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Maria Kleinstäuber – Petra Thomas – Michael Witthöft – Wolfgang Hiller Kognitive Verhaltenstherapie bei medizinisch unerklärten Körperbeschwerden und somatoformen Störungen
Maria Kleinstäuber – Petra Thomas – Michael Witthöft – Wolfgang Hiller
Kognitive Verhaltenstherapie bei medizinisch unerklärten Körperbeschwerden und somatoformen Störungen
Dr. Maria Kleinstäuber Psychologisches Institut Abt. Klinische Psychologie und Psychotherapie Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Wallstraße 3 55122 Mainz
Dr. Michael Witthöft Psychologisches Institut Abt. Klinische Psychologie und Psychotherapie Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Wallstraße 3 55122 Mainz
Dipl.-Psych. Petra Thomas Bethesda Spital AG Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik Gellertstraße 144 4020 Basel, Schweiz
Prof. Dr. Wolfgang Hiller Psychologisches Institut Abt. Klinische Psychologie und Psychotherapie Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Wallstraße 3 55122 Mainz
ISBN-13 978-3-642-20107-3 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. SpringerMedizin Springer-Verlag GmbH ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012 Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Planung: Renate Scheddin, Heidelberg Projektmanagement: Renate Schulz, Heidelberg Lektorat: Annette Allée, Dinslaken Umschlaggestaltung: deblik Berlin Coverbild: deblik Berlin Satz: Fotosatz Detzner, Speyer SPIN: 80040769 Gedruckt auf säurefreiem Papier
26/2126 – 5 4 3 2 1 0
V
Für Annelies und Dr. Gerd Kleinstäuber, Elisabeth und Rudolf Schneider (M. K.)
Geleitwort Somatoforme Störungen waren gerade im Bereich der Psychotherapieforschung eher ein »Stiefkind«. Betrachtet man die hohe Anzahl an Therapiestudien zum Bereich Depression oder Angsterkrankungen, so erstaunt, wie wenig Vergleichbares aus dem Bereich somatoformer Störungen vorliegt. Dies ist umso bedenklicher, da somatoforme Störungen mindestens vergleichbar häufig zu Depressionen und Angsterkrankungen sind und gerade in Deutschland durch das große Netz an psychosomatischen Kliniken viele Menschen mit solchen Erkrankungsbildern sogar stationäre Behandlung erhalten. Aber auch im ambulanten Setting gibt es hohen Behandlungsbedarf, um zu vermeiden, dass betroffene Personen hilflos von einem Facharzt zum nächsten, von der traditionellen Medizin zu Alternativverfahren und zurück oder zu anderen Heilsversprechern wechseln. Vor diesem Hintergrund ist es besonders erfreulich, dass endlich ein deutsches Behandlungsmanual für eine psychologisch fundierte, empirisch abgesicherte Intervention vorgestellt wird. Während zwar in der Vergangenheit zunehmend Behandlungsleitfäden entwickelt wurden, fehlte doch bis zuletzt ein ausführliches Behandlungsmanual, das konkrete Schritte des therapeutischen Vorgehens beschreibt, dazu Arbeitsmaterialien anbietet und alles auf einer guten empirischen Fundierung beruht. Zusätzlich enthält das vorliegende Buch zahlreiche Hintergrundinformationen, die für ein besseres Verständnis der Erkrankung als auch für eine adäquate Behandlung notwendig sind. Der Behandlungsleitfaden stellt dem Leser zahlreiche Interventionsmöglichkeiten zur Verfügung, um Patienten für einen psychotherapeutischen Zugang zu motivieren. Die oftmals eher organisch orientierten Patienten mit somatoformen Störungen erhalten leicht verständliche und gut akzeptierbare Informationen und begleitende Verhaltensexperimente, die die komplexe Vernetzung von körperlichem Wohlbefinden und seelischen Prozessen verdeutlichen. Damit erhält das Problem, das früher manchmal unbewältigbar erschien, plötzlich einen Lösungsweg: Wie gewinne ich diese Patienten für Psychotherapie? Die Autorengruppe ist hierbei bestens ausgewiesen, ein solches Behandlungsmanual zu erstellen: Ihre Erfahrungen basieren nicht nur auf jahrelanger praktischer Tätigkeit in diesem Bereich, sondern unter der gleichen Erstautorenschaft wurde auch eine vielbeachtete Metaanalyse zur Behandlung somatoformer Störungen erstellt und veröffentlicht. Somit fließen in das vorliegende Manual nicht nur viele praktische Erfahrungen ein, sondern auch das theoretische Wissen über viele andere Behandlungsversuche in diesem Bereich. Vor diesem Hintergrund ist dem Buch vor allem zu wünschen, dass es den ihm zustehenden Erfolg erhalten möge. Für den praktischen Psychotherapeuten stellt es eine entscheidende Hilfe dar, um mit dieser oftmals als schwierig empfundenen Patientengruppe gut akzeptable und erfolgreiche Behandlungsschritte durchzuführen. Durch die Manualisierung werden jedoch auch dem Psychotherapieforscher neue Wege eröffnet: Hier ist der Behandlungsweg, an dem sich andere messen lassen müssen, und auch therapeutische Neu- und Weiterentwicklungen sind an dem Manual von Kleinstäuber et al. zu messen. Dies ist der neue Standard der Behandlung von Personen mit somatoformen Störungen. Deshalb wünsche ich dem Buch eine hohe Verbreitung, auch im Namen der vielen Patientinnen und Patienten, die davon profitieren können. Marburg an der Lahn, im September 2011 Prof. Dr. Winfried Rief
VII
Vorwort Man darf das Schiff nicht an einen einzigen Anker und das Leben nicht an eine einzige Hoffnung binden. (Epiktet, griechischer Philosoph, 50–138 n. Chr.)
Epidemiologische Untersuchungen zeigen, dass körperliche Beschwerden, die in deutschen Hausarztpraxen untersucht werden, in der weit überwiegenden Zahl der Fälle medizinisch nicht erklärt werden können. Bis die Betroffenen eine adäquate Behandlung erhalten, die auch psychotherapeutische Maßnahmen einschließt, vergehen oft viele Jahre. In dieser Zeit durchlaufen viele Patienten langwierige – zum Teil unnötige, zum Teil sogar kontraindizierte – diagnostische Prozeduren und Behandlungen. Dabei sind sie in Gefahr, ihr Leben an eine einzige Hoffnung zu binden – nämlich die Hoffnung auf eine endgültige Ursachenbekämpfung und Heilung ihrer Beschwerden. Diese Hoffnung wird leider allzu häufig enttäuscht und mündet in Frustration, Verzweiflung und Resignation. Internationale Forschungsarbeiten zeigen, dass für diese klinische Gruppe eine kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung sehr vielversprechend ist. Sie vermittelt den Patienten eine neue Perspektive ihrer Beschwerden. Anstatt sich zurückzulehnen und passiv auf ein »Allheilmittel« zu hoffen, werden sie ermuntert und angeleitet, sich aktiv mit ihren Beschwerden und damit zusammenhängenden Problemen auseinanderzusetzen. Es gilt, selbst aktiv zu werden und zu lernen, trotz der Symptome wieder ein höheres Maß an Wohlbefinden zu erreichen. Damit soll neben der primären Hoffnung auf Heilung eine neue Hoffnung entwickelt werden – z. B. eine gute Lebensqualität trotz Symptomen aufrechtzuerhalten. In den letzten zwei Jahrzehnten hat die kognitive Verhaltenstherapie viele fruchtbare Ansätze für das Verständnis und die Behandlung medizinisch unerklärter Körperbeschwerden entwickelt. Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen die Wirksamkeit dieser Behandlungsansätze. Doch trotz dieser vielversprechenden Befunde lag bislang noch kein veröffentlichtes Therapiemanual zur kognitiven Verhaltenstherapie somatoformer Beschwerden im deutschsprachigen Raum vor. Wir verbinden daher mit diesem Buch das Anliegen, dem Praktiker unsere Erfahrungen sowie die Erfahrungen anderer Arbeitsgruppen zugänglich zu machen. Um dem Ziel der praxisnahen Gestaltung dieses Behandlungsprogramms gerecht werden zu können, stellen wir dem Leser eine Vielzahl von Arbeitsblättern, praktischen Übungen und dazugehörigen Instruktionstexten sowie Fragebeispielen zur Gestaltung der Therapiesitzung zur Verfügung. Dies ist in einen Überblick aktueller epidemiologischer, ätiologischer sowie diagnostischer Hintergrundinformationen zu medizinisch unerklärten Körperbeschwerden eingebettet. Das vorliegende Buch ist daher nicht ausschließlich ein therapeutisches Hilfsmittel für die psychologischen bzw. psychotherapeutischen Kollegen, sondern richtet sich zugleich an Ärzte im ambulanten wie auch stationären Behandlungssetting, die mit Patienten mit multiplen somatoformen Beschwerden arbeiten. Wie es das – aus der Mongolei stammende – Sprichwort »Mit einer Hand lässt sich kein Knoten knüpfen« treffend zum Ausdruck bringt, entstand auch dieses Buch nicht in Alleinarbeit, sondern stellt das Produkt einer fruchtbaren und bereichernden Zusammenarbeit der vier Autoren dar. Besonderen Dank richten wir an Prof. Dr. Winfried Rief und Dr. Gaby Bleichhardt von der Universität Marburg für ihre vielseitigen Anregungen und fachkompetente Unterstützung. Zudem danken wir insbesondere Dipl.Psych. Carina Grama, Dipl.-Psych. Ann Christin Krämer und Dr. Fabian Jasper, ohne deren Mitarbeit die aufwendige Wirksamkeitsevaluation dieses Behandlungsprogramms nicht umsetzbar gewesen wäre. Besonderen Dank sprechen wir aber vor allem den Patienten aus, die aufgrund ihrer Beschwerden unseren Behandlungsschwerpunkt »Somatoforme Störungen« der Poliklinischen Institutsambulanz für Psychotherapie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz aufgesucht, uns ihr Vertrauen geschenkt und mit dem Ausfüllen vieler Fragebögen enorm viel Unterstützung geleistet haben. Wir bitten in diesem Zusammenhang insbesondere unsere Leserinnen – diejenigen, die selbst von medizinisch unerklärten Körperbeschwerden betroffen sind, sowie unsere Kolleginnen – um Verständnis, dass wir um
VIII
Vorwort
der Lesbarkeit willen in diesem Text das generische Maskulinum verwenden und nicht Frauen und Männer separat als geschlechtliche Wesen charakterisieren. Mit dem vorliegenden Buch möchten wir dazu beitragen, dass die psychotherapeutische Behandlung somatoformer Störungen optimiert wird, also die Betroffenen frühzeitig adäquat diagnostiziert werden und zeitnah die passende Behandlung erhalten. Wir sind uns bewusst, dass auf diesen Schritt noch viele weitere folgen müssen – in der Forschung wie auch in der Praxis. Mainz, im Herbst 2011 Maria Kleinstäuber, Petra Thomas, Michael Witthöft und Wolfgang Hiller
IX
Inhaltsverzeichnis 1
Unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1.1 1.1.1 1.1.2 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4 1.4.5
Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verzweiflung der Frau O. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Leiden des Herrn Z. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff »Somatisierung«: Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergangenheit: Historie des Begriffs »Somatisierung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenwart: Derzeitige diagnostische Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zukunft: Somatoforme Störungen im DSM-5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische Klassifikationskriterien nach dem DSM-IV und der ICD-10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostischer Prozess und Besonderheiten bei unerklärten Körperbeschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnostische Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere diagnostische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziodemographische und transkulturelle Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komorbidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitsökonomische Relevanz: Unerklärte Körperbeschwerden und Behandlungskosten . . . . . .
2 2 3 3 4 5 6 7 8 11 12 14 16 16 18 20 21 22
2
Störungstheorien, Modelle und Konzepte unerklärter Körperbeschwerden und somatoformer Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10 2.11
Konzept der somatosensorischen Verstärkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitiv-behaviorale Störungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitionspsychologisches Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychobiologisches Filtermodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modell der klassischen Konditionierung somatoformer Beschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechanismus der zentralen Sensitivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physiologische und psychophysiologische Faktoren bei Somatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interpersonelles Modell der Somatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychoanalytische und tiefenpsychologische Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick: Dysfunktionale Emotionsregulationsprozesse bei somatoformen Beschwerden . . . . . . Ätiologie und Pathogenese somatoformer Störungen nach aktuellem Kenntnisstand: Ein integratives Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26 26 27 29 30 32 32 33 34 35
3
Therapieansätze für unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen . .
37
3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.2 3.3 3.3.1
Psychotherapie und sonstige psychologische Behandlungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitiv-verhaltenstherapeutische und verhaltensmedizinische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entspannungsverfahren und Biofeedback . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reattributionstraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tiefenpsychologisch fundierte Therapieansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interpersonelle Therapieansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sport- und Bewegungstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychopharmakotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirksamkeitsevidenz für verschiedene Therapieansätze bei unerklärten Körperbeschwerden . . Wirksamkeit von kognitiv-verhaltenstherapeutischen und verhaltensmedizinischen Interventionen, Reattributionstraining und Entspannungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirksamkeit von tiefenpsychologisch fundierten Therapieansätzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirksamkeit von interpersonellen Therapieansätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirksamkeit von Sport- und Bewegungstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38 38 41 42 43 44 45 45 46
3.3.2 3.3.3 3.3.4
25
35
46 48 49 49
X
Inhaltsverzeichnis
3.3.5 3.4
Wirksamkeit von psychopharmakologischer Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen für zukünftige kognitive Verhaltenstherapie bei unerklärten Körperbeschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden: Grundlagen und Eingangsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
4
4.1 4.1.1 4.1.2 4.2 4.2.1 4.2.2
Einführung in die Struktur des Manuals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendung des manualisiert-strukturierten Vorgehens im Praxisalltag: Chancen und Probleme . . . . . Empfehlungen für therapeutische Schwerpunktsetzungen bei der Behandlung monosymptomatischer funktioneller Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eingangsphase der Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erstkontakt und Therapieerwartungen des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten im weiteren Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
52 52 55 56 56 62
5
Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden: Therapeutische Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
5.1 5.1.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5 5.5 5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.5.4 5.6 5.6.1 5.6.2 5.6.3 5.6.4 5.7 5.7.1 5.8
Modul 1: Behandlungsmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzung 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modul 2: Stress und Stressbewältigung (Teil 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzung 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzung 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modul 3: Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzung 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzung 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzung 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modul 4: Bewertungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzung 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzung 8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzung 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzung 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzung 11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modul 5: Krankheitsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzung 12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzung 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzung 14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzung 15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modul 6: Stress und Stressbewältigung (Teil 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzung 16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzung 17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzung 18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzung 19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modul 7: Störungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzung 20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kasuistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66 66 67 67 70 74 74 77 79 81 81 84 87 89 92 94 94 96 98 100 102 102 104 107 110 112 112 114
6
Evaluation des Einzeltherapiekonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
6.1 6.2 6.3
Merkmale der behandelten Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Auswertung klinischer Skalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Patientenzufriedenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
Arbeitsblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
1
1
Unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen 1.1
Phänomenologie – 2
1.1.1 1.1.2
Die Verzweiflung der Frau O. – 2 Die Leiden des Herrn Z. – 3
1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3
Der Begriff »Somatisierung«: Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft – 3 Vergangenheit: Historie des Begriffs »Somatisierung« – 4 Gegenwart: Derzeitige diagnostische Konzepte – 5 Zukunft: Somatoforme Störungen im DSM-5 – 6
1.3
Diagnostik – 7
1.3.1
1.3.3 1.3.4
Diagnostische Klassifikationskriterien nach dem DSM-IV und der ICD-10 – 8 Diagnostischer Prozess und Besonderheiten bei unerklärten Körperbeschwerden – 11 Differenzialdiagnostische Abgrenzung – 12 Weitere diagnostische Verfahren – 14
1.4
Epidemiologie – 16
1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4 1.4.5
Prävalenz – 16 Soziodemographische und transkulturelle Besonderheiten – 18 Komorbidität – 20 Verlauf – 21 Gesundheitsökonomische Relevanz: Unerklärte Körperbeschwerden und Behandlungskosten – 22
1.3.2
M. Kleinstäuber et al., Kognitive Verhaltenstherapie bei medizinisch unerklärten Körperbeschwerden und somatoformen Störungen, DOI 10.1007/978-3-642-20108-0_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
2
1
1.1
Kapitel 1 · Unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen
Phänomenologie
Patienten mit somatoformen Symptomen weisen Körperbeschwerden auf, für die trotz ärztlicher Untersuchung kein bzw. kein ausreichender organischer Befund nachweisbar ist. Dieses einleitende Kapitel gibt einen tieferen Einblick in das Erscheinungsbild, die Diagnostik und Epidemiologie somatoformer Störungen. Zum Einstieg sollen zwei Fallbeispiele einen Eindruck davon vermitteln, wie heterogen die therapeutische Ausgangslage bei Patienten mit medizinisch unklaren Körperbeschwerden aussehen kann.
1.1.1
Die Verzweiflung der Frau O.
Frau O. fühlt sich am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Mit weit nach oben geschraubten Erwartungen nimmt sie heute erstmalig einen Termin bei einer Psychotherapeutin wahr. Diese wurde ihr von ihrem Hausarzt empfohlen. Bisher hatte Frau O. keinerlei Kontakt zu Psychiatrie und Psychotherapie. Als Frau O. im Erstgespräch darum gebeten wird, ihre Beschwerden zu schildern, platzt es aus ihr heraus: »Zuallererst möchte ich betonen, dass ich KEIN psychisches Problem habe! Ich habe seit langer Zeit Rückenschmerzen, und der Rücken hat ja mit der Psyche wohl herzlich wenig zu tun. Na, und neben meinem Rücken wäre da mein vegetatives Nervensystem, das total spinnt. Dass mich mein Hausarzt nun zu Ihnen überwiesen hat, finde ich nicht wirklich gut. Ich komme mir ein wenig abgeschoben und nicht ernst genommen vor. Klar gehen diese ganzen körperlichen Beschwerden mit der Zeit an die Substanz und zehren auch an meinen psychischen Kräften, doch glauben Sie mir, wenn mein Körper normal funktionieren würde, dann wäre ich der glücklichste Mensch auf dieser Welt. Ich weiß zwar nicht, wie Sie als Psychologin mir jetzt in dieser Angelegenheit helfen wollen, doch in der Not greift man ja bekanntlich nach jedem Strohhalm, der vor einem auftaucht.« Frau O. ist 43 Jahre alt, geschieden, allerdings liiert und Mutter einer 11-jährigen Tochter, die aus einer früheren Beziehung stammt. Sie ist selbstständig als Physiotherapeutin tätig. Derzeit mit einem Pensum von 60%. Mehr schaffe sie einfach nicht, obwohl sie auf das Geld eigentlich angewiesen sei. Sie klagt über »höllische Rückenschmerzen«, die das erste Mal vor 3 Jahren aufgetreten seien. Seit letztem Sommer werde sie permanent, d. h. täglich von diesen Schmerzen geplagt, die auch in andere Körperbereiche ausstrahlen würden (Nacken, Oberarme und Hüfte). »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie das ist! Ich bin wirklich am Ende.«
An weiteren Beschwerden schildert Frau O. Folgendes: »Ich schwitze wie verrückt und weiß nicht, warum. Meine Hände und Füße sind oft eiskalt. Außerdem bin ich total schnell erschöpft. Oft fühle ich mich nach geringster Anstrengung wie Blei. Auch schlafen tue ich nicht mehr gut. Immer wieder wache ich wegen der Schmerzen auf und kann dann nicht mehr einschlafen. Entsprechend fühle ich mich morgens dann wie gerädert. Nein, das ist wirklich kein Leben mehr. Wenn ich mir vorstelle, dass das nun die nächsten 40 Jahre so weitergehen soll, na dann gute Nacht!« Auf die Frage hin, was sie denn bisher alles unternommen habe, um die Beschwerden abklären und behandeln zu lassen, antwortet Frau O. wie folgt: »Zu viel! Ich verstehe das einfach nicht. Kein Arzt kann mir sagen, was ich habe. Das kann doch nicht wahr sein! In den letzten 3 Jahren bin ich bestimmt bei mindestens 20 verschiedenen so genannten Experten gewesen, doch ich habe das Gefühl, dass jeder mit mir überfordert ist und mich wie einen Schwarzen Peter dem nächsten Spezialisten zuschiebt. Wie gesagt, keiner nimmt mich ernst, und man gibt die Verantwortung einfach weiter. Langsam habe ich das Vertrauen in die Medizin verloren. Und, was meinen Hausarzt angeht, von dem bin ich maßlos enttäuscht. Wissen Sie, der hat es sich ziemlich einfach gemacht. Mich zu Ihnen weitergereicht und mir irgend so eine Psycho-Pille verschrieben, die angeblich die Schmerzen lindern soll. Und, was ist passiert? Ich habe diese Tablette 3 Wochen lang eingenommen, wie es empfohlen wird, doch wegen der starken Nebenwirkungen habe ich dann wieder damit aufgehört. Wissen Sie, ich war nicht mehr ich selbst. Wie ein Zombie bin ich durch die Gegend geschlichen. Das kann ja wohl nicht Sinn der Sache sein. Nein, nein, dann ertrage ich lieber die Schmerzen, als so benebelt zu sein. Abgesehen mal davon, ein Leben lang Pillen zu schlucken, das kann ja wohl auch nicht die Lösung meines Problems sein.« Befragt nach psychosozialen Belastungen reagiert Frau O. abweisend, ja fast schon empört. Mit verschränkten Armen und aufgedrehter Lautstärke ergreift sie das Wort: »Jetzt versuchen Sie bitte nicht, mich zu analysieren! Meine Kindheit war glücklich, und ich habe da nix aufzuarbeiten. Ich bin auch nicht traumatisiert oder sonst wie gestört. Ich habe ein wunderbares Kind und einen Partner, der für mich da ist. – Glauben Sie mir, ich habe mein Leben im Griff, mal abgesehen von den üblichen Problemen, die jeder mit sich so herumschleppt, und eben diesen verdammten Schmerzen. Ich hatte ja gehofft, dass Sie mir sagen können, wo die herkommen, aber mittlerweile befürchte ich, dass das hier in eine ganz falsche Richtung geht.« Das Erstgespräch endet ernüchternd und offen bezüglich des weiteren Kontaktes. Frau O. müsse sich noch einmal genau überlegen, ob ihr das hier was bringe, denn »so Gespräche allein, das ist der falsche Ansatz.« Wie auch
3 1.2 · Der Begriff »Somatisierung«: Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft
immer ihre Entscheidung ausfallen wird, sie werde sich innerhalb der nächsten Woche telefonisch melden. Die Therapeutin notiert: »vorläufige Diagnose gemäß ICD-10: Undifferenzierte somatoforme Störung (F45.1)«.
1.1.2
Die Leiden des Herrn Z.
Herr Z. ist 54 Jahre alt, in zweiter Ehe verheiratet und hat zwei (wie er sagt) »bezaubernde« Töchter im Alter von 15 und 17 Jahren. Er ist erfolgreicher Geschäftsmann in leitender Position eines Kleinunternehmens (Branche: Lebensmittelindustrie). Sein Job bedeute ihm viel und verlange auch einiges an Einsatz. Oft arbeite er über 60 Stunden in der Woche, sei viel unterwegs, manchmal auch am Wochenende. Er sei froh, dass seine Familie da vollstes Verständnis für ihn habe und ihn unterstütze, wo sie könne. Traurig finde er es natürlich, dass er gewisse Dinge des Familienalltags nicht mitbekomme und wenig Zeit mit seinen Kindern verbringen könne, »Doch das ist wohl der Preis, den ich zahlen muss.« Herr Z. gibt an, sehr sportlich zu sein und sich gerne beim Badminton auszupowern. Das praktiziere er schon seit über 30 Jahren und sei auch Mitglied in einem Verein. Bisher habe er sich auch immer bester Gesundheit erfreut: »Ein Krankenhaus habe ich noch nie von innen gesehen. Ach doch, als Besucher natürlich, aber nie als Patient.« Vor etwas mehr als 6 Monaten habe sich sein Gesundheitszustand plötzlich schlagartig geändert. »Wie aus dem Nichts« seien diverse Magen-Darm-Beschwerden aufgetaucht: »So ein seltsames Ziehen. Manchmal auch nur ein massives Druckgefühl.« Nachdem die Beschwerden nach 2 Wochen immer noch nicht von selbst verschwunden waren, konsultierte Herr Z. seinen Hausarzt. Dieser empfahl ihm, einen Gastroenterologen aufzusuchen, was Herr Z. auch tat. Das Untersuchungsergebnis lautete: »ohne pathologischen Befund«. Auch Nahrungsmittelunverträglichkeiten wurden als Ursache der Beschwerden ausgeschlossen. Auf der einen Seite war Herr Z. beruhigt, doch auf der anderen Seite ließ ihn der Befund etwas ratlos zurück. »Na, und jetzt? Die Beschwerden sind doch da. Was soll ich dagegen tun?« Der Hausarzt wiederum empfahl Herrn Z., für mehr Entspannung im Alltag zu sorgen und auf seine »Work-Life-Balance« zu achten. Mit diesem Tipp konnte Herr Z. wenig anfangen, folgte schließlich dem Rat seiner Frau und probierte einiges an Naturheilmitteln aus. An seinem Lebensstil änderte Herr Z. jedoch nichts. »Stress im Job – das gehört nun mal dazu. Da kann ich nichts machen, außer Opfer bringen.« Nach einigen Wochen besserten sich in der Tat die Beschwerden, so dass Herr Z. glaubte, von seinen Leiden befreit zu sein. Doch nun traten auf einmal andere, »sehr spezielle und komische Beschwerden in der Herzgegend« auf. Er
habe zwar noch nie in seinem Leben einen Herzinfarkt erlitten, und auch in seiner Familie habe es keine »Herzkranken« gegeben, dennoch werde er jedes Mal durch die Missempfindungen massiv verunsichert und frage sich, ob sein Herz nicht doch einen Schaden davontragen könne. Herr Z. berichtet, dass er schon immer in Stresssituationen mit massivem Herzklopfen und Spannungsgefühlen in der Brust zu kämpfen gehabt habe. Aufgrund seiner Sorge um die Gesundheit seines Herzens habe er bereits einige Herzspezialisten aufgesucht, diverse EKGs und andere, weit kostspieligere Untersuchungen durchführen lassen, doch jedes Mal habe man ihm gesagt: »Herr Z., Ihr Herz ist vollkommen in Ordnung. Machen Sie sich keine Sorgen.« Nur kurzfristig konnten ihn solche Aussagen beruhigen. Oft tauchten bereits Zweifel auf, sobald er die Praxisräume des Arztes verließ. Herr Z. fühlt sich erneut hilflos. Das Badmintonspielen hat er vorübergehend eingestellt, »um mein Herz ein wenig zu schonen. Im Job ist es derzeit aufregend genug.« In einer Buchhandlung bleibt er kurz vor einem Regal mit Ratgebern aus dem Bereich der Psychologie stehen. Sein Blick schweift über das Angebot. Die Schlagwörter »Stress«, »Glück« und »Work-Life-Balance« erregen für einen Augenblick sein Interesse. »Vielleicht rufe ich doch mal diesen Psychologen an«, denkt sich Herr Z. und hetzt zum nächsten Geschäftstermin.
1.2
Der Begriff »Somatisierung«: Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft
Unterschiedlichste körperliche Beschwerden ohne klare organmedizinische Ursache, wie sie in den beiden vorangehenden Fallbeispielen geschildert wurden, bilden den Kern des Konzepts der somatoformen Störungen nach den international anerkannten Klassifikationssystemen DSM-IV und ICD-10. Hierbei soll nicht verschwiegen werden, dass der Begriff der »Somatisierung« bzw. der »somatoformen Störung« in den letzten Jahren zunehmend in die Kritik geraten ist. Insbesondere im Bereich der Schmerzforschung wird die oftmals unklare Konzeptualisierung des Phänomens Somatisierung kritisiert und von der Verwendung zugunsten eines neutraleren Begriffs (z. B. körperliche Beschwerden/Symptome unklarer bzw. medizinisch unerklärter Genese) abgeraten (z. B. Crombez et al. 2009). Insgesamt befürchten viele Behandler, dass der Begriff »Somatisierung« bzw. »somatoform« von Patienten als stigmatisierend erlebt und fälschlicherweise mit »Einbildung« bzw. »Simulation« assoziiert werden könnte. Aus unserer Sicht ist diese Ambivalenz gegenüber dem Begriff »Somatisierung« in erster Linie auf eine Konfusion zwischen dem historischen Konzept der Somatisie-
1
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1
Kapitel 1 · Unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen
rung (im Sinne eines psychodynamischen Konversionsprozesses) und der aktuellen Konzeptualisierung somatoformer Störungen als ätiologiefreie und operationale Definition körperlicher Symptome unklarer Genese (7 Abschn. 1.3.1) zurückzuführen. Um diese Entwicklung besser nachvollziehen zu können, erläutern wir im Folgenden kurz die historischen Grundlagen des Begriffs »Somatisierung« bzw. »somatoform«, den aktuellen Gebrauch sowie zukünftige Änderungen im Hinblick auf das in Kürze zu erwartende neue Klassifikationssystem DSM-5.
1.2.1
Vergangenheit: Historie des Begriffs »Somatisierung«
Das Phänomen medizinisch unerklärter körperlicher Beschwerden ist keineswegs ein Phänomen der Neuzeit oder der westlichen Industrialisierung (Eriksen et al. 2004), sondern aller Wahrscheinlichkeit nach so alt wie die Menschheit bzw. die medizinische Lehre selbst. So skizziert Morschitzky (2007), dass sich bereits in altägyptischen Aufzeichnungen Beschreibungen von Wahrnehmungsstörungen und diversen unerklärbaren Schmerzzuständen finden, die wir aus heutiger Sicht als »somatoform« bezeichnen würden. In seinem Artikel zur Historie somatoformer Störungen weist Kapfhammer (2001) darauf hin, dass der Begriff der »Somatisierung« erstmals von Stekel (1908) verwendet wurde und aus einer psychodynamischen Sichtweise heraus den Ausdruck seelischer Konflikte auf organischer Ebene meinte. Allerdings geben Marin und Carron (2002) zu bedenken, dass der Begriff »somatization« das Produkt einer ungenauen Übersetzung des Buches von Stekel ins Englische ist (von J. van Teslaar). Ursprünglich verwendete Stekel selbst den Begriff »Organsprache«, um einen konversionsähnlichen Vorgang der Umwandlung starker Emotionen und psychischer Konflikte in Körpersymptome zu beschreiben. Stekel selbst verwendete erst 1935 explizit den Terminus »Somatisierung« (Stekel 1935, zit. nach Marin u. Carron 2002). Als wichtigstes und ältestes Vorläuferkonzept somatofomer Störungen gilt die Hysterie (von griechisch »hystera«: Gebärmutter). Bereits im antiken Griechenland und Rom wurden nicht erklärbare Körpersymptome mit Abnormitäten im Bereich der Gebärmutter (z. B. Austrocknung aufgrund mangelnder sexueller Aktivität oder Herumwandern der Gebärmutter im Körper) in Verbindung gebracht (Morschitzky 2007). Zwangsläufig wurde die Hysterie als Störungsbild zu dieser Zeit als rein weibliches Beschwerdebild angesehen – eine Sichtweise, die sich erst später Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Sichtweise der Hysterie als primäre Erkrankung des Gehirns von Briquet, Charcot und Janet änderte. Im Mittelalter wurden hysteri-
sche Beschwerden fatalerweise mit Teufelswerk und dem Wirken des Bösen in Verbindung gebracht. Teufelsaustreibungen und Hexenverbrennungen resultierten aus dieser Sichtweise (Morschitzky 2007). Das entscheidende Vorläuferkonzept der heutigen somatoformen Störungen (bzw. der Somatisierungsstörung im engeren Sinne) wurde Mitte des 19. Jahrhunderts von dem französischen Psychiater Pierre Briquet als »BriquetSyndrom« vorgestellt (Briquet 1895). Wie Kapfhammer (2007) darstellt, handelt es sich bei Briquets Darstellung um eine bemerkenswert modern anmutende multifaktorielle Konzeptualisierung des heutigen Phänomens der Somatisierungsstörung, in der emotionale Einflüsse, familiäre Erfahrungen und psychosoziale Stressoren im Stile heutiger Diathese-Stress-Modelle bereits als relevante Einflussfaktoren benannt wurden. Während sich Briquet primär der polysymptomatischen Variante somatoformer Beschwerden widmete, beschäftigten sich etwa zeitgleich der französische Neurologe Jean-Martin Charcot und später sein Schüler Pierre Janet primär mit monosymptomatischen, pseudoneurologischen Symptomen, die später als »Konversionsstörung« Eingang in die Klassifikationssysteme fanden. Revolutionär war hierbei die Erkenntnis, dass der Verlust bestimmter körperlicher Funktionen (z. B. Sehen, Hören oder willkürliche motorische Handlungen) in Zusammenhang zu starken emotionalen Zuständen (z. B. als Folge von Traumatisierungen) steht und auch unter Hypnose aktiv induziert werden kann (Kapfhammer 2001). Janet prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der »Dissoziation«, der eine Desintegration von mentalen Prozessen und Inhalten wie z. B. Erleben, Handeln oder Gedächtnis beschreibt. Die psychoanalytischen Konzepte von Breuer und Freud zur Hysterie und Konversion entwickelten sich unter dem Einfluss der Konzepte von Charcot und Janet. Allerdings fokussierte die Theoriebildung von Breuer und Freud (1893) zur Konversion später weniger auf den Charakteristika externer Traumata, sondern auf der eigenen Interpretation des Erlebten hinsichtlich Aversivität und Bedrohlichkeit und dem Ausmaß des hierdurch subjektiv erlebten inneren Konflikts. Konversionssymptome dienen nach diesem Ansatz der Kompromisslösung eines Konflikts zwischen Triebimpulsen und psychologischen Abwehrreaktionen (Kapfhammer 2001). Triebkonflikte, die auf traumatische Erlebnisse in biographisch frühen Lebensphasen zurückführbar sind, werden in späteren Lebensabschnitten zunächst erfolgreich verdrängt und können durch analoge Konflikte wieder aktualisiert werden. Erneute Verdrängung kann zu einer »Somatisierung« führen, was bedeutet, dass die Konflikte »symbolisch« in Körpersymptomen spürbar werden. Eine erschöpfende und ansprechende Darstellung der Historie somatoformer Störungen ist bei Morschitzky (2007) zu finden.
5 1.2 · Der Begriff »Somatisierung«: Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft
Auch in der Darstellung von Brown (2004), auf die wir weiter unten im Rahmen seines kognitionspsychologischen Modells somatoformer Beschwerden zurückkommen (7 Abschn. 2.5), bilden die beiden Konzepte der Dissoziation und Konversion die beiden wichtigsten historischen Erklärungsansätze des aktuellen Somatisierungskonzepts medizinisch unerklärter körperlicher Symptome. Essenziell erscheint hierbei, dass bereits Janet (Janet 1889, zit. nach Brown 2004; Janet 1907) das Störungsbild der Hysterie als Folge einer direkten Störung des Aufmerksamkeitssystems aufgrund des Erlebens eines traumatischen Ereignisses konzeptualisierte. Hypnose und Suggestion stellten nach Janet wirksame Interventionen zur Modifikation der Dysfunktionen innerhalb des Aufmerksamkeitssystems dar. Interessanterweise gelten auch heute Veränderungen im Bereich von Aufmerksamkeitsund Arbeitsgedächtnisprozessen als zentral zur Erklärung von somatoformen Beschwerden (entsprechende aktuelle Modelle sind in 7 Kap. 2 dargestellt). Einer der ersten »modernen« Ansätze, Somatisierung operational zu definieren, stammt von Bridges und Goldberg (1985). Allerdings definieren die Autoren »Somatisierung« als Begleiterscheinung einer primären psychischen Störung. So nennen Bridges und Goldberg (1985) für die Diagnose Somatisierung vier notwendige Kriterien: ein ärztliches Inanspruchnahmeverhalten, einen somatischen Attributionsstil der Beschwerden, das Vorliegen einer psychiatrischen Erkrankung sowie ein Ansprechen der somatischen Beschwerden auf die Behandlung der psychischen Primärerkrankung. Maßgeblichen Einfluss auf die heutige Sichtweise von Somatisierung bzw. auf die Konzeptualisierungen somatoformer Störungen hatte die viel zitierte Arbeit von Lipowski (1988), in der bereits eine multidimensionale Sichtweise von Somatisierung enthalten ist und perzeptuelle (Symptomerleben), kognitive (primäre somatische Ursachenattribution) und insbesondere verhaltensbezogene Merkmale (Suche nach medizinischer Hilfe) genannt werden. So beschreibt Lipowski Somatisierung als
» … the tendency to experience and communicate somatic distress and symptoms unaccounted for by pathological findings, to attribute them to physical illness, and to seek medical help for them (Lipowski 1988, p. 38; zit. nach Stuart u. Noyes 1999).
«
1.2.2
Gegenwart: Derzeitige diagnostische Konzepte
Gegenwärtig erfolgt die Definition und Konzeptualisierung der somatoformen Störungen in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 (Dilling u. Freyberger 2000; World Health Organization 1992) und
dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen DSM-IV (American Psychiatric Association 2000; Saß et al. 2003) mit Ausnahme der Konversionsstörung weitgehend ätiologiefrei. Da der Begriff der Somatisierung jedoch ursprünglich aus der psychodynamischen Tradition stammt und eng mit einem Konversionsprozess verknüpft ist, entsteht eine Diskrepanz zwischen der aktuellen ätiologiefreien Definition und der fortdauernden Begrifflichkeit »Somatisierung« (wie beispielswiese in der Diagnose Somatisierungsstörung). Diese Diskrepanz ist einer der Hauptgründe für die wachsenden Ressentiments gegenüber dem Begriff Somatisierung. Als deutlich neutraler erweist sich hierbei der Oberbegriff der somatoformen Störungen, mit dem ausgedrückt wird, dass nicht eine tatsächliche somatische Erkrankung vorliegt, sondern die Symptomatik nur die »Form« einer solchen darstellt. Die somatoformen Störungen bilden gegenwärtig noch eine vergleichsweise heterogene Gruppe unterschiedlicher Störungsbilder, die von dem prototypischen Vollbild einer polysymptomatischen somatoformen Störung (in Anlehnung an das Briquet-Syndrom) mit multiplen Symptomen und diversen betroffenen Organsystemen (Somatisierungsstörung nach der ICD-10 und dem DSM-IV) über monosymptomatische Varianten (z. B. Konversionsstörung und somatoforme Schmerzstörung) bis hin zur Hypochondrie und körperdysmorphen Störung reichen (7 Abschn. 1.3.1). Da insbesondere das Vollbild der Somatisierungsstörung (und der Hypochondrie) im DSM-IV und in der ICD-10 sehr restriktiv formuliert ist, haben sich aus einem Forschungskontext heraus ergänzende diagnostische Konzepte entwickelt, denen größere Patientengruppen zugeordnet werden können. Das wohl bekannteste Konzept in dieser Hinsicht ist der »Somatic Symptom Index (SSI) – 4/6« von Escobar und Kollegen (1989). Nach dem SSI-4/6 liegt eine somatoforme Störung vor, wenn 4 (bei Männern) bzw. 6 Symptome (bei Frauen) berichtet werden. Ein ähnliches Konzept als Alternative zur Diagnose der undifferenzierten somatoformen Störung wurde von Kroenke und Kollegen (1997) beim Vorliegen von mindestens drei Symptomen unter der Bezeichnung »multisomatoforme Störung« formuliert. Innerhalb der deutschen Fassung des »Patient Health Questionnaires« (PHQ-D; Kroenke et al. 2002) wird von einem »somatoformen Syndrom« gesprochen, wenn während der letzten 4 Wochen insgesamt drei von 13 somatischen Symptomen als stark beeinträchtigend berichtet werden (Löwe et al. 2002). Im Bereich der Hypochondrie wurde von Fink und Kollegen ein weniger restriktives Konzept vorgestellt (Fink et al. 2004). Ein Versuch, unterschiedliche Arten von Somatisierung inhaltlich zu differenzieren, stammt von Kirmayer und Robbins (1991), die eine Unterscheidung von »hypo-
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Kapitel 1 · Unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen
chondriacal somatization«, »presenting somatization« und »functional somatization« vorschlagen. Das vorliegende Manual bezieht sich hierbei primär auf die letzte Variante der »funktionalen Somatisierung«, d. h. das Auftreten medizinisch aktuell nicht vollständig erklärbarer körperlicher Beschwerden, die nicht besser durch eine andere psychische Primärstörung (z. B. eine Panikstörung) erklärt werden können (»presenting somatization«) und die im Gegensatz zur Hypochondrie nicht lediglich die gesteigerte Wahrnehmung normaler Körpersensationen (z. B. des eigenen Herzschlags) darstellen (»hypochondriacal somatization«). Eine weitere Unterscheidung von Rief und Hiller (1999) bezieht sich auf die Trennung von mono- vs. polysymptomatischen somatoformen Störungen. Als Beispiel für eine monosymptomatische somatoforme Störung kann das Reizdarmsyndrom (bzw. eine somatoforme autonome Funktionsstörung nach der ICD-10) angeführt werden, bei dem die Beschwerden in erster Linie auf den Gastrointestinaltrakt bezogen sind. Das Reizdarmsyndrom wird häufig auch als »funktionelles somatisches Syndrom« bezeichnet. Weitere Beispiele für derartige funktionelle Syndrome mit Schwerpunkt auf einer bestimmten Symptomatik bzw. einem bestimmten Organsystemen umfassen das chronische Erschöpfungssyndrom, das Fibromyalgiesyndrom, das prämenstruelle Syndrom, die idiopathische umweltbezogene Intoleranz (die früher als multiple chemische Sensitivität bezeichnet wurde) sowie der nichtkardiale Brustschmerz (für eine Übersicht über die funktionellen somatischen Syndrome siehe Wessely et al. 1999). Wir werden später im Rahmen der eigentlichen Behandlung nochmals auf Besonderheiten der funktionellen somatischen Syndrome zurückkommen (7 Abschn. 4.1.2). Bei polysymptomatischen somatoformen Störungen sind dagegen mindestens zwei verschiedene Organsysteme oder Körperregionen betroffen. Als Prototyp einer polysymptomatischen somatoformen Störung wäre hierbei die Somatisierungsstörung nach dem DSM-IV und der ICD-10 zu nennen. Zur Beschreibung einzelner somatoformer Symptome koexistieren derzeit diverse Begriffe. So plädieren einige Autoren vehement für den Begriff »Beschwerde« (englisch: »complaint«) im Gegensatz zu »Symptom«, um den subjektiven Charakter des Phänomens (im Gegensatz zu einem Krankheitssymptom, für das physiologische Evidenzen existieren) zu unterstreichen. Allerdings hat sich international der Terminus »medizinisch unerklärte Körpersymptome« (englisch: »medically unexplained [physical] symptoms« MU[P]S) eingebürgert. Da gegenwärtig auch noch die Hypochondrie als Teil der somatoformen Störungen gilt, werden wir innerhalb des Manuals bisweilen von »symptombezogenen« somatoformen Störungen sprechen, um zu verdeutlichen, dass
sich die jeweiligen Aussagen auf mono- und polysymptomatische Störungen, nicht jedoch auf die Hypochondrie beziehen.
1.2.3
Zukunft: Somatoforme Störungen im DSM-5
Die angekündigte Revision der Gruppe somatoformer Störungen im DSM-5 wird aller Wahrscheinlichkeit nach einen Verzicht auf die Begriffe »somatoform« und »Somatisierung« beinhalten. Die Gründe liegen in der bereits erwähnten, als stigmatisierend erlebten Konnotation des Begriffs nicht nur von Seiten der Betroffenen, sondern auch von Seiten einzelner Forscher und Behandler. Aktuell (Vorschlag vom 14. Januar 2011) wird von der entsprechenden DSM-5-Taskforce (www.dsm5.org) der Oberbegriff der »somatic symptom disorders« für die Kategorie der somatoformen Störungen präferiert. Als Unterkategorien schlägt die DSM-5-Taskforce die folgenden sechs Störungsbilder vor: 4 »psychological factors affecting medical conditions«, 4 »complex somatic symptom disorder« (CSSD), 4 »simple (or abridged) somatic symptom disorder«, 4 »illness anxiety disorder«, 4 »functional neurological symptoms«, 4 »factitious disorder« und »pseudocyesis«. Die erste Kategorie, »psychologische Faktoren, die medizinische Krankheitsbilder beeinflussen«, ist hierbei weitgehend aus dem DSM-IV übernommen worden. Die Complex somatic symptom disorder (CSSD) löst das Konzept der Somatisierungsstörung ab und ist definiert durch ein oder mehrere somatische Symptome, die Leiden und Beeinträchtigung hervorrufen (A-Kriterium), exzessive Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen, die mit diesen Symptomen einhergehen (B-Kritierium), sowie eine Dauer der Beschwerden von mindestens 6 Monaten (C-Kriterium). Als Zusatzspezifikationen der CSSD können folgende Subtypen vergeben werden: CSSD mit vorherrschenden somatischen Symptomen (als Entsprechung der Somatisierungsstörung im DSM-IV), CSSD mit vorherrschender Krankheitsangst (als Entsprechung der Hypochondrie im DSM-IV) sowie CSSD mit Schwerpunkt Schmerz (als Entsprechung der Schmerzstörung im DSMIV). Die gravierendste Änderung zum DSM-IV liegt hierbei in der Tatsache, dass die CSSD keinerlei organmedizinische Ausschlussdiagnostik mehr fordert und kognitivemotionale Faktoren in der Definition berücksichtigt. Neben der CSSD ist eine weniger restriktive Kategorie der Simple (or abridged) somatic symptom disorder geplant. Gefordert wird für diese Diagnose lediglich mindestens ein als sehr beeinträchtigend erlebtes Körper-
7 1.3 · Diagnostik
symptom (A-Kriterium), ein weiteres kognitives Symptom (z. B. starke Krankheitsängste, exzessive gedankliche Beschäftigung mit dem Symptom oder eine unangemessene anhaltende Überzeugung bezüglich einer medizinischen Gefährdung durch das betreffende Symptom; B-Kriterium) sowie eine Symptommindestdauer von einem Monat (C-Kriterium). Als neue Kategorie ist die Diagnose der Krankheitsangststörung geplant (Illness anxiety disorder). Im Unterschied zur früheren Hypochondrie-Diagnose (die aktuell als Unterkategorie der CSSD vorgesehen ist) fordern die Diagnosekriterien dieses Störungsbildes neben exzessiven Krankheitsängsten oder Krankheitsüberzeugungen (AKriterium) explizit keine bzw. nur minimale Körpersymptome (B-Kriterium). Als drittes Kriterium werden charakteristische Verhaltensweisen (z. B. Suche nach Rückversicherung, Absuchen des eigenen Körpers nach Krankheitszeichen und exzessive Informationssuche im Internet genannt; Kriterium C). Als Dauerkriterium dieser Störung wird ein Zeitraum von 6 Monaten gefordert, innerhalb dessen die Ängste jedoch nicht durchgängig anhalten müssen (D-Kriterium). Als Entsprechung des Störungsbildes der Konversionsstörung wird in dem aktuellen Entwurf des DSM-5 lediglich von funktionellen neurologischen Symptomen gesprochen (Functional neurological symptoms). Innerhalb der Diagnosekriterien besteht keine Forderung mehr nach einem Trauma oder psychosozialen Stressor, der in direktem Zusammenhang zum Auftreten der Beschwerden steht. Zwei weitere geplante Unterkategorien der Somatic symptom disorders umfassen die vorgetäuschte Störung (Factitious disorder) und die Scheinschwangerschaft (Pseudocyesis). Da beide Bereiche nicht im Fokus des vorliegenden Behandlungsmanuals liegen, soll auf diese nicht näher eingegangen werden. Als fundamentale Änderung der Konzeptualisierung somatoformer Störungen im DSM-5 ist der Verzicht auf die Forderung einer organmedizinischen Ausschlussdiagnostik zu nennen. An Stelle dessen ist geplant, kognitivemotionale Faktoren (7 Kap. 2) als positive Definitionskriterien in der Diagnostik stärker zu berücksichtigen. In der Folge könnte sich das Konzept der somatoformen Störung von einem bislang negativ definierten Konzept (durch Ausschlussdiagnostik) zu einem positiv definierten Konzept wandeln. Kritisch anzumerken bleibt innerhalb des aktuell vorliegenden Revisionskonzepts, dass faktisch eine Zweiteilung des ursprünglichen Störungsbildes der Hypochondrie erfolgt: So wird die ursprüngliche Hypochondrie (im Sinne von Krankheitsängsten und -sorgen ausgelöst durch eine Fehlinterpretation von körperlichen Beschwerden) als Subtyp der CSSD definiert. Zusätzlich wird das Störungsbild der Illness anxiety disorder als Krank-
heitsangst ohne bzw. mit nur minimalen Körpersymptomen neu definiert. Auch wenn sich dieses neue Konzept der Krankheitsangststörung mit vielen Beobachtungen aus der Praxis deckt, wird die Eingruppierung dieses Phänomens in den Bereich der somatoformen Störungen dem gegenwärtigen Forschungsstand, wonach engere Verbindungen der Krankheitsangst zur Gruppe der Angststörungen (und hier insbesondere zur Zwangs-, Panik- und generalisierten Angststörung) bestehen, nicht gerecht. Plausibel erscheint der Vorschlag, die körperdysmorphe Störung im DSM-5 in die Angstsektion bzw. innerhalb der Zwangsspektrumsstörungen zu klassifizieren. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Begriff der Somatisierung aufgrund seiner engen Verzahnung mit empirisch unzureichend fundierten psychodynamischen Konzepten in der Tat kritisch gesehen werden sollte. Gleiches gilt jedoch nicht für die neutralere, explizit deskriptive Bezeichnung »somatoformer Störungen«. Von dem Syndrom einer somatoformen Störung konzeptuell zu unterscheiden sind einzelne Symptome der Störung, im Sinne von körperlichen Beschwerden unklarer Genese, für die sich im englischsprachigen Kontext der Terminus »medically unexplained symptoms« (MUS) eingebürgert hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird jedoch der Zusatz »medically unexplained« aufgrund mangelnder Reliabilität und der Implikation einer dualistisch-reduktionistischen Perspektive im DSM-5 aufgegeben werden.
1.3
Diagnostik
Die diagnostische Einordnung bzw. der diagnostische Prozess bei unerklärten Körperbeschwerden gestaltet sich in der Praxis häufig nicht einfach. Das hängt zum einen damit zusammen, dass eine enorme Vielfalt an Begriffen sowie Klassifikationsversuchen bezüglich somatoformer Symptome existiert, wie in 7 Abschn. 1.2 deutlich wurde. Zum anderen treten unerklärte Körperbeschwerden häufig im Zusammenhang mit anderen psychischen Störungen (wie z. B. affektiven oder Angststörungen) bzw. auch zusätzlich zu somatischen Diagnosen auf und lassen sich von diesen manchmal nur schwer abgrenzen. Auf das zuerst genannte Problem soll in den folgenden beiden Abschnitten eingegangen werden. Unabhängig von den vielfältigen diagnostischen Konzepten zu unerklärten Körperbeschwerden sind in der therapeutischen Praxis die international anerkannten Klassifikationssysteme DSM-IV (American Psychiatric Association 2000; Saß et al. 2003) und ICD-10 (Dilling u. Freyberger 2000; World Health Organization 1992) maßgeblich. Letzteres gilt insbesondere bei den deutschen Krankenkassen als Grundlage zur Kodierung psychischer Erkrankungen für die Beantragung einer Psychotherapie. Dementsprechend gibt 7 Abschn.
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Kapitel 1 · Unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen
1.3.1 einen Einblick, wie unerklärte Körperbeschwerden im Rahmen der Klassifikationskriterien des DSM-IV bzw. der ICD-10 eingeordnet werden können. In 7 Abschn. 1.3.2 wird auf Besonderheiten im diagnostischen Prozess bei somatoformen Beschwerden hingewiesen. 7 Abschn. 1.3.3 geht dann auf die zweite Problematik – die differenzialdiagnostische Abgrenzung – ein. Abschließend (7 Abschn. 1.3.4) werden verschiedene diagnostische Hilfsmittel und Instrumente vorgestellt.
1.3.1
Diagnostische Klassifikationskriterien nach dem DSM-IV und der ICD-10
Unerklärte Körperbeschwerden werden nach dem DSMIV in die Störungskategorie »Somatoforme Störungen« bzw. nach der ICD-10 in die Kategorie »F4 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen« eingeordnet. Der Begriff der somatoformen Störung wurde 1980 erstmals durch das damalige DSM-III eingeführt und 1994 in die damalige 10. Revision der ICD-10 übernommen. In den Vorgängerversionen dieser Klassifikationssysteme lautete die diesbezügliche Bezeichnung »Funktionelle Störungen psychischen Ursprungs« (Kategorie 306 in der ICD-9). In . Tab. 1.1 sind die einzelnen Störungsbilder (Diagnosen) der somatoformen Störungen des DSM-IV und der ICD-10 gegenübergestellt. Auf die Hypochondrie und die körperdysmorphe Störung soll hier nicht weiter eingegangen werden, da diese Störungen nicht vornehmlich durch körperliche Symptome definiert sind, sondern durch Krankheitsängste und Fehlbewertungen des Körperäußeren. Die primär durch das Vorhandensein von Körpersymptomen definierten Diagnosen in . Tab. 1.1 lassen sich grob in poly- und monosymptomatische Störungsbilder unterteilen. Bei polysymptomatischen Störungen sind multiple körperliche Symptome aus unterschiedlichen Körperregionen und Organsystemen vorhanden, während monosymptomatische Störungen auf einen bestimmten Symptomtypus begrenzt sind, nämlich ausschließlich Schmerzsymptome bei der Schmerzstörung und ausschließlich neurologische Symptome bei der Konversionsstörung. Im Folgenden sollen die einzelnen Störungsbilder kurz charakterisiert werden. jSomatisierungsstörung (DSM-IV: 300.81/ICD-10: F45.0)
Für die Somatisierungsstörung müssen mindestens acht (DSM-IV) bzw. sechs Symptome (ICD-10) aus vorgegebenen Symptomlisten vorliegen. Entsprechend der DSMIV-Definition muss die Störung bereits vor dem 30. Lebensjahr begonnen und mindestens mehrere Jahre ange-
dauert haben. Nach der ICD-10 müssen die Symptome mindestens 2 Jahre lang andauern und Symptome vegetativer Erregung dürfen nicht das Hauptmerkmal der Störung darstellen. In . Abb. 1.1 sind die Kriterien der Somatisierungsstörung nach der ICD-10 wiedergegeben. Zu beachten ist, dass die Symptomlisten der Somatisierungsstörung im DSM-IV und in der ICD-10 nicht identisch sind. So sind im DSM-IV 33 Symptome und in der ICD-10 nur 14 Symptome aufgelistet. Zudem sind nicht alle der in der ICD-10 genannten Symptome auch in der entsprechenden DSM-IV-Liste enthalten. jSomatoforme autonome Funktionsstörung (ICD-10: F45.3)
Die somatoforme autonome Funktionsstörung existiert nur im ICD-10-System und hat sich in der internationalen Forschungsliteratur nicht durchgesetzt. Nach den diagnostischen Kriterien müssen mindestens drei Symptome aus einer Liste vegetativer und anderer somatoformer Symptome vorliegen, die der betreffende Patient auf eine körperliche Krankheit zurückführt (. Abb. 1.2). Bei der Wahl dieser Diagnose sollte besonders sorgfältig auf die Abgrenzung gegenüber den Angststörungen geachtet werden, da diese ebenfalls hauptsächlich durch Symptome des vegetativen Nervensystems gekennzeichnet sind. jUndifferenzierte somatoforme Störung (DSM-IV: 300.82/ICD-10: F45.1)
Bei der undifferenzierten somatoformen Störung handelt es sich im Prinzip um eine Restkategorie für polysymptomatische Störungsbilder, welche weder als Somatisierungsstörung noch als somatoforme autonome Funktionsstörung klassifiziert werden können. Die Störungsdauer muss mindestens 6 Monate betragen. In der Fachliteratur ist als andere Bezeichnung »abridged somatization disorder« (sinngemäß: erweiterte Somatisierungsstörung) vorgeschlagen worden, um auch Störungsbilder diagnostisch berücksichtigen zu können, die nicht die strengen Einschlusskriterien der Somatisierungsstörung erfüllen. Der von Escobar et al. (1989) eingeführte Somatic Symptom Index SSI-4/6 legt beispielsweise fest, dass bei Männern mindestens vier und bei Frauen mindestens sechs somatoforme Symptome vorliegen müssen. jSchmerzstörung (DSM-IV: 307.8/ICD-10: F45.4)
Bei der Schmerzstörung besteht die somatoforme Symptomatik ausschließlich aus einem oder mehreren Schmerzsymptomen. In der ICD-10 wird eine Mindestdauer von 6 Monaten vorgegeben. Patienten mit der klinischen Diagnose einer Fibromyalgie erfüllen in der Regel die Kriterien dieser Störung.
9 1.3 · Diagnostik
. Tab. 1.1 Gegenüberstellung der somatoformen Störungen im DSM-IV und in der ICD-10 DSM-IV
ICD-10
Somatisierungsstörung
Somatisierungsstörung
Undifferenzierte somatoforme Störung
Undifferenzierte somatoforme Störung
–
Somatoforme autonome Funktionsstörung
Schmerzstörung
Anhaltende somatoforme Schmerzstörung
Konversionsstörung
[Dissoziative und Konversionsstörungen]
Hypochondrie
Hypochondrische Störung
Körperdysmorphe Störung
–
Somatoforme Störung, nicht näher bezeichnet (NNB)
Sonstige/nicht näher bezeichnete somatoforme Störung
A.
Eine Vorgeschichte von mindestens 2 Jahre anhaltenden Klagen über multiple und wechselnde körperliche Symptome, die durch keine diagnostizierbare körperliche Erkrankung erklärt werden können. Die eventuell vorliegende bekannte körperliche Erkrankung erklärt nicht die Schwere, das Ausmaß, die Vielfalt und die Dauer der körperlichen Beschwerden oder die damit verbundene soziale Behinderung. Wenn einige vegetative Symptome vorliegen, bilden sie nicht das Hauptmerkmal der Störung, d. h. sie sind nicht besonders anhaltend oder belastend.
B.
Die ständige Sorge um die Symptome führt zu andauerndem Leiden und dazu, dass die Patienten mehrfach (drei- oder mehrmals) um Konsultationen oder Zusatzuntersuchungen in der Primärversorgung oder beim Spezialisten nachsuchen. Wenn aus finanziellen oder geographischen Gründen medizinische Einrichtungen nicht erreichbar sind, kommt es zu andauernder Selbstmedikation oder mehrfachen Konsultationen bei örtlichen Laienheilern.
C.
Hartnäckige Weigerung, die medizinische Feststellung zu akzeptieren, dass keine ausreichende körperliche Ursache für die körperlichen Symptome vorliegt. Akzeptanz der ärztlichen Mitteilung allenfalls für kurze Zeiträume bis zu einigen Wochen oder unmittelbar nach einer medizinischen Untersuchung.
D.
Insgesamt sechs oder mehr Symptome aus der folgenden Liste, mit Symptomen aus mindestens zwei verschiedenen Gruppen: Gastrointestinale Symptome: 1.
Bauchschmerzen
2.
Übelkeit
3.
Gefühl von Überblähung
4.
Schlechter Geschmack im Mund oder extrem belegte Zunge
5.
Klagen über Erbrechen oder Regurgitation von Speisen
6.
Klagen über häufigen Durchfall oder Austreten von Flüssigkeit aus dem Anus
Kardiovaskuläre Symptome: 7.
Atemlosigkeit ohne Anstrengung
8.
Brustschmerzen
Urogenitale Symptome: 9.
Dysurie oder Klagen über Miktionshäufigkeit
10.
Unangenehme Empfindungen in oder um den Genitalbereich
11.
Klagen über ungewöhnlichen oder verstärkten vaginalen Ausfluss
Haut- und Schmerzsymptome:
E.
12.
Klagen über Fleckigkeit oder Farbveränderungen der Haut
13.
Schmerzen in den Gliedern, Extremitäten oder Gelenken
14.
Unangenehme Taubheit oder Kribbelgefühl
Häufigstes Ausschlusskriterium: Die Störung tritt nicht ausschließlich während einer Schizophrenie oder einer verwandten Störung (F2), einer affektiven Störung (F3) oder einer Panikstörung (F41.0) auf.
. Abb. 1.1 Somatisierungsstörung nach der ICD-10 (F45.0)
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A.
Kapitel 1 · Unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen
Symptome der autonomen (vegetativen) Erregung, die von den Patienten einer körperlichen Krankheit in einem oder mehreren der folgenden Systeme oder Organe zugeordnet werden: 1.
B.
C.
Herz und kardiovaskuläres System
2.
Oberer Gastrointestinaltrakt (Ösophagus und Magen)
3.
Unterer Gastrointestinaltrakt
4.
Respiratorisches System
5.
Urogenitalsystem
Zwei oder mehrere der folgenden vegetativen Symptome: 1.
Palpitationen
2.
Schweißausbrüche (heiß oder kalt)
3.
Mundtrockenheit
4.
Hitzewallungen oder Erröten
5.
Druckgefühl im Epigastrium, Kribbeln oder Unruhe im Bauch
Eines oder mehrere der folgenden Symptome: 1.
Brustschmerzen oder Druckgefühl in der Herzgegend
2.
Dyspnoe oder Hyperventilation
3.
Außergewöhnliche Ermüdbarkeit bei leichter Anstrengung
4.
Aerophagie, Singultus oder brennendes Gefühl im Brustkorb oder im Epigastrium
5.
Bericht über häufigen Stuhlgang
6.
Erhöhte Miktionsfrequenz oder Dysurie
7.
Gefühl der Überblähung oder Völlegefühl
D.
Kein Nachweis einer Störung von Struktur oder Funktion der Organe oder Systeme, über die die Patienten klagen.
E.
Häufiges Ausschlusskriterium: Die Symptome treten nicht ausschließlich im Zusammenhang mit einer phobischen (F40.0–F40.3) oder einer Panikstörung (F41.0) auf.
. Abb. 1.2 Somatoforme autonome Funktionsstörung nach der ICD-10 (F45.3)
jKonversionsstörung (DSM-IV: 300.11/ICD-10: F44)
Die Konversionsstörung ist begrenzt auf neurologische Symptome des willkürlichen motorischen oder sensorischen Systems. Es wird ein Zusammenhang zu psychischen Faktoren angenommen, beispielsweise wenn Konflikte oder Stresserlebnisse dem Beginn oder der Verschlimmerung der Symptome vorausgegangen sind. jSomatoforme Störung NNB (DSM-IV: 300.82/ ICD-10: F45.9)
Als Restkategorie ist im DSM-IV und in der ICD-10 außerdem die Diagnose einer somatoformen Störung NNB (nicht näher bezeichnet) möglich. Wie bei allen anderen psychischen Störungen ist eine solche Restkategorie erforderlich, damit der Kliniker eine Diagnose auch in Fällen stellen kann, in denen eine Person zwar eine klinisch bedeutsame Symptomatik aufweist, die speziellen Kriterien aller Störungen des entsprechenden Bereichs jedoch nicht zutreffen. jFunktionelle Syndrome
Im weiteren Sinne zählen zu den somatoformen Störungen auch die so genannten funktionellen Syndrome, die aller-
dings im DSM-IV und in der ICD-10 nicht definiert sind. Sie sind jedoch im klinischen Sprachgebrauch häufig anzutreffen. Zu den häufigsten Begriffen zählen: 4 chronisches Erschöpfungssyndrom (Chronic Fatigue Syndrome, CFS; Fukuda et al. 1994) mit einer Reihe von medizinisch unklaren körperlichen Symptomen, die um das Hauptsymptom einer chronischen Erschöpfung herum angesiedelt sind; 4 Fibromyalgie, eine Art generalisiertes Schmerzsyndrom mit erhöhter Schmerzempfindlichkeit, die in der Regel die Kriterien der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung erfüllt (s. oben); 4 Reizdarmsyndrom oder Colon irritabile (Drossman 2006), eine monosymptomatische Erscheinungsform gastrointestinaler Beschwerden mit Schmerzen oder Unwohlsein im Bauchraum sowie Veränderungen der Stuhlgewohnheiten; 4 umweltbezogene Beschwerden mit Begriffen wie multiple chemische Sensitivität (MCS) oder idiopathische umweltbezogene Intoleranz (»idiopathic environmental intolerance«, IEI), womit körperliche Beschwerden zusammengefasst werden, die auf Umweltbelastungen oder Schadstoffe zurückgeführt werden;
11 1.3 · Diagnostik
4 unspezifischer und nichtkardialer Brustschmerz sowie somatoformer Schwindel mit den entsprechenden Leitsymptomen, 4 prämenstruelles Syndrom (PMS), das durch affektive wie auch körperliche Symptome in der Lutealphase des weiblichen Menstruationszyklus gekennzeichnet ist. Für diese diagnostischen Begriffe bzw. Konzepte liegen weder international verbindliche Kriterien vor, noch sind sie in rationaler Form in den Kontext der übrigen somatoformen Störungen eingegliedert. Für einige Syndrome wurden in der entsprechenden Forschungsliteratur diagnostische Kriterien entwickelt, z. B. die Rome-Kriterien für das Reizdarmsyndrom (Drossman 2006; Thompson et al. 1999), die Kriterien des Center for Disease Control and Prevention (Fukuda et al. 1994) für das CFS oder die Kriterien für eine besonders schwerwiegende Form des prämenstruellen Syndroms – der prämenstruellen dysphorischen Störung (»premenstrual dysphoric disorder«, PMDD) – in den Kriterienlisten des DSM-IV, die für weitere Forschung vorgesehen sind. Diese Diagnosen können daher systematisch gestellt werden, müssen dann aber entsprechend der Kriterienkataloge des DSM-IV oder der ICD-10 verschlüsselt werden. Nach dem DSM-IV wird hierfür meist der Diagnosencode der undifferenzierten somatoformen Störung verwendet, die eine Art Restkategorie darstellt. Nach der ICD-10 kann man zusätzlich prüfen, ob die Kriterien der autonomen somatoformen Funktionsstörung erfüllt sind, die beispielsweise eine Unterkategorie für vorwiegend gastrointestinale Beschwerden vorsieht, wie es für das Reizdarmsyndrom charakteristisch ist.
1.3.2
Diagnostischer Prozess und Besonderheiten bei unerklärten Körperbeschwerden
Die im DSM-IV und in der ICD-10 beschriebenen somatoformen Störungen werden typischerweise aufgrund einer freien klinischen Exploration oder mit Hilfe strukturierter Interviews diagnostiziert. Außerdem können Fragebogenverfahren eingesetzt werden (7 Abschn. 1.3.4), um Hinweise auf das etwaige Vorliegen einer somatoformen Störung zu erhalten (so genanntes Screening) oder assoziierte psychopathologische Merkmale zu erfassen (z. B. dysfunktionale Kognitionen oder Krankheitsverhalten). Fragebögen werden auch eingesetzt, um den Ausprägungsgrad einer somatoformen Störung zu quantifizieren und Veränderungen im Spontanverlauf oder unter Therapie feststellen zu können.
jStrukturierte Diagnoseverfahren
Die Diagnosenstellung sollte stets auf einer Fremdexploration und nicht auf Fragebogendaten beruhen. Als Prototyp des klinischen Interviews gilt das »Strukturierte Klinische Interview für DSM-IV« (SKID; deutschsprachige Version: Wittchen et al. 1997). Es enthält einen eigenen Abschnitt für die Gruppe der somatoformen Störungen. Gesundheitliche Belastungen und körperliche Symptome werden entsprechend der diagnostischen Kriterien des DSM-IV erfragt. Mit Hilfe des SKID können alle im DSMIV aufgelisteten Störungen außer der Konversionsstörung erfasst werden. Das SKID hat den Nachteil, dass Diagnosen nach der ICD-10 nicht vorgesehen sind. Manche Kliniker behelfen sich, indem sie die nach dem DSM-IV gestellten Diagnosen mit den korrespondierenden ICD-10Codes versehen, was jedoch aufgrund der unterschiedlichen Kriterien beider Klassifikationssysteme nicht ganz korrekt ist. Zudem ist die somatoforme autonome Funktionsstörung nur in der ICD-10 und nicht im DSM-IV vorgesehen (. Tab. 1.1). Weitere bekannte strukturierte Interviews sind das »Composite International Diagnostic Interview« (CIDI; deutschsprachige Version: Wittchen et al. 1998) und das »Diagnostische Interview bei Psychischen Störungen« (DIPS), von dem auch eine Kurzversion existiert (Margraf et al. 1994). Auf der Basis des CIDI wurde mit dem DIA-X (Wittchen u. Pfister 1997) eine computerisierte Version entwickelt, mit deren Hilfe die Antworten des Patienten unmittelbar während des Interviews in den Rechner eingegeben werden können. Aufgrund der einprogrammierten Diagnose-Algorithmen können die zutreffenden Diagnosen unmittelbar nach dem Interview erkannt werden. Ein gewisser Nachteil von CIDI und DIA-X ist, dass beide Verfahren nicht als klinische Beurteilungsverfahren konzipiert sind, sondern die Antworten des Patienten ungefiltert übernehmen. Daher muss mit Diskrepanzen im Vergleich zu klinischen Interviews wie dem SKID gerechnet werden. Eine gute Alternative zu den etwas umständlichen Interviews stellen die von Hiller und Kollegen (Hiller et al. 1997c) entwickelten »Internationalen Diagnose-Checklisten« (IDCL) dar. Sie existieren in zwei getrennten Versionen sowohl für das DSM-IV als auch die ICD-10. Es handelt sich um handliche DIN-A-5-Blätter im Sinne einer Einzelblattsammlung, wobei alle diagnostischen Kriterien und Entscheidungsregeln in einer sehr übersichtlichen Form enthalten sind. Anders als bei den oben genannten Interviews sind keine an den Untersuchten zu stellenden Fragen vorgegeben, was jedoch bei geübten Klinikern kein Nachteil ist. Ein mit dem SKID vertrauter Kliniker kann üblicherweise die IDCL in sehr zuverlässiger und unkomplizierter Weise benutzen.
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Kapitel 1 · Unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen
Für speziellere, nicht im DSM-IV oder in der ICD-10 aufgeführte somatoforme und funktionelle Syndrome wie das chronische Erschöpfungssyndrom (Chronic Fatigue Syndrome) oder das Reizdarmsyndrom (Colon irritabile) existieren unseres Wissens keine strukturierten Verfahren zur Diagnosenstellung. jSymptom – Syndrom – Diagnose
Das Grundprinzip einer jeden diagnostischen Untersuchung – die sorgfältige Unterscheidung zwischen Symptom, Syndrom und Diagnose – spielt insbesondere bei der Diagnostik unerklärter Körperbeschwerden eine besondere Rolle. Zunächst ist zu prüfen, ob bei dem Untersuchten körperliche Symptome ohne oder ohne ausreichende organmedizinische Erklärungen vorhanden sind oder in der Vergangenheit vorhanden waren. Die längsschnittliche Betrachtung ist wichtig, da es möglich ist, dass einzelne Symptome nur vorübergehend auftreten und daher der längerfristige Verlauf durch ein Kommen und Gehen unterschiedlicher Körperbeschwerden gekennzeichnet ist. Die Bewertung »organisch begründet« oder »somatoform« sollte unbedingt bereits auf der Symptomebene getroffen werden. Natürlich kann ein Patient sowohl organische Krankheiten als auch medizinisch unklare Beschwerden gleichzeitig haben. Für die Diagnose einer somatoformen Störung dürfen aber nur die Letzteren gewertet werden. > Es ist auch zu beachten, dass somatoforme Symptome nicht zwangsläufig in eine entsprechende Diagnose münden müssen.
Aus epidemiologischen Studien ist bekannt, dass medizinisch unklare Körperbeschwerden jeglichen Schweregrads ein allgegenwärtiges Phänomen darstellen (z. B. vorübergehendes leichtes Kopfweh, Kreuzschmerzen, Verdauungsprobleme). In einer Studie von Hiller und Kollegen (2006) gaben rund 80% von repräsentativ Befragten aus der deutschen Normalbevölkerung aktuelle somatoforme Beschwerden an. Tatsächlich kann aber nur bei etwa 10– 15% von ihnen aufgrund der Schwere der Symptomatik oder der daraus folgenden Beeinträchtigungen eine somatoforme Störung diagnostiziert werden. Um falsch-positive Diagnosen aufgrund (harmloser) Beschwerden ohne Krankheitswert zu vermeiden, sollten nur klinisch bedeutsame Symptome berücksichtigt werden. Im Sinne einer Faustregel empfehlen wir, von klinischer Relevanz dann auszugehen, wenn der Betreffende wegen des Symptoms einen Arzt aufgesucht, Medikamente eingenommen oder seinen Lebensstil geändert hat. > Liegen mehrere klinisch bedeutsame somatoforme Symptome vor, so stellen diese im Sinne eines »Symptombündels« ein somatoformes Syndrom dar.
Beispielsweise liegt ein Schmerzsyndrom vor, wenn ein Patient über Kopf-, Rücken-, Gelenk- und abdominelle Schmerzen (also mehrere einzelne Schmerzsymptome) klagt. Von einem »multiplen somatoformen Syndrom« wird gesprochen, wenn mehrere Einzelsymptome aus unterschiedlichen Körperregionen und Organsystemen vorliegen (Rief 1995). > Um eine Störungsdiagnose stellen zu können, müssen zum Syndrom weitere Merkmale hinzukommen (z. B. eine bestimmte Dauer oder Verlaufscharakteristika, Beeinträchtigungen in der Lebensführung, Ausschlusskriterien zur Abgrenzung gegenüber anderen psychischen Störungen).
Bei den somatoformen Störungen ist ein Syndrom nicht zwingend erforderlich, sondern eine Diagnose kann bereits bei einem schweren und belastenden Einzelsymptom begründet sein (z. B. Schmerzstörung bei schweren Rückenschmerzen, wenn diese mit Krankheitsverhalten und psychosozialen Beeinträchtigungen verbunden sind). In der Übersicht (7 Symptome somatoformer Störungen nach dem DSM-IV und der ICD-10) sind Symptome aufgeführt, die bei der Abklärung einer etwaigen somatoformen Störung gezielt überprüft werden können. Es handelt sich um alle Symptome, die in den diagnostischen Kategorien des DSM-IV oder der ICD-10 aufgeführt sind.
1.3.3
Differenzialdiagnostische Abgrenzung
Am sorgfältigsten müssen somatoforme Störungen gegenüber organischen Erkrankungen und Angststörungen abgegrenzt werden. Eine differenzielle Zuordnung sollte bereits auf der Symptomebene stattfinden. Es ist möglich, dass körperliche Symptome unterschiedlichen Typs vorhanden sind und infolgedessen die Störungen bzw. Erkrankungen auch komorbide vorhanden sein können. > Die zunächst wichtigste differenzialdiagnostische Überlegung betrifft die Frage, ob eine organische Krankheit vorliegt.
