Starcraft Nr. 1
Libertys Kreuzzug von Jeff Grubb erschienen: Februar 2004
60000 Lichtjahre von der Erde entfernt, wir...
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Starcraft Nr. 1
Libertys Kreuzzug von Jeff Grubb erschienen: Februar 2004
60000 Lichtjahre von der Erde entfernt, wird eine Konföderation terranischer Auswanderer in einem Krieg zwischen den rätselhaften Protoss und dem erbarmungslosen ZergSchwarm verwickelt. Jede Spezies kämpft dort zwischen den Sternen um ihr eigenes Überleben – in einer Schlacht, die das größte Kapitel in der Geschichte der Menschheit werden könnte … oder ihr brutales, blutiges Ende. Mike Liberty ist ein guter Reporter … zu gut vielleicht. Als er mit seinen Recherchen mitten in das korrupte Herz der terranischen Konföderation trifft, steht er vor der wichtigsten Wahl seiner Karriere: Soll er seine gegenwärtige Artikelserie fortsetzen oder einen riskanten neuen Auftrag übernehmen und über die Marines an der Front des Koprulu-Sektors berichten? Die Entscheidung fällt ihm nicht schwer … Hinter den Angriffen der Zerg und Protoss verbirgt sich ein mysteriöses Schema, aber jedes neue Mosaiksteinchen an Information verschleiert das schockierende Geheimnis nur noch mehr. Als er zwischen die Fronten eines Krieges gerät, dessen Ausgang das Überleben der Menschheit entscheiden wird, weiß Mike Liberty nur eines mit Sicherheit – der einzige Mensch, dem er sein Leben jetzt noch anvertrauen kann, ist er selbst.
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Gewidmet den Fans von StarCraft, insbesondere meinen Kollegen, die zahllose Arbeitsstunden damit zubrachten, den Massenangriff der Zerglinge zu perfektionieren.
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ANTE BELLUM Der Mann im zerlumpten Mantel steht in Licht getaucht in einem Raum voller Schatten. Nein, das stimmt nicht: Er wird nicht angeleuchtet, er ist Gestalt gewordenes Licht, das sich zu einem dreidimensionalen Abbild des Originals formt. Ein Hologramm. Der Mann spricht in den dämmrigen Raum, ohne zu wissen, ob sich jemand jenseits seines Leuchtens aufhält – und es kümmert ihn auch nicht. Phantomhafter Rauch kräuselt sich von der Zigarette in seiner Linken empor. Er ist ein Bruchstück der Vergangenheit, ein Teil dessen, was nicht mehr existiert, konserviert von Licht, und so tritt er vor ein unsichtbares Publikum. »Sie kennen mich«, sagt die leuchtende Gestalt und hält inne, um an ihrem Sargnagel zu ziehen. »Sie haben mein Gesicht auf Universe News Network gesehen, und Sie haben die Berichte gelesen, die unter meinem Namen erschienen. Ein paar davon habe ich sogar selbst geschrieben. Andere … nun, sagen wir, ich habe talentierte Redakteure.« Die Lichtgestalt zuckt müde, beinahe belustigt, die Achseln. Die Aufzeichnung zeigt ihn als kleinen Mann, aber er macht den Eindruck, als sei er im wahren Leben von normaler Größe und Proportion, wenn auch ein wenig schlaksig geraten. Seine Schultern hängen ein bisschen herab, vor Erschöpfung oder aufgrund seines Alters. Sein aschblondes Haar ist von grauen Strähnen durchzogen, nach hinten gekämmt und dort zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst; dabei kaschiert es eine kahle Stelle. Sein Gesicht ist abgespannt und etwas zerfurchter, als es für eine herkömmliche Nachrichtensendung zulässig wäre, hat aber vielleicht gerade deshalb Wiedererkennungswert. Es bleibt ein berühmtes, ein vertrautes, ein im menschlichen Raum 4
wohlbekanntes Gesicht, selbst in diesen kriegsgeschundenen Tagen. Aber es sind seine Augen, die Aufmerksamkeit fordern. Sie liegen tief in ihren Höhlen und wirken selbst in dieser Wiedergabe besitzergreifend. Es sind die Augen, die die Illusion erzeugen, dass die leuchtende Gestalt ihre Zuschauer wirklich sehen kann – dass sie ihnen bis auf den Grund ihres Wesens zu blicken vermag. Das war seit jeher die besondere Begabung dieses Mannes – eine Verbindung zu seinem Publikum zu erschaffen, selbst wenn er sich Lichtjahre entfernt aufhielt. Die Gestalt nimmt einen weiteren Zug von ihrem Glimmstängel, und ein falscher Heiligenschein aus Rauch legt sich um ihren Kopf. »Sie mögen die offiziellen Berichte über den Fall der Menschlichen Konföderation und den ruhmreichen Aufstieg des Reiches, das man Terranisches Dominion nennt, gehört haben. Und Sie mögen die Geschichten über die Ankunft der Aliens, der Horden von Zerg und über die nicht menschlichen, ätherischen Protoss, gehört haben. Über die Schlachten im Sara-System und dem Fall von Tarsonis. Sie haben die Berichte gehört. Wie ich schon sagte, ein paar von ihnen trugen meinen Namen. Und ein wenig davon ist sogar wahr.« In der Finsternis jenseits des Lichtes bewegt sich jemand, unruhig, unsichtbar. Der holografische Projektor sondert nur wenig Streulicht ab, nackte Photonen, und so bleiben die Zuschauer für den Moment im Verborgenen. Von irgendwo hinter dem in Dunkelheit gehüllten Publikum ist das Geräusch tropfenden Wassers zu vernehmen. »Sie haben meine Worte also gelesen und sie geglaubt. Aber ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass die meisten dieser Artikel nicht mehr als gequirlte Kacke sind, die von den maßgeblichen Stellen in eine gefälligere und damit akzeptable Form gebracht wurden. Es wurden Lügen erzählt, kleine wie auch große Lügen – und zu einem guten Teil tragen sie sicher mit Schuld an unserer gegenwärtigen Misere. Unsere erbärmliche Lage wird sich nicht zum Besseren 5
wenden, es sei denn, wir reden darüber, was wirklich geschehen ist. Was auf Chau Sara, Mar Sara, Antiga Prime und Tarsonis selbst geschah. Was mit mir und einigen meiner Freunde passierte – und auch mit ein paar unserer Feinde.« Die Gestalt hält inne und richtet sich zu voller Größe auf. Sie schaut sich um. Ihre blinden Augen schweifen durch die Dunkelheit des Raumes, blicken dem Publikum tief in die Seele. »Ich bin Michael Daniel Liberty. Ich bin Reporter. Betrachten Sie dies als meinen wichtigsten, vielleicht meinen letzten Bericht. Betrachten Sie es als mein Manifest. Ach, nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich bin nur hier, um Ihnen zu erzählen, was wirklich passiert ist. Ich bin hier, um die Sache klarzustellen. Ich bin hier, um Ihnen die Wahrheit zu sagen – nichts als die Wahrheit.«
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KAPITEL 1 DIE PRESSEMEUTE Vor dem Krieg war alles anders. Verdammt, damals verdienten wir einfach nur unseren Lebensunterhalt. Wir taten unseren Job, kassierten unsere Gehaltsschecks und hintergingen unsere Mitmenschen. Wir hatten ja keine Ahnung, wie schlimm das Ganze werden sollte. Wir waren satt und zufrieden wie Maden im Speck. Es gab Gewaltausbrüche – Rebellionen, Revolutionen und widerspenstige Kolonialregierungen –; gerade heftig genug, um das Militär zu beschäftigen, aber nicht so bedrohlich, dass sie den Lebensstil, an den wir uns gewöhnt hatten, ernstlich gefährden konnten. In der Rückschau betrachtet, waren wir wohl nicht nur satt, sondern auch ziemlich überheblich. Falls je ein richtiger Krieg ausbrechen sollte, dachten wir, würde das die alleinige Sorge der Militärs sein. Die Sorge der Marines. Nicht unsere. – DAS LIBERTY-MANIFEST Die Stadt zu Mikes Füßen schien sich aus unzähligen jadefarbenen Kakerlaken zusammenzusetzen, die jemand wahllos mit einem Eimer verschüttet hatte. Aus der Schwindel erregenden Höhe von Handy Andersons Büro konnte er zwischen den höheren Gebäuden fast den Horizont erkennen. So weit erstreckte sich die Stadt und bildete entlang des Randes der Welt einen schartigen Riss. Die Stadt Tarsonis auf dem Planeten Tarsonis. Die wichtigste Stadt auf dem wichtigsten Planeten der Konföderation der Menschen. Die Stadt, die so bedeutend war, dass man sie zweimal benannt hatte. Die Stadt, die so groß war, dass in ihren Vororten mehr Menschen lebten als auf manchen Planeten. Ein strahlender Leitstern der Zivilisation, Bewahrer der Erinnerungen an eine Erde, die heute verloren war an die Vergangenheit, an Mythen und frühere Generationen. 7
Ein schlafender Drache. Und Michael Liberty konnte nicht widerstehen, ihm auf den Schwanz zu treten. »Gehen Sie weg da von der Kante, Mickey«, sagte Anderson. Der Chefredakteur saß hinter seinem Schreibtisch – einem Schreibtisch, der so weit wie möglich von dem Panorama-Ausblick entfernt aufgestellt war. Michael Liberty gefiel der Eindruck, dass in der Stimme seines Chefs ein besorgter Ton mitschwang. »Keine Sorge«, gab Mike zurück. »Ich habe nicht vor, runterzuspringen.« Er unterdrückte ein Grinsen. Mike und die anderen aus der Nachrichtenredaktion wussten, dass der Chefredakteur unter Höhenangst litt, sich aber nicht überwinden konnte, seine stratosphärische Büroaussicht aufzugeben. Bei den seltenen Gelegenheiten, da Liberty in das Büro seines Vorgesetzten gerufen wurde, stand er deshalb immer in der Nähe des Fensters. Die meiste Zeit arbeiteten er und die anderen Kulis und Nachrichtenschreiberlinge weiter unten, im dritten Stock oder in den Übertragungskabinen im Keller des Gebäudes. »Ums Springen mache ich mir keine Sorgen«, sagte Anderson. »Mit dem Springen käme ich schon klar. Springen würde viele meiner Probleme lösen und mir einen Aufmacher für die morgige Ausgabe bescheren. Ich mache mir mehr Sorgen, dass ein Scharfschütze Sie von einem anderen Gebäude aus umlegt.« Liberty wandte sich seinem Chef zu. »Weil Blutflecken so schwer aus dem Teppich zu entfernen sind?« »Zum Teil deswegen, ja«, erwiderte Anderson lächelnd. »Außerdem ist es eine Schweinearbeit, das Glas zu ersetzen.« Liberty warf einen letzten Blick auf den Verkehr, der in der Tiefe dahinkroch, und kehrte dann zu den dick gepolsterten Sesseln zurück, die zum Schreibtisch hin ausgerichtet waren. Anderson versuchte, gelassen zu wirken, aber Mike bemerkte, wie der Redakteur langsam und lange den Atem entließ, als Mike vom Fenster wegtrat. Michael Liberty ließ sich in einem von Andersons Sesseln 8
nieder. Sie waren gestaltet, um wie normale Möbelstücke auszusehen, aber so gepolstert, dass jemand, der sich hineinsetzte, ein, zwei Extrazoll tief darin versank. Dadurch wirkte der kahl werdende Chefredakteur mit seinen komisch übergroßen Augenbrauen imposanter. Mike kannte den Trick, ließ sich nicht beeindrucken und legte die Füße auf den Schreibtisch. »Also, was liegt an?«, fragte der Reporter. »Eine Zigarre, Mickey?« Anderson wies mit einer einladenden Geste auf einen Humidor aus Teakholz. Mike hasste es, Mickey genannt zu werden. Er berührte seine leere Hemdtasche, wo normalerweise eine Packung Zigaretten steckte. »Ich gewöhn's mir gerade ab. Oder versuche mich einzuschränken.« »Die hier wurden am Jaandaran-Embargo vorbeigeschmuggelt«, sagte Anderson lockend. »Gerollt auf den Schenkeln zimtfarbener Jungfrauen.« Mike hob beide Hände und lächelte breit. Jedermann wusste, dass Anderson zu geizig war, um sich etwas zu kaufen, das über dem Standard von el ropos lag, die in irgendeinem Schmugglerkeller hergestellt wurden. Aber das Lächeln sollte ihn beruhigen. »Was liegt an?«, wiederholte Mike. »Diesmal haben Sie es wirklich geschafft«, seufzte Anderson. »Ihre Serie über die Schmiergelder beim Bau der neuen Stadthalle.« »Guter Stoff. Die Serie sollte für einigen Aufruhr sorgen.« »Das hat sie bereits«, erwiderte Anderson und senkte sein Kinn auf die Brust. Diese Geste war als die Überbringer-schlechter-Nachrichten-Haltung bekannt. Anderson hatte sie auf irgendeinem Management-Seminar gelernt, aber ihn ließ sie aussehen wie eine balzende Taube. Mist, dachte Mike. Er setzt die Serie ab. Als habe er seine Gedanken gelesen, sagte Anderson: »Keine Sorge, wir werden auch den Rest der Serie bringen. Das ist solide Berichterstattung, gut fundiert, und, was am 9
besten ist, sie ist wahr. Aber Sie sollten wissen, dass Sie einige Leute sehr beunruhigt haben.« Mike ließ die Serie im Geiste Revue passieren. Sie gehörte zu seinen besseren Arbeiten, ein klassisches Thema. Es ging um einen kleinen Ganoven, der zur falschen Zeit (weit nach Mitternacht) am falschen Ort (in einem öffentlichen Park) erwischt wurde, als er das Falsche (leicht radioaktiven Bauabfall vom Stadthallen-Projekt) bei sich trug. Besagter Übeltäter war mehr als nur willens, den Namen des Mannes auszuspucken, der ihn auf diese spätnächtliche Tour geschickt hatte. Diese Person wiederum war willens, Mike von ein paar anderen interessanten Angelegenheiten, die neue Stadthalle betreffend, zu erzählen, und so ging es weiter, bis Mike anstatt einer einzelnen Story eine ganze Serie über ein riesiges Netz aus Gaunerei und Korruption hatte, das die Zuschauer der Universe Network News nur so verschlangen. In Gedanken ging Mike die Liste der Wahlbezirksleiter, Kleingangster und Mitglieder des Stadtrats von Tarsonis durch, die er mit Worten aufgespießt hatte, und legte jeden Einzelnen davon als Verdächtigen ab. Jede dieser hehren Persönlichkeiten mochte ihn auf dem Kieker haben, aber solch eine Drohung reichte nicht aus, um Handy Anderson nervös zu machen. Der Chefredakteur sah Mikes ausdruckslose Miene und er gänzte: »Sie haben ein paar sehr mächtige, ehrwürdige Leute sehr beunruhigt.« Mike lupfte die linke Braue. Anderson sprach von einer der herrschenden Familien, die Mächte, die seit jeher hinter der Konföderation standen, seit jenen Anfangstagen, als die ersten Kolonistenschiffe (ach was, Gefangenenschiffe!) auf verschiedenen Planeten des Sektors landeten und/oder abstürzten. Irgendwo in seiner Reportage hatte er jemanden, der über Einfluss verfügte, angeprangert, oder vielleicht jemanden, der einer der Familien nahe genug stand, um die Altehrwürdigen nervös zu machen. Mike beschloss, seine Notizen durchzusehen, um festzu10
stellen, welche Verbindungen sich ziehen ließen. Vielleicht handelte es sich um einen entfernten Cousin einer der Alten Familien oder ein schwarzes Schaf oder vielleicht auch um eine direkte Reaktion. Gott wusste, dass die Alten Familien seit dem Jahre Null hinter den Kulissen die Fäden zogen. Wenn er einen aus ihrer Mitte festnageln konnte … Mike fragte sich, ob er angesichts dieser Aussicht wohl gerade sabberte. Unterdessen hatte sich Handy Anderson von seinem Sessel erhoben, kam seitlich um den Schreibtisch herum und ließ sich auf der Ecke neben Mike nieder. (Eine weitere Geste direkt aus den Management-Kursen, wie Mike erkannte. Verdammt, Anderson hatte ihn einmal beauftragt, über diese Seminare zu berichten.) »Mike, Sie müssen wissen, dass Sie sich hier auf gefährlichem Terrain bewegen.« O Gott, er hat mich Mike genannt, dachte Liberty. Gleich wird er traurigen Blickes zum Fenster hinausschauen, als sei er in Gedanken verloren und ringe mit einer schwerwiegenden Entscheidung. Er sagte: »Ich bin gefährliches Terrain gewöhnt, Chef.« »Ich weiß, ich weiß. Ich sorge mich nur um die Leute in Ihrem Umfeld. Ihre Quellen. Ihre Freunde. Ihre Kollegen …« »Ganz zu schweigen von meinen Vorgesetzten.« »…denen allen das Herz bräche, wenn Ihnen etwas Schreckliches zustoßen würde.« »Vor allem falls sie in der Nähe stünden, wenn es passiert«, fügte der Reporter hinzu. Anderson hob die Schultern und starrte traurig aus dem Fenster, das die gesamte Wand einnahm. Mike erkannte, dass, was immer Anderson auch befürchtete, es schlimmer war als seine Höhenangst. Und vor ihm stand ein Mann, der – wenn das im Büro kursierende Gerücht stimmte (und das tat es) – im Keller einen verschlossenen Raum hatte, in dem er schmutzige Wäsche der meisten Berühmtheiten und wichtigen Bürger der Stadt hortete. Das Schweigen dehnte sich von einem Augenblick zu einer Minute. Schließlich war es Mike, der es brach. Er hüstel11
te höflich und sagte: »Haben Sie denn eine Idee, was man im Hinblick auf dieses ›gefährliches Terrain‹ tun könnte?« Handy Anderson nickte langsam. »Ich möchte die Serie drucken. Das ist gute Arbeit.« »Aber Sie möchten mich nicht in unmittelbarer Nähe haben, wenn der nächste Teil dieser Story erscheint.« »Ich denke nur an Ihre eigene Sicherheit, Mickey, es ist …« »… gefährliches Terrain«, beendete Mike den Satz. »Ich hab's gehört. Die Drachen lauern. Vielleicht wäre es Zeit für einen längeren Urlaub? Vielleicht auf einer Berghütte?« »Ich dachte mehr an einen Sonderauftrag.« Natürlich, dachte Mike. Auf diese Weise habe ich keine Gelegenheit herauszufinden, wem ich auf die Füße getreten bin. Und diejenigen, die darin verwickelt sind, bekommen genug Zeit, ihre Spuren zu verwischen. »In einem anderen Bereich des Universal-News-NetworkImperiums?«, meinte Mike mit einem breiten Grinsen und fragte sich gleichzeitig, von welcher gottvergessenen Kolonialwelt aus er wohl über landwirtschaftliche Themen berichten sollte. »Eher als rasender Reporter«, stichelte Anderson. »Wie rasend?« Mikes Grinsen wurde plötzlich hart und brüchig. »Brauche ich dafür Off-Planet-Impfungen?« »Besser eine Nadel in den Hintern als eine Kugel in den Kopf, oder? Entschuldigung, das war ein schlechter Witz. Die Antwort ist ja, ich denke definitiv an einen Off-PlanetAuftrag.« »Na los, spucken Sie's schon aus. In welchem Dreckloch wollen Sie mich verstecken?« »Ich dachte an die konföderierten Marines. Als Militärreporter natürlich.« »Was?« »Es wäre natürlich nur ein vorübergehender Posten«, fuhr der Redakteur fort. »Sind Sie noch bei Trost?« »So eine Art ›unsere Kämpfer im All‹ – wie sie gegen di12
verse Rebellen vorgehen, die unsere große Konföderation bedrohen. Gerüchten zufolge trommelt Arcturus Mengsk auf den Randwelten mehr Unterstützung zusammen. Könnte jeden Moment ziemlich heiß werden.« »Die Marines?«, platzte es aus Mike heraus. »Die konföderierten Marines sind die größte Ansammlung von Verbrechern im bekannten Universum, abgesehen vom Stadtrat von Tarsonis.« »Mike, bitte. Jeder hat ein wenig verbrecherisches Blut in sich. Zum Teufel, sämtliche Planeten der Konföderation wurden von verbannten Verbrechern besiedelt.« »Ja, aber die meisten Leute wollen glauben, dass wir das hinter uns haben. Bei den Marines allerdings ist das immer noch eine der wichtigsten Aufnahmebedingungen. Verdammt, wissen Sie eigentlich, wie vielen von denen das Hirn gebraten wurde?« »Neural resozialisiert«, korrigierte Anderson. »Heutzutage sind es nicht mehr als fünfzig Prozent pro Einheit, so weit ich weiß. Mancherorts auch weniger. Und die Resozialisation erfolgt immer häufiger auf nichtinvasive Weise. Sie werden wahrscheinlich nicht einmal etwas davon bemerken.« »Ja und man pumpt sie dermaßen mit Stim-Packs voll, dass sie auf Befehl sogar ihre eigenen Großväter umbringen würden.« »Das ist genau die Art von allgemeiner falscher Vorstellung, der Sie mit Ihrer Arbeit entgegenwirken können«, sagte Anderson, beide Augenbrauen in einstudierter Lauterkeit erhoben. »Hören Sie, die meisten politicos, die ich kenne, sind von Natur aus irre. Die Marines sind irre, und obendrein hat man ihnen noch im Kopf herumgepfuscht. Nein. Die Marines kommen nicht in Frage.« »Es gäbe nette Storys. Sie würden vermutlich ein paar gute Kontakte knüpfen.« »Nein.« »Reporter, die Erfahrung mit dem Militär haben, erhalten 13
Vergünstigungen«, sagte der Chefredakteur. »Sie bekommen einen grünen Punkt in Ihre Akte, und der hat Gewicht bei den ehrwürdigeren Familien von Tarsonis. Manchmal bedeutet er sogar Vergebung.« »Tut mir Leid. Kein Interesse.« »Ich gebe Ihnen eine eigene Kolumne.« Pause. Schließlich sagte Mike: »Wie groß wäre diese Kolumne?« »Eine ganze Spalte, blatthoch, oder fünf Minuten Standup in der Sendung. Unter Ihrem Namen, versteht sich.« »Regelmäßig?« »Sie liefern, ich bringe es.« Eine weitere Pause. »Plus Gehaltserhöhung?« Anderson nannte eine Zahl, und Mike nickte. »Das ist beeindruckend«, meinte er. »Kein Kleingeld«, stimmte der Chefredakteur zu. »Ich bin etwas zu alt, um von einem Planeten zum anderen zu hüpfen.« »Es besteht keine wirkliche Gefahr. Und wenn es kracht, gibt es Kampfzulage. Automatisch.« Noch eine Pause. Dann sagte Mike: »Na ja, es klingt nach einer Herausforderung.« »Und Sie sind genau der richtige Mann für eine Herausforderung.« »Und es kann nicht schlimmer sein, als über den Stadtrat von Tarsonis zu berichten«, überlegte Mike und spürte, wie er den schlüpfrigen Hang zur Zustimmung hinabglitt. »Genau das denke ich auch«, fand sein Redakteur. »Und wenn es dem Network helfen würde …« Ja, erkannte Mike, er stand am Rande des Abgrunds und war kurz davor, ins Leere zu stürzen. »Sie wären uns allen ein leuchtendes Vorbild«, sagte Anderson. »Ein gut bezahltes, leuchtendes Vorbild. Schwenken Sie die Fahne ein bisschen, schreiben Sie ein paar persönliche Storys, fliegen Sie in einem Schlachtkreuzer mit, spielen Sie Karten. Machen Sie sich um uns hier im Büro keine Gedanken.« 14
»Ein lauschiger Posten?« »Der lauschigste überhaupt. Ich habe einigen Einfluss, wie Sie wissen. Hatte selbst so einen grünen Punkt. Drei Monate Arbeit, höchstens. Aber lebenslanger Dank.« Eine letzte Pause entstand, eine Kluft so tief wie die Betonschlucht, die unterhalb des Fensters gähnte. »In Ordnung«, sagte Mike. »Ich tu's.« »Wunderbar!« Anderson griff nach dem Humidor, ertappte sich dabei und streckte Mike stattdessen die Hand hin. »Sie werden es nicht bereuen.« »Warum habe ich bloß das Gefühl, als täte ich das bereits?«, fragte Michael Liberty leise, als die fleischige, schwitzende Hand des Redakteurs die seine umschloss.
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KAPITEL 2 DER LAUSCHIGE POSTEN Der Militärdienst – für jene unter Ihnen, die das Pech hatten, ihn nie aus eigener Erfahrung kennen zu lernen – besteht aus langen Phasen der Langeweile, die unterbrochen werden von entsetzlichen Gefahren für Leib und Verstand. So weit ich es den alten Aufzeichnungen entnehmen konnte, war das schon immer so. Die besten Soldaten sind jene, die übergangslos aufwachen, umgehend reagieren und präzise zielen können. Leider zeichnet den militärischen Geheimdienst, der diese Soldaten kontrolliert, keines dieser Merkmale aus. – DAS LIBERTY-MANIFEST »Mister Liberty?«, sagte die diensteifrige Mörderin an der Luke. »Der Captain möchte mit Ihnen sprechen.« Michael Liberty, UNN-Reporter und dem elitären AlphaGeschwader der konföderierten Marines zugeteilt, öffnete ein Auge und sah sie lächelnd neben seiner Koje stehen. Ein Kartenspiel, das die ganze Nacht gedauert hatte, war gerade vertagt worden, und er war überzeugt, dass die junge Frau in der Uniform eines Marine-Lieutenants extra gewartet hatte, bis er sich hinlegte, ehe sie in seine Unterkunft geplatzt war. Der Reporter seufzte. »Erwartet Colonel Duke mich sofort?« »Nein, Sir«, sagte die Mörderin und schüttelte nur um des Effektes willen den Kopf. »Er sagte, Sie sollen kommen, wann es Ihnen passt.« »Sicher«, sagte Mike, schwang die Beine über die Bettkante und verscheuchte die Lockung des Schlafes aus seinem Kopf. Für Colonel Duke bedeutete »wann es Ihnen passt« für gewöhnlich »innerhalb der nächsten zehn Minuten, verdammt«. Mike griff nach seinen Zigaretten, aber erst als seine Hand in die leere Hemdtasche tauchte, fiel 16
ihm wieder ein, dass er das Rauchen aufgegeben hatte. »Sowieso eine ekelhafte Angewohnheit«, murmelte er zu sich selbst. An den Marine-Lieutenant gewandt sagte er: »Brauch 'ne Dusche. Kaffee wäre auch nicht schlecht.« Lieutenant Emily Jameson Swallow, Libertys persönliche Assistentin, Verbindungsoffizierin, Aufpasserin und Spionin für ihre militärischen Vorgesetzten, wartete so lange, bis sie überzeugt war, dass Mike wirklich aufstand, dann schwirrte sie ab zur Kombüse. Mike gähnte, schätzte, dass er wohl gut fünf Minuten geschlafen haben musste, zog sich aus und tappte zum Schallreiniger. Der Schallreiniger war natürlich ein militärisches Modell. Das hieß, er glich in seiner Bauweise jenen Hochdruckdüsen, die in Schlachthäusern das Fleisch von den Knochen fetzten. In den vergangenen drei Monaten hatte Mike sich daran gewöhnt. In den vergangenen drei Monaten hatte Michael Liberty sich an viele Dinge gewöhnt. Handy Anderson hatte Wort gehalten. Der Posten war angenehm, oder zumindest so angenehm, wie eine Zuteilung zum Militär es sein konnte. Die Norad II war ein Großkampfschiff der Behemoth-Klasse, Neostahl und LaserGefechtstürme, wie es der legendärsten der konföderierten Militäreinheiten, dem Alpha-Geschwader, gebührte. Die erstklassige Crew brachte viel Zeit damit zu, Flagge zu zeigen (ein blaues, diagonal verlaufendes Kreuz auf rotem Hintergrund, der mit weißen Sternen gefüllt war, Erinnerung an eine Legende von der alten Erde) und die lokalen Kolonialregierungen im Zaum zu halten. Infolgedessen hatte Mikes bislang größte Herausforderung darin bestanden, mit der Langeweile fertig zu werden und genug Themen zu finden, über die er schreiben konnte, um seine Kolumne zu rechtfertigen. Die bannerschwenkende Propaganda bot sich für die ersten paar Storys an, aber als es an richtiger Action und Erfolgen mangelte, musste Mike sich entschieden mehr anstrengen. Natürlich schrieb er einen Artikel über Colonel Edmund Drake. Ein paar Ge17
schichten aus dem Leben der gut aufeinander eingespielten Crew. Einen Bericht über die Qualen der neural Resozialisierten, den Anderson nicht brachte (aus Gründen des Anstands, wie Handy es formulierte). Lokalkolorit der verschiedenen Planeten. Gerade genug, um jedermann (und Handy Anderson im Besonderen) daran zu erinnern, dass er noch lebte und regelmäßige Überweisungen auf sein Konto erwartete. Und dann war da noch ein langer Zweiteiler über die Wunder der Schlachtkreuzer der Behemoth-Klasse, eine Story, die von den militärischen Zensoren auf ein paar Absätze zusammengestutzt wurde. Militärgeheimnisse, erklärte man ihm. Als ob die Söhne von Korhal nicht schon längst wüssten, was wir haben, dachte Mike, während er in seine Shorts schlüpfte und nach einem nicht allzu zerknitterten Hemd und einer Hose suchte. In seinem Spind hing ein neuer Mantel, ein Abschiedsgeschenk von den Jungs aus der Nachrichtenredaktion. Es war ein langer Staubmantel, in dem er aussah wie ein Bewohner des alten Westens, aber die Crew war offenbar der Meinung, dass Mike, wenn er schon in die interplanetaren Weiten hinauszog, auch passend gekleidet sein müsse. Er zog eine schlichte Hose über. Fast wie aufs Stichwort kam Swallow mit einer Kanne Kaffee und einer Tasse zurück. Während Mike sein Hemd zuknöpfte, schenkte sie ihm ein. Das Gebräu war nach Art des Militärs, Klasse A – frisch gemacht, brühheiß und geeignet, um ihn auf Bauern hinabzuschütten, die es wagten, die Familienburg anzugreifen. Der Kaffee war auch etwas, an das er sich gewöhnt hatte. Natürlich hatte er sich auch an drei Quadratmeter Lebensraum gewöhnt und daran, genug Zeit zu haben, um seine Kolumne zu schreiben, sowie an ein flexibles Maß an Privatsphäre. Außerdem an eine ewig wechselnde Gruppe von Pokerkameraden, die alle jung waren, ihre Löhne nirgendwo ausgeben und nicht einmal dann bluffen konnten, 18
wenn ihr Leben auf dem Spiel gestanden hätte. Er hatte sich sogar an Lieutenant Swallow gewöhnt, auch wenn ihr ewig positives Gebaren ihm zunächst auf die Nerven gegangen war. Natürlich hatte er erwartet, dass man ihm einen Aufpasser zur Seite stellen würde, irgendeinen Militär-Attache, der ihm beim Schreiben über die Schulter schauen und dafür sorgen sollte, dass er nicht irgendetwas Dummes tat, wie etwa seinen Stift in die Warp-Spulen werfen. Aber Lieutenant Emily Swallow schien geradewegs einem Ausbildungsfilm entsprungen zu sein. Einem besonders munteren Ausbildungsfilm von der Art, wie man ihn Mom und Dad zeigte, bevor man ihre Söhne und Töchter fünf Sternensysteme weit weg in ausgedehnte Einsätze schickte. Verdammt, Lieutenant Emily Swallow sah aus, als erfinde sie diese Sorte von Ausbildungsfilmen. Klein, zierlich und stets lächelnd schien sie jeden Wunsch von Mike ernst zu nehmen, selbst dann, wenn sie beide wussten, dass er unmöglich genehmigt werden würde. Sie hatte keine Laster außer einer gelegentlichen Zigarette, nahm alles mit einem Lächeln und einem schuldbewussten Achselzucken hin. Nur als er sie nach ihrer persönlichen Geschichte fragte, zögerte sie. Der Großteil der Crew brannte darauf, über das Leben zu Hause zu reden. Lieutenant Swallow hingegen hörte auf zu lächeln und fuhr sich mit der Hand seitlich übers Gesicht, wie um langes Haar zurückzustreichen, das nicht mehr da war. Dabei bemerkte Mike die kleinen Narben hinter ihrem Ohr, die Zeichen der nichtinvasiven neuralen Resozialisation, die Anderson erwähnt hatte. Ja, man hatte ihr das Hirn gebraten, und zwar heftig. Niemand konnte ohne eine elektrochemische Lobotomie dermaßen aufgekratzt sein. Mike sprach das Thema nicht mehr an; stattdessen schmierte er einen der Computertechniker, damit der ihn ein bisschen allein mit den Personalakten ließ (der Spaß kostete ihn zwei Notfallpackungen Zigaretten, aber zu dem Zeitpunkt hatte er den schlimmsten Teil des Entzugs bereits hinter sich, und die Sargnägel fanden durch den Handel 19
eine bessere Verwendung, als wenn er sie geraucht hätte). Er brachte in Erfahrung, dass die junge Emily Swallow, ehe sie unfreiwilligerweise den Marines beigetreten war, ein interessantes Hobby gepflegt hatte: Sie machte sich in Bars an junge Männer heran, nahm sie mit nach Hause, wo sie die Jungs fesselte und ihnen mit einem Filetiermesser die Haut und das Fleisch von den Knochen abzog. Die meisten Männer hätte diese Information aus der Fassung gebracht, aber Michael Liberty fand sie beruhigend. Die Mörderin, die auf Halcyon zehn junge Männer getötet hatte, war eher zu verstehen als die lächelnde, übereifrige Frau, die aussah wie jemand auf einem Rekrutierungsplakat. Jetzt, als er ihr durch die Korridore der Norad II zur Brücke folgte, fragte sich Mike, was Lieutenant Swallow von ihrer medizinischen Einkerkerung und der unfreiwilligen Transformation hielt. Er kam zu dem Schluss, dass sie wohl einfach nicht darüber nachdachte, und in Anbetracht ihrer ursprünglichen Natur entschied Mike sich, dieses Thema nicht mit Nachdruck zu verfolgen. Für ein Riesenschiff verfügte die Norad II über sehr schmale Gänge, fast so, als seien sie erst nachträglich angelegt worden, nachdem man all die Hangars, Offiziersmessen, Waffensysteme, Kombüsen, Computer und anderen Notwendigkeiten eingerichtet hatte. Wer sich auf den Korridoren begegnete, musste sich fast an die Wand drücken, um am anderen vorbeizukommen. Mike bemerkte große Pfeile, die auf den Boden gemalt waren. Laut Lieutenant Swallow dienten sie den Soldaten zur Orientierung, wenn das Schiff im Alarmzustand war und die Crew volle Kampfausrüstung trug. Mike wurde klar, dass die Gänge noch schmaler gebaut worden wären, hätten sie nicht im Bedarfsfall Männern in energiebetriebenen Kampfanzügen Platz bieten müssen. Sie passierten mehrere geräumige Bereiche, wo Techniker bereits Kabel entfernten. Gerüchten zufolge war die Norad II für eine Überholung fällig und sollte dabei auch mit einer Yamato-Kanone aufgerüstet werden. Angesichts der 20
Zahl von Laserbatterien, Raumjägern der Wraith-Klasse und auch der Nuklearwaffen, die sich gerüchteweise an Bord befanden, würde die gewaltige, auf eine Säule montierte Kanone das Tüpfelchen auf dem i werden. In der Tat rechnete Mike damit, dass der Colonel ihm genau das sagen würde – dass die Norad II zwecks Reparaturen ins Trockendock gebracht wurde und er, Michael Liberty, im nächsten Shuttle zurück nach Tarsonis fliegen würde. In dem Fall wäre es beinahe die Mühe wert, sich mit dem alten Fossil herumzuschlagen. Er revidierte seine Annahme allerdings, als sie die Brücke betraten und Duke ihn finster, mit gerunzelter Stirn, ansah. Nun wirkte Duke zwar nie sehr erfreut, wenn er einen Vertreter der Presse sah, aber das war das tiefste und feindseligste Stirnrunzeln, das Mike bislang gesehen hatte. »Mister Liberty, wie gebeten, Sir«, sagte Lieutenant Swallow und salutierte so zackig, wie man es in Rekrutierungsvideos sah. Der Colonel, herausgeputzt in seiner braunen Kommando-Uniform, sagte nichts, sondern zeigte mit einem dicken Finger in Richtung seines Bereitschaftsraums. Lieutenant Swallow geleitete Mike hinein und verließ ihn dann, um zu tun, was sie für gewöhnlich eben tat, wenn sie ihn einmal nicht im Auge behielt. Wahrscheinlich, vermutete Mike, hatte es etwas mit dem Häuten von Hündchen zu tun. Mikes ursprüngliche Beunruhigung nahm noch zu, als er die menschliche Silhouette ausmachte, die jetzt über einer an der Wand befestigten Halterang im Bereitschaftsraum hing. Es war ein energiebetriebener Kampfanzug, keine CMC-300-Standardversion, sondern ein Kommandoanzug, der mit einem eigenen tragbaren Kommunikationssystem ausgestattet war. Colonel Dukes Anzug, der poliert und geschmiert worden und nun bereit war für den hohen Herrn. Mike war mittlerweile nicht mehr so sicher, dass die Norad II überholt und mit der Yamato aufgerüstet werden sollte. Die meisten Marines hielten ihre Rüstung griffbereit, und Drills waren so sehr an der Tagesordnung wie die Mahlzei21
ten. Liberty schaffte es, sich dieser Pflicht zu entziehen, da man ihn als »weiches Ziel« betrachtete und er keine Genehmigung für das Tragen der schwereren Anzüge hatte. Es war allerdings amüsant, die Rekruten in voller Kampfausrüstung durch die engen Gänge stolpern zu sehen. Aber dass der Anzug des Colonels hier war, frisch gewienert und einsatzbereit, verhieß nichts Gutes. Der Anzug selbst war riesig und hing unter seinem Eigengewicht in der Halterung vornüber. In dieser Hinsicht, so schien es Michael Liberty, passte der leere Anzug gut zu seinem Besitzer. Colonel Drake erinnerte Mike an die großen Menschenaffen der alten Erde, diejenigen, die auf Gebäude kletterten und primitive Flugzeuge aus der Luft schlugen. Gorillas. Duke war ein alter Silberrücken, der spitzköpfige Anführer seines Stammes, und allein die Art, wie er sich vornüber beugte, flößte seinen Untergebenen Angst ein. Mike wusste, dass Drake aus einer der Alten Familien stammte, den ursprünglichen Führern der Kolonien des Koprulu – Sektors. Aber er musste irgendwann etwas falsch gemacht haben: Edmund Duke hätte eigentlich längst seine Generalssterne tragen müssen. Mike überlegte, welch hässliches Vorkommnis seiner Beförderung wohl im Wege stand, und mutmaßte, dass es laut, schmutzig und tief in den Militärakten der Konföderation vergraben sein musste. Er fragte sich, welcher Art von Einfluss es wohl bedurft hätte, an diese Information heranzukommen, und ob sie sich auch in Handy Andersons gar nicht so geheimem Kellergewölbe fand. Die Tür glitt auf, und Colonel Drake schritt herein wie ein gepanzerter Goliath-Walker, der Infanterie-Truppen vor sich her trieb. Sein Stirnrunzeln war jetzt noch tiefer als zuvor. Er hielt eine Hand gesenkt, um Mike zu bedeuten, dass er nicht aufzustehen brauchte (Mike hatte ohnehin nicht die Absicht gehabt, dies zu tun), ging um seinen breiten Schreibtisch herum und setzte sich. Er legte die Ellbogen auf die polierte Obsidianplatte und die Finger aneinander. 22
»Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Zeit bei uns, Liberty?«, erkundigte er sich. Er sprach gedehnt, wie es charakteristisch war für die Alten Familien der Konföderation. Mike, der nicht mit Smalltalk gerechnet hatte, schaffte es, eine allgemein gehaltene Bejahung zu stammeln. »Ich fürchte, das wird nicht so bleiben«, sagte der Colonel. »Laut unseren ursprünglichen Befehlen sollten wir von der Theodore G. Bilbo abgelöst werden und binnen zweier Wochen zu einer Modernisierung einlaufen. Aber jetzt wurden wir von gewissen Ereignissen überholt.« Mike sagte nichts. Er hatte im Laufe der Jahre genug Briefings beigewohnt, auch auf ziviler Ebene, um zu wissen, dass er sein Gegenüber besser nicht unterbrach, es sei denn, er hatte etwas zu sagen, das eine Unterbrechung rechtfertigte. »Wir setzen einen neuen Kurs auf das Sara-System. Ich fürchte, das liegt mitten im Nirgendwo, am Arsch des Universums. Die Konföderation unterhält dort zwei Kolonialwelten, Mar Sara und Chau Sara. Eine lange Patrouille, die unsere ursprünglichen Missions-Parameter weit überschreitet.« Mike nickte nur. Der Colonel schlich sich an das Thema heran, benahm sich wie ein Hund, dem ein Hühnerknochen im Hals steckte – etwas, das ihm schwer fiel zu schlucken und noch schwerer, es wieder auszuhusten. Mike wartete. »Ich muss Sie daran erinnern, dass Sie als Mitglied der Presse, das dem Alpha-Geschwader zugewiesen ist, bezüglich Ihrer Pflichten und deren Ausübung dem militärischen Kodex der Konföderation unterliegen.« »Ja, Sir«, erwiderte Mike ernsthaft genug, um den Eindruck zu erwecken, dass ihm der militärische Kodex der Konföderation nicht scheißegal war. »Und dass sich das sowohl auf Ihren momentanen Auftrag bezieht als auch auf Ereignisse, die während Ihres Aufenthalts hier eintreten.« Duke bewegte nickend seinen spitzen Kopf und erwartete offensichtlich eine Antwort. »Ja, Sir.« Mike trennte die beiden Worte deutlich, um zu 23
betonen, dass er verstanden hatte. Wieder eine Pause, während der Mike das Pulsieren des Schiffes spüren konnte. Ja, die Norad II vibrierte jetzt in einem anderen Ton, etwas höher, intensiver, ein wenig heftiger. Männer und Frauen machten das Schiff subwarpbereit. Und vielleicht zum Kampf? Mike fragte sich plötzlich, ob es wirklich so schlau gewesen war, das Training im Kampfanzug zu schwänzen. Colonel Edmund Drake, der Hund mit dem Hühnerknochen im Hals, sagte: »Sie kennen die Geschichte unserer Vergangenheit.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Mike blinzelte; plötzlich wusste er nicht recht, was er darauf sagen sollte. Er entschied sich für ein: »Sir?«. »Wie wir in den Sektor kamen und ihn besiedelten. Wie wir ihn uns aneigneten«, erwiderte der Colonel unverzüglich. »An Bord der Schläferschiffe, der Superträger«, sagte Mike, hervorkramend, was er als Kind gelernt hatte. »Die Nagglfar, die Argo, die Sarengo und die Reagan. Die Crews aus Gefangenen und Ausgestoßenen der alten Erde stießen auf ein paar vereinzelte bewohnbare Welten.« »Sie fanden auf Anhieb drei solche Welten. Und ganz in der Nähe zwei weitere Hand voll, die irdische Bedingungen aufwiesen oder zumindest für die Zwecke der Armee taugten. Aber sie fanden kein Leben.« »Bitte verzeihen Sie, Colonel, aber auf den drei ersten Planeten gab es eingeborenes Leben in großem Umfang. Außerdem verfügen die meisten Kolonien und die Randwelten über ihr eigenes Ökosystem. Terraforming vernichtet eingeborene Lebensformen zwar häufig, aber nicht immer.« Der Colonel tat den Einwand mit einer wedelnden Handbewegung ab. »Aber nichts, das klüger war als ein gewöhnlicher Wachhund. Ein paar große Insekten, die man auf Umoja domestizierte, und eine Menge Zeug, das verbrannt wurde, als die Welt besiedelt und umgepflügt wurde. Nichts mit Verstand.« 24
Mike nickte. »Intelligentes Leben war seit jeher eines der Geheimnisse des Universums. Wir haben eine Welt nach der anderen entdeckt, aber keinen Hinweis darauf gefunden, dass es da draußen noch etwas anderes gibt, das so klug ist wie wir.« »Bis jetzt«, sagte der Colonel. »Und Sie werden der erste Network-Reporter vor Ort sein.« Mike erwärmte sich ein wenig für das Thema. »Es gab zahlreiche mysteriöse Formationen auf vielen Planeten, die den Schluss zulassen, dass es dort einmal empfindungsfähiges Leben gab. Außerdem erzählen Raumfahrer Geschichten über geheimnisvolle Lichter und Foo-Fighters.« »Hier geht es nicht um Lichter am Himmel oder alte Ruinen. Es handelt sich um den unumstößlichen Beweis für extraterrestrische Aktivität. Dass wir hier draußen nicht allein sind.« Duke ließ seine Worte wirken, und ein Grinsen spielte um seine Mundwinkel, was seiner Erscheinung nicht im Mindesten zum Vorteil gereichte. Irgendwo im Schiff wurde ein Schalter umgelegt, und die monströsen Maschinen begannen zu brummen. Mike strich sich übers Kinn und fragte: »Was wissen wir bisher? Gab es einen Gesandten, einen Repräsentanten? Oder handelt es sich um eine zufällige Entdeckung? Haben wir eine Kolonie gefunden, oder erreichte uns eine direkte Botschaft?« Der Colonel ließ ein raues Glucksen hören. »Mister Liberty, lassen Sie es mich ganz klar ausdrücken. Wir kamen in Kontakt mit einer anderen, außerirdischen Zivilisation. Dieser Kontakt bestand darin, dass sie die Kolonie auf Chau Sara vernichtet haben. Sie haben sie bis auf die Grundmauern niedergebrannt, und dann haben sie den Boden darunter verbrannt. Wir sind jetzt dorthin unterwegs, aber wir wissen nicht, ob der Feind noch anwesend ist. Und Sie werden der erste Network-Reporter vor Ort sein«, wiederholte der Colonel. »Herzlichen Glückwunsch, Sohn.« 25
Mike hatte kein allzu gutes Gefühl bei dieser besonderen Ehre.
