Der Kreuzzug DAN ABNETT Deutsche Erstausgabe Der Sabbatwelten-Kreuzzug hält die Galaxie im Griff, denn die Kämpfe toben...
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Der Kreuzzug DAN ABNETT Deutsche Erstausgabe Der Sabbatwelten-Kreuzzug hält die Galaxie im Griff, denn die Kämpfe toben weiterhin unerbittlich. Doch die Schrecken ihres verdeckten Einsatzes auf der vom Chaos besetzten Welt Gereon verfolgen Kommissar Ibram Gaunt und seine Männer des Ersten und Einzigen Taniths wie ein Fluch. Als sie erneut auf diesem verderbten Planeten landen müssen, entbrennt ein erbittertes Ringen um Macht und Loyalität, denn Gaunts Vorgesetzte stellen ihre ehrgeizigen Pläne über alles – sie wollen den Sieg um jeden Preis … »Das zweiundzwanzigste Jahr des Sabbatwelten-Kreuzzugs erlebte eine Periode neuerlichen Glücks für Kriegsmeister Macaroths Hauptkampfgruppen. Durch rasche und entscheidende Siege bei Cabal Alpha, Gerlinde und Zadok angespornt, machten die Streitkräfte des Kriegsmeisters einen entschlossenen Vorstoß in den umkämpften Carcaradon-Sternhaufen und zwangen die größeren Heere des feindlichen Heerführers, (›Archon‹) Urlock Gaur zu hastigem Rückzug. Macaroths Absicht bestand darin, die Truppen des Archons zu zerschlagen und zu vernichten, bevor sie eine zusammenhängende Verteidigungslinie in der Erinyen-Gruppe bilden konnten. Auf Macaroths kernwärtiger Flanke und auch zunehmend in seinem Rücken hielten die sekundären Kampfgruppen – die Fünfte, Achte und Neunte Kreuzzugsarmee – ihre Bemühungen aufrecht, die Streitkräfte von Magister Anakwanar Sek, Gaurs fähigstem Unterführer, aus den Randgebieten der Khan-Gruppe zu vertreiben. Durch Probleme in den Bereichen Moral und Logistik sowie die Tatsache geschwächt, dass ein Großteil der Truppen aus neuen und erst kürzlich ausgehobenen Regimentern bestand (die Mehrheit der erfahrenen Garde-Einheiten und Veteranen waren der Hauptstreitmacht eingegliedert worden), hatte die zweite Front zu Beginn des Jahres 777.M41 zu stagnieren begonnen.
Die Probleme wurden dadurch verstärkt, dass die Armeen der zweiten Front den extrem tüchtigen Streitkräften Seks sehr oft an Klasse unterlegen waren. Höchstwahrscheinlich hätten sich viele Befehlshaber der zweiten Front Macaroths strengstes Missfallen zugezogen, wäre der Kriegsmeister nicht so ausschließlich mit seinen eigenen Zielen beschäftigt gewesen. Doch General Van Voytz von der Fünften Armee unternahm ernsthafte Anstrengungen, die zweite Front zusammenzuhalten, insbesondere durch die Vorantreibung einer Reihe kompromissloser Aktionen mit dem Ziel, gewisse Welten zu befreien, die noch bis vor kurzem als vergebliche Liebesmüh betrachtet worden waren. Van Voytz taufte seine Strategie ›Brandrodung‹, und ihr Sinn bestand darin, durch die systematische Säuberung von Welten, die bis dahin unwiderruflich im Besitz des Erzfeinds zu sein schienen, den Stolz der zweiten Front wiederherzustellen. ›Brandrodung‹ erzielte die gewünschte Wirkung, obwohl der für diese Politik erforderliche gewaltige Aufwand an Ressourcen später seitens des Munitorums infrage gestellt wurde. Vertrauliche Unterlagen verraten außerdem, dass in einem speziellen Fall ein ganz anderes Motiv hinter diesen kostspieligen Befreiungsversuchen stand.« -
aus Geschichte der Späten Imperialen Kreuzzüge -
Auf der Straße zum Ruhm I BlN war ein Akronym und fand im Untergeschoss statt. In der Abteilung waren zweihundertvierunddreißig Skalps, und die Mehrheit war aufgrund des »B« im Namen dort. Am ersten Tag kannte Criid noch niemanden und stand allein da, die Hände in den Taschen. Das zog ein paar Worte der Erläuterung von Ausbilder Kexie nach sich. »Kein verdammter Gardist, nicht mal so’n nassfürziger Skalp wie Sie, parkt die Hände in der Tasche!«, stellte er klar. Kexie war zwei-zwanzig groß und sah aus, als wäre er aus Dörrfleisch gestrickt. Er redete langsam und gemessen, als habe er alle Zeit der Welt, sie zu beschimpfen und zu verunglimpfen, und die Worte kamen wie Leuchtspurgeschosse aus seinem trockenen, lippenlosen Mund: heiß, grell und brennend. Wenn er in der Nacht brüllte, konnte man sehen, wie seine Worte die Dunkelheit tackerten wie Phosphortränen. Ausbilder Kexie hatte einen Stock. Aus Gründen, die sich niemand in der Abteilung erklären konnte, nannte er ihn »Saroo«. Es war ein dicker Holm aus gedrechseltem Hartholz, vierzig Zentimeter lang, und er ähnelte sowohl einem Offiziersstab als auch einem Stuhlbein. Kexie unterstrich gern gewisse Wörter und Redewendungen mit Saroo. Bei »nassfürziger Skalp« zog Kexie Saroo über Criids linke Hand, die noch in der Tasche steckte. Blitzartig flackerten Schmerzen in den Knöcheln von Criids Faust auf. Bei »wie Sie« besuchte Saroo Criids rechte Hand. Die Wörter »parkt die Hände« ließen Saroo zwischen Criids Beine schnellen. Criid fiel auf das Metalldeck und schnappte nach Luft. »Aufrecht, die Hände an den Seiten. Keine andere Haltung ist für den Gott-Imperator, mich und Saroo akzeptabel. Haben wir uns verstanden?« »Jawoll, Herr Ausbilder.« »Ech«, sagte Kexie, indem er den Kopf ein wenig zur Seite neigte. Er hatte, wie sie noch herausfinden würden, die Angewohnheit, seine Sprüche mit diesem speziellen Laut zu unterstreichen. »Ech, nennen Sie das einen sauberen Lader?« »Ech, was für’n scheißweicher Versuch!«
»Mehr haben Sie nicht zu bieten, ech?« »Ech«, sagte er, »ich glaube, Saroo kann Sie nicht hören, Skalp.« »Jawoll, Herr Ausbilder!«, brüllte Criid. »Wir haben uns verstanden, Herr Ausbilder!« »Stehen Sie auf«, schnaufte Kexie und wandte sich wieder an die anderen. Einige dieser anderen waren äußerst belustigt. Der erste Tag war noch keine zehn Minuten alt, und einer von ihnen lag bereits mit schmerzfeuchten Augen lang auf dem Deck. Sie waren ein hässlicher Haufen, die meisten Treibgut aus verschiedenen Regimentern. Drei oder vier der Auffälligsten hatte Criid bereits einen Namen verpasst. Zumindest einen Spitznamen. Da war Vierbüchse, ein großer, stämmiger Spaßvogel aus dem 33. Kolstec. Er sei im BIN, hatte er bei ihrer Versammlung stolz verkündet, weil er »in allem Schrott« sei. Allerliebst gehörte zum Panzerregiment der Halsbergener. Sie war zum dritten Mal im BIN, obwohl dies ihre erste Begegnung mit Ausbilder Kexie war. »Ich mag keine Befehle«, hatte sie erwidert, als Vierbüchse sie fragte, aus welchem Grund sie hier sei, und es dabei belassen. Allerliebst hatte richtig harte Ecken und Kanten. Dunkelhaarig und sonnengebräunt, wirkte sie so gefährlich wie ein offenes Klappmesser in einem Seesack. Wie so oft bei Spitznamen in der Armee gehörte Brocken zu einem jungen Burschen, der ihn nicht verdiente. Brocken war klein und hager, ein stockdürrer Tunichtgut und wie Vierbüchse ein Kolstec. Criid nahm an, die Holzhammerironie der Imperialen Garde hatte Brocken mit dem Stiel erwischt. Obwohl er klein war und aussah, als hackten alle auf ihm herum, fiel es schwer, Mitgefühl für ihn aufzubringen. Seine Lache war ein schrilles Gackern, und er benutzte es, um seinem Vergnügen an den Schmerzen anderer Ausdruck zu verleihen. Brocken war von seinem kommandierenden Offizier zu BIN geschickt worden, weil er »ein Bajonett auf einen Granatwerfer aufgepflanzt hatte, har-harhar«. Criids Ansicht nach, keine zehn Minuten alt, war Wäsche das eigentliche Problem in der Abteilung. Wäsche erinnerte Criid an Major Rawne: groß, dunkel, gutaussehend und giftig. Er wusste, dass er gut aussah, sogar im verblichenen BIN-Drillich, und er betrachtete sie alle mit verächtlichem Schweigen. Als Vierbüchse
ihn bei ihrem ersten Antreten gefragt hatte, »wofür sie ihn verknackt hätten«, kniff Wäsche lediglich die Augen zusammen und drehte ihm den Rücken zu. »Oooh, harter Bursche, har-har-har!«, hatte Brocken gegackert, und Vierbüchse und ein paar andere hatten mitgelacht. Wäsche hatte sich umgedreht, den Zeigefinger der linken Hand ausgestreckt und ihn Brocken in den Mund geschoben, sodass die Fingerspitze über die Vorderzähne rieb, bis sie sich schmerzhaft ins Zahnfleisch bohrte und Philtrum und Lippe unter Brockens Nasenlöcher drückte. Brocken hatte vor Schmerzen geschnaubt, sich aber wie ein Fisch am Haken nicht befreien können. »Ich bin kein ›harter Bursche‹«, hatte Wäsche gesagt. »Ich bin nicht dein verdammter Freund. Wenn du was von mir willst, frag nach Wäsche. Und du willst nie was von mir.« Damit ließ er Brockens Lippe los. Von da an hatten alle entsprechend Respekt vor Wäsche. »Tanither im Sturzflug!«, gluckste Vierbüchse, als Ausbilder Kexie Criid aufs Deck beförderte. »Erstes und Einziges, sagen die immer. Erstes und Einziges am Boden!« »Tanither am Ende«, fiel Brocken ein. »Seht mal, seht mal! Wie’n kleines Mädchen! Bu-hu! Har-har-har!« »Geh nach Hause zu Mama, Tanither!«, tönte Vierbüchse. »Die wischt dir die Augen ab und macht alles wieder gut«, gackerte Allerliebst. »Muah Muah!«, fügte sie mit Kusspantomimen hinzu. »Jetzt ist es wieder besser!« »Meine Mutter …«, begann Criid im Aufstehen. »Meine Mutter würde euch Wichsern den Arsch aufreißen …« »Oh, jetzt hab ich aber so’n verdammten Schiss!«, verkündete Brocken. »So’n Schiss, dass ich mir gleich in die Hose mach, harhar-har!« »Ich kenn’ deine Mama«, rief Vierbüchse. »Sie hat ‘n bisschen gezappelt, aber sie war gar nicht so schlecht. Sie schreibt mir immer noch. ›Ach, Büchsi, wann können wir wieder mal Zusammensein. Ich sehn’ mich nach deinem heißen … ‹« »Das reicht!«, feuerte Ausbilder Kexie. »Tackert euch die Lippen zu, ihr Nassfürze. Ech, ich hab ja schon einiges an Abteilungen erlebt, aber ihr seid das Allerletzte. In Reih und Glied! Los, los, los! Aufstehen und einreihen, Criid. Grundaufstellung. Ist das ‘ne Grundaufstellung, ihr Schwachköpfe? Macht voran! Sechs Reihen, zügig! Los, los!«
Kexie schritt die Reihen ab und wirbelte Saroo in seinen schwieligen Händen herum. Es war kalt im hallenden Gewölbe des Untergeschosses. Ihr Atem bildete Wölkchen. Wie alle Bilgenräume war das Untergeschoss ungeheizt und roh. Die Wände waren ein rötlicher Fleck aus Rost und metallischem Wundbrand, und es roch nach abgestandenem Urin und Lösungsmitteln, die rumpfabwärts gelaufen waren. »Also schön, Damen und Damen«, sagte Kexie. »Ich nehme an, was Besseres bringt ihr nicht zustande. Verdammich, ich hab schon von Frischlingen ‘ne bessere Grundaufstellung gesehen. Ihr seid Scheiße, habt ihr gehört? Das Letzte vom Letzten. Ihr seid BIN, und euch das Leben zur Hölle zu machen, ist meine Aufgabe, die mir ausdrücklich vom Gott-Imperator der Menschheit persönlich übertragen wurde. Ech, ich muss anständige verdammte Gardisten aus euch machen. Ihr kommt als Nassfürze zu mir, und ich schicke euch als richtige Soldaten zurück. Oder … ihr sterbt.« Er legte eine Pause ein und ließ den Blick über ihre stummen Reihen wandern. »Hat jemand irgendwas Witziges dazu zu sagen? Na los, nur zu. Redet ganz offen.« »Tja, Sie können’s ja versuchen«, regte Allerliebst an. Saroo traf sie am Hals und dann am Hinterkopf, als sie zu Boden ging. Allerliebst lag hustend auf dem Deck. Criid machte Anstalten, ihr zu helfen. »Niemand rührt sich, verdammt. Niemand! Damit muss sie allein klarkommen. Will sonst noch jemand ‘ne Bemerkung machen? Nein? Nein?« Kexie beendete sein Auf-und-Ab-Marschieren und baute sich vor ihnen auf. »Willkommen in der BIN-Abteilung, ihr Hurensöhne und -töchter. Mal sehen, ob wir uns einig sind, wofür die Buchstaben stehen. ›N‹ steht für … ich warte?« »Neuausbildung, Herr Ausbilder«, murmelten sie. Kexie klatschte Saroo in seine Handfläche. »Ich glaube, Saroo kann euch nicht hören …« »Neuausbildung!«, brüllten sie. »Und das ›I‹ steht für …?« »Indoktrination, Herr Ausbilder!« »Es wird doch langsam. Gut. Und das ›B‹? Ihr wisst doch alle, wofür das steht?«
»Bestrafung, Herr Ausbilder!« Kexie nickte. »Gut. Ech. Dann will ich mir mal ‘nen Überblick verschaffen. Ich schätze, die meisten von euch Skalps sind wegen ›B‹ hier. Hand hoch.« Die meisten in der Abteilung, darunter auch Brocken, Wäsche und Allerliebst, hoben die Hand. Kexie nickte wieder. »Und wer ist wegen ›N‹ hier?« Eine Handvoll, darunter auch Vierbüchse. Kexie schwang Saroo in den Händen. »Stellt euch meine Überraschung vor, wenn jemand von euch wegen ›I‹ hier ist. Irgendjemand?« Acht Hände hoben sich. Criid gehörte dazu. »Scheiße«, sagte Kexie. »Ihr seid zu acht? Also schön, ihr acht. Nach vorne in die Mitte.« Criid trat zusammen mit den anderen sieben vor. Sie sahen allesamt aus wie kleine Jungen mit ihren schlaksigen Gliedern, runden Schultern und der unterernährten Pubertätsaura. »Seht zu und lernt was, ihr Nassfürze«, sagte Kexie zu den Übrigen. »Diese acht hier sind Jungfrauen. Verdammt unberührt. Haben noch keinen Tag richtigen Krieg gesehen. Noch nie voller Wut geschossen. Ihr sorgt besser dafür, dass sich keiner von denen besser schlägt als ihr, sonst halte ich euch persönlich ‘ne Boltpistole an den Schädel und grinse, während ich abdrücke.« Kexie betrachtete die acht ›I‹-Kandidaten. »Liegestützen, fünfzig Stück«, sagte er. »Auf, auf.« Nach einer Stunde beständiger Wiederholung dieser Aufgabe kletterte die Abteilung vielleicht drei Stunden lang Seile empor und lief danach mit Gewichten beladen Runden durch das Untergeschoss. Nach fünf Stunden waren sie vor Erschöpfung wie betäubt und leer im Kopf. »Wechsel an die Seile!«, brüllte Kexie. Vierbüchse, verschwitzt und dunkelrot im Gesicht, konnte sich nicht mehr an den knotigen Seilen bis unter das Dach des Kellergeschosses heraufziehen. »Wenn es jemand nicht schafft, macht die ganze Abteilung die Übung noch mal!«, informierte sie Kexie. »Spuck in die Hände«, flüsterte Criid Vierbüchse zu. »Spuck in die Hände, dann hast du mehr Halt.« Vierbüchse tat es und fing an zu klettern. »Wer hat dir das beigebracht?«, grunzte er.
»Mein Vater«, sagte Criid, der bereits ein paar Meter höher war und gut vorankam. »Wie heißt er?« »Welcher?«, fragte Criid. II Das Licht in der Decke des Untergeschosses schaltete sich aus, und jede Reihe erlosch mit einem lauten Rr-Klack. Die Mitglieder der Abteilung lagen wie Tote auf dem Schlachtfeld auf Übungsmatten verstreut und ächzten und stöhnten vor sich hin. Ihr schweißnasser Drillich klebte ihnen am Leib. Sie lagen auf dem Rücken und hielten die Hände ausgestreckt wie Wunderheiler, um ja nichts mit ihnen zu berühren. Ihre Handflächen waren so wund von Reibungsblasen, dass sie es nicht ertragen konnten, irgendwas anzufassen. »Morgen früh, genau hier, um Punkt sechs Uhr«, sagte Ausbilder Kexie zu ihnen. »Nicht eine Minute später, sonst will Saroo den Grund wissen. Antreten zum Gruß.« Ausbilder Kexie stand da und klatschte sich mit Saroo an den rechten Oberschenkel, während die BIN-Abteilung langsam hochkam und Reihen bildete. »Sechs Wochen«, sagte Kexie. »Sechs Wochen auf der Straße zum Ruhm bis zur Landung. Gott-Imperator, aber bis dahin habe ich aus einigen von euch verdammte Gardisten gemacht. Heute war eine Schande. Morgen macht ihr’s besser. Wegtreten.« Kexie ging zu Criid, während sich die Abteilung langsam auflöste. »Tut mir leid wegen der harten Schläge, Criid«, flüsterte er. »Mir war nicht klar, dass Sie zur Indoktrination hier sind.« Criid nickte. »Ist schon gut, Herr Ausbilder. Das konnten Sie ja nicht wissen.« »Nein, konnte ich nicht. Ein Jammer. Und jetzt räumen Sie die verdammten Matten weg.« Die Übungsmatten waren schwer und maßen zwölf Meter im Quadrat. Sie zusammenzurollen, zu den Spinden zu schleppen und zu verstauen, wäre für jeden mit erheblicher Anstrengung verbunden gewesen, von jemandem mit Händen voller Blasen ganz zu schweigen. »Soll das ein Witz sein?«, sagte Criid.
»Verweigern Sie einen Befehl, Skalp?«, fragte Kexie. »Nein, aber …« Saroo stattete Criid einen ausgiebigeren Besuch ab und schlug ihn an Stellen, wo man die blauen Flecken nicht sehen würde. Nachdem Kexie gegangen war, blieb Criid noch lange in ein Meer aus Schmerzen geworfen liegen, stand schließlich auf und begann mit dem Wegräumen der Matten. Es dauerte ziemlich lange. Vierbüchse, Allerliebst und noch ein halbes Dutzend andere Mitglieder der BIN-Abteilung lungerten an der Luke herum. Sie hatten alle gesehen, was der Ausbilder getan hatte. Schließlich kehrten sie um und halfen Criid mit den Matten. »Ich schaff das schon«, sagte Criid. »Der Ausbilder hat dich ziemlich vermöbelt«, sagte Vierbüchse. »Alles klar mit dir?« Der Übermut war aus seinem Gesicht verschwunden. Er schaute aufrichtig besorgt drein. »Ja. Hört mal, ich schaff das schon.« »Geht schneller, wenn wir helfen«, sagte einer, ein dünner Junge namens Zeedon. »Kexie ist ein Dreckschwein«, sagte Allerliebst. »Ich glaub, ich stech ihn ab.« »Ja, klar«, sagte Vierbüchse. »Ich hab ‘n Messer«, schnauzte Allerliebst. »Ich stech das Schwein ab, wenn er mir noch mal mit dem Knüppel zu nahe kommt.« »Lieber nicht«, sagte Criid. »Warum nicht?«, fragte Allerliebst. »Er fordert’s doch raus …« »Sei nicht blöd. Tätlicher Angriff auf einen Offizier?«, sagte Criid. »Du wirst erschossen. Standrechtlich, mit Schüssen hinters Ohr.« »Das wär’s wert«, sagte Allerliebst, aber sie klang nicht mehr so überzeugt. »Der Ausbilder macht nur seine Arbeit, verstehst du das nicht?«, sagte Criid. »Das ist hier die Imperiale Garde. Drill, Disziplin und Prügel. Das bringt uns auf Vordermann und sorgt dafür, dass wir’s bleiben. Wenn du was anderes erwartet hast, weiß Thron, warum du dich je verpflichtet hast.« »Du hörst dich an wie’n verdammter Kommissar«, sagte einer. Criid lächelte. »Mein erstes Kompliment heute.« »Wie heißt du?«, fragte Vierbüchse. »Criid.«
»Was denn, wie das heilige Imperiale Credo?« »Nein. Mit Doppel-›i‹, nicht Doppel-›e‹. Das ist ein verghastiter Name.« »Ich nenne dich ›Heilig‹«, sagte Vierbüchse, indem er schnell und ohne Überlegung nach uralter Art der Garde einen Spitznamen prägte. »Ja, ›Heilig‹. Das hört sich gut an.« »Was du willst«, sagte Criid. »Wer ist das denn?«, fragte Allerliebst plötzlich. Auf der anderen Seite des Untergeschosses stand eine Gestalt im Schatten der Haupteingangsluke. Eine Frau, hochgewachsen und schlank, in dunklem Kampfanzug und mit den Rangabzeichen eines Sergeanten. »Feth«, murmelte Criid. »Wer ist das?«, fragte Allerliebst. »Nur meine …«, begann Criid. »Mein zuständiger Offizier, der mich abholen will. Bis morgen, in Ordnung?« »Gleiche Zeit, gleiche Schmerzen, Heilig!«, lachte Vierbüchse laut, als Criid davoneilte. »Heilig?«, fragte die Frau, als Criid bei ihr eintraf. »Ich habe mir einen Spitznamen verdient.« »Ist das ein Bluterguss?«, fragte sie, indem sie die Hand zu Criids Gesicht ausstreckte. »Lass das!«, zischte Criid und schlug ihre Hand weg. »Wer ist dafür verantwortlich?« »Ich bin gefallen. Bei einer Übung.« »Du humpelst.« »Lass es einfach auf sich beruhen. Was tust du hier?« »Ich wollte nachsehen, wie du zurechtkommst. Erster Tag und alles.« »Tja, ich wünschte, das hättest du gelassen.« Criid schob sich an ihr vorbei und humpelte den Gang entlang. »Dalin!«, fauchte sie. Beinahe achtzehn Jahre alt, groß und stark, fürchtete sich Dalin Criid vor nichts im Kosmos außer vor dem Klang ihrer Stimme. Er blieb stehen. »Hat dich jemand geschlagen?«, fragte sie. »Der Ausbilder hat etwas deutlich gemacht. Dass es im BIN keine Günstlinge gibt.« »Das Schwein. Ich sollte ihn umbringen«, sagte Tona Criid. »Soll ich ihn umbringen?«
»Nein«, erwiderte er, »aber wenn du noch mal herkommst, um mich zu suchen, Mutter, kannst du mich gleich umbringen.« III Essenszeit. Auf den wegen der Hitze Hexenkessel genannten Maschinendecks ging es drunter und drüber. Fettiger Rauch und Qualm quoll aus den Messeschächten und wälzte sich über der wogenden Menge die Decke entlang. Die Gitter der Belüftungsrohre waren mit Strängen aus geronnenem Fett verklebt. Es stank nach zerkochtem Gemüse, Kürbispüree und Kokosfett. Handglocken klingelten. Verschiedene Händler riefen dem Strom der Passanten ihre Angebotslisten zu. Gegen Vorlage des Bezugsscheins konnte ein Soldat in den Munitorum-Sälen eine Portion der normalen warmen Verpflegung zu sich nehmen, aber die Verheißung von etwas anderem trieb viele hundert von ihnen am Ende jedes Tagzyklus in den Hexenkessel. Das und die Tatsache, dass man hier etwas zu trinken bekommen und auch anderen Lastern frönen konnte, wenn man wusste, wen man fragen musste. Der Hexenkessel existierte wegen der »Gefolgschaft«. Jedes Garderegiment zog einen Rattenschwanz Begleitpersonen hinter sich her: Ehefrauen, Kinder, Freundinnen, Huren, Wunderheiler, Prediger, Zigeuner, Hausierer, Zahnzieher, Schwarzhändler, Schreiber, Kredithaie und eine ganze Palette schattiger Seelen, die wie Parasiten oder Flöhe an den Rockschößen des Militärs klebten. Man hatte Hark erzählt, einige Regimenter seien doppelt so groß, wenn man den Anhang mitzähle. Im Hexenkessel lebten und aßen sie und handelten und feilschten. Einmal hatte er von einem jungen Kommissar den Vorschlag gehört, sie aus der Flotte zu entfernen. »Das würde die Munitorums-Kosten um fast fünfzig Prozent senken«, hatte der Junior strahlend verkündet. »Ja«, hatte Hark lächelnd erwidert, »und am nächsten Tag würde jeder Gardist im Quadranten desertieren.« Als sie durch das Gedränge des Hauptkorridors wanderten, registrierte Viktor Hark mit einiger Befriedigung, dass sein Begleiter keine Anstalten machte, ähnlich naive Kommentare von sich zu geben. Ludds Augen waren geweitet, denn dies war Junior-
Kommissar Nahum Ludds erster Besuch in den Randbezirken eines Truppentransporters. Aber er war klug und schnell von Begriff, und Hark sah sehr wohl, warum sein Vorgesetzter für Ludds förmliche Versetzung zum reformierten Ersten-und-Einzigen gesorgt hatte. Sie duckten sich unter einem Kranausleger durch, an dem eingesalzene Wasservögel schwangen, und traten dann zur Seite, um den Dampfschwaden auszuweichen, die einer Reihe brodelnder Bottiche entwichen. Eifrige Stimmen hoben sich, da schmutzige Hände Münzen in die Höhe hielten, um sie gegen gebratenes Fleisch auf Holzspießen und Portionen von in Kohlblättern eingewickeltem Würzhack einzutauschen. »Hungrig?«, fragte Hark. »Ich habe schon gegessen, Herr Kommissar«, erwiderte Ludd, der die Stimme heben musste, um sich verständlich zu machen. »Munitorum-Verpflegung?«, fragte Hark nach. »Ich habe bei der Frühschicht gegessen. Schließlich gehört es zu unserem Sold.« »Was gab es heute?« »Äh, irgendeinen eingelegten Fisch und einen Stärkepudding.« »Gut?« »Der, äh, Fisch war pikant, könnte man sagen«, sagte Ludd. Ein Händler lief mit einem Tablett voll dampfender Pasteten auf der Schulter vorbei. Ludd drehte sich um und starrte ihm hinterher. Hark sah förmlich, wie dem jungen Mann das Wasser im Mund zusammenlief. Viktor Hark war kräftig gebaut und hatte dichte dunkle Haare und ein glattrasiertes Gesicht. Sein Kopf ruhte auf dem dicken Hals wie die Spitze einer Gewehrkugel. Er hatte eine unbeschwerte, lässige Art, die Ludd beunruhigend fand, vor allem, da Ludd wusste, dass Hark ein harter, rücksichtsloser Vorgesetzter sein konnte. Irgendwann in seinem Leben – Ludd hatte nie den Mumm aufgebracht, danach zu fragen – hatte Hark den linken Arm verloren und einen augmetischen Ersatz erhalten. Dieses Glied hob Hark jetzt und schnippte mit den Fingern. Das Schnippen der mechanischen Glieder klang, als werde ein Boltgewehr durchgeladen. Der Händler blieb wie angewurzelt stehen. »Herr Kommissar?«
»Zwei von denen«, sagte Hark, indem er mit zwei echten Fingern ein V bildete und damit auf das Tablett zeigte. »Süß oder sauer, Herr Kommissar?«, fragte der Händler, indem er sein Holztablett herumschwenkte, um seine Ware zu zeigen. »Was sind das für Pasteten?« »Pikantes Geflügel oder Zuckerpflaume, Herr Kommissar.« »Ludd?« »Äh, Pflaume, Herr Kommissar?« »Dann eine von jeder«, sagte Hark, indem er Münzen aus der Manteltasche holte. Sie nahmen die heißen Pasteten in Empfang. Der Händler gab ihnen noch jeweils ein Stück Wachspapier, in das sie ihre Pastete einschlagen konnten. Sie gingen weiter und aßen dabei. Ludd war augenscheinlich hungrig. Ihm schien seine Pastete so zu schmecken, dass ihm die Augen tränten. »Vielen Dank, Herr Kommissar«, sagte er. Hark wischte sich Krümel vom Mund und winkte ab. »Was sind wir jetzt, Ludd?«, fragte er. Ludd musste in aller Eile einen heißen Bissen schlucken, um antworten zu können. Er zuckte zusammen. »Ich … äh … ich bin nicht sicher, ob ich weiß, was Sie meinen, Herr Kommissar.« »Nun, Nahum, was waren wir, bevor ich die Pasteten gekauft habe?« »Äh … zwei Kommissare auf Streife im Lasterviertel?« »Im Hexenkessel, Ludd. So wird es vom Tross genannt. Ich weiß, der offizielle Name ist ›Unterdecks‹, aber das klingt beim Thron wie der Anfang eines Kasernenwitzes.« »Ja, Herr Kommissar.« »Essen Sie auf.« Hark nahm noch einen Bissen von seiner Pastete. Er musste kauen und warten, bis sein Mund leer genug war, um fortfahren zu können. »Aber Sie haben ganz recht. Zwei Kommissare, unterwegs im Hexenkessel. Sie sind ein Tunichtgut von einem Soldaten, der etwas zu verbergen hat. Sie sehen uns, Sie wissen, dass wir auf der Suche sind. Aber zwei Kommissare, die Pastete essen … und sich übrigens die Uniform vollkrümeln und mit Soße bekleckern …« »Mhm! Verzeihung!« »Tja, was sagt Ihnen das?«
»Dass wir hier sind, weil wir etwas essen wollen? Und deswegen … nicht offiziell unterwegs?« Hark neigte den Kopf. »Genau. Ein kleiner Trick, Nahum. Wenn du dich nicht verstecken kannst, versteck dich vor aller Augen.« Panflöten ertönten. Hark fuhr herum. Eine Unterhaltungstruppe tanzte vorbei, deren Mitglieder Flöten, Geigen und Handtrommeln spielten. Fünf Akrobaten folgten ihnen Rad schlagend durch den Hauptkorridor. Jongleure liefen wie Plänkler am Rand entlang, schnappten sich Hüte, Früchte und andere Gegenstände wie Löffel und halb verzehrte Spieße von arglosen Passanten, um sie ein oder zwei Mal durch die Luft zu werfen und sie dann ihren lachenden, verblüfften Besitzern zurückzugeben. Ein kleines Mädchen mit großen Augen in einem mit limettengrüner Tarnfarbe bemalten Gesicht sammelte Münzen in einem ramponierten Gardehelm, den es wie einen Eimer am Kinnriemen hielt. Hark zog Ludd zurück, um sie passieren zu lassen. Adepten der Ekklesiarchie mit tintenfleckigen Fingern eilten durch die Menge und verteilten Lectitio-Divinitatus-Texte, die frisch aus der Presse kamen. Bettler und Invaliden boten Kerzen und Stiefelwichse zum Verkauf an. An einem Imbissstand in der Nähe stritten sich zwei Gardisten, der eine ein Kolstec, der andere ein stämmiger Halsbergener, wer als Nächster an der Reihe sei. Es sah aus, als müsste jeden Moment eine Schlägerei anfangen. »Einfach nicht beachten«, sagte Hark zu Ludd. »Wenn wir einschreiten, verraten wir uns. Wir sind in anderer Angelegenheit hier.« Ludd nickte und mampfte das letzte Stück seiner Pastete. Er wischte sich den Mund an der Manschette ab. Das Gedränge rings um sie wurde dichter. Ludd roch Alkohol. Ein magerer Prediger, entweder halb verrückt oder halb betrunken, war auf eine aus einem Karren improvisierte Kanzel geklettert und rief jedem, der sich die Mühe machte zuzuhören, etwas über den »Jubel der sterbenden Seele« zu. Hark hörte nicht hin. Er lauschte immer noch den Flöten, die sich langsam entfernten, da die Truppe weiterzog. Sie erinnerten ihn an etwas, wie manchmal ein vergessener Traum aus der Nacht zuvor plötzlich hochgespült wird und wieder ins Bewusstsein dringt. Wie bei derartigen Träumen konnte Hark die Erinnerung nicht definieren oder zuordnen. Aber ein Gefühl war damit verbunden. Trauer. Bedauern.
»Herr Kommissar?« »Was?« »Herr Kommissar?«, fragte Ludd. Hark blinzelte. Albern, sich so ablenken zu lassen. Das ging einfach nicht. Die Straße zum Ruhm war immer ein langer Spaziergang, und ein Kommissar verrichtete dort den Großteil seiner Arbeit. »Schön«, sagte er leise und bedächtig, »was hat Ihr Informant noch gesagt?« »Pavvers Laden«, erwiderte Ludd. »Da sieht man Merrt häufig. Mein Informant sagt, er steht mit über dreihundert in der Kreide.« »Da muss man sich fragen, warum er immer wieder hingeht«, sagte Hark. »Das muss man wohl«, sagte Ludd. »Ich glaube, da könnte es um mehr gehen als Geld.« Hark nickte. Er kannte Rhen Merrt von früher als einen der ursprünglichen Tanither. Der Krieg war grausam zu ihm gewesen und hatte ihm schlechte Karten zugeteilt. Anscheinend setzte das Schicksal diese Serie jetzt fort. »Sollen wir ihn hinrichten?«, fragte Ludd direkt. »Was? Nein!«, sagte Hark. »Thron, nein! Halten Sie mich für so hart, Ludd?« »Ich kenne Sie nicht, Herr Kommissar«, sagte Ludd. »Ich wollte Ihre Denkweise begreifen.« Hark nickte. »Durchaus vernünftig. Anständige Frage. Nein, ich erschieße ihn nicht. Es sei denn, er lässt mir keine andere Wahl. Er ist einer von uns, Ludd, und wir sind hier, um ihn zu retten, bevor er endgültig in den Abgrund fällt. Zum Wohle von Soldat Merrt und des ganzen Regiments. Moral und Disziplin tanzen eine sehr labile Polka, Ludd. Wissen Sie, was eine Polka ist?« »So etwas wie … ein Leopard?« »Nein. Ist das Pavvers Laden?« »Ja, Herr Kommissar.« »Gut. Geben Sie mir Mütze und Mantel«, sagte Hark. »Mütze und Mantel?« »Nun machen Sie schon. Nehmen Sie das hier.« Hark hielt ihm ein Bündel schmutzige Geldscheine hin. »Gehen Sie rein und sehen Sie sich mal um.« Ludd überreichte ihm Mütze und Mantel. Ohne sie sah er in seinem schmuddeligen Drillich wie ein junger Soldat aus. Er nahm
das Geld, stopfte es sich in die Hüfttasche und ging zu Pavvers Laden. Pavvers Laden verstand sich gern als »Etablissement«. Tatsächlich war er keins. Er lag ein paar Treppenstufen unterhalb des Hauptkorridors und war eine dunkle, verräucherte Spielhölle, die in die Lücke zwischen zwei Deckträgern gequetscht war. Das Dach war größtenteils ein Zelt, das aus gestohlener Plane bestand. Allein daraus hätte man eine Anklage basteln können, überlegte Ludd. Musik spielte, laute »Stampf«-Musik, die aus unter dem Dach befestigten ramponierten Kom-Lautsprechern dröhnte. Mehrere spärlich bekleidete Mädchen schlenderten mit Getränketabletts durch die Menge und schwangen dabei die mageren Hüften im Takt. Ihr Blick hatte nichts Vergnügtes und ihr Schritt nichts Beschwingtes. Pavver bezahlte sie dafür, als Teil ihrer Arbeit den Körper zur Musik zu verrenken. Ludd trat ein, ging zur improvisierten Bar und bestellte einen Amasec. Der Barmann schaute ihn ob seiner offenkundigen Jugendlichkeit zweifelnd an, bis Ludd einen Geldschein auf die Theke klatschte. Das Getränk wurde in einem kleinen, dickwandigen, schmierigen Glas serviert. Ohne sich nach ihm umzuschauen, hatte Ludd Soldat Merrt an einem Nebentisch ausgemacht, wo Karten gespielt wurde. Er war nicht zu übersehen. Eine Kugel ans Kinn hatte ihm vor Jahren auf Monthax den Kiefer herausgesprengt, und jetzt trug er ein krudes augmetisches Implantat. Merrt war früher Scharfschütze gewesen, einer der besten bei den Tanithern, aber die Verwundung hatte dieser Spezialisierung seiner Laufbahn ein Ende bereitet. Seit den Wäldern von Monthax hatte Merrt sechs Mal den Versuch unternommen, wieder in den Scharfschützenkader aufgenommen zu werden. Es war ihm jedes Mal misslungen. Er schnitt ein finsteres Gesicht, als die Karten aufgedeckt wurden, obwohl sein Gesicht mit diesem Implantat immer finster war. Außer ihm saßen noch vier andere Spieler am Tisch: zwei Kolstecs, ein Doppier und ein Belladoner. Ludd nippte an seinem Amasec und versuchte dabei, sich an den Namen des Belladoners zu erinnern. Maggs. So hieß er. Späher Maggs. Bonin hatte eine hohe Meinung von ihm. Was wollte er hier?
Merrt wirkte abgelenkt. Der Flop passte eindeutig nicht zu seinen Karten, aber er erhöhte trotzdem. Ludd sah sich um. Da, in einer Ecke, war Pavver mit vier von seinen Gorillas. »Pander« Pavver, hager und gemein, mit einem dicken, mürrischen Gabelbart und einem Glasauge. Exgardist. Im Hexenkessel waren Exgardisten gewöhnlich die Schlimmsten. Pavver und seine Lakaien beobachteten Merrt und flüsterten leise. Noch ein Verlust für das Haus, noch ein Verlust, den Merrt nicht begleichen konnte, und sie würden ihm die Haut abziehen. Ludd griff in seine Hosentasche und spürte den angenehmen Kolben seiner stummelläufigen Automatik darin. Es mochte hässlich werden. Sogar hässlicher als Rhen Merrt. Er wollte vorbereitet sein. Draußen erwog Viktor Hark noch eine Pastete. Ludd ließ sich Zeit. Der stämmige Halsbergener tauchte plötzlich in seinem Gesichtsfeld auf. »Sind Sie Hark?«, fragte der Soldat. Harks Augen verengten sich. »Ich glaube, Sie werden feststellen, dass ich normalerweise Kommissar genannt werde, Soldat«, sagte er. »Ja, sicher. Kommissar Hark, richtig?« »Was wollen Sie?«, fragte Hark. »Ich bin beschäftigt.« »Wir haben ein Problem, Kommissar Hark. Ich meine, dass Sie sich das mal ansehen sollten«, sagte der Soldat, während er in eine Richtung zeigte und sich in Bewegung setzte. Hark seufzte und folgte ihm. Er faltete Ludds Mantel und Mütze zusammen und klemmte sie sich unter den Arm. »Was für ein Problem?«, fragte er. Der Halsbergener führte Hark eine Gittertreppe hinunter und hinter die Messeschächte, wo es dunkel und neblig vom Dampf war. Geschmolzenes Fett tropfte die Wände hinunter. »Ich habe gefragt, was für ein Problem!«, blaffte Hark. Plötzlich war er von fünf Halsbergenern umringt. Einer hielt ein Messer in der Hand. »Du bist das Schwein, das Gadovin hingerichtet hat«, sagte einer. »Das wirst du büßen.« »Ach, ihr dummen Jungs«, sagte Hark.
Es würde gleich losgehen. Ludd trank aus und zog sich hastig in den Hauptkorridor zurück. Von Hark keine Spur. »Herr Kommissar?«, rief er. Einige Passanten warfen ihm neugierige Blicke zu. Ludd machte kehrte und eilte in Pavvers Laden zurück. In einer Ecke herrschte hektische Aktivität, die alle anderen, sogar die Mädchen, zu ignorieren versuchten. Pavvers Männer schleiften Merrt durch die Hintertür. Merrt hatte sich auf einen Einsatz eingelassen, den nicht einmal das Haus deckte. Er krakeelte vor sich hin, aber seine Schreie, die durch den furchtbaren augmetischen Kiefer gedämpft wurden, wirkten eher komisch. Was rief er? »Sarat?«, »Sabbat?« Irgendwas. Gäste in seiner Nähe lachten. Nur ein armer alter Trottel mit einer Prothese, der zu viel riskiert hatte. Eine der Kellnerinnen, ein hübsches Ding mit kurzen schwarzen Haaren, folgte Merrt aufgeregt nach draußen. »Was habt ihr mit ihm vor?«, rief sie. »Was habt ihr mit ihm vor?« »Hau ab und bedien die Gäste!«, fauchte einer der Gorillas und trat nach ihr. Merrt schrie wieder, als er durch die Hintertür verschwand. Ludd schob sich durch die Menge. Er sah die anderen Männer, die mit Merrt am Spieltisch gesessen hatten. Sie waren auf den Beinen. Wes Maggs, der Belladoner, sah aus, als wolle er Merrt folgen. Als er Ludd sah, blieb er stehen und setzte sich abrupt wieder hin. »Bleiben Sie hier!«, rief Ludd ihm zu und lief weiter zur Hintertür. Sie war noch angelehnt, als er dort ankam. Er lugte hindurch. Dahinter war ein Verschlag, toter Raum, der klamm war und nach Pisse und verfaultem Gemüse stank. An der anderen Wand waren die Gorillas bereits dabei, Merrt zu Brei zu schlagen. Ludd holte tief Luft und schritt durch die Tür. »Das reicht!«, brüllte er. Die Gorillas hörten auf, Merrt zu schlagen. Benommen und halb bewusstlos sackte der Tanither zusammen und glitt langsam die Wand hinunter. Die vier Muskelmänner drehten sich um und betrachteten Ludd mit zusammengekniffenen Augen. »Was bist du denn für einer?«, fragte einer. Ludd wusste, dass sie nicht auf eine Antwort warten würden.
IV Das Messer kam zuerst, ein Glitzern von Stahl. Es war noch früh. Falls die Halsbergener überhaupt getrunken hatten, dann nicht viel. Sie waren immer noch hellwach, schnell und selbstsicher. Außerdem hatten sie diesen Überfall vermutlich schon länger geplant und waren daher so angespannt wie Stahlfedern. Das Messer kam zuerst, und Hark hielt die Klinge einfach mit seinen augmetischen Fingern fest. Er drückte zu. Das Messer zerbrach mit einem Geräusch wie ein gedämpfter Glockenschlag. »Tja, das ist kaputt«, sagte Hark. Er ließ Ludds Mantel und Mütze fallen und schlug dem Messerstecher mit seiner richtigen Faust ins Gesicht. Der Mann fiel schwer zu Boden. Der Kontakt war zufriedenstellend heftig, obwohl ihm sofort die Knöchel schmerzten. Das schon wieder. Das kannte er schon. Seit Ancreon Sextus war Hark in drei Schlägereien mit Halsbergenern verwickelt gewesen, die ihn alle hassten, weil er ihren inkompetenten Anführer Gadovin standrechtlich erschossen hatte. Tja, viel Pech für sie. Der Augenblick dehnte sich. Sie befanden sich jetzt in der Kampfzeit, jenem unwirklichen Maß für das Verstreichen von Augenblicken, das einem wie eine Ewigkeit vorkam, so lange es dauerte, in Wirklichkeit aber nur ein paar Sekunden währte. Kampfzeit. Instinktzeit. Einer der anderen schlug nach ihm. Hark wich dem telegrafierten Fausthieb aus und hämmerte dem Mann seine augmetische Faust in die Brust, sodass Rippen brachen. Der Schwachkopf taumelte keuchend und Blut hustend weg. Der Rest war hinter ihm. Hark setzte die Ellbogen ein. Er hörte ein Nasenbein brechen und spürte etwas Weiches nachgeben. Er war wieder frei. Hark fuhr auf den Fußballen herum, sodass die Schöße seines Ledermantels wirbelten. Es war eine überraschend elegante Bewegung für jemanden, der so stämmig war. Er begutachtete sein Werk. Ein Halsbergener war auf den Knien, die Hände schützend um die gebrochene Nase geschlossen, die stark blutete. Der andere
lag auf dem Rücken, zusammengekrümmt, die Hände an der Kehle und japsend. »Tststs«, lautete Harks Kommentar, dann trat er dem ersten an den Kopf und beförderte ihn damit ebenfalls auf den Rücken. Nach einem Blick auf den zweiten entschied er, dort genug getan zu haben. Der fünfte Halsbergener war auf seiner linken Seite. Hark hatte angenommen, der Mann werde kneifen und fliehen, nachdem er gesehen hatte, dass seine Kumpel verletzt am Boden lagen. Die Bandenmentalität funktionierte so. Aber nicht hier, ging Hark auf. Die Kampfzeit spulte immer noch Moment für Moment in ihrem ganz eigenen, absonderlichen Tempo ab. Der fünfte Mann trug eine Kettenfaust. Sie hatte ihn auf dem Schwarzmarkt ganz zweifellos ein kleines Vermögen gekostet. Er hatte sie gekauft, um Hark zu erledigen, und er würde sie benutzen. Sie fing an zu surren, als sie nach Harks Gesicht schwang. Hark lenkte den Hieb mit seiner augmetischen Hand ab. Splitter aus Stahl und schwarzem Plastek flogen von seinem Handimplantat, als die surrende Waffe weggebogen wurde. Ein Messer war eine Sache, aber mit einer Kettenfaust legte man sich besser gar nicht erst an. Sie ließ einem keine Freiheiten, keinen Raum für Fehler. Als die Kettenfaust aufgetaucht war, war die Situation ernst geworden, nicht einfach nur angespannt. Die Kampfzeit schaltete einen Gang hoch. Der Mann sagte etwas. Hark ließ ihn gar nicht erst richtig anfangen. Er trat dem Mann zwischen die Beine, schlug ihm die Faust ins Gesicht, packte ihn dann am Hals und knallte ihn vor die verdreckte Wand des Messeschachts. Er behielt seinen Griff bei und verstärkte ihn mit dem Knie und dem Rest seines Körpergewichts. Sein augmetischer Arm hielt die Kettenfaust auf Distanz, sodass sie wirkungslos war. »Fallen lassen«, befahl Hark. »Ghhk!«, röchelte der Mann. »Jetzt wäre gut.« »Gnhh!« »Zwei, drei Sekunden machen den Unterschied zwischen Straflager und standrechtlicher Erschießung. Schreiben Sie Ihr Urteil selbst.«
Der Mann ließ die Kettenfaust los. Sie fiel zu Boden, sprang zwei Mal ab und blieb dann wie ein Insekt zuckend und summend liegen, während sie sich ins Deck fraß. »Also Straflager«, sagte Hark. Er trat zurück und ließ los. Der Mann taumelte nach vorn und schnappte nach Luft. »Noch ein letzter Punkt«, fügte Hark hinzu. Er versetzte dem Mann mit seinem augmetischen Arm einen Schlag seitlich an den Kopf. Der Mann flog der Länge nach die Wand entlang und fiel aufs Gesicht. Wahrscheinlich hatte er einen Schädelbruch. Ein Segen, überlegte Hark. Dreißig Jahre Straflager verstrichen wahrscheinlich wesentlich angenehmer, wenn man einen Hirnschaden hatte und einfältig war. Die Kampfzeit endete. Plötzlich schwer atmend, trat Hark einen Schritt zurück und begutachtete sich kurz. Kein Schaden. Keine Wunden. In der Unwirklichkeit der Kampfzeit konnte man eine Menge abbekommen und es erst später registrieren. Das hatte er auf Herodor gelernt. Als der Loxatl ihm den Arm abschoss, hatte er das zunächst gar nicht realisiert. Er betrachtete die ächzenden, hustenden Leiber ringsumher. »Ihr dämlichen Hunde«, sagte er. Er griff in seine Manteltasche und schaltete sein Kom ein. »Hark an Kommissariatszentrale.« »Wir hören, Kommissar.« »Verifizieren Sie meine Position über Kom-Verbindung.« »Verifiziert, Kommissar. Eins acht eins null, Unterdecks.« »Vielen Dank. Schicken Sie einen Inhaftierungstrupp hierher. Fünf, wiederhole, fünf Halsbergener zur Inhaftierung. Null Toleranz. Die Anklage gebe ich später zu Protokoll.« »Inhaftierungstrupp ist unterwegs, Kommissar. Brauchen Sie medizinische Hilfe?« »Ja, für sie.« »Ist ebenfalls unterwegs. Bleiben Sie an Ort und Stelle, Kommissar?« Hark riss sich zusammen. Er sah Mantel und Mütze auf dem Boden liegen. »Feth … Ludd …« »Kommissar?«, knisterte es im Kom. »Nein. Erledigen Sie das.« Er lief los und eilte die Treppe empor, immer zwei Stufen auf einmal. Er erreichte den geschäftigen Hauptkorridor und bahnte sich einen Weg durch die herumtollende Artistentruppe. Ein Flötenspieler hörte auf zu spielen.
»He!«, beschwerte er sich. »Nicht jetzt«, warnte Hark. Ludd zog seine Automatik aus der Tasche und richtete sie auf die Gorillas. »Das ist nahe genug«, sagte er. Er fragte sich, was mit ihnen nicht stimmte. Er hatte eine Pistole auf sie gerichtet, und sie wichen nicht zurück. Die Stampf-Musik hinter ihm wurde plötzlich lauter. »Wir haben ein Problem?«, fragte eine seidenweiche Stimme. Blick und Pistole immer noch auf den Kreis der Gorillas gerichtet, sah Ludd Pavver im Augenwinkel neben sich. Pavver stand gelassen da, seitlich neben Ludd, und betrachtete ebenfalls seine Gorillas. »Ja, wir haben ein Problem«, sagte Ludd gequetscht. Pavver nickte. »Sie kenne ich nicht«, sagte er, immer noch, ohne Ludd anzusehen. »Sie, Sie sind mir neu.« »Nahum Ludd, Kommissariat«, sagte Ludd. »Tja, das sagen sie alle, nicht?«, gluckste Pavver. Die Gorillas nickten. Ludd wich sachte ein, zwei Schritte zurück, bis er auch Pavver vor der Mündung seiner Waffe hatte. Pavver drehte sich langsam zu ihm um. »Ich bin Junior-Kommissar Nahum Ludd«, stellte Ludd fest. »Jetzt also Junior-Kommissar?« Pavver nickte. »Das ist nett. Ein netter Anflug von Wirklichkeitsnähe. Ein nettes Detail. Wirkt glaubhafter. Junior-Kommissar, ich gebe Ihnen einen Tipp: Wenn Sie diese Rolle das nächste Mal spielen, besorgen Sie sich eine Mütze und einen Mantel. Leben Sie die Rolle.« »Ich greife jetzt nach meinem Dienstausweis«, sagte Ludd, dessen linke Hand langsam zu seiner Brusttasche glitt. »Dass mir keiner Dummheiten macht.« Pavver zuckte die Achseln auf eine Art, die besagte: Lassen Sie sich ruhig Zeit. »Hier macht nur einer Dummheiten«, sagte er. Ludd hielt seinen Dienstausweis hoch. »Na schön«, räumte Pavver ein. »Sie sind Kommissar. Ich will keinen Ärger. Ich führe ein anständiges Etablissement und …« »Hören Sie auf zu quatschen«, sagte Ludd. »Dieser Laden hält sich nur dank der toleranten Haltung dieses Schiffs und seines
Kommissariats. Und es ist auch kein ›Etablissement‹. Es ist ein Loch in der Wand. Es ist eine Höhle. Wenn Sie auch nur falsch husten, weisen wir Sie aus. Sie haben keine Rechte, keinen Einfluss, und Feth auf die Behörden. Also hören Sie auf, so zu tun, als führten Sie die beste Kneipe auf Khan Nobilis.« Pavver nickte. »Ich weiß, wo mein Platz ist, Junior-Kommissar Nahum Ludd. Ich bin ein kleiner Mann und schlage mich so durch. Treffen wir eine Vereinbarung. Was für ein Problem gibt es?« »Ihre Männer waren gerade dabei, einen meiner Soldaten umzubringen«, sagte Ludd. »Den hässlichen Scheißer?« Pavver zuckte die Achseln. »Interessiert Sie überhaupt, was mit ihm passiert? Er hat unsere Hausregeln gebrochen. Zu hoch gegen die Bank gespielt. Meine Kasse hat Bauchschmerzen, wenn jemand damit Schlitten fährt. Ja, meine Jungens wollten ihn umbringen. Eine Lektion.« »Sie geben es zu?« »Was hätte es für einen Sinn, es abzustreiten?« »Damit würden Sie nicht durchkommen«, sagte Ludd. Pavver schob sich ein Lho-Stäbchen in den Mund und zündete es an. Er atmete Rauch aus. »Kennen Sie die Turbinensäle, Junior-Kommissar Nahum Ludd?« »Neben den Triebwerksreaktoren? Ja.« »Da gibt es Brennöfen. Groß und heiß. Schmelzen Haut und Knochen von einer Sekunde auf die andere. Wenn wir einen Soldat oder zwei töten, der mein Etablissement beleidigt, gibt es keine Spuren. Geht alles in Asche und Rauch auf. Keine unangenehmen Fragen. Keine Rückkehr. Ordentlich. Das mache ich, um den Frieden zu wahren.« »Sie gestehen Morde?« Pavver zuckte die Achseln. »Warum tun Sie das? Vor mir? Ich bin Juni … Ich bin Kommissar! Ich habe Sie vor der Mündung meiner Waffe. Ich …« Er zögerte. Die Gorillas lachten. Pavver lächelte. »Sie haben mich, stimmt’s?«, fragte Ludd. Ludd spürte die kalte Berührung einer Pistolenmündung am Halsansatz. Pavver war nicht allein aus seiner Höhle gekommen. Ein weiterer seiner Gorillas stand hinter Ludd und zielte mit einer Pistole auf dessen Hinterkopf.
»Eine Leiche in die Brennöfen. Zwei. Das macht für mich keinen Unterschied. Ich bin Geschäftsmann, Junior-Kommissar Nahum Ludd. Ich muss ein Loch in der Wand führen.« Pavver klemmte sich das Lho-Stäbchen zwischen die Lippen und zückte eine Rolle Geldscheine. »Wenn Sie lieber leben wollen«, sagte er, indem er die Wörter um den Rauch quetschte, »kann ich Ihnen das etwas versüßen. Wie viel kostet mich Ihr Wegsehen?« »Wenn ich Ihr Schmiergeld nähme«, sagte Ludd, »könnte ich Sie hinterher trotzdem noch anschwärzen.« »Aha«, sagte Pavver. Er hörte mit dem Abzählen von Geldscheinen auf. »Sie haben den Fehler in meiner Argumentation durchschaut. Sie wissen zu viel.« Etwas Eigenartiges geschah. Die Zeit schien sich zu dehnen. Ludd zuckte zusammen, in der Erwartung, dass sich von hinten eine heiße Kugel in seinen Schädel bohren würde, und sein Finger krümmte sich um den Abzug seiner Automatik. Ein Schuss ertönte, und etwas Heißes, Nasses klatschte von hinten auf Ludds Kopf und Schultern. Pavver brüllte etwas. Die Gorillas liefen ihm entgegen. Ludd schoss und fällte den ersten mit einer Kugel in die Brust. »Gleichgewicht der Macht wiederhergestellt«, sagte eine Stimme. »Die Hände auf den Kopf, ihr Fethwischer.« Viktor Hark trat in Ludds Blickfeld. Er zielte mit einer großen Automatik auf Pavver. Die Mündung atmete Rauch aus. »Auf die Knie!«, fauchte Hark. Pavver und seine Männer gehorchten schnell. Der Mann, den Ludd erschossen hatte, lag in einer Blutlache auf dem Bauch. »Alles klar, Ludd?«, fragte Hark. Ludd nickte. Er schaute hinter sich. Ein Mann lag auf dem Boden, eine Pistole in der Hand. Der Kopfschuss hatte ihm den größten Teil des Schädels weggesprengt. Ludd ging auf, was ihm den Rücken heruntertropfte. »Kommissar Hark«, verkündete Hark in routinemäßigem Tonfall. »Das ist das Ende. Erwarten Sie keine Gnade, und finden Sie sich mit einem Leben voller Elend ab.« Pavver fing an zu heulen. Hark trat ihm in die Rippen. Ludd ging an den kauernden Männern vorbei zu Merrt. »Wir brauchen einen Sanitäter«, sagte er nach kurzer Untersuchung. »Sofort.«
Hark nickte und griff nach seinem Kom. Pavvers Laden wurde etwa fünfzehn Minuten später für immer geschlossen. Es war nicht das erste Etablissement im Hexenkessel, das so schnell kam und ging, und würde auch nicht das letzte sein. Während die Truppen des Kommissariats Pavver und seine Gorillas in Ketten abführten, schnappten sich die Mädchen ihre Sachen und flohen. »Was ist mit Merrt?«, fragte Ludd. »Was ist mit Ihnen?«, antwortete Hark. »Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?« »Einen Moment lang war es seltsam«, gestand Ludd. »In dem Verschlag, meine ich. Danke, Herr Kommissar. Ich dachte, ich bin tot.« »Das kommt vor. Seltsam? Inwiefern?« »Ja, nun … alles schien sich zu beschleunigen und doch zu verlangsamen, beides zugleich.« Hark nickte. »Kampfzeit«, sagte er, als erkläre das alles. V Larkin ließ den Blick durch das Zielrohr des Präzisionsgewehrs schweifen, bis der Kreis um das Fadenkreuz sein Ziel einrahmte. Den jungen Mann. Eigentlich noch ein Junge. Wie alt war er? Achtzehn Standardjahre? Beim bloßen Gedanken daran fühlte sich Larkin so alt und bleiern wie eine sterbende Sonne. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, selbst achtzehn gewesen zu sein. Wollte es tatsächlich nicht. Sich an seine Zeit als Achtzehnjähriger zu erinnern, erforderte, sich einen Ort vorzustellen, und dieser Ort war Tanith und seine dichten Wälder. Larkin dachte nicht gern an Tanith. Nach all den Jahren war es immer noch ein zu tiefer und bitterer Verlust. Aber er erinnerte sich an den Jungen. Er musste so um die zehn Jahre alt gewesen sein, als er zu ihnen gekommen war. Das war gleich nach der Vervunmakropole gewesen, nach jenem mühsamen Krieg, als die Reihen des Ersten-und-Einzigen durch die Freiwilligen von Verghast aufgefüllt worden waren. Nur ein Flüchtlingsjunge mit einer kleinen Schwester, noch zwei Seelen, die vom Tross im Hexenkessel mitgeschleppt wurden. Zwei Waisenkinder, mit mütterlicher Wut gerettet und beschützt von ei-
nem Makropolmädchen mit weißblond gefärbten Haaren und zu vielen Piercings und Tätowierungen. Der Name des Makropolmädchens lautete Tona Criid. Jetzt war sie Sergeant Criid, der erste weibliche Offizier des Regiments, ein Kamerad und Freund mit einer herausragenden Dienstbilanz, und hatte ihren Wert ein Dutzend Mal unter Beweis gestellt. Larkin verdankte ihr sein Leben, mehr als ein Mal, und hatte den Gefallen erwidert, ebenfalls mehr als ein Mal. Als er sie zum ersten Mal auf den Landefeldern vor der Vervunmakropole zu Gesicht bekommen hatte, mager, verdreckt und voller Wut und Trotz, wie sie zwei ebenso verdreckte Kinder mit sich ins Landungsboot schleifte, hätte sich Larkin niemals träumen lassen, sich mit ihr anzufreunden oder sie sogar zu bewundern. Wie sich die Zeiten änderten. Jetzt bewunderte er sie. Für alles, was sie getan hatte, alles, was sie war, und für jeden Sturm auf den Erzfeind der Menschheit, den sie angeführt hatte. Aber am meisten bewunderte er sie dafür, eine Mutter von zwei Kindern zu sein, die nicht ihre eigenen waren. Dafür, sie in diesem schäbigen Zigeunerleben aufgezogen zu haben. Und sie hatte gute Arbeit geleistet. Der Junge war groß, stark, gutaussehend. Wie sein Vater. Er hatte Selbstvertrauen und Grips und kam gut mit anderen aus. Und es lag nicht nur daran, was er war. Er stand für etwas. Larkin beobachtete den sich nähernden Dalin Criid noch eine Weile durch sein Zielrohr, dann nahm er es herunter und tat so, als säubere er es. Er hatte sich draußen vor die Hauptluke zum Kasernensaal gesetzt, den Rücken an das khakifarbene Metall der Wand gelehnt. Der Vorwand war, dass ihm die Länge des Gangs draußen Gelegenheit gab, sein Zielrohr zu testen und neu zu kalibrieren. Er holte ein Poliertuch aus der Tasche und bearbeitete die Linsen. Sein Präzisionsgewehr mit dem langen Lauf lag auseinandergenommen in der Schutzhülle neben ihm auf dem Deck. Leute kamen und gingen den hallenden Korridor entlang. Dalin erreichte ihn. »Hältst du dein Auge auf Trab, Larks?«, fragte er, während er vor dem mit untergeschlagenen Beinen dasitzenden Mann stehen blieb. »Kann nie schaden«, erwiderte Larkin.
Dalin nickte. Er stutzte. Er hatte nicht viel erwartet, aber doch zumindest irgendetwas. Vielleicht eine Bemerkung über seinen ersten Tag. »Alles klar bei dir?«, fragte Larkin aufblickend. »Ja. Klar, mir geht’s prima. Und dir?« »So goldig wie der Thron«, sagte Larkin und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Tätigkeit. »Aha. Gut. Dann sehen wir uns«, sagte Dalin. Larkin nickte. Dalin wartete noch einen Moment und ging dann durch das Luk in den Kasernensaal. Larkin schaltete sein Kom ein. »Er kommt«, sagte er. »Er kommt«, sagte Varl. »Kommst du?« Gol Kolea saß auf dem Rand seiner Pritsche und blätterte gerade eine Seite in einer Lehrfibel über spirituellen Glauben um. »Er wird mich nicht dabeihaben wollen, ich wäre nur im Weg«, erwiderte Kolea. »Doch, wird er«, sagte Varl. Er hatte die Arme verschränkt und lehnte am Rahmen des Quartierkäfigs. »Warum?« Varl zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Vielleicht, weil du sein Vater bist? Jetzt hör auf, so zu tun, als würdest du lesen, und heb deinen Arsch.« Kolea verzog das Gesicht. »Woher willst du wissen, dass ich nur so tue, als würde ich lesen?« Die Arme immer noch verschränkt, neigte Varl sehr langsam und bedächtig den Oberkörper, bis sein Kopf beinahe verkehrt herum war. »Du hältst das Buch falsch herum.« Kolea blinzelte und starrte auf die Fibel in seinen Händen. »Nein, tue ich nicht.« Varl richtete sich wieder auf. »Ja, aber du musstest erst nachsehen. Sei nicht so kapriziös und heb deinen Arsch.« Kolea warf das Buch beiseite und stand auf. »Na schön«, sagte er. »Aber nur, weil du Wörter wie ›kapriziös‹ benutzt und ich jetzt Angst habe, mit dir allein zu sein.« »Er kommt«, sagte Domor. »Schon?«, erwiderte Caffran. »Larks hat’s gerade durchgegeben.«
»Hast du ihn?«, fragte Caffran. Er faltete gerade die Bettdecke auf der Pritsche des Quartierkäfigs. Shoggy Domors Augen hätten auf eine onkelhafte Art gefunkelt, wären sie keine übergroßen augmetischen Implantate gewesen. Er griff in seinen Brotbeutel und holte eine Flasche Sacra heraus. Die Flasche, eine zweckentfremdete Wasserflasche, trug ein handschriftliches Etikett: »Gleich Nochmals Bester«. »Hier. Das ist der echte Stoff«, sagte Domor, indem er Caffran die Flasche zuwarf. Caffran fing sie und lächelte, als er das Etikett sah. »Kein Rachenputzer frisch aus Costins Destille«, fügte Domor hinzu. »Das ist richtiger Stoff. Gereift. Jahrgangssakra. Abgelagert.« »Abgelagert?« »In Obels Spind, für ›zukünftige Freuden‹, aber es ist der Stoff.« »Wie teuer?« Domor schüttelte den Kopf. »Als ich Obel gesagt habe, wofür wir ihn wollen, hat er mir die Flasche einfach gegeben. ›Wascht dem Baby anständig den Kopf‹, hat er gesagt.« »Er ist kein Baby.« »Nein, ist er nicht.« »Ist er auch nicht.« »Ich weiß, dass er keins ist.« »Nur, damit das klar ist. Wie sehe ich aus?« Domor zuckte die Achseln. »Wie ‘n Feth mit ‘nem Besenstiel im Arsch? Was hast du gemacht, deine Uniform gestärkt?« Caffran stutzte. »Ja«, gestand er. Domor gackerte. »Dann ist es dir gelungen, wie ‘n Feth mit ‘nem Besenstiel im Arsch auszusehen.« »Danke. Warum warst du noch mal mein Freund?« »Reiner Zufall«, grinste Domor. Ein Kopf lugte um die Käfigtür. Er war knorrig und hässlich, als schiebe eine erschrockene Schildkröte vorsichtig den Kopf aus dem Panzer. »Hallo Pater«, sagte Domor. »Er kommt!«, verkündete Zweil. »Das wissen wir, Pater. Wir auch«, erwiderte Caffran.
»Großer Tag«, fügte Zweil hinzu. Er sah Caffran an und runzelte die Stirn. »Ein Feth mit einem Besenstiel im Arsch. Wollten Sie so aussehen, mein Sohn?« »Seien Sie still, Pater«, sagte Caffran. Kasernensaal 22 war eine riesige Halle, die zum Quartier des Ersten-und-Einzigen Tanith gehörte. Auf der anderen Seite des freien Platzes war das 15. Kolstec unter ähnlichen Bedingungen untergebracht. Etwas über viertausend Soldaten, verstaut für die lange Fahrt, für den langen Marsch auf der Ruhmesstraße. Die Quartiere an sich waren fünf Etagen tiefe Metallkäfige. Jeder Soldat verfügte über eine Zelle mit Käfigwänden wie Tiere in einer Zuchtbatterie. In jeder Zelle gab es eine Pritsche und einen Spind, und die meisten Soldaten sorgten mit strategisch angeordneten Decken und Tarnumhängen für zusätzliche Privatsphäre. Es war drückend heiß und laut. Von den Lho-Stäbchen und Pfeifen hing eine beständige Rauchwolke unter der Decke, und die Latrinen am Südende verströmten einen chemischen Gestank. Die Tanither lagen herum, entspannten sich, hockten auf Treppen, spielten Karten und Königsmord, faulenzten auf Klappstühlen. Im Freiraum hinter den Käfigzellen spielten Soldaten im Unterhemd lärmend Tretball. Tanither, Verghastiter, Belladoner. Drei Rassen, die jetzt zu einer Kampfeinheit zusammengeschweißt worden waren. Dalin betrat die Anlage durch das Kasernentor. Er verspürte so etwas wie vage Niedergeschlagenheit. Niemand grüßte ihn, nicht einmal die Männer, mit denen er sich regelmäßig unterhielt. Ein paar »Hallos«, hier und da ein Kopfnicken. Niemand fragte, wie sein Tag gelaufen war. Aber das war schon in Ordnung. Er wollte kein Aufhebens. Er war schon lange einer von ihnen, aber eben nicht einer von ihnen. Jetzt wurde er bald achtzehn und für seine Hundemarke ausgebildet. Das war sein Ansinnen gewesen, sein ganzes Leben lang. Einer von ihnen zu sein, gleich, ein Imperialer Gardist. Dalin fragte sich manchmal, ob er auch so versessen auf die Garde gewesen wäre, wenn sein Leben einen anderen Verlauf genommen hätte. Wenn der Krieg nicht die Makropole zerstört hätte, in der er geboren war. Wahrscheinlich wäre er Grubenar-
beiter geworden wie sein Vater. Sein richtiger Vater. Aber der Krieg hatte ihn unter seine Fittiche genommen, und Krieger hatten ihn weggebracht, und jetzt sagte ihm nur noch deren Berufung zu. Gardist zu sein. Noch wichtiger: Geist zu sein. Einer von Gaunts Auserwählten. Zu kämpfen und falls nötig zu sterben, im Namen des GottImperators der Menschheit. Ihm tat alles weh. Zur Hölle mit Kexie und Saroo. Ihm tat alles weh, und er wollte nur auf seine Pritsche fallen und die Schmerzen wegschlafen. Er ging um das Ende des fünften Käfigblocks und in den Umfassungsraum, wo Soldaten dösten und spielten. Er hörte ein seltsames Geräusch, Stakkato, wie Gewehrfeuer. Es war Applaus. Wie ein Mann und eine Frau hatten sich die Geister ringsumher erhoben und klatschten ausgelassen. Er blieb stehen und blinzelte. »Dalin Criid! Dalin Criid! Erster Tag in ›I‹, alle! Dalin Criid!« Dalin blinzelte noch einmal und schaute in die lächelnden Gesichter, die ihn umgaben. Sie wirkten … stolz. Ihm verbunden, als gehöre er ihnen, auf die bestmögliche Art. Mach Bonin stand ganz oben auf der Treppe und gab den Sprechchor vor. »Dalin Criid! Zeigt ihm unsere Anerkennung!«, rief er. »Das …«, grinste Dalin. »Das ist …« »Die Art, wie Geister einen der Ihren begrüßen«, sagte Domor, der vortrat. »Dalin, dies ist ein seltener Moment, also wirst du uns verzeihen, dass wir das Beste daraus machen wollen.« Er schüttelte Dalin die Hand. »Dein Vater ist hier«, übertönte er den Applaus. Dalin blickte sich um und sah Caffran, der ihm zulächelte. »Ach, du meinst Caff«, sagte er. »Dann ist es in Ordnung?«, fragte Caffran, indem er vortrat. Dalin nickte. »Was hast du mit deiner Uniform gemacht?«, fragte er. »Fang du nicht auch noch an. Hör mal, ich hab was gemacht, ich hoffe, es gefällt dir. Ich habe einen Quartierkäfig für dich eingerichtet, gleich da oben, zwei unter meinem. Mit GardeAusrüstung und allem.« »Ich gehöre noch nicht zur Garde, Caff.«
»Ich weiß, aber bald.« Dalin lächelte und schloss die Hände um Caffrans. Dermon Caffran war nicht alt genug, um Dalins biologischer Vater zu sein, aber als Tona Criids Partner hatte er den Jungen und dessen Schwester aufgezogen wie seine eigenen Kinder, soweit das Leben in der Garde dies überhaupt ermöglichte. Dann hatten die Komplikationen begonnen. »Ich habe das hier«, sagte Caffran, während er den Sacra hervorholte. »Um auf dich anzustoßen.« »Danke.« Dalin drehte sich langsam im Kreis und bedankte sich für den Applaus. Er sah alle Gesichter: Obel, Ban Daur, Wheln, Rafflan, Brostin, Lyse, Caober, Nessa Bourah. Larkin war auch da. Er zwinkerte ihm zu, der alte Hund. Zweil trat vor, einen Psalter und eine Flasche mit Weihwasser in den Händen. »Himmel, Dalin Criid. Du bist plötzlich sehr groß«, rief er. »Ich dachte, ich könnte dich segnen, aber ich fürchte, ich bin zu klein!« Dalin grinste und verbeugte sich. Die Menge wurde still, als Zweil das Zeichen des Aquila auf Dalins Stirn machte. »Im Namen des Gott-Imperators, der über uns wacht, und im Namen der Heiligen, deren Werk wir verrichten, wappne ich deine Seele gegen das Grauen der Finsternis«, verkündete Zweil. Er sprenkelte etwas heiliges Wasser über Dalins Schulterm. »Der Imperator beschützt«, endete er. Es gab mehr Applaus. Tona Criid war neben Caffran aufgetaucht. »Genieß es«, sagte sie. »Die Geister machen nicht oft so viel Theater.« »Sie hätten gar kein Theater zu machen brauchen, Ma«, sagte Dalin. Sie lächelte und berührte mit den Fingerspitzen ganz kurz seine Wange. Die Wahrheit war, wenn sich die Geister so wie jetzt versammelten, geschah dies gewöhnlich, um jemanden zu verabschieden, nicht zu begrüßen. Um einem in der Tretmühle gefallenen Freund oder Kamerad Lebwohl zu sagen. Dies war ein Ausdruck des Willkommens, ein Gruß an die Lebenden. Criid war das Herz schwerer, als ihr Lächeln vermuten ließ. Sie begrüßten ihren Sohn in der Imperialen Garde und in einem Leben, für das es nur ein Ende gab. Auch dies hier war ebenso gut wie ein Lebwohl, und das wusste sie. Von diesem Moment an, früher oder später …
»Hier ist jemand, der noch ein paar besondere Worte sagen will«, sagte Varl, der jetzt aus der Menge trat. Varl winkte. Im Schatten hinter der Käfigwand wurde Kolea ganz steif und räusperte sich. Dann wich er zurück, als eine hochgewachsene Gestalt an ihm vorbeischritt. Es war Gaunt. VI »Das wollte ich mir nicht entgehen lassen«, sagte Ibram Gaunt. Stille war eingekehrt. »Wie ist es gelaufen?«, fragte Gaunt. »Gut, Herr Kommissar. Gut«, erwiderte Dalin. »Ich hab ja gerade erst angefangen.« »Sie werden ein guter Soldat«, sagte Gaunt. »Ist das Sacra, Caffran?« Caffran erstarrte in dem Versuch, die Flasche zu verbergen. »Könnte sein, Herr Kommissar.« Er nickte. »Sie wissen, dass der Besitz illegalen Alkohols unter Strafe steht?« »Ich habe davon gehört, Herr Kommissar«, gab Caffran zu. »Dann trinken wir ihn besser, bevor ihn jemand sieht, nicht wahr?« Caffran lächelte. »Ja, Herr Kommissar.« »Holen Sie Gläser, Caff«, sagte Gaunt. »Was ist übrigens Ihrer Uniform zugestoßen? Ein Stärkeunfall?« »Das könnte es erklären«, sagte Caffran. Schnapsgläser tauchten auf. Die Flasche leerte sich, da so viele Gläser wie möglich gefüllt wurden. Gaunt hob seines. »Auf Dalin. Erster und Nächster.« Sie kippten den Schnaps. Dalin spürte die Wärme in seinem Bauch. »Wir marschieren auf der Straße zum Ruhm«, sagte Gaunt zu ihm, während er sein leeres Glas Domor gab. »Sie wissen, wohin die führt?« »Na, zum Ruhm?«, sagte Dalin. Gaunt nickte. »Ich habe vollstes Vertrauen, dass Sie bis dahin Soldat sind, Dalin. Ich zeige Ihnen den Ruhm, und ich werde stolz sein, Sie an meiner Seite zu haben.« Er sah sich um. »Ich
weiß, dass ich hier unerwünscht bin. Aber ich musste kommen. Das war’s. Weitermachen.« Er ging. Die Soldaten schlossen den Kreis um Dalin, schüttelten ihm die Hand und fuhren ihm durch die Haare. »Komm schon!«, zischte Varl. »Jetzt nicht«, erwiderte Kolea. »Er ist glücklich. Ich will da nicht reinplatzen …« »Gol…« Kolea drehte sich um und ging. »Sehr geschickt, Herr Kommissar, wenn ich das sagen darf«, sagte Beltayn, der Gaunt durch das Quartier folgte. »Was meinen Sie, Bel?« »Den Sacra so zu verteilen.« Gaunt nickte. »Dalin wird morgen früh einen klaren Kopf brauchen. Ist irgendwas faul?« Beltayn lächelte und schüttelte den Kopf. »Im Moment nicht, Herr Kommissar.« »Dann können Sie wegtreten, Bel. Vielen Dank.« Gaunt hatte die Zelte des Krankenreviers erreicht. Dorden, der ehrwürdige Stabsarzt des Regiments, stand im Eingang des Hauptoperationssaals. »Sie sehen nicht glücklich aus«, sagte Gaunt. »Wissen wir immer noch nicht, wohin wir fliegen?«, fragte Dorden. Gaunt schüttelte den Kopf. »Dann kommen Sie mit und sehen Sie sich das an.« Dorden führte ihn in einen Frachtraum, in dem eingeschweißte Kisten des Munitorums fast bis unter die Decke gestapelt waren. »Die sind gerade eingetroffen«, sagte er. »Gegenwärtig lautet der Befehl, sie im ganzen Regiment zu verteilen, doppelte Dosis.« Gaunt nahm eines der darin enthaltenen kleinen Päckchen und las das Etikett. »Anti-Fieber-Serum?« Dorden nickte. »Erinnert Sie das an irgendwas?« »Ich setze eine inoffizielle Besprechung an«, sagte er. VII
Seraphine. Die Buchstaben waren in das schwere Gitterwerk des Belüftungsschachts gestanzt und noch einmal auf dem Schacht daneben und wieder auf dem daneben. Eszrah ut Nach fuhr mit den Fingern über die Vertiefungen der Buchstaben. Seraphine. Das war, wenn er richtig gehört hatte, der Name des großen Schiffs, in dem sie flogen. Es trug seinen Namen auf allen möglichen Metallteilen, als erkenne es an, dass es so riesig war, dass man vergessen mochte, wo man sich befand, und daran erinnert werden musste. Eszrah war schon auf einem großen Schiff gewesen, aber noch auf keinem so großen. Es war so gewaltig, dass es eine Welt innerhalb einer Welt war. Gaunt hatte Eszrah verraten, dass es ein Truppentransporter war, ein Trägerschiff. Mehrere Dutzend Regimenter waren in seinem Bauch untergebracht, mehr Leute, als er in seinem ganzen Leben zu Gesicht bekommen hatte – vor dem Verlassen der Unbebau. Es gab kein Gefühl der Bewegung, keine Flugempfindung. Nur eine dumpfe Vibration des Decks, eine Harmonie im schweren Eisen der Rohre und Wände und Platten. Er berührte das Wort noch einmal und folgte den Buchstaben von links nach rechts, wie Gaunt es ihn gelehrt hatte. Seine Lippen bewegten sich. »S… sera… serap… hine…« Er hörte ein Geräusch und stutzte, wobei er ruckartig die Hand wegzog. Er mühte sich, die Außensprache zu meistern, aber sie war kompliziert, und er wollte nicht, dass Leute sahen, wie schwierig er sie fand. Er war ein Nachgahner, ein Schlafwandler, ein Bogenjäger der Unbebau. Es ging nicht an, dass Leute seine Schwächen sahen. Es war schon schlimm genug, dass sie ihn ohne sein Wode sahen. Ludd kam den Gang entlang. Ludd war in Ordnung, weil Gaunt Ludd traute, und Ludd und Eszrah hatten sich in der hohlen Stadt blutverbunden. Nahum Ludd sah Ezra Nach auf ihn warten. Gaunts Privatquartier lag am Ende von Kasernensaal 22, zugänglich über den schmalen Niedergang, der von einem Gewirr aus Rohren flankiert wurde. Ezra hatte es sich zur Aufgabe gemacht, diesen schmalen Zugang zu bewachen wie ein Kriegergeist aus irgendeiner alten
Legende, der eine geheime Schlucht bewachte. Mittlerweile waren seit ihrer ersten Begegnung ein paar Monate verstrichen, und Ludd war in Gegenwart des hoch aufgeschossenen NachgahnerPartisanen langsam entspannter, obwohl sein anfänglicher Eindruck, dass Ezra ihn auf eine ganz besonders lautlose und effektive Art töten wollte, nie ganz in den Hintergrund gedrängt wurde. Bei ihrer ersten Begegnung war Ezra noch ein Furcht einflößender Riese mit Dreadlocks und bemalter Haut gewesen. Gaunt hatte ihn gesäubert und das Wilde an ihm getarnt. Das Wode war ebenso verschwunden wie die zottelige Mähne, der Bart und die Augenmosaike, aber Ezra fiel trotzdem noch auf. Unnatürlich groß und spindeldürr, trug er schwarzen Uniformdrillich der Garde, schwere Schnürstiefel und einen Tarnumhang. Sein Schädel war rasiert und hatte eine edle Form. Seine Haut war geschützmetallgrau. Die Augen waren hinter einer ramponierten Sonnenbrille verborgen, die Varl ihm einmal geschenkt hatte. Tatsächlich war alles an Eszrah ut Nach verborgen. Verbergen war das Talent der Nachgahners. Sie verbargen sich und ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihre Hoffnungen und Ängste. Ludd kannte Eszrah, aber er kannte ihn eigentlich gar nicht. Er glaubte nicht, dass ihn überhaupt jemand kannte. Nicht einmal Gaunt. »Ick grüß di, Seele Eszrah«, sagte Ludd. Mit etwas Unterweisung von Gaunt hatte sich Ludd in der Sprache der Nachgahners geübt, nur ein paar Wendungen. Es kam Ludd ungerecht vor, dass sich nur Gaunt mit ihm unterhalten konnte. Eszrah nickte, ein wenig belustigt. Ludds Aussprache war furchtbar. Die Vokale waren alle zu kurz. Ludd hatte beinahe grützi gesagt, das Wort für Schweinebrei, anstatt grüß di, das Grußwort. »Grüß di, Seele Ludd«, erwiderte Eszrah. Ludd grinste. Nach Eszrah ut Nachs Maßstäben war das schon fast eine richtige Konversation. Die überlangen Vokale von Eszrahs Aussprache amüsierten Ludd, vor allem, da er seinen Namen eher wie »Lude« mit leicht verschlucktem »e« klingen ließ. »Wir versammeln uns zu einer inoffiziellen Besprechung«, sagte Ludd. »Es werden noch mehr Leute hier entlang kommen.« Und es wäre mir lieber, du brächtest sie nicht um, lautete der unausgesprochene Nachsatz. Eszrah betrachtete sich als Gaunts Eigentum und war dem Kommissar-Oberst allein aus diesem Grund den ganzen Weg aus der tiefen Unbebau von Gereon ge-
folgt. Wie Ludd die Sache verstand, betrachtete sich Eszrah nicht als Sklave. Gaunt besaß ihn, wie man ein gutes Schwert oder ausbalanciertes Gewehr besaß. Als Teil dieser Beziehung beschützte Eszrah Gaunts Leib und Quartier mit etwas, das Gaunts Adjutant Beltayn als »mütterliche Inbrunst« bezeichnet hatte. Vor ein paar Tagen war ein Unteroffizier der Belladoner über den Niedergang geeilt, um Gaunt einen Befehl zu überbringen, und Eszrah hatte ihn aus dem Dunkel angegriffen, da er ihn für einen Attentäter gehalten hatte. Es hatte eine ganze Weile gedauert, Eszrah so weit von der Unschuld des Mannes zu überzeugen, dass er dessen Kehle losließ, und sehr viel länger, bis sich die Atmung des Unteroffiziers wieder normalisierte. Eszrah nickte wieder. Er verstand. Ludd warnte ihn dezent, dass andere kamen, was ihm die Zeit gab, sich zurückzuziehen. Ihm missfiel Gesellschaft. Aus der Einmündung des Niedergangs waren Stimmen zu hören. Ludd sah sich um. »Das wird der Rest sein«, begann er, »also sind …« Er drehte sich wieder um. Eszrah ut Nach war verschwunden, als sei er nie dagewesen. Ludd seufzte, schüttelte den Kopf und ging weiter. Die anderen kamen. Aus dem Schatten der Rohre beobachtete der Schlafwandler sie mit geladenem Regenbagen im Anschlag. Zuerst kam Major Rawne mit Dorden, dem alten Chirurgen. Eszrah kannte Dorden nicht sonderlich gut, hatte sich aber für ihn erwärmt. Die Alten standen bei den Nachgahners in hohem Ansehen, und Eszrah erwies den Ältesten des Geister-Klans dieselbe Ehre. Rawne war anders. Rawne gehörte zu den wildesten Kriegern der Fremdweltler, die in die Unbebau gekommen waren, und allein dafür hatte er sich Eszrahs Hochachtung verdient. Gaunt schätzte Rawne ebenfalls, und das zählte eine Menge. Aber Rawne hatte eine ganz bestimmte Eigenschaft, eine gewisse Böswilligkeit. Eszrahs Volk hatte ein Wort – Skärpe –, das sie für Leute wie Rawne benutzten. Buchstäblich bezeichnete es den Zustand einer frisch gewetzten Messerklinge. Danach kamen Major Kolea, Major Baskevyl und Beltayn, der Adjutant. Sie plauderten miteinander. Kolea, ein Verghastit, war ein massiger Mann, physisch imposant, mit einer Aura der Zuver-
lässigkeit und Entschlossenheit, die so schwer und hart wie ein Eisenklotz war. Doch das Gewicht seiner Persönlichkeit wurde durch seine grundsätzlich gute Laune erleichtert. Baskevyl war ein Belladoner, ein gut gebauter, kompakter Mann, der wie Kolea strenge Zuverlässigkeit mit einer erfrischenden Art von Selbstbewusstsein vereinte. Beltayn, ein Tanither, war klein und intelligent und so schmächtig gebaut, dass das Soldatentum absolut der falsche Beruf für ihn zu sein schien. Doch Eszrah hatte Beltayn kämpfen und die Unbebau überleben sehen. Mit Gaunt und Ludd zählte Beltayn zu den wenigen Geistern, die Eszrah als Freunde betrachtete. Obwohl in der Sprache der Nachgahners die Wörter für »Freund« einfach »jemand, den ich als vertrauenswürdigen Jagdgefährten betrachte« bedeuteten. Belladoner, Verghastit, Tanither … an dieser Stelle wurde es kompliziert für Eszrah. Gaunt hatte es ihm oft erklärt, aber es kam ihm dennoch sonderbar vor. Der kämpfende Klan waren die Tanither, das Erste-und-Einzige Tanith. An irgendeiner Stelle in ihrer Historie, nach einer, wie man Eszrah erzählt hatte, gewaltigen Schlacht, hatten sich die Tanither bereit erklärt, Männer eines anderen Klans bei sich aufzunehmen. Das waren die Verghastiten, und einige von ihnen waren Frauen. Die beiden Klans waren zu einem verschmolzen. Eszrahs Erfahrung nach kam das bei den Stämmen der Unbebau niemals vor. Es sei denn, Krankheit oder Hungersnot hatten einen Stamm dezimiert und man brauchte Partner zur Fortpflanzung und Erhaltung. Dann war die Sache mit der hohlen Stadt gekommen. Eszrah war dabei gewesen und hatte es gesehen, da er Gaunt in den Krieg gefolgt war. Während Gaunt nach Gereon geflogen war, hatte man seinen kämpfenden Klan einem anderen Führer unterstellt und mit einem dritten Klan verschmolzen, der Belladon hieß. Nach Gaunts Rückkehr und dem Kriegstod des anderen Anführers hatten sich alle drei Klans unter Gaunt vereinigt und wieder den Namen Erstes-und-Einziges Tanith angenommen. Das war eine gute Sache gewesen, jedenfalls schienen Gaunt und die anderen dies zu glauben. Eszrah war nicht so sicher. In der Unbebau verschmolzen die Stämme nur selten mit Erfolg. Zum einen war da die Witterung. Kein Stamm roch wie der andere. Wie konnten sie sich vereinen, wenn ihre Körper so verschieden rochen? Eszrah konnte sie mit verbundenen Augen mühelos auseinanderhalten. Den harzigen
Saft der Tanither, den Mineralstaub der Verghastiten, den harten Stahl der Belladoner. Mit offenen Augen war es noch klarer. Tanither waren hager und hart, blasshäutig und dunkelhaarig. Verghastiten waren stämmiger, hatten einfache Gesichter und waren eher blond. Belladoner waren mit ihrer durchschnittlichen Statur, dunkleren Hautfarbe und helleren Stimme zwischen den beiden angesiedelt. Eszrah verstand nicht, wie so ein Zusammenschluss kämpfender Klans funktionieren konnte. Es stand nicht einmal fest, dass diese es konnten. In der hohlen Stadt hatten sie aufgrund der extremen Umstände gemeinsam bis zum Sieg gekämpft. Der Beweis für die richtige Verschmelzung stand noch aus, und diese Prüfung würde dort stattfinden, wohin sie flogen, wohin das große Schiff sie brachte. Was all das für Eszrah noch komplizierter machte, war die Tatsache, dass Gaunt weder Tanither noch Verghastit noch Belladoner war. Er gehörte einem anderen Klan mit einer Witterung nach gutem, eingeöltem Fell an. Dasselbe galt für Ludd (Asche und Feuerstein) und Hark (Knochenstaub und Chemikalien). Und auch für den alten Mann Zweil, obwohl der Klan, wie Eszrah die Sache verstand, Zweil nur bei sich hatte, um sich durch einen umhertollenden Verrückten belustigen zu lassen. Häuptlinge in der Unbebau ließen oft aus den gleichen Gründen einen Dummkopf am Leben. Der Name dafür lautete Possenrieter oder Narr. Gaunt, Ludd, Hark. Sie waren Tanither und doch keine Tanither. Es war verblüffend. Ein kämpfender Klan, bereits in Blut und Witterung ein Mischmasch, gestattete sich, von Männern aus anderen Klan-Gebieten geführt zu werden. Eszrah kam zu dem Schluss, dass er es nie verstehen würde, und sollte er vierzig Jahre alt werden. Kolea, Beltayn und Baskevyl betraten Gaunts Quartier. Einen Moment später kam Gaunt selbst vorbei, allein und mit zielstrebigen Schritten. Eszrah senkte seinen Regenbagen. Dann hob er ihn rasch wieder, als noch eine letzte Gestalt kam. Mkoll. Der Herr der Späher. Der Meister der Jäger. Ein Tanither, so sehr Tanither, dass seine Witterung stärker war als die aller anderen, obschon Eszrah bezweifelte, dass es jemanden gab, der die Spur dieses Mannes verfolgen konnte.