Die angemessene organmedizinische Abklärung ist Aufgabe des Haus- oder Facharztes. Die Interpretation medizinischer Befunde ist vom Fachwissen, der Erfahrung und der speziellen Bewertung der Ärzte abhängig. Zudem wird der Grenzbereich des medizinisch Erklärbaren durch neue Forschungsergebnisse laufend verändert und erweitert. In der Praxis bewährt es sich, von somatoformen Symptomen dann auszugehen, wenn die Beschwerden nicht als Bestandteil einer gegenwärtig in der Medizin bekannten
13 1.3 · Diagnostik
Symptome somatoformer Störungen nach dem DSM-IV und der ICD-10 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
4 4 4
Kopf- oder Gesichtsschmerzen Abdominelle Schmerzen Rückenschmerzen Gelenkschmerzen Schmerzen in den Extremitäten Brustschmerzen Schmerzen im Rektum Schmerzen beim Geschlechtsverkehr Schmerzen beim Wasserlassen Übelkeit Völlegefühl Druckgefühl im Epigastrium, Kribbeln oder Unruhe im Bauch Erbrechen (außerhalb einer Schwangerschaft) Vermehrtes Aufstoßen Aerophagie, Schluckauf oder Brennen im Brust- oder Magenbereich Unverträglichkeit von verschiedenen Speisen Schlechter Geschmack im Mund oder stark belegte Zunge Mundtrockenheit
4 Häufiger Durchfall 4 Flüssigkeitsaustritt aus dem Anus 4 Häufiges Wasserlassen 4 Palpitationen 4 Druckgefühl in der Herzgegend 4 Schweißausbrüche (heiß oder kalt) 4 Hitzewallungen oder Erröten 4 Atemnot ohne Anstrengung 4 Hyperventilation 4 Außergewöhnliche Müdigkeit bei leichter Anstrengung 4 Flecken oder Farbänderungen der Haut 4 Sexuelle Gleichgültigkeit 4 Unangenehme Empfindungen im oder am Genitalbereich 4 Koordinations- oder Gleichgewichtsstörungen 4 Lähmung oder Muskelschwäche 4 Schluckschwierigkeiten oder Kloßgefühl im Hals 4 Flüsterstimme oder Stimmverlust
und allgemein anerkannten organischen Krankheit angesehen werden können. Die Dichotomie »organisch« vs. »nichtorganisch bedingt« sollte in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden, da nach dem DSM-IV und der ICD-10 eine somatoforme Störung in bestimmten Fällen auch dann diagnostiziert werden kann, wenn das oder die betreffenden Symptome organisch mitverursacht sind. Nach dem ICD-10 beispielsweise sind Symptome auch dann als »somatoform« zu werten, wenn die zugrunde liegende körperliche Erkrankung »nicht die Schwere, das Ausmaß, die Vielfalt und die Dauer der körperlichen Beschwerden oder die damit verbundene soziale Behinderung« erklärt. Beispielsweise können Rückenschmerzen, die sich aufgrund eines Bandscheibenvorfalls entwickelt haben, in diesem Sinne als somatoforme Beschwerden angesehen werden, falls das Ausmaß der Schmerzen allein durch den orthopädischen Befund nicht erklärbar ist und sich übermäßige psychosoziale Beeinträchtigungen entwickelt haben. jAngststörungen
Die Abgrenzung gegenüber den Angststörungen ist insofern von besonderer Bedeutung, als körperliche Sympto-
4 Harnverhaltung oder Schwierigkeiten beim Wasserlassen 4 Sinnestäuschungen 4 Verlust der Berührungs- oder Schmerzempfindung 4 Parästhesien 4 Sehen von Doppelbildern 4 Blindheit 4 Verlust des Hörvermögens 4 Krampfanfälle 4 Amnesie 4 Bewusstseinsverlust (anders als einfache Ohnmacht) 4 Bei Frauen: – Schmerzhafte Menstruationen – Unregelmäßige Menstruationen – Sehr starke Menstruationen – Erbrechen während der gesamten Schwangerschaft – Ungewöhnlicher oder verstärkter vaginaler Ausfluss 4 Bei Männern: – Erektions- oder Ejakulationsstörungen
me auch als physiologische Angstkorrelate auftreten können. Treten z. B. Symptome wie Herzrasen oder Schweißausbrüche nur während Panikattacken oder bei phobischen Reaktionen auf, so sind sie nicht als Teil einer somatoformen Störung zu werten. Durch die zeitliche Begrenztheit der Angstattacken können körperliche Angstkorrelate und somatoforme Symptome meistens problemlos voneinander abgegrenzt werden. Etwas schwieriger ist die Abgrenzung gegenüber der generalisierten Angststörung, da diese ähnlich wie die somatoformen Störungen längere Zeit andauert. Jedoch müssen bei der generalisierten Angststörung anders als bei den somatoformen Störungen fortdauernde Sorgen und Befürchtungen über diverse Gegebenheiten des Alltags vorliegen. jDepressive Störungen
Es wird manchmal vermutet, dass medizinisch unklare Körperbeschwerden auch als Bestandteil einer anderen psychischen Störung auftreten können, z. B. im Kontext einer depressiven Störung (Stichwort »somatisierte Depression«). Zur Abgrenzung sollte zunächst genau geprüft werden, ob die vorliegenden körperlichen Symptome tatsächlich in den Kriterienkatalogen der betreffenden Stö-
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14
1
Kapitel 1 · Unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen
rungen aufgeführt sind. Beispielsweise ist Erschöpfung Teil eines typischen depressiven Syndroms, jedoch finden sich weitere Körperbeschwerden weder in der Definition der Major Depression (entspricht der depressiven Episode und rezidivierenden depressiven Störung in der ICD-10) noch bei der dysthymen Störung. Zudem sollte der Verlauf der körperlichen und affektiven Symptome sorgfältig verglichen werden. Treten beispielsweise Erschöpfungszustände auch in depressionsfreien Zeiten auf, so kann dieses Symptom nicht nur als Teil einer depressiven Störung interpretiert werden. In den meisten Fällen liegt keine klare Parallelität der körperlichen und depressiven Symptomatiken vor, so dass entsprechend des Komorbiditätsprinzips mit der Vergabe mehrer Diagnosen vorzugehen ist (siehe auch Rief et al. 1992). jPsychotische Störungen
Gelegentlich kann die Abgrenzung somatoformer Störungen gegenüber psychotischen Störungen wie der Schizophrenie von Bedeutung sein, insbesondere wenn die Halluzinationen und Wahnvorstellungen von Patienten auf die eigenen Körperfunktionen bezogen sind. Es handelt sich meist um bizarre Wahrnehmungen wie das Spüren einer Schlange im Darm oder Kälteempfindungen im Gehirn, womit häufig auch Fremdbeeinflussungserleben einhergeht. Solche Phänomene werden im psychiatrischen Sprachgebrauch als coenästhetische Halluzinationen beschrieben. Sie sollten nicht als somatoforme Symptome berücksichtigt werden. Die Komorbidität zwischen einer psychotischen und einer somatoformen Störung ist jedoch damit nicht ausgeschlossen. jSimulation und vorgetäuschte Störungen
Abzugrenzen sind somatoforme körperliche Symptome auch von solchen, die im Rahmen einer Simulation oder einer vorgetäuschten Störung auftreten. Bei der Simulation erfindet die Person ein tatsächlich nicht vorhandenes Symptom, um damit einen Vorteil zu erzielen (z. B. eine Gleichgewichtsstörung, um für den Wehrdienst ausgemustert zu werden). Bei der vorgetäuschten Störung wird ein Symptom absichtlich erzeugt, um die Krankenrolle einnehmen zu können (z. B. heimliche Einnahme von Heparin zur Vortäuschung einer Blutungsstörung). Ein synonymer Ausdruck ist der der artifiziellen Störung, und in ihrer chronischen Form wird die vorgetäuschte Störung vielerorts auch als Münchhausen-Syndrom bezeichnet. jPsychosomatische Erkrankungen
Abschließend sei noch die Differenzialdiagnostik zwischen somatoformen und den »klassischen« psychosomatischen Erkrankungen erwähnt. Zu ihnen gehören u. a. die chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (Morbus Crohn und Colitis ulcerosa), das Asthma bronchiale,
die rheumatoide Arthritis und die Neurodermitis. Als Leitmerkmal bei der Abgrenzung kann gelten, dass bei diesen Erkrankungen im Gegensatz zu den somatoformen Störungen eine Gewebs- oder Organschädigung vorliegt, auch wenn die Krankheitsursachen unbekannt oder multifaktoriell sind. Für diese Krankheiten existieren eigene Kategorien sowohl in der ICD-10 (F54: Psychische Faktoren und Verhaltenseinflüsse bei andernorts klassifizierten Krankheiten) als auch im DSM-IV (316: Psychische Faktoren, die einen medizinischen Krankheitsfaktor beeinflussen). Allerdings sind diese Diagnosen nicht auf die oben aufgeführten »klassischen« Krankheiten begrenzt, sondern es können auch weitere Erkrankungen berücksichtigt werden, deren Entstehung, Verlauf und Behandlung durch psychische Bedingungen beeinflusst werden können (z. B. Migräne, Myokardinfarkt, Krebserkrankungen, Diabetes mellitus, Erkrankungen des Gehörs wie Schwerhörigkeit oder Morbus Menière, Epilepsie).
1.3.4
Weitere diagnostische Verfahren
Die diagnostische Abklärung somatoformer Störungen sollte nicht mit der Diagnosenstellung enden. Es steht mittlerweile eine Reihe von Instrumenten zur Verfügung, mit denen diverse affektive, kognitive und Verhaltensaspekte ergänzend genauer untersucht werden können. Damit kann eine Art differenziertes psychopathologisches Profil für die untersuchte Person erstellt werden. Die in . Tab. 1.2 aufgelisteten Verfahren haben sich in wissenschaftlichen Untersuchungen als reliabel und valide erwiesen. Man kann die Verfahren grob unterteilen in 4 Beschwerdelisten, 4 Verfahren zur Erfassung spezieller Störungsbilder und 4 Instrumente, die assoziierte klinische Merkmale erfassen. Das »Screening für Somatoforme Störungen« (SOMS) eignet sich als Ergänzung zur klassifikatorischen Diagnostik, da es alle 55 im DSM-IV und in der ICD-10 aufgelisteteten körperlichen Symptome enthält. Der Ausfüllende wird instruiert, nur solche Symptome anzugeben, für die bei ärztlichen Untersuchungen keine ausreichende medizinische Erklärung gefunden wurde. Der SOMS existiert in zwei Versionen: Beim SOMS-2 wird das Vorhandensein einzelner Symptome für den Zeitraum der vergangenen 2 Jahre erfragt, beim SOMS-7T dagegen für die vergangenen 7 Tage. Jedoch kann beim SOMS-7T bei jedem Symptom der Intensitäts-/Belastungsgrad angegeben werden. Diese Version eignet sich somit zur Verlaufsmessung. Der »Patient Health Questionnaire« (PHQ-15) besteht aus nur 15 Items und wird wegen seiner Kürze gerne eingesetzt. Bei ihm und der Somatisierungsskala der SCL-90-R wird
15 1.3 · Diagnostik
. Tab. 1.2 Einige Fragebogenverfahren zur erweiterten Diagnostik bei somatoformen Störungen Subskalen
Erhobene Merkmale
Autoren
Screening für Somatoforme Störungen (SOMS)
Somatisierungsindex nach DSM-IV und ICD-10
Körperliche Beschwerden
Rief u. Hiller 2008
Patient Health Questionnaire (PHQ-15) , Somatisierungsskala
–
Körperliche Beschwerden
Kroenke et al. 2002
Symptom Checklist (SCL-90-R), Somatisierungsskala
–
Körperliche Beschwerden
Derogatis 1983
Beschwerdelisten
Instrumente für spezielle Störungsbilder Fatigue-Skala (FS) (deutsche Version der Chalder Fatigue Scale)
1. Mentale Erschöpfung 2. Körperliche Erschöpfung
Erschöpfungssyndrom
Chalder et al. 1993 Martin et al. 2010
Whiteley-Index (WI)
1. Krankheitsängste 2. Somatische Symptome 3. Krankheitsüberzeugungen
Hypochondrische Merkmale
Hiller u. Rief 2004
Illness Attitude Scales (IAS)
1. Krankheitsängste 2. Krankheitsverhalten
Hypochondrische Merkmale
Hiller u. Rief 2004
Multidimensional Inventory of Hypochondriacal Traits (MIHT)
1. Hypochondrische Entfremdung 2. Suche nach Rückversicherungen und sozialer Unterstützung 3. Krankheitssorgen 4. Habituelle Aufmerksamkeitslenkung auf körperliche Empfindungen
Hypochondrische Merkmale
Witthöft et al. 2010
Fragebogen zu Körper und Gesundheit (FKG)
1. Katastrophisierende Bewertung 2. Intoleranz von körperlichen Beschwerden 3. Körperliche Schwäche 4. Vegetative Missempfindungen 5. Gesundheitsverhalten
Dysfunktionale Kognitionen
Hiller et al. 1997a
Skala zur Erfassung von Krankheitsverhalten (Scale for the Assessment of Illness Behaviour, SAIB)
1. Verifizierung von Diagnosen 2. Ausdruck der Beschwerden 3. Medikamente/Behandlung 4. Konsequenzen der Erkrankung 5. Körper-Scanning
Krankheitsverhalten
Rief et al. 2003
Fragebogen zur Erfassung der Schmerzverarbeitung (FESV)
1. Kognitive Schmerzbewältigung 2. Behaviorale Schmerzbewältigung 3. Schmerzbedingte psychische Beeinträchtigung
Schmerzerleben
Geissner 2001
Pain Disability Index (PDI)
–
Psychosoziale Beinträchtigungen
Dillmann et al. 1994 Modifizierte Version von Mewes et al. 2009
Erfassung assoziierter Merkmale
jedoch in der Instruktion nicht zwischen Symptomen mit und ohne medizinische Ursachen unterschieden. Als Instrumente für spezielle Störungsbilder sind beispielhaft nur die »Fatigue-Skala« (FS) und einige auf die Erfassung hypochondrischer Merkmale zielende Instrumente aufgeführt. Als wichtige assoziierte Merkmale
gelten dysfunktionale Kognitionen hinsichtlich der Wahrnehmung und Interpretation körperlicher Signale, kausale Symptominterpretationen, Krankheitsängste und -überzeugungen, Krankheits- und Schonungsverhalten, Copingstrategien sowie der Grad der psychosozialen Beeinträchtigung.
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16
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Kapitel 1 · Unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen
Eine weitere diagnostische Option stellen Symptomtagebücher dar. Sie können zur differenzierten Verhaltensdiagnostik eingesetzt werden, um beispielsweise den Tages- oder Wochenverlauf der Beschwerdenintensität und -unannehmlichkeit zu erfassen. Ein Beispiel für eine standardisierte Version ist das SOMS-Befindlichkeitstagebuch als Teil des SOMS (Rief u. Hiller 2008). Es enthält visuelle Analogskalen mit den Eckpunkten 0 und 100 für die Einschätzung des eigenen körperlichen Wohlbefindens, der Stimmung, des subjektiv erlebten Gesundheitszustands, von Krankheitsängsten und anderen relevanten Merkmalen. Auch können Auslöser für Symptomveränderungen sowie Konsequenzen (z. B. eigene Reaktionen oder Bewältigungsversuche) eingetragen und damit einer systematischen Betrachtung zugänglich gemacht werden. Ein Symptomtagebuch kann aber auch einfach mit selbst gestalteten visuellen Analogskalen individuell für den Patienten zugeschnitten werden. Beispiele für entsprechende Skalen werden in . Abb. 1.3 veranschaulicht.
1.4
Epidemiologie
1.4.1
Prävalenz
jAllgemeinbevölkerung
Multiple unerklärte Körperbeschwerden stellen in der Allgemeinbevölkerung ein häufiges Phänomen dar. In einer epidemiologischen Untersuchung von Hiller und Kollegen (2006) wurde die Punktprävalenz von somatoformen Symptomen in einer deutschen Repräsentativstichprobe ermittelt. Es zeigte sich, dass 81,6% der untersuchten Personen mindestens ein Symptom einhergehend mit einer leichten Beeinträchtigung bzw. 0,7% mindestens ein Symptom mit hohem Beeinträchtigungsgrad zum Untersuchungszeitpunkt wahrnahmen. Zudem ergab sich eine durchschnittliche Häufigkeit von sieben Symptomen pro Teilnehmer. Verschiedenartige Schmerzsymptome (vor allem Rücken-, Kopf-, Gelenkschmerzen und Schmerzen in den Extremitäten) sowie Lebensmittelunverträglichkeiten, sexuelle Gleichgültigkeit, Menstruationsschmerzen und Erektions- bzw. Ejakulationsstörungen kamen am häufigsten vor. Diese Symptome wiesen unter Einschluss leichter bis schwerer Beeinträchtigungsgrade eine Prävalenzzahl von über 20% auf. Des Weiteren zeigte sich ein Trend, dass die untersuchten Personen eher multiple Körperbeschwerden aufweisen anstatt nur einzelner Symptome. Abschließend untersuchten die Autoren die Häufigkeit von Syndromen somatoformer Symptome. Dabei zeigte sich, dass ein signifikant größerer Anteil der untersuchten Stichprobe Symptome aus dem Schmerzcluster im Vergleich zum Cluster gastrointestinaler Beschwerden bzw. pseudoneurologischer Symptome aufwies. Diese Da-
ten stimmen mit den Befunden einer Studie von Rief und Kollegen (2001) überein, die in einer repräsentativen deutschen Bevölkerungsstichprobe als häufigste somatoforme Symptome ebenfalls Schmerzsymptome identifizierten mit 2-Jahres-Prävalenzraten von etwa 20–30%. Die Bestimmung der Prävalenz klinisch relevanter somatoformer Beschwerden ist durch verschiedene Aspekte erschwert. Wie bereits in 7 Abschn. 1.2 deutlich wurde, existieren sehr unterschiedliche diagnostische Konzepte zur Klassifikation unerklärter Körperbeschwerden. Prävalenzzahlen können dementsprechend nur im Zusammenhang mit den zugrunde liegenden diagnostischen Kriterien betrachtet werden. Zudem ist die Häufigkeitsbestimmung dadurch erschwert, dass die somatoforme Symptomatik oftmals nicht als solche erkannt wird und somit nicht die passende Diagnose gestellt werden kann. Dieses Problem kann darauf zurückgeführt werden, dass die primäre Anlaufstelle für Patienten mit somatoformen Körperbeschwerden weniger psychosoziale Einrichtungen als Haus- und Fachärzte sind. Zudem muss angenommen werden, dass Patienten mit somatoformen Symptomen häufig alternativmedizinische Leistungen in Anspruch nehmen. In den vergangenen Jahren wurden mehrere Studien zur Häufigkeit multipler unerklärter Körperbeschwerden basierend auf den Diagnosekriterien des DSM-IV (American Psychiatric Association 2000; Saß et al. 2003), der ICD-10 (Dilling u. Freyberger 2000; World Health Organization 1992) bzw. der erweiterten diagnostischen Konzepte wie z. B. dem SSI-4/6 (7 Abschn. 1.2.2 oder 7 Abschn. 1.3.1) in repräsentativen Bevölkerungsstichproben durchgeführt. Dazu zählt der Bundesgesundheitssurvey 1998/1999, eine nationale Umfrage zur Häufigkeit von psychischen und körperlichen Erkrankungen in einer deutschen Erwachsenenstichprobe (Jacobi et al. 2004). Die Prävalenzzahlen basieren auf DSM-IV-Diagnosen, die im Rahmen strukturierter klinischer Interviews erhoben wurden. Es wurde eine Lebenszeitprävalenz von 16,2%, eine 12-Monats-Prävalenz von 11% und eine 4Wochen-Prävalenz von 7,5% für die Gesamtgruppe der somatoformen Störungen ermittelt. Angaben zu einzelnen somatoformen Störungen, insbesondere der Somatisierungsstörung, wurden in dieser Studie nicht gemacht. Diese Störungskategorie, die äußerst streng definierte Kriterien umfasst, wurde allerdings in der »Epidemiologic Catchment Area Study« für eine amerikanische Repräsentativstichprobe untersucht (Robins u. Regier 1991). Hier wurde eine Lebenszeitprävalenz unter 1% gefunden. Das DSM-IV (American Psychiatric Association 2000) gibt eine Prävalenz in Abhängigkeit vom Geschlecht von weniger als 0,2% bei Männern bzw. 0,2–2% bei Frauen an. Patienten, die die Kriterien vereinfachter diagnostischer Konzepte unerklärter Körperbeschwerden erfüllen, kom-
17 1.4 · Epidemiologie
Wie stark waren Ihre Symptome in der vergangenen Woche ausgeprägt? Symptom:________________ überhaupt nicht
sehr stark
überhaupt nicht
sehr stark
überhaupt nicht
sehr stark
Symptom:________________
Symptom:________________
Wie stark waren Sie in der vergangenen Woche durch Ihre Beschwerden eingeschränkt?
überhaupt nicht
sehr stark
Wie war Ihre Stimmung in der vergangenen Woche?
sehr schlecht
s e h r g ut
. Abb. 1.3 Vorschläge für visuelle Analogskalen in einem Symptomtagebuch
men wesentlich häufiger vor. Jacobi und Kollegen (2004) geben eine Lebenszeitprävalenz für den SSI-4/6 von 5,6%, eine 12-Monats-Prävalenz von 4,3% und eine 4-WochenPrävalenz von 3,1% an. Für eine amerikanische Stichprobe wurde für somatoforme Syndrome, die die strengen Kriterien der Somatisierungsstörung nicht erfüllen, eine Lebenszeitprävalenz von 11,6% identifiziert. Das Vorkommen der multisomatoformen Störung (Kroenke et al. 1997; 7 Abschn. 1.2.2) wurde mit Hilfe eines strukturierten klinischen Interviews in einer norwegischen Bevölkerungsstichprobe untersucht. Hier ergab sich eine 6-Monats-Prävalenz von 14% (Leiknes et al. 2007b). Wie bereits erwähnt, treten multiple unerklärte Körperbeschwerden auch im Rahmen spezifischer funktioneller Syndrome auf. Die Punktprävalenz schwankt beträchtlich in Abhängigkeit von der Art eines solchen Syndroms bzw. von den zugrunde liegenden Syndromkriterien. Zu den klassischen funktionellen Syndromen zählt u. a. das chronische Erschöpfungssyndrom, für das eine Punktprävalenz von 0,4% in einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe ermittelt wurde (Jason et al. 1999). Ein
weiteres gängiges funktionelles Syndrom stellt die Fibromyalgie dar. In der groß angelegten »London Fibromyalgia Epidemiology Study« wurde für dieses Syndrom eine Punktprävalenz von 3,3% gefunden (White et al. 1999). Die DSM-IV-Forschungskriterien der prämenstruellen dysphorischen Störung, einer besonders schwergradigen Form des prämenstruellen Syndroms (PMS), werden von ca. 3–8% der Frauen im gebärfähigen Alter erfüllt (Punktprävalenz; Halbreich et al. 2003). Beim Reizdarmsyndrom schwankt die Punktprävalenz enorm in Abhängigkeit von den zugrunde liegenden Störungskriterien. Nach Angaben einer amerikanischen Übersichtsarbeit kann die Prävalenz zwischen 2,1 und 22% schwanken (Rey u. Talley 2009). Die wichtigsten Prävalenzangaben werden in . Tab. 1.3 noch einmal zusammenfassend dargestellt. jStichproben in der medizinischen Primärversorgung
Insbesondere in der medizinischen Primärversorgung – Hausarztpraxen und Allgemeinkrankenhäuser – weist ein hoher Anteil an Patienten unerklärte Körperbeschwerden
1
18
1
Kapitel 1 · Unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen
. Tab. 1.3 Prävalenz unerklärter Körperbeschwerden in der Allgemeinbevölkerung Lebenszeitprävalenz (%)
Punktprävalenz (%)
Syndrome multipler unerklärter Körpersymptome Somatisierungsstörung (nach DSM-IV/ICD-10)
0,1
SSI-4/6, andere erweiterte Konzepte der Somatisierungsstörung
5,6–11,6
Spezifische funktionelle Syndrome Chronisches Erschöpfungssyndrom
0,4
Fibromyalgie
3,3
Prämenstruelle dysphorische Störung
3–8
Reizdarmsyndrom
2,1–22
auf. In einer Studie von de Waal und Kollegen (2004) wurden Patienten in allgemeinmedizinischen Praxen untersucht, wobei eine Punktprävalenz von 0,5% für eine Somatisierungsstörung und 13% für eine undifferenzierte somatoforme Störung entsprechend den diagnostischen Kriterien des DSM-IV (American Psychiatric Association 2000) ermittelt wurden. In einer Stichprobe aus der medizinischen Primärversorgung erfüllten 30,3% die Kriterien einer DSM-IV-Diagnose somatoformer Störungen (Fink et al. 1999). In beiden Studien wurde die Restkategorie einer »somatoformen Störung, nicht näher bezeichnet« ausgeschlossen. Auch hier ergibt sich wieder das Problem, dass die Prävalenzraten sehr stark in Abhängigkeit vom diagnostischen Konzept schwanken. In einer Untersuchung von Nimnuan und Kollegen (2001) wurde eine Stichprobe konsekutiv aufgenommener Patienten eines Allgemeinkrankenhauses untersucht, in der eine Punktprävalenz von 52% bezüglich unerklärter Körperbeschwerden ermittelt wurde. Die Autoren fundierten ihre Teilnehmerrekrutierung auf einer sehr breit gefassten Definition der Symptome als medizinische Beschwerden, für die keine definierte medizinische Diagnose im Rahmen einer adäquaten medizinischen Untersuchung gefunden werden kann. Im Vergleich schlossen Verhaak und Kollegen (2006) nur Patienten in ihre Analysen ein, die mindestens vier ärztliche Konsultationen bezüglich ihrer Körperbeschwerden über das vergangene Jahr in Anspruch genommen hatten. In dieser Stichprobe wurde eine Punktprävalenz von 2,5% gefunden.
Eine bereits angesprochene Problematik besteht darin, dass somatoforme Symptome oftmals nicht als solche vom Hausarzt erkannt werden. Häufige Überweisungen zu anderen medizinischen Spezialisten sind die Regel. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass auch in Facharztpraxen bzw. fachärztlichen Stationen in Allgemeinkrankenhäusern die Prävalenz unerklärter Körperbeschwerden deutlich erhöht ist. In einer bereits zitierten Studie von Nimnuan und Kollegen (2001) wurden Patienten getrennt nach der Fachabteilung, von der sie überwiesen wurden, hinsichtlich der Anzahl ihrer somatoformen Körperbeschwerden untersucht. Die höchsten Prävalenzraten wiesen Patienten auf, die von der gynäkologischen (66%) sowie der neurologischen Abteilung (62%) überwiesen wurden, gefolgt von Patienten von der gastroenterologischen (58%) und von der kardiologischen (53%) Station. In einer Arbeit von Fink und Kollegen (2005) wurden stationäre sowie ambulante neurologische Patienten untersucht. 60% wiesen mindestens eine unerklärte Körperbeschwerde auf und knapp 35% erfüllten die Kriterien einer somatoformen Störung nach der ICD-10 (World Health Organization 1992).
1.4.2
Soziodemographische und transkulturelle Besonderheiten
jGeschlecht
Mehrere epidemiologische Studien zeigen, dass Frauen häufiger unter unerklärten Körperbeschwerden leiden als Männer. Dieser Befund gilt als relativ stabil und zeigt sich nicht nur für Symptome, die mit einem nur geringen Belastungsgrad einhergehen (Hiller et al. 2006), sondern auch für klinisch relevante Syndrome. In der bereits zitierten Studie von Jacobi und Kollegen (2004) liegt bezüglich der Kriterien des SSI-4/6 die Lebenszeitprävalenz bei Frauen knapp doppelt so hoch wie bei Männern. In einer norwegischen Bevölkerungsstichprobe erfüllten rund 3,7mal mehr Frauen die Kriterien der multisomatoformen Störung (Kroenke et al. 1997) in den vergangenen 6 Monaten (Leiknes et al. 2007b). In Stichproben aus der Primärversorgung zeichnen sich ähnliche, jedoch nicht so stark ausgeprägte Geschlechterunterschiede ab. In der bereits zitierten Studie von Nimnuan und Kollegen (2001) lag die Punktprävalenz unerklärter Körpersymptome bei Frauen rund 1,4-mal höher als bei Männern. In der Studie von Verhaak und Kollegen (2006) ergab sich in einer Hausarztstichprobe ein Anteil an Frauen mit somatoformen Beschwerden von 66%. jAlter
Die Zusammenhänge zwischen Alter und Häufigkeit unerklärter Körperbeschwerden sind nicht so eindeutig wie
19 1.4 · Epidemiologie
die geschlechtsbezogenen Effekte. In bisher vorliegenden Studien zeigt sich einerseits, dass in der Allgemeinbevölkerung ältere Menschen anscheinend mehr medizinisch unerklärte Körperbeschwerden in leichter wie auch schwerer Ausprägung erleben. In einer Studie von Hiller und Kollegen (2006) berichteten 87% bzw. 27% der Teilnehmer über 45 Jahre mindestens ein mildes bzw. schwer ausgeprägtes unerklärtes Körpersymptom. Im Gegensatz dazu gaben 70% bzw. 13% der unter 45-Jährigen an, mindestens ein somatoformes Symptom leichter bzw. schwerer Ausprägung wahrzunehmen. In der bereits zitierten Studie von Rief und Kollegen (2001) ergaben sich vergleichbare Ergebnisse. Zusätzlich zeigte sich jedoch, dass es sich bei den Symptomen, die im Alter gehäufter auftraten, primär um Beschwerden handelte, die möglicherweise durch unspezifische altersbedingte Veränderungen verursacht sind (z. B. Taubheit, erektile Dysfunktionen, Gelenkschmerzen, Schmerzen in den Extremitäten, urologische Probleme, Herzklopfen). Im Gegensatz zur Prävalenz unerklärter Körperbeschwerden im Allgemeinen scheint interessanterweise die Diagnose einer Somatisierungsstörung bzw. subsyndromaler Somatisierungssymptome gehäuft in jüngeren Altersgruppen vorzuliegen. In einer bereits zitierten Studie von Leiknes und Kollegen (Leiknes et al. 2007b) lag die höchste 6-Monats-Prävalenz einer multisomatoformen Störung (15,7%) in der Altersgruppe zwischen 18 und 34 Jahren. Die Prävalenz senkte sich über die darauf folgende Altersspanne systematisch ab bis auf 9,8% bei den über 66-Jährigen. In einer Studie von Nimnuan und Kollegen (2001) zeigte sich, dass Patienten, die aufgrund von unerklärten Körperbeschwerden von ambulanten Fachärzten an ein Allgemeinkrankenhaus überwiesen wurden, tendenziell eher jünger waren. Die höchste Prävalenz lag in der Gruppe der 16- bis 25-Jährigen. Jedoch müssen hier Unterschiede in Abhängigkeit von der Art der Symptome gemacht werden. Während z. B. Patienten, die von gynäkologischen Fachärzten überwiesen wurden, tendenziell eher jünger waren, waren Patienten aus kardiologischen Praxen eher älter. In der bereits zitierten niederländischen Hausarztstudie (de Waal et al. 2004) ergab sich die höchste Prävalenz von somatoformen Störungen im Allgemeinen in der Substichprobe der 25bis 44-Jährigen (21,8%) und sank signifikant auf 5,4% in der Stichprobe der 65- bis 79-Jährigen ab. jKulturelle Besonderheiten
Vorliegende epidemiologische Studien zu transkulturellen Unterschieden zeigen, dass »Somatisierung« ein kulturübergreifendes Phänomen darstellt. Jedoch bilden sich zugleich Unterschiede in der Häufigkeit zwischen verschiedenen Kulturen ab. In einer von der WHO durchgeführten epidemiologischen Studie in der Primärversorgung (Üstun u. Sartorius 1995), in der knapp 5500 Patienten in
15 verschiedenen Zentren (Ankara, Athen, Mainz, Berlin, Bangalore, Groningen, Ibadan, Manchester, Nagasaki, Paris, Rio de Janeiro, Santiago, Seattle, Shanghai, Verona) in 14 Ländern untersucht wurden, zeigten sich hohe Somatisierungstendenzen in allen Zentren. Es traten jedoch erhebliche Schwankungen in der Gesamtprävalenz auf, z. B. in Bezug auf den SSI-4/6 zwischen 7,6% und 36,8%. Besonders erhöhte Prävalenzraten zeigten sich vor allem in den zwei südamerikanischen Zentren. In der bereits zitierten Epidemiologic-Catchment-Area-Studie (Robins u. Regier 1991) ergab sich eine Gesamtprävalenz der Somatisierungsstörung von 0,01%, erhöhte Prävalenzen wiesen allerdings afroamerikanische Frauen (0,8%) und Männer (0,4%) auf. In einer Studie von Farooq und Kollegen (1995) wurden Patienten in britischen Hausarztpraxen mit einem Inventar somatoformer Symptome untersucht. Es ergab sich eine signifikant höhere Anzahl unerklärter Körperbeschwerden in der asiatischen im Vergleich zu einer europäischen Stichprobe, die primär durch die ethnische Herkunft und nicht durch Bildungs- und Beschäftigungsstatus erklärt werden konnte. Ein allgemeines Problem bisher existierender epidemiologischer Studien zu transkulturellen Unterschieden in der Häufigkeit unerklärter Körperbeschwerden besteht allerdings darin, dass Messinstrumente genutzt werden, die relativ insensitiv gegenüber kulturspezifischen Symptomen sind. Das ist problematisch, da die Art und Häufigkeit spezifischer somatoformer Symptome zwischen verschiedenen Kulturen stark variieren kann (Saß et al. 2003). Pseudoneurologische Symptome treten z. B. in Afrika oder Südasien häufiger als in Nordamerika auf (z. B. Brennen in den Händen, Empfindung von Würmern im Kopf oder krabbelnden Ameisen). Des Weiteren können Symptome, die sich auf die männliche Fortpflanzung beziehen, z. B. in Kulturen häufiger auftreten, in denen eine so genannte »Sorge über Sperma-Verlust« verbreitet ist (z. B. Dhat-Syndrom, 7 Dhat-Syndrom). Es wird davon ausgegangen, dass kulturelle Faktoren auch das Geschlechterverhältnis von somatoformen Symptomen beeinflussen können. Griechische und puertoricanische Männer z. B. weisen im Vergleich zu Männern aus den USA deutlich höhere Prävalenzen der Somatisierungsstörung auf (Saß et al. 2003). Zudem sind die Daten schwierig zu interpretieren, da nur in wenigen Studien die Unterschiede in den Prävalenzen hinsichtlich des Bildungsstatus der Untersuchten kontrolliert wurden. Inwieweit auch der Bildungsbzw. sozioökonomische Status eine wichtige Rolle in Bezug auf unerklärte Körperbeschwerden spielen kann, wird im nächsten Abschnitt näher beleuchtet. Abschließend müssen bei der Interpretation der Befunde auch Besonderheiten in der Struktur des jeweiligen medizinischen Versorgungswesens des Landes und sozialer Stigmata Berücksichtigung finden. Im südostasia-
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1
Kapitel 1 · Unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen
tischen Raum werden beispielsweise somatische Symptome eher als rechtfertigend für das Aufsuchen eines Arztes angesehen als depressive oder andere emotionale Probleme. Dementsprechend sind in psychiatrischen Kliniken primär depressive Patienten mit ausgeprägten Körpersymptomen zu finden (Kawanishi 1992). In Ländern, in denen die psychiatrische Versorgung nur für extrem Kranke zugänglich ist, kommt es häufig vor, dass Betroffene ihre somatischen Beschwerden stark in den Vordergrund stellen, um ausreichend Aufmerksamkeit bzw. eine adäquate Behandlung zu erhalten (Kirmayer u. Young 1998). Dhat-Syndrom Das Wort »Dhat« leitet sich von dem altindischen Sanskrit-Wort »dhatu« ab, das so viel bedeutet wie »Elixier des Lebens«. Erstmalig wurde dieses Syndrom in westlichen psychiatrischen Schriften beschrieben als ein Komplex vager somatischer Symptome wie Fatigue, Erschöpftheit, Appetitverlust und sexuelle Dysfunktionen, die vom Patienten auf einen Samenverlust im Rahmen nächtlicher Samenergüsse, Urinieren bzw. Masturbation zurückgeführt werden. Diese Symptome einer »Samenverlustangst« sind altbekannt. Ihre Beschreibung findet sich in indischen historischen Schriften. Sie basiert auf der Vorstellung, dass Samenverlust mit einem Verlust von Lebensenergie assoziiert wird. Dieses Phänomen wird jedoch nicht nur in Indien, sondern z. B. auch in Sri Lanka oder anderen Gebieten des Subkontinents berichtet. Während Dhat einerseits als spezifische »Sexualneurose des Orients« bezeichnet wird, gehen andere Wissenschaftler wie z. B. Sumathipala und Kollegen (2004) davon aus, dass es sich nicht um ein kulturspezifisches Phänomen handelt. Historische Schriften belegen, dass vergleichbare Samenverlustängste im 19. Jahrhundert auch in Europa, in den USA und in Australien vorkamen. In diesen Ländern kann das Syndrom möglicherweise als Reaktion auf Industrialisierung und Urbanisierung und damit einhergehende soziale und ökonomische Veränderungen verschwunden sein. Möglicherweise wird dieser Effekt des Rückgangs des Syndroms auch langfristig in Süd(ost)asien auftreten.
jSozioökonomischer Status
Vorliegende epidemiologische Studien belegen wiederholt, dass ein niedriger Bildungsstand und die Zugehörigkeit zu einer niedrigen sozialen Schicht mit erhöhten Prävalenzraten unerklärter Körperbeschwerden einhergehen. In der bereits zitierten epidemiologischen deutschen Studie von Jacobi und Kollegen (2004) weisen die höchsten Prävalenzraten bezüglich somatoformer Störungen Menschen auf, die in der niedrigsten sozialen Schicht leben (13,5%), die sich in Arbeitslosigkeit befinden (16%) oder die geschieden, verwitwet sind bzw. in Trennung leben (15%). Epidemiologische Daten amerikanischer Studien zeigen vergleichbare Ergebnisse.
1.4.3
Komorbidität
Patienten mit ausschließlich unerklärten Körperbeschwerden sind eher selten anzutreffen. Allerdings muss hier
noch zwischen leichten somatoformen Symptomen, die häufige Alltagsphänomene darstellen (Hiller et al. 2006), sowie Körperbeschwerden mit einem höheren Schweregrad und größerer Funktionsbeeinträchtigung unterschieden werden. Betroffene, die an letzteren Symptomen leiden, weisen häufig komorbide psychische Erkrankungen auf. Das ist nicht verwunderlich, da unerklärte Körperbeschwerden mit massiven Beeinträchtigungen der Lebensqualität einhergehen können. Insbesondere Patienten mit chronifizierten und polysymptomatischen somatoformen Krankheitsbildern erleben oftmals einen Abfall im alltäglichen Aktivitätsniveau, in der Arbeitsleistung und der sozialen Rollenfunktion (Barsky et al. 2005; de Waal et al. 2004). In einer Studie an einer deutschen Stichprobe stationärer Patienten (Hiller et al. 1997b), die die Kriterien der Diagnosen Schmerzstörung, Somatisierungsstörung bzw. des SSI-4/6 erfüllten, wurden vergleichbar hohe Beeinträchtigungsgrade in verschiedenen sozialen Funktionsbereichen nachgewiesen wie bei Patienten mit anderen psychischen Erkrankungen (z. B. Angststörungen bzw. Depressionen). jAchse-I-Störungen
In dem bereits zitierten Gesundheitssurvey (Jacobi et al. 2004) wies nur ein gutes Drittel der Patienten, die die Kriterien des SSI-4/6 erfüllten, nur eine Diagnose unerklärter Körperbeschwerden auf. 22,1% erfüllten die Kriterien einer weiteren psychischen Störung, 19,2% zwei weiterer Diagnosen und 24,5% drei bzw. mehr als drei weiterer psychischer Störungsbilder. Als häufigste komorbide Störungen können Angststörungen, affektive Störungen und Substanzmissbrauch beobachtet werden. In einer Studie von Kroenke und Kollegen (1994) wurden Patienten aus Allgemeinkrankenhäusern mit somatoformen Symptomen untersucht. Von diesen wiesen in Abhängigkeit von der Art des Symptoms zwischen 28 und 73% eine komorbide Angststörung entsprechend den DSM-IV-Kriterien auf. Ebenfalls in Abhängigkeit von der unerklärten Körperbeschwerde erfüllten 27–91% die DSM-IV-Kriterien einer affektiven Störung. In der bereits erwähnten niederländischen Hausarztstudie (de Waal et al. 2004) litten 26% von Patienten, die die DSM-IV-Kriterien einer somatoformen Störung erfüllten, an einer komorbiden Angstörung und/oder an einer komorbiden affektiven Störung. Wichtig ist zu berücksichtigen, dass die komorbiden Erkrankungen nicht zwangsläufig zeitgleich mit den unerklärten Körperbeschwerden auftreten müssen, sondern auch zeitversetzt mit Wochen bis zu Jahren zwischen dem jeweiligen Erstauftreten. Es kommt zudem auch vor, dass sich die einzelnen Störungsbilder überhaupt nicht überlappen. Das bedeutet, dass die eine Erkrankung bereits abgeklungen ist, bevor die andere beginnt. Daher ist es interessant, sich auch die Lebenszeitprävalenzen hinsicht-
21 1.4 · Epidemiologie
lich der Komorbiditäten anzuschauen. In einer Studie von Brown und Kollegen (1990) erfolgte die Untersuchung der Lebenszeitprävalenzen komorbider psychischer Störungsbilder in einer Stichprobe von Patienten aus der Primärversorgung, die die Kriterien einer Somatisierungsstörung nach dem DSM-III (American Psychiatric Association 1980) erfüllten. Die Autoren wiesen auch hier sehr hohe Prävalenzen für affektive Störungen (Major Depression: 54,6%), Angststörungen (generalisierte Angststörung: 33,6%; phobische Störungen: 31,1%; Panikstörung: 26%) sowie für Alkoholmissbrauch bzw. -abhängigkeit (21%) und für die Zwangsststörung (17,6%) nach. > Die Berücksichtigung von Komorbidität, des Zusammenhangs komorbider Störungen mit den unerklärten Körpersymptomen sowie der zeitliche Verlauf und die gegenseitige Bedingung der jeweiligen Syndrome spielt für die Therapieplanung eine entscheidende Rolle. jAchse-II-Störungen
Hohe Komorbiditäten somatoformer Symptome bestehen jedoch nicht nur zu Achse-I-, sondern auch zu Achse-IIStörungen. In einer dänischen Studie (Fink 1995) wurde eine Stichprobe von Patienten mit chronifizierten unerklärten Körperbeschwerden untersucht. Bei 48% der untersuchten Personen konnte eine begleitende Persönlichkeitsstörung entsprechend den DSM-III-Kriterien (American Psychiatric Association 1980) diagnostiziert werden. Am häufigsten wurde die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung, nicht näher bezeichnet (40,7%) und der Borderline-Persönlichkeitsstörung (37%) vergeben, wobei die Patienten mit der ersteren Diagnose primär durch Charakteristika des Clusters B (antisoziale, Borderline-, histrionische und narzisstische Persönlichkeitsstörung) gekennzeichnet waren. In einer amerikanischen Studie (Rost et al. 1992) wiesen in einer Stichprobe von Patienten, die die strengen Kriterien der Somatisierungsstörung erfüllten, sogar 60,6% eine komorbide Persönlichkeitsstörung auf. Bei 37,2% konnten zwei oder mehr komorbide Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert werden. Am häufigsten traten die selbstunsicher-vermeidende Persönlichkeitsstörung (26,7%), die paranoide (21,3%), die masochistische (19,1%) und die zwanghafte Persönlichkeitsstörung (17%) auf. Die Kriterien der histrionischen Persönlichkeitsstörung erfüllten 12,8% der Stichprobe und die der antisozialen Persönlichkeitsstörung 7,4%. > Das Vorliegen einer komorbiden Persönlichkeitsstörung hat einen entscheidenden Einfluss auf die Therapieplanung. In der Regel sollten zuerst die somatoforme Symptomatik bzw. gegebenenfalls komorbide Achse-I-Störungen im Vordergrund der Behandlung stehen. Bei diesen ist ein
schneller eintretender Therapieerfolg zu erwarten, was sich zudem stabilisierend auf die Patienten-Therapeuten-Beziehung auswirkt. Erst dann sollte die Behandlung der Persönlichkeitsstörung in Betracht gezogen werden, die wiederum eine stabile Therapiebeziehung voraussetzt.
1.4.4
Verlauf
Die schwerste Form medizinisch unerklärter Körpersymptome – die Somatisierungsstörung – ist primär eine chronische Erkrankung, bei der nur in seltenen Fällen mit rezidivierenden Verläufen bzw. mit einer vollständigen Remission zu rechnen ist (Saß et al. 2003). Niedrige Remissionsraten scheinen auch für multiple somatoforme Symptome im Allgemeinen bzw. andere somatoforme Störungen nach der ICD-10 eher die Regel als die Ausnahme zu sein. In einer niederländischen Hausarztstudie (Arnold et al. 2006) berichten die Autoren, dass nach 6 Monaten nur 30 von 99 Patienten mit somatoformen Störungen eine Remission aufwiesen. Hingegen lagen bei den verbleibenden 69 Patienten persistierende Symptome noch nach einem halben Jahr vor, unabhängig davon, ob die Betroffenen bereits eine fachgerechte psychotherapeutische bzw. psychiatrische Behandlung in Anspruch genommen hatten. In einer norwegischen Studie wurde eine diagnostische Befragung an einer Allgemeinbevölkerungsstichprobe spezifisch hinsichtlich medizinisch unerklärter Schmerzsymptome durchgeführt (Leiknes et al. 2007a). Die Betroffenen wurden nach 10–11 Jahren in Folge einer Baseline-Erhebung erneut interviewt. 33,6% derjenigen, die im Rahmen der ersten Erhebung medizinisch unerklärte Schmerzen berichtet hatten, taten dies auch noch bei der Katamnesemessung und waren zudem ausschließlich Frauen. Auch in einer Studie von Speckens und Kollegen (1996) zeigte sich, dass insbesondere Frauen sowie Patienten mit einer hohen Anzahl an Körperbeschwerden das Risiko tragen, einen negativen Verlauf zu entwickeln. Des Weiteren sind im Rahmen der Somatisierungsstörung stabile Verläufe ein und derselben körperlichen Symptome eher selten. Häufig treten Wechsel zwischen den im Vordergrund stehenden Beschwerden auf (Saß et al. 2003). Nach den im DSM-IV definierten Störungskriterien müssen die körperlichen Beschwerden vor dem 30. Lebensjahr erstmalig auftreten. Typischerweise erfüllen Betroffene jedoch schon bis zum Alter von 25 Jahren die diagnostischen Kriterien, wobei die ersten Symptome meistens bereits im Jugendalter auftreten (Saß et al. 2003). Mit zunehmender Chronifizierung sinken die Chancen, auch mit einer fachgerechten Behandlung eine vollständige Remission der Symptomatik zu erreichen. Dabei wird
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22
1
Kapitel 1 · Unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen
also deutlich, wie wichtig eine frühzeitige adäquate Diagnose spielt, damit möglichst zu einem frühen Zeitpunkt der Krankheitsgeschichte eine angemessene Behandlung eingeleitet werden kann. Die Befunde hinsichtlich des Einflusses komorbider Störungen auf den Verlauf multipler somatoformer Symptome sind uneindeutig. Einflüsse von Depressivität und Angstsymptomen konnten einerseits nachgewiesen werden. In der bereits zitierten norwegischen Studie (Leiknes et al. 2007a) wurde Depressivität als Prädiktor für medizinisch unerklärte Schmerzen nach einer 10- bis 11-JahresKatamnese identifiziert. In einer Arbeit von Leibbrand und Kollegen (1998) zeigte sich andererseits bei Patienten mit komorbider Angst- und depressiver Störung oder komorbider Persönlichkeitsstörung hinsichtlich verschiedener psychopathologischer Dimensionen keine stärkere Symptomausprägung und auch keine höhere Beeinträchtigung im psychosozialen Funktionsniveau im Vergleich zu somatoformen Patienten mit gering ausgeprägter Komorbidität. Auf den therapeutischen Erfolg konnten ebenfalls keine komorbiditätsbezogenen Einflüsse nachgewiesen werden. Unabhängig davon betonen Rief und Hiller (2011) aber zu Recht, dass in der klinischen Praxis eine komplexere Psychopathologie zu erwarten ist, wenn eine größere Anzahl komorbider Störungen vorliegt. Die Autoren betonen, dass es bei geringer Komorbidität in der Regel einfacher ist, Therapieziele klar zu definieren. Sie postulieren, dass eine komorbide Störung in bestimmten Fällen die Behandlung der somatoformen Symptome jedoch auch erleichtern kann. Als Beispiel führen sie die Angststörungen auf, die in der Regel mit kognitiver Verhaltenstherapie gut behandelbar sind und es dem Patienten erleichtern, die psychophysiologischen Zusammenhänge seiner medizinisch unerklärten Körperbeschwerden zu verstehen.
1.4.5
Gesundheitsökonomische Relevanz: Unerklärte Körperbeschwerden und Behandlungskosten
Studien zu gesundheitsökonomischen Aspekten belegen, dass die Behandlung von Patienten mit multiplen somatoformen Beschwerden sehr kostenintensiv ist. Diese Problematik kann auf verschiedene Faktoren zurückgeführt werden. Zunächst ist zu berücksichtigen, dass somatoforme Patienten häufig ein stark somatisch orientiertes Störungsmodell bezüglich ihrer Beschwerden verinnerlicht haben. Der negative ärztliche Befund steht dementsprechend häufig mit den Vorstellungen der Betroffenen im Widerspruch. Patienten beharren oftmals darauf, dass eine organische Ursache gefunden werden müsse. Diese Problematik belastet die Arzt-Patienten-Beziehung in vie-
len Fällen enorm. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass in einer Studie von Hahn und Kollegen (1996) gezeigt werden konnte, dass behandelnde Ärzte ihre Patienten mit multisomatoformen Beschwerden als »schwierig« einstufen. Zudem demonstrieren die Daten dieser Studie sehr anschaulich, dass umgekehrt auch die Patienten unzufrieden sind und häufiger verschiedene medizinische Interventionen in Anspruch nehmen. Des Weiteren konnte in einer Studie von Anderson und Kollegen (2008) gezeigt werden, dass bei Ärzten von Patienten mit multiplen somatoformen Symptomen häufiger wenig hilfreiche Strategien zum Einsatz kommen wie z. B. unnötige diagnostische Untersuchungen oder symptomkontingente Terminvereinbarungen. Dieses Verhalten ist oft die einzige Möglichkeit, die Patienten zu beruhigen. Diese Strategien motivieren allerdings zugleich ein erhöhtes Inanspruchnahmeverhalten bezüglich medizinischer Dienstleistungen, was die Behandlungskosten in die Höhe treibt. Zudem erscheint es besonders problematisch vor dem Hintergrund, dass Patienten mit multiplen somatoformen Beschwerden, die häufig weiter überwiesen werden, psychisch und physisch stärker belastet sind als Patienten, die seltener überwiesen werden (McGorm et al. 2010). Die wiederholte Überweisung zu anderen Spezialisten scheint also keine besonders geeignete Behandlungsstrategie darzustellen. Sie kann zwar wichtig für die endgültige Abklärung einer Diagnose sein, hilft den Patienten aber nicht, mit ihren Beschwerden besser umzugehen. Zudem führt sie dazu, dass wenig Kontinuität in der Behandlung herrscht. In einer bereits zitierten amerikanischen Studie (Barsky et al. 2005) konnte nachgewiesen werden, dass Patienten aus der Primärversorgung mit multiplen somatoformen Symptomen im Vergleich zu Patienten ohne unerklärte Körperbeschwerden zwei- bis dreimal häufiger Krankenhausaufenthalte, ambulante Untersuchungen sowie Besuche der Notaufnahme pro Jahr in Anspruch nehmen. Darüber hinaus konnte für somatoforme Patienten 1,5-mal häufiger Hausarztbesuche und 1,7-mal häufiger Facharztkonsultationen verzeichnet werden. Die Gesamtkosten für medizinische Dienstleistungen waren um das 2,3-Fache erhöht. Im Rahmen einer Studie an einer deutschen Stichprobe konnten vergleichbare Befunde erhoben werden (Hiller et al. 2003). Des Weiteren muss berücksichtigt werden, dass erhöhte Gesundheitskosten nicht nur direkt durch erhöhtes Inanspruchnahmeverhalten – auch »Doctor-Shopping« genannt – zustande kommen, sondern auch durch indirekte Kosten wie z. B. erhöhte Abwesenheitszeiten am Arbeitsplatz, häufige Krankschreibungen sowie Frühberentung. In einer deutschen Studie (Larisch et al. 2005) konnte bei Patienten mit Somatisierungssymptomen gezeigt werden, dass 42,6% in den vergangenen 3 Monaten vor Beginn der Datenerhebung arbeitsunfähig waren.
23 1.4 · Epidemiologie
> Aus diesen Ergebnissen geht hervor, dass die Thematisierung der Inanspruchnahme medizinischer Versorgungssysteme in der Psychotherapie der Betroffenen eine wichtige Rolle spielt.
Zugleich muss natürlich auch betont werden, dass nicht alle Patienten mit multiplen somatoformen Beschwerden zu der Gruppe dieser »High-utilizer« gehören. Um jedoch auch diesen Patienten gerecht zu werden, gibt es im vorliegenden Behandlungsmanual Anleitungen dazu, wie der Patient sein Inanspruchnahmeverhalten auf ein angemessenes Niveau senken kann (7 Abschn. 5.5.4). Eine gute Kooperation und Absprache zwischen behandelndem Psychotherapeuten und zuständigem Arzt stellen dafür eine entscheidende Voraussetzung dar.
1
25 2.2 · Beschreibung
2
Störungstheorien, Modelle und Konzepte unerklärter Körperbeschwerden und somatoformer Störungen 2.1
Konzept der somatosensorischen Verstärkung – 26
2.2
Kognitiv-behaviorale Störungsmodelle – 26
2.3
Kognitionspsychologisches Modell – 27
2.4
Psychobiologisches Filtermodell – 29
2.5
Modell der klassischen Konditionierung somatoformer Beschwerden – 30
2.6
Mechanismus der zentralen Sensitivierung – 32
2.7
Physiologische und psychophysiologische Faktoren bei Somatisierung – 32
2.8
Interpersonelles Modell der Somatisierung – 33
2.9
Psychoanalytische und tiefenpsychologische Konzepte – 34
2.10
Ausblick: Dysfunktionale Emotionsregulationsprozesse bei somatoformen Beschwerden – 35
2.11
Ätiologie und Pathogenese somatoformer Störungen nach aktuellem Kenntnisstand: Ein integratives Modell – 35
M. Kleinstäuber et al., Kognitive Verhaltenstherapie bei medizinisch unerklärten Körperbeschwerden und somatoformen Störungen, DOI 10.1007/978-3-642-20108-0_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
26
2
Kapitel 2 · Störungstheorien, Modelle und Konzepte unerklärter Körperbeschwerden und somatoformer Störungen
Im Folgenden werden die wichtigsten derzeit bekannten Ansätze zur Erklärung der Entstehung und Aufrechterhaltung somatoformer Beschwerden und Störungen kurz skizziert. Die Kenntnis zentraler Entstehungsmechanismen erscheint hierbei nicht nur aus theoretischer Perspektive interessant, sondern stellt eine zentrale Voraussetzung dar, in der therapeutischen Arbeit mit Patienten sukzessive differenzierte (z. B. kognitionspsychologisch und psychobiologisch fundierte) Modelle als Alternative zu einem meist monokausalen organischen Krankheitsmodell zu vermitteln und erarbeiten zu können. Eine ausführliche und detaillierte Reflexion aller bekannten Ansätze würde den Rahmen dieses Behandlungsmanuals sprengen. Der interessierte Leser sei an dieser Stelle auf entsprechende Original- und Übersichtsarbeiten in diesem Bereich verwiesen (z. B. Rief u. Broadbent 2007; Witthöft u. Hiller 2010).
2.1
Konzept der somatosensorischen Verstärkung
Das Konzept der somatosensorischen Verstärkung wurde von Barsky und Kollegen (1990) vorgeschlagen und beschreibt die Tendenz, Körpersensationen als intensiv, gefährlich und beunruhigend wahrzunehmen (. Abb. 2.1). Teil des Konzepts ist eine katastrophisierende Bewertung von harmlosen und alltäglichen Körpersensationen (z. B. Kribbeln in Armen und Beinen) als Zeichen einer ernsthaften Erkrankung (z. B. degenerative Nervenerkrankung). Hierbei wird deutlich, dass dieses Konzept einen engeren Bezug zum Störungsbild der Hypochondrie aufweist, das zunehmend nicht mehr als Variante somatoformer Störungen, sondern als Angststörung definiert wird. Barsky selbst hat sehr früh auf engere Bezüge des Konzepts der somatosensorischen Verstärkung zur Hypochondrie im Vergleich zu den symptombezogenen somatoformen Störungen hingewiesen (z. B. Barsky et al. 1990). Kritisch anzumerken ist zusätzlich, dass das Konzept der somatosensorischen Verstärkung bislang nahezu ausschließlich durch Fragebogenverfahren untersucht und bestätigt wurde. Leider liegen bislang nur wenige experimentelle Befunde zu objektiv veränderten somatosensorischen Wahrnehmungs- und Bewertungsprozessen bei Patienten mit somatoformen Störungen vor. Insgesamt erscheint daher das Konzept der somatosensorischen Verstärkung stärker deskriptiver als explikativer Natur und zudem stärker relevant bei Personen mit Hypochondrie im Vergleich zu Personen mit symptombezogenen somatoformen Störungen. Das Modell der somatosensorischen Verstärkung bildet das Kernkonzept der kognitiv-behavioralen Modelle somatoformer Störungen, die wir im Folgenden skizzieren möchten.
2.2
Kognitiv-behaviorale Störungsmodelle
Das von Rief und Hiller (1998, 2011) formulierte Modell der Entstehung und Aufrechterhaltung somatoformer Störungen greift den Mechanismus der somatosensorischen Verstärkung auf, beinhaltet jedoch zusätzlich Aussagen hinsichtlich potenzieller Auslöser und verhaltensbezogener Konsequenzen. Das Modell ist in . Abb. 2.2 dargestellt. Als mögliche Auslöser der Entstehung somatoformer Beschwerden von Krankheitswert postuliert dieses Modell gesteigerte physiologische Erregungszustände (z. B. als Folge anhaltender psychosozialer Stressoren), längere Episoden primär somatischer Erkrankungen (z. B. Infektionen) oder auch krankheitsbezogene Medienberichte, wobei die letztgenannten medialen Faktoren aller Wahrscheinlichkeit nach einen höheren Stellenwert bei der Genese der Hypochondrie bzw. spezieller funktioneller Syndrome (wie z. B. den umweltbezogenen Befindlichkeitsstörungen) einnimmt. Als Folge dieser auslösenden Bedingungen können sich körperliche Veränderungen entwickeln, die zunehmend mit gesteigerter Aufmerksamkeit wahrgenommen und möglicherweise in katastrophisierender Weise (fehl-)interpretiert werden. Dem Ansatz der somatosensorischen Verstärkung folgend kommt es durch verstärkte Beachtung und Aufmerksamkeitszuwendung zu einer Intensivierung der jeweiligen Körpersensationen und damit zu einem gesteigerten Symptomerleben. > In der einschlägigen Literatur wird zunehmend zwischen Körpersensationen und Körpersymptomen differenziert. Eine bestimmte Körpersensation wird erst durch eine negative Bewertung zu einem Symptom.
Dem Modell von Rief und Hiller zufolge entscheiden insbesondere Konsequenzen auf der Verhaltensebene darüber, ob der Teufelskreis aus Symptomwahrnehmung, katastrophisierender Fehlinterpretation und Symptomverstärkung (d. h. somatosensorischer Verstärkung) aufrechterhalten wird. In diesem Sinne »aufrechterhaltende Verhaltensweisen« umfassen vor allem das exzessive Absuchen und Kontrollieren des eigenen Körpers nach Anzeichen einer möglichen Krankheit (»Checking«), häufige wiederholte Arztbesuche, die Initiierung vieler medizinischer Untersuchungen sowie gesteigerte Medikamenteneinnahme und eine Tendenz zu Schonungsverhalten. Checking und Schonungsverhaltensweisen können individuell sehr verschieden ausfallen. Beispiele für CheckingVerhalten sind exzessives Blutdruckmessen, Kontrolle des eigenen Pulsschlags oder übermäßige Untersuchungen des eigenen Stuhlgangs (z. B. nach Anzeichen von Blutungen im Darm). Typische Schonungsverhaltensweisen umfassen beispielsweise die Verminderung körperlicher Aktivitäten oder die Einhaltung bestimmter Diäten bei
27 2.3 · Kognitionspsychologisches Modell
funktionellen gastrointestinalen Störungen (z. B. Reizdarmsyndrom). Die mittel- und langfristig dysfunktionale Wirkung von Schonungsverhalten ist vor allem in einer zunehmenden Sensibilisierung des Organismus zu sehen, wodurch wiederum neue Symptomwahrnehmungen begünstigt werden. So führt beispielsweise vermehrte körperliche Inaktivität zu einer Abnahme körperlicher Fitness und damit zu verstärkten Belastungs- und Ermüdungssymptomen bei einem vormals gut tolerierten Ausmaß körperlicher Belastung. Bei den angesprochenen gastrointestinalen Symptomen kann ein Diätverhalten ohne eindeutige Indikation, z. B. aufgrund einer Allergie, eine zunehmende Sensibilisierung des gastrointestinalen Systems bewirken, das in der Folge immer stärker auf »ungewohnte« Nahrungsmittel reagiert. Anzumerken ist, dass das in . Abb. 2.2 skizzierte kognitiv-behaviorale Störungsmodell große Ähnlichkeit zum Modell der Panikstörung (Clark 1986) aufweist. Im Unterschied zur Panikstörung kommt es jedoch bei der somatosensorischen Verstärkung im Rahmen somatoformer Störungen typischerweise nicht zu schnell anflutenden Angstattacken, sondern eher zu zeitlich trägeren allmählichen Intensivierungen des Symptomerlebens. Im englischsprachigen Kontext wurde ein ähnliches multifaktorielles Modell der Entstehung und Aufrechterhaltung somatoformer Beschwerden von Kirmayer und Taillefer (1997) formuliert. Diesem Modell zufolge führen physiologische Veränderungen (entweder aufgrund medizinischer Faktoren oder aufgrund starken emotionalen Arousals) zu einer Zunahme körperfokussierter Aufmerksamkeit, einem erhöhten Risiko, Körpersensationen als Anzeichen von Krankheit zu interpretieren, sowie zu gesteigerten Sorgen und Katastrophengedanken hinsichtlich dieser befürchteten Erkrankung. Auf der Verhaltensebene resultieren hierbei hilfesuchendes Verhalten (bei Freunden, Ärzten und Angehörigen) sowie Vermeidungsverhalten bezüglich körperlicher Anstrengungen. Innerhalb dieses Modells werden auch Neurotizismus und Absorption (im Sinne einer erhöhten Suggestibilität) als prädisponierende Persönlichkeitseigenschaften benannt, die das Risiko eines Einstiegs in den genannten Teufelskreis erhöhen. Zusätzlich benennt dieses Modell mögliche soziale aufrechterhaltende Faktoren (wie z. B. materielle Kompensationen, soziale Zuwendung), die bisweilen auch als »sekundärer Krankheitsgewinn« bezeichnet werden. Kritisch anzumerken ist bezüglich der kognitiv-behavioralen Konzeptualisierungen somatoformer Störungen, dass sie nicht explizit zwischen verschiedenen Arten von Somatisierung (z. B. im Sinne von Kirmayer und Robbins 1991) differenzieren (insbesondere findet keine klare Differenzierung zwischen Hypochondrie und medizinisch unerklärten Körpersymptomen statt; Brown 2004). Darüber hinaus bleibt in den skizzierten Ansätzen offen, ob es sich bei den beschriebenen Wahrnehmungs- und Bewer-
Registrierung einer körperlichen Empfindung
Katastrophisierende Interpretaon als Zeichen einer ernsthaen Erkrankung
Erhöhte körperfokussierte Aufmerksamkeit
Verstärkung der Körperempfindung
. Abb. 2.1 Modell der somatosensorischen Verstärkung nach Barsky. (In Anlehnung an Barsky et al. 1990)
tungsprozessen von Körpersensationen und Beschwerden um bewusste Prozesse handelt, die der willkürlichen Kontrolle unterliegen, oder ob möglicherweise Prozesse der automatischen, vorbewussten Informationsverarbeitung eine zentralere Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung somatoformer Symptome spielen. Für die letztere Position sprechen kognitionspsychologische Überlegungen, die zur Formulierung eines weiteren Modells der Genese und Aufrechterhaltung somatoformer Störungen geführt haben (Brown 2004), das wir im Folgenden näher erläutern.
2.3
Kognitionspsychologisches Modell
Das von Brown (2004) vorgeschlagene Modell der Entstehung medizinisch nicht erklärter körperlicher Beschwerden basiert auf den skizzierten historischen Konzepten von Dissoziation und Konversion und greift auch die zuvor dargestellten kognitiv-behavioralen Modellvorstellungen somatoformer Beschwerden auf. Allerdings liegt der Schwerpunkt des Modells auf der Frage, wie somatoforme Symptome innerhalb des kognitiven Systems entstehen, und weniger darauf, wie die behavioralen Konsequenzen eines gesteigerten Beschwerdeerlebens zu erklären sind. Browns Modell basiert im Wesentlichen auf einer Zwei-Prozess-Theorie des kognitiven Systems (z. B. Barrett et al. 2004; Strack u. Deutsch 2004), wonach grundsätzlich zwei verschiedene Routen der Informationsverarbeitung zu trennen sind: ein schneller Weg, dessen Funktionsweise als schnell, unwillkürlich, intuitiv und effizient erlebt wird, und eine zweite Route kontrollierter, willkürlicher und ressourcenbeanspruchender Verarbeitung. In Anlehnung an die Theorie des kognitiven Systems von Norman und Shallice (1986) unterscheidet Brown ein primäres und sekundäres Aufmerksamkeitssystem. Das primäre System steuert die unwillkürliche Informations-
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2
Kapitel 2 · Störungstheorien, Modelle und Konzepte unerklärter Körperbeschwerden und somatoformer Störungen
Körperliche Veränderungen (Körperreakonen, Missempfindungen, Symptome)
Auslöser oder »Trigger« (z.B. spezielle Informaonen, physiologische Erregung, Krankheit)
Krankheitsverhaltensweisen (aufrechterhaltende Funkon) • Absuchen des Körpers nach Anzeichen einer Erkrankung (»Checking«) • Übermäßige Gesundheitssorgen • Arztbesuche (»DoctorShopping«); viele medizinische Untersuchungen • Medikamenteneinnahme • Schonungsverhalten
Symptomverstärkung (= erhöhte Aufmerksamkeit auf eigenen Körper) (= physiologische Erregung)
Wahrnehmung
Fehlinterpretaon als [bedrohliche] Krankheitsanzeichen
. Abb. 2.2 Modell der somatoformen Störung. (In Anlehnung an Rief u. Hiller 2011)
verarbeitung und ist nicht direkt intentional steuerbar; das sekundäre Aufmerksamkeitssystem unterliegt hingegen der willkürlichen Kontrolle, ist jedoch nur mittelbar, d. h. über das primäre Aufmerksamkeitssystem an der direkten Generierung von Wahrnehmungen und Verhalten beteiligt. Nach Brown ist das Erleben somatoformer Symptome eine direkte Folge eines automatischen Selektionsprozesses des primären Aufmerksamkeitssystems: Aufgrund einströmender, afferenter Informationen (u. a. Körpersensationen) werden vom kognitiven System automatisch in paralleler Weise unterschiedliche Hypothesen generiert. Das primäre Aufmerksamkeitssystem wählt automatisch eine dieser Hypothesen aus und entscheidet somit darüber, ob eine Beschwerdesensation im Sinne eines Symptomerlebens auf bewusster Ebene salient wird. Brown spricht in diesem Kontext von »Symptomrepräsentationen«, die innerhalb des kognitiven Systems aufgrund früherer Erfahrungen (z. B. physische Erkrankungen, Traumatisierung oder auch Erlebnis schwerer Erkrankungen bei anderen Personen) existieren und vom primären Aufmerksamkeitssystem ausgewählt und aktiviert werden. Hieraus wird deutlich, dass Brown das Erlebnis von Körperbeschwerden als Resultat eines konstruktiven, mentalen Prozesses innerhalb der somatosensorischen Informationsverarbeitung interpretiert, der im Wesentlichen unbewusst, d. h. ohne notwendige willentliche Anstrengung und bewusste Aufmerksamkeit operiert. Im Gegensatz zu anderen psychobiologischen Vorstellungen (Ansatz von Rief und Barsky 2005; 7 Abschn. 2.4) konzeptualisiert Brown das Erleben von Körperbeschwerden als rein kognitiven Prozess, der keinerlei Störung im physiolo-
gischen (z. B. neuronalen oder endokrinologischen) Bereich erfordert. Nach Brown (2004) ist das sekundäre Aufmerksamkeitssystem – in Anlehnung an das Konzept des »supervisory attentional system« von Norman und Shallice (1986) als Ort willkürlicher Entscheidungen, das konzeptuell große Parallelen zum Konzept der zentralen Exekutive im Arbeitsgedächtnismodell von Baddeley (2007) aufweist – in der Lage, die Arbeitsweise des primären Aufmerksamkeitssystems (und damit indirekt auch die Auswahl von perzeptuellen Hypothesen) zu beeinflussen. So kann ein bewusster, chronischer Fokus auf körperliche Beschwerden, deren Katastrophisierung in Verbindung mit einer volitionalen intensiven Beschäftigung mit dem eigenen Körper das Aktivierungsniveau entsprechender Informationseinheiten (z. B. Beschwerderepräsentationen) erhöht, den Grundstein für die Generierung von Beschwerdesensationen (durch Auswahl von Beschwerderepräsentationen) durch das primäre Aufmerksamkeitssystem legen. Trügerischerweise ist jedoch der finale Vorgang der Entstehung eines Beschwerdeerlebens vollständig automatisch und unwillkürlich, da er direkt durch das primäre Aufmerksamkeitssystem gesteuert wird (einhergehend mit dem Gefühl von Hilflosigkeit und mangelnder Kontrolle). Aus dem Modell von Brown folgt, dass alle gedanklichen und verhaltensbezogenen Aktivitäten, die den Fokus auf das Thema Krankheit und mögliche Körpersymptome lenken, mittelbar an der Entstehung und Aufrechterhaltung somatoformer Beschwerden beteiligt sind. Die zentralen Komponenten des Modells von Brown sind in . Abb. 2.3 dargestellt.
29 2.4 · Psychobiologisches Filtermodell
Physiologische Veränderungen und Störungen
Traumasche Erlebnisse
Emoonale Erregung
Symptomrepräsentaonen
Aufmerksamkeit auf Körpersymptome
Primäres Aufmerksamkeitssystem (automasche, intuive Informaonsverarbeitung)
Sekundäres Aufmerksamkeitssystem (bewusste, intenonale Informaonsverarbeitung)
Selekon von »illusionären« Symptomrepräsentaonen Leiden, Krankheitsverhalten, Sorgen, Ängste
. Abb. 2.3 Modell der Entstehung somatoformer Symptome nach Brown. (In Anlehnung an Brown 2004)
Kritisch anzumerken ist an Browns Modell, dass lerntheoretische Aspekte, die an der Aufrechterhaltung der Beschwerden beteiligt sein könnten, bislang unberücksichtigt bleiben. Auch fokussiert das vorgeschlagene Modell hauptsächlich auf die Genese pseudoneurologischer somatoformer Beschwerden und klammert angrenzende Phänomene, wie die funktionellen Störungen (z. B. das Reizdarmsyndrom oder die Fibromyalgie), ohne erkennbaren Grund aus. Zusätzlich sind empirische Evidenzen zur Stützung des vorgeschlagenen Modells bislang leider kaum vorhanden.
2.4
Psychobiologisches Filtermodell
Eine gewisse Ähnlichkeit zu dem Modell von Brown (2004) weist das von Rief und Barsky (2005) vorgestellte Filtermodell auf (. Abb. 2.4). Auch dieses Modell geht davon aus, dass das Erleben körperlicher Symptome das Resultat eines Auswahlprozesses des höheren kognitiven Systems darstellt. Kognitive Prozesse vermitteln also zwischen Körpersignalen somatischen Ursprungs und dem bewussten Erleben bzw. der bewussten Wahrnehmung dieser Signale (statistisch gesprochen handelt es sich hierbei um eine Mediation zwischen Körpersignalen und deren Erleben aufgrund eines Filterprozesses). Das Filtermodell basiert auf der zentralen Annahme, dass zu jedem Zeitpunkt zwangsläufig
eine Vielzahl von Signalen aus allen Körperregionen im zentralen Nervensystem eintrifft und verarbeitet wird. Da unsere kognitiven Ressourcen für eine bewusste Verarbeitung deutlich begrenzt sind, wird normalerweise nur ein vergleichsweise geringer Teil körperlicher Reaktionen als bewusst erlebt, während der Großteil afferenter Körpersignale gefiltert wird. Ein ähnliches Modell wurde im Bereich der Schmerzforschung als Gate-Control-Theorie postuliert (Melzack u. Wall 1965). Im Unterschied zu Browns Modell, innerhalb dessen Symptomerlebnisse auf rein kognitivem, kortikalem Wege (durch die Aktivierung von Symptomrepräsentationen) entstehen können, geht das Filtermodell davon aus, dass am Erleben somatoformer Symptome stets »echte« Körpersignale beteiligt sind, die nicht ausreichend gefiltert werden und dadurch verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit gelangen. Aufgrund des Filtermodells, bzw. dessen drei zentralen Komponenten (Körpersensationen, Filter und kortikale Wahrnehmung), ergeben sich unterschiedliche Mechanismen, die zur Entstehung von somatoformen Beschwerden führen können: So kann eine verstärkte Wahrnehmung von körperlichen Sensationen (bei unveränderten Filter- und Wahrnehmungsprozessen) gewissermaßen »bottom-up«, beispielsweise aus verstärkten stressbedingten körperlichen Signalen, resultieren (z. B. aufgrund einer chronischen Übererregung des Stresssystems in Form der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennie-
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Kapitel 2 · Störungstheorien, Modelle und Konzepte unerklärter Körperbeschwerden und somatoformer Störungen
Wahrnehmung (korkal)
Filter
Körpersignale
Faktoren, die die korkale Wahrnehmung verstärken können: • Erhöhte Erregbarkeit • Erwartungs- und Gedächtniseffekte • Traumasierungen • Neuronale Plaszität und veränderte Neurotransmission Faktoren, die die Filterakvität herabsetzen können: • Erhöhte selekve Aufmerksamkeit auf Beschwerden • Infekonen • Krankheitsängstlichkeit • Depression und negave Smmungszustände • Fehlende Ablenkungsmöglichkeiten (z.B. smulaonsarme Umgebung) Faktoren, die Körpersignale verstärken können: • Übererregung • Anhaltende psychische Belastungen • Chronische Smulaon der HPA-Achse • Verminderte körperliche Belastbarkeit und Fitness • Sensivierungsprozesse
. Abb. 2.4 Filtermodell somatoformer Symptome nach Rief und Barsky. (In Anlehnung an Rief u. Barsky 2005; Rief u. Broadbent 2007)
renrinden-(HPA-)Achse oder anderen in . Abb. 2.4 dargestellten Faktoren). Alternativ ist denkbar, dass bei konstanter Intensität von körperlichen Signalen eine veränderte Filterfunktion somatosensorischer Reize zu einer verstärkten kortikalen Wahrnehmung körperlicher Signale führen kann. Schließlich eröffnet das Modell auch die Möglichkeit, dass veränderte kortikale Prozesse (»topdown«) in Form von Erwartungs- und Gedächtniseffekten maßgeblich für die Wahrnehmung körperlicher Signale verantwortlich sein können. Gerade in diesem letzten Punkt ähnelt das Modell von Rief und Barsky (2005) sehr stark dem Ansatz von Brown (2004).
