäuscht; beim Anblick einer Beute würde diese Wildkatze sofort ihre Krallen ausfahren. Ich stellte in seinen Augen jedoch keine lohnende Beute dar, und auf der Suche nach ausländischen Verbündeten hielt er es für angebrachter, mir mit Rücksicht zu begegnen. Einen Tag nach unserer Unterredung überbrachte mir ein Eunuch sein Begrüßungsgeschenk: ein Pferd mit drei weißen Blessen, das für alle mameluckischen Reitübungen ausgebildet war. Die Art, wie ich die Stute ritt, vergrößerte mein Ansehen beträchtlich. Noch viele fürstliche Geschenke sollten meinen Stall bevölkern, denn extreme Großzügigkeit und Höflichkeit sind charakteristisch für den Orient. Sie helfen, die unbändige Gewalt im Zaum zu halten, die stets loszubrechen und alles niederzureißen droht. Sobald man hierzulande aufhört, sich gegenseitig überschwengliche Komplimente zu machen, bringt man einander um. Ich sollte diese prächtige Stute jedoch nicht behalten. Einige Monate später schickte ich sie dem guten York und behielt nur den für London zu auffälligen Sattel. Muhammad Ali ließ es nicht bei seinem guten Betragen bewenden. Er lud mich mehrmals ein, und ich gelangte zu der Überzeugung, daß dieses wohlwollende Interesse die Absicht verbarg, mich an Plänen zu beteiligen, von denen er noch nicht sprechen wollte. Ich durfte sogar an seiner Seite reiten und genoß das begehrte Privileg, von ihm empfangen zu werden, wann immer ich den Wunsch äußerte. Ich wollte abschätzen, wie groß meine neue Macht war, und wagte einen Besuch bei den Witwen jener Mamelucken, die er hatte ermorden lassen. Ich erstattete ihm darüber Bericht; mit einem kleinen Lächeln hörte er sich meine Erzählung an und wartete darauf, daß ich Gesuche vorbrachte; ich hütete mich aber, ihm diese anzutragen. Seit meiner Kindheit habe ich die Angewohnheit, nie um etwas zu bitten, sondern mir das Gewünschte zu nehmen, ohne darum ersucht zu haben. Ich hatte schon damals keine Zweifel daran, daß der
Vizekönig, der Hohen Pforte abtrünnig, und die Engländerin, die Interessen des Sultans vertretend, einige Jahre später zu unversöhnlichen Feinden werden würden, die sich um das Leben einiger armer albanischer Abtrünniger streiten würden. Da ich das Wohlwollen des Paschas genoß, konnte ich all jene herbeiströmen sehen, die mich kennenlernen wollten: Diplomaten sowie Ägyptologen. Einer der letzteren, ein Franzose, bestürzte mich, als er mir mit einem spöttischen Lächeln mitteilte, daß meine Landsleute nach der Kapitulation Alexandrias den Stein der Rosette ihrer Beute zugeschlagen hatten. Ich wurde vom französischen Konsul Drovetti eingeladen, einem ehemaligen Soldaten und Liebhaber der Antike, zudem ein beleibter Mann mit sonorer Stimme. Er empfing mich in der großen Voliere, die einen so großen Eindruck auf Herrn von Chateaubriand gemacht hatte, und vertraute mir enttäuscht an: »Man findet rein gar nichts mehr hier. Bonaparte hat Ägypten geplündert, und mir werden Spätwerke angeboten, zerbrochene Flachreliefs und zweifelhafte Mumien. Man müßte die Gräber selbst durchsuchen, doch das Land wird von Mördern unsicher gemacht. Die Arbeiter wagen sich nicht mehr dorthin.« Drovetti machte eine kleine Anspielung auf den Autor des Genius des Christentums, den er auf seiner denkwürdigen Reise begleitet hatte und der bei jedem seiner Fundstücke »herumsprang wie ein Zicklein«. Der Konsul stellte mir eine merkwürdige Person vor, der er seine Gastfreundschaft gewährte: Ein Mann namens Boutin, der eine wichtige Rolle bei den französischen Machenschaften im Morgenland spielte. Er benahm sich wie ein hilfsbereiter Kirchendiener, doch hinter seiner Scheinheiligkeit verbarg sich ein schlauer, durchtriebener Meisterspion, der den Orient vortrefflich kannte. Diesen Mann konnte ich gebrauchen; ich lud ihn ein und stellte ihm stundenlang Fragen über seine Abenteuer und
Reisen, seine Wüstendurchquerung bis an das Rote Meer, seine Einschiffung nach Yambo in Quseir und seinen Besuch im Kloster am Berg Sinai. Der Vertreter Englands verachtete diesen überaus durchtriebenen Gegenspieler und hatte, um ihn bei Muhammed Ali in Verruf zu bringen, das Gerücht verbreitet, daß er die Überlebenden des mameluckischen Blutbades unterstützen wollte, die sich nach Oberägypten geflüchtet hatten. Von allen Menschen, an die ich die Erinnerung bewahrt habe – Krieger, Geheimagenten und Prediger des Absoluten – , war der Abenteurer Boutin einer der wenigen, der aus dem gleichen Guß war wie ich; einem Guß, der im Feuer der Schicksalsschläge gehärtet wurde und der nicht zerfällt, wenn die stählernen Finger des Schicksals ihn kneten. Ich sollte ihn einen Monat vor seinem Tod im Djebel Ansariyya wiedersehen und später seine Ermordung rächen, wovon ich noch berichten werde.
Es war vielleicht diese Begegnung, die meine Reiselust erneut entfachte, denn Ägypten war kein Land, in dem ich mich dauerhaft niederlassen wollte. Unsere kleine Gruppe ging an Bord eines arabischen Segelschiffes, und ein günstiger Wind brachte uns in drei Tagen nach Jaffa. In der Bibel heißt es, Jona sei vor dieser Küste von einem Walfisch verschlungen und drei Tage später wieder in die Welt der Lebenden entlassen worden. Die heiligen Schriften lehren auch, daß die Morgenröte Palästinas den anmutigen Gang eines jungen Mädchens auf dem Weg zum Brunnen habe. Ich sah nichts derart Bezauberndes. Nur ein paar Palmen durchbrachen die Eintönigkeit graubrauner Hügel an diesem trostlosen Küstenstrich. Im stinkenden, schmutzigen Hafen wurden wir von Händlern bestürmt, die mit schrillen Stimmen all ihre Glaubensartikel feilboten. Die Stadt war überfüllt von Pilgern,
die es eilig hatten, nach Jerusalem aufzubrechen. Ihre Zerstrittenheit war offensichtlich: Bärtige Orthodoxe, römische Soutaneträger und lutherische Reisende im Gehrock zankten sich am hellichten Tag unter den scheinbar gleichmütigen Blicken der Moslems und Juden. Wo war ich? Im Heiligen, im Gelobten Land, in Groß-Syrien? Die Hohe Pforte hatte kein seltsameres Besitztum als dieses: Moses, Jesus und Mohammed waren zuviele geistliche Führer für die wenigen Morgen ausgedörrten Bodens. Ohne mich lange aufzuhalten, formierte ich eine Karawane, deren Schutz zwei Mamelucken, acht Syrer und einige Wachen übernahmen, die uns der von unserem Kommen in Kenntnis gesetzte Gouverneur – eine Fülle an Depeschen schien mir allerorts vorauszueilen – zum Geleit gegeben hatte. Geduldig ließ ich die schwülstigen Schmeicheleien seines Gesandten über mich ergehen, ehe ich mich auf den von wilden Olivenbäumen gesäumten Weg machte, der sich von Bergkuppe zu Bergkuppe durch die eintönige ockergelbe Landschaft wand. Die erste Nacht verbrachten wir im Zelt in einem Obstgarten, der zu einem Franziskanerkloster gehörte. Ein Mönch hatte Meryon mit bekümmerter Miene mitgeteilt, daß eine Frau, so erlaucht sie auch sei, das heilige Gemäuer nicht betreten dürfte. Wenigstens ließ uns die Gemeinschaft ein Fäßchen Wein bringen, der zu gut war, um für die Meßprediger aufgespart zu werden. Ich hatte genügend Muße, um die Nacht Isaaks und Jakobs zu bewundern: Sie war prächtig, und der Himmel schwankte zwischen saphir- und tintenblau. Ich hatte den Eindruck, daß mir keiner seiner Sterne Unheil bringen würde. Vielleicht würden sie mir den Weg weisen wie den zahlreichen Propheten, die zu ihnen aufgeblickt hatten? War ich eine Auserwählte? Zu jener Zeit glaubte ich es nicht, doch die Anzeichen mehrten sich und der Weg wurde mir freigeräumt. So schien der berühmte Straßenräuber Abu Goch, an den jeder
Reisende einen Wegezoll entrichten mußte, meine Weigerung, mich an diesen Brauch zu halten, vollkommen normal zu finden. Zudem beehrte er mich mit einem Festessen, das seine vier Ehefrauen kochten. Jede hatte ihre eigene Art, das Fleisch zuzubereiten, doch das Gericht blieb stets das gleiche: klebriges Hammelfleisch mit Reis, das ich in allen vier gleich übelriechenden Geschmacksrichtungen kosten mußte. Um meinem Gastgeber zu schmeicheln, bat ich ihn um seinen Schutz, den ich eigentlich hätte kaufen müssen, und er stellte mir unentgeltlich einige aufmerksame Räuber zur Verfügung.
Es schien mir in Jerusalem – ich werde mich nicht lächerlich machen, indem ich hier zum tausendsten Mal diesen heiligen Ort beschreibe, der zu einem Gemeinplatz geworden ist –, als würde die Voraussage Brothers’ allmählich Gestalt annehmen. So kam ein Mann auf mich zu, reichte mir Salz und Brot und erteilte mir dann den Segen, der, wie ich erfuhr, den Königen vorbehalten war. Ich verspürte jedoch nicht die geringste Lust, über dieses Königreich der Hütten und Lumpen zu herrschen oder über die Menschen, die sich um unsere kleine Truppe scharten: Bettler, rotznäsige Kinder und unförmige Frauen. Die Juden warteten auf ihren Messias mit der Kraft einer nicht zu unterdrückenden Hoffnung; ein Warten, das ihren Daseinsgrund bildete und sich mit ihrer Unnachgiebigkeit begnügte. Die meteoritenhafte Durchreise des Korsen, dieses Händlers gebündelter Illusionen, hatte die Hoffnung genährt, daß sie ihre Unabhängigkeit zurückerlangen, ihr Königreich errichten und den Tempel wieder aufbauen würden. Sie zitierten ihre ehrwürdigen Schriften, in denen auf ein Unglück stets Erlösung folgt, um einander zu beweisen, daß der Franzose ein Werkzeug des Ewigen Gottes sei: »Die Zeit wird kommen, da Jerusalem wieder aufgebaut wird und der Thron
Davids von neuem steht.« Der Anlaß für diese Streitereien, diesen frommen Haß und diesen immer wieder aufgekochten Groll war das Heilige Grab. Syrer, Melchiten, Jakobiten und Nestorianer versetzten einander heftige Schläge wegen einer Ikone, eines Vorhangs, eines Weihrauchfasses und gar eines Besens. Das falsche, viele Male veränderte Grab rührte mich kaum, denn es hatte nichts mit der Vorstellung gemein, die ich mir vom Galiläer machte. Es war besser, wieder an die Küste zu reisen denn länger hier zu verweilen; die Beduinenlager mit ihren großen schwarzen Zelten zwischen zwei notleidenden Dörfern auf der Straße nach Akko waren anziehender als Kirchen und Kloster. Unverschleierte Frauen boten uns bittere Ziegenmilch und süße Datteln an. Ich würde nicht Königin von Jerusalem sein. Ein anderer Ort zog mich an.
Eine Zwangsvorstellung ähnelt einem Krampf, der unseren Fuß lähmt. Man muß sich zwingen zu gehen, damit der Schmerz aufhört. Ich träumte nur noch von Palmyra. Meine Anwesenheit in Palästina hatte in den Staatskanzleien zu heller Aufregung geführt. Sie hatten schnell erfahren, daß ich nach der Besichtigung der Küstenstädte meine Schritte nach Syrien lenken wollte. Doch in welcher Absicht? Einige glaubten, England hätte mich mit einer hohen politischen Mission betraut, was mit all dem, was sie über die bisherige Rolle von Pitts Nichte wußten, durchaus vereinbar schien. Andere wiederum dachten, ich suchte nach Ablenkung oder nach Abenteuern; und die Boshaften unterstellten mir, ich sei einzig auf der Suche nach einer Gelegenheit, von mir reden zu machen. Der Troß, den uns die vom Parlament Seiner Majestät gezahlte Pension und die finanzielle Unterstützung von Michaels Vater gestatteten, erregte überall Aufsehen: Mein Gefolge und vor allem meine großzügigen Geschenke an Offiziere, Pferdeknechte und religiöse Stätten führten bald zu dem Eindruck, ich hätte ein großes Vermögen. Die zweifellos von ihrer Regierung bedrängten französischen Konsuln wetteiferten miteinander, um das Geheimnis der extravaganten Engländerin zu durchdringen. Jeder von ihnen gab mir zu Ehren ein Essen. Doch die Franzosen sind – wer weiß das nicht? – von geschwätziger Natur und konnten daher dem Vergnügen nicht widerstehen, Tratsch und Anekdoten herunterzubeten, ehe sie mir mit Kennermiene vermeintliche Geheimnisse anvertrauten, die sie aufgrund der ewigen Angst, getäuscht zu werden, verbreiteten. Dank meines gesunden Mißtrauens merkte ich rasch, daß sie tatsächlich nichts wußten. Ein Boutin oder ein Lascaris, die beide den Vorteil besaßen, keine zum gesellschaftlichen Leben verdammten Vertreter des Staates zu sein, waren in ihren Augen nichts als Witzfiguren.
Ich lernte die mit weißlicher Tonerde verschönerten Küstenstädte Akko, Tyrus und Saïda kennen, deren kleine hufeisenförmigen Häfen, Zitadellen aus öligem Stein und baufälligen Moscheen aus den Ruinen der Geschichte erbaut schienen. Franzosen waren die einzigen Europäer, die man dort antraf; sie waren Eigentümer von Handelshäusern und vertrieben Seide und Baumwolle. Ich machte die Bekanntschaft Maalem* Haïms, eines einflußreichen jüdischen Bankiers aus Akko, der keine Nase mehr hatte – ein Andenken an eine von Djazzar, dem Bosnier, verhängte Strafe –, doch darunter kaum zu leiden schien. Stutzerhaft gepudert gab er mir zu Ehren ein Fest. Böhmisches Glas und Figuren aus Biskuitporzellan überfüllten die Tische in seinem mit gelbem Atlas bespannten Salon, und die venezianischen Spiegel waren zu zahlreich, um nicht aus der Konkursmasse eines genuesischen Händlers zu stammen. Saïda fehlte es nicht an malerischen Ecken. Ich erinnere mich noch an eine viereckige Moschee, deren wuchtiges Minarett sich seinen Weg durch das Geflecht gelb und rosa getünchter türkischer Häuser nach oben bahnte. Der französische Vizekonsul Taitbout wollte mir mit aller Gewalt die Gastfreundschaft in seinen Räumen gewähren. Ich erhielt die Gemächer, die zur Meeresseite gingen, fernab vom Lärm, den die Maultiertreiber beim Auf- und Abladen ihrer Waren machten. In den Räumen im Erdgeschoß wohnten mittellose Jesuiten, die dort einen kleinen Altar errichtet hatten, den man wie einen Schrank verschließen konnte, um ihn vor den Blicken der Mohammedaner zu verbergen. Ägyptische Händler belagerten meine Tür, um mir ihre Waffen, Gewürze und ihr Sandelholzöl zu verkaufen. Vielleicht sind es heute ihre Enkel, die mit derselben Vehemenz meine Festung belagern und die Köpfe meiner Albaner fordern.
An dieser Stelle folgt in meinem Bericht die Beschreibung des Tages, an dem ich zum ersten Mal die Landschaft sah, die mich fortan umgeben und auf deren Boden ich schlafen sollte. Als wir die Küste verließen und in die Berge reisten, mußten wir auf der Straße nach Damaskus Halt machen. Wer hätte vorausahnen können, daß ich siebenundzwanzig Jahre später unweit jenes großen Marktfleckens, Deir el-Kamar genannt, diese Zeilen diktieren würde? Heute läßt mein verfallenes Dach mehr Wind herein als das große Zelt damals, von dem ich nicht wußte, wo es die Dienstboten aufbauen sollten. In diesem gesegneten Ort war noch das kleinste Stückchen Land bebaut oder mit Maulbeer- oder Obstbäumen bepflanzt, und die Weinberge breiteten ihre grünen Streifen über die Hänge wie die Rippen eines am Himmel geöffneten Fächers. Siebenundzwanzig Jahre! Und ich sollte sie im immerwährenden Kampf mit einem Menschen verbringen, dessen Bekanntschaft ich an einem strahlenden Tag im Juli 1812 machte! Emir Beschir saß im Schatten eines alten Feigenbaumes. Bewegungslos und stumm, mit einer großen, seidigen, gelb und schwarz gestreiften Abayya* bekleidet, die über dem vorstehenden Bauch von einem großen Gürtel gehalten, der kaum um ihn herum zu reichen schien und mit einem buschigen Bart, dessen Zwirbel seine Ohren streiften, durchbohrte er mich mit zwei kleinen, verschlagenen Augen. Man hatte mir erzählt, daß er raffiniert und unbarmherzig wäre, seine Gegner und auch jene, die es werden könnten, umbrächte, Bündnisse mit jedem schließe, der ihm nützlich wäre, und je nach Notwendigkeit oder Gelegenheit Freundschaftsbeteuerungen gegenüber den Engländern oder den Franzosen unzählige Male wiederholen würde. Von allen Duodezfürsten der Gegend wurde der Herrscher von Deir elKamar, der seinem müden Volk die höchsten Tribute abverlangte, am meisten gefürchtet. Während er mit mir
sprach, strich er von Zeit zu Zeit über einen ungewöhnlich großen Türkis. Fasziniert betrachtete ich diese kleine, weiße, an den Gebrauch von Schlinge und Dolch gewöhnte Hand. Im Gegensatz zu vielen meiner Landsleute wunderte ich mich nicht mehr, daß man sich im Orient weniger zierte, miteinander gewaltsam abzurechnen, als auf Hampton Court, doch ich wußte noch nichts von der Grausamkeit des Emirs. Er bedachte mich mit Aufmerksamkeiten und stellte mir sechs Wachen zur Verfügung, die mich schützen oder, was wahrscheinlicher war, meine kleine Truppe überwachen sollten. Vor meiner Abreise durfte ich mit meinen Begleitern der Versammlung der Honoratioren beiwohnen. Dies war die erste Begegnung mit jener Welt, die mich heute umgibt. Ich fühlte mich sogleich am rechten Ort. Mit gekreuzten Beinen im Kreis sitzend und einer Pfeife im Mund sahen die Herren sehr vornehm aus. Mein Dragoman übersetzte mir ihre Reden, die ich, dank seines täglichen Unterrichts, schon verstand, noch ehe er den Mund öffnete: Sie handelten hauptsächlich von den großen Ereignissen der Vergangenheit und den Belangen der Gegenwart. Ich erfuhr, warum der Bosnier Djazzar Emir Yussef den Krieg erklärt hatte und welcher meiner Gastgeber die beste Stute besaß. Man sprach über Hinterhalte in den Weinbergen und außergewöhnliche Ernten. Aufgrund meiner bäuerlichen Abstammung, die sich mit dem adligen Blut der Pitts und ihrem Hang zur Vorherrschaft vermischt hat, zog ich diese ungeschliffenen Reden dem Geschwätz der Salons vor. Bereits am folgenden Tag brachen wir wieder auf. Wenn ich verlauten ließ, daß ich mich auf dem Weg nach Palmyra befände, reagierten die Reisenden, die wir unterwegs trafen, entsetzt. Durfte man ihnen Glauben schenken, so war dies der sicherste Weg, sich umzubringen. Sie waren davon überzeugt, daß ein Europäer beim Eintreffen in Damaskus auf jeden Fall beschimpft und oft auch übel zugerichtet würde. Christen, die
es wagten, durch die Straßen zu reiten, würden verprügelt. Und ich wollte als Frau in meinem seltsamen Gewand mit unverschleiertem Gesicht die Stadt betreten! Man drängte mich, das Wagnis zumindest verschleiert zu unternehmen. Doch da kannte man mich schlecht.
Im gleißenden Licht eines frühen Nachmittags durchquerte ich am 27. August 1812 an der Spitze von achtzehn Reitern die Westpforte von Damaskus und stürzte mich unverschleiert und hoch erhobenen Hauptes in das mittelalterliche Durcheinander der Stadt. So wie ich mich in Jerusalem durch die Menge der Kruzifix- und Marienbildhändler gekämpft hatte, so bahnte ich mir einen Weg durch die Menschenmassen, die einen höllischen Lärm verursachten. Aus dem unsäglichem Tohuwabohu ragten Pferde heraus, deren Flanken mit schweren Fransenteppichen geschmückt waren, geduldige Dromedare, Maultiere mit muschelverziertem Geschirr und junge Esel, die alte Quersäcke schleppten. Weit davon entfernt, mir die angekündigten Beleidigungen ins Gesicht zu schleudern, schütteten die Damaszener zum Zeichen der Begrüßung Kaffee unter die Hufe meines Reittieres. Ich war mir vollkommen sicher, daß diese Stadt mit ihren würzigen Düften, ihren Schachereien, Intrigen und ihrer abbröckelnden Herrlichkeit für mich bestimmt war. Ich sah einen Trupp Beduinen vorüberziehen, die mich bald bei der Verwirklichung meiner Pläne in der Wüste unterstützen sollten. Ich weigerte mich, länger als einige Stunden im Hause eines Christen zu verweilen, bei dem Meryon uns unterzubringen beabsichtigt hatte. Der gute Mann besaß die Stirn, mir eine Rechnung zu präsentieren, auf der sich der Preis für den Imbiß, der bei unserer Ankunft gereicht worden war, auf ein Kamel belief. Auf die Rechnung hatte er jedoch »zu Lasten der Königin« geschrieben. Die Prophezeiung nahm ihren Lauf. Meine Wächter führten mich durch ein von ausgetretenen Türschwellen durchzogenes Labyrinth, bis wir an die bleibeschlagene Pforte eines muslimischen Hauses am Fuße der großen Omaijaden-Moschee kamen. Im Innenhof war ein kleiner Obstgarten mit purpurroter Erde von einer
Marmorrosette umrandet. Die Wände waren aus strahlend blauem Steingut. Über den zwei Treppenstufen, die zum Diwan führten, hingen Wandteppiche. Die Damen des Hauses begegneten mir mit verehrender Hochachtung.
Ich beschloß, niemals mehr den Menschen meiner Religion den Vorzug zu geben. Seit Konstantinopel mißtraute ich den Europäern. Als die Damaszener sahen, daß ich mich im Schatten einer Moschee einrichtete, setzten sie es sich in den Kopf, daß meine Kleidung und Gesichtsfarbe – obwohl gerade letztere typisch für eine Engländerin – ein Beweis dafür waren, daß ich türkisches Blut in mir hatte und ihnen folglich nicht fremd war.
Ich machte wieder meine Ausflüge und erklomm, auf der Suche nach einem Windhauch, die sandfarbenen Hügel. In der Ferne erstrahlte unter dem Schnee das Hermon-Gebirge. Unter mir lag die Stadt, wie ein Malachit mit unzähligen Streifen durchzogen, eingehüllt in sandigen Dunst und staubiger als eine Karawane am Ende ihrer Reise. Als ich, von Michael wie von einem ehrerbietigen Adjutanten flankiert, dem Pascha meinen ersten Besuch abstattete, ritt ich meine Stute Leila mit einem Samtsattel, der zwei Sattelknöpfe hatte, und wurde von acht Janitscharen* in austernfarbener Uniform begleitet, die perlmuttverzierte Stäbe in den Händen hielten. Nachdem wir in der Eingangshalle des Palastes zahlreiche Empfehlungen und Verbeugungen ausgetauscht hatten, durften wir einen Saal betreten, in dem uns unser Gastgeber, der einen Federbüschel am Turban trug, sofort mitteilte, daß er London Damaskus vorzöge und Europa dem Morgenland, das er ganz offensichtlich noch nie verlassen hatte. In der Stadt ging es
drunter und drüber, und die Janitscharen* führten den Befehl. Schenkte man dem Pascha Glauben, kampierten fünfzigtausend Wahhabiten* einen Tag von den Stadtmauern entfernt. Zu Beginn jener Unruhen gab es nur einen Brief aus Mekka, der zwar ihren Aufbruch zum Feldzug ankündigte, aber keineswegs die genaue Richtung angab, die sie eingeschlagen hatten. Diese asketischen, der Wüste entstammenden Beduinen wollten die degradierte Rasse der Osmanen vom Erdboden auslöschen. Sie hatten die Kuppeln, mit denen man gewagt hatte, das Grab der Heiligen zu schmücken, zerstört und die Seidenhülle der Kaaba* durch gewöhnliche Stoffe ersetzt. Sie hielten die Straße nach Mekka besetzt und forderten Zoll von den Pilgern. Ibn Saud, ihr Herrscher, hatte die Bruderschaft der Fakire und Derwische verboten. Der Pascha erzählte mir empört von Ibn Sauds großer Tugendhaftigkeit: »Nicht nur den Wein hält er für eine Sünde – das versteht sich ja von selbst – , sondern auch die Nargileh*, die Glücksspiele und den Gebrauch des Hadith* tagsüber in den Cafes. Er hat den Ulemas* verboten, Geschenke zu empfangen. Diese Anmaßung kann der Sultan nicht dulden!« All das, was die Türken entzückte – böhmisches und Opalglas, teurer Schmuck, aber auch eingelegte Auberginen –, konnte die Nomaden nur empören, da ihr tägliches Essen aus fauligem Wasser und angebrannten Fladen bestand. Als ich dem Pascha meinen Entschluß, nach Palmyra zu reisen, mitteilte – er kannte ihn bereits, gab aber taktvoll vor, gerade erst davon zu erfahren – , widersetzte er sich ihm keineswegs. Er warnte mich jedoch vor den Beduinen und ihrer Unbarmherzigkeit. Offensichtlich hielt er mich für verrückt oder für von Allah erleuchtet und folglich durch ihn geschützt, was in der islamischen Welt oft auf dasselbe hinausläuft. Der Ruf der Extravaganz eilte mir voraus, doch diese religiösen Köpfe legten ihn zu meinem Vorteil aus. Ich konsultierte Maalem* Raphael, ein Minister des Paschas
und Zwillingsbruder Maalem Haïms, dem ich in Akko begegnet war. Er sah nur zwei Vorgehensweisen: Mich zu verkleiden – dieser Gedanke widerstrebte mir jedoch – oder mich damit einverstanden zu erklären, in einer Karawane zusammen mit tausend Kamelen aufzubrechen, mit der sich nicht einmal die Beduinen anlegen würden. Man ließ durchblicken, daß sich der Stamm Anaze, der das Gebiet von Palmyra kontrollierte, dem Einflußbereich der Pforte entzog. Ich liefe daher Gefahr, in der Erwartung eines Lösegeldes, das aufgrund meines hohen Standes beträchtlich sein würde, entführt und gefangengehalten zu werden. In diesem Fall könne niemand mehr etwas für mich tun.