Auf halbem Weg den Gang entlang blieb Mkoll plötzlich stehen, drehte sich zur Seite und schaute direkt in den Schatten und auf die Stelle, wo sich Eszrah versteckt hielt. Er lächelte. »Alles in Ordnung, Eszrah?«, fragte er. Eszrah erstarrte, dann nickte er. »Das ist gut«, sagte Mkoll grinsend. »Mach nur weiter.« Er setzte seinen Weg in Gaunts Quartier fort. Auch für Leute wie Mkoll hatten die Nachgahners ein Wort. Es lautete Spuk. Es bedeutete Geist. Der Raum war ziemlich klein, nur ein Stahlkasten mit einem Tisch in der Mitte. Beltayn hatte im Laufe der seit ihrem Einschiffen vergangenen Tage eine Reihe Sitzgelegenheiten erbettelt, geliehen und organisiert, um ihn so auszustatten, dass er wenigstens halbwegs Ähnlichkeit mit einem Besprechungsraum hatte. Holzbänke mit abgewetzter Polsterung, ein paar Hocker und zwei hochlehnige Stühle, die beide so wacklig auf den Beinen standen, dass sie knarrten und schwankten. »Allen ein herzliches Willkommen«, sagte Gaunt, während er seinen Mantel ablegte. »Nehmen Sie Platz.« Die Offiziere des Regiments hatten aus Höflichkeit gestanden. Jetzt setzten sie sich. Kolea und Rawne gemeinsam auf eine Bank, Dorden und Hark auf eine andere. Baskevyl nahm einen der knarrenden Stühle und Mkoll dessen Zwillingsbruder. Beltayn pflanzte seine Kehrseite auf einen Hocker. Ludd zog sich in eine Ecke des Raums zurück und blieb stehen. Der Raum war dunkel, da die Beleuchtung lediglich aus dem durch die Tür und die hohen Fensterschlitze von außen einfallenden Licht bestand. Gaunt nickte Ludd zu, und der JuniorKommissar schaltete die Deckenlampen ein. Gaunt hielt seinen Mantel am Kragenaufhänger und bürstete ihn ab, als er mit ihm zu einer Reihe von Wandhaken ging. »Beginnen wir mit dem Grundsätzlichen. Irgendwelche Meldungen?« »Die Männer benehmen sich gesittet, Herr Kommissar«, sagte Kolea. »Gute Transitdisziplin.« »Gol hat recht«, sagte Baskevyl. »Kein Unsinn. Glatter Flug.« Er beugte sich beim Sprechen vor, und sein wackliger Stuhl reagierte darauf mit einem hölzernen Knarren.
»Eli?«, fragte Gaunt über die Schulter, während er seinen Mantel aufhängte. Elim Rawne war der zweithöchste Offizier des Regiments, der Ranghöchste in der tanithisch-verghastitischen-belladonischen Befehlshierarchie, die von ihm selbst, Kolea und Baskevyl gebildet wurde. Er blieb mit verschränkten Armen sitzen und zuckte die Achseln. »Ich habe keinen Grund, diese Aussagen anzufechten. Die Tanither haben sich auf Transitflügen schon immer tadellos betragen. Die Verghastiten meiner Erfahrung nach auch. Für die Belladoner kann ich nicht sprechen.« Das war spitz. Gaunt drehte sich abrupt um. »Eli …« Baskevyl schnaubte und lehnte sich zurück. Sein Stuhl gab wiederum ein furchtbares Ächzen von sich. Er sagte: »Major Rawne und ich sind zu einer Übereinkunft gelangt. Er reizt mich und meine Männer, Herr Kommissar, und ich lasse seinen Spott wie Regen von mir abtropfen. Wenn es dann ins Gefecht geht, haben sich die Belladoner bereit erklärt, Rawne unsere Orden polieren zu lassen.« Gaunt grinste. »Vorausgesetzt, er fragt nett und höflich?« »Selbstverständlich«, sagte Baskevyl. Sein Stuhl beschwerte sich erneut. »Ich meine mich zu erinnern«, sagte Gaunt, »Sie gebeten zu haben, sich Mühe zu geben, die Belladoner in unserer Gemeinschaft willkommen zu heißen, Eli.« »Ich gebe mir ja Mühe«, sagte Rawne. »Sie sollten mich mal erleben, wenn ich ein Arschloch bin.« »Das haben wir alle schon erlebt«, spottete Mkoll. Als er sich bewegte, gab sein Stuhl, der ebenso wacklig wie Baskevyls war, überhaupt kein Geräusch von sich. »Da wäre doch eine Sache, Herr Kommissar …«, begann Ludd. »Jetzt nicht«, warnte Hark. Ludd verstummte und spitzte die Lippen. »Ich habe Zeit«, sagte Gaunt. »Lassen Sie hören.« Ludd räusperte sich, dann trat er einen Schritt vor und zog ein Blatt Papier aus der Tasche. »Heute gab es einen Zwischenfall, Herr Kommissar. Im Hexenkessel … lesen Sie einfach selbst.« Er reichte Gaunt das Blatt, der es rasch überflog. »Merrt?« »Ich habe mich darum gekümmert«, sagte Hark. »Sie haben sich darum gekümmert?«
»Ja, Ibram. Das ist bereits Schnee von gestern.« Gaunt nickte. Er gab Ludd das Blatt zurück. »Das ist eine Schande. Ein Mann wie er. Können Sie was zu den Gründen sagen?« Harks Augen waren noch mehr zusammengekniffen als sonst. »Er ist ein gebrochener Mann. Und ist es schon seit Monthax. Solche Männer geraten schon mal aus dem Gleis.« »Sie haben ihn in die Strafabteilung geschickt?« »Ja«, sagte Hark. »Für die volle Zeit. Die gesamten sechs Wochen. Ich nehme an, das hier ist immer noch eine sechswöchige Fahrt?« »Soviel ich weiß«, sagte Gaunt. »Das soll keine Häme sein«, murmelte Gol Kolea, »aber schon eine Unterstützung für Baskevyl … darf ich sagen, ho ho, es ist ein Tanither, der aus der Reihe tanzt?« »Sie dürfen«, sagte Gaunt. Baskevyl grinste so breit, dass sein Stuhl knarrte. »Witzig«, sagte Rawne. »Ihr Verghastiten seid so witzig wie die Belladoner, und die, das kann ich Ihnen flüstern, sind witzig.« Kolea sah den Mann neben sich auf der Bank von der Seite an. »Sie sind noch mal mein Tod, Eli. Sie und Ihr Sinn für Humor. Sie sind noch mal mein Tod.« »Ach, ein Königreich für eine dunkle Nacht und die Gelegenheit«, erwiderte Rawne. Das rief allgemeines Gelächter hervor. Gaunt griff lächelnd in die Tasche seines aufgehängten Mantels und holte ein Päckchen mit dem auf gestempelten Siegel des Departmento Medicae heraus. Er legte es mitten auf den Tisch, damit es alle sehen konnten. »Deswegen habe ich zur Besprechung gebeten.« Rawne, Hark und Kolea beugten sich vor, um den Gegenstand eingehend zu betrachten. Baskevyl tat es ihnen mit einem lautstarken Protest seiner Sitzgelegenheit nach. Mkoll nickte. »Anti-Fieber-Serum?«, fragte er. »Anti-Fieber«, erwiderte Gaunt. »Hemmstoffe. Volle Dröhnung.« »Doppelte Standarddosis«, sagte Dorden. »So lautet meine Anweisung. Doppelte Standarddosis mit regelmäßigen Wiederholungen für sämtliches Personal ab sofort.«
»Das Zeug wird vor jeder Landung verabreicht«, sagte Baskevyl, der sich mit einem weiteren Knarren seines Stuhls zu Gaunt umwandte. »Richtig«, stimmte Gaunt zu. »Aber nicht in doppelter Dosis und mit Wiederholungen«, sagte Dorden. »Das ist so wie vor Gereon«, sagte Mkoll, indem er sich vorbeugte und das Päckchen aufhob, um es zu untersuchen. Sein Stuhl gab kein Geräusch von sich. »Gereon?«, fragte Baskevyl. »Hätte das einen Sinn?« »Ja, das hätte es«, sagte Gaunt. »Als ich eine Einsatzgruppe nach Gereon geführt habe, hieß es: totaler Einsatz, feindliches Territorium. Sie haben uns richtig vollgepumpt, doppelte Dosis. Sie wussten, dass wir so lange wie möglich auf einer Welt voll mit Chaos-Makel überleben mussten. Und jetzt lassen Sie uns mal nachdenken. Der normale Infanterist bekommt im Transit alle paar Wochen eine Spritze in Arm oder Arschbacke und fragt nie, warum. Ich weiß es besser. Ich frage.« »Sie denken …?«, begann Kolea. »Immer«, lächelte Gaunt. »Ich denke, das bedeutet, wir sollen einen Befreiungsversuch unternehmen. Wir werden zu einer vom Chaos gehaltenen Welt geflogen. Das Oberkommando hat unser Ziel noch nicht bestätigt, aber ich glaube, man lässt uns auf ein hartes Ziel los.« »Ich dachte, die offizielle Politik sei, die Welten zu ignorieren, die zu harte Nüsse sind, um sie zu knacken?«, sagte Mkoll. »Ich glaube, die Politik hat sich geändert«, sagte Gaunt. »Ich glaube, sie wollen, dass wir die harten Nüsse knacken, die wir nicht ignorieren können.« Mkoll lehnte sich zurück und stieß einen langen, klagenden Pfiff aus. Sein Stuhl gab überhaupt kein Geräusch von sich. »Was bedeutet das? Praktisch, meine ich?«, fragte Kolea. »Es bedeutet doppelt so harte Vorbereitung«, sagte Gaunt. »Es bedeutet schwere Landeübungen, rund um die Uhr. Es bedeutet, den anderen Regimentern einen Wink zu geben, wenn wir können, damit sie auch anfangen können.« »Das kann ich übernehmen«, sagte Hark. »Ich kenne die Kommissare von den Kolstecs und den Dopplern. Wir können die Parole weitergeben.«
»Verstehen Sie die Bedeutung des Wortes ›subtil‹, Viktor?«, fragte Gaunt. »Das ist mein zweiter Vorname«, lächelte Hark. »Viktor verdammt subtil Hark.« »Vergessen Sie ihn nicht«, erwiderte Gaunt. »Ich will nicht der Panikmache beschuldigt werden. Da ist noch etwas.« Er wandte sich an seinen Adjutanten. »Bel? Unter Berücksichtigung der Kurskorrekturen – wie viele vom Feind gehaltene Welten gibt es ungefähr sechs Standardwochen Transitzeit randwärts von Ancreon Sextus?« »Zwei, Herr Kommissar«, erwiderte Beltayn. »Ihre Namen?« »Lodius, Herr Kommissar. Und Gereon.« Gaunt wandte sich wieder an seinen Stab. »Ich glaube, meine Herren, wir könnten nach Gereon unterwegs sein. Wegen der Befreiung, die sie dort nicht mehr für möglich gehalten haben.« »Gereon wehrt sich«, murmelte Rawne. »Wir wollen es hoffen«, sagte Gaunt. »Tja, das ist alles. Machen Sie weiter, und seien Sie bereit. Sonst noch etwas?« »Ich habe eine Frage«, sagte Baskevyl. »Wenn ich mich bewege, knarrt mein Stuhl, wenn sich Mkoll bewegt, ist kein Laut zu hören. Woran liegt das?« »An der Späherausbildung«, gluckste Mkoll, indem er sich erhob und Baskevyl auf die Schulter klopfte. Die Besprechung löste sich auf. »Wie ich höre, hat Ihr Sohn mit der Grundausbildung begonnen«, sagte Dorden zu Kolea. »Was? Ja. Ja, das hat er.« »Das ist gut. Er wird sich prächtig machen, glaube ich.« »Das hoffe ich.« »Wieder ein Vater und ein Sohn in der Truppe«, sann Dorden. »Das ist wunderbar, wie ein neuer Anfang.« »Ich bin eigentlich gar nicht sein Vater, Doktor«, sagte Kolea. »Sein leiblicher Vater, ja. Aber da ist auch noch Caff. Zwei Väter und ein Sohn, könnte man sagen.« Dorden nickte. »Herrje!«, sagte Kolea plötzlich. »Gak, das war ungeschickt von mir. Es tut mir leid, Doktor.« »Was denn?«
Es hatte schon einmal Vater und Sohn in den Reihen der Tanither gegeben. Dorden und seinen Sohn Mikal. Mikal war bei der Verteidigung der Vervunmakropole gefallen. »Ich war gedankenlos …«, begann Kolea. Dorden schüttelte den Kopf. »Mein Sohn ist auf Verghast gestorben. Zufälligerweise ist da auch Ihr Sohn zu uns gestoßen. Jetzt wird er zu einem Geist ausgebildet. Einen Sohn verloren und einen Sohn gewonnen. Einen Vater beraubt, einen Vater … Verzeihung, zwei Väter stolz gemacht. Ich glaube, darin liegt eine gewisse Vollständigkeit, Sie nicht auch, Gol? Eine gewisse Symmetrie?« »Das hoffe ich«, sagte Kolea. »Eine Sache noch«, fügte Dorden hinzu. »Gol, im Namen des Imperators, passen Sie auf ihn auf.« Die Offiziere waren gegangen. Gaunt saß auf einem der schrecklich knarrenden Stühle am Tisch und ging Papiere mit Befehlen durch. Beltayn brachte ihm eine Tasse Kaffein. »Sonst noch etwas, Herr Kommissar?«, fragte Beltayn. »Nein, das ist alles, Bel. Danke.« Beltayn ging. Gaunt arbeitete sich durch die Papiere. »Geryun?«, fragte eine Stimme. Gaunt schaute von seiner Arbeit auf. Eszrah stand in der Tür. »Isst …«, sagte er langsam, während er die Worte verstümmelte. »Isst dat wahr, Seele?« »Dass wir nach Gereon fliegen?«, erwiderte Gaunt. »Ich bin nicht sicher, Nach. Aber ich glaube es. Du hast zugehört? Natürlich hast du.« »Geryun, dat wehrt sek lang, ewiglich«, sagte Eszrah. »Ja«, sagte er. »Das habe ich auch immer geglaubt.« VIII Der nächste Tag, die nächste Schikane, der nächste Schritt auf der Straße zum Ruhm, der nächste BIN-Drill. Acht Tage seit Beginn und etwas anders an diesem Morgen. »Ein Neuer«, sagte Ausbilder Kexie. »Ein Neuer. Und Sie sind, abgesehen von hässlich wie Scheiße auf meiner Stiefelspitze?«
»Merrt.« Kexie betrachtete den Neuankömmling von oben bis unten und begann mit dem langen und rituellen Vorgang, ihn vor versammelter Mannschaft zur Schnecke zu machen. Nichts war tabu. Kexie verbrachte besonders viel Zeit damit, Merrts Gesicht mit einer ganzen Reihe von Dingen zu vergleichen, einer Bilgenluke, dem Rektum eines Grox und so weiter. Dalin versuchte nicht hinzusehen und wegzuhören. Er starrte auf einen festen Punkt weit weg auf der anderen Seite des Untergeschosses und wartete auf den Beginn des Drills. »He, Heilig! Einer von euch, nicht?«, flüsterte Vierbüchse. »Was?« »Tanither?« »Ja.« »Ist wegen ›B‹ hier?«, forschte Vierbüchse. »Was hat er gemacht?« »Keine Ahnung.« »Ich meine, was hat er mit seinem Gesicht gemacht?« »Schusswunde«, flüsterte Dalin. Er wusste nicht viel über Merrts Geschichte. Merrt war ein Einzelgänger und nicht sonderlich gesellig. Solange Dalin zurückdenken konnte, sah Merrts Gesicht aus wie eine Bilgenluke. »Quatscht da jemand?«, fragte Kexie, indem er sich plötzlich von Merrt abwendete und den Rest der Abteilung betrachtete. »Quatscht jemand in der Reihe?« Er zeigte mit Saroo auf sie und schwenkte ihn dann langsam die Reihe entlang, als könne der Stock Vergehen wittern wie ein Wachhund. »Irgendein nassfürziger Skalp riskiert hier wohl ‘ne Lippe, ech?«, fragte Kexie. Nach acht Tagen BIN kannten sie die Tricks des Ausbilders, und keiner machte den Fehler und sagte: »Nein, Herr Ausbilder«. »Dann wollen wir mal anfangen«, verkündete Kexie, während er Saroo auf eine Weise streichelte, die nahe legte, dass der Stock enttäuscht war, keine Schläge ausgeteilt zu haben. »Fünf Runden, im Laufschritt! Bewegung!« Drei Tage später ging Kexie mit der Abteilung zum Schießstand, einem umgebauten Laderaum mittschiffs. Das Deck war geräumig und ließ das Untergeschoss vergleichsweise wie einen Spind
aussehen. Sie kamen über Gitterbrücken anmarschiert, während der vorherige Truppe den Stand über tiefer gelegene Fußwege verließ: ein Strom rasierter Skalps und Gelächter unter ihnen. Stand-Offiziere mit Flakwesten und Ohrenschützern teilten Gewehre an sie aus, die mit großen weißen Seriennummern gekennzeichnet waren. Weiter links war eine kampferprobte Einheit mit Säuberungsübungen in einem Bereich des Schießstands beschäftigt, wo durch Frachtkisten und Transportpaletten Straßen und Gebäude simuliert wurden. Die Einheit versuchte ihre harte Frontbereitschaft zu konservieren und war entschlossen, sich durch die öden Tage der langen Fahrt nicht abschlaffen zu lassen. BIN konnte ihre Vorund-Zurück-Rufe hören, Ecke um Ecke mit Ruf und Antwort, und ihre gelegentlichen Feuerstöße. Kexie brüllte dies und das. BIN wogte durcheinander in dem Versuch, emsig auszusehen, und prüfte die Waffen, während die Stand-Offiziere die Truppe in Vierzigergruppen zu den eigentlichen Ständen führten. Dort angekommen, in einem schmierigen Unterstand aus Flakbrettern und Planen, bekamen sie jeder ein Magazin mit scharfer Munition und ballerten dann auf Teerpappkameraden am anderen Ende des Sandkastens. Auf dem Deck wurde es stickig von der Abwärme und laut infolge des beständigen Knisterns und Knallens der Entladungen. Es waren Geräusche, als würde Reisig geknickt, hundert dünne Zweige zugleich in einem ungleichmäßigen, spröden Geknatter, das über die Reihe der Schützen hinweghallte. Ein Summer ertönte. Die Schützen gaben ihr Magazin wieder ab und wichen zurück, um Platz für die zweite Gruppe zu machen. So wurde die gesamte Schicht hin und her gewechselt. Dalin nahm die Waffe, die man ihm gab, mit großer Ehrerbietung. Er hatte schon reichlich Schießerfahrung. Man wuchs nicht inmitten der Geister auf und konnte dann ein Ende eines Lasergewehrs nicht vom anderen unterscheiden. Aber er war nicht zur Bestrafung oder Neuausbildung in BIN, also kam er nicht aus der kämpfenden Truppe. Offiziell hatte er noch nie zuvor eine Waffe bekommen. Es war für den Nachmittag geliehen, und Dalin war ziemlich froh darüber. Es war alt, ein vernarbtes Serie I mit abblätterndem khakifarbenem Lack, einer abgebrochenen Bajonetthalterung und einem Klapp-Skelettschaft, der in einem früheren Leben
einer anderen Waffe gehört hatte. Die Stand-Offiziere hatten einen Vorrat derartiger Waffen für Übungszwecke: verschrottete Waffen oder Schlachtfeld-Treibgut, das vom Munitorum als nicht mehr fronttauglich erachtet wurde. Er ging an den Stand, als er an der Reihe war, und rammte das Magazin in die Waffe, das der Ausbilder ihm gab. Das Gewehr machte ein Geräusch wie eine Spießrute und hatte einen starken Linksdrall. Er glich ihn aus. Der nächste Stand-Offizier schritt die Reihe ab und rief einem nach dem anderen Anweisungen zu, doch Dalin sperrte sich dagegen und hörte selbst eine andere Stimme. Caffran, der ihm das Schießen beibrachte, der ihm in einem Feldlager auf Aexe Cardinal oder auf den Obsidiae von Herodor oder zwischen den nickenden Windblumen auf Ancreon Sextus die Grundlagen der Schießroutine und der Feuerdisziplin zeigte. Der Summer ertönte. Dalin warf das Magazin aus, gab es dem Offizier zurück und zog sich in die Sammelzone zurück. Hinter ihm ertönte eine neue Runde Gewehrfeuer wie das Rattattattat einer Kompanietrommel. »Jeder«, brüllte Kexie, während er durch die Reihen der Truppe schritt, »jeder, der weniger als dreißig schießt, kriegt drei Tage Strafübungen.« Hier und da wurde geächzt. »Hat jemand was dazu zu sagen? Ech, schriftlich einzureichen, zu Händen von Saroo.« Dalin sonderte sich ein wenig ab. Nun, da er etwas Zeit zwischen den Schüssen hatte, konnte er sich seiner Waffe annehmen. Die Mechanismen waren mit Dreck und alten Schmiermittelresten verklebt, und dadurch klemmte der Abzug ein wenig und war zu hakelig. Er machte sich daran, ihn freizumachen. »Was machst du da, Heilig?«, fragte Brocken, der Dalins Geschäftigkeit mit einiger Belustigung betrachtete. Brocken, Allerliebst und ein paar andere nutzten die Pause zwischen den Schießübungen, um sich auf den Hintern zu setzen und sich zu unterhalten. »Mein Ergebnis verbessern«, erwiderte Dalin. »Wenn’s gut genug ist, tu mir ‘nen Gefallen«, sagte Allerliebst. »Schieß Kexie ins Hirn.« »Warum warten?«, fragte Brocken. »Warum nicht schon jetzt?«
»Weil«, antwortete Allerliebst, »das Hirn von dem Ausbilder so verdammt klein ist, dass man schon ‘n Scharfschütze sein muss, um’s zu treffen.« Dalin fiel auf, dass Merrt in ihrer Gruppe war. Merrt war der einzige andere Skalp außer Dalin, der sich um seine Waffe kümmerte. Der ältere Soldat justierte vorderes und hinteres Visier und hob das Gewehr immer wieder an die Schulter, um den Effekt seiner Veränderungen zu testen. Er redete mit niemandem, und niemand redete mit ihm. Dalin erinnerte sich jetzt, wo er darüber nachdachte, dass Merrt früher Scharfschütze gewesen war. Ein Spezialist. Er dürfte keine Probleme mit dieser Übung haben, dachte Dalin. Am Ende der Übung zog Kexie sie vom Stand ab und ließ sie in einem Verbindungsgang antreten, während er die Ergebnisse von einer Datentafel ablas, die ihm einer der Stand-Offiziere gebracht hatte. Alle spannten sich in der Erwartung, ihren Namen jenseits der magischen dreißig zu hören. Dreißig war der Gefechtsmaßstab, der akzeptable Durchschnitt, den man schießen musste, wenn man Gardist sein wollte, wie es auch minimale Erfordernisse gab, was Gewicht, Größe und Sehvermögen betraf. Sei es aufgrund von mangelndem Bemühen oder Unfähigkeit, fünfzehn Mitglieder der BIN-Abteilung hatten weniger geschossen als die geforderten dreißig, darunter auch Brocken. Nicht einmal er brachte daraufhin noch ein »har-har-har« zustande. Die meisten anderen lagen zwischen dreißig und fünfunddreißig, während die besten fünf Prozent über fünfzig kamen. Merrt schaffte achtundvierzig. Als Kexie das vorlas, schien Merrt zu schaudern, und er knirschte leise ein paar sarkastische Worte. Kexie sah Merrt an, und seine Augen verengten sich, da er sich fragte, ob wohl eine saftige Übertretung vorlag, auf die man sich stürzen könne. »Haben Sie was gesagt, Skalp?« »Nein, Herr Ausbilder.« Kexie betrachtete ihn noch einen Moment länger und machte dann mit seiner Liste weiter. Er erreichte Dalins Namen. Dalin hatte Sechsundsechzig geschossen, zwölf Punkte mehr als der Zweitbeste. Es gab ein wenig Gejohle, als Kexie die Zahl vorlas, das aber rasch wieder verstummte. Kexie ging zu Dalin – mit seinem typisch lockeren Gang, zurückgenommenen Schultern
und einem Hüftrollen – und starrte ihm ins Gesicht. »Kein Neuer schießt so ein Ergebnis.« Dalin wusste nicht, was er darauf sagen sollte, also sagte er nichts und starrte weiter geradeaus. »Ich sagte, das ist ein Witz. Haben Sie meine Stimme gehört, Sie Nassfurz? Was haben Sie gemacht? Einen Stand-Offizier bestochen? Ein paar Zahlen vertauscht?« »Nein, Herr Ausbilder.« »Nein?« »Nein, Herr Ausbilder.« »Wie würden Sie das dann hier erklären, ech?« Dalin wollte sagen, dass er schon mal geschossen habe, dass er Erfahrung habe, aber dasselbe ließ sich auch über alle »B«‘s und »N«‘s in der Abteilung sagen. Er wollte sagen, er sei gut vorbereitet worden, und seine Lehrer seien die Besten. Er wollte sagen, es habe wahrscheinlich weniger mit seinen Fähigkeiten als Scharfschütze, sondern mehr mit einfacher Waffendisziplin und -methode zu tun, und dass die meisten ein Ergebnis im Fünfzigerbereich erzielen könnten, wenn sie sich die Zeit nähmen, ihr Gewehr zu überprüfen und zu justieren und sorgfältig damit umzugehen. Doch er hörte sich lediglich sagen: »Glück, Herr Ausbilder?« »So was wie Glück gibt es nicht«, sagte Kexie. »Gestatten Sie mir, diese spezielle Maxime zu beweisen.« Kexie knallte Dalin Saroo über die Knie und rammte ihm dann das stumpfe Ende des Stocks in den Rücken, als Dalin vornüberkippte und zusammenbrach. Mit gefletschten Zähnen drosch Kexie mit dem Stock auf die Rippen des Jungen und landete mehrere laute, knochige Hiebe auf Dalins Unterarm, als dieser abwehrend hochkam. Kexie trat zurück und pflanzte Dalin die linke Stiefelspitze in den Bauch. Dalin, der auf der Seite lag, grunzte und krümmte sich wie ein Fötus zusammen. »Seht ihr?«, krähte Kexie laut und lachend. »Er hat zwar das beste Ergebnis, aber er sieht jetzt nicht so verdammt glücklich aus, oder?« Niemand antwortete. »Oder?« Die Antwort fiel sehr gedämpft aus. Verärgert wandte sich Kexie wieder Dalin zu und legte sich noch mal mit Saroo ins Zeug.
»Das ist nicht richtig.« Kexie hörte auf und fuhr herum. Merrt war aus der Reihe getreten, die Hände in die Hüften gestemmt. »Wie war das?« »Das … gn… gn… ist nicht richtig«, wiederholte Merrt, wobei sein plumper Kiefer ein paarmal über die Wörter stolperte. »Was?« Kexies Stimme hatte einen hohen, beinahe quengeligen Unterton der Ungläubigkeit. Er reckte den Hals vor und legte eine Hand hinter sein Ohr. »Verdammich, was?« »Sie sind zu freigebig mit dem Stock da«, sagte Merrt freimütig. »Sie teilen aus, wenn jemand Bestrafung braucht, so läuft das, aber er hat keine verdient. Welcher Dummkopf bestraft jemanden, weil er’s gn… gn… richtig macht?« »Die Art Dummkopf, die das Kommando über Ihr ganzes verdammtes Leben hat«, verkündete Kexie und ging auf Merrt los. Alle anderen schraken zurück. Sie kannten diesen irren Blick. »Vielleicht, aber ich sage trotzdem, was richtig ist«, sagte Merrt. Er breitete die Hände aus, die Innenseiten geöffnet, und hob das Kinn, sodass er zur Decke starrte. »Na los, schlagen Sie mich. Ich habe außer der Reihe gesprochen, mir stehen Prügel zu, aber nicht ihm. Er hat nichts getan.« Kexie blieb wie angewurzelt stehen und ließ seinen Stock ein wenig sinken. Noch nie hatte jemand Saroo zur Beschäftigung mit sich eingeladen. Das raubte der Sache den Spaß. Kexie gestattete sich ein träges Grinsen, das seinen Mund spaltete wie ein langsamer Schnitt mit dem Messer. Das versprach interessant zu werden. IX Im Transit wurden in den Kasernendeck-Kapellen zu allen Andachtsstunden laut Schiffszeit Messen gelesen. Die Hauptmesse fand direkt nach dem Läuten zur Mittagswache statt. An Bord eines Schiffs war die Mittagswache die Achse, um die sich alle anderen Zeiten drehten. Der ständige Befehl lautete, alle Uhren und Zeitmessgeräte mit dem Läuten der Wachglocke abzugleichen. Die »Glockenmesse« dauerte etwa vierzig Minuten. Sie war das Mindestmaß Andacht, das von einem Gardisten erwartet wurde,
wenn es seine Pflichten zuließen. Die Geister benutzten die Trommelkapelle unweit der achteren Quartiere, ein mittelgroßer Lagerraum, der umgebaut und geweiht worden war. Der Raum war kalt und spartanisch, auf krude Art mit Holz und Leinwand verkleidet. Die Messen wurden von Präfekten und Zelebranten der Ekklesiarchie unter Verwendung billigen Armeeweihrauchs abgehalten, der schal und staubig roch. Die Andachten hatten nichts vom Pomp und Prunk einer zivilen Zeremonie und auch nichts von der Opulenz und dem schwindelerregenden Duft einer Makropol-Messe. Dünne Priester in fadenscheinigen Roben mahnten die Versammlung, Ehre und Tradition der Garde, die Herrlichkeit des Imperiums und den Geist der Menschheit aufrechtzuerhalten. Hark hörte zu, ohne etwas vom Inhalt mitzubekommen. Von seinem Platz ganz hinten betrachtete er die Reihen kniender Gestalten und registrierte Gesichter. Kein Wunder, dass immer nur so wenige kamen. Es war langweilig und trostlos. Hark hatte selbst eine privilegierte Vergangenheit und erinnerte sich an Tempelmessen in den Städten, wo er aufgewachsen war. Pracht und Herrlichkeit: Ekklesiarchen in wallender Seide, die auf goldbeinigen Laufplattformen zum Podium getragen wurden, während der Chor fromme Lieder ins hohe Gebälk der Kathedralendächer schmetterte und das Licht strahlend weiß durch die kolossalen Fenster hinter den Kirchenstühlen fiel. Draußen traf er sich mit Ludd, während sich die Versammlung zerstreute. Ludd hatte die Teilnehmerliste. »Viele?«, fragte Hark. »Hauptsächlich dasselbe Häuflein«, erwiderte Ludd. Er zeigte Hark die Liste, blätterte Seiten um und zeigte auf mehrere Namen. »Wiederholt Abwesende.« Hark las und nickte. »Heute Nachmittag knöpfen wir uns die Hauptschuldigen vor, Ludd. Machen ihnen Feuer unterm Arsch.« Hark blickte sich um und betrachtete die sich rasch verlaufende Menge. »Er war nicht da, oder?« »Nein, Herr Kommissar.« »Schönes Beispiel. Fordert uns auf, für mehr Teilnehmer zu sorgen, und kommt dann selbst nicht. Ich habe ihn nicht übersehen, oder?«
Ludd schüttelte den Kopf. »Das ist der dritte Tag in Folge. Wenn er … ich meine, wenn es ein anderer wäre, hätte er jetzt einen roten Haken hinter seinem Namen.« »Das sollte ich ihm wohl erklären«, sagte Hark. »Weitermachen, Ludd.« Hark marschierte den verrosteten, wasserfleckigen halben Kilometer Niedergang zur Regimentsverwaltung zurück, einer Reihe von Kammern und Kabinen mittschiffs. Beim Stabspersonal handelte es sich größtenteils um Beamte des Munitorums oder um Offiziere der Hilfsbataillone und des Kompaniekommandos. Das Kommissariat war ebenfalls vertreten. In einigen der größeren Kammern saßen Kommissare und Offiziere im spärlichen Licht an Klapptischen und sahen Examensarbeiten über Schlachtfeldtheorie, Taktik und Disziplin durch oder waren mit Simulationen an Kartentischen beschäftigt. An einem der Tische sah er Gesichter, die er kannte. Ban Daur, Kolosim und Obel arbeiteten mit einem Offizierstrio der Kolstecs an einem taktischen Problem. Als er sich ihnen näherte, richteten sie sich alle auf. Er warf einen Blick auf die leuchtende hololithische Projektion über der Konsole zwischen ihnen. »Sturmangriff in breiter Linie?«, fragte er. »Prinzipien und Anwendung der Einbindung von Deckung«, erwiderte Daur. »Für Fortgeschrittene, Lektion drei«, fügte Kolosim abfällig hinzu. Hark gluckste und nickte. Die Simulation vor ihnen war kompliziert und anspruchsvoll. »Zeitbegrenzung?« »In Echtzeit«, erwiderte Daur. »Dann will ich Ihnen nicht länger das Ergebnis versauen. Haben Sie den Oberst gesehen?« Daur warf einen Blick auf seinen Armbandchrono. »Müsste er nicht gerade aus der Mittagsmesse kommen?« Hark schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn vor etwa einer Stunde in 22 gesehen«, sagte Obel. »Ich weiß nicht, wohin er wollte, aber er hatte sein Schwert bei sich.« »Vielen Dank«, sagte Hark. »Und viel Glück damit.«
Hark fand Gaunt zehn Minuten später in einem der individuellen Übungsräume. Er hatte sich für die Kammer draußen auf der Tafel eingetragen und »BITTE NICHT STÖREN« hinzugefügt. Hark ging trotzdem hinein. Gleich hinter der Tür waren Gestelle mit stumpfen Übungswaffen und -puppen. Dahinter, offen und unbesetzt, befand sich ein mobiler Übungskäfig, der wie eine Baggerschaufel geformt war. Gaunt befand sich im Hauptteil der Kammer und duellierte sich mit vier Übungsdrohnen: vielbeinige Maschinen mit Waffengliedern. Sie umkreisten ihn und stachen und schlugen dabei zu. Gaunt war bis zur Taille nackt, schweißüberströmt und in ständiger Ausweichbewegung, während er mit seinem Energieschwert zuschlug. Jeder saubere Treffer, den er auf den druckempfindlichen Polstern auf Bäuchen und Köpfen der Drohnen erzielte, schaltete sie für zehn Sekunden aus. Wenn die Auszeit abgelaufen war, erwachten sie wieder zum Leben und setzten ihre Angriffe fort. Vier Drohnen. Vier gleichzeitig. Das kam Hark übertrieben vor. Er hatte Gaunts Fähigkeiten mit der Klinge immer bewundert und wusste, dass eine Menge Übung erforderlich war, um bei einem derart überragenden Können sein Niveau zu halten. Aber vier … Er sah noch einen Moment länger zu. Ihm fiel ein Fleck auf Gaunts Rücken auf, weiter unten, links neben dem Rückgrat. Eine Tätowierung oder …? Hark fuhr überrascht zusammen. Der Fleck war Blut, Blut, das aus einem tiefen Schnitt rann. Ihm ging auf, was er vor sich sah. Alle Drohnen hatten spitze Klingen. Die vier Maschinen griffen Gaunt mit insgesamt sechzehn doppelschneidigen, halbmeterlangen Klingen an. »Feth!«, hauchte Hark. »Abschalten! Abschalten!« Die ratternden Maschinen setzten ihre Angriffe unbeeindruckt fort. Hark gelang es lediglich, Gaunt abzulenken, der sich einen Moment umschaute und dann zu einem hektischen defensiven Schritt zurück gezwungen war, um dem Schwung eines heransausenden Klingenarms auszuweichen. Hark rannte vorwärts. »Abschalten!«, befahl er. »Stimmsteuerung: abschalten! Ende! Strom aus!« Die nächste Drohne spürte seine Bewegung, löste sich von Gaunt und ging auf ihn los. Ihre Metallbeine klickten von der
Übungsmatte auf das harte Metalldeck. Die Waffenarme rotierten und machten Scherenbewegungen. »Feth!«, wiederholte sich Hark und wich rasch wieder zurück. »Was ist hier los? Abschalten!« Gaunt stieß einen Fluch aus. Er atmete aus, duckte sich abrupt und wendete seinen Körper in tiefer Beuge unter den vorstoßenden Klingen einer der Drohnen durch. Dann kam er wieder hoch und parierte die Waffen auf seiner anderen Seite mit dem Schwert. Ein heftiger Tritt ließ die dergestalt abgewehrte Drohne zurückstolpern. Die dritte war nahe bei ihm. Gaunt fuhr herum, bohrte sein Energieschwert sauber unter ihrer Deckung her und zog die Klinge dann sauber über ihren Rumpf und in einem Funkenstrom durch die Kopfeinheit. Die Ränder des durchtrennten Metalls leuchteten hell, als der Kopfteil abfiel. Gaunt sprang an der toten Maschine vorbei. Die vierte Drohne war dicht vor Hark. Er zog seine Plasmapistole und hob sie zum Schuss. Doch Gaunt hatte den Abschaltknopf an der anderen Wand der Kammer erreicht und drückte ihn. Die drei verbliebenen Drohnen erschlafften, während ihr Arbeitsgeräusch in ein Herunterfahrsummen überging. Hark senkte seine Pistole, legte den Sicherungshebel wieder um und steckte sie weg. Er sah Gaunt an. Der Kommissar-Oberst atmete schwer. Er deaktivierte sein Energieschwert und griff dann nach einem Handtuch, um sich Gesicht und Brust abzutrocknen. »Unsichere Waffen und abgeschaltete Stimmsteuerung?«, fragte Hark. »Ich glaube an fleißiges Üben.« »Ein Übender muss in Begleitung eines Sekundanten und eines Sanitäters sein, wenn er die Absicht hat, gegen Übungsdrohnen anzutreten, die tatsächlicher Verletzung fähig sind. Verfügung …« »57783-3. Ich bin mir der Regel bewusst.« »Und auch der Strafe bei Zuwiderhandlung?« Gaunt funkelte Hark an. »Die Stimmsteuerung darf niemals abgeschaltet werden«, sagte Hark. »Sie hätten getötet werden können.« »Das war Sinn und Zweck der Übung.« »Wie sollte diese Übung enden, Ibram?«
»Wenn ich genug gehabt hätte, wollte ich mich befreien und den Wandschalter betätigen. Sie haben der Entwicklung vorgegriffen, Viktor. Was wollen Sie?« »Ich will, dass Sie noch leben und die Geister führen, wenn wir die nächste Landezone erreichen«, erwiderte Hark. »Ich glaube an fleißiges Üben«, wiederholte Gaunt. »Ich glaube daran, an meine Grenzen zu gehen.« »Ich auch«, sagte Hark. »Ich verbringe Zeit auf dem Schießstand und lege ein paar Übungskämpfe und Ertüchtigungen hin. Was Sie machen, grenzt an Besessenheit.« Gaunt zuckte die Achseln. Er warf das feuchte Handtuch beiseite und griff nach seinem Hemd. »Dann wollen wir hoffen, dass Sie nie gegen mich kämpfen müssen, Viktor«, sagte er mit einem wölfischen Grinsen. »Was wollen Sie denn nun wirklich?« »Sie haben die Mittagsmesse versäumt.« »Habe ich?« »Ja. Das ist bedauerlich, weil wir versuchen, die Scheinkranken und Simulanten wieder in die Kapellen zu peitschen, und offen gesagt geben Sie kein gutes Beispiel.« Gaunt holte seinen Armbandchrono aus der Hosentasche und betrachtete ihn. Er war ein altes, ramponiertes Ding, deren Befestigung schon vor langer Zeit einem handgemachten Armband gewichen war. »Diesem Ding zufolge sind es noch siebzehn Minuten bis zur Mittagswachglocke.« »Dann geht es nach«, sagte Hark. »Ungefähr fünfundsechzig Minuten.« »Auf Gereon hat es die Zeit sehr gut angezeigt.« »Aber jetzt nicht mehr, Ibram. Was? Sie lächeln.« Gaunt schnallte sich den Chrono um das Handgelenk. »Ich habe das Ding seit unserer Einschiffung aufgezogen und getragen. Fünfzehn Tage Transit, und ich habe es nicht mit der Mittagsglocke abgeglichen.« »Und?« »Tagesrhythmen, Viktor.« Hark runzelte die Stirn. Das übliche Verfahren der Garde auf langen Reisen bestand darin, die Länge der Tag-Nacht-Zyklen an Bord des Schiffs denjenigen der Zielwelt anzupassen, damit sich die Soldaten im Zuge einer mittel bis lang dauernden Fahrt an den anderen Tagesrhythmus gewöhnen konnten. Das half bei der
Akklimatisierung. Die Veränderung erfolgte nicht in einer tiefgreifenden Umstellung. Die Zeit wurde über eine, Periode von Tagen allmählich hinzugefügt oder abgezogen. Die Abgleichung mit der Mittagsglocke sorgte dafür, dass alle im Rhythmus blieben. »Also sind Sie noch auf Ancreon-Sextus-Zeit?« Gaunt nickte. »Und der Tagzyklus im Schiff ist jetzt etwa eine Stunde kürzer.« Er ging zu seiner Jacke, die am Geländer des Übungskäfigs hing, und holte eine Datentafel aus der Tasche. »Ich habe eine Tabelle der Sektor-Ephemeren konsultiert, um nachzusehen«, sagte er, während er die Tafel einschaltete und die Daten aufrief, »aber ich war ohnehin ziemlich sicher. Der Zyklus war mir bekannt.« Er zeigte Hark den Schirm. Dichte Datenkolonnen zeigten Gezeitentabellen und jahreszeitlich wechselnde Zeitangaben für Sonnenauf- und -untergänge, die für eine Reihe von Welten in der hiesigen Gruppe in geografischen Regionen zusammengefasst waren. Eine war hervorgehoben. »Gereon«, sagte Hark. »Praktisch genau die Bestätigung, die wir gesucht haben«, sagte Gaunt, indem er die Tafel ausschaltete und wieder verstaute. »Deswegen habe ich die Stimmsteuerung ausgeschaltet, Viktor. Wir gehen zurück, und ich wollte mich daran erinnern, wie es war.« X Die Mitglieder der Abteilung BIN, welche die Prüfung am Schießstand nicht bestanden hatten, und das schloss Dalin und Merrt ein, mussten in den nächsten drei Nächten zum Rundlauf antreten. Ein Rundlauf beinhaltete volle Ausrüstung, beschwerte Rucksäcke und eine schwere Eisenstange als Ersatz für ein Gewehr. Die Läufer mussten rund um das Schiff marschieren, von einem Ende zum anderen und wieder zurück, und zwar durch die Gänge an der Außenwandung. Das Ganze zwanzig Mal. Kexie hatte den Weg abgeschritten und versicherte BIN, dies entspräche einer Strecke von fünfzig Kilometern. Kexie marschierte nicht den ganzen Weg mit ihnen. Er begleitete sie ein Stück, ging dann irgendwo quer durch das Schiff, wäh-
rend sie bis in die Bugspitze latschten oder durch die niedrigen Schächte über den Maschinenräumen, und traf sie dann auf der anderen Seite wieder. Sie waren versucht, Wege abseits der Route abzukürzen, eine Versuchung, die Brocken genau geplant hatte, aber Kexie hatte ein Dutzend Sensoren als Kontrollpunkte aufgestellt. Wenn jemand eine dieser Markierungen verpasste, sodass die Hundemarke im Vorbeigehen nicht registriert wurde, erwartete ihren Besitzer eine Begegnung mit Saroo und eine Wiederholung des Marsches. Der größte Teil des Wegs folgte schäbigen Metallkorridoren und langen, ungestrichenen, ungeheizten Tunneln, wo nur wenige Leute überhaupt jemals etwas zu suchen hatten. Sie trabten durch die Schluchten hinter den massiven Platten der Außenhaut, hinter dem genieteten Schild der Staubummantelung. Sie liefen durch den Freiraum zwischen öligen Feldgeneratoren, die nach Ozon stanken, und platschten durch rostende Hallen mit Kondenswasserpfützen. Sie stapften durch leere Frachträume, wo eingefettete Ketten in der Dunkelheit unsichtbar von der Decke baumelten. Sie kämpften sich durch die stinkenden Landwirtschaftskammern und Viehställe und den Schweiß treibenden Sumpfgasdunst der hydroponischen Anlagen. Sie hatten zügig begonnen, um den Marsch möglichst schnell zu beenden und Kexie daran ersticken zu lassen. Brocken hatte sogar versucht, eine Runde Frage-Antwort-Chor in Gang zu bringen, um den Marschrhythmus zu halten. Noch vor dem Ende der ersten Runde hatten sich diese guten Vorsätze zerschlagen. Atemlosigkeit, Blasen an den Füßen, Prellungen an Ellbogen und Knien von Zusammenstößen mit Schleusenhindernissen sowie – am schlimmsten von allem – die grausame Erkenntnis, wie weit zwanzig Runden tatsächlich waren, hatten sie zu einer langen, sich dahinschleppenden Reihe auseinandergezogen, die sich hohläugig und hoffnungslos um den Parcours schleppte. Jedes Mal, wenn er an irgendeiner Stelle der Route grinsend auftauchte, winkte Kexie sie vorbei und sagte jedem Nachzügler ganz genau, wie nutzlos er war. Er hatte extra ein paar neue Beleidigungen für den Marsch gelernt oder sich einige besondere Favoriten für diese spezielle Gelegenheit aufgehoben. Dalin beschwerte sich nicht über seinen Einschluss. Er war mit Verständnis dafür aufgewachsen, dass sich ein roter Faden
grundsätzlicher Ungerechtigkeit durch das Leben jedes Soldaten zog. Beim Soldatentum ging es um das Ganze, um die Einheit und um die Art, wie eine Einheit in punkto Disziplin und Zusammenhalt funktionierte. Hatte sich ein Individuum erst einmal an die Enttäuschung gewöhnt, zurechtgestutzt zu werden, ob berechtigt oder nicht, fing es an, mit der Einheit zu funktionieren, und das Leben wurde leichter. Außerdem war ihm klar, wie wichtig Exempel waren. Kexie hatte Merrt nach dem Zwischenfall auf dem Schießstand nicht geschlagen. Sogar seine Kampfhundlogik hatte eingesehen, dass es unproduktiv war, einen Mann zu schlagen, der darum bat. So ein Vorgehen hätte ihn außerdem in den Augen der Abteilung geschwächt. Kexie war entschlossen, über diesen Dingen zu thronen, unberührt und unbeschadet von den Mätzchen, die seine Schützlinge machten. Es war möglich, dass er sich selbst als unergründlich betrachtete. Kexie verdonnerte Merrt zum Rundlauf. Dann sagte er den anderen, die zehn Runden, die sie für ihr schlechtes Schießergebnis bekommen hätten, würden nun auf zwanzig erhöht, und zwar dank dessen, was er Merrts »dicke Lippe« nannte. Bei der dritten Runde setzte sich Dalin neben Merrt. Es war das erste Mal, dass er ihn ansprach. »Ich wollte mich …«, begann er. »Geschenkt«, erwiderte Merrt, ohne ihn anzusehen. »War es …« Dalin zögerte. »War es eine Geister-Sache?« Das ließ Merrt den Kopf wenden. Seine eingefallenen Augen sahen ihn wach und neugierig über der entsetzlichen Gesichtsprothese an. »Eine gn… gn… Geister-Sache?« »Weil ich zum Regiment gehöre, meine ich.« Merrt schüttelte den Kopf. »Der Wichser hatte einfach Unrecht. Ich hätte bei jedem was gesagt.« »Oh.« Sie liefen weiter, durch eine Ladeluke und dann über den Gitterboden einer Verladebucht auf der Backbordseite, der ihre Schritte laut hallen ließ. »Wie bist du hier bei BIN gelandet?«, fragte Dalin. »Auf die traditionelle Art.« »Ja, aber wie?« Merrt blieb stehen und Dalin mit ihm. Leiber polterten an ihnen vorbei und latschten weiter.
Merrt starrte Dalin an, direkt ins Gesicht. »Kenne ich dich?«, fragte er. »Ich …« »Kennst du mich?« »Nein, aber …« »Dann wäre ich dir dankbar, wenn du deine dämlichen persönlichen Fragen für dich behalten könntest. Ich bin gn… gn… nicht dein Freund.« »Entschuldige«, sagte Dalin. Er spürte, wie er errötete, und das machte es noch schlimmer. Merrt wendete sich ab und beschleunigte wieder zu einem Trab. Plötzlich blieb er wieder stehen und drehte sich zu Dalin um. »Wenn du’s unbedingt wissen willst«, sagte er. »In einem Feuergefecht auf Monthax habe ich den Kopf aus der gn… gn… Deckung gehoben.« »Nein, ich meinte …« »Ich weiß, was du gemeint hast. Die Antwort ist dieselbe.« Merrt drehte sich wieder um und fing an zu laufen. Nach einem Augenblick folgte ihm Dalin. XI Auf dem freien Deck hinter den Quartierkäfigen hatte sich eine Menge versammelt, um einer Mannschaft der Geister bei einem Tretballspiel gegen ein paar Soldaten aus dem Kasernensaal der Kolstecs zuzuschauen. Es gab viel humoriges Gebrüll und Gefluche. Kolea sah sich das Spiel von einem erhöhten Treppenabsatz aus an, die Arme auf das Geländer gestützt. Varl war bei ihm und rauchte ein selbstgedrehtes Lho-Stäbchen. Ab und zu wechselten sie ein paar philosophische Bemerkungen über die Fertigkeiten der einzelnen Spieler, vor allem über Brostins Widerstreben, den Ball besser postierten Mitspielern zuzupassen. »Als hätte er eine Behinderung.« »Außer denen, die wir schon kennen.« »Genau.« Unten in der Menge hatten ein paar Belladoner damit begonnen, ein Rattattattat auf ein paar Handtrommeln zu schlagen, um die Geister anzufeuern. Es war ein schneller, stimmungsvoller
Rhythmus. Er klang wie der drängende Trommelwirbel bei einem Erschießungskommando. »Diese Welt, die wir anfliegen …«, begann Kolea. »Niemand weiß mit Sicherheit, wohin wir fliegen«, erwiderte Varl. »Ja, aber wenn. Wie ist die so?« Varl hatte zu Gaunts ursprünglicher Einsatzgruppe gehört, die vor fast drei Jahren zur besetzten Welt Gereon geschickt worden war. Die Tatsache, dass überhaupt jemand aus der Gruppe lebend zurückgekehrt war, musste als größeres Wunder betrachtet werden. Obwohl normalerweise eher geschwätzig, hatte Varl nur selten über die Angelegenheit gesprochen. »Ziemlich schlimm«, sagte er zu seinem Freund. »Schlimmer geht’s eigentlich nicht. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es seit meinem letzten Besuch besser geworden ist.« Kolea nickte. »Aber eine Rückkehr würde mich freuen«, gestand Varl. »Tatsächlich? Warum?« »Ven und Doktor Curth. Wir haben sie beide dort gelassen. Sie wollten es so. Wir wollten alle zu ihnen zurückkehren, falls sich eine Möglichkeit ergeben würde.« »Glaubst du, sie leben noch?« Varl zuckte die Achseln. »Curth? Keine Ahnung. Aber Ven … kannst du dir vorstellen, dass irgendwas in diesem Kosmos genug Steine hat, um Ven darunter zu begraben?« Kolea grinste und schüttelte den Kopf. Varl kniff die Glut von seinem Lho-Stäbchen ab und schob sich den Rest hinter das Ohr. »Ich muss irgendwas wegen dem Spiel unternehmen«, sagte er. »Vielleicht Brostin erschießen.« Kolea war ein paar Minuten allein auf dem Treppenabsatz gewesen, als Tona Criid neben ihm auftauchte. Er nickte ihr zu, schwieg aber. Schließlich sagte er: »Wie macht sich der Junge?« »Er macht sich gut, vor allem, wenn man den bunten Haufen bedenkt, in dem er steckt.« »Das ist gut.« »Er ist fitter als je zuvor«, fügte Criid hinzu, »obwohl ihm im Moment die Füße wehtun. In den letzten paar Wochen musste er reichlich Rundläufe absolvieren.« »Ja?« »Bestrafung.«
Kolea runzelte die Stirn. »Bestrafung wofür?« »Dafür, dass er zu gut ist. Dafür, dass er den Ausbilder bloßgestellt hat. An ihm wurde ein Exempel statuiert, und er lässt es sich gefallen.« »Vielleicht braucht dieser Ausbilder …«, begann Kolea. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein, Gol. Ist alles in bester Ordnung. Dalin will es so haben. Er weiß, wie es in der Garde läuft, und unterwirft sich allem. Der Ausbilder hat ihn auf dem Kieker, weil er noch nie so einen Modellrekruten hatte, und er kann das Gefühl nicht abschütteln, dass es ein Trick sein muss.« Unten brach Jubel aus, und die Trommeln fingen wieder an zu schlagen. »Du könntest ihn selbst fragen, wie er sich macht«, sagte sie. »Ich will nicht im Weg sein.« »Du bist sein Vater.« »Ich bin ein überlebender biologischer Elternteil«, erwiderte Kolea. »Er hat einen Vater und eine Mutter.« »Du bist sein Vater«, wiederholte Criid. »An dem Leben, das wir führen, ist nichts normal, also glaube ich, dass es keine Rolle spielt, wie du, ich und Caff uns zusammenfügen, solange wir es überhaupt tun. Dalin würde es nichts ausmachen, wenn du Interesse zeigtest.« »Vielleicht.« »Ich würde so weit gehen zu sagen, dass es ihm gefallen würde, wenn du Interesse zeigtest.« Kolea spitzte die Lippen und dachte darüber nach. Er sah sie nicht an. Sein Blick blieb auf das Spiel unter ihnen gerichtet. »Tu es, bevor es zu spät ist«, legte Criid ihm nahe. »Zu spät?« »Wir marschieren auf der Straße zum Ruhm«, sagte sie. »Früher oder später erreichen wir das Ende, und du weißt, was uns dort erwartet. Wenn du bis dahin wartest, könnte es zu spät sein.« XII Sie waren im Untergeschoss und reinigten ihre Ausrüstung. Jeder hatte sein Zeug auf einer Decke am Boden ausgebreitet. Kexie schritt die Reihe ab und inspizierte es, wobei er hin und wie-
der eine Blechtasse oder eine Trinkflasche durch die Halle trat, wenn sie in irgendeiner Form nicht den Bestimmungen entsprach. Manchmal hob er eine Tasse auf, warf sie in die Luft, wenn er sich aufrichtete, und benutzte Saroo wie einen Schläger, um sie unter das Dach zu hämmern. Dalin sah die entfernten Gestalten mehrerer Kameraden am anderen Ende der Halle, die ihre derart verstreuten Ausrüstungsgegenstände zusammensuchten. Kexie erreichte Dalin. Bei seinem Eintreffen nahm Dalin hinter seiner Decke Haltung an. Finde daran was auszusetzen, dachte er mit aller Willenskraft. Er hörte Kexie grunzen – die leichte Enttäuschung, keinen Grund zur Klage gefunden zu haben. »Zusammenpacken und weitermachen«, zischte Kexie und ging weiter zum nächsten Kandidaten. Es war das Ende der fünften Woche in der BIN-Abteilung. Am Ende dieses Tageszyklus würden sie die ramponierte Übungsausrüstung abgeben, um die sie sich in den letzten drei Wochen gekümmert hatten, und ihre eigene Ausrüstung bekommen. Am folgenden Tag waren dann die Waffen an der Reihe. Dann noch drei letzte Tage harten Drills und brutaler Ertüchtigung. Es war mit jedem Schritt schwieriger geworden. Kexie war durch Kommissariatsoffiziere unterstützt worden, die neben dem körperlichen Drill die Geisteshaltung schliffen. Es herrschte ein Regiment der Ordnung und Disziplin. Keiner tanzte mehr aus der Reihe. Schon ein flüchtiger Rundblick zeigte Dalin, wie sich die meisten Soldaten in der Abteilung verändert hatten. Intensiver Drill hatte sie alle hager und drahtig werden lassen, sogar Vierbüchse. Der geflickte, gebrauchte Drillich saß locker. Sie hatten kein Gramm Fett mehr am Leib. Ihre Hände und Füße waren hart und schwielig, die Haare wuchsen langsam wieder zu kantigen Schnitten. Ihr Verstand war aufgezogen wie eine Feder. Außer Dienst hatte ihr Gang etwas Beschwingtes und Ausstrahlung. In knapp vier Tagen würden sie in ihre Heimatregimenter zurückkehren und den Dienst wieder aufnehmen oder wie Dalin die Grundausbildung abschließen und Gardist werden. Nicht alle in der BIN-Abteilung würden es schaffen. Statistisch gesehen, hatte Caff Dalin erzählt, wurde ein beträchtlicher Anteil jeder BIN-Abteilung für eine weitere Runde zusammengefaltet.
An der Zweiten Front, wo der außergewöhnlich hohe Prozentsatz minderwertiger Truppenqualität die Schande des Kreuzzugs war, lag die Quote höher. Ein paar Penner schafften es einfach nie. Das traf auch auf diesen Haufen zu. Es gab Schlaffis, die einfach den körperlichen Anforderungen nicht gewachsen waren, und Idioten, die zu blöd waren, und es gab Einzelpersonen wie Wäsche, die zwar konnten, aber nicht wollten. Wäsche war fit genug geworden, aber seine Einstellung stank immer noch zum Himmel. Dalin war ziemlich sicher, dass Wäsche zu den etwa dreißig von ihnen gehörte, die es nicht schaffen würden. Früher oder später würde man die Wiederholungsversager einfach aus dem Dienst entlassen, was die meisten auch wollten, oder vom Kommissariat standrechtlich erschossen, was die meisten nicht wollten. Dalin schloss seinen Seesack und trug ihn zu der Gruppe, die bereits mit Zusammenpacken fertig war. Unter ihnen waren auch Vierbüchse und Allerliebst sowie Hamir, einer der anderen »I«Kandidaten der Abteilung. Er und Dalin kamen mittlerweile besonders gut miteinander aus. Hamir war ein hochgewachsener olivhäutiger Junge von Fortis Doppelstern. Er war seinem Vater und seinen Onkeln nach deren Einziehung gefolgt und hatte wie Dalin beim Tross gelebt, bis er alt genug war, den Adler zu tragen. Hamir hatte intelligente Augen und eine etwas gelehrtenhafte Art an sich, also hatte Vierbüchse ihn »Schola« genannt. »Kein Saroo für dich, Heilig?«, fragte Allerliebst. »Er weiß, wann er geschlagen ist«, erwiderte Dalin mit einem Blick durch den Saal auf Kexie, der gerade die Schulterblätter eines Kandidaten für die unkorrekte Befestigung des Schlafsacks prügelte. »Fast geschafft«, sagte Hamir. »Was?«, fragte Dalin. Hamir schaute zu den Lampen hoch. »Wir sind fast da. Kannst du es nicht spüren?« »Wo?« »Am Ende der Ausbildung. Am Beginn des Lebens in der Garde. Wohin dieser Transporter fliegt. Such’s dir aus.« »Ich werde das hier vermissen«, murmelte Vierbüchse wehmütig.
Dalin, Hamir und Allerliebst starrten ihn an. Er strahlte. »Das war ein Scherz«, sagte er. Als die Abteilung antrat und die letzten Nachzügler von Saroo verfolgt zu ihren Plätzen liefen, erblickte Dalin Merrt. Seit jener Nacht auf dem Rundlauf Wochen zuvor hatte er nicht mehr mit ihm geredet. Weder davor noch danach. Merrt war für sich geblieben. Dalin empfand schreckliches Mitleid für Merrt, was dem älteren Mann seiner Ansicht nach ganz sicher nicht gefallen würde. Das Mitleid entsprang der Tatsache, dass die meisten Soldaten in der BIN-Abteilung noch ziemlich jung waren. Merrt war ein alter Mann in ihrer Mitte. Es war grausam, ihn gezwungen zu sehen, den hirnlosen Drill der grundlegenden »I« zu wiederholen – wie ein Erwachsener, den man zwang, an Kinderspielen teilzunehmen. Er stand darüber, war dem längst entwachsen. Er hatte das richtige Leben gesehen und dessen Peitsche gespürt. Er brauchte keinen Auffrischungskursus. Dalin wusste nicht recht, was Merrt brauchte. Merrt erledigte einfach seine BIN-Pflichten und äußerte nie ein Wort der Beschwerde. Er hatte sich Kexie danach nicht mehr widersetzt. Vierbüchses Ansicht nach lag das daran, dass Merrt »mit so einem Mund« zu reden hasste, aber Dalin glaubte, es liege daran, dass Merrt nicht musste. Seit jenem Tag auf dem Schießstand hatte Kexie zwar noch viele von ihnen geschlagen, aber nichts mehr abgezogen, was auch nur annähernd so ungerecht und rachsüchtig gewesen wäre. »Alles klar?«, fragte Dalin, als er sich neben Merrt stellte. Merrt wandte den Kopf und nickte dann. »Kann ich dir eine Frage stellen?«, sagte Dalin. Merrt zuckte die Achseln. »Auf dem Schießstand …«, begann Dalin. »Darüber haben wir schon gesprochen«, sagte Merrt rasch. »Nein«, erwiderte Dalin. »Nein, nicht damals. Ich meine seitdem. Auf dem Schießstand schaffst du regelmäßig was? Sechzig, zweiundsechzig?« »Ja.« »Du scheinst damit nie zufrieden zu sein.« »Was schaffst du, mein Junge?« »Um die einundsiebzig.«
»Und du bist gn… gn… gn… zufrieden damit?« »Feth, ja. Natürlich.« Merrt seufzte. »Weißt du, was ich früher geschafft habe? An einem durchschnittlichen Tag, meine ich?« »Nein?« »Siebenundneunzig«, sagte Merrt. »Siebenundneunzig, ohne Probleme. Ich hatte es einfach drauf. Das beste Standergebnis ist neunundneunzig, drei Mal geschafft.« Beständige, haltbare vierundneunzig brachten einem die Schleife des Scharfschützen ein. Dalin wusste, dass Spezialisten wie Raess, Banda und Nessa Bourah, sogar Larks persönlich, mit steten, soliden fünfundneunzig zufrieden waren. »Jetzt schaffe ich gerade mal einundsechzig. Glaubst du, ich wäre gn… gn… gn… zufrieden damit?« XIII Tona erwachte mit einem derartigen Schock, dass ihre in den Draht der Käfigwand gekrallten Hände diese wackeln und rasseln ließen. Aus angrenzenden Zellen ertönten gedämpfte Beschwerden. Es war dunkel, und der schwere Körpergeruch des Nachtzyklus hing in der Luft. Caff schlief. Sie ging nach draußen vor den Käfig. Im Kasernensaal war es düster, da nur die Deckbeleuchtung an war, aber die Deckenlampen wärmten sich bereits auf. Der Tagzyklus war nahe. Sie schaute auf ihre Hände. Sie waren blass in dem spärlichen blauen Licht. Sie sah sie nicht zittern, wusste aber, dass sie es taten. Sie ging durch den Niedergang zu Gaunts Quartier und hörte die Geräusche einer Klinge, die eine andere traf. Sie zog ihr Kampfmesser und ging vorsichtig weiter. Eszrah tauchte wie durch Zauberhand aus dem Schatten auf und schüttelte den Kopf. Sie steckte das Messer wieder ein. Am Ende des Niedergangs, in einem kleinen Freiraum vor der Luke zu Gaunts Privatquartier, duellierten sich zwei Männer im Lampenschein mit Schwertern.
Gaunt und Hark, beide in Hemd und Hose, schwangen Säbel. Es wurde wild gefochten, und dem Schweiß auf ihren Leibern nach zu urteilen, waren sie schon eine ganze Weile dabei. Rawne lehnte mit verschränkten Armen an ein paar Rohren und beobachtete sie. »Was ist denn hier los?«, fragte Criid. Rawne sah sie an. »Nur ein Übungskampf. Das machen sie jetzt schon seit Wochen vor dem Beginn des Tagzyklus.« »Warum?« Rawne zuckte die Achseln. »Übung. Hark hat etwas davon gesagt, dass er seine Fähigkeiten mit der Klinge verbessern will.« »Und – hat er?« »Wenn ich gegen ihn antreten sollte, würde ich eine Schusswaffe wählen«, erwiderte Rawne. Tona beobachtete die Kämpfer. Gaunt war schon immer gut mit dem Schwert gewesen, und sie war der Ansicht, in den letzten paar Jahren keinen besseren Schwertkämpfer gesehen zu haben. Doch Hark, den sie immer als schwerfällig und langsam eingestuft hatte, behauptete sich gegen ihn. »Warum sind Sie hier?«, fragte sie Rawne. »Ich habe nur zugeschaut. Man kann nie wissen. Er könnte einen Fehler machen und ihn töten.« »Von wem reden Sie?«, fragte Tona. Rawne grinste. »Ist mir egal.« Gaunt und Hark brachen ab und salutierten voreinander. »Wir haben Publikum«, bemerkte Gaunt. Hark nickte und trank einen Schluck aus einer Wasserflasche, die nicht weit entfernt stand. »Es heißt, jeden Moment werden Befehle abgeschickt«, sagte Rawne. »Ich bin nur gekommen, um Ihnen das zu sagen.« Gaunt nickte. »Sie brauchen irgendwas, Criid?« »Eine Privatangelegenheit«, sagte sie. »Lassen Sie mir einen Moment Zeit«, sagte Gaunt, indem er sein Schwert in die Scheide schob und sich etwas zu trinken holte. »Rawne hat gesagt, Sie wollten Ihre Fertigkeiten mit der Klinge verbessern«, sagte Criid zu Hark. »Der Kommissar-Oberst war in letzter Zeit so gut, mich an die Bedeutung fleißigen Übens zu erinnern, Sergeant«, sagte Hark.
»Ein kleiner Anstoß gegen Selbstzufriedenheit. Er war so gut, mir Unterricht anzubieten.« Sie nickte. Gaunt winkte sie zu sich, und sie ging, während Hark ein Gespräch mit Rawne begann. »Was gibt es denn, Tona?«, fragte Gaunt. »Ich komme mir dumm vor, es zu sagen, aber …« »Sagen Sie’s einfach.« »Ich habe geträumt, Sie wären gestorben.« »Ich wäre gestorben?« »Ja.« »Sind Sie sicher, dass ich es war?« Sie zögerte. »Ich glaube schon. Es war so wichtig.« »Und das erzählen Sie mir wegen Ihres Traums auf Gereon?« »Ja, Herr Kommissar. Da habe ich von Wilder geträumt, und das stimmte. Ich frage mich, ob es etwas mit Gereon zu tun hatte.« »Danke, Tona. Ich muss sagen, dass es tatsächlich ein seltsames Geständnis ist. Aber ich sage Ihnen was … Gereon hat mich beim ersten Mal nicht umgebracht. Eine zweite Gelegenheit werde ich ihm nicht geben.« Sie nickte, täuschte ein Lächeln vor und sah, dass Gaunt an ihr vorbeischaute. Beltayn war aufgetaucht. »Bel?« »Gerade gekommen, Herr Kommissar«, sagte Beltayn, indem er salutierte und Gaunt einen Umschlag reichte. Gaunt riss ihn auf und holte das Papier heraus, so dünn wie ein Blatt aus einem Gesangbuch. »Es ist das, worauf wir gewartet haben«, sagte er. »In zehn Stunden verlassen wir das Immaterium und treffen uns im vorher festgelegten Aufmarschgebiet mit anderen Schiffen. Alle Einheiten sollen sich kampfbereit machen und auf die Landung vorbereiten.« »Ich gebe es gleich weiter«, sagte Rawne. »Ich helfe Ihnen«, sagte Hark und folgte ihm nach draußen. »Ist das alles?«, fragte Criid. »Wie bitte?« »Sie haben gezögert, als Sie die Befehle gelesen haben, Herr Kommissar«, sagte sie. »War sonst noch etwas?« »Nur eine Liste mit Dispositionsdetails«, sagte er. »Kein Grund zur Sorge.«
XIV Die Brücke und die Ebenen darunter waren praktisch die einzigen Orte an Bord des riesigen Raumschiffs, wo man einen Blick nach draußen werfen konnte. Die meisten Insassen verbrachten die langen Fahrten deckweise gestapelt und blind in dem gepanzerten Rumpf wie Samen in einer Schote, aber die Brückendecks waren mit Bullaugen und Fenstern ausgestattet. Seit dem Verlassen des Warpraums bremste das Schiff kontinuierlich ab, und die gepanzerten Jalousien vor diesen Bullaugen waren hochgefahren worden wie Lider von erwachenden Augen. Ein seltsames silbriges Licht leuchtete aus der Leere draußen herein, ein Licht, das in ziemlichem Gegensatz zum heißen Schein der Instrumente und Deckbeleuchtung stand. Während er mit der Mütze unter dem Arm wartete, ging Gaunt zum nächsten Bullauge und lugte nach draußen. Er behielt die schiere Schwärze des Alls immer in falscher Erinnerung. Vor seinem geistigen Auge sah er sie immer als volles, solides, stoffliches Schwarz, und wenn er sie dann wiedersah, war er immer überrascht. Es war eine Schwärze ohnegleichen, ohne Form oder Variation, aber von unmöglicher Tiefe. Das Licht der Sterne und anderer Objekte kauerte einfach darauf, hart und in sich geschlossen und winzig. Das Sternenlicht lief über die Hintergrundschwärze wie Wasser eine Wand hinunter. Eine Sonne war in der Nähe, ein Kegel aus silbernem Rauch, hell wie eine Taschenlampe sogar durch das meterdicke Bullauge, und Gaunt spürte den schwachen Impuls durch das Deck, als das Schiff darauf zuschwenkte. Dies war das Aufmarschgebiet. Sie flogen durch einen stummen Schwarm anderer Schiffe, allesamt am sonnenwärtigen Ende grell erleuchtet und am anderen als Silhouette zu erkennen. Manche atmeten den feurigen Schein von Triebwerken im Leerlauf aus. Viele der kathedralenartigen Schiffe waren massiv, massiv wie der Transporter, in dem er stand, einige sogar noch massiver: Manufakturschiffe, Versorgungsschiffe des Munitorums, Frachter. Große und alte Kreuzer und Fregatten lagen weiter sonnenwärts wie befestigte Breitschwerter. An manchen Stellen waren Transporter und Tanker zu langen Reihen zusammengezurrt wie Laich
von Meerestieren. Kleine Schiffe – Schlepper, Fähren, Kutter, Leichter und Lugger – flitzten zwischen den großen warpraumfähigen Riesen umher, manchmal als grelle Stäubchen im Sonnenlicht, manchmal als Triebwerksglühen im Schatten eines gigantischen Rumpfs. Gaunt machte sich daran, die Schiffe zu zählen, und kam bei dreiundsiebzig durcheinander. Der grelle Sonnenschein und die harten Umrisslinien von Schatten erschwerten die Unterscheidung von Formen. Dies war jedoch eine Flotte. Eine Flotte für eine Invasion in gewaltigem Maßstab. Gaunt fragte sich, auf welchem der sonnenbadenden Giganten sich wohl Van Voytz befand. »Herr Kommissar-Oberst?« Er wendete sich vom Bullauge ab und stellte fest, dass ein Deck-Unteroffizier auf ihn wartete. Der Unteroffizier, ein Untergebener des Ober-Kom-Offiziers dieses Schiffs, hielt Gaunt eine Nachrichtenfolie hin und wartete höflich, während er sie las. Gaunt knüllte die Folie in der Hand zusammen. »Wollen Sie eine Antwort senden, Kommissar-Oberst?«, fragte der Unteroffizier. »Nein. Senden Sie einfach mein ursprüngliches Gesuch noch einmal.« »Mit Verlaub, Kommissar-Oberst, das ist nun drei Mal abgelehnt worden«, brachte der Unteroffizier zaghaft hervor. Gaunt war sich der zwei anderen zusammengeknüllten Folien in seiner Jackentasche sehr wohl bewusst. »Ich weiß, aber tun Sie es dennoch, bitte.« Der Unteroffizier zögerte. »Der Ober-Kom-Offizier hat mich wissen lassen, dass er in der Manövrierphase nicht sämtliche Frequenzbänder mit Verkehr blockiert sehen will.« »Noch einen Versuch, bitte.« Gaunt wartete zwanzig Minuten auf die Rückkehr des Mannes. In dieser Zeitspanne kam der Transporter nach einer Reihe dumpfer Schläge und starker Vibrationen neben einem anderen Schiff zum Stillstand, dessen Rumpfmasse die Bullaugen praktisch zudeckte. Der dumpfe Lärm von Maschinenbohrern und abrollenden Kabeln hallte aus den unteren Ebenen zusammen mit dem gelegentlichen entfernten Jaulen einer Warnsirene herauf. Der Unteroffizier kam wieder die breite eiserne Wendeltreppe aus der Kom-Zentrale herauf. Das Geplapper der Deckmann-
schaft, die Statusüberprüfungen nach erfolgtem Andocken vornahmen, erfüllte die Ebene unterhalb der Brücke. Der Offizier reichte Gaunt eine Folie, aber der bedauernde Gesichtsausdruck des Mannes verriet ihm, was er zu erwarten hatte. »Nun gut«, seufzte er, während er die wiederholte Nachricht überflog: AUF BEFEHL DES OFFICIUMS DES MARSCHALLS, GESUCH ABGELEHNT. »Sie heißen Gaunt, Kommissar-Oberst?«, fragte der Mann. »Ja. Warum?« »Wir haben noch eine andere für Sie bestimmte Nachricht empfangen.« Der Unteroffizier konsultierte eine Datentafel. »Eine Gruppe ist unterwegs, um sich mit Ihnen zu treffen, und ersucht Sie, sie vor der achteren Luftschleuse 7 zu erwarten.« Es war sein erstes Wiedersehen mit Kommissar-General Baishin seit dem Feldzug auf Ancreon Sextus. Sie blieb einen Moment auf der ausgefahrenen Rampe stehen, bis sie ihn erblickte, und schritt dann rasch auf ihn zu. Zwei Männer in der dunklen Uniform des Kommissariats flankierten sie. Im Schleusenraum war es kalt und stank nach Abgasen. Dampf von den pneumatischen Klammern hing wie Nebel in der Luft und wallte gelegentlich in jähen Böen aus Korrekturdüsen. Gaunt verbeugte sich und beschrieb das Zeichen des Aquila auf der Brust. »Frau Kommissar-General.« »Gaunt«, erwiderte sie mit einem kurzen Nicken. Ihr Gesicht war hart und blass wie weißer Marmor, und rings um ihren dünnlippigen Mund flackerte keine Spur von Wärme. Ihr violettes rechtes Auge, knopfartig und glänzend, stand in krassem Gegensatz zum augmetischen Implantat in der linken Augenhöhle. »Ich hatte nicht damit gerechnet, dass meine Eingaben den persönlichen Besuch einer derart illustren Persönlichkeit wie Sie zur Folge haben würden«, sagte Gaunt. »Eingaben?«, fragte sie. »Ja, hinsichtlich der Aktivierung der Reserven.« Baishin runzelte die Stirn. »Ich weiß nichts über diese Dinge, Gaunt. Ich bin nicht deswegen hier.« »Aha«, murmelte Gaunt. Das hatte er sich gedacht. »Ich bin hier, um Sie zu instruieren, Gaunt, und Ihnen Ihre speziellen Befehle zu erteilen. Das Ziel der Armada …«
»… ist Gereon.« Baishin gestattete sich ein winziges spöttisches Lächeln. »Natürlich. Das werden Sie sich wohl zusammengereimt haben.« »Kommissar-General, wenn ich bis jetzt noch Zweifel gehabt hätte, wäre Ihre Ankunft alle Bestätigung gewesen, die ich brauchte. Zweifellos werden Sie eine besondere Aufgabe für die Geister haben?« »In der Tat.« »Wegen Ihrer speziellen Fähigkeiten und meiner Kenntnis der Zielwelt?« »Unschätzbare Kenntnis, Gaunt.« »Sie schmeicheln mir.« »Das ist nicht meine Absicht, Kommissar-Oberst. Sie sind in der einzigartigen Lage, dem Gott-Imperator einen großen Dienst zu erweisen.« »Möge Er uns alle beschützen«, murmelte einer der Kommissare an ihrer Seite. Gaunt sah ihn an und erkannte in ihm Baishins tüchtigen, aber salbungsvoll-öligen Lakai Faragut. »Möge Er uns in der Tat alle beschützen«, wiederholte er. »Hier bietet sich eine Gelegenheit«, sagte Baishin. »Eine Gelegenheit für einen raschen Durchbruch. Ich werde nicht zulassen, dass diese Gelegenheit verpasst wird. Monate der Planung, Gaunt. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass Sie auf den neusten Stand gebracht werden.« Sie sah sich im Schleusenraum um. »Können wir uns irgendwo ungestört darüber unterhalten?« Gaunt nickte. »Wenn Sie mir bitte folgen würden?« Baishin drehte sich um und schaute über die Schulter. »Hierher!«, fauchte sie zur offenen Seitenluke der Fähre. Eine Gestalt tauchte auf und kam durch den ausdünnenden Dampf zu ihnen. Es war Sabbatine Cirk. XV In voller Kampfausrüstung traten die Geister kompanieweise an. Als er nach draußen ging, um sie zu inspizieren, während er sich die Mütze mit dem Schirm zuerst aufsetzte, konnte Gaunt Rawne und Hark hören, die Befehle brüllten, um die Außenreihen
auszurichten, aber solche Anweisungen waren rein kosmetischer Natur. Im Hintergrund war das Jaulen von Kranwinden zu hören, dazu gedämpfter Fanfarenschall und Trommelwirbel aus dem Kasernensaal der Kolstecs. Gaunt blieb vor dem Kopf der Reihen stehen, nahm einen Gruß von Rawne entgegen und machte dann eine Kehrtwendung zu den Soldaten. Er räusperte sich. »Wir sind auf der Straße marschiert«, verkündete er, »jetzt ist der Ruhm nur noch einen Schritt entfernt.« Es gab energisches Gemurmel der Zustimmung. Einige Geister schlugen mit den Händen auf den Schaft ihrer Gewehre. Gaunt hob eine Hand, und Stille kehrte ein. »In zwei Stunden und fünfzig Minuten besteigen wir die Landungsboote. Der Landeanflug dauert fünf Stunden. Wir landen in einer heißen Zone. Sie sollen mit ernsthafter Gegenwehr vom Moment des Aussteigens an rechnen. Bleiben Sie gleich in ihren Kompaniegruppen, Sie erhalten noch spezielle Anweisungen.« Sein Blick wanderte die Reihen entlang. Stocksteif, kein Mann rührte sich. »Die Zielwelt ist Gereon«, rief er. »Ich habe ja gesagt, ich würde sie Ihnen eines Tages zeigen. Unser Ziel auf der Oberfläche ist die Marktstadt Cantible. Ich sage Ihnen nicht, was ich von Ihnen erwarte, weil Sie es wissen.« Er machte eine kurze Pause. »Soldaten des Imperiums«, rief er, indem er ganz bewusst eine Wendung änderte, die einmal mit »Männer von Tanith« begonnen hatte, »wollt ihr ewig leben?« Lauter Jubel antwortete ihm. Gaunt nickte und beschrieb das Zeichen des Aquila. »Der Imperator beschützt!«, rief er. »Wegtreten!« Die Reihen lösten sich in Kompaniegruppen zum Zwecke diskreter Einsatzbesprechungen auf. Gaunt sah, wie einige der Sektionsführer – Obel, Domor, Meryn, Varaine, Daur und Kolosim – ihre Gruppen um sich scharten und Kartentaschen öffneten. Dorden näherte sich ihm mit umgelegter Ausrüstung. »Doktor?« »Würden Sie bitte mit ihm reden?«, fragte Dorden mit einem Wink zu Ayatani Zweil. Der alte Priester kniete in vollem Ornat nieder, um sich die Schnürsenkel eines Paars übergroßer – und augenscheinlich geliehener – Kampfstiefel zu schnüren. Ein Kreuz mit einem Adler auf der Spitze lag zu seiner Rechten auf dem
Deck, ein goldenes Weihrauchfass mit schlaffer Schwenkkette zu seiner Linken. Gaunt nickte. »Pater …«, begann er. »Schieben Sie ihn sich in den Arsch«, sagte Zweil. »Ich bitte um Verzeihung?« Nachdem die Stiefel zugeschnürt waren, erhob er sich, indem er sich am Kreuz hochzog. Er schüttelte die Röcke seiner blauen Robe aus, um seine knorrigen Knie und mageren Schenkel zu bedecken. »Ihren Vorschlag, Gaunt. In den Arsch damit.« »Das ist sehr ökumenisch von Ihnen, Vater. Welcher Vorschlag soll das denn sein?« »Natürlich derselbe, den Dorden schon gemacht hat. Dass ich die Männer segnen und einen auf ›Heiliger Mann‹ machen und mich dann von allen verabschieden und hierbleiben soll.« »Und das wollen Sie nicht?« Zweil zog einen Schmollmund und zupfte an seinem langen weißen Bart. »Das will ich nicht, und das habe ich auch nicht vor. Dorden sagt, dass ich zu alt bin. Er sagt, ich bin ›medizinisch‹ zu alt, als wäre das eine ganz andere Art von zu alt. Ich bin so fit wie ein Tembaronger Grox, jawoll! Ich bin so fit wie jemand, der halb so alt ist wie ich!« »Trotzdem«, warf Dorden ein. »Ein Mann, der halb so alt ist wie Sie, müsste sein Essen auch schon pürieren lassen.« »Halten Sie Ihr verdammtes Schandmaul, Knochensäger«, erwiderte Zweil und stampfte mit dem Fuß auf. »Ich begleite Sie, das bleibt unterm Strich übrig und auch über dem Strich und rechts und links daneben. Ich begleite Sie, um mich der Bedürfnisse des Regiments anzunehmen.« »Pater …«, versuchte Gaunt einzuwerfen. »Ich habe Stiefel, falls Sie sich deswegen Sorgen machen«, sagte Zweil, indem er seine Gewänder hob, um es zu beweisen. »Nicht deswegen«, sagte Gaunt. »Ich begleite sie«, zischte Zweil, indem er Gaunt mit seinen klauenartigen Fingern am Ärmel packte. »Dieser Planet, zu dem wir fliegen, dieser arme Planet … der ist schon viel zu lange unheilig. Vielleicht kann er nicht mehr erlöst werden, aber ich muss es versuchen. Ich glaube zufällig, dass er einen Mann der Kutte nötiger braucht als einen Soldaten wie Sie, Ibram, aber ich akzeptiere, dass Waffenfragen zu bedenken sind.«
Gaunt hielt seinem Blick ein paar Sekunden stand. Dann sah er Dorden an. »Ayatani Zweil wird uns begleiten.« Dorden zuckte die Achseln und verdrehte die Augen himmelwärts. »Herr Kommissar?« Hark hatte sich zu ihnen gesellt. Criid und Caffran waren bei ihm. Ihr Blick war hart, verletzt. Gaunt holte tief Luft. Er hatte sich vor diesem Augenblick gefürchtet. »Können sie mit Ihnen reden?«, fragte Hark. »Natürlich. Weitermachen, Doktor. Sie auch, Vater.« Gaunt führte Criid und Caffran zum Rand des Sammelbereichs. »Ist das wahr?«, fragte Criid. »Meinen Sie die Reserveaktivierung?«, fragte Gaunt. »Ja, ich fürchte, das ist wahr.« »Können wir irgendwas tun?«, fragte Caffran. Gaunt schüttelte den Kopf. »Ich habe selbst schon versucht, es in Ordnung zu bringen, aber ich erreiche nichts.« »Das ist nicht richtig«, sagte Criid. Gaunt hatte sie noch nie so spröde erlebt. »Nein, das ist es nicht, aber die Aktivierung der Reserve ist eine normale militärische Vorgehensweise. Sie gehört zu den üblichen Taktiken des Kriegsmeisters, wenn Personal gebraucht wird, und Thron weiß, hier wird es gebraucht. Departmento Tacticae und Kommissariat haben es beide abgesegnet. Ich werde es bis zum Beginn des Landeanflugs weiter versuchen. Danach auch noch, falls nötig. Aber im Augenblick müssen Sie sich damit abfinden, dass die Garde ein riesiger Mechanismus ist, der blind über individuelle Anfragen, Gesuche und Einwendungen hinwegrollt. Sie liebt Zweckmäßigkeit und Massenwirkung und hasst Ausnahmen. Ich will damit sagen, dass es uns vielleicht nicht gelingen wird, an dieser Entscheidung zu rütteln.« »Das ist nicht richtig«, wiederholte Criid. »Er müsste ein Geist sein«, sagte Caffran. »Ja«, sagte Gaunt. »Das müsste er.« XVI
Er hatte das Gefühl, mit der flachen Seite Saroos einen Schlag auf eine Stelle zwischen Kopf und Bauch erhalten zu haben. Er war benommen, beinahe wie betäubt. Seine Augen brannten. Er schaute sich um und sah in den Gesichtern der anderen denselben Kummer und dieselbe Überraschung. Eigenartig. Er war so sicher gewesen, heute würde der schönste Tag seines Lebens sein: die Grundindoktrination zu verlassen und Gardist zu werden, von einem Rüstmeister sein Gewehr zu bekommen. Seine Soldaten-Anstecknadel, sein Aquila, seine Rangabzeichen zum Aufnähen … … ein Geist zu werden. Das Gewehr in seinen Händen fühlte sich wie ein Klotz an. Es in den Händen zu halten, bewirkte keinen Kitzel des Stolzes. »Was wird aus uns, Heilig?«, fragte Vierbüchse. Wäsche und ein paar andere verliehen ihrer Ungläubigkeit Ausdruck. Kandidaten wie Dalin hatten zumindest damit gerechnet, nach BIN in den aktiven Dienst übernommen zu werden, und es auch gewollt. Wäsche und seinesgleichen hatten alles in ihrer Macht Stehende getan, um der Aktivierung noch einen weiteren Zyklus auszuweichen. Dies waren verheerende Neuigkeiten für sie. Ein mürrisch aussehender Kommissar mittleren Alters namens Sobile war gekommen, um ihnen die Nachricht zu überbringen, kurz bevor man ihnen Ausrüstung und Waffen überreicht hatte. Er hatte sich unter den Lampen des Untergeschosses vor ihnen aufgebaut und sich eine halbe Ewigkeit Zeit gelassen, die Nachricht zu entfalten. »Am heutigen Tage des Jahres 777.M41 ergeht hiermit folgender Befehl: Um den erforderlichen Bedarf an einsatzfähigen Truppen in den kommenden Gefechten zu decken, hat das Oberkommando die Aktivierung aller Reserveeinheiten verfügt, darunter auch Strafabteilungen, die ihre Formation beibehalten, ein Ziel bekommen und als reguläre Kampfeinheiten eingesetzt werden sollen. Kein Individuum, das sich gegenwärtig im Status der Reserve befindet, sei es aus Gründen der Bestrafung, der Neuausbildung oder der Indoktrination, soll zu einem anderen taktischen Element zurückkehren oder sich einem solchen anschließen. Für die gegenwärtigen Zwecke wird diese Abteilung den Namen Aktivierte Taktische 137 bekommen, kurz AT 137. Detaillierte Befehle
für die Einheit folgen in Kürze. Möge der Imperator Sie beschützen. Das ist alles.« »Gol?« Gol Kolea blickte nicht auf. »Gol? Beweg deinen Arsch, der Summer ist kaputt.« Varl schritt durch den Gang zwischen den leeren Quartierkäfigen. Unter ihm strömten die versammelten Geister aus dem Kasernensaal wie Wasser aus einem Tank. »Gol? Hark zieht dir die Hammelbeine lang, wenn du nicht in die Gänge kommst«, sagte Varl. Beide Männer trugen volle Gefechtsausrüstung einschließlich Koppel und Rucksack. Der Helm hing am Gürtel. Beide hatten ihr Gewehr in der rechten Hand. »Ich komme ja schon«, sagte Kolea. »Ich wollte ihm das hier geben. Ich wollte es ihm schon eher geben, aber ich dachte, heute wäre der richtige Tag.« Er sah Varl an und hielt ihm die linke Hand hin. Auf der Handfläche lag ein tanithisches Mützenabzeichen, absichtlich rußgeschwärzt. »Komm endlich«, sagte Varl. Kolea nickte. Er schob das Abzeichen in seine Brusttasche. »Tona hat mich gewarnt«, sagte er. »Ich habe so lange gewartet, bis es zu spät war.«
Landung I Sie warteten nicht auf den Tagesanbruch. Sie warteten nicht auf mildes Wetter oder günstige Gezeiten. Sie warteten nicht, weil sie größer als das Wetter waren und mächtiger als die Gezeiten. Sie waren strahlender als der Tagesanbruch. Entlang der Westküste und der Linie der dortigen Städte und Ortschaften, die zu einer langen Schlange aus Wällen namens K’ethdrac oder K’ethdrac’att Shet Magir verbunden und befestigt worden waren, wurde der Himmel weiß. Es war kein strahlendes Weiß, sondern ein saures Weiß, und es senkte sich auf die hohen
Dächer und Maschikulis herab. Heiße, trockene Wolken wälzten sich vom Meer herein und häuften rauen Nebel über die niedriger gelegenen Abschnitte von K’ethdrac, als verdampfe der Ozean. Es gab keinen Wind, und alles wurde gedämpft. Sichtbare elektrische Ladung sammelte sich wie Efeu rings um die erhobenen Läufe der Geschütze, die überall entlang der siebzig Kilometer langen Festung bereitstanden. Eine Tür öffnete sich draußen im Westen, draußen über dem Ozean, und kühle Luft rauschte heran. Binnen Sekunden hatte sie sich zu einem Sturm ausgewachsen, einem mörderischen, ostwärts rasenden Windgürtel, der über die Befestigungen der Stadtlinie peitschte, Soldaten von der Brustwehr wehte, die küstennahen Bäume im rechten Winkel beugte und das Meer zu Reihen hoher Wellen mit weißen Kronen auftürmte, bevor sie sich am Betonfundament K’ethdracs brachen. Während der Sturm über die Küste fegte, bebte die Erde darunter, als sei eine furchtbare eiserne Last darauf gefallen, und Lärm kam auf, der lauteste Lärm, den die Menschen je gehört hatten, ohne von ihm getötet zu werden. Es war das Geräusch der nachgebenden Atmosphäre, da Milliarden Tonnen Metall hineinfielen wie kleine Steine in einen Teich. Weniger als eine Minute später schlugen die ersten Angriffe aus dem All in K’ethdrac’att Shet Magir ein. Sie waren nicht hübsch, nicht die kernigen, romantischen Feuerblüten, wie man sie vielleicht auf einem triumphalen Fresko bewundern mochte. Sie erzeugten keinen Halo aus reinigendem Licht, keine Großartigkeit als Hintergrundbeleuchtung für einen noblen Helden-Heiligen des Imperiums. Die ersten Angriffe waren wie Ruten aus geschmolzenem Glas, blau und heiß, urplötzlich da und eine Nanosekunde später schon wieder weg. Die Wolkendecke, die sie durchbohrten, blieb verwundet und Licht eiternd zurück. Wo sie einschlugen, löste sich der Boden in dreißig Meter breite Krater auf. Bollwerke, gepanzerte Türme, dicke Barrieren aus Metall und Stein, alles verschwand, und mit ihnen auch die Geschützbatterien und Mannschaften, die dort stationiert waren. Übrig blieben nur geschmolzenes Glas, Kohlenstaub und tiefe Steinmulden, so heiß, dass sie rosa leuchteten. Jeder Angriff war von einer heftigen atmosphärischen Dekompression begleitet, die Trümmer einsog wie eine rückwärts ablaufende Bombenexplosion.