2.5
Modell der klassischen Konditionierung somatoformer Beschwerden
Eine im verhaltenstherapeutischen Kontext unverständlicherweise bislang wenig rezipierte Theorie wurde von van den Bergh und Kollegen (z. B. van den Bergh et al. 2002) entwickelt und besagt, dass medizinische Beschwerden ohne organische Ursache über den Mechanismus der klassischen Konditionierung relativ leicht »erlernt« und schließlich durch konditionierte Reize (in vollständiger Abwesenheit einer organischen Pathologie) ausgelöst werden kön-
nen. In einer Reihe von Experimenten konnte van den Bergh nachweisen, dass nach nur wenigen Kopplungen zwischen einem negativen Geruch und CO2-angereichter Atemluft der Geruch allein in der Lage war, die unspezifischen Körpersymptome des CO2 (z. B. Engegefühl in der Brust, Schwitzen, Herzklopfen, Schwindel) auszulösen. Interessanterweise funktionierte diese konditionierte Reaktion allerdings nur bei negativen Gerüchen und nicht bei positiven Gerüchen, was auf eine Schlüsselrolle von negativem Affekt (sowohl dispositionell als auch situativ) im Rahmen dieses Modells verweist, auf das wir weiter unten zu sprechen kommen. Darüber hinaus konnte beobachtet werden, dass sich die konditionierte Reaktion auch auf andere negative Gerüche generalisierte. Die erworbene konditionierte Reaktion erwies sich als zeitlich sehr stabil, konnte jedoch durch eine Extinktionsphase, in der der konditionierte Stimulus mehrmals ohne eine Symptomprovokation appliziert wurde, rückgängig gemacht werden. Das skizzierte Modell (. Abb. 2.5), in dem klassisch konditionierte negative Gerüche in der Lage sind, Körpersymptome ohne organische Ursache (z. B. Schwindel, Müdigkeit und Gefühl der Benommenheit) auszulösen, wurde insbesondere zur Erklärung des Phänomens der multiplen chemischen Sensitivität (MCS) herangezogen, bei dem die Betroffenen über starke olfaktorische Intoleranz-
31 2.5 · Modell der klassischen Konditionierung somatoformer Beschwerden
Kopplung (durch simultanes Aureten)
Kondionierter Smulus (CS) z.B. negave Gerüche, negave Bilder
Unkondionierter Smulus (UCS) z.B. erhöhter CO2 Gehalt in der Atemlu; körperliche Stressreakonen
Kondionierter Smulus (CS) z.B. negave Gerüche, negave Bilder
Unkondionierte Reakon (UCR) z.B. Schwindel, Benommenheit, Atemnot, Übelkeit, Herzklopfen Kondionierte Reakon (CR) z.B. Schwindel, Benommenheit, Atemnot, Übelkeit, Herzklopfen
. Abb. 2.5 Modell der Konditionierung körperlicher Symptome. (In Anlehnung an van den Bergh et al. 2001)
reaktionen in Verbindung mit multiplen körperlichen Symptomen berichten. Das Beschwerdebild der MCS wird von den meisten Experten in Psychologie und Medizin mittlerweile als funktionelles Syndrom bzw. als somatoforme Störung angesehen (Witthöft u. Hiller 2010). Allerdings wird ein solches psychologisches bzw. psychophysiologisches Erklärungsmodell von vielen Betroffenen vehement abgelehnt. Der Mechanismus der klassischen Konditionierung somatischer Symptome von van den Bergh und Kollegen beschränkt sich jedoch nicht nur auf olfaktorische Auslöser in Form von Gerüchen, sondern konnte auch mit virtuellen Auslösern in Form von gedanklichen Bildern demonstriert werden: In einer interessanten Studie baten Stegen und Mitarbeiter (1999) Probanden, sich vorzustellen, in einer beklemmenden Situation in einem engen Raum zu sein (z. B. in einer Sauna oder in einem steckengebliebenen Fahrstuhl). Gleichzeitig wurde den Probanden CO2-angereicherte Atemluft appliziert, die in der Lage war, Beklemmungssymptome wie z. B. Atemnot und Erstickungsgefühle zu provozieren. Im Anschluss an diese »Lernphase« wurden die Probanden gebeten, sich noch einmal in die imaginierte beklemmende Situation hineinzuversetzen. Die Probanden erlebten hierbei auch ohne die CO2-Provokation ähnliche Symptome wie zuvor unter direktem Einfluss des CO2. Ähnlich wie bei den Gerüchen funktionierte dieser Konditionierungsprozess jedoch wiederum nur mit negativen, nicht aber mit positiven mentalen Bildern (van den Bergh et al. 2002).
Wie oben bereits angedeutet, spielt negativer Affekt eine zentrale Rolle innerhalb dieses Modells. So konnten van den Bergh und Kollegen (2002) zeigen, dass Personen mit höheren Neurotizismuswerten (d. h. dispositionell stärkerer negativer Affektivität) besser in der Lage waren, konditionierte Reaktionen zu erwerben und dass bei diesen Personen die erworbenen konditionierten Reaktionen auch stärker generalisierten. Vergegenwärtigt man sich die Befunde, dass lediglich Stimuli mit einer negativen affektiven Qualität (z. B. Bilder, Gerüche, Gedanken) in der Lage sind, als konditionierte Stimuli zu fungieren, erscheint es plausibel anzunehmen, dass negative affektive Zustände per se als konditionierter Stimulus somatoforme Beschwerden auslösen können. Für eine erfolgreiche Behandlung somatoformer Symptome lässt sich hierbei als Implikation ableiten, dass u. a. eine Verminderung negativer affektiver Zustände in direkter Weise zu einer Verminderung somatoformer Beschwerden führen sollte. Gleichzeitig erscheinen expositionsorientierte Ansätze wie z. B. die systematische Desensibilisierung erfolgversprechend, um bestehende konditionierte Reaktionen (z. B. Körpersymptome als Folge von aversiven Gerüchen) zu verändern. Insgesamt ist festzuhalten, dass das hier beschriebene Modell der klassischen Konditionierbarkeit somatischer Symptome aktuell einen der empirisch am besten fundierten Ansätze zur Erklärung somatoformer Beschwerden darstellt. Diese Konzeption ist hierbei jedoch keineswegs beschränkt auf den Bereich medizinisch unerklärter
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Kapitel 2 · Störungstheorien, Modelle und Konzepte unerklärter Körperbeschwerden und somatoformer Störungen
körperlicher Symptome, sondern ist höchstwahrscheinlich auch in primär organmedizinischen Störungsbildern involviert, in denen eine klare Assoziation zwischen pathologischen labormedizinischen Befunden und subjektivem Symptomerleben oft fehlt (wie z. B. bei der Asthmaerkrankung). Umso verwunderlicher ist, dass der beschriebene Konditionierungsansatz in der internationalen und deutschsprachigen Forschungs- und Behandlungslandschaft somatoformer Störungen bislang vergleichsweise wenig Beachtung fand.
2.6
Mechanismus der zentralen Sensitivierung
Zur Erklärung der Entstehung anhaltender körperlicher Beschwerden ohne ausreichenden organischen Befund wurde von Ursin (1997) der Mechanismus der »zentralen Sensitivierung« vorgeschlagen. Gemeint ist hierbei in erster Linie eine Sensitivierung auf zentralnervöser, psychophysiologischer und insbesondere neurophysiologischer Ebene (z. B. Veränderungen in der synaptischen Effizienz aufgrund erhöhter neuronaler Aktivität in bestimmten Gehirnregionen, insbesondere innerhalb limbischer Strukturen, die als essenziell für emotionale Verarbeitungsprozesse gelten). Das Sensitivierungskonzept beruht auf dem Konzept neuronaler Plastizität, wonach anhaltende neuronale Aktivierungsmuster in der Lage sind, das Zentralnervensystem nicht nur funktionell, sondern auch strukturell zu verändern (z. B. durch neuronales Wachstum, Aufbau neuer synaptischer Verbindungen). Das Konzept der Sensitivierung stammt hierbei ursprünglich aus dem Bereich der Schmerzforschung und wurde ebenfalls auf den Bereich funktioneller Syndrome wie z. B. das Reizdarmsyndrom oder die MCS übertragen (z. B. Bell et al. 1992). Sensitivierung wird hierbei dafür verantwortlich gemacht, dass ein bestimmter Organismus auf einen Umgebungsreiz, der meist von der Allgemeinbevölkerung problemlos toleriert wird, mit einer stärkeren Antwort (z. B. einer erhöhten Stressreaktion) reagiert. Im Kontext der MCS wird beispielsweise eine Sensitivierung im Bereich olfaktorisch-limbischer Signalübertragung für die zumeist olfaktorischen Beschwerden der Patienten verantwortlich gemacht, allerdings fehlt es bislang an eindeutigen empirischen Evidenzen für diese theoretische Sichtweise. Ursin (1997) spricht im Kontext seines Modells explizit von »subjektiven Gesundheitsbeschwerden« (»subjective health complaints«) und plädiert dafür, auf den Begriff »Symptom« zu verzichten, da es sich bei den geäußerten Beschwerden nicht um bislang belegte Anzeichen eines eindeutigen Krankheitsgeschehens (im Sinne eines Symptoms) handelt. Unseres Erachtens erscheint dieser
Verzicht auf den Terminus »Symptom« an dieser Stelle fragwürdig, da er indirekt wiederum eine dualistische Konzeption von Leib und Seele forciert, gegen die sich Ursin (1997) an anderer Stelle wehrt. Hilfreicher erscheint uns in dieser Hinsicht der Vorschlag aus der Arbeitsgruppe um Omer van den Bergh (Bogaerts et al. 2010), dann von Symptomen zu sprechen, wenn es sich um körperliche Empfindungen handelt, die von einer Person subjektiv als problematisch, negativ, aversiv und möglicherweise als Anzeichen einer Erkrankung interpretiert werden. Diese Sichtweise deckt sich auch mit dem aktuellen Mainstream der Literatur, in der vornehmlich von medizinisch unerklärten Symptomen (»medically unexplained symptoms«) gesprochen wird.
2.7
Physiologische und psychophysiologische Faktoren bei Somatisierung
Neben diesen innerhalb des Modells zentralnervöser synaptischer Sensitivierungsprozesse skizzierten möglichen biologischen Einflussfaktoren gibt es begründete Annahmen hinsichtlich der Beteiligung weiterer biologischer Faktoren bei der Entstehung somatoformer Beschwerden. Am besten untersucht ist hierbei bislang die Rolle von veränderten endokrinologischen Prozessen im Zusammenhang mit der körpereigenen Stressreaktion. So scheinen somatoforme Symptome und funktionelle Syndrome (wie z. B. das chronische Erschöpfungssyndrom, die Fibromyalgie oder das Reizdarmsyndrom) mit einer Verringerung des Stresshormons Cortisol (Hypocortisolismus) bzw. einer verringerten Reagibilität im Bereich des Cortisolspiegels im Blut einherzugehen (Heim et al. 2000). Diese verminderte Cortisolausschüttung und -reagibilität ist hierbei aller Wahrscheinlichkeit nach die Folge multipler veränderter Prozesse im Bereich der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse, die durch chronisches Stresserleben und Traumatisierungen ausgelöst werden können (Heim et al. 2000). Da sich das Glucocorticoid Cortisol normalerweise dämpfend auf das Immunsystem auswirkt (Immunsuppression), ist es plausibel anzunehmen, dass der beschriebene Hypocortisolismus an einer dysfunktionalen Aktivierung des Immunsystems beteiligt ist. So beschreiben Heim et al. (2000), dass eine Verringerung des Cortisols und seiner Reagibilität eine Disinhibition immunologischer Reaktionen bedingt und diversen Autoimmunerkrankungen Vorschub leisten könnte. Im Bereich somatoformer Störungen wurden in der Tat Zusammenhänge zwischen einer erhöhten immunologischen Reaktion im Bereich proinflammatorischer Zytokine und einem subjektiven Gefühl, krank zu sein, sowie typischen Krank-
33 2.8 · Interpersonelles Modell der Somatisierung
heitsverhaltensweisen (z. B. Schonung, Aktivitätsverminderung) nachgewiesen, wobei hierbei die Ursache-Wirkungs-Beziehung bislang unklar bleibt (Rief u. Barsky 2005). Es könnte sich bei der veränderten immunologischen Reaktion demnach auch um eine Folge der somatoformen Störung und damit einhergehender kognitiver und verhaltensbezogener Prozesse handeln. Einschränkend ist jedoch zu erwähnen, dass die skizzierten Veränderungen in der peripher-physiologischen Stressreaktion bislang nicht konsistent bei Personen mit somatoformen Beschwerden nachgewiesen werden konnten (z. B. Houtveen u. van Doornen 2007). Möglicherweise existieren stressbedingte psychophysiologische Dysregulationen nur bei einer Subgruppe von Patienten mit somatoformen Beschwerden. Als weiterer psychophysiologischer Mechanismus ist das Phänomen der Hyperventilation zu nennen, das mit hoher Wahrscheinlichkeit für einen Teil somatoformer Beschwerden, insbesondere im kardiovaskulären Bereich (Rief u. Hiller 2011), verantwortlich ist (z. B. Schmerzen und Engegefühl in der Brust, Gefühle von Benommenheit, Kribbelempfindungen in den Extremitäten). Bei der Hyperventilation handelt es sich um eine Veränderung der Atmung, in der es zu einer verstärkten Abatmung von CO2 durch die Atemluft kommt. Als Folge resultiert eine Alkalose in Form einer Reduktion des Säuregehalts des arteriellen und venösen Bluts (was sich in einem steigenden pH-Wert dokumentiert; z. B. Duzár et al. 1925). Das Absinken des CO2-Partialdrucks im Blut bewirkt eine Vasokonstriktion der peripheren Blutgefäße und damit einhergehende Missempfindungen wie z. B. Druck- und Kribbelempfindungen in Kopf, Armen und Beinen. Aufgrund der Möglichkeit, durch Hyperventilation innerhalb von kurzer Zeit eine Reihe von ungefährlichen und innerhalb weniger Minuten reversiblen körperlichen Symptomen aktiv herbeizuführen, kann dieser Mechanismus ähnlich wie im Behandlungsrational der Panikstörung im Laufe der Behandlung für Provokationstests im Rahmen von Verhaltensexperimenten und Symptomexpositionen genutzt werden. Wir werden im Behandlungsteil (7 Kap. 5) ausführlicher auf diese Möglichkeit eingehen. Neben den skizzierten Veränderungen im Bereich endokrinologischer, immunologischer und respiratorischchemischer Prozesse werden aktuell auch mögliche genetische Prädispositionen für die Entwicklung somatoformer Beschwerden diskutiert. So schilderten Rief und Kollegen (2010) Belege dafür, dass ein bestimmter Polymorphismus im Bereich eines Serotonin-Transportergens (5HTTLPR) in Zusammenhang mit dem Bericht chronischer somatoformer Symptome steht. Allerdings stellt sich auch hier die Frage, inwiefern die entdeckten Genotypen spezifisch mit somatoformen Beschwerden in Zusammenhang stehen. Insgesamt scheint eine mäßig erhöhte Heritabilität
bei somatoformen Störungen zu existieren, die auf eine vererbte Vulnerabilität gegenüber somatoformen Symptomen schließen lässt (Rief et al. 2010). Allerdings ist hierbei zu bedenken, dass (wie bei den meisten psychischen und psychophysiologischen Störungen) der Hauptteil der individuellen Variabilität der Symptomatik nicht durch genetische Faktoren erklärbar ist. Bezüglich biologischer Faktoren bei somatoformen Störungen sei der interessierte Leser auf die ausführlicheren Darstellungen bei Rief und Barsky (2005) sowie Rief et al. (2010) verwiesen.
2.8
Interpersonelles Modell der Somatisierung
Stuart und Noyes (1999) formulierten ein interpersonelles Modell somatoformer Störungen, das primär auf einer angenommenen zwischenmenschlichen Funktionalität somatoformer Beschwerden fokussiert. Den Autoren zufolge sind somatoforme Beschwerden primär Ausdruck eines hilfesuchenden Verhaltens, da die Betroffenen aufgrund ungünstiger früherer Bindungserfahrungen und häufiger emotionaler Vernachlässigung einen ängstlichunsicheren Bindungsstil entwickelt haben. Dieser dysfunktionale Bindungsstil provoziert neue ungünstige Beziehungserfahrungen (z. B. Zurückweisungen), die wiederum somatisierende Verhaltensweisen fördern (insbesondere die exzessive Inanspruchnahme medizinischer Dienste). Im Mittelpunkt dieses Modells steht also ein Teufelskreis aus dem nicht erfüllten Bedürfnis nach Nähe und Zuwendung und einem inadäquaten, auf Somatisierung beruhenden Versuch, diese Bedürfnislage zu befriedigen (. Abb. 2.6). Stuart und Noyes (1999) konzeptualisieren Somatisierung hierbei als Persönlichkeitseigenschaft, die sich aufgrund ungünstiger früherer Bindungserfahrungen und einem besonderen familiären Stellenwert des Themas Krankheit bzw. Gesundheit als Reaktion auf belastende Lebensereignisse entwickelt hat. Während innerhalb des ursprünglich formulierten Modells (Stuart u. Noyes 1999) noch keine eindeutige Differenzierung zwischen Hypochondrie und polysymptomatischen somatoformen Störungen erfolgte, liefern Noyes und Kollegen in einer späteren Arbeit (Noyes et al. 2006) einen interessanten Überblick über die Unterschiede zwischen beiden Phänomenen. Kritisch anzumerken ist die mangelnde empirische Fundierung des beschriebenen Modells. Ferner erscheint es besser in der Lage, eine Erklärung für charakteristische Verhaltensweisen (z. B. sicherheitssuchendes Verhalten) im Rahmen der Hypochondrie, weniger jedoch der symptombezogenen somatoformen Störungen zu liefern. Ins-
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34
Kapitel 2 · Störungstheorien, Modelle und Konzepte unerklärter Körperbeschwerden und somatoformer Störungen
Krische frühe Lebensereignisse
2 Dysfunkonaler Bindungssl
Erfüllung des Bedürfnisses nach Nähe und Hilfe
miel- und langfrisg
Negave interpersonelle Erfahrungen
Bedürfnis nach Nähe und Hilfe
kurzfrisg
Somasierung
. Abb. 2.6 Schematische Darstellung des interpersonellen Modells der Somatisierung. (In Anlehnung an Stuart u. Noyes 1999)
gesamt fokussiert das interpersonelle Modell von Stuart und Noyes (1999) auf die Verhaltensebene, nicht jedoch auf die Frage der Symptomentstehung und Symptomwahrnehmung. Schwer zu erklären erscheinen damit somatoforme Beschwerden, die nicht mit einem gesteigerten hilfesuchenden Verhalten einhergehen.
2.9
Psychoanalytische und tiefenpsychologische Konzepte
Wie bereits in 7 Abschn. 1.2.1 geschildert, repräsentiert das Konversionsmodell von Freud das wohl einflussreichste psychoanalytische Modell zur Erklärung körperlicher Symptome ohne organische Ursache. Das Modell postuliert die Entstehung somatoformer Symptome als Folge von verdrängten psychischen Konflikten. Die Präsentation der Symptome dient hierbei der Konfliktlösung und Affektabwehr (Kanwischer 2006). Ein weiteres analytisches Konzept, die Theorie der Debzw. Resomatisierung, stammt von Max Schur und beruht auf einer entwicklungspsychologischen Perspektive, wonach die individuelle Entwicklung im Kindesalter durch eine zunehmende Trennung von körperlichen und seelischen Wahrnehmungen und Erlebnissen gekennzeichnet ist (Kanwischer 2006). Nach dieser Theorie repräsentiert die Somatisierung eine Regression auf eine frühere Entwicklungsstufe, die durch eine primär somatische und sensorische Auseinandersetzung mit der Umwelt gekennzeichnet ist (Kanwischer 2006). Neuere psychodynamische Theorien gehen davon aus, dass sich eine differenzierte Körperrepräsentation (und damit die Fähigkeit, zwischen körperlichen und affektiven Zuständen zu unterscheiden) als Folge des elterlichen Fürsorgeverhaltens im Säuglingsalter entwickelt. Es wird postuliert, dass für eine gesunde Entwicklung ein
adäquates elterliches Versorgungsverhalten hinsichtlich körperlich-emotionaler Bedürfnisse des Säuglings in aversiven Situationen, wie bei z. B. Hunger, Müdigkeit oder Krankheit notwendig ist (Rudolf u. Henningsen 2006). Fehlt dieses oder ist dieses nicht angemessen ausgeprägt, so resultieren nach Rudolf und Henningsen (2006) charakteristische Störungen im späteren Lebensalter, wie z. B. die mangelnde Fähigkeit, zwischen körperlichen und affektiven Ereignissen unterscheiden zu können, sich selbst oder durch Unterstützung von anderen zu beruhigen, sowie ungünstige kognitive Bewertungen, die durch ein rigides somatisches Krankheitsmodell gekennzeichnet sind. Insgesamt geht also die aktuelle psychodynamische Sichtweise somatoformer Beschwerden von einer frühen Störung der Eltern-Kind-Beziehung aus – eine Sichtweise, die letztlich auch in dem zuvor geschilderten interpersonellen Modell der Somatisierung von Stuart und Noyes (1999) enthalten ist. Defizite im emotionalen Erleben und Verhalten, die in der psychodynamischen Tradition die Folge ungünstiger Bindungs- und Beziehungserfahrungen repräsentieren, wurden unter dem Stichwort »Alexithymie« subsumiert. Alexithymie (zurückgehend auf Sifneos 1972, nach Gündel et al. 2000) meint hierbei: 4 Defizite in der Fähigkeit, eigene Gefühle wahrzunehmen und mit psychosozialen Stressoren in Verbindung zu bringen, 4 mangelnder äußerer affektiver Ausdruck bei der Schilderung belastender Ereignisse sowie 4 ein hohes Maß an Dependenz und sozialer Konformität. Insgesamt gilt die empirische Fundierung des Alexithymie-Konzepts im Kontext der somatoformen Störungen jedoch als umstritten, da Alexithymie generell mit erhöhter Psychopathologie und nicht speziell mit somato-
35 2.11 · Ätiologie und Pathogenese somatoformer Störungen nach aktuellem Kenntnisstand
formen Beschwerden assoziiert zu sein scheint. Eine Übersicht über die vorliegenden Befunde der Alexithymie-Forschung ist beispielsweise bei Gündel und Kollegen (2000) zu finden.
die Ergänzung bestehender Behandlungsprogramme um entsprechende Module zur Emotionsregulation.
2.11 2.10
Ausblick: Dysfunktionale Emotionsregulationsprozesse bei somatoformen Beschwerden
Prozesse der Emotionsregulation bei somatoformen Störungen wurden bislang primär im Rahmen des zuvor geschilderten psychodynamisch fundierten AlexithymieKonzepts und damit meist auf Basis von Selbstberichtsdaten untersucht. Auf dem Hintergrund eines wahrscheinlichen Zusammenhangs zwischen psychosozialen Stressoren und dem Erleben somatoformer Beschwerden stellt sich zwangsläufig die Frage, ob Probleme bzw. dysfunktionale Strategien und Regulationsprozesse als Reaktion auf belastende Lebensereignisse an der Genese somatoformer Beschwerden beteiligt sein könnten. Interessanterweise liegen bislang vergleichsweise wenige systematische Untersuchungen zum Zusammenhang von Emotionsregulationsprozessen und somatoformen Beschwerden vor. Ein interessanter Ansatz wird hierbei von der Arbeitsgruppe um Brosschot und Kollegen untersucht (z. B. Brosschot et al. 2006; Verkuil et al. 2007). Die Autoren postulieren hierbei in ihrer Perseverations-Kognitions-Hypothese (Brosschot et al. 2006), dass eine andauernde mentale Beschäftigung im Anschluss an ein belastendes, stressreiches Lebensereignis (sowie eine antizipatorische mentale Beschäftigung mit erwarteten negativen Ereignissen und Konsequenzen) in der Lage ist, nicht nur auf affektiver, sondern auch auf physiologischer (z. B. kardiovaskulärer und endokrinologischer, immunologischer) Ebene negative Auswirkungen der Stressreaktion zu konservieren und hierdurch körperliche Beschwerden zu begünstigen. Inwiefern Patienten mit somatoformen Störungen jedoch verstärkt zu derartigen perserverierenden kognitiven Prozessen neigen, ist bislang noch unklar. Zukünftige experimentelle Studien im Bereich kognitionspsychologischer und psychophysiologischer Parameter erscheinen vielversprechend, um einen möglichen Zusammenhang zwischen veränderten Emotionsregulationsprozessen und somatoformen Beschwerden systematisch zu erforschen. Auf psychophysiologischer Ebene gilt aktuell auch die Herzratenvariabilität als vielversprechendes Maß zur Quantifizierung autonomer emotionaler Regulationsprozesse (Appelhans u. Luecken 2006). Sollte sich der vermutete Zusammenhang zwischen Defiziten in der Emotionsregulation und dem Erleben somatoformer Symptome bestätigen, hätte dies klare Implikationen für
Ätiologie und Pathogenese somatoformer Störungen nach aktuellem Kenntnisstand: Ein integratives Modell
Als Gemeinsamkeit nahezu aller skizzierten Modelle somatoformer Beschwerden lässt sich festhalten, dass das Erleben von Körperbeschwerden als Resultat eines komplexen aktiven kognitiven Prozesses und nicht etwa als passive und valide Abbildung eines physiologischen Geschehens betrachtet wird. So trivial dieser Gedanke im Anschluss an die Lektüre der beschriebenen Modelle und im Lichte einer fundierten kognitionspsychologischen Grundlagenausbildung klingen mag, so neu (und bisweilen auch kompliziert und fremd) wird diese Sichtweise oft von Patienten erlebt, deren eigenes Krankheitsmodell oftmals einer klaren und direkten Beziehung zwischen Organschädigung und Wahrnehmung eines Symptoms entspricht. Mittlerweile ist allerdings bekannt, dass selbst bei primär organischen Krankheiten eine erhebliche interindividuelle Variabilität im Symptomerleben bei ähnlicher physiologischer Pathologie vorliegt (z. B. im Falle von Asthma bronchiale oder bei Deformationen und Degenerationen im Bereich der Wirbelsäule). Festzuhalten ist ebenfalls, dass sich alle dargestellten Modelle implizit oder explizit (z. B. Ursin 1997) gegen einen Leib-Seele-Dualismus aussprechen. So erscheint es nicht nur wissenschaftlich, sondern auch therapeutisch fragwürdig, die Konzepte »psychisch« vs. »organisch« kontrastierend zu verwenden, auch wenn sich diese Zweiteilung oftmals in den subjektiven Modellen der Patienten noch widerspiegelt. Die erwartete Neukonzeptualisierung des Kapitels der somatoformen Störungen im DSM-5 wird dieser Problematik aller Wahrscheinlichkeit nach dadurch Rechnung tragen, dass eine organische Ausschlussdiagnostik nicht mehr zwingender Bestandteil der Diagnostik einer somatoformen Störung sein wird. Man mag diesen Umstand zunächst kritisch bewerten, bei genauer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass die Abkehr vom Prinzip der Ausschlussdiagnostik wohl begründet ist: Beispielweise entbehrt die Bestimmung einer organischen Fundierung eines bestimmten Symptoms oftmals jeglicher Reliabilität (im psychometrischen Sinne); deskriptive Forschungs- und Pseudodiagnosen mit möglichst komplexen Begriffen (z. B. vegetative Dystonie) suggerieren allzu oft eine klare organische Genese, erfüllen zunächst das Bedürfnis des Patienten nach einer vermeintlich klaren Diagnosestellung (wirken damit kurzfristig auf Patienten beruhigend), erhalten langfristig jedoch einen Teufelskreis
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2
Kapitel 2 · Störungstheorien, Modelle und Konzepte unerklärter Körperbeschwerden und somatoformer Störungen
Erhöhte negave Affekvität (im Sinne eines Persönlichkeitsmerkmals)
Ungünsge Beziehungserfahrungen in der Entwicklungsgeschichte (z.B. Traumasierungen; emoonale Vernachlässigung)
Biologische Faktoren (z.B. erhöhtes genesches Risiko; Dysfunkonen im Bereich des endokrinen Stresssystems, Disinhibion)
Bildung von Symptom-Schemata (somatosensorische Repräsentaonen)
Aktuelle Auslöser (z.B. ungünsge Lebensbedingungen, Stressoren, organische Erkrankungen)
Erhöhte körperfokussierte Aufmerksamkeit
Erhöhte Salienz körperlicher Reakonen
Symptom-Erleben
Dysfunkonale Bewertungs- und Emoonsregulaonsprozesse (z.B. Katastrophisierung, Ruminaon, monokausale Aribuonen)
Verhaltensbezogene Konsequenzen (z.B. Schonungsverhalten, Vermeidung körperlicher Akvitäten, sozialer Rückzug, Suche nach interpersoneller Hilfe und Unterstützung, Wunsch nach klarer medizinischer Diagnosestellung)
. Abb. 2.7 Integratives Modell der Genese und Aufrechterhaltung somatoformer Beschwerden
aus verstärkter Selbstbeobachtung, Aktivitätsreduktion und sozialer Isolierung aufrecht. Neben den beschriebenen kognitiven Faktoren (z. B. Prozesse der Aufmerksamkeitslenkung und Bewertung) mehren sich in den letzten Jahren auch die Hinweise für die Beteiligung physiologischer Faktoren an der Entstehung und Aufrechterhaltung somatoformer Beschwerden. So erscheint insbesondere eine Verminderung des Glucocorticoids Cortisol (bzw. dessen Reagibilität) als Folge traumatischer Erfahrungen und chronischen Stresserlebens bei einem Teil der Patienten mit somatoformen Beschwerden eine maßgebliche Rolle zu spielen. Eine Verbindung zwischen diesem Hypocortisolismus und einer auf Dauer schädlichen Disinhibition immunologischer Prozesse gilt als wahrscheinlich. Insgesamt erscheint es jedoch unwahrscheinlich, dass biologische Prozesse monokausal für die Entstehung somatoformer Störungen verantwortlich sind. > Vielmehr ist anzunehmen, dass sich somatoforme Beschwerden und Störungen aus einer komplexen Interaktion ungünstiger Lebensumstände, beginnend in der Kindheit und Jugend (z. B. emo-
tional invalidierendes Umfeld, Traumatisierungen), hieraus resultierenden affektiven und physiologischen Adaptationsprozessen sowie aktuellen Stressoren ergeben.
Betrachtet man die empirische Fundierung einzelner explikativer Konstrukte hinsichtlich der Auslösung somatoformer Beschwerden, die in diesem Kapitel benannt wurden, so ist zu konstatieren, dass aktuell das Phänomen der negativen Affektivität das bislang am besten belegte Konstrukt darstellt. Ein entsprechendes multifaktorielles integratives Bedingungsmodell, das die wichtigsten Aspekte der Genese und Aufrechterhaltung somatoformer Beschwerden subsumiert, ist in . Abb. 2.7 skizziert. Hierbei ist anzumerken, dass auf die Postulierung von unidirektionalen Zusammenhängen weitgehend verzichtet wurde, da sich die meisten beteiligten Faktoren nach heutigem Kenntnisstand wechselseitig beeinflussen und nicht zuletzt aufgrund einer bis ins höhere Lebensalter erhaltenen neuronalen Plastizität einem kontinuierlichen Wandel unterliegen.
37 3.2 · Beschreibung
3
Therapieansätze für unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen 3.1
Psychotherapie und sonstige psychologische Behandlungsansätze – 38
3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6
Kognitiv-verhaltenstherapeutische und verhaltensmedizinische Ansätze – 38 Entspannungsverfahren und Biofeedback – 41 Reattributionstraining – 42 Tiefenpsychologisch fundierte Therapieansätze – 43 Interpersonelle Therapieansätze – 44 Sport- und Bewegungstherapie – 45
3.2
Psychopharmakotherapie – 45
3.3
Wirksamkeitsevidenz für verschiedene Therapieansätze bei unerklärten Körperbeschwerden – 46
3.3.1
Wirksamkeit von kognitiv-verhaltenstherapeutischen und verhaltensmedizinischen Interventionen, Reattributionstraining und Entspannungsverfahren – 46 Wirksamkeit von tiefenpsychologisch fundierten Therapieansätzen – 48 Wirksamkeit von interpersonellen Therapieansätzen – 49 Wirksamkeit von Sport- und Bewegungstherapie – 49 Wirksamkeit von psychopharmakologischer Therapie – 49
3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5
3.4
Schlussfolgerungen für zukünftige kognitive Verhaltenstherapie bei unerklärten Körperbeschwerden – 50
M. Kleinstäuber et al., Kognitive Verhaltenstherapie bei medizinisch unerklärten Körperbeschwerden und somatoformen Störungen, DOI 10.1007/978-3-642-20108-0_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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3
Kapitel 3 · Therapieansätze für unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen
Multiple unerklärte Körperbeschwerden stellen in der therapeutischen Praxis häufig eine Herausforderung dar. Die Patienten stehen in der Regel unter einem hohen Leidensdruck und tragen das deutliche Risiko der Chronifizierung und Entwicklung komorbider psychischer Störungen. Beides muss ggf. als negativer Einflussfaktor auf den Krankheitsverlauf und die therapeutische Ansprechbarkeit berücksichtigt werden. Des Weiteren kann die oftmals ablehnende Haltung von Patienten mit somatoformen Beschwerden gegenüber psychotherapeutischen bzw. psychiatrischen Interventionen sowie gegenüber biopsychosozialen Störungsmodellen den Aufbau einer stabilen Arzt-Patienten- bzw. Therapeut-Patienten-Beziehung erschweren. Studien verdeutlichen, dass Patienten mit unerklärten Körpersymptomen aufgrund eines »mental illness stigma« (Freidl et al. 2007) ungern psychologische Behandlungen in Anspruch nehmen. Andererseits zeigt sich aber auch, dass seitens des Behandlers die Betroffenen häufig das Stigma »schwieriger Patient« erhalten (Hahn et al. 1996). Die Patienten fühlen sich im Gegenzug oftmals nicht ernst genommen, da sie die Überweisung in eine Psychotherapie inkongruent zu ihrer subjektiven Wahrnehmung, körperlich krank zu sein, erleben (Looper u. Kirmayer 2002). Diese herausfordernde Diagnose hat daher vor allem im Bereich der Psychotherapie die Entwicklung verschiedener Behandlungsansätze inspiriert. Des Weiteren werden bei Patienten mit somatoformen Symptomen aber auch pharmakologische Therapien – insbesondere psychotrop wirksame Präparate – eingesetzt. Dieses Kapitel soll einen Überblick über die Behandlungsansätze vermitteln sowie einen Einblick in die aktuelle Befundlage zur Wirksamkeit der verschiedenen Interventionen geben. Ein fundiertes Wissen darüber ist von großer Bedeutung, um Patienten, die aufgrund eines fehlenden organischen Befunds ihrer Beschwerden oftmals verunsichert sind, angemessen beraten zu können. Die folgende 7 Übersicht zeigt eine Aufstellung der Behandlungsverfahren für unerklärte Körperbeschwerden, die in den folgenden Abschnitten erläutert werden.
3.1
Psychotherapie und sonstige psychologische Behandlungsansätze
Orientiert am aktuellen wissenschaftlichen Stand sind kognitiv-behaviorale Behandlungsansätze die am besten evaluierten Ansätze für multiple und chronifizierte somatoforme Symptome (Kleinstäuber et al. 2011). Dementsprechend soll in der folgenden Darstellung der Schwerpunkt auf die kognitive Verhaltenstherapie gelegt werden. Des Weiteren haben sich Ansätze in der tiefenpsychologisch fundierten sowie in der interpersonellen syste-
mischen Therapie für chronische Körperbeschwerden entwickelt. In diese wird ebenfalls ein kurzer Einblick gegeben.
Behandlungsverfahren bei unerklärten Körperbeschwerden 4 Psychotherapie und psychologische Interventionen – Kognitive Verhaltenstherapie – Verhaltensmedizinische Interventionen – Entspannungsverfahren (z. B. progressive Muskelentspannung, autogenes Training, Hypnotherapie) – Biofeedback – Reattributionstraining – Tiefenpsychologisch fundierte Therapieansätze – Interpersonelle Therapie – Sport- und Bewegungstherapie 4 Pharmakotherapie – Trizyklische Antidepressiva – Selektive Serotonin- oder NoradrenalinWiederaufnahmehemmer – Antiepileptika
3.1.1
Kognitiv-verhaltenstherapeutische und verhaltensmedizinische Ansätze
Die kognitive Verhaltenstherapie für somatoforme Beschwerden geht grundsätzlich von einer komplexen Interaktion emotionaler, kognitiver, psychophysiologischer und verhaltensbezogener Bedingungen aus. Dieses reziproke, interaktive Zusammenwirken verschiedener Faktoren wird in . Abb. 3.1 noch einmal veranschaulicht. Des Weiteren stellen Lernprozesse, die bei der Entstehung und Aufrechterhaltung medizinisch unklarer Körperbeschwerden mitwirken, eine wichtige Grundlage für die Anwendung kognitiv-verhaltenstherapeutischer Techniken dar. Hierbei spielen vor allem soziale Lernprozesse hinsichtlich der Reaktionen auf körperliche Beschwerden und respondente Lernprozesse bezüglich der Verknüpfung auslösender externer und interner Reize mit den körperlichen Beschwerden eine wichtige Rolle. Zudem sind operante Lernfaktoren bei der positiven und negativen Verstärkung dysfunktionaler Verhaltensweisen der Patienten durch das soziale Umfeld bedeutsam. Orientiert an einem multifaktoriellen Störungsmodell (7 Abschn. 2.11) wurden verschiedene klassische kognitivverhaltenstherapeutische Interventionsstrategien, die in der Regel Therapieansätzen bei anderen psychischen Stö-
39 3.1 · Psychotherapie und sonstige psychologische Behandlungsansätze
Interpersonelle Faktoren – Reaktionen des Arztes/Angehöriger/Freunde – Modellhaftes Krankheitsverhalten – Verstärkung von Krankheitsverhalten
Körperliche Symptome entstehen durch: – Unbedrohliche körperliche Dysregulationen (z.B. akute Magenverstimmung) – Emotionen/Reaktionen auf negative Ereignisse – Schlechte körperliche Kondition etc. Verhalten Kognitionen/Kognitive Prozesse
– Erhöhtes Inanspruchnahmeverhalten – Absuche des Körpers nach Symptomen/Checking-Verhalten
– Bedrohliche Bewertungen
– Rückversicherungsverhalten
– Selektive Aufmerksamkeit etc.
– Katastrophisierungen
– Schonungsverhalten
Emotionen – Angst, Depression, Hilflosigkeit etc.
. Abb. 3.1 Die Interaktion emotionaler Faktoren, kognitiver und Verhaltensprozesse, zwischenmenschlicher Faktoren mit den körperlichen Beschwerden
rungsbildern entstammen, auf somatoforme Beschwerden übertragen und angepasst. Die entsprechenden Therapieelemente wurden dann oftmals im Rahmen multimodaler, kognitiv-verhaltenstherapeutischer (Allen et al. 2006, 2001; Escobar et al. 2007; Kashner et al. 1995; Martin et al. 2007; Rief u. Hiller 2011; Schilte et al. 2001; Speckens et al. 1995; Sumathipala et al. 2008) oder verhaltensmedizinischer Interventionsprogramme (Bleichhardt et al. 2004; Nickel et al. 2006) kombiniert. . Tab. 3.1 beinhaltet eine Zusammenfassung der wichtigsten kognitiv-verhaltenstherapeutischen Therapiebausteine. In der Therapiepraxis können die Elemente je nach individueller Problemlage zusammengestellt und variiert werden. Sie können im einzel- wie auch im gruppentherapeutischen, im ambulanten wie auch im stationären Therapiesetting eingesetzt werden. Die Einbindung von Angehörigen kann individuell von Bedeutung sein, wenn die jeweiligen Bezugspersonen eine verstärkende Funktion hinsichtlich der Symptome besitzen. jAcceptance Commitment Therapie
Im Bereich der Therapie chronischer Schmerzen oder anderer chronischer psychosomatischer Erkrankungen wie
z. B. Tinnitus wurde in den letzten Jahren erfolgreich eine Weiterentwicklung der kognitiven Verhaltenstherapie – die so genannte Acceptance Commitment Therapie (ACT) – eingesetzt. Sie umfasst neben Akzeptanzstrategien auch achtsamkeitsbasierte Interventionen sowie Techniken zum Aufbau von Commitment und Verhaltensveränderungen. Im Rahmen der Behandlung chronischer Schmerzsyndrome ist die ACT darauf ausgerichtet, den Patienten mit seinen Schmerzen zu konfrontieren und ihn zu unterstützen, Akzeptanz gegenüber seinen Beschwerden zu entwickeln. Diese Technik soll zur Reduktion der Schmerzwahrnehmung und Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung des Funktionsniveaus des Betroffenen führen. Da Schmerzsymptome zu den häufigsten medizinisch unerklärten Körperbeschwerden gehören und die Psychotherapie ähnlich wie bei chronischen Schmerzen weniger auf die Heilung des körperlichen Symptoms statt auf den verbesserten Umgang mit dem Symptom sowie die Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der Lebensqualität ausgerichtet ist, kann der Einbezug akzeptanzbasierter Techniken in die Psychotherapie somatoformer Beschwerden von enormer Bedeutung sein.
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40
Kapitel 3 · Therapieansätze für unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen
. Tab. 3.1 Übersicht über die wichtigsten Therapieelemente der kognitiven Verhaltenstherapie bei multiplen somatoformen Beschwerden. (Nach Rief u. Hiller 2011)
3
Therapieelement
Kurzbeschreibung
Therapieeinleitung
– – – – –
Verhaltens- und Bedingungsanalyse
– Exploration der Verhaltens-, der kognitiven, der emotionalen, der physiologischen Komponenten, möglicher Verstärkungsbedingungen sowie Modellerfahrungen des Patienten hinsichtlich Krankheitsverhalten – Vermittlung von Zusammenhängen zwischen den verschiedenen Komponenten des Problemverhaltens
Klärung der Therapieziele und Aufbau von Veränderungsmotivation
– Vermittlung einer realistischen Perspektive über einen Behandlungserfolg
Techniken zum Umgang mit organmedizinischen Störungsmodellen des Patienten
– Informationsvermittlung und Psychoedukation – Retrospektive Erfassung von Zusammenhängen zwischen situativen Bedingungen und Symptomen – Einsatz von Selbstbeobachtungsfragebögen – Demonstrationsübungen zum Einfluss der Aufmerksamkeitslenkung auf Wahrnehmungsprozesse – Biofeedback
Entspannungsverfahren Stressbewältigungs- und Copingtechniken
– z. B. progressive Muskelentspannung, autogenes Training – Stressmanagement/Psychoedukation über Stress und dessen Auswirkungen – Reaktivierung anderer Stressbewältigungstechniken, die beim Patienten bereits erfolgreich waren – Aufbau positiver Aktivitäten – Problemlösungstraining
Entwicklung eines realistischen Gesundheitsbegriffs
– Einsatz kognitiver Techniken zur Umstrukturierung des häufig engen Gesundheitsbegriffs Betroffener – Verhaltensexperimente
Umgang mit katastrophisierenden Symptombewertungen
– – – – –
Umgang mit Rückversicherungsverhalten
– Vermittlung der kurzfristigen positiven Konsequenzen und des langfristigen, aufrechterhaltenden Zusammenhangs zwischen Rückversicherung und Körperbeschwerden – Techniken zum Abbau von Rückversicherungsverhalten (z. B. Vereinbarung zeit- anstatt symptomkontingenter Arztbesuche)
Abbau von Schonungs- und Vermeidungsverhalten
– – – –
Emotionsregulation
– Techniken zur bewussten Beobachtung von Gefühlen, zur Förderung von Emotionsausdruck und zur Akzeptanz von Gefühlen
Training zur sozialen Kompetenz
– Techniken zur Förderung adäquater Kommunikation körperlicher Beschwerden oder zur Kommunikation mit dem Arzt – Rollenspiele mit Videofeedback – Aufbau eines sozialen Netzwerkes
Klärung des Behandlungsanlasses Klärung der Rahmenbedingungen Diagnostik und Anamneseerhebung Exploration von Vorbehandlungen des Patienten Exploration des subjektiven Krankheitsmodells des Patienten
Exploration der katastrophisierenden Bewertung Einschätzung der Glaubwürdigkeit der Überzeugung Pro– und Kontra-Argumente bzw. -Beobachtungen bezüglich der Bewertung Erneute Einschätzung der Glaubwürdigkeit der Bewertung Verhaltensexperimente zu dysfunktionalen Bewertungen
Aufbau von Motivation zur Verhaltensveränderung Zielhierarchie (Prinzip der kleinen Zwischenziele beachten) und Aufbautraining Techniken der Selbstbelohnung Kognitive Expositionsvorbereitung und Exposition mit Reaktionsverhinderung zur Bewältigung von Vermeidungsverhalten
41 3.1 · Psychotherapie und sonstige psychologische Behandlungsansätze
. Tab. 3.1 Fortsetzung Übersicht über die wichtigsten Therapieelemente der kognitiven Verhaltenstherapie bei multiplen somatoformen Beschwerden. (Nach Rief u. Hiller 2011) Therapieelement
Kurzbeschreibung
Verbesserung des subjektiven Wohlbefindens sowie Belastbarkeit
– Kognitive Strategien zur Verbesserung der Selbstsicht – Übungen zur Förderung positiver Körpererfahrungen (z. B. angenehme körperliche Aktivitäten, Massagen) – Entspannungsverfahren – Euthyme Übungen, Genusstraining – Aufbau/Reaktivierung positiver Aktivitäten
Verbesserung der Schlafqualität
– Techniken zur Schlafhygiene und Stimuluskontrolle
Berufliche Reintegration
– – – – –
Rückfallprophylaxe
– Vermittlung von Verhaltensregeln zur Vorbeugung von bzw. zum besseren Umgang mit Rückfällen – Thematisierung des Inanspruchnahmeverhaltens – Vereinbarung von Regeln bezüglich des zukünftigen Inanspruchnahmeverhaltens des Patienten
3.1.2
Therapeutische Begleitung des beruflichen Wiedereinstiegs Motivationale Unterstützung des Patienten Unterstützung bei der Wahrnehmung von Erfolgserlebnissen Entwicklung realistischer Ziele für den beruflichen Wiedereinstieg Abwägung von Vor– und Nachteilen bei möglichem Rentenbegehren
Entspannungsverfahren und Biofeedback
In der Psychophysiologie werden verschiedene Mechanismen beschrieben, die somatische Symptome in Abwesenheit organischer Befunde erklären können. Zu diesen Mechanismen zählen u. a. eine Überaktivität bzw. Dysregulation des autonomen Nervensystems, Kontraktionen der glatten Muskulatur, eine endokrine Hyperaktivität und Hyperventilation (Clauw 1995; Gardner u. Bass 1989; Rief et al. 1998). Dementsprechend erscheint es sinnvoll, Techniken, die auf die Reduktion des physiologischen Arousals fokussieren, auch bei Patienten mit somatoformen Beschwerden einzusetzen. Zu diesen zählen u. a. die progressive Muskelentspannung, das autogene Training, die Hypnotherapie und das Biofeedback. Entspannungstechniken erfüllen zugleich verschiedene Funktionen: 4 Einerseits sollen sie dem Patienten helfen, Zusammenhänge zwischen Entspannung und Wohlbefinden zu erkennen. 4 Des Weiteren soll mit Hilfe von Entspannungstechniken das erhöhte Aktivierungsniveau, das bei Patienten mit chronifizierten somatoformen Beschwerden nachgewiesen werden konnte, gesenkt werden. Damit einhergehend können körperliche Missempfindungen, die auf die erhöhte Aktivierung zurückgeführt werden können, reduziert werden. 4 Zugleich unterstützen die positiven Erfahrungen des Patienten während der Einleitung des Entspannungs-
zustandes den Prozess der Umattribuierung auf ein biopsychosoziales Störungsmodell. jProgressive Muskelentspannung
Eine besonders bewährte Methode ist dabei die progressive Muskelentspannung. Diese kann außerdem auch als erfolgreiche Ablenkungsmethode eingesetzt werden. Durch die Konzentration auf die Entspannungsinstruktion und die bewusste Wahrnehmung der Unterschiede zwischen Anspannungs- und Entspannungszustand kann die Aufmerksamkeit bewusst von anderen Körpermissempfindungen bzw. Schmerzwahrnehmungen weggelenkt werden. jAutogenes Training und hypnotherapeutische Verfahren
Als alternatives Entspannungsverfahren haben sich zudem auch das autogene Training oder hypnotherapeutische Übungen bewährt. Diese Verfahren setzen jedoch ausreichende Mentalisierungsfähigkeit voraus. Beide Entspannungsverfahren basieren auf dem Grundkonzept einer konzentrativen Selbstentspannung, bei der die Patienten über autosuggestive Vorstellungen Einfluss auf körperliche Prozesse nehmen können. > Das langfristige Training in einer Entspannungstechnik soll den Patienten zudem verhelfen, besser mit stressreichen Situationen im Allgemeinen umzugehen. Entspannungsverfahren stellen somit auch eine wichtige Copingtechnik dar.
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42
Kapitel 3 · Therapieansätze für unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen
Ein verbessertes Wohlbefinden sowie ein positiveres Körpererleben können langfristig helfen, dysfunktionale, negative Einstellungen gegenüber dem eigenen Körper (z. B. als »beschwerdenbeladener Körper«) aufzulockern.
3
jBiofeedback
Biofeedback kann in der Therapie ebenfalls verschiedene wichtige Funktionen übernehmen (Nanke u. Rief 2003). Wird Betroffenen mit Hilfe der Rückmeldung psychophysiologischer Parameter demonstriert, dass mentale Prozesse einen Einfluss auf körperliche Reaktionen haben, kann das viel zur Entwicklung eines psychobiologischen Verständnisses der körperlichen Wahrnehmungen beitragen. Damit können Reattributionsprozesse in Gang gesetzt werden. Zugleich können die Patienten über die Rückmeldung ihrer physiologischen Prozesse erlernen, Kontrolle über ihre körperlichen Reaktionen zu gewinnen. Dadurch erwerben die Patienten nicht nur wichtige Copingstrategien, sie können zudem wieder Selbstvertrauen in ihren Körper sowie internale Kontrollüberzeugungen hinsichtlich ihrer Beschwerden entwickeln. Durch die Etablierung entsprechender Selbstmanagementkompetenzen haben die Patienten somit die Möglichkeit, ihre Hilflosigkeitsgefühle zu überwinden und Selbstwirksamkeit zu erleben. Bei Patienten mit somatoformen Beschwerden können je nach Symptomatik verschiedene Arten von Biofeedback zum Einsatz kommen, z. B. elektromyographisches, Hauttemperatur-, Hautleitfähigkeitsoder Blutdruck-Biofeedback. Vertiefende Informationen zum Einsatz von Biofeedback finden sich bei Rief und Birbaumer (2006).
3.1.3
Reattributionstraining
Da der Hausarzt in der Regel den ersten Ansprechpartner für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden darstellt, spielt er im Behandlungsprozess eine entscheidende Rolle. Daher ist es wichtig, den Hausarzt bzw. andere behandelnde Ärzte hinsichtlich psychologischer Interventionen sowie einem adäquaten Umgang mit dieser besonderen Patientengruppe zu schulen. In der Hausarztpraxis wird in der Regel bereits der Weg für spätere Behandlungen geebnet. Ein inadäquater Umgang des Arztes mit dem Patienten (z. B. durch falsche Beratung oder Verstärkung der katastrophisierenden Kognitionen durch unnötige diagnostische Untersuchungen) kann bereits sehr früh die Motivation des Patienten für eine mögliche psychologische Intervention schwächen. Daher wurden in den letzten Jahren entsprechende Trainings für Hausärzte entwickelt (Aiarzaguena et al. 2007; Blankenstein et al. 2002; Larisch et al. 2004; Morriss et al. 2007). Diese Ansätze basieren alle auf einem wichtigen Grundkonzept: der
Reattribution nach dem dreistufigen Reattributionsmodell von Goldberg und Kollegen (1989). > Das Ziel dieser Trainings besteht darin, den Hausarzt darin zu schulen, wie er dem Patienten ein einfaches, psychobiologisches Erklärungsmodell (körperliches Symptom, psychosoziales Problem, Herstellung der Verbindung zwischen körperlichem Symptom und psychosozialem Problem) für seine körperlichen Beschwerden vermitteln kann.
Das Modell wird in . Tab. 3.2 zusammengefasst dargestellt. Die Hausärzte werden zunächst trainiert, begleitend zur körperlichen Untersuchung für den Patienten eine so genannte »bodily empathy« zu entwickeln. Dies erfolgt, indem der Arzt eine psychosoziale Anamnese der Körperbeschwerden vor der eigentlichen körperlichen Untersuchung durchführt. Dies demonstriert dem Patienten, dass er ernst genommen bzw. ihm zugehört wird. Zudem erlernt der Arzt Kommunikationsstrategien im Rahmen von Rollenspielen mit Videofeedback, mit denen er dem Patienten Zusammenhänge zwischen negativen Emotionen, Kognitionen und psychophysiologischen Prozessen veranschaulichen kann. Ein erfolgreiches Reattributionstraining kann somit die Übermittlung des Patienten in eine Psychotherapie deutlich vereinfachen. Fink und Kollegen (2002) haben das Reattributionsmodell aufgegriffen und als TERM-Modell (The Extended Reattribution and Management Model) weiter ausgearbeitet. Wichtige Erweiterungen des ursprünglichen Modells sind z. B. eine Leitlinie für die Fortführungsbehandlung oder für die Behandlung von Patienten mit chronischen vs. subakuten unerklärten Körperbeschwerden. Auch beim Reattributionstraining wird deutlich, dass eine enge Kooperation und regelmäßige Absprache zwischen behandelndem Arzt und Psychotherapeut während der Therapie von somatoformen Patienten von enormer Bedeutung ist. Eine einfache Möglichkeit, diese interdisziplinäre Zusammenarbeit zu unterstützen, stellen so genannte Konsultationsbriefe dar (Rost et al. 1994; Smith et al. 1986; Wilkinson u. Mynors-Wallis 1994). Diese Briefe beinhalten Informationen zur Somatisierungsstörung und ihrem Verlauf, Empfehlungen an den Hausarzt im Umgang mit dem Patienten (z. B. Vereinbarung zeit- anstatt symptomkontingenter Termine, Absprache mit Psychotherapeuten hinsichtlich der Einleitung weiterer diagnostischer Maßnahmen bzw. Hospitalisierungen) oder Informationen z. B. zu Kommunikationsstrategien (z. B. Vermeidung von Ausdrücken wie »Das passiert alles nur in Ihrem Kopf.«).
43 3.1 · Psychotherapie und sonstige psychologische Behandlungsansätze
. Tab. 3.2 Die drei Stufen des Reattributionsmodells nach Goldberg (Goldberg et al. 1989) Stufe
Inhalte
Aufbau von Empathie und Verständnis für die körperlichen Beschwerden
– Exploration der körperlichen Symptome, psychosozialer Probleme, Stimmungszustand, Gedanken und Bewertungen bezüglich der körperlichen Symptome – Relevante körperliche Untersuchung
Erweiterung der Perspektiven bezüglich des körperlichen Symptoms
– Zusammenfassung und Besprechung der physiologischen und psychosozialen Befunde
Aufbau einer Verbindung zwischen körperlichen Beschwerden und psychosozialen Problemen
– Herleitung zeitlicher und physiologischer Zusammenhänge zwischen körperlichen Symptomen und psychosozialen Prozessen
3.1.4
Tiefenpsychologisch fundierte Therapieansätze
Wie bereits in 7 Abschn. 2.9 deutlich wurde, hat sich eine Vielzahl verschiedener psychoanalytischer bzw. tiefenpsychologischer Konzepte zum Verständnis somatoformer Phänomene herausgebildet. Daraus ergibt sich, dass man auch in der modernen tiefenpsychologisch fundierten Therapie nicht von einem allgemein anerkannten Störungsmodell und einer damit einhergehenden Behandlungsmethode sprechen kann. Man kann jedoch festhalten, dass in der tiefenpsychologisch fundierten Therapie die Entstehung somatoformer Körperbeschwerden nicht mehr monokausal mit einer Entwicklungslinie beschrieben, sondern als ein Zusammenwirken aus psychischen, biologischen und sozialen Faktoren gesehen wird (Kanwischer 2006). > Die Besonderheit der Tiefenpsychologie liegt darin, dass sie in ihren Behandlungsmethoden einen Schwerpunkt auf die lebensgeschichtlichen Erfahrungen der Patienten legt – den Einfluss früher Objektbeziehungen auf den späteren Umgang mit körperlichen Erkrankungen (Taerk u. Gnam 1994; Taylor 1992). Sie versucht vor diesem Hintergrund, das Störungsbild besser verstehbar zu machen, wodurch der Patient langfristig auf seine Symptomatik »verzichten« können sollte. jVorgehen in Abhängigkeit vom Strukturniveau des Patienten
Das tiefenpsychologische Vorgehen in der Therapie orientiert sich stark am strukturellen Funktionsniveau des Patienten. Es wird davon ausgegangen, dass Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden nicht homogen hinsichtlich ihres Strukturniveaus sind. 4 Bei der Patientengruppe mit somatoformen, meist nicht chronifizierten Körperbeschwerden, bei der von einem reiferen Strukturniveau ausgegangen wird,
wird vermutet, dass der Störung ein aktuelles, teils bewusstes Konflikterleben zugrunde liegt, das durch eine »Somatisierung« ausgedrückt wird. Von Uexküll und Köhle (1996) postulieren in ihrem Behandlungsmodell für funktionelle Beschwerden, dass den somatoformen Symptomen ein aktuell auslösender Vorgang (psychisch oder somatisch) zugrunde liegt, der zu einer Funktionsänderung des Organismus führt. Wird diese vom Betroffenen wahrgenommen, kann sie durch eine maladaptive emotionale Erlebnisverarbeitung verstärkt werden. In diesem Fall orientiert sich die Therapie eher an der Aktualsituation des Patienten. 4 Bei einer weiteren Patientengruppe mit unerklärten Körperbeschwerden wird von einer neurotischen Persönlichkeitsorganisation ausgegangen. In der Regel kann bei den Betroffenen im Rahmen der Anamneseerhebung eine diagnostizierbare Konfliktentwicklung sowie eine auslösende Situation identifiziert werden. Bei dieser Patientengruppe liegt der Behandlungsschwerpunkt nach dem Aufbau einer therapeutischen Beziehung auf der Beleuchtung des Konfliktgeschehens, das der Symptomatik zugrunde liegt. 4 In einer dritten Gruppe wird die somatoforme Symptomatik als Ausdruck einer Persönlichkeitsstörung gesehen. Bei diesen Patienten wird eher von einem niedrigen strukturellen Funktionsniveau sowie einer frühkindlichen Entwicklungsstörung ausgegangen. In der Therapie wird in diesem Fall dementsprechend der Schwerpunkt auf die Identifizierung der Entwicklungsdefizite gelegt. Eine ausreichend stabile Therapiebeziehung ist hier von enormer Bedeutung, bevor die Deutung unbewusster Inhalte in die Therapie einfließen kann. jBesonderheiten der tiefenpsychologisch fundierten Therapie somatoformer Symptome
Eine von grundlegender Abstinenz geprägte Haltung des Therapeuten wird eher vermieden. Die Aufgabe des The-
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Kapitel 3 · Therapieansätze für unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen
rapeuten besteht vor allem darin, die für den Patienten individuell unerträglichen Affekte aufzunehmen (»containing«) und damit eine psychische Verarbeitung dieser Affekte zu übernehmen, die der Patient zunächst nicht erbringen kann. Der Therapeut bringt dann später die zuvor unaushaltbaren Affekte wieder in die Behandlung. Des Weiteren soll dem Patienten ausreichend Raum in der Therapie gegeben werden, sein Krankheitsmodell zu entwickeln und eine akzeptierende, supportive Haltung des Therapeuten zu erfahren. Somatische Interpretationen der körperlichen Symptome sollten zudem nicht zu schnell als Widerstandsphänomen gedeutet werden. Klagsames und demonstrativ hilfloses Verhalten des Patienten sollte nicht primär als Aggravationstendenz wahrgenommen werden, sondern vor dem Hintergrund von Beziehungserfahrungen in Vorbehandlungen betrachtet werden. Eine zu schnelle Konfrontation des Patienten mit der Psychogenese seiner Beschwerden wird vermieden. Therapiemotivation muss in der Regel zunächst gefördert werden und kann nicht vorausgesetzt werden. Im ersten Therapieabschnitt ist das therapeutische Vorgehen weniger übertragungsfördernd. Es wird zunächst weniger biographisch gearbeitet, sondern eher in der aktuellen Situation des Patienten. In diesem Therapieabschnitt kann eine zusätzliche Gruppentherapie im tiefenpsychologischen Verständnis hilfreich sein. Eine Übernahme alternativer Sichtweisen zur Symptomatik im Patienten können durch die anderen Gruppenteilnehmer besonders gefördert werden. Der Schwerpunkt auf die übertragungsbezogene Arbeit ist erst nach der Entwicklung einer tragfähigen Therapiebeziehung hilfreich.
3.1.5
Interpersonelle Therapieansätze
Interpersonelle Therapieansätze für multiple und chronische Körperbeschwerden gehen auf Annahmen der interpersonellen Theorie von Sullivan (1953) sowie der Bindungstheorie von Bowlby (1969) zurück. Auf Basis dieser Grundtheorien haben Stuart und Noyes (1999) ein Störungskonzept entwickelt, nach dem die Somatisierungsstörung als eine Kombination aus unsicherem Bindungstyp und mangelnder medizinischer Rückversicherung betrachtet wird (7 Abschn. 2.8). Somatisierende Patienten versuchen aufgrund ihres unsicheren Bindungsstils und der damit einhergehenden Unfähigkeit, ihre Probleme adäquat zu äußern, durch häufiges Klagen über ihre körperlichen Beschwerden sowie durch ihr Krankheitsverhalten Hilfe und psychologische Unterstützung bezüglich ihrer Beschwerden einzufordern. Dieser Kommunikationsstil führt zu Ablehnung seitens der jeweiligen Bezugsperson und bestätigt wiederum den Patienten in sei-
ner Annahme, dass er keine Fürsorge und Unterstützung hinsichtlich seiner Beschwerden erhält. > Die Aufgabe des behandelnden Arztes bzw. Psychotherapeuten besteht darin, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Die Therapie fokussiert auf das interaktionelle Verhalten des Patienten und seiner bedeutsamen Bezugspersonen und vermittelt ihm hilfreiche Methoden zur Kommunikation seines Bedürfnisses nach Unterstützung.
Dafür stehen dem Therapeuten verschiedene Therapietechniken zur Verfügung (Stuart u. Noyes 2006). In der interpersonellen Therapie wird durch den Einsatz so genannter »bridging metaphors« vermieden, die Problematik entweder als medizinisch oder psychologisch zu dichotomisieren bzw. über die Existenz der Symptome zu diskutieren oder deren Ursache zu identifizieren. Stattdessen wird der Patient motiviert, seinen Umgang mit den Symptomen zu verbessern. Das Therapiekonzept geht davon aus, dass insbesondere Patienten mit medizinisch unklaren Körperbeschwerden ein ausgeprägtes Machtgefälle zu ihrem Behandler erleben. Daher wird zum Therapiebeginn ein Vertrag gemeinsam mit dem Patienten erarbeitet, in dem die Organisation der Kontakte zwischen Patient und Arzt sowie Notfallkontakte festgelegt werden. Ein weiterer wichtiger Therapiebaustein besteht darin, dem Patienten bewusst zu machen, welchen Effekt seine Kommunikationsweise auf das Verhalten und die Reaktionen seiner Mitmenschen hat. Dazu werden interpersonelle Kontaktsituationen im Zusammenhang mit der Suche nach Unterstützung seitens des Patienten nachgestellt. Verbale wie auch nonverbale Aspekte der Kommunikation werden für spezifische Situationen genau analysiert. Der Therapeut erarbeitet gemeinsam mit dem Patienten, wie und warum das Gegenüber in spezifischen Situationen in einer bestimmten Weise reagiert hat. Als grundlegende therapeutische Haltung setzt die interpersonelle Therapie authentische Empathie voraus. Diese wird gefördert, indem der Therapeut sich die Entwicklung des unsicheren Bindungsstils des Patienten erklärbar macht und sich dadurch besser in die Situation des Patienten hineinversetzen kann. Zudem kann der Therapeut gezielt positive Verstärkung in authentischer und realistischer Weise einsetzen. Die interpersonelle Therapie geht davon aus, dass insbesondere Patienten mit somatoformen Beschwerden mit einem abrupten Therapieabschluss nur schwer umgehen können. Sie fühlen sich im Stich gelassen und können dementsprechend negativ reagieren. Um diese Reaktion zu verhindern, zugleich aber einer Abhängigkeit zwischen Patient und Therapeut vorzubeugen, empfiehlt das interpersonelle Behandlungskonzept eine Aufrechterhaltungstherapie mit einer schrittweisen Reduktion der therapeutischen Kontakte.
45 3.2 · Psychopharmakotherapie
3.1.6
Sport- und Bewegungstherapie
> Es ist wissenschaftlich belegt, dass körperliche Aktivität die Stimmung und den Schlaf verbessert sowie die Wahrnehmungsschwelle für Schmerz erhöhen kann (Minor 1991; Weyerer u. Kupfer 1994).
Theorien gehen davon aus, dass Bewegung und Sport durch eine Erhöhung des Endorphinspiegels die Immunreaktion stärkt und den Spiegel des adrenocorticotropen Hormons Prolaktin sowie des Wachstumshormons steigert (Harber u. Sutton 1984). Dementsprechend existieren bereits mehrere Konzepte, in denen diese positiven Effekte körperlicher Aktivität auch therapeutisch nutzbar gemacht werden. In Interventionsstudien zur Fibromyalgie und zum chronischen Erschöpfungssyndrom konnte die Wirksamkeit von Bewegungstherapie nachgewiesen werden (Busch et al. 2007; Edmonds et al. 2004). Besondere Herausforderungen in der Behandlung von Patienten mit multiplen unerklärten Körperbeschwerden bestehen in der interindividuellen Heterogenität der Symptomatik sowie in der oftmals geringen Änderungsmotivation. Da bei vielen Betroffenen ein ausgeprägtes Schonungsverhalten beobachtet werden kann, erklärt sich umso leichter, dass zunächst ein ausgiebiger Motivationsaufbau für eine Bewegungstherapie notwendig ist. jAerobes Training
Bisher gibt es nur sehr wenige veröffentlichte Programme. Im Rahmen des Gruppenprogramms von Peters und Kollegen (Peters et al. 2002) erhalten bis zu 10 Betroffene über 10 Wochen ein aerobes Training (einschließlich 2 Terminen à 1 Stunde pro Woche), das von Physiotherapeuten durchgeführt wird. Begleitend zum Training erhalten die Patienten einen Pulsmesser, um ihren Puls zu prüfen. Vor Beginn des Trainings findet zunächst eine psychoedukative Einführung in die Wirkprozesse von körperlicher Aktivität bei unerklärten Körperbeschwerden statt. Den Patienten wird verdeutlicht, dass eine verbesserte physische Kondition dazu verhilft, mit alltäglichen Stressoren besser umzugehen. Zudem werden während des Trainings wiederholt die körperlichen Beschwerden der Teilnehmer und ihre symptombezogenen dysfunktionalen Bewertungen thematisiert. Während des Trainings wird darauf geachtet, die Herzrate der Teilnehmer bei 60–65% der altersentsprechenden maximalen Herzrate zu halten. Eine Trainingssitzung wird mit 10 Minuten Aufwärmung eingeleitet. Im Anschluss werden über 40 Minuten aerobe Übungen durchgeführt. Die abschließenden 10 Minuten werden dann als Erholungsphase genutzt. In regelmäßigen Abständen werden den Teilnehmern basierend auf den Pulsmessungen Rückmeldungen zur Verbesserung ihrer
Kondition gegeben. Die Patienten erhalten zudem Hausaufgaben, wobei sie bestimmte Übungen aus dem Training dreimal wöchentlich über 20 Minuten selbstständig durchführen sollen. Die Übungsdurchführung wird in einem Trainingstagebuch protokolliert. Das Tagebuch wird wöchentlich mit dem Physiotherapeuten ausgewertet und Ziele für die kommende Woche vereinbart. Zum Trainingsabschluss wird mit dem Patienten ein individueller Plan zur Fortführung der Übungen ausgearbeitet. Obwohl es kaum konkrete Trainingsprogramme für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden gibt, stellen Übungen zur gesteigerten Aktivität in multimodalen verhaltensmedizinischen Programmen (Hiller et al. 2003; Leibbrand 1997) und kognitiven Verhaltenstherapien (Allen et al. 2006; Martin et al. 2007) einen wichtigen Bestandteil dar.
3.2
Psychopharmakotherapie
Die Verabreichung von Psychopharmaka bei Patienten mit multiplen unerklärten Körperbeschwerden ist nicht unüblich. Problematisch ist dabei der verbreitete Einsatz von Präparaten wie z. B. Benzodiazepinen sowie niedrig dosierten Depotneuroleptika, für die bisher keine Studien zum empirischen Nachweis der Wirksamkeit vorliegen (Rief u. Hiller 2011). Das bedeutet, dass Medikamente wie Benzodiazepine, die ein Abhängigkeitspotenzial bzw. erhebliche Nebenwirkungen aufweisen, ohne eine Wirksamkeitsevidenz verschrieben werden. Nach dem aktuellen Stand der Forschung liegen nur wenige doppelblind durchgeführte, randomisiert-kontrollierte Placebostudien zur Wirksamkeit von Psychopharmaka bei somatoformen Symptomen vor. Nach den Ergebnissen der wenigen existierenden Arbeiten ist primär für Antidepressiva eine Wirksamkeit zu erwarten. Es wird postuliert, dass die Wirkung von Antidepressiva auf den Botenstoffen Serotonin und Noradrenalin basiert. Unter anderem wird angenommen, dass Serotonin und Noradrenalin bei der Produktion analgetischer Effekte eine wichtige Rolle spielen. Insbesondere bei trizyklischen Antidepressiva (z. B. Opipramol, Doxepin, Amitriptylin, Desipramin, Trimipramin) wird aufgrund anticholinerger Effekte davon ausgegangen, dass diese auf das gastrointestinale System wirken und insbesondere gegen Diarrhö eingesetzt werden können (Jackson et al. 2006). Aufgrund von Nebenwirkungen zeigen sich jedoch vor allem bei Letzteren hohe Abbruchquoten von 20–30% (Rief u. Hiller 2011). In den vergangenen 10 Jahren wurde zunehmend auch die Wirksamkeit von Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (z. B. Fluoxetin, Sertralin) oder Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (z. B. Venlafaxin) untersucht. Der Vorteil dieser Gruppe von Psychophar-
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Kapitel 3 · Therapieansätze für unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen
maka liegt in der geringeren Nebenwirkungsrate. Die Effektivität, vor allem hinsichtlich der körperlichen Beschwerden, scheint jedoch eher gering zu sein. Alternativ kam auch bereits das homöopathische Antidepressivum Johanniskraut zum Einsatz. Neben Antidepressiva werden auch niedrig dosierte Antiepileptika wie Gabapentin, Topiramat oder Pregabalin verabreicht.
3.3
Wirksamkeitsevidenz für verschiedene Therapieansätze bei unerklärten Körperbeschwerden
Wie bereits in 7 Abschn. 3.1 und 7 Abschn. 3.2 dargelegt, wurde für die Behandlung multipler somatoformer Beschwerden eine Vielzahl an Therapieansätzen entwickelt. Um deren Brauchbarkeit im Therapiealltag einschätzen zu können, ist es u. a. notwendig, sich mit der Wirksamkeit der jeweiligen Verfahren auseinanderzusetzen. Zur Bewertung der Qualität von Wirksamkeitsnachweisen in der Therapieforschung wird ein weit verbreitetes vierstufiges System verschiedener Evidenzgrade, entwickelt von der Agency of Health Care Policy and Research (1993), herangezogen (. Tab. 3.3). Wie bereits in 7 Abschn. 1.2.2 verdeutlicht, werden in der Literatur polysymptomatische Syndrome unerklärter Körperbeschwerden, wie z. B. bei der Somatisierungsstörung, von monosymptomatischen funktionellen Syndromen unterschieden. Aus Kapazitätsgründen bezieht sich die folgende Übersicht über den aktuellen Stand an Wirksamkeitsnachweisen zu den in 7 Abschn. 3.1 und 7 Abschn. 3.2 erläuterten Behandlungsansätzen primär auf polysymptomatische Syndrome. Für weitere Informationen über die Wirksamkeitsevidenz verschiedener Therapieansätze bei spezifischeren funktionellen Syndromen wie z. B. der Fibromyalgie oder dem chronischen Erschöpfungssyndrom gibt . Abb. 3.2 eine Übersicht über metaanalytische Arbeiten. Daraus geht hervor, dass im Gegensatz zu den spezifischen funktionellen Störungsbildern hinsichtlich der Behandlung polysymptomatischer Syndrome Wirksamkeitsnachweise auf höchster Evidenzstufe kaum vorhanden sind. Neben der einzelnen Metaanalyse (Kleinstäuber et al. 2011) liegen für multiple unerklärte Körperbeschwerden jedoch zumindest einige narrative Reviews bezüglich der Effektivität verschiedener Interventionen vor. Diese werden in . Tab. 3.4 zusammenfassend dargestellt. Problematisch an diesen Reviews ist jedoch die Interpretierbarkeit der Ergebnisse aufgrund der subjektiven Tönung der qualitativen Datenzusammenfassung. Dementsprechend werden für die folgende Darstellung der Effektivitätsevidenz für die verschiedenen in 7 Abschn. 3.1 und 7 Abschn. 3.2 dargestellten Therapiemethoden – so-
weit es möglich ist – Ergebnisse der obersten Evidenzstufe diskutiert.