Mit Ausnahme von Burckhardt, der die Landessprache perfekt beherrschte und als einer der Einwohner gelten konnte, war bis zu diesem Zeitpunkt noch kein westlicher Reisender in Palmyra gewesen. Das schreckte mich jedoch nicht. Der Weg Alexanders lag vor mir, und ich zweifelte keinen Augenblick an meinem Glück. Ich hatte bereits so vieles getan, was einer Europäerin scheinbar verboten war, daß in der Wüste schon gemunkelt wurde, die Ankunft einer englischen Prinzessin, die eine Stute mit vierzig Geldbeuteln an den goldenen Steigbügeln reite und täglich vom Schatzmeister des Sultans ihres Landes mit tausend Zechinen bedacht werde, stehe kurz bevor. Sie besitze ein Buch, aus dem hervorgehe, wo Schätze zu finden seien, und einen kleinen Beutel mit einem Kraut, das Steine zu Gold mache. Ein alter Stammeshäuptling, Mehanna el-Fadel, der die Gerüchte über meine geheimen Fähigkeiten ohne jeden Zweifel kannte, sandte mir seinen Sohn Nasser entgegen. Dieser war ein ungestümer Bursche mit goldgesprenkelten Augen, der sehr intelligent wirkte. Er fragte mich, ob ich beabsichtige, das Land seines Vaters zu durchqueren. Als ich dieses bejahte, klagte er, ich täte seinem Vater unrecht, ließe ich mich von einer bewaffneten Eskorte begleiten. Die Straße stehe mir offen, und ich hätte nichts zu befürchten. Die Gesetze der Gastfreundschaft waren die besten Garanten. »Wir wissen, was einer erlauchten Prinzessin gebührt. Für eine so hochgestellte Persönlichkeit wie Sie gibt es kein Hindernis.« Es reizte mich sehr, ihm zu vertrauen, da ich mich lieber auf das Ehrgefühl eines Stammeshäuptlings als auf den unsicheren Schutz der Fermane* eines weit entfernten Sultans verließ. Seit Saïda hatte mich Frederick North gewarnt: »Ich flehe Sie an, verehrte Königin, durchqueren Sie die Wüste nicht mit einer zu schwach bemannten Eskorte. Zenobia, die Ihnen auf diesem Weg vorausging, hätte sich eine grausame
Gefangenschaft erspart, wäre ihr Gefolge zahlreicher gewesen.« Dieses Beispiel gab mir zu denken. Die Faydans, erklärte Feinde der Anaze, hatten sich zwar in die Umgebung von Bagdad zurückgezogen, doch andere feindselige Stämme streiften um Palmyra herum. Die Begleitung von Mehannas Sohn würde mir lediglich das Wohlwollen der Seinen gewähren. Ich wußte nur eines: Niemals würde ich wie Burckhardt im Schutz der Dunkelheit heimlich nach Palmyra einreisen. Ich würde ohne Deckung einreiten, eine Hand auf den Knauf meines Säbels gestützt, mit der anderen die Augen abschirmend, um in der Ferne zu sehen, wie ein Falke gejagt wird. Mich einer Karawane anzuschließen, reizte mich nur wenig. Ein solch schwerfälliger Troß war auch unsicherer, als behauptet wurde. Ich konnte mir nicht vorstellen, in jene Tactrewans eingesperrt zu sein, die den Reisenden angeblich schützen sollen, weil er wie ein Tier auf dem Weg zum Markt hinter Gitterstäben sitzt. Denn im Falle eines Angriffes nahmen die Träger gewöhnlich Reißaus, und man war den Räubern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Wenn ich mit meinen Leuten reiste, verlangte ich dem kleinen Trupp militärische Disziplin ab und setzte mich so weniger Gefahren aus.
Zur großen Erleichterung Meryons, der Michaels Arroganz nicht mehr ertrug und vor allem eifersüchtig auf die Gunst war, die ich dem anderen schenkte, reiste Michael nach Aleppo. Aber allein das Niederschreiben des Namens Aleppo ruft meine Wut wieder wach. Diese Stadt, die sich ehemals damit brüstete, die schönste der Seidenstraße zu sein und dem Hof des Großmoguls die mächtigsten Karawanen entgegenzusenden, ist mir verhaßt. Die Geschäfte Homsys gedeihen dort, dieses infamen Wucherers, dessen Klauen
meine Kehle seit zwanzig Jahren nicht loslassen. Geh’ er zugrunde mit all den Seinen! Am Ende jenes Jahres 1812 vervielfachten sich die Schwierigkeiten. Auf dem Weg nach Aleppo erkrankte Michael an einer Rippenfellentzündung, und ich mußte Meryon zu ihm schicken. Der Arzt fehlte uns, denn in seiner Abwesenheit litt unser Dragoman an den Folgen eines gefährlichen Reitunfalles. Auf der Rückreise kam Meryon an einem staubigen Marktflecken vorbei, wo er einem Mann begegnete, den ich schon seit geraumer Zeit zu befragen wünschte. Dieser Mann, ein Franzose namens Lascaris, ging dem Beruf eines reisenden Baumwollwarenhändlers nach, welcher ganz offensichtlich nur als Vorwand diente, das Land bereisen und sich über alles informieren zu können. Er sagte von sich, er sei ein Nachfahre der Kaiser von Trapezunt. Vor allem aber war er ein Unterhändler seines Landes. In diesem schwierigen Metier ging er mit dem Herzen eines Rumänen und der List eines Griechen vor. Ich ließ ihm ausrichten, er möge mich in Hama treffen, wo wir unsere Verhandlungen mit den Arabern fortsetzen wollten. Die Beduinen suchten diesen Ort am Rande der Wüste auf, um ihre Herden gegen ein wenig Gold, Mehl, Reis und vor allem gegen Waffen zu tauschen. Hama galt als einer der schönsten Gärten am Orontes. Als ich es aus weiter Ferne erblickte, wie es sich aus der Landschaft erhob, fand ich, daß es Ähnlichkeit mit einem englischen Gemälde hatte. Sobald wir aber in der Stadt waren, nahmen Verwahrlosung und Verfall unseren Blick gefangen. Hinter dem Befestigungsgürtel führten mit Unrat bedeckte Gassen zu verlassenen Märkten. Allenthalben schienen Mauerreste kurz vor dem Einsturz zu stehen. Ein Fieber grassierte, und trotz der Sonne zitterten die wenigen Einwohner vor Kälte. Das Haus, in dem wir Quartier beziehen sollten, war ein Gebäude, zu dem man durch ein Labyrinth von
überwölbten Gassen und Korridoren gelangte. Es war so dunkel, daß man glauben konnte, man befände sich in einem Keller. Ich mußte eine endlos lange Treppe hinaufgehen, um auf eine Terrasse zu gelangen, wo mich dann das blendend helle Licht zwang, die Augen zu schließen. Mein Zimmer war mit einer Matratze auf dem bloßen Boden, einem spiegellosen Schrank und einem abgewetzten Kanapee ausgestattet. Und dieses baufällige Wunderwerk galt als Palast! Lascaris, für den ich ein angrenzendes verfallenes Haus gemietet hatte, war ein unerschöpflicher Erzähler. Gelegentlich zeichnete er ungeschickt seinen Stammbaum auf, der mit byzantinischen Ahnen geschmückt war, die eine herausragende Rolle im vierten Kreuzzug gespielt hatten. Theodor I. hatte die Dynastie der Lascaris von Nizäa nach der latinischen Eroberung Konstantinopels begründet. Er selbst hatte den Korsen nach Ägypten begleitet, wo er, zum Steuereintreiber ernannt, eine Sklavin namens Mariam heiratete, die als Fünfzehnjährige zur Bereicherung eines Harems ihrer Heimat Georgien entrissen und durch die Niederlage der Mamelucken befreit worden war. Ich hielt ihn für einen Mann, der mir – mehr durch seine Vorliebe für Intrigen als durch sein Interesse an unseren Sterlingpfunden – brauchbar sein konnte. Über den üblichen Weg ließ ich London wissen, welche Vorzüge es hätte, ihn für unsere Absichten zu gewinnen. In einer Zeit, in der es in der Wüste gärte, konnte ein Doppelspion nur nützlich sein. Ach, welch glänzender Betrug ist der Bericht von Fathallah Sayegh, Lascaris’ Führer, den Herr von Lamartine veröffentlicht hat! Der leichtfertige Dichter kaufte ihm sein leeres Geschwätz ab, das er wie eine Sammlung von Reisenotizen darbot, ließ sie übersetzen, diktierte ihnen seinen unnachahmlichen Stil auf und präsentierte sie seiner Leserschaft, als seien es die Worte des Evangeliums. Der Führer gibt vor, im Februar 1810 mit seinem Herrn nach Horns aufgebrochen zu sein, unter dem
Vorwand, rote Baumwolle zu verkaufen, in Wahrheit aber mit der Absicht, Napoleon den Weg zu ebnen und seine Eroberung des Orients vorzubereiten. Schenkt man diesem Spaßvogel Glauben, so hatten sich den zwei Geheimboten fünfhunderttausend Araber angeschlossen, und in einer vierzigtägigen Schlacht im Frühjahr 1813 hatten hundertfünfzigtausend Wahhabiten* und achtzigtausend Türken und Araber unterhalb der Mauern Hamas einander gegenübergestanden. Armeen dieses Ausmaßes kann man jedoch nicht so leicht verschwinden lassen wie eine Karte beim Glücksspiel! Auch ich tauche in jenen Hirngespinsten auf. Fathallah behauptet, im Frühling 1812 von der Ankunft einer »mächtigen Tochter des Königs von England« in Syrien erfahren zu haben, obwohl ich zu dieser Zeit noch in Ägypten war. Was den »Aufenthalt von Lascaris bei den nomadischen Arabern« angeht – diesen unsinnigen Titel verdanken wir Lamartine –, so handelt es sich dabei wahrscheinlich um die von meinem mit reger Phantasie gesegneten Dragomanen verklärte Reise, die er in Begleitung meines Arztes unternahm. Laßt morgenländische Prosa von einem Dichter in eine poetische Form bringen! Und das Ergebnis wird nichts mehr mit der Arbeit eines Geschichtsschreibers zu tun haben.
Die Zeit schien mir lang, und Palmyra war weiterhin unerreichbar. In Hama gab es nur einen Türken, mit dem man verkehren konnte, Nassif Pascha, der seinen guten Ruf der Verteidigung Kairos gegen Kleber• verdankte. Den ganzen Winter über sahen wir nur einen Europäer anreisen, einen gewissen Herrn von Nerciat. Er trug kniehohe Stiefel, hatte einen Hut aus gekochtem Rindsleder mit breiter Krempe und •
Jean Baptiste Kleber (1753-1800), franz. General, zog 1798 mit Napoleon nach Ägypten, er schlug 1799 die Türken in Syrien.
schwarzem Band auf dem Kopf und trug stolz einen blauroten Rock, wodurch er einem fröhlichen Satyr glich. Ich lud ihn ein, einige Tage bei mir zu verbringen. Er entpuppte sich jedoch als einer jener Pariser Gecken, die der Gewöhnlichkeit eines Spaziergangs im Bois de Boulogne entfliehen wollten und die Ufer des Orontes vorzogen. Um ihm in nichts nachzustehen, wurde Michael gern sarkastisch, wobei er auf meine Absichten anspielte. Er beteuerte, daß ich mir, schaffte ich es, als erste Frau die Wüste Syriens zu durchqueren, alles erhoffen könnte, einschließlich einer Heirat mit Ibn Saud. Der König sei sicherlich nur wenig anziehend, mein Ehrgeiz sehe aber über diese Kleinigkeit hinweg. Er fügte hinzu, daß ich mich, hätte man mir ein Königreich in Amerika geweissagt, auch dorthin begeben hätte und in dieser Hinsicht Napoleon ähnelte!
»Warum hat sich Ihr Napoleon nach Rußland verirrt, anstatt hier in der Gegend an Land zu gehen?« hielt ich dem Franzosen vor, ohne den Fehdehandschuh aufzunehmen, den mir mein Liebhaber hingeworfen hatte. »Gegen Pitt und Sie konnte er nichts ausrichten.« »Schluß mit der Schmeichelei. Wäre er so groß, wie Sie glauben, hätte er England in einem Kampf Mann gegen Mann gnadenlos ausgelöscht und dann den Orient erobert.« »Meine liebe Dame, Europa bot ihm einen würdigeren Thron als den Diwan eines Paschas.« »Da täuschen Sie sich! Mit einer großen Idee gewappnet und um den Preis vieler Geschenke und geköpfter Männer hätte er eine Kultur begründen können, die dazu bestimmt gewesen wäre, unzählige Jahrhunderte zu überdauern.« »Rußland ist doch die Pforte des Orients. Sie öffnet den Weg nach Konstantinopel. Nach dem Fall Moskaus werden wir die slawische Orthodoxie und die Patriarchate des Orients
vereinen. Dann kann Byzanz unter dem Zepter des Kaisers wieder auferstehen.«
Ich lächelte und ließ ihn seinen Hirngespinsten nachjagen. Offen gestanden, glaubte ich nicht, daß der flinke Korse, dessen unnachgiebige Härte die Franzosen so oft zu spüren bekamen, für das Weltreich bestimmt war. Alles deutete daraufhin, daß das Ende seines Unterfangens kurz bevorstand. Die Kundschafter, die er in den Orient sandte, waren nur die Hüter seines letzten Traumes. Herr von Nerciat hatte die Mission des Generals Gardanne in Persien begleitet; Boutin durchstreifte Palästina; Lascaris versuchte, die Wüstenstämme aufzuwiegeln. Ihr kleiner Leitfaden war schlicht: einen ergebenen Araber suchen und ihn als Dragoman gewinnen, die Kenntnisse der Sprache des Korans vervollkommnen, um dem Dolmetscher nicht ausgeliefert zu sein, die Freundschaft der Beduinen gewinnen und sie mit den Osmanen entzweien sowie für kommende Operationen der französischen Armee Brunnen und Weiden in der Wüste erforschen. Lascaris steckte mit Boutin unter einer Decke, aber ich konnte nichts über seinen merkwürdigen Kollegen aus ihm herausholen. Jener war weniger gebildet und vielleicht auch weniger geschickt, aber mit der ihm eigenen Verwegenheit des Schmugglers konnte er die Wüste in Angriff nehmen. Ich meinerseits wußte über alle Geschehnisse dort Bescheid und hatte einen Teil jenes Netzes mitgesponnen, das mich noch heute mit Informationen versorgt. Ich hielt die Liste über die Stammeskriege, Hochzeiten, Versöhnungen und Verrate auf dem neuesten Stand. Es war eine faszinierende und komplizierte Welt, in der ich mich wohl fühlte. Indem man nur vorgab, seine Geheimnisse preiszugeben, konnte man die Menschen nicht lange Zeit hinters Licht führen und wirkte rasch so lächerlich
wie Meryon, der die Longe seiner Kamelstute jeden Augenblick lockerte und sie in die Knie gehen ließ, damit er wie ein kriegerischer Nomade wirkte.
Nachdem Nasser sein versprechen gehalten hatte und mit einem berittenen Heer auf siebzig Dromedaren zurückgekehrt war, konnte ich Ende März des Jahres 1813 endlich aufbrechen. Seine Männer stellten eine Eskorte dar, die nicht leicht in die Flucht zu schlagen sein würde. Die dunklen Beine dieser Langstreckenläufer waren so dünn wie ihre mit Straußenfedern geschmückten Lanzen. Ein riesiges Büschel schwarzer Roßhaare, das auch den Mutigsten Angst gemacht hätte, hing ihnen in die Gesichter. Ich befand sie Zenobias würdig, die mit ihnen vielleicht nicht gefangengenommen worden wäre. Palmyra war sieben Tagesmärsche entfernt. Der Nordwind blies unaufhörlich; ein gutes Zeichen, denn er verleiht neue Kräfte. Die Wüste schien mit Kies und Topasen bedeckt. Ich entdeckte die Kunst der Einfachheit wieder, die ich stets angestrebt habe; so sattelte und zäumte Mehannas Sohn, der vierzigtausend Mann befehligte, sein Pferd selbst und hielt es nicht für unter seinem Rang, ihm Gerste und Häcksel zu geben. Die Regierung dieser Nomadenvölker gleicht keiner, die wir in Europa kennen. Sie ist despotisch, aristokratisch und republikanisch zugleich; ihre Leidenschaft für ihre Unabhängigkeit und ihre Verachtung für alles andere sind schier unglaublich. Nichts wird ohne Beratung entschieden, und der Häuptling ist nie mehr als ein primus inter pares, der nicht, wie bei uns, vorgibt, etwas Besseres zu sein, was ihn über das gemeine Gesetz stellt. Ganz im Gegenteil, im Falle eines Vergehens wird er durch das unerbittliche Gesetz der Wiedervergeltung bestraft. Die Wüste ist ein Staat mit zarten Hierarchien, in denen man sich nicht mit den äußerlichen Zeichen von Rang und Reichtum umgibt, die wir für unverzichtbar halten. Unzählige Beobachtungen führten dazu, daß ich mir Gedanken über diese Krieger machte, die mich in ihrer Gewalt hatten, mir aber gleichzeitig, da sie mich
für ein Werkzeug des Allerhöchsten hielten, mit Ehrerbietung begegneten. Ebenso erfinderisch wie fromm nahmen sie ihre rituellen Waschungen mit Sand vor, und ihre Betstätte war allerorts, da es ihnen genügte, sich gen Mekka zu wenden, damit ihr Gebet Gehör fand. Von diesen vermeintlichen Barbaren konnte man vieles lernen: Durst, Angst und Hunger zu ertragen, seine Gedanken zu verbergen und sie zu gegebener Zeit pfeilschnell vorzubringen. Michael hätte keine bessere Schule haben können. Ihre Vorliebe für schöne Worte und Poesie war genauso grenzenlos wie die Sandwüste. Unter Begleitung von Handschlägen auf die Trommel trugen sie ihre Reime in einem Arabisch vor, das des Glanzes und der Zärtlichkeiten der Stadt entbehrte. Ich aber genoß seine Feinheiten. Um den viel zu süßen Tee herum blieben die Männer während der Rast schweigsam. Unverhofft murmelte dann einer von ihnen: »Es war einst…« Andächtig lauschten die anderen den Beschreibungen der Huris* mit Gazellenaugen und hennagefärbten Nägeln, den Geschichten über Liebende, die von ihrer Leidenschaft so verzehrt wurden, daß ihre Körper keine Schatten mehr warfen, und der ständigen Abfolge von Entführung und Rache. Am Ende der Erzählung entlohnte ein jeder den Erzähler mit einem kraftvollen »Ma scha’ Allah!« Berauscht fand ich in dieser verfeinerten, aber rauhen Kultur die luxuriöse Einfachheit, auf die ich, ohne es zu wissen, seit meinen Phantasieschlachten in der großen Halle in Chevening gewartet hatte. Wie meine Gastgeber faßte ich mit der Hand in die Schüssel und trank Kamelstutenmilch. Für die Beduinen war ich die Prinzessin, die es verstand, mit Seelen, Waffen und Pferden umzugehen. Wie ihr bitterer, mit einem Kardamomkorn gewürzter Kaffee entwickelte mein Leben endlich seinen vollen Geschmack. Ich glaubte, das Herz des Orients erreicht zu haben, und kratzte doch erst an seiner Hülle. Heute, da ich nichts mehr besitze als einen Funken Leben, halte
ich es für mein größtes Glück, diese Welt aus Sand und Stille kennengelernt zu haben, die ich so sehr liebe. Den viel zu oft zitierten Zauber der Wüste überlasse ich der Feder pensionierter Literaten, die mit ihm ihre Werke schmücken, ohne je einen Fuß hierher gesetzt zu haben. Sollen sie doch überschäumen, das ist ihre Sache; sollen sie doch die »goldenen Streifen auf dem Moire des Himmels« besingen! Die Freude, die mich in dieser Zeit unter den Sternen erfüllte, läßt sich nicht in Worte sperren. Ohne meine Leidenschaft für Arabien zu teilen, blieb Michael ein guter und treuer Gefährte. Er wachte über mich, war auf der Hut und warnte mich bei der geringsten Gefahr. Jeden Abend erwies mir Nasser zu jener Stunde, in der die Zelte aufgebaut wurden, die Ehre. Am fünften Tag sah er davon ab und ließ mir statt dessen ausrichten, daß er, wenn ich auch eine Königstochter sei, immerhin der Sohn eines Fürsten sei und daher von mir erwarte, daß ich ihm meine Aufwartung mache. Diesem Wunsch konnte ich nicht nachkommen, denn, gab ich nach, wäre mein Ansehen dahin. Ich teilte ihm mit, ich würde die Wüste allein durchqueren, wenn er sein Gesuch aufrechterhielte. Ich ließ mein Zelt abseits errichten, um deutlich zu machen, daß auf meine Worte auch Taten folgten, und verbrachte eine Nacht voller Angst, in der ich alles auf eine Karte setzte. Am nächsten Tag erwies mir Nasser wieder die Ehre; ich hatte den Eindruck, er war ob meines Hochmutes eher erleichtert als über meine Weigerung verärgert und hatte mich nur auf die Probe stellen wollen. Mein Stolz hatte mich gerettet. Als mich Mehanna einige Jahre später bat, mich beim Pascha von Damaskus für seinen Sohn zu verwenden, der die Kornkammer des Gouverneurs von Hama reichlich geplündert hatte, erwies ich ihm diesen kleinen Dienst.
Am achten Tag kündigte eine steinige, von Grabstätten gesäumte Ebene Palmyra an. Die Sonne ließ den Sand wie orangefarbene Edelsteine glitzern. In einer grünen Mulde lag die Stadt ausgebreitet wie ein durch die Jahrhunderte abgewetzter Teppich. Meine Stute war aufgezäumt, der Säbel in meiner Faust und das Herz in meiner Brust am rechten Fleck. Ich hob den Blick; ein Falke schwebte in der Luft; ich stellte mir seine Trunkenheit vor und sog sie in großen Zügen ein. Zu Trommelklängen näherten sich uns zweihundert Reiter. Sie stießen ohrenbetäubende Schreie aus und schwenkten grünweiß-rote Fahnen, deren Stangen mit kupfernen Halbmonden besetzt waren. Sie salutierten dem herrlichsten Tag meines Lebens.
Die Drusen glauben, daß die Seelen jenseits von Raum und Zeit wandern und nach Belieben einen neuen Körper wählen können, in dem sie sich niederlassen. Zenobias Seele war mit meiner verschmolzen: Sie bemächtigte sich meines endlos erweiterten Bewußtseins und sah ihr Reich durch meine Augen wieder. Ich konnte im Licht der Dämmerung erkennen, wie sich ihre Silhouette abzeichnete und am Tag der Katastrophe an Kolonnaden und Säulenhallen vorbei entfloh. Sie teilte sich mit mir die Majestät der Hügel; ich erbte von ihr die Erinnerung an jenen sagenumwobenen Ort, dessen Name von Alexandria bis Ephesus, von Mesopotamien bis an den fernen Hadrianswall, in dessen Schatten ich geboren wurde, gefeiert worden war. Sie kehrte in meiner Gestalt zurück, um die Stadt wieder zum Leben zu erwecken. Ihre mit Pfeffer, Elfenbein und Karneol beladenen Segelschiffe hatten an den schlammigen Ufern der Sassaniden angelegt, wo unzählige Dromedare mit Packsätteln sie erwarteten. Rom, das siebzehn
Jahrhunderte zuvor ihren Stolz zerstört hatte, war dafür bestraft worden. Phrygien, Phönizien und Baktrien waren nur noch schöne Namen – klangvoll, aber vergangen. Doch das Volk Palmyras hatte überlebt und empfing mich in seiner Stadt; die jungen Mädchen tanzten um mich herum, und die Schönste von ihnen legte mir einen Blumenkranz um die Stirn. Ich war gekommen, die auserwählte Stadt, die Stadt der Vorzeichen und Omen, ihrem Schlaf zu entreißen. Die große Arkade reckte ihre wiedererrichteten Pfeiler gen Himmel. Ich konnte nicht anders, als rufen: »Hört die Prophezeiung!« Die Königin hatte endlich ihren Ruhm wiedererlangt und baute die vom Sand bedeckten Säulen wieder auf und stellte die Mauer Justinians fertig. Die Rituale von einst erwachten zu neuem Leben. Sah ich nicht in der Ferne jene jungen Mädchen, die mit erweiterten Pupillen und mit den Herzen von Wölfinnen in ihren weißen Tuniken an die Wagendeichsel gebunden waren. Die Königin zöge wieder unter Triumphbögen hindurch. Sie wohnte den Pantomimespielen im großen Theater bei. Umgeben von Priestern und Sklaven begäbe sie sich zum kleinen Ba’alShamin-Tempel. Überall erkannte sie das in Granit, Marmor und Sandstein gemeißelte Zeichen der Sonne, fand ihr Haus, ihre Brunnen wieder vor. Wer, wenn nicht ich, konnte ihnen den Kult um die Götter, deren Wille in den Sternen steht, zurückgeben?