Die Angriffe kamen aus den Batterien riesiger Kriegsschiffe, die über der Tropopause hingen. Ihre verschnörkelten Rümpfe leuchteten golden und bronzen im schillernden Licht der aufgehenden Sonne, und ihre großen roten Bugspitzen teilten den wuscheligen Tüll der hohen, kalten Wolken, sodass sie Flotten von Meeresgaleeren aus den Mythen der Legenden ähnelten. So dünn und friedlich war dieses hohe Gefilde, dass ihre gewaltigen Waffensysteme die Ruten sichtbarer Hitze mit einem kaum hörbaren Seufzen herausblinzelten. Andere Schiffe, Träger, hatten sich in den Himmel ausgeleert wie aufgequollene Insektenköniginnen, die Millionen Eier gebaren. Ihre Brut fiel in Hagelschauern aus den versengten und durchbohrten Wolken und wurde dann von den wirbelsturmartigen Winden aufgenommen und fortgetragen, die vom Meer hereinwehten. Unzählige Schiffe sprudelten hervor wie Schwärme matter Fische. Wolken von Landekapseln fielen wie Samenkörner aus der Hand eines Sämanns. Die Verteidiger von K’ethdrac fingen an zu schießen, obwohl ihre Bemühungen lediglich schwächliche Lichtspieße gegen die Flut waren. Dann erwachten schwerere Geschützstellungen, und überall entlang der Küste explodierten die Granaten der Luftabwehrgeschütze. Schließlich überzogen beträchtliche orange Flammen den Himmel, die von den gewaltigen Sturmböen sofort verwirbelt wurden. Balken aus schwarzem Rauch überzogen den Himmel wie tausend schmutzige Fingerabdrücke. Für seine Besatzer hatte K’ethdrac immer eine horizontale Neigung gehabt: die langen Brüstungen und Wälle, die sich kilometerweit die Küste entlangzogen und sich um die Windungen der Küste schmiegten, mit der Ebene des Wattenmeers dahinter, dazu das Hinterland aus Marschen und windzerzausten Gräsern sowie die wellige Fläche des grauen Meers. Es war eine Gegend der stumpfen Winkel und weiten Aussichten, der Breite. Nach fünf Minuten hatte sich diese Neigung verändert. Die Gegend wurde zu einem vertikalen Ort, wo diese Vertikalität von den aus den Wolken zuckenden Strahlen und Streifen aus gleißender Energie nachdrücklich aus dem Himmel gestanzt wurde, der seinerseits hoch und luftig wurde und von einem inneren Feuer erleuchtet war. Die befestigten Blöcke K’ethdracs wurden zur Borte einer Silhouette am Grund der Welt reduziert, während sich der hoch aufragende Himmel darüber erhellte wie eine Vision
der Himmelfahrt oder der steilen Treppe, die zum Fuß des Goldenen Throns führt. Schäfte aus Licht, so rein und weiß, dass sie die Eigenschaft der Heiligkeit zu besitzen schienen, zuckten von einer unsichtbaren Gottheit über dem Himmel nach unten und verwandelten die Wolken in poliertes Gold und den Rauch in graue Seide. Der Hagelsturm der krenellierten Angriffsschiffe fiel auf K’ethdracs brennende Linien herab. Sie kamen wie Plagen erntevernichtender Insekten und schlugen zu wie Schrotladungen. Heftige Lichtblitze und Farbblasen erleuchteten die siebzig Kilometer Wall in dem Versuch, sie zurückzuschlagen. Ungezählte Leuchtspuren zogen sich wie Ketten durch die Luft. Rußige Raketen stiegen in wütenden Bögen auf und zogen Schweife aus heißem Schmutz hinter sich her. Kreiselnde Kanonen pumpten wie Kolben und verwandelten den Himmel in eine Leopardenhaut aus schwarzem Flakrauch. In den steilen Festungsmauern sickerte Licht aus den Geschützmündungen wie Eiter aus entzündeten Wunden, da Energiewaffen ihre Lichtfäden versprühten. Landungsboote verbrannten mitten in der Luft. Manche schmolzen wie fallende Schneeflocken in jähem Sonnenlicht, und manche explodierten in lärmenden spröden Blitzen und besprenkelten die Brustwehren mit einem Metallhagel. Manche fielen mit einem Schweif aus Trauerrauch ins Meer oder gruben sich wie Leuchtspurgeschosse in die Türme und knotigen Zinnen K’ethdracs. Ein hoher Turm am Südende der Stadtregion stürzte nach solch einer Kollision halb ein, und nur ein Teil blieb über dem wallenden Staub stehen, ein Steinfinger mit einer sich verbreiternden Krone wie die Trochanter eines riesigen, in den Boden gerammten Oberschenkelknochens. Manche Landungsboote schafften es intakt zum Boden. II Dalin Criid sah von alledem nichts. Er litt unter den schrecklichen Turbulenzen des Sinkflugs wurde in der nackten Metallkapsel des Landungsboots hin her geschüttelt wie eine Perle. Er hörte das schrille Jaulen Antriebs, als schrien Geister für ihre Freiheit. Er roch
und und des und
schmeckte die Furcht: beißender Schweiß, ranziger Atem, Galle, Scheiße. Die Furcht ließ manche Männer weinen wie Säuglinge und andere so still und starr werden wie Marmor. Der Prediger der Kompanie, ein plattgesichtiger, vergammelter Kerl namens Pinzer, rezitierte das Sechzigste Gebet, das Ich flehe. Viele Soldaten beteten mit ihm, manche schnell und laut, als befürchteten sie zu vergessen, wie es ging, oder zu sterben, bevor sie es würden beenden können. Andere sprachen die Worte so, als meinten sie sie auch, als meinten sie jedes Wort mit jeder Faser ihres Willens, während wieder andere es aufsagten wie einen Zauberspruch, wie einen abergläubischen Reim, den man rezitierte, damit er einem Glück brachte. Sie beteten achtlos, als seien die Worte an sich bedeutungslos und als zähle nur das Aufsagen selbst. Andere murmelten die Zeilen lediglich und wussten wahrscheinlich nicht einmal, was sie sagten, da sie nur ihre wild kreisenden Gedanken an etwas anderes klammern wollten als an irrsinnige Panik. Criid sah einen toten Ausdruck in Vierbüchses Augen und auch in Hamirs. Es war ein Ausdruck der Versunkenheit, und er zeigte, wie vollständig die Hoffnung sie verlassen und wie tief sich ihre Persönlichkeit in die hintersten Winkel ihres Bewusstseins verkrochen hatte. Er war von Augen umgeben, die alle gleich aussahen. Criid war sicher, dass dieser tote Ausdruck auch in seinen Augen stand. Die Turbulenzen waren unvorstellbar heftig. Das Schütteln und Krachen, das Rucken und Klappern ließ ebenso wenig nach wie das Heulen der Triebwerke. Bei besonders heftigen Rucken kreischten einige Mitglieder der Kompanie in der Annahme, der erwartete jähe Tod habe sie ereilt. Das Kreischen bewirkte, dass Pinzer seine Worte vergaß. Er musste beständig Zeilen zurückspringen und dann an dieser Stelle neu ansetzen. Er selbst schien keine Furcht zu haben – anders als die Skalps von AT 137 hatte er das alles schon erlebt. Aber Criid konnte erkennen, dass sich der Prediger zusammenreißen musste, um eine ausdruckslose Miene zu wahren. Dies fiel einem nicht leicht, ganz egal, wie oft man es schon gemacht hatte. Das Schütteln und Rucken wurde so stark, dass Criid es nicht mehr ertragen konnte. Es gab keine Flucht davor, kein Entrinnen, und er wurde so verzweifelt, dass er glaubte, er werde die Aus-
stiegsluke aufreißen, hindurchgehen und sich vom tosenden Fahrtwind mitreißen lassen. Eine klare Stimme sprach das Sechzigste Gebet. »GottImperator, an dessen Gnade ich glaube und in dessen Licht ich aufblühe, ich flehe Dich an, mir die Kraft zu geben, diese Stunde zu ertragen …« Ihm ging auf, dass es seine eigene Stimme war. Sobile, der Kommissar, saß stumm in seinem Gurtgeschirr und beobachtete die Reihen der Soldaten vom Ende der Kabine. Er sah aus, als nehme er an einem besonders ermüdenden Abendessen teil. Neben dem Kommissar lauschte Kexie – er war jetzt Sergeant Kexie – seinem Interkom, um dann nach oben zu greifen und heftig an der Glockenschnur zu zerren. Kexie hatte das Kommando. Major Brundel, ihr frisch ernannter kommandierender Offizier, flog mit einem anderen Landungsboot. »Kompanie, klarmachen zum Aufbrechen!«, blaffte Kexie durch das Boot. Zeedon, der Soldat zwei Sitze von Criid entfernt, beugte sich vor und spie wässrige Kotze zwischen seinen Stiefeln auf den Stahlboden. »Ech, ich sagte, klarmachen zum Aufbrechen, nicht zum Erbrechen«, bellte Kexie. Criid löste den Sicherheitsgurt und nahm sein Lasergewehr. Dreißig Sekunden. Er sah Kommissar Sobile etwas aus seinem Rucksack nehmen und quer über seinen Schoß legen. Einen solchen Gegenstand hatte er Gaunt niemals tragen sehen, und er hatte auch nicht gehört, dass Gaunt ihn je benutzt hätte. Es war eine Peitsche. III Zeedon starb als Erster. Jedenfalls war er der Erste, den Criid sterben sah. Vierbüchse erzählte ihm später, ein Kolstec namens Fibrodder habe es bereits erwischt, als sie das Landungsboot noch gar nicht verlassen hatten. Ein weißglühendes Trümmerstück, wahrscheinlich ein Teil von einem anderen Landungsboot, hatte die Wandung zwei Sekunden vor dem Öffnen der Luke
durchschlagen. Flach, scharfkantig und kreiselnd, traf der Gegenstand Fibrodder ähnlich wie eine Kreissäge in den Hinterkopf und öffnete ihm in einer Linie zwischen den Spitzen seiner Ohren den Schädel. Das Schreien und Kotzen der blutbespritzten Soldaten, die um Fibrodders Leichnam angeschnallt waren, verlor sich im gemarterten Hammerschlag der Landung. Das Aufsetzen war so brutal, dass Criid das Gefühl hatte, seine Knochen werden von den Sehnen weggerissen und seine Zähne flögen ihm aus dem Zahnfleisch. Seine Kiefer schlugen zusammen, und er biss sich auf die Zunge. Sein Mund füllte sich mit Blut, aber die Schmerzen hielten ihn bei der Stange: die lächerlichen, winzigen, impertinenten Schmerzen, die Empörung. Ich habe schon genug Probleme, und jetzt habe ich mir auch noch auf die verfluchte Zunge gebissen? Kexie und die anderen Offiziere bliesen in Pfeifen. Es war heiß, und kaum hatte sich die Luke geöffnet, als alles von einem stechenden gelben Rauch erfüllt war. Lärm drang von draußen ein, hauptsächlich Geschützfeuer: das beständige Knattern einer Autokanone, die in den Himmel ballerte. Criid landete in kalter Luft, spürte Kies unter seinen Stiefeln, festen Boden. Der Rauch war dicht, und ständiges Überdruckknacken beeinträchtigte sein Gehör. Alle rannten mit gesenktem Kopf und Waffe vor der Brust irgendwohin. Ein lautes Pock-pockpock war zu hören und das Prasseln von Kieseln, die von Metallplatten abprallten. Keine Kiesel, keine Kiesel … Criid wusste nicht, ob er in die richtige Richtung rannte oder nicht. Er wusste nicht, woran sie erkennen konnten, in welche Richtung sie rennen mussten. Der Rauch hatte sowohl Kexie als auch das Signalpfeifen verschluckt. Sie befanden sich in irgendeiner Betonschlucht. Auf beiden Seiten erhoben sich grau-grüne Plattentürme. Er schaute zurück. Das Landungsboot lag da wie der Kadaver eines getöteten Tiers. In seinen letzten Flugsekunden war es durch eine befestigte Mauer und auf den Platz dahinter gefegt. Criid wusste nicht, ob man dies als gute oder schlechte Landung betrachten sollte. Ihm ging auf, dass er schrecklich viele Dinge nicht wusste. Er legte langsam eine Liste an.
Er spie Blut aus, das sich seit seinem Biss auf die Zunge in seinem Mund gesammelt hatte. Er hörte Sobiles Stimme, die etwas von »Ausschwärmen unter Ausnutzung der Deckung« blaffte. Er schaute hoch. Durch ein Dach aus wallendem Rauch konnte er den Himmel sehen. Er war voller Feuer und erstickte förmlich unter Federn aus gelben und orangefarbenen Flammen. So weit sein Auge reichte, war der Himmel mit kleinen und großen Explosionen übersät: explodierende Boote, Granaten, Leuchtspurgeschosse, Raketen. Es sah wahllos und verblüffend aus. Am Himmel waren schwarze Punkte zu sehen – andere Schiffe, andere Flugzeuge. Zwei weitere Landungsboote, die in Formation flogen, rasten plötzlich tief über ihn und die befestigte Mauer hinweg und verschwanden hinter den Türmen. Das Triebwerkstosen war schmerzhaft. Weit schmerzhafter war der Beschuss, der aus den Turmspitzen eröffnet wurde und sie verfolgte. Rußflocken taumelten durch den Rauch. Criid riss den Blick vom Himmel los und versuchte, aus dem Ganzen halbwegs schlau zu werden. Wenn man bedachte, wie viele Stunden sie im Untergeschoss damit verbracht hatten, die Grundlagen des Zusammenhalts der Einheit zu lernen, war davon jetzt herzlich wenig zu sehen. Kommissar Sobile tauchte etwa hundert Meter entfernt aus dem Rauch auf. Er zeigte hektisch mit einer Hand und ließ mit der anderen die Peitsche knallen. Ein Haufen Soldaten rannte an ihm vorbei. Criid hatte den Eindruck, es sei ihnen lieber, sich blindlings in den treibenden Rauch zu stürzen, als in der Nähe seiner Peitsche zu bleiben. Criid folgte ihnen. Sie rannten zu einem der Türme. Als er sich umdrehte, erzitterte die Luft, und ein weiteres Landungsboot rauschte tief über ihn hinweg. Er schaute unwillkürlich hoch. Das Boot flog viel tiefer als die beiden zuvor. Criid konnte Einzelheiten auf der Unterseite und der Landevorrichtung erkennen. Das Heck stand in Flammen. Er starrte es mit kranker Faszination an und wusste dabei ganz genau, was passieren würde, während ihm gleichzeitig vollkommen klar war, dass er nichts tun konnte, um es zu verhindern. Das Landungsboot war noch dreißig Meter hoch, als es ihn passierte, aber er duckte sich dennoch. Es traf den nächsten Turm in die Seite, den, auf den er und die anderen Soldaten zuliefen.
Der Aufprall erfolgte mit vernichtender Wucht. Gerade waren da noch das dahinrasende Boot und die starre Wand des graugrünen Turms. Dann gab es einen gewaltigen, sich ausbreitenden Feuerball, eine wallende Flammenwolke, die das Landungsboot verschluckte, als ziehe sie es in den Turm. Trümmer – riesige Brocken aus Stein, Mörtel und Stahlträgern – flogen nach außen und zogen dabei Schweife aus Rauch und Feuer hinter sich her. Die Soldaten, die vor ihm und näher am Turm waren, kehrten um und rannten zurück. Er sah den nächsten von ihnen ganz deutlich. Es war Zeedon. Auf seinem Kinn klebte immer noch Erbrochenes. Er schrie: »Alles zurück, alles zurück!« Riesige Brocken Mauerwerk und brennende Trümmer des Landungsboots – darunter auch eine vollständige Triebwerkseinheit, die noch aktiv war – kamen wie ein Wolkenbruch herunter. Die Lawine erreichte die laufenden Soldaten und hüllte sie in eine Bugwelle aus Staub. Zeedon war zehn Meter von Criid entfernt und lief immer noch auf ihn zu, als ein Steinbrocken auf ihm landete. Es war ein großer Klotz, dicker und schwerer, als zwei Männer hätten tragen können. Eine Seite war immer noch mit grau-grünem Außenputz bedeckt. Zeedon fiel nicht darunter und klappte auch nicht zusammen. Der Brocken walzte ihn einfach auf totale und abrupte Art platt. Gerade war er noch da, dann war er verschwunden, und übrig war nur noch ein Steinbrocken und die Beine eines Menschen, von denen das eine auf der einen Seite und das andere auf der anderen Seite unter dem Brocken hervorragte. Die Kraft der heftigen Kompression hatte einen starken und seltsam zielgerichteten Strahl aus Blut zwanzig Meter weit geschleudert. Er hinterließ für einen Moment eine dunkelrote, glänzende Spur wie von kleinen Edelsteinen im Staub. Dann legte sich Staub auf die roten Perlen und deckte sie zu. IV Jenseits der Türme war dieser spezielle Abschnitt der Festung von K’ethdrac’att Shet Magir eine Wildnis aus Feuer und Geröll. Kexie und Sobile sammelten die Trupps und schafften den Zusammenschluss mit einem Teil der Kompanie aus dem zweiten
Landungsboot von AT 137, das innerhalb des Walls gelandet war. Von Major Brundel fehlte jede Spur. Sie waren einigen größeren Geschützstellungen in dem Bereich näher gerückt und bekamen die Nebenwirkungen ihres Beschusses zu spüren. Die Stellungen, hauptsächlich Luftabwehrgeschütze und Langstreckenwaffen für den Beschuss von Schiffen im Orbit, feuerten aus allen Rohren. Die blitzenden Erschütterungen rissen den Himmel auseinander, und der Boden bebte beständig. Es überwältigte die Sinne. Es war zu laut für die Ohren und zu grell für die Augen, und keine Stimme konnte es übertönen. Criid suchte Deckung. Im Freien war der Beschuss eine so brutale sinnliche Erfahrung, als hielte einem jemand eine Taschenlampe vor das Auge und schalte sie in raschem Wechsel ein und aus. Sogar mit geschlossenen Augen kamen die Blitze durch, weißlich und mit Kapillarfäden durchwirkt. Halb sprang und halb fiel Criid in einen Entwässerungsgraben aus Beton, eine Rinne, die sich durch den gesamten Platz zog. Trümmer lagen überall in seinem trockenen Bett. Er passierte den Leichnam eines Gardisten, der verkrümmt in der Rinne lag, als schlafe er, aber nicht einmal der tiefste Schlaf konnte einen Körper derart entspannen. Am Ende des Grabens fand er Anschluss an einen Trupp, der von Ganiel angeführt wurde, einem Halsbergener, den Kexie zum Korporal gemacht hatte. Brocken gehörte zu seinen Männern. Sie überquerten einen von Rauch verhüllten Platz und erreichten etwas, von dem Criid sicher war, dass es sich dabei um die Munitionssilos für zwei der donnernden Geschützstellungen handelte. Irgendwann unterwegs hatte sich Kexie ihnen angeschlossen. Er führte sie zu einer niedrigen Mauer und befahl ihnen dann, in Deckung zu gehen. Zuerst wusste Criid nicht, warum. Dann sah er Gesteinsstaub auf der Mauer hochspritzen, und ihm ging auf, dass sie unter heftigem Beschuss lagen, dessen Lärm im allgemeinen Bombardement unterging. Dicke Lippe, eine Kolstec, die im BIN war, weil sie einem Vorgesetzten widersprochen hatte, war zu langsam. Sie wurde herumgewirbelt und ging zu Boden, wo sie mit ein paar Sekunden heftig strampelnden Beinen liegen blieb. Dann wurden ihre Glieder schlaff.
Als der Beschuss nur noch sporadisch kam, führte Kexie sie über die Mauer. Er tat dies mit einer simplen Geste und einem gewissen Gesichtsausdruck. Aus beidem ging klar hervor, dass ihn zu missachten ein gefährlicheres Ansinnen war, als die Deckung zu verlassen und in eine Feuerzone zu stürmen. Criid lief los und eilte Brocken, Ganiel und einem Doppier namens Ziegelmacher voraus. Criid spürte die Luftbewegung im Gesicht, als Schüsse an ihm vorbeirasten. Sie erreichten die Deckung einer aufgerichteten Betonplatte, die eine Rakete aus dem Boden gesprengt hatte, warfen sich zu Boden und fingen an zu schießen. Es war irgendwie befriedigend, endlich zurückschießen zu können. Seine ersten Schüsse gab er voller Wut ab, obwohl er nicht sehen konnte, wohin er feuerte. Kexie schaffte es in die Deckung eines Gewirrs aus Triebwerkstrümmern fünf Meter weit weg. Muffe, Trask und Wanzenohr taten es ihm nach. Drei andere waren nicht so glücklich. Erdrutsch wurde von Laserstrahlen förmlich zerschmolzen, kaum dass er seine Deckung verließ. Sein verstümmelter Leichnam blieb mit brennender Uniformjacke auf dem Boden liegen. Möglich, ein fleißiger kleiner Doppler, mit Criid und Hamir einer der wenigen »I«-Kandidaten im BIN, hatte die halbe Strecke zurückgelegt, als er ins Knie getroffen wurde und zu Boden ging. Er wälzte sich herum, umklammerte sein getroffenes Knie und erhielt noch einen Treffer in dasselbe. Dieser Schuss durchbohrte auch seine linke Hand, mit der er das Knie umklammerte, und trennte drei Finger ab. Möglich schrie vor Schmerzen. Bardene blieb stehen, lief zurück, um ihm zu helfen, und wurde auf der Stelle von einem Boltgeschoss in den Ansatz der Wirbelsäule getötet und auf den Bauch geschleudert. Eine Sekunde später erlösten Schüsse aus einer Kanone Möglich von seiner Qual. Criid lud nach. Steinstaub und Fyzelen brannten in seinen Augen. Ein Jaulen ertönte, tief, lang anhaltend und laut wie von einer Fabriksirene. »Ech, seht euch das an«, bellte Kexie. Criid drehte sich um. Hinter ihnen kamen die Gott-Maschinen. V
Vor einem feurig zerfaserten Himmel kamen die Titanen von der Küste, um K’ethdrac’att Shet Magir zu schleifen. Criid hatte sie schon zuvor gesehen – in Büchern und auf Bildtafeln und außerdem in Lebensgröße auf verschiedenen Siegesparaden. Er hatte einmal die Ambition gehabt, Princeps zu werden, wenn er groß war, bis sie dem ehrlichen Ansinnen gewichen war, Gardist zu werden. In diesem Augenblick konnte er sich nicht mehr erinnern, warum er diese Wahl getroffen hatte. Wenn auch sonst nichts, war man als Princeps hoch oben in dem gepanzerten Ding sehr viel sicherer. Criid wusste, dass Titanen riesig waren. Er war nur absolut unvorbereitet, was das Ausmaß ihrer Gewalttätigkeit anging. Es war die Art, wie sie einherschritten und mühelos Mauern und Dächer demolierten, und die Art, wie ihre Waffenarme apokalyptisches Verderben auf Ziele in großer Entfernung niederregnen ließen. Zwei Titanen griffen den Festungswall etwa einen Kilometer links von Criid an, aber seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf den dritten, den nächsten, der hinter ihm durch den Wall brach. Er war matt khakifarben lackiert, und die Flanken waren mit großen weißen Zahlen bemalt. Seine Bewegungen waren schwerfällig und arthritisch, als schlurfe ein massiger alter Mann seinen Enkeln hinterher. Kopf und Rumpf schaukelten bei jedem Schritt sanft in den Hüften vor und zurück. Der Lärm von Getrieben und riesigen Hydrauliken und das Ächzen von Metall waren zu hören. Das Vulkangeschütz, sein rechter Arm, schwenkte langsam herum und gab kreischende Salven ab, um dann weiterzuschwenken und den Vorgang zu wiederholen. Criid sah winzige Lichter unter den vorspringenden Brauen und fühlte sich, als habe er die Seele des Dings erblickt, obwohl es ganz sicher nur die Kanzelbeleuchtung war. Der Titan war auf seiner Seite, aber er entsetzte ihn, und er entsetzte die Männer in seiner Nähe. Er war eine Kriegsmaschine, und dies war sein natürliches Habitat. Criid meinte, nichts in seiner näheren Umgebung verloren zu haben. Woher sollte er zum Beispiel wissen, dass die schreienden Punkte rings um seine Füße loyale Soldaten des Imperiums waren? Wie konnte er diese subtile Unterscheidung machen, wenn jeder polternde Schritt von ihm Mauern in Ziegellawinen einstürzen ließ oder Stacheldrahtzäune
zerfetzte wie lange Grashalme? Criid war der Ansicht, wäre er ein Princeps und hätte den Befehl über diese Macht, würde er alles niedertrampeln, was ihm vor die Füße kam, und wenn man ihm hinterher sagte, er habe auf dem Weg zum Feind Freunde zermalmt, würde er darauf erwidern: »Aber wir haben gewonnen, das zählt«. Es war lächerlich zu glauben, ein Titan solle sich darum kümmern, was ihm unter die Füße kam. Man ließ ihn von der Kette, und dann ging man ihm aus dem Weg. Der Sergeant war eindeutig zu einer ähnlichen Ansicht gelangt. Mit der vollen Kraft seiner Kasernenhofstimme rief er den Trupps zu, Platz zu machen und nach rechts auszuweichen. Schüsse aus Handfeuerwaffen prasselten auf sie ein wie Sommerregen, aber der Titan hinter ihnen näherte sich wie eine Flutwelle. Eine weitere Mauer krachte unter Einwirkung seiner Schienbeine zu Boden und erfüllte die Umgebung mit dem Poltern einstürzender Trümmerbrocken, während ihnen der frische, trockene Gestank von Steinstaub in die Nase drang. Das Vulkangeschütz jaulte wieder und zerfetzte den Himmel über ihnen mit knisternden Lichtspeeren. Criid spürte, wie seine Haut kribbelte und sich die Haare an seinen Armen aufrichteten, als die nahen Energiestrahlen die Ionisation der Luft veränderten. Er roch Ozon und Öl und heißes Metall. Stahlplatten kreischten, trocken und ungeschmiert, als sie einen weiteren schaudernden Schritt vorwärts machten. Eine Sirene jaulte. Der Fabriksirenenlärm war die Stimme des Dings, seine Warnung, nicht für den Feind, sondern für die eigenen Leute. Aus dem Weg, ich komme. Aus dem Weg, sonst sterbt ihr. Sie liefen los, nach rechts, wie Kexie befohlen hatte. Der Sergeant lief ebenfalls. Wieder spürte Criid den Luftzug von Kugeln, die an ihm vorbeisausten. Er sah Laserstrahlen vorbeiflackern. Ein fliegender Kiesel traf ihn am Bein. Er sah, wie sich ein wenige Schritte vor ihm rennender Soldat plötzlich verdrehte und zu Boden fiel. Criid warf sich in einen Granattrichter. Der Boden erbebte unter den Schritten des vorbeistapfenden Titans. Im Granattrichter rieselten bei jedem Beben kleine Steine und Sand herab. Ein Leib fiel von oben auf ihn. Es war Brocken. Er strampelte und zappelte, um wieder hochzukommen, – und ließ dabei mehr als ein Mal sein Gewehr fallen.
»Heilig?«, sagte er, als ihm klar wurde, auf wen er gefallen war. Das brachte ihn zum Lachen, obwohl Criid nur das Sirenengeheul des Titans hören konnte. Har-har-har, bewegte sich Brockens Mund. Er hatte einen Schnitt über einem Auge, und seine linke Wange war rußverschmiert. Criid fragte ihn mit ein paar Handzeichen, ob er in Ordnung sei, aber Brocken verstand ihn nicht. Caff hatte Criid die Zeichensprache beigebracht. Es war so ein Verstohlenheitsding, eine Geistersache. Die Erinnerung daran ließ Criid zusammenfahren. Seine gegenwärtige Lage hatte nichts Heroisches oder Aufregendes an sich und nichts auch nur im Entferntesten Vernünftiges oder Zielstrebiges. Es war ein wahnsinniges, chaotisches Getümmel voller Furcht und schockierenden Bildern der Verstümmelung ohne klares Ziel. Er hatte von einem Gardistenleben geträumt und ein Gardistenleben gewollt, und wenn es das hier war, dann war es erbärmlich und idiotisch. Er fühlte sich betrogen, als hätten Caff und seine Ma und Varl und all die anderen ihn all die Jahre belogen. Niemand würde dies wollen. Niemand würde dies wählen. Außer vielleicht, wenn er all das als Geist durchgemacht hätte anstatt als Angehöriger der Arschwisch-Abteilung AT 137, vielleicht wären dann all diese Dinge vorhanden gewesen … die Aufregung, das Heldentum, das klare Ziel. »Was machen wir jetzt?«, brüllte Brocken auf eine teils quengelige und teils sarkastische Art. »Was machen wir jetzt? Können wir jetzt nach Hause, har-har-har?« Criid spähte aus dem Loch. Er hielt nach Kexie oder dem Kommissar Ausschau. Er sah Ganiel mit Vierbüchse, Muffe und Ziegelmacher in einem Graben in der Nähe. Er sah einen Leichnam draußen im Freien auf dem Beton, halb auf den Rücken gedreht, der in den Staub blutete. Wer war das? Spielte es eine Rolle? Criid wusste nicht, wohin er gehen oder was er tun sollte, falls er dort ankam. Er konnte absolut keinen Wert in der Investition der Imperialen Garde erkennen, ihn und seine Kameraden an diesen Ort zu bringen. »Du bist getroffen«, rief Brocken. Criid sah hin. Seine Uniformhose war an der Wade durchlöchert und blutig. Es war kein Kiesel gewesen, der ihn am Bein getroffen hatte. Eine Kugel hatte ihn erwischt, und er hatte es nicht einmal bemerkt.
Der Titan ging fünfzig Schritte weiter links an ihnen vorbei. Sein Schatten, der vom brodelnden Feuerball eines brennenden Treibstofftanks geworfen wurde, hatte sich über sie gelegt. Die Erde bebte weiter bei jedem Schritt, und Sirenengeheul, das Kreischen der Metallplatten und das Jaulen des Geschützes waren immer noch ohrenbetäubend. Criid spähte nach draußen, um ihn weiter zu beobachten. Er stampfte in die Innenhöfe, vorbei an den Munitionssilos und weiter zu den Hauptgeschützstellungen. Er schleifte Drähte von einem Elektrozaun an einem Knöchel hinter sich her wie eine Fußfessel, und die hüpfenden, klingelnden Drähte sprühten Funken und knisterten. Plötzlich ging Criid auf, woran der Titan ihn wirklich erinnerte. An den Bär. Vor Jahren hatte der Tross auf einem anderen Transporter einen Tanzbär gehabt, ein großes schwarzes Tier von einer Welt am Arsch der Galaxis, den eines der Regimenter als Maskottchen behalten hatte. Er war mit einer Hintertatze an einen Pfosten gebunden, und sein Dompteur stach ihn mit einem Stab, damit er sich aufrichtete und zu Melodien tanzte, die auf einer Blechflöte gespielt wurden. Der Bär konnte durchaus annehmbar tanzen. Er stand hoch auf den Hinterbeinen, die Arme an den Seiten, und schwankte dabei auf eine Weise hin und her, die auf lustige Art einen Menschen nachahmte, aber er war kein Zweibeiner. Sobald er konnte, hörte er auf, so zu tun, als sei er ein Mensch, und ließ sich auf alle viere sinken, um wieder eine große schlichte Bestie zu werden. Daran erinnerte ihn der Titan: an eine wilde Bestie, einen riesigen Fleischfresser, dem man zu brüllen und auf zwei Beinen zu laufen beigebracht hatte, und der langsam und unsicher dahinstapfte und sich danach sehnte, wieder seine natürliche Haltung anzunehmen. Brocken zupfte an seinem Ärmel. »Was?« »Siehst du das?« Brocken zeigte hin. Sobile war wieder aufgetaucht. Er führte zwanzig Männer der Kompanie über die rauchenden Trümmer. Criid sah auch andere Soldaten. Mehrere Dutzend Gestalten in brauner Uniform kletterten durch die Bresche, die der Titan in die Außenmauer geschlagen hatte. Aus den Dutzenden wurden Hunderte, aus den Hunderten Tausende. Criid blinzelte. Er sah Regimentsbanner aufgehen und hör-
te Fanfarenschall. Andromaner Infanterie entnahm er der goldenen Beschriftung eines Banners, Sechstes Regiment. Imperiale Garde in Bataillonsstärke, die von den Landeplätzen an der Küste heranstürmte. Die Woge der Männer flutete den Platz und rückte wie eine Schleppe hinter dem Titan vor. Criid sah weiße und gelbe Mündungsblitze, als sie mit ihren Gewehren auf die gepanzerten Stellungen feuerten. Raketen rasten auf unbeständigen Rauchsäulen himmelwärts. »Steh auf«, sagte Criid zu Brocken. »Steh auf. Mach voran.« VI Nachdem die Gesellschaft so vieler anderer Soldaten ihr Selbstvertrauen gestärkt hatte, rückte AT 137 vor. Kommissar Sobile brauchte seine Peitsche kaum einmal zu benutzen. Sie schwärmten im Kielwasser des Titans auf einen großen Hof oder Paradeplatz unter dem Netz der Geschützstellungen. Die feindlichen Geschütze hämmerten immer noch. Entlang der gesamten Küste, kilometerweit in beide Richtungen, feuerten die Abwehranlagen von K’ethdrac in den Morgenhimmel und ließen die Luft unter ihren Erschütterungen und Echos der Erschütterungen erzittern. Ein Vorhang aus Fyzelendampf hing in der Luft wie Meeresnebel. Der Himmel schien für Criid das größte Opfer zu sein. Er war angeschwollen vom Rauch und vom Licht gewaltiger Brände. Große schwarz-orange Pilzwolken wallten hinein. Im Norden wirbelten gewaltige Geschwader angreifender Flugzeuge durch die Luft wie Vogelschwärme, die sich für ihren Zug formierten. Einer der entfernteren Titanen, der über der Linie der brennenden Dächer zu sehen war, bekam einen direkten Treffer von einem der Superschweren Geschütze ab. Die Rumpfmitte und der Kopf explodierten in einem gigantischen Feuerball, der in die Höhe schoss und sich dabei rapide ausdehnte, um schließlich einen krönenden Flammenring zu bilden, der in den Himmel waberte. Dergestalt in seiner Struktur durchlöchert, gaben die Torsoplatten nach, und die schweren Waffenglieder, die Arme des Titans, fielen ab und rissen die zusammenklappenden Körperhälften mit. Der Rest der Maschine blieb stehen: erstarrte, gelähmte Beine und ein schwarzes eisernes Becken, in dem Flammen wüteten.
Ein allgemeines Ächzen der Bestürzung erhob sich bei diesem Anblick aus den Reihen der Fußsoldaten. Die Andromaner Infanterie setzte zum Sturm auf die Geschützstellungen an, und Fanfaren und Trommeln ertönten. Criid geriet in den Sog und wurde mitgerissen. Er war von Männern in brauner Uniform umgeben, und er sah keine andere Person im grauen Drillich seiner Einheit. »Immer weiter, Junge!«, sagte einer der Andromaner zu ihm. Er war ein Hüne mit blasser Haut und so behaart wie der Rest seiner Brut. Er grinste Criid an. »Vorwärts! Der Imperator beschützt!« Criid war nicht so sicher. Er war vielmehr überzeugt, dass er zu einer eigenen Kompanie zurück musste. Er hielt nach seinen Kameraden Ausschau, aber sein Fuß blieb an einem aufragenden Trümmerstück hängen, und er fiel. Die Gardisten stürmten an ihm vorbei. Einige brüllten Schlachtrufe. Er versuchte aufzustehen, wurde aber zwei Mal von vorbeilaufenden Männern umgerannt. Einige verfluchten ihn. Das Feindfeuer setzte wieder ein. Es fiel wie Regen aus Geschütznestern und befestigten Stellungen auf die imperiale Streitmacht nieder. Der Kampfgeist, der die Männer in Massen vorwärts getrieben hatte, verließ sie. Die vorrückende Flut scheute zurück. Criid kam auf die Beine und lief los. Mehrere Mörsergranaten schlugen nicht weit von ihm auf den Beton und explodierten in Kegeln aus Feuer und Trümmern. Zwei, drei Männer wurden hoch in die Luft geschleudert und landeten schwer wie Säcke voller Steine. Andere wurden im Zurücklaufen von heulendem Geschützfeuer niedergemäht. Jeder Schuss heulte einen Sekundenbruchteil vor der Ankunft, bevor das Twack des Einschlags kam, der einen Mann in einem Blutnebel zu Fall brachte. Criid sah den hünenhaften Andromaner, der mit ihm geredet hatte. Er torkelte umher und nieste, spie und atmete Blut durch ein Gesicht, das Nase, Oberlippe und obere Zahnreihe verloren hatte. Der Mann wankte an ihm vorbei, und Criid sah nicht mehr, was anschließend mit ihm geschah. Criid lief über den Platz. Er war mit Leichen übersät. Die Andromaner fluteten jetzt nach links, da sie vor der Todeszone unter den Geschützstellungen zurückwichen. Der Titan schritt weiter, blind und taub für die Infanterieflut zu seinen Füßen und den Be-
schuss durch Gewehre und Mörser, deren Munition einfach von ihm abprallte. Einige Bestandteile von AT 137 hatten in einer Rinne Deckung genommen, die zu einer schweren Verladetür führte. Die Verladetür aus genietetem Metall war geschlossen und hatte sich allen Versuchen widersetzt, sie zu öffnen. Sobile sah Criid mit anderen Nachzüglern kommen und knallte aufgeregt mit seiner Peitsche nach ihnen. »Achtet auf eure Einheit und bleibt zusammen, ihr wertlosen Idioten! Bleibt zusammen und wachsam! Wie können wir unsere Ziele erreichen, wenn die Einheit keinen Zusammenhalt hat?« Criid wollte antworten. Er wollte fragen, wie sie ihre Ziele erreichen sollten, wenn sie nicht wussten, wie ihre Ziele lauteten. Er wollte fragen, ob Sobile selbst einen verfluchten Schimmer hatte, wie ihre Ziele lauteten. Criid hatte eine lange Liste mit Fragen. Einer von Sobiles launischen Peitschenhieben traf ihn an der rechten Schulter und seitlich am Kiefer, und er vergaß seine Fragen und Listen. Das geschnürte Leder schnitt durch seine Jacke und ließ Blut aus der Strieme über dem Schlüsselbein quellen. Es fühlte sich an, als sei sein Kiefer ausgerenkt. »Hoch mit euch!«, befahl Sobile, desinteressiert an Criids Nöten. Die Schmerzen waren so grell, dass sich Criid kaum bewegen konnte. Seine Augen füllten sich mit heißen Tränen. »Hoch mit euch!«, fauchte Sobile noch einmal und wandte sich dann an die anderen. »Dem nächsten Idioten, der nicht bei der Sache ist, ziehe ich die Haut ab. Haben wir uns verstanden?« Er rollte seine Peitsche zusammen und warf einen Blick auf Sergeant Kexie. Kexie rieb sich einen Kratzer auf seiner knorrigen Wange. Die Soldaten hatten sich keuchend im Schatten der Rinne versammelt und versuchten zu verschnaufen. Einige schluchzten. »Sergeant?«, sagte Sobile. »In Trupps aufteilen und in diese Richtung über den Platz vorrücken«, sagte Kexie, indem er mit seinem Lasergewehr in die entsprechende Richtung zeigte. »Wir nähern uns der nächsten Stellung von der Seite und sehen zu, ob wir sie stürmen und zum Schweigen bringen können.« »Die Anweisungen sind klar, 137«, donnerte Sobile. »Formation einnehmen!« Artillerie, vielleicht einen Kilometer entfernt, dröhnte plötzlich wie die Trommeln einer gigantischen Marschkapelle. In der Ferne
pulsierten Blitze. Jenseits der Rinne massierten sich die Andromaner für einen neuerlichen Versuch, den Paradeplatz zu überqueren. Criid sprang auf. Blut quoll aus dem Riss im Kiefer, und seine Schulter pochte. Er spürte, wie das Gewebe steif wurde und anschwoll. Die Finger seiner rechten Hand waren taub. Formation einnehmen war ein Witz. Von den zweihundertfünfzig Personen, aus denen AT 137 bestand, waren etwa vierzig in der feuchten Rinne versammelt. Criid wusste nicht, ob das bedeutete, dass der Rest tot war oder einfach gleichermaßen verblüfft woanders kauerte. Eine weitere Frage für seine Liste. Dieser Teil von AT 137 schien als »Hauptteil« infrage zu kommen, weil zufällig Kommissar und Sergeant dazugehörten. Es gab kaum überlebende Überbleibsel von vorher festgelegten Geschützmannschaften oder Trupps. Leute schlossen sich einfach mit anderen Leuten, die sie kannten, zu Angriffstrupps zusammen, die etwa aus der richtigen Anzahl von Leuten bestanden. Criid landete mit Wanzenohr, Muffe, Trask und Vierbüchse bei Ganiels Haufen. Er sah Brocken in einer anderen Gruppe bei Korporal Carvel. Brocken sah verwirrt und benommen aus. Der Schnitt über seinem Auge blutete jetzt stärker. »Wo ist Ihre Waffe? Wo ist die Waffe, die man Ihnen anvertraut hat, Soldat?«, schrie Sobile. Brocken ging plötzlich auf, dass der Kommissar mit ihm redete. Er schaute umher und blinzelte. Seine Hände waren leer, und zwar schon länger, und es war ihm nicht aufgefallen. Criid hatte Brockens Waffe zuletzt gesehen, als er sie in den Granattrichter hatte fallen lassen. Wahrscheinlich lag sie immer noch dort. »Ich glaube, ich habe sie fallen lassen«, begann Brocken. Er versuchte seine Lippen zu einem Lächeln zu verziehen, aber das Markenzeichen eines vollen Lachens wollte nicht kommen. Nein, nein, nein, dachte Criid. Brocken hatte keine Ahnung, was er sich einbrockte. Er dachte nicht nach. Man ließ sein Gewehr nicht fallen. Man verlor sein Gewehr nicht. Ein Gardist schützte das ihm anvertraute Gewehr mit seinem Leben und umgekehrt. Das war grundlegend und fundamental. »Grobes Vergehen, Artikel 155«, sagte Sobile und schoss Brocken in den Kopf. Brocken zuckte zusammen, als habe man ihm überraschende Neuigkeiten erzählt. Sie waren offenbar nicht lustig, weil er nicht
lachte. Er kippte um, schlaff und schwer, und stieß sich auf dem Weg nach unten den durchschossenen Kopf an der Rinnenwand. Es gab einen Augenblick, in dem selbst die Artillerie zu verstummen schien. Es war der erste Zehn-Neunzig, den Criid je erlebt hatte. Ihm war übel. An einem Tag voller Vergeudung und Hoffnungslosigkeit war dies bisher der obszönste Vorfall. »Sonst noch jemand?«, fragte Sobile, indem er seine Pistole halfterte. Alle sahen weg. Sie wollten Sobile nicht in die Augen schauen oder Brocken ansehen. »Ech, ihr scheißeweichen Skalps!«, schnauzte Kexie. »Wenn ihr richtige verfluchte Gardisten sein wollt, zeigt ihr besser mir und dem Imperator, was ihr drauf habt. Beim Pfeifsignal …« Der Sergeant blies in seine Pfeife. Sie brachen aus der Deckung hervor und rannten und ließen Brocken allein im Schatten zurück, während aus der Wunde, die ihn getötet hatte, träge Rauch aufstieg. VII Korporal Ganiels Trupp erreichte die Westecke der großen Geschützstellung ohne Zwischenfall. Sie waren alle außer Atem nach ihrem Spurt über das offene Gelände und wie aufgezogen von der Furcht vor eben diesem Spurt. Hinter ihnen wallte Rauch über die verstreuten Trümmer. Ein lautes, ausgedehntes Feuergefecht tobte hinter einer Reihe von Lagerhäusern, und Leuchtspurgeschosse und Blitze zuckten in den immer tiefer sinkenden Himmel. Sie konnten sehen, wie Korporal Carvels Trupp ausschwärmte und zum Ostende des Gebäudes lief. Sporadischer, beinahe müder Kanonenbeschuss bellte träge vom hohen Dach herab und wirbelte Staubfontänen rings um sie auf. Aus der Nähe betrachtet, war das Gebäude tot und dunkel. Es bestand nicht aus Stein, sondern aus irgendeinem synthetischen Material oder einer Kunstfaser und war mit pechgeschwärzten Holzbrettern verkleidet. Criid sah an manchen Stellen den Grundstoff durchschimmern, wo Geschützfeuer das Holz abgesprengt hatte. Bei näherem Hinsehen sah es weniger nach einer Kunstfaser und mehr wie Knochen oder versteinertes Gewebe aus. Aus der Nähe haftete ihm auch ein Geruch an. Es war ein warmer
Tiergeruch, leicht ranzig, leicht würzig. Er war nicht gänzlich unangenehm. Der Sergeant tauchte mit einem anderen Trupp hinter ihnen auf. »Weiter!«, grunzte er. »Es gibt keine Tür, Sergeant«, sagte Ganiel. Eine Rakete jaulte über sie hinweg und verursachte eine große Explosion hinter dem geborstenen Meerwall. Zwei Kampfflugzeuge – Thunderbolt, nahm Criid an – rasten im Tiefflug an den Geschützstellungen vorbei und weiter zu den nördlichen Abschnitten von K’ethdrac’att Shet Magir. Die Stadtlandschaft war erfüllt von Tausenden Rauchsäulen wie Bäume in einem Waldgebiet. Sobile kam mit einem weiteren Trupp. Er hatte den Prediger irgendwo gefunden. Der Mann, weder fit noch gesund, japste, während er die Worte der Gnade und Segnung für einen Verwundeten sprach. Carvels Trupp schlich zum Ostende der Geschützstellung. Die Männer waren vielleicht eine halbe Minute unterwegs, als ein knisternder Krach ertönte, der die Luft zerfetzte wie trockenes Papier, und es hinter der Ecke, wo sie verschwunden waren, grell aufblitzte. Kexie beorderte Ganiels Trupp nach vorn, um der Sache auf den Grund zu gehen. Sie hatten keinen Helmkom. Entweder waren keine übrig gewesen, nachdem AT 137 so plötzlich aktiven Status erlangt hatte, oder so ein hinterletzter Haufen wie AT 137 verdiente derart kostspielige Luxusgüter nicht. Sie hatten einen Kom-Offizier mit einem Feldgerät in der Einheit, einen Kolstec namens Moyer, aber Criid hatte ihn seit dem Einsteigen nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich war er mit Major Brundel geflogen und abgeschossen worden. Indem sie sich mit nervösen Zuckungen ihrer Lasergewehre gegenseitig Deckung gaben, erreichten Ganiel, Criid und Trask die Ostecke. Wanzenohr und Vierbüchse waren dicht hinter ihnen. Hinter der Ecke führte eine breite Zufahrt zu einem Verladerolltor auf der Rückseite der Stellungen, dem Zugang für die schweren Karren der Munitionszüge, die von den Silos kamen. Im Zuge der Angriffe der ersten Phase war die ganze Gegend ausgiebig getroffen worden. Das Flottenbombardement hatte die Geschützstellungen verfehlt, aber eine Reihe leerer Bunker dahinter fachmännisch dem Erdboden gleichgemacht. Die Zufahrt war mit den Trümmern der Bunker übersät. Es war still dort, nur ein wenig
dahintreibender Rauch. Die schweren Waffen in den Stellungen schwiegen bereits seit ein paar Minuten. »Wo ist Carvel?«, fragte Ganiel. Ein Teil der Betonzufahrt rauchte besonders heftig. Der Rauch stieg von einer breiten, teerigen Trümmerpfütze auf. Es waren organische Trümmer. Criid roch verbranntes Fleisch und wich einen Schritt zurück. »Carvel …«, würgte er. Die Überreste der fünf Männer lagen in dem dunklen, rauchenden Brandfleck. Sie waren eingeäschert worden, obwohl einige Teile von ihnen noch identifizierbar waren: Schädel, Brustkörbe, Schenkelknochen, durch die Hitze verbogene Gewehre. Die Knochen waren schwarz-nass von klebrigem Fleisch und gekochtem Blut. »Zurück«, sagte Ganiel. »Gute Idee«, murmelte Kexie. Er war ihnen gefolgt, um selbst einen Blick darauf zu werfen. »Ech, nehmen Sie die Beine in die Hand.« Er sagte etwas von einem Panzer, das Criid wegen des plötzlichen Tosens eines Flammenwerfers hinter ihnen nicht richtig hörte, und dann versengte ihm eine Hitzewelle den Nacken, als er loslief. Den Panzer sah er nicht, aber er hörte und roch ihn – das tiefe knirschende Dröhnen des Motors, das Rumpeln der Ketten, der Gestank des Treibstoffs. Kexie zufolge hatte er in den Ruinen der Bunker auf der Lauer gelegen und die Zufahrt mit seinem Flammenwerfer bewacht. Sie liefen vor ihm weg. Derart aufgescheucht, verließ er sein Versteck und folgte ihnen. »Zurück. Zurück. Sucht euch Deckung!«, rief Kexie, als sie wieder bei den anderen waren. »Ein Bandit, direkt hinter uns!« Sobile rannte sofort los. Alle rannten sofort los, auseinander, aber Sobile rannte auf eine Art, die Criid verriet, dass ihn seine Pflicht und Verantwortung an dieser Stelle nicht mehr interessierten und er ganz gewiss sein Fell nicht länger zu Markte tragen wollte, um den Zusammenhalt der Einheit zu bewahren oder das idiotische Leben der Ausschusssoldaten, mit denen er geschlagen war.
Criid hörte wieder das Tosen des Flammenwerfers, als der Panzer um die Ecke bog. Er sah sich nach Deckung um, sah einen Granattrichter im Beton und warf sich hinein. Er war schon einmal hier gewesen. In dem öligen Sickerwasser am Grund des Trichters lag Brockens Gewehr. VIII Er blieb scheinbar ein oder zwei Jahre in dem Trichter. Er hielt sich die Ohren zu, aber das änderte nichts daran, dass das Rumpeln der Ketten und das Dröhnen des Motors immer lauter wurden. Das Tosen des Flammenwerfers klang wie das nasse Fauchen eines Ogers. Es wurde geschrien. Es wurde viel geschrien. Einige Schreie dauerten länger, als ein Schrei anständigerweise dauern sollte. Er versuchte all das zu verdrängen. Er sah lediglich den blutroten Himmel über sich, mit wehendem Rauch überzogen, und das gelegentliche Nachleuchten eines grellen Blitzes. Er rechnete jeden Moment damit, dass der schwarze, ölige Bauch des Panzers über ihn wegrollen und ihn verdecken würde. Zusammengerollt wie ein ungeborenes Kind, fühlte sich Dalin Criid sterblicher als je zuvor in seinem Leben. All die selbsttäuschende Vitalität der Jugend wich aus ihm und ließ lediglich einen Bodensatz aus Schmerzen zurück. Seine Bedürfnisse reduzierten sich auf eine würdelose, simple Stufe und wurden zu den Dingen, die erwachsene Männer in der Messe oder in der Bar als Schwäche verspotteten und die Anlass zu extremer Scham waren. In einem Loch im Boden, im Weg eines Panzers zum Beispiel. In diesem Moment wusste er mit erstaunlicher Klarheit, dass dies früher oder später jedem widerfuhr, der Imperialer Gardist wurde. Es war der Augenblick, in dem sich jemand der Tatsache stellen musste, dass alles, was er geprahlt hatte, alles, was er angeblich wollte – Kampf, Ruhm, Narben, Reputation –, ohne Ausnahme Chimären waren und ohne Wert, und nur das wirklich zählte, was vorher als schwach und weich und feige abgetan worden war. Er wollte, dass der Lärm aufhörte. Er wollte auch woanders sein, aber der Lärm war das Wesentliche. Er war beständig und erbarmungslos, und er konnte ihn einfach nicht mehr ertragen. Er
wollte, dass die Schmerzen in seinem Gesicht und seiner Schulter aufhörten. Er wollte seine Ma sehen. Er wollte wieder elf Jahre alt sein und mit seiner kleinen Schwester in den Deckgossen eines Truppentransporters mit Papierschiffchen spielen. In diesem Loch im Boden, das so sehr an ein Grab erinnerte, bekam all das einen jähen, nachhaltigen Wert, der weit über Trost und Flucht hinausging. Da war noch etwas, wonach er sich sehnte, etwas, das er nicht richtig fassen konnte. Ein Gesicht vielleicht. Er begriff, dass er die universelle Offenbarung des Soldaten erlebte, aber er wusste nicht, was danach käme. War es vorübergehend? Eine Stimmung, die kam und ging, oder war sein Herz jetzt ausgehöhlt, sein Mut dauerhaft ausgehöhlt? War sein Kampfgeist erloschen? War er als Soldat unbrauchbar? Was tatsächlich kam, war eine Detonation, heftig und in den Eingeweiden spürbar, die klang, als seien zwei Ambosse mit Überschallgeschwindigkeit zusammengestoßen. Der metallische Aufprall schmerzte körperlich, erschütterte seine Knochen und zog seine Nebenhöhlen in Mitleidenschaft. Dann gab es eine zweite Explosion, voller und kehliger vom Geräusch tosender Flammen als die erste. Criid hörte die gedämpfte Stimme des Sergeanten, als komme sie von weiter weg. »137! 137, formieren! Formieren!« Die Pfeife blies. Er hob sich aus dem Granattrichter und sah Gestalten durch ein dichtes Hitzeflimmern rennen. Das Flimmern war die Folge eines zwanzig Meter entfernten Brandherds, eines großen Klumpens aus schwarzem Material von der Größe eines Freudenfeuers, auf dem orange Flammen tanzten. Criid kletterte aus dem Loch. Er warf einen Blick auf Brockens Gewehr und fragte sich, ob er es mitnehmen sollte. Am Ende entschied er sich, das Magazin auszuwerfen und nur das mitzunehmen. Er ging durch die wallende Hitze zu der sich neu formierenden Einheit. Leichen lagen am Boden, verkohlt und rauchend. Eine war der Soldat, dem Vierbüchse den Namen Muffe gegeben hatte. Die extreme Hitze hatte seine ganze Gestalt zusammenschrumpeln lassen, aber Criid sah, dass es Muffe war, weil sein Gesicht rätselhafterweise vollkommen unversehrt geblieben war,
als habe man einer pechschwarzen Puppe eine Maske aufgebunden. Kexie zog die Einheit zusammen. Von Sobile war nichts zu sehen, das einzig Anständige, was sich seit ihrer Ankunft ereignet hatte. »Was ist mit dem Panzer passiert?«, fragte Criid Ziegelmacher. Der Doppler deutete mit einem Kopfnicken auf das große Freudenfeuer. »Das ist der Panzer?« Anscheinend war er es. Niemand wusste genau, was den Panzer so zugerichtet hatte, aber die beste Vermutung lautete, »ein verirrter Schuss von einem Riesending ein ganzes Stück weit weg«. Der Sergeant meinte: »Solche Scheiße passiert schon mal auf dem Schlachtfeld«. Ein paar Minuten später tauchte Kommissar Sobile lebend wieder auf, also passierte anscheinend auch solche Scheiße schon mal auf dem Schlachtfeld. Er beschäftigte sich mit seiner Peitsche und riss damit zwei Soldaten neue Ausgänge, weil sie ihren Helm verloren hatten. Sie rückten nach Norden ab, die Linie der Stellungen entlang und zu einem gewaltigen Feuergefecht etwa einen Kilometer entfernt. Der Titan, mittlerweile längst verschwunden, hatte auf seinem Weg daran vorbei die Geschützstellungen in Schutt und Asche gelegt. Die meisten brannten und waren nach oben geborsten. Manche waren explodiert und sonderten eine dunkle, klebrige Flüssigkeit ab, die sich in großen Teichen rings um ihre Fundamente sammelte. Es war, als bluteten die Bauten. Kexie warnte sie, dem Zeug nicht zu nahe zu kommen, aber dazu verspürte ohnehin niemand auch nur die geringste Neigung, und es wollte auch niemand einen Blick in die Ruinen werfen. Sie erreichten eine Hauptstraße, die geradewegs nach Osten durch die düstere Stadt führte. Ein Strom aus Imperiumspanzern und leichten Panzerfahrzeugen floss landeinwärts und den kürbisförmigen Supertürmen in K’ethdracs Herzen entgegen. V-förmige Kampfflugzeug-Formationen flogen an der Linie der Panzer entlang Begleitschutz. Auf den Stadtbezirk auf der anderen Seite der Hauptstraße – eine Gegend mit dunklen Türmen und sonderbaren, in Hauben auslaufenden Gebäuden in der Farbe von Wolfram –, wurde durch Punktbeschuss aus der Umlaufbahn bis zur Auslöschung eingeknüppelt. Vom grellen Glanz der Lichtfäden tränten
einem die Augen, da sie durch die fleckige Wolkendecke herabzuckten und die Habitatsblöcke mit markerschütternden Einschlägen in wirbelnde Aschestürme verwandelten. Hinter ihnen stapften mehr Titanen durch die brennende Stadtlandschaft, die von der Hüfte aufwärts oberhalb der Dächer zu sehen waren, als wateten sie durch einen Fluss. Sie waren enorme Silhouetten vor dem orangen Zwielicht, deren Hände strahlend im Licht der Laserentladungen flackerten. Für Criid sah es aus, als stehe die ganze Stadt in Flammen. Der Himmel füllte sich mit einer weiteren Welle Landungsboote. Auf dem trümmerübersäten Asphalt begegnete AT 137 einem rasch vorrückenden Strom Gardisten, einem Kolstec-Regiment, das im Kielwasser des Panzervorstoßes landeinwärts marschierte. Es waren Hunderte, alles reguläre Truppen, die sich rasch und eilig mit geübter Präzision und starren Gesichtern bewegten. Kexie und Sobile redeten kurz mit ihrem weißhaarigen Befehlshaber, der ihnen etwas auf einer Handkarte zeigte. »Hören Sie zu!«, rief Sobile bei ihrer Rückkehr. »Hören Sie Ihrem Sergeanten zu. Er spricht mit der Stimme des Imperators!« Criid war nicht ganz sicher, ob Ausbilder Kexie tatsächlich mit der Stimme des Imperators sprach. Dem Blick nach zu urteilen, den Kexie Sobile zuwarf, war auch Kexie nicht sonderlich überzeugt von der Idee. »Wir geben Unterstützung«, sagte Kexie gedehnt und so laut, dass er das Fabrikgerumpel der Panzer übertönte. »Der Feind ist in diesem Bezirk stark vertreten, also begleiten wir die Kolstecs, um ihn zu räumen. Wir marschieren jetzt truppweise. Achten Sie genau auf meine Signale und auch auf die Kolstec-Offiziere. Ich will keine scheißeweichen Schwachkopf-Fehler von euch Idioten erleben.« Der Sergeant hatte Sobiles allgemeine Bezeichnung für sie übernommen, die zwar wenig schmeichelhaft war, aber eine Stufe über »Skalps« lag, den niedrigsten der Niedrigen, den neusten der Neuen, nachdem ihnen der Munitorum-Barbier gerade frisch den Kopf geschoren hatte. Der Sergeant ließ einen Chronovergleich folgen, dann rückten sie ab. Criid war sicher, dass sein Chrono defekt war, weil mit seinem Zeitvergleich etwas nicht stimmte, aber es gab keine Pause, um die Einstellung zu ändern. Auf halbem Weg durch die nächste Querstraße schlug ihnen Gewehrfeuer aus einem hohen
grauen Gebäude entgegen, das bereits ausgiebig brannte. Flammen loderten aus den Fensterschlitzen der oberen Etagen. Mehrere Kanonen schossen über die Straße und fällten die vordersten Reihen der Kolstecs. Alle hasteten in Deckung. Das Feuer wurde erwidert, aber zu viele Kolstecs befanden sich im Freien und wurden einfach niedergemäht wie Getreidehalme. Criid ging in Deckung, während der Straßenkampf jetzt mit voller Wucht entbrannte. Die Gardetrupps eröffneten das Feuer mit allem, was sie hatten, und der verborgene Feind schien daraufhin seine Feuergeschwindigkeit zu erhöhen, um mitzuhalten. Criid gab den einen oder anderen Schuss ab, wurde aber durch eine Reihe ziemlich naher Einschläge tiefer in Deckung gezwungen, die tiefe Löcher in die Steinmauer über ihm schlugen. Er spürte, wie die Furcht in ihm wieder zunahm, das eingesperrte, festgenagelte Grauen, das ihn im Granattrichter gefunden hatte. Und an dieser Stelle begann der Leiberregen. Es war so grauenhaft, so unwirklich, dass er es zuerst gar nicht glauben konnte. Lebendige Soldaten in voller Ausrüstung fielen vom Himmel und schlugen auf die Straße oder prallten von den Gebäudefassaden ab. Jeder Aufprall war schockierend solide: ein strampelnder, lebendiger Mensch schlug auf Steinplatten und verwandelte sich augenblicklich in eine verspritzte, blutige Masse, die in zerrissenes Drillich gewickelt war. Er hörte Schreie, die alle abrupt endeten. Erst als Criid begriff, was er erlebte, glaubte er es. Ein hereinkommendes Landungsboot war von feindlichem Feuer getroffen worden und hatte einen Teil seines Rumpfs verloren. Während das Boot sein Schwanengeheul anstimmte und im Sturzflug abwärts raste, wurden die Truppen durch den Sog nach draußen gerissen und stürzten auf die Straßen. Criid sah das getroffene Landungsboot noch einen Moment, bevor es einen Turm traf und explodierte. Einige der herausfallenden Männer schienen freiwillig zu springen. Die Leiber regneten nieder und schlugen wie Bündel reifer Früchte auf. Mehrere Kolstecs am Boden wurden von fallenden Leibern getroffen und erschlagen. Es roch grausam nach rohem Fleisch und Exkrementen. Ein blutiger Nebel stieg als Dampf von der Straße auf. Er ließ Criid würgen.
Er bückte sich tief und rieb sich das Gesicht, bis er den stechenden Schmerz der Peitschenstrieme am Kiefer spürte. Er murmelte wieder das Ich Flehe und warf einen Blick auf seinen Chrono. Er ging doch nicht falsch. Der Zeitvergleich hatte doch gestimmt. Sein Verstand weigerte sich, es zu glauben, aber er war erst seit einer Stunde Gardist. Es passte nicht zusammen. Es kam ihm vor, als seien Tage – schlimme, barbarische Tage – verstrichen, aber noch vor einer Stunde war er sauber und ordentlich gewesen und mit dem Rest von AT 137 mit dem Mannschaftsaufzug durch das zwei Meter dicke Trägerdeck gefahren, während die Militärkapellen spielten und die Triebwerke der Landungsboote gezündet wurden. Eine Stunde. Eine Stunde Wahnsinn und Blut. Eine Stunde, extremer und brutaler als alle anderen Stunden seines Lebens zusammengenommen. Und er hatte noch nicht einmal den Feind gesehen.
Feindesland I Sogar aus der Ferne konnten sie die Bluthunde in den Zwingern der Stadt bellen hören. Die Hunde rochen, dass sie kamen. Mit ihrem Gekläff ließen sie das fahle Tageslicht schaudern. »Hunde«, bemerkte Ludd, der durch das trockene Gras des Marschlandes marschierte. »Große Hunde«, korrigierte Varl mit unglücklicher Miene. »Verdammt große Hunde.« Ludd wandte sich an Gaunt. »Haben sie schon unsere Witterung, Herr Kommissar?« »Oh, ich bin sicher, dass sie die haben«, sagte Gaunt, »aber es ist mehr als das.« Er nickte zum Horizont. Weit weg, auf der anderen Seite der welligen Marschen, war das Beben von Licht im Westen, ein flatternder Widerschein eines strahlenden Glanzes, heller und weißer als das fahle Tageslicht und der bewölkte Himmel. Es war, als werde ein gigantischer Spiegel gerade hinter
dem Horizont geschwenkt, um das Sonnenlicht einzufangen und zu reflektieren. Es kam von der Küste, vierhundert Kilometer entfernt. Es kam von einem Ort, den die Flottenaufklärung K’ethdrac’att Shet Magir nannte, eines der achtzehn Primärziele auf Gereon. »Verdammt höllisches Spektakel«, murmelte Varl mit einem Blick auf die Lichterschau. Cantible gehörte nicht zu den achtzehn Primärzielen. Es gehörte nicht einmal zu den sechshundertdreißig Sekundärzielen oder zu einem der fünftausendundsiebzehn Ziele der zweiten Phase. Auf den komplexen logistischen Diagrammen des Oberkommandos tauchte es auf einer Liste namens Tertiär/Späh auf. Leichte Späh, Aufklärungs- und Einsickerregimenter wurden abseits der Hauptangriffe abgesetzt, um Brückenköpfe zu sichern und Vormarschstraßen zu räumen. Cantible, das kommunale und verwaltungstechnische Zentrum für eine Agrarprovinz namens Lowensa, verteidigte einen der primären West-Ost-Korridore zwischen K’ethdrac und dem Kernland von Lectica. Aber selbst das war nicht der Hauptgrund, warum man sie dorthin geschickt hatte. Gaunt warf einen Blick nach links und rechts. Das gesamte Erste Tanith rückte vom Landeplatz höher im Moor breit gefächert durch die welligen Marschen vor. Unterstützende leichte Panzer folgten weiter südlich einem Weg querfeldein und würden sich später mit ihnen vereinigen. Voraus lagen Wälder, dann weite Abschnitte mit Ackerland und dann die eigentliche Stadt. Gaunt konnte den Stummelfinger der Rathausspitze über den Baumkronen sehen. Er hatte immer geschworen, er werde zurückkehren. Er hatte immer geschworen, wiederzukommen und zu liefern, was der Widerstand und die Bevölkerung von Gereon vom ersten Tag an verdient hatten, seit dem allerersten Tag der Pein. Er hatte keine Ahnung, welcher Tag der Pein heute war, obwohl er eine Zahl knapp über zweitausend schätzte. Viel zu lange. Vielleicht viel zu spät. Gaunt hatte diesen Teil des Landes bei seinem letzten Aufenthalt nicht besucht, sodass er keinen direkten Vergleich anstellen konnte, aber es sah aus, als sei in der Zwischenzeit alles entsetzlich verfallen. Alles war irgendwie verdorben, besudelt, kontami-
niert. Der Himmel, der Boden, die Vegetation, das Wetter. Der schädliche Einfluss der Besatzer durchdrang alles. In diesem Teil Gereons war Vorfrühling, aber es war heiß und schwül. Das Marschlandgras war gelb und vertrocknet. Ein mattes, beharrliches Knacken lag in der Luft, als knistere die Sonne. Das Strahlungsniveau war hoch. Die Kom-Verbindungen waren unbeständig und voller Jaulen und Phantomstimmen. Die Wälder voraus sahen aus, als bestünden sie aus Tamarisken und Talixbäumen, aber sie waren falsch und kränklich gewachsen, und die Äste waren krumm und deformiert. Das Laub wirkte herbstlich in seinen Gelb- und Rot-Schattierungen. Die Jahreszeiten der Welt waren völlig aus den Fugen geraten. Das Ackerland war ebenfalls verdorben. Widerliche schwarze Feldfrüchte, das Produkt intensiver Xenokultivierung, bedeckte die andere Seite des Tals. Gaunt konnte die reifenden Früchte riechen. Andere Felder, ausgelaugt und durch übermäßigen Einsatz von Chemikalien unfruchtbar geworden, lagen verbrannt und braun in der Sonne. Rostig-rosa Nitratkrusten bildeten die Ränder dieses vergifteten Ackerlandes. Den brachen Feldern und dem toten Land haftete außerdem ein Gestank an. »Unbebaubar«, murmelte Cirk, während sie auf die Felder starrte. Sie hatte sich fest in ihren schweren Flakmantel gehüllt. »Sie bluten uns aus und verwandeln alles in Unbebau.« Gaunt nickte, obwohl er sich immer noch nicht wohl dabei fühlte, sie bei sich zu haben. Er hatte zu Faragut gesagt, er solle »Spezialistin« Cirk für die Reserve einteilen, aber sowohl sie als auch Faragut hatten sich sofort nach der Landung an die vorderste Front begeben. »Wir werden alles verbrennen müssen«, sagte Gaunt zu Rawne. »Das Ackerland?« »Die Ernte. Alles.« »Brostin wird sich freuen. Wahrscheinlich wollen Sie das angehen, nachdem wir die Stadt genommen haben? Die brennenden Felder würden sonst wohl unsere Anwesenheit verraten.« Gaunt deutete in die Brise, als wolle er die Geräusche festhalten. »Hören Sie sich die Hunde an, Eli. Sie wissen, dass wir hier sind.« II
Das, dachte Caffran, ist also endlich das berühmte Gereon. Schauplatz des einen großen Unternehmens der Geister, an dem die meisten Geister gar nicht teilgenommen hatten. Natürlich musste es schwierig gewesen sein, sich hier einzugraben, sich die ganze Zeit mit dem Widerstand auf einer besetzten Welt zu verstecken. Caffran zweifelte nicht daran. Vielleicht redeten Varl, Rawne und die anderen deswegen so davon, als sei es eine exklusive Prüfung oder Initiation gewesen, die sie durchgemacht hatten und niemand sonst geschafft hatte. Die Mitglieder der Sturmmission gaben sich immer noch ein wenig unnahbar. Nein, Caffran bezweifelte nicht, dass es eine schwierige Kiste gewesen war, aber auch andere Dinge im Kosmos waren schwierig. Die ganze Zeit auf Tona zu verzichten, zum Beispiel, und auf Freunde wie Bonin, Varl und Larks. Sich vorzustellen, dass sie alle tot waren und nicht mehr zurückkehren würden. Sich vorzustellen, dass Gaunt tot war. Das Oberkommando hatte die Geister deswegen auseinandergerissen und nur wieder zusammengesetzt, als er zurückgekehrt war wie ein … »Geist«, sagte Caffran leise. Das bewaldete Land rings um ihn war still. Trockene Blätter raschelten in einer leichten Brise, und kaltes, wässriges Sonnenlicht fiel durch das Blätterdach. Er hielt sein Lasergewehr vor der Brust und blieb stehen. In der Ferne konnte er die brennenden Felder hören und riechen. Da sich die Windrichtung alle paar Minuten änderte, wehten mittlerweile auch Asche und Ruß durch die Bäume. Es stank. Irgendetwas Übles verbrannte. Die vorrückenden Truppen waren beinahe still. Der Umfang der Infanterietruppen, die sich Cantible näherten, ließ sich unmöglich schätzen. Dieser Ort musste sich für vieles verantworten. Die Lage hatte sich verändert, nachdem Gaunt und die anderen zum ersten Mal hierher gekommen waren, und sie hatte sich noch einmal nach ihrer Rückkehr verändert. Es lag nicht nur an dem erzwungenen Zustrom der Belladoner. Das waren gute Männer, und sie wuchsen so gut zusammen wie die Tanither und die Verghastiten nach dem Makropolkrieg. Tatsächlich vermisste Caffran Oberst Wilder und bedauerte seinen Verlust auf Ancreon Sextus. Die Unterschiede, die wirklich zählten, waren nicht die großen Dinge. Es waren die Kleinigkeiten. Es waren die Monate, die es
gedauert hatte, über Gaunts Tod hinwegzukommen, nur um herauszufinden, dass er wieder da war. Es war wie Kummer rückwärts. Caffran lehnte es beinahe ab, und er war nicht der Einzige. Tona und er standen sich seit Gereon nicht mehr so nahe. In letzter Zeit war das Verhältnis etwas besser geworden, aber es war trotzdem noch nicht wie früher. Sie war zurückgezogen, verändert. Zuerst hatte er sich gefragt, ob es eine Art Chaos-Makel sei, aber das war es nicht. Sie hatte sich einfach verändert. Sie hatte Dinge gesehen, die er nicht gesehen hatte. Er gehörte nicht mehr zu jenen, mit denen sie reden konnte, jedenfalls nicht über die Dinge, die ihr wichtig waren. Nun, das würde sich ändern, und zwar von jetzt an. Er würde selbst eine Kostprobe vom berüchtigten Gereon nehmen. Er würde es kennenlernen, wie sie es kannte, und das würde ihm dabei helfen, den Schatten von ihnen beiden zu nehmen. Sie würden Gereon gemeinsam austreiben und wieder dorthin zurückkehren, wo sie einmal gewesen waren. Caffran wusste, dass andere dasselbe erlebt hatten. Varl und Kolea waren schon ewig die dicksten Freunde gewesen, und Varl war eigentlich der größte Quatschkopf der Kompanie, aber nach Varls Rückkehr war es nicht einmal Kolea gelungen, ihn zu bewegen, über Gereon zu reden. Geister marschierten an ihm vorbei. Caffran ging auf, dass er die ganze Truppe aufhielt. Er beschleunigte seinen Schritt durch das scheckige Sonnenlicht. »Alles klar, Soldat?«, fragte Hark im Vorbeigehen. »Ja, Herr Kommissar«, sagte Caffran, als er sich wieder einordnete. Hark betrachtete ihn beinahe mitfühlend. »Ich weiß, woran Sie denken«, sagte er. Caffran blinzelte. Wusste er das? Über Tona und Gereon und seine ablehnenden Gefühle gegenüber Gaunt und … »Er wird schon durchkommen«, nickte Hark und ging weiter. Caffran verfluchte sich, schuldbewusst und still. Hark hatte sich geirrt, weil Caffran gedankenverloren und ganz und gar nicht bei der Sache war. Ganz und gar nicht. Dalin. Feth!
Fünfzig Meter tiefer im Wald blieb Eszrah ut Nach stehen, setzte langsam seine Sonnenbrille ab und blinzelte ins Licht. Er berührte mit den Fingern der linken Hand die Rinde eines Baums. Gaunt hatte ihm gesagt, dies sei Gereon, dass sie nach Gereon zurückkehren würden, aber dies war nicht Gereon. Es war eine tote Welt. Er konnte den Todesgestank darin riechen, so sicher wie er den Todesgestank eines Todkranken riechen konnte. Wenn dies Gereon war … Eszrah setzte seine Sonnenbrille wieder auf und lud seinen Regenbagen. III »Rerval?«, fragte Gaunt leise. Koleas Adjutant lauschte seinem Kom-Gerät noch einen Moment länger und legte dann den Kopfhörer beiseite. »Peitschenschnur meldet, dass sie in zehn Minuten in Stellung sind, Herr Kommissar«, sagte er. »Und wenn sie sagen, in Stellung, können wir bestätigen, dass wir beide denselben Ort meinen?« »Ich überprüfe jetzt ihre Koordinaten«, sagte Rerval. »In Ordnung«, nickte Gaunt. »Bel?« Ganz in der Nähe, sein Kom-Gerät an einen knorrigen Baumstamm gelehnt, justierte Gaunts eigener Adjutant Beltayn behutsam die Wählscheibe. Zusätzlich mit einer klobigen Zusatzbatterie und einem S-förmigen Niederfrequenzsender ausgestattet, war sein Kom-Gerät entschieden ungewöhnlich. »Beltayn?« Beltayn schüttelte den Kopf. »Nichts, Herr Kommissar.« »Immer noch nichts?« »Ich habe es mit Tagstern und Mottenlampe versucht. Nichts.« »Versuchen Sie es weiter, bitte. Bleiben Sie hier und versuchen Sie es weiter.« Beltayn nickte. Gaunt winkte Hauptmann Meryn von der E-Kompanie zu sich. »Sie kümmern sich um ihn, Meryn«, sagte er. »Postieren Sie eine Wache um ihn. Ständig sechs Mann.« »Zu Befehl«, sagte Meryn.
Gaunt drehte sich um und ging ein paar Schritte zum Rand der Lichtung. Baskevyl reichte ihm seinen Feldstecher. »Es könnte alle möglichen Gründe haben, warum sie nicht senden«, sagte Baskevyl. »Ich weiß«, sagte Gaunt, während er den Feldstecher über die Stadt wandern ließ. »Und nicht nur schlechte«, fuhr Baskevyl fort. »Stromausfall. Kom-Ausfall. Atmosphärische …« »Ich weiß. Wir empfangen sie noch früh genug. Sind wir so weit?« Baskevyl nickte. »Ich habe Bestätigungen von Rawne, Kolea, Daur und Kolosim. Varaine, Kamori, Domor und Obel sind auf den Hängen. Arcudas Haufen kümmert sich um die Furt.« »Mkoll?« »Wann war Mkoll schon mal nicht in Stellung?« »Ein gutes Argument.« Der Himmel südlich von ihnen war ein Rauchnebel, der von den brennenden Feldern aufstieg. Die Stadt, eine ausgedehnte Ansammlung grau-grüner Klötze und Türme hinter einer Mauer auf der Hügelkuppe, war ruhig. Die Hunde waren verstummt. Ludd und Hark kamen durch den Wald, gingen zu Gaunt und Baskevyl und stellten sich zu ihnen. »Alles bereit?«, fragte Hark ruhig. »Peitschenschnur bestätigt, ist in Stellung«, rief Rerval. Gaunt spitzte die Lippen. Peitschenschnur war das operative Rufzeichen der leichten Panzer des Dev Hetra, die sie unterstützten. »Sagen Sie ihnen, sie sollen ihre Geschütze laden und in Bereitschaft bleiben. Sie schießen nicht ohne einen direkten Befehl von mir.« »Verstanden, Herr Kommissar.« »Sorgen Sie dafür, dass sie es auch verstehen.« »Peitschenschnur«, sann Hark. »Wissen Sie, Ludd, mancherorts ist es immer noch üblich, dass Kommissare eine Peitsche tragen.« »Zum Zwecke der Aufmunterung, Herr Kommissar?«, fragte Ludd. »Natürlich. Welchen Zweck sollte sie sonst haben?« Ludd zuckte die Achseln. »Spirituelle Selbstkasteiung?«, schlug er vor.
Hark schnaufte. »Sie haben viel zu viel Zeit zum Nachdenken, Ludd.« Gaunt schaute sie beide an. »Wenn Sie nichts dagegen haben, kann ich jetzt den Angriffsbefehl geben?« »Selbstverständlich. Verzeihung«, sagte Hark. »Ich habe nur den Horizont des Jungen erweitert. Ein Kommissar mit einer Peitsche …« »Sollte sich in meiner Gegenwart besser nicht blicken lassen. Wir leben nicht mehr im Dunklen Zeitalter.« »Ach«, lächelte Hark vergnügt, »ich dachte eigentlich schon.« Gaunt schaltete sein Helmkom ein. »Mkoll?« »Zu Diensten.« »Es geht los.« »Sind unterwegs.« Gaunt drehte sich um und zog sein Energieschwert. Mehr als dessen Aktivierung brauchte Baskevyl nicht als Signal. Er zeigte auf Rerval, der sofort den Angriffsbefehl sendete. Überall im Gestrüpp und Gebüsch vor dem Waldrand erhoben sich die ersten Reihen der Geister mit der Waffe im Anschlag und eilten geduckt der Stadt entgegen. IV Die geisterhaftesten der Geister schmolzen förmlich durch das Sonnenlicht zur Basis der Stadtmauer. Sie verursachten kein Geräusch, und ihre Zeichensprache war so verstohlen, dass sogar ihre Hände flüsterten. Ohne Hast oder Eile schritt Mkoll, der Meister der Späher, von einem Schatten zum anderen und floss dabei förmlich von einem dunklen Fleck zum nächsten. Er hatte die Stadtmauer gut im Blick. Ein Wachposten, zwei Wachen in Sicht. Er hob eine Hand, zuckte mit den Fingern und gab die Information weiter. Bonin hielt sich fünf Meter links von ihm. Ihre Fähigkeiten waren identisch, aber ihre Methoden der Lautlosigkeit waren vollkommen verschieden. Es war ein eigenartiges Detail, das nur wahren Spähspezialisten auffallen würde, aber jeder tanithische Späher hatte seine eigene Art der lautlosen Bewegung. Mkoll floss wie eine Flüssigkeit, die durch die Abstufungen der Dunkel-
heit lief. Bonins Art war ein trockenes Dahintreiben, als ziehe ein Schatten mit der Sonne. Caober schien sich immer am Rande des Gesichtsfeldes zu befinden, immer da zu sein, bis zu dem Moment, in dem man hinschaute. Caober, ein Späher seit der Gründung, hatte die Besonderheit des Regiments zusammengehalten, während Mkoll, Bonin und Mkvenner das Gereon-Unternehmen ausführten. Er hatte seine Sache mehr als gut gemacht und mehrere Neulinge eingegliedert. Mkoll schuldete ihm eine Menge. Jajjo war einer dieser Neulinge, nach Aexe Cardinal zu den Spähern berufen, der erste Verghastit mit dieser Spezialisierung. Seine schwer erlernten Fähigkeiten waren industrieller und mechanischer als diejenigen der Tanithgeborenen. Er würde niemals deren instinktive Grazie haben, aber Jajjo bestand praktisch nur aus Konzentration. Es war, als bliebe er durch reine Willenskraft lautlos und unsichtbar. Die Hänge außerhalb der Stadtmauer sahen aus, als seien sie mit Gemüse- oder Schrebergärten bedeckt. Die Gärten waren mit Unkraut und Groxaugen-Gänseblümchen überwachsen. Ungeziefer huschte unter den trockenen Netzen aus Laub umher. Jajjo duckte sich unter ein zerbrochenes Tor und ging zwischen einer Reihe hölzerner Unterstände und einem überwachsenen Kultivator durch. Er hielt sich geduckt und zwanzig Meter rechts von Mkoll. Er machte weitere fünf Wachen auf dem Mauerstück über sich aus und gab Mkoll entsprechende Zeichen. Rechts von Jajjo war Gestrüpp und eine knochentrockene Koppel mit mumifizierten Viehkadavern. Hwlan, der sich wie Rauch bewegte, bezog Stellung am Tor und gab Feuerschutz, da Maggs und Leyr die Koppel zu einem holzigen Winterginsterstrauch durchquerten. Leyr war Tanither und bewegte sich so verstohlen wie langsam tauendes Eis. Wes Maggs war Belladoner, einer der besten Aufklärer des Einundachtzigsten. Extrem gut in allem, was er tat, hatte er die Regeln neu erlernen müssen, um mit den tanithischen Experten Schritt zu halten. Er hatte immer noch ein wenig Ehrfurcht vor Mkoll, und diese Hochachtung machte ihn manchmal blind für seine eigenen Fähigkeiten. Maggs war klein und breitschultrig und hatte eine Narbe, die sich von der Ecke des linken Auges vertikal nach unten zog. Außerhalb des Dienstes konnte sein Mundwerk durchaus dem von
Varl Konkurrenz machen. Auch er hatte seinen eigenen Stil. Er lautete »Gib dir alle Mühe, dich nicht sehen und umbringen zu lassen«. Er erreichte den Ginsterstrauch auf dem Bauch, wälzte sich in eine trockene Erdhöhlung um das vertrocknete Wurzelwerk und lugte hinaus. Klar, signalisierte er Leyr, der es weitergab. Maggs drehte sich in den Schultern, um seinen Blickwinkel zu verändern. Die Stadtmauer bestand aus Stein und war mit irgendwelchen Planken aus einem grau-grünen Material verkleidet. Zehn Meter weiter gab es eine Tür. Nicht das Haupttor oder überhaupt ein Tor, sondern eine Art Schleuse oder Sturmluk. Vielleicht ein Abwasserauslass. Zu viel zum Signalisieren. Er zeigte »Kleiner Zugang« und seine Position. Mkoll nickte es ab. Maggs begann den Spurt, sobald das Nicken kam. Eine Sekunde im Sonnenlicht, dann runter in den kühlen Schatten am Fuß der Mauer und eng an die kalten, stinkenden Bretter gepresst. Er schlich weiter. Die Stadt war entsetzlich still. Sie musste sich nach dem morgendlichen Angriff aus dem All im Alarmzustand befinden. Die Hunde hatten gejault, die Felder hatten gebrannt, aber die Stadt war still. Er erreichte die Tür. Es war eine hölzerne Luke, halb so groß wie ein Mensch und schlecht in die Verkleidung eingepasst. Sie war verriegelt und der Riegel mit einem alten Vorhängeschloss gesichert, aber das Holz war klamm und faserig. Maggs bearbeitete es mit seinem Kampfmesser und hebelte den Riegel von dem weichen Holz weg. Hinter ihm im Ginster sah Leyr den Wachposten kommen. Ein einzelner Feindsoldat in schmutziggrüner Kampfrüstung schlenderte durch das überwachsene Gelände an der Mauer und kontrollierte alle Gräben und Abflussrinnen. Leyr tippte an seinen Ohrstöpsel, und Maggs blickte auf und sah den Posten kommen. Für Maggs wäre das empfohlene Vorgehen in dieser Situation gewesen, sich klein zu machen und zu verstecken, wo er war, um Leyr den Posten von hinten nehmen zu lassen.