3.3.1
Wirksamkeit von kognitivverhaltenstherapeutischen und verhaltensmedizinischen Interventionen, Reattributionstraining und Entspannungsverfahren
Zur kognitiven Verhaltenstherapie, zu verhaltensmedizinischen Interventionen sowie zum Reattributionstraining liegen Evidenznachweise auf höchster Evidenzstufe vor. Dies gilt ebenfalls für Entspannungsverfahren bzw. Biofeedback, die in der Regel in kognitiv-behaviorale bzw. verhaltensmedizinische Behandlungsprogramme integriert sind. Die zitierte Metaanalyse von Kleinstäuber und Kollegen (2011) untersucht die Effektivität verschiedener psychologischer Interventionen bei multiplen chronischen somatoformen Beschwerden. Die Autoren stoßen bei ihrer Literaturrecherche primär auf Studien zu kognitiv-verhaltenstherapeutischen, verhaltensmedizinschen Behandlungsansätzen, Reattributionstrainings und nur auf wenige Studien zu anderen Therapiemethoden (jeweils eine Studie zu emotionsfokussierter, tiefenpsychologisch fundierter und eklektischer Therapie). Sie fassen die Ergebnisse für verschiedene Outcome-Maße wie z. B. körperliche Symptome, kognitive, emotionale und verhaltensbezogene Symptome, Depressivität, allgemeine Psychopathologie, Einschränkungen im Funktionsniveau sowie Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen zusammen. Die Metaanalyse schließt insgesamt 27 – teils randomisiert-kontrolliert, teils unkontrollierte – Studien ein. Zur Berechnung der Effektstärken wurde für den Vergleich zwischen Behandlungs- und Kontrollgruppe »Hedges g« und für den Vergleich zwischen zwei Messzeitpunkten innerhalb einer Behandlungsgruppe »Cohens d« verwendet. Bezüglich der Interpretation beider Effektstärkenmaße kann folgendes Paradigma herangezogen werden: Werte von 0,20 bis 0,30 indizieren kleine, Werte ab 0,50 mittlere und Werte über 0,80 große Effekte (Cohen 1977). Über die verschiedenen Outcome-Maße ergeben sich hinsichtlich der Vergleiche von Behandlungs- und Kontrollgruppe (überwiegend Wartekontrollgruppen bzw. medizinische Standardversorgung) sehr kleine bzw. kleine Effekte zwischen g = 0,11 und g = 0,37. Die Effekte scheinen stabil zu sein (Effektstärken 1-JahresKatamnese: g = 0,06 und g = 0,40), obwohl die Daten mit Vorsicht interpretiert werden müssen, da sie häufig auf geringen Studienanzahlen basieren. Die Prä-post-Effektstärken liegen im Gegensatz zu den Kontrollgruppenvergleichen im kleinen bis mittleren Bereich (für den Prä-post-
47 3.3 · Wirksamkeitsevidenz für verschiedene Therapieansätze bei unerklärten Körperbeschwerden
. Tab. 3.3 Evidenzstufen nach der Agency of Health Care Policy and Research Evidenzstufe Ia
Evidenz aufgrund von Metaanalysen randomisiert-kontrollierter Studien
Ib
Evidenz aufgrund mindestens einer randomisiert-kontrollierten Studie
IIa
Evidenz aufgrund mindestens einer gut angelegten kontrollierten Studie ohne Randomisierung
IIb
Evidenz aufgrund mindestens einer gut angelegten, quasi-experimentellen Studie
III
Evidenz aufgrund gut angelegter, nichtexperimenteller deskriptiver Studien (z. B. Fall-Kontroll-Studien)
IV
Evidenz aufgrund von Berichten/Meinungen von Expertenkreisen, Konsensuskonferenzen und/oder klinischer Erfahrung anerkannter Autoritäten
. Tab. 3.4 Übersicht zu narrativen Reviews über die Effektivität verschiedener psychosozialer Interventionen bei multiplen chronischen somatoformen Beschwerden Autoren
Symptome/Syndrome
Behandlungsansätze
Allen et al. 2002
Somatisierungsstörung, Reizdarmsyndrom, chronisches Erschöpfungssyndrom (CFS), Fibromyalgie
Kognitive Verhaltenstherapie (KVT), kognitive Therapie (KT), Verhaltenstherapie (VT), Entspannungstraining, Bewegungstherapie, Biofeedback, Hypnotherapie, tiefenpsychologisch fundierte Kurzzeittherapie
Guthrie 1996
Multiple unerklärte Körperbeschwerden (MUPS), CFS, funktionelle Dyspepsie, Reizdarmsyndrom, chronische Kopf- bzw. Rückenschmerzen, nichtkardialer Brustschmerz
KVT, tiefenpsychologisch fundierte Therapie, Problemlösungstrainings
Kroenke 2007
MUPS, Somatisierungsstörung, Somatoforme autonome Funktionsstörung, Hypochondrie, körperdysmorphe Störung, Konversionsstörung
KVT, Reattributionstraining, psychiatrische Konsultationsbriefe, Antidepressiva, Hypnose, Stressmanagement, Bewegungstherapie, paradoxe Intention
Kroenke u. Swindle 2000
MUPS, CFS, Reizdarmsyndrom, chronische Unterbauchschmerzen, Rücken- und Kopfschmerzen, nichtkardialer Brustschmerz, Tinnitus, Burning-Mouth-Syndrom, Insomnie, Fibromyalgie, Hypochondrie, temporomandibuläre Dysfunktion
KVT
Looper u. Kirmayer 2002
MUPS, Hypochondrie, körperdysmorphe Störung, Konversionsstörung, nichtkardialer Brustschmerz, CFS
Psychiatrische Konsultationsbriefe, KVT, Psychoedukation, Hypnose
Nezu et al. 2001
MUPS, CFS, Fibromyalgie, nichtkardialer Brustschmerz
KVT
Sumathipala 2007
Somatisierungsstörung, undifferenzierte somatoforme Störung, somatoforme autonome Funktionsstörung, MUPS, CFS, Fibromyalgie
KVT, tiefenpsychologisch fundierte Therapie, Familientherapie, Reattributionstraining, Problemlösungstraining, psychiatrische Konsultationsbriefe, Antidepressiva
Vergleich: d = 0,36 und d = 0,70; für Vergleiche zwischen Prä-Messung und Katamnese: d = 0,40 und d = 0,80). Spezifische Ergebnisse zu den einzelnen Untergruppen der psychologischen Interventionen können eigentlich nur vernünftig für kognitive Verhaltenstherapie interpretiert werden, da bei den anderen Therapieverfahren zu wenige Studien vorliegen. Die Kontrollgruppenvergleiche
speziell zur kognitiven Verhaltenstherapie zum PostMesszeitpunkt wie auch zur Katamnese bewegen sich ausschließlich im kleinen Bereich (d = 0,03 und d = 0,29). Bei der Ergebnisinterpretation sollte berücksichtigt werden, dass in den eingeschlossenen Studien ausschließlich äußerst kurzzeitige Interventionen untersucht wurden, mit durchschnittlich 11 Sitzungen. Als Prädiktor des
3
48
Kapitel 3 · Therapieansätze für unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen
Reizdarmsyndrom
Fibromyalgie
Psychologische Interventionen
Nichtkardialer Brustschmerz
Funktionelle Dyspepsie
Multiple unerklärte Körperbeschwerden
Psychopharmakotherapie
Kleinstäuber et al. 2011
Hojo et al. 2005
Kisely et al. 2005
Brown et al. 2002 Shah et al. 2008
Busse et al. 2009
Häuser et al. 2009b O‘Malley et al. 2000
Häuser et al. 2009a
Malouff et al. 2008 Price et al. 1998
Ford et al. 2009
1
Jackson et al. 2000 Lesbros-P. et al. 2004 Rahimi et al. 2008
3
Lackner et al. 2004 Zijdenbos et al. 2009
Anzahl der Meta-Analysen
3
2
Prämenstruelles Syndrom
Rahimi et al. 2009
4
Chronisches Erschöpfungssyndrom
Kombinationsbehandlung
. Abb. 3.2 Überblick über die Anzahl an Metaanalysen zu verschiedenen funktionellen Syndromen im Vergleich zu polysymptomatischen Syndromen unerklärter Körperbeschwerden
Therapieerfolgs konnte zudem die Anzahl der Therapiesitzungen identifiziert werden. Vor dem Hintergrund, dass die Studienstichproben Patienten mit einer durchschnittlichen Symptomdauer von 13 Jahren einschließen, wird von den Autoren vermutet, dass eine längere Therapiedauer höhere Effekte bewirken könne. Die Autoren diskutieren jedoch zugleich, dass zur Verbesserung der Effektivität zukünftig nicht allein die Sitzungsanzahl gesteigert werden sollte, sondern die Therapie qualitativ optimiert werden müsse.
3.3.2
Wirksamkeit von tiefenpsychologisch fundierten Therapieansätzen
Für tiefenpsychologisch fundierte Therapie bei multiplen, unerklärten Körperbeschwerden liegen derzeit keine Wirksamkeitsnachweise auf höchster Evidenzstufe vor. Die Metaanalyse von Kleinstäuber und Kollegen (2011) beinhaltet lediglich eine unkontrollierte deutschprachige Arbeit (Tschuschke et al. 2007). In dieser Studie wurden Patienten mit Somatisierungsstörung, undifferenzierter somatoformer Störung und somatoformer autonomer Funktionsstörung in 20 wöchentlich stattfindenden Therapiesitzungen mit psychodynamischen und interpersonellen Elementen behandelt. Problematisch an dieser Stu-
die ist, dass auf der Selbstbeurteilungsebene primär globale anstatt symptomspezifische Outcome-Maße zum Einsatz kamen. Die Autoren berichten eine signifikante Reduktion psychischer und körperlicher Belastung, die sich über die 6- und 12-Monats-Katamnese stabil hielt. Neben dieser Arbeit existiert noch eine weitere unkontrollierte Prä-post-Studie (Melson et al. 1982) zu einer psychodynamischen Gruppentherapie, die aber aufgrund der gemischten Stichprobe (nur 5% der Patienten leiden an einer somatoformen Störung und die restlichen Patienten weisen primär Angststörungen, affektive Störungen oder Persönlichkeitsstörungen auf) nicht in die Metaanalyse von Kleinstäuber und Kollegen (2011) aufgenommen wurde. Die Gruppentherapie fand im Rahmen einer tagesklinischen Behandlung über 2–5 Wochen statt. Für diese gemischte Stichprobe konnten die Autoren einen signifikanten Rückgang in den körperlichen Beschwerden nachweisen, der sich zur 6-Monats-Katamnese als stabil erwies. Zudem zeigte sich zum Follow-up eine signifikante Zunahme des Funktionsniveaus. Bis zum Abschluss der Behandlung stieg des Weiteren signifikant die externale Kontrollüberzeugung der Patienten. Zusammenfassend muss damit betont werden, dass zur tiefenpsychologisch fundierten Therapie für Patienten mit multiplen somatoformen Symptomen keine ausreichenden Evidenzbelege vorhanden sind.
49 3.3 · Wirksamkeitsevidenz für verschiedene Therapieansätze bei unerklärten Körperbeschwerden
3.3.3
Wirksamkeit von interpersonellen Therapieansätzen
Zu interpersonellen Therapieansätzen für Patienten mit multiplen somatoformen Beschwerden liegen derzeit ebenfalls keine Evidenznachweise auf höchster Evidenzstufe vor. Es existiert jedoch eine randomisiert-kontrollierte Studie von Guthrie und Kollegen (1999), in der 110 Patienten, von denen allerdings nur 9% an einer somatoformen Störung litten und der Rest Primärdiagnosen wie z. B. Major Depression, Dysthymie oder eine Panikstörung aufwiesen, in Gruppensitzungen behandelt wurden. Die Therapie basierte auf einem manualisierten, psychodynamisch-interpersonellen Ansatz mit Schwerpunkt auf der Patient-Therapeuten-Beziehung als Mittel zur Lösung zwischenmenschlicher Konflikte. In der Kontrollgruppe erhielten die Patienten eine medizinische Standardversorgung mit regelmäßigen Terminen bei ihrem behandelnden Psychiater. Die Gruppenintervention führte im Vergleich zur Kontrollintervention zu einem signifikanten Rückgang der Werte der allgemeinen Psychopathologie der Patienten sowie der Depressivität, der sich zur 6-Monats-Katamnese als stabil erwies. Die Lebenszufriedenheit der Gruppentherapiepatienten stieg signifikant zum 6-Monats-Follow-up. In einer weiteren randomisiert-kontrollierten Studie (Petrak et al. 2007) wurde die Effektivität einer Verhaltenstherapie im Vergleich zu einer psychodynamischinteraktionellen Therapie bei Patienten mit somatoformen Schmerzen untersucht. Hinsichtlich der Anzahl schmerzfreier Patienten bzw. der Schmerzstärke und der Schmerzbeeinträchtigung konnten signifikante Effekte für beide Interventionen aufgezeigt werden. Zwischen den beiden Behandlungsansätzen ergaben sich aber keine statistisch bedeutsamen Unterschiede. Hinsichtlich der Ergebnisdiskussion sollte bei dieser wie auch bei den meisten anderen zitierten Studien kritisch berücksichtigt werden, dass Outcomemaße, die sich konkret auf die körperliche Symptomatik beziehen, nicht wirklich zur Messung des Therapieerfolgs geeignet sind. Sämtliche psychotherapeutische Behandlungskonzepte zielen primär auf einen verbesserten Umgang mit den Beschwerden ab, aber weniger auf eine Reduktion der körperlichen Symptome. In einer Studie von Real Perrez und Kollegen (1996) erhielten 18 Patienten, die seit mindestens einem Jahr an somatoformen Störungen (u. a. undifferenzierte somatoforme Störung und Somatisierungsstörung) litten, eine tiefenspychologisch fundierte Kurzzeit-Familientherapie. Das Studienprozedere sowie die Datenauswertung werden in dieser Arbeit leider nur sehr vage beschrieben. Die Autoren berichten, dass bei 61,6% der behandelten Patienten ein »Therapieerfolg« vorliege, ohne dass dieser genauer definiert wird.
3.3.4
Wirksamkeit von Sportund Bewegungstherapie
Wie bereits in 7 Abschn. 3.1.6 beschrieben, existiert zu Sport- und Bewegungstherapie bei medizinisch unklaren Körperbeschwerden bisher eine randomisiert-kontrollierte Studie (Peters et al. 2002). In dieser Arbeit wurden 220 Patienten einer Gruppe mit aeroben Übungen bzw. einer Kontrollgruppe mit Stretchingübungen zufällig zugewiesen. Auf Selbstbeurteilungsskalen zu Somatisierung, Depression und Angst zeigten die behandelten Patienten in beiden Gruppen eine vergleichbare Symptomreduktion. Die Verbesserung der allgemeinen Psychopathologie wies eine Stabilität von 6 Monaten nach Trainingsabschluss auf. In den verschiedenen Facetten, die bezüglich der sozialen Funktionseinschränkungen ausgewertet wurden, zeigten die Patienten in beiden Gruppen eine positive Entwicklung. Durchschnittlich besuchten die Patienten 11 der 20 Sitzungen. Besonders zu betonen ist, dass in beiden Gruppen das Inanspruchnahmeverhalten u. a. hinsichtlich der Hausarztkonsultation sowie der Medikamentenverschreibungen vergleichbar signifikant und stabil gesenkt werden konnte.
3.3.5
Wirksamkeit von psychopharmakologischer Therapie
Zur psychopharmakologischen Behandlung chronischer somatoformer Beschwerden liegen aktuell nur Metaanalysen zu spezifischen funktionellen Syndromen wie z. B. dem Reizdarmsyndrom (Ford et al. 2009), der Fibromyalgie (Häuser et al. 2009b), dem prämenstruellen Syndrom (Brown et al. 2002) oder der funktionellen Dyspepsie (Hojo et al. 2005) vor (. Abb. 3.2). In diesen Arbeiten wurde hauptsächlich die Effektivität von Antidepressiva untersucht. Dabei erwiesen sich trizyklische Antidepressiva, selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer als am effektivsten. Insgesamt wurden für diese Pharmakagruppen jedoch nur kleine bis teils mittlere Effekte hinsichtlich der physischen wie auch psychologischen Outcomemaße gefunden. Ein entscheidendes Problem dieser Studien besteht darin, dass es an Katamneseuntersuchungen mangelt, so dass überwiegend keine Aussagen über Langzeiteffekte gemacht werden können. Für multiple unerklärte Körperbeschwerden liegen nach dem aktuellen Forschungsstand nur narrative Reviews vor (Burton 2003; Fallon 2004; Kroenke 2007; O’Malley et al. 1999; Sumathipala 2007), die auf vereinzelten randomisierten placebokontrollierten Studien basieren. Zusammenfassend zeigt sich hier ähnlich wie bei den spezifischen funktionellen Syndromen, dass bisher über-
3
50
3
Kapitel 3 · Therapieansätze für unerklärte Körperbeschwerden und somatoforme Störungen
wiegend Antidepressiva – vor allem trizyklische Antidepressiva, selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer und pflanzliche Mittel (vor allem Johanniskraut) – sowie niedrig dosierte Antiepileptika wie Gabapentin, Topiramat oder Pregabalin hinsichtlich ihrer Effektivität überprüft wurden. Insgesamt erweisen sich die Antidepressiva als effektiv hinsichtlich verschiedener Outcome-Maße. Ein entscheidender Kritikpunkt an den Studien besteht jedoch in den hohen Abbruchquoten. Zudem werden in nur wenigen Studien die Nebenwirkungen ausreichend dokumentiert. Problematisch ist zudem, dass nur vereinzelt Intention-to-treat-Analysen durchgeführt wurden, wodurch möglicherweise von einer Überschätzung der Effekte ausgegangen werden kann. Des Weiteren ist auffällig, dass in den pharmakologischen Studien überwiegend Fremdbeurteilungsmaße zum Einsatz kommen. In einer Metaanalyse von Rief und Kollegen (Rief et al. 2009) konnte gezeigt werden, dass Fremdratings (z. B. durch klinisches Personal) zu 2,8-mal höheren Effektstärken als Selbstbeurteilungen führen. Abschließend muss betont werden, dass bei den psychopharmakologischen Studien einerseits die Behandlungszeiträume mit einer durchschnittlichen Therapiedauer von ca. 70 Tagen sehr kurz sind und zum anderen keine Katamneseuntersuchungen vorliegen. Dementsprechend können keine Schlussfolgerungen über die Langzeiteffektivität der Präparate gezogen werden.
3.4
Schlussfolgerungen für zukünftige kognitive Verhaltenstherapie bei unerklärten Körperbeschwerden
Aus den Wirksamkeitsbefunden zu Therapieansätzen bei multiplen unerklärten Körperbeschwerden lässt sich schlussfolgern, dass die kognitive Verhaltenstherapie zu den am besten untersuchten Therapieverfahren zählt. Die Evidenzbelege für bisher entwickelte kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen zeigen jedoch noch keine zufriedenstellenden Effekte. Es ergeben sich aber Hinweise darauf, dass die in den Studien untersuchten Therapien für diese chronisch belastete Patientenpopulation zu kurz sind. Zudem sind aber möglicherweise auch qualitative Defizite in den bisher untersuchten Therapieansätzen für die kleinen Effektstärken verantwortlich. Vor diesem Hintergrund bietet das vorliegende Manual einen Therapieansatz, der mehr Sitzungen umfasst, als das in den bisher untersuchten Studien der Fall war. Das vorliegende Behandlungsmanual lässt zudem ein flexibles Vorgehen in dem Sinne zu, dass die Therapiemodule je nach individuellem Beschwerdenprofil des Patienten zusammengestellt werden können. Das stellt eine deutliche qualitative Ver-
änderung im Gegensatz zu den streng manualisiert durchgeführten Ultrakurzzeittherapien, die in bisherigen Studien untersucht wurden, dar.
51 4.2 · Beschreibung
4
Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden: Grundlagen und Eingangsphase 4.1
Einführung in die Struktur des Manuals – 52
4.1.1 4.1.2
Anwendung des manualisiert-strukturierten Vorgehens im Praxisalltag: Chancen und Probleme – 52 Empfehlungen für therapeutische Schwerpunktsetzungen bei der Behandlung monosymptomatischer funktioneller Syndrome – 55
4.2
Eingangsphase der Therapie – 56
4.2.1 4.2.2
Erstkontakt und Therapieerwartungen des Patienten – 56 Besonderheiten im weiteren Verlauf – 62
M. Kleinstäuber et al., Kognitive Verhaltenstherapie bei medizinisch unerklärten Körperbeschwerden und somatoformen Störungen, DOI 10.1007/978-3-642-20108-0_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
4
52
Kapitel 4 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
4.1
Einführung in die Struktur des Manuals
Das vorliegende Therapiemanual ist modulartig gegliedert. Da die Wirksamkeit des Therapiekonzepts unter Einhaltung der Modulabfolge bzw. des strukturierten Vorgehens nachgewiesen werden konnte (7 Kap. 6), empfehlen wir Ihnen, sich möglichst an der vorgeschlagenen Reihenfolge der Therapiebausteine zu orientieren. Das Manual umfasst insgesamt sieben Module (. Tab. 4.1), die sich auf 20 Einzeltherapiesitzungen aufgliedern. Die Behandlung wird mit Übungen eingeleitet, die zum Aufbau von Therapie- bzw. Änderungsmotivation verhelfen sollen. Das Thema Stress und Stressbewältigung wird auf zwei Module aufgeteilt. Das erste Stress-Modul folgt direkt dem Abschnitt zur Therapiemotivation, während das zweite Stress-Modul erst kurz vor Therapieabschluss durchgeführt werden sollte. Zudem werden dem Patienten im Rahmen der anderen Module immer wieder als Hausaufgabe Stressbewältigungstechniken vermittelt. Zwei weitere Module des Manuals beschäftigen sich mit der Aufmerksamkeit sowie dysfunktionalen Bewertungsprozessen. Zudem enthält das Manual ein Modul zur Veränderung dysfunktionaler Verhaltensweisen. Zu diesen zählen typischerweise Schonungsverhalten, Verhaltensweisen im Zusammenhang mit der Krankenrolle sowie das Inanspruchnahmeverhalten bezüglich medizinischer Dienstleistungen. Zahlreiche praktische Übungen sowie Hausaufgaben, die über das gesamte Manual verteilt sind, ermöglichen es dem Patienten, durch geleitetes Entdecken schrittweise die Zusammenhänge zwischen psychosozialen Aspekten sowie seinen unerklärten Körperbeschwerden zu erfahren und zu verstehen. Diese entscheidenden Erkenntnisse werden dann im abschließenden Modul zusammengefasst und darauf basierend kann gemeinsam mit dem Patienten ein individuelles Störungsmodell hergeleitet werden. Im Vergleich zur kognitiven Verhaltenstherapie anderer psychischer Störungsbilder erscheint es möglicherweise zunächst ungewöhnlich, dass das Störungmodell erst zum Therapieende aufgegriffen wird. Vor- und Nachteile dieses Vorgehens sowie mögliche, unter bestimmten Umständen notwendige Abweichungen von diesem Vorgehen werden in 7 Abschn. 4.1.1 erläutert. Die einzelnen Therapiebausteine werden in . Tab. 4.1 genauer dargestellt. Die einzelnen Therapiesitzungen weisen überwiegend eine feste Struktur auf: 4 Sie werden zunächst mit der Besprechung der Hausaufgaben eingeleitet. Dieser Abschnitt sollte in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden. Nur eine kontinuierliche Rückmeldung des Therapeuten zu der Hausaufgabendurchführung führt dazu, dass der Patient die Hausaufgabe ernst nimmt und sich motiviert
fühlt, sich auch zwischen den Sitzungen mit den Therapieinhalten intensiv zu beschäftigen. 4 Ein großer Anteil der Therapiebausteine schließt praktische Demonstrationsübungen, Verhaltensexperimente bzw. Übungen zum geleiteten Entdecken ein,
die den Patienten anhand praktischer Erfahrung neue Zusammenhänge und Perspektiven zu seinen Beschwerden vermitteln sollen. Diese Erfahrungen werden dann häufig mit einem psychoedukativen Element zu der entsprechenden Modulthematik verknüpft. 4 Abgerundet wird jede Therapiesitzung mit der Planung einer Hausaufgabe. Für die Übungsanleitungen werden Instruktionstexte bereitgestellt. Als Therapiematerial für den Patienten wurden zahlreiche Arbeitsblätter, deren Inhalte auf die jeweiligen Sitzungen zugeschnitten sind, ausgearbeitet. Sie befinden sich im 7 Anhang. Obwohl die Einhaltung der vorgegebenen Reihenfolge der Therapiemodule empfehlenswert erscheint, sind Abweichungen bzw. andere inhaltliche Schwerpunktsetzungen natürlich möglich. Vorschläge und Hinweise diesbezüglich werden in 7 Abschn. 4.1.1 und 7 Abschn. 4.1.2 beschrieben.
4.1.1
Anwendung des manualisiertstrukturierten Vorgehens im Praxisalltag: Chancen und Probleme
Der interessierte Leser wird bei der Lektüre des folgenden Behandlungsprogramms schnell registrieren, dass es sich dabei um eine sehr strukturierte und manualisierte Vorgehensweise handelt. Insgesamt wurden 20 therapeutische Einzelsitzungen anhand von Therapeuteninstruktionen und Arbeitsblättern für die Patienten sowie Vorschlägen für konkrete Hausaufgaben detailliert ausgearbeitet. Ein derartig »striktes« standardisiertes Vorgehen mag manchen, eher individualisiert arbeitenden Lesern befremdlich anmuten. Wir möchten daher kurz »Chancen« und »Probleme« eines solchen standardisierten Vorgehens reflektieren, die sich aus unserer therapeutischen und supervisorischen Arbeit mit dem vorliegenden Manual ergeben haben. jHoher Strukturierungsgrad
Im Austausch mit Therapeuten, die bereits mit dem vorliegenden Behandlungskonzept gearbeitet haben, ergab sich als häufigste Befürchtung, dass der Therapeut aufgrund der hohen Informationsdichte pro Sitzung möglichen aktuellen und individuellen Sorgen und Problemen einzelner Patienten nicht ausreichend gerecht werden kann. Folglich wurden deutliche Probleme, besonders
53 4.1 · Einführung in die Struktur des Manuals
. Tab. 4.1 Module des Therapiemanuals Modul
Therapiesitzung(en)
Therapieziele
Therapietechniken
Modul 1: Behandlungsmotivation
1
– Klärung der Therapieziele – Aufbau von Veränderungsmotivation
– Phantasiereise zur Zielklärung
Modul 2: Stress (Teil 1)
2–3
– Aufbau von Wissen zur Stress- und Entspannungsreaktion – Verbesserung der Entspannungsfähigkeit
– Psychoedukation zu Stressfunktionen, zum Aufbau des vegetativen Nervensystems, zur körperlichen Stress– und Entspannungsreaktion – Progressive Muskelentspannung
Modul 3: Aufmerksamkeit
4–6
– Erfahrung der Wirkung von Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung von Körpersymptomen – Flexibilisierung der Aufmerksamkeitslenkung – Verbesserung der Genussfähigkeit
– Demonstrationsübungen/ Verhaltensexperimente zur Vermittlung der Rolle der Aufmerksamkeit bei der Wahrnehmung körperlicher Beschwerden – Scheinwerfer-Metapher – Aufmerksamkeitslenkungsstrategien – Genusstraining
Modul 4: Bewertungsprozesse
7–11
– Erkennen von Zusammenhängen zwischen Gefühlen, Gedanken, Verhalten und unerklärten Körpersymptomen
– Vermittlung des ABC-Modells und dessen Übertragung auf unerklärte Körperbeschwerden – Kognitive Umstrukturierungstechniken in Kombination mit Verhaltensexperimenten zur Provokation der Körpersymptome – Ableitung eines realistischen Gesundheitsbegriffs
Modul 5: Krankheitsverhalten
12–15
– Abbau von Schonungsverhalten – Abbau von Verhaltensweisen im Zusammenhang mit der Krankenrolle – Abbau von exzessivem Inanspruchnahmeverhalten bezüglich medizinischer Dienstleistungen
– Ableitung kurz- und langfristiger Konsequenzen der dysfunktionalen Verhaltensweisen – Teufelkreismodelle dysfunktionalen Verhaltens – Aufbautraining zur Steigerung körperlicher Aktivität im Alltag – Techniken zur Identifikation und Umstrukturierung von Kognitionen im Zusammenhang mit dysfunktionalen Verhaltensweisen – Verhaltensexperimente – Techniken zum Aufbau von Selbstfürsorge – Strategien zum Abbau von Rückversicherungsverhalten
Modul 6: Stress (Teil 2)
16–19
– Aufbau von Stressbewältigungsfähigkeiten
– Psychoedukation zum transaktionalen Stressmodell nach Lazarus – Stressbewältigungsstrategien – Zeitmanagementstrategien – Strategien zum Aufbau sozialer Unterstützung – Identifikation und Umstrukturierung stressfördernder Kognitionen – Achtsamkeitsübungen
Modul 7: Störungsmodell
20
– Zusammenfassung der Erfahrungen zu Zusammenhängen zwischen psychosozialen Aspekten und Körperbeschwerden – Rückfallprävention
– Vermittlung eines umfassenden, psychosozialen Erklärungsmodells unerklärter Körpersymptome – Notfallplan mit zukünftigen Bewältigungsstrategien
hinsichtlich der therapeutischen Beziehung, erwartet. Interessanterweise erwiesen sich diese Befürchtungen als weitestgehend unbegründet. Die überwiegende Mehrzahl der Patienten reagierte überaus positiv auf den hohen Grad an Strukturierung, erlebte das Programm als professionell und arbeitete auch zwischen den Sitzungen enga-
giert mit den vorgesehenen Therapieinhalten. Auch von Therapeutenseite wurde das strukturierte Vorgehen meist als hilfreich erlebt, um einen »roten Faden« über die einzelnen Sitzungen hinweg zu behalten und sich nicht zu sehr in aktuellen Problemstellungen zu verstricken. Insbesondere bei Patienten, die eine Tendenz aufweisen, sich in
4
54
4
Kapitel 4 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
Nebensächlichkeiten zu verlieren, bzw. die eine abschweifende Besprechung nebensächlicher Aspekte nutzen, um sich mit ihren eigentlichen Problemen nicht auseinandersetzen zu müssen, kann diese strukturierte Vorgehensweise sehr hilfreich sein. Allerdings ist an dieser Stelle zu bedenken, dass das skizzierte Vorgehen in erster Linie für Patienten konzeptualisiert wurde, bei denen somatoforme Beschwerden aktuell im Vordergrund stehen (7 Abschn. 4.2.2 unter »Therapieindikation«). In Fällen wie z. B. einer komorbiden, schweren depressiven Episode oder einer schwerwiegenden Persönlichkeitsstörung (z. B. Borderline-Persönlichkeitsstörung) ist zweifellos ein alternativer Behandlungsplan zu präferieren. Dabei können auch Einzelmodule unseres Behandlungskonzepts in die Therapie der Primärstörung eingebaut werden. Insgesamt möchten wir Sie dazu ermutigen, die einzelnen Behandlungsmodule und Materialien als Angebot zu nutzen, wohl wissend, dass es in jeder Behandlung außergewöhnliche Ereignisse gibt, die eine zeitweilige Abweichung vom geplanten Vorgehen notwendig machen (z. B. Tod nahestehender Angehöriger oder Trennungen). Darüber hinaus haben Sie bei einigen Behandlungsstunden möglicherweise den Eindruck, dass diese Sitzungen etwas zu »vollgepackt« sind (z. B. bei der Einführung der progressiven Muskelentspannung). Fühlen Sie sich an dieser Stelle frei, Inhalte zu kürzen oder den Stoff gegebenenfalls auf zwei Sitzungen zu verteilen. Die Frage, wie schnell sich bestimmte Inhalte vermitteln lassen, ist hierbei auch stets von bestimmten patientenbezogenen Merkmalen (z. B. Reflexions- oder Einsichtsfähigkeit) abhängig. jReihenfolge der Module
Des Weiteren wurde entsprechend bisheriger Erfahrungen die strenge Einhaltung der Modulreihenfolge kritisch hinterfragt. In diesem Zusammenhang möchten wir Ihnen einige Überlegungen vermitteln, die wir mit dieser Abfolge der Therapiebausteine verbinden. Besonders wichtig erscheint uns hier die Zweiteilung des Themas »Stress und Stressbewältigung«. Diese hat den Vorteil, dass der Umgang mit der körperlichen Stressreaktion im Therapieverlauf immer wieder aktualisiert und ergänzt wird. Der Patient muss nicht auf einen Schlag mehrere Stressbewältigungstechniken erlernen, sondern kann sich diese Schritt für Schritt begleitend zum Therapieverlauf aneignen. Des Weiteren haben wir bewusst den ersten Manualabschnitt mit konkreten Stressbewältigungstechniken, wie z. B. progressiver Muskelentspannung, und Aufmerksamkeitslenkungstechniken gefüllt. Beide lassen sich in der Regel relativ zügig vermitteln und umsetzen. Sie führen zudem oftmals zeitnah zu ersten Erfolgserlebnissen. Das unterstützt zugleich die Aufrechterhaltung der Therapiemotivation des Patienten.
Eine weitere Besonderheit besteht – im Vergleich zur gängigen Reihenfolge therapeutischer Techniken in Manualen bei anderen psychischen Störungsbildern – darin, dass die Reflexion eines psychobiologischen theoretischen Gesamtmodells der Entstehung und Aufrechterhaltung somatoformer Beschwerden erst am Ende des Manuals vorgesehen ist. Dies erfolgt vor dem Hintergrund, dass Patienten mit organmedizinisch geprägtem Erklärungsmodell zu Beginn der Behandlung nicht überfordert werden sollen und sich nicht zu früh in theoretischen Debatten über die Ursachen der erlebten Beschwerden verlieren sollen (und hierbei möglicherweise wertvolle therapeutische Arbeitszeit verschwenden). Anhand der Strategie des geleiteten Entdeckens kann der Patient über den gesamten Therapieverlauf immer wieder neue Erfahrungen sammeln, die seine zunächst häufig eher biomedizinisch geprägte Sichtweise zu seinen Beschwerden erweitert. Diese Erfahrungen können dann abschließend im Störungsmodell zusammengefasst werden, was der Patient dann in der Regel viel besser annehmen und internalisieren kann. Aus unserer Sicht erscheint es aber auch möglich, die Reihenfolge bestimmter therapeutischer Interventionen zu verändern. Bei einzelnen Patienten z. B., die ein sehr starkes Bedürfnis nach Transparenz des Behandlungsrationals aufweisen oder die bereits ein psychobiologisches Modell akzeptieren, kann die Besprechung eines derartigen Gesamtmodells eher an den Beginn der Therapie gestellt werden. Zudem muss berücksichtigt werden, dass es sich bei der Gruppe der Patienten mit somatoformen Beschwerden um eine extrem heterogene Patientenstichprobe handelt. Dementsprechend sind die Probleme, die bei jedem Betroffenen im Vordergrund stehen, individuell sehr verschieden. Bei dem einen Patienten stehen eine dysfunktionale Aufmerksamkeitslenkung und damit einhergehende somatosensorische Verstärkungsprozesse im Vordergrund, während bei einem anderen Patienten eher dysfunktionale Bewertungsprozesse vorrangig sind. Wie das Manual insbesondere bei Patienten mit eher monosymptomatischen funktionellen Syndromen angewendet werden kann und welche inhaltlichen Schwerpunktsetzungen empfehlenswert erscheinen, wird in 7 Abschn. 4.1.2 näher erläutert. jAnwendung bei Patienten mit perfektionistischen Persönlichkeitszügen
Ein weiteres gewisses »Risiko« des stark manualisierten Vorgehens hat sich aus unseren bisherigen Erfahrungen bei Personen mit deutlich ausgeprägten perfektionistischen Persönlichkeitszügen bzw. einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung ergeben. Gerade diese Personen zeigen ein hohes Engagement in der Umsetzung der einzelnen Therapieinhalte und Hausaufgaben. Bei diesen ver-
55 4.1 · Einführung in die Struktur des Manuals
meintlich »idealen Patienten« erscheint es aus unserer therapeutischen Erfahrung wichtig, das Muster einer »rigiden Pflichterfüllung« (z. B. in Form von perfekt ausgeführten Hausaufgaben) nicht zu sehr zu verstärken. Anstelle dessen sollten neue Erfahrungen ermöglicht werden, im Sinne eines fürsorglichen Umgangs mit sich selbst sowie der Berücksichtigung eigener Bedürfnisse, unabhängig von vermeintlichen externen Erwartungen. Bei dieser Patientengruppe hat sich zudem häufig gezeigt, dass bezüglich der dysfunktionalen Verhaltensweisen anstatt eines Schonungsverhaltens eher ein sehr exzessives, sich verausgabendes Verhalten vorliegen kann. Die Patienten versuchen entsprechend ihrer sehr hohen Maßstäbe trotz ihrer Beschwerden und damit einhergehenden Beeinträchtigungen ihren Alltag in perfektionistischer Weise zu meistern. Sie missachten dabei häufig die Signale ihres Körpers, die ihnen verdeutlichen, dass sie ihre Grenzen überschreiten. Wir haben in diesem Fall gute Erfahrungen damit gemacht, in den entsprechenden Sitzungen, die sich mit dem Thema »Schonungsverhalten« beschäftigen, auf dieses dysfunktional-exzessive Verhalten einzugehen. Dabei können genauso wie beim Schonungsverhalten positive und negative Konsequenzen der dysfunktionalen Verhaltensweisen hergeleitet und die beschriebenen Techniken zur Umstrukturierung von verhaltensbezogenen Kognitionen eingesetzt werden. Übungen zur Steigerung körperlicher Fitness sollten eher unter dem Aspekt »Ich tue etwas Gutes für mich, ich sorge für mich« vermittelt werden. Der Therapeut befindet sich dabei auf einer Gratwanderung, bei der er einerseits den Ehrgeiz des Patienten als Ressource und Stärke wertschätzen sollte. Andererseits sollte herausgearbeitet werden, dass ein zu starker Leistungsdruck, etwas besonders gut machen zu müssen, sich eher nachteilig auf die erfolgreiche Umsetzung der Übungen auswirken kann. Generell sehen wir die Manualisierung als Chance, zielgerichtet und effektiv somatoforme Beschwerden zu behandeln. Wir werden gegen Ende dieses Buches auf erste Studienergebnisse eingehen (7 Kap. 6), die als Hinweise auf die Wirksamkeit des Behandlungsmanuals gewertet werden können.
4.1.2
Empfehlungen für therapeutische Schwerpunktsetzungen bei der Behandlung monosymptomatischer funktioneller Syndrome
Das Behandlungsmanual richtet sich in erster Linie an Patienten mit multiplen körperlichen Beschwerden medizinisch unklarer Herkunft. In der Praxis treten bisweilen spezielle Konstellationen somatoformer Symptome auf, die in der entsprechenden Literatur auch als »funktionelle
(somatische) Syndrome« bezeichnet werden (z. B. Wessely et al. 1999; 7 Abschn. 1.2.2 und 7 Abschn. 1.3.1). Bis jetzt ist unklar, ob es sich bei diesen funktionellen Syndromen letztlich um die gleiche Art von Störung (im Sinne einer übergeordneten somatoformen Störung) lediglich mit anderem Namen handelt (Wessely et al. 1999) oder ob die diversen funktionellen Syndrome wirklich diskrete Störungsentitäten repräsentieren. Möglicherweise haben beide Sichtweisen ihre Berechtigung. So besteht zumindest eine hohe Komorbidität zwischen einzelnen funktionellen Syndromen und bestimmte fachärztliche Disziplinen präferieren einzelne funktionelle Syndrome als Label für medizinisch unerklärte Körperbeschwerden (Wessely et al. 1999). Zu den häufigsten funktionellen Syndromen zählen hierbei: 4 Reizdarmsyndrom, 4 chronisches Erschöpfungssyndrom, 4 idiopathische umweltbezogene Intoleranz (früher auch als multiple chemische Sensitivität bezeichnet), 4 Fibromyalgiesyndrom, 4 prämenstruelles Syndrom sowie 4 nichtkardiale Brustschmerzen. Das vorliegende Behandlungsmanual erscheint weitestgehend geeignet, auch diese funktionellen Syndrome erfolgreich zu behandeln, allerdings können bestimmte Schwerpunktsetzungen im Einzelfall erforderlich werden. So gehört beispielsweise das Reizdarmsyndrom mit einer Prävalenz von ca. 10% zu den häufigsten funktionellen Syndromen in der Bevölkerung. Patienten mit Reizdarmsyndrom zeigen häufig ein ausgeprägtes, agoraphobie-ähnliches Vermeidungsverhalten bezüglich Orten und Situationen, in denen keine Toilette schnell verfügbar ist. Darüber hinaus werden häufig bestimmte Nahrungsmittel vermieden, aus Angst und Sorge, dass diese zu einer gesteigerten Unruhe im Magen-Darm-Bereich führen könnten. Die Folge ist hierbei eine fortschreitende Sensibilisierung des Verdauungssystems aufgrund einer immer weiter eingeschränkten Nahrungsmittelpalette. Als Konsequenz reagiert der Magen-Darm-Bereich immer sensibler auf Normabweichungen, z. B. neue Nahrungsmittel. Nicht selten werden vor wichtigen Ereignissen Medikamente auch prophylaktisch verwendet (z. B. gegen Durchfall). Die geschilderte Problematik verdeutlicht, dass in der Behandlung des Reizdarmsyndroms zusätzliche Behandlungsziele und -elemente erforderlich sind. So gilt es insbesondere, das soziale und nahrungsmittelbezogene Vermeidungsverhalten mit Hilfe von Konfrontationen in vivo (z. B. längere Bahnfahrten in Regionalbahnen ohne Toilette, Essen in fremden Restaurants etc.) abzubauen. Ein eigener Behandlungsplan für jedes einzelne funktionelle Syndrom würde den Rahmen des vorliegenden Manuals sprengen. Zum Teil sind bereits hervorragende
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Kapitel 4 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
Manuale für solche spezifischen funktionellen Syndrome, wie z. B. das chronische Erschöpfungssyndrom verfügbar (z. B. Gaab u. Ehlert 2005). In . Tab. 4.2 ist eine kurze Übersicht zu finden, welche Behandlungsthemen und ziele bei einzelnen funktionellen Syndromen von zentraler Bedeutung sind. Diese sollen als Anregung dienen für spezifische, inhaltliche Schwerpunktsetzungen bei der Anwendung des vorliegenden Behandlungsmanuals auf funktionelle Syndrome.
4.2
Eingangsphase der Therapie
Bevor Patient und Therapeut mit den Therapiemodulen beginnen können, müssen zunächst in einer Eingangsphase die Ausgangsbedingungen für den Therapiebeginn geschaffen werden. Nach dem siebenstufigen Prozessmodell einer Psychotherapie nach Kanfer und Kollegen (2006) folgen vor der Planung, Auswahl und Durchführung spezieller therapeutischer Methoden zunächst mehrere Phasen mit den Zielen, u. a. eine kooperative PatientTherapeuten-Beziehung aufzubauen, Erwartungen des Patienten an die Therapie zu klären, das Problem des Patienten genau zu definieren bzw. abzuwägen, welche therapeutischen Interventionen für den Patienten als indiziert erscheinen. Bei der Arbeit mit Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden kann diese Eingangsphase durch verschiedene Besonderheiten geprägt sein, auf die in den folgenden beiden Abschnitten eingegangen wird.
4.2.1
Erstkontakt und Therapieerwartungen des Patienten
Eine Besonderheit im Erstkontakt mit Patienten mit somatoformen Beschwerden besteht im Vergleich zu anderen Störungsbildern darin, dass die Symptome des Patienten ein primär somatisches Erscheinungsbild haben. Der Psychotherapeut ist daher in der Regel nicht der erste Ansprechpartner in einer Behandlung. Häufig weisen die Patienten eine Vorgeschichte mit vielen Arztkonsultationen auf, bevor sie erstmalig einen Therapeuten aufsuchen. Daher ist es im Erstkontakt zunächst von besonderer Bedeutung, behutsam die Motivation und das Anliegen des Patienten für die Therapie zu explorieren. Hilfreich ist dabei, eine interessierte, offene, respektvolle bzw. »naive« Haltung einzunehmen. Sie unterstützen damit den Patienten vom Erstgespräch an, sich Sachverhalte und Zusammenhänge zu konkretisieren. Orientiert an Kanfer und Kollegen (2006) können dabei folgende Einstiegsfragen hilfreich sein.
Hilfreiche Fragen zum Einstieg in das Erstgespräch 4 Können Sie mir Ihr Anliegen bzw. Ihre Gründe nennen, warum Sie eine Psychotherapie aufsuchen? 4 Was war der Auslöser dafür, dass Sie zum jetzigen Zeitpunkt eine Psychotherapie in Anspruch nehmen möchten? 4 Von wem erhielten Sie die Empfehlung bzw. wer hat Sie überwiesen? Wie sind Sie auf unsere Institution aufmerksam geworden?
Mit Hilfe dieser Einstiegsfragen können erste Informationen dazu gewonnen werden, wo der Patient hinsichtlich seiner Krankheitseinsicht sowie Therapiemotivation steht. Patienten können mit einem ganz unterschiedlichen Problembewusstsein eine Psychotherapie aufsuchen. Während manche primär auf Anraten ihres Hausarztes zu einem Therapeuten gehen, ohne konkret zu wissen, warum ausgerechnet für ihre Beschwerden eine Psychotherapie hilfreich sein soll, kommen andere Patienten mit bereits biopsychosozial geprägten Vorstellungen zu ihren Beschwerden in den Erstkontakt. Dementsprechend können hinsichtlich der Motivation, am eigenen Verhalten etwas zu verändern, große interindividuelle Unterschiede vorliegen. Auch wenn das transtheoretische Modell der Verhaltensänderung (»Stages of Change Model«) nach Prochaska und DiClemente (1982; . Abb. 4.1) eigentlich aus der Therapie der Abhängigkeitserkrankungen stammt, kann es bezüglich der Änderungsmotivation in der Behandlung unerklärter Körperbeschwerden wertvolle Hinweise geben. So kann sich ein Patient z. B. noch in der ersten Phase (Präkontemplation) befinden, in der er kein Wissen über die psychobiologischen Zusammenhänge seiner Beschwerden hat bzw. diese nicht wahrhaben möchte und dementsprechend nicht motiviert ist, etwas an sich selbst zu verändern. Andererseits kann er sich auch schon in der nächsten Phase – der Kontemplation – befinden, in der er sich der Zusammenhänge seiner Beschwerden zu psychosozialen Faktoren bewusst wird und Veränderungen in seinem Problemverhalten in Erwägung zieht. > Die entscheidende Botschaft besteht darin, dass der Therapeut den Patienten »dort abholen sollte, wo er steht«.
Dieses »Abholen« gestaltet sich häufig am schwierigsten mit Patienten, die primär auf Anraten ihres Hausarztes eine Psychotherapie aufgesucht haben, zugleich jedoch Ambivalenz gegenüber psychotherapeutischen Interventionen signalisieren. Entsprechende Patienten weisen oftmals primär biomedizinisch geprägte Störungstheorien
57 4.2 · Eingangsphase der Therapie
. Tab. 4.2 Funktionelle Syndrome und zentrale Behandlungsthemen und -ziele Funktionelles Syndrom
Behandlungsthemen/-ziele
Reizdarmsyndrom (und Reizmagensyndrom)
– – – –
Chronisches Erschöpfungssyndrom
– Langsamer und sukzessiver Aufbau körperlicher Aktivität und Steigerung der körperlichen Fitness (s. hierzu Gaab u. Ehlert 2005)
Idiopathische umweltbezogene Intoleranz (früher: multiple chemische Sensitivität)
– Abbau von sozialem Vermeidungsverhalten – Ggf. systematische Desensibilisierung mit Hilfe von beschwerdeauslösenden Duftstoffen
Fibromyalgiesyndrom
– – – –
Abbau von schmerzverstärkender Überforderung Aufbau eines gesunden Aktivitätsniveaus (positive Aktivitäten, Entspannung etc.) Ggf. Abbau von schmerzförderndem Schonungs- und Vermeidungsverhalten Verminderung operanter, schmerzverstärkender Mechanismen
Prämenstruelles Syndrom
– – – –
Psychoedukation zur Funktionsweise des menstruellen Zyklus Ernährungsmanagement Aufbau positiver und sportlicher Aktivitäten Förderung positiver partnerschaftlicher Kommunikation
Nichtkardiale Brustschmerzen
– Abbau von Checking-Verhalten (z. B. regelmäßiges Pulsfühlen und Blutdruckmessen) – Abbau von exzessivem Inanspruchnahmeverhalten (vor allem bezüglich diagnostischer kardiologischer Untersuchungen) – Hinterfragung/Umstrukturierung katastrophisierender Interpretationen der Schmerzsymptome – Abbau von Schonungs- und Vermeidungsverhalten
Normalisierung der Ernährung Abbau von ernährungsbezogenem Schonungsverhalten Abbau von sozialem Vermeidungsverhalten Ggf. Abbau von Medikamentenmissbrauch (z. B. abführende Medikamente)
auf sowie ein starkes Bedürfnis nach Transparenz im therapeutischen Vorgehen. Im Folgenden werden einige wichtige Hinweise und Strategien erläutert, die den Umgang mit dieser besonderen Patientengruppe erleichtern können. jUmgang mit biomedizinischen Störungstheorien des Patienten im Erstkontakt
Aufgrund des primär somatischen Erscheinungsbildes der Beschwerden ist es nicht verwunderlich, dass Betroffene zu Beginn oftmals biomedizinische Vorstellungen zur Entstehung ihrer Symptome aufweisen. Sie können sich meist nicht erklären, warum sie zu einem Psychotherapeuten überwiesen wurden. In manchen Fällen kann diese Überweisung sich auch negativ auf die Arzt-Patienten-Beziehung auswirken, da sich der Patient als »psychisch krank« bzw. als »Simulant« stigmatisiert fühlt. Dann ist mit einer ausgeprägten skeptischen bzw. ablehnenden Haltung des Patienten gegenüber Psychotherapie zu rechnen. Um in diesem Fall den Weg in die Therapie zu ebnen, ist es wichtig, die Vorstellungen des Patienten zu seinen Beschwerden in interessierter und wertschätzender Weise zu explorieren. Eine zu frühe Betonung der Tatsache, dass neben biologischen Ursachen auch psychosoziale Aspekte in der Symptomentwicklung und -aufrechterhaltung eine wichtige Rolle spielen, sollte im Erstgespräch vermieden
werden. Betroffene können in diesem Stadium ein psychobiologisches Störungsmodell meist noch nicht annehmen und werten das Verhalten des Therapeuten als einen »Überzeugungsversuch«. Zudem kann sich der Patient unverstanden bzw. als »Simulant« abgestempelt fühlen. Dem Risiko, dass sich bereits im Erstkontakt eine unfruchtbare Ursachendiskussion entwickelt, kann also mit Hilfe einer interessierten und wertschätzenden Exploration der subjektiven Störungstheorien des Patienten entgegengewirkt werden. Der Patient soll sich ernst genommen und verstanden fühlen. Dafür können die folgenden Fragen hilfreich sein. Hilfreiche Fragen zur Exploration der subjektiven Störungstheorien des Patienten 4 Sie haben sich vielleicht schon Gedanken darüber gemacht, wodurch Ihre Beschwerden entstanden sind. Haben Sie Ideen oder Vermutungen? 4 Was hat Ihnen Ihr Hausarzt gesagt, wodurch Ihre Beschwerden entstanden sind? Wie denken Sie darüber? 4 Wenn Ihnen Ihr Hausarzt nicht gesagt hat, warum er Sie zu uns überwiesen hat, haben Sie vielleicht Vermutungen?
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Kapitel 4 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
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Exit Termination Stabiler Zustand ohne Problemverhalten
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Maintenance (Aktive) Beibehaltung einer Verhaltensänderung
Precontemplation Verhaltensänderung wird nicht in Erwägung gezogen Exit
Exit
Contemplation Eine Verhaltensänderung wird in Erwägung gezogen
Action Aktive Versuche, das Problemverhalten zu ä n d e rn
Exit
Preparation Absicht, das Problemverhalten aufzugeben
Exit
. Abb. 4.1 Die sechs Stufen der Verhaltensänderung des transtheoretischen Modells. (In Anlehnung an Prochaska u. DiClemente 1982)
Die Gefahr der so genannten Etikettierungsfalle, im Rahmen derer sich Therapeut und Patient schnell im Anheften eines »diagnostischen Etiketts« verfangen können, kann umgangen werden, indem Fachbegriffe wie »somatoform« oder »psychogen« im Erstkontakt vermieden werden. Sie können einerseits zu Irritation und Missverständnissen führen, da der Patient mit diesen Begriffen höchstwahrscheinlich nicht vertraut ist. Zugleich wecken sie Klärungsbedarf, der wiederum in eine Ursachendiskussion münden kann. jTransparenz von Therapiebeginn an
Insbesondere für Betroffene, für die unklar ist, warum eine Psychotherapie bei ihren Beschwerden hilfreich sein soll, ist die Transparenz in der Therapie vom ersten Kontakt an sehr bedeutsam. Nun stellt sich aber das Problem, wie man Transparenz bezüglich der Therapieinhalte und -ziele herstellen kann, ohne sich dabei in eine Ursachendiskussion zu den Beschwerden zu verfangen. Anstatt den Patienten direkt damit zu konfrontieren, dass eine Psychotherapie hilfreich sein kann, weil neben organischen auch psychosoziale Ursachen für die Körpersymptome vorliegen, kann Psychotherapie als ein »weiteres Behandlungsangebot« vermittelt werden. Dieses soll neue Perspektiven bezüglich der Beschwerden ermöglichen. Neue
Herangehensweisen an die Beschwerden können möglicherweise neue Wege eröffnen, wie der Patient sein Wohlbefinden unabhängig von den körperlichen Symptomen verbessern kann. Dabei sollte von Anfang an transparent gemacht werden, dass im Gegensatz zu medizinischen Therapien das eigentliche Behandlungsziel in einem verbesserten Umgang mit der Symptomatik und nicht in der Heilung im Sinne einer vollständigen Beseitigung aller Symptome liegt. Zugleich sollte dem Patienten verdeutlicht werden, dass er nichts zu verlieren hat, wenn er sich neben den bisherigen heilungsorientierten Behandlungsversuchen noch mal auf einen ganz anderen Weg einlässt. Dabei sollte natürlich darauf geachtet werden, dass der Patient keine kontraproduktiven alternativen Therapien verfolgt. Die konkrete Umsetzung des Vorgehens wird im folgenden Beispieldialog zwischen Patient (P) und Therapeut (T) deutlich. Beispiel P: Mir ist eigentlich noch nicht wirklich klar, wie mir bei meinen Beschwerden eine Psychotherapie weiterhelfen kann. Ich habe Schmerzen und kein Problem im Kopf. Ich glaube eher, dass ich hier fehl am Platz bin. T: Sie haben mir bereits einiges über die vielen Untersuchungen sowie Behandlungsangebote erzählt, die Sie we-
59 4.2 · Eingangsphase der Therapie
gen Ihrer Beschwerden in Anspruch genommen haben. Vielleicht hilft es Ihnen, Psychotherapie für Ihre Beschwerden als ein weiteres Behandlungsangebot bzw. als ein »Experiment« anzusehen, bei dem Sie nichts verlieren können. Sie probieren es aus und wenn Sie im weiteren Verlauf zu der Erkenntnis gelangen, dass es Ihnen nicht weiterhilft, haben Sie jederzeit die Möglichkeit, es zu beenden. P: Das ist schön und gut, aber mir ist trotzdem nicht klar, warum ausgerechnet Psychotherapie hilfreich sein soll. T: Im Gegensatz zu Ihren bisherigen Behandlungsversuchen stellt die Psychotherapie einen andersartigen Weg dar. Sie kann Ihnen neue Perspektiven zu Ihren Beschwerden vermitteln, die Ihnen bisher vielleicht noch nicht so bewusst waren. Damit kann sie Ihnen helfen, andere Wege auszuprobieren, damit es Ihnen besser geht. Dabei steht weniger das Ziel im Vordergrund, Ihre Beschwerden zu heilen, sondern Ihnen zu helfen, dass Sie wieder ein gutes Maß an Lebensqualität zurückgewinnen, unabhängig von Ihren Schmerzen. Diese Herangehensweise hatte bereits bei vielen anderen Patienten mit ähnlichen Symptomen, wie Sie sie erleben, Erfolg. In manchen Fällen kann dann eine veränderte, hilfreichere Umgangsweise mit den Beschwerden langfristig sogar zu einer Verminderung der Schmerzen führen. P: Ich kann mir nicht vorstellen, Lebensqualität zurückzugewinnen, ohne dass meine Schmerzen endlich aufhören. T: Das kann ich gut verstehen. Psychotherapie bedeutet ja auch nicht zwangsläufig, dass Sie sich von der Hoffnung verabschieden müssen, dass irgendwann ein Weg gefunden wird, wie Ihre Schmerzen reduziert, bestenfalls sogar geheilt werden können. Leider ist dieser Weg derzeit nicht verfügbar. Trotzdem soll es Ihnen wieder besser gehen. Dementsprechend lohnt es sich vielleicht umso mehr, mehrgleisig zu fahren, und neben den Behandlungswegen, die Sie bisher genutzt haben, noch mal einen ganz neuen Ansatz auszuprobieren. Sie müssen deswegen den anderen Weg nicht aufgeben. P: Das klingt plausibel. Eigentlich kann ich nichts verlieren. Es ist zumindest einen Versuch wert. T: Sie können es sich ja in Ruhe durch den Kopf gehen lassen und wir können in der kommenden Sitzung noch mal darüber sprechen.
Wichtig ist dabei, dem Patienten zu jeder Zeit Autonomie hinsichtlich seiner Entscheidung für oder gegen dieses Behandlungsangebot einzuräumen. Um seine Motivation für die Behandlung jedoch indirekt zu steigern, können dem Patienten die positiven Folgen einer kognitiven Verhaltenstherapie verdeutlicht werden. Diese können zugleich den Beschwerden und dem Leidensdruck, die der Patient aktuell erlebt, gegenübergestellt werden. Entscheidend ist, dass der Therapeut bei solchen Gesprächen viel
Geduld aufbringt und keinen Druck aufbaut. Wie bereits in 7 Abschn. 1.4.4 deutlich wurde, haben unerklärte Körperbeschwerden ein erhöhtes Risiko zu chronifizieren. Viele Patienten, die eine Psychotherapie aufsuchen, leiden bereits seit vielen Jahren an ihren Beschwerden und können sich ein Leben, in dem die Körpersymptome nicht im Vordergrund stehen, kaum noch vorstellen. Es erscheint dementsprechend verständlich, dass eine solche Entscheidung vielen Patienten nicht leicht fällt. jAufklärung über Grundprinzipien der kognitiven Verhaltenstherapie
Neben unrealistischen Vorstellungen der Patienten hinsichtlich der Behandlungsergebnisse kommt der Patient möglicherweise auch mit »Mythen« zum therapeutischen Vorgehen in den Erstkontakt. Vorstellungen wie z. B., dass über die Beschwerden und Belastungen im Alltag ausschließlich geredet wird oder die Therapie aus »Gesprächen über Kindheitsprobleme und -erlebnisse« besteht, sind nicht selten. So sollten im Erstkontakt mit dem Patienten auch dessen Erwartungen und Vorstellungen zur Wirkungsweise und Wirksamkeit von Psychotherapie exploriert werden. Entsprechend dem Transparenzkonzept sollte von Therapiebeginn an verdeutlicht werden, dass die Therapie neben der Unterstützung seitens des Therapeuten viel Eigenengagement des Patienten voraussetzt. Im Gegensatz zu der Vorstellung, nur gemeinsam Gespräche zu führen und »passiv« zu bleiben, sollte der Patient sich im Klaren sein, dass er die Strategien, die er vermittelt bekommt, aktiv üben und mit ihnen experimentieren muss. Nur so kann er für sich selbst einen guten Weg finden, das Erlernte nutzbar zu machen. In diesem Sinne sollte die Rollenverteilung von Therapeut und Patient von Therapiebeginn an transparent gemacht werden. Die Vorstellung, dass Psychotherapie primär an der Kindheitsgeschichte ansetzt, sollte durch den Hinweis relativiert werden, dass kognitive Verhaltenstherapie primär an den Problemen des Patienten in der Gegenwart ansetzt. Kindheitserfahrungen bzw. sämtliche Erfahrungen in der Vorgeschichte spielen zwar eine wichtige Rolle, um sich ein individuelles Störungsmodell herleiten zu können, sie stellen allerdings nicht den Hauptansatzpunkt für therapeutische Interventionen dar. Das folgende Formulierungsbeispiel kann eine Hilfestellung sein, um die Prinzipien der kognitiven Verhaltenstherapie zu vermitteln. Formulierungsbeispiel zur Vermittlung der Vorgehensweise der kognitiven Verhaltenstherapie Wir führen in unserer Institution die so genannte kognitive Verhaltenstherapie durch. Ein grundlegendes Merkmal dieser Therapieform besteht darin, dass sie an Problemen des Patienten in der Gegenwart ansetzt und ver-
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Kapitel 4 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
sucht, Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. Da eine Psychotherapie Ihre körperlichen Beschwerden nicht direkt verändern bzw. heilen kann, ist das primäre Ziel, im Hier und Jetzt Ihre Lebensqualität sowie Ihr Wohlbefinden unabhängig von den körperlichen Symptomen wiederherzustellen. Sie sollen die Möglichkeit erhalten, sich wieder auf die wichtigen Dinge in Ihrem Leben konzentrieren zu können, und die körperlichen Beschwerden sollen Ihr Leben nicht mehr so dominieren wie bisher. Ein damit einhergehender positiver Effekt kann darin bestehen, dass sich Ihre körperlichen Symptome reduzieren bzw. Sie nicht mehr so beeinträchtigen. Dafür wird es notwendig sein, dass Sie versuchen, die Techniken, die Sie während der Therapie erlernen, über die Therapiesitzungen hinaus selbstständig anzuwenden und mit ihnen zu experimentieren. Da es kein »Rezept« gibt, das für alle gleich wirksam ist, müssen Sie selbst für sich herausfinden, wie Sie das Erlernte in Ihren Alltag integrieren können. Der Therapeut hat dabei die Funktion, Ihnen »das Werkzeug an die Hand« zu geben und Sie bei der Umsetzung bzw. dabei eintretenden Schwierigkeiten zu unterstützen. Es wird also deutlich, dass die Rolle des Patienten in der kognitiven Verhaltenstherapie eine sehr aktive Rolle darstellt. Nur so hat die Behandlung eine Chance, wirksam zu sein. Gespräche über Ihre Vergangenheit bzw. Ihre Kindheit stehen bei der kognitiven Verhaltenstherapie nicht im Vordergrund. Sie stellen allerdings einen wichtigen Teil des Therapieabschnitts dar, in dem wir gemeinsam versuchen werden, ein Modell zur Entstehung und Aufrechterhaltung Ihrer Beschwerden zu entwickeln.
jMedizinisches Grundwissen
Um Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden zu behandeln, ist es nicht notwendig, ein Experte für medizinische Fragen im Zusammenhang mit den jeweiligen körperlichen Symptomen zu sein. Im Erstgespräch wie auch im weiteren Therapieverlauf (z. B. in psychoedukativen Behandlungsabschnitten) kann es aber hilfreich sein, auf ein medizinisches Grundwissen zu den Symptomen des Patienten zurückgreifen zu können. Dies unterstützt die Professionalität und Glaubwürdigkeit des Therapeuten. Insbesondere bei Patienten, die einhergehend mit körperlichen Beschwerden auch ausgeprägte hypochondrische Ängste aufweisen, hilft ein gewisses medizinisches Grundwissen, die Ängste der Patienten besser einschätzen zu können. Zudem kann besser bewertet werden, inwieweit bestimmte Verhaltensweisen der Patienten als funktional bzw. dysfunktional einzustufen sind (Bleichhardt u. Weck 2011). Wichtig ist dabei, dass der Therapeut aber zugleich seine fachlichen Grenzen betont und weiterhin den Arzt sowie den Patienten als Experten für die Körperbeschwerden respektiert. Entsprechendes Grundwissen kann aus medizinischer Fachliteratur bezogen werden (z. B. findet
sich eine ausführliche Einführung in verschiedene schmerzbezogene Störungsbilder bei Kröner-Herwig et al. 2007). Es kann auch interessant sein, einen Blick in Internetportale zu werfen, die von Patienten häufig aufgesucht werden (z. B. http://www.netdoktor.de). jBasisstrategien für den Anfang
Für die Kommunikation mit dem Patienten im Erstkontakt, aber auch im weiteren Therapieverlauf kann die Berücksichtigung einiger grundlegender Techniken aus der motivierenden Gesprächsführung (»motivational interviewing«; Miller u. Rollnick 2004) hilfreich sein. Sie sind insbesondere für Patientengruppen, bei denen eine gewisse Ambivalenz gegenüber Psychotherapie und damit einhergehenden Veränderungen des eigenen Verhaltens anzutreffen sind, besonders wertvoll. Offene Fragen stellen Für Patienten mit unerklärten Kör-
perbeschwerden, die oftmals die Vorerfahrung gemacht haben, nicht ernst genommen zu werden, ist es besonders wichtig, im Erstgespräch Verständnis zu erfahren. Um dies zu erreichen, können offen gestellte Fragen zu den Beschwerden und Erwartungen der Patienten hilfreich sein. Sie vermitteln eine interessierte, verständnisvolle Therapeutenhaltung. Aktives Zuhören Nach Thomas Gordon (zitiert nach Miller u. Rollnick 2004) existieren 12 verschiedene Arten so genannter Kommunikationssperren. Zu diesen zählen u. a. Belehren bzw. Vorhaltungen machen, Zureden bzw. Moralisieren oder Kritisieren. Sie können nach einer (offen) gestellten Frage eher blockierend bzw. ablenkend wirken. Ist eine (offene) Frage gestellt, besteht der nächste Schritt in aktivem Zuhören. Dabei ist entscheidend, dass der Therapeut die Bedeutung dessen, was der Patient gesagt hat, einschätzt. Er sollte dementsprechend das, was er als Bedeutung des Gesagten verstanden hat, in eigenen Worten wiedergeben. Damit bietet der Therapeut dem Patienten eine Aussage an, die das, was er verstanden hat, beinhaltet, ohne dass diese Rückmeldung zu einer Kommunikationssperre wird. Bestätigen Zur Förderung einer offenen Exploration und des Aufbaus von Vertrauen des Patienten zum Therapeuten kann eine direkte Bestätigung des Patienten hilfreich sein. Diese kann in Form von Anerkennung oder Verständnis vermittelnden Aussagen erfolgen.
Beispiele für bestätigende Aussagen 4 Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie aufgrund Ihrer Beschwerden im Alltag stark beeinträchtigt sind. 4 Das ist ein Zeichen von Stärke, dass Sie sich heute auf das Gespräch mit mir eingelassen haben, obwohl Sie
61 4.2 · Eingangsphase der Therapie
überhaupt nicht wissen, was Sie in einer Therapie erwarten wird. 4 Ich danke Ihnen, dass Sie heute so offen mit mir über Ihre Beschwerden gesprochen haben. Zusammenfassen Zusammenfassungen in eigenen Worten haben mehrere positive Auswirkungen auf die Therapeuten-Patienten-Kommunikation. Sie verstärken einerseits das Gesagte. Des Weiteren demonstrieren sie, dass Sie als Therapeut aufmerksam zugehört haben und motivieren zugleich den Patienten fortzufahren. Sie können zudem Gesprächsthemen miteinander verbinden und Struktur im Gespräch schaffen. Change talk Die bisher erläuterten Kommunikationstech-
niken schaffen eine wichtige Grundlage für die Auflösung der Ambivalenz des Patienten. Dies allein führt aber noch nicht zu einer Reduktion von Ambivalenz. Dafür ist eine Kommunikationstechnik wie Change talk wichtig. Im Gegensatz zu einem konfrontativen Vorgehen soll es dem Patienten ermöglicht werden, selbst Argumente für eine Therapie und eine Veränderung zu sammeln und zu äußern. Bei einem konfrontativen Vorgehen wird der Gesprächspartner genötigt, die Position, die gegen eine Veränderung oder neue Sichtweise spricht, zu verteidigen. Wird etwa ein Patient mit biomedizinischen Grundannahmen zu seinen unerklärten Körperbeschwerden gleich im Erstkontakt damit konfrontiert, dass seine Symptome auch psychosoziale Ursachen haben können und dementsprechend eine Psychotherapie notwendig ist, wird er sich automatisch in die Verteidigungsposition begeben. Natürlich stellt Change talk nicht nur eine wichtige Kommu-
nikationsstrategie im Erstkontakt, sondern über den gesamten Therapieverlauf dar. Er umfasst folgende vier Komponenten: 4 Erkennen der Nachteile des Status quo (z. B. »Aufgrund meiner Schmerzen bin ich im Privaten wie auch im Beruflichen stark eingeschränkt.«), 4 Erkennen der Vorteile einer Veränderung bzw. neuen Sichtweise (z. B. »Wenn ich es schaffen würde, meine Schmerzen mehr in den Hintergrund treten zu lassen, könnte ich zumindest teilweise meine alte Lebensqualität wiederherstellen.«), 4 Entwicklung von Zuversicht bezüglich einer Veränderung (z. B. »Wenn ich meine Übungen regelmäßig durchführe, kann ich es schaffen.«) sowie 4 Entwicklung einer Veränderungsabsicht (z. B. »Ich glaube, es ist an der Zeit, nicht allein auf eine Wunderpille zu hoffen, sondern etwas in meinem Leben bzw. an mir selbst zu verändern.«). Während die letzten beiden Komponenten eher im späteren Therapieverlauf eine wichtige Rolle spielen, können die ersten beiden Prinzipien auch schon im Erstkontakt bzw. in der Einführungsphase der Therapie bedeutsam sein, z. B. wenn der Therapeut die aktuellen Beschwerden und Beeinträchtigungen des Patienten exploriert und ihm Inhalte und Ziele einer Therapie vermittelt. Unter Berücksichtigung der erläuterten Besonderheiten im Erstkontakt mit Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden sollten die in der folgenden 7 Übersicht genannten grundlegenden Fragen im Erstgespräch geklärt werden (orientiert an Wendisch u. Neher 2003).
Wichtige Fragen, die im Erstgespräch geklärt werden sollten 4 Fragen zum aktuellen Anlass des Aufsuchens der Psychotherapie – Aktueller Anlass für Behandlungswunsch? – Klärung des Zuweisungskontexts? 4 Störungsanalyse und Vorbehandlungen – Welche körperlichen Beschwerden weist der Patient auf? – Handelt es sich um ein einzelnes spezifisches Symptom, um ein monosymptomatisches oder ein polysymptomatisches Syndrom? – Liegen Befunde medizinischer Untersuchungen zu diesen Beschwerden vor? – Wie lange bestehen die Beschwerden bereits? – Traten die Beschwerden seit ihrem Beginn kontinuierlich auf oder gab es auch symptomfreie Zeitabschnitte?
– Wie verhalten sich die Beschwerden im Tagesverlauf? Liegen Schwankungen in der Intensität vor? – Zu welchen Beeinträchtigungen bzw. Einschränkungen führen die Beschwerden (im Beruflichen wie auch Privaten)? – Wie geht das soziale Umfeld mit den Beschwerden des Patienten um? – Gehen die Beschwerden mit bestimmten Verhaltensweisen (Schonungs- und Vermeidungsverhalten, Inanspruchnahmeverhalten medizinischer Dienste, Body-Checking) einher? – Welche Veränderungs- bzw. Behandlungsversuche hat der Patient bereits durchgeführt? Welchen Erfolg hatten diese? 6
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Kapitel 4 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
– Nimmt der Patient aktuell Medikamente ein? Wenn ja, welche und in welcher Dosierung? Sind die Medikamente ärztlich verordnet? – Hat der Patient körperliche Grunderkrankungen (unabhängig von den somatoformen Beschwerden)? – Welche Erklärung hat der Patient für seine Beschwerden? – Ergeben sich Hinweise auf komorbide Störungen (erste Grobabklärung)? 4 Biographie – Wie sieht die aktuelle Lebenssituation (berufliche Situation, Partnerschaft, Familie, Hobbys, soziales Netzwerk, Ressourcen) des Patienten aus?
4.2.2
Besonderheiten im weiteren Verlauf
jTherapieindikation
Wie bereits in 7 Abschn. 1.4.3 angesprochen wurde, liegt bei Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden ein erhöhtes Risiko vor, komorbide psychische Störungen zu entwickeln. Dazu zählen insbesondere Angst- und affektive Störungen, aber auch Persönlichkeitsstörungen scheinen vermehrt mit somatoformen Symptomen einherzugehen. Für den Therapieprozess spielt es eine entscheidende Rolle, diagnostisch abzuklären, inwieweit es sich primär um eine somatoforme Symptomatik handelt bzw. ob differenzialdiagnostisch die Körpersymptome eher eine sekundäre Begleiterscheinung einer anderen psychiatrischen Primärdiagnose darstellen. Zudem muss geklärt werden, inwieweit es sich um eine polysymptomatische bzw. monosymptomatische Erscheinung handelt. Für die Entwicklung eines erfolgversprechenden Therapieplanes zum Abschluss der Therapieeingangsphase stellen eine gute Diagnostik sowie die daraus abgeleitete Therapieindikation die entscheidende Grundlage dar. Hinweise zu den Schritten und Hilfsmitteln des diagnostischen Vorgehens wurden bereits ausführlich in 7 Abschn. 1.3 beschrieben. Es muss an dieser Stelle betont werden, dass das strukturierte, manualisierte Vorgehen, so wie es in 7 Kap. 5 beschrieben wird, für Patienten, die unerklärte Körperbeschwerden als Primärproblematik aufweisen, gedacht ist. Liegen zusätzlich komorbide Störungen vor, sollte der Therapieplan flexibilisiert werden. Module des vorliegenden Manuals können ggf. mit Therapiekomponenten, die bei den entsprechenden komorbiden Störungsbildern empfohlen werden, kombiniert werden. Stellen die unerklärten Körpersymptome nur Begleiterscheinungen anderer Primärdiagnosen dar, sollte vorrangig die Primärstörung behan-
– Liegen besondere Belastungsereignisse in der Vorgeschichte vor, die möglicherweise mit der Symptomatik in Zusammenhang stehen können? 4 Erwartungen – Erste Erwartungsklärung an die Psychotherapie 4 Abschlusssituation – Fragen des Patienten zum Therapieverlauf – Aufklärung zu Grundprinzipien der kognitiven Verhaltenstherapie – Hat der Patient Ergänzungen zum bisher Gesagten? – Besprechung des weiteren Vorgehens – Gegebenenfalls Schweigepflichtsentbindung für behandelnden Arzt
delt werden. Dabei können natürlich passende Module des vorliegenden Manuals in die Therapie integriert werden. Das Vorliegen monosymptomatischer funktioneller Syndrome (z. B. Fibromyalgie, chronisches Erschöpfungssyndrom, Reizdarmsyndrom) kann eine bestimmte inhaltliche Schwerpunktsetzung in der Therapieplanung erfordern, wie in 7 Abschn. 4.1.2 dargestellt. Des Weiteren sollte die Therapieeingangsphase dazu genutzt werden, den Patienten ausführlich über die Grundprinzipien des kognitiv-verhaltenstherapeutischen Vorgehens zu informieren (7 Abschn. 4.2.1). > Es ist wichtig, dass der Patient für sich die Entscheidung trifft, sich auf diese Therapieform einzulassen und ausreichend Motivation aufweist, sich in die Therapie aktiv einzubringen und an sich selbst etwas zu verändern.
Wird deutlich, dass der Patient sich trotz verschiedener Versuche, Veränderungsmotivation aufzubauen, nicht auf diesen Therapieansatz einlassen kann, sollte ernsthaft hinterfragt werden, ob nicht eine andere Therapierichtung (z. B. eine Gesprächstherapie) für ihn geeigneter erscheint. Das gleiche ist der Fall, wenn der Patient großen Wert darauf legt, Kindheitserfahrungen, die möglicherweise im Zusammenhang mit den unerklärten Körperbeschwerden stehen, in einer Therapie aufzuarbeiten. Hier könnte dem Patienten eine tiefenpsychologisch fundierte Therapie empfohlen werden. Entscheidend für die beiden zuletzt genannten Fälle ist, dass der Patient ausreichend über das therapeutische Vorgehen aufgeklärt wird und ihm genügend Spielraum gegeben wird, um eine Entscheidung für oder gegen eine kognitiv-behaviorale Therapie zu treffen.