26
KAPITEL 3 DAS SARA-SYSTEM Der erste Kontakt mit einer anderen intelligenten Rasse – und die jagt einen Planeten in die Luft. Ein toller Einstand. Nun, einen Planeten in die Luft zu jagen, ist nichts Neues. Herrgott, wir Menschen haben es vor nicht allzu langer Zeit selber getan. Auf dem Planeten Korhal IV gab es eine Revolte. Die Bewohner hatten nicht viel Sinn für die Gaunereien und die Korruption, die Teil und Mitbringsel der Konföderation waren. Sie versuchten zu rebellieren. Zuerst probierte die Konföderation es auf die sanfte Tour: Sie ließ die Anführer der Rebellen von Killern ausschalten, GhostTrooper mit individuellen Tarnvorrichtungen. Wie zu erwarten war, machte dieser Versuch das Volk von Korhal nur noch wütender und aufgebrachter. Also schlug die Konföderation eine härtere Gangart ein. Wir griffen Korhal IV aus dem Orbit mit Kernwaffen an. Raketen der Apokalypse-Klasse. Etwa tausend Stück davon. Irgendein Idiot auf Tarsonis drückte einen Knopf, und 35 Millionen Menschen waren nur noch Erinnerungen und ihre Häuser Dampf. Natürlich gab es danach offizielle Rechtfertigungen bezüglich der bösartigen, bedrohlichen Natur von Korhal, das geplant gewesen sei, dasselbe mit uns zu tun, wenn man ihnen nur die geringste Chance dazu gelassen hätte. Es war eben Pech, dass sich der Beweis für diese Anschuldigung auf einem Planeten befand, der nun von geschwärztem Glas umhüllt war. Ich glaube, das war der Grund, warum die Vernichtung von Chau Sara dem Militär solche Angst einjagte: dass es dort draußen noch andere gab, die genauso verrückt waren wie wir. Und die sich besser darauf verstanden als wir. – DAS LIBERTY-MANIFEST 27
Mike nutzte die Zeit, während der das Schiff mit Unterlicht-Geschwindigkeit unterwegs war, um die zugänglichen Computerarchive über das Sara-System zu durchforsten. Es handelte sich um ein recht typisches Randsystem, die zerklüftete Vorderkante der stetig wachsenden Machtsphäre der Konföderation. Das System war noch vor den Gilde-Kriegen von einem Prospektor entdeckt und von der Konföderation vereinnahmt worden, als ihr Schatten über diesen aufblühenden Rivalen im Weltall fiel, und es beherbergte (den Schiffsarchiven zufolge) zwei aufstrebende Koloniewelten. Das Einzige, was das Sara-System von etwa einem Dutzend anderer, ähnlicher Welten unterschied, war, dass in diesem bewohnbaren Streifen zwei Planeten lagen, nicht nur einer. Chau Sara war der kleinere und entlegenere der beiden Planeten und besaß die größere Bevölkerung. In der Tradition der Konföderation war die Welt als Gefangenenkolonie besiedelt worden, und viele ihrer (nunmehr ausgelöschten) Bewohner hatten immer noch ihre Strafen abgebüßt. Auf Mar Sara fand sich eine eklektischere Mischung aus früheren Prospektoren und Soldaten, dazu noch ein paar religiöse Typen, die nicht mit der beschränkten tarsonischen Toleranz anderer Glaubensrichtungen konform gingen. Beide Planeten verfügten über reiche Vorkommen an Mineralien, aber selbstverständlich hatte sich die Konföderation das Recht auf diese Ressourcen gesichert. Die Einheimischen mussten entweder zu den vertraglichen Bedingungen der Konföderierten arbeiten oder auf andere Randwelten auswandern. Mike checkte die aktuelle UNN-Berichterstattung. Es gab einen kurzen Beitrag über eine Signalstörung aus dem Sara-System, aber der größte Teil der Sendung bezog sich auf das jüngste Verbrechen der Söhne von Korhal (ein Giftgasanschlag auf einem öffentlichen Platz auf Haji) und eine Karambolage mehrerer Einschienenzüge auf Moira. Mike verfasste einen kurzen Text, der seine Unterhaltung 28
mit Colonel Duke zusammenfasste und festhielt, dass er in kommenden Berichten allen militärischen Beschränkungen unterläge. Das hieß, dass man seine Meldungen überprüfen würde, bevor sie das Schiff verließen, und ein weiteres Mal, ehe sie gesendet wurden. Handy Anderson würde gleichermaßen auf die militärische Zensur fluchen, wie er aus Freude über die Exklusivmeldung in seinem Büro herumtanzen würde. Wenn ich Glück habe, dachte Mike, tanzt er dabei zu nahe an seinem verdammten Panoramafenster. Mike bereitete einen zweiten Bericht vor, den er mit einem Chiffrier-Programm verschlüsselte und auf Minidisk brannte. Diesen Bericht würde er nirgendwohin schicken, aber wenn ihnen etwas zustoßen sollte und ihre Leichen gefunden wurden, würde jemand erfahren, was hier vorging. Es war eine makabre Versicherungspolice. Er hatte den zweiten Bericht gerade beendet, als ihm ein großer Schatten das Licht stahl. Mike sah auf und in das Gesicht von Lieutenant Swallow, die jetzt um einen Kopf größer und um ein paar hundert Pfund schwerer war. Sie trug ihren Kampfanzug, der ihre natürliche Kraft mit Servomotoren und mechanischen Vorrichtungen verstärkte. In der leeren Gürtelhalterung an ihrer Hüfte würde bald, wenn sie in den Einsatz zog, ein C14-Gaußgewehr Kaliber 8 mm stecken, ein Impaler. Ihr Visier war offen, und sie lächelte ihn so aufgeregt wie strahlend an. Sie sah aus wie ein Mädchen, das sich auf seinen ersten Schulball freut. »Sir? Wir gehen bald unter Warp-Geschwindigkeit. Der Colonel möchte Sie auf der Brücke sehen, so bald wie möglich.« Dann war sie wieder weg. Das heißt also, auf der Stelle, verdammt noch mal, dachte Mike und folgte Swallow aus seiner Unterkunft. Die Korridore waren auch jetzt nicht breiter, aber die klobigen Anzüge, die nun in der Überzahl waren, machten sie zu Einbahnstraßen, auf denen die Fortbewegung von großen Pfeilen auf dem Boden diktiert wurde. An mehreren 29
Kreuzungen blieb Swallow stehen, um andere Crewmitglieder vorbei zu lassen, und Mike hatte plötzlich das Gefühl, in einer sechsten Klasse der Einzige zu sein, der noch im Kindergartenalter war. »Ich muss mir einen dieser Anzüge besorgen«, merkte er an. »Ich wusste gar nicht, dass Sie ein Training mit den CMC-betriebenen Kampfanzügen absolviert haben, Sir«, sagte Swallow. »Ich hab die Bedienungsanleitung gelesen.« »Dieses Wissen würde in einer Krisensituation kaum für Ihren Schutz genügen, Sir. Sollte jedoch etwas passieren, liegt es in meiner persönlichen Verantwortung, für Ihre Sicherheit zu sorgen.« »Ich bin voller Vertrauen.« Mike lächelte Swallows Rücken an, nur für den Fall, dass sie eine Kamera auf ihn gerichtet hatte. Ein transdimensionales Beben durchlief das Schiff, und die Maschinen wurden zurückgefahren. Sie hatten das SaraSystem erreicht. Die Brücke war jetzt in rotes Licht getaucht, die grünen Monitore, die das untere Deck säumten, als Akzent darin. Auch Colonel Duke trug seine Kampfrüstung. Er sah aus wie ein Gorilla am Hofe von König Artus. Ein Gorilla mit einem spitz zulaufenden Kopf, der eine Panzerung trug. Eine kleine Ansammlung von Sichtschirmen umgab ihn, auf jedem davon war ein anderes Gesicht zu sehen, das ihm Informationen übermittelte. »Mister Liberty, wie befohlen, Sir«, sagte Swallow und brachte selbst in der schweren Rüstung einen zackigen Gruß zustande. »Colonel«, sagte Mike. Duke löste den Blick nicht vom Hauptschirm. Er sagte nur: »Wir nähern uns Chau Sara.« Zuerst glaubte Mike, der Hauptschirm funktioniere nicht richtig. Sie näherten sich Chau Sara von der Nachtseite her. Die große Scheibe der äußeren saranischen Welt war ein 30
unsauberer, regenbogenfarbener Schmierfleck aus Licht, wie man ihn auf öligem Wasser findet. Dann wurde Mike bewusst, dass dies die Oberfläche von Chau Sara war, auf die er da schaute. Sie leuchtete in sich kräuselnden Farbstreifen, die hier und da mit grell orangefarbenen Spitzen durchsetzt waren. »Was …« Mike blinzelte. »Was ist das?« »Erstkontakt, Liberty«, erklärte der Colonel. »Erstkontakt der extremsten Art. Was sagen die Scans?« Einer der Techniker meldete: »Ich empfange keine Lebenssignale. Der Großteil der Oberfläche wurde verflüssigt und sterilisiert. Diese Zone scheint zwischen zwanzig und fünfzig Fuß tief zu sein.« »Die Siedlungen?«, fragte Mike. Der Techniker fuhr fort: »Die orangefarbenen Spitzen scheinen Magmadurchbrüche in der Planetenhülle zu sein. Sie befinden sich an den Standorten der uns bekannten Siedlungen.« Eine Pause. »Plus an mindestens einem Dutzend weiterer Stellen.« Mike betrachtete den wirbelnden, tödlichen Regenbogen auf dem Bildschirm. Vor ihnen klomm die Sonne über den Horizont, in ihrem Licht sah die Welt allerdings auch nicht besser aus. Nur ein paar dunkle Wolken, dünn wie Krähenfedern, zogen über die Sonnenlichtseite. »Außerdem wurden achtzig Prozent der Atmosphäre durch den Angriff vernichtet«, sprach der Techniker weiter. »Irgendeine orbitale Präsenz?«, fragte Duke, ein gepanzerter Monolith in ihrer Mitte. »Augenblick«, bat der Techniker. Dann endlich kam die Antwort. »Negativ. Keine Spur von unseren Leuten. Auch keine unbekannten Ursprungs. Ein größerer Scan könnte vielleicht ein paar Fragmente zeigen.« »Scan vergrößern«, verlangte Duke. »Ich will wissen, ob da draußen etwas ist. Von uns oder ihnen.« »Ich bin dabei … Eindeutig Fragmente. Wahrscheinlich von uns. Bräuchte ein Bergungs-Team, um das zu bestätigen.« 31
»Warum haben sie das getan?«, fragte Mike, aber niemand antwortete ihm. Techniker in leichteren Kampfanzügen bedienten mit behandschuhten Händen Displays, und die zahlreichen Köpfe auf den Bildschirmen sprachen alle gleichzeitig zu Colonel Duke. Schließlich stellte Mike eine Frage, von der er glaubte, dass man sie ihm beantworten würde. »Was hat diese Vernichtung verursacht? Kernwaffen?« Das Wort schien Duke aus seinem steten Informationsfluss zu reißen. Er sah den Reporter an. »Atomare Waffensysteme hinterlassen geschwärztes Glas und brennende Wälder. Selbst auf Korhal gab es noch ein paar Bereiche unbeschädigten Terrains, für eine Weile jedenfalls. Chau Sara wurde stellenweise bis auf den flüssigen Kern niedergebrannt. Das hier ist weitaus schlimmer, tödlicher noch als Apokalypse-Bomben. Das …« Duke zeigte auf den Schirm. »… ist das Werk einer Fremdrasse, der Protoss. Nach meinen bisherigen Informationen kamen sie mit Warpgeschwindigkeit aus dem Nichts und näherten sich dem Planeten weiter, als wir es je wagen würden. Riesige Schiffe, und zwar viele. Fingen ein paar Transporter und andere Schiffe ab und bliesen sie vom Himmel. Dann ließen sie Was-es-auch-sein-mag auf den Planeten los und kochten ihn ab wie ein Dreiminuten-Ei. Und dann verschwanden sie wieder. Mar Sara befindet sich gerade auf der anderen Seite der Sonne, und dort ist man in heller Panik, dass man als Nächstes dran sein könnte.« »Protoss.« Mike schüttelte leicht den Kopf, die Information verdauend. Etwas stimmte da nicht. Er schaute auf das Display des Technikers, das die tiefen Löcher zeigte, die bis zum Magmakern des Planeten hinabreichten. »Sie haben genug für Ihren Bericht, Mister Liberty«, sagte Duke. »Wir bleiben vorerst auf Gefechtsstation, für den Fall weiterer Feindaktivität. Erwähnen Sie in Ihrem Bericht, dass die Jackson V und die Huey Long in den nächsten Tage zu unserer Verstärkung eintreffen werden.« Der Techniker fasste sich ans Ohr, dann sagte er: »Sir, 32
wir empfangen anormale Signale.« »Von wo?«, schnappte der Colonel und wandte sich von Liberty ab. »Zett-zwo. Quadrant fünf, eine AE entfernt. Zahlreiche Anomalien.« »Richtung?« »Sofort.« Eine Pause, und dann schlich sich ein fatalistischer Ton in die Worte des Technikers. »Unterwegs nach Mar Sara, Sir.« Duke nickte. »Bereiten Sie eine Störung dieser anormalen Signale vor. Jäger starten, wenn in Reichweite.« Mike sprach, bevor er dachte: »Sind Sie verrückt?« Duke wandte sich wieder dem Reporter zu. »Ich hoffe, das war eine rhetorische Frage, Sohn.« »Wir haben nur ein Schiff.« »Wir sind das einzige Schiff zwischen den Fremden und Mar Sara. Wir werden eingreifen.« Mike hätte fast gesagt: ›Sie brauchen sich ja keine Sorgen zu machen, Sie stecken in einem Panzeranzug‹, beherrschte sich jedoch. Was immer die Kruste eines Planeten durchdringen konnte, würde sich von ein paar Schichten Kampfpanzerung nicht aufhalten lassen. Stattdessen holte Mike tief Luft und umfasste nur das Geländer, als hoffe er, den unausweichlichen Schlag damit abmildern zu können. »Sichtkontakt«, sagte der Techniker. »Ich lege es auf den Schirm.« Der Hauptschirm flackerte und zeigte dann ein paar Glühwürmchen, die sich über den Nachthimmel verteilten. Vor dem Hintergrund der Dunkelheit sahen sie beinahe schön aus. Dann erkannte Mike, dass es Hunderte und offenbar nur die Hauptschiffe waren. Kleinere Mücken umtanzten sie. »Sind wir nahe genug, um die Wraiths zu starten?«, fragte der Colonel. »In zwei Minuten«, erwiderte der Techniker. »Start so bald wie möglich.« 33
Mike atmete tief ein und wünschte, er hätte doch an den Kampfanzug-Drills teilgenommen. Selbst von weitem war die Form und Charakteristik der Protoss-Schiffe auszumachen. Die größten waren gewaltige, zylindrische Gebilde, die leuchtenden Zeppelinen ähnelten. Sie wurden von hungrigen Motten umschwirrt, und Mike erkannte, dass es sich dabei um ihre Jäger handeln musste, die Gegenstücke der Protoss zu den A-17 Wraiths, die sich jetzt noch in ihren Hangars befanden und nur darauf warteten, dass sie in Gefechtsreichweite kamen. Zwischen den größeren Trägern tanzten andere, goldene Schiffe, die wie kleine Sterne schimmerten. Dann, während Mike hinsah, schien sich einer der großen Träger aufzulösen. Ein Lichtblitz zuckte auf, ein sanftes Leuchten, und dann war das Schiff verschwunden. Einen Augenblick später war ein weiterer Blitz zu sehen, und ein weiterer Träger verschwand. »Sir«, sagte der Techniker. »Die anormalen Werte schwinden.« »Tarntechnik?«, fragte der Colonel. »Für diese Größe?«, meinte Mike zweifelnd. »Moment.« Eine lange Pause, Stille, so tief wie eine Schlucht, dann: »Negativ. Es hat den Anschein, als hüllten sie sich in eine Art Warp-Feld. Sie ziehen sich zurück.« Vor Mikes Augen leuchteten weitere Schiffe auf und verschwanden. Die großen Träger und die Horde kleinerer Schiffe, die in geringerer Zahl vorhandenen goldenen Gefährte, alle verschwanden sie wie Geister bei Anbruch der Morgendämmerung. Geister, die einen Planeten bis auf seinen Kern niederbrennen können, rief sich Mike in Erinnerung. Der Colonel gestattete sich ein Lächeln. »Gut. Sie haben Angst vor uns. Aber es bleiben alle Stationen in Bereitschaft. Wir müssen auf einen Trick gefasst sein.« Mike schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn. Sie haben die Macht, einen Planeten zu grillen. Warum sollten sie Angst vor uns haben?« 34
»Das ist doch offensichtlich«, sagte der Colonel. »Sie sind ausgebrannt. Sie haben nicht mehr genug Feuerkraft, um es mit uns aufzunehmen.« »Wir haben nur ein Schiff.« Mike schüttelte wütend den Kopf. »Da draußen waren Dutzende.« »Sie befürchten, wir könnten Verstärkung erhalten.« »Nein, nein. Irgendetwas geht hier vor. Es ergibt nach menschlichem Ermessen keinen Sinn.« »Wir haben es hier nicht mit Menschen zu tun«, sagte Duke mit gefurchter Stirn. »Sehen Sie sich doch nur ihre Feuerkraft an.« »Eben. Diese Protoss sind uns zahlenmäßig und mit ihrer Feuerkraft überlegen, und wir machen ihnen Angst? Warum sind sie hier?« »Mister Liberty, damit haben Sie für heute genug Fragen gestellt.« Das Stirnrunzeln vertiefte sich, doch Mike ignorierte die Warnung. »Nein, hier ist etwas faul. Sehen Sie sich die Schadensberichte an.« Mike zeigte auf einen der Monitore des Technikers. »Die haben einen ganzen Planeten gekocht, aber manche Stellen gründlicher als andere. Jede größere Stadt der Menschen, ja, aber schauen Sie.« Mike deutete auf die angezeigten Daten. »Es gibt auch auf der anderen Seite des Planeten Einschlagstellen, fernab von jeder gemeldeten menschlichen Ansiedlung. Ich weiß es. Ich habe vorhin erst in den Archiven nachgesehen.« »Ich sagte, das reicht, Mister. Wir haben uns hinsichtlich der Protoss um mehr zu kümmern als nur darum, wie effektiv sie in der Auswahl ihrer Ziele sind.« Mikes Gesicht leuchtete auf, als sich tief in seinem Hirn eine Verbindung schloss. »Und woher haben wir den Namen ›Protoss‹, Colonel? Stammt der von uns oder von ihnen?« »Mister Liberty!« Dukes Wangen verfärbten sich zusehends. »Und wenn sie sich selbst so nennen, wie kommt es, dass wir diesen Namen kennen? Dann hätten wir ihn ja schon vorher gewusst! Oder haben sie vor dem Angriff eine 35
Warnung geschickt?« Mike erhob jetzt die Stimme, wie er es einem heuchlerischen Kandidaten für eine Bezirksnachwahl gegenüber getan hätte. »Lieutenant Swallow!« Duke bellte den Befehl. »Ja, Sir?« Abermals salutierte sie absolut perfekt. »Begleiten Sie Mister Liberty von der Brücke! Sofort!« Mike umschloss das Geländer fest mit beiden Händen. Ein in Metall gehüllter Arm schlang sich um seine Taille. Mike schrie jetzt. »Verdammt, Duke, Sie wissen mehr, als Sie sagen! Die Sache stinkt zum Himmel!« »Ich sagte sofort, Lieutenant«, knurrte Duke. »Hier entlang, Sir«, sagte Swallow, löste Mikes Griff und zerrte den Reporter von den Füßen. Mit ihrer Beute wich sie in Richtung des Liftes zurück. Immer noch Fragen brüllend verließ Michael Liberty die Brücke. Das Letzte, was er hörte, bevor die Tür zuglitt, war Colonel Dukes Befehl, eine Funkverbindung zum Kolonialmagistrat von Mar Sara herzustellen.
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KAPITEL 4 AUF MAR SARA In jedem Krieg gibt es die Phase zwischen dem ersten und dem zweiten Schlag. Es ist ein Moment der Ruhe, eine beinahe friedliche Zeit, in der die Erkenntnis dessen, was geschehen ist, allmählich ins Bewusstsein dringt und jeder das Gefühl hat zu wissen, was als Nächstes passiert. Einige machen sich zur Flucht bereit. Andere treffen Vorkehrungen zurückzuschlagen. Aber niemand rührt sich. Noch nicht. Es ist ein Augenblick der Vollkommenheit, in dem sich der Ball auf dem höchsten Punkt des Wurfes befindet. Man hat gehandelt, und für einen zeitlosen Moment ist alles in Bewegung, und doch ist jeder ganz ruhig. Und dann gibt es da diese Idioten, die solche Dinge einfach nicht in Ruhe lassen können. Der Ball beginnt wieder zu fallen, der zweite Wurf folgt, und wir stürzen ins Chaos. – DAS LIBERTY-MANIFEST Während der restlichen Aktion über Mar Sara durfte Michael Liberty sein Quartier nicht verlassen. Lieutenant Swallow oder einer ihrer psychisch konditionierten Kameraden standen die nächsten beiden Tage vor seiner Unterkunft Wache. Danach wurde er zum Transporter eskortiert, und dann ging es per Shuttle auf die schöne Welt Mar Sara selbst. Jetzt, einen Tag später, gehörte er zum Pressepool und erleichterte die Lokalreporter um den größten Teil der Ersparnisse ihres Lebens, während er auf etwas wartete, das einer klaren Antwort der Obrigkeit wenigstens ähnelte. Sie kam nicht. Die offiziellen Briefings waren vorab formulierte Pseudo-Informationen, die nur die Plötzlichkeit des Angriffs auf Chau Sara betonten, Duke und die Crew der Norad II dafür als Helden priesen, dass sie sich dem Feind entgegengestellt hatten, und behaupteten, dass nur die 37
immerfort wachsame Vigilanz der Konföderation Mar Sara schützen könne. Die Protoss (noch immer war nicht klar, wo der Name herkam) wurden als Feiglinge dargestellt, die beim ersten Anzeichen eines richtigen Kampfes den Schwanz einzogen. Die empfindliche, wenn auch beeindruckende Art ihrer Lichtschiffe bestätige diese Ansicht nur: Sie flohen, weil sie fürchteten, getroffen zu werden. Das jedenfalls war die Version, die man auftischte, und die Marines hielten sich daran. Mehr noch, wenn ein Vertreter des Pressepools zu weit von der offiziellen Version abschweifte, gingen seine Berichte bei der Übertragung plötzlich verloren. Das hielt die meisten der örtlichen Reporter im Zaum. Sie bekamen alle Pässe mit Barcodes, die auf Verlangen vorzuzeigen waren. Und mittels derer man, wie Mike wusste, kontrollierte, wo sie sich gerade aufhielten. Die anderen Journalisten kannten Libertys Story über die Ereignisse an Bord der Norad II, aber keiner hatte bisher versucht, irgendeine dieser Informationen in eigenen Berichten zu verwenden. Über Mar Sara war ein planetarer Lockdown verhängt worden. Offiziell eine Maßnahme zum Schutz der Zivilbevölkerung (um die entsprechende Presseerklärung zu zitieren), handelte es sich im Endeffekt um einen militärischen Sturz der lokalen Regierung. Die Einheimischen wurden zum Zwecke einer angeblich einfacheren Evakuierung an Sammelpunkten zusammengetrieben. Woher die Evakuierungsschiffe kommen sollten, wurde nicht erwähnt, nicht einmal, ob es einen Zeitplan zum Verlassen des Planeten gab. Unterdessen sah man an jeder Ecke Patrouillen der Marines, und diejenigen Bewohner, die in der Stadt blieben, wirkten sehr, sehr nervös. Aus Mangel an Berichtenswertem hielten sich die Journalisten in dem großen Cafe vor dem Grand Hotel auf, spielten Karten, warteten auf die nächste nachrichtenähnliche Erklärung und spekulierten wie wild. Mike, der seinen Staubmantel trug, trieb sich bei ihnen herum und sah eher aus wie ein Einheimischer. 38
»Mann, ich glaub nicht, dass da überhaupt Außerirdische waren«, sagte Rourke zwischen zwei Pokerrunden. Rourke war ein großer Rotschopf mit einer Narbenfurche auf der Stirn. »Ich denke, die Söhne von Korhal haben endlich genug Technik aufgetrieben, um den Atomschlag gegen ihre Heimat zu rächen.« »Pass auf, was du sagst«, meinte Maggs, ein barscher alter Vogel von einer der lokalen Tageszeitungen. »Wenn du auch nur Witze über diese Kerle reißt, reicht das schon, um erschossen zu werden.« »Hast du denn eine Theorie, Mann?«, entgegnete Rourke. »Sie sind menschlich, aber nicht von unserer Sorte«, sagte der alte Reporter. »Sie stammen noch von der alten Erde. Ich vermute, dass sie sich, seit wir weg sind, dermaßen in genetische Reinheit und all so'n Zeug verstiegen haben, dass sie heute nur noch Klone sind, und dass sie es auf uns abgesehen haben, um den Rest der Rasse zu erledigen.« Rourke nickte. »Das hab ich auch schon gehört. Und Thaddeus von der Post meint, sie seien Roboter mit einer Programmierung, die sie daran hindert, sich selbst zu verteidigen. Deshalb haben sie den Abflug gemacht, als die Norad sie aufs Korn genommen hat.« »Ihr liegt alle falsch«, sagte Murray, der Korrespondent eines der religiösen Networks. »Es sind Engel, und der Jüngste Tag ist gekommen.« Rourke und Maggs gaben höhnische Laute von sich, dann fragte Rourke: »Was ist mit dir, Liberty? Wofür hältst du sie?« »Ich weiß nur, was ich gesehen habe«, antwortete Mike. »Und was ich gesehen habe, ist Folgendes: Was sie auch sind, sie haben die Oberfläche des Planeten gleich nebenan verflüssigt, und sie könnten schneller hier sein, als die Konföderation zu reagieren vermag. Und wir hocken hier am Ground Zero und spielen Karten.« Einen Moment lang lastete das Schweigen wie eine Glo39
cke über dem Tisch, und selbst Murray, der heilige Korrespondent, war still. Schließlich stieß Rourke langsam den Atem aus und sagte: »Ihr Jungs von Tarsonis wisst jedenfalls, wie man eine gute Party ruiniert. Bist du in der nächsten Runde dabei oder nicht?« Mike setzte sich unvermittelt auf und starrte angespannt auf die Straße hinaus. Murray und Rourke wirbelten auf ihren Stühlen herum, entdeckten draußen aber nur die gewohnte Hand voll Marines, einige in Kampfausrüstung, andere in normaler Uniform. »Schnell, Rourke. Gib mir deine Presseausweise«, verlangte Mike. Der große Rotschopf griff automatisch nach den Karten, die er um den Hals hängen hatte, als seien sie ein Rettungsring. »Kommt nicht in Frage, Mann.« »Okay, dann lass uns tauschen.« Mike hielt ihm seinen eigenen, von den Marines ausgestellten Ausweis hin. »Warum denn?«, fragte Rourke, wobei er sich bereits die Kette über den Kopf streifte. »Ihr seid von der Lokalpresse«, sagte Mike. »Euch lassen sie durch die Absperrung ins Hinterland.« »Ja, aber alles, was ich schreibe, geht ohnehin erst durch die Zensur«, hielt der große Mann dagegen und reichte Liberty die Anhänger. »Nichts geht hier ungesehen raus.« »Ja, aber ich dreh durch, wenn ich noch länger hier rumhänge. Die Zigaretten auch. Los, her damit.« »Ich dachte, du gewöhnst es dir ab, Mann«, meinte Rourke. »Komm schon, Mann.« Kaum hatte er Rourkes Zigaretten in seine Hemdtasche geschoben, war Mike auf den Beinen und aus dem Cafe; seine eigenen Presse-Anhänger klapperten auf den Tisch. »Mann, ich glaub, auf Tarsonis züchten sie Irre«, brummte Rourke. »Willst du quatschen oder pokern?«, knurrte Maggs. 40
»Lieutenant Swallow!«, rief Mike. Im Rennen streifte er sich Rourkes Anhänger über den Kopf, seine Stiefel wirbelten Staub von der Straße auf. Der Lieutenant drehte sich um und lächelte ihn an. »Mister Liberty. Schön, Sie wiederzusehen.« Ihr Lächeln war warm, aber Mike konnte nicht sagen, ob die Wärme von Herzen kam oder eine Folge ihrer Umprogrammierung war. Sie trug nicht mehr ihren Kampfanzug, sondern vorschriftsmäßiges Kaki. Das hieß, dass sie nicht im MP-Dienst war, und es war unwahrscheinlich, dass sie überwacht wurde. Trotzdem trug sie eine kleine Schrotwaffe an der einen Hüfte und ein gefährlich aussehendes Kampfmesser an der anderen. Mike zog die Zigarettenpackung aus der Tasche. Swallow lächelte schuldbewusst und nahm sich eine. »Ich dachte, Sie hören auf«, sagte sie. Mike zuckte die Achseln. »Ich dachte, Sie auch.« Plötzlich fiel Mike ein, dass er keine Streichhölzer bei sich hatte, aber Swallow holte ein kleines Feuerzeug hervor. Ein winziger Laser entzündete das Ende der Zigarette. Der Lieutenant nahm einen tiefen Zug und sagte: »Es tut mir Leid wegen dieser Sache auf dem Schiff. Die Pflicht …« Mike zuckte abermals die Achseln. »Mein Job ist es, manchmal unangenehme Fragen zu stellen. Auch das fällt unter Pflicht. Die Schrammen sind verheilt. Sind Sie beschäftigt?« »Nein, im Moment nicht. Gibt es ein Problem, Sir?« »Ich brauche eine Fahrgelegenheit und einen Fahrer, raus ins Hinterland.« Mike ließ es wie eine simple Bitte klingen. Wie das Schnorren um eine Zigarette. Swallows Gesicht verdüsterte sich für einen Moment. »Man lässt Sie durch die Absperrung? Nehmen Sie es nicht persönlich, Sir, aber ich dachte, der Colonel würde Ihnen nach dem Zwischenfall auf der Brücke persönlich so in den Hintern treten, dass Sie erst in Tarsonis wieder runterkommen.« 41
»Die Zeit heilt alle Wunden«, sagte Mike und hob Rourkes Anhänger leicht an. »Man lässt mir die Kette ein bisschen länger. Nur etwas Hintergrundrecherche – ein paar Gespräche mit den potenziellen Flüchtlingen.« »Evakuierte, Sir«, berichtigte Swallow. »Sag ich doch. Muss ein paar Zeilen über die tapferen Menschen von Mar Sara im Angesicht der Gefahr aus dem Weltall schreiben. Hätten Sie Interesse, mich herumzukutschieren?« »Na ja, ich bin nicht im Dienst, Sir …« Swallow zögerte, und Mike berührte noch einmal das Zigarettenpäckchen. »Ich glaube, es wäre nichts dabei. Sind Sie sicher, dass der Colonel damit einverstanden ist?« Mike zeigte ein strahlendes, gewinnendes und smartes Lächeln. »Wenn er es nicht ist, wird man uns am ersten Checkpoint zurückschicken, und dann mache ich Sie mit meinen Pokerkumpels im Cafe bekannt.« Lieutenant Swallow organisierte ein Fahrzeug, einen offenen, wuchtigen Jeep. Rourkes Anhänger brachten sie am Kontrollpunkt vorbei, wo ein gelangweilter MP die Karte durch das Lesegerät zog, das dem »Lokalreporter« grünes Licht gab. Die Verantwortlichen schienen nicht sonderlich besorgt darüber, dass Leute ins Hinterland gelangten, zumal wenn sie mit einer militärischen Eskorte unterwegs waren. Mehr Kummer schienen ihnen die Leute zu bereiten, die von draußen hereinkamen. Mar Sara hatte immer im Grenzbereich der Bewohnbarkeit gelegen, im Gegensatz zu den einstigen dichten Dschungelwäldern des Schwesterplaneten in der entfernteren Umlaufbahn. Der Himmel war von einem staubigen Orange, und der Großteil der Bodenbeschaffenheit bewegte sich zwischen hart gebackenem Schlamm und zähem Buschland. Durch künstliche Bewässerung hatte man einen Teil dieser Wüste zum Blühen gebracht, aber während sie draußen an der Stadt vorbeifuhren, konnte Mike Felder sehen, die der Wassermangel bereits vernichtet hatte. Bewässerungskräne standen wie einsame Vogelscheuchen über 42
dem braun verfärbten Getreide. Solcher Anbau bedürfe steter Aufmerksamkeit, diktierte Mike in seinen Rekorder, und der Wegtransport der Bevölkerung war für das Gedeihen der Saat ebenso tödlich wie ein Angriff aus dem All. Die Aufgabe der landwirtschaftlichen Bereiche war ein sicheres Zeichen dafür, dass die Konföderierten mit einer Rückkehr der Protoss rechneten. Gegen Mitte des Nachmittags stießen sie auf den ersten Sammelpunkt für Flüchtlinge (Verzeihung, Evakuierte). Es war eine Zeltstadt, die auf einem der Felder errichtet worden war. Ein einzelner Goliath-Walker beaufsichtigte die gesamte Anlage. Ein weiterer gelangweilter MP machte sich nicht einmal die Mühe, sich Mikes ganze Geschichte anzuhören, ehe er Rourkes Karte in das Lesegerät schob und ihn, nachdem er wusste, dass Mike ein Lokaler war, hineinließ. Swallow parkte den Jeep zu Füßen des Goliaths. »Lassen Sie mich allein mit den Flücht … den Evakuierten sprechen«, bat Mike. »Sir, ich bin immer noch für Ihre Sicherheit verantwortlich«, erwiderte Swallow. »Dann beobachten Sie mich aus sicherer Entfernung. Die Menschen gehen nicht sonderlich aus sich heraus, wenn jemand von der Konföderation in voller Montur daneben steht.« Swallows Gesicht verdüsterte sich, und Mike fügte hinzu: »Natürlich wird alles, was ich erfahre, erst von Ihren Leuten geprüft werden, bevor ich es sende.« Das schien sie immerhin so weit zu beruhigen, dass sie in der Nähe des Jeeps blieb, während Mike losging, um das Lokalkolorit in sich aufzunehmen. Die Evakuierungsstation war erst ein paar Tage alt, aber die Einrichtungen zeigten bereits Abnutzungserscheinungen. Das Camp schien für etwa hundert Familien gebaut und ausgestattet zu sein, aber momentan beherbergte es fünfhundert. Gerade wurde die überzählige Bevölkerung in klobige Busse gestopft, die sie zu anderen, weiter entfern43
ten Lagern transportieren sollten. Entlang der Umrandung türmte sich Abfall, und vor den Fahrzeugen, die gereinigtes Wasser lieferten, standen die Menschen Schlange. Die Evakuierten selbst verdauten gerade den Schrecken, dass sie enteignet wurden. Die meisten waren aus ihren Häusern getrieben worden und hatten nur mitnehmen können, was in der Eile möglich gewesen war. In der Folge wurden Dinge, die man nicht brauchte oder die nur sentimentalen Wert hatten, aufgegeben oder gegen Lebensmittel und warmes Bettzeug getauscht. Nun, da sie zum ersten Mal seit Tagen zur Ruhe kamen, hatten die Evakuierten Zeit für eine Bestandsaufnahme ihrer Lage und für Schuldzuweisungen. Wie zu erwarten, machte man die Konföderation für den Großteil des Ärgers verantwortlich. Schließlich waren ihre Schergen die Einzigen, die greifbar und mit ihren GoliathWalkers und den Marines in Kampfausrüstung unübersehbar präsent waren. Die Protoss hingegen waren ein Gerücht, und die einzigen Beweise für ihre Existenz stammten von der Konföderation selbst. Mar Sara war auf der anderen Seite der Sonne gewesen, deshalb hatte die Bevölkerung den Großteil der Lightshow verpasst, die den Schwesterplaneten vernichtete. Mike machte sich Notizen über die missliche Lage der Evakuierten und hörte sich ihre Beschwerden an. Es gab Geschichten von Familien, die getrennt worden waren, und über Kostbarkeiten, die man hatte zurücklassen müssen, Berichte über Farmen und Häuser, die von den konföderierten Kräften beschlagnahmt worden waren, und alle Arten von Klagen, große und kleine, über die Autorität des Militärs, das sämtliche Zivilbehörden ersetzt hatte. Der örtliche Magistrat war selbst zum Flüchtling geworden und führte eine weitere Gruppe von Flüchtlingen zu einem anderen Sammelpunkt. Niemand war bereit, sich gegen die Konföderierten zu erheben, aber die Flüchtlinge waren immerhin wütend genug, um sich einem Reporter gegenüber zu beschweren. 44
Doch unter den Beschwerden und den schroffen Worten verbarg sich, unverkennbar und definitiv, Angst. Man hatte Angst vor den konföderierten Kräften, natürlich, aber es gab da auch eine Angst, die aus der Erkenntnis erwuchs, dass die Menschheit auf einmal nicht mehr allein war. Die Mar Saraner hatten die Berichterstattung über die Vernichtung von Chau Sara gesehen, und sie befürchteten, dass es sich hier wiederholen könnte. Es herrschte große Nervosität im Camp – und der Wunsch irgendwo anders zu sein, ganz gleich, wo. Und dann war da noch etwas anderes, wie Mike feststellte, als er sich unter die entwurzelte Bevölkerung mischte. Dem plötzlichen Wissen um die Protoss folgte eine Welle mysteriöser Sichtungen. Man berichtete von Lichtern am Himmel und seltsam aussehenden Wesen am Boden. Man fand hingeschlachtetes und verstümmeltes Vieh. Und dazu kam noch, dass die Konföderation die Bevölkerung offensichtlich aus bestimmten Gegenden heraustrieb, als wüsste man etwas, das man den Leuten vorenthielt. Die Geschichten über Aliens und unbekannte Wesen am Boden wurden immer wieder aufgewärmt. Niemand hatte sie wirklich gesehen, natürlich nicht. Es war immer der Freund eines Freundes oder ein Verwandter in einem anderen Lager, der sie gesehen oder zumindest von ihnen gehört hatte. Die Storys drehten sich mehr um insektenäugige Monster als um Wesen in strahlenden Schiffen, denn hätte jemand die Protoss-Schiffe gesehen, hätte sich das Militär umgehend auf diese Meldung gestürzt. Nach etwa zwei Stunden (und der letzten von Rourkes Zigaretten) stiefelte Mike zurück zum Jeep. Lieutenant Swallow war noch dort, wo er sie zurückgelassen hatte, und stand wachsam an der Fahrerseite. »Wir haben genug«, sagte er. »Danke fürs Rausfahren. Wir können los.« Swallow rührte sich nicht. Stattdessen starrte sie auf etwas. »Lieutenant Swallow?« 45
»Sir«, sagte sie, »ich habe etwas Merkwürdiges beobachtet. Darf ich es Ihnen sagen?« »Was war denn so merkwürdig?« »Sehen Sie diese Frau dort drüben, in der dunklen Kleidung?« Mike blickte sich um und machte eine Frau aus. Sie war jung und trug eine Hose mit Nachttarnmuster, ein dunkles Shirt und eine Weste mit vielen Taschen. Sie hatte leuchtend rotes Haar, das im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden war. Sie erweckte einen quasimilitärischen Eindruck, auch wenn sie zu keiner Einheit zu gehören schien, die Mike je gesehen hatte. Vielleicht handelte es sich um eine planetare Miliz. Marshals, so nannten die Einheimischen die Gesetzeshüter, aber sie sah nicht wirklich wie einer aus. Plötzlich wurde Mike bewusst, dass er seit der Landung der Marines nichts von der örtlichen Polizei gesehen und unbewusst angenommen hatte, dass ihre Angehörigen in den allgemeinen Evakuierungssog gerissen worden waren. »Ja«, sagte er. »Sie ist verdächtig, Sir.« »Was tut sie denn?« »Dasselbe, was Sie getan haben, Sir. Sie redet mit den Leuten.« »Tja, das ist natürlich verdächtig. Sollen wir rübergehen und mit ihr reden?« Die rothaarige Frau erhob sich von ihrer jüngsten Unterhaltung mit einem älteren Mann und ging quer durch das Lager. Swallow schritt auf sie zu, Mike folgte ihr. Im Näherkommen bemerkte Mike noch etwas Verdächtiges an der Frau: Sie sah deutlich weniger staubig aus als der Rest der Flüchtlinge. Und weniger besorgt. »Entschuldigen Sie, Ma'am«, sagte Swallow. Die rothaarige Frau verharrte mitten in der Bewegung und sah sich dann um. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte sie. Ihre jadegrünen Augen verengten sich nur um eine Winzigkeit, und Mike fiel auf, dass ihre Lippen ein klein 46
wenig zu breit für ihr Gesicht waren. »Wir haben ein paar Fragen«, erklärte der Lieutenant, vielleicht etwas unverblümter, als Mike es getan hätte. Die breiten Lippen spitzten sich, und die Frau sagte: »Und wer würde diese Fragen stellen?« Ein kalter Wind schien zwischen den zwei Frauen hindurchzufahren, während sie sprach. Mike trat zu den Beiden. »Ich arbeite als Reporter für das Universe News Network. Mein Name ist …« »Liberty«, beendete die rothaarige Frau seinen Satz. »Ich habe Ihre Berichte gesehen. Sie treffen den richtigen Ton häufiger als den falschen.« Mike nickte. »Sie treffen immer den richtigen Ton, wenn ich sie geschrieben habe. Wenn etwas Falsches drinsteht, gebe ich die Schuld meinen Redakteuren.« Die Frau schenkte Mike einen durchdringenden Blick, und er war überzeugt, dass sie diese grünen Augen in scharfe Klingen verwandeln konnte, um ihm tief in die Seele zu schneiden. »Ich bin Sarah Kerrigan«, sagte sie schlicht – zu Mike, nicht zu Lieutenant Swallow. Okay, dachte Mike. Sie hat also nichts mit der hiesigen Ordnungsmacht zu tun. »Und woher kommen Sie, Miss Kerrigan?«, fragte Lieutenant Swallow. Sie lächelte immer noch, aber Mike konnte nun einen Hauch von Spannung spüren. Irgendetwas an dieser Miss Kerrigan passte dem Lieutenant nicht. »Universität von Chau Sara«, sagte Kerrigan und schaute die Offizierin jetzt aufmerksam an. »Ich gehöre zu einem Team von Soziologen, das hier stationiert war, als der Angriff erfolgte.« »Eine sehr bequeme Erklärung«, meinte Swallow. »Schließlich kann niemand sie im Moment überprüfen.« »Ich bedaure sehr, was mit Ihrem Planeten geschehen ist«, warf Mike rasch ein. Er wollte nur Swallows stiller Anschuldigung die Schärfe nehmen, aber zum ersten Mal wurde ihm dabei klar, dass er die Zerstörung, die er vom Orbit aus gesehen hatte, ernsthaft bedauerte. Und es war ihm 47
peinlich, dass er nicht schon früher genauer darüber nachgedacht hatte. Die rothaarige Frau richtete ihr Augenmerk wieder auf den Reporter. »Ich weiß«, sagte sie schlicht. »Ich spüre Ihr Bedauern.« »Und was tun Sie hier, Miss Kerrigan?« Swallows Worte waren so ungeschliffen wie Andersons Lieblingsbrieföffner. Kerrigan erwiderte: »Dasselbe wie alle anderen hier, Corporal …« »Lieutenant, Ma'am«, unterbrach Swallow, nun etwas schärfer. Kerrigan brachte ein amüsiertes Lächeln zustande. »Gut, Lieutenant. Ich versuche herauszufinden, was los ist. Ich versuche herauszufinden, ob es wirklich einen Evakuierungsplan gibt, oder ob die Konföderierten hier ein enorm falsches Spiel auf Kosten der Menschen spielen.« »Was wollen Sie damit sagen?«, schnappte Swallow, aber Mike war schon dabei, die Frage umzuformulieren. »Haben Sie den Eindruck, es gebe ein Problem mit den momentanen Evakuierungen?«, warf er ein. Kerrigan lachte schnaubend. »Ist das nicht offensichtlich? Die Menschen werden in Horden aus den Städten ins Hinterland getrieben.« »Die Städte sind nicht zu verteidigen«, merkte Swallow an. »Und die Wildnis schon?«, gab Kerrigan zurück. »Die Konföderation scheint bloße Aktivität mit echtem Fortschritt verwechselt zu haben. Man ist zufrieden damit, die Flüchtlinge wie Schachfiguren auf dem Brett herumzuschieben, ohne wirklich eine Evakuierung zu planen.« »Solche Pläne sind derzeit in Arbeit, so weit ich weiß«, sagte Mike ruhig. »Ich habe die offiziellen Berichte ebenfalls gelesen«, sagte Kerrigan. »Und wir wissen beide, wie viel Wahrheit darin steckt. Nein, die Konföderation der Menschen tut im Augenblick nichts anderes, als ihrem eigenen Schwanz nachzujagen und Leute hin- und herzuschieben, in der Hoffnung, 48
dass sie bereit sein werden.« »Bereit wofür?«, fragte Mike. »Bereit dafür, wenn der nächste Angriff erfolgt«, sagte Kerrigan trocken. »Bereit dafür, dass wieder etwas schief geht.« »Ma'am«, sagte Swallow. »Ich darf Ihnen versichern, dass die Konföderation alles Menschenmögliche tut, um der Bevölkerung von Mar Sara zu helfen.« Kerrigan unterbrach sie heftig. »Sie tun alles Menschenmögliche, um sich selbst zu schützen, Soldatin. Der Konföderation war schon immer alles scheißegal, was außerhalb der Grenzen ihrer eigenen Bürokratie liegt. Insbesondere sind ihr die eigenen Völker egal, und vor allem ist ihr jeder egal, der nicht auf Tarsonis lebt.« »Ma'am, ich muss Sie darüber informieren …«, setzte Swallow an, mit einem Lächeln so brüchig wie Glas. »Ich muss Sie informieren, dass die Geschichte der Konföderation sie ebenso sehr verdammt wie ihr gegenwärtiges Tun. Man ist willens, das Sara-System abzuschreiben, genauso wie man die Kolonien in den Gilde-Kriegen und Korhal selbst abgeschrieben hat.« »Ma'am«, sagte Swallow. »Ich muss Sie warnen. Wir befinden uns in einer militärischen Zone, wo ketzerisches Gerede sofortige Sanktionen zur Folge hat.« Mike bemerkte, dass sich Lieutenant Swallows Hand zum Griff ihrer Schrotwaffe bewegte. »Nein, Lieutenant«, erwiderte Kerrigan mit funkelnden Augen. »Ich muss Sie warnen. Die Konföderation führt Sie zur Schlachtbank, und Sie werden es nicht merken, bis man die Messer zieht.« Swallows Gesicht lief rot an. »Zwingen Sie mich nicht, etwas zu tun, das Sie bereuen werden, Ma'am.« »Ich zwinge Sie zu gar nichts«, zischte Kerrigan. »Es sind die Bastarde der Konföderation, die Menschen zwingen. Sie greifen in Sie hinein und manipulieren Sie, bis Sie deren Spielzeug sind! Die Frage lautet also: Werden Sie der 49
Programmierung, die man Ihnen verpasst hat, folgen oder nicht?« Mike trat zurück, als ihm mit einem Mal bewusst wurde, dass die beiden Frauen kurz vor dem gewalttätigen Schlagabtausch standen. Er schaute sich um, aber es hatte den Anschein, als widme ihnen niemand sonst im Camp seine Aufmerksamkeit. Für einen langen Augenblick standen die beiden Frauen nur da, den Blick starr in die Augen des Gegenübers gerichtet. Schließlich blinzelte Lieutenant Swallow, trat zurück und nahm ihre Hand vom Griff der Waffe. »Ich muss Ihnen versichern, Ma'am«, sagte Lieutenant Swallow, und ihr Gesicht war jetzt grau, »dass Sie sich im Irrtum befinden. Die Konföderation denkt nur an die Menschen.« »Wenn Sie mir das versichern müssen, dann müssen Sie eben«, sagte Kerrigan, die Worte hervorspuckend. »Gibt es noch etwas, oder darf ich mich jetzt der Illusion von Freiheit hingeben?« »Nein, Ma'am. Sie können gehen. Verzeihen Sie die Störung.« »Schon gut.« Der scharfe Blick aus Kerrigans grünen Augen wurde für einen Moment weich. Sie wandte sich an Mike. »Um Ihrer nächsten Frage zuvorzukommen: In Anthem Base werden Sie einige Antworten finden. Das ist etwa drei Kilometer westlich von hier. Aber gehen Sie nicht allein.« Sie warf dem Lieutenant einen Blick zu. Und dann verschwand sie, schritt durch das Lager und tauchte rasch zwischen den Zelten unter. »Die Frau stand unter Stress«, presste Swallow zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie griff mit einer Hand an ihren Gürtel und zog ein Stim-Pack heraus. »Natürlich«, pflichtete Mike bei. »Es ist nicht überraschend, dass die Leute ihren Rettern die Schuld an ihren Problemen geben«, fuhr sie fort und presste das Pack gegen das knotige Fleisch in ihrem Nacken. Das Stim-Pack zischte leise. 50
»Stimmt.« »Und das war weder der rechte Ort noch die Zeit für einen Zwischenfall.« Langsam bekam ihr Gesicht wieder Farbe, und sie atmete regelmäßiger. »Absolut nicht.« »Und es bleibt am besten ungemeldet«, sagte sie entschieden. Mike dachte an Swallows früheres Hobby. »Selbstverständlich«, stimmte er zu. »Wir sollten jetzt gehen«, sagte Lieutenant Emily Jameson Swallow und wandte sich in Richtung des Jeeps. »Mh-hm«, machte Mike, kratzte sich am Kinn und schaute zu der Stelle hin, wo Kerrigan verschwunden war. Er dachte daran, ihr zu folgen, sah aber ein, dass er sie wahrscheinlich nicht wiederfinden würde, es sei denn, sie wollte gefunden werden. Er hätte ihr gerne ein paar Fragen über viele Dinge gestellt. Vor allem woher sie gewusst hatte, was seine nächste Frage gewesen wäre. Er hatte eine Frage über die Sichtung der fremdartigen Gestalten stellen wollen. Das war die nächste Frage gewesen, die ihm auf der Zunge gelegen hatte. Diese Kerrigan konnte das möglicherweise in Erfahrung gebracht haben, indem sie mit denselben Leute gesprochen hatte, die er interviewt hatte. Oder es konnte etwas völlig anderes mit Kerrigan auf sich haben das sie in die Lage versetzte, seine ungestellten Fragen zu kennen. Aber was es auch war, während er sich beeilte, um zu Lieutenant Swallow aufzuschließen, entschied Mike Liberty, sich niemals auf ein Pokerspiel mit dieser Frau einzulassen.