Von allen umjubelt, durchstreifte ich die Stadt in alle Richtungen und wurde dabei von Michael und von Meryon begleitet, der in seiner Begeisterung eine Huldigung in lateinischen Versen auf eine Säule schreiben wollte. Er kam nicht weiter als bis »Quam«. Seitdem mir der arme George Canning Sonette gewidmet hatte, die zwar Mr. Pitt gefallen, mich aber eiskalt gelassen hatten, duldete ich gerade noch die
Prosa. Ich ging weiter und stieg eine gewaltige, verwitterte Treppe hinunter. Wo also hatte SIE mir Tiara, Zepter und ihre mächtigen Goldschilde hinterlegt? Ihre Haut war Alabaster, ihr Blick Sanftmut und Feuer, und sie trug einen Helm, der von einem Widder überragt wurde. Sie kämpfte mit bloßen Armen, ein Schwert in der Faust. Nachdem er ihre Bogenschützen und Reiter vernichtet hatte, sagte Aurelius: »Zu meinem Schutz und meinem Ruhm hätte ich es lieber mit einem Manne zu tun gehabt.« Mir gehörten fortan diese rosa- und malvenfarbenen Säulen, diese Wesen aus Stein, deren Glanz in unzähligen Tagen der Glut entstanden war. Bei Sonnenuntergang erstrahlten sie wie Fackelträger. Lange blieb ich vor einem Flachrelief stehen, das mit zwölf chaldäischen Tierkreiszeichen verziert war. Ich suchte mein Zeichen; jene zwei Fische, die durch einen Faden über ihre Mäuler verbunden waren, von denen der eine flußauf, der andere flußabwärts schwimmt. O meine Schwester, hatten dir deine Astrologen die Flucht zum Euphrat vorhergesagt, das Ersteigen des Kapitols in Ketten und die Villa auf der Anhöhe des Tivoli? Die Nacht bricht herein, und deine Gestirne ergreifen mein Herz. Ich habe deine Herausforderung angenommen. Auch ich habe geherrscht. Alles habe ich ersehnt, alles besessen, alles verstoßen. Pferde und Menschen, Stoffe und Waffen, Salons und Macht. Umgeben von Hunderten von Menschen, die an meinen Lippen hingen, habe ich von Jaffa bis Damaskus und von Palmyra bis Askalon geherrscht. Inmitten der Pestkranken von Latakia und Saïda habe ich mit offenen Armen und verschwenderischen Händen geherrscht und das letzte Korn aus meinen Vorratskammern verteilt. Und heute herrsche ich über mein Königreich des Windes, des Hungers und des Diebstahls, über mein dezimiertes Volk aus Dienern und Deserteuren.
Ja, diesen Augenblick voller Ruhm, Erfüllung und Taumel habe ich erlebt, als ich, wie es die Prophezeiung verhieß, zur Königin der Wüste gekrönt wurde. Ich will ihn hier beschreiben, wie ich ihn damals empfunden habe. Als ich Palmyra verließ, war ich nicht ernüchtert, sondern ich hatte das Gefühl, daß sich mein zu lange angestauter Traum wie ein Hengst unter mir aufbäumte. Er kam wieder zur Ruhe, und dennoch ritten wir, fern von jenen Orten, weiterhin gemeinsam aus. Die Welt erschien mir grenzenlos; ich war den verrücktesten Unternehmungen gegenüber offen, entschlossen, nie mehr in meine alte Heimat England zurückzukehren, und schäumte über vor Plänen. Warum hätte ich den Arabern, die mich angenommen hatten und mich verehrten, den Rücken kehren sollen; jenem Mehanna oder Nasser, die sich nie darum geschert hatten zu erfahren, ob ich ein Mann oder eine Frau war, und mir vornehm, wie sie waren, die Freuden und Geheimnisse ihrer Wüste zum Geschenk gemacht hatten. Würde ich fortan auf die sich im Morgengrauen in Marsch setzenden Dromedarflotten verzichten können, auf die Erzählungen am Abendfeuer, auf die Nomaden, die einem geheimnisvollen Gesetz folgten, als müßten sie etwas Unergründliches über die Jahrhunderte hinweg zu Ende führen. Langsam vergingen die Tage, wie in Moschus verhaftet, zwischen Heiterkeit und Ungewißheit. Nein, niemals würde ich nach England zurückkehren, wo die Bastarde des Königs und die kleinen Höflinge zur Oberschicht gehörten. Ich konnte mir nur allzugut vorstellen, was mich dort erwartete: Die Erzählungen der aus dem Orient zurückgekehrten Nichte Pitts würden anfangs einige Abendgesellschaften schmücken, dann würde sie vergessen und in die hochmütige Einöde von Stowe und die verfallene Schönheit von Dropmore verbannt werden.
Nach Palmyra wußte ich endlich, in welche Höhen mich mein Flug trug.
Auf dem Rückweg machten wir einige Zeit in Hama Rast, ehe wir das friedliche Tal entlang des Orontes durchquerten, um in Latakia ans Meer zu gelangen. Die Hitze dieses vorzeitigen Frühlings war unerträglich. Die Kreuzritter hatten ihre Oriflammen• in dieses Gebirge getragen, in dieses Land der Wildschweine und Oleandersträuche. Aber keiner konnte je seine Einwohner, die furchterregenden Anseris, bändigen. Latakia enttäuschte uns. Seine weißen, in der Sonne unbarmherzig schmelzenden Dächer erdrückten mich. Ich kam zu der Überzeugung, daß es höchste Zeit sei, mich von Michael zu trennen. Ich konnte ihn nicht ewig bei mir behalten. Sein Vater wurde immer älter und verlangte nach seiner Gegenwart. Ich spürte, daß ein zu langer Aufenthalt hier für ihn verhängnisvoll sein würde. Michael war aus einem zu weichen Holz geschnitzt, um der Hartherzigkeit, der Habgier und den Lügen dieser Welt zu trotzen, ohne auf lange Sicht verformt zu werden, auf der anderen Seite besaß er aber auch nicht genügend Seelengröße, um die Erhabenheit dieser Welt zu schätzen. Ich mußte all meine Kräfte sammeln, um nicht schwach zu werden; gemeinsam hatten wir den Orient entdeckt, die Wüste bereist und Palmyra durchstreift. Er war nicht nur mein Geliebter und Gefährte gewesen; vielleicht eiferte er mir sogar nach, ohne sich dessen bewußt zu sein, machte sich, wie ein Schüler oder Gefolgsmann, meine Meinungen bis hin zu meinen Redensarten zu eigen. Er hatte das Gebaren eines närrischen Jungen, das er noch in Konstantinopel an den Tag gelegt hatte, aufgegeben, aber seine •
Banner der französischen Könige.
Ungeniertheit beibehalten sowie die unangenehme Gewohnheit angenommen, sich mit Rosenwasser zu besprühen und zuviel Süßigkeiten zu essen. Wenn er nicht aufpaßte, würde er sich in einen fetten Dandy des Morgenlandes verwandeln. Michael wählte einen Augenblick, in dem die Glut unserer Leidenschaft und die Schwüle des Zimmers uns erschöpft hatten, um mir ein letztes Mal die Ehe anzutragen. Ich brach in Lachen aus: »Nein, nein, tausendmal nein! Ich eine Baronin? Können Sie sich vorstellen, wie ich mich allabendlich in Ihrem Landhaus zum Essen ankleide? Sie werden zu gegebener Zeit ein Fräulein aus gutem Hause heiraten, und ich wünsche Ihnen, daß Sie glücklich sein werden. Sprechen wir also nicht mehr davon, die Angelegenheit ist erledigt.« Er drehte sich zur Wand. Manchmal denke ich, daß er seine Erleichterung vor mir zu verbergen suchte. Am folgenden Tag schrieb ich seinem Vater einen Brief im Ton einer Privatlehrerin, die, nachdem sie einen begüterten jungen Tölpel auf seiner Reise um die Welt begleitet hat, Bericht über ihren Auftrag erstattet und ihre Ausgaben rechtfertigt. Ich gebe hier nur einige Sätze wieder: Was die guten Umgangsformen angeht, so zweifele ich nicht daran, daß Ihr Sohn nach seiner Rückkehr sehr schnell die Gewohnheit aufgeben wird, mit den Fingern zu essen, ebenso das Rülpsen, das nach arabischer Gepflogenheit von einem zufriedenen Gast erwartet wird. Zu den Verpflichtungen aber, die ich Ihnen gegenüber eingegangen und denen ich, so gut ich irgend konnte, nachgekommen bin, gehört jene, Ihnen einen perfekten Reiter zu übergeben. In dieser Hinsicht kann ich mich leider nicht eines vollen Erfolges rühmen. Trotz beträchtlicher Entfernungen, die wir Steigbügel an Steigbügel zurückgelegt haben, ist Michaels Haltung zu Pferd alles andere als zufriedenstellend. Es empfiehlt sich, daß er für längere Zeit eine Reithalle
aufsucht, um jene bedauerlichen Angewohnheiten abzulegen, die er auf dem Rücken der Dromedare angenommen hat, und endlich zu lernen, was eine gute Haltung und eine gute Hand sind. Diesbezüglich muß ich ihnen leider mitteilen, daß, mit Verlaub, Ihr Sohn wie ein Jockei reitet… Diese kleine Anmerkung über Reitstunden schien mir die Dinge wieder ins rechte Licht zu rücken; alle jene, in London und anderswo, die mir die Verführung eines folgsamen jungen Mannes vorgeworfen hatten, sollten sehen, daß ich mich nicht darum scherte und andere Sorgen im Kopf hatte. Ich mußte nur noch das uns vereinende Band zerschneiden. Ich will nicht vorgeben, mir seien diese Zeilen leichtgefallen, von denen ich wollte, daß sie nach so vielen Jahren der Glut und Asche kühl klangen. Ich tröstete mich, indem ich mir sagte, daß ich ihn als etwas Besseres zurückgab. Vielleicht würde er im Dienste seines Landes ein wenig von jener Willenskraft zeigen, die ich bestrebt gewesen war, ihm zu vermitteln. Über der Insel Arwad, die gegenüber von Latakia lag, ging jeden Abend die Sonne unter und hinterließ am Horizont einen scharlachroten Pinselstrich, als wollte Gott den Inselbewohnern mit gebieterischer Geste den Zugang zum Festland versperren. Die von einer Pestepidemie heimgesuchte Stadt war an ihren Grenzen angelangt. Binnen eines Monats wagte niemand mehr, die in ihren Betten zurückgelassenen Leichname beizusetzen, wo sie wie Untertanen des Pharaos auf den Einbalsamierer warteten. Eines Tages war dann Meryon gezwungen, sich ins Bett zu legen, es folgte ihm ein Diener. Ein französischer Doktor und ein italienischer Wundarzt pflegten die seltsame Kolonie. Auch mich suchte die Krankheit heim. Ich durchlebte Tage heftigen Fiebers, Tage des Deliriums. In klaren Momenten fragte ich mich, wie lange ich noch leben würde,
und brachte meine Papiere in Ordnung. Mußte auch ich meine Seele Gott befehlen? Und wenn ja, welchem? Dem grimmigen Gott der Bibel, dem Großen Uhrmacher der Tüchtigen oder dem Großen Architekten der Freimaurer? Ich hatte keine klare Vorstellung über die Metaphysik, ich wußte nur, daß mich ein Wille begleitete, daß über meinem Kopf ein schützender Geist schwebte und ich nicht sterben würde, weil er sich noch nicht von mir abgewendet hatte. Alle zwei Stunden trank ich einen Becher Eselsmilch. Als das Fieber nach sechs Tagen sank, war ich äußerst schwach und wurde von einem hartnäckigen Husten gebeutelt. Ich konnte den ganzen verfluchten Winter nicht aufstehen. Wenn in Syrien plötzlich Regen fällt, ist es nicht jener wohltuende Schauer, der den Wiesen Englands ihr leuchtendes Grün verleiht, sondern ein Wolkenbruch, der das grelle Weiß der Mauern verwässert und die Hügel unter einem grauen Mantel begräbt. In diesem Land ist nichts moderat, es gibt nichts als Maßlosigkeit, Raserei, Unsegen, Entfesselung von Erde, Himmel und Mensch. Zu jener Zeit erhielt ich einen Brief von Michael: Teure Geliebte, die Nachricht über Ihre Krankheit hat mich zutiefst bestürzt. Wäre der Ausgang tödlich gewesen, hätte ich, glaube ich, den Verstand verloren. Ich hätte nicht einmal den Trost gehabt, Ihnen in Ihren letzten Augenblicken beigestanden zu haben und Ihren Letzten Willen vernommen zu haben. Ich hatte die Absicht, nur wenige Tage in Konstantinopel zu bleiben, doch ich werde nun warten, ehe ich meinen Weg fortsetze, bis ich die Gewißheit habe, daß Sie wieder vollkommen gesund sind. Sollten Sie einen Rückfall erleiden, untersagen Sie mir auch dann, zu Ihnen zurückzukehren? Sie wissen, wie sehr ich meinen Gefühlen Zwang antun mußte, um mich von Ihnen zu trennen. Allein die Furcht, Ihnen zu mißfallen, konnte
mich zu dieser Abreise zwingen. Was immer Sie gebieten, ich werde folgen. Ich werde all die Bitten und Drohungen außer acht lassen, die mich von anderer Seite bedrängen, denn ihre Wünsche werden mir stets Gesetz sein. Es mochte mir gar leichter fallen, die Krankheit meines Körpers zu bezwingen als die Erregung meiner Seele. Der Körper unterstand dem Arzt, der stets an meiner Seite war. Meine Seele hingegen unterstand allein mir, und ich wußte nicht, ob ich sie meinem Willen bis zum Ende unterwerfen könnte. Dieser Brief machte mir dennoch Mut. Ich liebte ihn noch immer, doch in meiner Antwort durfte ich ihn das keineswegs spüren lassen. Ich hütete mich davor, von meinen Gefühlen zu sprechen: »Achten Sie darauf«, schrieb ich, nachdem ich ihn in einigen Zeilen über meinen Gesundheitszustand beruhigt hatte, »daß Sie niemals unter Ihren Sattel eine luftundurchlässige Unterlage legen, zumindest keine ungefütterte, denn das Sattelfett könnte daran haften bleiben und Ihr Reittier würde dadurch behindert. Das bloße Fell ist sehr viel besser geeignet.« Ich kam jeden Tag ein wenig mehr zu Kräften und hatte es eilig, Latakia zu verlassen. Meryon war schon seit geraumer Zeit wieder in reisefähigem Zustand. Ein Großteil unseres Gepäcks war bereits nach Saïda gesandt worden. Es war besser, an Bord zu gehen und einige Tage auf See zu ertragen, als länger an diesem trostlosen Ort zu bleiben. Außerdem konnte mir eine Brise salziger Luft nur dabei helfen, wieder gesund zu werden. Ich bin des Erzählens meiner Irrfahrten überdrüssig. Ich beschränke mich also darauf zu erwähnen, daß unsere Überfahrt vier Tage dauern sollte, jedoch die doppelte Zeit in Anspruch nahm, daß wir sehr unter ihr litten und Saïda, wo die ersten Veilchen zwischen den Basaltplatten hervorlugten, in mir das sehnsüchtige Verlangen weckte, möglichst schnell wieder die Natur und ihre Wohltaten
aufzusuchen. Nur die Schönheit des Libanongebirges konnte uns für unsere Schicksalsprüfungen entschädigen. Ich wußte, wo ich mich fortan niederlassen wollte: im alten Kloster Mar Elias, das ich während meiner Reise beim Zwischenhalt in Deir el-Kamar nur kurz gesehen hatte. Um Emir Beschir gefällig zu sein, hatte der Patriarch damals eingewilligt, es mir zu vermieten, und ich hatte es besichtigt. Dort konnte ich ein wenig Frieden finden. Dieser Zufluchtsort würde die Miasmen Latakias und die Trauer aus meinem Herzen vertreiben.
Im Sommerlicht war mir Mar Elias damals heiter vorgekommen. Doch jetzt schien das Gebäude nüchtern, der Garten des kleinen Klosters war von Brombeergestrüpp überwuchert. Die Zimmerwände waren mit Kalk getüncht, und an einer Seite des Empfangszimmers der Mönche stand eine armselige Steinbank. Die letzten Regenfälle hatten die Terrasse aufgeweicht, und das Wasser der übervollen Zisterne war bis in die drei Zimmer geflossen. Nachdem ich für die dringendsten Reparaturen gesorgt hatte, befahl ich den Bau eines Stalles, einer Laube und mehrerer Lebensmittelspeicher. Um das Gebäude herum ließ ich eine Ringmauer errichten und im Inneren Kamine durchstoßen und Schränke aufstellen. Ein Farbunterschied im Mauerwerk der Kapelle erregte meine Aufmerksamkeit. Man sagte mir, daß ein in seinem Sessel sitzender Patriarch dort begraben sei. Es stank. Die Einbalsamierung ließ vermutlich zu wünschen übrig. Die Menschen des Gebirges waren mir bei der Einrichtung behilflich, und der Emir, durch meine Reise nach Palmyra in seiner hohen Meinung von mir, die er sich bei der ersten Durchreise von mir gemacht hatte, bestärkt, war überaus freundlich. Wieviele Male muß er das in all den Jahren bereut haben, in denen er meine Nachbarschaft verflucht hat! Er ließ
Scheiben für meine Fenster aus Damaskus kommen und bot mir, aus lauter Freundlichkeit, von seinem Öl an: »Kaltgepreßt, wie Gott es uns gibt!« Der Mutassalem* lieferte mir Getreide, Kohle, Holz und auf meine Bitte hin, für meine täglichen zwei Becher Milch, eine junge, kräftige Eselsstute, die vor kurzem gefohlt hatte, denn auf bessere Weise konnte ich mich zu jener Zeit nicht ernähren. Dank des Gebirges, von dem der Dichter sagt, es trage den Winter auf dem Kopf, den Frühling auf den Schultern und den Herbst in seiner Brust, wohingegen der Sommer zu seinen Füßen schlummere, würde ich bald ganz gesund werden. Da ich Emir Beschir nichts schuldig bleiben wollte und es mir unmöglich war, ihm seine großzügigen Geschenke gleichermaßen zu vergelten, bat ich Michael in einem Brief, ihm aus England ein Gewehr und zwei Pistolen zu schicken. Ich wußte, auf welche Dinge die Orientalen ganz versessen waren: erstens auf Waffen, dann auf auffällige Nippsachen, Pendeluhren sowie auf Stiche mit Alpenlandschaften, Dragonern mit gezogenem Säbel oder dem Prinzen von Wales zu Pferd. Seit Palmyra hatte sich durch die Wirkung eines mysteriösen Sakraments mein Einfluß auf die Menschen gefestigt, und mein Handeln war in allen Dingen erfolgreich. Ich lernte jedoch zum ersten Mal Geldsorgen kennen: Ich konnte nicht mehr mit den großzügigen Geschenken von Michaels Vater rechnen, und mein Kredit bei Coutts, meinem Londoner Bankier, ging schnell zur Neige. Ich erhielt einen geplatzten Wechsel zurück. Mein Lebensstil, mein Gefolge, die Geschenke, ohne die man im Orient ein Nichts ist, verschlangen die Rente des Parlaments. Ich fürchtete das einfache Leben nicht und hatte mich in meiner karierten Schürze in Wales genauso glücklich gefühlt wie auf den Stufen des Throns. Aber von anderen abhängig zu sein, war etwas anderes. Arm zu sein, das mag ja noch angehen. Aber gedemütigt werden – niemals! Ich wußte nicht, daß ich in
dieser Gegend abgeschieden vom Königtum und inmitten erbarmungsloser Kämpfe zwanzig Jahre verbringen würde. Ich habe sie mit einem umfangreichen Briefwechsel gefüllt, in dem künftige Geschichtsschreiber vielleicht auf ihre Kosten kommen. Ich bezweifele jedoch, daß sie Interesse an jenen Zwischenfällen haben werden, den Auseinandersetzungen der Agas, Paschas und Emire. Eines Tages wird dieser Orient, den leichtsinnige oder melancholische Europäer nur bereisen, um die malerischen Basare zu besuchen, jenseits aller Intrigen, Massaker und Stammeskriege jedoch seinen ganzen Einfluß auf die Angelegenheiten der Welt geltend machen. Um die Europäer davon zu überzeugen, empfing ich all jene Neugierigen, die gekommen waren, die Extravagante in ihrem Schlupfwinkel zu sehen, ehe ich ihnen schließlich, verärgert über ihre schlechten Umgangsformen, meine Türe verschloß. Ich sagte ihnen immer wieder, daß die Araber nicht im gegenwärtigen Zustand der Erniedrigung verharren würden. Auch die hier von allen verachteten Juden werden sich eines Tages Genugtuung verschaffen und vielleicht ihrem Gebet durch hartnäckige Forderungen Gehör verschaffen.
Nachdem der Patriarch schwerkrank von einer Pastoralreise zurückgekehrt war, bat mich ein Mönch, meinen Arzt zu ihm zu schicken. Dessen Dienste versagte ich anderen niemals, außerdem war ich dem Würdenträger, der mir gestattet hatte, in einem Haus der Kirche Unterkunft zu finden, zu Dank verpflichtet. Ich schickte Meryon also in die Erlöserkirche, wo der Patriarch residierte. Er war seit mehr als zwei Monaten krank, und ein durch einen Scharlatan aus Saïda verordnetes Abführmittel hatte zu einem Zustand äußerster Schwäche geführt. Es war zu spät, als daß er sich noch davon erholen konnte; an einem Freitag starb er um Mitternacht in den Armen
seines Dieners Tannus. Man setzte ihm die Mitra auf den Kopf und brachte ihn, in einem Sessel sitzend, mit einem Kruzifix in der linken und dem Neuen Testament in der rechten Hand, in die Kirche, in der seine Vorgänger in aller Ewigkeit tagen. Die Gläubigen knieten vor ihm nieder, und manche näherten sich andächtig der sterblichen Hülle, um ihr ein Barthaar als Reliquie oder Talisman auszureißen. Der von den Melchiten praktizierte Brauch der Einbalsamierung war weniger malerisch. Meiner Neugierde wegen nahm mich Meryon mit. Die Mönche halfen ihm nicht bei dieser unangenehmen Aufgabe, und als ich aus dem Zimmer trat, überraschte ich einen von ihnen dabei, wie er ein Taschentuch stahl. Diese Geistlichen erbauten mich nicht gerade mit ihrer Frömmigkeit. Schließlich konnte der Patriarch in einem Qumbas* aus weißer Seide, mit einer Cappa• auf den Schultern, der Mitra auf dem Kopf und gerade wie ein Stock, in die Kirche zurückkehren. So vergeht der Welten Ruhm! Er war der vierte Patriarch, der im Lauf der letzten zehn Jahre zu Gott gelangte. Die Bergbewohner waren überzeugt, daß alle vier Opfer eines langsam wirkenden Giftes geworden waren, weil sie versucht hatten, die Orthodoxen zu bekehren. Im Gefängnis der Völker, in denen der Großmeister Wärter ist, machte erbitterter Haß die Gemeinschaften zu Gegnern. Ungeniert ermordete man einander, um sich der Güter, Körper und sogar der Seelen der anderen zu bemächtigen. Doch das Libanongebirge schien die anderen Winkel des Reiches auf diesem Gebiet zu übertreffen. Wahr ist jedoch auch, daß die Religionskriege vor nicht allzu langer Zeit das Abendland entzweit haben. Konnte ich also von meinen Nachbarn mehr Weisheit verlangen, als meine Vorfahren besessen hatten? •
Liturgisches Gewand der höheren katholischen Geistlichkeit.
