Scan by Schlaflos
Buch Vor langer Zeit stand Aglirta unter dem Schutz eines gerechten und starken Regenten, und seine ...
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Scan by Schlaflos
Buch Vor langer Zeit stand Aglirta unter dem Schutz eines gerechten und starken Regenten, und seine Bewohner lebten in Wohlstand und Frieden. Doch inzwischen wird das Land von machtgierigen Baronen und intriganten Magiern beherrscht. Die Zauberin Embra ist die Tochter eines solchen Barons. Sie gerät durch die üblen Pläne ihres Vaters in größte Gefahr und kann sich nur durch die Flucht mit Hilfe des kleinen Diebes Craer und des hünenhaften Kriegers Hawkril in Sicherheit bringen. Unterwegs stoßen sie auf den Heiler Sarasper, der sie darum bittet, ihm bei einer großen Aufgabe zu helfen: Der Sage nach wird sich der Schlafende König von seinem jahrhundertelangen Schlummer erheben, um Frieden und Ordnung in Aglirta wiederherzustellen. Doch um den Monarchen zu wecken, müssen die Dwaerindim gefunden werden, lange verschollene Steine mit magischen Kräften. Und so macht sich der bunt zusammen gewürfelte Haufen eilig auf die Suche, denn auch die bösen Kräfte sind hinter den Steinen her ... Autor Ed Greenwood, geboren 1959 in Toronto, hat mit den »Forgotten Realms« eine der beliebtesten Welten für die Fantasy-Leser und Rollenspieler erschaffen. Er hat sie in zahlreichen Veröffentlichungen beschrieben und dazu eine Reihe von Romanen verfasst, unter anderem den populären Zyklus »Die Legende von Elminster«. Ed Greenwood ist Bibliothekar und lebt in einem alten Farmhaus bei Ontario. Von Ed Greenwood bereits erschienen: Aus den Vergessenen Welten: DIE LEGENDE VON ELMINSTER: 1. Der Zauberkuss (24223), 2. Die Elfenstadt (24224), 3. Die Versuchung (24240), 4. Im Bann der Dämonen (24239) Außerdem von Ed Greenwood: DER RING DER VIER: 1. Land ohne König (24241) In Kürze erscheint: DER RING DER VIER: 2. Der leere Thron (24242) Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Ed Greenwood
Land ohne König Der Ring der Vier 1 Ins Deutsche übertragen von Marcel Bieger BLANVALET Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Kingless Land. A Tale of the Band of Four (vol 1)« bei Tor Books, New York. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung 11 /2003 Copyright © 2000 by Ed Greenwood Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schluck GmbH, 30827 Garbsen. Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Schlück/Don Maitz Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: Eisnerdruck Berlin, GmbH Titelnummer: 24241 Redaktion: Cornelia Köhler
Glossar: Marcel Bieger und Cornelia Köhler V B. • Herstellung: Peter Papenbrok Printed in Germany ISBN 3-442-24241-X www.blanvalet-verlag.de Für Brian, mit dem ich einen Traum teilte. Einen wahren Freund, einen wunderbaren Herausgeber und einen Mitbegeisterten. Alles, womit wir prahlen können Alles, was uns mit Stolz erfüllt Kommt zu uns in Blut getränkt: Die verschwendeten Leben derer, welche Für uns alle den Sieg errangen Den Sieg errangen. Ehret sie. Vergesst nicht ihre Namen In Zeiten, da wir darben. Über den Flammen von Feuern Rufen wir sie an Zurückzukommen Denn kein Land hat je genug Helden. Ganz besonders nicht dieses Land Flüsterbeschwörung des Kurgrimmon, Meistersänger von Aglirta, in den längst vergangenen Tagen, da es noch einen König gab Prolog Die Schänke seufzte schon wieder. Flaeros musterte den gut geheizten Raum mit gerunzelter Stirn. Drehspieße aus glänzend poliertem Kupfer baumelten von einem wahren Wald aus gedrungenen Pfeilern und warfen das Flackern des Feuers zu ihm zurück. Männer mit langen Schnurrbärten hoben unbekümmert ihre Pfeifen oder Krüge, und es schien so, als habe außer einem Möchtegernsänger, der noch dazu übers Meer zu Besuch gekommen war, niemand dieses jämmerliche Klagen gehört. Er tarnte seine pfeilschnell hin und her schießenden Blicke, indem er einen Schluck Wein trank. Ein Schauder lief ihm den Rücken hinunter, als hätten ihn eiskalte Finger berührt, denn das Jammern bewegte sich gespenstisch weiter und erklang schließlich zu seiner Linken. Er spähte in diese Richtung, und sein Blick kreuzte den eines alten Mannes mit einer Löwenmähne, der zwei Tische weiter dasaß: einen Blick aus Augen, die hellwach, golden wie die Augen eines Falken - und belustigt blitzten. »Ihr werdet Euch schon noch daran gewöhnen«, meinte der Alte und strich sich gedankenvoll mit dem Daumen über die Nase. Flaeros Delkamper holte tief Luft. Er wölbte eine Augenbraue in dem vergeblichen Versuch, unbekümmert zu wirken, und fragte so beiläufig wie möglich: »Dann ... dann handelt es sich also um eine Geistererscheinung?« Der alte Mann kicherte. »Ihr seid durch die Hintertür gekommen, nicht wahr? Übers Wasser?« Flaeros lief rot an. »Aus Ragalar« erklärte er knapp. »Für den Moot. Habe bei Sonnenuntergang angelegt. Mit der Sturmvogel.« Buschige Augenbrauen wanderten nach oben. »Eine solch schnelle Überfahrt kostet eine Perle oder auch zwei.« 9 Flaeros stellte fest, dass ihn ein goldener, wie ein Schwert niederzuckender Blick von Kopf bis Fuß begutachtete. Er wand sich vor Unbehagen und fühlte sich von einem Augenblick auf den anderen genauer gemustert denn seit seinen Kindertagen. Die goldenen Augen hingegen sahen einen aufgeregten jungen Mann, welcher ein wenig zu eifrig dem Weine zugesprochen hatte. Seiner Kleidung nach zu schließen stammte er aus wohlhabendem ragalaranischem Hause, und seine Augen blitzten angesichts all der Wunder, die er während seiner ersten Unternehmung zu Gesicht bekam, welche ihn von seinem ernsten, grauen Ragalar wegführte. Er verfügte über eine wohlklingende Stimme und sicher auch über eine Vielzahl von Münzen - ein Träumer, der sich danach sehnte, ein Meistersinger zu werden. Vielleicht hatte er sich aus diesem Grund rasch von Eltern verabschiedet, die ihm ihren Segen gaben und allmählich zu glauben begannen, dass die Hoffnungen ihres Sprösslings, überhaupt irgendetwas zu werden, nichts anderes waren als die Träume eines Wirrkopfes. Gereizt angesichts des wissenden Blickes öffnete Flaeros den Mund und wollte schon etwas Unhöfliches sagen -
aber das Stöhnen erstarb, als der alte Mann lautlos auf den Platz neben ihm glitt. »Was Ihr hörtet, ist der Grund dafür, warum dieses Haus schlechter besucht ist als die meisten anderen, obwohl der Moot kurz bevorsteht.« Die Lippen des Alten verzogen sich zu einem grimmigen Lächeln. »Leute aus SM kommen her, wenn sie von den Balladen-Hungrigen zu sehr bedrängt werden... oder einfach nur, um ihre Ohren zu schonen.« Die strenge, für den Weinausschank zuständige Hausmutter, welche beschlossen hatte, die Zeichen des jüngsten Delkamper nicht weiter zu beachten, erschien wie ein lautloser Schatten und setzte ein großzügig bemessenes Tablett mit heißen, gut gewürzten Waldschwingenpasteten und einer Karaffe eines entschieden besseren Weines vor ihnen ab, als ihn Flaeros jemals gekostet hatte. Er drehte sich überrascht zu ihr um, erblickte aber nichts als einen Wandteppich, der hinter ihr zurückschwang einen Augenblick zu spät, so dass er das strahlende Lächeln nicht mehr bemerkte, welches sie dem Alten über die Schulter zugeworfen hatte. 10 Wer mochte der Alte wohl sein? Aber schon erzahlte die trockene alte Stimme Flaeros, dass er sich in dem »Seufzenden Wasserspeier« befand. Wenn eine leichte Brise durch die gemeißelten Steinohren und das vielzahnige Maul des draußen über dem Eingang angebrachten Wasserspeiers strich, so erklang ein lautes, lebensechtes Seufzen. Flaeros nickte und erstarrte, als er eine warme Berührung an seiner Hand spürte. Der alte Mann hatte das heiße Tablett zu ihm herübergeschoben. Er sah müde auf, als der köstliche Duft von Herzkraut und gerösteten Waldschwingen zu ihm aufstieg. »Esst«, sagte der alte Mann ohne große Umstände. »Ihr müsst in Eurem Magen eine Grundlage für den Wein schaffen. Maerschees Pasteten können mit den Pasteten in ganz Sirlptar mithalten.« Flaeros verspürte plötzlich einen solchen Hunger, dass sich sein Mund mit Speichel füllte. Er biss in eine Pastete wie ein Verhungernder und stellte fest, dass sie genauso gut schmeckte, wie sie roch. Heißer Fleischsaft rann ihm übers Kinn, und der alte Mann bedachte ihn mit einem Grinsen. Der jüngste Spross der Delkamper stellte unvermittelt fest, dass ihn das nicht weiter scherte. Er erwiderte das Grinsen, und sogleich drückte ihm der Alte eine weitere Pastete in die Hand. Flaeros war in die sagenumwobene Glitzernde Stadt gekommen, um sich den Moot der Meistersinger anzuschauen. Alle zwei Jahre versammelten sie sich in Sirlptar, um Neuigkeiten auszutauschen, zu entscheiden, welchen Städte und Fürstentümer »unter den Bann« genommen werden sollten, für eine Weile weder Geschichten noch Harfenklänge zu hören und zu beratschlagen, welche Banne nun wieder gnädig aufzuheben seien. Für eine Reihe von Nächten kauften und verkauften sie Instrumente, sangen vor Menschenmengen, die viel zu viel bezählten, um sich Schulter an Schulter in Gasthöfen drängen zu dürfen, nahmen Lehrlinge an oder tauschten sie aus, beriefen ein paar neue Barden ... und in ganz besonderen Jähren bedachten sie eine Hand voll besonders erlesener Harfenspieler mit dem kastanienbraunen Umhang der Meisterschaft. 11 Flaeros Delkamper war noch Jahre entfernt von einer solch wundervollen Erhebung, und das wusste er auch. Jetzt fühlte er sich schwindelig vor ungetrübter Freude angesichts seines Abenteuers -er saß in einer Schänke in dem sagenhaften Sirlptar, und rings um ihn herum gab es Wunder über Wunder. Klein, aber viel, viel handfester als selbst der beste Gasthof von Ragalar, zudem bevölkert von weit gereisten Leuten ... Menschen, welche erheblich zuversichtlicher wirkten als die ängstlich ihre Münzen zusammenhaltenden Kaufleute aus Ragalar, dem Finsteren. Ja, er war hier allein und weit entfernt von zu Hause in einer Stadt schnell gezückter Schwerter und, so wusste man zu erzählen, meisterlicher Diebe ... aber war er nicht beinahe unsichtbar mit dem Vodal an seinem Finger? Er schaute darauf nieder - auf den verdrehten, gehämmerten Nagel mit den Flecken schwarzen Teers, den man vor langer Zeit in die ungefähre Form eines Fingerrings gebogen hatte. Er sah so wertlos aus wie der Tand eines Seemannes, der er ja auch gewesen war, bevor die besten Zauberer, welche die Delkampers längst vergangener Zeiten in ihre Dienste nehmen konnten, eine Reihe von Zaubern auf ihn legten und ihn zum ... nun, zum Vodal machten. Er schaute schnell weg, da er fürchtete, Aufmerksamkeit auf den Ring gelenkt zu haben. Der Ring hatte den Delkampers gute Dienste geleistet und stellte, wie man ihm in scharfem Ton eingetrichtert hatte, den Gegenwert von zehn jüngeren Söhnen ihres Blutes dar, wenn nicht sogar mehr. Er schloss beiläufig die andere Hand darum und spürte dabei das vertraute Prickeln. Der Vodal vermochte vieles, aber man hatte Flaeros genau genommen nur eine Sache erklärt, welche er zu Stande brachte: Wenn man auf eine Person oder einen Gegenstand starrte und seinen Willen entsprechend ausrichtete, konnte man durch alle magischen Verkleidungen schauen und auf die Wahrheit blicken. Nicht dass er damit rechnete, vielen durch Zauberbanne verhüllten Magiern zu begegnen ... aber warum sonst hätte man ein wahrhaft mächtiges Erbstück an einen widerspenstigen Sohn verschwenden sollen? 12 Von plötzlicher Ungeduld hinsichtlich seiner Sippe und seiner Heimat befallen, hörte Flaeros sich selbst fragen: »Und wo genau lag Aglirta, und wie kommt man zu den Überresten? Ich habe Geschichten über seinen
Niedergang gehört, aber ich bin mir sicher, dass ich in den vor uns liegenden Nächten bessere und ausführlicher erzählte Sagen hören werde. Kaufleute mögen zwar wilde Gerüchte, aber ich möchte lieber die Wahrheit erfahren.« Das Lächeln des alten Mannes mit der Löwenmähne verschwand. »Ihr ehrt mich, Jüngling, indem Ihr annehmt, dass meine Worte wahr sind. So wisset denn: Das ganze von Bergen umgebene Tal des Silberflusses, welcher bis hierher und dann in Richtung Meer fließt und Sirlptar in zwei Teile zerschneidet, wurde einst das stolze Aglirta genannt. Ihr kennt das Gewässer vielleicht besser als den Silberfluss. Irgendwo in den Tiefen des grünen Loaurimm entspringt er. Kein Fürst herrschte je über dieses stille Reich, aber jenseits der Gegenden, in welchen Holzfäller ihrem Tagewerk nachgingen, die Windungen des Flusses hoch durch ein Dutzend Fürstentümer, lag Aglirta. Das ganze Land zwischen den Windfangs gen Norden und den Talaglatlad im Süden - das sind die Gipfel, welche Ihr von Ragalar aus sehen könnt - wird nun das Land ohne König genannt: eine gesetzlose Anzahl miteinander kämpfender Grafschaften, Baronien und sonstiger Fürstentümer. Ein Ort, von dem man sich besser fern hält, bis der Schlafende König erwacht ist.« Flaeros zog eine Augenbraue hoch. »Und das ist nicht nur ein Kindermärchen?« Der alte Mann zuckte mit den Schultern. »Ihr wisst doch, wie es mit solchen Dingen steht... und dennoch ist es merkwürdig. Barden spinnen über Jahrhunderte hinweg neue Geschichten, aber diese hier verändert sich nicht: Der letzte wahre König von Aglirta wird erwachen, wenn die Dwaerindim an genau dem richtigen Ort liegen.« »ja«, griff Flaeros eifrig den Faden auf. »Die verzauberten Steine -sind das wirklich bloß Steine? Ich habe gehört, es handele sich um 13 Edelsteine: Riesige Juwelen, die leicht die Handfläche eines Mannes bedecken.« Der alte Mann spreizte die Finger. »Vier alte Steine sagte der, welcher sie sah ... und weil es sich um einen Barden namens Elloch handelte, hätte er seine Geschichte ausgeschmückt, wenn ihm der Anblick auch nur den geringsten Spielraum gelassen hätte.« »Aber das war nichts als ein Traum«, wandte Flaeros ein. In den goldenen Augen flammte ein plötzliches Feuer auf. »Nichts als ein Traum? Jüngling, in was schwelgen Eurer Meinung nach Barden - und Zauberer - und Liebende von hoher oder auch niederer Geburt? Nach was, glaubt Ihr, streben und hungern Fürsten und Könige? Träume treiben uns alle an!« »Aber ich möchte die Wahrheit hören. Träume sind nicht die Wirklichkeit!« »Sie können aber der Kelch sein, welcher die Wahrheit enthält.« Der junge Delkamper runzelte angesichts dieser Worte die Stirn. Er wedelte mit einer Hand durch die Luft, als wolle er den Gedanken beiseite schieben, um später darüber nachzudenken, vielleicht jedoch auch niemals - und fragte aufgebracht: »Aber glaubt Ihr an all dies? An den Schlafenden König und Aglirta, welches dereinst wieder aufersteht?« Der ruhige Blick der goldenen Augen traf den seinen. »Ja. Das tue ich. Ich bezweifle zwar, dass ich lange genug leben werde, um Zeuge zu sein, und Spott erfüllt mich bei der Vorstellung, dass sein Aufstieg mit einem einzigen mächtigen Zauberschlag den Frieden und die Freigiebigkeit in diesem Land wiederherzustellen vermag - ich glaube, dass wir mit einem Kriegsführer rechnen müssen, welcher seine Klinge für lange Jahre wird schwingen müssen, um Aglirta wieder zusammenzuschmieden. Aber es gibt einen Schlafenden König, der darauf wartet, aufgeweckt zu werden. Irgendwo.« Der junge zukünftige Barde murrte: »Also muss ich derzeit nicht damit rechnen, außerhalb der Stadttore über ihn zu stolpern, oder?« Die Lippen des alten Mannes verzogen sich spöttisch. »Das ist wahr genug, junger Löwe. Vielleicht fallt Ihr über den 14 Leichnam eines Räubers oder des Bauern, welchen er erstochen hat, aber ganz gewiss nicht über einen schnarchenden Herrscher.« Flaeros starrte ihn an, und seine Augen weiteten sich. »Was? So gefährlich ist das Land ohne König? Soll ich mir auf meinem Weg zurück zu meinem Zimmer besser ein Schwert kaufen?« Das Lächeln des Alten würde dünner. »Oh, hier in Sirlptar ist es ziemlich sicher. Und flussaufwärts lebt es sich auch nicht schlecht sofern Ihr unter der festen Herrschaft des Panzerhandschuhes des einen oder anderen von seinen Launen beherrschten Fürsten oder Tersepts steht. Wölfe und noch Schlimmeres durchstreifen hingegen die gefallenen Baronien. Ich würde nicht ohne Schwert in die Wälder ziehen, nein - aber andererseits, wäre ich an Eurer Stelle, würde ich dort gar nicht erst hingehen. Ein Schwert hält keinen Pfeil auf.« Flaeros schüttelte den Kopf. »Ich hörte, Aglirta sei gleichermaßen bezaubernd wie gefährlich, und man müsse mit Bedacht vorgehen. Eure Worte weiten diesen >Bedacht< dergestalt aus, dass man besser seinen bewaffneten Wirt, ergebene Zauberer und sofort mitbringen sollte!«
Der alte Mann lächelte und legte einen abgewetzten Stiefel auf einen der Stühle. Er vollführte eine Bewegung mit den Armen, die lediglich danach aussah, als ob er seine alten Glieder reckte, aber noch bevor Flaeros auch nur einmal Luft holen konnte, erschien auch schon Maerschee, als sei sie durch einen Zauber aus dem eben noch leeren Boden hergerufen worden. Sie setzte funkelnde Pokale süß duftenden Weines vor ihnen ab und verschwand ohne einen Laut. »Dieser Tage geschieht viel Aufregendes in Aglirta«, entgegnete der alte Mann ruhig. »Damit meine ich den Niedergang des Goldenen Greifen - Fürst Schwarzgult mit Namen - und den Aufstieg seines alten Rivalen Silberbaum.« »Noch ein Fürst?« wagte Flaeros zu fragen, während er an seinem Pokal nippte. Dieser neue Wein schmeckte wie die saftigsten Beeren, die er je gegessen hatte, eingelegt in flüssiges Feuer. Der alte Mann nickte. »Es gibt ein aglirtanisches Sprichwort, das Ihr Euch einprägen solltet. Es besagt, man solle niemals einem Silberbaum trauen. Er plünderte in einem Handstreich und ohne viel Feder15 lesens Schwarzgult aus und ernannte sich selbst zu einer Art Herrscher über beinahe das gesamte Land ohne König, wobei mindestens drei Fürsten kurz davor stehen, das Knie vor ihm zu beugen.« »Beinahe? Wird Silberbaum über das ganze Land herrschen?« Die Löwenmähne fegte durch die Luft, als der alte Mann den Kopf schüttelte. »Faerod Silberbaums Grausamkeit hat nie seine Voraussicht getrübt. Er hat sich Tausende von Männern zu Feinden gemacht, indem er sie zu Gesetzlosen erklärte. Da eine Belohnung auf ihre Köpfe ausgesetzt ist, bleibt ihnen keine andere Möglichkeit, als sich in die Wälder zurückzuziehen und Bauernhöfe zu überfallen, um zu überleben. Sobald die Kälte kommt, wird viel Blut auf dem Schnee dampfen.« »Ich wusste nicht, dass es in Aglirta Tausende von Kriegern gibt.« »Männer strömten aus ganz Asmarand herbei und unternahmen den vergeblichen Versuch, die Inseln von leirembor für Schwarzgult zu erobern«, erklärte die alte Stimme. »Nun kehren sie gewissermaßen in Rinnsalen nach Hause zurück nur um festzustellen, dass ihre Bauernhäuser samt Hab und Gut verschwunden sind und Freunde von ehedem sich gegen sie gewandt haben. Ja, die Wölfe werden in diesem Winter viel zu tun haben.« Flaeros warf einen Blick quer durch die Schankstube. Durch ein diamantenförmiges Fenster konnte er die Schwärze der inzwischen angebrochenen Nacht erkennen. Hinter großen Häusern mit dicht gedrängten Menschen darinnen strömte endlos der Silberfluss. Irgendwo da draußen, nicht allzu weit entfernt, schlichen verzweifelte Männer mit gezückten Schwertern herum »Warum tut er so etwas?« fragte er plötzlich. »Weshalb sollte er sich so viele kampferprobte Krieger zu Feinden machen? Ist dieser Fürst Silberbaum von Sinnen?« Köpfe drehten sich zu ihnen um. Mit einer Art kaltem Schauder bemerkte Flaeros, dass seine Worte ein klein wenig lauter als angebracht aus seinem Mund gekommen waren. Der Alte lächelte jedoch unbesorgt. »Manche haben dies behauptet, aber meiner Ansicht nach steht es einem Mann besser an, den Fürsten als listig zu bezeichnen und ebenso zu handeln.« 16 Als sich ihre Blicke über den erhobenen Pokalen trafen, fügte er hinzu: »Wenn ein Fürst ohne Vorwarnung damit anfinge, Ritter anzuwerben, würden sich Herrscher den Silberfluss hinauf und hinunter erschrocken erheben und seinem Beispiel folgen. Ein großes Blutvergießen läge in der Luft, und alle müssten eine gewaltige Menge an Geldern ausgeben - und Goldstücke sind etwas, von dem sich Fürsten nur äußerst ungern trennen.« Flaeros gab ein Schnauben von sich. Als ob überhaupt jemand gern dabei zusah, wie seine Geldstücke von ihm wegrollten ... » Und denkt einmal darüber nach«, fuhr der alte Mann fort, »wie es in der Welt ankäme, wenn Ihr laut die Gefahren hinaustrompetetet, welche einem weit entfernt lebenden Volk von einigen wenigen Angreifern drohten, und zudem Aufhebens um den Eifer machtet, mit welchem Ihr zu seiner Verteidigung eiltet. Und siehe da - bei einigen dieser Feinde handelt es sich gar um abtrünnige Zauberer, und Eure Reiterstreifen leiden unter deren dunklen Zauberbannen! Um die Sicherheit von Silberbaum zu gewährleisten, braucht Ihr frische Schwerter, deshalb ruft Ihr die Euch freundlich gesonnenen Fürsten dazu auf, Eurem Beispiel zu folgen, indem Ihr einen Blutpreis auf dieses dunklere Erbe von Schwarzgult aussetzt, welches über das schöne Aglirta gekommen ist wie Diebe in der Nacht. Niemand wird Euch widersprechen angesichts der Stärke, die Ihr gegen einen unsichtbaren Feind an den Tag legt. jene, welche es wagen, in Euer Land einzudringen und Überfälle zu verüben, bekommen Eure Stärke zu spüren, wenden sich anderen Baronien zu, um sie zu belästigen, und schwächen derart Eure Feinde - und bringen den Tag näher heran, an welchem Ihr zuschlagen und sie niedermachen werdet, einen nach dem anderen. Listig dürfte doch wohl eher die angebrachte Bezeichnung sein.« Flaeros schaute verwundert aus dem Fenster in die Nacht hinaus, wo er inzwischen das Blitzen eines einzelnen Sterns erkennen konnte, und wandte ein: »Ihr sprecht über Ränke, welche Länder in einen Krieg treiben ohne Rücksicht auf das Blut, das dabei vergossen wird.« »Ach«, flüsterte der alte Mann über seinen Pokal hinweg, »an dieser Stelle kommt der Wahnsinn ins Spiel.« 17 Auge in Auge saßen sich der alte und der junge Mann gegenüber und starrten sich an, bis Flaeros beinahe
verzweifelt fragte: »Wie kommt es, dass Ihr so genau Bescheid wisst?« Alte Lippen verzogen sich in einem lautlosen Lachen. »Ich bin Inderos Sturmharfe.« Flaeros schnappte nach Luft, stieß seinen Stuhl zurück, als sei er einem heiß lodernden Feuer zu nahe gekommen, und glotzte den alten Mann an - welcher sein Glas zu einem beinahe spöttisch zu nennenden Salut erhob. Inderos Sturmharfe! Der allerberühmteste unter den Meistersingern! Der älteste und angesehenste Verseschmied von ganz Asmarand, der selten gesehene Meister der verzauberten Harfe, welcher es vermochte, die Töne eines Dutzends Instrumente aus der leeren Luft herbeizurufen, auf dass sie mit seiner Stimme tanzten. Der Mann, welcher die sinnliche Nuesressa von Fein umworben hatte, nur um sie als einen Drachen zu entlarven, welcher mit Hilfe von Gestaltwandlung Männer anlockte wie eine Spinne die Fliegen. Der Mann, welcher mit seinem Gesang Einhörner herbeigerufen und mit Dryaden in den Pilzhainen getanzt hatte, um ihre Geheimnisse kennen zu lernen. Flaeros wusste genau, dass er glotzte wie vom Blitz getroffen, und hätte gern etwas Kluges von sich gegeben. Aber der Versuch war zum Scheitern verurteilt. »I-i-ahhh ...« setzte er an. Sturmharfe bedeutete ihm mit einer Geste, er solle schweigen. »Gestammel ist nicht vonnöten, genauso wenig wie Schmeichelei, welche mir ständig im Überfluss zuteil wird«, sprach der alte Mann leichthin, neigte dann den Kopf und fragte: »Als ich zum ersten Mal mit Euch sprach, habt Ihr mich seltsam angeschaut. Habt Ihr mich schon zuvor gesehen ?« Flaeros blinzelte. »Ah, nein«, antwortete er wahrheitsgemäß, »und das weiß ich auch ganz genau. Ich hörte von dem berühmten Sturmharfe, ja, aber ... Barden kommen nicht sehr oft nach Ragalar, und angesehene Kaufleute bedenken ihre Söhne mit scheelen Blicken, sollten sich diese in 18 Balladen üben, obwohl sie ein anständiges Gewerbe lernen könnten oder besser gesagt sollten.« Schweigend nickte der alte Mann. Irgendwie kündete sein Blick jetzt nicht mehr von Gefahr, als sei ein Dolch zurück in die Scheide gesteckt worden. Rein aus Gewohnheit rief Flaeros den Vodal an, auf dass dieser sein rechtes Auge beherrsche, wobei er darauf achtete, dass sein linkes den alten Mann mit den goldenen Augen weiter unverändert anblickte. Sein rechtes Auge sah einen Mann, der ganz anders ausschaute und ihn über den Rand seines Pokals hinweg anstarrte. Einen jüngeren Mann, wenn auch keinen Jüngling - einen Mann mit verwitterten Zügen, stechenden schwarzen Augen und der löwenartigen Gestalt und der Haltung eines Kriegsherrn, welcher eher in einen Kampf reitet, als träge auf dem Thron eines Fürsten zu sitzen. Einen Mann, der einen spannenlangen, tödlichen Feuerlanzenzauberstab auf Flaeros Delkampers Brust gerichtet hielt. Die Hand mit den haarigen Knöcheln, welche den Zauberstab so geduldig und stetig hielt, schmückte ein riesiger goldener Ring, und auf seinem mächtigen Kopf prangte ein Abzeichen, welches einen goldenen Greifen darstellte. Flaeros holte scharf Luft und bemühte sich mit aller Kraft darum, möglichst unschuldig zu wirken. Das wäre viel schwerer gewesen, wenn er gewusst hätte, was bei der Dreifaltigkeit hier vor sich ging -aber dank ebendieser drei Götter war in Darsar die Wahrheit schon immer ein seltenes Gut gewesen. »Also«, fragte er mit einer Leutseligkeit, die er keineswegs empfand, »was soll ein Mann, der auf Besuch in Sirlptar weilt, anfangen, damit er sich keinen Ärger einhandelt?« Inderos Sturmharfe kicherte. »Zu spät, mein junge«, meinte er dann und winkte nach Maerschee um mehr Wein. Ohne den Vodal wies seine Hand weder einen Ring noch einen Zauberstab auf. »Ihr müsst Euch stattdessen beruhigen und anfangen, Spaß und Zerstreuung zu finden.« Eins Die Herrin der Edelsteine Des Nachts waren die Wasser des sich windenden Silberflusses eiskalt. Er rollte endlos und ohne Rast über Hawkrils Schultern, als dieser sich mit gleichmäßigen Schwimmzügen der soliden steinernen Dunkelheit der Burgwälle näherte, wobei er hoffte, dass das Klappern von Craers Zähnen dicht neben ihm keine Wache alarmieren würde - und dass sie nicht auf eine Wasserschlange trafen. Aber was bedeutete schon ein weiteres Paar hungriger Fänge? Da sie Ausgestoßene waren, hob jedermann die Hand gegen sie. Als eine kleine Welle eiskalten Wassers sein Gesicht überspülte, kam Hawkril wieder vor Augen, wie verzweifelt sie an einem bescheidenen Feuer hoch droben in den Wildfelsen gesessen und Pläne geschmiedet hatten. Auch damals war es kalt gewesen, und er hatte seinen kleingewachsenen, an eine Spinne erinnernden Kameraden mit der geschickten Zunge dazu aufgefordert, ihnen einen warmen Zufluchtsort vor dem Winterschnee zu finden. »Mit was?« hatte Craer geknurrt. »Mit Eurem Verstand, Langfinger«, hatte der Ritter beinahe heiter erwidert, wusste er doch ganz genau, dass keiner von ihnen auch nur ein einziges Geldstück besaß, um sich eine Axt zu kaufen, mit der sie Feuerholz hätten schlagen können.