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KAPITEL 5 ANTHEM BASE Die Natur verabscheut Vakuum, und die menschliche Natur hasst Informationsmangel. Wenn wir keine Informationen finden können, machen wir uns auf, danach zu suchen. Manchmal erfinden wir einfach welche. So war es im Fall des Sara-Systems. In starrsinniger Ignoranz drangen wir ins Hinterland vor, um nach Antworten zu forschen – Antworten, die wir, wie wir schnell merkten, gar nicht finden wollten. Es war dumm von uns anzunehmen, dass uns nichts passieren würde. Es war dumm, einfach drauflos zu marschieren. Es war dumm, nicht genügend Waffen mitzunehmen. Es war dumm zu glauben, dass wir wussten, worauf wir uns einließen. Und am dümmsten war es, davon auszugehen, dass die Protoss die erste Alienrasse sein sollten, die der Menschheit begegnet war. – DAS LIBERTY-MANIFEST Es bedurfte einiger Überredungskunst, Lieutenant Swallow dazu zu bewegen, einen Umweg über Anthem Base zu nehmen. Mike erzählte ihr, was er im Camp von den anderen Evakuierten erfahren hatte, in sachliche Worte gefasst, um sie nicht noch weiter zu verunsichern. Diese Frau, Kerrigan, hatte die Soldatin ziemlich aufgewühlt, und nun fuhr Swallow schweigend und angespannt über die Straßen jenseits des Lagers. Das Stim-Pack hatte ihr geholfen, ihren Zorn unter Kontrolle zu bringen, ihn aber nicht völlig besänftigt. Sie zogen eine gewaltige Staubwolke hinter sich her, und Michael Liberty war sicher, dass die Bewohner von Anthem ihre Ankunft schon von weitem bemerken würden. Doch als sie dort anlangten, fanden sie die Stadt leer 52
vor. »Sieht aus, als seien die Einwohner evakuiert worden«, sagte Mike im Aussteigen. Lieutenant Swallow brummte nur etwas und ging zum Heck des Jeeps, wo sie eine Luke öffnete und ein Gaußgewehr hervorholte. »Möchten Sie auch eines, Sir?«, fragte sie. Mike schüttelte den Kopf. »Eine Pistole wenigstens?« Er schüttelte abermals den Kopf und ging auf das nächste Gebäude zu. Es handelte sich um eine Minenstadt, nicht mehr als etwa ein Dutzend Häuser, die aus Holz, wie man es auf dem Planeten fand, und vorgefertigten Bauteilen errichtet worden waren. Jetzt war es eine Geisterstadt. Kein Vieh, keine Hunde, nicht einmal Vögel. Warum also, wunderte sich Mike, hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden? Das erste Gebäude war ein Claims Office. Holzboden, im hinteren Teil ein Wohnbereich. Es sah aus, als hätten seine Besitzer es gerade erst verlassen. In der Schale einer Waage auf dem Tresen lagen noch blaue Kristalle. Mike trat ein. Swallow blieb an der Tür zurück, ihre überdimensionierte Waffe schussbereit. Ein beißender Geruch lag in der Luft. »Sie haben sich abgesetzt«, sagte sie. »Wir sollten dasselbe tun.« Mike hob eine Kaffeekanne hoch. Der Kaffee darin war zu zähem Schlamm eingekocht, die Kanne selbst fühlte sich warm an. »Die ist noch eingeschaltet«, erklärte er und zog den Stecker der Warmhalteplatte heraus. »Die Leute sind eben überstürzt aufgebrochen, Sir«, meinte Swallow. Ein nervöser Ton schlich sich jetzt in ihre Stimme. »Sie sagten doch, die Evakuierten hätten sich darüber beschwert, davongekarrt worden zu sein.« Mike ging hinter den Tresen und zog eine Schublade auf. »In der Kasse ist noch Geld. Kann mir nicht vorstellen, dass 53
ein Prüfer sein Bargeld zurücklässt. Oder dass die Marines ihm nicht erlauben, es zu holen. Seltsam.« Er verschwand in den hinteren Raum. Swallow rief ihm etwas nach, und er tauchte wieder auf. »Jemandes Unterkunft. Sieht aus, als sei es dort zu einem Kampf gekommen«, sagte er. »Ein Evakuierter, der Widerstand leistete«, meinte Swallow und sah Mike dabei fest an. »Wahrscheinlich hat man ihn davongeschleift, bevor er Gelegenheit hatte, seinen Laden zuzusperren.« Mike nickte. »Sehen wir mal in den anderen Gebäuden nach. Sie übernehmen eine Seite, ich die andere.« Lieutenant Swallow holte tief Luft. »Wie Sie wünschen, Sir. Aber bleiben Sie in den Türen stehen, so dass ich Sie sehen kann.« Mike ging über die Straße hinüber zu den Gebäuden auf der anderen Seite. Eine frische Brise kam auf, und kleine Sandwirbel jagten die Hauptstraße von Anthem entlang. Der Ort war völlig verlassen, von Mensch und Tier. Aber warum, dachte Mike, sträuben sich mir dann immer noch die Nackenhaare? Dem Claims Office gegenüber lagen zwei Wohnhäuser. Wie das Büro des Prüfers schienen auch sie erst kürzlich verlassen worden zu sein. In einem war noch ein Videobildschirm eingeschaltet, über den lautlos schlechte Übertragungen eines Nachrichtenbeitrags flimmerten. Archivbilder eines Schlachtkreuzers, der Norad II, die schwerelos durchs All glitt. Neben dem Lehnstuhl vor dem Bildschirm war eine Bierdose umgekippt. Mike ertappte sich dabei, dass er nachschaute, ob man ein paar Zigaretten zurückgelassen hatte. Aber da hatte er kein Glück. Das dritte Gebäude war ein Gemischtwarenladen, und er sah aus, als sei er geplündert worden. Behälter waren umgestoßen, Waren aus den Regalen gezerrt und über den Boden verstreut worden. Hinter der Ladentheke hatte man die Scheibe einer großen Waffenvitrine eingeworfen. Die Gewehre fehlten. 54
Vielleicht wollte Sarah Kerrigan mich darauf aufmerksam machen. Die Spuren eines bewaffneten Kampfes. Gegen die von der Konföderation angeordnete Evakuierung? Oder gegen die Protoss? Mike blickte über die Schulter zurück und sah, wie sich Lieutenant Swallow auf ihrer Straßenseite einer zweistöckigen Taverne näherte. Er betrat den Laden, und sein Fuß senkte sich auf etwas Knirschendes. Mike kniete nieder. Der Boden war mit einer Art Schimmel oder Pilz bedeckt. Es war eine graue Substanz, die Ränder verkrustet, aber unter seiner Berührung leicht nachgiebig. Sie enthielt ein Spinnennetzmuster dunklerer Fäden, beinahe wie Adern. Irgendetwas war hier vergossen worden, und ein auf dem Planeten vorkommender Schimmelpilz hatte sich dieser Stelle schnell bemächtigt. Sehr schnell sogar, wie er feststellte – es konnte nicht länger als zwei Tage her sein. Noch etwas anderes fiel ihm in dem Laden auf. Aus dem rückwärtigen Teil drang ein Geräusch – das Geräusch von etwas, das über den hölzernen Boden schleifte. Es erklang noch einmal, dann herrschte Stille. Ein wildes Tier? Eine Schlange? Oder vielleicht ein Flüchtling, der der ersten Evakuierung entgangen oder später zurückgekehrt war. Mike machte einen weiteren Schritt in den Raum hinein. Unter seinen Stiefeln knirschte der Schimmelpilz. Plötzlich wurde ihm nur zu deutlich bewusst, dass er keine Waffe bei sich trug. Auf der anderen Straßenseite rief Swallow etwas. Mike sah noch einmal zur Tür in den hinteren Raum hin, dann zurück zu Swallow. Rückwärts gehend verließ er den Gemischtwarenladen und ging hinüber zu der Kneipe. Swallow stand an der Wand neben der Tür. »Ich glaube, in dem Laden da drüben ist etwas …«, begann Mike. »Ich habe die Bewohner gefunden«, zischte Swallow. 55
Entlang der Narben an ihrem Hals sowie an ihren Schläfen pulsierten die Adern, und ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie war entsetzt, und die Angst fraß sich in ihre Resozialisierungsprogrammierung. Offensichtlich hatte sie das Stim-Pack abermals benutzt, denn das leere Päckchen lag jetzt auf den Bodenbrettern der Veranda. Mike überwand sich und schaute durch die offene Tür in die Kneipe hinein. Sie war in ein Schlachthaus verwandelt worden. Einst menschliche Gestalten hingen kopfüber an dicken Seilen, die an der Decke befestigt waren. Vielen hatte man Kleidung und Haut abgezogen. Anderen waren Gliedmaßen abgetrennt, und drei hatte man enthauptet. Die drei Köpfe lagen auf der Theke aufgereiht und sorgsam geöffnet, sodass die Gehirne darin zu sehen waren. An einem davon hatte irgendetwas herumgefressen. Während er hinschaute, wand sich etwas wie ein riesiger Tausendfüßler um eine der Leichen. Es sah aus wie eine gewaltige, rostfarbene Made. Und es fraß vom Fleisch des Toten. Mike fiel es plötzlich schwer zu atmen, und er wünschte, er hätte ein Stim-Pack. Er tat einen Schritt in den Raum hinein. Seine Füße knirschten über den krustigen Pilz, der den Boden bedeckte. Und er merkte, dass er nicht allein war. Er fühlte die Gegenwart von etwas anderem, noch bevor er es sah. Das plötzliche Gefühl, beobachtet zu werden, meldete sich schlagartig. Er wollte zurückweichen, zur Tür hinaus. Er wollte sich umdrehen. Er wollte etwas zu Swallow sagen. Etwas Schemenhaftes bewegte sich hinter dem Tresen, schoss mit einem einzigen, unmöglichen Satz hervor, raste auf die Tür zu. Es erwischte Mike jedoch nicht. Stattdessen schleuderte ihn etwas Größeres zur Seite. Er prallte mit einem dumpfen Geräusch auf die Veranda und rollte herum, sah Lieutenant Swallow, die ihn beiseite gestoßen hatte und auf einen großen Hund feuerte, der sich auf der Straße befand. Nein, es war kein Hund. Das Wesen 56
besaß vier Beine, aber damit hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Es hatte orangefarbene, hautlose Fleischstellen, durch die Muskeln zu sehen waren. Den Kopf verunzierte ein Paar riesiger, tiefhängender Stoßzähne. Und es brüllte unter den Treffern der Metall-Spikes aus dem Gaußgewehr. Die hypersonischen Geschosse erwischten es an einem Dutzend Stellen, und es wand sich im Staub, während Swallow den Finger auf den Abzug gepresst hielt. »Swallow!«, rief Mike. »Es ist tot! Lieutenant Swallow, hören Sie auf zu schießen!« Swallow ließ den Drücker los, so hastig, als berühre sie eine lebende Schlange. Schweiß lief ihr übers Gesicht, und in ihren Mundwinkeln klebte Schaum. Sie atmete schwer, und ihre freie Hand glitt zum Messer in ihrem Gürtel. Mike erkannte, dass ihre Psyche bis aufs Äußerste belastet und sie drauf und dran war durchzudrehen. »Heilige Mutter Gottes«, sagte sie. »Was ist das?« Das interessierte Mike nicht. Stattdessen rief er: »Zurück zum Jeep! Wir schicken gepanzerte Truppen her! Kommen Sie!« Er machte zwei Schritte, dann merkte er, dass Swallow immer noch in der Tür stand und das gehäutete Hundewesen auf der Straße anstarrte. »Lieutenant! Das ist ein Befehl, verdammt!«, schrie Mike. Das zeigte Wirkung. Das Schöne an der Konditionierung war, dass sie die Betroffenen für Befehle anfällig machte, vor allem unter dem Einfluss von Stims. Mit einem Mal hatte Swallow sich wieder unter Kontrolle und rannte auf den Jeep zu, an Mike vorbei. In dem Gemischtwarenladen bewegte sich etwas, während sie davon hasteten. Weitere dieser Hundekreaturen kamen durch die Tür. Sie waren zu ungeheuren Sprüngen fähig, stellte Mike fest, und konnten ihnen auf der Flucht in den Rücken fallen. Aber das taten die Hundedinger nicht. Stattdessen warteten die Biester, bis sie den Jeep fast erreicht hatten – und 57
sich etwas anderes hinter dem Fahrzeug erhob. Für Mike sah es aus wie eine Schlange, eine Kobra, die zum Zuschnappen bereit war. Eine Schlange mit einem gepanzerten Kopf, der hinten in einem breiten Kragen aus knochigem Chitin auslief, wie der einer prähistorischen Echse. Es war eine Schlange, aus deren Leib zwei Arme ragten, Arme, die in gefährlich aussehenden, sensenähnlichen Klauen endeten. Klauen, die sich jetzt in die Haube des Jeeps bohrten und das Gefährt auf der Straße festnagelten. Die Schlangenkreatur entließ einen zischelnden Triumphschrei. Swallow fluchte. »Sie haben uns umzingelt!« Mike packte sie am Ärmel. »Das Claims Office! Es hat nur einen Eingang! Los!« Er wandte sich in diese Richtung, die Soldatin blieb ihm dicht auf den Fersen. Hinter sich hörte er weitere Schüsse und das Kreischen der Hundewesen. Swallow lief rückwärts und schoss dabei, deckte ihnen den Rückzug. In der Tür des Office verharrte er und ließ rasch den Blick durch den Raum schweifen. Nichts hatte sich verändert, seit sie hier gewesen waren. Er rannte auf den Tresen zu und fand eine primitive Schrotflinte. Er klappte sie auf und sah, dass sie mit zwei Patronen geladen war. Ja, das Büro machte den Eindruck, als sei der Besitzer unerwartet abberufen – oder davongeschleift worden. Swallow stand in der Tür und gab eine Salve nach der anderen ab. Weitere unmenschliche Schreie waren zu hören, dann kehrte Stille ein. Mike sah zur Tür hinaus und entdeckte ein halbes Dutzend Kadaver auf der Straße, alles Hundekreaturen. Jetzt sahen sie noch weniger wie normale Tiere aus, die unverletzten Partien ihrer Leiber waren mit Warzen und knotigen Muskeln bedeckt. Eines der Biester zuckte noch mit einem Bein, während es in einer Lache aus Gelatine lag, die einmal sein Blut gewesen sein mochte. Von dem Schlangending mit den Sensenklauen war nichts zu sehen. Der Jeep war eine zerquetschte Hülle am 58
Ende der Straße, das auslaufende Benzin färbte den Sand darunter dunkel. »Das waren die Viecher, die Chau Sara vernichtet haben?« Swallow stieß die Frage zischend hervor, ihre Stimme war nur ein ersticktes Flüstern. Ihre Augen stellten praktisch Kugeln aus purem Weiß dar. Mike schüttelte den Kopf. Den Wesen, die sie im All gesehen hatten, war eine schreckliche Schönheit eigen. Sie waren golden und silbern und schienen wie aus Blitzen und elementarer Kraft gewoben. Die Wesen hier aber waren nichts als Muskeln, Blut und Wahnsinn. Es schmerzte ihn sogar, sie nur anzusehen. »O Herrgott, wo ist das große Ding?«, fragte Swallow. Mike schluckte den Staub und seine Angst hinunter. »Wir müssen hier weg, bevor sie sich neu formieren.« Swallow wandte sich ihm zu, mit geweiteten Augen und in unverkennbarer Panik. »Hier weg? Wir sind gerade erst hier rein!« »Sie werden sich neu formieren und es noch mal versuchen.« »Das sind Tiere«, schnauzte sie, und die Mündung ihres Gaußgewehrs bewegte sich eine Idee in Mikes Richtung. »Man erschießt ein paar, und der Rest haut ab.« »Das glaube ich nicht. Tiere hängen ihre Beute nicht auf. Sie halten auch nichts von Trophäen.« Swallow ließ einen kurzen, erstickten Aufschrei vernehmen und trat ins Office zurück. »Nein, sagen Sie nicht so was.« »Swallow. Emily, ich …« »Sagen Sie es nicht«, wiederholte sie und wich noch einen Schritt nach hinten. »Sagen Sie nicht, dass diese Biester intelligent sind. Wenn sie es nämlich sind, dann wissen sie, dass wir in der Falle sitzen und sie uns holen können, wann immer sie wollen. Verdammt, wir sitzen in der Sch …« Sie machte noch einen Schritt zurück, und unter ihr gaben die Bodendielen nach. Sie schrie gepresst auf, und die Waffe rutschte ihr aus den Händen, als sich unter ihren Fü59
ßen eine Grube auftat. Aus der Tiefe stieg wütendes Geschnatter empor. Swallow drehte sich im Sturz und fasste nach den Bodenbrettern, um ihren Fall zu stoppen. Das Schnattern wurde lauter. Mike trat vor, ließ fast seine Waffe fallen. »Emily, nehmen Sie meine Hand!« »Machen Sie, dass Sie hier rauskommen, Liberty!«, knurrte Swallow, die Augen beinahe weiß vor Furcht. Mit der freien Hand umschloss sie ihr Kampfmesser. »O Gott, sie sind direkt unter uns!« »Emily, nehmen Sie meine Hand!« »Einer von uns muss zurück«, sagte sie, zog ihr Messer und hackte auf etwas Unsichtbares in der Grube ein. »Sie werden auch von oben angreifen. Gehen Sie endlich! Sehen Sie zu, dass Sie es zurück zum Camp schaffen. Sie müssen die Leute warnen!« »Ich kann Sie nicht …« »Los! Das ist ein Befehl, verdammt!«, schnarrte Swallow, als auch noch der letzte Rest ihrer Konditionierung unter dem Angriff der Kreaturen zum Ausbruch kam. Sie stieß einen wilden Schrei aus und begann, mit ihrem Messer um sich zu schlagen. Mike wandte sich wieder der Tür zu und machte einen Schatten aus. Ohne nachzudenken, zog er beide Abzüge der Schrotflinte durch, und der Blutmatsch des explodierenden Hundemonsters spritzte ihm entgegen. Dann rannte er los. Ohne zurückzuschauen, rannte er und warf dabei die leer geschossene Schrotflinte weg. Er hielt auf den Jeep zu. Lieutenant Swallow hatte das Gewehr aus einer Luke am Heck geholt. Sie hatte ihm eines angeboten. Es musste noch darin sein. Und auch andere Waffen. Er hatte es fast geschafft, als der Boden unter dem Jeep aufbrach. Das panzerköpfige Schlangenwesen mit den Sensenarmen. Es hatte ihm aufgelauert. Mike warf sich aus der Bahn der Explosion des Erdbodens 60
und kroch nach hinten, weg von dem drachenartigen Ding. Die Kreatur ließ ihn nicht aus den Augen, gelbe Augen, die tief unter dem gepanzerten Rückenschild saßen. In diesen Augen wohnte Intelligenz. Und Hunger. Aber nichts, was einer Seele ähnelte. Die Kreatur erhob sich auf ihren Schwanz, überragte den zertrümmerten Jeep, war bereit, sich nach vorne zu stürzen. Mike hielt sich den Arm vors Gesicht und schrie. Seine Schreie gingen unter im Geräusch eines auf Vollautomatik geschalteten Gaußgewehrs. Mike schaute auf und sah, wie sich die riesenhafte Schlangenbestie unter einer gnadenlosen Salve von Schrotgeschossen wand und zuckte. Während sie sich krümmte, verschoss sie Stacheln aus ihrem gepanzerten Leib, die wie tödlicher Regen in den Boden ringsum hieben. Dann traf ein Geschoss den noch im Jeep verbliebenen Treibstoff, und das ganze Fahrzeug ging hoch und riss das Schlangending mit sich. Es brüllte etwas, das ein Fluch sein mochte oder auch der Anruf eines unbekannten Gottes. Die Explosion drückte Mike rücklings zu Boden, und die Hitze des Feuers fegte ihm ins ungeschützte Gesicht und über die bloßen Arme. Er schaute die Straße hinab. Keine Spur von den Hundekreaturen. Nur Kadaver. Hinter ihm klang ein Geräusch auf, und er wälzte sich, immer noch am Boden liegend, herum. Er erwartete weitere der Hundewesen, wusste aber noch in der Bewegung, dass er sich irrte. Es war das Geräusch von Stiefeltritten, nicht von schwieligen Pfoten. Eine große, glücklicherweise menschliche Gestalt verdeckte das Sonnenlicht. Breitschultrig, eine Hand auf einer schweren Schrotwaffe, die in einem tief sitzenden Gürtelholster steckte. Wie benebelt dachte Mike erst, der Schatten gehöre zu einem anderen Angehörigen von Swallows Einheit, dass der Lieutenant es irgendwie geschafft hatte, Verstärkung zu rufen, nachdem sie sich getrennt hatten. Als sich sein Blick klärte, erkannte Mike, dass die Gestalt keine Uniform der Marines trug. Die Hose war aus Wildle61
der, abgewetzt und rau. Der Fremde trug ein Jeanshemd, sauber, aber ausgeblichen, die Ärmel hochgekrempelt. Eine leichte Einsatzweste aus einem ledrigen Gewebe wies ihn als Angehörigen irgendeiner militärischen Gruppe aus. Dasselbe galt für das Gaußgewehr, mit dem er bewaffnet war. Seine Stiefel waren von guter Qualität, aber ebenso abgetragen wie der Rest seiner Kleidung. »Sind Sie in Ordnung, Junge?« Die Silhouette streckte eine Hand nach ihm aus. Mike ergriff die Hand und stand vorsichtig auf. Er fühlte sich wie ein einziger großer blauer Fleck, und die Stimme der Gestalt klang fern und dünn in seinen Ohren. »Ja. Ich lebe noch«, keuchte er. »Sie sind kein Marine.« Jetzt konnte er das Gesicht seines Retters sehen. Sandfarbenes Haar und ein ordentlich gestutzter Vollbart. Die Gestalt spuckte in den Staub. »Kein Marine? Ich schätze mal, ich fasse das als Kompliment auf. Ich bin der hiesige Vertreter des Gesetzes. Marshal Jim Raynor.« »Michael Liberty. UNN, Tarsonis.« »Nachrichtentyp?«, fragte Raynor. Mike nickte. »Ziemlich weit weg von zu Hause, nicht?« »Ja. Wir haben eine Meldung überprüft … o Gott.« »Was?« »Swallow! Der Lieutenant! Ich habe sie im Claims Office zurückgelassen!« Mike taumelte auf das Büro des Prüfers zu. Der Gesetzeshüter folgte ihm dichtauf, die Waffe schussbereit. Nach der Explosion ließ sich keines der Hundedinger mehr blicken. Mike fand Lieutenant Swallow mit dem Gesicht nach unten, nach wie vor halb in der Grube, in einer Hand immer noch das Kampfmesser, die andere fest um ein loses Dielenbrett geklammert. Der Marshal sah sich im Raum um und sagte: »Junge!« Ein warnender Ton lag darin. »Helfen Sie mir«, sagte Mike und packte Swallows Messerarm. »Wir können Sie rausziehen und … Grundgütiger.« Lieutenant Emily Jameson Swallow existierte unterhalb der Taille nicht mehr. Ihr Körper endete in strähnigen 62
Fleischfetzen, und an ihrem durchtrennten Rückenmark baumelten ein paar Wirbel wie Perlen an einer zerrissenen Schnur. »Allmächtiger.« Mike ließ den Leichnam los. Mit einem Übelkeit erregenden, schlüpfrigen Laut rutschte er zurück in die Grabe. Ein feuchtes Plumpsen war zu hören und das Geräusch von etwas anderem, das sich dort unten bewegte. Mike fiel auf die Knie, beugte sich nach vorne und kotzte sich die Eingeweide aus dem Leib. Dann ein zweites und ein drittes Mal, bis er nur noch ein trockenes Würgen hervorbrachte. Alles drehte sich, und er fühlte sich, als sei ihm alles Blut aus dem Gehirn gesogen worden. »Ich will ja nicht stören«, sagte Raynor, »aber ich glaube, wir müssen gehen. Ich denke, ich habe lediglich einen ihrer Offiziere erledigt. Den Captain umgenietet, wenn Sie mich fragen. Sie formieren sich neu. Wir verschwinden besser. Ich hab ein Bike draußen.« Er verstummte kurz, dann sagte er: »Tut mir Leid um Ihre Freundin.« Mike nickte und spürte, wie sein Magen einen letzten Versuch unternahm, sich umzustülpen. »Ja«, keuchte er schließlich. »Mir auch.«
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KAPITEL 6 KRIECHER Auf dem Papier ist ein Krieg leicht zu verstehen. In Schwarz-Weiß scheint er so fern und theoretisch. Selbst die Videoberichte haben etwas Kühles, Unnahbares, das den Zuschauer davor bewahrt zu begreifen, wie entsetzlich Krieg tatsächlich ist. Das ist nichts weiter als ein Filter zum Schutz des Verstandes, der es denjenigen, die die Informationen aufnehmen, gestattet, die Berichte und Zahlen von der schrecklichen Wirklichkeit zu trennen. Das ist der Grund, weshalb die Führer von Armeen ihren Truppen alle möglichen entsetzlichen Dinge antun können, Dinge, die keinem geistig gesunden Menschen je in den Sinn kämen, wenn er den Opfern dabei in die Augen sehen müsste. Und das ist auch ein Grund, warum sie eben genau dies nicht – niemals! – tun. Wenn man jedoch mit dem Tod konfrontiert wird, wenn man vor der Entscheidung steht, den Tod zu befehlen oder selbst zu sterben, dann ändert sich alles. Die Filter fallen weg, und man muss sich dem Wahnsinn hautnah stellen. – DAS LIBERTY-MANIFEST »Man nennt sie die Zerg«, sagte Marshal Raynor, während er auf sein Hover-Cycle stieg. »Die Kleinen heißen Zerglinge. Das Schlangending, das wir in die Luft gejagt haben, ist ein Hydralisk. Angeblich sind sie etwas schlauer als die Kleinen.« Mike hatte immer noch einen Geschmack im Mund, als hätte er mit Spülwasser gegurgelt, aber er sagte: »Wer nennt sie so? Wer hat ihnen den Namen Zerg gegeben?« Raynor erwiderte: »Die Marines. Von denen hab ich es jedenfalls aufgeschnappt.« »Na, das passt ja. Haben diese Marines von den Protoss 64
gesprochen?« »Ja«, antwortete Raynor, während er den Reporter anschnallte. »Die Protoss besitzen leuchtende Schiffe und haben Chau Sara vernichtet. Werden vielleicht auch hierher kommen, so weit ich weiß. Deshalb stürmt auch alles zu den Ausgängen.« »Glauben Sie, dass es sich um ein- und dieselben Wesen handelt?« »Keine Ahnung. Wissen Sie's?« Mike hob die Schultern. »Ich habe ihre Schiffe über Chau Sara gesehen. Es würde mich sehr wundern, wenn diese … Wesen … am Steuer gestanden hätten. Vielleicht ihre Verbündeten? Oder Sklaven?« »Könnte sein. Das ist immer noch besser als die andere Möglichkeit.« »Und die wäre?« »Dass sie Feinde sind«, sagte der Marshal und startete den Hauptantrieb des Hover-Bikes. »Das wäre für alle, die zwischen ihre Fronten geraten, viel schlimmer.« Sie umkreisten Anthem Base, die tote Stadt, ein letztes Mal. Liberty hielt die Zerstörung auf seinem Multi-KommGerät fest, während Raynor Splittergranaten in die hölzernen Bauten schoss. Raynor erklärte, dass er als Scout für eine Gruppe von Flüchtlingen fungierte, Angehörige der lokalen Regierung. Sie waren ein paar Kilometer entfernt zu einem Ort namens Backwater Station unterwegs. »Etwa drei Kilometer in diese Richtung liegt ein Flüchtlingscamp.« Mike deutete nach hinten. »Wollen Sie nicht dorthin?« »Nein. Aus Backwater liegt ein Bericht vor, in dem von Problemen die Rede ist, und wir sind hin, um uns drum zu kümmern.« »Stand in diesem Bericht auch etwas über ein Flüchtlingscamp?«. fragte Mike. »Nein. Aber es sieht natürlich so aus, als wolle die Konföderation, dass die meisten Bewohner des Planeten wie 65
Hühner, denen man die dummen Köpfe abgeschlagen hat, herumrennen.« »Das hat mir schon mal jemand gesagt, bevor wir hierher kamen.« »Wer immer es war«, meinte Raynor, »trägt den Kopf richtig herum auf dem Hals.« Sanft flogen sie über das raue Terrain. Raynor änderte den Kurs nur, um größeren Hindernissen auszuweichen. Das Vulture Hover-Cycle war ein Bike mit langer Schnauze und limitiertem Antischwerkraft-Schwebeantrieb, der das Gefährt etwa einen Fuß über dem Boden hielt. Der Bordcomputer und die Sensoren in der Frontpartie hielten es stabil in der Luft und ignorierten die kleineren Unebenheiten und Sträucher. Auf dem Rücksitz festgeschnallt dachte Mike: So ein Ding muss ich mir auch zulegen … und eine ordentliche Kampfpanzerung dazu. Er dachte wieder an Lieutenant Swallow und fragte sich, wie es ihr ergangen wäre, hätte sie ihren schützenden Kokon aus Neostahl getragen. Binnen einer Stunde holten sie Raynors Flüchtlingsgruppe ein. Der Marshal hatte Recht gehabt: Es handelte sich tatsächlich um Vertreter der hiesigen Regierung, die auf Befehl der Marines kurzerhand in die Wildnis geschickt worden waren. Mike konnte sich vorstellen, mit welch einer Freude Colonel Duke diesen speziellen Befehl erlassen hatte. Der Marsch war zum Halten gekommen, und Raynor sprach eine der hinteren Wachen an. »Vor uns ist etwas, mit dem wir nicht gerechnet haben«, sagte der Soldat, ein Angehöriger der Kolonialtruppen in CMC-300-Rüstung. »Sieht aus wie ein alter Kommandoposten.« »Einer von uns?«, fragte Raynor. »Könnte sein. Aber er war auf keiner Karte der Gegend verzeichnet. Wir haben den Rest der Scout-Einheit losgeschickt, um sich die Sache anzusehen.« Raynor drehte sich im Sitz um. »Wollen Sie runter?«, fragte er Mike. 66
»Von dem Planeten, ja«, sagte Mike. »Aber so lange ich hier bin, möchte ich mich umsehen. Ist mein Job. Meine Pflicht.« Er dachte an Anthem Base, und plötzlich hatte er kein Vertrauen mehr in alte Gebäude. Raynor brummte zustimmend und ließ das Bike vorwärts schießen. Sie fuhren einen niedrigen Hügel hinauf und entdeckten den Kommandoposten auf der anderen Seite. Michael wusste, wie Kommandoposten aussahen. Sie waren überall zu finden, selbst auf Tarsonis. Es handelte sich um mit Sensorgeräten und Computern gefüllte Halbkuppelbauten, welche kaum mehr waren als kleine, automatische Fabriken, die Baufahrzeuge zur Arbeit in den örtlichen Minen ausschickten und weder über große Belegschaften noch über Verteidigungsanlagen verfügten. Irgendein genialer Planer hatte irgendwann Düsen an der Unterseite der Konstruktionen montiert, um sie dorthin zu versetzen, wo sie gebraucht wurden. Aber wenn man sie denn wirklich einmal bewegen wollte, musste vorher alles andere abgeschaltet werden. Diese hier war … nun, sie war anders. Sie schien an der Seite etwas eingedrückt. Nicht von außen beschädigt, sondern eher von innen geschrumpft, wie ein Apfel, der zu lange in der Sonne gelegen hat. Die Außenwände waren von Gestrüpp und Schlingpflanzen überwachsen. Die kolonialen Streitkräfte, einheimische Truppenangehörige in abgetragener Kampfpanzerung, näherten sich dem Bau vorsichtig in einer Halbkreisformation. »So was hab ich noch nie gesehen«, sagte Raynor. »Derart zugewuchert und so. Damit das Ding so übel aussehen kann, müsste es schon hier gestanden haben, bevor die Kolonie gegründet wurde.« Mike betrachtete sich den Boden rings um den Kommandoposten. Dann streckte er den Finger aus. »Sehen Sie mal da!« »Was?« »Der Boden. Da klebt dieses widerliche graue Zeug. Wir haben es schon in Anthem entdeckt, bevor die Zerg angrif67
fen.« »Glauben Sie, es gibt eine Verbindung?« »O ja.« Mike nickte. »Das reicht mir«, sagte der Marshal und schaltete das Komm-Mikro seines Bikes ein. »Dieses Gebäude wimmelt von Zerg, Leute. Gebt ihnen Saures!« Mike ließ seinen Rekorder eingeschaltet und empfahl dem Marshal: »Sagen Sie ihnen, sie sollen sich vor den Zerglingen in Acht nehmen. Die buddeln sich gerne ein.« Dieser Warnung bedurfte es nicht. Der Boden vor dem Kommandoposten öffnete sich und spie zwei Handvoll der gehäuteten Hundekreaturen aus. Die Kolonialstreitkräfte waren darauf gefasst gewesen und mähten sie nieder, kaum dass sie auftauchten. Die Zerglinge hatten keine Chance und wurden von den ersten Salven zu breiigen Haufen reduziert. Nachdem sie diese erste Gefahr beseitigt hatte, feuerte die örtliche Miliz Brandgeschosse in den Kommandoposten. Das Gebäude fing sofort Feuer. Raynor blieb auf dem Bike sitzen und verschoss Splittergranaten aus einem kurzläufigen Launcher, bis das Dach des Postens wie eine Eierschale aufbrach. Mike konnte einen guten Blick hineinwerfen: Die gesamte Konstruktion war nur mehr ein Geflecht aus tödlichen Ranken, ein Tumult aus Orange, Grün und Violett. Sackartige Gebilde aus widerlichem Proto-was-auch-immer hingen an einer Wand. Sie kreischten, als die Flammen sie erreichten. »Haben Sie das alles?«, fragte Raynor, als das Dach einstürzte und die rauchenden Überreste des verseuchten Gebäudes unter sich begrub. »Ja.« Mike schaltete sein Aufzeichnungsgerät ab. »Jetzt müsste ich nur irgendwohin, von wo aus ich meinen Bericht abschicken kann.« Raynor lächelte. »Ich hab ihnen doch gesagt, diese Flüchtlinge sind Regierungstypen. Wenn jemand ein anständiges Komm-System hat, dann sie.« Marshal Raynor hatte Recht. Die Flüchtlinge verfügten in der Tat über eine mehr als ausreichende Nachrichtenver68
bindung, und unter normalen Bedingungen hätte sie auch reibungslos funktioniert. Doch als er sich einloggte, stellte Mike fest, dass das System an etlichen Stellen rund um die Welt außer Betrieb war. Das Netz wies unübersehbare Löcher auf und wurde von Hintergrundgeräuschen gestört. Genau wie die Farmen, wurde das Nachrichten-Network erzwungenermaßen vernachlässigt, und die Auswirkungen zeigten sich unmittelbar. Er formulierte die Geschichte, so gut er konnte, und fragte sich, was die Militärzensoren herausschneiden würden, ehe sie die Story an UNN weiterleiteten, und was Handy Anderson daran noch ändern mochte. Dennoch, die Öffentlichkeit musste erfahren, was hier vorging. Das meiste Material aus dem Flüchtlingscamp packte er in einen separaten Beitrag, ließ dabei die Auseinandersetzung zwischen Swallow und Kerrigan jedoch unerwähnt. Die Situation in Anthem Base betreffend ging er ins Detail, und er lieferte Videoaufnahmen des Sturmangriffs auf den Kommandoposten. Er schloss mit der Bemerkung, dass der Kommandoposten auf keiner Kolonialkarte verzeichnet sei, und war sich sicher, dass die Zensoren diesen Satz streichen würden, wenn sie der Meinung waren, irgendetwas streichen zu müssen. Ebenso überzeugt war er, dass man zeigen würde, wie die tapferen Kolonialsoldaten gegen die Zerglinge vorrückten. Siegreiche Aktionen wie diese kamen bei den Zensoren des Militärs immer gut an. Während der Bericht ins Hauptnetz lief, klopfte Mike sich den orangefarbenen Staub vom Mantel. Dann machte er Raynor im Speisezelt ausfindig. Der Mann mit dem sandfarbenen Haar bot ihm eine Tasse Kaffee an. Das Gebräu war ganz nach Art des Militärs, wenn auch nur Klasse B – zu dickem Schlamm verkocht und abgekühlt. Es war, als trinke man weichen Asphalt. »Konnten Sie Ihren Bericht rausschicken?«, fragte der Marshal. »Mh-hm«, machte Mike. »Hab sogar Ihren Namen richtig 69
buchstabiert.« Er grinste schwach. »Sind Sie okay?«, erkundigte sich Raynor. Mike zuckte die Achseln. »Ich halt schon durch. Das Schreiben hilft mir beim Verarbeiten.« »Sie hatten nicht zum ersten Mal mit dem Tod zu tun, stimmt's?« Mike zuckte abermals die Achseln. »Auf Tarsonis? Sicher. Schießereien. Selbstmorde. Bandenanschläge und Verkehrsunfälle. Ich erinnere mich sogar an ein paar Sachen, die mit den aufgehängten Leichen in der Kneipe konkurrieren könnten.« Er holte tief Luft. »Aber ich gebe zu – so etwas ist mir noch nicht untergekommen. Nichts wie das, was Lieutenant Swallow zugestoßen ist.« »Ja, es ist hart, wenn man noch kurz, bevor's passiert ist, mit dem Opfer geredet hat«, sagte Raynor und nahm einen weiteren Schluck Asphalt. »Und wenn es so plötzlich kommt. Und nur damit Sie's wissen: Die Antwort ist nein, es war nicht Ihre Schuld.« »Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Mike, auf einmal gereizt. Genau das hatte er nämlich gedacht: dass er dafür verantwortlich war, Swallow nach Anthem und in den Tod geführt zu haben. »Ich weiß es, weil ich ein Marshal bin. Und wenn ich auch noch nichts wie Anthem Base gesehen habe, war ich trotzdem schon in Situationen, wo die einen überleben und andere sterben. Und die Lebenden fühlen sich hinterher schuldig, weil sie noch leben.« Mike saß einen Augenblick lang schweigend da. »Und was empfehlen Sie in diesem Fall, Doktor Raynor?«, fragte er dann. Der Marshal hob die Schultern. »Ziemlich genau das, was Sie tun. Leben Sie weiter. Tun Sie, was Sie tun müssen. Reißen Sie sich zusammen. Sie wurden hart durchgebeutelt, aber Sie müssen es abschütteln.« Mike nickte. »Wo Sie gerade vom Weiterleben sprechen, es gibt da etwas, das ich seit einiger Zeit tun will.« »Und das wäre …?« 70
»Den Umgang mit einer Kampfpanzerung lernen. Ich hab mir die Chance entgehen lassen, als ich mit der Flotte herumflog, und seitdem bedaure ich das. Scheint so, als könnte es hier aber überlebenswichtig werden.« »Völlig korrekt.« Raynor blickte den Reporter über seine Tasse hinweg an. »Ja, ich glaube, wir haben einen extra Level-200-Anzug. Und wir lagern hier, bis wir von den Marines hören. Könnte 'ne gute Gelegenheit sein.« Eine halbe Stunde später stand Mike in voller Montur neben dem Speisezelt. Es hatte zehn Minuten gedauert, den Anzug in all dem Gepäck zu finden, das die Evakuierten mitführten, und weitere zwanzig, Mike ordnungsgemäß hineinzupacken. Er wusste, dass Swallow ihren in – längstens! – drei Minuten überziehen konnte. Eins nach dem anderen, sagte er sich. Der Anzug glich den energiebetriebenen Kampfausrüstungen, wie sie die Crew der Norad II benutzte. Er war resistent gegen Handfeuerwaffenbeschuss, verfügte über ein begrenztes Lebenserhaltungssystem (im Gegensatz zu den Vollraumanzügen der Marines) und bot grundlegenden ABCSchutz. Dennoch handelte es sich um ein älteres Modell als die Standardversion der Marines, praktisch um eine Antiquität. Offenbar hatte die örtliche Ordnungsmacht abgelegte Ausrüstung der konföderierten Regierung erhalten. Per kompletten Anzug machte Mike einen ganzen Fuß größer, die wuchtigen Stiefel enthielten eigene Stabilisierungs-Computer, um ihn in der Senkrechten zu halten. Außerdem saß der Anzug ein bisschen eng im Schritt, bis Raynor ihm den Hebel zeigte, der die Fußstützen einfuhr. Die Montur ließ sich versiegeln, und er würde im Bedarfsfall sieben Tage lang von seinen eigenen recycelten Ausscheidungen zehren. Das war allerdings ein Vergnügen, auf das Mike momentan gut und gern verzichten konnte. Die Schultern waren ebenfalls überbreit, voller Ersatzmunition und Sensoren. Der Rückentornister beinhaltete eine übergroße Klimaanlage, die Hitze vom Körper abhielt. Die moderneren Modelle waren mit Dämpfern versehen, die 71
den Lärm und die Wärmestrahlung verringerten, aber das hier war ein altes Modell, viele Male beschädigt und geflickt worden. Teilweise schien es ein wenig eng, stramm um Arme und Beine. An anderen Stellen wiederum kam es Mike zu locker und luftig vor. »Die engen Stellen sind Teil des Recyclingsystems«, erklärte Raynor, während er die Riemen festzog. »Wenn Sie sich einen schweren Treffer an einem Arm oder Bein einfangen, wird der Anzug an der Stelle zur Aderpresse. Ein Körperteil ist dann zwar hin, aber der Rest überlebt.« »Da scheint ein Hohlraum unter den Armen zu sein«, sagte Mike. »Tja, nun, das Ding stammt aus den Restbeständen der Marines. Dort würden eigentlich die Stim-Packs sitzen. Wir benutzen das Zeug nicht bei den Kolonialmilizen. Zu viele Leute werden von den Drogen darin abhängig.« Er ließ den letzten Verschluss zuschnappen. Der Reporter schwankte vorwärts und zurück und kam sich vor wie eine Schildkröte auf Stelzen. Raynor trug seinen eigenen Anzug, der ebenso zerschrammt und abgenutzt aussah. Der Marshal nickte hinter seinem offenen Visier und sagte: »Die Panzerung hält den meisten Schrotwaffen stand, aber ein gutes Nadelgewehr kann sie trotzdem durchbrechen. Deshalb sind die meisten Fronttruppen mit C-14 Impalers bewaffnet, Gaußgewehren, die Acht-Millimeter-Spikes verschießen.« »Und was jetzt?« »Jetzt laufen Sie«, sagte Raynor. Ein paar andere Soldaten schauten zu, und am Eingang des Speisezelts bildete sich eine kleine Menge. Der Marshal nickte noch einmal. »Nur zu.« Mike musterte die Anzeigen, die den Rand seines Visiers säumten. Er hatte auf dem Schiff die Bedienungsanleitung gelesen und wusste, was die kleinen Lichter bedeuteten: alles bestens. Er machte einen Schritt. Er rechnete damit, dass es ein Gefühl sein würde, als zö72
ge er den Fuß aus zähem Schlamm heraus, da er ja das gewaltige Gewicht des Stiefels anheben musste. Stattdessen schnellte ihm der Fuß, in Sensoren gehüllt und von einer Tonne Kabeln unterstützt, fast bis zur Hüfte hoch. Mike rang um sein Gleichgewicht, lehnte sich nach hinten. Daraufhin heulten die Servomotoren auf, und er drehte sich und fiel mit einem widerhallenden Plumpsen auf die Seite. Raynor fasste sich ans Kinn und bemühte sich, verständig dreinzublicken, konnte jedoch das Grinsen, das hinter seinen Fingern entstand, kaum verbergen. Mike sah, dass zwischen einigen der anderen Männer Geld hin- und herwechselte. Großartig, sie schließen Wetten darauf ab, wie dämlich ich mich anstelle, dachte Mike. Die Anzeigen um sein Visier blinkten in warnendem Gelb. Er betrachtete sie, konsultierte die Bedienungsanleitung in seinem Gedächtnis und kam zu dem Schluss, dass sie alle nur eines besagten: »Hey, Dummkopf, du bist umgefallen.« »Wie wär's mit ein bisschen Hilfe?«, fragte Mike. »Tun Sie das mal besser allein.« In Raynors Ton klang ein mildes Lächeln mit. Na wunderbar, dachte Mike und rollte sich langsam auf den Bauch. Er stellte fest, dass er sich mit einer Hand aufstützen konnte, aber die überdimensionierten Beine anzuwinkeln, erwies sich als reichlich schwierig. Letztendlich zog er sich doch in eine annähernd vertikale Position hoch. »Gut«, sagte Raynor. »Und jetzt laufen Sie. Na los.« Diesmal versuchte Mike es mit Schlurfen. Die Rüstung schleppte sich voran und wirbelte eine Wolke orangefarbenen Staubes auf. Bei der zweiten Drehung fühlte Mike sich sicher genug, um richtige Schritte zu machen, und als er nicht stürzte, begann er sich normal zu bewegen. Die Anzeigen zwinkerten ihm wieder in grünem Licht zu, und er war erleichtert, dass er den Anzug nicht beschädigt hatte. Und froh, während der Übungen auf der Norad II nicht zu laut über die neuen Crewmitglieder gelacht zu haben. Raynor ging zur Kolonialmiliz hinüber und kehrte mit einem Gaußgewehr zurück. Er reichte es Mike, und seine ge73
panzerte Hand schloss sich um den größeren der beiden Griffe. Der kleinere Griff, der von Schützen ohne Rüstung benutzt wurde, verlangte, dass der Träger der Waffe beide Hände einsetzte, um den langen Lauf zu stabilisieren. In der Rüstung konnte Mike sie jedoch mühelos anheben. »Schießen Sie auf den Felsblock dort«, sagte Raynor, wacker bemüht, nicht zu grinsen. Erst dachte Mike, der Marshal amüsiere sich nur über die Vorstellung, die er bot, doch als er die Waffe hob, wurde ihm bewusst, was er da tat. Die Schildkröte auf Stelzen war dabei, ein Gewehr abzufeuern. »Moment«, sagte er. »Wie reagiert dieses Ding auf Rückstoß?« Raynor wandte sich den anderen Milizionären zu. »Seht ihr? Ich hab euch doch gesagt, dass er schlauer ist, als er aussieht!« Ein paar der Soldaten griffen nach ihren Geldbörsen. Zu Mike sagte Raynor: »Sie spannen ihre Muskeln an, stellen sich breitbeinig hin. Der Anzug kennt das Manöver. Er kompensiert den Stoß entlang des Waffenarms.« Mike wandte sich wieder dem Felsblock zu, spannte seinen Körper und gab einen Schuss ab. Eine Salve von Spikes jagte aus der Waffenmündung und prasselte gegen den Felsen. Steinsplitter flogen in alle Richtungen davon, und Mike sah, dass er eine weiße Furche in die Oberfläche des Steines geschossen hatte. »Nicht schlecht«, sagte Raynor, jetzt unverhohlen grinsend. »Dieser Felsen wird sich zweimal überlegen, ob er brave, gottesfürchtige Leute angreift.« Mike hatte das Gefühl, als sei ihm eine Last von den Schultern genommen worden. Swallow war tot, und seltsame, fremde Wesen trieben sich in einer Wildnis herum, in der es von Flüchtlingen wimmelte. Aber wenigstens unternahm er jetzt etwas dagegen. Was ihn anging, so hatte er einen wichtigen, gepanzerten ersten Schritt getan. Raynors Flüchtlinge hatten Weisung abzuwarten, bis sich 74
die Marines mit ihnen in Verbindung setzten. Mike beschloss, einen Tag bei Raynors Truppe zu bleiben, vielleicht auch zwei, um dann entweder mit den Marines in die Stadt zurückzukehren oder sich selbst um eine Fahrgelegenheit zu kümmern. Ach, zum Teufel, sobald die Meldung, dass die Kolonial-Marines gegen die Zerg kämpften, in den Lokalnachrichten kam, würde ihre Gruppe vielleicht sogar in der Warteschlange vorgezogen werden. Er machte sich keine Sorgen wegen des Berichts – bis spät am nächsten Tag, als die richtigen Marines eintrafen. Sie heulten wie mit Stahl beschlagene Furien aus dem orangefarbenen Himmel herab. Die konföderierten Maschinen verteilten sich rings um das Flüchtlingslager, um die offensichtlichsten Fluchtwege abzuschneiden. Kaum waren sie gelandet, strömten schwer gepanzerte Marines in moderner Kampfausrüstung heraus, begleitet von Firebats – eine Spezialtruppe, die mit auf Plasma basierenden Flammenwerfern bewaffnet war. Ein einzelner Goliath trat aus dem Bauch eines der Transporter und hielt am anderen Ende des Camps Wache. Rasch umzingelten die Marines das Lager und drangen dann bis zur Mitte der Flüchtlingsschar vor. Wo immer sie auf koloniale Truppen stießen, verlangten sie, dass diese die Waffen niederlegten und sich ergaben. Überrascht und verunsichert folgten die Kolonialen der Aufforderung. Mike, der nun Zivilkleidung und seinen langen Staubmantel trug, ging zu Raynors Zelt. Er traf dort genau in dem Moment ein, als der Marshal seinen Vid-Schirm anbrüllte. »Haben Sie den Verstand verloren? Wenn wir diese verdammte Fabrik nicht niedergebrannt hätten, wäre womöglich die ganze Kolonie überrannt worden! Wenn Sie sich nicht so viel Zeit gelassen hätten, um hierher zu kommen, vielleicht wäre …« »Beim ersten Mal habe ich Sie höflich gebeten, Junge«, kam eine vertraute Stimme über den Schirm, die Mikes Seele gefrieren ließ. Er konnte das Gesicht zwar nicht se75
hen, aber er wusste, dass Colonel Duke am anderen Ende dieser Vid-Verbindung war. »Ich bin nicht hergekommen, um mit Ihnen zu reden. Und jetzt legen Sie die Waffen ab!« Raynor murmelte: »Schätze, Sie wären kein richtiger Konföderierter, wenn Sie einem nicht dermaßen auf die Eier gehen könnten.« Erst dann schaltete er die Verbindung ab. Zu Mike sagte er: »Typisches Konföd-Denken. Wir machen ihren Job, also sind sie naturgemäß sauer wegen der Konkurrenz.« Zwei Marines in voller Ausrüstung erschienen im Eingang. »Marshal Raynor, wir haben einen Haftbefehl wegen Verrats gegen Sie …« »Ja, ja«, seufzte Raynor. »Ich hab den netten Gruß von Ihrem Colonel erhalten.« Er legte seine Handfeuerwaffen auf den Tisch. Der Marine nahm sie in seinen Besitz. »Zum Zeitpunkt des Angriffs auf den Kommandoposten war auch ein Michael Liberty von Universe News Network anwesend«, sagte der Marine an Mike gewandt. »Nun, er ist …«, setzte Raynor an. »… weg«, fiel ihm Mike ins Wort und hielt seine Presseanhänger hoch. »Mein Name ist Rourke. Lokalpresse. Mickey hat sich gestern abgesetzt, nachdem er seinen Bericht verschickt hatte.« Der Marine zog die Ausweiskarte durch ein Lesegerät, dann brummte er etwas. Mike hoffte, dass das Flickwerk, in das sich das globale Kommunikationsnetz verwandelt hatte, verhinderte, dass Rourkes Foto zu sehen war. Der Marine sagte: »Mister Rourke, Sie befinden sich jetzt in einem Sperrgebiet. Sie müssen es sofort verlassen.« Raynor begann: »Was zum …« Mike unterbrach ihn: »Natürlich, Sir, bin schon so gut wie weg.« Der Marine fuhr fort: »Ich muss Sie daran erinnern, dass gemäß Kriegsrecht alles, was Sie über diese Angelegenheit berichten, von Militärzensoren geprüft wird. Alles, was als Verrat gilt, wird gemeldet, und der Verfasser wird mit der 76
vollen Härte des Gesetzes bestraft.« »Nichts dagegen einzuwenden, Mann. Ich meine, Sir«, sagte Mike. Raynor rief Mike zu: »Hey, ›Rourke‹, nehmen Sie lieber mein Bike.« Er warf dem Reporter die Schlüssel zu. »Scheint so, als brauchte ich es einstweilen nicht mehr.« »Geht klar, Marshal«, sagte Mike. Raynor sah Mike fest an. »Und wenn Sie diesen Kasper von Liberty sehen«, erklärte er mit steinerner Miene, »sagen Sie ihm, ich erwarte, dass er etwas gegen diese Sauerei unternimmt. Haben Sie das gehört?« »Laut und deutlich, Mann«, antwortete Mike. »Laut und deutlich.« Dennoch empfand Mike keine Erleichterung, bis er gut fünf Kilometer vom Flüchtlingscamp entfernt war. Als er gegangen war, wurden Raynors Männer gerade in die Transporter getrieben, und wenn Duke dem militärischen Standardvorgehen der Konföderation folgte, würde man sie zu einem Gefängnisschiff im Orbit bringen. Mike tröstete sich mit der Tatsache, dass sie dort wenigstens etwas Schutz vor den Zerg und den Protoss hatten. Ursprünglich hatte Mike vorgehabt, in die Stadt zurückzukehren, ein Schiff zu besteigen, das den Planeten verließ, und es Handy Anderson zu überlassen, sich mit den Einzelheiten seines unerlaubten Aufenthalts außerhalb der Stadt herumzuschlagen, sobald er, Mike, erst einmal wieder auf Tarsonis war. Aber die Vorstellung, Raynor hier zurück und in irgendeinem Marineknast verfaulen zu lassen, wühlte ihn auf. Der Marshal war einer jener guten alten Noch-vonechtem-Schrot-und-Korn-Burschen, wie sie hier draußen auf den Randwelten zu gedeihen schienen, aber er war kein übler Kerl. Und er hatte Mike in Anthem den Hintern gerettet. Kurz stieg das Bild von Lieutenant Swallow aus seiner Erinnerung empor. Sie hatte ihm geholfen, und er hatte sie im Stich gelassen. Trotz dem, was Raynor gesagt hatte, 77
fühlte er sich schuldig. Würde er Raynor genauso im Stich lassen? »Im Stich lassen, das klingt so hässlich«, murmelte er, aber er wusste, dass er den Marshal nicht Dukes ach so liebevoller Fürsorge überlassen konnte. Als er die Stadtgrenze erreichte, war ihm klar, dass er ein Shuttle zur Norad II erwischen und die Sache mit dem Colonel klären musste. Mann, vielleicht kriegen wir ja nebeneinander liegende Zellen, dachte er. Die Stadt war mittlerweile vollständig evakuiert, nicht einmal die Hauptzugänge waren mehr abgeriegelt, und die Straßen präsentierten sich ungewohnt leer. Es waren auch keine konföderierten Truppen mehr da. Während er durch die verlassenen Straßen flog, fragte sich Mike, was wohl aus den Medienvertretern geworden war, die sich im Cafe vor dem Grand Hotel eingenistet hatten. Waren sie noch dort, oder hatte man sie ebenfalls an irgendein Plätzchen in der Wildnis abgeschoben? Es gab ein dumpfes Geräusch, und ein Ruck durchlief das Vulture Hover-Cycle unter ihm. Als er zurückschaute, sah er, dass sich ihm unbemerkt eine zweite Vulture genähert und seinen linken hinteren Puffer gestreift hatte. Hinter der getönten Scheibe sah Mike, wie der Fahrer auf sein Ohr deutete. Die universelle Geste für: »Schalt dein Funkgerät ein, du Idiot.« Mike fummelte an der Komm-Vorrichtung herum, und Sarah Kerrigans Gesicht erschien auf dem Bildschirm. »Folgen Sie mir«, sagte sie. »Versuchen Sie mich umzubringen?« »Das ist eine dumme Frage, wenn man bedenkt, dass Sie bereits tot sind.« »Was?«, stieß Mike hervor. »Vor einer Stunde ging ein Bericht raus, dem zufolge ein paar Widerstandskämpfer in gestohlener Firebat-Rüstung einen Bus mit Reportern angegriffen haben. Man hat die Opfer anhand ihrer Ausweise identifiziert. Glückwunsch, Sie stehen ganz oben auf der Totenliste.« 78
»Grundgütiger.« Mike spürte, wie ihm der Magen zu Stein wurde. Rourke hatte seinen Presseausweis. Der Gedanke, dass ihn der Bauskandal nun doch noch eingeholt hatte, so fern hier draußen, kam ihm in den Sinn. Kerrigan lachte. »Hier geht's nicht um irgendeinen Baumaterialskandal auf Tarsonis, Spürnase. Jemand von hier wollte Sie tot sehen. Sie wissen zu viel, Mister Liberty.« Mike verkrampfte sich. »Was meinen Sie damit?« Frustration knisterte durch die Verbindung. »Ich meine, dass Ihr Bericht über den Einsatz stürmischen Beifall für die örtlichen Streitkräfte ausgelöst hat. Die Tatsache, dass sie gegen die Zerg kämpfen und die Marines nicht, ist geradezu schmerzhaft offensichtlich. Deshalb ließ Duke die hiesigen Truppen verhaften und vom Planeten schaffen. Er will, dass diese Welt ohne Verteidigung ist. Das ist doch unverkennbar, oder? Wenn sie den Einheimischen wirklich helfen wollen, folgen Sie mir.« Mike schüttelte den Kopf. »Und wenn ich mich weigere?« »Dränge ich Sie von der Straße ab und schleife Sie mit«, raunzte es aus der Funkverbindung. »Mann, Sie fahren wie eine alte Oma!« Damit setzte Kerrigan ihre Vulture vor ihn und bog nach links ab. Liberty folgte ihr, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er die Kurven ungeschickt weit nahm. Sie erreichten eine Gegend voller Lagerhäuser, von denen einige nicht mehr als leere Hüllen waren. Kerrigans Vulture schlüpfte durch das offene Tor eines dieser Gebäude. Mike lenkte seine ebenfalls hinein, und Kerrigan schloss das Tor hinter ihm. »Mich so anzurempeln, war reichlich gefährlich«, sagte Mike, während er von der Maschine stieg. »Sie müssen sich ja für eine ziemlich gute Fahrerin halten.« »Bin ich auch. Ich bin auch sehr gut im Umgang mit Messern. Und mit Schusswaffen. Haben Sie das geklaut?«, fragte sie mit einem Blick auf sein Bike. »Hab's von einem Freund bekommen.« »Ihr Freund geht nicht sehr pfleglich mit seinen Sachen 79
um. Das hier ist übrigens ein geschütztes Versteck. Eine Sache noch, bevor wir weitergehen.« Ehe Mike reagieren konnte, streckte Kerrigan eine Hand aus und riss ihm seine Presseanhänger ab. Mit einer einzigen, fließenden Bewegung warf sie die Plastikkärtchen in die Luft, zog eine Laserhandfeuerwaffe und zerstrahlte sie, als sie sich auf dem Scheitelpunkt ihrer Flugbahn ankamen. Die geschmolzenen Überreste landeten auf dem Betonboden. »Wir glauben, dass man diese Presseanhänger aufspüren kann. Das würde erklären, warum es dem Typen mit ihren Anhängern an den Kragen ging. Letztendlich werden sie aber merken, dass sie einen Reporter am Leben gelassen haben, und dann wird man Jagd auf Sie machen. Und jetzt kommen Sie mit nach hinten. Ich muss etwas aufstellen.« Sie drehte sich um und ließ Mike stammelnd zurück. Im hinteren Teil des Lagerhauses befasste sie sich mit irgendwelchem Equipment. »Sie wissen doch, dass Sie den Truppen von Duke im Moment nicht trauen können. Wollen Sie sich meine Seite wenigstens anhören?« Sie beugte sich vor, um ein paar Stecker zu überprüfen. Jetzt erkannte Mike, woran sie herumbastelte. »Das ist ein komplettes Holo-Setup.« »Vom Allerfeinsten«, bestätigte Kerrigan lächelnd. »Mein Commander hat das Glück, nur ans Beste heranzukommen.« »Das Beste, weiß Gott. Wenn er es sich leisten kann, sich eigene Telepathen zu halten.« Kerrigan erstarrte, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber doch lange genug, um Mike zum Lächeln zu bringen. »Na ja«, sagte sie dann. »Ich geb mir wahrscheinlich nicht genug Mühe, das zu verheimlichen, wie?« »Ich war durchaus willens zu glauben, dass Sie ein großer Fan von mir sind«, räumte Mike ein, »aber dass Sie mich einfach so zufällig gefunden haben, als ich in die Stadt kam, nun ja, das war mir ein bisschen zu unglaubwürdig. 80
Ich dachte immer, dass nur konföderierte Ghost-Trooper Telepathen seien.« »Ja, den Job hab ich mal gemacht. Hatte die Nase voll davon und hab aufgehört.« »Ich muss kein Telepath sein, um zu wissen, dass das nicht die ganze Geschichte ist.« Mike hob in einer entwaffnenden Geste die Schultern, dann fügte er hinzu: »Das ist kein Job, den man einfach so kündigt. Ich dachte auch, Telepathen seien mit Inhibitoren ausgestattet, um uns Normalsterbliche zu schützen.« »Es ist genau anders herum«, sagte Kerrigan mit einem Hauch von Verbitterung in der Stimme. »Die Inhibitoren halten auch Ihre hässlichen kleinen Gedanken aus meinem Kopf fern. Es ist hart, wenn man weiß, dass jeder um einen herum in irgendeiner Hinsicht unzuverlässig ist.« Sie schaute Mike fest an, ihre grünen Augen blitzten. »Die Toilette ist da hinten in der Ecke. Nein, sie hat kein Fenster, aus dem Sie sich hinausstehlen können. Ich möchte Ihnen nicht die Knie zerschießen, damit Sie hier bleiben, aber Sie wissen, dass ich es tun werde, wenn es sein muss.« »Warum ich?«, murmelte Mike, während er in Richtung des Klos ging. »Weil Sie«, rief Kerrigan quer durch den Raum, »wichtig für uns sind, Sie Idiot. Und jetzt pudern Sie sich die Nase und kommen wieder her.« Als Mike zurückkehrte, hatte sie die Holo-Apparatur aufgestellt. Das Gerät besaß eine komplette Projektionsplatte, fand aber trotzdem in ein paar Koffern Platz. »Ist es nicht«, sagte Sarah Kerrigan, als er näher kam. »Kein Vorteil für einen Reporter, wenn er Gedanken lesen könnte?« Mike gewöhnte sich an die Kurzform, in der eine Unterhaltung mit einer Telepathin funktionierte. »Nein.« Kerrigan schüttelte den Kopf. »Das Meiste dessen, was ich empfange, stammt nur von der Oberfläche, und schon das ist reichlich schlüpfrig. Animalische Bedürfnisse und all so'n Mist. Und Geheimnisse. Verdammt, mein ganzes Leben war voller Geheimnisse. Man hat es sehr 81
schnell satt.« »Tut mir Leid«, sagte Mike, doch er war nicht sicher, ob er es so meinte oder nicht. »Ja, Sie haben es so gemeint. Sie wissen es nur selbst nicht. Und nein, ich habe keine Zigaretten. So, fertig.« Sie berührte einen Schalter und sprach leise in ein Mikrofon. Die untere Platte des holografischen Transmitters surrte leise, und in dem ausgeschütteten Licht zeichnete sich eine menschliche Gestalt ab. Sie schien sich aus dem Licht selbst zu formen, ein kräftiger Mann, breitschultrig, in quasimilitärischer Uniform. Sein Gesicht zeigte buschige Augenbrauen, eine zerfurchte Nase, einen gewaltigen Schnurrbart und ein vorspringendes Kinn. Sein Haar war schwarz und von grauen Strähnen durchzogen, aber immer noch mehr schwarz als grau. Mike erkannte ihn sofort – er hatte das Konterfei auf Dutzenden Fahndungsplakaten gesehen, die überall im Reich der Konföderation aufgehängt waren. »Mister Liberty, es freut mich wirklich sehr, dass Sie bei uns sind«, sagte die leuchtende Gestalt. »Ich bin Arcturus Mengsk, Führer der Söhne von Korhal. Ich würde Sie gerne bitten, sich uns anzuschließen.«
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KAPITEL 7 DEALS Arcturus Mengsk. Das ist mal ein Name, der für Terror, Verrat und Gewalt steht. Ein lebendes Beispiel dafür, dass der Zweck die Mittel heiligt. Der Assassine der Konföderation der Menschen. Der Held der vernichteten Welt Korhal IV. König des Universums. Ein wilder Barbar, der sich von nichts und niemandem aufhalten lässt. Und doch ist er auch charmant, gebildet und intelligent. In seiner Gegenwart spürt man, dass er einem wirklich zuhört, dass die Meinung seines Gegenübers zählt – und dass man ihm wichtig ist, wenn man ihm zustimmt. Es ist erstaunlich. Ich habe mich oft gefragt, ob Männer wie Mengsk nicht ihre ganz eigene wirklichkeitsverzerrende Aura mit sich herumtragen, die jeden, der hineingerät, in eine andere Dimension versetzen, wo die teuflischen Dinge, die er sagt und tut, plötzlich Sinn ergeben. Das ist jedenfalls die Wirkung, die er auf mich stets ausübte. – DAS LIBERTY-MANIFEST Die leuchtende Gestalt hielt einen Moment lang inne und sagte dann: »Stimmt etwas mit unserer Verbindung nicht, Lieutenant?« Kerrigan erwiderte: »Wir empfangen Sie klar und deutlich, Sir.« »Mister Liberty, können Sie mich hören?«, fragte Arcturus. »Ich kann Sie hören«, sagte Mike. »Ich weiß nur nicht, ob ich glauben kann, was ich höre. Sie sind der meistgehasste Mann in der Konföderation.« Arcturus Mengsk lachte leise und verschränkte die Hände vor seinem muskulösen flachen Bauch. »Das ehrt mich, aber ich muss Ihnen sagen, dass ich nur unter den Füh83
rungskräften der Konföderation der meist gehasste Mann bin, bei jener Spitze, die es sich zur Aufgabe macht, alle anderen unter ihrer Fuchtel zu halten. Diejenigen, die es wagen, anders zu denken, werden ausgestoßen. Ich habe diese Verbannung überlebt, und somit bedeute ich eine Gefahr für sie.« Mengsks Worte flossen über Michael Liberty hinweg wie warmer Honig. Das Gebaren und die Stimme dieses Mannes entsprachen ganz und gar einem Politiker. Er war jemand, der in den Stadtrat von Tarsonis oder in die Besprechungen und gesellschaftlichen Plauderrunden der Alten Familien der Konföderation gepasst hätte. »Ich kenne eine Menge Reporter, die gerne mit Ihnen reden würden«, sagte Mike. »Ich hoffe, Sie sind einer davon. Ich bin seit vielen Jahren ein Anhänger Ihrer Arbeit. Ich muss allerdings einräumen, dass es mich überrascht, Ihren illustren Namen in Verbindung mit bloßer militärischer Berichterstattung zu finden.« Mike zuckte die Achseln. »Dazu kam es unter entschuldbaren Umständen.« »Natürlich«, sagte Mengsk, und unter seinem buschigen, grau melierten Schnauzbart formte sich ein weiteres Lächeln. »Und gleichermaßen fürchte ich, dass mein vagabundierender Lebensstil verhindert hat, dass bislang ein angemessenes Interview zustande kam. Die wenigen, die es gab, hat die Konföderation schnell und gründlich entstellt. Ich nehme an, Sie verstehen, was ich meine.« Mike dachte an Rourke, der mit seinen, Mikes, Presseanhängern um den Hals gestorben war, und an Raynors Leute, die im Orbit gefangen waren, sowie an die Flüchtlinge, die auf Transporter warteten, die nicht zu kommen schienen. Er nickte. »Ich weiß, mein Ruf eilt mir voraus, Michael.« Mengsk unterbrach sich. »Darf ich Sie Michael nennen?« »Wenn Sie wollen.« Ein weiteres, nur halb verhohlenes Lächeln. »Und ich 84