Ich setzte meine Arbeiten an der Einrichtung weiter fort, und die Boten reisten zwischen Aleppo oder Saïda und Mar Elias hin und her. Sie brachten mir Stoffmuster, damit wir unsere Kleidung wieder aufbessern konnten, die unsere Abenteuer zu Land und Wasser in einen erbärmlichen Zustand versetzt hatten. Ich bestellte eine türkische Grammatik sowie Tigerfelle, um sie neben den Säbeln aufzuhängen, die hierzulande die Häuser der Menschen hohen Standes schmücken. Barker, unser Konsul in Aleppo, der sich um meine Angelegenheiten kümmerte, versuchte, ein wenig Ordnung in meine Finanzen zu bringen, und ich war ihm sehr dankbar dafür. Ich verschuldete mich jedoch immer weiter, mußte ich mich doch meines Standes würdig zeigen, und versagte mir keinerlei Ausgaben. Ich erhielt einen Brief von Coutts, der lange umhergeirrt war, ehe er mich erreichte. Ausgelöst hatte ihn meine aufsehenerregende Reise nach Palmyra, und er bildete den Auftakt zu jenen Kleinlichkeiten, welche die endlosen Auseinandersetzungen mit den Schuldnern meiner Rente kennzeichnen sollten: 29. Dezember 1813 – Das Aufsehen, das Sie angeblich im ganzen Land hervorriefen, indem Sie gesund und munter zurückgekehrt sind, widerspricht dem in London verbreitetem Gerücht, daß Sie und Ihr Gefolge ermordet wurden. Wir befürchten daher leider, Ihnen mangels eines Lebensbeweises die tausend Pfund Sterling nicht zahlen zu können. Ein Lebensbeweis! Mit diesem Maßstab beurteilten mich also all jene Kleinmütigen! Doch ich glaubte dennoch, daß ich für mein Land wertvoll war. Ich glaubte, ihm Tag für Tag dienlich zu sein, ihm durch mein teuer erworbenes Ansehen zur Ehre zu gereichen! Der Brief stellte jedoch klar, daß die tausend Pfund
der letzten Jahresrente bereits vorgestreckt waren. Ich zuckte nur mit den Schultern. Andere Neuigkeiten aus England waren amüsanter. Man schilderte mir die Vergnügungen in Brighton, die Bälle in Holland House. Lady Holland hatte nichts von ihrem Esprit verloren und verstand sich darauf, ihre Gäste brillieren zu lassen. Ihr Salon war weniger »hausbacken« als jener der Herzogin von Devonshire. Bei Lady Melbourne war die Konversation ernsthaft, ohne belehrend zu sein. Dort spürte man noch den wahren Geist der Whigs. Durch einige wohlmeinende Freunde erfuhr ich auch, was über mein bizarres Verhalten gesagt wurde. Man wunderte sich sehr über meine »männliche Aufmachung«, und böse Zungen sahen darin einen Beweis meiner sapphischen Neigungen. Damals, als ich noch meinen Platz in der Gesellschaft innehatte, hatte ich mich nicht darum gekümmert, daß auch weniger schickliche Frauen dort empfangen wurden, wo nur die anderen hätten eingelassen werden dürfen. Nun zählte auch ich zu den skandalösen Frauen und würde den anständigen aus dem Weg gehen müssen, gesetzt den Fall, daß sie sich überhaupt in meine Nähe wagten. Ich war entschlossen, diesen Damen, die sich für ein Wappen oder ein Vermögen verkauft hatten, keine Gelegenheit zu geben, mir ihre Verachtung zu zeigen. Wenn mein Verhalten auch Kritik herausforderte, so würde ich den Grenvilles, Addingtons und Carringtons nicht gestatten, sich in Sachen Ehre zu meinen Richtern aufzuwerfen. Ich wurde jedoch von anderen Sorgen in Anspruch genommen. Die Pestepidemie, der ich in Latakia Tribut hatte zollen müssen, breitete sich immer weiter aus. Die Seuche hatte das Dorf Abra erreicht, zu dessen Lehnsherrin ich geworden war, und in den Kirchen des Gebirges läuteten unaufhörlich die Totenglocken. Das ganze Reich schien befallen; während sich die Diplomaten auf dem Parkett des Wiener Kongresses bewegten und ein wenig Ordnung in den Trümmerhaufen zu bringen suchten, in den
Napoleon Europa verwandelt hatte, stand die Pforte einem heimtückischeren und bösartigeren Gegner als der Grande Armee gegenüber. Letzterer konnte man mit offenem Visier, Mut im Herzen und der Waffe in der Hand die Stirn bieten. Wie aber sollte man eine schleichende Krankheit besiegen? Ringsum gab es nichts als Gebete, flehentliches Bitten, Väter, die ihre Söhne zu Grabe trugen, und Mütter, die den Verlust eines Neugeborenen beweinten. Mein Haus roch nach der Krankheit; ich mußte meinen Ekel überwinden und mich an diesen Geruch gewöhnen. Die Dienstboten liefen unaufhörlich über Flure und Treppen und brachten Kübel voller Zwiebelwasser hinauf, mit dem die Haut der Fieberkranken erfrischt wurde. Ich war damals vierzig Jahre alt, und glaubte man Meryon, ließ meine Gesundheit seit langem zu wünschen übrig. Manchmal döste ich in meinem Sessel ein, mein Schlaf war so leicht, daß ein Seufzer genügte, um mich aufzuwecken. Ich bat den mir Briefe über Briefe schreibenden Buckingham, sich nicht weiter um mich zu bemühen. Die Antwort sei nein; ich würde nie mehr nach England zurückkehren, sollte ich auch dazu gezwungen sein, mein Brot im Orient zu erbetteln. Für meine Landsleute hier war ich zu einer Kuriosität geworden und für die Araber zu einer Macht, und ich spürte deutlich, daß ich die Paschas, Emire und Scheichs in ihrer Eigenliebe kränkte. Behandelten mich auch alle als Königin, so hielten mich doch manche für ihre Rivalin. Die Feinheiten der Politik hatte ich in einer guten Schule erlernt. Im übrigen hatte ich von den Pferden gelernt, wie die Menschen zu behandeln seien: mit einer Liebkosung, einem Sporenstoß, einer Schmeichelei. Im Dienste eines regen Geistes brachten Sanftmut und Drohungen alles zuwege.
Im Jahre 1815 geschah mir ein unerfreuliches Mißgeschick: Ich zog Sonderlinge an, und einer von ihnen, ein syrischer Gelehrter aus Latakia, zeigte mir Tonplatten mit Radierungen, die man bei ihm in der Nähe ausgegraben hatte. Er dachte, sie könnten die Frau interessieren, die es gewagt hatte, den Boden Palmyras zu betreten. Mit monotoner, näselnder Stimme übersetzte er mir die halb verblaßten Inschriften, während ich ihm, fasziniert von dieser entschwundenen Welt, zuhörte. Die meisten Texte handelten von Festen und Opferungen, von Vasallenkönigen und Eroberungen. In einem wurde ein in Askalon verborgener Schatz erwähnt, der drei Millionen Goldstücke zählte. Scheinbar ohne dem Bedeutung beizumessen, sagte mir der Syrer, jener Schatz, dessen Existenz historisch belegt war, sei nie gefunden worden. Mit einem Mal spürte ich, wie der vertraute Dämon, jene dumpfe Kraft in mir, zu erwachen begann, als suche sie einen Weg nach draußen. Er sagte mir, der Schatz erwarte mich, wie der gordische Knoten Alexander erwartet hatte. Doch mangels eines Hafens in der Umgebung war die Stadt Herodes’ nicht vom Meer aus zugänglich, und eine Expedition zu Land erforderte großes Kapital. Ich hatte mir bereits viel geliehen, und da meine Finanzen ihren absoluten Tiefstand erreicht hatten, bat ich notgedrungen Barker, einen alten Freund der Familie, um ein in Akko auszahlbares Darlehen von zwölftausend Piastern. Ich offenbarte ihm meine Absicht, ersuchte ihn aber darum, Stillschweigen zu bewahren, denn ich wollte nicht, daß die Liste meiner Launen um die Jagd nach einem Schatz bereichert wurde. Zum Glück verfügte er über diese Summe und ließ sie mir sogleich mit folgenden Zeilen zukommen: Obgleich ich Ergebenheitsbeteuerungen verabscheue und es für besser erachte, einen Dienst zu erweisen, wenn sich die
Gelegenheit dazu bietet, möchte ich hinzufügen, daß ich mich, sollte sich das, was ich Ihnen sende, als unzureichend herausstellen, Gott sei Dank in der Lage befinde, die gleiche oder eine höhere Summe hinzuzufügen, falls dies erforderlich wäre. Seine Ergebenheit und Treue erkannte ich darin deutlich. Ich antwortete ihm auf der Stelle mit einem Brief, aus dem ich einige Zeilen wiedergeben möchte: Ich bin Ihnen für alles, was Sie die Güte hatten, mir zu sagen, und für das Angebot, das Sie mir machten, sehr zu Dank verpflichtet. Ich hoffe, diese Reise zu einem guten Ende zu bringen, denn meine Aufgabe ist damit nicht erfüllt. Glauben Sie nicht, daß ich für all den Prunk Verantwortung trage, von dem Sie reden hören und der, wie man sagt, mir und den anderen unentbehrlich sei. Den Zaim* bezaubert nichts mehr als meine Haltung im Rat. Er sagt, ich spreche und handle, als sei ich im Kreise der osmanischen Regierung aufgewachsen. Niemals habe er geglaubt, daß sich eine Frau so vollkommen in einen Türken verwandeln könne. Während ich meine Vorbereitungen traf, erfüllte die Nachricht über die baldige Ankunft des Kapidschibaschi* das Gebirge mit Schrecken. Was wollte der Gesandte Seiner Hoheit bei uns in Begleitung eines Gefolges, das einem hohen Würdenträger angemessen war? Wie immer waren die Gerüchte widersprüchlich, und den unerfreulichsten zufolge würde er meine Verhaftung vornehmen und mich in Ketten nach Konstantinopel bringen. Meryon schenkte dem Glauben und bekam Angst. Während ich mir sein Wehklagen anhörte, lachte ich insgeheim. Auf diskretem Wege hatte ich den Sultan den
Zweck meiner neuen Reise wissen lassen, denn die Entdeckung eines Schatzes in seinem Reich könnte ohnehin nicht lange vor ihm verborgen werden; es war weise, dem zuvorzukommen und sich damit abzufinden, daß er seinen Anteil erhielt. Auch wenn er mein Vermögen angreifen sollte, so konnte er doch nichts gegen meinen Ruhm ausrichten. Sein Emissär ließ mich bitten, ihn im Palast des Gouverneurs zu treffen. Um meinen Einfluß auf diese Menschen endgültig zu besiegeln, versuchte ich das gleiche, was mir bei Nasser so gut geglückt war, und bat ihn, so freundlich zu sein, mir einen Besuch abzustatten. Für Streitigkeiten über das Protokoll stand zuviel auf dem Spiel; der leicht in seinem Stolz gekränkte Muslim leistete der Einladung der Königin von Palmyra Folge. Nach vielen Empfehlungen, die jedoch seiner herablassenden Art keinen Abbruch taten, übergab er mir die Fermane*, deren Bote er war, und schlug vor, mir auf dem Weg nach Akko Geleit zu geben. Ich schützte unzählige Schwierigkeiten vor, die mich aufhielten, etwa daß, Meryon, der sich mit einer langen Einkaufsliste nach Damaskus begeben hatte, noch nicht zurückgekehrt sei. Der Gesandte des Sultans erklärte sich damit einverstanden, vorauszueilen, um Befehle für den Beginn der Ausgrabungen zu erteilen. Dieses Mal gedachte ich noch, als Herrscherin zu reisen, zu Pferde und an der Spitze meiner Leute.
Im Frühling setzte sich mein Trupp in Marsch, und Sulaiman sandte mir von Akko zum ersten Haltepunkt zwanzig Zelte, eine mit Goldsternen verzierte grüne Seidenmarkise und einen Tragesessel. Letzteres Geschenk nahm ich nicht an. Niemals würde mich ein Araber träge unter einem Baldachin liegen sehen. Abends ließ ich mir über die kursierenden Gerüchte Bericht erstatten. In manchen hieß es, ich baute im Auftrag der
Türken Schlösser, in anderen, die Königin von Palmyra empfinge bald den König der Franzosen. Regenfälle und Gewitter verlangsamten unser Vorwärtskommen. Mein Zelt wurde von Windböen gepeitscht, und eines Nachts wurde es davongerissen. Ich watete im Schlamm herum, zitterte unter dem Gewicht meiner durchnäßten Abayya* und wartete im Donnergetöse darauf, daß die Männer mit dem Aufbau fertig wurden und Pflöcke in den Schlamm steckten. Ich stellte mir vor, daß der Kanonendonner unter den Mauern Akkos genauso dumpf gegrollt hatte. Plötzlich ebbte der Sturm ab, und als würde eine Belagerung aufgehoben, fing die Sonne an zu scheinen. In Askalon hatte die Jahreszeit ihre Rechte geltend gemacht, und der Himmel war wolkenlos. Die Eidechsen veranstalteten auf den umgestürzten Säulen einen Heidenlärm, während mehrere Dutzend Bauern damit beschäftigt waren, an der auf der Tafel angezeigten Stelle zu graben. Sobald ich eintraf, stürzten sie auf mich zu, um meine Steigbügel zu küssen. Scheinbar hielten sie mich nicht so sehr für eine Sterbliche als für ein übernatürliches Wesen. Ich ließ Tamburin spielen, um ihre Arbeit rhythmisch zu untermalen, doch es war vergeblich; der Syrer mußte bei seiner Übersetzung irgendeinen Fehler gemacht haben. Am angegebenen Ort entdeckten die Arbeiter eine Unmenge glasierter Ziegel und einige wertvollere Gegenstände, aber nichts, was mit dem versprochenen Schatz Ähnlichkeit hatte. Am siebten Tag hörte ich jedoch Geschrei. Der Leiter der Mannschaft stürzte auf mich zu: »Unsere Hacken sind auf etwas gestoßen, die Erde erteilt dir ihren Segen!« Unter seinen fiebrigen Händen tauchte nach und nach ein Krieger mit einem Wurfspeer in der Faust auf. Als erstes ragte seine imposante Maske aus dem Sand heraus, dann der ganze Körper. In seinen Harnisch war ein Gesicht geritzt, und ich erkannte die wütenden Schlangen auf dem Haupte der Medusa. Man hätte glauben können, dieser
Krieger wußte, daß er sich eines Tages unter meinen Augen aus der Erde erheben würde, und er wandte mir ein Gesicht des Grauens zu, das ich anblickte, ohne eine Miene zu verziehen. Am neunten Tag machten wir eine weitere Entdeckung: eine Art Trog, den wir zunächst für einen Sarkophag hielten. Als wir tiefer gruben, gelangten wir zu einem unterirdischen, wie ein Schlupfwinkel hergerichteten Raum, in dem sich nichts als Schutt befand. Wer war nur vor mir an Ort und Stelle gewesen? Die betrübten Arbeiter standen um mich herum. Die Worte erstarben ihnen auf den Lippen. Dann gab ich den Befehl, die Kriegerstatue zu zerstören, und wohnte seiner Zertrümmerung bei. Ich hatte den Eindruck, eine Unverschämtheit zu bestrafen und eine Herausforderung anzunehmen. Als nichts mehr von der Statue übrig war, empfand ich Erleichterung bei dem Gedanken, daß ich durch diesen Exorzismus alles, was mir in meinem Leben mißfiel, gerade ausgetrieben hatte.
Diese Lektion war mich teuer zustehen gekommen; ich hatte viel Gold ausgegeben, um herauszufinden, daß die versprochenen Schätze des Orients nicht aus diesem Metall waren. Meine Enttäuschung stürzte mich zunächst in Verzweiflung; auf dem Rückweg und dann bei meiner Ankunft, als mich Emir Beschir mit seinen arglistigen Freundschaftsbeweisen bedachte, ließ ich der Wut einer besiegten Königin freien Lauf. Ich erinnere mich noch an die Stockschläge, mit denen ich einen Dienstboten wegen einer Lappalie bestrafen ließ, und an eine so heftige Auseinandersetzung mit meinem Dragoman, daß er darüber krank wurde. Selbst Meryon wurde mir unerträglich. Ich verfluchte seine Ergebenheit mir gegenüber, seine Warnungen, seine Manie, hinter allem ein Leiden des Körpers oder des Geistes zu sehen, seine ewige Litanei: »Um Himmels willen,
beruhigen Sie sich, Mylady! Man hört Sie ja!« Was kümmerte mich das? Ich beruhigte mich nicht. Ich schrie, schimpfte, brach in Tränen aus, woraufhin er mir einen Kräutertee brachte; ehe ich ihn trank, überschüttete ich ihn mit einer Flut von Beschimpfungen, die nur von Schluchzern unterbrochen wurden. Bisweilen quälte mich die Erinnerung an Michael, und ich sagte mir, daß er gerade in irgendeinem Salon übertriebene Freundlichkeit an den Tag legte. Wo waren seine Briefe, die mich in meinen einsamen Stunden zerstreuen sollten? Wo waren seine Beschreibungen der vornehmen Welt, die er zu verachten vorgab? Die Nachricht über den Tod meiner Schwester Lucy, von der Mr. Pitt gesagt hatte, sie besitze die Sanftmut eines Engels, gab mir den Rest. Ich ertrug mein Los nicht mehr und die Hitze, die mich gewöhnlich wenig kümmerte, war mir verhaßt geworden. Ich verfluchte die seltsame Eremitage, in der ich einer Laune wegen lebte. Warum war ich an diesen Ort gekommen, an dem inmitten jener fanatischen, unerbittlichen Volksstämme der Gestank der Leichen durch das Mauerwerk drang. War ich eine außergewöhnliche Frau, die Nichte eines großen Mannes, die einem wunderbaren Schicksal im Orient entgegengeeilt war, oder eine englische Aristokratin mit verwirrtem Verstand, die sich in ihre Hirngespinste verrannt hatte? Durch den Mißerfolg fühlte ich mich verunsichert, gedemütigt; wie trocknendes Getreide, das in einer dem Wind ausgesetzten Tenne verweht, war mein Leben ohne Sinn und Zweck. Meine Gedanken und Taten, die bislang wie die Sehne eines Bogens von meinem Willen gestrafft wurden, dehnten sich auseinander. Das strahlend schöne Mosaik, auf dem sich die Gesichtszüge der Königin von Palmyra majestätisch abgezeichnet hatten, war zersprungen, und übriggeblieben war nichts als Kies. Ich verharrte mehrere Wochen in meiner Wut. Auf den Rat Meryons hin, den mein Zustand beunruhigte, war ich
schließlich damit einverstanden, einige Tage im Dorf Machmuchee zu verbringen, dessen heilsames Klima gerühmt wurde; ich hoffte, dort ein wenig Frieden zu finden. Abends stieg der Nebel aus den Schluchten empor; es war die Zeit der Olivenernte; stundenlang schaute ich zu, wie Bauern mit ihren Stöcken auf die Bäume schlugen und ihre Esel mit schweren, honigfarbenen Körben beluden. Außerdem pflückten sie Feigen, die sie auf eine Schicht Fenchel betteten, um sie dann fünf oder sechs Tage lang in der Sonne bräunen zu lassen, ehe sie sie in Tonkrüge einschlossen. Dieses einfache Leben stimmte mich wieder froh. Meryon, der mich mit einem sehr reduzierten Gefolge begleitet hatte, sammelte täglich Pflanzen. Während er in den Abendstunden eine Flasche des schweren englischen Bieres trank, auf das er nicht verzichten konnte und das ich kistenweise kommen ließ, hörte er sich geduldig meine Monologe an. In stillschweigendem Einverständnis wurde jede Anspielung auf den Schatz von Askalon aus unseren Gesprächen verbannt. Ich sprach zu ihm über die hohe Politik, über England, wie es zu der Zeit war, als ich Mr. Pitt, so gut ich konnte, bei seiner schweren Aufgabe unterstützt hatte, und über eine Vielzahl anderer Themen, angefangen bei der orientalischen Küche bis hin zu Heilmitteln für Pferdekrankheiten. Was mich betraf, so stand seine Meinung seit langem fest. Mein Arzt hielt mich für eine große, bizarre Dame, die Probleme mit ihren Nerven hatte und vom Wahnsinn bedroht war, den er abzuwenden suchte. Dieser ergebene Mensch bewunderte mich, würde aber niemals meine wahre Natur, meine innigsten Wünsche und meine Abscheu vor jeglichen Fesseln begreifen. Genausowenig wie Michael und viele andere.
Bei meiner Rückkehr nach Mar Elias erhielt ich Besuch von einem der großen Weisen der drusischen Gemeinschaft. Von allen Gemeinschaften im Libanongebirge war sie die geheimnisvollste. Sie hatte mich mit Zurückhaltung beobachtet und hielt nun den Augenblick für gekommen, meine Bekanntschaft zu machen. Vielleicht hatte die Sache mit Askalon in den Augen dieser ewigen Dissidenten ein Zeichen der Initiation auf meiner Stirn hinterlassen. Als Abtrünnige des Islams hatten sie in mir die Abtrünnige des christlichen Glaubens erkannt, und mein Gast bereitete mich auf meinen Eintritt in das Labyrinth seiner seltsamen Religion vor, die auf der Kenntnis der Bibel und des Korans beruht, sich aber nicht auf diese Heiligen Schriften beschränkt. Das Herz ihrer Lehre verbergen die Drusen sorgfältig, wie es ihr Prophet Hamza gefordert hat: »Verbergt, doch verhüllt es nicht vor denen, die dessen würdig sind.« Es tröstete mich zu wissen, daß ich zu diesen Auserwählten gehörte. Sie hatten mich ausgezeichnet, und jene gelehrten, menschenscheuen, schwarzweißgekleideten Männer taten nichts Unüberlegtes. Ihr Schweigen ist ausdrucksvoll: Sie denken, aber sprechen nicht, sie sehen, aber beschreiben nicht, sie hören die Fragen, geben aber nur selten Antwort. Seit jenem ersten Besuch habe ich unzählige Gespräche mit ihnen geführt. Ihre Symbole sind tiefgründig und kindlich zugleich: die Sonne, das Meer, das Gebirge, der Himmel, der rechte Weg, das Buch, der Phönix, der Löwe, die Biene, die Feder, der Aleph von Anfang und Ende. Es gefiel mir, daß sich ihr Prophet selbst ernannt hatte und es ablehnte, seine Mission von Gott zu empfangen. Seit jener Zeit fühlte ich mich ihrem Glauben und Geheimnis nah.
Der räumliche Abstand zu den Angelegenheiten in Europa hinderte mich nicht daran, über sie informiert zu sein. Ich unterhielt weiterhin eine umfangreiche Korrespondenz, und auf meiner Schwelle waren fast täglich die schweißbedeckten Pferde der tatarischen Boten zu sehen, die sie mir überbrachten. Meine Londoner Freunde hielten mich über die großen und kleinen Ereignisse der Welt, die ich verlassen hatte, auf dem laufenden. Ich erfuhr, daß sich mein ehrenwerter Cousin Buckingham nach Holland begeben hatte, um Ludwig XVIII. nach Paris zu begleiten. Führte der Sieg der Verbündeten über den Korsen zu einer Zeit des Friedens oder der Heimtücke? Die Art und Weise, wie England seinen Gegner behandelte, war mir verhaßt. Die Schmach, mit der man ihn bedachte, war unseres Volkes unwürdig. Mr. Pitt hätte sich als Sieger niemals so schäbig verhalten. Er hätte für den Krieg plädiert, hätte aber im Frieden Milde gezeigt. Ich wollte nicht in ein Land zurückkehren, in dem Zwerge auf einen Giganten gefolgt waren. Michael war in Paris und schrieb mir nicht mehr. Was machte er? Inwieweit hatte er aus den Lektionen Nutzen gezogen, derer ich mich seinem alten Vater gegenüber gerühmt hatte. Was antwortete er, wurde er nach mir gefragt? Ich wußte nur, daß er die Fürstin von Vaudemont sehr oft sah. Verhalf ihm sein langer Aufenthalt im Orient zusammen mit der geheimnisvollen Engländerin dazu, in der Gesellschaft ihr gegenüber zu glänzen? Ich versuchte – leider sollte mir das nicht gelingen! – , einen weiteren Unvorsichtigen vor sich selbst zu schützen: Boutin, der sich damals bei seinem Landsmann Taitbout in Saïda aufhaltende Spion und unermüdliche Abenteurer, gedachte sich in das Djebel• Ansariyya zu begeben. Ich sandte ihm Nachricht •
Engl. Schreibweise für das arabische Djebilet. 150km langes und 30-40 km breites Schieferbergland des marokkanischen Atlasvorlandes nördlich von Marrakesch.
über Nachricht, um ihn von diesem Wahnsinn abzubringen, denn er lief große Gefahr, ermordet zu werden. Ratschläge finden jedoch selten Gehör, und es obliegt nicht mir, darüber erstaunt zu sein. Die aus dem Norden kommende Epidemie wütete weiter. Sie war meinem Ansehen dienlich, denn ich hatte eine äußerst stark wirkende Essenz destillieren lassen, um der Ansteckung vorzubeugen. Ich erprobte sie im Dorf, und die Geißel verschwand. Niemand bestritt mehr meine geheimnisvollen Kräfte, die allerdings nicht zu meinen eigenen Gunsten wirkten; ich fühlte mich wieder sehr müde, und als ich eines Tages die Treppe hinaufstieg, erinnerte ich mich an den Anblick meines Onkels, wie er das letzte Mal in sein Haus in Putney zurückkehrte. Meryon war beunruhigt. Er wollte mich in diesem Zustand nicht zurücklassen, ich spürte jedoch, wie er hinter mir ungeduldig von einem Bein auf das andere trat. Er konnte es kaum erwarten, nach England zurückzukehren.
Meine Warnungen waren vergeblich gewesen, denn mir wurde berichtet, daß Boutins Uhr auf dem Bazar von Damaskus verkauft worden war. Ich beauftragte einige zuverlässige Männer mit der Untersuchung. Ich war mir ganz sicher; der alte Spion des Korsen war umgebracht worden, als er sich in den Schlupfwinkel der Ansaris* gewagt hatte. Es war bekannt, daß er mein Freund und Schützling war; wenn es mir also nicht gelänge, diesen Mord zu rächen, würde sich die Meinung verbreiten, ich sei dazu nicht in der Lage. Außerdem wäre in diesem Land kein Europäer mehr sicher. Ich maß diesem Gedanken große Bedeutung bei, denn ich kannte noch nicht den Undank jener, deren Erdolchung ich heute ohne weiteres geschehen ließe, wie es letztlich die französischen Konsuln taten, die sich wenig um das Schicksal ihres Landsmannes scherten. Regnault hatte der Familie Boutins in Tripolis
mitgeteilt, daß sich jener, aus Verzweiflung über das Unglück, das sein Land und seinen alten Herrn heimgesucht hatte, eine Kugel durch den Kopf gejagt habe. Sobald meine Boten zurückgekehrt waren, erfuhr ich die Einzelheiten seines Todes. Der Ort des Hinterhalts und die Namen der Mörder, die alle aus dem Bezirk Kardaha kamen, waren bekannt. Sie hatten sich in die uneinnehmbaren, einst von den Kreuzfahrern erbauten Ksour* geflüchtet. Ich besaß jedoch mächtige Freunde in Konstantinopel, und nachdem Sulaiman Pascha versucht hatte, mich mit schönen Worten abzuspeisen, stellte er mir auf deren Anordnung hin fünftausend Mann zur Verfügung, die dem Kommando des Aga Barbar, des Gouverneurs von Tripolis, unterstellt waren. Um nicht die Sympathien der untätigen, aber empfindlichen Franzosen zu verwirken, sandte ich ihrem Konsul in Akko eine Abschrift des Fermans*, der mich ermächtigte, die Angelegenheit in die Hand zu nehmen. Barbar machte keine halben Sachen. Kardaha wurde dem Erdboden gleichgemacht und das Land der Mörder verwüstet. Denen, die meinten, daß dabei viele Unschuldige ums Leben gekommen wären, hielt ich das harte Gesetz des Orients entgegen. Das Wichtigste war, Blut gefordert zu haben. Fortan würde ich Respekt gemischt mit Schrecken verbreiten. Einige entsetzte Seelen hießen mich eine unersättliche Nemesis, Frankreich sprach mir jedoch seinen Dank aus, und seine feigen Vertreter katzbuckelten wieder vor mir.
Im Herbst begab ich mich nach Antiochia, um dort meinen Freund Barker wiederzusehen. Dadurch blieb mir erspart, die Prinzessin von Wales zu empfangen, die die Gegend bereiste und mit ihrem Gefolge sehr wahrscheinlich an die Tore von Mar Elias klopfen würde. Sie floh vor einem skandalösen, von ihrem rüpelhaften Gatten angestrengten Prozeß, in dem sie des
Ehebruches und Kindsmordes bezichtigt wurde. Um den Ansaris die Macht der Frau zu demonstrieren, die sie gestraft hatte, durchquerte ich ihr Territorium nur in Begleitung meines Dragomans und eines Dieners. Bei der Durchreise hörte ich nicht ein Wort. Von meinem Pferd aus sah ich in ihren Augen die Unterwerfung unter eine höhere Macht, unter ein uns alle beherrschendes Schicksal. Trotzdem befahl ich die Schändung der Mausoleen ihrer Imame, damit diese sie fortan nicht mehr würden beschützen können. Morgen schon mögen die Ansaris ergebene Verbündete sein, wie es dieses Land verlangt, in dem die Leidenschaften genauso heftig und kurzlebig sind wie das Hochwasser eines durch ein Gewitter angeschwollenen Wadis.