Craer Delnbein hatte ohne jeden Zweifel einen scharfen Verstand - kein Beschaffer der Armee hätte sich ohne einen solchen lange gehalten. Na ja, bei »Beschaffer« handelte es sich eigentlich um einen gut klingenden Titel für etwas, für das die meisten Leute eher den Begriff »Dieb« verwenden mochten. »Mir scheint, es gibt nur einen einzigen Ort, an dem die Men21 sehen genug Münzen haben, um einige davon auf die hohe Kante zu legen, und der heißt Sirlptar«, hatte Craer überlegt. »Und dort befinden sich für meinen Geschmack viel zu viele neugierige Magier - und Silberbaum, der uns als seine Feinde betrachtet, die erschlagen werden müssen.« »Ich wusste, dass wir an der Kehle ausgerechnet des stärksten Feindes enden würden, welchen Ihr finden konntet«, hatte Hawkril geantwortet. »Wie bekommen wir heraus, wo Faerod sein Gold aufbewahrt? Seine Burg bedeckt eine ganze Insel! Und außerdem hat er auch noch diesen Zauberer, diesen Gadaster!« Craer hatte gelächelt und seinen Teil an Neuigkeiten enthüllt: »Ich hörte in Dranmaer, wie zwei Kaufleute damit prahlten, wie bedeutend sie seien und wie viel sie Silberbaum aus der Tasche ziehen würden. Einer der beiden sagte, der alte Mulkyn sei gestorben, während wir im Krieg kämpften. Sie fragten sich, wer ihn wohl ersetzen würde - und wenn man in Aglirta nichts über die möglichen Nachfolger gehört hat, dann kann auch niemand aus den Tälern außergewöhnlich mächtige Zauber angeheuert haben. Ich gehe davon aus, dass sie, was die Zauberkunst anbetrifft, schwächer sind als seinerzeit Gadaster ... und deshalb hoffentlich weniger flink in der Lage, zwei Kleiderdiebe zu finden und zu verfolgen.« »Kleiderdiebe?« hatte Hawkril so geduldig gefragt, wie sein Kamerad das von ihm erwartete. »Wer ist die reichste Frau in allen Fürstentümern?« hatte Craer aufgeregt gefragt. Hawkril hatte nicht lange nachgrübeln müssen. »Die Herrin der Edelsteine. Jedenfalls wenn man den Gerüchten Glauben schenkt.« »Genau«, hatte der Beschaffer bestätigt und betont lässig ein winziges Stück des gestohlenen Lammes gegessen, welches sie sich teilten. Der Ritter hatte die Spitze eines Stiefels recht unsanft in Craers Schenkel gebohrt, und der Beschaffer hatte hastig hinzuge22 fügt: »Eine groß gewachsene und schöne Jungfer, jedenfalls behauptet man das, welche heutzutage niemand mehr zu Gesicht bekommt - nicht dass je allzu viele Leute eingeladen worden sind, die Burg Silberbaum zu betreten, oder das von sich aus wollten. Sie trägt mit Juwelen geschmückte Gewänder, darin sind sich alle einig, und sie trug sie ganz gewiss, als sie noch ein Irrwisch von einem kleinen Mädchen war. Ich habe sie damals gesehen ... samt ihren dreiundvierzig Wachen.« »Ist das etwa keine angenehme Erinnerung?« Craer hatte die Achseln gezuckt und sich Fleischsaft von den Fingerspitzen geleckte. »Ich sitze hier und rede mit Euch, und alle meine Glieder sind noch dran, oder vielleicht nicht?« Hawkril hatte ihn angegrinst. »Aber ich läge nicht ganz falsch, wenn ich annähme, dass sie an diesem Tag keiner Edelsteine verlustig ging?« Der Beschaffer hatte übertrieben aufgeseufzt und seinen Fingernägeln erklärt: »Ich dachte, wenn ich das Mädchen in Ruhe ließe, würde sie viel größer werden ... und ihre Gewänder mit ihr, so dass ich eines Tages mehr und noch dazu viel größere Juwelen einheimsen könnte ...« »Wir sind aufgebrochen, die Inseln zu erobern«, hatte Hawkril nachdenklich gebrummt, »und jetzt reden wir darüber, wie man die Kleider einer Dame stiehlt.« »Es geht hier aber nicht um irgendeine Dame«, rief ihm Craer ins Gedächtnis. »Und ob sie nun ein Einsiedlerleben führt oder nicht, sie kann kaum unschuldig oder gar nett sein, handelt es sich doch immerhin um Fürst Faerods Tochter Die Herrin der Juwelen, berühmt für ihr Leben in Müßiggang und Luxus. Sie besitzt vielleicht vierzig mit Edelsteinen besetzte Gewänder - und nur einen Körper, sie zu tragen. Vielleicht hat sie auch Schränke oder ganze Ankleidezimmer voller Kleider, derer sie überdrüssig ist und die sie nicht mehr tragen mag. Wir tun ihr einen Gefallen, wenn wir ihr eines wegnehmen - und ei23 nes, nur ein einziges, sollte für fünf oder sechs Jahreszeiten mit genug Wein zum Herunterkippen ausreichen sowie für die Suche nach der einen richtigen Frau in Sirlptar oder sogar dem sagenumwobenen Renschoun jenseits des Verwunschenen Meeres.« Hawkril hatte die Achseln gezuckt. Craer hatte es schon wieder getan. »Nun, wenn Ihr das so seht...« meinte er langsam. »Ja, wir können bei dem Versuch natürlich schon ums Leben kommen«, hatte ihm der Beschaffer ins Ohr gezischt, »aber warum sollten wir nicht großartig und kämpfend den Versuch unternehmen, statt in kalten Winternächten zu zittern und zu hungern und auf die Wölfe zu warten, die all dem ein Ende bereiten würden?« Wieder schwappte ihm Wasser ins Gesicht und riss Hawkril aus seinen Erinnerungen an warmes, saftiges Lammfleisch. Hätte er sich überhaupt zu sprechen getraut, dann hätte er den an seiner Seite schwimmenden Beschaffer danach gefragt, wie dieser es rechtfertigte, ein Gewand zu stehlen - das Gewand einer Dame, zum Donnerwetter1. Aber sie befanden sich jetzt schon dicht unter den grimmigen grauen Mauern, und er wagte es nicht, auch nur ein
Wort zu sagen. Die eisige Brise, die gespenstisch vorbeistrich, mochte durchaus die Ohren eines lauschenden Zauberers mit sich tragen. Eines Zauberers, dessen Langeweile sich sehr schnell verflüchtigen und der Schadenfreude darüber weichen würde, zwei Gesetzlose abzuschlachten, die es wagten, auf die Insel vorzudringen, welche die Burg Silberbaum war. Warum, ach warum nur hatte er es Langfinger erlaubt, ihn in einen solchen Wahnsinn hineinzuziehen? Sie hatten beschlossen einzudringen, ein Gewand zu stehlen oder was auch sonst immer einen fetten Gewinn versprach, sofern sie es ohne große Mühe tragen konnten, und dann wieder zu verschwinden, ohne länger zu verweilen, die Burg zu erkunden oder der Gier anheim zu fallen. 24 Die Burg Silberbaum bedeckte die gesamte Insel im Silberfluss ... zumindest umschlossen ihre Mauern das ganze Eiland. Mauern, welche nun hoch über ihnen in den Himmel ragten wie eine schwarze Hand, die sich gegen sie erhob ein schwarzer Panzerhandschuh, der nur darauf wartete, sich zusammenzuballen, niederzufahren und alles zu zerquetschen, was er fassen konnte. Es war allseits bekannt, dass sich im Herzen der Insel ein mit Bäumen bestandener Garten befand, irgendwo zwischen dem flussabwärts gelegenen Palast, in welchem die Prinzessin Embra Silberbaum lebte - die groß gewachsene, wunderschöne, Herrin der Edelsteine, die niemand je zu Gesicht bekam -, und einem Hafen sowie einer Festung, der eigentlichen Burg Silberbaum, am »Bug« oder östlichen Ende der Insel. Mauern so steil und brüchig wie die einer jeden kühnen Burg verbanden die Anlagen und ragten wie ein riesiger Schild, welcher unerwünschte Eindringlinge abhielt, aus den felsigen Wurzeln der Insel. Zwei verzweifelte Gesetzlose aus den traurigen Überresten von Ezendor Schwarzgults Armee zum Beispiel. Das Abzeichen mit dem Goldenen Greifen, welches sie so stolz getragen hatten, bedeutete jetzt ihren Tod - und einen ruchlosen Mann irgendwo auf der vor ihnen liegenden Insel schienen nur noch einige wenige kühne Schlachten davon zu trennen, das Reich für sich zu beanspruchen, welches Schwarzgult nicht hatte erobern können, wobei sich die Baronien von Brostos, Maerlin und Ornentar seinen Erlassen und Wünschen beugten. Eine größere Schlange, als sie im Silberfluss schwimmen mochte. Das Wasser schlug wieder Wellen, und der größte Teil von Hawkrils lautem, wütendem Knurren wurde hinweg getragen. Craer hatte die Führung übernommen und war in dem Moment vom Strand aus aufgebrochen, als die Nacht zur Gänze hereingebrochen war und die Flussnebel sich erhoben hatten. Hoffentlich würde dies ausreichen, um sie vor jedem mögli25 chen Beobachter zu verbergen, welcher auf den dräuenden Zinnen hocken mochte. Ihre einzige Chance, die Insel zu erreichen, ohne zu ertrinken, bestand darin, den Hafen als Ziel anzupeilen und sich von der Flussströmung an der ganzen befestigten Insel entlangtragen zu lassen bis zu dem groben Felsvorsprung in den ansonsten glatten Burgmauern, wo auf den Befehl Faerod Silberbaums hin eine Landungsbrücke weggerissen worden war, um unerwünschte Besucher von seiner Tochter fern zu halten. Sie würden die Burg nur dann lebendig erreichen, wenn es ihnen möglich war, dorthin zu gelangen, bevor der Mond aufging und den Fluss in ein Band sich kräuselnden Silbers verwandelte. Selbst ein vor Müdigkeit gähnender Wächter konnte kaum zwei Köpfe übersehen, die sich gleichmäßig auf die Burg zubewegten. Langsam, alter Mond, langsam ... dieses eine Mal... »Ganz nahe jetzt«, hauchte Craer so leise, dass Hawkril die Worte nur so eben verstand. Als ihre Fingerspitzen beinahe gleichzeitig über nassen, schleimigen Stein fuhren, fügte der Beschaffer fast lautlos hinzu: »Scheint, dass wir die ganze Nacht in diesem verfluchten Fluss zugebracht haben!« Er zuckte wie ein sich schnell dahinwindender Aal, als er sich auf die zerklüftete Felsoberfläche hochstemmte, ein dunkel glitzernder Schatten vor Hawkrils Nase. Sie hatten alle beide Tragesäcke mitgebracht und die Waffen, welche sie mitführten, in mit Gänsefett geschmierten Scheiden festgezurrt... und alle beiden froren, waren nass und zweifelten inzwischen an ihrem kühnen - ach, bei der Dreifaltigkeit, in Wahrheit närrischen -Plan. »Fertig«? wisperte Craer in Hawkrils Ohr, als sich der Ritter auf einen Felsensims neben seinem Kameraden hochzog und sich einen Stiefel vom Fuß zerrte, um entschieden zu viel Flusswasser auszukippen. »Nein, aber wenn wir einem Wachposten begegnen, kann ich ihn immer noch ersäufen«, schimpfte der Schwertmeister und 26 zog sich bedächtig den Stiefel wieder an. Beide Männer trugen ihre leichte lederne Kampfausrüstung ohne die Polster, welche sie in einer Schlacht getragen hätten, denn diese hätten voll gesogen jede Kletterei unmöglich gemacht. Wenigstens waren die Mauern hier rau und leicht zu erklimmen. Zweifellos hatten die Herren von Silberbaum im Lauf der Jahrhunderte kaum einen Gedanken an die stetig abnehmende Zahl der Diebe verschwendet, welche töricht genug waren, den Versuch zu unternehmen, bei Fürsten einzudringen, von denen einer wie der andere für Grausamkeit, Sklavenhandel und die Vorliebe fürs Foltern berüchtigt war. Es hatte den Anschein, dass der letzte Spross der Linie, Fürst Faerod, auch nicht viel wachsamer war. »So, das war's, jetzt ist er verloren, der Narr«, sagte Craer mit leisem Spott zu sich selbst, während er sich die Fingerspitzen an den Steinmauern abwischte, bis er sie für trocken genug hielt, um nach oben zu greifen und nach dem ersten Halt zu tasten.