muss Ihnen sagen, dass dieser Ruf vollauf gerechtfertigt ist. Legt man den Maßstab der Konföderation zugrunde, dann bin ich ein Widerstandskämpfer, ein Agent des Chaos wider die alte Ordnung. Mein Vater war Angus Mengsk, der das Volk von Korhal IV zur Rebellion gegen die Konföderation führte.« »Und dafür mit der Vernichtung des Planeten bezahlte.« Arcturus Mengsks Miene verdüsterte sich. »Ja, und ihre Geister verfolgen mich jeden Tag meines Lebens. Sie wurden von den Konföderierten als Rebellen und Revolutionäre gebrandmarkt, aber es sind, wie Sie wissen, die Sieger, denen das Privileg der Geschichtsschreibung zufällt.« Mengsk hielt einen Moment inne, aber Mike hakte nicht ein, weder um zuzustimmen noch um zu widersprechen. Schließlich fuhr Mengsk fort: »Ich will das Tun der Söhne von Korhal nicht entschuldigen. An meinen Händen klebt das Blut meiner Taten, aber ich bin noch weit davon entfernt, 35 Millionen Menschen auf dem Gewissen zu haben, wie sie die Konföderation auf Korhal IV verschuldete.« »Ist diese Zahl Ihr Ziel?«, fragte Mike, nach einer Schwachstelle des Politikers suchend. Er rechnete mit einem Wutausbruch oder einer schnellen Widerlegung seiner Worte. Aber stattdessen gluckste Mengsk nur kurz. »Nein. Mit der unbarmherzigen Bürokratie der Konföderation der Menschen kann ich nicht konkurrieren. Sie schwenken die Fahnen der alten Erde, aber keine jener alten Regierungen hätte diese Unmenschlichkeit toleriert, die von der Konföderation als normal angesehen wird. Und diejenigen, die Alarm schlagen, werden entweder mit Gewalt zum Schweigen gebracht oder derart beschämt, dass sie sich aus Bequemlichkeit zu Mittätern machen.« »Das wären dann wir von der Presse«, meinte Mike und dachte an Handy Andersons in Schwindel erregender Höhe liegendes Büro. Arcturus Mengsk hob die Schultern. »Der Schuh mag durchaus passen, aber ich möchte nicht alle über einen Kamm scheren. Ich weiß, dass Sie zum Beispiel einer jener 85
seltenen Männer sind, die sich nicht scheuen, stets die Wahrheit zu suchen.« »Dann dient das alles …« Mike deutete auf das Equipment und Kerrigan. »… nur dazu, ein Interview zu ermöglichen?« Wieder dieses leichte Lachen. »Für Interviews wird später Zeit sein, aber im Moment gibt es dringendere Angelegenheiten. Sie kennen die Situation der Flüchtlinge im Hinterland?« Mike nickte. »Ich habe mit ein paar von den Leuten gesprochen. Man hat die Städte geräumt, und jetzt warten die Menschen in der Wildnis darauf, von den Transportern der Konföderation abgeholt zu werden.« »Und was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erklärte, dass diese Schiffe niemals kommen werden?« Mike blinzelte. Plötzlich wurde er sich bewusst, dass Kerrigan ihn beobachtete. »Es würde mir schwer fallen, das zu glauben. Mag sein, dass sie sich verspäten, aber man würde die Bevölkerung doch nicht im Stich lassen.« »Ich fürchte, es ist wahr«, seufzte Mengsk. Mike wünschte sich, selbst über die Gabe der Ferntelepathie zu verfügen, um unter den Mantel der Sanftmütigkeit blicken zu können, in den dieser Mann sich hüllte. »Es sind keine unterwegs. Mehr noch, Colonel Duke hat in den vergangenen Tagen alle Anstrengungen unternommen, um die militärischen Strukturen der Konföderation hier auszuradieren und Vorbereitungen für einen sofortigen Rückzug zu treffen, sobald sich die Protoss zeigen oder die Zerg einen überwältigenden Erfolg erringen.« »Was wissen Sie über die Protoss und die Zerg?«, fragte Michael scharf. »Mehr als ich eingestehen möchte«, antwortete Mengsk mit einem verbitterten Lächeln. »Es genügt wohl zu sagen, dass es sich um sehr alte Völker handelt, und dass sie einander hassen. Und außerdem haben sie kaum oder keine Verwendung für die menschliche Rasse. In dieser Hinsicht sind sie der Konföderation sehr ähnlich.« 86
»Ich habe sowohl das Werk der Zerg als auch der Protoss gesehen«, sagte Mike. »Es fällt mir schwer zu glauben, dass sie auch nur annähernd menschlich sind.« »Obwohl die Konföderation vorhat, die Bevölkerung von Mar Sara im Stich zu lassen? Tatenlos zuzusehen, wie die Zerg sie am Boden überrennen oder die Protoss sie von oben verdampfen? Für die Bürokraten auf Tarsonis ist dieses System nichts weiter als eine gigantische Petrischale, in der sie beobachten, wie sich diese beiden Alienrassen duellieren, während sie überlegen, wie sie ihre eigene Haut retten können. Wollen Sie, als Mensch, daneben stehen und dabei zuschauen?« Mike dachte an die tödlichen, strahlenden Regenbögen über der Oberfläche von Chau Sara. »Sie haben eine Lösung«, sagte er und ließ es wie eine Feststellung klingen, nicht wie eine Frage. »Und bei dieser Lösung spiele ich irgendwie eine Rolle.« »Ich bin ein Mann mit gewaltigen, aber keineswegs unbegrenzten Mitteln«, sagte Arcturus Mengsk, auf einmal mit der Spannung eines aufziehenden Gewitters. »Meine eigenen Schiffe sind unterwegs, um so viele Menschen wie möglich aus dem System zu schaffen. Kerrigan hat den Großteil der Camps lokalisiert und dort die Stimmung gegen die Konföderation geschürt, sodass man uns vermutlich als Helden empfangen wird. Ich habe mit den Resten der Regierung dieses Planeten in Verbindung gestanden. Aber ich brauche ein freundliches Gesicht um den Leuten zu versichern, dass wir wirklich in friedlicher Absicht kommen.« »Und an der Stelle komme ich ins Spiel.« »An der Stelle kommen Sie ins Spiel«, bestätigte Mengsk. »Auch Ihnen eilt Ihr Ruf voraus.« Mike überlegte und dachte dabei sowohl an die Zerg unter als auch an die Protoss über ihnen. »Ich werde nicht die Propagandatrommel für Sie rühren«, sagte er schließlich. »Das verlange ich auch nicht von Ihnen«, sagte Mengsk und breitete die Hände aus, wie um ihn willkommen zu heißen. 87
»Und ich berichte über das, was ich sehe.« »Was mehr ist, als Ihnen die Konföderation mit ihren militärischen Beschränkungen im Moment erlaubt. Von einem Reporter Ihres Kalibers erwarte ich auch nichts anderes.« Eine weitere Pause entstand. Mengsk beendete sie, indem er sagte: »Wenn es irgendetwas gibt, womit ich Ihnen behilflich sein kann …« Mike dachte an Raynors Männer. »Ich habe da ein paar … Kameraden, die sich … im Gewahrsam der Konföderation befinden.« Mengsk sah Kerrigan mit einer erhobenen Augenbraue an. Sie sagte: »Vertreter der örtlichen Miliz und Ordnungsmacht, Sir. Sie wurden gefangen genommen und auf ein Schiff im Orbit gebracht. Ich kann die Position in Erfahrung bringen.« »Hmm. Sie bitten nicht um kleine Gefallen, was, Michael?« Mengsk kratzte sich am Kinn, aber selbst über die Holo-Verbindung hinweg konnte Mike sehen, dass der Mann sich bereits entschieden hatte. »In Ordnung, aber Sie müssen dabei helfen. Zuerst allerdings …« »Ich weiß«, sagte Mike achselzuckend. »Ich muss Ihre verdammte Presseerklärung schreiben.« »Genau«, bestätigte Mengsk mit funkelnden Augen. »Wenn wir uns einig sind, werde ich Lieutenant Kerrigan anweisen, sich um die Einzelheiten zu kümmern.« Und damit verflüchtigte sich die in Licht gehüllte Gestalt. Mike atmete schwer aus. »Lesen Sie immer noch meine Gedanken?«, fragte er schließlich. »Es ist kaum möglich, sie nicht zu lesen«, sagte Kerrigan ruhig. »Dann wissen Sie, dass ich ihm nicht traue.« »Ich weiß es«, antwortete Mengsks Lieutenant. »Aber Sie vertrauen darauf, dass er seinen Teil des Deals einhalten wird. Kommen Sie also, fangen wir an.« Das Gefangenenschiff Merrimack war ein Fossil, ein 88
Schlachtkreuzer der Leviathan-Klasse, aus dem alles Nützliche entfernt worden war, bis auf das Lebenserhaltungssystem, und selbst das war steinalt und unzuverlässig. Sogar den Antrieb hatte man unbrauchbar gemacht, nachdem das Schiff seinen Standort hoch über dem Nordpol von Mar Sara erreicht und fixiert hatte. Seine Lagerräume waren mit unbewaffneten Männern gefüllt, Gefangene, die aus vielerlei Gründen verhaftet worden waren, und die man für zu gefährlich hielt, als dass man sie auf dem Planeten belassen wollte. Es befanden sich viele einheimische Milizionäre hier oben, zusammen mit den Marshals und einer erklecklichen Anzahl lokaler Führungskräfte, die ihre Meinung allzu unverblümt kundgetan hatten. Was die Gefangenen, die hinter verriegelten Schotts eingebuchtet waren, nicht wussten, war, dass sie nur von einer Notbesatzung bewacht wurden, dem Bruchteil einer normalen Mannschaft eines solchen Gefangenenschiffs. Die meisten der wichtigen hochrangigen Offiziere waren bereits von Bord gebracht worden, und von den großen Schiffen, die Mar Sara in den vergangenen Tagen angeflogen hatten, befand sich nur noch die Norad II im Orbit. Captain Elias Tudburry, der an Bord der Merrimack verbliebene befehlshabende Offizier, knurrte, als sein Blick über die Monitore des Andock-Ringes wanderte. Das letzte Shuttle war mindestens eine Stunde überfällig, und wenn die Funkgerüchte stimmten, konnten die Protoss jeden Moment mit ihren Blitzwaffen auftauchen. Captain Tudburry hatte nicht so lange als Kommandant eines Sträflingschiffes überlebt, indem er sich irgendwelchen Gefahren ausgesetzt hatte. Jetzt, da das Shuttle sich auf das Dock zu schob, trat er unruhig von einem Fuß auf den anderen. Neben ihm überwachte der Funkoffizier die Frequenzen. Je eher das Shuttle eintraf, dachte Tudburry, desto früher konnten er und seine Hand voll Nachzügler von hier verschwinden und die Gefangenen ihrem Schicksal überlassen. 89
Über ihm knisterte der Lautsprecher. »Gefangenen-Shu … Station fünf-vier … erbitt … Erlaubnis … zum Andocken. Passwort …« Der Rest ging in statischem Rauschen unter. Der Funkoffizier tippte gegen seinen Kopfhörer und sagte: »Wiederholen Sie Ihren Funkspruch, fünf-vier-sechssieben. Bitte wiederholen.« Der Lautsprecher knackte und knisterte weiter. »… nen Shuttle … sechs-sieben. Erbitten Erlaubnis … ocken. Pass …« Noch stärkeres statisches Rauschen. »Bitte kommen, fünf-vier-sechs-sieben«, sagte der Funkoffizier. Tudburry platzte beinahe vor Anspannung, doch die Stimme des Funkoffiziers klang ruhig und wie mechanisch. »Bitte wiederholen Sie.« »Störungen …«, kam die Antwort. »Wir werd … zurückziehen und es … äter noch einma … versuchen.« »Nein, das werden Sie nicht!« Tudburry, griff an seinem Offizier vorbei und drückte einen Schalter. »Shuttle fünfvier-sechs-sieben, Sie haben Andockerlaubnis. Schwingen Sie Ihren Arsch hier rüber und holen Sie uns aus diesem Kübel raus!« Die Hydraulik zischte, als das Shuttle an die Merrimack andockte, während der Verbindungsoffizier auf die Verletzung des Standardprotokolls verwies. »Das ist keine Standardsituation, Söhnchen«, sagte Tudburry, schon auf halbem Weg zum Dock und seine längst gepackte Tasche in der Hand. »Holen Sie Ihre Sachen und sagen Sie den anderen Bescheid. Wir verlassen dieses Wrack!« Die Luftschleuse glitt auf, und Captain Tudburry blickte in den Lauf einer großkalibrigen Schrotwaffe. Am anderen Ende des Schießeisens stand ein hagerer Mann mit Pferdeschwanz, der jemandem ähnelte, den Tudburry auf UNN gesehen hatte. »Buh!«, machte Michael Liberty. Es dauerte kaum zehn Minuten, den Rest der Crew zu überwältigen – die meisten hatten nur ihre Reisetaschen und den sehnlichen Wunsch, endlich von hier wegzukom90
men –, und weitere zwanzig, sie dazu zu überreden, den Warpantrieb instand zu setzen, damit sich die Merrimack außer Reichweite des Planeten schleppen konnte. Raynor und seine Männer nahmen mit Liberty das Shuttle. »Eines muss ich zugeben«, sagte Ex-Marshal Raynor. »Als ich Ihnen auftrug, etwas zu unternehmen, habe ich nicht damit gerechnet.« Mike Liberty errötete. »Sagen wir einfach, ich habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, und der hat sich zu Ihren Gunsten ausgewirkt.« Wie auf Stichwort erschien Mengsks breites Gesicht auf dem Schirm des Shuttles. »Herzlichen Glückwunsch, Michael. Wir können hinsichtlich unserer Bemühungen ebenfalls Erfolg vermelden. Wir wurden von der Bevölkerung Mar Saras mit offenen Armen begrüßt, und justament evakuieren unsere Schiffe die Flüchtlinge. Mir ist zu Ohren gekommen, dass selbst Colonel Duke nicht willens ist, auf Schiffe voller Unschuldiger zu schießen, und dass ihn die Wende der Ereignisse sehr verdrießt.« Raynor beugte sich zum Bildschirm vor. »Mengsk? Hier spricht Jim Raynor. Ich will mich nur für Ihre Hilfe bedanken, uns von diesem Pott runterzuholen.« »Ah, Marshal Raynor. Michael hält offenbar sehr viel von Ihnen und Ihren Leuten. Ich habe mich gefragt, ob Sie mir vielleicht in einer kleinen Angelegenheit behilflich sein möchten.« Mengsks Lächeln füllte den Bildschirm. »Moment mal, Mengsk«, sagte Mike. »Wir hatten einen Deal und wir haben beide unseren Teil erfüllt.« »Und damit ist dieser Handel abgeschlossen, Michael«, erklärte der Anführer der Rebellen, der die Bevölkerung eines Planeten gerettet hatte. »Aber jetzt möchte ich dem ehemaligen Marshal und seinen Männern ein ähnliches Abkommen anbieten. Eines, das, wie ich hoffe, zum Wohl all unserer Leute sein wird.«
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KAPITEL 8 ZERG UND PROTOSS Es wäre ein Leichtes zu behaupten, Arcturus Mengsk sei ein Meister der Manipulation gewesen – was er auch war –, oder dass er andere regelmäßig täuschte – was ebenfalls stimmt. Aber es wäre falsch, jene, die ihm ins Netz gingen, von aller Verantwortung freizusprechen. Heute scheint es der Gipfel der Torheit gewesen zu sein, sich mit ihm einzulassen, aber man muss die Situation bedenken, als die Vernichtung des Sara-Systems drohte. Auf der einen Seite wusste man die geistlosen Bestien der Zerg und auf der anderen den unheiligen Zorn der Protoss. Und in der Mitte stand die verbrecherische Bürokratie der alten Konföderation der Menschen, die willens war, die Bevölkerung zweier Planeten abzuschreiben, um mehr über ihre Feinde zu erfahren. Bei einem solchen Überschuss an Teufeln im Universum – was zählte da einer mehr? – DAS LIBERTY-MANIFEST Die Jacobs-Anlage war fernab der großen Städte von Mar Sara, auf der anderen Seite des Planeten, in eine Bergflanke gebaut worden. Sie wurde in keinem der planetaren Archive geführt, die Michael Liberty gefunden hatte, aber Mengsk kannte sie. Irgendwo in der Jacobs-Anlage gab es einen Computer, auf dem Daten gespeichert waren. Mengsk sagte, er wüsste nicht, um was für Daten es sich dabei handelte, aber er wusste, dass sie wichtig waren. Und er wusste, dass er sie brauchte. Und dass Raynor sie ihm beschaffen würde. All das führte Mike zu der Frage, was Mengsk sonst noch wusste. Außerdem brachte es den Reporter dazu, über jene anderen tiefen Krater auf Chau Sara nachzudenken. Hatte es auf dem Nachbarplaneten ähnliche Orte gegeben, die 92
den meisten Menschen nicht bekannt, für die Protoss jedoch wie Leuchtfeuer gewesen waren? Hatte Mengsk auch davon gewusst? Liberty kam sich plötzlich vor, als befände er sich im Epizentrum eines Testgeländes für Bombenabwürfe, während der Countdown längst begonnen hatte. Der Planet war bereits im Untergang begriffen. Er konnte die Zerstörung auf den Schirmen des Transporters sehen, der Raynor und seine Einsatztruppe hinunterbrachte. Meilen früheren Farmlands waren mittlerweile mit Kriecher bedeckt, einem pulsierenden, lebenden Organismus, der den Erdboden überzog und seine Ranken tief in den Fels darunter senkte. Seltsame Bauten tüpfelten die Landschaft wie missgestaltete Pilze, und skorpionartige Wesen drangen daraus hervor und verschlangen alles, was ihnen in den Weg kam. Mike konnte Rudel der gehäuteten Hundekreaturen, der Zerglinge, ausmachen, die von den größeren Schlangenmonstern, den Hydralisken, vorangetrieben wurden. Und einmal entdeckte er am Horizont einen Schwarm von Wesen, die wie geflügelte, organische Kanonen aussahen. Der Kriecher hatte die Jacobs-Anlage noch nicht erreicht, aber die merkwürdigen Zerg-Türme waren bereits am Horizont zu sehen. Das Zugangstor stand offen, und Menschen versuchten aus dem Komplex zu fliehen. Der Transporter geriet unter Feuer, als er Raynor und seine Truppe absetzte. Trotz der relativen Sicherheit seines leichten TechnikerKampfanzugs zögerte Liberty. Ich tu das nicht für Mengsk, sagte er sich. Ich tu es für Raynor. Die Wachen interessierten sich mehr für ihre Flucht als für einen Kampf, und Raynors Trupp vertrieb sie ohne Probleme. Michael Liberty folgte den riesenhaften gepanzerten Gestalten in den Stützpunkt. Der Widerstand verstärkte sich, kaum dass sie eingetreten waren – an den Wänden waren Schusswaffen zur Verteidigung angebracht, und an jeder Ecke tauchten ausfahr93
bare Geschütztürme auf. Raynor verlor zwei Mann, bis er vorsichtiger wurde. »Wir müssen den Kontroll-Computer finden«, sagte Mike. »Ja«, pflichtete Raynor bei. »Aber ich wette, der steht auf der anderen Seite, so weit wie möglich weg von diesen Waffen.« Und damit war er auch schon auf dem Gang, verschoss in einem weiten Bogen Spikes und traf Ziele, die vor einem Augenblick noch nicht zu sehen gewesen waren. Mike folgte so dichtauf, wie er es wagte, sein eigenes Gaußgewehr schussbereit. Aber als er um die Ecke bog, war der Korridor, in dem Raynor stand, schon von Rauch erfüllt. Verkohlte Geschützstellungen brannten und schmorten entlang der Wände. Weitere hundert Fuß und eine weitere Gangkreuzung. Der nächste Geschützturm tauchte aus dem Boden auf wie eine mechanische Taschenratte und nahm die Wände des Korridors unter Beschuss. Raynor und Liberty sprangen in eine Türöffnung, drei andere des Trupps in einen anderen. Ein Mann war nicht schnell genug und wurde von dem Kugelhagel erwischt, sein Sturz von den unablässigen Einschlägen der Spikes in seinen Helm und seine zertrümmerte Brustpanzerung verlangsamt. »Okay, wir müssen das Ding ausschalten«, sagte Raynor. »Moment«, sagte Mike. »Ich glaub, ich hab was gefunden.« Sein Fund ähnelte einem typischen Komm-Center, mit Zoom-Schirmen auf beiden Seiten und insgesamt zu vielen Knöpfen. Aber die Bildschirme zeigten etwas, das wie ein Schema der Anlage aussah. »Das ist eine Karte«, bemerkte Raynor. »Volltreffer«, sagte Mike. »Noch besser, es ist eine Karte, die wir benutzen können.« Mehrere Bereiche blinkten rot, was bedeutete, dass die Angriffsteams dort bereits durch waren. Andere Zonen wa94
ren grün blitzende Punkte, darunter auch die vor dieser Tür. Außerdem standen diese Punkte wahrscheinlich für aktive Verteidigungssysteme. »In Ordnung«, sagte Mike. »Verstehen Sie etwas von Computern?« »Musste einmal ein Memory Board an meiner Vulture austauschen«, antwortete Raynor. »Na prima.« Mikes eigene Erfahrungen beschränkten sich auf die fummelige Reparatur von Komm-Geräten im Einsatz, aber er sagte nichts. Er ließ den Blick über die verschiedenen Knöpfe und Tasten wandern. Sie waren alle nummeriert, aber es gab keine Bedienliste. Er drückte eine Taste, und eines der grünen Lichter verlosch. Er drückte noch eine, und ein weiteres ging aus. Ungestüm presste er Tasten und drehte an Knöpfen. Etwa 15 Sekunden später verstummte das Stakkato draußen auf dem Gang. »Gut gemacht«, sagte Raynor. »Sehen wir mal, was es mit den anderen auf sich hat.« Mike legte die Hand um ein kleines Rad und drehte es. Irgendwo tief in dem Bau erklang ein Geräusch, und unter ihren Füßen bebte der Boden. »Bei Sam Hill, was war denn das?«, fragte Raynor. »Klang ganz so, als hätte ich mein Glück überstrapaziert«, sagte Mike. »Warum haben Sie es dann getan?« »Es schien mir in dem Moment das Richtige zu sein.« Raynor seufzte entmutigt. Dann sagte er: »Kommen Sie über dieses Terminal an die Daten heran, die wir suchen?« Mike schüttelte den Kopf und fuhr mit einem Finger über den Plan der Anlage. »Hier«, sagte er. »Da ist ein separates System, das nicht mit dem Mainframe verbunden ist.« »Glauben Sie, dass es das ist?« »Das muss es sein. Der beste Weg, Informationen vor Hackern zu schützen, besteht darin, die Bank, auf der sie gespeichert sind, komplett zu isolieren. Basiswissen in Computersicherheit.« 95
»Dann wollen wir mal ein paar Halunken aufmischen«, sagte Raynor und gab den Überlebenden des Trupps ein Zeichen. »Ja«, sagte Mike und lachte auf. »Nehmen wir uns diese ›Halunken‹ zur Brust.« Sie traten hinaus, zogen sich aber augenblicklich wieder zurück, als eine weitere Salve von Spikes den Gang entlang heulte. »Liberty!«, brüllte Raynor. »Ich dachte, Sie hätten alle Geschützvorrichtungen ausgeschaltet?« »Das sind keine Vorrichtungen, Jim!«, schrie Mike zurück und kauerte sich in die Türöffnung. »Die hier sind aus Fleisch und Blut.« Tatsächlich stand jetzt ein Paar weiß gepanzerter Gestalten an der Kreuzung; ihre Kampfausrüstung glich der von Mike, bis auf die Farbe. Sie waren ebenfalls mit Gaußgewehren bewaffnet und nahmen den Gang unter Beschuss. Mike hob seine Waffe und beugte sich vor, um zu feuern. Ein weiß gepanzertes Gespenst schwebte in seinem Fadenkreuz. Und Mike musste erkennen, dass er nicht schießen konnte. Sein Ziel war ein Mann – ein Mensch. Er konnte nicht schießen. Das Ziel in der weißen Panzerung kannte keine diesbezüglichen Bedenken und gab einen Feuerstoß ab. Der Türrahmen zersplitterte unter der Salve, während Liberty sich in den Raum zurückwarf. »Was ist passiert?«, rief Raynor. »Haben sie Deckung gesucht?« »Sie …«, setzte Mike an, dann schüttelte er den Kopf. »Ich kann nicht auf sie schießen.« Raynor runzelte die Stirn. »Sie haben einen Zerg erschossen. Ich hab's gesehen.« »Das war was anderes. Das hier sind Menschen.« Mike erwartete, dass sein Eingeständnis auf Abscheu bei dem Ex-Marshal stoßen würde, doch stattdessen nickte Raynor nur und sagte: »Schon in Ordnung, 'ne Menge Leute 96
haben Probleme, andere zu erschießen. Die gute Nachricht ist: Die wissen nicht, dass Sie sie nicht erschießen wollen. Halten Sie ein Stück über ihre Köpfe. Das wird sie immerhin erschrecken.« Er schob Mike zur Tür zurück. Von der gegenüberliegenden Seite des Korridors aus lieferten sich die beiden Marines ein Gefecht mit den beiden weiß gepanzerten Gestalten. Mike rollte sich zur Türöffnung hinaus, zielte auf den rechten Gegner, hob sein Gaußgewehr um eine Winzigkeit und feuerte eine Salve ab. Die weiße Gestalt ließ sich in die Hocke fallen, während ihr Kollege seine Waffe herumschwenkte und sich auf ein Knie niederließ. Mike rang sich ein Lächeln ab. Dann explodierte die Brust des Soldaten, auf den er geschossen hatte, in einer Blutfontäne. Dessen Begleiter schwenkte seine Waffe zurück, aber er war zu langsam. Sein Kopf löste sich in rotem Nebel auf, als Visier und Helm zerbarsten. Mike schaute auf zu Raynor, der sich über ihm aus der Tür lehnte. Er hatte die beiden feindlichen Kämpfer mit jeweils einem Schuss erledigt. Raynor sah zu ihm herab und sagte: »Ich kann verstehen, wenn Sie ein Problem damit haben, Menschen zu erschießen. Zum Glück hab ich keins. Gehen wir.« Die Wand- und Bodenwaffen schwiegen jetzt, und das Team rannte durch die Gänge. In seiner leichteren Rüstung hatte Mike die Führung übernommen. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass das nicht die schlaueste Position war. Dann bog er um eine Ecke und stürzte über einen Zergling. Er fiel unelegant nach vorne und über die hautlose Kreatur. Er konnte spüren, wie ihre Muskeln unter ihm pulsierten und bebten als er kurz unfreiwillig darauf zu liegen kam. Dann landete er auf der Schulter, und Schmerz schoss ihm durch die rechte Körperseite. »Ein Zerg!«, schrie Mike. »Bringt ihn um!« Er ignorierte die Schmerzen und drehte sein Gewehr herum, betete, dass es beim Sturz nicht beschädigt worden war. »Kreuzfeuer!«, 97
brüllte Raynor. »Wir erwischen uns gegenseitig!« Einen Moment lang herrschte Stille im Gang – Raynors Trupp auf der einen Seite, Mike auf der anderen, der Zerg in der Mitte. Aus dieser Nähe konnte Mike den stinkenden Atem des Dings riechen. Die Haut des Zergs schien zu verwesen, zu verfaulen. Der Zergling drehte sich dem Trupp zu, dann in Richtung des Reporters, als versuche er sich zu entscheiden, wen er zuerst angreifen sollte. Endlich schloss sich irgendeine organische Schaltung in seinem verqueren Hirn, und er traf seinen Entschluss. Mit einem keckernden Schrei und ausgefahrenen Krallen sprang das Biest auf Liberty zu. Mike tauchte nach vorn, unter dem Sprung weg, und hob das Gaußgewehr. Er erwischte die Kreatur am Bauch, spießte sie gleichsam auf und nutzte den Schwung des Monsters aus. Ungetüm und Lauf hoben sich in einem langsamen Bogen über ihn. Als der Scheitelpunkt des Bogens erreicht war, drückte Mike ab, und eine Salve von Spikes zerriss den Zergling. Die Geschosse, die seinen Leib durchdrangen, bohrten sich in die Metalldecke des Gangs. Mike schrie angewidert auf, als sich das Blut über ihn ergoss. Raynor rannte zu ihm. »Was haben die Zerg hier zu suchen?«, fragte Raynor. »Vielleicht sind sie auch hinter dem her, was wir suchen?«, meinte Mike. »Kommt, lasst uns diese Daten suchen. Los!« Raynor winkte den Rest des Teams vorwärts. »Lasst uns eine Dusche suchen«, brummelte Mike, während er sich die Eingeweide des Zergs von der besudelten Panzerung wischte. Der Komplex hielt noch einige Überraschungen parat. Der Gang verbreiterte sich zu einem größeren Raum. Darin befanden sich drei weitere Zerglinge, die in einem Sturm98
feuer starben, ehe sie reagieren konnten. Entlang einer Wand reihten sich Käfige, die alle offen standen. Und sie stanken wie die Zerglinge. »Man hat sie hier festgehalten«, sagte Raynor. »Warum? Als Haustiere? Zu Forschungszwecken?« »Und seit wann?« Mike trat an die isolierte Computerstation und begann Knöpfe zu drücken. »Mein Gott. Sehen Sie sich das an.« »Die Daten?« »Das und noch etwas mehr. Schauen Sie. Das sind Aufzeichnungen über die Zerg, und sie reichen Monate zurück.« »Aber das ist unmöglich«, sagte Raynor. »Es sei denn …« »Es sei denn, die Konföderierten wussten schon die ganze Zeit von den Zerg. Sie wussten, dass sie hier waren. Verdammt, vielleicht haben sie die Biester sogar selbst hergebracht.« »Samuel J. Houston auf einem Fahrrad!«, entfuhr es Raynor. Mike nahm an, dass es sich dabei um einen Fluch handeln sollte. Dann ergänzte Raynor: »Schnappen Sie sich die Disk, und dann nichts wie raus hier.« »Bin schon dabei«, erwiderte Mike. Der Disk-Brenner tuckerte ein paar Minuten vor sich hin, dann warf er eine silbrige Scheibe aus. »Fertig. Gehen wir!« In dem Augenblick, als Mike die Disk aus dem Gerät nahm, wurde das Licht plötzlich rot. Über ihnen meldete eine weibliche Stimme: »Selbstzerstörungssequenz eingeleitet.« »Mist!«, fluchte Mike. »Die Daten müssen mit einer Sprengladung gesichert gewesen sein!« »Bewegung!«, rief Raynor. »Und nirgends falsch abbiegen!« Mike lief in seiner leichten Panzerung wieder voran. Jetzt hatte er keine Angst mehr, auf irgendwelche anderen Überraschungen zu stoßen. Auf ihrem Weg hinaus begegneten sie nichts anderem als dem Tod. Über ihnen warnte die sanfte Stimme: »Zehn Sekunden bis zur Detonation.« 99
Dann: »Fünf Sekunden bis zur Detonation.« Und dann waren sie draußen, unter dem faulig orangefarbenen Himmel. Mike rannte weiter, wollte nicht stehen bleiben, bis er den Transporter erreicht hatte. Raynor holte ihn ein und stieß ihn zu Boden. Mike schrie dem Marshal einen Fluch zu, aber der Schrei ging in der Explosion unter. Ein Beben durchlief die gesamte Bergflanke und konzentrierte sich dann auf den Eingang der Anlage. Eine sengend heiße Woge spülte über Liberty und die Marines hinweg, die sich zu Boden geworfen hatten, und der Berggipfel fiel in sich zusammen. Mike klammerte sich am ruckenden Boden fest und betete. Und als es endlich aufhörte, wurde ihm klar, dass er von der Druckwelle davongefegt worden wäre, hätte er noch dagestanden. »Danke«, sagte er zu Raynor. »Schien mir in dem Moment das Richtige zu sein«, erwiderte der ehemalige Gesetzeshüter. »Kommen Sie, gehen wir zurück, bevor uns die Zerg hier finden.« Mengsk erwartete sie auf der Brücke seines Flaggschiffs, der Hyperion. Im Vergleich zur Brücke der Norad II war diese kleiner und gemütlicher, mehr eine Mischung aus Arbeitszimmer und Bibliothek als das Nervenzentrum einer Flotte. Der Raum wurde gesäumt von Technikern, die leise in Komm-Geräte sprachen. Ein großer Bildschirm beherrschte eine der Wände. Von Lieutenant Kerrigan war, wie Mike bemerkte, nichts zu sehen. »Dort unten waren Zerg!«, sagte Raynor, als er die Disk übergab. »Die Konföderierten haben diese verdammten Aliens seit Monaten studiert!« »Seit Jahren«, erwiderte Mengsk ohne jede Überraschung. »Ich habe selbst Zerg gesehen, die von Konföderierten in Zwingern festgehalten wurden, und das war vor über einem Jahr. Es ist offensichtlich, dass die Konföderierten seit einiger Zeit von diesen Wesen Kenntnis haben. So weit wir wissen, ist es nicht einmal ausgeschlossen, dass 100
die Konföderation sie gezüchtet hat.« Mike sagte nichts. Der Schleier um den »Konföderationsmarkt der Geheimnisse« war gelüftet. Nichts, was sie taten, konnte ihn jetzt noch überraschen. Raynors Kinnlade klappte herunter. »Sie meinen, die haben meinen Planeten als eine Art Labor für diese … Viecher benutzt?« »Ihren Planeten und dessen Schwesterwelt«, sagte Mengsk. »Und mögen die Götter wissen, wie viele andere Randwelten noch. Die Konföderation hat Wind gesät, meine Freunde, und jetzt ernten sie einen Wirbelsturm.« Zum ersten Mal wirkte Raynor wie erschlagen. Das enorme Ausmaß dieses Verbrechens, begriff Mike, war schlicht zu groß für den Verstand eines lokalen Vertreter des Gesetzes. Wen verhaftet man, wenn das Verbrechen Völkermord ist? Welche Strafe verhängt man für solche Greueltaten? Mike ergriff das Wort. »Ich muss einen Bericht abschicken. Er fasst alles zusammen, was wir bislang gefunden haben.« »Wir haben Ihnen ein verschlüsseltes Komm-Gerät bereitgestellt«, sagte Mengsk. »Aber Sie wissen sicher, dass man die Geschichte nie veröffentlichen wird.« »Das Risiko muss ich eingehen«, gab Mike zu, innerlich musste er Mengsk zustimmen. Wenn die Alten Familien auf Tarsonis schon paranoid genug waren, um einem Klatschreporter wie ihm wegen eines Bauskandals zu drohen, wie würden sie dann erst reagieren, wenn sie zugeben sollten, dass sie mit Planeten vernichtenden Aliens herumhantierten? Plötzlich war Mike froh, dass die Gedankenleserin nicht anwesend war. Ein leiser Glockenton erklang, und einer der Techniker meldete: »Wir empfangen Warp-Signaturen auf Vier-PunktFünf-Punkt-Sieben.« »Rückzug auf Sicherheitsabstand, Scan auf Maximum«, sagte Mengsk. »Gentlemen, Sie können gerne bleiben, 101
wenn Sie den letzten Akt dieser außerordentlich geschmacklosen Passionsspiele erleben wollen.« Weder Mike noch Raynor rührten sich vom Fleck, und Mengsk wandte sich wieder dem Schirm zu. Der riesige orangefarbene Ball Mar Saras ragte hoch über ihnen auf, hier und da hingen ein paar weiße Wolken über der nördlichen Hemisphäre. Doch der Großteil der orangen Oberfläche war nun gesprenkelt, verseucht – von Kriecher vereinnahmt, und dasselbe galt für alles, was dort gelebt hatte. Die Oberfläche der Welt schien zu pulsieren und zu blubbern, anzuschwellen wie etwas Lebendiges. Der Kriecher hatte sich sogar in breiten Bahnen über die Ozeane ausgedehnt, wo er wie ein lebender Algenteppich wogte. Nichts Menschliches war auf dieser Welt mehr übrig. Nichts Menschliches, das noch am Leben war, zumindest. Ein Blitz zuckte auf eine Seite der Planetenscheibe nieder, und Mike wusste, dass die Protoss eingetroffen waren. Ihre leuchtenden Schiffe materialisierten. Ein Aufgrellen blau leuchtender Elektrizität, und dann waren sie da. Die goldenen Trägerschiffe mit ihren mottenartigen Begleitern und metallene Gebilde mit Fledermausflügeln, die zwischen den größeren Schiffen umherflogen. Sie waren atemberaubend und tödlich, zur Kunstform erhobene Kriegsgewalten. Mengsk sprach leise in sein Kehlkopfmikrofon, und Mike konnte spüren, wie die Maschinen anliefen. Der Anführer der Widerstandskämpfer war bereit, beim ersten Hinweis darauf dass die Protoss sie bemerkt hatten, von hier zu verschwinden. Er brauchte sich nicht zu sorgen. Das Augenmerk der Protoss galt ganz allein dem verseuchten Planeten. An der Unterseite der größeren Schiffe öffneten sich Luken, und mächtige Energiestrahlen, so gebündelt, dass sie farblos schienen, jagten auf die Oberfläche hinab. Die Aliens belegten den Planeten dort unten mit einem vernichtenden Sperrfeuer. Wo die Strahlen trafen, lohte es auf. Der Himmel selbst gerann, als die Energiebalken die Atmosphärenhülle durch102
bohrten. Die Gewalt der Treffer entriss dem Planeten die Luft. Und wo die Strahlen in den Planeten schlugen, brodelte es, der Boden kochte. Das von Kriecher verseuchte Land und alles, was noch nicht befallen war, wurden förmlich ausgemerzt. Tödliche Regenbogenstrahlung, leuchtender als Mike es je gesehen hatte, wirbelte von dem Einschlagstellen empor, versengte gnadenlos Erde und Wasser, verheerte die ureigene Materie des Planeten. Dann begannen andere Schiffe mit chirurgischer Präzision dünnere Strahlen abzufeuern, die das Sperrfeuer stellenweise noch verstärkten. Die Städte, sie visierten die Städte an und stellten sicher, dass dort nichts überleben konnte. Jede menschliche Ansiedlung. Darunter auch, das wusste er, die Jacobs-Anlage. Ihr Timing war in der Tat sehr knapp gewesen, erkannte Mike, und ein unangenehmer Krampf zog seinen Magen zusammen. Einer der pulsierenden Strahlen durchbohrte die Planetenkruste, und der Boden barst unter einem vulkanischen Ausbruch. Magma drängte an die Oberfläche und verschlang alles, was von den Energiestrahlen losgerissen worden war. Mittlerweile brannte das Gros der Atmosphäre des Planeten, wurde vom Orbit fortgerissen in einem Schleier, den die Luft hinter sich herzog, und was übrig war, wirbelte in Orkanen und Tornados umher, bis es von weiteren Strahlen zerstört wurde. Jetzt zog sich ein rotes, vulkanisches Leuchten wie eine Bordüre über die nördliche Hemisphäre von Mar Sara. Die Überreste des Landes hoben und senkten sich unter einem tödlichen Regenbogen. Nichts konnte diesen Angriff überleben, weder Menschen noch sonst etwas. »Kammerjäger«, sagte Mike leise. »Sie sind kosmische Kammerjäger.« »So ist es«, sagte Mengsk. »Und sie kennen keinen Unterschied zwischen uns und den Zerg – oder wollen ihn nicht kennen. Wir sollten uns zum Abflug bereitmachen. Sie 103
können jeden Moment auf uns aufmerksam werden.« Mike schaute Raynor an. Das Gesicht des Ex-Marshals war wie versteinert und voller Grimm, seine Hände umklammerten das Geländer vor ihm. Im Widerschein der Bildschirme, die das blaue Blitzen der Protoss-Schiffe übertrugen, wirkte er wie eine Statue. Nur in seinen Augen war noch Leben, und sie waren angefüllt mit unsagbarer Trauer. »Raynor?«, sprach Mike ihn an. »Jim? Sind Sie in Ordnung?« »Nein«, erwiderte Jim Raynor leise. »Kann irgendeiner von uns nach dem, was da passiert, noch in Ordnung sein?« Darauf hatte Mike keine Antwort, und so saß er nur da, während der Planet verging und Arcturus Mengsk leise in sein Kehlkopfmikrofon sprach. Einen Moment später sagte der Rebellenführer: »Wir sind bereit zum Abflug.« »Gut«, sagte Raynor, ohne den Blick vom Schirm zu lösen. »Verschwinden wir.«
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KAPITEL 9 MARSHAL UND GHOST James Raynor war der anständigste Mensch, dem ich während des Untergangs der Konföderation begegnet bin. Alle anderen waren, das kann ich mit Sicherheit behaupten, entweder Opfer oder Verbrecher – oft sogar beides. Auf den ersten Blick kommt Raynor einem vor wie ein hinterwäldlerischer Cowboy, einer dieser guten alten Burschen, die man in Bars trifft, wo sie Lügen über vergangene Zeiten erzählen. Er hat etwas Anmaßendes an sich, ein übersteigertes Selbstvertrauen, das einem sofort sauer aufstößt. Doch mit der Zeit lernt man ihn als wertvollen Verbündeten schätzen und – soll ich's sagen? – als Freund. Das alles beruht auf Glauben. Jim Raynor glaubte an sich selbst, und er glaubte an die Menschen, die um ihn waren. Und aus diesem Glauben kam die Kraft, die es ihm und denen, die ihm folgten, ermöglichte, alles, was ihnen das Universum an Hindernissen in den Weg stellte, zu überwinden. Jim Raynor war ein hochanständiger und ehrenwerter Mann. Ich vermute, das ist der Grund, warum sein Schicksal die größte Tragödie dieses elenden Krieges ist. – DAS LIBERTY-MANIFEST Mengsk kam Liberty vor wie jeder andere Politiker. Trotz all der Geister, die ihn angeblich verfolgten, waren seine Motive so offensichtlich wie die des kleinsten Bezirksleiters auf Tarsonis. Er häufte immer noch Macht an und ließ sich keinen potenziellen Verbündeten entgehen. Und deshalb wusste Mike, dass der Mann sein Wort halten würde – er befand sich noch immer in einer Position, in der es gefährlich für ihn gewesen wäre, hätte sich herumgesprochen, dass er es nicht tat. Mengsk ernannte Raynor für all seine Mühen zum Captain, und Liberty gewährte er eine Reihe persönlicher Inter105
views. Mike vermied das Maß an Propaganda, das Mengsk sich zweifelsohne wünschte, aber das öffnete den charismatischen Führer nur noch mehr für seine Fragen. Mikes Widerstreben machte seine Zustimmung für den Anführer der Rebellen nur noch erstrebenswerter. Mike musste allmählich feststellen, dass er Mengsks Ansichten über die konföderierte Hölle mehr und mehr teilte. Er selbst hatte über die Jahre in vielen Artikeln genau dieselben Punkte angeprangert, wenn auch auf subtilere Weise. Die Konföderation der Menschen war eine verbrecherische Bürokratie, voller karrieregeiler Politiker und Gauner, deren Kriegsmotto »Wo ist mein Anteil?« lautete. Und Mengsk hatte in noch einer anderen Hinsicht Recht. UNN brachte keinen von Mikes Berichten über die Vernichtung von Mar Sara und die Schuld der Konföderation an der Attacke. Was man den Leuten jedoch mitteilte, war, dass im Universum nicht nur eine, sondern zwei feindliche Bedrohungen lauerten: die subversiven Zerg und die mit Blitzen aus dem Himmel heraus angreifenden Protoss. Beide wurden als unerbittliche Feinde der Menschheit dargestellt, und die einzige Lösung bestand darin, sich unter der Flagge der Konföderation zu vereinen, um sie zurückzuschlagen. »Das ist die Natur der Tyrannen«, sagte Mengsk eines späten Abends auf dem Aussichtsdeck der Hyperion. Sein Brandy-Glas stand unberührt auf dem Tisch zwischen ihnen. Liberty hatte sein Glas längst geleert und neben dem Schachbrett abgestellt, auf dem der weiße König umgekippt lag. Mengsk spielte aus Gewohnheit mit den schwarzen Figuren, Liberty verlor für gewöhnlich mit den weißen. Auf der anderen Seite des Tisches stand ein unbenutzter Aschenbecher. Michael hatte das Rauchen wieder aufgegeben, aber Mengsk bot ihm dennoch die Gelegenheit dazu. Mengsk fuhr fort: »Tyrannen können nur überdauern, wenn sie einen noch größeren Tyrannen als Bedrohung präsentieren. Die Konföderation ist blind für die Gefahr durch die anderen Tyrannen, deren Augenmerk sie auf uns alle gelenkt hat.« 106
»Vor den Protoss und den Zerg«, warf Mike ein, »waren Sie ihre bevorzugte Bedrohung.« Mengsk gluckste. »Ich muss gestehen, dass ich wohlwollenden Despotismus für die beste Regierungsform halte. Ich glaube aber nicht, dass die amtierenden Oligarchen diese Meinung teilen.« »Und zeigen Sie auch auf größere Tyrannen, um Ihren eigenen Machtmissbrauch zu kaschieren?«, fragte Mike. »Natürlich«, sagte Arcturus Mengsk. »Aber es ist von Vorteil, dass unsere Feinde größere Tyrannen sind, als wir es auch nur zu sein beabsichtigen.« Er nahm Mikes gestürzten König vom Brett auf. »Noch eine Partie?« Mike hatte keine Spur von Kerrigan gesehen, und als er nach ihr fragte, sagte Mengsk nur: »Mein treuer Lieutenant ist im Einsatz am wertvollsten.« Mike fasste das so auf, dass sie unterwegs war, um einen weiteren Planeten auszuspähen, der reif zur Rebellion war. Er hatte Recht. Zwei Tage später rief Mengsk Liberty und Raynor auf sein Aussichtsdeck. Ein Grafikdisplay zeigte eine fremde, rötlich braune Welt. Hinter ihr wachte ein Gasriese wie eine überfürsorgliche Mutter. »Antiga Prime«, sagte Mengsk und tippte auf den Bildschirm. »Grenzkolonie der Konföderation der Menschen. Ihre Bewohner sind des konföderierten Militärs ausgesprochen überdrüssig. Das erste Auftauchen der Protoss und der Zerg hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Ich möchte, dass Captain Raynor den Antiganern hilft, ihre Revolte in Gang zu setzen. Das heißt, dass Sie sich um eine Einheit des AlphaGeschwaders kümmern müssen, die dort unten die Hauptstraße überwacht.« »Wird mir ein Vergnügen sein, Sir«, sagte Raynor. Mike fiel auf, dass Raynor jetzt ruhiger und beherrschter wirkte als zu dem Zeitpunkt, da sie das Sara-System verlassen hatten. Die Herausforderung, die Überlebenden seiner eigenen Einheit mit Mengsks Söhnen von Korhal in Einklang zu bringen, schien ihm über den Verlust von Mar Sara hinweg107
zuhelfen und wieder seine unerschrockene, dreiste Natur hervorzukehren. Es juckte ihn in den Fingern, etwas zu unternehmen. Mengsk wandte sich um. »Und Mister Liberty, wenn Sie seine Einheit begleiten möchten?« »Vielleicht ist es Ihnen ja entgangen, Arcturus«, sagte Liberty, »aber ich arbeite nach wie vor nicht für Sie.« »Im Moment, scheint mir, arbeiten Sie für niemanden«, erwiderte Mengsk. »UNN war Ihrer Präsenz in jüngster Zeit bemerkenswert ledig. Ich dachte nur, Sie hätten ein berufliches Interesse an dieser Sache …« »Und …?«, hakte Mike sogleich ein. »Und Ihre scharfe Zunge und Ihr cleverer Stil könnten genügen, die Antiganer zu ermutigen, ihre Fesseln abzustreifen.« Er lächelte etwas schamhaft, und Mike wusste, dass er den Planeten aufsuchen würde. Antiga Prime war einst eine Wasserwelt gewesen, doch die Meere waren verschwunden, ohne eine Nachsendeadresse zu hinterlassen. Zurückgeblieben waren nur hart gebackene Schlammebenen und niedriges, flaches Tafelland, das von violett blühendem Strauchwerk bedeckt war. Hier und da ragten die gebleichten Knochen eines versteinerten Meerwesens aus dem Boden, die einzigen Erinnerungen daran, dass es hier einmal Leben gegeben hatte, das größer als die Menschen gewesen war. All dies war auf eine öde, bizarre Art und Weise schön. Der Transporter setzte sie auf einem niedrigen Plateau ab, das aussah wie alle anderen niedrigen Plateaus auf Antiga. Mengsk hatte gesagt, dass sein Scout nach ihrer Landung Kontakt mit ihnen aufnehmen würde. Mike hatte keinen Zweifel daran, wer dieser Scout sein würde. Während die Rebellen um das Schiff herum Posten bezogen, hielt er Funkverbindung mit Mengsk und den regionalen Befehlshabern. Kerrigan erschien wie aus dem Nichts, der Tatsache zum 108
Trotz, dass es im weiten Umkreis keine Deckungsmöglichkeiten gab. Sie trug eine so genannte Ghost-Rüstung – einen Anzug, der vor feindseligen Umwelteinflüssen schützte – und eine Canister-Rifle auf dem Rücken. Den Helm hatte sie abgenommen, und ihr rotes Haar leuchtete unter der zu grellen Sonne von Antiga. Kerrigan salutierte kurz. »Captain Raynor, ich habe die Gegend erkundet … Sie Schwein!« Rasch drehte Mike die Lautstärke seines Funkgeräts zurück. Raynor taumelte wie unter einem Hieb nach hinten. »Was?«, entfuhr es ihm. »Ich hab noch nicht mal was zu Ihnen gesagt!« Kerrigans etwas zu breite Lippen kräuselten sich zu einem bösen Grinsen. »Ja, aber Sie haben es gedacht.« »Ach so, Sie sind eine Telepathin«, sagte Raynor und warf Mike einen Blick zu, in dem selbst der Reporter lesen konnte: Und warum haben Sie mich davor nicht gewarnt? Zum Lieutenant sagte er: »Hören Sie, lassen Sie uns einfach anfangen, okay?« Kerrigan schnaubte. »Na gut. Das Kommandozentrum liegt ein paar Kilometer westlich von hier, auf einem dieser Tafelberge. Alpha-Geschwader, aber Duke ist nicht dabei. Sorry, Jungs. Wir erledigen sie, und die einheimischen Kräfte sind bereit zur Rebellion. Es gibt ein paar Türme, die ausgeschaltet werden müssen, wenn ich da rein soll.« »In Ordnung«, sagte Raynor stirnrunzelnd. »Ich muss Ihnen wohl kaum sagen, dass Sie ausrücken sollen.« »Nein, müssen Sie nicht«, sagte Kerrigan, eine Spur zu hitzig. »Aber da ist noch etwas.« »Sprechen Sie, Lieutenant«, sagte Raynor. »Ich kann keine Gedanken lesen.« »Die Zahl der Berichte über Fremdwesen in der Gegend hat zugenommen.« Kerrigan lächelte fast ob der Reaktion auf ihre Worte. Die Furchen auf Raynors Stirn vertieften sich. Mike zuckte auf seinem Stuhl beinahe zusammen. 109
»Fremdwesen? Zerg? Hier?« »Verstümmeltes Vieh, Menschen, die auf unerklärliche Weise verschwinden, insektenäugige Monster«, bestätigte Kerrigan. »Die üblichen Verdächtigen. Nicht viel, aber genug.« »Mist«, brummte Raynor. »Konföderierte und Zerg. Die scheinen ja Hand in Hand zu gehen. Okay, rücken wir aus.« Die weiten, ausgetrockneten Schlammebenen von Antiga Prime waren ideal, um schnell voranzukommen, aber lausig, wenn es um Deckungsmöglichkeiten ging. Zweimal tauchten im Süden Scouts der Marines auf, um die Raynor sich mit seiner Vulture kümmerte, während Kerrigan, Raynors Trupp und Mike langsam die Mesa hinaufkrochen. Es fehlten ihnen noch etwa 300 Meter, als eine Turmkanone das Feuer auf sie eröffnete. Mikes Funkgerät knisterte. »Verdammt«, sagte Kerrigan. »Das Ding hat sogar an den Arschbacken Sensoren. Ich kann nicht mal niesen, ohne dass es mich wahrnimmt. Können Sie Verstärkung auf diesen Tower ansetzen?« »Bin schon dabei«, keuchte Mike, während ein weiteres Geschoss gegen den Felsvorsprung über ihm hieb. »Raynor! Hier ist Liberty! Man hat uns festgenagelt! Brauchen Ihre Feuerkraft, muy pronto.« Mike war nicht sicher, ob der frühere Marshal die Nachricht empfangen hatte, bis er das hohe Heulen der Maschine von Raynors Vulture hörte. Der Captain übersprang mit einem einzigen Satz eine nahe gelegene Erhebung und zog davon, als der Turm sich anschickte, seine Waffe auf das neue Ziel auszurichten. Die Automatik war zu langsam, und mit einem widerhallenden Donnern schoss eine Salve von Splittergranaten unter der Schnauze des Hover-Cycles hervor. Feuerblumen blühten um den Fuß des Turmes herum auf. Kerrigan stieß einen Schrei aus, und die verbliebenen Kämpfer rollten sich aus ihren Verstecken und nahmen den Turm unter Beschuss. Raynor drehte eine zweite Runde, um eine zweite Salve abzufeuern, aber das war bereits ü110
berflüssig: Während die zweite Serie von Explosionen krachte, hatte der Turm bereits Schlagseite, und als Raynor Gas gab und davonjagte, kippte die Konstruktion vollends um. Ein Knistern kam über Mikes persönliche Frequenz. »Ich hoffe, beim nächsten Mal ist es was wirklich Wichtiges, Kumpel!«, sagte der Captain. »Was will er?«, fragte Kerrigan und ergänzte dann: »Ach, schon gut. Er ist ein Schwein, aber ein ziemlich kompetentes Schwein.« Mike schüttelte den Kopf. »Captain Raynor ist einer der ehrlichsten, anständigsten Menschen, die mir über den Weg gelaufen sind, seit ich Tarsonis verlassen habe.« »Ja, oberflächlich erweckt er diesen Eindruck«, sagte Kerrigan. »Da zeigt er sich absolut beherrscht. Aber darunter ist er ein Schwein, wie die meisten Menschen. Glauben Sie mir das.« Mike wusste nicht, was er sagen sollte. Schließlich brachte er hervor: »Er hatte in letzter Zeit einigen Stress.« Kerrigan schnaubte wieder. »Wer hatte den nicht?« Sie befanden sich in Sichtweite des Kommandozentrums, ein weiteres halbkugelförmiges Standardgebäude, eine mobile Konstruktion. Diese hier glitzerte allerdings im Sonnenlicht, die Zerg hatten sie noch nicht vereinnahmt. Irgendwie fühlte sich Mike deswegen besser und schlechter zugleich. Ein weiterer Funkruf. Diesmal ersuchte Raynor um Verstärkung. Er fragte an, ob Kerrigan den Trupp, der noch bei ihr war, zu ihm hinunterschicken konnte. »Er sagt …«, begann Mike. »Schicken Sie die Leute runter«, kam Kerrigan ihm zuvor. »Aber Sie müssen doch …« »Ich muss da rein. Und ich kann das entweder mit oder ohne Hilfe des Trupps tun. Die Männer sind nur zusätzliche Ziele. Schicken Sie sie runter und folgen Sie mir, wenn Sie können.« Mike gab den Befehl weiter, während Kerrigan Kapuze 111
und Helm ihrer Ghost-Rüstung aufsetzte. Mike sah zu, wie sie den Helm arretierte, ein Gerät an ihrem Gürtel berührte und … … verschwand. Nein, sie verschwand nicht ganz. Ein Kräuseln umgab sie, dem man folgen konnte, wenn man wusste, wonach man Ausschau halten musste und sehr genau hinsah. Die Wachen an der Vorderseite des Kommandozentrums wussten nicht, wonach sie Ausschau halten mussten und sahen nicht genau genug hin. Kerrigan setzte ihre Rifle ein, und die Wachen wurden in Stücke zerrissen. Dann gab es eine Explosion am Haupttor, das daraufhin plötzlich weit aufklaffte. Einen Augenblick lang zeichnete sich eine Silhouette im Rauch ab, eine weibliche Gestalt mit einer großen Waffe. Dann verschwand sie in den Tiefen des feindlichen Befehlszentrums. Mike folgte ihr langsam. Er war sich sehr wohl bewusst, dass ihm die Tarnvorrichtung und die übersinnliche Gabe fehlten, deren Zusammenspiel die Telepathie-Ghosts erst möglich machte. Unweit der toten Wachen verharrte er kurz. Sie trugen Uniformen des Alpha-Geschwaders, und ihre blutigen Köpfe steckten in Helmen, auf denen sich gleißend die Sonne von Antiga spiegelte, sodass die Gesichter unsichtbar blieben. Es konnte sich um Leute handeln, die er kannte. Leute, die ihm noch Pokergeld schuldeten. Mike stahl sich in die Verwüstung des Kommandozentrums davon. Es war nicht schwer herauszufinden, wo Kerrigan langgegangen war: Mike folgte einfach nur der Spur aus verkrümmten, blutigen Leichen. Männer und Frauen in voller Kampfausrüstung waren wie Stoffpuppen herumgeschleudert worden und lagen nun mit verrenkten Gliedern in Lachen von Blut. Michael Liberty dachte flüchtig an Lieutenant Swallow und stellte fest, dass er sich langsam an den Anblick frisch Verstorbener gewöhnte. Vielleicht wuchs ihm ja die notwendige dicke Haut, die es brauchte, um in einem Universum aus Krieg zu überleben. 112
Er fand Kerrigans Rifle, die durch das Front-Plexischild eines Goliath-Walkers gerammt worden war. Von oben drangen Kampfgeräusche zu ihm herab. Mike riss sich zusammen, umklammerte sein Gaußgewehr fester und schritt entschlossener voran. Und wurde mit dem Privileg belohnt, Sarah Kerrigan beim Kämpfen zusehen zu dürfen. Es war blutige Poesie, Kriegsballett. Sie hatte das Zentrum der Kommandostation erreicht, bewaffnet mit ihrem Messer und einer Schrotwaffe. Sie erschien für die Dauer eines Lidschlags, schlitzte eine Kehle auf und verschwand wieder. Marines kippten zu der Stelle um, wo sie eben noch gewesen war, während sie ein paar Schritte entfernt auftauchte und aus nächster Nähe eine Salve in den Helm eines weiteren Zieles abfeuerte. Dann war sie wieder weg und dann wieder da, und diesmal brach sie einem brüllenden Offizier mit einem aus der Drehung heraus angebrachten Fußtritt das Genick. Mike hob seine Waffe, stellte jedoch fest, dass er nicht schießen konnte. Es war mehr als nur die Weigerung, ein Menschenleben auszulöschen. Er konnte nicht sagen, wo Kerrigan war. Und währenddessen bewegte sie sich mit katzenhafter Anmut und einer Entschlossenheit, die jeden Gegner, mit dem sie es aufnahm, vernichtete. Sie war sehr gut mit Messern. Und wichtiger noch, sie war wie die Protoss – wunderbar anzusehen und absolut tödlich. Er stand nur für eine Minute im Eingang, aber diese Zeit genügte Kerrigan, sämtliche Feinde im Kommandozentrum auszuschalten. Die einzigen Überlebenden waren diejenigen, die sich schon zu Beginn des Kampfes abgesetzt hatten. Erst jetzt wurde Kerrigan wieder vollends sichtbar. Erschöpft sank sie in die Knie, Liberty den Rücken zugewandt. Mike trat hinter sie und wollte ihr die Hand auf die Schulter legen. Seine Hand erreichte sie nie. Ohne zu zögern, wirbelte sie auf der Stelle herum, packte mit der einen 113
Hand seine vorgestreckte Rechte und brachte mit der anderen ihr Kampfmesser nach oben. Erst als die Messerspitze nur noch Zentimeter von Mikes Gesicht entfernt war, erstarrte sie. Ihr Gesicht war eine Maske der Wut. Angst flutete Mikes Körper, und dann wurde ihm bewusst, dass sie diese Angst wahrnahm. »Tun. Sie. Das. Nie. Wieder«, sagte sie abgehackt. Dann ließ sie das Messer fallen und barg das Gesicht in den Händen. »Sie haben Angst vor mir.« Pause. »Tut mir Leid«, sagte sie dann. »Tut mir Leid, dass Sie das mit ansehen mussten.« Mike atmete tief ein. »Ich habe Ihnen halt noch nie zuvor bei der Arbeit zugeschaut. Ruhen Sie sich einen Moment aus. Ich muss nur noch schnell eine Revolution in Gang bringen.« Er schob einen verkrümmten Körper von der Kommunikationskonsole, legte die vorab aufgezeichnete Disk ein, stellte die Kontrollen ein und sendete ein allgemeines Signal auf allen Frequenzen. »Hier spricht Michael Liberty. Ich melde mich von Antiga Prime. Das Hauptbefehlszentrum dieser Welt wurde von Rebellentruppen ausgeschaltet. Ich wiederhole, das Hauptbefehlszentrum wurde ausgeschaltet. Die Macht der Konföderation ist beeinträchtigt, und es besteht eine gute Chance, sie vollends zu brechen, wenn sich das Volk von Antiga erhebt, um sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Die konföderierten Marines die das Kommandozentrum besetzten, sind entweder tot oder im Rückzug begriffen, während die Verluste auf Seiten der Rebellen …« Er schaute zu Sarah Kerrigan hin, die erschöpft in ihre Hände schluchzte. »… minimal sind. Wir haben hier eine Nachricht von Arcturus Mengsk, dem Führer der Söhne von Korhal. Bitte, bleiben Sie auf Empfang.« Mike schob die vorbereitete Kassette in den Player und ermöglichte es der weichen, melodiösen Stimme des Rebellenführers, die Menschen zum Handeln anzutreiben. Mike kehrte zu Kerrigan zurück, und diesmal ging er um sie her114
um, damit sie wusste, dass er kam. Ihre Tränen waren versiegt, aber sie zitterte, hielt die Arme vor sich über Kreuz und atmete kurz und stockend. »Es ist okay«, sagte Mike. »Sie haben alle erwischt.« »Ich weiß«, sagte sie und schaute Mike an. »Ich habe sie alle erwischt. Und während ich sie umgebracht habe, wusste ich, was jeder Einzelne von ihnen dachte. Angst. Panik. Hass. Hoffnungslosigkeit. Frühstück.« »Frühstück?« »Einer der Techniker hatte das Frühstück ausfallen lassen, und er bedauerte ehrlich, keine Waffeln gegessen zu haben.« Kerrigan kicherte schniefend. »Ich schnitt ihm die Kehle durch, und er machte sich Gedanken über Waffeln.« Sie legte die Hände seitlich gegen den Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch das rote Haar. »Es ist zum Kotzen, eine Telepathin zu sein.« »Das glaub ich«, sagte Mike und war sich bewusst, dass die Angst noch immer in ihm steckte. Die Angst, dass Kerrigan imstande war, ihm den Bauch aufzuschlitzen, bevor er auch nur reagieren konnte. Und dass sie wusste, dass er genau das fürchtete. »Ja, ich weiß, dass Sie sich sorgen«, sagte Kerrigan. »Und das können Sie ruhig zugeben. Damit sind Sie schlauer als die meisten anderen. Gott, was ich durchgemacht habe, um das zu werden, was ich bin. Und was mir die Konföderierten angetan haben … Wissen Sie das?« »Ich weiß, dass die Konföderierten über eine Menge tiefer Löcher verfügen, in denen sie ihre Geheimnisse vergraben können. Tiefer und finsterer, als ich es mir je vorstellen könnte. Das Ghost-Training war für eine Elite-Gruppe sorgfältig kontrollierter Telepathen bestimmt …« Kerrigan nickte, während er sprach. »Kontrolliert durch Drogen, Drohungen und brutale Gewalt, bis sie deinen Leib und deine Seele besaßen. Sie sind nicht besser als diese Zerg-Kreaturen, erschaffen Krieger für ein größeres Reich. Wir haben kein Leben außer dem, das uns die Konföderation gestattet. Bis wir nicht länger zu gebrauchen sind, und 115
dann werden wir ausrangiert, damit wir keine Probleme verursachen. Es sei denn …« »Es sei denn, Sie fliehen«, sagte Mike. »Oder es hilft Ihnen jemand zu fliehen.« Und plötzlich wurde ihm bewusst, warum diese frühere Ghost-Soldatin für Arcturus Mengsk arbeitete. Sie schuldete ihm ihr Leben. Kerrigan nickte zur Antwort. »Es steckt noch mehr dahinter, aber, ja, so war es.« Vom Eingang her erklangen schwere Schritte, und Mike erhob sich mit schussbereitem Gaußgewehr. Raynors gepanzerte Gestalt erschien in der Tür. »Seid ihr in Ordnung, Kinder?«, rief er. »Wir sind hier unten«, gab Mike zurück. »Zentrale erobert, Nachricht gesendet.« »Gut«, sagte Captain Raynor, »da kommt nämlich ein Riesenhaufen des Alpha-Geschwaders von Süden her auf uns zu, und wir brauchen alle Hilfe, die wir kriegen können, um mit ihnen fertig zu werden. Ist sie okay?« »Ich bin in Ordnung«, sagte Kerrigan und stand auf. »Sie können auch direkt mit mir reden, wenn Sie verstehen?« »Vielleicht reicht's ja, wenn ich nur denke«, meinte Raynor. »Jim!«, knurrte Mike scharf. »Es ist jetzt genug.« »Was?« Raynor reagierte überrascht auf Mikes Ton. »Es ist genug«, wiederholte Mike, jetzt weniger hitzig, aber immer noch ernst. Der hochgewachsene Captain sah Mike an, dann nickte er gemessen. »Ja, ich schätze, Sie haben Recht.« Zu Kerrigan sagte er: »Tut mir Leid, wenn ich Sie beleidigt habe, Ma'am.« »Bin dran gewöhnt, Captain«, erwiderte Kerrigan. »Sie sagten, wir haben noch ein paar Konföderierte umzubringen. Packen wir's also an.« Sie drängte sich zwischen den beiden Männern hindurch und wurde dabei wieder unsichtbar. Captain Raynor schüttelte den Kopf. »Frauen.« Mike senkte die Stimme. »Sie hatte in letzter Zeit eine 116
Menge Stress.« Raynor schnaubte. »Merkt man ihr kaum an.« Raynor und Liberty folgten Kerrigan aus dem Gebäude. Am Horizont blitzte es auf, dort trafen Antiganer und Konföderierte im Kampf aufeinander. Über ihnen, am dunkler werdenden Himmel, zeichneten sich die Blitze eines anderen Kampfes ab. Sie tanzten wie neue Sterne über das Firmament und endeten erst, als ein leuchtender Meteor über den Himmel raste und dabei die Atmosphäre spaltete.