Aufgrund meines Ruhmes war es für mich nicht leicht, mir meine Abgeschiedenheit zu bewahren. Zu jener Zeit gaben die jungen Männer, die sämtliche Schlachtfelder Europas überlebt hatten, das Vermögen ihrer Väter aus, indem sie die Welt bereisten. Entlassene Offiziere schifften sich für das Morgenland ein, und in Missolonghi sollte Byron bald mit gewohnter Emphase sein Leben aushauchen, obwohl bei ihm das Sumpffieber an die Stelle einer Verwundung im Kampf getreten war. William Bankes, der erste, der mich aufsuchte, erschien in Mar Elias mit einer Zeichenmappe unter dem Arm. Er führte im Orient dreißig Leinwände, vierzehn Pinsel und achtundsechzig Malkästen mit sich; ein Malergehilfe, ein albanische Söldner, half ihm, den goldenen Schiffskoffer zu schleppen. Vom Morgengrauen an widmete er sich mit Feuereifer dem Mischen der Farbpigmente, dann führte er seine Glanzstücke aus: eine träge Frau im Hammam oder im Schatten eines von Olivenbäumen umgebenen Tempels. Der Hintergrund war stets ockergelb und die Zeichenkunst dürftig. Wie viele andere suchte Bankes im Orient das Paradies auf Erden, denn die Londoner Nebel, diese Anhäufung von Nippesfiguren aus sich auflösenden Opalen und milchigen Wolken, wurden hier von der hellen Flut vertrieben. In seinen Augen war die Sonne zerstörerisch und schöpferisch zugleich. Er pries mir gegenüber die »himmlischen Feste der sublimierten Natur« und fragte mich, ob ich für all diese Schönheiten genauso empfänglich sei wie er. Ich antwortete ihm, ich verstünde nichts von Malerei und noch weniger von Metaphysik, und schlug ihm vor, einen meiner Windhunde zu zeichnen, was er tat, wobei er diesem prächtigen Tier ein unbeholfenes und bedrohliches Aussehen verlieh. Angeregt durch mein Vorbild, gedachte er, Palmyra zu besichtigen. Ich gab ihm ein Empfehlungsschreiben für Mehanna mit, der
Europäer nicht ohne diesen Talisman in sein Gebiet vordringen ließ. Ich versah den Brief jedoch nur mit einem Siegel, während ich für meine wahren Schützlinge zwei benutzte, so daß sie äußerst zuvorkommend empfangen wurden. Bankes mit nur einem Siegel hatte kaum das Bil’asgebirge erreicht, als er von Nasser angehalten und mit entschiedener Höflichkeit zurück nach Hama gebracht wurde. Der Odaliskenmaler rächte sich, indem er bei seiner Rückkehr nach London zahlreiche unangenehme Gerüchte über mich verbreitete. Er beschuldigte mich, Palmyra aus Angst, es teilen zu müssen, für mich allein behalten zu wollen. Ein anderer Landsmann, Silk Buckingham, der krank nach Mar Elias gekommen war und den ich hatte gesundpflegen lassen, sang dagegen ein Loblied auf mich. Die englischen Salons hatten also genug Stoff für Kontroversen. Freundlich war ich auch zu einem jungen französischen Pferdehändler, Louis Damoiseau, der in Begleitung des Barons von Portes arabische Vollblüter für die Gestüte seines Landes kaufen wollte. Er verstand sein Handwerk und hatte einen guten Geschmack, und nachdem er meine inniggeliebten Stuten Lulu und Leila bewundert hatte, geriet er außer sich vor Entzücken über die Schönheit dieser Pferde, die mir Nasser zum Geschenk gemacht hatte. Ich überließ sie ihm; später erfuhr ich, daß er sie an die Herzogin von Angouleme verkauft hatte. Vom Zustrom der neugierigen Besucher habe ich nur einige Namen behalten: Firmin Didot, Kapitän Yorke, Graf Leon von Laborde, dem es nicht gelang, hinter seinen guten Manieren die Überzeugung zu verbergen, daß er sich bei mir in einer Irrenanstalt befand. Bei seiner Abreise fragte er mich mit seinem südfranzösischen Akzent, ob ich »Frrrankreich« möge. »Nein, mein Herr«, antwortete ich ihm, »nicht das mit drei ‚R’.« Der junge Herzog von Richelieu ging mir hingegen mit seiner klischeehaften Lobrede über das Gebirge auf die Nerven. »Es ist größer als all Ihre Erinnerungen, Anekdoten
und Bildchen«, sagte ich ihm. »Es zermalmt und verschlingt alles, Bewohner wie Besucher.« Später verbreitete er, daß mich drusische Betrüger in eine »verrückte Alte« verwandelt hätten und ich all ihrem Geschwätz Glauben schenkte. Diese Anekdoten ließen sich unendlich fortsetzen. So bat ein gewisser Herr Urbain, der sich als Herausgeber einer Zeitung ausgab, vor einigen Jahren um meinen Schutz. Ich versorgte ihn mit einem Geleitbrief, damit er nach Belieben das Gebirge durchstreifen konnte, und er war verwirrt, als ihn Daud der Stotterer, Mukhtar* eines christlichen Dorfes, mit dem Gesang einer kaum arabisierten Carmagnole • empfing. Er zog daraus den Schluß, daß Frankreich hier über alle Maßen verehrt wurde! Den Grafen Rewiczki, einen hervorragenden Übersetzer griechischer Handschriften, habe ich in guter Erinnerung behalten. Doch dieser Reigen von Reisenden, die mein Haus alle für eine obligatorische Zwischenstation hielten, erschöpfte mich. Unaufhörlich klopften die Scheinpilger des Orients an meine Tür. Manche brachten ihre Hirngespinste mit, und ein Höfling Karls X. erzählte, der französische König gedächte, seine letzten Tage im Heiligen Land zu verbringen! Er wollte wissen, was ich von jenem großartigen Vorhaben hielte. Ein Herr Croix de La Barre freute sich schon im voraus darauf, sich mit mir ausführlich über die Drusen, Ansaris und Ismaeliten zu unterhalten; er hatte jedoch nicht das Vergnügen. Einer war gar so unverschämt, von mir ein »Beglaubigungsschreiben für die Araber« zu verlangen, und ich lachte ihm ins Gesicht. Der Vicomte von Marcellus, Sekretär der französischen Botschaft in Konstantinopel, sollte mehr Aufmerksamkeit verdienen. Er hatte mir eine kurze Mitteilung gesandt, deren Knappheit der Schlichtheit der Wüste angepaßt war: »Ein junger, auf der Durchreise befindlicher Franzose bittet Lady •
Franz. Revolutions- und Tanzlied.
Stanhope, ihm einen Besuch bei ihr zu gestatten.« Ich empfing ihn, auf einem Bärenfell sitzend. Als die Rede auf die Drusen kam, fragte er mich, ob es stimme, daß sie das Goldene Kalb anbeteten. Diese Frage erheiterte mich, da sie einen guten Eindruck vom Kenntnisstand der Europäer wiedergab! Ich antwortete ihm, daß die heidnischen Gottheiten in ihren Felsen weiterlebten, daß Baal, Astarte, der Mond und die Sterne weiterhin über das Schicksal jener Völker herrschten. Ich werde die nie versiegen wollende Sippschaft der Dichterlinge und Seitenschwärzer nie vergessen! Ihr aller Meister, Herr von Chateaubriand, behauptete, wie mir erzählt worden war, seine Reise einzig zu seiner Erbauung unternommen zu haben. Er suchte im Orient nichts als »Bilder« und hatte das Glück, zu einer Zeit zu kommen, als sie noch nicht allzu blutbefleckt waren. Wie verblüfft war ich, als ich sein Buch las und nichts von dem wiederfand, was ich zu kennen glaubte! Einem meiner Freunde in Paris hatte er eines Tages im Vertrauen gesagt, ich habe in seinen Augen »die Geschichte der Fürstinnen von Antiochia und Tripolis aufleben lassen«. Gibt es zum Teufel irgendeinen Grund, Antiochia und Tripolis zu erwähnen, außer einen stilistischen? Als ich Herrn von Lamartine im März 1832 sah, war er bereits der vergeistigte Poet, von dessen Versen die Pariserinnen hingerissen waren. Er verfügte aber auch über nicht weniger als siebzehntausend Pfund Rente, besaß Schlösser und Dörfer und war im höchsten Grad von seiner Person und seinem Genie überzeugt. Er traf bei mir auf einem Pferd mit schief gewachsenen Ohren und dicken Beinen ein, was mich nicht zugunsten seines Herrn einnahm. Alles an ihm, seine Gesten, sein Gang, seine Art, den Kopf über die linke Schulter zu werfen, zeugten vom Einfluß einer ungünstigen Merkurkonstellation. Als ich ihm vorschlug, mir sein Sternzeichen zu nennen, damit ich beurteilen konnte, ob er eines Tages die hohen politischen Ämter bekleiden würde, die
er anstrebte, rief er aus: »Hüten Sie sich, Mylady!« Seinem kleinen Hund widmete er, zwischen zwei Komplimenten, den Hauptteil seiner Aufmerksamkeit. Ich habe sein Reisetagebuch gelesen und glaube, daß er, so wie er sich in Positur wirft, »das Hohelied Salomons und die Stimme der Propheten« zu hören glaubt und auf den Gefahren seiner Expedition und dem Mut, den er dabei entfaltete, beharrt, es vor allem schrieb, um die Schönheit seiner Seele und den Umfang seines Wissens zur Schau zu stellen. Wie bei vielen glänzenden Denkern ließ sich seine Intelligenz von Vorurteilen lenken, und so hatte er von diesen Ländern eine Unmenge falscher Vorstellungen und konnte auf der Welt nichts anderes als den römischen Katechismus und die neue Demokratie begreifen. Er hatte hier weder Hunger noch Krieg oder gar seine Gastgeberin gesehen, die nach seiner Beschreibung ein Kleid von persischem Stoff mit tausend Blumen trug, welches ihr bis an den Hals ging und dort von einer Perlenagraffe zusammengehalten wurde. Gesetzt den Fall, ich hätte je so etwas besessen, so hätten mich meine Wucherer längst derartiger Zierden beraubt! Der Dichter mußte sich jedoch in Gestalt eines Odysseus in Szene setzen, der den Reizen einer Circe der Wüste widersteht, und deshalb meiner rissigen Haut und meinem abgemagerten Körper gegenüber nachsichtig sein. In den meisten Reiseberichten bin ich nichts weiter als eine auf Wunsch zum Leben erwachende Statue, eine sprechende Sehenswürdigkeit. Herr von Lamartine hat über mich Lobreden geschrieben, die bei näherem Nachdenken nicht sehr schmeichelhaft sind: »Das mächtige Staunen, welches ihr Genie bei den arabischen Völkerschaften um die Gebirge her erregt hat und noch erregt, ist Beweis genug, daß diese vorgegebene Narrheit nur ein Mittel ist. Für die Menschen dieses Landes der Wunder (ich überspringe die großartigen, farbenprächtigen Beschreibungen) ist das Wort Mohammeds oder der Lady Stanhope vonnöten! Da braucht man Verkehr
mit den Sternen, Prophezeiungen, Wunder, das zweite Gesicht! Das hat Lady Stanhope begriffen…« Es folgt eine lange Tirade über meine verborgenen Kräfte, die, wenn ich es recht verstehe, Scharlatanerie und die Kunst, willensschwache Menschen hinters Licht zu führen, erkennen lassen. Spricht man aber vom Orient, dann ist jede Lüge gestattet, und Herr von Volney, der nie in Palmyra gewesen ist, hat sehr schön über seine Ankunft in dieser Stadt berichtet. Solchen Phrasendreschern ziehe ich die in den alten Sprachen bewanderten oder von ihren Ausgrabungen begeisterten Wissenschaftler und Gelehrten vor, denn sie können mir wenigstens etwas beibringen. Seit ihrem Sieg über Napoleon sind die Engländer unerträglich arrogant, und der Orient ist für sie nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach Indien, ein sonnenbeschienenes Theater, in dem der Dandy sein Jabot bewundern läßt. Unglücklicherweise war ich gezwungen, einen gewissen Dr. Browning abzuweisen. »Ich war überall willkommen außer bei meiner Landsfrau«, wetterte er bei seiner Rückkehr nach London, erbost darüber, daß ein Mitglied des britischen Parlaments kein Anrecht auf die Gastfreundschaft einer, wenn auch ruinierten, Pensionsempfängerin Seiner Majestät des Königs von England hatte. Natürlich wollte niemand etwas davon wissen, daß ich nicht mehr über die Mittel verfügte, ein offenes Haus zu fuhren.
Man soll die Wahrheit nicht verschleiern: Bis auf wenige Ausnahmen ist der Orientreisende, ganz gleich, welcher Staatsangehörigkeit er angehört, ein naiver oder selbstgefälliger Mensch. Völlig unwissend und hingerissen schwärmt er für Gerümpel, das er für Kultur hält und mit wohlklingenden Wörtern überhäuft: Despotismus,
Grausamkeit, Sinnlichkeit, Weisheit. An den geheimen Freuden des Harems, jenes ebenso faszinierenden wie unzugänglichen Ortes, entzündet sich sein Blick und wird sein Verstand getrübt. Früher oder später wird er sein Arbeitszimmer am Ufer der Seine oder Themse in eine Moschee verwandeln und eine Wasserpfeife rauchen. Der Franzose entspricht diesem allgemeinen Porträt; er besitzt dabei jedoch eine zusätzliche Marotte: Er bildet sich ein, den barbarischen Völkern Freiheit und Wissen zu bringen, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, in Erfahrung zu bringen, ob jene diese Geschenke wünschen und gebrauchen können. Was wissen schon all jene bei den Konsuln logierenden Spaziergänger, über deren Ansichten sie ehrfürchtig Bericht erstatten, vom Orient? Ahnen sie auch nur, mit welchen Gaunern sie es meistens zu tun haben? Abbot, der englische Konsul in Beirut, ist zweifellos der unverschämteste und verlogenste Vertreter seines Berufsstandes. Mit Hilfe eines ehemaligen, des Mordes verdächtigten armenischen Bischofes erhielt er hohe Summen von der Londoner Bibelgesellschaft, um die Missionare zu unterstützen und Apostate zu schützen. Ein schöner Klüngel! Und selbst der ohne Zweifel sicherlich in die Geschichte vernarrte Dovretti ist an ihr nur interessiert, wenn er sie zu Geld machen und in den Pariser Kuriositätenkabinetten verkaufen kann! Mein verehrter Barker hob sich durch seine Aufrichtigkeit fast als einziger von diesen zweifelhaften Gestalten ab; es gibt schließlich keine Regel ohne Ausnahme.
Die Nachricht vom Tode meines Vaters, der am 15. Dezember 1816 verschieden war, erreichte mich erst im April des darauffolgenden Jahres. Ich wurde in seinem Testament nicht einmal erwähnt. Etwas später erfuhr ich, daß sich mein
»unvergleichlicher Mahon« von einst, der Erbe des Titels, durch seine Intoleranz hervortat. Seinen Eintritt ins Oberhaus hatte eine zornige Rede gegen Frankreich gekennzeichnet, dem Mr. Pitt, Lord Stanhope und ich, jeder auf seine Weise, stets Achtung entgegengebracht hatten. Er hatte seine Ansprache mit Grobheiten und Lügen gewürzt und verkündete, die französische Nation sei ein Volk von Sklaven und Dieben, und man müsse, wolle man den Frieden Europas wahren, das französische Territorium teilen, um es wieder zu dem zu machen, als das es in Cäsars Kommentarien erscheint: »Gallia in tres partes divisa est…« Diese erbärmlichen Tiraden hatten die Mehrheit der Versammelten empört. Ich schrieb ihm einen Brief, in dem ich ihm vorwarf, daß er das Andenken der beiden Pitts verrate, indem er sich wie ein Gassentribun benehme. Er hütete sich davor, mir zu antworten. Das politische Leben Englands war, wie man sich denken kann, nicht meine Hauptsorge. Sulaiman Pascha starb unterdessen, und sein junger Neffe, Abdallah, trat die Nachfolge als Pascha von Akko an. Er besaß keinen der Vorzüge seines Onkels und fand größeres Interesse am Harem als an den öffentlichen Angelegenheiten; er war mir jedoch wohlgesinnt, wofür ich ihm dankbar war. Er erwies mir die Ehre, mich um die Gestaltung eines Gartens zu bitten. Ich erklärte mich einverstanden und versuchte, etwas zu schaffen, womit dieser orientalische Narziß auf seine Kosten kam. Den Dauerpflanzen wie malvenfarbenem Salbei, roten Lichtnelken und rosa Rittersporn, die ich für mich gewählt hätte, zog ich in diesem Fall die Attribute eines Klein-Versailles vor: beschnittene Eiben, geometrische Bassins und Zypressenhecken. Um diesen Ort zu schmücken, der dazu bestimmt war, ihn in seiner hohen Meinung von sich selbst zu bestärken, wollte ich eine ionische, aus den Trümmern der alten Stadt geborgene Säule aufbauen lassen. Während ich eine Liste mit meinen Empfehlungen
schrieb, merkte ich, daß die Transkription des Wortes »ionisch« ins Arabische so unschicklich war, daß mein Dragoman darüber hochrot wurde. Es war besser, unnötige Empörung zu vermeiden. Der schlecht beratene Abdallah, der ansonsten mit einem gesunden Menschenverstand ausgestattet war, ließ es an Bedachtsamkeit fehlen und lehnte sich, ich weiß nicht, aus welchem Grund, wenig später gegen den Pascha von Damaskus auf. Er errang einige Siege, bis der Sultan, der lieber schon den kleinen als den großen Unruhen ein Ende setzte, aus seiner Lethargie erwachte. Die Meuterer wurden von den Truppen der Pforte niedergeworfen und Abdallah, der in Ketten nach Konstantinopel gebracht worden war, zu einem Lösegeld verurteilt, für das er um meine Hilfe bat. Einem Freund oder Verbündeten habe ich nie etwas abgeschlagen. Dieses Darlehen, für das ich meine Einkünfte noch stärker mit Hypotheken belasten mußte, zahlte er mir jedoch nie zurück. Es war zu einer Zeit, in der es mir in Mar Elias an Platz fehlte und ich die mir in Dingen der Hauswirtschaft eigene Flucht nach vorne antrat, mich in törichte Ausgaben stürzte und in Djun einen neuen Wohnsitz schuf, den ich nicht mehr verlassen sollte.
Nach dem kleinen Kloster Mar Elias sollte ich mich nun in einem verlassenen, weitläufigen Gebäude niederlassen, das sich auf einem grünen Hügel unweit Saïdas erhob und dem Westwind ausgesetzt war, der, sobald er als Sturm über die Küste hereinbricht, die Flüsse zwingt, zurückzufließen, und sie Bananenstauden und Mispelsträucher überschwemmen läßt. Die Pitts wie die Stanhopes waren schon immer bausüchtig, und Lord Chatham, mein auf das kleinste Detail bedachter Großvater, konnte in keinem Herrenhaus wohnen, ohne es nach und nach in ein Schloß zu verwandeln. Was meinen Vater betrifft, so hatte er sich erdreistet, ein von Inigo Jones erbautes Meisterwerk zu verunstalten, damit es seiner Utopie entsprach. Ich hatte es jedoch mit der Wirklichkeit zu tun, und diese verlangte nach vorausschauenden Maßnahmen. Ich ließ also Trennwände einreißen oder umsetzen, Kammern, Küchen und Ställe herrichten und vor allem geräumige Zimmer für all jene, die in den kommenden Zeiten der Unruhe, die ich mit großen Schritten auf uns zukommen sah, Zuflucht bei mir suchen würden. Zwei Zugangswege führten in meine Gemächer, der eine für Besucher und Diener, der andere für die Unterhändler und Boten, die unauffällig in mein Haus gelangen mußten. Ich hatte einen unterirdischen Gang vorgesehen, der mir im Falle einer Umzingelung die Flucht ins Landesinnere ermöglichen würde. Außerdem hatte ich Flure, Räume und Treppen in einem für jeden Fremden undurchdringlichen Gewirr anordnen lassen, denn ich wollte die einzige sein, die das Geheimnis meines Labyrinthes kannte. Auch meinen Haushalt galt es zu disziplinieren, und ich brachte ihn in Ordnung; wie bei Hofe hatte fortan jeder meiner Diener seine eigene Aufgabe: Solange sie auf ihre kriegerischen Pflichten warteten, war der eine dafür da, mir den Steigbügel zu halten, der andere, mir Wasser zum Trinken zu reichen oder meinen Turban herzurichten. Täglich
legte mein Dragoman mir einen detaillierten Bericht darüber vor, was innerhalb und außerhalb meines Hauses vor sich ging, über das Kommen und Gehen, die Bitten um Unterredung. Ich mußte so vieles regeln, so viele Entscheidungen treffen, daß ich immer gebieterischer wurde. An dem Morgen, als sich mein Gärtner erlaubte, mir einen Ratschlag zu geben, indem er zu mir sagte, der Boden sei nur dazu gut, Kopfsalat und Mangold anzubauen, befahl ich ihm, ein großes Loch zu graben. Zu Tode erschreckt verließ er mich, da er glaubte, er sollte sein eigenes Grab schaufeln. Der alte Zorn hatte wieder Besitz von mir ergriffen; die dreißig mich umgebenden Nichtsnutze machten mich rasend, und meine beiden Verwalter waren nicht fähig, einer Gans Angst zu machen. Damit sich meine Leute in Bewegung setzten, mußten sie unaufhörlich gescholten werden. Sobald ich ihnen den Rücken zuwandte, verkrochen sie sich wie Hunde in den Ecken. Ein Christ kann hier nicht die Hand erheben – auch nicht gegen den Nichtswürdigsten der Mohammedaner –, sondern muß diese Arbeit einen anderen Getreuen des Propheten ausführen lassen. Ich verzichtete nicht darauf, und mein schlagender Muslim genoß seine Aufgabe voll und ganz. Ich fragte mich bisweilen, ob es mir in der Stunde der Gefahr gelingen würde, diese trägen Pfeifenraucher aus ihrer Lethargie zu reißen. Selbst der Kanonendonner verwandelte diesen Haufen Schlafmützen nicht in ein Kriegsbataillon. Heute haben mich die meisten meiner Diener verlassen, da ich ihren Lohn nicht mehr zahlen kann. Das werfe ich dieser Sippe von Lügnern und Taugenichtsen, die stets bereit waren, nach einer nachdrücklicheren Schelte betont auffällige, aber unwirksame Betriebsamkeit an den Tag zu legen, jedoch nicht vor. »Küsse die Hand, die du nicht abschlagen kannst«, scheint ihr Motto zu sein. Ohne in die Torheiten der Philantropen zu verfallen, hatte ich zu Beginn meines Aufenthaltes versucht, meine Leute
anders zu behandeln, mich aber schnell von meinen Illusionen verabschieden müssen. Es wird erzählt und in England bisweilen auch geschrieben, ich sei eine Xanthippe und würde meine Leute bei jeder Gelegenheit beschimpfen. Das stimmt, aber nur auf diese Weise verschafft man sich in diesem Land Gehorsam. Zaynab, eine meiner schwarzen Dienerinnen, sagte eines Morgens zu mir: »Herrin, Sie müssen mir Stockschläge geben lassen, wenn Ihnen etwas an mir mißfällt. Wie sollte ich es sonst merken?« Wie Öl in einem schlecht verschlossenen Krug droht in diesen Gegenden der Welt die Autorität stets Tropfen für Tropfen zu entschwinden, und nur die Kraft der Fäuste beruhigt; das Sklaventum ist mitunter eine Wonne. Haben sich die Franzosen nicht eines gutmütigen Königs entledigt, um unter die Fuchtel eines unerbittlichen Korsen zu geraten? Anstelle des traditionellen dreimaligen Händeklatschens in den vornehmen türkischen Häusern habe ich den europäischen Gepflogenheiten nur die Glocke übernommen. Sobald das Läuten zu hören war, ertönten die Worte Jarass es-Sitts. Zeizafun, die liebenswerte, erst sechzehnjährige Abessinierin, war die einzige meiner Dienerinnen, die ich nie bestraft habe. Sie verband die Kraft eines Hengstes mit der Leichtigkeit einer Gazelle. Eines Tages sah ich, wie sie aus einer einzigen Hüftbewegung heraus einen riesigen Korb voller Kohlen hochhob und sich auf den Kopf setzte. Ich allein vermochte die Traurigkeit über ihr Exil, die oft in ihrem Gesicht zu sehen war, zu vertreiben. Die anderen Dienerinnen ähnelten Fattum, einer monströsen Gestalt mit dickem Hinterteil, deren Rücken nur dazu taugte, Körbe zu tragen. Zu Bairam oder Ostern, je nach Religion, verteilte Logmagi, mein Vertrauensmann, tausend Piaster an uns dienliche Personen in Saïda: an den Pförtner und die Janitscharen* von Khan el-Franj, den Türwächter, den Kommandanten des Hafens, den Gärtner, der uns mit Gemüse
versorgte, den Fischer, der bei mir seine schönsten Fischkörbe abgab. Der alte Schneider Jacob erhielt jährlich zweihundert Piaster; fünfzig erhielten die Imame bestimmter Moscheen und die Meisterin des Bades, in das ich meine Dienerinnen schickte, damit sie sich vom Schmutz befreiten. Nichts hat mich in all diesen Jahren davon abgehalten, in Saïda für die ganze Hausgemeinschaft neue Kleidung anzuschaffen. Jedes Fest lieferte einen Vorwand für neue Umhänge, Gehpelze, Sherwals, Blusen, Kasacks, Turbane und Kleider. Vier meiner Dienstboten liefen, kaum waren sie von Kopf bis Fuß angezogen, pfeilschnell davon, und ich sah sie nie wieder. Aber das war nicht wichtig; da ich auf das erste Grollen des Donners wartete, brauchte ich mutige Männer und keine Feiglinge. In meinem von hohen Mauern umgebenen Garten, der meine Besucher sehr entzückte, fühlte ich mich durch die Rosen geschützt. Ich hatte ausschließlich granatrote pflanzen lassen, die sich im Mai flammenrot färbten, denn die Lieblichkeit des Pastellfarbenen und das zaghafte Ton in Ton habe ich schon immer verabscheut. Unter die Rosen hatte ich Malven aus Turkestan gemischt, die erblühen, wenn jene verblühen. Meine Blumen ähnelten mir; sie waren leidenschaftlich ungehorsam. Verschwenderisches Orange und Purpur überflutete die Allee zur Gartenlaube, in der ich mich von der Griesgrämigkeit des Abendlandes so weit entfernt fühlte. Wenn mich das Eingeschlossensein bedrückte, gelangte ich über eine geheime Treppe mitten in die Natur. Doch manchmal ergriff mich die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Nach einem Leben, das ich wohl geführt hätte, wenn John Moore aus Spanien zurückgekehrt wäre und ich den Mann geheiratet hätte, der mir vielleicht als einziger zusagte? Oder wenn Michael an meiner Seite geblieben wäre? Als die Sonne einigen roten Streifen am blassen Himmel Platz machte, peinigten mich meine Sinne, von denen ich seit der Abreise meines Geliebten geglaubt hatte,
sie hätten sich zur Ruhe gelegt. Von meinem Fenster aus konnte ich das Licht einer Lampe in Zeizafuns Kammer erblicken; ich beobachtete ihre schlanke Silhouette, während ich gegen meine Unruhe ankämpfte. Ich ging in den Garten hinunter, um sie zu vertreiben, zählte die Treppenstufen und genauso viele Stationen meines Schicksals. Was für Aufregungen, Prüfungen und doch auch segensreiche Stunden in all den Jahren! In der Ferne waren die Klagelaute der Nachttiere und manchmal das Heulen eines Schakals zu hören.