Der Palast befand sich in Richtung der anderen Seite der Insel, und nicht weit von seinen Mauern entfernt ankerte ein Schiff, den örtlichen Gerüchten zufolge der Standort rastloser Silberbaum-Soldaten, die dort stationiert worden waren, um alle feindlichen Versuche zu unterbinden, sich der Fähre des Barons zu bedienen. Hoffentlich bewachte nichts und niemand die Mauern hier, wo der Landesteg und ein Pavillon niedergerissen worden waren und zwei verzweifelte Männer sich nun nach oben kämpften. »Verzweifelt oder einfach nur närrisch«, grunzte Craer. Er bemerkte nicht, dass er laut gesprochen hatte, bis er von unten Hawkrils Antwort vernahm. »Ihr müsst das auseinander halten, Langfinger: Ihr seid verzweifelt, ich hingegen bin närrisch.« Craer grinste in die Dunkelheit und kletterte weiter, ohne zu antworten. Der Weg nach oben war einfach - zu einfach, schrien ihm all seine alterprobten Instinkte zu - und sie waren beinahe schon an den mit Schießscharten versehenen Zinnen 27 angelangt, welche die Oberkante der Mauer schmückten. Er hatte keinen Hinweis bemerkt, keinen Laut gehört, der auf Wachen hätte schließen lassen, aber ... Darum bemüht, kein Geräusch zu erzeugen und selbst das leiseste Zischen zu hören, welches eine durch die Luft geschwungene Waffe erzeugen mochte, hievte sich der Beschaffer auf den glatten, mit Vogelkot - ein erfreuliches Anzeichen für Vernachlässigung -bedeckten Stein zwischen zwei Zinnen. Die Mauer wirkte dick und wies hier oben nicht das geringste Anzeichen von Verwitterung auf. Nicht das allerkleinste Anzeichen ... Die Haare auf seinem Nacken stellten sich auf. Craer schnürte stirnrunzelnd zwei seiner Dolche los. Dann schluckte er und kroch nach vorn, um Platz für Hawkril zu machen. Der Ritter klopfte ihm bereits ungeduldig aufs Bein, weil er der Gefahr eines tödlichen Sturzes in den kalten, unten dräuenden Fluss entrinnen wollte. Ein einfacher Gang ohne Geländer verlief in beiden Richtungen an der Innenseite der Mauern entlang, so weit Craers Blick reichte. Er entdeckte keine Treppe, keinen Turm und keine Plattform, die seinen Verlauf unterbrochen hätte. Alles schien verlassen, und direkt vor ihnen erkannte er dichte Reihen schweigender Bäume. Der Gang befand sich etwa drei Mannslängen hoch über dem Boden und schien weder Fallen noch Fallgruben aufzuweisen. Aber der größte Teil verschwand ohnehin in der Dunkelheit. Manche Zauber geben ein schwaches, hohes Singen von sich, ein endloses Pfeifen erweckter Magie ... aber hier gab es keinen solchen Ton. Man hatte die Bäume beschnitten und vorwitzige Äste entfernt, welche sonst über den Gang geragt hätten. Craer schaute mit gerunzelter Stirn in beide Richtungen der verlassenen Mauerkurve, entdeckte aber nichts, was nicht in Ordnung gewesen wäre. Das Keuchen des hinter ihm stehenden Hawkril spürte er mehr auf seiner Schulter als dass er es hörte. Etwas stimmte nicht... 28 Er langte nach hinten und klopfte wohl überlegt zweimal auf den Arm des Ritters - das Schwarzguitische Signal, abzuwarten und ruhig zu bleiben, bis ein anders lautender Befehl erfolgte -, und bewegte sich dann vorwärts, wobei er gebückt blieb und sich Stück für Stück äußerst vorsichtig weiterarbeitete, da er mit einem Stolperdraht rechnete, der den Tod aus den dunklen, dichten Blättern hervorlocken mochte. Aber da war nichts. Er nestelte die Schnüre auf, welche sein hauchdünnes, rasiermesserscharfes Kurzschwert sicherten. Craer zog die Waffe hervor und schwang sie durch die Luft. Die Klinge war in stumpfem Schwarz gearbeitet, aber die Schmiere, die ein Rosten verhindern sollte, glitzerte im ersten Licht des aufgehenden Mondes. Nichts geschah, auch dann nicht, als er den Boden des Ganges berührte und fest drückte. Dann seufzte er, zuckte die Achseln und machte einen Schritt nach vorn und nach unten, wobei er im gleichen Augenblick wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte. Das war der Fall, aber Hawkril hatte sich ihm angeschlossen, noch bevor etwas Craers Bein berührte. Er zuckte davon weg und fühlte, wie Leder zerriss. Als er nach unten blickte, sah er einen in etwa menschlich aussehenden Arm, welcher aus den Steinen gesprossen war und nach ihm gegriffen hatte. Ein zweiter langte nach Hawkril und dann ein dritter! »Aufgepasst!« schnarrte er und stieß den Ritter von sich weg. Eine Gänsehaut überlief ihn, als er einen Wald von Fingerspitzen aus den Steinen wachsen sah. »Springt!« zischte er. »Wir müssen weg, bevor-« Von allen Seiten langten grausame Steinfinger nach ihnen. »Verdammt«, fluchte Hawkril und legte sein ganzes Körpergewicht in einen Streich seines Kriegsschwertes. Craer hörte, wie Stein zerbarst und in Splittern von den Zinnen rings um den Schwertmeister regnete, und einen Augenblick später beugte er sich vor und drosch mit dem Knauf seines eigenen 29 Schwertes auf die steinernen Hände ein, welche sich mit alles zerquetschender Kraft um seine Fußknöchel schlössen. »Runter von der Mauer«, keuchte er in Hawkrils Richtung, wobei er die Füße verdrehte, aufstampfte und die nach ihm langenden Steinfinger wegtrat. Er hörte den großen Ritter vor Anstrengung grunzen, und irgendetwas traf sein Bein mit betäubender Wucht. Craer fühlte, wie es in seinem Stiefel feucht wurde - dann war er plötzlich frei. Er schwang sich ins Nichts, zog die Knie an und hoffte, in etwas zu landen, was Erde war und nicht etwa Stachelspitzen oder die wartenden
Kiefer eines Wächterungeheuers. Seine Absätze trafen auf weiche Erde und Blätter, welche unter ihm zerrissen - und dann rollte er sich verzweifelt zur Seite, um einem aus dem Gleichgewicht geratenen Ritter auszuweichen, der mit durch die Luft dreschenden Armen aus der Nacht beinahe genau auf ihn stürzte. Der Beschaff er spürte einen weiteren Schlag auf sein Bein ... und dann herrschte Stille. Er holte tief Luft, sprang auf die Füße und zerrte an Hawkril. »Hier mag es einen Warnzauber geben! Kommt!« Der Ritter antwortete mit einem Grunzen und einem gleich darauf folgenden Fluch. Als er beinahe widerstrebend herumrollte, um wieder auf die Füße zu kommen, fielen ihm die Überreste einer dornigen, mit Beeren bedeckten Pflanze von Rücken und Schultern. Hawkril blickte nach unten und vergewisserte sich, dass er, was auch immer sich dort unten befinden mochte, sorgfältig zertreten hatte, und stieg ein wenig steif aus den zerstampften Überresten auf das, was ein moosbewachsener Pfad sein musste. Der vor ihm liegende Park erschien ihm wie ein Irrgarten aus von Mondlicht versilberten Baumstümpfen, sich windenden Pfaden, Beeten voller nur halb erkennbaren, im Schatten liegenden Blumen und Sträuchern. Was sie vor sich sahen, schien eine Abfolge sanfter Hügel zu sein. Craer hatte schon ein paar Schritte den Gartenweg hinunter 30 gemacht, wobei er gebückt einher schlich, aufmerksam um sich spähte und ein Paar weiche (und triefnasse) Lederhandschuhe überzog. »Man sagt, der Fürst gehe hier auf Hirschjagd«, murmelte er, »und seine Tochter wandele müßig im Blumengarten einher, der sich vielleicht in dieser Richtung befindet.« Ohne ein weiteres Wort wandte sich der Beschaffer in die angegebene Richtung und lief in einer Art gebücktem Lauf dahin. Er schien zu hinken. Ohne auf seine eigenen Schmerzen zu achten, stemmte Hawkril seine Absätze in den Boden, setzte seinem Kameraden nach und schimpfte leise: »Sollte sie eben jetzt in einem Garten herumwandern, so ganz im Dunkeln, dann bestimmt nicht, um hier ihre Zeit zu vertändeln ... es sei denn, sie ist einen guten Teil weniger bei Sinnen als die meisten von uns.« Keiner der beiden Eindringlinge bemerkte, dass die Mauer hinter ihnen Wellen schlug, sich ausbeulte und für aller Augen so aussah, als bestehe sie aus kräftig aufgerührtem Pudding und nicht etwa aus solidem Stein. Plötzlich kippte eine der Zinnen vornüber, schien durch den Gang hindurch nach unten in Richtung des Bodens zu fließen statt donnernd hinunter zukrachen. Als sie das zerstörte Blumenbeet erreichte, in welchem gerade erst zwei ausgewachsene Männer gelandet waren, hielt sie an, und ihre Form wandelte sich kaum merklich. Als sie sich wieder bewegte, schritt sie aus wie ein Mann - wie ein schwerfälliger Ritter in voller Rüstung mit geschlossenem Visier, einer steinernen, zum Töten bereiten Klinge und einem die freie Hand bedeckenden schweren, mit Stacheln besetzten Panzerhandschuh. Die Gestalt bewegte sich ungelenk vorwärts, als sei sie sich ihrer Umgebung nicht ganz bewusst; sie folgte den Eindringlingen mit erhobenem, zum Zuschlagen bereitem Schwert. Hawkril reckte den Kopf nach vorn und lauschte angestrengt. Von weiter hinten auf dem Weg, den sie gekommen waren, 31 drangen die schwachen Geräusche zur Seite gefegten Laubes an sein Ohr. Er runzelte die Stirn. »Hunde?« fragte er verwirrt. »Nein, das ist etwas anderes, denn es bewegt sich langsamer vorwärts ...« »Nun kommt schon«, drängte Craer und verfiel in einen schnelleren Trab. Er hinkte sichtbar, und sein Lächeln wirkte angespannt und nicht ganz echt. »Ich bezweifle nicht, dass wir den Verursacher schnell genug kennen lernen werden.« Nach ein paar Schritten wechselte er die Richtung. »Das da sind sorgfältig angelegte Rabatten!« »Woher kommt denn diese plötzliche Leidenschaft für Blumen?« knurrte Hawkril. »Es ist ein bisschen zu dunkel, um Blüten zu bewundern.« Der Beschaffer bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick, als habe er einen bedauernswerten Dummkopf vor sich, und erklärte: »Wenn die Prinzessin Embra von Zeit zu Zeit der Muße frönt und in ihrem Blumengarten umherspaziert, dann sind besagte Gärten vielleicht frei von Wächtern oder irgendwelchen Ungeheuern. Ist das durch den dicken Helm gedrungen, Laternenpfahl?« Das Rascheln und Krachen kam ständig näher. »Kommt gerade an!« teilte Hawkril seinem Waffenbruder mit und schloss sich dem keuchenden Beschaffer in einem letzten Spurt hin zu Blumen und offenen, von Mondlicht beschienenen Stellen an. Der Mond schien inzwischen sehr hell; die freie Fläche vor ihnen schimmerte wie eine Reihe im Kerzenlicht blitzender Klingen im Laden eines Schwertmachers. Vor diesem Glanz erhob sich eine dunkle Masse: Ein wütender Wächterlindwurm mit hoch aufragendem, Furcht erregendem Schnabel starrte sie aus glitzernden Augen an. »Verdammt!« keuchte Hawkril und kam zum ersten Mal außer Atem. »Was ist das, mein lieber Craer? Ist die Nacht unseres Verhängnisses angebrochen?« »Wie bitte?« »Schaut doch! Der Lindwurm!«
32 »Eine Statue, Klotzkopf ... schaut doch richtig hin. Dort drüben steht eine andere, dort, und-« »An diesem Ort handelt es sich vielleicht um echte Lindwürmer, die bis zu dem Augenblick in Stauen verzaubert sind, in welchem wir versuchen, an ihnen vorbeizukommen«, beschwerte sich Hawkril. »Wollt Ihr ein Abenteurer sein, Kumpel, und dieses Schwert benutzen?« zog Craer ihn auf. Der Ritter bemerkte jedoch, dass der Beschaffer im Laufen seinen Würgedraht aus einem seiner Handschuhe zog und in bereithielt - und dass die Spitze seines kurzen Schwertes sich nicht einmal in die Richtung der Scheide neigte. Die Gartenlichtungen sahen im Mondlicht wunderschön aus; es war ein Jammer, dass irgendetwas hinter ihnen herjagte und sie es nicht wagen konnten, auch nur einen Blick in all die Lauben zu werfen, an denen sie vorbeieilten. Vor ihnen beschien das silberne Mondlicht Steinbalkone, und Fenstern warfen seinen Schein zurück ... Der Anblick wurde einen Herzschlag später von etwas Riesigem, Behaartem versperrt, das lautlos und mit weit aufgerissenen Kiefern und glänzenden Zähnen durch die Luft sprang. »Bei den Hörnern!« fluchte Hawkril und schwang sein Schwert in Richtung des Wesens, als es an ihnen vorbeistürzte. »Das ist ein Wolf!« Sein Stahl traf die springende Gestalt und schlitzte ihr mit einem ratternden Geräusch die Rippen auf, so dass das Blut nur so spritzte und ihm das Schwert fast aus der Faust gerissen worden wäre. Der Wolf gab kein Geräusch von sich, weder aus Wut noch vor Schmerz. Man hörte nur das Zuschnappen seiner Kiefer, als er gegen Craer prallte, ihn rückwärts zu Boden stieß und wütend nach seinem Gesicht biss. Der Ritter schluckte einen Fluch herunter und hackte nach dem Kopf der Bestie. Die Pfoten des Wolfes hatten sich in Craers Würgedraht verfangen, welchen der Beschaffer hastig zwi33 sehen seinen beiden Händen ausgespannt hatte, um den Weg zu seiner Kehle zu versperren. Das Tier schien nicht weiter auf die lange, gezackte Wunde zu achten, die Hawkrils Schwert in seine Seite gehauen hatte - ein Riss, aus welchem große Mengen einer dunklen Flüssigkeit quollen -, aber es konnte den Schlag nicht missachten, der ihm beinahe den Kopf vom Körper trennte. Unter all dem Blut gab Craer gurgelnde Würgelaute von sich, und Hawkril beugte sich vor, um den Wolf von seinem Kameraden zu zerren. Der plötzliche Schlag gegen seine Rippen trieb ihm die Luft aus der Lunge. Gegen seinen Willen schrie Hawkril auf, während er zu Boden ging und sein Schwert durch die Luft schwang, ohne jedoch etwas zu treffen. Ein zweiter Wolf war aufgetaucht. Blut rann aus dem Maul und der aufgeschlitzten Kehle der ersten Bestie, welche auf Craer lag und den kleinen Mann beinahe in dem heißen, nassen, blendenden Strom ertränkte. Craer spuckte, hustete und versuchte weiterzuatmen, während er mit einem Ellbogen gegen die schlaffen Kiefer presste, um sich von dem Gewicht des Wolfes zu befreien. Es musste sich um ein Paar der legendären Rauchwölfe handeln, die immer schwiegen, wenn sie töteten... zumindest hoffte er, dass sie es hier nur mit zweien dieser Biester zu tun hatten. Hawkril keuchte vor Schmerz, allerdings vermochte Craer ihn unter dem fürchterlichen Geräusch zubeißender Kiefer kaum zu hören. Craer kämpfte verzweifelt darum, sich von dem feuchten, toten Gewicht zu befreien, welches auf ihm lastete. Er musste so schnell wie möglich zu seinem Freund gelangen. Dann war es geschafft! Er sprang auf die Füße, taumelte und stürzte auf die Knie nieder, da der Boden erbebte und sich etwas Großes, Dunkles vor das Mondlicht schob. Es ragte über den miteinander kämpfenden Gestalten Hawkrils und des Wolfes auf, die jetzt, Tritte austeilend, hin und her rollten. Ein 34 Schwert aus massivem Stein fuhr nach oben - bei der Dreifaltigkeit, ein Steinritter! - und dann nach unten, wobei es Funken auf Steinornamenten schlug, welche die Blumenbeete schmückten. Hawkril befand sich nur eine Handbreit entfernt von dem niederfahrenden Schwert, aber der Wolf, welcher ihn angegriffen hatte, sackte mit wild um sich tretenden Läufen auf den Boden. Die Klinge hatte ihn säuberlich in zwei Hälften zerteilt. Craer war schon aufgesprungen und tauchte unter dem sich wieder erhebenden Steinschwert durch, um an seinem stöhnenden Freund zu zerren. »Hoch! Hoch und weggerannt!« keuchte. »Rennt, Ihr dickköpfiger Schwertschwinger!« Hawkril kaum taumelnd auf die Füße, gab eine Art Schnauben von sich, stolperte aus dem Blumenbeet und lief wankend und schwerfällig davon, wobei ihn der Beschaffer am Ellbogen ergriff und weiterzerrte. »Los doch, los, los, los! Schnell, los doch.« Craer starrte auf den sich nähernden Steinwächter zurück und sah, dass er ihnen mit erhobenem Schwert und starr blickenden, leeren Steinaugen folgte. Falls er sich hinsichtlich der Magie irrte, welche das steinerne Ungetüm bewegte, so würden das Leben und die Laufbahn von Craer Delnbein und Hawkril Anharu nur allzu bald ein Ende finden. Der offene, vom Mondlicht erhellte Teil des Gartens lag dicht vor ihnen, also würde er in Kürze Gewissheit erlangen. Oder in Kürze sterben.
Der Boden erbebte unter ihren verzweifelt vorwärts stürmenden Füßen; der Steinritter war ihnen schon wieder dicht auf den Fersen. Aber jetzt nur noch einen oder zwei Sprünge getan, und dann ... Dann gelangten sie keuchend ins Freie. Die zerrissenen Blätter des Busches, durch welchen sie zuletzt gebrochen waren, wirbelten um sie herum. Vor ihnen plätscherte leise ein Springbrunnen. 35 Craer packte Hawkril fluchend am Arm, als der Ritter seitwärts weitertaumeln wollte, und riskierte einen Blick über die Schulter - gerade in dem Moment, als der Steinritter einen Schritt in freies Gelände tat. Er fror nicht ein, so wie Craer das gehofft hatte. Bald würden sie dem Palast so nahe sein, dass selbst die verschlafenste Serviermagd den schwerfälligen Tritt des Steinmannes vernehmen würde. Dann würde es tatsächlich keine Rolle mehr spielen, ob nun das riesige Steinschwert sie in Stücke hackte - oder der Tod sie in Form von Wächterschwertern oder Zauberbannen ereilte. Tot war tot. »Und nicht einmal ein einziges Gewand zum Vorzeigen«, murmelte er, als der Steinriese über ihnen aufragte und das Schwert gen Himmel hob, ohne auf die brechenden, wild tanzenden Zweige zu achten. »Hawkril«, zischte er, »dort hinten steht eine Statue. Lauft auf ihre andere Seite - und benutzt sie als Schild!« Der Ritter wandte ihm ein vor Schmerz verzerrtes Gesicht zu und nickte. »Und Ihr?« »Ich werde mich mit etwas anderem Klugen beschäftigen«, erwiderte Craer und wurde von einem geisterhaften Lächeln belohnt. Das Lächeln verschwand, als das donnernde Niederkrachen der riesigen Klinge Stein über Stein kreischen ließ. Ein Stück Einfassung, vielleicht von einem Grabstein, verwandelte sich in einen vom Boden aufspritzenden Hagel von Steinsplittern. Steinsplitter, welche die Absätze des davonhastenden Ritters trafen, ihn zu einem wankenden Lauf anspornten und einen sich verzweifelt zu Boden werfenden Beschaffer beinahe enthauptet hätten. Craer rollte sich eilig zur Seite, wobei er Dreck und sorgfältig geschnittenes Gras ausspuckte, kam auf die Füße und sah, dass ihm der Steinritter geduldig und unaufhaltsam dicht auf den Fersen nachfolgte. Er führte einen kleinen Tanz auf und bewegte sich dabei weg 36 von der Statue, die er vorhin entdeckt hatte - irgendein Fürst Silberbaum, der mit seinem Schwert in Richtung der Sterne wedelte, um den Hengst, auf welchem er saß, zum Aufbäumen anzutreiben; eine Pose, welche, wie es aussah, alle unter Durchfall leidenden Vögel der Insel ungeheuer beeindruckte - um sicherzustellen, dass der Steinritter ihm und nicht Hawkril folgte. Das steinerne Gesicht schaute ihn nicht an, und die Augen blieben leer, aber die Schultern drehten sich in Richtung des Beschaffers, der es so sehr hasste, Langfinger genannt zu werden, und das Schwert erhob sich erneut zu einem Schlag. Es handelte sich also um einen Suchzauber, nicht um einen in einem Gemach des Palastes wach liegenden Zauberer, welcher den Steinriesen lenkte und ihn einmal hier, einmal da zuschlagen ließ ... wenigstens dafür sei den drei Göttern gedankt! Craer schnappte nach Luft, beobachtete, wie der Steinritter sich drohend über ihm aufbaute, und wagte dann einen weiteren Blick in Richtung der Statue. Ja, sie war groß genug, und Hawkril war sicher in ihren Schatten gelangt, wo er laut genug schnaufte, um hier drüben gehört zu werden. Jetzt brauchten sie mehr als nur ein Quäntchen Glück - aber hauchdünne Chancen waren das Einzige, was ihnen im Augenblick blieb .... Und überhaupt alles, was sich ihnen seit einer ganzen Weile bot. »Nun mach schon«, murmelte er, »schlag den Helden in Stücke.« Die Klinge des Steinritters erhob sich wieder und fuhr nach unten. Ihr Hieb musste nicht schnell sein, solange das Opfer nicht fliehen konnte. Ein einziger Schlag dieses Steinschwertes - so groß und so schwer wie ein Pferd - würde sogar jemanden so Großen wie Hawkril töten. Und er würde Craer Delnbein zu blutigem Brei zermalmen, den es nicht zu bestatten lohnte. Stein sauste auf ihn nieder, und Craer sprang um sein Leben. Dumpf dröhnte der Boden hinter ihm - sehr dicht hinter ihm -, und dann flitzte er durch das Mondlicht und raste über 37 das ordentlich geschnittene Gras, als seien ihm schon wieder Wölfe auf den Fersen. Vielleicht gab es hier ja tatsächlich noch welche, wenn auch auf weiter entfernten Lichtungen des Gartens, aber darüber konnte er sich später noch kümmern. Im Moment gab es an Ort und Stelle Sorgen genug, die ihn auf Trab hielten. Der Beschaffer kletterte an der Statue hoch, wobei seine vom Blut schlüpfrigen Hände oft genug abrutschten, und dankte der Dreifaltigkeit für Steinmetze, welche geschwungene Schwänze und Sättel mit hoher Lehne geschaffen hatten, an denen verzweifelte Kletterer Halt für ihre Füße fanden. Als er, ein Vogelnest aus dem steinernen Pferdemaul tretend, den Kopf des Rosses erreicht hatte, blickte er nach unten und sah seinen Freund, der zu ihm hochstarrte. Und dann sah er den Steinritter, welcher sich gerade über ihn hermachen wollte.
Das Steinschwert schwang in die Höhe, und der Kopf des Steinritters kippte leicht nach hinten, als könnten die blicklosen Augen den verzweifelten Mann sehen. Wenn Craer nicht bald eine Möglichkeit einfiel, wie er dem Ungetüm den Kopf abschlagen konnte, dann war es vielleicht bald mit ihnen vorbei - und falls es Craer nicht irgendwie gelang, von der Statue wegzukommen. Er stand ganz oben auf dem aus Stein gehauenen Sattel und wartete angespannt ab. Der Beschaffer würde nur eine Gelegenheit zum Springen bekommen. Das Schwert schwang in einem Hieb herum, welcher von der Waffe des Steinreiters abprallte, wodurch der Ritter leicht zur Seite gedreht wurde und Craer um einige Zoll verfehlte. Der Beschaffer ließ das Steinschwert an sich vorbeisausen, sprang beinahe leichtfüßig auf die Schulter des Ritters und klammerte sich an dessen Kopf fest. Nein, er fand weder einen Saum noch eine weiche, schwache Stelle. Es hätte sich um einen richtigen Mann handeln können, so lebendig fühlte sich das Steinwesen an. Lebendig und so massiv wie Stein, und Craer würde hier und jetzt sterben, denn 38 das Steinschwert schwang wieder zurück und drohte, ihn im nächsten Augenblick vom Kopf des Ritters zu fegen. Im letzten Moment schwang sich Craer auf die andere Seite und ließ sich fallen, wobei er sich nur mit den Fingerspitzen festklammerte. Der Ritter schlug sich selbst hart auf den Kopf, und Craers Welt erbebte in ihren Angeln. Kurze Blitze knisterten durch seine Fingerspitzen und rasten über den gekurvten Stein, und der Beschaffer fiel nach unten. Schmerz durchschoss ihn so rasch, dass ihm nicht einmal die Zeit zum Schreien blieb. Dann prallte er auch schon auf feuchtes Gras, während hoch über ihm die den Mond verdeckende Masse des Steinritters hin und her schwankte, kippte und dunkel und unausweichlich auf ihn zu stürzte. Craer wusste, dass er nicht entkommen konnte. Ein starker Arm ergriff ihn am Ellbogen und schleuderte ihn in ein Blumenbeet. »Könnt Ihr Euch nicht raushal...« krächzte Craer, und dann setzte ein tiefes, den Boden erschütterndes Krachen ein, das alles übertönte, was der Beschaffer noch hatte sagen wollen. Der Fall des Steinritters schleuderte den hilflosen Hawkril durch die Luft, und Craer konnte im Licht des Mondes beobachten, wie sein taumelnder Freund sich in wortlosem Schmerz zusammenkrümmte, bevor ihn ein weiter entferntes Teil des Blumenbeetes verschluckte. Nachdem schwerfällig über den Boden rollende Steinbrocken zum Stillstand gekommen waren, senkte sich schließlich Stille über den Garten. »Hawkril«, zischte der Beschaffer, »das Ungetüm ist unten. Wie schlimm sieht es bei Euch aus?« »Haltet Ihr mich für einen Meisterheiler? Wie, bei den Hörnern, soll ich das wissen?« knurrte der Schwertmeister nicht allzu weit entfernt. »Meine Rippen ... sind hinüber. Alles ... ist nass und offen...« Craer kämpfte sich durch Blumenanlagen, um dann Hawkrils Arm von dessen Seite zu heben und sich die Verletzungen 39 anzuschauen, aber der Ritter zuckte zusammen, schüttelte die Hand des Freundes keuchend ab, kam taumelnd auf die Füße und hinkte über das Gras in Richtung des Springbrunnens. Der Beschaffer musterte einen Augenblick lang stirnrunzelnd den Rücken des verwundeten Kriegers, dann setzte er sich langsam auf das weiche Gras und zog sich den linken Stiefel vom Fuß. Der enthielt ebenso viel Wasser wie vorhin der von Hawkril - aber er barg auch noch etwas anderes: Eine flaches Fläschchen, welches Craer losschnürte und für einen Moment in der Hand hielt, als zögere er, sich von ihm zu trennen. Dann sprang er auf und lief mit einem stiefellosen Fuß auf den Schwertmeister zu, um ihm den kleinen Glasbehälter anzubieten. Hawkril sank auf den steinernen Rand des Springbrunnenbeckens nieder und schluckte ohne Frage und ohne Hast das heilende Gebräu. Craer hielt ihn an einem Arm fest, als der übliche kurze, ein Zähneklappern verursachende Anfall den Ritter schüttelte. Als es vorüber war, schaute Hawkril auf. Die tiefen Furchen des Schmerzes waren aus seinem Gesicht verschwunden, und er meinte leise: »Nehmt meinen Dank entgegen. Ich schulde Euch jetzt einen riesengroßen Gefallen, Craer.« »Wir werden morgen früh vor den Traualter treten«, versuchte sich der Beschaffer an einem Scherz und kletterte in das Becken des Springbrunnens. Das Wasser war kalt, und schleimige Wasserpflanzen bedeckten den schlüpfrigen Grund des Beckens unter seinen Füßen. Ihm blieb leider nichts anderes übrig, er musste das Wolfsblut abwaschen, sonst würde ihnen auch noch der letzte blinde Hund in all den Tälern folgen können. Als Craer sich zusammenkauerte und beobachtete, wie dunkle Fäden des Wolfsblutes quer durch das Wasser von ihm wegtrieben, folgte ihm Hawkril. Ein tiefes Grollen löste sich aus der Kehle des Schwertmeisters, als ihn die Kälte des Wassers erfasste, doch dann ließ er sich, dem Beispiel seines Freun40 des folgend, ins Wasser sinken. Er zuckte zusammen, als das schleimige Nass seine zerfetzte Seite umspülte. Er tastete behutsam die Verletzung ab, dann schaute er auf und fragte: »Nun, sollen wir weitermachen? Inzwischen ist sie bestimmt auf den Beinen und wartet auf uns, es sei denn, sie ist taub.« Craer verzog die Lippen zu einem freudlosen Lachen und ging voraus, wobei er einer schweigenden Abfolge