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KAPITEL 10 DAS WRACK DER NORAD II Auf der alten Erde gab es den Begriff Schadenfreude – das erhebende Gefühl, das einen befällt, wenn man vom Leid anderer erfährt. Wenn man beispielsweise von einem konkurrierenden Reporter hört, der dabei erwischt wurde, wie er vor einem offenen Mikrofon fluchte, oder dass ein besonders korrupter Stadtrat gerade von einem Müllwagen überfahren wurde. Es ist eine Hochstimmung, die begleitet wird von jenem leisen Schuldgefühl über diese Freude und dem stillen, inbrünstigen Flehen, dass einem selbst so etwas Übles nie widerfahren möge. Nun, als die Protoss und die Zerg sich tief ins Territorium der Konföderation hineinfraßen, empfanden wir jedenfalls Schadenfreude ohne Ende. – DAS LIBERTY-MANIFEST Andere Männer und Frauen zogen in den Krieg. Mike kehrte auf Mengsks Stützpunkt zurück und überwachte den Funkverkehr. So wurde er Zeuge der blinden Panik, die er von einem Krieg halbwegs erwartet hatte – Einheiten, die plötzlich abgeschnitten waren und erst um Verstärkung baten und dann darum flehten, schließlich Erleichterung und endlich Rettung. Andere Nachrichten von Einheiten, die sich plötzlich in Strahlungsfeldern auflösten. Und wieder andere Meldungen von Zivilisten, die um Hilfe von irgendjemandem oder irgendeiner Seite baten. Und dann gab es da noch die Berichte über Anomalien, über Ungeheuer, die plötzlich in der Gegend auftauchten und die man entweder den Konföderierten oder den Rebellen zuschrieb oder Invasionen von jenseits des Planeten. Diese Meldungen nahmen stündlich zu, und sie überzeugten Mike, dass Kerrigan Recht hatte: Die Zerg befanden sich auf Antiga. Er wollte die Konsole zerschlagen, als diese Erkenntnis in 118
sein Bewusstsein drang. Die Anwesenheit der Zerg war in etwa gleichbedeutend mit einer Krebsdiagnose, nur weitaus tödlicher. Bis sie herausfanden, wie sie zu besiegen waren, würden die Zerg diese Welt bei lebendigem Leibe auffressen. Oder die Protoss würden den Planeten – als tödliche Chemotherapie sozusagen – sterilisieren, um eine Weiterverbreitung der Zerg zu unterbinden. »Aber so funktioniert das nicht, oder?«, sagte Mike zu der Funkkonsole. »Ein paar Zellen scheinen immer davonzukommen, und der Krebs wuchert weiter.« Die Wut, die er im Bauch verspürte, währte nur einen Augenblick lang und wurde dann von Staunen abgelöst, als die nächste Nachricht durch seinen Kopfhörer rasselte. »Hier spricht General Duke von der Norad II, dem Flaggschiff des Alpha-Geschwaders! Wir sind abgestürzt und stehen unter schwerem Angriff der Zerg! Ich erbitte sofortige Verstärkung von allen, die diese Nachricht empfangen! Ich wiederhole, dies ist ein Notruf von oberster Priorität. Hier spricht General Duke …« Der Spruch wurde unentwegt wiederholt, und Michael hörte ihn sich noch dreimal an, bevor er die anderen Kanäle überprüfte. Es gab ein paar Meldungen, in denen um Bestätigung gebeten wurde, und eine Unmenge anderer Erwiderungen, in denen von Angriffen der Zerg und der Antiganer die Rede war, in einem Fall auch von einer Attacke anderer konföderierter Streitkräfte. Und jetzt waren auch Meldungen über Protoss-Schiffe im System zu hören, die draußen im Randgebiet der Eiswelten selbst gegen irgendetwas kämpften, vermutlich Zerg wie jene, die den Absturz der Norad II verursacht hatten. Einige meldeten sogar, dass Bodentruppen der Protoss gesichtet wurden. Es gab viel Tumult, aber nichts, was einem ehrlichen, handfesten Hilfsangebot ähnelte. Er ist erledigt, dachte Mike. Old Duke ist endgültig erledigt. Etwa zehn Minuten später stürmte Raynor herein. »Mike, 119
Sie kommen mit mir. Ziehen Sie sich an.« »Was ist los?«, fragte Mike und griff nach seiner Kampfpanzerung. »Haben Sie die Neuigkeit nicht gehört?« Raynor sah aus, als würden ihm jeden Moment Blitze aus den Augen schießen. »Die normale Panik und Verzweiflung«, sagte Mike, aufs Funkgerät deutend. »Ach so, ja. Ich habe gehört, dass Duke endlich zum General befördert wurde. Sollen wir ihm einen Präsentkorb schicken?« »Sehr witzig. Mengsk will, dass wir losziehen und ihn retten. Er meint, Duke würde einen guten Verbündeten abgeben.« Mike blinzelte den Captain an. »Ich höre nicht richtig, oder?« »Das hab ich auch gesagt«, erwiderte Raynor und hielt Mike den Helm hin. »Er ist verrückt!« »Ist zur Kenntnis genommen«, sagte Raynor grimmig. »Und Mengsk will, dass ich mitgehe? Das ist eine Sache, über die ich von hier aus berichten kann.« »Ich möchte, dass Sie mitkommen. Dieser Bastard hat mich und meine Jungs eingesperrt. Ich will jemanden dabei haben, mit dem er zu reden bereit ist.« »Hab ich schon erwähnt, dass er mich mit Gewalt von seiner Brücke werfen ließ, als ich das letzte Mal mit ihm sprach?«, fragte Mike und nahm den Helm. »Hab davon gehört, aber ich kann wenigstens davon ausgehen, dass Sie ihn nicht auf der Stelle erschießen werden.« Mike arretierte den Helm und folgte Raynor aus der Funkzentrale. »Ich hab plötzlich ungeheure Lust auf eine Zigarette.« »Vielleicht können Sie von Duke eine schnorren.« Erst als sie bereits unterwegs waren, dachte Mike daran zu fragen: »Weiß Kerrigan von dieser Sache?« »Mh-hm.« 120
»Und sie hält es für eine gute Idee?« »Genau genommen«, sagte der Ex-Marshal, »war sie diejenige, die Mengsk verrückt genannt hat.« »Dann waren Sie beide also mal einer Meinung. Ich bin erstaunt.« »Ja«, sagte Raynor. Dann entstand eine Pause. »Ja, ich schätze das waren wir.« Arcturus Mengsk begann, Truppen unter seiner Fahne zu vereinigen, und als Raynor und Mike auf der Oberfläche eintrafen, war der Angriff zur Rettung des bruchgelandeten Schlachtkreuzers bereits im Gange. Zu den Einheiten, die jetzt über die Ebenen zogen, gehörten antiganische Rebellen, Söhne von Korhal und Überläufer aus den Reihen der Konföderation, die ihre Treue aufgegeben und dafür ihre Waffen behalten hatten. Raynor fuhr an der linken Flanke eines Schwarmes von HoverCycles, während über ihnen ein Geschwader von A-17Wraith-Jägern über den Himmel raste. Gewaltige Goliaths hinterließen riesige, gespreizte Fußabdrücke im weichen Schlamm, und bald hatten sie eine Einheit von ArcliteBelagerungspanzern eingeholt, die den Boden aufwühlten und deren Support-Frames während der Fahrt hochgezogen waren. Die vereinigten Streitkräfte trafen fast umgehend auf Widerstand. Zerglinge und Hydralisken zerplatzten ringsum wie Insekten auf einer Windschutzscheibe. Die Luft war erfüllt von den organischen Kanonen (die Mike und dem Rest der Menschheit mittlerweile als Mutalisken bekannt waren) und Wesen, die wie Quallengehirne mit Hummerscheren aussahen; sie trieben über die gegnerischen Streitkräfte hinweg wie Gewitterwolken über eine Wüste. Rechts von Mike befand sich eine Gruppe von Marines, die auf etwas zuschwärmte, das wie ein riesenhafter, aufrecht stehender Zergling aussah, eine titanische Kreatur mit Klauen wie gewaltige, gebogene Säbel. Am Horizont versuchte etwas, das an eine Kreuzung aus einem fliegenden Tintenfisch und einem monströsen Seestern erinnerte, dem 121
Angriff der Wraith-Jäger zu entfliehen. Sie pflügten durch die Zerg, ein paar entkamen ihnen, andere vernichteten sie. Eine Gruppe von Zerglingen brach aus dem Boden hervor und tötete eine komplette Einheit von Marines, bevor die Vultures zur Stelle waren und die Biester mit Sperrfeuer belegten. Die Zerg fielen zurück, kamen aber in größerer Zahl wieder, und dann zogen sie sich abermals zurück. Mike kam sich vor, als kämpfe er gegen das Meer an. Die Wellen wurden zurückgeschlagen, aber er wusste, dass das nur eine Illusion war. Die Flut kam, und sie würde es mit noch größerer Macht tun. Tief in seinem Innern wusste Mike, dass Antiga Prime verloren war, so verloren wie Chau Sara und Mar Sara. Diese Viecher wühlten sich in das Herz der Welt, und sie würden entweder Erfolg haben, oder die Protoss würden sie vom All aus verbrennen. Die Front der Zerg verhärtete sich für einen Moment, brach wieder auf, und dann waren die Menschen durch und unterwegs zum Hochland, wo die Norad II abgestürzt war. Ein einziger Blick auf das Raumschiff verriet Mike, dass der alte Behemoth-Kreuzer sich nie wieder erheben würde. Die hinteren Antriebskapseln waren verbogen und standen in einem 45-Grad-Winkel vom Rest der Konstruktion ab. Die unteren Landestützen waren, wenn man sie überhaupt ausgefahren hatte, völlig im Schlamm versunken. Die vordere Brücke des Schiffes hing gefährlich über den Rand der Mesa hinaus, und darunter bot sich ein Bild der Zerstörung. Mike und Raynor lenkten ihre Maschinen auf eine offene Luke zu und fuhren ihre Vultures an Bord. Manuell schlossen sie den Zustieg hinter sich, während draußen eine weitere Woge von Mutalisken über den Horizont spülte. »Wohin?«, fragte Raynor und zog seinen Helm vom Kopf. »Kommen Sie«, sagte Mike und stürmte in Richtung der Brücke davon. Trotz seiner Panzerung bewegte er sich mü122
helos durch die engen Räumlichkeiten der Norad II. Es war ihm aufgefallen, dass die Gänge auf Mengsks Schiff größer waren als auf denen der Konföderation. Es war, als hätte Duke die Brücke nie verlassen. Der Silberrücken-Gorilla kauerte noch immer in seinem gepanzerten Fell über seiner Station. Die einzigen Unterschiede waren die Bildschirme um ihn herum, die nur statisches Flimmern zeigten, und eine Kaskade von Fiberoptik-Kabeln, die vor einem Schott herunterhing. Duke wandte sich den Neuankömmlingen zu und furchte die Stirn. »Sie sind so ziemlich die Letzten, die ich hier erwartet habe«, knurrte er. »Ja, wir haben Sie auch lieb, General«, sagte Mike und drängte sich zur Funkstation des Schiffes durch. Er gab seinen Kommunikations-Code für Mengsks Stützpunkt ein. »Was soll das alles?«, bellte Duke. »Eine Nachricht von unserem Sponsor«, sagte Mike. »Kommt mir vor, als sei es Jahre her, dass ich das zum letzten Mal gesagt habe. Hat jemand 'ne Zigarette?« Auf dem Bildschirm begann sich die statisch verzerrte Gestalt von Arcturus Mengsk abzuzeichnen. Mengsk, dachte Mike, sicher in seiner geheimen Redoute, während der Rest kämpft und blutet. Mike hätte es nicht für möglich gehalten, aber Dukes Stirnrunzeln vertiefte sich noch. »Was für einen Trick haben Sie jetzt wieder vor, Mengsk?«, fragte er. »Trick?«, schnauzte Raynor. »Ich geb Ihnen gleich einen Trick, Sie schleimiges Stück Konföderiertenscheiße …« »Ruhig bleiben, Jim«, mahnte Mike. »Falls Sie es noch nicht bemerkt haben«, sagte Mengsk, »die Konföderation fällt auseinander, Duke. Ihre Kolonien versinken in offenen Revolten, die Zerg verheeren sie ungehindert. Was wäre hier heute geschehen, wenn wir nicht aufgekreuzt wären?« »Worauf wollen Sie hinaus?« Dukes Gesicht blieb steinern. Mike checkte die anderen Schirme. Ein weiterer Wraith123
Angriff hatte die Mutalisken versprengt, der fliegende Seestern allerdings schien aus härterem Holz geschnitzt zu sein. »Ich biete Ihnen eine Wahl«, sagte Mengsk samtweich. »Sie können zurück zur Konföderation und verlieren, oder Sie können sich uns anschließen und uns helfen, unsere ganze Rasse davor zu bewahren, von den Zerg überrannt zu werden.« »Sie erwarten, dass ich Ihnen darauf antworte?« »Ich glaube nicht, dass es eine schwierige Entscheidung ist.« Ein schwaches Lächeln erschien unter Mengsks grau meliertem Schnurrbart. »Ich bin ein General, Herrgott noch mal!«, brach es aus Duke hervor. »Ach ja«, sagte Mike. »Herzlichen Glückwunsch. Sollen wir das auf Ihren Grabstein meißeln?« »Michael, bitte«, sagte Mengsk. »Duke, Sie sind ein General ohne Armee. Ich biete Ihnen einen Platz in meiner Organisation, in meinem Kabinett, nicht nur einen Provinzposten wie den, auf den man Sie vor dem Krieg abgeschoben hatte.« »Ich weiß nicht …«, sagte Duke, und Mike sah den Krieger für einen Moment wanken. Mengsk hatte ihn. Der arme Duke zappelte am Haken. Er wusste es bloß noch nicht. »Stellen Sie meine Geduld nicht auf die Probe, Edmund«, warnte Mengsk. Irgendwo jenseits der Schotts explodierte etwas nahe des Schiffes. Fast so, als sei es so geplant gewesen, um Mengsks Worte zu unterstreichen. Duke zögerte der Form halber noch einen Moment lang, dann sagte er: »Na gut, Mengsk. Wir haben einen Deal.« »Sie haben die richtige Entscheidung getroffen … General Duke«, erklärte Mengsk. »Captain Raynor?« »Ja, Sir?« Jetzt schaute Raynor finster drein. »Eskortieren Sie die Leute des Generals und ihre Ausrüstung an einen sicheren Ort.« Während Mengsk sprach, löste Duke die Selbstzerstörungssequenz des Schiffes aus. In zwanzig Minuten würden sie kilometerweit entfernt sein, 124
und die Norad II würde sich in einen thermonuklearen Feuerball verwandeln. »Ich hoffe, dass dabei eine Menge Zerg mit draufgehen«, sagte Mike, während sich die Brücke sehr, sehr schnell zu leeren begann. Später befand Mike sich wieder in Mengsks Kommandozentrum. Nach der Explosion der Norad II hatte der Kampf kurz nachgelassen. Die konföderierten Truppen, darunter auch die speziell konditionierten, hatten mit der offiziellen Genehmigung ohne Zögern die Seiten gewechselt, und die einzigen Feinde, mit denen man es jetzt noch zu tun hatte, waren nicht menschlicher Art. Das Dumme daran war nur, dass es an diesen keinen Mangel gab. Mike machte einen Bericht über die Rettung der Norad II fertig und schickte ihn ins Netz. Er lehnte sich zurück und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Es fühlte sich dünner an als noch vor kurzem. Eine zerknautschte Packung Zigaretten fiel auf die Konsole, gefolgt von einem Päckchen Streichhölzer. Raynors Stimme drang an sein Ohr: »Einer aus der Crew der Norad sagt, damit seien Sie jetzt quitt.« »Wunderbar«, sagte Mike und zog einen Sargnagel aus der Packung. »Einen weiteren Bericht nach Nirgendwo geschickt?« »Ich dachte, Kerrigan sei die Gedankenleserin. Aber, ja, stimmt. Alte Gewohnheiten wird man schlecht los. Ich klammere mich an die Idee, dass in ein paar Jahren irgendjemand diese Berichte findet und die Opfer der Männer und Frauen im Kampf gegen diese Dinger zu schätzen weiß. Und auch all die Dummheit.« Raynor ließ sich ihm gegenüber auf einem Stuhl nieder, während Mike die Zigarette anzündete. »Unwahrscheinlich. Es ist, wie Mengsk sagt – die Sieger schreiben die Geschichte. Die Memoiren eines Verlierers werden gelöscht wie Daten von gestern.« 125
Mike nahm einen tiefen Zug und hustete mit verzogenem Gesicht. »Worin hat man die denn eingelegt, in Katzenpisse?« Raynor hob die Hände. »Das Beste, was ich unter diesen Umständen finden konnte.« »Wo wir gerade von Mengsk reden«, sagte Mike. »Wie ist Ihr Gespräch mit Arcturus gelaufen?« »Ich habe ihm gesagt, dass Duke eine Schlange ist.« Raynor seufzte. »Und er sagte …« »Dass er unsere Schlange ist, richtig?« Raynor schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich glaube an Mengsks Sache. Dass die Konföderation weg muss. Und er hat mir aus der Patsche geholfen, aber – Mann … ein paar der Deals, die er eingeht, ein paar von den Sachen, die er uns aufträgt …« »Suchen Sie nicht nach Gründen«, sagte Mike und nahm einen tiefen Zug, der wehtat. »Die brechen Ihnen nur das Herz. Wenn Idealismus auf die Realität trifft, dann ist es selten die Realität, die klein beigibt. Ich habe mehr gute Regierungsmitglieder gesehen, die sich in politische Ganoven verwandelt haben, als Zerglinge. Und ich habe eine Menge Zerglinge gesehen.« Schweigen schlich sich zwischen die beiden Männer. Im Hintergrund sprachen die Funkgeräte gedämpft von Mutalisken und Wraiths, von Goliaths und Hydralisken und den monströsen Seesternen, die man Zerg-Königinnen nannte. Und vom Tod. Sie sprachen unaufhörlich vom Tod. »Hab ich Ihnen erzählt, dass ich mal verheiratet war?«, ergriff Raynor schließlich wieder das Wort. Der Abgrund persönlicher Interaktion gähnte breit und tief zu Mikes Füßen. »Nein, noch nicht«, sagte er ruhig und in der Hoffnung, dass er im Gegenzug nichts aus seinem Leben erzählen musste. »Verheiratet. Hatten ein Kind. Er war ›begabt‹, hieß es.« »Ich habe die Anführungszeichen gehört. Begabt wie ghosttauglich? Übersinnliche Kräfte? Telepathisch veranlagt?« 126
»Mh-hm. Haben ihn auf eine Spezialschule geschickt. Stipendium von der Regierung. Ein paar Monate später bekamen wir einen Brief. Es sei in der Schule zu einem ›Zwischenfall‹ gekommen.« Mike hatte schon von solchen Briefen gehört. Sie waren leider nicht selten, wenn es um Telepathen ging. Ein weiteres schmutziges kleines Geheimnis der Konföderation, von dem man kaum einmal erfuhr. »Tut mir Leid«, sagte Mike, weil das alles war, was er sagen konnte. »Ja. Liddy hat sich davon nie erholt. Sie magerte ab, und im folgenden Winter bekam sie die Grippe. Und danach stürzte ich mich in meine Arbeit. Stellte fest, dass ich gern allein arbeite.« »In diese Falle gerät man nur zu leicht – dass man sich hinter seiner Arbeit versteckt, meine ich«, sagte Mike und starrte das Transmit-Licht seines Komm-Geräts an, das ihm anzeigte, dass sein Bericht in die Leere hinausgeschickt wurde. »Na ja, wie auch immer, ich wollte, dass Sie es wissen«, sagte Raynor. »Vielleicht dachten Sie, ich sei Kerrigan gegenüber zu hart, weil sie eine Telepathin ist. Und vielleicht war ich das auch. Aber ich habe meine Gründe.« »Sie hat ihre eigenen Probleme, wissen Sie? Wie jeder andere – und wie niemand, dem Sie je begegnet sind. Vielleicht sollten Sie ein bisschen nachsichtiger sein.« »Das ist etwas schwierig, wenn sie weiß, was man wirklich denkt.« »Kerrigan scheint eine gute Soldatin zu sein«, sagte Mike, und Ihr Bild als Derwisch dämmerte ungebeten in seinem Kopf herauf. »Sie steht etwas unter Spannung, das ist alles.« »Ich halte sie für gefährlich«, sagte Raynor. »Gefährlich für die Truppen hier. Gefährlich für Mengsk. Und gefährlich für sich selbst.« Mike zuckte die Achseln. Er war nicht sicher, wie viel er dem Ex-Marshal verraten konnte, ohne sich unwohl zu fühlen. Er entschied sich zumindest für ein: »Sie hatte es 127
schwer im Leben.« »Und wir hatten es bisher einfach?« »Ein Grund mehr, sie im Auge zu behalten. Ihr den Rücken zu decken. Ob sie es nun weiß oder nicht, obwohl sie es wahrscheinlich merken wird. Jeder von uns braucht einen Schutzengel.« Danach verlagerte sich die Unterhaltung auf andere Fragen – welche Welten im Aufstand waren, und welche Auswirkungen Dukes Desertion auf andere militärische Führer haben würde. Schließlich zog Raynor sich zurück und überließ Mike der leicht beklemmenden Atmosphäre des Kommunikationsraums. Mikes Blick fiel auf das Päckchen Zigaretten. Der Geschmack der ersten biss ihm noch im Mund. »Ach, zum Teufel«, sagte er und griff nach der Packung und den Streichhölzern. »Ich schätze, hier kann man lernen, sich mit so ziemlich allem abzufinden.«
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KAPITEL 11 SCHACH Ich spielte Schach mit Arcturus Mengsk. Ich verlor übrigens regelmäßig. Eines Tages werde ich vermutlich vor irgendein Höheres Gericht geschleift werden, wo man mir sagen wird, dass das ein Verbrechen wider den Staat war, und ich werde nichts zu meiner Verteidigung vorzubringen haben. Abgesehen davon, dass ich öfter verlor als gewann. Häufig hielt Mengsk mir während einer Partie einen Köder hin, und ich schnappte danach – nur um zu spät zu merken, dass er mich damit erfolgreich von der Falle abgelenkt hatte, während er sie mir stellte. Der ganze Feldzug der Menschen gegen die Zerg war ähnlich. Er bestand aus einer Reihe von Niederlagen, jede einzelne ärgerlicher als die vorherige, weil wir jedes Mal blind für das gewesen waren, was wirklich vorging. Unsere erste Warnung, dass die Zerg auf einem Planeten waren, kam in der Regel zu spät, erst dann nämlich, wenn der Kriecher schon auf unseren Türschwellen wuchs oder die Protoss mit ihren Donnergott-Schiffen herbeieilten. Wir dachten, wir könnten dem Ganzen entgehen. Ein paar von uns, und dazu gehörte auch Mengsk, dachten, wir könnten es kontrollieren. Aber wir waren alle nur Bauern in einem größeren Spiel. Nein, nicht Bauern. Dominosteine. Wir fielen einer nach dem anderen, Planet um Planet, Mensch um Mensch, bis wir beim größten Dominostein von allen anlangten – einem mit Namen Tarsonis. – DAS LIBERTY-MANIFEST »Man hat Krieg einmal mit Schach verglichen«, sagte Arcturus Mengsk, während er seinen Springer zog und damit Mikes Königin und Läufer bedrohte. »Sie sind in beidem sehr gut«, sagte Mike und schlug mit 129
seiner Königin Mengsks Turm. »Ehrlich gesagt, halte ich den Vergleich für fehl am Platze«, sagte der Rebell und holte sich mit seinem Springer den Läufer. »Schachmatt übrigens.« Mike sah blinzelnd auf das Brett. Mengsks Strategie war jetzt offensichtlich, wie sie schon Sekunden zuvor vollkommen durchschaubar gewesen war. Der Reporter trat sich im Geiste in den Allerwertesten und griff nach seinem BrandyGlas. Im Hintergrund dudelten die Melodien der alten Musiker Miller und Goodman aus der Anlage. Der Aschenbecher neben dem Brett war mit Kippen gefüllt, die alle von Mike stammten. Sie rochen schwach nach Katzenpisse. Sie befanden sich an Bord der Hyperion, die in einem versteckten Hangar auf Antiga Prime lag. Duke war damit beschäftigt, die Rebellentruppen zu etwas zu organisieren, das eher nach konföderierter Struktur aussah. Raynor war damit beschäftigt zu verhindern, dass Duke ein absolutes Chaos anrichtete. Mike hatte keine Ahnung, wo Kerrigan steckte, aber das war normal, was sie anbelangte. »Schach ist also nicht wie Krieg?«, fragte Mike. »Vielleicht war es das einmal«, antwortete Mengsk. »Auf der alten Erde, hinter dem Nebel der Zeit. Zwei ebenbürtige Gegner mit ebenbürtigen Kräften auf einem zweidimensionalen Spielfeld.« »Und das ist nicht der Fall. Nicht mehr.« »Kaum«, sagte der Rebell, der sich für das von ihm angeschnittene Thema zu erwärmen begann. »Erst einmal sind die Gegner einander in kaum einem Fall wirklich ebenbürtig. Die Konföderation der Menschen verfügte über Raketen der Apokalypse-Klasse, meine Heimatwelt nicht. Die Konföderation spielte diesen Trumpf aus, bis Korhal IV nur noch eine geschwärzte im Weltall hängende Glasmasse war … Das kann man wohl kaum ebenbürtig nennen. Außerdem schien es unserer kleinen Rebellion zunächst an Personal und Finanzen zu mangeln, aber mit jeder neuen Revolte verliert die Konföderation mehr von ihrem Kampfwillen. Sie ist veraltet und verfault, und es bedarf nur noch eines or130
dentlichen Schlages, damit sie zusammenbricht. Im Schach gibt es eine solche Konstellation nicht.« Mengsk hielt kurz inne, dann fuhr er fort: »An zweiter Stelle steht die Vorstellung ebenbürtiger Kräfteverhältnisse. Ich erwähnte bereits die Raketen, die zu meines Vaters Zeiten so effektiv waren, aber im Licht der Gewalten, die heute zum Einsatz kommen, nur mehr Ziegelsteine sind. Kräfte entwickeln sich weiter – Atomwaffen, Telepathen, und jetzt züchtet die Konföderation Zerg.« »Krieg ist dazu gedacht, die Entwicklung zu beschleunigen«, warf Mike ein. »Ja, aber die meisten Menschen wenden die Schusswaffen-und-Schild-Analogie an: Eine Seite erhält eine bessere Schusswaffe, die andere eine bessere Panzerung dagegen, was zur Entwicklung einer noch besseren Schusswaffe anregt, und so weiter. In Wirklichkeit regt eine bessere Schusswaffe aber den Bau einer chemischen Gegenwaffe an, die wiederum einen telepathischen Schlag provoziert, der dann zu einer künstlichen Intelligenz führt, die die Waffe bedient. Unter dem Druck des Krieges entsteht Wachstum, aber es ist nie das klare, lineare Wachstum, mit dem man in der Schule vertraut gemacht wird.« »Oder von dem man in der Zeitung liest.« Mengsk lächelte. »Drittens: die Vorstellung eines ebenen, zweidimensionalen Spielfelds. Das Schachbrett ist auf acht mal acht Felder beschränkt. Außerhalb dieses kleinen Universums existiert nichts. Keine neunte Reihe. Keine grünen Figuren, die plötzlich auf das Brett stürmen, um sowohl die schwarzen als auch die weißen anzugreifen. Keine Bauern, die plötzlich zu Läufern werden.« »Ein Bauer kann zur Königin werden«, merkte Mike an. »Aber nur wenn er es über sämtliche Felder seiner Reihe schafft, wobei er die ganze Zeit über unter Beschuss steht. Er verwandelt sich nicht aus eigenem Willen plötzlich in eine Königin. Nein, Schach ist nicht wie Krieg, und das ist einer der Gründe, weshalb ich es spiele. Es ist so viel einfacher als das wahre Leben.« 131
Weder zum ersten noch zum letzten Mal dachte Mike über Mengsks nahezu übernatürliche Fähigkeit nach, die Wirklichkeit so zu verbiegen, dass sie seinen Ansichten entsprach. »Sie glauben, dass die Konföderation eine Waffe gegen diese jüngsten Angriffe finden wird? Gegen die Protoss und die Zerg?« »Unwahrscheinlich, obgleich sie alle Register ziehen. Sie tun jetzt, worauf sie sich am besten verstehen: Propaganda betreiben und jene zum Schweigen bringen, die den Mund aufmachen. Das sind ihre besten Waffen, und sie haben noch nie gezögert, sie einzusetzen. Aber damit spucken sie nur auf einen Elefantenbullen, der auf sie zutrampelt. Warten Sie, ich habe hier etwas, das ich Ihnen zeigen wollte.« Mengsk drückte mehrere Knöpfe auf einer Fernbedienung. Dabei sah er sie an, als versuche er sich an einen Geheimcode zu erinnern. »Sie sagten, dass die Konföderation die Zerg züchtet. Macht das die Zerg nicht zu ihren Waffen?«, fragte Mike. »Ursprünglich dachte ich das auch.« Mengsk drückte noch ein paar Knöpfe, dann hielt er inne. »Und wenn ich mit meiner Vermutung auch falsch liegen mag – was unsere Propaganda angeht, ist das unsere Darstellung der Dinge, und wir halten daran fest. Nichts untergräbt das Vertrauen in die Regierung schneller als die Erkenntnis, dass sie in ihrer Freizeit tödliche Alienbedrohungen entwickelt.« »Aber wie sieht die Wahrheit aus?«, erwiderte Mike. »Die Wahrheit ist so formbar wie eh und je.« Mengsk grinste »Ja, die Konföderation erforscht die Zerg seit Jahren, und die Kreaturen, die im Sara-System auftauchten, wurden von Agenten der Konföderation mit Absicht dorthin gebracht. Ja, das Ganze war ein einziger großer Waffentest. Aber: Nein, sie haben die Zerg nicht erschaffen. Nein, sie hatten einen weit schlimmeren Plan im Sinn. Diese Informationen waren auf den Disks enthalten, die Sie und Raynor aus der Jacobs-Anlage beschafft haben. Ah, hier ist es ja. Das wird Ihnen gefallen.« Er drückte einen Knopf, und der Bildschirm erwachte zu 132
flimmerndem Leben. Als die Störungen verschwanden, sah Mike eine Reihe von flachen Senken und Mesas unter einem orangebraunen Himmel. Das Bild konnte von überall auf Antiga Prime stammen. An einer Seite war das vertraute UNN-Logo eingeblendet, und am unteren Rand des Bildschirms krochen multiplanetare Aktienkurse vorbei. Dann war eine beängstigend vertraute Stimme aus dem Off zu vernehmen. »Hier spricht Michael Liberty. Ich berichte von Antiga Prime.« Mike blinzelte. Das war seine Stimme, Teil der letzten Übertragung, die er hinausgeschickt hatte. Aber diese Aufnahmen hatte er nie gesendet. Hatte man sie aus dem Archiv besorgt? Die Kamera schwenkte weiter und blieb dann auf dem Sprecher ruhen. Er trug einen adretten Staubmantel (viel adretter als derjenige, der zurzeit in Mikes Spind hing), sein blondes Haar war nach hinten gekämmt, um eine kahle Stelle zu verbergen, seine Züge waren scharf geschnitten und kündeten von Erfahrung, seine Augen tief und gefühlvoll. Es war Michael Liberty, aber nicht Mike. Dieser Michael Liberty sah beinahe aus wie eine idealisierte Version von Mike selbst. Die Gestalt auf dem Bildschirm sprach weiter. »Ich bin gerade aus der Gefangenschaft des berüchtigten Rebellen Arcturus Mengsk entkommen. Ich wurde von den Rebellen auf Mar Sara gefangen genommen, kurz bevor die reptilienartigen Protoss den Planeten vernichteten, und konnte mich erst jetzt in Sicherheit bringen.« »Das bin nicht ich«, sagte Mike. »Ich weiß«, sagte Mengsk. »Und so weit wir wissen, sind die Protoss keine Reptilien. Aber sehen Sie weiter.« »Während meiner Gefangenschaft fand ich heraus, dass Mengsk und die Söhne von Korhal über hochwirksame Drogen zur Gedankenkontrolle verfügen, denen sie die Bevölkerung willkürlich ausgesetzt haben«, fuhr der Flachbildschirm-Mike-Liberty fort. »Hunderte sind infolge dieses 133
wahllosen Versprühens ums Leben gekommen, und das lässt sich nur als chemischer Angriff auf unschuldige Bürger werten. Andere mutierten durch Nebenwirkungen dieser Drogen zu fremdartigen Wesen.« Mengsk stieß einen rauen Laut aus, doch die Gestalt auf dem Bildschirm redete weiter: »Mengsk schickte einen Saboteur an Bord der Norad II und setzte die Crew einem virulenten Gift aus. Das Ergebnis war der kürzliche Absturz dieses Schiffes. Agenten der Söhne von Korhal nahmen die Menschen, die unter Wirkung der Drogen standen, gefangen und überließen die anderen ihren Zerg-Verbündeten.« »Zerg-Verbündete? Wer erfindet denn so einen Scheiß?«, schnauzte Mike in Richtung des Schirmes. »Es ist so ziemlich dasselbe«, sagte Mengsk ruhig. »Nur ein bisschen dick aufgetragen.« »Ich glaube, dass General Edmund Duke, ein Spross der Duke-Familie von Tarsonis, dieser Gedankenkontrolle zum Opfer gefallen ist und nun zu einem geistig umprogrammierten Zombie im Dienste der Rebellen gemacht wurde. Auf diese Weise hoffen Mengsk und seine nichtmenschlichen Verbündeten, die tapferen Kämpfer der Konföderation zu verwirren und dazu zu bringen, dass sie das Vertrauen in ihre Führer verlieren.« »Tapfere Kämpfer der … Diese Worte habe ich in einem Füllbericht verwendet, den ich auf der Norad II aufgenommen habe!«, sagte Mike. »Und der Satz über das ›virulente Gift‹ kommt mir auch bekannt vor.« »Grundwasserverseuchung neben einer Mittelschule«, sagte Mengsk. »Eines ihrer besseren Frühwerke, wenn ich mich recht erinnere.« »Nur durch ewige Wachsamkeit können wir Rebellen wie Mengsk und seine gedankenkontrollierten Lakaien ausmerzen«, sagte die Gestalt auf dem Bildschirm. »Während ich hier spreche, wird Antiga Prime von einer massiven Blockade der Konföderation umschlossen, und die Rebellenbande sollte binnen weniger Tage zerschlagen sein. Ich bin Michael Daniel Liberty für UNN.« 134
Mengsk drückte einen weiteren Knopf. Auf dem Bildschirm erstarrte und verstummte Michael Liberty. »Haben Sie das gesehen?«, rief Mike und sprang aus seinem Sessel hoch. »Das war nicht ich!« »Ich hoffe nicht«, sagte Mengsk mit einem ruhigem Lächeln. »Sie scheinen so ein vernünftiger und wahrheitsliebender Reporter zu sein, meistens jedenfalls.« »Was haben die gemacht?« »Haben Sie noch nie etwas zusammengeschnitten?« Mengsk hob eine Augenbraue. »Natürlich!«, schnappte Mike und fügte dann rasch hinzu: »Ich meine, aus Zeitgründen oder wenn die Fakten nicht bestätigt werden konnten, oder wenn die Rechtsabteilung ein Problem mit der Story hatte oder ein Sponsor mit Rückzug drohte. Es gab Berichte von mir, die geschnitten wurden, und manchmal mogelte man Bilder hinein, die den Ton einer Story in eine andere Richtung lenkten. Aber das ist ein … eine …« »Lüge?« »Fälschung«, sagte Mike mit finsterer Miene. »So ist es. Zusammengeschnippelt aus Teilen früherer Reportagen, ein Schauspieler als Double, eine Verschiebung von Pixels. Kein Problem auf einem Flachbildschirm – aber unmöglich mit einem echten Hologramm. Deshalb bevorzuge ich Letzteres. Das hier reicht gerade aus, um jemanden zu täuschen, der sich nebenher die Nachrichten anschaut, um die Leute daran zu erinnern, dass Sie noch am Leben sind und den Kampf der Gerechten für UNN und die Konföderation führen.« »Aber meine Berichte …«, stammelte Mike. »Grundmaterial, das sie auseinander genommen und so zusammengesetzt haben, wie es ihnen gerade passte.« Schlaff ließ Mike sich zurück in den Sessel fallen. »Ich werde Anderson umbringen.« »Ihr Anderson dürfte bereits tot sein, fürchte ich«, sagte der Rebell. »Wenn er so ein aufrichtiger Reporter ist wie Sie.« 135
Mike schnaubte. »Oder«, zog Mengsk eine andere Möglichkeit in Betracht, »vielleicht fügt er sich dem gegenwärtigen Machtapparat, obwohl er weiß, wie schrecklich er ist. Vielleicht wurde der Satz mit den Giften deshalb verwendet – ein bisschen interne Sabotage, ein verzweifelter Hilferuf. Ich meine, es ergibt nicht viel Sinn: Warum sollten Drogen zur Gedankenkontrolle giftig sein? Weil sie damit einen kompletten Satz wortwörtlich verwenden konnten.« »Ja, das ist etwas, auf das Handy Anderson kommen könnte.« »Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass Ihr eigenes Network sich von Ihnen abgewendet hat. Ich wollte nicht, dass Sie es zu einem ungünstigen Zeitpunkt herausfinden. Auf dem Schlachtfeld beispielsweise.« Mengsk schenkte Mike nach. »Aber was soll das?« »Propaganda ist eine Waffe, die die Konföderation am besten zu führen und mit der sie am härtesten zuzuschlagen weiß. Das ist ihr Hammer. Und wenn man nichts außer einem Hammer hat dann sieht alles andere aus wie ein Nagel.« »Man sollte meinen, dass die Konföderierten bessere Waffen gegen Sie hätten als einen Reporter«, murmelte Mike. Kopfschüttelnd starrte er auf den Bildschirm. »Was ist aus der ganzen Zerg-Forschung der Konföderation geworden, dem Material das wir aus der Anlage geholt haben?« »Ah.« Mengsk drückte eine Reihe weiterer Tasten. »Die Jacobs-Disk. Ich bin froh, dass Sie sich noch daran erinnern – das zeigt nämlich, dass meine Drogen zur Gedankenkontrolle in Ihrem Fall nicht umfassend gewirkt haben … Schauen Sie mich nicht so an, das sollte ein Witz sein.« »Ich bin in dieser Hinsicht momentan etwas empfindlich. Das legt sich wieder.« »Ich hatte Informationen über Waffen erwartet – etwas, das ihnen einen Vorsprung gegenüber der technischen Entwicklung sichert. Stattdessen fand ich etwas viel Interes136
santeres. Sie wissen über die Ghosts Bescheid, nehme ich an?« Mike dachte an Kerrigan, die gnadenlose Kämpferin, die den Tod eines jeden ihrer Opfer spürte. »Telepathische Krieger. Eine Spezialität der Konföderierten und ein Beispiel für die von Ihnen angesprochene technische Entwicklung.« »Ein interessantes Beispiel, wenn Sie mir die Abschweifung erlauben. Die ursprüngliche Bevölkerung, die mit den Kolonieschiffen kam, bestand aus Menschen von der Erde. Aber die lange Reise beeinflusste offenbar ihren genetischen Code, sodass übersinnliche Begabungen stärker zutage traten, als es unter der ursprünglichen terranischen Bevölkerung normal war. Ein interessanter Zufall.« »Ich glaube, wir haben beide den Punkt erreicht, wo wir nicht an Zufall glauben.« Mike nahm einen Schluck von seinem Brandy. Mengsk hob in einer gutmütigen Geste die Schultern. »Ob nun durch Absicht oder Zufall, die Menschen, die letztlich zur Konföderation wurden, neigten zu übersinnlichen Fähigkeiten. Und wir, wiederum ob absichtlich oder zufällig, fanden das heraus und erschufen die Ghosts – überragende Assassinen mit der Gabe des Gedankenlesens. Ein furchtbarer Prozess – nur wenige Kinder erlangen durch dieses Verfahren einen nutzbaren Status. Und bis vor kurzem schien die Kontrolle, die die Konföderierten über sie haben, nicht zu brechen zu sein.« »Lieutenant Sarah Kerrigan. Wie haben Sie die Kontrolle der Konföderation über sie aufheben können?« »Das ist einer dieser Fälle, in denen die eine Seite bessere Schilde erhält und die andere eine größere Schusswaffe«, sagte Mengsk lächelnd. »Es muss genügen, wenn ich Ihnen verrate, dass die Kontrolle über sie gebrochen wurde, und zwar so, dass sie erstaunlich intakt und insgesamt verwendbar blieb.« »Und dankbar.« »Und dankbar«, gab Mengsk zu. »Sie hat so viele Einsätze absolviert, dass deswegen Aufregung unter den Konfö137
derierten herrscht.« »Was Ihnen natürlich in den Kram passt«, sagte Mike. »Aber wollten Sie nicht abschweifen?« »Ja. Jetzt kommen wir zu der Jacobs-Disk. Es stellte sich heraus, dass unsere tödlichen Freunde, die Zerg, auf psychische Emanationen abgestimmt sind. Offenbar gleichen die Wellenlängen, auf denen die Ghosts arbeiten, denen, die die höher entwickelten Zerg benutzen, um ihre niedrigeren Artgenossen zu kontrollieren. So können sie sich aus geringer Distanz auf sie konzentrieren.« »Aus wie geringer Distanz?«, fragte Mike. Plötzlich musste er an Kerrigans Aktivitäten im Sara- und im AntigaSystem denken. »Für die Begriffe eines normalen Telepathen – aus sehr geringer Distanz. Höchstens zehn Meter. Aus dieser Entfernung kann ein Hydralisk sie ohnehin wittern. Aber das ist Teil der Technologie, die die Konföderierten in ihren Verteidigungstürmen und anderen Anti-Ghost-Detektoren verwendet haben.« »Waffen und Panzerung. Können die Ghosts die Gedanken der Zerg lesen, wie sie die von Menschen lesen können?« »Es ist weitaus schmerzhafter. Und, ja, die Konföderierten haben es versucht. Sie verabschiedeten sich von der Vorstellung, dass die Zerg eine ultimative Erfolgsgeschichte der Evolution sind: Alles ist entweder genetisches Material für ihre Schöpfungen oder Fleisch, das an ihre Kinder verfüttert wird. Sie handeln auf Basis einer Hierarchie von ›hive minds‹. Sie wissen, was das heißt?« Mengsk wartete Mikes Antwort nicht ab, sondern erklärte: »Einem Bienenstock sind mehr Fähigkeiten eigen als einer einzelnen Biene. Und im Fall der Zerg wächst sich das Ganze fast zur Größe eines planetaren Bewusstseins aus.« »Das klingt ja nett.« Mike nahm noch einen großen Schluck aus seinem Glas. Der Brandy brannte ihm in der Kehle und rief ihm in Erinnerung, dass er ein Mensch war. »Übel. Und die Protoss sind genauso schlimm«, sagte 138
Mengsk. »Sie müssen bedenken, dass alle Aufzeichnungen auf den Disks aus Sicht der Zerg entstanden sind, doch die Protoss sind die ultimativen genetischen Puristen. Sie betrachten sich als Richter des Universums, löschen alles Leben aus, das außer Kontrolle gerät und nicht ihrem Perfektionsstandard entspricht.« »Genetische Survivors gegen genetische Xenophoben. Eine Paarung wie aus der Hölle.« »So könnte man es nennen. Die Konföderierten entdecken also die Zerg und deren telepathische Anziehungskraft. Und sie wollen mehr Zerg zur Verfügung haben.« »Mehr? Warum, um Gottes willen, sollten sie mehr wollen?« »Die nicht lineare Natur des Krieges, mein Sohn. Sie suchten nach einer Waffe mit allen Vorteilen einer Kernwaffe, aber ohne deren Nachteile, wie Strahlung oder schlechte Presse. Die Zerg waren perfekt – sie waren hässliche Aliens, die die Konföderation auf jedermann loslassen konnte, um danach aufzukreuzen und sie zu eliminieren. Eine Monsterplage im Taschenformat.« »Sie sagten, dass Sie glaubten, die Konföderierten würden sie züchten.« »Und damit lag ich falsch«, sagte Mengsk ruhig. »Sie zu züchten ist eine weitaus komplexere Angelegenheit, als ein paar Zerg zu fangen und sie in denselben Käfig zu sperren. Also mussten sie mehr in ihre Fallen locken, und an dem Punkt kamen die Telepathen ins Spiel.« »Aber die Reichweite der Telepathen ist begrenzt.« »Ja«, bestätigte Mengsk. »Deshalb arbeitete man daran, diese Reichweite zu vergrößern. Was sie aus der JacobsEinrichtung holten, waren die Pläne für einen Transplanar Psionic Waveform Emitter. Hübscher Name, der allerdings kaum etwas aussagt. Damit konnten sie die Kräfte eines Telepathen verstärken und zu einem interplanetaren Köder für die Zerg machen, der sie anzog wie eine Laterne die Motten.« Mike schwieg einen Augenblick lang, dann sagte er: »Das 139
Sara-System.« »Richtig. Das meine ich damit, wenn ich sage, dass sie diese Planeten als Testgelände für ihre Waffen benutzten. Sie brachten die Zerg ins Sara-System, und die Protoss folgten ihnen. Aber sie handelten sich mehr ein als nur ein paar Zerglinge – sie brachten das gesamte Ökosystem der Zerg und ihren Machtapparat ins Spiel, und damit hatten sie nicht gerechnet. Und jetzt ziehen die Zerg, wie es ihnen beliebt, von System zu System, geleitet von ihrer eigenen Intelligenz und darauf aus, die Menschheit entweder zu transformieren oder zu verschlingen.« »Und Sie wissen, wie man sie vernichtet?«, fragte Mike. »Sie meinen eine andere Möglichkeit, als jeden einzelnen in Stücke zu schießen und ihre Nester zu verbrennen? Nein.« Mengsk beugte sich vor. »Aber ich weiß, wie ich sie in die Richtung lotsen kann, in der ich sie haben will.« »Wozu soll das gut sein?« Mike schüttelte den Kopf. Hatte ihm der Brandy mit einem Mal den Verstand ausgebrannt? Mengsk lehnte sich zurück. »In diesen Berichten, die Ihr Doppelgänger verbreitete, steckte ein Körnchen Wahrheit. Es schließt sich tatsächlich eine schwere Blockade um Antiga. Die Konföderierten hoffen, uns hier festzusetzen, bis wir entweder von den Zerg oder den Protoss vernichtet werden.« »Und wir sitzen hier tatenlos herum?« »Nein. Ich bin bereits dabei, etwas zu unternehmen. Wir bauen einen Emitter, basierend auf den Plänen, die Sie beschafft haben. Wir werden ihn ins Zentrum des Konföderationsterritorium bringen und einschalten. Jeder Zerg in einem Umkreis von zehn Lichtjahren wird hierher kommen. Sie werden über die Blockadeschiffe herfallen wie Falken über Tauben. Im Vergleich dazu wird sich der Absturz der Norad II wie ein kleiner Unfall mit Blechschaden ausnehmen.« »Aber der Emitter wird nur verstärken. Sie brauchen einen Telepathen, um …« In Mikes Kopf schloss sich der letz140
te Kreis. »Kerrigan. Sie wollen Kerrigan benutzen, um die Zerg anzulocken!« »Sehr gut.« »Das können Sie nicht machen!«, begehrte Mike auf. »Sie wollen, dass sie in ein Camp der Konföderierten eindringt? Dort gibt es Detektoren. Das schafft sie nie!« »Ich setze höchstes Vertrauen in Lieutenant Kerrigan.« »Das können Sie nicht machen!«, wiederholte Mike. »Sie sprechen im falschen Tempus. Ich gab die Befehle für die Operation bereits, ehe wir uns zu unserer ersten Partie niederließen. Der gute Lieutenant müsste den Emitter justament aus der Werkstatt unter uns abholen. Wenn Sie sich beeilen, erwischen Sie die Gute vielleicht noch.« Mike fluchte und sprang aus dem Sessel. »Und wünschen Sie ihr in meinem Namen viel Glück!«, rief Mengsk ihm nach, als der Reporter schon aus dem Quartier des Rebellenführers stürmte. Dann lehnte sich Mengsk zurück, hob sein Glas und brachte der erstarrten Gestalt des falschen Michael Liberty auf dem Bildschirm einen stummen Toast aus.