Maggs hatte andere Vorstellungen. Er tippte mit der Klinge seines Kampfmessers gegen den verrosteten Türriegel und erzeugte dadurch ein Klirren wie von einem kleinen Metallhammer. Was soll das denn, Maggs? Leyr blinzelte und machte sich für den Schuss bereit, überzeugt, ihn abgeben zu müssen. Der Posten hörte das Klirren und ging dem Geräusch sofort nach. Als er in den Graben vor der Tür stieg, kam Maggs gerade hoch und begegnete ihm in einer geschmeidigen Bewegung, an deren Ende er ihm seine Klinge durch den Hals bohrte. Maggs fing den Leichnam auf und zog ihn mit sich zurück in Deckung. Einen Augenblick später waren sie beide wieder außer Sicht. Maggs entfernte den Riegel und stieß sanft die Tür auf. Er musste den schlaffen Wachposten nun, da sie sich denselben Graben teilten, beständig aus dem Weg stemmen. Er lugte hindurch. Es war ein Flussüberlauf oder Kanalisationsabfluss, der unter der Mauer hindurch und in den Graben führte. Die Tür war einfach nur ein Deckel über einer viel kleineren Öffnung, eine Sickergrube unter dem Mauerfundament, die im weiteren Verlauf durch drei massive schmiedeeiserne Gitter gesperrt war. Auch ohne die Gitterstäbe war der Durchlass viel zu klein für einen Menschen, um hindurchzukriechen. Doch der Boden war ausgedörrt und trocken. Die Wandung war in den Monaten ohne Regen zusammengeschrumpft, wodurch sich der Durchlass zu einem staubigen vertrockneten Loch erweitert hatte, und hatte sich vom steinernen Mauerwerk gelöst wie krankes Zahnfleisch von einem Zahn. Maggs konnte mühelos hineingreifen und das nächste Eisengitter aus der Verankerung lösen. Er signalisierte Leyr: Sag Mkoll, wir sind drin. V Zehn weitere Minuten verstrichen. Auf Baskevyls Anweisung rückte die erste Welle Geister weiter zur Mauer vor, geduckt und unter Ausnutzung des spröden, toten Unterholzes als Deckung. Einer der Wachposten auf der Mauer bemerkte sie schließlich oder bemerkte zumindest Bewegung auf den Terrassen unterhalb der Mauer. Ein Schrei ertönte, und dann knatterte ein uralter Karabiner los und spie langsam und planlos Kugeln den Hang hinun-
ter. Die Geschosse fegten in das Gestrüpp und das trockene Laub und wirbelten papiertrockene Fetzen auf. Die Kugeln summten schrill, wenn sie durch die Vegetation rasten. Einen Moment später eröffnete eine zweite Kanone das Feuer, dann eine dritte. Laserwerfer knisterten von den Mauerplattformen herunter. Dann setzte das Springfeder-Tunk!-Tunk! Von Mörsern ein, die von den Plätzen hinter der Mauer ihre Granaten ausspien. Die Mörsergranaten kamen zu kurz und fielen in die Gärten, wo sie heiße, kiesige Fontänen aus Rauch und Erdreich aufspritzen ließen, jede mit einem feurigen Kern, der sich schließlich in Rauchwolken verwandelte, die hangabwärts trieben. Der Mörserbeschuss nahm zu. »Erlaubnis, das Feuer zu erwidern?«, fragte Baskevyl. »Erteilt«, sagte Gaunt. Die auf die Hänge unterhalb der Stadt ausgeschwärmten Geister schossen. Laserstrahlen prasselten gegen den Mauerrand. Die Entfernung war zu weit, aber die Bemühungen waren mehr als ausreichend, die feindlichen Schützen verstummen zu lassen. Die Geschützmannschaften, die sich am Waldrand eingegraben hatten, eröffneten ebenfalls das Feuer. Seena und Arilla, Surch und Loell, Belker und Finz, Melyr und Caill, Kanoniere und Lader. Ihre großkalibrigen Kanonen begannen mit ihrem tukka-tukka-tukka und ratterten wie riesige Nähmaschinen. Ihr schwerer Beschuss schmückte das Haupttor mit Tausenden kleiner Rauchwölkchen. »Machen Sie es persönlich«, gab Gaunt über Kom durch, indem er sich in Bewegung setzte. Die Scharfschützen des Regiments hatten auf dieses Signal gewartet. Alle lagen in Stellung und hatten bereits ein Ziel ausgewählt. Jessi Banda beobachtete die Köpfe der feindlichen Posten auf der Mauer durch das Visier ihres Präzisionsgewehrs. »Wie Blechdosen auf einem Stiel«, murmelte sie, als sie einen aufs Korn nahm. Der Kopf zerplatzte in einer roten Wolke. Banda blinzelte, um sicherzugehen, dass sie richtig gesehen hatte. Ganz in der Nähe schaute Nessa Bourah von ihrem Gewehr auf. »Wie Blechdosen auf einem Stiel«, grinste sie. Sie sprach die Worte mit der leicht nasalen Tonlosigkeit des Tauben aus. Die Scharfschützen sorgten für ständigen Beschuss und erwischten jeden, der so dumm war, sich auf der Mauer zu zeigen. Larkin gab die meisten Schüsse ab. Fünf Treffer in drei Minuten.
Eines seiner Ziele kippte nach vorn und blieb auf der Brustwehr liegen. Etwas Größeres explodierte hinter der Mauer, und die Mörser verstummten. Drinnen gingen die Späher ihrem Gewerbe nach. Hinter der Mauer war die alte Marktstadt verwahrlost und wie krank. Schmutz und Abfälle lagen auf den Straßen, und die Gebäude waren alle in miserablem Zustand, obwohl viele, wie die Stadtmauer, mit einem Flickwerk aus unangenehmen und nicht unmittelbar zu identifizierenden Materialien bestückt oder umgebaut worden waren. Es handelte sich um eine graugrüne Verkleidung, die ein Zwischending zwischen Flakbrettern und Blech zu sein schien, sowie um eigenartige harzähnliche Substanzen. Mauern waren mit Trägern und Stützen aus Eisen verstärkt worden, das zu rosten begonnen hatte, und viele Dächer waren eingestürzt. Öffentliche Statuen waren zerschmettert, und die Mauer wies stellenweise noch alte Einschusslöcher auf. Die Besatzer hatten die Stadt mit grellem Gekritzel in ihrer eigenen scheußlichen Schrift geschmückt, widerliche Graffitis, die den Geist verwirrten. Ein Geruch hing in der Luft, erstickend nah und widerlich, und menschliche Überreste – in der Hauptsache Knochen – lagen überall verstreut. Es war, als habe der Erzfeind die Stadt nicht übernommen und besetzt, sondern sich in ihr eingenistet. Die Späher arbeiteten sich von dem von Maggs entdeckten Einstieg weiter vor und machten sich an die Arbeit. Jajjo und Caober folgten dem Schatten durch eine Reihe Seitenstraßen, bis sie am Rand eines weiten kopfsteingepflasterten Platzes unter der Mauer anlangten, wo acht Mörser auf Flakbrett-Paletten aufgestellt waren. Hochgewachsene Diener des Chaos bemannten die Waffen, stinkende Kreaturen in grauer Schuppenrüstung, deren Münder und Nasen von den hohen Messingkragen ihrer Sprechkästen bedeckt waren. Die meisten hatten Implantate in die Augenhöhlen genäht. Einige bearbeiteten einen Trupp halb nackter, ausgemergelter Elendsgestalten – Haut, Knochen und Lumpen – mit Stöcken und Peitschen und zwangen sie so, Granaten von einem Vorratsstapel zu den Waffen zu bringen und diese zu laden. Die Elendsgestalten waren Gefangene, grotesk unterernährt und misshandelt, denen eine Stigma-Rune ins Gesicht gebrannt war. Caober bedeutete Jajjo, mit einer Schießeinlage die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und die Sklaven wegzuschaffen, wäh-
rend er mit Granaten anrückte, um die Mörser in die Luft zu jagen. Jajjo nickte und setzte sich in Bewegung. Er wich einem Eisengerüst aus und betrat den Platz. Ohne jedes Zögern fing er an zu schießen und gab mit seinem Lasergewehr Feuerstöße auf die Mörserbesatzungen ab. Zwei der gerüsteten Kreaturen fielen. Die anderen drehten sich um, sprangen auseinander und griffen nach ihren Laserwerfern. Jajjo gab noch ein paar Schüsse ab und holte noch einen von den Beinen. Die Sklaven, die auf halbem Weg zwischen Munitionsstapel und Waffen waren, blieben wie angewurzelt stehen und starrten den Geist einfach nur an. »Macht schon! Macht schon!«, rief Jajjo, während er sein Lasergewehr einhändig aus der Hüfte abfeuerte und mit der anderen Hand wild gestikulierte. »Hierher!« Keiner rührte sich. Sie glotzten nur, stumpfsinnig und mit leerem Blick. Einige hielten noch eine Mörsergranate in den Armen wie einen Säugling. Caober machte seine Granaten scharf und eilte zur anderen Seite. Es beunruhigte ihn, dass sich die Gefangenen nicht rührten. Sie befanden sich immer noch deutlich im Bereich der Sprengwirkung, den er mit seinen Granaten definieren würde. »Macht schon!«, brüllte Jajjo noch einmal. Mehr leere Blicke. Fluchend lief Jajjo auf sie zu und schoss dabei zwischen zweien von ihnen durch auf einen Chaos-Diener, der sich einen Laserwerfer gegriffen hatte. Graue Schuppen spritzten von der beschädigten Rüstung des Wesens, als Jajjos Laserstrahlen ihn durchbohrten und auf den Rücken schleuderten. »Macht schon. Bewegt euch!« Zwei andere Mitglieder der Geschützmannschaften hatten Waffen ergriffen und erwiderten das Feuer. Ein Werferschuss zuckte über Jajjos Kopf hinweg. Der andere, hastig abgegeben, traf einen der reglosen Sklaven in den Rücken. Der Mann, scheinbar ältlich, obwohl er durch die erlittenen Misshandlungen gnadenlos und vorzeitig gealtert sein mochte, fiel tot nach vorn. Die Mörsergranate, die er in den Armen gehalten hatte, löste sich und rollte scheppernd über die Pflastersteine. Die Sklaven blieben stehen. Sie eilten ihm nicht zu Hilfe, und sie rannten nicht furchterfüllt in Deckung. Sie drehten langsam
den Kopf und starrten den Leichnam einen Moment lang verständnislos an. Immer noch auf den Feind schießend, erreichte Jajjo sie. »Kommt endlich!«, rief er, indem er an widerstrebenden Armen und schlaffen Schultern zerrte. »Bewegung, um Gaks willen! Bewegt euch!« Aus dieser Nähe konnte er sie riechen. Der Gestank ließ ihn würgen. Sie waren unglaublich mit Dreck verkrustet. Er konnte die Läuse und Flöhe an ihnen sehen. Ihre Haut war wie Leinen und saß dünn und lose auf Knochengerüsten, da sämtliches Körperfett verschwunden war. »Bewegung!« Ein anderer Laserwerfer schoss der Frau, an der er zerrte, den Schädel weg. Ihr Körper hatte seinen verdeckt. Als sie wortlos fiel, hob Jajjo sein Lasergewehr an die Schulter, schaltete auf Dauerfeuer und ließ die Waffe über den Mörserstand und alle Feindwesen wandern, die er sehen konnte. Zwei wurden zurückgeschleudert und blieben liegen. Einer verdrehte sich seitlich und stieß mit dumpfem Klirren einen Mörser von seinem Stativ. Jajjo wich weiter schießend zurück. Es war keine Zeit mehr. Keine Zeit für Mitleid. »Tu es!«, brüllte er verzweifelt. Caober zog den Zündstreifen ab und warf das Bündel Granaten mitten zwischen die Geschütze. Er und Jajjo hechteten in Deckung. Als sie sich im wallenden Rauch erhoben, waren die Mörser nur noch Schrott. Die Sklaven lagen alle am Boden, von der Explosionswucht umgeworfen. »Ich w…«, begann Jajjo. Caober packte ihn und zerrte ihn zurück. Es hatte keinen Sinn nachzusehen, ob noch welche am Leben waren. Die Mühe würde ebenso vergeblich sein wie der Versuch zuvor, sie zu retten. Sie mussten in Bewegung bleiben. Es gab noch viel zu tun. Mkoll hörte und spürte die Explosion, die das Mörserfeuer verstummen ließ. Er war zwei Straßen von dem Platz entfernt und mit Hwlan zum Tor unterwegs. Er hatte damit gerechnet, innerhalb der Stadt auf mehr Widerstand zu stoßen. Der Ort war halb leer. Sie sahen ein paar feindliche Wachposten, die Gespenster in
den Schuppenrüstungen, die Mkoll bei seinem letzten Besuch auf der besetzten Welt Excubitoren zu nennen gelernt hatte, und gingen ihnen aus dem Weg. Die Excubitoren eilten zur Mauer, um sich dem Angriff von außen entgegenzustemmen, der fünf Minuten zuvor begonnen hatte. Es gab auch feindliche Soldaten, Männer in polierten grünen Schlachtrüstungen. Sie waren truppweise und im Laufschritt unterwegs und standen unter dem Befehl von Excubitoren oder Sirdar-Offizieren. Manche fuhren auf ramponierten Lastern oder schnaufenden Dampfmaschinen. Cantible mobilisierte seine Verteidigung, aber wo waren die Einwohner? Die meisten Häuser und kommerziellen Einrichtungen, an denen die Späher vorbeikamen, waren leer und verlassen. Mkoll kam der Gedanke, dass es vielleicht keine Einwohner gab, weil die Leute vielleicht verbraucht worden waren wie irgendein Rohstoff. Er hatte diesen Prozess halb beendet gesehen, als er den Planet zum ersten Mal wieder verlassen hatte. Die Besetzung hatte Gereons Rohstoffe allmählich ausgebeutet und verzehrt: Manufakturen, Mineralien, landwirtschaftliche Erzeugnisse, Wasser, Fleisch. Weite Landstriche waren in eine Xenokultur umgewandelt worden und produzierten genetisch veränderte oder warpverseuchte Feldfrüchte, die dem Boden sämtliche Nährstoffe entzogen. Die Feldfrüchte nährten die Besatzungstruppen, wurden aber in solchem Überfluss geerntet, dass sie abtransportiert werden konnten, um die gefräßigen Armeen des Archons zu füttern. Ein paar Jahre lang würde Gereon eine der Kornkammern des Erzfeinds in dieser Region sein, bis der Vorgang seine Fruchtbarkeit zerstört haben würde. Öl- und Metallreserven gingen denselben Weg. Mit seinen eigenen erstaunten Augen hatte Mkoll zwei Jehgenesh beobachtet, Warpbestien, die von den Besatzern absichtlich in Gereons Wasservorkommen freigesetzt worden waren. Diese … Dinger tranken Seen und Staubecken leer und schieden das Wasser dann durch den Warpraum auf entfernten trockenen Welten in der Domäne des Erzfeinds wieder aus. Er hatte dabei geholfen, beide zu töten. Fleisch war eine andere Ware. Den Teil von Gereons menschlicher Population, der sich nicht zum neuen Glauben hatte bekehren lassen und übergetreten war, hatte man zu Sklaven gemacht und aller Rechte und Würden beraubt. Andere waren den Fleischfabriken zugeführt worden, wo sie auseinandergeschnitten wur-
den, um den Feind mit einer Quelle für Ersatzteile und Transplantate zu versorgen. Die Toten, die Nutzlosen und die Unbrauchbaren wanderten in die Fleischöfen, die einen Großteil von Gereons verabscheuungswürdigen neuen Industrien mit Energie versorgten und den Himmel in der Abenddämmerung rötlich leuchten ließen. Letzten Endes warteten auf jeden die Öfen. In den langen Monaten und Tagen der Pein seit seinem letzten Besuch, ging Mkoll auf, war der Vorrat an menschlichen Rohstoffen ebenso wie alle anderen endlichen Rohstoffe langsam zur Neige gegangen. Gereon war der Erschöpfung nahe. Wie Gaunt befürchtet und Mkoll insgeheim anvertraut hatte, brachten sie die Befreiung viel zu spät. Mkoll und Hwlan huschten durch die ausgedörrten toten Hülsen von Wohnhäusern und Arbeitsstätten. Jeder Raum enthielt warme, abgestandene Luft und einen vergilbten Überzug der Vernachlässigung. Alles war verschrumpelt oder abgeblättert. Fensterglas, wo es noch existierte, hatte die Farbe von Amasec angenommen. Auf Wänden und Decken gediehen üppige Schimmelkolonien und giftige Pilze, die violett und fleckig waren. Auf jeder Fensterbank lagen ganze Haufen toter Schmeißfliegen wie Händevoll Kohlenstaub. Sie durchquerten ein grabmalartiges Gebäude, das früher einmal eine Metzgerei gewesen sein musste. In der Werkstatt waren die gefurchten Holztische dunkelbraun gefleckt, und an Eisenhaken, die langsam an ihren langen schwarzen Ketten schwangen, klebten noch Spuren getrockneten Fleisches. Hwlan erreichte die Hintertür und warf einen Blick nach draußen. Haupttor, signalisierte er, sechzig Meter. Mkoll nickte. Er nahm den Leinwandsack, den er über einer Schulter trug, und legte ihn auf einen der Hackklötze. Eine nach der anderen holte er die Granaten heraus, überprüfte jede und legte alle nebeneinander in einer Reihe aus. Zwanzig Stück, plus eine, wie Rawne es ausgedrückt hatte, »als Glücksbringer«. Major Rawne, der sich mit diesen Dingen dank einer von ihm selbst so bezeichneten vergeudeten Jugend bestens auskannte, hatte den Zünder angefertigt. Er hatte einen simplen Schalter, der durch Quecksilber in einer Pyknometerflasche betätigt wurde, einer Glasphiole so groß wie Mkolls kleiner Finger. Durch Aufprall oder einer Änderung der Orientierung in Bewegung gesetzt, wür-
de das Quecksilber durch die Phiole rinnen und die Verbindung herstellen. Mkoll band die Granaten zu einem Bündel zusammen, klebte den Zünder an und zwirbelte die Drähte zusammen, die vom Zünder zu den Sprengkappen der Granaten liefen. Nur ein kleiner Streifen etikettierten Pergaments zwischen der Zünderphiole und dem Quecksilberreservoir sicherte die Bombe. Die Schießerei draußen war heftiger geworden. Für Mkolls erfahrenes Ohr hörte es sich an, als hätten sie noch ungefähr zehn Minuten, bis die Trumpfkarte des heimlichen Eindringens ihren Wert verlieren würde. Zehn Minuten, um ihr Ziel zu erreichen und den taktischen Wert der Späher unter Beweis zu stellen. »Fahrzeug«, sagte er. Hwlan, der an der Hintertür kauerte, sah ihn überrascht an. Es war seit fünfundzwanzig Minuten das erste gesprochen Wort zwischen ihnen. »Wir brauchen ein Fahrzeug«, führte Mkoll aus. Er hatte damit gerechnet, einen Laster oder etwas ähnliches requirieren zu können. Nun, da sie drinnen waren, sah er, wie begrenzt die Mittel waren. Hwlan ging zur Seitentür der Metzgerei. Hinten schloss sich ein Hof mit mehreren Schuppen an, von denen er vermutete, dass sie zum Räuchern oder Pökeln von Fleisch benutzt worden waren. In einem war so etwas wie ein Handkarren zu sehen. »Ich sehe mal nach, Chef«, sagte er und schlüpfte nach draußen. Mkoll wartete. Er hörte Marschtritte auf der Straße und kauerte sich hinter den Metzgertisch. Der Schatten eines Trupps Excubitoren wanderte über die vom Dreck blinden Fenster. Der Handkarren war nutzlos. Ihm fehlten die Hinterräder. Mit dem Lasergewehr in der Armbeuge wie ein Wildhüter marschierte Hwlan die Reihe der Schuppen ab und fand heraus, dass sie an ein Nachbargrundstück angrenzten. Er überquerte den schmalen, überschatteten Hof und stellte sich auf die Zehenspitzen, um durch die Fensterschlitze zu schauen. Hwlan seufzte. Es war ein Kindergarten. Er war schon vor langer Zeit geplündert und verwüstet worden und verrottete seitdem, aber er sah kleine Holzklötze in bunten Farben verstreut auf dem Boden lie-
gen, die zerfledderten Überreste von Puppen und einige weniger gut identifizierbare Schutthaufen. Und, auf der Seite liegend, einen Kinderwagen. Er rappelte an der Tür. Das Schloss war schon vor langer Zeit losgetreten worden. Drinnen herrschte ein furchtbarer muffiger Gestank nach eingesperrter Luft, trockener Fäule und Verfall. Zum ersten Mal ging ihm mit eigenartigem Erschrecken auf, dass es überhaupt keine Spinnweben gab. Spinnen hatten die Menschheit wie Ratten und Läuse zu den Sternen begleitet und sich in allen Lebensräumen ausgebreitet. Was war aus all den Spinnen hier geworden? Hatte das Chaos etwas an sich, das sie vertrieb, oder – und Hwlan hatte schon immer etwas gegen Spinnen gehabt – war die Abwesenheit der Netze ein Zeichen dafür, dass es zwischen den Spinnen und den Mächten des Verderbens eine Art von geheimem Einverständnis gab? Er traute das den schmutzigen kleinen Krabblern durchaus zu. Während er über den grundsätzlich bösartigen Charakter aller achtbeinigen Wesen nachdachte, durchquerte Hwlan den Raum und ging zu dem umgestürzten Kinderwagen. Mühelos und geschickt wichen seine Füße jedem losen Gegenstand auf ihrem Weg aus. Er bückte sich, um einen Haufen Lumpen beiseite zu schieben, der ihm den Weg zum Kinderwagen versperrte. Der Lumpenhaufen war lebendig. In der Metzgerei erstarrte Mkoll, als er das schrille Geheul aus dem angrenzenden Gebäude hörte. Mit der Ruhe der Erfahrung nahm er seinen Beutel und das Paket mit den zusammengebundenen Granaten und versteckte alles unter dem Tisch. Dann duckte er sich hinter einen großen verzinkten Bottich. Die Hintertür öffnete sich. Durch den Schrei alarmiert, traten zwei Excubitoren von der Straße ein und sahen sich um. In seiner Deckung konnte Mkoll den süßlichen Geruch der Öle und Salben riechen, mit denen sie sich einrieben. Er hatte diesen Geruch schon eine ganze Weile nicht mehr wahrgenommen, aber niemals vergessen. Seine Hände schlossen sich um sein Lasergewehr. »Eshet tyed g’har veth?«, sagte einer der Excubitoren zum anderen. Was war das für ein Laut/Geräusch hier drinnen/an diesem Ort? Die Wörter drangen knisternd aus den Sprechkästen in ihren Messingkragen.
»Voi Ydereta haspa cloi c’shull myok«, erwiderte der andere. Geh du zu den anderen/kümmere dich um Pflichten, während ich schaue/nachsehe/suche. Wie Gaunt und der Rest der Einsatzgruppe für die Sturmmission hatte Mkoll die grundlegenden Elemente der feindlichen Sprache als Überlebensnotwendigkeit gelernt. »Desyek? Seyn voi shet?« Bist du sicher/gewiss/überzeugt? »Syekde. Jj’jan fer gath tretek irigaa.« Geh/ich bin sicher. Da ist nichts, aber ich sollte trotzdem nachsehen. Einer der Excubitoren drehte sich um und ging wieder. Der andere betrat mit seinem Laserwerfer im Anschlag den Raum. Mkoll stand auf und hielt dabei sein Lasergewehr außer Sicht. Der Excubitor erschrak und fuhr herum, um auf ihn zu zielen. »Eletreeta j’den kyh tarejaa fa!«, sagte Mkoll. Zum Glück ist jemand gekommen! Sieh her/sieh dir das Ding hier an! »Jabash je kyh tarej?«, sagte der Excubitor, indem er einen Schritt näher kam. Was für ein Ding muss ich mir ansehen/muss ich untersuchen? »Ehrliches Silber«, sagte Mkoll und stieß dem Excubitor sein tanithisches Kampfmesser in die Stirn. Der Excubitor ließ den Laserwerfer fallen und griff sich mit beiden Händen an den durchbohrten Schädel. Mkoll zog den Excubitor auf einen der Hackklötze. Die linke Hand war um den Kopf des Wesens gewölbt und drückte ihn tiefer auf das Messer. Fauliges Blut strömte aus der Wunde über Mkolls Messerhand. Der Excubitor zuckte krampfhaft und wurde dann schlaff. Mkoll ließ den Leichnam sanft zu Boden sinken, statt ihn fallen zu lassen. Er riss sein Messer heraus. Der andere Excubitor tauchte wieder in der Tür auf. VI Der Excubitor erstarrte. Er sah das frische Blut auf dem Hackklotz und den Leichnam seines Kameraden auf dem Boden liegen. Er fing an zu sprechen und hob gleichzeitig den geladenen Laserwerfer. Mkolls Hand zuckte vorwärts und warf den noch blutigen Dolch. Er bohrte sich mit der Spitze voraus so tief in das linke Auge des Excubitors, dass die Parierbügel vom Rand der Augenhöhle auf-
gehalten wurden. Der Excubitor schwankte einen Moment, sein Kopf wurde durch die Trefferwucht zurückgeschleudert. Dann fiel er nach vorn aufs Gesicht. Mkoll setzte sich in Bewegung, zerrte den Leichnam vollständig durch die Tür und schloss sie leise. Der Haufen Lumpen war etwas vage Menschliches. Ein alter Mann, eine alte Frau. Hwlan war nicht sicher. Etwas halb Totes und Spindeldürres. Als er den Haufen bewegte und dieser dadurch Leben und eine Stimme bekam, schlug er unwillkürlich zu und den Haufen beiseite. Er fiel, drehte sich um und lief weg, zurück ins Haus. Hwlan folgte ihm in dem Wissen, dass er ihn zumindest zum Schweigen bringen musste, doch er war verschwunden und gab keinen Laut mehr von sich. Er ging durch den verrammelten und verlassenen Raum in den Kindergarten und zu dem Kinderwagen zurück. Er richtete ihn gerade auf und sah ihn sich genauer an, als Mkoll hinter ihm auftauchte. Der rechte Ärmel des Meisters der Späher war blutverschmiert. »Was ist hier eigentlich los, bei Feth?«, flüsterte Mkoll. »Fahrzeug«, erwiderte Hwlan. Eine halbe Stadt entfernt drangen Bonin und Maggs tiefer in Cantible ein. Sie hielten sich an die Schatten und blieben nirgendwo lange. Beide drehten sich um, als sie den Donnerschlag von Caobers Granatladung hörten. »Tempel?«, flüsterte Maggs, indem er auf etwas zeigte. Bonin schüttelte den Kopf. Ikonoklave, signalisierte er bedächtig. »Was ist das denn?«, flüsterte Maggs lächelnd. Weißt du nicht, wie man signalisiert?, signalisierte Bonin wütend. Doch, signalisierte Maggs zurück und fuhr fort, um es zu beweisen: Du bist ein totaler Fethkopf. Bonin versuchte sich das Grinsen zu verbeißen. Maggs war in Ordnung für einen Nicht-Tanither. Feth, er war sogar für einen Nicht-Verghastiten in Ordnung.
Sie duckten sich in Deckung, als ein Trupp Soldaten vorbeieilte, dem eine lange, unbeholfene Prozession von Excubitoren auf dem Weg zum Tor folgte. Das Gebäude, das Maggs mit einem Tempel verwechselt hatte, war ein langes, neues Bauwerk aus schweren Quadersteinen. In einer Ikonoklave pressten die Truppen des Feindes Bürger zu groß angelegter Zerstörung aller Ikonen, Abzeichen, Statuen und Motive, die das Imperium ehrten. Der städtische Tempel war zwei Straßen weiter, ein großartiges Bauwerk, aber eine Ruine. Sie eilten hin. Dort sollte ein Zeichen für sie sein, ein Kontakt. Der Nachrichtendienst der Flotte hatte es gesagt. Maggs und Bonin konnten nichts finden außer erbärmlich verunstalteten Tempeldekorationen und reichlich Spuren des lästerlichen, entweihenden Wirkens des Erzfeinds. Das große Mosaik eines Aquila in den Bodenfliesen war durch Hämmer zerschlagen worden. Vielleicht gibt es noch einen Tempel, signalisierte Maggs. Bevor Bonin antworten konnte, zuckte ein Laserstrahl zwischen ihnen durch und verfehlte sie beide ganz knapp. Weitere folgten, doch Maggs und Bonin waren bereits in Deckung gehechtet. Besatzungstruppen in grüner Rüstung stürmten durch den Haupteingang des verfallenen Tempels und schossen dabei mit ihren Waffen. Bonin fragte sich, ob das nur ein unglücklicher Zufall war oder der Feind den Tempel unter Beobachtung hielt. Laserstrahlen zerfetzten die alten Holzbänke und hochlehnigen Stühle. Maggs und Bonin, die beide auf dem kalten Boden lagen, hoben ihr Gewehr und erwiderten das Feuer. Bonins erster Feuerstoß fällte den führenden Soldat, und sein zweiter tötete die beiden Männer dahinter. Der Feind schwärmte nach rechts und links aus und nahm Deckung hinter Säulen und den Steingräbern alter Würdenträger. Wenngleich vorübergehend durch den fragilen Schild der Tempelbestuhlung geschützt, würden Maggs und Bonin in Kürze vom Feind in die Zange genommen. Es gab keine Deckung, in die sie sich hätten zurückziehen können. »Nicht gut!«, rief Maggs. »Das kannst du laut sagen«, erwiderte Bonin. Er gab noch einen Feuerstoß ab, der einen Besatzer in den Hals und seitlich in den Kopf traf. Der Mann wurde heftig herumgerissen. Ein Sturzbach aus Blut schoss aus seiner Kehle, während er über eine Bank stürzte.
Maggs versuchte die Stellung zu wechseln, aber Gewehrfeuer von der Seite schlug in die Bodenfliesen und trieb ihn wieder zurück. Die Gewehre entwickelten dichten Rauch, der die Luft stickig werden ließ und in dem sich die schwachen Sonnenstrahlen brachen, die durch den Obergaden des Tempels einfielen. Bonin gab gezielte Schüsse ab, aber es gab zu viele Ziele, die es zu treffen und zurückzudrängen galt. Die Lage hatte sich soeben in der Tat ziemlich lausig entwickelt. Zwischen der Stadtmauer und dem Wachhaus des Haupttors tobte eine richtige Schlacht. Als Antwort auf den imperialen Angriff hatten die Besatzer von Cantible die Mauern mit Truppen besetzt und mit den schweren Waffen in Nestern in den hohen Türmen und im Wachhaus das Feuer eröffnet. Der Erzfeind hatte zwar eine Weile gebraucht, um sich aufzuwecken wie aus einer Kältestarre, aber mittlerweile war der Widerstand erheblich. Vor dem Haupttor stiegen Verstärkungstrupps der Besatzer aus Lastwagen und eilten die Wachhaustreppe empor, um in Stellung zu gehen. Aus den Garnisonen der Stadt trafen mehr Truppen in Fahrzeugen aus Richtung des Rathauses ein. Dreißig Meter vom Tor entfernt lugte Mkoll aus einer Gasseneinmündung über das leicht abwärts geneigte Pflaster zum Tor. Er wartete, während zwei heruntergekommene Armeelaster vorbeifuhren, dann ließ er den Holzgriff los, versetzte ihm noch einen leichten Stoß und ging zurück zu Hwlan und in Deckung. Er hielt einen kleinen Fetzen Pergament in der Hand. Besatzungstruppen stiegen aus Lastern mit laufendem Motor am Tor aus, als der Kinderwagen auftauchte. Er rollte bergab, holperte über das Kopfsteinpflaster und wurde auf dem langen abschüssigen Stück der Straße immer schneller. Ein paar Soldaten betrachteten ihn in freimütiger Verwunderung, andere zeigten auf ihn und machten Freunde und Kameraden darauf aufmerksam. Der Kinderwagen rollte an einigen verwirrten Soldaten und an einem Laster vorbei direkt auf das Tor zu. Ein Offizier, ein Sirdar, schrie auf, da er anders als seine Männer einen finsteren Zweck mit der kuriosen Erscheinung in Verbindung bringen konnte. Er rief jemandem zu, er solle den Wagen anhalten, ihn festhalten und verhindern, dass er das Tor erreichte oder traf. Niemand rührte sich. Die Verwirrung behinderte sie. Also sprang der Sirdar von der Ladefläche des Lasters, auf dem er
stand und warf sich auf den Kinderwagen, als dieser an ihm vorbeirollte. Er hielt ihn drei Meter vor dem Tor an, mit einem heftigen Ruck. Der Ruck ließ Quecksilber durch eine Glasphiole fließen. Es klickte. VII Die Explosion schmerzte, sogar aus der Ferne. Die verräucherte Marschlandluft vor der Stadt schien zu knacken, als sei der Tag plötzlich auseinandergebrochen. Alle vorrückenden Geister spürten sie tief in den warmen Höhlungen ihrer Körper und den festen Knoten ihrer Gelenke. Die Flügel des Haupttors von Cantible erhoben sich auf einer leuchtenden Feuerwolke aus ihren riesigen eisernen Angeln und breiteten sich wie Schwingen aus, während sie sich auflösten. Nur kleine brennende Splitter flatterten zurück zum Boden. Das Wachhaus verschwand in einer wallenden, rasch aufsteigenden Masse aus feurigem Rauch, stürzte ein und flog in einem lärmenden Hagel loser Steine und Platten auseinander. Während es Asche, Funken und brennende Flecken auf die Hänge und Zufahrtswege regnete, stimmten die imperialen Truppen einen ohrenbetäubenden Jubel an. Der Sturmangriff begann sofort. Mit gesenkten Köpfen strömten die Geister im Schutz der wallenden schwarzen Rauchwolke, die sich über der Stadt erhob und einen dicken Fleck auf den blassen Himmel malte, die Hauptstraße zur brennenden Ruine des Tors entlang. Zuerst trafen sie auf keinen Widerstand. Alle Streitkräfte des Feindes in der Umgebung des Tors waren im Zuge der Explosion getötet oder so schwer verletzt worden, dass sie binnen weniger Minuten starben. Andere, vor allem Verteidiger auf der Mauer, die etwas weiter weg postiert waren, wurden von der Druckwelle von den Beinen geholt oder von Trümmerstücken getroffen oder waren durch die plötzliche Katastrophe anderweitig vorübergehend außer Gefecht gesetzt. Die Geister strömten ungehindert durch die unregelmäßige Bresche in der Mauer. Hauptmann Ban Daurs G-Kompanie war als erste drin, dicht gefolgt von Ferdy Kolosims F-Kompanie. Daurs Herangehensweise
war methodisch und effektiv. Er duldete keine Trödelei beim ursprünglichen Vormarsch, sondern trieb seine Trupps tiefer in das Netz der Straßen, um Stellungen zu befestigen, bevor sich der taumelnde Feind wieder fing. Ban Daur war ein hochgewachsener, glattrasierter und jugendlicher Mann mit guter Erziehung und höflichen Manieren. Wenn man ihm begegnete, konnte man leicht vergessen, dass er ein Veteran des Vervunmakropolkrieges war und in Belagerungen und Stadtkämpfen Erfahrungen aus erster Hand hatte. Gaunt hatte schon oft überlegt, dass Daur der am meisten unterschätzte seiner Kommandeure war. Daur war nicht von einer robusten Aura des Soldatentums umgeben wie Kolea, Obel und Varaine, und er wirkte auch nicht gefährlich wie Rawne und Mkoll. Es war sehr leicht, ihn für einen leutseligen, manierlichen Burschen zu halten, der ganz gut ein Lager organisieren konnte, den Krieg aber besser den Erwachsenen überließ. Die G-Kompanie drang mit geübter Eleganz in Cantible ein. Daurs Truppführer – Mohr, Viwo, Haller, Vadim, Mkeller und Venar – trieben ihre Männer in überlappender Fächerformation vorwärts und sicherten Straßenecken und strategisch wichtige Gebäude. Sporadische Kämpfe brachen aus, als die vorrückenden Tanither hier und da auf Nester völlig verblüffter Excubitoren trafen. Binnen fünf Minuten hatte Daurs Brückenkopf den Weg für einen Vorstoß von Kolosims Kompanie freigemacht, der Rawnes und Koleas folgten. Diese letzten beiden waren die schwergewichtigen Vollblutkompanien dieses neuen Ersten-und-Einzigen, denen als Krieger nur Mkolls Späher und die Kampfkompanien Obels und Domors gleichkamen. Sie krallten sich in die Stadt, wo Daur zugestochen hatte. In ihrer Deckung, dreißig Meter vom Tor entfernt, richteten sich Mkoll und Hwlane langsam auf. Die Druckwelle war durch das gesamte Gebiet gefegt und hatte jedes Fenster und jede Tür weggesprengt. Mit klingelnden Ohren verfluchte Mkoll im Stillen Rawnes »eine als Glücksbringer«. Die beiden Späher setzten sich in Bewegung und schlossen sich Daurs Vorstoß an. »Gute Arbeit«, kommentierte Daur, als er Mkoll traf. »Machen wir das Beste daraus«, erwiderte Mkoll. Zehn Minuten nach der Explosion hatte sich das Bild ein wenig verändert. Cantible erwachte aus der Benommenheit, die der Schlag der Explosion verursacht hatte, und wehrte sich. Der un-
sichtbare Kommandant seiner Garnison erkannte, dass jetzt kaum noch etwas eine Rolle spielte außer der Tatsache, dass der Feind jetzt innerhalb der Mauern war, und schickte alle seine Truppen auf die Straßen der Stadt, um den Eindringlingen im Straßenkampf zu begegnen und sie zurückzuschlagen. Trupps grün gerüsteter Soldaten tauchten zusammen mit gepanzerten Transportern und ein paar leichten Panzern auf. Die schmalen Straßen der tiefer gelegenen Stadtviertel bebten und hallten im Feuer der Kanonen und Geschütze wider. Gaunt, der die Stadt selbst zum ersten Mal betrat, beorderte die Panzertruppen zur Unterstützung herbei, und kurz darauf rumpelten die ersten DevHetra-Einheiten durch das zerstörte Tor in die Stadt. Die Explosion rettete Bonin und Maggs einstweilen das Leben. Die feindlichen Soldaten waren in den Tempel geströmt, um sie zu überwältigen. Maggs’ linker Arm hatte zwei Streifschüsse abbekommen, und Bonin hatte einen Rückentreffer erhalten, der eine tiefe Fleischwunde gebrannt, dann aber von der Stahlplatte seiner alten Rückenverletzung abgelenkt worden war. Beide wussten, ohne es auszusprechen, ohne zu konferieren – und in dem Höllenkampf gab es auch keine Möglichkeit dazu –, dass sie der optimistischsten Schätzung nach noch zwei, höchstens drei Minuten zu leben hatten. Dann ging Rawnes Geschenk am Tor hoch. Der Boden bebte, und alle nach Süden weisenden Fenster im Tempel splitterten in einer Glaskaskade nach innen. Von umherfliegenden Scherben getroffen, schrien mehrere Feindsoldaten auf und gingen zerschnitten und zerfetzt zu Boden. In ihrer Deckung mitten im Gebäude waren Bonin und Maggs am besten geschützt. Als sie die momentane Verwirrung sahen, den flüchtigen Vorteil, ergriffen sie die Initiative. Maggs sprang auf und rannte geduckt zum schweren Altar aus Stein und Holz im hinteren Teil des Tempels. Bonin spurtete zum Fuß der nächsten Wendeltreppe, einem in den Stein gehauenen Bogen auf der anderen Seite des Versammlungsraums, der zu einer schmalen Treppe zur Tempelgalerie führte. Die Feindsoldaten fingen sich langsam, sahen, dass ihre Beute auf der Flucht war, und eröffneten wieder das Feuer. Einschläge von Laserstrahlen und Kugeln folgten Maggs über den Tempelboden, zerkratzten Steinplatten und schlugen Splitter heraus. Er
hechtete in Deckung, aber ein Schuss traf ihn in die linke Ferse und schleuderte ihn gegen den Altar statt dahinter. Der massive Rahmen aus Holzintarsien und Stein kippte mit ihm um. Einen Moment benommen, fiel er unter dem Spitzbogenfenster des Kirchenschiffs zu Boden. Drei Feindsoldaten liefen durch die offene Mitte des Tempels, und ihre Stiefel knirschten über das verunstaltete Mosaik des Aquila auf dem Boden. Eine Sekunde hatten sie den gefallenen Maggs klar im Visier. Doch Mach Bonin hatte mittlerweile die steinerne Deckung des Treppenbogens erreicht. Sein Gesichtsausdruck war wie der eines Engels, der eine feierliche Todesnachricht bringt, als er herumfuhr und sein letztes Magazin zur Hälfte in einem Laserhagel leerte, der durch den hallenden Tempelraum fegte. Die Schüsse trafen – und bohrten sich in die drei Soldaten wie heftige Axthiebe. Einer der drei wurde von einem Schuss ins Knie getroffen, der ihm das Bein abtrennte. Bevor sein taumelnder Körper fallen konnte, hatte er zwei Treffer in den Rumpf und jeweils einen in Schulter und Hals bekommen. Der zweite ging zu Boden, als zwei Schüsse oberhalb der Hüfte in den Rücken eindrangen und seine Eingeweide und Lunge verbrannten. Im Fallen wallte widerlicher Dampf aus seinem schreienden Mund. Der dritte wurde in Knöchel und Wade des linken Beins, die Hüfte und seitlich in den Kopf getroffen und ging zu Boden, als habe ihn ein Laster von der Seite angefahren. Der Rest der beträchtlichen feindlichen Streitmacht richtete die Waffen auf Bonin, musste aber sofort Deckung suchen, als Maggs hinter dem umgestürzten Altar hochkam und das Feuer eröffnete. Kurz durch Maggs’ heftiges Feuer geschützt, fuhr Bonin herum und rannte die schmale Treppe nach oben auf die Galerie. Dieser Steinbalkon zog sich von dem Säulenring getragen um das Obergeschoss der Tempelkuppel. Als er auf der Galerie ankam, konnte Bonin den schweren Pulsschlag des Feindfeuers unten beinahe körperlich spüren, da der Feind seine Aufmerksamkeit nun wieder auf Maggs konzentrierte. Bonin lief zum Rand der Galerie und leerte sein Magazin in den Feind. Die Soldaten wichen durch die zerschlagenen und umgestürzten Bankreihen zurück und ließen mehrere Tote verkrümmt und reglos hinter sich zurück. Bonin duckte sich und warf sein leeres Magazin aus. Abrupte Stille kehrte in den Tempel ein, als sich der Feind neu formierte.
Polternde Schritte und über Glas und Holzsplitter knirschende Stiefelsohlen traten an die Stelle des Zischens und Knallens der Gewehre. »Wes!«, sendete Bonin über Kom von seinem Standort. »Ich bin trocken. Wirf mir irgendwas zu.« »Wo bist du?«, antwortete Maggs. »Oben. Auf der Galerie, links von dir.« Unten in seiner Deckung holte Maggs eines seiner letzten Magazine heraus, wog es kurz in der Hand und warf es zur Galerie. Es traf die Kante und fiel in den Hauptraum des Tempels zurück. Mehrere Feindsoldaten feuerten auf die Bewegung. »Feth! Gib dir mehr Mühe!«, fauchte Bonin. Er zog seine Laserpistole. Sie war lange nicht so gut wie sein Gewehr, musste aber reichen. Maggs hatte noch zwei Magazine übrig. In dem wilden Feuergefecht war er sparsamer mit seiner Munition umgegangen als der tanithische Späher. Er behielt eins für sich und warf das andere mit aller Kraft zur Galerie hinauf. Es flog über die Brüstung und verschwand. Den Besatzungstruppen dämmerte langsam, dass sie ihren ursprünglichen Vorteil verloren hatten, und sie versuchten es mit einem neuerlichen Sturmangriff auf die Imperialen. Einige rannten wild feuernd durch den Tempel auf Maggs’ Versteck los, andere liefen zu den drei Treppen, die zur Galerie führten. Mit jeweils noch einem Magazin stellten sich Bonin und Maggs ihnen. Bonin erhob sich über die Balkonbrüstung und dezimierte die Gestalten, die auf Maggs losgingen. Gleichzeitig feuerte Maggs auf die Feinde, die zu den Treppen liefen. In zehn Sekunden konzentrierter Gegenwehr streckten sie dreißig Feinde nieder. Dann waren ihre Magazine leer. Sie glitten in ihre Deckung zurück, ließen die nutzlosen Gewehre fallen und zogen ihre Pistolen und das ehrliche Silber. Der Kampf war in sein letztes und brutalstes Stadium getreten. Im Laufe des Feuergefechts hatte Bonin etwas von seinem erhöhten Platz auf der Galerie gesehen, als er nach unten feuerte. Etwas, das wichtiger war als sein Leben. Er schaltete sein Helmkom ein. Der Feind schlich vorwärts, um die beiden Geister mit ihrer schieren Zahl zu ersticken. Ihm blie-
ben noch Sekunden. »Bonin an Gaunt. Bonin an Gaunt. Dringend. Bitte antworten. Bitte antworten.« VIII Der Empfang war schlecht. Bonin glaubte, Gaunts Stimme antworten zu hören, aber das ließ sich bei all dem Krach nur schwer feststellen. Er sendete seine Botschaft trotzdem. Die feindlichen Soldaten stürmten die Galerie. Sie erklommen zunächst eine Treppe. Später konnte sich Bonin nicht erklären, warum ihre ersten Schüsse ihn verfehlt hatten. Er konnte nur annehmen, dass der Feind in seiner Hast, auf die Galerie zu gelangen, nicht richtig zielte. Er spürte die Hitze der Strahlen, die an seinem Gesicht vorbeizischten, und gab zur Antwort Schüsse aus der Laserpistole ab. In die Ecke gedrängt, bekamen seine Bemühungen etwas Verzweifeltes, und er zielte nicht besser als die Soldaten, die ihn zu töten versuchten. Er traf nichts Lebendes, schaffte es aber zumindest, den Feind in die Deckung des Treppenendes zu drängen, was ihr Schussfeld erheblich eingrenzte. Das war wunderbar … bis die ersten Soldaten über die beiden anderen Treppen kommen würden. Es gab eine jähe und unerwartete Unterbrechung des Angriffs. Das Schießen hörte auf. Die einzigen Geräusche stammten von den Straßenkämpfen, die draußen in der ganzen Stadt tobten, und dem Poltern der Soldaten, die sich unten im Tempel bewegten. Bonin wartete. Er hörte Stiefel auf Glasscherben knirschen und Holzdielen knarren. Im Geiste stellte er sich vor, wie der Feind leise in Stellung ging, um einen letzten, überraschenden und tödlichen Angriff zu unternehmen. Nichts geschah. »Wes?«, sendete Bonin im Flüsterton. »Ich höre dich.« »Bist du noch lebendig da unten?« »Weniger lebendig als zu Beginn des Unternehmens«, erwiderte Maggs kurzatmig und japsend über Kom, »aber: ja.« »Was ist denn los?«
»Keine Ahnung. Ich glaube … ich glaube, sie haben sich einfach zurückgezogen. Ich glaube, sie haben abgebrochen und sich aus dem Tempel verzogen.« »Alle?« »Ich glaube schon. Ich will nicht wirklich den Kopf raushalten, um es herauszufinden.« Das war eine Empfindung, die Bonin sehr gut nachvollziehen konnte. Langsam, sehr langsam und sehr leise kroch er im Schutz der steinernen Brüstung vorwärts, bis er den Rand der Galerie erreichte. Mit einem an den Gott-Imperator gerichteten Gebet mit der Bitte um Schutz hob Bonin langsam den Kopf und lugte nach unten. Der bereits bei ihrer Ankunft stark ramponierte Tempel war in Stücke geschossen. Die Steinmauern und Säulen waren an Millionen Stellen abgesplittert, fleckig und verbrannt, und die Holzbänke waren förmlich pulverisiert worden. Die Leichen der von ihnen in dem hektischen Feuergefecht getöteten Besatzer lagen überall auf dem Boden, quer über den Bankresten und im Mittelgang bis zu den Eingangstüren hinten. Rauch hing wie Nebel in der entweihten Luft. Nichts Lebendes war zu sehen. Bonin wollte gerade Maggs rufen, als die Klinken der Tempeltüren klapperten und sich die Türen öffneten. Mit der Pistole im Anschlag ging Bonin wieder in Deckung. Dunkle Gestalten mit Gewehren huschten durch die Tür. Bonin erkannte den Stil sofort. »Ehrliches Silber!«, rief er. »Wer ist da? Mach?«, antwortete eine Stimme. »Herr Major?« Von einem halben Dutzend Geister flankiert, trat Rawne aus dem Schatten und schaute zur Galerie hoch. »Ich glaube, wir haben sie verscheucht«, stellte er fest. »Seid ihr Jungens fertig damit, hier alles zu Kleinholz zu machen?« Bonin erhob sich und halfterte seine Pistole. »Maggs braucht Hilfe. Er liegt hinter dem Altar. Ich glaube, er wurde getroffen.« Rawne schickte zwei von seinen Männern zum Altar. »Ich habe versucht, den Oberst zu erreichen«, sagte Bonin. »Ich glaube, ich habe gefunden, was er gesucht hat.« »Was denn?«, fragte Rawne. Bonin zeigte nach unten. »Herr Major, Sie stehen darauf.«
Die Schlacht von Cantible endete weniger, als dass sie sich verlor wie ein unvollendeter Satz. Dreieinhalb Stunden, nachdem Gaunt Mkoll das Startsignal gegeben hatte, waren die Kämpfe vorbei und die wichtigsten Örtlichkeiten innerhalb der Hügelstadt eingenommen. Der Feind war tot oder auf der Flucht. Gaunt hatte schon so oft in seiner Laufbahn gehört, wie derartige Aufgaben mit den hektischen Abgängen von Ratten verglichen wurden, dass es zu einem abgestandenen Klischee geworden war, aber als Beschreibung war der Vergleich noch nie zutreffender gewesen. In heilloser Flucht hatten die Besatzungstruppen und einige der Excubitoren und höheren Würdenträger die Nordtore der Marktstadt geöffnet und sich in die verrottende Landschaft abgesetzt. Einige waren tatsächlich gerannt: Soldaten hatten Waffen und Rüstung weggeworfen, um Ballast loszuwerden, damit sie schneller rennen konnten. Ihre wackelnden Gestalten verschwanden langsam in den Garben kränklichen Getreides und den überwucherten Feldern. Ein Teil des hochrangigeren Personals des Feindes versuchte in Lastern, Kettenfahrzeugen und Limousinen zu fliehen, die mit geplünderter Kriegsbeute und Wertgegenständen vollgestopft waren. Gaunt war nicht allerbester Stimmung. Er war niedergeschlagen und unzufrieden. Die letzten Jahre seines Lebens waren untrennbar mit Gereon verbunden, und seine Erlösung bedeutete ihm sehr viel. In den letzten Wochen und noch am Morgen vor und während der Landung war er von einer belebenden Antriebskraft der Zufriedenheit erfüllt gewesen: endlich, nach langer Zeit, würde er zur Befreiung einer Welt beitragen, an der ihm besonders viel lag. Er hatte nicht einmal Einspruch dagegen erhoben, dass das Oberkommando für sein Regiment ein Angriffsziel mit derart niedriger Priorität ausgewählt hatte. Doch die Schlacht um Cantible – »Schlacht« war an sich schon eine lächerliche Bezeichnung – war nebulös und halbherzig gewesen. Die Geister hatten sich lobenswert geschlagen, und die Späher verdienten ganz besondere Anerkennung, aber alles wirkte so eigenartig farblos. Die Befreiung Cantibles war so, als erlöse man ein krankes Tier von seinem Elend. Er schritt durch das steile Herz der Stadt. Ein schwarzer Rauchgürtel erhob sich und verschmierte den weißen Marschlandhim-
mel. Er hatte soeben den mobilsten Einheiten der Dev Hetra und zweien seiner Kompanien befohlen, die fliehenden feindlichen Nachzügler zu verfolgen und zu erledigen. Gaunt versuchte der Ursache seines Unwohlseins auf den Grund zu gehen. Die Verteidigung der Stadt war zweitklassig gewesen, aber kein Befehlshaber sollte einen leichten Sieg mit geringen Verlusten bedauern. Seine Gardisten hatten ihre Sache perfekt gemacht. Rawne zufolge, der selten übertrieb, waren Bonin und Maggs für einen kurzen, strahlenden Augenblick Helden gewesen, da sie im Tempel einer weit überlegenen Zahl von Feinden einen Kampf geliefert und ein Patt erreicht hatten, mit dem sie sich vor keiner der Schlachten zu verstecken brauchten, die auf der Ehrentafel des Ersten Tanith verzeichnet waren. Doch wo waren die Leute, die zu retten sie gekommen waren? Wo war die Erleichterung und Freude? Wo lag der Sinn einer Befreiung, wenn eine Stadt einfach nur leer war, nachdem man sie von ihren schäbigen, unmenschlichen Besatzern gesäubert hatte? Gaunt hatte in den ersten Berichten große Dinge über die Hauptschauplätze gehört. Von einem kolossalen Krieg und den Anstrengungen der Imperialen Garde. Weniger als eine halbe Welt entfernt wurden echte Schlachten gegen echte Feinde geschlagen und echte Siege errungen. Hier nicht. In Cantible gab es nur Tod. Buchstäblichen, unschönen Tod und eine allgemeine, bleierne Atmosphäre des Ablebens. Sie waren gekommen, um einen Ort zu retten, der schon zu tot war, um noch gerettet zu werden. Gaunt hoffte, betete, dass Cantible kein repräsentativer Mikrokosmos für Gereon als Ganzes war. Er marschierte zwischen untätigen Hydras und Gruppen entspannter Soldaten durch, nahm Grüße entgegen und antwortete mit emsigem Kopfnicken. Bei seinen Leuten herrschte Erleichterung, Erleichterung darüber, dass die Aufgabe leichter gewesen war als befürchtet, und er hatte kein Recht, dagegen anzugehen. Er näherte sich dem Tempel der Stadt und dem Schauplatz von Maggs’ und Bonins bewundernswertem Kampf. Rawne wartete auf ihn. »Haben wir gefunden, was wir suchen?«, fragte er. »Bonin sagt ja«, sagte Rawne und schaute in den Schatten des Tempelvorbaus. Bonin kauerte mit einem Sanitäter über den auf dem Boden liegenden Maggs, sah den Blick und kam zu ihnen.
»Maggs?«, fragte Gaunt. »Ein Schuss in die Rippen«, sagte Bonin. »Eklig. Dorden muss ihn sich ansehen.« »Dorden ist weiter unten in der Stadt«, erwiderte Gaunt. Er schaute sich um und brüllte: »Ludd!« Der junge Kommissar kam gehorsam angelaufen. »Herr Oberst?« »Können Sie Soldat Maggs ins Feldlazarett schaffen?«, fragte Gaunt. Ludd nickte. Er ging zu Maggs und half ihm auf die Beine. Sie humpelten gemeinsam los. Gaunt wandte sich wieder an Bonin. »Also?« »Hier drinnen, Herr Oberst«, erwiderte Bonin. Er führte Gaunt und Rawne in den verwüsteten Tempel, und sie gingen zwischen den toten Feinden hindurch, bis sie auf dem ausgedehnten Mosaik des Aquila standen. »Das hier ist entweiht worden«, sagte Bonin. »Einfach zerschlagen und besudelt. Erst als ich oben auf der Galerie war, habe ich es bemerkt.« Er zeigte auf die Galerie. »Was bemerkt?«, fragte Gaunt. »Den Aquila«, sagte Rawne. Gaunt schaute auf das Mosaik. Böse, verdorbene Hände hatten den Imperiumsvogel voller Häme verunstaltet und dabei besondere Mühe und Sorgfalt darauf verwandt, die beiden Köpfe mit Spitzhacken zu zerschlagen. Doch der linke Kopf war repariert worden. Lange nach der Misshandlung war er sehr akribisch hergerichtet und einzementiert worden, wobei manchmal auch Mosaiksteine benutzt worden waren, die ursprünglich nicht zu diesem Kopf gehört hatten. »Der Kopf ist wieder zusammengesetzt worden«, sagte Gaunt. Bonin nickte. »Ein Zeichen. Der Schnabel weist auf etwas.« »Worauf?« »An der Wand da drüben war ein Abschnitt frisch gegipst«, sagte Rawne. »Wenn man der Richtung folgt, in die der Schnabel weist, kommt man dorthin. Wir haben den Gips abgeschlagen.« Gaunt ging zu der Wand. Der entfernte Gips lag in staubigen Brocken auf dem Boden. An der bloßen Wand waren sechs Zahlen zu erkennen, die man dort mit einem extrem fokussierten Flammenwerfer eingebrannt hatte. »Sechs acht eins neun sieben drei«, las Gaunt.
»Das muss eine Frequenz sein«, sagte Rawne. »Haben wir sie schon ausprobiert?« »Sobald Beltayn hier auftaucht«, erwiderte Rawne. Gaunt ging ins Freie zurück, während sie auf die Ankunft seines Adjutanten warteten. Cirk und Faragut näherten sich und kamen aus dem tiefer gelegenen Teil der Stadt angeschlendert wie ein Ehepaar auf einem nachmittäglichen Verdauungsspaziergang. Gaunt war überrascht, wie sehr er sich freute, sie zu sehen. Aus Gründen, die zu erklären er nie in der Lage gewesen war, konnte er Sabbatine Cirk verstandesmäßig nicht eingrenzen. Sie war gefährlich und nicht vertrauenswürdig, doch bei seinem ersten Aufenthalt auf Gereon hatte er gelernt, ihr vorbehaltlos zu vertrauen. Sie strahlte eine erhebliche sexuelle Anziehungskraft aus, und diese Anziehungskraft wurde durch ihre zerstörerische Aura vergiftet. In seinen Augen verkörperte niemand Gereon mehr als Cirk. Sie war ein lebendes Opfer, der personifizierte Planet, schön, anziehend, aber geschädigt und missbraucht. Die meiste Zeit versuchte er, nicht an sie zu denken. Jetzt musste er, und jetzt gestattete er es sich auch. Er stellte fest, dass er sich ihr sehr verwandt fühlte. Sie und nur sie verstand sein Gefühl der Desillusionierung. Cirk hatte mehr als jeder andere getan, um Gereons Befreiung herbeizuführen, sogar mehr, als Gaunt wusste. Seit dem Start der Landungsboote war sie den Tränen nahe – zuerst den Tränen der Vorfreude und dann den Tränen der Bestürzung. »Kommissar-Oberst«, sagte sie zackig, als sie bei ihm ankam. »Geht es Ihnen gut?« Sie sah ihn fragend an, da sie seine ungewohnte Wärme verblüffte. »Ja, es geht mir gut. Etwas mitgenommen. Ich hoffe, Sie haben gute Neuigkeiten.« »Vielleicht haben wir eine Verbindung zum Widerstand. Wir wollen gleich versuchen, ihn zu erreichen.« »Das ist gut. Soll ich das Reden übernehmen?« »Wir brauchen Ihre Codeschlüssel«, sagte Gaunt. »Ich müsste dabei sein«, sagte Faragut. Die beiden sahen ihn an, als sei er ein Eindringling. »Meine Anweisungen sind äußerst spezifisch«, sagte Faragut lächelnd, um die Feindseligkeit zu zerstreuen.
»Selbstverständlich«, sagte Gaunt ein wenig weicher, denn er wusste, dass man den Mann nicht für seine Vorgesetzten verantwortlich machen konnte. »Natürlich.« »Wir stehen auf derselben Seite«, sagte Faragut freundlich. »Ich meine, das ist der Witz dabei, oder?« »Tue ich Ihnen weh?«, fragte Ludd. Sie machten noch einen schwankenden Schritt. »Nein«, sagte Maggs. »Sind Sie sicher?« Ludd klemmte den Arm fester unter die Achselhöhlen des Spähers. »Sie können sich fester aufstützen, wenn Sie wollen.« »Ich komme prima zurecht«, grunzte Maggs. Sie waren ungefähr zehn Minuten vom Feldlazarett entfernt und kamen nur langsam voran. »Wirklich«, sagte Ludd. »Ich könnte …« »Mit Verlaub«, sagte Maggs mit einem Schmerzensseufzer, »aber könnten Sie vielleicht von etwas anderem reden? Das Gehen fällt mir schwer, auch wenn Sie mich stützen. Können Sie mich davon ablenken?« »Oh, ja, ja«, versicherte ihm Ludd, während er hektisch nachdachte. Er durchforstete sein Gedächtnis. Er konnte keine Geschichten über Schlachten und Mädchen erzählen, jedenfalls keine, die einen Herzensbrecher und Frontkämpfer wie Wes Maggs beeindrucken würden. Er hatte einmal einen Mann gekannt, der eine Katze besessen hatte, und das Lustige daran war … nein, nein, das würde nicht reichen. »Merrt«, sagte er. »Was?« »Merrt. Der Tanither mit dem entstellten Gesicht. Der ehemalige Scharfschütze, der …« »Ich weiß, wen Sie meinen.« »Am Tag, als Hark und ich ihn im Hexenkessel hochgenommen haben, haben wir ihm auch aus einer ziemlichen Klemme geholfen. Sie waren auch da. Ich habe Sie in dieser Spielhölle gesehen.« »Ich war da.« »Zufällig?« »Nein, Ludd.«
»Wollen Sie mir davon erzählen?« Maggs ächzte. »Setzen. Ich muss mich setzen«, sagte er, indem er sich an seine bandagierten Rippen griff. Ludd half ihm über die Schwelle eines baufälligen Habitats. Maggs setzte sich. »Wir müssen zum Feldlazarett«, sagte Ludd. Er war nervös. Bei Erste-Hilfe-Übungen hatte er sich noch nie besonders geschickt angestellt, und er machte sich Sorgen, Maggs könne einfach mit geschwollener blauer Zunge umfallen. Oder Schlimmeres. »Lassen Sie mir einen Moment Zeit zum Verschnaufen«, sagte Maggs, indem er sich an den versengten Türpfosten lehnte. »Ich kann weitergehen, aber ich muss vorher etwas verschnaufen.« Ludd nickte und wartete. »Also, Merrt?«, fragte er. Maggs lehnte sich zurück und befingerte seine vom Blut schweren Verbände. »Merrt. Richtig. Wir kümmern uns um unsere Leute, wissen Sie?« »Was?« »Das Erste-und-Einzige. Vielleicht überrascht es Sie, das zu hören, wenn Sie bedenken, dass ich ein Belladoner bin und neu in der Truppe, aber es stimmt. Wenn ein Haufen Soldaten zusammenkommt und sich verbindet – so richtig verbindet, meine ich – , halten sie zusammen. Die Tanither hatten Glück, dass sie uns Belladoner gefunden haben, und wir hatten Glück, sie zu finden. Ich will nicht rumsülzen, aber, Scheiße, wir sind eine gute Truppe. Sie wissen, was ich meine?« »Ich glaube schon.« Maggs nickte. »Überbleibsel, Reste, Überlebende. Tanith, Verghast, Belladon. Die Reste, die sie nicht umbringen konnten. Sie haben uns zusammengeworfen, und weil wir im Grunde alle gleich sind, halten wir zusammen wie Pech und Schwefel.« »Das ist schön zu hören«, sagte Ludd. Maggs beugte sich vor und seufzte. »Merrt. Wir wussten, dass er Ärger hat. Spielschulden. Bis über beide Ohren. Varl hat es bemerkt und uns zusammengerufen. Uns darauf eingeschworen. Er hat zu uns gesagt, wir müssten auf Merrt aufpassen. Tja, seine Schulden konnten wir nicht bezahlen. Wir hätten das Geld nicht mal aufbringen können, wenn wir alle zusammengelegt hätten. Also – und das war Basks Idee – haben wir Strohhalme gezogen, um ihm zu folgen und ihn im Auge zu behalten. Wenn er in irgendwelche Scheiße geriet, würde einer von uns da sein, um ihn rauszuhauen. Wir haben einen richtigen Wachdienst eingerichtet.
In dieser Nacht im Hexenkessel war ich an der Reihe. Ich wusste, dass irgendwas Schlimmes abgehen würde und wollte gerade eingreifen, als Sie aufgetaucht sind.« »Was hätten Sie denn getan?«, fragte Ludd. »Wahrscheinlich etwas Dummes«, erwiderte Maggs. »Etwas, womit ich mir eine Verhandlung vor dem Kriegsgericht eingehandelt hätte, vielleicht sogar einen Zehn-neunzig, aber ich hätte es trotzdem getan. Das hat mit dem Zusammenhalten zu tun, wissen Sie? Wenn wir nicht füreinander eintreten, wenn wir nicht füreinander den Hals riskieren, was hätte dann alles für einen Sinn? Ich meine … wo wäre der verdammte Sinn? Merrt ist einer von uns, und alles andere ist unwichtig.« Ludd nickte. »Was ist los?«, fragte Maggs. »Sie sehen plötzlich aus, als wären Sie ganz weit weg.« »Ich habe nur überlegt«, sagte Ludd. »Ich habe nur gedacht, wenn ich den Korpsgeist in Flaschen füllen könnte, den Sie gerade zum Ausdruck gebracht haben, wäre ich der beste Kommissar in der ganzen Geschichte der Garde.« Maggs grinste, und dann wich das Lächeln langsam aus seinem Gesicht. »Bis jetzt hatte ich gar nicht mehr an Merrt gedacht. Scheiße. Ich frage mich, wo er ist. Der hässliche arme Hund.«
Von Angesicht zu Angesicht I Überall lächelten ihn die Toten an. Feuerstürme waren durch den Bezirk aus Straßen und kleinen Plätzen gefegt und hatten die ausgebrannten Ruinen von Habs zurückgelassen. Der Himmel hing tief und schwarz und war wie die Nacht. Steine und Trümmer strahlten Hitze ab, und ein starker chemischer Gestank nach Verbranntem, Oxidiertem und Umgewandeltem lag in der Luft. Viele Feuer brannten noch. Dalin Criid spürte die Wärme der nahen Brände im Gesicht, und der Schweiß lief ihm wie Tränen über das dreckverklebte Gesicht. Er rührte sich nicht. Er stand einfach nur eine Weile in den zit-
ternden Schatten der zerstörten Straße und starrte in die Flammen. Das Feuer hatte alle Leichen in dem Gebiet zu verkohlten schwarzen Haufen reduziert. Sie waren kaum noch menschlich, kaum noch humanoid, nur verbrannte Stümpfe aus Treibholz. Nur Augen und Zähne konnten die Flammen nicht reduzieren. Tatsächlich vergrößerten sie beides. Alle Augen wurden riesige starre Höhlen aus gähnender Finsternis, zugleich trauernd und hassend. Nachdem das Fleisch weggebrannt war, wurden alle Zähne zu einem breiten weißen Grinsen, teils amüsiert, teils schmerzverkrampft. Vom Boden, aus Eingängen, aus Fenstern und von Trümmerhaufen grinsten sie und starrten ihn an, wenn er vorbeiging, manchmal zu mehreren, Seite an Seite und alle über denselben Witz lachend. Ihr Lächeln hatte etwas an sich. Es war wehmütig, als seien sie so verblüfft über die Plötzlichkeit und Heftigkeit ihres Ablebens, dass sie nichts anderes mehr tun konnten, als gute Miene zum Bösen Spiel zu machen und zu grinsen. Sieh mal, wie es mir am Ende ergangen ist, hm? Tja, was kann man machen … Sie waren so entblößt von allem bis auf das Starren und Grinsen, dass sich unmöglich sagen ließ, wer die Toten waren. Einheimische, Einwohner der Küstenstädte, die von der Wut des Krieges eingeholt worden waren, oder Gardisten des Imperiums, die einige Zeit vor AT 137 hierher gekommen und auf den Tod gestoßen waren, der sie mit einer Zunderbüchse erwartet hatte? Die andere Möglichkeit war, dass dieses Lächeln des Verdrusses und der Begrüßung das Lächeln des Feindes war. Waren das hier seine Feinde, diese blasigen, teerschwarzen Puppen mit ihren glänzenden Zähnen? Wenn ja, waren es die ersten, denen er begegnete. »Heilig.« Ein Wort, nicht einmal eine Frage. Er schaute sich um. Hamir kam durch den Rauch, das Gewehr vor dem Bauch. Criid setzte sich neben ihn, und gemeinsam gingen sie die Straße entlang durch die rauchenden Trümmer. Mit der Dunkelheit war Ruhe eingekehrt. Das unmittelbare Knistern der Flammen war noch zu hören, das Poltern fallender Gesteinstrümmer und das entfernte Donnern und Krachen wichtiger Ereignisse, die irgendwo anders stattfanden. Aber ganz allgemein herrschte eine warme Ruhe, die Geräuschkulisse des Nachspiels.
Criid wusste, dass es kein Nachspiel war. Er wollte nicht mehr auf seinen Chrono schauen, weil das zum Verrücktwerden langsame Verstreichen der Zeit an seiner Willenskraft zehrte, aber er wusste, dass sie seit ungefähr fünf Stunden unten waren. K’ethdrac war ein gewaltiges Ziel und konnte trotz der Wut des Angriffs noch nicht gefallen sein. Wie bei so vielen großen Städten und Makropolen mussten sich die imperialen Bodentruppen vielleicht wochen- oder sogar monatelang von Straße zu Straße vorkämpfen. Vielleicht sogar jahrelang. Selbst das war schon vorgekommen. Criid fragte sich, ob er so lange leben, ob er das mental überleben würde. Wenn sein Körper es vermied, erschossen oder gesprengt oder in Stücke gerissen zu werden, würde sein Geist einer derartigen Zeitspanne widerstehen können? Er bezweifelte es, wenn die Zeit weiterhin so schleppend und schwerfällig verstrich. Er würde wahnsinnig werden, mit einem wehmütigen Lächeln auf den Lippen. Hamir zeigte mit einem Kopfnicken nach vorn. Drei Soldaten, darunter Vierbüchse, tasteten sich im Schutz der niedrigen Überreste einer Mauer vorwärts. Auf beiden Seiten konnten sie andere Mitglieder der Kompanie ausmachen, die durch die Trümmer und die trägen Rauchschwaden vorrückten. In der letzten dahinkriechenden Stunde war ihre Zahl gestiegen. Nachdem sie eine Brücke überquert hatten, die tiefer in die Stadt führte, waren sie auf etwa fünfunddreißig Angehörige von AT 137 unter Führung von Korporal Traben gestoßen. Sie stammten von einem Landungsboot, das über das Zielgebiet hinausgeschossen und auf dem Gelände irgendeiner Manufaktur gelandet war. Wäsche und Allerliebst waren ebenfalls unter ihnen. Wie Kexies Gruppe hatten sie keine Spur von Major Brundel gesehen. Rechts von ihnen ertönten Schüsse. Einige der Soldaten lugten in den Rauch. »Soll ich Kexie suchen?«, fragte Hamir Criid. »Vergiss es«, sagte eine andere Stimme direkt hinter ihnen. Es war Merrt. Er gehörte ebenfalls zu Trabens Gruppe. »Sollten wir …?«, begann Criid. »Hier?«, fragte Merrt. »In diesem Chaos? Wenn ihr alle gn… gn… gn… Schusswechsel meldet, die ihr hört, jagt Kexie den ganzen Tag seinen Schwanz, wenn er ihnen auf den Grund gehen will. Am besten bleibt ihr in Bewegung und bewahrt eure Forma-
tion. Wenn sich herausstellt, dass ein Schusswechsel eurer Aufmerksamkeit bedarf, wird er euch schon darin verwickeln.« Es war beinahe beruhigend, die Schüsse zu ignorieren und einfach weiterzugehen, ohne den Ärger zu suchen. Es gab ohnehin genug davon. Die Einheit hatte mehr Schaden davon, bei jedem Geräusch zusammenzufahren und nachzusehen, als die Formation zu halten und den Marschbefehlen zu folgen. Wie zum Beweis dieser Maxime marschierten sie noch zwanzig Minuten, bis die Schießerei persönlich wurde. II Sie waren in einen Teil der befestigten Stadt eingedrungen, wo die Luft so schwarz und der Rauch so dicht waren, dass es unterirdisch wirkte. Gebäude auf beiden Seiten – manche in Trümmern, manche intakt und alle leer – ragten wie die glatten grauen Wände gigantischer Höhlen in die Höhe. Es war heiß und feucht wie im Mittelpunkt der Erde. Feuchtigkeit tropfte aus dem giftigen Rauch. Kein Regen oder klimatische Feuchtigkeit, sondern die kondensierten Dämpfe des Krieges: Treibstoff, Schmiermittel, Brandbeschleuniger und flüchtige Verbindungen. Sie war klebrig und braun wie der Schleim eines Lho-StäbchenRauchers, und die Luft hustete sie aus wie Speichel. Im Westen ihrer augenblicklichen Position, etwa fünf Kilometer entfernt, wütete ein Feuersturm in acht oder neun Stadtblöcken wie ein gemeinsames Lagerfeuer in der Mitte der Höhle. Er verlieh dem schwachen Licht eine rot-goldene Tönung. Als sie innehielten, um abzuwarten und zu lauschen, ähnelten die Mitglieder von AT 137 goldenen Statuen auf einem Triumphbogen. Südlich von ihnen, in ähnlicher Entfernung, tobte eine nachdrückliche Schlacht, entweder zwischen Panzertruppen oder Artilleriebatterien. Augenscheinlich war es ein heftiger Zusammenstoß, der einen gewaltigen, etwas gedämpften Lärm erzeugte. Sie konnten jedoch nichts davon sehen, nicht einmal die Andeutung von Lichtblitzen oder Granatexplosionen. Sie hatten eine ganze Weile keinerlei Feindberührung gehabt, als ihnen also die ersten Schüsse entgegenschlugen, war das Ereignis als solches rätselhaft und unvertraut. Der Soldat namens Gyro fiel plötzlich und kullerte rückwärts über den Boden, als sei
er flott aus einem Teppich gewickelt worden. Der Sergeant brüllte etwas von Deckung, doch noch während sie auseinanderfuhren, wurde Spalt, ein Kolstec mit einer unbeliebten näselnden Stimme, ebenfalls getroffen. Anders als bei Gyro war seine Wunde nicht tödlich. Er fing vor Schmerzen an zu schreien, dann bekamen seine Schreie etwas Ersticktes, Schrilles. Criid hatte solche Laute noch nie zuvor von einem Menschen gehört. Sergeant Kexie saß am Ende der Gruppe fest, also befahl Kommissar Sobile die ersten Männer vorwärts. Er schoss mit seiner Pistole ins Dunkel und ließ die Peitsche knallen, sodass alle es hören konnten. »Schaltet den Schützen aus!«, brüllte er. Alle fragten sich, mit wem er redete. Criid hatte Deckung hinter der dicken Außenmauer eines Habs gefunden. Ganiel und Vierbüchse quetschten sich hinter ihn. »Kannst du was sehen?«, fragte Ganiel. Criid konnte praktisch gar nichts sehen. Er hatte alle Mühe, an etwas anderes zu denken als an die furchtbaren Schreie Spalts. Gelegentlich jaulte ein Schuss an der Mauer vorbei. »Ich sehe mal nach«, verkündete Vierbüchse und lugte um die Ecke. Praktisch sofort zuckte er zurück und stieß sich in seiner Hast den Kopf an den Ziegeln. »Vierbüchse?« Vierbüchse vollführte ein Tänzchen, die Hände an den Kopf gepresst. »Vierbüchse?« »Wie schlimm ist es?«, fragte Vierbüchse, indem er den Kopf drehte, sodass sie sein rechtes Ohr sehen konnten. Eine Kugel hatte es sauber abgerissen und den Rand seines Helms angekratzt, als sie abgelenkt worden war. Er hatte eine Brandwunde oben auf der Wange und eine blutige Knospe aus Gewebe und Knorpel, wo sich sein Ohr befunden hatte. Blut lief ihm den Hals hinunter. »Wie schlimm ist es?«, fragte er noch einmal. Er hatte leichte Beschwerden, schien aber nicht schlimm zu leiden. »Pack eine Kompresse drauf«, sagte Ganiel. Vierbüchse setzte sich und fummelte an seinem Gürtel herum.
Spalt schrie immer noch. Schüsse kamen von mehreren Stellen auf der Imperiumsseite. Es klang, als würde ein halbes Dutzend Gewehre auf sie schießen. »Jemand soll endlich vorrücken!«, brüllte Sobile. »Im Namen des Goldenen Throns, rückt vor und kämpft, oder, bei Terra, ich peitsche euch alle wegen Feigheit aus!« Criid lief los. Er lief bereits, bevor ihm überhaupt klar wurde, dass er sich dafür entschieden hatte. Er hörte Ganiel hinter sich rufen: »Criid, nicht!« Er war draußen im Freien. Mehrere Schüsse trafen den Boden neben seinen Füßen wie Feuerwerkskörper, und ein Laserstrahl zischte knisternd über seinen Kopf. Er erreichte die andere Straßenseite, hechtete hinter eine Steintreppe und fing an zu schießen. Andere Gestalten folgten ihm. Er hörte schnelle Schritte von harten Stiefeln, die über Kies stampften, dazu laut fluchende Stimmen. Und die ganze Zeit jammerte Spalt im Hintergrund wie ein Kind. Laserstrahlen kamen von einer Stelle direkt über ihm. Als er die düstere Fassade des Hauses emporschaute, an die er sich presste, sah er Funkensprühen und Mündungsblitze in einem der oberen Fenster. Ohne Nachdenken oder Zögern sprang er auf und rannte die Treppe zum Hauseingang empor. Es war schwer zu sagen, welchem Zweck das Gebäude ursprünglich gedient hatte. Wandfliesen waren abgesplittert und lagen überall auf dem Boden. Die Decken der unbeleuchteten Korridore waren von Schimmel und Fäulnis verfärbt. Er bewegte sich von Tür zu Tür, schwang sein Gewehr dabei hin und her und ließ den schweren Lauf seines Lasergewehrs von einem eingebildeten Ziel zum nächsten wandern. Er erklomm eine Treppe aus knarrenden, halb verfallenen Stufen, den Rücken an die Wand gedrückt, und erreichte den Absatz zu einer weiteren Treppe. Auf dem nächsten Absatz begegnete er dem Feind endlich von Angesicht zu Angesicht. III Er war gerade aus einem Raum gekommen, als habe er sich von einer Aktivität losgerissen und wolle eine Rauch- oder Latri-
nenpause einlegen. Hinterher konnte sich Criid erstaunlich detailliert an die Einzelheiten der Kleidung und Ausrüstung des Mannes erinnern. Er trug eine dunkelgrüne Schlachtrüstung der exotischen Art, wie sie keine Gardeeinheit trug, die Criid je gesehen hatte. Die Rüstung war gut verarbeitet und irgendwann einmal auf Hochglanz poliert worden, aber mittlerweile ziemlich eingestaubt. Sie sah leicht und gut tragbar aus. Auf dem Brustharnisch und den Schulterklappen prangten rot-grüne Insignien. Die Symbole waren vulgär und fremdartig und ergaben keinen Sinn. Das Koppel des Mannes, seine Stiefel und vor allem sein Lasergewehr waren Imperiumsmaterial. Seine Ausrüstung hatte große Ähnlichkeit mit Criids. Dalin konnte sogar den kleinen gelben, halb ausgebleichten Stempel des Munitorums auf dem Gewehrkolben erkennen, der den Ausgabeort nannte. Im Rahmen von Schulungen und Anekdoten von seiner großen Familie der Geister hatte er immer wieder gehört, dass der Feind ab und zu die Waffen, Uniformen und Fahrzeuge benutzte, die er von der Imperialen Garde erbeutete. Natürlich benutzte er manchmal sogar die Männer, wenn sie sich umdrehen ließen. Sie standen sich weniger als eine Sekunde auf dem schmuddeligen Treppenabsatz gegenüber, obwohl sich der Augenblick auf ewig in Criids Gedächtnis einbrannte. Zwei Dinge beendeten sein Zögern. Erstens hob der Mann sein Gewehr. Zweitens war der Mann überhaupt kein Mann. Er trug keinen Helm und keine Kopfbedeckung außer einer gefütterten Leinwandkapuze, die unter dem Kinn zusammengebunden wurde, wie Panzerfahrer sie unter ihrem breiten Stahlhelm trugen. Mit Ausnahme der Insignien hätte man den Mann vom Hals abwärts in jeder Hinsicht mit einem Imperiumsgardisten verwechseln können. Sein Gesicht war jedoch eine stinkende verzerrte Masse und so aufgebläht, dass die ursprüngliche Struktur nicht mehr zu erkennen war. Es war, als sei die Kapuze nur zugebunden worden, um das Gesicht zusammenzuhalten. Es gab keine Nase, nur ein rohes Loch, und die Augen unter der deformierten Stirn waren die starren runden Knopfaugen eines großen Vogels. Der feuchte Mund hing offen und enthüllte Zähne wie Federn.
Das Grauen des Gesichts war das Letzte an der Gestalt, was Criid zur Kenntnis nahm, als sperre er es aus und nehme erst alles andere wahr, bis er es nicht mehr hinausschieben konnte. Criid schrie angewidert auf und schoss drei Mal. Die Schüsse holten die Kreatur von den Beinen und schleuderten sie gegen die Korridorwand. Zwei gleichermaßen entstellte Wesen stürmten aus demselben Raum. Eines hatte eine sabbernde Schnauze voller gelber Zapfenzähne, die sich nicht schließen wollte. Der zweite trug den langen Mantel eines Gardisten und sah vollkommen menschlich aus – bis auf die Tatsache, dass sich zwei Augen seine linke Augenhöhle teilten. Die Schnauze hatte eine Laserpistole und schoss damit auf eine hektische, panische Art. Splitter flogen aus der Wand hinter Criid und den Pfosten des Treppengeländers vor ihm. Brüllend rannte Criid die letzten Treppenstufen empor und schoss dabei. Die Schnauze mit der Laserpistole wurde so schwer getroffen, dass das Wesen mit heftigem Ruck zurück durch die Tür flog, als habe es jemand am Kragen zurückgerissen. Der andere, der keine Waffe zu haben schien, drehte sich um, rannte mit ausgebreiteten Armen und flatternden Mantelschößen durch den Flur und brüllte dabei etwas in einer Sprache, bei der sich Criid die Hirnwindungen kräuselten. Criid ließ sich auf ein Knie sinken, hob das Gewehr an die Wange und gab zwei gezielte Schüsse ab, um das flüchtende Wesen zur Strecke zu bringen. Es fiel flach aufs Gesicht, mitten im verschimmelten Flur und mit einem Aufprall, der Staub durch die Ritzen der Bodendielen in die Höhe schleuderte. Criid erhob sich langsam. Von unten drang viel Lärm herauf, da andere Soldaten von AT 137 ihm ins Haus folgten. In seiner unmittelbaren Umgebung im ersten Stock schienen alle Geräusche verstummt zu sein. Staub, durch den kurzen, aber hektischen Schusswechsel aufgewirbelt, wallte durch die Luft. Criid machte ein paar zaghafte Schritte vorwärts, während ihm das Herz im Halse schlug und die Hände zitterten. Alles ringsumher schien lebendig zu sein. Im Augenwinkel schienen Gestalten hinter der grauen Tapete zu huschen und unter den Fußleisten zu nagen und zu zappeln. Schimmelflecken schienen sich auszubreiten, wenn er ihnen den Rücken kehrte. Er hörte ein Summen wie von Fliegen. Ein Knacken wie von Zähnen auf einem Kamm von Ungeziefer.