von Pfaden, Rasenflächen, Lauben und kleinen gewölbten Brücken über Teiche folgte. Alles schimmerte in kalter Schönheit. Der Weg nahm überraschend viel Zeit in Anspruch; wenn die Herrin der Edelsteine sich auf ihre Ohren verließ, um aufgeweckt zu werden, und nicht auf Warnungen durch Magie, dann mochte Hawkril sich irren ... und alle beide vielleicht lange genug am Leben bleiben, um den nächsten Morgen heraufdämmern zu sehen. Aber der Beschaffer befand sich nicht in der Stimmung, Wetten darauf abzuschließen. Die am weitesten nach Westen ragenden Teile der Burg folgten der von hier aus nicht sichtbaren Mauer. Die zahlreichen Türme, Verstrebungen und Balkone ließen sie in aller Augen wie ein großes Steinungeheuer mit vielen Füßen wirken, welches sich im Schlaf auf dem Boden ausgestreckt hatte. Aber unmittelbar vor ihnen stiegen ihre grauen, grimmigen Mauern in den Himmel auf und gingen hoch droben in drei schmale Hängebrücken über, umbaute Gänge mit Fenstern, welche zu dem Frauenturm führten. Dieser Turm bestand aus Elfenbeingestein und hatte einst die zahlreichen Frauen eines lange verblichenen Fürsten Silberbaum beherbergt ... und wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte, so lebte dort heute die Herrin der Edelsteine. Die Balkone und die Fenster mit den Spitzbögen, welche sie von der Mauer aus gesehen hatten, waren natürlich viel größer, als sie aus der Entfernung gewirkt hatten, aber die beiden Eindringlinge erreichten unbehelligt die Schatten der Burg und verharrten dort lange Zeit. Sie lauschten und hielten Ausschau 41 nach irgendeinem Anzeichen, welches auf Wächter oder sonst etwas schließen ließ, das sie aufgescheucht haben mochten. Nur in den Sagen der Barden verfügten Zauberer über so viel überflüssige Magie, dass sie ein Feld nächtlicher Beobachtungs- und Aufsichtszauber hinter dem anderen wirkten - aber wie das alte Sprichwort sagte, bedurfte es ja auch nur eines einzigen solchen magischen Walles, um Eindringlinge abzuhalten. Craer warf den Kopf in den Nacken und holte tief und geräuschlos Luft, wobei er seine Schultern und Finger ausschüttelte, um die Muskeln zu entspannen. Dann langte er unter seinen Gürtel, zog das fadenscheinige Hemd hoch bis unter die Achseln und begann, sich etwas vom Bauch zu wickeln, was an eine gefurchte Rüstung erinnerte. Es handelte sich um ein langes, gewachstes Seil und türmte sich mit einem kaum wahrnehmbaren feuchten Schmatzen in Schlingen neben seinen Füßen auf. Während Hawkril zusah, zog der Beschaffer seine feuchten Handschuhe zurecht und kletterte die Mauer mit der bedächtigen, mühelosen Sorgfalt eines Meisterkletterers hinauf. Er hatte eine geriffelte Säule ausgewählt, welche zu drei nebeneinander aufgereihten Baikonen führte, und er glitt wie ein träger Schatten daran hinauf, so lautlos wie Hawkrils angehaltener Atem. Er ließ den ersten Balkon links liegen, den zweiten auch, und betrat schließlich den dritten. Nach ein paar Augenblicken erfolgte ein Rucken an dem Seil, das Hawkril dazu aufforderte, seinerseits den Aufstieg in Angriff zu nehmen. Der kräftige Mann stemmte die bestiefelten Füße gegen die Steinrippen, wand sich eine Seilschlinge um den Arm und zog sich entschlossen in Richtung der Sterne. Der vom Mond beschienene Weg zum dritten Balkon erschien ihm endlos lang, und Hawkril rang keuchend nach Luft, als er sich schließlich neben Craer niederduckte und seinem Waffenbruder mit einem zweifachen Fingerklopfen zu verstehen gab, dass er bereit war zum Weitermachen. 42 Der Beschaffer legte seinen Mund auf Hawkrils Ohr und hauchte: »Mir gefällt nicht, wie all diese Türen aussehen. Ein einfaches Seil mit einer Glocke daran würde als nächtlicher Alarm ausreichen, auch ohne irgendeinen Zauber.« Hawkril beäugte die Reihen von Balkontüren, die nichts weiter aufwiesen als verzierte Metallrahmen mit eingesetztem Glas und geschlossenen Vorhängen dahinter, welche eine endlose dunkle Wand bildeten und jeden Blick auf möglicherweise dahinter liegende Schätze - oder auch Wächter - verhüllten. Er zuckte die Achseln und murrte: »Ihr seid der Beschaffer. Wo sollen wir weitermachen?« Craer wies auf ein kleines, von Läden verschlossenes Fenster, welches sich ein ganzes Stück weit von dem Balkon entfernt in der Mauer befand. Darunter gähnte nichts als Leere. Hawkril rollte mit den Augen; dann lächelte er, zuckte mit den Schultern und vollführte eine einladende Geste. Der Dieb glitt wie ein eiliger Schatten über den Balkon, wobei er sich im Laufen duckte und darauf achtete, unterhalb der Brüstung zu bleiben. Dann krabbelte er ohne zu zögern über die Mauer, wobei er mit gespenstischer Leichtigkeit und unheimlicher Lautlosigkeit Halt für Finger und Füße fand. Craer schien mit den Fingerspitzen an der Wand zu kleben und erreichte schnell die Fensterläden. Ganz vorsichtig zog er erst an dem einen, dann an dem anderen, musste aber feststellen, dass beide fest verschlossen waren. Er blickte zum ersten Mal nach unten, um festzustellen, was ihn dort erwartete, langte nach der Oberkante der Läden, klammerte sich fest und verlagerte vorsichtig sein Gewicht. Hätte Hawkril nicht angestrengt auf das schwache Knarren von Scharnieren und Holz gelauscht, so wäre es ihm wohl entgangen. Der Beschaffer hing für einen kurzen Augenblick wie eine geduldig lauernde Spinne in der Luft und zog ein Messer aus einer an seinem Unterarm angebrachten Scheide. Hawkril beobachtete, wie sein Freund die Klinge langsam und bedächtig in den Spalt zwischen den beiden Fensterläden
43 gleiten ließ - und gleich darauf einen von außen nicht erkennbaren Haken oder Riegel hochschob. Der Fensterladen, an dem Craer immer noch hing, schwang unter seinem Gewicht nach außen auf und drohte, gegen die Wand zu krachen. Der Beschaffer drehte sich auf dem kurzen Weg, so dass seine Schultern den Aufprall auf den Steinen abfingen. Laden und Beschaffer erbebten in unheimlicher Stille, und Hawkril sah, dass sein Freund schmerzlich das Gesicht verzog, bevor er sich hochwuchtete, die Beine nach oben schwang und im Turm verschwand. Beschienen vom hellen, kalten Licht des vollen Mondes erbebte in einem zertrampelten, verwüsteten Blumenbeet ein über mannsgroßer Stein - und rollte sich herum. Niemand war da, der ihn hätte anstoßen können, kein Ungeheuer, welches von unten her gegen ihn drückte, um aus der Erde hervorzubrechen, und ihn dabei von der Stelle bewegte ... dennoch rührte sich der Stein, langsam und unheimlich still. Er rollte aus dem Blumenbeet und rummste gegen einen weiteren Stein, mit dem er bis vor kurzem noch verbunden gewesen war und der die Form einer menschlichen Hand aufwies. Ein Stein, welcher sich auf die Fingerspitzen erhob und wie eine dunkle Spinne von der Größe eines Hundes vorsichtig tastend durch die dunklen Schatten krabbelte, bis er schließlich eine Reihe von zertrümmerten Steinen berührte, die einmal sein Arm gewesen waren. Die Steine erbebten und rollten zusammen, wobei sie gegeneinander klackten, als seien sie von Spielern geworfenen worden, die mit dem Wurf eines Steins eine ganze Reihe anderer treffen und zum Beben bringen. Eine Reihe, welche erzitterte, hin und her zu wogen schien und sich plötzlich in die Luft erhob. Die Hand befand sich ganz oben an der Spitze und schoss, dem Kopf einer unbeholfenen Schlange gleich, in den vom Mondlicht erhellten Himmel. Der Arm schwang senkrecht nach oben, gefolgt von einem seltsamen, ungeordneten Steinhaufen, und fuhr dann wie ein 44 niederschießender Falke auf den ersten Stein herunter, welcher aus dem Blumenbeet gerollt war. Ein kurzes Feuer aufblitzender Funken sprang von einem Stein zum anderen, und plötzlich erbebten überall die im Mondlicht wie auch im Schatten liegenden Steine, setzten sich in Bewegung und rollten düster knirschend zusammen. Ein umgestürzter Kopf formte sich auf Schultern, ein gefallenes Schwert fuhr in die Luft, und ein steinerner Ritter hob den Kopf und stellte sich im Mondlicht von neuem auf die Füße. Wie ein wildes Tier, das Witterung aufnimmt, stand er da und drehte den Kopf leicht in diese, dann in jene Richtung. Er suchte etwas. Etwas, dass er vorhin nicht hatte töten können. Alle Lampen waren gelöscht, aber der Beschaffer konnte genug sehen, um festzustellen, dass sich vor ihm ein Tisch befand und dahinter eine lange, enge Kammer, in deren Wänden sich überall mit Vorhängen versehene Durchgänge öffneten. Spulen mit Fäden standen auf Regalen zu seiner Linken; Scheren hingen an einem Wandbrett weiter rechts. Dies musste ein Näh- und Anproberaum sein - und bei der Gestalt dort drüben auf der anderen Seite des Raumes handelte es sich um keinen Wächter, sondern um eine Schneiderpuppe. Gut und schön. Ein kaum wahrnehmbares würziges Aroma verriet Craer, dass er die Kammer einer Dame von hohem Rang betreten hatte. Er hockte lauschend und immer wieder um sich schauend auf dem Fensterbrett, bis er entschieden hatte, wie er weiter vorgehen wollte. Zunächst ganz leise und vorsichtig einen Schritt hinein in die Kammer getan - so - und dann die Fensterläden geschlossen... Craer kroch in den Schatten neben dem Tisch, blieb dort für eine weitere Ewigkeit lauschend sitzen und bewegte sich dann geschmeidig wie eine Katze auf einen der Bogengänge zu. Er teilte die Vorhänge mit seinem Messer und lugte hindurch. Aha, er hatte richtig gelegen: Dahinter befand sich ein Ankleideraum. Und was für ein Ankleideraum! 45 Oberlichter über den Wandteppichen ließen schwaches Mondlicht in das Zimmer scheinen, in welches er nun blickte, und in dem blauweißen Schimmer konnte er einen niedrigen, reich verzierten Schrank erkennen, auf dessen glänzendem Oberteil eine Reihe hölzerner Köpfe prangten, allesamt mit funkelnden Tiaren, sanft hin und her schwingenden Trauben glänzender Diamantenohrringe oder fein gravierten Masken aus Metall ausgestattet. Auf Haken an der Wand und Bügeln, welche an Ketten von der Decke baumelten, hingen Kleider. Dutzende nein, Hunderte farbenfroher, eleganter Kleidungsstücke, und alle glitzerten mit dem kalten Feuer von Edelsteinen! Kaskaden von Juwelen, wahre Trauben und Wellen und Wirbel, daumengroß hier, noch größer dort, und nie lächerliche Einzelstücke oder dürftige Dreiergruppen ... Zeloster und Schwarzamarle und sogar eine Sternsalvenbrosche von der Größe seiner Hand, gekrönt von den seltensten Edelsteinen von allen: den regenbogenfarbenen, schimmernden Tränen, welche man als Skaramareenes kannte. Bei den Hörnern der Jägerin, welche Reichtümer! Das war mehr, als in seinen kühnsten Träumen Aglirta oder sogar ganz Asmarand enthalten mochte! Warum - aber nein, jetzt nicht mehr lange geglotzt und gezögert! Zugelangt und die Flucht ergriffen, bevor irgendein Unheil erwachte ... Craer griff sich eine Hand voll Gewänder, wickelte sie sich um den Arm und drehte sich mit unendlicher
Sorgfalt um, damit er ja keinen Laut verursachte, welcher vielleicht... Blaues Feuer brach ohne Vorwarnung aus der Dunkelheit, eine magische Flamme, die sengend und brennend in ihn schoss, so dass er in einem betäubten, keuchenden Tanz voller Todespein quer durch den Raum wirbelte. Von Blitzen umzuckt taumelte der Beschaffer durch eine Reihe von Gewändern, dann durch einen weiteren von Vorhängen verborgenen Durchgang in ein dahinter liegendes Gemach, vor dem Hawkril hocken musste. Schluchzend und mit letzter 46 Kraft klammerte sich Craer an die Vorhänge und zerrte an ihnen, um sie herunterzureißen. Hawkril sprang mit erhobenem Schwert auf und starrte durch das Glas hindurch auf seinen sich windenden Freund und den kriechenden, flackernden Schein, welcher ihn umbrachte. Knurrend und mit aller Macht schwang er sein Schwert gegen die Balkontür, wobei er in die Luft sprang, um sein ganzes Gewicht hinter den Schlag zu legen. Glas zerbarst singend und klingend in Scherben, Wächterzauber vergingen in seufzendem, silbernen Rauch und funkelndem Staub, und der Schwertträger brach durch die Trümmer in den Raum und griff nach dem zuckenden Beschaffer. Dieses Mal leuchtete der Blitz silbern und grün auf. Er traf den Schwertmeister wie ein Rammbock, riss ihn von den Füßen und schmetterte ihn gegen eine der Wände. Der Beschaffer wurde wie ein welkes Blatt von dem Sog erfasst, taumelte zur Seite und gegen die Steinwand, wo ihn die entfesselte erbarmungslose Macht ebenso hilflos und außer Atem festgenagelt hielt wie Hawkril. Er starrte auf ihren Ursprung, der sich einen Raum weiter entfernt befand, aber unaufhaltsam auf sie zuschritt wie nur irgendein wütender Fürst, welcher sich seinen Weg durch die Bogengänge bahnte. Groß und schrecklich kam sie heran in ihrem Nachtgewand, und die Hexenlichter ihrer erwachten Macht wirbelten funkelnd um sie herum. Die Herrin der Edelsteine war, wie es schien, eine mächtige Zauberin. Die grauen, steil aufragenden Gipfel, welche man allgemein als die Windfangs kannte, erhoben sich wie ein Schild zwischen dem Gewundenen Tal und den schlimmsten Winterstürmen, welche die ausgedehnten Hochebenen von Dalondblas in Richtung Norden ausdörrten und glitzernde Schneewehen so hoch wie Burgzinnen auftürmten. 47 Winter in den Windfangs brachten von Nebelschwaden begleitete Stürme mit sich, welche durch die Felsspalten und über die glitzernden Kadaver erfrorener Kluppenschafe heulten. Im Sommer jedoch ächzten schwere Karren von den Steinbrüchen herunter durch die blühende Baronie von Loushoond, deren übergewichtiger und dem Wein zugetaner Tersept jeden, der sich über Straßenräuber beschwerte, aus blassen, wässrigen Augen anblinzelte und Ritter aussandte, welche die Straßen entlangritten und ihre blitzenden vergoldeten Rüstungen zur Schau stellten. Über den Steinbrüchen erhoben sich die zerrissenen Vorsprünge und Steinformationen, welchen man die Wildfelsen nannte. Grimmige Berge erhoben sich hinter ihnen und schickten von Zeit zu Zeit riesige Felsplatten nach unten, die donnernd zu Tal krachten. Dort lebten Ungeheuer und gesetzlose, verzweifelte Männer; die Gesetzestreuen hingegen mieden die Wildfelsen, sprachen jedoch des Nachts in den Wirtshäusern gern über sie. In der Nacht, in der Flaeros Sirlptar betrat, erhob sich eine Flammenzunge inmitten der Wildfelsen. Bei dem Feuer hockten zwei dieser verzweifelten Männer und fluchten, weil es so lange gedauert hatte, bis sie ein Schaf erwischt hatten. Deswegen hatten sie ihr Kochfeuer in der Dunkelheit entfachen müssen, wodurch es weithin sichtbar flackerte. »Oh verflucht«, schimpfte Craer Delnbein, als die Flamme den dürren Ast hinaufraste, welchen er zum Anfachen benutzt hatte, und seine Fingerspitzen versengte. »Verflucht, verflucht, verflucht!« Er schüttelte seine schmerzende Hand, und der große Mann mit den breiten Schultern, der auf der anderen Seite des Feuers hockte, fragte: »Braucht Ihr Hilfe bei der Wahl Eurer Worte? Kann Ich Euch ein >schaut nur< oder vielleicht auch ein >bei der Dreifaltigkeit!< anbieten?« Craer bedachte seinen Begleiter mit einem Blick, der so sengend war wie die Flammen zwischen ihnen, und zischte: »Schweigt, Hawkrill Schweigt!« »Wiederholungen sind gut, ja«, stimmte ihm der Ritter mit der tie48 fen Stimme zu, ohne jedoch zu lächeln. »Sie helfen unsereins mit den zerdellten Helmen, Eure Gedankengänge zu verstehen.« »Wenn Ihr mit Eurer Neunmalklugerei fertig seid, Hawkril«, giftete Craer, »bratet endlich das Fleisch, bevor ein Wolf es sich holt nachdem er vielleicht uns als seine ersten beiden Bissen verschlungen hat!« »Ich werde Euch mit dem letzten Rest der Soße bestreichen, wenn Ihr der erste sein wollt.« »Wie haben nicht einmal genug Geld, um uns eine zweite Flasche davon zu kaufen«, gab Craer bitter zurück. Hawkril zuckte die Achseln. »Da wir es nicht wagen, hinunter nach Loushoond zu gehen, spielt das ohnehin keine Rolle.« Craer seufzte, während er den Schwertmeister beobachtete, der sich daranmachte, zwei blutige Scheiben Lammfleisch zu braten. Der große Mann nickte und lehnte sich gegen die Felsen, ohne sich um das Fett und das
Blut des Lammes zu scheren, welches er geschlachtet hatte - oder die Fliegenschwärme, welche ihn jetzt wie entfesselt umsummten. Obwohl ein Preis auf Hawkril Anharus Kopf ausgesetzt war und er kein Heim hatte, in das er hätte zurückkehren können, wirkte er ebenso gelassen wie seinerzeit, als er sein Schwert in Ibrelm geschwungen oder die Bordelle von Sirlptar durchstreift hatte. Der Riese von einem Ritter mit der roten Haut und mehr Muskeln als die meisten anderen seiner Zunft trug die zerschrammten Armschützer eines Schwertmeisterveteranen. Der einzige Hinweis auf seine Verzweiflung fand sich in der Anzahl der Worte, die aus seinem Mund drangen; gewöhnlich schwatzte Craer unentwegt, während der Ritter mit Worten geizte und nur ein paar wenige von sich gab, wenn es sich denn nicht vermeiden ließ. Er spürte Craers Blick, schaute auf und ließ ein Lächeln aufblitzen, dann benutzte er die Rückseite seiner Klinge, um eine Narbe zwischen seinen Schulterblättern zu kratzen. »Wie ist es Euch in Dranmaer ergangen, Schwertbruder?« »Nicht besser als in Sirlptar«, antwortete der kleine, spinnenartige Mann knapp. »Jedermann erinnert sich dort anscheinend an einen 49 überschlauen Beschaffer, der sich vor einer Jahreszeit eine Keule hier und eine Hand voll Münzen dort schnappte.« »Nun, wenn Ihr bei Euren Diebereien nicht gespottet und gesungen oder Jongleurtricks vollführt habt«, erklärte Hawkril ruhig, »dann werden die Leute nicht so schlau sein, sich an Euer Gesicht zu erinnern.« »Wenn ich möchte, dass Ihr mir einfache Tatsachen um die Ohren schlagt, Ihr Laternenpfosten von einem Ritter«, bemerkte Craer müde, »dann werde ich Euch ganz gewiss darum bitten. Und bis dahin ...« »Oh, eine Drohung tut sich vor mir auf«, grummelte Hawkril. »Entfaltet sie vor mir - ich flehe Euch an, Meister der schnellen Zunge; zitternd erwarte ich die helle Klinge Eurer Gewitztheit.« »So wie ich unter der Stachelkeule der Euren leide«, schnappte Craer und zerrte an seinem Gürtel. Ein Messer mit schwarzer Klinge schoss zwischen seinen Fingern hervor und bohrte sich mit einem lauten Geräusch in das Feuerholz - und nagelte eine langsam niedergleitende Scheibe des Lammfleisches fest, welches einen Augenblick darauf in die Flammen gefallen wäre. Erinnerungen flackerten auf: Ein Mann von der Insel, der an eben dem Messer erstickte und niederstürzte; ein Schicksal, welches er mit vielen teilte. Doch trotz all der tödlichen Künste von Craer Delnbein, Beschafferveteran, lagen die Inseln von Ieirembor immer noch unbesiegt da, und es waren Hawkril und Craer gewesen, die aufleckenden, mit geschlagenen Männern überladenen Schiffen nach Hause zurückgekrochen kamen - um auf der Stelle zu Gesetzlosen erklärt zu werden. Ezendor Fürst Schwarzgult war ein stolzer, gut aussehender Mann mit einem Schwertarm wie aus Eisen gewesen und mit genug scharfem Verstand begabt, um mit seiner Hilfe sämtliche Feinde niederzumähen, und er hatte gerne gelacht. Unter seiner Herrschaft war Schwarzgult gediehen und zur größten und mächtigsten unter den Flussfestungen geworden, reicher noch als Ornentar und sogar Silberbaum. Den Einwohnern stand sogar ausreichend Geld zur Verfügung, um Barden anzuheuern, welche neue Lieder schmieden soll50 ten ... beinahe genug Geld, um die Glitzernde Stadt selbst auszustechen. Vielleicht war dies der Grund für Schwarzgults Sturz gewesen. Die reichen Kaufleute von Sirlptar hatten gelernt, den Aufstieg des Fürsten, seine Kriegskunst und seine Reichweite zu fürchten. Eine gedeihende Baronie weiter flussaufwärts war eine Sache - aber ein Fürstentum mit der Kühnheit, nach den Inseln von Ieirembor zu greifen, hingegen unerhört. Die Inseln erhoben sich aus der See wie eine Wand, welche die Mündung des Silberflusses schützte, fünf baumbestandene Felshindernisse, welche sowohl Sirlptars Schatzgarten wie auch seine rückwärtige Verteidigung darstellten. Die bevölkerungsreichste Insel, Ibrelm, reichte, was die Größe betraf, auch nicht annähernd an selbst die kleinste der Baronien heran, aber auf allen vier Inseln gab es reichhaltige Bestände des Bauholzes, aus dem die dicht aneinander gedrängten Gebäude der Glitzernden Stadt errichtetet worden waren, und außerdem Kupfer, das in Gestalt von Töpfen und Pfannen in jedem dritten Laden glänzte. Vielleicht hatten ja die Ladenbesitzer genug Zauberer und Schwertmeister angeheuert, um die Krieger des Goldenen Greifen zu brechen. Nie zuvor hatten Craer und Hawkril solche unfassbaren Mengen unermüdlicher Feinde vor sich gesehen. Der kühne Schlag des Fürsten war gescheitert, und die wenigen überlebende Getreuen flohen nach der blutigen Niederlage in Richtung Heimat, nur um festzustellen, dass ihr Fürst entweder tot oder geflohen war und sein alter Widersacher Faerod Silberbaum Schwarzgult erobert hatte. Das Abzeichen des Goldenen Greifen bedeutete jetzt nicht nur eine schwindende Hoffnung auf ehrliches Geld, sondern auch, dass der Fürst ein Kopfgeld auf seine Träger ausgesetzt hatte. Und dem schon seit langem von Mythen umrankten Thron von Aglirta schien das Schicksal zu drohen, das Hinterteil des stolzen und grausamen Fürsten Silberbaum zu spüren zu bekommen. Hawkril reckte sich. »Es tut gut, mit Euch zusammen wieder zurück zu sein, Craer«,