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KAPITEL 12 IM BAUCH DER BESTIE Außerirdische drängten in den Raum der Menschen, und deren Reaktion bestand darin, sich gegeneinander zu wenden. Ich kann nur mutmaßen, was die Zerg und die Protoss dachten, als sie auf Planeten landeten, wo es ausschließlich Rebellen und Konföderierte gab, die sich gegenseitig auf Teufel komm raus die Köpfe einschlugen. Wahrscheinlich dachten sie, das sei das normale Verhaltensmuster unserer Rasse. Und ich nehme an, damit hatten sie Recht. Mengsks Erfolge, die teilweise durch heimlich hergestellte Kopien meiner Berichte Verbreitung fanden, entfachten Dutzende von lokal begrenzten Scharmützeln. Jeder Fanatiker, dem etwas im Bauch quer lag, schnappte sich eine Waffe, um auf das alte Regime der Konföderierten loszugehen. Die Konföderation reagierte im Gegenzug in einer Weise, wie sie es stets gegenüber bewaffneten Abweichlern getan hat – mit immer rigoroserer Unterdrückung, was aber nur weitere Revolten zur Folge hatte. Währenddessen infiltrierten die Zerg weitere Planeten, und die Protoss verwandelten sie in tote Klumpen. Die Menschen besaßen nicht so viele Welten, als dass sie es sich hätten leisten können, sie in diesem dramatischen Tempo zu verlieren. Hätten beide Seiten nachgedacht, hätten sie sich miteinander verbündet, um gegen die wahre Bedrohung anzukämpfen. Ich glaube, dass jedermann so sehr mit Planen und Kämpfen beschäftigt war, dass niemandem mehr Zeit zum Nachdenken blieb … – DAS LIBERTY-MANIFEST »Kerrigan!«, rief Mike in den Hangar. Es blieb keine Zeit, die Panzerung anzulegen, aber Mike schnappte sich seinen 142
Staubmantel. »Ah, Liberty.« Sie setzte gerade ihren Helm auf. Seitlich an ihrem Vulture-Bike war ein großer Behälter befestigt. »Ich will gerade los.« »Kann ich mitfahren?« »Hören Sie, normalerweise würde ich …«, begann sie, stockte dann und sah Mike aus ihren gefühlvollen, jadegrünen Augen an, so dass sich die Härchen in seinem Nacken aufstellten. Er war sich sicher, dass sie ihre Wirkung auf ihn kannte. »Es ist Ihre Beerdigung. Ich brauche sowieso jemanden, der die Ausrüstung trägt. Kommen Sie.« Zusammen jagten sie auf dem röhrenden Hover-Cycle aus dem Hangar in Richtung des Rendezvous-Punkts. Der unbarmherzige Angriff hatte seine Spuren auf Antiga Prime hinterlassen. Der Rauch unentwegt brennender Feuer verdunkelte den Himmel, und der große, aufgeblähte Gasriese hing da wie ein bekümmerter Gott, der sich hinter einem Trauerflor verbarg. Aus der Ferne erklang das Donnern von Arclite-Artillerie, aber sie wussten nicht, wer dort auf wen schoss. Sie passierten verlassene Bunker, die wie Eierschalen aufgebrochen waren, umgeben von Kriegsschutt: zerstörte Waffen und zerfetzte Menschen. Das Donnern wurde lauter, und Liberty erkannte, dass sie genau auf das Auge des Sturmes zuhielten. »Wir versuchen mit Belagerungspanzern und Goliaths eine Lücke in ihre Linien zu schlagen«, erklärte Kerrigan über Funk. »Wir schlüpfen durch und sind auf konföderiertem Territorium. Bereuen Sie es jetzt, mitgekommen zu sein?« »Ein bisschen vielleicht.« Mike wusste, dass der GhostSoldatin seine Antwort klar gewesen war, noch ehe er sie ausgesprochen hatte. »Mengsk ist Ihnen also mit dem ganzen Trara gekommen« fuhr sie fort. Mike runzelte die Stirn. Es störte ihn, dass die Telepathin so mühelos in seinen Gedanken wildern konnte. »Er hat Sie dazu gebracht, mich zu begleiten.« »Schauen Sie sich meine Erinnerungen noch einmal ge143
nau an, Lieutenant«, sagte Mike. »Mengsk hat mich nie gebeten, mitzukommen.« »Das musste er auch nicht. Er weiß, welche Knöpfe er bei Menschen drücken muss. Wahrscheinlich glaubte er, dass Sie den Kram auf der Stelle hinschmeißen würden, wenn er Ihnen befohlen hätte, mitzukommen und zu helfen.« »Damit hat er wahrscheinlich Recht.« »Das hat er für gewöhnlich immer. Deshalb ist es wahrscheinlich gut, dass Sie dabei sind.« Unmittelbar vor ihnen wurde ein Haufen Felsblöcke in einer gewaltigen Explosion pulverisiert. Kerrigan brachte das Bike zum stehen. »Das dürfte nicht passieren«, sagte sie. »Unsere Belagerungspanzer wissen, dass wir von hier kommen. Entweder hat Duke mit seiner Artillerie-Ortung absichtlich Mist gebaut oder …« Mike hörte das Pfeifen einer weiteren Salve nahender Geschosse. »Das sind deren Panzer!«, rief er. »Die haben unsere Linien durchbrochen!« Kerrigan startete die Maschine in dem Moment wieder, da er die Worte aussprach, und setzte die Vulture in einen scharfen Winkel zu ihrem ursprünglichen Kurs. Weiter voraus verschwand die Straße in einem Crescendo aus aufspritzender Erde und Felstrümmern, als ein weiteres Geschoss einschlug. Der bebende Boden war zuviel für die beschränkten Gravitationsabsorber. Das Bike wurde durchgeschüttelt. »Es ist etwas …«, setzte Mike an. »Tut mir Leid, wenn's ein bisschen holprig zugeht«, keuchte Kerrigan via Funk. »Halten Sie sich einfach fest!« Nächstes Mal lassen Sie mich bitte ausreden, dachte Mike, worauf er spürte, wie Kerrigan die Achseln zuckte. Das Missile-Feuer folgte ihnen unbarmherzig in einem Abstand von etwa hundert Metern. Die Konföderierten mussten einen Späher eingesetzt haben. Kerrigan lenkte das Bike in eine Klamm, in der seit langer Zeit nichts mehr 144
floss, das Wasser auch nur ähnelte. »Wollen mal sehen, wie sie uns hierher folgen«, schnappte sie. Mike hörte das hohe Heulen von Metall, das die Luft zerschnitt. »Wraiths!«, brüllte er ins Funkgerät. Der Raumjäger raste im Tiefflug heran und bestrich beide Seiten der Schlucht mit seinen 25-MillimeterLaserwaffen. Das Gestrüpp entflammte augenblicklich, und die Jäger zogen hoch. Durch den Rauch, den sie erzeugt hatten, konnten sie ihre Beute nicht mehr ausmachen. »Sie treiben uns vor sich her«, knisterte Kerrigans Stimme aus dem Funk. »Aber wohin?« Die Beschaffenheit des Bodens unter dem Bike veränderte sich plötzlich, roter Lehm und bräunlicher Schiefer wurden zu einer Art geflecktem, klumpigem grauschwarzem Moos. »Kriecher!«, rief Mike, kaum dass er es erkannt hatte. »Sie treiben uns auf Zerg-Territorium!« Kerrigan fluchte und stieg auf die Bremse, aber der Kriecher unter dem Antriebspolster bot den Wandlern des Bikes keine Haftung. Das schmale Hover-Cycle begann hinten auszubrechen, legte sich dann gefährlich schief und pflügte eine dicke Kruste des Kriechers auf, wie Schaum auf einer Welle. Kerrigan brüllte etwas. Der Reporter klammerte sich an den Behälter mit dem PSI-Emitter, halb hoffend, er möge ihm irgendwelchen Schutz bieten. Mike war sich sicher: Wenn jemand sie hier heil herausbringen konnte, dann war es der Ghost-Lieutenant. Dann öffnete sich der Boden unter ihnen, und sie stürzten beide ins Dunkel. Einige Zeit später hörte Mike wie von fern Kerrigans Stimme. »Liberty?« »Urg«, war alles, was Mike zur Erwiderung hervorbrachte. Verdammt, sie kann meine Gedanken lesen, warum tut sie es also jetzt nicht? »Ist der PSI-Emitter in Ordnung?«, fragte sie. 145
»Na klar. Ich hab seinen Sturz mit meinem Körper gedämpft.« Er öffnete die Augen und stellte fest, dass er auf weichem, erst kürzlich aufgeworfenem Erdreich lag. Das musste den Aufprall, als sie in diesen Karnickelbau eingebrochen waren, abgemildert haben. Er sah nach oben. Dort klaffte ein gezacktes Loch in der Decke, wahrscheinlich die Stelle, wo sie die KriecherMaterie durchpflügt hatten. Das dichte Gewebe war schon dabei, die Öffnung wieder zu verschließen. Mike spuckte etwas Blut aus. Er hatte sich beim Sturz in die Zunge gebissen. Der Rest seines Körpers schien zwar zerschlagen, aber insgesamt unversehrt. Sein Staubmantel war jetzt mit weicher Erde bedeckt. Morgen würde er die Prellungen erst richtig spüren. Wenn ich Glück habe, dachte er. »Wenn wir beide Glück haben«, sagte Kerrigan. Sie war schon wieder auf den Beinen und ließ den Strahl einer Lampe, die sie am Handgelenk trug, umherwandern. Die Kanister-Rifle hatte sie sich über die Schulter gehängt. Mike stand auf. Er war wackelig in den Knien, aber nicht verletzt. »Sind Sie in Ordnung?«, brachte er heraus. »Geht schon«, sagte die Ghost-Soldatin. »Ich bin nur auf meinem Stolz gelandet, der, wie ich fürchte, dahin ist. Musste ihn erschießen, von seinem Elend erlösen. Wir sind Einfaltspinsel. Narren. Dummköpfe.« »Niemand erwartete, dass die Konföderierten …«, begann Mike. »… das Terrain und die Lage zu ihrem Vorteil nutzen würden? Genau. Deshalb sind wir ja Einfaltspinsel. Sie kamen unserem Angriff entgegen und trieben uns dann an den einen Ort, an dem wir ganz bestimmt nicht sein wollen.« »Wissen Sie, es wäre alles einfacher, wenn Sie mich …« »… ausreden ließen. Entschuldigung. Bin im Moment etwas nervös. Sie strahlen Ihre Angst praktisch auf allen Frequenzen aus, und das irritiert mich.« 146
Als ob in dieser Situation nicht jeder Angst hätte, dachte Mike und ging hinüber zu den Überresten des Vulture-Bikes. »Das Bike ist erledigt«, sagte Kerrigan, ohne hinzuschauen, und natürlich hatte sie Recht. Der Rahmen war an drei Stellen verbogen, sodass sich das lange, schlanke Gefährt in einen gedrehten Korkenzieher verwandelt hatte. Irgendetwas Wichtiges war durchbohrt worden, und jetzt lief dort etwas aus und versickerte im Boden. Das Bike hatte den Sturz trotz seiner metallenen Robustheit weit weniger gut überstanden als Mike. »Hier entlang«, sagte Kerrigan und zeigte in eine Richtung des unterirdischen Gangs. »Aus einem bestimmten Grund?« »Nein, aber in der anderen Richtung befindet sich etwas Großes mit bösen Gedanken. Sie dürfen den Emitter tragen.« Mike hievte den Behälter mit dem Emitter hoch und folgte dem Lieutenant. Er dachte über ihre Laune nach. Ein paar Minuten später sagte Kerrigan: »Das ist eine Art Rückkopplung.« »Hören Sie auf damit!« »Aber es stimmt. Ihre Angst überträgt sich auf mich, und ich lasse sie an Ihnen aus. Was wiederum Ihre Wut steigert.« Sie hielt kurz inne. »Ich habe hier unten ein seltsames Gefühl. Irgendwas stimmt nicht. Normalerweise kann ich mit so etwas umgehen. Meistens jedenfalls.« Mike dachte an die angebliche Verbindung zwischen Zerg und Telepathen und wünschte dann, es nicht getan zu haben. Kerrigans zu breite Lippen krümmten sich zu einem grimmigen Lächeln. »Ja, ich weiß. Raynor hat mich beim Briefing mit Arcturus bereits bedauert, vielen Dank. Das erklärt, warum sich die Konföderation für Telepathen interessiert. Und außerdem gab es unter den konföderierten Telepathen viele MIAs. Selbst jetzt, da ich nicht mehr zu den Ghosts gehöre, bekomme ich noch so manches mit.« »Glauben Sie, die Zerg sammeln ihre eigenen telepathi147
schen Objekte?«, fragte Mike und merkte erst dann, dass Kerrigan ihn hatte ausreden lassen. »Mh-hm. Warten Sie, da vorne ist etwas.« Sie zog ihre Faustfeuerwaffe und schob sich weiter, die andere Hand, die mit der Lampe am Gelenk, nach vorne gerichtet. Das Etwas hing wie eine große Spinne mitten im Weg. Der Strahl von Kerrigans Lampe traf das Ding und ließ es zurückzucken. Mike sah ein großes Auge, das menschlich wirkte und dessen Pupille sich unter dem grellen Lichtstrahl zusammenzog. Mike spürte, wie eine Woge von Abscheu und Übelkeit über ihn hinwegspülte. Offenbar empfand Kerrigan dasselbe, und ihre Gefühle vermengten sich noch mit Mikes. Sie stieß einen lauten Fluch aus und gab einen Schuss auf die zuckende Kugel ab. Das Augending stieß ein Kreischen aus, das wie Kreide auf Schiefer klang, und flog auseinander. Die muskelartigen Stränge seines Netzes schnellten wie zerrissene Gummibänder auf die Wand zu. »Was war …?«, begann Mike. »Ein Beobachter? Ein Wächter?«, vermutete Kerrigan, und zum ersten Mal hörte er ein wenig Angst in der Stimme der unerschütterlichen Sarah Kerrigan. Rückkopplung, rief er sich in Erinnerung. Er zwang sich zur Beherrschung. Andernfalls würden sie hier den Tod finden. »Was ist es für ein Gefühl?«, fragte er, als sie sich am zerfetzten Fleisch des »Augendings« vorbeizwängten. Mike bemerkte, dass Wände und Boden des Ganges mit Kriecher überzogen waren. »Was?«, fragte Kerrigan, von den breiigen Eingeweiden abgelenkt. »Sie sagten, Sie spürten hier unten etwas Seltsames. Wie seltsam?« Kerrigan schwieg einen Augenblick lang, und Mike spürte, dass sie versuchte ihre emotionale Kontrolle zurückzugewinnen. »Man kann es einem Hartschaligen … Entschuldigung, einem Nichttelepathen schwer beschreiben. Es ist, 148
als sei man auf dem Flur eines Hotels, und als finde in einem der Zimmer eine Party statt. Man geht vorbei und hört, dass es eine Party ist, aber man ist nicht dabei. Man versteht nichts Genaues, nur Stimmengemurmel. So ist dieses Gefühl.« »Vielleicht PSI-Kräfte auf einem anderen ›Kanal‹?«, meinte Mike. »Vielleicht, aber es ist irgendwie machtvoller. Als stünde man vor einem Theater, in dem ein Konzert stattfindet. Man hört zwar etwas, worin eine gewisse Ordnung liegt, versteht aber nur undeutliches Brabbeln. Es ist zum Verrücktwerden.« Sie hielt kurz inne. »O mein Gott. Mike, kommen Sie her!« Der Gang öffnete sich rechter Hand zu einer größeren Höhle, bevor er nach oben weiterführte. Aus dem Durchlass gegenüber drang frischere Luft, die Mike auf seinem Gesicht fühlen konnte. Sie mussten in der Nähe der Oberfläche sein. Die größere Höhle war voller Kriecher. An den Wänden waren vage beutelartige Gebilde auszumachen, und Dinge, die einmal etwas Organisches gewesen sein mochten, sprenkelten den grauen Flaum. Entlang der Wand sammelten sich tausendfüßlerartige Kreaturen, die sich zwischen Pilzen hindurchwanden. »Maden«, sagte Mike. »Ich habe sie schon in Anthem Base auf Mar Sara gesehen.« Er übermittelte Kerrigan ein Bild der dortigen Kneipe und registrierte ihr Schaudern. »Ist das eine Müllhalde der Zerg? Was fressen die da?« »Sie fressen nicht. Das sind Ammen. Sie hüten die Eier.« Was Mike zuerst für Pilze gehalten hatte, waren in Wirklichkeit Eier, grün mit rötlichen Flecken, die auf Sockeln aus angehäuftem Kriecher ruhten. Die Eier pulsierten im Takt ihres eigenen Herzschlags. Während Mike hinsah, tauchte unter der trüben Hülle des nächsten Eies die skelettartige Fratze eines Hydralisken auf, wie ein ertrunkenes Wesen in einem Tidebecken. Das Ei erzitterte ein wenig, als wüsste das Etwas darin von ihrer Anwesenheit. 149
Die Maden waren eifrig damit beschäftigt, den Kriecher zu Haufen aufzuschichten. Dann kletterte eine hinauf, ringelte sich zusammen und wob sich in einen dicken, seidigen Kokon ein. Der Kokon wurde hart, und aus der Made wurde ein Ei. »Verdammt«, sagte Mike. Plötzlich war ihm klar, was die Maden waren. »Larven. Sie sind die Grundbausteine der Zerg. Aus Larven werden Eier, und daraus schlüpfen Monster. Deshalb hatten die Konföderierten keinen Erfolg mit ihren Versuchen, diese Scheißbiester zu züchten, ganz egal, was Mengsk darüber gesagt hat. Die Zerglinge und Hydralisken können sich nicht fortpflanzen – sie stammen alle vom selben genetischen Grundmaterial ab, das von irgendeiner höheren Macht geliefert wird.« Mike nickte, und der Hydralisk in dem Ei wandte ihm das Gesicht zu. Das Ei begann wie wild zu zittern, als das Biest versuchte, sich mit Gewalt daraus zu befreien. »Gehen Sie dem Luftzug nach«, sagte Kerrigan und nahm ihre Rifle von der Schulter. »Ich komme gleich nach.« Unter der Last des Emitters stöhnend bewegte sich Mike weiter den Gang hinauf. Als er das surrende Geräusch, mit dem die Rifle lud, und das gleitende, ratschende Nachladen hörte, begann er zu rennen. Hinter ihm erklang jetzt das Rattern der scharfkantigen Geschosse, mit denen Kerrigan die Eierkammer beharkte. Dann kehrte Stille ein. Die Luft wurde frischer, und vor sich machte Mike natürliches Licht aus. Seine Beine fühlten sich wie Bleigewichte an, aber er zwang sie, weiterzugehen. Noch zehn Meter, noch fünf, dann zwei … und endlich zur Oberfläche hinauf, in die Luft des frühen Abends und … … dann starrte er in sein eigenes Gesicht – in sein Spiegelbild, das sich auf der glänzenden Oberfläche des Kampfvisiers eines Marines der Konföderation abzeichnete. Mike keuchte auf und fiel fast nach hinten. Vor dem Eingang stand ein Wachposten der konföderierten Streitkräfte! Der Wächter kam einen Schritt auf den Reporter zu, und Mike stellte fest, dass etwas mit diesem Mann nicht stimm150
te. Seine Knie waren merkwürdig gebeugt, und seine Armen schienen zu zwei verschiedenen Wesen zu gehören. Eine Hand hob unsicher ein Gaußgewehr, während die andere etwas am unteren Ende der Panzerung berührte. Das spiegelnde Visier glitt zurück und enthüllte ein Gesicht aus der Hölle. Die Hälfte davon war von dem gelbfleckigen Schädelknochen weggefressen worden, aus der leeren Augenhöhle quoll dicker, gräulicher Kriecher. Die andere Hälfte zeigte die grünliche Färbung von Verwesung und war mit felsartigen Auswüchsen übersät, die wie kurze Dolche durch die Haut ragten. Es war ein Wachposten, aber keiner der Konföderation. Dieses Wesen war einmal menschlich gewesen, doch jetzt nicht mehr. Es war einmal geistig normal gewesen, doch jetzt nicht mehr. Jetzt lebte es nur noch, um das Nest zu beschützen. Es hob sein Gaußgewehr und stieß einen Schrei aus, der klang, als steckten ihm Scherben im Hals. Das gesunde Auge der Kreatur schien Blut zu weinen. Mike hörte hinter sich das Heulen der Canister-Rifle und warf sich zu Boden, wo er sich zusammenkrümmte, um den Aufprall des Emitters zu dämpfen. Im nächsten Moment wurde die Luft dort, wo er sich eben noch befunden hatte, von Geschossen durchpflügt. Ein paar davon zerfetzten den Saum seines Mantels. Die transformierte Konföderierten-Wache stand wie versteinert inmitten des Gewehrfeuers, allerdings nur für einen Augenblick. Dann rutschte dem Wesen das Gaußgewehr langsam aus den Fingern, und es kippte in seiner zerstörten Rüstung nach hinten. Was sich unter der Panzerung befand, war zwar nicht mehr menschlich, aber es reagierte trotzdem auf den Beschuss. Kerrigan kam herauf und zerrte an Mikes Kragen. »Sind Sie okay?« Vor Mikes Augen tanzten Flocken, aber er weigerte sich, die bittere Galle zu erbrechen, die ihm in der Kehle hochstieg. »Was war das?« »Die Zerg sind meisterhafte Biologen. Wahrscheinlich ist 151
es das, was sie mit den Menschen vorhaben: sie für ein Experiment benutzen, um aus ihnen eine weitere Dienerrasse zu machen.« Mike atmete tief ein, schaute auf das verheerte, verwesende Fleisch hinab und sagte: »Sieht mir nicht nach einem erfolgreichen Experiment aus.« Kerrigan zuckte erschöpft die Achseln. »Vielleicht brauchen sie nur besseres Ausgangsmaterial. Melden Sie sich freiwillig? Ich bin sicher, die können einen Reporter gebrauchen.« Sie brachte ein hartes Grinsen zustande, und zu seiner Verwunderung lachte Mike kurz auf. Schützengrabenwitze, dachte er. Galgenhumor im Angesicht der Obszönität des Krieges. Wenn Kerrigan diese Gedanken las, ließ sie es sich nicht anmerken. »Lust, eine Weile zu rennen?«, fragte sie. »Wie weit?« »So weit wir können.« »Fangen Sie an, ich folge Ihnen«, sagte Mike und wuchtete den Emitter hoch. Sie hatten Glück. Sie befanden sich am Rand des Kriechers, doch selbst von hier aus konnte Mike in der anderen Richtung eine Reihe von Türmen erkennen. Sie sahen aus wie große, missgebildete Blumen aus dem Garten eines Riesen, und die kanonenähnlichen Mutalisken schwirrten zwischen ihnen umher. Es gab auch noch andere fliegende Monster zu sehen, darunter die Seestern-Tintenfischwesen, die Hummerquallen und die riesigen fliegenden Krabben. »Sie gewinnen«, sagte Mike. »Die Zerg. Sie werden mit jedem verdammten Planeten, den sie erobern, mächtiger.« »Versuchen Sie nicht daran zu denken.« Kerrigan griff sich ans Handgelenk. »Ich habe gerade eine kurze Impulsnachricht abgesetzt. Wenn Arcturus auf Empfang ist, weiß er zumindest, dass wir noch leben.« Die weitere Reise bereitete keine Schwierigkeiten, denn selbst als die Sonne unterging, wurde von dem Gasriesen über ihnen noch genügend Licht reflektiert. Links von ihnen zeichneten sich weitere Blitze am Horizont ab, und das Ge152
räusch fernen Donners drang zu ihnen. »Sie sagten, Sie wüssten von anderen Ghosts, die im Einsatz verschollen sind. Haben Sie von ihnen gehört?«, fragte Mike. Kerrigans Lippen bildeten einen scharfen Strich, und sie schüttelte den Kopf. »Die meisten Telepathen meiden den Kontakt untereinander. Ich rede nicht einmal mit denen, die unter Dukes Befehl stehen. Es ist schlimm genug, vom ständigen Geplapper normaler Menschen umgeben zu sein. Mit anderen Telepathen zusammen zu sein ist hundertmal schlimmer. Die Menschen können ihre Gedanken nicht kontrollieren, nicht sehr gut jedenfalls. Ghosts empfangen andere Ghosts ausgezeichnet und erzeugen ihre eigene Rückkopplung. Die meisten brauchen psionische Dämpfer, um nicht durchzudrehen.« »Aber Sie haben keine psionischen Dämpfer.« »Ich habe noch ein paar, aber die meisten sind nicht mehr da. Arcturus …« Sie schwieg kurz, dann sagte sie: »Sie mögen ihn nicht, wissen Sie das?« »Wäre ich ja nie drauf gekommen. Aber Sie halten größte Stücke auf ihn.« »Er …« Sie hielt abermals inne. »Er hat mich befreit. Ich glaube, damit ist es am besten ausgedrückt. Er hat mich gerettet, mich von den Dämpfern, den Wachen und dem Entsetzen erlöst. Ich verdanke ihm mein Leben. Mehr noch, ich verdanke ihm meine Seele.« Wie in Erwiderung auf ihre Worte piepste das KommGerät. Mike hielt am Horizont nach Bewegung Ausschau. Nichts. Kerrigan ließ den kleinen Bildschirm aufschnappen, und Mike konnte sich Mengsks lächelndes Gesicht darauf bestens vorstellen. »Schön zu wissen, dass Sie noch leben«, sagte der Rebellenführer. »Sie befinden sich einen Kilometer südlich Ihres Ziels. Keine Schreckgestalten zwischen Ihnen und dem Konföderierten-Camp. Wir lenken ihre Reserven ab.« »Wir wurden aufgehalten«, sagte Kerrigan. »Die Zerg. Es sind schon eine Menge von ihnen hier.« 153
»Und es werden noch mehr kommen, wenn Sie unsere kleine Überraschung in Gang setzen. Die Zerg werden unsere konföderierten Freunde beschäftigen, während wir uns absetzen.« Kerrigans Miene verfinsterte sich. »Die Zerg werden sie auslöschen, Arcturus.« Statik störte die Verbindung. »Arcturus? Hören Sie mich? Die Zerg machen keine Gefangenen.« »Kerrigan!«, sagte Mengsk, und Mike sah den strengen Vaterausdruck auf dem Gesicht des Rebellen vor seinem geistigen Auge. »Wir haben die Emitter nicht erfunden, aber wenn wir sie nicht benutzen, werden wir alle unter der Blockade der Konföderierten sterben. Und wenn wir sterben, stirbt die Hoffnung der Menschheit mit uns.« »Ja, Sir.« »Denken Sie daran, wie sehr ich Ihnen vertraue. Und grüßen Sie Mister Liberty von mir, ja?« Kerrigan klappte den Bildschirm zu und wandte sich nach Norden. Mike hob den Emitter auf und folgte ihr. Er schwieg eine Weile, bis er sagte: »Ich glaube, sie haben Angst.« »Wer? Die Menschen, die über die Ghosts befehlen?« »Ja. Sie wollen nicht, dass sie ihre Erfahrungen mit anderen Telepathen austauschen und womöglich gegen sie intrigieren könnten. Deshalb die psionischen Dämpfer und das Training.« Kerrigan hob die Schultern. »Das könnte sein. Ich glaube, Sie tun es aber auch, um ihre Investitionen zu schützen. Die Opferquote unter den Ghosts ist unglaublich hoch.« »Ich dachte, Sie würden als Helden gefeiert, nach all diesen Investitionen. Wie Wraith-Piloten oder ZerstörerKommandanten.« Kerrigan stieß ein bitteres Lachen aus. »Als Helden gefeiert? Mein Gott, selbst die Kinderschänder, die man zu den Marines steckt, werden besser behandelt als wir. Die Verbrecher bei den Marines werden nur mit Medikamenten 154
voll gepumpt und darauf abgerichtet, den Befehlen ihrer Führer zu gehorchen. Uns beschert man einen lebenden Alptraum, indem man uns in einem fort gegen unsere Grenzen anrennen lässt, wohlwissend, dass wir dem Wahnsinn anheim fallen, wenn wir sie durchbrechen, weil wir die Gedanken anderer nicht aus den unseren heraushalten können.« »Beruhigen Sie sich, Lieutenant. Ich wollte nicht …« »Natürlich wollten Sie nicht«, sagte Kerrigan hitzig. »Das ist es ja, was uns verrückt macht. Ihre Worte bedeuten eines, aber Ihre Gedanken übermitteln etwas völlig anderes. Raynor gibt sich ganz begeistert und leidenschaftlich, aber ich kann sein Unbehagen spüren, seinen Ekel. Und ich weiß, dass er mich im Auge behält, selbst wenn ich ihm den Rücken zukehre. Wir wissen, was die Menschen um uns herum im Sinn haben, ohne imstande zu sein, darauf zu reagieren.« »Tut mir Leid.« »Ich weiß«, sagte Kerrigan in etwas besänftigtem Ton. »Das ist eines der Dinge, die ich an Ihnen mag, Michael Liberty. Bei Ihnen ist alles an der Oberfläche. Fassen Sie das bitte nicht falsch auf. Sie denken an etwas, und Sie sagen es. Ihre Verteidigung kommt nur dann hoch, wenn Sie Fragen stellen, den abgebrühten Reporter spielen. Damit sind Sie leichter zu tolerieren als die meisten anderen Menschen.« Sie schwieg einen Moment, während sie die Kuppe eines Hügels erstiegen. In der Ferne ragten die zerstörten Türme des äußeren Perimeters der Konföderierten empor. Von den Türmen aus war nicht auf sie geschossen worden. Mengsks Truppen hatten die Anlagen abgelenkt. »Wissen Sie, worin die letzte Prüfung besteht, um zur Ghost-Ausbildung zugelassen zu werden?«, fragte Kerrigan unvermittelt. Mike schüttelte nur den Kopf, er wollte ihren Erzählfluss nicht unterbrechen. »Da gibt es eine Wache mit einer Schusswaffe«, sagte sie, und ihr Blick wurde trüb. Sie befand sich jetzt anders155
wo. »Die Wache nimmt die Waffe und presst sie einem gegen die Stirn – oder gegen die Stirn von jemandem, der einem was bedeutet. Und man muss die Wache töten, bevor sie den Abzug drückt.« Ihr Blick klärte sich wieder, und sie sah Mike fest an. »Damals war ich zwölf.« Mike wurde blass, dachte aber auch an Raynors Sohn. Das »begabte« Kind, das einem »Zwischenfall« zum Opfer gefallen war. Kerrigan reagierte, als habe Mike ihr eine Ohrfeige versetzt. Sie sank auf ein Knie nieder und fasste sich mit einer Hand an die Stirn. Nach einer Weile sagte sie: »Großer Gott.« »Es tut mir Leid«, brachte Mike rasch hervor. »Ich wollte es Ihnen nicht sagen, es ist mir so rausgerutscht.« »Großer Gott«, wiederholte sie. »Ich hätte es mir denken können. Ich habe es einfach nicht gewusst.« Mike schüttelte den Kopf. »Sie sind eine Telepathin. Wie können Sie es nicht wissen?« Kerrigan sah auf, und in ihren Augenwinkeln glitzerten Tränen. »Telepathen graben nicht in den Gedanken anderer, jedenfalls nicht, wenn sie geistig gesund bleiben wollen. Wir hören all das Geschnatter von der Oberfläche, alles, was oben schwimmt. Worüber man nachdenkt. Abschweifende Gedanken. Ob diese Frau schöne Beine hat. Diesen ganzen Quatsch eben. Aber nicht das, was tiefer begraben liegt. Nicht den wichtigen Mist.« Sie schwieg für einen Augenblick, dann fragte sie: »Hat er gesagt, wann es passiert ist?« Mike schüttelte den Kopf und wandte sich ab, teils um Ausschau nach Patrouillen der Konföderation zu halten, teils um dem Lieutenant Gelegenheit zu geben, sich wieder in den Griff zu bekommen. Sie wusste das wahrscheinlich, aber als Mike sich wieder umdrehte, war sie auf den Beinen, und ihre Augen waren trocken. »Stellen wir dieses Ding auf. Am Fuß eines dieser Türme, das müsste taugen.« 156
Sie erreichten den Geschützstand ohne Schwierigkeiten, und Mike legte die Last ab, die er über die letzten paar Kilometer geschleppt hatte. Mit so geschickten wie geübten Händen begann Kerrigan, den Emitter aufzubauen, mit dem sie zuvor nie etwas zu tun gehabt hatte. Mike vermutete, dass sie die Anleitung auf telepathischem Wege empfangen hatte, als sie den Apparat abholte. Es handelte sich um ein Provisorium, und der Lieutenant brauchte ein paar Minuten, um die Verpackung zu lösen und sämtliche Verbindungen zu überprüfen. Dann zog Kerrigan etwas hervor, das wie ein seesternförmiges Headset aussah, und setzte es auf. Eine Krone aus feinem Kupferfiligran verlor sich in ihrer roten Haarpracht. »Der Transplanar Psionic Waveform Emitter«, erklärte Kerrigan, »ähnelt dem Klangkörper einer Geige. Er fängt den übersinnlichen Ton, der für ihn bestimmt ist, ein, verstärkt und verbreitet ihn, so wird er zum Köder. Deshalb sind wir hier – es bedarf eines Ghosts, um ihn zu aktivieren.« Sie legte ein paar Schalter um und drückte einen Knopf, dann nahm sie das Headset ab. Ihr Gesicht wirkte müde. »Okay. Gehen wir.« »Das ist alles?« »Haben Sie eine Sirene und Blaulicht erwartet? Ein himmlisches Glockenläuten? Oder eine große Uhr mit einem Countdown? Tut mir Leid.« Kerrigans Gesicht war jetzt bleich, und plötzlich begriff Mike, auch wenn er es nicht spüren konnte – Kerrigan jedoch spürte es, und es wurde zunehmend lauter. »Kommen Sie«, sagte sie. Mike und Kerrigan gingen an der Reihe verlassener Geschütztürme vorbei, von denen jeder ein zertrümmertes Denkmal der Schlacht um Antiga Prime geworden war. Kerrigan musste stehen bleiben, zuckte unter dem unhörbaren Lärm zusammen. Es war, als könne sie hören, wie Fingernägel über eine Schiefertafel kratzen, ein kreischendes Geräusch, für das Mike taub war. 157
Sie erreichten den vierten Turm. Dort schien der Schmerz nachzulassen. Am sechsten Turm wirkte sie fast wieder normal. Sie klappte den kleinen Bildschirm an ihrem Handgelenk auf. »PSI-Emitter in Position«, meldete sie. Mengsks für Mike unsichtbarer Mund erwiderte: »Ausgezeichnet, Sarah, ich wusste, dass Sie es schaffen. Wir müssen Sie herausholen, bevor jeder Zerg, der sich auf Antiga befindet, dort eintrifft. Transporter ist unterwegs.« »Ich weiß«, sagte Kerrigan schwer atmend. Ihre Lippen formten einen dünnen Strich. Dann sagte sie: »Versprechen Sie mir … versprechen Sie mir, dass wir so etwas nie wieder tun werden.« »Sarah.« Mike konnte sich vorstellen, wie Mengsk auf dem Display den Kopf schüttelte. »Wir werden tun, was nötig ist, um die Menschheit zu retten. Unsere Verantwortung ist zu groß, um nicht alles zu geben.« Und dann war er wieder weg, der große weise Führer am anderen Ende des elektronischen Kanals, der den Krieg aus der Sicherheit seines Brandys und seiner Schachpartien heraus dirigierte. »Warum vertrauen Sie ihm?«, fragte Mike. Der Gedanke war ihm in den Sinn gekommen, und er sprach ihn aus. »Warum folgen Sie ihm?« Sarah brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Er hat meine Seele gerettet.« »Und seither haben Sie für ihn gemordet. Sind Sie nicht längst quitt? Gebührt Ihnen nicht Ihre eigene Freiheit?« »Es ist … kompliziert. Mengsk ist Ihnen sehr ähnlich. Na ja, gut, tut mir Leid, er ist eigentlich das genaue Gegenteil von Ihnen. Bei Ihnen ist alles an der Oberfläche, wie auf einer Zeitungsseite. Bei ihm liegt alles in der Tiefe. Er sagt einem, was er denkt, und er ist so überzeugt davon, bis auf den Grund seines Wesens, dass der Effekt fast derselbe ist. Er inspiriert mich zu glauben.« »Er ist ein Politiker. Wenn Sie genauer suchen, werden Sie das feststellen. Der Sumpf seiner Seele hat einen Boden.« 158
»Und würde das irgendetwas ändern? Will ich überhaupt suchen?« »Manchmal ist es gut, etwas zu suchen. Wenn Sie ein bisschen gründlicher gesucht hätten, käme Raynor Ihnen vielleicht nicht wie ein Esel vor.« Kerrigan öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch dann hielt sie inne und nickte. »Ja, Sie haben vermutlich Recht. Jedenfalls was Raynor angeht. Ich schätze, das bin ich dem Esel schuldig.« »Unsere Verantwortung ist zu groß, um nicht alles zu geben« zitierte Mike. Kerrigan lachte auf, ein kurzes Kichern. Es war überraschend, nicht geplant und sehr menschlich. Mike atmete tief aus und fragte sich, was zuerst eintreffen würde, die Zerg aus der nahe gelegenen Kolonie – oder Mengsks versprochener Transporter.
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KAPITEL 13 SEELENSUCHE Durch das Okular der Geschichte betrachtet, scheint Krieg mit erschreckender Präzision zu funktionieren – wie ein mörderisches Uhrwerk. Schlachten sind nichts anderes als das Ticken des Todes, als Dramen der Vernichtung, in denen ein Akt ganz natürlich in den nächsten übergeht, bis die eine oder die andere Seite bezwungen ist. Rückblickend erscheint der Niedergang der Konföderation wie ein in sich völlig logischer Ablauf, der, einmal begonnen, bis zum bitteren Ende keine Fragen zulässt. Für jene von uns, die inmitten des Krieges gefangen waren, gab es nichts außer schierer Panik, die von Phasen totaler Erschöpfung unterbrochen wurde. Niemand, nicht einmal jene, die angeblich die Planung vornahmen, hatte eine klare Vorstellung von den Mächten, mit denen wir es zu tun bekamen – bis es zu spät war, noch etwas zu ändern. Wie ein Uhrwerk? Vielleicht. Aber ich ziehe es vor, das Ganze als den Zeitzünder einer Bombe zu betrachten, an deren Entschärfung wir fieberhaft arbeiteten, in der Hoffnung, wir könnten es schaffen, bevor das verdammte Ding uns allen ins Gesicht explodiert. – DAS LIBERTY-MANIFEST Das Landungsschiff war unterwegs, um in einer niedrigen Umlaufbahn auf die Hyperion zu treffen. Kaum war der Emitter aktiviert worden, hatte Mengsk die Oberfläche verlassen. Aber er wollte die Blockade der Konföderierten nicht durchbrechen, ohne zuvor alle seine barfüßig umherwandernden Kinderlein heimzuholen … So jedenfalls kam es Mike vor. Er beobachtete die Schirme, während sie sich von der Oberfläche entfernten. Sämtliche Kameras waren auf den 160
Planeten gerichtet. Der Emitter zeigte bereits Wirkung auf die am Boden befindlichen Zerg. Sie brodelten wie wütende Ameisen aus ihren Nestern hervor, bewegten sich unkontrolliert hin und her, griffen einander in ihrem psionisch verursachten Wahnsinn sogar an. Doch bald schon zogen sie in Richtung des Turmes, an dessen Fuß Mike und Kerrigan den Emitter zurückgelassen hatten. Ein Hurrikan aus Lebewesen umkreiste den Köder wie Motten ein Licht. Als das Schiff höher stieg, erfassten seine Sensoren weitere Nester, weitere Reaktionen, während der ewig nachklingende Ton, der aus Kerrigans Geist kam, widerhallte und mit jeder Sekunde stärker wurde. Der Funk übertrug Schreie konföderierter Bodentruppen, die überrannt wurden, und die Nachtseite von Antiga Prime wurde jetzt von kleinen Explosionen punktiert. Die Rebellen waren vorgewarnt worden, aber wer nicht schnell genug vom Boden wegkam, wurde von Wogen aus Zerglingen und Hydralisken verschlungen. Der Transporter stieg weiter, und Mike konnte die Krümmung des Horizonts erkennen. Ein Blitz zeichnete sich entlang der geschwungenen Linie ab, und ein paar Sekunden später fegte der elektromagnetische Impuls über das Schiff hinweg. Die Bildschirme wurden kurz schwarz, bis die Gegenmaßnahmen griffen. Einer der großen Kreuzer der Behemoth-Klasse, das Schwesterschiff der Norad II, war Opfer des zunehmend vehementeren Angriffs geworden. Über ihnen löste sich die Blockade der Konföderierten bereits auf. Zur Verfügung stehende, landefähige Schiffe wurden umgeleitet, während andere versuchten die jetzt allgegenwärtigen Zerg zu attackieren. In der Nähe strich eine Triade aus leuchtenden Dreiecken vorbei, und Mike versuchte die glühenden Muster wegzublinzeln, die sie auf seinen Netzhäuten hinterließen. Die Protoss waren bereits da – noch griffen sie nicht in den Kampf ein, aber sie waren schon in der Atmosphäre. Dann kamen Meldungen von den entferntesten Schiffen herein. Im Raum öffneten sich Tore zum Überraum, und 161
durch diese drangen Horden von Zerg. Die Hummer-HirnQuallen, die Königinnen, die Mutalisken und die seltsamen fliegenden Krabben … sie alle brachen aus dem All hervor und senkten sich auf Antiga hinab, angelockt und festgehalten durch den sirenenhaften Lockruf des Planeten. Der Transporter dockte an die Hyperion an, und die gesamte Crew verließ das kleine Schiff, das anschließend aufgegeben und von der Schleuse abgesprengt wurde. Es stürzte um die eigene Achse wirbelnd der Oberfläche entgegen. Die Hyperion hätte es auf ihrer Flucht nur verlangsamt. Mengsks Schiff stieg wie eine Blase zwischen den in heller Panik befindlichen Konföderierten und den niedergehenden Zerg empor. Die Zerg kämpften nur, wenn ihnen etwas im Weg war, und die Konföderierten reagierten, wie zu erwarten, indem sie ihre besten Schiffe der Angriffswelle entgegenwarfen. Etliche weitere Blitze zuckten auf, doch die Schirme der Hyperion zeigten die Explosionen nur als schwaches Flackern. Jedes Glimmen stand für den Tod von 500 weiteren Menschen der Konföderation, die in einem nuklearen Feuerball umkamen. Kerrigan wirkte ausgelaugt und blass. Mike war sicher, dass sie den psionischen Ruf noch immer hören konnte, selbst in dieser Höhe. Er wirkte auf einer Ebene, die er nicht wirklich verstand, überbrückte selbst die Tiefen des interstellaren Raumes, um den Feind herzulocken. Mike half dem Lieutenant aus der Landebucht. Auf dem Gang lief ihnen Raynor über den Weg. »Glückwunsch«, sagte er herzlich. »Ihr habt den Zerg wirklich Feuer unterm Hintern gemacht. Ich weiß zwar nicht, was Sie gesagt haben, Lieutenant, aber es hat sie ganz schön aufgescheucht.« Kerrigan hob den Kopf, ihre Augen flammten vor Zorn, und selbst Raynor konnte die Wut und die Frustration in ihrem Blick erkennen. Dann, so plötzlich wie dieser Ausdruck gekommen war, verging er wieder, brannte aus und hinterließ nur Erschöpfung. 162
Raynor streckte die Hand aus, um Kerrigans Schulter zu berühren. Seine Stimme wurde weicher, und seine Stirn legte sich in Sorgenfalten. »Lieutenant, sind Sie in Ordnung?« Er machte, wie Mike bemerkte, nach jedem Wort eine winzige Pause. Kerrigan sah wieder in Raynors Augen, doch nun ohne jede Wut. Mike dachte an die Rückkopplung – Angst gebar Angst, Sorge gebar Sorge. »Ich bin okay«, sagte sie und wischte sich eine ihrer roten Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Es war nur sehr … ermüdend.« Mike fragte nach Mengsk. »Oben in seiner Aussichtskuppel«, antwortete Raynor. »Ich glaube, er will sich die Schlacht ansehen. Ich hab ihn allein gelassen. Das ist nichts, was ich unbedingt sehen muss.« »Ich kann ihm Bericht erstatten, wenn Sie sich ausruhen wollen«, wandte sich Mike an Sarah Kerrigan. Sie schwieg einen Moment, wurde von einer fast körperlich spürbaren Woge durchlaufen. »Das wäre nett, Michael«, sagte sie schließlich, den Blick immer noch auf Raynor gerichtet. »Sie sehen wirklich fertig aus«, sagte Raynor, und seine Besorgnis war so offensichtlich, dass es selbst Mike auffiel. »Wie wär's mit einer Tasse Kaffee in der Kombüse? Ein bisschen reden?« »Kaffee wäre gut«, antwortete sie, und ein kleines Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. »Und reden auch. Ja, reden wäre gut.« Mike hob eine Hand, ging Richtung Aufzug und ließ die bei den im Gang zurück. Als er den Lift erreichte, legte er einen Gedanken offen, sodass Kerrigan ihn mühelos lesen konnte. Denken Sie daran, ihn verdammt noch mal ausreden zu lassen. Dann fuhr er nach oben, wo der Verantwortliche am Untergang Antiga Primes wartete. Mengsk stand allein auf dem Aussichtsdeck, die Hände 163
hinter dem Rücken, das Gesicht dem Hauptschirm zugewandt. Das Schachspiel war für eine neue Partie bereit, und neben einem Aschenbecher lag eine frische Packung Zigaretten. Zwei Brandygläser und eine noch verkorkte Flasche standen auf dem Bartresen. Alle Monitore waren ausgeschaltet, bis auf den Hauptschirm, der Echtzeitbilder von Antiga Prime und dem umgebenden Raum zeigte. Kleine gelbe Dreiecke stellten die Streitkräfte der Konföderation dar, rote die stetig an Zahl zunehmenden Zerg. Auf der Oberfläche befanden sich ein paar blauweiße Pünktchen, wie Mike sie bislang noch nicht gesehen hatte. Außerdem zeichneten sich dort ein paar Kreise ab: Rebellentruppen, die das Pech hatten, nicht rechtzeitig entkommen zu sein. Während Mike hinsah, gingen sie in einer Woge aus roten Dreiecken unter. Im Orbit herrschte eine vergleichbare Situation: Noch mehr rote Dreiecke, die für Dutzende oder Hunderte von Zerg-Einheiten standen, und sie alle näherten sich Antiga Prime. Die Schiffe, die davonjagten, blieben unbehelligt. Andere harrten aus und gruppierten sich, bis die Zerg über sie hinwegschwärmten und sie im All auseinander rissen. Mike erinnerte sich an das Bild der untergehenden Norad II. Doch das hier war hundertfach schlimmer. »Wir entfernen uns mit Höchstgeschwindigkeit«, sagte Mengsk in beruhigendem Tonfall. »Der Schiffscomputer gleicht Schwankungen aus und hält das Signal konstant.« Mike ging zur Bar, zog den Korken aus der Flasche und goss sich zwei Fingerbreit Brandy ins Glas. Für Mengsk schenkte er nichts ein. »Die Kalkulation erfolgt auf Basis der Emissionsstärke. Wir rufen jedmöglichen Zerg innerhalb eines Radius von 25 Lichtjahren zu uns«, fuhr Mengsk fort. »Vielleicht reicht es sogar noch weiter. Lieutenant Kerrigan ist eine Sirene, die diese Geschöpfe ins Verderben lockt.« »Es hat sie viel Kraft gekostet«, sagte Mike und nahm einen großen Schluck. »Aber nicht mehr, als sie verkraften kann. Ich bin froh, 164
dass Sie für sie da waren. Anderenfalls hätte sie es vielleicht nicht geschafft.« Mike errötete, und einen Moment lang schob er es auf den Brandy. »Sie haben mir keine große Wahl gelassen, oder?« »Eigentlich nicht.« Mengsk zuckte ein wenig verlegen die Achseln und wandte sich Mike zu. Hinter ihm wuchs die Zahl der roten Dreiecke. Auf der Oberfläche war von den konföderierten Kräften fast nichts mehr übrig. »Aber ich bin trotzdem froh, dass Sie bei ihr waren.« Mike schnaubte und nahm einen weiteren Schluck. Mengsk schenkte sich selbst ein. Am Rand des Bildschirms erschienen jetzt blauweiße Dreiecke. Die Protoss waren eingetroffen und kampfbereit. Mengsk blickte auf den Hauptmonitor und sagte: »Wir erhielten eine interessante Meldung, während Sie fort waren.« Mike erwiderte nichts, worauf Mengsk fortfuhr. »Bodentruppen der Protoss halfen, die Zerg anzugreifen, auf die wir trafen. Der Name ihres Anführers ist Tassadar. Er selbst nennt sich Hoher Tempelherr und Exekutor der Protoss-Flotte. Sein Flaggschiff ist die Gantrithor.« »Vielleicht waren sie von Ihrer Arbeit beeindruckt und beschlossen, Ihnen zur Hand zu gehen. Sie müssen einen guten Presseagenten haben.« Mengsk warf Mike einen vernichtenden Blick zu. »Kommen Sie, Michael. Von Ihnen erwarte ich mehr. Denken Sie darüber nach, was ich gerade gesagt habe.« Mike schwieg einen Moment, dann sagte er: »Bodenkräfte?« Mengsks Miene hellte sich auf. »Genau. Individuelle Krieger in überaus effektiven duktilen Rüstungen. Seltsame insektenartige Fahrzeuge. Bannrufer, bei denen es sich vermutlich um eine Art Psioniker handelt. Zäher als die Zerg, Mann für Mann, auch wenn die Zerg ihnen rein zahlenmäßig überlegen sind. Es ist faszinierend, ihnen beim Kampf zuzusehen. Sie sollten sich später die Aufzeichnungen anschauen.« 165
»Moment mal«, warf Mike ein. Mengsks Lächeln wurde breiter. »Ich kann warten. Sie werden es begreifen. Ich habe Vertrauen in Sie.« »Wenn die Protoss über Bodentruppen verfügen …« »Ziemlich gute sogar, wie ich schon erwähnte.« »Das heißt, dass sie schon zuvor am Boden gegen die Zerg gekämpft haben. Und wichtiger noch: Sie haben diese Schlachten gewonnen.« »Warum sonst sollten sie überhaupt Bodentruppen unterhalten? Ja! Und jetzt denken Sie noch einen Schritt weiter.« Mikes Augen weiteten sich. »Das heißt, die Zerg sind zu vernichten, ohne dass der Planet, auf dem sie sich befinden, in die Luft gejagt werden muss!« »Volltreffer!« Mengsk nahm einen Schluck von seinem Brandy. »Es mag eine schwierige Aufgabe sein, und ich glaube, dass die Protoss in diesem Fall unterliegen werden, aber: Ja, die Zerg sind am Boden zu schlagen.« Er lachte glucksend auf. »Raynor musste ich es dreimal erklären, wissen Sie?« »Aber … aber dann haben wir mit all unseren Anstrengungen nur eines erreicht – wir haben lediglich die Protoss dazu gebracht, Antiga Prime hochzujagen!« »Und einen großen Teil der Zerg dazu. Das sollte sie für eine Weile eindämmen. Lange genug, um uns die Oberhand über die Konföderation erringen zu lassen.« »Sie werden Antiga Prime vernichten und jeden Menschen der dort überlebt hat!« »Kein Mensch kann so viele Zerg überlebt haben. Wir werden tun, was immer nötig ist, um den größeren Teil der Menschheit zu retten«, erklärte Mengsk fast feierlich. »Selbst wenn wir zu diesem Zweck alle Menschen dort unten umbringen müssen?«, schnappte Mike. Mengsk sagte nichts, und Mike ließ zu, dass sich das Schweigen dehnte und schmerzhafte Stille die Kuppel erfüllte. Auf dem Hauptschirm war Antiga mit roten Dreiecken nahezu überflutet, und ein Kreis aus blauen Dreiecken zog 166
sich im Orbit um den Planeten zusammen. Gelbe Dreiecke waren keine mehr zu sehen. Nach einer Weile sagte Mengsk: »Ich weiß, was Sie denken.« Mike setzte sein Glas ab. »Sind Sie jetzt auch unter die Telepathen gegangen?« »Ich bin ein Politiker, wie Sie mich zu nennen pflegen. Und das heißt, dass ich ein Gespür für andere Menschen habe. Für ihre Bedürfnisse, ihre Wünsche und ihre Beweggründe.« »Und? Was denke ich?« Mike kam sich mit einem Mal wie ein Insekt unter einem Mikroskop vor. »Sie fragen sich, ob ich auch Sie zum Wohle der gesamten Menschheit opfern würde. Die Antwort ist ja – auf der Stelle und ohne zu zögern. Aber ich möchte es nicht, wirklich nicht. Gute Hilfe ist, wie man sagt, schwer zu finden. Und Sie sind sehr gut, nicht nur als Reporter.« Mike schüttelte den Kopf. »Wie machen Sie das nur?« »Wie mache ich was?« Mengsk legte den Kopf schief. »Wie finden und drücken Sie jedermanns Knopf? Sie spielen auf Menschen, als seien sie Klaviere. Kerrigan würde für Sie in das Maul eines Hydralisken springen, Raynor macht Männchen für Sie. Verdammt, Sie haben sogar diesen dämlichen alten Gorilla Duke dazu gebracht, Ihnen aus der Hand zu fressen. Wie machen Sie das?« »Es ist eine Gabe. Ich finde, dass andere sich in ihrem Denken oft verzetteln. Ich versuche ihnen ein starker Mittelpunkt, ein Halt, ein Anker zu sein. Raynor ist in vielerlei Hinsicht von Wut auf die Konföderierten erfüllt – ich biete ihm also ein Ventil, um diese Wut abzulassen. Duke sucht nichts anderes als politische Deckung, um in ihrem Schutz alte Rechnungen zu begleichen und neue Gräueltaten zu begehen – ich biete ihm diese Möglichkeit. Sarah? Nun, Lieutenant Kerrigan hat schon immer nach Anerkennung gesucht, trotz ihrer eigenen Gaben. Und auch das kann ich bieten.« Mike dachte an Sarah Kerrigan, die gerade unten in der 167
Kombüse war und sich bei einem Kaffee mit Jim Raynor unterhielt. »Und was ist mit mir?« Mengsk schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und schüttelte den Kopf. »Sie wollen Seelen retten, mein lieber Junge. Sie wollen etwas verändern. Ob Sie über einen Verkehrsstau berichten oder über einen korrupten Stadtrat, Sie versuchen die Welt zu verbessern. Das steckt Ihnen quasi in den Genen. Und Sie glauben daran. Das macht Sie so wertvoll. Das macht Sie zu einer unglaublichen Ressource. Sie halten Raynor davon ab, zu impulsiv zu handeln, Kerrigan davon, zu unmenschlich zu reagieren. Die beiden haben große Achtung vor Ihnen, wissen Sie das? General Duke haben Sie als hoffnungslosen Fall abgeschrieben, ich schätze, gleich nachdem Sie ihn kennen gelernt hatten. Aber ich glaube, dass Sie für mich noch Hoffnung sehen. Deshalb sind Sie hier geblieben, in der Hoffnung, dass ich meine persönliche Erlösung finde.« Mike runzelte die Stirn. »Und was hält mich davon ab, jetzt zu verschwinden, nachdem ich weiß, dass die Hoffnung auf Ihre Erlösung wahrscheinlich unerfüllbar bleibt?« »Ah«, machte Mengsk, den Blick auf den Schirm gerichtet. Die Umzingelung durch die Protoss war fast komplett. »Zum Teil liegt es an Ihrer Sorge um andere. Aber jetzt kann ich ja ehrlich zu Ihnen sein, nachdem die Konföderation Sie – mittels ihrer Marionette, dem UNN – verraten hat. Man hat Ihr Gesicht und Ihre Worte gegen Sie verwendet. Jetzt haben Sie selbst Ihren ganz persönlichen Grund, gegen sie zu kämpfen. Ihren eigenen Anlass. Die Konföderierten haben es zu einer persönlichen Angelegenheit gemacht. Sie könnten alleine losziehen …« Mengsk ließ seine Stimme verklingen. »Aber wo sollte ich hin«, sagte Mike lahm. Es war eine Feststellung, keine Frage. »Richtig. Sie sind auf lange Sicht an Bord. Bis zum Sieg oder bis zur Niederlage. Ah, es beginnt. Wollen Sie es mit mir ansehen?« 168
Mike schaute auf den Bildschirm, auf den Ring aus blauweißen Dreiecken, der die dem Untergang geweihte Welt umschloss. Schon erhoben sich rote Angriffsspitzen von der Oberfläche, aber sie wurden zurückgeschlagen, als die Protoss ihre Waffen entluden, um die Welt zu verbrennen, sie bis in die tiefsten Verstecke hinab zu sterilisieren. »Ich verzichte«, sagte Mike. Sein Mund kam ihm vor wie mit Asche gefüllt. Er drehte sich um und ging auf den Lift zu, ohne sich noch einmal umzuwenden und hinzusehen. Mengsk schien gar nicht zu registrieren, dass Mike ging. Er stand da, das Glas mit Brandy in der Hand, und sah zu, wie die Protoss einen folgenschweren Strahlenschauer auf Antiga Prime niederregnen ließen.