63 4.2 · Eingangsphase der Therapie
jKooperation mit behandelnden Ärzten
In der Therapie unerklärter Körperbeschwerden existieren mehrere Gründe, warum die enge Kooperation zwischen Arzt und Therapeut besonders bedeutsam ist. Wie bereits mehrfach erwähnt, erscheinen für den Patienten primär Haus- bzw. Fachärzte als erste Ansprechpartner und Anlaufstelle geeignet. Aufgrund einer häufig langen Vorgeschichte an ärztlichen Untersuchungen ist davon auszugehen, dass der behandelnde Arzt den Patienten und seine Beschwerden bereits über einen langen Zeitraum kennt. Des Weiteren spielt im Rahmen der Therapie unerklärter Körperbeschwerden die ärztliche Abklärung der Beschwerden eine besondere Rolle. Im deutschen Gesundheitswesen wird daher auch der so genannte Konsiliarbericht bei der Beantragung einer Psychotherapie gefordert, der Auskunft über mögliche organische Ursachen einer psychischen Problematik geben soll. Ein weiterer wichtiger Grund besteht darin, dass es für eines der Haupttherapieziele – die Erweiterung der primär biomedizinischen Perspektive des Patienten um psychosoziale Aspekte –wichtig ist, dass Therapeut und Arzt gemeinsam »an einem Strang therapieren«. Wenn Aussagen des Therapeuten und des Arztes im Widerspruch zueinander stehen, kann das zu starker Verunsicherung des Patienten führen bzw. langfristig den Patienten dazu nötigen, Partei für die »medizinische« oder »psychologische« Perspektive zu ergreifen. Eine kooperative Arzt-Therapeut-Beziehung, einschließlich eines regelmäßigen Austausches, kann dies verhindern. Die erläuterten Gründe, eine gute Kooperation zum Hauptbehandler des Patienten herzustellen, legen eine Kontaktaufnahme mit dem Hausarzt bereits nach dem Erstgespräch nahe. Nach Einholung der Schweigepflichtsentbindung seitens des Patienten sollte ein kurzer Arztbrief an den Haus- bzw. Facharzt versendet werden. jVerhaltensanalyse
Zur Vorbereitung der eigentlichen therapeutischen Interventionen ist in der Therapieeingangsphase eine ausführliche Verhaltensanalyse notwendig. Diese stellt eine wichtige Komponente einer jeden kognitiven Verhaltenstherapie dar. In der Regel bildet sie die Grundlage für die Herleitung eines Störungsmodells sowie der Therapieziele. Neben dieser allgemeinen Funktion hat sie in der Therapie von Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden aber auch die Aufgabe, einen Grundstein dafür zu legen, die oftmals biomedizinischen Erklärungen des Patienten um psychosoziale Komponenten zu erweitern. Sie ermöglicht, dass der Patient durch geleitetes Entdecken anhand von Alltagserfahrungen die Zusammenhänge zwischen seinen Beschwerden und psychosozialen Aspekten erlebt. Die Verhaltensanalyse stellt zudem einen wichtigen Bestandteil des Berichts an den Gutachter für den Therapieantrag dar. Bei unerklärten Körperbeschwerden liegt ihr
Schwerpunkt meist auf den problematischen emotionalen wie auch verhaltensbezogenen Reaktionen auf die körperlichen Symptome. Im Folgenden finden Sie ein Beispiel für eine Verhaltensanalyse eines Patienten mit somatoformen Beschwerden. Sie orientiert sich an dem klassischen SORCK-Schema nach Kanfer und Saslow (1965), das zwischen Situation (S), Organismusvariablen (O), (problematischen) Verhaltensreaktionen (R), Kontingenz (C) sowie Konsequenzen (K) unterscheidet. Beispiel: Verhaltensanalyse bei einem Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden Es handelt sich um einen Patienten mit unerklärten Schmerzen in der linken Schulter sowie in der linken Brust. 4 Situation – Der Patient sitzt zu Hause und liest. Er nimmt eine Intensivierung seiner Schmerzen in der linken Schulter wahr, die in die linke Brust ausstrahlt. 4 Organismusvariablen: Erhöhte allgemeine Ängstlichkeit seit der Kindheit, einen Grundsatz, den der Patient von seiner Mutter vermittelt bekommen hat: »Körperliche Veränderungen können gefährlich und bedrohlich sein, sie müssen sehr ernst genommen werden.« – Versterben der Mutter an einem Herzinfarkt vor 2 Jahren. – Erhöhte Sensibilität gegenüber körperlichen Prozessen. – Passivität und mangelnde Selbstwirksamkeit hinsichtlich einer eigenaktiven Bewältigung seiner Beschwerden. 4 Reaktionen – Emotional: Angst, Hilflosigkeit, Verzweiflung, Ärger. – Physiologisch: innere Anspannung, weitere Schmerzintensivierung. – Kognitiv: »Jetzt wird das schon wieder schlimmer! Was soll ich nur tun? Was mache ich, wenn es nicht besser wird? Vielleicht ist doch etwas am Herz nicht in Ordnung? Soll ich den Notarzt rufen?« – »Ich nehme jetzt erst mal ein Schmerzmittel und ruhe mich aus.« – »Das ist so ärgerlich, dass es ausgerechnet jetzt wieder losgeht. Dann muss ich Bernd nachher absagen. Es bringt einfach nichts, wenn ich mich in dem Zustand mit ihm treffe, das macht alles nur noch schlimmer.« – »Ich werde am Montag gleich zum Hausarzt gehen.« – Motorisch-behavioral: Patient hört auf zu lesen und holt sich eine Schmerztablette, die ihm sein Hausarzt für Bedarfsfälle verschrieben hat. Bevor er sich hinlegt, ruft er seinen Freund Bernd an und sagt das geplante Treffen ab.
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Kapitel 4 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
4 Konsequenzen – C+: Kurzfristig erlebt der Patient durch sein Verhalten eine Beruhigung. – C–: Die Schmerzmittel führen dazu, dass die Beschwerden zeitnah zurückgehen. – C+: Er verzichtet auf das Treffen mit seinem Freund, wodurch er eine Möglichkeit, positive Ablenkung zu erfahren, verpasst. – C–: In der Ruhesituation verstärkt sich die Aufmerksamkeit auf die körperlichen Beschwerden sowie das negative Grübeln über die Symptome. Die Stimmung verschlechtert sich weiter. Langfristig führt das Verhalten des Patienten dazu, dass er sich aus seinem sozialen Netzwerk immer mehr zurückzieht. Das Schonungsverhalten impliziert langfristig, dass sich die physische Kondition des Patienten verschlechtert. Sein Selbstvertrauen, mit seinen Beschwerden umgehen zu können, sinkt zunehmend.
Unter Berücksichtigung der hier aufgeführten Besonderheiten kann nach dem Abschluss der Eingangsphase mit den Therapiemodulen begonnen werden. Diese werden mit der Herleitung der Therapieziele und der Erstellung des Therapieplanes eingeleitet. Auf die Formulierung von Therapiezielen wird genauer in 7 Abschn. 5.1 – dem ersten Modul des vorliegenden Einzeltherapiemanuals – eingegangen. Als Grundlage für die Erstellung des Therapieplans dienen das Gesamtmanual (7 Kap. 5) sowie zusätzliche Hinweise zur Anwendung des Manuals in 7 Abschn. 4.1.
65 5.2 · Beschreibung
5
Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden: Therapeutische Phase 5.1
Modul 1: Behandlungsmotivation – 66
5.1.1
Sitzung 1 – 66
5.2
Modul 2: Stress und Stressbewältigung (Teil 1) – 67
5.2.1 5.2.2
Sitzung 2 – 67 Sitzung 3 – 70
5.3
Modul 3: Aufmerksamkeit – 74
5.3.1 5.3.2 5.3.3
Sitzung 4 – 74 Sitzung 5 – 77 Sitzung 6 – 79
5.4
Modul 4: Bewertungsprozesse – 81
5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5
Sitzung 7 – 81 Sitzung 8 – 84 Sitzung 9 – 87 Sitzung 10 – 89 Sitzung 11 – 92
5.5
Modul 5: Krankheitsverhalten – 94
5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.5.4
Sitzung 12 – 94 Sitzung 13 – 96 Sitzung 14 – 98 Sitzung 15 – 100
5.6
Modul 6: Stress und Stressbewältigung (Teil 2) – 102
5.6.1 5.6.2 5.6.3 5.6.4
Sitzung 16 – 102 Sitzung 17 – 104 Sitzung 18 – 107 Sitzung 19 – 110
5.7
Modul 7: Störungsmodell – 112
5.7.1
Sitzung 20 – 112
5.8
Kasuistik – 114
M. Kleinstäuber et al., Kognitive Verhaltenstherapie bei medizinisch unerklärten Körperbeschwerden und somatoformen Störungen, DOI 10.1007/978-3-642-20108-0_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
66
Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
5.1
Modul 1: Behandlungsmotivation
5.1.1
Sitzung 1
Inhalte und Materialien der 1. Sitzung
5
4 Inhalte – Vorstellung der Therapieinhalte – Zielklärung: Phantasiereise – Zielformulierung – Sinn und Zweck von Hausaufgaben – Hausaufgabe: Ausarbeitung von Arbeitsblatt 1.2 (Meine persönlichen Therapieziele) 4 Materialien – Arbeitsblatt 1.1: Inhalte der Behandlung – Arbeitsblatt 1.2: Meine persönlichen Therapieziele – Schnellhefter für den Patienten
jVorstellung der Therapieinhalte
Zu Beginn der Stunde ist es empfehlenswert, dem Patienten einen Schnellhefter für seine Therapieunterlagen zur Verfügung zu stellen. Im Anschluss wird ein grober Überblick über Inhalte und Ablauf der Therapie gegeben. Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 1.1 (Inhalte der Behandlung). Der Therapeut erläutert kurz die einzelnen Stichworte. jZielklärung: Phantasiereise
Nun kann eine Phantasiereise zur Klärung von Therapiezielen durchgeführt werden. Das folgende Instruktionsbeispiel kann als Grundlage für diese Übung dienen. kInstruktion: Phantasiereise zur Generierung von Therapiezielen
Im Folgenden möchte ich mit Ihnen eine kleine Phantasiereise unternehmen, die es Ihnen etwas greifbarer machen kann, wie ein Leben mit weniger Belastung durch die Beschwerden aussehen kann. Diese Phantasiereise hat zum Ziel, positive Zukunftsperspektiven zu entwickeln, auch wenn diese im Moment unrealistisch erscheinen, vielleicht sogar eine Utopie darstellen mögen. Versuchen Sie trotzdem, sich auf die Vorstellungsbilder einzulassen! Ich bitte Sie nun, es sich auf Ihrem Stuhl bequem zu machen. Setzen Sie sich entspannt hin. Versuchen Sie, ruhig und tief ein- und auszuatmen. Wenn Sie möchten, schließen Sie die Augen. Kommen Sie langsam zur Ruhe. Stellen Sie sich nun vor, Sie sitzen in einem Raum, in dem Sie sich sehr wohl fühlen … Vor Ihnen steht ein großer Koffer, der geöffnet ist … Versuchen Sie nun, all das, was Sie an Last und Einschränkung durch Ihre körperlichen Beschwerden empfinden, in diesen
Koffer zu legen. Packen Sie alles, was Ihre Lebensfreude einengt, hinein. Wenn Sie das Gefühl haben, alles Belastende verstaut zu haben, dann schließen Sie den Koffer. Nun öffnet sich die Tür und ein Gepäckträger kommt hinein. Schweigend nimmt er den Koffer und trägt ihn hinaus. Nun, da der Koffer weg ist, fühlen Sie sich frei und unbelastet. Genießen Sie das Gefühl, befreit zu sein. Und es kommt Ihnen so vor, als ob eine schwere Last von Ihnen gefallen sei … Nun stehen Sie in Gedanken auf und gehen leicht und unbeschwert im Raum umher. Nachdem Sie ein wenig umhergewandert sind, öffnen Sie die Tür und verlassen den Raum. Gehen Sie in Gedanken nun zu einem Menschen, der Ihnen nahesteht. Gehen Sie zu einem Ihrer Familienangehörigen, zu Ihrem Partner, zu Ihren Kindern oder auch zu einem Ihrer Freunde. Suchen Sie sich jemanden heraus, der Ihnen persönlich nahesteht. Was ist nun, wenn Sie ohne Einschränkung durch Ihre körperlichen Beschwerden vor dieser Person stehen? Wie wird sich diese Person Ihnen gegenüber verhalten? Was wird sich in Ihrer Beziehung zu dieser Person geändert haben? Was wird dieser Person an Ihnen auffallen? Wird Sie etwas zu Ihnen sagen? Frei und unbeschwert verlassen Sie nun diese Person und besuchen nun Ihren Arbeitsplatz (wenn Sie keine Arbeit haben, dann stellen Sie sich Ihren normalen Alltag vor). Was wird anders sein, wenn Sie sich nicht mehr durch Schmerzen oder andere körperliche Beschwerden eingeschränkt fühlen? Welche Arbeiten werden Sie wieder erledigen können? Was wird sich ändern? Verlassen Sie nun in Gedanken Ihren Arbeitsplatz und stellen Sie sich Ihr Freizeitleben vor. Was werden Sie machen können? Welchen Aktivitäten werden Sie nachgehen? Wie werden Sie Ihre Wochenenden gestalten? Gibt es vielleicht etwas, was Sie schon lange einmal tun wollten? Denken Sie auch an Urlaubsziele. Gibt es vielleicht einen Ort, den Sie schon immer einmal besuchen wollten? Lassen Sie nun alle Bilder, Gedanken und Gefühle, die während Ihrer kleinen Reise auftauchten, noch einmal auf sich wirken … Versuchen Sie, sich die Stimmung einzuprägen, um sich später besser an diesen Zustand erinnern zu können. Kehren Sie in Gedanken nun langsam wieder in diesen Raum zurück, zählen Sie von 5 nach 1, und wenn Sie bei 1 angekommen sind, dann öffnen Sie wieder Ihre Augen! Im Anschluss an die Durchführung der Übung ist es besonders wichtig, diese gemeinsam mit dem Patienten zu besprechen und auszuwerten. Dabei können folgende Fragen weiterhelfen:
67 5.2 · Modul 2: Stress und Stressbewältigung (Teil 1)
? 4 Wie gut konnte sich der Patient auf die Phantasiereise einlassen? 4 Gab es Probleme? 4 Mit welchen Eindrücken kehrte er zurück?
Um dem Patienten die Erinnerung zu erleichtern, kann der Therapeut die in der Phantasiereise erwähnten Bereiche noch einmal nennen (soziale Beziehungen, Arbeit, Freizeit). jZielformulierung
Der Therapeut händigt 7 Arbeitsblatt 1.2 (Meine persönlichen Therapieziele) aus und unterstützt den Patienten bei der Zielformulierung. Der Therapeut sollte bei der Zieldefinition in erster Linie darauf achten, dass die Ziele realistisch sind. Zudem sollten vage Zielideen konkretisiert, die Kapazitäten des Patienten beurteilt, vorhandene Ressourcen und hemmende Faktoren im Umfeld berücksichtigt sowie ethisch-moralische Aspekte bedacht werden. Sollte die Zeit drängen, dann kann das Arbeitsblatt auch als zusätzliche Hausaufgabe mitgegeben werden. jSinn und Zweck von Hausaufgaben
Hausaufgaben gelten als unverzichtbares Element in jeder Verhaltenstherapie (Wunschel u. Linden 2005). Studien belegen deren Wirksamkeit. Demzufolge erzielen Patienten größere Therapiefortschritte, wenn sie regelmäßig zwischen den einzelnen Therapiestunden Hausaufgaben durchführen. Der Therapeut erklärt dem Patienten, dass Hausaufgaben ein wesentlicher Bestandteil von Verhaltenstherapie sind. Sie dienen der Aktivierung, der Übernahme von Eigenverantwortung und dem Umsetzen bzw. der Erprobung von in der Therapie erlernten Verhaltensweisen im alltäglichen Leben (Sicherstellung des Transfers). Die Erledigung der Hausaufgaben wird am Anfang jeder Sitzung überprüft. jHausaufgabe
Falls während der Sitzung aufgrund von Zeitmangel 7 Arbeitsblatt 1.2 nicht bearbeitet werden konnte, kann dieses zur Bearbeitung als Hausaufgabe ausgehändigt werden. Der Patient sollte motiviert werden, die besprochenen Aspekte zur Therapiezielformulierung zu berücksichtigen und kurz- wie auch langfristige Therapieziele zu formulieren.
5.2
Modul 2: Stress und Stressbewältigung (Teil 1)
5.2.1
Sitzung 2
Inhalte und Materialien der 2. Sitzung 4 Inhalte – Besprechung der Hausaufgabe – Funktionen von Stress – Aufbau des vegetativen Nervensystems – Körperliche Stressreaktion und Anzeichen eigener Anspannung – Hausaufgabe: Arbeitsblatt 2.4 (Mein Tagebuch) ausfüllen 4 Materialien – Arbeitsblatt 2.1: Was Sie über Stress wissen sollten! – Arbeitsblatt 2.2: Gliederung des Nervensystems – Arbeitsblatt 2.3: Wirkungen von Sympathikus und Parasympathikus – Arbeitsblatt 2.4: Mein Tagebuch (7 Exemplare)
jBesprechung der Hausaufgabe
Gesetzt den Fall, 7 Arbeitsblatt 1.2 (Meine persönlichen Therapieziele) wurde als Hausaufgabe in der ersten Sitzung gestellt, sollte dies zunächst besprochen werden. Der Therapeut sollte darauf achten, dass die vom Patienten formulierten Ziele realistisch und überprüfbar sind. Sollte dies nicht der Fall sein, können dem Patienten konkrete Vorschläge zur Umformulierung gemacht werden. jFunktionen von Stress
Mit Hilfe geleiteten Entdeckens sollen zunächst einige allgemeine Fragen zum Thema Stress gemeinsam mit dem Patienten beleuchtet werden. Der Therapeut sollte darauf achten, die jeweils zu den Fragen geäußerten Gedanken des Patienten zu würdigen und darauf einzugehen. Sollte dies nötig sein, können unten stehende Informationen dem Patienten vermittelt werden. ? Was ist eigentlich Stress?
Ursprünglich stammt der Begriff aus dem technischen Bereich, genau genommen aus der Materialkunde, und ist wie folgt zu verstehen: Belastung eines Materials führt zu einer Beanspruchung desselben. Dieses Modell kann auch auf den Menschen übertragen werden. Dabei ist Belastung immer neutral (also weder gut noch schlecht) und objektiv messbar. Beanspruchung hingegen ist individuell verschieden und nur subjektiv messbar. Wie stark die jeweilige Beanspruchung ausfällt, wird von Fähigkeiten,
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5
Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
Fertigkeiten und Bewältigungsstrategien des Individuums beeinflusst. Man unterscheidet positiv erlebten Stress, so genannter Eustress, von negativ erlebtem Stress, so genanntem Disstress. Eustress geht mit Gefühlen der Herausforderung und Befriedigung einher, Disstress hingegen mit dem Gefühl der Überforderung. Aus medizinischer bzw. biologischer Sicht ist Stress eine natürliche Reaktion des menschlichen Körpers auf Belastungen aller Art (Gefahrensituationen, Problemlagen, innere und äußere Anforderungen). Stress löst das in jedem Menschen verankerte Programm »Alarmverhalten« aus. ? Wie lange gibt es schon Stress?
Stress gibt es bereits seit Menschengedenken. Die körperliche Stressreaktion ist ein (steinzeit)altes Verhaltensmuster. Es wird nicht erworben bzw. erlernt, sondern ist angeboren und somit ein normales Phänomen. ? Unter welchem Stress litten die Menschen zu Beginn der Evolution?
Bedrohung durch Raubtiere, befeindete Stämme, zwischenmenschliche Konflikte, extreme Wetterbedingungen, Suche nach Nahrung, Krankheiten. ? Was würde ein Mensch in einer typischen Gefahrensituation tun (z. B. Angriff eines wilden Tieres)?
Kämpfen oder fliehen (»fight or flight«). Als dritte Verhaltensvariante gibt es noch den so genannten Totstellreflex (»freezing«). Dabei handelt es sich um eine Art psychischen Schock, der einsetzt, wenn alle bisherigen Bewältigungsmechanismen versagt haben. Er ist verbunden mit einem Gefühl der Überwältigung und aktiviert eine Art Lähmung (»starr vor Angst«). Um kämpfen oder flüchten zu können, benötigt der Körper viel Energie. Diese wird ihm durch die automatisch ausgelöste Stressreaktion zur Verfügung gestellt. Der Körper wird innerhalb kürzester Zeit auf eine Handlung vorbereitet. So gesehen stellt die körperliche Stressreaktion einen natürlichen Anpassungsmechanismus, eine Schutzreaktion auf Bedrohung dar. Dieses Alarmverhalten ist demnach biologisch sinnvoll; die körperliche Leistungsfähigkeit wird erhöht. Jedoch verliert die körperliche Stressreaktion ihren biologischen Sinn, wenn sie in objektiv ungefährlichen bzw. harmlosen Situationen ausgelöst wird (z. B. bei Phobien bzw. spezifischen Angsterkrankungen), wenn sie lange Zeit andauert oder zu häufig auftritt. Zum Abschluss dieser Informationen erhält der Patient 7 Arbeitsblatt 2.1 (Was Sie über Stress wissen sollten!). jAufbau des vegetativen Nervensystems
Im Folgenden finden Sie Anregungen zur Wissensvermittlung über das Thema »vegetatives Nervensystem und körperliche Stressreaktion«. Auch hier empfehlen wir die
Anwendung des Prinzips des geleiteten Entdeckens mit Hilfe von Fragen. ? Wissen Sie, wer oder was für die Auslösung und Steuerung der körperlichen Stressreaktion verantwortlich ist?
Das vegetative Nervensystem (VNS). Man nennt es auch autonomes Nervensystem (ANS), da es der willkürlichen Kontrolle weitgehend entzogen ist. Das VNS reguliert das innere Gleichgewicht der Körpersysteme und sorgt dafür, den Organismus ständig an eine wechselnde Umgebung anzupassen. Das VNS überwacht und reguliert Blutkreislauf, Herztätigkeit, Blutdruck, Atmung, Körpertemperatur und Verdauung. Vereinfacht dargestellt besteht das VNS aus den beiden Teilsystemen Sympathikus und Parasympathikus. Die Wirkungen beider Systeme auf die Organe sind oft gegenläufig, was eine genaue Kontrolle der Organfunktionen ermöglicht. Die meisten Organe werden von beiden Teilen innerviert, einige jedoch nicht (z. B. die Schweißdrüsen; diese werden ausschließlich vom Sympathikus innerviert). Vereinfacht ausgedrückt induziert der Sympathikus eine Aktivierung des Körpers bei Arbeit oder in Situationen, die eine schnelle Reaktion erfordern (Bedrohung, Stress/Belastung). Er dient der Mobilisierung des Organismus. Der Parasympathikus hingegen dient dem Aufbau von Energieressourcen in Ruhephasen und unterstützt vorwiegend Funktionen wie Verdauung und Reproduktion. Wichtig ist zu betonen, dass die beiden Systeme nicht miteinander konkurrieren, sondern vielmehr »Hand in Hand« arbeiten, um jeweils ein optimales Zusammenspiel der Körperorgane in Anpassung an die jeweiligen Anforderungen zu ermöglichen (Ehlert 2003). Der Patient erhält im Anschluss 7 Arbeitsblatt 2.2 (Gliederung des Nervensystems). Sofern der Patient gebildet und/oder stark interessiert ist, können optional folgende Informationen über den Einfluss von Hormonen bei der Regulation der körperlichen Stressreaktion gegeben werden. Hormone in der Regulation der körperlichen Sressreaktion So genannte Stresshormone werden bei der Aktivierung des Sympathikus bzw. unter starker innerer oder äußerer Belastung ausgeschüttet. Dies sind vor allem Adrenalin (und Noradrenalin) aus dem Nebennierenmark und das Cortisol aus der Nebennierenrinde. Sowohl Adrenalin als auch Cortisol setzen Prozesse in Gang, die dem Organismus schnell mehr Energie zur Verfügung stellen (z. B. Erhöhung des Blutzuckerspiegels, Freisetzung von Fettsäuren aus den Fettdepots). Zudem erhöhen sie den Blutdruck und das Schlagvolumen des Herzens und können in bestimmten Gefäßgebieten zu einer Blutgefäßverengung (Vasokonstriktion) führen (Faller 1995). Die Hormone der Nebennierenrinde, zu denen auch das Cortisol gehört, befähigen den Organismus, auf innere und äußere Beanspruchung zu reagieren. Glucocorticoide sind für die Bewältigung schwerer Stresssituationen unentbehrlich. Cortisol ist in diesem Zusammenhang das physiologisch wichtigste Glucocorticoid (Mutschler
69 5.2 · Modul 2: Stress und Stressbewältigung (Teil 1)
u. Schäfer-Korting 1996). Cortisol (auch Hydrocortison) ist ein lebenswichtiges Hormon. Das völlige Fehlen von Cortisol infolge von Krankheit oder nach einer Nebennierenentfernung führt in einigen Tagen zum sicheren Tod (Kuschinsky et al. 1993). Die Nebennieren sind zwei kleine, gelblich aussehende Drüsen, die den Nieren kappenartig am oberen Pol aufsitzen. Jede wiegt ca. 4 Gramm und besteht aus zwei morphologisch und funktionell völlig unterschiedlichen Organen, nämlich der Nebennierenrinde und dem Nebennierenmark. Die Nebennierenrinde gliedert sich in drei Schichten. Die innerste Schicht (Zona reticularis) bildet überwiegend Androgene (männliche Geschlechtshormone). Die äußerste Schicht (Zona glomerulosa) bildet vor allem Mineralocorticoide. Die mittlere Schicht, die Zona fasciculata, produziert die Gruppe der Glucocorticoide, deren wichtigster Vertreter das Cortisol ist. Die Glucocorticoide unterstützen Prozesse, die dafür sorgen, dass den Zellen des Körpers genügend Glucose (»Brennstoff« bzw. »Energie«) zur Verfügung gestellt wird. Daneben haben die Glucocorticoide eine Reihe weiterer Aufgaben, vor allem im Stoffwechsel, beim Verhalten und im Immunsystem. Die Cortisolfreisetzung wird von einem der vier glandotropen Hormone des Hypophysenvorderlappens (HVL), dem ACTH gesteuert, das seinerseits der Kontrolle des hypophysären Releasinghormons CRH unterliegt. Das im Blut zirkulierende Cortisol wirkt über einen negativen Rückkopplungsmechanismus hemmend auf die weitere Freisetzung von CRH und ACTH im Hypothalamus bzw. dem HVL. Viele Stressoren führen zu einer vermehrten Freisetzung von CRH, welches seinerseits eine erhöhte ACTH-Freisetzung induziert. Starke Stresssituationen können so intensiv sein, dass überschüssiges ACTH im Blut zu finden ist, da mehr ACTH gebildet wird als für eine maximale Cortisolsekretion nötig ist (Birbaumer u. Schmidt 1991). Hohe Cortisolspiegel bewirken, dass in der Leber Aminosäuren zu Glucose umgewandelt werden. Dieser Vorgang wird als Gluconeogenese bezeichnet. Dieser Prozess, dem die Glucocorticoide ihren Namen zu verdanken haben, wird besonders beim Fasten und beim Hungern aktiviert, damit nach Erschöpfen der Glykogenvorräte ein möglichst konstanter Blutzuckerspiegel aufrechterhalten wird. Die für die Gluconeogenese notwendigen Aminosäuren werden durch Abbau von Körpereiweiß gewonnen (→ eiweißkatabole Wirkung). Die katabole Wirkung zeigt sich vor allem an der Muskulatur, der Haut und dem Skelett. Cortisol aktiviert unter den genannten Bedingungen auch die Freisetzung von Glycerin und Fettsäuren aus den Fettvorräten des Körpers (→ Lipolyse), um weiteren Zellbrennstoff bereitzustellen (Birbaumer u. Schmidt 1991). Adrenalin und Noradrenalin bilden zusammen mit dem Dopamin die Gruppe der Katecholamine. Katecholamine werden aus der Aminosäure Phenylalanin durch folgende enzymatische Schritte gebildet: Phenylalanin → p-Tyrosin → Dopa → Dopamin → Noradrenalin → Adrenalin. Adrenalin wird wie das Noradrenalin durch Aktivierung des Sympathikus aus dem Nebennierenmark ausgeschüttet (80% Adrenalin, 20% Noradrenalin) und dient vor allem der schnellen Bereitstellung von Energie (→ metabolische Wirkung). Somit gelten Adrenalin und Noradrenalin in erster Linie als Stoffwechselhormone. Adrenalin mobilisiert freie Fettsäuren aus Fettgewebe, ferner Glucose und Laktat aus Glykogen. In Notfallsituationen (z. B. bei Blutverlust, Unterkühlung, Verbrennung oder bei extremer körperlicher Belastung) und bei starker emotionaler Belastung erhöht sich die Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin aus dem Nebennierenmark. Sauerstoff und Nähr- bzw. Brennstoffe (Glucose und freie Fettsäuren) werden vermehrt zu Gehirn, Herz und Skelettmuskulatur transportiert. Die Ausschüttung wird wiederum durch den Hypothalamus und das limbische System gesteuert (Birbaumer u. Schmidt 1991). Adrenalin wirkt vor allem am Herzen, indem es seine Frequenz und Schlagkraft steigert. Noradrenalin bewirkt vor allem durch Gefäßverengung der Arteriolen und inneren Organe eine Erhöhung des Blut-
drucks, so dass das Blut in Richtung Muskulatur und Gehirn geleitet wird. Katecholamine bewirken zudem über eine Stimulation des zentralen Nervensystems (ZNS) eine Erhöhung der Aufmerksamkeit und Wachsamkeit (Kapit et al. 1992).
jKörperliche Stressreaktion und Anzeichen eigener Anspannung
Individuelle körperliche Stressreaktionen und Anzeichen von Anspannung können mit folgender Frage exploriert werden: ? Wenn Sie unter Anspannung bzw. großer Belastung stehen, an welchen körperlichen Veränderungen merken Sie das?
Die Antworten des Patienten werden auf dem Flipchart gesammelt. Hilfreich ist das Durchgehen der einzelnen Organsysteme, wenn dem Patienten die Beantwortung der Frage Schwierigkeiten bereitet. Eine hilfreiche Frage des Therapeuten an den Patienten könnte z. B. sein: ? Bemerken Sie z. B. eine Veränderung Ihres Herzschlages oder Ihrer Atmung?
Veränderungen, die mit den körperlichen Beschwerden des Patienten im Zusammenhang stehen könnten, sollten hervorgehoben werden. Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 2.3 (Wirkungen von Sympathikus und Parasympathikus). jHausaufgabe
Der Patient soll bis zur nächsten Sitzung ein Tagebuch führen (7 Arbeitsblatt 2.4). Der Therapeut führt die Aufgabe sinngemäß mit folgenden Worten ein: »Um die Beeinträchtigung durch die Beschwerden langfristig zu verändern, ist es zunächst wichtig, die Beschwerden und die Umstände, unter denen sie auftreten, genau zu beobachten. Aus diesem Grund möchte ich Sie darum bitten, in der nächsten Woche dieses so genannte Befindlichkeitstagebuch zu führen. Daraus lässt sich entnehmen, ob die Beschwerden immer gleich bleiben oder ob sie sich verändern, ob es Einflussbedingungen gibt und wie stark Sie durch die Beschwerden in Ihrem Leben beeinträchtigt sind.« Der Therapeut händigt 7 Exemplare von 7 Arbeitsblatt 2.4 (Mein Tagebuch) aus (unter der Annahme, dass die nächste Sitzung in genau einer Woche stattfinden wird). Die einzelnen Fragen werden mit dem Patienten durchgegangen und, wenn notwendig, anhand von Beispielen erläutert. Der Patient wird instruiert, das Tagebuch täglich auszufüllen. Wichtig ist es, den Patienten darauf hinzuweisen, dass er das Tagebuch nicht für den Therapeuten, sondern für sich im eigenen Interesse führt.
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Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
5.2.2
Sitzung 3
Inhalte und Materialien der 3. Sitzung
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4 Inhalte – Besprechung der Hausaufgabe – Entspannungsreaktion – Hintergrundinformationen zur progressiven Muskelentspannung (PME) – Durchführung der PME (Langform, Dauer ca. 30 min) – Hausaufgabe: Entspannungsprotokoll (7 Arbeitsblatt 2.8) führen 4 Materialien – Arbeitsblatt 2.5: Entspannungsreaktion – Arbeitsblatt 2.6: Progressive Muskelentspannung (PME) – Arbeitsblatt 2.7: Anleitung zur progressiven Muskelentspannung – Arbeitsblatt 2.8: Entspannungsprotokoll – PME-CD
jBesprechung der Hausaufgabe
Sitzung 3 beginnt mit der Auswertung des Tagebuches. Hilfreiche Fragen diesbezüglich können sein: ? 4 Gab es Schwierigkeiten bei der Bearbeitung? 4 Hat der Patient Zusammenhänge entdeckt? 4 Gab es bestimmte Auslöser für die Beschwerden bzw. Veränderung der Beschwerden (siehe Punkt 8 auf 7 Arbeitsblatt 2.4)? 4 Wie häufig, wie intensiv waren die Symptome bzw. wie groß war das Ausmaß der Belastung?
jEntspannungsreaktion
Eine Möglichkeit, positiv auf die körperliche Stressreaktion einzuwirken, besteht darin, den Parasympathikus verstärkt zu aktivieren. Dies ist über das regelmäßige Ausführen einer Entspannungstechnik möglich. Im Folgenden erklärt der Therapeut, durch welche typischen körperlichen und psychischen Veränderungen die körperliche Entspannungsreaktion gekennzeichnet ist und händigt dem Patienten 7 Arbeitsblatt 2.5: (Entspannungsreaktion) aus. Zudem kann abermals 7 Arbeitsblatt 2.3 (Wirkungen von Sympathikus und Parasympathikus) herangezogen werden, um die Effekte des Parasympathikus zu erläutern. Die Entspannungsreaktion ist ebenso wie die bereits besprochene Stressreaktion ein biologisch verankertes, ein demnach angeborenes Verhaltensprogramm.
Regelmäßig durchgeführte Entspannungsübungen führen zu einer Reduktion der Erregungsbereitschaft des Sympathikus, d. h. zu einer Abnahme des allgemeinen Erregungsniveaus. Zu beachten ist, dass die Anregung und Stabilisierung einer Entspannungsreaktion kontinuierliches Üben erfordert. Bei längerem, regelmäßigem Üben kann sich eine zunehmende Gelassenheit entwickeln, die dazu beiträgt, Stress und Belastungen des Alltags besser bewältigen zu können. Das Durchführen eines Entspannungsverfahrens bietet die Möglichkeit, mit Stress, den man nicht oder noch nicht verändern kann, besser umzugehen. Entspannungsübungen können langfristig dazu führen, dass man Dinge mit mehr Gelassenheit und Ruhe betrachtet, dass man nicht mehr so schnell »auf die Palme« zu bringen ist, dass man sich für belastende Situationen ein dickeres Fell zulegt und bei kleinen Ärgernissen bzw. einer Anhäufung dieser nicht so reagiert wie das berühmte »HB-Männchen« namens Bruno. jHintergrundinformationen zur progressiven Muskelentspannung
Die progressive Muskelentspannung (PME), auch progressive Muskelrelaxation (PMR) genannt, wurde von dem amerikanischen Arzt und Physiologen Edmund Jacobson um 1930 entwickelt. Das Grundprinzip der PME besteht darin, die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Körperregion zu lenken, die Muskeln anzuspannen, die Spannung kurz zu halten und beim Ausatmen die Spannung wieder zu lösen und zu entspannen. Das Vorgehen der PME – Entspannung durch gezielte körperliche Anspannung erreichen – erscheint auf den ersten Blick paradox. Doch bei genauerer Betrachtung löst sich der vermeintliche Widerspruch auf. Der Übende soll genau auf die Unterschiede zwischen Anspannung und Entspannung achten. Dabei lässt sich die Lockerung der Muskulatur besser wahrnehmen, wenn vorher das Gegenteil (Anspannung der Muskulatur) erfolgte (Kontrasteffekt). So wird das scheinbar paradoxe Vorgehen verständlich. Ziele der PME sind eine bessere Körperwahrnehmung und ein frühzeitiges Erkennenkönnen muskulärer Spannungszustände sowie deren aktive Verminderung. Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 2.6 (Progressive Muskelentspannung). Der Therapeut betont, dass das Erlernen eines Entspannungsverfahrens mit Einsatz, Anstrengung und Zeitaufwand verbunden ist. Konzentration und regelmäßiges Üben über mehrere Wochen sind für den Erfolg des Trainings wichtig. Das ist bei vergleichbaren Aktivitäten wie z. B. dem Erlernen einer neuen Sportart oder eines Musikinstrumentes auch nicht anders. Diesbezüglich bewahrheitet sich der Volksmund, der zu sagen pflegt: »Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen«, »Übung macht den Meister« und »Ohne Fleiß, kein Preis«. Auf den Patienten und das Erlernen einer Entspannungstechnik
71 5.2 · Modul 2: Stress und Stressbewältigung (Teil 1)
übertragen bedeutet dies, dass er täglich üben muss/sollte, um das Gefühl der Entspannung irgendwann gezielt und schnell herbeiführen zu können, dass er Geduld mit sich haben muss, Entspannung nicht erzwingen kann und am Anfang nicht zu viel von sich erwarten sollte. »Die Flinte sollte demnach nicht gleich ins Korn geworfen werden«, wenn sich die erwünschte Entspannung nicht unmittelbar nach den ersten Durchläufen einstellt. jDurchführung der PME
Der Therapeut führt die Langform der PME mit Hilfe der folgenden Instruktion durch, die etwa 30 Minuten in Anspruch nimmt. Es ist sinnvoll, vor Beginn mit dem Patienten die Übungen zu den einzelnen Muskelgruppen zu besprechen. Zudem sollte thematisiert werden, dass während der Übungsdurchführung ungewöhnliche körperliche Wahrnehmungen (z. B. ein Wärmegefühl oder ein Kribbeln in den Extremitäten) auftreten kann. Diese sind völlig unbedenklich und sind auf eine verbesserte Durchblutung zurückzuführen. kInstruktion: Progressive Muskelentspannung (Langform)
Nehmen Sie eine möglichst bequeme Haltung ein, und stellen Sie sich darauf ein, dass Sie sich nun entspannen werden. – Achten Sie darauf, dass Sie locker und aufrecht sitzen. – Ihr Rücken ist angelehnt, und die Füße stehen fest und sicher auf dem Boden. – Arme und Hände ruhen locker im Schoß. – Der Kopf hat eine angenehme Lage. – Das Schließen der Augen kann die Konzentration auf den Körper verbessern. – Sie können die Augen jetzt oder später schließen. – Vielleicht möchten Sie es sich noch ein bisschen bequemer machen. – Gehen Sie in Gedanken durch Ihren Körper, und versuchen Sie aufzuspüren, welche Muskeln angespannt sind, und versuchen Sie, diese noch etwas zu lockern. – Atmen Sie einige Male tief ein und dann langsam wieder aus. – Beobachten Sie, wie sich Ihre Bauchdecke beim Einatmen leicht hebt und beim Ausatmen wieder langsam senkt. – Vielleicht können Sie auch spüren, wie die Luft kühl durch die Nase einströmt und – vom Körper erwärmt –, warm wieder hinausfließt. – Wir beginnen nun gleich mit den Übungen. – Achten Sie dabei bitte ganz aufmerksam auf Ihre Empfindungen bei der Anspannung und der anschließenden Entspannung der Muskeln. – Es kommt nicht darauf an, die Muskeln stark anzuspannen, sondern nur darauf, dass Sie die Unterschiede zwischen Anspannung und Entspannung deutlich merken. – Bitte steigern Sie die Spannung so weit, dass Sie die Spannung klar spüren können. – Aber nur so weit, dass es weder schmerzt oder verkrampft. – Atmen Sie auch beim Anspannen der Muskeln ruhig, in Ihrem Rhythmus weiter. – Bitte führen Sie die Anspannung der Muskeln immer erst dann durch, wenn ich »JETZT!« sage. –
Richten Sie zunächst Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre rechte Hand und Ihren rechten Unterarm. – Wie fühlen sich die rechte Hand und der Unterarm an? – Ballen Sie Ihre rechte Hand zu einer Faust – JETZT! – Steigern Sie die Spannung, bis Sie sie deutlich spüren, aber nicht zu fest. – Und mit dem nächsten Ausatmen lösen Sie die Anspannung in Hand und Unterarm und lassen den Arm und die Hand ganz locker und bequem liegen. – Versuchen Sie auch, die Finger ganz locker werden zu lassen. – Achten Sie auf den Unterschied zwischen Anspannung vorher und Entspannung. – Gönnen Sie sich etwas Zeit, damit sich die Muskeln noch ein wenig mehr lösen können. – Lassen Sie ganz los! – Konzentrieren Sie sich nun auf Ihren rechten Oberarm, und machen Sie sich bewusst, wie er sich anfühlt. – Beugen Sie den rechten Arm mit geöffneter Hand in Richtung Schulter – JETZT! – Spüren Sie die Anspannung. – Mit dem nächsten Ausatmen lassen Sie den Arm sinken und entspannen. – Achten Sie wieder auf das unterschiedliche Gefühl zwischen Anspannung vorher und der Entspannung. – Achten Sie darauf, wie mit dem Nachlassen der Anspannung die Entspannung ganz langsam eintreten kann. – Konzentrieren Sie sich nun auf Ihre linke Hand und Ihren linken Unterarm. – Schließen Sie Ihre linke Hand zu einer Faust – JETZT! – Achten Sie genau auf die Spannung, die dabei entsteht. – Und mit dem nächsten Ausatmen lassen Sie wieder locker. – Achten Sie darauf, wie angenehm es ist, wenn die Muskeln vom angespannten in den entspannten Zustand übergehen. – Achten Sie wieder auf die Entspannung in jedem einzelnen Finger. – Konzentrieren Sie sich nun auf Ihren linken Oberarm, und machen Sie sich bewusst, wie er sich anfühlt. – Beugen Sie den linken Arm mit geöffneter Hand in Richtung Schulter und spannen Sie Ihren linken Oberarmmuskel an – JETZT! – Spüren Sie die Anspannung. – Mit dem nächsten Ausatmen lassen Sie den Arm wieder sinken und entspannen. – Achten Sie wieder auf das unterschiedliche Gefühl zwischen Anspannung vorher und der Entspannung. – Achten Sie darauf, wie mit dem Nachlassen der Anspannung die Entspannung ganz langsam eintreten kann. – Ballen Sie beide Hände zu einer Faust – JETZT! – Achten Sie wieder auf die Anspannung, die dabei entsteht. – Lassen Sie mit dem nächsten Ausatmen wieder locker. – Achten Sie wieder auf den Unterschied zwischen Anspannung vorher und der angenehmen Entspannung. – Lassen Sie Ihre Unterarme schwer aufliegen, und konzentrieren Sie sich wieder auf jeden einzelnen Finger. – Konzentrieren Sie sich nun wieder auf Ihren rechten Arm. – Strecken Sie ihn so weit, dass Sie an der Rückseite Ihres Armes eine intensive Anspannung spüren – JETZT! – Achten Sie wieder auf die Spannung. – Beim nächsten Ausatmen lassen Sie den Arm wieder locker und legen ihn bequem zurecht. – Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihren linken Arm. – Strecken Sie Ihren linken Arm, so dass Sie an der Rückseite des Armes eine intensive Anspannung spüren
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Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
– JETZT! – Achten Sie wieder auf die Anspannung. – Mit dem nächsten Ausatmen lösen Sie die Spannung und lassen ihn ganz locker und entspannt werden. – Achten Sie wieder auf den Unterschied zwischen Anspannung vorher und der angenehmen Entspannung. – Versuchen Sie, nun beide Ober- und Unterarme und Hände gleichzeitig anzuspannen – JETZT! – Spüren Sie die Anspannung. – Mit dem nächsten Ausatmen lassen Sie beide Arme und Hände wieder sinken und entspannen. – Versuchen Sie, die Muskeln in den Armen ganz locker werden zu lassen. – Lassen Sie Ihre Arme immer schwerer werden. – Konzentrieren Sie sich wieder auf jeden einzelnen Finger. – Konzentrieren Sie sich nun auf Ihre Stirn. – Ziehen Sie Ihre Augenbrauen nach oben, so dass auf Ihrer Stirn waagerechte Falten entstehen – JETZT! – Halten Sie die Spannung. – Mit dem nächsten Ausatmen lassen Sie wieder locker. – Lassen Sie Ihre Stirn nun glatt und gelöst werden wie eine glatte, leere Fläche. – Versuchen Sie, mit der Entspannung der Stirn Ihre ganze Kopfdecke locker werden zu lassen. – Achten Sie wieder auf den Unterschied zwischen Anspannung vorher und dem Gefühl der Entspannung. – Ziehen Sie nun Ihre Augenbrauen zusammen, so dass auf Ihrer Stirn senkrechte Falten entstehen – JETZT! – Achten Sie wieder auf die Anspannung. – Mit dem nächsten Ausatmen lösen Sie die Spannung wieder. – Achten Sie auf den Übergang von der Anspannung zur angenehmen Entspannung. – Lassen Sie Ihre Stirn immer gelöster und lockerer werden. – Versuchen Sie, auf Ihrer Stirn gleichzeitig Quer- und Längsfalten zu bilden – JETZT! – Ihre Stirn ist nun ganz verspannt. – Mit dem nächsten Ausatmen lösen Sie die Spannung. – Lassen Sie Ihre Stirnmuskulatur ganz locker werden – immer lockerer, – bis sich die Stirn anfühlt wie eine glatte und leere Fläche. – Konzentrieren Sie sich nun auf Ihre Augen. – Kneifen Sie Ihre Augen fest zu – JETZT! – Achten Sie auf die Anspannung in Ihrer Augenpartie. – Mit dem nächsten Ausatmen lassen Sie wieder locker. – Halten Sie Ihre Augen nun ganz leicht geschlossen. – Achten Sie wieder auf den Unterschied zwischen der Anspannung vorher und dem Gefühl der Entspannung. – Lassen Sie Ihre Augenlider schwer werden – immer schwerer werden – und achten Sie darauf, dass auch Ihre Stirnmuskeln ganz gelöst und entspannt sind. – Konzentrieren Sie sich nun auf Ihre Nase. – Rümpfen Sie Ihre Nase, indem Sie sie nach oben ziehen – JETZT! – Spüren Sie die Spannung in der Nasenpartie. – Mit dem nächsten Ausatmen lassen Sie wieder locker. – Lassen Sie Ihre Nasenflügel ganz entspannt und gelöst werden. – Lassen Sie auch Ihre Augenlider immer schwerer werden. – Und achten Sie auf Ihre Stirn, die glatt und gelöst ist. – Konzentrieren Sie sich nun auf Ihre Zähne. – Beißen Sie Ihre Backenzähne fest aufeinander – JETZT! – Achten Sie auf die Spannung in Ihrem Kiefer. – Mit dem nächsten Ausatmen lösen Sie die Spannung und lassen Ihren Kiefer wie-
der locker werden. – Lassen Sie Ihre Lippen und alle Gesichtsmuskeln ganz locker werden. – Versuchen Sie, Ihre Gesichtsmuskeln immer weiter zu entspannen. – Achten Sie auf Ihre Stirn – Ihre Augenlider – und Ihre Nasenflügel. – Achten Sie auf das Gefühl der Ruhe, das sich ausbreitet, wenn Sie Ihr Gesicht immer mehr entspannen. – Konzentrieren Sie sich nun auf Ihre Zunge. – Drücken Sie Ihre Zunge fest gegen den Gaumen – JETZT! – Achten Sie auf die Anspannung. – Mit dem nächsten Ausatmen lösen Sie wieder die Spannung und lassen die Zunge in eine entspannte Stellung zurückfallen. – Achten Sie wieder auf den Unterschied zwischen Anspannung vorher und dem Gefühl der Entspannung. – Konzentrieren Sie sich nun auf Ihren Mund und Ihre Lippen. – Pressen Sie Ihre Lippen fest aufeinander – JETZT! – Achten Sie auf die Spannung in Lippen und Mundpartie. – Mit dem nächsten Ausatmen lassen Sie wieder locker. – Achten Sie wieder auf den Gegensatz zwischen Anspannung vorher und der angenehmen Entspannung, die sich allmählich ausbreitet. – Versuchen Sie nun, Ihr komplettes Gesicht anzuspannen, also Ihre Stirn, die Kopfdecke, die Augenpartie, die Nase, die Lippen, die Wangen, den Kiefer und das Kinn – JETZT! – Achten Sie auf die Spannung. – Mit dem nächsten Ausatmen entspannen Sie wieder. – Achten Sie darauf, dass Ihr Kiefer ganz locker wird, dass Ihre Wangen entspannt sind, dass Ihre Stirn glatt und gelöst wird und dass Ihre Augenlider schwer werden. – Achten Sie auf das Gefühl der Ruhe, das sich allmählich ausbreitet, wenn Sie Ihre Gesichtsmuskeln immer weiter entspannen. – Konzentrieren Sie sich nun auf Ihre Nackenmuskulatur. – Drücken Sie Ihren Kopf nach vorne, so als ob Sie mit dem Kinn Ihre Brust berühren wollten und versuchen Sie gleichzeitig, das zu verhindern – JETZT! – Halten Sie diese Spannung. – Mit dem nächsten Ausatmen lösen Sie die Spannung wieder. – Achten Sie wieder auf den Unterschied zwischen der Anspannung vorher und dem Gefühl der Entspannung. – Balancieren Sie Ihren Kopf nun so aus, dass Ihre Nackenmuskeln ganz locker und gelöst werden. – Versuchen Sie, sich immer weiter zu entspannen. – Konzentrieren Sie sich nun auf Ihre Schultern. – Ziehen Sie Ihre Schultern nach oben und halten Sie die Spannung – JETZT! – Achten Sie auf die Anspannung, die dabei entsteht. – Mit dem nächsten Ausatmen lassen Sie Ihre Schultern wieder locker herabhängen. – Achten Sie nur auf das angenehme Gefühl der Entspannung. – Lassen Sie Ihre Schultermuskulatur immer gelöster werden. – Lassen Sie die Entspannung jetzt bis in den Rücken hineinstrahlen. – Lassen Sie auch Ihren Nacken, den Hals, den Kiefer und das ganze Gesicht ganz locker werden. – Lassen Sie die Entspannung immer weiter ausstrahlen – in die Arme und Hände – bis in die Fingerspitzen. – Achten Sie dabei wieder auf jeden einzelnen Finger. – Versuchen Sie, sich immer weiter zu entspannen. –
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Konzentrieren Sie sich nun auf Ihren Atem. – Achten Sie darauf, wie die Luft ein- und wieder ausströmt. – Halten Sie nach dem Einatmen für kurze Zeit die Luft an – JETZT! – Achten Sie auf die Spannung in Ihrer Brust. – Lassen Sie nun die Luft wieder ausströmen. – Achten Sie darauf, wie sich die Brust beim Ausatmen angenehm entspannt und wieder locker wird. – Halten Sie noch einmal nach dem Einatmen die Luft an – JETZT! – Achten Sie wieder auf die Spannung in Ihrer Brust. – Atmen Sie nun langsam wieder aus. – Achten Sie dabei auf das angenehme Gefühl der Entspannung. – Verfolgen Sie nun das Ein- und Ausströmen Ihres Atems. – Sprechen Sie innerlich mit, wie Sie ein- und wieder ausatmen. – Wie Sie ein- und wieder ausatmen. – Achten Sie dabei auf das Gefühl der Ruhe, das sich allmählich in Ihrem Körper ausbreitet. – Konzentrieren Sie sich nun auf Ihre Bauchdecke. – Spannen Sie Ihre Bauchmuskeln an, machen Sie Ihren Bauch hart, so als ob Sie einen Schlag abfangen wollten – JETZT! – Achten Sie auf die Anspannung, die dabei entsteht. – Mit dem nächsten Ausatmen lassen Sie wieder locker. – Lassen Sie Ihre Bauchmuskeln ganz locker und gelöst werden. – Achten Sie wieder auf den Unterschied zwischen Anspannung vorher und dem Gefühl der Entspannung. – Konzentrieren Sie sich nun auf Ihren Rücken. – Krümmen Sie Ihren Rücken, indem Sie sich weit nach vorne beugen – JETZT! – Achten Sie auf die Spannung entlang der Wirbelsäule. – Mit dem nächsten Ausatmen richten Sie sich wieder auf und lassen sich ganz locker in den Stuhl zurückfallen. – Lassen Sie Ihren Rücken entspannt und gelöst werden. – Lassen Sie die Entspannung der Rückenmuskulatur nach vorne ausstrahlen – zur Brust- und Bauchmuskulatur, – in den Schulterbereich, – in die Arme und Hände – und ins Gesicht. – Achten Sie nun wieder nur auf das Ein- und Ausströmen Ihres Atems. – Sprechen Sie innerlich mit, wie Sie ein- und wieder ausatmen. – Lassen Sie sich dabei immer tiefer in die Entspannung fallen. – Versuchen Sie nun, Ihren kompletten Körper anzuspannen – Ihre Arme, – die Schultern, – das Gesicht, – die Brust – und den Bauch – JETZT! – Achten Sie auf die Spannung. – Mit dem nächsten Ausatmen lassen Sie wieder locker. – Achten Sie wieder auf den Übergang zwischen Anspannung und Entspannung. – Versuchen Sie, sich immer weiter zu entspannen. – Achten Sie wiederum nur auf das Ein- und Ausströmen Ihres Atems. – Konzentrieren Sie sich nun auf Ihre Beine. – Strecken Sie Ihre Beine nach vorne und spannen Sie Ihre Oberschenkel und Gesäßmuskeln an – JETZT! – Achten Sie auf die Spannung. – Beim nächsten Ausatmen senken Sie die Beine wieder und lassen locker. – Achten Sie auf den Übergang von der Anspannung zur Entspannung. – Pressen Sie nun Ihre Fersen fest auf den Boden und ziehen Sie gleichzeitig Ihre Zehenspitzen nach oben – JETZT! – Achten Sie auf die Anspannung, die dabei in Ihren Füßen und Unterschenkeln entsteht. – Mit dem nächsten Ausatmen lassen Sie wieder
locker. – Achten Sie wieder auf den Unterschied zwischen Anspannung vorher und Entspannung. – Drücken Sie nun Ihre Zehen in den Boden und ziehen gleichzeitig Ihre Fersen nach oben – JETZT! – Achten Sie auf die Anspannung in Ihren Wadenmuskeln. – Mit dem nächsten Ausatmen senken Sie Ihre Fersen wieder und lösen die Spannung in Ihren Waden. – Achten Sie wieder auf den Unterschied zwischen Anspannung vorher und Entspannung. – Pressen Sie nun Ihren kompletten Fuß fest gegen den Boden, so als wollten Sie den Boden nach unten drücken oder als wollten Sie aufstehen, dies aber gleichzeitig verhindern – JETZT! – Achten Sie auf die Spannung in Ihren Unterschenkeln, in den Oberschenkeln und in den Gesäßmuskeln. – Mit dem nächsten Ausatmen lösen Sie die Spannung wieder. – Lassen Sie Ihre Beinmuskulatur ganz locker und gelöst werden. – Achten Sie wieder auf den Übergang von der An- zur Entspannung. – Achten Sie darauf, wie das Gefühl der Entspannung bis in die Füße hinein strahlt – bis in die Zehenspitzen. – Lassen Sie Ihre Beine immer entspannter und schwerer werden. – Lassen Sie nun das Gefühl der Entspannung von den Füßen hinauf strömen – durch die Beine zum Rücken, – in die Brust, – in die Bauchgegend, – in die Schultern, – in Arme und Hände, – in die Fingerspitzen, – in den Nacken, – bis ins Gesicht. – Lassen Sie Ihren kompletten Körper locker und entspannt werden. – Ihre Stirn gleicht einer glatten und leeren Fläche – Ihre Augenlider sind schwer – und Ihr Kiefer ist ganz locker. – Lassen Sie Ihren Körper mit seinem ganzen Gewicht auf dem Stuhl aufruhen. – Achten Sie jetzt noch einmal auf Ihre Atmung. – Versuchen Sie, sie gar nicht zu beeinflussen, sondern nur zu beobachten. – Sprechen Sie innerlich mit, wie Sie ein- und wieder ausatmen. – Registrieren Sie bloß dieses Ein- und Ausströmen Ihres Atems. – Versuchen Sie, sich dabei immer weiter zu entspannen. – Genießen Sie diesen Zustand von Ruhe und Entspannung noch eine Weile für sich allein. – – Sagen Sie sich nun, dass Sie die Übung allmählich beenden. – Spannen Sie nun Ihren Körper langsam wieder an – und kehren Sie in Gedanken in diesen Raum zurück. – – – Und wenn Sie dazu bereit sind, dann öffnen Sie langsam wieder Ihre Augen. Im Anschluss gibt es eine kurze Auswertung der Übung, die mit Hilfe der folgenden Fragen erfolgen kann: ? 4 Welche Empfindungen traten auf (z. B. Schwere, Leichtigkeit, Wärme, Kälte, Kribbeln, Körperschema-Änderung etc.)? 4 Gab es bei einzelnen Übungen Schwierigkeiten? 4 Wie tief wird die erlebte Entspannung auf einer Skala von 0–100 eingeschätzt?
Abschließend erhält der Patient eine CD mit einer Instruktion zur PME (z. B. erhältlich bei Krankenkassen) sowie eine schriftliche PME-Anleitung (7 Arbeitsblatt 2.7), um zu Hause selbstständig üben zu können.
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Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
jHausaufgabe
kInstruktion: Körperreise
Der Patient soll täglich PME durchführen und seine Erfahrungen mit Hilfe von 7 Arbeitsblatt 2.8 (Entspannungsprotokoll) festhalten.
Ich bitte Sie nun, sich möglichst bequem und entspannt hinzusetzen. – Versuchen Sie, zur Ruhe zu kommen. – Legen Sie Ihre Hände auf der Lehne oder Ihren Oberschenkeln ab. – Schließen Sie Ihre Augen, wenn Sie es möchten. – Sollte Ihnen das unangenehm sein, dann fixieren Sie einen Punkt im Raum, der möglichst weit entfernt ist. Ich möchte nun mit Ihnen eine kleine gedankliche Reise durch Ihren Körper unternehmen. – Dabei können einige körperliche Empfindungen auftreten, die aber alle harmlos sind. – Einige davon sind Ihnen vielleicht angenehm, einige ein wenig unangenehm und andere weder das eine noch das andere. – Wenn wir die Übung beenden, werden die Empfindungen wieder in den Hintergrund treten. – Zwischendurch stelle ich Ihnen ab und zu eine Frage. – Sie brauchen Sie aber nicht laut zu beantworten. – Ihre innere Reaktion stellt bereits die Antwort auf die Frage dar. – Konzentrieren Sie sich nun auf Ihre Atmung. – Versuchen Sie, wahrzunehmen, wie die Luft durch Ihre Nase einströmt, in Ihre Lunge gelangt und schließlich wieder ausströmt. – PAUSE – Versuchen Sie, genau auf Ihre Empfindungen an der Nase zu achten. – Vielleicht bemerken Sie, wie beim Einatmen ein eher kühler Lufthauch an der Nase zu spüren ist. – PAUSE – Und vielleicht bemerken Sie auch, dass beim Ausatmen eher wärmere Luft Ihren Körper verlässt. – PAUSE – Versuchen Sie, in dieser Genauigkeit auf alle Empfindungen an und in Ihrer Nase zu achten. – Was spüren Sie am rechten Nasenflügel, was am linken und was an der Trennwand dazwischen? Begeben Sie sich nun weiter auf Ihrer Körperreise, und wandern Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit zu Ihrem Rücken. – PAUSE – Achten Sie genau darauf, an welcher Stelle Ihr Rücken Kontakt mit der Stuhllehne hat. – Spüren Sie den Druck an Ihrem Rücken? – Spüren Sie vielleicht auch Wärme, Kälte oder ein leichtes Kribbeln? – Versuchen Sie, genau auf Ihre Empfindungen in Ihrem Rücken zu achten. Gehen Sie in Gedanken nun weiter und zwar zu Ihrem Gesäß und Ihren Oberschenkeln. – PAUSE – Achten Sie darauf, wie Sie mit Ihrem Gewicht auf der Sitzfläche des Stuhles ruhen. – Spüren Sie den Druck? – PAUSE – Vielleicht fällt Ihnen auch auf, wie Ihre Sitzknochen auf den Stuhl drücken? – PAUSE – Oder nehmen Sie vielleicht ein Kälte- oder Wärmegefühl wahr? Versuchen Sie nun, mit Ihrer Aufmerksamkeit weiter nach unten, die Beine entlang, zu Ihren Füßen zu wandern. – PAUSE – Achten Sie darauf, an welcher Stelle Ihre Füße Kontakt zum Boden haben. – PAUSE – Nehmen Sie ein Druckgefühl wahr? – PAUSE – An welcher Stelle Ihrer Füße ist das Druckgefühl am stärksten? – PAUSE – Was spüren Sie in Ihren Füßen, wenn Sie sich genau auf sie konzentrieren? – Fühlen sich Ihre Füße warm oder eher kalt an? – PAUSE – Gibt es Stellen, an denen Ihre Füße leicht kribbeln? – PAUSE – Vielleicht bemerken Sie auch, dass sich Ihre Füße feucht oder trocken anfühlen? – PAUSE – Achten Sie nun
5.3
Modul 3: Aufmerksamkeit
5.3.1
Sitzung 4
5 Inhalte und Materialien der 4. Sitzung 4 Inhalte – Besprechung der Hausaufgabe – Körperreise – Scheinwerfer-Metapher – Rolle der Aufmerksamkeit bei der Wahrnehmung körperlicher Beschwerden – Was uns wichtig ist … – Strategien zur Aufmerksamkeitslenkung: Der Fakir – Hausaufgabe: 7 Arbeitsblatt 3.3 (Meine Strategien zur Aufmerksamkeitslenkung) 4 Materialien – Arbeitsblatt 3.1: Merkmale der Aufmerksamkeit – Arbeitsblatt 3.2: Bewältigung körperlicher Beschwerden durch Ablenkung – Arbeitsblatt 3.3: Meine Strategien zur Aufmerksamkeitslenkung
jBesprechung der Hausaufgabe
Sitzung 4 beginnt mit der Auswertung des Protokolls zur progressiven Muskelentspannung (PME; 7 Arbeitsblatt 2.8). Folgende einleitende Fragen können dabei hilfreich sein: ? 4 Welche Erfahrungen hat der Patient mit der PME gemacht? Hat der Patient regelmäßig geübt? 4 Gab es Schwierigkeiten? 4 Gab es Fortschritte?
Der Patient wird dazu ermuntert, die PME auch weiterhin täglich zu üben, auch wenn dies nicht explizit als Hausaufgabe formuliert wird. Es sollte noch einmal betont werden, dass regelmäßiges Training wichtig ist, um PME zu erlernen und erfolgreich anwenden zu können. jKörperreise
Die folgende Übung, die inklusive Nachbesprechung ca. 20 Minuten in Anspruch nimmt, ist angelehnt an eine Übung von Bleichhardt und Weck (2011). Die Instruktion wurde geringfügig modifiziert. Die im Text angegebenen Pausen sollten jeweils etwa 5 Sekunden betragen.
75 5.3 · Modul 3: Aufmerksamkeit
auf alles, was Sie im Bereich Ihrer Füße an Empfindungen wahrnehmen können. Machen Sie nun einen großen Sprung auf Ihrer Körperreise von Ihren Füßen hinauf zu Ihrem Hals, genauer gesagt zu Ihrem Kehlkopf. – PAUSE – Lenken Sie jetzt Ihre komplette Aufmerksamkeit auf Ihren Kehlkopf. – PAUSE – Versuchen Sie, die Oberfläche, die Beschaffenheit Ihres Kehlkopfes zu erspüren. – PAUSE – Fühlt er sich eben an oder eher etwas rau oder sogar kratzig? – PAUSE – Falls Sie schlucken müssen, dann achten Sie genau darauf, wie sich Ihr Kehlkopf beim Schlucken und direkt nach dem Schluckvorgang anfühlt. – PAUSE – Vielleicht fühlt er sich ja so an, als ob er beim Schlucken im Weg oder sogar angeschwollen sei. – PAUSE – Achten Sie so genau wie möglich auf alle Empfindungen, die Sie an und in Ihrem Kehlkopf wahrnehmen können. Verlassen Sie in Gedanken nun Ihren Kehlkopf und wandern Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit noch einmal zu Ihrer Nase, dem Startpunkt Ihrer kleinen Körperreise. – PAUSE– Atmen Sie ruhig und gleichmäßig. – Achten Sie wieder darauf, wie kühlere Luft in Ihre Nase einströmt und wärmere Luft wieder hinausströmt. – PAUSE – Versuchen Sie noch einmal auf alles zu achten, was Sie im Zusammenhang mit Ihrer Atmung an Ihrer Nase wahrnehmen können. Schließen Sie nun allmählich Ihre kleine Körperreise ab und kehren Sie in Gedanken zurück in diesen Raum. – PAUSE – Recken und strecken Sie sich ein wenig, und atmen Sie einige Male tief ein und aus. – PAUSE – Zählen Sie in Gedanken von 5 nach 1, und öffnen Sie bei 1 wieder Ihre Augen! Im Anschluss erfolgt eine Besprechung bzw. Auswertung der Übung. Dies kann mit folgenden Fragen geschehen: ? 4 Welche Körperempfindungen haben Sie wahrge4 4 4
4
nommen? Waren diese Empfindungen bereits vor der Übung da? Wie erklären Sie sich das Auftreten dieser Empfindungen jetzt, nach der Übung? Wie hätten Sie sich die aufgetretenen Empfindungen erklärt, wenn sie außerhalb dieser Übung aufgetreten wären? Was glauben Sie, warum habe ich diese Übung mit Ihnen gemacht?
Durch die Übung sollte es dem Patienten gelungen sein, die Bedeutung von Aufmerksamkeit bei der Wahrnehmung körperlicher (Miss-)Empfindungen zu erfahren. Ihm sollte bewusst geworden sein, dass das, was ich beachte, von mir stärker bzw. intensiver wahrgenommen wird. Richte ich z. B. meine Aufmerksamkeit auf meinen Kehlkopf, werden Empfindungen in meinen Füßen in den Hintergrund treten.
jScheinwerfer-Metapher
Aufmerksamkeit arbeitet wie ein Scheinwerfer. Dieser kann bewusst auf bestimmte Reize gelenkt werden. Reize, auf die wir uns konzentrieren und die damit im »Lichtkegel der Aufmerksamkeit« stehen, werden stärker und intensiver wahrgenommen als Reize, denen wir keine Beachtung schenken und die damit schemenhaft im Hintergrund bleiben. Ein Beispiel aus dem Alltag (angelehnt an Pinel 1997) kann diesen Zusammenhang veranschaulichen: Wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit in einem lauten Flughafen einer möglicherweise wichtigen Ansage zuwenden, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Sie diese verstehen. Gleichzeitig werden Sie aber den Inhalt einer Bemerkung Ihrer Reisebegleitung vermutlich nicht erfassen. Wenn wir nun körperliche Beschwerden haben und diese als quälend erleben, dann fällt es uns oft schwer, uns auf etwas anderes als die Beschwerden zu konzentrieren. Die ganze Aufmerksamkeit wird auf die Beschwerden gelenkt, so dass wir manche Dinge in unserer Umgebung gar nicht mehr wahrnehmen, auch nicht die positiven Dinge oder kleinen Freuden des Alltags, da sie außerhalb des Rampenlichts stehen. Ziel sollte es demnach sein, den »eingerosteten Aufmerksamkeitsscheinwerfer«, dessen Lichtkegel stets auf die körperlichen Beschwerden gerichtet ist, beweglicher zu machen, so dass auch angenehme Dinge, die Freude oder Genuss bereiten, ins Licht treten können. Es geht folglich darum, Dinge bzw. Aktivitäten zu finden, die die Aufmerksamkeit fesseln, um auf diesem Weg körperliche Beschwerden in den Hintergrund treten zu lassen. jRolle der Aufmerksamkeit bei der Wahrnehmung körperlicher Beschwerden
Im Folgenden soll die Rolle der Aufmerksamkeit bei der Wahrnehmung körperlicher Beschwerden herausgearbeitet werden. Dabei sollten folgende Informationen vermittelt werden: 4 Viele Prozesse laufen in unserem Körper unbewusst ab. Die meisten Körpervorgänge nehmen wir üblicherweise nicht wahr. Erst, wenn wir ganz bewusst unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, z. B. auf unsere Atmung, nehmen wir sie deutlich wahr. 4 Aufmerksamkeit ist bewusst lenkbar. Meistens ändert sich unsere Aufmerksamkeitsrichtung jedoch automatisch, also ohne unser willentliches Zutun. Dies geschieht z. B. in Schreckmomenten. Hören wir einen lauten Knall, dann drehen wir automatisch unseren Kopf in Richtung der Geräuschquelle. Wenn wir Angst haben, dann richtet sich unsere Aufmerksamkeit automatisch auf das Objekt, durch das wir uns bedroht fühlen. Wir lassen es nicht aus den Augen. Oder wir hören unseren Namen. Auch dann richtet sich unsere
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Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
Aufmerksamkeit automatisch in Richtung desjenigen, der uns gerade gerufen hat. 4 Wenn körperlichen Beschwerden immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, kann dies dazu führen, dass sie unsere Gedanken und Gefühle beeinflussen, dass positive Dinge in unserer Umgebung nicht mehr wahrgenommen werden, dass wir unsere Freizeitaktivitäten einschränken, dass wir soziale Kontakte vernachlässigen und/oder körperliche Anstrengung vermeiden. 4 Wichtig ist daher, dass der Patient lernt, seine körperlichen Beschwerden weniger Aufmerksamkeit zu schenken. Stattdessen soll er verstärkt darauf achten, was ihm Spaß macht, wann er sich wohl fühlt und was ihm Freude und Genuss bereitet. Dadurch macht er seinen Aufmerksamkeitsscheinwerfer beweglicher! Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 3.1 (Merkmale der Aufmerksamkeit). jWas uns wichtig ist …
Wenn uns etwas wichtig erscheint, dann steht dies im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit und wird demnach gut ausgeleuchtet. Wir nehmen das, was für uns von Bedeutung ist, in einem helleren Licht und damit intensiver wahr als Dinge, die wir uninteressant finden bzw. die uns »kalt lassen«. Wiederum mit Hilfe der Methode des geleiteten Entdeckens soll der Patient herausfinden, was ihm persönlich wichtig ist. Folgende Fragen und Informationen können dabei hilfreich sein. ? Welche Dinge sind Ihnen denn besonders wichtig? Nehmen Sie diese häufiger oder intensiver wahr als andere Menschen in Ihrer Umgebung?
Manchmal überschätzen wir, mit welcher Häufigkeit Dinge, die uns wichtig erscheinen, in Wirklichkeit auftreten. Beispiele dafür sind: 4 Das eigene Auto: Falls der Patient ein eigenes Auto besitzt, dann fragen Sie, um welches Modell es sich handelt und welche Farbe es hat; anschließend fragen Sie ihn, ob er sich noch an den Zeitpunkt des Autokaufs erinnern kann und auch daran, ob ihm nach dem Autokauf mehr oder weniger Autos gleichen Modells auf den Straßen begegnet sind. Höchstwahrscheinlich wird der Patient antworten, dass ihm nach Anschaffung des Wagens mehr gleiche Modelle aufgefallen sind als vorher. Wie erklärt sich der Patient dieses Phänomen? Das Auto ist ihm wichtig, folglich lenkt er mehr oder weniger bewusst seine Aufmerksamkeit darauf. 4 Kinderwagen: Frauen, die sich ein Kind wünschen oder bereits Kinder haben, fallen Kinderwagen häu-
figer auf als Frauen, die keine Mutter sind oder werden wollen. 4 Paare: Wenn man Single ist, sich einsam fühlt und gerne wieder einen Partner hätte, hat man oft das Gefühl, nur von Paaren umgeben zu sein. Vielleicht hat der Patient auch folgende Erfahrung im Alltag bereits selbst gemacht: Er liest ein spannendes Buch, ist ganz in seine Lektüre vertieft und nimmt nicht wahr, was um ihn herum passiert (z. B. Umgebungslärm wie Vogelgezwitscher oder Straßenlärm). Plötzlich hört er einen lauten Knall. Er schreckt auf. In diesem Moment schaltet seine Aufmerksamkeit automatisch um. Das Buch wird von einer Sekunde auf die andere uninteressant. Er fragt sich »Was hat den Knall verursacht? Ist vielleicht ein Unfall passiert?«. Es ist wichtig für ihn, zu erfahren, was eben passiert ist. Für uns unwichtige Dinge können wir aus unserem Bewusstsein ausblenden. So nehmen wir Alltagsgeräusche wie z. B. das Ticken einer Uhr oder das Summen des Kühlschranks kaum wahr. Auch Körperfunktionen wie der Atmung oder dem Herzschlag schenken wir üblicherweise keine große Beachtung. Um die Beweglichkeit des Aufmerksamkeitsscheinwerfers zu erhöhen, sind Gedanken von großer Bedeutung. Mit Hilfe von Selbstinstruktionen bzw. »Selbstgesprächen« kann der Patient seine Aufmerksamkeit lenken und damit sein Wohlbefinden beeinflussen. Der Patient soll dazu motiviert werden, etwas zu sich selbst zu sagen, das ihm hilft, seine Aufmerksamkeit von seinen körperlichen Beschwerden wegzulenken. Er soll seinen Scheinwerfer bewusst auf andere Wahrnehmungsbereiche und Reizquellen zu lenken lernen: »Bestimmen Sie die Richtung des Scheinwerfers! Geben Sie die Regieanweisung! Dadurch erleben Sie, wie Sie Ihre körperlichen Beschwerden ein Stück weit beeinflussen und kontrollieren können.« jStrategien zur Aufmerksamkeitslenkung kDer Fakir
Am Beispiel eines Fakirs kann die Bedeutung der Aufmerksamkeitslenkung noch einmal veranschaulicht werden. Folgende Informationen können dem Patienten zu dieser Thematik vermittelt werden: Der Patient hat vielleicht schon einmal etwas von Fakiren gelesen, gehört oder gesehen. Fakire setzen sich bewusst einem starken Schmerzreiz aus. Entweder machen sie es sich auf einem Nagelbrett »bequem«, laufen über Glasscherben oder glühende Kohlen oder durchbohren ihre Haut mit Nägeln, Spießen oder Haken. Dabei empfinden sie anscheinend keinen Schmerz. Fakire gelten als Meister der Aufmerksamkeitslenkung. Sie können ihr
77 5.3 · Modul 3: Aufmerksamkeit
5.3.2
Sitzung 5
Schmerzempfinden kontrollieren, indem sie sich ganz stark auf etwas anderes als die Schmerzen konzentrieren. Diese Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit zu kontrollieren und bewusst zu lenken, ist in vielen Situationen nützlich und sinnvoll. Durch Aufmerksamkeitslenkung schaffen wir es, uns bewusst auf eine Tätigkeit zu konzentrieren, ohne von den vielfältigen Sinneseindrücken, die uns umgeben, überflutet zu werden. Wenn sich durch Konzentration auf bestimmte Körperregionen körperliche Missempfindungen verstärken lassen, müsste es ja auch möglich sein, durch Umlenkung der Aufmerksamkeit auf andere Dinge die zuvor wahrgenommenen Beschwerden zu verringern, also eine Entlastung zu empfinden. Manchmal führt der Wechsel in eine ungewohnte Umgebung dazu, dass die Beschwerden nicht mehr wahrgenommen werden. So berichten z. B. manche Personen, die von Zahnschmerzen geplagt werden, davon, dass die Schmerzen plötzlich wie weggeblasen seien, sobald sie ins Behandlungszimmer gerufen werden. Möglicherweise tut ein wenig Angst im Behandlungsstuhl ein Übriges, um die Schmerzen zu »vergessen«. Abschließend sollen nun mit dem Patienten Ablenkungsstrategien gesammelt werden, die er bisher bereits einsetzt (mehr oder weniger bewusst). Dabei können folgende Fragen nützlich sein.