51 erklärte er bedächtig. Er hockte bei dem Fleisch, und sein Gürtelmesser blitze hell in seiner haarigen Hand. »Sollen wir zusammen auf die Jagd gehen?« Der Beschaffer zuckte die Achseln. Er wollte verhindern, dass ein Waffenbruder die Tränen sah, welche ihm in die Augen schössen. »Ich kann mir keine bessere Straße vorstellen als die, welche wir stets gemeinsam beschreiten«, entgegnete er ungelenk. »Ist das Fleisch fertig?« Der Schwertmeister grinste. »Ich würde Eure flinke Zunge vermissen, wenn ich nicht in der Nähe wäre, sie zu hören.« Zwei Die zitternde Flucht aus dem Schloss Schlanke Finger und vor Zorn fest zusammengepresste Lippen woben einen Zauber, welcher ihnen sehr wohl den Tod bringen mochte. Flammende Augen musterten sie von oben bis unten. Craer konnten nur zusehen, sonst nichts. Betäubende, sengende Blitze nagelten die Männer fest an die Wand und pressten sie gegen die kalten Kanten von Edelsteinen, Miederschlangen aus Draht und Harnischen; ihre heftigsten Ausläufer ließen sie keuchen, schwitzen und beben, und ihre Muskeln spannten sich an und brannten, was ihre Glieder zucken ließ, während um sie herum Metall leise klirrte. Hilflos in ihrem Gefängnis zuckend, taten die Männer das Einzige, das sie noch konnten. Sie starrten die Frau an. Nicht dass ihnen dies schwer fiel. Langes, fließendes Haar ergoss sich in dunklen Wellen über schmale Schultern und rahmte Augen ein, die wütend in einem Gesicht blitzten, dessen Wangen und Kinn schöner geformt waren, als die beiden Männer dies je zuvor gesehen hatten. Barfüßig stand Embra Silberbaum da. Sie mochte so groß sein wie Hawkril, vielleicht überragte sie ihn sogar um ein weniges. Sie hatte mehr Anmut als jede Schänkentänzerin, und ihre sanften, weichen Bewegungen wirkten umso verführerischer, als sie ganz zu ihr selbst gehörten und nicht als bewusste Verführung eines Mannes gedacht waren. Ihr Haar schimmerte blauschwarz, ihre Augen hingegen eher schwarzblau - es war zu dunkel, um dies genau beurteilen zu können, stammte das Licht doch einzig von den um die Männer herumrasenden Blitzen und den unbeständig um ihre langen, anmutigen Finger spielenden Flammen. 53 Die Herrin der Edelsteine vollführte mit den Fingern einer Hand eine abschließende Geste und setzte sich dann auf ein Sofa, um ihre beiden Gefangenen aus dunklen, gefährlichen Augen zu mustern. Die Tausende glitzernder Edelsteine auf den Gewändern, welche hinter ihr hingen, schienen ihren grimmigen Blick noch zu verstärken, denn sie wirkten wie eine Vielzahl schwarz schimmernder, missbilligender Augen. Keine Magie wurde wirksam, welche der Beschaffer oder der Ritter bemerkt hätten - aber als die Blitze und mit ihnen auch der größte Teil des Prickelns und der Schmerzen langsam und flackernd erstarben, stellten die Männer fest, dass eine unsichtbare Kraft sie ebenso unverrückbar wie zuvor an der Wand festhielt. »Warum seid ihr hier?« fragte die Prinzessin Silberbaum so ruhig, als berate sie mit ihren Kammerdamen darüber, welche Kleiderfarbe am besten zu ihrem Haar passe. Ihr durchschimmerndes gazeartiges Gewand verbarg keine Einzelheit ihrer schlanken, wunderbaren Figur. Der ernste Gesichtsausdruck, welchen sie zur Schau trug, minderte die Schönheit ihrer dunklen Augen und Brauen nicht im Mindesten, genauso wenig wie ihr blasses Gesicht, welches bei einem Leichnam atemberaubend gewirkt hätte. Einem Leichnam ... Craer fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Die Stille zog sich immer mehr in die Länge, und er versuchte, nicht auf einen Schwanenflügel zu schauen, der ganz aus Diamantentrauben bestand, so dick wie seine geschlossene Faust, und keine vier Zoll vor seiner Nase baumelte. Schließlich antwortete er: »Prinzessin, Ihr werdet es kaum glauben, dessen bin ich mir bewusst, aber wir wurden von Eurem Vater angeheuert, um die Verteidigung des Frauenturms einer Probe zu -« Schlanke Finger bewegten sich kaum merklich, und der Beschaffer keuchte, als ihn erneut ein plötzlicher Schmerz durchfuhr. Er konnte fühlen, dass seine Glieder unwillkürlich zuck54 ten, als Zauberkraft durch ihn hindurchwogte und - bei der Dreifaltigkeit - wieder abebbte. »Sehr schwer zu glauben, das ist wahr, mein Herr«, erwiderte die Prinzessin Silberbaum kalt, »und Eure Angabe lässt keinen Zweifel daran, dass Ihr alles andere als vertraut seid mit diesem ... Haushalt. Meine Geduld hat Grenzen. Ich erwarte ehrliche und unumwundene Antworten, meine Herren.« Die andere Hand hob sich aus ihrem Schoß, und sie bewegte die Finger als wortlose Erinnerung and die Macht, über die sie gebot. Entlang der Wände blitzen hier und da Smaragde grün auf, als seien sie eifrig bestrebt, die Macht, welche ihre Herrin wirkte, zu bestätigen. Craer verbannte alle Anzeichen des Schmerzes von seinem Gesicht, schenkte der Erbin von Silberbaum ein
Lächeln und meinte glatt: »Natürlich. Nehmt meine Entschuldigung an, Prinzessin. Ihr müsst wissen, dass uns drei Geschichten mitgegeben wurden, welche wir anstelle der Wahrheit erzählen sollten. Bevor der Zauberer Gadaster Mulkyn Eurem Vater diente, hatte er drei Lehrlinge, und einem von ihnen - Ihr werdet gewiss Verständnis dafür haben, dass ich im Moment keine Namen nennen möchte - wurde von Gadaster etwas versprochen, das er im Falle des Ablebens des großen Zauberers erben sollte. Wir sind ausgesandt worden, dieses Etwas zu finden und an uns zu bringen, und ...« Dieses Mal glich sein Keuchen beinahe einem Schluchzen und wurde zu einem tiefen, gurgelnden Stöhnen, als sich der Beschaffer mit bebenden Gliedern an der Wand krümmte. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen sah Craer, wie seine eigene rechte Hand sich steif von seiner Seite hob, ungeschickt weit ausholte, zur Seite schwang und sein Gesicht so hart traf, dass seine Augen tränten und seine Ohren klingelten. Sie hatte dafür gesorgt, dass er sich selbst auf den Mund schlug. Der Ritter gab ein Knurren von sich und stieß sich mit gebleckten Zähnen und an der Kehle hervortretenden Blutgefä55 ßen von der Wand ab. Er löste sich vielleicht einen halben Schritt von der Mauer, bevor er wieder so hart zurückgerissen wurde, dass der dumpf klingende Aufprall seines Kopfes etliche Perlenschnüre von ihrer Halterung schüttelte, worauf sie sich geschmeidig auf die Tischplatte darunter schlängelten. Wunderschöne Lippen pressten sich erneut zusammen, bevor die Prinzessin kalt erklärte: »Die Grenzen meiner Geduld sind bald erreicht, werte Herren. Wählt eure Worte mit Bedacht, denn sie entscheiden über euer Schicksal.« Craer nickte und öffnete den Mund zum Sprechen, aber Hawkril grollte: »Genug der Lügen, meine Dame. Ich heiße Hawkril Anharu und bin Ritter; das da ist mein Freund Craer Delnbein, ein Beschaffer von Beruf; soweit ich weiß, benutzt Euer Vater den Titel >LastalanunverletztSarasper< genannt? Ist das ein Name oder eine Bezeichnung?« Der Alte kletterte umständlich von der Fürstentochter, und die blieb keuchend auf dem Steinboden zurück. Als sie wieder zu Atem gekommen war, drehte sie den Kopf und meinte: »Ja, Craer, warum stellt Ihr uns nicht vor? Und sobald Ihr das erledigt habt, hätte ich gern meine Kleider zurück.« Der Beschaffer lächelte und nickte in die Richtung, wo sein Sack lag. »Freunde«, erklärte er nun, »ich möchte Euch Sarasper Kodelmer vorstellen, einen meiner ältesten Freunde. Vor Jahren haben wir uns aus den Augen verloren, und erst kürzlich erfuhr ich von einem anderen Freund, dass er sich hier aufhalten sollte.« »Also hat Thalver mich verraten ...« meinte der Kleine müde und rieb sich mit einer altersfleckigen Hand über das stoppelige, vorragende Kinn. »Der alte Donnerschwert... auch keinen Deut besser als die anderen.« Seine Stimme hörte sich heiser und krächzend an, wohl weil er sie seit langem nicht mehr eingesetzt hatte. Dennoch gelang es Sarasper, seinen Worten einen bitteren Unterton zu verleihen. »Er ist auf einem Strand in Hellnarbe gestorben«, klärte Craer ihn auf. »Von drei Pfeilen durchbohrt verschied er in den Armen eines Freundes. Sicher hat Thalver ihm auch einige seiner Geheimnisse anvertrauen können ... damit ihm der Abschied von dieser Welt leichter fiel. Deswegen behaltet ihn nicht als allzu unehrenhaft in Erinnerung.« »Hrrrmphh!« machte der Alte, ließ den Kopf hängen, schlurfte von ihnen fort und schlich an der Wand entlang. Seine Blicke wanderten unablässig hierhin und dorthin, so als wollten sie den gesamten Raum erfassen. »Wie viel hat er Euch verraten?« wollte Sarasper dann wissen. »Nun, dass Ihr vor Jahren die echten Langzähne erschlagen hättet und seitdem in den Katakomben haustet... Euch vor den Menschen verborgen hieltet ... und Euch tarntet als Fledermaus, Erdschlange oder gar als Langzahn aus dem Schweigenden Haus.« »Habt Ihr Euch vor allen Menschen verstecken wollen?« fragte Embra. »Oder nur vor meinem Vater?« Sie versuchte vergeblich, ihr zerzaustes Haar zu richten. »Vor allem vor Baronen, meine Teure«, antwortete der Alte kurz angebunden, bedachte sie aber doch mit einem Blick. Als das Verlangen in seinen Augen zu offensichtlich wurde, wandte er den Kopf ab. »Wer könnte denn Euer Vater sein?« fragte Sarasper dann die Wand. »Faerod Silberbaum!« teilte sie ihm etwas von oben herab mit. Das alte Männlein starrte sie argwöhnisch an, und während dessen schien ihm auf den Unterarmen Fell zu wachsen. »Ihr solltet mich aufspüren, nicht wahr, Hexe?« Hawkril hob bedrohlich sein Schwert, doch das war Sarasper nicht einmal eines Seitenblickes wert. Dafür ließ er die junge Frau nicht aus den Augen und duckte sich, als wolle er sie anspringen. Doch Embra schüttelte den Kopf, und weil sie noch lag, schabte ihr Kinn über die Fliesen. »Ganz im Gegenteil: Wir drei sind auf der Flucht vor dem Zorn meines Vaters ... oder besser gesagt vor dem seiner drei Magier!« Sarasper entspannte sich eine Kleinigkeit und schlurfte weiter die Wand entlang. »Und, Herrin des Geschmeides, wie ist es um Eure eigenen Zauberkünste bestellt?« wollte der Alte offenbar von einem anderen Wandstück erfahren. Er stieß die Worte scharf wie eine Anklage hervor. »Die haben uns hier hereingebracht«, antwortete die junge Dame knapp und bedachte dann Craer mit einem vernichtenden Blick. »Ich warte - auf meine Kleider!« 111 Der Beschaffer reichte ihr schon Stiefel und ein Bündel Kleidungsstücke hin. Dann hielt er den Sack, aus dem beides gekommen war, wie einen Wandschirm hoch. Leider verhüllte dieser kaum etwas, und Embra bedachte ihren Wohltäter mit einem säuerlichen Blick, während sie sich aufrichtete und in die nasse Hose zwängte. Der Alte und die beiden Freunde betrachteten für eine Weile
ihr Frösteln, dann entfernte sich Hawkril, um eine Kerzenlampe zu besorgen. Er stellte sie vor der Prinzessin ab, lehnte sich dann wieder an die Wand, legte das Schwert auf die Knie und ließ die ganze Zeit über den Mann nicht aus dem Auge, welcher sich ihnen bis vor kurzem noch als Wolfsspinne gezeigt hatte. Eigentlich sogar bis eben noch ... »Also haben wir es hier mit einem Alten zu tun«, brummte der Ritter, »welcher genug Magie beherrscht, um die Gestalt von drei verschiedenen Ungeheuern anzunehmen, vielleicht sogar von mehr ... Er verbirgt sich hinter seiner abscheulichsten Gestalt und frisst die Menschen, welche zu ihrem Unglück des Wegs gezogen kommen ... aber warum das alles?« »Weil er Heiler ist!« entfuhr es Embra, und in ihrer Aufregung über diese Erkenntnis vergaß sie, das Hemd herunterzuziehen, das sie sich gerade über den Kopf anzog. Dafür drehte sie sich zu dem Alten an der Mauer um und starrte ihn herausfordernd an. Sarasper erstarrte, wagte es aber nicht, die halb nackte Zauberin anzugaffen. Er nickte so unmerklich, dass die anderen diese Geste beinahe übersehen hätten. »Geheimnisse scheinen sich nirgends besonders lange zu halten«, erklärte er mit einem Seufzer der Decke. »Er vermag Wunden zu heilen?« fragte Hawkril. »Mit Hilfe der Zauberkunde? Und solche Fertigkeiten sollen einen Mann dazu bewegen, sich jahrelang von nichts anderem als rohem Menschenfleisch zu ernähren?« »Seit Alters her halten Barone sich ihre Heiler wie angekettete Sklaven«, erklärte die Prinzessin ihrem Hemd, in das sie sich 112 nun schlängelte und anschließend die nassen Ärmel gerade zupfte. »Damit sie auf Befehl hin heilen konnten. Wenn ein Heiler seiner Fertigkeit nachgeht, altert sein Körper und erschlafft sein Fleisch. Wenn man einem solchen Mann die Freiheit verwehrt, seine Künste nach eigenem Gutdünken einzuschränken, wird dieser schon in jungen Jahren an Leib und Seele gebrochen sterben.« Das raubte erst einmal jedem die Worte, und die drei Gefährten warfen scheele Blicke auf das Männlein, welches sich an die Wand drückte. »Ihr fürchtetet die ganze Zeit, von Fürst Silberbaum gefangen zu werden?« meinte Hawkril, erhielt aber keine Antwort. »Und solche Angst war gewiss nicht unbegründet«, bemerkte Embra stattdessen. Sie mühte sich gerade mit ihren Stiefeln ab und stampfte mehrmals tüchtig auf, ehe die Füße richtig darin Platz gefunden hatten. Sarasper hob den Kopf, als die Prinzessin zu ihm geschritten kam. Seinen müden alten Zügen ließ sich jedoch nicht entnehmen, was hinter seiner gerunzelten Stirn vor sich ging. »Ihr habt Euch hinter den Fallen in den Katakomben versteckt ... wann immer die Schergen meines Vaters oder irgendwelche Abenteurerbanden auf der Suche nach Schätzen hier eindrangen ...« Man sah der jungen Frau an, dass sie nun laut dachte. Wenige Schritte vor dem Alten blieb sie stehen, um gründlich nachzusinnen. »Des Nachts habt Ihr dann Jagd auf sie gemacht... aber nur außerhalb dieser Mauern ... und stets in Gestalt einer Wolfsspinne ...« Sarasper bestätigte all ihre Vermutungen, indem er nickte. »Ich kann rohes Menschenfleisch langsam nicht mehr sehen«, erklärte er ihr schließlich, und in seiner Stimme schwang eine Bitte mit. Dann zog er eine Braue hoch, als wolle er die Prinzessin zu etwas herausfordern, ließ es dann aber bleiben und wandte sich wieder von ihr ab. 113 »Dann gibt es nur eine Lösung für Euch!« rief Craer, als sei ihm die allerhellste Erleuchtung gekommen. »Hört auf damit, Euch zu verstecken, und lebt wieder! Einst sind wir mit Schwarzgult geritten, oder habt Ihr das schon vergessen, alter Freund?« Er trat auf das Männlein zu. »Und jetzt können wir Eure Heilergabe gut gebrauchen. Hawkril und die Edle bedürfen ihrer dringend. Die Prinzessin war genauso eine Gefangene des Barons wie ein angeketteter Heiler. Ihr werdet uns doch sicher beistehen, oder? Bitte ...« Lange starrte der Alte die Gefährten aus seinen tief in den Höhlen liegenden Augen an. Seine Miene blieb ausdruckslos, auch dann, als er ihnen entgegnete: »Also gut, einverstanden. Doch die Sache hat ihren Preis ...« Delvin von den vielen Harfen und Helgrym Burgmäntel hatten sich hinter eine Reihe Särge zurückgezogen, um in Ruhe darüber nachzudenken, was sie als Nächstes tun sollten. Sie hörten das Ächzen einiger Soldaten des Barons Silberbaum, und der Zugang zum Haus des Schweigens wirkte so, als läge er vollständig unter einem tüchtigen Erdrutsch verborgen. »Vermutlich hat das Geröll auch allen Raum hinter dem Tor ausgefüllt«, vermutete Helgrym grimmig. »Sonst wäre nicht so viel Zeugs nach draußen geflogen. In jungen Jahren habe ich diesen Ort schon einmal erkundet wenn auch aus sicherer Entfernung -, und ich kann mich nicht an einen anderen Zugang erinnern ... Nur an diesen hier ... Für eine Ballade, welche später einmal an allen Lagerfeuern gesungen wird, dürfte das wohl kaum reichen, oder?« »Wie? Meint Ihr, wir sollen einfach kehrtmachen und abziehen? Nachdem wir unseren Hals dabei riskiert haben, überhaupt bis hier hinauf zugelangen?«
Delvin war außer sich. Nachdem die Aufregung in ihm über 114 die Erschöpfung obsiegt hatte, war er nun nicht gewillt, sich widerspruchslos in die Niederlage zu fügen. »Wisst Ihr denn vielleicht etwas Vielversprechenderes?« grummelte Helgrym. »Oder ...« Etwas Riesiges und Dunkles rauschte aus der Nacht heran und riss Delvin mit einem Ruck den Kopf ab. Der enthauptete Körper schwankte hin und her, und Blut verspritzte sich in alle Richtungen. Erst nach einem Moment ging Helgrym auf, dass er noch keine Antwort erhalten hatte. Er entdeckte, was aus seinem Gefährten geworden war, fluchte gotteslästerlich, rannte davon und wusste schon nach wenigen Schritten, dass er seinem Schicksal nicht entkommen konnte. Während Burgmäntel durch die Nacht davonsprang, ging ihm seine Lieblingsballade durch den Sinn, und er fing an, sie zu singen. Wenn er schon sterben sollte, wollte er sie wenigstens noch einmal hören. Als die dunklen Schwingen wieder heranrauschten und der Gesang mit einem Knochenknacken sein vorzeitiges Ende fand, flammten die Augen im Eingang zu einem Grabgewölbe wütend und golden auf. Finger strichen über den Rahmen einer Harfe, berührten die Saiten aber nicht, und eine leise Stimme erklärte der Nacht: »Blöde Magier! Möget Ihr alle im Sud Eurer eigenen Überheblichkeit gekocht werden! Schöner Mist! Mit diesen beiden hatte ich noch etwas vor!« Sarasper berührte einen bestimmten Stein in der Wand, und schon schwang diese zurück, um eine Nische freizulegen. Der Alte zog eine faustgroße Holzdose heraus und klappte sie an einer Seite auf. Helles Licht drang heraus, und dieses ging von einem Kieselstein aus. Den legte das Männlein auf den Boden und löschte dann mit zwei Fingern Hawkrils Kerze. »Zum Preis verlange ich Eure Hilfe in einer Angelegenheit«, 115 erklärte der Alte dem schwankenden Docht und ohne einen der drei anzuschauen, »welche mir weder bei Tag noch bei Nacht Ruhe lässt.« »Worum geht's?« rief Craer. »Um die Begleichung einer Schuld? Um einen verlorenen Gegenstand? Um Kranzgeld für ein nicht eingelöstes Eheversprechen?« »Vier Gegenstände müssen geborgen werden«, teilte der Alte ihnen kurz und bündig mit. »Die Suche nach ihnen mag länger andauern, als mir noch an Lebenszeit beschieden ist.« »Mir tut es eigentlich schon gar nicht mehr so weh«, ließ Hawkril sich vernehmen und schaute die Prinzessin aufmunternd an, welche mit bleicher und schmerzverkniffener Miene dastand. »Mir schon ... fürchte ich«, flüsterte Embra so leise, dass der Ritter sich zu ihr niederbeugen musste, um sie verstehen zu können. Die Edle hob den Kopf und forderte den Alten mit festerer Stimme auf: »Sprecht weiter, Heiler. Erzählt uns mehr von dieser Suche.« Aber Sarasper untersuchte längst eine andere Stelle an der Wand. Diesmal offenbarte eine Nische ein Gewand, das einmal sehr kostbar gewesen sein musste, inzwischen aber nur noch aus Flicken zu bestehen schien. Mit einem Achselzucken legte der Alte sich das Stück an, achtete nicht weiter auf dessen strengen Schimmelgeruch und klärte seinen neuen Mitstreiter auf. »Der Schutzheilige aller Heiler ist Vorväter Eiche, der mächtigste unter den Dreien. Von Zeit zu Zeit spricht er zu uns, die wir die Menschen heilen. Er tut dies jedoch nicht mit Worten, sondern in Gestalt von Gesichten, welche er uns in die Träume schickt.« Hawkril machte »Hm!«, dann erklärte er: »Ich habe auch manchmal so seltsame Träume. Die erscheinen mir so dunkel oder so hell, dass ich mich nach dem Erwachen noch genau an sie erinnern kann ... 116 Meist geht es in ihnen um Blut und Schlachten und Freunde, welche im Kampf ihr Leben verloren haben ... Wie ist das denn bei Euch? Zeigt sich da auch das Gesicht des Alten, oder haltet Ihr es lieber so wie die Priester? Will sagen, sortiert Ihr Eure Träume aus, und diejenigen, welche Euch gefallen, erklärt Ihr zu denen, welche der Vorvater geschickt hat?« Sarasper erstarrte. Dann richtete das Männlein sich zu erstaunlicher Größe auf und stand schließlich aufrecht wie ein Fürst da. Festen Auges blickte er Hawkril an und sprach leise und sehr deutlich zu ihm. Jedes einzelne seiner Worte rollte wie ein Stein auf den jungen Mann nieder. »Würde der Vorvater sich dazu herablassen, Euch jemals eine Botschaft zu senden, würdet Ihr das sofort wissen und hättet keinen Anlass mehr für solch törichte Rede. Mit goldenem Feuer umrahmt der Vorvater seine Gesichte, und diese brennen auf immer, ohne jemals zu verlöschen. In solchen Fragen dürft Ihr mir ruhig vertrauen, Schwertmeister, so wie ich mich niemals erkühnen würde, Euch in Waffenfragen dreinzureden.« Hawkril nickte beschämt. »Fahrt bitte fort«, forderte er den Alten mit rauer Stimme auf. Sarasper nickte ernsthaft, als sei ihm königliche Genugtuung zuteil geworden, und erklärte: »Mein Preis mag sich hoch anhören, doch diese Angelegenheit nagt schon sehr lange an mir.« Wieder hielt er in seiner Ansprache inne, doch diesmal aus dem Grund, um die Gefährten der Reihe nach anzusehen. »Um der Wahrheit die Ehre zu geben, diese Sache sollte allen Menschen den Silberfluss hinauf und
hinab schlaflose Nächte bereiten. Und die Herzen sämtlicher Krieger und Zauberer in dem Gebiet zum Rasen bringen, das einmal Aglirta war! Das Reich, welches wieder entstehen muss!« Damit verlor sich das innere Leuchten aus seinen Zügen, und er murmelte wieder so leise wie vorher. »In den letzten Jahren haben sich meine Gedanken kaum mit etwas anderem beschäf117 tigen können. Die Visionen verfolgen mich, plagen mich, so dass ich auch wirklich nicht dazu komme, mich mit etwas anderem zu befassen. Kein Moment der Ruhe ist mir vergönnt.« Er schüttelte den Kopf, und seine Zuhörer befürchteten schon, dass er sich nun wieder teilnahmslos an die Wand lehnen würde. Doch da fuhr der Alte schon fort: »Die Weltensteine müssen gefunden werden. Dann muss man die Dwaerindim so anordnen, dass der Schlafende König erwacht... Denn der soll eines Tages auferstehen, so verheißen es uns die alten Sagen, um den Frieden und den Wohlstand im Land wiederherzustellen!« »Zapperment und Zapperlot!« rief Hawkril verächtlich. »Das ist doch bloß ein altes Ammenmärchen! Eine Geschichte, um die Augen von Kindern zum Leuchten zu bringen. >Findet die Vier Verlorenen Steine, dann steigen Burgen wieder auf, brechen Berge zusammen und kommt das Goldene Zeitalter wieder über das Land! Dann werden alle dick und rund, dann haben alle mehr, als sie jemals brauchen können, und alle gefährlichen Tiere fliehen in die Nachbarländer! < Das letzte Mal habe ich solchen Unsinn von einem Kindermädchen gehört!« Die Prinzessin nickte. »In meinem Mädchenzimmer in der Burg finden sich auf meinem Buchregal immer noch drei Ausgaben der Sage von den Dwaerindim. Meine Lehrer haben sie mir früher so lange vorgelesen, bis ich den Text selbst entziffern konnte. Diese Bücher sind uralt. Wenn der Schlafende König wirklich einmal gelebt haben sollte, müssen seine Gebeine längst zu Staub zerfallen sein. Verratet mir, Sarasper, wie Ihr es anfangen wolltet, einen Haufen Staub wiederzubeleben?« Als der Alte ihnen nun antwortete, klang er nicht eigentlich wütend, sondern eher überdrüssig, so wie ein Lehrer angesichts einer lernunwilligen Schülerschar. 118 »Ich leide weder an einem zerrütteten Geist noch bin ich blauäugig wie ein Chorknabe. So kann ich Euch nur noch einmal versichern, dass ich die Wahrheit sage und nicht bloß irgendwelche alten Sagen wiedergebe. Oder haltet Ihr etwa die Schlange in den Schatten auch nur für ein altes Ammenmärchen?« »Sprecht Ihr etwa von diesem teuflischen Magier«, entgegnete Hawkril, »welcher heute nur noch von Giftmischern und ähnlichem Gelichter verehrt wird?« »Das war ein Zauberer -« begannen der Alte und die Prinzessin wie aus einem Munde. Dann brachen sie gleichzeitig ab und sahen einander eigenartig an. Sarasper verbeugte sich wie ein Höfling vor der Herrin und bedeutete ihr so, dass er ihr den Vortritt lassen wolle. Embra betrachtete ihn argwöhnisch, ehe sie ergeben nickte und das Wort ergriff. »Das war ein Zauberer, der etwas mit der Verzauberung der Vier Steine zu tun gehabt hat, dann aber irgendwann den Verstand verlor ... vielleicht war er auch schon vorher wahnsinnig gewesen. Jedenfalls hat er mehrere Rivalen ermordet, um so den Bann zu verstärken, welchen er auf die Dwaer legte. Irgendwann sind ihm dann die anderen Magier auf die Schliche gekommen und haben ihn zur Rede gestellt. In seiner Not hat er sich in eine Schlange verwandelt, um sich so davonstehlen zu können. Daraufhin haben die anderen ihm die Schlangenform auf Dauer verpasst. Er bewegt sich heute noch als Kriechtier fort.« »Wie, der Mann lebt noch?« entfuhr es dem Ritter. »Schwertmeister«, wandte der Heiler sich an Hawkril, »gibt es in ganz Darsar irgendetwas, woran Ihr freiwillig glaubt? Einmal abgesehen von dem Schwert in Eurer Hand und der nächsten Mahlzeit, welche den Weg in Euren Bauch finden wird? Oder besteht das Leben für Euch tatsächlich nur aus Beute, Bräuten und Bett?« »Alter Mann«, erwiderte Hawkril Anharu und sah sein Ge119 genüber die ganze Zeit an, »ich male mir in meiner Freizeit gern aus, was für ein besserer Ort Darsar doch wäre, wenn mehr Menschen sich eher um die mir wichtigen Dinge kümmerten, statt irgendwelchen Göttern hinterherzulaufen, jede Woche ein neues Königreich zu gründen und ihre Nachbarn zu erschlagen.« Er lächelte in sich hinein. »Und eines habt Ihr eben in Eurer Aufzählung vergessen: Schlaue Träume zu haben, gehört auch noch dazu.« Die Ritter, welche ihre Fackeln hoch über den Köpfen hielten, warfen Riesenschatten an die Wände. Wortlos führten sie die verhüllten Gestalten geheime Treppen hinauf in eine Kammer hoch oben in der Burg des Barons Ornentar. Teppiche bedeckten hier dicht an dicht die Wände. Die Luft flimmerte jedes Mal, wenn einer der Besucher zwei Wandteppiche auseinander schob und eintrat. Die meisten von ihnen wussten, dass es sich dabei um einen Abwehrbann gegen Spionagezauber handelte. Vielen war eine solche Vorsichtsmaßnahme hoch willkommen. Wenn Ornentars Fürstentum der Unterjochung durch Silberbaum entgehen wollte, durfte man auf gewisse Vorsorge gegen die Dunklen Drei von Faerod nicht verzichten.