Noch ein Schritt, dann noch einer. Waren das alle? Wohin hatte das Wesen im Mantel rennen wollen? Was hatte es geschrien? War da noch etwas anderes in den Zimmern am anderen Ende des Korridors? Criid umklammerte den Schaft seines Gewehrs noch fester und machte noch ein paar Schritte in den Flur. Er war einen Meter oder zwei von der Stelle entfernt, wo der Leichnam in dem Mantel lag, und gerade auf einer Höhe mit der halb geöffneten Tür, aus der alle drei Feinde gestürmt waren. Seine Aufmerksamkeit war auf das Ende des Flurs gerichtet. Wohin hatte das Ding im Mantel, das Ding mit dem Albtraumauge laufen wollen? Der Flur voraus – nackte staubige Dielen, fleckige Wände, verschimmelte Decke – führte zu einem blinden, rußverschmierten Außenfenster am anderen Ende. Rechts und links daneben war je eine Tür, beide geschlossen. Etwas war darin. In einem der Räume. Criid wusste es. Seine Nerven spürten es mit jedem Schritt deutlicher. Irgendwas. Links oder rechts? Links oder rechts? Noch ein Schritt, dann noch einer. Was war das? Eine Bewegung? Hatte sich im Schatten unter der rechten Tür gerade etwas bewegt? Was … »Runter«, sagte Caff. Criid gehorchte, ohne darüber nachzudenken. Er warf sich flach auf den Boden, als die rechte Tür aufflog und ein quiekendes Schweineding herauskam. Es war massig, so groß wie Criid, aber mit dem Vier- oder Fünffachen seiner Körpermasse. Es trug alte, nicht zugeschnürte Gardestiefel und eine zerlumpte Uniformhose, die unter der Masse seiner Leibesfülle von einem Gürtel gehalten wurde. Von der Taille aufwärts war es nackt, ein schwabbeliges Fass haarloser rosa Haut, die mit Dreck und Schweiß verschmiert war. Schultern und Arme waren massiv, so massiv wie früher die vom alten Corbec. Es trug eine schwere Autokanone, fettig und schwarz, wie ein normaler Mensch eine Schrotflinte getragen hätte. Der Kopf war winzig, eine runzlige, kahle rosa Kugel mit Knopfaugen und braunen Hauern. Es gab ein schrilles, blökendes Quieken von sich, als es das Feuer eröffnete. Von einem langen, schwingenden Munitionsgurt gefüttert, donnerte die Kanone los, und ihre Mündung spie knisternde, gezackte Blitze. Jedes Geräusch war eine Verschmelzung von ohrenbe-
täubendem Donner und metallischem Ping. Der Flur hinter Criid wurde von dem Kugelhagel förmlich zerfetzt. Vom Boden unter diesem Feuersturm erwiderte Criid das Feuer. Er traf den massigen, bebenden Rumpf drei Mal, und dann landete er mit dem vierten einen tödlichen Treffer, als er das quiekende Gesicht des Dings traf. Das Schweineding kippte nach hinten und die Kanone mit ihm, sodass die letzten Schüsse des Gurtes blind in die Korridordecke fuhren. Die Einschläge zerstörten die Mitte der Decke in einem Hagel aus Gips, Staub und splitternden Latten. Das Ding schlug im Fallen gegen das Fenster am Flurende und zerschmetterte es, fiel aber nicht nach draußen, sondern zu Boden, den rechten Arm in die gesplitterte Fensterscheibe eingehakt. Der rauchende Kanonenlauf krachte auf die Bodendielen wie ein Stück Bleirohr. Ein langes gurgelndes Seufzen entwich der toten Leibesfülle. Criid kam langsam wieder auf die Beine, das Lasergewehr immer noch auf das Schweineding gerichtet. Die Luft war schmutzig vom Pulverdampf der Kanone. Teile der Decke flatterten wie Herbstlaub zu Boden. Er ging zu dem Schweineding, um sich zu vergewissern, dass es tot war. Etwas traf ihn von hinten und schmetterte ihn vor die Wand. Criid schlug sich im Fallen Kinn und Wange an, und Schmerzen flackerten auf, aber Verwirrung und Schock setzten ihm noch stärker zu. Etwas brüllte ihm ins Ohr. Alles war verschwommen. Etwas lag auf ihm und nagelte ihn am Boden fest. Es gelang ihm, sich halb umzudrehen. Ein weiterer Feindsoldat mit einem heulenden, kranken Wrack von Gesicht hockte rittlings auf ihm und hämmerte mit den Fäusten auf ihn ein. Er musste aus einem Nebenraum gekommen sein, den Criid nicht überprüft hatte. Criid versuchte die Schläge abzuwehren. Er hatte sein Gewehr verloren und konnte die Arme nicht heben, um sich richtig zu verteidigen. Der Feind war entschlossen, ihn zu Brei zu schlagen. Ein Laserstrahl zischte, und der Feindsoldat klappte mit einem Schaudern zusammen. Der Leichnam kippte zur Seite, und Criid konnte darunter wegkriechen. Drei oder vier Meter in Richtung Treppe stand Merrt im Korridor. Der Tanither senkte sein Lasergewehr. »Alles in Ordnung?«, fragte er.
Criid schwirrte der Kopf. Sein Gesicht pochte, und er konnte Blut schmecken und spüren, wie es ihm über die Lippen lief. Er nickte Merrt zu und versuchte aufzustehen. Er war fast auf den Beinen, als plötzlich Tumult ausbrach. Noch ein Feindsoldat war aus dem Nebenraum gelaufen und hatte sich auf Merrt gestürzt. Sie rangen miteinander. Merrt wurde gegen die Korridorwand gedrückt, und sein Gewehr war nutzlos zwischen seiner Brust und der des Angreifers eingeklemmt. Mit seinen Dolchzähnen schnappte der Feindsoldat nach Merrts Kehle, während seine Hände versuchten, dem Tanither die Waffe zu entreißen. Schwindlig versuchte Criid sich zu bewegen. Er sah sich nach seiner Waffe um oder nach etwas anderem, womit er Merrts Angreifer niederknüppeln konnte. Vor ihm lag der Feindsoldat, der auf ihn eingeschlagen hatte. Merrts Schuss hatte ihn sauber durchbohrt, und stinkendes schwarzes Blut rann aus der Wunde und bildete eine Lache auf dem staubigen Boden. Er war nicht tot. Nicht in der Lage aufzustehen und praktisch bewegungsunfähig hustete er seine letzten paar Atemzüge aus und zog mit zitternden Fingern den Stift aus einer Stabgranate. IV Criid warf sich auf den sterbenden Soldaten und packte dessen Hände, um ihm die Granate streitig zu machen. Auf der Seite liegend, schrie der Feindsoldat auf, und Blut quoll ihm aus dem Mund. Er wehrte sich noch einen Moment gegen Criid und erschlaffte dann plötzlich. Er hatte den Stift gezogen. Das ließ sich nicht rückgängig machen. Criid riss dem toten Ding die Stabgranate einfach aus den Händen und warf sie durch die offene Tür gegenüber. In seinem Kopf war die vage Hoffnung, die Wände des Raums würden den Großteil der Explosionswucht auffangen. In den zwei oder drei Sekunden, die Criid benötigte, dem Ding die Granate zu entreißen, hatte Merrt gegen den anderen Soldat gekämpft. Ineinander verschlungen, hatten sie hektisch mitei-
nander gerungen, bis Merrt dem Feind mit seinem augmetischen Kiefer ins Gesicht stieß. Der Feindsoldat wurde zurückgeschleudert und riss Merrt dabei mehr oder minder zufällig das Gewehr aus den Händen, bevor er durch den Türrahmen taumelte, nachdem Criid einen Augenblick zuvor die Granate hindurchgeworfen hatte. Die Explosion war dumpf, flach und rau und erfüllte den Korridor mit Trümmerstücken und Staubwolken. Criid kam hustend auf die Beine und sah sich um. Merrts Angreifer war durch den aus dem Raum wallenden Rauch halb zu sehen. Er hatte einen Großteil der Sprengwirkung abbekommen. Die Tür des Raums war eingedrückt. Merrt war bis zur Treppe zurückgeschleudert worden. »Alles in Ordnung?«, rief Criid immer noch hustend. Merrt nickte und rappelte sich langsam auf. Von unten riefen Stimmen herauf. »Klar?«, rief eine. »Klar?« »Klar!«, rief Merrt zurück. »Macht Platz! Wer ist da oben?«, fragte die Stimme. Merrt und Criid erkannten, dass es Sobile war. Er war auf der Treppe und kam nach oben. Seine Stiefel polterten die Stufen empor. Merrt hatte kein Gewehr. Criid sah Merrt an, stellte dann den Fuß auf sein Lasergewehr, das auf dem Boden lag, und beförderte es mit einem heftigen Tritt durch den Korridor zu dem Tanither. Merrt hob es auf. »Meldung? Wer hat dieses Gebäude eingenommen?«, wollte Sobile wissen, als er die letzten Stufen heraufkam und sich mit gezogener Pistole zu ihnen gesellte. Criid schaute von rechts nach links und schnappte sich das nächste Lasergewehr auf dem Boden. »Meldung!«, sagte Sobile. Er sah Criid an. »Haben Sie das hier gesäubert?« »Jawohl, Herr Kommissar.« »Was ist oben?« Criid schüttelte den Kopf. Sobile rief den Soldaten unten zu, sie sollten ihm folgen und die oberen Etagen durchkämmen. Er wandte sich wieder an Criid. »Stehen Sie nicht einfach nur herum!«, schnauzte er.
Nach weniger als einer halben Stunde war die Einheit wieder in der Dunkelheit der von Nacht befallenen Stadt unterwegs. Eine Division der Krassier stieß links von ihnen vor. Ihre Geschütze und Flammenwerfer erleuchteten sie wie ein Lavastrom in der Dunkelheit. Flugzeuge kamen zu ihrer Unterstützung herein. Criid hörte die entfernte Stimme eines Titans. Sie schienen sich schnell einer Art Innenstadtmauer oder zweiter Verteidigungslinie zu nähern. Criid erspähte hohe Bollwerke, die mit Geschützstellungen gespickt waren, dazu Werfertürme, die in regelmäßigen Abständen die Oberfläche der klippenartigen Mauer mit Flammenvorhängen überzogen. Hinter diesem inneren Wall ragten hohe Türme und Habitatsblöcke gewaltig in die Höhe. »Halt!«, befahl Kexie und ließ sie entlang einer ausgebombten Straße niederkauern, während das Gebiet vor ihnen ausgekundschaftet wurde. Aus ihrer Position konnte Criid Teile des Verteidigungswalls über den Ruinen in der Nähe ausmachen. Die Szenerie wurde durch intensiven Feuerschein beleuchtet, und die Ruinen in ihrem Weg waren nur fragile Silhouetten. Sie warteten. Criid betastete sein ramponiertes Gesicht. Kopf, Gesicht und Schlüsselbeine schmerzten und pochten von den Schlägen, die er abbekommen hatte. Kiefer, Mund und ein Auge waren geschwollen, und seine Lippen waren gespalten und wund. Blut aus Kratzern und Abschürfungen war auf seiner Haut getrocknet. Es fühlte sich an, als habe er sich in seinen Bemühungen, das Gesicht von den zuschlagenden Fäusten abzuwenden, einen Halsmuskel eingerissen. Er ging den Kampf noch mehrmals im Kopf durch. Bei jedem Durchlauf hoffte er, dass die Gesichter der Feindsoldaten etwas von ihrem Grauen verlieren und durch Wiederholung und Vertrautheit verblassen würden. Sie wollten nicht. Er war endlich dem Feind begegnet, und es hatte Narben in seinem Verstand hinterlassen. Das quiekende Schweineding mit der schweren Kanone war am schlimmsten. Wenn er sich bei Caffrans Warnung nicht sofort zu Boden geworfen hätte, wäre er … Criid dachte darüber nach. Caffran war gar nicht bei ihnen. Er war viele hundert, vielleicht tausend Kilometer entfernt. Doch es war seine Stimme gewesen, klar und deutlich. Oder nicht?
Vielleicht war es der Segen des Gott-Imperators, der es Caffran gestattete, über Criid zu wachen. Criid hatte nichts dagegen, aber er fragte sich: warum Caffran? Warum nicht seine Ma oder sein leiblicher Vater? »Aufstehen!«, befahl Sobile, und die Einheit kam mit lautem Klirren ihrer Ausrüstung auf die Beine. »Vorrücken!« Sie setzten sich wieder in Bewegung. Der Kampf vor ihnen hörte sich laut an, wie der lauteste Kampf, in den sie bisher verwickelt worden waren. Criid fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Einige fühlten sich locker an. »He«, sagte Merrt, der plötzlich neben ihm auftauchte. Er hielt ihm sein Lasergewehr hin. »Du hast mir deins gegeben«, sagte er. »Oh«, sagte Criid. Sie tauschten rasch die Waffen. Merrt betrachtete seine von oben bis unten. »Das ist deins?«, fragte er Criid. »Ja. Was ist denn los?« »Nichts.« Kexie rief etwas. Die Einheit verfiel in Laufschritt, als sie die zerklüfteten Ruinen hinter sich ließ und sich dem riesigen Abwehrbollwerk näherte. Es war gewaltig, größer, als Criid es sich vorgestellt hatte. Das Licht der Flammen war so grell, dass es wie eine gelandete Sonne aussah. Heftige Stürme aus Geschützfeuer tobten vor der großen Mauer. Die Straßen und Transitwege der Außenbezirke trafen sich bei der Mauer, sowohl auf Bodenniveau als auch vermittels riesiger Brücken, die den Graben vor der Mauer überquerten und durch riesige verteidigte Tore durch den Wall führten. Hunderte und Tausende Imperiale Gardisten rannten in breit fließenden Strömen aus Leibern über die Straßen und Brücken, um den Wall anzugreifen. AT 137 rannte mit ihnen.
Jäger I »Wie wird die hier genannt?«, fragte Zweil.
»Syerte«, erwiderte Eszrah. Der alte Ayatani schniefte, nickte und notierte sich das Wort auf seinem Stück Pergament. »Und diese? Die hier?« Eszrah neigte den Kopf und schaute hin. Dann runzelte er die Stirn und zuckte die Achseln. »Heißt das ›nein‹ oder ›nicht sicher‹?«, fragte Zweil. Eszrah zuckte wieder die Achseln. »Tja, es liegt mir fern, eine ganze Pflanzengattung zu ewiger Verdammnis zu verurteilen«, sagte Zweil, »also gehe ich erst mal auf Nummer Sicher und liste sie unter ›Andere‹.« Eszrah schien es so oder so wenig zu interessieren. Zweil kritzelte eine knappe Beschreibung der langweiligen, wenig beeindruckenden Pflanze nieder und ging dann weiter den zugewachsenen Graben entlang. Tona Criid kam über das ausgedörrte Feld zu ihnen getrabt. Cantible, das immer noch Rauch in den gläsernen Himmel blies, lauerte auf dem Nachbarhügel. Aus der Stadt drang Lärm herüber: ein entferntes Scheppern von Panzerfahrzeugen, das Dröhnen von Valkyrie-Triebwerken, ganz selten einmal ein Schuss. Noa Vadim, der Geist mit der Aufgabe, den Ayatani draußen im Freien zu bewachen, salutierte bei ihrer Ankunft. Sie betrachtete den Priester im Gestrüpp des Grabens. Der Nachgahner stand über ihm am Feldrand und beobachtete ihn gewissenhaft. »Was macht er?«, fragte sie. »Fragen Sie nicht«, erwiderte Vadim. Er gähnte ausgiebig. »Müde?«, fragte sie. Er zuckte die Achseln. »Sie hätten schlafen sollen, als Sie Gelegenheit dazu hatten«, sagte sie. Einem Teil des Regiments waren ein paar Stunden Nachtruhe zugestanden worden. »Ich habe ja geschlafen«, erwiderte Vadim. »Ich dachte, ich könnte nicht, an so einem Ort …« Vadim warf einen mürrischen Blick Richtung Cantible. »Aber nein. Ich habe durchaus geschlafen. Es waren nur die Träume.« Criid nickte. »Die Träume erwischen Sie hier, jedes Mal. Vergessen Sie nicht zu beten. Also … was macht er?« »Ich weiß es nicht genau. Als ich gefragt habe, hat er etwas von einer ›systematischen Segnung‹ erzählt und es dabei belassen.«
»Ich bin gekommen, um Eszrah zu holen.« Vadim zuckte wieder die Achseln. »Das müssen Sie mit ihm klären«, sagte er. Criid rutschte die staubige Böschung in den zugewachsenen Graben hinunter. Er gehörte zum alten Feldsystem und diente der Feldtrennung, aber Vernachlässigung und Missbrauch seitens der Besatzer hatten zunächst zu Wildwuchs und später zum Verdorren geführt. Sie ging zu dem gebeugt dastehenden Priester. »Und die hier?«, rief Zweil. »Syerte«, erwiderte Eszrah von der Böschung. »Ah, ja. Die hatte ich schon. Und hier, die hier unten, dieses hässliche Gewächs?« »Unart«, sagte der Nachgahner. »Bist du jetzt sicher?«, fragte Zweil. »Unart.« »Unart … Chaos?« Eszrah nickte. Zweil kritzelte ein paar Wörter auf sein großes Blatt, dann riss er die anstößige Pflanze mit heftigem Ruck aus und warf sie auf den Feldrand, auf dem hier und da bereits die Überreste ähnlich behandelter Pflanzen lagen. »Pater«, sagte Criid. »Ihr Wirken hier kommt mir ziemlich botanisch vor.« »Diese Welt war lange ohne die Fürsorge des Throns«, sagte Zweil. »Sie braucht einen verdammt guten Segen, jede einzelne Seele, jeder Käfer, jeder Kiesel und jede Wildblume. Der große Bursche macht mich mit der hiesigen Flora bekannt, damit ich in meinen Gebeten konkreter sein kann.« »Sie katalogisieren die Blumen, die Sie segnen müssen?« »Blumen, Pflanzen … ich hoffe, heute Nachmittag kommen wir zu den Bäumen.« »Heute Nachmittag?« Zweil sah sie an. »Meinen Sie, es könnte länger dauern?« »Ich halte es für möglich, dass Sie noch nie zuvor eine umfassende Katalogisierung des einheimischen Pflanzenlebens eines Planeten versucht haben«, sagte sie. Er hielt sein Pergament in die Höhe. »Was wollen Sie mir damit sagen? Dass ich ein größeres Blatt Papier brauche?« »Das will ich damit sagen«, erwiderte sie. Er wandte sich wieder dem Gestrüpp vor sich zu. »Wissen Sie, Tona, ich will auf keinen Fall etwas segnen, das der Gnade des
Imperators unwürdig ist. Ich habe nur eine begrenzte Menge Spiritualität in mir, also will ich nichts davon vergeuden. Der Erzfeind, verflucht sei seine Haut, der Erzfeind hat Pflanzen mitgebracht. Saatgut und Sporen und andere fremde Dinge.« »Ja, ich weiß«, sagte Criid. »Sie haben alles infiziert. Den Boden ausgedörrt. Die einheimischen Gewächse erstickt. Schmutzige Dinger. Der große Bursche hilft mir, sie zu identifizieren und auszureißen, damit ich sie nicht irrtümlich segnen kann.« »Wollen Sie auf dem ganzen Planeten Unkraut jäten?«, fragte sie. »Seien Sie nicht albern, Frau, ich bin kein Idiot. Es ist nur so, wenn ich sie sehe, stören sie mich, und dann reiße ich sie aus. Der große Bursche nennt sie … wie nennst du sie?« »Unart«, sagte Eszrah. »Unart. Genau. Das heißt, irgendwie fremdartig. Nicht von hier. Nicht von dieser Welt. Ein Außenseiter. Ein …« »Ich verstehe«, sagte Criid. »Pater, ich bin gekommen, weil der Kommissar-Oberst Eszrah eine Weile braucht.« »Aber ich bin hier noch beschäftigt.« »Ich weiß, aber es ist wichtig.« »Das heißt, jetzt komme ich heute Nachmittag ganz sicher nicht mehr zu den Bäumen, richtig?« »Das ist eine Schande, ganz sicher«, gab sie ihm recht. Sie wandte sich an den Nachgahner. »Gaunt«, sagte sie. Ohne ein Wort oder ein Zeichen der Bestätigung drehte sich Eszrah um und ging über das Feld zur Stadt zurück. Zweil stieß einen müden, enttäuschten Seufzer aus und setzte sich auf die Grabenböschung. Er zog seine Röcke hoch und machte sich an seinen Armeestiefeln zu schaffen. »Meine Stiefel sind zu groß«, sagte er. Dann beklagte er sich: »Was soll ich nur machen, bis der große Bursche zurückkommt?« Criid zögerte. »Pater, da ist etwas.« Zweil sah sie scharf an. »Dalin«, sagte er. »Ich habe es nicht vergessen. Wissen Sie, ich erwähne seinen Namen zu allen heiligen Stunden.« »Ich glaube, es geht um mich«, sagte sie. »Ich brauche mehr als die Regimentsgebete dieses Morgens.« Er nahm sie bei der Hand und ließ sie inmitten des Gestrüpps niederknien. »Hier?«, fragte sie.
»Ein Platz so gut wie alle anderen«, erwiderte er. »Er ist irgendwo auf diesem Dreck, also verbindet uns dieser Dreck. Herr Vadim?« Zweil reckte seine knochige Hand in die Höhe und bedeutete Vadim, Stola, Kruzifix und Antiphon zu holen, die er am Grabenrand zurückgelassen hatte, um das Unkraut auszurupfen. »Nun denn«, sagte Zweil, während er in dem alten Buch blätterte. »Das Gebet einer Mutter für ihre Nachkommen unter den Augen des Gott-Imperators …« II »Herhören«, sagte Gaunt, als er in die Mitte der Gruppe trat, die sich auf dem Platz in der Stadtmitte versammelt hatte. Die Offiziere nahmen Haltung an. »Ich mache es kurz, weil genug Arbeit auf uns alle wartet«, sagte Gaunt. »Punkt eins: Erinnern Sie die Männer unter Ihrem Kommando daran, dass tägliche Spritzen lebenswichtig sind. Dorden hat mir mitgeteilt, dass sich heute Morgen doch einige nicht bei ihm zur Anti-Fieber-Spritze gemeldet haben. Keine Ausflüchte. Die Spritzen müssen zur Gewohnheit werden. Punkt zwei: Cantible wird zumindest noch für die nächsten Tage unsere Ausgangsbasis sein. Zu unserer eigenen Sicherheit müssen wir die Durchsuchung vorantreiben. Straße für Straße, Hab für Hab, gründliche Durchsuchungen. Ich will nicht, dass sich feindlicher Abschaum in unserer Mitte hält, und ich will ganz gewiss nicht, dass er sich zu irgendwelchen Widerstandszellen organisiert und bei uns einnistet. Keller und Dachstuben. Verstanden?« Ein Chor der Bestätigung antwortete. »Schon irgendwelche Spuren von Glyfs oder Drahtwölfen?«, fragte Gaunt. »Nein, Herr Kommissar«, antwortete Mkoll. »Tja, das gehört zu den Dingen, die ich nicht verstehe«, sagte er. »Bleiben Sie auf jeden Fall wachsam. Wenn Ihnen irgendwas merkwürdig vorkommt, melden Sie es. Sorgen Sie dafür, dass sich Ihre Männer das zu Herzen nehmen. Das sind Dinge, für die sie einfach nicht bereit sind oder mit denen sie nicht umgehen können. Deswegen haben wir Panzer mitgebracht.« Er warf einen höflichen Blick auf den anwesenden Offizier der Dev Hetra, der respektvoll nickte.
»Einheimische Überlebende?«, fragte Gaunt. »Wir haben ungefähr zweihundertsiebzig Menschen gefunden, bei denen es sich anscheinend um versklavte Stadtbewohner handelt«, sagte Hark. »Alle sind ernsthaft krank und unterernährt, und in ihren Arm ist ein Ding implantiert. Wie wird das noch mal genannt? Zertifiziert? Manche wollen oder können nicht reden. Jene, die reden können, bestätigen ihre Treue zum Imperator und segnen uns, weil wir sie gerettet haben.« »Sie könnten einfach nur sagen, was wir ihrer Ansicht nach hören wollen«, sagte Faragut. »Natürlich werden wir sie internieren müssen. Vertreter der Inquisition treffen in den nächsten Tagen ein.« Gaunt runzelte die Stirn. Es gefiel ihm nicht, aber ihm war klar, dass es keinen anderen Weg gab. »Nach der Untersuchung durch die Inquisition und angemessener medizinischer Behandlung haben sie allen Grund, ihre Befreiung zu erwarten«, sagte Faragut. »Sie könnten genau das sein, was sie zu sein scheinen: Sklaven. Schließlich gibt es einen Präzedenzfall dafür«, fügte er spitz hinzu, »dass Imperiumsbürger einige Zeit auf dieser Welt überlebt haben, ohne sich einen Makel zuzuziehen.« »Aber wir haben nicht mehr als knapp dreihundert Personen gefunden?«, fragte Cirk. »Zweihundertsiebzig«, sagte Hark. »Aus einer Bevölkerung von wie vielen? Dreißigtausend?« »Ungefähr.« »Was im Namen des Throns ist mit den übrigen passiert?«, fragte Cirk. »Ich glaube nicht, dass wir das je erfahren«, erwiderte Faragut. »Oder auch wissen wollen.« »Punkt drei«, sagte Gaunt, bevor die Besprechung ausuferte. »Wir scheinen eine erste Verbindung hergestellt zu haben, was unser Hauptziel war, also verlasse ich die Stadt in Kürze, um dem auf den Grund zu gehen. Mkoll wird meinen Begleittrupp anführen. Ist der Trupp so weit?« »Bereit zum Abmarsch, Herr Kommissar«, sagte Mkoll. »Gut. In meiner Abwesenheit hat Major Rawne das Kommando. Irgendwelche Fragen?«
Etwa eine Stunde später brachen sie zu Fuß auf, eine Abteilung von dreißig Mann sowie Gaunt, Cirk, Faragut und Eszrah, und wandten sich nach Norden. Ihre Route folgte einem Weg durch die verwüsteten Äcker und Felder der Provinz Lowensa in Richtung einer kleineren Stadt namens Vanvier. Es war ein warmer, ruhiger Tag, und die Sonne kletterte langsam hinter einer Decke aus dunstigem Weiß empor. Tiefe, kratzende, unheilvolle Geräusche drangen wie aus weiter Entfernung an ihre Ohren und legten nahe, dass die Echos der Hauptkonflikte über den Kontinent hallten, obwohl Faragut dies als Wunschdenken abtat und als einen Streich, den der Wind ihren Ohren spielte. »Es geht kein Wind«, sagte Larkin zu Brostin. Vielleicht ein weiterer Streich des Windes war das statische Knistern und Rauschen, das von Zeit zu Zeit in der Luft lag und mit dem Sonnenschein in Verbindung zu stehen schien. Die wellige Landschaft war verschrumpelt und tot. Früher war es eine üppige, fruchtbare Region ganz ähnlich der Gegend um die Stadt Ineuron gewesen, wo Cirk aufgewachsen war und ihre Familie Ackerland besessen hatte. Ihre eigenen Ländereien, die bereits geplündert und verwüstet worden waren, bevor sie sie verlassen hatte, ähnelten mittlerweile wahrscheinlich diesem hier: einer Staubwüste, wo nur noch die zähsten, gröbsten Gräser und widerliche importierte Pilze wuchsen, wo Weiler und einsame Gehöfte leer und tot waren und die ausgedörrten Knochen des Viehs die rissige Erde bedeckten. Es war ein bestürzender Anblick. Cirk sprach unterwegs wenig, aber Gaunt konnte den Kummer fühlen, den sie verbarg. Er hatte selbst vor noch nicht allzu langer Zeit auf dieser Welt gelebt, und sie hatte schon damals gelitten. Das Land, das Klima, Fauna und Flora, all das hatte gelitten, als sei es erkrankt, und alle natürlichen Kreisläufe waren aus den Fugen geraten. Es war nichts gewesen im Vergleich zu dem hier. Gereon war kein Planet mehr, auf dem eine Krankheit oder Infektion im Frühstadium tobte. Dies war die Endphase von Verschleiß und Verderbnis. Während sie marschierten, schloss sich Gaunt mit Beltayn kurz. Der Kom-Offizier benutzte die neuen Codes, die Bonin entdeckt hatte, und schließlich war es ihm am Morgen gelungen, Tagstern zu erreichen. Tagstern war der Deckname für einen der wenigen Untergrundkontakte, den die Flotte vor der Befreiung hatte knüp-
fen können. Gaunts Streitmacht hatte sich mit ihm am Tempel in Cantible treffen sollen. Die Pläne hatten sich anscheinend geändert. »Der Widerstand hat nur überlebt, weil er so verschwiegen war, wie er nur sein konnte«, sagte Cirk. »Die Kontaktaufnahme könnte sehr zäh verlaufen. Wir sind zwar nicht der Feind, aber sie dazu zu bringen, ihre heimlichtuerischen Gewohnheiten aufzugeben, könnte schwierig werden.« »Das schaffen wir schon. Schließlich hat das Oberkommando uns genau diesen Auftrag erteilt. Es spielt keine Rolle, wie viel heißes Metall wir auf die Hauptschauplätze werfen, wir können Gereon nur dann richtig zurückerobern, wenn wir den Planet von innen aufschließen. Und dazu brauchen wir unbedingt den Untergrund.« Cirk nickte, aber sie schaute dabei seltsam drein, als versuche sie sich selbst zu überzeugen. Faragut lächelte neben ihr. Er sah aus, als wolle er etwas sagen. »Was ist denn?«, fragte Gaunt. »Nichts, Herr Kommissar«, sagte Faragut. Voraus rief Criid plötzlich: »Runter! Von der Straße!« Die Abteilung verließ sofort die Straße und ging im flachen Straßengraben in Deckung. Das Land ringsumher war leicht wellig und mit einem dicken rötlichen Gras bedeckt, das so hoch wurde wie Getreide. Gaunt kroch zu Criid und Mkoll. »Was haben Sie gesehen?« »Etwas da hinten im Gras, vielleicht einen halben Kilometer weit entfernt. Etwas Großes und geduckt Schleichendes.« »Was für ein Etwas?«, fragte Gaunt. »Ein großes Tier. Ein Raubtier. Eigentlich nur eine Form und zu tief geduckt in der Vegetation, um mehr zu erkennen. Es sah aus, als würde es uns beschleichen. Wie eine Viehherde.« Mkoll und die anderen Späher in der Abteilung schwärmten vorsichtig aus, um nachzusehen. Als sie wiederkamen und nichts gefunden hatten, setzte Gaunt die Abteilung wieder in Marsch. »Muss meine Einbildung gewesen sein«, sagte Criid, die jedoch nicht so klang, als glaube sie das. Sie dachte an die grässlichen Schleicher, die Gefertigten von Ancreon Sextus, die dank des verdrehten Einflusses des Chaos auf eine Weise gekommen und
gegangen waren, die einem Normalsterblichen nicht zur Verfügung stand. Sie kamen in Sichtweite ihres Bestimmungsorts, eines kleinen bäuerlichen Weilers namens Cayfer. Es handelte sich um eine baufällige Ansammlung steinerner Gebäude auf einem niedrigen Hügel inmitten des eingedrungenen rosa Grases in einem Bereich, der mit den toten Überresten von Talix- und Kelterbäumen gespickt war. Mehrere Kilometer jenseits des Weilers begann ein dickerer Gürtel kränklichen Waldlands. Es gab kein Anzeichen für Leben. Der Weiler wirkte tot und den Elementen übergeben. Durch seinen Feldstecher konnte Gaunt erkennen, dass Steinmauern eingestürzt waren und Habs und Außengebäuden das Dach fehlte. Die Gerippe toter Nutztiere lagen zwischen verrosteten landwirtschaftlichen Gerätschaften auf dem steinigen Boden. Die Ruine einer Windmühle stand mit reglosen Flügeln, die wie zerfledderte Schwingen aussahen, in der Mitte des Örtchens. Windmühlen waren in den Agrarprovinzen weit verbreitet. Sie hatten auf ihrem Marsch mehrere Ruinen von Windmühlen gesehen. Gaunt erinnerte sich an eine ganze Reihe riesiger Windmühlen, welche die Grenze der Provinz Edrian markierten, wo Brostin eine besonders spektakuläre Aktion mit einer Tankerladung Prometheum ausgeführt hatte. Das schien schrecklich lang zurückzuliegen. »Versuchen Sie die Verbindung«, sagte er zu Beltayn. Beltayn kniete sich auf den Boden und nahm einige Einstellungen an den Wählscheiben seines ungewöhnlichen Kom-Geräts vor. »Tagstern, Tagstern, hier Himmelsdampfer. Bitte antworten.« Er schickte die Nachricht als verbales Signal und gleichzeitig als nonverbalen verschlüsselten Impuls, der per Hand mit der Sendetaste getippt wurde. Nichts kam zurück. »Was ist los mit ihnen?«, murmelte Gaunt. »Sie waren nicht gerade gesprächig heute Morgen, Herr Kommissar«, sagte Beltayn. Das stimmte. Von den Verifikationsschlüsseln abgesehen, lautete die gesamte vorherige Botschaft »Mühle Cayfer, heute Abend«.
»Sie könnten uns beobachten«, sagte Cirk. »Sich vergewissern, dass wir die sind, für die wir uns ausgeben.« »Das würde ich wissen«, sagte Mkoll. »Vielleicht auch nicht«, sagte Cirk zu dem Späher. »Sie könnten sich einfach bedeckt halten«, sagte Beltayn. »Ich meine, falls etwas sie verschreckt hat. Vielleicht glauben sie, dass irgendwas faul ist, und wollen sich erst sehen lassen, wenn es sicher ist.« Gaunt ließ seinen Feldstecher umherwandern und betrachtete den Weiler und die umliegende Landschaft. Plötzlich verharrte er. »Was ist denn, Herr Kommissar?«, fragte Criid. »Ich glaube, Bel hat recht. Ich glaube, da ist irgendwas faul.« »Wie meinen Sie das?« »Sie wissen doch noch, dass Sie glaubten, etwas gesehen zu haben, das uns beschlichen hat?« »Ja?« »Ich glaube, ich habe es auch gerade gesehen.« III Das Gebäude musste früher eine Schola oder eine Klinik gewesen sein und stand in der Südwestecke von Cantible. Erste Streifen hatten gemeldet, es sei leer, doch nun hatte Kolea den Befehl über die Durchsuchung der Straßen in diesem Teil der Stadt, und er wollte ganz sichergehen. »Etwas so Großes wird ein Untergeschoss haben«, sagte er zu Varl. »Lagerräume, Keller, Gewölbe. Wir nehmen es uns Raum für Raum vor.« Der Trupp rückte an. Der Himmel hatte eine gewittergelbe Färbung angenommen. Trotz ihrer Vorsicht hallten die Schritte der Geister lärmend durch die trümmerübersäten Höfe und Säulengänge des alten Bauwerks. »Herr Major?« Kolea durchquerte einen viereckigen Innenhof zu einer offenen Tür, wo Domor und Chiria standen. »Was gibt es, Shoggy?« »Nur einen Saal«, sagte Domor. Kolea lugte hinein. Es handelte sich tatsächlich um eine große Aula oder einen Versammlungs-
raum. Die Wände waren verunstaltet, der Boden mit Glasscherben und zerschmetterten Holzbänken bedeckt. Am anderen Ende wurden große, verschmierte Spitzbogenfenster durch das Tageslicht aufgehellt und ließen die verschwommenen Formen von Bäumen dahinter erkennen. »Irgendwelche Luken? Türen?« »Nein, Herr Major«, sagte Chiria zu Kolea. »Nun denn«, sagte Kolea, indem er wieder in den Hof zurückging. »Weitermachen.« Sein Kom summte. Es war Meryn. »Ja, Hauptmann?« »Die Habs sind klar bis zum Ende der Straße, Herr Major. Wir haben ein paar Leichen in einem gefunden. Sind aber schon älter. Sonst nichts. Soll ich zur nächsten Reihe vorrücken?« »Nein, bleiben Sie an Ort und Stelle. Wir sind gleich da. Ich will, dass die Suchbereiche einander weiter überlappen.« »Verstanden.« Varl schlenderte mit einem halben Dutzend anderer Geister im Schlepptau über den Hof zu ihm. »Was ist da entlang?«, fragte Kolea. »Ein Kellergewölbe«, sagte Varl. »Es ist verfallen. Es gibt ein paar Lagerräume, aber die sind völlig demoliert.« »Und was liegt hinter dieser Mauer?«, fragte ihn Kolea. Auf der gegenüberliegenden Seite endete der Hof vor einer hohen Steinmauer. »Die Straße«, sagte Varl. Kolea nickte und stutzte dann. »Nein«, sagte er, »das kann nicht sein.« »Ich bin sicher, dass es so ist«, sagte Varl. »Gibt es Bäume an der Straße?«, fragte Kolea. »Kannst du dich an Bäume erinnern?« »Nein«, sagte Varl. Kolea schaltete sein Helmkom ein. »Äh, Meryn? Sind Sie noch auf dieser Straße?« »Ja, Herr Major. Wir warten am Nordende.« »Sehen Sie irgendwelche Bäume?« »Bitte wiederholen?« »Bäume, Meryn. Sehen Sie irgendwelche Bäume?« Eine Pause. »Negativ für Bäume, Herr Major.«
»Worum geht’s hier eigentlich?«, fragte Varl. Kolea zeigte auf die Begrenzungsmauer. »Dahinter kann nicht die Straße sein. Die Straße verläuft weiter links. Diese Mauer schirmt ab, woran dieser Saal mit der Rückwand grenzt. Man kann Bäume durch die Saalfenster erkennen.« Sie gingen zu der hohen Mauer. Die Steine waren verdreckt und schwarz, als sei Ruß daraufgepappt und dann eingebrannt worden. Kolea tastete sich voran, von Varl und einigen anderen Truppmitgliedern gefolgt. »Tür«, verkündete Kolea. »Feth«, sagte Varl. »Wer hat die übersehen?« »Spielt keine Rolle«, erwiderte Kolea. »Ich glaube, dieser Ort will nicht, dass wir seine Geheimnisse erfahren.« Die Tür, schmal und hölzern, war schwarz gestrichen und passgenau und fugenlos in das Mauerwerk eingesetzt. Selbst aus der Nähe war sie praktisch unsichtbar. »Waffen bereithalten«, sagte Varl zu den anderen. »Wir gehen durch und …« Doch Kolea hatte die Tür bereits geöffnet. »Feth!«, sagte Varl und folgte ihm. Dahinter lag ein kleiner dunkler Innenhof, der auf allen Seiten von hohen schwarzen Mauern umgeben war, außer dort, wo der Saal angrenzte. Der Boden war mit menschlichen Knochen bedeckt. Reichlich bedeckt. Die Knochen waren lose und durcheinander, stellenweise hoch gestapelt, in Haufen vor den Mauern. Es roch nach alter Fäulnis, und die Mauern waren innen von Schimmel überzogen. Es war wie ein Ossarium oder eine widerliche anatomische Müllkippe. »Gak«, seufzte Kolea. »Ich glaube, wir haben herausgefunden, wohin all die Leute verschwunden sind.« Neben ihm starrte Varl entsetzt auf die zergliederten Überreste der Toten, die glotzenden Augenhöhlen, die klaffenden Münder, die braunen Rippen. Die anderen Soldaten, nicht unvertraut mit dem Tod, waren gleichermaßen fassungslos. »Bäume«, sann Kolea plötzlich mit einem schweren Schlucken, während er versuchte, sein Hirn wieder anzukurbeln. »Warum konnte ich Bäume sehen?« Er blickte auf und sah die drei hohen schlanken Galgen vor den Saalfenstern. Sie waren aus dunklem Holz gemacht, als sei es
blutbefleckt. Skelettartige Metallpuppen hingen an Stahldrähten, stumm, leer und kahl. Varl sah, wohin Kolea starrte. Die Nachwirkungen des Schocks in seinem Gesicht verwandelten sich in Furcht. »Gol«, flüsterte er, indem er sehr langsam zurückwich und dabei versuchte, die anderen mitzuziehen. »Gol, um Throns willen … das sind Drahtwölfe.« IV Sie marschierten durch zerzaustes rosa Gras und ein Gewirr aus Steinbrocken zur Grenze von Cayfer. Mkoll war am Ende der Kolonne und hielt im Grasland nach Spuren des Dings Ausschau, das sie beschlich. »Es hatte sich tief ins Gras geduckt«, hatte Gaunt gesagt, »und war verschwunden, bevor ich es richtig sehen konnte.« »Ein Tier?« »Ein Raubtier«, hatte Gaunt genickt. Er weigerte sich, das Wort Dämon auszusprechen, aber was mochte sonst die Marschen einer Welt heimsuchen, die sich in den Klauen der Mächte des Verderbens befand? Die Hänge vor dem Weiler waren melancholisch. Rosa Gras und violette Flechten klebten an niedrigen Steinmauern und verwitterten Toren, und die Bäume waren tot und verdorrt wie die Knochen riesiger Hände. Innerhalb der eingestürzten Mauern, zwischen den verrosteten Ackergeräten und verstreuten Tierknochen, gab es winzige Spuren, die von der ehemaligen Anwesenheit von Menschen kündeten: ein Blecheimer voller hölzerner Wäscheklammern, vom Sonnenlicht gebleicht, seltsame Stiefel und Schuhe, deren Leder rissig und abgenutzt war wie alte Haut und die rätselhafterweise auf einer Steinmauer in einer ordentlichen Reihe standen, eine kaputte Trompete, die im Unkraut lag, eine Puppe mit einem Knopfauge, nicht zueinanderpassende Töpfe, Tassen und andere Gefäße, die in einem sonderbaren Muster im Gras lagen, jedes halb voll mit abgestandenem Regenwasser, ein Holzklotz zum Hacken von Feuerholz und ein Stapel gehacktes Holz daneben, aber keine Axt. Der Himmel hatte sich verdunkelt, und ein schwacher Wind war aufgekommen, der wie eine unsichtbare Hand über das Grasland
strich und die toten Bäume knarren ließ. Irgendwo schlug eine Tür zu. Das Segeltuch an den zerfledderten Flügeln der Mühle fing an zu flattern. Sie näherten sich jetzt dem eigentlichen Weiler. Gaunt zückte seine Boltpistole und bedeutete allen, in Deckung zu gehen. Die weit gefächerte Abteilung kauerte sich in den Schutz der Mauern und Gebäude. »Bel?« Beltayn versuchte es wieder mit seinem Kom. Diesmal bestand die Antwort auf seinen Spruch aus verzerrtem Jaulen. »Atmosphärische Störungen«, sagte er. Gaunt nickte. Das war keine Überraschung. Es kam ihm vor, als sei ein Gewitter im Anzug. Die Farbe des Himmels und der Wechsel des Lichts kündigte es an. Der auffrischende Wind war kalt, als ströme Luft aus einer Polargegend ein. Die warme Ruhe, die sie seit der Landung umgab, war wie weggeblasen. Gaunt wollte sich wieder in Bewegung setzen, als sie alle ein langes, schnurrendes Grollen hörten. Es kam aus einer gewissen Entfernung mit dem Wind, was bedeutete, dass es laut gewesen sein musste. Eszrah erschrak und hob seinen Regenbagen. Gaunt sah Mkoll an. Der Späher zeigte in eine Richtung. Was ihn betraf, kam das Geräusch aus dem schwankenden Grasland. »Criid«, sagte Gaunt. »Halten Sie hier die Stellung. Larks, Mktass, Garond … mit mir und Mkoll.« Die ausgewählten Soldaten kamen hoch und eilten hinter Gaunt her. »Es bewegt sich wie eine Katze«, flüsterte Mkoll, als sie neben ihm in Deckung gingen. »Tief geduckt, die Ohren angelegt.« »Es hat Ohren?«, fragte Larkin. »Ich habe es nicht einmal gesehen«, gestand Mkoll, »aber ich kann es spüren. Ich kann spüren, wie es uns beobachtet und näher schleicht.« Noch ein schnurrendes Grollen erreichte sie mit dem Wind. Es klang beinahe wie ein Husten. »Und wir können es hören«, fügte Mkoll hinzu. »Lassen Sie die entsichert«, sagte Gaunt zu Larkin, indem er auf dessen Präzisionsgewehr zeigte. »Wenn es groß und schnell ist, werden wir einiges an Feuerkraft brauchen, um es zu stoppen.«
»Wenn ich es sehe, puste ich ihm den verdammten Schädel weg«, versicherte Larkin ihnen. »Schön«, sagte Gaunt. »Garond und Mkoll, Sie gehen nach links. Mktass mit mir nach rechts. Larks, Sie gehen von hier aus vorwärts. Wollen doch mal sehen, ob wir es nicht in die Zange nehmen können.« »Hat es große Raubtiere auf Gereon gegeben?«, fragte Garond. »Nein«, sagte Gaunt. »Vielleicht in der Unbebau, aber nicht hier. Das hier bedeutet Ärger. Es ist etwas, das der Feind mitgebracht hat. Gehen wir.« Die beiden Flügel der Zange eilten tief geduckt durch das nickende Gras. Als er loslief, glaubte Gaunt das Knurren noch einmal zu hören, aber dann ging ihm auf, dass es das Donnergrollen des sich nähernden Gewitters war. Er bedeutete Mktass, tiefer zu gehen, und sie krochen vorwärts. Gaunt tastete nach seinem Energieschwert. In Deckung würde es nicht leicht zu ziehen sein, aber die Zeit mochte kommen. Es hatte eine Vorliebe für Warpbestien. Siebzig Meter entfernt glitten Mkoll und Garond auf dem Bauch zum Stamm eines der toten Bäume. »Riechen Sie das?«, flüsterte Garond. Mkoll nickte. »Blut. Getrocknetes Blut.« »Was zum Gak ist das für ein Ding?«, zischte Garond. »Es ist tot, das ist es«, flüsterte Mkoll zurück. »Mir ist egal, wie groß und hässlich du bist, du geisterst nicht hinter den Geistern her.« Mkoll spähte nach draußen. Da war immer noch nichts zu sehen. Das hustende Knurren kam wieder, ein leises Schnurren. Dann war es weg. »Wo bist du?«, murmelte Mkoll. Larkin schlich vorwärts, sein Gewehr im Arm. Er verspürte ein Kribbeln, das Kribbeln des Scharfschützen, das auf die Richtung eines Ziels hindeutete, wenn es noch nicht zu sehen war. Achtzig, neunzig Schritt voraus, im hohen Gras, zwischen den beiden gegabelten Bäumen. Larkin hätte Geld darauf gewettet, wäre Varl bei ihnen gewesen. Es war eine Bauchsache, und Larkin war schon lange Jäger. Er schmiegte das Gewehr sanft an seine Wange.
»In der Senke zwischen den Bäumen«, sendete er leise. »Spezifizieren«, antwortete Gaunt. »Sehen Sie die beiden Bäume links von Ihnen? Einer ist hoch und dünn, kaum Äste und gebogen wie ein Schwanenhals. Der andere sieht aus wie eine Frau, die sich bei starkem Wind bückt und der die Röcke hochfliegen. Sehen Sie die?« »Ich sehe sie.« »Dazwischen fällt der Boden ab, ziemlich tief. In der Senke.« »Sind Sie sicher?«, sendete Mkoll. »Mein Bauch ist es.« »Das reicht mir«, stellte Mkoll fest. Larkin legte an. Durch das Zielrohr visierte er die Senke durch das nickende Gras an. Zum ersten Mal glaubte er eine Gestalt ausmachen zu können, eine dunkle Gestalt. Er war bereit. Wieder ertönte ein Grollen. Ein Zischen, ein Schnauben, dann bewegte sich das Ding. Es kam aus dem Gras, als erhebe es sich zum Sprung. Larkin sah die Augen, hell, gelb und leuchtend. Sein Fadenkreuz zeigte direkt zwischen sie. Kopfschuss. Er nahm ihn. Der Hochenergieschuss knisterte durch das rosa Gras und traf die Bestie zwischen die Augen. Ein sengendes metallisches Krachen ertönte. Mit einem weiteren hustenden Brüllen, wie durch Schmerz angestachelt, erhob sich die Bestie mit einem jähen, heftigen Ruck aus der Senke. Jetzt konnten sie sie sehen. Jetzt konnten sie sehen, was es war. »Ach, Feth«, sagte Mkoll. V »Bewegung!«, bellte Gaunt. »Geduckt bleiben!« Sie verteilten sich. Brüllend und schnaubend kam die Bestie aus der Senke und drückte dabei das hohe Gras platt. Schwarze Rauchfontänen strömten aus den Hinterläufen direkt in die Luft. Ihr enormer Motor heulte auf. Es war eine Maschine, aber es war auch eine Bestie und ein Dämon. Es war ein feindlicher Panzer. Die ramponierte, angeschlagene Panzerung war rot, aber stellenweise war die Farbe abgeblättert, sodass nacktes graues Metall durchschien. Die Umrandungen waren mit verdrehten Blechplatten und verrosteten Stacheldrahtschlingen verstärkt. Nieten
bedeckten die Bestie wie Kletten. Angebundene Trophäen schlugen und klapperten gegen ihre Flanken. Auf der Seite des Geschützturms prangte ein einzelnes aufgemaltes Zeichen, ein Runensymbol von kosmischer Böswilligkeit. Gelbe Scheinwerferaugen leuchteten im Bug. Die Bestie kam mit alarmierender Schnelligkeit aus der Senke und rollte mit stetigem Scheppern von Ketten über den ebenen Boden. Sie ging direkt auf Larkin los. Gaunt war immer noch in Bewegung. Er schaute zurück. »Larkin?« Die in die linke Bugseite der Bestie fest eingebaute Autokanone fing an zu schießen. Großkalibrige Kugeln summten über das raschelnde Gras. Erdklumpen spritzten in die Luft. Ein kleiner toter Baum zersplitterte in trockene Späne. »Larkin!« Von dem Meisterschützen war nichts zu sehen und zu hören. Die Bestie schleuderte abrupt nach links, da eine Kette bremste, während sich die andere weiterdrehte. Dreck und Erde spritzten hinter ihr in die Luft, als sich die Ketten in den Boden wühlten. Holpernd schwenkte sie in Richtung Gaunt und Mktass herum. Als habe sie seine Stimme gehört. Das Hauptgeschütz der Bestie, das mit den Bewegungen herumwackelte wie ein schlaffes Glied, war ein wenig abwärts gerichtet, ein wenig tiefer als die Horizontale. Die Turmhalterung kreischte über dem brutalen Dröhnen des Motors, als der Turm sich zu drehen begann. Gaunt und Mktass lagen bereits im Gras. Gaunt drehte den Kopf und erspähte Mktass ein paar Meter entfernt durch die Grashalme, wo er auf Händen und Knien vorwärts schlich. »Nicht bewegen …«, wollte er sagen. Die Bestie sprach. Das Geräusch des feuernden Hauptgeschützes war schmerzhaft laut, als treffe ein Vorschlaghammer einen Amboss. Die Entfernung war so gering, dass kein Platz war, das Pfeifen der Granate zu hören. Zwanzig Meter vor Gaunt ging ein großer Fleck Marschland in einem Kegel aus Rauch und Flammen auf. Die Explosion ließ die Erde beben.
Die Bestie hielt ruckend an, und wieder kreischte Metall auf Metall, als der Turm in die andere Richtung zurückgedreht wurde. Er hielt an. Gaunt legte die Arme um den Kopf, biss die Zähne zusammen und wartete auf den … Wieder sprach die Bestie. Wieder brach ein Vulkan aus Dreck und Feuer in der Marschlandschaft aus. Gaunt hatte schon viele hundert Male zuvor Panzer schießen hören, sowohl aus der Nähe als auch aus der Ferne, und es lag nicht nur an der kurzen Distanz, dass die Stimme der Bestie besonders monströs klang. Es lag daran, dass es eine Stimme war. Es war der Donner eines schweren Geschützes, aber in diesem Donner, in diesem Hammer-auf-Amboss-Krachen von Geschützmechanismen und Granatfeuer lag ein organischer Unterton. Ein Heulen. Ein Brüllen der Lust, Wut und Häme. Ein hungriges Knurren. Der Motor heulte wieder, und die Bestie schwang mit scheppernden Kettengliedern herum. Sie holperte langsam in Mkolls Richtung. Ihr Verhalten war außergewöhnlich. Gaunt kannte Nutzen und Wert von Panzern, ihre Kraft und Stärke und psychologische Wucht. Panzer waren ein wichtiges Werkzeug der Kriegsführung als grobschlächtige Ungeheuer, die heranrollen und erstaunliche Feuerkraft liefern konnten. Diese Bestie verhielt sich nicht wie ein Panzer. Sie rückte nicht einfach gegen sie vor und schoss mit ihren Waffen. Sie machte Jagd auf sie, und zwar schon seit sie ihrer zum ersten Mal gewahr geworden waren. Höchstwahrscheinlich sogar noch länger. Sie waren davon überzeugt gewesen, dass sie von einem großen Raubtier beschattet wurden, und sie hatten recht gehabt. Beim ersten Auftauchen der Bestie hatte Gaunt alle Mühe gehabt, sich vorzustellen, dass sie mit dem Rumpf in der Senke und dem langen Gras gelauert hatte und nicht auf dem Bauch. Seit wann benahmen sich Panzer wie Wölfe oder Raubkatzen? Die Bestie rollte der Stelle entgegen, wo Gaunt Mkoll zuletzt gesehen hatte. Ihre Autokanone gab ein paar träge Schüsse ab, dann hielt sie plötzlich an und bremste dabei so hart, dass der ganze Rumpf auf der Aufhängung wackelte. Die Trophäen, die ihre Flanken schmückten – in erster Linie menschliche Schädel und Gardehelme, die wie Perlen aufgereiht waren –, klapperten
und schwangen hin und her. Die große Turbine blubberte im Leerlauf. Kleine schwarze Rauchwolken quollen aus den Auspuffrohren. Was tat sie? Worauf wartete sie? Der Turm setzte sich wieder in Bewegung und drehte sich langsam nach links, vom Kreischen ungeschmierter Gelenke im Kragen des Metallturms begleitet, als werde eine Steintafel von einem Grabmal gezerrt. Der Turm hielt an, als er auf den Hang wies, wo der Weiler lag. Ein elektrisches Surren ertönte, und der Lauf hob sich langsam, bis er fünfundzwanzig Grad aufwärts wies und direkt auf Cayfer zielte. Nicht zielte. Gaunt hob den Kopf aus dem Gras und riskierte einen Blick. Die Bestie hockte dreißig Meter entfernt und hatte ihm ihr massives Hinterteil zugewandt. Das Hauptgeschütz zielte nicht auf Cayfer, dachte Gaunt. Es … beschnüffelte, witterte den Weiler. Witterte im Wind wie eine Katze. Langsam zog Gaunt sein Energieschwert. Während die Bestie beschäftigt war, konnte er sich vielleicht von hinten anschleichen und im toten Winkel ganz nahe heranrücken. Panzerplatten hin oder her, Heironymo Sondars Energieschwert konnte durch ein Belüftungsgitter oder einen Auspuff stechen und den Motor beschädigen. Vorausgesetzt, jemand auf einem goldenen Thron lächelte ihm … Er schlich vorwärts. Er aktivierte die Klinge nicht aus Furcht, das Summen könne ihn verraten … aus Furcht, der Panzer könne es hören. Die Vorstellung wäre lustig gewesen, wäre sie nicht so entsetzlich real. Zu seiner Rechten sah er Mktass, der immer noch im Gras lag und hektisch signalisierte, Gaunt solle es lieber nicht versuchen. Zu viel verrücktes Risiko, besagten Mktass’ Gesten und seine weit aufgerissenen starren Augen. Sie bringen sich um. Und uns alle mit. Gaunt schlich weiter. Seine Finger spannten sich tief am Oberschenkel um den Griff des Energieschwerts. Die Abgase des im Leerlauf tuckernden Motors der Bestie drangen ihm in die Nase, der Geruch nach ranzigem Öl, Ruß und getrocknetem Blut von den grausigen Trophäen an den Flanken. Er war zehn Meter hinter der Bestie, als sich die Lage schlagartig veränderte. Er sah einen kleinen Funkenregen auf dem Hang direkt unterhalb der Ruinen des Weilers hinter einer eingestürz-
ten Mauer hervorsprühen. Aus der Ferne sahen sie aus wie Funken aus einer Zunderbüchse. Einen Augenblick später zuckten Laserstrahlen über ihn hinweg. Jemand auf dem Hang gab Dauerfeuer auf die Bestie. Die Entfernung war zu groß, und selbst aus nächster Nähe konnte ein Lasergewehr die Panzerung solch einer Maschine nicht durchdringen. Gaunt wusste, was es war. Es war jemandes Versuch, den Panzer von ihnen abzulenken. Gaunt erkannte es mit einer Mischung aus Wärme und Verärgerung. Jemand aus der Abteilung riskierte sein Leben, um den Panzer abzulenken, und das war selbstlos. In der Abteilung hatte Soldat Gonry einen Kettenschredder, und der Schütze hoffte wahrscheinlich, die Bestie in Reichweite für einen Fangschuss mit einer Rakete zu locken. Gaunt war jedoch sehr nahe, und das verdarb ihm die Aussichten. Er verließ seine Deckung und lief los, während er das Energieschwert in der Hoffnung einschaltete, der Maschinenbestie einen verheerenden Stoß versetzen zu können, bevor sie sich in Bewegung setzte. Der Motor erwachte mit einem Strom schwarzer Abgase, die durch den Auspuff gejagt wurden, zum Leben, und die Bestie sprach wieder. Sie sprach drei Mal. Vorschlaghammer-Amboss-Geheul. Voller Bestürzung sah Gaunt die drei Granaten auf den Hängen unterhalb von Cayfer landen. Sie zerfetzten eine Mauer zu einem Hagel aus Steinbrocken, demolierten zwei tote Bäume und sprengten einen Fetzen Erde aus dem Gras. Die Bestie ruckte vorwärts, und ihre Ketten schepperten wie schneller Trommelschlag. Dreck, Steine und Grasbüschel wurden wie kleine Skalps hinter ihr in die Luft geschleudert, und Gaunt musste sein Gesicht abschirmen. Er konnte sie nicht erreichen. Sie raste davon. »Nein!«, fauchte er. Die Bestie hörte ihn. VI
Die Bestie schwenkte rechts herum und riss den Boden auf, als sie ihre finstere Tonnage wendete. Abgase furzten in einer jähen Anstrengung aufwärts, da sie ganz zu Gaunt herumfuhr. Ihre glotzenden Scheinwerfer pulsierten in gelbem Licht. Gaunt war verschwunden. Da war niemand hinter ihr. Die Bestie ließ den Motor aufheulen, was wie ein wütendes Grollen klang. Die Autokanone knatterte und feuerte eine Patronensalve ab, die durch das Gras fegte und eine Wolke aus zerfetzten Pflanzenfasern aufwirbelte. Die Bestie setzte sich in Bewegung und polterte die Spur aus plattgedrückten Grashalmen zurück, die sie hinterlassen hatte. Etwas hatte Gaunt flach zu Boden gerissen, als die Bestie herumzuschwenken begann. Woher Mkoll gekommen war, wusste Gaunt nicht. Flach liegen bleiben, hatte Mkoll signalisiert. Sie lagen auf dem Rücken im tiefen Gras und hörten die schnaufende, grollende Frustration der Bestie in der Nähe. Sie hörten sie mit der Autokanone feuern und dann das nahe Vorbeipfeifen der Geschosse. Dann hörten sie, wie sie sich in Bewegung setzte und näher kam. Gaunt zuckte unwillkürlich, aber Mkoll legte ihm eine Hand fest auf die Brust. Liegen bleiben. Nicht bewegen. Das Motorengebrumm und das Scheppern der Ketten wurde lauter und kam näher. Die Bestie beschleunigte. Nicht bewegen. Die Bestie passierte sie weniger als drei Meter entfernt auf Gaunts linker Seite. Ihr Lärm wich langsam hinter ihnen zurück. Sie warteten scheinbar eine Ewigkeit auf eine Veränderung der Geräusche, die den nächsten Schwenk der Bestie ankündigen würde, aber der Lärm verlor sich ganz einfach. Mkoll und Gaunt erhoben sich langsam und spähten über das nickende Gras. Von der Bestie war nichts zu sehen. Kein Geräusch. Kein Rauch. Sie standen auf. Garond und Mktass tauchten an unterschiedlichen Stellen aus der Deckung der Vegetation auf. »Wo ist die Bestie geblieben?«, fragte Gaunt. »Da entlang.« Garond zeigte auf die niedergewalzte Schneise im rosa Gras, die den Hang hinunterführte und der Krümmung am Fuße des Hügels folgte, auf dem Cayfer stand. Die steifen rosa Grashalme richteten sich bereits wieder auf.
Mkoll lief ein kurzes Stück und sprang dann ins Geäst eines der toten Bäume. Er zog sich hinauf, um einen besseren Überblick zu haben. »Das Biest ist weg«, sagte Larkin. Mkoll schaute nach unten. Larkin hatte sich an den Baumstamm geschmiegt und hinter dem verwitterten Stamm versteckt. Der Scharfschütze zeigte bergab. »Als ich es zuletzt gesehen habe, ist es bergab und wieder in Deckung gerollt. An dem Steinhügel vorbei in das kleine Tal dahinter.« Mkoll sprang aus dem Baum. »Ich folge ihm. Spüre es auf«, sagte er. »Und machen was, wenn Sie es finden?«, fragte Gaunt. »Nein, wir formieren uns neu. Wir wissen, die Bestie ist hier draußen, und wir wissen, wie sie sich bewegt. Wir halten Wache, und wenn sie wieder auftaucht, sind wir vorbereitet.« Sie gingen den Hang empor, zurück zu den Ausläufern von Cayfer und an den drei immer noch brennenden Granattrichtern vorbei, die von der Bestie in den Hang gesprengt worden waren. Criid tauchte auf und kam ihnen entgegen. »Haben Sie geschossen?«, fragte Gaunt. Sie nickte. »Tapfer. Vielleicht dumm, aber danke.« »Ich wollte ihn anlocken, dann hätte Gonry ihn mit dem Schredder erledigen können«, sagte sie und tat so, als hätte die Überlegung, Gaunts Haut zu retten, dabei keine Rolle gespielt. »Anständige Idee.« »Wohin ist er verschwunden?«, fragte Criid, während sie ihn bergauf begleitete. »Ist er nicht«, sagte Gaunt. »Das Biest ist immer noch irgendwo da draußen. Stellen Sie eine Wache auf. Feth, was ist denn hier los?« Sie hatten die Hauptgruppe erreicht, die sich in den staubigen Hof hinter einer Reihe von Schuppen zurückgezogen hatte. Faragut stand kerzengerade vor einer Stallwand. Seine Pistole lag vor ihm auf dem Boden. Eszrah zielte geduldig mit seinem Regenbagen auf ihn. Die übrigen sahen zu, viele anscheinend belustigt über das Unbehagen des Kommissars. »Es gab einen Zwischenfall«, sagte Criid leichthin.
Gaunt ging zu Eszrah und nickte ihm zu. Der Nachgahner hob seinen Bagen und trat zurück. Gaunt sah Faragut an. »Was ist passiert?«, fragte er. »Der Schweinehund wollte Criid erschießen«, schnauzte Beltayn. »Ja, das stimmt«, schnaubte Faragut. »Hören Sie sich nur ihre Geschichte an. Da können Sie sich dann ein akkurates Bild machen.« »Dann erzählen Sie«, sagte Gaunt. »Haben Sie meinen Sergeant mit Ihrer Waffe bedroht?« »Ich habe meine Pistole um des Nachdrucks willen gezogen, weil sie einen direkten Befehl verweigert hat.« »Ihren Befehl?« »Einen direkten Befehl. Ich sagte zu ihr, ich müsste sie erschießen, wenn sie auf ihrer Insubordination bestehe, und zwar gemäß Instrument der Ordnung, Paragraph …« »Bitte lassen Sie das, Faragut«, sagte Gaunt. »Wie lautete der Befehl?« »Sie wollte auf den Panzer schießen. Ich habe es ihr verboten. Ich habe der Abteilung befohlen, auf keinen Fall zu schießen und in Deckung zu bleiben.« Gaunt nickte. »Ich verstehe. Sie hatten den Raketenwerfer hier, und Criid wollte den Feind in Reichweite locken, aber Sie haben es anders gesehen?« »Ich habe es realistisch gesehen!«, erwiderte Faragut. »Unsere Aussichten, einen Panzer zu erledigen, waren dürftig. Sehr dürftig. Die Möglichkeit, dass der Panzer diese ganze Abteilung vernichten würde, bevor sie ihr Missionsziel erreicht, war meiner Einschätzung nach sehr viel realistischer. Die Kontaktaufnahme mit dem Widerstand ist von überragender Bedeutung. Ich konnte nicht zulassen, dass irgendetwas unsere diesbezüglichen Aussichten beeinträchtigt.« »Auch wenn das bedeutete, mich und die anderen sterben zu lassen?«, fragte Gaunt. »Auch dann. Sie wissen, was auf dem Spiel steht, Gaunt. Sie wissen, was ein notwendiges Opfer ist.« »Sie haben trotzdem geschossen?«, fragte Gaunt Criid. »Da Sie und Mkoll da unten waren, hatte ich an dieser Stelle das Kommando über die Abteilung. Der Panzer musste erledigt werden, meiner Einschätzung nach.«
»Sie hat geschossen. Ich wollte sie zurechtweisen«, sagte Faragut. »An dieser Stelle könnte ich meine Pistole in der Hand gehalten haben. Dann hat Ihr Partisan seine Waffe auf mich gerichtet.« »Eszrah hat nur wenige Freunde im Universum, Faragut«, sagte Gaunt. »Ihre Pistole auf einen davon zu richten, ist keine gute Idee. Machen wir weiter. Und heben Sie Ihre verdammte Waffe auf.« »Wachposten!«, rief Mkoll. »Ich will Posten entlang des Kamms sehen, für den Fall, dass der Panzer wiederkommt!« »Gonry, machen Sie den Werfer bereit«, sagte Criid. »Jemand soll zum Laden bei ihm bleiben.« Alle bewegten sich. Gaunt ging durch die Ruinen zur Windmühle. Ihm ging auf, dass Cirk ihn begleitete. »Gaunt?« »Ja?« »Faragut ist …«, begann sie. »Faragut ist was?«, fragte er. »Es gibt einen umfassenden Plan«, sagte sie. Ihre Stimme verlor sich. Er blieb stehen und sah sie an. »Ich habe keine Ahnung, was Sie mir zu sagen versuchen«, sagte er. Cirk schüttelte traurig den Kopf. »Das weiß ich auch nicht. Man hat mir nichts gesagt. Man hat Ihnen nichts gesagt. Sie müssen es uns nicht sagen. Wir sind nur Befehlsempfänger. « »Wer sind ›sie‹?«, fragte Gaunt. Sie zuckte die Achseln. »Das weiß ich auch nicht.« Gaunt schnaubte. »Sie tun nicht viel, außer furchtbar paranoid zu klingen, Cirk.« Sie lächelte. Sie hatte die Arme um den dünnen Leib geschlungen, als sei ihr kalt. »Ich weiß. Hören Sie, haben Sie jemals etwas so sehr gewollt, dass Sie alles dafür gegeben hätten, es zu bekommen? Haben Sie je so sehr für etwas gebetet?« »Ich weiß nicht.« »Sie wüssten es, wenn es so wäre. Sie wollen etwas so sehr, dass es schmerzt. Sie geben alles dafür, alles, nur um es zu bekommen. Nur … als Sie alles weggegeben haben, war das auch dabei, also ist nichts mehr übrig.«
Der Wind zerzauste ihr Haar, und sie drehte die Augen nach oben, während sie sie wegstrich und sich am Ärmel die Nase putzte. »Cirk? Was können Sie mir nicht sagen?« »Es hat den Widerstand einiges gekostet, uns von Gereon wegzuschaffen.« »Ich kann mich erinnern.« »Eine Menge Zeit, eine Menge Material und reichlich Leben, aber es war die Sache wert, weil wir geschworen haben, wenn wir wegkämen, wenn wir uns in den Imperiumsraum durchschlagen könnten, würden wir zurückkommen. Würden wir die Befreiung mitbringen. So lautete die Abmachung.« »Stimmt genau. Und das haben wir auch getan.« »Mehr will ich auch gar nicht sagen. Vergessen Sie nur nicht, dass es so laufen sollte.« Gaunt runzelte die Stirn und formulierte noch eine Frage, als sie Beltayn rufen hörten. Er drehte sich um. Sein Adjutant stand im Hof neben Criid und einigen anderen Soldaten. Er zeigte auf etwas, zeigte über die niedrigen, ruinierten Dächer des Weilers auf die Windmühle. Im auffrischenden Wind fingen die Flügel an, sich zu drehen. VII Rawne schlenderte durch den Hof zu Kolea und Varl zurück. Er drehte sich noch einmal zu der hohen Mauer und der kleinen schwarzen Tür um, durch die er gerade gekommen war. »Ich glaube, sie sind tot«, sagte er. »Nur Müll, der da hängt.« »Aber …«, begann Kolea. »Als wir das letzte Mal hier waren«, sagte Rawne glatt, »sind diese Dinger bei der geringsten Provokation zum Leben erwacht.« »Ich weiß. Sie haben uns ins Bild gesetzt«, erwiderte Kolea. »Tja, sie sind nicht aufgewacht, als wir diese Stadt angegriffen haben, und sie sind auch danach nicht aufgewacht. Ich weiß nicht, warum sie tot sind, aber sie sind es.« Varl kratzte sich hinter dem linken Ohr. »Ja, aber wenn man bedenkt, dass sie tatsächlich gar nicht lebendig sind, besteht die Möglichkeit, dass das kein Dauerzustand ist.«
»Die Möglichkeit besteht«, stimmte Rawne zu. »Einstweilen sperren wir diesen ganzen Bereich ab, stellen rund um die Uhr eine Wache auf und decken ihn mit allem ein, was wir haben, wenn hier irgendwas auch nur zuckt. Wir haben wieder ein Signal von den Inquisitionseinheiten empfangen. Sie sind unterwegs. Sie können sich darum kümmern, sobald sie hier sind.« Rawne schaute zu den dunklen Wolken hoch, die über den perlmuttfarbenen Himmel jagten. Wind war aufgekommen. Gaunts Signal war überfällig, obwohl daran auch die Störungen in Gereons Atmosphäre Schuld sein mochten. »Wenn Sie mich fragen«, sagte Rawne, »sind sie tot. Ich glaube, sie sind aus demselben Grund tot, aus dem es keine Glyfs gibt. Errichten Sie hier einen Sperrgürtel und lassen Sie uns die Durchsuchungen fortsetzen.« Rawne verließ den Hof und ging wieder zu seinem Trupp. Varl beauftragte Chirias Trupp mit der Bewachung des grimmigen, ummauerten Geheimnisses. Kolea ging etwas durch den Kopf. Er saß abseits auf einem herabgestürzten Brocken Mauerwerk in einer Ecke des Hofs und überlegte, während er etwas in seinen Fingern drehte und wendete. »Können wir weiter?«, fragte Varl, als alles gesichert war. »Ich glaube schon.« »Was ist los?« »Das war dumm«, sagte Kolea. »Was denn?« »Was ich gerade getan habe. Ich bin einfach da reinmarschiert. Wir haben die Tür entdeckt, und ich bin einfach reinspaziert. Du hast einen Unterstützungstrupp bereit gemacht, aber ich habe nicht gewartet. Ich bin einfach reingegangen.« »Ist ja nichts passiert«, sagte Varl. Kolea sah zu ihm hoch. »Nein, es ist nichts passiert, aber es hätte etwas passieren können. Es war schlimm genug. Die Drahtwölfe waren da. Wir haben unsere Einweisung bekommen. Uns wurde gesagt, worauf wir achten und wie vorsichtig wir sein müssen, und ich bin einfach da reingelatscht. Ich hätte ebenso gut noch ein flottes Lied dazu pfeifen können.« Varl grinste. »Und worauf willst du hinaus? Weil ich weiß, wenn ich lange genug hier stehe, kommst du irgendwann da an.«
Kolea stand auf und klopfte sich die staubigen Hosenbeine seiner Uniform ab. »Wir gehen viele Risiken ein«, sagte er. Varl spitzte die Lippen, als unterdrücke er Belustigung. »Wir sind Soldaten. Wir sind die Gardisten des Imperators, gläubig und treu. Risiken gehören zum Beruf.« »Ich weiß. Manchmal denke ich nur nicht nach. Ich stürme irgendwo rein. Ich stürze einfach los …« »Das ist deine Art«, sagte Varl. »Du führst von vorne, weshalb du Major bist und ich nicht. Im Moment.« »Es wird mich umbringen. Das will ich damit sagen. Hätte es beinahe, schon mehr als ein Mal.« »Das Leben wird dich irgendwann umbringen«, sagte Varl. »Und jetzt komm endlich hoch.« Sie gingen durch den staubigen Hof zurück zu Domor, der mit seinem Suchtrupp im Durchgang zur Straße wartete. Ein trockener Wind jagte Ruß und Sand über die Steinplatten des Hofes. Sie gingen die Straße entlang an den verfallenen Fassaden ausgebrannter Habs und an Trümmerhaufen vorbei, die mit nickendem Unkraut bewachsen waren. Meryns Trupp war vor ihnen und ging voran zu den verfallenen Schuppen der alten StadtKommerzia. »Weißt du, was ich tue, seit wir hiermit angefangen haben?«, fragte Kolea Varl, während sie durch die windige Stille marschierten. »Mir auf den Zeiger gehen?« »Ich meine es ernst.« »Ich auch.« »Seit der Landung habe ich nur an den Jungen gedacht, wie’s ihm wohl geht, ob er wohlauf ist, wie verdammt ungerecht es ist, dass er nicht bei uns ist. Er muss Angst haben, wo zum Gak er auch ist. In den großen Zonen muss es schlimm sein.« »Das ist nur natürlich.« »Ich hab mich nicht ein Mal gefragt … ob er wohl noch lebt?« »So darfst du ja auch nicht denken.« »Ich weiß.« Sie hatten die Tore zur Kommerzia erreicht. Kolea ließ den Trupp zur Unterstützung von Meryns vorrückenden Geistern ausschwärmen. »Ich dachte nur gerade, da ist noch etwas, woran ich denken muss.« »Was denn?«
»Wenn wir hier fertig sind, sehe ich den Jungen vielleicht wieder, und das wäre prima, aber was, wenn ich sterbe? Was, wenn ich Feth baue und einfach sterbe? Wie wird das für ihn sein?« Varl zuckte die Achseln. »Ich habe zu lange gewartet, bevor das hier angefangen hat. Meine Angst war, ich hätte zu lange gewartet, und aus. Weil der Junge sterben könnte, würde ich nie mehr Gelegenheit haben, alles richtigzustellen. Mir ist nie der Gedanke gekommen, es könnte auch umgekehrt so sein.« Keiner wusste, wie lange sich der Excubitor in den Außengebäuden hinter den stillen, mit Brettern vernagelten Habs versteckt hatte. Das Gebiet war ein Irrgarten aus kleinen Höfen und schmalen Gassen, die mit Lagerschuppen und Bedürfnisanstalten gespickt war, und erstreckte sich bis zu einer Reihe von Markthallen in der Stadtmauer. Osket, Wheln und Harjeon waren gerade nach links geschwenkt und Kaien, Leclan und Raess nach rechts. Caffran bewegte die Finger und winkte Leyr und Neskon hinter sich. »Wir gehen da durch«, sagte er, indem er auf eine schmutzige Gasse zeigte. Neskon zog an den Trägern der Brennstofftanks für seinen Flammenwerfer, damit sie etwas höher saßen. »Das ist Zeitverschwendung.« »Ich sag dir schon, was Zeitverschwendung ist«, antwortete Caffran. »Jetzt bleib bei der Sache.« Die ganze Gegend war zu ummauert und dreckig, um etwas anderes als bedrückend zu sein. Sie erschraken bei jeder Kleinigkeit oder schreckten vor winzigen Beispielen des Grauens zurück. Knochen waren normal, und das galt auch für die Kritzeleien und Malereien des Feindes. An verschiedenen Stellen waren Glasschalen mit Blut als Opfergaben zurückgelassen worden, und ihr Inhalt verfaulte und zersetzte sich langsam. Nicht zum ersten Mal sah Caffran Ungeziefer, das Ungeziefer fraß. Das war ein Beweis dafür, falls noch einer nötig war, wie tief Gereon gesunken war. Der Planet war so verbraucht und erschöpft, dass den Ratten nichts anderes mehr übrig blieb, als andere Ratten zu fressen. Sie waren ungefähr zehn Meter tief in die schmale Gasse vorgedrungen, als rechts von ihnen ein Laserwerfer losdonnerte und
das Geschrei anfing. Das Zischen mehrerer Lasergewehre ertönte. »Meldung!«, brüllte Caffran in sein Kom. »Mann getroffen!«, knisterte Leclan zurück. »Ein Feind ist aus seinem Versteck gekommen. Er flieht in eure Richtung!« Leyr und Neskon hoben sofort die Waffen. Caffran rannte ein kleines Stück weiter vorwärts und sah sich um. Er hörte Schritte aus allen Richtungen hallen, aber die Gasseneinfriedungen und Hausmauern waren zu hoch, um darüber zu schauen. »Hilf mir hoch!«, sagte er zu Leyr. Leyr verschränkte die Hände, Caffran stellte seinen Fuß darauf, und Leyr hievte ihn eine Mauer hoch. Caffran kletterte auf das Dach eines Schuppens, lief darüber und sprang auf das angrenzende Dach. Er sah eine Gestalt durch die buckeligen Gassen zu seiner Linken laufen. Caffran drehte sich um und rief Neskon zu: »Feuerstrahl in die linke Seitengasse!« Neskon lief zur nächsten Kreuzung, redete seinem hustenden Flammenwerfer gut zu und sandte dann einen Flammenspeer in die linke Abzweigung. Die brodelnden Flammen füllten mehrere Sekunden lang fünf Meter Gasse aus. Ein unterdrückter Schrei war zu hören. Von den tosenden Flammen zurückgedrängt, tauchte der Excubitor wieder auf und lief den Weg zurück, den er gekommen war. Caffran stand auf dem flachen Dach, die Beine zum sicheren Stand leicht gespreizt, das Gewehr im Anschlag. Zwei Schüsse, und die ekelhafte Gestalt fiel. »Feind erledigt«, sagte Caffran. »Nehmt den ganzen Laden hier auseinander und vergewissert euch, dass er allein war.« Caffran setzte sich auf den Randstein und zog sich den linken Stiefel aus. Staub und Kies nisteten sich überall ein. Ihm tat alles weh. Seine Glieder schmerzten. Der Himmel über der Stadt ging in den Abend über und sah aus wie Marmor. Nicht weit entfernt ruhte sich der Rest seines Trupps aus. Leclan sah nach dem Verband über der Wunde, die der Excubitor Kaien zugefügt hatte. Caffran lehnte sich an die Mauer und schloss die Augen. Er holte den silbernen Aquila heraus, den er an einer Kette um den
Hals trug, und sprach ein stummes Gebet. Zwei Gebete. Eins für jeden von ihnen, wo sie sich gerade auch aufhalten mochten. »Caff?« Er öffnete die Augen und blickte hoch. Es war Kolea. »Herr Major?«, sagte er, indem er sich erhob. »Bask sagte, ich würde Sie hier finden. Geschäftiger Nachmittag?« »Ja. Die Arbeit des Imperators endet niemals.« »Dafür sei Ihm Lob.« »Kann ich Ihnen helfen?« Kolea nickte. Er holte etwas aus seiner Tasche. Es war ein tanithisches Mützenabzeichen. »Ich sag’s, wie es ist. Das wollte ich dem Jungen geben, als er mit BIN fertig war, aber ich hatte keine Gelegenheit mehr. Mein Fehler. Ich hätte gern, dass er es bekommt.« Caffran nickte. »Das wäre schön.« Kolea hielt es ihm hin. »Bitte, könnten Sie es ihm geben? Wenn Sie ihn sehen?« »Das können Sie doch selbst«, sagte Caffran. »Ich habe so ein Gefühl, Caff. Als würde ich das Schicksal versuchen, wenn ich darauf hoffe. Sein Schicksal und meins. Die ganze Zeit hoffe ich, ich kann es ihm geben, und fordere das Schicksal damit nur heraus, es zu verhindern. Also mache ich dem ein Ende. Ich muss nicht mehr darüber nachdenken. Wenn es Ihnen nichts ausmacht?« Caffran lächelte und nahm das Abzeichen. »Es macht mir nichts aus«, sagte er. »Danke.« Kolea rang sich ebenfalls ein Lächeln ab. »Danke. Das ist eine Erleichterung. Jedenfalls kommt es mir so vor … es verbessert unsere Aussichten ein wenig.« »Major?« Auf Baskevyls Ruf verließ Rawne das Kartenzelt und eilte zu der Schanze, welche die Geister über den Ruinen von Cantibles Haupttor angelegt hatten. »Was gibt es?« Baskevyl zeigte. »Sie sind da«, sagte er.
Draußen über dem Marschland flogen drei schwarze Landungsboote der Stadt entgegen, in Formation und dicht über dem welligen Gelände. Als sie näher kamen, konnte Rawne die Insignien auf dem Rumpf der drei Boote erkennen. Das stilisierte »I« der Inquisition. VIII Die Windmühle roch nach altem Staub und Stärke. Die sich langsam drehenden Flügel verursachten ein leises Quietschen, das regelmäßig kam und ging. Die Schatten der Flügel strichen bei jeder Umdrehung über sie hinweg wie Wolken vor der Sonne. Gaunt wartete noch einen Augenblick. Mktass und Fiko tauchten hinter der Mühle auf, und Fiko nickte. Burone und Posetine gaben von der anderen Seite des trockenen Platzes vor der Mühle Deckung. Gaunt ging hinein. Mkoll folgte, dann Derin und Nirriam. Der Boden war aus Stein, die eigentliche Mühle aus Holz. Der sich drehende Mechanismus der Mühle erzeugte einen schmerzhaften, schweren Rhythmus im Boden über ihnen, als würden solide Möbel verrückt. Violetter Schimmel hatte sich im Verputz eingenistet und einige der offenen Träger gebleicht. Die Mühle war ausgeräumt, und bis auf ein paar Säcke und Seilreste war nichts zurückgelassen worden. Mkoll ging zur sich drehenden Achse der Mühle. »Angekurbelt«, sagte er. »Die Flügel drehen sich nicht, weil der Wind aufgefrischt hat.« Mkoll zeigte auf eine schwere Eisenkurbel, die umgelegt worden war, um die Halterungen zu lösen. Gaunt nickte, ging langsam umher und schaute nach oben. Durch Fugen und Spalten in den Bodendielen konnte er in den mit Spinnweben gefüllten oberen Raum der Mühle blicken: Schatten und dünne Balken aus Sonnenlicht. »Sehen Sie oben nach«, sagte er zu Mkoll und Nirriam. Er wandte sich an Derin. »Bringen Sie Cirk her.« »Zu Befehl«, sagte Derin und verschwand nach draußen. »Oben ist nichts«, sendete Mkoll über Helmkom. »Es sei denn, Sie wollen noch mehr Staub sehen.«
»Durchsuchen Sie die umliegenden Gebäude«, antwortete Gaunt. »Wer das hier in Bewegung gesetzt hat, kann noch nicht lange weg sein. Vielleicht beobachten sie uns.« »Sie sind weg«, sagte Cirk, die durch die Tür trat. Faragut folgte ihr. »Sie sind weg?«, fragte Gaunt. »Sie würden nicht bleiben, damit sie nicht verfolgt oder entdeckt werden. Dafür sind sie viel zu vorsichtig.« »Aber dies ist ein Zeichen? Ein … Signal?« Cirk sah sich um. Wonach sie suchte, konnte Gaunt nicht einmal ahnen. Sie hatte weit mehr Erfahrung mit den esoterischen Vorgehensweisen des Widerstands von Gereon als er. »Es muss zufällig aussehen, sodass es dem Feind nicht auffallen würde, aber es wird auch sehr präzise sein. Da …« Sie zeigte auf einen Teil des Bodens, wo Seilstücke im Staub lagen. »Ich sehe nichts«, sagte Gaunt. »Vergleichen Sie das«, sagte sie, indem sie den Finger hob und damit auf die verschimmelte Wand zeigte. Zufällige Zeichen waren in den Schimmel gekratzt. Gaunt wären sie niemals aufgefallen, doch nun, da Cirk sie ihm gezeigt hatte, fiel ihm auf, dass das Muster der Kratzer exakt dem Muster der verstreuten Seilreste entsprach. »Sie wiederholen das Muster, damit wir wissen, dass es nicht zufällig ist«, sagte sie. Sie kauerte sich neben die Seilreste, betrachtete sie, legte den Kopf auf eine Seite und dann auf die andere. Mkoll und Nirriam kamen von oben herunter. »Es ist eine Karte«, sagte sie schließlich. »Wovon?«, fragte Faragut. »Von diesem Gebiet, würde ich meinen, aber sie ist verschlüsselt.« »Verschlüsselt?«, lachte Faragut. »Das sind doch nur ein paar …« »Sie ist verschlüsselt. Wir sollen nicht alles davon benutzen. Ein Teil der verwendeten Seilstücke hat bläuliche Flecken, die anderen haben rote. Sehen Sie sich um. Finden Sie irgendwo noch andere Dinge mit solchen Farbkennzeichnungen?« »Hier«, sagte Mkoll sofort. Er zeigte auf die schwere Eisenkurbel. An die Metallspeiche war ein kurzes Stück Seil gebunden. Es hatte einen roten Fleck.
Cirk lächelte. Sie griff nach unten, hob rasch alle blaufleckigen Stücke auf und warf sie beiseite. »Da. Nur die roten Stücke gelten. Das ist unsere Karte.« »Ich sehe immer noch nicht …«, begann Faragut. Gaunt brachte ihn mit einem Handzeichen zum Schweigen und holte sein Notizbuch heraus. Rasch kopierte er die Linien und Formen auf ein Blatt. »Die Winkel und Größenverhältnisse werden akkurat sein, oder?«, fragte er Cirk beim Zeichnen. »Das würde ich meinen. Alles ist genauso wie in Wirklichkeit.« Gaunt stellte die Zeichnung fertig und steckte den Griffel weg. Er eilte die knarrende Holztreppe empor zum vernagelten ersten Stock und dann eine bebende Leiter in den zweiten, einer staubigen Dachkammer im schmaleren oberen Teil der Mühle. Er duckte sich unter einem Teil des sich mit einigem Getöse drehenden Flügelapparats durch, fand noch eine Leiter und erklomm sie. Cirk, Mkoll und Faragut folgten ihm. Im dritten Stock war es sehr eng, und es bestand die Gefahr, von einem der sich drehenden Räder erfasst zu werden und in die zermalmende Mühlenmaschinerie gezogen zu werden. Gaunt tat sich vorsichtig um, bis er eine Reihe an der Wand befestigter Metallsprossen entdeckte. Die Sprossen führten zu einer kleinen Falltür im Dach. Er kletterte auf das Dach. Es war eine kleine Fläche in unsicherer Lage, eine grobe Plattform aus mit Pech behandeltem Holz ohne Geländer oder Brüstung. Die Windmühle schien von außen sehr viel höher zu sein als von innen. Gaunt kam gut mit großen Höhen zurecht und richtete sich vorsichtig auf. Die schrägen Seiten der Mühle fielen nach unten weg, und darunter lagen die Dächer der Häuser des Weilers, die Hänge des Hügels und die Landschaft ringsherum. Er hatte einen unverstellten Blick auf die Umgebung, und das war gewollt. Dieser Aussichtspunkt war der Grund, warum der Widerstand ihn zur Mühle geführt und die Karte dort gelassen hatte. Cirk und Mkoll kletterten zu ihm nach draußen. Beide zeigten keine Unruhe ob der Höhe und bewegten sich vorsichtig. Der Wind war jetzt ziemlich heftig und zerrte an ihnen. Alle paar Sekunden zischte einer der Flügel vorbei wie die Klinge einer Sense, was Gaunt beunruhigend fand. Er holte seine eiligst angefertigte
Skizze aus der Tasche und versuchte sie mit der umliegenden Landschaft in Übereinstimmung zu bringen. »Etwa … so?«, fragte er, indem er die Karte vor sich hielt und seinen Körper drehte. Mkoll nickte und nahm seinen Feldstecher. Er ließ ihn über die Landschaft wandern. Der Himmel war fleckig und sehr bedrohlich. Der Donner, der sich ihnen stetig genähert hatte, war jetzt ein beständiges Grollen, und die Wolken am Westhorizont hatten einen Unterbauch aus dunstigem, hässlichem Licht. Cirk stand neben Gaunt und verglich die Linien auf der Karte mit der Landschaft. »Das ist die Hügellinie, und das ist die große Böschung«, sagte sie, indem ihr Finger jeweils zunächst auf die Karte und dann auf eine Stelle in der Landschaft zeigte. »Das ist das Wäldchen rechts, und diese Linie muss der Flusslauf sein.« Mkoll stimmte zu. Er schien nicht auf Gaunts Skizze schauen zu müssen. Er hatte sich die Linien der Karte bereits eingeprägt. »Ich glaube, die Absicht ist, uns nach Nordosten zu schicken. Nach etwa drei Kilometern erreichen wir den Rand des Wäldchens. Was durch dieses Kreuz markiert ist, scheint noch einen Kilometer weiter weg zu sein.« »Ob sie von uns erwarten, dass wir das noch vor Einbruch der Nacht schaffen?«, fragte Gaunt. Cirk schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. In der ursprünglichen Botschaft hieß es, wir sollten bis zum Abend hier sein.« »Aber das entspricht unseren Erwartungen«, sann Gaunt. Mkoll kniete nieder und holte seine Einsatzkarte aus der Oberschenkeltasche. Er faltete sie so weit auseinander, dass er die Gegend um ihren derzeitigen Standort studieren konnte. Das Departmento Tacticae hatte die Karten unter Einsatz orbitaler Abtaster erstellt und die Daten durch detaillierte ältere Informationen über die Geografie Gereons ergänzt, die das Administratum gespeichert hatte. »Ja, das tut es. Unbebau«, sagte er zu Gaunt gewandt. »Eszrah wird sich freuen.« »Davon bin ich überzeugt«, erwiderte Gaunt. In seiner Zeit auf Gereon hatten sich die Partisanen der Unbebau dank seiner Bemühungen mit dem auf verlorenem Posten stehenden Widerstand des Untergrunds zusammengetan, und die unergründlichen Brachen der Unbebau waren zu einem wichtigen Versteck geworden.