Eines Nachts hatte ich einen seltsamen Traum. Einen jener Träume, die mit der Wirklichkeit wetteifern, da ihre Konturen ganz deutlich sind. Ich stieg auf das Schafott, und ich erwachte genau in dem Moment, als das Beil fallen sollte. Angst verspürte ich jedoch keine, denn in dieser friedlichen Enthauptung sah ich die Ankündigung einer großen Veränderung und den Beweis dafür, daß mir der Gedanke, vor einen Gott der Rache treten zu müssen, nicht einmal mehr in den Sinn kam. Die Lehren der Drusen hatten Früchte getragen, und für mich kam es nicht mehr in Frage, zum naiven Christentum meiner Kindheit zurückzukehren. Zu jener Zeit gewährte ich General Lousteneau Zuflucht, einem merkwürdigen Menschen, der wie ein biblischer Prophet aussah und in Mar Elias sein abenteuerliches Leben beschloß. Als kleiner Bauer aus den Pyrenäen hatte er sich in Bordeaux nach Indien eingeschifft, wo es ihm – ich weiß nicht durch welches Wunder – gelungen war, sich an die Spitze der aufständischen Marathen zu setzen. Er stand im Ruf, außergewöhnliche Kräfte erworben zu haben. Nachdem er nach Frankreich zurückgekehrt war, hatte er seine Rupien mit vollen Händen ausgegeben und war von einer religiösen Inbrunst erfaßt worden, die schon an Raserei grenzte. Er hatte sich erneut auf den Weg nach Indien begeben, auf das er nicht mehr verzichten wollte, war allerdings bei seinem Zwischenhalt in Akko krank geworden, und ich hatte ihn in einem erbärmlichen Zustand aufgelesen. In diesem Land, dem es nie an Gottverrückten gemangelt hat, war er am rechten Platz. Wie Brothers versetzte er sich in Trance, um die Zukunft vorherzusagen, und neben anderen Siegen hatte er die Rückkehr Napoleons auf die Insel Elba verkündet. Er versicherte mir, daß die Heiligen Schriften die Ankunft einer fremden Königin im Orient prophezeit hätten und daß meine
Mission die Rückkehr zum wahren Glauben erfordere. Seine Beschwörungen überzeugten mich schließlich davon, daß ich meinen früheren Glauben durch einen feinsinnigeren ersetzt hatte. Dogmen sind mir egal; sie sind alle schlecht, einschließlich des Dogmas, das mich früher gelehrt worden war. Meine Seele ist zu groß; wie der Fluß, in dem sich das Quellwasser mit dem Widerschein des Himmels vermischt, fuhrt sie alle Religionen mit sich. Für Gewißheit und ihre Beweihräucherer empfinde ich nichts als Verachtung. Die Christen hier unterscheiden sich in meinen Augen nicht sehr von anderen; vielleicht sind sie ein wenig heuchlerischer. Doch man darf sich von den Reliquienjüngern und Paradieshändlern nicht ganz von seinem Glauben abbringen lassen. Kurz nach meinem Einzug in Mar Elias hatte ich einen Eremiten in seiner Einöde aufgesucht. Nach nur drei Tagen des Redens und Fastens war ich in eine Art Ekstase geraten und die Welt außen zu einer reinen Phantasmagorie geworden, die Seele wurde mir weit, und vom Rande eines Abgrundes aus rief mich eine Lichtgestalt an. Zeitweise habe ich im Fieber jener Krankheit einen Zustand erreicht, den man vielleicht Gott nennen darf. Die Bibelhändler und die anderen Gotteseiferer waren mir unerträglich geworden; und besonders Dr. Joseph Wolf, einen zum Protestantismus übergetretenen Juden, den die Londoner Bibelgesellschaft mit der schwierigen Aufgabe betraut hatte, unter den Glaubensbrüdern in Palästina Proselytenmacherei zu betreiben und die Maroniten des Libanons von der Schönheit des Lutheranismus zu überzeugen, tadelte ich heftig. Da er nicht wagte, sich direkt an mich zu wenden, schrieb er an Logmagi, um ihm seine Dienste anzutragen. Ich ließ ihm ausrichten, ich sei erstaunt, daß ein Apostat wagte, sich in meine Angelegenheiten zu mischen, und daß er, wäre er ein dieses Wortes würdiger und einigermaßen gelehrter Jude, niemals eine Religion, die, wenn auch nicht vollkommen, so
doch reich an Wahrheiten war, für eine andere aufgegeben hätte, die nicht ihren Wert besaß. Das sich fest auf seine althergebrachten Glaubensüberzeugungen stützende Gebirge wies die Avancen der Seelenfänger jedoch ab, die nicht alle nur von frommen Absichten beseelt waren. Durch die in meinem Lohn stehenden Lauscher hatte ich von einer Nachricht seines Ministers an den französischen Konsul in Saïda Kenntnis erhalten: »Stehen die Maroniten mit den Engländern in Verbindung, und welche Unterhändler setzen sie ein? Unterhält Emir Beschir Beziehungen zu ihnen?« Taitbout hatte geantwortet, die englischen Agenten könnten nicht von den Christen empfangen werden, »da die öffentliche Geisteshaltung entschieden für uns ist und vom Klerus und den maronitischen Scheichs unterstützt wird. Emir Beschir schätzt unser Volk außerordentlich. Mitunter verärgert es ihn gar, daß wir ihn vergessen.« Ach, wie naiv die Kanzleien doch waren! Man glaubte diesem grausamen Schurken und zaghaften Liebhaber Frankreichs! Einige Dummköpfe hatten mich gar als Propagandistin der Anglikanischen Kirche bezeichnet, die gekommen sei, dieses Land zu den Riten Westminsters zu bekehren. Dies brachte zumindest das Bild, das man üblicherweise von mir hatte, nämlich das einer großen Dame, die nicht ganz richtig im Kopf war und einen skandalösen Lebenswandel führte, durcheinander. War dies die Vorstellung, die sich Lousteneaus ältester Sohn Jean-Baptiste, ein in Waterloo verwunderter Dragoneroffizier, von mir machte, als er seinen Vater bei mir aufsuchte, um ihn zu unterstützen und sich mit ihm auf den Weg nach Indien zu begeben? Diesem jungen, tatkräftigen und sonnengebräunten Offizier fehlte es nicht an Eleganz; wenn man ihn so ansah, hätte man meinen können, er stamme eher von John Moore ab als von dem Orakelsprüche verkündenden Greis, der immer wieder den Versuch unternahm, mich vor den Altar zu schleppen. Einige
Wochen lang ritt Jean-Baptiste täglich neben mir, wobei sein Schwert gegen seinen muskulösen Schenkel schlug. Er sprach nicht mehr davon, abzureisen, und ich erkannte, daß ich in seinem Herzen den Platz des indischen Wunders eingenommen hatte. Ich gab ihm, wonach er sich so sehnte; noch einmal erlebte ich jene Augenblicke der Ausschweifung, nach der sich andere Frauen vor allem anderen auf der Welt so sehr sehnen. Er verstand sich darauf, Diskretion zu wahren, und ich dachte daran, ihn zum Verwalter meines Hauses zu machen. Doch ohne Vorankündigung wurde der schöne Hauptmann von einer mysteriösen und tödlichen Krankheit erfaßt und verschied. Hatte er sich an meinem Stern verbrannt? Oder hatte ich mich der Liebe hingegeben, um selbst von meiner Jugend Abschied zu nehmen? Ich ließ ihn im Garten unter einer Laube aus Geißblatt und Jasmin beerdigen, und vor seinem Grab rezitierte ich die Verse Petrarcas, die ich einst in Chevening gelernt hatte: Nach andrer Liebe, andrem Laub und Lichte, nach Himmelspfaden über andere Hügel begehr ich; es ist Zeit; und andren Zweigen. Damit hatte meine Schwäche für die Männer ein Ende; doch keiner sollte sagen können, ich hätte geweint.
Seit Anfang der zwanziger Jahre richtete sich die Aufmerksamkeit der Welt immer mehr auf den Orient. Der griechische Unabhängigkeitskrieg hatte daran großen Anteil, und das türkische Gemetzel unter den Insulanern von Chio, ein Vergeltungsakt für das ebenso grauenvolle griechische Massaker an den Bewohnern Tripolitzas, trieb den Literaten geschlossen die Tränen in die Augen und ließ das empfindsame Herz des Abendlandes erschaudern. Unser Wiener Botschafter schrieb mir, Metternich habe in einem Salon eine frostige Stimmung verbreitet, als er ausrief: »Die Türken schneiden den Griechen die Kehle durch, und die Griechen köpfen die Türken; das sind die angenehmsten Nachrichten, die ich zur Zeit höre. Dabei ist es keine Frage der Kultur. Ob man dreioder vierhunderttausend Menschen hängt, pfählt oder ihnen die Kehle durchschneidet, zählt dort unten kaum!« Dieses »dort unten« war jedoch mein hier, und ich konnte seine große Gelassenheit nicht teilen. Byron sah in diesem Krieg eine Gelegenheit, mit großem Aufsehen aus seinem Dichterund Dandyleben zu scheiden, doch diese Todessehnsucht teilte ich nicht. Ich war entschlossen, soviel Gutes zu tun, wie ich nur konnte, und die Anzahl der Notleidenden sollte noch anwachsen, befanden wir uns doch erst am Anfang des Dramas. Muhammad Ali, der mir in Kairo einen so guten Empfang bereitet hatte, ließ nun seine Maske fallen. Zu den Zeiten, als er dem Sultan noch treu ergeben gewesen war, hatte er seinen Sohn, den unerbittlichen Ibrahim Pascha, auf die Rebellen des Reiches gehetzt, und dieser hatte nach einem siegreichen Feldzug gegen die Wahhabiten* die Griechen bezwungen und Morea erobert. Hätten die Mächte Europas nicht die Zähne gezeigt, hätte der Sultan den Traum der Hellenen zunichte machen können. Der Traum des Ägypters unterschied sich nicht sehr von dem der Griechen: Auch er
wollte sich von der osmanischen Bevormundung befreien. Zu diesem Zweck hatte er Ägypten aus seiner jahrhundertelangen Lethargie gerissen. Als ich vor über zwanzig Jahren hinter der Liebenswürdigkeit meines Gastgebers das gefährliche Wesen des Kriegsmannes erahnte, habe ich mich nicht geirrt. Dieser albanische Pharao hielt Syrien für »die naturgegebene Verlängerung« Ägyptens und die Syrer für seine Reserve an furchterregenderen Soldaten und für seine Fellachen vom Nil, außerdem benötigte er für seine Schiffswerften das Holz des Libanons und Almanus’. Daher verlangte er von Syrien eine Entschädigung für Morea, das er hatte verlassen müssen. Dies betraf uns unmittelbar: Ohne das libanesische Gebirge zu kontrollieren, hatte sich keiner in dieser Gegend lange halten können, und sogar Bonaparte hat davon geträumt, die Drusen für seine Dienste anzuwerben.
Die Pläne des Vizekönigs hatte ich schon seit langem durchschaut, und ich wirkte den Machenschaften seiner Agenten entgegen, die versuchten, meine Nachbarn für sich einzunehmen, indem sie ihre Wachposten unterstützten, und die den Pascha von Akko und den Emir von Deir el-Kamar umschmeichelten. Dieser gerissene Schurke täuschte alle, Sultan wie Vizekönig, Engländer wie Franzosen. Der Emir überhäufte mich stets mit Aufmerksamkeiten und Komplimenten, über deren Aufrichtigkeit ich mir jedoch keine Illusionen machte; drehte sich der Wind, würde mir eine andere Behandlung zuteil werden! Nachdem er lange vorgegeben hatte, mein unbezähmbares Wesen zu bewundern, prallten wir eines Tages aufeinander; und es kam zum Bruch. Ich hatte mit Scheich Beschir Djumblatt, der sich gegen die Autorität des Emirs aufgelehnt hatte, Freundschaft geschlossen. Djumblatt befehligte die Drusen, jene heimlichen Herren des Gebirges,
deren Krieger so gewandt wie Steinböcke und ihren Oberhäuptern und geheimnisvollen Gottheiten blind ergeben waren und seit jeher nur zum Vergnügen Krieg führten. Sie waren ein wesentlicher Faktor im sich um mich herum entspinnenden Kampf zwischen dem Sultan und seinem ehemaligen Getreuen. Obwohl beide den gleichen Vornamen trugen, waren Scheich und Emir genauso verschieden wie – so sagt man hier – Kreide und Käse. Sie standen einander in einem gnadenlosen Krieg gegenüber. Der Emir gewann die Oberhand, nahm seinen Gegner gefangen und ließ ihn mit abscheulicher Grausamkeit zu Tode foltern. Die entsetzte Sitt Habus, die Gattin des Scheichs, floh mit ihrem Sohn. Beschir schickte seine Männer hinter ihr her; er wollte den kleinen Jungen sterben sehen, um dessen mögliche Rache im Keim zu ersticken. Sobald ich davon erfuhr, stellte ich die Flüchtigen unter meinen Schutz, ließ ihnen durch einen Vertrauensmann etwas Gold und die nötigen Mittel zukommen, damit sie sich in Sicherheit bringen konnten. Ich wußte sehr wohl, was ich riskierte, aber es brauchte schon mehr, um die Königin von Palmyra einzuschüchtern, die sich nie einem Manne gebeugt hat, so barbarisch er auch sein mochte. Ich stellte mir das Schicksal, das er mir vorbehalten hatte, lieber nicht vor. Zum Glück wußte er, daß sein reichlich eingesalzener Kopf ein Silbertablett in Konstantinopel zieren würde, wenn er sich an mir vergriff. Drei Jahre lang weigerte ich mich, auch nur die geringste Verbindung zu ihm zu unterhalten, und verschloß seinen Boten, den Überbringern seiner üblichen Lügen, meine Türe. Mehr als jemals zuvor und mit großer Regelmäßigkeit schröpfte er sein Land, und die von den Steuern erdrückten Bauern flüsterten mit einem bitteren Unterton: »Unser Emir braucht einen Qintar* Schnüre, um seine jährliche Seidenernte zusammenzubinden.« Nichts war seiner Herrlichkeit gut genug, und er ließ in Beit ed Dine einen Palast bauen, zu dem das
Wasser über einen Aquädukt geleitet wurde. Um mich dafür zu bestrafen, daß ich die Partei Djumblatts ergriffen hatte, vervielfachte er seine immer weniger verhüllten Demütigungen und Drohungen gegen mich. Eines Abends ließ er in den Dörfern mittels eines Ausrufers verkünden, daß all meine Dienstboten nach Hause zurückkehren müßten, sonst drohte ihnen der Verlust ihrer Güter und ihres Lebens. Weil er damit drohte, jeden, der es wagte, mir zu Hilfe zu kommen, öffentlich in Stücke reißen zu lassen, mußte ich heimlich mit Vorräten versorgt werden; daher erfolgten die Lieferungen nachts. Nur eine einzelne alte Frau wagte es, mich offen zu besuchen; sie erklärte mir, daß sie lieber stürbe als grausamen Befehlen zu gehorchen, und sie bat Gott um die Verfluchung des Emirs und all der verschreckten Angsthasen, die ihn gewähren ließen. Doch schon bald brauchte ich mehr Mut, um mich mit einer Nachricht auseinanderzusetzen, die mich in jenem Jahr erreichte: Mein Bruder James, der sich vom Verlust seiner vielgeliebten Gattin vor zwei Jahren nicht hatte erholen können, hatte sich das Leben genommen. Ich kann diese Zeilen nicht schreiben, ohne noch heute mit den Tränen zu kämpfen, und bin außerstande, mehr darüber zu erzählen. In jener unheilvollen Zeit mußte ich auch den Verlust von Miss Williams verschmerzen, die ich zu ihrem Unglück vor einigen Jahren wieder zu mir gerufen hatte. Einmal mehr wurde das Land von einer Seuche in Verzweiflung gestürzt. Meryon war damals in Europa, denn ich hatte ihm gestattet, einige Zeit dort zu verbringen. Ich versuchte es bei ihr mit einem Salzsud, dessen einzige Wirkung darin bestand, daß er den tödlichen Ausgang beschleunigte. Beschirs Drohungen hatten die arme Miss Williams zwar entsetzt, sie hatten sie jedoch nicht dazu bewegen können, mich zu verlassen. Auch sie war von diesem Land eingenommen, und mit der Würde der Leiterin eines Mädchenpensionates trug sie die dunkle Abayya* und jene
Sandalen, die hier von den armenischen Schuhflickern gefertigt werden. Sie hatte mir ihr friedvolles Leben geopfert und für mich ihre Malteser Liebschaft vergessen. Ich war dieser gutherzigen Frau gegenüber oft sehr grob gewesen, und sie hatte mich geliebt. Als Meryon zurückkehrte, zeigte ich mich ihm gegenüber herzlich. Er hatte mich oft verärgert, aber seit dem fernen Tag, an dem er am Montagu Square den Tee eingenommen hatte, bot er meinen Ausbrüchen beherzt die Stirn. Seine Integrität, die in diesem korrupten Land häufig auf die Probe gestellt worden war, blieb unverbrüchlich. Er hielt mich zwar für verrückt, doch er blieb, auf meine Gesundheit und meine Interessen bedacht, an meiner Seite. Für die großen Prüfungen war er sicherlich nicht geschaffen, und von Zeit zu Zeit bedauerte er, auf die fahrende englische Postkutsche aufgesprungen zu sein. Doch er hat mir beständig gedient und seine Pflege zuteil werden lassen. Auch Logmagi ist mir weiterhin treu; dieser ehemalige Schwammfischer mit dem markanten Kopf eines Wildschweines – der, als ich ihn in meine Dienste nahm, nach all den vielen unscheinbaren Gesichtern meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte – ginge für seine Herrin in den Tod. Lange habe ich mich gefragt, warum ich eine solche Ergebenheit hervorrufe, doch die Antwort steht wie so häufig in den Sternen.
Die Gerüchte wurden täglich alarmierender und immer präziser: Muhammad Ali rüste sich, um zur Tat zu schreiten. Der Herrscher von Kairo sei entschlossen, dem Sultan die Stirn zu bieten, dessen Krallen durch die Mächte gestutzt worden seien, um die Christen des Balkans zu schützen. Die langen Unterredungen, die ich einst mit Mr. Pitt über die Angelegenheiten der Welt geführt hatte, erlaubten mir, die Tragweite eines ägyptischen Sieges zu ermessen. Ich wollte meinem Land dienlich sein, und Mahmud war überdies der legitime Souverän, dem meine Loyalität gebührte. Was Frankreich betraf, so schien es in Muhammad Ali den natürlichen Erben der ägyptischen Träume Bonapartes zu sehen; für England hingegen war es wichtig, ihn zu schwächen, wenn es verhindern wollte, daß ihm der Weg nach Indien bald versperrt würde. Anarchie breitete sich im Reich aus, dessen Zusammenbruch unmittelbar bevorzustehen schien. 1831 setzte der ehemalige albanische Krämer, der wie in einer Erzählung aus Tausendundeine Nacht von Fortuna ausgezeichnet worden war, alles auf eine Karte, und seine Truppen durchquerten die Landenge von Suez. Die Bevölkerung um mich herum sahen den neuen Steuern mit genausoviel Entsetzen entgegen wie den Greueltaten des Krieges. Frankreich und England bekämpften einander weiter mittels ihrer Missionare. Immer mehr Prediger schifften sich ein, und im Handumdrehen wurden Bibeln auf arabisch gedruckt. In einem Ferman* wurde befohlen, sie zu beschlagnahmen und ins Meer zu werfen, da die Machthaber fürchteten, dieser Bekehrungseifer werde die Unruhen nur verstärken. Der Ägypter verfügte über bedeutende Streitkräfte, darunter zwanzig Kavallerieregimenter, und über eine neu geordnete Flotte, die fünfunddreißig Fregatten zählte. Der ehemalige Krämer konnte durchaus eine deutliche Sprache sprechen; im Mittelmeer mußte mit ihm gerechnet werden. Der
Weg zwischen Tyr und Akko war bereits abgeschnitten, auch der nach Saïda konnte es von einem Tag zum anderen sein. Ich bereitete mich auf den Krieg vor wie eine Festung auf eine Belagerung.
Bald war die Gegend durch Feuer und Schwert verwüstet. Die Befestigungsmauern Akkos mußten im Herbst 1832 den ersten Angriff hinnehmen. Meine Spione hielten mich über die Operationen auf dem laufenden. Einer von ihnen, Hanna, war der Barbier der Gegenseite. Ali, ein armer Teufel, dessen Aussehen keinen Verdacht erregte, überwachte das Lager der Angreifer. Ich war als erste über den Aufruhr der Frauen, die eine Übergabe verlangten, informiert und über die Forderungen der Kanoniere, die den Augenblick für günstig hielten, um eine Verdopplung ihres Soldes zu erreichen. In meinem Vorzimmer drängten sich die um Audienz bittenden Notabein. Im Halbdunkel ausgestreckt liegend empfing ich sie und ließ mir einen Lagebericht über die Küste und auch über Aleppo oder Damaskus geben. Ibrahim Pascha brauchte sieben Monate, um Akko zu erobern, und er ließ keinen Stein auf dem anderen. Die Flüchtlinge begannen, nach Djun zu strömen, und sie berichteten über die erlittenen Greuel. Als es in den fünfunddreißig Zimmern des für sie vorgesehenen Hauses keinen Platz mehr gab, wurden sie in den benachbarten Weilern untergebracht. Die Brunnen waren durch Leichname vergiftet; wir mußten abgekochtes Wasser trinken. Ich behinderte das Vorgehen der Eroberer, und ihr Anführer ließ mich durch einen Mittelsmann seines Ministers Boghos Bei wissen, daß meine Haltung untragbar sei. Gewährte ich seinen Feinden weiterhin Zuflucht, könne er sich nicht mehr für den Frieden in der unmittelbaren Umgebung meines Gutes verbürgen. Ich antwortete ihm in einem Brief, in dem ich ihn
mit gespielter Naivität fragte, ob etwa der Bei, der mir solche Unverschämtheiten schrieb, und der vollkommene Gentleman Boghos, dessen gutes Benehmen ich in Kairo geschätzt hatte, ein und dieselbe Person wären. Was seinen Herrn beträfe, so hätte ich große Lust, ihm alte arabische Flüche entgegenzuschleudern: Verflucht sei, wer die Ackergrenze seines Nachbarn versetzt! Verflucht sei, wer die Rechte eines Fremden, einer Witwe oder eines Waisenkindes verletzt! Verflucht, wer sich bestechen läßt, um einen Unschuldigen ins Verderben zu stürzen! Von Nablus über Hebron, die antike Stadt der Patriarchen, bis Akar verbrannte und verwüstete Ibrahim alles. Von einer grelltönenden Fanfare angekündigt, zog er in Beirut ein. Die Europäer waren die einzigen, die bei seinem Durchzug ihre Deckung verließen. Mir wurde berichtet, daß bei seinem Abzug eine Schlange geradewegs aus dem Schutt auf ihn zukam. Ein Soldat mußte ihr den Kopf abtrennen. War dies ein Vorzeichen dafür, daß sich das Schicksal wendete? Am 14. Juni drang der Angreifer nach Damaskus vor, danach folgten Horns und Hama. Auf seinem Weg setzte sich der Sohn des Albaners über jeden Widerstand hinweg. Sieben Infanterie- und sechs Kavallerieregimenter sowie zweiundneunzig Kanonen brachten ihm den Sieg in Konia ein. Ein Vorschlag Muhammad Alis wurde mir angetragen: »Begnüge sich Lady Stanhope doch damit, Frau zu sein, und mische sie sich nicht in die Politik ein. Mehr fordern wir gar nicht.« Das war viel verlangt, und dies alles nur, um das Offensichtliche zu verbergen: Den einzigen Ort, der sich ihm in Syrien widersetzte, wollte er nicht mit einem Sturmangriff erobern lassen, und den seltsamen Gegner, der ihm dort die Stirn bot, konnte er nicht verstehen. War ich am Ende doch eine Türkin? Welche Familie, welche Brüder hatte ich zu verteidigen? Warum schützte ich mit solchem Eifer Menschen, in deren Adern nicht mein Blut floß?