Keinen der Besucher überraschte es daher, Zauberstäbe in den Händen des Mannes zu erblicken, welcher sich hinter dem Baron aufgebaut hatte. Oder die vielen Ritter zu sehen, welchen eine gespannte Armbrust im Schoss lag und die auch noch ein gezücktes Schwert bereithielten. Aber schließlich waren die Besucher ja auch nicht unvorbereitet gekommen. Dunkle Taten erfordern in Planung wie in Durchführung verzweifelte Maßnahmen. Zweifelsohne standen hinter jedem Wandteppich rings im Raum Bewaffnete bereit. Ritter, welche dem verzweifelten Mann dienten, der ihnen hier gegenübersaß. Alle, die hier erschienen waren, kannten den Fürsten Eldagh 120 vom Ansehen her, und auch sein Ruf war ihnen nicht fremd. Bei dem Baron von Ornentar handelte es sich um einen übergewichtigen Mann mit steinerner Miene. Seine dunklen Augen mit den schweren Lidern blickten ebenso finster wie tückisch drein. Dieser Mann hielt sich für gerissen und geschickt, benahm sich aber eher wie die Axt im Walde. Wer Eldagh näher kannte, wusste, wie sehr dieser Fürst von seinem Machthunger zerfressen wurde. Den Zauberer hinter dem Baron kannten die Besucher hingegen nicht. Dabei hatte dieser Mann dafür gesorgt, dass jeder Magier, welcher das Land Silberbaum verließ, unter Beobachtung gestellt wurde. Darüber hinaus wurde jede Form von Spionagemagie blockiert. Wer sich auch immer hinter dieser Maske verbergen mochte, bei ihm handelte es sich gewiss um kein Werkzeug Faerods. Viel eher hatte er dem Baron so lange den Rücken gestärkt, bis dieser genug Mut gefunden hatte, sich offen gegen Silberbaum zu stellen. Viele fanden sich in diesem Raum hoch oben in der Burg ein: große und breitschultrige Kriegsmänner mit schweren Schlachtschwertern an der Seite, unter deren Mänteln und Umhängen die Kettenhemden klirrten. Daneben aber auch einige schlankere und kleinere Herren, bei denen es sich wohl um Beschaffer handeln musste. »Der Rat ist vollständig zusammengetreten«, stellte der Baron schließlich fest. »Mögen nun alle Wachen vortreten.« Überall gerieten die Wandteppiche in Bewegung, und Ritter traten vor, um ihre eigentlichen Posten einzunehmen. »Ihr dürft nun Platz nehmen«, meinte der Fürst huldvoll, »und wem es gefällt, der mag seine Maske abnehmen.« Schließlich haben wir uns hier alle aus demselben Grund versammelt. Deshalb sollte es innerhalb dieser vier Wände auch keinen Hader geben.« Ein geflüstertes Wort hatte sie alle ihr Ränzel packen und die 121 Reise nach Burg Ornentar antreten lassen. Und dieses Wort lautete: Dwaer! »Die Gerüchte verbreiten sich rascher als ein Sonnenaufgang durch das ganze Gewundene Tal«, meinte der Baron nun, »und selbst in meiner eigenen Burg sind mir die wildesten Übertreibungen zu Ohren gekommen. Ihr Herren, fasst Euch nur noch ein wenig in Geduld, dann wird Urdras - ein Schreiber aus Sirlptar - das Wenige zusammenfassen, was wir mit Sicherheit darüber wissen.« Ein unscheinbarer, ruheloser und fahriger Mann mit grauem zurückgehendem Haar erhob sich von seinem Platz unweit des Barons, verbeugte sich vor der Versammlung und ließ dann die Hände in den Ärmeln verschwinden, so dass es so aussah, als würde er sich selbst umarmen. »W-Wie Ihr be-... wünscht, Herr«, begann er dann unglücklich. Schon nach wenigen Worten hielt Urdras es nicht mehr an Ort und Stelle aus und lief unruhig auf und ab. Die eckigen Bewegungen verliehen seinem Bericht eine besondere Dringlichkeit. »Vor einigen Tagen starb ein Zauberer, genauer gesagt, der Magier Yezund von Elmerna. Der hatte zu Lebzeiten behauptet, den Fundort eines der Dwaerindim entdeckt zu haben. Nein, nicht nur irgendeines Steins, sondern von Kandalath, dem Stein des Lebens. Dies sei ihm auf zweierlei Weise gelungen, berichtete er. Nämlich einmal durch seine Weitsuch-Zauber, dann durch das Studium uralter Texte und schließlich - nein, es ist also doch auf dreierlei Weise - auf Grund der Berichte, welche die Söldner mitbrachten, die er angeworben und zu bestimmten Orten geschickt hatte. Yezund behauptete nun kurz vor seinem Ableben Folgendes: dass nämlich der Stein Kandalath irgendwo in der Bibliothek eines verstorbenen Zauberers läge. Genauer gesagt in der zerstörten Stadt Indraewyn, beim Zauberer Erluth.« 122 Der Schreiber blieb stehen, hob den Kopf und sah sich erschrocken um, als würde ihm gerade erst bewusst, dass er hier vor Publikum redete. Schweigen, so schwer wie die Wandteppiche, empfing ihn von allen Seiten. Mehrmals hüstelnd fuhr Urdras nach einem Moment fort. »Yezund hat all dies in seiner gewohnt angeberischen Weise den Magiern mitgeteilt, welche sich mit ihm im Haus der Erhobenen Hand in Sirlptar versammelt hatten. Bei dieser Einrichtung handelt es sich um einen Club, zu dem nur Magier Zutritt erhalten. Yezund war Mitglied, nahm in dem Club aber keinen besonderen Rang ein. Wie dem auch sei, seine Ausführungen wurden von Hohn und Gelächter begleitet, und im Anschluss daran entwickelten sich lebhafte wie auch hitzige Debatten.« Der Schreiber schien sich nun eher in seinem Element zu fühlen. Er legte jetzt eine Kunstpause ein, um die
Spannung zu erhöhen ... bis er den brennenden Blick seines Fürsten im Rücken spürte und hastig fortfuhr. »Yezund verließ den Club kurz nach seinen Ausführungen und ging nach Hause. Als er die Straße der Lampen erreichte, wurde er dort von unsichtbaren Zaubern zerrissen. Vielleicht haben dieselben Magier dahinter gesteckt, welche noch in der Stunde seines Todes Yezunds Haus geplündert und in Brand gesteckt haben. Der oder die Mörder sind bis heute unbekannt, doch dürfen wir wohl davon ausgehen, dass jemand, der ebenso erbarmungslos wie zaubermächtig ist, diesen Dwaer unbedingt in seine Hände bekommen will!« Urdras verbeugte sich wieder und kehrte dann ohne weiteres Säumen auf seinen Platz zurück. Der Baron erhob nun wieder das Wort: »Habt Dank für Eure Ausführungen, Schreiber. Meine Herren, die Dringlichkeit dieser Neuigkeiten dürfte Euch gleich aufgegangen sein: Wer diesen Stein findet, kann damit die furchtbarsten Dinge anrichten. Wenn der Dwaer gar Silberbaum zufallen sollte, ist keiner 123 von uns in ganz Aglirta seines Lebens mehr sicher. Und deswegen haben wir uns heute hier versammelt. Sprecht nun und teilt mit, was Ihr uns zu sagen habt.« Zunächst kam es in der Runde nur zu allgemeiner Unruhe, doch dann erhoben sich mindestens drei Stimmen gleichzeitig. Der Baron hob schon eine Hand, um seine Ratsmitglieder zur Ordnung zu rufen. Aber da setzte sich schon ein dunkle Stimme donnernd durch. »Ich und viele andere, welche das Schwert tragen, möchte ich meinen, kennen die Dwaerindim aus den Geschichten unserer Mütter. Der Schreiber soll noch einmal vor uns treten und ausführen, über welche Fähigkeiten diese Steine wirklich verfügen. Wir wollen nichts von dem Unsinn hören, welchen unsere Mütter uns damals aufgetischt haben, und auch nichts von all dem Firlefanz, mit welchem die Zauberer für gewöhnlich solche Geschichten umkränzen, um uns Laien endgültig die Sinne zu verwirren!« Bei dem Sprecher handelte es sich um einen Hünen mit vielen Narben, welcher ziemlich weit hinten saß und einen grünen Umhang trug, in dem drei Schreiber von Urdas' Sorte Platz gefunden hätten. »Bei den Klauen des Finsteren!« brüllte einer der verhüllten Zauberer. »Müssen wir jetzt endlose Erläuterungen über uns ergehen lassen, bis es auch der letzte Einfaltspinsel begriffen hat?« »Ja!« donnerte ein Krieger nicht weit von ihm und fügte dann ebenso langsam wie kalt hinzu: »Uns >Einfaltspinseln< wäre das sehr angenehm.« Seine Entgegnung löste einiges Grinsen und viel Zustimmung aus, und auf ein Nicken des Barons hin erhob sich Urdras ein zweites Mal. Er zitterte jetzt jedoch so stark, dass man befürchten musste, er bekäme keinen einzigen zusammenhängenden Satz heraus. »Dieser Stein, also von ihm wird gesagt, nun, er könne Tote wieder zum Leben erwecken, also lebendig machen. Und dazu 124 kommen noch ein paar andere ganz hübsche, äh, starke Kräfte. Jeder Dwaerindim-Stein, nein, das heißt ja schon Stein, hat besondere Fähigkeiten, und noch viel mehr, wenn man sie alle zusammen benutzt. Dazu muss man alle vier beisammen, also zusammen haben. Und wenn man dann noch weiß, wie und worum man sie legen muss, vermag man über sie zu gebieten und kann noch so manches mehr bewirken.« »Mal abgesehen von dieser Totenerweckung, was macht einen solchen Stein wertvoller als ein Dutzend Mietzauberer?« wollte ein Krieger mit besonders tiefer Stimme wissen. Der Schreiber lächelte unsicher. »Vergeben mögen mir alle, welche hier sitzen und längst Bescheid wissen, aber zum besseren Verständnis will ich mich so einfach wie möglich ausdrücken. Zauberischer Einfallsreichtum, die Beherrschung der Magie und die Fähigkeit, Energie zu formen und zielgerichtet zu steuern, all das muss vom Magier selbst kommen. Aber die eigentliche Energie, welche allen Bannen zu Grunde liegt, kann man nur von zauberischen Gegenständen beziehen. Einfache Dinge wie Bachkiesel, aber auch entwickeltere wie die Handschuhe dort drüben ...« Alle schauten in die Richtung, in welche der Schreiber jetzt zeigte. Ein Krieger hatte seine Handschuhe ausgezogen und vor sich gelegt. Sie liefen die ganze Zeit über wie Spinnen auf ihren ausgestreckten Fingern auf und ab. Als der Kriegsmann bemerkte, dass ihm die allgemeine Aufmerksamkeit zukam, zuckte er die Achseln und meinte: »Wenn wir uns in der Nähe starker Zauberkräfte befinden, führen sie sich so auf. Hier dürften wohl die Abwehrbanne verantwortlich sein.« Urdras nickte heftig. »Ganz genau. Solche Gegenstände zeigen uns das Vorhandensein von Magie an, weil man Zauber in sie gesteckt oder auf sie gelegt hat, genau dies zu tun. Oder etwas anderes, ganz nach Wunsch. 125 Im Lauf der Zeit braucht sich ihre Zauberenergie auf und ist irgendwann vollständig erschöpft. Aber wir kennen auch Gegenstände mit dauerhafter Zauberkraft. Darunter verstehen wir solche, welche länger als ein Menschenleben wirksam bleiben. Mit ihnen kann man Zauber um Zauber bewirken, ohne dass die Energie jemals nachlässt. Solche Gegenstände entstehen, indem ein anerkannter Magier sein Leben dafür opfert. Viele Zauber würden
alles tun, um einen derartigen Gegenstand in die Finger zu bekommen. Bei einem Dwaer handelt es sich, wie nicht mehr schwer zu erraten sein dürfte, um ein dauerhaftes Zauberwerkzeug.« »Ihr habt gerade Geheimnisse ausgeplaudert«, meinte einer der verhüllten Magier leise, »und dafür werde ich Euch bei der ersten sich bietenden Gelegenheit töten. Schreiberling, auf der ganzen Welt findet sich kein Ort, an welchem Ihr Euch vor unseren Bannen verstecken könnt.« Mit hängendem Kopf und bleicher Miene setzte Urdras sich wieder hin, und schon im nächsten Moment brach er ohnmächtig auf dem Boden zusammen. Alle konnten deutlich erkennen, dass er sich in die Hose gemacht hatte. »Eure Zauber wirken ja wirklich schnell«, bemerkte jemand mit spöttischem Unterton. »Aber die von ihm ausgesprochenen Worte können nicht ungesagt gemacht werden«, bemerkte ein anderer Krieger. »Ich kann auch nichts Schlimmes darin erkennen, uns mit Wissen zu versorgen, welches uns im entscheidenden Fall weiterhelfen könnte.« »Indem er Euch gestärkt hat«, knurrte ein anderer Zauberer, »hat er uns geschwächt.« Der Baron schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Kein überaus lautes Geräusch, aber dennoch eines, welches für Ruhe sorgte. Dann ließ er seine Stimme vernehmen. »Kein Geheimnis währet ewiglich, außerdem sprechen wir hier über Angelegenheiten, welche weit über das kleinliche tagtägliche Machtgerangel hinausgehen. Ihr Herren, unser aller 126 Leben ist verwirkt, wenn dieser Stein in die falschen Hände gelangt!« »Ich glaube, wir sind uns alle einig«, warf ein Kriegsmann ein, »dass es sich bei diesen falschen Händen um die von Faerod Silberbaum handelt. Aber unter uns finden sich wahrscheinlich noch keine drei, welche sich darüber einig sind, wem denn nun die richtigen Hände gehören. Oder würdet Ihr etwa mir solche moralische Festigkeit zubilligen, solange ich nicht meine Schwertspitze an Eure Kehle hielte?« Das löste allenthalben heftigste Debatten aus, und jeder versuchte, den anderen zu übertönen, bis schließlich der Baron aufsprang und in die Runde donnerte: »Schweigt endlich!« Seine Stimme löste an allen Wänden, sogar durch die Behänge hindurch, Widerhall aus. Aber alle hielten wirklich die Luft an und drehten sich zu ihm um. »Jedem hier dürfte bewusst sein«, erklärte der Fürst nun, »dass dieser Punkt derjenige sein dürfte, welcher unseren Bund zersprengen und Uneinigkeit zwischen uns schaffen dürfte. Also werden wir keine Zeit mehr mit ihm vergeuden.« Er schaute die Männer einen nach dem anderen an, ehe er fortfuhr: »Heute Abend wollen wir uns lieber über die Gefahren und die Vorzüge dieses Steins austauschen. Damit die fähigsten Herren von ganz Aglirta - wir in dieser Runde hier -wissen, womit sie es zu tun haben. Wer auch immer den Dwaer schließlich in Händen halten wird, wir wollen nicht aus Unwissenheit eine Dummheit begehen. Sollten wir nicht die Unkenntnis am meisten von allem fürchten?« »Mit Ausnahme vielleicht des Ehedrachens zu Hause, welcher besser in Unkenntnis darüber gehalten wird, wann man heimkommt«, warf ein Recke ein. Zunächst schwiegen alle und überlegten, was er damit wohl gemeint haben könnte. Dann brachen jedoch alle in schallendes Gelächter aus. Der Mann hatte mit seinem Scherz die Spannung gelöst, welche sich vorher in der Kammer aufgebaut hatte. Als sich alle wieder beruhigt hatten, legte sich aufgeregte 127 Stille über den Raum. Die Ritter und Zauberer ahnten, welche Gefahren vor ihnen lagen. »Keinem von uns ist der Ehrgeiz fremd«, erklärte der Baron »doch einige von uns fürchten zu Recht das Schlimmste für sich. Dennoch fordere ich Euch auf, Magier von Ornentar, legt eure Kapuzen ab, und sprecht so offen, wie es dieser brave Schreiber hier vorhin gewagt hat. Uns bleibt wohl kaum noch ausreichend Zeit, einander mit Drohungen zu überschütten oder in Rätseln zu sprechen.« »Ihr sprecht wie stets die Wahrheit, Euer Durchlaucht«, entgegnete einer der Zauberer. »Den Verlockungen eines Dwaer kann kein Magier widerstehen. Doch geben die Zauberkundigen nicht nur und ausschließlich den Zwängen ihres Ehrgeizes nach. Viele von uns leiden an ebenso starken Ängsten, welche uns zu manchmal unsinnigen Vorsichtsmaßnahmen verleiten.« Der Mann zog vor aller Augen seine Kapuze zurück, und die meisten erkannten die ruhigen Gesichtszüge, welche nun sichtbar wurden, als die des Huldaerus, dem Meister der Fledermäuse. Dieser Titel erklärte sich daraus, dass er seine Zauberkräfte dazu einsetzte, Krieger mit Fledermausflügeln, mörderischen Klauen und vollkommenem Gehorsam ihm gegenüber auszustatten. Den Silberfluss hinauf und hinunter kannte und fürchtete man ihn. Ein Sänger hatte einmal auf einer Volksgerichtsverhandlung lauthals verkündet: »Das Schlimmste, was Aglirta widerfahren könnte, wäre ein Zusammengehen von Huldaerus und Silberbaum. Im ersten Jahr müsste das ganze Flusstal darunter leiden, im nächsten wäre der Rest des Landes an der Reihe.« Seitdem hatte man den Sänger nicht mehr gesehen. Der Zauberer, welcher neben ihm am Tisch saß, folgte nun seinem Beispiel. Unter dessen Kapuze kamen die feinen und leicht lächelnden Züge des Nynter von den Neun Dolchen zum Vorschein. Der Mann trug seinen Beinamen, weil er sich gern mit geflü128 gelten Flugdolchen umgab und sich nur unter ihrem Schutz sicher fühlte. Zu seinen weiteren Steckenpferden
gehörte es, kostbare Edelsteine und hübsche Sklavinnen zu sammeln. Er hatte seine Locken honigblond gefärbt, und in seinen Augen funkelte es lustig. Natürlich fürchtete man auch Nynter, aber kaum so wie Huldaerus weit über die Grenzen der Baronie hinaus. Das hing vermutlich damit zusammen, dass er längst nicht so viel und so weit reiste wie der Herr der Fledermäuse. Ein Stück von diesen beiden entfernt offenbarte sich nun ein dritter Magier - als der abstoßend aussehende Phalagh. Er galt ebenfalls als großer Sammler, und seine Vorlieben erstreckten sich auf Geld und die abgeschlagenen Köpfe von Menschen, welche seinen Unwillen ausgelöst hatten. Sein immer währendes Stirnrunzeln drohte allmählich, von der hohen Stirn immer weiter zusammengedrückt zu werden. Zusammen mit seiner gedrungenen Gestalt verlieh ihm das das Aussehen eines auf Beute lauernden Geiers. »Mein lieber Huldaerus«, begann der Baron nun leutselig, »eröffnete Ihr doch bitte unsere Debatte. Wenn schon nicht mit Euren eigenen Plänen und Überlegungen, so doch mit dem einen oder anderen Punkt, über den sich in unserer Runde trefflich streiten lässt.« Der Magier nickte zum Zeichen, dass er sich diesem Wunsch gern unterzöge. »Stellt Euch doch nur einmal vor, wir könnten die größten Zauberer der Geschichte wiedererwecken und dazu bringen, für uns in die Schlacht zu ziehen.« »Wirklich? Und wie wollen wir sie im Griff behalten?« donnerte der Schwertmeister mit seiner grollenden Stimme. »Und wenn dann alles erledigt ist und ganz Darsar uns zu Füßen liegt, wer wird dann in Wahrheit wen beherrschen? Sie uns oder wir sie? Und wie könnte man im Notfall etwas töten, das nur noch aus vermoderten Gebeinen besteht? Etwa mit Magie? Na, wer wird bei dem Zweikampf wohl den Kürzeren ziehen -sie oder wir?« 129 »Mit Hilfe des Steins könnten wir uns gegen alles schützen, was die Magier Silberbaums gegen uns schleudern!« »Am Leben bleiben, aber bis ans Ende unserer Tage ihre Sklaven sein, was? Und was sollte sie daran hindern, uns den Dwaer einfach abzunehmen? Eure Zauber etwa?« Der verhüllte Magier erstarrte vor unterdrücktem Zorn. Der Baron hob rasch eine Hand, um einen offenen Ausbruch von Feindseligkeiten zu verhindern. Nun fragte einer der Beschaffer: »Weiß man eigentlich irgendetwas Genaues über den Aufenthaltsort der anderen Steine? Soweit ich gehört habe, wirkt der besondere Zauber dieser Dwaerindim nur, wenn man mindestens zwei von ihnen einsetzt.« »Eure erste Frage lässt sich mit einem eindeutigen Nein beantworten«, erklärte Huldaerus. »Was Eure zweite Frage angeht, so haben wir es mit allerlei Sagen, Geschichten und uralten angeblichen Berichten zu tun, die alle auf das Wildeste fabulieren, welch ungeheuerliche Kräfte von den Steinen freigesetzt werden könnten ... Mit Gewissheit wissen wir allerdings nur dies: Die Dwaerindim wirken erst dann gemeinsam, wenn man sie in einer bestimmten Reihenfolge hinlegt. Und dazu müssen auch noch die richtigen Beschwörungen gesungen werden.« »Um welche Zauberkräfte geht es, wollen wir endlich erfahren, Mann!« grollte ein Ritter. »Oder handelt es sich dabei ebenfalls um Geheimnisse, die Laien niemals erfahren dürfen, weil man sie sonst auf der Stelle töten muss?« Huldaerus lächelte humorlos. »Wie ich bereits ausgeführt habe, besteht über diese besonderen Kräfte weitgehend Uneinigkeit. Am bekanntesten dürfte darunter wohl der Weckruf sein - schließlich weiß jedes Ammenmärchen damit zu gruseln. Wenn man alle vier Steine in einer bestimmten Ordnung anbringt, vermag man, den Schlafenden König zu wecken und herbeizurufen.« Von allen Seiten hörte man Schnauben und andere abfällige Geräusche. Aber der Erzmagier lächelte nur und meinte nach 130 einer Weile: »Wenn man sie aber in einer anderen Reihenfolge hinlegt, weckt man nicht ihn, sondern seinen uralten Erzfeind, die Schlange der Schatten.« »Das ist doch wieder nur dummes Zeug von irgendwelchen fahrenden Sängern!« erregte sich ein Kriegsmann. »Zauberer, Ihr verschwendet unsere Zeit!« Der Verhüllte, welcher hinter dem Baron stand, hob beide Zauberstäbe, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen (was ihm auch sofort gelang). Dann zischte er: »Keinessswegsss! Isss habe mein halbesss Leben lang die Ssslange ssstudiert und beherrssse nun die Sssauber, mit welsssen sssisss ihre Wildheit sssteuern lässst. Sssie tötet nun nur noch diejenigen, welssse isss ihr bessstimme. Die Ssslange gibt esss wirklisss. Mindessstensss drei Ssstäd-te liegen heute vergesssen und zugewuchert da, weil ihre Bewohner ebenfallsss glaubten, die Ssslange sssei nur eine Erfindung, um Kinder zu ersssrecken. Oder aber sssie meinten in ihrer Verblendung, mit ihr leissst fertig werden zu können. Die Ssslange hat sssie alle vernichtet und die Bewohner verssslungen. Sssie entnimmt jedem Geissst etwasss, welsssen sssie in sssich aufnimmt! Bringt mir die Ssslange, und isss erobere Eusss mit ihr ganz Darsssar!« Ein Magier, welcher sich ebenfalls noch bedeckt hielt, klopfte nun mit seinem eigenen Zauberstab auf den Tisch und verlangte: »Das hört sich für mich wie ein Schlangendiener an! Ich will wissen, wer hier solche Rede führt!«