Sogar der Erzfeind fand es schwierig, diese unbebaubaren Sümpfe und Marschen zu durchdringen. »Sind wir wirklich so nah?«, fragte er Mkoll. »Die Kerngebiete der Unbebau sind zwei-, dreihundert Kilometer weiter im Osten, aber ihre Ausläufer reichen bis hierher. Der Wald, den wir sehen können, bildet die Grenze. Ein Tagesmarsch weiter beginnt das Territorium der Schlafwandler.« Mkoll erhob sich wieder und steckte die Karte wieder ein. »Was meinen Sie? Über Nacht hier bleiben oder weiter …« Er brach ab. Gaunt hatte die Hand gehoben, und Mkoll kannte das Zeichen. Gaunt starrte nach Westen über den Weiler Cayfer hinweg den Hang hinunter und auf das rosa Marschland. »Wir bekommen gerade ein Problem«, sagte er. »Was für eins?«, fragte Cirk. Einen halben Kilometer vom Weiler entfernt, am Fuß des Hügels, war die Bestie wieder aufgetaucht. IX Gaunt wollte sein Helmkom einschalten, als es im Kom bereits lebhaft wurde. Drei Soldaten auf Wache – Larkin, Brostin und Spakus – hatten den Panzer entdeckt und gemeldet. »Position halten«, sendete Gaunt zurück. »Behalten Sie ihn im Auge. Criid, bringen Sie Gonry in Stellung und sorgen Sie um Feths willen dafür, dass er immer schön in Deckung bleibt und ihm nichts passiert.« »Verstanden.« Gaunt, Mkoll und Cirk eilten die Leiter zurück nach unten in die Mühle. Gonry rannte mit gesenktem Kopf hinter ihr her, während Criid durch den Weiler lief und weiter nach unten durch die verfallenen Außengebäude. Eine alte eingestürzte Mauer zäunte ein Feld vom Rest des Hügels ab. Larkin lag dort in Deckung, sein Gewehrlauf auf dem Mauerrand. Er beobachtete den Panzer gelassen durch sein Zielrohr. Brostin war nicht weit weg und rauchte ein LhoStäbchen, als warte er auf seine Entlassungspapiere. Sein Flammenwerfer und die Brennstofftanks lagen neben ihm im Gras.
Brostin gehörte zur phlegmatischen Sorte. Er wusste, wann seine Fähigkeiten gefragt waren. Ein Flammenwerfer war keine Waffe, die man gegen Panzer einsetzte. Nicht einmal die »Luftsprengungsnummer«, ein kleiner Partytrick, den er und Larkin bei ihrem letzten Aufenthalt auf Gereon improvisiert hatten, war hier anwendbar. Criid ging neben Larkin in Deckung. Gonry, ein magerer kleiner Belladoner, warf sich neben sie. »Laden Sie den Werfer«, sagte Criid zu ihm. »Ich halte die Ersatzraketen für den Notfall bereit.« Der Tornister, den Gonry trug, enthielt fünf Raketen. Das war ihre Munition. Er nickte Criid zu, setzte den Werfer zusammen und lud die erste Rakete. Gonry war ein netter Kerl, und sie wusste, dass er ein wenig in sie verknallt war. Das half. Er tat alles, was sie ihm sagte, so schnell er konnte. »Larks?« »Genießt wohl die Abendluft«, erwiderte er. »Was?« »Nicht ich. Der Panzer«, schnaubte Larkin. Er reichte ihr das Zielrohr. »Sehen Sie selbst.« Sie richtete sich auf und ließ das Zielrohr umherwanderm wobei sie darauf achtete, damit nicht gegen den Mauerrand zu stoßen. Schließlich gehörte es Larkin. Der Meisterschütze hatte ihr sein kostbares Instrument anvertraut, und sie musste vorsichtig damit umgehen. Sie schaute den Hang hinunter, an zwei Mauern und mehreren abgestorbenen Bäumen vorbei, die im wechselhaften Licht knochenweiß aussahen. Der Panzer war unten im Tal, nicht weit von der Stelle, wo er vorher mit Gaunt und den anderen Katz und Maus gespielt hatte. Sie konnten ihn vollständig sehen, aber er hatte beschlossen, sich ins Gras zu kauern, das Geschütz gesenkt, die Scheinwerfer ausgeschaltet. Diese Haltung kam ihr unbekümmert vor. Etwas so Großes konnte sich nicht in der offenen Landschaft verstecken, aber genau das schien er vorzugeben, als sei nur wichtig, ob sich die Windrichtung änderte und seine Beute seine Witterung aufschnappte und floh. Sie hörte seinen Motor im Leerlauf tuckern. Nein … japsen. »Zweihundertfünfzig Meter«, sagte sie, als sie wieder in Deckung glitt und Larkin das Zielrohr zurückgab.
»Zwei-zweiundsechzig. Plus drei effektive Entfernung für den Wind«, erwiderte Larkin. »So oder so zu weit für eine Rakete«, sagte Gonry. »Ich würde keine Rakete auf ein Ziel vergeuden, das weiter weg als hundert ist.« Er hatte recht, war aber zu vorsichtig. Criid widersprach. »Caff würde auf dreihundert treffen«, sagte sie. Sie gab an, aber nicht viel. Caffran war der beste Werferschütze im ganzen Regiment. »Caff ist aber nicht hier«, sagte Gonry. Er sagte es mit einem Lächeln, das Criid vermittelte, dass er glücklich über diese Tatsache war. »Was verdammt schade ist«, teilte sie ihm den Stand der Dinge mit. Sie schaltete ihr Kom ein. »Boss? Wir müssen näher ran, um den Gakker zu erledigen. Erlaubnis, ihn abzuschießen?« »Verweigert«, antwortete Gaunt. »Bleiben Sie an Ort und Stelle.« »Aber Herr Kommissar …« »Tona, das große Ding oben drauf ist eine großkalibrige Kanone. Wenn dieser Panzer schießt, hat er die Kraft und Reichweite, uns auszuradieren. Reizen Sie ihn nicht.« »Verstanden.« Ein wiederholtes Klacken war zu hören. Larkin, Criid und Gonry sahen sich um. Brostin spielte mit seinem Zünder. »Feth«, sagte er munter, während er ihn schüttelte. »Hat jemand Feuer?« Gaunt, Cirk und Mkoll kamen aus der Mühle. »Soll ich Rückzugsbefehl geben?«, fragte Faragut. »Rückzugsbefehl?« »Wir werden von Panzern angegriffen«, sagte Faragut. »Wir sollten uns zurückziehen und neu formieren. Zum Wohl der Mission.« »Thron, Sie haben Angst«, sagte Gaunt, indem er von seinem Weg abwich und den jungen Kommissar ansah. Er ging auf ihn zu, bis Sie sich gegenüberstanden. »Das habe ich nicht. Wie können Sie es wagen …« »Erst bei Criid, und jetzt … es ergibt einen Sinn. Faragut, wie viel Kampferfahrung haben Sie tatsächlich?« »Ich habe auf Ancreon Sextus gedient und …« »Ja, aber wie viel?« »Herr Oberst, ich …«
»Wie viel?«, fauchte Gaunt. »Gar keine? Sie haben noch keine richtige Schlacht erlebt, oder? Nicht so. Nicht mittendrin?« Faragut starrte Gaunt so wütend an, dass er leicht zitterte. »Wie können Sie es wagen, an meinem Mut zu zweifeln, Gaunt?« Gaunt wich einen Schritt zurück. »Heiliges Terra. Das tue ich nicht. Absolut nicht. Es geht mir um Ihre Menschlichkeit, Faragut. Wenn das hier neu für Sie ist, sagen Sie es mir! Ich muss es wissen. Es ist in Ordnung, Angst zu haben, aber ich muss es wissen!« Hadrian Faragut blinzelte. »Ich … ich habe noch nicht … ich meine …« Gaunt legte eine Hand fest um Faraguts Oberarm und schaute ihm in die Augen. »Faragut. Gehen Sie in Deckung, und halten Sie sich bereit. Glauben Sie an sich, und um unser aller willen glauben Sie an mich. Ich sorge dafür, dass Sie am Leben bleiben. Glauben Sie mir?« »Ja, Herr Oberst.« Gaunt schlug ihm auf die Schulter, wandte sich ab und lief los. »Larks?«, sendete er über Kom. »Was macht er gerade?« Die Bestie hatte gute zehn Minuten still gestanden. Im Gras hatte sie den Motor laufen lassen und ab und zu im Leerlauf Gas gegeben, wie um sich zu räuspern. Donner grollte in der Ferne, dann zuckte ein Blitz eine strahlend helle Sekunde lang zur Hügelkuppe. Mit einem knirschenden Surren kam das Hauptgeschütz hoch, dann drehte sich der Turm, da der Geschützlauf die Ursache des jähen Geräuschs suchte. Der Turm drehte sich beinahe vollständig ein Mal um die eigene Achse, bevor er wieder gerade nach vorn wies. Der Motor heulte auf. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal. »Feth am Stock«, flüsterte Larkin. Die gelben Scheinwerfer schalteten sich ein, als öffneten sich Augen. Die Bestie legte einen Gang ein und rumpelte vorwärts. Sie kam aus ihrem Versteck wie ein Jagdhund und stürmte den Hang empor. Schwarzer Rauch quoll aus den Auspuffrohren. »Er kommt«, sagte Criid zu Gonry. »Gleich haben Sie ihn in Reichweite.«
Die Bestie rollte den Hang hinauf und schlug dabei eine Schneise durch das hohe rosa Gras. Sie erreichte eine Mauer, und die Mauer kippte unter ihren scheppernden Ketten nach hinten um und zerbröckelte. »Ich wäre gern woanders«, stellte Brostin fest, während er sich noch ein Stäbchen anzündete. »Nur die Ruhe«, sagte Criid. »Gonry hat den Schweinehund im Visier. Oder nicht, Gon?« Gonry wuchtete sich den Werfer auf die Schulter und grinste Criid an. Die Bestie rollte weiter. Die zweite Steinmauer brach unter ihr zusammen, und ein Baum fiel um, als er vom Kettenschutz der Maschine getroffen wurde. »Ich finde, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt …«, sagte Larkin. »Fast«, sagte Gonry, indem er sorgfältig zielte. »Flieg!« Der feindliche Panzer füllte sein Visier aus. Gonry drückte auf den Abzug. Auf einem fetten weißen Kondensstreifen raste die Rakete aus dem Werfer und verfehlte den anrückenden Panzer vollständig. Sie ging so weit daneben, dass jeder gedacht hätte, Gonry arbeite für den Feind. »Was war das denn?«, schrie Criid. »Tut mir leid! Tut mir leid!«, rief Gonry. »Ich dachte … ich wollte … ich …« »Runter!«, schnauzte Larkin. Ein Knattern übertönte die Windgeräusche. Der heranstürmende Panzer schoss mit seiner Autokanone. Gonry griff nach unten in seinen Tornister mit Raketen, und sein Kopf verschwand. Criid schaute ihn an, als es geschah, und es kam ihr vor wie einer von Varls Zaubertricks. Eine rote Wolke, und zack, kein Kopf mehr. Gonrys kopfloser Leichnam kippte langsam um und fiel zu Boden. Etwas Hartes traf sie am Mund und in die rechte Wange. Criid fiel um. Larkin packte sie und richtete sie auf. »Bin ich getroffen?«, fragte sie undeutlich durch gespaltene und blutende Lippen. »Alles in Ordnung«, sagte Larkin. »Nur ein paar Knochensplitter.« Teile von Gonrys explodiertem Schädel hatten sie getroffen. Sie schüttelte den Kopf und war dankbar, dass Larkin sie stützte.
Dann fiel ihr Blick auf Gonry. Eine großkalibrige Patrone hatte seinen Kopf atomisiert und im Umkreis von fünf Metern alles mit Blut bespritzt. Benommen und unsicher bückte sie sich und zerrte den Kettenschredder von Gonrys Leichnam. Der Riemen verfing sich, und Larkin musste ihr helfen. »Laden«, sagte sie. »Tona …« »Laden!« Larkin riss den Tornister auf und rammte eine Rakete von hinten in den Werfer. »Fertig!« Sie hievte ihn sich auf die Schulter. »Flieg!«, rief sie. Die Bestie war nur zehn Meter entfernt und donnerte weiter. Caff hatte ihr alle Tricks beigebracht. Ziel niedrig, weil die Rakete gleich nach dem Abfeuern ohnehin hochschießt. Halte nach, weil ein Werferrohr anders zielt als ein Gewehr. Ziel auf die Nähte, zum Beispiel zwischen Turm und Rumpf. Maximiere die panzerbrechende Wirkung des Sprengkopfs. Es war, als stehe er neben ihr und gebe ihr Anweisungen. Sie feuerte. Die zischende Rakete traf den Geschützturm der Bestie zu weit oben, prallte ab und explodierte in der Luft. Plötzlich verzieh Criid Gonry vollkommen. Das hier war nicht halb so leicht, wie es aussah oder wie Caffran es aussehen ließ. »Laden!« »Feth, Tona!«, erwiderte Larkin. »Ich will hier weg. Bros hat die richtige Idee.« Criid drehte sich um. Brostin hatte sich die Brennstofftanks über seine breiten Schultern geworfen und trabte hangaufwärts in den Weiler zurück. »Lade einfach den Werfer!«, sagte sie. Larkin rammte noch eine Rakete in das Rohr. »Flieg!« Criid feuerte. Eine ausgedehnte Blüte aus heißem Feuer fegte über den Rumpf der Bestie. Sie hielt ruckartig an. Flammen flackerten über die Karosserie. Ein seltsames quäkendes Schluchzen kam von den Motoren. Der Panzer rollte rückwärts.
Dann feuerte das Hauptgeschütz. Die erste Granate flog hoch über Cayfer hinweg. Die zweite traf das Mühlendach und zerstörte es. Die sich drehenden Flügel wurden aus der Halterung gerissen, krachten unten auf den Hof und drehten sich weiter, während sie wie ein riesiges Rad in die Außengebäude rollten und sich dabei in ihre Bestandteile auflösten. Die dritte Granate sprengte den unteren Teil der Mühle in Stücke. Verwundet, leidend, lehnte sich die Bestie zurück und schoss auf den Weiler Cayfer, bis nur noch rauchende Trümmer übrig waren. X In der Ferne hinter ihnen, im verblassenden Tageslicht, demolierte die Kanone der Bestie Cayfer. Gaunts Abteilung eilte durch das Marschland dem Wald entgegen. Als sie sich ihrem Ziel näherten, sahen sie, wie kümmerlich und dünn die Bäume waren. Gifte hatten das Holz verkrüppelt. Die Geister rückten weit aufgefächert und langsam in das Brachland aus verkümmerten, vertrockneten Bäumen und eingedrungenem Gras vor. Hinter ihnen erleuchtete ein helles Feuer die hereinbrechende Nacht, während der Weiler starb. Es war fast vollständig dunkel, als sie den Treffpunkt erreichten. Sie warteten eine Stunde, und plötzlich erhob sich Mkoll, das Gewehr im Anschlag. Zwei Gestalten lösten sich aus der Dunkelheit und traten vor. Sie waren abgemagert und in Lumpen gehüllt. Ihre Laserwaffen wurden von Klebeband und Draht zusammengehalten. »Gaunt«, sagte Gaunt. »Tagstern?« Die Männer blieben stehen und starrten ihn an. Sie senkten ihre Gewehre. »Ich heiße Dacre«, sagte einer, indem er die Hand ausstreckte. Gaunt nahm sie. Er konnte die Knochen spüren. Sie war so dünn. »Gereon wehrt sich.« »Gerade noch«, sagte Dacre. »Stimmt es wirklich?« »Ja«, sagte Gaunt.
Dacre nickte, und andere Gestalten lösten sich aus der Dunkelheit. Einige waren Schlafwandler. Eszrah trat vor, um sie eifrig zu begrüßen. Sie wichen widerstrebend zurück. »Unart«, verkündete einer von ihnen. Gaunt zuckte zusammen. »Folgen Sie uns«, sagte Dacre. »Wir müssen Ihnen etwas zeigen.« Schweigend folgte die Abteilung Dacre zwei Stunden lang durch den sich immer mehr verdunkelnden Wald. Hinter ihnen grollte Donner, und der Scheiterhaufen von Cayfer erleuchtete den Himmel. Sie erreichten einen sehr finsteren Abschnitt des Waldes. Die Bäume waren dort besonders krumm und deformiert. Abgestorbene Blätter bedeckten den dunklen Boden. »Mir wurde aufgetragen, Ihnen das hier zu zeigen«, sagte Dacre schlicht. »Von wem aufgetragen?«, fragte Gaunt. Dacre antwortete nicht. Er zeigte auf einen kleinen Steinhügel. Gaunt ging darauf zu. Mkoll war neben ihm. Die Steine waren provisorisch gestapelt worden, aber die Absicht war klar, sogar in dem schlechten Licht. Es war ein Grabmal, ein Grabhügel für die Gefallenen. »Großer Thron über mir«, flüsterte Mkoll. Er hatte die Inschrift gesehen. Sie war in einen Stein in der Mitte des Haufens gemeißelt. »Feth«, murmelte Gaunt, als er las, was Mkoll gesehen hatte. Die Inschrift war schlicht. Mkvenner.
Schinderei I »Mit Albträumen ist das so ‘ne Sache«, sagte Vierbüchse. »Die Sache ist nämlich die, dass sie ein Ende haben. Früher oder später hören sie auf. Aber das hier nicht, weißt du? Also verstehe ich nicht, wie du immer sagen kannst, das hier wäre ein Albtraum,
weil es gar nicht ist wie ein Albtraum. Wenn du aus einem Albtraum aufwachst, ist er vorbei, und du bist erleichtert, aber hier nicht. Hier gibt’s keine Erleichterung. Es geht einfach immer weiter.« »Vielleicht sind wir nur noch nicht aufgewacht«, sagte Allerliebst. Vierbüchse sprang gleich darauf an. »Das ist mal ‘n gutes Argument!«, rief er. Er war beinahe, als wäre dies überhaupt möglich, fröhlich. »Vielleicht sind wir das nicht. Vielleicht kommt das Aufwachen noch.« Dalin war ziemlich überzeugt davon zu wissen, was noch kam. Die Flut aus Fleisch würde zum dritten Mal in zehn Stunden gegen den Wall aus Eisen branden. Irgendwas würde nachgeben. Wenn die ersten beiden Versuche ein Maßstab waren, dann würde es das Fleisch sein. »Vielleicht sind wir das nicht …«, sagte Vierbüchse bedeutsam. Der Krieg veränderte die Leute, sagte man. Vierbüchse hatte er zu einem Philosophen verändert, nur eben zu keinem sonderlich guten. Dalin wollte ihm ganz offen sagen, was für ein Idiot er sei, aber seine Stimme war in ihm eingezwängt wie eine verklemmte Patrone bei einer Ladehemmung, und er war einfach nicht in der Lage, sie zu befreien. Die Sache mit den Albträumen war Dalins Ansicht nach weder das Unangenehme noch die Erleichterung des Aufwachens, obwohl beides dazugehörte. Für ihn war die Sache mit den Albträumen die winzigen kleinen Einsprengsel surrealen oder mundanen Unsinns, die sie durchzogen und das Grauen noch grauenhafter machten. Einmal hatte er einen Albtraum gehabt, in dem er und seine Schwester von einem Stuhl verfolgt wurden, der sie fressen wollte. Damals war er noch sehr jung gewesen und hatte große Angst vor dem Stuhl und seinen schlurfenden Beinen gehabt. Aber wirklich grauenhaft war der Albtraum dadurch geworden, dass darin ständig Aleksa aufgetaucht war, eine nette Frau aus dem Tross, die manchmal auf sie aufpasste, gelächelt hatte und fragte: »Hast du dir schon die Schuhe zugebunden?« Unter ihren rechten Arm hatte sie eine schläfrig zappelnde Henne geklemmt. Wenn seine gegenwärtige Lage mit Berechtigung Albtraum genannt werden konnte, waren die Elemente jedenfalls an Ort und Stelle. Sie bestürmten das riesige Bollwerk in Gesellschaft von
Hunderttausenden Gardisten. Sie bewegten sich unter einem Himmel aus Flammen unter zunehmendem Beschuss in einer Flut aus Leibern über die Brücken und durch die Gräben zu den Toren. Sie rannten ohne Deckung in den Tod, und ihr einziger dürftiger Schutz war ihre große Zahl. Und die ganze Zeit führte Vierbüchse eine Unterhaltung darüber, ob die Umstände so waren wie in einem Albtraum. Bei den ersten beiden Angriffen auf das mächtige Bollwerk war AT 137 der Front des Ansturms nicht einmal nahe gekommen. Mitten im Sog der Leiber waren sie zu den Toren geströmt und dann von der zurückweichenden Flut mitgerissen worden. Viele Tote hatten sie begleitet, da sie durch die Enge der Leiber aufrecht gehalten wurden und erst viele hundert Meter vom Schauplatz ihres Todes entfernt fielen, sobald der Druck nachließ und die Zwischenräume größer wurden. Die große Flut holte zum dritten Sturm aus. Sie ballte sich zusammen. Verschiedene Rufe erhoben sich aus der Menge der sich bewegenden Soldaten und vermischten sich zu einem lauten, unartikulierten Geheul. Die ganze Szenerie wurde durch Flammen erhellt. Als sie eine der großen Brücken erreichten, sah Dalin die vielen tausend Gesichter um sich mit einer goldenen Schattierung, und unter ihnen wimmelte es auf einer anderen, tiefer gelegenen breiten Brücke ebenfalls von goldenen Gesichtern. Andere Brücken rechts und links bebten unter der Masse der heranstürmenden Truppen. Tief unter ihnen in den Gräben waren noch viele tausend mehr. Flugzeuge und Raketen rasten wie Juwelen funkelnd über sie hinweg. Der Wall des Bollwerks war viele hundert Meter hoch. Ihre Flammenwerfertürme waren die Hauptquelle des grellen orangen Lichts, aber außerdem war der Wall mit Geschützstellungen gespickt, wo überall Mündungsfeuer blitzte. Es sah aus, als brenne der gigantische Wall an Millionen Stellen, aber tatsächlich war es das Feuer, das der Wall ihnen entgegensandte. Blaue und weiße Laserstrahlen sprühten wie Funken. Leuchtspurgeschosse wanden sich an der Mauer entlang und klebten daran wie Efeu. Granaten explodierten wie Blumen aus Rauch in der Luft und zogen Finger aus brennenden Trümmern unter sich her wie die Tentakel von Quallen. Die Kondensstreifen von Raketen hinterließen Bögen vom Boden zum Wall oder vom Wall zum Boden, wobei jeder Streifen ein Streben nach Aufstieg beschrieb, wie das Diagramm
eines in Rauch gezeichneten Angriffsvorschlags. Das große Bauwerk des Walls an sich leuchtete bernsteinfarben und sah aus, als seien seine schweren Geschützstellungen und Bas-ReliefEmbleme in Kupfer und Bronze gegossen. Ein Albtraum war etwas, aus dem man erwachte, aber dies war ein Grauen, zu dem er erwachte. Jede Minute seit dem Start des Landungsboots war eine Minute zu lang, jedes Grauen ein Grauen zu viel, jede Anstrengung eine Anstrengung, die zu weit ging. Das hier, diese sinnlose Massenanstrengung, Leiber gegen eine feste Mauer zu werfen, immer und immer wieder, überstieg alles. Er hörte Sobile rufen: »Vorwärts!« Sobile sagte es so, als sei es offensichtlich, als gebe es keine Wahl. Die Logik schrie, dass vorwärts die letzte Richtung sei, in die sie gehen sollten. II Schüsse fuhren beinahe senkrecht von oben herab in ihre Reihen. Frotzler starb, Wanzenohr und Trask ebenso. Nuschler fing Feuer, wurde zu einer schreienden Fackel und zündete mit seinem verzweifelten Um-sich-Schlagen die Männer in seiner Nähe ebenfalls an. Einem Doppler nicht weit von Dalin wurden die oberen zwei Drittel seines Kopfes demoliert, bis zur Unterlippe und zum Kinn, und er blieb dann neben Dalin, da er durch das Gedränge auf den Beinen gehalten wurde. Ledderman starb langsam, nach zwei Treffern, da er sich nicht zurückfallen lassen konnte. Stiefel und Munter verschwanden beide unter den Füßen. Korporal Traben bekam einen Treffer ins Auge und starb, während Rauch aus seinem halb geöffneten Mund quoll. Die großen Tore ragten vor ihnen in die Höhe, so schwer und unbeweglich wie eine Zwergsonne. Die Front des Ansturms griff sie an, brach sich an ihnen wie eine Welle an einem Kai. Feurige Kaskaden kippten von oben von den Brüstungen herunter: ausgedehnte, spritzende Ströme brennenden Prometheums. Die Gardisten kämpften sich bergauf. Sie stolperten und kämpften sich eine Rampe empor, die aus Leichen errichtet war. Ihre Steilheit vor dem Tor war von jenen bewirkt worden, die zuvor gekommen und bereits gestorben waren. Es war so lächerlich, dass Dalin schreien und lachen wollte. Dies war nicht die stolze
Kriegsführung, die zu bewundern und zu erwarten ihn seine Eltern erzogen hatten. Dies war unsinniges Verhalten, ohne jeden Wert und Zweck. Dalin empfand einen gewaltigen Hass auf Sobile, weil Sobile die wahnsinnige Geisteshaltung innerhalb der Garde verkörperte, die sie alle zu dieser Vergeblichkeit geführt hatte. Besteigt einen Berg aus Leichen unter schwerem Beschuss in eine Sackgasse. Warum sollten wir das tun, Herr Kommissar? Weil der Imperator es euch befiehlt. Dalin glitt auf einem Bein oder Arm aus. Er griff nach denen, die rings um ihn darum rangen, auf den Beinen zu bleiben, so wie sie nach ihm griffen. Kleidung riss. Blutergüsse bedeckten Blutergüsse, die Blutergüsse bedeckten. Ellbogen, Gewehrkolben, Knie und Helmränder schlugen ihn. Es stank nach Angstschweiß, Gallenatem, Dreck, Eingeweiden und Kot. Weil der Imperator es euch befiehlt. Dalin fragte sich in einem Augenblick lästerlicher Epiphanie, ob er der erste Gardist war, der dem Gott-Imperator den Tod wünschte. Es war gar nicht Sobile, für den er Hass empfand, es waren auch nicht die Kommandeure, es war der Herr über allem, dem sie alle dienten. Er wollte den Imperator für das hier töten. Er wollte den Gott-Imperator dafür erschlagen, dass er die Menschheit in die blutige Galaxis hinausgetrieben hatte. Es war ein befreiender Gedanke. Schmerzen und Furcht halfen ihm, ein Leben der Loyalität und Konditionierung abzuschütteln und das Undenkbare zu denken. Der Krieg hatte ihn über den Rand von allem, was rational war, hinausbefördert und zeigte ihm den leeren Schwachsinn der Sterne. Es sei denn … Dalin glitt aus, stand wieder auf und glitt erneut aus. Es sei denn … Es sei denn, dieser Ort brachte ihn dazu, so zu denken. Vielleicht war es keine Epiphanie, sondern vielmehr die böse Berührung der Mächte des Verderbens. Er war jetzt seit einiger Zeit dem Makel Gereons ausgesetzt. Vielleicht war er in die Irre geführt worden. Der Gedanke ließ ihn vor Selbstzweifel und Abscheu würgen. Lauthals – obwohl ihn über dem Zorn des Krieges niemand hören konnte – flehte und betete er um Vergebung. Schmerz und Wut seiner Feuerprobe hatten ihn dazu gebracht, dem Gott-Imperator
Schaden zu wünschen, nicht mehr! Ein Augenblick der Schwäche, kein Makel. Kein Makel. Bitte, Goldener Thron, kein Makel! Er warf sich vorwärts, wie elektrisiert von dem alles überlagernden Impuls, sich zu reinigen und seine Loyalität zu beweisen. »Der Imperator beschützt! Der Imperator beschützt!«, brüllte Dalin die wogenden Leiber rings um sich an. Der Mann neben ihm lächelte und schien zuzustimmen, aber der Mann neben ihm hatte keine Arme mehr und auch keinen Hinterkopf. Dalin drehte sich um und schaute über die Gesichter zurück, um jemanden aus seiner Einheit zu finden. Er erblickte Vierbüchse, Ganiel und Grabenfuß, obwohl Grabenfuß einen Moment später in einem Lichtblitz verschwand. Er sah Allerliebst und mehrere andere weiter hinten nahe der Seite der Brücke. »Kommt schon! Vorwärts! Vorwärts!«, brüllte er. Eine Rakete oder Granate hoch oben vom Wall traf die Seite der Brücke und erschütterte das gesamte Gebilde. Die Glieder von jemandem, der sich im Zentrum der Explosion befunden hatte, flogen durch die Luft. Ein großer Abschnitt des Brückengeländers brach weg und riss einen Teil der Straße mit. Dutzende Gardisten fielen inmitten brennender Gesteinstrümmer ins Leere. Dalin sah einige auf der Brücke darunter landen oder zerschmettert von ihrem Geländer abprallen und weiter in den Abgrund des Grabens stürzen. Der Druck der Leiber zwang jene weiter außen von der Brücke wie bei einem Loch in einem Wasserschlauch. Manche versuchten ihren Sturz dadurch zu verhindern, dass sie sich an den Soldaten neben sich festhielten. Als weitere Brückenabschnitte einstürzten, fielen Gruppen aneinandergeklammerter Soldaten in die Tiefe, da die ersten die letzten mitrissen. Dalin sah Allerliebst. Sie schrie und tastete nach jemandem oder etwas, während sie von verzweifelten Händen nach hinten gezogen wurde. In dem Rauch verlor er sie aus den Augen und sah sie nie wieder. Der Druck des Ansturms trieb ihn wieder vorwärts und nah an die Todeszone der Tore, wo die Flammenwerfer wüteten und die Laserstrahlen wie ein Wolkenbruch niedergingen. Die Welt wurde weiß. III
Zuerst kehrten die Geräusche zurück. Eine Stimme brüllte vor einem Hintergrund aus Lärm. Dann nahm er auch wieder Licht und Farbe wahr. »Hoch mit euch und vorwärts! Hoch mit euch und vorwärts, ihr Hunde! Ihr Idioten! Reißt euch zusammen und kämpft im Namen des Imperators!« Kommissar Sobile brüllte aus vollem Halse. Sein Gesicht war gerötet, die Adern an seinem Hals traten hervor, seine Mundwinkel waren voller Speichel. »Vorwärts, ihr Zauderer! Ihr Abschaum! Kämpft weiter! Reißt euch zusammen und zahlt dem Gott-Imperator zurück, was ihr ihm schuldet! Kämpft weiter!« Dalin hörte die Peitsche knallen. Ihm schwirrte der Kopf, als er sich aufrappelte, einer von mehreren Männern, die auf einem rauchenden Hang aus Toten und Verwundeten auf die Beine kamen. Er sah sich um, ohne sich konzentrieren zu können. Was war anders? Was war … Sie waren innerhalb des Tors. Die gewaltige Masse des Walls erhob sich über ihm, aber die Tore waren verschwunden. Welche immense Gewalt oder welcher Zufall sie zerstört hatte, wusste er nicht. Es hatte ihn jedenfalls zu Boden geschleudert und seine Sinne verwirrt. Die Tore waren gefallen, und ohne sie war der grausige Leichenberg, der sich vor ihnen gebildet hatte, vorwärts und nach innen in das Wachhaus gestürzt wie Wasser durch einen geborstenen Damm und hatte die Verwundeten und Bewusstlosen gleichermaßen mitgerissen. Tote hatten ihn ins Herz von K’ethdrac’att Shet Magir getragen. Sturmtrupps aus Gardisten, die meisten von ihnen Krassier, strömten über den eingebrochenen Haufen der Toten. Dalin überprüfte das Magazin in seinem Lasergewehr und bewegte sich mit ihnen. Jemand hielt ihn am Arm fest. »Bajonett aufpflanzen, Skalp!«, fauchte Kexie ihn an, bevor er Dalins Arm losließ und weiterlief. »Bajonett aufpflanzen! Bajonett aufpflanzen!« Dalin zog sein Kampfmesser und klemmte es in die Bajonetthalterung seines Lasergewehrs. Er eilte mit den anderen vorwärts. Im Wachhaus war es dunstig, aber voraus winkte bessere Sicht. Sie rannten, als sie ins Freie kamen. Einige Männer brüllten unverständliche Kriegsrufe. Sie stürmten aus der verräucherten Düsternis auf einen großen öffentlichen Platz, der von bedrohli-
chen Türmen und skelettartigen Zinnen umringt war. Der Feind erwartete sie in großer Stärke. Der Schwung riss ihn mit, und er bewegte sich mit der Menge, doch plötzlich waren überall Einschläge: schweres, fleischiges Klatschen, da Männer gegen Hindernisse liefen. Leiber trafen auf Leiber, als die anstürmende imperiale Linie auf die Reihen des Feindes traf. Männer stolperten und fielen, wurden sauber von den Beinen geholt und von gewaltigen Hieben durch die Luft gewirbelt. Grunzen und Ächzen der Anstrengung und der Schmerzen war zu hören. Schüsse wurden abgegeben, aus nächster Nähe, und einer nach dem anderen wurden die Männer der anstürmenden Woge von markerschütternden Zusammenstößen aufgehalten. Schilde und Rüstungen trafen aufeinander. Bajonette stachen, und Grabenäxte blitzten. Dalin prallte auf eine Gestalt in Grün und durchbohrte sie mit dem Bajonett, und der Druck der Leiber hinter ihm schob ihn weiter vorwärts. Sein Bajonett kam frei, und der Feindsoldat verschwand unter ihm. Sofort traf er auf den nächsten. Mehr markerschütternde Zusammenstöße. Neben Dalin wurde ein Mann so hart getroffen, dass sein Helm in die Luft flog. Blutfontänen spritzten über ihre Gesichter. Dalin wurde vor ein wildes Ding mit augmetischen Vorrichtungen in Mund und Augen geschoben. Brüllend stieß er mit dem Bajonett zu und gab obendrein noch einen Schuss ab. Das Ding fiel rückwärts und wurde dann durch den Druck der Meute schlaff wieder vorwärts gegen Dalin geschleudert. Der Krassier neben ihm schrie auf, als ein Bajonett seinen Armschutz durchbohrte. Das eigene Bajonett des Mannes steckte im Brustharnisch des Feindsoldaten vor ihm, einer kranken Elendsgestalt in verkommen schwarzer Ausrüstung. Dalin stach verzweifelt mit seiner eigenen Waffe zu und schlitzte dem Feindsoldaten mit der Spitze des Bajonetts die Kehle auf. Der Krassier grinste Dalin dankbar an. Zehn Sekunden später fällte eine Kugel von irgendwoher den Krassier mit einem soliden www-spakk! Dalin fühlte sich, als treibe er in einem stürmischen Leibermeer. Über ihren Köpfen und über der brodelnden Masse wehten Flaggen und Banner. Laserstrahlen zischten umher. Einen halben Kilometer entfernt erbebte eines der anderen großen Tore im Bollwerk und flog in einer gigantischen Flammenwand auseinander. Aus dem wütenden Feuer schritt ein Titan vorwärts durch die
Bresche, dessen Rüstung durch den Feuerball schwarz versengt war. Lauter Jubel erhob sich aus den Reihen der Männer. Die Flut wogte mit neuer Kraft vorwärts. Der Widerstand vor ihnen gab nach, und sie rückten schneller vor, da sie plötzlich mehr Platz hatten und ausschwärmen konnten, wieder Platz zum Atmen hatten. Die Steinplatten unter ihren Füßen waren durch Gewicht und Belastung gesplittert und braun gefärbt vom Blut. Überall lagen Leichen zwischen einem Durcheinander aus Trümmern und verstreuten Ausrüstungsgegenständen. Dalin rannte. Unterwegs traf er auf einen Feindsoldat, einen Mann mit Panzerplatten aus Kupfer über seiner grünen Uniform. Dalin stürzte sich auf ihn, und sie rangen miteinander. Dalin riss seinen Gewehrkolben hoch, rang den Mann auf die Knie nieder und verpasste ihm mit dem Bajonett den Todesstoß. Als er die Waffe hob, sah er einen anderen Mann mit einem Schwert auf ihn einstürmen. Er gab zwei Schüsse aus der Hüfte ab, und der Mann wurde von der Wucht des Einschlags herumgerissen, als er fiel. Kleine Explosionen wirbelten in der Nähe Steine und Dreck in die Luft. Er begegnete einem anderen Krieger von Angesicht zu Angesicht, und ihre Bajonette verhakten sich. Der Feind, eine groteske Mutantenbestie mit eingefallenen Zügen, kreischte ihn beim Kämpfen an. Dalin bekam seine Klinge nicht frei. Ein vorbeifliegendes Boltgeschoss sprengte den Rumpf des Mutanten, und Dalin riss sich los. So weit er sehen konnte, kämpfte die Garde auf dem gesamten Platz in wilden Geplänkeln Mann gegen Mann. Die feindlichen Krieger, gegen die sie kämpften, waren Wesen, die er sein gesamtes restliches Leben versuchen würde zu vergessen: bizarre Dinger, manche gepanzert, brutal und hässlich, andere absonderlich und beinahe schön in ihrer Verdrehtheit. Manche schienen krank und so abhängig von ihren Rüstungen und augmetischen Implantaten zu sein, dass Fleisch und Metall zu einem Ganzen verschmolzen war. Andere sahen in ihren strahlenden Rüstungen prächtig aus und trugen Banner an langen Speeren, auf denen der Niedertracht des Chaos Ausdruck verliehen wurde. Ein ganzer Katalog von Verderbnis, Verfall, Demütigung, Mutation, Verstümmelung und Ausschmückung wurde zur Schau gestellt. Der Erzfeind stemmte sich mit Laserwaffen, Hackmessern, Autogewehren, Schwertern, Klauen und Zähnen gegen den Ansturm der Menschheit. Dalin sah einen Mann mit einer Girlande
aus dünnen, dornigen Tentakeln, die ihm aus dem offenen Mund quoll. Er sah eine Zyklopenfrau mit einem einzelnen krummen Zahn, der über ihre verunstaltete Lippe wuchs. Er sah fledermausgesichtige Wesen, die heulten und zirpten, während sie mit ihren Kettenklingen zuschlugen. Er sah gehörnte Oger und Männer mit den nach hinten gebeugten Stelzenbeinen riesiger Vögel. Er sah glänzende schwarze Haut wie die von Haien, knochige Fingernägel an Metallhänden mit Gravuren, Schlitzaugen in der Farbe von Kohlenglut, krass aufgeblähte, enzephalitische Köpfe auf hängenden Schultern, Scharen blinkender Knopfaugen und Zweitgesichter, die durch Schlitze in Kleidungsstücken und Umhängen blinzelten und krähten. Granaten fielen mit einem Zischen verwirbelter Luft, und Dalin duckte sich instinktiv. Schwere Kaliber fielen auf den Platz und schleuderten Leiber in explosiven Fontänen in die Höhe. »Heilig!« Vierbüchse tauchte auf. Er war mit Blut besudelt und dann mit feinem Steinstaub besprengt worden. »Du lebst!«, rief Vierbüchse, als verrate er Dalin etwas, das dieser nicht wusste. »Wir müssen weiter!«, überschrie er den Kampflärm. »Die Panzer kommen!« Der massige Leib der Gardisten auf dem Platz teilte sich. Imperiale Panzer rollten scheppernd und Rauchwolken schnaubend durch die geborstenen Tore und schossen mit ihren aufgerichteten Geschützen auf die Türme und Zinnen der Stadt. Die ersten Panzer waren Leman Russ der Rothberg-Division mit beigebrauner Tarnbemalung. Ruß und Staub hüpften bei jedem Schuss ihrer Hauptgeschütze von den Karossen. Gardisten rannten neben ihnen her und bejubelten jede abgefeuerte Granate. Die Außenbezirke der vor ihnen liegenden Stadt standen in Flammen. Brandgranaten hatten tosende Feuerstürme erzeugt, welche die nächsten Türme einhüllten und verzehrten. Die vorrückenden Panzer eilten der ausschwärmenden Linie der Infanterie voraus. Ein Panzer rollte direkt an Vierbüchse und Dalin vorbei. Sie jubelten, als sei es ein vorbeifahrender Festumzugswagen. »Komm mit«, sagte Dalin, und sie rannten hinter dem Panzer her und gesellten sich zu anderen, die dem Panzer ebenfalls folgten. Als sein Hauptgeschütz feuerte, war das Krachen so laut und
nah, dass sie alle zusammenfuhren, um dann darüber zu lachen. Dalin sah den verstümmelten Leichnam eines Kommissars in den Trümmern liegen. Er fragte sich, ob es Sobile war. Er hoffte es jedenfalls. »Sieh mal!«, sagte er zu Vierbüchse. Nicht weit entfernt lagen die Leichen mehrerer Krassier rings um ihr Banner, einem zerfledderten Aquila über einem Kreuz. »Hilf mir!«, sagte Dalin, indem er dorthin rannte. Vierbüchse folgte ihm mit zwei Krassiern aus der Meute, die dem Panzer folgte. Gemeinsam hoben sie das Banner auf und hielten es in die Höhe. Es dauerte eine Weile, die Flagge zu entwirren, damit sie richtig hängen konnte. Dann eilten sie zurück zu den Männern, die dem Panzer hinterhertrabten. Mehr Jubel erhob sich. Der Panzer vor ihnen hupte ein paarmal. Der von den Türmen heranwehende Rauch wurde dichter und legte sich wie Nebel über den Platz. Plötzlich erblickte Dalin Merrt unter den Vorrückenden. »Du hast es geschafft!« Merrt nickte und schloss sich ihnen an. Sein Kampf vom Wachhaus hierher war hart gewesen. Das Lasergewehr, das er sich durch den Tausch mit Dalins Waffe eingehandelt hatte, war schlecht: eine unzuverlässige alte Waffe, deren Kolben einen halb verblichenen gelben Munitorum-Stempel trug. Zwei Mal war es zu einem Versager gekommen, und beide Male hatte es ihm beinahe das Leben gekostet. Das Gewehr befand sich mechanisch in einem sehr schlechten Zustand, und Merrt hatte das unangenehme Gefühl, dass es eine alte, vom Feind zurückeroberte Waffe war. Bei Merrt waren Amasec, Pik, Mühe und Wäsche, vier andere Mitglieder von AT 137. Alle waren verdreckt und zerzaust. Dann tauchte Pinzer auf, der Prediger der Kompanie. Dalin hatte angenommen, er sei schon vor Stunden umgekommen. Pinzer hielt eine Laserpistole in einer Hand und ein offenes Gebetsbuch in der anderen und las laut daraus vor, während er marschierte. Die Angehörigen von AT 137 jubelten ihm zu, als sei er ein lange verschollener Verwandter. Pinzer schaute kurz auf, schien sie aber nicht wiederzuerkennen. Wäsche spie auf den Boden und beschrieb das Zeichen des Aquila. Er hatte etwas anderes gesehen. Er deutete mit einem Kopfnicken über den Platz.
Inmitten der vorrückenden Gardisten konnte Dalin verwachsene dunkle Gestalten ausmachen, die ebenfalls vorrückten. Einige trugen lange Mäntel und marschierten mit Hilfe langer Gehstöcke. Andere waren gebeugt und bucklig und schlurften angekettet an zwei Kommissariatswachen dahin. Das Oberkommando hatte die sanktionierten Psioniker in den Kampf beordert. »Verfluchte dreckige Dinger«, sagte Wäsche und spie wieder aus. Dalin beäugte die entfernten Gestalten neugierig. Das Tageslicht, das zugegebenermaßen durch Rauch und Staub beeinträchtigt wurde, wirkte rings um sie besonders düster, als sei die Luft braun gefärbt wie die Finger eines alten Lho-Stäbchen-Rauchers. Die Gestalten waren außerdem von einem leichten Flimmern umgeben, sodass sie wie eine alte Bildaufzeichnung aussahen, die ein wenig zu schnell ablief und deren Datei Fehler aufwies. Er spürte ein Kribbeln auf der Haut und bildete sich ein, wie ihn starke, unmenschliche Bewusstseine anfunkelten, sie alle anfunkelten und in sie hineinschauten. Er fragte sich, wie die Psioniker die Welt wahrnahmen. Schauten sie in seinen Verstand? Blickten sie durch sein Fleisch auf seine müden Knochen? Nahmen sie ihn überhaupt zur Kenntnis? Konnten sie in seinen Kopf schauen und darin lesen, wie viel Angst er vor ihnen hatte? Er spürte eine Berührung wie von leichten Fingerspitzen auf der Haut und erschrak, um sich gleich darauf zu versichern, dass es nur Einbildung gewesen war. Aus dem Rauch vor ihnen drang das Geräusch eines heftigen Schlags. Es war sehr laut und ließ eine gewaltige Kollision ahnen, als habe eine Abrissbirne ein Brandschutzschott getroffen. Dem Krachen folgte unmittelbar eine Erschütterung, die den Boden erzittern ließ, und dann ein langes, kreischendes Kratzen von Metall auf Stein, das immer lauter wurde. Ein Leman Russ tauchte aus dem Rauch auf. Er war beigebraun und gehörte zur Rothberg-Division und zur Vorhut, die in die brennende Stadt vorausgefahren war. Er war halb umgekippt, und der Turm zeigte auf sie und die Ketten von ihnen weg. Die oberste Kette war geborsten, und die losen Kettenabschnitte hingen nach unten wie die losen Schup-
pen einer riesigen Echse. Die Rumpfpanzerung an der erhöhten Seite war durch eine kolossale Kraft tief eingebeult worden. Die Unterseite sprühte Funken und kreischte, während ihnen der Panzer auf der Seite liegend über die Steinplatten entgegenrutschte. IV Gemächlich glitt der Panzer, immer noch kreischend, an ihnen und dem Leman Russ vorbei, und kam schließlich zum Stillstand. Zwei schwere Kettenteile fielen bleischwer zu Boden. Für einen Moment kehrte beinahe so etwas wie Stille ein. »Was im Namen der Hölle könnte …«, begann Vierbüchse. Im Rauch war etwas, irgendetwas, das dem Panzer begegnet war und ihm einen solchen Schlag verpasst hatte, dass er umgekippt und über den Platz gerutscht war. Dieses Etwas war groß, so groß wie ein zweigeschossiges Hab, und es bewegte sich kaum. Sie konnten es in dem Rauch als grauen Schatten in der blasseren Wolke erkennen. Sie sahen, wie es einen langsamen Schritt machte. Sie hörten ein langgezogenes, feuchtes, rasselndes Schnurren. Die vorrückende Linie der Infanterie kam zum Stehen. Banner flatterten im Wind, während sie in die Rauchwolke und den Schatten darin starrten. Die Panzer hatten ebenfalls angehalten. Noch ein tiefes, feuchtes Schnurren drang aus dem Rauch. Entlang der Linie brüllten Offiziere und Kommissare Befehle und Aufmunterungen. »Präsentiert das Gewehr! Feuerlinien bilden!« »Ordnung halten, Ordnung halten!« Ein Offizier, den Dalin nicht kannte, rannte an ihnen vorbei die Linie entlang. »Gewehre anlegen! Zwei Reihen!« »Was ist das?«, murmelte Wäsche. »Was ist das?« Der Schatten bewegte sich wieder, bekam eine Form. Dalin verschluckte vor Entsetzen beinahe seine Zunge, als er die beiden riesigen Hörner auf dem keilförmigen Schädel erblickte. Ein riesiger Huf schmetterte bei dem Schritt auf die Steinplatten. Es stank plötzlich nach verbranntem Zucker, vulkanischen Gasen, Gewittern und Scheiße.
»Ein Dämon …«, sagte der Prediger, als er aufblickte. »Ein Ddämon …« Mehrere Männer fielen in Ohnmacht. Die Gardelinie zerbröckelte, und die Männer flohen wie eine durchgehende Herde furchtsamer Wiederkäuer. Stimmen erhoben sich plötzlich in einem anschwellenden Gemurmel, als Männer herumfuhren und um ihr Leben liefen. Banner fielen, vergessen. Kommissare brüllten und drohten und wurden umgerannt. Luken öffneten sich klirrend, und Panzerbesatzungen sprangen nach draußen und gaben ihre Fahrzeuge auf, um mit dem Rest zu fliehen. Der Dämon ging auf sie los. Obwohl er ihn anstarrte und zu den Letzten gehörte, die flüchteten, sah Dalin ihn eigentlich gar nicht richtig. Er erblickte die hauerartigen Hörner, die gewaltige, quasihumanoide Gestalt, die nach hinten zeigenden Gelenke und ein Maul voller Dolchzähne in einem klaffenden, von Fängen umringten Maul. Er erblickte die runden, schwarzen, glänzenden Augen. Er wollte den Dämon sehen. Er wollte sich wappnen und seine größte Gestalt gewordene Furcht erblicken, den Anblick ertragen und dadurch stärker werden oder daran sterben. Doch der Dämon besaß eine Eigenschaft neben all denen, die in den Texten der Ekklesiarchie und Warnsermone aufgezählt wurden. Er war schnell. Seine Schnelligkeit war ebenso unnatürlich wie seine anderen grausigen Aspekte. Er war nicht schnell, wie ein Mensch oder Tier schnell war. Wenn er sich bewegte, faltete sich die Wirklichkeit um ihn und gestattete ihm, sich im Nu von Ort zu Ort zu bewegen. Ein Geräusch wie Geschrei ertönte, und stürmische Winde bliesen. Dutzende flüchtende Gardisten wurden plötzlich wie von einem gewaltigen Kielwasser hoch in die Luft geschleudert. Die Besatzung hatte den Panzer vor Dalin gerade erst verlassen, als dieser in die Luft flog wie ein Spielzeug, sich überschlug und dreißig Meter entfernt mit einem Aufprall landete, der Dalin von den Beinen holte. Er rappelte sich auf Hände und Knie auf. Entleibte Tote lagen überall. Leichen, zerfetzt und verstümmelt in einer Sekunde der Wut, lagen in Blutseen. Dalin schrie vor hilfloser Wut und Grauen. Wäsche saß neben ihm auf dem Boden, die Hände im Schoß, und weinte und schluchzte vor sich hin. Vierbüchse stand noch hinter ihnen und glotzte auf die Stelle, wo gerade noch der Panzer gestanden hatte. Pinzer wanderte an ihnen vorbei. Dalin sah den
Prediger an. Der Mann starrte auf die bröckelnden imperialen Linien, auf den großen verschwommenen, gehörnten Fleck aus Rauch und stinkender Luft, der durch ihre Reihen fegte und Leute in die Luft schleuderte. Pinzer schaute weg. Er kehrte dem Gemetzel den Rücken und setzte sich neben Dalin auf den Boden. Sein Gebetbuch fiel ihm aus der Hand und landete auf den dreckigen Steinplatten. »Hier gibt’s keinen Schinken«, sagte er rasch und mit dünner, perplexer Stimme. »Überhaupt keinen. Ich habe nachgesehen. Die Eier sind faul. Ihr seid so schnell gelaufen, dass ich sie nicht zählen konnte. Bereitstellung.« »Was?«, fragte Dalin. Pinzer schob sich den Pistolenlauf in den Mund und drückte ab. Sein Oberkörper kippte nach hinten. »Steh auf!« Dalin drehte sich um. »Steh auf!«, sagte Merrt noch mal. Er warf einen Blick auf Wäsche. »Helft ihm auf die Beine.« »Wir sind alle tot!«, ächzte Wäsche zwischen seinen Schluchzern. Dalin registrierte ein helles Flackern im Augenwinkel. Es bereitete ihm Zahnschmerzen, und er spürte eine widerliche Flüssigkeit in seinen Eingeweiden pulsieren. Er glaubte die Kontrolle über seine Gedärme zu verlieren. Vierbüchse und Merrt spürten es ebenfalls. Die Empfindung ließ Wäsche, den harten Wäsche, kreischen wie ein Mädchen. »Was war das?«, beklagte sich Vierbüchse, dem anscheinend das volle Ausmaß der Ereignisse nicht klar war oder der nicht gewillt war, es anzuerkennen. »Die Psioniker«, knurrte Merrt. »Sie haben den Kampf aufgenommen gegen den gn… gn… gegen das verdammte Ding.« Sie konnten es alle spüren, als quetsche jemand ihre Organe. Wäsche würgte, ohne sich zu übergeben. Tränen liefen ihnen allen über die Wangen, ungebeten. Dalin spürte die Mutter aller Kopfschmerzen an ihm nagen und hatte den metallischen Geschmack von Blut im Mund. Alle Schnitte und Schrammen, die er sich seit der Landung zugezogen hatte, öffneten sich spontan wieder. Schmutziges gelbes Licht breitete sich über dem großen, umkämpften Platz aus. Der Dunst war wie Regendampf und verhüll-
te den Blick auf das Bollwerk und die restliche Stadt. Gegabelte Leuchtspuren aus Energie erhellten die schäumende Finsternis wie Adern. Einige der größeren Steinplatten unter ihren Füßen barsten spontan, als seien sie Weltraumtemperaturen ausgesetzt. Merrt hielt sich eine Hand an den Kopf. »Verschwinden wir«, sagte er. »Verschwinden wir, bevor es uns umbringt.« V Zwei Stunden tobte irgendeine Art Kampf auf dem dunklen Platz. Ein widerlicher Nebel, in dem es von Fliegen wimmelte, wallte in die Seitenstraßen, und Schreie hallten aus der lärmenden Dunkelheit. Seltsames und unerklärliches Krachen und Donnern war zu hören. Die Straßen in der Nähe standen in Flammen. Einige Gardisten aus der vorrückenden Linie waren vorwärts in die Ruinen geflohen, was sie wahrscheinlich gerettet hatte, zumindest vor dem Dämon und dem telepathischen Konflikt. Dalin, Merrt, Vierbüchse und Wäsche flohen in diese Richtung. Zwei Krassier, Firik und Bonbort mit Namen, flohen mit ihnen. Firik hatte die linke Hand verloren. Entweder wusste er nicht, wie er sie verloren hatte, oder er war zu traumatisiert, um sich daran zu erinnern. Merrt band den Stumpf ab, und Firik saß für sich allein und gab ab und zu würgende Schmerzenslaute von sich. Sie hatten Schutz in einer ausgebombten Häuserruine gesucht. Nicht weit entfernt brannte einer der grotesken Türme der Stadt hoch in die Nacht, ein monströses Ding aus Stachelarchitektur und insektenartigen Streben. Sie saßen stumm in den flackernden Schatten und zuckten bei jedem Heulen oder Krachen zusammen. Sie waren zu müde und benommen, um sich zu unterhalten. Vierbüchse holte ein Proviantpäckchen heraus, aber seine Finger waren zu steif und zittrig, um es aufzureißen. Merrt schien es zu genügen, einfach dazusitzen und seine Waffe dabei so sorgfältig zu untersuchen, als wolle er irgendeinen Fehler im Visier korrigieren. Dalin blieb so lange still sitzen, wie er konnte, da er wusste, dass er die Ruhe brauchte, aber ihn juckte die Ungeduld. Sie hatten es noch nicht überstanden, und jeder Schritt schien, triumphaler- und unglaublicherweise, noch schlimmer zu sein als der
vorherige. Er stand auf, marschierte in der Ruine auf und ab und lugte dabei durch die gesplitterten Fenster. Auf der einen Seite war die Straße voller toter Feindfahrzeuge, die aussahen, als seien sie als Prozession in einem einzigen blitzartigen Feuersturm ausgebrannt. Weiße Asche bedeckte sie wie Schnee. »Iss etwas.« Er drehte sich um und sah Merrt. Er schüttelte den Kopf. »Du brauchst Nahrung«, sagte Merrt. »Es ist ein Wunder, dass nach den letzten Stunden überhaupt noch jemand von uns auf den Beinen ist. Nahrungsmangel ist das Letzte, was du im Moment bemerkst, aber wenn der gn… gn… Zusammenbruch kommt, wirst du wissen, was ich meine. Iss etwas, dann hältst du vielleicht noch eine Weile durch.« Dalin nahm ein Proviantpäckchen und aß wenig. Merrt half Vierbüchse dabei, sein Päckchen aufzureißen, und gab den anderen dann dieselben Anweisungen. Merrt gesellte sich wieder zu Dalin, während er künstlich hergestellte Brühe durch einen Strohhalm sog. »Das Schlimmste, was du je erlebt hast, richtig?« Dalin fragte sich, auf welchen Aspekt des letzten Tages sich Merrt bezog. Er nickte nur. »Einmal war da ein Stuhl«, sagte Dalin. »Was?« »Als Kind hatte ich mal einen Albtraum«, sagte Dalin. »Meine Schwester und ich wurden von einem Stuhl verfolgt, der uns fressen wollte. Aleksa aus dem Tross war da, mit einem Huhn unter dem Arm, und fragte mich, ob ich mir die Stiefel zugeschnürt hätte.« Merrt hob die Augenbrauen. »Warum erzählst du mir das?« Dalin zuckte die Achseln. »Weil mir im Moment, ehrlich gesagt, kein einziges vernünftiges Gesprächsthema einfällt.« »Das ist wohl wahr«, gab Merrt ihm recht. Dann drehte er sich um und schaute auf die aschebedeckte Straße. »Wahrscheinlich symbolisch«, sagte er. »Was?« »Dein Traum.« »Inwiefern?« Merrt drehte sich wieder zu Dalin um. »Ein Stuhl? Das gn… gn… muss ein Symbol sein, richtig? Für das Imperium. Den Thron. Wie sehr du dich auch bemühst, es hinauszuschieben, früher oder
später frisst das Imperium dich und deine Schwester ebenso auf wie alle anderen. Am Ende gn… gn… kriegt uns das Imperium. Es verschlingt uns alle.« Dalin runzelte die Stirn. »Wenn du meinst. Was ist mit Aleksa und dem Huhn?« »Das gehört auch zum Imperium. Dich zu füttern und zu kleiden und sich um dich zu kümmern, solange es kann.« »Steht in deiner Interpretation alles für das Imperium?«, fragte Dalin. »Gewöhnlich ja«, sagte Merrt. »Das Imperium oder Sex. Das macht es leichter.« »Du hast keine Ahnung, wovon du redest, oder?«, fragte Dalin grinsend. »Nicht den leisesten Schimmer.« Sie wichen beide vom Fenster zurück, als jemand, nur ein dunkler, unregelmäßiger Schatten, über die Straße rannte und in den Ruinen am oberen Ende verschwand. »Weißt du«, sagte Dalin, »ich kann nicht glauben, dass ich mir mein ganzes Leben gewünscht habe, hier zu sein.« Merrt schnaubte. »Wirst du es mir jetzt sagen?«, fragte Dalin, indem er sich zu Merrt umdrehte. »Was?« »Wir wissen, wie ich hier gelandet bin. Ich war so verdammt versessen darauf, ein Geist zu sein. Was ist mit dir? Und gib mir diesmal keine Scheißantwort.« »Weil ich dumm und verzweifelt war«, sagte Merrt leise. »Weil ich alles hatte und es mir genommen worden ist und ich es zurückhaben wollte. Ach, und ein Mädchen spielte eine Rolle.« Er wandte sich Dalin zu. »Sieh mich an«, sagte er. »Sieh genau hin. Früher hab ich mal gn… gn… gut ausgesehen. Vielleicht nicht so richtig toll, aber ich bin zurechtgekommen. Und ich hatte ein Auge! Ich war Scharfschütze. Das war was. Dann wurde ich verwundet.« Er schaute weg. »Hat mir das Gesicht abgerissen. Mir die Stimme genommen. Und die Zielsicherheit. Meine Hand zittert, ich kriege sie einfach nicht ruhig, und mit diesem Kiefer kann ich das Gewehr nicht richtig anlegen. Ich landete ganz unten im Leben.« Dalin wusste nicht recht, was er darauf sagen sollte.
»Trinken half. Aber kein Mädchen kam in meine Nähe. Ich dachte mir, wenn ich genug Geld in die Finger kriegte, könnte ich den Schaden reparieren. Nicht völlig, weißt du, aber eben besser machen. Mir ‘ne bessere Prothese besorgen als diesen Kasten. Vielleicht ein Transplantat. Auf den Makropolwelten kann man sich runderneuern lassen, wenn man genug Geld hat, heißt es.« »Das habe ich auch gehört«, stimmte Dalin zu. »Aber woher sollte ich Geld nehmen? Es verdienen? Unmöglich. Es stehlen? Ich bin kein Gauner. Die einzige Möglichkeit, die mir einfiel, war die, es zu gewinnen. Also hab ich mit der Zockerei angefangen.« »Ja?« Merrt gab ein Geräusch von sich, das ein Lachen war, wie Dalin erkannte. »Wie sich rausstellte, hatte ich da dasselbe Glück. Ich habe ein paar Jahre gezockt und dabei viel mehr verloren als gewonnen. Früher oder später macht einen das fertig.« »Was ist passiert?« »Ich bin zu tief reingerutscht. Geriet in einen Kampf. Der Kommissar hat mir das Leben gerettet …« »Gaunt?« »Nein, ich meine Hark. Er hat mir das Leben gerettet, über dessen Wert sich streiten lässt. Aber ich kam vors Kriegsgericht. Glücksspiel, Schlägerei, ungebührliches Verhalten. Sechs Wochen BIN. So bin ich hier gelandet.« Dalin nickte. »Hast du nicht gesehen, wo das hinführt?«, fragte er nach einer Weile. »Siehst du, wo es jetzt gn… gn… gerade hinführt?«, fragte Merrt. »Nein.« »Aber du weißt, wie schlimm es wird, oder?« Dalin nickte. »Und du kannst es nicht aufhalten. So war es für mich. Ach, und da war ein gn… gn… Mädchen.« »Ein Mädchen?« »Hat in der Spielhölle gearbeitet, wo ich immer gezockt habe. In so einem Laden im Hexenkessel. Hieß Sarat. Das hübscheste Ding. Seit meiner Verwundung hab ich natürlich auch nach Mädchen geschaut, aber sie war das einzige, das je zurückgeschaut hat. Das Gesicht hier hat sie nicht verschreckt. Sie hat mit mir geredet und sich dafür interessiert, wie es mir ging. Wir waren
nicht zusammen, verstehst du? Sie war nur … ich weiß auch nicht, vielleicht hat sie nur ihre Arbeit gemacht. Pavver hat sie dafür bezahlt, nett zu den gn… gn… Kunden zu sein. Kam mir aber ehrlich vor. Am Ende bin ich ebenso ihretwegen hingegangen wie zum Kartenspielen. Ich hab mir schon eingebildet, ich könnte den großen Coup landen und das Geld aufbringen, um mir das Gesicht richten zu lassen, und dann würde sie …« Er zuckte die Achseln. »Ich dachte, dass es da hinführt. Irgendwohin, wo ich den Mumm haben würde, sie zu fragen, ob sie zu mir gehören will, und sie mir nicht ins Gesicht lachen würde.« VI Ein paar Stunden später endete die Nacht, und der Tag kroch heraus. Sie hatten jedes Zeitgefühl verloren. Seit der psionischen Auseinandersetzung auf dem Platz waren ihre Chronos stehen geblieben oder drehten sich wie verrückt. Sie konnten nicht sagen, ob es ein echtes Morgengrauen war oder nur eine Veränderung im Wind, sodass der Rauch weggeweht wurde, der die Welt ins Dunkel getaucht hatte. Dalin hatte auf Licht gehofft. Sich Licht gewünscht. Licht würde alles besser machen. Das tat es nicht. Es machte nur alles anders. Die Nacht, echt oder künstlich, war nur schwer zu ertragen gewesen. Nach den Geräuschen in der Dunkelheit war Gelächter zu hören gewesen, hoch und irre, das wie der Wind in den Traufen gekommen und gegangen war und aus leeren Treppenhäusern und geborstenen Rohrleitungen hallte. Mehr als ein Mal hörten sie ein Schlurfen auf der Straße und fanden dort niemanden vor. Niemand Sichtbaren. Bonbort, einer der Krassier, floh in die Nacht. Keiner sah ihn verschwinden. Keiner wusste, warum er geflohen war. Als es kam, war das Licht weiß und einförmig. Es ließ es so aussehen, als hinge der Himmel tief über der Stadt wie die Decke eines Theaters ohne Kulisse. Das Licht war so dick und träge wie farblos. Alles wirkte ein wenig neblig. Überall lagen weißer Staub und Asche, und sobald Wind aufkam, vernebelte der Staub die Luft wie Rauch.
Dalin und Merrt gingen nach draußen. Der Krieg tobte immer noch, weil sie seinen Donner hören konnten, stumpf und gedämpft und aus allen Richtungen. Fette Säulen aus schwarzem Rauch erhoben sich aus immer noch brennenden Teilen der Innenstadt über die Dächer und in den Himmel. Ein Geruch wie nach Zuckerwatte hing in der Luft. Sie aßen ein wenig mehr und tranken ihr letztes Wasser. Firik, der andere Krassier, hatte Fieber, da sich sein Armstumpf entzündet hatte. Sie konnten nichts für ihn tun. Als sie in den Straßen in der Nähe Pfeifen blasen hörten, sammelten sie Firik ein und rückten aus. Nach wenigen Minuten hatten sie eine Kolonne Krassier gefunden, die durch die vom Feuer geschwärzten Straßen zog und alle Infanteriereste einsammelte, denen sie begegnete. Die Krassier nahmen Firik in ihre Obhut. Der Offizier konnte Dalin und den anderen kaum etwas über die Vorgänge erzählen. Sie waren gerade erst in dieses Gebiet geschickt worden, um wieder die Kontrolle zu übernehmen. Die vier schlurften weiter durch die aschebedeckte Stadt. Sporadisches Gewehrfeuer knatterte und zischte in angrenzenden Straßen. Sie fanden einen abgestürzten Thunderbolt des Imperiums, dessen matter, geborstener Rumpf sich am Ende einer langen Furche in den Boden gebohrt hatte, einen Flügel in den Himmel gereckt wie ein Schwimmer, bei dem ein ziehender Arm aus dem Wasser ragte. Dann fanden sie Hamir. Zuerst wussten sie nicht, dass es Hamir war. Sie sahen eine einsame Gestalt in verdreckter Uniform durch eine leere Straße schlendern und in die Ascheflocken starren, die wie Schnee von den Traufen rieselten. Wäsche hob sofort sein Lasergewehr und Merrt ebenfalls, aber Vierbüchse sagte plötzlich: »Das ist Schola! Seht doch, das ist Schola!« Wäsche runzelte die Stirn. Dalin sah, dass Merrt immer noch schussbereit war, und stieß seine Gewehrmündung zur Seite. Merrt blinzelte und sah ihn an. »Was?« »Du hättest ihn beinahe erschossen!« »Hätte ich nicht. Gn… Ich …« Merrt starrte mit gerunzelter Stirn auf das alte Gewehr in seinen schmutzigen Händen. Hamir hörte sie rufen und blieb stehen. Er starrte sie an, als sie zu ihm liefen. Eine Schicht weiße Asche hatte sich auf Schultern und Kopfhaut abgesetzt wie ein Zuckerüberzug.
»Hamir!«, rief Dalin, als sie bei ihm waren. Hamir lächelte, wirkte aber benommen. Er blinzelte ständig, als habe er Probleme, den Blick zu fokussieren. »Heilig«, sagte er. »Heilig. Da bist du ja. Ach, das ist gut, Vierbüchse auch.« »Wie kommst du hierher?«, fragte ihn Merrt. Hamir schniefte und dachte darüber nach. Er drehte sich zögerlich um und dann wieder zurück. Er legte sich nachdenklich einen schmutzigen Finger auf die Lippen. »Ich kann mich … kann mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nicht mehr, wie …« Hamir blickte sich wieder um. »Die Straßen sehen überall gleich aus. Sie sehen alle gleich aus.« Dalin betrachtete Hamir eingehender. Hinter dem rechten Ohr war eine Kruste aus getrocknetem Blut unter einer hässlichen Beule im Helmrand. Hamir blinzelte immer noch. Eine seiner Pupillen war ein Stecknadelkopf, die andere geweitet und schwarz. Dalin fragte sich, ob er Hamir den Helm abnehmen sollte. Er entschied, dass er es eigentlich nicht wollte. »Sobile schickt mich«, sagte Hamir plötzlich. »Das Schwein?«, knurrte Wäsche. »Sobile schickt mich«, wiederholte Hamir. »Wo ist er?«, fragte Merrt. »Er hat einen Teil der Abteilung gesammelt. Um den Sergeant. Er hat einen Teil der Abteilung gesammelt, was noch von der Abteilung übrig ist, was er noch von der Abteilung gefunden hat …« »Hamir? Wo ist er?«, fragte Dalin. »Nicht weit«, nickte Hamir. »Er hat zu uns gesagt, wir sollen die Straßen durchkämmen und sehen, ob wir noch andere Nachzügler finden können.« »Er hat dich losgeschickt?«, fragte Dalin. »Er hat mich losgeschickt, um die Straßen zu durchkämmen und …« »Er hat dich losgeschickt?«, wiederholte Dalin. »Er hat dich nicht zu einem Sanitäter oder Feldarzt gebracht? Wir sollten versuchen ihn zu finden«, wandte er sich an die anderen. »Warum?«, fragte Wäsche verächtlich. »Hast du ‘ne bessere Idee?«, fragte Merrt. »Reichlich«, erwiderte Wäsche.
Aber er teilte ihnen keine davon mit und schien sich bereitwillig einzuordnen, als sie sich wieder in Marsch setzten. Dalin hatte gehofft, Hamir könne sie führen, aber rasch wurde deutlich, dass er ihnen nur folgte – abgesehen von den zahlreichen Gelegenheiten, zu denen er einfach stehen blieb und zu den fallenden Flocken aus Asche und Ruß emporschaute, die lautlos vom Himmel rieselten. »Hamir? Nicht zurückbleiben.« »Klab.« »Alles in Ordnung?« »Klab.« Dann setzte er sich gehorsam wieder in Bewegung, aber seine Worte klangen zunehmend undeutlicher, als habe er eine verstopfte Nase oder als seien seine »r« und »b« jetzt austauschbar. Er stand gerade wieder mitten auf der Straße, als ein schreckliches, lauter werdendes Tosen den Rest von ihnen in Deckung eilen ließ. Die Lautstärke des Dröhnens nahm beständig zu, bis sie das Beben spürten. »Schola!«, zischte Vierbüchse aus seiner Deckung. »Schola, komm hierher!« Da, mitten auf der Straße, starrte Hamir in den Himmel. Er hob einen Arm und zeigte in die Höhe. Kampfflugzeuge rasten vorbei. Sie waren die Verursacher des ohrenbetäubenden Lärms. Imperiale Kampfflugzeuge. Kampfbomber vom Typ Marodeur. Sie flogen in Massenformation in einer Höhe von etwa tausend Matern. Reihe um Reihe der kreuzförmigen Silhouetten flog über sie hinweg, jagte ihre Schatten über die ascheweißen Straßen und verdunkelte den Himmel wie eine immense Schar Zugvögel. Der vereinte Lärm ihrer Triebwerke war so groß, dass die Männer für die Dauer ihres Vorbeiflugs ihr eigenes Geschrei nicht mehr hören konnten. Es dauerte zehn Minuten. Dalin konnte die Zahl der beteiligten Flugzeuge nicht einmal schätzen. Die Formation flog nach Norden, zunächst über das berüchtigte Bollwerk und dann weiter zur Innenstadt, zu den zentralen Gebieten und Hochmakropolen von K’ethdrac’att Shet Magir. Alles in allem war es ein ziemliches Spektakel, doch in seiner kurzen, aber intensiven Laufbahn als Gardist hatte Dalin Criid schon ungewöhnlichere Sachen gesehen. Sie kamen aus der Deckung, während die Flugzeuge noch über sie hinwegrasten, und marschierten weiter. Dalin packte Hamir
am Ärmel und führte ihn. Hamir war fasziniert von den Flugzeugen. Er stolperte immer wieder, weil er nach oben schaute statt vor sich auf die Straße. Sie schlugen den Weg nach Süden ein, da Merrt der Ansicht war, diese Richtung würde sie eher in die vom Imperium kontrollierten Zonen bringen oder zumindest in eine Form von Sicherheit. Ihre Stiefel scharrten leise durch den tiefen, weißen Staub. Sie marschierten durch eine Straße, die auf beiden Seiten von geschwärzten Ruinen flankiert wurde. Ein halbes Dutzend Männer tauchte am anderen Ende auf und wandte sich in ihre Richtung. »Das ist Sobile! Das ist Sobile mit den anderen!«, rief Hamir und lief ihnen winkend und rufend entgegen. Es war nicht Sobile. Die Männer waren groß und trugen ockerfarbene Kleidung und eine schwarze eiserne Rüstung. Sie sahen, wie Hamir fröhlich rufend auf sie zulief. »Hamir! Nein, nein! Hamir!«, rief Dalin. Die Feindsoldaten eröffneten das Feuer. VII Sie gaben rasche Feuerstöße aus ihren Laserwaffen ab. Hamir lief ihnen immer noch entgegen, als sie ihn trafen. Er brach zusammen und fiel der Länge nach auf die Straße, einen winkenden Arm immer noch ausgestreckt. Sein Leichnam wirkte ungeheuer verloren, sein Blut war rings um ihn in den weißen Staub gespritzt. »Hamir!«, rief Dalin. Seine Stimme war heiser. Er riss seine Waffe hoch. Neben ihm zielte Merrt bereits. Der Feind schoss immer noch. Jetzt rückte er auch vor, anscheinend nicht sonderlich beeindruckt vom Anblick vier bewaffneter Gardisten. »Thron rette uns«, ächzte Vierbüchse. Jeder der feindlichen Krieger war massiv. Oberkörper, Schultern und Arme waren dick von Muskeln, was sie ein wenig komisch und oberkörperlastig aussehen ließ. Die Schnelligkeit und Entschlossenheit ihres Vorrückens hatte jedoch nichts Komisches. Die leuchtend gelbe Färbung ihrer Uniform bildete einen aposematischen Kontrast zum glänzenden Schwarz ihrer Rüstung. Embleme des Verderbens waren auf ihre Brustharnische ge-
schweißt, und lange Ketten aus Perlen und Amuletten baumelten daran und rasselten. Die Köpfe waren rasiert und nackt und mit weißer Farbe beschmiert oder geschmückt. Zierliche schwarze Symbole waren auf Stirn und Schädel gemalt. Die Rüstung lief in einem breiten Halsschutz aus, der den Mund hinter einem Wulst aus schwarzem Eisen verbarg. Er ähnelte einer kleinen Schale, als hielten sie sich eine Hand vor den Mund. Im Laufe des letzten Jahres hatte es so viele Unterweisungen gegeben, dass sogar ein Nichtsnutz wie Wäsche wusste, wen sie da vor sich hatten. Für Dalin gab es nicht den geringsten Zweifel. Sie waren Söhne Seks. Laserstrahlen zischten an den vier Imperialen vorbei. Dalin und Vierbüchse schossen. Merrt fluchte, als sein Gewehr wieder Ladehemmung hatte. »Geht in Deckung! Deckung!«, brüllte er. Wäsche war bereits in Bewegung. Die berüchtigten Söhne Seks, hieß es in den Unterweisungen, waren eine Kampftruppe, die vom hiesigen Kriegsführer des Feindes aufgestellt worden war. Sie hatten als Gerücht begonnen, das auf Beschreibungen und Warnungen beruhte, mit denen Gaunts Gruppe von Gereon zurückgekehrt war. Erst wenige imperiale Einheiten hatten auf den Sabbaltwelten gegen sie gekämpft, aber sie standen bereits in demselben gefährlichen Ruf wie der bösartige Blutpakt. Dalin wusste nicht, ob er etwas getroffen hatte. Er hatte keinen Feind zu Boden gehen sehen, aber die Entfernung war gut gewesen. Er gab sich selbst die Schuld. In seiner Panik hatte er seine Schüsse zu hektisch abgegeben. Er, Merrt und Vierbüchse liefen los, weg von der staubigen Straße und durch die Ruinen. Laserstrahlen trafen den verkohlten Eingang und die Fassade der Ruine hinter ihnen. Innen war es dunkel, ein Chaos aus Trümmern und verkohlten Gegenständen. Alles war schwarz von Brandschäden, und es gab keine Konturen, um Entfernungen zu schätzen. Merrt und Dalin stolperten und wären beinahe gefallen. Sie rannten weiter, während unter ihren Stiefelsohlen Trümmer knirschten. Wäsche war ihnen ein gutes Stück voraus, ein huschender Schatten zwischen den massiven Säulen. Die ersten Söhne Seks stürmten hinter ihnen durch Fensterlöcher und Abschnitte eingestürzter Wände. Sie bewegten sich ebenfalls schnell und waren im Nu drinnen. Dalin hörte, wie sie
sich mit gutturaler Stimme etwas zuriefen. Neuerliche Schüsse zischten durch die Ruinen hinter ihnen her. Die drei Imperialen kamen auf der anderen Seite der Ruine auf einer anderen Straße heraus, wo die Überreste eines eisernen Säulengangs standen. Sie hatten Wäsche aus den Augen verloren. Zwei ausgebrannte Truppentransporter standen auf einer Seite der Durchgangsstraße. Ein großer Teil davon war mit den Trümmern eines Habs bedeckt, das von einer BunkerSprengbombe in Schutt und Asche gelegt worden war. Die schnellen Schritte der Feindsoldaten kamen durch die Ruine hinter ihnen näher. Mehr Schüsse zischten vorbei. Mit dem Lasergewehr im Anschlag fuhr Dalin zu der Tür herum, durch die sie gerade gekommen waren. »Verschwindet!«, sagte er zu Merrt und Vierbüchse. »Los!«
Gereon wehrt sich I Das Gewitter tobte in der Nacht, und sie kämpften sich hindurch und in den tiefen, abgestorbenen Wald. Das Gewitter färbte den Himmel reptiliengrün, beinahe so, wie die Welt aussah, wenn man sie durch ein Nachtsichtglas betrachtete. Der Wind, der die Flügel der Mühle in Cayfer gedreht hatte, wurde stärker und peitschte die hohen mumifizierten Bäume. Die spröden Äste und Zweige raschelten und klapperten wie Knochenperlen in einem Mixbecher. Trockenes Laub und Staub wurden vom Boden aufgewirbelt. Die Blitze verfolgten sie. Weiß und dünn knisterten sie über den Himmel und hinterließen kurzfristig fragile Spuren wie die Drähte in Glühbirnen. Es gab keinen richtigen Donner, nur hohen Luftdruck und ein knisterndes Zischen von Strahlung. Gaunts Abteilung marschierte in Tarnumhänge gehüllt durch den Wald und hinter den Widerstandskämpfern her durch die stroboskopartig erleuchtete Dunkelheit. Das Vorankommen war schwierig, aber Dacre machte keine Anstalten, den Marsch zu unterbrechen und das Gewitter auszusitzen. Außerdem wäre jedes Lager vom starken Wind weggeweht worden. Sie kämpften
sich weiter durch Hagelstürme fossiler Blätter, die vom Wind verwirbelt wurden. Das Gewitter lud die Waffen und Metallteile an ihrer Ausrüstung mit statischer Elektrizität auf. Männer zuckten zusammen und scheuten zurück, wenn ihnen die Waffen in ihren Händen einen Schlag versetzten. Brostin grinste breit, als er einen knisternden blauen Faden von Elektrizität um die rußige Mündung seines Flammenwerfers wandern sah. Er drehte die Düse langsam in den Händen und sah zu, wie die Ladung tanzte und sprang, als gestatte er einem großen Insekt, über seine Waffe zu krabbeln. »Bewegung!«, schalt ihn Criid. Züngelnde Elmsfeuer erleuchteten entfernte Bäume und verwandelten nähere Bäume in skelettartige Silhouetten. Die Blitze schlugen außerdem in den Wald rimgsumher ein und spalteten uralte Baumstämme wie die Axt eines Holzfällers. Vertrocknete Stämme fingen Feuer, und sprödes Geäst verbrannte. Funken stoben und wurden vom schneidenden Wind davongetragen. Zwei Stunden zuvor am Grabmal hatte sich Dacre nicht aus der Reserve locken lassen. »Mkvenner? Das ist Mkvenner?«, hatte Gaunt wissen wollen. Dacre hatte nur die Achseln gezuckt. »Wie ist er gestorben?«, hatte Mkoll gefragt. »Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nicht gekannt. Er hat mit den örtlichen Zellen und der Letica-Zelle gekämpft. Sie haben viel von ihm gehalten. Sie haben gesagt, wer immer käme, würde das hier sehen wollen, also habe ich den Anweisungen entsprochen und Sie hergebracht.« »Wer hat Ihnen die Anweisungen gegeben?«, hatte Gaunt Dacre gefragt. »Das werde ich Ihnen nicht sagen«, hatte Dacres Antwort gelautet. »Ich weiß nicht einmal, wer Sie sind.« »Ich bin Gaunt!« »Das behaupten Sie. Aber ich weiß es nicht.« Sie waren drei Stunden unterwegs, als der Regen einsetzte. Es gab keine Vorwarnung, nur einen jähen Sturzbach aus schnell fallenden, dicken Regentropfen. Sekunden später waren sie alle vollkommen durchnässt. Nach wenigen Minuten hatte der Wolkenbruch dem Staub und den umherwirbelnden Blättern ein Ende bereitet. Der durstige Erdboden verwandelte sich in Morast. Die
weißen, abgestorbenen Baumstämme des gemordeten Waldes wurden schwarz gewaschen. Der Regen provozierte die erste emotionale Reaktion Dacres und seiner Männer, derer sie Zeuge wurden. Die Widerstandskämpfer schauten nach oben in die Sturzbäche und nahmen die Mützen ab, um in dem strömenden Regen zu schwelgen. »Das ist seit zwei Jahren der erste Regen in dieser Gegend«, sagte Dacre, während er sich mit schwieliger Hand die herablaufenden Tropfen vom Gesicht wischte. Gaunt nickte in dem Wissen, dass die Invasion Schuld an dem Gewitter war. Man lud nicht derart katastrophale Mengen Masse und Energie in die Atmosphäre eines Planeten ab, ohne Wetterkapriolen zu verursachen. Er erinnerte sich an Baihaut, Fortis Doppelstern und zuletzt Ancreon Sextus. Es lag nicht nur an der Hitze der Waffenentladungen, sondern auch an den Schiffsantrieben in niedriger Umlaufbahn, an Schwerkraftgeneratoren, Überdruck und atmosphärischen Verwirbelungen. Die Wolkenbrüche in der Provinz Lowensa lagen teils an den Nullfeldern der großen Schiffe, welche die Luft über dem Meer in Gereons Tropen zusammendrückten, teils an der globalen Erwärmung durch den Beschuss aus dem Orbit und teils an der raschen Luftverdrängung durch hunderttausend Landungsboote. Sie stapften weiter, während das Wasser in Strömen von ihrer wetterfesten Kleidung und den Umhängen lief. Dacre führte sie durch ein Tal und dann über einen Bach, der durch die plötzlichen Regenfälle angeschwollen war. Danach bewegten sie sich aufwärts zu einer Kuppe und dann steil nach unten in nasses Hinterland aus abgestorbenen und teilweise umgestürzten Bäumen. Der Regen machte keine Anstalten nachzulassen. Sturzbäche fluteten überall den Hang hinunter. Sie erreichten eine Plattform aus Quadersteinen, die sich in die Biegung eines plötzlich reißenden Flusses schmiegte. Es gab keine Erklärung für die Plattform, abgesehen davon, dass sie früher vielleicht einmal das Fundament eines nicht mehr existierenden Bauwerks gewesen war. Dacre forderte sie auf, sich zu setzen. »Was nun?«, fragte Gaunt. »Wir warten«, sagte Dacre. Gaunt ging durch die Reihen seiner sitzenden Abteilung und fand Beltayn. »Können Sie Cantible erreichen?«, fragte er.
Beltayn schüttelte den Kopf. »Versuchen Sie es weiter. Versuchen Sie Rawne eine Nachricht zu senden, dass wir wohlauf sind.« »Das mache ich, Herr Kommissar.« Gaunt setzte sich und band sich zum Schutz vor dem heftigen Regen den Umhang am Hals fest zu. Es war kalt und klamm. Er schaute über die Plattform und den reißenden dunklen Fluss hinweg auf die Bäume. Regen brachte normalerweise das Leben in die Wälder zurück, aber hier war es zu spät. Dieser Wald war vertrocknet und abgestorben, und der Regen wusch nur noch den Leichnam. II Zeit verlor ihre Bedeutung. Jeder Armbandchrono in der Abteilung verhielt sich im Laufe der Nacht merkwürdig bis auf, wie Gaunt glaubte, sein eigener, die ramponierte Uhr, die Gereon schon einmal erlebt hatte. Sie tickte auch noch stetig, als alle anderen stehen geblieben waren oder sich die Zeiger drehten wie die Flügel einer Windmühle bei Sturm. Das Gewitter ließ in den zähen Stunden vor Morgengrauen nach. Lange Zeit waren die einzigen Geräusche in der umfassenden Dunkelheit das Gurgeln des angeschwollenen Flusses und das Plick-plack des von den abgestorbenen Bäumen tropfenden Wassers. Der Himmel wurde vor Sonnenaufgang fahl, und das Licht wurde grau und aufgedunsen. Als das echte Tageslicht kam, wurde es plötzlich dunkler. Der Himmel war ein niedriges Dach aus metallgrauen Wolken, die verknotet waren wie Hirnmasse. Eine Hand berührte Gaunts Arm, und er schrak hoch, während ihm aufging, dass er eingeschlafen war. Er hatte geträumt. Er war in einem Haus am einsamen Rand irgendeiner Welt gewesen. Tanithische Dudelsäcke hatten gespielt. Tona Criid war durch irgendeinen spärlich beleuchteten Korridor zu ihm gekommen und hatte ihm auf die Brust getrommelt. Ihr Gesicht war tränennass. »Du bist tot! Du bist tot! Du bist tot!«, hatte sie geheult, während sie ihn schlug. Er hatte sie zu umarmen und zu beruhigen versucht, aber sie hatte sich ihm entzogen.