Der Patient soll berichten, welche Strategien der Aufmerksamkeitslenkung (7 Arbeitsblatt 3.3) er in der Zwischenzeit ausprobiert hat und welchen Erfolg diese hatten.
? 4 Haben Sie es schon einmal erlebt, dass Sie durch
? 4 Gab es Schwierigkeiten bei der Umsetzung?
einen Umgebungswechsel oder durch Veränderungen in Ihrer unmittelbaren Umgebung Ihre körperlichen Beschwerden kaum oder gar nicht mehr wahrgenommen haben? 4 Welche Strategien wenden Sie bereits an, um sich von Ihren körperlichen Beschwerden abzulenken? Was haben Sie bisher ausprobiert? Welche weiteren Strategien könnten Ihrer Meinung nach hilfreich sein?
Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 3.2 (Bewältigung körperlicher Beschwerden durch Ablenkung). jHausaufgabe
Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 3.3 (Meine Strategien zur Aufmerksamkeitslenkung). Die Aufgabe wird kurz besprochen. Der Patient soll im Sinne eines Verhaltensexperiments verschiedene Strategien ausprobieren und deren Effekte beobachten. Er soll demnach testen und herausfinden, welche Strategien bei der Bewältigung körperlicher Beschwerden hilfreich sind.
Inhalte und Materialien der 5. Sitzung 4 Inhalte – Besprechung der Hausaufgabe – Verhaltensexperiment – Eiswassertest – Motivationsaufbau – Weitere Strategien zur Ablenkung der Aufmerksamkeit – Hausaufgabe: Arbeitsblatt 3.5 (Wahrnehmungsspaziergang) 4 Materialien – Arbeitsblatt 3.4: Aufmerksamkeitsscheinwerfer – Arbeitsblatt 3.5: Wahrnehmungsspaziergang – Uhr mit Sekundenanzeiger (notwendig für das Verhaltensexperiment)
jBesprechung der Hausaufgabe
4 Welche Strategien empfand der Patient als hilfreich, um sich von körperlichen Beschwerden abzulenken?
jVerhaltensexperiment
Für das Verhaltensexperiment zu Zusammenhängen zwischen Aufmerksamkeitslenkung und der Wahrnehmung körperlicher Prozesse wird der folgende Instruktionstext vorgeschlagen (in Anlehung an Bleichhardt u. Weck 2011). kInstruktion: Verhaltensexperiment
Ich möchte mit Ihnen heute wieder eine kleine praktische Übung machen. Dabei ist es wichtig, dass Sie Ihren rechten Arm waagerecht nach vorne ausstrecken, sobald ich JETZT! sage. Schließen Sie dann auch bitte Ihre Augen. Halten Sie den Arm solange gestreckt, bis ich Ihnen sage, dass Sie ihn wieder ablegen können. Im Laufe der Übung werde ich Sie darum bitten, sich auf bestimmte Dinge zu konzentrieren. – PAUSE (ca. 5 s) – Strecken Sie bitte JETZT Ihren rechten Arm nach vorne und schließen Sie Ihre Augen (der Therapeut achtet auf den Sekundenzeiger seiner Uhr). – Halten Sie Ihren Arm weiterhin gestreckt. – Achten Sie auf die körperliche Anspannung, die notwendig ist, um den Arm in dieser Position zu lassen. – Konzentrieren Sie sich voll und
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Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
ganz auf das Gewicht Ihres rechten Armes. – Achten Sie darauf, wie viel Kraft und Anstrengung es möglicherweise kostet, Ihren Arm gestreckt zu lassen. – Konzentrieren Sie sich darauf, wie schwer sich Ihr rechter Arm anfühlt. – Vielleicht spüren Sie auch, wie Ihr Arm aufgrund der Schwerkraft langsam nach unten gezogen wird. – (Sobald 50 s verstrichen sind): Legen Sie Ihren rechten Arm nun wieder auf der Stuhllehne oder Ihrem Oberschenkel ab. Lockern Sie ihn ruhig ein wenig, um die Anspannung zu lösen. Gleich werden wir die Übung in ähnlicher Form mit dem anderen Arm wiederholen. – PAUSE (ca. 5 s) – Strecken Sie bitte JETZT Ihren linken Arm nach vorne und schließen Sie Ihre Augen (der Therapeut achtet wieder auf den Sekundenzeiger seiner Uhr). – Lenken Sie nun Ihre Aufmerksamkeit auf eine schöne Erinnerung, zum Beispiel einen Urlaub am Meer. – Versuchen Sie sich vorzustellen, wie Sie im weichen und warmen Sand liegen. – Die Sonne scheint auf Ihre Haut und wärmt Sie. – Hell leuchtet der feine Sand, und wenn Sie aufs Meer hinausblicken, erkennen Sie glitzernde Lichtspiele auf dem ruhigen Wasser. – Ein leichter, warmer Wind streicht sanft über Ihre Haut. – Sie riechen die salzige Meeresluft und schmecken Sie möglicherweise sogar auf Ihrer Zunge. – Sie hören das Rauschen der Wellen und das Gezwitscher von Vögeln, die es sich in Ihrer Nachbarschaft gemütlich gemacht haben. – (Sobald 50 s verstrichen sind): Legen Sie Ihren linken Arm nun wieder auf der Stuhllehne oder Ihrem Oberschenkel ab. Lockern Sie ihn ruhig ein wenig, um die Anspannung zu lösen. – Öffnen Sie nun bitte wieder Ihre Augen! Die Auswertung der Übung kann mit folgenden Fragen geschehen: ? 4 Welche Unterschiede haben Sie zwischen beiden Übungen wahrgenommen? 4 Welche der beiden Übungen war angenehmer? 4 Was glauben Sie – wie lange haben die beiden Übungen jeweils gedauert? 4 Welche Übung hat länger gedauert? 4 Welche Übung kam Ihnen länger vor?
Diese Übung demonstriert üblicherweise, dass die Konzentration auf eine Empfindung in einem bestimmten Körperteil – in diesem Fall das Gewicht des ausgestreckten rechten Arms – diese Empfindung verstärkt. jEiswassertest
In Anlehnung an Basler und Kröner-Herwig (1998) kann der so genannte Eiswassertest mit dem Patienten besprochen werden. Die Wirksamkeit von Ablenkungstechniken ist auch in wissenschaftlichen Experimenten untersucht und bewiesen worden. Beim Eiswassertest sollen freiwillige Versuchspersonen ihre Hand so lange wie möglich in eiskaltes Wasser tauchen. Es wird beobachtet, dass Ver-
suchspersonen den Kälteschmerz am längsten aushalten, wenn sie abgelenkt werden. Versuchspersonen, die angewiesen werden, sich auf den Schmerz zu konzentrieren, verweilen durchschnittlich am kürzesten mit ihrer Hand im Eiswasser. Dieses Experiment zeigt die Wirksamkeit von Ablenkung. Die Umlenkung der Aufmerksamkeit erhöht die Schmerztoleranz. Was bedeutet dies nun konkret für den Patienten? Wenn er lernt, nicht nur auf seine körperlichen Beschwerden zu achten, sondern auch darauf, wann er sich wohl fühlt oder sich über etwas freut oder wenn er lernt, sich trotz seiner Beschwerden mit etwas Interessantem zu beschäftigen, dann kann er damit erreichen, sich durch die Körperbeschwerden weniger beeinträchtigen zu lassen. Um das zu erlernen, soll er Strategien kennen lernen, die ihm helfen können, sich von den körperlichen Beschwerden abzulenken und angenehme Erfahrungen intensiver wahrzunehmen und zu erleben. jMotivationsaufbau
Ziel soll sein, die Einstellung des Patienten dahingehend zu verändern, dass er seine Aufmerksamkeit verstärkt auf andere Dinge als auf die körperlichen Beschwerden lenkt. Der »eingerostete« Scheinwerfer der Aufmerksamkeit soll beweglicher gemacht werden, so dass auch andere, angenehme Dinge verstärkt im »Licht der Aufmerksamkeit« stehen. Die körperlichen Beschwerden sollen zunehmend in den Hintergrund, quasi in den »Schatten« der bewussten Wahrnehmung treten. Jeder kennt bestimmt das Phänomen, dass ihn ein interessantes Gespräch, ein unterhaltsamer Film oder ein spannendes Buch derartig fesselt, dass man vergisst, was um einen herum passiert (inklusive Zeitempfinden). Der Patient soll motiviert werden, sich gegen eine ständige »Kontrolle« der Körperbeschwerden zu entscheiden. Mit den folgenden Fragen zum Nutzen seines bisherigen Verhaltens (Aufmerksamkeit verstärkt auf Körperbeschwerden lenken) kann ein Umdenken des Patienten angestoßen werden. ? Was bringt es Ihnen, die Aufmerksamkeit auf Ihre Körperbeschwerden zu lenken (Frage nach dem Nutzen)?
Der Patient wird vermutlich sinngemäß antworten: »Ich kann Veränderungen früh entdecken. Mir fällt schneller auf, ob die Beschwerden zu- oder abnehmen oder ob sie intensiver werden.« ? Was hat es für Vorteile, wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf Ihre körperlichen Beschwerden richten? Was hat es für Nachteile?
Mögliche Antworten: »Die Beschwerden werden häufiger und intensiver wahrgenommen. Ich kann nichts mehr ge-
79 5.3 · Modul 3: Aufmerksamkeit
nießen. Ich ziehe mich zurück. Ich lege mich ins Bett. Ich vermeide körperliche Aktivität. Die Beschwerden bestimmen immer mehr mein Leben.« Die folgende Instruktion kann dazu dienen, den Patienten zur Aufmerksamkeitsumlenkung im Alltag zu motivieren: kInstruktion: Anleitung zur bewussten Aufmerksamkeitslenkung im Alltag
Üben Sie sich in Selbstbeobachtung! Sollten Sie bemerken, dass Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre körperlichen Beschwerden gerichtet ist, dann sagen Sie innerlich oder auch laut zu sich »Stopp!«. Dann sagen Sie sich etwas, das Ihnen hilft, Ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken. Welcher Satz könnte hilfreich sein? Was könnten Sie zu sich sagen, um Ihre Aufmerksamkeit bewusst von den Körperbeschwerden zu lösen und abzulenken? Mindestens ein hilfreicher Satz sollte erarbeitet und schriftlich festgehalten werden! jWeitere Strategien zur Umlenkung der Aufmerksamkeit
5.3.3
Sitzung 6
Inhalte und Materialien der 6. Sitzung 4 Inhalte 4 Besprechung der Hausaufgabe 4 Schutzfaktoren: Was hält uns gesund? 4 Genussregeln 4 Übung zur Schärfung der einzelnen Sinneskanäle 4 Stressbewältigung durch mehr Bewegung im Alltag 4 Hausaufgabe: – Protokoll führen: Arbeitsblatt 3.8 (Positiver Tagesrückblick) – Arbeitsblatt 3.9 (Liste angenehmer Erlebnisse) 4 Materialien 4 Arbeitsblatt 3.6: Genussregeln 4 Arbeitsblatt 3.7: Mehr Bewegung in den Alltag bringen 4 Arbeitsblatt 3.8: Positiver Tagesrückblick 4 Arbeitsblatt 3.9: Liste angenehmer Erlebnisse 4 Schokolade
Im Folgenden wollen wir uns damit beschäftigen, mit Hilfe welcher Strategien der Patient das Scheinwerferlicht der Aufmerksamkeit bewusst lenken kann. Eine Möglichkeit besteht z. B. darin, die Wahrnehmung der anderen Sinneskanäle verstärkt zu trainieren. Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 3.4 (Aufmerksamkeitsscheinwerfer). Übungsvorschläge finden sich auf dem Arbeitsblatt. Zudem sollten eigene Ideen des Patienten erfragt werden.
sind dabei als Anregung zu verstehen:
jHausaufgabe
? 4 Wie gut ist dem Patienten der »Wahrnehmungs-
Der Therapeut leitet die Hausaufgabe sinngemäß mit folgenden Worten ein: kInstruktion: Wahrnehmungsspaziergang
Wenn wir Beschwerden haben, dann neigen wir dazu, uns ganz auf diese Beschwerden zu konzentrieren. Wir richten den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit also nach innen, in unseren Körper hinein. Dadurch treten Dinge, die um uns herum bzw. außerhalb von uns geschehen, in den Hintergrund. Sie verblassen förmlich. Wenn wir aber lernen, uns beim Vorliegen körperlicher Beschwerden auf die Umgebung zu konzentrieren, haben wir eine Strategie zur Verfügung, um mit unseren Beschwerden besser zurechtzukommen. Aus diesem Grund besteht Ihre Aufgabe bis zur nächsten Sitzung nun darin, sich im Wahrnehmen Ihrer Umwelt zu üben. Machen Sie zu diesem Zweck einen so genannten Wahrnehmungsspaziergang! Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 3.5 (Wahrnehmungsspaziergang). Die Aufgabe wird kurz erläutert.
jBesprechung der Hausaufgabe
Sitzung 6 beginnt mit der Besprechung von 7 Arbeitsblatt 3.5 (Wahrnehmungsspaziergang). Die folgenden Fragen
spaziergang« gelungen? 4 Was ist ihm aufgefallen? 4 Gab es Schwierigkeiten bei der Umsetzung? Wenn ja, welche?
jSchutzfaktoren: Was hält gesund?
Der Therapeut erklärt dem Patienten, dass in der heutigen Sitzung die Aufmerksamkeit auf die Ressourcen des Patienten gerichtet werden soll. Der Therapeut erläutert kurz den Begriff. Ressourcen sind vom Patienten mitgebrachte Stärken, Eigenarten, Gewohnheiten, Fähigkeiten, Einstellungen und Ziele, die für den Veränderungsprozess gezielt genutzt werden können. Typische Beispiele für Ressourcen sind: Motivation des Patienten, zwischenmenschliche Beziehungen, Hobbys und Interessen. Im Sinne der Ressourcenaktivierung sollen bereits vorhandene Fähigkeiten und Fertigkeiten, die der Lebensqualität und Gesundheit förderlich sind, aufgedeckt und gefördert werden. Erholung stellt einen Ausgleich zu täglich erlebtem Stress durch Arbeit oder andere Anforderungen dar. Nun
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Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
bedeutet Erholung für jede Person etwas anderes (Ruhe und Entspannung, aber auch aktiv etwas unternehmen oder neue Herausforderungen suchen). Zudem sollte der Patient darauf hingewiesen werden, dass wir nicht allein passiv auf Erholung warten müssen, sondern dass wir aktiv den Erholungsprozess gestalten können, damit sich der gewünschte Erholungseffekt einstellt. Darüber hinaus sollte der Patient darauf achten, sich auf der Suche nach Ausgleich und Erholung nicht dem so genannten »Freizeitstress« auszusetzen. Pflichten und angenehme Freizeitaktivitäten sollten sich in etwa die Waage halten. Auch unter der Woche, an Werktagen sollte der Patient angenehme Aktivitäten einplanen und nicht alles auf das Wochenende verschieben. Der Patient soll motiviert werden, individuelle Ressourcen zu entdecken. Der Therapeut kann ihn dabei mit folgenden Fragen unterstützen. ? 4 Was unternehmen Sie gerne in Ihrer Freizeit? 4 Was tut Ihnen gut? 4 Bei welchen Aktivitäten erleben Sie Spaß oder Entspannung? 4 Was bedeutet für Sie Erholung?
jGenussregeln
Die Genussregeln wurden ursprünglich von Lutz und Koppenhöfer in deren Publikation »Kleine Schule des Genießens« formuliert (Lutz u. Koppenhöfer 1983). Grundgedanke ist, positives Erleben und Verhalten bzw. Wohlbefinden zu fördern. Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 3.6 (Genussregeln). Die einzelnen Regeln werden kurz erläutert. Der Therapeut weist darauf hin, dass die Aufmerksamkeit verstärkt auf positive Sinnesreize gelenkt werden soll. Der Therapeut vermittelt dem Patienten, dass genussvolles Erleben und Handeln durch das Befolgen dieser Regeln gefördert wird und letztlich der Steigerung der seelischen Gesundheit dient. jÜbung zur Schärfung der einzelnen Sinneskanäle
Nun folgt eine kleine Genussübung. Der Therapeut überreicht dem Patienten zwei Stück Schokolade. Mit der folgenden Instruktion soll der Patient angeleitet werden, die Schokolade mit all seinen ihm zur Verfügung stehenden Sinnen zu erfahren. kInstruktion: Schokoladenübung
Legen Sie das erste Stück vor sich und betrachten Sie es. Was geht in Ihnen vor? Möchten Sie es sofort in den Mund nehmen? Können Sie den Anblick genießen? Versuchen Sie, im Stillen das Aussehen der Schokolade zu beschreiben. Legen Sie die Schokolade nun auf die Handinnenfläche. Wie fühlt sich das an? Führen Sie das Stückchen nun zur Nase – wie riecht es? Wann haben Sie das letzte Mal diesen Schokoladenduft so richtig wahrgenommen?
Befeuchten Sie nun die Lippen und reiben Sie die Schokolade sanft darüber. Wie wirkt die Schokolade auf Ihren Lippen? Lecken Sie nun Ihre Lippen, um einen Vorgeschmack zu erfahren. Obwohl so ein Stück Schokolade schon sehr klein ist, beißen Sie trotzdem zunächst nur die Hälfte ab. Beginnen Sie nicht zu kauen, sondern lassen Sie diese Hälfte zunächst nur vorne im Mund liegen und zwar so lange, bis sie anfängt, von allein zu schmelzen. Schieben Sie nun das Stückchen erst in die rechte Wange … dann in die linke Wange … vor die Zähne … unter die Zunge … und finden Sie heraus, wo im Mund der Geschmack oder das Gefühl am schönsten ist. Schlucken Sie den verbleibenden Rest nicht hinunter, sondern lassen Sie das Stück vollständig schmelzen … Verfolgen Sie nun noch einmal mit der Zunge den Weg der Schokolade zurück zu allen Stellen, mit denen sie im Mund in Berührung kam. Nehmen Sie nun die zweite Hälfte der Schokolade in die Hand und lecken Sie zuerst um alle Ecken herum. Genießen Sie dabei die Beschaffenheit der Schokolade. Stecken Sie dann das Stückchen vollständig in den Mund und lassen es unter der Zunge schmelzen. Erforschen Sie es hin und wieder mit der Zungenspitze. Wenn es weich genug ist, pressen Sie es gegen den Gaumen, bis es ganz matschig ist. Verteilen Sie den Rest der Schokolade an den Stellen, an denen Sie sie im ersten Teil der Übung am liebsten mochten. Das nächste Stück Schokolade wird nicht so behutsam behandelt. Schieben Sie es in den Mund und essen Sie es so schnell Sie können, während Sie daran denken, was Sie heute Abend noch vorhaben. Die folgenden Fragen dienen der Auswertung der Übung: ? 4 Welche Unterschiede haben Sie zu Ihrer alltäglichen Erfahrung mit Schokolade bemerkt? 4 Gab es eine Erfahrung, die Ihnen neu war oder besonders aufgefallen ist? 4 Was hat Ihnen besonders gut gefallen? 4 Haben Sie einen von Ihnen bevorzugten Sinneskanal? 4 Welchen Sinn nutzen Sie im Alltag am wenigsten/ am häufigsten?
jStressbewältigung durch mehr Bewegung im Alltag
Diese Intervention orientiert sich an einem Stressbewältigungsprogramm, das von Kaluza (2004) entwickelt wurde. Durch körperliche Aktivität kann der Organismus vor schädigenden Auswirkungen chronischen Stresses geschützt werden. Sportliche Aktivitäten, aber auch bereits vermehrte Bewegung im Alltag verbessern die Fitness und stellen eine effektive Methode dar, um Stress entgegenzuwirken bzw. ihm vorzubeugen. Jede regelmäßige körperliche Aktivität, die zu einer Beschleunigung der Atmung
81 5.4 · Modul 4: Bewertungsprozesse
führt und mindestens 10 Minuten lang durchgeführt wird, hat einen gesundheitlichen Nutzen. Zur Förderung von Compliance ist es hier sehr wichtig, den Patienten durch gezielte Fragen zu motivieren, mehr Bewegung in seinen Alltag einzubauen.
? 4 Was haben Sie positiv erlebt?
? 4 Was könnten Sie in Ihrem Alltag beispielsweise
jZitronenübung
tun, um sich mehr zu bewegen? 4 Gibt es bereits Aktivitäten in Ihrem Alltag, die Sie zukünftig mit körperlicher Aktivität verbinden könnten? 4 Was könnten Sie tun, um sich selbst zu mehr Bewegung im Alltag zu motivieren? 4 Gibt es Zeiten, in denen Sie sich fest Bewegung im Alltag einplanen könnten?
Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 3.7 (Mehr Bewegung in den Alltag bringen). Die einzelnen Punkte werden kurz besprochen. jHausaufgabe
Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 3.8 (Positiver Tagesrückblick) und 7 Arbeitsblatt 3.9 (Liste angenehmer Erlebnisse). Die Aufgaben werden kurz besprochen.
5.4
Modul 4: Bewertungsprozesse
5.4.1
Sitzung 7
Inhalte und Materialien der 7. Sitzung 4 Inhalte – Besprechung der Hausaufgabe – Zitronenübung – Vermittlung des »Kognitiven Modells«: Das ABCSchema der Gefühle – Verdeutlichung an einem Beispiel: Die Spinne im Bett – Hausaufgabe: Ein eigenes ABC-Schema erstellen (Arbeitsblatt 4.4) 4 Materialien – Arbeitsblatt 4.1: Die vier Verhaltensebenen – Arbeitsblatt 4.2: ABC-Modell der Gefühle – Arbeitsblatt 4.3: ABC-Beispiel – Arbeitsblatt 4.4: Mein eigenes ABC-Schema
jBesprechung der Hausaufgabe
Zunächst wird der positive Tagesrückblick ausgewertet (7 Arbeitsblatt 3.8), im Anschluss daran die Liste angenehmer Erlebnisse (7 Arbeitsblatt 3.9).
4 An welchen kleinen Dingen des Alltags konnten Sie sich erfreuen? 4 An welchen Aktivitäten hat der Patient Freude und möchte sie in nächster Zeit öfter ausführen?
Die Bedeutung von Bewertungsprozessen wird mit Hilfe eines kleinen Gedankenexperiments demonstriert, der so genannten Zitronenübung. kInstruktion: Zitronenübung
In der heutigen und in den kommenden Sitzungen wollen wir uns mit dem Einfluss unserer Gedanken auf körperliche Vorgänge beschäftigen. Dazu möchte ich mit Ihnen zu Beginn ein kleines Gedankenexperiment durchführen. Setzen Sie sich nun bitte bequem und entspannt hin. – Wenn Sie möchten, dann schließen Sie die Augen, denn mit geschlossenen Augen fällt den meisten Menschen diese Übung leichter. – Stellen Sie sich nun vor, dass vor Ihnen ein gewöhnlicher Tisch steht. – Auf dem Tisch befindet sich eine Zitrone, die auf einem kleinen Brettchen liegt. – Neben dem Brettchen liegt ein Messer. – Nehmen Sie nun die Zitrone in Ihre linke Hand. – Versuchen Sie, die Oberfläche Ihrer Zitrone mit beiden Händen zu ertasten! – Spüren Sie Unebenheiten? – Ist die Schale Ihrer Zitrone eher weich oder fest? – Versuchen Sie, sich nun die Farbe Ihrer Zitrone vorzustellen! – Sie nehmen ein leuchtendes und sattes Gelb einer reifen Zitrone wahr. – Fallen Ihnen Flecken oder andere Schönheitsfehler auf der Schale Ihrer Zitrone auf? Oder ist sie etwa makellos? – Stellen Sie sich nun vor, wie Sie die Zitrone langsam zu Ihrer Nase führen und an ihr riechen. – Sie bemerken, dass sie ganz leicht und dezent nach Zitrone duftet. – Stellen Sie sich nun vor, wie Sie die Zitrone wieder zurück auf das Brettchen legen, das Messer in Ihre rechte Hand nehmen und die Zitrone halbieren. – Beim problemlosen Schneiden spritzt etwas Saft heraus und läuft über Ihre Finger! – Sie nehmen nun deutlich den sauren Zitronengeruch wahr. – Betrachten Sie sich das saftige Innere Ihrer Zitronenhälften, die kammerartige Struktur, die nass ist und glänzt. – Sie stellen fest, dass es nun sehr stark nach Zitrone duftet. – Stellen Sie sich nun vor, wie Sie von der einen Zitronenhälfte eine Scheibe abschneiden. – Sie falten die Scheibe und führen sie zu Ihrem Mund. – Währenddessen tropft Zitronensaft auf Ihre Kleidung und rinnt Ihnen über die Hände. – Langsam führen Sie die Zitronenscheibe zu Ihrem Mund und beißen nun ohne Zögern beherzt und kräftig hinein! – Nachdem Ihre Zähne das Fruchtfleisch durchdringen, breitet sich Zitronensaft in Ihrem Mund aus. – Sie nehmen nun einen sehr sauren Geschmack auf Ihrer Zunge und an Ihrem Gaumen wahr! – Stellen Sie sich vor, wie Sie das Fruchtfleisch langsam zerkauen! – Noch mehr Zitronensaft wird frei und läuft langsam über Ihre Zunge, den Rachen hinab. –
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Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
Wenn Sie genügend von Ihrer Zitrone gekostet haben, dann beenden Sie unsere kleine Vorstellungsübung! – Legen Sie Ihre Zitrone in Gedanken beiseite und öffnen Sie wieder die Augen! Um den Patienten zu unterstützen, seine Erfahrungen, die er während der Übung gemacht hat, zu reflektieren, können ihm möglicherweise folgende Fragen helfen: ? 4 Welche Veränderungen haben Sie während der
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Übung an sich bemerkt? (»Ideale« Antwort: vermehrter Speichelfluss, Zusammenziehen der Gesichtszüge, Zitronengeschmack im Mund – das herzhafte Beißen in eine imaginäre Zitrone lässt einem wahrlich das Wasser im Mund zusammenlaufen). 4 Was lernen Sie daraus?
Diese Übung zeigt, dass allein die Vorstellung, also ein bildhafter Gedanke, ausreicht, um eine körperliche Reaktion hervorzurufen. Wir können allein mit unseren Gedanken körperliche Vorgänge beeinflussen! jVermittlung des »kognitiven Modells«: Das ABC-Schema der Gefühle
Es gibt Situationen, in denen die meisten Menschen gleich reagieren, z. B. bei einer roten Ampel im Stadtverkehr bremsen, sich bei einem Sechser im Lotto freuen oder beim Verlust einer nahestehenden Person trauern. Es gibt jedoch auch viele Ereignisse bzw. Situationen, in denen Menschen sehr unterschiedlich reagieren. Auch kann sich eine Person in ein und derselben Situation zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich verhalten. Mit Hilfe der folgenden Frage soll der Patient unterstützt werden, sich selbst herzuleiten, wodurch diese verschiedenen Verhaltensreaktionen in ein und derselben Situation hervorgerufen werden können. ? Wie ist das möglich? Haben Sie eine Erklärung dafür?
Wenn der Patient nicht von selbst auf die Antwort kommt, dann könnte die Antwort des Therapeuten sinngemäß wie folgt lauten: Je nachdem, wie man eine bestimmte Situation bewertet bzw. wie man über ein bestimmtes Ereignis denkt, führt dies zu unterschiedlichen Gefühlen und Verhaltensweisen. Bevor Therapeut und Patient den Zusammenhang zwischen Situation, Gedanken und Gefühlen näher betrachten, sollte zunächst erklärt werden, was man unter dem Begriff »Verhalten« genau versteht. Das folgende Instruktionsbeispiel kann hierbei als Hilfsmittel genutzt werden.
kInstruktion: Einführung in die vier Verhaltensebenen
Verhalten lässt sich auf vier Ebenen beschreiben. 1. Kognitive Ebene: Hier findet sich all das, was sich in Ihrem Kopf abspielt – dazu gehören Gedanken bzw. innere Monologe oder Selbstgespräche, Wahrnehmungen, Bewertungen und Interpretationen, bestimmte Einstellungen, Überzeugungen, Normen und Werte, die Sie vertreten; zudem finden sich hier auch Erinnerungen bzw. Vorstellungsbilder. 2. Emotionale Ebene (angelehnt an Stavemann 2001): Hierunter verstehen wir Gefühle. Diese lassen sich auf wenige Bereiche begrenzen: Freude und Zuneigung (angenehme Empfindungen), Gleichgültigkeit/Gelassenheit (neutrale Empfindung), Angst, Ärger, Scham, Ekel und Traurigkeit (unangenehme Empfindungen). Es gibt eine Vielzahl weiterer Begriffe zur Beschreibung von Gefühlszuständen, doch letzten Endes stellen sie entweder Mischformen der genannten Empfindungen dar oder dienen der Beschreibung der Gefühlsstärke bzw. -intensität. Gefühle werden von einer mehr oder weniger großen Aufregung, dem so genannten Erregungsniveau begleitet. Je höher die begleitende Erregung, umso stärker die Gefühlswahrnehmung (Ausnahme: Traurigkeit bzw. Deprimiertheit). 3. Physiologische Ebene: Hier finden sich alle körperlichen Reaktionen bzw. Begleiterscheinungen, z. B. Herzklopfen, Schwitzen, Veränderung der Atemfrequenz, Muskelanspannung, Mundtrockenheit, Schmerzen, Schwindel, Juckreiz usw. 4. Motorische Ebene: Hierzu zählt all das, was ein anderer an Ihnen in einer bestimmten Situation beobachten kann. Es geht um offen beobachtbare Verhaltensweisen. Ein anderer könnte beispielsweise feststellen, dass Sie weinen, lachen, weglaufen, Blickkontakt vermeiden, schreien, etwas trinken, Fragen stellen oder einfach schweigen. Es gilt in diesem Sinne gemäß Watzlawick und Kollegen (2000, S. 51): »Ein Mensch kann sich nicht nicht verhalten!« Die Unterscheidung dieser vier Ebenen soll Ihnen helfen, Ihr eigenes Verhalten differenziert beobachten und beschreiben zu können. Tatsächlich hängen die vier Ebenen eng miteinander zusammen. Sie beeinflussen sich gegenseitig. Der Patient erhält als Zusammenfassung das 7 Arbeitsblatt 4.1 (Die vier Verhaltensebenen). Um entsprechend dem allgemeinen psychotherapeutischen Modell (. Abb. 5.1) den Zusammenhang zwischen Gedanken, Gefühlen, körperlichen Reaktionen und beobachtbaren Verhaltensweisen zu veranschaulichen, hat sich das so genannte ABC-Modell bewährt bzw. etabliert. Es wurde in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von dem US-amerikanischen Psychotherapeuten
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83 5.4 · Modul 4: Bewertungsprozesse
Albert Ellis entwickelt. Die folgende Instruktion kann herangezogen werden, um dem Patienten das ABC-Modell zu erklären.
Gefühle
kInstruktion: ABC-Modell
Ich werde Ihnen zunächst die einzelnen Komponenten des Modells erklären. A bedeutet auslösende Situation: Das kann ein für jeden erkennbares Ereignis sein (z. B. die Ampel schaltet auf Rot oder das Telefon klingelt) oder kann sich in der Person selbst abspielen (z. B. das Herz schlägt schneller oder der Gedanke daran, dass Morgen ein Prüfungstermin ansteht). B kennen Sie schon: Hierbei handelt es sich um Bewertungen der Situation A, d. h. um Gedanken in Bezug auf A. Es handelt sich um die persönliche Sichtweise von A. Welche Schlussfolgerungen ziehe ich? Welche Konsequenzen vermute ich? Wie finde ich das? Hier sind grundsätzlich drei Einschätzungen möglich: A ist gut für mich (ich betrachte A als positiv bzw. als Herausforderung), A ist egal (ich betrachte A als neutral bzw. harmlos) oder A ist schlecht für mich (ich betrachte A als schädigend bzw. gefährlich/bedrohlich). Um zu einer Einschätzung zu gelangen, ziehen wir mehr oder weniger bewusst unser Vorwissen und unsere Erfahrungen heran und beurteilen unsere Bewältigungsfähigkeiten und -möglichkeiten. Vorurteile, Werte und Normen beeinflussen ebenfalls unsere Einschätzung der Situation A. Wichtig: Denkprozesse können bewusst und unbewusst ablaufen! Auch C dürfte Ihnen bekannt vorkommen. C steht für (englisch) Consequences. Es handelt sich um die Konsequenzen, die aus unserer Bewertung der Situation A folgen. Unsere Gedanken in Bezug auf A beeinflussen zum einen unser Gefühlsleben und zum anderen unsere körperlichen Vorgänge sowie unser Verhalten. Die Bewertung legt eindeutig und endgültig fest, mit welchem Gefühl wir reagieren. Man spricht von der so genannten Bewertungs-Gefühls-Logik. Anders verhält es sich bei den Verhaltenskonsequenzen: Sie wissen sicherlich aus eigener Erfahrung, dass man »gute Miene zum bösen Spiel« machen kann, dass man sehr wohl ein Lächeln aufsetzen und freundlich sein kann, obwohl einem gar nicht danach zumute ist. Auch wenn wir Angst kaum ertragen können oder innerlich vor Wut kochen, können wir uns doch so verhalten, dass uns keiner unsere emotionalen Turbulenzen ansieht. Gefühle lassen sich verbergen. Wenn der emotionale Druck zu stark sein sollte, ist es aufgrund möglicher negativer sozialer Folgen im privaten und beruflichen Leben besser, sein B zu ändern als kräftig »Dampf abzulassen« bzw. sich entsprechend seines momentanen Gefühls zu verhalten! Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 4.2 (ABC-Modell der Gefühle).
Verhalten
Gedanken
. Abb. 5.1 Allgemeines psychotherapeutisches Modell zu den Zusammenhängen zwischen Gefühlen, Verhalten und Gedanken
jVerdeutlichung an einem Beispiel: Die Spinne im Bett
Der Therapeut sollte nach der theoretischen Erklärung des ABC-Modells mit dem Patienten nach konkreten Alltagssituationen suchen, auf die das Modell übertragen werden kann. Wir schlagen folgende Beispielsituation vor: Der Patient soll sich vorstellen, dass er beim Zubettgehen bzw. beim Zurückwerfen der Bettdecke eine handtellergroße Spinne entdeckt, die es sich auf dem Bettlaken bequem gemacht hat. Der Patient erhält dazu 7 Arbeitsblatt 4.3 (ABC-Beispiel). Anhand dieser Beispielsituation soll der Patient mit Hilfe gezielter Fragen mit den verschiedenen Komponenten des ABC-Modells vertraut gemacht werden. ? Was geht Ihnen beim Anblick der Spinne durch den Kopf? Was sagen Sie zu sich? Was empfinden Sie? Was werden Sie tun?
Der Patient trägt seine Antworten ins ABC-Schema ein. Der Therapeut hilft, indem er insbesondere darauf achtet, dass Gedanken und Gefühle nicht verwechselt werden. Mögliche Gedanken: Pfui Spinne! Wie eklig! Wie interessant! Die hat aber eine schöne Zeichnung! Was ist das wohl für eine Gattung? Die ist bestimmt gefährlich! Ich darf sie nicht aus den Augen lassen! Sie wird mich anspringen und beißen! Die tut mir nichts, die hat wahrscheinlich mehr Angst als ich! Huch, welch ungebetener Gast! Die gehört zurück in die Natur! Mit dieser Spinne in einem Zimmer, so kann ich nicht schlafen! In unseren Breitengraden gibt es keine giftigen Spinnen – die ist harmlos! Was soll ich bloß machen, ich bin wie gelähmt!? Mögliche Gefühlskonsequenzen: Überraschung, Angst, Ekel, Neugier, Hilflosigkeit. Mögliche körperliche Reaktionen als Konsequenz: Herzklopfen, Schwitzen, Unruhe, schnellere Atmung, Zittern etc. Mögliche Verhaltensweisen als Konsequenz: um Hilfe schreien, den Raum fluchtartig verlassen, die Spinne mit den Augen fixieren, den Staubsauger holen, die Spinne »retten«, näher herantreten
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Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
und genauer betrachten, erstarren wie eine Salzsäule, ein Tierlexikon holen, totschlagen etc. ? 4 Was würde eine andere Person denken (Spinnenliebhaber, Spinnenhasser, Spinnenphobiker)? 4 Wie würde diese andere Person in dieser Situation reagieren? 4 Was würde sie empfinden und tun? 4 Was müssten Sie sich denken, um der Spinne gelassen entgegenzutreten?
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Abschließend wird noch einmal festgehalten: Ein bestimmtes Ereignis kann zu unterschiedlichen Gefühlen und Verhaltensweisen führen, je nachdem wie das Ereignis bewertet wird! jHausaufgabe
Der Patient erhält bis zur nächsten Sitzung die Aufgabe, ein eigenes ABC-Schema zu erstellen. Er soll sich zwei Situationen heraussuchen, die er selbst erlebt hat und in denen er starke Gefühlsreaktionen verspürt hat. Dabei spielt es keine Rolle, ob positive oder negative Gefühle erlebt wurden. Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 4.4 (Mein eigenes ABC-Schema).
5.4.2
Sitzung 8
Inhalte und Materialien der 8. Sitzung 4 Inhalte – Besprechung der Hausaufgabe – Verdeutlichung des ABC-Modells anhand der Geschichte mit dem Hammer – ABC-Modell zu körperlichen Beschwerden: Rückenschmerzen – Sammeln von Gedanken zu körperlichen Beschwerden – Sammeln alternativer Gedanken – Hausaufgabe: Mögliche Ursachen von Kopfschmerzen finden (Arbeitsblatt 4.7) – Entspannungsübung nach Weitzmann 4 Materialien – Arbeitsblatt 4.5: Die Geschichte mit dem Hammer – Arbeitsblatt 4.6: ABC-Modell: Rückenschmerzen – Arbeitsblatt 4.7: Ursachen von Kopfschmerzen
jBesprechung der Hausaufgabe
Bei der Besprechung von 7 Arbeitsblatt 4.4 (Mein eigenes ABC-Schema) sollte der Therapeut vor allem darauf achten, ob es dem Patienten gelungen ist, Gefühle und Ge-
danken auseinanderzuhalten und nicht miteinander zu verwechseln. Abermals wird auf die Grundannahme des kognitiven Modells hingewiesen, nämlich dass es – je nachdem wie eine Situation bewertet wird – zu unterschiedlichen Gefühlen und Verhaltensweisen kommt! jVerdeutlichung des ABC-Modells anhand der Geschichte mit dem Hammer
Der Therapeut liest folgende Geschichte vor (Watzlawick 2007, S. 37–38): kInstruktion: Die Geschichte mit dem Hammer
Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt, und er hat etwas gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts angetan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht‘s mir wirklich. – Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch noch bevor er »Guten Tag!« sagen kann, schreit ihn unser Mann an: »Behalten Sie sich Ihren Hammer, Sie Rüpel!« Diese Geschichte veranschaulicht, wie unsere Gedanken und Vorstellungen unsere Gefühle beeinflussen. Zudem zeigt sie, dass wir uns manchmal durch unser Denken selbst im Wege stehen. Dass wir uns Dinge einreden, unsere Gedanken als Tatsachen betrachten und uns dementsprechend verhalten. Sie zeigt uns, dass wir manchmal so genannte Denkfehler begehen, z. B. indem wir versuchen, in die Köpfe anderer Menschen hineinzuschauen und ihre Gedanken zu lesen oder indem wir versuchen, die Zukunft vorherzusagen, häufig in negativer Form, so dass wir den Teufel an die Wand malen bzw. eine Katastrophe prophezeien. So gesehen machen wir uns oft selbst verrückt, indem wir über »ungelegte Eier« nachdenken oder uns in übermenschlichen Fähigkeiten wie dem Gedankenlesen oder dem Hellsehen probieren. Grundsätzlich unterscheidet man angemessene von unangemessenen Gedanken bzw. Bewertungen. Bei angemessener Bewertung stützt sich mein Denken auf Tatsachen statt auf Meinungen und Spekulationen. Es ist auf das Erreichen meiner persönlichen Ziele ausgerichtet und bewirkt nur die dafür notwendige emotionale Belastung bzw. Aufregung. Angemessenes Denken verhindert unnötige Konflikte mit mir selbst (z. B. in Form von starker
85 5.4 · Modul 4: Bewertungsprozesse
emotionaler Belastung) oder meiner Umwelt. Unangemessenes Denken beruht auf Spekulationen, Fehleinschätzungen, Vorurteilen oder unrealistischen Erwartungen oder Zielsetzungen (z. B. Alle sollen mich mögen! Ich darf keinen Fehler machen! Ich brauche 100%ige Sicherheit!) und führt zu starker emotionaler Belastung oder anderen Problemen. Als problematisch gelten u. a. folgende Denkmuster: Übertreiben bzw. Katastrophisieren, Generalisieren bzw. Schwarz-Weiß-Denken, überhöhte Ansprüche bzw. absolute Forderungen an sich, an andere und die Welt (einige Schlüsselwörter: sollen, müssen, unbedingt, verlangen, nicht dürfen), niedrige Frustrationstoleranz (der Glaube, Schmerz, Unbehagen, Nachteile, Entbehrungen, Verluste, Unannehmlichkeiten oder andere Widrigkeiten nicht aushalten zu können). Unser Mann aus der Geschichte mit dem Hammer glaubt zu wissen, dass sein Nachbar ihm den Hammer verweigern wird (er betrachtet demnach seine Gedanken als Realität und sagt sich »So ist es und nicht anders!«), bewertet die angenommene Verweigerungshaltung des Nachbarn als Unverschämtheit, wird entsprechend ärgerlich und blafft seinen verdutzten Nachbarn an, der natürlich nicht weiß, wie ihm geschieht. Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 4.5 (Die Geschichte mit dem Hammer). jABC-Modell zu körperlichen Beschwerden: Rückenschmerzen
Das ABC-Modell wird dem Patienten nun mit einem Beispiel aus dem Bereich körperlicher Beschwerden erläutert, was wie folgt geschehen kann: ? Stellen Sie sich nun folgende Situation vor, die Ihnen vielleicht bekannt vorkommt. Sie wachen morgens mit Rückenschmerzen auf. Welche Gedanken gehen Ihnen durch den Kopf? Was empfinden Sie? Was werden Sie tun?
Anschließend erhält der Patient 7 Arbeitsblatt 4.6 (ABCModell: Rückenschmerzen). Darauf sind typische Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen verzeichnet. jSammeln von Gedanken zu körperlichen Beschwerden
Nun sollen typische Gedanken des Patienten gesammelt werden, die beim Auftreten körperlicher Beschwerden auftauchen: »Ich möchte nun mit Ihnen gemeinsam sammeln, welche Gedanken Ihnen durch den Kopf gehen, wenn Sie körperliche Beschwerden (Symptome des Patienten aufzählen!) haben. Versuchen Sie sich bitte genau zu erinnern, was Ihnen typischerweise durch den Kopf geht, wenn körperliche Beschwerden auftreten!« Die Antworten des Patienten werden auf dem Flipchart notiert. Am Ende liest der Therapeut noch einmal alle notierten Gedanken wiederholt vor und bittet den Pa-
tienten um Folgendes: »Ich lese Ihnen diese Gedanken nun einige Male vor. Achten Sie bitte darauf, wie es Ihnen dabei geht, während ich Sie wiederholt mit Ihren Gedanken konfrontiere!« Der Patient wird gebeten, zu berichten, wie es ihm ergangen ist. Üblicherweise schildert der Patient, dass sich die Gedanken (negative Bewertungen körperlicher Missempfindungen) negativ auf sein Wohlbefinden auswirken. Hier sollte der Patient abermals auf den Zusammenhang zwischen Gedanken und Gefühlen hingewiesen werden (in Anlehnung an Basler u. Kröner-Herwig 1998): »Wie Sie vielleicht gerade am eigenen Leib gespürt haben, drücken solche Gedanken auf die Stimmung, sie führen zu Besorgnis und Angst, führen zu Anspannung und verstärken sogar die Beschwerden, z. B. Schmerzen. Ziel unserer Arbeit ist nicht, die gedankliche Auseinandersetzung mit Ihren körperlichen Beschwerden zu verhindern. Es geht vielmehr darum, Grübeleien, die das Gefühl von Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und damit Verzweiflung verstärken, besser zu kontrollieren, d. h. besser als bisher in den Griff zu bekommen. Deshalb ist es für Sie wichtig, realistische Möglichkeiten zu finden, die negativen, die Beschwerden eher verstärkenden Gedanken durch positive, die Beschwerden eher lindernde Gedanken ersetzen zu können. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass Sie für die Bewältigung Ihrer körperlichen Beschwerden hilfreiche und weniger hilfreiche Gedanken gut unterscheiden können.« jSammeln alternativer Gedanken
Im nächsten Schritt sollen nun alternative Gedanken gesammelt werden. Dafür ist es notwendig, die dysfunktionalen Gedanken zu hinterfragen. Die folgende Instruktion kann hierbei helfen: kInstruktion: Alternative Gedanken sammeln
Die Gedanken, die wir eben gemeinsam gesammelt haben, können durchaus zutreffen, müssen aber nicht, denn Gedanken sind keine Tatsachen! Manchmal begehen wir – ohne dass wir uns dessen bewusst sind – derartige Denkfehler. Dann nehmen wir z. B. an, dass unsere Gedanken die Realität widerspiegeln. Auf andere Denkfehler, die uns häufig unterlaufen, werden wir in einer der nächsten Sitzungen ausführlicher eingehen. Wenn wir unsere Gedanken als Tatsachen betrachten, also sehr gewiss und stark davon überzeugt sind, dass dem so sein muss, hat das den Nachteil, dass wir für andere Bewertungs- und Erklärungsmöglichkeiten mehr oder weniger blind sind und dazu tendieren, alternative Sichtweisen zu vernachlässigen. Nachdem wir einige Ihrer Gedanken eben gesammelt haben, geht es im nächsten Schritt nun darum, dass Sie Ihre Gedanken auf Realitätsgehalt und Zweckmäßigkeit hin überprüfen. Fragen Sie sich, ob Ihre Denkweise angemessen, sinnvoll und
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Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
realistisch ist! Fragen Sie sich, ob Ihnen vielleicht gerade ein Denkfehler unterläuft! Fragen Sie sich, ob es noch andere Bewertungs- oder Erklärungsmöglichkeiten für Ihre Beschwerden gibt! Um diese Art der Überprüfung bzw. das Hinterfragen von Gedanken zu üben, besteht Ihre Aufgabe nun darin, alternative, angemessene und hilfreiche Gedanken für Ihre körperlichen Beschwerden zu finden!
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In einem nächsten Schritt soll der Patient durch geleitetes Entdecken und gezielte Fragen selbstständig neue alternative Gedanken herleiten. ? 4 Was könnten Sie denken, wenn körperliche Beschwerden (Symptome des Patienten nennen!) auftauchen? 4 Welche Gedanken wären geeigneter bzw. hilfreicher, um Ihre Beschwerden zu bewältigen oder zu lindern? 4 Was würden Sie einem guten Freund raten, der unter ähnlichen Beschwerden leidet?
jHausaufgabe
Um das Sammeln unterschiedlicher Erklärungsmöglichkeiten für eine körperliche Beschwerde sowie die Disputation unangemessener Gedanken zu üben, erhält der Patient 7 Arbeitsblatt 4.7 (Ursachen von Kopfschmerzen) als Hausaufgabe. jEntspannungsübung nach Weitzman
Sitzung 8 wird mit einer Entspannungsübung nach Weitzmann abgerundet (Goldfried u. Davison 1979). kInstruktion: Weitzmann-Entspannungsübung (in Anlehnung an Goldfried u. Davison 1979)
Hinweis: Zwischen den einzelnen Fragen sollte der Therapeut jeweils etwa 5 Sekunden pausieren! Setzen Sie sich gemütlich hin, und hören Sie mir gut zu. Ich möchte Ihnen eine Reihe von Fragen stellen. Obwohl jede Frage entweder mit Ja oder Nein beantwortet werden könnte, ist es nicht erforderlich, dass Sie »Ja« oder »Nein« aussprechen oder auch nur in Gedanken bejahen oder verneinen. Ihre eigene spezielle Reaktion auf die Frage stellt bereits die Antwort auf die Frage dar. Das wird im Verlauf unserer Übung ganz deutlich werden. Denken Sie nur daran, auf meine Fragen zu hören. Wundern Sie sich nicht, wenn Ihnen einige davon etwas ungewöhnlich vorkommen. Lassen Sie nur einfach auf jede Frage die entsprechende Reaktion zu. Dabei spielt es keine Rolle, wie Sie reagieren – es ist immer recht so. Denn Falsch oder Richtig gibt es hierbei nicht. 4 Ist es Ihnen möglich, Ihre Augen zu schließen? 4 Wenn sie jetzt noch nicht geschlossen sind, dann machen Sie sie bitte jetzt zu!
4 Können Sie sich den Zwischenraum zwischen Ihren Augen vorstellen? 4 Können Sie sich den Zwischenraum zwischen Ihren Ohren vorstellen? 4 Können Sie sich den Zwischenraum zwischen Ihren Nasenflügeln vorstellen? 4 Können Sie spüren, wo Ihre Haarspitzen enden? 4 Können Sie sich bewusst machen, wie nahe Ihr Atem an den Augenhintergrund gelangt, wenn Sie Luft holen? 4 Können Sie sich vorstellen, dass Sie sich etwas anschauen, das sehr weit entfernt ist? 4 Können Sie bewusst spüren, wo Ihre Arme Ihren Körper berühren? 4 Können Sie den Boden unter Ihren Füßen spüren? 4 Können Sie sich im Geiste eine schöne Blume vorstellen, die vor Ihnen schwebt? 4 Können Sie sich Ihr Mundinneres bewusst machen? 4 Und ist es Ihnen möglich, sich die Lage Ihrer Zunge im Mund deutlich zu machen? 4 Können Sie auch den leisesten Hauch gegen Ihre Wange fühlen? 4 Ist es Ihnen möglich, wahrzunehmen, dass ein Arm entspannter ist als der andere? 4 Können Sie irgendeine Veränderung in Ihrer Körpertemperatur feststellen? 4 Können Sie sich wie eine Stoffpuppe fühlen? 4 Können Sie sich vorstellen, dass Sie wie auf einer Wolke schweben? Oder fühlen Sie sich dafür viel zu schwer? 4 Können Sie sich vorstellen, wo Ihr Steißbein endet? 4 Können Sie sich die Beschaffenheit Ihres Kehlkopfes vergegenwärtigen? 4 Können Sie spüren, wie warmes Blut durch Ihre Adern fließt? 4 Können Sie sich noch einmal vorstellen, dass Sie etwas weit Entferntes anschauen? 4 Können Sie fühlen, wie Ihr Gesicht ganz weich wird? 4 Sind Sie in der Lage, jetzt Ihre Augen wieder zu öffnen? 4 Und wenn Sie sie jetzt noch nicht geöffnet haben, machen Sie sie nun auf. Nach der Übung erfolgt eine kurze Besprechung bzw. Auswertung: ? 4 Ist es dem Patienten gelungen, sich zu entspannen? (Einschätzung auf dem Entspannungsthermometer: 0–100) 4 Welche Veränderungen hat er bemerkt? 4 Gab es Schwierigkeiten?
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5.4.3
Sitzung 9
Inhalte und Materialien der 9. Sitzung 4 Inhalte – Besprechung der Hausaufgabe – Verhaltensexperiment: Provokation körperlicher Missempfindungen – Negative Gedanken bei körperlichen Beschwerden – Hausaufgabe: Hilfreiche Gedanken bei körperlichen Beschwerden (Arbeitsblatt 4.9) – Entspannungsübung: Phantasiereise 4 Materialien – Arbeitsblatt 4.8: Negative Gedanken bei körperlichen Beschwerden – Arbeitsblatt 4.9: Hilfreiche Gedanken bei körperlichen Beschwerden
jBesprechung der Hausaufgabe
Folgende Beispiele können für die Auswertung von 7 Arbeitsblatt 4.7 (Ursachen von Kopfschmerzen) herangezogen werden: Wetterumschwung, Föhn, Lichtblitze, grelles Licht, Überlastung der Muskulatur (Rücken, Nacken) durch lang andauernde und einseitige körperliche Beanspruchung (Fehlhaltung), bestimmte Nahrungs- und Genussmittel (Rotwein, Schokolade, Käse, Milch), ein »Kater« nach durchzechter Nacht, bestimmte Medikamente, hormonelle Veränderungen, Alltagsstress etc. Der Therapeut sollte betonen (insbesondere bei Patienten mit Krankheitsängsten), dass ein Hirntumor oder andere schwere Krankheiten eine sehr seltene Ursache von Kopfschmerzen darstellen. Es ist wichtig, möglichst viele verschiedene Ursachen für die jeweilige körperliche Beschwerde zu berücksichtigen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass hinter dem Symptom eine bedrohliche Krankheit steckt. jVerhaltensexperiment: Provokation körperlicher Missempfindungen
Der Patient soll die Erfahrung machen, dass körperliche Beschwerden selbst hervorgerufen werden können und z. B. nicht zwingend Zeichen einer bedrohlichen Krankheit oder eines wenig robusten Organismus sein müssen. Durch dieses Verhaltensexperiment soll eine Korrektur fehlerhafter Interpretationen bewirkt bzw. angestoßen werden.
kInstruktion: Provokation körperlicher Missempfindungen
Ich möchte mit Ihnen nun eine kleine Übung machen. Und zwar möchte ich Sie bitten, mit mir zusammen gleich zügig ein paar Stockwerke zu Fuß zu laufen. Wir befinden uns im dritten Stock. Wir werden ins Erdgeschoss und wieder hoch laufen, und zwar so schnell es Ihnen möglich ist! Achten Sie bitte dabei auf körperliche Veränderungen! Gehen wir! Folgende Fragen sollen die Auswertung der Übung erleichtern: ? 4 Wie ist es Ihnen ergangen? 4 War es anstrengend? 4 Welche körperlichen Veränderungen haben Sie an sich bemerkt?
Idealerweise nennt der Patient Symptome wie schnelles Herzschlagen und/oder schnellere Atmung, evtl. Schwitzen. Die Übung eignet sich gut dafür, dass sich der Patient selbst erklären kann und am eigenen Leib spürt, wie bestimmte Körpersymptome entstehen bzw. selbst hervorgerufen werden können. ? Wie erklären Sie sich das Zustandekommen der Symptome, die Sie mir eben genannt haben? Warum tauchten die Symptome auf?
Der Patient sollte sinngemäß antworten, dass die Symptome durch körperliche Belastung bzw. Anstrengung hervorgerufen wurden und somit Zeichen von körperlicher Aktivierung und damit harmlos sind. Eine ernste Erkrankung als Ursache der Symptome ist sehr unwahrscheinlich. Vielmehr sind die körperlichen Veränderungen Reaktionen eines gesunden Körpers auf körperliche Anstrengung. Eine weiterführende Erklärung könnte darauf abzielen, dass es viele körperliche Symptome gibt, die man selbst hervorrufen bzw. provozieren kann. ? Fallen Ihnen noch weitere Symptome ein, die Sie selbst herbeiführen können?
Beispielsweise können wir Schwindel erzeugen, wenn wir uns um unsere eigene Achse drehen. Der Patient kennt vielleicht dieses Spiel, bei dem man seine Hand auf eine Flasche, die am Boden steht, legt und die Flasche dann etliche Male umkreisen muss, ohne die Flasche loszulassen. Wenn man danach versucht, geradeaus zu laufen, tritt in der Regel ein Schwindelgefühl auf. Der Patient kann sich aber auch einfach auf einen drehbaren Bürostuhl setzen und sich einige Male drehen. Wenn er dann abrupt stoppt, wird ihm auch schwindlig sein. Schwitzen kann man bewusst herbeirufen, indem man sich in die Sauna begibt oder sich dicke, zu warme Kleidung anzieht. Auch dies ist eine normale Reaktion des Körpers. Eine schnellere Atmung kann man provozieren, indem man eine
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Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
kurze Strecke sprintet. Dies würde auch zu einer Beschleunigung des Herzschlages führen. Häufig schlägt das Herz auch schneller, wenn man an einen geliebten Menschen denkt bzw. frisch verliebt ist. In diesem Fall gesellt sich eventuell noch Appetitlosigkeit oder ein flaues Gefühl in der Magengegend hinzu, was gerne als »Schmetterlinge im Bauch« bezeichnet wird. Folgendes Resümee kann gezogen werden: Körpersignale können unterschiedlich gedeutet werden! Eine körperliche Beschwerde muss nicht zwangsläufig Zeichen einer Erkrankung bzw. ein Gefahrensignal sein. Unser Organismus ist hoch komplex. Es ist ganz normal, dass manche Körpervorgänge ab und zu nicht perfekt ablaufen. Wichtig ist, dass der Patient seine Bewertung des Symptoms auf Angemessenheit hin überprüft! Das folgende Bild kann den Zusammenhang noch einmal verdeutlichen: »Stellen Sie sich vor, Sie leben in einem Hochhaus mit einer Sirene auf dem Dach. In jedem Stockwerk ist ein Alarmknopf, den man bei Feuer drücken soll. Eines Nachts heult die Sirene. Was hat das zu bedeuten? Zunächst einmal bedeutet dies nichts anderes, als dass der Alarmknopf gedrückt wurde. Ob tatsächlich ein Feuer ausgebrochen ist bzw. eine Gefahr vorliegt, muss überprüft werden, denn schließlich kann es sich auch um einen Fehlalarm handeln. In diesem Fall wären Angst und Panik unbegründet. Zudem zeigt das Bild, dass Sie, bevor Sie selbst den inneren Alarmknopf drücken bzw. innerlich ALARM! oder GEFAHR! schreien, überprüfen sollten, ob eine reale Gefahr besteht oder nicht, um sich nicht unnötig emotional zu belasten.« jNegative Gedanken bei körperlichen Beschwerden
Zusammen mit dem Patienten sollen wiederum typische negative Gedanken beim Auftreten körperlicher Beschwerden gesammelt werden. Zu diesem Zweck erhält der Patient 7 Arbeitsblatt 4.8 (Negative Gedanken bei körperlichen Beschwerden) (in Anlehnung an Basler u. Kröner-Herwig 1998). Die Liste kann ergänzt werden, beispielsweise um die in der Stunde zuvor erarbeiteten negativen Gedanken. Im Folgenden werden einige typische Bewertungen von Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden aufgelistet.
Typische Bewertungen von Körpersymptomen 4 Die Beschwerden sind Zeichen einer lebensbedrohlichen Krankheit (z. B. Gelenkschmerzen bedeuten Lähmung; Bauchschmerzen bedeuten Magenkrebs; Hautflecken bedeuten AIDS; Kribbelgefühle bedeuten multiple Sklerose). 4 Die Beschwerden sind Zeichen einer bisher unentdeckten oder extrem seltenen Krankheit (z. B. »Ich leide unter einer Krankheit, die niemand oder nur ein unbekannter Spezialist am anderen Ende der Welt kennt.«). 4 Die Beschwerden werden als unkontrollierbar eingeschätzt (z. B. »Ich bin ausgeliefert, hilflos. Die Beschwerden sind durch mich nicht zu beeinflussen.«). 4 Die Beschwerden werden als untolerierbar eingestuft (z. B. »Ich halte das nicht aus. Die Beschwerden sind unerträglich. Ich werde verrückt. Ich wäre besser tot.«). 4 Es wird angenommen, dass die Beschwerden immer schlimmer werden und negative Konsequenzen nach sich ziehen (z. B. »Die Beschwerden werden niemals enden bzw. sich stets verschlechtern. Ich werde meinen Arbeitsplatz verlieren, meinen Partner, meine Wohnung.«).
jHausaufgabe
Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 4.9 (Hilfreiche Gedanken bei körperlichen Beschwerden [in Anlehung an Basler u. Kröner-Herwig 1998]). Der Patient soll diejenigen Gedanken markieren, die er von sich selbst kennt. Zudem soll er versuchen, andere Gedanken zu formulieren, die ihn weniger stark belasten und die ihm eventuell helfen könnten, mit den körperlichen Beschwerden besser zurechtzukommen. Auch hier geben wir den Hinweis, dass der Patient Bezug zur letzten Sitzung nehmen sollte, in der bereits erste Vorschläge hilfreicher Gedanken gesammelt wurden. jEntspannungsübung: Phantasiereise
Zum Abschluss von Sitzung 9 wird mit dem Patienten eine Phantasiereise zur Entspannung durchgeführt. Der Patient soll im Rahmen der Übung imaginieren, wie er sich am Strand einer schönen Insel befindet. kInstruktion: Phantasiereise
Machen Sie es sich nun bequem, und schließen Sie Ihre Augen, wenn Sie es möchten! Wenn nicht jetzt, dann vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt unserer kleinen Reise. – Sie kommen nun langsam zur Ruhe. – Ihre Hände und Arme
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werden schwer. – Ihr Nacken und Ihre Schultern werden schwer. – Ihre Füße und Beine werden schwer. – Ihr ganzer Körper ist angenehm warm. – Ihre Atmung ist ruhig und gleichmäßig. – Ihr Gesicht ist vollkommen entspannt, glatt und gelöst. – Ihr Kopf ist frei und leicht. – Stellen Sie sich nun vor, Sie werden eines Morgens von den ersten Sonnenstrahlen auf Ihren geschlossenen Augenlidern geweckt. – Sie riechen die kühle Luft des Morgens. – Sie hören Möwen über sich. – Als Sie Ihre Augen öffnen, sehen Sie, dass Sie auf einer kleinen Insel sind. – Sie liegen auf warmem, weichem, hellem Sand. – Sie sehen auf das offene, blaue und ruhige Meer hinaus. – Die morgendlichen Sonnenstrahlen spiegeln sich auf dem Wasser. – Kleine Wellen rollen an den Strand und bringen ein paar Muscheln mit. – Sie sehen, wie die Wellen kommen und wieder gehen. – Sie schauen den Wellen eine Weile zu, – wie sie kommen und wieder gehen. – Sie atmen die klare Morgenluft ein. – Sie ist frisch und salzig und schmeckt nach einem herrlichen Tag. – Sie atmen tief durch und richten sich auf. – Sie blicken um sich und betrachten die Insel, auf der Sie erwacht sind. – Ganz in Ihrer Nähe breiten ein paar Palmen ihre Blätter aus, um Ihnen Schatten zu spenden. – Sie schlendern zu den Palmen. – An einer Stelle stehen die Palmen besonders dicht. – Dort wachsen auch andere Pflanzen mit großen, fleischigen Blättern. – Zwischen den Pflanzen entdecken Sie eine kleine, sprudelnde Quelle, an der Sie sich erfrischen. – Sie spazieren nun ein wenig über die Insel. – Sie ist nicht sehr groß. – Sie sind allein. – Niemand stört Ihre Wege. – Sie haben die ganze Insel für sich allein. – Ihre ganze Schönheit und Lieblichkeit ist nur für Sie bestimmt. – Sie lassen Ihre Augen schweifen, über die Insel, und das Meer. – Sie genießen die Ruhe und den Frieden. – Sie fühlen sich wohl und behaglich und vollkommen entspannt. – Sie setzen sich nun wieder an den Strand, graben Ihre Zehen in den weichen und warmen Sand und sehen noch eine Weile auf das ruhige Meer hinaus. – Sie atmen nun tief durch. – Öffnen Sie nun langsam wieder Ihre Augen. Abschließend sollte eine Auswertung der Entspannungsübung erfolgen: ? 4 Wie gut ist es dem Patienten gelungen, sich zu entspannen? (Einschätzung auf dem Entspannungsthermometer: 0–100) 4 Gab es Schwierigkeiten?
5.4.4
Sitzung 10
Inhalte und Materialien der 10. Sitzung 4 Inhalte 4 Besprechung der Hausaufgabe 4 Typische Denkfehler und Hilfsfragen 4 Übung zur Behauptung alternativer Gedanken 4 Über die Notwendigkeit des Übens für eine Verhaltensänderung 4 ABCZ-Modell: Erweiterung des ABC-Modells um hilfreiche Gedanken 4 Hausaufgabe: – ABCZ-Schema (Arbeitsblatt 4.11) – Merkmale eines gesunden Körpers (Arbeitsblatt 4.12) 4 Materialien 4 Arbeitsblatt 4.10: Hilfsfragen zur Überprüfung negativer Gedanken 4 Arbeitsblatt 4.11: ABCZ-Schema 4 Arbeitsblatt 4.12: Gesundheitsbegriff
jBesprechung der Hausaufgabe
Sitzung 10 beginnt mit der Besprechung von 7 Arbeitsblatt 4.9 (Hilfreiche Gedanken bei körperlichen Beschwerden). Folgende Fragen können dabei von Nutzen sein: ? 4 Welche der aufgelisteten Gedanken empfindet der Patient als hilfreich? 4 Hat er zusätzlich eigene Gedanken formuliert?
jTypische Denkfehler und Hilfsfragen
Beim Überprüfen negativer Gedanken ist es sinnvoll, sich zu fragen, ob man möglicherweise in eine »Denkfalle« getappt ist. Zu Denkfehlern, die Menschen häufig unterlaufen und zu emotionaler Belastung führen, gehören u. a. folgende: 4 Katastrophendenken: Dabei malt man sich das Schlimmste aus bzw. malt in Gedanken den Teufel an die Wand. 4 Niedrige Bewertung der eigenen Frustrationstoleranz: Tendenz zu glauben, dass Schmerz, Unbehagen, Unannehmlichkeiten oder andere Widrigkeiten nicht auszuhalten sind. 4 Prophezeiungen, Hellsehen: Vorannahmen werden wie Tatsachen behandelt, obwohl es keine eindeutigen Beweise für ihre Richtigkeit gibt. Beispiel: »Ich weiß genau, dass ich heute zu nichts zu gebrauchen bin!« Damit der Patient möglichst selbstständig »Denkfallen« bei sich selbst entdeckt, kann man ihm zunächst typische
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Denkfehler beschreiben. Anschließend wird der Patient darum gebeten, eigene Beispiele anzuführen. Folgende Fragen können nun hilfreich sein, identifizierte »Denkfallen« zu hinterfragen. kInstruktion: Hilfsfragen für typische Denkfehler
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Wenn Sie Ihre Denkfallen oder Denkfehler aufgespürt haben, können Sie direkt ein ABC-Modell erstellen. So können Sie sich den Zusammenhang zwischen Denken und Fühlen noch einmal vor Augen führen. Sammeln und notieren Sie Situationen, Gedanken und Verhaltensweisen, die typischerweise im Zusammenhang mit körperlichen Beschwerden auftreten und zu belastenden Gefühlen führen. Fragen Sie sich im Anschluss, ob Ihnen ein Denkfehler unterlaufen ist: Übertreibe ich (maßlos)? Ist es wirklich nicht auszuhalten, furchtbar oder katastrophal, oder ginge das Leben trotzdem weiter? Übe ich mich in übernatürlichen Fähigkeiten, indem ich versuche, die Zukunft vorherzusagen oder die Gedanken anderer Menschen zu lesen? Fragen Sie sich, ob Ihre Bewertungen bzw. Gedanken logisch und realistisch sind: Gibt es für meine Bewertung einen objektiven Beweis? Woher weiß ich, dass das stimmt, was ich glaube zu wissen? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die von mir befürchtete Konsequenz eintreten wird? Wie sehr bin ich davon überzeugt (Einschätzung des Überzeugungsgrades)? Was spricht dafür (Pro), dass meine Vermutung stimmt? Was spricht dagegen (Kontra)? Nach Berücksichtigung aller Pros und Kontras: Wie sehr bin ich nun davon überzeugt, dass meine katastrophisierende Annahme zutrifft? Ist diese Bewertung überprüfbar? Was könnte ich tun, um meine Bewertung zu testen? Fragen Sie sich nach dem Nutzen Ihrer Bewertung: Es handelt sich dabei um eine Strategie namens »hedonistisches Kalkül«, die ein wesentlicher Bestandteil der »RationalEmotiven Therapie« ist, die von Albert Ellis entwickelt wurde (Schelp et al. 1997): Wie werde ich mich fühlen und verhalten, solange ich das glaube? Hilft mir dieser Gedanke auf lange Sicht? Hilft mir mein Gedanke, mich so zu fühlen und zu verhalten, wie ich es gerne möchte? Hilft es mir, dauernd an die möglichen Folgen zu denken? Rollentausch, Einnehmen einer anderen Perspektive: Wie würde jemand diese körperlichen Missempfindungen bewerten, bei dem solche Beschwerden keine Angst oder Verzweiflung auslösen? Was müsste diese Person zu sich sagen? Stellen Sie sich vor, ein Freund von Ihnen hätte Ihre Beschwerden. Was würden Sie Ihrem Freund raten? Mit welchen Worten würden Sie ihn beruhigen? Könnte das bei Ihnen auch funktionieren? Wenn nein, warum nicht? Hilfsfragen zur Exploration von Gegenargumenten bei hypochondrischen Überzeugungen (in Anlehnung an Rief u. Hiller 1998): 4 Könnte es eine Person auf dieser Welt geben, bei der es nicht so ist, wie Sie befürchten?
4 Welche Ursachen außer einer schweren Erkrankung könnten noch dafür verantwortlich sein, dass solche Beschwerden entstehen? 4 Wie häufig lassen sich solche Beschwerden auf diese weniger bedrohlichen und katastrophalen Ursachen zurückführen? Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 4.10 (Hilfsfragen zur Überprüfung negativer Gedanken). jÜbung zur Behauptung alternativer Gedanken
Im nächsten Schritt kann ein so genanntes Gesprächsduell (in Anlehnung an Basler und Kröner-Herwig 1998) durchgeführt werden. Die Übung dient dazu, die bereits erarbeiteten positiven Gedanken im Denken des Patienten zu verankern. Der Therapeut übernimmt dabei die Rolle des »Advocatus diaboli«. Folgende Instruktion kann bei der Durchführung dieser Übung hilfreich sein. kInstruktion: Gesprächsduell
Zu Beginn der Übung wird der Patient gebeten, kurz eine reale Situation zu beschreiben, in der körperliche Beschwerden auftraten. Bei der Übung kann auf die beiden Listen (7 Arbeitsblätter 4.8 und 4.9) zurückgegriffen werden. In den vergangenen Sitzungen ging es darum, Ihnen die Bedeutung hilfreicher Gedanken bei der Bewältigung körperlicher Beschwerden zu verdeutlichen. Trotz dieser Erkenntnis stellt sich Ihnen möglicherweise die Frage »Wie soll ich es in einer belastenden Situation schaffen, positiv zu denken?« Da dies wirklich schwierig ist, möchte ich mit Ihnen eine Übung durchführen. Es handelt sich um ein kleines »Gesprächsduell« zwischen uns beiden. Ich werde Sie mit Ihren typischen negativen Gedanken konfrontieren bzw. »angreifen«. Sie sollen daraufhin versuchen, diesem negativen Gedanken einen positiven bzw. hilfreichen entgegenzusetzen. Verteidigen Sie diesen Gedanken! Seien Sie Anwalt in eigener Sache! Im Anschluss werde ich Sie wiederum mit einem negativen Gedanken attackieren, den Sie abermals mit Hilfe eines geeigneten positiven Gedanken abwehren sollen! Die Übung sollte im Anschluss kurz ausgewertet werden. Folgende Fragen können dabei von Nutzen sein: ? 4 Welchen Einfluss hatten die geäußerten Gedanken auf Ihr Befinden? 4 Wie gut ist es Ihnen gelungen, Ihren positiven Gedanken zu behaupten bzw. zu verteidigen?
jÜber die Notwendigkeit des Übens für eine Verhaltensänderung
Insbesondere bei den Methoden zur Veränderung von Denkgewohnheiten spielt Übung eine besondere Rolle. Es
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empfiehlt sich daher, an diesem Punkt in der Therapie gesonderte Maßnahmen einzuleiten, um dem Patienten die Notwendigkeit des Übens bewusst zu machen. Dazu sollte im Gespräch auf die im Folgenden aufgeführten Aspekte eingegangen werden. Unangemessene Bewertungen sind oft Denkgewohnheiten, die fest verwurzelt sind. Teilweise existieren sie bereits seit Jahren oder gar Jahrzehnten. Sie entstehen in der Regel durch Erziehung, Sozialisation sowie durch prägende Erfahrungen, die im Laufe des Lebens gesammelt werden. Durch ständige »Benutzung« werden Denkgewohnheiten aufrechterhalten bzw. stabilisiert. Aus diesem Grund sind Denkgewohnheiten bzw. -muster meist schwer zu verändern. Demzufolge kann eine Veränderung nicht von heute auf morgen erfolgen. Es erfordert viel Anstrengung und Übung. Man muss stärker als sonst auf seine Bewertungen achten, sie immer wieder hinterfragen und gegebenenfalls korrigieren. Unterlässt man diese Art von Selbstreflexion, fällt man schnell in alte Denkmuster zurück, so wie es auch bei anderen Gewohnheiten der Fall ist (z. B. bestimmte Trink- und Essgewohnheiten, Rauchen). Besonders in belastenden Situationen ist die Gefahr sehr groß, automatisch in alte Verhaltensmuster zurückzufallen. Wenn man eine neue Sportart oder das Spielen eines Instrumentes erlernen möchte, dann funktioniert dies für gewöhnlich auch nicht von jetzt auf gleich. Übung bzw. Training neuer Verhaltensweisen ist eine unbedingte Voraussetzung, um neues Verhalten zu etablieren! Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen – als wegweisend gilt hierbei die Arbeit von Craik und Lockhart (1972), dass Lernprozesse umso effektiver sind, je mehr Erfahrungskanäle involviert sind (Hören, Lesen, Schreiben, Ausführung), d. h. je tiefer die Verarbeitung bzw. je breiter die Auseinandersetzung mit dem zu erlernenden Material erfolgt. Aus diesem Grund ist es sinnvoll und hilfreich, sich nicht allein auf theoretische Erkenntnis zu beschränken, sondern auch seine neu gewonnenen Einsichten und Denkweisen in der Realität zu erproben (»learning by doing«). Ein altes chinesisches Sprichwort untermauert die Logik dieser Sichtweise: »Ich höre und vergesse. Ich sehe und behalte. Ich tue und begreife.« Ein Beispiel aus dem Alltag: Niemand lernt Schwimmen, ohne sich eines Tages ins Wasser zu begeben. Sich bestimmte Schwimmtechniken erklären und zeigen zu lassen, auf dem trockenen Land die Bewegungen zu üben, darüber zu lesen oder Schwimmwettkämpfe im Fernsehen zu verfolgen – all das reicht allein nicht aus, um das Schwimmen zu erlernen. Der sprichwörtliche beherzte »Sprung ins kalte Wasser« ist unerlässlich, dafür aber effektiv. Oder, um es mit den Worten Erich Kästners zu sagen (Kästner 1950, S. 39): »Es gibt nichts Gutes außer: Man tut es!« Besonders geeignet sind Verhaltensexperimente, um Erfahrungen mit den neuen, hilfreichen Gedanken zu ma-
chen. Der Patient sollte sich demnach immer wieder körperlichen Missempfindungen stellen, indem er sie bewusst hervorruft. Hier einige Übungsvorschläge, um körperliche Missempfindungen bewusst zu provozieren: Das Verzehren von reichlich Linsen, Bohnen, Kohl oder Zwiebeln führt zu Blähungen. Sich mehrmals um die eigene Achse drehen provoziert Schwindel. Zügiges Auf- und Ablaufen einiger Treppenabsätze oder 20 Kniebeugen verhelfen dazu, dass das Herz schneller und kräftiger schlägt, die Atmung schneller wird und man ggf. »aus der Puste« gerät. jABCZ-Modell: Erweiterung des ABC-Modells um hilfreiche Gedanken
Das bereits bekannte ABC-Modell soll nun um eine weitere Komponente erweitert werden, und zwar um Z, das in diesem Zusammenhang nicht wie ursprünglich von Stavemann (2001) gedacht für angestrebte Gefühls- und Verhaltensreaktionen steht, sondern für neue Zielgedanken, d. h. angemessene, konstruktive und hilfreiche Gedanken, wie sie bereits in den vorherigen Sitzungen erarbeitet wurden (Was will ich lernen, künftig über meine körperlichen Beschwerden zu denken?). Der Patient soll weiterhin dazu angehalten werden, seine Körperbeschwerden realistisch und angemessen zu bewerten. Zu diesem Zweck soll er seinen negativen Gedanken und Bewertungen, die ihm nahezu automatisch bzw. als Erstes einfallen, Gedanken entgegensetzen, die zu weniger starken negativen Emotionen und/oder zu einer Reduktion unangemessener Verhaltensweisen wie Grübeln oder Passivität führen. Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 4.11 (ABCZ-Schema). jHausaufgabe
Der Patient erhält zwei Aufgaben: Die erste Aufgabe besteht darin, das soeben erhaltene 7 Arbeitsblatt 4.11 (ABCZ-Schema) bis zur nächsten Sitzung mit einem eigenen Beispiel auszufüllen. Ein wichtiges Therapieziel bei der Behandlung von Personen mit somatoformen Störungen ist die Erarbeitung eines realistischen Gesundheitsbegriffs (Rief u. Hiller 2011). Der Patient soll damit zu einer realistischen Vorstellung von Gesundheit gelangen. Zu diesem Zweck erhält der Patient die Aufgabe, stichpunktartig zu notieren, was aus seiner Sicht Merkmale eines gesunden und funktionierenden Körpers sind. Der Patient erhält dazu 7 Arbeitsblatt 4.12 (Gesundheitsbegriff ).