Allgemeines zustimmendes Gemurmel folgte diesen Worten. Das erstarb jedoch gleich, als die Gestalt an der Seite des Barons die beiden Zauberstäbe ablegte, sich an die Kapuze griff und diese langsam zurückschob. Darunter trat kein menschliches Gesicht zutage, sondern eines, welches sich aus grüner Haut, Schuppen und Schlitzaugen zusammensetzte. Dazu kamen lange Zähne und eine gegabelte Zunge. 131 »Mit Verlaub, meine Herren, isss bin Priester der Ssslange.« Ein verhüllter Magier meinte spöttisch: »Wirklich? Dabei gibt es doch nur die Drei Götter!« Der Schlangenkopf drehte sich in seine Richtung und verzog die dünnen Lippen zu einem Lächeln: »Dem mag ich auch gar nissst widerssspresssen. Indem isss der Ssslange diene, diene isss dem Dunklen. Einesss ssseiner Tentakel verlieh mir diessse Sssuppen und Reissszähne - und eine Ewigkeit, sssie zu benutsssen. Kann jemand von eusss das Gleissse für sssisss in Ansssprusss nehmen?« In der angespannten Stille, welche nun einsetzte, zog sich ein Augenpaar hinter einen Wandteppich zurück und verfolgte den Verlauf der Versammlung nicht mehr. Der Baron und seine Magier hätten sich sehr gewundert, hätten sie von diesem Beobachter gewusst. »Nun haben wir genug kluge Worte gewechselt«, brummte Sarasper und sah die drei Gefährten der Reihe nach an. »Wir kennen nun Eure Wünsche und meinen Preis. Ihr flieht vor einer großen Gefahr und einem mächtigen Feind, ich biete Euch einen Traum, dem Ihr in den nächsten Jahren folgen dürft. In diesem Traum bekommt Ihr eine Straße zu sehen, welche aus dem Tod und der Gewaltherrschaft führt, welche heute das regieren, was von Aglirta übrig geblieben ist. In diesem Land trifft man heute häufiger Verbrecher, Tyrannen und Ungeheuer an als brave Bauersleute und Handwerksgesellen. Und selbst unter Letzteren findet man kaum jemanden mit einem glücklichen Lächeln und einem Herzen ohne Furcht.« Der kleine Mann zuckte träge die Achseln. »Vielleicht schert Euch ja die Zukunft des Landes, in welchem Ihr das Licht der Welt erblickt habt, keinen Deut. Gut möglich, dass Euch allein die nächste Mahlzeit wichtig ist und Ihr ansonsten nur Eure Ruhe haben wollt... Wenn das zutreffen sollte, kann ich Euch gern den Weg nach 132 draußen zeigen. Oder Euch auch auf einen Satz verschlingen, wenn Ihr mir dumm kommen solltet. Wahrscheinlich werde ich Euch zu guter Letzt sowieso auffressen, und sei es nur, um mein Geheimnis zu bewahren. Doch wenn sich mir durch Euch die Gelegenheit bieten sollte, dem Willen der Vorväter zu folgen, würde mir sicher das Herz übergehen und ich nicht wissen, wohin mit all meiner Güte ...« Er zuckte wieder die Achseln. »Die Entscheidung bleibt aber natürlich ganz allein Euch überlassen. Ich will Euch nicht beeinflussen.« Der Heiler schwieg und schien es auch gar nicht eilig zu haben, wieder das Wort zu ergreifen. Craer brach als Erster das Schweigen und sah den Ritter an. »Hawkril, ich habe Euch in diese Sache hineingezogen, und ...« Der Krieger winkte ab. »Ich bin festen Willens, mit Euch zu gehen, und folge Euch, wohin Eure Füße Euch auch tragen mögen. Ich glaube, dieser Heiler dort wird von wirren Träumen geplagt. Aber wir alle müssen irgendwelchen Zielen folgen, sonst landen wir eines Tages im Grab, ohne das Geringste geleistet oder gesehen zu haben. Mit anderen Worten, entscheidet Ihr, ich bin dabei.« Craer schüttelte langsam den Kopf: »Mir gefällt keine von den Möglichkeiten, welche uns offen stehen ...« Noch langsamer als vorhin zu seinem Freund, dem Ritter, drehte er nun den Kopf in Richtung der Prinzessin. Embra starrte alle drei an und senkte dann den Blick zu Boden, ohne sich in irgendeiner Weise geäußert zu haben. »Sprecht!« forderte Hawkril sie schließlich mit seiner Donnerstimme auf. Die junge Silberbaum hielt seinem Blick eine Weile stand, ehe sie leise begann: »Ich spüre in mir keinen Mut, Rache an meinem Vater üben zu wollen. Und sonst tut sich in mir ebenfalls nicht viel. Ich weiß auch nicht, ob ich mich je wieder an die Magie heranwagen darf, jetzt, da alle Verbindungen gekappt sind ...« 133 Sie verzog den Mund, als wolle sie einen Soldatenfluch von sich geben, doch als sie dann weitersprach, klang sie erstaunlich ruhig. »Männer aus Schwarzgult, Ihr habt es gewagt, mir beizustehen. Und nun glaube ich, dass wir diesem einsamen kleinen Mann hier helfen müssen, dass wir den dazu nötigen Mut aufbringen müssen. Wenn wir einfach fortgingen und ihn hier zurückließen, könnte ich wohl nie wieder ruhig schlafen. Ein andere Möglichkeit bliebe uns aber nicht, denn wir würden uns ja doch nie getrauen, ihm mit der Waffe in der Hand gegenüberzutreten. Auch würde ich niemals Stolz darüber verspüren, ihn bekämpft zu haben. Nicht einmal dann, wenn wir durch irgendeine wunderbare Fügung der Götter den Sieg errängen! Wir müssen auch endlich damit aufhören, jeden, dem wir begegnen, als Feind anzusehen, welchen man bezwingen muss!«
Sarasper kehrte ihnen unvermittelt den Rücken zu. Die anderen wussten zunächst nicht, was sie davon halten sollten. Dann sahen die drei die feuchten Stellen auf den Steinen und errieten, dass das Männlein weinte. In seiner Scham rief der Ritter frisch: »Wenn wir uns alle einig sind, gründen wir vier eine Abenteurergruppe. Dann müssen wir uns aber einen Namen ausdenken, sonst hängen die Sänger uns noch irgendeine blödsinnige Bezeichnung an. Hat einer eine pfiffige Idee?« »Aber klar doch«, riefen Craer und Embra wie aus einem Munde und mussten gleich beide grinsen. Sie sahen sich an, und aus dem Grinsen wurde ein Kichern. Das nahm immer mehr an Lautstärke zu, und bald lachten alle vier aus vollem Hals. Vier verzweifelte und ohnmächtige Gefährten ... »Dann sind wir eben die Viererbande«, schlug Sarasper fast schüchtern vor. »Zumindest so lange, bis uns eine Eingebung befällt und uns mit etwas Gescheiterem versorgt!« »So soll es sein!« rief Craer etwas zu laut und mit leisem Zö134 gern. Dann verzog er spöttisch den Mund und erklärte der Prinzessin hochnäsig: »Ihr habt es gehört, Embra. So fang schon einmal damit an, eine große Ballade über uns zu schreiben!« »Das soll Euch noch Leid tun«, flüsterte sie ihm mit einer Stimme zu, von deren Schnurren man sich besser nicht täuschen ließ, »und für Euch heißt es immer noch Edle oder Fräulein!« Alle drei Männer verzogen das Gesicht, aber als Embra dann eine Hand ausstreckte, legten die anderen gleich willig die ihre darauf. Langsam und unaufdringlich schoben sich die vier Hände zusammen. Vier Augenpaare trafen sich und teilten die gemeinsam empfundene Furcht. Nicht einem von ihnen stand der Sinn nach Jubelrufen, aber auf der anderen Seite hatte es auch keiner von ihnen besonders eilig damit, seine Hand zurückzuziehen. Fünf Banne und Geheimnisse Hawkril beobachtete, wie der Heiler ihm die Hände auf die Rippen legte. Erst jetzt ging ihm auf, dass er die ganze Zeit die Luft angehalten hatte, bis er es nicht mehr aushielt. Als das eiskalte und gleichzeitig warme Prickeln sich von den Rippen ausbreitete und im ganzen Körper verteilte, atmete der Ritter lange und rasselnd aus. »Ooh-ooh!« stöhnte er in schierer Freude, als er spürte, wie aller Schmerz hinfort gefegt wurde. »Wie überaus angenehm, davon befreit zu sein.« Hawkril atmete einmal tief ein und aus, spürte wahrhaftig keinerlei Pein mehr und blickte schließlich auf den ergrauten Kopf, welcher sich gerade über ihn beugte. »Verratet mir doch einmal, wie es kommt, dass Zauberer Blitze verschleudern und ganze Burgen zum Einsturz bringen, um danach weiterzugehen, als sei nichts geschehen ... während gleichzeitig Heiler sterben, wenn sie zu viele gesund gemacht haben?« »Die Heilkraft kommt von innen«, antwortete Sarasper, ohne das Haupt zu heben. »Die Drei gewähren diese Gabe nur sehr wenigen. Magier hingegen beziehen die Energie, welche sie für ihr Tun benötigen, aus anderen Quellen.« »Ihr meint die Zaubergegenstände? Na ja, wer hat denn dann den ersten Gegenstand verzaubert, um sich an dessen Energie bedienen zu können?« »Oh, diese Frage kenne ich«, stöhnte Craer, der an der Wand hockte. »Priester, welche vorher noch einen ganz vernünftigen Eindruck gemacht haben, fallen bei der Beantwortung übereinander her, weil sie sich einfach nicht einig werden können. 136 Allgemein geht man von Seiten der Priester heute davon aus, dass der erste Gegenstand von den Göttern, den Dreien, selbst angefertigt wurde. Auch viele Magier neigen zu dieser Ansicht. Andere hingegen schreiben den ersten Gegenstand einem alten Magier zu, welcher dafür sein Leben gegeben haben soll, ein Ding zu schaffen, an dessen Energie sich all seine Nachkommen bedienen sollten.« Er ließ den Blick über die der Wand und dann auf die Herrin der Edelsteine schweifen und fragte sie herausfordernd: »Oder sagen Eure Bücher vielleicht etwas anderes darüber?« Embra antwortete ihm mit einem bitteren Lächeln, das ihr aber rasch wieder verging. »Sie berichten von so vielen verschiedenen Ursachen, dass man nicht eine davon glauben kann.« Die Prinzessin lehnte den Kopf wieder an die Wand und seufzte. Craer sah sie eigentümlich an: »Seit wann fühlt Ihr Euch wie ausgelaugt?« »Das hat erst vor kurzem angefangen.« Sie schloss die Augen. Der Beschaffer beobachtete sie für eine Weile und raffte sich dann auf, um sich zu dem Heiler zu begeben. Dort angekommen, legte er Sarasper eine Hand auf die Schulter und deutete auf die junge Frau. Das Männlein warf einen Blick auf Embra und nickte. »Ich bin hier fast fertig. Die Organe Eures Freundes hatten ganz schön Schaden genommen. Da hättet Ihr mit Euren Arzneien gar nichts mehr bewirken können. Aber der Mann hat die körperliche Verfassung eines Pferds.« Damit wandte er sich an Hawkril und raunzte ihn an: »Ihr bleibt jetzt endlich einmal still liegen, während ich mich um die Edle kümmere. Je länger Ihr Euch nicht vom Fleck bewegt, desto gründlicher spürt der Heilzauber alle Ecken auf, in welchen es noch wehtun könnte.« Sarasper wartete eine Entgegnung gar nicht erst ab, sondern
137 erhob sich und durchquerte in eigenartiger Schrittfolge den Raum: einerseits schwankend und steifbeinig wie jemand, der schon zu viele Jahre gesehen hat, und andererseits forsch und zielstrebig wie ein Krieger, der in der Schlacht seinen alten Feind erspäht hat. Dennoch stieß er unmittelbar neben Embra mit der Wand zusammen, schnaubte wegen der unerwarteten Schmerzen und legte dann der jungen Frau eine Hand auf die Wange. Sie öffnete die Augen, schloss sie aber gleich wieder und lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht an die Hand. Der Heiler befürchtete schon, sie könne eingeschlafen sein. »Zauber und Banne liegen auf ihr«, erklärte er den beiden Abenteurern. »Da frage ich mich doch, ob sie sich die selbst auferlegt hat oder ob wir es hier mit dem finsteren Treiben der Silberbaum-Magier zu tun haben.« »Alle meine Zauberkraft ist aufgebraucht«, flüsterte die Prinzessin an seiner Hand. »Die Gefährten haben heute Nacht die Bindungen gebrochen, welche mein Vater mir auferlegt hatte. Ich weiß allerdings nichts über deren Machart oder Wirkung.« »Hat Euer Vater jemals befohlen, Euch mit Zaubern zu versehen, welche Euch ewig jung erhalten oder etwas an Eurem Aussehen verändern sollten?« Sie lächelte matt und erwiderte, ohne die Augen zu öffnen: »Nein, alles, was Ihr vor Euch seht, stammt immer schon von mir.« »Dann muss es sich bei den von Euch festgestellten Bannen eindeutig um das Werk von Silberbaums Magierknechten handeln!« grollte der Ritter. »In diesem Fall hält mich nichts davon ab, sie zu brechen«, verkündete das Männlein. »So etwas vermögt Ihr?« rief Hawkril und richtete sich auf einen Ellenbogen auf, um nur ja nichts von dem zu verpassen, was sich gleich hier tun würde. Als der Abenteurer hinstarrte, sah er schon, wie Embra unter 138 der Hand des Heilers mit Armen und Beinen austrat. So wie ein Pferd, das man erschreckt. Danach zitterte sie ohne Unterlass. Die Prinzessin bog den Rücken durch, und als ihre Lider hochfuhren, war darunter nur das Weiße in den Augen zu erkennen. Ein paar Momente später sackte die junge Frau schlaff wie ein leerer Sack zusammen und schloss im Fallen die Augen. Als Sarasper die Arme um Embra legte, klapperte sie mit den Zähnen. Der Heiler meinte: »Jeder kann einen Zauber brechen, wenn er nur weiß, wie das geht. Nur sich selbst von einem Bann zu befreien, das geht nicht.« Schweißtropfen bedeckten das Gesicht des Männleins, und seine Haut verdunkelte sich. »Soll das etwa heißen«, fragte Hawkril, »dass jeder Zauberer werden könnte, wenn er nur genug lernt?« »Fast jeder«, entgegnete das Männlein unwirsch, als die Prinzessin ihn mit ihrem Zittern gegen die Wand schleuderte. Adern traten auf seiner Stirn vor, während er mit der jungen Frau rang, um nicht die Gewalt über sie zu verlieren. »Natürlich erfordert das Erlernen der Zauberkunst mehr Geduld, als die meisten Menschen aufzubringen vermögen. Weiters bedarf es eines eisernen Willens, um eine einmal in Angriff genommene Aufgabe auch bis zu Ende durchzuführen, und eine gehörige Portion Kaltblütigkeit schadet auch nicht... Deswegen treten Zauberer ja auch gern so großmächtig, geheimnisvoll oder finster auf. Sie möchten das Volk glauben machen, nur Auserwählte könnten Magier werden. Dann rennen ihnen auch nicht so viele verblendete Jungen und Mädchen hinterher, welche bei ihnen in die Lehre gehen wollen -« Nicht ganz freiwillig unterbrach der Heiler seine Ausführungen und stieß einen schrillen Schmerzensschrei aus, als Embras Hiebe ihn zu Boden schleuderten und er unangenehm auf dem Ellenbogen landete. Unter heftigen Flüchen rollte er sich von ihr fort. Die Prinzessin drückte sich an die Wand und schubberte ihren Rücken wie ein Hund, der sich auf einer Fußmatte wälzt. 139 Danach lag sie ganz still da und regte sich nicht mehr. Dafür schien Sarasper das Zittern von ihr übernommen zu haben. Er schlang die Arme um sich, als wolle er sich festhalten. Dieser Anblick erinnerte Hawkril an verwundete Krieger, wie sie nach einer Schlacht am Lagerfeuer hockten. Bis ihm auffiel, dass der Mann sich nicht den jüngst verletzten Ellenbogen hielt. »Freund?« fragte der Ritter gleich besorgt. »Fehlt Euch etwas?« Das Männlein schwitzte aus allen Poren und wirkte tatsächlich so grau und erschöpft wie ein verwundeter Soldat. Unwillig entgegnete der Heiler: »Mir geht es ausgezeichnet. Könnte gar nicht besser sein. Ich könnte tanzen und springen vor Freude!« Sarasper erlitt unvermittelt einen Hustenanfall und kippte vornüber. Die beiden Männer sahen sich unbehaglich an, als der Heiler jetzt würgte, spuckte und stöhnte. Als der Kleine nach sehr langer Zeit aufhörte zu zittern und nicht mehr ganz so mühsam und rasselnd atmete, konnte er den Kopf wieder heben, die beiden Männer anstarren und sie anfahren: »Ihr habt nicht die geringste Vorstellung, wie ein Heiler arbeitet, nicht wahr?« Er drehte sich aber gleich zu der Prinzessin um und bekam so nicht mit, wie Hawkril und Craer schweigend den Kopf schüttelten. Das Männlein suchte Embras Gesicht ab und schien dort etwas zu entdecken, was ihm Zuversicht und
Zufriedenheit gab. Dann legte er sie bequemer hin und bedeckte die Stellen wieder, wo sie sich freigestrampelt hatte. Nun gestattete er sich ein tiefes Seufzen und wandte sich wieder den beiden Männern zu. Hawkril bemerkte langsam: »Das hat ja ganz schön nach Arbeit ausgesehen. Jedenfalls hat sie sich nie so angestrengt, wenn sie einen Zauber wirkte ...« Er zögerte, und man merkte ihm an, dass er noch mehr auf dem Herzen hatte. 140 Endlich getraute er sich, das zur Sprache zu bringen: »Könnte auch ich es zuwege bringen, einen Bann zu schleudern?« Er klang, als habe er noch nie so viel Mut aufbringen müssen. Sarasper drehte den Kopf in seine Richtung, ohne die Hände von den Schultern der Prinzessin zu nehmen. »Irgendwann einmal ... vielleicht ... wenn die Not groß genug ist ... Aber vorher müsst Ihr Euch von etwas Wichtigem trennen.« »Von was denn?« »Eurem gesunden Menschenverstand. Um als Zauberer einigen Erfolg zu haben, hilft Wahnsinn doch beträchtlich.« Der Ritter schnaubte verächtlich und erwiderte spöttisch: »Danke für diesen klugen Rat. Ich will versuchen, ihn zu beherzigen.« Unter den Händen des Heilers ertönte ein leises Geräusch: Embra kicherte. In der Ratskammer von Burg Silberbaum, in welcher sich die Hofmagier immer unwilliger versammelten, sahen sich Ingryl Ambeiter und Klamantel Beirldoun mit großen Augen an und schüttelten den Kopf. Dann schauten sie wieder nach vorn zu dem Tisch, an welchem Faerod Silberbaum mit einem Kelch Wein in der Hand saß und Löcher in die Luft starrte. Vermutlich stand er kurz davor einzuschlafen. Markoun hatte das sicher kommen sehen und sich deswegen unter einem Vorwand in sein Gemach zurückgezogen. Von wegen, dass dringende Forschungen keinen Aufschub duldeten! Er hatte sich dort aufs Ohr gelegt und schnarchte vermutlich schon. »Euer Durchlaucht«, begann Klamantel vorsichtig, räusperte sich und wusste danach nicht so recht weiter. Sein Herr hatte sich überhaupt nicht geregt. Der Baron starrte immer noch in die Ferne und hockte wie gelähmt da. »Edler Fürst«, versuchte es nun Ingryl und trat einen Schritt 141 auf ihn zu, »wir haben gerade beide gespürt, wie der Bann um die Prinzessin zerbrochen ist und sich dann in Luft aufgelöst hat. Damit können wir von jetzt an nicht mehr in Erfahrung bringen, wo sie sich befindet oder ob ihr, mögen die Götter sie davor bewahren, etwas zugestoßen ist.« Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, erklärte der Baron seinem Kelch: »Bei den Warzen der Gehörnten Herrin! Vernichtet sie! Werft sie und alle in den Staub, welche sich mir in den Weg stellen!« Ruckartig wie ein Falke hob er den Kopf und starrte so durchdringend wie ein Flammenschwert um sich. »Ihr werdet sie suchen und finden. Nehmt meine Tochter auf der Stelle in Gewahrsam, und haltet Euch gar nicht erst mit sanften Zaubern und anderen Wohltaten auf.« Sein Blick wurde immer lodernder, während seine Stimme den Tonfall nicht wandelte: »Ihr dürft ausdrücklich jeden Bann einsetzen, welcher die Prinzessin nicht tötet, verstümmelt oder dauerhaft entstellt... Wenn es sein muss, legt meinetwegen den Palast Silberbaum in Schutt und Asche!« »Doch, es geht mir schon besser«, teilte Embra ihnen leise mit. »Ich fühle mich nur etwas leer. So, als habe etwas mich endgültig verlassen ... sei mir gewaltsam genommen worden ...« Sie zuckte die Achseln. »Ach, ich weiß auch nicht, wie ich es erklären soll. Vielleicht sollte Hawkril wirklich lernen, ein großer Magier zu werden.« Craer verdrehte die Augen. »Ich fürchte, wir können es uns nicht leisten, so viele Jahre zu warten! Aber im Ernst, wir haben hier lange genug herumgetrödelt. Unser lieber Baron wird wohl kaum dasitzen und Däumchen drehen, während wir mit seinem Töchterlein auf und davon sind.« »Wenn seine Schergen durch diese Tür dort eindringen wollen«, knurrte der Ritter, »müssen sie aber lange und tief graben.« »Auch dafür gibt es geeignete Zauber«, klärte Sarasper ihn 142 auf. »Mit dem rechten Bann lässt sich jeder Stein in die Luft heben und wie ein Geschoß hier drinnen auf uns schleudern. Damit zerschmettern sie uns die Glieder, bis wir uns nicht mehr von der Stelle rühren können. Je nachdem, was für Zauberer Seine Durchlaucht beschäftigt...« Er drehte sich zu der Prinzessin um und fragte sie zornig: »Welche Magier arbeiten eigentlich für Euren Vater?« »Ingryl Ambeiter, der einst bei Gadaster Mulkyn lernte und der Gefährlichste von den dreien sein dürfte. Dann Klamantel Beirldoun, ein ruhiger und kalter Mann, über den ich sonst nichts weiß. Und schließlich ein ehrgeiziger Jüngling von außerhalb des Tals, der sich selbst für unwiderstehlich hält. Markoun Yarynd heißt er, und wenn ich mit ihm im selben Raum bin, zieht er mich mit seinen Blicken aus. Ich halte alle drei für ebenso grausam wie berechnend.« »An Gadaster kann ich mich erinnern«, meinte Sarasper, »und ich habe auch von seinem Tod gehört. Seinen
Lehrlingen bin ich gelegentlich begegnet, also wohl auch Ingryl das eine oder andere Mal. Aber er hat wie die anderen keinen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Doch ich stimme Euch zu: Wenn diese Magier für Euren Vater arbeiten, müssen sie ebenso fähig wie kaltherzig sein. Auf welche Vorhaben hat der Baron sie im Besonderen angesetzt?« Embra zuckte die Achseln. »Natürlich um Mittel und Wege zu finden, ganz Aglirta unter seine Herrschaft zu zwingen. Wenn dabei der eine oder andere Bewohner von Schwarzgult oder ein des Wegs kommender Zauberer über die Klinge springt, sei's drum ... Die drei haben auch versucht, mich in eine Lebende Burg< umzuwandeln. Ich weiß nicht, ob dieser Ausdrucke Euch etwas sagt...« »Ein Zauber, von dem Gadaster behauptet hat, ihn vervollkommnet zu haben.« Das Männlein nickte vor sich hin. »Man beginnt damit, den Betreffenden zu binden. Sobald dessen Geist nach dem Willen des Magiers umgewandelt worden ist 143 und das erfordert nicht nur die rechten Banne, sondern auch viel Zeit -, schneidet man dem Opfer die Arme an den Schultern ab. Die Hände dienen dann dazu, dem Zauberer alles aus der Burg zu besorgen, wonach ihn gerade verlangt, oder irgendeinen Anschlag zu verüben oder was auch immer. Danach zapft der Magier dem Opfer Blut ab, ein Vorgang, welcher sich über etliche Jahre hinzieht. Denn der Mörtel zwischen jedem Stein in der Burg muss mit einem oder mehreren Tropfen des Lebenssaftes bestrichen werden ...« Der kleine Mann verzog das Gesicht und wandte sich ab. »Ich habe vermutlich zu viel Schund gelesen.« Die Prinzessin nickte langsam vor sich hin, aber Hawkril bebte, ruderte mit den Armen durch die Luft, als wolle er sich eines Ansturms von teuflischen Zauberern und armlosen höheren Töchtern erwehren, und reckte schließlich sein Schwert. »Was ist mit diesem Ort hier?« verlangte der Ritter zu erfahren. »Einst war er der Sitz der Silberbaums, aber warum hat man ihn verlassen? Wieso gilt das Haus als verwunschen? Und aus welchem Grund wurde Embra so wütend, als wir hier anlangten?« Craer seufzte, und Sarasper und die junge Frau grinsten sich an. »Wo soll ich beginnen?« fragte der Heiler den Raum als Ganzes und an niemanden Besonderen gerichtet. Dann wandte er sich an die Prinzessin. »Dieses Haus gehört Eurer Familie, mein Fräulein. Also genießt Ihr auch das Vorrecht, seine Geschichte zu erzählen.« Embra schüttelte den Kopf. »Das würde Tage dauern, und so viel Zeit haben wir nicht. Also, dieses Gebäude wird das >Schweigende Haus< genannt, weil seine Besitzer hier nicht leben können. Deswegen steht es auch leer, wie alle Welt glaubt. Offiziell heißt es Haus Silberbaum und war einmal der Stammsitz der gleichnamigen Barone.« Seufzend starrte die Prinzessin kurz an die Decke und fuhr dann im Stil eines Fremdenführers fort: »Erbaut im Mittelneu144 alten Stil wurde das Haus bald als Wohnstätte aufgegeben und diente fortan als Grablege für die Familie. Zu jener Zeit legte der mächtige Zauberer Harabrentar zu ebendiesem Behuf einen starken Bann auf das Gemäuer. Danach soll jeder aus dem Blute derer von Silberbaum, welcher länger als einen Monat in diesem Haus lebt, sich langsam und unwiderruflich in ein ebenso gefährliches wie abstoßendes Ungeheuer verwandeln, das seine Tage von allen verfolgt im Wahnsinn beschließen wird. Dass dieser Zauber wirkt, ist im Lauf der Jahrhunderte schon mehrere Male drastisch bewiesen worden. In der Regel hat ein selbst für unsere Verhältnisse besonders selbstherrlicher Baron Silberbaum beschlossen, sich einen feuchten Kehricht um Flüche zu scheren. Oder aber ein aufrührerischer Sohn musste fliehen und hat sich in seiner Not keinen anderen Rat gewusst, als sich hier zu verbergen. Das Ungeheuer sieht ungefähr aus wie die Nachtlindwürmer, welche die Magier meines Vaters erschaffen mussten, nur dass es nicht fliegen kann.« Embra hatte sich beim Reden erhoben und stolzierte seitdem durch den Raum. Hawkril ließ sie in keinem Moment aus den Augen, hatte eine grimmige Miene aufgesetzt und das gezückte Schwert auf dem Schoß liegen. »Seitdem ist dieses Haus zu einem verwunschenen Ort geworden«, führte die Prinzessin jetzt aus. »Weder Strauchdiebe noch Wanderer wagen sich hinein wegen der Geschichten, die darüber im Umlauf sind, und wegen der Fallen. Ihr wisst schon, Falltüren, Steinschlag aus der Decke oder Wände, aus denen unerwartet Dolche fliegen ... Letztere Nettigkeiten sind jedoch erst vor wenigen Jahrhunderten hinzugefügt worden, von Baron Suldaskes Silberbaum, welcher vor allem verhindern wollte, dass eine verfeindete Familie das Anwesen in ihren Besitz brächte, um mitten auf unserem Land eine Art Festung zu errichten.« Ihr Blick fiel auf den Ritter. Sie lächelte schief und fuhr fort: 145 »Bitte sehr, das war die Touristenfassung. Als junges Mädchen wollte ich diesen Ort gern genauer erkunden, aber meine Lehrer haben mir das stets verboten. Sie meinten, niemand wisse so genau, was mit dem Monat gemeint sei: ob man den an einem Stück im Haus verbringen müsse, oder ob die einzelnen Tage im Lauf der