Es hatte wiederholt geklickt. Gaunt hatte sich umgedreht und Viktor Hark am Fenster sitzen sehen, wo er eine Boltpistole durchlud. »Hören Sie, es tut mir leid«, hatte Hark gesagt, indem er sich erhob. »Wirklich, aber Sie sind tot, und ich kann das nicht mehr dulden. Sie töten meine Männer mit Ihren Geistern.« Hark hatte die Boltpistole auf Gaunts Gesicht gerichtet und … Die Hand berührte seinen Arm. Er erwachte schlagartig. Es war Eszrah. Der Nachgahner stand vor ihm, den Regenbagen unter den Arm geklemmt. Gaunt sah sofort, dass die Waffe geladen war. »Wat gifft et?«, flüsterte er. »Se sünd weg«, erwiderte Eszrah ebenso leise. Gaunt sah sich um und erhob sich aus seinem Schneidersitz. Er griff nach seiner Waffe. Dacre und die Widerstandskämpfer waren verschwunden. Die Geister seiner Abteilung saßen gebeugt und schlummernd auf der Plattform. »Feth«, zischte Gaunt. »Feth, seggst du?«, flüsterte Eszrah zurück, während er den Regenbagen den Wald auf der anderen Seite des Flusses entlangwandern ließ. »Ja, ick segg Feth!«, fauchte er. »Oan?« »Bin schon wach«, erwiderte Mkoll, der plötzlich neben Gaunt auftauchte. »Dacre ist weg.« »Ach, wirklich?« Mkoll sah Gaunt unverwandt an, um die Verärgerung und den Sarkasmus des Kommissar-Obersten zu zerstreuen. »Ich war wach«, sagte er, »obwohl sie es nicht bemerkt haben. Sie haben sich unterhalten. Ich habe gelauscht. Sie waren unseretwegen besorgt. Sie trauen uns nicht, und das nächtliche Gewitter hat sie verschreckt.« »Warum?« »Ach, hören Sie auf. Sie wissen doch noch genau, wie es hier war. Wir haben allem misstraut. Sie haben seit zwei Jahren keinen Regen mehr erlebt, also hat ihnen das Angst gemacht. Die ganze Vorstellung einer Befreiung …« »Was ist damit?« »Tja, ich würde meinen, sie glauben nicht daran. Sie haben darum gebetet. Und jetzt, wo sie da ist …« »Und jetzt, wo sie da ist – was?«
»Ist sie zu schön, um wahr zu sein.« Mkoll sah Gaunt an. »Das haben sie gesagt. Jedenfalls sind sie vor einer Stunde gegangen.« »Warum haben Sie mich nicht geweckt?« »Weil wir seitdem unter Beobachtung stehen.« »Tatsächlich?« Mkoll nickte. »Außerdem konnten Sie den Schlaf brauchen.« »Wer beobachtet uns?«, fragte Gaunt. »Keine Ahnung«, sagte Mkoll, »aber sie sind da draußen.« Er nickte in Richtung der Bäume auf der anderen Seite der wirbelnden, schäumenden Fluten. »Es besteht keine unmittelbare Gefahr.« »Woher wollen Sie das wissen?« Mkoll zuckte die Achseln. »Wir sind noch nicht tot.« »Wecken Sie die die Abteilung«, sagte Gaunt. Mkoll und Eszrah führten den Befehl aus. Die Männer standen ächzend und benommen auf. Larkin schoss so plötzlich in die Höhe, dass sein Lasergewehr mit einem Klappern auf den Boden fiel, das durch den tropfenden Wald hallte. »Tut mir leid, Herr Kommissar«, sagte er. »Schlecht geträumt.« Gaunt lächelte. Damit kannte er sich aus. Sein eigener Traum war ihm noch deutlich in Erinnerung, vor allem das Bild von Tona Criid, wie sie auf ihn einschlug. Auch sie hatte einen Traum gehabt, fiel ihm wieder ein, und zwar auf dem Transporter kurz vor ihrer Ankunft. Sie hatte geträumt, er sei gestorben. Gaunt glaubte an die Macht der Träume. Sie hatten ihm mehr als einmal die Wahrheit gesagt. Er hatte Tona abgespeist, doch nun bekümmerte es ihn. Beim letzten Mal auf Gereon hatte sie so akkurat von Lucien Wilder geträumt, Thron segne sein Andenken. Sie hatte von Lucien Wilder geträumt, lange bevor sie gewusst hatte, dass ein Mann dieses Namens tatsächlich existierte. »Wovon haben Sie denn geträumt, Larks?«, fragte Gaunt. »Von Cuu«, sagte Larkin. Sie lachten beide, denn Cuu war zwar ein wahrer Albtraum gewesen, aber er war auch ein längst toter Albtraum. »Herr Kommissar«, flüsterte Mkoll und legte Gaunt eine Hand auf den Arm. Gaunt drehte sich um. Eine magere Gestalt war aus den Bäumen am anderen Ufer aufgetaucht und watete durch Schlick und Schlamm. Ein Mann,
hochgewachsen und heruntergekommen sowie infolge Unterernährung spindeldürr. Gaunt erkannte ihn sofort. Gaunt lief zum Ende der Plattform und sprang in den gurgelnden Fluss. Er watete auf die andere Seite und erklomm die schlammige Uferböschung, um den Mann zu begrüßen, der dort stand. »Gereon wehrt sich«, sagte er. Der dürre Mann nickte. »So ist es, Ibram. Scheiße, es ist schön, Sie wiederzusehen.« Sie umarmten sich. Obwohl hager und ausgezehrt, hatte er den Mann sofort erkannt. Er hieß Gerome Landerson. III »Sie sind zurückgekommen«, sagte Landerson. »Ich habe es geschworen.« »Und mitgebracht haben Sie …« Landerson beendete den Satz nicht. Er nickte und meinte nicht die Abteilung auf der Plattform hinter Gaunt. Er meinte die Invasionstruppen, die eine halbe Welt entfernt auf Gereon gelandet waren. »Auch das habe ich geschworen. Und so gut ich konnte.« Landerson lächelte. Seine Haut war wie altes Leder, und die mangelhafte Ernährung hatte ihn mehrere Zähne gekostet. »Bei unserer ersten Begegnung haben Sie mir das Herz gebrochen, Ibram. Ich dachte, ich würde die Erlösung in Person begrüßen, und Sie sagten mir, Sie seien nur gekommen, um einen hochrangigen Verräter zum Schweigen zu bringen.« »Ich kann mich noch daran erinnern.« »Aber Sie waren doch die Erlösung in Person. Schließlich und endlich. Sie sind bereits auf dem Rückzug.« »Die Invasion läuft erst seit ein paar Tagen.« »Wir haben unsere Informationsquellen«, sagte Landerson. »Zwei, vielleicht drei Hauptfestungen sind gefallen. Der Süden gehört Ihnen. Unheilige Kämpfe finden statt in Brovisia, Phatima, Zarcus, K’ethdrac und einem Dutzend anderer Zonen. Wir wissen, dass der Bevollmächtigte zwei Stunden vor der ersten Kampfhandlung von Gereon geflohen ist. Und die Energie ist weg.«
»Was?« »In allen Außenbezirken. Keine Wölfe, keine Glyfs, keine Zaubereibarrieren. Als hätten sie jeden Funken Energie abgezogen und in die Hauptkämpfe geworfen.« Gaunt nickte. »Es ist ein Anfang. Aber entschieden ist es noch längst nicht. Auch angesichts der militärischen Stärke, die das Kreuzzugs-Oberkommando hier auf Gereon zum Einsatz bringt, könnte die Befreiung noch Wochen und Monate entfernt sein. Vielleicht sogar noch länger. Wir wissen nicht, was der Feind noch in der Hinterhand hat.« »Ich verstehe.« »Sie müssen sich das klarmachen. Selbst wenn das Ende bevorsteht, könnten noch viele Tage der Pein folgen.« »Ich verstehe, Ibram.« »Deswegen müssen wir so schnell wie möglich die Verbindung zum Widerstand herstellen, um diesen Vorgang zu beschleunigen.« Landerson breitete die Hände aus. »Tja, da sind wir. Dann sollten wir uns wohl zusammensetzen und Daten austauschen.« »Das wäre gut.« »Hören Sie«, sagte Landerson. »Eins müssen Sie wissen … Ich stehe hier in schlichter Dankbarkeit. Was Sie für mich getan haben. Was Sie für meine Welt getan haben. Ich …« Gaunt hob eine Hand. »Lassen Sie es gut sein, Landerson. Ich weiß, was Sie sagen wollen, und ich verdiene es nicht. Ich habe für Gereon gekämpft, solange ich hier war, und ich habe für Gereon gekämpft, als ich zurückkam. Ich weiß nicht, was ich gesagt habe, dass das Oberkommando entschieden hat, diese Befreiung zu planen und tatsächlich anzugehen. Vielleicht hatte es gar nichts mit mir zu tun. Vielleicht hat man einfach nur entschieden, dass es an der Zeit war.« »Ich glaube nicht …« »Aus welchem Grund auch immer, ich bin froh, dass es passiert, und ich halte es für ein Verbrechen, dass es so lange gedauert hat, damit zu beginnen. Wenn jemand Dank für Gereons Überleben gebührt, dann Männern wie Ihnen.« Gaunts Abteilung überquerte den Fluss, und Landerson brachte seine eigene Gruppe Widerstandskämpfer aus den Bäumen mit.
Sie waren alle in ebenso schlechter Verfassung wie Landerson. Tatsächlich kannte Gaunt sogar drei der Männer aus seiner Zeit beim Widerstand, aber er hatte Schwierigkeiten, sie wiederzuerkennen. Landerson und seine Männer begrüßten Cirk sowie Larkin, Brostin, Beltayn, Criid und Mkoll, die alle Mitglieder des ursprünglichen Einsatztrupps waren. Landerson hatte auch damals schon zum Widerstand gehört und sie treu durch die gesamte Jagd auf Sturm geführt. Nach Beendigung der Mission praktisch auf Gereon gestrandet, hatten Gaunt und seine Gruppe alles darangesetzt, den Widerstand so auszubauen, dass er einen Untergrundkrieg gegen die Besatzungstruppen führen konnte. Gemeinsam waren sie Risiken eingegangen und hatten sich einem Grauen gestellt, das sich schwer in Worte kleiden ließ. Gaunt war Berufssoldat und hatte auf einigen der blutigsten Schlachtfelder des Kreuzzugs gedient. Was persönliche Gefahr, Entbehrungen und Nöte anging, konnte sich keines davon mit seiner Zeit im Widerstand Gereons messen. Aber sie hatten einen Eindruck hinterlassen. Unter Führung Landersons und der Geister war der Widerstand stark und geschmeidig geworden, eine Kraft, die den Besatzern trotzen konnte. Sie hatten einen Pakt mit den Partisanen der Unbebau geschmiedet, mit Eszrahs Volk, und gelernt, sowohl die Talente der Nachgahners als auch ihr undurchdringliches Territorium zu ihrem Vorteil zu nutzen. Mkoll, Bonin und Mkvenner hatten sie in verdeckten Unternehmungen geschult. Varl, Rawne und Criid hatten die Widerstandskämpfer, von denen viele Zivilisten waren, das Soldatenleben gelehrt. Beltayn hatte sich um ihr Kommunikationsnetz gekümmert. Feygor hatte ihnen alles über Sprengstoffe beigebracht, Brostin alles über Feuer, und Larkin hatte ihnen gezeigt, wie man schoss. Gaunt hatte sie in die fließenden Prinzipien der Führungskunst eingeführt. Sie hatten persönlich achtzehn Garnisonen, sieben Kraftwerke, sechsunddreißig Kommunikationszentralen, sieben Flugplätze und eine große Zahl dämonischer Maschinen vernichtet, darunter auch mehrere der abscheulichen Jehgenesh. Und der laut Landerson kurz vor der Invasion geflohene Bevollmächtigte war nicht das Wesen, das bei Gaunts erstem Eintreffen im Amt gewesen war. Sie waren sich auch für Attentate nicht zu schade gewesen.
Während sie gemeinsam unter dem grauen Himmel durch den Wald marschierten, redeten die Geister und die Widerstandskämpfer kaum miteinander. Alle waren – aus unterschiedlichen Gründen – daran gewöhnt, sich still zu verhalten. Landerson marschierte neben Gaunt. »Es tut mir leid wegen all der Vorsichtsmaßnahmen«, sagte er. »Es muss Ihnen nicht leid tun. Ich verstehe das.« »Wir müssen wachsam sein, auch jetzt noch. In den letzten Monaten ist der Erzfeind wesentlich geschickter geworden, was das Einsickern betrifft. Gesichtswandler. Bewusstseinstauscher. Psionische Fernkontrolle. Wir hatten Verluste. Erst letzte Woche haben sie eine ganze Zelle in Edrian ausgeräuchert, tief in der Unbebau. Achtzig Tote, die meisten davon Familien der Nachgahners.« Gaunt schüttelte den Kopf. »Das kommt schon mal vor«, sagte Landerson. »Aber erinnern Sie sich noch an Carook?« »An Carook den Schlächter?« »Genau.« »Feth, wie viel Zeit wir mit dem Versuch verbracht haben, ihn zu erledigen. Der Überfall vor Phatima. Die Bomben in seinem Palast.« Landerson nickte. »Wir haben ihn erwischt. Letzten Monat. Endlich. Wir bekamen die Nachricht, er wollte an einer Betveranstaltung im Ahenum von Fruslind teilnehmen, aber von einem unserer Informanten, einem Palastdiener, erfuhren wir, dass er unterwegs anhalten und sich die Ausbildung der Söhne Seks in der Garnison von Peshpal ansehen würde. Diggerson ist drei Tage vorher mit einer Viermanngruppe angerückt. Hat sich hinter dem Rostrum versteckt und sechzig Stunden abgewartet. Als Carook Platz nahm, um sich die Veranstaltung anzusehen, sind sie auf ihn losgegangen.« »Sauber erledigt?«, fragte Gaunt. »Wir hatten ohnehin kaum noch Schusswaffen, aber Peshpal war durch Schutzvorrichtungen gesichert, also konnte nichts Metallisches eingeschmuggelt werden. Diggerson und seine Männer haben sich nackt unter dem Draht durchgegraben. Sie waren mit Glasscherben bewaffnet. Ich glaube nicht, dass sie ihn sauber erledigt haben, Ibram. Aber erledigt haben sie ihn, das steht fest.«
»Und das war lange überfällig. Ich würde Diggerson gern die Hand schütteln.« »Ich auch. Keiner ist zurückgekehrt. Carooks Lebenswart hat sie abgeschlachtet.« Gaunt antwortete nicht. So verzweifelt war der Widerstandskrieg. Missionen, vor allem solche, die auf die Eliminierung hochrangiger Ungeheuer abzielten, waren regelmäßig Selbstmordkommandos. »Diggerson war ein guter Mann«, sagte Landerson. »Ihm hätte der heutige Tag gefallen. Jedenfalls tut es mir leid, das wir Sie so hingehalten haben.« »Ich verstehe.« »Wir haben Sie beobachtet.« »Ich weiß. Seit Cayfer.« »Schon vorher, mein Freund. Die verschlüsselten Gespräche mit dem Nachrichtendienst der Flotte sahen zwar gut aus, aber wir mussten uns vergewissern. Es hieß, Sie würden kommen, um den Kontakt herzustellen, aber das mussten sie natürlich sagen, nicht wahr?« »Also haben Sie Dacre geschickt?« »Ich habe Dacre geschickt, damit ich Sie mir ansehen und mich vergewissern konnte, dass Sie sich noch auskennen und nicht verfolgt wurden. Sie werden mir verzeihen, dass ich übermäßig vorsichtig war.« »Rawne wird betrübt sein zu hören, dass Diggerson tot ist«, sagte Gaunt. »Sie haben gut zusammengearbeitet.« »Rawne ist also auch hier?« »In Cantible.« Landerson nickte, als mache diese Tatsache die Welt besser. Er erkundigte sich nach den anderen, Bonin, Varl und Feygor. »Murt Feygor ist als Einziger nicht mit zurückgekommen. Wir haben ihn auf Ancreon Sextus verloren.« »Tut mir leid, das zu hören«, sagte Landerson. »Er war ein guter Mann.« »Wissen Sie«, sagte Gaunt, »eigentlich war er das nicht. Er und Rawne waren Teufel mit schwarzer Seele, als ich sie kennengelernt habe. Gereon hat beide verändert. Ich stutze immer noch, wenn ich mir vorstelle, dass Rawne jetzt ein Freund von mir ist. Mein bester, um ehrlich zu sein. Es gab eine Zeit, da hätten wir uns mit dem größten Vergnügen gegenseitig umgebracht. Ich
hasse ihn immer noch, und er hasst mich, aber auf Gereon hat uns die Notwendigkeit fest zusammengeschweißt. Feygor auch. Er war kein Modellsoldat, aber nach Gereon hätte ich meine Seele für ihn verkauft und umgekehrt. Er ist gut gestorben, Landerson. Er ist im Kampf gefallen, an der Front. Er ist gestorben wie Diggerson, selbstlos und als Held.« »Murt Feygor?«, lachte Landerson. »Ich zähle ihn zu den Helden, die ich gekannt habe«, sagte Gaunt. »Gott-Imperator sei Dank habe ich jetzt nicht mehr genug Finger für alle. Und jetzt erzählen Sie mir von Ven.« »Ven?« »Sie haben mir von Dacre sein Grab zeigen lassen.« Landerson nickte. Sie gingen einen tiefen Hang hinunter, von hohen dunklen Bäumen und Dickichten aus Flechten und Gestrüpp umgeben. Man brauchte Gaunt nicht erst zu sagen, dass sie sich bereits in den Ausläufern der Unbebau befanden. »Ven war ein Riese«, sagte Landerson, indem er die Hand ausstreckte, um Gaunt zu stützen, während sie die vom Regen aufgeweichte Erde hinunterrutschten. »Ich meine, unvergleichlich. Wir schulden ihm ebenso viel wie den Nachgahners. Scheiße, es kam einem immer vor, als wäre er selbst ein Nachgahner. Ich habe nie einen Menschen gekannt, der sich so leise bewegen und so mühelos töten konnte. Bevor Sie uns verließen, hatte er sich schon einen Namen gemacht, das wissen Sie noch. Der Erzfeind wollte ihn haben. Nach Ihrem Weggang hat er richtig losgelegt. Er war nicht schüchtern. Er wusste, dass Mund-zu-MundPropaganda eine ebenso wichtige Waffe ist, wie Sachen hochgehen zu lassen. Er fing an …« »Womit fing er an?« »Verantwortung zu übernehmen. Den Mythos zu verbreiten. Dem Feind Angst einzujagen. Er war übernatürlich, nicht umzubringen. Ein Geist der Wälder. Ein rächendes Phantom. Er wurde zu einer Gallionsfigur des Widerstands. Wie Sie es ihm aufgetragen haben.« »Das habe ich«, sagte Gaunt, während er sich an sein letztes Gespräch mit Mkvenner erinnerte. »Ven hat Ihnen alle Ehre gemacht, Ibram. Er hat getan, was Sie ihm aufgetragen haben. Er wurde eine Legende. Alles, was der Widerstand tat, wurde Ven zugeschrieben. Sabotage, Atten-
tate, Bombenexplosionen. Er wurde ihr Schreckgespenst. Als sie ihn erwischt haben, war das unser schwärzester Tag.« »Wie haben sie ihn erwischt?« Landerson schüttelte den Kopf. »Es ist eben passiert. Er operierte aus den Tiefen der Unbebau mit einem handverlesenen Trupp Nachgahners. Sie nannten sich die Nalsheen. Sagt Ihnen das irgendwas?« Gaunt nickte. »Sie hatten drei Überfälle in drei Tagen ausgeführt. Eine Garnison der Söhne, eine Kom-Zentrale und ein Provinzstatthalter. Ich war in Verbindung mit ihnen, über das Netz. Ich sendete Ven, er hätte zu viel gemacht und sollte sich ein oder zwei Wochen ruhig verhalten. Er antwortete, das hätte er vor, er würde mit den Nalsheen nach Westen in die Küstenregion der Unbebau gehen. Ich kann nur annehmen, dass sie abgefangen wurden. Ein paar Tage später erhielt ich Nachricht, die Nalsheen seien in einen Hinterhalt geraten und von feindlichen Jagdkommandos abgeschlachtet worden.« »Bestätigt?« »Ja, bestätigt. Also haben wir das Hügelgrab errichtet.« »Sie haben seinen Leichnam geborgen?« »Nein. Wir haben nur das Grabmal errichtet. Das war der Sinn der Sache. Nach Vens Tod haben wir ihm weiter Aktionen zugeschrieben, als könne er nicht sterben. Deswegen haben wir das Grabmal in feindlichem Gebiet angelegt, damit sie davon erfuhren. Der Mann, den sie endlich getötet hatten, machte immer noch Jagd auf sie. Es war Propaganda. Sie hatten mehr Angst vor dem toten Ven, als sie vor dem lebendigen je gehabt hatten.« »Das hätte ihm gefallen«, sagte Gaunt. »Die Ironie. Das Ökonomische. Das …« Er hielt inne. Sie befanden sich auf einer Lichtung, wo die Bäume ihrer Äste beraubt und in Pfähle verwandelt worden waren. Die verwesenden Köpfe von Nachgahners waren auf den Spitzen der Pfähle aufgespießt. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Gaunt. »Das ist die Grenze zur echten Unbebau«, erwiderte Landerson. »Die Grenze, die der Feind zieht. Eine Warnung … für uns, darin zu bleiben, für sie, draußen zu bleiben.« Ernst und respektvoll ging Gaunt am ersten Pfahl vorbei. »Haben Sie nie daran gedacht, sie herunterzuholen?«, fragte er.
»Warum? Sie würden nur noch mehr aufspießen wollen.« Hinter ihnen entstand plötzlich Unruhe. Geister und Partisanen hoben gleichermaßen die Waffen. Eine Gestalt tauchte auf und stolperte durch den leblosen Wald. Es war Dacre. Irgendwann seit ihrer letzten Begegnung hatte er den rechten Arm verloren. Er umklammerte den gesplitterten Stumpf und drückte ihn an die Brust. Seine Jacke war blutgetränkt. »Feth!«, rief Gaunt. »Sie wurden verfolgt!«, keuchte Dacre, der vor Landerson auf die Knie sank. »Sie wurden verdammt noch mal verfolgt!« Landerson sah Gaunt durchdringend an. »Wir waren sauber, als wir gekommen sind«, sagte Gaunt fest. »Beim Gott-Imperator, Mann, Sie haben uns beobachtet.« »Dacre?« »Sie haben irgendwas mitgebracht«, ächzte Dacre. »Ich schwöre es. Trotz unserer Bemühungen wurden sie verfolgt. Neun meiner Männer sind tot. Und ich …« Er starrte auf seinen zerfetzten Arm und fiel in Ohnmacht. »Hebt ihn auf!«, rief Landerson. Aus der Ferne drang das Schnauben von Auspuffgasen durch die Bäume. Gaunt wusste, was das bedeutete. Die Bestie hatte immer noch ihre Witterung. IV »Cropper!«, rief Landerson einem seiner Männer zu. »Bringen Sie die Gruppe nach Mottenlampe. Wir kehren um …« »Nein«, sagte Gaunt entschlossen. »Darüber lasse ich nicht mit mir reden«, sagte Landerson. »Gut«, sagte Gaunt, »ich auch nicht. Führen Sie den Haupttrupp weiter und stellen Sie die Verbindung zwischen Cirk und Faragut sowie Ihren Leuten her. Beltayn hat das Kommando. Ich nehme den Rest und kehre um.« »Aber …« »Das ist mein Problem. Wir haben die Bestie hergeführt.« »Ibram, lassen Sie die Nachgahners …«
»Haben Sie einen Raketenwerfer, Landerson? Haben die Partisanen noch solche Ausrüstung?« »Nein.« »Dann tun Sie, was ich Ihnen sage. Die Mission ist wichtiger als jeder Einzelne von uns. Wir kümmern uns darum und kommen dann nach. Stellen Sie eine Wache auf, die auf uns wartet und uns führen kann.« Landerson sah Gaunt einen Moment an und salutierte dann rasch. Gaunt sah sich um. »Kurze Strohhalme … Criid, Larkin, Mkoll, Posetine, Derin. Auf geht’s!« Die ausgewählten Geister folgten Gaunt den Weg zurück. Die Erde war nach dem nächtlichen Regenguss klebrig und schwarz, und der graue Himmel über den abgestorbenen Bäumen drohte mit einem weiteren Wolkenbruch. Als sie wieder bei den grotesken Markierungen der aufgespießten Schädel ankamen, war der Rest der Gruppe hinter ihnen verschwunden. Außer Eszrah. »Geh mit den anderen«, sagte Gaunt. Eszrah schüttelte den Kopf. Gaunt wollte argumentieren. Jemanden bei der Gruppe zu haben, der flüssig die Sprache der Einheimischen beherrschte, wäre nützlich gewesen. Aber wenn sich Eszrah so verschloss, dass er nicht einmal mehr seine eigene Sprache benutzte, hatte es keinen Sinn, mit ihm zu debattieren. Gaunt wusste, dass er bestürzt über die Behandlung war, die ihm die anderen Nachgahner hatten widerfahren lassen, obwohl dieses Verhalten nicht unerwartet kam. Eszrah war seiner Wurzeln beraubt worden und an Orten gewesen, die viel weiter entfernt waren als alles, was jeder andere Nachgahner je gesehen hatte. Es war keine Grausamkeit oder Befangenheit, sondern er war für sie jetzt tatsächlich »unart«, im Sinne von nicht zu ihrer Art gehörend. Aber damit war er auch gestrandet und heimatlos, ein Treibender zwischen den Welten. Der einzige Platz, der ihm noch blieb, war der Platz, den ihm sein Häuptling und Vater zugewiesen hatte: der Platz an Gaunts Seite. Sie schwärmten aus, abseits des Wegs, dem sie in die Unbebau gefolgt waren in der Hoffnung, die Bestie in weitem Bogen herumzulocken. Seit Dacres Auftauchen hatten sie nichts mehr von ihr gesehen oder gehört. Sie bewegten sich lautlos und folgten den Linien der Kämme und der Deckung der Bäume. Es fing wie-
der an zu regnen, in feinen, schweren Strömen, die im seitlich einfallenden Licht glitzerten. Scharfe Gerüche nach Schlamm, Moder und Wurzelfäule wurden durch den plötzlich einsetzenden Regen neu belebt. Die Atmosphäre war kalt, klar und organisch. Schließlich hörten sie Geräusche. Aus weiter Ferne, das Klatschen und Spritzen von Bewegung in nassem Schlamm, das Brummen eines Motors, der immer wieder aufheulte, um durch den Morast zu lavieren. In dem geschlossenen Behälter, den der Regen schuf, trugen die Geräusche plötzlich viel weiter als zuvor. Gaunt ließ sie zu einer weit gefächerten Linie ausschwärmen. Criid trug den Werfer. Gaunt bedeutete Mkoll und Larkin vorwärts, um das Gelände zu durchkämmen und den Feind ausfindig zu machen. Seit der Trennung von Landersons Gruppe hatten sie etwa drei Kilometer zurückgelegt. Das Gelände, in dem sie sich jetzt befanden, war dichter, abgestorbener Wald, der an mehreren Stellen durch Artilleriefeuer verwüstet worden war. Sie passierten das ausgebrannte Wrack eines Truppentransporters auf einer Lichtung. Es befand sich schon lange dort, wahrscheinlich seit der ursprünglichen Invasion des Erzfeinds. Etwas weiter lag das verrostete Gerippe eines leichten Panzerwagens. Umgestürzte Baumstämme vermoderten rings um die Wracks zu Mulch. Ausrüstungsgegenstände – Schnallen und Knöpfe und hin und wieder ein Helm oder eine Haube – tauchten im Schlamm auf, alles, was noch von den Männern übrig war, die vor Jahren an diesem Ort gefallen waren. Im Ohrhörer war ein Signalklopfen, und alle gingen zu Boden. Gaunt wartete einen Moment in einer Stille, in der nur das Rauschen des Nieselregens zu hören war. Dann hörte er ein Tuckern von vorn, ein nasses Schnurren. Er roch eine Spur von Öl und Abgas. Larkin tauchte wieder auf und lief geduckt zu Gaunt, das lange Präzisionsgewehr wie einen Speer an der Seite. Er warf sich neben dem Kommissar-Oberst in Deckung. »Auf der anderen Seite des Hügels«, flüsterte er. »Wir haben das Biest gesehen, nur einen Moment lang. Das verdammte Ding beschleicht uns wieder.« »Wo genau?« Larkin deutete in die Richtung. »Zielen Sie für Tona, Larks«, sagte Gaunt und gab Criid durch den Regen entsprechende Zeichen. Criid und Larkin erhoben sich
augenblicklich und schlichen im Schutz der abgestorbenen Bäume den Hang empor und an dem verrosteten Chassis eines weiteren Truppentransporters vorbei. Criid duckte sich hinter ein paar umgestürzte Baumstämme auf der Kuppe des Hangs. Der Regen wurde stärker. Sie konnte nach unten durch eine Senke schauen, dicht bewaldet, und weiter auf eine Lichtung dahinter. Larkin war neben ihr, und sie nickte. Sie tasteten sich weiter vor, den Hang hinunter und in die Bäume, dann langsam und geduckt weiter durch die schwarzen Überreste der Bodenvegetation. Criid kniete nieder. An den moderschwarzen Baumstämmen vorbei konnte sie auf die Lichtung schauen. Die Bestie war zum Teil durch den Wald hinter sich getarnt, eine schwarze Form vor schwarzen Formen. Criid konnte sie gerade noch durch den Regen ausmachen, von der Seite und tief geduckt, als warte die Bestie. Sie sah Larkin an. Er schaute durch sein Zielrohr, aber die Linse wurde nass im Regen. Er rieb sie mit einem weichen Tuch trocken und schaute noch einmal hindurch. Die Sicht war schlecht, sogar durch sein Zielrohr. Die Bestie war nur eine dunkle Form, aber er konnte die Entfernung für sie bestimmen. Er hatte nicht den Wunsch, näher heranzugehen, um sie besser ins Visier zu bekommen. Zweiunddreißig Meter signalisierte er Criid. Sie nickte und lud den Werfer sorgfältig mit ihrer vorletzten Rakete. Das Ziel bewegte sich nicht. Durch den Vorhang des strömenden Regens zielte sie mit dem Fadenkreuz des Werfers auf den dunklen Schatten. Dann drückte sie ab. Auf einem lärmenden Kondensstreifen zischte die Rakete über die Lichtung. Sie traf den Panzer in die Seite, explodierte, drang durch die Panzerung und flutete das Innere mit superheißem Gas. Direkter Treffer. Tödlich. Trotzdem war es der schlimmste Fehler ihrer Laufbahn. V Criid und Larkin erhoben sich aus der Deckung und starrten auf das brennende Wrack.
»Gut getroffen«, murmelte er. »Hat ein komisches Geräusch gemacht«, sagte sie, indem sie einen Schritt vortrat. »Was?« »Das Treffergeräusch war komisch.« Sie ging über die Lichtung zu ihrem Abschuss. Das Geräusch beim Aufprall der Rakete war dumpf und hohl gewesen, wie ein Gong, wie ein Hammer auf Schrott. Regen lief in Strömen an ihr herab, als sie sich der brennenden Maschine näherte. Sie hörte den Regen in den Flammen und auf dem heißen Metall zischen und prasseln. Dampf und weißer Rauch erhoben sich über den schwarzen Schlamm der Lichtung. Der Panzer war ein Wrack. Der Panzer war schon seit Jahren ein Wrack. In dem schlechten Licht hatte sie ein verrostetes Wrack abgeschossen. »Ach, Feth …«, begann sie. Sie drehte sich um und rannte los. Sie sah Larkins Gesicht, die Augen geweitet, verblüfft, da er sich fragte, warum sie es plötzlich so eilig hatte. »Lauf! Larks, lauf!«, rief sie. Die Bestie kam durch die Bäume links von ihr. Das jähe Aufheulen ihres tosenden Motors durchbrach die regennasse Stille. Ihre Ketten wirbelten ganze Soden aus Matsch und feuchter Erde auf. Ihr Bug zerschmetterte die Stämme der abgestorbenen Bäume in ihrem Weg. Stämme knickten ein, brachen zusammen und krachten durch die Überreste des abgestorbenen Waldes. Einer fiel auf die Bestie und zerbrach, als er von dem fahrenden Panzer rollte. Ein anderer kippte seitlich weg und fiel auf das brennende Wrack, wo die spitzen Äste zu schwelen anfingen. Die Bestie ließ Stümpfe, gefallene Stämme und Holztrümmer hinter sich zurück. Sie traf ein paar stehende Bäume so hart, dass sie sich in Schwaden aus vermoderten Holzfasern auflösten. Die Bestie holperte der flüchtenden Criid hinterher. Larkin rannte jetzt durch das nasse Unterholz und den Moder. »Bewegung! Bewegung!«, sendete er mit vor Panik hoher und von der Heftigkeit seiner Bewegungen verzerrter Stimme. »Das Biest ist hinter uns her!« Zornige Rauchwolken quollen aus dem hinteren Ende der Bestie, während sie Criid hinterherschepperte. Sie schien es darauf abgesehen zu haben, sie über den Haufen zu rollen und in den
Waldboden zu stampfen. Irgendwann seit ihrer letzten Begegnung hatte sie einen ihrer vorderen Scheinwerfer verloren. Nur noch ein boshaftes gelbes Licht leuchtete auf ihrem Rumpf. Das andere war eingeschlagen und verstümmelt worden, wahrscheinlich von der Rakete, mit der Criid sie in Cayfer getroffen hatte. Sie bewegte sich wie ein halb blindes Tier. Wusste sie, dass es Criid war, die sie in der Nacht zuvor verwundet hatte? War das der Grund, warum sie Criid so eifrig jagte? Criid brach plötzlich nach rechts aus, schneller, als die Bestie die Richtung ändern konnte, und rannte und sprang in eine andere Baumgruppe. Larkin lief etwa fünfzig Meter von ihr entfernt parallel zu ihr. Er konnte die Bestie durch die Bäume sehen, und er sah auch, wie Criid durch die Baumgruppen lief und dabei den vermoderten Stämmen auswich. Im Kom hörte er die drängenden Stimmen von Gaunt und den anderen im Trupp, die Informationen verlangten. »Es beachtet mich gar nicht!«, rief er. »Es will nur Criid!« »Haben wir noch eine Panzerrakete?«, wollte Gaunt wissen, dessen Stimme im Ohrhörer kaum zu verstehen war. »Eine«, antwortete Larkin. »Aber die hat Criid. Den Werfer auch.« Larkin blieb stehen und schaute den Hang hinunter. Er konnte Criid kaum noch erkennen. Sie rannte durch den dichten Wald und weg von ihm. Die Bestie hatte angehalten. Criid setzte sich ein ordentliches Stück von ihr ab. Das Turmgeschütz donnerte. Larkin fiel zu Boden, obwohl er wusste, dass die Granate nicht in seine Richtung flog. Die Bestie hatte das Geschütz waagerecht abgefeuert. Die Granate raste wie eine Riesenkugel durch den Wald und ließ eine Spur atomisierter Zweige und pulverisierter Stämme hinter sich zurück. Sie explodierte beim Aufprall auf einen schweren, uralten Baum fünf Meter links von Criid. Die Explosion holte sie von den Beinen. Criid überschlug sich im schwarzen Morast. »Tona!«, rief Larkin. »Bleib in Bewegung!« Er sah sie aufstehen und nach links rennen. Sie schien in Ordnung zu sein. Jedenfalls lief sie nicht langsamer als zuvor. Die Bestie schoss noch einmal. Larkin sah die zischende, feuerspeiende Spur der Granate, wie sie durch die Bäume raste. Es gab eine gewaltige Explosion, die mehrere kleinere Bäume in der
Nähe umriss. Als der Blitz erloschen war und der Rauch sich verzog, war Tona Criid nicht mehr da. »O nein«, murmelte Larkin. »O nein, nein, nein.« Er machte einen Schritt vorwärts und rutschte den Hang hinunter und der Bestie entgegen. Er war von einem Drang erfüllt, irgendwas zu tun, Rache zu nehmen, hatte aber keine Ahnung, was das sein mochte. Er hob sein Gewehr und zielte damit auf den Panzer, während er die schlammige Böschung hinunterglitt. Mit aufbrüllendem Motor und einem qualmenden Rülpsen setzte sich die Bestie wieder in Bewegung und schwenkte in seine Richtung. VI Larkin sah die einzelne gelbe Lampe zu sich herumschwenken. Er stolperte rückwärts und ließ dabei für einen Moment die Waffe sinken. Die Bestie rollte auf ihn los und verspritzte dabei schwarzen Schlamm nach beiden Seiten, als sie über die Lichtung ratterte. Larkin hob wieder sein Gewehr und schoss. Der Laserstrahl löschte die verbliebene Lampe aus. Die Bestie hielt ruckartig an und schlingerte dabei ein wenig herum. Ein hoher, erstickter Ton mischte sich in das Dröhnen des Motors, der in Larkins Ohren wie ein schmerzerfülltes, wütendes Gurgeln klang. Hatte er die Bestie geblendet, oder bildete er sich das nur ein? Die Bestie rollte wieder an und schwang dabei den Rumpf über den Ketten von links nach rechts. Das Hauptgeschütz hob sich über die Waagerechte, und der Turm selbst drehte sich hin und her. Larkin rannte los. Die Autokanone schoss. Großkalibrige Kugeln fegten hinter dem tanithischen Scharfschützen durch die Luft. Abgestorbene Vegetation wurde zerhackt und aufgelöst wie Nebel. Larkin hörte die Geschosse hinter sich in den Schlamm klatschen. Er hatte sich entschlossen, den Hang wieder emporzulaufen, und das war dumm. Eszrah tauchte hinter einem Baumstamm auf und riss Larkin zu Boden. Auf dem Bauch robbten sie durch totes Laub und Gezweig. Eszrah hielt sich einen Finger vor die Lippen, damit Larkin auch ganz sicher Bescheid wusste. Die Bestie rollte hinter ihnen
den Hang empor und fällte dabei noch mehr vermoderndes Holz. Sie krochen rasch zwischen die Bäume und in Richtung Hügelkuppe. Sie erreichten die Kuppe etwa zehn Sekunden vor der holpernden Bestie. Im Schutz der Deckung, die das Gelände spendete, sprangen beide auf und rannten auf der anderen Seite hinunter und auf den verrosteten Truppentransporter zu. Sie spürten den nassen Boden unter ihren Füßen beben, als die Bestie hinter ihnen auf der Kuppe auftauchte. Sie kam schnell, wütend, hungrig. Kaum war ihre gewaltige Masse über die Kuppe gekippt, als die Ketten fassten und sie ihnen den schlammigen Hang hinunterfolgte. Larkin und Eszrah hatten gerade den verrosteten Transporter passiert, als die Bestie mit dem Hauptgeschütz auf sie schoss. Flüssiger Matsch spritzte in die Höhe wie eine heiße Quelle. Larkin spürte, wie die Druckwelle ihn in die Luft schleuderte. Er landete schwer, mit markerschütternder Wucht, und in den benommenen Augenblicken, die folgten, registrierte er einen furchtbaren Schmerz im linken Bein. Er versuchte wach zu werden. Er spürte, wie ihm der Regen ins Gesicht schlug und der Schlamm unter ihm gluckste. Das Schnauben der sich nähernden Bestie tönte in seinen Ohren. »Eszrah?«, rief er, heiser und erstickt von den Dämpfen. Die Explosion hatte Eszrah vier oder fünf Meter weit weg zwischen die Bäume geschleudert. Larkin sah den Schlafwandler bewusstlos im abgestorbenen Farn liegen. Er versuchte aufzustehen und zu ihm zu laufen. Er wollte Eszrah in eine bessere Deckung schleifen. Er konnte nicht. Schmerzen schossen durch seinen linken Fuß und sein Bein. Larkin drehte sich mühsam herum, um den Grund für die Schmerzen zu identifizieren. Die Explosion hatte nicht nur ihn zu Boden und Eszrah über die Lichtung geschleudert, sondern auch den verrosteten Transporter herumgeworfen. Die schäbige Metallhülle war umgekippt und hatte Larkins linken Fuß unter sich eingeklemmt. Er versuchte ihn zu befreien, aber das Gewicht des Wracks war viel zu hoch. Das einzige Resultat seiner Bemühungen war ein sengender Schmerz in seinem eingeklemmten Fuß. Er fing fieberhaft an zu scharren.
Die Bestie donnerte nach unten und in direkter Linie auf ihn zu, um Larkin und das Wrack unter ihren Ketten zu zermalmen. Mkoll hörte das Motorengedröhn der Bestie durch den Regen auf der anderen Seite des Hangs. Er und Derin hatten sich sofort nach Osten gewandt, als sie Larkins dringender Ruf erreichte. Mkoll wusste, dass sie nichts bei sich hatten, mit dem sich ein Panzer erledigen ließ, falls Criids letzte Rakete nicht überlebt hatte. »Sehen Sie sich um!«, rief er Derin zu, während sie sich durch das spröde Unterholz kämpften. Eine der Panzergranaten hatte die abgestorbenen Bäume sauber durchschlagen und Späne und vermoderte Fasern verstreut. Mkoll fand den Trichter einer Granatexplosion in der schwarzen Erde. Er sah ein Stück vom Ärmel einer tanithischen Uniform an einem Ast hängen. Einen Stiefel. »Feth!«, fluchte er. Der Panzer hatte sie so direkt getroffen, dass … »Chef!«, rief Derin. Mkoll rannte zu ihm. Derin zerrte einen Teil der schwarzen, ineinander verstrickten Bodendecker beiseite. Er hatte Criid gefunden. Sie war am Leben. Ihre Uniform war zerrissen und an manchen Stellen verbrannt, und sie hatte mehrere tiefe Schrammen durch umherfliegende Holzsplitter erlitten. Die Gewalt der Explosion hatte sie nicht nur ins Unterholz geschleudert und ihr das Bewusstsein geraubt, sondern ihr auch einen Stiefel ausgezogen und ihr Lasergewehr verbogen. Mkoll fühlte an ihrem Hals nach einem Puls. »Verbinden Sie ihre Wunden«, sagte er zu Derin. »Bleiben Sie bei ihr, und machen Sie sie marschbereit, sobald sie wieder zu sich kommt.« »Was machen Sie?«, fragte Derin. Mkoll stöberte auf der Suche nach dem Raketenwerfer und der verbliebenen Rakete im Unterholz herum. Die Rakete fand er schnell, sie hing halb aus dem zerrissenen Tornister. Dann sah er den Werfer. Er war verbogen und nutzlos. Vom Hügelkamm rollte das Donnern einer Panzerkanone herab.
Larkin schrie auf, als er wieder an seinem Bein zog. Die Schmerzen in seinem zerschmetterten Fuß waren immens, ordneten sich aber seinem verzweifelten Wunsch unter, freizukommen. Es gab nicht so viele Arten, wie Larkin sich zu sterben vorstellen konnte, aber unter den Ketten eines raubtierhaften Kampfpanzers zerquetscht zu werden, gehörte nicht dazu. Sein eingeklemmter Fuß kam nicht frei. Er jaulte wieder. Gaunt und Posetine stemmten sich aus vollem Lauf gegen das Wrack neben ihm und setzten die Schultern ein, um es zu bewegen. Die Bestie hatte sie fast erreicht, und das Röhren ihres Motors ließ die Luft erbeben. Gaunt grunzte vor Anstrengung. Das Wrack wog mehrere Tonnen. Sie konnten es nicht einmal in eine Schaukelbewegung versetzen, um Larkins Fuß freizubekommen. Der alte Scharfschütze war vollkommen aufgelöst. »Lassen Sie nicht zu, dass sie mich zerquetscht!«, stammelte er. »Lassen Sie es nicht zu! Bitte, Herr Kommissar! Erledigen Sie mich schnell! Erledigen Sie mich schnell, ich flehe Sie an! Für die Zeit, die wir zusammen gedient haben, bitte ich Sie darum!« Posetines schlammbespritztes Gesicht war bleich vor Furcht. Er warf einen Blick auf die heranrollende Bestie. »Herr Kommissar!« »Bitte! Bitte!«, heulte Larkin. »Ach, Feth«, knurrte Gaunt. Er riss sein Energieschwert heraus, aktivierte es und schlug ein Mal zu. Larkin schrie auf. Gaunt und Posetine packten ihn unter den Achseln, warfen sich mit ihm in Richtung der Bäume und zerrten ihn zwischen sich. Keine volle Sekunde später fegte die Bestie vorbei und walzte das Wrack des Transporters platt wie nasse Flakbretter. Gaunt und Posetine kippten hintenüber in das nasse Unterholz. Larkin war ohnmächtig geworden. Gaunt rappelte sich auf, sein Energieschwert war noch eingeschaltet. Er streifte den Rest des Stiefels und der Socke von Larkins verkürztem Bein und drückte rasch die Flachseite der Klinge gegen den Stumpf, um ihn zu kauterisieren. Larkin erwachte mit einem Aufschrei und wurde gleich wieder bewusstlos. »Ach, Scheiße«, sagte Posetine. Die Bestie war an ihnen vorbeigerollt, aber jetzt schwenkte sie herum und fegte dabei durch Unkraut und dürres Gestrüpp. »Tragen Sie ihn!«, sagte Gaunt.
Posetine nickte und hievte sich Larkin über die Schulter. »Gehen Sie in die Richtung! Zwischen die Bäume!«, befahl Gaunt. Posetine trabte los und schleppte Larkins schlaffen Körper in die Dunkelheit des tiefen Waldes. Gaunt rannte zu Eszrah. Der Nachgahner erwachte, als Gaunt ihn hochzerrte. »Komm hoch!«, zischte Gaunt. Sie taumelten gemeinsam ein paar Meter und warfen sich hinter zwei pilzbewachsenen Baumstämmen in Deckung. Die Bestie hatte gewendet und stand jetzt. Ihr Motor tuckerte im Leerlauf. Mit einem elektrischen Surren hob sich das Hauptgeschütz ein wenig, dann drehte sich der Turm mit trockenem Kreischen langsam nach links. Er blieb stehen und drehte sich langsam zurück nach rechts. Regenwasser lief in den leicht aufgerichteten Geschützlauf. In seiner Deckung zusammengerollt, sah sich Eszrah nach seinem Regenbagen um, aber er hatte ihn im Zuge der Explosion verloren. Er lag im Schlamm mitten auf der von Pfützen übersäten Lichtung. Nicht weit davon entfernt, neben dem plattgewalzten Wrack des Transporters, lag Larkins Präzisionsgewehr, das vom Gewicht der Ketten beinahe entzweigebogen worden war. Keine der beiden Waffen hätte ihnen etwas genutzt. Ihre einzige Hoffnung war das Energieschwert. Gaunt ging auf, dass er den Motor der Bestie so zerstören musste, wie er es schon im Marschland vor Cayfer vorgehabt hatte. Gaunt bedeutete Eszrah, in Deckung zu bleiben, und kroch dann die Baumlinie entlang. Das Wrack des Transporters verdeckte ihn zumindest teilweise. Die Bestie hockte weiter grollend und japsend auf der Stelle. Gaunt war vielleicht fünf Meter weit gekommen. Ihm stand noch eine längere anstrengende Kriecherei bevor, wenn er hinter das Ding gelangen wollte. Sein linker Stiefel blieb an etwas hängen, einem Stein oder einem Stück Rinde, und verursachte ein leises Geräusch. Der Turm der Bestie schwenkte sofort in seine Richtung und feuerte. Gaunt warf sich flach auf den Boden. Er spürte die Hitze und die Erschütterung in der Luft, als die Granate über ihn hinwegflog, und hörte sie durch das Blattwerk zischen und schlagen und schneiden. Die Granate traf die exponierten Wurzeln eines Baums
weiter oben am Hang und explodierte. Trümmer prasselten in einem feinen Regen herab. Das Geschütz der Bestie schwenkte hin und her, nervös, wachsam. Ihr Motor heulte immer wieder auf, und sie ruckte ein oder zwei Meter vorwärts, bevor sie schaukelnd wieder zum Stillstand kam. Der zischende Regen perlte von der Motorhaube ab. Grauer Rauch wallte aus der Geschützmündung. Wieder ruckte sie heftig vorwärts, schwenkte leicht nach links und hielt mit brummelndem Motor wieder an. Rechts von ihr ertönte ein leises Geräusch, und die Bestie schwenkte um die eigene Achse herum, da sich die beiden Ketten in verschiedenen Richtungen drehten. Das Hauptgeschütz strich über den Teil des Waldes, aus dem das anstößige Geräusch gedrungen war. Gaunt sah sich um. Eszrah war noch da, wo Gaunt ihn zurückgelassen hatte, gut verborgen. Er hatte ein paar der eisernen Bolzen aus seinem Beutel geholt und warf einen nach dem anderen in die Bäume hinter der Bestie. Sie hatte sich bereits halb zu den Geräuschen umgedreht. Er versuchte sie zum Herumschwenken zu veranlassen. Eszrah warf noch einen Bolzen. Er prallte von einem Baumstumpf ab. Mit einem Schnauben von Abgasen ruckte die Bestie noch weiter herum und schwenkte das Geschütz nach. Sie feuerte. Wassertropfen platzten von ihrer Panzerung ab, als das Geschütz donnerte. Ein gewaltiger Feuerball erblühte zwischen den Bäumen auf der anderen Seite der Lichtung. Gaunt war bereits in Bewegung. Er wusste, dass er das Heck des Panzers nicht in einer Etappe erreichen würde, aber er war sicher, zumindest bis zum Wrack des Transporters zu kommen, das jetzt hinter der Bestie lag. Er warf sich in Deckung, als das Echo der Explosion verhallte. Eszrah warf noch einen Bolzen, aber diesmal reagierte die Bestie nicht auf den Köder. Langsam schwenkte sie den Turm nach links, das Geschütz aufgerichtet, als spitze sie das Ohr, um auf etwas hinter sich zu lauschen. Gaunt konnte einfach nicht anders, diese Maschine wirkte auf ihn wie ein lebendiges Wesen. Sie hatte sich von Anfang an wie ein wildes Tier verhalten. Da sie nun geblendet war, jagte sie nach Gehör und Geruchssinn. Sie hatte seine Witterung. Er war nah bei ihr, und sie hatte seine Witterung oder konnte ihn atmen hören oder einfach seine
Anwesenheit spüren. Eszrah versuchte noch einen Bolzen, aber sie war nicht im Geringsten interessiert. Gaunt fragte sich, ob er noch die Zeit zur Flucht hatte oder sie einfach nur mit ihm spielte und auf seinen nächsten Zug wartete. Er beschloss, es zu versuchen. Seine Hand schloss sich fester um den Griff des Energieschwerts. Der Motor der Bestie brüllte auf, und sie ruckte rückwärts und beschleunigte, um das Wrack des Transporters ein zweites Mal zu überrollen. VII Gaunt warf sich kopfüber zur Seite, als die Bestie in seine Deckung pflügte. Ohnehin schon zusammengeknautscht, verbog sich der Transporter noch weiter unter dem Gewicht des Panzers. Das Metall kreischte und knackte, während es sich verformte. Gaunt rollte sich ab und betete dabei, dass er die Zeit haben würde, wieder hinter die Bestie zu gelangen, bevor sie wieder zu ihm herumschwenkte. Sie war bereits dabei. Gaunt hatte Mühe, auf dem Matsch das Gleichgewicht zu halten, während er neben den Panzer lief. Er schaltete das Energieschwert wieder ein und stürmte vorwärts. Der Panzer brüllte auf und schwenkte ihm hinterher. Er musste erneut zur Seite hechten und sich abrollen, um dem herumschwingenden Kettenschutz auszuweichen. Ein Scheppern ertönte. Gaunt blickte hoch. Mkoll hockte oben auf dem Panzer, direkt auf dem Geschützturm. Gaunt wusste nicht, ob der Späher von einem Baum gesprungen oder auf das Heck und dann auf den Turm geklettert war, während sich die Bestie mit ihm beschäftigt hatte. Mkoll klammerte sich mit der linken Hand an einem Handgeländer fest. Die letzte Rakete hielt er in der rechten Hand. Er tippte mit der Seite der Rakete zwei oder drei Mal gegen die oberste Luke, als klopfe er an eine Tür. Die Bestie hielt abrupt an und schaukelte wieder auf den Stoßdämpfern. Mkoll hielt sich eisern fest und klopfte erneut. Der Turm schwenkte in eine Richtung, dann in die andere, mit zunehmender Heftigkeit, wie ein Mann, der den Kopf zu drehen versucht, um etwas zu sehen, was auf seinem Rücken klebt. Der Geschützlauf kam hoch. Die Mündung der Autokanone ruckte
blindlings herum wie ein Maulwurf, der sich aus dem Erdreich arbeitete. Mkoll klopfte noch einmal mit der Rakete. Die Luken des Panzers waren allesamt gepanzert und verschlossen. Es gab keinen Weg hinein, aber die Bestie konnte ihn auch nicht abschütteln, ohne ein Besatzungsmitglied nach draußen zu schicken. Er klopfte wieder, um die Bestie zu reizen. Gaunt erhob sich und wartete auf eine Gelegenheit, näher heranzukommen. Die Bestie ruckte vorwärts, bremste scharf und wiederholte das Manöver noch einmal. Beim zweiten Mal bremste sie so abrupt, dass Mkoll beinahe vorwärts und vom Geschützturm geschleudert wurde. Er hielt eisern fest. Schlamm wurde aufgewirbelt, als der Panzer abrupt rückwärts fuhr und Mkoll in die andere Richtung schleuderte. Er hielt sich fest und klopfte erneut. Als sei die Bestie verrückt geworden, bremste sie ab und warf sich dann wieder vorwärts, um Fahrt aufzunehmen. Gaunt rannte ihr aus dem Weg. Die jähe Beschleunigung warf Mkoll auf die Brust, aber er schlang den Ellbogen um das Geländer. Er hielt sich weiter fest, als der Panzer die Lichtung verließ und in den Wald rollte, wobei er eine Schneise schlug. Zweige und Äste fegten über Mkoll weg. Die Bestie versuchte ihn von sich abzukratzen. Gaunt und Eszrah folgten der Schneise aus gesplitterten Baumstümpfen und explodierten Stämmen in den abgestorbenen Wald und rannten hinterher. Schwarze Blattfetzen und Holzfasern flatterten in einem Regen rings um sie nieder. Tief zwischen den dunklen Bäumen schleuderte die Bestie nach links und schabte mit der Steuerbordflanke an der Masse eines großen alten Baums entlang, als schubbere sich ein Hund an einem Pfosten. Der Baum war morsch und weich, knickte ein und fiel auf den Panzer. Mkoll sah ihn kommen und ließ das Geländer los. Er wälzte sich seitwärts vom Turm und landete auf der Motorhaube, während der abgestorbene Baum wie eine spröde Honigwabe auf den Turm fiel. Die Bestie ruckte wieder an und kippte mit der Nase voran in eine Senke, sodass das Heck in die Höhe schnellte und Mkoll in die Luft geschleudert wurde. Er hielt sich bei der Landung am
Rand einer Panzerplatte fest und vermied es gerade noch, seitlich abzurutschen und vom Panzer zu fallen. Der feindliche Panzer wühlte sich auf der anderen Seite wieder aus der Senke heraus und schleuderte dabei Schlamm in die Höhe. Er ruckte nach links, um einen besseren Weg zu finden, und fegte durch das Unterholz voraus, was einen weiteren leblosen Baum umknickte. Mkoll kletterte zurück auf den schaukelnden Geschützturm und klopfte mit der Seite der Rakete wieder an die Luke. Die Bestie hielt abrupt, außerstande, ihren Peiniger abzuschütteln. Gaunt kam aus den Bäumen hinter ihr gerannt, Eszrah dicht hinter sich. Gaunt hielt nicht inne, sondern sprang einfach auf das Heck der großen Maschine, kletterte von dort auf die Motorhaube und lief darauf weiter zum Turm. Ohne Zögern schwang Gaunt das Energieschwert und schlug das gepanzerte Schloss und die Angeln des Turmluks durch. Funken, eine Dampfwolke und ein Geruch nach brennendem Metall begleiteten den Hieb. Neben ihm trat Mkoll das abgetrennte Luk mit der Ferse seines rechten Fußes weg, riss den Zündstreifen aus der Rakete und warf sie durch das offene Luk. Keiner von ihnen sah, was sich im Innern der Bestie befand. Sie gewannen einen flüchtigen Eindruck von einer grellen, infernalischen Düsternis und einem Geruch wie in einem Schlachthaus. Sie sprangen Seite an Seite von der Bestie ab, hoch in die Luft und mit ausgestreckten Armen, und einen Moment später fegte der Feuerball durch den Panzer, quoll aus dem Luk und jagte ihnen hinterher. VIII Sie kehrten zurück in die Unbebau, in nordöstlicher Richtung, vorbei an der definierenden, abgrenzenden Linie der Partisanenschädel auf den Stangen. Criid hatte sich inzwischen so weit erholt, dass sie hinken konnte, aber sie war arg mitgenommen. Posetine und Derin stützten Larkin, der zwischen Wach- und Schockzustand sowie Bewusstlosigkeit hin und her pendelte. »Es tut mir leid«, sagte Gaunt zu ihm. »Es war die einzige Möglichkeit.«
Larkin murmelte etwas, aber er war zu weggetreten von den Spritzen aus der Feldapotheke, die Posetine ihm verpasst hatte, um etwas Zusammenhängendes von sich zu geben. Der Regen hörte auf und kehrte mit neuer Kraft wieder. Der Himmel verdunkelte sich wie ein nass werdendes Laken. Hinter ihnen markierte eine ausgefranste dünne Säule aus schwarzem Rauch das Grab der Bestie im tiefen Wald. Ungefähr zwei Stunden nach dem Ende des Kampfes gegen den Panzer trafen sie in einer Lichtung am Rande der Sümpfe auf Partisanenspäher. Der Einbruch der Nacht verstärkte die Dunkelheit des Unwetters. Schweigend führten die Nachgahners sie in die Wälder der Sümpfe, über Wege und Pfade zwischen den Wurzelmassen und dem schmutzigen Wasser in eine Dunkelheit, die ungeachtet der Tageszeit oder des Wetters immer Dunkelheit war. Dort, in der wahren Unbebau, sah Gaunt endlich einen Überrest davon, wie er Gereon in Erinnerung hatte. Die Unbebau, jener unwirtlichste und trügerischste Teil der Welt, war nun der einzige Teil, der noch Anzeichen von Leben aufwies. Es gab Insekten, kleine Tiere, Fische und Eidechsen. Bäume, Farnwedel und Kletterpflanzen waren ebenfalls lebendig. Die Motten flatterten. Sie sah nicht mehr so grün und fruchtbar aus, wie er sie in Erinnerung hatte – sie war grauer und blasser, und das Leben war weniger üppig –, aber die Mächte des Verderbens waren noch nicht tief genug eingedrungen, um sie umzubringen. Sie marschierten in die grüne Dunkelheit, von Mottenschwärmen umgeben wie von Konfetti bei einer Siegesparade. Vögel zwitscherten im Blätterdach, und Amphibien quakten und platschten in den Sumpflöchern. Mkoll blieb an einer Stelle stehen und lauschte. »Was ist?«, fragte ihn Gaunt. Mkoll starrte in die dämmerlichtige Ferne der Unbebau rings um sie. »Ich hätte schwören können«, begann er. »Etwas Vertrautes wie …« Er schüttelte den Kopf. »Nein, da ist nichts.« Einige Zeit später trafen sie im Lager der Partisanen ein, das Landerson für dieses Unternehmen ausgewählt hatte. Es war groß, teils ein Dorf der Nachgahners, teils ein Lager aus Fertigbauten, von Soldaten des Untergrunds und Partisanen gleichermaßen bewohnt. Alles in allem lebten gut sechzig Personen in Hütten und Habizelten, die in Gruppen rings um eine kleine Insel
in der Mitte des Sumpfs standen, deren Grenzen durch Plattformen und Gehwege erweitert waren. Die Unterscheidung zwischen Nachgahners und Gereonern, die sich bereits in Zeiten von Gaunts Anwesenheit auf dem Planeten verwischt hatte, war verschwunden. Dies war schlicht der Widerstand. Landerson hatte den Rest von Gaunts Abteilung ins Lager gebracht. Faragut hatte anscheinend bereits Diskussionen über den Austausch taktischer Daten begonnen. Cirk war anwesend und half dabei, die Gesprächswogen zwischen dem Kommissar und dem vorsichtigen Untergrund zu glätten. Landerson begrüßte Gaunts Gruppe. »Wir hatten Sie schon fast aufgegeben«, sagte er. »Ich dachte, mittlerweile hätten Sie gelernt, uns niemals aufzugeben«, erwiderte Gaunt. Er half Criid auf die Plattform des Lagers und machte dann Platz für die beiden Männer, die Larkin trugen. »Es war nicht leicht«, sagte Gaunt. »Ein Arzt für Larkin wäre gut. Haben Sie einen Arzt?« »Natürlich haben sie einen Arzt«, sagte eine Stimme von weiter weg. Ana Curth war bereits unterwegs zu Larkin. »Ana?« Gaunt blinzelte sie an. »Was hat das verursacht?«, fragte Curth, als sie Larkin untersuchte. Sie trug Lumpen und Fetzen wie alle anderen Widerstandskämpfer Landersons und war so dünn, dass er sie kaum wiedererkannte. »Mein Energieschwert«, sagte Gaunt, der sie immer noch anstarrte. »Was?« »Sein Bein war eingeklemmt.« Curth sah ihn an. Was immer sich sonst noch an ihr verändert haben, verblasst oder verschwunden sein mochte, der eindringliche Ausdruck in ihren Augen gehörte jedenfalls nicht dazu. »Thron, Ana …«, begann er und machte einen Schritt vorwärts. »Reden Sie später mit mir«, schnauzte sie. »Ich muss ihn zusammenflicken. Criid auch, wie es aussieht. Reden Sie später mit mir, wenn ich fertig bin.« Sie gab ein Zeichen, und Posetine und Derin hoben Larkin auf und trugen ihn ihr hinterher ins Lager. »Ana Curth …«, murmelte Gaunt. »Ich hatte immer gehofft, sie würde es schaffen, und immer befürchtet, sie würde es nicht.«
»Sie war schon immer zäh«, sagte Mkoll. »Doch ein Geist.« Und sieht mehr denn je aus wie einer, dachte Gaunt. Er folgte Landerson ins Lager. »Dieser Faragut ist ziemlich eifrig«, stellte Landerson fest. »Haben Sie ein wenig Nachsicht mit ihm«, sagte Gaunt. »Er weiß es nicht besser. Wo ist Beltayn?« Landerson sah sich um. »Ich habe ihm gesagt, dass Sie wieder da sind. Ich weiß nicht, wo er abgeblieben ist.« »Er ist da drüben in der Hütte, Herr Kommissar«, sagte Garond. Gaunt hastete zu der von Garond bezeichneten Hütte. Es war ein improvisierter Kommunikationsraum und eine Reparaturwerkstatt für Waffen. Im Licht einer kleinen Prometheumlampe sah Gaunt ausgeschlachtete Gewehre und zwei oder drei ramponierte Kom-Geräte. Beltayns eigenes, nach seinen Vorstellungen verändertes Gerät stand auf einer Werkbank, und er betrachtete es eingehend. »Bel?« »Verzeihung, Herr Kommissar. Ich wollte eigentlich zu Ihnen kommen, aber dann ist mir etwas aufgefallen.« »Etwas aufgefallen?«, fragte Gaunt, indem er sich zu ihm gesellte. »Ja, Herr Kommissar. Irgendwas ist faul. Ich habe versucht, Cantible oder das Oberkommando zu erreichen, aber die Bedingungen sind immer noch extrem schlecht. Ich glaube, wegen der Gewitter, die durch die Invasion aufgezogen sind.« Er fummelte an der Rückwand seines Geräts herum und löste mit einem dreckigen Schraubenzieher die Abdeckung des Antennenverstärkers. »Was haben Sie vor, Bel?«, fragte Gaunt, der ihm zuschaute. »Als ich das Gerät zuletzt ausprobiert habe, ist mir aufgefallen, dass es einen kleinen Energieverlust gab, als hätte ich den Verstärker eingeschaltet gelassen, was aber nicht der Fall war.« »Und?« »Und hier, ganz unten, ist eine kleine Kontrollleuchte, die vorher noch nicht an war. In meinem Gerät ist irgendein System versteckt, von dem ich nichts weiß, und das ist seit vielleicht einer Stunde eingeschaltet.« »Augenblick mal«, sagte Gaunt. »Reden Sie von Sabotage?«
»Ich glaube nicht«, erwiderte Beltayn. »Ich hoffe nicht«, fügte er mit einem Grinsen hinzu, »denn dann wäre das Herumstochern mit diesem Schraubenzieher eine ganz schlechte Idee.« Die Rückplatte löste sich, und Beltayn holte Material zur Schallisolierung heraus. Beide starrten in die metallene Höhlung. Die Vorrichtung hatte die Größe einer Sprenggranate, und an ihrem oberen Ende leuchteten Aktivierungslampen. »Thron!«, fauchte Gaunt. Er holte die Vorrichtung aus Beltayns Kom-Gerät und trug sie nach draußen. »Was ist das?«, brüllte er. Untergrundkämpfer und Mitglieder seiner Abteilung drehten sich um. »Was zur Hölle ist das?«, brüllte er noch einmal. »Gaunt?«, fragte Landerson und kam näher. »Was ist los mit Ihnen?«, fragte Faragut, der ebenfalls zu ihm unterwegs war. »Das hier ist los mit mir«, sagte Gaunt, während er ihnen die Vorrichtung hinhielt. »Das ist ein Sender«, sagte Mkoll. »Ein verdammter Peilsender. Hochenergie-Impulsquelle. Feth, er ist eingeschaltet. Wie lange schon?« »Seit ich ihn eingeschaltet habe«, sagte Faragut. »Was haben Sie getan?«, fauchte Gaunt den jüngeren Kommissar an. Plötzlich waren sie von einem jähen, funkelnden blauen Licht umgeben, das sich ausdehnte und die ganze Lichtung ausfüllte. Von vielen Untergrundkämpfern, vor allem den Nachgahners, kamen Ausrufe der Bestürzung. Lange Schatten fielen infolge der plötzlichen grellen Beleuchtung auf Lager und Sumpfwasser. Der Schein des Teleporterstrahls erlosch. Gaunt starrte auf die Trupps der Bewaffneten, die das Lager umringten. Sie trugen schwarz-goldene Rüstungen und das Symbol der Inquisition. »Meine Arbeit«, erwiderte Faragut.
BIN I
Etwa eine halbe Stunde, nachdem Caff zum zweiten Mal mit ihm geredet hatte, brach eine weitere Welle des imperialen Zorns über Gereon herein. Es geschah weit weg von Dalin, aber er sah die Blitze. Weißes Flackern in weiter Ferne erleuchtete den Himmel, und Augenblicke später spürte er den heißen Wind auffrischen und über sein Gesicht streichen. Am östlichen Horizont wuchs ein Wald aus riesigen dunklen Bäumen, die aus Rauch bestanden. Sie hatten alle hohe Stämme und Kronen aus schwarzem Dunst. Sie waren augenscheinlich riesig, weil sie viele hundert Kilometer entfernt waren und sich trotz des Windes viele Stunden hielten. Im fernen Nordwesten erhoben sich zwei andere riesige Pilzwolken. Im Herzen K’ethdracs irrte er allein durch die aschweißen Straßen. Die Stadt schwelte vor sich hin, und südöstlich von ihm wurden mehrere hohe Türme von außergewöhnlich heftigen Bränden verzehrt, die mit unnatürlicher Kraft zu toben schienen. Die stummen, wachenden Pilzwolken bildeten die Kulisse für diese intensiven Feuermeere. In seiner näheren Umgebung war die Stadt so trocken, still und leer, so mit Asche bedeckt, dass sie aussah wie eine Stadt nach einem Schneesturm. Die Gerippe von Gebäuden erhoben sich rings um ihn wie alte, vertrocknete Korallen. Dalin hatte die Söhne Seks getötet. Allein dieser Gedanke stellte ihn zufrieden. Er hatte ganz allein drei von ihnen getötet. Er hatte keine Ahnung, was mit dem Rest passiert war. Die ersten beiden hatte er erschossen, als sie aus dem Gebäude kamen. Sie waren gerannt, hatten offenbar nicht damit gerechnet, dass das Wild stehen bleiben und sich zum Kampf stellen könnte. Er hatte drei Schüsse in jeden gejagt, und sie waren zu Boden gegangen. Die vielgerühmten Soldaten, die gefürchteten Söhne, so leicht niedergestreckt! Dalin empfand ein Hochgefühl. Er fühlte sich, als habe er eine schwierige Prüfung bestanden. Er hatte nicht nur einen Geschmack von der Schlacht bekommen und den Feind getötet, er hatte die besten Vertreter des Feindes getötet. Und da hatte Caff wieder mit ihm geredet. »Pass auf dich auf«, hatte er nur gesagt. Sofort hatte Dalin ein Bild von den anderen Söhnen Seks in der Ruine im Kopf gehabt. Er hatte gesehen, wie sie die Schüsse draußen hörten und innehielten. Er hatte sich
vorgestellt, wie sie nun, da sie vorgewarnt waren, aus der Ruine schleichen und ihn aufs Korn nehmen würden. Er wich in die Deckung des alten eisernen Säulengangs zurück, ging in die Hocke und ließ seine Waffe umherwandern. Kleine Kobolde aus Asche tanzten durch die Trümmer, vom böigen Wind heraufbeschworen. Zerfetztes Plastek flatterte in der Brise. Dalin erinnerte sich an seine Atmung und seine Aufmerksamkeit. Schlau und gut ausgebildet, kam der dritte Sohn Seks durch ein Fensterloch in der Hauswand, das zwanzig Meter vom Eingang entfernt war, und glitt nach unten in den Schatten und zwischen die Trümmer. Dalin beobachtete ihn eine Minute oder zwei, während er die Geräuschdisziplin des Mannes und sein Ausnutzen der vorhandenen Deckung bewunderte. Der Sohn war bestrebt, in die Flanke jedes Schützen zu gelangen, der seine Waffe auf den Eingang gerichtet hatte. Dalin beobachtete ihn und wartete. Er wartete, bis sich der Sohn Seks ihm bis auf eine Entfernung genähert hatte, auf die Dalin ein sicherer Schütze war. Dann schoss er ihm durch die Stirn. Der feindliche Krieger grunzte und fiel nach vorn auf die Trümmer. Dalin wartete noch eine Weile, aber es rührte sich nichts mehr. Er zog sich zurück. Er bewegte sich eine Zeit lang lautlos, aber nachdem die Lichtblitze die Saat der Pilzwolken am Himmel verkündet hatten, entspannte er sich. Nichts und niemand war in der Nähe. Er hatte Merrt, Vierbüchse und Wäsche genügend Zeit verschafft, um ihre Verfolger abzuschütteln. Sie waren längst weg. Er rief ein paarmal, rief ihre Namen über die Trümmer und Ruinen. Seine Stimme warf Echos, aber eine andere Antwort als diese bekam er nicht. II Er fragte sich, warum er ausgerechnet Caffrans Stimme gehört hatte. Offensichtlich war es gar nicht wirklich Caffs Stimme. Dalin verstand das sehr wohl, und er war zwar ebenso abergläubisch wie alle anderen Gardisten, aber er glaubte nicht an Phantomstim-
men und Hellhören. Alles spielte sich nur in seinem Kopf ab, und diese Tatsache reichte ihm. In den letzten Tagen war er durch eine sensorische Hölle gegangen, und er war erschöpft und sein Nervenkostüm aufs Äußerste strapaziert. Seine Kampfinstinkte waren so alarmiert, wie es nur möglich war. In der Hitze des Gefechts hatte ihm sein eigener Verstand unbewusste Warnungen geschickt, und er hatte sie so gehört, als habe Caff sie ausgesprochen. Es war keine große Sache – Männer wurden auf dem Schlachtfeld sehr viel verrückter –, und es war kein Mysterium. Was Dalin vage zu denken gab, war nicht die Tatsache, dass er eine Stimme gehört hatte, sondern dass es Caffs war. Er setzte sich, um sich eine Weile auszuruhen, und dachte noch etwas länger darüber nach. Das Licht über der Stadt hatte eine eigenartige glasige Farbe angenommen, und der Wind jagte Wolken über den Himmel, sodass ein sich rapide veränderndes Wechselspiel aus Licht und Schatten über der Landschaft lag. Warum hatte seine Phantasie gerade Caffrans Stimme ausgewählt? Warum nicht die seiner Ma oder seines richtigen Vaters? Technisch gesehen waren beide wichtiger für ihn. Dalin wünschte, er hätte noch etwas Wasser. Seine Kehle war ausgedörrt, und er hatte Kopfschmerzen. Er versuchte ein kleines Stück von einem seiner letzten Proviantriegel zu lutschen, aber das machte es auch nicht besser. Er kam zu dem Schluss, dass seine Beziehung zu Caff etwas Besonderes war. Natürlich gab es ein Band zwischen ihm und Tona, so stark wie das Band zwischen einer leiblichen Mutter und ihrem Sohn, so stark es das raue Leben in der Garde gestattete. Er und seine Schwester waren vor Jahren auf Verghast in ihre Obhut gelangt. Der Zufall hatte sie zusammengeführt. Er war immer davon ausgegangen, dass sie keine große Wahl in der Angelegenheit gehabt hatte. Sie waren noch klein gewesen, Yoncy noch ein Säugling, mitten in einem Makropolkrieg, und sie hatte sich ihrer angenommen. Ohne sie oder jemanden wie sie wären sie gestorben. Sie war noch nicht sonderlich alt gewesen, wahrscheinlich nicht viel älter als er jetzt. Sie hatte einfach die Situation bewältigt. Als er dort in den Ruinen und unter den dahinrasenden Wolken saß, ging ihm zum ersten Mal in seinem Leben richtig auf, wie selbstlos ihre Entscheidung gewesen war. Das Schicksal hatte sie
ihrer Obhut übergeben, und sie hatte nicht gezögert. Nicht in den Trümmern der Vervunmakropole, und auch nicht danach. Vielleicht war es gar nicht das Schicksal gewesen, sondern das Wirken des Gott-Imperators. Als er die dahinjagenden Wolken beobachtete, hatte er ein starkes, ungebetenes Gefühl des Göttlichen, stärker, als er dies je in einem Tempel, beim täglichen Segen oder auch bei einer der Predigten des alten Zweil erlebt hatte. Für ein paar Minuten hatte er an diesem trostlosen Ort das eigenartig intensive Gefühl, der Gott-Imperator wache über ihn. Er fragte sich, ob Tona je unter der Verantwortung gelitten hatte, die ihr in der Vervunmakropole auferlegt worden war. Jedenfalls war sie zur Ersatzmutter für ihn und seine Schwester geworden, weil es keine andere Möglichkeit gab. Die Notwendigkeit hatte ihre Beziehung geschmiedet. Sie hatte sich so aufopfernd um sie gekümmert wie eine Wölfin um ihre Jungen. Sein Vater, sein richtiger Vater, war anders. Gol Kolea hatte seine Kinder lange Zeit für tot gehalten, bis der Zufall die seltsame Wendung des Schicksals aufgedeckt hatte, die dafür gesorgt hatte, dass sie so nahe bei ihm waren. Kolea hatte nie versucht, seine Beziehung zu Dalin und Yoncy wiederherzustellen. Tona hatte mehrfach erklärt, Kolea habe um der Kinder willen entschieden, ihr Leben nicht noch weiter durcheinanderzubringen, indem er wieder hineintrat. Dalin brachte nur wenig Verständnis für diese Ausrede auf. Es kam ihm eher so vor, als habe sich Kolea von ihnen losgesagt. Er verstand es nicht, und er hatte Kolea noch nie direkt danach gefragt, weil es ihn wütend machte. Es war schließlich nicht so, als könne man zu viele Eltern haben, vor allem nicht in einem so eigenartigen sozialen Gefüge wie dem Regiment. Viele Geister waren im Laufe der Jahre Ersatzväter und -onkel und -mütter und -tanten gewesen- Varl, Domor, Larkin, Aleksa, Bonin, Curth. Dass sein leiblicher Vater eine dieser Rollen übernahm, hätte es nicht schlimmer machen können, als es ohnehin schon war. Aber Caff … Caff hatte gewählt, wo Tona keine Wahl gehabt hatte und Kolea zurückgescheut war. Caffran hatte sich entschieden, für Dalin eine Vaterfigur zu sein. Caffran hätte sich jederzeit zurückziehen können, wie sich Kolea zurückgezogen hatte, und anders als bei Kolea hätte deswegen niemand schlecht über ihn gedacht. In den letzten acht Jahren hatte Caffran ihn aufgezogen. Caffran war dagewesen.
Deswegen hatte er Caffs Stimme gehört, entschied er. Er war derjenige, der sich freiwillig, ohne jeden Zwang, entschieden hatte, sich um sie zu kümmern. Caffran sagte: »Sei nicht blöd, Dal. Das ist keine große Sache. Ich wollte mit Tona Zusammensein. Das ist nichts Besonderes. In der Garde passt du dich einfach an und tust es. Du spielst die Karten so, wie du sie kriegst, das sagt Varl immer, habe ich recht? Wenn wir nicht aufeinander Acht geben, was hat dann alles für einen Sinn?« »Wer ist ›wir‹?«, fragte Dalin. »Die Leute«, sagte Caffran. Seine Uniform war geplättet und sah komisch aus, als habe es ein Missgeschick mit der Wäschestärke gegeben. Er schaute verlegen drein, als sei er für eine Uniforminspektion herausgeputzt. Er setzte sich neben Dalin in den Staub und lehnte sich an die Wand. »Die Wolken ziehen schnell«, sagte er. »Sie jagen richtig«, stimmte Dalin zu. »Und sieh mal, wie sie die Stadt färben. Wie Sonnenlicht auf fließendem Wasser.« Caffran nickte. »Ich habe Durst«, sagte Dalin. Caffran griff nach unten und löste die Wasserflasche von seinem Koppel. Er reichte sie ihm. Die Flasche fühlte sich leicht an. Dalin schraubte sie auf. Etwas zerrte an seinem rechten Fuß. »Hör auf damit«, sagte Dalin. »Womit denn?«, fragte Caffran. »An meinem Fuß zu zerren.« Caffran antwortete nicht. Die Wasserflasche war leer. III Die Wasserflasche war leer. Es war seine eigene. Er ließ sie los, und sie fiel von seiner Brust. Das Licht war weg. Der Himmel war von einem petrochemischen Schwarz. Darin eingehüllt, schien die halb unsichtbare Sonne wie eine schmutzige Lampe. Seine Lippen waren trocken und rissig, und seine Kehle war wie Schmirgelpapier. Er fragte sich, wie lange er schon tot war, und dann ging ihm auf, dass er nur geschlafen hatte. Seit der Landung hatte er
kaum Schlaf bekommen, jedenfalls keinen richtigen. Nachdem er sich irgendwo zum Ausruhen hingesetzt hatte, war der Schlaf über ihn hergefallen und hatte ihn erobert wie eine Invasion von Landungsbooten. Er hatte nicht widerstehen können. Er wischte sich über den ausgedörrten Mund, aber sein Handrücken war von der Asche rau wie Schmirgelpapier. Seine Lippen bluteten. Er sog an der heißen Feuchtigkeit. Er sah sich in der Dunkelheit nach Caffran um, aber da war kein Caffran, und da war auch nie ein Caffran gewesen. Erschöpfungshalluzinationen hatten sich in seine Träume geschlichen. Er war allein. Sogar die Aura des Gott-Imperators hatte sich zurückgezogen. Etwas zerrte an seinem rechten Fuß. Das war keine Halluzination. Die Hunde waren große Viecher. Magere dunkle Gestalten in der einhüllenden Finsternis, die ihre Kiefer um seinen rechten Stiefel schlossen und zerrten. Es waren Streuner, Aasfresser, die durch die Ruinen streiften. »Lasst los. Verschwindet«, sagte er. Sie sahen ihn tadelnd an und winselten. »Verschwindet!«, schnauzte er und griff nach seinem Gewehr. »Suchst du das?«, fragte der dritte Hund. Er saß nahe bei ihm und hatte das Gewehr unter seinen Pfoten eingeklemmt. »Gib mir mein Gewehr«, sagte er. Die Hunde lachten. Sie wälzten ihn herum und fingen an, seine Taschen zu durchwühlen. Er spürte Hände auf sich. Er lag mit dem Gesicht im Aschestaub. »Nichts. Nur etwas zu essen«, sagte eine Stimme. »Seine Feldflasche ist leer«, antwortete jemand. Dalin ächzte und wälzte sich herum. »Scheiße! Er lebt noch!« Dalin schlug die Augen auf. Drei dreckverkrustete Krassier beugten sich über ihn. Sie hatten ihn durchsucht. Die Nacht war hereingebrochen, als er nicht darauf geachtet hatte. Der schwarze Himmel war von orangefarbenen Feuern am Horizont eingerahmt. »Was macht ihr denn?«, murmelte Dalin, aber die Worte kamen nur als weiteres Stöhnen heraus.
»Er lebt wirklich noch!«, sagte einer der Krassier und stieß Dalin wieder zu Boden. »Dann gib ihm den Rest, um Throns willen«, sagte ein anderer. Dalin sah, wie der erste Krassier nach einem langen Schwertbajonett griff und es zog. »Imperiale Garde!«, rief Dalin alarmiert. »Ja, ja«, sagte der Krassier. »Willkommen im verdammten Krieg.« Das Schwertbajonett stach auf ihn herab, und Dalin wälzte sich zur Seite. Die Klinge hätte ihn beinahe verfehlt. Er spürte ihren glatten, heißen Schmerz, als sie durch seine linke Hüfte fuhr. »Dreckschwein!«, rief er. »Halt den kleinen Scheißer fest!«, rief der Krassier mit der Klinge. Dalin trat dem Mann die Beine weg, und der Krassier fiel fluchend zu Boden. Dalins rechter Stiefel, aufgeschnürt und halb ausgezogen, flog bei dieser Aktion davon. Die anderen beiden Krassier gingen auf ihn los. »Was macht ihr denn? Was habt ihr mit mir vor?«, heulte Dalin. Sie schlugen nach ihm. Er spürte ihre Fäuste in seinen Rippen und rollte sich so weg, wie Caff es ihn gelehrt hatte, wenn sie auf den Mannschaftsdecks Nahkampf übten. Er riss sich von einem los und rammte dem anderen Mann die Faust ins Gesicht. Der Krassier taumelte rückwärts, während Blut und Schleim aus seiner gebrochenen Nase spritzte. Er fluchte lauthals. Dalin sprang auf. Der Krassier mit dem Schwertbajonett ging auf ihn los. Dalin wich zur Seite aus, packte das Handgelenk des Mannes und brach es. Er packte die lange Klinge und zog sie dem Mann in einem festen, unsentimentalen Schwung über die Kehle. Helles Blut spritzte heraus und bedeckte einen der anderen in solchen Mengen, dass der Mann vor Ekel zu jaulen und zu speien anfing. Dalin ließ den zuckenden Leichnam fallen und rammte dem ächzenden Speier das Schwertbajonett zwischen die Schulterblätter. Derart aufgespießt, fiel der Mann nach vorn aufs Gesicht. »Du kleines Arschloch«, stotterte der mit der gebrochenen Nase. Er stand wieder und hielt mit zitternden Händen sein Lasergewehr auf Dalin gerichtet. Ein Laserstrahl traf ihn mit solcher Wucht in den Rücken, dass er wie eine Kanonenkugel auf Dalin geschleudert wurde. Ihre
Köpfe stießen hart und krachend zusammen, und beide gingen zu Boden. Benommen und unfähig, sich zu bewegen, sah Dalin, wie sich eine Geschützmannschaft der Söhne Seks aus der Dunkelheit näherte, um die Leichen zu inspizieren. Die ocker gekleideten Gestalten bewegten sich langsam und blieben bei jedem Leichnam stehen, um ihn genau zu untersuchen. Einer von ihnen packte Dalin bei der Schulter und wälzte ihn herum. Dalin konnte die mysteriösen Parfüms und Öle riechen, mit denen der Sohn Seks seinen Körper gesalbt hatte. »A’vas shet voi shenj«, sagte der Sohn. IV »Bitte, steh auf.« Dalin stellte sich tot. »Steh auf, Heilig. Steh auf, steh auf, steh auf …« Es war Vierbüchse. Dalin öffnete die Augen. Es war immer noch dunkel, und nur die brennenden Türme in der Ferne spendeten Licht. »Na endlich! Nun mach schon, Heilig!« »Vierbüchse?« »Wir haben dich gesucht.« »Vierbüchse?« »Ja, wach auf.« Dalin richtete sich auf. Er verspürte einen stechenden Schmerz in der linken Hüfte und feuchte Wärme an der Seite seiner Uniformhose. »Geht es ihm gut?«, fragte Merrt von irgendwo in der Nähe. »Bestens. Oder nicht, Heilig?«, sagte Vierbüchse. »Aber die Söhne Seks …« »Hier sind keine Söhne Seks«, sagte Vierbüchse. Er half Dalin auf. Dalin spürte mehr Schrammen und Schmerzquellen, die frisch zu sein schienen. »Aber …?«, sagte er. »Wir gn…gn…gn… müssen weiter«, sagte Merrt.
»Wo ist mein Stiefel?«, fragte Dalin. Er schaute nach unten. Sein rechter Stiefel fehlte. »Hier«, sagte Merrt und warf ihn ihm zu. Dalin setzte sich wieder, zuckte ob der Schmerzen in seiner linken Hüfte zusammen, glitt in den Stiefel und fing an, ihn zuzubinden. »Beeil dich«, sagte Merrt. Dalin hörte mit dem Zubinden auf. Er schaute sich langsam um und sah die drei toten Krassier im weißen Staub rings um sich liegen. »Was war denn hier …«, begann er, indem er darauf zeigte. »Das sind Deserteure. Sie wollten deinen Leichnam plündern«, sagte Merrt. »Du hattest zwei von ihnen erledigt, als wir eintrafen.« »Wie … wie spät ist es?« Vierbüchse wackelte mit seinem Chrono. »Wer weiß?« »Er pfeift nach uns«, sagte Wäsche, der plötzlich in Dalins Blickfeld auftauchte. Dalin hörte das Pfeifen in der Ferne. »Wer denn?«, fragte er. »Sobile«, sagte Merrt. »Wir haben Sobile gefunden. Jetzt zieh deinen Stiefel an.« Sobile wartete mit AT 137 in einer Nachbarstraße. Alles in allem waren noch ungefähr zehn Männer übrig, allesamt verwundet oder angekratzt. Sie sahen aus wie Bettler, wie Lepröse in einer Kommerzia irgendwo im tiefsten Untergeschoss einer Makropole. Kexie, sehniger und rauer denn je, blies in seine verdammte Pfeife. Sobile stand allein, abseits der Gruppe erschöpfter Männer. Seine Kleider waren schmutzig, und in seinem rußverschmierten Gesicht waren Spuren zu sehen, wo der Staub ihm die Tränen in die Augen getrieben hatte. Er sah wie der tragische Clownprinz in den imperialen Mysterienspielen aus. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Er stand gebeugt da. Er wirkte gelangweilt oder gleichgültig. Die meisten Männer hatten Peitschenspuren auf Kopf oder Schultern. Die Schnur von Sobiles Peitsche war blutverklebt. Sobile starrte Dalin an, als dieser sich mit Merrt, Wäsche und Vierbüchse wieder in die Einheit eingliederte. Er sah kein Zeichen des Wiedererkennens. Er sah nicht einmal einen Funken, der ver-
raten hätte, dass sich Sobile freute, einen weiteren seiner Schützlinge lebendig zu sehen. »Stellen Sie sich in die Reihe, Sie Idiot«, sagte er. Es war, als sei Dalin nur mal eben ein paar Minuten außer Sicht des Kommissars gewesen. Die ganze Welt war rings um ihn untergegangen, aber Sobile benahm sich, als seien sie auf einem Routinemanöver. Er benahm sich, als gingen ihm wichtigere Dinge durch den Kopf. Er funkelte Dalin an, doch Dalin machte keine Anstalten, sich zu beeilen. Sobile ließ die Peitschenschnur über dem Staub auf dem Boden knallen. Dalin hielt Sobiles Blick stand, als er sich einreihte. Er starrte trotzig zurück. Er wusste, wenn Sobile ihn jetzt mit der Peitsche schlug, würde er Sobile erschießen. Er war sich dieser Tatsache bewusst und sehr im Einklang mit ihr. Sobile rollte seine Peitsche zusammen und schaute weg. Vielleicht hatte er den Ausdruck in Dalins Augen gesehen. Vielleicht war es ein besonderer Ausdruck, auf den er immer achtete. Wenn ein Soldat so fest zurückstarrt, dass man weiß, er wird einen erschießen, wenn man ihn schlägt, ist der Soldat bereit und braucht keine Schläge mehr. Vielleicht stand so eine Regel irgendwo in dem stinkenden, verdammten Buch, mit dem das Kommissariat arbeitete. Achte auf den Ausdruck eines geprügelten Hundes, dann sieh von der Bestrafung ab. »Munition überprüfen«, sagte Kexie, der die Reihe abschritt. »Ist jemand knapp?« Einer der Männer hob die Hand. »Gebt ihm ein paar Magazine, ihr anderen. Hat jemand Durst?« Dalin hob die Hand. »Gebt ihm eine Feldflasche.« Ziegelmacher reichte Dalin eine halb volle Feldflasche. »Ech, alles fit und stramm«, sagte Kexie. Er wandte sich an Sobile. »Fit und stramm, Kommissar. Erwarten Ihre Befehle.« Während Dalin Ziegelmachers Feldflasche wieder zuschraubte, wappnete er sich gegen Sobiles nächste Äußerung. Sie war ebenso unvermeidlich wie irrsinnig. »Vorwärts«, sagte der Kommissar.