Der Herrscher Ägyptens hatte durchaus recht, als er mir riet, mich um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern; je verheerender sie sich entwickelten, in desto maßlosere Ausgaben stürzte ich mich, so als würden diese meine Sorgen mindern. Geld war in meinen Händen wie fließendes Wasser, auf das ein Kind mit der Faust schlägt, um eine glitzernde Fontäne aufspritzen zu lassen. Außer für die Kosten, die schon mein gewohnter Lebensstandard verursachte, mußte ich nun noch für meine Flüchtlinge, den alten Lousteneau und viele andere sorgen. Spione und Boten mußten entlohnt werden und auch all jene, die mir, aus welchen Gründen auch immer, nützlich sein konnten. Mir drohte der Bankrott, und mein Hauptgläubiger, Homsy, der Wucherer aus Aleppo, beklagte sich gegenüber dem britischen Konsul in Beirut über meine schleppende Rückzahlung. Dieser verspürte jedoch wenig Neigung, mit mir die Klinge zu kreuzen, und lehnte es daher ab, sich in die Angelegenheit einzumischen. Der wütende Homsy reichte daraufhin bei Muhammad Ali persönlich ein Gesuch ein. Dieser hatte jedoch andere Sorgen und beschränkte sich darauf, es an den Konsul zurückzusenden. Muhammad Alis Unterfangen stieß tatsächlich auf Hindernisse. Es fehlte ihm an Truppenstärke, und er zwang daher alle Muslime Syriens zur Aushebung. Es begann auch in jenem Volk zu gären, das anfangs nicht ablehnend auf die Eindringlinge reagiert und sie gar mit den Worten: »Weg mit dem Fiskus ohne Kopf und Verstand!« begrüßt hatte. Den traditionellen Steuern miri und harady fügte Ibrahim den ferde hinzu. Hatten sie wirklich geglaubt, er könne dreißigtausend Mann unterhalten und die Befestigungsmauern Akkos ohne neue Steuern wiederaufbauen? Die Scheichs der Dörfer und die Mudire der Provinzen hafteten fortan persönlich mit ihren Gütern oder ansonsten mit ihrem Kopf für die Einziehung der Soldaten in ihren Bezirken. Selbst die Anaze wagten sich nicht
mehr aus ihren Verstecken. Die von den Besatzern gut behandelten Christen gaben ihnen gegenüber noch eine passable Figur ab. Einer meiner Informanten berichtete mir, daß Ibrahim Pascha eines Abends, als er mit seinem Stab speiste, in trunkenem Zustand seine Lieblingskonjugation entschlüpft war: »Ich stehle, du stiehlst, er stiehlt, wir stehlen, ihr stehlt, sie stehlen.« Der Kommandant seines Stabes, der Renegat Sceves, der sich unter dem Namen Suleiman Pascha den Turban aufgesetzt hatte, entfachte stürmische Hochrufe, als er erwiderte: »General, ich werde Ihre französische Grammatik vervollständigen: Ich betrüge, du betrügst, er betrügt, wir betrügen, ihr betrügt, sie betrügen.« Doch Ibrahim verlor jedes Maß, er belegte die Reichen mit fünfhundert Piastern Kopfsteuer und die Armen mit fünfzehn. In Aleppo rannten seine Leute in die Moschee und in die Kirche, um die Zwangsabgabe zusammenzutragen, während in Latakia die Steuereintreiber soweit gingen, das Stroh der Bauern zu beschlagnahmen, die daraufhin ihrem Vieh beim Verhungern zusehen konnten. In Damaskus erhängte sich ein Türke aus Verzweiflung, weil er den Fiskus nicht zufriedenstellen konnte – so etwas hatte es noch nie gegeben. Einem ägyptischen Offizier, der sich ihm gegenüber rühmte, in der Kunst des Regierens Frankreich zum Lehrmeister gewählt zu haben, entgegnete mein Freund Henri Guys, der französische Konsul in Beirut, wütend: »Vielen Dank für Ihr Lob. Sie sollten aber wissen, daß Sie, wenn Sie uns nachahmen, dies in der Art eines Affen tun.« Doch mit einem Mal tauchte der General, von dem man geglaubt hatte, er befände sich im tiefsten Taurus, an der Spitze von sechstausend Mann auf; er zog mit ihnen in Richtung Beit ed Dine, das hieß in unsere Richtung.
Die Scheichs des Gebirges waren nicht dafür gerüstet, ihm die Stirn zu bieten. Überzeugt davon, daß Geld alles regelt und, wie man hier sagt, auch Bucklige wieder aufrichten kann, schickte Beschir Ibrahim tausend Geldbeutel. Als Antwort erhielt er folgende Nachricht: »Benötigt der Emir meine Soldaten zur erfolgreichen Durchführung der von mir verlangten Rekrutierung, dann sollte er wissen, daß ich gerne bereit bin, sie in seinen Dienst zu stellen; denkt er aber, daß ihre Gegenwart für ihn nicht ohne Gefahr ist, dann erledige er die Arbeit doch selbst!« Der maronitische Patriarch drohte seinerseits damit, die Intervention Frankreichs zu fordern, dessen Konsuln unaufhörlich wiederholten, die Christen sollten, was auch immer geschehe, nicht beunruhigt sein. Beschir hatte bereits viertausend Rekruten einberufen und mußte nun bei den sich sträubenden Drusen noch eintausendzweihundert Mann rekrutieren. Der Grundsatz der Drusen lautete jedoch, sich niemals einer Macht zu beugen, und sie wollten nicht, daß die sterblichen Überreste ihrer Kinder die von ihrem Gebirge weit entfernten Schlachtfelder bedeckten. Militärisch konnte ich nicht eingreifen, doch mein Ansehen war soviel wert wie eine Armee. Ich beschloß, mich Ibrahim in den Weg zu stellen und seine Flucht zu bewirken. Das Mittel dazu fand ich mühelos. Ibrahim hatte über den geringen Widerstand, auf den er traf, Erstaunen vorgetäuscht: »Diese drusischen Hunde haben nicht mal eine Kugel für mich!« Ich ließ einige meiner auf diese Weise beleidigten Freunde kommen und gab meinerseits vor, erstaunt zu sein: »Wenn ihr zulaßt, daß Ibrahim Pascha euch wie Hunde behandelt, stimmt es wohl, daß ihr nicht eine Kugel mehr habt?« Wie eine unerträgliche Herausforderung verbreiteten sich diese Worte von Mund zu Mund, während ich die Dorfbewohner noch aufwiegelte: »Auf was wartet ihr? Bewaffnet euch mit Gewehr, Pistole, Lanze, Säbel! Stellt euch
in Deir el-Kamar auf!« Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Weisung über Berge und Täler, und wenige Tage später strömten fünfzehntausend mit Gewehren Bewaffnete nach Deir el-Kamar. Hunderte von Milizsoldaten kampierten vor den Mauern. Es begann ein Krieg voller Tücken. Waren sie auch zu schwach, um dem Ägypter auf offenem Gelände die Stirn zu bieten, so beunruhigten sie ihn immerhin, und das Gewehrfeuer erreichte Hebron, Nablus und Galiläa. Nach der Aushebung von tausendfünfhundert jungen Menschen stand ein Aufstand in Damaskus bevor. Ibrahim kannte nichts als Terror: Er belagerte Jerusalem, stürmte die Dörfer, tötete die Gefangenen und verbreitete Schrecken, doch auf diese Weise schuf er sich nur Feinde. Die Drusen, die unvorsichtigerweise ohne Artillerie zum Frontalangriff angesetzt hatten, wurden zunächst zum großen Teil niedergemetzelt, doch die Überlebenden konnten das Gebirge erreichen und schlossen sich erneut dem Widerstand an. Die Mönche brachten das Gold und die Ikonen der Kirchen an einen sicheren Ort. Ohne Unterlaß erhitzte ich weiter die Gemüter und gab meiner Verachtung für den Angreifer lautstark Ausdruck. Die Greueltaten, die in den wie alte Datteln zerfurchten Hügeln geschahen, waren unbeschreiblich, und auf den Wegen Ibrahim Paschas traf man auf Soldaten, denen die Drusen die rechte Hand abgeschnitten hatten. Wie überall in diesem Land zerfleischten sich auch hier die Konfessionen. Die Drusen versicherten, sie brächten jeden fremden Christen um, den sie bewaffnet im Gebirge anträfen. Frankreich beging die Unvorsichtigkeit, den Konsul Guys von Beirut abzuziehen, und beraubte sich damit eines wertvollen Trumpfes, denn niemand kannte das Labyrinth im Libanongebirge besser als er. Seine Informationen sowie seine Erfahrung fehlten seinem Land außerordentlich; seine christlichen Schutzbefohlenen liefen Gefahr, über die Klinge springen zu müssen.
Mein Wohnsitz in Djun hatte sich in eine Rumpelkammer verwandelt. Flüchtlinge und Abtrünnige bevölkerten das Haupt- und die Nebengebäude oder schliefen in Zelten in der Umgebung. Ein Erdbeben und unaufhaltsame Regenströme hatten die Häuser stark beschädigt; die Fenster schlossen nicht mehr, und eine schmutzige Wasserflut hatte sich in den Innenhof ergossen. Bedrängt von Trauben bedauernswerter Menschen, lief ich hin und her, um das Ausmaß der Schäden abzuschätzen; ein Greis las mit lauter Stimme aus seinem heiligen Buch, während Mütter ihre Säuglinge stillten. Manche meiner Gäste waren durch den Schrecken so betäubt, daß sie den ganzen Tag nur starr vor sich hin blickten. Eines Abends gegen neun Uhr überbrachte mir ein Gesandter Emir Beschirs eine Botschaft seines Herrn. Meryon bat ihn, Säbel und Pistolen in dem Raum zu lassen, in dem er ihn empfangen hatte. Dies war gemeines Recht: Anders durfte mein Haus nicht betreten werden. Doch ich sagte diesem Abgesandten, er könne seine Waffen wieder an sich nehmen, und fügte hinzu: »Glauben Sie nicht, daß ich Sie oder Ihren Herrn fürchte. Ich kenne keine Angst. Und teilen Sie ihm nicht nur mit, daß ich keine Angst vor ihm habe, sondern auch, daß ich ihn eigenhändig erdolchen werde, sollte er, nachdem, was er Djumblatt angetan hat, vor mich treten. Um meiner Herr zu werden, müßte man mich schon umbringen.« Meine Worte wurden zuverlässig und genau weitergegeben, und ich erfuhr später, daß Beschir, nachdem er sie vernommen hatte, aufgestanden und, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Raum gegangen war. Solange ich noch einen Hauch Leben in mir hatte, würde ich mich nicht Barbaren beugen, sondern ihren Opfern soviel Gutes tun, wie ich nur konnte. Die Abtrünnigen und Flüchtlinge mögen befürchten, daß ich sterbe, aber nicht, daß ich sie je im Stich ließe oder Feigheit an den Tag läge, die
man hierzulande mit den Worten geißelt: Das Gesicht des Angsthasen werde schwarz angesichts des Feindes. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, kann ich sehen, daß es voller Gefahren war; die Pest hat mich heimgesucht, ich habe Schiffbruch erlitten, den Wegelagerern der Wüste die Stirn geboten und ihre Achtung erlangt, und als eine Horde Plünderer bei mir eindringen wollte, habe ich sie mit dem Säbel in der Hand vertrieben. Aus all diesen Prüfungen bin ich stärker, hellsichtiger, aber auch verwundbarer hervorgegangen. Ich bin der Kriege, Dienstboten und Paschas überdrüssig. Ich hatte geglaubt, mich auf Abdallah verlassen zu können, doch wie die anderen hat er mich im Stich gelassen, und der Schutz, den ich den Verbannten gewährt habe, hat mir nichts als Drohungen und Kränkungen eingebracht. Jene, die mir etwas Anerkennung zollten, sind weniger zahlreich als die Undankbaren. Mehr noch tadele ich meine Freunde in England, die ich regelmäßig über meine Lage in Kenntnis gesetzt habe, die aber das Unglück des Orients, ganz zu schweigen von meinem eigenen, kalt ließ. Keiner erbot sich, meine Last zu mindern und einen Teil der Summen zu übernehmen, die mich die Unglückseligen kosteten. Doch auch in meiner augenblicklichen Not beneide ich Grosvenor, Devonshire oder Buckingham nicht. Zu oft habe ich erfahren müssen, wie vornehme Herren über den Verlust von lächerlichen zehn Guineen geklagt und keine Regung verspürt haben, mir zu helfen, mich darüber hinaus auch noch für verschwenderisch und verrückt erklärten. Ich überlasse sie ihrem Egoismus und Reichtum. Mein Reichtum hingegen ist ein anderer: Nicht der Glanz des Goldes, sondern das Licht, das ich in den Augen meiner Stuten erblicke.
Schon zu jener Zeit schlief ich wenig. Den ganzen Tag über fürchtete ich die Dämmerung, jenen Auftakt zu meinen langen, schlaflosen Stunden, der den Blättern die violette Farbe der Trauer verlieh. Das Dämmerlicht raubte mir jegliches Zeitgefühl; diese Mischung aus Sichtbarem und Unsichtbarem, diese sich auflösende Gegenwart erfüllte mich mit Angst. Meryon, der meine Schlaflosigkeit einer »Nervenschwäche« zuschrieb, weil er mir gegenüber die Krankheit, an die er glaubte, nicht nennen wollte, setzte sich an mein Bett, um mir Gesellschaft zu leisten. Ich war ihm dankbar dafür, schickte ihn aber trotzdem weg und ließ Gerios rufen, den amüsantesten Halunken, der in meinen Diensten stand, damit er mich mit den Legenden, Listen und Intrigen dieses Landes zerstreute. Später kam der Arzt zurück und maß meinen Puls; mich so müde und abgemagert zu sehen, beunruhigte ihn täglich mehr. Meine ehemals so rundlichen Arme, meine so strahlende Haut sind nichts mehr als Erinnerungen. Ich bin nie sehr schön gewesen, doch mit dieser Ungnade kann sich eine Frau so lange abfinden, wie ihre Haltung und ihr Benehmen bewundert werden und sie das weiß; nun war die Zeit gekommen, in der ich nur noch Angst oder Mitleid erregte. Die blumigen Komplimente des Orients täuschten mich nicht, denn Eitelkeit ist mir fremd; das Gute am Stolz ist, daß er die Eitelkeit wie eine ihm unwürdige Gefährtin aus der Seele vertreibt, denn wahre Größe ist nie von Selbstgefälligkeit geprägt. Jene erkenne ich auf den ersten Blick; Bonaparte, von dem ich nur Porträts gesehen habe, schien sie nicht zu besitzen. Dieser vom Glück begünstigte Oberleutnant hatte etwas Gewöhnliches an sich, und seine Prosa war nicht mehr wert als er selbst; ein zweitrangiger Schriftsteller reckt darin cäsarisch die Brust vor. Hätte ein höheres Wesen den niederträchtigen Anschlag auf den Herzog von Enghien verübt, indem er ihn in einen Hinterhalt lockte? Hätte sich ein wahrer Kaiser, der entthront
und ins Exil verbannt worden war, unaufhörlich über die armselige Unterkunft oder einen schlechten Weißwein beklagt wie jener auf Sankt Helena? Das Genie ist wie der Merkur: So klein der Tropfen auch sein mag, behält er doch stets dieselbe Form und denselben Glanz. Mit einem stattlichen Aussehen oder mit Manieren hat das nichts zu tun; was das angeht, war auch an Mr. Pitt nichts außergewöhnlich, und man hätte ihn für einen Schulmeister halten können, wenn man ihn so im Park herumspazieren sah: hager, hochaufgeschossen, unbeholfen, während sein Geist mit Himmel und Erde kämpfte. Warum beherberge ich in meiner Seele noch immer jenen Dämon, den manche meinen Wahnsinn nennen? Vor einigen Jahren sandte mir ein Dragoman des französischen Konsuls in Saïda, den ich dafür bezahlte, mir Informationen zukommen zu lassen, die Abschrift eines Briefes seines Herrn an den Herzog von Richelieu: »Diese Dame ist eine geistreiche und verdienstvolle Person, die, ohne von den Eigenarten ihres Volkes frei zu sein, nicht nachläßt, viel Gutes in diesem Land zu tun.« Ich danke dem Diplomaten für die letzte Bemerkung, doch die Eigenarten, die er in meiner Person zu Recht erkennt, gehören gänzlich mir und haben nichts mit den Wunderlichkeiten der Engländer zu tun, wie sie in Paris beschrieben werden. Wie alles hier bin ich das Ergebnis eines Sternbildes, und meine Gespräche mit den Weisen und meine Erfahrungen mit dem Wüstenleben haben diese Gewißheit noch tiefer in mir verwurzelt. Um Erfüllung zu finden, müssen manche dem Stern eines anderen begegnen. Was wäre ohne Mr. Pitt aus mir geworden? Als Josephine nicht mehr an seiner Seite war, versiegte das Glück Napoleons. Es ist mir schon immer gegeben, instinktiv zu wissen, von welchem Stern jene gelenkt werden, mit denen ich in Berührung komme. Ich kann auf den ersten Blick erkennen, was einen Mann erwartet, oder von einem Kind sagen, daß es diese Tugend, jenes Laster oder
Schicksal haben wird, genauso wie ein Gärtner von seinen Blumenzwiebeln weiß, daß eine schnell wächst und zu einer strahlenden, duftenden Blüte werden wird, während eine andere, deren Aussehen identisch ist, in weniger als drei Tagen im Boden eingehen wird. Ohne mich je gesehen zu haben, hatte in Damaskus ein Meister der Weisheit einem meiner Freunde mein Porträt gezeichnet und war sogar soweit gegangen, mein Gesicht, meinen Gang und die Dinge, die mich umgaben, zu beschreiben, als hätte er sich schon in dem Raum aufgehalten, in dem ich mich damals befand. Weder Raum noch Zeit sind wirklich; so brach mir in der auf den Tod des Herzogs von York folgenden Stunde der Angstschweiß aus, und ich sagte zu Mrs. Willams: »Jemand ist gerade von uns gegangen; es war einer meiner Freunde.« Einige Wochen später trat meine entsetzte Gesellschafterin mit einer Londoner Zeitung in der Hand vor mich. Sie hatte die Bestätigung dessen erhalten, was sie zunächst für eine meiner Launen gehalten hatte. Dieses Land ist voller Hellseher und Propheten. Selbst mein alter drusischer Gärtner hielt sich für einen solchen. Als ich ihm eines Morgens meine Instruktionen erteilte, ließ ich ihm eine Tasse Kaffee reichen. Er führte sie an seine Lippen, unterbrach die Geste und begann, die glänzende Oberfläche der Flüssigkeit zu betrachten, daraufhin stieß er einen tiefen Seufzer aus. Ich fragte ihn nach dem Grund. »Weil ich sah, wie ein König versuchte, dich zu erniedrigen, Herrin.«
Es sollte Wahrheit werden. Seit Wellington die Zügel der Regierung meines Vaterlandes aus der Hand gegeben hatte, nahm der mit den auswärtigen Angelegenheiten betraute Lord Palmerston keine Rücksicht mehr auf Pitts Nichte. Die gerade erst gekrönte Königin Victoria ließ ihn gewähren. Meine letzte Hoffnung, wieder Ordnung in meine Finanzen zu bringen, hing an einem seidenen Faden: Es handelte sich um das Erbe, das Mr. Pitt einst von einem reichen irischen Bewunderer vermacht worden war, dessen Familie jedoch das Testament angefochten hatte; mein Jugendfreund Francis Burdett, der sich um das Verfahren kümmerte, gab jedoch kein Lebenszeichen von sich. Anstelle des Briefes, den ich täglich von ihm erwartete, erhielt ich einen von Oberst Campbell, dem Generalkonsul Seiner Majestät für Ägypten und Syrien. Umschweifend erinnerte er mich daran, daß ich Homsy eine beträchtliche Summe schuldete und die Regierung des Khediven Seiner Majestät gegenüber auf die Rückzahlung bestehe. Im Klartext hieß das, meine Rente würde gepfändet, und der Wucherer stand unter hohem, vielleicht sogar unter Palmerstons persönlichem Schutz. Ich glaube, ich kann mich an jenen Palmerston erinnern, einen durchtriebenen jungen Mann, den wir bisweilen zum Essen einzuladen gedachten. »Später!« pflegte Mr. Pitt zu sagen. Die Einladung erfolgte nie. Dafür ließ er mich nun zweifellos büßen, der Undank kam aber von noch weiter oben. Die Braunschweiger, die nur durch die beiden Pitts ihren Thron erhalten hatten, kannten keine Dankbarkeit. Victoria scherte sich herzlich wenig um meine Person und meine Rolle im Orient, denn in ihren Augen gibt es, so sagt man, nichts Wichtigeres als Schicklichkeit; von der hohen Warte ihrer jugendlichen Tugendhaftigkeit aus mußte sie die Eskapaden und Ausgaben der Königin von Palmyra verdammen. Ihr Großvater hatte sich jedoch klar und deutlich
ausgedrückt, als es darum ging, den letzten Willen meines Onkels zu erfüllen: »Gebe man ihr die höchste Rente, die eine Frau beziehen kann.« In der Türkei wird eine Schenkung des Sultans nicht angefochten, auch wenn es sich nur um einige Piaster handelt. Selbst wenn er ermordet wird, hat sein Wort sogar für die Täter Gesetzesmacht. In England ist dies nicht der Fall.