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5.4.5
Sitzung 11
Inhalte und Materialien der 11. Sitzung
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4 Inhalte – Besprechung der Hausaufgabe – Zum Gesundheitsbegriff – Verhaltensexperimente – Alltagsphänomene des Körpers – Hausaufgabe: Körperliche Missempfindungen provozieren (Arbeitsblatt 4.14) 4 Materialien – Arbeitsblatt 4.13: Alltagsphänomene des Körpers – Arbeitsblatt 4.14: Verhaltensexperimente
eines Menschen weicht mehr oder weniger stark von diesem Idealbild ab. Allgemein betrachtet, erscheint es sinnvoll, sich von den sich gegenseitig ausschließenden Kategorien »gesund« und »krank« gedanklich zu verabschieden. Angemessener und realistischer ist die Annahme einer Dimension mit den beiden Polen Krankheit und Gesundheit. Jeder Mensch lässt sich nun auf dieser Dimension einordnen. Mal befindet er sich näher an dem einen, mal tendiert er eher zum anderen Pol. Zudem ist zu berücksichtigen: Ob sich jemand als krank oder gesund einstuft, hängt nicht allein von einer ärztlichen Diagnose ab, sondern auch von der Einstellung des Betroffenen. So kann sich eine Person, die sich eine einfache Erkältung eingefangen hat, sterbenskrank fühlen, während sich eine andere Person mit einem gebrochenen Bein oder Arm völlig gesund und munter fühlen kann (obwohl er offensichtlich krank im Sinne von verletzt ist).
jBesprechung der Hausaufgabe
jVerhaltensexperimente
Sitzung 11 beginnt mit der Besprechung von 7 Arbeitsblatt 4.11 (ABCZ-Schema) und 7 Arbeitsblatt 4.12 (Gesundheitsbegriff ). Zunächst wird überprüft, ob es dem Patienten mit Hilfe des ABCZ-Schemas gelungen ist, hilfreiche Zielgedanken zu formulieren. Bei der zweiten Aufgabe ist zu erwarten, dass unrealistische Einstellungen auftauchen, die einer Disputation bedürfen, z. B. »Ein gesunder Körper ist frei von Beschwerden/körperlichen Missempfindungen«. Solche dysfunktionalen Annahmen sollen hinterfragt werden, z. B. wie folgt:
Im Folgenden wird die Durchführung von zwei kleinen Verhaltensexperimenten (in Anlehnung an Watzlawick 2007) empfohlen. kInstruktion: Verhaltensexperimente nach Watzlawick (in Anlehnung an Watzlawick 2007)
Unterstützend kann hierbei 7 Arbeitsblatt 4.10 (Hilfsfragen zur Überprüfung negativer Gedanken) herangezogen werden.
Übung 1 Setzen Sie sich nun bitte bequem hin – Schließen Sie Ihre Augen und richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre Füße und Schuhe. – Es dürfte nicht lange dauern, und Sie werden eventuell bemerken, wie unbequem es eigentlich ist, Schuhe zu tragen. Gleichgültig, wie gut sie bisher zu passen schienen. – Sie werden nun Druckpunkte bemerken und sich plötzlich auch anderer unangenehmer Empfindungen in den Füßen bewusst werden, wie Brennen, ein leichtes Kribbeln, Hitze oder vielleicht Kälte. – Gut, nun öffnen Sie bitte wieder Ihre Augen!
jZum Gesundheitsbegriff
Übung 2 Setzen Sie sich nun wieder bequem hin. – Blicken
Gesundheit wird oft als vollständige Abwesenheit von Krankheit und krankheitsbedingten Beeinträchtigungen verstanden. Doch Gesundheit allein über das Fehlen von Krankheit zu definieren, genügt nicht. Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization 1946) definiert Gesundheit als einen Zustand des vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein als die Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn diese Definition irritiert, da sie einer Utopie entspricht. Denn in der Realität ist vermutlich kein Mensch jemals vollkommen gesund, zumindest im Sinne der streng anmutenden WHO-Definition. Dieser hier formulierte ideale (vollkommene) Zustand ist für die meisten Menschen nicht zu erreichen und wenn, dann sicherlich nur für eine eng begrenzte Zeit. Der Gesundheitszustand
Sie nun bitte durch das Fenster in den Himmel. – Bald werden Sie in Ihrem Blickfeld zahlreiche winzige, bläschenartige Kreise wahrnehmen, die bei Stillhalten der Augen langsam nach unten sinken, beim Zwinkern aber wieder hinaufschnellen. – Versuchen Sie, sich stärker auf die Kreise zu konzentrieren. – Gut, nun konzentrieren Sie sich bitte wieder auf mich!
? 4 Ist das realistisch? 4 Was spricht dafür, was dagegen?
Nach Durchführung beider Übungen sollte der Therapeut explorieren, wie es dem Patienten ergangen ist bzw. welche Erfahrung er gemacht hat. Für Übung 1 können folgende Fragen nützlich sein: ? 4 Was ist Ihnen aufgefallen? 4 Haben Sie Beschwerden an Ihren Füßen wahrgenommen?
93 5.4 · Modul 4: Bewertungsprozesse
4 War Ihnen das Tragen von Schuhen plötzlich unangenehm? 4 Wie sieht Ihre Erklärung aus?
Die Auswertung der zweiten Übung kann mit Hilfe folgender Fragen geschehen: ? Was haben Sie bemerkt, als Sie sich auf die Kreise konzentriert haben?
In der Regel ist diese Antwort des Patienten zu erwarten: Die Kreise scheinen zahlreicher und größer zu werden, je mehr man sich auf sie konzentriert. ? Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Es handelt sich um ein harmloses Phänomen, das »mouches volantes« (französisch für »fliegende Mücken«; englisch »floaters«; mückenartig erscheinende Wahrnehmungen im Gesichtsfeld) genannt wird. jAlltagsphänomene des Körpers
Damit sind alltägliche Vorgänge in unserem Körper gemeint, die ablaufen, ohne dass wir sie bewusst steuern. Es ist ganz normal, dass unser Körper ab und zu bestimmte Geräusche von sich gibt oder gewisse Missempfindungen hervorruft, ohne dass diese Zeichen einer Krankheit sind. Im Folgenden werden einige solcher Phänomene und ihre Ursachen aufgelistet (teilweise in Anlehnung an Neudecker 2006): Magenknurren Unser Körper produziert etwa 1,5 l Speichel und Schleim am Tag. Bei jedem Schluckvorgang rutscht auch ein wenig Luft mit in den Magen. Wenn dort nicht gerade Speisebrei verarbeitet wird, wird die Luft mit dem Schleim im Magen vermengt und gewalkt. Durch diese Kontraktionen des speiseleeren Magenraums entsteht das typische Knurrgeräusch. Je leerer der Magen, umso stärker die Kontraktionen. Wenn wir gegessen haben, arbeitet der Magen hingegen langsamer. Er »beruhigt« sich wieder. Das Knurren verschwindet. Übelkeit Dieses Phänomen entsteht im Brechzentrum,
welches sich im Gehirn befindet. Es kann durch zahlreiche Ereignisse stimuliert werden und den Brechvorgang auslösen: Vergiftungen, Gleichgewichtsstörungen, Darmerkrankungen oder der Anblick von Dingen, die in uns Ekel hervorrufen. Auch psychischer Stress (jede Art von Aufregung) kann zu Übelkeit führen. »Eingeschlafene« Füße Körperhaltungen, die zu diesem
Phänomen führen, sind beispielsweise der so genannte Schneidersitz oder übereinandergeschlagene Beine. Aber auch das zu lange Verharren in einer Sitzposition kann zu diesem charakteristischen Prickeln bzw. dem Gefühl
leichter Nadelstiche führen. Ursache dieser Empfindung ist ein zu langer Druck, der auf Nerven ausgeübt wird. Wird auch ein Muskelnerv in Mitleidenschaft gezogen, bewirkt dies leichte Lähmungserscheinungen im betreffenden Körperteil. »Höllische« Schmerzen beim Anschlagen des Musikantenknochens Entgegen der Bezeichnung des Volksmunds
handelt es sich nicht um einen Knochen, sondern um einen der drei Hauptversorgungsnerven des Armes, den Nervus ulnaris, der den typischen Schmerz hervorruft, wenn man sich aus Versehen den Ellenbogen anstößt. Der Nervus ulnaris liegt am Ellenbogen so knapp unter der Haut, noch dazu in einer relativ engen Knochenrinne, dass er leicht angestoßen oder gereizt werden kann. Bei langer Arbeit am Computer kann es durchaus passieren, dass der Arm zulange auf diesem Nerv ruht, was zu einem leichten Taubheitsgefühl führen kann. Sie werden das aus eigener Erfahrung kennen: Beim Anstoßen ist der Schmerz heftig, beinahe höllisch und mit einem elektrischen Stromschlag vergleichbar. Er schießt vom Ellenbogen bis in die Spitze des kleinen Fingers und kann minutenlanges Kribbeln und ein Taubheitsgefühl verursachen. Unkontrolliertes Muskelzucken beim Einschlafen Hinter
dem als »Einschlafzuckung« bezeichneten Phänomen verbergen sich harmlose Muskelentladungen, die nur in der Einschlafphase auftreten. Die Anspannung des Tages lässt nach, die Muskulatur entspannt sich. In dieser Phase können sich aktivierende Muskelimpulse noch durchsetzen und zu solch einer Zuckung führen. Während das Großhirn beim Einschlafen schon auf Ruhe schaltet, bleiben andere Bereiche des Nervensystems noch aktiv. Das Zusammenspiel von Gehirn und Rückenmark gerät kurzfristig aus dem Gleichgewicht, die Nervenzellen feuern unwillkürlich Signale zu den Muskeln. Diese Signale lösen Reflexe aus, die der Einschlafende dann als Muskelzuckung wahrnimmt. Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 4.13 (Alltagsphänomene des Körpers). jHausaufgabe
Dem Patienten wird 7 Arbeitsblatt 4.14 (Verhaltensexperimente) ausgehändigt. Er soll sich entscheiden, welche unangenehmen Körperempfindungen er in den kommenden Tagen provozieren möchte. Der Patient soll durch diese Aufgabe motiviert werden, sich möglichst häufig mit körperlichen Missempfindungen auseinanderzusetzen. Dadurch soll Angst vor dem Auftreten körperlicher Beschwerden allmählich genommen bzw. reduziert werden. Eine realistische Bewertung körperlicher Missempfindungen wird gefördert.
5
94
Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
5.5
Modul 5: Krankheitsverhalten
5.5.1
Sitzung 12
Inhalte und Materialien der 12. Sitzung
5
4 Inhalte 4 Besprechung der Hausaufgabe 4 Bisherige Bewältigungsversuche 4 Schonungsverhalten und Konsequenzen 4 Schonungsverhalten und Teufelskreismodell 4 Abbau von Schonungsverhalten 4 Hausaufgabe: – Schonungsverhalten und Konsequenzen: Vier-Felder-Schema (Arbeitsblatt 5.2) – Schonungsverhalten (Arbeitsblatt 5.3) 4 Materialien 4 Arbeitsblatt 5.1: Schonungsverhalten und körperliche Beschwerden – ein Teufelskreis 4 Arbeitsblatt 5.2: Vier-Felder-Schema 4 Arbeitsblatt 5.3: Hausaufgabe zum Schonungsverhalten
Aus dieser Sammlung von Copingstrategien sollen in einem nächsten Schritt typische Schonungsverhaltensweisen identifiziert werden. Zusätzlich können dem Patienten weitere Beispiele für Schonungsverhaltensweisen gegeben werden. Beispiele für Schonungsverhalten 4 Körperliche Anstrengung vermeiden 4 Bestimmte Körperhaltungen oder Bewegungen vermeiden 4 Insgesamt weniger Bewegung, Training beenden 4 Krankschreibung 4 Aufgaben zu Hause oder im Beruf reduzieren bzw. abgeben 4 Verantwortung abgeben 4 Termine absagen (beruflich und privat) 4 Soziale Kontakte/Aufgaben/Pflichten aufgeben → sozialer Rückzug 4 Atmung verändern 4 Herausforderungen vermeiden 4 Freizeitaktivitäten einschränken 4 Bestimmte Nahrungsmittel vermeiden 4 Sexualität vermeiden
jSchonungsverhalten und Konsequenzen jBesprechung der Hausaufgabe
Sitzung 12 wird mit der Besprechung von 7 Arbeitsblatt 4.14 (Verhaltensexperimente) eröffnet. Die Erfahrungen des Patienten mit verschiedenen Verhaltensexperimenten werden exploriert und ausgewertet: ? 4 Welchen körperlichen Missempfindungen hat sich der Patient gestellt? 4 Welche Erfahrungen hat er gemacht?
jBisherige Bewältigungsversuche
Es ist davon auszugehen, dass sich der Patient im Laufe der Zeit, in welcher er mit seinen körperlichen Beschwerden zu tun hatte, Strategien angeeignet hat, um mit den Beschwerden irgendwie umzugehen. Durch gezieltes Fragen sollte der Therapeut die bisherigen Bewältigungsstrategien zusammentragen: ? Was haben Sie bisher getan, wenn körperliche Beschwerden auftraten?
Als mögliche Antworten sind zu erwarten: Schonungsverhalten, Vermeidung körperlicher Anstrengung bzw. Belastung, Arztbesuche, Untersuchungen, Medikamenteneinnahme, Entspannung, Vermeidung bestimmter Nahrungsmittel, Kontrollverhalten, sich selbst bzw. eigene Körperfunktionen verstärkt beobachten etc.
Mit Hilfe gezielter Fragen soll der Patient nun unterstützt werden, sich die kurz- und langfristigen Konsequenzen seines Schonungsverhaltens bewusst zu machen. Dabei sollte der Schwerpunkt vor allem auf die kurzfristig positiven sowie auf die langfristig negativen Folgen gelegt werden. ? Welche Konsequenzen haben diese Verhaltensweisen kurzfristig?
Kurzfristig positive Konsequenzen:
4 Abnahme von Angst, da sich die Symptome nicht verschlimmern, 4 verstärkte Zuwendung/Aufmerksamkeit (Familienangehörige, Partner, Freunde, Ärzte), 4 Vermeidung körperlicher Missempfindungen. ? Welche Konsequenzen haben diese Verhaltensweisen langfristig?
Langfristig negative Konsequenzen: 4 Erfahrung, dass das Befürchtete nicht eintritt, wird nicht gemacht; 4 Aufmerksamkeit bleibt auf körperliche Beschwerden und ihre negative Bewertung fixiert; 4 Lebensqualität sinkt; 4 Aktivitäten werden eingeschränkt; 4 sozialer Rückzug;
95 5.5 · Modul 5: Krankheitsverhalten
4 Aufgeben von Selbstständigkeit führt zu Abhängigkeit; 4 Verschlechterung des körperlichen Allgemeinzustandes, was weitere körperliche Missempfindungen hervorrufen kann. jSchonungsverhalten und Teufelskreismodell
Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 5.1 (Schonungsverhalten und körperliche Beschwerden – ein Teufelskreis). Das Modell veranschaulicht Folgendes: Sind wir akut krank oder verletzt, dann schonen wir den betroffenen Körperteil, um eine Heilung nicht zu gefährden. Ist beispielsweise ein Arm gebrochen, dann wird er durch Gips ruhiggestellt, damit die Bruchstelle besser verheilen kann. Sich bei Krankheit oder Verletzung zu schonen, ist seit jeher fest in uns verankert und hat demnach auch einen biologischen Sinn. Schonungsverhalten stellt also eine normale Reaktion auf körperliche Erkrankungen oder Verletzungen dar. Bei langwierigeren bzw. chronischen Beschwerden oder Erkrankungen stellt sich die Frage, wie lange man die betroffenen Körperteile schonen sollte. Wir haben ja bereits erarbeitet, dass Sich-Schonen kurzfristig positive Konsequenzen hat (die Beschwerden verringern sich), langfristig jedoch zu einer Verschlimmerung der Beschwerden führen kann (Häufigkeit und Intensität der Beschwerden nimmt zu), neue Beschwerden treten hinzu (z. B. infolge eines schlechteren körperlichen Allgemeinzustandes, der Körper wird weniger belastbar, in einem Zustand schlechter physischer Kondition können selbst leichte Belastungen zu körperlichen Missempfindungen führen), Aktivitäten werden vernachlässigt oder gar aufgegeben, der Kontakt zu anderen Menschen wird eingeschränkt. Hier entsteht also der Teufelskreis: Da ich körperliche Beschwerden habe, schone ich mich, was die Leistungsfähigkeit bzw. Belastbarkeit meines Körpers verringert, was wiederum dazu führt, dass ich schneller bzw. bereits bei geringer Belastung körperliche Missempfindungen wahrnehmen werde, was wiederum dazu führt, dass ich meinen Körper als krank und wenig robust einschätze. jAbbau von Schonungsverhalten
Eine erwünschte Verhaltensänderung – das Unterlassen des Schonungsverhaltens – ist häufig mit einer kurzfristigen Verschlechterung der Symptomatik verbunden. Langfristig gesehen besteht jedoch die Chance auf eine bessere körperliche Verfassung, was wiederum zu einer Reduktion körperlicher Beschwerden führt. Im Folgenden soll der Patient wiederum im Sinne des geleiteten Entdeckens herausfinden, wie er selbst den Teufelskreis des Schonungsverhaltens durchbrechen kann.
? Wie könnten Sie aus dem Teufelskreis ausbrechen?
Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 5.2 (Vier-Felder-Schema). Anhand des Vier-Felder-Schemas, das auf dem Arbeitsblatt abgebildet ist, leiten Patient und Therapeut gemeinsam Vor- und Nachteile ab, die sich für den Patienten durch mehr Bewegung und Sport im Alltag ergeben würden. In Zusammenarbeit mit dem Therapeuten füllt der Patient die vier Felder aus. Im Folgenden sind Beispiele für positive wie auch negative lang- und kurzfristige Konsequenzen aufgelistet. Beispiele für kurz- und langfristige Konsequenzen von Bewegung und Sport im Alltag 4 Kurzfristig positiv: – Zufrieden mit sich selbst sein – Gefühl, etwas für seine Fitness getan zu haben – Gefühl von Kontrolle – Ablenkung 4 Kurzfristig negativ: – Schnelle Erschöpfung – Intensivierung der körperlichen Beschwerden – Mehr Schmerzen – Ungewohnte Schmerzen – Schlechtere Stimmung 4 Langfristig positiv: – Ausdauer wird besser – Körperliche Belastbarkeit wird besser – Schmerzschwelle steigt, d. h. man wird schmerzunempfindlicher – Schlafqualität wird besser – Bessere Stimmung 4 Langfristig negativ: – bzw. ???
jHausaufgabe
Der Patient soll sich mit Hilfe von 7 Arbeitsblatt 5.2 (VierFelder-Schema) weiterhin mit der Frage beschäftigen, was er gewinnen könnte, wenn er sich traut, vorhandenes Schonungsverhalten abzubauen. Zudem soll sich der Patient Gedanken darüber machen, welchen Personen es auffallen würde, wenn er sein Schonungsverhalten abbaut, und wie diese wohl darauf reagieren würden. Ziel der Aufgabe ist, Veränderungsmotivation aufzubauen, indem der Patient seine Gedanken auf zu erwartende positive Veränderungen richtet, die mit einem Abbau von Schonungsverhalten in Verbindung stehen würden. Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 5.3 (Hausaufgabe zum Schonungsverhalten).
5
96
Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
5.5.2
Sitzung 13
Inhalte und Materialien der 13. Sitzung
5
4 Inhalte 4 Besprechung der Hausaufgabe 4 Kurze Wiederholung des Therapierationals 4 Umgang mit dysfunktionalen Kognitionen 4 Verhaltensexperimente 4 Aufbautraining 4 Hausaufgabe: – Verhaltensexperimente durchführen – Training aufnehmen 4 Materialien 4 Arbeitsblatt 5.4: Verhaltensexperiment: Protokoll 4 Arbeitsblatt 5.5: Merkblatt zum Aufbautraining 4 Arbeitsblatt 5.6: Mein Trainingsplan
jBesprechung der Hausaufgabe
Zu Beginn der 13. Sitzung werden zunächst 7 Arbeitsblatt 5.2 (Vier-Felder-Schema) und 7 Arbeitsblatt 5.3 (Hausaufgabe zum Schonungsverhalten) besprochen. Um weiterhin Änderungsmotivation zu fördern, sollte dabei der Fokus des Patienten insbesondere auf positive zukünftige Veränderungen gerichtet werden, die mit einem Abbau von Schonungsverhalten in Verbindung stehen. jKurze Wiederholung des Therapierationals
Es ist wichtig, den Patienten zum Abbau von Schonungsverhalten bzw. dem Aufbau körperlicher Fitness zu ermuntern, da eine geringe Fitness allgemein zu einer Einschränkung des Gesundheitszustandes führt. Bei niedrig ausgeprägter Fitness ist das Risiko hoch, selbst bei geringer körperlicher Anstrengung, z. B. bei alltäglichen Belastungen, körperliche Symptome zu entwickeln. jUmgang mit dysfunktionalen Kognitionen
Anhand des Vier-Felder-Schemas können dysfunktionale Gedanken und Annahmen, die im Zusammenhang mit dem Abbau von Schonungsverhalten auftreten, entdeckt werden. Es sollte auf die aufrechterhaltende Funktion dieser dysfunktionalen Gedanken hingewiesen werden. Im Folgenden ist eine Auflistung typischer dysfunktionaler Kognitionen in Verbindung mit Schonungsverhalten zu finden.
Beispiele für typische dysfunktionale Kognitionen im Zusammenhang mit Schonungsverhalten 4 Typische Gedanken und Annahmen, die den Körper bzw. allgemeine Körperfunktionen betreffen: – Wenn ich mich mehr bewege, verschlimmern sich meine körperlichen Beschwerden! → Hier ist darauf hinzuweisen, dass dies durchaus kurzfristig der Fall sein kann, wenn ein untrainierter Körper belastet wird; langfristig jedoch steigert sich der Fitnesszustand des Körpers, was mit einer Besserung bzw. Verringerung der körperlichen Beschwerden einhergeht. – Wenn ich mich nicht schone, dann kann ich den Tag nicht überstehen und werde zusammenbrechen! – Das macht mein Körper nicht mit! – Wenn ich Schmerzen habe, bedeutet das, dass ich meine Aktivitäten einschränken und mich schonen muss, denn »Schmerzen sind ein Warnsignal und damit gefährlich«! 4 Typische Gedanken und Annahmen, die spezifische Körperbereiche bzw. ausgewählte Körperfunktionen betreffen: – Ich darf mich nicht zu viel bewegen bzw. zu sehr anstrengen, da ich sonst einen Herzinfarkt erleide! – Wenn ich Sport treibe, spanne ich meine Muskulatur an; daraufhin bekomme ich bestimmt Magenbeschwerden und muss sofort eine Toilette aufsuchen!
Eine Änderung dieser meist hartnäckigen Überzeugungen sollte der Therapeut mit Disputation, d. h. dem Hinterfragen und Überprüfen dieser Bewertungen, anstreben. Diesbezüglich können die Hilfsfragen zu Denkfehlern der Sitzung 10 (7 Abschn. 5.4.4) genutzt werden. Eine weitere Methode zur Umstrukturierung dysfunktionaler Gedanken stellen Verhaltensexperimente dar, auf die im Folgenden eingegangen werden soll. jVerhaltensexperimente
Verhaltensexperimente sind eine weitere Technik aus dem Repertoire der Verhaltenstherapie, um dysfunktionale Gedanken und Annahmen des Patienten zu verändern. Mit ihrer Hilfe soll der Patient die Gelegenheit erhalten, zu überprüfen, ob seine Befürchtungen eintreten bzw. ob seine Annahmen der Realität entsprechen. Das folgende 7 Beispiel illustriert die Technik des Verhaltensexperiments anhand des Themas »Schwindelgefühle« (in Anlehnung an Bennett-Levy et al. 2004).
97 5.5 · Modul 5: Krankheitsverhalten
Schwindelgefühle und die Vermeidung von Kopfbewegungen 4 Zu überprüfende dysfunktionale Kognitionen: »Ich kann keine Schwindelgefühle ertragen. Ich werde wahrscheinlich umfallen. Wenn mir schwindlig wird, muss ich vermeiden, meinen Kopf zu bewegen bzw. mich überhaupt zu bewegen.« 4 Alternative, funktionale Sichtweisen: »Ich fühle mich häufig schwindlig, was zeigt, dass ich Schwindelgefühle ertragen kann. Wenn ich Kopfbewegungen vermeide, wird mein Gleichgewichtsorgan nicht lernen können, sich anzupassen. Durch Bewegungsvermeidung werde ich nicht lernen können, mit dem Schwindel umzugehen. Mein Schwindelproblem wird dadurch immer größer – es wäre wie in einem Teufelkreis. Wenn ich mich traue, mich mehr zu bewegen und dabei den Schwindel aushalte, wird sich mein Gleichgewichtsorgan daran gewöhnen, und es wird mir nach und nach besser gehen.« 4 Erwartung des Patienten bezüglich des Verhaltensexperimentes: »Je mehr ich mich bewege, desto schwindliger wird es mir und desto schlechter werde ich mich fühlen.« 4 Verhaltensexperiment: Der Patient soll sich zehnmal im Kreis drehen, um Schwindelgefühle zu erzeugen. Er soll dabei genau auf den Schwindel achten. Diese Übung soll der Patient – falls Schwindel für ihn ein relevantes Symptom ist – täglich eine Woche lang durchführen und seine Erfahrungen protokollieren.
Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 5.4 (Verhaltensexperiment: Protokoll). Im Sinne eines Lernens am Modell kann der Therapeut das Verhaltensexperiment mitmachen. Ein weiterer Übungsvorschlag zur Beschleunigung von Herzschlag und Atmung besteht darin, 10 Kniebeugen oder 20-mal »Hampelmann« durchzuführen. Der Therapeut sollte im Anschluss an die Übung darauf hinweisen, dass eine schnellere Atmung und ein schnellerer Puls normale Reaktionen auf körperliche Anstrengung darstellen und somit als Zeichen eines gesunden Körpers zu werten sind. jAufbautraining
Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 5.5 (Merkblatt zum Aufbautraining). Die wesentlichen Punkte werden besprochen. Durch körperliche Aktivität wird die Fitness verbessert, die Widerstandskraft gegenüber Belastungen erhöht und das seelische Wohlbefinden gefördert (Gefühle von Belebung, Erfrischung, Ausgeglichenheit oder angenehmer Entspannung stellen sich ein). Die körperliche Leistungsfähigkeit lässt sich – grob zusammengefasst – auf zwei Wegen steigern (Kaluza 2004): mehr Bewegung im Alltag und regelmäßig Sport treiben.
In Zusammenarbeit mit dem Patienten soll ein individuelles Aufbauprogramm entwickelt werden, um den körperlichen Fitnesszustand zu verbessern. Im ersten Schritt werden sportliche bzw. körperliche Aktivitäten gesammelt, die der Patient aktuell durchführt. Im zweiten Schritt werden sportliche Aktivitäten gesammelt, die der Patient in der Vergangenheit gerne ausgeführt hat und die er momentan meidet. Im Folgenden sind einige Vorschläge für die Aufnahme von mehr Bewegung im Alltag (Kaluza 2004) aufgelistet. Vorschläge für Bewegung im Alltag (in Anlehnung an Kaluza 2004) 4 Gartenarbeit 4 Zügiges Gehen (bewusst einen Schritt schneller gehen als sonst) 4 Fahrrad fahren statt Auto oder öffentliche Verkehrsmittel benutzen 4 Treppen steigen statt Aufzug benutzen 4 Schnee schieben, Blätter oder Straße kehren 4 Den Hund ausführen 4 Gymnastische Übungen 4 Spaziergänge
Jede regelmäßige körperliche Aktivität, die zumindest zu einer Beschleunigung der Atmung führt und mindestens für 10 Minuten durchgeführt wird, fördert bereits die Gesundheit. Der Patient sollte darauf achten, sich möglichst täglich, mindestens aber an 5 Tagen in der Woche körperlich zu fordern. Der Patient sollte auch darauf achten, bewusst die Intensität und Dauer körperlicher Aktivitäten im Alltag zu steigern (z. B. weniger Pausen einlegen, beim Treppensteigen mehrere Stufen auf einmal nehmen) (Kaluza 2004). Im Folgenden sind Vorschläge für regelmäßiges Sporttreiben zusammengefasst. Vorschläge für regelmäßige sportliche Aktivitäten (in Anlehnung an Kaluza 2004) 4 4 4 4 4
Joggen, (Nordic) Walking, Schwimmen, Radfahren, Skilanglauf.
Der Patient soll nun durch Fragen des Therapeuten motiviert werden, sich körperliche Aktivitäten zu suchen, die ihm Freude bereiten würden. Er soll zu konkreten Überlegungen angeregt werden, wie er diese Aktivitäten in seinem Alltag umsetzen könnte. ? 4 Welche Art von körperlicher Aktivität würde Ihnen am meisten Spaß machen? 4 In welcher Umgebung möchten Sie sich am liebsten körperlich betätigen?
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Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
4 Treiben Sie lieber drinnen oder draußen Sport? 4 Möchten Sie lieber allein oder zusammen mit anderen sportlich aktiv werden?
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Bei der Planung und Erstellung des Aufbautrainings sollte natürlich die aktuelle körperliche Leistungsfähigkeit des Patienten berücksichtigt werden. Bewegungsmangel führt zu einer Unterforderung des Körpers. Eine sofortige zu starke Belastung kann zu einer Überforderung des Körpers führen. Sowohl Unter- als auch Überforderung sind schädlich. Wie so oft entscheidet die Dosis eines Verhaltens über deren Wirkung. Als Faustregel, um eine Überanstrengung zu verhindern, gilt: Man sollte sich während der sportlichen Aktivität nebenher noch unterhalten können. Um einer Überforderung vorzubeugen, ist es zudem wichtig, Pausen einzulegen. Weitere wichtige Hinweise: Nur regelmäßige sportliche Aktivität bringt lang anhaltenden Nutzen. Regelmäßig bedeutet hierbei mindestens dreimal wöchentlich, mindestens 20 Minuten lang. Zudem sollte das Aufwärmen, das Lockern und Dehnen, die Vorbereitung von Muskeln und Gelenken auf sportliche Aktivität nicht vergessen werden, um Verletzungen vorzubeugen. Außerdem sollte der Patient aufgrund des Flüssigkeitsverlustes durch Schwitzen auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr achten (Kaluza 2004). Um schnelle Erfolgserlebnisse zu ermöglichen, sollte mit einfachen bzw. leicht realisierbaren Übungen begonnen werden, z. B. kurzen Spaziergängen am Wochenende. Eine allmähliche Steigerung ist zum einen durch eine Steigerung der Intensität (schnellere Durchführung der Aktivitäten), zum anderen durch eine Steigerung der Dauer (mehr Aktivitäten oder häufigeres Durchführen in der Woche) zu erreichen. Zunächst ist eine Steigerung der Dauer sinnvoll, so dass die Aktivität mindestens 20 Minuten mit mäßiger Intensität durchgehalten werden kann. Erst dann sollte allmählich die Intensität gesteigert werden, z. B. schneller laufen oder schwimmen (Kaluza 2004). Dem Patienten sollte die Bedeutung positiver Selbstinstruktionen oder allgemein die Relevanz von Belohnung beim Aufbau neuer Verhaltensweisen erläutert werden. Es gilt als wissenschaftlich belegt, dass Verhalten, das positiv verstärkt bzw. belohnt wird, häufiger gezeigt wird und stabiler ist als Verhalten, das überhaupt nicht verstärkt wird. Wichtig ist, dass man lernt, sich selbst verstärken zu können. Der Patient wird demzufolge angehalten, sich jedes Mal, wenn er eine sportliche Aktivität durchgeführt hat, selbst »auf die Schulter zu klopfen«. Neben positiven Worten sind auch andere Formen der Selbstbelohnung möglich. Der Patient kann demnach gefragt werden, in welcher Form er sich noch belohnen könnte, wenn er vereinbarte Übungen durchgeführt hat. Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 5.6 (Mein Trainingsplan).
jHausaufgabe
Der Patient soll in der nächsten Woche bzw. darüber hinaus das vereinbarte Trainingsprogramm sowie Verhaltensexperimente durchführen und seine Erfahrungen (auch eventuell auftretende Schwierigkeiten) auf 7 Arbeitsblatt 5.6 (Mein Trainingsplan) protokollieren.
5.5.3
Sitzung 14
Inhalte und Materialien der 14. Sitzung 4 Inhalte – Besprechung der Hausaufgabe – Erfahrungen mit körperlichen Beschwerden und Krankheitsverhalten – Identifizierung individueller positiver Konsequenzen, die mit der Krankenrolle verbunden sind – Erarbeitung alternativer Verhaltensweisen, die ebenfalls zu positiven Konsequenzen führen – Hausaufgabe: Wie gehe ich fürsorglich mit mir um? (Arbeitsblatt 5.8) 4 Materialien – Arbeitsblatt 5.7: Licht und Schatten der Krankenrolle – Arbeitsblatt 5.8: Wie gehe ich fürsorglich mit mir um?
jBesprechung der Hausaufgabe
Zu Beginn wird 7 Arbeitsblatt 5.6 (Mein Trainingsplan) besprochen: Inwiefern ist es dem Patienten gelungen, das in der letzten Stunde erarbeitete Trainingsprogramm zur Steigerung der Fitness bzw. körperlichen Belastbarkeit umzusetzen? Hilfreiche Fragen zur weiteren Auswertung können sein: ? 4 Welche Schwierigkeiten traten auf? 4 Wie hat sich die körperliche Belastung auf die Beschwerden ausgewirkt?
Zudem sollen die Erfahrungen des Patienten mit durchgeführten Verhaltensexperimenten exploriert werden: ? 4 Wurden Verhaltensexperimente durchgeführt? 4 Wenn ja, mit welchem Erfolg?
jErfahrungen mit körperlichen Beschwerden und Krankheitsverhalten
Als Einstieg in das Thema Krankheitsgewinn sollte der Therapeut sich Folgendes bewusst machen:
»
Krankheitsverhalten kann auch als durch operante Konditionierung gelerntes Verhalten, vor allem in der
99 5.5 · Modul 5: Krankheitsverhalten
Kindheit, aufgefasst werden. Als Verstärker können eine erhöhte Aufmerksamkeit von anderen Menschen, die Vermeidung von unangenehmen Arbeiten oder unangenehmen sozialen Situationen sowie finanzielle Zuwendungen dienen. Des Weiteren kommt das Modell-Lernen hinzu, wobei Kinder das Verhalten ihrer Eltern übernehmen (Margraf et al. 1998, S. 202).
«
Die Krankenrolle (»sick role«) ist definiert als Kombination aus Verpflichtungen und Privilegien, die mit einer Krankheit entstehen (Rief u. Nanke 2003). In der heutigen Sitzung soll es um die Vorteile, Privilegien bzw. positiven Konsequenzen gehen, die mit der Krankenrolle verbunden sind. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von »Krankheitsgewinn«. Dieses Thema ist ein heikles, da beim Patienten schnell der Eindruck entstehen kann, dass man ihm unterstellen will, er täusche seine Beschwerden nur vor oder stelle sie übertrieben heftig dar, um daraus absichtlich Nutzen zu ziehen. Der Einstieg in das Thema sollte demzufolge sanft geschehen. Folgende Fragen können dabei hilfreich sein, da sie an den Erfahrungsschatz des Patienten anknüpfen und keine Unterstellungen beinhalten. ? 4 War einmal jemand aus Ihrer Familie oder aus
4
4
4 4
Ihrem engeren Bekannten- bzw. Freundeskreis über einen längeren Zeitraum (mehr als 3 Monate) krank? Was hat diese Person aufgrund ihrer Beschwerden bzw. Erkrankung vermisst? Hat sie auf etwas verzichten müssen? (Hier die Frage nach Nachteilen bzw. Einschränkungen, die mit einer Erkrankung in Verbindung stehen.) Wie haben andere Personen auf die Beschwerden bzw. Erkrankung reagiert? Wie haben sie sich dem Kranken gegenüber verhalten? Hatte die kranke Person auch irgendwelche Vorteile aufgrund ihrer Beschwerden? Wenn ja, welche denn? Falls dem Patienten nichts einfällt, einige Beispiele bringen!
Im nächsten Schritt wird der Fokus auf den Patienten und seine Erfahrungen mit der Krankenrolle gelenkt. Es erfolgt ein Blick auf Kindheit und Jugend. ? 4 Wenn Sie als Kind krank waren – wie haben Ihre Eltern oder andere wichtige Bezugspersonen darauf reagiert? 4 Mussten Sie damals zum Arzt und haben dadurch die Schule verpasst? 4 Wurde Ihnen mehr Aufmerksamkeit geschenkt, wenn Sie krank waren?
jIdentifizierung individueller positiver Konsequenzen, die mit der Krankenrolle verbunden sind
Häufig gestaltet es sich schwierig, den Patienten anzuregen, auch über persönliche positive Konsequenzen, die möglicherweise mit seiner Krankenrolle verbunden sind, nachzudenken. Die folgende Instruktion soll als Hilfestellung verstanden werden, um beim Patienten einen »Fuß in die Tür« zu diesem eher pikanten Thema zu bekommen. kInstruktion: Identifikation positiver Konsequenzen der Krankenrolle
In den bisherigen Sitzungen haben wir uns vorrangig mit den Nachteilen bzw. negativen Konsequenzen befasst, die mit Ihren körperlichen Beschwerden verbunden sind (an dieser Stelle individuelle Einschränkungen des Patienten aufzählen). Versuchen wir, nun einmal die »andere Seite der Medaille« zu betrachten. Bekanntlich gibt es ja immer zwei. Wenn Sie also genau hinsehen – gibt es vielleicht auch positive Konsequenzen, die aus Ihren körperlichen Beschwerden folgen? Was könnte das sein? Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 5.7 (Licht und Schatten der Krankenrolle). Positive Konsequenzen, die mit der Krankenrolle verbunden sein können, sind z. B. folgende: 4 erhöhte Aufmerksamkeit, verstärktes Interesse, mehr Zuwendung und Fürsorge/Trost durch andere Menschen; 4 Vermeidung bzw. Entbindung von unangenehmen Aufgaben bzw. üblichen Verpflichtungen (Arbeit, Schule, Haushalt, lästige Termine); 4 Vermeidung von unangenehmen sozialen Situationen; 4 mehr Rücksichtnahme (man wird geschont, nicht unnötig belastet, Konflikte werden vermieden), z. B. Schonung in der Familie; 4 finanzielle Zuwendung (Krankengeld, vorzeitige Berentung). Diese positiven Folgen bzw. objektiven Vorteile, die mit der Krankenrolle verbunden sind, nennt man (sekundären) »Krankheitsgewinn«. Gesetzt den Fall, der Patient wäre wieder beschwerdefrei bzw. gesund, würde dies den Wegfall dieses »Gewinns« bedeuten. Weiterführende Fragen zum Thema »Krankheitsgewinn« sind im Folgenden aufgeführt. ? 4 Was glauben Sie, welche Vorteile könnten Sie verlieren, wenn sich Ihre Beschwerden bessern? 4 Was würde sich in Ihrem Umfeld ändern? 4 Können Sie sich vorstellen, auf die mit der Erkrankung verbundenen positiven Folgen zu verzichten?
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Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
jErarbeitung alternativer Verhaltensweisen, die ebenfalls zu positiven Konsequenzen führen
Nun geht es darum, gemeinsam zu überlegen, wie identifizierte positive Seiten anders als über die Krankenrolle erreicht werden könnten. Die Krankenrolle ist also in gewisser Weise überflüssig zu machen, gleichzeitig aber ist darauf zu achten, dass wichtige Bedürfnisse des Patienten auf andere Art und Weise befriedigt werden können. Folgende Frage könnte diesbezüglich weiterhelfen:
5
? Wie können Sie Ihre Bedürfnisse (z. B. nach mehr Zuwendung, mehr Interesse, weniger Pflichten etc.) befriedigen, ohne dass dafür das Verbleiben in der Krankenrolle notwendig wäre?
jHausaufgabe
Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 5.8 (Wie gehe ich fürsorglich mit mir um?). Bis zur nächsten Sitzung sollte er überlegen, welche Bedürfnisse durch die derzeitige Krankenrolle befriedigt werden (z. B. Zuwendung durch andere). Darüber hinaus soll er überlegen, wie er auf anderem Wege die identifizierten Bedürfnisse stillen kann. Die Ergebnisse seiner Überlegungen soll er schriftlich festhalten. Zudem soll der Patient weiterhin das erstellte Trainingsprogramm umsetzen (7 Arbeitsblatt 5.6).
5.5.4
Sitzung 15
Inhalte und Materialien der 15. Sitzung 4 Inhalte – Besprechung der Hausaufgabe – Bisherige Erfahrungen mit Arztbesuchen und medizinischen Behandlungen – Der ideale Arzt – Hausaufgabe: Arztbesuche (Arbeitsblatt 5.11) 4 Materialien – Arbeitsblatt 5.9: Rückversicherung bei Ärzten suchen – ein Teufelskreis – Arbeitsblatt 5.10: Was Sie zum Thema »Arztbesuche« wissen sollten – Arbeitsblatt 5.11: Hausaufgabe zum Thema »Arztbesuche«
jBesprechung der Hausaufgabe
Es soll überprüft werden, ob und wie gut es dem Patienten gelungen ist, das Trainingsprogramm zur Steigerung der Fitness bzw. körperlichen Belastbarkeit umzusetzen. Hilfreiche Fragen zur Hausaufgabenauswertung können sein:
? 4 Welche Schwierigkeiten traten auf? 4 Wie hat sich die körperliche Belastung auf die Beschwerden ausgewirkt?
Zudem sollte 7 Arbeitsblatt 5.8 (Wie gehe ich fürsorglich mit mir um?) besprochen werden. jBisherige Erfahrungen mit Arztbesuchen und medizinischen Behandlungen
Vorneweg, für den Therapeuten: Ein häufiges Merkmal von Patienten mit somatoformen Störungen ist die häufige Inanspruchnahme medizinischer Leistungen (muss aber nicht sein; es gibt durchaus Patienten, die selten oder nie Ärzte konsultieren). Häufig haben Patienten mit einer somatoformen Störung Schwierigkeiten, zu akzeptieren, dass keine ausreichende organmedizinische Ursache für die körperlichen Beschwerden vorliegt, was häufig zu Belastungen der Arzt-Patient-Beziehung führt (auf Patientenseite: Frustration, Enttäuschung, Hilflosigkeit, Abbruch der Beziehung; auf der Arztseite: Frustration und Enttäuschung über ausbleibende Behandlungserfolge, Genervtsein, Unterstellung von Simulation oder Aggravation der Beschwerden, vorschnelles Inbetrachtziehen seelischer Konflikte und Abraten von diagnostischen Untersuchungen) oder dazu, dass der Patient weitere organmedizinische Maßnahmen einfordert oder häufig den Arzt wechselt (»Doctor-Shopping« bzw. »-Hopping«). Wichtig: Vorübergehende organisch unerklärte Körperbeschwerden, die nicht zum Anlass wiederholter Arztbesuche werden, gehören zur Normalität und dürfen nicht mit den zur Chronifizierung neigenden somatoformen Störungen verwechselt werden. Im Sinne einer Einleitung zum Thema »Inanspruchnahmeverhalten medizinischer Dienstleistungen« können die Erfahrungen des Patienten exploriert werden, die er bisher mit Ärzten und medizinischen Untersuchungen und Behandlungen gesammelt hat. jDer ideale Arzt
Um herauszufinden, welche Vorstellung der Patient von einem »idealen Arzt« hat und welche Erwartungen er an diesen knüpft, können folgende Fragen hilfreich sein: ? 4 Wie sieht in Ihren Augen ein idealer Arzt aus? 4 Was erhoffen, was wünschen, was versprechen Sie sich von ihm? 4 Welche Eigenschaften sollte ein idealtypischer Arzt haben?
Im Anschluss sollten Therapeut und Patient herausarbeiten, welche Bedürfnisse jeweils mit den genannten Eigenschaften bzw. Erwartungen in Verbindung stehen. Beispiele dafür werden im Folgenden genannt.
101 5.5 · Modul 5: Krankheitsverhalten
Beispiele für Bedürfnisse, die hinter den »Eigenschaften des idealen Arztes« stehen können 4 Bedürfnis nach Sicherheit; das Gefühl haben, in guten
Händen zu sein; damit verbundene Eigenschaften: Der Arzt soll… – kompetent sein. – viel Fachwissen haben. – mich gründlich informieren (Testergebnisse etc.). – mir sagen, dass alles in Ordnung ist. – mir schnell und professionell helfen können. – meine Schmerzen beseitigen. 4 Bedürfnis, ernst genommen zu werden; das Gefühl haben, in die Behandlung mit einbezogen zu werden; damit verbundene Eigenschaften: Der Arzt soll… – mir zuhören bzw. sich meine Probleme anhören. – sich für meine Erklärungsansätze/Hypothesen interessieren. – mit mir kooperieren wollen. 4 Bedürfnis, umsorgt zu werden; das Gefühl haben, dass sich der Arzt um einen kümmert; damit verbundene Eigenschaften: Der Arzt soll… – Zeit für mich haben. – mich aufbauen, trösten, mir Mut machen. – herzlich/warm, fürsorglich sein. – empathisch sein, auf mich eingehen können. – freundlich sein.
Das Bedürfnis nach Rückversicherung über die Unbedenklichkeit der Beschwerden ist bei Patienten mit einer Hypochondrie meist besonders stark ausgeprägt. Liegen beim Patienten auch hypochondrische Ängste vor, dann sollte an dieser Stelle der »Teufelskreis« aus Rückversicherung, kurzfristiger Beruhigung (Angstminderung; Prinzip der negativen Verstärkung) und Aufrechterhaltung der Krankheitsangst (langfristig) erläutert werden. Weitere langfristige Konsequenzen von häufigen Arztbesuchen (in Anlehnung an Bleichhardt u. Weck 2011): 4 Fokussierung auf Krankheit; 4 Zunahme von Rückversicherung (aufgrund von erlebter Angstreduktion); 4 Abhängigkeit von der Rückmeldung des Arztes; 4 Unterscheidungsfähigkeit für harmlose und ernsthafte Symptome nimmt ab; 4 Toleranz für Angst wird geringer; 4 Erfahrung, dass man sich selbst helfen kann bzw. dass auch ohne Arztbesuch die Symptome wieder verschwinden können, bleibt aus; 4 unterschiedliche Ärzte haben verschiedene Meinungen, so dass beim Patienten Verunsicherung entstehen kann;
4 der Arzt untersucht evtl. immer weniger gründlich, je häufiger man kommt; 4 es kostet viel Zeit und Geld; 4 Untersuchungen und Medikamente haben auch unerwünschte Nebenwirkungen; 4 man könnte sich im Wartezimmer/Krankenhaus anstecken; 4 evtl. kann eine Krankheit schneller erkannt und damit effektiver behandelt werden (eine positive langfristige Folge). Aufgrund der zahlreichen negativen langfristigen Folgen ist eine Reduktion häufiger Arztbesuche die logische und wünschenswerte Konsequenz. Ziel sollten zeitkontingente (im Gegensatz zu symptomkontingenten) Arztbesuche sein, d. h. die Arztkonsultation findet in festen Zeitabständen statt und nicht so schnell wie möglich, sobald Beschwerden und Krankheitsangst zunehmen. Durch die Zeitkontingenz soll den Arztbesuchen ihre angstreduzierende Wirkung genommen werden. Der Patient soll die Möglichkeit erhalten, Ängste selbstständig zu bewältigen und den angstreduzierenden Effekt sich selbst und nicht mehr der Untersuchung oder der Aussage des Arztes zu zuschreiben. Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 5.9 (Rückversicherung bei Ärzten suchen – ein Teufelskreis). Im Anschluss soll der Patient durch geleitetes Entdecken unterstützt werden, ein für ihn angemessenes Maß an Arztbesuchen zu finden. Folgende Fragen können dabei nützlich sein: ? 4 Was von dem bisher Genannten ist denn realistisch? 4 Was kann erfüllt werden? 4 Welche Probleme/Beschwerden können Sie selber in den Griff bekommen und mit welchen Strategien? 4 Wann ist es für Sie sinnvoll, zum Arzt zu gehen, wann nicht?
In Bezug auf die letzte Frage sollte im Idealfall Folgendes genannt werden: 4 Bei bereits bekannten körperlichen Beschwerden werden eigene Bewältigungsmöglichkeiten ausgesucht und ausprobiert. 4 Arztbesuche sind vor allem bei neuartigen, massiven und lang anhaltenden körperlichen Beschwerden sinnvoll. 4 Es ist besser, in regelmäßigen Abständen zum Arzt zu gehen (zeitkontingent, z. B. einmal im Monat) als jedes Mal bei Auftreten von Beschwerden oder einer allgemeinen Verschlechterung des Wohlbefindens (dies wäre ein symptomkontingentes Verhalten). Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 5.10 (Was Sie zum Thema »Arztbesuche« wissen sollten).
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Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
jHausaufgabe
Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 5.11 (Hausaufgabe zum Thema »Arztbesuche«). Die Aufgabe wird entsprechend den Informationen auf dem Arbeitsblatt erläutert.
5.6
Modul 6: Stress und Stressbewältigung (Teil 2)
5.6.1
Sitzung 16
5 Inhalte und Materialien der 16. Sitzung 4 Inhalte – Besprechung der Hausaufgabe – Ausblick auf die nächsten vier Stunden und Übungen – Alltägliche Belastungen vs. kritische Lebensereignisse – Transaktionelles Stressmodell nach Lazarus – Arten der Stressbewältigung – Hausaufgabe: Indiviuelle Stressoren (Arbeitsblatt 6.4) 4 Materialien – Arbeitsblatt 6.1: Stressoren – Arbeitsblatt 6.2: Wann erlebe ich Stress? – Arbeitsblatt 6.3: Wie ich mit Stress umgehen kann – Arbeitsblatt 6.4: Was ich persönlich als belastend erlebe
jBesprechung der Hausaufgabe
Sitzung 16 beginnt mit der Besprechung von 7 Arbeitsblatt 5.11 (Hausaufgabe zum Thema »Arztbesuche«). jAusblick auf die nächsten vier Sitzungen und Übungen
In den kommenden vier Sitzungen wollen wir uns noch einmal intensiver mit dem Thema »Stress« und seinen Bewältigungsmöglichkeiten befassen. Subjektiv empfundener Stress kann sich auf vielfältige Art und Weise ausdrücken. Er kann beispielsweise aufs Gemüt drücken, Kopfschmerzen bereiten oder auf den Magen schlagen. Jedenfalls ist es nicht ungewöhnlich, dass sich Stress auf körperlicher Ebene bemerkbar macht und körperliche Missempfindungen hervorrufen oder verstärken kann. Wie eng die Zusammenhänge zwischen Befindlichkeit und Körperreaktionen sind, wird deutlich, wenn wir unsere Sprachgewohnheiten näher betrachten. Dazu dient die folgende Übung (modifiziert nach Drexler 2006).
kInstruktion: Übung zu umgangssprachlichen, auf den Körper bezogenen Redewendungen (in Anlehnung an Drexler 2006)
Welche umgangssprachlichen Redewendungen fallen Ihnen ein, die sich auf einen Körperbereich bzw. bestimmte Organe beziehen (z. B. Atmung, Herz, Kopf, Bauch)? 4 Atmung: Etwas verschlägt oder raubt einem den Atem, es herrscht dicke Luft, es stockt einem der Atem, es bleibt einem die Luft weg, es schnürt einem die Kehle zu. 4 Herz: Es bleibt stehen, flattert, rast, bricht, schlägt bis zum Hals oder rutscht einem in die Hose, der unglücklich Verliebte leidet unter »Herzschmerz«. 4 Kopf: Den Kopf voll haben, etwas wächst einem über den Kopf, etwas bereitet einem Kopfzerbrechen, den Kopf verlieren. 4 Bauch: Eine Laus läuft einem über die Leber, ein mulmiges, flaues Gefühl in der Magengegend haben, Schiss haben bzw. sich vor Angst in die Hose machen, etwas geht einem an die Nieren, etwas schlägt einem auf den Magen, da bleibt einem die Spucke weg (→ Mundtrockenheit), es kommt einem die Galle hoch. 4 Sonstige Körpersensationen, die bei emotionalen Turbulenzen auftreten: Es läuft einem ein kalter Schauer über den Rücken, es stehen einem die Haare zu Berge, man bekommt Gänsehaut, es sträuben sich einem die Nackenhaare, Angstschweiß. jAlltägliche Belastungen vs. kritische Lebensereignisse
Ob ein Mensch Stress erlebt, hängt davon ab, ob und wie er die Situation wahrnimmt und bewertet. Was den einen unter Druck setzt und belastet, kann den anderen mehr oder weniger kalt lassen. Dinge, die Stress auslösen können, werden Stressoren genannt. Man unterscheidet innere und äußere Stressoren, wobei sich Erstere im Inneren einer Person abspielen, während äußere Stressoren außerhalb des Individuums liegen bzw. für andere beobachtbar und messbar sind: 4 Beispiele für äußere Belastungen: Verletzungen, große Hitze oder Kälte, Lärm, extreme körperliche Belastung, räumliche Enge, sensorische Deprivation. 4 Beispiele für innere, emotionale Belastungen: Termindruck, Konflikte mit anderen Personen, Überoder Unterforderung. Neben der Differenzierung zwischen inneren und äußeren Stressoren ist noch eine weitere Unterscheidung geläufig und hilfreich. Dies ist das Konzept der so genannten »daily hassles«. Damit sind immer wiederkehrende bzw. anhaltende Belastungen und Ärgernisse des Alltags gemeint (Mikrostressoren oder auch »minor life events« genannt). Einige davon mögen für sich genommen Kleinigkeiten darstellen, können einem aber manchmal in der
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Summe – je nach Tagesform – »den letzten Nerv rauben« und einen zur Verzweiflung bringen (z. B. im Stau stehen, den Bus verpassen, im Supermarkt in der »falschen« Schlange stehen, Rechnung im Briefkasten, Ärger mit dem Nachbarn etc.). Diesen alltäglichen Widrigkeiten stehen so genannte kritische bzw. einschneidende Lebensereignisse gegenüber (»critical life events«), die eher selten, d. h. nicht tagtäglich geschehen (z. B. Tod einer nahestehenden Person, Arbeitsplatzverlust, schwerer Unfall, Scheidung bzw. Trennung vom Partner, eigene schwere Erkrankung oder die eines Angehörigen, Geburt eines Kindes, Hochzeit, Berentung, Gewalterfahrung etc.). Wissenschaftliche Untersuchungen legen die Vermutung nahe, dass Alltagssorgen wohl gesundheitsrelevanter sind als kritische Lebensereignisse. Neben »Größe« bzw. »Gewicht« des Stressors (also Alltagssorge vs. tief einschneidendes Ereignis) gibt es weitere Kriterien eines Stressors, die den Verlauf einer Stressreaktion bzw. den Organismus beeinflussen. Dies sind zeitliche Nähe, Dauer, Kontrollierbarkeit, Vorhersagbarkeit und persönliche Relevanz. Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 6.1 (Stressoren) zur Bearbeitung. jDas transaktionale Stressmodell von Lazarus
Gemäß dem transaktionalen Stressmodell von Richard Lazarus (bedeutender amerikanischer Psychologe, 1922– 2002) wird Stress weniger durch die situativen Anforderungen an sich als vielmehr durch deren subjektive Interpretation und die Art der eingesetzten Bewältigungsstrategien erzeugt. Das Stressmodell nach Lazarus erklärt das Zustandekommen bzw. das Erleben von Stress wie folgt: 4 Die betroffene Person nimmt eine Situation oder ein Ereignis wahr, und es folgt die so genannte primäre Bewertung. Hier fragt sich die Person, was das Ereignis für ihr Wohlbefinden bedeutet: Tangiert mich das Geschehen? Hat es eine Bedeutung für mich? Folgende Antworten sind möglich: Das Ereignis ist entweder irrelevant/bedeutungslos, relevant/günstig/positiv, relevant/stressend/negativ (wird eine eingetretene oder antizipierte Schädigung oder ein bedeutsamer Verlust wahrgenommen, folgt ein Gefühl der Bedrohung oder Herausforderung; zudem Erwartung positiver Folgen bei Bewältigung). 4 Es folgt die so genannte sekundäre Bewertung. Hier fragt sich die Person, ob sie in der Lage ist, die Situation zu bewältigen: Habe ich die Fähigkeiten? Habe ich die Möglichkeiten? Habe ich das Gefühl, die Situation meistern zu können? Erlebe ich sie eher als Herausforderung? Wenn ich der Ansicht bin, dass ich der Situation hilflos ausgeliefert bin, dann werde ich sie eher als Bedrohung sehen. Logischerweise beeinflussen sich primäre und sekundäre Bewertungsprozesse.
4 Zuletzt erfolgt anhand der gemachten Erfahrung bzw. Bewältigung der Situation eine Neubewertung, die beim Eintreten ähnlicher Situationen zukünftige Bewertungsprozesse beeinflusst. Vereinfacht nach Rettenbach (2007) kann Coping als die Anstrengung zur Bewältigung von Schwierigkeiten und belastenden Ereignissen definiert werden. Im ersten Analyseschritt der primären Einschätzung wird die Situation z. B. als Bedrohung oder Herausforderung bewertet. Bei der sekundären Einschätzung werden die eigenen Möglichkeiten abgeschätzt. Als Resultat der Verrechnung dieser beiden Komponenten werden dann die Copingmechanismen gewählt. Nach Lazarus und Launier (1978) gelten als Coping: Informationssuche, direkte Aktion (z. B. Flucht oder Beseitigung der Bedrohung), Aktionshemmung (z. B. Schweigen) und intrapsychische Veränderungen (z. B. Nicht-Sehen-Wollen der Gefahr, Selbsttäuschung, Leugnen, Verdrängen). Durch das Coping verändert sich die Bewertung der Belastungssituation. Ehlert (2003) definiert Coping als eine Bewältigungsreaktion, die Anstrengung und Aufwand erfordert und von automatisierten Verhaltensweisen zur Anpassung unterschieden wird. Bewältigung beinhaltet sowohl verhaltensorientierte (offen beobachtbare) als auch intrapsychische Reaktionen. Eingeschlossen sind alle Reaktionen, die auf eine aktive Meisterung der Situation abzielen (demzufolge auch solche wie Aushalten, Tolerieren, Vermeiden und Verleugnen). Bewältigung dient dem Ziel, mit gestellten Anforderungen fertig zu werden. Sie ist nicht durch ihren Erfolg definiert. Entscheidend ist die kognitive Verarbeitung, nicht die Beschaffenheit der Situation oder des Reizes. Grundsätzlich können nach dem Transaktionsmodell zwei Arten des Copings unterschieden werden: 4 problemorientierte Bewältigung: Versuche, die Situation selbst oder eigene Merkmale, z. B. Ziele, Werte, Einstellungen, zu verändern; 4 emotionsorientierte Bewältigung: Versuche, negative Emotionen wie Angst, Ärger oder Schuldgefühle zu beeinflussen, ohne dass die Situation verändert wird, z. B. Gefühle ausleben oder kontrollieren. Weitere Differenzierungsmöglichkeiten sind: offen beobachtbares vs. intrapsychisches Coping, Zuwendung (den Stressor verändern oder beseitigen) vs. Abwendung, Vermeidung (Abwenden vom Problem, Leugnen, Rückzug). Werden diese Strategien mit den im vorherigen Absatz genannten kombiniert, können folgende Copingstrategien identifiziert werden: 4 kognitive Zuwendung: Sinngebung, Neubewertung bzw. positive Umdeutung der Situation;
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Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
4 offene Zuwendung: direkte Handlungen ergreifen, Unterstützung suchen, das Problem lösen; 4 kognitive Vermeidung: Verleugnen; 4 offene Vermeidung: Flucht, Ausweichen, resignative Akzeptanz der Situation.
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Wichtig ist, dem Patienten in dieser psychoedukativen Therapieeinheit zu vermitteln, dass es keine allgemein effektive Standardstrategie zur Bewältigung von Belastung gibt. Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 6.2 (Wann erlebe ich Stress?). jArten der Stressbewältigung
Es gibt unzählige Möglichkeiten und Strategien, mit Stress, d. h. mit Anforderungen, die an uns gestellt werden, umzugehen bzw. damit fertig zu werden. Viele wenden wir an, ohne dass wir uns darüber bewusst sind. Es gibt keine perfekte Stressbewältigungsstrategie, die in allen Situationen effektiv ist. Wie so oft hängt die Wirksamkeit einer Strategie von vielen Faktoren ab. Der Patient kann an dieser Stelle darauf vorbereitet werden, dass ihm in den kommenden Sitzungen verschiedene Stressbewältigungsmöglichkeiten bzw. Copingstrategien vorgestellt werden. Patient und Therapeut können dann gemeinsam schauen, welche Strategien seitens des Patienten bereits angewendet werden, welche er im Laufe der Therapie kennen gelernt hat und von welchen Strategien er in seiner jetzigen Lebenssituation am besten profitieren könnte. Zunächst soll dem Patienten aber ein Überblick über drei Hauptwege zur Stressbewältigung gegeben werden. Der Patient erhält zu diesem Zweck 7 Arbeitsblatt 6.3 (Wie ich mit Stress umgehen kann). jHausaufgabe
Als Hausaufgabe soll der Patient Ereignisse und Situationen notieren, die er als belastend erlebt. Dem Patienten wird 7 Arbeitsblatt 6.4 (Was ich persönlich als belastend erlebe) ausgehändigt.
5.6.2
Sitzung 17
Inhalte und Materialien der 17. Sitzung 4 Inhalte – Besprechung der Hausaufgabe – Problemorientierte Stressbewältigungsstrategien – Umgang mit Zeit – Soziale Unterstützung – Hausaufgabe: Soziale Unterstützung (Arbeitsblatt 6.6) – Phantasiereise »Baum« 4 Materialien – Arbeitsblatt 6.5: Gedanken zum Umgang mit Zeit – Arbeitsblatt 6.6: Soziale Unterstützung
jBesprechung der Hausaufgabe
Zu Beginn der Sitzung wird 7 Arbeitsblatt 6.4 (Was ich persönlich als belastend erlebe) besprochen. Dem Patienten sollte es gelungen sein, individuelle Stressoren zu identifizieren. jProblemorientierte Stressbewältigungsstrategien
Die Entwicklung problemorientierter Stressbewältigungsstrategien sollte mit gezielten Fragen erfolgen. Der Patient soll angeregt werden, sich verschiedene Möglichkeiten der Stressbewältigung bewusst zu machen. ? 4 Haben Sie Einfluss auf einige der Dinge, die Sie als Belastung empfinden? 4 Können Sie sie ändern? 4 Wollen Sie sie ändern? 4 Wäre es Ihnen die damit verbundene Anstrengung und den Aufwand wert? 4 Wenn ja, wie könnte eine Bewältigung der Anforderung aussehen?
Eine große Gruppe von Copingstrategien setzt an der stressauslösenden Situation bzw. damit verbundenen Bewertungsprozessen an. Die Aufmerksamkeit wird auf das Problem, die Anforderung bzw. auf relevante Gedanken gerichtet. Handelt es sich um eine Situation, die kontrollierbar und beeinflussbar ist, kann direkt das Problem angegangen werden, z. B. indem man sich um die Beseitigung des Stressors bemüht, die Aufgabe abgibt, sich die Zeit besser einteilt oder sich Hilfe sucht, um das Problem zu lösen. Ist die Situation jedoch nicht zu beeinflussen, also nicht durch eigene Kraft veränderbar, besteht eine Möglichkeit zu ihrer Bewältigung darin, die Situation neu zu bewerten (beispielsweise durch positive Umdeutung,
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den Versuch, dem Ereignis einen Sinn zu geben, Umbewertung der Bedeutung des Ereignisses oder durch die Einschätzung eigener Fähigkeiten). Gemäß der Theorie des Radikalen Konstruktivismus (von Glaserfeld 1997) gibt es keine vom Betrachter unabhängige Wirklichkeit. Jeder Mensch erfindet bzw. konstruiert sich seine eigene Wirklichkeit. Auch wenn diese Aussage zunächst schockierend anmuten mag, so enthält sie zugleich jedoch einen hilfreichen, wenn nicht sogar tröstenden Gedanken, denn wenn Wirklichkeiten immer Konstruktionen sind, eröffnet sich dem Individuum die Möglichkeit, sich selbst, d. h. eigenverantwortlich, für eine Wirklichkeit zu entscheiden (Watzlawick 2005). Ein Ereignis kann demzufolge unterschiedlich betrachtet werden. Die persönliche Sichtweise ist nur eine von vielen möglichen und hat keinerlei Anspruch auf Wahrheit bzw. Richtigkeit. kInstruktion: Perspektivwechsel
Eine Möglichkeit besteht nun also darin, die Perspektive zu wechseln, um zu neuen Lösungsmöglichkeiten zu gelangen. Der französische Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry drückte dies in seinem Buch »Die Stadt in der Wüste« (de Saint-Exupéry 2009, S. 331) folgendermaßen aus: »Denn um klar zu sehen, genügt ein Wechsel der Blickrichtung«. Aus früheren Sitzungen wissen Sie zudem, dass auch bestimmte Gedanken, Einstellungen und Bewertungsprozesse das Stresserleben hervorrufen bzw. verstärken können. Diese können verändert werden, um eine bessere Bewältigung der Situation zu ermöglichen. Allgemein gilt: Eher einem Problem zuwenden als verdrängen (leugnen, nicht sehen wollen), denn – und das werden Sie aus eigener Erfahrung nur allzu gut wissen – man vergisst nicht, was man verdrängt, und Aufgeschobenes erledigt sich (meist) auch nicht von selbst. jUmgang mit Zeit
Viele Menschen klagen darüber, zu wenig Zeit zu haben, ständig unter Zeitdruck zu stehen, sich gehetzt zu fühlen und häufig in Hektik zu verfallen. Oft heißt es »Ich habe doch keine Zeit, ich muss weg!«. Sowohl im beruflichen als auch im privaten Lebensbereich besteht bei vielen die Tendenz, möglichst viel in kurzer Zeit zu schaffen und von einem Termin zum nächsten zu hasten. Wer pausiert, gilt als faul. Wer hingegen viel schafft und ständig beschäftigt ist, gilt als wichtig, leistungsstark, erfolgreich und genießt nicht selten ein hohes Ansehen. Ruhe erfolgt meist als Zwang, wenn man beispielsweise erkrankt oder arbeitslos wird. Der Patient kann an dieser Stelle befragt werden, ob er möglicherweise den Märchenroman »Momo« (oder »Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte«) von Michael Ende (1973) kennt. Es ist eine nicht nur für Kinder geeignete Geschichte über die Zeit, die
zum Nachdenken über den eigenen Umgang mit diesem kostbaren Gut anregt. »Graue Herren« versuchen mit allen Mitteln, die Menschen zum Zeitsparen zu bewegen und überreden sie, auf der Zeitsparkasse Konten anzulegen. Sie reden den Menschen ein, dass sie ihre Zeit mit unnützen Dingen verschwenden (z. B. sich mit Freunden treffen oder einen kranken Menschen pflegen). Stattdessen sollen sie sich auf das Wichtigste im Leben konzentrieren, nämlich aufs Geldverdienen und Berühmtwerden. Die »Grauen Herren« sind sehr überzeugend. Schon bald verfallen die Menschen in Hektik, »vergessen« ihre Freunde und versuchen, wo sie nur können, Zeit einzusparen. Das bekommt zu Beginn der Geschichte auch das Waisenmädchen Momo zu spüren, als immer mehr Freunde keine Zeit mehr für sie haben. In Wahrheit werden die Menschen jedoch um ihre Zeit betrogen. Denn während sie versuchen, Zeit für später zu sparen, vergessen sie, im Jetzt zu leben. Denn Zeit lässt sich nicht sparen, wie z. B. Geld. Im Folgenden kann zunächst der Umgang des Patienten mit seiner ihm zur Verfügung stehenden Zeit exploriert werden: ? 4 Wie gehen Sie mit Zeit um? 4 Was fällt Ihnen zu dem Begriff Langeweile ein?
Der französische Philosoph Blaise Pascal über die Langeweile (1979):
»
Nichts ist dem Menschen so unerträglich, wie in einer völligen Ruhe zu sein, ohne Leidenschaften, ohne Geschäft, ohne Zerstreuung, ohne Hingabe. Er gewahrt dann sein Nichts, seine Verlassenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Unverzüglich wird aus dem Grunde seiner Seele die Langeweile aufsteigen, die Düsterkeit, die Traurigkeit, der Kummer, der Verdruss, die Verzweiflung (Pascal 1979, S. 25).
«
? 4 Was fällt Ihnen zu dem Begriff Muße ein?
Mit Muße bezeichnet man die Zeit, welche einer Person zum Nutzen nach eigenem Wunsch zur Verfügung steht, worin sie »sich erquickt und erbaut«. ? Was fällt Ihnen zu dem Begriff Zeitverschwendung ein?
Zeitverschwendung ist ein beliebter Ausdruck für die Verwendung von Zeit für Tätigkeiten, die (scheinbar) keinem klar definierten Ziel dienen und daher als sinnlos betrachtet werden. Als Zeitverschwendung kann in diesem Sinne auch eine Tätigkeit im Nachhinein erkannt werden, wenn sie nicht zum gewünschten Erfolg geführt hat. Oft werden Tätigkeiten zu Unrecht Zeitverschwendung genannt, wenn ein Nutzen zwar vorhanden ist, aber von der beur-
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Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
teilenden Person nicht erkannt wird. Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 6.5 (Gedanken zum Umgang mit Zeit). jSoziale Unterstützung
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Eine weitere Form der Stressbewältigung besteht darin, sich mit anderen Menschen auszutauschen und andere um Hilfe zu bitten. Viele Menschen erleben bereits allein die Zuwendung durch andere als Erleichterung. Soziale Kontakte werden von vielen Menschen als wichtig für das psychische Wohlbefinden bzw. die seelische Gesundheit betrachtet. Die Bedeutung sozialer Kontakte für den Patienten bzw. seine Zufriedenheit mit seinen aktuellen sozialen Beziehungen sollte unter Zuhilfenahme folgender Fragen exploriert werden. ? 4 Sind Sie mit der Anzahl Ihrer sozialen Kontakte zufrieden? 4 Haben Sie jemanden, an den Sie sich vertrauensvoll wenden können, wenn Sie etwas belastet? 4 Wie wichtig sind Ihnen soziale Kontakte? 4 Was erleben Sie an sozialen Beziehungen als positiv? 4 Inwiefern können soziale Beziehungen Ihnen helfen, mit Belastungen/Problemen besser fertig zu werden?