Unart
I »Ich bin gespannt auf Ihre Erklärung«, knurrte Gaunt. Er hatte sich an mehreren Soldaten der Inquisition vorbeigedrängt, um Faragut zu erreichen. Die Soldaten hatten das Helmvisier heruntergeklappt und trieben ruhig alle zusammen, Partisanen und Geister gleichermaßen. »Niemand unternimmt etwas Provokatives, bis ich weiß, was hier vorgeht«, hatte Gaunt zu Mkoll gesagt. »Wenn Sie es wissen, wird es zu spät sein«, hatte Mkoll erwidert. Sie hatten einander angesehen und gewusst, dass Mkolls Worte nicht der Wahrheit entsprachen. Trotz der Reputation der Inquisitionssoldaten durfte man Gereons Partisanen niemals unterschätzen, auch wenn sie entwaffnet und »gezügelt« waren. »Faragut!« Faragut redete mit einigen hochrangigen Offizieren der Inquisition. Cirk war in der Nähe. Sie sah ziemlich abgespannt und nicht wenig verblüfft aus. Der Anblick gerüsteter imperialer Truppen, die Mitglieder des Widerstands zusammentrieben, war für jemanden wie sie nur schwer zu ertragen. Sie begegnete Gaunts Blick und schüttelte den Kopf. »Faragut!« Faragut drehte sich um. »Ich bin zu beschäftigt, um mich jetzt um Sie zu kümmern«, sagte er. Gaunt packte ihn am Revers. »Nein, das sind Sie nicht.« »Lassen Sie mich los!«, schnaubte Faragut. Soldaten der Inquisition in der Nähe waren zurückgetreten und richteten plötzlich ihre Waffen auf Gaunt. »Lassen Sie mich sofort los!«, sagte Faragut. Gaunt lockerte langsam seine Finger und ließ Faraguts Jacke fahren. »Alles in Ordnung«, sagte Faragut zu den Wachen. »Nehmen Sie die Waffen herunter.« »Was geht hier eigentlich vor?«, fragte Gaunt im Flüsterton. »Ein Unternehmen der Inquisition«, erwiderte Faragut, der die Situation zu genießen schien. Er griff in seine Jackentasche und holte ein Identitätsmodul heraus. Als er es aktivierte, zeigte es die Rosette der Inquisition. »Mit Erlaubnis von Kommissar-
General Baishin wurde ich zu einem Unternehmen des Ordo abgestellt.« »Natürlich wurden sie«, sagte Gaunt. »Dieses Miststück hat mich reingelegt. Ich bin ein Idiot. Ich hätte wissen müssen, dass sie heimliche Pläne hat.« Faragut schaltete das Modul aus und verstaute es wieder. »Gaunt, Sie sind Regimentsoffizier. Sie sind in praktisch jeder Hinsicht entbehrlich. Es gibt überhaupt keinen Grund, warum Sie über das hier hätten informiert sein sollen. Sie brauchten es nicht zu wissen, und Sie sind nicht bedeutend genug, um eine Meinung zu haben.« »Meinen Männern wurde befohlen, Cantible einzunehmen und dann unser Wissen über die Unbebau und den Widerstand auszunutzen, um die Verbindung zum Gereoner Untergrund herzustellen«, sagte Gaunt, »damit es zu einer Zusammenarbeit kommt und die Befreiung beschleunigt wird. Sie haben uns benutzt.« »Sie sind Soldat«, sagte Faragut mit einem leisen, spöttischen Lachen. »Was haben Sie denn erwartet, außer benutzt zu werden? Sie sind so ein Idiot, Gaunt. Sie sind viel zu liberal und haben viel zu hohe Prinzipien für die Imperiale Garde.« Gaunt wich ein wenig zurück. »Ich betrachte das als Kompliment. Jetzt erklären Sie das. Ich werde nicht daneben stehen und zusehen, wie diese Männer und Frauen wie Kriegsgefangene behandelt werden.« »Nein, Sie werden nicht daneben stehen. Sie werden wegtreten. Ihre Aufgabe ist erfüllt. Der Kontakt zum Widerstand wurde hergestellt. Ab jetzt übernehmen wir. Tatsächlich können Sie und Ihre Geister nach Cantible zurückkehren, sobald ich die Freigabe dafür bekomme.« »Nein«, sagte Gaunt. »Da müssen Sie sich schon etwas Besseres einfallen lassen. Ich gehe nirgendwohin, solange es so aussieht, als hätte ich diese Leute verraten und verkauft.« Faragut lächelte und beugte sich vor, sodass sein Gesicht ganz dicht vor Gaunts war. »Wissen Sie, ich habe Sie immer ziemlich bewundert. Von edler Gesinnung, stark, immer auf der Seite des Rechts und immer eine edle Phrase zum Wohle der einfachen Soldaten parat. Aber jetzt sehe ich, was es in Wirklichkeit ist. Alles nur heiße Luft, nicht wahr? Was im Namen des Throns können Sie denn dagegen machen? Sich einen Wutanfall gönnen?« »Er könnte Sie umbringen«, sagte eine Stimme hinter ihnen.
Gaunt und Faragut wandten sich beide der Stimme zu. Inquisitor Lornas Welt kam über die Holzplanken des Lagers zu ihnen. »Ich dachte, alle Kommissare wären darauf geschult, Körpersprache zu lesen, Faragut?«, sagte Welt. »Zu wissen, wann man einen Mann reizen und wann man sich zurückhalten muss? Steht das nicht in Ihrem Instrument der Ordnung?« »Ja, Lord«, sagte Faragut. »Dann glaube ich, dass Sie Gaunts Körpersprache nicht sehr gut lesen, Faragut. Ich glaube, Sie waren noch etwa zwanzig Sekunden von einer Feldexekution entfernt. Habe ich recht, Gaunt?« »Eher sechzig. Aber, ja.« »Hallo Gaunt«, sagte Welt. Er lächelte. »Unterhalten wir uns.« II »Lassen Sie uns in aller Deutlichkeit darüber reden«, sagte Welt. »In aller Deutlichkeit, damit es keine Missverständnisse gibt. Die Inquisition kann sehr wenig feinfühlig sein. Die Inquisition wird sehr wenig feinfühlig sein. In den nächsten Wochen werden die Vertreter des Ordos hier nicht sehr sanft sein. Was bedauerlich ist, weil diese tapferen Leute Besseres verdient haben. Aber erwarten Sie keine Entschuldigung von mir, und erwarten Sie nicht von mir, dass ich Zurückhaltung anordne. Womit wir es hier zu tun haben, ist wichtige Arbeit. Möglicherweise die wichtigste Arbeit meiner ganzen Laufbahn.« Gaunt blinzelte. »Was?«, erwiderte er. »Ich scherze nicht, Gaunt«, sagte Welt. Sie hatten sich auf eine der obersten Habitat-Plattformen zurückgezogen, die in einer Baumkrone über dem grünen Sumpfwasser hing. Unter ihnen sicherten Welts Soldaten das Lager und beobachteten die völlig verblüfften Partisanen. Soldaten mit Flammenwerfern drangen tiefer in den Sumpf vor, um Bäume zu fällen und ein Loch im Blattwerk zu schaffen, das breit genug für eine Landezone war. »Was glauben Sie, warum sich der Kreuzzug Gereon zugewandt hat, Gaunt?«, fragte Welt. »Weil die Zweite Front anfangen musste, Planeten zurückzuerobern, um ihre Berechtigung zu untermauern. Weil wir nicht dul-
den konnten, den Erzfeind mitten unter uns zu haben. Weil Personen wie Cirk und ich uns seit unserer Rückkehr für eine Befreiung einsetzen.« »Alles triftige Gründe«, sagte Welt. Er war ein kleiner, breiter Mann mit schütteren grauen Haaren und einem schwarzen Bart auf einem Boxerkinn. Die Pupillen seiner Augen waren so groß, dass das Blau der Iris bis zu den Rändern reichte und kein Weiß zu sehen war. Er trug einen braunen Ledermantel und seine Amtsrosette als Pektorale auf der Brust. Wie alle anderen Inquisitoren, die Ibram Gaunt in seinem Leben kennengelernt hatte, war auch Welt auf frustrierende Art mehrdeutig. Gebieterisch, entschieden und aufgrund seiner hohen Intelligenz und Gelehrsamkeit gewinnend, aber doch auch trügerisch und nicht vertrauenswürdig in der Hinsicht, dass nichts zu kostbar war, um es zu opfern, wenn es seinen Zwecken diente. Lilith war so gewesen. Heldane ebenfalls. »Aber?«, fragte Gaunt bedeutungsschwer. »Es gibt einen anderen, besseren Grund. Den zwingendsten von allen.« »Und der wäre?« »Sie, Gaunt. Sie sind der Grund. Die Tatsache Ihrer Rückkehr.« Gaunt schüttelte ungläubig den Kopf und wandte sich ab. Er ging zum Rand der Plattform, stützte sich auf das Seilgeländer und starrte nach unten. Als er das erste Mal in seinem Leben auf einer Plattform wie dieser gewesen war, hatte er gegen das Ungeheuer Uexkull um das nackte Leben gekämpft. Dieses Gespräch kam ihm irgendwie sehr viel finsterer und gefährlicher vor. »Sind Sie immer noch davon besessen?«, fragte Gaunt. »Ich dachte, wir hätten das endgültig geklärt. Das Tribunal …« »War nur eine Formsache.« Welt gesellte sich zu ihm. Er hatte die Angewohnheit, Leuten in die Augen zu schauen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. »Sie und Ihre Einsatzgruppe sind hierher gekommen, auf eine vom Feind besetzte Welt, und waren ihr sechzehn Mal so lange ausgesetzt, wie dies normalerweise empfohlen wird. Natürlich wurden Sie verändert. Eine solche Tortur würde jeden verändern. Aber Sie haben keinen Makel. Sie wurden nicht verdorben. Das ist bemerkenswert, Ibram. Bemerkenswert.«
»Das haben Sie mir schon einmal gesagt, Inquisitor. Ich hatte angenommen, man könnte mich deswegen sezieren.« Welt lächelte. »Wir leben nicht im Dunklen Zeitalter«, sagte er. »Oh«, sagte Gaunt, »ich glaube schon.« »Ihre eigene Theorie lautete, Sie seien nicht verdorben worden, weil Sie von der Beati persönlich gesegnet worden seien«, sagte Welt. »Als Theorie durchaus vernünftig. Und historisch gesehen keineswegs einmalig. Aber man kann es auch anders sehen. Auf eine Art, von der meine Kollegen und Gelehrten glauben, sie könnte sich lohnen.« »Sie glauben, dieser Ort hier ist der Grund?«, fragte Gaunt. »Dass dieser Ort irgendeine Eigenschaft hat, die der Berührung durch das Chaos trotzt?« Der Inquisitor nickte. »Gereon … und vor allem die für ihre Undurchdringlichkeit berühmte Unbebau. Sie haben davon erzählt, und ich habe auch Ihre Berichte sorgfältig gelesen. Außerdem hat Cirk eine Menge preisgegeben. Bei jedem Ihrer Leute und ganz besonders im Falle des Soldaten Feygor scheinen organische Extrakte aus der einzigartigen toxischen Biologie der Unbebau die Wirkung des Makels bekämpft zu haben.« »Feygor ist auf Ancreon Sextus gefallen«, sagte Gaunt. »Ich weiß. Und sein Leichnam konnte nicht geborgen werden. Wenn jemand hätte seziert werden sollen, dann er. Leider haben wir dazu nie Gelegenheit bekommen.« »Wollen Sie damit sagen, die Imperiale Garde und die alliierten Kreuzzugstruppen … Millionen Männer und ungeheure Mengen Material … sind nur deshalb für die Invasion Gereons mobilisiert worden … weil Murt Feygor im Kampf gefallen ist?« »Das ist eine zu starke Vereinfachung.« Gaunt lachte. »Murt hätte das gefallen. Sagen Sie über ihn, was Sie wollen, aber er wusste gute Ironie zu schätzen, auch wenn er selbst keine zum Ausdruck bringen konnte.« Er sah Welt an. »Also sind Sie nicht wegen Gereon hier? Sie machen all das hier nur aufgrund der vagen Möglichkeit, in der Unbebau könnte etwas verborgen sein?« »Wenn es in der Unbebau gibt, was wir suchen, wird das den Lauf der Geschichte ändern. Es wird das Schicksal des Imperiums und der Menschheit ändern. Es wird uns von unserem größten Feind befreien.« »Ein Heilmittel gegen das Chaos?«
»Das ist zu abgedroschen. Aber es stimmt. Ich nehme an, so wird man es sehen.« »So etwas gibt es hier nicht«, sagte Gaunt. »Ich hätte Ihnen sehr viel Mühe ersparen können. Es ist nicht hier. Und war es auch nie. Die Nachgahners kennen vielleicht ein paar Extrakte mit starken medizinischen Eigenschaften, aber nicht das Wunder, das Sie suchen. Mkvenner, einer aus meiner ursprünglichen Gruppe, hatte eine Idee. Er war der Ansicht, das Chaos würde uns nicht zerstören. Es drücke einem keinen Makel auf oder infiziere einen wie eine Krankheit. Er glaubte, dass es so ganz und gar nicht funktionierte, was der Grund dafür sei, warum es kein Heilmittel geben könne.« »Ich nehme an, er glaubte an die Kraft des Willens«, sagte Welt. »Genau. Das Chaos ist nicht böse. Es befreit ganz einfach den in uns vorhandenen und eingesperrten Hang zum Bösen und zur Schändung. Deswegen ist es so verderblich. Es bringt unsere Fehler und Mängel zum Vorschein. Willenskraft, Entschlossenheit, Loyalität … das sind die Eigenschaften, die sich gegen den Makel des Chaos wehren. Wenn ein Mensch dem Thron treu bleiben kann, kann das Chaos ihm nichts anhaben. Hass auf das Chaos und seine Zurückweisung werden zu einer Waffe dagegen.« »Die Rüstung der Verachtung«, sagte Welt. »Ich bin mit Inquisitor Ravenors Schriften vertraut. Die Vorstellung ist nicht erst von ihm entwickelt worden.« Er trat von dem Seilgeländer zurück. »Vielleicht haben Sie recht. Es ist eine sehr edle Vorstellung. Wir können die Menschheit vielleicht durch Charakterstärke retten statt durch eine Tinktur, die aus einem Mottengift gewonnen wurde. Der Geschichte wird Ersteres besser gefallen.« Er drehte sich noch einmal zu Gaunt um. »Aber Sie werden mir verzeihen, wenn ich das Mottengift ausprobiere.« III »Es war ein Keller«, sagte Caffran zu Rawne. »Unter den Habs da drüben. Straße achtzehn, glaube ich.« Leclan nickte, während er einen Schluck aus seiner Feldflasche trank. »Straße achtzehn.«
»Ich bin zuerst reingegangen, Leclan gleich hinter mir«, fuhr Caffran fort. »Pechschwarz. Ich konnte irgendwas riechen.« »Ich sagte, da wäre irgendwas«, warf Leclan ein. »Das sagte er. Ich konnte es riechen. Ich war ziemlich sicher, wir hätten noch einen Excubitor aufgespürt. Ich wollte eigentlich eine Granate werfen und dann später die Leichen zählen.« »Das hast du gesagt. Und getan«, stimmte Leclan zu. »Aber Sie wissen ja, Befehle«, sagte Caffran. Er kratzte sich unter dem Kinn und blinzelte in die Sonne. »Fahren Sie fort«, sagte Rawne. »Ich hätte ihn beinahe erschossen«, sagte Caffran. »Ich hatte eine Lampe eingeschaltet und ließ sie herumwandern, und dann sah ich die Bewegung. Ich habe nur reagiert. Beinahe hätte ich ihm einen Laserstrahl durch den Kopf gejagt.« »Aber das haben Sie nicht«, sagte Rawne. »Aber fast. Sein Gesicht. Er war so verdammt verängstigt.« Caffran nickte über die ruinierte Straße hinweg zu einer ErsteHilfe-Station in der Nähe. Unter eingehender Beobachtung von Inquisitionstruppen behandelten Dorden und seine Sanitäter den letzten Haufen ausgemergelter Zivilisten, die ihre Durchsuchungen aus Cantibles verborgenen Ecken gespült hatten. Ihre Zahl belief sich Hark zufolge mittlerweile auf fünfhundertachtundfünfzig Überlebende, sämtlich in schrecklichem Zustand. Dorden behandelte ein Kind, einen Jungen von etwa zehn Standardjahren, dessen eingefallener Körper mehr wie der eines Fünfjährigen aussah. Das Kind war benommen, perplex, im Schockzustand. Soviel war sogar von der anderen Straßenseite aus offensichtlich. »Ich weiß nicht, wie lange er schon da unten war«, sagte Caffran. »Aber er war zu verängstigt, um rauszukommen.« »Das kommt oft vor«, sagte Baskevyl. »Die Überlebenden leben schon zu lange in diesem Grauen. Die meisten sind auf die Stufe von Tieren gesunken. Wir sind nur Männer mit Gewehren, Rawne. Sie sind viel zu durcheinander und verängstigt, um zu erkennen, dass wir gekommen sind, um sie zu retten.« »Wir müssen die Durchsuchungen beenden. Wir müssen die gesamte Stadt durchkämmen«, sagte Rawne. »Ich weiß«, sagte Baskevyl. »Es gibt keine andere Möglichkeit.«
»Ich weiß«, wiederholte Baskevyl nickend. »Aber niemand will der Erste sein, der eine dieser Elendsgestalten irrtümlich erschießt.« »Diese Leute sind nicht sehr hilfreich«, sagte Zweil. Alle schauten sich zu ihm um. Der alte Ayatani hatte sich nicht weit entfernt hingehockt und ruhte seine Beine aus. Er zeigte auf die Vertreter der Inquisition. »Wir versprechen ihnen, dass sie jetzt in Sicherheit sind, und holen sie aus ihren Verstecken, und dann übernehmen diese Kerle da.« Einige der Inquisitionssoldaten führten eine Gruppe der Befreiten die Straße entlang zu den Pferchen, die auf dem zentralen Platz der Stadt errichtet worden waren. Unter Führung von Interrogator Sydona, dem Leiter der Inquisitionsabordnung, die am Tag zuvor eingetroffen war, verwandelte sich Cantible in ein Abfertigungslager für die Enteigneten. Sydona hatte Rawne klargemacht, dass von den Geistern erwartet wurde, dieses Lager zu bewachen, und mehrere Trupps hatten den Befehl erhalten, die hölzernen Palisadenzäune der Pferche emporzuziehen. Außerdem hatte Sydona klargemacht, dass Cantible in den nächsten Wochen mit dem Zustrom von Überlebenden aus den angrenzenden Bezirken rechnen musste. Rawne gefiel das nicht besonders, und er wusste auch, dass es den anderen Geistern ebenso erging. Sie durchkämmten die elenden Überreste einer Stadt und sahen überall das Grauen, wohin sie auch schauten. Die wenigen Leute, die sie fanden, wurden zum Verhör und zur Internierung davongeschleppt. Rawne verstand, dass es so sein musste. Sie konnten niemandem vertrauen, der die Besatzungszeit Gereons überlebt hatte. Sie mussten interniert und auf Makel und Verderbnis untersucht werden. Viele würden wahrscheinlich hingerichtet. Vollkommen berechtigt würde die Inquisition hinsichtlich des Makels kein Risiko eingehen. Aber die Geister kamen sich dabei vor wie die Wachmannschaft eines Konzentrationslagers für Bürger des Imperiums. Es weckte die Frage in Rawne, warum sie sich überhaupt die Mühe eines Befreiungsversuchs machten, wenn das hier alles war, was sie den Bewohnern Gereons anbieten konnten. »Ich rede mit Sydona«, sagte Rawne. »Aber ich glaube, dass es so sein wird. Das ist die Imperiumspolitik, und selbst wenn wir uns auf einmal in einer verkehrten Welt befänden, wo die Inquisition etwas auf die Meinung der Imperialen Garde gibt, wüsste ich
nicht, ob sie nicht trotzdem recht hat. Der Erzfeind hat diese Welt zu lange gehalten. Was hat Gaunt noch gesagt? Es ist nichts mehr zu retten übrig.« »Ich glaube nicht, dass diese Einstellung der Moral zuträglich ist«, sagte Baskevyl. »Soll Feth die Moral holen«, schnauzte Rawne. »Ich würde beinahe alles darum geben, Gereon zu helfen. Im letzten Jahr habe ich davon geträumt, zurückzukommen und ihnen die Befreiung zu bringen, um die sie uns angefleht haben. Jetzt wünsche ich mir, wir wären nie gekommen.« »Weil sie nicht aus ihren Häusern gelaufen kommen, uns zujubeln und uns für ihre Befreiung mit Girlanden schmücken?«, fragte Zweil. Rawnes Miene verfinsterte sich. »Weil das hier nicht viel mehr als eine Totenbettwache ist.« Er ging weg, um den Interrogator zu suchen. Ein paar Minuten später war aus einer benachbarten Straße das Geräusch einer kleinen Explosion – wahrscheinlich von einer Granate – zu hören, und Baskevyl machte sich daran, dem Vorfall auf den Grund zu gehen. Caffran blieb, wo er war, und starrte über die Straße auf den Jungen, den er beinahe erschossen hätte. »Er ist ungefähr so alt, wie Dalin war«, sagte Caffran. »Was?«, fragte Zweil. »Der Junge. Er ist ungefähr so alt, wie Dalin war, als Tona ihn und Yoncy in den Ruinen der Makropole gefunden hat. Und ein paar Tage später habe ich dann alle drei gefunden. Sie waren wild. Verängstigt. Haben sich versteckt. So wie er. Ich hätte sie irrtümlich erschießen können. Wie ich beinahe ihn erschossen hätte.« Zweil hatte sich an seinen schlecht sitzenden Stiefeln zu schaffen gemacht. Er stand auf, wobei er sich zur Unterstützung auf Leclan stützte. »Sind Sie bald wieder für eine Durchsuchung vorgesehen?«, fragte er. »Die Straßen sechsundzwanzig und siebenundzwanzig«, sagte Leclan. »In zehn Minuten, sobald die Pause des Trupps zu Ende ist.« »Ich begleite Sie«, sagte Zweil. »Das glaube ich kaum«, sagte Caffran. »Ich schon. Wenn Sie nur Männer mit Waffen für sie sind, vielleicht hilft es dann, wenn Sie einen Priester bei sich haben. Ich
bilde mir ein, ich könnte ihre Ängste beschwichtigen. Sie vielleicht unter weniger traumatischen Umständen aus ihren Verstecken locken.« »Pater, hier sind immer noch schlimme Sachen versteckt«, sagte Leclan. »Und?« »Und daher würden Sie in die Schusslinie geraten«, sagte Caffran. »Und das wird auch Zeit«, erwiderte Zweil. »Wissen Sie, wie alt ich bin, Dermon Caffran?« »Nein, Pater.« »Ich auch nicht. Aber es wird höchste Zeit, dass ich etwas Nützlicheres tue, als Pflanzen zu katalogisieren.« Caffran und Leclan wechselten einen perplexen Blick. »Deswegen bin ich mitgekommen«, sagte Zweil. »Um etwas wirklich Gutes zu tun. Es ist schon lange her, seit ich zuletzt etwas richtig Gutes getan habe.« »Was immer Sie wollen, Pater«, sagte Caffran. »Tatsächlich könnte ich die Hilfe gebrauchen. Aber wenn Sie dabei draufgehen, geben Sie mir nicht die Schuld.« »Das würde mir nicht im Traum einfallen«, grinste Zweil. »Wenn ich dabei draufgehe, trage ich den Fall einfach einer höheren Autorität vor.« »Machen Sie einfach Ihre Arbeit, Major«, sagte Interrogator Sydona. Er war ein hochgewachsener, schlanker Mann in roter und schwarzer Gewandung und berobt wie eine Majestät. Er hatte ein dünnes Gesicht und noch dünnere Lippen. »Ich hatte mir schon gedacht, dass Sie das sagen«, antwortete Rawne, »aber aus Gewissensgründen musste ich einfach fragen.« Sydona zuckte die Achseln. »Ich bedaure, Major. Manchmal ist unsere heilige Pflicht schmerzlich und hässlich. Aber sie muss erfüllt werden. Alle Geretteten, die noch unverdorben sind, gesegnet seien ihre tapferen Seelen, werden es uns eines Tages danken.« »Davon bin ich überzeugt«, sagte Rawne, ganz und gar nicht überzeugt. »Wenn ich das anmerken darf«, sagte Sydona, während er eine Datentafel abzeichnete, die ihm einer seiner Adjutanten hinhielt,
»ich finde Ihre Bedenken kurios. Auf eine gute Art. Ich hatte schon oft mit der Imperialen Garde zu tun. Ich musste feststellen, dass die Soldaten der Garde normalerweise gemein und seelenlos sind. Ihre Einstellung ehrt Sie.« »Ich war in den letzten Jahren in guter Gesellschaft«, sagte Rawne. »Sie meinen Gaunt? Ich freue mich darauf, ihn kennenzulernen. Ich habe von meinem Inquisitor schon so viel über ihn gehört. Ein seltenes Exemplar, wie ich ihn verstanden habe. Ehrenhaft und extrem prinzipientreu. Natürlich ein absoluter Außenseiter. Es heißt, wenn Kriegsmeister Macaroth mit seinem Stab diniert, bittet er immer darum, dass die letzten Geschichten über Gaunt vorgetragen werden. Sie amüsieren ihn so. Gaunt ist ein Rückgriff auf eine andere Ära.« »Welche Ära sollte das sein, Interrogator?«, fragte Rawne. Sydona lachte laut. »Ich habe keine Ahnung. Eine bessere vielleicht. Eine, die der Fortschritt hinter sich gelassen hat. Er ist atavistisch. Nobel, ja, aber atavistisch. Wir mögen uns den Luxus gönnen, ihn zu bewundern, aber seinesgleichen stirbt aus. Für Sentimentalitäten ist kein Platz im Imperium. Auch nicht für seine Art Edelmut. Wenn Sie karrierebewusst sind, Major, sollten Sie einen Wechsel zu einer Einheit mit einem vernünftigeren Kommandeur in Erwägung ziehen. Gaunts anstrengende Ehre wird Sie das Leben kosten.« »Ich gehöre der Imperialen Garde an, Interrogator«, sagte Rawne. »Der Krieg wird mich das Leben kosten. Das ist eine Tatsache.« »Aber Gaunt wird Sie sinnlos das Leben kosten, über irgendeine idiotische Frage der Moral.« »Ich habe lange Zeit den Wunsch gehegt, ihn persönlich zu töten«, sagte Rawne. »Mit ihm gemeinsam wegen irgendeiner idiotischen Frage der Moral zu sterben, klingt wie ein Tod, den ich mit Freuden wählen würde, wenn ich könnte.« Er wandte sich zum Gehen und hielt dann noch einmal inne. »Sie sprechen von meinem Kommandeur, als erwarteten Sie, von ihm zu hören«, sagte er. »Die Verbindung zu seiner Abteilung wurde hergestellt«, sagte Sydona kategorisch. »Ich wurde nicht informiert. Ich versuche seit Stunden, ihn zu erreichen.«
»Das Wetter hat den Kom-Verkehr beeinträchtigt«, erwiderte der Interrogator. »Aber ich weiß mit Bestimmtheit, dass mein Inquisitor Verbindung mit ihm in der Unbebau hergestellt hat.« »Wer ist Ihr Inquisitor?«, fragte Rawne. »Mylord Welt«, sagte Sydona. »Ach«, sagte Rawne nickend. »Der.« IV Straße sechsundzwanzig war eine kommerzielle Durchgangsstraße, die am Nordende von Cantibles größtem Marktplatz begann und dann nach Westen und um den unteren Rand der zentralen Erhebung der Stadt verlief. Sie war gepflastert, obwohl viele Pflastersteine nicht mehr da waren. Eine Panzergranate hatte ein Loch in die Hauptkanalisation gesprengt, und die Rinnsteine waren zu stinkenden Abwässerkanälen verkommen. Die Habs auf beiden Seiten waren ausgewaschen und grau. Flammertrupps waren bereits durchmarschiert und hatten das Schlimmste des heidnischen Gekritzels weggebrannt, das der Feind auf den Mauern hinterlassen hatte. Die meisten Fensterscheiben waren schon vor Jahren zerbrochen oder herausgesprengt worden. Mehrere Gebäude waren durch Granatbeschuss der Dev-Hetra-Panzer in den letzten zwei Tagen zerstört worden. An der Straßenecke war ein Scheiterhaufen aus den Leichen des Feindes in diesem Abschnitt errichtet worden. Er brannte träge, als sei die Verbrennung eine grausame Folter oder als bestehe die Absicht darin, Holzkohle aus den Leichen zu brennen. Die Männer von Caffrans Trupp banden sich im Vorbeigehen den Umhang vor die Nase. Sie passierten Domor und dessen Trupp, der auf den Weg in eines der Habs war, und wünschten den Männern Glück. Ein paar Häuser weiter begegneten sie Kolea und Varl mit einer Zehnmanneinheit. Kolea nickte Caffran zu. »Wir werden die Häuser am Ende der Straße untersuchen«, sagte Caffran zu ihm. »Sei auf der Hut«, riet Varl. »Wir haben hier im Laufe des Vormittags schon drei Excubitoren aus Kellern ausgeräuchert.«
»Einer war verdrahtet. Mit einem Sprengstoffgürtel«, sagte Kolea leichthin. »Was habt ihr gemacht?«, fragte Caffran. »Ihn erschossen, bevor er explodieren konnte. Was hättest du denn gemacht?« Caffran lächelte. »Wofür ist der Priester?«, fragte Varl. »Reine Zierde«, erwiderte Zweil. »Das ist nicht der richtige Ort für …«, begann Kolea. »Ich habe ihm die Regeln vorgelesen«, unterbrach Caffran. »Dann ist es ja gut«, sagte Kolea. »Viel Glück.« »Der Imperator beschützt«, sagte Zweil. Caffran ging mit seinem Trupp weiter. Er hatte acht Mann und den Priester. Osket, Wheln, Harjeon, Leyr, Neskon, Raess, Leclan und Vadim. Sie schwärmten in die unkrautüberwucherten Trümmer aus. Caffran musste immer wieder innehalten und dem betagten Priester helfen. Er bereute bereits, dem alten Mann das Mitkommen gestattet zu haben. Sie betraten den Säulengang eines verlassenen Habs. Jemand hatte es als Latrine benutzt. Die Türen waren eingeschlagen und alle Steinplatten im Atrium herausgebrochen worden, als habe sie jemand sammeln wollen. Auf einer Mauer stand das Wort BITTE in weißer Tünche. Aus irgendeinem Grund fand Caffran das besonders erschreckend. »Lassen Sie mich vorgehen«, schlug Zweil vor. Leclan und Leyr sahen Caffran an. Caffran überlegte kurz und nickte dann. Zweil humpelte ihnen voran durch den Flur. Das Gebäude hatte Oberlichter, aber die Jalousien waren kaputt und pendelten schlaff im Wind hin und her, sodass das Licht im Flur kam und ging, als rasten Wolken über den Himmel. Graues und weißes Licht huschte über die schäbigen Wände und den ruinierten Boden. Auf halbem Weg den Flur entlang fanden sie ein menschliches Schlüsselbein, das ganz allein dalag. »Nicht anfassen!«, zischte Caffran, als er sah, dass Zweil Anstalten machte, sich zu bücken. »Arme Seele«, flüsterte der zurückschreckende Zweil. »Arme Seele, am Arsch«, murmelte Leyr. Irgendwo weit weg in dem leeren Hab knallte etwas. Eine lose in den Angeln hängende Tür, die vom Wind bewegt wurde,
schätzte Caffran. Sie schlug wieder zu und erschreckte sie noch einmal. »Hallo?«, rief Zweil. »Nicht reden!«, explodierte Wheln. »Sonst wissen sie, dass wir kommen!« »Sie sollen ja wissen, dass wir kommen«, sagte Zweil, indem er sich an die Nase tippte. »Vertrauen Sie mir.« Der abgerissene alte Priester hatte buchstäblich nicht das Geringste an sich, was auch nur entfernt vertrauenswürdig wirkte. »Seien Sie bitte vorsichtig, Pater«, flüsterte Caffran, während er an seinem Gewehr herumfummelte. Das Wort BITTE an der Wand hinter ihm hallte ihm unangenehm im Kopf herum. Osket und Neskon stießen ein paar Türen auf und fanden dahinter Hab-Wohnungen in einem furchtbaren Zustand der Verwahrlosung vor. Der Gestank war grässlich. Auf dem Boden lag Gerümpel, bei dem es sich um Körperteile handeln mochte. In einem Raum war das Skelett eines großen Grox geduldig und sorgsam wieder zusammengesetzt worden, wobei man die Knochen mit Drähten befestigt hatte. »Warum?«, fragte Leclan. »Wenn ich das wüsste«, erwiderte Caffran, »wäre ich wahnsinnig.« »Hallo!«, rief Zweil. »Ich bin ein Ayatani des Heiligen Glaubens. Ich bin gekommen, um euch zu helfen. Zeigt euch. Alles wird gut.« »Ja, sicher«, murmelte Neskon. Raess hob plötzlich sein Präzisionsgewehr an die Wange und schwenkte es herum. »Was ist?«, blaffte Caffran. »Ich habe etwas gesehen. Weiter hinten.« Raess zielte weiterhin. »Da hat sich was bewegt.« Sie gingen langsam weiter. »Ich bin ein Ayatani des Heiligen Glaubens …«, begann Zweil. Etwas bewegte sich. Caffran sah es diesmal. Etwas huschte zwanzig Meter voraus durch den Schatten. »Feth!«, rief Raess. »Hast du es gesehen?«, fragte Caffran rasch. »Wofür hältst du …« Aus größerer Entfernung hörten sie das knisternde Zischen eines feuernden Lasergewehrs. Alle spannten sich noch mehr an.
»Was …«, begann Zweil. »Pssssst!«, zischte Caffran. Im Kom knisterte es. Alle hörten eine Stimme in ihren Ohrhörern. »… Liebe des Throns, Feth … er kam direkt auf mich zu … bei der Liebe des Throns …« Der Kanal verstummte. »Das war Varl«, sagte Vadim. »Scheiße, das war Varl.« »Trupp acht, hier Trupp fünf«, sendete Caffran. »Was ist los bei euch? Bitte melden. Kolea? Varl?« Eine lange Pause trat ein. Caffran wartete und begann dann erneut. »Trupp acht, hier Tr …« »Caff, Kolea hier«, knisterte es plötzlich im Kom. »Ist der Priester noch bei euch?« »Ja.« »Um Feths willen, Caff. Bring ihn her, ja?« V Caffrans Trupp verließ das Hab und eilte zu dem Block zurück, den Koleas Trupp durchkämmte. Zweil, alt und gebrechlich, bewegte sich so langsam, dass Neskon schließlich frustriert stehen blieb und mit Leclans Armen einen Stuhl bildete, um ihn zu tragen. Kolea und mehrere seiner Männer warteten im Atrium des Habitats. »Hier unten«, sagte Kolea ohne Umschweife. Der Rest seines Trupps war dreißig Meter tiefer in der trostlosen Ruine um etwas am Boden geschart. Varl stand allein in der Nähe, eindeutig sehr wütend oder erregt. »Er kam einfach aus dem Nichts«, knurrte Varl. »Aus dem Schatten. Feth. Feth! Der dämliche Idiot!« Caffran bahnte sich einen Weg durch den Kreis von Koleas Männern. Ein Mann lag auf den Fliesen, der aus einer grässlichen Laserwunde im Bauch blutete. Früher war er einmal ein Bild von einem Mann gewesen, ein Landarbeiter oder Schmied oder irgendwas, das ihm breite Schultern verliehen hatte. Er war in
Lumpen gehüllt und wog nicht mehr als die Hälfte seines normalen Körpergewichts. Er lebte noch. »Schwarzes Kreuz«, sagte Kolea nur. »Varl war der Dumme. Schlimme Sache.« »Das blöde Arschloch ist einfach so aus dem Nichts aufgetaucht!«, rief Varl hinter ihnen. »Ist ja schon gut«, sagte Kolea zu ihm. »Ist nicht deine Schuld.« »Nur, dass ich ihn erschossen habe!« »Es ist nicht deine Schuld, Ceg«, murmelte Kolea. »Es ist einfach nur eine schlimme Sache.« Leclan war neben dem Mann auf die Knie gesunken und verband die blutigen Wunden, Eintritt und Austritt. Er arbeitete schnell und mühte sich mit dem geübten Geschick des Sanitäters, das Leben des Mannes am Verrinnen zu hindern. Er warf drei oder vier Kompressen weg, nachdem sie durchgeblutet waren. Die durchweichten Gazeklumpen klatschten in die Blutpfütze auf dem Boden und spritzten Tropfen an die Wände. Mit nassen roten Händen blickte Leclan zu Caffran hoch und schüttelte den Kopf. »Pater?«, rief Caffran. Zweil trat vor und gab Leclan mit einer Schulterberührung zu verstehen, er möge Platz für ihn machen. Er kniete sich in das Blut, das sich um den Zivilisten sammelte, den Varl unbeabsichtigt erschossen hatte, und wiegte den Kopf des Mannes in den Armen. »Ich bin ein Ayatani des Heiligen Glaubens«, sagte er leise. »Sei ganz ruhig, mein Freund, denn der Gott-Imperator der Menschheit eilt gerade herbei, um dir das Geschenk des Friedens zu machen, nach dem du dich sehnst. Willst du in dieser Stunde noch etwas beichten?« Der Mann gab ein Gurgeln von sich. Blut blubberte um seine dünnen Lippen. »Ich höre und verstehe diese Sünden, wie du sie mir gebeichtet hast«, sagte Zweil, »und ich erteile dir für sie die Absolution wie auch für alle anderen Sünden, die du nicht mehr aufzählen kannst. Es steht in meiner Macht, dies zu tun, denn ich bin ein Ayatani des Heiligen Glaubens. Die Winde haben deine Sünden weggeweht, und die Beati hat dich gesegnet, und wenngleich du
Schmerzen leidest, werden sie enden, wie alle Schmerzen enden, und du wirst ohne die Schmerzen der sterblichen Welt zu dem Platz auffahren, den der Gott-Imperator der Menschheit für dich am Fuße des Goldenen Throns Terras für dich reserviert hat. Diese letzte Weihe gebe ich dir freiwillig und in gutem Glauben. Gehe hin in Frieden, Seele des Imperiums, und möge …« Zweil hielt inne. Sehr langsam ließ er den Kopf des Mannes zurück auf den Boden sinken. »Er ist von uns gegangen«, sagte er. VI Welts Truppen sicherten das Partisanenlager. Durch Signalbojen angelockt, setzten Landungsboote in der Lichtung auf, die von den Soldaten der Inquisition gerodet worden war. Mehr Truppen stiegen aus: Soldaten und Interrogatoren sowie verschiedene andere Vertreter der Inquisition. Im Geäst eines Baums auf der anderen Seite des Lagers sah Mkoll zu. Ordnung und Autorität des Imperiums wurden wiederhergestellt. Ihm war klar, dass der Vorgang dieser Wiederherstellung nervenaufreibend und unangenehm sein würde, aber dies war ein kurioser Triumph. Es war, als sei eine ehrenwerte Übereinkunft gebrochen worden. Er hörte Landerson lautstark protestieren. Er schaute weg. Eine weiße Motte umflatterte ihn und landete auf seinem rechten Handrücken. Sie blieb einen Moment dort und hob und schloss die pelzigen Flügel. »Gereon wehrt sich«, flüsterte er. Bei der Berührung durch seinen Atem flog sie davon. Mkoll wartete noch etwas und schob seine Rückkehr ins Lager ein paar Minuten länger auf. Seine Sinne waren scharf. Die schärfsten. Nur Bonin und Gaober kamen dem Grad seines Geschicks in Verstohlenheit nahe. Nur ein Mann hatte ihn je übertroffen. Und dieser Mann war tot. Mkoll blickte sich um. Etwas hatte sich gerührt, ein unmerkliches Geräusch zu seiner Rechten. Er machte selbst kein Geräusch, sondern drehte sich auf seiner Astgabel langsam um.
Das Unterholz der Unbebau unter ihm war reglos und undurchdringlich. Die einzige Bewegung darin war das Flattern der Motten. Er witterte eine Ausdünstung, eine ganz schwache Spur. Er erkannte sie trotzdem. »Du bist da, nicht wahr?«, rief er. Er bekam keine Antwort. »Du brauchst nicht zu antworten. Aber du bist da. Du bist da draußen, oder?« Er bekam immer noch keine Antwort. Die Ausdünstung war weg. Vielleicht hatte er sie sich nur eingebildet. Mkoll sprang aus dem Baum und watete ins Lager zurück. »Cirk?«, fragte Gaunt. »Ibram.« Er setzte sich neben sie auf den Rand der Plattform. Cirk hatte sich den abgelegensten Teil des Lagers als Sitzplatz ausgesucht, ganz allein am Rande des sumpfigen Dunkels. »Geht es Ihnen gut?«, fragte er. Sie nickte. Er sah, dass sie geweint hatte. »Es geht Ihnen nicht gut«, sagte er. »Ich habe nie gewollt, dass das hier passiert.« »Das hier?« »Alles. Ich habe eine Abmachung mit Baishin und Welt getroffen.« »Wann?« Cirk zuckte die Achseln. »Gleich nach unserer Rückkehr. Auf Ancreon Sextus, nach dem Tribunal. Ihretwegen.« »Ach, kommen Sie mir nicht damit.« Cirk starrte ihn an. »Sie Arschloch. Es stimmt. Ich habe es wirklich Ihretwegen getan. Sie und die anderen hatten so viel für uns getan und standen vor der Hinrichtung. Ich bin vorgetreten und habe das wenige verkauft, was ich anzubieten hatte.« »Was genau haben Sie verkauft, Cirk?« »Den Mythos unseres Überlebens«, erwiderte sie mit einem traurigen Lächeln. »Ich sagte ihnen, sie müssten Gereon befreien, weil sie dann einen Weg finden würden, sich gegen das Chaos zu wappnen. Sie fanden die Vorstellung ungemein verlockend. Das Rätsel, wie Sie Gereon ohne Makel überstehen konnten, hat sie ziemlich in Wallung gebracht. Und jetzt sind wir alle hier.«
»Und jetzt sind wir alle hier«, nickte Gaunt. »So haben Sie es sich nicht vorgestellt, oder?« »Thron, ganz und gar nicht.« Sie zog die Füße auf den Rand der Plattform und schlang die Arme um die Knie. »Gereon wird weiter leiden. Wir haben unter dem Erzfeind gelitten, und jetzt werden wir unter dem Imperium leiden, wenn sie den Planeten auseinandernehmen und etwas suchen, das es nicht gibt.« »Ich nehme an, Sie glauben nicht daran?« Cirk bekam einen so starken Lachanfall, dass Gaunt sie beinahe festhalten musste, damit sie nicht von der Plattform fiel. »Tut mir leid, Verzeihung …«, ächzte sie schließlich. »Ich glaube schon daran. Ich meine, wir sind unbeschadet durchgekommen. Aber ich glaube, es ist hier drin …« Sie tippte sich mit einem Finger an die Schläfe. »Es ist hier drin. Man kann es nicht analysieren und herstellen und in eine Flasche füllen. Die bloße Vorstellung ist einfach absurd. Aber Welt und Baishin sind so darauf angesprungen, diese Arschlöcher. Was für Einfaltspinsel.« Sie starrte auf ihre Stiefel. »Es ist ein heilloses Durcheinander, nicht wahr, Ibram?« »Es ist nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich dachte, ich würde stolz sein. Ich bin nicht stolz auf das hier. Das Oberkommando hat dieses Unternehmen nicht zum Wohl der Bewohner Gereons in Gang gesetzt. Sie geben sich nur mit Gereon ab, weil sie glauben, dass hier etwas Wertvolles zu holen ist.« »Ich wollte meine Welt so unbedingt retten, dass ich ihnen alles erzählt hätte. Ich habe nie einen Gedanken an die Konsequenzen verschwendet.« »Ich auch nicht«, räumte Gaunt ein. »Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie sich wünschen … das ist die Lektion, nicht wahr?« Cirk nickte. »Es ist schon ironisch, finden Sie nicht?«, fragte sie. »Die eigene Welt so sehr retten zu wollen, dass man sie am Ende umbringt …« Brostin holte ein zerdrücktes Päckchen Lho-Stäbchen heraus und klemmte Larkin eins zwischen die Lippen. Er selbst nahm sich ebenfalls eins und zündete beide mit seinem Flammenwerfer an.
Larkin lehnte sich auf dem schmalen Feldbett zurück. Er war der einzige Patient im kleinen, improvisierten Krankenrevier des Lagers. »So schlimm ist es gar nicht«, sagte Brostin. »Du hättest tot sein können. Der Oberst hat dir einen Gefallen getan.« »Er hat mir den verdammten Fuß abgehackt.« »Tja, daran ist wohl nichts zu deuteln.« Curth schlug die Zeltklappe zurück und trat ein. Sie trug etwas, das in Lumpen gehüllt war. »Die sind ungesund«, sagte sie, indem sie Larkin das LhoStäbchen aus dem Mund nahm und es sich selbst zwischen die Lippen klemmte. »Thron, es ist lange her«, seufzte sie beim Ausatmen. »Haben Sie nicht gerade gesagt, die sind ungesund?«, fragte Larkin. »Sind sie ja auch.« »Das gilt auch für Energieschwerter, habe ich herausgefunden«, sagte Larkin mürrisch. »Nicht so ungesund, wie von einem feindlichen Panzer überrollt zu werden, also halt die Klappe«, sagte Brostin. »Ich habe etwas für Sie«, sagte Curth und legte das Bündel auf das Feldbett. »Was denn?«, fragte Larkin. »Gute Medizin. Davon fühlen Sie sich gleich besser.« In den Lumpen, in seine Bestandteile zerlegt, befand sich Larkins altes Lasergewehr mit dem Nalholzschaft, das Larkin den ganzen Weg von Tanith mitgebracht und schließlich wegen Munitionsmangel auf Gereon zurückgelassen hatte. »Heiliger Thron …«, flüsterte Larkin. »Sie haben es aufbewahrt.« »Ich wusste, Sie würden einen Grund brauchen, um zurückzukehren«, sagte Curth. Sie sah zu, wie Larkin die Waffe zusammensetzte. »Hol mir etwas Waffenöl, Bros«, sagte er. Brostin nickte und stand auf. Auf dem Weg aus dem Krankenrevier begegnete ihm Gaunt. »Ana?« Sie wandte sich von Larkin ab, der vollkommen in den Zusammenbau seines kostbaren Gewehrs vertieft war, und ging mit Gaunt in einen kleinen Nebenraum. »Wie geht es ihm?«
»Ich glaube, ich habe ihn von seiner Verwundung abgelenkt.« »Das ist gut. Ich wünschte, es hätte eine andere Möglichkeit gegeben.« Sie begann mit der Säuberung einiger medizinischer Instrumente. »Ana«, begann er, »wenn ich gewusst hätte, dass die Inquisition …« »Wollten Sie sich entschuldigen?«, fragte sie mit einem direkten Blick. »Dazu besteht keine Veranlassung. Ich habe damit gerechnet.« »Das haben Sie?« »Wenn man mit dem Widerstand lebt und arbeitet, neigt man dazu, vom Tag der Befreiung zu träumen. Eine beruhigende Phantasievorstellung. Zufällig habe ich mir vorgestellt, wie wohl die Realität aussehen würde. Gereon wird nie wieder so, wie es mal war. Der Planet wird weiter leiden. Das ist der Lauf der Dinge. Das Imperium ist ein grobes Instrument, Ibram, und das Chaos ist viel zu gefährlich, um es darauf ankommen zu lassen.« »Die Inquisition glaubt, dass es ein … ein Geheimnis hier in der Unbebau gibt. Deswegen ist sie so schnell angerückt.« »Was für ein Geheimnis soll das sein?« »Bei unserer Ankunft hinter unseren eigenen Linien konnte niemand begreifen, warum wir keinen Makel hatten. Sie glauben, dass es hier etwas gibt, das gegen Makel schützt.« »Etwas in der Unbebau? Geht es etwa darum? Hätten sie uns sonst verfaulen lassen, wenn sie nicht geglaubt hätten, dass dabei auch etwas für sie herausspringt?« »Ich fürchte, genau das ist passiert. Ich glaube, sie werden Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte damit verbringen, in Gereon herumzuwühlen und den Planet auseinanderzunehmen, um das Geheimnis zu ergründen.« »Ich könnte ihnen einiges an Zeit ersparen«, sagte Curth. »Sie müssten nur einmal mit mir reden. Ich bin ausgebildete Ärztin und habe lange unter diesen Bedingungen hier gearbeitet. Verschiedene toxische Bestandteile, die aus natürlichen Quellen hier im Lebensraum des Sumpfes gewonnen werden, haben bemerkenswerte Eigenschaften, die dem Imperium nützen könnten. Gerinnungshemmer, Entzündungshemmer und mehrere Extrakte, die besonders wirkungsvoll gegen Fieber und Xenos-Infektionen sind. Aber das ist alles. Hier gibt es kein Geheimnis. Keinen Wun-
derschutz gegen den Makel. Man widersteht der Berührung des Chaos, indem man sich dagegen wehrt. Sie haben sich gewehrt. Ich habe mich gewehrt. Und Gereon wehrt sich noch.« Sie hörte mit ihrer Reinigungsarbeit auf und wandte sich Gaunt zu. Sie war so dünn und kränklich, dass ihn ihr Anblick schmerzte. »Sie haben etwas sehr Edles getan, Ana«, sagte er, »als sie hiergeblieben sind, um diesen Leuten zu helfen. Ich lasse Sie nicht noch einmal zurück.« »Gut«, sagte sie. »Ich glaube, ich bin erledigt. Ich glaube, ich bin ausgebrannt. Ich habe um Ihre Rückkehr gebetet, Ibram. Ich weiß, Sie hatten es versprochen, aber es gab keine Garantien. Aber es hat mich aufrechterhalten. Aber ich habe mir keine romantischen Schwachheiten in Bezug auf ein glückliches Ende eingebildet. Nur ein Ende, mehr will ich jetzt nicht mehr. Ein Ende von alledem hier. Dieser Ort hat mich beinahe umgebracht.« Sie seufzte. »Ist Dorden bei Ihnen? Ist er noch am Leben? Ich würde ihn gern Wiedersehen. Es wäre so schön.« »Er ist in Cantible.« Sie nickte. »Wie sich herausgestellt hat, gibt es eine Grenze für mich«, sagte sie. »Ich habe mein Leben der Aufgabe gewidmet, Menschen zu helfen, als Ärztin. Ich habe die Vervunmakropole verlassen, um der Garde zu dienen, und ich habe die Garde verlassen, um den Leuten hier zu dienen. Es heißt, gute Werke und selbstlose Anstrengungen seien sich selbst Belohnung genug. Aber das hier war ein Grauen ohne Unterlass. Ich habe dabei feststellen müssen, dass meine Selbstlosigkeit Grenzen hat, von denen ich vorher nichts wusste. Ich fühle mich nicht belohnt durch das, was ich getan habe. Ich habe nicht das Gefühl, dadurch ein besserer Diener des Gott-Imperators zu sein. Ich hasse das hier, Ibram.« »Es ist vorbei«, sagte er. VII Beltayn meldete, die angeforderten Transporter seien im Anflug. In ein paar Minuten würde eine Staffel Valkyrien eintreffen. Gaunt nickte und ging zu Criid und Mkoll. »Ist die Abteilung fertig?«
»Wir sind abmarschbereit«, sagte Criid, deren Gesicht verbunden war. »Es wird mir eine Freude sein zu verschwinden.« »Sorgen Sie dafür, dass Curth an Bord geht«, sagte Gaunt zu Mkoll. Er ging durch die wartenden Geister, redete kurz mit einigen und erreichte Eszrah. »Begleitest du uns?«, fragte er. Der Nachgahner nickte. »Ich bin unart«, sagte er mit einiger Mühe, die niedergotischen Worte zu formulieren, »und diese Welt endet.« »Geryun, et werd sik länger wehren, ewiglich«, sagte Gaunt. Eszrah schüttelte den Kopf und folgte dem Fußweg die Plattform hinunter und aus dem Lager. »Zehn Minuten!«, rief Gaunt ihm nach. »Wenn du uns begleiten willst, hast du noch zehn Minuten!« Eszrah schaute zurück und nickte. Dann setzte er seinen Weg in den Sumpfwald fort. »Mit Ihrer Erlaubnis«, sagte Gaunt, »ziehe ich meine Einheit ab und kehre nach Cantible zurück.« Welt befand sich in einem der großen Habizelte, die von der Inquisition errichtet worden waren, und las Datentafeln durch. Gesandte, Analytiker und Inquisitionssoldaten kamen und gingen. Das Zelt war hell erleuchtet, und Vorrichtungen zur Insektenabwehr summten und knisterten rings um die Dachpfosten. »Möge der Imperator Sie beschützen«, erwiderte der Inquisitor. »Ich danke Ihnen für Ihren Beitrag.« Gaunt zuckte die Achseln. »Ich glaube, die Arbeit hier wird einige Zeit in Anspruch nehmen«, sagte Welt, immer noch durch die Dokumente abgelenkt. »Ein großes Unterfangen, aber ein ehrenwertes. Erste Ergebnisse scheinen zu bestätigen, was wir vermutet haben.« »Und das wäre?« »Die Widerstandskämpfer, vor allem die Schlafwandler, sind der Schlüssel. Ihr Wissen in Bezug auf die Biologie der Unbebau ist ein bedeutendes Instrument. Natürlich mussten wir deswegen die Verbindung mit ihnen herstellen. Ich bedaure, dass Sie sich benutzt vorkamen, Gaunt, aber wir mussten sie hervorlocken, und das bedeutete, wir mussten jemanden einsetzen, dem sie vertrauen würden. Ich kann mir nicht vorstellen, wie lange es an-
dernfalls gedauert hätte, sie in dieser Wildnis ausfindig zu machen.« »Fürs Protokoll«, sagte Gaunt. »Sie verschwenden Ihre Zeit.« »Mir sind Ihre Gefühle klar, Gaunt«, erwiderte Welt. »Wenn auch nur die geringsten Aussichten bestehen, die Aussicht auf eine Aussicht, muss ich ihr nachgehen. Es wäre ein Verbrechen gegen den Thron, wenn ich es nicht täte. Sehen Sie das denn nicht ein?« »Doch, ich glaube schon.« »Es war von Anfang an klar, dass die Befreiung Gereons schmerzhaft verlaufen würde, Gaunt. Ein Ort, der so gelitten hat wie dieser, rappelt sich nicht einfach auf, klopft den Staub ab und macht weiter. Es wird Jahre dauern. Jahrhunderte vielleicht. Gereon wird vielleicht nie wieder das, was es einmal war. Aber Sie müssen das Positive sehen. Zumindest hat es eine Befreiung gegeben. Das Oberkommando hat Gereon als verloren betrachtet, bis wir ihm gute Gründe präsentiert haben, hierher zu gehen. Und wenn ich finde, was ich suche, wird die Zukunft der Menschheit sicherer. Belasten Sie sich nicht mit dem Warum und Wofür, Kommissar-Oberst. Sie haben die Befreiung bekommen, die Sie wollten.« »Ich weiß nicht mehr, was ich wollte.« Welt schniefte. »Dann machen Sie einfach weiter.« Gaunt beschrieb das Zeichen des Aquila und verließ das Habizelt. Abseits des erleuchteten Lagers und der von der Inquisition gerodeten Lichtung war die Unbebau dunkel, grün und still. Amphibien quakten und platschten in das von Algen erfüllte Wasser, Motten schwärmten durch die dunstige Luft. Insekten krochen über die dunklen Baumwurzeln und knorrigen Äste. Eszrah sammelte behutsam Rindenproben und verstaute sie in einem seiner alten Kürbisbehälter. Seine Krüge mit Wode, Mottengift und anderen Tinkturen waren jetzt fast wieder voll. Dies, wusste er, war seine letzte Gelegenheit, sie je wieder aufzufüllen. Was er jetzt sammelte, würde ein Leben lang reichen müssen. Er hörte ein Platschen und blickte sich um. Sabbatine Cirk watete schienbeintief durch das grüne Wasser zu ihm. Er erhob sich und sah zu, wie sie näher kam.
Sie blieb vor ihm stehen und sah ihn an, dessen Augen hinter Varls alter Sonnenbrille verborgen waren. Eszrah fiel es schwer, Mienen zu deuten, aber er hatte den Eindruck, als wolle sie etwas sagen, könne es aber nicht. Nach einem Augenblick streckte sie die Hand aus, griff damit in seinen Ledertornister und entnahm ihm einen einzelnen Bolzen für seinen Regenbagen, einen kurzen Eisenbolzen, dessen Spitze mit Mottengiftpaste überzogen war. Sie schaute wieder in Eszrahs Gesicht und lächelte dünn. Dann wandte sie sich ab und ging tiefer in den Sumpf. Eszrah beobachtete sie, bis sie außer Sicht war. Er hörte Düsengeräusche von der Landelichtung und wusste, dass ihm die Zeit ausging. Er kauerte sich nieder, um noch ein paar letzte Dinge einzusammeln: ein besonderes Kraut, eine bestimmte Schnecke, einen Käfer mit einem roten Karo auf den Deckflügeln. Er verschloss die letzte Kürbisflasche, als ihm aufging, dass er beobachtet wurde. Er hatte kein Geräusch gehört, spürte aber Blicke auf sich ruhen. Er sah auf. Der Mann stand vor Eszrah zwischen den Bäumen, so starr und grün und still, dass er selbst ein Baum zu sein schien oder ein hängender Ast. Er war groß und schlank und trug das Wode der Nachgahners, aber er war kein Nachgahner, den Eszrah kannte. Er hielt einen Kampfstab in einer Hand, und um seine Schultern waren die schmutzigen Überreste eines Tarnumhangs gewickelt. Er schaute Eszrah direkt an. »Ick grüß di, Seele«, sagte Eszrah, indem er sich erhob. Der Mann hob gelassen eine Hand und legte einen Finger auf seine Lippen. Eszrah nickte. Der Mann schaute jetzt an Eszrah vorbei in Richtung Lager. Eszrah wandte den Kopf, um festzustellen, worauf der Mann genau schaute. Als er sich wieder umdrehte, war der Mann verschwunden, als sei er nie dagewesen. Im fahlen Licht der Lichtung wateten die Geister an Bord der wartenden Valkyrien. Der Motorenlärm der Flugmaschinen war schrill und ließ den Wald erbeben. Das Wasser zitterte. Brostin und Derin halfen Larkin. Gaunt sah, dass Criid Curth begleitete. Inquisitionsoffiziere mit Lichtstäben leiteten die Valkyrien und lenkten sie zu ihrem Startplatz.
Leuchtfeuer waren an Baumstämmen rings um die Lichtung befestigt worden. Gaunt hatte vor seinem Abflug noch mit Landerson reden wollen, aber das gesamte Partisanenkontingent war vor der Befragung interniert worden. Die Inquisition hatte sie in einer Reihe von Hütten untergebracht, unter Bewachung, und Gaunt wollte die Abreise Curths nicht dadurch gefährden, dass er Schwierigkeiten machte. »Eszrah?«, überschrie er den Motorenlärm. Mkoll schüttelte den Kopf. »Ich habe ihm gesagt, dass wir fliegen«, rief Gaunt. »Da!«, rief Mkoll zurück. Eszrah war zwischen den Bäumen aufgetaucht und trabte zu ihnen. »Beeil dich!«, rief Gaunt. »Wir hätten beinahe ohne dich abfliegen müssen!« Die drei eilten zur nächsten Valkyrie, wo die bereits an Bord befindlichen Geister die Hände nach ihnen ausstreckten, um sie durch die Luke zu ziehen. »Was hast du da draußen gemacht?«, rief Mkoll Eszrah zu. Eszrah hob gelassen eine Hand und legte einen Finger auf seine Lippen. Sie hörte das lauter werdende Echo der Düsentriebwerke, als die Valkyrien starteten. Dann ebbte der Lärm ab, und die Stille der Unbebau kehrte wieder ein. Das Lager war ein Lichtfleck in der Ferne, wie ein Sumpflicht, das jenseits der Bäume flackerte. Ihre unmittelbare Umgebung war dagegen so schwarz, dass die Bäume wie Anthrazit und die Luft wie Öl waren. Winzige weiße Motten flatterten wie Blüten in der Luft. Ähnliche weiße Blüten hatte es auch einmal im Garten ihrer Familie gegeben, vor all den Jahren. Sabbatine Cirk holte den Regenbagenbolzen heraus. Sie hielt ihn eine Weile in der Hand und drückte sich dann die vergiftete Spitze auf die Innenseite ihrer linken Hand, bis die Haut einriss. Ohne Platschen, ohne Murmeln und mit kaum einem Kräuseln glitt sie unter die glänzende Oberfläche des lichtlosen Wassers.
VIII Wolkenbruchartiger Regen fiel auf Cantible, als sie dort eintrafen. Der Himmel war eine wallende Masse aus fetten grauen Regenwolken und sah schmutzig und verdreckt aus. Ein Geruch nach Donner lag in der feuchten Luft. Die Valkyrien überflogen die Stadt und landeten auf einer Wiese westlich des Walls. Im Regen sahen die ramponierten Gebäude der Stadt noch öder und lebloser aus als zuvor. Die Wiese und die angrenzenden Felder waren zu einem unangenehmen Morast aufgeweicht. Gaunt sprang aus der Maschine auf ein Feld voller Pfützen, in die der Regen platschte. Aus der Luft hatte er die Veränderungen gesehen, die seit seinem Aufbruch in Cantible vonstatten gegangen waren. Reparierte Abwehranlagen, die ausgedehnten Einrichtungen des Lagers, die Habizelte und Vehikel der Inquisition. Während die anderen Geister ausstiegen, eilte er mit Mkoll zum Rand der Wiese, wo Rawne, Baskevyl und Daur warteten. »Willkommen zurück«, sagte Rawne. »Gibt es etwas zu melden?« »Keine besonderen Vorkommnisse, Herr Kommissar«, sagte Baskevyl. »Ist ohnehin nicht mehr unsere Veranstaltung«, sagte Rawne. »Die Inquisition schmeißt jetzt den Laden.« »Wenn man vom Teufel spricht«, sagte Daur leise. Interrogator Sydona näherte sich in Begleitung seiner Adjutanten. »Der hat das Kommando?«, fragte Gaunt. »Er heißt Sydona«, sagte Rawne. »Sieht er immer so angepisst aus?«, fragte Gaunt. »Jetzt, wo Sie es erwähnen – nein«, räumte Rawne ein. Sydona blieb vor Gaunt stehen. Beide Männer beschrieben das Zeichen des Aquila. »Gaunt?« »Kommissar-Oberst Gaunt, ja.« »Ich bin Interrogator Sydona. Sie sind direkt vom Lager in der Unbebau gekommen?« »Sie wissen, dass es so ist.«
Sydona hielt kurz inne. »Wir haben dringende Kom-Sendungen aus der Unbebau empfangen, während Sie in der Luft waren. Mein Inquisitor, Lord Welt, will wissen, ob Sie oder jemand aus Ihrer Abteilung etwas über die Ereignisse weiß, die gerade stattgefunden haben.« »Welche Ereignisse?«, fragte Gaunt. Sydona schaute ein wenig verlegen drein. »Wie ich es verstanden habe«, sagte er, »sind irgendwann in der letzten Stunde alle im Unbebaulager zur Befragung internierten Partisanen verschwunden.« »Verschwunden?« »Ja. Sie sind nicht mehr da. Trotz der Tatsache, dass das gesamte Areal, in dem sie sich aufhielten, unter Bewachung stand. Können Sie Licht in dieses Dunkel bringen?« Gaunt sah Mkoll an, der die Stirn runzelte und den Kopf schüttelte. »Ich glaube nicht, dass ich das kann«, sagte Gaunt. Er machte Anstalten, mit seinen Offizieren wegzugehen, zögerte dann aber und wandte sich noch einmal an den Interrogator. »Sagen Sie Ihrem Lord Welt, diesmal werde ich sie nicht für ihn finden.« IX Das nächste Habitat in der Reihe war genau wie alle anderen. Etwa auf der Hälfte von Straße siebenundzwanzig gelegen, war es ein vierstöckiges Wohnhaus aus Stahlbeton und grauem Stein. Im strömenden Regen sah der abblätternde Beton wie Spachtelmasse aus. Ein Durcheinander aus zerbrochenen Möbeln und ausrangierten Haushaltsgegenständen lag auf den Trümmern vor dem Grundstück. Drinnen hatte der Regen einen unangenehm klammen Geruch hervorgebracht. Treppenhäuser und Flure zogen sich durch das gesamte Gebäude. Regen drang durch die Oberlichter im Dach ein, tropfte nach unten und sammelte sich in Pfützen in den gefliesten Korridoren. Caffran beobachtete die Tropfen, die in der Düsternis hell und silbern herunterfielen wie Leuchtspurgeschosse. »Hallo?«, rief Zweil.
Mittlerweile waren sie müde und durchgefroren. »Taschenlampen«, wies Caffran an. »Ihr drei macht in diese Richtung weiter. Ihr drei nach da. Bleibt in Verbindung.« Der Trupp teilte sich. Harjeon, Wheln und Osket gingen die Treppe hinauf. Neskon, Raess und Leyr wandten sich nach rechts. Caffran ging mit Leclan, Vadim und dem alten Priester weiter den Flur entlang. »Hallo? Hallo? Ich bin ein Ayatani des Heiligen Glaubens. Ich bin gekommen, um euch zu helfen. Zeigt euch. Alles wird gut.« Der Regen tropfte rings um sie vom unsichtbaren Dach. Die Lichtkegel ihrer Taschenlampen tanzten über den Boden und die fleckigen Wände. In der Ecke eines Raums fanden sie ein paar alte Decken und zerrissene Kleidungsstücke, die aussahen, als habe jemand darin geschlafen. Im nächsten Raum saß ein toter Mann auf einem Stuhl am Tisch. Der Leichnam war seit Monaten nicht angerührt worden und mumifiziert. Sie gingen weiter. »Spürt ihr das?«, fragte Vadim. »Was?« »Es ist, als würden wir beobachtet.« »Langsamer«, sagte Caffran. Leclan ging durch den Flur zu einer anderen Tür, und der Lichtstrahl seiner Taschenlampe zeigte ihnen noch mehr Schutt und Abfall. »Vorsichtig«, zischte Vadim. Zweil schlurfte vorwärts und räusperte sich. »Hallo? Hallo? Ist jemand da? Ich bin ein Ayatani des Heiligen Glaubens und gekommen, um euch zu helfen.« Sie warteten. Caffran hob eine Hand. Sie hörten alle das leise Rascheln hinter der Tür. Caffran glitt durch den Eingang in die Kammer dahinter. Der Boden war mit Glasscherben und Papierschnipseln bedeckt. Die Überreste eines Bettes oder Sofas vermoderten unter einem eingeschlagenen Fenster. Auf der anderen Seite des Raums war eine Tür, halb geschlossen. Vadim huschte hinter Caffran hinein und schwenkte seine Waffe. »Riechst du das?«, flüsterte er. Caffran nickte. Es roch leicht verbrannt. Er ging durch den Raum und fand etwas neben den Überresten des zusammengebrochenen Bettes am Fenster. Es war ein klei-
nes Feuer aus Zweigen, noch warm, obwohl die Flammen gelöscht worden waren. Ein verschrumpeltes Proviantpäckchen der Garde, irgendwo gestohlen, lag zwischen den aufgehäuften Zweigen. Jemand hatte versucht, sich eine Mahlzeit aufzuwärmen. Caffran wollte gerade Vadim zu sich rufen, als sich etwas bewegte, das er für einen Haufen Abfall neben dem Bett gehalten hatte, und zur anderen Tür floh. Caffran schrie auf und versuchte ihm mit dem Strahl seiner Taschenlampe zu folgen. Vadim hob seine Waffe. »Nicht schießen!«, rief Caffran. Leclan und Zweil hatten den Raum betreten. Mit Caffran an der Spitze gingen sie zur zweiten Tür. Sie führte in einen Lagerraum, eine kleine Kammer aus Stahlbeton mit Regalen an einer Wand und einer kleinen Kühlkammer zur Lagerung von Lebensmitteln daneben. Es gab keine anderen Türen, und die Fenster waren nur Schlitze hoch oben, nahe der Decke. Es stank durchdringend nach menschlichem Unrat. Caffran sah, dass nichts in den Regalen war außer einer Sammlung von Knöpfen und Flaschenverschlüssen, die zu ordentlichen Reihen zunehmender Größe sortiert waren. Es war keine Spur von irgendjemandem zu sehen. Caffran ließ seinen Lampenkegel umherwandern. Leclan trat neben ihn. »Kühlkammer?«, flüsterte er. Caffran nickte. Die Tür zur Kühlkammer war klein, aber der Raum dahinter war begehbar und für das Aufhängen von Fleisch geeignet. Sie gingen darauf zu. »Feth!«, rief Caffran plötzlich. Etwas bewegte sich unter dem untersten Regal. Er fuhr herum und richtete sein Gewehr und den Taschenlampenstrahl auf den Boden. Das Kind, ein Junge, war sehr klein und von Krankheit und Auszehrung gezeichnet. Er trug Lumpen, und seine Haut war bräunlich vor Dreck. Die Augen waren unglaublich groß und verstört, und er schirmte sie winselnd ab, als der Lampenkegel ihn traf. »Feth! Es ist nur ein Kind!«, sagte Caffran, indem er sich bückte, um ihm näher zu kommen. »Pater!«, rief Leclan. Zweil und Vadim folgten ihnen in den Lagerraum. Das Kind versuchte sich tiefer und tiefer in die Schatten unter dem Regal zu verkriechen und gab dabei Angstlaute von sich, die wie die eines Tiers klangen.
»Ist ja gut, ist ja gut«, rief Caffran, indem er nach seiner Hand griff. »Alles wird gut«, sagte Zweil. »Komm da raus, mein junger Freund, dann kümmern wir uns um dich. Hallo? Hast du Hunger? Willst du was zu essen?« Er sah die anderen an. »Hat jemand ein Proviantpäckchen? Zwieback? Eine Zuckerstange?« »Ich«, sagte Leclan. Er stellte sein Lasergewehr auf den Boden und lehnte es an sein Bein, dann öffnete er seine Brusttasche und suchte darin herum. Die Tür zur Kühlkammer öffnete sich. Der Excubitor, der sich darin versteckte, hatte einen Laserwerfer. Als er feuerte, war der Lärm in der Enge des Lagerraums gewaltig. Zweil schrie vor Schock und Überraschung auf. Der Werferstrahl traf Leclan und riss ihm die Seite des Kopfes weg. Im Fallen drehte er sich leicht und zerbrach einige der Regale unter seinem Gewicht. Caffran eröffnete das Feuer und mähte den Excubitor mit einer Treffersalve aus nächster Nähe nieder. Die Einschläge schleuderten den Diener des Anarchen rückwärts in die Kühlkammer. Nach dem kurzen, aber intensiven Schusswechsel wirkte die Stille schockierend. Vadim ging in den Kühlraum, überzeugte sich davon, dass er leer war, und verpasste dem Excubitor noch einen Schuss in den Kopf, um ganz sicherzugehen. »Ach, Feth … Feth, Feth, Feth …«, sagte Caffran. Er beugte sich über Leclans Leichnam. »Ist er …?«, fragte ihn Zweil über die Schulter. »Vadim! Hol die anderen! Geh und hol die anderen!«, rief Caffran. Vadim nickte und rannte aus dem Raum. Einen Moment später hörten sie ihn rufen. »Es hilft nichts«, sagte Caffran und wich zurück. »Er konnte nicht mehr reagieren.« Er erhob sich und sah Zweil an. »So eine Schweinerei.« Zweil antwortete nicht. »Pater?« Zweil nickte und zeigte damit auf etwas- hinter Caffran. Caffran drehte sich um. Der Junge, vielleicht neun oder zehn Jahre alt, war unter dem Regal hervorgekommen. Obwohl es viel zu groß für ihn war, hat-
te er Leclans Lasergewehr aufgehoben und auf Caffran und den Priester gerichtet. »Gehen Sie zurück, Pater«, hauchte Caffran. Er sah den Jungen an und lächelte aufmunternd. »Komm, kleiner Mann, gib mir das.« Der Junge gab drei Schüsse ab, deren Rückschlag ihn taumeln ließ. Dann warf er die Waffe weg und rannte davon. »Caffran? Caffran!«, brüllte Zweil. Er bückte sich und nahm den Geist in die Arme. Überall war Blut, das aus einer großen, unsauberen Wunde in Caffrans Brust sprudelte. »Sanitäter!«, rief er. »Sanitäter!« Caffran keuchte. »Halt durch, hörst du?«, verlangte Zweil, während er versuchte, Caffran zu stützen und gleichzeitig die Blutung zu stillen. »Halt nur ja durch. Hilfe ist unterwegs.« Caffrans Augenlider flatterten. Er sah Zweil einen Moment lang an. Er versuchte etwas zu sagen, aber er konnte nicht. Seine linke Hand tastete nach der Brusttasche seiner Uniformjacke und versuchte sie aufzuknöpfen. »Sanitäter! Sanitäter!«, rief Zweil über die Schulter. »Irgendjemand!« Er schaute wieder zu Caffran. Er schluckte schwer, als er den Fernblick in Caffrans Augen und das Licht erlöschen sah. Als Feldpriester hatte er es schon oft gesehen, viel zu oft. Caffrans blutige linke Hand fummelte immer noch an seiner Brusttasche herum. Zweil streckte die Hand aus, löste den Knopf für ihn und nahm heraus, was darin war. Es war ein tanithisches Mützenabzeichen. Caffrans Mund versuchte Worte zu formulieren. »Ich bin ein Ayatani des Heiligen Glaubens«, sagte Zweil leise. »Sei jetzt ruhig, mein Freund, denn der Gott-Imperator der Menschheit eilt gerade herbei, um dir das Geschenk des Friedens zu machen, nach dem du dich sehnst. Willst du in dieser Stunde noch etwas beichten?« Caffran antwortete nicht. Zweil hielt ihn weiter hoch, und seine Hände und Arme waren nass von Caffrans Blut. »Ich höre und verstehe diese Sünden, wie du sie mir gebeichtet hast«, sagte Zweil mit heiserer Stimme, »und ich erteile dir für sie die Absolution wie auch für alle anderen Sünden, die du nicht mehr aufzählen kannst. Es steht in meiner Macht, dies zu tun,
denn ich bin ein Ayatani des Heiligen Glaubens. Die Winde haben deine Sünden weggeweht, und die Beati hat dich gesegnet, und wenngleich du Schmerzen leidest, werden sie enden, wie alle Schmerzen enden, und du wirst ohne die Schmerzen der sterblichen Welt zu dem Platz auffahren, den der Gott-Imperator der Menschheit für dich am Fuße des Goldenen Throns Terras für dich reserviert hat. Diese letzte Weihe gebe ich dir freiwillig und in gutem Glauben …«
Richtige verdammte Gardisten I Genau zwanzig Tage, nachdem die erste Angriffswelle über Gereon hereingebrochen war, kamen die ersten Rückzugsbefehle. Fronteinheiten, die seit Tag eins am Boden waren, wurden zurückgenommen oder durch frische Brigaden aus der Trägerflotte ersetzt. Eine Viertelmillion neue Gardisten wurden ins Feld geschickt. Die erschöpften Soldaten, die abgelöst wurden, folgten den Nachschublinien langsam in die Basislager und dann zurück zur Flotte. AT 137 wurde kurz vor Mittag des zwanzigsten Tags abgezogen und machte sich zusammen mit einer Division der Krassier auf den Rückmarsch. Die Krassier hatten im Zuge des Zitadellenkrieges, der zwischen den Tagen sechs und vierzehn der Befreiung im Herzen von K’ethdrac’att Shet Magir getobt hatte, besonders schwere Verluste erlitten. An einem einzigen Nachmittag marschierte AT 137 die vierzehn Kilometer, die sie in den vergangenen zwanzig Tagen zurückgelegt hatte, durch die tote Stadt unter einem Himmel voller Rauch zurück und passierte dabei die Neuankömmlinge, die sie ablösten. Brigadekapellen spielten, und Fahnen wurden hochgehalten. Die Neuankömmlinge, die sie passierten, sahen sauber und gesund aus. Sie jubelten und applaudierten den Soldaten auf dem Rückmarsch, als sie sie sahen. Die Soldaten auf dem Rückzug versuchten die Energie aufzubringen, die Grüße zu erwidern.
Dalin fragte sich, ob dieses frische Blut wusste, was sie erwartete. Er fragte sich, ob er stehen bleiben und mit ihnen über die Dinge reden sollte, die er gesehen hatte und wusste. Es war noch ein höllischer Kampf übrig, der ausgefochten werden musste. Er beschloss weiterzugehen, weil er glaubte, Sobile könne ihn erschießen, wenn er damit anfing, den Leuten von der Scheiße zu erzählen, die ihnen bevorstand. Schlecht für die Moral. Außerdem hatte sich nie jemand die Mühe gemacht, ihn davor zu warnen. Sie erreichten einen Verteiler an der Küste und warteten drei weitere, bleierne Tage im Munitorums-Lager für die Evakuierung. Es war heiß und staubig, aber zumindest gab es frische Nahrung und sauberes Wasser. Stabspersonal des Munitorums fertigte einen Mann nach dem anderen ab und füllte Formblätter und Nachweise aus. Jeder Mann bekam ein Papierabzeichen mit seinem Zielort und darauf notierten Überstellungseinzelheiten an den Kragen geheftet. Dalin schlief eine Weile in den schmuddeligen Massenzelten, die am Strand hinter dem Meereswall errichtet waren, und lag dabei in einem Schlafsack, den fünfzig Männer vor ihm benutzt hatten. Es war nicht leicht zu schlafen, weil er so aufgedreht und angespannt war, und obwohl er es versuchte, wollten Geist und Körper einfach nicht loslassen und sich entkrampfen. Er fragte sich, ob die Anspannung je wieder nachlassen würde. Es kam ihm nicht so vor. Er hatte das Gefühl, für den Rest seines Lebens immer zwei Herzschläge vom Ducken und Schießen entfernt zu sein. Dieser Instinkt war ihm eingestanzt worden. Bei jedem Geräusch draußen vor dem Zelt griff er unwillkürlich nach seiner Waffe. Als er endlich doch einschlief, war es ein unruhiger Schlummer. Träume plagten ihn, obwohl er sich beim Erwachen nicht mehr an die Einzelheiten erinnern konnte. Die Verwundeten wurden durch das Gebiet geschleust, und in der Nacht hörte er ihr Stöhnen und Jammern aus dem Krankenrevier herüberschallen. Am dritten Tag wurden sie zu einer Reihe von Landungsbooten dirigiert, die auf dem Hang oberhalb der Küste warteten. Das Landungsboot flog sie über die Bucht hinaus. Durch die schwer gepanzerten Bullaugen sah Dalin das Meer tief unter sich, wie eine gesprungene Glasplatte. Er sah die Stadt hinter ihnen
zurückbleiben. Die feindliche Stadt. Den Kadaver einer Stadt. Dann war sie im Dunst verschwunden, und es schien so, als sei Gereon vollständig zu einem Gefilde aus Staub und Rauch reduziert worden, in dem es nichts Festes mehr gab. Er schlief angeschnallt auf seinem Sitz ein, und bei jedem Ruck des Schiffs schlug sein Kopf gegen die Lehne oder rollte schlaff hin und her. Diesmal träumte er nicht. Diesmal glitt sein Verstand über den Rand eines Abgrunds und fiel ins Nichts. Sie fuhren auf den hydraulischen Plattformen vom Hangar durch die Decks des Trägers empor. Die meisten saßen auf dem Metalldeck, Ausrüstung und Waffen an die Brust gedrückt und die Schlechtwetterponchos um die Schultern drapiert. Im Träger war es acht Grad kälter als an der Oberfläche, und die Luft hatte einen metallischen, chemischen Beigeschmack. Sobile stand für sich allein am Rand der hochfahrenden Plattform, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und beobachtete, wie die dicken Deckböden an ihm vorbeizogen. Luftzug wehte durch den Schacht. Von den Reparaturdecks drang eine Menge Lärm zu ihnen: Stimmen, Werkzeugmaschinen, Metall auf Metall. Dalin sah eine Reihe von fünfzig Kampfpanzern vom Typ Leman Russ, die für den Abtransport bereitstanden. Vor dreiundzwanzig Tagen hätte ihn dieser Anblick noch elektrisiert. Er versuchte sich daran zu erinnern, wie sein dreiundzwanzig Tage jüngeres Ich gewesen war, aber er konnte sich lediglich einen jungen Leichnam vorstellen, der mit dem Gesicht im weißen Staub K’ethdracs lag. Auf der fünften Deckebene stiegen sie aus in den Verteiler. Munitorums-Offiziere wuselten herum, sortierten Männer und hakten sie auf Listen ab. In der Kammer wimmelte es von Personal, und es wurde wild durcheinandergeredet. Aus Unterdeck-Entlüftern wallte Dampf. »Was bedeutet das?«, fragte Dalin, indem er den Papierstreifen an seinem Kragen hochhielt. »Was bedeutet das?« Das Munitorums-Personal beachtete ihn gar nicht. »Kompanie, Aufstellung!«, rief Kexie. »Marsch, Marsch!« Der Rest von AT 137 versammelte sich in einer Reihe mitten auf dem Deck. Es war kein beeindruckender Anblick. Jeder von
ihnen war schmutziger, als Dalin es für möglich gehalten hätte. Sie stanken. Ihre Ausrüstung war zerfleddert. »Nehmen Sie Haltung an, ech«, sagte Kexie, während er die jämmerlich kurze Reihe abschritt. Er sah nicht besser aus als sie. Sobile hatte mit einigen Munitorums-Offizieren geredet. Er wanderte zu ihnen und baute sich dort auf. Er hielt eine Datentafel in die Höhe und las davon ab. »Achtung. Laut Befehl des heutigen Tages des Jahres 777.M41 ist die Aktivierung der Reserve hiermit beendet. Diese Abteilung mit dem Namen Aktivierte Taktische 137, das heißt AT 137, ist nun deaktiviert, und ihre Individuen werden aufgefordert, sich bei ihren eigentlichen Regimentern oder Divisionen zurückzumelden. Sie können also zu Ihren Einheiten zurückkehren. Sämtliche Verpflichtungen gegenüber BIN-Abteilungen sind damit erfüllt.« Sobile ließ die Datentafel sinken und betrachtete sie humorlos. »Ich sehe den Nutzen darin nicht. Sie haben alle als Idioten begonnen, und Idioten sind Sie immer noch. Ihresgleichen verleiht der stolzen Tradition der Imperialen Garde einen schlechten Geruch. Ich bin noch nie mit so inadäquaten Soldaten in den Krieg gezogen. Meiner Ansicht nach sollten Sie den Rest Ihres verfluchten Lebens in einer BIN-Abteilung verbringen. Sie sind Scheiße. Ich bin froh, nichts mehr mit Ihnen zu tun zu haben.« Er sah Kexie an. »Das ist alles. Sergeant, weitermachen.« »Salutieren!«, donnerte Kexie. Sie salutierten. Sobile betrachtete sie noch einen Moment länger, dann wandte er sich ab und ging. Sie ließen die Hände sinken. Kexie blieb einen Moment vor ihnen stehen und kaute dabei auf der Innenseite seiner Wange. Seine Hände krampften sich zu Fäusten und entspannten sich wieder, als stellten sie sich vor, Saroo zu halten. Saroo befand sich irgendwo in einem Spind und wartete auf ihn, wartete darauf, die nächste BIN-Abteilung zu begrüßen. Er sah sie an, und sein Blick wanderte von einem Mann zum nächsten. Dalin war nicht klar gewesen, dass Kexie so alt war. Vielleicht lag es auch am Dreck, der sein faltiges Gesicht verklebte. Mit einem letzten schüchternen Seufzen salutierte er vor ihnen.
Sein Rücken war kerzengerade, der Salut selbst zackig. Sie alle erwiderten ihn instinktiv. Dalin spürte etwas Heißes im Gesicht, und ihm ging auf, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. »Ech«, sagte Kexie mit einem halben Lächeln. »Richtige verdammte Gardisten.« Er beendete den Salut, machte kehrt und ging. Allein gelassen, löste sich die Reihe schnell auf. Einige setzten sich auf das Deck, andere gingen weg. Vierbüchse war einer von denen, die sich setzten. Er legte Ausrüstung und Waffen neben sich ab, neigte den Kopf und fuhr sich mit den Händen über den Skalp. Dalin sah, dass seine Haare wieder nachwuchsen. Die harten Kanten des Kahlschlags waren verschwunden. »Scheiß auf das alles«, sagte Wäsche. Ziegelmacher gackerte. »Scheiß auf das alles und auf euch«, fuhr Wäsche fort. »Ich sehe euch im Hexenkessel.« Er nahm seine Sachen und ging. Dalin hob sein Gewehr auf und legte es sich über die linke Schulter. Er nahm seinen schmutzigen Seesack in die rechte Hand. »Wir sehen uns, Vierbüchse«, sagte er. Vierbüchse schaute zu ihm hoch. »Ja, wir sehen uns.« Als Dalin sich abwandte, rief er: »Heilig?« »Ja?« »Wir haben’s geschafft.« »Was geschafft?« »Was es auch war. Wir haben es geschafft. Wir leben noch.« »Das sagst du so«, erwiderte Dalin, »als wär’s ‘ne tolle Sache.« Dalin ging über das Deck und sah sich nach einem Ausgang um. Er war schon ein ganzes Stück gegangen, als ihm ein Gedanke kam und er sich wieder umdrehte. Mittlerweile war Vierbüchse verschwunden. »Was suchst du?« Dalin schaute zurück. Merrt war da und beobachtete ihn. »Ich hab mich nach Vierbüchse umgesehen«, sagte Dalin. »Warum?« »Weil mir plötzlich aufgegangen ist, das ich keine Ahnung habe, wie er wirklich heißt.« Merrt schüttelte belustigt den Kopf. »Weißt du was?«, sagte Dalin zu ihm. »Das ganze Theater, all das, und ich glaube nicht, dass auch nur einer von uns irgendwas gelernt hat.«
»Das hast du«, sagte Merrt. »Du weißt es nur noch nicht. Komm jetzt.« »Wohin?« »Wir sollen uns bei unseren Einheiten melden«, sagte Merrt. »Ich glaube, du solltest mir folgen.« »Warum?« »Wohin willst du gn… gn… gn… denn sonst?« Dalin ging neben dem tanithischen Soldaten über das geschäftige Deck. »He«, sagte Merrt, indem er nach vorn zeigte. »Ist das nicht …?« Durch das Gedränge der Leiber vor ihnen konnte Dalin eine wartende Gestalt sehen. Eine Frau, hochgewachsen und schlank, in einer dunklen Kampfuniform mit den Abzeichen eines Sergeanten. »Ja«, sagte Dalin. »Du kannst dich glücklich schätzen«, sagte Merrt. »Meine Mutter hat mich nie in einem Verteiler in Empfang genommen.« Dalin nickte, aber er fühlte sich nicht besonders glücklich. Als er Tona Criid entgegenging, sah sie ihn und ging ihm ihrerseits entgegen. Er sah den Ausdruck in den Augen seiner Ma und fühlte sich noch weniger glücklich als zuvor. »Ma?«, flüsterte er. Seine Kehle war trocken, und er wünschte sich inbrünstig, seine Feldflasche sei nicht leer. Sie hielt etwas in der Hand. Es war ein tanithisches Mützenabzeichen.