Was sollte ich tun? Wellington schreiben, der mir wohlgesinnt war, dem man aber sicherlich kein Gehör schenken würde? Mich an Palmerston wenden, der sich wenig um meine Notlage scherte? In den Zeitungen die Schikanen, deren Opfer ich war, durchsickern lassen und – zum Wohl der Verfolgten und im Dienste Englands – eine öffentliche Untersuchung der Gründe verlangen, deretwegen ich mich so hoch verschuldet hatte? Die Herzogin von Kent hatte sich höher verschuldet als ich, und das nur für Nichtigkeiten. Die Behandlung, die mir zuteil wurde, war skandalös. Aufgrund dieser Überlegungen beschloß ich, mich eher an Gott selbst als an seine Heiligen zu wenden. Ich ließ Meryon kommen und diktierte ihm den folgenden Brief: 12. Februar 1838 Gestatten mir Ihre Majestät, Ihr zu sagen, daß nichts unehrenhafter für einen Souverän ist, nichts dem Ansehen des Thrones mehr schadet als ein ungeprüft erteilter Befehl, der die Integrität einer Familie verletzt, die ihrem Land und dem Hause Hannover stets treu gedient hat. Da keine Untersuchung erfolgte, um die Umstände in Erfahrung zu bringen, die zu den mir angelasteten Schulden führten, halte ich es für unnütz, Näheres darüber zu äußern. Ich werde jedoch nicht zulassen, daß die mir von Ihrem
erlauchten Großvater gewährte Pension zwangsweise eingestellt wird: Ich werde auf sie nach eigenem Ermessen zugunsten der Begleichung meiner Schulden verzichten; dasselbe gilt für meine Eigenschaft als britische Untertanin und die Zwänge, die diese impliziert. Da Ihre Majestät diese Angelegenheit mittels Ihrer Konsuln öffentlich gemacht hat, kann man mich nicht dafür tadeln, wenn ich Ihrem königlichen Beispiel folge… Je weiter der über meine Kühnheit bestürzte Meryon schrieb, desto mehr veränderten sich seine Gesichtszüge. Er fürchtete mich jedoch mehr als den fernen Zorn Buckinghams. Als ich sah, wie mein Siegel in seinen Händen zitterte, herrschte ich ihn an: »Fassen Sie sich! Sie sehen aus wie ein Schaf, das zum Bairam* auf die Schlachtbank geführt wird! Schreiben Sie die Anschrift: Victoria Regina.« »Nichts weiter, Mylady?« »Nein, das genügt.« Entsetzt bat er mich, diese Streitschrift in einen an Lord Palmerston adressierten, versiegelten Umschlag zu stecken, anstatt ihn, so wie er war, dem britischen Konsul in Beirut anzuvertrauen. Ich gönnte mir jedoch diese Genugtuung und diktierte noch eine lange Mitteilung an den Herzog von Wellington, der mich wenigstens verstand. Er war der einzige, der durch meinen Brief nicht beleidigt sein und die Glaubwürdigkeit meiner Angelegenheit nicht in Zweifel ziehen würde. Was den Ton anbetraf, so kannte er mich gut genug, um ihn einschätzen zu können. Er hatte lange Jahre im Orient verbracht, kannte die Ausgaben, die in jenen Ländern nötig sind, in denen Unruhen, Revolutionen und Kriege nicht enden und ein Mensch mit Herz es sich schuldig ist, das Leid zu lindern. Ich schämte mich nicht, ihm Einzelheiten über meine angeblich verschwenderischen Ausgaben darzulegen, die sich
nicht auf die Kaution für Abdallah beschränkten. Nach der schrecklichen Belagerung von Akko entbehrten die zweihundert Überlebenden jeder Unterstützung, und ich setzte mich dafür ein, ihr Unglück erträglicher zu gestalten. Ibrahim Pascha wollte, daß ihm diese armen Teufel ausgeliefert würden; Widerstand wurde mit dem Leben bezahlt. Ich hatte sie unter meinen Schutz genommen, der weder der Schutz Englands noch der Frankreichs war, und weigerte mich, sie ihren Henkern zu übergeben. Ich beherbergte außerdem Witwen, Waisen und Verwundete, die ich in mehreren Jahren der Not mit dem Geld gekleidet und ernährt hatte, mit dem ich sonst meine Schulden beglichen hätte. Ja, ich hatte viele Veränderungen eingeführt! Wer wagte es, mich deswegen zu tadeln? Ich hatte nur einen Fehler: Ich war königlicher als die Königin. Niemand konnte ihr besser als Wellington begreiflich machen, daß das Blut der Pitts dieses Verhalten rechtfertigte. Im übrigen ließ ich Palmerston wissen, daß mein frevelhafter Brief in der »Augsburger Gazette« erscheinen würde, verfolgte man mich weiter so hartnäckig. Ein Bote überbrachte mir seine vom 25. April datierende Antwort: Sehr geehrte Dame, ich habe Ihrer Majestät Ihren Brief vom 12. Februar dieses Jahres übergeben. Es war meine Aufgabe, ihr die Umstände zu erklären, die Sie wahrscheinlich dazu verleiteten, einen solchen Brief zu schreiben. Tatsächlich haben Ihnen Ihre Freunde und der Generalkonsul Ihrer Majestät all die Mitteilungen nur gemacht, um Ihnen jene Unannehmlichkeiten zu ersparen, die Ihnen die Handlungsweise derer, die Ansprüche an Sie haben, bereiten könnte, indem sie vom Generalkonsul in Alexandria verlangen, daß er Ihnen gegenüber streng gemäß dem Regime der Kapitulation vorgeht, so wie es in den Verträgen
zwischen Großbritannien und der Hohen Pforte beschlossen wurde. Ich habe die Ehre, verehrte Dame, als Ihr ergebener Diener zu verbleiben. Ich bin also weder verstanden noch erhört worden. Diese eisige Schelte eines entrüsteten Höflings machte mich wütend und verzweifelt. Ich antwortete ihm unverzüglich: Eure Herrlichkeit teilt mir mit, Ihr glaubtet der Königin die Umstände erklären zu müssen, unter denen ich meinen Brief schrieb. Meines Erachtens wäre es besser gewesen, sie ihr darzulegen, bevor Ihr mir in ihrem Namen schriebt und ihrer Majestät und England einen ihrer Untertanen entfremdetet, der – das müssen groß und klein anerkennen, obwohl diese Pflicht manchen schmerzen mag – dem Ansehen Englands im Orient dienlicher war als jeder andere bis zu diesem Zeitpunkt, und das, ohne einen Penny aus der Schatzkammer. Welches auch immer das Befremden gewesen sein mag, das angesichts dessen, was mir widerfahren ist, die Gemüter der Staatsmänner alter Schule erregte, so kann mich nichts mehr verwundern, und ich werde meinen Kampf fortsetzen und eine Schlacht nach der anderen schlagen. Ich warne Eure Herrlichkeit also; sollte bis zum nächsten Kurier nichts unternommen worden sein, um meine Angelegenheiten zu ordnen oder mich vor den Augen der Welt von den Anschuldigungen freizusprechen, deren Opfer ich geworden bin, so werde ich, gleich, ob sie mit böser Absicht ausgesprochen wurden oder nicht, meine Dienstboten entlassen, die Eingangstüre meines Hauses zumauern und mich solange lebendig begraben, bis mir Gerechtigkeit widerfahren ist und die Zeitungen die Entschuldigungen der Verleumder drucken. Geht es um
Integrität, so besteht kein Grund, mit dem Blut der Pitts zu spaßen oder zu glauben, sie beugten sich jemals der Impertinenz der Konsularsautorität. Eure Herrlichkeit erwähnt mir gegenüber die Kapitulation. Was kann diese mit einer Privatperson zu tun haben, die in ihrem Bestreben, Gutes zu tun, die Grenzen ihres Budgets überschritten hat? Wenn eine solche Handlungsweise strafbar ist, warum beginnt man dann nicht bei unseren Botschaftern, die sich in ihren Stellungen so oft verschuldet haben? Ich selbst bin dem Sultan so verbunden, daß ich, wäre ich dazu gezwungen, für mein Vorgehen mit meinem Kopf zu zahlen, den Säbel küssen würde, der ihn abtrennen soll. Die Handlungsweise Ihrer verlogenen Konsuln werde ich jedoch niemals dulden und ihr stets mit tiefster Verachtung begegnen. Verhielte ich mich anders, würde ich meine Herkunft verleugnen. Nachdem ich einer so hochgestellten Persönlichkeit diese verbale Tracht Prügel verabreicht hatte, war ich ein wenig heiterer. Jeder, der bis zu dieser Stelle in meinem Bericht vorgedrungen ist, kann, angesichts der schmählichen Haltung der Krone mir gegenüber, die Kluft zwischen meiner Person und dem Bild ermessen, das man sich von mir gemacht hat und das mir stets Anlaß zur Verwunderung war. Die Königin hält mich für eine leichtfertige Person, die das Geld aus dem Fenster wirft. Manche halten mich für eine Hexe, die von Zauberbüchern besessen ist, aus denen sie ein geheimes Wissen bezieht; andere wiederum sehen mich als Amazone, die mit gespanntem Bogen an der Spitze wilder Beduinen reitet. Man bezeichnete mich auch als eine lüsterne Frau, die in einem betörenden Duft aus Moschus und Sandelholz in einem rosafarbenen Brokatkleid mit einer Tabakdose aus Elfenbein in der Hand und einem goldbeschlagenen Schwert am Kopfende
auf einer Ottomane liegt, und eine Wasserpfeife raucht. Bisweilen stellt man sich auch vor, ich sei, zur Gottheit erhoben, auf die Altäre der Araber gestiegen, wo ich mich bewundern ließe und ihnen meine Gesetze diktierte. Es stimmt, daß man mich zur Königin der Wüste und Palmyras gekrönt hat. Aber ich bin nicht hierher gekommen, um ein Königreich zu erobern. Ich hatte nicht die Absicht, den Orient zu regieren, ich wollte nur die Herrin meiner eigenen Seele sein. Wie aber sollte Victoria Regina das verstehen? Seit dem schrecklichen Tag, an dem ich vom Selbstmord meines Bruders James erfuhr, habe ich die Pforte meines Gutes nicht mehr überschritten. Die meiste Zeit verbringe ich damit, zu wachen, zu warten und meine Leute zu schelten; wegen einer Belanglosigkeit hielt ich das ganze Haus einmal eine Nacht lang wach. Sobald mich Angst überkommt, höre ich nicht auf zu läuten. Doch weder mein schwacher Puls noch meine eiskalte Hand konnten meinen teuren Meryon länger hierhalten. An meinem Bett pflegte er seine Sehnsucht nach England, las mehrere Monate alte Zeitungen, und es kam vor, daß er in Schluchzen ausbrach, wenn er mir ein Finjan* Orangenblüten zu trinken gab. Wozu sollen mir seine Heilmittel heute nützen? Ohne tatsächlich daran zu glauben, habe ich ihm unter dem Vorwand, er müsse in London in der Sache meines irischen Erbes Berufung einlegen, für einige Monate weggeschickt. Glücklich und gleichzeitig verzweifelt ging er an Bord. Er weiß, daß er mich nicht wiedersehen wird. Ich habe bereits diejenige ausgesucht, die mir die Augen schließen wird.
Meinen letzten Besuch erhielt ich im vergangenen Jahr, am 15. April 1838. Es war an einem Sonntag, an einem jener klaren, ruhigen Tage, an denen man wieder zu hoffen beginnt. Ich
beobachtete Zeizafun, die selbst bei der schweren Arbeit, die Brunnen zu reinigen, ganz sanft wirkte; seit langem schon floß kein Wasser mehr im Delphinbrunnen. Die Luft roch nach Moschus und Schafen. Nachdem meine Dienerin ihre Arbeit beendet hatte, widmete sie sich einem Geschicklichkeitsspiel und warf Knöchelchen hoch, die sie mit dem Handrücken wieder aufzufangen versuchte. Ich wollte gerade ein paar vergilbte Briefe verbrennen, als Fürst Pückler-Muskau gemeldet wurde. Auf der Durchreise in Saïda hatte er vor einigen Tagen in einem kurzen, gut formulierten Brief den dringenden Wunsch geäußert, mich zu treffen. Er wußte, daß ich niemanden mehr empfing, hatte aber so höflich um die Ehre ersucht, einige Augenblicke in der Gesellschaft der »Königin von Palmyra und Nichte des großen Pitt« zu verbringen, daß ich mich erweichen ließ. Für den letzten meiner Gäste hatte ich die abgeblätterten Türen neu streichen lassen, um dem todgeweihten Haus ein jugendlicheres Aussehen zu verleihen. Auf dem Steinpflaster des Hofes hatte ich außerdem den gesamten Inhalt meines Geschirrschrankes ausbreiten lassen; auf meinen Stock gestützt, musterte ich das chinesische Porzellan, letztes Zeugnis meines vergangenen Wohlstandes, und sortierte es, ohne daß es mir gelang, mit den wenigen unbeschädigten Teilen ein Service zusammenzustellen; aber das war auch gar nicht wichtig, da wir ohnehin nichts hatten, was wir darauf hätten auftragen können. Der zweifellos über unsere Not unterrichtete Fürst schickte sein Bettzeug voraus, das Maultiertreiber vor dem Portal abluden. Mit einem grünbesetzten livornesischen Hut bekleidet und mit Stiefeln vom besten Schuhmacher an den Füßen hielt er hoch zu Roß Einzug. Er hatte seine Kenntnisse über dieses Land und auch den brennenden Wunsch, mich zu sehen – um in der Gesellschaft ein Porträt von mir zeichnen zu können –, den Erzählungen Herrn von Lamartines zu
verdanken, die er mir sogleich in Chagrinleder gebunden überreichte. Nebenbei sei bemerkt, daß sich fast alle meine Besucher damit brüsten, mir die Hand geschüttelt zu haben, was jedoch nicht meine Gewohnheit ist. Wie der Dichter strebte der Fürst nach Eleganz, so ließ er die Wölbung seines Fußes bewundern und setzte seine Ehre darein, täglich zwei Paar weiße Handschuhe überzustreifen. Kurzum, er hielt sich für einen außergewöhnlichen Mann und ließ sich in Ermangelung eines Pudels von einem gezähmten Chamäleon begleiten, das er ständig aus den Augen verlor, um dann auszurufen: »Aber, wo ist denn mein kleines Goldstück?« Ich bat ihn, die Ärmlichkeit meines Haushaltes zu entschuldigen. »Ich lebe wie ein Derwisch, doch Gott sei Dank werden meine Bedürfnisse immer kleiner.« Er merkte dies schnell, denn er mußte sich hauptsächlich von Käse ernähren, der auf einem Spieltisch, inmitten eines Durcheinanders nicht zusammenpassender Möbelstücke serviert wurde; jeder drittklassige Brummell wäre vor Entsetzen in Ohnmacht gefallen. Nicht so der Fürst, er wußte sich als ein Philosoph zu geben, der prosaische Dinge verachtete. Er bewunderte meine beiden Stuten und führte uns sein Talent in einigen spanischen Reitübungen vor, indem er die Zügel im Stile der Portugiesen hielt. In den wenigen Tagen, die er unter meinem Dach verbrachte, führten wir lange Gespräche. Wie alle anderen fragte er mich nach dem Wunder, das es einer Frau ermöglichte, über eine Welt zu herrschen, in welcher der Mann alles ist. Ich erwiderte: »Kein Araber hat mich je als Mann oder Frau angesehen, sondern stets nur als ein ganz eigenes Wesen.« Er maß den Saint-Simonisten und ihrem Führer Enfantin große Bedeutung bei, jenem Träumer, der zu hören glaubt, wie »der Okzident den schlafenden Orient anruft«, und einen Zusammenschluß zwischen beiden preist, bei dem der erste sein Wissen und der zweite seinen Glauben
einbringt. »Diese Leute suchten mich in der Gewißheit auf«, antwortete ich ihm, »daß ich als Tochter eines republikanischen Aristokraten, der sich den Wissenschaften und der Aufklärung gewidmet hat, ihre Vorstellungen teile. Aber da kannten sie mich schlecht. Ich habe mich ihren nebulösen Theorien nicht angeschlossen.« Dann sprach ich mit meinem Besucher lange über die einzigen Themen, die mich jetzt noch interessieren: Geheim Wissenschaften, Wahrsagerei und Astrologie. Als er Djun verließ, hatte er von mir etwa nicht das Bild einer Zauberin vor Augen? Kurz nach seiner Abreise bemerkte ich, daß ich mein Augenlicht zu verlieren begann. Wenn ich las, verschwammen die Zeilen vor meinen Augen. Meine in der englischen Presse veröffentlichten Briefe führten zu gehässigen Kommentaren oder einem Achselzucken. Die meisten derjenigen, die mich früher um meine Fürsprache bei meinem Onkel baten, taten sich durch Schweigen hervor. Nur die »Times« übernahm meine Verteidigung und wagte, »den Opportunismus Palmerstons« anzuprangern. Sie forderte, daß die Regierung ihre Entscheidung, meine Pension einzubehalten, revidieren sollte. »Wie kann es angehen«, fragte die Zeitung, »daß man auf diese Weise eine Frau behandelt, deren Einfluß auf die arabischen Stämme so groß ist, daß sie diese unter den britischen Machtbereich bringen könnte, dort, wo englische und russische Interessen einander gegenüberstehen?«
Ich habe mir das Plädoyer vorlesen lassen, das unser ehemaliger Vertrauter aus Putney, William Napier, an dieselbe Zeitung gesandt hat. Ich will es hier in seiner ganzen Länge wiedergeben:
Diese Dame, die verrückt geworden ist, wie einige Ihrer Kollegen gesagt und sich dabei mit wahrhafter Niedertracht auf eine mittellose, unglückliche Frau gestürzt haben, diese Dame, die, beurteilt man sie nach den englischen Sitten und Gebräuchen, in ihren Ansichten und im Ausdruck ihrer Gefühle wild und hart erscheinen mag, wird im Orient jedoch zu Recht für ihre Würde und Tugenden verehrt. Ihr Einfluß auf die arabischen Stämme, auf all jene, die unter dem Heer Ibrahims gelitten haben oder über die bedauerliche Lage im türkischen Reich klagen, ist groß. Wäre ihr Charakter nicht zu erhaben und zu edel, um auf Rache zu sinnen, könnten die englischen Reisenden die Beleidigungen, mit denen man Lady Hester Stanhope bedachte, bitter bereuen. Es handelt sich, weder um eine verrückte Prahlerei noch um eine leere Drohung, wenn sie sagt: »Der Fehdehandschuh ist weder vor einen Schwätzer noch vor einen Feigling geworfen worden.« Bei ihr verbinden sich Feingefühl, Urteilsvermögen, Intuition und Seelenstärke, die man gemeinhin bei einer Frau antrifft, mit mehr Weisheit, Furchtlosigkeit und Wagemut, als gewöhnlich in einem Manne zu finden sind. Vielleicht wird man das Ausmaß ihrer Macht und die Bedeutung ihrer Entscheidungen zu spät ermessen. Drängt sie die Beleidigung zu offener Feindseligkeit, dann wird und kann sie den englischen Interessen im Orient mehr Schaden zufügen – jawohl, mehr Schaden – , als es die bedauernswerte Politik Lord Palmerstons in diesen Ländern schon getan hat. Vielleicht fragt man sich, warum ich mich in diese Angelegenheit einmische? Zu der Zeit, als Lady Hester Stanhope das Haus führte, war ich ein Vertrauter Mr. Pitts, und jene, die sie jetzt beleidigen, wären nur zu glücklich gewesen, ihr den Staub von den Stiefeln zu wischen.
Lieber, lieber Napier! Jedes Wort Ihres Briefes zu wiederholen, ist mir eine Ehre, nicht so sehr wegen der Dinge, die er über mich aussagt, sondern wegen der Dinge, die er über Sie enthüllt. Jawohl, Ihre Majestät soll wissen, daß sie den Fehdehandschuh nicht vor einen Feigling geworfen hat! Und da ich nun keine Engländerin mehr bin, soll sich mir in meinen letzten Stunden auch kein englischer Konsul und auch kein anderer Engländer nähern. Ich untersage es auf das Entschiedenste, und nach England kann man mich nur in Ketten zurückbringen. Ich bin am Ende meiner Kräfte. Am Leben erhält mich allein jener halsstarrige Wille zur Auflehnung, der mir stets eigen war. Die Dächer meiner Festung, die des endlosen Widerstandes genauso überdrüssig sind wie ich, drohen einzustürzen. Ein ständiges Ächzen erinnert mich daran, daß der Dachstuhl um Gnade bittet. Der Khamsin* hat sich bis unter meine Decke geschlichen. Er wird mein letzter Liebhaber sein. Aber ich werde nicht mehr die Kraft besitzen, ihn an mich zu drücken. Er seufzt beharrlich, während er den Kies aus dem Garten gegen meine Scheiben schleudert. Ich verbringe den ganzen Tag bei geschlossenen Türen und Fenstern im Bett, und die Erstickungsanfälle lassen nicht nach. Ich ertrage es nicht, daß man mich auch nur einen Augenblick allein läßt. Zeizafun beugt sich schweigsam, liebevoll und strahlend über mich. Vielleicht genügt ihr Gesicht, um meine letzten Tage zu erhellen. Im Salon hat man die Kissen aufeinandergestapelt, die Teppiche entfernt. Ganze Ameisenvölker defilieren an meinem Bett vorbei. Ich versuche, mich an die Zeiten der Kämpfe und der Träume zu erinnern. Die Luft, die ich einatme, verzehrt meine Lungen und dringt mit einem Zischen, das schon das Todesröcheln ankündigt, in mich ein. An meinem Grab wird stets derselbe Glanz und Tumult herrschen. Gestirne und Mythen kreisen in meinem
müden Kopf. Das ist der Augenblick, um die Geheimwaffe der Drusen zu benutzen: das Schweigen, das keine Heuchelei ist, sondern eine Kraft, die mit Gott versöhnen kann. Doch weder mit dem Gott meiner Kindheit, der in den Kathedralen paradierte und Kniefälle erwartete, noch mit dem Gott der Juden, den diese bei ihrer endlosen Irrfahrt immer mit sich herumtragen, oder dem Gott des Islams, der wie die Sonne der Wüste alles erdrückt und vom Menschen die Unterwerfung eines Dromedars verlangt. Ich glaube an den Gott der Welt, der wie wildes Gras in einem vom Herzen umschlossenen Garten wächst und mich in der Winternacht mit jener Teilwahrheit allein und frei läßt, die die Menschen erreichen können. Allein mit meinem seltsamen Schicksal; zunächst war es nichts als ein kaum merklicher Unterschied im Bewußtsein, dann kam jener Donnerschlag, der mich vom Rest der Welt trennte. Ich sehe vor mir, wie Mr. Pitt im Sterben liegt, und wende jede List gegen das nahende Ende an; ich weigere mich, sterblich zu sein, damit ich ohne Bedauern einschlafen kann. Seit Wochen fällt draußen der Regen, ich höre, wie das Wasser durch die Decke dringt und in die hier und da aufgestellten Behältnisse tropft. Wie mein Großvater Chatham bei seinem letzten Gang ins Oberhaus trage ich einen Turban aus Flanell auf dem Kopf. Brummell hatte den Peers seine Verachtung ins Gesicht gesagt, und sie hatten sich grausam gerächt. Ich stelle mir vor, wie er, in seinen Anzug gezwängt, mit gestrafftem Hals, um seine Perücke zur Geltung zu bringen, durch die Gänge des Englischen Palastes in Caen wandert. Eleganter als je zuvor reicht er einer Haushälterin den Arm. Er ist nicht der einzige meiner Bekannten, der mich aufsucht: an der Spitze Mr. Pitt mit seinem kleinen, nachsichtigen, amüsierten Lächeln; König George III. der mich lachen hört und mir seine Kutsche anbietet; John Moore, der nach Spanien reist, von wo er nicht zurückkehrt; der in den ersten Tagen seiner Leidenschaft so
schöne Michael; meine ermordeten Freunde Djumblatt und Boutin, die schöne Georgina Spencer und Sultan Mahmud auf seinem diamantengeschmückten Pferd.
Sobald alles zu Ende ist, wird Logmagi meine Stuten mitten in den großen Hof führen und ihnen zuflüstern, daß ich sie geliebt habe, bevor er sie töten wird, wie ich es ihm aufgetragen habe. Sie werden weder Hunger noch Grausamkeit unter neuen Herren kennenlernen. So wie ich einst die Gärten Walmers zur Blüte gebracht habe, überlasse ich meine Obstgärten in Djun danach dem Brachland. Gräulicher Mörtel wird mein Grab verschließen. Der Befehl, mit dem ich der Königin drohte, wird ausgeführt. Zwei Tage genügen, um zwischen mir und meinen Feinden diese letzte Barriere zu errichten, und die Pforte wird im rauhen Stein des Mauerwerkes verschwinden. Das wird meine Rache sein. Ich habe meine Pflicht getan und niemals etwas hingenommen. Weder den ruhigen, trägen Lauf der Dinge noch falsche Reichtümer. Nur Aufruhr ersinnt Zukunft. Mektub, alles steht geschrieben, sagen die Araber. Nein, noch steht nicht alles geschrieben, und dieses erbärmliche Ende, das ich wie ein letztes Geschenk, wie die unerwartete Erfüllung eines Wunsches hinnehme, hatte Brothers der Königin von Palmyra nicht vorhergesagt. Neben mir schläft Zeizafun, die sanfte, aus dem Gebirge vertriebene und von der Nacht besiegte Wächterin. Ich weiß, worauf sie wartet: auf die Rückkehr des Propheten.
Nachwort
In einer glücklichen, vergangenen Zeit pflegten die Damen der britischen Botschaft im Libanon am moosbedeckten Grab der Königin von Palmyra Picknicks zu veranstalten. Als sich 1986 die Kämpfe zwischen Drusen und Christen, die in ihrer Grausamkeit mit den fünfzig Jahre zuvor ausgetragenen Schlachten vergleichbar waren, auf ihrem Höhepunkt befanden, legten einige drusische Milizen eines schönen Morgens den Schädel Lady Stanhopes auf den Schreibtisch eines Amtsdieners der britischen Botschaft in Beirut. Über den Rest ihrer sterblichen Hülle sollte man verhandeln. Die Engländer waren feinfühlig genug, ihre berühmte Landsmännin, die ihnen so sehr gedient und die sie so sehr beschimpft hatte, in Djun auszugraben und auf einem protestantischen Friedhof in der Nähe von Abbey bestatten zu lassen. Sie, die gesagt hatte, nur in Ketten würde sie in ihr Vaterland zurückkehren.
Dieses makabre Ungemach ändert auch im nachhinein nichts am Schicksal Hester Stanhopes. Auf der Suche nach einer anderen, einer größeren Seele reiste sie nicht wie viele andere aus Lust am Ortswechsel, sondern, um einen festen Wohnsitz zu vereiteln. Und sie lehnte sich auf aus Lust am Aufstand. Man hielt sie für verrückt, weil man nicht verstehen konnte, daß sie der Eintönigkeit ihrer Gesellschaftsschicht zu entkommen suchte. Hat sie der Orient verschlungen, sie ihrer Bezugspunkte beraubt, ihre Maßlosigkeit gesteigert, oder hat er ihr letztlich bei der Verwirklichung ihres Traumes geholfen?
Ohne die Schriften Charles Meryons, ihres Arztes, der mehr als zwanzig Jahre an ihrer Seite verbrachte, und der von ihrer Nichte, der Herzogin von Cleveland, zusammengetragenen Korrespondenz hätte ich dieses Buch, in dem diese Fragen wenigstens gestellt werden, nicht schreiben können. Ich habe die erste Person benutzt, denn zwischen ihr und mir sollten keine Anführungszeichen stehen. Die Idee, ihr das Wort zu erteilen, kam mir zum ersten Mal bei Eric und Adeline Negre – ihnen möchte ich dafür danken. Es war in Thomery, vor einer großen, blauen Zeder. März 1994
Glossar
Abayya Aga (auch Agha) Aleph (auch Aleff) Anaze Ansaris
Bairam Bostandschi (Bostangi) Delibaschi Emir Ferman Finjan Hadith
Hohe Pforte Huri
Schwarzer langer Umhang. Titel für hohe Offiziere. Erster Buchstabe des hebräischen Alphabets. Größter Beduinenstamm, der sich vor allem in der syrischen Wüste aufhält. Pers./türk. für Gärtner, Leibgarde der früheren osmanischen Sultane, von Mustafa II. 1695 aus Gartenarbeitern der Paläste zu Istanbul und Adrianopel zusammengestellt. Türk. Opferfest. Gartenwache. Anführer der berittenen Leibwache des Großwesirs. Arab. Fürstentitel. Erlaß eines islamischen Herrschers. Im Orient benutzte, kleine Porzellankaffeetasse. Arab. Mitteilung, Erzählung, Bezeichnung der Mohammed zugeschriebenen Aussprüche; neben dem Koran eine Quelle religiöser Vorschriften. Bezeichnung für die Regierung des Sultans. Jungfrau, die dem islamischen Glauben nach im Paradies dem Gläubigen zur Frau gegeben wird.
Janitscharen
Kaaba Kapidschibaschi Kapudan-Pascha
Khamsin (auch Kamsin) Khediven Khol Ma scha Allah! Maalem Mamelucken
Mar Elias Mudir Mukhtar Mutassalem Nargileh
Heer; im 14. Jh. aus zum Islam übergetretenen christl. Kriegsgefangenen gebildet und durch „Knabenlese" ergänzt. Würfelförmiges Bauwerk aus Stein; Kultstätte. Zentrale Kultstätte des Islams in Mekka. Dem Namen nachgestellter, auf Lebenszeit verliehener Titel für hohe militärische Würdenträger (Generäle, Admiräle). Trockenheißer ägyptischer Wüstenwind. Titel der Vizekönige in Ägypten. Schwarzer Wachsstift für die Augenkosmetik. So Gott will! Meister, Gelehrter. Ursprünglich Militärsklaven türkischer, kaukasischer oder slawischer Herkunft, die seit dem 9. Jh. in Ägypten und Syrien Kriegsdienst leisteten; 1250 ergriffen sie in Kairo die Macht und behielten auch nach der osmanischen Eroberung eine erhebliche Macht. Hl. Elias Statthalter eines Dorfes oder Kantons. Ältester. Leiter. Orientalische Wasserpfeife.
Odaliske Omaijaden Osmanlis
Qintar Qumbas Regime der Kapitulation
Sassaniden Sherwal Ulema Wadi
Wahhabiten Zaim
Hellhäutige Haremsdame. Kalifendynastie in Damaskus. Angehörige der turkmenischen Stämme, die sich im 13Jh. in Kleinasien niederließen; der Sultan wies ihnen ein Gebiet zu, das zum Kern des osmanischen Reiches wurde. Gewicht (in Syrien 256,4 kg). Von Männern getragener Umhang mit weiten Ärmeln. Vertrag, der die Rechte christlicher Untertanen in muslimischen Ländern regelt. Persische Dynastie. Weite Hosen, die in verschiedenen asiatischen Ländern getragen werden. Islamischer Stand der Gottes- und Rechtsgelehrten. Tief eingeschnittenes Bett eines Wüstenflusses, der nur nach starken Regenfällen Wasser führt. Anhänger einer puritanischen Bewegung des Islams. Ratsmitglied, das zuständig für die nächtliche Sicherheit ist.