Soziale Unterstützung hat zahlreiche Ausdrucksformen. Beispielsweise unterscheidet Diewald (1991) folgende Formen der sozialen Unterstützung: Arbeitshilfen (Renovieren, Reparieren, Betreuung, z. B. Babysitten), materielle Unterstützung (Geld oder Güter leihen), einen Streit schlichten, Informationen geben (z. B. über freie Arbeitsplätze oder die Berechtigung zu Sozialleistungen), Beratung bzw. Erteilung persönlicher Ratschläge, gesellige Aktivitäten, Vermittlung von Anerkennung (Akzeptanz und Wertschätzung), Orientierung geben (Vermittlung von Verhaltensmodellen und sozialen Normen), Vermittlung eines Zugehörigkeitsgefühls (gebraucht werden, Verantwortung für andere übernehmen), Erwartbarkeit von Hilfe (gemäß dem Motto »eine Hand wäscht die andere«), Ort des Erwerbs sozialer Kompetenzen, Vermittlung von Geborgenheit (sich aufgehoben fühlen, Stabilität), Liebe, Zuneigung, motivationale Unterstützung (ermutigen, schützen). Quellen sozialer Unterstützung können die folgenden sein: Partner, Verwandte, Freunde und Bekannte, Nachbarn, sonstige (Pfarrer, Lehrer, Verkäufer, Gastwirt etc.). jHausaufgabe
Als Hausaufgabe soll sich der Patient Gedanken dazu machen, welche Personen er in seinem Leben als verlässliche Quelle sozialer Unterstützung erlebt. Er erhält dafür 7 Arbeitsblatt 6.6 (Soziale Unterstützung) zur Bearbeitung.
jPhantasiereise »Baum«
Zum Abschluss der Sitzung wird der Patient auf eine Phantasiereise eingeladen. Folgende Instruktion kann herangezogen werden. Dabei handelt es sich um eine leicht veränderte Version der Autoren Scharfenstein und Basler (2004). kInstruktion: Phantasiereise »Baum« (modifiziert nach Scharfenstein u. Basler 2004)
Setzen Sie sich bequem hin und schließen Sie die Augen, wenn Sie möchten! Beobachten Sie nun Ihre Atmung, ohne sie zu verändern … Schauen Sie einfach nur zu, wie Sie einund ausatmen … Dies geht ganz von allein, dieses Ein- und Ausatmen … Schauen Sie einfach nur Ihrem Atem zu … Betonen Sie nun das Ausatmen … geben Sie mit jedem Ausatmen noch etwas von Ihrer Anspannung ab, so dass Sie mit jedem Ausatmen noch etwas tiefer in die Entspannung kommen … Mit jedem Ausatmen gehen Sie tiefer in die Entspannung … immer weiter … immer tiefer … soweit wie Sie mögen … wie es für Sie angenehm ist … Stellen Sie sich nun einen Baum vor … irgendeinen Laubbaum, der gerade in Ihrer Vorstellung erscheint … Sehen Sie sich diesen Baum genau an … Was für einen Baum sehen Sie? … Wie groß ist er? … In welcher Umgebung steht er? … Schauen Sie sich nun die Umgebung Ihres Baumes näher an … Was sehen Sie dort alles? … Blicken Sie nun wieder auf Ihren Baum … Betrachten Sie sich seine Äste … seine Blätter … seine Rinde … Schauen Sie sich den Baumstamm genauer an … die Rinde … Ist sie eher glatt oder rau … oder gar von tiefen Furchen zerrissen? … Stellen Sie sich nun die Wurzeln Ihres Baumes vor … wie sie tief in die Erde hineinragen … und sich immer mehr verzweigen … Spüren Sie den Halt, den sie dem Baum geben … wie er fest mit ihnen in der Erde verwurzelt ist … Stellen Sie sich nun vor, wie der Baum mit seinen Wurzeln Wasser aus dem Boden aufnimmt und es in eine Nährflüssigkeit umwandelt … Spüren Sie die Kraft, die durch die Nährflüssigkeit im Baum langsam aufsteigt … wie sie durch die Wurzeln fließt … durch den Stamm … durch die Äste … bis in die Blätter hinein … Stellen Sie sich nun vor, es ist Frühling … Sehen Sie zu, wie der letzte Schnee schmilzt … die ersten Knospen sprießen … die Sonne etwas wärmer wird … und das Leben um Ihren Baum herum erwacht … Nehmen Sie das Gezwitscher der Vögel wahr … die frische Frühlingslandschaft … Stellen Sie sich Ihren Baum im Frühling vor … seinen Stamm … seine Äste … die frischen, hellgrünen Blätter … die aufspringenden Knospen … und die frischen, zart duftenden Blüten … Verabschieden Sie sich nun vom Frühling … Die Jahreszeit wechselt und es wird Sommer … Stellen Sie sich nun Ihren Baum im Sommer vor … Es wird immer wärmer … Die Sonne steht hoch am Horizont … Es ist ein heißer und sonniger Tag … Schauen Sie sich um … Wie
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sieht die Landschaft um Ihren Baum herum aus? … Wie sieht der Himmel aus? … Wie sieht Ihr Baum aus? … sein Stamm … seine Äste … seine Blätter … Hängen vielleicht Früchte an Ihrem Baum? … Verabschieden Sie sich nun langsam vom Sommer … Es wird Herbst … Es wird kälter … Die Tage werden kürzer … Stürmische Winde ziehen übers Land und durchwehen die Blätter Ihres Baumes … Doch seine festen Wurzeln geben ihm sicheren Halt … Die Blätter fangen an zu welken … Sie verfärben sich langsam … Erst werden sie gelb … dann braun … Der Wind weht vereinzelt Blätter ab und wirbelt sie umher … Schauen Sie, wie die Blätter vom Baum herunterfallen … und wie sie rings um den Baum herum liegen bleiben … Wie sieht Ihr Baum nun aus? … sein Stamm … seine Äste … seine Blätter … Wie ist das Wetter? … Schauen Sie sich die Landschaft um Ihren Baum herum an … Nehmen Sie nun langsam Abschied vom Herbst … Stellen Sie sich nun vor, es ist Winter … Es liegt Schnee … Es ist klirrend kalt … Es weht ein eisiger Wind … Stellen Sie sich Ihren Baum im Winter vor … seinen Stamm … seine Rinde … seine Äste … Hängen vielleicht Eiszapfen an den Ästen Ihres Baumes? … Ist er mit Schnee bedeckt? … Sehen Sie in den Himmel … Wie sieht dieser aus? … Wie sieht die Landschaft um Ihren Baum herum aus? … Verabschieden Sie sich nun vom Winter … Kommen Sie nun langsam zum Ende … Spüren Sie Ihren Atem … Atmen Sie einige Male tief ein und aus … Nehmen Sie den Raum, in dem Sie sich befinden, in Ihrer Vorstellung wahr … Halten Sie Ihre Augen noch ein wenig geschlossen und bewegen Sie sich ein wenig … Strecken Sie erst Ihre Beine … dann Ihre Arme … Kommen Sie nun langsam in diesen Raum zurück, und öffnen Sie Ihre Augen. Im Anschluss an die Entspannungsübung sollte eine kurze Auswertung erfolgen, die mit den folgenden Fragen eingeleitet werden kann: ? 4 Wie gut ist es Ihnen gelungen, sich zu entspannen
4 4 4
4
(auf einer Skala von 0–100; je höher der Wert, umso entspannter)? Welchen Baum hatten Sie vor Augen? Gab es Schwierigkeiten? Wenn ja, welcher Art? Können Sie sich vorstellen, sich den gerade imaginierten Baum in Entspannungsphasen wieder ins Bewusstsein zu rufen? Könnten Sie sich vorstellen, dass dieser Baum eine Art Ruhebild für Sie werden könnte?
5.6.3
Sitzung 18
Inhalte und Materialien der 18. Sitzung 4 Inhalte – Besprechung der Hausaufgabe – Ungünstige Einstellungen – Eigene Stärken erkennen – Hausaufgabe: Eigene Stärken (Arbeitsblatt 6.9) 4 Materalien – Arbeitsblatt 6.7: Einstellungen und Erwartungen, die Stress verstärken – Arbeitsblatt 6.8: Meine Stärken – Arbeitsblatt 6.9: Hausaufgabe: Meine Stärken
jBesprechung der Hausaufgabe
Zu Beginn der 18. Sitzung erfolgt die Besprechung von 7 Arbeitsblatt 6.6 (Soziale Unterstützung). Welche Personen im Umfeld des Patienten stellen zuverlässige Quellen sozialer Unterstützung dar? jUngünstige Einstellungen
Es gibt eine ganze Reihe von Einstellungen und Erwartungen, die typisch menschlich sind, jedoch dazu führen können, dass man sich selbst unnötig unter Druck setzt. Häufig handelt es sich um unangemessene Anforderungen und Ansprüche an sich oder andere oder um inadäqate Vorstellungen darüber, wie die Welt zu funktionieren hat. Meist sind diese Erwartungen zu hoch ausgeprägt, d. h. »die Messlatte wird in nicht erreichbare Höhen gehängt«. Wenn man diese ungünstigen Erwartungen und Überzeugungen erkennt und selbstkritisch hinterfragt, besteht die Chance, durch Korrektur dieser Überzeugungen Stress zu reduzieren. Eine Möglichkeit der Stressminderung besteht folglich darin, eigene Ansprüche runterzuschrauben bzw. die Messlatte tiefer zu legen oder eigene Idealvorstellungen vom »hohen Ross« herunterzuholen (Potreck-Rose 2007). Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 6.7 (Einstellungen und Erwartungen, die Stress verstärken). Die einzelnen Punkte des Arbeitsblattes sollten mit dem Patienten gründlich besprochen werden. Die folgenden Erläuterungen können dabei hilfreich sein. Innere Antreiber und Kritiker
4 Sei perfekt! Dahinter steckt ein überhöhter Wunsch nach Erfolg, Selbstbestätigung und Anerkennung durch andere über Leistung sowie eine ausgeprägte Angst vor Misserfolg, Versagen und eigenen Fehlern. Der Anspruch lautet: »Ich darf keinen Fehler machen und muss immer die richtige, perfekte Lösung finden.«
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Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
Wir sind jedoch weder Gott noch ein Computer, sondern ablenkbar und manchmal unkonzentriert. Irren gehört zur Natur des Menschen, und Fehler sind demnach unvermeidbar. Sei beliebt! Dahinter steckt ein überhöhter Wunsch nach Zugehörigkeit, Angenommensein und Liebe sowie eine ausgeprägte Angst vor Ablehnung, Kritik und Zurückweisung durch andere. Der Anspruch lautet: »Ich möchte es allen Recht machen, und alle sollen mich mögen.« Dies ist ebenfalls eine unrealistische Zielsetzung, da Geschmack, Meinungen, Vorlieben und Ziele verschieden sind. Demzufolge gibt es keine Chance, es allen Recht zu machen. Sei stark! Dahinter steckt ein überhöhter Wunsch nach persönlicher Unabhängigkeit und Selbstbestimmung sowie ausgeprägte Angst vor Abhängigkeit von anderen, eigener Hilfsbedürftigkeit und Schwäche. Dieser Anspruch wird mitunter in einer Einzelkämpfermentalität sichtbar. Sei auf der Hut! Dahinter steckt ein überhöhter Wunsch nach Sicherheit und Kontrolle sowie eine ausgeprägte Angst vor Kontrollverlust, Fehlentscheidungen und Scheu vor Risiken. Es besteht die Überzeugung, dass wer sich nicht freut, auch nicht enttäuscht werden kann, bzw. wer das Schlechteste annimmt, allenfalls positiv überrascht werden kann. Das Ziel dieser Anspruchshaltung besteht darin, sich vor unangenehmen Überraschungen zu schützen. Negative Konsequenzen können sein: Missmut, Unzufriedenheit, Zukunftsängste, Selbstwertprobleme, Passivität, Rückzug bis hin zur sozialen Isolation. Ich kann nicht! Dahinter steckt ein überhöhter Wunsch nach eigenem Wohlbefinden und einem bequemen Leben sowie eine ausgeprägte Angst vor unangenehmen Gefühlen und vor Anstrengung sowie Einstellungen der eigenen Hilflosigkeit und eine geringe Frustrationstoleranz. Typischerweise manifestiert sich diese Überzeugung in einer Opferhaltung.
Katastrophisieren Situationen, Personen oder Dinge wer-
den als furchtbar, unerträglich, entsetzlich, schrecklich, nicht auszuhalten oder katastrophal bewertet. Meist steckt eine unrealistische Übertreibung dahinter. Mögliche Konsequenzen dieser Art des Denkens: resignieren, aufgeben, hängen lassen, jammern, mit dem Schicksal hadern, lamentieren, Opferhaltung einnehmen. Da Katastrophen nicht beeinflussbar sind, kann das Gefühl absoluter Hilflosigkeit geweckt werden. Folglich praktiziert man »Schwarzseherei« und erstarrt in Passivität. Bewertet man hingegen die gleiche Situation als »nur« unangenehm oder sehr schlimm, besteht immerhin die Möglichkeit, zu überprüfen, ob man etwas dagegen unternehmen, demnach eine Veränderung bewirken kann.
Muss-Denken Dabei handelt es sich um eingefahrene, feste, rigide Vorstellungen. Beispiele: »Es ist eine Katastrophe, wenn die Dinge nicht so sind bzw. die Welt nicht so ist, wie sie sein sollten bzw. sollte.« Wörter wie »unbedingt, fordern, müssen, nicht dürfen, gefälligst, bestehen auf, Anspruch, sollte oder verlangen« sind Ausdruck dieser Denkweise. Aus einem Wunsch entsteht eine absolute Forderung, ein unerbittliches Verlangen. Wenn wir dann nicht bekommen, was wir meinen, unbedingt haben zu müssen, wenn andere nicht tun oder lassen, was sie gefälligst tun oder lassen sollten, dann resultiert daraus Ärger, Hass, Wut, Frustration und Aggression. Dahinter steckt meist ein unrealistischer, unbegründbarer Anspruch an die Umwelt, an andere oder das Schicksal: Etwas soll sein, muss unbedingt sein oder darf nicht sein. Es werden allgemein gültige Normen und Gesetze aufgestellt, hinter denen folgende Begründung steht: »Weil ich das so will bzw. weil man das so macht.« Die Behauptung, etwas zu müssen, suggeriert, keine Wahl und keinen Einfluss auf die Situation zu haben (was aber nur selten der Fall ist). Ziel ist es, unangenehme Realitäten akzeptieren zu lernen. Generalisieren, Verallgemeinern Von einem Teil auf das Ganze schließen, von einem auf alle, vom heutigen Erlebnis auf künftige Ereignisse. Beispiele: etwas missglückt → »Mir gelingt NIE etwas!«; ein Mensch gilt im Ganzen als gut oder schlecht; Metapher mit dem Früchtekorb: »Vor Ihnen steht ein Korb, der mit zahlreichen Früchten gefüllt ist. Sämtliche Früchte sind knackig, frisch und sauber. Dann entdecken Sie eine angefaulte Kirsche. Sie sagen: ‚Alles Mist!‘ und werfen sogleich den kompletten Korb samt Inhalt in den Müll.« Eigenlob stinkt! Tut es das wirklich?! Wer sagt das? Mit welcher Begründung? Man sollte nicht erwarten, dass andere einen für Fortschritte loben. Man sollte stattdessen lernen, sich selbst innerlich »auf die Schulter zu klopfen«, wenn man etwas Zielführendes getan oder erreicht hat. Eigenlob ist eine notwendige Voraussetzung, um mit sich selbst zufrieden zu sein, um unabhängig von der Meinung anderer und selbstsicherer zu werden. Sich selbst erfüllende Prophezeiungen (Pygmalion-Effekt) Allzu oft nehmen wir das wahr, was wir wahrnehmen
wollen. Häufig interpretieren wir unsere Erfahrungen so, dass sie unsere Vorurteile über uns selbst und die Welt immer wieder aufs Neue bestätigen. Ist es denn tatsächlich möglich, dass Erwartungen, die an eine Person gerichtet sind, ihr Verhalten in einer Art und Weise beeinflussen, dass diese Person sich letztlich unbewusst diesen Erwartungen entsprechend verhält? Der erstmals von Robert Rosenthal und Lenore Jacobson (1986) untersuchte Pygmalion-Effekt – als ein Phänomen im Schulunterricht –
109 5.6 · Modul 6: Stress und Stressbewältigung (Teil 2)
beschreibt die Auswirkungen der Lehrererwartungen auf das Verhalten ihrer unterrichteten Schüler. Hat ein Lehrer bereits eine (vorweggenommene) Einschätzung der Schüler (etwa Schüler A ist dumm, Schüler B hochbegabt, Schüler C ein Störenfried etc.), so wird sich diese Ansicht im späteren Verlauf auch bestätigen. Dieses wird dadurch möglich, dass der Lehrer seine Erwartungen in subtiler Weise den Schülern übermitteln kann, z. B. durch die Wartezeit auf eine Schülerantwort, durch Häufigkeit und Stärke von Lob oder Tadel, durch stärkere oder schwächere Beachtung von Schülern und unterschiedlich hohe Leistungsanforderungen. Ein anderes Beispiel: Wenn die Nachricht über eine drohende Benzinknappheit in den Medien kursiert und sich demzufolge jeder, der ein motorisiertes Gefährt sein Eigen nennt, Hals über Kopf zur Tankstelle begibt, um noch etwas von dem bald kostbaren und seltenen Gut zu ergattern, dann kommt es tatsächlich schnell zu einer Verknappung des Benzins. Eine Erwartung wird als bevorstehende Tatsache betrachtet (um später sagen zu können, man habe es gewusst).
» So genügt zum Beispiel die Annahme – ob sie faktisch begründet oder grundlos ist, spielt keine Rolle –, dass die anderen über einen tuscheln und sich heimlich lustig machen. Angesichts dieser »Tatsache« legt es der gesunde Menschenverstand nahe, den Mitmenschen nicht zu trauen und, da das ganze natürlich unter einem löchrigen Schleier der Verheimlichung geschieht, genau aufzupassen und auch die kleinsten Indizien in Betracht zu ziehen. Es ist dann nur eine Frage der Zeit, bis man die anderen beim Tuscheln und heimlichen Lachen, beim verschwörerischen Augenzwinkern und gegenseitigen Zunicken ertappen kann. Die Prophezeiung hat sich erfüllt (Watzlawick 2007, S. 62–63).
«
Das Phänomen der »Hamsterkäufe«, das bereits oben anhand von prophezeiter Benzinknappheit erläutert wurde, ist so zu erklären. »Die Prophezeiung des Ereignisses führt zum Ereignis der Prophezeiung« (Watzlawick 2007, S. 63). Gedankenlesen Vermutungen darüber anstellen, was an-
dere Leute denken. Es existieren keine wissenschaftlichen Beweise, dass dies möglich ist. Positives externalisieren, Negatives internalisieren Hierbei macht man sich für die schlechten Ereignisse auf der Welt verantwortlich. Als Beispiel kann folgende Situation angeführt werden: Ein Regenschauer trübt die Stimmung auf einer Gartenparty. Der Gastgeber schreibt die gedämpfte Stimmung allerdings nicht dem Wetter zu, sondern gibt sich selbst die Schuld und sucht nach Gründen, die in seiner Person liegen. Ein anderes Muster ist bei der Erklärung eines positiven Ereignisses, z. B. dem Bestehen einer
Prüfung, zu erkennen. Die betreffende Person attribuiert den Erfolg auf externale Faktoren, z. B. die vermeintliche Leichtigkeit der Aufgabe oder sagt sich »Da hatte ich eben einfach Glück.« Misserfolg wird bei dem hier beschriebenen Denkstil typischerweise mit eigener Unfähigkeit erklärt. Die Ursache des Scheiterns wird demnach der eigenen Person zugeschrieben. Externe Erklärungsmöglichkeiten werden ausgeblendet oder nicht berücksichtigt. Wie der Patient bereits aus vorangegangenen Stunden wissen sollte, entsteht Stress zum großen Teil im eigenen Kopf. Wie wir Situationen einschätzen und unsere Kompetenzen bewerten, hat großen Einfluss darauf, ob wir Stress erleben oder nicht. Ein wichtiger Weg zur Stressbewältigung besteht folglich darin, stressverschärfende Gedanken zu entdecken und zu verändern. Dies ist oft leichter gesagt als getan. Mit dem Patienten können an dieser Stelle die Fragen, die man sich stellen kann, um zu überprüfen, ob man in eine Denkfalle getappt ist, wiederholt werden. Zur Auffrischung können noch einmal ein paar Hilfsfragen genannt werden, die der Entdeckung stressverstärkender Gedanken und Einstellungen dienen: ? 4 Betrachte ich lediglich die negativen Seiten der 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
4 4
Situation? Gibt es auch positive Seiten? Verallgemeinere ich zu stark? Habe ich zu hohe oder falsche Erwartungen? Was denkt einer, den die Situation weniger belastet als mich? Wie werde ich später, in einem Monat oder einem Jahr darüber denken? Was würde schlimmstenfalls geschehen? Was wäre so schlimm daran? Wie wahrscheinlich ist das? Was wäre schlimmer als diese Situation? Habe ich schon mal eine ähnlich schwierige Situation gemeistert? Wenn ja, wie? Was würde ich einem Freund zur Unterstützung sagen, wenn er sich in einer ähnlichen Situation befände wie ich? Was würde mir ein guter Freund in dieser Situation sagen oder wozu würde er mir raten? Wie wichtig ist diese Sache wirklich für mich?
jEigene Stärken erkennen
Nun soll es darum gehen, sich auf eigene Stärken zu konzentrieren. Was findet der Patient gut an sich? Das können Eigenschaften, Einstellungen, Fähigkeiten, Talente, Wissen und bestimmte Erfahrungen sein. Vielen Menschen fällt diese Aufgabe erfahrungsgemäß schwer. Sie haben Hemmungen, sich selbst zu loben und stellen ihr Licht aufgrund ausgeprägter Bescheidenheit oft unter den Scheffel. Dem Patienten sollte vermittelt werden, dass es
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Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
wichtig ist, sich seiner eigenen Qualitäten bewusst zu sein, um sein Selbstvertrauen zu stärken. Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 6.8 (Meine Stärken) und soll es bearbeiten, d. h. diejenigen Eigenschaften ankreuzen, von denen er meint, dass sie bei ihm stark ausgeprägt sind. Im Folgenden werden noch einige Hinweise und Informationen zur Besprechung des Arbeitsblattes gegeben. Peterson und Seligman als Begründer der »Positiven Psychologie« (2004) beschreiben einen Katalog von 24 Charakterstärken und sechs Tugenden. Die Autoren haben sich für ihre Klassifikation auf verschiedene philosophische, religiöse und psychologische Quellen aus unterschiedlichen Kulturen gestützt. Als universelle Tugenden nennen die Autoren: 4 Weisheit und Wissen (dazugehörige Stärken sind beispielsweise Kreativität, Originalität und Einfallsreichtum, Neugierde, Lerneifer, Urteilskraft, soziale Intelligenz, Weitblick), 4 Mut (z. B. Tapferkeit, Ausdauer und Beharrlichkeit, Durchhaltekraft, Integrität), 4 Liebe/Humanität (z. B. Fähigkeit zu lieben, Bindungsfähigkeit, Menschenfreundlichkeit, Großzügigkeit), 4 Gerechtigkeit (z. B. Zugehörigkeit, Teamfähigkeit und Loyalität, Fairness, Führung), 4 Mäßigung (z. B. Vergebungsbereitschaft, Verzeihung und Gnade, Selbstkontrolle, Bescheidenheit) sowie 4 Spiritualität und Transzendenz (z. B. Sinn für das Schöne, Ehrfurcht und Dankbarkeit, Optimismus, Humor, Begeisterung). jHausaufgabe
Der Patient soll sich im Rahmen der Hausaufgabe vertieft mit seinen Stärken auseinandersetzen und diese notieren. Ihm wird 7 Arbeitsblatt 6.9 (Hausaufgabe: Meine Stärken) ausgehändigt.
5.6.4 Sitzung 19
Inhalte und Materialien der 19. Sitzung 4 Inhalte – Besprechung der Hausaufgabe – Palliative und regenerative Stressbewältigung – Allgemeines Anspannungsniveau – Innere Achtsamkeit – Hausaufgabe: Tagebuch (Arbeitsblatt 2.4) führen 4 Materialien – Arbeitsblatt 6.10: Stress und allgemeines Anspannungsniveau – Arbeitsblatt 6.11: Eine Geschichte zur inneren Achtsamkeit – Arbeitsblatt 2.4: Mein Tagebuch (7 Exemplare)
jBesprechung der Hausaufgabe
Zu Beginn der 19. Sitzung wird 7 Arbeitsblatt 6.9 (Hausaufgabe: Meine Stärken) besprochen. jPalliative und regenerative Stressbewältigung
Eine weitere Art der Stressbewältigung stellt die Regulation und Kontrolle der körperlichen Stressreaktion dar. Dabei werden zwei Arten unterschieden: 4 Palliation: Bewältigungsversuche, die der kurzfristigen Erleichterung und Entspannung dienen, Dämpfung einer akuten Stressreaktion; 4 Regeneration: Bewältigungsversuche, die längerfristig und regelmäßig der Erholung und Entspannung dienen. Es lässt sich nicht verhindern, dass Stressreaktionen immer wieder auftreten. Deswegen soll es im Folgenden darum gehen, wie psychische und körperliche Erregung gedämpft bzw. abgebaut werden kann. Denkbar wären folgende Strategien: 4 regelmäßige Anwendung eines Entspannungsverfahrens; 4 regelmäßige Bewegung; 4 gesunde, abwechslungsreiche Ernährung; 4 Pflege außerberuflicher sozialer Kontakte; 4 regelmäßiger Ausgleich durch Freizeitaktivitäten und Hobbys; 4 lernen, die kleinen Dinge des Alltags zu genießen; 4 ausreichend Schlaf; 4 strukturierter Tagesablauf mit integrierten Pausen.
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jAllgemeines Anspannungsniveau
Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 6.10 (Stress und allgemeines Anspannungsniveau). Die Grafik wird erklärt. Damit eine körperliche Stressreaktion in Gang gesetzt wird, müssen die auslösenden Reize eine bestimmte Schwelle überschreiten. Rennt beispielsweise ein gefährliches Tier auf uns zu, wird die körperliche Stressreaktion erst bei Unterschreiten einer bestimmten Entfernung und/oder bei einem bestimmten Verhalten des Tieres aktiviert (z. B. Knurren, Zähnefletschen, Anspringen), um nicht unnötig körperliche Energie zu verschwenden. Die Höhe der Schwelle ist individuell verschieden. Teilweise ist sie genetisch, teilweise durch gemachte Erfahrungen bestimmt. Auch äußere Umstände beeinflussen die Höhe der Schwelle. So ist sie beispielsweise nachts tiefer als bei Tag (man stelle sich vor, man ist nachts in dunklen Gassen unterwegs und hört Schritte hinter sich; nun stelle man sich die gleiche Situation tagsüber vor, wenn die Gassen belebter sind). Stress bzw. belastende Ereignisse können, je nachdem wie hoch das allgemeine Anspannungsniveau ausgeprägt ist, zu einer Überschreitung der Schwelle führen, was zur Auslösung einer körperlichen Stressreaktion führt. Bestimmte Einflüsse können die Schwelle herabsetzen. Je höher die Grunderregung und je niedriger die Schwelle, umso weniger Zusatzbelastung braucht es, um eine körperliche Stressreaktion zu aktivieren. Durch geleitetes Entdecken soll der Patient nun herausfinden, was er selbst tun kann, um sein allgemeines Anspannungsniveau zu senken. ? Was können Sie tun, um Ihr allgemeines Anspannungsniveau zu senken, um insgesamt gelassener und ausgeglichener zu werden?
jInnere Achtsamkeit
Achtsamkeit bedeutet, auf besondere Weise aufmerksam zu sein und sich ganz auf den jetzigen Moment, d. h. auf die Gegenwart, das so genannte Hier und Jetzt zu konzentrieren. Dies soll ohne Bewertung und ohne aktives Handeln geschehen. Es geht um Innehalten und die Wahrnehmung dessen, was gerade ist. Handlungs- und Veränderungsdruck soll genommen werden. Oft wird das Konzept der (inneren) Achtsamkeit mit dem Buddhismus in Verbindung gebracht oder der Dialektisch Behavioralen Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung, in der es ein zentrales Element darstellt. Sich gewissen Stress zu ersparen, indem man seine Aufmerksamkeit öfter und bewusst auf den gegenwärtigen Moment lenkt, ist eine beliebte Idee, die sich auch in den Schriften mancher Philosophen findet. So äußert sich beispielsweise Blaise Pascal (1979) wie folgt:
»
Ein jeder prüfe seine Gedanken, er wird sie alle mit der Vergangenheit und mit der Zukunft beschäftigt finden. Wir denken fast gar nicht an die Gegenwart ... So leben wir nie, sondern wir hoffen zu leben; und während wir uns immer dazu bereiten, glücklich zu sein, ist es unvermeidlich, dass wir es niemals sind (Pascal 1979, S. 42–43).
«
Arthur Schopenhauer (1976) empfiehlt:
»
Statt also mit den Plänen und Sorgen für die Zukunft ausschließlich und immerdar beschäftigt zu sein, oder aber uns der Sehnsucht nach der Vergangenheit hinzugeben, sollten wir nie vergessen, dass die Gegenwart allein real und allein gewiss ist; hingegen die Zukunft fast immer anders ausfällt, als wir sie denken; ja auch die Vergangenheit anders war; und zwar so, dass es mit beiden, im ganzen, weniger auf sich hat, als es uns scheint (Schopenhauer 1976, S. 133).
«
Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 6.11 (Eine Geschichte zur inneren Achtsamkeit). Man kann den Patienten bitten, die Geschichte auf dem Arbeitsblatt vorzulesen (fernöstliche Weisheit, in Anlehnung an Grün 2001). Die Bedeutung der Geschichte für den Patienten kann durch Nachfragen deutlich gemacht werden: ? 4 Erkennen Sie sich in der Geschichte wieder? 4 Fällt es Ihnen schwer, achtsam zu sein? 4 Können Sie sich vorstellen, dies zu üben, z. B. beim täglichen Zähneputzen?
jHausaufgabe
Die letzte Hausaufgabe besteht darin, noch einmal (wie bereits zu Beginn der Therapie) eine Woche lang das Tagebuch zu führen. Der Patient erhält sieben Exemplare von 7 Arbeitsblatt 2.4 (Mein Tagebuch) (unter der Annahme, dass die nächste Sitzung genau in einer Woche stattfindet).
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Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
5.7
Modul 7: Störungsmodell
5.7.1
Sitzung 20
Inhalte und Materialien der 20. Sitzung
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4 Inhalte – Besprechung der Hausaufgabe – Bilanz – Zusammenfassendes Erklärungsmodell – Hilfreiche Strategien für die Zukunft – Feedback einholen 4 Materialien – Arbeitsblatt 7.1: Meine Therapieerfolge – Arbeitsblatt 7.2: Erklärungsmodell – Arbeitsblatt 7.3: Zukünftige Bewältigungsstrategien
jBesprechung der Hausaufgabe
Die abschließende Sitzung beginnt mit der Auswertung des Tagebuches (7 Arbeitsblatt 2.4). Folgende Fragen können hierbei hilfreich sein: ? 4 Gab es Schwierigkeiten bei der Bearbeitung? 4 Wie häufig, wie intensiv waren die Symptome bzw. wie groß war das Ausmaß der Belastung? 4 Hat sich in den Tagebucheinträgen etwas verändert im Vergleich zum Therapiebeginn? Wenn ja, was bedeuten diese Veränderungen für den Patienten?
jBilanz
Das Tagebuch kann als Überleitung zur Bilanzierung der Therapie genutzt werden. Gemeinsam wird der Therapieverlauf betrachtet. Die folgenden Fragen sind diesbezüglich als Anregung zu verstehen: ? 4 Was hat sich bei Ihnen verändert? 4 Was haben Sie mit Hilfe der Therapie gelernt und erreicht? 4 Haben sich Ihre körperlichen Beschwerden verändert? 4 Was glauben Sie, was hat Ihnen am meisten geholfen? 4 Wie werden Sie Fortschritte beibehalten oder sogar weiter ausbauen können?
Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 7.1 (Meine Therapieerfolge). Er soll die ursprünglichen Therapieziele eintragen und bewerten, inwieweit diese erreicht wurden.
jZusammenfassendes Erklärungsmodell
Die Therapie soll nun mit einem zusammenfassenden Erklärungsmodell abgerundet werden. Der Patient erhält dabei die Möglichkeit, all seine Erfahrungen, die er während der Therapie gesammelt hat, in ein Gesamtmodell zu integrieren. Die folgende Instruktion kann hierbei hilfreich sein. kInstruktion: Ein zusammenfassendes Erklärungsmodell
Im Laufe der Therapie haben Sie wesentliche Mechanismen bzw. Faktoren kennen gelernt, die bei der Entstehung und Aufrechterhaltung Ihrer Beschwerden eine Rolle spielen. Lassen Sie uns heute noch einmal wiederholen, zusammenfassen und in einem Schaubild darstellen, was Sie im Behandlungsverlauf gelernt haben. Gleichzeitig sollen Sie ein plausibles Erklärungsmodell für Ihre Beschwerden erhalten. Es ist sehr naheliegend und normal, dass Sie beim Auftreten körperlicher Beschwerden zunächst an eine (körperliche) Erkrankung als Ursache denken und sich dementsprechend verhalten, d. h. sich schonen und den Arzt aufsuchen. Eine organische Ursache ist jedoch nur ein Faktor von vielen möglichen, die bei der Entwicklung einer Störung eine Rolle spielen können. Die Verhaltenstherapie geht davon aus, dass für die Entstehung psychischer Störungen (und eben auch somatoformer Beschwerden) zahlreiche Einflüsse eine Rolle spielen. Forschungsergebnisse stützen diese Annahme. Faktoren, die zur Entwicklung einer Störung beitragen, werden für gewöhnlich in drei Gruppen eingeteilt. Man unterscheidet hierbei prädisponierende, auslösende und aufrechterhaltende Bedingungen. Unter prädisponierenden Faktoren versteht man genetische Einflüsse, biologische Prozesse sowie prägende Erfahrungen, die man im Laufe seines Lebens, insbesondere in Kindheit und Jugend, gesammelt hat. Es handelt sich hierbei also um die individuelle Lerngeschichte (z. B. traumatische bzw. belastende Erlebnisse, Atmosphäre im Elternhaus, Erziehung). Die Persönlichkeit eines Individuums stellt ebenfalls einen prädisponierenden Faktor dar (Besonderheiten in der Informationsverarbeitung, früh erworbene Denkstile). Von besonderer Relevanz ist hierbei der »interozeptive Wahrnehmungsstil« bzw. das Konzept der »somatosensorischen Verstärkung« (7 Abschn. 2.1). Dieser Wahrnehmungsstil, der auch für die Aufrechterhaltung der Störung eine bedeutsame Rolle spielt, beschreibt die Tendenz, körperliche Veränderungen als intensiv, schädlich und beeinträchtigend zu erleben, unangenehme Empfindungen besonders zu beachten und sie eher als pathologische Zeichen und nicht als normale physiologische Reaktionen anzusehen. Studien haben gezeigt, dass Patienten mit einer somatoformen Störung ihre Körperfunktionen intensiver und ängstlicher beobachten und schneller dazu neigen, diese als
113 5.7 · Modul 7: Störungsmodell
Zeichen einer Krankheit fehlzuinterpretieren. Allgemein betrachtet beeinflussen prädisponierende Faktoren das Risiko einer Person, eine psychische Störung zu entwickeln. Sie bilden quasi den Nährboden und bestimmen die Empfindlichkeit für die Entwicklung einer Störung. Auslösende bzw. vorausgehende Bedingungen können sein: Stress, Probleme bzw. »Tropfen, die das Fass zum Überlaufen bringen«, länger andauernde Alltagsbelastungen (z. B. Doppelbelastung, andauernder Termin- und Zeitdruck, chronische körperliche Erkrankungen und Beschwerden), Veränderungen der Lebensgewohnheiten und Anpassungssituationen an neue Lebensabschnitte und Problemstellungen, wie z. B. berufliche Umstrukturierung, familiäre Veränderungen (z. B. Kinder verlassen das Haus), körperliche Umstellungsprozesse (z. B. Wechseljahre), belastende einzelne Ereignisse (z. B. Krankheit, Unfall, Trauerfall, Scheidung, Umzug, Arbeitsplatzwechsel etc.), auch primär positive Ereignisse, wie z. B. Hochzeit, Schwangerschaft oder Geburt fallen darunter, da sie ebenfalls mit Stress verbunden sind und eine Anpassung an eine veränderte Situation erfordern. Aufrechterhaltende Bedingungen führen dazu, dass die Störung nicht aufhört, sondern immer intensiver und häufiger zu Tage tritt. Für die Aufrechterhaltung der Problematik sind insbesondere zwei »Teufelskreise« von wesentlicher Bedeutung: 1. ein innerer Teufelskreis (von außen nicht erkennbar, spielt sich im Inneren des Betroffenen ab): erhöhte Aufmerksamkeit auf körperliche Vorgänge und Veränderungen bzw. Missempfindungen, Fehlbewertung der Symptome; 2. ein äußerer Teufelskreis (von außen, für andere beobachtbar): Krankheitsverhalten (meist länger andauernd, oft chronifiziert). Für die meisten psychischen Störungen können derartige Teufelskreise identifiziert werden, welche die Problematik aufrechterhalten. Dabei tragen oft die Bewertungen der Symptome durch die Betroffenen oder die Verhaltensweisen, die sie ergreifen, um die Symptome zu kontrollieren, zu deren Aufrechterhaltung bei. In der Behandlung geht es dann darum, diese Teufelskreise zu durchbrechen. Der Patient erhält nach dieser zunächst theoretischen Erläuterung 7 Arbeitsblatt 7.2 (Erklärungsmodell). Die einzelnen Komponenten werden gemeinsam besprochen und anhand individueller Beispiele des Patienten validiert. Im Folgenden werden die einzelnen Modellkomponenten erläutert. Auslöser Physiologische Erregung, Informationen (z. B. aus den Medien, von Bekannten gehört), Bagatellerkrankungen, körperliche Veränderungen.
Wahrnehmung und Aufmerksamkeit Körperliche Reaktionen werden aufgrund von bewusster oder auch spontaner Aufmerksamkeitslenkung wahrgenommen (sie rücken ins Scheinwerferlicht). Dies kann bereits zu einer intensiveren Wahrnehmung des Symptoms führen – man kann beispielsweise an die Schuhe denken, die zu drücken beginnen, sobald man sich bewusst auf seine Füße konzentriert. Fehlbewertung der Körpersignale als bedrohliche Krankheitszeichen Meist kommt es zu einer Missinterpretation
der wahrgenommenen Beschwerden als gefährlich und katastrophal und damit zu einer Aufschaukelung der Symptome. Wenn man etwas als bedrohlich bewertet, richtet man naturgemäß seine Aufmerksamkeit verstärkt darauf und ist alarmiert. Aus diesem Grund richtet sich die Aufmerksamkeit verstärkt auf innere Körpervorgänge, was mit einer erhöhten physiologischen bzw. körperlichen Erregung eingeht. Somit schließt sich der Teufelskreis. Als veranschaulichendes Beispiel kann folgende Situation angesprochen werden: »Sie wachen morgens auf und fühlen sich schlapp. Sie könnten sich denken: Ich fühle mich schwach, da ich die Nacht durchgemacht habe. Vielleicht bahnt sich eine Erkältung an. Hier wird das Symptom Schwäche als relativ harmlos bewertet. Sie werden gelassen bleiben. Wenn Sie sich jedoch sagen: Oh je, ich bin bestimmt schwer krank, habe multiple Sklerose oder sonst was Schlimmes!, löst dies großes Unbehagen, wenn nicht sogar Angst aus, was wiederum eine körperliche Stressreaktion verursachen bzw. zu einer Erhöhung physiologischer Erregung führen kann.« Fehlbewertungen können auch aus unrealistischen Einstellungen zur Gesundheit und zu Funktionsweisen des Körpers herrühren (z. B. »Ein gesunder Körper ist stets beschwerdefrei«, »Schmerzen im Fuß signalisieren einen bevorstehenden Herzinfarkt«, »Ein Arzt muss immer die richtige Diagnose und Behandlung finden können«). Krankheitsverhalten Mit so genannten Krankheitsverhaltensweisen versucht der Betroffene, seine Beschwerden zu kontrollieren oder mit Hilfe medizinischer Dienstleistungen zu lindern bzw. zu heilen. Es wird also eine Reduktion der Beschwerden angestrebt. Langfristig führt dies jedoch genau zum Gegenteil, nämlich zu einer Stabilisierung der Beschwerden. Man sucht beispielweise den Arzt auf und fordert medizinische Untersuchungen. Sind die Befunde unauffällig, wird daran gezweifelt und man sucht weitere Ärzte und Spezialisten auf. Dieses Verhalten, die übermäßige Inanspruchnahme medizinischer Dienste, nennt man auch »Doctor-Shopping«. Ebenfalls zu den Krankheitsverhaltensweisen zählen Selbstuntersuchungen und Funktionsüberprüfungen, so genanntes CheckingVerhalten. Beispielsweise können Hautrötungen durch
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Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
ständiges Betasten der betroffenen Stelle verstärkt oder ein Kloßgefühl im Hals durch ständige Schluckbewegungen ausgelöst werden. Darüber hinaus entwickeln viele Betroffene ein übermäßiges Schonungsverhalten. Körperliche Anstrengung oder sportliche Aktivitäten werden aus Angst vor Symptomverschlimmerung gemieden. Langfristig schwächt körperliche Schonung jedoch körperliche Belastbarkeit, Kondition und Muskelkraft, so dass bereits bei geringer Anstrengung beobachtbare körperliche Veränderungen bzw. Missempfindungen auftreten. Oft wird die Aufmerksamkeit auf die Beschwerden oder auf damit in Zusammenhang stehende Informationen gelenkt. Manche Betroffene kaufen sich medizinische Nachschlagewerke, verfolgen Gesundheitssendungen in den Medien oder finden auch in Gesprächen mit Familie und Freunden kein anderes Thema mehr als die körperlichen Beschwerden, was wiederum zwischenmenschliche Beziehungen auf Dauer belasten kann. Eine weitere Krankheitsverhaltensweise ist das Einnehmen von unnötigen bzw. medizinisch nicht indizierten Medikamenten. Hier besteht die Gefahr, dass neue Symptome ausgelöst werden (Nebenwirkungen). Zudem wird ein organmedizinisches Krankheitsverständnis unterstützt (»Wer Medikamente verschrieben bekommt, der muss doch auch krank sein«). Langfristige negative Folgen: Entwicklung von Abhängigkeit, körperliche Folgeschäden. Krankenrolle Oft ist die Krankenrolle mit gewissen »Vorteilen« verbunden. Man spricht in diesem Fall von »(sekundärem) Krankheitsgewinn« oder operanter Verstärkung. Mögliche Vorteile für den Patienten: verstärkte Zuwendung durch Familie, Partner oder Arzt, Wegfall/ Vermeidung unangenehmer privater oder beruflicher Pflichten, finanzielle Vorteile (Rentenzahlung).
jHilfreiche Strategien für die Zukunft
Nachdem nun alle wichtigen Faktoren besprochen wurden, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Körperbeschwerden beitragen können, sollten mit dem Patienten alle Strategien im Umgang mit Beschwerden zusammengefasst werden, die er in Zukunft verstärkt einsetzen möchte. Der Patient erhält 7 Arbeitsblatt 7.3 (Zukünftige Bewältigungsstrategien). jFeedback einholen
Der Patient sollte abschließend darum gebeten werden, zu berichten, was ihm an der Behandlung gut und was ihm weniger gut gefallen hat. Es ist zudem hilfreich, den Patienten zu befragen, von welchen Einheiten er aus seiner Sicht am meisten profitiert hat bzw. was an der Therapie für ihn am hilfreichsten erlebt wurde.
5.8
Kasuistik
jSymptomatik
Der 25-jährige Jurastudent, der sich für eine psychotherapeutische Behandlung auf Anraten seiner Hausärztin vorstellte, berichtete im Erstgespräch über verschiedene Schmerzen im Rücken, Kopf, in Gelenken, Gliedmaßen sowie im Unterbauch. Gelegentlich trete auch ein Kribbelgefühl in den Händen bzw. Füßen auf. Er leide zudem an gastrointestinalen Beschwerden wie Übelkeit, Völlegefühl, Blähungen, Verstopfung und Durchfall. Er befinde sich zum aktuellen Zeitpunkt kurz vor wichtigen Prüfungen in seinem Studium. Aufgrund der Beschwerden könne er sich kaum konzentrieren, das Lernen strenge ihn sehr an. Die körperlichen Beschwerden bestehen bereits seit seiner Adoleszenz (ca. 16. Lebensjahr). In den vergangenen Jahren habe er immer wieder Ärzte konsultiert und sei stationär untersucht worden. Eine organische Ursache sei jedoch weder für die Schmerzen noch die gastrointestinalen Symptome gefunden worden. In den letzten 3 Jahren hätten sich die Beschwerden nochmals intensiviert, was ihn zunehmend in seinem Alltag einschränke. Er könne kaum noch abschalten und sich entspannen, reagiere auf seine Umwelt häufig gereizt und habe Schlafprobleme. Im Zusammenhang mit seiner komplexen Symptomatik müsse er auf viele angenehme Aktivitäten und Hobbys verzichten. So gehe er nicht mehr Joggen und habe sich im Universitätssport abgemeldet. Klavier spiele er nur noch selten. Die Kontakte zu seinen Freunden hätten sich ebenfalls deutlich reduziert. Besondere Sorgen mache ihm, dass die Schmerzen manchmal so schlimm seien, dass er nicht wisse, wie er sich hinsetzen, -legen oder -stellen solle. Er habe vor allem Angst, dass die Symptomatik ihn somit bei der Ausführung seines Berufes zukünftig stark behindern werde. Diese Zukunftssorgen gehen damit einher, dass der Patient sich über die vergangen 2 Monate zunehmend niedergeschlagener, antriebslos und hoffnungslos gefühlt habe. Lebensmüde Gedanken habe er jedoch noch nie erlebt. jKrankheitsanamnese
Der Patient gibt an, seit ca. 9 Jahren an Rückenschmerzen zu leiden. In der Zeit, in der die Schmerzen begonnen haben, habe es verstärkt eskalierte Konflikte zwischen seinen Eltern gegeben. Zudem sei er sehr unglücklich verliebt gewesen, was ihn sehr belastet habe. Die Schmerzen seien dann für etwa ein Jahr wieder zurückgegangen, im Rahmen des Abiturs seien sie jedoch sogar stärker geworden als zuvor. Während die Beschwerden zu Beginn seines Studiums deutlich zurückgegangen seien, hätten sie sich im zweiten Semester wieder intensiviert. Seitdem leide er täglich unter den Schmerzen. Zudem erlebe er fast einmal pro Monat mehrere Tage anhaltende starke Kopf-
115 5.8 · Kasuistik
schmerzen. Obwohl er zu Beginn des Studiums sportlich sehr aktiv gewesen sei, habe er dies aufgrund hinzugekommener Gelenkschmerzen sowie Schmerzen in den Armen und Beinen, die häufig auch von Taubheits- und Kribbelgefühlen begleitet werden, aufgegeben. Vor 2 Jahren habe ihn zudem seine Partnerin betrogen und sich von ihm getrennt. Er habe in dieser Zeit erstmalig anhaltende Verdauungsprobleme entwickelt. Diese träten seitdem kontinuierlich auf. Mehrmals pro Woche leide er an Durchfall und Übelkeit. Die Teilnahme an universitären Veranstaltungen sei daher sehr schwierig für ihn. Er suche sich in der Regel einen Sitzplatz nahe dem Ausgang, um möglichst schnell eine Toilette erreichen zu können. Zur Universität fahre er mit öffentlichen Verkehrsmitteln, was die Sache zusätzlich erschwere. Er könne nur in Zügen mit WCs fahren. Trotz vielseitiger medizinischer Untersuchungen – auch im Rahmen stationärer Aufenthalte – und wiederholten Konsultationen von Fachärzten habe kein organischer Befund für seine Symptomatik gestellt werden können. Vor einem Jahr habe er dann die Diagnose eines »Reizmagens« sowie einer »Fibromyalgie« erhalten. Diese Diagnosen sowie die anhaltenden Beschwerden frustrierten ihn so stark und lösten in ihm so starke Zukunftsängste aus, dass er sich über die letzten 2 Monate zunehmend niedergeschlagen, hoffnungslos und antriebslos gefühlt habe. Er grüble sehr häufig über seine berufliche Zukunft und könne sich kaum auf seinen Lernstoff konzentrieren. Aktivitäten, die er ansonsten »nebenbei« erledigt habe, fielen ihm schwer und benötigten viel mehr Zeit als früher. Der Patient habe bisher keine psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlungen in Anspruch genommen. Der Patient nehme nach Bedarf Schmerzmittel (Metamizol, Diclofenac) ein, die er von seinem Hausarzt verschrieben bekommen habe. Er versuche, die Schmerzmitteleinnahme auf ein Minimum zu reduzieren, was ihm aber sehr schwer falle. Somatische Erkrankungen liegen derzeit keine vor. jLebensgeschichtliche Entwicklung
Im Rahmen der Familienanamnese gibt der Patient an, dass seine Mutter seit vielen Jahren ebenfalls an Rückenschmerzen leide. Der Vater habe Bluthochdruck. Psychische Erkrankungen seien ihm in seiner Familie nicht bekannt. Im Zusammenhang mit der biographischen Anamnese berichtet der Patient, der Sohn eines Juristen (geb. 1953) und einer Hautärztin (geb. 1956) zu sein. Er habe eine 2 Jahre jüngere Schwester. Der Patient habe die Atmosphäre in seinem Elternhaus vom Kleinkindesalter an als angespannt und gereizt erlebt. Beide Eltern seien sehr leistungsorientiert und hätten häufig nur wenig Zeit für ihre Kinder gehabt. Die wenige gemeinsam verbrachte Zeit sei oftmals durch Streite zwischen den Elternteilen geprägt gewesen. Der Patient habe sich in seiner Familie
immer als »hinter seiner Schwester stehend« erlebt. Sie sei in der Schule wie auch in ihren Hobbys erfolgreicher als er gewesen, was auch heute noch der Fall sei. Seine Eltern haben ihn das häufig spüren lassen mit Kommentaren wie z. B. »Aus dir wird nie etwas werden, schau mal deine Schwester an. Obwohl sie 2 Jahre jünger ist als du, ist sie viel weiter als du.« Auf den Patienten habe dieses Verhalten viel Druck ausgeübt. Trotz dieser Konkurrenzproblematik habe er immer ein gutes Verhältnis zu seiner Schwester gehabt. Sie habe selbst ein Problem damit erlebt, von den Eltern bevorzugt zu werden. In der Adoleszenz habe es eine Phase gegeben, in der die Konflikte zwischen seinen Eltern regelmäßig eskaliert seien und der Vater der Mutter gegenüber sogar handgreiflich geworden sei. Der Patient meint, dass er eine Scheidung der Eltern damals erlösend gefunden hätte. Die Eltern hätten sich jedoch für ein weiteres Zusammenleben entschieden. Der Patient berichtet, dass es schon immer sein Traum gewesen sei, Jurist wie sein Vater zu werden. Aufgrund seiner mittelmäßigen Schulleistungen habe sein Vater ihm aber immer wieder zu verstehen geben, dass er ihm ein Jurastudium nicht zutraue. Dementsprechend sei die Abiturphase für den Patienten extrem belastend gewesen, er habe sich anhaltend unter Druck gesetzt, ausreichend gute Leistungen zu erzielen. Der Auszug aus dem Elternhaus zum Studienbeginn sei für den Patienten eine erlösende Erfahrung gewesen. Ihm sei es die ersten Monate im Studium sehr gut gegangen. Das habe sich dann jedoch bald geändert und der Leistungsdruck sei schnell wieder angestiegen. Der Patient berichtet, bisher in seinem Leben eine feste, über 3 Jahre anhaltende Beziehung eingegangen zu sein. Seine Partnerin habe ihm jedoch vor 2 Jahren gestanden, dass sie ihn betrüge, was ihn »wie der Blitz« getroffen habe. Er habe sich daraufhin getrennt. In der Jugend habe er sich einmal sehr unglücklich verliebt, was ihn damals über ein knappes Jahr sehr belastet habe. Zu seiner aktuellen sozialen Situation berichtet der Patient, dass er in einer Studentenwohngemeinschaft lebe. Finanziell habe er keine Probleme. Er beziehe ein Stipendium. Der Kontakt zu seinen Eltern sei eher eingeschränkt. Er besuche sie in größeren Abständen und telefoniere gelegentlich mit ihnen. Der Kontakt zu seiner Schwester sei gut. Der Patient habe einen kleinen engen Freundeskreis. Die sozialen Kontakte sowie seine Hobbys (Klavierspielen, sportliche Aktivitäten) habe er aufgrund seiner Beschwerden jedoch deutlich reduziert. jVerhaltens- und Bedingungsanalyse
Lern- und entwicklungsgeschichtlich liegen bei dem Patienten entsprechend dem kognitiv-behavioralen Modell somatoformer Störungen nach Rief und Hiller (Rief u. Hiller 1998, 2011; 7 Abschn. 2.2) verschiedene Risikofaktoren für die Entstehung somatoformer Beschwerden vor.
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Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
Dazu zählen das durch anhaltende Konflikte geprägte Elternhaus des Patienten sowie das abwertende, kaum validierende Verhalten der Eltern gegenüber ihrem Sohn und die ständige Bevorzugung der jüngeren Schwester. Um seinen Eltern zu genügen, hat der Patient ein überhöht leistungsorientiertes Verhalten sowie überhöhte Leistungsansprüche an sich selbst entwickelt. Er zweifelt zugleich sehr stark an seiner eigenen Leistungsfähigkeit. Als Auslöser für die Schmerzsymptomatik können die eskalierten Konflikte zwischen den Eltern sowie eine unerwiderte Liebe des Patienten vermutet werden. Der Patient entwickelte dann zunehmend Schonungs- und Vermeidungsverhaltensweisen und machte viele frustrierende Erfahrungen mit zahlreichen Arztkonsultationen, die keinen Befund für seine Beschwerden ergaben. Im Zusammenhang mit dem Schulabschluss sowie dem Beginn des Studiums verstärkte sich der innere Leistungsdruck des Patienten erneut. Die zuletzt genannten Faktoren können als auschlaggebend für die Aufrechterhaltung und Chronifizierung der Symptomatik angesehen werden. Das folgende 7 Beispiel zeigt eine Verhaltensanalyse zu einer für den Patienten typischen, problematischen Situation. Beispiel 4 Situation: Der Patient geht abends zu Bett und nimmt verstärkt seine Rückenschmerzen wahr. 4 Organismusvariablen: 4 Anhaltende Schmerzsymptomatik seit 9 Jahren 4 Überhöhte Leistungsansprüche an sich selbst 4 Geringes Selbstvertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit 4 Mangelnde Selbstwirksamkeit bezüglich der Bewältigung seiner Beschwerden 4 Reaktionen: 4 Emotional: Angst, Hilflosigkeit, Verzweiflung, Ärger 4 Physiologisch: Innere Anspannung, weitere Verschlimmerung der Schmerzen, Übelkeit und Durchfall 4 Kognitiv: – »Jetzt nehmen die Schmerzen schon wieder zu und mir wird auch noch schlecht. Langsam weiß ich nicht mehr, was ich noch tun kann.« – »So kann ich nicht einschlafen. Das macht mich wahnsinnig. Ich muss morgen fit sein. Wenn ich morgen nicht konzentriert bin, verpasse ich wieder die Hälfte von dem Prüfungsvorbereitungsseminar.« – »Ich weiß einfach nicht, wie das weitergehen soll. Wie soll ich später meinen Beruf ausüben können? Ich weiß noch nicht mal, ob ich unter
diesen Umständen mein Studium abschließen kann. Das würde meinen Vater natürlich so richtig bestätigen, dass ich eh nicht fähig bin, Jurist zu werden.« – »Ich muss jetzt ein Schmerzmittel nehmen, vielleicht wird es dann besser. Das Treffen mit der Lerngruppe morgen früh sage ich lieber ab.« 4 Motorisch-behavioral: Der Patient steht auf und holt sich sein vom Hausarzt verschriebenes Schmerzmittel. Er schreibt seiner Lerngruppe eine SMS, in der er das geplante Treffen absagt. Nachdem das Schmerzmittel wirkt sowie nach längerem weiteren Grübeln, schläft er ein. 4 Konsequenzen – C–: Durch die Wirkung des Schmerzmittels lassen die Beschwerden kurzfristig nach. – C+: Der Patient kann sich beruhigen. – C+: Die Absage des Treffens bedeutet, dass er auf Rückmeldungen zu seinen Prüfungsvorbereitungen verzichten muss, seine Fragen zum Prüfungsstoff nicht mit den anderen klären kann und zudem wichtige Dinge, die die anderen diskutieren, nicht mitbekommt. – C–: In der Zeit, bis das Schmerzmittel zu wirken beginnt, verstärkt sich seine Aufmerksamkeit auf die körperlichen Beschwerden nochmals sowie das negative Grübeln und seine Zukunftssorgen. Das verschlechtert seine Stimmungslage weiter und löst starke Ängste in ihm aus. Langfristig führt das Verhalten des Patienten dazu, dass er in seinen Prüfungsvorbereitungen stark eingeschränkt ist und sich aus seinem sozialen Netzwerk immer mehr zurückzieht. Anhand seiner Katastrophenszenarien über seine berufliche Zukunft steigt der innere Leistungsdruck immer mehr. Sein Vertrauen, selbst wieder Einfluss auf seine Beschwerden nehmen zu können, sinkt zunehmend.
jDiagnose
Nach der ICD-10 erfüllt der Patienten die Kriterien einer Somatisierungsstörung (F45.0). Nach dem DSM-IV sind jedoch nur die Kriterien der undifferenzierten somatoformen Störung (300.82) vollständig gegeben. Entsprechend den Kriterien der ICD-10 und des DSM-IV weist der Patient eine leichte depressive Episode (ICD-10: F32.0/ DSM-IV: 296.21) auf.
117 5.8 · Kasuistik
jTherapieziele und Prognose
Für den Patienten ergeben sich folgende Therapieziele: 4 Verbesserung des Umgangs mit den körperlichen Beschwerden und damit einhergehend eine Reduktion sozialer Beeinträchtigungen, 4 Vermittlung des Zusammenhangs zwischen Stress bzw. einer chronischen Belastung und somatoformen sowie depressiven Symptomen, 4 Erlernen eines Entspannungsverfahren, Verbesserung der Entspannungs- und Stressbewältigungsfähigkeiten, 4 Vermittlung des Zusammenhangs zwischen Aufmerksamkeit und somatoformen Beschwerden, 4 Erlernen von Aufmerksamkeitslenkungstechniken, 4 Identifikation und Veränderung dysfunktionaler Gedanken und Einstellungen bezüglich somatoformer Beschwerden, des eigenen Gesundheitsbegriffs sowie der eigenen Leistungsansprüche, 4 Reduktion von Krankheitsverhalten (Schonungsverhalten, Inanspruchnahme medizinischer Dienste und Leistungen, Verwendung medizinischer Hilfsmittel), 4 Förderung von positiven körperlichen Erfahrungen und von Genussfähigkeit. Obwohl der Patient bisher noch keine psychotherapeutischen Erfahrungen hat, zeigt er sich krankheitseinsichtig und scheint sich auf biopsychosoziale Vorstellungen zu seinen Beschwerden einlassen zu können. Der Patient ist zudem sehr reflektiert. Sein Leidensdruck und die daraus hervorgehende Änderungsmotivation sind sehr hoch. jTherapieverlauf und -ergebnisse
Mit dem Patienten wurden insgesamt 25 Therapiesitzungen durchgeführt. Aufgrund der Komplexität der unerklärten Körperbeschwerden sowie der komorbiden depressiven Symptomatik war es notwendig, einzelne Therapiemodule zeitlich etwas zu strecken. Zu Beginn der Therapie stand die Vermittlung des Zusammenhangs zwischen Stress (in Bezug auf das Studium sowie im Privaten), körperlichen Beschwerden und der begleitenden leichten depressiven Symptomatik im Vordergrund. In einem psychoedukativen Teil wurden Informationen zur körperlichen Stress- und Entspannungsreaktion und ihrer Steuerung durch das vegetative Nervensystem vermittelt. Es wurde erarbeitet, wie sich Stress bei dem Patienten auf körperlicher Ebene zeigt und welche individuellen Stressoren im Leben des Patienten vorliegen. Der Patient konnte sich auf das Erklärungskonzept sehr gut einlassen. Zudem wurde mit ihm die progressive Muskelentspannung (PME) eingeübt. Anfängliche Probleme in der Umsetzung wurden zeitnah besprochen. Aufgrund der Prüfungsvorbereitungen nahm sich der Patient häufig
nicht täglich die Zeit, um das Entspannungsverfahren selbstständig zu üben. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde sein stark leistungsorientiertes Denken aufgegriffen und hinterfragt. Anhand einer Sammlung von Pro- und Kontra-Argumenten zu seinem wenig selbstfürsorglichen Verhalten wurde dem Patienten bewusst, wie ihn seine exzessive Leistungsorientierung eher einschränkt als unterstützt. Der Patient konnte sich daraufhin einen festen Zeitplan für die PME einrichten und auch durchhalten. Er konnte damit gute Effekte erzielen. Vor allem die gastrointestinalen Beschwerden gingen deutlich zurück. Für angespannte Situationen im Alltag (z. B. wenn er plötzlich eine Intensivierung seiner Schmerzen wahrnahm) nutzte der Patient teilweise Einzelübungen aus der PME. Bei dem Patienten spielten Aufmerksamkeitsprozesse bei der Aufrechterhaltung seiner somatoformen Beschwerden vor allem abends vor dem Einschlafen eine wichtige Rolle. Dem Patienten wurden daher Möglichkeiten der Aufmerksamkeitslenkung vermittelt, die er abends im Bett, aber auch im Alltag anwenden konnte (z. B. Positiv-Tagebuch, Genusstraining, Wahrnehmungsspaziergang). Im Rahmen konkreter Übungen sowie Hausaufgaben sollte er trainieren, seine Aufmerksamkeit weg von den Beschwerden hin zu angenehmen Reizen in seiner Umgebung zu lenken. Als besonders hilfreich empfand der Patient folgende Ablenkungsstrategien: Hörspiele verfolgen, Musik hören und lesen. Im weiteren Behandlungsverlauf wurde dem Patienten der Zusammenhang zwischen Gedanken und somatoformen Beschwerden nahegebracht. Mit Hilfe kognitiver Umstrukturierungsmethoden wurden bisherige Bewertungsmuster identifiziert und überprüft. Es wurde versucht, ungünstige oder irrationale Kognitionen durch Disputation und Verhaltensexperimente zu modifizieren. Dabei wurden auch die Kognitionen zu seinen überhöhten Leistungsansprüchen aufgegriffen und ihm der Zusammenhang verdeutlicht, mit welcher anhaltenden inneren Körperanspannung sein selbst hervorgerufener Leistungsdruck einhergeht. Dysfunktionale Kognitionen zu seiner Leistungsfähigkeit und seinem Vertrauen in eigene Fähigkeiten wurden hinterfragt. Des Weiteren wurde sein dysfunktionales, gedankliches Festhalten an der Hoffnung, seinem Vater irgendwann beweisen zu können, ein guter Jurist zu sein, aufgegriffen und mit kognitiven Umstrukturierungstechniken beeinflusst. Der Patient konnte dadurch eine starke Entlastung spüren und den selbst produzierten Leistungsdruck hinsichtlich des weiteren Verlaufes seines Studiums reduzieren. Außerdem wurde mit dem Patienten ein realistischer Gesundheitsbegriff erarbeitet. Letztlich wurde eine Reduktion von Krankheitsverhaltensweisen angestrebt. Dabei wurde der Fokus vor allem auf die Verwendung medi-
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118
5
Kapitel 5 · Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Einzeltherapiekonzept für Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden
zinischer Hilfsmittel (wie z. B. die Bedarfsmedikation) sowie auf die Veränderung des Kontaktverhaltens zu Ärzten gelegt. Vermeidungs- und Schonungsverhalten wurde bei dem Patienten primär hinsichtlich sozialer Kontakte, Hobbys bzw. sportlicher Aktivitäten und der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel deutlich. Der Patient wurde motiviert, wieder regelmäßige Treffen mit Kommilitonen einzuplanen bzw. Unternehmungen mit seinen WG-Partnern zu initiieren. Zudem lernte der Patient während der Therapie eine neue Freundin kennen. Hinsichtlich seiner sportlichen Hobbys wurde mit dem Patienten ein Plan zur graduellen Steigerung körperlicher Aktivität erarbeitet. Der Patient konnte darüber schrittweise seine physische Kondition verbessern. Für das Klavierspielen nahm er sich regelmäßig an den Wochenenden Zeit und veranlasste, dass sein Instrument aus dem Elternhaus in seine Wohngemeinschaft transportiert wurde. Mit dem Aufbau dieser positiven Aktivitäten sowie der Reaktivierung sozialer Kontakte erlebte der Patient zugleich eine deutliche Stimmungs- und Antriebsverbesserung. In Bezug auf sein Vermeidungsverhalten von öffentlichen Verkehrsmitteln ohne Toilette wurden Verhaltensexperimente durchgeführt, die dem Patienten verhalfen, seine dysfunktionalen Sorgen und damit einhergehenden Ängste zu hinterfragen. Abschließend wurden die Erfahrungen, die der Patienten während des Therapieverlaufes sammeln konnte, in einem multimodalen Störungsmodell zusammengefasst. Die für den Patienten hilfreichen Strategien wurden in einem »Notfallplan« für zukünftige Krisensituationen zusammengetragen. jTherapieergebnis
Die Schmerzproblematik war bei dem Patienten zum Therapieende noch vorhanden, die Intensität vor allem der Rückenschmerzen ging jedoch deutlich zurück. Entscheidend für den Patienten war aber, dass er wieder Lebensqualität unabhängig von seinen Körpersymptomen erlebte, die Schmerzen sein Leben nicht mehr so dominierten und er Selbstwirksamkeit im Umgang mit seinen Symptomen erlebte. Er konnte dadurch deutlich Selbstvertrauen in seine eigenen Kompetenzen entwickeln. Die gastrointestinalen Beschwerden konnten bis zum Therapieabschluss mit Hilfe der Verbesserung der Entspannungsfähigkeit fast vollständig abgebaut werden. Die depressive Symptomatik remittierte im Zusammenhang mit dem Aufbau positiver Aktivitäten und der Reaktivierung sozialer Kontakte vollständig. Der positive Therapieverlauf zeigte sich auch im testdiagnostischen Befund. Zu Beginn der Therapie wies der Patient im »Brief Symptom Index« (BSI; Franke 2000) auf dem Gesamtbeschwerdeindex GSI (T = 72) einen über-
durchschnittlichen Wert auf. Im »Beck Depressionsinventar« (BDI; Hautzinger et al. 1994) hatte er einen Punktwert von 23, der auf eine klinisch relevante depressive Symptomatik hindeutete. Zum Therapieende veränderte sich die Gesamtbelastung (GSI) mit T = 62 deutlich. Der Depressivitätswert (BDI) sank auf 6 Punktwerte, was auf eine Remission der Depression hinweist. Orientiert an einer Normstichprobe psychosomatischer Patienten ergab sich im »Screening für Somatoforme Störungen« SOMS-7T zu Therapiebeginn bezüglich der Beschwerdenanzahl ein Prozentrang (PR) von 71 und bezüglich der Beschwerdenintensität ein PR von 90. Die Werte auf beiden Indices konnten bis zum Therapieabschluss entscheidend reduziert werden (Beschwerdenanzahl: PR = 20, Beschwerdenintensität: PR = 47).
119 6.2 · Beschreibung
6
Evaluation des Einzeltherapiekonzepts 6.1
Merkmale der behandelten Patienten – 120
6.2
Auswertung klinischer Skalen – 120
6.3
Patientenzufriedenheit – 124
M. Kleinstäuber et al., Kognitive Verhaltenstherapie bei medizinisch unerklärten Körperbeschwerden und somatoformen Störungen, DOI 10.1007/978-3-642-20108-0_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 6 · Evaluation des Einzeltherapiekonzepts
In diesem Kapitel werden die ersten Ergebnisse zur Wirksamkeit des in 7 Kap. 4 und 5 dargestellten kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlungskonzepts vorgestellt. Die Befunde basieren auf einer Stichprobe von Patienten mit multiplen unerklärten Körperbeschwerden, die in der Poliklinischen Institutsambulanz für Psychotherapie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz entsprechend dem beschriebenen manualisierten Vorgehen behandelt wurden.
6.1
6
Merkmale der behandelten Patienten
In die manualorientierte Behandlung wurden ausschließlich Patienten eingeschlossen, die die in der folgenden 7 Übersicht zusammengefassten Kriterien erfüllten. Diese Aufnahmebeschränkung war notwendig, um einerseits den Betroffenen eine adäquate Behandlung gewährleisten zu können und andererseits ein möglichst manualgetreues, standardisiertes Vorgehen beibehalten zu können. So erscheint z. B. für einen Patienten mit erheblichen komorbiden psychischen Beschwerden eine 20-stündige Therapie mit dem Schwerpunkt auf unerklärten Körperbeschwerden nicht angemessen bzw. nicht ausreichend. Die Behandlung konnte bisher entsprechend den Einschlusskriterien 76 Patienten angeboten werden. Die vorliegende Patientenstichprobe besteht zu zwei Dritteln aus Frauen und einem Drittel aus Männern (64,5% Frauen, 35,5% Männer). Das durchschnittliche Alter liegt bei 40 Jahren (M = 40,16; SD = 12,50; Altersspanne: 20– 66 Jahre). Hinsichtlich des Bildungsstatus wiesen zu Therapiebeginn 15,8% einen Hauptschulabschluss, 26,3% einen Realschulabschluss, 19,7% ein Abitur, 25,0% einen Hochschulabschluss sowie 10,5% einen anderen Schulabschluss auf. In der Schulausbildung befanden sich noch 2,6%. Während über die Hälfte der untersuchten Patienten (67,1%) verheiratet war oder in einer festen Partnerschaft lebte, waren 18,4% ledig und 14,4% lebten in Trennung, in Scheidung oder waren verwitwet. Bevor die Patienten eine Behandlung in der Institutsambulanz aufsuchten, litten sie bereits durchschnittlich 4 Jahre an ihren unerklärten Körperbeschwerden (M = 3,69; SD = 4,25).
6.2
Auswertung klinischer Skalen
Vor dem eigentlichen Therapiebeginn erhielten die Betroffenen zunächst 5 probatorische Sitzungen, auf die dann 20 Therapiesitzungen folgten. Mit Hilfe regelmäßiger Supervisionen und Videofeedback konnte gewährleistet werden, dass die behandelnden Therapeuten das beschriebene manualisierte Vorgehen einhielten. Von den in die Behandlung aufgenommenen 76 Patienten konnten
Einschlusskriterien für die manualorientierte Behandlung 4 Beim Patienten liegen aktuell mindestens 3 körperliche Beschwerden vor. 4 Die vom Patienten angegebenen Körperbeschwerden sind klinisch relevant, d. h. verursachen subjektiv Leiden, führen zu Medikamenteneinnahme oder zu einer Veränderung des Lebensstils. 4 Es gibt keine ärztlich diagnostizierte organische Ursache der körperlichen Symptomatik. 4 Bei bestehender Komorbidität (z. B. leichte bis mittelgradige Depression, Angststörung, Persönlichkeitsstörung des Clusters C) steht die somatoforme Symptomatik im Vordergrund. 4 Beim Patienten liegt aktuell keine der folgenden psychischen Störungen vor: – Schwere depressive Episode – Akute Suizidalität – Spezifische Essstörung – Substanzkonsum bei Abhängigkeitserkrankung – Akut produktiv-psychotische oder manische Symptomatik – Hirnorganisches Psychosyndrom – Persönlichkeitsstörung des Clusters A (paranoid, schizoid, schizotypisch) oder B (Borderline, histrionisch, dissozial, narzisstisch) – Postraumatische Belastungsstörung
bereits n = 25 die Therapie abschließen. Bei 28 Patienten ist die Therapie noch nicht beendet. Sechzehn Patienten brachen die Therapie während der probatorischen Phase ab und 7 Patienten während der therapeutischen Sitzungen. In die folgenden Berechnungen wurden ausschließlich Daten von Patienten aufgenommen, die die Therapie regulär abschlossen. Leider waren die Datensätze von 3 Patienten aufgrund einer zu großen Anzahl fehlender Werte nicht auswertbar. Dementsprechend basieren die folgenden Ergebnisse auf einer Stichprobe von n = 22 sowie auf den Messzeitpunkten zu Therapiebeginn (dementsprechend nach Abschluss der probatorischen Phase) und -abschluss. Die vorliegenden Ergebnisse sollten vor dem Hintergrund der kleinen Stichprobengröße, der fehlenden Kontrollintervention, der erhöhten Abbruchquote (30%) sowie den fehlenden Katamnesemessungen mit Vorsicht interpretiert werden und lediglich als erster Hinweis auf die Wirksamkeit des Behandlungsprogramms betrachtet werden, die im Rahmen eines qualitativ hochwertigen Studiendesigns noch einmal genauer untersucht werden muss.
121 6.2 · Auswertung klinischer Skalen
jUnerklärte Körperbeschwerden
Das Ausmaß unerklärter Körperbeschwerden wurde mit dem »Screening für Somatoforme Störungen« (SOMS-7T; Rief u. Hiller 2008; 7 Abschn. 1.3.4) und der Subskala »Somatisierung« des »Brief Symptom Inventory« (BSI; Franke 2000) erfasst. Letzteres ist ein Instrument zur Messung der allgemeinen Psychopathologie und stellt eine Kurzform der in 7 Abschn. 1.3.4 beschriebenen »Symptom Checklist« (SCL-90-R; Derogatis 1983) dar. Mit dem SOMS-7T konnte zunächst ein hoch signifikanter Rückgang der Anzahl unerklärter Körperbeschwerden zwischen Prä-Messzeitpunkt (M = 7,82; SD = 7,20) und der Postmessung (M = 3,82; SD = 5,25) nachgewiesen werden, F(1,21) = 20,53, p < 0,001. Es ergab sich eine mittlere Effektstärke d = 0,63 (95%-CI: –0,01; 1,25). Auf dem Intensitätsindex des SOMS-7T ergab sich ebenfalls eine hoch signifikante Reduktion der Symptomintensität, F(1,21) = 30,85, p < 0,001, sowie eine mittlere Effektstärke (. Abb. 6.1). Auch für die Subskala des BSI wurde ein statistisch signifikanter Rückgang der somatoformen Symptome zwischen Therapiebeginn (M = 0,77; SD = 0,61) und -abschluss (M = 0,36; SD = 0,42) bestätigt, F(1,21) = 19,71, p < 0,001. Hierbei ergab sich eine Effektstärke im mittleren bis großen Bereich: d = 0,78 (95%-CI: 0,15; 1,42). jStörungsspezifische Variablen
Neben der Hauptsymptomatik – den unerklärten Körperbeschwerden – zielt die Therapie vor allem auch auf die Veränderung von psychopathologischen Prozessen im Zusammenhang mit den somatoformen Symptomen ab, wie z. B. dysfunktionale Kognitionen und Verhaltensweisen. Im Rahmen der vorliegenden Therapieevaluation wurden für die Messung entsprechender Variablen die »Illness Attitude Scales« (IAS; Hiller u. Rief 2004) der »Fragebogen zu Körper und Gesundheit« (FKG; Hiller et al. 1997a) sowie die »Scale for Assessment of Illness Behaviour« (SAIB; Rief et al. 2003) eingesetzt. Die drei genannten Messinstrumente werden in 7 Abschn. 1.3.4 beschrieben. Hypochondrische Merkmale Hinsichtlich der IAS-Subskala »Krankheitsängste«, F(1,21) = 6,43, p = 0,019, wie auch »Krankheitsverhalten«, F(1,21) = 19.38, p < 0,001, konnten signifikante Verbesserungen ermittelt werden. Der Gesamtwert reduzierte sich ebenfalls signifikant zwischen Prä- und Post-Messung, F(1,21) = 12,29, p = 0,002. Die Effektstärken schwanken zwischen kleinen bis großen Werten (. Abb. 6.2). Körperbezogene dysfunktionale Kognitionen Außer für die Subskala »Körperliche Schwäche«, F(1,21) = 5,37, p = 0,031, ergeben sich bei dem FKG keine signifikanten Verbesserungen. Für die Subskalen »Katastrophisierende
Bewertungen«, F(1,21) = 2,66, p = 0,119, »Intoleranz gegenüber körperlichen Beschwerden«, F(1,21) = 2,35, p = 0,141, und »Vegetative Missempfindungen«, F(1,21) = 0,07, p = 0,800, konnten keine statistisch bedeutsamen Veränderungen nachgewiesen werden. Die Effektstärken für diese Subskalen bewegen sich im kleinen und mittleren Bereich (. Abb. 6.3). Krankheitsverhalten Mit der SAIB konnte ebenfalls nur
für eine Subskala – »Körper-Scanning« – eine signifikante Verbesserung festgestellt werden, F(1,20) = 12,68, p = 0,002. Hinsichtlich der Subskalen »Verfizierung von Diagnosen«, F(1,20) = 4,19, p = 0,055, »Ausdruck der Beschwerden«, F(1,20) = 2,11, p = 0,163, »Medikamente/Behandlung«, F(1,20) = 2,67, p = 0,119, und »Konsequenzen der Erkrankung«, F(1,20) = 4,27, p = 0,053, ergaben sich keine statistisch bedeutsamen Veränderungen. Die Effektstärken für die Subskalen der SAIB bewegen sich im kleinen und mittleren Bereich (. Abb. 6.4). Die Ergebnisse zu den verschiedenen Messinstrumenten verdeutlichen, dass störungsspezifische kognitive wie auch behaviorale Prozesse im Therapieverlauf nur in geringem Maß verbessert werden konnten. jDepressivität, Ängstlichkeit und allgemeine Psychopathologie
Das Ausmaß der Depressivität wurde mit Hilfe des »Beck Depressionsinventar« (BDI; Hautzinger et al. 1994) gemessen. Hier zeigte sich ein hoch signifikanter Rückgang depressiver Symptome zwischen Prä- und Post-Messung, F(1,21) = 19,79, p =