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KAPITEL 14 GROUND ZERO Der Einsatz des PSI-Emitters auf Antiga Prime markierte einen Wendepunkt, von dem ab es keine Möglichkeit mehr zur Umkehr gab. Es war wie das erste Auftauchen von Ghosts in den Reihen der Konföderation – oder wie der unüberlegte Abwurf der Apokalypse-Bomben, die Korhal IV zerstörten. Es änderte alles. Und es änderte zugleich auch nichts. Für den Durchschnittsbürger, der zwischen den Fronten der Rebellen und der Konföderierten steckte, und für die Konföderierten, die zwischen den Fronten der Zerg und der Protoss steckten, blieb der Krieg so mörderisch wie eh und je. Weitere Planeten wurden von den Waffen der Protoss vernichtet, und weitere Menschen wurden von den Zerg-Schwärmen verschlungen. Aber nach dem Geschehen auf Antiga Prime keimte unter den Rebellen neue Hoffnung, jetzt hatten wir zumindest eine Waffe. Und dumme, närrische Menschen, die wir nun einmal sind, konnten wir nicht widerstehen, sie auch einzusetzen. – DAS LIBERTY-MANIFEST Zehn Tage später waren sie auf Tarsonis und kämpften sich blockweise durch die Viertel der Innenstadt. Der Angriff hatte die Stadt schwer in Mitleidenschaft gezogen. Die westlichen Bezirke standen immer noch in Flammen. Ein Schlachtkreuzer war dort abgestürzt, und eine Woge heißen Staubes, mit Schwermetallen durchsetzt, wölkte im starken Wind Richtung Süden. Die höher gelegenen Fenster der meisten wichtigen Gebäude waren zerborsten, und in einigen Fällen waren ganze Fassaden von ihren Metallskeletten gerutscht und hatten Hügel aus zerbrochenem Glas zu Füßen der Turmtitanen hinterlassen. Die eleganten Spitzbauten von Tarsonis waren nur mehr 170
gezackte, verbogene Überreste, deren zerbrochene Ränder über den blutigen Himmel zu kratzen schienen. Die Atmosphäre wurde zerrissen vom Kreischen und Donnern der Schlacht und war durchzogen vom Rauch abgeschossener Jäger. Die meisten Straßen waren von den Wracks ausgebrannter Bodenfahrzeuge verstopft. Ihr glänzender Lack war durch Hitze zu einem gleichförmigen Grau gebacken worden, und die getönten Scheiben waren nur noch zerbrochene, gezahnte Löcher. Zuerst hatte Mike in die Wracks hineingeschaut, um nachzusehen, ob er die Insassen identifizieren konnte, aber nach einer Stunde ignorierte er die verkohlten Leichen mit ihren zu dünnen Stecken verbrannten Gliedern und den mumifizierten, verzerrten Gesichtern. Das Einzige, was auf den Straßen noch lebte, waren die Krieger, die alle Anstrengungen unternahmen, sich gegenseitig zu töten. Die verstopften Seitenstraßen zwangen Raynors Einheit, auf den breiten Hauptstraßen zu bleiben, in deren Mitte Verkehrsinseln lagen, die früher begrünt gewesen waren. Die Bäume dort waren jetzt umgestürzt, nur noch verkohlte Stümpfe, und die dazwischen befindlichen Statuen berühmter Konföderierter zu formlosen Klumpen geschmolzen. Raynors Einheit saß in der Nähe eines der dreistufigen Brunnen an der Central Plaza fest. Eine abgefallene Gedenktafel kennzeichnete ihn als Denkmal, das dort von den Töchtern der Veteranen des Gildekriegs aufgestellt worden war. Der Brunnen war jetzt nur noch ein Loch, über dem sich feuchter Schutt türmte, und der einzige Hinweis auf sein früheres Aussehen bestand aus einer Steinkanone, die aus dem zertrümmerten Kunstwerk ragte. Mike ertappte sich bei dem Wunsch, die Kanone solle echt sein. Auf der anderen Seite der Plaza stand zwischen zwei Gebäuden und hinter einer hastig errichteten Barrikade aus Autowracks ein Arclite-Belagerungspanzer. Er blockierte den Weg, war in Gefechtsposition und hatte die Seitenpontons fest auf den Asphalt gestützt. Die Schockkanone jagte 171
glühende Geschosse über sie hinweg, und das 80-mmZwillingsgeschütz beharkte den Schutt aus Brunnenresten. Der Belagerungspanzer war für die konföderierten Streitkräfte, die zum Großteil aus Resten der Delta- und OmegaSchwadron bestanden, zu einem Sammelpunkt geworden. Von hier aus bestrichen die neu geordneten Einheiten Raynors Stellung mit stetem Feuer, um ihn und seine Leute in ihrer Deckung festzunageln. Hinter der Steinkanone hielt Mike den Kopf unten und schlug verzweifelt auf sein Komm-Gerät ein. Es brummelte ihn frustrierend an. »Ich muss über einen Berufswechsel nachdenken«, murmelte er und duckte sich reflexartig, als ein weiteres Geschoss durch die steinernen Schluchten der Stadt fauchte. Raynor rutschte den Schutthügel herunter und auf Mike zu, seine schweren Stiefel schoben eine kleine Lawine vor sich her. »Klappt's?«, fragte er. Mike schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich haben sie einen allgemeinen Störsender eingesetzt, im Gegensatz zu einem EMP, der die ganze Einheit ausschalten würde. Das heißt, dass der Funk noch funktioniert, ich komm nur nicht durch ihren Störschild. Etwas mit mehr Saft könnte es schaffen.« »Na großartig, verdammt noch mal. Dann sind wir also angeschissen, so wie's aussieht. Wir können nicht zurück, und wir kommen nicht an dem Panzer vorbei. Wir müssen einen Evakuierungstransporter rufen, aber das klappt nicht, weil wir keine Verbindung zur Hyperion kriegen.« »Braucht ihr Hilfe, Jungs?« Sarah Kerrigan erschien wie aus dem Nichts neben ihnen. Sie trug ihren Tarnanzug und die klobige Kanister-Rifle. Ihre Hosenaufschläge zeigten dunkelrote Flecken, als sei sie durch einen Fluss aus Blut gewatet. Ihre Augen funkelten höchst wachsam. »Schön, Sie zu sehen, Lieutenant«, sagte Raynor. »Wir haben gerade unser Schicksal beklagt.« 172
»Ich war in der Gegend und hörte Schüsse«, sagte Kerrigan. »Wo drückt der Schuh?« »Arclite – ein Stück weit entfernt, zwischen den Gebäuden«, sagte Raynor, »unterstützt von einem ganzen Marines-Geschwader.« »Das ist alles? Und ich dachte schon, Sie hätten Schwierigkeiten.« »Wir wären für jede Hilfe dankbar, Ma'am«, sagte Raynor grinsend. »Kinderspiel«, sagte Kerrigan und hob demonstrativ das Gewehr etwas höher. »Geben Sie mir Deckung, während ich mich an sie ranschleiche, klar?« »Linke oder rechte Flanke?«, fragte Raynor. »Links, würde ich sagen«, antwortete Kerrigan und lächelte wieder. Dieses Lächeln betonte die Wildheit in ihren Augen noch zusätzlich. »Links von Ihnen aus gesehen, Jimmy.« »Geht in Ordnung, Sarah.« Kerrigan berührte ein Gerät an ihrem Gürtel, das ihre Tarnvorrichtung aktivierte. Sie entschwand den Blicken der Männer, während Raynor den Resten der Einheit Befehle zurief. Die Gaußgewehre husteten, als sie das Feuer der Konföderierten erwiderten und nun selbst einen verheerenden Sperrgürtel erzeugten. Ihr plötzlicher Angriff ließ die Marines verstummen, doch die Schockkanone des Arclite jagte weiterhin ihre donnernden Schüsse über die Köpfe der Rebellen hinweg. »Sie glauben also, dass sie es schafft ›Jimmy‹?«, fragte Mike. James Raynor errötete unter dem Visier seiner Kampfrüstung und hob die Schultern. »Vermutlich. Aber das bringt uns gar nichts, wenn wir keine Mitfahrgelegenheit von dieser Müllhalde weg finden.« Ein Feuervorhang aus einander entgegenjagenden Impaler-Spikes entstand zwischen beiden Lagern, und Mike wunderte sich, wie sich Kerrigan über ein solches Schlachtfeld bewegen konnte. Ein verirrtes Geschoss konnte ihre 173
Tarnung ausschalten, und sie würde unter den Treffern der Spikes aus den Gaußgewehren blutend zu Boden gehen wie jeder andere Soldat auch. Dann begann der äußere Rand der Flanke der Konföderierten zusammenzubrechen, untermalt vom hohen Heulen der Kanister-Rifles. Einer nach dem anderen zuckten die Konföderierten zusammen und fielen unter dem Feuer eines unsichtbaren Heckenschützen. Die Flanke löste sich auf, als die Marines anfingen, auf gut Glück auf ihren vermeintlichen Angreifer zu schießen. Ein Aufflackern, und ganz kurz erschien Sarah Kerrigan oben auf der Barrikade aus Autowracks. Dann flackerte ihre Gestalt erneut und verschwand wieder, und die Luft um sie herum war von Spikes gesättigt. Raynor brüllte einen Angriffsbefehl, und der Rest der Truppe kam aus den Verstecken und stürmte über die Plaza. Die schweren Stiefel erschütterten den unechten Granit der Gehwege. Der Schild, mit dem die Konföderierten den Belagerungspanzer schützten, wurde instabil, doch der Arclite nahm die Rebellen auch weiterhin unter Beschuss. Die 80mm-Kanonen stellten sich rasch auf die neue Distanz zu den angreifenden Rebellen ein, während die Hauptschockkanone automatisch herumschwenkte und dabei schwere 120-mm-Granaten abfeuerte. Kerrigan tauchte wieder auf, diesmal auf dem Hauptdeck des Belagerungspanzers, direkt unter der Kanone. Sie schob den Lauf ihrer Rifle in den Drehkranz des Turmes und entfernte sich, als das konföderierte Feuer sich auf sie einpendelte, mit einem akrobatischen Überschlag. Mike bildete sich ein, das Ladegeräusch der Rifle hören zu können, wie ihr Magazin kritisch wurde, und er schrie eine Warnung. Raynor und seine Männer brauchten keine Warnung. Sie ließen sich auf der Stelle fallen. Am unteren Rand des Panzerturms flackerte es rot auf, und die Explosion wirbelte die verbliebenen Konföderierten davon. Die leichteren Waffen verstummten, die große 174
Schockkanone allerdings schoss weiter, feuerte im Schwenken Schuss um Schuss ab. Die Programmierung hatte sich aufgehängt. Die Schockkanone riss ein Stück aus der Ecke eines der beiden Gebäude, die den Panzer flankierten. Der Boden bebte. Die Kanone schoss weiter, ihr Lauf glühte jetzt dunkelrot, während sie sich drehen wollte, doch die Bauten ließen es nicht zu. Sie setzte den Beschuss fort, und das große Gebäude erzitterte unter der unermüdlichen Attacke. Die Ausstiegsluke des Panzers öffnete sich, und die Crew versuchte herauszudrängen, wie Clowns, die in einer Zirkusnummer aus einem übervollen Auto quollen. Sie schafften es nicht. Ein weiteres Beben erfasste die ganze Plaza, und das angegriffene Gebäude brach über dem danebenstehenden Panzer zusammen. Tonnen von Stahl und Mauerwerk stürzten herab und ließen eine heiße Staubwolke aufsteigen. Erst jetzt hörte der Arclite endlich auf zu schießen. Raynor rappelte sich wie auch der Rest der Truppe vom vibrierenden Asphalt auf. Mike kam ebenfalls hoch und rief: »Kerrigan? Lieutenant?« Seine Stimme klang schwach und verloren im Gefolge der Explosion. Kerrigan tauchte neben ihnen auf, grau wie der Geist, der sie hätte sein müssen. Mike erkannte, dass es Staub war, der sich auf ihrem Tarnfeld festgesetzt und eine Patina um die Telepathin gebildet hatte. Sie drückte einen Schalter an ihrem Gürtel und wurde wieder menschlich. Die von Erschöpfung kündenden Linien hatten sich tiefer in ihr Gesicht gegraben, ihre Augen indes funkelten immer noch hellwach. Der Tarnschirm zehrte an ihrer Substanz, aber das hätte sie nie zugegeben. »Ziel neutralisiert, Captain«, sagte Kerrigan. »Aber ich fürchte, wir können jetzt trotzdem nicht dort lang.« »Das macht nichts«, antwortete Raynor. »Die Konföderierten müssen inzwischen dabei sein, sich neu zu formieren. Sie werden bald einen Gegenangriff starten. Wir können diese Zone nicht halten. Was wir brauchen, ist eine 175
Möglichkeit, um den Störsender zu überwinden.« »Jim«, sagte Mike. »Drei Blocks westlich von hier liegt das Gebäude des UNN-Senders. Seine Systeme sind geschützt, und im Keller gibt es Generatoren. Vielleicht haben sie noch genug Saft, um das Störfeuer zu überwinden.« Raynor nickte. »Kann sein, dass es inzwischen nur noch Schutt und Asche ist, aber es ist einen Versuch wert.« Er gab der Patrouille das Zeichen zum Aufbruch. Kerrigan gesellte sich zu Mike. »Sie waren also in der Gegend«, sagte er zu der Telepathin. »So rein zufällig?« »Ich gehe dorthin, wo Arcturus Mengsk glaubt, dass ich am nötigsten gebraucht werde«, erwiderte Sarah Kerrigan und verhehlte nicht ihre Belustigung über Mikes Gedanken. »Und was hat unser legendärer Führer diesmal vor?«, fragte Mike. »Jim hat Recht. Ich erhalte bruchstückhafte Meldungen über Verstärkung, die sich aus den Vororten nähert. Walkers, Panzer und Bikes. Hier wird's bald ziemlich hoch hergehen. Hat er dafür einen Plan?« »Das hat er jedenfalls gesagt.« Das Universe-News-Network-Gebäude war ziemlich übel zu gerichtet, aber es stand noch. Die Fenster entlang der Ostseite waren nur mehr leere Löcher, und einer der großen Buchstaben war herabgestürzt und von dem gewundenen Stahl gepfählt worden, der aus dem Betonschutt emporragte. Raynor blickte an dem Gebäude hoch. »Ich hoffe, das Equipment, an das Sie denken, befindet sich nicht ausgerechnet im Penthouse.« »Die oberen Etagen sind dem Management vorbehalten«, sagte Mike. »Die Arbeitsbienen rackern sich im dritten Stock ab. Und die Sendekabinen und Generatoren befinden sich im Keller.« Auch wenn sein Tonfall leichthin klang, sank ihm doch das Herz in die Hose. Dies hier war jahrelang seine Wirkungsstätte gewesen, sein zweites Zuhause. Wo das »N« jetzt lag, hatte er sich Hotdogs und Limonade gekauft, mit 176
den Werbetextern und Korrespondenten über planetare Politik und lokale Verordnungen diskutiert. Neben dem Zeitungskiosk hatte es einen Brezelstand gegeben. Jetzt stachen nur noch verdrehte Streben aus dem Beton, und es gab keine Spur von Überlebenden. Die Patrouille drang in das Gebäude vor. Mike erwartete nicht, dass sich noch jemand darin aufhielt. Gespenstische Stille lag wie ein Schleier über der Eingangshalle. Selbst an Wochenenden hatte hier ein stetes Murmeln geherrscht. Jetzt gab es nur noch zerfetztes Papier und Asbeststaub, der sich von den Deckenfliesen gelöst hatte. Bis auf das Knirschen ihrer eigenen Stiefel war es still. Mike blickte die breite Treppe zum Mezzanin und den Bogenebenen hinauf (über die Treppe war man schneller dort als mit dem Fahrstuhl, selbst wenn die Aufzüge zur Abwechslung mal funktionierten) und spielte mit dem Gedanken, nach seinem alten Schreibtisch zu suchen. Er fragte sich, ob es ihn noch gab. Er fragte sich, ob es überhaupt noch irgendetwas gab, das zu gebrauchen war. Raynor bemerkte seinen Blick nach oben. »Sagten Sie nicht, das Equipment befände sich im Keller?« »Ja, ich schlage mich nur gerade mit meinen eigenen Gespenstern herum«, sagte Mike, einen bitteren, dunklen Ton in der Stimme. Er führte den Trupp durch die Trümmer in den Hauptkeller des Gebäudes. Was Mike auch sonst von Management halten mochte, sie waren Ex-Militärs-mit-grünem-Punkt, und das hieß, sie dachten in dreifacher Ausfertigung. Die Hauptstromversorgung war ausgefallen, aber das Sendestudio verfügte über eigene Energieerzeuger, und wenn es sein musste, sorgten alte Benzingeneratoren für Saft. Die Verbindung zum Tower war all den Kämpfen zum Trotz noch intakt, und UNN unterhielt unterirdische Leitungen zu verschiedenen Außenposten im Netz der weltumspannenden Metropole. Viele dieser Leitungen waren unterbrochen, und ihre roten Anzeigen blinkten bösartig auf der Hauptschalttafel. 177
Sogar die Klimaanlage funktionierte noch, und die Helmvisiere beschlugen infolge des plötzlichen Temperaturwechsels. Raynor sah sich unbehaglich um. Nur zu leicht konnte ein verirrtes Geschoss aus dem draußen herrschenden Chaos das Gebäude über ihnen zum Einsturz bringen und in ihre Gruft verwandeln. Zu Mike sagte er: »Wird's lange dauern?« Mike schüttelte den Kopf, während er das Feld-KommGerät mit der Hauptschalttafel verband. »Muss nur das Signal verstärken. Kinderspiel. So, jetzt.« Er legte einen Schalter um und sagte: »Raynors Ranger an Mutterschiff. Hören Sie uns? Ranger an Mutterschiff. Hyperion, empfangen Sie uns?« Die Lautsprecher knackten und spuckten, und auf dem kleinen Bildschirm erschien ein feminin wirkendes Gesicht mit Tendenz zur Kahlköpfigkeit. »Mutterschiff. Was soll der Scheiß, Liberty? Sie hätten mir fast das Trommelfell gesprengt. Womit senden Sie?« Die Stimme klang vage vertraut. »Leihgabe des UNN. Die Macht der Presse«, erwiderte Mike lakonisch. »Wir sind im Network-Gebäude. Die Truppe ist ziemlich erledigt, und die Bösewichte formieren sich neu. Brauchen eine Evakuierung.« »Wird erledigt«, sagte die Stimme am anderen Ende, und endlich erkannte Mike sie. Der Techniker von der Brücke der Norad II. Einer von Dukes Leuten. »Vier Blocks südlich von Ihnen liegt ein Park. Können Sie sich dorthin zurückziehen?« Mike schaute Raynor und Kerrigan an. Beide nickten. »Bestätigt«, sagte er. »Wir sehen uns dort, geschätzte Ankunftszeit: dreißig Minuten.« »Verstanden«, sagte der Techniker. »Moment noch. Ich stelle Sie zum Hauptquartier durch.« Mike furchte die Stirn, dann erschien Mengsks angegrautes Gesicht auf dem Schirm. »Michael«, sagte er mit grimmiger Stimme, und Mike bemerkte Sorgenfalten um seine 178
Augenwinkel. »Sind Kerrigan und Raynor bei Ihnen?« »Ich bin noch dabei«, sagte Raynor. »Lieutenant Kerrigan auch.« »Ausgezeichnet, melden Sie sich, wenn Sie zurück sind.« Rechts neben dem Rebellen piepste etwas, und er griff hinüber. General Duke erschien auf einem anderen Bildschirm. »Hier ist Duke.« Mehr denn je sah er aus wie ein schlecht gelaunter Gorilla. »Die Emitter sind gesichert und in Betrieb. Bin unterwegs zum Flaggschiff.« »Emitter?«, fragte Mike. »PSI-Emitter?« Kerrigan beugte sich über Mikes Schulter zur Konsole vor und brachte ihr Gesicht nahe an den Schirm. »Wer hat den Einsatz von PSI-Emittern autorisiert?« Mengsks Gesicht versteinerte. »Ich, Lieutenant.« »Sie wollen die Zerg hierher locken? Sie auf Antiga auf die Konföderierten zu hetzen, war schon schlimm genug. Aber das ist Wahnsinn!« Raynor mischte sich ebenfalls ein. »Sie hat Recht, Mann. Überdenken Sie es noch einmal.« Mengsk schnaubte vor Verärgerung. »Ich habe darüber nachgedacht, glauben Sie mir.« Er hielt inne und musterte die drei über die Network-Kamera. Auf dem anderen Monitor sah General Duke aus wie die Katze, die den Kanarienvogel gefressen hat. »Sie haben Ihre Befehle. Führen Sie sie aus.« Dann erlosch der Schirm. »Jetzt geht er zu weit«, sagte Raynor. »Er ist übergeschnappt.« Kerrigan schüttelte den Kopf. »Nein. Er muss einen Plan haben.« Raynor erwiderte bestimmt: »Ja, er hat einen Plan. Er will die Protoss und die Zerg die Konföderation verbrennen lassen, einen Planeten nach dem anderen, um dann zu übernehmen, was noch übrig ist.« Kerrigan schüttelte abermals den Kopf. »Er hat immer eine Möglichkeit gefunden, sich der Dinge anzunehmen. Er fürchtet kein Opfer, aber er ist kein Narr.« 179
»Er fürchtet kein Opfer«, sagte Raynor bitter. »Konföderierte. Zerg. Protoss. Wann werden wir an der Reihe sein?« »Ich werde mit ihm reden, sobald wir zurück sind«, sagte Kerrigan. Mike saß da und starrte auf den jetzt dunklen Bildschirm. »Er ist ein Politiker«, sagte er. »Er wiegt jede Entscheidung danach ab, wie weit sie ihn auf seinem persönlichen Weg zur Macht voranbringt. Das dürfen Sie nie vergessen.« Raynor öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, als über ihnen der Lärm von Gewehrfeuer erklang. »Besuch«, sagte Kerrigan. »Man hat uns bemerkt«, sagte Raynor. »Wahrscheinlich haben sie etwas von dem Signal aufgefangen, das wir rausschickten. Gehen wir.« »Ja. Nur eins noch«, sagte Mike, stemmte sich von der Konsole ab und trat tiefer in den Keller hinein. »Liberty?«, rief Raynor ihm nach. »Was zum Teufel …?« »Er ist hinter etwas anderem her«, sagte Kerrigan. »Ich geh ihm nach. Sie kümmern sich um unsere Besucher. Ich nehme nur eine Hand voll Marines wahr. Damit werden Sie fertig. Passen Sie auf, einer ist ein Firebat.« Und dann war auch sie fort. Sie folgte Mike zu einer weiteren Treppe, die sich in dämmrige Düsternis hinabschraubte. Sie lud ihre Rifle und stieg vorsichtig die Stufen hinab hinter ihm her. Als sie ihn erreichte, stand Mike vor einer Stahltür und hieb mit dem Gewehrkolben auf das Vorhängeschloss ein. »Wir sollten gehen«, sagte Kerrigan. »Gleich. Das ist Handy Andersons Privatarchiv. Hier lagern seine Geheimnisse. Ist mir gerade erst wieder eingefallen. Normalerweise war es niemandem erlaubt, hier herunterzukommen. Angeblich handelt es sich um das Backup, die Aktengruft, aber hier hortete Anderson auch die schmutzige Wäsche, die er von jedermann in der Stadt in seinem Besitz hatte.« »Es sind Informationen, die Sie verwenden können«, sagte Kerrigan ruhig; sie las Mikes vordergründigste Ge180
danken. »Sie können sie durchgehen und nachschauen, ob es irgendwelche Warnanzeichen gab, irgendetwas, das geheim gehalten wurde über die Zerg und die Protoss. Informationen, die etwas hätten ändern können, wenn die Leute nur davon gewusst hätten.« »Späte Einsicht ist besser als gar keine«, versetzte Mike. »Gehen Sie beiseite«, verlangte die Ghost-Soldatin. Die Rifle heulte auf, dann feuerte sie in das Schloss. Metallsplitter stoben nach allen Richtungen davon. Der Lagerraum war nicht größer als eine Besenkammer, an den Wänden reihten sich schmale Regale. Sie waren mit Kisten voller Speicherdisks gefüllt. »Wir können nicht alles mitnehmen«, sagte Kerrigan. »Schnappen Sie sich, so viel Sie können.« Mike öffnete seine Tragetasche, zog Vorräte und Ersatzmunition heraus und stopfte stattdessen Disks hinein. »Wenn Mengsk diesen Planeten wirklich vernichtet, dann will ich, dass ein paar unserer Berichte überdauern. Und vielleicht finden wir heraus, was hier wirklich passiert ist.« Kerrigan öffnete ihre Tasche und füllte sie ebenfalls. Das Meiste würden sie trotzdem zurücklassen müssen. »Lassen Sie das alte Zeug liegen«, sagte Mike. »Glauben Sie, dass es Mengsk wirklich ernst meint mit den PSI-Emittern?«, fragte Kerrigan und empfing Mikes Antwort, kaum dass sie gefragt hatte. Mike sprach sie dennoch aus. »Wie ich schon sagte, er ist ein Politiker. Wenn er die Konföderierten zurücktreiben kann, indem er ihnen mit den Emittern droht, wird er es tun. Wenn nicht, dann … na ja, dann ist Tarsonis eben ein weiteres Bauernopfer in seinem Krieg. Er hat eine Rechtfertigung. Jemand auf Tarsonis gab den Befehl, seine Heimatwelt zu vernichten.« »Aber das ist der Mittelpunkt der Menschenwelten. Das größte, strahlendste Zentrum. Das Herz der Menschheit.« »Falsch, das ist Mengsk. Mit den PSI-Emittern ist er größer als ganze Welten.« »Ich kann nicht glauben, dass er das tun würde. Ich ha181
be seine Gedanken gelesen – wie Ihre, wie Jims. Das würde er niemals tun.« »Sie haben es selbst gesagt – wenn Sie ihm gegenüberstehen, glaubt er tief in seinem Herzen jedes Wort, das er sagt.« »Ja.« »Dann schauen Sie genauer hin, wenn Sie das nächste Mal bei ihm sind. So, mehr können wir nicht mitnehmen. Wie sieht's oben aus?« Kerrigan erwiderte nichts, und Mike überlegte, ob sie über seine Frage oder seinen Vorschlag von vorhin nachdachte. Schließlich sagte sie: »Alles in Ordnung. Aber es sind noch mehr Konföderierte im Anzug. Gehen wir.« Mike hob seine Tasche auf und verließ den Raum. »Machen Sie sich Gedanken über das, was ich gesagt habe, okay?« »Gedanken«, entgegnete Kerrigan mit grimmigem Lächeln »sind etwas, dem sich ein Telepath niemals versagen kann.«
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KAPITEL 15 ALLES ZERFÄLLT (DAS IST DER LAUF DER DINGE) Jeder hasst Überraschungen. Aber während der letzten Tage von Tarsonis waren Überraschungen an der Tagesordnung. Einheiten tauchten auf, wo keine gemeldet waren, geheime Übertragungen schlängelten sich an Verbündeten vorbei, und es wurden Schlachtpläne umgesetzt, von denen wir nicht wussten, dass es sie überhaupt gab. Wir fanden heraus, wie viele Züge dieser Pläne vorab schon festgestanden hatten. Kurzum, man hatte uns reingelegt. Aber selbst die Verantwortlichen erlebten ihre Überraschungen. Wie immer, wenn eine Operation größer und größer wird, schlüpft mehr zwischen den Fingern hindurch, wird mehr übersehen, bis Dinge eintreten, mit denen niemand gerechnet hat. Genau das widerfuhr schließlich Mengsk, als einige seiner treuen Soldaten plötzlich ins Zweifeln kamen und die Schachfiguren sich nicht länger über das Brett bewegten, wie er es wollte. Und das ist wahrscheinlich der Grund, warum er das Brett umwarf. Eine ganz tolle Endspielstrategie, aber sie funktioniert. Wenn man alles unter Kontrolle hat, dann hasst man Überraschungen angeblich. Aber ich kann Ihnen sagen: Wenn man die Kontrolle nicht mehr besitzt, hasst man sie noch mehr. – DAS LIBERTY-MANIFEST Der Transporter erwartete sie auf dem Atkin's Square. Während die Überlebenden von Raynors Team an Bord gingen, stieg eine Gruppe von Technikern in leichter Panzerung aus. Bei ihnen war einer von Dukes Ghosts. Das Gesicht des Telepathen war hinter einem Visier versteckt. »Das ist kein Ort für weiche Ziele«, sagte Raynor. »Ihre Jungs tragen nicht mal eine anständige Rüstung.« 183
»Ja, aber wir haben unsere Befehle«, schnarrte der verantwortliche Captain, und dann drängten sie zwischen Raynors Männern hindurch in die Stadt, wo sie sich in die Richtung wandten, aus der die Ranger gekommen waren. Mike nahm an, Mengsk sei dahinter gekommen, dass es im UNN-Gebäude noch Dinge gab, die eine Plünderung lohnenswert machten. Plötzlich hatte er ein sehr gutes Gefühl wegen seines Rucksacks mit gestohlenen Geheimnissen. Das war etwas, das er als Druckmittel gegen den Rebellenführer einsetzen konnte. Dann sah er Kerrigan an. Sie wiederum starrte auf Dukes Ghost. Das Blut war aus ihrem Gesicht gewichen. »Was ist?«, fragte Mike. Kerrigan schüttelte den Kopf. »Wir sollten zusehen, dass wir aufs Flaggschiff zurückkommen.« Kaum waren sie auf der Hyperion eingetroffen, wurde Raynor in General Dukes Unterkunft gerufen, »sobald es Ihnen genehm ist«, wie es in der Nachricht hieß. Eine Reihe von Flüchen murmelnd stapfte der ehemalige Marshal davon, ohne auch nur seine Kampfrüstung abzulegen. Mike öffnete Visier und Verschlüsse und stieg aus seinem Panzeranzug. Kerrigan hatte ihre leichtere Rüstung mit routinierter Mühelosigkeit abgelegt und war bereits zum Ausgang unterwegs. »Warten Sie«, rief der Reporter. »Über-Mengsk wollte, dass wir uns beide nach unserer Rückkehr bei ihm melden. Ich begleite Sie.« Kerrigan antwortete: »Lassen Sie mich allein mit Arcturus sprechen. Mir gegenüber wird er sich offener geben.« Sie schritt durch die Gänge der Hyperion in Richtung des Fahrstuhls, der zu Mengsks Aussichtsposten führte. Mike erwog, Kerrigan nachzugehen, aber sie hatte Recht. Den Rebellenführer und die Ghost-Soldatin verband eine gemeinsame Vergangenheit, und Mengsk würde sich im Gespräch mit ihr zutraulicher zeigen. 184
Und vielleicht, hoffte Mike, würde es ihr dabei gelingen, etwas Nützliches aus dem Geist des Rebellen herauszufiltern. Zum Beispiel, was er sich dabei dachte, noch mehr PSI-Emitter einzusetzen. Mike blickte sich um. Der Großteil der verbliebenen Einheit hatte die Rüstungen abgelegt und ging duschen. Raynor war beim General. Nicht, dass der General im Moment die Gesellschaft war, die Mike sich wünschte, aber mit ihm zu reden war immer noch besser, als sich die Füße in den Bauch zu stehen, bis Mengsk ihn zu sich rief. Und er wollte nicht gerade unter der Dusche stehen, falls Kerrigan ihn plötzlich dringend brauchte. Während Mike durch das Schiff marschierte, dachte er an den Techniker, mit dem er über Funk gesprochen hatte. Jetzt, wo er darüber nachsann, fiel ihm auf, dass die Crew der Hyperion zum größten Teil aus Fremden bestand, Angehörige der Alpha-Schwadron, nicht länger Mengsks Anhänger aus der Zeit vor Antiga Prime. Einer nach dem anderen waren diese ursprünglichen Revolutionäre auf der Strecke geblieben oder befördert und auf andere Schiffe versetzt worden. Teil eines Planes von Mengsk, seine Agenten über alle Schiffe seiner Flotte zu verteilen – oder Teil eines Planes von Mengsk, die alte Garde durch Berufssoldaten zu ersetzen? Was es auch letztlich sein mochte, Mike war sicher, dass es Teil einer Strategie war, die Mengsk ausgeheckt hatte. Mike hatte das Quartier des Generals fast erreicht, als die Tür aufschwang und zwei Männer in Kampfrüstung heraustaumelten. Es handelte sich um Raynor und Duke, die sich ineinander verkeilt hatten. Der Ex-Marshal hatte bereits ein Schulterteil vom Anzug des Generals heruntergerissen, und das Visier des Mannes hatte sich nach einem Fausthieb in ein Spinnennetzmuster verwandelt. Doch Duke war auch keine Niete, und Raynors schon zuvor ramponierter Brustpanzer wies etliche neue Dellen auf. »Jim!«, rief Mike, worauf sich Raynor trotz der Situation 185
dem Reporter zuwandte. General Duke ließ sich diese Chance nicht entgehen und drosch mit beiden Fäusten seitlich gegen Raynors Helm. Der Ex-Marshal wankte einen Schritt zurück, fiel aber nicht. Nun, da er der Neostahlumarmung seines Gegners entronnen war, griff Duke nach seiner Handfeuerwaffe, eine gefährliche Nadelpistole, die selbst schwere Schotts durchschlagen konnte. Während der General seine Waffe hob, fasste sich Raynor wieder und packte den älteren Mann am Handgelenk. Unter dem Quietschen der Servos in beiden Rüstungen schmetterte Raynor Dukes Arm gegen die Tür. Einmal. Zweimal. Beim dritten Mal zerbrach etwas in Dukes Handschuh, und der General schrie auf. Er ließ die Waffe fallen und sank zu Boden. Der Nadler schlitterte über den Boden. Mike hob ihn auf und befestigte ihn an seinem Gürtel. Erst dann wurde ihm bewusst, dass sie nicht allein auf dem Gang waren. Vor und hinter ihnen standen bewaffnete Marines, die auf Raynor und ihn zielten. »Ihr habt gerade euer eigenes Todesurteil unterzeichnet, Junge!«, knurrte Duke. In seinem Mundwinkel klebte Blut, und er hielt seine Waffenhand umklammert. Unter Raynors Hieben war mehr als nur Metall zu Bruch gegangen. »Sie haben gerade das Todesurteil Ihres Heimatplaneten unterzeichnet, General!«, stieß Mike hervor. Zu den Marines sagte er: »Er hat die Emitter runtergebracht und die Zerg hierher gerufen … Verdammt! Er und Mengsk haben den Konföderierten nicht einmal die Chance gegeben, sich zu ergeben! Die Zerg kommen hierher, und dieser Bastard hat ihnen noch den roten Teppich ausgerollt!« Ein paar Marines senkten ihre Waffen. Sie schienen plötzlich von Zweifeln geplagt zu sein, was ihre Revolution anging. Andere wahrten ihre unbewegte Miene, und ihre Waffen blieben auf Raynors Brust gerichtet. Mike nahm an, dass es sich bei den Zauderern um diejenigen handelte, die keiner Gehirnwäsche unterzogen worden waren. Die anderen aber warteten unbeeindruckt auf den Befehl zu töten. 186
»Ich bring euch vors Kriegsgericht!«, bellte der General. Mike atmete etwas auf. Duke drohte nur, befahl nicht Raynors Tod, offenbar weil er befürchtete, Mengsk könnte dagegen sein. »Wenn Sie meinen Rang haben wollen, meinetwegen«, sagte Raynor hitzig. »Aber ich unterstehe nicht Ihrem Befehl. Ich bin Mengsk gegenüber verantwortlich, genau wie Sie auch. Ohne Mengsks Zustimmung können Sie einen Dreck ausrichten.« »Und was glauben Sie, Junge, wessen Befehl ich folgte, als ich die Emitter aktivierte?«, fragte Duke und grinste trotz offenkundiger Schmerzen. »Sie haben ein Dutzend Emitter auf Tarsonis geschafft«, ereiferte sich Raynor. »Die Bevölkerung wird überrannt werden!« »Wir brachten die Emitter an Orte, die eine starke Konföderationspräsenz zeigen«, sagte Duke, »und evakuierten die meisten unserer regulären Truppen. Verdammt, Junge, haben Sie denn nicht gemerkt, dass wir noch einen absetzten, als wir Sie auflasen?« Mike dachte plötzlich an den Ghost und die TechnikerCrew und daran, wie Kerrigan reagiert hatte. Natürlich scherte Mengsk sich nicht um Informationen. Er wollte die Kontrolle über das gesamte von Menschen besiedelte Weltall. Raynor spuckte aus. »Sie … Sie Hurensohn!« Er machte zwei Schritte auf den General zu. General Duke hob seinen gesunden Arm. Nicht um anzugreifen, sondern um einen Schlag abzuwehren. Er hatte Angst, ein alter Mann, der in einer Hülle aus Neostahl zitterte. Raynor hielt kurz inne, dann spuckte er abermals aus. Er machte kehrt und ging auf den Fahrstuhl zur Aussichtskuppel zu. Keiner der Marines auf dem Gang hielt ihn auf. Ein paar hatten nicht den Mumm, um auf einen der ihren zu schießen. Andere schossen nicht, weil es ihnen nicht ausdrück187
lich befohlen worden war. Und manche wussten nicht, wer hier der wahre Verbrecher war. Mike folgte Raynor. Hinter ihnen brüllte General Duke die Soldaten an, sich wieder auf ihre Posten zu begeben. Mike legte eine Hand auf Raynors Schulter, und der große Mann drehte sich um. Einen Moment lang fürchtete Mike, Raynor würde ihm einen Faustschlag verpassen, doch das Feuer in den Augen des Mannes war tiefer Traurigkeit gewichen. »Sie haben ihnen nicht mal eine Chance gelassen«, sagte er. »Sie hätten die Emitter als Drohung benutzen können, aber sie haben sie einfach installiert. Keine Warnung, nichts. Während wir zurück zum Schiff unterwegs waren, haben sie die Dinger runtergeschafft.« »Was wollen Sie jetzt tun?«, fragte Mike. »Ich werde ganz offen mit Mengsk reden«, antwortete Raynor. »Er muss Vernunft annehmen, und wenn ich ihn dazu zwingen muss.« »Sie gehen da nicht rauf. Duke hängt wahrscheinlich schon an der Strippe und verlangt Ihren Kopf. Sie haben etwa zehn Minuten, bis er ein paar seiner Gefolgsleute dazu überredet hat, Sie festzunehmen. Mit oder ohne Mengsks Einwilligung.« »Ja«, sagte Raynor verbittert. »Aber so, wie ich mich im Moment fühle, versuch ich mein Glück wohl trotzdem bei Mengsk.« »Tja, und Mengsk wird Sie umbringen lassen, wenn Sie das tun.« »Was verschreiben Sie mir also, Doktor Liberty?«, fragte Raynor. »Suchen Sie sich ein paar Verbündete. Der Rest Ihrer Einheit von Antiga. Angehörige der alten Kolonialmiliz aus dem Sara-System, wenn davon noch jemand an Bord ist. Gehen Sie zu ihnen und bleiben Sie dort, bis ich Sie rufe. Und hier …« Er reichte ihm den Rucksack. »Passen Sie darauf auf. Auf diesen Disks befindet sich Klatsch vom Feinsten.« 188
»Wohin gehen Sie?«, wollte Raynor wissen. »Ich fahre zum Aussichtsdeck hinauf. Ich muss mit dem großen Herrn sprechen. Und ich werde mir Mühe geben, ihn nicht zu verprügeln.« Raynor nickte und stapfte davon. Die Tasche mit Geheimnissen sah in seiner riesigen Hand klein und unbedeutend aus. Mike holte tief Luft, schloss die Augen und wiederholte das Mantra. »Ich werde ihn nicht verprügeln«, sagte er leise. »Ich werde ihn nicht verprügeln.« Die Aufzugtüren öffneten sich, und Kerrigan trat heraus. Ihr Gesicht war eine brodelnde Gewitterwolke aus Wut und Zweifel. Mike sprang zurück, als sei sie General Duke, der seine gepanzerte Faust gegen ihn erhob. »Lieutenant«, sagte er. »Was gibt es, Sarah?« »Ich habe mit Arcturus gesprochen«, sagte Kerrigan, und zum ersten Mal – jedenfalls soweit sich Mike erinnern konnte stammelte sie, weil ihr die Worte fehlten. »Er … er hat sich erklärt. Und seine Erklärung war voller Parolen und Zitate und dem ganzen Scheiß über Freiheit und Pflicht. Und er brachte mich dazu, ihm zu glauben, Mike. Ich wollte wirklich glauben, dass er über Informationen verfügt, die wir nicht haben – zum Beispiel, dass im Zentrum von Tarsonis Zerg-Königinnen säßen, die das Ganze wie Marionettenspieler steuern, die Bevölkerung opfern und kleine Kinder auf offener Straße fressen.« Sie holte tief Luft. »Aber während ich ihm zuhörte, behielt ich die Karte von Tarsonis hinter ihm im Auge.« Mike sagte: »Ich kenne diesen Bildschirm. Sein liebstes Spielzeug.« Kerrigan schnaubte spöttisch. »Und während ich hinsah, wurde dieser Schirm rot. Komplett rot unter der Ankunft der Zerg.« Sie blickte Mike an, suchte in seinen Augen nach Bestätigung. »Es gab keine Zerg auf Tarsonis, bis er die PSI-Emitter einschaltete«, sagte sie leise. »Überhaupt keine. Es war 189
nicht wie auf den Sara-Planeten oder auch nur auf Antiga Prime, wo es bereits ein paar gab und wir die Welt fast schon verloren hatten. Aber dort unten war außer anderen Menschen nichts, was uns bedroht hätte.« Sie atmete tief ein und schloss die Augen. »Und jetzt kommen die Zerg von überallher. Sie sind auf dem Planeten. Arcturus hat keine der Einheiten zurückgerufen, die sich zurzeit im Kampfeinsatz befinden. Er hat sich nicht mal die Mühe gemacht, die Teams zurückzuholen, die die Emitter auf den Planeten brachten. Er hat sie dort gelassen. ›Opfer sind unvermeidlich‹, hat er gesagt, in diesem ruhigen, freundlichen Ton, als ob er sich einen Kaffee bestellt.« Mike dachte an das Team, das auf dem Atkin's Square gelandet war, und hoffte, dass Kerrigan zu aufgewühlt war, um seine Vermutungen aufzufangen. Stattdessen sagte er: »In Ordnung. Das hat er Ihnen also erzählt. Und was ist dann geschehen?« »Und dann kam von der Brücke die Nachricht, dass Jim und Duke miteinander kämpften.« Kerrigans Miene verfinsterte sich wieder. »Und er ließ mich wegtreten. Sagte nur, dass ich gehen solle, einfach so. Und ich … ich verlor die Beherrschung.« »Das kursiert hier offenbar. Und aus gutem Grund.« »Mike, er hatte keinen vernünftigen Grund, das zu tun. Ich dachte, es sei ein Bluff oder dass Tarsonis bereits infiziert sei oder dass es einen Masterplan geben würde. Aber es war einfach nur so, dass Arcturus einen Hammer hat, und wenn man einen Hammer hat, scheint jedes Problem ein Nagel zu sein.« Mike erinnerte sich, dass Mengsk einmal denselben Vergleich gebraucht hatte. Es schien ein halbes Leben her zu sein. »Es ist okay«, sagte Mike und streckte die Hand aus, um sie an der Schulter zu fassen. Sie entzog sich ihm nicht. »Und Mike …« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »… als ich wütend auf ihn geworden bin, habe ich hingeschaut. Ich meine, ich habe wirklich in ihn hineingeschaut.« 190
Michael wartete darauf, dass sie weiterredete. Sie schüttelte den Kopf. Ihre Stimme war nur ein leises Zischen, als sie weitersprach. »Dieser Bastard!«, spie sie hervor. Mike sagte: »Hören Sie, ich habe Jim in sein Quartier geschickt und ihm gesagt, er solle seine Freunde um sich sammeln. Ich glaube, Sie gehören auch dazu.« Kerrigan sah zu Mike auf, und für einen Augenblick wirkte sie unsicher. Dann legte sich ein schwaches Lächeln um ihre Mundwinkel. »Nein, das glaube ich nicht. Ich bin im Moment so durcheinander … Jim würde mir nur das Gefühl geben …« Sie atmete langsam aus und schüttelte den Kopf. »Ich muss für ein Weilchen allein sein. Ich muss wissen, dass ich mich noch auf mich verlassen kann. Sicherstellen, dass ich tun kann, was getan werden muss. Ich bin trotz allem eine gute Soldatin, und ich habe eine Aufgabe zu beenden. Vielleicht kommt bei dieser Sache ja doch irgendwas Gutes heraus. Okay?« Mike war anderer Meinung, sagte aber: »Okay.« Kerrigan grinste. »Selbst wenn ich keine Tellepatin wäre wüsste ich, dass Sie lügen. Mengsk hat Recht. Sie wollen jeden vor sich selbst retten. Sie sollen wissen, dass ich es … zu schätzen weiß.« »Seien Sie vorsichtig.« »Ich kann auf mich aufpassen.« Kerrigan brachte ein selbstsicheres, breites Lächeln zustande. »Ich bin niemandes Märtyrer. Verdammt, an manchen Tagen glaube ich das sogar. Sagen Sie Jim nur …« Sie verstummte und schüttelte wieder den Kopf. »Was?«, fragte Mike und wartete auf ihre nächsten Worte. »Nichts«, antwortete sie schließlich. »Sagen Sie ihm, dass er auch auf sich aufpassen soll, okay? Meinetwegen.« Und dann war sie fort und ging hinunter in Rictung der Hangars. Mike sah ihr nach, wie sie den Gang hinabschritt und Unbehagen und Unsicherheit abschüttelte wie ein Schmetterling, der seine Puppe abstreift und zurücklässt. Mike wünschte nur, dass ihm der Bauch nicht so wehtä191
te, und er war sicher, dass es eine lange Zeit dauern würde, bis er ihr wieder leibhaftig begegnen würde. Mit dem Aufzug fuhr er zum Aussichtsdeck. Arcturus Mengsk war da, die Hände hinter dem Rücken, und sah zu, wie sich die Bildschirmdarstellung von Tarsonis mit roten Dreiecken füllte. Sie bedeckten den Planeten bereits nahezu ganz und wurden nur hier und da von den grellgelben Markierungen der konföderierten Truppen durchbrochen. Mike fiel auf, dass das Schachbrett durch den Raum geworfen worden war und die Figuren verstreut herumlagen. Ja, Kerrigan hatte ohne jeden Zweifel die Beherrschung verloren. Mengsk wandte sich von der Karte ab. Sein melierter Schnurrbart war jetzt mehr weiß als schwarz. »Ah, der dritte meiner brillanten Rebellen«, sagte er. »Ich habe mich schon gefragt wann Sie wohl auftauchen würden. Ehrlich gesagt hatte ich erwartet, dass Sie als Erster mit Forderungen und Beleidigungen hier hereinmarschieren würden, nicht der gute Lieutenant. Sie müssen ihr – wirklich zugesetzt haben.« »Ich habe gar nichts getan«, sagte Mike, »außer ihr zur Seite zu stehen, während Sie einen weiteren Planeten zum Tode verurteilten.« »Ein Todesfall ist eine Tragödie – eine Million Todesfälle sind Statistik.« »Haben Sie eine Datenbank mit Zitaten, um Ihre Exzesse zu rechtfertigen?«, fragte Mike, die Augen zusammengekniffen. Mengsk lächelte grimmig. »Muss ich daraus schließen, dass Sie es endgültig aufgegeben haben, meine Seele retten zu wollen? Ich hoffe nicht, denn nach unserem Sieg werde ich mehr denn je Männer wie Sie brauchen, die mir helfen, die neue universelle Ordnung zu schaffen. Jene Ordnung, die nötig ist, um die Gefahr durch die Aliens erfolgreich abzuwehren.« »Gefahr durch die Aliens?« Mike spie die Worte hervor. »Das wäre dann wohl genau die Gefahr, die Sie selbst über 192
diese Welt gebracht haben, ja? Ist es das, wovon Sie sprechen?« Mengsk legte den Kopf schief und zog die Augenbrauen zusammen, als sei er von Mikes Erwiderung enttäuscht. Hinter ihm pulsierte und glühte der Bildschirm weiter, und jetzt bewegten sich vom Rand des Monitors aus blauweiße Dreiecke ins Zentrum des Bildes. »Ich hatte nicht erwartet, dass Sarah hier heraufkommen würde. Und ich hatte nicht erwartet, dass Raynor sich mit einem General anlegen würde. Das war dumm. Und ungeschickt«, sagte Mengsk. »Ich werde in diesen Fällen ein paar sehr aufgebrachte Gemüter beruhigen müssen.« »Aufgebrachte Gemüter? Die beiden haben sich fast umgebracht.« Mengsk schüttelte abermals den Kopf, und Mike erkannte, dass der Mann dieses Problem genauso herunterspielte, wie die Situation auf Tarsonis. Sie klein redete, bis man sie ignorieren konnte – beschönigt und vergessen. Sein ureigenes, die Wirklichkeit verformendes Kraftfeld, dachte Mike. »General Duke ist«, sagte der Rebellenführer, »im Herzen ein Feigling. Ich gebe ihm das Rückgrat, das er braucht, um voranzuschreiten. James hingegen ist ganz Mut und Ehre, was sich irgendwo entladen muss. Eine scharfe Waffe, die nach einem Ziel sucht. Ich habe Duke die Richtung gewiesen. Ich habe Raynor Ziele gegeben. Beide sind sehr nützlich mit dem, was sie tun, und wenn wir Tarsonis erst einmal erobert haben, wird sich das alles bereinigen. Keiner von beiden kann ohne mich wirklich überleben, und sie werden einsehen, dass sie meinen Anweisungen folgen müssen, um lebensfähig zu bleiben.« »Sind die beiden für Sie nur Schachfiguren?«, fragte Mike. »Keine Schachfiguren. Werkzeuge. Wirkungsvolle, nützliche Werkzeuge. Und, ja, das gilt für Raynor, Duke, die Zerg, die Protoss. Ja, selbst Sie und Lieutenant Kerrigan sind Werkzeuge zum Erreichen eines größeren Wohles, ei193
ner besseren Zukunft. Ja, im Augenblick sehen die Dinge düster aus, und ich gestehe meine Schuld daran ein. Aber bedenken Sie eines: Wenn die Dinge im Moment schrecklich scheinen, wie gut werden wir dann aussehen, sobald der Sieg unser ist, hm?« »Schauen Sie nicht hin«, sagte Mike, während er an Mengsk vorbei und auf den Schirm blickte, »aber ich glaube, ein paar weitere Ihrer Werkzeuge greifen gerade Ihre anderen Werkzeuge an.« »Wie?« Mengsk kreiselte herum und starrte auf den Schirm. Die ersten blauweißen Dreiecke, die Symbole für die Protoss, fielen bereits auf den Planeten hinab. In ihrem Kielwasser lösten sich die roten Zerg-Dreiecke in kräuselnder Bewegung auf. Es war, als seien die Protoss Steine, die in einen blutroten Teich geworfen wurden. »Das ist schlecht«, sagte Mengsk leise. »Sehr schlecht. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie so schnell eintreffen würden. Das ist in der Tat ziemlich übel …« »O mein Gott. Damit haben Sie wirklich nicht gerechnet«, stellte Mike überrascht fest. Dann verwandelte sich die Nervosität in seinem Bauch in kalte Furcht, und er fügte hinzu: »Warum nur fühle ich mich deshalb keine Spur besser?«