Jahre zusammengezählt würden, bis man einen Monat voll habe. Nur dass man sich in die wahnsinnige Bestie verwandle, daran könne kein Zweifel bestehen ...« »Was haben sie Euch über Spuk und ähnliches gesagt?« fragte Hawkril leise und mit großen Augen. »Treiben hier Gespenster ihr Unwesen?« Der Blick des Schwertmeisters huschte über das halbe Dutzend dunkler Gänge, welche von diesem Raum ausgingen. Man hätte meinen können, er erwarte jeden Moment, dort einen Geist zu sehen. Als nach einer Weile nichts dergleichen geschehen war, wirkte Hawkril nicht im Mindesten enttäuscht. »Sogar jede Menge«, antwortete die junge Frau, als wollte sie ihm eine Freude bereiten. »Die meisten sind harmlos und plagen einen nicht. Sie rollen höchstens mit den Augen, das ist aber auch schon alles.« »Aber es gibt auch andere », schloss der Abenteurer messerscharf. »Eines sollte ich wohl hinzufügen, wenn Ihr gestattet, mein Fräulein«, warf Sarasper ein. »Dieses Haus steckt voller Gegenstände mit magischer Energie. Nichts Weltbewegendes. Die meisten wurden vor längerem von den Silberbaums versteckt. Einige aber auch in der jüngeren Vergangenheit von mir ... Beides zu dem Zweck, diese Dinge aus der Reichweite der eher wagemutigeren Eindringlinge zu verbringen. Einige davon dürften sicher dazu angetan sein, Eure Zauberkräfte aufzufrischen...« Embra hob sofort den Kopf. »Eine ausgezeichnete Idee. Können wir einige davon einsammeln und dann hinunter in die Katakomben steigen? Auf diesem Anwesen ruhen einige Ab146 schirmzauber, aber die werden kaum länger den Magiern meines Vaters den Zugang ...« Der Boden hob sich, gefolgt von Rumpeln und dem Getöse von berstendem Stein. Die Bodenplatten hoben sich und rollten unter ihren Füßen davon... wie eine Riesenwelle auf dem Meer. »... verwehren!« schloss Embra ihren Satz und schrie dann: »Wohin, Heiler?« »Keinen von diesen Gängen dort!« warnte das Männlein. »Sie sind alle ...« Der Gang hinter Craer verschwand von einem Moment auf den anderen, verging in einem Wirbel aus Wind und Trümmern. Das Tosen wurde ohrenbetäubend. Hawkril riss den Beschaffer an sich, welcher große Mühe zu haben schien, auf den Füßen zu bleiben, und trug ihn halb zu der Stelle, wo Sarasper schon damit beschäftigt war, Steine aus der Wand abzutragen. Embra starrte auf den magischen Wirbelwind und erkannte Stücke, welche einmal zu einer Säule gehört haben mussten. Diese flogen durch die Luft wie Spreu auf einem Dreschplatz. Noch während die Prinzessin hinsah, fiel ein weiteres Stück aus dem Gang und wurden gleich von den zauberischen Luftströmungen davongetragen. Hinter dem Wirbel bewegte sich etwas. Dahinter und darüber ... mächtige Fledermausflügel... ein Nachtlindwurm. »Vaters Magier besitzen wirklich eine große Vorstellungskraft«, meinte die junge Frau bitter und stand wie gelähmt da, während die Kraft der Vernichtung immer näher kam. Mitten durch das Haus, welches so lange allen Stürmen widerstanden hatte, wogte das Ungeheuer schreiend und kreischend heran. »Herrin!« Saraspers Ruf drang wie aus weiter Ferne an ihr Ohr. Sie drehte langsam den Kopf in seine Richtung und sah, wie er ihr drei Metallschüsseln und ebenso viele Statuetten zuwarf. »Verteidigt Euch!« rief der Heiler ihr noch zu, dann wandte er sich schon dem nächsten Stück Wand zu. Er kümmerte sich 147 nicht mehr um den Abschnitt, in welchem er vorhin so viele Türchen ausgebuddelt und geöffnet hatte. Die schwangen jetzt unter dem Sturm wie rasend hin und her. Jetzt öffnete Sarasper offenbar etwas Größeres, eine Pforte, wie man sie auf Burg Silberstein als Dienstbotenzugang kannte. Der Heiler warf etwas Kleines und Leuchtendes durch die Öffnung, und irgendwo in der Tiefe entstand ein großes Strahlen. »Hier hindurch!« schrie der kleine Mann, während Embra noch unbeholfen Schüsseln an sich brachte und nach den Figürchen griff, welche sich ihren Fingern immer wieder entzogen. Doch dann bäumte sich der Boden wieder auf, und alle fehlenden Gegenstände flogen auf sie zu. Die Prinzessin selbst jedoch wurde ebenfalls hoch geworfen und purzelte hilflos durch die Luft. Durch das wirbelnde Chaos von Wind, Staub und kleinen Steinen erblickte sie Sarasper, wie der durch die von ihm gefundene Öffnung geschleudert wurde und sich dabei Kopf und Arm anstieß. In einer dunklen Ecke flogen die Teppiche von den Wänden, stürzten sich in die wirbelnde Unordnung und begruben auf dem Weg einen laut schreienden Craer unter sich. Einen Moment später kam etwas Großes mit schweren Stiefeln über Embra, fluchte unentwegt und wurde weitergeweht. Die Prinzessin schlug derweil auf dem Boden auf und gelangte noch tiefer. Als Letztes bekam sie Hawkrils Schwert zu sehen, welches wie aus eigenem Willen auf und ab zu tanzen schien... Dann konnte sie außer dem Riesenmaul des Nachtlindwurms nichts mehr erkennen. Die junge Frau fiel mit den Schultern voran in eine an- und abschwellende Dunkelheit hinein - und landete mit einem Krachen auf spitzen und scharfen Gegenständen, welche unter ihrem Gewicht zerbrachen. Grinsende Totenschädel, gebogene Brustkörbe und Knochen, deren Zweck sich nicht auf Anhieb erkennen ließ, flogen unter Embras Landung auf und zerplatzten wie Hühnereier,
148 gaben dabei aber kein Knacken, sondern ein eigenartiges seufzendes Geräusch von sich. Weißgrauer Staub und Splitter begleiteten die Edle auf ihrem Weg durch mehrere Schichten zerbrechender Gerippe. Dann landete sie endlich, doch noch eine ganze Weile vermochte sie nichts gegen den Niesreiz auszurichten. Durch tränende Augen sah sie Steine, welche hoch über ihr durch den Raum wirbelten. Die Prinzessin sah sich um. Sie steckte in einem sich nach unten verjüngenden Schacht fest. Die Füße befanden sich auf gleicher Höhe mit dem Gesicht, und auf ihrer Brust lagen eine metallene Schüssel und ein paar Figürchen. Es hätte schlimmer kommen können. Wenigstens hatte man auf dem Grund dieses Schachts keine Spitzen und Dornen aufgestellt. Oder vielleicht doch, und die waren schon vor langem verrostet und zusammengefallen. Nein, ihr blieb jetzt wirklich keine Zeit für müßige Überlegungen. Der Wirbelwind kam näher, und in seinem Gefolge der Nachtlindwurm. Sein langer, schlangenartiger Hals schob sich den Schacht herunter, tückische Augen starrten sie an, und ein breites Maul öffnete sich hungrig. Trotz aller Schmerzen von Beulen und Schrammen spielte Embra mit einer Statuette, starrte mit gerunzelter Stirn auf das Untier und wurde immer wütender. Sie hatte keine Banne mehr in ihrem Gedächtnis gelagert, aber mit der Hilfe eines magischen Gegenstands vermochte sie jeden Zauber zu wirken, welcher ihr in den Sinn kam. Zum Beispiel einen Feuerblitz! Als der Nachtlindwurm seine Flügel zurückschlug, damit auch für seinen zweiten Kopf Platz genug entstand, um in den Schacht hinabzustoßen, hielt die Herrin der Edelsteine das Figürchen hoch und sprach den Bann aus dem Gedächtnis. Die Statuette zerkrümelte unter ihren Fingern zu Staub, denn der Bewahrungszauber schien schon vor langem vergangen zu sein. Aber da schoss eine Stichflamme aus den Bröckchen, raste 149 den Schacht hinauf, enthauptete den Lindwurm (erst einmal und dann zum zweiten Mal), löschte ihn damit aus und verging selbst - und das alles binnen weniger Herzschläge. Ein riesiger blutender Klumpen fiel auf die Prinzessin herab und verging in dem Moment, in welchem er nur noch einen Fingerbreit von ihren Stiefeln entfernt war. Embra atmete stoßartig die Luft aus, von der sie gar nicht wusste, dass sie die eingeatmet hatte, und schrie schon wie am Spieß. Sarasper Kodelmer krallte sich an der Wand fest, während heulende Flügel an den fadenscheinigen Kleidern zerrten, welche er schon seit undenklichen Zeiten am Leib trug. Dann flogen Steine und Staub um ihn herum auf und ab, und für einen schrecklichen Moment befürchtete er schon, der zauberische Wirbelwind käme durch die Pforte hinter ihm her. »Verschwinde!« heulte der Heiler. »Hau ab! Verzieh dich!« Er kratzte sich mit blutenden Fingern durch die Wand. Etwas später schlug der magische Sturm die Pforte mit solcher Wucht zu, dass alles um ihn herum bebte und wackelte ... Danach trat wunderbare Stille ein, nur unterbrochen von dem einen oder anderen Steinchen, das hier und da herunterfiel. Etwas später vernahm der Heiler ein Dröhnen und Tosen, aber von der geschlossenen Pforte gedämpft, und die schützte ihn jetzt auch vor allem, was die Magier des Barons zur Vernichtung der Abenteurer aussandten. Der Baron ... »Craer? Hawkril? Embra?« rief der kleine Mann zögernd. »Kann einer von euch mich hören?« Er erhielt keine Antwort und fühlte sich plötzlich sehr allein. Seine neuen Freunde, wie gewonnen so zerronnen. Seine Heilkünste ebenfalls verschwendet... Des Barons Magier mussten Spionbanne eingesetzt haben, um danach die Richtung zu bestimmen, in welche sie den Sturm sandten ... 150 Mit anderen Worten, diese drei wussten genau, wer Sarasper war, wo er sich verborgen hielt und über welche Kräfte er verfügte. Sie würden ihn jagen, bis sie ihn zur Strecke gebracht hatten. »Bei den Klauen des Dunklen!« zischte er bitter in den dunklen Gang hinein. Der Staub legte sich hier langsam. Nach all den Jahren, in welchen er sich hier verborgen und gelauert hatte, in welchen er in diesem Haus wie ein Tier gehaust hatte, war sein Geheimnis nach wenigen Stunden aufgedeckt worden. Sein Untergang, welchen er so lange gefürchtet hatte, stand unmittelbar bevor ... Hätte er doch, wäre er doch, würde er doch ... Aber es nützte ja alles nichts mehr. Am besten hätte Sarasper Embra gleich den Kopf abgerissen, als sie in dieses Haus gestürmt gekommen war. Und sich dann mit ihrem Schädel tief in die Katakomben zurückgezogen. Um ihn bis auf den nackten Knochen abzunagen. Damit nichts mehr übrig blieb, was wieder zurückgerufen werden könnte. Der Heiler schüttelte sich, sah ihre Schönheit wieder vor sich und konnte nur verächtlich von sich geben: »Des
Barons Tochter! Sein einziges Kind! Seine Erbin! Natürlich sucht er da nach ihr. Streckt seine Fühler nach ihr aus. Und nach mir auch, weil ich ihr viel zu nahe bin ... Aber vielleicht verhält es sich ja auch ganz anders. Gut möglich, dass die Prinzessin hinter mir her ist. Waffen und Fallen gibt es hier überreichlich. Wird das Mädchen sich damit gegen ihren Vater und seine Zauberer wehren - oder wird sie mich überwältigen und als gehorsame Tochter vor den Baron zerren?« Sarasper lehnte sich gegen die Wand und steigerte sich immer mehr in solch unschöne Vorstellungen hinein. »Wer sagt mir auch, dass sie nicht längst die Buhle des Barons ist? Den Silberbaums ist alles zuzutrauen. Aber selbst, wenn sie mich nicht gefangen nehmen will, heißt das noch gar nichts. Die Magier des Barons könnten sie so be151 handelt haben, dass sie gar nichts von ihrem Auftrag weiß. Als Hofzauberer müssen die drei schon über einiges Können verfügen, da dürfte ihnen selbst so etwas möglich sein ... Sarasper Kodelmer, Ihr seid ein solcher Dummkopf! Da kommt ein hübsches Gesicht daherspaziert, und schon nach dem ersten Blick darauf verliert Ihr den Verstand, redet wirr und heilt sie auch noch alle! Fahr doch der Blitz drein!« Stöhnend vor Verzweiflung sank der kleine Mann an die Wand und schloss die Augen. Die Müdigkeit überwältigte ihn, denn er hatte sie alle geheilt und sich dabei verausgabt... Was seid Ihr doch für ein verblödeter Narr? O Sarasper, wie konntet Ihr die wichtigste Lehre Eures Lebens vergessen? Der Alte sackte noch mehr zusammen und fand vor lauter Erschöpfung nicht einmal die Kraft zu weinen. Aber im immer noch wirbelnden Staub überkam ihn das sanfte Vergessen, noch bevor seine Wange und seine Nase sich an den kalten und geduldigen Stein schmiegten. Doch ihn erwartete kein erquickender Schlaf. Ein strahlender Morgen war angebrochen, als die Soldaten von Hellbanner kamen, um Qelder Waern zu holen. Der schmutzige Knabe, welcher auf den Namen »Sarasper« oder auf den Ruf »He, Kräuterbube« hörte, schwitzte über einem Dutzend Töpfe voll kochendem Sud. Er bemerkte die Soldaten gar nicht, bis ein langes und beflecktes Schwert durch das Gewirr von Topfketten und Feuerhaken stieß und dabei das Hemd des Knaben aufschlitzte. Vor Schreck bekam Sarasper keinen Laut heraus und fiel nach hinten, mitten hinein in die Pfütze von übergelaufenem Kräutersud. Die Klinge hatte ihm nicht nur die Schulter entblößt, sondern war auch tief in das weiche Holz von Kelders Pulverschränkchen eingedrungen. Als der Knabe auf dem Hintern landete, wurde ihm das alles bewusst, und er gab einen halb keuchenden, halb klagenden Laut von sich. Vor seinen Augen sauste der Stahl nun zurück, jetzt rot glitzernd 152 von Blut. Erfühlte sich kalt und dunkel an, und der Junge begann darunter zu zittern ... bis sich der alte Skaunt über ihn beugte und rau flüsterte: »He, Junge! Wacht auf! Sarasper? Aufgewacht, und hoch mit Euch! Die Wölfe kommen gleich, sind bestimmt schon auf dem Weg!« Die Nacht war noch nicht mit aller Macht hereingebrochen, und der Junge stand recht benommen in Skaunts grobem Griff da. Er betrachtete eindringlich die dunklen Finger der Wolken am Westhimmel, vor denen sich die Gebäude von Helltürme besonders schwarz abhoben. »Was ist denn geschehen? «fragte der Jüngling müde und mit bangem Herzen, denn er fürchtete sich vor der Antwort. »Lebt Qelder noch?« »Das weiß ich nicht, mein Junge. Sie haben ihn mitgenommen, und er hält sich zurzeit wohl in einem der Türme dort drüben auf.« Sarasper beäugte die Burg, und nach einem Moment erklärte er mit ebenso dünner wie kalter Stimme: »Gebt mir Euer Messer, Skaunt.« »Was soll das denn, Knabe? Mit meinem kleinen Messer könnt Ihr doch nicht die Rüstungen von einem halben Hundert Rittern aufschlitzen!« »Der Baron trägt seine Rüstung nur an Fest- und Feiertagen«, entgegnete der Jüngling. »Und weil er so viel frisst, passt ihm die Rüstung dann bald nicht mehr. Seine Bediensteten schnallen die Gurte und Bänder bereits so locker, dass die Platten des Panzers nicht mehr zusammenfinden. In den Lücken dazwischen müsste sich doch Platz ßr ein kleines Messer finden, oder?« Skaunt starrte dem Knaben ins Gesicht, atmete tief durch und legte Sarasper den abgenutzten Griff seiner Waffe in die schmutzige Hand. Bei dem Messer handelte es sich in Wahrheit um ein abgebrochenes Schwert; die Klinge war vom vielen Wetzen immer kleiner und dünner geworden. »Mögen die Drei Euch beschützen«, flüsterte der Alte kaum hörbar, »denn ich wage es nicht, Euch auf diesem Weg zu begleiten.« Der Jüngling nickte. »Euer Messer ist mir Hilfe und Begleitung genug, alter Kriegsmann.« Er legte dem Förster eine Hand auf den Arm und drückte dessen Fleisch. 153
Als Skaunt gegangen war, stellte Sarasper sich an den Glasschrank und wandte sich dem obersten Fach zu, wo die zehn kleinen Fläschchen mit der Säure standen. Vielleicht würde er die brauchen, um Ketten zu durchtrennen ... oder um sie einem Wächter ins Gesicht zu schütten. Qelder Waern galt als der bedeutendste Heiler im ganzen Aglirta-Tal. Die Menschen nahmen weite Wege in Kauf, um in den Genuss seiner Arzneien und Tinkturen zu kommen. Seit Jahren weigerte er sich schon, seine Hütte am Bach zu verlassen und an den Hof des Barons auf Helltürme zu ziehen. In Sart erzählte man sich, dass flussaufwärts einige Fürsten Heiler in Käfigen hielten und sie noch schlechter als ihre Hunde behandelten. Wenn die harte Arbeit des Heilens die Wundermänner dann so geschwächt hatte, dass sie mehr tot als lebendig aussahen und zu nichts mehr zu gebrauchen waren, wurden sie aus der Burg hinausgeworfen. Die Soldaten zogen dann durch Darsar, um einen neuen Heiler zu finden. Der junge Sarasper hatte mit eigenen Augen gesehen, wie der Baron Authlin Buntbanner seine Hunde nach einer wenig erfolgreichen Jagd gezüchtigt hatte. Heute wunderte es ihn, dass der Fürst sich so lange Zeit damit gelassen hatte, sich des Heilers zu bemächtigen, der im Grunde doch bei ihm vor der Türschwelle hauste. Das Burgtor stand offen, und der Grund dafür ließ sich leicht erraten. Ein endloser Zug von aufreizend geschminkten Damen in Gewändern, deren Röcke bis zur Hüfte geschlitzt waren, strömte nach Helltürme. Die Schönen wurden mit lauten und aufmunternden Rufen von den bereits halb entkleideten Rittern empfangen. Niemand hielt den Knaben auf, der sich unter die Frauen mischte und so tat, als gehöre er dazu. Sarasper erregte nicht das mindeste Misstrauen, obwohl er doch weder so grell geschminkt noch so übermäßig parfümiert noch so leicht bekleidet erschien wie die anderen Knaben im Zug ... Außerdem fand gerade der Wachwechsel statt, ein lauer Sommer154 abend hatte begonnen, und seit Menschengedenken hatte niemand mehr die Burg angegriffen. Um einiges schwerer fiel es Sarasper dann aber, einen unbewachten Weg nach oben zu finden. Nach einiger gründlicher Beobachtung fiel dem Knaben jedoch auf, dass die Soldaten sich nur dort aufgestellt hatten, wo die Gäste heraufkamen. Die Dienstbotenzugänge blieben unbeachtet. Ein paar Momente später fand der Jüngling sich keuchend in einer Welt voller Wandteppiche, gedämpfter Stimmen und Duftkerzen wieder - und, wie nicht anders zu erwarten, um Stunden zu spät. »Wenn ich an Eurer Stelle wäre, würde ich dort heute Abend nicht hineingehen«, warnte eine leise Stimme hinter einem Vorhang. »Zu leicht könntet Ihr mit einem Schwert im Bauch aufwachen oder neben einem Tischbein, das jemand auf Eurem Schädel zu Kleinholz verarbeitet hat.« »Aber das Schreiben, welches ich bei mir trage, ist von allerhöchster Dringlichkeit. Der Baron von Tarlagar verlangt bis morgen Abend eine Antwort darauf«, erwiderte eine zweite Stimme. »Dann wird sich Euer ungeduldiger Fürst eben ein Weilchen bezähmen müssen«, entgegnete die erste Stimme. »Oder habt Ihr etwa vorhin die Leiche in dem Sessel nicht gesehen?« »Doch, was ist dem Ärmsten widerfahren? Er sieht aus wie ein Schweinebauer oder wie ein Einsiedler aus dem tiefsten Wald, mindestens aber wie die letzten vertrockneten Äpfel nach einem langen und harten Winter. Aber ernsthaft, er erweckt ganz den Anschein, als habe ihm jemand jeden einzelnen Knochen im Leib gebrochen, vermutlich indem er ihn kreuz und quer durch die Halle geschleudert hat. War da etwa Magie im Spiel?« »Ja, aber die wurde keinesfalls gegen ihn eingesetzt. Bei dem Ärmsten handelt es sich um den Heiler Waern.« »Doch nicht etwa Qelder Waern? Er hat einmal die jüngste Tochter meines Herrn vom braunen Fleckfieber gerettet - ich spreche von der Jungfer Athris. Halb Tarlagar wandte sich an den Mann, wenn irgendwen in der Familie das Zipperlein plagte.« 155 »Na, dann macht Euch mal darauf gefasst, dass Waern in Zukunft Euren Rufen nicht mehr folgen wird ...« Die erste Stimme entfernte sich, und Sarasper krabbelte auf allen vieren voran, um ihr zu folgen und auch noch den Rest mitzubekommen. »Man hat den Heiler heute Morgen hierher gebracht, damit er die Toten ins Leben zurückbringe.« »Wie? So etwas vermag ein Heiler?« »Nun, ja und nein, Ihr habt Waern doch gesehen. Unser gnädiger Herr, der Baron, hat letzte Nacht ein wenig über den Durst getrunken und irgendwann angefangen, Dinge zu sehen. Schließlich nahm er die Starkbogen-Axt von ihrem Platz über dem Kamin und hieb sich seinen Weg von einem Ende des Saals zum anderen frei.« »Bei der Schlange im Schatten! Wie viele hat er denn abgemurkst?« »So um die dreißig Bedienstete, allerdings stoßen wir immer noch auf mehr. Euch ist doch sicher nicht entgangen, wie ruhig es hier oben zugeht? Einige der Diener, welche für gewöhnlich hinter den Vorhängen in Habtachtstellung standen, haben heute Nacht eine ganz andere Stellung eingenommen, wenn Ihr versteht, was ich meine.« Die erste Stimme schwieg für einen Moment und fügte dann hinzu, als sei es ihrem Besitzer gerade erst eingefallen: »Ach ja, seine beiden Söhne hat er ebenfalls vom Leben zum Tode befördert und seine Gemahlin enthauptet, die Herrin Rhildra.« »Bei den Dreien! Alle drei?«
»Ja, leider. Mir oblag es, unten ihren Kopf aufzusammeln. Den hatte der Baron nämlich wie einen Ball über das Balkongeländer getreten und dabei gerufen: >Eine Schlange weniger, welche mich des Nachts heimsuchen kann!königlicher Prinz