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KAPITEL 16 NEBEL DES KRIEGES Machen wir uns nichts vor, die Zerg und die Protoss servierten uns unsere Häupter auf dem Silbertablett. Natürlich glichen sie nichts, womit wir es jemals zuvor zu tun hatten. Natürlich war ihre Biologie eine völlig andere. Natürlich war ihre Technologie – oder was wir als solche bezeichneten – in vielen Bereichen höher entwickelt als unsere. Und natürlich waren sie unglaublich kriegsgeil und aggressiv; sie wussten, wo wir waren, und sie hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Aber (und das ist ein ziemlich großes Aber) wir Menschen sind wohl die größten Streithähne in der Galaxis. Seit jeher hatten wir einander bekämpft, und wir hatten unsere Kriegsführung so verfeinert, dass wir ihnen in vielerlei Hinsicht ebenbürtig waren. Wir hatten den Vorteil interner Versorgungslinien (das ist der Militärbegriff für »umzingelt sein«), und wir kämpften auf eigenem Terrain (das ist der Militärbegriff für »Wir bekämpfen sie in unserem eigenen Wohnzimmer«). Wir hätten sie bezwingen können, hätten wir uns nur am Riemen gerissen. Was also ist passiert? Das Einzige, was uns zu guten Kämpfern machte – nämlich, dass wir uns untereinander bekriegt hatten –, machte uns zugleich auch unfähig, uns in der Stunde der Krise miteinander zu verbünden. Wir konnten uns nicht unter einer Fahne vereinen oder auch nur eine Koalition bilden. Mehr noch, jedes Mal, wenn die Chance dazu bestand, tat die eine oder andere Fraktion etwas, um sich Vorteile innerhalb der angestrebten politischen Agenda zu verschaffen. Häufig auf Kosten des Restes der Menschheit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Zerg oder die Protoss solch menschlichen Urtrieben wie Gier, Machtlust oder schierer Sturheit zum Opfer fallen könnten. Aber natürlich handelt es sich bei all dem um menschliche Urtriebe, und wohl deshalb bekamen wir von Nichtmenschen ordent195
lich was zwischen die Hörner. – DAS LIBERTY-MANIFEST »Sie haben es wirklich nicht gewusst, oder?«, fragte Mike. »Sie wussten nicht, dass die Protoss hierher kommen würden? Wie konnten Sie das nicht wissen?« »Unverschämtes Greenhorn«, sagte Mengsk, während er zu seiner Konsole schritt und ein Dutzend Bildschirme zugleich überblickte. »Natürlich wusste ich, dass die Protoss kommen würden. Sie rennen den Zerg überall hinterher, wie Hausfrauen, die mit einer zusammengerollten Zeitung hinter Fliegen her sind, bis diese sich irgendwo niederlassen, um erschlagen werden zu können. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass sie so früh hier auftauchen würden.« Zu seiner eigenen Überraschung brachte Mike ein Lächeln zustande. Alles, was den großen Arcturus Mengsk aus dem Konzept brachte, gereichte ihm zur Freude. Und wenn die Protoss tatsächlich Verbindungen zu Mengsk unterhielten, sahen sie in ihm vermutlich exakt den doppelzüngigen Politiker, der er war. Mengsk ging eine Reihe von Bildschirmanzeigen durch, dann fluchte er verhalten. Schließlich drückte er einen Schalter und sagte: »Duke!« Das zerschundene Gesicht des Generals erschien auf dem Schirm. »Haben Sie über meine Bitte Captain Raynor betreffend nachgedacht, Sir?« »Verschonen Sie mich mit Ihrem armseligen Gezänk«, schnauzte Mengsk ihn an. »Verbinden Sie mich mit den örtlichen Befehlshabern. Die Protoss sind da.« »Ja, Sir, das wissen wir«, sagte Duke stolz. »Aber sie meiden unsere Streitkräfte und konzentrieren sich in erster Linie auf die Zerg-Schwärme.« Er machte eine Pause und blinzelte, ohne auch nur in Erwägung zu ziehen, dass das etwas Schlechtes sein könnte. »Wenn die Streitkräfte der Protoss die Zerg angreifen«, sagte Mengsk und betonte jedes Wort, »dann kämpfen die 196
Zerg gegen sie anstatt gegen die Konföderierten. Wenn die Protoss die Zerg angreifen, könnten die Konföderierten fliehen. Die Alten Familien könnten davonkommen und mit ihnen das Herz der konföderierten Macht!« Duke blinzelte abermals, dann malte sich Bestürzung auf seinen Zügen ab. »Dann müssen wir die Protoss stoppen. Ich kann diesen glühenden Bussarden eine Nachricht schicken, damit sie sich zurückziehen.« Mengsk schenkte ihm keine Beachtung, sondern drückte stattdessen ein paar weitere Schalter. »Schicken Sie Lieutenant Kerrigan mit einem Einsatzkommando los. Sie soll die Vorhut der Protoss angreifen. Captain Raynor und General Duke bleiben mit dem Flaggschiff zurück.« Raynors wütendes Gesicht – rot wie die Oberfläche von Tarsonis – erschien auf einem anderen Bildschirm. »Erst verkaufen Sie jeden einzelnen Menschen auf dieser Welt an die Zerg, und jetzt wollen Sie, dass wir uns den Protoss entgegenstellen? Sie verlieren wirklich den Verstand. Und Sie wollen Kerrigan ohne Rückendeckung da runterschicken?« Mengsks Gesichtsausdruck hatte sich bereits von verblüffter Erregung zu ruhiger Selbstgefälligkeit gewandelt. Sein Wahrnehmungsfeld mochte gestört sein, aber es war nicht völlig außer Kraft gesetzt. Mike fragte sich jedoch, wie viel mehr es wohl bedurfte, um die Fassade zum Einsturz zu bringen, die dieser Mann mit aller Anstrengung aufrechterhielt. Und was geschehen würde, wenn die Maske tatsächlich einmal fiel. Besaß dieser Mann überhaupt einen Kern, der zu enthüllen war? Mike realisierte, dass er hier bleiben, herumstochern, sich streiten und dem Rebellen vielleicht sogar eine zornige Erwiderung entlocken konnte. Mengsk machte zwar allmählich den Eindruck, als wisse er sich langsam nicht mehr zu helfen, aber in einem Punkt hatte er Recht: Michael Liberty hatte es aufgegeben, Arcturus Mengsks Seele retten zu wollen. Zumal es andere Menschen gab, die seine Hilfe eher verdienten. 197
Mike ging zum Fahrstuhl. Hinter ihm sagte Mengsk seelenruhig: »Ich habe absolutes Vertrauen in Kerrigans Fähigkeit, die Protoss aufzuhalten.« Die Aufzugtür schloss sich, als Raynor gerade erwiderte: »Das ist gequirlte Schei …« Und dann fuhr Mike auch schon in die Tiefe, dorthin, wo Raynor hoffentlich ein paar Verbündete um sich geschart hatte. Und wider besseren Wissens hoffte er, dass Kerrigan ihre Meinung geändert hatte und ebenfalls dort sein würde. In Raynors Quartier befanden sich etwa zwei Dutzend Männer. Ein paar von ihnen hatten bereits ihre Kampfpanzerung umgeschnallt. Andere rüsteten sich gerade hastig damit aus. Raynor sprach über Funk mit jemandem. Kerrigan war nicht anwesend. Aber ihre blecherne Stimme drang aus Raynors am Handgelenk befestigtem Empfänger. »Aber Sie sind ihm das nicht schuldig!«, sagte dieser gerade. »Verdammt, ich hab Ihnen so oft den Arsch gerettet …« Kerrigan unterbrach ihn. »Jimmy, sparen Sie sich diese Märchenprinz-Nummer. Manchmal steht sie Ihnen ja ganz gut, aber im Augenblick …« Sie stockte einen Moment, als sinne sie über ihre Worte nach. »… aber im Augenblick nicht«, sagte sie. Sie klang müde und ausgelaugt. Beinahe besiegt. »Ich brauche nicht gerettet zu werden. Ich weiß, was ich tue. Wenn wir mit den Protoss erst einmal fertig sind, können wir etwas wegen der Zerg unternehmen.« Sie holte tief Luft. »Arcturus kommt schon wieder zur Vernunft«, behauptete sie, aber für Mike klang es, als habe sie diesbezüglich nicht wirklich viel Hoffnung. »Ich weiß es.« Raynors Lippen bildeten einen dünnen Strich, der von seinem aschblonden Bart umrahmt wurde. »Ich kann nur hoffen, dass Sie Recht haben, Schätzchen … Waidmannsheil.« 198
Er unterbrach die Verbindung und sah zu Mike auf. »Wir folgen ihr«, sagte Mike. Ein tonloses Verkünden einer Tatsache. »Darauf können Sie Ihre Eier verwetten. Ziehen Sie sich an. Und nehmen Sie Ihre Sachen mit. Könnte sein, dass wir hier später nicht mehr allzu willkommen sind.« Mike streifte den für ihn bereit gehaltenen Kampfanzug über. »Mengsk hat noch einen anderen Bock geschossen«, sagte er, während seine Hände wie von selbst über die Beschläge und Verschlüsse flogen. »Sobald Kerrigan die Protoss angreift, werden sie uns als ihre Feinde betrachten. Uns alle. Und im Moment kreuzt eine Menge ProtossHardware im System und im Orbit um Tarsonis.« Raynor grunzte zustimmend, während er die Systeme seines Anzugs checkte. Die meisten Beschädigungen, die durch den Kampf mit Duke entstanden waren, hatte er behoben, aber Mike bemerkte, dass ein paar der Anzeigen hinter Raynors Visier immer noch in warnendem Gelb blinkten. »Dann müssen wir uns also vor den Protoss- und den Zerg-Vögeln in Acht nehmen«, sagte Raynor. »Hier hat man's aber auch nie einfach.« »Deshalb lieben wir ja die Herausforderung«, sagte Mike, mehr zu sich selbst. Er hob den Rucksack mit den gestohlenen Daten auf, und, einem plötzlichen Impuls folgend, auch den alten Mantel, der ein Geschenk seiner Kollegen war. Der Mantel war von Lasereinschüssen versengt, mit Blut und anderen, nicht eindeutig identifizierbaren Flüssigkeiten befleckt sowie in der Hitze fremder Planeten gebacken worden. Er war zerlumpt, zerfranst und ausgebleicht. Genau wie ich, dachte Mike und stopfte den Mantel mit Gewalt so tief in den Rucksack, bis alles hineinpasste. Sonst enthielt sein Spind nichts, was er mitnehmen wollte. Er schwang sich das Gepäck über den Rücken und folgte Raynor hinaus. Gleich bei der ersten Sichtung der Protoss war das Schiff in höchste Alarmstufe versetzt worden, und jetzt bewegten 199
sich Raynors Männer durch blutrot erhellte Gänge in Richtung der Hangars für die Truppentransporter. Mike konnte die Anziehungskraft durch die Bodenplatten hindurch spüren. Das gewaltige Flaggschiff schlängelte sich gerade irgendwo durch, aber er wusste nicht, ob es sich um Trümmer oder feindliches Feuer handelte. »Glauben Sie, wir schaffen es, das Schiff zu verlassen?«, fragte Mike, als sie die Bucht betraten. »Ja«, meinte Raynor. »Die Piloten der Truppentransporter sind gute, erfahrene Jungs. Sie fürchten weder Dukes Zorn noch sonst etwas. Außerdem können sie ja immer noch behaupten, ich hätte sie mit Gewalt gezwungen, uns runterzubringen.« »Diese Männer mögen meinen Zorn vielleicht nicht fürchten, aber Sie sollten es tun«, sagte General Duke aus den Schatten vor ihnen. Das Licht wechselte blitzartig von rot zu gelb, und Mike sah Duke mit zwei Trupps von Marines zwischen den Transportern stehen. Die Soldaten zielten mit ihren Waffen auf Dukes Männer. Duke hielt seine eigene Waffe, ein geliehenes Gaußgewehr, in der linken Hand, seine rechte hing nutzlos herunter. »Wo soll's denn hingehen, Junge?«, fragte Duke, und ein Grinsen erschien über dem Versiegelungsrand seines Helmes. In seinem Mundwinkel klebte immer noch getrocknetes Blut. Vielleicht hielt er es für ein Ehrenabzeichen, dachte Mike, oder eine Kränkung, die nach Vergeltung schrie. »Wir folgen Kerrigan«, sagte Raynor. »Sie braucht Rückendeckung, ganz egal, was Mengsk meint.« »Dieses Mädchen braucht, was immer Mengsk meint, dass es braucht«, erwiderte Duke gedehnt. »Aber es ist nett von Ihnen, sich die Mühe zu machen. Jetzt habe ich einen hieb- und stichfesten Beweis für Ihre Meuterei, und Ihre Mitverschwörer kann ich gleich mitliefern.« Mikes Blick wanderte über die Marines. Sie waren bis Oberkante Unterlippe mit Stims vollgepumpt. Ihre Augen waren praktisch pupillenlos. In diesem Zustand waren sie 200
quasi mit Dukes Nervensystem vernetzt. Sobald der General den Befehl gab, würden sie automatisch und ohne Zögern springen oder schießen oder zu Boden gehen und zwanzig Liegestütze machen. Es blieb also nur die Möglichkeit, den General daran zu hindern, diesen Befehl zu geben. »Mengsk wäre sehr enttäuscht, wenn Sie uns umbrächten«, sagte Mike. Duke lachte. »Dann werfe ich ihm einfach eines seiner alten Zitate an den Kopf: ›Es ist leichter, um Verzeihung zu bitten, als um Erlaubnis.‹ Und nun, ihr Jungs, die ihr auf Raynors Seite steht, lasst eure Waffen fallen und ergebt euch. Wenn ihr gehorcht, werde ich euch vielleicht sogar am Leben lassen.« Raynor rührte sich nicht. Mike hörte, wie ein paar ihrer Ranger langsam ihre Gewehre aufs Deck legten. Dann wurde die Hyperion heftig zur Seite geschleudert. Etwas Großes hatte das Schiff gerammt. Die Marines in ihren schweren Stiefeln gerieten ins Wanken, und Dukes Waffe wurde für einen Moment aus ihrer Zielrichtung gebracht. Als er sie wieder ausrichten wollte, hatte Raynor sein eigenes Gewehr bereits von der Schulter rutschen lassen und in Anschlag gebracht. »Das wird ja immer besser«, quetschte Duke zwischen gelblichen Zähne hervor. Er verzog den Mund, um die Karikatur eines Lächelns zu erzeugen. »Ich glaube nicht, dass Sie den Mumm dazu haben«, sagte Raynor. »Wenn Sie auch nur zwinkern, Junge, werden meine Männer Sie so mit Munition abfüllen, dass Sie glatt als Sondermüll durchgehen. Und jetzt lassen Sie Ihre Waffe fallen, auf drei: eins … zwei …« Ein hohes Heulen ertönte, und Dukes linke Schulter explodierte in einer Wolke geschmolzenen Metalls. Dukes Marines zuckten zusammen und schwenkten ihre Gewehre herum, schossen jedoch nicht. Man hatte ihnen eingetrichtert, auf den entsprechenden Befehl zu warten. 201
Der General fiel langsam auf die Knie, seine Waffe klapperte zu Boden. Seine Rüstung zischte, als Verschlussringe die verletzte Schulter abbanden, und das Notversorgungspack pumpte Betäubungsmittel in den Blutkreislauf des Generals. Rauch kräuselte sich aus dem Lauf der Nadelwaffe. Mike spannte den Hammer mit dem Daumen, worauf ein weiteres Geschoss klickend in den Lauf glitt. »Ich würde sagen, es ist an der Zeit, dass Sie die Klappe halten«, wandte er sich an Duke. »Ich kann Sie auf der Stelle einäschern lassen«, erwiderte der General. Die von seiner Kampfpanzerung verabreichten Medikamente zeigten bereits Wirkung, Duke sprach mit schwerer Zunge. Mike trat zwei Schritte vor und sagte: »Nur zu. Aber Sie sterben zuerst. Geben Sie ruhig den Befehl, General.« Duke zögerte. Sein Blick wurde für einen Moment unkonzentriert, als sich der Einfluss der Drogen massiv entfaltete. Er bemühte sich, allein kraft seiner schieren Sturheit bei Bewusstsein zu bleiben. »Dazu haben Sie nicht das Zeug«, brachte er hervor. »Lassen Sie es drauf ankommen«, antwortete Mike. »Ich habe endlich gelernt, auf einen Menschen zu schießen.« Einen Augenblick lang herrschte Stille im Hangar, dann sagte Raynor: »Männer – sammelt eure Waffen ein. Wir gehen.« Raynors Männer hoben ihre Waffen auf und drängten sich durch die Reihen der Rebellen, die ohne Dukes ausdrücklichen Befehl nicht auf Ziele schossen, die möglicherweise auf ihrer Seite standen. Neben Mike und dem am Boden knienden General blieb Raynor kurz stehen. »Gehen Sie«, sagte Mike. »Ich komme nach.« Dukes Gesicht schimmerte aschfahl, seine Augen waren milchig und pupillenlos. In seinem Hirn gab es keinen vernünftigen Gedanken mehr, nur noch Hass und Feigheit. Er zischte: »Wenn ich Sie jemals wiedersehe, bringe ich Sie um!« 202
»Dann sehen Sie sich meinen Rücken gut an«, sagte Mike, »weil das Ihre einzige Chance bleiben wird, rechtzeitig abzudrücken.« Die Drogen zeigten nun ihre volle Wirkung, und Duke kippte nach hinten. Mike wandte sich an die zombiegesichtigen Marines. »Schafft ihn auf die Krankenstation, los, und verlasst den Hangar, damit wir starten können!« Die Marines brachten ein Grunzen zustande, packten ihren gefallenen Führer und machten sich davon. Mike rannte auf den Transporter zu. Die Maschinen begannen bereits aufzuheulen, als er die Gangway hinauf stürmte. Raynor hatte Recht gehabt, was die Piloten der Transporter anging. Der Pilot hatte die Koordinaten eingegeben und bereits die Starterlaubnis eingeholt, noch bevor Mike an Bord kam. Und dann schoss der Transporter auch schon aus der Hyperion hinaus – und mitten hinein in das draußen herrschende Chaos. Ringsum wurde der Raum zerrissen. Die Hyperion pflügte durch ein Trümmerfeld. Einige Wrackteile brannten noch, dort wo Luft aus der durchlöcherten Hülle strömte. Es waren die Überreste irgendeines anderen Menschenschiffes, das den Protoss in die Quere gekommen war. Energiestrahlen durchschnitten das Vakuum und brannten sich in die Netzhäute von Beobachtern. Mike übernahm die Funk- und Navigationskonsole hinter dem Pilotenstand. »Ich werde versuchen, Kerrigans Einheit aufzubringen«, sagte Mike. »Das wird ihr nicht gefallen«, kommentierte Raynor grimmig. »Aber tun Sie es trotzdem.« Die gewaltigen Trägerschiffe der Protoss glitten wie riesenhafte Tiere durchs All. Die Begleitschwärme aus Jägern umtanzten sie wie goldene Fliegen. Halbmondförmige Schiffe bewegten sich in Korkenzieherbahnen auf den Planeten zu, und nadelähnliche Kampfboote und Scouts aus Silber 203
und Edelstein schossen durch das Trümmerfeld. Hinter ihnen brannte die Hyperion an einem Dutzend Stellen. Keine schweren Schäden, aber sie reichten, dass Mengsk im Augenblick größere Sorgen hatte als eine Gruppe ehemaliger Gefolgsmänner, die sich unerlaubt von der Truppe entfernten. Die Yamato-Kanone des Schlachtkreuzers spaltete den Himmel mit steten Schüssen und vernichtete immer wieder Protoss-Jäger. »Wir kriegen noch mehr Besuch«, sagte der TransporterPilot. »Anschnallen und festhalten!« Jetzt stiegen die Zerg von Tarsonis auf. Die riesigen fliegenden Kanonen, orangefarben mit violetten Schwingen, kamen und warfen sich den Protoss-Trägern zu Hunderten entgegen. Ihnen folgten die größeren fliegenden KrabbenDinger, die von den kleinen Jägern weniger beeinträchtigt schienen, als es die Mutalisken waren. Vor Mikes Augen flog eine der Krabben-Konstruktionen in die Ansaugöffnung eines Trägers, und das komplette Protoss-Schiff explodierte in einem blauweißen Feuerball. Zwei der geflügelten Mutalisken wurden auf den Transporter aufmerksam und schwenkten darauf zu. Ihre Schlünde spien sich windende Kügelchen aus – irgendein unappetitliches Zeug. Was die Verteidigung der Landungsschiffe anging, stand den Rebellen herzlich wenig zur Verfügung, und der Pilot fluchte, während er versuchte aus dem Kollisionskurs auszubrechen. Mike erkannte, dass sie es nicht schaffen würden und stützte sich in Erwartung des Kontakts mit der Zerg- Säure ab. Ein dreifacher Blitz zerriss die angreifenden Mutalisken in organische Fetzen und verheerte ihre Flügel mit Laserfeuer. Eine Dreierstaffel von A-17-Wraiths fegte durch die Überreste der Zerg, und Mike erhaschte einen Blick auf Insignien der Konföderation auf den Pylonen der Schiffe. Dann waren sie auch schon wieder weg und suchten nach neuen Verbündeten und neuen Zielen. 204
»Schon Glück gehabt?« Raynor lehnte sich über Mikes Schulter. »Viel Verkehr im Moment«, antwortete Mike kurz angebunden. »Moment. Ich hab ein Signal. Sie sendet. Ich leg sie auf den Schirm.« »Hier spricht Kerrigan.« Ihr Gesicht, jetzt auf dem Bildschirm zu sehen, wirkte ausgezehrt und hager. Voller Angst, dachte Mike. Ein kalter Schauer durchlief ihn. »Wir haben die Bodentruppen der Protoss neutralisiert, aber eine Welle von Zerg nähert sich dieser Position. Wir müssen sofort evakuieren.« Ein weiterer Bildschirm erwachte zum Leben, und Mengsks Gesicht wurde flimmernd sichtbar. Nahe dieses Gesichts sprühte etwas Funken, wodurch er erschien und verschwand wie die Grinsekatze aus Alice im Wunderland. »Wir ignorieren diesen Befehl«, stieß der Rebellenführer hervor. »Wir ziehen ab.« Raynor drückte den Mikrofonschalter. »Was? Sie lassen sie einfach hier?« Wenn Mengsk Raynors Bemerkung gehört hatte, gab er es durch nichts zu erkennen. Berücksichtigte man die Störungen, hatte er sie wahrscheinlich nicht gehört. Stattdessen sagte er: »Alle Schiffe bereitmachen, Tarsonis auf mein Zeichen zu verlassen.« Kerrigans Signal riss kurz ab. Offenbar war in ihrer Nähe irgendetwas Großes eingeschlagen. Dann war sie wieder da. »Äh, Jungs? Wie sieht's mit der Evakuierung aus?« »Verdammt, Arcturus«, presste Raynor zwischen den Zähnen hervor. »Tun Sie das nicht!« Mengsks Bild flackerte weiter, mal war er zu sehen, dann wieder nicht – bis er schließlich klar und deutlich den Schirm ausfüllte. »Geben Sie der Flotte das Zeichen und bringen Sie uns aus dem Orbit. Sofort!« »Arcturus?«, sagte Kerrigan, die im Vergleich zu Mengsk jetzt nicht mehr als ein Geist auf dem Schirm war. »Jim? Mike? Was zum Teufel geht da oben vor …?«. Dann verschlang der Nebel des Krieges sie vollends, und 205
die Schirme erloschen. Raynor hieb vor Enttäuschung auf die Kommunikationskonsole. »Wenn Sie das Ding kaputtmachen, müssen Sie's kaufen«, sagte der Pilot und brachte den Transporter auf engen Spiralkurs, um zwei von den Krabben-Konstruktionen abzuhängen. Mit stählernen Nerven ließ der Pilot das fliehende Shuttle unter einen Protoss-Scout fallen, und die Krabben konzentrierten ihren Angriff nun darauf. Mike machte den Ursprung von Kerrigans Signal ausfindig und gab die Koordinaten in die Steuerung ein. Ruckend und schwankend ging das Schiff auf den neuen Kurs. Ringsum wurden binnen weniger Augenblicke Hunderte neuer Sterne geboren und erloschen wieder. Die größte Gefahr ging nun von den Trümmern der zerstörten Schiffe aus, und der Pilot fluchte ein ums andere Mal, wenn er plötzliche Manöver ausführen musste, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Schließlich erreichten sie die Atmosphäre, und die Bildschirme verfärbten sich unter dem Eintrittsfeuer orange. Der Großteil der Schlacht spielte sich jetzt über ihnen ab. Sie mussten sich nur noch um die Truppen am Boden sorgen. Sie flogen dicht über der mit Geröll übersäten Planetenoberfläche dahin. Die Städte von Tarsonis brannten, die großen Plätze waren voller Trümmer, und die sich einst himmelwärts reckenden Spitzbauten nur noch eine Ansammlung zerklüfteter, abgebrochener Zähne. Sämtliches Glas der großen Gebäude war zerbrochen, zurückgeblieben waren nur mehr die verdrehten stählernen Skelette. Durch drei Blocks zog sich eine breite Schneise der Verwüstung, die beim schwer beschädigten Wrack eines ProtossTrägerschiffes endete – aus jeder der geborstenen Nähte strömte unheilvolles Licht. Die Größe der Gebäude nahm ab, als sich die Rebellen in Richtung des Ackerlands und der Vororte wandten, doch die Schäden blieben weiterhin schwerster Natur. Mike sah Kra206
ter, wo sich Schiffe in den Boden gebohrt hatten. Und auch hier wüteten Feuer, die Häuser und Felder verschlangen; dazwischen bewegten sich Kämpfer nach allen Seiten. Aber es gab auch neue Bauten, die in die verkohlte Landschaft gesetzt worden waren – sie stammten von den außerirdischen Invasoren. Der Kriecher war überall, und tödliche mohnkapselartige Gebilde reckten sich gen Himmel. Von pulsierenden Eiern umgebene Nester sprenkelten den Boden. Inmitten des Gerölls gab es auch noch andere Strukturen. Sie waren golden, mit unmöglichen Streben, majestätischen Rümpfen und spiegelnden Oberflächen aus unzerbrechlichem Glas. Die Protoss richteten sich auf Tarsonis zur Verteidigung ein. Vielleicht glauben sie, hier gäbe es etwas, das es wert ist, beschützt zu werden, dachte Mike. Und es hieß zugleich, dass sie mehr Vertrauen in die Menschheit setzten als Mengsk es tat. Der Boden unter ihnen wimmelte von Zerg, und zwischen ihnen schritten, wie strahlende Ritter, die Krieger der Protoss umher und hinterließen Spuren aus toten, triefenden Leibern. Vierbeinige mechanische Spinnen krabbelten durch die Ruinen, und riesige Objekte, die wie gepanzerte Raupen aussahen, attackierten die Zerg-Stöcke. Speerdünne Jäger griffen die gewaltigen Sensen-Zerg an, die wiederum die Protoss-Krieger beiseite fegten wie ein Bauer, der das Korn mäht. Mike sagte: »Wir müssen ganz in der Nähe sein.« Das Funkgerät kratzte und spuckte, und eine Männerstimme, jung und verängstigt, kam herein. »… suchen eine Evakuierungsmöglichkeit. Hier sind Zivilisten und Verwundete. Wir können Ihr Schiff sehen. Haben Sie noch Platz in diesem Kübel?« Raynor ging ans Gerät. »Lieutenant Kerrigan, sind Sie da unten?« »Kein Kerrigan, Sir«, kam die knisternde Antwort. »Aber wir sind wirklich übel dran. Die Zerg sind überall und grei207
fen wieder an. Wenn wir nicht augenblicklich von hier verschwinden, sind wir verloren.« Die Stimme bebte vor Angst. Mike sah Raynor an. Die Miene des großen Mannes war nicht zu deuten – wie eine tönerne Maske. Schließlich sagte er: »Wir landen. Informieren Sie die Leute, dass wir kommen.« Mike nickte. »Aber Kerrigan …« »Ich weiß«, erwiderte Raynor, und Mike hätte schwören können, dass er durch das Hintergrundrauschen des Funkgeräts hörte, wie ein Herz brach. Der ehemalige Gesetzeshüter holte tief Luft und fügte hinzu: »Mengsk würde diese Leute im Stich lassen, wie alle anderen. Wir nicht. Ich hoffe, das ist der Grund, warum wir besser sind als er.« Der Transporter setzte am Rand eines zur Schule umgebauten Bunkers auf, und noch während der Pilot die Rückschubdüsen hochfuhr, strömten Flüchtlinge herbei. Sie wurden von einem schlaksigen Jungen angeführt, der einen zerlumpten Kampfanzug trug. Irgendein Freiwilliger von den Randwelten, der sich Mengsks Rebellion angeschlossen hatte. Mike war ihm nie zuvor begegnet. Der Junge salutierte vor Raynor. »Bin verdammt froh, Sie zu sehen. Hab die Rückzugsmeldung gehört, aber es kam keiner, um uns zu holen. Die Zerg sind überall entlang der Nordflanke. Vor einer Weile wurden sie von ein paar Protoss angegriffen – hat uns eine kleine Atempause verschafft, aber ich glaube, die Viecher kommen zurück. Der Kriecher ist schon zur Hälfte hier, und wir können nichts dagegen tun.« Raynor sagte nur: »Welche Einheit ist das?« Der Junge blinzelte. »Wir sind überhaupt keine Einheit, Sir. Sind ungefähr ein halbes Dutzend Einheiten – oder was eben davon übrig ist –, die sich hier verschanzt haben. Sowohl Konföderierte als auch Rebellen, Sir. Als die Zerg anfingen auszuschwärmen und die Protoss zu feuern begannen, war jeder auf sich allein gestellt.« »Haben Sie etwas über einen weiblichen Lieutenant namens Kerrigan gehört?«, schnauzte Raynor. »Sie hat hier in 208
der Nähe gegen die Protoss gekämpft.« »Nein, Sir«, erwiderte der Junge. »Aber einer der Nachzügler sagte, dass oben auf dem Kamm eine Einheit gegen die Protoss kämpfte.« Er deutete in Richtung der Zerg. »Wenn das stimmt, dann haben die Zerg sie erwischt, fürchte ich.« Raynor holte tief Luft. »Schaffen Sie Ihre Leute in den Transporter. Lassen Sie die schweren Waffen hier. Die Zerg und die Protoss können ja ohnehin nichts damit anfangen. Wir starten in zwei Minuten.« Mike trat neben Raynor. »Wir können immer noch nach ihr suchen.« Raynor schüttelte den Kopf. »Sie haben den Jungen gehört. Es sind noch mehr Zerg auf dem Weg. Nach dem Rückzug von Mengsks Rebellen wird der ganze Planet in Nullkommanichts mit Aliens überflutet sein. Der Transporter hat keine Verteidigungsmöglichkeiten, und wir haben Zivilisten an Bord. Wir müssen jetzt weg und hoffen, dass wir eine Mitfahrgelegenheit aus dem System kriegen, bevor hier alles hochgeht.« Mike legte Raynor eine Hand auf die Schulter. »Es tut mir Leid.« »Ich weiß«, sagte Raynor. »Bei Gott, das weiß ich.«
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KAPITEL 17 VERPASSTE CHANCEN Mit Tarsonis starb die Konföderation. Von ihrer Macht und ihrem Prestige hatte sich dort so viel über eine so lange Zeit manifestiert, dass sie mit dem Planeten unterging. Arcturus Mengsk spielte natürlich den Pathologen, nahm die Autopsie vor und erklärte, der Patient sei an massiver Zerg-Vergiftung gestorben, von einem Protoss-Trauma unterstützt. Die Ironie, dass Mengsks Fingerabdrücke überall auf der Mordwaffe der Konföderation waren, machte vielen nur wenig aus und wurde von den meisten ignoriert. Wie Sie sich vielleicht denken können, war das kein Thema, über das UNN in jenen Tagen berichtete. Noch bevor der letzte konföderierte Soldat in einem Zerg-Stock verdaut wurde, proklamierte Mengsk die Gründung des Terranischen Dominions, das die überlebenden Planeten vereinen sollte – ein strahlender neuer Phönix, der sich aus der Asche erheben und die gesamte Menschheit um sich scharen würde. Nur indem alle zusammenstünden, erklärte der ehemalige Rebell, könnten wir die außerirdischen Bedrohungen meistern. Der erste Herrscher dieser glanzvollen neuen Regierung war Kaiser Arcturus Mengsk I. der den Thron unter dem Beifall der Öffentlichkeit bestieg. Die Ironie, dass der Großteil des Beifalls von Mengsk selbst kam, entging dabei der Mehrheit der Bevölkerung. – DAS LIBERTY-MANIFEST Obwohl ihnen die Zeit davonrannte, kreisten sie noch für zwanzig Minuten über dem Boden und hielten nach Nachzüglern Ausschau. Aber alles, was sie erspähten, waren eine hohe Zahl von Zerg und eine gewaltige Fläche Landes, das der Kriecher bereits vereinnahmt hatte. Schließlich hörten sie auf den wiederholten Protest des Transporter-Piloten 210
und gewannen an Höhe. Unter ihnen brodelte es von Zerg, die neue Gebilde aus barbarischem Fleisch errichteten. Am Horizont knisterten Blitze von Protoss-Waffen wie sommerliches Wetterleuchten. Mengsk kontaktierte den Transporter auf dem Weg nach oben, ein allgemeiner Ruf an sämtliche Schiffe, die sich in diesem Sektor aufhielten. Das Gesicht des Rebellen wirkte ruhig, aber es war die Ruhe einer steinernen Maske, die der Schirm nicht zu übermitteln vermochte. Seine Augen glänzten gierig. »Herrschaften, Sie haben sich sehr gut geschlagen, aber denken Sie daran, dass wir noch eine Aufgabe zu erfüllen haben. Die Saat eines neuen Reiches ist ausgebracht, und wir hoffen auf eine Ernte …« Raynor beugte sich der am Funkgerät befestigten Kamera entgegen und drückte einen Schalter. »Pah! Zum Teufel mit Ihnen!«, schnappte er. Mengsk hatte es gehört. Die buschigen Brauen senkten sich zwischen den Augen des Rebellenführers. »Jim, ich kann Ihnen Ihre impulsive Natur verzeihen, aber Sie begehen einen schrecklichen Fehler. Kommen Sie mir nicht in die Quere, Junge. Kommen Sie mir niemals in die Quere. Ich habe zu viel geopfert, um einfach zuzusehen, wie alles den Bach runtergeht.« »Sie meinen, so wie Sie Kerrigan geopfert haben?«, fragte Raynor bissig. Mengsk wand sich, als hätte Raynor ihm über die Distanz hinweg einen Schlag versetzt. Sein Gesicht rötete sich. »Das werden Sie bedauern. Sie scheinen meine Situation zu verkennen. Ich werde mich nicht aufhalten lassen!« Raynor hatte die Fassade, die Maske, mit der sich der Rebellenführer umgab, endlich durchbrochen und den Mann darunter freigelegt. Mengsk war wütend, am Hals traten ihm die Adern hervor. »Ich werde mich nicht aufhalten lassen«, wiederholte er. »Nicht von Ihnen oder den Konföderierten oder den Protoss oder von sonst irgendjemandem! Ich werde über diesen Sektor herrschen oder zusehen, wie 211
er zu Asche verbrennt! Wenn einer von euch auch nur versucht, sich mir in den Weg …« Raynor regulierte die Lautstärke auf null und sah zu, wie Mengsk auf dem Bildschirm weiterhin – nun aber lautlos – Gift und Galle spie. »Sie haben seinen Nerv getroffen«, sagte Mike. »Endlich.« »Muss wohl was Falsches gesagt haben«, meinte Raynor, aber er lächelte nicht dabei. In die summende Stille des Transporters hinein sagte Mike: »Es tut mir Leid wegen Sarah.« Es klang jetzt nicht besser als zuvor auf der Oberfläche des Planeten. Raynor setzte sich neben Mike und starrte eine Weile auf das Deck. »Ja, mir auch«, sagte er schließlich. »Ich hätte sie nicht allein gehen lassen sollen.« »Ich weiß, was Sie durchmachen.« »Was? Sind Sie etwa auch zum Telepathen mutiert?« Mike zuckte die Achseln. »Ich bin ein Mensch. Und nur das ist es, worauf es ankommt. Es war ein langer Krieg. Wir haben alle etwas verloren. Wir haben alle Dinge gesehen, die wir nicht sehen wollten. Ein kluger Mann hat mir mal gesagt, dass die Lebenden sich schuldig fühlen, weil sie noch am Leben sind … Und, nein, es ist nicht Ihre Schuld.« »Fühlt sich aber so an«, sagte Raynor. Schweigen senkte sich über die Kabine. Schließlich schüttelte der Ex-Marshal den Kopf. »Es ist noch nicht vorbei. Die Protoss und die Zerg wird es einen Dreck scheren, dass Mengsk jetzt das Sagen hat. Sie scheren sich nicht um menschliche Kriege oder menschliche Führer. Sie bekämpfen sich, wo immer sie wollen. Es ist nicht vorbei.« »Ich glaube, für mich ist es vorbei«, erwiderte Mike. »Ich bin kein Soldat. Ich habe einen gespielt, aber ich bin und bleibe Journalist. Ich gehöre nicht aufs Schlachtfeld. Ich gehöre hinter eine Tastatur oder vor eine Holo-Kamera.« »Das Universum hat sich verändert, Sohn. Was wollen Sie tun?« Jetzt war Mike an der Reihe, eine lange Pause zu ma212
chen. »Ich weiß nicht«, sagte er schließlich. »Irgendwas Hilfreiches, schätze ich. Kann nicht raus aus meiner Haut. Aber es muss etwas anderes als das hier sein.« Die Reichweite des Transporters war begrenzt, aber es gelang ihnen, eine Mitfahrtgelegenheit aus dem System zu finden: Die Thunder Child nahm sie mit, ein alter Kreuzer der Leviathan-Klasse, der noch vier Stunden und eine Meuterei zuvor im Dienst der Konföderation gestanden hatte. Jetzt zogen sich dieses und die meisten anderen Schiffe der Menschen aus der Schlacht zurück und überließen Tarsonis den Zerg, den Protoss und den armen Narren, die unterirdische Bunker für eine tolle Idee hielten. Der Funkoffizier der Child empfing sie an der Gangway. »Ich habe eine Nachricht von Arcturus Mengsk für Sie.« »Mengsk!«, presste Raynor hervor. »Sucht er nach mir, weil ich ihm eine neue Körperöffnung in den Balg reißen soll?« »Die Nachricht ist nicht für Sie, Sir«, sagte der Offizier. »Sie ist für Mister Michael Liberty. Betonung auf ›Mister‹. Sie können sie im Nachrichtenraum entgegennehmen, wenn Sie möchten.« Raynor hob müde eine Augenbraue. Mike gab ihm mit einem Wink zu verstehen, dass er mitkommen solle. Der Ex-Marshal, Ex-Rebellenführer und Ex-Revolutionär nahm Platz auf einem Stuhl, der außerhalb des Erfassungsbereichs der Funkkonsolen-Kamera stand. Mike betätigte den Antwortschalter und wartete darauf, dass die Nachricht von der Hyperion durch den Raum drang. Arcturus Mengsk erschien auf dem Bildschirm. Jedes Haar saß perfekt, und jede Geste wirkte manieriert und einstudiert. Es war gerade so, als habe der Zwischenfall von vorhin gar nicht stattgefunden. »Michael«, strahlte er. »Arcturus«, sagte Mike, ohne jedes Lächeln. Mengsk senkte kurz bedauernd den Kopf, als wähle er seine nächsten Worte mit Bedacht. Früher hätte er dies vorgaukeln können, aber inzwischen entlarvte sich dieses 213
Gehabe selbst – alles war nur einstudiert und auf Wirkung ausgelegt. Fast rechnete Michael damit, dass Mengsk aus der Übertragung treten und sich vor ihm auf die Schreibtischkante setzen würde. »Ich fürchte, ich bin nicht in der Lage, mein Bedauern über Sarah angemessen zum Ausdruck zu bringen. Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll.« »Captain Raynor hatte da ein paar Worte zur Auswahl«, sagte Mike, und jetzt flammte sein eigener Blick. »Und ich hoffe, dass Jim und ich eines Tages darüber reden können.« Mengsks Lächeln wirkte erzwungen und bemüht. Etwas war geschehen. »Aber deshalb habe ich mich nicht bei Ihnen gemeldet. Ich habe hier jemanden, der mit Ihnen sprechen möchte.« Mengsk legte außerhalb des Bildschirmbereichs einen Schalter um, und ein neues Gesicht ersetzte das des zukünftigen Herrschers über die Welt der Menschen. Ein kahl werdender Kopf, der von buschigen Augenbrauen dominiert wurde. »Handy?«, sagte Mike. »Mickey«, entgegnete Handy Anderson. »Schön, Sie zu sehen, Kumpel! Ich wusste es doch: Wenn irgendeiner aus unserem Stall dieses Chaos überleben würde, dann Sie! Sie sind wie ein Glücksbringer, tauchen immer dann auf, wenn man Sie braucht!« »Anderson, wo sind Sie?« »Hier auf der Hyperion natürlich. Arcturus ließ mich per Shuttle von einem Flüchtlingsschiff holen. Er hat mir erzählt, wie großartig Sie sich die ganze Zeit über gehalten haben. Ein echter Kämpfer. Warum haben Sie so lange keine Berichte mehr geschickt?« »Ich habe Berichte geschickt. Sie haben sie verfälscht, schon vergessen? Sie sagten, Mengsk hätte mich gefangen genommen … na, klingelt's?« »Ein klein wenig redigiert«, meinte Anderson. »Nur so viel, dass die Obrigkeit, mögen ihre Seelen in Frieden ruhen, zufrieden war. Ich wusste doch, dass Sie das verste214
hen würden.« »Handy …« »Wie auch immer, ich habe gehört, Sie hätten prima Arbeit geleistet. Und ich dachte mir, es würde Sie interessieren, dass Sie trotz der momentanen Lage Ihren alten Job wiederhaben können.« »Meinen alten …« »Sicher. Ich meine, die Leute, die Sie tot sehen wollten, sind nicht mehr im Geschäft, so oder so, Ich habe mit Arcturus gesprochen, und wir könnten Sie zum offiziellen Pressesprecher seiner Regierung machen. Er hält große Stücke auf Sie, wissen Sie? Offenbar sind Sie ihm mit Ihrer gewinnenden Persönlichkeit ans Herz gewachsen.« »Anderson, ich weiß nicht, ob …«, sagte Mike, während er sich die Handfläche gegen die Stirn presste. »Hören Sie einfach zu. Hier ist der Deal«, sagte der Chefredakteur. »Sie würden Ihr eigenes Büro bekommen, im selben Flur wie das von Arcturus. Zugriff auf alles, zu jeder Zeit. Sie machen die Reisen mit, berichten über die Festessen, heimsen die Preise ein. Viele Vergünstigungen. Viel Sicherheit. Ein lauschiger Posten. Verdammt, ich kann Ihnen einen freien Mitarbeiter besorgen, der Ihre Berichte für Sie tippt. Ich sag Ihnen …« Mike schaltete den Ton ab. Anderson redete weiter, aber Mike sah ihn nicht mehr an. Er betrachtete sein eigenes Spiegelbild auf der glatten Oberfläche des Bildschirms. Er war jetzt hagerer als bei seiner letzten Begegnung mit Handy Anderson, und sein Haar war zerwühlter. Aber da war auch noch etwas anderes – in seinen Augen. Sie schienen über die Konsole hinauszublicken, durch die Wände des Schiffes hindurch. Es war ein in die Ferne gehender Blick, ein harter Blick, den er einst für Verzweiflung gehalten hatte, aber jetzt erkannte er ihn als Entschlossenheit. Und mit diesem Blick sah er ein größeres Szenario als jenes, in das er gerade verwickelt war. Es war derselbe Ausdruck, wie er ihn in Jim Raynors Au215
gen gesehen hatte, als Mar Sara unterging. »Wie lange wird er noch weiterquasseln, bis er merkt, dass Sie ihm nicht zuhören?«, grunzte Raynor. »Das hat er noch nie gemerkt«, antwortete Mike. Er nagte kurz an seiner Unterlippe, dann sagte er: »Ich weiß, was ich tun will. Ich sollte anfangen, meinen eigenen Hammer zu benutzen.« Raynor seufzte. »Noch mal, bitte. Aber verständlich diesmal.« »Wenn man nichts außer einem Hammer besitzt, dann sieht alles aus wie ein Nagel«, zitierte Mike. »Ich bin kein Krieger. Ich bin Journalist. Und ich sollte anfangen, meine journalistischen Werkzeuge zum Wohl der Menschheit einzusetzen. Die Geschichte erzählen. Die wahre Geschichte.« Mike deutete mit einem Daumen auf den Bildschirm. Handy Anderson hatte endlich begriffen, dass ihm niemand zuhörte. Der kahlköpfige Chefredakteur tippte von innen gegen den Schirm und formulierte eine unhörbare Frage. »Ich will so weit wie möglich fort von Arcturus Mengsk«, sagte Mike. »Und dann will ich die Wahrheit über alles berichten. Wenn ich das nämlich nicht tue, werden Leute wie er darüber entscheiden, was passiert ist.« Abermals wies er mit dem Daumen zum Monitor. »Er und Arcturus Mengsk. Und ich glaube nicht, dass die Menschheit diese Lügen überstehen würde.« Raynor lächelte, und es war ein breites, ehrliches Lächeln. »Es ist gut, Sie wiederzuhaben«, sagte er. »Es ist gut, wieder da zu sein«, sagte Mike und sah den Fremden mit dem in die Ferne gerichteten Blick an, der sich auf dem Bildschirm widerspiegelte. Er schüttelte den Kopf und fügte hinzu: »Ich könnte wirklich eine Zigarette vertragen.« »Ich auch«, sagte Raynor. »Aber ich glaube nicht, dass es an Bord dieser Schüssel welche gibt. Na ja, sehen Sie es von der positiven Seite: Wenigstens Ihren Mantel haben Sie noch.« 216
POST BELLUM Der Mann im zerlumpten Mantel steht in Licht getaucht in einem Raum voller Schatten. Der Rauch der letzten einer ganzen Reihe von Zigaretten umkräuselt ihn, und der Boden zu seinen leuchtenden Füßen ist mit Kippen übersät, wie mit gefallenen Sternen. »Was Sie also sehen«, sagt Michael Liberty, die leuchtende Gestalt, in das umgebende Dunkel, »ist mein eigener kleiner Privatkrieg, der auf meinem Terrain und mit meinen Waffen ausgetragen wird. Weder Kreuzer noch Raumjäger oder Marines, nur Worte. Und die Wahrheit. Das ist meine Spezialität. Das ist mein Hammer. Und ich weiß ihn zu benutzen.« Die Gestalt nimmt einen weiteren langen Zug, und der letzte Sargnagel fällt zwischen die anderen auf den Boden. »Und ihr Leute, wer ihr auch sein mögt, müsst die Geschichte hören. Wahr und ungefiltert. Deshalb die HoloÜbertragungen: weil sie schwerer zu fälschen sind. Und ich verbreite die Geschichte, so weit ich kann, über die offenen Frequenzen, damit jeder Bescheid weiß über Mengsk und die Zerg und die Protoss. Und über Männer und Frauen wie Jim Raynor und Sarah Kerrigan, damit sie und andere wie sie nicht in Vergessenheit geraten.« Michael Liberty kratzt sich im Nacken. »Ich schloss mich dem Militär an und dachte, es sei nur eine weitere Form von Bürokratie, voll erbärmlicher Feiglinge und unternehmerischer Dummheit. Nun, ich hatte Recht – aber ich irrte mich auch.« Er betrachtet die Zuschauer aus blinden Augen. »Aber es gibt auch Leute, die wirklich versuchen, anderen zu helfen. Die wirklich versuchen, andere zu retten. Ihre Körper, ihren Geist, ihre Seelen.« Er furcht die Stirn und fügt hinzu: »Und wir brauchen mehr solche Leute, wenn wir die dunklen Zeiten überleben wollen, die vor uns liegen.« 217
Abermals hebt er die Schultern. »Das war's. Das ist die Geschichte vom Untergang der Konföderation, der Invasion der Zerg und der Protoss und des Aufstiegs von Kaiser Mengsk und dem Terranischen Dominion. Die Schlachten werden nach wie vor geführt, es sterben immer noch Planeten, und meistens scheint niemand zu wissen, warum eigentlich. Wenn ich es herausfinde, werde ich Ihnen auch diese Information zukommen lassen. – Ich bin Michael Daniel Liberty und gehöre nicht mehr zu UNN. Ich bin jetzt ein freier Mensch. Und das war's.« Mit diesen Worten erstarrt die Gestalt an Ort und Stelle, gefangen in ihrem Gefängnis aus Licht. Mit einem müden Lächeln steht der Reporter da. Es ist auch ein zufriedenes Lächeln. Um das Hologramm herum gehen Lichter an, leuchtende Körper, extra für diesen Zweck gezüchtet. Die Wände pulsieren und schwitzen. Dicke, zähe Flüssigkeit tropft aus schwärenden Wunden in der Wand, um die Luft feucht und warm zu halten. Das Kabel des von Menschen gebauten Holo-Projektors verschmilzt mit einem klebrigen Klumpen der organischen Energiekomponenten der Hauptstruktur. Die Verbindung zwischen beiden Welten war einst ein kolonialer Marine, dient jetzt aber unter seinem neuen Herrn einem höheren Zweck. Auf den semiorganischen Bildschirmen entlang der Wände diskutieren die höher entwickelten Zerg-Gehirne, was sie gesehen haben. Sie sind morphische Gebilde, nur zum Denken und zum Führen gezüchtet. Sie dienen außerdem ihrem höheren Zweck innerhalb des Zerg-Stocks. Im Projektionsraum greift eine Hand nach oben und drückt den Rückspulknopf. Die Hand war einst menschlich, aber jetzt ist sie transformiert, ein Produkt der mutagenen Fähigkeiten der Zerg. Das Fleisch der Hand ist grün und mit chitinartigen Auswüchsen übersät. Unter der Haut fließt sonderbares Blut und winden sich neue Organe. Einst war dies ein Mensch, aber er wurde transformiert und dient nun einem höheren Zweck. Einst hieß dieses Wesen Sarah, nun 218
nennt man sie die Königin der Klingen. Die anderen organischen Geister, Führer der Zerg, verursachen Lärm im Hintergrund. Kerrigan ignoriert sie, denn sie sagen nichts, jedenfalls nichts, was von Bedeutung wäre. Stattdessen beugt sie sich vor, um die verwitterten Züge der Holo-Gestalt zu mustern, das Gesicht mit den tief liegenden, bohrenden Augen. In ihrem umstrukturierten Herz rührt sich etwas, der Schatten einer Erinnerung an ein Gefühl für diesen Mann. Und für andere Menschen. Für jene, die für ihre Menschlichkeit alles zu opfern bereit waren – statt lediglich ihre Menschlichkeit selbst zu opfern. Kerrigan erschauert kurz, als jenes alte Gefühl über sie hinwegspült, diese jetzt fremdartige Emotion ihrer abgestreiften menschlichen Natur. Doch so rasch sie kam, wird die Emotion wieder unterdrückt, sodass keiner der anderen Zerg es bemerkt. Das jedenfalls nimmt Kerrigan an. Kerrigan nickt. Sie gibt den Worten des Reporters die Schuld an ihrem Unbehagen. Es muss der Bericht sein, der sie verwirrt, nicht die Erinnerungen, die er heraufbeschwört. Michael Liberty war stets ein Meister der Worte. Er vermag selbst eine Königin dazu zu bringen, sich nach der Zeit zu sehnen, da sie nur ein Bauer war. Dennoch, es verbirgt sich viel in Michael Libertys Nachricht, und vieles, was den nicht menschlichen Geistern, die nun ihre Landsleute sind, verborgen bleibt. Es steckt viel wertvolle Information darin. Vieles, was sich aus Michael Libertys Worten entnehmen lässt. Aus dem, was er sagt – und wie er es sagt. Der Projektor gibt einen Ton von sich, der verrät, dass der Rücklauf beendet ist, und die nicht menschliche Hand drückt den Startknopf, hebt einen Finger an ihre breiten Lippen. Kerrigan, die Königin der Klingen, gestattet sich ein leichtes Lächeln und konzentriert sich auf den in Licht gehüllten Mann. Sie will erfahren, was sie noch alles von ihren neuen Feinden lernen kann. 219
ENDE ENDE
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